Elliott Lewis
Irren ist tödlich
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»He!« schrie er und hoffte, daß er damit den Vogel vers...
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Elliott Lewis
Irren ist tödlich
scanned by ab corrected by mp
»He!« schrie er und hoffte, daß er damit den Vogel verscheuchte. Aber der Häher wollte gerade diesen einen Sonnenblumensamen und pickte danach. Als Bennett dort angekommen war, hockte der Häher auf dem Kinn des Toten. Bennett blieb erstarrt stehen. Der Schnabel des Vogels pickte den Samen aus dem offenen Auge des Mannes, so vorsichtig, daß nicht einmal die dünne Staubschicht beschädigt wurde, die die Hornhaut des Toten bedeckte und sie hellgrau erscheinen ließ. ISBN: 3-442-5441-9 Original: Double Trouble Aus dem Amerikanischen von Fried Holm 1990, 2. Auflage by Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Bode, Nürnberg
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Fred Bennett, Privatdetektiv in Los Angeles, hat sich in das Haus seines Stiefvaters am Rande der Stadt zurückgezogen, um Ruhe zu finden. Die ist allerdings schnell dahin, als er im Garten, versteckt hinter einigen Büschen, einen Toten findet. Er ahnt, daß das erst der Anfang ist – quasi die Visitenkarte eines Mörders. Und bald wird er bestätigt: Er begegnet einem Mann, der dem Toten aufs Haar gleicht und der kurze Zeit später ebenso umgelegt wird wie Opfer Nummer eins.
Autor Elliott Lewis lebte in Los Angeles, wo auch seine Romane mit dem Ex-Polizeibeamten Frederick Bennett spielen. Er starb im Jahr 1989. Von Elliott Lewis sind im Goldmann Verlag außerdem lieferbar: Heute hier, morgen tot • 5457 Zwei Köpfe sind besser • 5431
Die Hauptpersonen Frederick Bennett Rufus Drang
Ethel Felix
Helen und Todd Straub Mrs. Halliday
ehemaliger Polizeibeamter, der sich als Privatdetektiv durchschlägt Captain der Kriminalpolizei; schanzt Bennett hin und wieder einen Auftrag zu eine junge Frau, die nur schwer über den rätselhaften Tod ihres Mannes hinwegkommt Freunde von Ethel Besitzerin einer wunderschönen Ranch – und eines teuren Cadillacs
Der Roman spielt in Los Angeles und San Francisco
Kapitel 1 Das Kreischen des Vogels weckte Bennett. Das Geräusch kam von irgendwo hinter dem Haus – der herausfordernde Protest eines Naturgeschöpfs, das sich in irgendeiner Weise vernachlässigt fühlte. Bennett stöhnte im Halbschlaf und versuchte sich klarzumachen, wo er sich befand. Natürlich, in J. D.s Versteck. In den Hügeln nördlich der Stadt, nicht weit von der Wüste. Der Vogel beklagte sich noch lauter und durchdringender. »Halt’s Maul«, schrie Bennett. Die Antwort des Vogels klang wie: »Halt’s doch du!« Bennett kletterte aus dem Bett und ging durch die Küche auf die kleine Veranda. Von dort aus konnte er den Häher sehen, der auf einem rosablütigen Oleander in der Nähe der hinteren Haustür saß. Der Vogel glotzte Bennett wütend an, kreischte wieder, und Bennett erinnerte sich daran, daß J. D. ihm erzählt hatte, er füttere all die Tiere, die hier draußen in der Wildnis die Erde mit ihm teilten. J. D. hatte darauf hingewiesen, wie sehr es Bennetts Charakter verändern würde, wenn auch er einige Zeit in Gesellschaft der Geschöpfe Gottes verbrächte. J. D. trank Whisky pur und telefonierte, während er ihm diesen Ratschlag gab. Der Whisky war ein seltener, dreißig Jahre alter Bourbon gewesen, und der Anruf hatte einem Buchmacher aus Las Vegas gegolten, der gerade dabei war, dreißigtausend Dollar für J. D.s Footballwetten anzulegen. Bennett fand, er könnte den Hinweis seines Stiefvaters 5
ruhig beherzigen, wo er doch immerhin hierhergefahren war in die Einsamkeit; also nahm er einen Plastikbeutel mit der Aufschrift »Vogelfutter« und trat ins Freie. Obwohl die Sonne eben erst aufgegangen war, kam es ihm schon ziemlich heiß vor. Ein böiger Wind wehte von Osten; der Beginn eines Santa-Ana-Winds, wie Bennett vermutete. Er warf eine Handvoll Körner in das spärliche, ausgetrocknete Gras, das einen Rasen darstellen sollte, und sah zu, wie der Häher sie aufpickte, um dem Wind zuvorzukommen. Dabei wurden Körner und Vogel bis zu den höheren Sträuchern getrieben, die als Hecke dienten und die hintere Grenze von J. D.s Grundstück markierten. Der Vogel erreichte die Sträucher und blieb dort hocken, während der Wind sich schlagartig legte. Jetzt sah Bennett die Beine des Mannes und rannte darauf zu. »He!« schrie er und hoffte, daß er damit den Vogel verscheuchte. Aber der Häher wollte gerade diesen einen Sonnenblumensamen und pickte danach. Als Bennett dort angekommen war, hockte der Häher auf dem Kinn des Toten. Bennett blieb erstarrt stehen. Der Schnabel des Vogels pickte den Samen aus dem offenen Auge des Mannes, so vorsichtig, daß nicht einmal die dünne Staubschicht beschädigt wurde, die die Hornhaut des Toten bedeckte und sie hellgrau erscheinen ließ. Dann flog der Vogel, für den Augenblick gesättigt, zurück zum Haus, um die restlichen Samen aufzupicken. Bennett betrachtete den Toten. Männlich, weiße Hautfarbe, dunkles Haar, dunkle Augen, Mitte Dreißig bis Anfang Vierzig, das Haar mit Mittelscheitel und fassongeschnitten. Er hatte einen gut sitzenden, grauen Nadelstreifen-Anzug an, ein dazu passendes Hemd mit Krawatte und teure, braune Schuhe. Gesicht und Hände waren sonnengebräunt, ein Teint, wie man ihn nur bekommt, wenn man sich darum bemüht; nur an der 6
linken Hand war ein weißer Streifen am Ringfinger, wo er vermutlich einen Ehering getragen hatte. Bennett nahm an, daß man den Toten von der Straße heruntergeworfen hatte, die oberhalb des Hauses verlief. Geknickte Büsche und Gräser bestätigten seine Vermutung. Und der Mann mußte nach Bennetts Schätzung mindestens seit acht Stunden tot sein. Da er normalerweise ein argwöhnischer Mensch war, eine Eigenschaft, die ihm bei der Arbeit sehr zustatten kam, während sie seine meisten privaten Beziehungen störte, fragte sich Bennett zunächst, ob man den Toten in den Garten von J. D. geworfen hatte, um dem alten Herrn eine Art Warnung zuteil werden zu lassen, oder ob man gestern abend eine allgemeine Leichen-Wegwerf-Aktion abgehalten hatte, und der Tote ganz zufällig in J. D.s Garten geraten war. Es bestand allerdings auch die Möglichkeit, daß man Frederick Bennett die bewußte Warnung zukommen lassen wollte und daß »man« ihm hierher gefolgt war, um die grausige Besuchskarte loszuwerden. Bennett rief beim Büro des Sheriffs an und teilte mit, daß ein männlicher, weißhäutiger Toter, voll bekleidet, im Garten des Grundstücks Hillside 23568 liege. Der Sheriff brauchte genau zehn Minuten, bis er vor dem Haus auftauchte. Ein Wagen des Coroners fuhr voraus auf der gewundenen, schmalen Straße. Dahinter folgten der Dienstwagen des Sheriffs mit zwei Kriminalbeamten in Zivil darin, und zuletzt ein neutraler Wagen, der von einem gutaussehenden Mann mit indianischen Zügen gesteuert wurde. Der dritte Wagen parkte direkt vor dem Haus, und der Fahrer stellte sich als Larry Garcia vor. Er ging mit Bennett zur Rückseite des Hauses, wo die Ermittlungsbeamten aus dem Wagen des Sheriffs Fotos schossen und die Stellung des Leichnams markierten. Als 7
sie damit fertig waren, packten die Leute des Coroners den Toten in eine Gummiplane und verstauten ihn auf ihrer Aluminiumbahre. »Wann haben Sie ihn gefunden?« fragte Garcia. Bennett berichtete ihm, wie er geweckt worden und hinausgelaufen war. Garcia brummte. »Haben Sie ihn gestern abend noch nicht gesehen?« fragte er Bennett. Bennett verneinte. »Anderenfalls hätte ich Sie schon gestern abend angerufen«, fügte er hinzu. Garcia starrte ihn mit zur Seite geneigtem Kopf an, als schätze er Bennetts Größe im Vergleich zur dahinterstehenden Garage ab. »Ja, höchstwahrscheinlich«, sagte er. Die Bahre rollte an ihnen vorbei; der Tote war daraufgebunden und sah aus wie ein besonders sperriges Weihnachtspaket. Eines der Räder quietschte, und Bennett sagte zu dem am nächsten stehenden Sanitäter: »Sie sollten das Ding mal ölen. Es ist ja laut genug, um die Toten aufzuwecken.« Die Männer des Coroners übergingen die Bemerkung und fuhren zu ihrem Kombiwagen. Und wieder neigte Garcia den Kopf zur Seite. »Können Sie mir sonst noch etwas dazu sagen?« fragte er, nachdem er den Kopf wieder in Normalstellung gebracht hatte. »Haben Sie gestern abend oder während der Nacht irgendwelche verdächtigen Geräusche gehört? Oder am frühen Morgen? Fahrzeuge, die vorbeikamen? Bergauf oder bergab, obwohl ich annehme, daß es eher bergauf gewesen sein müßte.« »Sie meinen, weil es leichter gewesen wäre, ihn von der Beifahrerseite aus dem Wagen zu stoßen?« fragte Bennett. »Erraten.« Garcia nickte. »Genau deshalb.« 8
»Ich habe nichts gehört«, erklärte Bennett. »Weder gestern abend noch während der Nacht oder in den frühen Morgenstunden.« »Schlafen Sie sehr tief?« Bennett zuckte mit den Schultern und fragte sich, ob Polly sich vielleicht von ihm hatte scheiden lassen, weil er schnarchte. »Ich kann nicht klagen«, antwortete er. »Sagen wir, ich bin ein ganz normaler Schläfer.« »Es ist also möglich, daß gestern abend oder während der Nacht oder heute am frühen Morgen ein Fahrzeug vorbeigekommen ist, ohne daß Sie es hörten. Ist es das, was Sie damit sagen wollen?« »Erraten«, echote Bennett. Garcia neigte schon wieder den Kopf auf die Seite, als versuche er auf diese Weise herauszufinden, ob Bennett ihn verspotten wollte. »Ich stehe auf Ihrer Seite«, versicherte ihm Bennett rasch. »Wo kann ich Sie finden, wenn wir Sie in dieser Angelegenheit noch einmal sprechen müssen?« Garcia hatte sein Notizbuch und den Kugelschreiber gezückt. Bennett gab ihm seine Adresse und die Telefonnummer. »Ihr Beruf?« fragte Garcia. »Freiberuflicher Leiter eines Ein-Mann-Reisebüros«, antwortete Bennett. Garcia forschte in Bennetts Augen. Dann sagte er: »Ich danke Ihnen für die Kooperation. Wie lange bleiben Sie hier?« Bennett, der sich diese Frage bereits selbst gestellt hatte, parierte mit einer raschen Antwort, faßte im selben Augenblick seinen Entschluß. »Ich verlasse das Haus noch heute«, sagte er. 9
Garcia nickte und entschuldigte sich. Bennett zögerte, dann folgte er ihm. Die Leute von der Spurensicherung maßen den Abstand von der Straße zum Fundort der Leiche und nahmen Notiz von den zerdrückten Gräsern und Büschen, die auch Bennett aufgefallen waren. Garcia war inzwischen den Hügel hinaufgestiegen, stand oben auf dem Asphalt und überlegte sich, wo jemand den Wagen angehalten, die Beifahrertür geöffnet und einen Toten hinausgestoßen haben könnte, der danach zwanzig Meter über einen fünfundvierzig Grad geneigten Hang hinuntergerollt sein mußte, wo er unter einer hochgeschossenen, ungetrimmten Hecke am hinteren Ende von J. D.s Einsiedlerklause in den Vorbergen zu liegen gekommen war. Geht mich eigentlich gar nichts an, sagte sich Bennett. Die Sache hat nichts mit mir zu tun, und wenn ich für fünf Cents Verstand im Kopf habe, dann sehe ich zu, daß ich von hier wegkommen. Er folgte seinem eigenen Ratschlag, ging zurück ins Haus, packte seine Reisetasche, machte das Bett und versicherte sich, daß alle Fenster und Türen geschlossen waren; schließlich streckte er den Kopf zur Hintertür hinaus. »He!« rief er zu Garcia und den zwei Ermittlungsbeamten hinüber. Als sie von ihrer Arbeit aufblickten, winkte er ihnen zum Abschied zu, verließ dann das Haus durch die Vordertür, achtete darauf, daß sie ebenso versperrt war wie der Hintereingang, setzte sich in seinen alten Buick und fuhr zurück in die Stadt. Während der Fahrt fragte sich Bennett, warum er sich seine Ferien auf solche Weise stören ließ, und ob es richtig gewesen war, das Häuschen zu verlassen, das ihm J. D. 10
überlassen hatte. »Du siehst ziemlich abgespannt aus«, hatte der alte Herr gesagt, »so, als ob du ein paar Tage auf dem Land nötig hättest. Das Land ist das beste, wenn man sich mal erholen will. Du weißt ja, ich besitze diese kleine Zuflucht in den Hügeln nördlich der Stadt; da gibt es frische Luft, keinen Smog, Vögel und Bienen und so weiter, und ich finde, du solltest schleunigst dort hinfahren und ein paar Tage bleiben. Vielleicht kannst du dir in dieser Zeit überlegen, was du in Zukunft mit deinem Leben anfangen wirst.« Bennett hatte gefühlt, daß dies erst der Anfang einer Lektion war, die ihm da erteilt werden sollte, und versuchte, sich mit Raffinesse davor zu drücken. »Danke für das Angebot«, hatte er gesagt. »Es ist sehr nett, daß du dich so um mich kümmerst, aber momentan ist das leider nicht möglich. Zur Zeit ist bei mir alles noch ziemlich durcheinander.« »Schlicht und ergreifend Bockmist«, war J. D.s Antwort gewesen. »Du bist ein Sonderling geworden, du läßt dich einfach treiben, und manchmal mache ich mir große Sorgen, was aus dir noch werden wird.« Wohl wissend, daß Bennett ihm widersprechen würde, hatte er seinen dicken Arm angehoben und ihm seine fette Hand entgegengestreckt, wie ein Verkehrspolizist, der einen Wagen anhält. »Du weißt genau, was ich damit sagen will, und du wärst auch bereit, mir zuzustimmen, aber momentan bist du nicht dazu imstande, und das verstehe ich auch, weil du mein Sohn bist, mehr noch als mein Fleisch und Blut, aber du solltest tun, was dir dein Stiefvater rät, und ein paar Tage in frischer Luft verbringen, auf die Stille lauschen, deinen Kopf von den trivialen Dingen freimachen und deinen Blick auf andere, wichtigere Dinge lenken.« 11
Bennett hatte daraufhin das Angebot von J. D. angenommen – und dann hatte jemand eine Leiche in J. D.s Garten geworfen. Verdammte Sauerei. Denn er hatte sich selbst davon überzeugt, daß die Polizeiarbeit, ja sogar ein Job, der nur am Rande damit zu tun hatte, wahrscheinlich nicht das richtige für ihn war. Er hatte die Schnauze voll vom Töten und Getötetwerden, schon aus seiner Militärzeit in Vietnam und erst recht aus der Zeit, als er bei der Polizei arbeitete, und letzthin bei seinen Aushilfsjobs für Rufus Drang, wenn dieser einen Ex-Polizisten benötigte, der sich die Hände dreckig machte, damit die Burschen vom Department es nicht zu tun brauchten. Ja, er hatte eben erst den Entschluß gefaßt, sich in Zukunft mit ganz anderen Dingen zu befassen, als man ihm diesen Toten vor die Nase gelegt hatte. Er parkte auf der Straße vor seinem Apartmenthaus, schloß den Wagen ab und ging hinauf in seine Wohnung im ersten Stock. Er hatte sich gesagt, daß er zu Beginn seines neuen Lebens als erstes eine andere Wohnung brauchte. Dieses heruntergekommene Haus hatte für ihn ausgedient. Er wollte nicht mehr die modrigen Stellen hinten in den Ecken riechen müssen, wo wieder einmal eine Wasserleitung undicht geworden war, wollte keine abgetretenen Teppiche mehr sehen, nicht mehr über knarrende Treppen gehen müssen, ja, er konnte die Gerüche und Geräusche der Großstadt nicht mehr ertragen. Er würde sich ein hübsches Heim suchen, draußen am Strand, oben in der Wüste oder in den Bergen, wo es hier und da regnete wie in normalen Gegenden. Er wollte nicht mehr dreihundertsechzig Tage Dürre und fünf Tage Sintflut erleben müssen. 12
Bennett war ganz versunken in seine Phantasiewelt eines besseren Lebens, als das Telefon klingelte. »Ich muß mit dir reden«, sagte Drang, nachdem sich Bennett gemeldet hatte. »Ich war gerade dabei, meinen Lebensstil von Grund auf zu ändern«, entgegnete Bennett. »Vielleicht kann das noch ein bißchen warten«, sagte Drang. »Ich bin in der Wohnung und warte auf dich.« Und damit legte er auf. Bennett zögerte und dachte an das, was ihm J. D. gesagt hatte über das Zusichfinden, dachte daran, wie sehr er Tod und Gewalt verabscheute, und gab sich ein paar Minuten lang der Betrachtung des dunstigen Smoghimmels jenseits seines Wohnzimmerfensters hin – dann kam er zu dem Schluß, daß er doch mit Drang reden mußte, weil er sich sonst in schlaflosen Nächten immer wieder die Frage stellen würde, was da hinter seinem Rücken vorgehen mochte. Also stieg er wieder in den Buick und fuhr hinaus zu Drangs fabelhafter West-Side-Wohnung, in eine Gegend, wo die neuen Hochhäuser so rasch ins Kraut schossen, daß man denken konnte, jemand hätte Hochhaussamen neben den Boulevards ausgelegt. Drang stand in der halboffenen Tür und erwartete Bennett, als dieser aus dem Lift stieg. Dann gingen die beiden in das elegante Wohnzimmer, wo alles ordentlich, hübsch und sehr modern war und die Farben zum Bewohner paßten, dem ebenso eleganten Captain der Kriminalpolizei, der wie fast immer eine helle GabardineHose und einen Golfpullover trug und eigentlich mehr wie ein Profisportler aussah, der sich seine Kondition über die Jahre hinweg bewahrt hatte, jedenfalls nicht wie ein erfahrener Kriminalbeamter, der er in Wirklichkeit war. 13
»Kaffee?« fragte Drang. »Nichts lieber als das«, sagte Bennett. Drang rief aus der Küche herüber: »Er hieß übrigens Waldo Felix.« »Wer?« »Der Tote, den man dir in den Garten gelegt hat.« Drang brachte das Tablett mit dem Kaffee herein und stellte die Tassen auf eine Sportillustrierte, die auf dem Couchtisch neben dem bequemen Sessel lag, wo sich Bennett niedergelassen hatte. Drang setzte sich auf den Stuhl mit der geraden Lehne, der daneben stand, und sah dabei sehr streng und militärisch aus. »Wem gehört das Haus eigentlich?« »Was hat das schon zu bedeuten?« Bennett nippte, an der Kaffeetasse. »Guter Kaffee«, sagte er. »Wirklich, sehr gut.« »Ich bin nur neugierig«, antwortete Drang. »Als mich Larry Garcia vom Büro des Sheriffs anrief und mir den Fundort und Namen des Toten durchgab, habe ich mich sofort gefragt, ob das nicht dein Haus sein könnte. Und ob das nicht eine Sache ist, die du irgendwie gefördert hast.« »Nein, das Haus gehört nicht mir.« Drang wartete auf weitere Informationen. Aber sie blieben aus. »Sagt dir der Name Waldo Felix etwas?« fragte er ganz beiläufig. Bennett überlegte. »Nee«, sagte er dann. »Bemerkenswerter Name – aber ich hab’ ihn noch nie gehört.« Er fragte sich, worauf Drang hinauswollte. »Hast du gedacht, ich könnte dir Informationen liefern? Du tust ja so, als sei ich ein wandelndes Lexikon in Sachen dieses, wie heißt er noch, Waldo Felix. Fehlanzeige – ich habe ihn 14
nie zuvor gesehen und nie von ihm gehört.« »Und du willst mir nicht sagen, wem das Haus gehört, in dem du dich aufgehalten hast?« »Ich finde, es geht dich nichts an, um ehrlich zu sein. Aber es ist andererseits kein großes Geheimnis, und du kannst es weiß Gott leicht genug herausfinden, wenn du wirklich willst. Mir geht es ums Prinzip. Du kennst mich ja.« Er trank wieder einen Schluck Kaffee. Drang seufzte wie unter einer Zentnerlast. »Abgesehen davon frage ich mich«, fügte Bennett hinzu, »warum dich dieser Fall überhaupt interessiert. Er liegt nicht in deinem Bereich und untersteht dem dortigen Sheriff.« »Die Sache Waldo Felix?« Drang schüttelte traurig den Kopf. »Der Tote hatte einen Briefumschlag in der Tasche.« Bennett schwieg und wartete. »In dem Umschlag steckte ein Zettel. Mit Hand beschrieben. Der Text lautet: ›Hallo – erinnerst Du Dich an mich?‹« Bennett fühlte jetzt deutlich, daß da etwas auf ihn zukam. Sein Schließmuskel zog sich zusammen; ein Gefühl als ob er im nächsten Augenblick von einem Hochhaus fallen würde. »Der Umschlag war an dich adressiert«, sagte Drang tonlos. »Unmöglich.« Drang schüttelte den Kopf; es war nicht unmöglich. »Verdammt und zugenäht«, murmelte Bennett. Dann rieb er sich die Nase. »Das ist doch völlig unlogisch, Drang. Es ergibt keinen Sinn.« »Ich berichte dir lediglich die Fakten. Ob sie einen Sinn 15
ergeben, wird uns eine ausführliche Diskussion der Sache zeigen. Kannst du dir vorstellen, daß dir irgend, jemand eine Art Warnung zukommen lassen will?« Bennett erinnerte sich, daß ihm dieser Gedanke gekommen war, als er den Toten entdeckt hatte. »Warum sollte das jemand tun – einem netten Menschen wie mir?« fragte er Drang und blinzelte mit seinen harten, dunklen Augen. »Wie gesagt, das müssen wir erst diskutieren«, wiederholte Drang. »Wie war der Name noch mal?« »Waldo Felix.« »Wer war der Mann? Woher stammte er? Was hat er gemacht?« Drang langte nach einem Papier, das auf dem Tisch lag, neben der Kaffeetasse und dem Telefon. »Garcia hat mir eine Personenbeschreibung durchgegeben…« Bennett schüttelte den Kopf; das war es nicht, was er hören wollte. »In der Brieftasche des Toten fanden sich ein Führerschein, vier Kreditkarten …« »Von welchen Firmen?« »Eine Bank, zwei Kaufhäuser, eine allgemeine Kreditkartenfirma.« »Weiter.« »Eine sehr dünne Brieftasche, wie mir scheint. Keine Klubausweise, keine Mitgliedskarten von Gesellschaften, keine medizinischen Daten, nichts von der Art.« »Hat Garcia schon seine Adresse ermittelt?« »Er hat hier in der Stadt gewohnt.« Drang legte den Zettel wieder auf den Tisch. Bennett trank noch einen 16
Schluck Kaffee. »Ich hätte das gern noch einmal gehört. Wie lautet die an mich adressierte Notiz?« Drang warf wieder einen Blick auf das Papier. »Sie lautet: ›Hallo – erinnerst Du Dich an mich?‹« »Aber ich kannte den Mann nicht.« »Immerhin scheint er dich gekannt zu haben.« »Er glaubte vielleicht, mich zu kennen.« Bennett dachte über das nach, was er eben gesagt hatte. »Man kann ja nicht einmal mit Sicherheit feststellen, daß er es war, der diese Notiz geschrieben hat.« Drang kapierte das nicht auf Anhieb. »Zum Beispiel hättest ebensogut du diesen Zettel schreiben können. Dieser arme Teufel von Waldo kannte mich nicht. Er war nicht mehr als ein Paket, das man in den Garten eines Hauses warf, wo ich mich zufällig aufhielt, und in diesem Paket steckte eine Notiz. Die kann, wie ich schon sagte, von allen möglichen Leuten stammen.« Drang war nicht überzeugt. »Wann wurde Waldo Felix getötet?« fragte Bennett. »Der Gerichtsmediziner meint, drei oder vier Stunden, bevor du ihn gefunden hast.« »Dann kann er ebensogut hier in der Stadt ermordet worden sein«, schloß Bennett daraus. »Und damit wäre es dein Fall.« Dabei wurde ihm klar, daß das der Grund war, weshalb Drang ihn angerufen hatte. »Drang?« fragte er nach einer Weile. »Ist das mit dem Umschlag und dem Zettel die Wahrheit? Die ganze Wahrheit? Du hast mehr als einmal abenteuerliche Methoden angewandt, um mich in eine Geschichte 17
hineinzuziehen.« »Der Umschlag ist echt«, versicherte ihm Drang. »Und warum hast du mich angerufen?« »Ich fand, du solltest es wissen. Da wird ein Toter im Garten des Hauses gefunden, das du zur Zeit bewohnst, und der Tote hat einen Umschlag mit deinem Namen bei sich.« Drang zuckte wieder mit den Schultern, als wollte er sagen: Was hätte ich anderes machen sollen? »Ich will dir mal im Vertrauen und ganz persönlich sagen, was ich davon halte«, erklärte Bennett. »Es ist mir völlig egal, was mit einem Kerl passiert ist, den ich nicht kenne. Wenn du mich also fragst, ob ich daran interessiert bin, der Angelegenheit nachzugehen, dann ist meine Antwort ein entschlossenes Nein. Nein, ich will damit nichts zu tun haben.« Er hielt inne, um Atem zu schöpfen. »Wenn du allerdings mit mir eine geschäftliche Vereinbarung treffen willst, dann kommen wir vielleicht zusammen. Ich muß schließlich leben und bin nicht zufrieden damit, daß ich mich in meinem Privatbereich abkapsle.« Noch einmal legte er eine Pause ein. Drang schaute ihn mit wachsender Verwunderung an. »Daher könnte es durchaus sein, daß ich mich für eine geschäftliche Vereinbarung interessiere, bei der ein Honorar für meine Bemühungen herausspringt.« »Genau das war es, woran ich dachte«, antwortete Drang, ohne lange zu überlegen. »Also gut. Mein Honorar ist tageweise fällig, und ich verlange wie jeder durchschnittliche Privatdetektiv hundert Dollar pro Tag plus Spesen. Kann sich das Department das leisten?« »Fünfzig«, antwortete Drang. »Und nur die allernötigsten Spesen.« »Heißt das, daß du mir unterstellst, ich würde euch 18
unnötige Spesen aufbrummen?« Bennetts Stimme klang plötzlich entrüstet und wütend. »Es wäre immerhin im Bereich des Möglichen«, erwiderte Drang. »Du hast ein Talent, mit Geld um dich zu werfen.« Bennett knurrte giftig. »Du mußt meine Lage verstehen«, sagte Drang. »Wir wissen ja noch nicht einmal, ob dieser Mord an Waldo Felix wirklich etwas mit uns zu tun hat, da der Leichnam nicht in unserem Dienstbereich aufgefunden wurde. Aber er wohnte hier, und es könnte durchaus sein, daß er hier umgebracht und anschließend nach dort draußen geschafft worden ist.« Jetzt nahm er wieder ein Blatt vom Tisch. »Ich habe hier seine Adresse aufgeschrieben, nach den Angaben auf seinem Führerschein. Du kannst jederzeit bei mir nachfragen; ich stehe in Verbindung mit Garcia und gebe dir den Laborbericht und alle anderen wichtigen Informationen weiter.« Dann nahm er einen Banknotenclip aus seiner Hosentasche und zog vier Geldscheine heraus. »Das sind zweihundert Dollar, für den Anfang. Bist du mit unserer Vereinbarung einverstanden?« »Ja. Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, warum du ausgerechnet mich dazu brauchst.« »Ich versuche, immer einen Schritt weiter zu sein als die anderen.« So, wie Drang es sagte, klang es fast überzeugend. Bennett steckte das Geld ein, trank seinen Kaffee aus und ging. Von Drang fuhr er zur North Griffith Nummer 443, der Adresse, die Drang ihm gegeben hatte, eine Straße im Valley und eine Gegend mit nicht allzu teuren Häusern, die überwiegend aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg stammten, mit gut gepflegten Gärten, gestutzten 19
Hecken, getrimmten Rasenflächen und üppigen Blumenbeeten. Ein Wagen, der ihm entgegenkam, hielt in einer freien Parklücke gegenüber, und ein junger Mann und eine Frau stiegen aus; die Frau weinte und hielt sich den rechten Arm vors Gesicht, als wollte sie damit die Augen vor der Sonne abschirmen. Der Mann trug etwas, das wie ein Topf oder eine Schüssel aussah. Die beiden wirkten völlig deplaziert zu dieser Tageszeit und in dieser Gegend; sie waren wie zum Kirchgang gekleidet. Sie klingelten bei Nummer 443, und gleich danach wurde die Tür geöffnet. Drinnen sah Bennett eine Menge Leute, und er glaubte, das leise Murmeln von mehreren Stimmen zu hören. Ein weiterer Wagen fuhr heran und parkte, und eine hübsche junge Frau stieg in Eile aus. Bennett trat an ihre Seite, und die beiden gingen gemeinsam auf das Haus zu. »Es ist entsetzlich«, sagte sie und wandte sich ihm zu, um festzustellen, ob sie ihn kannte. In ihren dunklen Augen standen Tränen. Sie betraten gemeinsam das Haus und gingen in einen Raum, wo eine Menge Leute herumstanden. Was immer dieser Waldo Felix gewesen sein mochte, dachte Bennett, jedenfalls hatte er viele Freunde gehabt. Eine Frau, die die Pflichten der Gastgeberin übernommen zu haben schien, ging von einer Gruppe zur anderen. Sie war höchst unpassend gekleidet in einem Tennisdreß, der sonnengebräunte, gut geformte Beine und eine perfekte Figur sehen ließ. »Ich bin Helen Straub«, sagte sie, als sie Bennett erreicht hatte und ihn und die junge Dame begrüßte, die mit ihm gekommen war. »Ist es nicht schrecklich? Ethel ist da drinnen.« Damit deutete sie auf eine geschlossene Tür, und 20
Bennett nahm an, daß sich dahinter ein Schlafzimmer befinden würde. »Darlene Harris«, stellte sich die Lady an Bennetts Seite vor. »Wie geht es ihr?« Helen Straub schüttelte traurig den Kopf. »Sie befindet sich natürlich in einem schweren Schockzustand. Ich meine, das ist ein richtiges Trauma. Phil…« Jetzt bewegte sie den Kopf in Richtung auf einen Mann, der im Mittelpunkt einer gemischten Gruppe von fünf oder sechs Personen in der Nähe des offenen Kamins stand. »Phil sagte, sie hätten sie telefonisch aus dem Büro des Sheriffs verständigt. So in der Art: ›Hier ist der Sheriff – sind Sie Mrs. Waldo Felix? Es hat einen Unfall gegeben.‹ Sie können sich ja denken. Und Ethel hat Phil angerufen, weil Todd unterwegs ist auf einer Geschäftsreise, Phil war im Büro und kam gerade hier an, als der Wagen des Sheriffs vorfuhr und ein junger Polizist oder Sheriff Ethel mitteilte, was geschehen war, und…« Sie langte in ihre Tasche, fand ein zerknülltes Papiertaschentuch und tupfte sich damit die Augen ab. »Mein Gott«, sagte sie dann. »Können Sie sich das vorstellen?« Die Atmosphäre in dem Raum war erstickend, als ob hier jeder schon sein Kontingent an Sauerstoff verbraucht hätte. Bennett rechnete fast damit, daß in Kürze einige Leute nach Atem ringen, vielleicht sogar ohnmächtig zu Boden sinken würden. »Es tut mir leid«, sagte Helen Straub, »ich weiß nicht, wie Sie heißen.« »Fred Bennett.« »Ach ja, natürlich.« Sie schien mit der Auskunft zufrieden zu sein. Jetzt erst fielen Bennett die zwei Kinder auf, die auf 21
Stühlen mit geraden Lehnen saßen. Der Junge mußte ungefähr zehn sein, mit hellem, langem Haar und einem etwas pummeligen Körper; das Mädchen, ein wenig jünger, hatte dunkles, welliges Haar. Und die zwei waren dem Anlaß entsprechend gekleidet. Nach dem traurigen, wohl auch verängstigten Gesichtsausdruck der beiden Kinder schloß Bennett, daß es sich um Waldos Sohn und Tochter handeln mochte. Hier, und da trat einer der Anwesenden zu ihnen hin, beugte sich hinunter und redete leise auf sie ein. Die Kinder starrten die Gäste mit weit aufgerissenen Augen an und zeigten ansonsten keinerlei Reaktionen. Dann öffnete sich die Tür hinter ihnen, und eine Frau in schwarzem Kleid, ein Taschentuch in der Hand, trat aus dem Schlafzimmer. Das Licht, das durch die Tür auf sie fiel, zeichnete ihren schlanken Körper nach. Sie zögerte einen Augenblick, als müsse sie ihre ganze Kraft zusammennehmen, trat dann mit ein paar vorsichtigen Schritten herein und blieb vor den Gästen stehen, um die Kondolenzen entgegenzunehmen. Dann kam sie zu der Gruppe herüber, bei der Bennett stand, und Helen Straub versicherte ihr, wie schrecklich das alles sei. »Und so sinnlos«, fügte die Straub hinzu. »Weiß man denn, warum das geschehen ist?« »Die Polizei hat keine Ahnung«, murmelte Ethel Felix und drückte sich wieder das Taschentuch vor die Augen. Dann wandte sie sich an Bennett. »Hallo, Fred«, sagte sie leise. »Wie nett von dir, daß du hergekommen bist.«
22
Kapitel 2 Bennett kannte Ethel Felix aus der Zeit, bevor er Polly geheiratet hatte. Sie hieß damals Ethel Dempsey und war ein schlankes, blondes Mädchen mit einer Stupsnase und einem breiten, immer lächelnden Mund. Er hatte sie kurz nach seiner Rückkehr aus Vietnam kennengelernt, bei einer Strandparty, die irgendwer gegeben hatte – er konnte sich nicht mehr erinnern, wer es war –, und sie war so frisch und sorglos, so unverdorben und rein gewesen, daß er sich sofort in sie verliebt hatte. Sie hatte ihn in seinen düstersten Augenblicken, wenn er finsteren Gedanken über Krieg und Tod und Zerstörung hingegeben war, allein durch ihre Anwesenheit, ihr fröhliches und offenes Wesen vor sich selbst gerettet. Ihre Affäre hatte an die zwei Jahre gedauert, und in dieser Zeit hatten sie oft in langen Tagen und Nächten davon gesprochen, daß sie möglicherweise heiraten würden, aber Ethel schien schließlich zu der Erkenntnis gekommen zu sein, daß sie doch nicht für ein Leben lang zueinander paßten, und hatte den Gedanken an eine Heirat von sich gewiesen, bis sie sich nach und nach von ihm entfremdete. Ihre körperliche Leidenschaft hatte kaum merklich, aber doch stetig nachgelassen, und als aus der gemeinsamen Lust nur noch eine Verpflichtung wurde, hatte sich auch dieser Teil ihrer Beziehung allmählich aufgelöst. Seitdem waren sie sich nur selten begegnet; jetzt fiel ihm auch wieder ein, daß sie ihn zu ihrer Hochzeit eingeladen hatte; er war nicht hingegangen, hatte aber irgendein Geschenk, eine Vase oder so, geschickt. »Ethel«, begrüßte sie Bennett. »Was für eine schreckliche Geschichte!« 23
»Ja.« Sie machte den beiden Kindern ein Zeichen, und sie standen auf und kamen näher. Dann stellten sie sich zu beiden Seiten Ethels auf, und diese legte ihre Hände auf die Schultern des Mädchens und des Jungen. »Das ist Cynthia, und das hier ist George. Dieser Mann ist Fred Bennett«, erklärte sie den Kindern. »Guten Tag«, sagte Bennett, und ihm war gar nicht wohl dabei. Er hatte sich stets äußerst beklommen gefühlt angesichts der Nähe des Todes. Zuerst, als Kind, bei der Beerdigung seines Vaters, und später, als er besser begriff, beim Tod seiner Mutter. In Vietnam war er dauernd vom Tod umgeben gewesen, bis sich ihm schließlich, in dem Augenblick, als es Len Gordon, einen Kameraden, vor seinen Augen in Fetzen zerriß, die Vorstellung vom Tod und vom Sterben endgültig gefestigt hatte. Die Kinder senkten die Augen als Antwort auf seinen Gruß. Ethel begann wieder leise zu weinen. Rasch tätschelte sie den Kleinen die Köpfe. »Setzt euch wieder hin«, sagte sie. Die Kinder gingen zurück an ihre Plätze und ließen sich verängstigt auf den harten Stühlen nieder. »Nochmals vielen Dank, Fred«, sagte Ethel. »Es war sehr, sehr nett von dir.« Dabei berührte sie seinen Arm mit ihrer leicht zitternden Hand und ging dann weiter, um die übrigen Gäste zu begrüßen. Helen Straub schneuzte sich geräuschvoll in ihr Papiertaschentuch, das sie schon wieder aus der Tasche ihres Tennisrocks gezogen hatte. »O mein Gott«, schluchzte sie. »Ich – ich bin wahrscheinlich nicht stark genug für so etwas. Ich – ich löse mich noch ganz in Wasser auf. Schaut doch die Kinder an! Schaut sie an! O mein Gott…« Dann wischte sie sich mit dem Handrücken über die Augen. »Wie alt sind sie?« fragte Bennett. 24
»Zehn und neun. Genau wie die meinen. Sie spielen oft miteinander. Ich wünschte, Todd wäre hier.« Und auf Bennetts fragenden Blick erklärte sie: »Mein Mann. Er war in San Francisco, als es passierte. Er hat mich angerufen und gesagt, ich soll hierher kommen und Ethel helfen. Er hat es dort im Radio gehört – können Sie sich das vorstellen?« Wieder wischte sie sich über die Augen und schneuzte sich vernehmlich in die Reste ihres Taschentuchs. »Entschuldigen Sie mich.« Dann ging sie Ethel Felix nach, die versuchte, vier Leuten zuzuhören, welche sich um sie geschart hatten, ernst auf sie einredeten und sie dabei sachte streichelten. Eine untersetzte Frau, nicht mehr jung, ging plötzlich quer durch den Raum und umarmte Ethel, hielt sie fest und wiegte sie hin und her, als wäre sie ein kleines, verlassenes Kind, das es zu trösten galt. »Ach, du armes, armes Ding«, hörte Bennett sie schnurren. Er schaute sich um, wollte feststellen, ob ihm einer der Anwesenden bekannt war. Aber er erkannte niemanden. Weitere Gäste kamen, andere gingen, und Bennett war klar, daß dies nicht der Ort und die Zeit war, um mit Ethel Felix unter vier Augen zu sprechen. Als sie einen Augenblick lang nicht in Beschlag genommen wurde, ging er zu ihr hinüber, versicherte ihr noch einmal sein Mitgefühl und verabschiedete sich dann. »Ich möchte dir noch einmal danken, daß du gekommen bist«, sagte sie, und ihre Stimme war nur ein Flüstern. Sie schien noch etwas sagen zu wollen, wurde aber von der untersetzten Frau abgelenkt, die sie schon wieder packte und schüttelte, als ob sie eine Puppe wäre. Er ging rasch hinaus und wollte gerade in seinen Wagen steigen, als er sah, wie Helen Straub aus dem Haus gerannt kam und nach etwas Ausschau hielt. Sie winkte ihm, sobald sie ihn erblickt hatte, und rannte dann mit der 25
Gewandtheit einer Tennisspielerin auf ihn zu. »Ethel sagt, Sie sind Polizist. Ist das wahr?« fragte sie, sobald sie ihn erreicht hatte. Er sagte, daß er bis vor kurzem bei der Polizei gearbeitet hatte. »Dann würde sich sicher mein Mann mit Ihnen unterhalten wollen«, fuhr sie fort. »Er kennt Waldo länger als wir alle. Sie waren sehr eng befreundet.« »Ich bin jederzeit bereit, mit Ihrem Mann zu sprechen«, erklärte Bennett. »Ich weiß nicht, ob ich es Ihnen gesagt habe; er heißt Todd. Todd Straub. Wir wohnen gleich hier um die Ecke. Das heißt, zwei Blocks weiter. Vernon Street Nummer vierhundertachtunddreißig.« Sie schien Bennett damit ein Signal geben zu wollen. Jetzt stand sie mit gespreizten Beinen da, war bereit, auf die eine oder die andere Seite zu springen, als warte sie darauf, daß er seinen Aufschlag ausführte, und fürchte, es könnte ein As sein. »Glauben Sie, Ihr Mann weiß etwas, das zur Aufklärung des Mordes an Mr. Felix beitragen könnte?« fragte Bennett. Sie antwortete nicht sofort, sondern dachte erst über seine Frage nach. »Wohl kaum,« sagte sie schließlich, aber es klang alles andere als überzeugend. »Er ist auf dem Weg hierher«, erklärte sie dann. »In einer Stunde dürfte er hier sein. Könnten Sie dann bei uns vorbeikommen?« Bennett versprach es ihr und schrieb sich die Adresse auf. Sie stand noch auf dem Gehsteig, als er davonfuhr. Wie immer, wunderte er sich auch diesmal, als er sich Arluria näherte, der durch Mauern gesicherten Siedlung, 26
in der sein Stiefvater J. D. Cowper lebte, über die Großzügigkeit der Anlage. Er hatte die einzelnen Grundstücke, die sein Stiefvater »das Gelände« nannte, nicht gezählt, schätzte aber, daß jedes davon sich über vier oder fünf Morgen besten Landes auf der West Side erstreckte, hoch in den Hügeln und oberhalb der Gegenden, wo die anderen lebten. Jeder einzelne Besitz war das Muster eines modernen Forts, jeder lag auf einer eigenen Anhöhe, ohne Sicht auf die Nachbarn, mit großartigem Blick in alle vier Himmelsrichtungen. Und die ganze Siedlung wurde von einer über vier Meter hohen Mauer mit nur zwei Eingängen umgeben. Die beiden Tore wurden von einer Privatgesellschaft bewacht, deren bewaffnete und uniformierte Wachleute offensichtlich einem Härte- und Häßlichkeitstest unterworfen wurden, ehe man sie einstellte. Der Wächter, der Bennett vor der niedrigen Barriere stoppte, sah aus wie einer, den eine Profi-Footballmannschaft abgelehnt hatte, weil er zu groß und zu stark war und zu gefährlich aussah. Seine Schultern, die Brust und die Oberarme spannten das sauber gebügelte Uniformhemd. Er trug eine militärisch aussehende Schirmmütze, und an seiner Hüfte steckte eine Schußwaffe im Halfter. Als er sich nach vorn lehnte und Bennett nach Namen und Begehr fragte, war seine rechte Hand bereit, die Waffe zu ziehen und abzufeuern wie in einem Clint-Eastwood-Film. »Frederick Bennett«, sagte Bennett in besonders gewinnendem Ton. »Ich möchte J. D. Cowper sprechen; es könnte sein, daß er mich nicht erwartet.« Der Wachmann funkelte ihn durch seine Schlitzaugen an und fragte sich, ob Bennett ein aufrichtiger, anständiger Mensch sei. Dann ging er hinein in sein kleines Büro und nahm den Hörer eines Telefons ab. Er drückte ein paar Tasten und wartete. Dabei drehte er sich so, daß er Bennett 27
sehen konnte, ohne daß Bennett mitbekam, was er sagte. Was er hörte, schien ihn zu überraschen, denn er legte rasch auf, und als er wieder draußen war, schien sein Gesicht leicht gerötet. »Okay«, knurrte er und drückte auf einen Knopf, woraufhin die Schranke hochging. Bennett fuhr auf das Gelände der Arluria-Anlage und hatte wie stets das Gefühl, ein Niemandsland zu betreten, in dem alles aus purem Geld bestand. Vielleicht war sogar der Asphalt aus oxydiertem Silber, vielleicht wuchsen auf dem sorgfältig gepflegten Rasen nur seltene, würzige Kräuter und Gräser, und die Beete wurden allmorgendlich mit frischem Humus bedeckt, so daß alles, was man durch die Fenster sehen konnte, von einer unwirklichen Perfektion zeugte. Einer überaus kostspieligen Perfektion obendrein. J. D.s Besitz, der sich über zwei Hügel erstreckte und fast wie eine frühkalifornische Ranch aussah, befand sich am höchsten Punkt von Arluria, und hier war der Ausblick am besten. Bennett kurvte die lange, gewundene Auffahrt empor. Als er den Parkplatz vor dem Haus erreichte, stand J. D. schon in der offenen Tür und erwartete ihn; dabei streckte er angriffslustig den dicken Bauch vor und zeigte ein breites Lächeln, bei dem man seine schiefen Zähne sehen konnte. »Verdammt und zugenäht«, polterte er, »mein Junge kommt unangemeldet hierher, um mich zu besuchen, und dieser Gorilla am Tor versucht ihn aufzuhalten. Wenn du weg bist, werde ich alle meine Freunde anrufen und ihnen sagen, daß mein Junge bei mir vorbeigeschaut hat. Komm doch rein ins Haus. Komm schon. Elizabeth hat uns einen kleinen Imbiß vorbereitet und frischen Kaffee aufgebrüht, und du kannst mir erzählen, wie es kommt, daß du kaum in meine kleine Zuflucht in den Bergen gezogen bist und schon einen Toten in meinem Garten findest.« 28
Bennett folgte dem älteren Mann ins Haus. Sie durchquerten einen Wohnraum, der ohne die Möbel als Versammlungssaal hätte dienen können. Elizabeth war auf dem Weg in den Garten. Sie war eine große, schwarze Frau, fast so alt wie J. D. obwohl man ihr das nicht ansah, und so schlank wie J. D. dick war. »Morgen«, rief sie ihm zu. »Was für eine nette Überraschung.« »Morgen, Elizabeth«, sagte Bennett. »Der Oldtimer sagte, daß es Kaffee gibt.« »Selbstbedienung«, rief sie, während sie durch die Schiebetür ins Freie ging. »In der Küche«, erklärte J. D. und ging voraus, durch das Eßzimmer, die Bibliothek und ein paar weitere Zimmer in eine Küche, die der eines mittleren Hotels in einem Erholungsgebiet in nichts nachgestanden hätte. J. D. nahm eine Kaffeekanne vom Herd und brachte sie zu einem großen, runden Tisch an den Fenstern, die hinausgingen auf den hinteren Garten, wo Elizabeth Rosen schnitt und in ein Körbchen legte. »Nimm die Tassen«, sagte J. D. und zeigte auf zwei Keramik-Ungeheuer auf der Küchentheke. Bennett setzte sich und gab etwas Zucker in seinen Kaffee. »Sag mir als erstes eines«, begann er. »Wer hat eigentlich gewußt, daß ich dein Haus benützen würde?« J. D. betrachtete ihn musternd. »Das nenne ich eine Kernfrage. Warum willst du das wissen?« Bennett wartete auf die Antwort. J. D. stieß einen gewaltigen Seufzer aus, daß sein schwerer Körper erzitterte. »Ich glaube, ich habe dich verstanden«, sagte er. »Du willst wissen, wer darüber 29
informiert war, daß ich dir den Schlüssel zu meinem kleinen Häuschen gegeben habe. Ist das richtig?« Bennett nickte. »Nun, mal überlegen. Elizabeth. Sie weiß alles. Das ist so, seit sie bei mir ist.« Er schwieg einen Augenblick, dann: »Ist das nicht sonderbar, ich empfinde sie eigentlich gar nicht als Angestellte.« »Komm bitte zur Sache«, sagte Bennett leise. J. D. sah den Ausdruck auf Bennetts Gesicht und pfiff durch seine schiefen Zähne. »He, he«, sagte er. »Da geht doch was vor, was nicht ganz koscher ist. Habe ich recht?« »Klar – was denn sonst?« fragte Bennett. J. D. lehnte sich in seinem Sessel zurück und trank einen Schluck Kaffee. Dabei hielt er den hohen Kaffeebecher zwischen seinen dicken Fingern, die vorbildlich manikürt waren und ein wenig glänzten. Bennett hatte oft gedacht, daß J. D. nach der Maniküre aussah, als hätte er sich von jemand anders Hände ausgeliehen. »Ich muß erst einmal rekonstruieren«, erklärte J. D. Er dachte noch eine Weile mit geschlossenen Augen nach und trank dann wieder einen Schluck Kaffee. »Mal sehen«, sinnierte er. »J. D. junior, Borden und Clint sind weg, im Internat, also kann ich es ihnen nicht gesagt haben. Candice verbringt die Woche auf der Schönheitsfarm; sie kann es auch nicht wissen. Mein Gott, ist das einsam hier, wenn alle weg sind! Vielleicht hab‘ ich mich deshalb so gefreut, dich zu sehen.« »Was macht Candice auf einer Schönheitsfarm?« fragte Bennett. »Nun, du kennst sie doch. Wenn sie einen Abend ihrem Mann beim Dessert hilft und am nächsten Tag ein halbes Pfund zugelegt hat, dreht sie fast durch. Ganz gleich, was ich ihr sage – sie läßt sich nicht davon abbringen, daß ich 30
mich von ihr scheiden lasse, wenn sie ein paar Pfund zulegt. Kaum zu glauben!« Wieder seufzte er, aber jetzt war es das glückliche Seufzen eines Mannes, der zwanzig Jahre älter ist als seine Frau und gerade wieder einmal erkennen muß, daß sie ihn liebt. »Schon was Besonderes, meine Candice«, sagte J. D. bewundernd. »Mit wem könntest du sonst darüber gesprochen haben?« fragte Bennett und versuchte, seinen Stiefvater davon abzubringen, daß er über seine Familie sprach. Es gelang ihm nicht. »Wie lange hast du eigentlich die Jungen, J. D. junior, Borden und Clint, nicht mehr gesehen?« »Drei Wochen. Sie waren vor drei Wochen übers Wochenende hier.« »Ja. Nun, du wärst überrascht zu sehen, wie schnell sie gewachsen sind.« »Seit drei Wochen?« J. D. bemühte sich nicht um eine Antwort. Er murmelte statt dessen etwas Unverständliches. »Mit wem könntest du noch darüber gesprochen haben?« wiederholte Bennett. »Es könnte sein, daß ich es gegenüber Barney Shearer erwähnt habe«, sagte J. D. »Ich hab’ mit ihm über dies und das gesprochen; es könnte sein, daß ich dabei deinen Namen erwähnte, und wo du dich momentan aufhältst. Könnte sein, sage ich. Aber ich bin nicht ganz sicher.« Zwischen Stiefvater und Stiefsohn bestand ein harmonisches, ja liebevolles Verhältnis, aber Bennett wußte schon seit seiner Kinderzeit, als seine Mutter J. D. geheiratet hatte, daß es gewisse Dinge gab, über die nicht gesprochen werden durfte. Dazu gehörte die Frage, womit sich J. D. sein Geld verdiente, wer seine Freunde und 31
Geschäftspartner waren und wieviel Geld er besaß. »Meinst du, ich sollte mit Barney Shearer sprechen?« fragte Bennett jetzt und überließ damit J. D. die Entscheidung. J. D. schaute auf seine Armbanduhr. »Ich muß sowieso nachher mit ihm reden. Dabei kann ich ihn ja fragen.« »Das wäre mir sehr lieb«, sagte Bennett. Dann trank er seinen Kaffee aus. »Ja, ich fürchte, ich muß jetzt weiter.« »Klar.« Die Augen des älteren Mannes schauten den Stiefsohn warm und liebevoll an. »Du weißt doch, wie sehr die drei Jungs ihren älteren Bruder bewundern.« »Wie sehr denn?« »Unendlich«, erklärte J. D. »Man könnte es nicht in Zahlen ausdrücken. Ihre ersten Fragen sind immer: Was macht Fred? Wann kommt Fred? Schöne Grüße an Fred.« »Es sind nette Jungen«, sagte Bennett. »Danke für den Kaffee.« Er winkte Elizabeth, die noch im Garten beschäftigt war, durch das Fenster zu, und fuhr dann zurück ins Valley und in die Vernon Street 438, die tatsächlich, wie Helen Straub gesagt hatte, keine zwei Blocks vom Haus der Felix entfernt war. Die Straßen sahen zum Verwechseln ähnlich aus; der einzige Unterschied bestand in den Häusern, und auch hier war die Variationsbreite der Architekten so minimal, daß man schon sehr genau hinsehen mußte. Etwas deutlicher konnte man sie an der Bepflanzung der Vorgärten unterscheiden. Die Straubs schienen Rosen zu bevorzugen; den Plattenweg säumten Beete mit einem Dutzend verschiedener Edelrosensorten. In der Einfahrt parkten zwei Wagen, ein kleiner Kombi, dessen Ladefläche mit Tennisartikeln angefüllt war, und ein Mittelklassewagen, ein viertüriger Monarch, der hinter dem Kombi stand. Bennett parkte draußen auf der Straße. Als er die Haustür 32
erreicht hatte, wurde sie bereits von Helen Straub geöffnet, die noch immer ihren Tennisdreß anhatte. »Todd zieht sich gerade um. Er ist gleich hier. Kommen Sie doch rein. Kann ich Ihnen etwas anbieten? Einen Drink? Oder Kaffee?« »Nichts, danke.« Bennett blieb stehen. Das Haus war nicht größer als das von Waldo Felix. Und die Ausstattung war einfach und funktionell. Gleich hinter der Tür betrat man ein Wohnzimmer, von dem aus es ins Eßzimmer ging. Flügeltüren führten hinaus auf die Terrasse. Links waren die Küche und eine Besenkammer, rechts zwei Schlafzimmer und das Bad; Bennett konnte von seinem Platz aus in das Schlafzimmer des Hausherrn schauen. Auf dem Bett lag ein Anzug. »Todd«, rief Helen, »er ist hier.« »Bin gleich fertig«, antwortete eine Männerstimme irgendwo im Inneren des Hauses. »Kann ich Ihnen nicht doch irgend etwas anbieten?« fragte sie noch einmal. Bennett lächelte und lehnte dankend ab. »Setzen Sie sich, bitte.« Sie deutete auf einen dick gepolsterten, schweren Sessel neben einem Couchtisch, auf dem eine Lampe stand und die Fernbedienung des Fernsehapparats lag. Der Papa-Sessel, dachte Bennett; mit Blickrichtung auf die Mattscheibe. »Hallo. Guten Tag.« Todd Straub hatte den Wohnraum betreten. Er trug eine Joggerhose und eine dunkelblaue Trainingsjacke mit weißen Streifen. »Möchten Sie einen Drink? Oder Kaffee?« Bennett war verblüfft, als er sah, wie ähnlich Straub dem dahingeschiedenen Waldo Felix war. Das gleiche, dunkle Haar, mit Mittelscheitel, der Teint dunkel, mit starken, kraftvollen Zügen. 33
»Ich hab’ ihm schon was angeboten, aber er wollte nichts«, erklärte seine Frau. Todd setzte sich in die Mitte der Couch und beugte sich nach vorn, stützte dabei die Arme auf die Schenkel, als warte er als Ersatzspieler auf der Reservebank darauf, ausgetauscht zu werden. »Was für eine verdammte, schreckliche Geschichte«, sagte er leise. »Ich meine, das ist wirklich für uns alle ein Schock.« Dann wandte er sich an seine Frau. »Wie nimmt es Ethel auf?« Seine Frau schnitt eine Grimasse, die andeuten sollte, daß Ethel sich zwar tapfer halte, aber dennoch schwer zu kämpfen habe. »Und die Kinder?« fragte er. »Wie geht es ihnen?« »Sie begreifen noch nicht, was geschehen ist.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Kann ich dir etwas bringen?« fragte sie jetzt ihn. »Nein, danke, Schatz.« Dann rieb er sich die Nase mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand. »Laß mich bitte mit diesem Gentleman ein paar Minuten allein sprechen.« »Ja. Natürlich.« Sie ging etwas verlegen rückwärts. »Entschuldigen Sie mich für ein paar Minuten«, sagte sie zu Bennett. Dann ging sie hinaus. Bennett bemerkte, daß sich Straubs Blick auf ihr kurzes Röckchen geheftet hatte. Nachdem sie verschwunden war, wandte sich Straub wieder an Bennett. »Meine Frau meint, ich sollte mit Ihnen sprechen, weil ich Waldo schon seit langem kannte«, begann er. »Das stimmt – ich kenne ihn schon aus der Zeit, bevor ich Helen heiratete, und bevor er seine Frau kennenlernte.« »Und seit wann ist das?« fragte Bennett. »Nun, die Kinder sind jetzt an die zehn, genau wie die 34
unsrigen, also, sagen wir elf oder zwölf Jahre.« Er hielt inne. »Aber interessant daran ist, wie ich ihn kennengelernt habe.« Bennett wartete auf eine Erklärung. »Ich war damals also noch Junggeselle und wohnte weit draußen im Westen, oben in den Hügeln. Ich war ziemlich jung, und es gab viele Partys und viele hübsche Mädchen. Ich arbeitete damals für ein Werbebüro, eine kleine Firma, und auf diese Weise bin ich an die hübschen Dinger rangekommen, die ihre Namen und ihre Fotos in die Zeitungen und Illustrierten bringen wollten, Sie wissen schon.« Bennett sagte, daß er es sich denken könne. »Ja, damals hatte ich schon eine Woche lang das komische Gefühl, daß mich jemand beobachtet oder mich verfolgt – ein sehr komisches Gefühl. Ist Ihnen so was schon mal passiert?« Bennetts Achselzucken deutete an, daß das nicht ungewöhnlich sei. »Nun, es ist mir allmählich auf die Nerven gegangen, ich hab’ schon nicht mehr gewußt, ob ich verrückt werde oder was, und hab’ mich von da an in Hauseingänge geduckt und täglich den Weg ins Büro verändert. Ich verließ das Büro zu verschiedenen Zeiten, bin manchmal länger geblieben und manchmal früher weggegangen. Und dabei ist mir klargeworden…« Er verstummte und schaute Bennett an, ganz gefangen von seiner eigenen Geschichte. »Dabei ist mir klargeworden, daß ich nicht verrückt war, sondern daß ich von jemandem beschattet wurde. Also hab’ ich mich eines Tages in einem Hausgang versteckt, auf dem Weg ins Büro, und als der Kerl dann vorbeikam, bin ich ihm in den Weg getreten und hab’ guten Tag gesagt. Sie hätten sein Gesicht sehen müssen! Er war so 35
überrascht, daß er nur Mund und Augen aufgerissen hat.« Todd Straub schüttelte den Kopf und grinste. »Und was hat er dann gemacht?« fragte Bennett. »Das ist ja das Komische. Er hat erst eine Minute lang stumm dagestanden, dann hat er gesagt: ›Mein Name ist Waldo Felix.‹ Ich sagte ihm guten Tag, und er meinte, er sei mir nachgegangen, weil ich so ähnlich aussehe wie er selbst, und das habe er sonderbar gefunden. Dann haben wir zusammen einen Schluck getrunken und wurden Freunde. Wir haben beide geheiratet und unsere Familien gegründet, wohnten nahe beisammen und sind seitdem gut befreundet.« Er räusperte sich. »Und als ich in San Francisco im Radio hörte, daß man Waldo erschossen hat, daß er tot ist…« Er hielt inne und wandte sich ab. »Es ist verrückt«, sagte er. »Aber weil wir uns so ähnlich waren, habe ich mich tatsächlich ein paar Minuten lang gefragt, wer von uns beiden denn nun tot ist.« Helen Straub schien gelauscht zu haben. Sie kam herein, mit gerötetem Gesicht. »Das ist schrecklich; so etwas darfst du nicht sagen.« »Sie verstehen sicher, was ich meine«, sagte ihr Mann. Er stand auf. »Ich glaube, ich sollte jetzt rübergehen zu ihr. Ist sie allein?« fragte er seine Frau. »Als ich wegging, waren noch ein paar Leute bei ihr.« Sie betrachtete ihn prüfend, als versuche sie, seine Gefühle zu erraten. »Die Kinder sind natürlich auch dort«, fügte sie hinzu. Dabei sprach sie in einem Ton, daß Bennett sich fragte, ob das eine Warnung war. Todd brummte und schaute dann wieder Bennett an. »Das wollte ich Ihnen jedenfalls sagen«, schloß er seinen Bericht. »Ich weiß nicht, ob es wichtig ist – aber das können Sie selbst entscheiden. Das war ja meines Wissens früher Ihr 36
Beruf. Wenn Sie meinen, es ist von Bedeutung, werde ich es auch der Polizei mitteilen.« »Wenn die Polizei was von Ihnen wissen will, kommt sie hierher«, sagte Bennett. »Bitte sehr, jederzeit«, antwortete Todd. »Wo hat Waldo gearbeitet?« fragte Bennett. »Bei ›Natürliche Neuheiten‹, in der Frisco Street. Warum?« »Ich bin nur neugierig«, sagte Bennett. Dann dankte er den beiden und ging. Draußen fuhr er seinen Wagen an die Ecke zwischen dem Haus von Felix und dem von Straub und parkte hinter dem Lieferwagen einer Installationsfirma. Nach einer Minute joggte Todd Straub vorbei, die Arme schwingend und einen verkniffenen Ausdruck auf dem Gesicht. Er lief einen Block weit und bog dann in die North Griffith ein bis zum Haus von Waldo Felix, öffnete die Tür, ohne zu klingeln, und verschwand. Einen Augenblick danach kam die untersetzte Frau heraus, die Bennett zuvor dort gesehen hatte, und trieb die beiden Kinder vor sich her. Ethel erschien kurz unter der Tür, zupfte an der Kleidung der Kinder herum und küßte sie. Sie sagte etwas zu ihnen, und die beiden nickten; dann folgten sie der untersetzten Frau hinaus auf den Gehsteig. Die drei bestiegen einen Wagen, der vor dem Haus parkte, und fuhren davon; die Frau hinterm Lenkrad, die Kinder aneinandergekuschelt im Fond. Danach wurden im Haus von Waldo Felix die Vorhänge zugezogen, als wollten sich seine Bewohner vom Rest der Welt absondern.
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Kapitel 3 Zehn Minuten später fuhr ein Wagen vor und hielt vor dem Haus. Ein junger Mann und eine Frau stiegen aus, so gekleidet, als ob sie die schlimme Nachricht eben erst erfahren hätten – die Frau trug Jeans und ein Sweat-Shirt mit einer Aufschrift, die man aus der Entfernung nicht entziffern konnte, während der Mann einen Geschäftsanzug anhatte. Sie gingen rasch auf das Haus zu und klingelten an der Tür. Als sich nichts rührte, versuchten sie es ein zweites Mal, bemerkten dann die zugezogenen Vorhänge und hielten Rat. Der Mann schrieb ein paar Worte auf einen Zettel, den er in seiner Tasche gefunden hatte, steckte ihn zwischen Tür und Türrahmen, nahm dann die Frau am Arm und ging langsam mit ihr zurück zum Wagen, wobei sich die zwei ständig miteinander unterhielten. Anschließend fuhren sie davon. Eine Stunde später ging die Haustür auf, und Todd Straub kam heraus. Er beugte sich mit dem Oberkörper hinein ins Haus, und daraufhin erschien die Hand einer Frau, die ihn festzuhalten schien, ja sich geradezu an seine Trainingsjacke klammerte. Als er sich von ihr abwandte, entdeckte er den Zettel, der nach unten gefallen war. Er bückte sich, hob ihn auf, warf neugierig einen Blick darauf und reichte ihn hinein ins Haus. Dann beugte er sich noch einmal nach drinnen, ehe er wegging. Die Haustür blieb offen, bis er auf dem Gehsteig stand und noch einmal zurückwinkte. Die Hand der Frau winkte ebenfalls. Zuletzt schloß sich die Tür. Todd Straub kehrte nicht zu seinem Haus zurück. Statt dessen ging er mit langsamen Schritten in die entgegengesetzte Richtung zu einem öffentlichen Park, der 38
fünf oder sechs Blocks entfernt war. Als Bennett ihm folgte, tauchte ein nagelneuer, zweifarbiger Cadillac Eldorado aus einer Seitenstraße auf und hielt neben Todd. Er und der Fahrer des Cadillacs tauschten ein paar Worte; dann öffnete Todd die Tür auf der Beifahrerseite, setzte sich hinein, und der Wagen fuhr rasch davon. Der Wagen war so neu, daß er noch gar kein Kennzeichen trug – nur ein Schild mit dem Namen der Firma, von der er gekauft worden war, »Esplanade-Cadillacs«. Bennett wendete den Buick und fuhr dem Cadillac hinterher, aber als er die nächste Ecke erreicht hatte, war der Wagen verschwunden. Danach fuhr Bennett zum Haus von Waldo Felix zurück. Ethel kam an die Tür, sobald er geklingelt hatte. Die Vorhänge auf der Vorderseite des Hauses waren wieder offen. »Ich hab’ gesehen, daß du vorgefahren bist«, sagte sie. »Komm doch rein.« Das Wohnzimmer sah genauso aus wie bei seinem ersten Besuch; die Stühle und Sessel standen noch einigermaßen ungeordnet herum, so wie die Gäste sie arrangiert hatten. Auf dem Couchtischchen standen Kaffeetassen, und die Aschenbecher waren noch nicht ausgeleert. Die Schlafzimmertür stand jetzt offen, und Bennett sah, daß das Bett ungemacht war. »Wenn du dazu imstande bist«, sagte er, »möchte ich mich gern ein paar Minuten mit dir unterhalten.« »Ich glaube, es ist noch Kaffee da. Oder wäre dir ein Drink lieber?« fragte sie ihn. »Nichts, danke.« Er setzte sich in den am nächsten stehenden Sessel. Sie zog ein kleines Taschentuch aus dem Ärmel und tupfte sich damit die Augen ab. Ihr Haar war heller als 39
seinerzeit; offenbar hatte ein Friseur der Natur ein wenig auf die Sprünge geholfen. »Ich möchte dir noch einmal danken, daß du vorbeigekommen bist«, sagte sie, während sie neben ihm Platz nahm. »Aber das habe ich dir schon mehrmals gesagt, glaube ich.« Sie lächelte ihn an. »Und dir ist also wieder eingefallen, wen ich geheiratet habe.« Er begriff nicht. »Du kanntest meinen Namen«, sagte sie. »Und du hast gewußt, wo du mich finden kannst.« »Nein«, erwiderte er. »Hat Waldo denn nicht mit dir gesprochen?« »Mit mir – gesprochen?« »Ja.« »Nein. Ich habe ihn nie zuvor gesehen, bis…« Er brach ab und beobachtete ihr Gesicht. »Du meinst, bis er umgebracht wurde?« »Ja. Ja, genau.« »Warum hast du mich dann besucht, wenn Waldo – wenn mein Mann gar nicht mit dir gesprochen hat?« Sie biß sich auf die Unterlippe. »Woher hast du gewußt, wo ich wohne?« »Der Leichnam deines Mannes wurde im Garten eines Hauses gefunden, das ich vorübergehend bewohnt habe.« Sie riß die Augen weit auf. »Worüber wollte denn dein Mann mit mir reden?« fragte Bennett. »Da war etwas…« Wieder brach sie ab, als fürchte sie, durch das Aussprechen gewisser Worte einen Prozeß in Gang zu setzen, dem sie unter allen Umständen ausweichen wollte. 40
Bennett wartete. »Waldo wollte mir nichts davon sagen, aber ich wußte, daß es eine ernste Angelegenheit war. Ich fühlte, daß er sich vor etwas fürchtete. Wenn man einem Menschen sehr nahesteht, fühlt man genau, daß er Angst hat. Das kann dir in deinem Beruf nicht entgangen sein; ich könnte mir gut vorstellen, daß du bei deiner Arbeit schon einigen Leuten begegnet bist, die Angst hatten.« »Ich hab’ viele Menschen erlebt, die Angst hatten«, bestätigte Bennett. »Wenn ich ihn gefragt habe, was denn los sei, ist er mir immer ausgewichen. Er hat das Thema gewechselt oder mir einfach nicht geantwortet; manchmal ist er sogar aufgestanden und hinausgegangen. Schließlich habe ich mir so viel Sorgen gemacht, daß ich ihm von dir erzählt habe. Ich sagte ihm, daß ich dich kenne und daß du ein anständiger Mensch bist; als Polizeibeamter könntest du ihm vermutlich gute Ratschläge geben, und wenn er sich mit dir unterhalte, würdest du das Gespräch sicher mit äußerster Diskretion behandeln. Ich wußte nicht, wo du zur Zeit wohnst, dachte aber, daß er das ohne weiteres herausfinden würde. Als du hierhergekommen bist, nahm ich an, mein Mann hätte dich schließlich gefunden und mit dir gesprochen.« Sie stand auf, ging zum Fenster und schaute hinaus auf die Straße. In dem schwarzen Kleid wirkte sie schlanker, als Bennett sie in Erinnerung hatte – so als habe sie beim Älterwerden allen unnützen Ballast abgeworfen und nur so viel behalten, wie zum Leben unbedingt notwendig war. »Du sagst, mein Mann ist im Garten eines Hauses gefunden worden, in dem du gewohnt hast?« »Ja.« »Wie ist er aber dorthin gekommen? Warum ausge41
rechnet dort? Weißt du das? Ich habe die Polizei gefragt, als sie zu mir kamen und mir sagten, was geschehen war, aber keiner von den Beamten war bereit, mit mir darüber zu sprechen. Vielleicht konnten sie auch meine Frage gar nicht beantworten.« »Was könnte es sein, was deinem Mann Angst gemacht hat hast du irgendeine Ahnung, eine Vermutung?« fragte Bennett. Sie starrte noch immer aus dem Fenster. »Ich sagte es doch, er wollte mich nicht in seine Sachen einweihen.« »Wie lange warst du mit ihm verheiratet? Zehn Jahre? Als wir miteinander befreundet waren, da wußten wir, was wir dachten, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Dabei waren wir nur zwei Jahre beisammen und nicht miteinander verheiratet; das heißt unter anderem, daß wir nicht beisammen gewohnt haben.« Bennett konnte nicht erkennen, ob sie verstand, was er damit sagen wollte. »Was vermutest du? Was könnte es gewesen sein?« Sie schüttelte den Kopf, und das blonde Haar schwang von der einen auf die andere Seite, wie bei einer Shampoo-Werbung im Fernsehen. »Ich weiß es wirklich nicht.« »Ich glaube, ich möchte jetzt doch einen Drink«, sagte Bennett. »Ich komme auf dein vorheriges Angebot zurück.« »Trinkst du noch immer Scotch?« fragte sie und war auf dem Weg in die Küche. »Ja«, antwortete er und folgte ihr. Bis auf ein paar Tassen, welche die ordentlicheren Gäste herübergebracht hatten, war die Küche makellos aufgeräumt; die Schränke und die Theke funkelten, und an einem Gestell neben dem Arbeitsplatz hingen funkelnde Kupfertöpfe und -pfannen. Die Flasche stand bereits auf 42
der Theke, und Ethel hatte ein Küchentuch daruntergelegt, damit sich keine Ränder bildeten. Sie hatte also mit Gästen gerechnet, dachte Bennett, und Scotch, Bourbon, Wodka und mehrere andere Getränke zum Mixen bereitgestellt, daneben große, hohe Gläser. Jetzt nahm sie ein paar Eiswürfel aus einem Eisbehälter, der inzwischen zur Hälfte mit Wasser gefüllt war, und gab die Würfel in eines der Bechergläser. Während sie den Scotch einschenkte, begann sie leise zu weinen. Bennett nahm ihr die Flasche ab und stellte sie auf die Theke. »Weißt du, was es bedeutet, wenn einem klarwird, daß man einen Menschen, den man geliebt hat, nie wieder sehen wird? Weißt du, was es bedeutet, wenn man sagt: Er ist weg? O mein Gott …« Sie lehnte sich gegen die Theke, hielt sich mit beiden Händen daran fest und ließ den Kopf hängen – ein Bild der Verzweiflung. »Er kommt nicht mehr nach Hause. Er ist nicht an seinem Arbeitsplatz, beim Golfspielen oder auf einer Geschäftsreise. Er ist weg. Und er kommt nie mehr zurück, nie mehr… Seine Anzüge sind noch da…« Sie bewegte den Kopf in Richtung auf das Schlafzimmer. »Aber er wird sie nie wieder tragen. Er wird nie wieder dort am Tisch sitzen und mit den Kindern zu Abend essen, wird nie wieder neben mir dort drinnen liegen, mich nie wieder umarmen und festhalten, nie wieder streicheln …« Jetzt schluchzte sie bitterlich, und während aus dem Schluchzen lautes Weinen wurde, stampfte sie dazu rhythmisch mit dem Fuß auf den Boden. Bennett sah plötzlich ein Kind vor sich, einen Jungen, der mit dem Fuß verzweifelt auf den Boden stampfte und weinte, ein Kind, dem man gesagt hatte, daß sein Vater tot war und nie wieder zurückkommen würde, daß er nie wieder mit dem Jungen, dem fünfjährigen Frederick 43
Bennett, spielen würde. Das Bild war so deutlich, daß Bennett sich zwingen mußte, es zu verscheuchen. Er rieb sich die Augen mit den Händen, dann trank er das halbe Glas Scotch in einem Zug aus. »Ich glaube, es hat angefangen, als Jules Bingman starb.« Ethel hatte so plötzlich zu weinen aufgehört, wie sie begonnen hatte. Das Taschentuch trat wieder in Aktion; sie tupfte sich damit erneut die inzwischen geröteten und geschwollenen Augen ab. »Ich glaube, mein Mann hat begonnen, sich Angst zu machen, nachdem Jules Bingman gestorben war.« »Wer war Jules Bingman?« fragte Bennett, erleichtert, daß er auf diese Weise von seiner unerfreulichen Erinnerung abgelenkt wurde. »Ich – ich weiß es nicht«, sagte sie. »Ich habe ihn nie kennengelernt.« »Aber du hast gewußt, daß er gestorben ist.« »Mein Mann hat es mir erzählt. Er bekam eines Tages einen Brief, in dem es ihm mitgeteilt wurde.« »Erinnerst du dich, was in dem Brief gestanden hat?« »Ich habe ihn aufgehoben. Das heißt, Waldo bat mich, ihn zu unseren Papieren zu legen. Ich weiß nicht, warum er das wollte. Aber er hat immer alles mögliche aufgehoben.« Sie schickte sich an hinauszugehen. »Ich glaube, ich kann ihn schnell finden.« Bennett ging mit seinem halbvollen Glas hinüber ins Wohnzimmer. »Da ist er.« Sie kam schon wieder herein und reichte Bennett einen Umschlag. Der Brief war in San Francisco abgestempelt, das Datum gerade zwei Wochen alt. Adressiert an Mr. Waldo Felix, 44
443 North Griffith, Valley Heights, Kalifornien. Und der Umschlag wies keinen Absender auf. Bennett nahm ein einzelnes, gefaltetes Blatt aus dem Umschlag, nachdem Ethel ihm zugenickt hatte. »Lieber Waldo«, las er laut. »Jules ist tot. Ich wollte es Dir eigentlich schonender beibringen, aber es gibt keine andere Möglichkeit. Es kam ganz plötzlich, gestern abend. Er wollte eingeäschert werden, also gibt es keine Beerdigung. Hoffe, es geht dir gut.« Der Brief war unterzeichnet mit den Worten: »In Freundschaft, Bert.« »Kannst du dir denken, warum dein Mann diesen Brief aufheben wollte?« fragte Bennett. »Nein.« »Hast du ihn danach gefragt?« »Warum hätte ich ihn fragen sollen? Es kam mir nicht so wichtig vor. Andererseits nahm ich an, daß es für ihn ziemlich wichtig gewesen sein mußte.« Sie zog die Stirn in Falten und schaute ihn scharf an. »Warst du schon mal verheiratet?« Die Frage überraschte ihn. »Was? Ja, ich war verheiratet.« »Hast du jedesmal deine Frau nach dem Grund gefragt, wenn sie dich um etwas gebeten hat?« Ihre Stirn war noch in Falten, ihr Ausdruck skeptisch. »Ich bin geschieden«, sagte er. »Polly und ich – wir haben uns getrennt.« »Kein Wunder«, antwortete sie. »Denn eigentlich hast du dich seit damals überhaupt nicht verändert. Du bist einer von den netten Leuten, denen es nicht gelingt, sich in die Lage der anderen zu versetzen.« Die Tränen, die sich in ihren Augen gesammelt hatten, begannen wieder zu fließen. Sie wischte sie mit dem Taschentuch weg. 45
»Waldo war da ganz anders. Er fühlte sehr genau, was die anderen empfanden.« Noch ein paarmal unternahm sie den Versuch, die Tränen zu trocknen, bevor sie ihr übers Gesicht liefen. »Hab’ ich dir erzählt, wie wir uns zum ersten Mal begegnet sind?« Bennett verneinte. »Er war mit Todd Straub beisammen – hast du ihn kennengelernt?« Bennett sagte weder ja noch nein. Er gab ein paar ungenaue Laute von sich, die es möglich erscheinen ließen, daß er Todd kannte. »Ich wurde Todd vorgestellt, von irgend jemandem – ich weiß nicht mehr, von wem. Es war genauso wie bei dir und mir – ich erinnere mich nicht mehr an die Strandparty, auf der wir uns kennenlernten – oder war es gar keine Standparty?« Die Worte purzelten übereinander, während sie versuchte, sich das, was sie sagte, nicht allzusehr zu Herzen gehen zu lassen. »Jedenfalls, Todd war mit Waldo beisammen, und er machte uns miteinander bekannt. Danach haben wir uns verabredet, zum Dinner, ins Kino und alles mögliche, und es wurde eine sehr romantische Affäre. Waldo hat mir einmal gesagt, es sei so, als ob wir uns schon immer kennen würden, er meinte, als ob er schon immer ein Teil meines Lebens gewesen wäre und als ob sich das niemals ändern würde. Glaubst du an die Wiedergeburt?« Sie schaute Bennett fragend an, mit großen Augen wie ein Kind. »Nun, um die Wahrheit zu bekennen, ich habe darüber noch nicht nachgedacht«, erwiderte er. »Aber es ist möglich, nehme ich an.« »Genau. Es ist möglich.« Das schien sie zu befriedigen. »Waldo hat irgendwie daran geglaubt – ich meine, das 46
wollte er vermutlich ausdrücken, als er sage, er komme sich so vor, als ob wir uns schon seit jeher kennen würden. Er meinte, wir seien in einem früheren Leben schon einmal beisammengewesen.« Plötzlich sackte sie zusammen. Bennett trat rasch zu ihr, um sie aufzufangen, aber sie raffte sich gerade noch rechtzeitig wieder hoch. Er half ihr in einen Sessel. »Du hast einen schrecklichen, einen schweren Tag hinter dir«, sagte er leise. »Ich werde jetzt gehen. Du solltest dich hinlegen und versuchen, ein paar Stunden zu schlafen.« Sie ließ einige Zeit verstreichen, ehe sie antwortete, als müßten seine Worte erst langsam in ihre Gedanken einsickern. Dann sagte sie: »Ich danke dir.« Und danach: »Aber warum sollte jemand so etwas tun? Warum sollte jemand einen so liebenswürdigen Menschen wie Waldo töten wollen?« »Genau das ist es, was wir herausfinden müssen«, antwortete Bennett.
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Kapitel 4 Die Firma »Esplanade-Cadillacs« hatte ihren Namen davon, daß der Besitzer sich eine neue Methode ausgedacht hatte, seine Wagen den Interessenten zu präsentieren. Er hatte vor dem Gebäude eine weitläufige Esplanade teeren lassen und die nagelneuen Cadillacs dort und am Straßenrand geparkt, so daß man den Eindruck hatte, man befinde sich in einer sehr reichen Gegend, wo die Coupe de Villes und Eldorados und Sevilles zum Lebensstil der Wohlhabenden gehörten, die hier wohnten. Bennett ließ seinen Buick ein Stück weiter oben auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen. Ein Mann in mittleren Jahren mit Bürstenschnurrbart und dunklem Haar mit grauen Strähnen, einer Brille mit Perlmuttgestell, einem Nadelstreifen-Geschäftsanzug und einer Rosenknospe am Revers näherte sich diskret, sobald Bennett den Verkaufsraum betreten hatte, in dem nach dem Prinzip der Firma keine Wagen standen. Man konnte sie statt dessen durch das Fenster betrachten, draußen auf dem freien Platz, wo sie entsprechend geschickt geparkt waren. »Guten Tag, Sir«, sagte ein Mann, der wie ein etwas extravaganter Bankdirektor aussah. »Interessieren Sie sich für einen Wagen?« »Könnte sein«, antwortete Bennett. »Und was haben Sie sich vorgestellt?« fragte der Verkäufer. »Eine Limousine?« Dabei beäugte er Bennett zweifelnd, aber er konnte es ja immerhin einmal versuchen. »Ich glaube nicht«, erwiderte Bennett. »Ich bin mehr für 48
ein Fahrzeug, bei dem man merkt, daß man fährt.« »Natürlich«, stimmte ihm der Verkäufer zu. »Also etwas mehr Persönliches.« Bennett nickte, stand mit hinter dem Rücken verschränkten Armen da wie der Prinzgemahl der Königin und starrte durch das Fenster hinaus auf die Esplanade. Der Verkäufer versuchte, seiner Blickrichtung zu folgen. »Sie meinen den Eldorado«, riet er. »Das wäre sicher genau das richtige für Sie.« »Ich habe erst heute einen gesehen«, gestand Bennett, »der mir sehr gut gefallen hat. Einen Wagen in zwei verschiedenen Blautönen.« »O ja. Aber das war eine Sonderanfertigung. Die Farben von Mrs. Halliday. Königsblau und Graublau. Fabelhaft.« »Bestimmt«, bestätigte ihm Bennett. »Hatte Mrs. Halliday nicht auch schon im vergangenen Jahr einen Wagen mit einer ähnlichen Lackierung?« »Jedes Jahr«, erklärte der Verkäufer. »Meine Karte«, sagte er dann und reichte sie Bennett, als habe er sie sich gerade aus dem Ärmel gezaubert. »Wir können jederzeit eine Probefahrt für Sie arrangieren. Sie brauchen mich nur anzurufen …« Sein manikürter Zeigefinger berührte seine Brust. »Jederzeit, wie gesagt; Sie können den Wagen dann selbst erproben.« »Vielen Dank.« Bennett beugte sich vor. »Im letzten Jahr war ich fast schon so weit«, sagte er mit verschwörerischem Ton. »Ich wollte mir den Wagen von Mrs. Halliday einmal genauer ansehen, aber plötzlich besaß sie ihn nicht mehr. Wohnt sie noch immer dort …« Er bewegte die Hand in nördlicher Richtung. »O ja, sicher«, erwiderte der Verkäufer. »Warum sollte sie von dort wegziehen?« 49
»Nein, das könnte ich mir auch nicht vorstellen«, stimmte ihm Bennett zu. »Ich meine, wenn man sich einmal an einen solchen Lebensstil gewöhnt hat …« Wieder machte er eine entsprechende Handbewegung. »Absolut«, sagte der Verkäufer. »Nun, in diesem Jahr sollte ich mir die Lackierung wirklich einmal genauer ansehen.« Er machte zum dritten Mal dieselbe Handbewegung. »Vor allem das Schieferblau. Finden Sie nicht, daß es zu sehr Schiefer ist?« »Geschmackssache«, erwiderte der Verkäufer. »Na schön. Ich glaube, ich geh’ mal rüber zu den Hallidays und sehe mir die Lackierung genauer an.« Diesmal zeigte er etwas genauer in die Richtung, in der er das Haus der Hallidays vermutete. »Wo war das noch? Auf der Nordseite oder auf der Südseite der Straße?« »Ich bin nie dortgewesen«, gestand der Verkäufer. »Aber ich nehme an, der Name steht auf dem Briefkasten draußen an der Straße.« »Ach ja. Richtig.« Bennett dankte dem Verkäufer und verließ die Firma »Esplanade-Cadillacs«. Als er seinen Buick erreicht hatte, warf er einen Blick zurück. Der Verkäufer stand unter der Tür und winkte ihm freundlich zu. Bennett erwiderte den Gruß mit einem Fingerschnippen. Daraufhin kehrte der Verkäufer in seinen leeren Verkaufsraum zurück, und Bennett nahm einen Stadtplan aus dem Handschuhfach. Er fand die Frisco Street, wo Waldo Felix nach Auskunft von Todd Straub gearbeitet hatte, und fuhr dorthin. Die Frisco Street befand sich mitten in einem größeren Industrieviertel auf der Ostseite der Stadt. Die Fabriken schleuderten sichtbaren, gereinigten Dampf und unsichtbare Umweltverschmutzung aus ihren Kaminen auf Parkplätze vom Umfang kleinerer europäischer 50
Fürstentümer. Die Firma »Natürliche Neuheiten« war leicht zu finden, ein viereckiges, zweistöckiges Gebäude aus dunklen Ziegelsteinen, mit Fenstern, die einen hübschen Ausblick auf die Parkplätze gewährten. Oben auf dem Gebäude war eine riesige Karotte aus Plastik, die zu lächeln schien und ihre Blätter in langsamer, würdevoller Weise bewegte. Bennett entdeckte einige freie Parkplätze mit dem Hinweis »Besucher« und parkte den Wagen dort. Die Eingangshalle war mit verschiedenen Produkten der Firma dekoriert; auf dem Schreibtisch, hinter dem ein älterer Mann saß und Bennett zunickte, stand ein Telefon in der Gestalt eines Rhinozerosses; daneben lagen mehrere Gegenstände, die Bennett für Früchte und Gemüse hielt, in menschlicher Gestalt – winzige Figuren, deren Köpfe und Gliedmaßen eben noch zu erkennen waren. »Guten Tag«, sagte der Mann mit einer lächerlich hohen Falsettstimme. Dann drückte er auf einen Knopf, und die Früchte und Gemüse auf dem Tisch begannen zu tanzen auf eben erst gewachsenen Beinen, wedelten mit den aus den Rümpfen geschossenen Köpfen. »Guten Tag«, erwiderte Bennett, nachdem er das Spiel eine Weile betrachtet hatte. »Wir sind hier, um Ihnen behilflich zu sein«, sagte der Alte mit seiner hohen Stimme. »Das ist unser ganzes Bestreben.« »Dann bin ich ja richtig«, erwiderte Bennett. »Und ich werde Ihnen sagen, in welcher Weise Sie mir behilflich sein können.« »Ich werde mich freuen, Ihre Wünsche zu hören.« »Es geht eigentlich weniger um Wünsche als um eine Auskunft. Sie hatten einmal einen Angestellten namens Waldo Felix.« 51
»Er ist dahingegangen. Jetzt ist er im Himmel, bei vielen netten Leuten, Früchten und Gemüsen, Bäumen und so weiter …« Bennett war versucht zu fragen, ob der Alte ihn verkohlte. Die Frage erwies sich als überflüssig. »Sie fragen sich inzwischen, ob ich Sie verkohle«, sagte die Falsettstimme. »Ja – offen gestanden, mir ist dieser Gedanke bereits gekommen«, gab Bennett zu. »Ich meine es aber im Ernst«, erwiderte der Alte. »Wir alle meinen es sehr ernst. Auch Waldo Felix hat es ernst gemeint.« Er drückte auf einen anderen Knopf, und die kleinen Figuren hörten auf mit ihrem Tanz und kippten zur Seite wie abgelaufene Brummkreisel. »Was wollen Sie?« fragte er jetzt, und seine Stimme klang nicht mehr so seltsam. »Sind Sie von der Polizei oder einer Behörde?« »Nein, eigentlich nicht«, erwiderte Bennett. »Ich bin ein Amateur-Erfinder, der mit Waldo bekannt war, und ich hatte ihm ein paar meiner Werke gegeben, weil er dafür eine Chance auf dem Markt sah, aber jetzt, wo er den Jordan überquert hat, frage ich mich, was mit meinen Sachen geworden sein mag. Ich hänge an ihnen wie an Kindern, müssen Sie wissen.« Jetzt runzelte der Alte ein wenig die Stirn; seine Brauen zogen sich zusammen, so daß es aussah, als sei über seiner Nase ein ununterbrochener, dunkler Strich. »Wissen Sie, wen Sie da sprechen müssen?« fragte der Alte rhetorisch. »Sie müssen unsere Mary Symphony sprechen, die Mutter der Kompanie. Sie ist für Sie zuständig.« 52
»Sie müssen es ja wissen«, sagte Bennett. »Und ich sage es Ihnen. Ehrlich und aufrichtig.« Dazu machte er eine Geste, die weder aufrichtig noch ehrlich wirkte. »Wäre es möglich, daß Sie mir ein kurzes Gespräch mit Mary Symphony vermitteln?« fragte Bennett. »Kurz und prompt«, zirpte der Alte. Er drückte wieder auf einen Knopf, und aus dem Schreibtisch quoll weißer Dampf und vernebelte einen Teil des Raums. »Sie denken jetzt vielleicht, daß sie sich aus diesem Rauch materialisiert oder daß Sie darin wenigstens ihr Bild erkennen können. Weit gefehlt. Das soll nichts weiter als eine nette Überraschung sein. Die Leute sagen ›ooooh‹ und schrecken zurück.« »Dann habe ich falsch reagiert«, sagte Bennett. »Tut mir leid.« »Wenn Sie die Mutter der Kompanie sprechen wollen«, fuhr der Alte fort, »dann müssen Sie dieser Aubergine folgen.« Als sich der Rauch verflüchtigt hatte, sah Bennett eine winzige Person, die ein Auberginenkostüm trug. Und als sie sich in Bewegung setzte, sagte der Alte mit seiner dünnen, quiekenden Stimme: »Folgen Sie der Aubergine!« Bennett tat es, und das schrille Gelächter des Alten hallte noch nach, als die Aubergine eine Tür öffnete, und Bennett in ein Atelier gelangte. Die Leute hier waren alle normal groß und trugen normale Kleidung: Jeans und Sporthosen und Pullover und Hemden und Blusen; die Zahl der Frauen entsprach ungefähr der der Männer. Sie beugten sich über große Arbeitstische, unter hellem Neonlicht, und sägten, nähten, klebten und nagelten an kleinen, mittelgroßen und riesigen Nachbildungen von Früchten und Gemüsen. Es gab auch Mineralien, wie 53
Bennett vermutet hatte, in Formen von riesigen Felsbrocken, und einer davon wurde auf dem Zeigefinger einer hübschen, jungen Frau balanciert, die über ihre scheinbare Kraft entzückt zu sein schien. In der entferntesten Ecke des großen Raums war ein verglastes Büro, und drinnen sah man einen großen Schreibtisch mit Papieren und Gegenständen, die Bennett für weitere Produkte der Firma »Natürliche Neuheiten« hielt. Außerdem gab es einige buntbemalte Aktenschränke in dem Büro und eine riesige Stoffpuppe mit Perücke und vollständiger Kleidung. Die Aubergine öffnete die Tür des Büros und forderte Bennett durch einen Wink zum Eintreten auf. Drinnen erkannte Bennett, daß das, was er für eine Stoffpuppe gehalten hatte, keine Puppe, sondern ein Mensch war. »Setzen Sie sich«, sagte sie und deutete auf einen freien Stuhl in einer Ecke. »Ich komme gleich zu Ihnen.« Die Puppe kramte in einem Stapel von Akten auf dem Schreibtisch. »Waldo Felix? Soll das das Thema unserer Unterhaltung sein?« »Richtig«, erwiderte Bennett und bemerkte das Telefon auf dem Schreibtisch, über das, wie er vermutete, der Alte die Frau von Bennetts Besuch in Kenntnis gesetzt hatte. »Sind Sie Mary Symphony?« »Certainement«, antwortete sie mit falschem französischen Akzent. »Wie gefällt Ihnen meine Verkleidung?« Sie ging zu Bennett hin, und er stellte fest, daß Mary Symphony eine sehr alte Frau war; ihr Gesicht unter dem Puppen-Make-up war faltig und schlaff. »Waldo Felix ist tot, hörte ich. Ein natürlicher Tod?« 54
fragte sie. Bennett schüttelte den Kopf. »Ermordet, nach den Berichten in der Presse. Und das hat mich ziemlich am Boden zerschmettert. Ich meinte, er sollte meine Erfindungen bei Ihnen vorführen, und ich dachte schon daran, wie sich mein Leben von nun an verändern und ein Leben im Wohlstand werden würde – und dann auf einmal war der gute Waldo tot. Mit ihm sind meine Träume gestorben.« »Sie sind ein Quatschkopf«, sagte Mary Symphony freundlich. »Das ist durchaus möglich«, erwiderte Bennett. »Aber wir alle haben unser Kreuz zu tragen.« Mary Symphony lachte. Es war ein gewaltiges, ein schallendes Gelächter. Bennett wartete, bis es sich gelegt hatte. »Jedenfalls, ich war ein guter Freund von Waldo«, log er. »Aber kein Erfinder«, lachte Mary Symphony. »Ein so interessant aussehender Mann wie Sie ist nie und nimmer Erfinder. Sie kommen mir eher vor wie ein Hauptdarsteller, der eine neue Rolle sucht. Geht es Ihnen gut? Sie wirken etwas blaß und nervös. Haben Sie vielleicht eine Erkältung?« Bennett fühlte sich ausgesprochen unwohl angesichts dieser seltsamen Unterhaltung. »Nein«, sagte er. »Ich hab’ keine verdammte Erkältung.« »Also schön«, erklärte Mary Symphony, »schauen wir uns ins Auge, und hören wir auf mit dem Quatsch. Was wollen Sie?« »Ich will herausfinden, wer Waldo Felix ermordet hat«, sagte Bennett. »Warum?« Die alten Augen wirkten argwöhnisch. 55
»Seine Frau ist seit langem mit mir befreundet.« »Nur deshalb?« »Ja, deshalb.« »Und was wollen Sie dabei von mir?« »Wie lange hat Waldo hier gearbeitet?« Sie überlegte, ging dann zu ihrem Schreibtisch und öffnete eine große Schublade, die mit Salatblättern gefüllt zu sein schien. »Er hat genau vor zwölf Jahren bei uns angefangen.« Die Zahl zwölf verursachte ein leises Klingeln im Gedächtnis von Bennett. »Und wie kamen Sie damals dazu, ihn zu engagieren?« Mary Symphony schaute in ihr Buch. »Aufgrund einer Empfehlung«, sagte sie. »Wer hat ihn empfohlen?« »Ein Mann in San Francisco«, erwiderte sie. »Wir standen mit ihm in geschäftlicher Verbindung.« »Wissen Sie noch seinen Namen?« fragte Bennett. Sie warf wieder einen Blick in ihr Buch, als müsse, sie erst ihr Gedächtnis auffrischen. »Jules Bingman«, sagte sie dann. Und Bennett hatte seinen ersten Ansatzpunkt.
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Kapitel 5 »Jules Bingman«, wiederholte Bennett. »Hat er Ihnen außer Waldo Felix noch jemanden empfohlen?« Sie drückte den Zeigefinger der rechten Hand gegen die Nasenspitze und drehte ihn dann sachte. »Mal sehen«, sagte sie. Dann: »Soll das ein Apropos sein?« »Ja.« »Also, mal sehen.« Sie überlegte mindestens eine Minute lang. »Ja, noch zwei- oder dreimal«, erklärte sie zuletzt. »Aber ich habe Jules Bingman nie persönlich kennengelernt.« »Warum haben Sie sich dann von ihm Leute empfehlen lassen?« wollte Bennett wissen. Sie schien keine Lust zu haben, diese Frage zu beantworten, sondern wandte sich von Bennett ab, als hätte sie irgendein fliegendes Ungeziefer entdeckt. »Es muß doch einen Grund dafür gegeben haben«, fuhr Bennett fort. »Ich finde es ziemlich unwahrscheinlich, daß Sie auf die Empfehlungen eines Mannes eingingen, den Sie gar nicht kannten. Das ist doch unlogisch.« »Sicher«, gab sie zu. »Und warum haben Sie sich dann trotzdem nach diesen Empfehlungen gerichtet?« »Unter Druck«, sagte sie rätselhaft. »Jemand hat sie gezwungen, Leute zu engagieren, die von Jules Bingman empfohlen wurden – wollen Sie das damit sagen?« Sie überlegte erst, dann antwortete sie: »Ja, Sie haben es sehr gut ausgedruckt.« 57
»Und wer hat Sie – gezwungen?« fragte Bennett. »Das hätten Sie wohl gern gewußt«, erwiderte sie wie ein naseweises Kind. Bennett fragte sich, ob es streng bestraft wurde, wenn man eine alte Ziege gegen das Schienbein trat. »Kommen Sie«, bat er liebenswürdig. »Wer hat Sie gezwungen? Oder soll ich sagen – erpreßt? Mein Gott, mir geht es doch nur darum, einer armen, verzweifelten Witwe zu helfen und Sie treiben Ihr Spiel mit mir, um sich zu amüsieren.« »Zwei Leute«, antwortete sie. »Und wer sind die zwei?« »Der eine ist ein Lieferant, von dem wir unser Material bezogen haben, der andere ein Kunde, der unsere Ware vertreibt.« Dann rieb sie sich die Hände, um anzudeuten, daß sie keinen weiteren Kommentar abzugeben geneigt war. »Ende der Fahnenstange«, sagte sie dann. »Das soll alles sein?« fragte Bennett ungläubig. »Alles«, sagte sie. »Geben Sie mir wenigstens einen Tip«, bat Bennett. »Wie wollen wir weiterspielen? Nach dem Schema ›Alles oder nichts‹? Oder soll es ›Heiteres Beruferaten‹ sein? Gut. Sind diese beiden Personen größer als eine Hutschachtel? Oder kleiner? Zum Teufel, was wollen Sie eigentlich? Was muß ich denn noch alles tun, um brauchbare Informationen zu erhalten? Es ist für eine Witwe«, wiederholte er. Dann, als sie nicht antwortete: »Na schön, wenn Sie meinen. Diese ungenannten Personen haben Sie gedrängt. Warum haben Sie ihrem Drängen nachgegeben? Sie hatten etwas gegen Sie in der Hand, ist das richtig? Vielleicht stopfen Sie Kokain in Ihre hübschen Früchte und Gemüse? Oder was?« 58
»Waschen Sie erst mal Ihren Mund, bevor Sie mit mir reden«, sagte Mary Symphony. »Mit Seife. Und schämen Sie sich, so etwas auch nur zu denken. Was sind Sie bloß für ein Mensch? Ich hätte nie gedacht, daß Sie so gemein sein können.« Ihre alte Stimme bebte vor Erregung. Bennett wartete. »Ich habe ihnen dieselbe Frage gestellt wie Sie mir«, erklärte sie schließlich. »Ich erklärte ihnen, daß das eine Erpressung sei, wenn sie mir drohten, die Lieferungen an mich einzustellen oder meine Waren nicht mehr zu vertreiben, falls ich nicht die Leute einstelle, die Jules Bingman empfahl, und was, glauben Sie, haben die zwei darauf geantwortet? Können Sie sich auch nur im Entferntesten vorstellen, was sie darauf sagten? Natürlich nicht.« Sie ging äußerst dramatisch auf ihn zu, riß beide Arme hoch und schlug sich dann die Hände in einer Geste des Nichtglaubenwollens vor die Stirn. »Sie sagten, sie hätten ihre Befehle. So was muß man sich erst mal vorstellen!« »Befehle? Und von wem?« fragte Bennett verwirrt. »Aha!« rief sie. »Haben Sie sie gefragt?« »Natürlich. So zerbrechlich und schwach ich in all den Jahren geworden bin, habe ich mich ihnen in den Weg gestellt und gesagt: ›Befehle – von wem?‹ Sie haben mich weder ausgelacht, noch haben sie mir ins Gesicht gespuckt, aber das Ergebnis war ein ähnliches, das können Sie mir glauben.« Sie wartete ein wenig, um den dramatischen Effekt zu verstärken. »Sie sagten zu mir: ›Das geht Sie einen Scheißdreck an!‹ Stellen Sie sich das vor? Zu einer älteren Bürgerin dieses Landes!« Bennett sagte: »Vor einer Minute sagten Sie mir, Sie hätten zwei oder drei Leute eingestellt, die von Jules 59
Bingman empfohlen wurden. Heißt das, Sie haben außer Waldo weitere Leute auf seinen Wunsch hin engagiert?« »Natürlich.« »Und wer sind diese Leute? Ich möchte mit ihnen sprechen.« »Nicht mehr bei uns«, sagte sie. »Heißt das, sie sind tot?« »Möglich. Wer weiß?« Bennett seufzte. »Hören Sie – besteht irgendeine Möglichkeit, daß ich Ihnen eine einfache Frage stelle, und Sie mir eine ebenso einfache Antwort geben?« Sie fuhr zurück, als hätte er sie ins Gesicht geschlagen. »Was haben Sie da gesagt? Nach all den Informationen, die ich Ihnen gegeben habe, klagen Sie mich an, ich sei störrisch und nicht bereit, Ihnen zu helfen? Ich nenne das Verrat!« Die Hände schossen wieder nach oben und klatschten gegen die Stirn. »Mein Gott!« »Können Sie mir die Namen dieser Leute nennen?« »Ja.« »Arbeiten sie noch für Sie?« Jetzt rollte sie die Augen zur Decke in stummer Verzweiflung. »Ich habe Ihnen doch bereits gesagt, daß diese Leute nicht mehr bei uns sind.« »Ich meine, wir sollten noch mal von vorn anfangen«, schlug Bennett vor. »Im Lauf der vergangenen Jahre hat Ihnen Jules Bingman, ein Mann aus San Francisco, den Sie nie persönlich kennengelernt haben, zwei oder drei Leute empfohlen oder vier, einschließlich Waldo Felix. Und keiner von diesen Leuten ist zur Zeit noch für Sie tätig. Ist das richtig?« »Genau.« 60
»Wir wissen, daß Waldo Felix tot ist.« »Genau.« »Und was passierte mit den anderen?« Bennett hoffte, diesmal bessere Informationen zu erhalten. »Sie sind nicht mehr hier; das habe ich Ihnen bereits mehrmals gesagt.« »Warum haben sie die Stellung aufgegeben?« Sie zuckte mit ihren mageren Schultern. »Aus diesen und jenen Gründen. Krankheit, Umzug der Familie, ein besserer Job – was weiß ich.« »Können Sie nicht die speziellen Gründe in den bewußten zwei oder drei Fällen angeben?« »Ich müßte nachsehen. Mein Erinnerungsvermögen läßt allmählich nach. Ist es denn wirklich so wichtig?« »Es könnte wichtig sein.« »Na gut, dann …« Sie öffnete das große Buch mit dem Salatblattumschlag und blätterte darin, wobei sie die Spitze ihres Zeigefingers wie ein Kind mit der Zunge naß machte. »Da sind wir schon«, sagte sie »Numero Uno…« Sie schaute Bennett verschmitzt an. »Das ist Spanisch. Vorher habe ich auf Französisch gesprochen.« Dann senkte sie den Blick wieder auf das Buch. »Numero Uno hat uns von einem Tag auf den anderen verlassen. Er hat nicht einmal ordentlich gekündigt. Sagte, es sei ein Krankheitsfall in der Familie.« Ihr Finger glitt die Seite entlang. »Der zweite von den in Frage kommenden hat uns ebenfalls ohne Einhaltung der Kündigungsfrist verlassen. Er hatte angeblich ein besseres Angebot erhalten.« Als ihr Finger am dritten Namen halt machte, zog sie die Stirn in Falten. »Auch die dritte von den empfohlenen Personen hat uns von einem Tag auf den anderen verlassen. Ohne Angabe 61
von Gründen – er ist einfach eines Morgens nicht mehr zur Arbeit erschienen, und wir haben seither nichts mehr von ihm gehört.« Sie blickte zu Bennett auf. »Ich habe bisher noch nie an eine mögliche Querverbindung gedacht«, sagte sie bewundernd. »Wieso kommen Sie auf die Idee, es könnte was faul sein im Staate Dänemark?« »Ich weiß es noch nicht mit Sicherheit«, sagte Bennett. »Ist Ihnen jetzt eben wirklich zum erstenmal aufgefallen, daß alle diese von Bingman empfohlenen Leute ihre Firma Hals über Kopf verlassen haben?« »Ich habe nie an eine solche Querverbindung gedacht«, wiederholte sie erstaunt. »Aber warum könnte das sein? Glauben Sie, es hat etwas mit dem Tod von Waldo zu tun?« »Das kann ich Ihnen auch nicht sagen.« Aber Bennett wußte, daß das kein Zufall sein konnte. »Haben Sie eine Telefonnummer oder die Adresse von diesem Jules Bingman?« fragte er Mary Symphony. Sie blätterte zurück in dem großen Buch, bis zur ersten Seite. »Nein, hier nicht«, sagte sie, dann öffnete sie eine Schreibtischschublade und zog ein kleines Buch heraus, das die Form und die Farbe einer Orange hatte. Sie hielt es hoch, damit Bennett es genauer sehen konnte. »Einer unserer Bestseller«, sagte sie. »Ich konnte gar nicht genug davon herstellen. Viele Leute wollten private Adreß- und Telefonverzeichnisse in Orangenform. Können Sie sich das vorstellen?« Sie schlug das Buch auf und las: »Jules Bingman, West Grimes Avenue dreiundzwanzigeinunddreißig, San Francisco. Eine Telefonnummer steht nicht hier.« »Hat er angerufen oder geschrieben, wenn er jemanden empfohlen hat?« »Er hat mich angerufen. Ich habe Ihnen ja gesagt, wie 62
diese beiden anderen Leute mich dazu drängten, seine Empfehlungen ernst zu nehmen. Sie haben mir von Zeit zu Zeit mitgeteilt, daß Bingman anrufen würde, und das hat er dann auch getan.« Bennett schrieb sich die Namen und die letzten bekannten Adressen der Leute auf, die von diesem Bingman empfohlen worden waren und den Dienst bei Mary Symphony so rasch verlassen hatten, dann dankte er der Puppenfrau und ging. Der Alte in der Eingangshalle hing am Telefon, als Bennett an ihm vorbeikam. »Bye-bye«, sagte er zu Bennett. »Bye-bye«, wiederholte Bennett. Der Alte sprach so leise ins Telefon, daß Bennett nichts verstehen konnte, und danach hörte er zu, ohne zwischendurch etwas zu sagen. Als Bennett draußen war, drehte er sich noch einmal um. Der Alte hatte wieder zu sprechen begonnen. Bennett mußte einige Zeit warten, ehe er losfahren konnte, denn ein großer, in zweiter Reihe parkender Lieferwagen hatte seinen Buick für einige Zeit blockiert; inzwischen war es später Nachmittag. Jetzt fuhr er Richtung Westen, zurück nach Hollywood, der grellen Sonne entgegen. Er klappte die Sonnenblende des Buicks herunter, aber da sein Wagen stets im Freien parkte, war sie staubig, und die Sonnenstrahlen reflektierten die Staubpartikel, die jetzt in der Luft hingen. Auch die Windschutzscheibe war staubig, und er drückte auf den Knopf der Scheibenwaschanlage. Die Blätter des Scheibenwischers schaufelten das Wasser von der einen Seite zur anderen – und Bennetts Gedanken von Waldo Felix und dem plötzlichen Verschwinden dreier Männer aus der Firma »Natürliche Neuheiten« bis zu dem sonderbaren Brief, in dem Felix der Tod von Jules 63
Bingman mitgeteilt wurde. Woran mochte Bingman gestorben sein? Und warum hatte sein Tod Waldo Felix so sehr erschreckt? Er bog in eine Tankstelle ein, hielt neben der Telefonzelle und rief Drang im Präsidium an. Nachdem er ihn über seine Ermittlungen informiert hatte, verabredete er sich mit ihm in einem Restaurant in einem älteren Viertel von Hollywood, das zur Zeit eine Renaissance erlebte und in dem sich Geschäfte für Möbel, Stoffe, Teppiche und alles mögliche andere breitmachten – lauter Dinge, für die sich Bennett nie sonderlich interessiert hatte. Das Restaurant wurde von einem jungen Mann namens George Landers geführt, der behauptete, er habe seit frühester Jugendzeit als Koch gearbeitet. Seine Partnerin war eine gewisse Emily Gryzicki, eine junge Frau, die kochte, die Bücher führte und die Gäste begrüßte. Das Essen war eine Mischung aus französischer, italienischer und chinesischer Küche; außerdem gab es gelegentlich »Spezialitäten des Tages«, die oft recht abenteuerliche Namen hatten. Bennett kam gern hierher, denn obwohl es ihm ziemlich gleich war, was er aß, haßte er das, was er ein »pompöses Mahl« nannte: ein Essen, bei dem es mehr darauf ankam, was man aß, als auf die Konversation, die man dabei führte. Nach seinen ersten Besuchen fragten George und Emily gar nicht mehr nach seinen Wünschen, sondern servierten ihm, was sie selbst für besonders empfehlenswert hielten, und Bennett aß alles bereitwillig, genoß es sogar, und redete nicht lange darüber. Drang leistete ihm nicht selten dabei Gesellschaft, kam gelegentlich auch mit ihm auf ein Dessert und eine Tasse Kaffee hierher, wenn sie noch bis spät am Abend gearbeitet hatten. Das Lokal hieß »Achtzig«, weil es die 64
Hausnummer 8080 trug. »Achtzig« war noch nicht geöffnet, als Bennett dort um 17.30 Uhr eintraf, aber Emily ließ ihn durch die Küche ein und gab ihm einen Tisch in einer der hinteren Nischen. »Drang kommt auch her«, sagte er zu ihr. »Ich schau’ mich nach ihm um, und lass’ ihn rein«, erwiderte Emily. Zum Dinner legte sie stets ein ziemlich exotisches, starkes Make-up auf, so daß sie aussah wie eine nicht mehr ganz junge Schauspielerin beim Vorsprechen. Ihr langes, dunkles Haar wurde im Nacken von einem hellen, handgewobenen Band zusammengehalten. »Hallo, Fred«, rief George aus der Küche herüber. »Wie geht’s?« »Nicht schlecht«, rief Bennett zurück. »Ich habe heute Lammkeule mit Linsen«, sagte George. »Mag ich das?« fragte Bennett. »Sie werden begeistert sein«, erklärte George. »Ich weiß nur nicht, ob ich viel Zeit habe.« »Das ist doch komisch mit Ihnen, Fred. Entweder Sie haben furchtbar viel Zeit, oder Sie haben furchtbare Eile«, erklärte Emily, als sie ihm einen Scotch auf Eis brachte. »Mein Gott, was für ein verrücktes Leben.« Sie sah jemanden an der Tür und sperrte kurz auf, um Drang hereinzulassen, der sie freundlich begrüßte und ein paar Worte zu George in die Küche hinüberrief. Danach setzte er sich zu Bennett an den Tisch in der Nische, und Emily ging an die Bar, um ihm ebenfalls einen Drink zu bringen. »Nett, dich zu sehen«, sagte Drang trocken. »Aus welchem Grund hast du mich herbestellt?« »Es könnte sein, daß ich nach San Francisco muß, und 65
wenn ich dir das am Telefon gesagt hätte, dann hättest du wahrscheinlich entrüstet eingehängt«, sagte Bennett, nachdem er einen Schluck getrunken hatte. »Ich kann hier auch entrüstet einhängen«, erwiderte Drang. »Was gibt’s denn in San Francisco?« »Einen Mann namens Jules Bingman, der in der Grimes Street wohnte und vor zwei Wochen gestorben ist. Ich möchte wissen, woran, wer er war, und so weiter.« Emily brachte Drangs Drink und ließ die beiden danach allein. »Wenn ihr was braucht, müßt ihr schreien«, sagte sie, als sie hinausging zum Empfang, um alles für den Abend vorzubereiten. Bennett teilte Drang mit, was er über Jules Bingman erfahren hatte. Als er damit fertig war, nahm Drang einen Schluck aus seinem Glas und blickte an Bennett vorbei; seine Augen waren in die Ferne gerichtet. Bennett kannte diesen Blick; er hatte ihn schon oft an Drang bemerkt. Er bedeutete, daß das Computergehirn des Kriminalbeamten in Tätigkeit getreten war. »Willst du deine Geistesblitze nicht mit deinem freiberuflichen Mitarbeiter teilen?« fragte er dann Drang. »Da gibt es nicht viel zum Teilen«, erwiderte Drang, ohne die Augen auf Bennett zu richten. Aber Bennett glaubte ihm nicht. »Warum hast du mich dann überhaupt angeheuert?« fragte er unvermittelt. Drang zuckte zusammen. »Was? Warum ich dich engagiert habe? Das hab’ ich dir schon gesagt. Der Verstorbene hatte einen an dich adressierten Brief bei sich. Und da der Verstorbene nicht in unserem Amtsbereich gefunden wurde, konnten sich meine Leute nicht einmischen …« »Aber du hast dich trotzdem eingemischt«, erinnerte ihn 66
Bennett. »Und du bezahlst mich für meine Arbeit.« »Schön – aber du bist schließlich nicht die Polizei von Los Angeles. Du bist nichts weiter als ein einzelner, freier Mensch.« »Der von dir engagiert wurde«, beharrte Bennett. Er trank einen großen Schluck Scotch. »Was geht denn da vor, Captain? Würdest du vielleicht die Güte haben, mich in deine Geheimnisse einzuweihen? Oder soll ich wie ein Elefant im Porzellanladen herumtrampeln?« Drang lächelte ein wenig verkniffen und fuhr sich dann mit der Hand über das kurzgeschnittene Haar. »Du bist von mir engagiert worden, damit du soviel wie möglich über den Mord an Waldo Felix herausfindest. Dafür wirst du von mir bezahlt, und du arbeitest völlig unabhängig von meiner Behörde. Also worin besteht dein Problem?« »Ich habe keins«, sagte Bennett. »Wollte dir nur mitteilen, daß ich möglicherweise nach San Francisco muß, und da du für meine Spesen aufkommst, halte ich es für angebracht, dich davon in Kenntnis zu setzen.« »Gut – aber halte mich auf dem laufenden«, sagte Drang. Er trank sein Glas aus, verabschiedete sich von George und Emily und ging. Plötzlich fühlte sich Bennett wie in einer Falle. Der Brief, das Engagement, seine alte Freundschaft mit Ethel Felix – das alles schien zusammenzupassen und seine Verwundbarkeit zu unterstreichen. Nein. Nein, es konnte keine Falle sein, versicherte er sich. Es gab keinen Grund für Drang, ihn in eine Falle laufen zu lassen. Bennett brauchte Arbeit, und Drang wußte das. Drang sagte die Wahrheit, wenn er ihm mitteilte, warum die Polizei von Los Angeles sich nicht um den Fall kümmern konnte; er lag nun einmal außerhalb ihres Dienstbereichs. Deshalb hatte er Fred Bennett, den 67
berühmten Ex-Kriminaler mit der lausigen Reputation, angeheuert. Nein, es konnte keine Falle sein. »Möchten Sie etwas essen, Fred?« fragte Emily. Als er antwortete, er habe großen Hunger, brachte sie ihm eine große Platte mit einer Lammkeule, braun und saftig, auf einem Bett von Linsen. »Grüne Bohnen?« fragte sie. Und da sie wußte, daß er weder ja noch nein sagen würde, brachte sie eine Schüssel mit knackigen grünen Bohnen, über die George noch etwas gehacktes Basilikum gestreut hatte. »Weißen oder roten Wein?« fragte sie und brachte ihm, ohne seine Antwort abzuwarten, ein Glas roten. Er aß schweigend, während sich George und Emily auf den abendlichen Ansturm der Gäste vorbereiteten. Sein Hauptinteresse galt Todd Straub. Was hatte er in San Francisco gemacht? War er auch zwei Wochen zuvor dort gewesen, als Jules Bingman, aus welchem Grund auch immer, da gestorben war? Und wieso wurde eigentlich der Tod von Waldo Felix ausgerechnet in einer Nachrichtensendung in San Francisco erwähnt? So etwas interessierte doch höchstens die Lokalpresse von Los Angeles und vielleicht die hiesigen Funk- und. Fernsehanstalten. Wer ist Mrs. Halliday, und was hatte Todd in ihrem Wagen zu suchen? Soweit Bennett das erkennen konnte, hatte eine Frau am Steuer des zweifarbigen Cadillac gesessen, obwohl er sie nicht genau hatte erkennen können. Er aß sein Abendessen, putzte den Teller zu Emilys Entzücken ganz leer, dankte George, machte ihm ein enthusiastisches Kompliment und verließ das »Achtzig« zu der Zeit, als die ersten Gäste auftauchten. »Guten Abend«, begrüßte Emily sie, während Bennett 68
sich verabschiedete. »Wir haben Ihnen den üblichen Tisch reserviert, Mr. Averback. Guten Abend, wie geht es Ihnen, Mrs. Averback?« Draußen setzte sich Bennett in seinen Buick und fuhr zurück ins Valley, zum Haus von Straub in der Vernon Street. Auf dem Weg kam er bei Ethel Felix vorbei. Im Gegensatz zu seinem letzten Besuch, als dort eine große Zahl von Wagen parkte, wirkte die Straße jetzt, am frühen Abend, wie ausgestorben. Eine einzige Lampe brannte im Wohnzimmer des Hauses, und auf der Rückseite war ein zweiter Raum hell erleuchtet, Bennett nahm an, daß es die Küche war. Er sah schon die Blinklichter, als er noch einen Block von der Vernon Street entfernt war. Eine Streifenwagen der Polizei und ein Sanitätswagen standen vor dem Haus der Straubs, und als Bennett dort anhielt, trugen gerade zwei Sanitäter eine Bahre heraus, auf der ein Mann im Jogginganzug lag. Als Bennett näherkam, sah er, daß die Brust des Mannes eingedrückt war. Die Sanitäter schoben die Bahre in den Wagen, schalteten die Sirene ein und fuhren davon. Und Bennett hatte eine Liste von Fragen für einen Mann, der nicht so aussah, als ob er sie ihm jemals noch würde beantworten können.
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Kapitel 6 Bennett kannte den jungen Polizeibeamten nicht, der an der Tür stand und so blaß war, daß Bennett annahm, er hatte noch nicht viele Einsätze bei Gewaltverbrechen hinter sich. Auf dem Boden jenseits der Türschwelle waren kleine Pfützen von Blut zu erkennen. »Was ist denn passiert?« fragte Bennett. »Niemand darf das Haus betreten«, erwiderte der junge Beamte. »Hier findet eine kriminaltechnische Untersuchung statt.« »Ich bin ein Freund der Familie«, erklärte Bennett. »Was ist denn mit Todd passiert?« »Ist das sein Name?« »Todd Straub«, sagte Bennett. »Sie können nicht hereinkommen«, wiederholte der Polizeibeamte. »Ich verstehe. Aber was ist denn passiert?« »Die Dame des Hauses…« begann der Polizeibeamte. »Helen«, unterbrach ihn Bennett. »Sie war gerade dabei, das Abendessen zuzubereiten. Sie glaubte, gehört zu haben, wie ein Wagen vor dem Haus anhielt. Sie nahm an, es sei ihr Mann, und wußte nicht, ob er den Wagen genommen hatte, als er ein paar Stunden zuvor weggegangen war. Also ging sie zur Haustür …« Er tippte mit dem Zeigefinger gegen das Holz. »Sie wollte ihm aufmachen, da sie auch nicht wußte, ob er seine Schlüssel bei sich hatte oder nicht. Und sie erinnert sich, gehört zu haben, wie der Wagen, der zuvor angehalten hatte, sehr rasch, mit quietschenden Reifen, weggefahren 70
ist. Als sie die Tür aufmachte, lehnte ihr Mann dahinter und fiel nach vorn ins Haus, wobei er sie fast umgerissen hätte.« Seine blankpolierten Stiefel deuteten auf die Blutpfützen, die Stelle, wo Todd Straub zu Boden gefallen war. »Sie weiß nur noch, daß sie laut geschrien hat, weiß aber nicht mehr, ob sie selbst oder jemand anderes die Polizei und den Rettungswagen angerufen hat. Mein Partner und ich waren nur zwei Blocks von hier auf einer Kontrollfahrt und kamen sehr rasch hierher. Der Sanitätswagen ist etwa zwei Minuten nach uns eingetroffen.« Er hatte zu schwitzen begonnen, während er seinen Bericht erstattete, und wischte sich jetzt nervös die Stirn mit dem Handrücken. »Das ist es, was hier passiert ist«, schloß er. »Ich möchte Helen sprechen«, sagte Bennett. »Sie können jetzt nicht reinkommen«, wiederholte der junge Beamte. »Das ist eine kriminaltechnische Untersuchung.« »Natürlich. Ich verstehe«, sagte Bennett. Ein zweiter Polizeibeamter, älter und erfahrener aussehend, tauchte an der Wohnzimmertür auf. »Die Dame des Hauses fährt ins Krankenhaus zu ihrem Mann«, erklärte er. »Lassen Sie sie durch die Hintertür hinaus«, schlug Bennett vor. »Sie sollte nicht hier vorbeikommen, bevor das Blut weggewischt und der Boden gesäubert ist.« Der zweite Polizeibeamte sah aus, als halte er Bennetts Vorschlag für äußerst suspekt, aber der erste teilte ihm mit, daß Bennett ein Freund der Familie sei. Der zweite Polizeibeamte nickte und verschwand wieder im hinteren Teil des Hauses. Bennett trat hinaus in den Garten und ging zu den beiden Wagen der Straubs, die in der Einfahrt parkten. Fast im selben Augenblick erschien 71
Helen; jetzt trug sie nicht mehr ihr Tenniskostüm, sondern Rock und Bluse. Sie drückte sich eine Handtasche an die Brust. Als sie Bennett sah, hielt sie abrupt inne. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« fragte er sie. Sie schüttelte den Kopf; ihre Augen waren vor Entsetzen ganz groß und dunkel. »Sie haben mir gerade gesagt, wo sie ihn hingebracht haben. Aber – vielen Dank.« Bennett wollte ihr all die Fragen stellen, die er eigentlich ihrem Mann hatte stellen wollen, aber jetzt war nicht die Zeit dazu. Dennoch kam ihm ein Gedanke, und er fragte noch rasch: »Übrigens – wo wohnen die Hallidays?« Die Frage kam so rasch, daß sie nicht die Zeit hatte, über ihre Bedeutung nachzudenken. »Draußen im Green Valley«, sagte sie. »Die Ranch ist an der Cabrillo Road.« Dann stieg sie in ihren Wagen und fuhr rückwärts hinaus auf die Straße. Bennett schaute ihm nach, bis die roten Heckleuchten um die nächste Ecke verschwunden waren. Ein neutraler Wagen der Polizei hielt gegenüber dem Haus, und zwei Kriminalbeamten der Mordkommission, die Bennett kannte, stiegen aus. Bennett ging rasch weg, um nicht mit ihnen sprechen zu müssen. Sobald sie drinnen waren im Haus, stieg er in seinen Buick und fuhr davon. Es war eine warme, trockene Nacht, das typische Septemberwetter in Südkalifornien, wo überall in den verdorrten Hügeln rings um Los Angeles Feuer ausbrechen und sich so rasch ausbreiten, daß man sie kaum bekämpfen kann. Als Bennett in Richtung Westen zum Green Valley fuhr, glaubte er schon von irgendwoher Rauch zu riechen, aber dann tippte er eher auf ein Grillfeuer in einem der Gärten. Die Schnellstraße war dicht befahren; späte Pendler, die sich auf den Nachhauseweg machten. Aus der Ferne hörte 72
Bennett das Heulen von Sirenen, irgendwo im Westen. Inzwischen hatte sich der Verkehrsstrom immer mehr verlangsamt, und man kam stellenweise nur noch im Schrittempo voran. Manche Fahrer scherten auf den Randstreifen aus und öffneten die Motorhauben, um ihre überhitzten Motoren auskühlen zu lassen. Die Wagenfenster waren überwiegend geschlossen, und die Klimaanlagen bemühten sich, mit der Hitze im Inneren fertigzuwerden. Schließlich tauchten am Horizont die Hügel auf, und jetzt sah Bennett auch schon den Feuerschein, das Ziel der Wagen mit den Sirenen, die er gehört hatte, und die Ursache für den Verkehrsstau, in dem er festsaß. Er schaltete die Klimaanlage ab und kurbelte die Fenster herunter, sicher, ohne größeren Schaden an sich und dem Motor seines Wagens hier durchzukommen. Während er so im Stau meterweise vorwärtsrollte, erinnerte er sich an das seltsame Verhalten von Drang bei ihrem Treffen im »Achtzig«. Bennett wußte nicht, was es zu bedeuten hatte, aber er kannte Rufus Drang lange genug, um zu bemerken, daß er sich in Ausflüchte gerettet hatte. Es waren keine ausgesprochenen Lügen, aber Drang mischte in solchen Fällen unbedeutende Wahrheiten mit längerem Schweigen und Informationen, die in die falsche Richtung deuteten. Es war klar: Drang wußte etwas, was er Bennett nicht mitteilen wollte, und das hing mit der Frage zusammen, warum er Bennett unbedingt in den Fall hineinziehen wollte. »Außerhalb unseres Dienstbereichs« hatte er gesagt und als weitere Rechtfertigung den Brief angeführt, der an Bennett adressiert war. Doch das war nicht genug, wie Bennett fand, um ihn zu engagieren und dafür das ohnehin spärliche Budget der Abteilung zu strapazieren. Es steckte zweifellos noch mehr dahinter. Jetzt war er dem Feuer ziemlich nahegekommen, ein 73
Buschfeuer, das sich fast bis zum Rand der Schnellstraße durchgefressen hatte. Hier und da schoß das Feuer wie Kaskaden in die Luft. Aber sobald er daran vorbei war, normalisierte sich auch der Verkehrsfluß, und er kam wieder rascher voran. Jetzt schaltete er das Radio ein; die Klimaanlage ließ er jedoch noch ausgeschaltet, um den Motor nicht noch mehr zu überhitzen. Ein Nachrichtensender informierte ihn über die Weltlage, die Sportergebnisse und die Lokalereignisse, wobei freilich nicht von Todd Straub die Rede war und wer oder was diese schwere Verletzung verursacht hatte. An der Ausfahrt Green Valley verließ er die Schnellstraße, überquerte sie auf einer Brücke nach links und fuhr dann über eine schmale, kurvenreiche Straße durch die dunkle Nacht, angefüllt mit dem Zirpen von Millionen von Grillen. Als die Straße wieder gerade verlief, sah er, daß er sich im Ranchgebiet befand, wobei die einzelnen Höfe und ihre Begrenzungen durch weißgestrichene Zäune zu erkennen waren. Er fuhr langsamer, um die Namen auf den Briefkästen entlang der Straße lesen zu können, und ziemlich, am Ende des Tals, auf der nördlichen Straßenseite, entdeckte er schließlich einen übergroßen Briefkasten mit der Nummer 39900 und dem Namen Halliday. Er bog von der Straße ab, blieb auf dem Randstreifen stehen und sah sich um. Das Haus war weit von der Straße zurückgesetzt, die Zufahrt schnurgerade, wie mit dem Lineal gezogen. Die Ranch wirkte aus der Ferne wie ein weitläufiges Herrenhaus aus Naturstein mit einem roten Schindeldach, wobei die seitlichen Flügel einen Innenhof bildeten. Links von der Auffahrt befanden sich Stallungen und ein Korral, in dem vermutlich die Pferde trainiert wurden, denn innerhalb des Zauns gab es mehrere Oxer und andere Hindernisse, einfache, aber auch zwei- und dreifache. Und während 74
Bennett die Ranch betrachtete, fiel ihm ein, was der Cadillac-Verkäufer mit den »Farben von Mrs. Halliday« gemeint hatte: Es handelte sich dabei um die Farben ihres Rennstalls. Ein Hund begann zu bellen, ein großer Hund, und ein kleinerer, vermutlich ein Terrier, stimmte ein. Bennett fragte sich, ob es heutzutage noch irgendeinen Besitz auf dem Land gab, wo man nicht mit Hundegebell empfangen wurde. Er langte hinein in den Wagen, öffnete das Handschuhfach und fand eine Packung Hundekuchen, die er sich in die Jackentasche steckte, für den Fall, daß er die Biester abwehren mußte. Dann öffnete er das Tor zur Halliday-Ranch, schritt hindurch, schloß es wieder und ging hinauf zum Haus. Am Rande des Weges gab es mehrere große kalifornische Eichen, die ihm notfalls Deckung geboten hätten, und die ihre Zweige weit über die Grasflächen ausbreiteten. Die Pferde vermutete er in den Stallungen, die jetzt deutlich zu erkennen waren. Während er sich dem schwach beleuchteten Haus näherte, rechnete er damit, daß man inzwischen auf das Gebell reagiert hatte. Der größere Hund bellte noch immer mit tiefer Stimme, während der kleinere erregt japste wie ein Knabensopran, dessen Stimme kurz vor dem Stimmbruch stand. Er hatte fast das Haus erreicht und befand sich an der Stelle, wo die Auffahrt eine große Kurve beschrieb, als die Außenbeleuchtung eingeschaltet wurde – so viele Scheinwerfer, daß ihn die Helligkeit wie ein Schlag traf. Er blieb wie angewurzelt stehen und versuchte, so harmlos und ungefährlich dreinzuschauen wie möglich, da er annahm, daß er vom Haus aus beobachtet wurde. Nach einer angemessenen Pause ging er weiter auf den Vordereingang zu. Die Tür wurde geöffnet, kurz bevor er sie erreichte, und eine Gestalt stand im Schatten dahinter. 75
Bennett versuchte, etwas im Halbdunkel zu erkennen. »Ja?« Es war die Stimme einer Frau. »Mrs. Halliday?« »Ja.« »Ich bin Frederick Bennett. Hoffentlich störe ich nicht. Ich bin ein Freund von Todd Straub.« Er glaubte festzustellen, wie sie kurz nach Luft schnappte. Aber sie sagte kein Wort. »Er ist verletzt und bat mich, hierherzufahren und es Ihnen mitzuteilen.« Bennett versuchte, das Gesicht der Frau zu sehen, eine Bewegung ihres Körpers wahrzunehmen. Sie stand jedoch bewegungslos und aufrecht da. »Geht es ihm gut?« Es war ein Flüstern, und er hatte Mühe, es zu verstehen. Eine sonderbare Frage, dachte er zugleich. »Nein, Ma’am. Er ist schwer verletzt.« Sie wandte sich ab. Inzwischen hatten sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt, und jetzt konnte er sehen, daß sie einen losen Morgenmantel oder etwas Ähnliches anhatte, das nur an der Taille durch einen Gürtel festgehalten wurde. Ihr Haar wurde am Hinterkopf durch ein Band festgehalten, wie es Tennisspieler an einem heißen Tag tragen. »Kommen Sie rein«, sagte sie und trat zur Seite. »Und sagen Sie mir, was geschehen ist…« Er betrat die Diele und sah, daß im Ostflügel des Hauses, zu seiner rechten Seite, Licht brannte. »Hier herein, bitte.« Sie hatte die Haustür geschlossen und im ersten Raum links das Licht eingeschaltet. Es war ein großer, niedriger, gemütlicher Wohnraum mit mexikanischen Bauernmöbeln; an den Wänden hingen 76
Fotos und Erinnerungsstücke von Pferden. In einem Glasschrank standen Trophäen und Ehrenpreise; der offene Kamin war fast ein wenig bescheiden für einen Raum von solcher Größe, aus einfachen Feldsteinen, mit einer großen, dunklen Holzbohle als Sims. »Bitte, setzen Sie sich«, sagte Mrs. Halliday. Sie mußte Ende Dreißig sein, schätzte Bennett. Und sie trug kein Make-up; ihr Gesicht war rosig, als hätte sie es eben gewaschen und danach massiert. Ihre Fingernägel waren gut geformt und ziemlich kurz geschnitten, ohne Lack, und ihre Hände wirkten kräftig. Bennett gewann den Eindruck, daß sie die meiste Zeit im Freien verbrachte. »Sie sagten, Todd sei verletzt«, begann sie, nachdem Bennett sich in einem großen, bequemen Ledersessel niedergelassen hatte. »Das stimmt. Er wollte, daß ich hierherfahre und es Ihnen mitteile.« »Sie haben mir vorhin Ihren Namen genannt – es tut mir leid, aber ich habe ihn vergessen.« »Frederick Bennett.« »Frederick Bennett«, wiederholte sie. »Und Todd hat Sie gebeten, hierherzufahren und mir zu sagen, daß er verletzt ist?« Sie beugte sich in ihrem Sessel nach vorn, als sei sie bereit, im nächsten Augenblick aufzuspringen. »Ja.« »Er ist also nicht tot?« Sie stellte die Frage so, als hoffe sie auf eine Antwort, die das bestätigte. »Nein, er lebt«, sagte Bennett und fragte sich dabei, ob das der Wahrheit entsprach. Sie zog ihren Bademantel enger an sich. Er war noch feucht und Bennett erkannte, daß sie erst aus dem Bad 77
gekommen sein mußte. »Es tut mir leid, wenn ich Sie gestört habe«, sagte er, »aber Todd bestand darauf, daß ich sofort hierherfahre.« »Was ist denn passiert?« fragte sie und hielt sich die Hand vor den Hals. »Das haben Sie doch noch nicht gesagt, oder?« »Ein Unfall.« Sie zitterte. »Wird er durchkommen?« »Das kann man noch nicht sagen.« Sie nickte, als hätte sie nichts anderes erwartet. »Jedenfalls danke ich Ihnen dafür, daß sie den ganzen Weg hierhergekommen sind.« Er sagte ihr, es sei seine Pflicht gewesen; er habe Todd schließlich sein Wort gegeben, und so weiter, und dabei wandte er keinen Augenblick lang seinen Blick von ihr, sondern beobachtete sie, auch ihre Bewegungen, die Hände, die sie rang, die langen Beine, die sie übereinanderschlug und wieder nebeneinander auf den Boden stellte. Ein- oder zweimal biß sie sich auf die Lippen und drehte den Kopf zur Seite, als unterdrücke sie eine Träne. »Haben Sie ihn denn heute schon gesehen?« fragte er sie. Die Frage überraschte sie; jetzt blinzelte sie ein paarmal. »Was?« »Ich habe gefragt, ob Sie ihn heute schon gesehen haben. Die Polizei war noch in seinem Haus, nachdem sie mit mir gesprochen hatte. Ich nehme an, sie wollte wissen, wie er so schwer verletzt wurde. Es ist wirklich sehr ernst«, fügte er hinzu. »Ja, ich weiß«, flüsterte sie. 78
»Weil Sie ihn heute gesehen haben? Haben Sie mit ihm gesprochen?« Bennett lehnte sich vor und wartete auf ihre Antwort. Zunächst sagte sie gar nichts. Dann gab sie ein seltsames Geräusch von sich, einen erstickten Laut, als sei ihr irgend etwas in der Kehle steckengeblieben. Darauf nickte sie mehrmals. »Weil sie ihn gesehen haben?« bohrte Bennett. Wieder nickte sie, und es sah aus, als sei sie völlig verzweifelt. »Wo?« wollte Bennett wissen. »Wo haben Sie ihn getroffen, und wann?« Sie schluckte und fand dann endlich ihre Stimme wieder. »Heute nachmittag. Hier, draußen im Garten.« Bennett erinnerte sich an die Szene in der Nähe des Hauses von Waldo Felix, als er Todd im Jogginganzug mit jemandem sprechen gesehen hatte, mit einer Frau vermutlich, die in einem zweifarbigen Cadillac gesessen hatte, in den er dann eingestiegen war. »Wo draußen?« fragte er jetzt. »In meinem Wagen«, antwortete sie. »Er saß in meinem neuen Wagen, hatte sich die Arme vor den Leib geschlungen und war ganz nach vorn gekippt.« Sie zeigte es, schlang sich die Arme um die Brust und hielt dabei den jeweils anderen Oberarm fest. »War das das erstemal, daß Sie ihn heute gesehen haben?« fragte Bennett. Er kannte sie nicht und konnte daher nicht wissen, ob sie eine gute Lügnerin war oder nicht. Aber sie schaute ihm gerade in die Augen, und die ihren füllten sich mit Tränen. »Das war das erstemal seit Wochen«, sagte sie. »Und wie ist er in Ihren Wagen gekommen?« fragte er. 79
Sie schüttelte den Kopf. »Haben Sie die Polizei gerufen?« Der Gedanke schien sie zu erschrecken. »Was?« »Als Sie Todd in Ihrem Wagen fanden, so schwer verletzt haben Sie da die Polizei angerufen?« »Todd hat gesagt, ich soll es nicht tun. Er wollte nur nach Hause gebracht werden.« »Und wie ist er dorthin gekommen?« fragte Bennett. »Ich habe ihn von einem Angestellten hinfahren lassen.« Sie schaukelte vor und zurück, hielt dabei noch immer die Arme vor der Brust verschlungen. »Ich weiß noch nicht, was mit dem Wagen geschieht. Sie können sich vorstellen, wie der aussieht mein Gott!« »Sie sagen, einer Ihrer Angestellten hat ihn gefahren.« »Carlos. Er kümmert sich um die Pferde, erledigt Besorgungen …« Jetzt hatte sie sich wieder unter Kontrolle und saß aufrecht da, während sie die Hände auf die Armlehnen ihres Sessels gelegt hatte. Ihre Augen waren klar, und man konnte nicht erkennen, daß sie geweint hätte oder traurig gewesen wäre. Sie saß still und ruhig da, völlig entspannt, eine Gastgeberin, die um das Wohl ihres Besuchers bemüht war. »Ist Carlos jetzt noch in der Nähe?« fragte Bennett. »Ich dachte, Sie sind hierhergefahren, um mir eine Nachricht zu überbringen. Aber seit Sie hier sitzen, haben Sie mir alle möglichen Fragen gestellt. Sagen Sie mir: Warum sind Sie denn nun wirklich hergekommen? Warum haben Sie in Wirklichkeit diese lange Fahrt unternommen?« Ihr Ton war inzwischen eisig geworden. »Habe ich Ihnen Fragen gestellt?« »Ja, das haben Sie.« Ihr Blick war so direkt wie ihre Antwort. Eine sehr vernünftige Frau, wenn sie will, 80
konstatierte Bennett. »Gibt es einen Grund dafür?« fragte sie jetzt. »Ich meine, sind Sie nur neugierig, oder haben Sie einen speziellen Grund, mich zu verhören?« »Todd war ein Freund von mir. Ich möchte wissen, was, zum Teufel, mit ihm passiert ist«, sagte Bennett. Sie blieb bewegungslos, und er fragte sich, ob sie ihm auch nur ein Wort glaubte. »Nun, Sie wissen ja, wie es einem da geht. Sie sind auch mit ihm befreundet, und Sie tun das gleiche wie ich: Sie stellen Fragen.« Jetzt lächelte er sie an, um sie davon zu überzeugen, daß er auf der gleichen Seite stehe wie sie, mit denselben Sorgen. Sie schien zu akzeptieren. »Nun gut – jetzt haben Sie ja die Antworten, wegen derer Sie den langen Weg gemacht haben, oder?« Dabei stand sie auf; das Zeichen, daß die Unterredung beendet war. Er erhob sich ebenfalls. »Richtig. Und ich danke Ihnen. Ich habe nur meinem Freund einen Wunsch erfüllt. Und es stellte sich heraus, daß Sie bereits Bescheid wußten.« »Ja«, sagte sie. »Jetzt fragen Sie sich vermutlich, warum er Sie bat, zu mir zu fahren und es mir zu sagen, nicht wahr?« Sie ging voraus zur Haustür und blieb in der Diele lange genug stehen, um das Licht in dem Zimmer, wo sie sich aufgehalten hatten, auszuschalten. Im letzten Augenblick bemerkte Bennett einen großen Fleck auf dem Teppich, dicht hinter der Tür. Ein etwas unregelmäßiger Kreis, der sich dunkel gegen das Muster des Teppichs abhob. Bennett blieb stehen und versuchte herauszufinden, was er da für Bruchteile von Sekunden gesehen hatte. Und er kam zu dem Schluß, daß es ein bereits gesäuberter Blutfleck gewesen sein mußte. Aber er bekam keine Gelegenheit mehr, den Fleck 81
genauer zu betrachten, denn Mrs. Halliday hatte inzwischen die Haustür geöffnet und stand dort, um sich von ihm zu verabschieden. Bis jetzt war ihm nicht aufgefallen, wie groß sie war, feinknochig und schlank wie die Vollblutpferde, die sie züchtete und für die Rennen ausbilden ließ. »Ich werde Todd berichten, daß ich mit Ihnen gesprochen habe«, sagte er. »Todd ist tot«, erwiderte sie. Er schaute sie an und wartete auf eine Erklärung. »Ich fühle es. Ich habe es gefühlt, als ich ihn in meinem Wagen sah. Er war kaum hei Bewußtsein, hatte Schwierigkeiten beim Atmen, und ich war mir im klaren darüber, daß er sterben würde.« Ihr Gesicht wirkte jetzt eisig, als sei jeder Muskel festgefroren. Sie hatte ihren Ausbruch hinter sich; jetzt konnte sie nichts mehr berühren. »Sie haben mir noch nicht gesagt, ob Carlos in der Nähe ist«, erinnerte sie Bennett. »Ist er nicht.« »Und wann kommt er wieder?« Dann, um ihren fragenden Blick zu beantworten: »Nachdem ich meine Neugierde so weit gestillt habe, kann ich auch noch einen Schritt weitergehen.« »Tun Sie’s nicht. Carlos hat den Wagen weggebracht, damit er gereinigt und repariert wird. Er kommt wahrscheinlich erst morgen zurück. Es kann auch sein, daß er erst übermorgen wiederkommt. Aber machen Sie sich keine Gedanken deshalb; er weiß nicht, was passiert ist, ich habe ihn bereits befragt.« »Gut, damit wäre das auch erledigt.« »Ja. Das nehme ich an.« Sie war bereit, Bennett die Tür vor der Nase zuzuschlagen. 82
Plötzlich begann der kleine Hund irgendwo auf der Rückseite des Hauses zu bellen. Und fast gleichzeitig stimmte auch der große Hund ein, sein tiefes Bellen dröhnte durch die Nacht. »Seit wann kennen Sie eigentlich Todd?« fragte Bennett, bevor sie die Tür schloß. »Wenn Sie wirklich mit ihm befreundet wären, würden Sie diese Frage nicht stellen«, sagte sie und schlug die Tür zu. Das Gebell der Hunde folgte ihm über die ganze Auffahrt bis zur Straße und zu seinem Wagen. Er fuhr zurück durch das Green Valley und hielt noch kurz, bevor er die Schnellstraße erreichte an einer Tankstelle an, um Drang anzurufen. »Gut, daß du dich meldest«, sagte Drang. »Es hat sich etwas ergeben.« Bennett wartete. Drang liebte es, alles zu dramatisieren, wenn sich dazu eine Gelegenheit bot. »Es geht um diesen Waldo Felix. Den Kerl, den man dir in den Garten gelegt hat.« »Was ist mit ihm?« »Er heißt gar nicht Waldo Felix. Es war Felix Conforti, auch ›Kater Felix‹ genannt.«
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Kapitel 7 Felix Conforti hatte seinen Spitznamen »Kater Felix« vor vierzehn Jahren erhalten, als seine Aussage im Prozeß gegen die Luconte-Brüder zu deren Verurteilung führte. Felix war ein drittklassiger Gauner gewesen, ein Helfershelfer, der aufgepaßt und zugehört hatte und dann bereitgewesen war, für den Staatsanwalt und gegen die Angeklagten auszusagen, als Gegenleistung für unerwähnt gebliebene Vergünstigungen, die nach Bennetts Vermutung auch in blanker Münze bestanden hatten. Damit bekam er die Chance, sich eine neue Identität zuzulegen, die Chance für einen neuen Anfang. Jetzt, während Bennett zu Drangs Apartment fuhr, erinnerte er sich genau an den Prozeß gegen die LuconteBrüder. Das war kurz nach seiner Einstellung in den Polizeidienst gewesen, ein knappes Jahr nach seiner Entlassung aus dem Vietnamkrieg. Zu dieser Zeit gab es noch nicht das sogenannte »Zeugenschutz-Programm«, das ein Jahr danach eingeführt wurde und Zeugen, die bereit waren, bei der Bandenbekämpfung mitzuhelfen, nach dem Prozeß die Möglichkeit zu einer neuen Identität bot, die sie vor Racheakten schützen sollte. Aber immerhin hatte man im Ausnahmefall Felix Conforti, dem Zeugen der Anklage, die Chance gewährt, einen anderen Namen anzunehmen – als Ausgleich für seine Aussage gegen die beiden Gangster, die daraufhin verurteilt werden konnten. Nach dem Prozeß war Felix einfach untergetaucht. »Ich hatte die Geschichte schon völlig vergessen«, sagte Drang, als Bennett es sich in seinem Wohnzimmer bequem gemacht hatte. »Und ich hätte nicht im Traum 84
daran gedacht, daß er noch einmal irgendwo auftauchen würde, geschweige ausgerechnet hier in Los Angeles.« Er schien sehr mit sich zufrieden zu sein. »Was hat er denn danach gemacht?« fragte Drang, während er sich und Bennett einen Drink mixte. »Er hat geheiratet«, antwortete Bennett. »Zwei Kinder, ein guter Job, ein ganz normales Leben. So sieht es wenigstens bis jetzt aus.« »Besaß er vielleicht Freunde oder Bekannte, irgendeine Verbindung, durch die die Lucontes erfuhren, wie er jetzt hieß und wo er wohnte?« »Bis jetzt bin ich auf nichts Entsprechendes gestoßen«, sagte Bennett und verschwieg dabei vorläufig die etwas seltsamen Einstellungspraktiken bei der Firma »Natürliche Neuheiten«. »Oder irgendwelche Verbindungen mit – wie heißt der Mann in San Francisco? Bingman?« »Nichts«, sagte Bennett. »Aber er hat einen guten Freund gehabt – Todd Straub, der diesen Bingman gekannt haben muß.« Dann berichtete er Drang die Geschichte von Straub so, wie er sie kannte, und schloß den Bericht mit der Schilderung seiner Unterhaltung mit Mrs. Halliday. Gerade als er damit fertig war, erhielt Drang einen Anruf. »Er starb auf der Fahrt ins Krankenhaus«, erklärte er Bennett, nachdem er aufgelegt hatte. »Schwere Brustverletzungen, eingedrückte Rippen, innere Blutungen – ein Wunder, daß er so lange durchgehalten hat. Er war mit Felix befreundet, sagst du?« Bennett wiederholte die Geschichte, die Todd ihm über das Kennenlernen der beiden Männer erzählt hatte. »Die beiden waren sich wirklich ziemlich ähnlich«, sagte er dann. »Gleiche Größe, gleiche Hautfarbe, gleiches Haar, 85
gleicher Haarschnitt … Vielleicht gingen sie zum selben Friseur.« »Haben die beiden sonst noch was gemeinsam?« fragte Drang. »Du meinst den Hintergrund, die Vergangenheit, vielleicht auch ein anderes Leben?« »Wenn Waldo Felix in Wirklichkeit Felix Conforti war – wer war dann Todd Straub?« »Hat man seine Fingerabdrücke schon durch den Computer gejagt?« wollte Bennett wissen. Drang nickte. »Sag mir eines«, fuhr er dann fort. »Hast du Conforti jemals persönlich kennengelernt?« »Nein, aber ich habe viel über ihn gelesen. Es ist mir wieder eingefallen, während ich hierhergefahren bin. Damals haben wir beide gerade bei der Polizei zu arbeiten begonnen.« »Aber du hast ihn nie gesehen oder gesprochen?« »Ich sagte es dir doch schon. Mein Gott, Drang, du kommst noch so weit, daß du niemandem mehr vertraust. Ist das die Folge deiner Arbeit bei der Polizei? Bist du dadurch zum argwöhnischen Skeptiker geworden?« Drang ging nicht auf die Bemerkung ein. »Da ist noch etwas: diese Firma, wo Felix gearbeitet hat. Du sagst, Jules Bingman hätte ihn empfohlen.« Bennett bestätigte es. »Und du sagst, auch die drei anderen, die auf diese Weise dort angestellt worden sind, haben inzwischen den Dienst quittiert. Kennst du ihre Namen?« Bennett gab ihm Namen und Adressen. Dann fragte er: »Hast du schon was über Bingman in Erfahrung bringen können?« »Er ist tot«, sagte Drang. 86
»Das weiß ich. Ich selbst hab’ es dir gesagt, verdammt noch mal. Aber – wie ist er gestorben?« Drang zuckte mit den Schultern. »Wenn es irgendeine unnatürliche Todesart gewesen wäre, hätte wahrscheinlich die Alarmglocke geklingelt.« Dabei tippte er sich mit dem Finger gegen die Stirn. »So, wie sie jetzt klingelt, seit ich weiß, daß Todd Straub ermordet wurde.« »Woher willst du wissen, daß es ein Mord war?« fragte Bennett logischerweise. »Wenn ich dich richtig verstanden habe, hat man dir vorhin am Telefon mitgeteilt, daß er infolge seiner Brustverletzungen gestorben ist.« Während er es sagte, glaubte er, in seinem Kopf ein Klicken zu hören, und verstummte. Drang hatte ihn scharf beobachtet. Er kannte Bennett gut genug, um zu wissen, wie er sich verhielt, wenn ihm ein Gedanke gekommen war. »Was ist?« fragte er. »Was soll sein?« »Woran hast du eben gedacht?« Bennett, dessen Gedanken bei Mrs. Halliday waren, sagte: »Ich hab‘ gar nicht gedacht. Meine Güte, Drang, du wirst allmählich wirklich komisch. Ich frage mich ernsthaft, ob du nicht schleunigst den Beruf wechseln solltest. Es gibt viele Leute, die sehr erfolgreich wurden, nachdem sie in der Mitte des Lebens eine neue Laufbahn begannen. Was wirst du tun, wenn du nicht mehr für den Polizeidienst geeignet sein wirst, weil du immer mehr dazu neigst, alles und jeden zu verdächtigen?« »Laß jetzt diese Späßchen«, sagte Drang mit zusammengepreßten Lippen. »Ich weiß ganz genau, daß dir eben ein Gedanke gekommen ist, und wenn du ihn mir 87
schon nicht mitteilen willst, wäre es mir lieber, daß du sagst, es geht mich einen Dreck an. Aber komm mir nicht mit deinen weisen Belehrungen.« »Also gut – es geht dich nichts an«, erklärte Bennett. »Zufrieden?« Drang war so wütend, daß er ihm am liebsten die Faust ins Gesicht geschmettert hätte, aber er hielt sich zurück. Dann hatten die beiden wieder eine Idee, und zwar im selben Augenblick. »Die Luconte-Brüder«, sagte Bennett. »Sind sie wieder in Freiheit?« ergänzte Drang Bennetts Bemerkung. »Das müssen wir sofort feststellen.« Er schaute auf seine Uhr. »Schade – vor morgen früh ist da nichts drin.« »Na, wunderbar«, war Bennetts trockener Kommentar. Er trank sein Glas aus und stieß sich dann aus dem Sessel hoch. »Also schön – damit wäre unser Abendprogramm für heute zu Ende«, sagte er. »Bitte schalten Sie sich morgen wieder ein. Ich melde mich, sobald ich etwas weiß«, fügte er noch hinzu, um Drang zu besänftigen. Er ging hinaus und fuhr mit dem Lift hinunter in die Tiefgarage, wo er seinen Wagen abgestellt hatte. Seine Schritte hallten in der Stille, und durch die Einfahrt sah er den spärlichen Verkehr draußen auf dem Boulevard. Plötzlich heulte der Motor eines Wagens in der Garage auf, und Bennett sprang instinktiv hinter einen Pfeiler. Scheinwerferlicht streifte die gegenüberliegende Wand, und Bennett wartete und redete sich ein, daß kein Grund zur Besorgnis vorhanden war. Dann fuhr der andere Wagen die Rampe hinauf und bog in den Boulevard ein. Bennett fühlte, wie sein Puls sich allmählich normalisierte, sagte »Quatsch« zu sich selbst und war verärgert über 88
seine unbegründete Nervosität. Aber die Vorstellung, daß sich die Luconte-Brüder wieder in Freiheit befinden konnten, war durchaus ein Grund dafür, daß sich diejenigen, die die beiden hinter Gitter gebracht hatten, unsicher fühlten … Immerhin hatte es zumindest einen von ihnen bereits erwischt, und Bennett kam zu der Erkenntnis, daß sie von nun an auch hinter ihm her sein konnten. Er stieg rasch in seinen Buick und ließ den Motor an; dabei befürchtete er einen Augenblick lang, der Wagen könnte in die Luft fliegen. Aber alles schien in Ordnung zu sein, und er fuhr hinaus aus der Garage und zurück zu seiner Wohnung. Den Buick parkte er auf dem Parkplatz an der Ecke. In seinem Briefkasten lagen zwei Briefe, an den »Bewohner« adressiert, also vermutlich Werbedrucksachen; er nahm sie mit hinauf in seine Wohnung. Während er die Tür aufsperrte, klingelte sein Telefon. Er rannte hinein, trat die Tür mit dem Absatz zu und nahm den Hörer ab. »Hallo?« »Frederick Bennett?« Eine Männerstimme mit leichtem Südstaatenakzent, höflich, gebildet, die Stimme eines Gentleman. »Am Apparat.« »Ihr Vater hat mir geraten, Sie anzurufen. Mein Name ist Barney Shearer.« Einen Augenblick lang konnte Bennett sich nichts unter dem Namen vorstellen. Dann fiel ihm wieder ein, daß er J. D. gefragt hatte, wer außer ihm wissen konnte, daß ihm sein Stiefvater das Häuschen zur Verfügung gestellt hatte, und J. D. hatte dabei den Namen Barney Shearer erwähnt. »Ach ja – Mr. Shearer. Guten Tag.« »Guten Tag, guten Tag. Ich – ich frage mich, ob Sie ein 89
paar Minuten Ihrer Zeit für mich erübrigen können. Ihr Vater meinte, ich könnte Ihnen möglicherweise eine Information weitergeben, die Ihnen nützlich ist.« »Jederzeit, Mr. Shearer.« Bennetts Interesse wuchs. Er schaute auf seine Armbanduhr. »Haben Sie noch heute abend Zeit?« »Heute abend?« Barney Shearer lachte, ein weicher Laut wie die Brandung, die vom Sand verschluckt wird. »Nun, wenn sie ›Abend‹ sagen, dann schließe ich daraus, daß Sie ein Nachtmensch sind – genau wie ich. Sind Sie ein Nachtmensch, Mr. Bennett?« »Ich versuche, abwechselnd Tag- und Nachtmensch zu sein«, sagte Bennett. »Bei meiner Arbeit gibt es keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht. Wenn etwas meine Aufmerksamkeit weckt, ist es mir egal, ob die Sonne oder der Mond am Himmel stehen.« »Die kleinen Informationssplitter, die ich Ihnen weitergeben möchte, betreffen Ihre unangenehmen Erlebnisse beim Aufenthalt in dem Häuschen Ihres Vaters.« Im Ton dieser kultivierten Südstaatlerstimme klang es völlig vernünftig und so, als wäre eine Leiche im Garten eine Sache, die hier und da selbst in den besten Familien vorkäme, eine Angelegenheit, über die man in aller Ruhe und Gelassenheit diskutieren könne. »Kennen Sie das Restaurant ›Melano’s‹ bei der Century City?« »Ich bin dort schon vorbeigefahren«, sagte Bennett. Er verschwieg, daß er das Lokal noch nie betreten hatte, weil er sich nicht leisten konnte, soviel für Essen und Trinken auszugeben, wie man bei Melano den Gästen zu zahlen zumutete. »Sagen wir, in einer Viertelstunde? Nennen Sie dem Geschäftsführer meinen Namen; er wird Sie an meinen Tisch setzen.« 90
»Fein. Also dann, in einer Viertelstunde.« Bennett verließ gleich danach seine Wohnung. Er fuhr über die Olympic an Century City vorbei und weiter nach Norden. »Melano’s« war ein diskretes Restaurant; das Schild, sicher aus besonders teurem Plastik, war klein und wurde dezent von hinten erleuchtet. Ein weiteres kleines Schild am Randstein wies darauf hin, daß es einen Parkwächter gab, der sich der Wagen der Gäste annehmen würde. Bennett haßte es aus geradezu weltanschaulichen Gründen, seinen Wagen nicht selbst zu parken, sondern einfach am Eingang von besonders »feinen« Häusern stehenzulassen. Daher suchte er sich selbst einen Parkplatz an der Straße, eineinhalb Blocks vom Restaurant entfernt, und sperrte seinen alten Buick ab, während er sich fragte, ob wirklich jemand die alte Kiste klauen würde, wenn er den Schlüssel einfach steckenließ. Dann schlenderte er zurück zu »Melano’s«. Der junge Bursche in der roten Livree, der darauf wartete, die Wagen der Gäste auf einen Parkplatz zu steuern, schaute ihn ziemlich argwöhnisch an, als sei ihm jeder, der nicht mit dem Wagen vorgefahren komme, von vorneherein verdächtig. Bennett erwiderte den Blick des Knaben, bis dieser sich abwandte, dann zog er an dem riesigen Messingtürgriff, der einen Delphin darstellte, und betrat das Restaurant. Das erste, was er wahrnahm, war die Konversation vieler Stimmen, in die sich Lachen mischte. An solchen Orten pflegte man sich ruhig und dezent zu geben. Statt dessen füllten laute Stimmen und noch lauteres Gelächter den Raum. Bennett stand am Pult des maître d’ und wartete. Nach wenigen Sekunden tauchte ein leichenblasser Mann auf, dessen makellosem Smoking man nicht ansah, daß er darin schon den größten Teil seiner Abendschicht absolviert hatte. Sein Bluthundgesicht mit den 91
Augenbrauen, die ein wenig nach oben gezogen waren in Andeutung leiser Verwunderung, wandte sich Bennett zu. »Ich bin mit Mr. Barney Shearer verabredet«, erklärte Bennett. Der maître d’ schaute ihn skeptisch an. »Ehrlich – beim Grab meiner Mutter«, sagte Bennett. Das Bluthundgesicht zuckte, dann wandte sich der Kopf des Geschäftsführers in Richtung auf den Speisesaal. In der gegenüberliegenden Ecke gab es zwei freie Tische neben der Wand; ansonsten waren alle Tische besetzt. Der hiesige Geldadel saß neben Zufallsmillionären, deren Vermögen rasch erworben worden war; die Kleidung der Anwesenden war so lässig, als wären sie nur auf einen Hamburger in die nächste Imbißstube gegangen. Der Bluthund wandte sich wieder an Bennett; offenbar hatte er einen Entschluß gefaßt. Er warf einen Blick in sein Buch mit den Reservierungen, das offen auf dem Pult unter einer Schwanenhalslampe lag, die Bennett vermuten ließ, daß sie aus reinem Gold sei. »Mr. Shearer kommt normalerweise nicht so spät zu uns«, sagte er leise und sehr bestimmt.
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Kapitel 8 Der Kellner kam mit einem großen Tablett und servierte das Essen. Sobald er die Teller abgestellt hatte, tauchte auch schon der Bluthund auf, nahm die Deckel von den Schüsseln, schnupperte hier und da und beurteilte die Qualität, ehe er erlaubte, daß der Kellner den beiden Gästen vorlegte. Bennett war versucht, den Geschäftsführer zu veranlassen, daß er von allem vorkostete, aus Sicherheitsgründen. »Bordelaise?« fragte der Bluthund, als der Kellner den Teller mit dem Steak-Sandwich und den Kartoffeln vor ihn hingestellt hatte. »Ketchup«, sagte Bennett gelassen. Der Bluthund hatte sich besser unter Kontrolle als die meisten Geschäftsführer. Seine Augen zeigten zwar einen bekümmerten Ausdruck, aber er atmete weder zu rasch ein, noch gab er irgendwelche anderen mißbilligenden Geräusche von sich. Statt dessen sagte er: »Selbstverständlich«, in einem Ton, als habe er jetzt den Grund dafür erkannt, weshalb er gezögert hatte, Bennett an Mr. Shearers Tisch zu führen. Dann sagte er einem Piccolo, der vorbeikam, er solle den Ketchup bringen. Er selbst schien selbst den Anblick von so Profanem zu verabscheuen. Barney Shearer hatte die kleine Szene beobachtet; dabei lächelte er, daß man sein teures Gebiß sehen konnte. Nachdem sich die diversen Bediensteten entfernt und Bennett sein Steak gekostet hatte, das genauso zubereitet war, wie er es sich gewünscht hatte, sagte er zu Barney Shearer: »Wenn Sie mir schon die Namen Ihrer anderen Bekannten nicht nennen wollen – können Sie mir wenigstens sagen, warum Waldo Felix an dieser 93
erlauchten Runde teilnehmen durfte? Wer hatte ihn denn eingeladen?« »Sehen Sie, daran erinnere ich mich nicht«, sagte Shearer und warf einen angewiderten Blick auf seinen Teller, auf dem Karotten, Bohnen, Broccoli und gedünsteter Salat lagen. »Verdammt noch mal«, sagte er leise zu sich. Bennett befürchtete schon, Shearer hätte eine Raupe auf seinem Teller gefunden. »Waldo Felix hat uns Karotten verkauft, das war’s! Wir waren zusammengekommen, um ein Wohltätigkeitsessen zugunsten eines Krankenhauses zu besprechen, das ich zu bauen gedenke. Ein Kinderkrankenhaus. Einer meiner Freunde war auf die Idee gekommen, es sollte sich um ein fröhliches, buntes Essen handeln, und ihm war eine Firma bekannt, die lauter fröhliche und verrückte Gegenstände herstellt und vertreibt. Deshalb war Waldo Felix bei unserer Zusammenkunft anwesend. Ein guter Geschäftsmann.« Er zielte mit der Gabel auf eine der Karotten auf seinem Teller und knabberte dann daran. »Da, sehen Sie?« sagte er. »Mein Arzt hat also doch recht. Karotten sind gut gegen Vergeßlichkeit.« Bennett dachte darüber nach. »Er erfuhr also, wo ich mich aufhielt, ließ sich dann ermorden und in meinen Garten werfen. So ungefähr.« Barney Shearer zuckte mit den Schultern, wobei der Stoff seines Anzugs leise schabte. »Klingt nicht besonders logisch, wie? Aber so muß es ja wohl gewesen sein.« Bennett nickte und war verwirrter als je zuvor. Danach unterhielten sie sich über belanglose Dinge. Shearer sprach von seinen Kindern, die in das Alter gekommen waren, wo sie nichts mehr von ihm wissen wollten, und von seiner Frau, die er liebte, obwohl sich ihr 94
gesellschaftliches Leben getrennt zu haben schien. Shearer interessierte sich auch für Bennetts Arbeit, und als Bennett von seinem neu erwachten Enthusiasmus sprach, überzeugte das den anderen Mann davon, daß Bennett von seinem Job erfüllt war und daß er ihn glücklich machte. Als sie sich an den Aufbruch machten, war die Atmosphäre zwischen ihnen so entspannt, wie das nur bei guten Freunden der Fall ist. Bennett erklärte, daß sein Wagen nicht auf dem Parkplatz des Restaurants stehe, weil er gern nach dem Essen noch ein paar Schritte zu Fuß gehe. Shearer glaubte ihm zwar nicht, sagte aber, das sei sicher eine gute Idee. Dann fuhr Shearer in einem weißen Rolls Royce mit Nevada-Kennzeichen davon, und Bennett ging zu seinem alten Buick, fuhr nach Hause und legte sich schlafen. Das Klingeln des Telefons weckte ihn. Es war fünf nach sieben. Er tastete auf dem Nachttisch nach dem Apparat, konnte ihn nicht finden und entdeckte ihn schließlich im Wohnzimmer, auf dem Boden unter einer aufgeschlagenen Zeitung. Er ließ sich in einen Sessel fallen und nahm den Hörer ab. »Ja?« »Hab’ ich dich geweckt?« fragte Drang. »Nein, nein. Ich sitze schon seit Stunden im Wohnzimmer und frage mich, wann du endlich anrufen wirst.« »Ich habe gerade den Autopsiebericht in Sachen Waldo Felix erhalten. Wie, glaubst du, ist er gestorben?« Es klang so, als ob Drang im Stehen sprach, in einer Haltung, die es ihm ermöglichte, seinen Gesprächspartner mit einem Hieb zu Boden zu strecken. »Ich hab’ noch nicht darüber nachgedacht«, sagte Bennett. 95
»Vermutlich durch eine Schußwaffe. Ich nehme an, jemand hat den armen Teufel abgeknallt.« »Du darfst noch zweimal raten.« Bennett rieb sich die Augen. »Mein Gott, Drang, es ist fünf nach sieben am Morgen. Du hast diesen Bericht vor dir, den du ablesen kannst – falls du nicht vergessen hast, wie das geht –, aber statt daß du mir sagst, was du weißt, veranstaltest du ein Quiz über die Frage, wie, verdammt noch mal, dieser verdammte Waldo Felix umgebracht wurde. Also schön, ich geb’s auf. Wie wurde Waldo Felix getötet?« »Er wurde von hinten erstochen.« Bennett hätte beinahe den Hörer losgelassen. »Was?« fragte er. »Was hast du da gesagt?« Drang wiederholte die Information. »Wir sprechen von Waldo Felix, der in Wirklichkeit Felix Conforti hieß und unter einem falschen Namen lebte, weil er beim Prozeß gegen die Luconte-Brüder ausgesagt hatte –, und man hat ihn nicht erschossen und nicht mit einem Draht garottiert, sondern von hinten erstochen? Ist es das, was du damit andeuten willst?« Es klang so, als hätte Bennett soeben erfahren, daß es nicht der Storch war, der die Kinder brachte. »Das zeigt die Autopsie«, wiederholte Drang. »Erstochen. In den Rücken. Mit einem langen, scharfen Messer. Von einem, der genau wußte, was er tat, weil er nur einmal zuzustechen brauchte. Gute Arbeit.« »Kennst du irgendwelche Berufskiller, die ihre Opfer erstechen?« fragte Bennett. »Nein. Keinen. Jedenfalls nicht aus dem Stegreif.« Bennett hörte, wie Drang einen Schluck Kaffee schlürfte. »Was natürlich nicht viel besagt, weil ja vielleicht ein 96
neues Gesicht in der Stadt aufgetaucht sein könnte«, fügte Drang hinzu. »Und was ist mit den Luconte-Brüdern? Was hast du über sie herausgefunden? Wo sind sie?« fragte Bennett. »Ich kann dir nur sagen, wo sie nicht sind«, erwiderte Drang. »Sie sind nicht mehr im Gefängnis.« »Wann wurden sie entlassen?« »Vor zwei Wochen. Wir versuchen, sie über ihren Bewährungshelfer zu erreichen.« Es klang nicht allzu hoffnungsvoll. »Ja. Klar.« Bennett war jetzt hellwach; in seinem Kopf wirbelten die Gedanken und Mutmaßungen durcheinander; er versuchte, die einzelnen Steinchen zusammenzusetzen, obwohl nur wenige paßten. Es fehlten noch zu viele, als daß man ein gutes Muster erhalten konnte. »Ich melde mich später«, sagte Bennett und legte auf. Er duschte, rasierte sich, zog sich an und ging dann hinunter, um seine Zeitung zu holen, die er las, während er eine Tasse Pulverkaffee trank und eine Birne aß, die er in seinem Kühlschrank entdeckt hatte. Der Mord an Waldo Felix nahm eine kleine Spalte auf der vorletzten Seite ein. Bennett starrte auf den Artikel. Nur die blanken Fakten – ermordet, Witwe und zwei Kinder, Beisetzung im engsten Familienkreis, Polizei ohne nähere Hinweise. Andererseits hatte Todd Straub seine Frau aus San Francisco angerufen und behauptet, in einer Nachrichtensendung dort vom Tod seines Freundes gehört zu haben. Es paßte einfach nicht zusammen, ergab keinen Sinn. Warum sollte eine Radiostation in San Francisco über einen Mord an einem Mann aus dem San Fernando Valley in Südkalifornien berichten? Ein ganz gewöhnlicher Mord, ohne irgendwelche sensationellen Begleitumstände, 97
abgesehen davon, daß man die Leiche jemand anders in den Garten gelegt hatte. Mit einem Brief, der an mich adressiert war, erinnerte sich Bennett. Seine nachfolgenden Gedankengänge begannen alle mit einem »Wenn«. Was wäre, wenn es so gewesen wäre, und wie sähe die Sache aus, wenn statt dessen … Es war eine fast automatische Reaktion bei ihm: Die verschiedenen Möglichkeiten abwägen, sich eine Theorie ausdenken, zu der alles paßte, was er bereits über die Sache wußte … Motive, Zeiten, persönliche Konflikte, alter Haß, betrogene Männer und abgewiesene Frauen, Freunde und Feinde, und wie sie voneinander zu unterscheiden waren. Anständige Leute, die ihr Geld auf ehrliche Weise verdienten, und Gauner, die jedes Gesetz und jede Moral für sich beugten. Er fuhr zurück ins Valley, zum Haus der Straubs. Abgesehen davon, daß es noch früher Vormittag war, unterschied sich die Umgebung in keiner Weise vom vergangenen Nachmittag, als Freunde und Nachbarn Ethel Felix kondolierten. Heute parkten die Wagen vor dem Haus von Helen Straub. Bennett stellte den seinen in eine freie Parklücke und ging dann hinein in das Haus. Das Wohnzimmer war voll von Menschen, wie tags zuvor bei Ethel, und Bennett erkannte viele Gesichter, die er gestern gesehen hatte. Jetzt freilich wirkten sie noch erschütterter und vielleicht auch verängstigt, da es nun schon den zweiten aus ihrer nächsten Bekanntschaft getroffen hatte und sie nicht sicher waren, ob es nicht bald einen nächsten treffen würde, und in wessen Haus sich diese nächste Tragödie ereignen würde. In unbewachten Augenblicken warfen sie sich gegenseitig argwöhnische Blicke zu und fragten sich, wer wohl der Schuldige sein mochte. Denn die Tatsache, daß zwei gute Freunde innerhalb weniger 98
Tage ermordet worden waren, bestärkte ihre Angst, daß der Täter sich möglicherweise mit ihnen in diesem Raum befand und nur so tat, als ob er trauerte, während die übrigen ehrlich betroffen waren. Helen Straub, die junge Witwe, erschien bei den Gästen im Wohnzimmer. Heute sah sie nicht mehr frisch und gesund aus; auf ihrem Gesicht waren Falten und tiefe Schatten zu erkennen. »Waren Sie nicht noch gestern abend hier?« fragte sie Bennett. »Ich glaubte, Sie gesehen zu haben.« Er sagte ihr, daß er sie ebenfalls kurz gesehen habe. »Ja, ich erinnere mich«, sagte sie, als sei sie froh darüber, sich daran zu erinnern. »Sie fragten mich, ob Sie etwas für mich tun könnten. Ja, sicher.« »Wo war Todd eigentlich gestern?« fragte Bennett. »Das wissen Sie doch«, erwiderte sie. »Sie haben hier in diesem Raum mit ihm gesprochen, und danach ist er hinübergelaufen, um Ethel zu besuchen.« »Und dann?« fragte Bennett. »Dann?« Sie schien nicht zu verstehen. »Ist er zum Jogging gegangen? Wissen Sie das genau? Und – hat die Polizei eine Ahnung, wo er verletzt wurde?« Bennett haßte es, die Frau auf diese Weise quälen zu müssen, während sie nur mit Mühe die Fassung zu bewahren schien, aber er wußte, daß die Menschen eher imstande waren, sich auch an Kleinigkeiten zu erinnern, wenn sie noch unter der Einwirkung des Schocks standen. »Die Polizei weiß anscheinend gar nichts. Ich glaube, jemand hat ihn hierhergebracht«, sagte sie, die Hand an der Stirn, um ihre traurigen, braunen Augen gegen das Licht abzuschirmen. Dann nickte sie. »Ja, ich bin sicher, daß ihn jemand hergefahren hat.« 99
»Hat Ihr Mann Sie angerufen, nachdem er weggegangen ist?« »Angerufen?« »Ja – zum Beispiel, um zu sagen, daß es später werden würde. Vielleicht, daß er jemanden getroffen habe und noch auf einen Drink bleiben würde. Ich meine, es sind ja immerhin mehrere Stunden vergangen, ehe man ihn hierherbrachte.« Sie versuchte, sich zu erinnern. »Er hat mich angerufen, ja. Das haben Sie doch gemeint.« »Richtig.« »Er hat angerufen und mir gesagt, er habe mit Ethel gesprochen; danach sei er in den Park gelaufen zum Joggen. Es gibt dort einen Trimm-dich-Pfad, und er habe einen Bekannten getroffen. Mit ihm sei er noch einen Schluck trinken gegangen, würde aber bald nach Hause kommen.« »Hat er das öfter gemacht? Ich meine, kam es vor, daß er beim Joggen jemanden getroffen hatte, mit dem er danach noch einen Schluck getrunken hat?« »Öfter?« Sie versuchte herauszufinden, was Bennett damit meinte. »Oft oder selten – ich weiß nicht, wie man es bezeichnen soll. Sicher, hier und da, wenn er beim Joggen oder beim Golfspielen war oder sonstwie unterwegs, hat er angerufen und gesagt, er hätte jemanden getroffen, und sie würden noch einen Schluck trinken, bevor er nach Hause käme. Wissen Sie, mein Mann war ein geselliger Mensch, und er kannte viele Leute. Er freundete sich leicht mit anderen an.« Es fiel ihr sichtlich schwer, in der Vergangenheitsform zu sprechen. Bennett wollte noch fragen, ob es sich bei diesen Freunden vorwiegend um Männer handelte, oder ob Todd Straub auch mit Frauen rasch Freundschaft schloß, aber er 100
versagte es sich. Statt dessen sagte er: »Hat er Ihnen mitgeteilt, wen er getroffen hat?« »Nein. Jedenfalls erinnere ich mich nicht. Kann sein, daß er es gesagt hat.« Sie wollte weggehen, um weitere Gäste zu begrüßen, aber Bennett legte ihr sacht die Hand auf den Arm. »Ich weiß, wie schwer das alles für Sie ist«, sagte er, »aber wir müssen herausfinden, was wirklich geschehen ist …« Sie blieb stehen, und er zog seine Hand zurück. »Als Ihr Mann Sie aus San Francisco anrief, um Ihnen zu sagen, daß Waldo Felix umgebracht worden sei, sind Sie sicher, daß er sagte, er hätte es im Radio gehört?« »Ja. Genau das hat er mir gesagt.« »Er sagte also nicht, er hätte es von jemand anders erfahren? Jemand, der ihn, sagen wir, angerufen hat? Er sagte wörtlich, er selbst habe es im Radio gehört?« »Richtig, genau das hat er gesagt. Er rief mich aus San Francisco an und sagte, er hätte gerade im Radio gehört, daß Waldo umgebracht worden sei. Ich sollte rübergehen zu Ethel, er würde bald nachkommen.« In diesem Augenblick kam Ethel Felix herein. Sie fiel Helen um den Hals, und die beiden Frauen hielten sich ein paar Sekunden lang in den Armen; zwei Menschen, die am besten verstehen konnten, welche Tragödie über sie hereingebrochen war. »Was geht denn da vor?« schluchzte Ethel und hielt ihre Freundin fest. »Was geht denn da vor?« Jetzt erst sah sie Bennett. »Fred! Was ist geschehen? Was geht hier vor?« Er konnte ihr nichts darauf antworten. Einmal hatte er versucht, sie zu beruhigen. Jetzt stellte sie ihm wieder die gleiche Frage, und es gab noch immer keine Antwort 101
darauf. Sie machte sich von Helen frei und warf sich im nächsten Augenblick Bennett an die Brust. Er umarmte sie ein bißchen unbeholfen und versuchte, ihr leise Dinge ins Ohr zu flüstern, die er selbst nicht glaubte. »Es wird alles gut«, flüsterte er, obwohl er wußte, daß das nur eine törichte Redensart war. Er war oft genug in der Nähe des Todes gewesen und wußte, daß danach nichts mehr so sein würde, wie es zuvor gewesen war. Gestern hatte Ethel ein neues Leben beginnen müssen – gleich, ob sie dazu bereit war oder nicht. Heute war Helen an der Reihe. Er konnte weder der einen noch der anderen helfen. Ehe er sich von Helen Straub verabschieden konnte, zerrte ihn Ethel zur Tür. »Schnell – komm mit. Komm mit mir.« Er wußte nicht, was er tun oder sagen sollte. Sie lief mit ihm zu ihrem Haus hinüber, zerrte ihn auf dem ganzen Weg am Arm, weinte und sprach kein Wort. Als sie ihr Haus erreicht hatten, öffnete sie mit zitternden Händen die Tür. Drinnen angekommen, schloß sie die Tür und verriegelte sie von innen, zog die Vorhänge zu, und dann lag sie wieder in seinen Armen, klammerte sich an ihn, und er fühlte, wie ihre Nähe ihn nach so langer Zeit erregte. Sie fühlte es ebenfalls und verstärkte noch den Druck. Dann sank sie zu Boden zog ihn mit sich hinunter und begann sich auszuziehen. »Wir leben noch«, sagte sie. »Wir leben, genau wie damals, als wir fast noch Kinder waren. Liebe mich, Fred. Zeig mir, daß wir noch leben.« Sie legte sich zurück, den Mund geöffnet. – Ihre Hände griffen nach ihm, streichelten ihn, sie konnte nicht mehr erwarten, daß er in sie eindrang.
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Kapitel 9 Es ging alles ganz schnell. Die Leidenschaft, die so plötzlich über sie beide gekommen war, hatte sich erfüllt, und jetzt lagen sie ruhig nebeneinander auf dem Teppich im Wohnzimmer. »Verstehst du?« flüsterte sie. »Es hat nichts mit Waldo und nichts mit seinem Tod zu tun, ja, nicht einmal mit dir und mir. Verstehst du das?« Bennett fühlte sich so schuldbewußt, daß er nicht in der Lage war, ihr zu antworten. Jetzt, wo es vorüber war, konnte er fast nicht glauben, daß es sich wirklich ereignet hatte. »Ich verstehe dein Bedürfnis, zu leben«, sagte er dann langsam. »Du kennst mich gut genug aus der Zeit, als wir uns liebten.« »Ich mußte einfach wissen, daß ich noch lebe«, sagte sie, »daß ich noch fühle. Daß mein Körper, meine Gefühle noch funktionieren, auch wenn etwas hier drinnen gestorben ist.« Sie berührte dabei ihren Bauch. »So, als ob ich ein totes Kind in mir tragen würde. Du kannst dieses Gefühl nicht nachempfinden. Es ist mir einmal passiert – du kannst das nicht wissen. Ich hatte einmal eine Fehlgeburt. Damals hätte es Waldo und mich fast zum Wahnsinn getrieben. Es war unser erster Versuch gewesen, eine Familie zu gründen, und ich hatte ein totes Baby zur Welt gebracht. Du hast den Tod gehaßt, nicht wahr? Ich glaube, als wir beisammen waren, habe ich das nicht verstanden. Aber seit damals habe ich viel dazugelernt; ich habe viel über uns nachgedacht.« 103
Dann lagen sie wieder still da. »Ich erinnere mich an damals, als wir noch so jung waren. Wir haben es oft so gemacht wie heute«, sagte sie nach einer längeren Pause. »Nur nicht, wenn du in deiner depressiven, bodenlosen schwarzen Stimmung warst. Leidest du noch immer darunter?« Er bestätigte es ihr. »Hat sich deine Frau deshalb von dir getrennt? Wie hieß sie noch?« »Polly. Nein – ich weiß nicht, warum sie sich von mir scheiden ließ. Ich habe versucht, es herauszufinden. Du bist eine Frau, du kannst es mir vielleicht sagen. Warum ist es unmöglich, mit jemandem wie mir zu leben?« Sie gab keine Antwort. Doch dann begann sie plötzlich zu weinen, leise, als wollte sie niemanden stören. Bennett setzte sich auf und legte seinen Arm um ihre Schultern, dann hielt er sie fest und wiederholte all die Lügen, die er ihr vorher gesagt hatte; wiederholte, daß alles gut werden, daß die Zeit die Wunden heilen würde, lauter Klischees, die bis zu einem bestimmten Punkt wahr waren und doch auch genauso falsch wie jedes Klischee. Schließlich hörte sie zu weinen auf. »Ich mach’ uns Kaffee«, sagte sie. »Bitte, bleib noch ein bißchen bei mir.« Er folgte ihr in die Küche. »Wirst du jetzt allein hierbleiben?« fragte er. »Hat Waldo Angehörige in der Gegend?« Zugleich verdammte er sich, weil er ihre augenblickliche Verzweiflung ausnützte, um herauszufinden, wieviel sie von der Sache wußte. »Ist das nicht sonderbar?« sagte sie. »Das war das einzige an ihm, was ich einfach nicht begreifen konnte. Er 104
erwähnte seine Familie niemals auch nur mit einem Wort. Ich nehme an, er hat eine schlimme Jugend hinter sich und hat versucht, sie irgendwie zu verdrängen.« Sie wußte also offenbar nichts von »Kater Felix«, dachte Bennett. Sie kannte ihn als Waldo Felix, den Mann, den sie geheiratet und mit dem sie zwei Kinder hatte. »Hat ihm sein Beruf Spaß gemacht?« fragte Bennett jetzt und fühlte sich miserabel, weil er immer noch weiterbohrte. »O ja«, sagte sie. »Ich habe mich so für ihn gefreut, weil er Kinder und ihre Spiele liebte, und weil ihm die Arbeit dort viel Spaß gemacht hat. Ich war ein paarmal dort, um ihn zu besuchen, und habe die Kinder mitgenommen. Es hat ihnen viel Freude gemacht. Sie schauten ihrem Daddy bei der Arbeit zu…« Dann schien ihre Stimme zu versagen. Ihre Lippen bewegten sich, versuchten, Worte zu formen, aber sie kamen nicht heraus, denn inzwischen hatte sie wieder zu weinen begonnen. Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und schluchzte. »Er war ein so guter Mann«, sagte sie unter Tränen. »So, so gut. Zu mir und zu den Kindern. Zu jedem. Ein anständiger Kerl, ja.« Sie weinte noch eine Weile, hörte dann aber so plötzlich auf, wie sie begonnen hatte. Es war wie die Wolken, die vom Ozean hereintreiben, dachte Bennett. Wenn sie sich zusammenziehen, glaubt man nicht, daß es jemals wieder hell werden würde. Und auf einmal haben sie sich aufgelöst, und die Sonne scheint wieder von einem klaren Himmel. »Er hat seine Arbeit geliebt«, sagte Ethel noch einmal, »Du sagst, er hätte Angst bekommen, als er diesen Brief erhalten hatte, in, dem man ihm mitteilte, daß Jules Bingman tot war.« »Ja. Große Angst.« 105
»Aber er hat dir nicht gesagt, warum?« »Nein.« Ihre Antwort kam so sicher wie bei den vorausgegangenen Fragen, die Bennett ihr gestellt hatte. »Ich habe gebohrt, aber er wollte es mir nicht sagen. Er meinte, das sei ein Geheimnis, das er nicht mit mir teilen wollte.« Bennett versuchte es aus einer anderen Richtung. »Kennst du eigentlich eine Mrs. Halliday?« fragte er jetzt. »Diese Pferdenärrin? Ich hab’ sie mal kennengelernt. Sie ist gut befreundet mit Todd und Helen.« Die Frage überraschte sie. »Warum fragst du?« »Nur so«, wich er aus. »Ich wollte nur wissen, ob du sie kennst.« Er trank eine Tasse Kaffee. Nach einem neuerlichen Tränenausbruch sagte sie zuletzt: »Willst du herausfinden, wer die beiden umgebracht hat?« Er hoffe es, erwiderte er. »Wie war eigentlich die Beziehung zwischen deinem Mann und Todd Straub?« fragte er dann. »Sie waren sehr enge Freunde«, antwortete sie. »Gute Freunde. Ich glaube, ich habe es dir schon gesagt: Sie waren schon befreundet, bevor ich Waldo kennenlernte, und bevor Todd Helen heiratete.« »Also gute Kumpel, oder so?« fragte Bennett. »O ja. Natürlich gibt es da auch unterschiedliche Rollen: Der eine ist meist der Brave, während der andere alle möglichen Streiche unternimmt. Und ich nehme an, in diesem Fall war Todd derjenige, der die Streiche spielte. Einmal…« Sie hielt inne. »Aber das ist jetzt alles vorbei. Es ist nicht wichtig.« »Was denn für Streiche?« hakte Bennett ein. »Ach, nichts von Bedeutung. Todd war ganz bestimmt 106
nicht schlecht.« Ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen. »Aber er ist immer zu meinem Mann gekommen, und Waldo hat ihm gute Ratschläge erteilt und herumtelefoniert, um sich für ihn zu entschuldigen. Todd war eben ein großer Lausejunge«, sagte sie. »Mein Mann dagegen war sehr sensibel, ein Mensch, der hart arbeitete und sich bemühte, immer das Richtige zu tun.« »Ist es nicht seltsam, daß sie so enge Freunde waren?« Bennett stellte diese Frage mehr sich selbst als Ethel. »Zwei Männer, die so grundverschieden sind.« »Vielleicht war es gerade das, was sie gegenseitig anzog«, sagte sie. »Die Tatsache, daß sie einander brauchten.« Er stimmte ihr zu. Dann küßte er sie leicht auf die Wange und verließ das Haus. Noch immer standen die Wagen der Trauergäste vor dem Haus der Straubs. Während er zu seinem Buick ging, hörte er, wie Ethel die Tür hinter ihm verriegelte, und fragte sich, wozu Todd eigentlich Waldos Hilfe gebraucht hatte. Eigentlich wäre es ihm wesentlich einleuchtender erschienen, wenn Waldo, der immer fürchten mußte, daß ihn jemand als Felix Conforti erkennen würde, Todd gebraucht hätte, um sich eine gute Fassade aufbauen zu können und um sein neues Leben glaubhaft erscheinen zu lassen. Bennett rief sich die Gerichtsverhandlung von damals in Erinnerung, und dabei fiel ihm ein, was für eine jämmerliche Figur der junge Conforti gemacht hatte, als er unter Eid aussagte, wie er die Luconte-Brüder kennengelernt hatte. Der Zeitungsreporter, der darüber berichtete, hatte es »Die Tragödie einer verpatzten Jugend« genannt: Junge Menschen, die nicht imstande sind, einen ordentlichen Beruf zu lernen, Menschen ohne Ehrgeiz, seien leichte Beute für gewissenlose Gangster wie die Lucontes, die sie erst als Boten benützten und dann zu 107
Schlägern, Zuhältern oder Rauschgifthändlern ausbildeten. Und es war gerade die Kenntnis des Apparats der Lucontes gewesen, die Waldo Felix alias Felix Conforti zu einem so wichtigen Zeugen der Anklage gemacht hatte. Also konnte man eher vermuten, daß er der Mann gewesen sein mußte, der die Hilfe der anderen nötig hatte, da er so viel zu verbergen hatte – nicht umgekehrt, wie Ethel behauptet hatte. Aber Bennett wußte so gut wie gar nichts über diesen Todd Straub. Er hatte ihn nur einmal gesprochen – das war alles. Wenn Ethel Felix die Wahrheit sagte, gab es noch einiges über Straub, was Bennett in Erfahrung bringen mußte. War es möglich, daß die beiden Männer sich so eng befreundet hatten, weil sie eine ähnliche Vergangenheit aufzuweisen hatten? Vielleicht kannten sie sich schon aus den Tagen der Lucontes, und Todd Straubs dramatische Geschichte über ihre ersten Begegnungen war ein Märchen, das man Bennett aufgetischt hatte. Die einzige Verbindung zum Leben von Todd Straub, die Bennett ausfindig gemacht hatte, war seine noch nicht näher ergründete Beziehung zu Mrs. Halliday. Sie wußte vermutlich mehr über den Mann, als sie gesagt hatte. Es war ein klarer, schöner Vormittag, und Bennett entschloß sich, hinauszufahren zur Ranch im Green Valley. Jetzt, bei Tageslicht, wurde ihm erst recht deutlich, welche herrliche Gegend dies war, und wie schön es sein mußte, hier leben zu können, wenn man mit soviel Geld gesegnet war, daß man nicht darüber nachdenken mußte, was dieses Leben kostete. Als er die lange, gerade, zweispurige Straße erreicht hatte, die das Tal durchschnitt, sah er zu beiden Seiten die Pferde der verschiedenen Ranches. Stuten grasten neben ihren Fohlen; im 108
strahlenden Licht des Vormittags tollten die Einjährigen mit fliegenden Mähnen umher und jagten sich wie spielende Kinder. Im Übungskorral einer Ranch führte eine Frau in Bluejeans ein Pferd, von dem sie bei weitem überragt wurde, im Kreis, bei stetigem Schritt, während ein jüngeres Mädchen immer wieder auf den Rücken des Tiers sprang und sich zu Boden gleiten ließ. Bennett erinnerte sich an eine Nummer, die er im Zirkus gesehen hatte, wohin ihn J. D. nach dem Tod seiner Mutter einmal geführt hatte. Auf der Halliday-Ranch war kein Mensch zu sehen. Bennett hielt an, öffnete das Tor, fuhr hinein in das Grundstück, schloß das Tor wieder und steuerte dann den Wagen hinauf zum Haus, wo er vor der Tür parkte. Als er aus dem Wagen stieg, kam ein Mann von der Rückseite des Hauses auf ihn zu. Ein Cowboy, wie Bennett feststellte, in mittleren Jahren, mit wettergegerbter Haut, ausgebleichten Jeans und einer Jeansjacke über einem ehemals karierten Hemd, so oft gewaschen, daß das Muster kaum noch zu erkennen war. Er hatte einen Strohhalm im Mund, und als er vor Bennett stand, rechnete dieser schon damit, er würde ihn nach Cowboyart mit »Howdy!« begrüßen. Aber der Mann enttäuschte Bennetts Erwartung. »Was, zum Teufel, haben Sie hier zu suchen?« fuhr er ihn an mit einer dünnen, hohen Stimme. »Das ist ein Privatgrundstück.« »Carlos? Ich bin Fred Bennett.« Er ging auf den Cowboy zu und streckte ihm die Hand entgegen in der Hoffnung, daß er den Namen aus dem Gespräch mit Mrs. Halliday richtig behalten hatte. »Ich hab’ gestern abend vergessen, Mrs. Halliday etwas zu sagen, was sie wissen müßte. Ist sie hier? Es dauert nur ein paar Minuten.« 109
»Sie ist nicht hier«, erklärte Carlos und kaute an seinem Strohhalm, als posierte er für eine Zigarettenwerbung. »Wo ist sie denn?« fragte Bennett. »Hat sie es Ihnen gesagt?« »Nee«, antwortete Carlos und tat so, als sei er das Double für Gary Cooper. »Aber es ist verdammt wichtig, daß ich sie spreche«, sagte. Bennett. »Ist es okay, wenn ich im Haus auf sie warte?« Dazu lachte er freundlich. »Ich bin nicht so wie ihr, immer im Freien, in der frischen Luft und so weiter. Wenn ich zu lange in der Sonne stehe, welkt meine Haut, und drei Tage danach schält sie sich wie eine Orange.« Bennett beobachtete ein Fenster in der Vorderfront des Hauses. Er war sicher, gesehen zu haben, wie sich dort eine Gardine bewegte, als ob er von drinnen beobachtet würde. »Haben Sie das schon mal gehört? Es gibt eine medizinische Bezeichnung dafür, die mir momentan nicht einfällt, aber bei mir ist das jedenfalls so, und ich wäre dankbar, wenn ich drinnen auf Mrs. Halliday warten könnte, nicht hier draußen in der Sonne.« Er war, während er das sagte, auf die Haustür zugegangen, stand jetzt davor und wartete darauf, eingelassen zu werden. Carlos richtete den Blick kurz auf das Fenster, das Bennett beobachtet hatte. Auch er mußte etwas gesehen haben, denn jetzt trat er rasch vor und öffnete Bennett die Tür. »Also gut warten Sie meinetwegen in der Diele«, sagte er. Bennett betrat das Haus. Die Sonne fiel in breiten Strahlen durch die Fenster. Und Mrs. Halliday stand unter der Wohnzimmertür, in engen Jeans und einer weißen Seidenbluse, die in der Taille mit einer Herrenkrawatte zusammengebunden war. Etwas in dem Raum war anders als am Abend zuvor. Bennett brauchte nur eine Sekunde, 110
um festzustellen, daß der Teppich, auf dem er einen großen Blutfleck gesehen zu haben glaubte, jetzt fehlte. »Guten Morgen«, sagte Mrs. Halliday. »Sie haben noch einmal die lange Fahrt hierher unternommen, um mir irgendwelche Informationen zukommen zu lassen, oder was weiß ich. Sie sind wirklich ein anständiger Mensch.« »Sehr gütig, Ma’am, aber es ist nicht der Rede wert«, erwiderte Bennett. »Was haben Sie mir zu berichten vergessen?« fragte sie ihn kühl. »Können wir uns nicht setzen?« schlug Bennett vor. »Ich bin ziemlich erschöpft von der langen Fahrt. Kommen Sie öfters in die Stadt? Das muß sehr unbequem sein. Außerdem – ich verstehe nicht, wie man auch nur eine Stunde fern von diesem herrlichen Besitz verbringen kann.« Er stand jetzt direkt neben ihr. »Was wollten Sie mir noch sagen?« wiederholte sie. »Kommen Sie, setzen wir uns doch. Sie sehen fabelhaft aus«, bemerkte er, als er an ihr vorbei hineinging ins Wohnzimmer. »Bei Tag sieht der Raum noch besser aus«, fuhr er fort, während er sich in dem Sessel niederließ, in dem er schon am Abend zuvor gesessen hatte. »Sehr gemütlich.« Sie blieb noch einen Augenblick lang unter der Tür stehen und schien sich zu überlegen, ob sie ihn durch Carlos hinauswerfen lassen sollte oder nicht. Aber irgend etwas an Bennett ließ sie zögern. Sie fühlte, daß dieser Mann gefährlich sein konnte, auch wenn er sich übertrieben charmant und höflich betrug; gefährlich und explosiv. Außerdem sah sie schon die halbe Einrichtung ihres Wohnzimmers zertrümmert für den Fall, daß sie Carlos den Befehl gab, den ungebetenen Gast hinauszuwerfen. 111
Also folgte sie Bennett statt dessen ins Wohnzimmer und ließ sich ihm gegenüber nieder. »Was wollen Sie von mir?« fragte sie ihn dann rundheraus. »Und wer sind Sie eigentlich? Sie sind kein Freund von Todd; ich glaube, die Komödie können Sie sich sparen. Wie war noch Ihr Name? Bennett?« »Frederick Bennett. Außerdem hätte ich mich eher als Freund von Todds Witwe vorstellen sollen. Ich versuche in ihrem Interesse herauszufinden, was mit ihrem Mann geschehen ist.« »Sie arbeiten also für sie? Wollen Sie das damit andeuten?« Sie beugte sich nach vorn, und dabei klaffte ihre Bluse auseinander. Sie war gut gebaut und wartete offensichtlich auf Bennets Reaktion. Er nickte einfach, als freue er sich über das, was er zu sehen bekam. »Ich arbeite nicht für Mrs. Straub, nein. Haben Sie das angenommen?« fragte er. »Ich sagte, ich sei ein Freund von ihr. Und mein Interesse an dem Fall ist das eines Freundes der Familie. Ich versuche nur, zu helfen, wo ich kann.« »Ein Pfadfinder!« sagte sie. »Sie schleichen also einfach durch die Gegend und versuchen, gute Taten am laufenden Band zu begehen?« »Ich tue, was ich kann«, erwiderte Bennett bescheiden. »Ich habe eine Menge Verabredungen«, sagte sie. »Was wollen Sie?« »Ich will wissen, warum Todds Frau auf Sie eifersüchtig war«, erklärte er und fragte sich, wie sie darauf reagieren würde. »Auf mich?« Sie lachte laut und warf dabei den Kopf in 112
den Nacken. »Warum sollte sie auf mich eifersüchtig gewesen sein?« »Helen sagte mir, daß Todd dauernd von Ihnen gesprochen hat. Wie Sie aussehen, was Sie anhaben, was Sie gesagt haben.« Er machte eine entsprechende Geste mit der Hand. »Einfach, wie er Sie sah.« »Ach.« Ihr Gesicht rötete sich. »Es klingt vielleicht neugierig«, sagte Bennett, »aber ich frage mich, wieso Sie sich eigentlich so oft gesehen haben. Sicher, ich weiß, daß Sie mit Todd und Helen gut befreundet waren, aber wo…« Er brach ab und schaute sie herausfordernd an; dabei zog er die Stirn in Falten. Als sie nicht antwortete, sagte er: »Also wissen Sie, ich verstehe Sie nicht. Ich bin hier, um einer jungen Witwe zu helfen, und wenn ich Ihnen die harmlosesten Fragen stelle, zum Beispiel wie und wo Sie Helen und Todd getroffen haben, tun sie, als versuchte ich, in ihre privatesten Geheimnisse einzudringen. Kommen Sie, Mrs. Halliday. Geben Sie mir und der armen Witwe eine Chance. Wo haben Sie die Straubs kennengelernt?« »Hat sie Ihnen das nicht gesagt?« Mrs. Halliday war wie eine Schachspielerin: vorsichtig, tastend, überlegend. »Sie konnte es nicht«, erwiderte Bennett, »weil sie sich nicht daran erinnert. Sie wissen ja, wie das ist – man kennt jemanden, weiß aber nicht, wo man ihn zum erstenmal getroffen hat. Es ist mir auch schon passiert, und Ihnen vermutlich ebenfalls.« »Das ist richtig«, erwiderte sie kühl. »Momentan zum Beispiel kann ich mich überhaupt nicht erinnern, wo ich Helen und Todd Straub kennengelernt habe.« »Helen meint, sie hätte Sie durch ihren Mann kennengelernt«, fuhr Bennett fort, nachdem er ihr einen 113
Augenblick Zeit zum Überlegen gelassen hatte. »Sie meint, ihr Mann hätte sie zuerst getroffen, und er hätte Sie danach mit ihr bekanntgemacht. Hilft das Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge? Jetzt brauchen Sie sich nur noch an die erste Begegnung mit einer Person zu erinnern, nicht mit zweien. Und diese eine Person war obendrein männlichen Geschlechts.« »Wissen Sie, was Sie tun sollten? Sie sollten von hier verschwinden. Jetzt, sofort. Denn lange werde ich nicht mehr höflich mit Ihnen sprechen.« Sie war aufgestanden und wartete darauf, daß auch er sich erhob. »Okay?« »Nun, wenn Sie das wollen«, sagte er und stand auf. »Tja.« Dann ging er an ihr vorbei und hinaus. Carlos stand in der Nähe des Fensters, hatte offensichtlich von draußen beobachtet, was drinnen vor sich ging. »Haben Sie mit der Lady gesprochen?« fragte er Bennett. »Ja«, antwortete Bennett. »Danke.« Carlos zuckte mit den Schultern und stieß die Stiefelspitze in den Kies. Dann zwickte der Cowboy die Augen zusammen und hielt Ausschau nach Indianern, die sich möglicherweise vor ihrem Überfall hinter einer der großen Eichen versteckten. »Wann bekommen Sie den Wagen zurück?« fragte Bennett. »In zwei oder drei Tagen.« Carlos veränderte nicht seine Blickrichtung. »Und wer macht das?« Jetzt richtete Carlos die Augen auf Bennett. »Warum? Haben Sie ein ähnliches Problem?« »Könnte sein«, wich Bennett aus. »Man weiß nie, wann 114
man mal jemanden chauffieren muß, der einem die Polster mit Blut beschmiert. Das kommt gar nicht so selten vor, wie manche meinen. Haben Sie es zum erstenmal erlebt?« Carlos schaute ihn an, als würde es gleich großen Ärger im Saloon geben. »Machen Sie sich lustig über mich?« fragte er und verlagerte das Gewicht nach vorn. »No, Sir, wirklich nicht. Ich frag’ nur als guter Freund. Eine Hand wascht die andere, und wo weiter. Haben Sie so was zum erstenmal erlebt?« Carlos bemühte sich nicht um eine Antwort. Er starrte Bennett mit einem Blick an, der ausdrückte, daß jeder hier auf der Ranch von diesem Frederick Bennett die Nase voll hatte. Bennett verstand und stieg in seinen Buick. Auf der Fahrt zurück in die Stadt dachte er über einen Zufall nach, an den er einfach nicht glauben konnte: daß zwei Freunde innerhalb weniger Tage ermordet worden waren, aus Gründen, die unerfindlich schienen. Bis jetzt jedenfalls gab es keine plausiblere Erklärung dafür. Soviel er wußte, hing der Mord an Waldo Felix mit irgendeiner Geschichte aus dessen Vorleben zusammen, aus jenem Leben, als er noch Felix Conforti geheißen hatte. Daß Todd Straub ganz kurz danach in einen Unfall verwickelt worden war, bei dem er sich eine Reihe von Rippen brach und ein paar Stunden später starb, konnte tatsächlich einer von jenen Zufällen sein, wie sie sich nun einmal ereigneten. Warum konnte Bennett es dann nicht akzeptieren? Warum schnüffelte er in der Umgebung der beiden Männer herum, warum suchte er nach einer Verbindung, die möglicherweise gar nicht existierte? Er war zu Mrs. Halliday gefahren in der Hoffnung, etwas zu sehen oder zu erfahren, was erklärte, warum Todd Straub kurz vor seinem Tod dort hinausgefahren war, vielleicht auch 115
ob er dort diesen Unfall erlitten hatte oder irgendwo anders, worauf man ihn, aus welchen Gründen auch immer, auf die Ranch gebracht hatte. Aber alles, was er gefunden hatte, war eine störrische Frau, und alles, was er gesehen hatte, war ein Blutfleck auf einem Teppich gewesen – ein Teppich, der am Tag danach nicht mehr an Ort und Stelle lag. Vorausgesetzt, es war wirklich Blut gewesen, was er da für den Bruchteil von Sekunden gesehen hatte. Du tust im Grunde genau das, was du Drang vorwirfst, sagte er sich. Du siehst überall Gespenster und verdächtigst die unschuldigsten Leute, versuchst in jedes ihrer Worte weiß Gott was für eine Bedeutung hineinzulegen! Nein, dachte er, du willst es vielleicht nicht zugeben, aber die naheliegende Antwort ist, daß Waldo Felix von den Luconte-Brüdern ermordet wurde, und daß Todd Straub einem Unfall zum Opfer gefallen ist, der nichts mit dem zu tun hat, was seinem Freund passierte. Bennett fuhr zurück in die Stadt; inzwischen hatte er sich selbst davon überzeugt, daß es so und nicht anders sein mußte. Er hielt kurz, um zu tanken, und schrieb sich auf, was es gekostet hatte, zweimal zu Mrs. Halliday zu fahren, damit er Drang die Spesenrechnung präsentieren konnte. Dann rief er Drang im Präsidium an, um ihm zu sagen, zu welcher Schlußfolgerung er gekommen war. »Gut, daß du anrufst«, sagte Drang, und seine Stimme klang ungewöhnlich erregt. »Todd Straub wurde nicht durch die Brustverletzung getötet.« Bennett hatte es so eilig gehabt, seine Theorie weiterzugeben, daß er erst gar nicht auf das achtete, was Drang ihm mitteilte. »Was?« fragte er jetzt und fühlte, wie ihm das Blut in den Adern erstarrte. 116
»Todd Straub ist nicht durch die Verletzungen an der Brust umgekommen«, wiederholte Drang. »Ich habe den Autopsiebericht vor mir. Der Sachverständige meint, der Schlag gegen die Brust sei nichts weiter als ein Versuch gewesen, die tatsächliche Todesursache wenigstens für kurze Zeit zu verschleiern.« »Und die war?« fragte Bennett, wobei er die Antwort ahnte. »Todd Straub wurde von hinten erstochen«, sagte Drang.
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Kapitel 10 »Du glaubst also, daß es die Lucontes waren?« fragte Bennett. Sie hatten sich in einem kleinen Park auf halbem Weg zwischen Drangs Büro und der Tankstelle getroffen, von der aus Bennett den Captain angerufen hatte. In der Nähe spielten Kinder unter der Aufsicht ihrer besorgten Mütter. »Ich würde wetten«, antwortete Drang. »Du glaubst also, der Messerkiller hat erst den Falschen umgebracht und danach noch den Richtigen?« Für Bennett ergab das keinen Sinn. »Es wäre durchaus möglich«, sagte Drang. »Dir selbst ist die Ähnlichkeit der beiden Männer aufgefallen.« »Das stimmt, und ich hab’ auch darüber mit dir gesprochen«, räumte Bennett ein, blieb jedoch skeptisch. »Aber dann hätte er doch zuerst den Richtigen und dann erst den Falschen erstochen.« Drang zog die Stirn in Falten. »Er hatte den Auftrag, Waldo Felix zu töten. Und das hat er auch getan. Warum hätte er danach noch einen zweiten Mann umbringen sollen, der so ähnlich wie Waldo aussah?« fuhr Bennett fort. »Ich muß sagen, dieser Teil deiner Theorie macht mir großes Kopfzerbrechen.« Und obendrein hatte man Waldos Leichnam in J. D.s Garten geworfen, setzte er in Gedanken hinzu. »Der Killer hat eben nicht mit Sicherheit gewußt, ob das erste Opfer, das er umgelegt hatte, auch wirklich Waldo Felix war«, entgegnete Drang ein wenig unsicherer als zuvor. »Er hatte eine Beschreibung des Mannes; er wußte, in welcher Gegend er wohnte, also hat er erst einmal 118
zugeschlagen. Und dann hat jemand gesagt: ›Moment mal, bist du sicher, daß du auch den Richtigen erwischt hast?‹ Also hat sich der Killer noch mal auf die Socken gemacht, und, verdammt noch mal, da ist ein zweiter, der ganz genauso aussieht, in der gleichen Gegend wohnt … Um sicher zu gehen, wiederholt der Killer seine Messernummer.« Bennett brummte; es klang sehr unzufrieden. Drang merkte, daß er den anderen nicht überzeugen konnte mit seiner Theorie. »Du kaufst mir das nicht ab?« fragte er. »Ich weiß nicht – aber ich bin mir nicht sicher«, erwiderte Bennett. »Ich möchte es dir gern abkaufen. Und mir steht das Wasser nicht so sehr bis zum Hals, daß ich unbedingt darauf angewiesen wäre, in der Sache weiterzuarbeiten. Verdammt, ja, was du sagst, klingt ganz vernünftig. Ein Mann, der mit einer falschen Identität hier in der Gegend lebt, wird schließlich zuletzt doch noch von den Leuten entlarvt, die er seinerzeit hineingeritten hat. Der bezahlte Killer wird nach dem Mord unsicher, denn es sieht so aus, als hätte er den falschen Mann umgebracht. Er bringt auch den anderen um, der dem ersten Opfer so ähnlich sieht. Klar, einfach und logisch: Jetzt brauchst du nur noch die Luconte-Brüder zu schnappen und ihnen die beiden Morde anzuhängen.« »Genau«, sagte Drang. »Aber trotzdem – ich habe das Gefühl, daß da etwas nicht stimmt«, fuhr Bennett fort. »Irgend etwas sagt mir, daß in deiner Theorie der Wurm steckt. Ein dicker, fetter Wurm.« »Und was könnte das sein?« fragte Drang. »Schließlich bezahle ich dich dafür, daß du mit deinen Ideen und Theorien zur Lösung beiträgst.« 119
»Ich wollte, ich wüßte es«, murmelte Bennett und kratzte sich an der Stirn. »Mein Gott, wenn ich die Antwort auf diese Frage geben könnte, brauchte ich nicht mit dir auf einer Parkbank zu sitzen und mir einen verdammten Sonnenbrand zu holen. Dann würde ich mich auf den Weg machen und die Schuldigen ihrer verbrecherischen Taten überführen. Ich – ich kann dir nur so viel sagen, daß ich fühle, hier ist irgend etwas nicht so, wie es nach deiner Theorie – der einzig logischen, die mir einfällt – sein sollte. Und das ist nicht nur ein vages Gefühl, sondern meine feste Überzeugung«, fügte er hinzu. »Heißt das, du willst weitermachen?« Bennett erwiderte, genau das sei es, was er wolle. »Und wenn ich nicht damit einverstanden bin?« fragte Drang. »Du meinst, du willst mir von nun an nichts mehr bezahlen? Hast du das gemeint?« Drang zuckte mit den Schultern. »Wir haben auf alle Fragen klare Antworten – jedenfalls für den Augenblick. Du bittest mich, mit deiner Untersuchung weitermachen zu dürfen, und ich soll dir weiterhin Geld aus meinem Budget bezahlen – in einem Fall, der meines Erachtens bereits gestorben ist.« »Das eben ist das Problem bei uns beiden, Drang«, bemerkte Bennett und lehnte sich zurück. »Du bist nur zu gern bereit aufzugeben, bevor die Arbeit ganz getan ist. Das war schon so, als ich noch bei euch gearbeitet habe. Manchmal glaube ich, du willst alles auf Biegen und Brechen lösen, weil es dich nach einiger Zeit langweilt, in einer Sache herumzustochern, und weil es dich gar nicht mehr interessiert, all die kleinen Puzzlesteine richtig zusammenzusetzen.« 120
Drangs Gesicht war zorngerötet, aber er versagte sich eine Antwort. »Ob du mich nun bezahlst oder nicht – ich werde auf jeden Fall weitermachen. Was sagst du dazu? Im Lauf der Jahre bin ich dahintergekommen«, erklärte Bennett mit starker Betonung, »daß ich mich auf meine Instinkte verlassen kann. Und meine Instinkte sagen mir laut und deutlich, daß an unserer Theorie einiges erheblich faul ist. Das ist einfach zu naheliegend, zu simpel. Sicher, ich könnte jetzt auch aufhören, aber irgendwie paßt mir das nicht. Ich würde mitten in der Nacht aufwachen, und dann würde es mir im Kopf herumgehen; nach ein paar Tagen wäre ich so übermüdet und vergrätzt, daß ich ziemlich gemein werden würde zu allen Leuten, also auch zu dir…« »Genug«, sagte Drang. »Ich verstehe, was du damit sagen willst.« Er überlegte seine Möglichkeiten. »Wie wäre es damit: Ich suche die Lucontes und überprüfe, ob meine Theorie stimmt oder nicht. Du dagegen machst weiter wie bisher, und benützt deine Instinkte und deine Erfahrung und was du willst.« »Gegen Honorar«, unterbrach ihn Bennett. Drang seufzte. »Also schön, gegen Honorar. Mein Gott, du bist wirklich ein ekelhafter Kerl.« »Sagen wir, ich bin nicht besonders liebenswürdig«, räumte Bennett ein. »Aber von großem Nutzen für das Department, wie du erkennen wirst, wenn erst alle Beweise vor dir liegen.« »Ach, hör schon auf damit«, sagte Drang, und es klang müde, als hätte er selbst schon seit längerer Zeit nicht mehr ruhig geschlafen. »Hör bloß auf damit.« Und Bennett sagte nichts mehr. Drang ging zurück ins Präsidium, weil er die Festnahme der Luconte-Brüder in die Wege leiten wollte. Bennett 121
blieb noch eine Weile auf der Parkbank sitzen und schaute den Kleinen auf der Schaukel zu. Hinter ihnen stand eine große Sandkiste in einer Vertiefung des Spielplatzes mit Imitationen von prähistorischen Tieren, auf denen die Kleinen ritten. Ein paar Kinderschwestern halfen ihnen dabei und unterhielten sich mit den Müttern. Die Szene wirkte so normal und friedlich, daß Bennett einen Augenblick lang diese Morde für unwirklich hielt; so schreckliche Dinge konnten sich nicht ereignen in einer Welt, die so friedlich und sicher war wie diese. Aber zwei Männer waren erstochen worden, und Bennetts Unterbewußtsein signalisierte ihm, daß er jetzt den nächsten Schritt in die richtige Richtung machen mußte. Drang ging davon aus, daß die Erklärung für die Morde im Vorleben von Waldo Felix zu suchen war. Und Bennett hatte die Aufgabe, jemanden ausfindig zu machen, der ein anderes Motiv hatte, Waldo Felix umzubringen. Dieser andere brauchte gar nichts von Waldos Vergangenheit zu wissen. Aber er mußte auch ein Motiv dafür haben, daß er anschließend Todd Straub umgebracht hatte. Also schön. Motive. Warum bringen die Menschen einander um? Durch Zufall, dumme Fehler. Ein Leben, das ausgelöscht wird, weil jemand sich zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort aufhält. Das traf hier wohl kaum zu; es hieße den Zufall über Gebühr strapazieren. Weil jemand unversöhnlichen Haß gegen einen anderen entwickelt, die Folge eines schändlichen Betrugs zum Beispiel, und dieser Haß führt, wenn alle anderen Mittel der Rache versagen, zur endgültigen Auflösung der Freundschaft, der Zerstörung des gehaßten Gegners. Aber konnte das in zwei Fällen zutreffen? Das würde 122
bedeuten, daß sowohl Todd als auch Waldo dem Mörder etwas Schändliches angetan haben mußten. Mörder in der Einzahl, denn Bennett fühlte, daß beide von ein und derselben Person umgebracht worden waren. Was konnte es sein, das den Haß des Mörders auf die beiden Männer lenkte – auf was konnten sie sich gemeinsam eingelassen haben? Die einzige bisher unerforschte Verbindung, von der Bennett wußte, führte nach San Francisco. Jules Bingman hatte Waldo Felix gut genug gekannt, daß Felix zu Tode erschrak, als er von Bingmans Hinscheiden erfuhr. Und Todd Straub war in San Francisco gewesen, der Stadt, wo Jules Bingman kürzlich gestorben war, und dort hatte er von dem Mord an Waldo Felix gehört. Bennett fuhr zurück in seine Wohnung und suchte sich seine Unterlagen zusammen. Er las noch einmal den Brief, den Waldo Felix erhalten, und den er sich kopiert hatte. »Lieber Waldo«, hieß es da, »Jules ist tot. Ich wollte es Dir eigentlich schonender beibringen, aber es gibt keine andere Möglichkeit. Es kam ganz plötzlich, gestern abend. Er wollte eingeäschert werden, also gibt es keine Beerdigung. Hoffe, es geht dir gut. In Freundschaft, Bert.« Der Brief war zwei Wochen vor Waldos Tod in San Francisco abgestempelt und an Felix’ Privatadresse geschickt worden, obwohl er doch den Job bei »Natürliche Neuheiten« durch Jules Bingmans Empfehlung erhalten hatte. Er und drei andere, erinnerte sich Bennett. Und auch die drei anderen hatten ihre Arbeit dort aufgegeben, aus unbekannten Gründen und ohne die Kündigungsfristen einzuhalten. Bennett hatte angenommen, daß dieser Jules Bingman ein Mitarbeiter, des staatlichen »Zeugenschutzprogramms« gewesen war, das sich für die dem Staat nützlichen Kronzeugen einsetzte. Aber wenn Todd Straub 123
und Waldo Felix von ein und derselben Person ermordet worden waren – änderte das nicht auch die Position von Jules Bingman? Er sah seine Notizen durch und fand die Adresse von Jules Bingman, die ihm Mary Symphony bei »Natürliche Neuheiten« gegeben hatte: West Grimes Avenue 2331, San Francisco. Eine Telefonnummer war ihr nicht bekannt gewesen. Bennett stand auf, warf frische Unterwäsche, ein gebügeltes Hemd und sein Rasierzeug in eine kleine Reisetasche, ging hinunter zu seinem Wagen, und fuhr hinaus zum Flughafen. Dort besorgte er sich ein Flugticket, ließ Datum und Termin für den Rückflug offen und war innerhalb einer Stunde unterwegs nach San Francisco. Im Flugzeug ließ er sich einen Drink servieren und hatte gerade die Newsweek durchgeblättert, als die Maschine bereits in San Francisco landete. Dort mietete er sich am Flugplatz einen Wagen und studierte den Stadtplan, den ihm das Mädchen beim Autoverleih gegeben hatte. Die West Grimes Avenue befand sich im North-Beach-Viertel; also fuhr Bennett hinein in die Stadt. San Francisco war eine der wenigen Städte, die Bennett gut gefielen. Eine moderne Stadt, die die Ungehobeltheit ihrer frühen Pionierzeiten in gewisser Weise zu erhalten gewußt hatte; hier fühlte er sich wohl. Er fuhr vom Flugplatz in die Stadt und zur North Beach. Nachdem er sich den Stadtplan gut eingeprägt hatte, bereitete es ihm keine Schwierigkeiten, die West Grimes zu finden. Nummer 2331 lag in halber Höhe auf einem der niedrigeren Hügel der Stadt, und auf beiden Straßenseiten prangten Parkverbotschilder. An der nächsten Ecke fand er einen öffentlichen Parkplatz, ließ den Wagen dort stehen und ging zurück zur West Grimes. Auf dem Weg nach oben schaute er sich mehrmals um und sah die Stadt und das Wunderwerk der Golden Gate Bridge unter sich. Die 124
ersten Streifen des Nachmittagsnebels trieben durch das Golden Gate vom Pazifik herein. Zwei Frachter fuhren unter der Brücke hindurch, der eine, ein Tanker, ragte hoch aus dem Wasser und hatte seine Ladung vermutlich bei den Raffinerien von Richmond erleichtert. Der andere sah aus wie aus einem alten Kriegsfilm: die Decks verrostet, die Flagge Panamas zerrissen, und an der Reling ein paar Leute von der Mannschaft, die sehnsüchtig nach den Docks hinüberschauten. Es sah so aus, als laufe das Schiff nach langen Monaten erstmals wieder einen Hafen an. Bennett blieb vor dem Haus Nummer 2331 stehen und atmete tief ein; er fühlte, wie die frische Seeluft seine Lungen füllte. Die Grimes war eine der älteren Straßen; die viktorianischen Häuser duckten sich an den Hügel. Es waren wettergebleichte Holzhäuser, nur wenige davon frisch bemalt. Nummer 2331 gehörte zu ihnen; es ragte in sanftem Gelb zum tiefblauen Himmel auf, und zwischendurch konnte man von hier aus sogar einen Streifen des Pazifiks sehen. Bennett näherte sich dem Haus und kam dabei an Beeten mit gelben und orangefarbenen Zwergzinnien vorbei. Eine Holztreppe, ebenfalls frisch gestrichen, führte hinauf auf eine Veranda und zu einer großen, handgezimmerten Tür, die durch das viele Schrubben mit den Jahren einen seidigen Schimmer bekommen hatte und deutlich die Maserung des Holzes zeigte. Bennett drückte auf die Klingel und hörte es im Inneren des Hauses läuten. Sekunden später wurde die Tür geöffnet. Dahinter stand eine der größten und kräftigsten Frauen, denen Bennett je begegnet war. Einen Augenblick lang dachte er, es sei ein Mann – ein Profi-Footballer vielleicht. Sie war fast einen Kopf größer als Bennett und sehr breit; ihre Arme, der Oberkörper und die Beine waren muskulös und stark. Sie hatte dunkles Haar mit grauen 125
Fäden, das sie im Nacken mit einem Band zusammenhielt und auf die mächtigen Schultern fallen ließ. Die Halsmuskeln erinnerten an einen Gewichtheber, und darüber war ein engelhaftes Gesicht mit perfekten Zügen und klaren, braunen Augen zu sehen. Sie trug eine Hose und eine beigefarbene Bluse, und um den Hals hatte sie eine dünne Goldkette, an der ein Herz aus Bergkristall hing, nicht größer als einer ihrer Fingernägel. »Ja?« fragte sie. Ihre Stimme war weich, warm und sehr weiblich. »Mein Name ist Fred Bennett«, stellte er sich vor. »Ich bin ein guter Freund von Ethel Felix. Und ich versuche herauszufinden, wer ihren Mann getötet hat. Darf ich reinkommen?« »Das arme Ding«, sagte sie, zog dabei die Stirn in Falten und schüttelte gleich danach den Kopf, als wolle sie die häßlichen Gedanken verscheuchen. »Ja, natürlich, kommen Sie rein«, sagte sie. Bennett folgte ihr ins Haus: enge, vollgestopfte Räume, in die sie kaum zu passen schien. Sie bewegte sich vorsichtig, nicht nur wegen ihrer Größe, sondern auch wegen dem vielen Zeug, das überall herumstand und das sie mit ihren Maßen leicht zu Boden stoßen konnte. Erinnerungen, nahm Bennett an, kleine Holz- und Keramiktiere, Glasfiguren und Kristalle, die in Regalen angeordnet waren, Konsolen, die leicht bebten, wenn sie daran vorüberschritt. Sie ging voraus in ein Wohnzimmer, das vergleichsweise einfach eingerichtet war und eine große Sammlung gerahmter Fotografien enthielt. Sie standen und hingen überall herum; die meisten davon waren mit Widmungen versehen, wie Bennett feststellte, obwohl es sich bei den Dargestellten keineswegs um Berühmtheiten oder Beinahe-Berühmtheiten handelte, wie man hätte erwarten können. 126
Die Frau deutete auf einen großen, abgewetzten Clubsessel, und nachdem Bennett sich dort niedergelassen hatte, setzte sie sich auf ein Dos-à-dos, dessen dünne, feingeschnitzte Beine kaum stark genug aussahen, als daß sie ihr Gewicht tragen konnten. Aber erstaunlicherweise krachte das Ding nicht zusammen. Die Frau faltete die Hände auf dem Schoß. Es waren die breiten, kräftigen Hände eines Menschen, der viel körperliche Arbeit verrichtet. »Wie geht es Ethel?« fragte sie. »Sie hängt natürlich schwer durch«, antwortete Bennett. »Aber Ethel hat die Kraft, wieder in ein normales Leben zurückzufinden.« »Die wird sie auch nötig haben«, sagte die Frau nicht ohne Sympathie. Etwas an ihrem Ton fiel Bennett auf. Sie hatte es nicht so gesagt, als meinte sie damit speziell Ethel Felix. »Tut mir leid«, erklärte er, »ich platze hier herein und weiß noch nicht einmal, wie Sie heißen.« »Roberta«, sagte sie. Er erinnerte sich an den Brief über Jules Bingmans Tod, der mit »Bert« unterzeichnet war. »Ja, das bin ich«, sagte sie. »Bert.« Bennett fürchtete schon, sie könne Gedanken lesen. »Ich war Jules Frau. Ein Stück in seiner Sammlung von Dingen, die nicht zusammenpassen.« Dabei machte sie eine Handbewegung auf die gerahmten Fotografien. »Kann ich Ihnen etwas anbieten?« »Nein, danke«, sagte er. »Ich bin sicher, Sie möchten mir eine Menge Fragen stellen«, sagte sie. »Also schön, raus damit. Genieren Sie sich nicht; mich können Sie nicht so leicht in Verlegenheit bringen. Das habe ich hinter mir, seit man mich das 127
größte, elfjährige Schulmädchen des Staates Kalifornien genannt hat.« In ihrer Stimme war nicht die Spur von Selbstmitleid zu hören; sie befaßte sich nur mit Fakten, wie es schien. »Wie ist ihr Mann gestorben?« fragte Bennett. »Es war jedenfalls nichts Kriminelles dabei, wenn Sie das gemeint haben solltet!.« Eine seltsame Antwort, wie Bennett fand – als ob sie sofort die verteidigende Position eingenommen hätte. »Heißt das, Sie wollen mir keine Einzelheiten verraten?« »Es gibt keinen Anlaß dazu, Ihnen mehr zu sagen, als Sie wissen müssen«, erwiderte sie ruhig und gelassen. »Finden Sie nicht auch?« Er gab ihr darauf keine Antwort. »In Ihrem Brief an Waldo Felix schreiben Sie, es werde keine Beerdigung geben. Ich glaube, es heißt wörtlich: Er wollte eingeäschert werden, also gibt es keine Beerdigung.« »Das ist richtig.« Es klang so, als diskutiere sie Dinge, die sie in Wirklichkeit gar nicht interessierten. Ihre Antworten kamen mit einer wohlmodulierten Stimme, in einem freundlichen und durchaus hilfsbereiten Ton. Bennett merkte, daß er sehr gezielt fragen mußte; sie war vermutlich nicht bereit, von sich aus mit Informationen aufzuwarten. »Gibt es dafür einen besonderen Grund?« fragte Bennett. »Der Wunsch meines Mannes«, erwiderte sie. »Und Sie schrieben den Brief, damit Waldo Felix sich nicht tags darauf hierher aufmachte?« »Ja.« »Wie haben sich Ihr Mann und Waldo Felix kennengelernt?« fragte Bennett. »Genauso wie die anderen meinen Mann kennengelernt 128
haben«, sagte sie und deutete wieder auf die Fotos. »Ich kann mir trotzdem nicht vorstellen, wie«, sagte Bennett. »Was für einen Beruf hatte denn Ihr Mann?« »Er kümmerte sich um Streuner und Ausreißer«, erklärte sie. »Um Menschen, die schon als verloren galten. Wenn sich jemand mit einer solchen Aufgabe befaßt, dann spricht sich das rasch herum, und die Verlorenen finden ihren Weg dorthin. Ich habe meinen Weg zu ihm gefunden, genau wie Waldo Felix und all die anderen. Er konnte manchen von ihnen helfen, konnte ihnen unter die Arme greifen. Bei anderen…« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Kennen Sie das Vorleben von Waldo Felix?« »Mein Mann sagte immer, es gibt kein Vorleben. Der Mensch hat nichts als seine Zukunft.« »Dann wußte er also nicht, wer Waldo Felix in Wirklichkeit war?« »Es war ihm völlig gleichgültig. Das einzige, was zählte, war das, was aus ihm geworden ist.« »Waren Sie schon mit Ihrem Mann verheiratet, als er Waldo Felix kennenlernte?« »Ja.« »Und – waren Sie dabei, als er Waldo Felix zum erstenmal sah?« »Ja.« »Können Sie mir sagen, wie es zu dieser Begegnung gekommen ist?« Sie dachte darüber nach, zog dabei die Stirn in Falten und ihre Arbeiterhände ruhten auf dem Schoß. »Es war beim Abendessen. Wir hatten ein paar Bekannte eingeladen.« Sie deutete auf eine offene Tür, durch die 129
man einen Eßtisch und ein paar Stühle sehen konnte. »Wie es der Zufall so will, diese Leute kommen immer zur Essenszeit hierher. An dem bewußten Abend waren lauter gute Freunde hier, die uns häufig besuchten. Als es klingelte, bin ich an die Tür gegangen. Ein Mann stand dort, gutaussehend und jung. Ich hatte den Eindruck, als wollte er etwas sein, was er gar nicht war.« »Ich bin nicht sicher, daß ich verstehe, was Sie damit meinen.« »Nun, ganz einfach, er vermittelte mir auf den ersten Blick den Eindruck, als spielte er eine Rolle, die ihm nicht lag. Er versuchte – wie soll ich es sagen? Er versuchte, den Löwen zu spielen, obwohl er nur ein kleiner, sanfter Kater war.« »Kam er herein?« »O ja. Ich fragte ihn, ob er schon gegessen habe, und als er verneinte, habe ich ihn eingeladen, sich zu uns zu setzen. Er wurde den anderen vorgestellt…« Sie zögerte, als falle ihr eben etwas ein. »Als er uns seinen Namen nannte, kam es mir so vor, als warte er darauf, damit Anklang zu finden. Ich meine, als fürchte er, wir könnten seinen Namen nicht gern hören. Später, als ich es gegenüber meinem Mann erwähnte, sagte der, das sei durchaus verständlich. Mein Mann meinte, er habe es ja auch besonders schwer gehabt. Wenn man zu einer Gesellschaft aus lauter fremden Leuten stößt, weiß man nie, ob man akzeptiert wird. Ich erinnerte mich daran, wie schwierig es auch für mich gewesen ist.« Bennett schaute sie an und überlegte, wie schwierig es für die junge Roberta gewesen sein mochte, irgendwo aufzutreten und zu versuchen, über die erstaunten Blicke hinwegzuschauen, die ihre Erscheinung unweigerlich hervorrufen mußte. 130
»Und dann haben sich Ihr Mann und Waldo Felix angefreundet?« fragte Bennett. »Ja.« »Wann hat Waldo Felix San Francisco verlassen, um nach Los Angeles zu ziehen?« »Kurz danach«, sagte sie. »Aber er schrieb gelegentlich und rief uns an. Und von Zeit zu Zeit hat er uns auch besucht. Nach dieser ersten Begegnung hatte ich eigentlich nicht das Gefühl, als ob er wirklich von uns weg wäre. Genau wie die anderen.« »Haben Sie Ethel, seine Frau, kennengelernt?« »Nein.« Sie warf einen Blick auf die Fotos. »Und das ist eigentlich sonderbar, weil sonst auch die Frauen und die Kinder Teil der Familie werden. Jeder, der hierhergekommen ist, um mit meinem Mann zu sprechen, wurde automatisch Teil der Familie. Und das schloß in den meisten Fällen auch die Familien dieser Leute mit ein.« Bennett glaubte zu verstehen. Er betrachtete sich die Fotos genauer, Männer und Frauen, Junge und Alte, Schwarze, Weiße, Braune und Gelbe – der Traum des Jules Bingman von einer einzigen, riesigen Familie, in der es Platz gab für jeden, einen sicheren Platz, auch für einen Mann wie Waldo Felix mit neuem Namen und einer neuen Identität. Hier wartete Wärme und Anerkennung auf sie, hier wurden keine Fragen über das, gestellt, was hinter ihnen lag. Die Fotos standen auf den Regalen zwischen anderen Erinnerungsstücken, Souvenirs von Reisen, Picknicks oder Ferientagen, Geburtstagen oder anderen freudigen Ereignissen. Es waren meistens Schnappschüsse, einige klein, andere vergrößert, und jedes Foto war sorgfältig gerahmt, teils in billigen Papprahmen, teils aber auch in 131
hübsch verzierten Silberrähmchen. In Bennetts direkter Nähe stand das Foto einer hübschen jungen Frau in einem Kornfeld neben einem stillen Fluß. Darauf war zu lesen: »Für meinen lieben Jules, ohne den ich nicht hier wäre.« Dahinter standen Fotos von ein paar kleinen Kindern. »Gehörten auch Kinder zu Ihren – Besuchern?« fragte Bennett. »Das sind die Kinder der Familien«, erklärte Roberta Bingman. »Ihre Eltern wußten, daß Jules die Kinder besonders liebte.« Sie sah zu, wie Bennetts Blick durch den Raum schweifte. »Was wollen Sie sonst noch wissen?« fragte sie ihn. Bennett stand plötzlich auf und ging zu einem Stutzflügel, der neben dem großen Fenster in einer Nische stand. Auch hier standen gerahmte Fotos wie Soldaten bei der Parade. Mittendrin, in einem Zinnrahmen, entdeckte Bennett das Foto von Waldo Felix. Keines aus neuerer Zeit, Bennett schätzte, daß es fünf oder sechs Jahre alt sein mußte. Er nahm es in die Hand, um die Widmung zu lesen. »Für Jules«, stand darauf, »mit tiefster Dankbarkeit.« Und die Unterschrift: »Todd Straub.«
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Kapitel 11 Gebannt, die gerahmte Fotografie in der Hand, schaute Bennett Roberta an. Sie hatte sich nicht bewegt, sondern saß ruhig und schweigend da, wobei ihr großer Körper die eine Seite des Dos-à-dos völlig ausfüllte, auf dem sie saß. »Waldo ist dort drüben«, sagte sie und zeigte auf die andere Seite des Raums, wo weitere Fotorahmen auf einem kleinen Rauchtischchen standen. »Ist die Ähnlichkeit nicht fast unheimlich?« Bennett stimmte dem zu und fand dann auch Waldos Foto. Auch dieses Bild war nicht neueren Datums, vermutlich sieben oder acht Jahre alt, und es steckte in einem einfachen Holzrahmen. Waldo hatte daraufgeschrieben: »Für Jules, der mir neuen Boden gegeben hat, auf dem ich stehen kann.« Darunter hatte er seinen Namen gekritzelt. Bennett nahm es mit und verglich es mit dem Foto von Todd. Wenn man die beiden nebeneinanderhielt, merkte man, daß die Ähnlichkeit doch nicht so groß war. Das Haar und die Gesichtsform waren gleich, ebenso die Farben, aber Augen, Nase und Mund wiesen nur eine entfernte Ähnlichkeit auf. »Ich wußte nicht, daß Todd Sie und Jules gekannt hat«, sagte Bennett. »O ja«, antwortete Roberta Bingman. »Wie ist er denn hierhergekommen?« »Durch Waldo. Er war ein guter Freund von ihm, und als er eines Tages hierherkam, um uns zu besuchen, brachte er Todd mit.« »Wann war das?« Sie überlegte und bewegte dabei die Lippen, als zählte 133
sie Tage, Monate und Jahre. »Ungefähr vor fünf Jahren«, sagte sie dann. »Gab es einen Grund …«, begann Bennett. »Es gibt immer einen Grund«, unterbrach ihn Roberta Bingman. Er mußte grinsen. »Ja, das haben wir bereits geklärt. Ich dachte eigentlich mehr an einen Grund für Todd, hierherzukommen.« Sie verschränkte die Arme vor dem wuchtigen Busen. »Todds Probleme waren eigentlich alle selbstgestrickt.« »Das unterscheidet ihn wenig von uns allen«, sagte Bennett trocken. Sie stimmte ihm mit leichtem Kopfnicken zu. »Aber Todds Probleme waren vergleichsweise einfach«, erklärte sie dann. »Es waren keine sehr großen Probleme, jedenfalls nicht für uns. Wir haben oft hier gesessen, mein Mann und ich, und unglaubliche Geschichten gehört, die von Einsamkeit und Verzweiflung sprachen. Nein«, schloß sie dann, »Todds Probleme waren im Vergleich dazu geradezu lächerlich. Kleine Ärgernisse, die er selbst verursacht hatte und die verschwanden, wenn er sich nicht weiter darum kümmerte.« »Und wenn nicht?« fragte Bennett. Sie verstand ihn nicht ganz und beugte sich höflich nach vorn. »Ich meine, wenn es dabei zum Beispiel um andere Personen ging, und wenn diese die Probleme nicht als lächerlich betrachteten …« Er breitete die Hände vor sich aus, die Handflächen nach oben. Jetzt fragte er sich wieder, ob Drang nicht doch recht hatte. Vielleicht hatte Freund Todd seinem Kumpel Waldo in irgendeiner 134
harmlosen Sache beigestanden. Und vielleicht hielten die Lucontes diese Sache keineswegs für eine Kleinigkeit… Vielleicht. »Warum war Waldo Felix so erschrocken, als er Ihren Brief mit der Nachricht über den Tod Ihres Mannes erhalten hatte?« fragte Bennett unvermittelt. »Erschrocken?« »Seine Frau sagte, er habe geradezu panische Angst bekommen, nachdem er Ihren Brief gelesen hatte. Können Sie sich vorstellen, warum?« Dabei schaute Bennett sie scharf an. Er fragte sich, ob ihre »Lieben, helfen und verzeihen«-Haltung mehr war als eine Fassade. Wer weiß, dachte er, vielleicht ist sie eine große Schauspielerin. Aber ihr Gesicht und ihre Haltung veränderten sich nicht. »Ich kann eigentlich nur annehmen, daß er erschrocken ist wie viele andere, denen der Tod meines Mannes sehr nahegegangen ist. Nicht wenige haben sich danach gefragt, wie es weitergehen soll, jetzt, nachdem Jules tot ist.« Sie strich sich mit einer ihrer großen Hände über die Augen. »Ich kann das sagen, denn mir ist es genauso ergangen«, flüsterte sie. »Auch ich war – erschrocken ist zu wenig. Ich war entsetzt. Und ich weiß auch jetzt noch nicht, wie ich weitermachen soll ohne ihn.« Bennett war gerührt. Er wollte etwas Tröstendes sagen und fragte sich, ob das überhaupt möglich war, ohne hochtrabend oder melodramatisch zu werden. Zuletzt entschloß er sich, lieber gar nichts zu sagen. »Ich habe vieles zu erledigen und Post zu beantworten«, erklärte Roberta Bingman und hatte die Hände wieder auf den Schoß gelegt. »So viel Post – ich weiß noch gar nicht, wie ich all diese Briefe beantworten soll.« Wie auf ein Stichwort begann das Telefon zu klingeln. »Und das auch noch«, fügte sie hinzu. »Das klingelt den ganzen Tag.« 135
Sie erhob sich geschmeidig für eine Frau ihrer Größe und ging hinaus in einen Raum auf der Rückseite des Hauses. »Hallo«, hörte Bennett sie sagen, nachdem sie abgenommen hatte. »O ja. Ich danke für Ihren Anruf.« Draußen auf der Bay heulte ein Nebelhorn, und Bennett bemerkte erst jetzt, daß es grau geworden war vor den Fenstern, und der Nebel die Stadt einzuhüllen begann. »Es war eine ganz stille Feier«, sagte sie. »Ich nehme an, ihm wäre es recht gewesen, obwohl er eigentlich nie darüber gesprochen hat.« Dann schwieg sie wieder und hörte dem Anrufer zu. »Nur ich«, sagte sie nach einer Weile. »Es war sicher besser so. Nein, nein. Er wollte, daß ich weggehe, aber ich bin geblieben. Ich habe zu ihm gesagt: Jetzt siehst du, was es für Vorteile hat, daß ich größer und stärker bin als du. Du bringst mich nicht dazu, daß ich weggehe.« Bennett hörte ein Räuspern, das ebensogut ein kurzes Schluchzen sein konnte. Dem Nebelhorn antwortete ein zweites, aus einer anderen Richtung. »Ja, danke«, sagte Roberta Bingman. »Natürlich bin ich hier. Es wird sein wie immer – nur, daß Jules nicht mehr bei uns ist.« Gleich danach kam sie wieder herein, mit langsamen Bewegungen wie ein großes Schiff, das in den Hafen gleitet. Dann blieb sie vor Bennett stehen und schaute auf ihn hinunter. »Ich tue, was ich kann, um Ihnen zu helfen«, sagte sie. »Ich hoffe, das ist Ihnen inzwischen klargeworden. Aber…« Dazu lächelte sie philosophisch und runzelte die Stirn. »Nur noch eines«, sagte Bennett, nachdem er aufgestanden war. »Ich weiß, daß Todd in San Francisco war, als man Waldo tot aufgefunden hat.« 136
Sie ließ ihn nicht weitersprechen. »Sicher, er war hier«, sagte sie. »In diesem Zimmer. Er hat von hier aus zu Hause angerufen und mit seiner Frau gesprochen.« Sie machte eine Geste in Richtung auf das Telefon, das irgendwo in einem der anderen Zimmer stehen mochte. »Wissen Sie, weshalb er in San Francisco war?« fragte Bennett. »War er nur hier, um Sie zu besuchen, oder hatte er noch etwas anderes zu tun?« »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Es könnte sein, daß er nur hergekommen ist, um mich nach dem Tod meines Mannes zu besuchen. Aber er kann auch aus einem anderen Grund hiergewesen sein und mich besucht haben, weil sich dazu die Gelegenheit bot.« »Ich danke Ihnen sehr für Ihre Hilfe«, sagte Bennett. »Darf ich mich noch einmal an Sie wenden, wenn ich weitere Auskünfte brauche?« »Jederzeit«, antwortete sie. »Ich bin immer hier. Es gibt noch so viel zu tun.« Jetzt lächelte sie freundlich. »Mein Mann hat immer an die Kraft der Menschen geglaubt.« »Dann muß er sehr stolz gewesen sein auf Sie«, sagte Bennett. Diese Antwort überraschte sie, und Bennett merkte, daß sie errötete. »Ich danke Ihnen«, sagte sie leise und zeigte die Andeutung einer Verbeugung, eine kaum wahrnehmbare Bewegung ihres Oberkörpers. »Moment«, fügte sie hinzu, bevor sie Bennett zur Tür brachte. Sie ging noch einmal zurück ins Wohnzimmer. Er hörte, wie sie eine Schublade öffnete, und gleich danach kam sie zurück und hatte einen kleinen Zettel in der Hand. »Das hat mir Todd gegeben. Er wollte Waldo einmal hier treffen, aber der hatte sich verspätet. Also gab er mir die Adresse und sagte, Waldo könnte ihn dort erreichen, falls er nicht auf ihn warten wolle.« 137
Sie gab Bennett den Zettel. Er warf einen Blick darauf. Eine Adresse: Joannie, Beach Street 1131, Apartment 303. »Ich habe es aufgehoben, weil Waldo mich darum gebeten hat. Er hat gelacht und gesagt, bei Todd könne man nie wissen, ob man ihn nicht einmal rasch erreichen müsse.« Bennett dankte ihr, steckte den Zettel ein, verabschiedete sich und ging den Hügel hinunter zum Parkplatz, wo er seinen Wagen abgestellt hatte. Dann holte er die Straßenkarte aus dem Handschuhfach und suchte die Beach Street und die Gegend, in der sich der Elfhunderterblock befinden mußte. Er fuhr dorthin und kam in eine neuere und zugleich weniger hübsche Gegend, wo die Häuser so aussahen wie überall auf der Welt. Die Beach Street war eine lange Straße, die in einem Industriegebiet begann und durch ein Ladenviertel verlief, vorbei an älteren Häusern, die reparaturbedürftig wirkten, bis sie in einer Gegend mit etwa zehn Jahre alten, kleinen Apartmenthäusern endete. Nummer 1131 war ein solches Apartmenthaus. Er parkte in der Nähe des Eingangs und betrat ein Foyer mit Briefkästen an der rechten Wand. In einer Ecke lag ein Stapel alter Zeitungen. Die Tür ins Innere war offen, und Bennett trat ein. Auf der linken Seite gab es einen kleinen Lift, und Bennett drückte auf den Aufwärts-Knopf. Er hörte, wie sich der Aufzug in Bewegung setzte und gleich danach im Parterre hielt. Bennett stieg ein und fuhr hinauf in den dritten Stock. Apartment 303 war auf der rechten Seite des Korridors. Vor der Tür blieb er stehen und klingelte. »Es ist offen, Sie können reinkommen«, rief eine Frauenstimme von drinnen. Er öffnete die Tür und betrat einen kleinen Wohnraum, 138
der wie ein Motelzimmer eingerichtet war: eine Couch, zwei Stühle, ein niedriger Couchtisch, eine Stehlampe und ein Fernsehgerät, das eingeschaltet war und auf dessen Mattscheibe eine Quizsendung zu sehen war, die Bennett nicht kannte. Überall lagen Zeitschriften und Bücher herum, und auf einem Teewagen in der Nähe einer Tür, die ins Schlafzimmer führte, stand eine Weinflasche in einem silbernen Weinkühler. »Ich bin gleich fertig«, rief die Frau aus dem Schlafzimmer herüber. Dann plötzlich schrie sie: »O mein Gott! Du machst mich ganz verrückt, du gemeiner Hund! O ja, oh … Ja, ja, ja!« Bennett wußte nicht, ob er nachsehen sollte, was da drinnen vor sich ging, oder ob es besser war, die Wohnung zu verlassen. Er konnte auch so tun, als hätte er nichts gehört – und entschied sich für letzteres. »O mein Gott!« schrie die Frau wieder. »Du machst mich ganz… Aaaaaah!« Bennett fühlte, daß er rot wurde. Auf dem Bildschirm hatte eine fette junge Frau eine Frage richtig beantwortet und sprang freudig hoch, wobei sich ihr Körper wie nicht ganz steif gewordene Götterspeise bewegte. Sie quiekte vor Entzücken und stieß seltsame Vogellaute aus. »Tut mir leid, daß Sie warten mußten«, sagte eine Frau hinter Bennett. Er drehte sich um und sah sie unter der Schlafzimmertür stehen, nackt wie Gott sie geschaffen hatte, eine große, magere junge Frau mit rotem Haar und einem etwas kantigen Gesicht. »Ach, du meine Güte«, sagte sie, als sie Bennett gesehen hatte. »Sie sind ja ein ganz anderer.« Dabei kreuzte sie in einer züchtigen Pose die Hände vor ihrer Schamgegend und drückte zugleich die Arme gegen die Brüste, damit sie üppiger wirkten. »Ich möchte fast behaupten, Sie sind ein Fremder. Du 139
meine Güte!« Sie grinste ihn an mit ihren blauen Augen, zeigte die strahlend weißen Zähne und streckte schließlich die Zunge heraus. »Aber ich kann Sie gern einarbeiten, wenn Sie keine allzu ausgefallenen Sonderwünsche haben.« Ein Mann tauchte hinter ihr auf, mit einem sorgenvollen Ausdruck auf dem Gesicht; er hatte Hose und Schuhe angezogen und knöpfte sich gerade das Hemd zu. Ende Vierzig, schätzte Bennett, das schüttere Haar noch ungekämmt und das Gesicht gerötet. Er murmelte etwas, das »Vielen Dank, und bis zum nächstenmal« heißen konnte, rannte an Bennett vorbei wie ein Baseballspieler und war aus der Tür, bevor die Frau irgend etwas sagen konnte. »Macht nichts«, sagte sie zu Bennett. »Ich lass‘ mir das Geld immer vorher geben. Das ist das einzig Wahre. Immer erst kassieren.« Dann betrachtete sie sein Gesicht. »Sie sehen aus wie einer, der Probleme hat. Sehen Sie, das ist meine Spezialität. Ich kann Probleme wegblasen wie nichts. Alle Arten von Problemen.« Sie trat einen Schritt näher. »Ich werde jetzt eine Dusche nehmen und mir dann etwas anziehen, was Ihnen gefällt, und danach können Sie sich auf was gefaßt machen; das werden Sie nicht vergessen bis ans Ende Ihrer Tage. Denn, glauben Sie mir, was ich kann, das ist unglaublich.« Sie schaltete den Fernseher ab und verschwand mit provokativem Hüftschwung im Schlafzimmer. Gleich danach hörte man das Wasser rauschen, und die Frau sang etwas, was Bennett nicht kannte; es klang wie Portugiesisch. Bennett setzte sich und warf einen Blick auf die Zeitschriften, die auf dem Boden herumlagen. Die Buchbeilage der New York Times lag neben seinem Stuhl, das Wall Street Journal neben dem Fernseher. 140
»Ich habe einen konservativen Geschmack«, sagte sie von der Tür her. »Und lesen ist mir das zweitliebste.« Sie trug ein winziges Negligé aus einem durchsichtigen Material, das sie nackter erscheinen ließ als zuvor. Damit ließ sie sich gegenüber von Bennett nieder, schaute ihn herausfordernd an, verschränkte die Beine und legte eine Hand auf die Schamgegend. Während sie dann sprach, ließ sie Bennett nicht aus den Augen und bewegte die Hand langsam nach oben in Richtung auf ihre Brüste. »Na schön«, sagte sie, »jetzt erzählen Sie mir etwas über sich, und dann werden wir sehen, ob wir was Aufregendes veranstalten können. Soll ich schmutzige Sachen sagen?« fragte sie und lächelte freundlich dazu. »Scheiße, vögeln – so in der Art?« Bennett war noch immer völlig konsterniert. Zugleich entging es ihm nicht, daß diese Frau ihn wider Erwarten und wider jede Vernunft sexuell erregte. »Ich bin Joannie«, fuhr sie fort. »Joannie Renfrew. Ich glaube, als Sie hereingekommen sind, haben Sie mich bei einer meiner Vorstellungen gehört. Ich bin die beste auf diesem Gebiet. Wissen Sie, es gibt Leute, die können eislaufen oder Baseball spielen oder tanzen. Was ich kann, gehört auch zu den darstellenden Künsten. Ich bin eine sehr gute Darstellerin. Eigentlich sollte ich mich SexTherapeutin nennen.« Sie warf den Kopf in den Nacken und lachte, daß ihr ganzer Körper zitterte, dann entspannte sie sich wieder. »Aber ich sehe, das interessiert Sie nicht – obwohl ich glaube, eine gewisse Reaktion bemerkt zu haben.« Dabei fixierte sie Bennetts Hosenschlitz. »Sie sind vermutlich sehr gut«, erklärte Bennett. »Das Dumme ist nur: Wenn ich mich auf eine Sache konzentriert habe, bleibt kaum Platz für andere Dinge. Aber das soll Sie nicht enttäuschen, denn Sie scheinen wirklich sehr gut zu sein.« 141
»Danke, Sir«, sagte sie geziert und neigte dabei den Kopf. »Das ist noch besser als Applaus. Vielleicht können wir es uns gemütlich machen, wenn Sie den geschäftlichen Teil hinter sich haben? Sie würden es niemals vergessen, das kann ich Ihnen jetzt schon versprechen. Keiner vergißt Joannie Renfrew. Wollen Sie einen Joint? Es ist gutes Gras, aus Mendocino.« Bennett lehnte dankend ab. »Na schön, dann setz’ ich auch eine Runde aus damit«, sagte sie. »Vielleicht später.« »Es geht um Todd Straub«, begann Bennett. »Er ist tot, hab’ ich irgendwo gehört«, antwortete sie. »Sie haben ihn also gekannt.« »O ja. Der gute, alte Toddie. Er ist bei jeder Gelegenheit hierhergekommen. Ein äußerst kreativer Mann, immer bereit, neue Möglichkeiten auszuprobieren. Ich bewundere das, wenn einer dazu fähig ist – Sie nicht?« »Wie lange haben Sie ihn gekannt?« fragte Bennett. »Fünf, sechs Jahre. Ich weiß nicht mehr. Haben Sie gewußt, daß Toddie mir geholfen hat, meine Fähigkeiten zu entwickeln? Ich habe viel von ihm gelernt und das meiste in meine Darstellung übernommen.« »Wie schätzten Sie ihn ein?« fragte Bennett rasch. »Einmal abgesehen von seiner Kreativität«, fügte er hinzu. »Ein angenehmer Mann«, sagte sie. »Erotisch gut bestückt; ein Kerl, der mit mir an Dingen experimentiert hat, die er an andere weitergeben wollte.« »An andere?« fragte Bennett. »Meinen Sie, an seine Frau?« »Vermutlich, ja. Aber er hat nie etwas davon gesagt, also kann ich es nicht mit Sicherheit behaupten. Vielleicht hatte er auch Freunde, die zu scheu waren, selbst 142
entsprechende Erfahrungen zu machen, und denen er es beigebracht hat. Wissen Sie, die Entwicklung des Gefühls für Sex ist nicht kompliziert. Es ist eine direkte Sache – die direkteste, die ich mir denken könnte, und sie macht selber das Vergnügen dabei aus Gründen, über die wir jetzt nicht zu sprechen brauchen – ich fürchte, das würde zu weit führen.« Sie betrachtete Bennetts Gesicht. »Wir können es ja auch mal zu dritt versuchen. Ich kenne ein hübsches blondes Mädchen, das auch hier im Haus wohnt. Soll ich sie anrufen?« Bennett schüttelte den Kopf und sagte, das sei nicht nötig. »Glauben Sie, daß das der einzige Grund war, weshalb Todd Sie besucht hat? Um hier Ideen zu finden und auszuprobieren, die er danach mit anderen Frauen praktizieren konnte?« »So würde ich es durchaus sehen«, sagte sie. »Und, glauben Sie mir, wenn ich etwas verstehe, dann ist es das Verhalten der Männer. Nur Sie sind mir momentan noch ein Rätsel«, fügte sie hinzu, und lachte wieder. »Sie sind wirklich so was wie eine Premiere für mich.« Bennett fragte: »Wann haben Sie Todd zuletzt gesehen?« »Mal überlegen… Vor zwei Wochen? Ja, vor ungefähr zwei Wochen. Und bald danach mußte er sterben, der arme Teufel.« »Kannten Sie auch seinen Freund?« »Meinen Sie diesen Waldo – so hat er doch geheißen? Der Mann, der auch umgebracht wurde? Nein, ich habe ihn nicht gekannt. Aber Toddie hat manchmal von ihm gesprochen. Er war sehr intim mit Waldo befreundet. Ich meine, nicht sexuell, aber gut befreundet. Aber – nein, diesen Waldo hab’ ich nie gesehen. Toddie wollte ihn 143
immer mal mitbringen, aber es hat nicht geklappt. Wenn Sie meine Meinung hören wollen: Ich glaube, Waldo hatte in diesen Dingen einen ganz anderen Geschmack als Toddie.« Bennett stand auf und wollte sich verabschieden. »Moment mal«, sagte sie. »Warten Sie doch. Wollen Sie nicht wenigstens ein paar Züge rauchen? Einen Drink? Oder Kaffee? Einen Obstsaft? Oder wie wär’s mit einem schönen Glas Papaya- und Ananassaft? Ich mixe das öfters, es ist richtig super. Sehr anregend. Ein richtiges Aphrodisiakum. Ich sollte das wirklich auf den Markt bringen; es wäre ein Bombenerfolg. Es steigert die Kräfte des Mannes.« Bennett fragte sich, ob es irgend etwas auf diesem Planeten gab, was sie nicht mit Sexualität in Beziehung brachte. »Nein, danke«, sagte er. »Und – hören Sie, ich möchte für die Zeit bezahlen, die Sie mit mir vergeudet haben.« »Aber nein«, sagte sie. »Diese zehn oder fünfzehn Minuten – außerdem war es mir wirklich ein Vergnügen.« Sie streckte wieder die Zunge heraus, während sie von der Couch aufstand und dicht vor ihm stehenblieb. »Passen Sie gut auf sich auf«, sagte sie. »Okay?« Er versprach es ihr. »Wette, Sie können sich nicht vorstellen, wo Todd erfahren hat, daß sein Freund umgebracht wurde«, flüsterte sie Bennett ins Ohr. Dann blickte sie zu ihm auf und drückte sich an seine Brust. »Wo denn?« »Hier. Er war hier und mußte telefonieren. Es war ein Ferngespräch, ich konnte es hören, weil er so viele Zahlen 144
gewählt hat. Es klang ziemlich überrascht. ›Hallo, wie geht’s?‹ hat er gesagt, und der andere – oder die andere – mit dem er gesprochen hat, muß es ihm gesagt haben, denn er hat geantwortet: ›Was? Meinst du das im Ernst?‹ Und er ist so blaß geworden wie mein Hintern, hat aufgelegt und ist abgehauen.« »Woher wollen Sie wissen, daß es bei dem Gespräch um den Tod seines Freundes Waldo gegangen ist?« fragte Bennett. »Weil Todd es mir gesagt hat«, antwortete sie. »›O mein Gott‹, hat er gesagt. ›Waldo ist tot. Sie haben meinen Freund Waldo umgebracht.‹«
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Kapitel 12 Bennett rief Drang vom Flugplatz aus an und gab ihm die Telefonnummer von Joannie Renfrew durch. »Du solltest beim Fernamt nachfragen«, sagte, er. »An dem Tag, als man Waldo tot aufgefunden hat, muß von dort aus ein Ferngespräch geführt worden sein. Ich hätte gern gewußt, mit wem.« »Jemand aus der Gegend von Los Angeles?« fragte Drang. »Wahrscheinlich.« Bennett wollte schon einhängen, als er sich daran erinnerte, womit Drang beschäftigt war. »Gibt es schon was über die Lucontes?« fragte er. »Noch nicht. Es heißt, sie sind entweder schon hier oder auf dem Weg hierher.« »Wenn Sie erst auf dem Weg sind, ist es vermutlich ein wenig zu spät für die Party«, stellte Bennett fest. »Sie können ja jemanden vorausgeschickt haben«, erinnerte ihn Drang. Dann fügte er noch hinzu, Bennett solle ihn auf dem laufenden halten, und legte auf. Der Rückflug verlief glatt und ereignislos. In Los Angeles holte Bennett seinen Wagen vom Parkplatz und notierte sich die gesamten Reisekosten einschließlich der Parkgebühren, damit er sie auf die Spesenliste setzen konnte; dann fuhr er zurück in seine Wohnung. Dabei achtete er nicht auf den kräftigen jungen Mann in Anorak und brauner Hose, der sich in der Nähe der Haustür herumtrieb. Er fand einen Parkplatz dicht vor dem Haus, stellte den Buick dort ab, ging an dem Mann im Anorak vorbei und blieb kurz stehen, um seine Post aus dem Briefkasten im Foyer zu holen. Der Briefkasten war 146
leer. Danach sperrte er die innere Tür auf und war schon auf der Treppe, ehe er merkte, wie die Tür sich bewegte. Normalerweise hätte er hören müssen, wie sie ins Schloß schnappte. Also blieb er stehen und drehte sich um. Der Mann im Anorak stand diesseits der Tür und hatte noch eine Hand am Griff. »Bennett?« fragte er leise. »Frederick Bennett?« »Ja, der bin ich.« Bennett fiel ein, daß er seine Pistole oben in der Schuhschachtel gelassen hatte, weil er nicht mit einer Waffe die Kontrollen auf dem Flugplatz hatte passieren wollen. Der junge Mann kam langsam näher; er bewegte sich geschmeidig wie ein Athlet und trat mit der ganzen Fußsohle auf, um sein Gewicht notfalls in jede gewünschte Richtung werfen zu können, ohne dabei die Balance zu verlieren. Dabei sprach er kein Wort, bis er Bennett erreicht hatte. »Ich möchte mit Ihnen reden«, sagte er äußerst höflich, und seine rechte Hand blieb in der Tasche des Anoraks. Ein junger Kerl, jünger als Bennett, vermutlich Anfang Zwanzig und kräftig, mit breiten Schultern und einem muskulösen Oberkörper. Er hatte ein offenes, sympathisches Gesicht, blaue, klare Augen und eine leicht gebogene Nase, die schon einmal gebrochen zu sein schien. Seine Zähne waren so makellos, daß Bennett annahm, er kam aus einer Familie, in der man die Kinder regelmäßig zum Zahnarzt schickte. »Warum nicht?« sagte Bennett und ging voraus zu seiner Wohnung. Er sperrte die Tür auf, öffnete sie und warf automatisch einen Blick in die Wohnung, um zu prüfen, ob irgend etwas verändert war. Es war seit Jahren seine Gewohnheit, alles in sorgfältiger Unordnung zu lassen, wenn er die Wohnung verließ, und sich den Zustand beim 147
Weggehen genau einzuprägen. Er wußte aus Erfahrung, daß es einfach war, eine aufgeräumte Wohnung wieder in den ursprünglichen Zustand zu versetzen, und unmöglich, eine Unordnung herzustellen, die genauso war wie die ursprüngliche. Nein, niemand war in der Wohnung gewesen. »Kommen Sie doch rein«, sagte er zu dem jungen Mann. Der Mann schien einen Augenblick lang unschlüssig zu sein, dann trat er in das Zimmer, ohne sich vorher nach allen Seiten umgesehen zu haben. Bennett schloß die Tür. »Setzen Sie sich doch«, sagte er. »Kann ich Ihnen etwas anbieten?« Dann ging er hinüber ins Schlafzimmer und stellte seine Reisetasche dort ab. »Nichts, danke.« Der junge Mann setzte sich in den Holzstuhl mit der unbequemen, geraden Lehne und kippte damit ein Stück nach hinten, bis er die Wand berührte. Zu, blöd, dachte Bennett. Ein Stoß, und er würde auf dem Boden landen. Bennett blieb stehen. »Worüber wollen Sie mit mir sprechen?« fragte er. »Befassen Sie sich mit diesem Mord?« wollte der junge Mann wissen. »Mit welchem Mord?« fragte Bennett. »Kommen Sie«, sagte der Junge. »Sie untersuchen ihn doch schon die ganze Zeit.« »Warum wollen Sie das wissen?« fragte Bennett. »Man hat es mir gesagt. Aber ich wollte sichergehen«, erklärte der junge Mann ernsthaft. »Und warum wollen Sie das?« Bennett fand, daß das alles irgendwie nicht zusammenpaßte: das aufrichtige, ehrliche Gesicht, die einfachen und direkten Fragen und die Tatsache, daß der junge Mann ihn keineswegs bedrohte – obwohl er seine rechte Hand in der Tasche des 148
Anoraks behielt. »Es ist allgemein üblich, über einen Fall nicht zu sprechen«, erklärte Bennett. »Ich darf Ihnen nicht einmal sagen, ob ich daran arbeite oder nicht.« »Ja – äh – ja, das kann ich verstehen«, antwortete der junge Mann. »Vertrauen gegenüber dem Klienten, und so weiter.« Bennett bestätigte es ihm mit einem Kopfnicken. »Aber ich muß diese Information haben«, sagte er, noch immer sehr freundlich. Und damit nahm er die rechte Hand aus der Anoraktasche und zielte mit einem 45er Revolver auf Bennetts Magengegend. »Das werden Sie verstehen.« Bennett rührte sich nicht von der Stelle. »Nun, wenn Sie etwas wissen müssen, dann müssen Sie es wissen. Jeder Mensch hat seine Gründe«, sagte Bennett, und ihm war nicht wohl dabei. Außerdem fragte er sich, wieso er sich auf diese Konfrontation eingelassen hatte. Aber er hatte nicht angenommen, daß er von dem jungen Mann bedroht werden würde – doch jetzt zielte dieser mit einem gefährlich aussehenden Revolver auf seinen Bauch! »Ich will nicht, daß Sie Ihr Berufsethos verletzen«, erklärte der Bursche. »Aber Sie sollten sich überlegen, wie Sie mir sagen können, was ich wissen will, ohne daß Sie mich dazu zwingen, Ihnen eine Kugel in den Schädel zu jagen.« Dazu lächelte er entschuldigend. »Ich wirke auf Sie doch nicht wie ein Ungeheuer oder ein Killer – ist das richtig?« »Nein, nein«, versicherte ihm Bennett rasch. »Ganz und gar nicht. Und – ich kann Ihre Situation durchaus verstehen.« Bennett wußte, daß er eine Chance hatte. Er konnte den Stuhl umstoßen und dem jungen Mann mit einer Bewegung die Waffe aus der Hand schlagen. 149
»Nun, sind Sie zu einer Entscheidung gekommen?« fragte der junge Mann, während er aufstand und damit Bennetts Chance zunichte machte. »Ich bin noch am Überlegen«, sagte Bennett und trat nicht zurück, so daß die Hand mit dem Revolver in seiner Reichweite blieb. »Sie haben mich nachdenklich gemacht, als Sie von meinem Berufsethos sprachen«, erklärte er. »Das Problem ist übrigens keineswegs so ungewöhnlich. Ein Mensch wird gezwungen, eine Entscheidung zu treffen – zugunsten seiner Weltanschauung oder zugunsten seines Lebens.« Der junge Mann nickte. »Keine leichte Entscheidung«, sagte er. »Das verstehe ich, und ich bin sehr unglücklich darüber, daß ausgerechnet ich es bin, der diese Entscheidung herausgefordert hat, aber für mich gibt es keine Alternative.« Bennett mußte versuchen, einen Augenkontakt herzustellen. Als es ihm gelungen war, stellte er fest, daß ihm der junge Mann keineswegs auswich. »Sie bringen es vermutlich nicht fertig, mir zu sagen, warum Sie mir gewisse Fragen stellen wollen?« Bennett sah den jungen Mann scharf an. »Das würde die Angelegenheit möglicherweise vereinfachen.« Der junge Mann schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich wollte, ich könnte es, aber es hängt nicht von meiner Entscheidung allein ab.« »Aha«, sagte Bennett verständnisvoll. »Hören Sie – diese anderen, die an Ihrer Entscheidung beteiligt sind – wissen die, daß Sie hier sind bei mir? Daß dieses Gespräch zwischen Ihnen und mir stattfindet?« »Das betrifft nicht das eigentliche Problem«, wich der Junge aus. »Natürlich nicht«, stimmte ihm Bennett zu. »Ich war nur 150
neugierig.« Inzwischen interessierte sich der Junge offensichtlich weit mehr für das Gespräch als für irgendwelche Aktionen. »Ich glaube, die Sache ist folgende«, begann Bennett. »Wir beide müssen zu einer Entscheidung kommen, die jeden von uns einigermaßen zufriedenstellt. Sie wollen von mir, daß ich Ihre Fragen beantworte, und ich möchte Ihnen nicht allzuviel verraten, ohne mich dabei, sagen wir, vor mir selbst bloßzustellen. Das werden Sie sicher verstehen.« »Natürlich«, stimmte ihm der junge Mann zu und vergaß dabei einen Augenblick lang, daß er mit einem geladenen und entsicherten Revolver auf Bennett zielte. Bennetts Angriff kam überraschend. Er schlug dem jungen Mann mit der Linken auf den rechten Arm, und zugleich rammte er ihm das rechte Knie in den Unterleib. Dann traf seine Rechte den Hals des jungen Mannes. Sekunden danach hatte Bennett den Revolver in der Hand, der auf den Boden gefallen war, und trat ein paar Schritte zurück. Der junge Mann lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden und starrte auf den abgetretenen Teppich, für dessen Muster sich jeder halbwegs ehrsame Perser zu Tode geschämt hätte. Dann stieß der Junge einen erstickten Laut aus, der seine psychische Erniedrigung und seine physischen Schmerzen auszudrücken schien. »Tut mir leid«, sagte Bennett, »aber wenn man jemanden dazu zwingt, sich zu entscheiden, könnte es sein, daß der andere eine Alternative sieht, auf die man nicht vorbereitet ist.« Der Junge drehte sich herum und saß dann auf dem Teppich, wobei er die Beine anzog und sie mit den 151
Händen umklammerte. »Mein Gott, tut das weh«, sagte er. »Ja«, bestätigte Bennett. »Ein gemeiner Trick, jemanden das Knie in den Unterleib zu rammen. Das bringt jeden dazu, daß er erst einmal über sich nachdenkt. Kann ich Ihnen etwas anbieten?« fragte er zuvorkommend. Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Wenn Sie wieder Luft geschöpft haben, möchte ich, daß Sie mir eine Frage beantworten; vielleicht können wir uns danach wie vernünftige Menschen unterhalten.« Bennett steckte den Revolver in den Hosenbund. »Warum interessieren Sie sich so sehr dafür, ob ich mich mit dem Mordfall Waldo Felix befasse, daß Sie in mein bescheidenes Heim eindringen und mich mit einem Revolver bedrohen?« Der junge Mann gab keine Antwort. Jetzt streckte er vorsichtig und langsam die Beine aus und versuchte festzustellen, ob der Schaden reparabel war. »Ich könnte vielleicht auch raten. Glauben Sie, das wäre leichter für Sie?« fragte Bennett. »Heißen Sie zufällig Luconte?« Der junge Mann schaute ihn überrascht an. »Genau das habe ich mir gedacht«, sagte Bennett. »Und Sie möchten mit mir über Ihren Vater und. Ihren Onkel sprechen, die Sie beide sehr lieben.« Der junge Mann nickte. »Sehen Sie jetzt, daß Sie sich eine Menge Ärger und Schmerzen erspart hätten, wenn Sie mir das gleich gesagt hätten? Warum haben Sie es verschwiegen?« »Ich konnte nicht darüber sprechen, bevor ich wußte, ob Sie an dem Fall arbeiten oder nicht«, erklärte der Junge ein wenig unlogisch. »Nun, lassen Sie uns nicht darüber streiten. Für Sie 152
ergibt es vermutlich einen Sinn, sonst wären Sie ja nicht hier.« Bennett schaute hinunter auf den jungen Luconte. »Wie heißen Sie mit Vornamen?« fragte er ihn. »Phillip.« »Also gut, Phillip, wenn Sie sich besser fühlen, stehen Sie auf und setzen sich in einen Sessel. Es wird bald nicht mehr weh tun. Außerdem habe ich Sie nicht so verletzt, daß Ihnen was bleiben wird. Aber es ist überaus töricht, jemanden mit einem Revolver zu bedrohen. Oder auch nur eine Schußwaffe zu zeigen. Schußwaffen haben es an sich, daß alles, was dann geschieht, mit mehr Gewalt verbunden ist, als unbedingt nötig wäre«, belehrte ihn Bennett. »Sobald eine Schußwaffe ins Spiel kommt, wachsen die Chancen einer gewalttätigen Auseinandersetzung, und nicht selten passiert es dann, daß der vermeintliche Schutz, den die Waffe bietet, sich durch Unachtsamkeit oder Aufregung ins Gegenteil verkehrt. Können Sie mir folgen?« Phillip Luconte stand langsam auf, stöhnte und ließ sich dann in einen Sessel fallen. »Ich nahm an, Sie würden mir nicht bereitwillig sagen, was ich wissen wollte – deshalb habe ich den Revolver mitgenommen.« »Glauben Sie, es wäre Ihrem Vater oder Ihrem Onkel recht, was Sie getan haben?« fragte Bennett. »O nein. Sie wären sehr wütend.« Phillip Luconte massierte sich die Stelle am Nacken, wo ihn Bennett mit der Handkante getroffen hatte. »Und was hält Ihre Familie von Messern?« fragte Bennett. »Von – Messern?« fragte Phillip. »Haben Sie ›Messer‹ gesagt?« Bennett nickte. 153
»Was haben Messer damit zu tun?« fragte der junge Mann. »Warum beantworten Sie meine Frage mit einer Gegenfrage? Sie gehen doch auf ein College, oder?« Phillip bestätigte es. »Haben Sie dann nicht gelernt, daß man auf eine Frage eigentlich eine Antwort erwartet? Keine Gegenfrage?« »Das weiß ich. Aber – ich verstehe nicht, was Sie mich da gefragt haben. Ich, ich bin ganz durcheinander.« »Ich fragte Sie, ob Ihr Vater oder Ihr Onkel oder sonst jemand aus Ihrer Familie oder Bekanntschaft besser mit Messern umgeht als mit Schußwaffen«, erklärte Bennett geduldig. »Warum sollten sie Messer benützen anstatt Schußwaffen?« Phillip schien noch immer nicht zu begreifen. »Sehen Sie, schon wieder«, beklagte sich Bennett. »Sie haben meine Frage erneut mit einer Gegenfrage beantwortet – oder besser, nicht beantwortet.« »Also schön – die Antwort auf Ihre Frage lautet: nein«, sagte Phillip Luconte. »Mein Vater, mein Onkel, meine Freunde und Verwandten, wen immer Sie damit gemeint haben könnten, benützen keine Messer anstelle von Schußwaffen, weil sie a) keine Schußwaffen benützen und b) auch keine Messer. Mein Gott, wofür halten Sie uns eigentlich? Nur weil irgend so ein lausiger Bastard einem Staatsanwalt wilde Geschichten über uns erzählt hat, und weil dieser Staatsanwalt darauf aus war, ein Urteil zu erreichen, um in seiner Karriere nach oben zu kommen, halten Sie die Lucontes für eine Familie von Gangstern! Die Lucontes sind keine Gangster, sie wollen auch gar keine sein, und das ist es, was ich Ihnen sagen wollte, 154
verdammt noch mal. Aber Sie schlagen mich zusammen und geben mir einen Stoß in die Eier, daß ich mich nicht mehr rühren kann, und anschließend haben Sie auch noch die Stirn, meiner Familie alle möglichen schrecklichen Verbrechen vorzuwerfen, die sie begangen haben sollen, nachdem mein Vater und mein Onkel gerade aus dem Gefängnis gekommen sind, wo sie jahrelang wegen gewisser geschäftlicher Praktiken gesessen haben, die jeder andere Geschäftsmann und jeder Politiker ebenso anwendet, ohne dafür vor Gericht gezerrt zu werden.« Er lehnte sich zurück und war erschöpft nach dem Ausbruch. Bennett betrachtete ihn mit Respekt. »Sie haben Mut, das muß man Ihnen lassen«, sagte er. »Bockmist«, sagte Phillip. »Wenn ich Mut hätte, dann hätte ich Sie abgeknallt, bevor Sie Gelegenheit hatten, mich zusammenzuschlagen.« Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Wie lange, meinen Sie, tut es noch weh?« »Nicht mehr lang«, versprach Bennett. »Es müßte eigentlich schon besser geworden sein. Ich hab’ nicht allzu fest zugestoßen.« »Na, ich danke schön«, sagte Phillip. »Wo sind eigentlich Ihr Vater und Ihr Onkel?« fragte Bennett. »Man nimmt an, sie seien auf dem Weg hierher, wenn sie nicht schon eingetroffen sind.« »Warum, zum Teufel, sollten sie hierherkommen?« fragte Phillip. »Um mit Felix Conforti abzurechnen«, sagte Bennett. »Sie haben sich nicht bemüht, ihn zu finden, und wollen nichts mehr mit ihm zu tun haben. Mein Gott, als ob er ihnen nicht schon genügend Ärger gemacht hätte! Warum 155
sollten sie ihn da noch einmal sehen wollen?« »Wo sind sie jetzt?« fragte Bennett. »Was hat das schon zu bedeuten? Das ist eine Sache, die nur sie und ihren Bewährungshelfer etwas angeht. Mit Ihnen hat das überhaupt nichts zu tun. Sie leben nicht einmal in diesem Staat.« Er wurde allmählich immer wütender. »War es eigentlich Ihre eigene Idee, hierherzukommen?« »Es war meine verdammte, idiotische Idee. Ich wollte Sie bitten, daß Sie meinen Vater und meinen Onkel in Frieden lassen.« »Woher wußten Sie eigentlich, daß ich etwas mit der Sache zu tun habe?« fragte Bennett. Phillip Luconte fand, daß er genügend Fragen beantwortet hatte. »Kann ich jetzt meinen Revolver wiederhaben?« fragte er. »Ich möchte gehen.« »Fühlen Sie sich besser?« »Ja.« Er stand vorsichtig auf, während Bennett den Revolver entlud. »Und werden Sie meinen Vater und meinen Onkel in Frieden lassen? Ehrlich, sie haben nichts mit dem Mord zu tun.« »Schließt das auch den Mord an Todd Straub ein?« fragte Bennett. »An wem?« Bennett ließ die Patronen in seine Hosentasche gleiten. »Ich möchte Sie etwas anderes fragen«, sagte er. »Wie alt waren Sie, als Ihr Onkel und Ihr Vater verurteilt wurden und ins Gefängnis kamen?« »Ich weiß nicht, neun oder zehn. Warum?« Bennett wollte antworten: Weil du keine Ahnung hast, mein Junge, was für Leute dein Vater und dein Onkel wirklich waren. Du warst ein Kind, und du hast nichts von 156
alledem mitbekommen, nichts vom Rauschgifthandel, nichts von der Prostitution und nichts von den Gewalttaten. Dich hat man von allem ferngehalten. Er schaute in die aufrichtigen blauen Augen und brachte es nicht übers Herz, es ihm zu sagen. Jetzt reichte er ihm den Revolver. »Sagen Sie Ihrem Vater, er hat einen anständigen Sohn, der kein Risiko scheut, um sich für ihn einzusetzen.« Er öffnete die Wohnungstür. »Übrigens – haben Sie überhaupt einen Waffenschein für das Ding?« fragte er. »Das geht Sie nichts an«, antwortete Phillip Luconte und rannte die Treppe hinunter. Bennett hörte, wie die Tür unten geöffnet wurde und gleich danach ins Schloß fiel. Er ging zurück in seine Wohnung. Was geschehen war, schien zu beweisen, daß sich Drang irrte, soweit es die Lucontes betraf und ihre Schuld an den beiden Morden. Es mußte also ein anderer gewesen sein. Aber wer? Er machte Wasser heiß und bereitete sich eine Tasse Pulverkaffee. War es möglich, daß die beiden Morde nichts miteinander zu tun hatten? War das sein Fehler gewesen – daß er sie von Anfang an miteinander in Verbindung gebracht hatte? Waldo Felix war erstochen worden; danach hatte man ihn hinausgefahren in die Berge und in den Garten von J. D. gekippt, gerade als Bennett sich dort aufgehalten hatte. War vielleicht er selbst der Schlüssel? Er setzte sich in den bequemen Sessel gegenüber dem Fernseher und trank seinen Kaffee. Sicher, er hatte sich im Lauf seines Lebens manchen 157
Feind gemacht. Wie jeder, der bei der Polizei arbeitete. Aber wenn er die Liste der Leute durchgehen wollte, die seinetwegen in Haft gekommen waren, würde das Monate dauern … Nein, wenn er selbst auf irgendeine Weise mit den beiden Morden in Verbindung stand, konnte es ebensogut sein, daß das aus einem Grund war, den er selbst gar nicht ahnte. Und außerdem … Es war sinnlos, diesem Gedanken weiter nachzuhängen. Und warum hatte man dann Waldos Leiche ausgerechnet in den Garten von J. D. gekippt? Warum stand sein Name auf dem Briefumschlag, und was sollte die Notiz bedeuten, die doch zweifellos an ihn gerichtet war? Er trank seinen Kaffee aus. Wenn ihm auch bis jetzt keine neue Antwort darauf eingefallen war, so konnte er doch versuchen, die Sache aus einer anderen Perspektive anzusehen. Ein neuer Weg hatte sich ihm geöffnet, und jetzt begann er allmählich zu begreifen, worin die Logik der Ereignisse liegen mochte…
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Kapitel 13 Er rief zuvor bei ihr an, um sicherzugehen, daß sie zu Hause war, dann fuhr er hinaus zu ihrem Haus. Die Straße war zum Normalzustand zurückgekehrt, und Bennett sah von weitem, daß das auch für die Gegend um das Haus der Straubs galt. Ethel kam sofort an die Tür, und einen Augenblick lang, während sie im Schatten hinter der Tür stand, sah sie fast aus wie das junge Mädchen, das er geliebt hatte, damals, als er zurückgekommen war aus Vietnam. Er setzte sich ins Wohnzimmer, und sie ließ sich ihm gegenüber auf einen der Sessel nieder. »Ich glaube, jetzt weiß ich, warum man den Leichnam deines Mannes in den Garten meines Stiefvaters geworfen hat«, begann er. »Du hast mir doch erzählt, daß du mit deinem Mann über mich gesprochen hast.« »Daß du Polizeibeamter bist? Ja. Ich habe es ihm gesagt, weil er so verängstigt wirkte; mir wollte er nicht sagen, was ihm Sorgen machte, – und ich habe einfach gedacht, da du dich mit Polizeiarbeit auskennst, könntest du ihm vielleicht helfen. Aber ich wußte nicht, wie ich dich finden sollte.« »Ich nehme an, man hat deinem Mann gesagt, wo ich mich aufhalte – ganz kurz vor seinem Tod«, erklärte Bennett. »Wer sollte es ihm gesagt haben?« »Jemand, der es rein zufällig erwähnte.« »Aber er wurde getötet, bevor er zu dir kommen konnte.« »Genau.« 159
Sie zog die Stirn in Falten und versuchte sich an das zu erinnern, was unmittelbar vor dem Tod von Waldo Felix geschehen war. »Ich hatte begonnen, dir einen Brief zu schreiben«, sagte sie, stand auf und ging zu einem kleinen Sekretär. »Es muß hier drinnen sein…« Sie suchte in mehreren Schubladen. »Hallo, erinnerst du dich noch an mich?« sagte Bennett. Sie erschrak und drehte sich um. »Ja. Heißt das, du hast den Brief bekommen? Es war doch nur der Anfang. Wieso?« Wieder zog sie die Stirn in Falten. »Als dein Mann erfahren hatte, wo ich mich aufhalte, ist er nach Haus gekommen und hat sich den Briefanfang besorgt. Es sollte seine Einführung bei mir sein. Ich nehme an, das alles geschah an dem Abend, als er umgebracht wurde. Erinnerst du dich vielleicht an noch etwas, was sich ereignet hat?« »Nein«, sagte sie und schüttelte den Kopf. Bennett versuchte es aus einer anderen Richtung. »Wo war dein Mann an diesem Abend? Ich meine an dem Abend, bevor man ihn tot aufgefunden hat?« »Er ging zu einer Sitzung. Es gehörte zu seinem Beruf, als Verhandlungspartner für ›Natürliche Neuheiten‹ aufzutreten. Er war ein großartiger Verkäufer. Und er machte Vorschläge für Partys, Bankette und Versammlungen; du weißt schon, Veranstaltungen, bei denen man die Produkte der Firma verwenden konnte. Er war dabei sehr erfolgreich.« Bennett erinnerte sich daran, daß Barney Shearer von Waldo Felix beeindruckt gewesen war. »Nach der Sitzung kam er nach Hause«, fuhr sie fort. »Ich war schon im Bett; es war ziemlich spät. Da klingelte 160
das Telefon. Ich war am Einschlafen, also ist Waldo an den Apparat gegangen.« »Hast du von dem Gespräch irgend etwas mitbekommen? Oder hast du eine Ahnung, mit wem er gesprochen haben könnte?« »Nein. Es war kein langes Gespräch. Ich weiß nicht, worum es dabei ging; jedenfalls hat er den Kopf hereingesteckt ins Schlafzimmer und gesagt, er müsse noch auf ein paar Minuten weg, würde aber bald wieder zurückkommen. Dann hat er das Haus verlassen.« »Und ist er bald zurückgekommen?« Sie begann leise zu weinen. »Ich bin eingeschlafen. Kannst du dir das vorstellen? Ich sagte etwas wie ›Paß auf dich auf, mein Lieber‹ und bin gleich danach eingeschlafen. Und mein Mann ging weg und kam nie mehr zurück. Ich wachte auf, als es an der Haustür klingelte; es war schon früher Morgen, und Waldo war nicht nach Hause gekommen, seine Seite des Betts war unberührt. Zwei Polizisten standen an der Tür; sie berichteten mir, was geschehen war.« Jetzt schluchzte sie herzerschütternd. »Und ich habe einfach geschlafen«, stammelte sie zwischendurch. »Ich habe geschlafen, und er ist umgebracht worden.« Bennett ließ sie weinen. Als sie ruhiger geworden war, fragte er: »Erinnerst du dich an gar nichts mehr im Zusammenhang mit diesem Anruf?« Sie rieb sich mit beiden Händen die Augen, als würde das ihr Gedächtnis aufrütteln. »Nein«, sagte sie leise. »Nein, an gar nichts.« »Als ich neulich hier war«, sagte Bennett, »hast du erwähnt, daß dein Mann seinem Freund Todd hier und da aus der Patsche geholfen hat. Erinnerst du dich daran?« »Ja.« 161
»Könnte es nicht sein, daß Todd ihn an dem bewußten Abend angerufen und wieder einmal um eine Gefälligkeit gebeten hatte?« »Das wäre durchaus möglich.« Sie schien nicht zu verstehen, warum das so wichtig war. »Todd hat Waldo oft um Gefälligkeiten gebeten. Aber jetzt können wir das nicht mehr feststellen …« Und wieder begann sie zu weinen. Er blieb noch ein paar Minuten bei ihr und versuchte, weitere Informationen zu erhalten, aber es hatte wenig Sinn. Die Trauer hatte sie überwältigt; sie konnte nicht mehr denken. Nachdem er sie verlassen hatte, fuhr er hinüber zum Haus der Straubs und hoffte, daß Helen zu Hause war. In der Auffahrt parkten wieder die zwei Wagen, wie bei seinem ersten Besuch. Er wollte gerade klingeln, als Helen Straub ihm öffnete; jetzt trug sie wieder einen Tennisdreß. »Ich wollte gerade wegfahren, als ich Sie kommen sah«, sagte sie. »Inzwischen habe ich festgestellt, wenn ich den ganzen Tag Tennis spiele, komme ich nicht zum Nachdenken über das, was passiert ist, und kann dann nachts auch schlafen. Glauben Sie, es wird mit der Zeit besser? Oder muß ich den Rest meines Lebens auf dem Tennisplatz Bällen nachjagen? Kommen Sie doch rein.« Er folgte ihr in die Küche. »Kann ich Ihnen etwas anbieten?« fragte sie wieder und deutete auf den Tisch in einer Fensternische. »Was Sie gerade haben«, sagte Bennett. »Wasser, Kaffee, Alkohol – es kommt nicht darauf an.« Sie öffnete den Kühlschrank und nahm zwei Dosen Diätlimonade heraus, reichte ihm dann eine. 162
Er bedankte sich und öffnete die Dose. »Erinnern Sie sich, wo Ihr Mann an dem Abend war, als Waldo Felix umgebracht wurde?« fragte er dann. »Ich sagte Ihnen doch, er war nach San Francisco gefahren.« Sie setzte sich, und ihre sonnengebräunten Beine hoben sich vom hellen Vinylpolster der Sitzbank deutlich ab. Sie demonstrierten beste Gesundheit; zugleich aber übersah Bennett nicht die feinen Falten, die sich um ihren Mund und ihre Augen gebildet hatten. »Haben Sie an dem Abend mit ihm gesprochen? Ich meine, hat er von San Francisco aus hier angerufen?« »Ich erinnere mich nicht.« Sie öffnete die Dose und trank einen Schluck. »Hat er normalerweise täglich angerufen, wenn er verreist war?« fragte Bennett, um die erwartete Antwort zu erhalten. »Ja.« »Dann hat er vermutlich auch an diesem Tag angerufen.« »Vermutlich, ja.« »Und am nächsten Morgen hat er wieder angerufen«, erinnerte sich Bennett, »um Ihnen zu sagen, daß er gerade im Radio die Nachricht vom Tod seines Freundes Waldo gehört hatte.« »Ja, ja – ist das denn so wichtig?« fragte sie und bewegte sich nervös auf der Sitzbank. »Können wir die Sache nicht vergessen? Natürlich werde ich nicht vergessen, daß er tot ist, aber dieses ganze Gerede über alles andere, wer wen angerufen hat und wer wo gewesen ist … Damit kommen wir doch nicht weiter. Die beiden Männer sind tot. Ich glaube, ich will nicht einmal wissen, warum er sterben 163
mußte, und ich wette, Ethel geht es ebenso.« Es war sonderbar, daß sie das sagte, und sie schien selbst überrascht zu sein. Jetzt schaute sie nervös auf ihre Armbanduhr. »Ich bin schon schrecklich spät dran«, sagte sie. »Bitte versuchen Sie sich zu erinnern, ob Ihr Mann Sie an dem Abend, als Waldo getötet wurde, aus San Francisco angerufen hat«, sagte Bennett. Sie trank einen Schluck Limonade und stellte die Dose dann auf den Tisch. »Nein«, sagte sie. »Nein, ich bin sicher, er hat nicht angerufen.« »Wozu ist er eigentlich nach San Francisco gefahren?« fragte Bennett. Ihr Gesicht lief dunkelrot an. »Ich kann nicht einsehen, warum das wichtig sein sollte«, sagte sie. Ihre Stimme klang plötzlich rauh und beinahe unhöflich. Sie wurde allmählich wütend, wie es Bennett schien. »Wissen Sie, warum er dorthin gefahren ist?« wiederholte Bennett seine Frage. Sie überlegte sich, was sie antworten wollte. »Männer haben immer mal…« Sie brach ab. »Was haben Männer?« »Nichts. Es ist nicht wichtig.« »Es könnte uns helfen herauszufinden, wer Ihren Mann umgebracht hat. Und Waldo Felix. Männer haben – was?« Sie errötete wieder. Schließlich sagte sie: »Männer haben oft kindische Neigungen.« »In welcher Hinsicht?« Sie antwortete nicht und wich seinem Blick aus. »Ich war fast zehn Jahre bei der Polizei«, sagte er leise. »Es gibt wenig, was ich nicht gesehen oder gehört hätte. 164
Männer haben kindische Neigungen – wobei?« Es war nicht leicht für sie. »In Sachen Sex«, sagte sie schließlich. »Sie verstehen doch. Sie wollen nicht nur lieben, sondern zugleich auch mit dem Sex spielen. Kindische Spiele. Nur weil man mit ihnen verheiratet ist, haben sie noch lange nicht das Recht…« Jetzt hielt sie wieder inne. »Und Ihr Mann war auf solche Spiele scharf?« Sie nickte und fuhr sich dann mit dem Handrücken über den Mund. »Ich nehme an, daß, da irgend etwas gewesen sein muß, in San Francisco: Er wollte es mir nie sagen. Aber er fuhr dorthin, in letzter Zeit immer öfter, und wenn er danach zurückkam, wollte er mit mir … Nun, Sie wissen schon. Er wollte diese – nun ja, diese Spiele mit mir treiben.« Ihr Gesicht war schamrot. »Ich konnte da natürlich nicht mitmachen. Ich fand es erniedrigend, unangenehm, und – ja, unanständig. Ich glaube, das ist das richtige Wort. Als er zurückkam, war er immer wie ein unanständiger, kleiner Junge.« Sie rieb sich die Hände an den festen braunen Oberschenkeln. Obwohl Bennett sie nie Tennis spielen gesehen hatte, nahm er an, daß sie eine großartige Spielerin sein müßte. »Wissen Sie was?« fuhr sie fort und wandte zugleich den Kopf beschämt zur Seite. »Es ist schrecklich, wenn ich so etwas sage, aber im letzten Jahr habe ich meinen Mann nicht mehr gemocht – nicht mehr, wenn er so war … Sie verstehen doch«, sagte sie. »Ich habe ihn nicht mehr so geliebt, wie das bei verheirateten Menschen sein sollte.« »Glauben Sie, daß er sich in San Francisco mit einer anderen Frau getroffen hat?« Sie stieß einen unwilligen Laut aus. »Ob ich das glaube? Ich weiß es. Wo sonst hätte er auf solche Gedanken kommen können?« 165
»Glauben Sie, er hat hier auch andere Frauen getroffen?« »Hunderte, möchte ich meinen.« Bennett zögerte mit der nächsten Frage. »Wissen Sie, wer diese Frauen waren?« »Er hat es mir nie gesagt. Wir haben nicht über so etwas gesprochen.« »Aber wissen Sie, wer die Frauen waren?« wiederholte Bennett. Sie stand auf, trank die Limonade aus und stand ganz aufrecht da; dann stellte sie die Dose auf den Tisch. »Ich interessierte mich nicht dafür«, sagte sie. »Es ist erniedrigend genug, zu wissen, daß so etwas geschieht. Da will man nicht auch noch wissen, mit wem.« »Was hat Ihr Mann eigentlich gemacht?« fragte Bennett. Sie starrte ihn verständnislos an. »Sein Beruf. Womit hat er sich den Lebensunterhalt verdient?« »Nun, Todd hat alles mögliche gemacht«, antwortete sie. »Vor allem war er in der Werbung tätig.« »Ja, das hat er mir gesagt. Aber ich hatte den Eindruck, das war vor Jahren, ehe er Sie kennenlernte.« »Nein, er hatte ein Büro am Strip, und er hat im Public Relations- und im Anzeigengeschäft gearbeitet. Er war sehr beschäftigt.« Es schien ihr Unbehagen zu bereiten, über Todds Beruf zu sprechen. »Gibt es jemanden in seinem Büro, mit dem ich sprechen könnte?« fragte Bennett. »Warum wollen Sie mit jemandem aus Todds Büro sprechen?« »Um ein paar Fragen zu stellen«, gestand Bennett. »Das ist das wichtigste bei meiner Arbeit: Fragen zu stellen.« 166
Sie schaute ihn skeptisch an, doch dann fand sie eine Geschäftskarte ihres Mannes und gab sie Bennett. »Ich muß gehen«, sagte sie. »Ich komme sowieso schon zu spät.« Sie verließen gemeinsam das Haus. Bennett öffnete ihr die Tür des Kombiwagens, und sie stieg ein. Als sie weggefahren war, ging er zurück zu seinem Buick und fuhr über den Hügel zum Sunset Strip, wo er auf einem öffentlichen Parkplatz in der Nähe von Todd Straubs Büro parkte. Das Büro befand sich in einem der älteren Gebäude, einer Mischung aus den Baustilen Neuenglands, Nordkaliforniens und dem alten Europa. Das Büro war im ersten Stock auf der Rückseite. An der Tür stand der Name »Todd Straub«, darunter »T. S. GmbH«, und darunter »Straub-Gesellschaft«. Bennett öffnete die Tür und betrat einen Raum, der nicht viel größer war als ein Garderobenschrank, eingerichtet mit einem Dutzend oder mehr stahlgrauen Karteischränken, einem Lehnsessel in rosafarbener Lederimitation und einem Schreibtisch, hinter dem eine blonde Frau saß, die vor zwanzig Jahren eine bemerkenswerte Schönheit gewesen sein mußte. Sie hatte ihr Haar zu Zöpfen geflochten und war viel zu stark geschminkt. »Was kann ich für Sie tun?« fragte die Frau. »Mein Name ist Frederick Bennett«, stellte er sich vor. »Ich bin Zauberer und brauche etwas Reklame. Man hat Sie mir empfohlen.« »Wer hat uns empfohlen?« wollte sie wissen. »Eine junge Dame – ihr. Name ist mir leider entfallen. Ich bin letzte Woche mit ihr in einer Show in Ely, Nevada aufgetreten. Im Cross Cat Club. Sie singt, tanzt und spielt Posaune.« »Ach ja«, sagte die Frau, lächelte und bewegte den 167
Kopf, daß ihre Zöpfe flogen. »Ist Mr. Straub da?« fragte er. »Mr. Straub ist momentan auf Geschäftsreise«, erwiderte sie, ohne mit der Wimper zu zucken. »Vielleicht kann Ihnen sein Mitarbeiter helfen.« Sie nahm den Hörer des Telefons ab und drückte auf einen Knopf. Bennet hörte es im Nebenzimmer summen. »Ein Herr, der Mr. Straub sprechen möchte. Es geht um eine Repräsentation«, sagte sie. »Können Sie ihn übernehmen? Ich sagte ihm schon, daß Mr. Straub auf einer Geschäftsreise ist.« Dann schwieg sie und hörte zu. »Gut, in Ordnung.« »Er möchte mit Ihnen sprechen«, sagte sie, während sie den Hörer auflegte. »Gehen Sie nur hinein.« Sie zeigte auf die Tür. Bennett öffnete sie und betrat ein Büro, das nicht viel größer war als das Vorzimmer. Dieser Raum wurde fast ganz ausgefüllt von einem riesigen Schreibtisch am Fenster, das einen hübschen Blick auf eine Parkgarage gewährte, und von einer fast ebenso riesigen Couch, vor der ein niedriger Tisch stand mit Filmzeitschriften und Fotos von Klienten, wie Bennett annahm. Der Mann hinter dem Schreibtisch war in mittleren Jahren und ziemlich schlank; er trug einen blauen Blazer, einen Rollkragenpullover und, wie Bennett sah, als der Mann aufstand, um ihn zu begrüßen, eine Jogginghose und Turnschuhe. »Ich war gerade dabei, mich umzuziehen«, entschuldigte er sich, als er auf Bennett zuging. »Ich laufe täglich zehnmal von hier zum Park und zurück. Mein Name ist Bill Kenton. Sie sind –« »Frederick Bennett.« »Ach ja. Sicher. Und Sie sind –« »Ich bin Zauberer«, erklärte Bennett. »Keine großen 168
Nummern; bei mir verschwinden keine Elefanten, nichts von der Art. Das macht nicht so viel Spesen, Sie verstehen schon.« »O ja«, sagte Kenton. »Ich glaube, ich habe Ihre Nummer schon mal wo gesehen.« »Es würde mich nicht wundern«, erwiderte Bennett. »Ich bin schon fast überall aufgetreten.« »Ja, sicher«, sagte Kenton, ging zur Couch und ließ sich nieder. »Setzen Sie sich her und sagen Sie mir, was Ihnen vorschwebt, dann werden wir uns überlegen, was wir für Sie tun können.« Nachdem er sich ebenfalls gesetzt hatte, sagte Bennett: »Eigentlich wollte ich mit dem großen Boss sprechen, mit Todd. Das Mädchen, mit dem ich in Ely aufgetreten bin, sagte mir, ich müßte unbedingt mit Todd selbst sprechen. Er ist momentan nicht hier, sagten sie?« »Er ist auf Geschäftsreise«, antwortete Bill Kenton. »Aber unser Büro ist straff durchorganisiert, Todd und ich, wir beide sind praktisch austauschbar.« »Wie kommt es dann, daß Sie leben, und er ist tot?« fragte Bennett plötzlich. Bill Kenton schluckte ein paarmal, dann legte er den Zeigefinger vor die Lippen. »Was sind Sie bloß für ein raffinierter Hund«, sagte er leise und fast bewundernd. »Sie müssen ein Bulle sein.« »Ex-Bulle«, korrigierte ihn Bennett. »Ihr Bullen wißt nicht, wie man auf anständige Weise wo reinkommt, sich vorstellt und sagt, was man will. Bei euch gibt es immer diese – dieses Theater. Ihr spielt Rollen, die euch nicht zustehen. Wo ich verkehre und arbeite, denkt man nicht gerade gut von euch.« »Sehen Sie, deshalb habe ich mich Ihnen auch nicht 169
richtig vorgestellt«, erklärte Bennett. »Wenn ich hereingekommen wäre und zu der Lady am Empfang gesagt hätte, daß ich Frederick Bennett, der Ex-Bulle bin, was hätte sie dann wohl getan? Sie hätte mich rausgeschmissen. Habe ich recht?« »Wahrscheinlich.« »Wenn ich dagegen so tue, als wäre ich ein möglicher Kunde, dann hört ihr schon das Geld klingeln und seid bereit mich zu empfangen. Richtig?« »Nun – ja.« »Natürlich«, sagte Bennett. »Und da es für mich sehr wichtig ist, daß ich mit Ihnen spreche, habe ich mich einer Notlüge bedient.« Bill Kenton erwiderte: »Aber Sie wissen, daß es einen Zauberer gibt, dem Sie ein bißchen ähnlich sehen.« »Ja, sicher«, log Bennett. »Deshalb hab’ ich mich ja als Zauberer ausgegeben. Ich kenne seine Nummer. Er jongliert mit Salami-Sandwiches.« Kenton war sichtlich erleichtert. »Klar, natürlich«, sagte er und hatte auf diese Weise das Gesicht gewahrt. »Und wie kann ich Ihnen helfen? Sie müssen verstehen, wir sind ganz durcheinander nach dem, was mit Todd passiert ist, aber das Leben muß schließlich weitergehen, nicht wahr? Es steht nicht still, nur weil unser Boss umgebracht worden ist.« »Wie wahr, wie wahr«, sagte Bennett. Kenton nickte, nahm dann zwei Gummibälle aus der Couchecke und drückte sie mit beiden Händen. »Für die Hände und die Unterarme«, erklärte er. »Aber wir können uns deshalb ruhig unterhalten.« »Ihr ehemaliger Boss liebte die Frauen«, begann Bennett. 170
»Jedenfalls habe ich das läuten hören. Stimmt’s?« »Kann man wohl sagen.« »Hat er eine in der Schublade gehabt?« »Sie meinen, ob er eine von ihnen ausgehalten hat? Nein. Er hat nie bezahlt und nie Geschenke gemacht. Hielt wohl nicht viel davon. Die Umstände gestatteten ihm zu glauben, daß er unwiderstehlich auf Frauen wirkte, und in neunzig Prozent der Fälle war das auch so. Unwiderstehlich.« »Wer war die derzeitige?« »Kommen Sie«, protestierte Kenton. »Das haben Sie doch nicht nötig.« »Aber es hat eine gegeben. Wollen Sie das damit sagen?« »Es hat immer eine gegeben«, sagte Kenton und drückte die Gummibälle etwas heftiger. »Das sagte ich ja bereits.« »Ich muß es wissen. Wer war sie?« »Weiß ich doch nicht. Ehrlich, ich schwöre bei Gott, daß ich nicht weiß, wer die letzte war.« »Jemand hier?« fragte Bennett. »Wie meinen Sie das?« »Hier in Südkalifornien? Nicht in San Francisco, zum Beispiel?« »Na ja, er ist immer mal nach San Francisco gefahren. Nicht, daß er mir gesagt hätte, was er dort macht, aber wenn er zurückgekommen ist, war er immer geil wie Nachbars Lumpi und bereit, mit allem ins Bett zu steigen, was hier reinkam und ein bißchen Maskara aufgelegt hatte.« »Ich spreche von seiner letzten Herzdame. Lebt sie in San Francisco?« 171
»Das weiß ich nicht.« »Ist sie verheiratet oder ledig? Jung oder alt? Geben Sie mir einen Tip.« Kenton legte die Gummibälle wieder auf die Couch. »Ich sage Ihnen doch, ich weiß es nicht«, erklärte er. »Okay? Oder holen Sie jetzt ein paar von Ihren Freunden in Uniform, die mich prügeln, bis ich ihnen einen Namen nenne?« »Sie scheinen keine sehr hohe Meinung von der Polizei zu haben«, bemerkte Bennett. »Und das ist kein Geheimnis«, bestätigte Kenton. »Ich habe meine Gründe dafür.« »Na schön.« Bennett seufzte und stand auf. »Wir wissen, daß es eine geben muß. Ist das eine Schlußfolgerung, der Sie auch zustimmen würden?« Kenton rollte die Augen, was bedeuten konnte, daß er Bennett für einen ahnungslosen Engel hielt. »Sie verstehen, ich bin jederzeit bereit, Ihnen zu helfen«, sagte er. »Das, was mit Todd passiert ist, tut weh. Hier drinnen.« Er deutete auf seine Herzgegend. »Fragen Sie mich, was Sie wollen.« »Das hab‘ ich versucht«, erwiderte Bennett. »Und Sie sind mir mit einem Ausweichmanöver gekommen und haben eine Rolle gespielt, die Ihnen nicht zusteht.« »Aber wenn man nichts weiß – was hilft es Ihnen, wenn ich nur irgend etwas sage, damit Sie Ruhe geben?« Er stand ebenfalls auf und streckte Bennett die rechte Hand entgegen. »Wenn Sie mal gute Reklame brauchen – rufen Sie uns an. Wir stehen jederzeit zu Diensten.« Während sie sich die Hände schüttelten, demonstrierte Kenton, wie das Training mit den Gummibällen seine 172
Handmuskeln gestärkt hatte. »Und nicht vergessen – rufen Sie uns einfach an, wenn wir etwas für Sie tun können«, sagte er und brachte Bennett zur Tür. Er machte sie auf und schloß sie sehr rasch wieder, nachdem Bennett draußen war. »Nun, werden Sie mit uns zusammenarbeiten?« fragte die Blondine und ließ die Zöpfe fliegen. »Ich muß noch zwei andere Firmen besuchen, bevor ich mich entscheide«, erklärte Bennett und betrachtete dabei die Verteilerknöpfe auf ihrem Telefon. Die erste Leitung leuchtete auf, Kenton telefonierte. »Aber Ihre Firma hat einen guten Ruf. Kann man sich auf die Arbeit hier verlassen?« »Unbedingt«, sagte sie. »Bestellen Sie Todd schöne Grüße, wenn er von seiner Geschäftsreise zurückkommt«, sagte Bennett. Ihr Gesicht lief rot an. »Wird gemacht«, sagte sie ein wenig verlegen. Draußen fand Bennett eine Telefonzelle vor einem Coffeeshop und rief von dort aus Drang an. »Der Bewährungshelfer behauptet, sie sind noch in seiner Nähe«, beantwortete Drang die Frage Bennetts nach dem Aufenthaltsort der Lucontes. »Einer von ihnen hat einen Jungen; er heißt Phillip und hat mir einen Besuch abgestattet«, sagte Bennett. »Er wollte, daß ich seinen Vater und seinen Onkel nicht länger verfolge, sagte, daß sie nichts Böses getan hätten, und außerdem ist er der Meinung, daß sie zu Unrecht im Gefängnis gesessen haben. Er meint, das sei nur die Schuld eines übereifrigen Staatsanwalts gewesen, und eines verwirrten jungen Mannes, der ein neues Leben anfangen wollte.« 173
»Ach, wirklich?« »So sieht er es jedenfalls. Er war damals ja noch ein kleiner Junge.« »Ja, sicher«, sagte Drang. »Kennst du inzwischen die Telefonnummer, die von San Francisco aus angerufen wurde?« fragte Bennett. »Ja.« Bennett hörte Papier rascheln. »An dem betreffenden Tag«, las Drang vor, »hat der Teilnehmer, dessen Nummer du uns gegeben hast, ein Ferngespräch mit Los Angeles geführt – Vorwahl zweidreizehn, Nummer fünffünffünf – sechsfünffünfsieben. Wir haben die Nummer überprüft – aber das hilft uns nicht weiter. Es war nämlich die von Todd Straub selbst. Wenn auch nicht die in seinem Haus.« »Hat er ein Apartment hier in der Stadt? Ist es das, was du damit sagen willst?« »Richtig erraten. Ich hab’ gleich jemanden hingeschickt. Aber es war niemand zu Hause, niemand wurde gesehen, auch in den vergangenen Tagen nicht. Ein Zimmer mit einem Bett sonst nichts.« Drangs Stimme klang enttäuscht und verbittert. Bennett fragte nach der Adresse, und Drang gab sie ihm. In Hollywood. »Und da ist noch eine Information für dich«, fuhr Drang fort. »Wir haben die drei Leute überprüft, die ihre Jobs bei ›Natürliche Neuheiten‹ Hals über Kopf verlassen haben.« »Und?« »Nichts«, sagte Drang. »Jeder von ihnen ist aus den angegebenen Gründen dort weggegangen. Einer hatte wirklich eine schwere Krankheit in der Familie. Der zweite bekam einen besseren Job, und der dritte mochte die Arbeit nicht.« 174
Nachdem er eingehängt hatte, fuhr Bennett zu der Adresse, die ihm Drang genannt hatte. Das Apartment befand sich in einem heruntergekommenen BungalowKomplex, ein Stück oberhalb von Straubs Büro, kleine Einheiten, die einen verkommenen Innenhof umrundeten. Als Bennett davor anhielt, sah er zwei Männer, die miteinander sprachen. Der eine hatte etwas in der Hand, das wie der Plan eines Architekten aussah. »Wird das hier abgerissen?« fragte er ihn, als er vorbeikam. »War ja auch Zeit, oder nicht?« Der Mann mit dem Plan grinste. Sein Haar war karottenrot, und auf den Armen sproß ebenfalls dichtes, rotes Haar. Bennett hatte das Gefühl, der ganze Kerl war rot wie eine Karotte. »Wenn wir das hier noch ein paar Wochen stehenlassen, fällt es noch aus Erschöpfung zusammen.« Er wandte sich an den anderen Mann, der älter war und nach seinem Anzug zu urteilen ein hübsches Konto auf der Bank haben mußte. »Was meinen Sie dazu, Mr. Halliday?« Mr. Halliday stieß ein Geräusch aus, das seine Zustimmung signalisierte. Bennett fielen fast die Augen aus den Höhlen. Er versuchte, sich Mr. Halliday bei den Pferden auf der Ranch im Green Valley vorzustellen. »Und was kommt hierher?« fragte Bennett. »Bürohäuser«, antwortete Halliday. »Das wird großartig«, sagte der Rote. »So nah am Sunset Strip – das zieht vor allem die Leute von der Popmusik an. Die hatten bisher noch keine richtige Gegend für ihre Büros. Es wird wirklich großartig«, wiederholte er voller Enthusiasmus. »Und wir werden die alten Buden los«, fügte 175
Mr. Halliday hinzu. »Sehen Sie sich das doch an! Es ist wirklich eine Schande.« Bennett warf einen Blick auf die abblätternde Farbe und die zerbrochenen Fensterscheiben, die Dosen und Flaschen auf den Wegen, dazwischen verwilderte Geranien, die noch hier und da wucherten. »Sieht aus, als ob es schon lange verlassen wäre«, sagte Bennett. »Wohnt hier denn niemand mehr?« Mr. Halliday gab keine Antwort. Er wandte sich an den Rothaarigen, als übertrage er ihm die Verantwortung für den Rest des Gesprächs. »Zwei oder drei Einheiten sind noch vermietet«, antwortete der Rothaarige. »Aber die Verträge laufen monatlich aus, also wird es keine Schwierigkeiten geben. Warum – interessieren Sie sich für das Gelände?« fragte er Bennett. »Nein, aber es ist wirklich ein verrückter Zufall«, erwiderte Bennett. »Ich spaziere hier durch die Gegend, weil ich mich nach Büroräumen umsehe. Ich brauche sie nicht sofort«, fügte er rasch hinzu, »es ist ein Zukunftsprojekt. Und was treffe ich an? Zwei Gentlemen, die genau das Bürohaus bauen wollen, nach dem ich schon seit langem suche.« »Wann brauchten Sie die Räume?« fragte der Rothaarige. »Na ja, etwa in einem Jahr«, erwiderte Bennett rasch. »Wann wird das hier abgerissen?« »Wenn es nach mir ginge, noch heute nachmittag«, sagte Mr. Halliday. »Es ist wirklich eine Schande.« »Aber Sie sagten, es wohnten noch einige Leute hier?« »Jeder, der sich hier aufhält, hat es nicht anders verdient, als daß man ihn auf die Straße setzt«, sagte Mr. Halliday, 176
und Zorn bebte in seiner Stimme. »Wir sind jedenfalls bestimmt fertig, wenn Sie das Büro brauchen«, erklärte der Rothaarige und brachte das Gespräch auf das eigentliche Thema zurück. »Wie groß soll das Büro sein, das sie suchen?« »Hundertfünfzig Quadratmeter etwa«, sagte Bennett. »Kann ich mich mit Ihnen wegen der Raumaufteilung in Verbindung setzen?« Der Rothaarige fand eine Geschäftskarte in seiner Brieftasche und reichte sie Bennett. »Rufen Sie mich an, wenn Sie bereit sind, den Vertrag zu unterschreiben«, sagte er. Bennett wandte sich wieder an Mr. Halliday, der auf die Häuser starrte, als stellten sie eine persönliche Beleidigung für ihn dar. »Sobald wir das hier abgerissen haben, fahre ich erst mal eine Weile an die Ostküste«, murmelte er. »Ich hab’ dort ein paar Pferde laufen.« »Ach, Sie züchten Pferde?« fragte Bennett. »Wie interessant.« Aber Mr. Halliday war nicht bereit, das Gespräch fortzusetzen. Er sagte noch etwas darüber, daß er hier weg wolle, und ging anschließend zum anderen Ende des Geländes. »Er haßt diese alten, verfallenen Häuser«, erklärte der Rothaarige. Dann zeigte er mit dem Daumen auf die Einheit mit der Nummer, die Bennett eigentlich hatte besuchen wollen. »Vor allem das da«, sagte er. »Nun, wenn Sie so weit sind, rufen Sie mich einfach an«, sagte er und trottete hinter Mr. Halliday her. Bennett fuhr ein Stück weg und wartete darauf, daß die beiden Männer das Gelände verließen. Nach etwa einer 177
halben Stunde fuhr der Rothaarige in einem Geländewagen den Hügel hinunter; neben ihm saß Mr. Halliday, der sich offensichtlich in dem Wagen nicht wohl fühlte. Als sie verschwunden waren, fuhr Bennett zurück zum Bungalow-Hof. Er fand die Einheit, die Todd Straub gemietet hatte, und versuchte, die Tür zu öffnen. Wer auch immer zuletzt hiergewesen sein mochte vermutlich die Polizei –, er hatte die ohnehin schlecht schließende Tür nicht ordentlich zugezogen, so daß sie sich ohne weiteres öffnen ließ. Bennett betrat einen großen, fast leeren Raum, von dem es auf der einen Seite in eine Kochnische, auf der anderen in ein Duschbad ging. In dem Raum befand sich ein großes Doppelbett, das ohne Beine war und direkt auf dem Boden stand, am Kopfende ein Telefon mit langer Schnur, zwei Stehlampen auf dem Boden zu beiden Seiten des Betts und ein Regiesessel mit Segeltuchbespannung vor einem eingebauten Schrank. Bennett öffnete die Tür des Schranks. Drinnen hingen zwei Bademäntel – einer für eine Frau und einer für einen Mann –, Reizwäsche und ein burgunderfarbener, seidener Herrenpyjama. Im kleinen Bad entdeckte er Zahnpasta, zwei Zahnbürsten, Rasierzeug, Seife und Shampoo, Kölnisch Wasser für Herren und für Damen, Körperdeodorant, Aspirin, Tabletten gegen Magenübersäuerung, ein Kamm, eine Haarbürste und einen riesigen Gummidildo. In der Kochnische gab es einen Teekessel auf dem zweiflammigen Herd, einen kleinen Kühlschrank, in dem Dosen mit alkoholfreien Getränken, ein Sechserpack Bier und zwei Halbliterflaschen Wein standen. Eine davon war geöffnet, daneben lag ein Stück Cheddar-Käse, das noch nicht ranzig war. Es war offensichtlich kein Apartment, das ständig bewohnt wurde. Hier traf man sich nur zu einem ganz bestimmten Zweck. 178
Bennett betrachtete alles noch einmal sehr genau. Er ging zur Tür, trat hinaus, tat so, als würde er sie aufsperren und öffnen, kam herein und schloß sie wieder hinter sich. Dann ging er in die Kochnische und tat so, als stellte er etwas auf die Theke, suchte nach einem Weinglas, fand zwei in einem kleinen Hängeschrank, nahm eines davon heraus und tat so, als würde er sich Wein eingießen. Dann ging er zurück und schaute hinunter auf den Boden, wo er gestanden hatte, als er das Weineinschenken gespielt hatte. Etwas fiel ihm ins Auge, und er bückte sich und schaute sich den Boden genauer an. Dann suchte er nach einem Abfalleimer oder einem Papierkorb. Unter der Spüle stand eine Papiertüte neben einer Flasche Spülmittel, einer Geschirrbürste und einer Rolle Papierhandtüchern. Die Tüte war leer. Bennett nahm sie und ging mit ihr hinüber in den Wohnraum, wo er sie genauer untersuchte. Er fand etwas, was ihn befriedigte: einen dunkelbraunen Fleck auf dem Boden der Tüte. Danach stellte er sie wieder an ihren Platz unter der Spüle. Anschließend öffnete er die Schubladen und suchte nach Küchenutensilien. Er fand Gabeln, Löffel, ein paar Besteckmesser und in einem Geschenkkarton eine Tranchiergabel mit Knochengriff, aber kein Messer. Danach verließ er den Bungalow-Hof und fuhr hinaus ins Valley. Er parkte in der Nähe der Firma »Esplanade-Cadillacs« und ging dann hinein in die Garage. Drinnen spazierte er umher, als gehörte er hierher, und kam an einer Reihe glänzend polierter Cadillacs vorbei, die darauf warteten, nach dem Kundendienst von ihren Besitzern abgeholt zu werden. Schließlich sah er den Wagen der Hallidays, am entgegengesetzten Ende der Reihe. Alle Türen standen offen und die Sitze waren herausgenommen. Die Mechaniker waren gerade dabei, neue Vorder- und Hintersitze einzubauen. Bennett ging nahe genug hin, um die Arbeit beobachten zu können. Ein 179
junger Schwarzer war damit beschäftigt, das Innere des Wagens für den Einbau vorzubereiten, als plötzlich draußen auf der Straße eine starke Hupe ertönte. Der junge Schwarze und die meisten seiner Kollegen gingen hinaus zu einem Erfrischungswagen, der vor der offenen Garagentür hielt. Vor dem Wagen wurde ein kleiner Tisch aufgebaut, und der Lieferant verkaufte den Arbeitern Kaffee und Erfrischungsgetränke. Der eine oder andere besorgte sich dazu ein Stück Kuchen oder Obst, das ebenfalls angeboten wurde. Während die Automechaniker beschäftigt waren, steckte Bennett den Kopf hinein in den Wagen der Hallidays. Das ganze Innere war sorgfältig gereinigt worden, und der Wagen war völlig leer. Bennett war noch dabei, unter die Bodenmatten zu tasten, als der junge Schwarze mit einem Plastikbecher Kaffee zurückkam. »Suchen Sie was?« fragte er Bennett. Bennett zog sich zurück aus dem Wageninneren. »Ich hab’ mich nur gefragt, was Sie da tun«, sagte er. »Warum haben Sie die Sitze rausgenommen?« »Keine Ahnung«, erwiderte der Schwarze. »Ich hab’ den Wagen so gekriegt, ohne die Sitze, und die Stoffe von den Seitenbezügen waren auch weg. Ich sollte alles neu überziehen und dann die neuen Sitze einbauen.« Er deutete auf die Sitze, die neben dem Wagen standen. »Sind die alten bei einem Unfall beschädigt worden?« fragte Bennett. »Das glaube ich nicht«, erwiderte der junge Mann. »Ich glaube, es sind irgendwelche Flecken rangekommen«, verriet er ihm. »Wäre es nicht billiger gewesen, die Polster einfach zu reinigen?« fragte Bennett. »Was Sie da machen, sieht ganz schön teuer aus.« 180
»Keine Frage, das kostet einen Haufen. Aber der Besitzer will alles ganz neu haben, wie ich gehört hab’.« Dann stellte der junge Mann den Plastikbecher auf den Boden und begann wieder zu arbeiten. »Wenn nur die Vordersitze Flecken abbekommen haben, wieso müßt ihr dann alle vier erneuern?« fragte Bennett. »Angeblich waren alle Sitze fleckig, die vorderen und die hinteren. Der Kollege, der die Sitze rausgenommen hat, sagt, er hat noch nie so ’ne Sauerei gesehen.« Jetzt blickte er Bennett verschwörerisch an. »Der Kollege sagt übrigens, daß es Blutflecken waren. So was muß man sich mal vorstellen«, sagte er. »Ein nagelneuer Wagen, und jemand tut so, als ob es ein Fleischtransporter wäre.«
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Kapitel 14 Der Verkehr war fast zum Erliegen gekommen, wie immer um diese Zeit nach Geschäftsschluß. Als Bennett im Green Valley ankam, wurde es bereits Nacht. Die schmale Mondsichel ging im Westen unter, und die Sterne waren klar und funkelten hier draußen, wo nichts mehr vom Dunst und vom Smog der Stadt in der Luft hing. Bennett öffnete das Tor zur Halliday-Ranch, fuhr hinein, schloß das Tor wieder und fuhr dann weiter auf das Haus zu. Als er den Motor abstellte, hörte er wieder die Hunde bellen: den kleineren drinnen im Haus, den größeren drüben bei den Stallungen. Weit und breit war kein Wagen zu sehen. Mrs. Halliday öffnete ihm die Tür. Sie trug Jeans und ein kariertes Hemd, dazu Stiefel, und in der Hand hatte sie eine Reitpeitsche. Ihr Haar war mit einem roten Tuch nach hinten gebunden. »Sie kommen ganz schön herum«, sagte sie. »Und was ist es diesmal?« »Ich dachte, wir sollten uns ein paar Minuten unterhalten«, erklärte Bennett. »Solange noch Zeit dazu ist.« »Und worüber?« fragte sie kalt. »Über Sie. Über Ihr Leben. Und darüber, wie alles gekommen ist.« »Ich hätte nicht gedacht, daß Sie auch noch Amateurpsychologe sind«, erwiderte sie. »Außerdem glaube ich kaum, daß ich einen Psychologen nötig habe.« Bennett wartete und blickte sie gelassen an. »Da ich offenbar keine andere Wahl habe«, sagte sie, »bleibt mir wohl nichts übrig, als Sie hereinzubitten.« 182
Er folgte ihr ins Haus. Der Teppich am Eingang des Wohnzimmers fehlte immer noch. »Mir hat der kleine Teppich, den Sie hier hatten, gut gefallen«, sagte er und zeigte auf die Stelle. »Wie schade, daß Sie ihn weggenommen haben.« »Er war schmutzig«, erklärte sie und ging weiter hinein in den großen Wohnraum. »Wird es eine längere Unterhaltung?« Sie blieb stehen. »Lange genug, daß wir es uns gemütlich machen sollten«, sagte Bennett. Er wartete, bis sie sich auf die Couch gesetzt hatte, dann ließ er sich ihr gegenüber in einen der Sessel nieder. »Ich hatte kürzlich das Vergnügen, Ihren Mann kennenzulernen«, sagte er. »Ein sehr netter Mensch. Ich wußte nicht, daß er mit Grundstücken zu tun hat.« »Wo haben Sie ihn getroffen?« fragte sie. Er nannte die Adresse. Mrs. Halliday errötete. »Was hat er dort gemacht?« fragte sie. »Er will den alten Bungalowhof abreißen und dort Bürohäuser errichten lassen. Er und ein rothaariger Mann…« Er nahm die Geschäftskarte aus seiner Tasche: »Samuel Langsten. Er scheint der Architekt zu sein. Jedenfalls will man die Bungalows abreißen und Bürohäuser an ihre Stellen bauen. Das haben Sie mir mitgeteilt.« »Das habe ich nicht gewußt.« »Nun, ich bin sicher, es gibt einiges, was Sie nicht wissen im Hinblick auf die geschäftlichen Unternehmungen Ihres Mannes.« »Was wollen Sie damit sagen?« Ihre Augen glitzerten im Licht. Bennett konnte nicht erkennen, ob es Tränen waren 183
oder eine Reflexion von einer der Deckenlampen. »Gar nichts«, sagte er. »Ich verzichte auf Andeutungen. Was ich sagen will, sage ich geradeheraus.« »Ich könnte mir vorstellen, daß Sie sich auf diese Weise nicht viele Freunde machen«, erklärte sie. Dabei hielt sie die Reitpeitsche mit beiden Händen vor sich hin, als wollte sie ihn gegebenenfalls damit abwehren. »Ärgert sich Ihr Mann eigentlich immer über Häuser, die er abreißen will?« fragte Bennett. »Es kann ja sein, daß Sie Andeutungen nicht mögen«, erwiderte sie, »aber dafür stellen Sie dämliche Fragen. Mein Mann empfindet gegenüber Häusern meines Wissens keinerlei gefühlsmäßige Regungen. Er ist ein Geschäftsmann, der viele Interessen hat und sich auf manchen Gebieten betätigt; dazu gehört auch der Handel mit Grundstücken und der Bau von Häusern.« »Er war richtig wütend über den Bungalowhof, als ich ihn traf. Er schimpfte lauthals darüber und sagte, er könnte nicht verstehen, wie Leute in solchem Dreck leben wollten.« »Das finde ich sehr ungewöhnlich«, erwiderte sie kühl. »Hat er vielleicht irgendwie herausgefunden, daß Sie dort aus und ein gegangen sind? Könnte es vielleicht das gewesen sein, was ihn so wütend machte?« fragte Bennett. Sie zuckte zurück, als hätte er sie geschlagen. »Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie reden«, erklärte sie. Er seufzte. »Wo haben Sie sich mit Todd getroffen?« fragte er dann. »Mit wem?« »Also, ich bitte Sie – lassen Sie uns doch nicht von vorn anfangen. Die Sache ist ernst genug. Wir brauchen uns 184
nicht noch einmal zu bestätigen, was wir ohnehin längst wissen. Wo haben Sie sich mit Todd Straub getroffen?« »Ich erinnere mich nicht. Ich glaube, ich habe ihn auf einem Bankett kennengelernt, anläßlich einer Sache, an der mein Mann beteiligt war; wir sind gemeinsam hingegangen. Dort habe ich Todd kennengelernt. Ich glaube, er hatte etwas mit dem Ausrichten des Dinners zu tun. Aber ich bin nicht sicher. Wenn Sie mich verdächtigen, ich hätte ihn danach wieder getroffen, oder es wäre zwischen uns zu –« Sie verstummte und umklammerte die Reitpeitsche, daß ihre Knöchel ganz weiß wurden. Dann verschränkte sie die Beine und leckte sich die Lippen, als wären sie plötzlich ausgetrocknet. »Hat er sich Ihnen vorgestellt?« »Ich nehme an. Ich bin zwar für Emanzipation, aber es ist irgendwie unangenehm für eine verheiratete Frau, zu einem fremden Mann hinzugehen und sich vorzustellen.« »Er kam also zu Ihnen und sagte ›Hallo, Süße, ich bin Todd Straub‹. So ungefähr?« »Er war wesentlich höflicher und dezenter«, erwiderte sie mit spröder Stimme. »Ist das Ihre Art, Bekanntschaften zu machen? ›Hallo, Süße, ich bin…‹ Wie Sie auch heißen.« »Frederick Bennett – und ich muß Sie enttäuschen. Ich pflege meine Bekanntschaften ebenfalls – wie sagten Sie? höflicher und dezenter zu machen.« Sie schaute ihn an, als würde sie im nächsten Augenblick explodieren. Dann wippte sie mit dem einen Bein wütend auf und ab. »Was, zum Teufel, wollen Sie von mir?« fragte sie. »Wollen Sie, daß ich Ihnen etwas sage, womit Sie Ihren miesen, kleinen Mordfall lösen können? Oder was?« 185
»Ich versuche, so aufrichtig wie möglich zu sein. Ich bin der festen Überzeugung, Sie hatten eine Affäre mit Todd Straub.« Ehe sie protestieren konnte, hob er eine Hand und fuhr fort: »Ich glaube auch, daß man das nachweisen kann. Und ich befasse mich damit, weil wegen dieser Affäre zwei Morde begangen worden sind. Ich bin bereit, das Material, das ich besitze, der Polizei zu übergeben, aber ich wollte erst noch mit Ihnen darüber sprechen.« »Und das alles soll davon abhängen, ob Todd und ich eine Affäre miteinander hatten oder nicht? Lächerlich. Waren Sie wirklich früher Polizeibeamter? Kein Wunder, daß man Sie gehen ließ. Mein Gott!« »Hat er Ihnen all die Tricks beigebracht, die er in San Francisco lernte?« fragte Bennett jetzt. »Machen Sie, daß Sie hier rauskommen!« schrie sie plötzlich und spuckte ihm die Worte geradezu ins Gesicht. »Raus!« »Ich würde Ihrem Wunsch gern entsprechen, aber ich kann leider nicht«, sagte Bennett. »Sie brauchen es weder zuzugeben noch abzuleugnen – das ist nicht der Sinn dieses Gesprächs. Ich bin der Überzeugung, daß sich bestimmte Dinge ereignet haben, und ich glaube zu verstehen, warum sie sich ereignet haben – darüber sollten wir sprechen. Sie brauchen mir weder zuzustimmen noch meine Theorie abzulehnen. Das liegt ganz bei Ihnen. Aber ich finde, es wäre klug, mir bis zum Schluß zuzuhören, denn Sie sollen danach, wenn ich mein Material der Behörde übergeben habe, nicht denken, daß ich hinter Ihrem Rücken gearbeitet habe. Immer offen und ehrlich, wie es heißt. Und keine Geheimnisse. Okay?« Sie gab keine Antwort. Bennett hielt ihr Schweigen für ihre Zustimmung zu den 186
von ihm genannten Bedingungen. »Sie haben Todd kennengelernt«, fuhr er fort, »und Sie fühlten sich zu ihm hingezogen. Ich nehme an, es war das, was eine Freundin von Todd in San Francisco seine ›kreative Phantasie‹ oder so ähnlich genannt hat. Wir alle haben unsere Phantasien; die meisten von uns belassen es dabei und versuchen nicht, sie auszuleben. Aber hier und da trifft man den einen oder anderen, der alles daransetzt, das, was er sich erträumt, in der Wirklichkeit zu erleben. Und wenn es ihm gelingt, jemanden zu finden, der dazu bereit ist, kann das eine großartige Erfahrung für beide werden. Zumindest auf Zeit.« Bennett hatte nicht sofort bemerkt, daß jemand den Raum betreten hatte. Er glaubte etwas gehört zu haben, eine Tür, die leise geschlossen wurde – doch dann fühlte er die Gegenwart eines dritten. Mrs. Halliday hatte sich nicht von ihm abgewendet, aber jetzt schoß ein Blick aus ihren dunklen Augen an Bennett vorbei in Richtung auf die Tür. Bennett drehte sich abrupt um. Ein Mann stand dort, im Halbdunkel. »Howdy«, sagte Carlos leise. »Sie sind wirklich ein kaltschnäuziger Bursche.« »Ach, Carlos«, begrüßte ihn Bennett. Carlos trat näher. Er war wieder stilgerecht gekleidet wie der Sheriff in einem Westernfilm: Jeans, kariertes Hemd, Wildlederjacke, Stiefel, und um den Eindruck komplett zu machen, einen breiten Gürtel mit Revolverhalfter – samt Revolver, versteht sich. »Belästigt Sie dieser hombre, Ma’am?« fragte er Mrs. Halliday. »Ja«, erwiderte sie. »Ja, das tut er, Carlos.« »Ich könnte ihn ja rauswerfen«, erklärte Carlos, »aber nach dem, was ich grade gehört habe, erscheint mir das 187
nicht ratsam.« »Nein«, stimmte sie ihm zu. »Er darf nicht weggehen.« »Genau das habe ich mir auch gedacht«, bestätigte Carlos. Dann schaute er Bennett an. »Sind Sie fertig mit Ihrer Ansprache?« fragte er. »Ich weiß nicht«, sagte Bennett. »Wie stehen denn meine Chancen?« Bennett beobachtete Carlos, der langsam näherkam. Sein rechter Arm war angewinkelt, die Hand dicht über dem Revolverkolben. »Die haben Sie, glaube ich, verpaßt«, sagte Carlos. Bennett wandte sich wieder an Mrs. Halliday. »Wer ist eigentlich auf die Idee gekommen, ihn zu ermorden?« fragte er. »Dieser Sheriff da – oder Sie selbst?« »Seien Sie bloß vorsichtig, wenn Sie mit der Lady sprechen«, sagte Carlos. Er stand jetzt im vollen Licht, und Bennett sah sein Gesicht ganz deutlich: Wettergegerbt und faltig, dazu traurige kleine Augen, die hinausblickten auf einen Horizont, den es schon seit hundert Jahren nicht mehr gab. Er hatte wieder einen Strohhalm im Mund und bewegte ihn mit der Zunge. »Lassen Sie mich mein Problem erklären«, sagte Bennett jetzt und beobachtete die rechte Hand des Cowboys. »Ich wurde engagiert, um einen Auftrag auszuführen, und bin jetzt so gut wie fertig damit, kann also kassieren gehen; deshalb ist dieser Austausch von Informationen für mich so wichtig, denn ich brauche, ehrlich gesagt, das Geld. Wenn Sie auf einer Schießerei bestehen, muß ich Ihnen freilich sagen, daß ich heute unbewaffnet bin, und ich glaube nicht, daß Sie zu denen gehören, die einen Unbewaffneten einfach abknallen. Habe ich recht?« »Es wäre ehrlos«, stimmte ihm Carlos zu. 188
»Genau, was ich meine«, sagte Bennett. »Also lassen Sie uns erst die Sache klären, die wir hier besprechen, und wenn Sie danach noch einen zweiten Revolver in Reserve haben, bin ich gern bereit, das Problem auf Ihre Weise zu lösen. Haben Sie eine zweite Waffe?« »Einen Revolver?« fragte Carlos. »Ja – jedenfalls nicht wieder das Messer. Das wäre unfair«, sagte Bennett. »Nebenbei – wo haben Sie eigentlich das Messer versteckt?« Mrs. Halliday versuchte, Einhalt zu gebieten. »Einen Augenblick!« rief sie. Bennett wandte sich wieder an sie. »Aber zuvor bringen wir unser Gespräch zu Ende. Wo waren wir stehengeblieben? Ach, ja, wir sprachen über die erotischen Phantasien der Menschen. Ich sagte, es hat Ihnen vermutlich zunächst großen Spaß gemacht, die Spielchen mitzumachen, die Todd in San Francisco gelernt hatte. Aber manchmal, wenn man danach die Sache in vernünftigem Licht betrachtet, merkt man, daß das Ganze nur Theater war und nicht die Erfüllung eines Wunschtraums, und das kann eine höchst unerfreuliche Erfahrung sein. Vor allem, wenn man dabei an Todds kreative Imagination denkt.« »Der Kerl war gemein wie eine Schlange«, sagte Carlos. »Eine Viper.« »Sei ruhig«, fuhr ihn Mrs. Halliday scharf an. Carlos schaute sie an, als hätte sie ihn geschlagen. Die beiden spielen nur ihre Rollen, mußte Bennett plötzlich denken. Sie hält sich für eine sexuell freizügige Frau, die mit jeder Situation fertig wird, und er glaubt, er sei Gary Cooper, der den guten Sheriff spielt und seine Lady beschützt. 189
»Ich weiß nicht, ob Todd Ihnen den Laufpaß gegeben hat, oder ob Sie zuerst genug hatten von ihm – so oder so, um die Angelegenheit endgültig zu regeln, riefen Sie ihn an und sagten ihm, es sei wichtig, daß er sich mit ihnen treffe«, fuhr Bennett langsam fort, »Der gute alte Todd verließ sich wieder einmal darauf, daß sein Freund und Kumpel Waldo Felix ihm aus der Patsche helfen würde, gab ihm seinen Schlüssel zu dem Apartment im Bungalowhof und flog selbst nach San Francisco. Felix sollte Sie im Apartment treffen und Ihnen klarmachen, daß sein Freund Todd trotz allem ein lieber, netter Kerl war. Das Dumme war nur, daß Sie Todd erwarteten, und daß Sie sich auf diese Begegnung vorbereitet hatten. Also ereilte Felix das Schicksal, das Sie eigentlich Todd zugedacht hatten. Sie waren so voller Zorn, daß sie in dem dunklen Apartment nicht genau sehen konnten, wer da hereingekommen war und wen Sie von hinten erstachen.« »Sie hätten Schriftsteller werden sollen«, spottete sie. »Ein großartiger Plot.« »Als sie merkten, daß Sie einen Fehler gemacht hatten, gaben Sie Carlos den Auftrag, Waldo Felix irgendwo loszuwerden. Carlos filzte die Taschen des Toten und fand meinen Namen und meine Adresse; dort hat er Felix abgeladen; im Garten des Hauses, wo ich für ein paar Nächte bleiben wollte.« Carlos bewegte die rechte Hand. Er schaute Mrs. Halliday an. »Der Mensch hat offenbar Halluzinationen«, sagte sie. Bennett fuhr gnadenlos fort. »Der gute alte Todd, Feigling bis zum Schluß, rief aus San Francisco im Bungalow an und hoffte, Felix würde ihm sagen, daß alles in Ordnung war. Aber statt dessen kamen Sie an den Apparat und teilten ihm mit, daß Felix tot war – getötet 190
aufgrund eines Versehens. Todd fuhr zu Tode erschreckt nach Hause und fühlte sich zum erstenmal in seinem Leben schuldbewußt. Sie trafen ihn vor dem Haus von Felix; er setzte sich zu Ihnen in den Wagen, Sie fuhren hierher und haben ihn getötet. Das heißt, nicht ganz getötet. Sie rannten ihm das Tranchiermesser aus Todds Apartment von hinten in den Rücken und haben ihn danach noch – ja, was haben Sie getan?« Er wandte sich an Carlos. »Haben Sie ihn mit dem Wagen überfahren?« »Er darf auf keinen Fall weg von hier«, sagte Mrs. Halliday zu Carlos. »Denken Sie dran, Carlos – nie auf einen Unbewaffneten schießen«, sagte Bennett rasch. »Besorgen Sie mir eine Schußwaffe, und wir erledigen die Sache von Mann zu Mann. Das Gesetz des guten alten Westens.« Aber Bennett war nicht sicher, was Carlos tun würde. Und Carlos zog seine Waffe und feuerte.
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Kapitel 15 Zwei Dinge retteten Bennett das Leben. Er war aufgesprungen, als er die Schießeisen vorgeschlagen hatte, und Carlos war ein lausiger Schütze. Die Kugel traf die kostbare Lithographie eines englischen Vollbluts drei Meter rechts von Bennett, ein Schuß, der dem Tier, wenn es gelebt hätte, nicht gut bekommen wäre. Danach hechtete Bennett auf Carlos zu und versuchte, selbst den Revolver in die Hand zu bekommen, bevor der andere noch einmal ballern konnte, aber Carlos sprang zur Seite und pumpte noch einen Schuß in Bennetts Richtung, wobei er diesmal ein Stuhlbein absäbelte. Bennett rappelte sich hoch, aber der Stuhl kippte und fiel um. Mrs. Halliday hatte einen Feuerhaken in der Hand und stand bereit, um Bennett damit den Schädel einzuschlagen. Sie holte aus, traf aber daneben, während Carlos noch einmal schoß und diesmal seinem Ziel schon wesentlich näherkam. Bennett rannte auf die Tür zu. Draußen sprang er in seinen Wagen. Er hatte nicht damit gerechnet, um sein Leben laufen zu müssen, sondern hatte angenommen, daß Mrs, Halliday aufgeben würde, sobald er ihre Machenschaften aufgedeckt hatte; jetzt stand der Wagen nicht in Richtung auf die Freiheit und das Leben, und war somit nicht für rasche Flucht geeignet. Wenn er erst lange zurückstoßen und wenden mußte, waren die beiden längst bei ihm, daher entschloß sich Bennett, einen anderen Ausweg zu suchen. In diesem Augenblick wurden die Außenscheinwerfer eingeschaltet, und Carlos kam mit gezogenem Revolver aus dem Haus, genau wie der Typ in »Zwölf Uhr mittags«, für den er sich hielt. Mrs. Halliday folgte ihm, den Feuerhaken in der Hand. 192
Bennett fand die ganze Szene überaus lächerlich, aber zugleich wußte er, daß sie über sein Leben entscheiden würde. »Da ist er!« schrie Mrs. Halliday, als sie Bennett sah. Carlos hob den Revolver an und hielt ihn mit beiden Händen, um besser zielen zu können. Bennett sprang über eine niedrige Mauer und duckte sich in ein Rosenbeet. Beim Weiterkriechen stieß er mit den Händen auf einen mittelgroßen Felsbrocken. Er hielt ihn fest, wandte sich dem Licht zu, und dann schleuderte er ihn in die Höhe, hatte Glück und zerschmetterte damit einen der Scheinwerfer. Jetzt war es diesseits der Mauer dunkel. »Er ist dort drüben!« rief Mrs. Halliday. – Während die beiden auf den Rosengarten zuliefen, umkreiste Bennett den Buick und rannte ins Haus hinein. Dann schlug er die Haustür zu und knipste sämtliche Lichtschalter aus, die er finden konnte. Mit Überraschung stellte er fest, daß seine Hände zitterten. »Verdammt!« hörte er Mrs. Halliday draußen zetern. »Er ist im Haus! Carlos, du gottverdammter Idiot!« »Er kommt nicht lebend davon, Ma’am«, versicherte ihr Carlos, obwohl es keineswegs überzeugend klang. »Ich habe ihn in der Falle.« »Das Telefon!« schrie Mrs. Halliday. »Er kann jederzeit telefonieren.« Bennett hatte bereits das Telefon entdeckt und tippte gerade die Nummer von Drang, als er sie draußen schreien hörte. »Schlaues Kind«, murmelte er. »Captain Drangs Büro«, meldete sich eine Männerstimme. »Ich muß sofort mit Drang sprechen«, sagte Bennett. 193
»Es ist dringend.« »Er ist nicht in seinem Büro«, antwortete die Stimme. »Wer spricht denn?« fragte Bennett. »Sergeant Polis«, sagte die Stimme. »Ich muß unbedingt mit Drang sprechen«, flüsterte Bennett. »Wo kann ich ihn erreichen?« »Er ist im Einsatz«, sagte Sergeant Polis. »Verdammt noch mal, ich auch«, sagte Bennett. Er hörte, wie Carlos und Mrs. Halliday an die Haustür hämmerten. »Soll ich ein Fenster einschlagen, Ma’am?« fragte Carlos höflich. »Die Rückseite«, schrie sie. »Schnell, gehen wir auf die Rückseite.« »Hören Sie«, sagte Bennett, »hier spricht Fred Bennett. Setzen Sie sich sofort mit Drang in Verbindung. Sagen Sie ihm, ich bin in der Halliday-Ranch im Green, Valley. Das ist ein Notruf, haben Sie verstanden?« Er nannte Polis die Telefonnummer und die Adresse; in diesem Augenblick hörte er, wie die Hintertür geöffnet wurde. Er legte den Hörer auf und schaltete auch die Stehlampe im Wohnraum aus. Dann duckte er sich hinter die Couch, auf der Mrs. Halliday gesessen hatte. Er hörte, wie Carlos hereingestürzt kam. »Schalte das Licht ein«, rief Mrs. Halliday von der Rückseite des Hauses. Bennett glitt rasch zur Wand neben der Wohnzimmertür. Als Carlos die Hand nach dem Lichtschalter ausstreckte, packte ihn Bennett am Handgelenk und schlug es ihm mit aller Kraft gegen die Wand. Carlos schrie auf, und Bennett nahm ihm den Revolver aus der anderen Hand, ehe er zu 194
Boden fallen konnte. Dann gab er Carlos einen Hieb mit dem Revolverkolben auf den Hinterkopf. Mrs. Halliday kam, den Feuerhaken in der Hand. Bennett hob den Revolver an und zielte auf sie. Sie erstarrte. »Sie gemeiner Dreckskerl«, sagte sie. »Wieso beschimpfen Sie mich eigentlich? Ich handle nicht hinter Ihrem Rücken. Und ich sage der Polizei nicht, was wir nicht zuvor miteinander diskutiert hätten.« »Ich will meinen Anwalt sprechen«, antwortete sie. Carlos schien hart im Nehmen zu sein; er rührte sich bereits wieder. »Sie hat es nicht getan«, sagte er, und seine Stimme zitterte vor Schmerzen. »Ich war es. Ich bin schuldig.« »Sei nicht noch blöder, als du ohnehin bist«, zischte sie ihn wütend an. Er setzte sich auf. »Ich hab’ es getan«, jammerte er, »ich hab’ beide erstochen. Und ich hab’ beide Male den Wagen gefahren. Die kleine Lady hat nichts Böses getan.« Er versuchte aufzustehen, aber seine Beine gaben nach. »Du bist ein Vollidiot«, sagte sie verächtlich zu ihm. »Es ist im Grunde völlig gleichgültig, wer von Ihnen beiden die Waffe gehalten hat«, sagte Bennett. »Sie werden alle zwei des doppelten Mordes angeklagt.« Das Telefon klingelte. Bennett zielte auf Mrs. Halliday und nahm mit der Linken den Hörer ab. »Hallo?« schrie Drang am anderen Ende. »Fred?« »Hier. Du solltest zusehen, daß du schnell herkommst.« »Es ist schon ein Wagen unterwegs«, sagte Drang. »Alles okay?« »Kommt ganz darauf an, auf welcher Seite man steht«, erwiderte Bennett und legte auf. »Sie können sich ruhig setzen«, sagte er dann zu Mrs. Halliday. »Machen Sie es 195
sich bequem. Die Polizei ist bereits auf dem Weg hierher. Sobald sie hier ist, können Sie ihren Anwalt anrufen.« Als der Streifenwagen eintraf und Carlos und Mrs. Halliday festgenommen waren, fuhr Bennett zurück in die Stadt. Er rief Drang von einer Telefonzelle aus an und verabredete sich mit ihm für später im »Achtzig«. Dann fuhr er zum Haus von Ethel Felix. Vor dem Haus brannte Licht, und drinnen saß jemand am Fernseher. Ethel Felix kam an die Tür. Sie war strenger angezogen als bei seinem letzten Besuch. »Komm doch rein, Fred«, sagte sie, sobald sie ihn erblickt hatte. Drinnen im Wohnzimmer schaltete sie als erstes das Fernsehgerät ab. »Kann ich dir etwas anbieten?« Er bat um einen Scotch auf Eis, und sie brachte ihm den Drink, dann setzte sie sich in den Sessel des Hausherrn. »Es ist vorbei«, berichtete er ihr. »Und das Schlimmste ist: Waldo wurde sozusagen aus Versehen ermordet. Er hat einem Freund eine Gefälligkeit erwiesen und wurde dafür erstochen.« »Hat er Todd diese Gefälligkeit erwiesen?« fragte sie. »Hast du das gemeint?« Bennett nickte. »Siehst du, das habe ich gewußt«, sagte sie. »Ich wußte, daß er Todd einen Gefallen getan hat. Verdammt.« »Hat es dir jemand gesagt?« Sie schüttelte den Kopf. »Das brauchte mir niemand zu sagen. Ich habe es gewußt.« Sie saß ruhig in ihrem Sessel. »Ich habe es bis jetzt nicht verstanden«, sagte sie nach längerer Pause. »An dem Tag, als man meinen Mann tot aufgefunden hat, war Todd nicht hier, sondern in San Francisco, glaube ich, und dann ist er rasch 196
zurückgeflogen und hat mich hier besucht. Ich kann es nicht beschreiben, aber ich hatte das Gefühl, er wollte mir etwas sagen. Er bat mich, die Kinder wegzuschicken, und er hat die Vorhänge zugezogen, damit uns niemand stört; dann hat er mit mir geredet – aber es war nur belangloses Zeug, er rückte nicht mit dem heraus, was er wirklich sagen wollte.« Sie schaute Bennett an. »Verstehst du, was ich meine?« »Ja.« »Er war fast eine Stunde lang hier, und ich wußte, daß er mir etwas Wichtiges sagen wollte, aber er hat es nicht gesagt. Schließlich ist er gegangen, und ich erinnere mich genau, was ich fühlte. Ich fühlte, daß ich Todd nie wiedersehen würde, und ich habe ihn umarmt und eine Minute lang festgehalten; dann ist er gegangen. Kurz danach habe ich erfahren, daß auch er tot ist. Ermordet, genau wie Waldo.« Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und saß still da. Bennett trank einen Schluck und überlegte sich, was er sagen sollte. Dann brach Ethel das Schweigen. »Wer war mein Mann?« fragte sie unvermittelt, beugte sich nach vorn und schaute Bennett beschwörend an. »Er war Waldo Felix«, sagte Bennett. »Nein, früher.« Sie hatte die Hände auf dem Schoß gefaltet. »Was macht das jetzt noch aus?« Sie starrte auf ihre Hände. »Warum hatte er solche Angst?« fragte sie. »Als er diesen Brief bekam, durch den er erfuhr, daß Jules Bingman tot war, warum hat ihn das so erschreckt?« Bennett fragte sich, ob Felix vielleicht zur gleichen Zeit erfahren hatte, daß die Lucontes auf Bewährung entlassen worden waren. »Das ist jetzt alles nicht mehr von 197
Bedeutung«, war alles, was er herausbrachte. Sie schien sich damit zufriedenzugeben. Aber dann sagte sie: »Weißt du, was mir am meisten Kummer macht, ist die Tatsache, daß Waldo zu anständig war, zu nett, zu hilfsbereit. Es war, als wollte er damit etwas gutmachen, vielleicht für ein Vorleben, von dem er sich losgesagt hatte. Und als er dann solche Angst bekam, da habe ich…« Sie wandte sich ab. »Ich hatte das Gefühl, als wüßte ich nicht, wer er in Wirklichkeit war.« Nun schaute sie Bennett wieder an. »Wer war er?« fragte sie. »Es kommt jetzt nicht mehr darauf an«, wiederholte Bennett. »Er war dein Mann. Er war ein guter, ein gütiger Mann, der dich und die Kinder geliebt hat. Was er früher gewesen ist – darauf kommt es wirklich nicht an, oder?« Sie starrte ihn an, als versuchte sie, in seine Gedanken einzudringen. »Ja«, sagte sie zuletzt. »Natürlich hast du recht. Außerdem würde es die Kinder doch nur verwirren, unter anderem.« »Laß es dabei«, sagte Bennett. Er trank aus und ging, versprach ihr aber, gelegentlich vorbeizukommen. Sie war ihm dankbar für das, was er getan hatte, und küßte ihn herzlich. Als Bennett ins »Achtzig« kam, saß Drang bereits in einer der hinteren Nischen. Er trug einen blauen Blazer mit Messingknöpfen, ein weißes Hemd, das oben offen war, und hatte, sich einen roten Schal um den Hals gebunden. »Meine Güte«, rief Bennett, als er sich neben ihn in die Nische setzte. »Du siehst aus, als hättest du deine Jacht verloren.« »Dabei bist du derjenige, der mit den Reichen durch die 198
Gegend segelt«, erwiderte Drang. »Ich dagegen mache meine Arbeit, sitze an einem alten, grauen Metallschreibtisch mit Stapeln von Akten und Formblättern darauf. Interessant und lustig wird es nur, wenn mich mein Ex-Partner aus der Klemme zieht.« »Jetzt, wo ich mit meiner Arbeit fertig bin, kannst du mir ja sagen, in welcher Klemme du gesteckt hast«, meinte Bennett. Emily brachte ihm seinen Drink. »Seid ihr hungrig?« fragte sie. »Später vielleicht«, antwortete Bennett. Er schaute Drang an. »Ja, später«, stimmte ihm Drang zu. »Nun?« fragte Bennett, als Emily gegangen war. »Was war das für eine Klemme?« »Ich hatte den Befehl, die Finger davon zu lassen. Die Burschen vom Gericht haben gleich nachdem Waldo Felix tot eingeliefert wurde, den Chief angerufen; wir sollten uns zurückhalten. Felix hatte sich nicht an den Zeugenschutzplan gehalten, sondern hier ein neues Leben angefangen, weil er sich von dem, was man ihm vorgeschlagen hatte, zu sehr eingeengt fühlte. Das reicht zurück in die Zeit, bevor er heiratete. Jetzt war man natürlich der Meinung, daß das die Tat der Lucontes sein mußte, und die Behörde fühlte sich schuldig an Waldos Tod. Sie rechnete damit, daß es heißen würde, sie sei nicht in der Lage, ihre Kronzeugen gut genug zu schützen. Daher durften wir nicht voll in die Sache einsteigen. Und ich habe gegen die Anweisung gehandelt und dich engagiert. Siehst du, das war die Klemme, in der ich gesteckt habe.« Bennett schüttelte bewundernd den Kopf. »Du bist damit ein verdammtes Risiko eingegangen.« Drang zuckte bescheiden mit den Schultern. 199
»Eine Frage noch«, sagte Bennett. Drang wartete. »Hast du mir den Luconte-Jungen geschickt?« Drang schaute ihn entsetzt an. »Ich?« »Ja, du.« Bennett nickte. »Wer außer dir hätte wissen können, wer Waldo in Wirklichkeit war? Wer hätte gewußt, daß ich mich mit dem Fall befaßte?« Drang stellte sein Glas vorsichtig auf den Untersetzer. »Also, um ehrlich zu sein – ja, das war ich. Der Junge ist zu mir gekommen, weil er dachte, die Polizei sei hinter seinem Vater und seinem Onkel her, und natürlich konnte ich ihm nicht sagen, wie es sich wirklich verhielt. Also erklärte ich ihm, nicht die Polizei, sondern ein Privatdetektiv stochere in der Sache herum, und ich nannte ihm deinen Namen und gab ihm deine Adresse.« »Er hätte mich umbringen können«, warf ihm Bennett vor. »Nun, du weißt ja, ich habe immer bewundert, wie raffiniert du dich aus solchen Situationen herausmanövrierst. Ich war hundertprozentig sicher, daß du mit dem jungen Mann fertig werden würdest.« Bennett fluchte leise und trank einen großen Schluck aus seinem Glas. Drang schien sehr mit sich zufrieden zu sein; er lehnte sich zurück und war völlig entspannt und gelockert. Dann fielen Bennett Ethel Felix und die Kinder ein. »Was wird man über den Mord an Waldo Felix veröffentlichen?« fragte er. Drang schaute ihn treuherzig an. »Irrtümlicherweise getötet«, sagte er. »Ein unglücklicher Zufall, weil er einem Mann sehr ähnlich sah. Genau wie du es berichtet hast. Es stimmt doch, oder?« 200
»Ja, es stimmt.« Bennett trank sein Glas aus, »Bei dieser Gelegenheit können wir auch gleich meine Rechnung begleichen. Ich sage dir ungefähr, was du mir schuldest, – oder ist es dir lieber, wenn ich dir eine genaue Aufstellung meiner Honorare und Kosten schicke?« »Das erste ist mir wesentlich lieber«, sagte Drang ausweichend. Bennett schaute ihn an. »Du verdammter Hurensohn«, sagte er. »Du hast dem Department gar nicht gesagt, daß du mich engagiert hast, oder?« Drang machte ein paar hilflose Gesten mit den Händen. »Wozu hätte ich das sagen sollen?« fragte er. »Du weißt, daß du von mir immer das Geld bekommst, das dir zusteht. Warum also der ganze Papierkram?« »Siehst du – du bist genau wie ich damals, und ich bin deshalb gefeuert worden. Man erwartet von dir, daß du genau Buch führst und über jeden Penny Rechenschaft ablegst –« »Also, was schulde ich dir?« unterbrach ihn Drang. Bennett zählte es an den Fingern ab. »Runde achthundert«, sagte er. »Davon hast du mir zweihundert gegeben.« Drangs Augenbrauen wölbten sich nach oben, als wenn sie an Drähten hochgezogen würden. »Was?« explodierte er. »Was hast du gesagt?« Bennett wiederholte die Summe. »Aber wofür denn, zum Teufel?« fragte Drang wütend. Bennett zählte die Tage und Stunden, die Mahlzeiten und das Benzin für seinen Wagen, die Parkgebühren, das Flugticket und den Leihwagen in San Francisco auf. »Das summiert sich«, sagte er zu Drang. »Aber wenn du 201
Quittungen über das alles haben willst, kann ich das Ganze mit den Rechnungen auch direkt an das Department schicken und …« Er verstummte, weil Drang dunkelrot angelaufen war. Dann sagte Drang etwas, was Bennett nicht gehört zu haben vorgab. »Entschuldige«, sagte er. »Ich habe nicht richtig verstanden. Hast du Erpressung gesagt?« Drang schüttelte den Kopf. »Es wäre mir sehr unangenehm, wenn du der Meinung wärst, ich würde dich erpressen«, fuhr Bennett fort. Dann gab er Emily ein Zeichen. »Hör zu, Drang, das Abendessen geht auf meine Rechnung. Emily, sagen Sie Ihrem Partner in der Küche, er soll uns zwei sensationelle Menüs servieren; das geht auf mich.« »Okay, Fred.« Sie verschwand in der Küche. Bennett hob sein Glas. »Auf uns, Drang. Daß wir auch weiterhin in Freundschaft und Harmonie zusammenarbeiten – sobald du mir das Geld bezahlt hast, das du mir schuldest.« Drang hob ebenfalls sein Glas und stieß mit Bennett an. »Fahr zur Hölle«, sagte er dazu.
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