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Buch In ferner Vergangenheit wurden die Aoi mithilfe von Magie in den Äther gestoßen. Nun rückt der Zeitpunkt ihrer Rückkehr immer näher. Doch die Mathematiki setzen alles daran, das magiebegabte Volk an der Heimkehr zu hindern. - Als Liath nach vier Jahren aus den Sphären zurückkehrt, ist viel geschehen: Ihr Ehemann, Prinz Sanglant, hat seine Armee in das ferne Land der Greifen und Zentauren geführt, um dort Verbündete für seinen Kampf gegen die Mathematiki zu suchen und seinen Vater, König Henry, zu befreien. Henry befindet sich unter dem Einfluss eines Dämons weitab seiner Heimatlande in Aosta und unternimmt immer neue Eroberungszüge. Liath macht sich ihrerseits sofort daran, den Kampf gegen die Mathematiki aufzunehmen und die Pläne ihrer skrupellosen Anführer Anne und Hugh zu vereiteln ... Autorin Kate Elliott hatte bereits unter dem Namen Alis A. Rasmussen mehrere Science-Fiction-Romane veröffentlicht, bevor sie gemeinsam mit Melanie Rawn und Jennifer Roberson »Die Chronik des Goldenen Schlüssels« verfasste. »Sternenkrone« ist ihr erstes großes Solo-Projekt in der Fantasy und wurde von Kritikern und Lesern begeistert aufgenommen. Bereits erschienen: STERNENKRONE: 1. Erben der Nacht. Roman (24742), 2. Im Namen des Königs. Roman (24743), 3. Auf den Flügeln des Sturms. Roman (24744), 4. Die Kathedrale der Hoffnung. Roman (24842), 5. Der brennende Stein. Roman (24843), 6. Das Rad des Schicksals. Roman (24844), 7. Kind des Feuers. Roman (24131), 8. Schatten des Gestern. Roman (24132), 9. Ins Land der Greife. Roman (24138) Von Kate Elliott zusammen mit Melanie Rawn & Jennifer Roberson: DIE CHRONIK DES GOLDENEN SCHLÜSSELS: 1. Das Bildnis der Unsterblichkeit. Roman (24649), 2. Die Farben der Unendlichkeit. Roman (24792), 3. Zeit der Wiederkunft. Roman (24793) Weitere Bände sind in Vorbereitung.
Kate Elliott
Ins Land der Greife Sternenkrone 9
Ins Deutsche übertragen von Susanne Gerold blanvalet Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Crown of Stars, vol. 5: The Gathering Storm« (Parts 1-2) Qrbit/Time Warner Books UK, London. Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. Der Blanvalet Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House. 1. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung 10/2005 Copyright © der Originalausgabe 2003 by Katrina Elliott Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2005 by Verlagsgruppe Random House GmbH, München Published in agreement with the author c/o BAROR International, Inc., Armonk, New York, U.S.A. Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Agt. Schlück/Krasny Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck: GGP Media GmbH, Pößneck Titelnummer: 24138 Redaktion: Alexander Groß V. B. • Herstellung: Heidrun Nawrot Printed in Germany ISBN 3-442-24138-3 www.blanvalet-verlag.de
Für Jeanne Herzog von Wayland Kate Elliott - Sternenkrone (Was bisher geschah) In den Vereinigten Königreichen von Wendar und Varre herrschen unruhige Zeiten. Die Küstengebiete leiden unter den Raubzügen der nichtmenschlichen Aikha, die in ihren Booten von Norden über das Meer kommen, Städte und Klöster niederbrennen und das Land verwüsten, während die Grenzmarken im Osten von den Reiterhorden der »geflügelten« Qumaner bedroht werden. Im Licht des Vollmonds erwachen alte, halb verfallene Ruinen zu neuem Leben, bevölkert von den seit langer Zeit verschwundenen Verlorenen, und dunkle Geister streifen am helllichten Tag durch das Land. Und als wenn das alles noch nicht genug wäre, zieht auch noch ein Bürgerkrieg herauf, denn Prinzessin Sabella will mit der Unterstützung einiger Edelleute ihrem Bruder Henry die Königskrone entreißen. In diesen Bürgerkrieg geraten zwei junge Menschen: Liath, die ihr Leben lang mit ihrem Vater auf der Flucht vor unbekannten Feinden war, und Alain, ein junger Mann aus einfachen Verhältnissen, dessen Herkunft im Dunkeln liegt. Eines Tages wird Liaths Vater ermordet, und sie selbst gerät in die Fänge des machtgierigen Mönchs Hugh, der ihr nicht nur das »Buch der Geheimnisse«, das sie von ihrem Vater geerbt hat, entreißen willen, sondern auch das alte geheime Wissen, das tief in ihrem Innern verborgen ist. Nach einer langen Zeit des Leidens gelingt es ihr schließlich, mit viel Glück und Unterstützung eines geheimnisvollen Fremden namens Wulfhere Hughs Nachstellungen zu entfliehen, und gemeinsam mit ihrer Freundin Hanna tritt sie den Adlern des Königs bei, königlichen Boten, die nur dem König selbst verantwortlich sind. Alain hingegen wird Zeuge eines Aikha-Überfalls auf ein Kloster und begegnet der Herrin der Schlachten, die für sein weiteres Leben noch eine große Bedeutung haben wird. Auf Gut Lavas sieht er zum ersten Mal Fünfter Sohn, einen Aikha, der dort gefangen 9 gehalten wird und den er heimlich freilässt - ohne zu wissen, dass ihrer beider Lebenswege auf besondere Weise miteinander verknüpft sind. Und er wird von Graf Lavastin als sein Erbe erkannt, eine Tatsache, die nicht bei allen dem Grafen verpflichteten Edelleuten auf Verständnis stößt. Liath kommt mit ihren Begleitern in die unweit der Küste gelegene Stadt Gent und begegnet dort einem Menschen, der in ihrem zukünftigen Leben eine wichtige Rolle spielen wird: Sanglant, dem Hauptmann der Königlichen Drachen, der Elitereiterei Henrys - und sein Sohn, den er mit einer Aoi gezeugt hat. Dass die geheimnisvolle, fremdartige Frau ihn kurz nach der Geburt ihres gemeinsamen Sohnes verlassen hat, ist noch immer ein Stachel im Fleisch des Königs. Genau wie die Tatsache, dass er Sanglant, den Bastard, nicht zum Thronerben machen kann, sondern sich schon bald die Zukunft für eine seiner Töchter - die impulsive Sapientia oder die zurückhaltende Theophanu - entscheiden müssen wird. Kurz darauf erhält König Henry eine weitere Hiobsbotschaft, denn die Aikha haben Gent erobert - und allem Anschein nach ist Sanglant bei den Kämpfen um die Stadt um Leben gekommen. Doch dem ist nicht so. Sanglant, der »Prinz der Hunde«, wird nämlich von Blutherz, dem Anführer der Aikha, in der Kathedrale von Gent gefangen gehalten - wie ein räudiger Hund. Das Blut seiner Mutter verleiht Sanglant eine unmenschliche große Lebenskraft, sodass er den normalen Tod nicht fürchten muss - doch wird er von der immer währenden Furcht beherrscht, früher oder später wahnsinnig zu werden. Wer sollte ihm auch Hilfe bringen? Die ist allerdings bereits unterwegs: König Henry hat den Edlen seines Landes Männer und Waffen abgetrotzt und ein Heer zusammengetrommelt, in dem sich auch Alain und Graf Lavastin befinden. Alain muss sich nicht nur mit dem Misstrauen und dem Neid der ehemals engsten Vertrauten Lavastins auseinandersetzen, er wird auch von Visionen heimgesucht - denn er sieht manchmal durch die Augen von Fünfter Sohn, mit dem ihn ein geheimnisvolles Band verbindet. Auch Liath - die ebenso wie Hanna und Wulfhere und der ehrgeizige Mönch Hugh, der sie immer noch bedrängt, an König Henrys Feldzug teilnimmt - verfügt über 10 ungewöhnliche Fähigkeiten. Da ist zum einen die Adlersicht, die Wulfhere ihr beigebracht hat, und mit der sie manchmal Orte und Wesen sieht, die nicht von ihrer Welt zu sein scheinen. Zum anderen kann sie Feuer herbeirufen, wenn sie in höchster Not ist. Durch List und Opferbereitschaft gelingt es den Menschen von Wendar und Varre, Gent von den Aikha zurückzuerobern. Sanglant wird von Liath befreit, Blutherz kommt bei den Kämpfen ums Leben, und Alain, der eigentlich nichts sehnlicher als den Frieden wünscht, wird mit Hilfe der Herrin der Schlachten zum gefeierten Helden. Die Gefahr durch die Aikha scheint fürs Erste gebannt. Liath und Sanglant kommen sich näher, doch ihre Liebe ist in König Henrys Lager nicht gern gesehen. Als ihre Nöte immer größer werden, taucht plötzlich Liaths totgeglaubte Mutter Anne auf und bietet ihr an, mit ihr ins Nest der Mathematiki zu fliehen, ein Angebot, das sie und Sanglant schließlich annehmen. Liath hofft, bei dem geheimen Zirkel von Zauberern, deren Anführerin ihre Mutter ist, das alte Wissen studieren zu können - etwa über die Steinkronen, die es nicht nur ermöglichen, von hier nach dort zu reisen, sondern deren Macht die Mathematiki auch dazu benutzen wollen, die Wiederkehr der Verlorenen in diese Welt zu verhindern -und mehr
darüber zu erfahren, wer oder was sie wirklich ist. Doch ihr und Sanglant wird nur allzu rasch klar, dass sie eigentlich nirgendwo in Sicherheit sind. Und nachdem Liath herausgefunden hat, dass ihre Abstammung sie zu einer möglichen Erbin des alten Kaiserreichs macht, wird sie kurz nach der Geburt ihrer Tochter von den Verlorenen auf magische Weise in deren Sphären geholt. Inzwischen kehrt Sanglants Aoi-Mutter auf der Suche nach ihrem Sohn, den sie als Säugling zurückgelassen hat, in die Welt der Sterblichen zurück. Sie ist über die Ebenen im Osten gekommen, wo sich die Qumaner unter Bulkezu zu einem neuen Raubzug sammeln. Hoch im Norden ist Fünfter Sohn derweil damit beschäftigt, die zerstrittenen Stämme der Aikha zu einen. Dies gelingt ihm nach und nach, und er wird allmählich zu einem großen, klugen Heer11 führer, der schließlich den Namen Starkhand erringt - und der sich fest vorgenommen hat, eines Tages nach Wendar und Varre zurückzukehren. König Henry ernennt derweil seine Tochter Sapientia zur Thronerbin und verheiratet sie mit dem ungrischen Prinzen Bayan, einem polternden, aber rechtschaffenen Mann. Alain hingegen, der sich mit Sabellas Tochter Tallia vermählt hat, wird nach dem tragischen Tod seines Vaters Lavastin - ein Geschehen, das sozusagen die letzte Rache des längst toten Aikha-Anführers Blutherz ist - mittels einer Intrige, an der auch seine frömmlerische Frau beteiligt ist, um sein Erbe gebracht. Im Osten greifen erneut die Qumaner an, und Bayan und Sapientia stellen sich ihnen mit einem Heer entgegen. Es kommt zu einer Schlacht, in die auch König Henrys jüngster Sohn Prinz Ekkehard und seine Freunde verwickelt werden, die auf Irrwege des Glaubens geraten und zu Ketzern geworden sind, und in deren Verlauf Bayan fällt. Das Reich befindet sich in großer Gefahr, da König Henry weit entfernt vom Ort des Geschehens ist und die Soldaten Sapientia nur unwillig folgen. Alain gerät auf magische Weise durch eine der Steinkronen in ein unbekanntes Land, wo er nicht nur seine große Liebe Adica kennen lernt, sondern auch Zeuge eines verzweifelten Überlebenskampfes wird, als er unabsichtlich in den uralten Konflikt zwischen der Menschheit und ihren Feinden, den Verfluchten, gezogen wird. Liath hingegen befindet sich weit weg von Sanglant und ihrer Tochter im Land der Verbannung, wo sie sich ihrer schwierigsten Aufgabe gegenübersieht. Doch dort liegt auch ihre einzige Hoffnung, etwas über ihre wahre Herkunft sowie über die Art und das wirkliche Ausmaß ihrer einzigartigen Fähigkeiten zu erfahren. Und schließlich öffnet sich ihr der Weg zu den himmlischen Sphären. Auch Sanglant verlässt mit seiner Tochter Gnade das Nest der Mathematiki. Er ist fest entschlossen, seinen Vater König Henry aufzusuchen, denn nur er kann ihm die Warnung über die Ver12 schwörung der Zauberer überbringen, die geschworen haben, die Aoi - die Verlorenen - ein für allemal auszulöschen. Und er weiß, dass es die Mathematiki - allen voran ihre Anführerin Anne, die inzwischen auch die Skopos von Darre ist - nicht kümmert, welche Zerstörungen sie mit ihrer Magie anrichten werden. Doch König Henry hat inzwischen seinem geplagten Reich den Rücken gekehrt. Er will Adelheid zu Hilfe eilen, der jungen verwitweten Königin von Aosta, getrieben von dem Wunsch, an ihrer Seite den Thron von Aosta zu besteigen und sich in Darre zum Kaiser krönen zu lassen. Dazu muss allerdings erst Johann Eisenkopf, einer der aostischen Fürsten, besiegt werden, was nach einigem Hin und Her auch gelingt. Während Henrys Tochter Theophanu - die sich ursprünglich seinem Tross angeschlossen hatte - nach Wendar und Varre zurückkehrt, wo Sabella - dieses Mal mit Unterstützung Conrads des Schwarzen - erneut einen Umsturz plant, gerät Rosvita, die Leiterin der Königlichen Schule und eine enge Vertraute von Henry, in die Gefangenschaft von Hugh. Henry ist nun fast nur noch von Leuten umgeben, denen er zwar vertraut, die aber mit Ausnahme seines treuen persönlichen Adlers Hathui ihre eigenen Ziele verfolgen; das gilt für Adelheid ebenso wie für Bruder Hugh oder Anne, die Skopos. Sanglant stößt auf Sapientias Heer und wird von den Soldaten so begeistert empfangen, dass Sapientia ihm grollend den Oberbefehl überlässt. Er kann schließlich nicht nur ein qumanisches Heer unter Bulkezu besiegen, sondern auch Hanna befreien, die in Bulkezus Hände gefallen war. Und so haben nun alle wichtigen Personen den Platz erreicht, den ihnen das Schicksal in dieser Geschichte zugedacht hat, oder sie eilen ihm mit schnellen Schritten entgegen - so wie - Liath, die noch immer in den himmlischen Sphären weilt und weiß, dass sie zurückkehren muss in die Welt der Sterblichen, denn sie will Sanglant und ihre Tochter wieder sehen - und sie muss Anne und die übrigen Mathematiki daran hindern, ihre Pläne in die Tat umzusetzen. 13 Sanglant, der begleitet von seiner Tochter Gnade und Sapientia mit seinem Heer gen Osten aufgebrochen ist, denn er will ein paar Greifenfedern erbeuten, die vor der Magie der Mathematiki schützen sollen - und er hofft, vielleicht noch neue Verbündete zu gewinnen. Alain, der den Kataklysmus jener in der Vergangenheit gelegenen Welt mit Mühe überlebt hat und mehr tot als lebendig in seine Zeit zurückkehrt, nachdem er einmal mehr das verloren hat, was ihm auf der Welt das Teuerste war. Starkhand, der nicht nur die Aikha-Stämme unter seiner Herrschaft vereint hat, sondern mit dem Mervolk auch einen machtvollen Verbündeten gefunden hat, und der nun seinen Blick auf das Inselreich Alba richtet, die
Heimat der Baumzauberer, mit denen er schon früher zu tun hatte. Doch seine Pläne reichen noch viel weiter ... König Henry, der in seinem Trachten nach der Kaiserkrone in die Falle gestolpert ist, die Hugh ihm gestellt hatte, und der schon längst nicht mehr er selbst, sondern nur noch eine von einem Dämon besessene Hülle ist. Anne und die anderen Mathematiki, zu denen auch der von brennendem Ehrgeiz getriebene Hugh gehört, die mit den magischen Kräften der Steinkronen die Aoi erneut ins Nichts schleudern wollen, endgültiger, als es in der Vergangenheit bereits geschehen ist. Hanna, die nach ihrer Befreiung aus den Händen Bulkezus alles versucht, um ihre Freundin Liath zu finden. Und schließlich noch Rosvita und Theophanu und Wulfhere und viele andere vermeintlich - oder doch nicht? unbedeutende Personen, die unaufhaltsam in den Gang der Ereignisse gezogen werden - ohne zu ahnen, dass einigen von ihnen bei dem, was geschehen wird, eine wichtige Rolle zufallen wird ... Prolog Sie träumte. Am Himmelsgewölbe drehen sich Räder aus Gold, flimmernd und gleißend. Das Trommeln ihrer Umdrehungen erzeugt einen Wind, der sich über die gesamte Schöpfung erstreckt und so heiß und feucht ist, dass er sich in feinen Dunst verwandelt. Der Dunst klärt sich und enthüllt das Grab von Kaiser Taillefer, dessen Bildnis in die Platte des Marmorsargs eingraviert ist. Sein ernstes Gesicht ist in ewiger Ruhe erstarrt. Steinerne Finger umfassen die kostbare Krone - das Symbol seiner Herrschaft -, deren sieben Spitzen mit Schmuckstücken versehen sind: einer strahlenden Perle, einem Lapislazuli, einem hellen Saphir, einem Karneol, einem Rubin, einem Smaragd und einem quer gestreiften, orangebraunen Sardonyx. Im Innern eines jeden Schmuckstücks rührt sich etwas, ein Flüstern, ein Schatten, ein Hauch. Villams Sohn Berthold ruht friedlich auf einem Lager aus Gold und Edelsteinen, umgeben von sechs schlafenden Kameraden. Er seufzt, dreht sich im Schlaf herum und lächelt. Eine Hand kratzt an der Tür einer aus Holzbrettern bestehenden Hütte jener Hütte, in der Bruder Fidelis Unterschlupf gefunden hatte. Als sich die Tür öffnet, werden die Umrisse eines Mannes sichtbar, eingerahmt vom schwindenden Sonnenlicht. Das Gesicht liegt im Schatten. Er ist groß und hat blondes Haar, ist ganz und gar nicht Bruder Fidelis. Er schreit vor Angst auf und läuft weg, als ein Löwe auftaucht. Kerzenlicht beleuchtet Hugh von Austra, der die Seite eines Buches umblättert. Seine Miene ist gelassen, sein Blick konzentriert. Erfolgt dem Fluss der Worte, seine Lippen formen jedes einzelne, ohne es laut auszusprechen. Ein Windstoß vom offenen Fenster bringt die Flamme zum Flackern, bis sie in dieser Flamme die schreckliche Lüge erkennt, die Hugh ihr eingeflüstert hat. 15 Ketzerei. Sie kniete an Stelle von St. Thekla, wurde an ihrer statt Zeugin der grausamen Bestrafung, mit der die Kaiserin des Dariyanischen Kaiserreichs gegen all jene vorging, die sich gegen ihre Herrschaft erhoben hatten. Der heilige Daisan betrat das Opferpodest. Er wurde an ein bronzefarbenes Rad gebunden. Doch nie versiegte sein Lächeln, auch dann nicht, als die Priester ihm die Haut vom Leibe rissen. Tiefe Freude überwältigte sie, denn war sie nicht eine der Auserwählten, denen es vergönnt war, seinen Tod und seine Erlösung zu bezeugen? Die Fluten der Freude überschwemmen sie erneut, drohen sie zu verschlingen. Ist dies nicht das ketzerische Gift, das durch Hughs Lügen in ihre Seele gedrungen ist? Aber was, wenn Hugh nicht lügt? Könnte er tatsächlich eine geheim gehaltene Darstellung der Erlösung gefunden haben? Der Gedanke übersteigt ihr Vorstellungsvermögen. In ihrer Verwirrung verzerrt sich der Traum zu einem Lichtblitz. In einer hohen Halle brennen wie Phönixe geformte Lampen. Die Flammen steigen von Dochten auf, die raffiniert in die Schwanzfedern aus Messing eingelassen sind. Hier hält die Skopos den Vorsitz über eine Synode, die einberufen wurde, um über die Ketzer zu urteilen. Die Angeklagten flehen nicht um Gnade, sondern verlangen, dass endlich die Wahrheit gesprochen wird. Ihr jüngerer Bruder Ivar steht kühn an vorderster Stelle. Wer wird sie verhören? Wer wird die Kirche verhören? Wenn die Erlösung wahr ist, wenn der heilige Daisan die Menschheit durch seinen Tod von ihren Sünden erlöst hat und nicht mit seinem Leib während des Betens in der Ekstasis in den Himmel aufgefahren ist, haben dann die Kirchenmütter die Wahrheit unterdrückt? Oder ist sie ihnen nur verloren gegangen? Wer lügt? »Schwester, ich bitte Euch. Wacht auf.« Dunkelheit und Feuchtigkeit schwappten über sie hinweg und 16 hüllten sie ein, und das kalte Gefängnis der Steinmauern riss sie auf die Erde zurück. Licht stach ihr in die Augen. Sie schloss sie. Eine warme Hand berührte sie an der Schulter, und sie hörte erneut Bruder Fortunatus sprechen, auch wenn seine Stimme irgendwie stockend klang. »Schwester Rosvita! Mögen Gott Barmherzigkeit haben. Könnt Ihr sprechen?« Mit einiger Mühe setzte sie sich auf und öffnete die Augen. Ihre Gelenke schmerzten. Die Kälte des Kerkers hatte sich bis in ihre Knochen gefressen. »Ich bitte Euch«, sagte sie heiser, »schafft das Licht weg. Es ist zu hell.« Erst als das Licht ein Stück zur Seite gerückt war, konnte sie Fortunatus' Gesicht erkennen. Er weinte. Augenblicklich setzte ihr Verstand wieder ein. »Wie lange bin ich schon hier? Ohne Sonnenlicht kann ich das
Verstreichen der Tage nicht verfolgen. Und ich habe auch noch nie einen Wachwechsel gehört.« Er schluckte die Tränen hinunter. »Drei Monate, Schwester.« Drei Monate! Angst und Entsetzen überwältigten sie, und Übelkeit stieg in ihr hoch. Aber ihr Magen war leer, und sie wagte es nicht, jetzt einer Schwäche nachzugeben. Einzig ihre Willenskraft hatte sie all die endlosen Tage bei Verstand gehalten, die seit jener schrecklichen Nacht vergangen waren, da sie die Stimme eines Daemons aus Henrys Mund vernommen hatte. »Was ist mit König Henry? Mit Königin Adelheid? Hat sie denn gar nicht nach mir gefragt? Hat niemand zu meinen Gunsten gesprochen oder sich erkundigt, was aus mir geworden ist? Gott im Himmel, Bruder, was ich gesehen habe -« »Schwester Rosvita«, unterbrach er sie scharf, »ich fürchte, die lange Zeit im Kerker hat Euch etwas wirr im Kopf werden lassen. Ich bringe Euch mit Eigelb gewürzten Haferbrei, um Euer Blut zu kräftigen, und geröstete Quitten für Eure Lunge.« Sie waren nicht allein. Der Mann, der die Lampe hielt, war Petrus, ein Presbyter vom Hofe der Skopos - und Hughs Bewunderer und Verbündeter. Was sie zu sagen hatte, konnte sie vor ihm nicht 17 sagen, denn sie wollte Bruder Fortunatus nicht hineinziehen, genauso wenig wie die Mädchen - Heriburg, Ruoda, Gerwita - und die übrigen getreuen Geistlichen. Wenn sie sich selbst schon nicht schützen konnte, dann die anderen erst recht nicht. Der Rang ihres Vaters und ihre eigene Bekanntheit gewährten ihr einen gewissen Schutz - möglicherweise war dies sogar der einzige Grund, weshalb sie noch nicht tot war. Sie bezweifelte, dass Fortunatus und die anderen ebenfalls auf eine solch geringe Gnade hoffen könnten, wie es die Gefangenschaft in einer Zelle unterhalb des Palastes der Skopos darstellte. Fortunatus sprach weiter. »Schwester Ruoda und Schwester Heriburg bringen Euch jeden Tag etwas Suppe und Brot, gleich nach der Sext, auch wenn ich nicht weiß, wann Ihr es erhaltet.« Er musterte sie mit dem Ausdruck größter Besorgnis, während sie sich zum Grund der Schüssel vorarbeitete. Sie war sehr hungrig, und sie vermutete, dass sie entsetzlich stank, denn nie erhielt sie Wasser, um sich waschen zu können. Aber auf Fortunatus' schmalem Gesicht zeigte sich keinerlei Ekel. Er sah vielmehr so aus, als würde er gleich wieder zu weinen beginnen. »Ihr habt auch nicht gut gegessen, Bruder. Seid Ihr krank gewesen?« »Nur besorgt, Schwester. In jener Nacht habt Ihr geschlafwandelt, wie Ihr es häufig tut, und seid nicht zurückgekehrt. Leider hat es nicht lange gedauert, bis wir herausfanden, wohin Ihr in Eurem Delirium gegangen seid.« Er lächelte und nickte, als versuchte er, eine einfältige Frau zu beruhigen, doch in seinen zusammengekniffenen Augen und dem zuckenden Mund entdeckte sie eine andere Botschaft. »Drei Monate«, wiederholte sie, kaum in der Lage, es zu glauben. In dieser Zeit hatte sie meditiert und gebetet und geschlafen, in dem Wissen, dass alles, was sie durch die Hand der Menschen erlitt, nur eine Prüfung ihres unerschütterlichen Glaubens an Gott war. Doch wer hatte sie belogen? Hugh? Oder die Kirchenmütter? Sie konnte den letzten, schrecklichen Traum nicht aus ihren Gedanken verbannen. »Wahrlich, viele Wochen sind vergangen«, fuhr Fortunatus 18 freundlich fort. »König Henry ist mit seinem Heer nach Süden geritten, um gegen die rebellischen Lords, die arethusanischen Eindringlinge und die jinnischen Banditen im südlichen Aosta zu kämpfen. Königin Adelheid und ihre Berater begleiten ihn. Da ich den König also nicht aufsuchen konnte, habe ich die Skopos um eine Audienz gebeten. Nach acht Wochen geduldigen Wartens wie Ihr wisst, lastet das Wohl der Welt und des Himmels auf ihr -wurde ich zu ihr gelassen. Das war vor zwei Tagen, am Festtag der heiligen Callista. Sie hat sich zwar geweigert, Euch freizulassen, sich aber damit einverstanden erklärt, dass Ihr jeden Tag zwischen der Sext und der None im Flur Eure Andachten abhalten könnt. Ihre Großzügigkeit ist grenzenlos!« Es war bewundernswert, wie es ihm gelang, die Stimme ruhig und frei von jedem Sarkasmus zu halten. Die Schrecknisse ihrer Haft, die angespannte geistige Konzentration, mit der sie sich den Gebeten gewidmet hatte, um der vollständigen Verzweiflung zu entgehen, wurden etwas gemildert, als sie ihn hörte und seine Hand drückte. »Die Heilige Mutter hat mir auch die Erlaubnis gegeben, jeden Himmelstag mit Euch zu beten. Ich bin also gekommen, um Euch jene Dinge zu bringen, die man mir gestattete, sowie eine Decke. Solange ich die Erlaubnis habe, werde ich jeden Himmelstag kommen und mit Euch beten.« »Dann haben wir also fast den ersten Tag des Dezial. Die Dunkelheit der Sonne.« Tatsachen waren das Seil, an dem sie sich in einem Sturm auf See festklammern konnte. Die Ironie, dass sie hier im Kerker festgehalten wurde, während oben die guten Menschen von Darre in dieser längsten Nacht des Jahres den Festtag von St. Peter dem Schüler feierten, erheiterte sie beinahe. »Möchte die Heilige Mutter mich für immer in dieser Zelle einsperren?« »Sofern Euch der Feind dazu veranlasst hat, im Schlaf zu schlafwandeln, Schwester, müsst Ihr von den anderen fern gehalten werden, um sie nicht anzustecken. Eine Wache wird Euch jeden Tag zu Euren Andachten begleiten, und sie wird sowohl taub als auch stumm sein.«
Sie senkte den Kopf. »So sei es.« 19 Sie würden niemals allein sein, und selbst, wenn sie es glaubten, würde Anne sie noch immer mit ihrer Magie belauschen. Sie konnte nicht mehr frei mit ihm sprechen, und er nicht mit ihr. Hugh wusste, dass sie gesehen hatte, wie der König von einem Daemon verzaubert und Helmut Villam mittels unterschwelliger Magie durch Hughs Hand getötet worden war. Und doch hatte Hugh sie nicht töten lassen. Sie war krank, sie war hungrig, und sie war gefangen in der Dunkelheit dieses Kerkers unterhalb des heiligen Palastes, aber bei Gott, sie war noch nicht tot. »Lasst uns also beten, Bruder, wie wir jeden Himmelstag zu beten pflegen, wenn Gott es zulassen.« Sie kniete nieder. Das Stroh unter ihren Knien fühlte sich weich an, und an die Flöhe und das ewige Geraschel der Ratten hatte sie sich längst gewöhnt. Gewiss, ihre Glieder waren unsicher, und ihre Stimme zitterte, und sie musste ihr Gewicht verlagern, weil die Lampe sie zu sehr blendete, doch ihren Verstand hatte sie noch nicht verloren. Und mit Gottes Hilfe würde sie ihn auch nie verlieren. Als Fortunatus mit der Vesper begann, wusste sie endlich, welche Tageszeit es war, denn es handelte sich um das Abendgebet. Voller Freude klammerte sie sich an diesen kleinen Fetzen. An einer geeigneten Stelle wählte sie einen Psalm, denn zu Ehren der Heiligen, deren Festtag es war, fügte man Dank- oder Bittgebete hinzu. »Es ist gut, Gott zu danken, denn Ihre Liebe währt ewiglich. Jene, die ihren Weg in der Wildnis verloren, Fanden keinen Ort, der Obdach bot. Hungrig und durstig verloren sie jeden Mut und riefen nach Gott, und Gott retteten sie aus ihrer Not. Gott verwandeln Flüsse in Wüste und die Wüste in eine Oase, fruchtbares Land wird Ödnis 20 und die Wildnis ein Ort des Schutzes. Die Weise merkt sich diese Dinge, während sie Gottes Liebe annimmt.« Als sie geendet hatte, antwortete Fortunatus mit einem zweiten Psalm. »Gesegnet seien der Herr und die Herrin, die uns dem Bau der Skorpione entrissen. Wie ein Vogel sind wir der Schlinge des Vogelfängers entkommen. Die Schlinge ist zerbrochen, und wir sind geflohen. Gesegnet seien Gott, die zusammen Himmel und Erde erschaffen haben.« Schon allzu bald musste er sie verlassen. Er gab ihr einen Handkuss, so wie ein Diener seinem Herrn, weinte erneut und versprach, in der nächsten Woche wiederzukommen. Es war schwer, ihn und das Licht weggehen zu sehen. Es war eine Qual, zu hören, wie die Tür wieder ins Schloss fiel, die Schritte sich entfernten. Fortunatus mochte in einer Woche wiederkommen, wie er es versprochen hatte, oder auch gar nicht mehr. Sie könnte einen Monat hier hausen oder zehn Jahre. Sie könnte hier sterben, an Hunger, an Lungenfieber, an Verzweiflung oder aufgefressen von den Ratten. Es war schwer, bei all der Schwärze, die Hugh über sie verhängt hatte, die Hoffnung nicht zu verlieren. Aber sie hatte die verheißungsvolle Botschaft gehört, die sich in dem Gebet verbarg, das Fortunatus ausgewählt hatte: Wie ein Vogel sind wir der Schlinge des Vogelfängers entkommen. Der Adler des Königs, Hathui, war entkommen und nach Norden geflohen, um Gerechtigkeit zu suchen. Teil Eins Adlersicht I Der Hieb einer Axt
1 Die Luft roch nach Regen und war schwer und für diese Jahreszeit auch ungewöhnlich warm. Der Wind kam von Osten und führte die verschiedenen Gerüche des Dorfes mit sich: den nach Holzrauch und übervollen Aborten und den Gestank der Innereien der fünf am Nachmittag geschlachteten Schweine. Noch am Tag zuvor hatte sich Hanna mit der Kohorte von Löwen und verschiedenen Fußsoldaten durch Schneewehen gekämpft. Jetzt war es mild genug, dass man die Handschuhe wegstecken und die Umhänge ablegen konnte, während man frisch gebratenes Schweinefleisch und kalten Haferbrei aß und von dem Bitterbier trank, das aus der
Speisekammer des Dorfes stammte. Und doch vermochten weder das Essen noch die vertrauten Gerüche des wendischen Landes ihr irgendwelchen Trost zu spenden. Im Osten befand sich das Ziel ihres Hasses, lebte noch immer, aß noch immer. Ihre unterdrückte Wut war wie eine Wunde, die jeden Tag neu aufgerissen wurde. »Komm schon, Hanna«, sagte Ingo. »Du isst nicht genug. Wenn dieses Schweinefleisch dich schon nicht in Versuchung führt, kann ich sicher ein paar Würmer ausgraben.« Sie aß gehorsam; sie wusste, dass ihre Mutter ihr bittere Vor25 würfe gemacht hätte wegen der unvorstellbaren Sünde, die darin lag, dargebotenes Fleisch zurückzuweisen. Ihr Herz aber blieb taub. Hass hatte sich in ihren Eingeweiden festgefressen, und sie konnte ihn nicht mehr abschütteln. »Oh, Herrin«, rief Folquin. »Jetzt machst du wieder dieses Gesicht. Ich habe dir doch gesagt, ich würde ihn für dich töten. Ich hätte mich in sein Zelt schleichen und ihm einen Stich ins Herz versetzen können, als er schlief.« Als sie die Gefangene der Qumaner gewesen war, hatte sie monatelang keine Träne vergossen. Jetzt brachte auch der kleinste Anlass sie zum Weinen - ein angestoßener Zeh, das Kichern eines Kindes, die Hilflosigkeit im Gesicht eines Freundes. »Ich kann nicht glauben, dass Prinz Sanglant ihn am Leben gelassen hat«, sagte sie heiser. »Er hätte ihn hängen müssen!« »Das hat Prinzessin Sapientia auch gesagt«, bemerkte Leo, »und ich bin sicher, dass sie es nach wie vor sagt, was immer ihr das auch bringen mag.« »Alles Mögliche kann passiert sein, seit wir das Heer verlassen haben«, schaltete sich Stephen ruhig ein. »Prinz Sanglant hat vielleicht seine Meinung geändert, was die Frage betrifft, ob Bulkezu getötet werden soll. Wenn das Heer erst einmal Handelburg erreicht, stimmt die Bischöfin vielleicht Prinzessin Sapientia zu und verlangt seine Hinrichtung. Prinzessin Sapientia ist schließlich die rechtmäßige Erbin, oder nicht? Prinz Sanglant ist nur ein Bastard, und auch wenn er älter ist als sie, muss er doch tun, was sie sagt?« Ingo blickte sich um, um sicherzugehen, dass außer den fünfen niemand in der Nähe war und zuhören konnte. Andere Feuer brannten auf der Wiese und schickten ihren Rauch gen Himmel, jedes von ihnen umgeben von Soldaten, die im grauen Dämmerlicht des Herbstes ihre Mahlzeit zu sich nahmen und sich unterhielten. Aber es marschierten eindeutig weniger Löwen zurück nach Wendar, als vor einem Jahr in Richtung Osten aufgebrochen waren. »Du hast noch nicht begriffen, wie die Welt funktioniert, Junge. Prinzessin Sapientia kann nicht herrschen, wenn ihr niemand folgt.« 26 »Was ist mit dem Gesetz Gottes?«, fragte Stephen. Ingo setzte ein weltverdrossenes Grinsen auf, wie er es immer tat, wenn er mit dem jüngsten und unbedarftesten Mitglied der Löwen sprach. »Wer über das Heer herrscht, herrscht auch über alles andere.« »Still jetzt«, sagte Leo. Hauptmann Thiadbold kam quer über die völlig abgeweidete Wiese zu ihnen, und vertrocknetes Gras knisterte unter seinen Füßen. Hinter der Lichtung reckten sich Bäume empor, die vorderste Reihe des Thurin-Waldes. Ingo erhob sich, als Thiadbold im Schein des Feuers stehen blieb. »Hauptmann. Ist alles ruhig?« »So ruhig, wie es nur sein kann. Ich dachte schon, das Gezeter dieser Dorfbewohner würde nie aufhören. Man könnte meinen, sie wären Schweine, die zur Schlachtbank geführt werden. Sie haben vergessen, dass sie das Heer des Königs ernähren müssen, wenn sie seinen Schutz wollen.« Thiadbold strich sich die roten Haare zurück und sah Hanna an. »Ich habe mich mit den Ältesten unterhalten, als sie sich endlich beruhigt hatten. Es sieht so aus, als wäre gestern ein Adler hier durchgekommen. Prinzessin Theophanu ist nicht mehr in Quedlingham. Sie ist mit ihrer Gefolgschaft nach Gent geritten.« Manchmal fiel es ihr schwer, sich daran zu erinnern, dass das Leben auf der Welt weiterging, während sie selbst in Erstarrung verfallen zu sein schien. Als sie nichts sagte, sprach Ingo an ihrer Stelle. »Werden wir auch nach Gent gehen?« »Quedlingham liegt näher«, wandte Hanna müde ein. »Wenn wir Richtung Norden nach Gent gehen, brauchen wir mindestens weitere zehn Tage.« Thiadbold runzelte die Stirn, musterte sie noch immer. »Prinz Sanglant hat uns aufgetragen, die Botschaft und die Löwen seiner Schwester - und niemandem sonst - persönlich zu übergeben. Es bleibt uns also gar nichts anderes übrig, als Prinzessin Theophanu zu folgen.« Die anderen murmelten ihre Zustimmung, aber Hanna, die sich 27 an ihren Schwur erinnerte, berührte den Smaragdring an ihrem Finger, den König Henry selbst ihr als Belohnung für ihre Treue geschenkt hatte. Pflichtgefühl und Loyalität waren das Einzige, das sie so lange am Leben gehalten hatte. »Das hat Prinz Sanglant gesagt, aber womit dienen wir dem König am besten? König Henry muss erfahren, was in seinem Königreich vor sich geht. Seine Schwester herrscht über das Kloster von Quedlingham. Wir können uns ohne jede Schande an Mutter Scholastika wenden. Sie wird wissen, was zu tun ist.« »Wenn Prinz Sanglant wollte, dass wir seine Botschaft Mutter Scholastika übergeben, hätte er uns zu ihr geschickt. Ich habe den Eindruck, als wären seine Botschaft und die Löwen eindeutig für Theophanu bestimmt.« »Nicht für Henry?« Sie erhob sich und zuckte zusammen, als ein übler Schmerz in ihrer Hüfte aufflammte; die
Verletzung, die sie sich vierzehn Tage zuvor bei einem schweren Sturz während der Schlacht an der Veser zugezogen hatte, war noch immer nicht verheilt. Der Schmerz überflutete sie regelrecht, aber sie musste weitermachen. »Gilt deine Loyalität dem König oder seinem Bastardsohn?« »Hanna!« Folquins leise Ermahnung kam etwas zu spät. Thiadbold musterte sie, den Mund noch immer nachdenklich verzogen. Sie mochte Thiadbold mehr als die meisten anderen; er war ein guter Hauptmann, gelassen und klug und in der Schlacht unerschütterlich. Die unter seinem Befehl stehenden Löwen vertrauten ihm, und Prinz Sanglant hatte ihn sogar zu seinen Beratungen hinzugezogen. »Verzeih, wenn ich das sage«, erklärte er schließlich, »aber die Ketten, die dich am stärksten niederdrücken, sind diejenigen, die du aus freiem, störrischem Willen trägst. Es ist unsinnig, Steine im Sack mit sich herumzuschleppen, für die man keine Verwendung hat.« »Ich wäre dir dankbar, Hauptmann, wenn du mich meinen eigenen Weg in Frieden gehen lassen würdest. Du hast nicht gesehen, was ich gesehen habe.« »Nein, das habe ich nicht, und ich wünsche auch niemandem, zu sehen, was du gesehen hast, oder etwas davon zu erleiden, aber -« 28 Sie humpelte davon, unwillig, weiter zuzuhören. Er fluchte und lief hinter ihr her. »Also gut, schließen wir Waffenstillstand«, sagte er, als er sie eingeholt hatte. »Ich werde nicht mehr davon anfangen, aber ich muss dich warnen -« »Ich bitte dich, tu es nicht.« Er hob die Arme, als wollte er sich ergeben, und seine Lippen verzogen sich zu einer Art Lächeln. Dahinter verbargen sich jedoch unausgesprochene Worte und ein Aufwallen verschiedener Gefühle. In ihrem Innern flackerte etwas auf, ungebeten und unerwartet. Sie musste zugeben, dass er mit seinen breiten Schultern und den dichten roten Haaren ausnehmend gut aussah. War sein Interesse an ihr während der letzten zwei Wochen - seit der Schlacht und seit Prinz Sanglant sie vom Hauptteil des Heeres weg und auf die Suche nach Theophanu geschickt hatte - möglicherweise mehr als einfach nur kameradschaftlicher Natur? Machte er ihr, wenn auch zurückhaltend, den Hof? Und fand sie ihn denn anziehend? Aber allein die Tatsache, derart an einen Mann zu denken, erinnerte sie an Bulkezu, und Wut und Hass schwappten in einer riesigen Woge über sie hinweg und ernüchterten sie. Vielleicht war Bulkezu an der Wunde im Gesicht gestorben, die er sich bei der Schlacht an der Veser zugezogen hatte. Vielleicht hatte sie zu eitern begonnen und ihm eine Blutvergiftung beschert. Aber ihre Adlersicht sagte ihr etwas anderes. Sie blieb am Waldrand bei einem Holzstapel stehen, direkt unter den ausladenden Ästen einer Eiche. Eicheln rutschten unter ihren Füßen weg. Die Löwen hatten bereits den größten Teil des Holzes gehackt und zu den Feuerstellen geschafft, aber ein paar Holzstücke waren noch da. Thiadbold verschränkte die Arme; er sah Hanna nicht direkt an und sagte nichts. Es war noch hell genug, um seine alte Verletzung erkennen zu können - die weiße Narbe, die sich an Stelle des sauber abgetrennten Ohrläppchens kräuselte. An seinem Kinn befand sich eine neue Narbe, die er sich bei der Schlacht an der Veser zugezogen hatte. Oh, Gott, so viele Menschen waren durch die Hand Bulkezus gestorben. 29 Sie rollte ein Stück Holz zwischen ein paar Steine, packte die Axt und begann, draufloszuhacken. Doch so heftig sie auch zuschlug, die Schläge vermochten die Wut und den Kummer nicht aus ihr zu vertreiben. Der Wind wurde stärker, und es begann, heftig zu regnen. Soldaten hasteten in den Schutz ihrer Zelte. Sie zog sich unter das Laubdach der Eiche zurück. Draußen auf der freien Fläche flackerten die Flammen im stürmischen Wind. Eine der Feuerstellen erlosch augenblicklich, ertränkt vom Regen, und auch die anderen etwa ein Dutzend gingen nach und nach aus. In der Ferne flackerte ein Blitz am Himmel, und wenige Herzschläge später erschütterte das Krachen des Donners die Erde. »Das Gewitter hat sich schnell genähert«, bemerkte Thiadbold. »Gewöhnlich hörst du es kommen.« »Ich habe es gespürt. Die Männer hätten eher Schutz suchen sollen.« »Was wir alle tun müssen. Prinz Sanglant ist jemand, der einen bevorstehenden Kampf spüren kann, bevor wir anderen auch nur richtig begreifen, was da gegen uns im Anmarsch ist. Er ist in dieser Beziehung wie ein Hund, der die Gefahr hört und riecht, ehe ein gewöhnlicher Mann merkt, dass irgendetwas zuschlagen will. Wenn er sich jetzt um das Königreich sorgt, wenn er befürchtet, dass sein Vater nicht zuhören wird, während Wendar von schwarzer Magie bedroht ist, traue ich seinem Instinkt.« »Seinem Instinkt oder seinem Ehrgeiz?« »Glaubst du, das ist es? Glaubst du wirklich, dass all sein Gerede von Magie und einer Verschwörung nur dazu dient, seine Eitelkeit und seine Gier zu bemänteln ? Dass er nichts weiter ist als ein Rebell, nur auf Ruhm und seinen eigenen Vorteil bedacht?« »Hat es die großen Edelleute gekümmert, als das gewöhnliche Volk von den Qumanern ermordet und versklavt worden ist? Wie viele sind den Bauern zu Hilfe gekommen? Sie haben nur daran gedacht, sich selbst und ihre Schätze zu retten, sich ihren eigenen armseligen Streitereien zu widmen. Sie haben ihr Volk den brutalen Ungeheuern überlassen.« »Das mag sein. Ich gehöre sicher nicht zu denen, die Leute wie
30 Lord Wichmann verteidigen, auch wenn es Gottes Wille war, dass er als Sohn einer Herzogin geboren wurde und über uns beiden steht. Manche behaupten, dass die Qumaner eine Strafe sind, die Gott den Boshaften geschickt haben.« »Es waren unschuldige Kinder!« »Die jetzt Märtyrer sind, jedes einzelne von ihnen. Doch wer kann sagen, wen Gott begünstigen? Am Ende war es Prinz Sanglant, der die Qumaner besiegt hat.« Sie hatte keine Antwort darauf, schäumte aber vor Wut, während der Regen weiter auf den Boden prasselte. Durchnässt und zitternd schlang sie die Arme um sich. Ein Windstoß schüttelte die Bäume, und erneut krachte ein Donnerschlag. Zweige brachen, wurden vom Wind abgerissen und prallten eine Steinwurflänge entfernt zu Boden. Auf der Wiese riss sich ein Zelt von einigen der Haken los, die in den Boden getrieben worden waren, und die armen Soldaten, die sich darunter gekauert hatten, waren dem Regen plötzlich schutzlos ausgeliefert. Sie sah drei verwundete Männer, deren Bewegungsfähigkeit immer noch stark eingeschränkt war; dem einen fehlte eine Hand, ein anderer hatte ein gebrochenes und geschientes Bein, der dritte trug beide Arme in Schlingen, um seine verletzten Schultern zu schonen. Der Zeltstoff flatterte wie ein großer Flügel, als der Wind versuchte, ihn auch noch von den restlichen Haken loszureißen. Thiadbold fluchte lachend, dann rannte er mitten in den Sturm hinaus. Einen Augenblick lang stand sie einfach nur im Wind und Regen da, starrte ihm träge hinterher. Dann brach wie zur Warnung ein Zweig über ihr, und Blätter regneten auf sie herab. Sie eilte hinter Thiadbold her, und gemeinsam mit einigen verspätet herbeilaufenden Löwen gelang es ihnen, das Zelt wieder festzumachen. Die verletzten Kameraden machten derweil Witze, denn Humor war das Einzige, was ihnen in ihrer hilflosen Lage geblieben war. Schließlich bestand Thiadbold darauf, dass sie zum Dorf ging und als Adler um einen Platz an einem Herdfeuer ersuchte. Dort trocknete sie ihre Kleider und schlief einigermaßen behaglich auf einem Schaffell, das nahe beim Herdfeuer auf einem leicht erhöh31 ten Podest ausgebreitet worden war. Sie wachte gelegentlich auf, weil sie husten musste oder den Schmerz in ihrer Hüfte so eindringlich spürte, als würde sich unaufhörlich ein Messer tief in ihr Gelenk bohren. Würde der Schmerz denn nie aufhören ? Am nächsten Tag suchten sie einen Dorfbewohner - einen schlaksigen Jugendlichen - aus, der Mutter Scholastika eine Nachricht überbringen sollte. Niemand von ihnen, keiner der Löwen und schon gar keiner der Dorfbewohner, konnte schreiben, und so musste der Junge erst noch angeleitet werden, ehe Hanna sicher war, dass er die Worte auswendig gelernt hatte und sie auch wiederholen konnte, wenn es so weit war. Er hatte eine rasche Auffassungsgabe und war eifrig, lernte die Nachricht gründlich auswendig, obwohl sie schließlich ein ganzes Heer von Zuschauern verjagen mussten, die ihn in dem Bemühen, hilfreich zu sein, immer wieder unterbrachen. »Ich wäre auch gern ein Adler, wenn ich könnte«, gestand er, wobei er sich mit einem raschen Blick vergewisserte, dass sein Vater nicht zuhörte. Der alte Mann beklagte sich gerade bei Thiad-bold, dass er die ganze Woche, die der Junge benötigen würde, um nach Quedlingham und zurück zu marschieren, auf seine Arbeitskraft verzichten musste - und das ausgerechnet zu der Jahreszeit, da die Felder gepflügt, die Eicheln für die Schweine von den Bäumen geschüttelt und Stämme gespalten werden mussten. »Es muss ein gutes Leben sein, als Adler dem König zu dienen.« »Wenn man nichts gegen Tod und Elend hat.« Der Junge blickte verwirrt drein, dann verletzt, und ein Anflug von schlechtem Gewissen veranlasste sie, die Schultern zu zucken. Sie hasste es, wie seine Miene sich voller Hoffnung darauf, dass sie fortfuhr, aufhellte. »Es ist ein schweres Leben. Ich habe Dinge gesehen, die so schlimm waren, dass ich nicht darüber sprechen kann ...« Da sie auch jetzt nicht weitersprechen konnte, stand sie einfach nur auf, kämpfte gegen den Schmerz in ihrer Hüfte an, während ihr Tränen in die Augen stiegen. Aber er war genauso jung und dumm, wie sie es einst gewesen war. 32 »Mir würde es nichts ausmachen«, sagte er und folgte ihr zur Tür des kleinen, aber sauberen Bauernhauses. »Ich habe keine Angst vor der Kälte oder Räubern. Ich habe ein gutes Gedächtnis. Ich kenne sämtliche Psalmen auswendig. Alle sagen, dass ich schnell bin. Die Diakonissin, die am Herrintag kommt und die Messe hält, bittet mich immer, den Gesang anzuführen. Aber ... ich kann nicht auf einem Pferd reiten. Auf einem Esel habe ich schon häufig gesessen, deshalb glaube ich, dass ich schnell lernen würde, auf einem Pferd zu reiten.« Sie wischte sich die Tränen von den Wangen und drehte sich zu ihm um, musterte seine von der Arbeit narbigen Hände und das durchschnittliche, aber gutherzige Gesicht, das sie an den armen Manfred erinnerte, der bei Gent getötet worden war. Sie hatte Manfreds Adlerbrosche gerettet, die Bulkezu ihr an dem Tag, als die Qumaner sie gefangen genommen hatten, vom Umhang gerissen hatte. Sie hatte sich mit aller Kraft an die Messingbrosche und den Smaragdring geklammert, den Henry ihr gegeben hatte. Zusammen mit ihrem Eid als Adler waren es diese Dinge gewesen, die ihr geholfen hatten zu überleben. Der Junge wirkte noch so jung, und doch war er vermutlich nicht viel jünger als sie damals, als Wulfhere ihre Mutter gefragt hatte, ob es ihr Wunsch sei, dass ihre Tochter in den Dienst des Königs trete. In unruhigen Zeiten, so hatte Wulfhere gesagt, herrsche immer Bedarf an geeigneten jungen Menschen, die Botschaften für die
königliche Familie überbrachten. »Ist es wirklich dein Wunsch, als Adler zu dienen?«, fragte sie schließlich. Das erstickte Luftschnappen des Jungen und das krampfartige Zucken seiner Schultern waren Antwort genug. Sogar der Vater schwieg, als ihn die Bedeutung ihrer Frage mit ganzer Wucht traf. Seine jüngere Schwester, die nicht mit den übrigen herumlungernden Dorfbewohnern verjagt worden war, brach in Tränen aus. »Ja«, flüsterte der Junge; mehr brachte er nicht heraus, denn seine Schwester stürzte sich auf ihn und begann zu jammern. »Ernst! Mein Sohn ... ein Adler des Königs!« Die Stimme des Vaters klang mürrisch, und Hanna hatte den Eindruck, dass er kurz 33 vor einem Wutausbruch stand. Aber der eigene Hass hatte ihre Wahrnehmung vernebelt. Überwältigt von Gefühlen und seine Klagen ganz und gar vergessend, kniete der alte Mann auf dem Boden seines Hauses nieder, da seine Beine ihm den Dienst versagten. Tränen strömten ihm übers Gesicht. »Für ein Kind dieses Dorfes ist es eine große Ehre, in den Dienst des Königs berufen zu werden.« So geschah es also, und erst jetzt kam es Hanna in den Sinn, dass sie die Autorität hatte, einen jungen Menschen so einfach zu einem Adler zu ernennen. Aber hatte Bulkezu ihr nicht die schreckliche Macht gezeigt, die jemand besaß, der darüber entschied, wer leben durfte und wer sterben musste, wer leiden sollte und wer nicht? »Wenn du dir das Recht erwerben willst, den Eid der Adler zu sprechen, musst du Mutter Scholastika diese Nachricht überbringen und mit ihrer Antwort zu mir zurückkehren; du wirst mich bei Prinzessin Theophanu finden. Wenn du das schaffst, hast du dich als würdig erwiesen, zum Adler ausgebildet zu werden.« Sie löste ihre Schnalle und nahm den Umhang ab. »Noch hast du dir das Abzeichen der Adler nicht verdient, und es wird auch nicht leicht sein, das zu tun. Aber du kannst diesen Umhang als Zeichen deiner Ausbildung tragen. Er wird dir eine sichere Reise gewähren.« Sie drehte sich um und sah Thiadbold an, der schweigend zugeschaut hatte. »Gib dem Jungen das braune Pony. Er kann es während der Reise pflegen, und vielleicht gibt ihm Mutter Scholastika ja ein besseres Pferd, wenn er von Quedlingham wieder aufbricht.« Die Familie des Jungen weinte, aber er selbst schien nur traurig darüber zu sein, die Schwester verlassen zu müssen. Die Kompanie Löwen marschierte am späten Morgen unter einem aufklarenden Himmel los; der Regen vom Vortag glänzte noch auf den Bäumen und den Brennnesseln, die dort am Wegesrand wuchsen, wo das Blattwerk gestutzt worden war. Hanna und die Löwen wandten sich nach Norden, in Richtung Gent. Der Junge verschwand schon bald hinter einer Biegung auf seinem Weg gen Westen nach Quedlingham, am nördlichen Rand des Thurin-Waldes entlang. Doch noch eine Ewigkeit, so kam es ihr vor, konnte sie den armen, arglosen Kerl fröhlich singen hören, während er seinem neuen Leben entgegenritt. 34 2 »Hanna? Hanna!« Noch halb benommen erkannte sie Folquins Stimme, spürte seine starke Hand an ihrem Ellbogen, die sie zu stützen versuchte. Sie war wieder auf ihrem Pferd eingeschlafen und vornübergesackt. Panisch begann sie, die auswendig gelernte Botschaft des Prinzen vor sich hin zu murmeln, vor lauter Angst, sie könnte verschwunden, ein Opfer ihrer Albträume geworden sein. Aber als er ihr half, sich aufzurichten, riss ein stechender Schmerz in der Hüfte sie aus ihren Gedanken. Tränen verschleierten ihren Blick. Sie blinzelte sie beiseite, um sich schließlich das anzusehen, was die Aufmerksamkeit ihrer Kameraden erregt hatte. Nach vielen Tagen miserablen Wetters mit ständigem Regen hatten sie einen Steilabbruch am Rand eines gebirgigen Gebietes erreicht; von dort aus hatte man gute Sicht nach Norden in das Flusstal hinunter. Ein breiter Fluss schlängelte sich durch Weideland und herbstliche Felder, und mit schmerzhafter Klarheit erkannte sie, wo sie sich befanden. In diesen Roggenfeldern war sie mit Manfred, Wulfhere, Liath und Hathui von den Aikha und deren Hunden angegriffen worden, als sie auf dem Weg nach Gent gewesen waren, um Prinz Sanglant und seine Drachen zu treffen. Hier hatte sie auch das Chaos der Schlacht erlebt, als König Henry mit seiner Armee gegen Blutherz gekämpft und Prinzessin Sapientia sich mit ihren Soldaten auf die Aikha-Schiffe am Flussufer gestürzt hatte. »Hanna?« Folquins Stimme klang scharf vor Besorgnis. »Geht es dir gut ? Du hast weder gestern Abend deinen Haferbrei aufgegessen noch heute Mittag etwas Kaltes zu dir genommen.« »Nein, es ist nichts.« Sie nieste. Jeder Atemzug erzeugte ein leises Pfeifen, wenn sie die Luft in die schmerzende Lunge sog. Doch was spielte es schon für eine Rolle, ob sie Schmerzen hatte? Ob sie zitterte, hungrig oder durstig war? Das alles zählte nicht. Es zählte nur, dass Bulkezu noch lebte. Friedlich erstreckten sich die abgeernteten Felder vor ihnen. 35 Vieh graste auf ein paar Streifen Weideland. Die rundlichen Umrisse von Schafen sprenkelten die nordwestlichen Hänge, die sich vom getreidebestandenen Flusstal hinaufzogen. Ein paar Rauchschwaden trieben von der ummauerten Stadt träge gen Himmel. Der Turm der Kathedrale und der Palast des Bürgermeisters waren aus dieser Entfernung leicht zu erkennen - sie hoben sich deutlich vor dem breiten Fluss und dem weißlich blauen Himmel ab, der an diesem Tag beinahe wolkenlos war. Flatterte da königliche Seide über dem Tor und kündete von Theophanus Anwesenheit? Der kühle Wind strich ihr übers Gesicht, und sie zitterte.
»Wir sollten schnell weiterreiten«, murmelte Leo so leise, dass sie vermutete, seine Worte waren nicht für sie bestimmt gewesen. An der westlichen Brücke wurden sie von etwa dreißig Stadtsoldaten hinter einer Mauer aus Schilden begrüßt; sie hatten für den Fall Position bezogen, dass es sich bei den herannahenden Soldaten um Plünderer oder Feinde handelte. Eine von Prinzessin Theophanus Verwalterinnen trat hinter der Schildmauer hervor, um sie zu begrüßen, während Hanna neben Thiadbold auf sie zuritt. »Ich bringe eine Nachricht von Prinz Sanglant aus dem Osten«, sagte Hanna. »Der Prinz schickt außerdem diese Löwen, um die Gefolgschaft Ihrer Hoheit zu stärken.« »Gott seien gelobt«, murmelte die Verwalterin. Sie gab einen Befehl, und die Schildmauer löste sich auf. Als die Stadtsoldaten von Gent sich wieder hinter das Tor zurückzogen, eilten sie über einen kleinen Marktplatz voller Bettler und armer Leute, die sich auf dem breiten Vorhof gleich hinter dem Schutzwall versammelt hatten. Dabei trampelten sie beinahe eine zerlumpt aussehende Frau mit einem Korb voller Kräuter nieder, ohne sich jedoch weiter darum zu kümmern, dass die Frau in den Dreck fiel. Die anderen Leute murmelten leise. Hanna lief zu der Bettlerin und half ihr auf die Beine, nur um zusätzlich zu den Schmerzen, die ihr das einbrachte, auch noch angespuckt zu werden. »Komm«, sagte Thiadbold, der neben Hanna getreten war. »Eine gute Tat gegenüber den Verängstigten bleibt niemals ungestraft.« Der Ärger der alten Frau schmolz unter seinem Lächeln 36 dahin, und sie gestattete ihm, Majoran, Fingerkraut und getrocknete Brennnesseln einzusammeln. »Es ist kein Schaden entstanden, Mutter, wenn erst alles wieder an seinem Platz ist.« Hannas Bauch fühlte sich an, als hätte ihr jemand einen Tritt versetzt. Ihr Herz hämmerte, und ihr Atem ging in kurzen Stößen. »Komm schon, Hanna«, sagte Thiadbold, während er die Zügel ihres Pferdes nahm, sodass sie wieder aufsteigen konnte. »Sie hat Angst gehabt, weiter nichts.« »Das nächste Mal machen diese Soldaten eine arme Seele zum Krüppel, ohne sich darum zu kümmern, was sie angerichtet haben. Oh, Gott.« Sie schwang ihr Bein über den Sattel, aber die Anstrengung brachte sie zum Zittern. »Ich habe immer noch Albträume von denen, die mich verflucht haben.« »Aber du hättest doch gar nichts für sie tun können. Du warst ebenso eine Gefangene wie sie. Du hast deine Pflicht als Adler getan und überlebt.« Sie konnte nichts sagen; die Worte blieben ihr im Halse stecken. »Worüber sprecht Ihr?«, fragte die Verwalterin, die hinter ihnen wartete, um sie durch die Stadt zu begleiten. »Wir haben Gerüchte gehört, über Qumaner, über die Pest, eine Dürre und sehr viel böse Zauberei. Aber wir haben nie etwas gesehen. Gerüchte sind die Sprache des Feindes. Lord Hrodik ist mit Prinz Sanglant weggeritten. Wir haben seither nichts von ihm gehört. Jeden Tag beten wir, dass wir eine Nachricht aus dem Osten erhalten.« »Alles zu seiner Zeit«, erwiderte Thiadbold mit Blick auf Hanna. Die Verwalterin seufzte schwer, dann lachte sie. Sie war klein und kräftig, blickte schlau und ungeduldig drein und hatte offensichtlich Sinn für Humor. »So lehren Gott uns Geduld! Kommt jetzt. Ihre Hoheit, Prinzessin Theophanu, wird begierig darauf sein, Neuigkeiten über ihren Bruder zu erfahren.« Sie ritten durch die Straßen von Gent, und Theophanus Soldaten machten ihnen den Weg frei. Als sie das Palastgelände betraten, schickte die Verwalterin Thiadbold und die Löwen zu den Unterkünften oberhalb der Ställe, während sie Hanna sogleich in das üppig geschmückte Zimmer führte, in dem Theophanu Hof hielt. 37 Die lebhaften Farben, die ihr dort entgegenleuchteten, machten Hanna ganz benommen: der purpurrote Teppich, die goldfarbenen seidenen Wandbehänge beiderseits des königlichen Stuhls, auf dem Theophanu Platz genommen hatte und - umgeben von einem Dutzend edler Kameradinnen in roten, blauen und grünen Gewändern - ein Schachbrett betrachtete. Vier Kohlenpfannen erwärmten das Zimmer, aber Leben und Energie erhielt es von dem Schnattern der Frauen. Die Frauen blickten Hanna erwartungsvoll an, tuschelten leise miteinander. »Aus dem Osten!« »Womöglich von Sapientia? Ich erkenne sie. Sie ist ein Adler und hat zuvor Sapientia gedient.« »Sprecht rasch, Adler!« »Ich bitte Euch, gewährt uns einen Augenblick Ruhe.« Theophanu erhob sich. Auf ihr Zeichen hin löste sich eine Dienerin aus dem Schatten, den die Seidenvorhänge warfen, nahm das Schachbrett und trug es zu einem Nebentisch. »Ihr seht ziemlich blass aus, Adler.« Sie wandte sich an die Dienerin. »Bring etwas Bier und Brot, damit sie sich stärken kann. Und Wasser, um sich Gesicht und Hände zu waschen.« Ihre Kameradinnen waren nicht so geduldig. »Wie könnt Ihr das nur aushalten? Nach all diesen Monaten!« »Nach allem, was wir erlitten haben, dem langen Warten und Bangen! Nach Conrads Unverschämtheit bei Barenberg!« »Ja!«, schrien auch andere. »Sie soll erst sprechen und dann essen.« Theophanu hatte es nicht nötig, die Stimme zu erheben, um sich Gehör zu verschaffen. »Lasst sie essen. Wir werden nicht sterben, wenn wir noch etwas warten, nicht heute. Ich bitte Euch, Adler, setzt Euch.«
Zwei Bedienstete trugen eine Bank mit einem bestickten Kissen herbei, und Hanna sank dankbar darauf nieder. Bier und feines weißes Brot wurden ebenfalls gebracht; Letzteres war so weich, dass es sich wie eine Wolke in ihrem Mund auflöste. Eine Dienerin holte einen Krug mit warmem Wasser und eine Schüssel sowie ein Tuch, wusch Hanna die Hände und das Gesicht, als wäre sie 38 eine Edelfrau. Die Frauen um Theophanu tuschelten leise miteinander, gingen auf und ab, fingerten an Schachfiguren herum; sie waren ebenfalls leise, um die Botschaft nicht zu überhören, die da überbracht werden würde. Eine dunkelhaarige Frau in einem schönen grünen Kleid schlug mit ihrem Fuß immer wieder die Ecke des Teppichs um, während Bedienstete bis weit in den Flur hinein an der geöffneten Tür standen, um ebenfalls Neuigkeiten vom Osten zu hören. Nur Theophanu zeigte keinerlei Anzeichen von Ungeduld, während sie gelassen auf ihrem Stuhl saß, so als wüsste sie bereits, was Hanna zu sagen hatte. Es war schwer, unter diesen Umständen zu essen und zu trinken; vielleicht wäre es besser gewesen, die Nachricht, die sie so viele erschöpfende Tage in ihren Gedanken bewahrt hatte, einfach rasch zu überbringen. Als sie sich schließlich erhob und vor die Prinzessin trat, hörte sie die Anwesenden tief und erwartungsvoll atmen, dann hielten alle die Luft an, und es herrschte ein durchdringendes Schweigen - als würde sich ein trotziges Kleinkind zu einem lauten Schrei bereitmachen. Hanna schloss die Augen, um sich die Nachricht in Erinnerung zu rufen. »Diese Botschaft überbringe ich von Prinz Sanglant an seine ruhmreiche, weise und geliebte Schwester Prinzessin Theophanu. Mit diesen Worten berichte ich Euch von den Ereignissen, die in Osterburg und im Osten vonstatten gegangen sind.« Sie hatte die Worte so oft im Stillen aufgesagt, dass sie jetzt umso schneller flössen, je weniger sie darüber nachdachte, welches Wort auf das andere folgte. Nicht einmal das Pfeifen ihrer Atemzüge oder ihr häufiges Husten vermochte sie abzulenken, als sie jetzt die Ereignisse der letzten zwei Jahre schilderte. König Henry hatte sie und zwei Kohorten Löwen nach Osten geschickt, um seiner Tochter zu Hilfe zu kommen. Ihre Gruppe hatte sich mit Prinzessin Sapientia und Prinz Bayan zusammengetan und schon bald einem qumanischen Heer unter dem Befehl von Bulkezu gegenübergestanden. Nur Bayans klarer Verstand hatte sie vor einer katastrophalen Niederlage bewahrt. Dabei war der schreckliche Rückzug des besiegten Heeres nach Handelburg 39 noch das Beste in diesem ganzen schlechten Jahr gewesen. Als sie Handelburg erreichten, war es sogar noch schlimmer gekommen, denn Bischöfin Alberada hatte Prinz Ekkehard als Ketzer verurteilt. Sapientias Eifersucht hatte sich auf Hanna gerichtet und dazu geführt, dass sie mit Ekkehard und den anderen exkommunizierten Ketzern mitten im unbarmherzigen Winter wegreiten musste. Es war besser, nicht daran zu denken, was als Nächstes geschehen war, sofern sie in der Lage war, die Worte zu sprechen, ohne zu hören, was sie sagte. Es war besser, nicht an das Eindringen der Qumaner in die Marklande und den östlichen Teil Wendars zu denken, nicht daran, wie sie selbst sich schließlich in deren Netz verfangen hatte. Es war besser, nicht an die Zerstörung und Vernichtung zu denken, die Bulkezu über jene armen, unglücklichen Seelen gebracht hatte, die einfach nur zufällig dort gewesen waren, wo er sein Heer entlanggeführt hatte. Von Pest und Elend waren sie heimgesucht worden, und erst nach einer langen Zeit des Leidens hatte sie mithilfe ihrer Adlersicht durch das Feuer einen kurzen Blick auf den Kriegsrat werfen können, der von Bayan und Sanglant geleitet wurde. War sie es gewesen, die Bulkezu geraten hatte, nach Osterburg zu reiten? Oder hatten Gott ihre Stimme geführt? Vor Osterburg in der Veser-Ebene hatte Sanglant die Qumaner geschlagen, aber Bayan war in der Schlacht getötet worden, wie so viele andere, darunter auch Edelmann Hrodik. Die Löwen hatte es besonders hart getroffen; sie verloren über ein Drittel ihrer Leute, sodass zwei stolze Kohorten zu einer einzigen zusammenschrumpften. Sie musste eine Pause machen; das Sprechen strengte sie einfach zu sehr an. Die Anwesenden standen stumm da, sprachlos vor Entsetzen angesichts dieser Litanei von Krieg und Hungersnöten, von Dürre, Pest und anderen Krankheiten, von Ketzerei und unzähligen zerstörten Dörfern und Städten. Theophanu hob die Hand in einer so lässigen Geste, als würde sie eine Fliege verscheuchen. »Das alles ist mir nicht unbekannt«, sagte sie mit einer Spur Sarkasmus in der Stimme, obwohl nicht die geringste Regung in ihrem glatten, schönen Gesicht zu erkennen war. »Wir sind uns das letzte Mal bei Barenberg begegnet, Ad40 ler, wo ich hilflos war und nicht gegen die Eindringlinge kämpfen konnte, sodass mir keine andere Möglichkeit blieb, als sie vorübergehend durch Bestechung fern zu halten. Ich bin froh, dass Ihr Eure Gefangenschaft überlebt habt.« Jetzt sah Hanna die Prinzessin richtig an, schaute in ihre dunklen Augen mit dem festen Blick, musterte den entschlossenen Mund, der Ausdruck einer Persönlichkeit war, die sich nicht gleich nach jedem Wind richtete. »Das ist nicht alles, Eure Hoheit. In der Tat ist dies nur der geringste Teil, wie Euer Bruder Prinz Sanglant meint.« Theophanu besaß die Klugheit einer Kirchenfrau, auch wenn diese Klugheit manchmal von den unergründlichen Wesenszügen verdeckt wurde, die sie von ihrer aus dem Osten stammenden Mutter geerbt hatte. Sie stand auf, ehe Hanna weitersprechen konnte. »Mein Bruder spricht, glaube ich, von einer von Zauberei gelenkten
Verschwörung, die es sich zum Ziel gemacht hat, ganz Wendar zu zerstören und eine gewaltige Umwälzung über das Land zu bringen.« »So ist es.« Vor Überraschung hatte Hanna den Faden ihrer sorgfältig auswendig gelernten Worte verloren. »Wenn ich meine Gedanken einen Augenblick ordnen dürfte, Eure Hoheit...« Ein Hustenanfall schüttelte sie. Theophanu wartete, bis er vorüber war, ehe sie erneut das Wort ergriff. »Vergesst nicht, dass ich in Angenheim war, als Sanglant mit seinem Kind und seiner Mutter dort erschienen ist. Ich habe ihn sprechen gehört. Doch ich habe nichts gehört, was mich dazu gebracht hätte, Zauberei noch mehr zu fürchten, als ich es ohnehin schon tue. Mein Eindruck war, als hätte er zur Rebellion gegen unseren Vater aufgerufen, gegen den König. Vielleicht ist er nicht ganz bei Verstand. Vielleicht hat das Blut seiner Mutter ihn vergiftet -« »Oder er hat sich bei dieser Hexe, die er geheiratet hat, irgendeine Krankheit geholt«, gab eine ihrer Hofdamen zu bedenken. »Vielleicht«, erwiderte Theophanu so skeptisch, dass Hanna einen Augenblick brauchte, um zu begreifen, dass mit der »Hexe« Liath gemeint war. »Aber wenn uns eine Umwälzung bevorsteht, 41 dann sind unsere Feinde doch sicher die Verlorenen und nicht jene, die uns vor ihnen beschützen wollen. Ich kann nicht glauben, dass mein Bruder in diesem Fall weise handelt. Aber ich bin ihm dankbar, dass er mir die restlichen Löwen schickt, die im letzten Sommer nach Osten gezogen sind. Wieso ist er nicht selbst gekommen?« »Als ich aufgebrochen bin, wollte er die Leiche von Prinz Bayan nach Ungria bringen, Eure Hoheit. Von Ungria aus will er weiter nach Osten in jene Länder reiten, in denen Zauberer und Greifen zu finden sind.« »Können die Geschichten über den Osten denn wahr sein?«, fragte die Frau in dem grünen Kleid. Sie hatte sich nach vorn gedrängt, um besser hören zu können, und saß jetzt auf einem Kissen neben Theophanus Stuhl. »Wunder über Wunder. Schlangen, die Blut trinken. Einbeinige Menschen, die überall herumhüpfen. Habt Ihr so etwas in den Marklanden gesehen, Adler?« »Nein, das habe ich nicht, aber wir sind nicht einmal bis zum Königreich Ungria gekommen. Die meiste Zeit war ich in der Mark der Villams, oder in Avaria und sogar hier in Saony. Ich weiß nicht, was jenseits von Ungria liegt...« Abgesehen davon, dass sie es aus ihren Träumen wusste, denn sie hatte die kerayitische Prinzessin Sorgatani in der Wüste und in Wäldern aus Gras wandeln sehen, das höher stand als mannshoch. Sie hatte die Klauen eines lebenden Greifen an ihrer Schulter gespürt. Sie hatte die silbernen und goldenen Schuppen von Drachen berührt, die am Rand der bewohnbaren Lande zu Dünen aufgeschichtet worden waren. Sie hatte die Zelte des sagenumwobenen Bwr-Volkes gesehen, dessen Körper eine Mischung aus Mensch und Pferd darstellten. »Eine Erkundung des Ostens wird sich immer als gefährlich erweisen und könnte ihn Jahre in Beschlag nehmen, wenn er überhaupt jemals zurückkehrt«, sagte Theophanu. Eine Dienerin brachte einen silbernen Becher auf einem Holzteller, dessen Seiten so geschnitzt waren, als würde sich Efeu darum ranken. »Hier, Leoba.« Sie reichte den Becher der Edelfrau, die zu ihren Füßen saß. »Ist uns der Zugang nach Aosta verwehrt?« Leoba nahm den 42 Becher, trank aber nicht. »Wie ist es möglich, dass eine Botin von Prinz Sanglant eintrifft, nicht aber von König Henry? Wieso hören wir keine Neuigkeiten aus Aosta, wenn uns hier so viele Probleme begegnen ? Wo ist der König?« »Und wo ist dein verehrungswürdiger Ehemann?« Theophanu lächelte ihre Kameradin freundlich an. »Ich bin nicht weniger beunruhigt als du. Es kommt mir seltsam vor, dass ich drei Adler unabhängig voneinander nach Aosta geschickt habe, ohne auch nur eine einzige Nachricht von meinem Vater zu erhalten.« »Jetzt, bei Einbruch des Winters, wird niemand mehr das Alfar-Gebirge überqueren können.« Leoba war so jung und kräftig wie Theophanu, aber im Gegensatz zu deren Gelassenheit zeigte sich in ihrem Gesicht der Eifer eines Hundes, der bereit war, augenblicklich zur Jagd aufzubrechen. »Wir werden warten müssen.« Theophanu nahm den Becher und nippte daran, während ihre Hofdamen leise flüsterten. Zwischen den Fenstern, deren Läden geschlossen waren, hing ein Wandteppich, der aus solch dunklen Farben gewebt war, dass das schwache Licht der Lampen das Bild darauf kaum erhellen konnte: eine heilige Gestalt, die von Messern durchbohrt wurde. Eine Dienerin trat vor, um den Becher nachzufüllen, und die Prinzessin nippte daran, die Augen geschlossen, als würde sie über einer schwierigen Frage brüten. Sie sprach mit veränderter Stimme, so weich, dass sie um einiges gefährlicher wirkte. »Da ist etwas, das mich verwirrt, Adler. Ihr bringt mir eine Nachricht von meinem Bruder Sanglant. Ihr sprecht vom Tod von Prinz Bayan von Ungria und vielen anderen achtbaren Menschen, die in der Schlacht gegen die qumanischen Eindringlinge gefallen sind. Doch Ihr habt kein Wort über Prinzessin Sapientia verloren. Ihr habt ihr einst gedient, wie ich weiß. Was ist aus ihr geworden ?« Die Frage verblüffte Hanna, obwohl sie mit ihr hätte rechnen müssen. »Sie lebt, Eure Hoheit.« »Wo ist sie ? Wo ist ihr Heer? Wieso sind diese Löwen auf Befehl von Sanglant zu mir geschickt worden und nicht auf ihren? Ist sie verletzt? Verschwunden? Vom Heer getrennt worden?« »Nein, Eure Hoheit. Sie reitet mit Prinz Sanglant.«
43 »Wie kann es sein, dass zwar mein Bruder mir Grüße übermittelt, nicht aber meine Schwester? Ist sie nicht von Henry zur Erbin des Throns von Wendar und Varre ernannt worden?« Gehässige Worte gingen ihr leicht über die Lippen. »Prinz Sanglant befehligt das Heer, Eure Hoheit, nicht Prinzessin Sapientia.« Die Hofdamen tuschelten, und ein Stimmengewirr aus Überraschung und Vermutungen erfüllte den Raum. Nur Theophanu schien von Hannas Aussage unbeeindruckt. »Wollt Ihr damit sagen, dass er ihr genommen hat, was rechtmäßig ihr untersteht?« »Ich weiß nicht, was im Kopf von Prinzen vor sich geht, Eure Hoheit. Ich kann nur bezeugen und berichten.« »Wo befindet sich Sapientia jetzt?« »Sie reist mit Prinz Bayans Leiche nach Osten, nach Ungria.« »Hat sie dieser Reise zugestimmt, oder wurde sie dazu gezwungen?« Der ganze Ärger kochte wieder in ihr hoch. Hatte Sanglant sie nicht verraten, sie und all jene, die durch Bulkezu gelitten hatten, indem er ihn am Leben ließ ? Vielleicht war Sanglant wirklich besser zum Herrschen geeignet als Sapientia. Aber er war ein Bastard und für eine andere Position bestimmt; er hatte den Platz seiner Schwester besetzt. Er hatte Bulkezu am Leben gelassen. Sie konnte nicht länger einem Mann vertrauen, der ein Ungeheuer am Leben ließ, dessen brutales Gebaren so vielen den Tod gebracht hatte. Sapientia hätte Bulkezu aufhängen lassen. Sapientia hätte ihn nicht in der vagen Hoffnung verschont, dass er Wendar lebend vielleicht besser dienen würde als tot. Sapientias Entscheidung wäre anders ausgefallen, hätte sie sie fällen dürfen, wie es ihr Recht als Henrys ältestes rechtmäßiges Kind war. Aber sie hatte nicht die Möglichkeit dazu erhalten. »Es ist jetzt mein Heer«, hatte Sanglant nach der Schlacht bei der Veser gesagt. Er hätte ihr auch die Krone vom Kopf reißen können. Und doch hatte ihm nicht einer im Heer den Gehorsam verweigert. »Der Befehl über das Heer wurde ihr gegen ihren Willen entzogen«, sagte Hanna. Augenblicklich begannen alle durcheinander zu sprechen, und 44 Hannas Worte wurden bis zu den geringeren Höflingen und Bediensteten weitergegeben, die im Flur kauerten. »Still«, sagte Theophanu, ohne die Stimme zu heben. Nach einer Weile, in der hier und dort ein paar letzte Bemerkungen ausgetauscht wurden, kehrte Ruhe ein. Wie Sanglant verströmte auch Theophanu die Aura eines Menschen, der es gewohnt war, zu herrschen, aber sie besaß nicht seine Wärme und sein Charisma; sie hatte auch nicht gemeinsam mit einem Heer gekämpft und gelitten wie er, und in ihr erstrahlte nicht das Glück eines Herrschenden wie in ihm. »Wenn das nicht Rebellion gegen Henrys Herrschaft ist, weiß ich nicht, was es sonst sein soll. Heute können wir nichts tun. Adler, ich bitte Euch, esst und trinkt und ruht Euch diese Nacht aus. Ich werde Euch morgen noch einmal ausführlicher befragen.« Hanna glitt von der Bank und kniete nieder, sie zitterte und war viel zu müde, um noch gehen zu können. »Ich bitte Euch, Eure Hoheit, darf ich mich zu den Löwen begeben ? Ich bin lange mit ihnen gereist und vertraue ihnen.« »Einverstanden.« Mit diesem Wort war sie entlassen, und Theophanu ließ sich ihr Schachbrett kommen und widmete sich wieder ihren Vergnügungen. Hanna bewunderte ihre Fähigkeit, Haltung zu bewahren. Es gab keine großen Gefühlsausbrüche bei ihr, so sonderbar das auch in einer Familie sein mochte, die ihre Leidenschaften, ihren Hass, ihre Freude und ihre Wut in aller Öffentlichkeit auslebte. Sie war wie ein stiller Teich, unberührt von den Strömungen der Gefühle, die Hanna zusetzten. Theophanu hätte sich sicherlich nicht der Eifersucht oder dem Neid, der Begierde oder dem Stolz hingegeben. So wie andere. Eine Dienerin trat vor und half Hanna auf. Selbst das Stehen schmerzte, und wider Willen keuchte sie laut auf, und das Keuchen verwandelte sich in einen schmerzhaften Hustenanfall. »Ich bitte um Entschuldigung, Adler. Lasst mich Euch zu den Unterkünften bringen. Ihr braucht dringend etwas Huflattichtee, wie ich sehe. Seid Ihr auch verletzt?« »Ich bin vor ein paar Tagen gestürzt und auf der Hüfte gelandet.« 45 »Ich habe eine Salbe, die Euch helfen wird, wenn ich mich um Euch kümmern darf. Sie stammt von meiner Großmutter, möge sie in Frieden in der Kammer des Lichts ruhen.« Sie schritten durch die Tür, und die Bediensteten im Flur besaßen genug Anstand, zurückzutreten und die beiden hindurchzulassen, obwohl ihr leises Wispern und ihre besorgten Blicke deutlich machten, dass sie wünschten, mehr über die Unruhen zu erfahren, die die Grenzlande und die südlichen Teile des Königreichs betrafen. Um Gent mochte es jetzt ruhig sein, aber sie hatten nicht vergessen, wie sehr die Stadt vor gerade mal zwei Jahren unter der Belagerung der Aikha gelitten hatte. »Ich bin für jede Hilfe dankbar, die Ihr mir gewährt«, sagte Hanna. Eine große Last drückte mit jedem abgehackten Atemzug gegen ihre Brust. »Ist die Pest bis hierher gelangt?« »Nein, zum Glück nicht. Aber wir haben viele Geschichten aus dem Süden gehört. Es heißt, dass im Herzogtum Avaria die Pest ebenso viele Menschen getötet hat wie die Qumaner. Ich weiß nicht, ob das stimmt.« Draußen vor dem Palastgebäude blieben sie auf einer breiten Veranda stehen, und Hanna ruhte sich etwas aus,
während jeder Atemzug sie unendlich viel Mühe kostete. Solch ein kurzer Weg hätte sie nicht so ermüden dürfen, und der Schmerz in ihrer Hüfte ließ vor ihren Augen alles verschwimmen. Leichter Nieselregen nässte den Boden des Innenhofes. Die Unterkünfte lagen auf der anderen Seite der freien Fläche, die ihr jetzt unüberwindlich groß vorkam. »Ihr seid ja kreidebleich«, sagte die Dienerin. »Setzt Euch hin. Ich werde ein paar Männer schicken, die Euch hinübertragen. Ihr solltet nicht gehen.« »Nein, ist schon gut. Ich kann gehen.« Die Dienerin schüttelte den Kopf und half Hanna, sich auf die Holzbretter zu setzen. »Das ist aber nicht die Pest, oder?« »Ich hoffe nicht.« Sie lehnte sich gegen das Geländer und zitterte. Alles tat ihr weh, der Kopf, die Hüfte und die Brust. »Die Pest fängt in den Eingeweiden an, nicht in der Lunge.« Sie blickte auf, spürte eine Bewegung der anderen Frau und sah sie jetzt zum ers46 ten Mal richtig an: Sie war eine gut aussehende Frau, nicht viel älter als sie selbst, mit einer Narbe, die ihre Lippe blass erscheinen ließ, und einem strahlenden, intelligenten und teilnahmsvollen Blick. »Wie heißt Ihr? Es ist nett von Euch, so ... nett zu sein.« Die Dienerin lachte kurz auf. »Es ist so leicht, nett zu sein. Ich heiße Frederun.« Sie zögerte, und ihre Wangen erröteten. Die unerwartete Zurückhaltung und die leichte Färbung ihres Gesichts ließen sie wunderschön wirken, so wie eine jener Frauen, denen die Männer des hübschen Gesichts und des Körpers wegen nachzustellen pflegten. So wie eine jener Frauen, die Bulkezu in sein Bett geholt und später beiseite geschoben hatte. »Stimmt es, dass Ihr mit Prinz Sanglant gereist seid? Hat er sich wirklich gegen seinen Vater, den König, erhoben?« »Wieso ist das für Euch wichtig?«, platzte Hanna heraus. Doch augenblicklich bedauerte sie, dass sie Frederuns Anteilnahme mit solch scharfen Worten beantwortet hatte. Und ihr Bedauern wurde sogar noch größer, da die Antwort offensichtlich war, kaum dass sie die Worte gesprochen hatte. »Es ist nicht wichtig für mich«, erklärte Frederun ein bisschen zu rasch und drehte dabei ihr Gesicht zur Seite, um ihre Miene zu verbergen. »Es war nur so eine Frage. Er und sein Gefolge sind im letzten Winter auf dem Weg nach Osten hier vorbeigekommen.« »Trauert Ihr nicht um den Tod von Lord Hrodik?« Frederun zuckte die Schultern. »Es tut mir immer Leid, wenn irgendein Mensch stirbt. Er war nicht schlimmer als alle anderen. Und er war sehr jung. Aber ich bin froh, dass Prinzessin Theophanu hergekommen ist und dafür gesorgt hat, dass es hier in Gent weder einen Edelmann noch eine Edelfrau als Herrscher gibt. Auf diese Weise bleiben die Geier fern.« »Aber nicht für ewig.« »Nein. Nicht für ewig.« Als hätte sie eine unsichtbare Grenze übertreten, erhob sich Frederun. »Bleibt hier sitzen und wartet, bis ich zurückkehre.« Kaum war sie gegangen, schämte sich Hanna zutiefst. Welches Recht hatte sie, einer freundlichen Frau wie Frederun so zuzusetzen? Sie kämpfte sich auf die Beine, biss die Zähne zusammen und 47 humpelte über den Hof, während der Regen auf sie herabprasselte. Sie konnte gehen, auch wenn jeder Schritt einen Schwerthieb durch ihre Hüfte zu schicken schien, durch ihren gesamten Rumpf und bis in ihre Schläfe. Sie konnte gehen, auch wenn sie keine Luft bekam. Sie konnte gehen, bei der Herrin, und sie würde gehen, so wie Bulkezus Gefangene all die Monate ohne Hilfe gegangen waren, krank und sterbend. Sie war nichts Besseres, und sie verdiente nicht mehr als das, was jene erlitten hatten. Als sie endlich die Unterkünfte erreichte, taumelte sie, und aus irgendeinem Grund war Folquin dort. Er schalt sie, und dann trug Leo sie zu einem Stall, der mit Heu ausgelegt war. Der Geruch von Pferd und Heu brachte sie zum Würgen, und ein Hustenanfall überwältigte sie. »Oh, Gott«, sagte Ingo. »Sie ist ganz heiß. Fühl doch nur ihre Stirn.« »Ich hole den Hauptmann«, erklärte Folquin. »Vielleicht gibt es eine Heilerin oder einen Heiler hier im Palast«, meinte Stephen. »Hanna!«, rief Leo. »Kannst du mich hören?« Sie erstickte fast an ihrem Hass und ihrer Verzweiflung. Benommenheit wogte über sie hinweg, und sie wurde in den Fluten eines rasch dahinströmenden Flusses davongetragen. Sie träumte. In ihrem Albtraum lässt Bulkezu sich seine Mahlzeit schmecken, er säuft Bier und vergnügt sich mit seinen Frauen. Sogar die grauenhafte Wunde verheilt so gut, dass die Leute die Köpfe drehen, um ihm beim Vorbeireiten zuzusehen. Wie kann er noch immer so gut aussehen? Wie können Gott zulassen, dass Ungeheuer so schön sind? Dass sie, selbst in der Niederlage, weiterleben? Oder ist vielmehr sie das Ungeheuer, weil sie trotz allem etwas Schönes in ihm sieht? Die weise, schlichte Agnetha, die er gegen ihren Willen zu seiner Konkubine gemacht hatte, fand ihn häss-lich. Sicher besteht Hannas Sünde darin, dass sie ihren Blick weiterhin willentlich und dickköpfig vor den Tücken des Feindes verschließt. Ein Dunstschleier verhüllt ihren Traum, Nebel wallt vom morastigen Boden auf, und sie erhascht einen Blick auf die spitzen
48 Zelte der Zentaurinnen gleich daneben. Sorgatani bewegt sich durch das Schilf am Ufer des Sumpfes. Der Nebel verhüllt die Welt, und Hanna weiß, dass etwas Riesiges auf sie zuschleicht oder auf die kerayitische Prinzessin -, aber sie kann nicht genau erkennen oder spüren, aus welcher Richtung es angreifen wird. Eine Frau erscheint, löst sich aus dem Dunst, als wäre sie vom Nebel geschaffen: Sie ist ebenso sehr Stute wie Frau. Streifen aus grüngoldener Farbe schmücken ihr Gesicht und den Rumpf. Sorgatani schreit auf vor Wut. »Ich habe alle Auf gaben erfüllt, die mir gestellt wurden! Ich bin geduldig gewesen! Wie viel länger muss ich noch warten?« »Du bist geduldig gewesen.« Als die Schamanin zum Himmel hochstarrt, fällt ihre helle, raue Mähne über ihren Rücken, bis zu der Stelle, wo die Hüfte der Frau in die Schultern der Stute übergeht. »Diese Lektion hast du gut gelernt. Die Ältesten haben sich getroffen. Dein Wunsch wird dir erfüllt werden.« »Dann werden wir nach Westen reiten und mein Glück suchen?« Die Zentaurin verlagert ihr Gewicht, lauscht und antwortet nach einer Weile. »Nein, Kleines. Sie muss das Schicksal erleiden, das sie erwählt hat. Aber wir sind schwach und nur wenige. Wir können nicht allein kämpfen Sie bäumt sich auf, zuckt zusammen, als ein scharfes Geräusch erklingt, so als würde ein Stock über Stein scharren. »Wer ist da?« Ein riesiges Geschöpf bläst Hanna seinen heißen Atem in den Nacken, wirbelt ihre Haare auf. Sie spürt, wie sich sein Maul öffnet und dass es zum Zuschnappen bereit ist. Sie fährt herum, schlägt mit der Faust zu, aber als ihre Hand den Nebel teilt, stolpert sie in die salzige Brise eines flachen Meeresarms, und Wasser benetzt ihre Lippen, brennt in ihren Augen, während Schilf an ihrer Hüfte entlangstreift. Sie ist allein, und doch hört sie ein verwirrendes Gemisch verschiedener Stimmen, spürt wie aus weiter Ferne Hände, die an ihr rütteln. »Es ist das Lungenfieber. Es geht ihr sehr schlecht.« »Still. Wir werden sie durchbringen. Sie hat schon Schlimmeres überlebt.« 49 Eine Frauenstimme erklang: »Ich habe etwas Huflattich und Süßholz gegen den Blutstau aufgekocht.« »Danke, Frederun.« Jedes Mal, wenn die Axt auf das Holz trifft und ein Scheit spaltet, flucht sie, als würde sie versuchen, ihre Wut und Trauer aus sich herauszuschlagen. Aber nie wird sie frei davon sein. Besser wäre es, sich von der Strömung durch das breite Delta des gemächlichen Flusses und hinaus ins weite, unruhige Meer tragen zu lassen. Doch selbst hier verschont der Schrecken sie nicht. Feuer kocht unter dem Meer auf, schwemmt eine Welle der Zerstörung über eine riesige, gewundene Stadt, die in den Tiefen verborgen ist. Leichen tanzen in den Wogen auf und ab, und Haie fressen sich voll. Überlebende fliehen voller Entsetzen, lassen alles hinter sich zurück, bis die Erde sich erneut hebt, als der Meeresboden aufsteigt. Ein Phönix fliegt, so strahlend wie Feuer. Aber ist es überhaupt ein Phönix oder nicht vielmehr eine Frau mit Schwingen aus Feuer? Im Delirium erhält die Frauengestalt ein vertrautes Gesicht. Ist das Liath, die zurückgekommen ist, um sie zu verfolgen? Ist sie jetzt ein Engel und fliegt, ganz und gar aus Flammen bestehend, durch das Himmelsgewölbe? Als die Kreatur aufsteigt, nimmt sie auch die schlanke Gestalt eines Mannes und zwei große Hunde mit sich. Aber ihr Gewicht ist zu groß, und mit einem Schrei der Qual und Enttäuschung lässt der Liath-Engel sie los, sodass sie nach unten stürzen und verschwinden, während der Nebel der Träume über den Himmel wogt und sie verhüllt. Hanna fällt mit ihnen nach unten. »Wie geht es ihr?« »Sie ist die meiste Zeit bewusstlos, Eure Hoheit.« »Wird sie überleben?« »Was das betrifft, können wir nur beten, Eure Hoheit.« II Der Schmerz einer alten Wunde
1 »Hanna?« Jemand hielt ihr eine Lampe vors Gesicht. Sie kniff die Lider zusammen, wandte sich von dem grellen Licht ab. »Hanna«, kam es jetzt noch eindringlicher. Seine Tunika roch nach Pferd. Ein leichter Luftzug kitzelte an ihrem Ohr, und sie riss ein Auge auf, begriff, dass die Helligkeit gar nicht von einer Lampe stammte, sondern von dem Sonnenlicht, das ins Zimmer strömte. Der Raum war schön eingerichtet; ihrem Bett gegenüber befand sich ein zweites, das von einem Seil umspannt war, außerdem gab es einen Tisch und eine Bank, eine Truhe für Kleider und ein paar Gefäße aus Kupfer. Durch die
geöffneten Läden konnte sie einen blühenden Apfelbaum sehen. Ingo kniete an ihrem Bett. »Hanna?« Sie stöhnte, streckte die Hand aus, um seine Schulter zu berühren; sie war sich nicht sicher, ob er wirklich existierte oder es sich nur um einen der lebhaften Träume handelte, die sie immer wieder belästigten. Allein schon den Arm zu bewegen kostete sie Mühe. Sie fühlte sich entsetzlich schwach, aber das Atmen bereitete keine Schmerzen mehr. »Du bist wirklich da«, sagte sie. 51 »Oh, das bin ich in der Tat, Mädchen«, erwiderte er mit einem schiefen Grinsen. Er wischte sich eine Träne von der Wange. »Ich habe im Laufe des Winters viele Tage hier verbracht, aber das hast du nicht gemerkt. Wir alle haben an deiner Seite gewacht. Ich danke Gott, denn wie es aussieht, hast du es ja wohl überstanden und wirst weiterleben.« »Oh.« Alles, woran sie sich erinnern konnte, waren die Träume, obwohl sie wusste, dass viel Zeit vergangen sein musste. Zeit, in der sie sich manchmal der Anstrengung bewusst gewesen war, die es bedeutet hatte, auch nur Luft zu holen, und in der sie die Fieberanfälle und Kälteschauer gespürt hatte, die über sie hinweggeschwappt waren und sie wie eine kräftige Strömung mitgerissen hatten. »Hör zu, Hanna.« Er nahm ihre Hand. »Wir werden Gent verlassen. Prinzessin Theophanu reist mit ihrer Gefolgschaft nach Osterburg. Herzogin Rotrudis ist gestorben. Die Prinzessin muss sich so schnell wie möglich dorthin begeben und verhindern, dass die Erbinnen der alten Herzogin Saony in Stücke reißen.« »Ja.« Sie erinnerte sich vage daran, dass Prinz Sanglant ihr eine Botschaft aufgetragen hatte, die sie seiner Schwester überbringen sollte - und noch undeutlicher, dass sie diese Botschaft vielleicht schon überbracht hatte. »Wir brechen nach der Sext auf. Heute noch.« Ihr Kopf pochte von der Anstrengung, die das Nachdenken für sie bedeutete. »Wie lange?« »Mindestens eine Woche -« »Sie will wissen, wie lange sie krank gewesen ist«, erklang eine zweite Stimme an der Tür. »Folquin?« Er eilte zu ihr und kniete sich neben sie, und plötzlich drängten sich auch Leo und Stephen ins Zimmer. »Der Hauptmann hat gesagt, erst wenn sie kräftiger ist, darf sie -«, begann Stephen zögernd. »Sie kann es genauso gut auch von uns erfahren.« Folquin hatte so breite Schultern, dass er ihr die Sicht durch das Fenster nach draußen nahm. Er beugte sich zu ihr herunter, legte ihr eine riesi52 ge Hand auf die Schulter - so sanft, als wäre sie ein Neugeborenes. In ihrer Erinnerung waren sie alle längst nicht so groß und kräftig. »Du bist den ganzen Winter krank gewesen. Es war das Lungenfieber. Du wärst fast gestorben. Jetzt ist Frühling. Mariannentag ist inzwischen vorüber. Wir haben beinahe Avril.« Ihr Mund war so trocken, dass ihre Zunge sich ganz geschwollen anfühlte. Trotz der aufgesprungenen Lippen brachte sie ein Lächeln zustande. Das Voranschreiten der Jahreszeiten hatte nur wenig Bedeutung für sie. Es war einfach nett, die vertrauten Gesichter zu sehen. Trotzdem wurde sie schon bald wieder von Erschöpfung überwältigt. Sie wollte nur noch schlafen. Doch würde sie allein zurückbleiben, wenn sie jetzt von Gent weggingen? Ingo und die anderen hatten sie schließlich vor Bulkezu gerettet. »Wer wird sich um mich kümmern?« »Eine gute Frau namens Frederun. Sie hat dich den ganzen Winter über gepflegt. Sie ist die Vorsteherin der Bediensteten des Palastes. Prinzessin Theophanu schätzt dich so sehr, dass sie Edelfrau Leoba als Herrin von Gent hier zurücklässt. Du wirst nach Osterburg reisen, wenn du kräftig genug bist, um reiten zu können. Wir werden uns also schon bald wieder sehen, Hanna.« Sie bemutterten sie noch eine Weile, bevor sie weggerufen wurden, aber eigentlich war sie ziemlich erleichtert, dass sie sich endlich wieder ausruhen konnte. Sie hatte ganz vergessen, wie anstrengend ihre Kameraden waren, obwohl sie die Vermutung hegte, dass dies vor ihrer Krankheit, vor Bulkezu, nicht so gewesen war. Die Tage vergingen, waren ruhig und entsetzlich langweilig. Ihre Hüfte war inzwischen verheilt, aber schon allein das Stehen ermüdete sie. Auch nur vom Bett bis zur Tür und wieder zurück zu gehen schien ihr eine derart unerträgliche Anstrengung zu sein, dass sie bezweifelte, jemals wieder zu Kräften zu kommen. Sie war schrecklich dünn; ihre Rippen zeichneten sich ab, und ihr Bauch war eingefallen, und über den Hüftknochen spannte sich die Haut. An manchen Tagen fehlte ihr jeder Wille zu essen, doch Frederun bedrängte sie ständig mit Haferbrei und warmer Brühe. Aus den Tagen wurden Wochen. Der Avril erblühte, und mit 53 ihm kam der Festtag von St. Eusebe, an dem sich Lehrlinge zum Dienst bei einem neuen Herrn verpflichteten. Sie hatte sich genug erholt, um sich auf einen Stuhl draußen in der Sonne im breiten Innenhof setzen und einem Dutzend Jugendlicher dabei zusehen zu können, wie sie den Dienst im Palast antraten - sieben Jahre Arbeit für eine Schlafstelle und zwei Mahlzeiten am Tag. Edelfrau Leoba kam, um mit ihr zu sprechen, und es gelang Hanna sogar, sich zu erheben und der neuen Herrin von Gent die ihr angemessene Achtung zukommen zu lassen. »Wie ich sehe, geht es Euch besser, Adler.« Edelfrau Leoba sah sie so eindringlich an, wie sie eine kostbare Stute mustern mochte, die sie schon an die Koliken verloren geglaubt hatte. »Meine Herrin Prinzessin Theophanu hatte gehofft, dass wir zum Festtag der Königin bei ihr eintreffen könnten, aber ich habe bereits
einen Boten geschickt, um mitzuteilen, dass wir erst im Sormas kommen werden. Der Bote ist übrigens ein Junge, der behauptet hat, Ihr hättet ihn zum Adler erwählt. Sein Name ist Ernst. Erinnert Ihr Euch an ihn?« Zuerst fiel es ihr schwer, doch während Edelfrau Leoba ihr die Erlaubnis gab, sich wieder zu setzen, schoss ihr eine kurze Erinnerung durch den Kopf: das Dorf, das Gewitter, der eifrige Junge. Aus irgendeinem Grund füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie weinte jetzt nicht mehr so viel, aber das lag nur daran, dass die Welt ihr so dünn und angespannt vorkam, dass sie die Energie zum Weinen kaum aufbrachte. »Hanna?« Frederun trat neben sie. Sie hatte die neuen Lehrlinge zu ihren verschiedenen Pflichten im Stall, in der Halle, den Küchen oder beim Zimmerer geschickt. Sie trug eine schöne, wadenlange Tunika über einem leinenen Unterkleid und wirkte außerordentlich hübsch mit den dichten, mit einem Schal zurückgebundenen Haaren und den von der Sonne rosigen Wangen. »Ihr seht schon wieder ganz müde aus.« »Ich würde mich auch gern wieder ins Bett legen.« »Nein, erst müsst Ihr noch drei Runden im Hof hinter Euch bringen. Sonst werdet Ihr nie kräftiger werden.« Hanna hatte nicht die Kraft, sich Frederuns Befehlen zu wider54 setzen. Sie gehorchte ihr also, weil es einfacher war, als gegen sie anzukämpfen. Und tatsächlich wurde sie allmählich kräftiger. Zu dem Haferbrei kam schon bald frisch gebackenes Brot, und die Tees aus Frauenminze und Galangawurzel wurden durch Bier und warmen Wein ersetzt. Statt leichter Brühe gab es kräftige Suppe, und schon bald danach konnte sie in Wein geschmortes Huhn, Fischsuppe und Uferschnecken mit Erbsen essen. Als der Sormas begann, nahm sie ihre Mahlzeiten in der Bedienstetenhalle ein und nicht mehr allein in ihrem Zimmer. In Gent blieb es ruhig, die Stadt war ein friedlicher Hafen, aber diese Ruhe beruhigte sie nicht. Sie verspürte keinerlei Lust, die Stadt zu erkunden, sondern hielt sich lieber auf dem Palastgelände auf. Jene, die wie Frederun versuchten, sich mit ihr anzufreunden, hielt sie auf Abstand; die anderen beachtete sie gar nicht. Als spät im Sormas der junge Ernst mit einer Botschaft erschien, in der Edelfrau Leoba dringend zum Aufbruch aufgefordert wurde, begrüßte Hanna seine Ankunft erleichtert. Es war Zeit, weiterzuziehen. Leoba und ihr Gefolge brachen am Tag nach der Lucia-Messe auf, dem ersten Tag des Sommers. Der Winterweizen und der Roggen waren im Laufe des Frühlings stark gewachsen und färbten sich bei Anbruch des Sommers golden. Kleine Weiler erstreckten sich immer wieder am Rand der Straße, umgeben von Gärten, die zum Schutz vor wilden Tieren und umherwandernden Schafen eingezäunt waren. Kinder rannten herbei, um sie vorbeireiten zu sehen. Ein paar Bauern hatten neue Apfelwiesen angelegt, als Ersatz für jene Apfelbäume, die von den Aikha gefällt worden waren. Noch waren die Bäume jedoch jung und trugen keine Früchte. Je weiter sie den Fluss entlang nach Süden ritten, desto spärlicher wurden diese Felder, wichen Weideland und einer Reihe von umzäunten Flachs- und Hanffeldern ganz in der Nähe von neuen, mit Palisaden umgebenen Dörfern, die jene ersetzten, die Blutherz und sein plünderndes Heer niedergebrannt hatten. Der Turm der Kathedrale war noch lange Zeit wie ein Leuchtfeuer zu erkennen, verlor sich aber schließlich hinter den Bäumen. Die Siedlungen wurden immer spärlicher und die Kinder immer schüchterner; kaum noch welche standen am Straßenrand und sahen ihnen zu. 55 Ernst bestand darauf, neben ihr zu reiten. »Ich habe noch nie so schöne Edelfrauen gesehen wie die im Hofstaat der Prinzessin! Habt Ihr die Kleider gesehen, die sie beim Reiten tragen? Was für Farben das sind! Ich habe noch nie so viel Gold und Silber gesehen. Gott müssen jene wirklich lieben, denen Sie so viel Reichtum gönnen. Ich bekomme so viel zu essen, dass ich jeden Abend satt bin! Manchmal darf ich die Platten der Edelleute leer essen, wenn sie fertig sind. Ich hatte sogar schon Schwan, aber irgendein Gewürz hat mir die Zunge verbrannt.« Er ritt gut. Das hatte er schnell erlernt, doch sein einfältiger Glaube an das glanzvolle Leben eines Adlers würde schwieriger zu überwinden sein. Hanna schwieg also, und allmählich versiegte sein Redefluss. Die warmen Tage und der wolkenlose Himmel des Quadrii konnten sie nicht aufheitern. Jede Wegstunde schien wie die vorhergehende zu sein, auch wenn es immer etwas Neues zu sehen gab und viele Menschen ihnen bereitwillig ein Mahl aus Haferbrei und Brot anboten, um dafür Neuigkeiten zu erfahren. Die Bauern und auf den Landgütern geborenen Arbeiter hatten Gerüchte über Wegelagerer gehört, über verfluchte Gestalten und die Pest, ohne jedoch selbst irgendetwas gesehen zu haben. Und auch von der großen Schlacht bei Osterburg hatten sie bisher nichts gehört. Hanna fühlte sich verpflichtet, die Geschichte immer wieder aufs Neue zu erzählen. Das war schließlich ihre Aufgabe. Hätte sie Gent und den Schutz, den die kühlen Mauern gewährten, besser nicht verlassen sollen? Doch Hanna war der Freundlichkeit von Gents Bediensteten und ihrer Pflegerin Frederun überdrüssig geworden. Alle wussten, dass Frederun vor einem Jahr, als Prinz Sanglant auf dem Weg in den Osten in Gent überwintert hatte, seine Konkubine gewesen war. Noch immer wurde davon gesprochen, wenn auch stets außerhalb ihrer Hörweite. Er hatte ihr kleine Geschenke gemacht, aber als er dann weitergezogen war, war sie zurückgeblieben, gebunden an den Palast. Bei dem Prinzen war auch ein Kind gewesen, aber niemand wusste, was mit seiner Frau geschehen war - nur dass sie offensichtlich verschwunden war, als die Tochter noch ein Säugling gewesen war. 56 Was war mit Liath geschehen ? Als Hanna die Augen schloss, sah sie Einzelheiten aus dem Fiebertraum vor sich, der sie während ihrer Krankheit geplagt hatte, jene dunstverschleierte Vision von einer Frau mit Flammenflügeln, deren Gesicht
genauso ausgesehen hatte wie das von Liath. In der Nacht suchte sie Liath im Feuer, ohne sie jedoch zu finden. Auch König Henry, Hathui und sogar Prinz Sanglant entzogen sich ihrer Adlersicht, und Sorgatani war nur kurze Zeit zu sehen, verhüllt von Rauch und Funken. Sie hatte Wulfhere schon so lange nicht mehr gesehen, dass sie Schwierigkeiten hatte, sich seine Gesichtszüge in Erinnerung zu rufen. Nur Bulkezus schönes, grässliches Gesicht erstand vollkommen makellos vor ihr, wenn sie in die Flammen blickte. Sogar Ivar war unzugänglich für sie, für ihre Adlersicht, obwohl sie ihn mit wachsender Verzweiflung suchte. Versagte ihre Sicht allmählich? Oder waren sie alle tot? Sie fühlte sich selbst wie tot, vertrocknet wie ein Blatt im grellen Sonnenschein. Regen verlangsamte ihr Fortkommen. »Er wird die Ernte vernichten«, murmelte Ernst mehr als einmal, wenn er die nassen Felder musterte, aber Hanna hatte keine Antwort darauf. Sie hatte bereits zu viel Regen gesehen. Zwanzig Tage später ritten sie im Schutz eines trägen Sommernieselregens, der einfach nicht versiegen wollte, in Osterburg ein. Grauer Nebel hing über den Feldern, die zur Hälfte brachlagen, nachdem zwei Heere über sie hinweggetrampelt waren. Auf den übrigen Feldern standen im Frühling ausgesäter Hafer und Gerste, und es waren eingezäunte Gärten mit Rüben, Erbsen, Bohnen und Zwiebeln angelegt worden. Steinmetze arbeiteten auf Gerüsten an den schlimmsten Breschen in der Mauer, und obwohl es noch immer viele Lücken und ausbesserungswürdige Stellen gab, war die meiste Arbeit bereits geschafft. Die Straßen innerhalb der Stadt waren schmal, und die Luft kam ihr von dem vielen Abfall ziemlich stickig vor, nachdem sie so viele Tage draußen im offenen Gelände zugebracht hatte. Im Hof des herzoglichen Palastes nahmen ihnen Stalljungen die Pferde ab. Sie ging mit Ernst am Ende der Eskorte von Edelfrau 57 Leoba zur großen Halle, froh darüber, dem Regen zu entkommen. Eine Verwalterin - dieselbe kräftige, intelligente Frau, die sie bei Gent in Empfang genommen hatte - führte sie die Treppe zu dem großen Zimmer hinauf, in dem Prinzessin Theophanu Hof hielt. Trotz des Regens war es so warm, dass man die Läden geöffnet hatte, um die Brise ins Zimmer zu lassen. Theophanu saß bequem auf einem vorzüglich mit Polstern ausgestatteten Sofa und spielte Schach mit einer ihrer Hofdamen, während ihre Kameradinnen schweigend zusahen. Zwei der Frauen kannte Hanna nicht, aber sie hatten eine gewisse Ähnlichkeit mit dem berüchtigten Edelmann Wichman; sie hockten links und rechts von Theophanu, und es war schwer zu sagen, wer von den beiden gelangweilter, gereizter und mürrischer war. »Oh.« Theophanu blickte mit einem kurzen Anflug von aufrichtiger Freude auf. »Leoba!« Die beiden Frauen umarmten sich. Anschließend wandte Theophanu sich an die Frauen, die neben ihr saßen. »Kusine Sophie. Kusine Imma. Dies ist meine beste Freundin, Leoba. Sie stammt aus dem Hesbaye-Clan und ist letztes Jahr mit Markgraf Villam verheiratet worden.« »Aber müsste sie dann nicht schon tot sein?«, fragte die Frau namens Sophie mit einem anzüglichen Grinsen. »Wie viele Ehefrauen hat Villam überlebt?« »Nein, ich glaube, es handelt sich um einen Wettbewerb zwischen den Hesbayes und den Villams, bei dem es darum geht, wer den anderen auch nach vier oder fünf Hochzeiten überdauert«, erklärte ihre Schwester. Leoba errötete, aber Theophanu lenkte sie ab, indem sie Platz auf dem Sofa schuf, sodass sie sich hinsetzen konnte. »Wie steht es in Gent?« »Gut. Auf den brachliegenden Feldern sind im Frühling Hafer und Gerste ausgesät worden. Die Ernte war - was den Winterweizen und den Roggen anbelangt - sehr gut. Es gibt vier hervorragende Webhäuser. Sie alle haben im Winter und im Frühling genug Kleidung hergestellt, dass es einen Überschuss für den Handel gibt. Der Markt zieht Leute im Umkreis von drei Tagesmärschen an. Es sind sogar Kaufleute von Medemelacha hergesegelt. 58 Sie zahlen bereitwillig die königliche Steuer. Im Jahr der Aikha-Herrschaft haben die Zölle und die Straßen nach Osten sehr gelitten. Es wird einen Herbstmarkt geben, der vermutlich Leute im Umkreis von sieben Tagesmärschen anziehen wird. Gent ist eine blühende Stadt. Ich habe fünf Kisten mit Münzen und Schätzen für Eure Schatzkammer mitgebracht.« »Das sind Saonys Zölle!«, schrie Imma. »Sie gehören unserer Familie!« »Nein, Imma«, widersprach Theophanu sanft. »Sie gehören der Person, die herrscht, und auch Saony. Ihr seid bisher nicht zur Herzogin ernannt worden, vermute ich?« »Weil ich die Altere bin!«, rief Sophie triumphierend. »Das bist du nicht!« »Ich bitte Euch, Kusinen, fangt nicht wieder diesen Streit an. Solange König Henry in Aosta verweilt, herrsche ich an seiner Stelle, und so muss ich darüber urteilen. Wie ich Euch aber bereits gesagt habe, möchte ich meinem Vater die Entscheidung überlassen, wer meiner Tante, möge sie in Frieden ruhen, als Herzogin von Saony nachfolgt. Ich habe nur auf einen erfahrenen Adler gewartet, eine Frau, die das Alfar-Gebirge schon zuvor einmal überquert hat.« Alle Blicke richteten sich auf Hanna. »Willst du es wirklich wagen, noch einmal jemanden auszuschicken?«, fragte Leoba. »Du hast bereits alle drei Adler, die in deiner Obhut geblieben waren, nach Aosta geschickt und kein einziges Wort darüber gehört, ob sie noch am Leben oder tot sind oder den König überhaupt erreicht haben.«
»Kann ich es wagen, keinen weiteren zu schicken? Hast du die Neuigkeiten noch nicht gehört, Leoba? Mein Vetter Conrad der Schwarze ist zu Penitir in Mainni gewesen und hat diesen Festtag gefeiert, als wäre er König! Er hat sich von der Bischof in außerhalb der Stadt empfangen und in den Palast begleiten lassen, wie sie es getan hätte, wäre mein Vater gekommen. Das höchst königliche Fest hat drei volle Tage gedauert. Er hat Tallia von Arconia zur Frau genommen und geschwängert. Sie ist jetzt bei Conrad und nicht mehr in der Obhut meiner Tante Constanze in Autun, wie mein 59 Vater es verfügt hatte. Wenn das nicht Rebellion ist, dann weiß ich nicht, wie eine aussieht.« »Conrad würde meinen Anspruch auf Saony unterstützen«, sagte Sophie, und ihre Miene nahm einen Ausdruck räuberischer Gerissenheit an, »wenn ich ihm im Gegenzug anbiete, ihn und Tallia zu unterstützen. Das vergesst Ihr wohl, beste Theophanu. Ihr seid nicht meine einzige Zuflucht.« »Aber Conrad ist nicht hier, du dumme Kuh«, wandte ihre Schwester ein. »Und er ist auch nicht König von Wendar, selbst wenn es so aussieht, als würde er die Königsherrschaft über Varre mittels seiner neuen Frau beanspruchen wollen.« »Wo ist der König von Wendar?«, fragte Sophie. »Wie kann er König sein, wenn er sein Volk im Stich lässt?« »Henry ist König von Wendar und Varre«, sagte Theophanu, »und Gott haben ihm Ihren Segen gegeben. Ich gehe davon aus, dass Ihr das nicht vergessen werdet, Kusinen.« »Ich werde nicht vergessen, wie Ihr mit Euren Truppen hier einmarschiert seid, nachdem Euer Bruder uns für seinen wahnsinnigen Zug nach Osten die Hälfte unserer berittenen Krieger genommen hat! Doch Euer Heer ist nicht einmal halb so groß wie das von Sanglant, und Ihr könntet auch die qumanischen Eindringlinge nicht vertreiben. Und Ihr könnt nichts tun, um Conrad aufzuhalten!« Sophies verdrießliche Miene löste sich abrupt auf, als sie einen Blick auf ihre Schwester warf. Die stand nämlich kurz davor, sich angesichts der Tatsache, dass ihre Feindin dabei war, in eine selbst errichtete Falle zu laufen, wie eine Katze in verächtlichem Triumph die Pfoten zu lecken. »Seid gewiss, Theophanu, dass ich Verständnis für Eure Not hege«, fuhr Sophie rasch fort. »Wenn Sapientia nicht nach ihrem Vater herrschen kann, seid Ihr die rechtmäßige Erbin.« »Jetzt wird aber heftig Honig über Euch ausgegossen.« Imma schnaubte verächtlich, während sie nach ihrem Weinbecher griff. »Bei wem willst du dich eigentlich einschmeicheln, Sophie? Bei Conrad oder Theophanu?« »Es ist wahr, und niemand wird es bestreiten können«, sagte Sophie. »Theophanu ist zurückgeblieben, um an Stelle von König 60 Henry zu herrschen, hat aber keine Unterstützung bekommen. Henry hat ein Heer in Aosta, und Sanglant reitet mit dem Heer, das die Qumaner geschlagen hat, nach Osten. Und was habt Ihr, Kusine?« »Meinen Verstand.« Mit einem geheimnisvollen Lächeln deutete Theophanu zum Fenster. »Sieht so aus, als hätte der Regen aufgehört. Ich werde heute ausreiten. Mein Kopf ist ganz benommen von all dem Reden. Adler, ich möchte, dass Ihr mich begleitet.« So fand Hanna sich schon kurz darauf auf dem Rücken ihres Pferdes wieder und ritt neben der Prinzessin an den matschigen Feldern entlang, auf denen im letzten Herbst die beiden Heere aufeinander geprallt waren. Hinter dem westlichen Ufer der Veser befanden sich die Hügel, auf denen das qumanische Heer sein Lager aufgeschlagen hatte und Bulkezus Gefangene ihre letzten verzweifelten Stunden verbracht hatten. In Richtung Osten erkannte sie den ungleichmäßigen Waldstreifen, der den Veserling verbarg, jenen Fluss, wo Ingo und die anderen sie befreit hatten. »Wo sind die Löwen, Eure Hoheit? Sie sind zu Beginn des Frühlings zu Euch gekommen, nicht wahr?« Theophanu nickte. »Ich behalte sie in der Stadt, um meine Kusinen an meine Autorität zu erinnern. Zurzeit arbeiten sie an der Mauer. Meine Tante, möge sie in Frieden ruhen, hat sie auf schmachvolle Weise zerfallen lassen. Ich nehme an, dass sie schon in den letzten Jahren nicht mehr richtig gesund war.« Gemeinsam mit zwei Verwalterinnen, drei Dienerinnen und einem halben Dutzend von Theophanus Edelfrauen umrundeten sie einige mit Regenwasser gefüllte Gräben; auf diese Weise versuchte man, das überschüssige Wasser von den Feldern wegzuleiten. Dann näherten sie sich einem kleinen Hügel, der sich aus der Ebene erhob. Theophanu bedeutete ihren Kameradinnen zurückzubleiben, winkte Hanna jedoch zu sich. Mit einiger Schwierigkeit drängten die beiden Frauen ihre Pferde den rutschigen Hang zum Kamm des Hügels hinauf. Die Erlen und Eichen waren erst kürzlich zurückgeschnitten worden, und sie mussten auf abgebrannte Holzstümpfe achten, an denen sich die Hufe der Pferde verfangen 61 konnten. Binsen und Brombeersträucher wucherten. Dill hatte Wurzeln gefasst, blühte in gelben Flecken entlang cremefarbener Glocken von Schwarzwurz. Doch auf dem Kamm des Hügels hatte sich an einer Stelle das üppige Grün in geschwärzten Boden verwandelt; diese Stelle war so kahl, als wäre dort Salz ausgeschüttet worden. »Wie es heißt, ist Bayan hier gestorben.« Theophanu drängte ihre Stute zu der unfruchtbaren Stelle und starrte ohne jedes Gefühl darauf. »Ich bin ihm nie begegnet. Wie war er?« Hanna stieg ab, kniete nieder und berührte den Boden. Ein Wespenstich erwachte in ihrer Brust zum Leben, als ihre Finger über die versengte Erde strichen. Sie wusste tief in ihrem Innern, dass Bayan hier getötet worden war, aber die unheimliche Sinneserfahrung, die ihre Hand entlangkroch, währte nur einen kurzen Augenblick. Es
war schließlich doch nur Erde, nichts weiter. Sie holte Luft und stand auf. »Er war ein guter Mann, Eure Hoheit, möge er in Frieden in der Kammer des Lichts ruhen. Er war kein Narr.« »Eine gute Partie für Sapientia.« Schwang da Sarkasmus in Theophanus Stimme mit? Hanna wusste es nicht. »Sie hat ihm vertraut, Eure Hoheit. Unter seiner Führung hat sie sehr an Weisheit gewonnen.« »Dann hat mein Vater weise gewählt.« »Das glaube ich tatsächlich. Prinzessin Sapientia hat sehr um Bayan getrauert. Die Dinge hätten sich für uns alle und für das Königreich vielleicht ganz anders entwickelt, wäre Prinz Bayan nicht durch Bulkezu gestorben.« »Hat der Qumaner Prinz Bayan im Kampf getötet?« »Nein, es war qumanische Magie, die Prinz Bayan - und seine Mutter - getötet hat.« Über Theophanus Gesicht huschte ein so vielfältiger Ausdruck, dass Hanna verlegen zur Seite blickte. Aber als Theophanu wieder sprach, färbte nicht das kleinste bisschen Gefühl ihre Stimme. »Beherrscht Ihr die Adlersicht?« Niemand stand nah genug, um sie hören zu können. Die anderen warteten gehorsam am Fuß des kleinen Hügels. »Das tue ich, Eure Hoheit.« 62 »Sicher habt Ihr schon nach meinem Vater gesucht.« Beschämt senkte sie den Blick. »Meine Adlersicht ist vernebelt, Eure Hoheit. Ich habe nach ihm gesucht, aber ich kann ihn nicht sehen.« »Ist es möglich, dass irgendjemand Eure Sicht beeinträchtigt?« Was für eine Närrin sie gewesen war! Cherbu hatte Bulkezus Heer viele Monate lang mithilfe der Magie verborgen. Sicher konnte eine erfahrene Zauberin sich gegen die Adlersicht abschirmen. Doch Wulfhere hatte niemals über solche Dinge mit ihr gesprochen. Vielleicht hatte er nicht gewollt, dass sie davon wusste, damit er sie immer im Auge behalten konnte. »Es wäre möglich«, räumte sie ein. »Ich weiß nur wenig über Magie und noch weniger über die Adlersicht, abgesehen davon, dass ich im Feuer nach Visionen von jenen suchen kann, die ich kenne, und dass ich sie manchmal sprechen höre.« »Ihr habt nichts Falsches getan, Hanna. Der König hat Euch persönlich mit diesem Ring belohnt, den Ihr da tragt, und so weiß ich, dass er Euch für eine treue und vertrauenswürdige Untertanin hält. Deshalb bin ich froh, dass Ihr jetzt bei mir seid. Mein Vater muss erfahren, in welch unmöglicher Situation ich mich hier befinde. Das Herzogtum Saony darf unter keinen Umständen an eine der Töchter von Rotrudis fallen. Ihre Gier und Unfähigkeit zu herrschen würden das Herzogtum schwächen. Aber ich habe weder die Truppen noch die Autorität, jemand anderen an ihrer Stelle einzusetzen, und jede von ihnen würde geradewegs zu Conrad reiten, könnte sie sicher sein, dass er ihre Partei ergreift. Ich habe kein Heer, oder vielmehr nur ein kleines«, sie deutete ungeduldig in Richtung der entfernten Stadt, »und Sanglant hat den Rest mitgenommen.« »Selbst für einen Befehlshaber von seinem Ruf scheint mir das Heer sehr groß zu sein, um sich in die Wildnis zu wagen, Eure Hoheit. Die Leute müssen alle ernährt und untergebracht werden.« »Das ist wahr. Wir haben aus verschiedenen Orten Berichte gehört, dass nach der Schlacht das gesamte Fußvolk aufgelöst und nach Hause auf die Felder geschickt worden ist. Villams Tochter unterstützt Sanglant, wie es heißt. Es geht das Gerücht, dass sie ei63 nen Teil seines Heeres im Marschland zurückhält, für den Fall, dass er aus Ungria und dem Osten zurückkehrt. Es könnte wahr sein. Sie hatte ihn einmal heiraten wollen, aber es war nicht gestattet worden, weil er nur ein Bastard ist.« Der Wind zupfte an den mit silbernen Nadeln hochgesteckten Haaren der Prinzessin, doch nicht die Spur eines Gefühls machte sich in ihrer Miene breit. War es möglich, dass der Sturm in Theophanu umso größer war, je ruhiger sie nach außen wirkte? Es war kein Wunder, dass ihr viele vom Hof des Königs nicht trauten, da sie ihre innersten Überzeugungen stets hinter einer undurchdringlichen Mauer verbarg. Doch Hanna, die vor noch nicht allzu langer Zeit hautnah erlebt hatte, wie Bulkezu getan hatte, was ihm gerade in den Sinn gekommen war, wie er seinen Launen und Verrücktheiten stets freien Lauf gelassen hatte, bewunderte eine Person, die die Kraft und Disziplin aufbrachte, sich zu beherrschen. »Mir wäre vielleicht mehr zugestanden worden, wäre ich als Bastard geboren«, murmelte Theophanu. Als hätte sie gerade erst begriffen, dass sie laut gesprochen hatte, sah sie Hanna direkt und fast trotzig an, die furchtlos und unverwandt zurückblickte. »Ich bitte um Vergebung, Eure Hoheit, wenn ich so frei spreche. Ich bin auch als drittes Kind geboren, und was meinen älteren Geschwistern zugestanden wurde, war mir unmöglich. Deshalb bin ich zu den Adlern gegangen, statt eine Ehe einzugehen, die mir zutiefst zuwider gewesen wäre. Ich bin stolz darauf, König Henry zu dienen.« Theophanu lächelte schwach. »Dann sind wir beide vielleicht die Letzten hier in ganz Wendar, die dem rechtmäßigen König aus freiem Willen die Treue halten. Fürchtet Ihr Euch vor Magie, Adler?« »Ich fürchte mich vor ihr, Eure Hoheit, aber ich habe inzwischen zu viel gesehen, als dass die Bedrohung durch Magie mich von meinem Weg abbringen könnte.« »Ich bin froh, dass Ihr das sagt, denn ich muss all meine Hoffnungen in Euch legen. Ich habe drei Adler nach Aosta geschickt, aber keiner ist zurückgekehrt, obwohl ich den ersten bereits vor mehr als einem Jahr ausgesandt
habe. Ihr müsst nach Aosta reisen 64 und meinen Vater finden. Ich werde Euch eine Nachricht geben, die Ihr ihm überbringt, aber vor allem wird es an Euch sein, ihm begreiflich zu machen, dass seine Position in Wendar immer schwächer wird, sogar hier in Saony, in der alten Heimat unseres königlichen Geschlechts. Conrad treibt im Westen sein Unwesen, während Sanglant im Osten Unruhe verbreitet. Meine Kusine Tallia ist eine gefährliche Schachfigur in Conrads Händen, und ich habe schon seit vielen Monaten nichts mehr von meiner Tante Constanze in Autun gehört. Ich werde mich hier nicht lange halten können, wo sogar meine Kusinen daran denken, von jenen Hilfe zu holen, die Henrys Autorität untergraben wollen. Nicht in einer Zeit, in der Hungersnot und Pest Avaria zusetzen. In der aus Salia Gerüchte über einen Bürgerkrieg zu vernehmen sind. Wenn der König von dem Eroberungsfeldzug der Qumaner und der schrecklichen Verwüstung hört, die dieser den wendischen Landen gebracht hat, wenn er das ganze Ausmaß der Intrigen begreift, die gegen seine Herrschaft gesponnen werden, wird er sicherlich zurückkehren.« 2 »Hanna? Hast du das gehört? Hanna?« Hanna war vollkommen in Gedanken versunken, wiederholte wohl zum hundertsten Mal im Stillen Theophanus Botschaft. Die spürbare Besorgnis in Ernsts Stimme schreckte sie jedoch augenblicklich auf. »Nein, ich habe nichts gehört.« »Weil du mit deinen Gedanken woanders warst. Still. Es wird wiederkommen.« Nebelschwaden hüllten den Buchenwald im zentralen Hochland von Avaria ein, durch das sie und Ernst ritten. Sie waren jetzt mindestens dreißig Tage von Osterburg entfernt. Hanna hatte irgendwann aufgehört mitzuzählen, weil das Wetter ihre Reise nicht gerade begünstigte. Immer wieder waren sie aufgehalten worden, durch tagelang anhaltende Niederschläge, schlammige Wege und 65 von der Pest befallene Dörfer, um die sie einen großen Bogen machen mussten. Der dichte Nebel jetzt war nur das jüngste Hindernis, dem sie sich gegenübersahen. Der Himmel über ihnen war grauweiß, beinahe grell, während um sie herum schlanke Bäume mit dem Nebel zu verschmelzen schienen, sodass sie kaum noch zu erkennen waren. Wildtiere schössen vor ihnen davon, verschwanden rasch im Nebel. Ansonsten gab es jedoch keinerlei Hinweise auf Leben - abgesehen von den kichernden Rufen der Drosseln, dem ausgelassenen Lied einer Kohlmeise und dem gelegentlichen Rascheln eines kleinen Tieres, das ins dichte Unterholz, in Binsen- oder Geißblattsträucher davonschoss. Obwohl die Sicht ziemlich beeinträchtigt war, waren diese Geräusche gut zu hören. Sie lauschte. Nichts war zu hören, abgesehen vom gleichmäßigen Hufgeklapper ihrer Reittiere und der zwei Ersatzpferde. Nichts, abgesehen vom Rauschen des Windes, der von Osten her durch das sommerliche Blattwerk strich. Im Osten lauerten Erinnerungen, und obwohl sie versuchte, sie zu vertreiben, schwollen sie in ihrem Innern immer weiter an, schmerzten wie eine alte Wunde. An einem kühlen Sommertag wie diesem tat auch ihre Hüfte weh. Dort, wo Nebelschwaden sich um die Bäume wanden, suchte sie nach den seltsamen Gestalten aus ihren Träumen: nach Zentaurinnen, die sich an Krieger mit den Körpern von Menschen und den Gesichtern von Wölfen und Luchsen heranpirschten; nach Sorgatani, die am Rand eines riesigen Sumpfes im Schilf kniete; nach einem Greifenpaar, das im hohen Gras jagte; nach einem Langschiff, das durch den Nebel flussaufwärts glitt und sich wie ein Ungeheuer auf seine arglose Beute zubewegte; nach Männern mit menschenähnlichen Gesichtern und den Schwänzen von Fischen, die zwischen den nebelumwobenen Bäumen hindurchschwammen, als wären sie die Säulen einer Unterwasserstadt. »Nichts«, sagte Ernst empört. »Aber ich weiß, dass ich etwas gehört habe. Es klang wie ein Kampf.« Seine Entrüstung brachte sie zum Lächeln. Zu ihrer Überraschung hatte sich der Junge als durchaus angenehmer Gefährte 66 entpuppt. Er sprach längst nicht mehr so viel, erledigte seinen Teil der Arbeit, und vor allem zauderte er weder, noch beklagte er sich. »Ich wäre sehr froh, wenn ich nie wieder einen Kampf sehen müsste«, sagte sie. In diesem Augenblick drehte sich der Wind, und sie hörte das deutliche Klirren von aufeinander prallenden Waffen. »Es ist irgendwo weiter vorn. Los.« Sie riss ihren Stab aus dem Gurt am Rücken, legte ihn quer über die Oberschenkel und drängte ihr Pferd weiter den Pfad entlang. Ernst zog vor Angst oder Aufregung leise keuchend das Kurzschwert, das ihm die Prinzessin gegeben hatte, und folgte Hanna. Da der wabernde Nebel alles verhüllte, kamen sie unbemerkt an das Kampfgeschehen heran, das an einer Stelle stattfand, an der sich der Wald lichtete und einer Kreuzung mit umgestürzten Steinen Platz machte. Eine große Frau in einem arg mitgenommenen Adlerumhang hatte Deckung bei den Resten einer Steinmauer gesucht und verteidigte sich gegen drei zerlumpt aussehende Räuber, die mit Stöcken und einem Messer bewaffnet waren. »Hah! Für König Henry!«, rief Hanna.
»Für König Henry!«, brüllte Ernst mit leicht brüchiger Stimme hinter ihr. Hanna konnte einem der Räuber einen heftigen Schlag verpassen, ehe die Männer wie in Panik geratene Ferkel in den Wald davonstoben und dabei ihre Waffen einfach auf den Boden fallen ließen. .. »Verfolgen wir sie?«, rief Ernst, der fast vergessen hätte, sein Pferd vor der Mauer aus Birken zu zügeln. »Halt!« Hanna blinzelte in den Wald, aber der Nebel schützte die fliehenden Räuber, obwohl sie Zweige knacken und schwächer werdende Rufe hören konnte. Ihr Herz raste von der Anstrengung, aber ihre Hände waren vollkommen ruhig. Freute sie sich darüber, dass sie entkommen waren? Oder hätte sie sie bereitwillig getötet? Vielleicht war es besser, es nicht zu wissen. Sie drehte sich um und sah, dass der Adler sich vornüberbeugte. »Kameradin! Bist du verletzt?« Hanna stieg ab und rannte zu 67 ihr, packte ihren Arm. Dann erkannte sie sie. »Hathui!« Vor Überraschung machte sie einen Schritt nach hinten und prallte hart gegen einen Teil der Steinmauer. »Nein. Ein Schnitt am Arm, mehr nicht.« Hathui richtete sich auf und zog eine Grimasse. »Hanna! Was machst du hier? Wo sind die Wegelagerer?« »Weggelaufen«, rief Ernst fröhlich vom Waldrand. »Wir haben sie vertrieben!« Er saß ab und sammelte die zwei Stöcke ein. Die Pferde begannen zu grasen. Der Nebel gab sich alle Mühe aufzusteigen, und sie konnten jetzt ein ganzes Stück weit in den Wald hineinsehen. Zwischen den nebelumwobenen Bäumen rührte sich nicht das Geringste. »Gott im Himmel«, fluchte Hathui. Blut sickerte zwischen den Fingern hindurch, die sie unterhalb der linken Schulter gegen die Haut presste. »Hast du etwas, womit ich die Wunde verbinden kann? Er hat mir eine Schnittwunde verpasst. Junge, such bitte mein Pferd. Es kann nicht weit sein.« Hannas Schultern pochten von dem Aufprall an der Steinmauer. Ihre Hände glitten über Flechten, als sie sich von der Mauer abstieß und den Schreck schließlich abschüttelte. »Ernst, reite ihnen nach! Halt die Augen offen. Nicht dass sie vorhaben, sich mit Verstärkung erneut anzuschleichen und uns noch einmal anzugreifen.« Sie wusste nicht, was sie zu Hathui sagen sollte. Die Überraschung lähmte ihre Zunge. Sie lief zu dem Pferd, das hinter ihrem gesattelten Wallach stand, und kramte ein bisschen Leinen hervor, das Theophanus Verwalterinnen ihnen für solche Fälle eingepackt hatten. Hathui humpelte zu einer großen Steinbank, die halb von einem Brombeerbusch voller Früchte überwuchert war. Mit einem Ächzen ließ sie sich auf dem Stein nieder und lockerte vorsichtig den Druck ihrer Finger. Blut floss aus einem Loch in ihrem Ärmel. Ihre dunklen Haare waren zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengebunden, und ihre Adlernase war dunkel vom Schmutz. Frisches Blut bedeckte den einen Mundwinkel. 68 »Du solltest dich beeilen«, sagte sie, ohne den Kopf zu heben, während sie vorsichtig den zerrissenen Stoff beiseite schob, um die Wunde zu betrachten. Sie atmete schwer, doch es hatte nicht den Anschein, als würde sie das Bewusstsein verlieren. Hanna hatte schon schlimmere Wunden gesehen. Die Klinge hatte die Haut oberflächlich aufgerissen, war aber nicht tief eingedrungen. Sie löste Hathuis Adlerschnalle und half ihr, die Tunika auszuziehen, dann strich sie eine Paste aus zerstoßenen Ringelblumen auf die Wunde, ehe sie sie mit einem Stück Leinen verband. Hathui streifte gerade die Tunika wieder über, als Ernst triumphierend zurückkam und eine Stute mitbrachte, die erbärmlicher als jedes andere Pferd aussah, das Hanna jemals gesehen hatte. »Danke, Junge.« Hathui humpelte zu ihm und nahm ihm die Zügel ab. »Ich heiße Hathui. Bist du einer von uns?« »Ich heiße Ernst«, sagte der Junge und starrte sie voller Bewunderung an. Hathui war keine wirklich schöne Frau, dachte Hanna, aber äußerst beeindruckend: Sie war stark und stolz und erweckte den Anschein, als wäre sie bereits siegreich durch einen Sturm von Dämonen geritten. »Ich will ein Adler werden. Deshalb reite ich mit Hanna.« »Schön, dich zu treffen.« Nachdem Hathui ihn mit dem formellen Adlergruß begrüßt hatte, rieb sie der Stute liebevoll die Nase und überprüfte die Satteltasche, die jedoch nichts weiter zu enthalten schien als einen halben Laib trockenes Brot und eine leere Weinhaut. Schließlich blickte sie auf. »Oh, Gott, Hanna, es tut so gut, dich zu sehen. Wohin willst du?« »Nach Aosta. Was gibt es für Neuigkeiten, Hathui? Kommst du vom König? Ich bin mit einer dringenden Nachricht von Prinzessin Theophanu unterwegs -« Hathuis Gesicht wurde kalkweiß, und sie sank mit schmerzverzerrtem Gesicht zurück auf den Stein. »Du musst sofort zu Prinzessin Theophanu zurückreiten!« »Ist der König rot?« »Nicht, als ich aufgebrochen bin.« Hathui sprach so leise, dass es schwer war, sie zu verstehen. »Ich bete, dass er noch nicht tot ist.« Tränen traten ihr in die Augen und liefen über ihre Wangen. 69 »Dass ich so lange gebraucht habe, um auch nur hierher zu kommen! Und ich weiß nicht einmal, wie weit ich
noch reisen muss.« Ihre Miene brachte Hanna zum Zittern, und dann griff Hathui nach dem Schwertgriff und kämpfte sich auf die Beine. Sie blickte grimmig und entschlossen drein. »Wir müssen uns beeilen. Du musst so rasch wie möglich zu Prinzessin Theophanu zurück, und ich ... Weißt du vielleicht, wo Prinz Sanglant ist, Hanna? Die Gerüchte, denen ich folge, führen mich nach Osten, aber vielleicht handelt es sich dabei um eine alte Spur, Gott mögen mir beistehen, denn er verbirgt sich vor meiner Adlersicht. Ich muss unbedingt zu Prinz Sanglant!« Ernst kam allmählich näher, um zuzuhören, aber Hanna scheuchte ihn weg. »Du musst Wache stehen, Ernst! Halte die Augen offen. Diese Räuber könnten sich nur zu leicht zurückschleichen und uns töten, wenn du nicht aufpasst!« Sie hob einen der Stöcke auf, die die Wegelagerer zurückgelassen hatten; es war nichts als ein kräftiger Wanderstock, an dem einen Ende unangenehm zugespitzt. Sie schlug damit auf die Brombeerbüsche um den Stein ein, damit sie und Hathui sich gemeinsam dort niederlassen konnten. Es fühlte sich gut an, auf die Büsche einzudreschen, das Knacken der Zweige zu hören und zu sehen, wie die Blätter sich auf dem Boden verteilten und immer mehr von der alten Steinbank freigaben. Dem Muster der umherliegenden Steine und den ordentlich bearbeiteten Rändern entnahm sie, dass es sich um eine alte Station der Dariyaner handeln musste. Dariyanische Boten, Leute wie sie, hatten vor langer Zeit hier Unterschlupf gefunden. »Setz dich«, sagte sie. Hathui tat wie geheißen; sie zitterte und war noch immer sehr blass. »Du musst mir alles erzählen.« Das tat sie, wenngleich auf eine so abgehackte Weise, wie Hanna es bei dem selbstbewussten und scharfzüngigen Adler, den sie fünf Jahre zuvor in Friedleben kennen gelernt hatte, noch nie erlebt hatte. Während sie sprach, ging Ernst am Rand des Waldes auf und ab, ritt jeden der drei von der Lichtung abgehenden Pfade ein Stück entlang: Einer führte nach Norden zurück zu Theophanu, der andere nach Osten, der dritte nach Südwesten. Jedes Mal, 70 wenn er zurückkehrte, warf er den beiden Frauen einen Blick zu, bevor er sich erneut auf den Weg machte. Hathuis Stimme war kaum mehr als ein Krächzen. »Ich bringe keine Botschaft von König Henry, nur die Nachricht über seinen Verrat. Hugh von Austra hat sich mit Königin Adelheid und der Skopos, der Heiligen Mutter Anne, zusammengetan, und gemeinsam haben sie Henry in jeder Hinsicht zu ihrem Geschöpf gemacht. Ich weiß nicht, mit welch schwarzer Zauberei Hugh seine Hände besudelt hat, aber ganz sicher hat er einen unirdischen Daemon beschworen und in den vollkommen arglosen König gezwungen. Jetzt spricht der König mit der Stimme des Daemons, der seine Worte und seine Bewegungen kontrolliert.« »Wie hat Hugh von Austra es geschafft, zu den Beratungen von Königin Adelheid und der Skopos hinzugezogen zu werden?« »Er ist jetzt ein Presbyter, dem alle Sünden vergeben wurden«, sagte Hathui verbittert. »Ich weiß nur wenig über die neue Skopos, außer, dass sie behauptet, die Enkelin von Kaiser Taillefer zu sein. Sie behauptet auch, sie wäre Liaths Mutter.« War das möglich? Hanna hatte Liaths Kind zusammen mit Sanglant gesehen, in den wenigen Tagen, die sie an der Seite des Prinzen jenseits der Veser verbracht hatte; damals hatte der Prinz sie ausführlich über die Zeit befragt, die sie als Gefangene bei Bulkezu und dessen Heer verbracht hatte. Bevor er sie weggeschickt hatte, um die Nachricht von seinem Sieg und seinen Plänen seiner Schwester zu überbringen. Sie hatte diese Geschichte selbst gehört, aber sie kam ihr jetzt noch immer so unwahrscheinlich vor wie damals. Aber vielleicht war es auch die einzige Erklärung, die einen Sinn ergab. Der Wind brachte die Blätter zum Tanzen und Wispern. Ein brauner Zaunkönig tauchte im Brombeergebüsch auf, beäugte Hanna und Hathui mit argwöhnischem Blick, ehe er davonflatterte. »Da ist noch etwas«, sagte Hathui schließlich. Ihre Schultern sackten nach vorn, und sie klang erschöpft. »Mathilda, das Kind von ihm und Adelheid, wird zur Erbin ernannt werden. Adelheid 71 wollte, dass Henry in Aosta bleibt und im Süden kämpft, obwohl es seine Absicht war, nach Wendar zurückzukehren. Deshalb haben sie ihn mit einem Daemon gebunden. Jetzt tut er nur noch, was sie wollen.« »Wieso willst du dann zu Sanglant gehen?« »Er muss erfahren, was geschehen ist.« »Er hat selbst gegen den König rebelliert. Du musst diese Neuigkeit sofort Theophanu überbringen!« »Nein, ich muss zu Sanglant gehen. Rosvita hat es mir dringend eingeschärft. Sie hat gesagt...« Hathui legte erneut ihre Hand an die verletzte Stelle, schloss die Augen und weilte einen Moment in ihren Erinnerungen. Ihre Worte waren kaum hörbar. »Sie hat gesagt: >Ein Bastard wird seinen wahren Verdienst zeigen, wenn Verführung seinen Pfad kreuzt und die schlimmsten Geschichten, die er sich vorstellen kann, seine Aufmerksamkeit erringen.< Oh, Herrin. Sie hat sich gefangen nehmen lassen, damit ich entkommen konnte. Ich weiß nicht, ob sie noch lebt, nach so langer Zeit. Ich habe sie mit meiner Adlersicht gesucht, aber nur Dunkelheit gefunden.« Zu Hannas großem Entsetzen begann Hathui zu weinen. »Ich fürchte, sie ist tot.« Rosvita bedeutete Hanna nur wenig, abgesehen davon, dass sie Ivars ältere Schwester war, genau gesagt seine Halbschwester. »Wann war das? Wie lange bist du jetzt schon unterwegs?« Hathui wischte mit dem Handrücken die Tränen fort. »Monate. Seit letztem Jahr. Ich musste nach Westen reiten,
nach Salia. Trotzdem bin ich zu spät gekommen und konnte die Berge nicht mehr passieren. Schneefälle hatten den Pass bereits geschlossen. Also habe ich mich verborgen und versucht, irgendwie den Winter zu überstehen. Sie haben mich gejagt. Mindestens ein Dutzend Mal habe ich Soldaten in der Uniform von Königin Adelheid auf den Straßen gesehen. Erst vor drei Monaten ist es mir gelungen, mich durch den Schnee nach Salia zu kämpfen, wobei ich gezwungen war, nur in der Wildnis und nachts zu reiten, bis ich schließlich Wayland erreichte. Dort habe ich dann herausgefunden, dass die Soldaten von Herzog Conrad mich eher in den Kerker werfen als mir helfen würden. Du siehst, es war nicht leicht für mich, bis 72 hierher zu kommen.« Sie tätschelte den kalten Stein, beinahe liebevoll. »Diese Wegelagerer waren nur die geringste einer langen Reihe von Schwierigkeiten, mit denen ich mich auseinander setzen musste. Und ich fürchte, meine Reise wird auch weiterhin beschwerlich bleiben.« »Das ist wahr, es sei denn, du wendest dich nach Norden und überbringst diese Nachrichten Theophanu. Prinz Sanglant reitet nach Ungria. Er ist im letzten Herbst von Osterburg aufgebrochen, nach der Schlacht dort, aber ich weiß nicht, wie es ihm im vergangenen Winter ergangen ist. Er verbirgt sich auch vor meiner Adlersicht. Du bist eine Närrin, wenn du ihm nach Osten hinterher reitest. Du musst diese Neuigkeiten unbedingt Theophanu überbringen -« »Nein!« Hathui erhob sich und schritt zu ihrem Pferd. »Ich muss zu Sanglant reiten! Ich werde tun, was Schwester Rosvita mir aufgetragen hat. Sie ist die Einzige, von der ich genau weiß, dass sie dem König treu ergeben ist, seit Hugh Markgraf Villam ermordet hat.« »Villam!« Die Worte waren wie Stacheln, prickelnd und voller Gift. »Mögen Gott uns retten, wenn das wahr ist.« Und doch ... »Wir haben keinerlei Nachrichten aus Aosta erhalten. Nichts. Prinzessin Theophanu hat drei Adler zu ihrem Vater geschickt, um ihn über die hoffnungslose Lage in Kenntnis zu setzen -« »Eine zumindest hat die Nachricht überbracht, aber sie wird in Darre festgehalten. Vielleicht haben die anderen beiden nach meiner Flucht den Hof erreicht, und es ist ihnen genauso ergangen. Hugh und die anderen Verschwörer werden sicher nicht zulassen, dass Theophanus Adler jetzt Aosta verlassen. König Henry wusste, dass er in Wendar gebraucht wird! Er wollte zurückkehren!« Hathui blieb bei dem höchsten Teil der Mauer stehen, der ihr bis zur Schulter reichte. Ein paar Dachbalken aus Holz lagen von Brennnesseln und Moos überwuchert vor ihr auf dem Boden. In ihrem Gesicht zeigten sich Entschlossenheit und Starrsinn. Ihre Miene war unerschütterlich. »Ich gehe zu Sanglant, Hanna. Sanglant wird den Verrat an seinem Vater rächen. Er wird Henry retten. Niemand sonst kann das.« 73 »Sanglant ist nicht der Mann, für den du ihn hältst, Hathui. Reite nicht zu ihm, ich bitte dich. Prinzessin Theophanu -« »Nein.« Hathui band einen Stock an ihren Sattel und machte sich zum Aufsteigen bereit. »Ich werde mich nicht von meiner Aufgabe abhalten lassen.« Das war die Hartnäckigkeit, die König Henry so sehr bewundert hatte, dass er Hathui zu seinem bevorzugten Adler und tatsächlich auch zu einer Beraterin gemacht hatte, deren Meinung er eingeholt und ihr vertraut hatte. Hathui liebte den König. Aber sie irrte sich, was Sanglant betraf. »Also gut«, sagte Hanna schließlich. »Ernst wird zu Theophanu zurückkehren.« Bei dieser Antwort hielt Hathui, die sich schon auf die Stute schwingen wollte, inne und starrte Hanna entsetzt an. »Was soll das heißen?« »Das heißt, dass ich genau das tue, was Prinzessin Theophanu mir aufgetragen hat. Ich werde nach Aosta zum König reiten.« »Hanna!« »Ich kann genauso starrsinnig sein wie du, Hathui.« Aber als sie die Worte sprach, spürte sie den Wespenstich in ihrem Herzen. Wandte sie sich von Sorgatani ab, weil die kerayitische Prinzessin sie nicht aus der Gewalt der Qumaner befreit hatte? Bestrafte sie Sanglant, der sein eigenes Volk verraten hatte, indem er Bulkezu am Leben ließ? Oder tat sie nur das, was richtig war? »Du hast wohl nicht verstanden, was ich dir gesagt habe -« »Ich habe es sehr gut verstanden. Ich werde Theophanus Nachricht überbringen, wie es meine Pflicht ist. Ich werde König Henry meinen Bericht über die Invasion der Qumaner überbringen, wie ich es geschworen habe. Ich werde selbst erleben, wie er reagiert.« »Du darfst ihnen nicht trauen! Was sie dir antun könnten -« »Sie können mir nichts Schlimmeres antun als das, was ich schon erlitten habe.« Während ihrer Unterhaltung hatte die Sonne unmerklich den Nebel weggebrannt, und jetzt fiel helles Licht auf die Lichtung. Tau glänzte auf Brennnesseln und glitzerte auf reifen Beeren, ver74 dunstete rasch in der warmen Sonne. Die Morgenbrise ließ nach, und ein träger Sommerglanz legte sich auf das Grün des Waldes, untermalt von dem Gesang der Vögel und dem Krächzen eines verärgerten Raben. Jede Freundlichkeit war jetzt aus Hathuis Gesicht verschwunden, ersetzt von der Miene einer Frau, die gesehen hatte, wie die Dinge, die sie am meisten liebte, vergiftet und zertrampelt worden waren. »So sei es. Du hast
deinen Weg gewählt. Ich habe meinen gewählt.« Genug, dachte Hanna. Ich habe mich entschieden. Die Wut, die sie in letzter Zeit nie verließ, hatte sich inzwischen zu Eisen verhärtet. Solange Bulkezu lebte, würde sie dem Mann, der sich geweigert hatte, ihm die verdiente Strafe zukommen zu lassen, weder Treue, Hilfe noch Vertrauen gewähren. »So sei es«, rief sie zurück. Drei Wege führten von der Lichtung weg. Sie würde den ihren allein gehen. Teil Zwei Das abgelaufene Jahr III Eine Natter in der Grube
1 Im Osten, so hieß es, untersuchten die Priester des jinnischen Gottes Astareos das Feuer auf Omen hin. Sie deuteten das Flackern und Knistern der Flammen, das Verrutschen der Asche auf den verkohlten Holzstücken und das Glitzern der Kohle, die in der Glut bestimmte Muster bildete. In jeder noch so unbedeutenden Bewegung sahen die Priester eine Botschaft des Gottes, der auf diese Art seinen Willen und das Schicksal all jener enthüllte, die ihm huldigten. Aber so angestrengt Zacharias auch in das lodernde Lagerfeuer starrte, er konnte ihm doch keine Bedeutung entlocken. Ihm kam es wie ein ganz gewöhnliches Feuer vor, das fröhlich Äste und Scheite verschlang. Ähnlich verschlang auch die voranschreitende Zeit alles, sogar das Leben eines Menschen, bis es vollkommen aufgebraucht war. Danach gab es nur noch die kalte Schönheit eines unendlichen Universums, dem das Schicksal einer einzelnen, unbedeutenden Menschenseele unwichtig war. Er zitterte, obwohl die Sommernacht eigentlich zu mild war, um zu frösteln. »Was glaubt Ihr, Bruder Zacharias? Haltet Ihr die Geschichten über den Phönix und die Erlösung für wahr?« 79 Aufgeschreckt blickte er vom Feuer auf und starrte Chustaffus an. Der stämmige Soldat blickte ihn mit einem freundlichen Lächeln auf seinem schlichten Gesicht an. »Welchen Phoenix meint Ihr?«, fragte er. »Er hat nicht zugehört«, sagte Bärbeiß. »Er hört nie zu.« »Er sieht wieder Drachen im Feuer«, erklärte Lewenhardt, der Bogenschütze. »Oder unsere Zukunft«, meinte der stille Den. »Oder den verfluchten Phönix, von dem du ständig redest, Chuf«, fügte Bärbeiß hinzu und gab Chustaffus einen leichten Schlag auf die Schulter. Alle lachten, aber auf freundschaftliche Weise, und redeten weiter, während sie an ihrem Lagerfeuer eine Abendmahlzeit aus Fleisch, Haferbrei und Bier zu sich nahmen. Ihre Feuerstelle war nur eine von etwa fünfzig, die sich auf dem Weideland außerhalb der ungrianischen Siedlung Nabanya verteilten. Wieso Prinz Sanglants treue Soldaten einen abgerissenen, feigen und abtrünnigen Priester in ihrer Mitte duldeten, begriff Zacharias ganz und gar nicht, aber er war dankbar für die Kameradschaft, die sie ihm gewährten. Dadurch konnte er dem Umfeld des Prinzen, dem er als Übersetzer diente, hin und wieder entfliehen, und somit auch der Gegenwart seines schlimmsten Feindes, der unglücklicherweise noch immer nicht tot war. »Prinz Ekkehard war ein Verräter«, erklärte Den. »Ich finde nicht, dass wir auch nur irgendetwas von dem glauben sollten, was er gesagt hat.« »Aber nicht nur er hat solche Geschichten erzählt«, beharrte Chustaffus. »Manche Menschen sind sogar gestorben, weil sie an die Erlösung geglaubt haben. Sie waren bereit, dafür in den Tod zu gehen. Es muss schon ein sehr starker Glaube sein, wenn man dafür ein Martyrium auf sich nimmt.« »Oder es zeugt von einem hohen Maß an Dummheit.« Bärbeiß leerte seinen Becher und sah sich suchend nach weiterem Bier um, doch sie hatten ihre Ration bereits aufgebraucht. »Ich kann das alles nicht glauben.« »Was Prinz Ekkehard gerettet hat, war nicht die Ketzerei«, sag80 te der schwarzhaarige Immersieg, der zwar selten das Wort ergriff, aber lange zu reden pflegte, wenn er es tat. »Ich habe gehört, er ist von den Qumanern wie ein Edelmann behandelt worden. Wenn die Aussagen des Adlers stimmen - und es gibt für mich keinen Grund, daran zu zweifeln -, dann sind viele ehrliche und gottesfürchtige Leute gestorben, während Prinz Ekkehard sich an geraubten Speisen und gestohlenem Wein gütlich getan und sich mit Frauen vergnügt hat, die gegen ihren Willen in sein Bett gesteckt wurden. Es hätte auch eine Schwester von euch sein können, die vor der Wahl gestanden hat, ihm zu Diensten zu sein oder zu sterben.« »Prinz Ekkehard ist nicht der Einzige, der überlebt hat«, erklärte Chustaffus. »Vergessen wir Feldwebel Gotfrid von den Löwen und seine Männer nicht. Sie sind den Qumanern entkommen, und auch den Schatten im Wald, und den Wegelagerern, die sie in die Sklaverei verkauft haben, bevor der Prinz sie ausgelöst hat. Gotfrid ist ein guter Mann. Er hat an den Phönix geglaubt. Selbst Edelmann Wichman hat zugegeben, dass er den Phönix
gesehen hat.« »Hör schon auf, Chuf«, sagte Lewenhardt. »Wenn ich noch einmal etwas über diesen verfluchten Phönix höre, verspreche ich dir, den Nächsten, der mir über den Weg läuft, mit Pfeilen zu spicken.« Den, Johannes und Immersieg lachten lange über diese Worte, aber Chustaffus fühlte sich beleidigt, sodass es an Zacharias war, den finster dreinblickenden Soldaten zu besänftigen. Als Sklave der Qumaner hatte er gelernt, Worte so einzusetzen, dass die unerwarteten Ausbrüche seines Herrn gemildert wurden. »Viele Geschichten sind wahrer, als die Leute es sich vorstellen können, und doch sind andere so falsch wie ein Wolfsherz. Ich frage mich manchmal, ob ich wirklich diesen Drachen oben im Alfar-Gebirge gesehen habe. Es könnte auch ein Traum gewesen sein. Doch wenn ich meine Augen schließe, kann ich ihn noch immer am Himmel leuchten sehen, während sein Schwanz auf den Schnee der Berggipfel um uns herum einpeitscht. Was soll ich nur davon halten?« Die Soldaten wurden niemals müde, sich die Geschichte von dem Drachen anzuhören. 81 »Hatten seine Schuppen wirklich die Größe und die Farbe von Eisenschilden?«, wollte Lewenhardt wissen, der die Begabung der besonders herausragenden Bogenschützen besaß, sich kleine Einzelheiten merken zu können. »Nichts, was so groß ist, kann fliegen«, sagte Bärbeiß. »Vielleicht nicht wie ein Vogel«, erklärte Lewenhardt. »Vielleicht haben diese Drachen eine Art Magie, die sie in der Luft hält. Wenn sie aus Feuer bestehen, stößt die Erde sie vielleicht ab.« »So wie bei dir und den Frauen, ja?«, fragte Johannes, der Mann aus Karrone, der nur sprach, um jemanden aufzuziehen. »Habe ich euch gezeigt, wo die ungrianische Hure mich gebissen hat?« Lewenhardt zog seine Tunika hoch. »Nein, hab Erbarmen!«, rief Johannes mit einem Lachen. »Ich kann genügend Würmer ausgraben, um es mir vorzustellen.« »Jemand hat Würmer gefressen und mag den Geschmack nicht«, sagte Bärbeiß plötzlich. »Es geht das Gerücht, dass König Geza sich von seiner Frau scheiden lassen will, um Prinzessin Sapientia zu heiraten. Für den Prinzen wäre es der einfachste Weg, sie loszuwerden.« »Das würde Prinz Sanglant niemals erlauben!«, wandte Lewenhardt ein. »Auf diese Weise hätte König Geza durch die Kinder mit der Prinzessin einen Anspruch auf den wendischen Thron.« »Still«, warnte Den. Hauptmann Fulk näherte sich durch das blühende Federgras und das üppige Schwingelgras, dessen Halme um seine Beine und Oberschenkel schlugen. Hinter ihm wiegten sich Pappeln in der Abendbrise, am Ufer eines Flusses, den Zacharias nicht kannte. An der Stelle, wo sich der Fluss um einen Hügel wand, erhob sich eine alte, wieder instand gesetzte Ringfestung, der Sitz einer adligen ungrianischen Familie. Hinter der Festung breitete sich eine Siedlung aus, geschützt von einer Palisade und einem Graben. Sie war ungrianisch, wie an den vielen stinkenden Pferchen unschwer zu erkennen war. Jeder ungrianische Soldat besaß zehn Pferde, wie es aussah, und Menschen, die nicht ritten, sondern zu Fuß gingen, wurden als Sklaven und Hunde verachtet. Doch wer bestellte die Felder und kümmerte sich um die Gärten ? Als Prinz Sanglant und 82 sein Heer König Geza durch das ungrianische Königreich gefolgt waren, hatte Zacharias in den Hütten und befestigten Dörfern Bauern gesehen, die kleiner und dunkler waren als die ungrianischen Edelleute, die über sie herrschten. Diesen Leuten war es verboten, eigene Pferde zu besitzen - und doch wurden sie gleichzeitig dafür verachtet, dass sie nicht ritten. Die Männer erhoben sich, als Fulk bei ihrer Feuerstelle stehen blieb. Lewenhardt ergriff das Wort. »Hauptmann Fulk. Ist alles ruhig?« »So ruhig, wie es nur sein kann angesichts der Tatsache, dass wir morgen aufbrechen.« Fulk ließ seinen Blick über das Lager schweifen, dann wandte er sich wieder den ums Feuer sitzenden sechs Soldaten zu. »Ich habe euch hier draußen postiert, damit ihr Wache haltet, nicht, damit ihr quatscht.« Er nickte Zacharias zu. »Bruder, ich komme vom Prinzen. Er braucht Euch.« »Ich dachte, Bruder Breschius würde heute für ihn übersetzen? Sitzen denn nicht ohnehin nur Ungrianer und Wendaner zusammen?« »Ich kann nicht für Seine Hoheit antworten. Aber es hieß, Ihr solltet sofort mitkommen.« Bärbeiß begann, ein Klagelied zu pfeifen, brach jedoch ab, als Chustaffus ihn in den Arm kniff. »Ihr werdet heute die Wache um Mitternacht übernehmen«, sagte Fulk zu seinen Soldaten. »Ich komme noch einmal vorbei, um das zu überprüfen.« Diese Worte ernüchterten sie. Zacharias erhob sich mit einem Seufzer und folgte Fulk. Sie gingen am Fluss entlang und lauschten dem Wind, der klagend durch die Pappeln strich. Obwohl die Sonne bereits untergegangen war, hatten die Wolken noch immer einen kräftigen rosa-orangefarbenen Stich. Die Farbe wurde zum Zenit hin heller, bevor sie sich entlang der Berge im Osten in einem dunklen Grau verlor. »Ich vermisse die Birkenwälder unserer Heimat«, sagte Fulk. »Es heißt, wir würden durch Grasland und Flusstäler bis zum Ketzermeer reiten. Dort gibt es sogar Salzmarschen, wie man sie an 83 der wendischen Küste finden kann, nur dass sie weit vom Ufer entfernt sind. Als ich die Heimat verlassen habe
und in den Dienst des Königs getreten bin, hätte ich nie gedacht, dass ich einmal so weit nach Osten reisen würde. Aber ich nehme an, Ihr habt diese Länder bereits gesehen.« »Nein, das habe ich nicht. Das erste Mal bin ich durch Polenie nach Osten gereist.« »Habt Ihr einbeinige Männer gesehen? Frauen mit Hundeköpfen? Zweiköpfige Säuglinge?« »Nur Sklaven und Tyrannen, wie es sie überall gibt.« Fulk schnaubte, aber es klang wie ein Lachen. Wie alle Mitglieder von Sanglants Leibwache trug er einen blassgoldenen Überwurf mit einem schwarzen Drachen darauf. »Die Ungrianer sind ein seltsames Volk«, fuhr er fort und nahm Zacharias' wortkarge Art gelassen hin. »So freundlich, wie man es sich nur wünschen kann, und sie sind gute Kämpfer. Aber ich weiß, dass ihre Mütter nicht Gott in Einigkeit gehuldigt haben. Ich wette, dass die Hälfte von ihnen noch immer den alten Göttern Opfer darbringt. Einer der Jungen sagte, er hätte bei der Wintersonnenwende gesehen, wie ein weißer Hengst vom Palast des Königs weggeführt wurde, der die ganze Zeit auch nicht zurückgekommen ist, während König Geza den Festtag von St. Peter kniend in der Kirche verbracht hat. Gott wissen, dass sie selbst halbe Ketzer sind, denn es waren arethusanische Kirchenleute, die die Botschaft des heiligen Daisan als Erste in diese Länder gebracht haben.« »Die Messe leitet Bruder Breschius, kein arethusanischer Priester.« »Das stimmt. Es heißt, der letzte Arethusaner wäre aus Ungria geflohen, als wir letzten Herbst mit Prinz Bayans Leichnam angekommen sind. Sie sind schlimmer als Ratten, schleichen umher und verbreiten nichts als Lügen und Aberglauben.« »Ich habe den Eindruck, als würde es in den Reihen von Prinz Sanglants Heer selbst genug Aberglauben geben. Ich habe die Gerüchte über den Phönix und die Erlösung gehört.« Fulk hatte eine täuschend sanfte Miene für einen Mann, der nicht nur eine gehörige Anzahl harter Schlachten hinter sich hat84 te, sondern auch noch König Henry verlassen hatte, um dessen rebellischem Sohn zu dienen. Seine Mundwinkel zuckten nach oben, als wollte er lächeln, aber sein Blick war durchdringend. »Wenn man eine Natter in eine Grube ohne Wasser wirft und sie in Ruhe lässt, vertrocknet sie und stirbt. Quält man sie aber, beißt sie zu und überlebt.« Schweigend verließen sie das Flussufer und folgten dem Pfad über eine zugewucherte Weide zum Palisadentor. Die Ringfestung war entlang der Flusskrümmung errichtet worden, aber seit kurzem waren unterhalb des runden Schutzwalls Häuser, Werkstätten von Handwerkern und Hütten von Schafhirten entstanden, die ihrerseits von einem Graben und einer Holzpalisade umgeben waren. Die beiden Männer überquerten die Holzbrücke, die über den Graben führte, und grüßten die Wachen am geöffneten Tor. Da der König anwesend war, die Qumaner geschlagen waren und ein großes Heer auf den Feldern jenseits der Siedlung lagerte, blieb das Tor für das ständige Kommen und Gehen zwischen der Stadt und dem Lager die ganze Nacht über geöffnet. In Ungria herrschte Frieden. Ein halbes Dutzend Soldaten wartete gleich hinter dem Tor auf Fulk; sie lehnten lässig am Gatter eines leeren Pferchs. Als sie ihren Hauptmann sahen, schlössen sie sich ihm an. »Ein Hauptmann kann nicht ohne Gefolge vor dem Prinzen erscheinen, wenn man ihn nicht seines Ranges für unwürdig befinden soll«, sagte Fulk trocken. »Ihr seid allein gekommen, um mich zu holen.« »Das stimmt. Ich wollte mich im Lager umsehen, ohne bemerkt zu werden. Herausfinden, in welcher Stimmung meine Männer sind.« In der Siedlung ging es lebhaft zu. In der Nähe der Gerbereien war Markt, obwohl der Gestank nach Abfall, Urin und Mist die Leute manchmal zu überwältigen schien, die hier um Binsen, Bronzeeimer, Trinkhörner, Töpfe voller Färbemittel, Wollkleidung und eine beachtliche Vielfalt an Schilden feilschten. Kleine Kinder mit dreckverkrusteten Füßen rannten nackt umher. Eine 85 Frau, die bei einer Lattenkiste mit mageren Hühnern saß, rief etwas in einer unverständlichen Sprache, die Zacharias nur zur Hälfte wie Ungrianisch vorkam und in die sich Brocken einer noch raueren Sprache mischten, die weiter draußen im Grasland gesprochen wurde. Hinter ihnen kamen Pferde herangedonnert. Zacharias warf einen Blick zurück, während Fulk gereizt fluchte. Helle Schwingen streiften den dunklen Himmel; im nächsten Augenblick würden die Reiter bei ihm sein. Der Frater schrie laut auf und warf sich zu Boden, riss die Hände über den Kopf. Die Qumaner töteten schnell. Sie würden ihn niederstechen und ihm den Kopf abschneiden. Vor Entsetzen verlor er vollkommen die Beherrschung; ein heißer Urinstrahl lief ihm die Beine hinunter. Aber die Reiter preschten vorbei, achteten gar nicht auf ihn. Allerdings rissen sie die Kiste mit dem Federvieh um. Die Hühner rannten gackernd über den Markt. Eins von ihnen lief zu Zacharias und grub die Krallen in seinen Nacken. »Kommt, steht auf«, sagte Fulk und packte ihn am Arm, um ihm auf die Beine zu helfen. »Seid Ihr getroffen worden?« Es waren keine Qumaner gewesen, die gekommen waren, um ihm den Kopf abzuschlagen. Es war nur eine
Gruppe von ungrianischen Reitern mit weißen Umhängen gewesen, was bedeutete, dass sie zu König Gezas Leibgarde zählten. Fulks Soldaten rannten hinter den Hühnern her und brachten sie der Frau zurück, die laut vor sich hin fluchte. In dem Durcheinander konnte Zacharias sich immerhin unbemerkt auf die Beine kämpfen. Doch wenn die Dunkelheit auch den Fleck auf seinem Gewand verbarg, konnte nichts den Gestank überdecken, der ihn als Feigling entlarvte. Solange er die Qumaner fürchtete, solange er Bulkezu fürchtete, war er noch immer ein Sklave. Er blinzelte Tränen der Scham und der Angst zurück und stapfte zu dem mit schmutzigem Wasser gefüllten Trog. Begleitet von den erstaunten Ausrufen von Fulk und den Soldaten sprang er hinein. Hühner, Ziegen und Kinder wichen unter ohrenbetäubendem Lärm vor dem aufspritzenden Wasser zurück. Zacharias tropfte von der Brust an abwärts, als er wieder aus dem Trog kletterte. Jemand in 86 der Menge warf einen verfaulten Apfel nach ihm. Er duckte sich, aber nicht schnell genug, und so klatschte das Wurfgeschoss gegen seine Brust. »Um Gottes willen«, fluchte Fulk und zog ihn weiter. »Welcher Wahnsinn ist jetzt über Euch gekommen, Bruder?« Der Boden stieg steil an, und die Brustwehr türmte sich dunkel und unerschütterlich vor ihnen auf. »Ich bin in einen stinkenden Haufen Pferdemist gefallen. Puh! Ich kann doch nicht vor den Prinzen treten, wenn ich nach Stall rieche.« Er zitterte immer noch, als sie in den tieferen Schatten des Tores der Brustwehr traten, das nur von der Fackel einer einzigen Wache beleuchtet wurde. »Das nächste Mal werden diese ungrianischen Soldaten irgendeine arme Seele zum Krüppel machen und sich keinen Deut darum kümmern, was sie da angestellt haben.« »Schon gut«, sagte Fulk, verblüfft über Zacharias' Heftigkeit. »Es ist ein Wunder, dass die Pferde nicht auf Euch getreten sind, so, wie Ihr gestürzt seid.« Der von Fackeln erhellte Gang durch die Brustwehr machte eine scharfe Biegung nach links und dann wieder nach rechts. Wachen unterhielten sich auf der Mauer über ihnen, von wo aus sie freie Sicht auf den Durchgang hatten. Einer der Soldaten sang eine traurige Melodie, doch je näher sie dem Innenhof in der Mitte der Festung kamen, desto mehr wurde der Gesang von Stimmengewirr überlagert. Die Edelleute speisten an diesem Abend spät in der Halle, zu Ehren von St. Edward Lloyd, einem scharfsinnigen, frommen Kaufmann aus Alba, der außer Zinn auch den Glauben der Einigkeit in den Osten gebracht hatte. Zacharias hörte Gesang und Gelächter und sah das helle Glühen von zahlreichen Lampen durch die geöffnete Tür. Bedienstete eilten mit gefüllten Platten und Krügen von den Küchen in die Halle und kehrten mit den Resten zurück, die für die Dienerschaft, die Bettler und die Hunde gedacht waren. Fulk schenkte der hell erleuchteten Halle kaum einen Blick, sondern eilte direkt auf die Stallungen zu, in denen sich der Rest von Sanglants Leibwache und ein beachtliches Kontingent von un87 grianischen Reitern versammelt hatten. Wulfhere fing sie an der Tür ab. »Es regnet doch gar nicht«, sagte der Adler, während er Zacha-rias auf die für ihn typische, unangenehm hochmütige Weise von Kopf bis Fuß musterte - ganz so, als hätte er den Bruder wieder einmal bei einer Verfehlung ertappt. »Ein Unfall.« Die Worte kamen krächzend, schroff und abwehrend. Wulfhere zuckte mit den Schultern. »Hier entlang, Hauptmann. Wir haben ihr Haferbrei und Bier gebracht, wie der Prinz befohlen hat. Sie besteht jedoch darauf, sich erst dann auszuruhen und zu baden, wenn sie ihre Nachricht überbracht hat.« Statt auf die Leiter zuzugehen, über die man nach oben in den Raum gelangte, in dem die Soldaten untergebracht waren, führte der alte Adler sie an den Ställen vorbei, die zur einen Hälfte Pferde beherbergten, zur anderen Waffen und Rüstungen und Fässer mit Korn und Bier. Sie gelangten zu einem leeren Stall, in dem Heribert und Feldwebel Cobbo bei einer großen, dunkelhaarigen und grobknochigen Frau hockten, die einen fleckigen Adlerumhang trug und gerade einen Krug mit Bier an den Mund führte. Schwankte der Boden etwa? Seine Knie schienen so schnell unter ihm nachzugeben, dass er sich mit aller Kraft gegen die Wand stemmen musste, um aufrecht stehen zu bleiben. »Schön, Euch zu sehen, Adler.« Fulk trat in den Schein des Lampenlichts. »Ihr seid weit geritten.« Stroh knisterte unter seinen Stiefeln, als er zu ihr ging. Der Adler senkte den Krug und erhob sich, um ihn zu begrüßen. Hathui. Nur ein einziger unterdrückter Laut entfuhr Zacharias. Er zupfte an der Kapuze seines Umhangs, um sein Gesicht zu verbergen, aber sie hatte ihn bereits gesehen. Sie starrte ihn an, nur so lang, wie ein geübter Schlachter benötigte, um einem Kalb die Kehle durchzuschneiden, verblüfft und mit einem Blick, der so scharf war wie eine Speerspitze. Er hatte sich so verändert, dass sie ihn vielleicht gar nicht erkannte. Wenn er vorsichtig war, konnte er dafür sorgen, dass sie niemals erfuhr, wer er war, niemals be88 schämt darüber sein würde, was aus ihm geworden war. Er drehte sich um, wollte sein Gesicht in den Schatten verbergen. Ihre Augen weiteten sich, als sie begriff. Der Krug glitt ihr aus den Händen, und Bier ergoss sich über ihre Hose, während das Gefäß polternd zu Boden fiel und zerbrach. Ihre Lippen formten seinen Namen, aber es kam kein
Laut. Sie taumelte, sank vornüber, als wäre sie geschlagen worden, und reflexartig, wie er es immer getan hatte, als sie nichts weiter als seine kleine Schwester gewesen und wieder einmal in Schwierigkeiten geraten war, machte er einen Satz nach vorn und fing sie auf. Sie drückte ihn fest an sich. »Oh, Gott.« Sie war so groß wie er, hatte einen festen Griff und roch unangenehm. »Ich dachte, du wärst tot.« Ich bin tot. Ich bin nicht mehr der Bruder, den du gekannt hast. Aber er brachte kein Wort heraus. »Mögen Gott barmherzig sein«, sagte Wulfhere leise und ziemlich überrascht. »Ich wusste, dass du einen Bruder hattest, der als Frater in den Osten gegangen war und dort verschwunden ist, Hathui. Ist er das etwa?« Sie weinte, obwohl sie als Kind nie viel geweint, sondern vielmehr die verachtet hatte, die es getan hatten; ihr geliebter älterer Bruder war der einzige Mensch gewesen, der sie jemals in Tränen hatte ausbrechen sehen, so selten das auch geschehen war. »Schsch«, machte er, erinnerte sich mit einiger Bitterkeit an diese längst vergangene Zeit. Erinnerungen schwappten mit einer solchen Heftigkeit über ihn hinweg, dass ihm regelrecht übel wurde. Jetzt würde sie es wissen. Jetzt würde sie ihn verachten. »Ich dachte, du wärst tot«, wiederholte sie mit hohler Stimme. Die Tränen liefen ihr noch immer übers Gesicht, doch ihre Miene war verändert, angespannt und entschlossen, als der Adlerblick wieder auf die Beute in der Ferne fiel. »Wenn du nach all dieser Zeit tatsächlich noch am Leben bist, ist alles möglich. Oh, Gott, Zacharias, wir müssen über so vieles reden, aber ich muss erst dem Prinzen meinen Bericht überbringen.« Sie nickte den anderen zu und verließ die Stallungen. Zacharias blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen, wobei er das 89 Schlimmste befürchtete: dass sie schlechte Nachrichten brachte und dass er hergerufen worden war, weil Prinz Sanglant vorhatte, den gefangenen Qumaner zu holen, und ihn zum Übersetzen brauchte. Warum auch nicht? Sollte sie das Schlimmste ruhig sogleich erfahren, dann würde sie ihn auf der Stelle zurückweisen und er den Schmerz dieser Zurückweisung sofort erleiden. Das war besser, als ewig damit rechnen zu müssen. Sie drängten in die Halle, vorbei an Bediensteten und irgendwelchen Schmarotzern, schoben ein Rudel Hunde beiseite, die hoffnungsvoll auf ein paar Knochen warteten. Hathui humpelte deutlich beim Gehen, als hätte sich die alte Verletzung aus ihrer Kindheit verschlimmert, die ihr ein leichtes Hinken beschert hatte. War es wirklich erst zwei Jahre her, als er sie in Gegenwart von Helmut Villam erblickt hatte ? Zacharias hatte sich damals in den Schatten verborgen, und Hathui hatte ihn nicht erkannt. Sie sah nun dünner, erschöpfter und abgespannter aus, und ihre eingefallenen Wangen ließen ihre kühne, scharfe Adlernase noch stärker hervortreten. Aber als sie sich durch die Menge drängten und zu dem hohen Tisch kamen, von dem aus König Geza das Festmahl leitete, stand sie stolz in ihrem geflickten Adlerumhang und der zerrissenen Kleidung da, und ihre Stimme klang so selbstsicher und stolz, wie er sie in Erinnerung hatte. »Eure Hoheit, König von Ungria, möge in Eurem Königreich alles zum Besten bestellt sein. Ich bitte Euch, vergebt mir mein plötzliches Auftauchen.« Es wurde still in der Halle, während die Edelleute sich vorbeugten, um zuzuhören. Sapientia hatte den Ehrensitz rechts von Geza inne, während Sanglant zwischen dem kräftigen, aber grauhaarigen König Geza und Edelfrau Ilona saß, einer reifen Schönheit und sagenhaft reichen ungrianischen Witwe. Bruder Breschius beugte sich zu König Geza hinab, um ihm die Übersetzung ins Ohr zu flüstern, während Hathui ihre Aufmerksamkeit jetzt auf die königlichen Geschwister richtete. »Eure Hoheit, Prinzessin Sapientia, ich komme mit Neuigkeiten aus Aosta. Ich bin weit und unter großen Anstrengungen gereist, um Euch zu erreichen. Es hat beinahe zwei Jahre gedauert, 90 hierher zu gelangen, und mehr als einmal bin ich nur knapp dem Tode entronnen.« Sanglant stand auf, in der Hand einen Becher Wein. Er trug eine kostbare goldene Tunika mit dem schwarzen Drachen darauf, und seine schwarzen Haare waren aus dem bartlosen Gesicht zurückgekämmt. Wer immer ihn ansah, wurde daran erinnert, dass seine Mutter nicht von Menschen abstammte. Doch war auch unübersehbar, dass er ein Prinz war, der Befehlshaber des Heeres, das die Qumaner besiegt hatte. Sogar Sapientia - oder vielmehr gerade sie - wirkte in ihrem hübschen, einer Edelfrau angemessenen Putz so unbedeutend wie ein Stieglitz gegenüber einem mächtigen Drachen. »Ihr bringt schlimme Neuigkeiten«, sagte Sanglant. Hathui erstickte beinahe an den Worten. »Ja, ich bringe schlimme Neuigkeiten, Eure Hoheit, mögen Gott uns allen helfen. König Henry ist verhext worden, verzaubert durch eine Intrige, die die Königin und sein vertrauter Berater gesponnen haben. Er ist in seinem eigenen Körper gefangen. Ihr seid der Einzige, der ihn retten kann.« 2 Gnade hatte die beunruhigende Angewohnheit, sich so weit aus den Turmfenstern zu lehnen, dass es aussah, als würde sie jeden Augenblick herausfallen oder davonfliegen. »Sieh nur!« Sie war bis zu dem Sehschlitz der Schießscharte gekrochen; noch war sie klein genug, um sich in die schmale Öffnung zwängen und so einen Blick auf den Hof werfen zu können. »Mein Vater hat die Halle verlassen. Ich mag es nicht, wenn er mich hier zurücklässt, als wäre ich in einem Gefängnis. Hat er nicht genug Gefangene, über die er herrschen kann ? Wieso hat er es immer auf mich abgesehen?«
»Dein Vater mag es nicht, wenn du dich so verhältst wie heute Morgen«, sagte Anna wohl schon zum zehnten Mal an diesem 91 Abend. »Wenn du dich wie eine Barbarin aufführst, musst du auch wie eine behandelt werden.« Matto saß beim kalten Herdfeuer; eine brennende Lampe baumelte über ihm. Er hatte den ganzen Nachmittag damit verbracht, das Geschirr der jungen Prinzessin zu ölen und zu polieren, bis es in hellem Glanz erstrahlte. Jetzt blickte er auf und zwinkerte Anna verstohlen zu, die daraufhin errötete, gleichermaßen erfreut und verwirrt. Gnade zwängte jetzt ihre Arme und Schultern durch die Öffnung. Anna packte hastig ihre Füße, während das Mädchen mit vom Stein gedämpfter Stimme rief: »Wer ist da bei ihm? Sieht aus wie ein Adler! Er kommt wieder zurück!« Anna zog an den Füßen und ächzte, doch entweder war Gnade eingeklemmt, oder sie hielt sich irgendwo fest. »Matto!« Der war überglücklich, dass er das Pferdegeschirr beiseite legen konnte und einen Grund hatte, die Arme um Anna zu schlingen, als er Gnades Knöchel packte. »Hoheit!«, sagte er. »Ich bitte Euch, bleibt nicht da drin. Sonst werden wir die Wut Eures Vaters zu spüren bekommen!« Eine Zeit lang passierte gar nichts. Dann schlängelte Gnade sich zurück, rutschte die Stufe vor der Schießscharte halb hinunter und sprang auf den Boden. Bei all ihren Schwächen besaß das Mädchen einen tiefen Sinn für Gerechtigkeit, und es gefiel ihr ganz und gar nicht, wenn ihre Begleiter für ihr Missgeschick verantwortlich gemacht wurden. »Nun, da ist wirklich ein Adler bei ihm«, erklärte sie trotzig. »Ich weiß nicht, woher sie kommt oder wie sie uns hier draußen in Ungria gefunden hat. Ich hasse Ungria.« »Wir alle wissen das, Hoheit«, sagte Anna müde und gestattete es sich, gegen Mattos breite Brust zu sinken. Seine Hand auf ihrer Schulter packte etwas fester zu. »Das wird Thiemo aber gar nicht gefallen.« Zwar hatte Gnade noch immer ein süßes Gesicht, auch wenn sie so groß war wie ein neun- oder zehnjähriges Mädchen, doch funkelten in ihrer Miene eine gewisse Boshaftigkeit und Schadenfreude, als sie jetzt grinste. »Ich höre ihn die Treppe hochkommen.« 92 Anna löste sich von Matto. »Ich habe keine Angst vor ihm«, murmelte Matto, als der Riegel sich bewegte. Die Tür klemmte, daher dauerte es etwas, ehe Thiemo sie aufgestoßen hatte. Um ganz sicherzugehen, trat Anna noch zwei weitere Schritte von Matto zurück. »Der Prinz kehrt zurück«, sagte Thiemo, an Gnade gewandt. »Hoheit.« Sein Blick huschte rasch zu Anna und Matto, prüfte den Abstand zwischen ihnen, dann grinste er Anna gewinnend an - es war ein Lächeln, das sie schon immer ganz benommen gemacht hatte. Wie konnte es sein, dass ein Edelmann wie Thiemo sie überhaupt ansah, eine Gewöhnliche, deren Haut von den Gerbergruben nussbraun gefärbt war? Gnades Tunika war vom Klettern verrutscht. Während Anna dem Mädchen half, die Kleider in Ordnung zu bringen, und mit einem Kamm durch ihre unordentlichen Haare fuhr, sammelten Thiemo und Matto das Geschirr ein und säuberten den Raum; dabei sprachen sie die ganze Zeit kein einziges Wort miteinander. Die beiden jungen Männer waren nie Freunde gewesen, denn die Kluft zwischen ihren jeweiligen Rängen gestattete eine solche Annäherung nicht. Und doch hatte es einmal eine Zeit gegeben, da waren sie im Dienst gegenüber Gnade freundschaftlich verbundene Kameraden gewesen. Dem war jetzt nicht mehr so. Der Lärm von Schritten und Stimmen hallte von unten herauf. Lampenlicht schimmerte, und plötzlich drängte sich ein Dutzend Menschen in das Turmzimmer. Gnade stand rasch auf, um sich auf dem Tritt der Schießscharte zu verbergen, kauerte sich dort nieder wie ein hübsch gestalteter Wasserspeier. Rechts und links bauten sich Thiemo und Matto als ihre Wachen auf. Anna zog sich zum Herdfeuer zurück, als Prinz Sanglant und seine edlen Kameraden und treuen Gefolgsleute sich im Zimmer verteilten. Seine Schwester nahm am Tisch Platz, neben ihr ihre treue Kameradin, Edelfrau Brigida; die anderen blieben respektvoll stehen oder machten es sich auf dem Bett oder der anderen Bank bequem, ganz wie es ihrem Rang entsprach. Es handelte sich um die übliche Gefolgschaft, bestehend aus Edelfrau Bertha von Austra, Bruder Heribert, 93 Wulfhere, dem widerlichen Bruder Zacharias, dessen Gewand ganz nass war, Hauptmann Fulk, dem freundlichen Bruder Breschius, dem ausgelassenen Edelmann Druthmar, der ein Kontingent von Villams Reiterei befehligte, und dem berüchtigten Edelmann Wichman, den alle das Brunsttier nannten. Der einzige anwesende Ungrianer war Istvan, nicht nur ein Edelmann, sondern vor allem ein grimmiger Hauptmann, der nach dem Tod von Prinz Bayan an der Veser seine Loyalität auf Sanglant übertragen hatte, ebenso wie Bruder Breschius. Anna hatte damit gerechnet, auch Edelfrau Ilona zu sehen, deren Lieblingskleid Gnade an diesem Morgen so gründlich verschmutzt hatte, aber offensichtlich war ihr Rang als Vertraute nicht hoch genug, um an dieser privaten Versammlung teilnehmen zu dürfen. Sanglant schritt auf und ab, von der Tür zum Fenster und wieder zurück, aber seine Aufmerksamkeit war unablässig auf den arg mitgenommenen Adler gerichtet, der jetzt auf Annas Stuhl saß und damit die einzige Gewöhnliche war, die nicht stand. Dies hatte nichts mit einem Privileg zu tun, das ihr als Adler gewährt worden
wäre, sondern schlicht damit, dass die Frau aussah, als könnte sie vor Erschöpfung nicht allein stehen. Doch obwohl ihre Schultern herabhingen, ließ ihr scharfer Blick den unruhig hin- und herlaufenden Prinzen niemals los. »Dann stimmt es also«, sagte Sanglant schließlich. »Wulfhere hat mit seiner Adlersicht die Wahrheit gesehen, nur hatten wir keine Möglichkeit, es zu beweisen.« Er warf einen Blick auf Wulfhere, der den anderen Adler mit gerunzelter Stirn musterte, als wären die Neuigkeiten, die die Frau da brachte, nichts weiter als das Kreischen eines Eichelhähers. »Wir müssen sofort nach Aosta marschieren!«, rief Sapientia. Sanglant würdigte sie kaum eines Blicks, und sie versuchte auch nicht, ihn zu unterbrechen, als er einfach weitersprach. »Mit welcher Magie sollen wir gegen diejenigen kämpfen, die den König gefangen genommen haben? Nein. Dies ändert nichts an unseren Plänen, im Gegenteil, unser Weg wird nur umso klarer. Wir müssen weiter nach Osten marschieren. Das ist die einzige Möglichkeit, wie wir unsere Feinde besiegen können.« 94 »Aber Eure Hoheit«, wandte der Adler ein, »ich habe zwei Jahre damit verbracht, Euch zu finden. Wie wissen nicht, was in der Zwischenzeit mit König Henry geschehen ist. Er ist vor meiner Adlersicht verborgen. Er könnte tot sein. Sie können ihm antun, was immer sie wollen!« »Und darin könnten sie auch fortfahren«, sagte Heribert ruhig. »Ich habe gesehen, wie mächtig die Zauberei ist, die sie beherrschen. Wir können sie nicht mit Speeren oder Schwertern bekämpfen.« »Aber Eure Hoheit«, flehte der Adler. »Wenn Ihr nach Osten in das unbekannte Land der Qumaner reitet, könnte es Jahre dauern, ehe Ihr nach Wendar zurückkehrt. Was wird in der Zwischenzeit mit Eurem Vater geschehen?« Sie kniete zu Füßen des Prinzen nieder, was ihn dazu zwang, stillzustehen. »Henry muss am Leben bleiben, wenn sie durch ihn herrschen wollen«, sagte Sanglant. »Sobald Henry stirbt, werden seine wendischen Heere Adelheid und ihre Berater verlassen. Die Edelleute und ihre Gefolgschaften werden nach Wendar zurückkehren, wenn der König nicht mehr da ist, um sie anzuführen.« »Da ist dieses Kind, Eure Hoheit.« Die Stimme des Adlers klang leise, aber Sapientia brach plötzlich in wildes Geschrei aus. »Abgeschoben! Einfach verdrängt! Und auch noch für ein schreiendes Balg!« Wichman schnaubte, verstummte jedoch auf einen Blick des Prinzen hin. »Es stimmt, dass das Kind an Henrys Stelle Königin werden könnte, aber das Mädchen kann noch keine drei Jahre alt sein.« Sanglant starrte auf die Schießscharte, wo seine unnatürliche Tochter sich in den Schatten des Fensterbogens verbarg. Auch Gnade war noch keine drei Jahre alt, wirkte aber so viel älter, dass König Geza vorgeschlagen hatte, sie mit seinem Lieblingskind zu vermählen, einem frechen Fünfzehnjährigen, von dem sich viele hinter vorgehaltener Hand erzählten, dass er trotz eines Dutzends älterer Brüder zum Erben ernannt werden würde. »Schon früher haben Herrscher durch dreijährige Kinder regiert, Eure Hoheit«, erklärte Wulfhere. »Diese Mathilda wird 95 zweifellos leichter zu kontrollieren sein als ein erwachsener Mann vom Format und mit der Erfahrung König Henrys.« »Schlagt Ihr also vor, dass wir unsere Suche aufgeben sollen?« »Nein, das tue ich nicht, aber ich möchte Euch nahe legen, sorgfältig zu bedenken, was Hathui gesehen und gehört hat. Ich selbst habe sie ausgebildet, und König Henry hat ihren Wert erkannt und sie zu seiner rechten Hand und seiner vertrauten Beraterin erhoben.« Sanglants Lippen zuckten, als wüsste er nicht so recht, ob er lächeln oder die Stirn runzeln sollte. »So, wie Ihr die rechte Hand meines Großvaters König Arnulf wart?« Wulfhere zuckte die Schultern, unwillig, sich in einen Streit verwickeln zu lassen, der so alt war, dass Anna den wahren Sachverhalt nur erahnen konnte. Da sie die Aufgabe hatte, sich um Gnade zu kümmern, wurde sie oft Zeugin der Unterhaltungen zwischen Sanglant und seinen engsten Vertrauten. Obwohl Wulfhere den Status eines respektierten Älteren innehatte, hatte sie häufig Wutanfälle und Vorwürfe erlebt, die wie scharfe Messer hin und her flogen. Sanglant wandte seinen Blick wieder dem jüngeren Adler zu. »Ich stelle Eure Loyalität meinem Vater gegenüber nicht infrage, Hathui. Die habt Ihr allein dadurch bewiesen, dass Ihr so weit gereist seid, um meine Hilfe zu suchen.« »Was ist mit dem König?«, fragte sie. »Wie mir scheint, brauchen sie Henry als Anführer des Heeres, wenn sie gegen die rebellischen Edelleute von Aosta, die Banditen von Jinna und die arethusanischen Eroberer vorgehen wollen. Wieso sollten sie ihn töten, wenn sie ihn mittels Zauberei kontrollieren können? Und wieso kontrollieren sie ihn mittels Zauberei, wenn sie mächtig genug sind, ihn zu töten und die Krone von Wendar auf dem Kopf des Kindes zu belassen? Nein, beten wir, dass mein Vater noch lebt und dass seine Königin und ihre Vertrauten ihn am Leben lassen werden, bis das Kind alt genug ist, um im Kriegsrat selbst einen Platz einzunehmen.« Er blickte erneut zur Schießscharte, aber seine Tochter wurde von den Schatten verborgen. Nur ihre Augen blitzten dort auf, als wären sie zwei Feu96 erfunken. »Wir können gegen die Zauberer erst kämpfen, wenn wir die Chance auf einen Sieg haben, und die haben wir nicht, solange wir uns nicht gegen ihre Magie schützen können.«
»Greifenfedern«, murmelte Zacharias. Sein Gesicht war gerötet, und er schwitzte. »Ich fürchte, dass die Kerayiten sich nichts aus Euren wendischen Problemen machen, Hoheit«, erklärte Breschius sanft. »Sie könnten sich weigern, Euch zu helfen.« »Das habt Ihr schon zuvor gesagt. Nicht, dass ich Euren Rat nicht schätzen würde, Bruder. Aber Annes Intrigen bedrohen die Kerayiten genauso wie alle anderen Völker. Kein Ort auf der ganzen Welt wird davor gefeit sein.« »Und wir alle könnten morgen sterben«, fügte Edelfrau Bertha heiter hinzu. Wichman brach in schallendes Gelächter aus, fing Annas Blick auf und winkte ihr zu. Sie trat unruhig von einem Bein aufs andere. Er hatte einmal versucht, sie anzufassen, und obwohl Sanglant eingeschritten war, machte der ungestüme Sohn der Herzogin sie noch immer nervös. »Ersetzt von einem bewaffneten Säugling!«, murmelte Sapientia. Doch war es Monate her, seit ihr jemand richtig zugehört hatte, und obwohl sie noch immer den Glanz des königlichen Geschlechts besaß, war sie auf unerklärliche Weise verblasst, wie unpoliertes Silber. »Haben die wendischen Edelleute nicht gehört, dass mein Vater mich zur Erbin bestimmt hat? Wie können sie sich jetzt vor einem Kind in Aosta verbeugen?« »Was ist mit Wendar selbst, Hoheit?«, fragte Hathui. Er schritt zur Tür und blieb dort mit dem Rücken zu den anderen stehen. »Ich sollte nach Wendar zurückkehren!«, rief Sapientia. »Ich frage mich, ob meine Schwestern sich noch immer um Saony streiten«, bemerkte Wichman. »Und ob es Ekkehard inzwischen gelungen ist, seinen Schlüssel in die Schatzkammer seiner Frau zu stecken.« Sanglant ging auf diese Bemerkungen nicht ein, sondern antwortete dem Adler. »Ich habe Theophanu eine Kohorte von Löwen 97 an die Seite gestellt. Ich habe etliche Soldaten zurück auf ihre Bauernhöfe geschickt. Wie Ihr seht, reite ich mit weniger als eintausend Soldaten nach Osten. Zwei Drittel des Heeres, das wir an der Veser besaßen, sind nicht mehr bei mir. Diese Soldaten müssen Wendar verteidigen, bis ich zurückkehre.« »Sind sie dazu in der Lage ?« Hathui verzog vor Schmerz das Gesicht, als sie sich erhob und trotzig mitten im Raum stehen blieb. »Habt Ihr eine Ahnung davon, was ich in den zwei Jahren gesehen habe, die ich hierher unterwegs war, Hoheit?« Normalerweise hätte sich ein Edelmann einen solchen Ton von einer Gewöhnlichen niemals gefallen lassen. Doch hatte man schon seit langem eingesehen, dass Adler eine gewisse Freiheit darin besitzen mussten, ihre Meinung kundzutun, sofern die Nachrichten, die sie überbrachten, für den Herrscher von irgendeinem Nutzen waren. Hathui fuhr also fort, ohne seine Erlaubnis abzuwarten. »Salia ist zerrissen vom Bürgerkrieg, von Pest und Dürre. Überall lauern Wegelagerer. Ich habe nur wenig über Varre gehört, während ich durch Wayland geritten bin, doch die Anhänger von Conrad dem Schwarzen haben mir nichts als Verachtung entgegengebracht. Es heißt, dass er Penitir in Mainni gefeiert hätte, als wäre er König, begleitet von Sabellas Tochter Tallia als seiner neuen Frau. In Avaria herrscht die Pest. Ich bin durch mehr als einen leeren Weiler geritten, und bei vielen anderen waren die Zugänge durch gefällte Bäume versperrt, während die Dorfbewohner mit Sensen und Schaufeln bewaffnet dastanden, um sich vor allem zu schützen, das ihnen die Seuche bringen könnte. Prinzessin Theophanu weigert sich, eine der Töchter von Herzogin Rotrudis zur Erbin des Königreichs Saony zu ernennen, aber beide haben damit gedroht, sich an Conrad zu wenden, um mit seiner Hilfe den herzoglichen Sitz zu erringen.« »Zwei Säue wälzen sich im Schlamm, und der Eber sieht zu!« »Ich bitte Euch, Wichman«, sagte Sanglant, »lasst den Adler den Bericht beenden, ohne ihn zu unterbrechen.« Hathui fuhr fort. »Verwandte kämpfen gegeneinander um Ländereien und frei gewordene Titel, weil es in den jüngsten Kriegen 98 so viele Tote gab. Während ich durch die Marklande geritten bin, habe ich Felder gesehen, die völlig vertrocknet waren. Die Kinder sind von Hungersnöten geschwächt, ihre Bäuche geschwollen und die Augen eingesunken wie bei Leichen. In Ostfall hat es zwei Monate ununterbrochen geregnet, und die Hälfte des eingefahrenen Roggens ist der schwarzen Fäule zum Opfer gefallen. Ketzer predigen von einem Phönix, der Erlösung gewährt. Es ist kein Wunder, dass die Leute zuhören. Das Volk fürchtet, dass das Ende der Welt bevorsteht.« Wichman lachte. »Gibt es denn auch irgendwelche Übel, von denen Wendar verschont geblieben ist?« Hathui ließ sich nicht so leicht einschüchtern. »Ich habe keine Berichte über Heuschrecken gehört, und es gab in diesen letzten zwei Jahren auch keine Nachrichten über Aikha-Plünderungen entlang der Nordküste.« »Ein echter Hitzkopf! Fahrt Ihr Eure Krallen auch im Bett so aus?« Ungeduldig wandte sich Hathui wieder an Prinz Sanglant. »Prinzessin Theophanu hat drei Adler nach Aosta geschickt, aber von König Henry noch keine Antwort auf ihre Bitte um Hilfe erhalten. Letzten Sommer bin ich einem vierten Adler begegnet, der nach Süden ritt, um den König aufzusuchen.« Ihre Lippen zogen sich kurz verärgert zusammen. »Ich habe mit meiner Adlersicht gesehen, dass sie in diesem Frühjahr wohlbehalten das Alfar-Gebirge überquert hat, aber als sie sich Darre näherte, verlor sie sich im Schleier der Zauberer ... Conrad von Wayland benimmt sich, als wäre er König und nicht Herzog. Yolanda von Varingia ist ganz mit den salianischen Kriegen beschäftigt. Bischöfin Constanze in Arconia schweigt. Liutgard von Fesse und Burchard von Avaria reiten mit Henry durch Aosta. Saony hat keinen Herzog. Theophanu kann mit den wenigen Soldaten,
die ihr zur Verfügung stehen, nichts unternehmen. Wer wird Wendar retten, Hoheit? Wer wird den König retten?« Sanglant sagte nichts. In der Schießscharte rührte sich Gnade; ihre Füße scharrten über den Stein. Sapientia weinte leise, während Brigida sie tröstete. Die anderen warteten. Anna blickte zum 99 Fenster und bemerkte, dass Thiemo und Matto sie ansahen. Ein Hitzeschauer brachte ihre Wangen zum Glühen, und sie senkte den Blick. Was würde geschehen, wenn sie sich prügelten? Würde Prinz Sanglant sie wegschicken, weil sie Unruhe gestiftet hatten? Sie wollte keinen von beiden verlieren, aber so konnte es nicht ewig weitergehen. Sie würde sich entscheiden müssen. Doch genau das wollte sie nicht. »Ihr habt das Heer und die Führung, Prinz Sanglant«, fuhr Hathui fort. »Kehrt nach Hause zurück.« »Das kann ich nicht.« »Ihr könnt es! Henry hat Wendar in einer Zeit der Heimsuchung verlassen. Wäre er in Wendar geblieben, wäre er nicht verhext worden. Er hätte in Wendar bleiben und nicht einer Krone wegen nach Aosta reisen sollen! Und das solltet auch Ihr nicht!« »Ich reite nicht wegen einer Krone nach Aosta.« Anna hörte, wie die Stimme des Prinzen jenen Ton annahm, der bedeutete, dass die Worte des Adlers ihn verärgert hatten; den Adler schien das aber nicht zu stören, oder sie kannte ihn nicht gut genug, um die Warnung zu verstehen und entsprechend zu handeln. »Aber Ihr reitet nach Osten, auf der Suche nach anderen Zeichen der Macht. Manche bezeichnen Euch als Rebellen, der gegen seinen Vater aufbegehrt. Ich sehe selbst, dass Ihr Eurer Schwester den Befehl über das Heer entrissen habt.« Schweigen breitete sich aus, tödlich und kalt. Aber stimmte es denn nicht ? Auch wenn niemand es aussprach ? Ein scharfes Knack ließ alle zusammenzucken, aber es war nur Wulfhere, der auf einen Zweig getreten war, den irgendjemand mit in den Raum geschleppt hatte. Edelmann Wichman kicherte; er blickte Sapientia an, um zu sehen, was sie, derart herausgefordert, tun würde. Edelfrau Bertha verschränkte die Arme vor der Brust und verzog die Lippen zu einem schmalen, bösartigen Lächeln. Sapientia starrte ihren älteren Bruder an und wartete. Auf seltsame Weise hatte Prinz Bayan ihr beigebracht, ihm zuzuhören und seine Zustimmung abzuwarten, ehe sie handelte, dachte Anna. Jetzt sah sie Sanglant auf die gleiche Weise an. Im Laufe der letzten drei Jahre hatte sie die Fähigkeit zu führen verloren. 100 »Ich habe getan, was ich tun musste.« Der raue Unterton seiner Stimme gab seinen Worten etwas Zwingendes und eine gewisse Leidenschaft, doch klang sie andererseits immer so. »Ich habe nie gegen meinen Vater rebelliert. Und ich werde es auch nicht tun. Aber der Krieg ist noch nicht gewonnen. Adelheid und ihre Gefolgsleute haben den König in eine Schachfigur verwandelt, die mit seiner Stimme spricht, aber ohne seinen Willen. Wer wird jetzt wie ein Herrscher handeln? Ich sage, derjenige, der ihn retten kann, indem er gegen Anne und ihre Zauberer vorgeht.« Heribert räusperte sich und erklärte zaghaft: »Wir sollten nicht vergessen, dass Anne auf dem Thron der Skopos sitzt. Sie ist keine gewöhnliche >Schwester<. Sie ist die Heilige Mutter von uns allen. Gegen sie vorzugehen bedeutet nichts anderes, als Krieg gegen die Kirche zu führen, Prinz Sanglant.« »Selbst jene, die sich als Heilige bezeichnen, könnten Spione des Feindes sein«, murmelte Wulfhere. »Wie Ihr nur zu gut wisst«, erwiderte Sanglant mit einem scharfen Lachen, während er unruhig zum Tisch trat. »Gibt es Wein?« »Kehrt nach Wendar zurück, Prinz Sanglant«, bat Hathui starrsinnig. »Hebt ein Heer aus und reitet nach Aosta, um den König zu retten. Ich bitte Euch.« Sanglant ließ sich von Heribert einen Becher Wein einschenken und leerte ihn in einem Zug. »Nein.« Er stellte den Becher so hart ab, dass ein hohles Geräusch erklang. »Ich reite nach Osten, um Greifen zu jagen.« 3 Nach der Besprechung mit dem Adler des Königs begab sich Sanglant zum Schlafzimmer von Edelfrau Ilona. Ihre vier Zofen schliefen tief und fest auf ihren Pritschen an der hinteren Wand, während Ilona sich nackt zwischen verrutschten Bettlaken räkelte. Sie lächelte leicht und sah zu, wie er sich auszog, dann wölbte sie 101 eine Braue, als er nicht sofort zu ihr kam, sondern ans geöffnete Fenster trat. »Worüber denkst du nach?«, fragte sie. Sanglant stand am Fenster, starrte nach Osten, doch er sah nichts als Sterne und Feuerstellen und dahinter das unbekannte, sich in der Dunkelheit verlierende Land. Noch war der Mond nicht aufgegangen. Es war eine milde Nacht, und eine leichte Brise strich sanft über seine Haut. »Darüber, dass meine Tochter sich unmöglich aufführt.« »Sie ist doch nur eifersüchtig. Sie will dich einfach für sich allein haben. Sie mag es nicht, wenn du deine Aufmerksamkeit einer Frau schenkst. Und es war nur ein Kleid. Ich habe andere.« »Du bist sehr nachsichtig.« »Nein. Ich bin geduldig. Sie wird schnell älter werden, deine Tochter. Schon bald wird sie selbst zur Frau werden und Männer begehren.«
»Oh, Gott«, stöhnte er. »Dann wirst du eifersüchtig sein«, erklärte sie mit einem Kichern. »Weil du dann bei ihr nicht mehr an erster Stelle stehen wirst. Sie wird hin- und hergerissen sein zwischen Vater und Liebhaber. Wenn sie klug ist und Glück hat, wird sie sich irgendwann entscheiden, ihrer eigenen Bestimmung zu folgen und nicht der irgendeines Mannes.« »Ich bin ernüchtert«, erwiderte er und fuhr mit der einen Hand zum Herz. »Ich erkenne, dass du kaum über das Kleid nachgedacht hast, während mir sein Schicksal den ganzen Tag nicht aus dem Kopf ging. Woran denkst du dann?« Sie lächelte und streckte sich. Die einzige Lampe spendete genug Licht, dass er das Muttermal an ihrer linken Hüfte und die sanfte Rundung ihres Gesäßes bewundern konnte. Er warf einen kurzen Blick auf die rosigen Brustwarzen, die kurz zum Vorschein kamen, als sie sich bewegte. Mit einem übertriebenen Seufzer, der beinahe melodisch klang, rollte sie sich auf die Seite. Er spürte die vertraute Regung, spürte, wie ihm heiß wurde. Er hatte die verführerische Witwe im vergangenen Herbst kennen gelernt, als er und sein Gefolge endlich den Hof von König 102 Geza in Erztegom erreicht hatten. Sie hatte ihm bereits eine Woche nach ihrer ersten Begegnung einen Antrag gemacht, aber erst im Winter, als sie von mehreren aufeinander folgenden Schneestürmen innerhalb der Stadtmauern festgehalten worden waren, hatte er sich von ihr verführen lassen. Die Verbindung hatte auch den ganzen Frühling über angedauert. Er durchquerte das Zimmer und setzte sich auf das Bett. »Ich denke an die Trauer in meinem Herzen«, sagte sie warmherzig, »jetzt, wo wir uns dem Grenzland nähern.« »Bist du traurig, dass ich weggehe?« »Aber natürlich! Wenn du nicht mehr hier bist, werden sie sich wieder auf mich stürzen, all die habgierigen Verwandten! Heirate diesen Edelmann! Heirate jenen Edelmann! Sei nicht so selbstsüchtig mit deinem Reichtum und deiner Unabhängigkeit! Wie gut war es, als sie mich mit ihren Angeboten nicht beleidigen konnten, weil sie Angst hatten, dich zu verärgern!« Er grinste, wickelte eine Strähne ihres kupferfarbenen Haares um seine Finger. »Du könntest in ein Kloster eintreten.« »Das bezweifle ich! All das Beten wäre nicht gut für meine Knie. Und ich achte sehr auf meine Knie. Bei meinem Volk heißt es, dass man nicht mehr in der Lage ist, ein Pferd zu reiten, wenn man zu viel kniet.« »Dann wirst du zulassen, dass dein Onkel dir einen Ehemann aussucht?« »Der alte Narr! Es ist nur gut, dass er mein Erbe nicht anrühren kann, sonst hätte er mich selbst geheiratet, auch wenn er dafür von der Kirche als Hure beschimpft worden wäre. Ist das das richtige Wort dafür?« Er ließ ihre Haare los. »Es wäre Inzest.« »Nun gut. Ich denke, ich werde denjenigen heiraten, den sie den Weißen Hengst nennen, den ältesten Sohn von Prinz Arhad und seiner arethusanischen Frau.« »Ah. Die mit dem weißblonden Haar.« »Ja, die. Wieso finden Männer sie nur so faszinierend? Sie ist bereits eine alte Frau, mindestens vierzig. Ich verstehe das nicht.« »Frauen können auf verschiedene Weise schön sein.« Er folgte 103 mit den Fingern den Kurven ihres Körpers, von der Schulter hinab in die Kuhle ihrer Taille und dann die weich geschwungene Hüfte entlang. Ihre kupferfarbenen Haare und ihre üppige Figur ließen ihn nicht immerzu an Liath denken, wenn er sie ansah. Ilona hatte ganz eigene Reize. Sie streckte sich, um die Berührung seiner Hand noch mehr zu genießen. »Männer, die so viele Frauen auf so viele verschiedene Weisen schön finden, sind meist diejenigen, die ihnen das Herz brechen und ihren Schatz rauben!« »Ilona, hat dir jemals ein Mann das Herz gebrochen?« »Natürlich nicht!« »Oder dir deinen Schatz gestohlen?« »Mach dich nicht lustig über mich, du herzloser Mann. Meine Mutter hat meinen ersten Ehemann sehr sorgfältig ausgewählt!« Sie brach in jenes Lachen aus, das er so hinreißend fand. »Als sie uns zusammen im Bett gefunden hat! Es war gut, dass er der Sohn einer fürstlichen Familie war. Leider ist er sehr jung gestorben. Mein zweiter Mann hat schlecht gerochen. Ich bin fest entschlossen, diesen Fehler nicht zu wiederholen.« »Deshalb der Weiße Hengst? Er ist alles andere als hässlich, ein guter Kämpfer, jung, und er sieht sauber aus und riecht vielleicht auch noch gut.« Das war etwas anderes, das er an Ilona so mochte: Sie roch gut. In den Lampen in ihrem Zimmer brannte parfümiertes Öl - Veilchenöl, wenn sie welche hatte, oder Eisenkraut- oder Salbeiöl. Heute hing eine Girlande aus süßem Waldmeister an einem Nagel über dem Fenster, die sich in der Brise sanft bewegte. Selbst aus dieser Entfernung konnte er den rauchigen Geruch wahrnehmen. »Er ist nicht so mächtig an Gezas Hof, dass er glauben kann, über mich zu herrschen. Ich mag es nicht, wenn jemand über mich herrscht.« Sie legte sich auf den Rücken, machte es sich auf dem Polster bequem, das sich am Kopfteil des Bettes befand, und stützte den Hinterkopf auf einem Arm ab. »Du würdest einen schlechten Mann
für mich abgeben, Sanglant.« > »Du bist nicht die Erste, die das sagt.« Sie lachte erneut und strich mit der freien Hand über seine 104 Schulter. »Nein, natürlich nicht. Was wollte ich sagen?« Sie schien dadurch, dass sie seine Haut spürte, abgelenkt zu sein, und die Art, wie sie ihn streichelte, machte es auch ihm schwierig, ihren Worten zu folgen. »Ah, ja. Der Weiße Hengst. Meine Mutter hat als Mädchen drei Jahre bei den verschleierten Priesterinnen verbracht. Sie dienen der Blinden Mutter, einer der Göttinnen, denen jene huldigen, die den alten Bräuchen folgen. Meine Mutter wäre amüsiert bei der Vorstellung, dass ich zwar ihre Bräuche abgelegt habe, um mich dem Gott der Einigkeit zu widmen, aber schließlich einen Mann in mein Bett hole, der den Namen des Gefährten der Blinden Mutter trägt.« Inzwischen hatte er es sich neben ihr bequem gemacht und stützte sich auf einen Ellbogen. Doch im nächsten Moment schoss er hoch. »Heißt das, der weiße Hengst, der zur Wintersonnenwende geopfert wird, wird der Ehemann der Blinden Mutter sein? Das entspricht aber nicht dem Ritual, wie ich es vom Hörensagen kenne.« »Du hast gehört, was die Männer sagen. Das hier ist das, was die Frauen wissen. Unsere Großmütter haben die alten Bräuche aus dem Grasland mitgebracht, als wir vor vier Generationen nach Ungria gekommen sind. Draußen in der Wildnis nehmen sich die kerayitischen Schamaninnen noch immer einen gut aussehenden jungen Mann als Gefährten, um ihr Bett warm zu halten.« »Als Sklaven, wie Bruder Breschius gesagt hat. Als Pura, was in der Sprache der Kerayiten >Pferd< bedeutet.« Für einen Augenblick hatte Sanglant das unbehagliche Gefühl, dass Ilona die ganze Zeit über mit ihm gespielt hatte, als hätte sie all die vergangenen Monate so getan, als wäre er ihr Pura. Vielleicht war sie gar nicht so verrückt nach ihm, wie er es inzwischen nach ihr war. Aber es war unmöglich, es genau zu wissen, wenn sie so lachte wie jetzt, und vielleicht spielte es auch gar keine Rolle. »Der weiße Hengst, der Pura, ist auch eine Opfergabe, die dem Wohlergehen des Stammes dient. Sei vorsichtig, dass die kerayitischen Frauen dich nicht als Pura haben wollen, Sanglant, als Gegenleistung für ihre Hilfe bei dem Versuch, die westlichen Zauberer zu besiegen. Denn diese Hilfe wird einen Preis haben. Die Ke105 rayiten und ihre Herren gehen niemals einen Handel ein, aus dem sie nicht viel für sich selbst herausschlagen können.« 4 »Ich habe Angst, schlafen zu gehen.« Hathui drückte Zacharias' Hand, während sie zusammen auf dem Rand des Steintrogs im breiten Hof vor den Ställen saßen. »Wenn ich aufwache, bist du vielleicht nicht mehr hier.« »Ich werde hier sein.« Er hätte am liebsten geweint. Wie konnte er so glücklich darüber sein, dass er wieder mit seiner Schwester zusammen war, und gleichzeitig so erschreckt? »Ich werde nirgendwo hingehen.« »Es tut mir Leid, dass ich dich für tot gehalten habe«, erwiderte sie und verzog dabei die Lippen zu einem ironischen Lächeln. Der Mond war inzwischen aufgegangen, jagte ein paar versprengte Wolken, und weil er ihr Mienenspiel so gut kannte, konnte er es auch jetzt deuten, obwohl es nicht hell genug war, um sie deutlich sehen zu können. »Ich hatte wohl nicht sehr viel Vertrauen in dich.« »Nein, sag das nicht. Du konntest es ja nicht wissen.« Sie drückte seine Hand und starrte über den stillen Innenhof. Einen Speerwurf entfernt auf der Brustwehr gingen zwei Wachen auf und ab. Sie blieben bei einer Fackel stehen, die in einem Dreifuß über dem Tor befestigt war; das flackernde Licht spiegelte sich auf ihren Helmen. »Zacharias, kann ich ihm trauen ? Ist er würdig, dass ich ihm meine Loyalität schenke, bis der König wieder er selbst ist?« »Welche Wahl hast du sonst, außer nach Aosta zurückzukehren?« »Ich könnte zu Prinzessin Theophanu gehen. Hanna hat genau das von mir verlangt. Hätte ich es letzten Sommer getan, nach dem Treffen mit Hanna, könnten wir inzwischen schon mit einem Heer in Aosta sein.« 106 Er scharrte mit den Füßen über den Boden, verwischte die Linien, wo ein Bediensteter am Abend Dung und Abfall weggeharkt hatte. Der Geruch der Pferde lag schwer über ihnen. In der Nähe bellte ein Hund, dann schwieg er, als er von einem Mann gescholten wurde. Plötzlich sah Zacharias den Hund, einen dunklen Schatten, der sich neben einer Wache auf der Brustwehr entlangbewegte, die Leine festgezurrt. Das Tier wurde beinahe erwürgt. Er rieb sich den Nacken, als das hässliche Geflüster in seinen Kopf drang. Sie würde ihn hassen, wenn sie die Wahrheit herausfand. Sie würde ihn verachten, was noch schlimmer wäre. Es reichte schon, ein Feigling zu sein, aber er würde es nicht ertragen, wenn sie sich voller Verachtung von ihm abwandte. »Aber wer sonst?«, fragte sie, ohne sein Schweigen, seinen Kampf, seine Qual zu bemerken. »Wer sonst könnte Henry retten? Wer kann gegen Hugh von Austra vorgehen, und auch gegen die Heilige Mutter Anne? Prinzessin Sapientia ist wie ein Schoßhündchen, das essen und bellen darf, aber ansonsten an der Leine gehalten wird. Sie kann dieses Heer nicht anführen. Doch was kann Prinzessin Theophanu gegen die Magie von Hugh von Austra unternehmen? Sie ist schon einmal seinem Bann verfallen. Es könnte wieder geschehen.« Er musste nicht antworten. Es genügte, dass er einfach nur zuhörte, während sie sich durch ihr eigenes Für und Wider arbeitete. Sie fragte ihn nicht wirklich um Rat; sie versuchte, sich selbst zu überzeugen, weil sie
verzweifelt war. »Schwester Rosvita hat mir aufgetragen, hierher zu gehen. Sie muss gewusst haben, dass der Prinz es wert ist. Sie muss einen Grund gehabt haben. Sie hat dem König treu und weise gedient. Worauf sonst kann ich mich stützen?« »Du solltest besser etwas schlafen. Morgen früh wird sich dein Weg deutlicher abzeichnen.« Oben auf der Brustwehr knurrte der Wachhund. Jemand kam mit einer Kerze von den Ställen herbei; das Licht ließ Schatten um sie herumtanzen. Ohne dass er sich umdrehen musste, wusste er, wer gekommen war, um nach ihr zu sehen. »Hathui? Du solltest besser schlafen gehen.« Wulfhere klang 107 besorgt, sogar mitfühlend. All die entwürdigenden Jahre, in denen Zacharias als Sklave bei den Qumanern gelebt hatte, war Wulfhere ihr Mentor bei den Adlern gewesen und hatte sie ausgebildet. Sie achtete Wulfhere; das hatte sie selbst gesagt, als sie in den Unterkünften der Soldaten gegessen hatten, nachdem der Prinz sie entlassen hatte. Sie würde ihren eigenen, teuren Bruder niemals achten, wenn sie erst einmal die Wahrheit erfuhr. Sie ließ Zacharias' Hand los. »Das ist wohl wahr, alter Mann. Viele Male habe ich in den vergangenen Monaten daran gezweifelt, Prinz Sanglant zu finden. Doch jetzt, da ich hier bin, kommt mir mein Weg genauso verworren vor wie zuvor. Wo wird er enden? Hast du eine Antwort?« »Du sagst, dass Schwester Rosvita dich zu unserem Prinzen geschickt hat«, antwortete der alte Adler. »Sie ist eine kluge Frau und eine treue Beraterin von König Henry. Bleib bei uns, Hathui. Das ist die einzige Möglichkeit, Henry zu retten.« Sie gab ein Schnauben von sich, das ein halbes Lachen war, und erhob sich mit schmerzverzerrter Miene. »Und das sagt ein Mann, den König Henry einst verbannt hat? Du hast ihn nie gemocht.« »Das stimmt nicht. Ich habe nie etwas gegen ihn gehabt. Es war Henry, der mir nicht getraut hat.« »Wie weise«, murmelte Zacharias, aber niemand hörte ihn. Hathui hatte sich schon ein Stück entfernt, dann hielt sie inne, als sie begriff, dass er ihr nicht folgte. »Wo schläfst du, Zachri?«, fragte sie; sie benutzte den Spitznamen, den sie ihm gegeben hatte, als sie noch zu klein gewesen war, um seinen vollen Namen aussprechen zu können. »Woanders«, sagte er leise und hoffte, dass Wulfhere es nicht mitbekam. Es schmerzte ihn, zu hören, wie sie liebevoll diesen alten Namen benutzte. Er war nicht mehr ihr geliebter älterer Bruder, dem sie überallhin folgte. Er war nicht besser als die Hunde, schlief überall dort, wo er ein Eckchen fand, in das er sich verkriechen konnte. Niemand duldete ihn lange genug, dass er irgendwo eine Pritsche hätte aufstellen können - aber vielleicht war es richtiger zu sagen, dass Anna ihn nicht ausstehen konnte, er selbst es 108 nicht ertragen konnte, in der Nähe von Wulfhere zu schlafen, und er die Kameradschaft der Soldaten nach ein paar Nächten unerträglich fand. Er konnte nur am Rand existieren, niemals im Zentrum, niemals im Herzen. Sie kam zurück und umarmte ihn. »Da, wo man mir etwas Stroh ausgelegt hat, ist Platz genug -« »Nein, nein«, wehrte er hastig ab. Tränen brannten in seinen Augen. »Geh schlafen, Hathui. Wir sehen uns morgen früh.« Sie blieb noch ein paar Atemzüge lang stehen, starrte ihn im dunstigen Lichtschein von Wulfheres Kerze an. Sie versuchte, sein Zögern zu verstehen, denn sie kannte ihn gut genug, um zu begreifen, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Aber sie konnte noch nicht erkennen, was aus ihm geworden war. Sie sah noch immer den älteren Bruder, der stolz nach Osten aufgebrochen war, um den Barbaren das Licht der Einigkeiten zu bringen. Wie sollte sie wissen, dass er sich im dunklen Kern des Schattens verloren hatte ? Dass er seine Ehre befleckt, sich den schlimmsten Entwürdigungen hingegeben hatte? Dass er jenen die Füße geleckt hatte, denen er gehörte, nur um am Leben zu bleiben? Erst als sie ihm gedroht hatten, ihm die Zunge herauszuschneiden, war er geflohen. Hätte er nicht seine Zunge opfern sollen, sogar sein Leben, ehe er seinen Glauben und seine Ehre opferte? »Du siehst müde aus, Zacharias«, sagte sie schließlich, beugte sich zu ihm und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Du solltest dich auch hinlegen. Ich werde morgen bei Tagesanbruch nach dir suchen und mich vergewissern, dass du kein Traum bist.« Sie ging mit Wulfhere in die Ställe. Das Licht verschwand. So klein der Kerzenschimmer auch gewesen war, hatte er doch ein grelles Licht in seine Seele geworfen. Wenn sie die Wahrheit erfuhr, würde sie ihn hassen. Und sie würde die Wahrheit irgendwann herausfinden, denn die eine Person, die alles wusste, reiste noch immer mit Sanglants Heer und hatte nichts Besseres zur Verfügung, um sich zu amüsieren. Er würde es wissen. Er würde Zacharias' Schwäche sehen, seine Ängste, seine Hoffnungen. Er würde Zacharias' letzte Möglichkeit der Erlösung zunichte machen, solange er lebte. 109 Zacharias erhob sich und taumelte wie ein alter Mann zur Tür der Stallungen. Es war dunkel im Innern: Wulfheres Kerze war von der Schwärze vollkommen verschluckt worden, obwohl noch Stimmen zu hören waren, die allmählich verklangen. Die Hälfte der Ställe war leer; um diese Jahreszeit und in einer solch friedlichen Stadt befanden sich viele Pferde draußen auf der Weide jenseits der inneren Mauer. Aber Soldaten bewahrten hier auch andere Dinge auf. Er tastete langsam und so leise wie möglich umher, fand in einem der Ställe ein paar Speere. Er schloss seine
Finger um einen von ihnen und kroch davon. Mit zitternden Händen und ruckartigen Atemzügen hielt er sich in den Schatten, stützte sich dabei auf den Speer, wann immer seine Knie nachzugeben drohten. Der Schaft schien sich seinen Händen wieder und wieder entwinden zu wollen, aber er hielt ihn krampfhaft fest. Er würde Hathui nicht verlieren, nicht, nachdem er schon alles andere verloren hatte. Neben der großen Halle lag der alte Bergfried, der nach Aussage der Ortsansässigen zur Zeit der alten Dariyaner errichtet worden war. Heribert hatte allerdings standhaft behauptet, dass er unmöglich von den Dariyanern erschaffen worden sein konnte: Die Art der Ausführung war zu unbeholfen. Da jetzt die neue Halle und neue Stallungen innerhalb der wiederhergestellten Mauer errichtet worden waren, hatte man den alten Bergfried als zu zugig und zu feucht für den König und seinen Hof erachtet. Aber Stein eignete sich hervorragend für einen Kerker. Die zwei ungrianischen Soldaten, die am Eingang Wache hielten, kannten ihn vom Sehen und ließen ihn durch. Oben, die gewundene Treppe hinauf, befanden sich die Turmzimmer, in denen König Geza diejenigen Gefangenen unterbrachte, die ihn ständig begleiteten - seine erste Frau, eine unbußfertige Heidin, von der er sich beim Übertritt zum daisanitischen Glauben hatte scheiden lassen und die er als Geisel halten musste, damit ihre verärgerten Verwandten ihn dieser Beleidigung wegen nicht umbrachten; einen arethusanischen Priester, der einen jungen ungrianischen Fürsten vergiftet hatte, den Geza aber nicht hinzurichten wagte, 110 weil der Priester Verbindungen zum arethusanischen Königshof besaß; einen Albinojungen, der entweder ein Hexer oder ein Heiliger war, auf jeden Fall aber viel zu verrückt, als dass er ihn auf eigene Faust hätte herumstreichen lassen können, und zu wertvoll, um ihn in die Obhut von jemand anderem zu geben. Noch andere schliefen eingesperrt in bestimmten Zimmern, aber sie waren nicht die wirklich Gefährlichen, sondern nur Geiseln. Die Gefährlichen wurden gewöhnlich sofort getötet. So wie er hätte getötet werden sollen, an dem Tag, da man ihn gefangen genommen hatte. Zacharias benutzte den Speer, um sich den Weg die Treppe hinunter zum unteren Stockwerk zu ertasten. Hier unten war es kühler und feucht, es roch nach Moder und Verfall. »Wer ist da?«, fragte die Wache auf Wendisch. Der Mann erhob sich von dem Stuhl, auf dem er des Nachts in dem feuchten, dunklen Kerker saß. Eine Öllampe hing an einem Ring, der in die Wand eingelassen war. Das Licht beleuchtete mit Mühe das Loch in den Dielen am Boden und die Leiter, die daneben lag. »Oh, Ihr seid es, Bruder. Was führt Euch so spät noch hierher?« Würden das Zittern seiner Hände und der Schweiß auf seiner Stirn ihn verraten? Er durfte jetzt nicht aufgeben. Bisher hatte ihn seine Schlagfertigkeit noch immer gerettet. »Der Prinz hat mich geschickt, den Gefangenen zu befragen.« »Mitten in der Nacht?« Er legte einen Finger an die Lippen und winkte den Soldaten näher zu sich heran, sodass sie den Gefangenen nicht aufweckten. »Malbert, wann hat Eure Wache angefangen? Habt Ihr gehört, dass ein Adler angekommen ist?« »Ein Adler? Nein, davon habe ich nichts gehört. Von Prinzessin Theophanu? Gibt es Neuigkeiten aus Wendar?« Malbert stammte von der nördlichen Küste von Wendar, aus der Nähe von Gent, und war immer begierig auf Neuigkeiten aus dem Gebiet, in dem er aufgewachsen war. »Nein, sie bringt Neuigkeiten aus Aosta. König Henry ist krank. Er ist durch Zauberei vergiftet worden.« »Mögen Gott ihn retten!« 111 »Prinz Sanglant weiß nicht, ob er nach Osten reiten oder nach Aosta zurückkehren soll. Ich soll den Gefangenen erneut über die Gebiete im Osten befragen. Herausfinden, ob er redet und uns irgendwelche Auskünfte gibt.« Malbert schnaubte. »Als wenn er das tun würde. Er wird Euch auslachen!« Aber nicht lange. »Wenn er noch schlaftrunken ist, wird er vielleicht etwas verraten. Wie viele Tage es noch bis zu den Sümpfen im Osten sind. Wo die Greifen jagen.« »Warum ist der Prinz nicht selbst gekommen, um ihn zu verhören? Wo ist er?« »Es geht ihm gut. Sehr gut. Er ist da, wo die meisten Männer mitten in der Nacht gerne wären. Er hat sich zu Bett begeben.« Malbert grinste. »Ich wünschte, ich wäre jetzt auch in einem so köstlichen Bett wie er. Aber ich kann nicht mit Euch runtergehen. Ihr kennt die Regeln.« »Es ist besser, wenn er glaubt, dass ich allein bin. Ich habe diesen Speer, um ihn in Schach zu halten.« Er biss sich auf die Zunge, um die wahnsinnigen Worte zurückzuhalten, die nach draußen drängten: um ihn zum Schweigen zu bringen. Das war die einzige Möglichkeit. Hathui durfte es niemals erfahren. Malbert hatte ein offenes Gesicht und war zu aufrichtig, um seine Zweifel nicht zu zeigen. Alle wussten, wie schmachvoll Zacharias sich zuvor in einem Gefecht verhalten hatte. »Das sagt Ihr. Ich werde hier oben Wache halten.« Sie ließen die Leiter durch das Loch nach unten, bis sie auf dem Boden zu stehen kam. Malbert hielt die Lampe über die Öffnung, sodass Zacharias beim Absteigen Licht hatte. Mit dem Speer unter dem Arm kletterte er hinab.
Obwohl der Prinz die Grube an dem Tag, an dem sie hier eingetroffen waren, gründlich hatte reinigen lassen, stank sie noch immer nach Abfall, Urin und Kot. Malbert ließ eine zweite, frisch entfachte Öllampe herunter und befestigte sie an einem Haken in 112 der Unterseite der Dielen. Wassertropfen hingen an der Steinwand, tröpfelten auf den Boden. Der Gestank der abgestandenen Luft raubte Zacharias schier den Atem, aber der Hass trieb ihn weiter. Der Gefangene lag still und noch immer schlafend auf einem Haufen Stroh. Ketten lagen um seinen Körper, waren an der Wand befestigt. Ohne Ketten war er zu gefährlich, wie der Prinz herausgefunden hatte. Zwei Bedienstete waren gestorben, und drei Soldaten waren bei dem ersten und einzigen Fluchtversuch verletzt worden, den er einen Monat nach der Schlacht an der Veser unternommen hatte. Doch selbst die schweren Ketten vermochten ihn nicht zu schwächen. Sie konnten ihn kaum festhalten. Tu es jetzt, während das Fieber rast. Tu es für Hathui, damit sie es nie erfährt. Damit sie ihrem Bruder nie ins Gesicht spuckt. Schweiß tropfte ihm in die Augen und kitzelte ihn im Nacken. Erregt und mit pochendem Herzen, als wäre er gerannt, stolperte er vorwärts. Siegestaumel überschwemmte ihn, während seine Hände sich fest um den Speerschaft klammerten; die Spitze schoss auf den Rücken des Mannes zu, der im Stroh lag. Er hätte es schon vor langer Zeit tun sollen. Die dunkle Gestalt wand sich geschmeidig wie eine Schlange herum, und der mit einer Handschelle versehene Unterarm schlug den Speer beiseite. Die Spitze bohrte sich durch das Stroh in den Boden. Blitzschnell packte der Mann den Schaft mit der rechten Hand und wickelte mit der linken die Kette um die Spitze. Derart durch den hölzernen Schaft verbunden, starrten die beiden Männer sich an. Ein zittriges Lächeln spielte um Bulkezus Lippen, als er auf die Füße sprang und sich nur durch die begrenzte Länge der Ketten aufhalten ließ. Die Wunde, die ihm die halbe Wange aufgerissen hatte, war bemerkenswert gut verheilt, doch die zackige Narbe verunstaltete sein schönes Gesicht. Niemand konnte ihn jetzt noch ansehen und sich fragen, wieso ein so schöner Mann ein solches Ungeheuer sein konnte. Nie hatte es der Wahrheit entsprochen, dass Gott die Welt so geschaffen hatten, dass jene Dinge, denen Sie Schönheit verliehen und sie dadurch mit liebevoller Zuneigung überhäuften, nur 113 wegen ihres schönen Aussehens auch gut sein mussten. Manchmal traf man das Böse auch in der Verkleidung des Schönen. Man musste vorsichtig sein. »So kommt also der Wurm mit einem langen Messer, um dem Löwen einen Stoß zu versetzen.« Bulkezu stieß zu. Zacharias wurde nach hinten geschleudert, prallte zuerst mit dem Rücken, dann mit dem Kopf gegen die andere Wand. Sein Schrei brach abrupt ab, als das Speerende, das er noch immer umklammert hielt, mit aller Wucht in seinen Bauch gerammt wurde und ihn so an der Wand festnagelte. »Unfähiger, saftloser Wurm«, sagte Bulkezu gefährlich leise. Jetzt, da er das eine Speerende in der Hand hielt, konnte er jeden Winkel der Zelle erreichen. »Aber Würmer sind keine Menschen, sondern nur Würmer. Sie können nicht einmal bellen wie Hunde oder andere Hunde bespringen, nicht wahr?« Wie er diese Stimme hasste, dieses melodiöse Lachen, in dem Vergnügen und jener scharfsinnige Wahnsinn mitschwangen, der Bulkezu zum größten Stammesführer seiner Zeit gemacht und es ihm ermöglicht hatte, viele qumanische Stämme zu einem Heer zu vereinen, um Wendar zu überfallen. Alles, was er tun konnte, war, den Speer noch fester zu umklammern. Wenn er losließ, war alles vorbei. Bulkezu änderte seinen Griff, ging in die Knie und benutzte seine Oberschenkel als Hebel, schleuderte Zacharias vom Boden hoch und erneut gegen die Wand. Wieder presste der Qumaner ihn gegen den harten Stein, und Zacharias schrie vor Wut und Schmerz auf. Malberts Gesicht tauchte oben auf, wie ein Engel, der vom Schimmer des Lampenlichts eingerahmt wurde. Er rief irgendwelche unverständlichen Worte herunter, während Bulkezu weiterhin Zacharias gegen die Mauer schleuderte und der sich weiterhin festhielt. Erklangen da oben auf dem Dielenboden Schritte ? Wieder und wieder schmetterte Bulkezu ihn gegen die Wand, und vor Zacharias' Augen flackerten Funken, und seine Ohren summten. Ein Stein fiel von oben herunter, dann ein zweiter, aber der Winkel 114 stimmte nicht, die Falltür lag zu weit an der Seite. Die Wachen konnten Bulkezu nicht treffen, der Zacharias immer wieder gegen die Wand hämmerte. Doch mischten sich da nicht Wut und Enttäuschung in das Lachen des Ungeheuers ? Wenn er es nur noch einen Augenblick aushalten konnte. Er war den Qumanern vor allem deshalb entkommen, weil er einfach ausgeharrt hatte, weil er nicht aufgegeben hatte. Das durfte er nicht vergessen. Eine neue Stimme erklang von oben. »Zacharias!« Entsetzen packte ihn, und seine Kehle brannte, als Galle in ihm aufstieg. Hathui würde alles mit ansehen. Wieder stieß Bulkezu zu, und erneut krachte Zacharias gegen die Mauer, doch als sein Kopf diesmal gegen den
Stein prallte, wurde es dunkel um ihn. Der Speerschaft glitt ihm aus den Fingern. Seine Beine hielten ihn nicht länger aufrecht. Er stürzte vornüber, kam auf dem Boden auf, und als ihm die Sinne endgültig schwanden, machte er sich auf den Todesstoß gefasst. 5 Er konnte nicht schlafen. Schon wieder nicht. Nicht einmal das weiche Bett und die Frau, die leise neben ihm atmete und deren volle Brüste er an seinem Arm spürte, konnten in dieser Nacht seine wüsten Gedanken besänftigen. So leise wie möglich glitt er aus dem Bett, streifte sich die Tunika über und griff nach den Beinkleidern, dem Gürtel und den Hofschuhen, die in einem Haufen auf einer Bank lagen. Ilona wachte nicht auf. Das tat sie nie, wenn er unruhig war - anders als Liath, die seine Stimmungen gespürt hatte -, oder aber sie tat nur so, als würde sie noch schlafen, weil sie von ihm bekommen hatte, was sie wollte, und nicht bereit war, ihm mehr zu geben als ihren Körper. Sie war Ungria gegenüber loyal, nicht ihm. Sie war loyal gegen115 über ihren Besitzungen und ihren jungen Kindern, die ihren Anteil erben würden, wenn die Zeit gekommen war. Es gab keinen Grund, weshalb sie ihm ihr Herz schenken sollte, ihr Vertrauen, irgendeine Vertraulichkeit, die über die hinausging, die sie im Bett miteinander teilten. Zwei einsame Menschen, die gemeinsam Erleichterung fanden. Aus irgendeinem Grund störte es ihn, dass sie, sosehr sie seine Gegenwart auch genoss, keine echte Liebe für ihn zu empfinden schien, ihm nicht einmal irgendwelche besonderen kameradschaftlichen Gefühle entgegenbrachte. Eine der Zofen erwachte und öffnete die Tür für ihn, sah ihn dabei jedoch nur kurz an und zeigte mit einem respektvollen Kopfnicken, dass sie seinen fürstlichen Rang anerkannte. Auf ähnliche Weise würde sie auch einen an der Tür scharrenden Hund nach draußen lassen. Er ging barfuss den Korridor entlang, tastete sich die Treppe hinunter zum Eingang der großen Halle. Das Festmahl war beendet. Männer schnarchten in der Halle, wo es nach Alkohol und Urin roch. Ein Hund knurrte, und er knurrte zurück und brachte ihn zum Schweigen. Die ganze Welt schien zu schlafen, schien in der Lage zu sein, sich auszuruhen - was er nicht konnte. Doch das war nicht alles, was ihm Sorgen bereitete. Irgendetwas stimmte nicht; er konnte es riechen. Seine Nackenhaare kribbelten, und er trat hinaus in die frische Luft, atmete tief ein und lauschte. Sein Gehör war schon immer so gut gewesen wie das eines Hundes. Laute Rufe und Bewegung wühlten die Nacht auf, gleich beim alten Bergfried, wo die Gefangenen untergebracht waren. Er rannte, kam zur gleichen Zeit wie Wulfhere bei der Tür an. »Gibt es Ärger?«, fragte er. Von drinnen erklangen die unverständlichen Worte einer Wache, und er hörte die Stimme des Adlers Hathui, laut und voller Angst. Immer drei Stufen auf einmal nehmend, landete er neben ein paar Wachen, die alle wild durcheinander riefen; einer der Männer kniete auf dem Boden und warf Steine durch die offene Falltür nach unten. 116 »Dieser verdammte Narr«, fluchte einer, während Hathui versuchte, an ihm vorbei zur Leiter zu gelangen. »Dieser verdammte Narr hat einen Speer mit runtergenommen. Jetzt hat ihn der Gefangene.« »Ich brauche ein Schwert«, sagte Sanglant. Malbert reichte ihm eines. Sanglant nahm es und sprang durch die Falltür, rutschte mehr die Leiter hinunter, als dass er die Sprossen benutzte. Seine Augen hatten sich bereits an das schwache Licht gewöhnt, obwohl eine Öllampe rechts von ihm quietschend hin und her schwankte. Bewegung flackerte vor ihm auf. Er sprang von der Leiter und wirbelte herum, das Schwert hoch erhoben. Er schlug den Speer entzwei, mit dem Bulkezu gerade nach der Gestalt stieß, die ausgestreckt vor der Mauer lag. Der qumanische Stammesführer hob die Hälfte hoch, die ihm noch geblieben war, und schleuderte sie Sanglant entgegen. Mit einem Hieb seines Schwertes wehrte der Prinz das Speerstück im Flug ab. Bulkezu erreichte das Ende seiner Ketten und wurde zurückgerissen. Er zitterte, ob vor Lachen oder vor Wut, war unmöglich zu sagen. War er wahnsinnig, oder tat er nur so? Wie konnte jemand so lange angekettet und eingesperrt sein wie Bulkezu, ohne dem Wahnsinn anheim zu fallen? Das scheußliche Lachen hallte von den Steinen wider. »Ich bin sauberer, als Ihr es seid, Prinz, denn ich habe mich von den Würmern befreit, die in mein Zelt kriechen.« »Der hier lebt noch.« »Oh, Gott, Zacharias.« Hathui kletterte die Leiter herunter, ohne dass sie jemand aufgefordert hätte, und kniete sich neben ihren Bruder, der sich stöhnend bemühte aufzustehen. »Nein, bleib liegen. Du bist jetzt in Sicherheit.« »Hat der Wurm etwa eine Geliebte?«, flüsterte Bulkezu. Im weichen Glühen der Lampe konnte Sanglant sehen, dass die Lippen des Stammesführers noch immer zu einem irren Lächeln verzerrt waren. Hathui blickte auf, jetzt, da der Gegner ihres Bruders keine Waffe mehr besaß, eher neugierig als ängstlich.
»Wer ist das, Ho117 heit?« Dann änderte sich ihre Miene so grundlegend, dass Sanglant verblüfft zur Seite trat, als wäre ihr Blick ein Pfeil, dem er ausweichen musste. »Ich weiß, wer du bist!«, rief sie, während Zacharias benommen aufstand, die eine Hand am Hinterkopf. Bulkezus Lachen verschwand. Er kniff die Augen zusammen und starrte den Adler an, verärgert und verwirrt. Er war immer dann besonders gefährlich, wenn er aufgebracht war. »Hathui.« Zacharias stolperte zwischen seine Schwester und den angeketteten Gefangenen. »Er ist gefährlich.« »Das weiß ich.« Sie trat an ihm vorbei und stellte sich vor Sanglant. »Hoheit, ich verlange Vergeltung. Seine Majestät König Arnulf der Jüngere hat seine Untertanen nach Osten geschickt, damit sie dort heidnisches Gebiet besiedeln. Als Gegenleistung dafür hat er ihnen versprochen, dass sie nur dem König selbst Untertan sind, keinem anderen Herrn und keiner anderen Herrin. Das Gesetz des Königs kennt eine Strafe für bestimmte Verbrechen, nicht wahr?« »Das stimmt«, sagte Sanglant mit Blick auf Bulkezu. Der Gefangene wusste ganz offensichtlich ebenso wenig wie er, wovon sie sprach. »Dieser Mann hat mich vergewaltigt, als ich vierzehn Jahre und noch Jungfrau war. Er hat mich so verletzt, dass die weise Frau meines Dorfes sagte, ich würde niemals Kinder bekommen können. Deshalb habe ich meinen Blick auf die Adler des Königs gerichtet. Ansonsten wäre ich in meinem Dorf geblieben, hätte das Land meiner Mutter geerbt und selbst Töchter großgezogen, die wiederum mich beerbt hätten. Habe ich nicht einen Anspruch auf Vergeltung, Hoheit?« »Er hat dich vergewaltigt, Hathui?«, krächzte Zacharias. Er blickte sich hastig um, griff nach dem zerbrochenen Schaft und riss ihn hoch. »Halt.« Sanglant riss ihm den Speer aus der Hand und schleuderte ihn gegen die Leiter. »Tut nichts Voreiliges, Bruder. Ist das wahr, Prinz Bulkezu?« Bulkezu lachte erneut. »Sie sehen alle gleich aus. Ich erinnere mich nicht. Es muss Jahre zurückliegen. Aber ich erinnere mich 118 noch gut daran, was ich diesem Wurm angetan habe. Weiß sie, deine Geliebte, dass du keinen Schwanz hast, Zacharias? Dass wir ihn abgeschnitten haben, weil du uns gesagt hast, dass du lieber deinen Schwanz als deine Zunge verlieren würdest ? Weiß sie, dass du dich von Männern als Frau hast benutzen lassen, nur um am Leben zu bleiben? Weiß sie, dass du zugesehen hast, wie andere gestorben sind, weil du selbst leben wolltest? Dass du es warst, der mir die wendische Sprache beigebracht hat, damit ich meine Feinde verstehen kann, ohne dass sie es bemerken?« Zacharias schrie vor Zorn auf und machte einen Satz auf Bulkezu zu. Sanglant wirbelte herum und wollte ihn festhalten, aber Hathui hatte ihn bereits gepackt. Sie war fast so groß wie ihr älterer Bruder und besaß die Kraft einer Frau, die schon viele Jahre damit verbrachte, im Auftrag des Königs zu reiten. »Halt, Bruder, tu nichts Voreiliges«, sagte sie und wiederholte damit fast die Worte von Sanglant. »Was bedeutet es schon, was dieser Gefangene über dich sagt?« Wider Willen wich Sanglant einen halben Schritt von dem zerlumpten Frater zurück; er war von den Vorwürfen Bulkezus angeekelt und fand den Gedanken an eine derartige Verstümmelung abstoßend. Welcher Mann würde zusehen, wie seine eigenen Leute starben, und nicht alles tun, um es zu verhindern? Welcher Mann würde sich jedweder Entwürdigung hingeben, nur um sein eigenes Leben zu retten? Und, um Gottes willen, welcher Mann würde wohl eher auf sein Gemächt als auf seine Zunge verzichten? »Welche Antwort habt Ihr auf diese Anschuldigungen?«, fragte er und bemühte sich, die Verachtung aus seiner Stimme herauszuhalten. Es war bemerkenswert einfach, zu glauben, dass Zacharias all diese abscheulichen Dinge getan hatte. Der Frater verhielt sich nie wie ein richtiger Mann. Was immer ihn antrieb - und es fehlte ihm nicht an Courage -, er brach so oft zusammen, wich zurück, versteckte sich. Und er war auch niemals wirklich ein Mitglied von Sanglants Gefolge geworden. Er kauerte am Rand, nicht ganz akzeptiert, niemals in der Lage, sich einen Ruck zu geben und sich mit den anderen zusammenzutun. Zur Überraschung des Prinzen brach der Frater in Tränen der 119 Verzweiflung aus. »Es ist alles wahr«, keuchte er. »Und noch schlimmer.« Seine Miene war so trostlos, dass Mitleid in Sanglant aufstieg. »Es tut mir Leid, Hathui. Verachte mich, wenn du musst -« »Du willst dich entschuldigen, dass du sieben Jahre ein Sklave dieses Ungeheuers warst?« Sie ließ Zacharias' Arm los, machte drei Schritte auf Bulkezu zu und spuckte ihm ins Gesicht. Der qumanische Stammesführer zuckte vor ihrer Wut zurück, mehr überrascht als erschreckt. »Ich werde meinen Fall vor den Prinzen bringen und volle Wiedergutmachung verlangen. Und auch für die Verbrechen, die er gegen meinen Bruder verübt hat.« Sie wartete seine Erwiderung nicht ab. »Komm, Zacharias. Es war dumm von dir, hierher zu gehen, aber ich nehme an, du hattest Angst, ich würde mich von dir abwenden, wenn ich die Wahrheit erfahre.« Ihre Wut hatte sich noch nicht gelegt; sie ergoss sich jetzt auch über ihren unglückseligen Bruder. »Ich würde mich niemals von dir abwenden. Was ein Mensch mit sich machen lässt, wenn er als Gefangener und Sklave gehalten wird, kann man ihm nicht vorwerfen. Komm jetzt, lass uns diese stinkende Grube verlassen.«
Zacharias krächzte ihren Namen, und seine Stimme klang brüchig und armselig, aber er folgte ihr gehorsam die Leiter hoch. Malberts Gesicht tauchte oben auf. »Prinz Sanglant?« »Ich komme«, sagte Sanglant, drehte sich um und hob die zwei Speerhälften auf. Bulkezu war noch nicht fertig. »Sie hat das Abzeichen eines Adlers getragen. Sind die Adler des Königs auch seine Huren?« »Ein schwacher Hieb, Prinz Bulkezu, und Euer unwürdig.« Er setzte den Fuß auf die unterste Sprosse, streckte sich und reichte Malbert den zerbrochenen Speer und dann auch das Schwert. Bulkezus Lippen bebten; inzwischen hatte Sanglant gelernt, dieses ganz bestimmte Zucken als Vorspiel zu seinen schlimmsten Wutausbrüchen zu deuten. »Was für Waffen gebt Ihr mir?«, fragte Bulkezu mit einer Stimme, die so weich wie Federn klang, aber bis ins Mark vergiftet war. »Ich werde Euch einen Speer geben, wenn Ihr mich zu den Jagd120 gründen der Greifen geführt habt - genau so, wie ich es versprochen habe. An dem Tag werde ich Euch freilassen -« »Und bis zu diesem Tag? Ihr solltet mich lieber töten, wenn Ihr so viel Angst vor mir habt, dass Ihr mich in Ketten legt wie ein Hund einen Löwen. Zach'rias ist zumindest ein ehrlicher Wurm. Ihr bezeichnet Euch als Menschen, aber Ihr handelt wie ein Hund, schleicht herum und duckt Euch.« Sanglant lachte. Die Unruhe, die ihn aus Ilonas Bett getrieben hatte, kehrte jetzt doppelt so stark zu ihm zurück. Zwei Jahre lang mühten sie sich nun schon langsam und voller Umwege nach Osten, aufgehalten von Stürmen, Schneefällen, Hochwasser, Regen und allen möglichen Krankheiten unter den Soldaten und den Pferden. Er hatte noch nie zuvor so viel Regen und Schnee gesehen wie in den anderthalb Jahren seit der Schlacht an der Veser. Der Regen hatte das Land ertränkt, hatte Überschwemmungen verursacht und das Korn schimmeln lassen, und der Schnee hatte es zwei Winter lang begraben, als würden Gott sie für ihre Sünden bestrafen. Aber nicht all ihre Probleme ließen sich allein mit Gottes Hand erklären. Sie waren auch aufgehalten worden, weil sie nett zu König Geza sein mussten, dessen Ländereien sie durchquerten. Sanglant mochte Geza nicht annähernd so sehr, wie er Bayan gemocht hatte, und Sapientias Anwesenheit war eine schwärende Wunde, ein beständiger Quell der Verärgerung. Vielleicht war es aber auch einfach nur zu lange her, seit er einen richtigen Kampf gehabt hatte. »Malbert!« »Ja, mein Prinz?« »Werft den Schlüssel runter und zieht die Leiter hoch.« »Mein Prinz!« »Den Schlüssel!« Leise fluchend zog Malbert die Leiter durch die Falltür hoch und warf den Schlüssel herunter, den Sanglant mit der linken Hand auffing. Bulkezu rührte sich nicht, als Sanglant die Handschellen aufschloss und den Schlüssel gegen die Wand warf. Dennoch schlug er zuerst zu, noch immer schnell nach all den Monaten, die er angekettet war. Sanglant duckte sich unter dem Hieb weg. Er 121 packte seinen Feind an Handgelenk und Arm und stieß ihn mit dem Kopf voran gegen die Steinmauer. Taumelnd sackte Bulkezu auf die Knie, griff nach Sanglants Beinen. Sie gingen gemeinsam zu Boden, rollten umher und schlugen aufeinander ein, bis Bulkezu für einen kurzen Augenblick auf Sanglants Brust saß. Bulkezus Hände schlössen sich um Sanglants Hals, doch der Prinz wand sich aus dem Würgegriff, stieß den Qumaner herunter und sprang wieder auf die Beine, lachte atemlos, erregt und mit pochendem Herzen, fast schon voller Befriedigung, während er Bulkezu gestattete, sich in grimmigem Schweigen wieder aufzurappeln. Die Lampe oben zitterte, als sich weitere Männer um die Falltür versammelten und herabstarrten. Er hörte ihr Flüstern, während sie Wetten abschlössen, wie viele Schläge ihr Prinz wohl benötigen würde, um den Gefangenen zu besiegen. Schlagartig war er der Scharade überdrüssig. Was für ein Wettstreit war es, gegen einen Mann zu kämpfen, der seit beinahe zwei Jahren angekettet war? Bulkezu war noch immer erstaunlich kräftig, doch was für ein Mann war er, dass er einen anderen ebenso quälte, wie Blutherz einst ihn gequält hatte ? Bulkezu schlug nach seinem Gesicht. Sanglant wehrte den Schlag ab und versetzte dem Qumaner einen Hieb in die Magengrube, stieß ihn zurück, setzte nach und drehte sich zur Seite, als Bulkezu austrat, sodass der Fußtritt von seinem Oberschenkel abprallte. Als er ganz nah an ihn herantrat, versuchte Bulkezu, nach seiner Kehle zu greifen, doch Sanglant packte seine Handgelenke, und einen Moment lang standen beide völlig starr und reglos da, beinahe wie gelähmt. »Niemand, weder Mann noch Frau, kann mich töten«, murmelte Sanglant, »daher ist es nie ein Kampf mit gleichen Chancen gewesen.« Mit einem Fluchen riss Bulkezu seine Hände los, wirbelte herum, um mit dem Ellbogen zuzuschlagen. Sanglant fing den Stoß mit dem Unterarm ab und versetzte dem Qumaner einen scharfen Hieb unterhalb der Rippen, gefolgt von einem Wirbel von Schlägen, die die Männer oben aufjubeln ließen. Bulkezu sackte schlaff zu Boden. 122
»An dem Tag werde ich Euch freilassen«, wiederholte Sanglant, »und dann werden wir sehen, welcher Mann Greifenfedern erringt.« Malbert ließ die Leiter herab und kletterte nach unten, eifrig darauf bedacht, beim Anketten des Gefangenen zu helfen. »Nein, ich werde es tun.« Er wollte selbst die schmutzige Arbeit erledigen, einen Krieger anzuketten, der lieber im Kampf starb, als wie ein Sklave angebunden zu sein - oder wie ein Hund. Aber vielleicht verdiente Bulkezu nichts Besseres als das Schicksal, das er den vielen Leuten bereitet hatte, die er versklavt und ermordet hatte. Was war Gerechtigkeit? Was war richtig? »Hier ist der Schlüssel«, sagte er und reichte ihn Malbert, froh darüber, ihn los zu sein, auch wenn er niemals die Verantwortung für das loswurde, wofür er sich entschieden hatte. Doch die Arbeit in dieser Nacht war noch nicht erledigt. Er kletterte die Leiter hoch und stellte fest, dass König Geza von seiner eigenen Wache geweckt worden war. Sanglant begegnete ihm gleich vor dem Bergfried. Der König kam in Begleitung von einem halben Dutzend seiner weiß gekleideten Leibwächter, junge Männer mit langen Schnurrbärten. Geza war etwa zehn Jahre älter als Bayan, aber sehr viel stämmiger, ein bisschen zu fett und äußerst intelligent. Er besaß die machtvolle Ausstrahlung eines Königs, aber es fehlte ihm der schalkhafte Humor, der Bayan zu einem so guten Kameraden gemacht hatte. »Gibt es ein Problem mit dem Gefangenen?«, ließ er durch seinen Übersetzer fragen. War er argwöhnisch oder erheitert? »Er hat meinen Vater beleidigt«, antwortete Sanglant. »Ah.« Geza spuckte auf den Boden, um seiner Verachtung für den Gefangenen Ausdruck zu verleihen. »Ist er tot?« »Nicht, solange er mir nicht gegeben hat, was ich brauche.« Geza nickte und entschuldigte sich, kehrte zu seinem Bett zurück. Er war dankbar dafür gewesen, dass er Bayans Leichnam zurückbekommen hatte, und er hatte Sanglant nie das Gefühl gegeben, im Königreich Ungria nicht willkommen zu sein. Und doch wartete er unübersehbar darauf, dass Sanglant und sein Heer auf123 brachen, und er war auch keinesfalls glücklich bei dem Gedanken, dass das gleiche Heer auf dem Weg zurück nach Wendar erneut ungrianisches Land durchqueren würde. Er hatte sogar vorgeschlagen, dass Sanglant sein Heer nördlich durch die von Kriegen zerrissenen polensischen Lande führte. Doch andererseits wollte er auch nicht gegen die wendischen Soldaten kämpfen; schließlich waren er und König Henry formal gesehen Verbündete. Als Geza ihm einen seiner Söhne als neuen Ehemann für Sapientia angeboten hatte, hatte Sanglant tatsächlich mit der Idee geliebäugelt etwa drei Atemzüge lang. Während Geza und sein Gefolge den Hof überquerten, erhaschte Sanglant einen Blick auf Hathui und Zacharias bei den Ställen; sie hielt ihren Arm um seine Taille, als müsste sie ihn stützen. Wulfhere stand am Türeingang, leuchtete ihnen den Weg mit einer Lampe, und sie verschwanden im Innern. Wie hatte Zacharias seine Verstümmelung all die Monate verheimlichen können? Niemand hatte so etwas auch nur vermutet. Aber Zacharias war immer sehr verschlossen gewesen, niemals wirklich ein Teil der Gruppe, und tatsächlich stank er auch, weil er sich so wenig wusch. »Prinz Sanglant!« Heribert eilte zu ihm, die Haare wirr und das Gesicht vom Schlaf noch verquollen. »Alle sagen, du hättest Bulkezu getötet.« »Die Gerüchte ziehen also bereits ihre Kreise, wie ich sehe. Dank sei dem Herrn, dass wir morgen weiterziehen. Diese Ungrianer singen zuviel.« »Du hast dich nicht über die Aufmerksamkeiten von Edelfrau Ilona beklagt.« »Sie ist die Schlimmste von allen! Ich bin nichts weiter als ein Hengst für sie, der die Stute schwängern soll. Nie wieder Frauen, Heribert!« Der Geistliche kicherte. »Hast du das nicht auch in Gent gesagt?« »Diesmal meine ich es ernst!« Dankbarerweise erwiderte Heribert nichts darauf, sondern hob nur eine Augenbraue und blickte zweifelnd drein, während er sich mit den Fingern durch die Haare fuhr. Die ersten Vögel zwitscherten bereits und begrüßten den neuen Tag. 124 »Die ungrianischen Prostituierten werden zurückbleiben, wenn wir Gezas Königreich verlassen. Wer könnte mich dann noch verführen? Beten wir zu Gott, dass die Zauberer, die wir finden, wissen, wie wir Liath zurückbekommen.« »Aber was liegt jenseits von Ungria? Eine weglose Ebene, heißt es. Wie wollen wir diese Greifen und Zauberer finden, nach denen du suchst?« Sanglant lächelte, aber tief in seinem Innern herrschte alles andere als Friede, denn er wusste, dass er einige unangenehme Entscheidungen würde fällen müssen. »Das ist der Grund, weshalb Bulkezu noch lebt. Er wird mich zu den Greifen führen - als Gegenleistung für seine Freiheit und die Chance, mich zu töten.« IV Die Sommersonne
1 In der ungrianischen Stadt Vidinyi verabschiedete sich König Geza und führte seinen Hofstaat dann gen Westen, zurück ins Kernland seines Reiches. Eine kleine Flotte ausladender Handelsschiffe und ein Dutzend kleinerer und wendigerer Galeeren standen für Prinz Sanglant bereit. Nachdem die Ladung - Wein, Öl und Seide aus dem Arethusanischen Reich - gelöscht worden war, wurde Korn für die Rückreise auf die Schiffe geladen; außerdem gingen zweitausend Pferde, achthundert Soldaten und mehr als zweihundert Bedienstete mit ihren verschiedenen Karren und Lasttieren an Bord. Der Fluss wirkte auf Sanglant so breit wie ein See, als er jetzt neben Heribert an Deck stand und zusah, wie die Pferde auf die Schiffe getrieben wurden. Jenseits der Kais qualmten mit Erde abgedeckte Feuerstellen; da kein Wind ging und die Luft schwer und feucht war, zogen sich die Rauchschwaden geisterhaft das ganze Ufer entlang, verhüllten Weidenbüsche und junge Pappeln. »In der Nähe der Stadt ist fast keine Holzkohle mehr zu kriegen«, sagte Heribert. »Sieh nur, wie weit sie den Wald schon gerodet haben.« »Sie brauchen die Holzkohle, um noch mehr Waffen zu schmieden. Ungria wird von Jahr zu Jahr stärker und verlegt die Grenze 126 weiter nach Osten.« Sanglant deutete auf die neue Palisade von Vidinyi. »Es heißt, bis zum Ketzermeer wären es sieben Tage - für meinen Geschmack viel zu lange, bis wir aus Ungria raus sind.« »Na, vermisst du Edelfrau Ilona schon?« »Das habe ich wohl verdient, was? Ich vermisse viel eher Bayan. Er war der Beste von ihnen allen.« »Wenn Bruder Breschius und Zacharias die Wahrheit sagen und ich mir das Beispiel von Bulkezu vor Augen führe, gehe ich davon aus, dass du schon bald freundlicher über die Ungrianer denken wirst - sobald wir draußen in der Ebene auf die Gnade der Qumaner und Kerayiten angewiesen sind.« »Möglicherweise. Aber Geza hatte seine eigenen Gründe, uns so lange aufzuhalten. Er ist ein störrischer Mann und viel durchtriebener, als es den Anschein hat.« »Hat er vielleicht gehofft, dass Sapientia doch noch einwilligt, einen seiner Söhne zu heiraten? Oder setzt er darauf, dass wir der Wildnis zum Opfer fallen und der Winter den Rest besorgt?« »Schwer zu sagen. Geza ist nicht leicht zu durchschauen. Zweifellos sind die Barbaren ehrlicher, wenn es darum geht, zu erkennen, was sie wollen.« »Unsere Köpfe? Unsere Pferde?« »Uns selbst als Sklaven und Puras?« Er lachte kurz auf und wischte sich den Schweiß vom Nacken. »So was in der Art.« Der Wald war in der Tat rund um die Stadt gerodet worden, aber als sie endlich ablegten und mit der Strömung um eine Biegung und außer Sichtweite von Vidinyi gelangten, waren immer mehr Bäume an beiden Ufern zu sehen, bildeten schließlich eine gleichförmige Mauer. Gelegentlich wurde diese Mauer von ein paar niedrigen Häusern unterbrochen, und die Dorfbewohner blickten von ihrer Arbeit auf und starrten neugierig zu ihnen herüber. Einige Kinder riefen ihnen zur Begrüßung etwas zu, dann verlor sich das kleine Dorf hinter einem weiteren Schleier aus Wald, als hätte es nie existiert. In den langen Waldstücken zwischen den Dörfern war nichts zu hören als das gleichmäßige Schlagen der Ruder und das gegen den Bug klatschende Wasser. Einmal sah Sanglant einen Falken halb 127 verborgen in den Zweigen einer Pappel. Der Himmel über ihnen war leuchtend blau; in der Ferne erhoben sich zerklüftete Berge vor einem so klaren Horizont, als wäre die Luft dort irgendwie reiner, näher am himmlischen Äther. Wenn er sich nur genug Mühe gab, würde er dann Liath in den himmlischen Sphären sehen können? Aber die Luft war klar - nur kleine Wölkchen und eine strahlende Sonne waren zu sehen - und verbarg weder Engel noch Daemonen. Seit jenem schrecklichen Tag in Gent hatte er keinerlei Lebenszeichen mehr von ihr erhalten. Zweieinhalb Jahre waren seither vergangen; es war fast so, als wäre ihr kurzes gemeinsames Leben nicht wirklich, sondern eher ein Traum gewesen. »Glaubst du, sie ist tot, Heribert?«, fragte er schließlich. Heribert seufzte. Der schlanke Geistliche hatte nie zu denen gehört, die nur sagten, was er hören wollte. Deshalb schätzte Sanglant seine Kameradschaft so sehr. »Wie können wir das wissen? Es tut mir Leid.« »Papa! Sieh mich an!« Gnade war in die aufgerollte Takelage des dreieckigen Segels geklettert und arbeitete sich jetzt den Mast hoch. »Oh, Gott!« Heribert rannte zu ihr, aber er war auf dem schwankenden Schiff so unsicher, dass er gegen einen Seemann prallte.
»Keine Sorge«, rief Sanglant ihm lachend nach. »Entweder sie fällt runter und bricht sich das Genick, oder sie bleibt oben.« Aber es wurde rasch klar, dass der Kapitän des Schiffes nicht von einem Kind behindert werden wollte, und so fand Sanglant sich kurz darauf am Bug des Schiffes Auge in Auge mit seiner mürrischen Tochter wieder. »Auf diesem Schiff musst du dem Kapitän gehorchen, denn hier ist er der Herrscher.« »Er ist nur ein Gewöhnlicher, Papa.« »Und wenn Hauptmann Fulk dir in deiner ersten Schlacht einen Rat gibt, willst du ihn dann auch ablehnen, nur weil er als Sohn eines Verwalters geboren wurde und du als Tochter eines Prinzen? Eine weise Herrscherin hört denen zu, die vielleicht etwas wissen, 128 das sie nicht weiß, und sie sucht sich Berater, die ihr die Wahrheit sagen und nicht versuchen, ihr zu schmeicheln.« Oh, Gott, sie war schon so erwachsen, dass sie eine Schnute zog, die Arme vor der Brust verschränkte und mit hochgezogenen Schultern auf den Fluss starrte. Der Wald ging jetzt in ein Sumpfgebiet über, und ein Reiher erhob sich in die Lüfte, schlug langsam mit den Flügeln, während er über den Untiefen im Dunst verschwand. Würde ihr Leben auch so rasch vorbeiziehen wie dieser Vogel? Würde sie eine alte Frau werden, ehe er dreißig Jahre alt war? Er konnte den Gedanken nicht ertragen, sie auf solch unnatürliche Weise zu verlieren, zusehen zu müssen, wie das Alter von ihr Besitz ergriff und sie zu seiner Gefangenen machte. Wie schnell würde sie erblühen und heiratsfähig sein? Sie hatte noch immer den Körper eines Kindes, voll unschuldiger Anmut und Übermut, so lebhaft und stark, wie es ein frei lebendes Geschöpf nur sein konnte. Der Herrin sei Dank zeigte sie noch keinerlei Hinweise auf die Frau, die sie einmal werden würde, und je länger er solche Überlegungen beiseite schieben konnte, desto besser. Doch er würde eine sorgfältige Wahl treffen müssen, wenn es um den Mann ging, den sie heiratete; sie würde jeden Vorteil benötigen, wenn es an der Zeit war, sich das zurückzuholen, was ihr zustand: ihr Geburtsrecht, den rechtmäßigen Anspruch als Abkömmling von Kaiser Taillefer. Wenn er sie in Augenblicken wie diesem beobachtete, war er der Verzweiflung nahe. Sie hatte ganz das Aussehen von Liath, zarte Gesichtszüge, den cremig braunen Teint und die überraschend blauen Augen. Aber sie hatte auch das nachtschwarze Haar der Aoi und etwas, das ihn an seine eigene Mutter erinnerte. Je älter sie wurde, desto deutlicher wurde diese Ähnlichkeit. Rein äußerlich hätte niemand sie für Taillefers Erbin gehalten; sie hatte überhaupt nicht das Aussehen der Westländer. Möglicherweise war etwas von König Henry in ihr - sie neigte schließlich genau wie er zu Wutausbrüchen und besaß auch seine großzügige Fähigkeit zu verzeihen -, aber so gründlich er auch suchte, er fand nie eine Ähnlichkeit mit Anne, nicht ein kleines bisschen. Das war etwas, das ihn sehr froh stimmte. 129 Auf Gnades hübschem Gesicht lag jetzt ein solch wilder Ausdruck beleidigten Zorns, dass er fast lachen musste, aber er wusste, es war besser, genau das nicht zu tun. Sie kämpfte mit sich, schob die Unterlippe vor und zitterte; eine Träne glänzte in einem Auge und lief ihr die Wange hinunter. Heribert machte Anstalten, sie zu trösten, aber Sanglant hielt ihn mit einer knappen Handbewegung davon ab. Anna, Thiemo und Matto standen ganz in der Nähe; sie wussten, dass sie sich nicht einmischen durften, wenn er ihr eine Strafe auferlegte. »Papa«, sagte sie schließlich, den Blick noch immer störrisch flussabwärts gerichtet. Der Schiffsbug schnitt durch das Wasser, vorwärts getrieben von den Ruderern und der Strömung. Ein ganzes Stück voraus plätscherten die Wellen um einen Holzbalken, der aus dem Wasser ragte. »Ich würde auf Hauptmann Fulk hören. Das würde ich wirklich tun. Wann kann ich anfangen, mich an den Waffen zu üben?« »Du bist noch zu jung -«, setzte er zu der alten Leier an, dann brach er ab. Wieso leugnen, was für jeden Narren, der mit ihm reiste, offensichtlich war? Er hatte mit sieben Jahren mit den Übungen an den Waffen begonnen. Vor sechs Monaten war Gnade noch zu jung gewesen, aber für sie waren ein paar Monate so viel wie für einen normalen Menschen ein ganzes Jahr. Wenn er jetzt nicht begann, sie auszubilden, würde es möglicherweise zu spät sein; dann war sie vielleicht schon erwachsen und hatte die Blüte ihrer Jahre hinter sich, ohne jemals die Chance erhalten zu haben, sich zu beweisen. Wenn sie schon zu einem kurzen Leben verdammt war, musste er versuchen, ihr so viel wie möglich zu geben, und dazu gehörte auch, ihr ihren Herzenswunsch zu gewähren: ein Soldat zu sein wie ihr Vater. »Sieh nur!«, rief sie, als von dem Kriegsschiff, das als Vorhut vorausfuhr, ein Schrei aufstieg. Der Holzbalken erwies sich jetzt als der oberste Teil eines alten Turms, den ein Anstieg des Wasserspiegels und eine Veränderung des Flusslaufes überflutet hatten. Wie alle irdische Macht war auch diese Befestigung schließlich zusammengebrochen, und ihre Erbauer und die Königinnen waren seit langem in Vergessenheit 130 geraten. Aber in dem Wirbel, dort, wo sich der Fluss an den zerbrochenen Steinen brach, wartete etwas und beobachtete sie. Rufe zerteilten die Luft, als andere Ruderer und Seeleute sahen, was da im trüben Wasser lauerte. Ihre Schreie waren voller Furcht und Entsetzen. Und da trieb es, ein Geschöpf wie aus einem Albtraum, mehr Fisch als Mensch mit flachen, roten Augen, einem lippenlosen Mund, ohne Nase und nur mit Schlitzen zum Atmen. Jede einzelne Strähne der sich windenden Haare war so dick wie ein Aal mit kleinen Knopfaugen und einem schnappenden Mund.
»Mögen Gott uns bewahren«, murmelte Heribert, während er Halt an der Reling suchte. Er war kreidebleich. Thiemo fluchte und schlug das Kreiszeichen vor der Brust. Matto packte Anna am Arm, als wollte er sie vor dem Anblick des schrecklichen Wesens beschützen. Sie schüttelte ihn jedoch ab, zitterte und taumelte, während sie es weiter anstarrte. »Sieh nur, Papa!«, rief Gnade so glückselig wie ein Kind, das zum ersten Mal Schneeflocken zu Boden schweben sieht. »Es ist ein Fischmensch! Ich möchte mit ihm schwimmen!« Sanglant hielt sie fest, als sie an dem Wesen vorbeiglitten und die Strömung sie durch einen schmalen Trichter zwischen hohen Klippen führte. Doch eine ganze Weile hörte er hinter sich noch die Rufe und beunruhigten Schreie, als auch die anderen Schiffe nacheinander die Stelle passierten. »Was das wohl zu bedeuten hat?«, fragte der Kapitän, dessen Worte von Bruder Breschius übersetzt wurden. »Es verheißt jedenfalls nichts Gutes, wenn man einen von den Wasserbrüdern flussaufwärts schwimmen sieht.« »Haben sie einen Namen?«, fragte Sanglant. »Nein, Hoheit. Mein Großvater hat von ihnen erzählt, denn er war auch ein Kapitän. Er hat gesagt, sie wären nur eine Legende.« Er machte eine Geste, spuckte aufs Deck und stampfte mit dem linken Fuß auf; dann erinnerte er sich, wo er war und vor wem er stand, und schlug hastig das Kreiszeichen vor der Brust, wie jeder gottesfürchtige Mensch es tun würde. »Ein schlechtes Omen, Prinz Sanglant.« »Vielleicht. Hat Euer Großvater auch gesagt, ob solche Geschöp131 fe einen Verstand haben oder ob es sich nur um verstandeslose Tiere handelt?« »Sie haben sogar einen sehr schlauen Verstand, Hoheit. Und Hunger. Es hat immer geheißen, dass sie jeden fressen würden, der über Bord fällt.« »Und doch hat weder Euer Großvater noch sonst jemand, der mit ihm gesegelt ist, jemals einen solchen Fischmenschen gesehen?« »In der Tat, sie haben nur Geschichten gehört.« An diesem Abend machten viele Geschichten die Runde, nachdem die Schiffe und Boote für die Nacht entlang eines sumpfigen, von zahllosen Vögeln bewohnten Uferabschnitts festgemacht worden waren. Von Deck aus konnte Sanglant fünf Schiffe sehen, eines vor und vier hinter ihm, ebenso wie flussaufwärts ein paar Feuerstellen am Strand. Nur die ganz Närrischen oder Dickhäutigen trauten sich jedoch ans Ufer, denn dort wimmelte es nur so von Mücken und Stechfliegen. Es war sogar noch heißer und feuchter als schon den ganzen Tag über. Als Hauptmann Fulk von der ersten Galeere herangerudert kam - und Bertha, Wichman, Druthmar und Istvan von ihrem Boot weiter flussaufwärts -, berief er einen Rat ein. Viele alte Geschichten kamen ans Licht, aber erst, als er gehört hatte, was die Mitglieder seines Rates zu sagen hatten, sah er Zacharias hinten zwischen Hathui und Wulfhere stehen. Der Gesichtsausdruck des Bruders ließ Sanglant innehalten. »Habt Ihr dazu etwas zu sagen, Bruder Zacharias?« Der Bruder stammelte eine sinnlose Verneinung. »N-nein, mein Prinz. N-nichts.« »Habt Ihr jemals zuvor ein solches Wesen gesehen?« Sein Zögern verriet ihn. »Erzählt mir davon«, forderte Sanglant ihn auf. Hathui beugte sich näher zu ihrem Bruder und flüsterte ihm etwas ins Ohr, doch nicht einmal Sanglant konnte es bei all dem Gemurmel und dem Plätschern des Wassers verstehen. Der Wind trug den Geruch des sumpfigen Bodens heran, und die Luft war schwer vom Gestank nach Moder. 132 »Es war ein Traum, mein Prinz, eine Vision. Ihr wisst, dass ich eine Zeit lang mit Eurer Mutter gereist bin, die mich zu einem Ort geführt hat, den sie den Palast der Irrungen nannte.« »Das Spiraltor«, murmelte Wulfhere, aber Zacharias achtete nicht auf ihn, sondern fuhr einfach fort. »Dort habe ich viele Visionen gesehen, aber ich hatte auch den Eindruck, als wäre ich für kurze Zeit selbst zu solch einem Wesen geworden, wie wir es heute gesehen haben. Ich bin mit meinen Brüdern geschwommen, draußen im salzigen Meer, und wir sind einer Flotte von Schiffen gefolgt.« Zacharias zitterte. »Das ist alles.« Er log; da war noch mehr, aber Sanglant bezweifelte, dass er es aus ihm herausbekommen könnte. Vielleicht schaffte es Hathui. »Das ist alles?« »Erst hören wir Geschichten über einen Phönix, und jetzt sehen wir ein Merwesen«, sagte Edelfrau Bertha vergnügt. Probleme und Schwierigkeiten pflegten sie stets aufzuheitern. »Es war verdammt hässlich«, meinte Wichman. »Ich dachte, Merfrauen hätten große, weiche Brüste, in denen ein Mann versinken kann. Der hier war nur ein ekliger Dämon.« Bertha lächelte. »Es heißt, dass am Ende der Zeit sämtliche uralten Geschöpfe aus den Legenden aus ihren Verstecken kriechen und erneut die Erde heimsuchen.« »Jetzt werden wir sehen, ob daran etwas Wahres ist«, erklärte Sanglant mit Blick auf Wulfhere. Der alte Adler sagte nichts, sondern ging zur Reling und starrte zu den vereinzelten Feuerstellen am Ufer. Sie kehrten zu ihren Booten zurück, aber niemand wusch sich im Flusswasser. Niemand wusste, wie nah ans Ufer die Merwesen schwimmen konnten. Wie jede Nacht gab Sanglant auch diesmal den Befehl, den gefesselten Bulkezu vom Frachtraum hochzuschaffen, damit er unter Aufsicht der Wachen frische Luft schnappen konnte.
Nur wenige Männer waren geeignet für diese Aufgabe, da stets die Gefahr bestand, dass Bulkezu sie mitten in der Nacht mit seiner sanften Stimme - seiner einzigen Waffe - verhöhnte und so wütend machte, dass sie sich in seine Reichweite begaben. 133 Nachdem Bulkezu an den Mast gekettet worden war, schmiegte Gnade sich an ihren Vater, der am Schiffsbug stand. Sie starrte den qumanischen Stammesführer an. Seine Ketten klirrten und rasselten, als er sich streckte, die Muskeln dehnte und die Länge und Stärke der Ketten prüfte. Bulkezu hörte niemals auf, die Ketten zu überprüfen. Er verzweifelte niemals. Vielleicht war er zu verrückt dazu - oder zu gerissen. Es war die einzige Möglichkeit für ihn, seine Kraft nicht zu verlieren. »Ich wäre lieber tot als ein Gefangener wie er«, flüsterte Gnade. Sie lehnte sich an ihren Vater und schlang ihre Arme um seine Taille. Ihr Kopf reichte ihm fast bis zur Brust. »Wäre es nicht barmherziger, ihn zu töten? Er muss dich sehr hassen.« So wie ich Blutherz gehasst habe. »Kein Gefangener liebt seinen Wärter«, sagte er schließlich. »Glaubst du, dass mich dieser Mermann gefressen hätte, wenn ich in den Fluss gesprungen wäre?« »Ich weiß es nicht.« Der Fluss strömte an ihnen vorbei, jetzt deutlich träger, da er mit zusätzlichem Wasser gespeist wurde, das vom Marschland herbeiströmte. Ein Chor von Fröschen quakte, verstummte dann, als hätte eine vorbeistreichende Eule sie erschreckt. Einen Augenblick lang trat tiefe Stille ein, in der das Murmeln des Flusses und das ständige Klatschen der Wellen gegen den Schiffsrumpf die einzigen Geräusche darstellten. Dann ein kräftiges Platsch draußen auf dem Fluss, beantwortet von einem zweiten und dritten Platschen. »Sie unterhalten sich«, sagte Gnade. »Wer unterhält sich?« »Die Merwesen.« »Wie können Tiere sich unterhalten?« »Aber sie tun es! Sie beobachten uns.« Er lächelte, aber ein seltsames Jucken zwischen seinen Schulterblättern hielt ihn davon ab, über ihre Bemerkung zu lachen. »Es ist viel zu dunkel, um sie sehen zu können.« »Nein, das stimmt nicht. Es sind elf. Sie reisen in Rudeln. Wie Hunde. Sie sind gekommen, um uns auszukundschaften.« Erfand sie da nur eine spannende Geschichte, um sich auf der 134 langen Reise aufzuheitern? Oder hatte sie durch das Blut ihrer Eltern einen unheimlichen Sinn geerbt? »Kannst du noch mehr sehen, von dem du mir nicht erzählt hast?« »Nun, hin und wieder kann ich Mama sehen.« Die beiläufige Bemerkung ging ihm durch Mark und Bein. Der Schweiß brach ihm aus, und seine Haut prickelte wie beim Angriff eines Mückenschwarms. »Was meinst du damit?« »Ich sehe sie nur manchmal. Sie ist immer noch im brennenden Stein gefangen. Sie versucht, einen Weg zurück zu finden.« Wie schwer es war, die Stimme ruhig zu halten. »Können wir ihr irgendwie helfen?« Sie zuckte mit den Schultern, so unbeteiligt, dass es ihn schmerzte. »Wir können nur warten. Die Merwesen warten auch.« »Worauf warten sie?« Er spürte ihre Konzentration an der Art, wie sich ihr kleiner Körper anspannte. Bulkezu veränderte wieder seine Position beim Mast, und seine Ketten schrappten über das Holz. Seine Wachen -in dieser Nacht Malbert und Den unterhielten sich leise miteinander, sie schwelgten in Erinnerungen an ein bestimmtes Kartenspiel, bei dem sie gegen zwei mogelnde ungrianische Soldaten verloren hatten. »Oh!«, sagte Gnade. Sie klang überrascht, aber gleichzeitig auch fasziniert. »Sie warten darauf, Rache zu nehmen.« 2 Als der Fluss breiter wurde und sich träge durch die sumpfige Wildnis schlängelte, verbrachte Zacharias mehr Zeit an Deck und beobachtete die Vogelschwärme, die überall zu sehen waren: Enten, Silberreiher, Störche, Seeschwalben und auch Kormorane strichen dicht über der glatten Wasseroberfläche dahin. Einmal nur, ein einziges Mal, sah er auch einen grauen Kranich. Hathui wich nie von seiner Seite, abgesehen von den Malen, da sie zum 135 Prinzen gerufen wurde. Zacharias empfand es als seltsam und unangenehm, in solch kameradschaftlicher Stille neben seiner geliebten jüngeren Schwester zu stehen. Er rechnete damit, dass Hathui schließlich wieder zu Sinnen kommen und ihn zurückstoßen würde, aber das tat sie nicht. Stattdessen fragte sie ihn über Sanglants Gefolge aus, wollte die Namen und Eigenschaften der einzelnen Mitglieder wissen. »Und was ist mit den drei jungen Leuten, die sich um Prinzessin Gnade kümmern? Da braut sich Unheil zusammen.«
Er schaute zum Bug, wo Anna zwischen den zwei jungen Männern stand. Matto war kleiner, hatte aber breitere Schultern; er war stark genug, um eine Axt mit tödlicher Genauigkeit schwingen zu können. Thiemo, einen halben Kopf größer, hatte noch immer die schlanke Gestalt eines Heranwachsenden, bewahrte aber in den meisten Situationen einen kühlen Kopf. Und er hatte ein treues Herz und ein bezauberndes Lächeln. Anna hatte sich bemerkenswert verändert seit dem Tag in Gent, als Sanglant sie in sein Gefolge übernommen hatte. Sie war richtig aufgeblüht. »Das ist wahr«, bestätigte er. »Als sie Prinzessin Gnades Zofe geworden ist, war sie noch ganz dürr.« Anna würde niemals richtig hübsch sein, aber sie strahlte eine Offenheit aus, die sie ebenso anziehend machte wie Mädchen mit makellosem Teint und einem schöneren Gesicht. Sie hatte sich verblüffend entwickelt und besaß nun einen üppigen Körper, für den ein gesunder Mann hundert Meilen weit kriechen würde. »Sie sind wie Hunde, die um eine läufige Hündin herumschnüffeln. Bemerkt das denn sonst niemand?« »Was soll man tun? Sie sind jung. Sie können nicht anders.« »Das arme Mädchen«, sagte sie, aber dann erregte ein dichtes Gebüsch am Ufer ihre Aufmerksamkeit, dessen Zweige voller roter Beeren waren. »Sieh nur diesen Hagedorn!«, rief sie mit aufrichtiger Begeisterung. Über eine kurze Strecke stieg das Land etwas an, war nicht mehr so sumpfig, sodass Pappeln und Weiden wurzeln konnten, deren Blätter im Wind aufblitzten. Dann sank das Gelände wieder ab, 136 und erneut zeigten sich grasige Ufer, die zwar einladend aussahen, aber nichts weiter als feuchte, sumpfige Fallen waren, heimgesucht von den allgegenwärtigen Stechfliegen. Er kratzte sich am Kinn, verscheuchte einen Schwärm Mücken; es war schon hier auf dem Schiff schlimm genug. »Hathui ...« Er hätte gern mit ihr gesprochen, fürchtete sich aber zu sehr. »Ja?« Als er nicht antwortete, hakte sie nach. »Wolltest du etwas sagen?« »Nein, nein. Ein seltsames Land ist das hier. In diesen Gefilden wohnen nicht viele Leute. Ich muss zugeben, ich hätte nie gedacht, dass ein Fluss mehr einer Marsch oder einem See statt einem Fluss ähneln könnte.« »Und doch gibt es eine Strömung, die uns nach Osten zieht. Hast du das Ketzermeer jemals gesehen?« »Ja.« »Wie ist es?« »Voller Wasser.« Sklavenhändler hatten ihn in Sichtweite dieses Meeres ergriffen. »Die Ufer wimmeln nur so von Ketzern und Ungläubigen. Daher stammt auch der Name.« »Wie nennen die Ketzer und Ungläubigen das Meer?« Überrascht sah er sie an, aber sie musterte das Ufer und lächelte, als sie auf einer Landzunge ein paar Schafe entdeckte, die von einem mageren Jungen und seinem Hund bewacht wurden. Der Hund rannte bis zum Wasser, bellte laut und wedelte mit dem Schwanz. Sie wandte den Blick erst von ihnen ab, als sie außer Sicht gerieten. »Tut mir Leid. Was hast du gesagt?«, fragte sie dann. Nichts, hätte er am liebsten mürrisch geantwortet, schämte sich aber wegen seiner schlechten Laune. »Die Ungläubigen, die ihrem Feuergott namens Astareos huldigen, nennen es das Nordmeer, denn es liegt nördlich von ihrem Land. Ich weiß nicht, wie die Arethusaner es nennen. Vielleicht heißt es bei ihnen auch Ketzermeer.« »Wieso sollten sie es so nennen?« »Nun, weil sie glauben, wir wären die Ketzer!«, erklärte er lachend, aber Hathui starrte ihn nur an. 137 »Wie können sie uns für Ketzer halten, wenn wir doch diejenigen sind, die Gott in Einigkeit auf angemessene Weise huldigen? Die Skopos ist Gottes Diakonissin auf Erden.« Ihre Miene verdüsterte sich, wie immer, wenn sie an Darre dachte, an Aosta und den von Zauberei heimgesuchten König. »Ich bete, dass wir finden, was wir suchen, und zwar schnell.« »Das Grasland ist groß. Glaube nicht, dass es so leicht wird, in diesen weglosen Gefilden irgendetwas zu finden, geschweige denn Greifen und Zauberinnen.« »Hast du diese Kerayiten jemals gesehen?« »Ich habe einmal einen ihrer Kriegstrupps gesehen, aber niemals den Wagen einer ihrer Zauberinnen. Und auch das Bwr-Volk nicht, ihre Herren, die halb Mensch und halb Pferd sind.« »Gibt es wirklich solche Kreaturen?« Das Wasser glitt an ihnen vorbei, eine fleckige Brühe voller Pflanzen und Schmutz. »Ich habe in meinen Träumen einmal ein solches Wesen gesehen. Nie habe ich mehr Angst gehabt als in diesem Augenblick.« »Nie?«, fragte sie sanft. Er errötete. »Was meinst du damit?« »Niemals, Zacharias?« Er sagte nichts, und als ihr klar wurde, dass er nicht antworten würde, warf sie einen Blick auf den Prinzen und fuhr in verändertem Tonfall fort, als wollte sie ein neues Thema anschneiden: »Was ist mit dem Mervolk?« »Lass es gut sein, Hathui! Ich bitte dich. Lass uns damit aufhören.« Aber er hatte sie verärgert, obwohl es sicher das Letzte war, was er wollte. »Du wirst niemals zufrieden sein, nicht?«, fragte sie. »Deshalb hast du das Dorf verlassen, oder ? Du kannst keinen Frieden finden.« »Bulkezu hat mir den Frieden genommen! Es ist seine Schuld, dass ich keinen Frieden mehr finde!« »Nein. Du selbst lässt nicht zu, dass du ihn findest. Du hast gelitten. Du hast getan, was du tun musstest, um zu
überleben. Ich mache dir deshalb keine Vorwürfe. Wir alle haben Dinge getan, 138 auf die wir nicht stolz sind. Aber glaube nicht, dass du vor dem Feind weglaufen kannst. Die Dämonen werden nicht lockerlassen, wenn du sie nicht loslässt.« Er antwortete nicht darauf, und schließlich ließ sie ihn in Ruhe. Eine lange Zeit standen sie einfach nur zusammen an der Reling und sahen das Ufer vorbeigleiten. Es war eine Art Frieden. So viel Frieden, wie er jemals für sich erhoffen konnte - so viel und nicht mehr. 3 Am nächsten Morgen gab es keine grasbestandenen Ufer mehr; stattdessen waren sie mit Schilf überwuchert. Den ganzen Nachmittag sah es so aus, als würden sie auf einem braunen Band segeln, das durch ein grünes, sich nach allen Seiten bis zum Horizont erstreckendes Meer führte. So viele Kanäle schnitten durch das Schilf, dass Anna sich wunderte, wie der Kapitän unbeirrbar den Hauptkanal fand, sofern es überhaupt einen gab. An diesem Abend machten sie die Boote an einer Landzunge fest, aber wegen der vielen Fliegen wagte es niemand, an Land zu gehen. Abgesehen davon hatte auch noch niemand den Anblick des Merwesens vergessen. Bei Anbruch der Morgendämmerung setzten sie ihre Fahrt fort, vorbei an weiteren Landzungen voller Binsengebüsch. Es schien nichts anderes zu geben als Schilf, Wasser und Himmel. Sie hatten zwar das Land hinter sich gelassen, waren aber noch immer nicht auf dem Meer. Schließlich blieben auch die letzten Inseln aus Binsen hinter ihnen zurück, und das braune Wasser des Flusses ergoss sich ins Blau des Ketzermeers, bis sich der erdige Farbton ganz aufgelöst hatte. Das Delta mit den Binsen lag im Westen und schimmerte grün. Ansonsten gab es nur das Blau des Himmels oder des Meeres. Anna stand neben Gnade an der Reling. In ihrem ganzen Leben hatte sie niemals etwas so Gewaltiges gesehen. Selbst Gnade war 139 derart verblüfft, dass sie angesichts der riesigen Weite der Wasserfläche und des mit kleinen Wölkchen gesprenkelten Himmels schwieg. Der Wind wirbelte ihren Zopf hin und her, fuhr wie eine sanfte Liebkosung durch ihre Kleider. »Ich habe das Meer schon einmal gesehen«, sagte Thiemo prahlerisch zu Matto. »Das Nordmeer. Ich bin mit Prinz Ekkehard dorthin geritten, als wir in Gent waren.« »Ich bin nur ein armer Junge vom Land«, gab Matto in einem Ton zurück, der Anna zusammenfahren ließ. »Ich habe so etwas noch nie gesehen.« Beide sahen in diesem Augenblick zu ihr herüber, prüften ihre Reaktion, und sie errötete und schaute aufs Wasser. »Sie folgen uns«, sagte Gnade, den Blick auf die hinter ihnen durchs Wasser gleitenden Boote gewandt. »Natürlich tun sie das. Wir segeln gemeinsam, wie wir auch gemeinsam marschiert sind.« »Nein, ich meine die Fischmenschen. Sie wollen wissen, wohin wir gehen. Sie folgen uns. Aber ich glaube nicht, dass sie uns an Land folgen können.« Anna erzitterte, aber obwohl sie angestrengt zurückblickte, konnte sie kein Merwesen erkennen. Sieben Tage lang segelten sie nach Nordosten, immer in Sichtweite des Landes und fast nur bei schönem Wetter. Sie sahen häufig andere Schiffe nach Südosten segeln, und dreimal erhaschte der Kapitän einen Blick auf ein Segel, das zu einem lauernden Kaperschiff zu gehören schien. Ein einzelnes Piratenschiff hätte es jedoch niemals gewagt, eine ganze Flotte anzugreifen, und so verlief ihre Reise ohne jeden Zwischenfall. Am achten Tag liefen sie in den Hafen von Sordaia ein. Mindestens fünfhundert arethusanische Soldaten standen in dichten Reihen am Ufer. Die Anzahl der Schiffe und Boote hatte sie argwöhnisch gemacht, und es wurde schon bald offensichtlich, dass jeder Versuch, an Land zu gehen, auf Widerstand stoßen würde. Die Statthalterin dieser Stadt, eine arethusanische Potentatin aus der kaiserlichen Hauptstadt, hatte einen Gesandten geschickt, 140 der mit den Ankömmlingen sprechen sollte. Der Höchst Ehrenwerte Oberste Schatzmeister Basil, Verantwortlicher der Schatzkammer der Statthalterin, hatte keinen Bart, war aber auch kein Priester. Er war, wie Bruder Breschius erklärte, ein Eunuch. »Man hat ihm die Eier abgeschnitten?«, rief Matto entsetzt. Er sah Anna an und wurde rot. »Wie Bruder Zacharias«, sagte Thiemo. »Aber der hier sieht anders aus. Er wirkt weicher.« »Was Bruder Zacharias widerfahren ist, war etwas ganz anderes«, sagte Bruder Breschius sanft. »Das war Verstümmelung. Zweifellos ist die Operation bei diesem Mann - sofern wir ihn so nennen können - ausgeführt worden, als er noch ein Junge war. So etwas gilt als große Ehre.« Thiemo lachte nervös, und Matto war zu verlegen und entsetzt, um etwas sagen zu können. Nach einer langwierigen Begrüßung und nachdem der Eunuch eine ermüdende Rede gehalten hatte, schickte Sanglant Bruder Heribert, der Arethusanisch sprechen konnte, mit einer Reihe von Geschenken zum Palast - einem mit Marderfell gesäumten Umhang, einer goldenen Schatzkiste, schön geschnitzten Elfenbeinlöffeln und einem mit Goldfäden bestickten Altartuch. Die Verhandlungen zogen sich den ganzen restlichen Tag hin, endeten erst am späten Nachmittag, als Prinz Sanglant sich einverstanden erklärte, am nächsten Tag mit einer kleinen Gruppe zum Palast zu gehen, als Gewähr für das gute Benehmen seiner Soldaten.
»Der Höchst Ehrenwerte Oberste Schatzmeister Basil erklärt mir, dass uns gestattet ist, in einer verlassenen Festung der früheren jinnischen Herrscher außerhalb der Stadtmauern unser Lager aufzuschlagen«, erklärte Heribert. Er war noch immer ganz erhitzt und schwitzte - schließlich war er viele Male in der heißen Sommersonne zwischen dem Hafen und dem Palast hin- und hergelaufen. »Bis Einbruch der Dunkelheit ist nicht genug Zeit, dass noch viele von Bord gehen könnten«, sagte der Kapitän mit Blick auf den Sonnenstand. »Vielleicht ist es besser, die Sache auf morgen zu verschieben.« 141 »Wir könnten heute noch eine kleinere Streitmacht rausschicken, die schon mal alles vorbereitet«, sagte Fulk. »Das würde ich empfehlen.« »Ist das denn nicht gefährlich?«, fragte Hathui. »Die wenigen, die heute Abend von Bord gehen, werden leicht zu töten sein, sollten die Arethusaner Verrat im Sinn haben.« »Es wäre dumm, auf solche Weise unseren Zorn hervorzurufen«, erklärte Sanglant. »Wir können auch kämpfend von Bord gehen, wenn es nötig ist. Was würde es ihnen nützen, uns auf so armselige Weise zu verärgern?« »Es sind Arethusaner, Prinz Sanglant«, bemerkte Edelfrau Bertha, die von einem anderen Schiff herübergekommen war. »Sie saugen den Hang zum Verrat mit der Muttermilch auf. Wir können ihnen nicht vertrauen.« »Und das tue ich auch nicht. Trotzdem hat der Hauptmann Recht. Fulk, schickt heute Nacht noch einhundert Mann zu dieser Festung. Aber nicht Wichman oder irgendeinen von seinen Leuten. Die Männer sollten genug Zeit haben, die Festung zu erreichen und zu erkunden, ehe es zu dunkel ist.« »Ich will mit! Ich will mit!«, rief Gnade. »Nein.« Sanglant rief Breschius zu sich. »Ich brauche Heribert im Palast bei mir. Bleibt Ihr hier bei den Schiffen, bis alle gegangen sind. Ihr beiden seid die Einzigen, die Arethusanisch sprechen. Es darf keine Missverständnisse geben.« »Jawohl, Prinz Sanglant.« »Ich möchte morgen mitgehen und mir den Palast ansehen, Papa!« »Nein. Du bleibst beim Heer.« »Ich will nicht zurückbleiben! Ich will mitgehen!« Das Mädchen packte die Reling, und es schien, als wäre sie drauf und dran, über Bord zu springen und ans Ufer zu schwimmen. »Nein.« Die Enge während der langen Schiffsreise hatte Sanglants Stimmung nicht gerade gebessert, und auch das ungeduldige Warten im Hafen hatte ihn nicht beruhigt. Gnade zuckte zusammen, als er sie am Arm packte. 142 »Ich tue es aber doch.« Ihre Lippen zitterten, aber ihr Blick blieb fest. »Das tust du nicht.« Der Prinz wandte sich an Anna. »Du gehst mit, Anna, und bereitest ein Lager für deine Herrin vor. Und ...« Sein Blick schweifte zu Matto und Thiemo, die während der Verhandlungen in den Hintergrund getreten waren. »Edelmann Thiemo, Ihr werdet auch mitgehen.« »Ich will mitkommen!« Gnade versuchte, sich dem unnachgiebigen Griff ihres Vaters zu entwinden. »Wenn du mir heute Abend irgendwelchen Ärger machst, wirst du das Schiff auch morgen nicht verlassen, wenn die Soldaten von Bord gehen, Gnade«, fügte Sanglant sanft hinzu. »Dann bleibst du hier in der Kabine eingesperrt, bis wir aus diesem Hafen auslaufen. Hast du verstanden?« Gnade kämpfte gegen ihre Tränen an; sie wehrte sich aber nicht, als Sanglant sie in Mattos Obhut gab. Doch dessen wütender Gesichtsausdruck, mit dem er jetzt Anna ansah, hätte Blumen zum Welken bringen können. Sie spürte seinen Blick wie eine Pfeilspitze im Rücken, als sie die Landungsbrücke hinunterging. Obwohl sie auf festem Boden stand, schien die Erde unter ihren Füßen immer noch zu schwanken, und es fiel ihr schwer, auf den Beinen zu bleiben. Da Matto und Gnade so wütend waren, traute sie sich nicht, einen Blick zurückzuwerfen. Der unebene Boden bereitete ihr Übelkeit; außerdem hatte sich bei dem Zelt, das sie trug, die Zeltklappe von den Bändern gelöst und flatterte jetzt vor ihren Augen, was sie noch benommener machte. Sie taumelte, als sie über eine breite Allee durch die Stadt schritten. Da der Zeltstoff ihr die Sicht nahm, sah sie nur ihre eigenen Füße, Abfall und gelegentlich einen Haufen Hundedreck. Die Stadt stank auf eine Weise, wie es das Schiff nicht getan hatte; es gab nicht genug Wind, um den Gestank zu vertreiben. Stimmen erklangen überall um sie herum - die Straßen waren voller Leute -, aber sie verstand kein einziges Wort. Wie hatte sie sich nur so weit von Gent entfernen können ? Was, wenn sie nun in diesem Land der Barbaren und Fremden sterben würde? War dies Gottes Strafe für ihre Sünden? Tränen traten ihr 143 in die Augen, aber sie biss sich auf die Lippe, bis der Schmerz sie beruhigte. Weinen hatte noch nie etwas genützt. Es war ein langer, einsamer Marsch bis zur Festung. Der Sonnenuntergang tauchte das Land in helles Gold, als sie schließlich eine schmale Holzbrücke über einen steil abfallenden Graben erklommen, einen gähnenden Abgrund, der sie zum Zittern brachte. Dann fand sie sich in der Festung wieder und ließ das zusammengerollte Zelt auf den Boden gleiten. Ihre Schultern schmerzten, aber immerhin schwankte der Boden nicht mehr. Es war gut, wieder auf fester Erde zu stehen. Während sie die Schultern dehnte, musterte sie die Festung. Eine Mauer aus gestampftem Lehm umgab die
inneren Gebäude, die an einen Bienenstock erinnerten: eine Reihe von zellenähnlichen Räumen, die scheinbar planlos in mehreren verstreut liegenden Einheiten erbaut waren. Ein paar Soldaten machten sich daran, das Gebiet zu erkunden. Sie folgte ihnen. »Diese Ungläubigen haben hier wie Schweine gehaust«, bemerkte Lewenhardt, als er sich aus einer der Kammern zurückzog, die voller Abfall und getrockneter Exkremente war. »Oder sie haben ihre Tiere hier untergebracht«, sagte Den. »Sieht aber gar nicht nach Kuhscheiße aus«, meinte Bärbeiß. »Was denkt Ihr, Bruder Zacharias?«, fragte Chustaffus. »Behandeln die ungläubigen Könige ihre Soldaten wie Tiere? Gibt es keine Halle, in der die Männer zusammen mit ihrem Herrn die Mahlzeiten einnehmen können?« Zacharias schützte die Augen mit der Hand vor der Sonne. »Ich kenne die Bräuche der Jinnen nicht, aber ich sehe hier keine Halle, nur diese kleinen Räume.« »Der hier ist leer!«, rief Lewenhardt, der zum nächsten Gebäude vorangegangen war. Der überwiegende Teil der kleinen Zimmer war leer, gerade groß genug, dass vier Männer darin schlafen konnten. Sie wirkten eher wie Steinzelte als wie richtige Unterkünfte. »Genug!«, rief Feldwebel Cobbo. »Macht euch an die Arbeit. Wir müssen die Zelte aufbauen und das Tor verbarrikadieren. Schafft dorthin, was immer ihr an Brauchbarem findet!« Anna half Den gerade dabei, mit Seilen einen Platz abzugren144 zen, damit die Pferde nicht überall herumliefen, als die Letzten der Vorhut eintrafen: ein Dutzend Reiter, die beim Tor abgestiegen waren, um ihre Pferde nacheinander über die Holzbrücke zu führen. Es handelte sich nicht wirklich um ein Tor. Das alte Tor war schon lange eingestürzt und offensichtlich weggeschafft worden; nur der tiefe Graben schützte noch den Eingang, auch wenn ein Haufen Müll - Pfosten, Bretter, weggeworfene Räder zusammengekarrt worden war, um auf dieser Seite des Grabens eine behelfsmäßige Mauer zu errichten. War das da Thiemo bei ihnen? Sie beschattete die Augen, um besser sehen zu können. »Hey!«, rief Den. »Lass das Seil nicht so locker hängen!« Sie konzentrierte sich wieder auf die Arbeit, aber als es zu dunkeln begann, konnte sie nichts mehr tun. Sie ging zu den Pferden hinüber, fand Thiemo jedoch nicht. Sie war ein wenig verwirrt. Gewöhnlich teilte sie jede Nacht das Bett mit Gnade. Sie war an so viel Freiheit nicht gewöhnt. Ihre Gedanken kreisten unaufhörlich darum, ihn zu finden, aber sie wollte auch nicht den Anschein erwecken, als würde sie ihn suchen. Sie erklomm eine schmale Treppe, die zu dem Laufgang entlang der Mauer hinaufführte; von hier aus hatte man einen guten Überblick über das Lager. Ein purpurfarbenes Glühen säumte den westlichen Horizont, doch der Osten lag im Dunkeln. Die Stadt selbst war als das Schimmern ferner Lichter zu sehen. Unten in der alten Festung brannten Feuer, und Feldwebel Cobbo begann zu singen. Schritte erklangen auf der Mauer, aber es war nur der Wachmann am Eckturm. »Anna.« Als er ihren Arm packte, so plötzlich aus dem Dunkeln heraus, schnappte sie nach Luft, und er legte einen Arm um sie, drückte sie fest an sich. Er war einen Kopf größer als sie, hatte breite Schultern, aber ansonsten die schlanke Gestalt eines jungen Mannes. »Ich möchte dir etwas zeigen«, flüsterte er dicht an ihrem Ohr. »Komm mit.« »Ich muss zurückgehen -«, begann sie, plötzlich unruhig. Und zugleich freudig erregt. 145 »Wir sitzen heute Nacht hier fest, Anna. Niemand wird uns brauchen. Komm mit.« »Ich sehe nichts.« »Schsch. Wir werden langsam gehen.« Im Dunkeln war es nicht leicht, auf der Mauer zurückzugehen, wo sie nur zu leicht auf der Innenseite hätten hinunterfallen und zwei Körperlängen tiefer auf den festgetrampelten Boden hätten stürzen können. Und um die abgenutzten Stufen zu bewältigen, mussten sie sich immer wieder an der Mauer oder aneinander festhalten. Als sie endlich unten ankamen, kicherten beide und waren doch gleichzeitig bemüht, es nicht zu tun, um Cobbo oder einen der anderen Soldaten nicht auf sich aufmerksam zu machen. »Hier entlang.« Thiemo hielt noch immer ihre Hand, aber als er sich am Fuß der Mauer entlang in Bewegung setzte, zögerte sie. Er drehte sich zu ihr um, fuhr mit einer Hand ihren Arm hoch zur Schulter, streichelte dann ihren Hals. »Anna ? Ich habe eine Stelle gefunden, an der uns niemand finden wird. Es ist auch sauber dort. Ich habe eine Decke hingebracht.« Sie sehnte sich so nach ihm. Allein bei seiner Berührung wurde ihr auf eine Weise heiß, wie es selbst die heißeste Sommersonne nicht vermochte. »Was wird dann passieren?« Die Zukunft breitete sich unergründlich und tief wie das weite Wasser des Meeres vor ihr aus. Seine Lippen berührten ihre, zunächst so leicht wie die Berührung eines Schmetterlings, dann plötzlich beharrlicher. Als er sich schließlich von ihr löste, keuchten beide. Anna klammerte sich an ihn. »Wir könnten morgen schon tot sein«, murmelte er. Was war mit Matto? Aber sie konnte Mattos Namen nicht laut aussprechen. Wenn Prinz Sanglant den einen und
nicht den anderen geschickt hätte, wäre Matto jetzt an Thiemos Stelle. Und was, wenn es der Prinz selbst wäre, der sie da in der Dunkelheit umfangen hielt? Sie traute sich nicht, diesen Weg weiterzugehen. Thiemo war 146 ein Edelmann, allerdings nur das achte Kind eines unbedeutenden Grafen. Deshalb war er in Prinz Ekkehards Gefolge gekommen, um bei einem hochgeborenen Mann seinen Weg als adliger Bediensteter zu machen. Er war ersetzbar, zählte zu jenen Jungen, die man zu den Drachen schickte. Vielleicht war er deshalb nicht so hochnäsig wie die anderen Edelleute. »Der Tod ist uns sicher«, flüsterte sie. Wenn nicht jetzt, dann später. Eines Tages. Niemand von ihnen wusste, in welche Schwierigkeiten der Prinz sie führen mochte. Vielleicht wusste es der Prinz nicht einmal selbst. Alles konnte passieren. Alles. »Thiemo.« Ihr Scheitel reichte kaum bis zu seinem Kinn, aber es war nicht schwer, die Arme um seinen Nacken zu schlingen und ihn zu sich herabzuziehen, um ihn noch einmal zu küssen. An dem Tag, an dem sie sterben würde - was würde sie da wohl bedauern? Das hier jedenfalls nicht. V Sordaia
1 Zacharias schlief lange am nächsten Morgen; er hatte sich in einem der kleinen Räume in wohltuender Einsamkeit eine Schlafstatt eingerichtet. Als er schließlich verschlafen in die grelle Morgensonne und zu all den Männern, Tieren und Habseligkeiten trat, die inzwischen eingetroffen waren, hatte Hauptmann Fulk am Tor Wachen und auf der Mauer Ausgucke postiert. Die übrigen Soldaten versammelten sich auf dem freien Gelände vor dem Tor. Edelmann Wichman, Edelmann Druthmar und die anderen Edelleute sahen von ihrem Platz im luxuriösen Schatten eines geräumigen Zeltdachs aus zu, genossen die freie Zeit, während sie an ihrem Wein nippten, Schach spielten und einander beim Lautenspiel zuhörten. Fulks Worte an die Soldaten klangen ernst. »Ihr werdet nicht in die Stadt gehen, es sei denn, es ist euch von mir oder Prinz Sanglant aufgetragen worden. Kein Markt. Kein Bordell. Keine Taverne. Ist das klar?« Derart entlassen, trieben sich die Soldaten missmutig in der Festung herum; es gab nichts weiter zu sehen als die eigenen Kameraden, nichts anderes zu tun, als bitteres Bier zu trinken. »Kein Wunder, dass das hier wie ein Gefängnis aussieht«, sagte Bärbeiß. »Genau das ist es auch.« 148 »Ich habe mich immer gefragt, wie die jinnischen Frauen wohl aussehen«, grübelte Lewenhardt. »Stimmt es, dass sie nackt durchs Feuer tanzen, um ihrem Gott zu huldigen?« »Das würde dir gefallen«, lachte Johannes, »bis du es selbst auch tun musst. Und dann würde dir das Feuer deinen -« »Still«, zischte Den. »Der Hauptmann kommt.« »Bruder Zacharias!« Hauptmann Fulk nickte seinen Soldaten zu, und sie zogen sich zurück. »Der Prinz möchte, dass eine kleine Gruppe auf den Markt geht, um herauszufinden, ob wir dort Vorräte und Führer für die Reise nach Osten bekommen können. Ihr habt im Grasland gelebt, Bruder. Ihr werdet wissen, nach welchen Dingen wir Ausschau halten müssen.« »Wagen.« Er erinnerte sich nur zu gut an die Wagen. »Das habt Ihr schon zuvor gesagt«, erklärte Fulk mit jener Skepsis, die vermutlich allen Westländern eigen war, die sich im Grasland nicht auskannten. »Wir wissen nicht, wie lange wir hier aufgehalten werden. Wir brauchen Vorräte und jede Menge Bier und Wein bei dieser heißen Sonne. Wulfhere wird mit Euch gehen, ebenso wie Robert, der Heiler von Edelfrau Bertha, der die arethusanische Sprache ein bisschen beherrscht.« Auf dem Weg zum Tor wurden sie von Gnade aufgehalten. »Nehmt mich mit! Ich will nicht hier bleiben!« »Prinzessin Gnade!« Matto kam schnaufend hinter ihr hergerannt. »Ihr müsst wieder ins Zelt gehen. Ihr wisst, was Euer Vater gesagt hat.« »Ich will nicht hier bleiben! Ich will den Palast der Statthalterin sehen. Ich will Leute mit Ohren sehen, die so groß sind wie Zelte. Vielleicht gibt es sogar einen Phönix auf dem Markt.« Matto zuckte zusammen, blickte schuldbewusst drein, während das Mädchen die Arme vor der Brust verschränkte und finster vor sich hin starrte. »Ich will mit ihnen gehen!« Wulfheres Gesichtszüge wurden weicher, als ihr Blick auf ihn fiel. »Was schadet es, wenn sie uns begleitet?«, fragte er. »Hat die Sonne Euch den Kopf verbrannt?«, fragte Zacharias. »Es gibt einen Sklavenmarkt in diesem Hafen!«
»Ich will den Sklavenmarkt sehen!« 149 Zacharias presste vor Wut die Zähne zusammen, aber er bemühte sich, daran zu denken, dass sie noch ein Kind war. »Es ist nicht witzig, auf einem Sklavenmarkt verkauft zu werden, wie ich ja wohl wissen muss. Wie wollt Ihr einen arethusanischen Dieb, der sieht, was für eine stolze, gute Edelfrau Ihr seid, daran hindern, Euch geradewegs zu stehlen und an die Ungläubigen zu verkaufen?« »Ich würde ihn beißen!« »Er würde Euch so kräftig schlagen, dass Ihr Euren Verstand verlieren würdet«, erwiderte Zacharias, was ihm einen scharfen Blick von Fulk einbrachte. Gnade hüpfte von einem Fuß auf den anderen; sie hatte nicht zugehört. »Ich würde ihn fünfmal beißen, bis er mich gehen lässt.« »Um Himmels willen, Wulfhere, redet ihr diese dumme Idee aus!« »Ein Tag Freiheit wird dem Kind nicht schaden«, murmelte Wulfhere gereizt. »Mir gefallen diese Hitze und der Staub ebenso wenig wie ihr. Dieser Ort ist unnatürlich.« »Unnatürlich, in der Tat! Wie könnt Ihr es für ungefährlich halten, dass sie auf dem Markt herumläuft, wenn wir nicht einmal wissen, wie wir von den Stadtbewohnern empfangen werden?« Gnade setzte ihre entzückendste Miene auf und stemmte die Fäuste in die Hüften; sie steuerte geradewegs auf einen großen Sturm zu. »Prinzessin Gnade.« Hauptmann Fulk bedeutete Matto, einen Schritt zurückzutreten. »Ich werde Euch persönlich auf den Markt begleiten, aber nicht heute. Jegliche Störung könnte den Verhandlungen Eures Vaters mit der Statthalterin schaden. Das würdet Ihr nicht wollen.« Hauptmann Fulk war der einzige Mensch - abgesehen von ihrem Vater -, dem sie wirklich Achtung entgegenbrachte. Alle anderen beachtete sie entweder nicht oder hielt sie fest an der Leine, wie einen ergebenen Hund. Sie runzelte so heftig die Stirn, dass Zacharias überrascht war, wieso nicht Wolken davon angezogen wurden und die unbarmherzige Sonne verbargen. »Ich gehe, so oder so«, murmelte sie. 150 »Ich muss tun, was Euer königlicher Vater mir befohlen hat, Eure Hoheit, und dafür sorgen, dass Ihr in diesem Lager bleibt. Wenn ich es nicht tue, wird er mich meines Ranges entkleiden und mich aus seinem Kriegstrupp werfen, was nur richtig wäre.« Der Gedanke, dass jemand, den sie mochte, von ihrer Seite gerissen werden würde, war ihr unerträglich. Mit einem verletzten Seufzen stapfte sie davon. Matto eilte ihr nach, während Fulk hilflos den Kopf schüttelte. »Wo ist eigentlich Anna?«, fragte der Hauptmann, aber niemand der Umstehenden wusste es. »Gehen wir los, solange wir noch können«, sagte Zacharias zu seinen Begleitern. »Ein halsstarriges Kind«, bemerkte Edelfrau Berthas Heiler, als sie zum Tor eilten. Robert war kahl, klein und dick, aber er hatte schöne Hände, langgliedrige Finger und lachte gern - was bemerkenswert war angesichts des vielen Leids, das er bei seiner Arbeit schon gesehen haben musste. »Es kommt mir aber so vor, als würde ihr Körper schneller wachsen als ihr Geist. Wann werden sie einander einholen?« »Ja, wann?«, murmelte Wulfhere. Die Wachen taten kund, was sie sich am meisten von der Stadt erhofften: Wein, Frauen oder wenigstens einen süßen Apfel. Der Eingang zur Festung wurde von einem außergewöhnlich tiefen Graben geschützt, dessen Seiten senkrecht abfielen und nicht erklommen werden konnten. In diesen Spalt hatte Fulk Bulkezu hinabgelassen. Zacharias sah den qumanischen Begh dort unten auf und ab gehen. Der Gefangene blickte hoch, als die Männer geräuschvoll die Brücke überquerten, die den einzigen Zugang zur Festung darstellte. »Ich kann riechen, dass der Wurm herauskriecht. Willst du dich auf dem Sklavenmarkt verkaufen, Wurm? Vermisst du ihn so sehr?« Zacharias stolperte weiter, sprang auf den festen Boden und wartete nicht auf die anderen, sondern eilte den Weg entlang, der um die Mauer herum zurück zur Stadt führte. Aber sie holten ihn dennoch ein. Barmherzigerweise erwähnten sie Bulkezu nicht. 151 »Die Erbauer haben sich anscheinend mehr vor der Steppe gefürchtet als vor dem Meer«, bemerkte Wulfhere, während er die Lage der Festung musterte; die Tore waren zum Wasser ausgerichtet, nicht zum Land. »Es heißt, dass es im Grasland Männer gibt, die sich in Wölfe verwandeln können«, sagte Robert. »Schenkt Ihr allem Eure Aufmerksamkeit, was an Euer Ohr dringt?«, fragte Wulfhere mit einem Lachen. »Viele Dinge dringen an mein Ohr, und wie ich festgestellt habe, ist es unklug, ihnen meine Aufmerksamkeit nicht zu schenken.« Robert kam aus dem Westen, aus dem Grenzland zwischen Varingia und Salia. Er hatte nie erklärt, wie er in den Dienst der Edelleute der Marklande geraten war, weit entfernt von seiner Heimat, und Zacharias hatte auch nicht vor, ihn zu fragen, seit er einmal einen Blick auf ein Sklavenzeichen an seiner rechten Schulter erhascht hatte. Er war ein paar Salianern begegnet, die aufgrund von Schulden oder Armut aus ihren Heimen vertrieben und als Sklaven an die qumanischen Stämme verkauft worden waren. Wer nicht an Hunger oder den Folgen der Misshandlungen gestorben war, war an Verzweiflung zugrunde gegangen.
Sie kamen schon bald an die Grenze der Stadt, wo sich die Gärten, Pferche, Weiden, Hütten und Häuser derjenigen befanden, die sich innerhalb der Mauern kein Fleckchen Erde zum Leben leisten konnten. Kinder liefen neben ihnen her und riefen ihnen in ihrer schnatternden Sprache etwas zu. Sie hatten die unterschiedlichsten Gesichter, hätten ebenso mit qumanischen Reitern verwandt sein können wie mit Kaufleuten aus Aosta, mit arethusanischen Seeleuten oder jinnischen Priestern, mit dunklen Kartiakanern oder den verschlagenen und mächtigen Sazdakhen-Kriegerinnen mit ihren breiten Gesichtern und den grünen Augen. Allerdings gab es keine blonden Menschen unter ihnen. Wulfhere wirkte wie ein stolzer silberner Wolf unter schäbigen Mischlingshunden. Die Wachen am Tor weigerten sich zunächst, sie in die Stadt einzulassen, aber Robert hatte ein paar ungrianische Münzen dabei, um sie zu bestechen. Sie schritten durch einen tunnelähnlichen Durchgang, der in 152 die breite Mauer getrieben worden war, und gelangten schließlich in die Stadt. Die Gassen stanken bedrohlich, waren voller Abfälle, die in der Hitze vor sich hin faulten. Und doch waren unzählige Leute unterwegs, gingen eifrig ihren Besorgungen nach und achteten sorgfältig darauf, wohin sie ihre Füße setzten. »Nehmt Euch vor Taschendieben in Acht«, warnte Zacharias. Ein paar Köpfe drehten sich nach ihm um, als sie die unbekannte Sprache hörten. Auch Wulfheres Haare erregten Aufmerksamkeit, aber die meiste Zeit blieben sie unbehelligt. Zu viele Reisende kamen in einen Hafen wie Sordaia, als dass drei schmuddelige Besucher wirklich Aufsehen hätten erregen können. Sie passierten mit Mauern eingefasste Flächen, ein Dutzend der außergewöhnlichen achteckigen arethusanischen Kirchen und einmal auch einen runden jinnischen Tempel mit dem steilen Dach und der in der Mitte geradewegs gen Himmel ragenden Säule. Am oberen Teil dieser Säule flatterten zerfetzte Banner aus rotem Tuch träge im Nordwind. Eine schwache Rauchschwade wirbelte an der Säule hoch, deutete darauf hin, dass im Innern des Tempels ein Feuer brannte. »Stimmt es, dass sie die Gläubigen bei lebendigem Leib verbrennen ?«, flüsterte Robert, kaum dass der Tempel außer Sicht geraten war. »Dass ihre Priesterinnen sich mit jedem Mann paaren, der mutig genug ist, ins Feuer zu treten?« Wulfhere schnaubte. »Ich weiß es nicht.« Zacharias blickte sich unruhig um. »Auf jeden Fall droht jenen der Tod, die solche Rituale bezeugt haben und darüber sprechen. Seid vorsichtig, was Ihr sagt, sonst sprecht Ihr noch etwas Wahres aus und bekommt dafür ein Messer zwischen Eure Rippen.« »Kann uns hier irgendjemand verstehen?«, fragte Robert. »Ich habe noch keine Seele Wendisch sprechen hören.« Dies wurde sogar noch offensichtlicher, als sie den Hafen mit den Docks und den Lagerhäusern erreichten. Zacharias hörte ein Dutzend Sprachen, die einander antworteten und sich vermischten, aber kein einziges klares wendisches Wort. Hier, im Hafen von Sordaia, handelte der Norden mit dem Süden, aber die Stadt lag so 153 weit im Osten, dass der Westen - also ihr eigenes Land - nur eine Geschichte war, die man den Kindern erzählte. Schiffe löschten ihre Ladung - Stoffe und Gewürze und kostbare Trinkgefäße aus Jade - für jene reichen Beghs im Grasland, die lieber handelten als stahlen. Holz, das von den Wäldern im Norden den Fluss hinuntergeflößt worden war, lag stapelweise neben eingezäunten Plätzen voller Fuchsfelle, Bärenfelle und weicher Marderpelze und wartete darauf, verladen zu werden. Offene Schuppen bargen Amphoren mit Korn, das dazu bestimmt war, die große Stadt zu ernähren, von der aus die arethusanischen Herrscher ihr Land von Ketzern regierten. Der Sklavenmarkt war stets geöffnet. Robert blieb abrupt vor einer Reihe von hellhäutigen, rothaarigen und vollkommen nackten jungen Frauen stehen, die aneinander gebunden eine Plattform hinaufgestoßen wurden, damit die Kunden sie mustern konnten. Jinnische Kaufleute mit Kopfbedeckungen, verschleierte Frauen aus Hessi, arethusanische Eunuchen mit bartlosem Kinn und andere Leute, deren äußere Erscheinung Zacharias keinem Volk zuordnen konnte, prüften die Kraft der Beine, die Festigkeit der Brüste oder klopften gegen Zähne und musterten die Linien der Handflächen. »Müssen wir unbedingt zusehen?«, fragte Zacharias. Er schwitzte stark, als er die Tränen in den Gesichtern derjenigen sah, die an neue Herren verkauft werden würden. Wenn er noch länger hier stehen blieb, würde er sich an den Tag erinnern, an dem ihm das Gleiche widerfahren war. »Sie brauchen nicht auch noch Zuschauer, die sie in all ihrem Unglück anstarren!« Sie gingen weiter zu den Kais, wo gerade zwei Schiffe vertäut wurden. Die Mittagssonne begann, sich gen Westen zu senken, und die Schiffe, die Sanglants Heer befördert hatten, nahmen bereits neue Ladung auf. Robert und Wulfhere gingen los, um den Kapitän zu suchen, mit dem Sanglant gereist war, denn der Mann kannte Sordaia gut und hatte versprochen, ihnen ehrliche Kaufleute zu empfehlen. Zacharias folgte ihnen nicht sofort. Seine Aufmerksamkeit wurde von einem Stallburschen und einem wunderschönen grauen Hengst in Beschlag genommen; der Mann ver154 suchte, das Tier die Landungsbrücke eines gerade erst eingetroffenen Schiffes herunterzuführen. Jedem Schritt
nach vorn folgte ein nervöses Zurückscheuen, während an Deck ungeduldig ein Reisender wartete, erpicht darauf, ebenfalls von Bord gehen zu können, woran ihn das ängstliche Pferd jedoch hinderte. Der Mann machte einen Satz zur Seite, um nicht von dem Tier getreten zu werden. Ein Westländer, dachte Zacharias, während er den leichten Umhang des Fremden und den Hut mit der breiten Krempe musterte. Wenn er auch kein besonders großer Mann war, deutete seine arrogante Haltung doch auf eine Person von edler Geburt hin, und sein Gewand und der geschnitzte Ebenholzstab, auf den er sich stützte, legten nahe, dass es sich um einen hochrangigen Geistlichen handelte. Ein Diener war bei ihm, ein untersetzter Mann, der die Schultern hängen ließ und dessen Rumpf behängt war mit zusammengerollten Bündeln und einer kleinen, versiegelten Holzkiste; es war fast zu viel Gepäck für einen einzigen Menschen. Der Stallbursche redete dem Hengst erneut gut zu. Das Tier machte einen Schritt, schnaubte und scheute zurück. Das war zu viel für den Mann aus dem Westen. Er machte dem Stallburschen gegenüber eine Bemerkung, und der stark schwitzende Mann nickte heftig, als würden auch tausend Entschuldigungen nicht genügen. Dann zog er das Pferd mit einiger Mühe an den Zügeln zu sich. Der Hengst trat zur Seite, warf unruhig den Kopf hin und her. Es war ein wunderschönes Tier, in seiner wilden, männlichen Schönheit Prinz Sanglant nicht ganz unähnlich, empfänglich für die Berührung des Windes und das Schwanken des Schiffes im Wasser, das immer wieder gegen die Pfosten stieß. Noch mehr Menschen waren inzwischen gekommen und sahen ebenfalls zu; ein solch herrliches Geschöpf gab es nicht jeden Tag zu bewundern. Jemand prallte gegen ihn; es war der schwer beladene Diener vom Schiff, der seinem Herrn den Weg durch die Menge bahnte. Gekleidet in das Gewand eines Geistlichen ging der Edelmann an Zacharias vorbei; die Hutkrempe war derart gebogen, dass er einen Blick auf das Gesicht darunter erhaschen konnte: ein dunkelhaari155 ger Mann, glatt rasiert wie ein Kirchenmann, mit geschürzten, abschätzigen Lippen. Sein Blick schweifte über die Menge, glitt an Zacharias vorbei, während er seinem Diener rasch folgte. War da etwas Vertrautes an dem Mann? Oder kam es ihm nur so vor, weil sich in einem Land voller Barbaren alle Westländer ähnelten ? Der Druck der Menge hatte ihn von Wulfhere und Robert getrennt. Er war allein. Oh, Gott, an einem Ort wie diesem war er von Sklavenhändlern ergriffen worden. Das Zittern kam so plötzlich, dass er schon fürchtete, die Beine würden ihm den Dienst versagen. Seine Kehle schnürte sich zu, und er konnte kaum Luft holen. Er schwankte benommen, und seine Handflächen wurden feucht. Niemand sonst litt unter dem schwankenden Boden, nur er allein. Stürmisch drängte er sich durch die Menge, sah sich unter den Turbanen der arethusanischen Marktfrauen und den roten Kappen und Pferdeschwänzen der jinnischen Kaufleute um, bis er Wulfhere entdeckte, der sich ebenfalls zwischen den vielen Menschen hindurchzwängte. Robert war nirgends zu sehen. Zacharias hob zitternd die Hand. Er wollte etwas rufen, brachte aber kein Wort heraus. Wulfheres Miene veränderte sich so abrupt, wie eine Lawine das Antlitz eines Berges verändert. Seine Augen weiteten sich vor Überraschung, und die Brauen wölbten sich. Sein vernarbtes Gesicht zeigte einen Hauch von Panik oder Freude, bevor es sich wieder in eine steinerne Maske verwandelte. Er drehte sich um, entdeckte Zacharias und drängte durch die Menge hindurch auf ihn zu. Zacharias' Herz klopfte so heftig, dass er ganz außer Atem war. Er kam gegen die vielen Leute nicht an, die ihn immer weiter von Wulfhere wegtrieben. Der Hengst wieherte laut, und gerade als Zacharias von der Wucht eines gegen ihn prallenden Mannes halb herumgewirbelt wurde, sah er, wie der Hengst sich losriss. Anmutig sprang das Tier von der Landungsbrücke herunter, landete mitten in der Menge und trampelte einen unglücklichen Zuschauer nieder. Die Leute schrien und stoben auseinander. 156 Zacharias brüllte laut, konnte sich vor Schreck jedoch nicht von der Stelle bewegen. Die Menge um ihn herum wogte, als die Leute versuchten, dem wild gewordenen Hengst auszuweichen, der jetzt bockte und um sich trat wie ein Dämon. »Dieser närrische Stallbursche!« Wulfhere tauchte auf, packte Zacharias am Handgelenk. »Er hätte bis zum Abend warten sollen, wenn hier Ruhe einkehrt -« Die nächsten Worte blieben ihm beinahe im Hals stecken. »Mögen Gott uns helfen!« Wiehernd stellte sich der Hengst auf die Hinterbeine. Er hatte sich Platz geschaffen, auch wenn mehrere Menschen als Folge davon auf dem Boden lagen; einige rührten sich und krabbelten weg, andere lagen reglos an Ort und Stelle, wo sie gestürzt waren. Blut bedeckte die Pflastersteine. Der Stallbursche rief seinen Kameraden auf dem Schiff etwas zu, und sie brachten ihm ein Seil, stürzten sich jedoch nicht schnell genug ins Gewühl. Denn in diesem Augenblick trat eine kühne Seele vor und stellte sich dem grauen Hengst entgegen. Ein einzelner Mensch war begierig darauf, sich gegenüber dem wilden Geschöpf zu beweisen, das jetzt die Docks in Angst und Schrecken versetzte. Ein kleines, dickköpfiges und unbekümmertes Kind - zu verwöhnt, um die Bedeutung von Vorsicht oder die Kraft eines Tieres zu ermessen, das deutlich größer und um einiges stärker war als es selbst. »Gnade!« Wulfhere steckte hinter einer Gruppe von kräftigen Seeleuten fest, die lauthals Wetten darüber abschlössen, ob das Mädchen unter die Pferdehufe geraten würde oder nicht. »Bruder Lupus!«, rief eine Stimme siegesgewiss hinter Zacharias. »Habe ich Euch endlich gefunden!«
2 Zu Sanglants Überraschung begrüßte die arethusanische Statthalterin ihre Besucher nicht am marmornen Säulengang zum Palast, sondern ließ sie in der Sonne warten, gewährte ihnen noch nicht einmal den Schatten, den die Kolonnade bot. Ein glatt rasierter Eu157 nuch erklärte auf Arethusanisch, dass er erst ihre Namen und Titel auswendig lernen müsse, ehe er sie der Höchst Erhabenen Edelfrau Eudokia vorstellen könne. »Was für eine Brüskierung«, murmelte Sapientia, und ihre Haut rötete sich - entweder von der Hitze oder vor Ärger. »Wir werden behandelt wie arme Bittsteller! Wie Gewöhnliche müssen wir draußen in der Sonne stehen! Die Statthalterin hätte uns persönlich empfangen und in den Palast führen müssen!« »Sei still.« Tatsächlich wusste Sanglant nicht, wie er die herablassende Haltung des Eunuchen deuten sollte, der sie anstarrte, als wären sie ein paar wertvolle Pferde, die ins Haus geschafft werden sollten, damit die Herrscherin sie sich ansehen konnte. Sapientia schwieg, kochte aber innerlich. »Heribert, ich bitte dich, tu dein Möglichstes.« Während Heribert auf Arethusanisch mit dem Eunuchen feilschte, warf Sanglant einen Blick auf die anderen Kameraden, die er als Begleitung ausgewählt hatte: Edelfrau Bertha, weil sie darauf bestanden hatte, mitzukommen, Hauptmann Istvan, weil er schon zuvor in arethusanischen Städten gewesen war, drei junge Edelleute, die klug genug waren, sich nicht zu äußern, Hathui und zwanzig seiner besonnensten Soldaten. Sie alle schwitzten heftig. Es war fast Mittag, und die Sonne brannte jetzt doppelt so heiß. Bertha zwinkerte ihm zu. Sie schien sich als Einzige zu amüsieren. Zweifellos lag es auch an der Hitze, dass Heriberts Ärger anschwoll und es zwischen ihm und dem Eunuchen, der in seinem Leinengewand und den juwelenbesetzten Schuhen ganz und gar nicht zu schwitzen schien, zu einem heftigeren Wortwechsel kam. Er endete damit, dass der Eunuch sich hinter die Tür zurückzog. »Worüber habt ihr gestritten?«, fragte Sanglant, als Heribert zu ihm zurückkehrte. »Über den Titel, mit dem er dich und Prinzessin Sapientia bei der Statthalterin vorstellen wird. Der Schatzmeister war der Meinung, dass ein Wort genügen würde, das so viel bedeutet wie >Edelmann< und >Edelfrau<, aber ich habe mich geweigert, diesen Titel zu akzeptieren. Wir haben eine Übereinkunft getroffen. Die 158 Soldaten werden draußen bleiben, im Schatten und in Rufweite, und ihr beide werdet als >Prinzeps< vorgestellt werden.« »Aha.« »Vertrau niemals den Arethusanern, Sanglant. Sie sind verschlagen, gierig und schmeicheln dir, während sie gleichzeitig deinen Geldbeutel stehlen. Ränge bedeuten ihnen alles. Handle dort, wo es nötig ist, aber gib ihnen niemals etwas, das dich in ihren Augen klein macht.« »Wieso müssen wir diese Beleidigungen erdulden?«, wollte Sapientia wissen. »Wir sollten einfach verschwinden!« »Wir brauchen die Unterstützung der Statthalterin, um uns für eine Reise ins Grasland mit Vorräten auszustatten«, sagte Sanglant. Es ermüdete ihn, dass er es Sapientia ein weiteres Mal erklären musste. »Wir werden auch Führer benötigen.« »Haben wir nicht Bulkezu als Führer?«, entgegnete sie. »Ist das nicht der Grund, weshalb du ihn am Leben gelassen hast?« »Ich möchte mich nicht nur auf ihn verlassen müssen, aber ich verspreche dir, Schwester, er wird uns am Ende dienen. Und was die Statthalterin betrifft, müssen wir so diplomatisch wie möglich vorgehen. Es sollte hier keinen Ärger geben, mit dem wir uns dann auf dem Rückweg herumschlagen müssen.« Die schweren Türflügel öffneten sich lautlos, von unsichtbaren Gestalten zurückgezogen, und der Eunuch tauchte wieder auf. Sein jadegrünes Gewand wirbelte ihm um die Beine, während er ihnen bedeutete, ihm zu folgen. Kaum waren sie im Palast, wurde die Hitze einigermaßen erträglich. Marmorböden schmückten die Kolonnaden. Der Palast zeugte von großem Wohlstand, gemessen daran, dass er sich in einer Handelsstadt im Grenzland befand. Sie passierten einige Innenhöfe, in denen Brunnen plätscherten, und erhaschten Blicke in Zimmer, die mit Verzierungen aus Gold und Elfenbein und edelsteinbesetzten Diwanen ausgestattet waren. Schließlich betraten sie eine schattige Laube, die mit dichten Weinreben bewachsen und durch vorzüglich gearbeitetes Flechtwerk abgeschottet war. Ein Dutzend Soldaten hielt mit Speeren in den Händen Wache. Drei Eunuchen flüsterten in einer schattigen Ecke neben einem mit Wein und Früchten beladenen Tisch mitei159 nander. Zwei Sklaven an beiden Seiten eines Sofas fächerten der Frau Luft zu, die sich entspannt zurückgelehnt hatte und sie beäugte, als wären sie Kröten, die an einen Ort gelangt waren, an den sie nicht gehörten. Sie hatte die Blüte ihrer Jahre bereits überschritten, in ihrer kunstvollen Frisur zeigten sich graue Strähnen, und an ihrem Kinn wuchsen zwei borstige schwarze Haare. Die kostbaren Ringe an ihren kurzen, dicken Fingern und der Glanz des Goldes, das schwer an ihrem Hals hing, kündeten von ihrem Rang. Ein schlichter Goldreif krönte ihren Kopf. Sanglant war es unmöglich, ihre Größe oder Figur zu erkennen, denn eine leichte Decke verbarg sie. Nach allem,
was er wusste, hätte sie auch eine Lamia sein und einen Schlangenkörper an der Stelle haben können, wo eigentlich Beine sein sollten. Ganz sicher zeigte ihre Miene keinerlei Willkommenslächeln, und auch ihre winzigen Maulwurfsaugen beäugten ihn nicht interessiert, sondern voller Verachtung. Zwei wacklige Schemel standen vor ihr - die Art von Sitzgelegenheit, auf der ein Stalljunge Platz nehmen würde, wenn er seine Kühe molk. »Sollen wir uns etwa da drauf setzen?«, zischte Sapientia. »Sicherlich gibt es noch ein weiteres Sofa«, sagte Sanglant zu Heribert, bevor er sich an den Eunuchen wandte, der sie eingelassen hatte. Er wusste, wie er einen Hauch von Drohung in sein Lächeln legen konnte. Er wusste, wie er einen Schritt vortreten und seine Größe einsetzen konnte, ohne aggressiv zu wirken. Er wusste, wie man sich unmerklich drohend aufbauen konnte. »Ich kann auf einem solchen Stuhl nicht sitzen, aber wenn es sein muss, kann ich auch vor meiner lieben Verwandten, der Erhabenen Edelfrau Eudokia, stehen.« Natürlich war es nicht gut, wenn er so groß und drohend dastand und die Statthalterin in seiner Gegenwart wie eine Gebrechliche wirkte. Also schleppten zwei Bedienstete ein zweites Sofa herbei und stellten es in gebührendem Abstand zur Statthalterin ab. Als Erste ließ Sapientia sich - am Kopfende - nieder. Sanglant wartete, bis Bertha und Hauptmann Istvan auf den Schemeln 160 rechts und links vom Sofa Platz genommen hatten; die anderen stellten sich hinter ihm in einem Halbkreis entsprechend ihrem Rang auf. Erst dann setzte Sanglant sich ans Fußende des Sofas. Es war so niedrig, dass er die langen Beine ausstrecken musste, was ein Hindernis für die Eunuchen darstellte, die herbeieilten und Wein anboten. Trotz seines Durstes brachte er das üble Gebräu, das wie ein Gemisch aus Pech, Harz und Gips schmeckte, kaum herunter. Dann sprach die Statthalterin plötzlich. Sie hatte eine bemerkenswert sanfte Stimme, die gar nicht zu ihren unfreundlichen Gesichtszügen passte. Dem Klang ihrer Worte war unmöglich zu entnehmen, was sie sagte. Heribert errötete, und seine Wangen wurden heiß. »So spricht die Höchst Erhabene Edelfrau Eudokia«, sagte er, aufrichtig bemüht, eine ruhige Miene aufzusetzen. »>Ich bin verpflichtet, jenen Edelleuten, die in meine Provinz kommen, einen höflichen Empfang zu gewähren. Ich weiß, dass Ihr die Tochter von Prinzessin Sophia seid, meiner Verwandten, die ihrer Sünden wegen in die barbarischen Königreiche verbannt wurde. Und doch, wie kann ich in gutem Glauben die Kinder eines Herrn bewirten, der höchst gottlos in Aosta eingefallen ist, in Länder, die längst geschworen hatten, meinem Verwandten, dem Höchst Gerechten und Heiligen Kaiser von Arethusa, zu dienen? Dieser feindselige Eindringling hat die heilige Stadt Darre in Besitz genommen, die rechtmäßig jenen von uns gehört, die sich zum wahren Glauben bekennen. Er hat meine Landsleute ins Exil gezwungen. Er hat Städte niedergebrannt, die sich dem Glauben an den Höchst Gerechten und Heiligen Kaiser verschrieben haben, und er hat treue Stadtbewohner niedergemetzelt. Er schickt seine ketzerischen Priester aus, die in unserer westlichsten Provinz Dalmiaka umherstreifen, und verfolgt dabei Pläne, deren Bösartigkeit ich nicht abschätzen kann.<« Sapientia war so rot geworden, dass sie aussah, als würde sie jeden Augenblick in Ohnmacht fallen, aber Sanglant lachte kurz, legte ihr beschwichtigend eine Hand auf den Arm. »Wenn das unsere Begrüßung ist, Heribert, dann bitte ich dich, lass die Erhabe161 ne Edelfrau unsere Antwort wissen.« Ein Eunuch verbeugte sich vor ihm, bot ihm weiteren Wein an, aber er winkte ihn weg. »Mein Vater ist nicht in Aosta eingefallen. Die kampfbereiten Stadtbewohner haben ihn gebeten, sie vor Mördern und Räubern zu schützen. Die rechtmäßige Königin ist in ihrem eigenen Palast von Thronräubern angegriffen worden, und so war es an meinem Vater, ihr zurückzugeben, was Rebellen und Verräter ihr genommen hatten. Euer Höchst Erhabener Kaiser hätte mit Edelleuten, die ihm die Treue geschworen und sich dann gegen ihn gewandt hätten, genau das Gleiche getan. Darüber hinaus ist nur zu bekannt, dass ganz Aosta einmal vor Kaiser Taillefer gekniet hat, dessen Größe sogar im Osten bekannt ist. Erst lange danach ist es in die Hände des Ostens gelangt. Die Menschen im Süden sprechen die gleiche Sprache wie die im Norden. Sie gehören zu einem einzigen Königreich und sind nicht in mehrere zerfallen.« Die Höchst Erhabene Edelfrau Eudokia wölbte die dicken Augenbrauen. Ihre Wangen waren rot geschminkt, wenn auch nicht genug, um ihr Alter zu verbergen, aber ihre Hände waren so weich und weiß wie die eines Mädchens, als hätte sie in ihrem ganzen Leben nichts Beschwerlicheres getan, als sie in nach Rosen duftendes Badewasser zu tauchen. »Mit was für Schiffen will Euer Herr den Süden verteidigen?«, ließ sie durch Heribert fragen. »Letztes Jahr ist er von Darre in den Süden gereist, zusammen mit seiner Frau und seinem ganzen Heer - dem von Wendar und Varre, von Aosta und Karrone -, und doch hat er noch nicht einmal eine einzige kleine Stadt eingenommen. Seine Soldaten sind verfressene Säufer. Sie laufen vor Mäusen davon. Was werden sie tun, wenn mein Verwandter, der Höchst Gerechte und Heilige Kaiser, Truppen gegen Euren Herrn schickt, um sich zurückzuholen, was er gestohlen hat?« »Nun denn, Ihr könntet den Wert der wendischen Soldaten herausfinden, nicht wahr? Ich habe achthundert gut ausgebildete Soldaten bei mir; sie lagern außerhalb der Stadt. Wir werden bereitwillig gegen Eure Truppen ins
Feld rücken, wenn Ihr unbedingt unsere Stärke prüfen wollt.« Sie machte ihren Bediensteten eine Geste, woraufhin diese mit 162 einer Platte voll geschälter Trauben zu ihr liefen. Sie wählte welche aus, steckte sich die am saftigsten aussehenden in den Mund. Während sie kaute, huschte ihr scharfsinniger Blick von Sanglant zu Sapientia und wieder zurück. In der Laube ging keinerlei Wind, abgesehen von dem, den die Sklaven erzeugten, die vor Schweiß nur so trieften. Die Hitze war erträglich, aber hauptsächlich deshalb, weil er sich nicht bewegte. Seltsam genug, machte ihn die Gereiztheit über den Hochmut seiner Gastgeberin geduldig, auch wenn Sapientia unruhig hin und her rutschte, den Wein hinunterstürzte und dann angewidert das Gesicht verzog. »Lasst mich offen sprechen.« Edelfrau Eudokia wartete, bis Heribert ihre Worte übersetzt hatte, ehe sie fortfuhr. »Wieso seid Ihr hier? Wenn Ihr eine neue Prinzessin für Euren Herrn gesucht hättet, wärt Ihr nach Arethusa gereist, denn nur der Höchst Gerechte und Heilige Kaiser kann über seine Verwandten, seine Schwestern und Töchter verfügen. Wie auch immer, es ist wohl bekannt, dass Euer Herr die aostanische Witwe geheiratet hat. Ich habe noch nichts davon gehört, dass Euer Volk den götzendienerischen jinnischen Brauch pflegt, mehr als einen Ehepartner zu haben, oder seid Ihr möglicherweise noch immer so barbarisch wie die Ungrianer?« Hauptmann Istvan schnaubte geräuschvoll, sagte jedoch nichts. »Vielleicht sucht Ihr ja eine Prinzessin für Euer eigenes Bett«, fuhr sie fort und starrte Sanglant geradewegs ins Gesicht. Noch immer weigerte sie sich, seinen Namen zu nennen oder ihm mit irgendeinem Titel Ehre zu erweisen. »Ich bin bereits verheiratet«, erklärte er mit liebenswürdiger Stimme. »Ansonsten würde ich Euch gewiss um Eure Hand bitten, Edelfrau Eudokia.« War es Erheiterung oder Wut, was ihre Lippen zucken ließ? Sie winkte dem Diener und aß ein Dutzend weitere Trauben, ehe sie dem Mann bedeutete, auch den Gästen welche anzubieten. Sapientia aß eifrig, aber Sanglant winkte ihn weg. »Was führt Euch dann hierher? Seid Ihr gekommen, um Euch dem wahren Glauben anzuschließen und die abtrünnige Ketzerei abzulegen, die die dariyanischen Geistlichen predigen?« 163 »Das ist unerhört!«, rief Sapientia, die gerade dabei war, sich eine weitere Traube in den Mund zu schieben. »Ist dir eigentlich noch nicht in den Sinn gekommen, dass unter den Dienern einer sein könnte, der Wendisch versteht?«, fragte Sanglant sie leise. »Sei nicht so unvorsichtig.« »Oh!« Sie musterte die anwesenden Diener, als könnte sie ihre sprachlichen Fähigkeiten allein am Schnitt ihrer Gesichter erkennen. »Was soll ich darauf antworten, Prinz?«, fragte Heribert. »Sag Folgendes, Heribert.« Während er seinen Verstand anstrengte, stellte er fest, dass er nervös war und seine Hände feucht wurden. Er strich die Tunika über den Oberschenkeln glatt, und die Bewegung löste seine Anspannung ein bisschen. »Höchst Erhabene Edelfrau Eudokia. Was wisst Ihr über Zauberei?« Sapientia drehte sich verblüfft zu ihm um und packte sein Handgelenk, aber Eudokia kicherte erstaunlicherweise. Sie legte die plumpen Handflächen aneinander. Ein Eunuch verbeugte sich vor ihr, und sie flüsterte ihm etwas ins Ohr. Er verließ die Laube durch eine Seitentür. Sie warteten schweigend, während die Bediensteten Trauben, Feigen und frische, noch feuchte Apfelscheiben herumreichten. Sanglant rührte nichts davon an. Das Gefühl einer Vorahnung kroch sein Rückgrat hinauf wie tastende, giftige Finger. Er verlagerte sein Gewicht, sah Edelfrau Bertha an und bemerkte, dass auch sie aufrecht saß, wachsam und bereit, ebenso wie Hauptmann Istvan. Der Adler Hathui nickte kurz als Zeichen, dass sie gewarnt war. Sapientia knabberte unruhig an ihren Trauben und runzelte zwischen den Bissen die Stirn. Die Eunuchen kehrten zurück. Einer wartete in einer Ecke, während der andere vor Edelfrau Eudokia niederkniete; die Falten seines hellgoldenen Gewandes raschelten. Er hielt einen Keramiktopf mit einem Deckel in der Hand. Edelfrau Eudokia begann, eine wortlose Melodie zu summen, während sie den Deckel abnahm und ihre Hand langsam in den Topf gleiten ließ. War das eine Schweißperle im Gesicht des Eunuchen, die da an seiner Nase entlangrann? Vermutlich lag es nur an der Hitze. 164 »Gott im Himmel!«, flüsterte Sapientia. Ihre Hand krallte sich um Sanglants Handgelenk, als Edelfrau Eudokia die Hand wieder aus dem Topf herausnahm. Eine gestreifte Natter wand sich ihr Handgelenk hinauf, rollte sich darum. Die Schlange bog den Kopf zurück, stellte die Haube auf und biss den unglücklichen Eunuchen in den Unterarm. Sapientia keuchte auf. Einer der Edelleute schrie. Der Topf glitt dem Diener aus den Händen und zerschellte auf dem Boden. Scherben flogen quer durch die Laube. Er schrie, würgte und schlug mit der Hand auf die Bisswunde, aber der Arm schwoll dort bereits bedrohlich an. Ein roter Brand breitete sich auf der verletzten Hand aus. Edelfrau Bertha und Hauptmann Istvan sprangen auf, aber Sanglant hob warnend die Hand, und sie hielten inne, die Messer halb gezogen. Einer der anderen Eunuchen eilte mit einem offenen Topf herbei, in den Edelfrau Eudokia die zuckende Schlange sanft hineinlegte. Er verschloss ihn mit einem Deckel und stellte ihn auf den Boden neben den geplagten Mann, der jetzt nach Luft schnappte, als ein Tropfen Blut aus seinem rechten Auge trat. Seine
schweren Atemzüge und sein Wimmern und Stöhnen waren die einzigen Geräusche in der Laube, abgesehen von dem Schnaufen der Blasebälge, die die Sklaven betätigten. Der Ärmel seines Gewandes spannte sich über dem gebissenen Arm, so sehr war er mittlerweile angeschwollen. »Basil.« Der grün gekleidete Eunuch schlurfte vor und hielt Edelfrau Eudokia einen goldenen Becher und eine flache Schale voll duftender Kräuter hin. Sie nahm den Stiel des Bechers in die rechte Hand und streute mit der linken zerstoßene Kräuter in den Becher, sprach dabei die ganze Zeit Worte, deren Bedeutung Sanglant nicht verstand. »Beroush. Beroush ... keddish gedoul.« Ihre Worte gingen in den vertrauten Tonfall der arethusanischen Sprache über, und Heribert beugte sich zu Sanglant hinab, um die Übersetzung zu flüstern. »Ich rufe dich an und ersuche dich im Namen der sieben geheiligten Engel, im Namen des heiligen Daisan, der den giftigen 165 Schlangen widerstanden hat, lass dies einen Becher des Heilens und der Reinigung werden, lass jenen, der daraus trinkt, vom Gift geheilt werden. Ich beschwöre dich, Heiliger, Namenloser. Rasch! Rasch!« Der gequälte Eunuch sank rücklings zu Boden und griff sich an die Kehle, während ihm Blutstropfen aus dem Mund rannen. Sein Arm war jetzt ungeheuer dick, bis hinauf zur Schulter geschwollen, und auch sein Gesicht begann anzuschwellen. Sanglant hatte noch nie ein Gift so schnell wirken sehen. Basil kniete neben seinem Kameraden nieder, nahm dessen Kopf in die Hände und öffnete ihm den Mund, sodass Edelfrau Eudokia ein paar Tropfen hineinfallen lassen konnte. Er zuckte und verlor dann das Bewusstsein, während Blutstropfen aus seinen Augen traten, als wären es Tränen. Schließlich wurde er ruhig und erschlaffte. »Er ist tot«, flüsterte Sapientia. »Nein«, sagte Sanglant. »Er atmet noch.« Edelfrau Eudokia goss auch den Rest Wein in den leicht geöffneten Mund des Dieners, obwohl das meiste davon über seine Wangen lief und in den Ritzen zwischen den Steinfliesen versickerte. Schon wirkte sein Gesicht weniger geschwollen, und der Wein spülte auch den letzten Rest Blut hinweg, als Rot das Rot ertränkte. »Zauberei«, sagte Edelfrau Bertha. »Seht nur seine Hände.« »Zauberei«, sagte Edelfrau Eudokia, aber es war nicht ganz klar, ob sie damit auf Berthas Bemerkung antwortete. Heribert übersetzte weiter. »Ich bin mit der Zauberei vertraut, Sohn von Henry. Sie fließt in den Adern der Frauen meines Hauses, aber wir setzen sie nicht töricht ein, denn Zauberei fordert ihren Preis, der für Euch nicht so offensichtlich sein mag, aber dennoch gefährlich ist. Ist es Zauberei, weshalb Ihr gekommen seid?« »Ihr seid nicht die Einzige, die Zauberei beherrscht, Höchst Erhabene Edelfrau. Nicht alle, die solche Macht besitzen, nutzen sie weise oder gut oder zum Nutzen der Menschheit.« »Eine seltsame Bemerkung, Prinz Sanglant. Ich benutze Zauberei zum Nutzen meiner Familie. Wieso sollte ich sie anwenden, um anderen zu nutzen, die meine Feinde sein könnten? Seid Ihr ge166 kommen, um von mir Hilfe gegen Eure barbarischen Magier zu erhalten? Ich werde mich nicht in Streitereien einmischen, die meiner Aufmerksamkeit nicht würdig sind.« »Was ist, wenn diese Eurer Aufmerksamkeit sehr wohl würdig sind? Zauberei kann man sich auf vielfältige Weise nutzbar machen. Ihre Wirkung kann noch weit entfernt von ihrem Ursprung Erschütterungen hervorrufen. Wisst Ihr etwas über die so genannten Mathematiki, die Fäden aus Sternenlicht zu einer Krone aus Stein weben?« Ihre Gesichtsfarbe veränderte sich. Eine helle Röte überzog ihre Haut, und ein Zittern durchlief ihren Körper. Der Becher fiel ihr aus der Hand, landete zunächst auf dem Körper des am Boden liegenden Eunuchen, ehe er von dessen Brust rollte und auf die Steinfliesen prallte. Der gebissene Eunuch stöhnte, setzte sich auf und rieb sich den Arm. Eine Tür öffnete sich und schloss sich wieder, und ein junger Eunuch in einem goldenen Gewand eilte herbei, um Basil eine Nachricht ins Ohr zu flüstern. Basil wiederum beugte sich zu der Edelfrau hinab und sprach zu ihr. Sie nickte und erteilte einen Befehl, während die Röte aus ihrem Gesicht verschwand. »Geht jetzt.« Basils grünes Gewand flatterte, als er von dem Sofa zurücktrat. »Es sind Gemächer vorbereitet worden. Ihr könnt Euch dort ausruhen. Wir werden Euch rufen, wenn die Zeit zum Speisen gekommen ist.« »Aber -« Sapientia erhob sich. »Nein, Schwester, tun wir, worum man uns bittet. Das Heer müsste sich jetzt eingerichtet haben, und ein Markt ist ganz in der Nähe. Wir müssen geduldig sein.« »Es könnte eine Falle sein«, murmelte sie. Er beugte sich zu ihr und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich bin sicher, wir können uns den Weg aus diesem Palast freikämpfen, falls es nötig sein sollte. Er wird lediglich von Pantoffeln tragenden Eunuchen bewacht.« »Bayan hat sich nie beleidigend über die Leistung der arethusanischen Legionen geäußert. Er hat einmal gegen sie gekämpft. Du auch?« 167 Gekränkt wandte sich Sanglant von ihr ab und ging dem Eunuchen hinterher. Die anderen folgten ihm gehorsam,
murmelten aber untereinander. Basil führte sie in zwei angrenzende Räume, die sich zu einer Veranda mit Blick auf einen verdorrten Garten öffneten. Ein Springbrunnen plätscherte leise in der Sonne. Über den Sprühnebel flackerten Regenbogen, die rasch wieder verschwanden. Ein Beet mit Rosmarin war der einzige Schmuck, die anderen Parzellen standen leer. In den Räumen wartete eine kleine Gruppe von Dienern, die mit Gesten anboten, ihnen die Hände und Füße zu waschen, ein Schachspiel aufzustellen und ihnen dabei behilflich zu sein, es sich auf den Sofas voller Kissen bequem zu machen. Seidenvorhänge mit Szenen von opulenten Festessen und Blumen pflückenden Mädchen schmückten die Wände. »Was hältst du davon?«, fragte Heribert. »Von meiner Schwester oder diesen schönen Zimmern?« Heribert hob schalkhaft eine Braue, aber dann schüttelte er den Kopf. »Ich frage mich, wer hier von der Schlange gebissen wurde«, sagte er. »Nein, ich beziehe mich auf die Höchst Erhabene Edelfrau Eudokia.« »Ich gehe davon aus, dass die Wände und Diener Ohren haben. Wenn ich der Herr dieses Hauses wäre, würde ich dafür sorgen, dass mindestens einer der Bediensteten Wendisch sprechen kann.« Er ließ sich auf einem der Sofas nieder, streckte sich auf den Kissen aus und gähnte. Die auf dem Weg zum Palast heiß herabbrennende Sonne hatte ihn ermüdet, und er pflegte keine Intrigen zu spinnen, wenn er müde war. Es war einfacher, zu kämpfen. Er schlief unruhig, wachte häufig auf, während sein Gefolge um ihn herum sich leise unterhielt oder ebenfalls ein Nickerchen machte. Breschius spielte Schach gegen Edelfrau Bertha. Sapientia schnarchte leise. Traumfetzen zuckten hell auf und verblassten wieder, während er aus dem Schlaf erwachte und wieder einnickte. Liath wob Licht zwischen den Menhiren. Abgetrennte Fäden rollten sich zusammen und zuckten wie geköpfte Schlangen wie 168 die Natter, die Eudokias Handgelenk emporgekrochen war. Glocken. Ein Pfeil, der sich in eine Flamme verwandelte. Bayan tot, und Sapientia in Ketten, eine Gefangene. Wer hatte ihr das angetan? Er wachte abrupt auf, beunruhigt und ruhelos, und diesmal erhob er sich. Er ging nach draußen und taumelte, als er ins Sonnenlicht trat; in der schattigen Laube hatte er die Kraft der Sonne ganz vergessen. Hathui stellte sich neben ihn. »Beim Springbrunnen sind wir bestimmt vor lauschenden Ohren geschützt, Hoheit.« Der von feiner Gischt umwehte Springbrunnen wirkte überaus einladend. Sanglant setzte sich auf den Rand des Brunnens und ließ sich von dem kühlenden Sprühnebel umhüllen. Wassertropfen sammelten sich in seinem Nacken, rannen unter den schweren Goldreif, befeuchteten seine Lippen und Hände. Hathui folgte ihm, beschattete ihre Augen mit einer Hand. Die anderen warteten umsichtigerweise im Schatten, beobachteten ihn oder schliefen immer noch in der größten Hitze des Tages. »Glaubt Ihr, sie weiß von den Sieben Schläfern?«, fragte Hathui, während sie, umweht von der Gischt, am geräuschvoll plätschernden Springbrunnen standen. »Oder macht sogar gemeinsame Sache mit ihnen?« »Ich weiß es nicht. Die Kirche hat die Mathematiki vor hundert Jahren verdammt. Ich weiß nicht, ob der arethusanische Patriarch das Gleiche getan hat. Vielleicht weiß es Bruder Breschius. Ich nehme an, es wird schwierig, die Wahrheit herauszufinden.« »Glaubt Ihr, die Natter war wirklich giftig?« Er lachte. »Auf mich hat sie giftig genug gewirkt. Nur gut, dass ich meine Tochter in der Festung zurückgelassen habe, denn sie hätte darauf bestanden, die Schlange selbst anzufassen. Aber wir müssen uns fragen, ob Magie oder die Kraft der Kräuter den Eunuchen gerettet hat. Wir können den Arethusanern nicht vertrauen, und wir sollten auch nicht versuchen, sie in Dinge hineinzuziehen, von denen sie besser ausgeschlossen bleiben. Wenn es stimmt, dass mein Vater im Süden Aostas gegen ihre Verbündeten und Vasallen gekämpft hat, werden sie vermutlich versuchen, uns 169 aufzuhalten, um ihm zu schaden, oder sie werden uns helfen, weil sie hoffen, ihn auf diese Weise schwächen zu können.« »Dann bringt Ihr Barbaren und Ketzern also mehr Vertrauen entgegen, Prinz Sanglant? Diesen Kerayiten, von denen Bruder Breschius spricht?« »Sie haben weniger zu verlieren, ob wir nun Erfolg haben oder versagen, nicht wahr?« »Aber wie finden wir sie?« »Wie finden wir sie?«, wiederholte er. »Oder bin ich einfach nur ein Narr, wenn ich glaube, ich könnte es mit Anne aufnehmen?« »Jemand muss es tun, Prinz Sanglant. Vergesst Euren Vater den König - nicht.« Hier im Hof, an der frischen Luft, hörte er Geräusche aus der Stadt, das trotzige Wiehern eines Hengstes, das Rumpeln von Wagenrädern auf Pflastersteinen, das Rufen eines Mannes. Er lächelte grimmig. »Nein, ich vergesse ihn nicht. Bin ich nicht sein gehorsamer Sohn?« »Leider nicht immer, mein Prinz.« Er sah sie an und grinste dann amüsiert über ihre hochgezogenen Augenbrauen. »Es wundert mich nicht, dass
mein Vater Euch vertraut, Adler.« »Und dieses Vertrauen habe ich niemals missbraucht. Was ich auch jetzt nicht tun werde.« »Dennoch habt Ihr mich aufgesucht.« »Weil ich glaube, dass Ihr der Einzige seid, der König Henry retten kann -« Ein lauter Ruf störte die träge Ruhe des Nachmittags. Schritte ertönten auf Steinfliesen, unterbrochen von Schreien und scharfen Einwänden. Er sprang auf, rief den anderen etwas zu, als gerade die Tür zu ihrem Gemach aufgerissen wurde und ein Soldat hereinstürzte, als würde er von Speerspitzen getrieben. »Mein Prinz!« Der Mann war so außer Atem, dass er nicht mehr als die Anrede herausbrachte. »Prinz Sanglant!« »Hier bin ich.« Sanglant trat in den Schatten der weiß getünchten Veranda. »Was ist los, Malbert?« »Eure Hoheit!« Der Eunuch Basil schob sich mit einem wilden 170 Gesichtsausdruck an Malbert vorbei. Sein Wendisch war verblüffend fließend. »Dieser Mann ist in das Allerheiligste des Palastes eingedrungen. Er hat einen meiner -« »Ich bitte Euch, schweigt!« Der Eunuch brach ab, und nur die Lippen bewegten sich noch. Sein Gesicht spiegelte Verachtung wider. Aber er schwieg. »Malbert?« Der Soldat atmete immer noch schwer. »Mein Prinz«, keuchte er und schnappte nach Luft. »Eure Tochter - sie wird vermisst.« 3 Zacharias war zu entsetzt, um sich bewegen zu können, als der Hengst zum Sprung ansetzte. Der Stallbursche rannte die Landungsbrücke hinunter. Wulfhere versuchte, sich zwischen den Seeleuten hindurchzudrängen, die sich wie alle Übrigen zurückzogen, um dem völlig verängstigten Pferd mehr Platz zu verschaffen. Nur Gnade blieb da stehen, wo sie war. »Bruder Lupus!« Der Geistliche tauchte in der Menge auf und packte Wulfhere an der Schulter. »Ich habe mir schon gedacht, dass ich Euch in der Nähe von Prinz Sanglant finden würde. Kommt mit. Wir müssen uns beeilen.« »Dafür ist jetzt keine Zeit!« Wulfhere riss sich von dem Geistlichen los, was nicht schwierig war, da er einen halben Kopf größer war und die Statur eines Mannes hatte, der sein ganzes Leben im Sattel und nicht am Hof verbracht hatte. »Mein Gott.« Die Seeleute waren mittlerweile weiter zurückgewichen, sodass eine Lücke entstanden war, die dem anderen Mann an Wulfhere vorbei einen Blick auf den Hengst und das reglose Mädchen gewährte. »Ist sie das? Schon so groß? Sie kann doch noch nicht älter als drei Jahre sein! Oder ist es irgendein uneheliches Kind des Prinzen?« Der Hengst tänzelte zur Seite, warf den Kopf hin und her. Der Stallbursche erreichte den Fuß der Landungsbrücke. 171 »Da ist keine Zeit zu verlieren«, murmelte der Geistliche. Etwas an der Art, wie er das Kinn reckte und den Blick gen Himmel richtete, löste eine Kaskade von Erinnerungen in Zacharias aus. Etwas an der Art, wie er die linke Hand hob, als würde er einen Segensspruch oder Befehl geben, verwandelte die Erinnerung in deutliche Erkenntnis. Zacharias hatte ihn schon einmal gesehen. Dieser Mann war einer von denen, die im Tal verblieben waren, nachdem Kansi-a-lari die Zauberer verlassen hatte. Er war einer der Sieben Schläfer. Genau wie Wulfhere. Licht flackerte um den Kopf des Geistlichen auf. Der Himmel verdüsterte sich, als eine Wolke herbeitrieb und die Sonne bedeckte, und eben jener Lichtfetzen strich Zacharias über den Nacken, bevor er weiterhuschte, um sich um die ausgestreckten Leichen zu schlängeln. Er verband sich mit der Mähne des widerspenstigen Hengstes, wickelte sich um dessen Ohren. Halluzinierte er? Der Hengst schnaubte und trat so abrupt einen Schritt zurück, dass er gegen den Stallburschen stieß und der arme Mann vom Kai stürzte; mit einem Schrei und einem lauten Platschen fiel er ins dreckige Wasser. Gnade machte einen weiteren Schritt nach vorn. Der Hengst bäumte sich auf, wieherte laut. Zacharias konnte sich nicht rühren. Wulfhere zwängte sich an den Männern vorbei, die ihm im Weg standen, und raste auf Gnade zu, trug sie in die Sicherheit der Menge zurück, während sie protestierend schrie und mit Händen und Füßen um sich trat. Der Geistliche drehte sich um. »Wer seid Ihr?«, fragte er mit seiner gekünstelten Stimme, die Lippen zu einer dünnen Linie zusammengepresst. »Zu spät für Fragen, da Ihr mich ohnehin schon gesehen habt.« Ein Windhauch strich an Zacharias' Ohr entlang. Eine Brise umhüllte sein Gesicht und schnitt ihm die Luft ab. Licht flackerte vor seinen Augen auf. Und erlosch. Er stürzte. 172 Als er erwachte, war ihm übel, und der Boden schwankte. Er rollte sich auf den Rücken, stieß gegen einen unförmigen Sack und öffnete die Augen. Es war dunkel, abgesehen von einem matten Glühen jenseits seiner
Füße, das aber zu diffus war, um es genauer erkennen zu können. Es war ihm unmöglich, zu sagen, wo er sich befand, aber die zersplitterten Holzplanken stanken nach altem Erbrochenem und getrockneter Pisse, und der Boden hob und senkte sich gleichmäßig. Er hörte Schritte, ein Scharren, als würde etwas über den Boden gezogen, und schloss rasch wieder die Augen. »Ich werde ihn untersuchen.« Das war der Geistliche mit seinem schweren wendischen Akzent. Zacharias zwang sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen, sich zu entspannen, damit der Geistliche glaubte, er würde schlafen. Hände tasteten ihn ab. »Mögen Gott Barmherzigkeit haben. Wäscht der Mann sich denn nie?« »Er will nicht, dass seine Entstellung bemerkt wird, und ich vermute, dass er deshalb selten badet. Ich habe Euch gesagt, dass es voreilig war, ihn zu ergreifen, Marcus. Hättet Ihr ihn nicht in Ruhe lassen können? Jetzt werden wir ihn töten müssen.« Selbst nach all den Jahren, die er als Sklave überlebt und gelernt hatte, jedwede Entwürdigung zu ertragen, fiel es ihm schwer, nicht voller Panik nach Luft zu schnappen oder vor Furcht zu wimmern. Das war Wulfheres Stimme. Hatte er nicht die ganze Zeit über vermutet, dass man Wulfhere nicht trauen konnte ? »Ich werde kein Risiko eingehen«, sagte der andere Mann, der sich nicht von seiner Suche abbringen ließ. »Er hat mich mit Euch gesehen und könnte dem Prinzen davon erzählen.« Nur zu rasch fanden die Hände die kleine Tasche, die in Zacharias' Gewand eingenäht war, spürten das zusammengefaltete Pergament, zogen es heraus und ließen von ihm ab. Durch irgendein Wunder atmete Zacharias ruhig weiter und öffnete auch die Augen nicht. Sie dürfen es nicht merken. Ausharren. Geduld birgt die Belohnung in sich. »Erkennt Ihr das hier?«, fragte Marcus. 173 »Die Berechnungen eines Mathematikus. Ihr wisst, dass ich in solchen Dingen nicht geübt bin.« »Und auch nicht in Intrigen. Dies trägt die Handschrift von Liathanos nutzlosen Mutmaßungen. Wie ist dieser Eunuch nur in ihren Besitz gelangt?« »Ich weiß es nicht. Er ist ein verschlossener Mensch, angezogen von geheimnisvollen Dingen. Er glaubt, eine Vision gesehen zu haben, einen kurzen Blick auf die geheime Natur des Kosmos geworfen zu haben. Ich behaupte nicht, es zu verstehen. Aber er hat mich immer bedrängt, dass ich ihm das verborgene Wissen über das Universum beibringe.« »Tatsächlich? Hmm.« Wulfheres Lachen klang scharf. »Habt Ihr vor, ihn zu uns zu holen? Er ist ein Feigling. Man kann ihm nicht trauen. Das sagt er selbst. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie feige er ist.« »Ich hatte eher daran gedacht, ihn über Bord zu werfen, wenn wir erst ein gutes Stück auf See sind. Aber ich frage mich, was Ihr ihm seiner Meinung nach beibringen könntet. Und was er glaubt, wieso Ihr mit Prinz Sanglant reist.« Eine gute Frage, aber Zacharias konnte sich kaum konzentrieren; es war schwer genug, sich zusammenzureißen und sich vor Furcht nicht nass zu machen. »Ihn über Bord zu werfen.« Kein Wunder, dass der Boden unter ihm hin und her schaukelte. Er war auf einem Schiff. »Einer von uns muss die beobachten, die die größte Gefahr darstellen. Ist das nicht immer meine Aufgabe gewesen? Ich bin der Bote, der in die Welt hinausreitet.« »Nicht Ihr allein. Ich habe bei den Presbytern und Geistlichen in Darre meinen Teil dazu beigetragen.« »Das ist nicht das Gleiche.« »Nein, das ist es nicht, denn das sind alles gebildete Männer und Frauen. Ihr habt die Aufgabe erfüllt, für die Ihr Euch kraft Eurer Geburt besonders geeignet habt. Jetzt ist es nötig, dass Ihr Eure Rolle woanders spielt, Bruder Lupus.« »Ich werde hier gebraucht. Prinz Sanglant stellt eine Gefahr dar. Jemand von uns muss ihn beobachten.« 174 »Ich will Euch nicht widersprechen, aber wir können uns nicht länger den Luxus leisten, Euch nach Gutdünken verfahren zu lassen. Das Rad des Himmels dreht sich weiter, ob wir es wollen oder nicht. Ihr wisst, welche Rolle Ihr zu spielen habt.« »Kann nicht jemand anders ausgebildet werden? Sicher ist noch Zeit.« »Im Unterschied zu den Adlern treten die Schläfer nie in den Ruhestand, Bruder. Sie sterben und werden ersetzt. Schwester Zoe weilt nicht mehr unter uns. Leider.« »Sie ist wirklich tot?« »Das ist sie, in der gleichen Feuersbrunst umgekommen, in der wir auch Liathano verloren haben. Ich werde sie vermissen, die gute Frau. Aber wir haben einen starken Geist gefunden, der sie ersetzen wird. Es handelt sich um Hugh von Austra. Vielleicht kennt Ihr ihn.« »Hugh von Austra! Markgräfin Judiths unehelicher Sohn?« »Genau der. Mit seiner Hilfe hat Anne das Geheimnis der Kronen entschlüsselt und herausgefunden, wie die Bewegungen der Sterne im Zusammenspiel mit den Steinen wirken. Wir stehen kurz davor, das Weben zu verstehen, mit dem unsere Ahnen sich der Verlorenen entledigt haben.« »Die sieben Kreise -«
»Darüber sind wir längst hinaus. Sieben Kreise, jeder aus sieben Steinen. Wir haben uns aufgrund unrichtiger Vermutungen getäuscht. Schwester Anne glaubte, dass die Krone bei Verna der Schlüssel war, aber das stimmt nicht. Meriam geht jetzt davon aus, dass die Kronen das Land der Aoi umgeben und dass die alten Zauberer auf diese Weise jenes Gebiet innerhalb des Beschwörungskreises gebunden haben. Deshalb muss sich mindestens eine Krone südlich der Mittelsee befinden, eine östlich, eine westlich und eine nördlich davon. Wir haben in Alba unter den Baumzauberern und ihrer Königin unverhofft Verbündete gefunden. Mit ihrer Hilfe haben wir erfahren, wo der westlichste Kreis liegt. Bruder Severus wird dorthin reisen, wenn er herausgefunden hat, ob der zweite Kreis tatsächlich im Süden von Salia liegt. Ich habe selbst im Laufe meiner langen Suche nach Euch eine Krone hier im Os175 ten gefunden, in der Wildnis zwischen Ungria und Handelburg an einem Ort namens Königinnengruft. Kennt Ihr ihn?« »Bayan und Sapientia haben vor drei Jahren an einem Ort namens Königinnengruft gegen die Qumaner gekämpft. Dort hat es ein uraltes Hügelgrab gegeben, wie ich gehört habe -« »Genau. Ich bin in die Grabkammer gegangen, aber sie ist von Grabräubern heimgesucht worden. Ich habe auch die Überreste der Schlacht gesehen, sauber abgenagte Skelette von Pferden und Menschen und zahllose zerbrochene Pfeile. Oben auf dem Hügel befindet sich eine Krone. Die Ortsansässigen waren leicht davon zu überzeugen, dass es in ihrem Interesse liegt, die umgestürzten Steine unter meiner Aufsicht mit Seilen und Rampen wieder aufzurichten. Aber Ihr wart nicht dabei, als die Schlacht geschlagen wurde, nicht wahr, Wulfhere? Wieso haben wir jede Spur von Euch verloren? Ich sehe, dass Ihr ein Amulett tragt, um Euch vor ätherischer Sicht zu schützen. Versteckt Ihr Euch vor uns?« »Nein. Ich bin der Schlauheit eines anderen Adlers zum Opfer gefallen. Es ist eine alte Feindin, die mich sehr hasst. Sie hat sich in den Dienst von Waltharia zurückgezogen, dem ältesten Kind von Helmut Villam. Als wir dort vorbeigekommen sind, hat sie Prinz Sanglant davon überzeugt, dass er sich mit solchen Amuletten schützen muss, wenn er gegen Zauberer vorgehen will. Ich konnte mich nicht weigern, ebenfalls eins zu tragen, ohne ihn misstrauisch zu machen.« »Ihr hättet ihn schon vor Monaten verlassen sollen. Euer Aufenthalt bei ihm führt zu nichts.« »Glaubt Ihr etwa nicht, dass Prinz Sanglant eine Bedrohung für Schwester Chlothildes Hoffnungen und Pläne darstellt?« »Ich glaube, selbst wenn er Verbündete gewinnen sollte - und diese Greifenfedern, von denen Ihr gesprochen habt -, wird es zu spät sein. Und sie werden im Vergleich zu uns zu wenige sein.« »Vielleicht. Aber wie sollen wir wissen, wie groß die Gefahr ist, die er darstellt, wenn niemand von uns ihn im Auge behält?« »Jeder könnte Prinz Sanglant ausspionieren.« »Nicht jeder kann sein Vertrauen erringen.« 176 »Das mag sein. Ich weiß nicht, ob er - wie die Hunde - einen ausgeprägten Instinkt für Feinde hat. Aber es spielt keine Rolle, Bruder.« »Wenn Ihr glaubt, dass es keine Rolle spielt, seid Ihr ein Narr.« »Ihr vergesst Euch! Ihr seid als Annes Gehilfe erzogen worden, nicht als einer, der uns ebenbürtig ist!« Die Stille stank nach Wut und altem Groll. Zacharias hätte jubeln können, dass jemand auf solche Weise mit Wulfhere sprach. »Ich bitte um Vergebung«, sagte Wulfhere mit gepresster Stimme. »Was Ihr in der Tat tun solltet. Ich erwarte von Euch, dass Ihr nicht noch einmal vergesst, wo Euer Platz ist. Also. Sobald mein Diener mit Sklaven zurückkehrt, werden wir ablegen. Es gibt nur wenig Gezeiten in diesen Gewässern.« »Wohin reisen wir?« Schwang da Ironie in Wulfheres Stimme mit? Oder Wut? Versetzte ihm sein niederer Rang immer noch einen Stich? Hatte Marcus ihn mit seiner Verachtung gedemütigt? Wulfhere hielt seine Gefühle im Zaum, und der dunkle Frachtraum dämpfte seine Stimme so, dass Zacharias nicht erahnen konnte, wie er sich wohl fühlte. »Kehren wir nach Darre zurück?« »Nein. Wir sollen nach Süden reisen, um Schwester Meriam bei ihrer Suche in den Ländern südlich der Mittelsee zu helfen. Wir haben Geschichten gehört, dass in der Nähe der Ruinen von Kartiako eine Krone errichtet worden sein soll. Meriam glaubt, dass sich eine weitere südlich der heiligen Stadt Sais befindet. Es wird eine Pilgerreise in neue Lande sein.« »Und eine gefährliche. In diesen Landen herrschen jinnische Götzendiener.« »Es ist schwierig zu sagen, wer in der Wüste wirklich herrscht. Aber zuerst muss ich meine Fracht und das Kind in Darre abliefern.« »Das Kind.« Die Worte waren so leise gesprochen worden, dass sie Zacharias' Ohren kaum erreichten, obwohl er nur eine Körperlänge von den zwei Männern entfernt lag. »Ich bin dagegen. Es ist gefährlich, so kühn zu handeln.« »Da die Zeit voranschreitet, dürfen wir nicht davor zurück177
scheuen, Risiken einzugehen. Wir haben uns schon zu lange verborgen.« »Wenn wir das Kind entführen, wird Prinz Sanglant nicht eher ruhen, als bis er es gefunden hat.« »Was bedeutet, dass er nicht im Osten nach Greifenfedern und mit Zauberkräften ausgestatteten Verbündeten suchen kann, nicht wahr? Er wird sich entscheiden müssen. Für das eine oder das andere.« Schlagartig begriff Zacharias, dass er gar nicht an einem Sack lehnte, sondern an einem Körper, einem schlaffen und kleinen Körper. Es war Gnade, die offensichtlich bewusstlos und vermutlich ebenso gefesselt war wie er. Mit einiger Mühe bewegte er die Arme, bis er ihren Körper berühren konnte. Seine suchenden Hände strichen über ihre Finger. Sie reagierte. Ihre kleinen Hände, zusammengebunden wie seine, krampften sich fest um seinen Daumen. Sie drückte wieder, ein Zeichen, und er drückte zurück, dann fuhr er an dem Seil entlang, das ihre Handgelenke band, suchte nach dem Knoten. Sie gab kein Geräusch von sich und lag still da. Das Seil war nass und aufgequollen, der Knoten unmöglich zu lösen, zumal er sich aus einem ungünstigen Winkel an ihm zu schaffen machen musste. Er verzweifelte fast. Er würde den Fischen zum Fraß vorgeworfen und Gnade als Geisel nach Darre gebracht werden. Prinz Sanglant hatte sich so sehr bemüht, sie zu beschützen, aber jetzt schien es, als würden die Zauberer gewinnen. Eine leichte Brise kitzelte ihn in der Nase, und er musste niesen. »Was war das?«, fragte Marcus. Schritte erklangen über ihnen an Deck, und eine Stimme rief auf Aostanisch durch die Luke nach unten: »Euer Mann ist zurückgekehrt, Hochwürden. Er hat ein Dutzend gut aussehender Sklaven mitgebracht; die Hälfte scheinen Qumaner zu sein, die Übrigen sind irgendwelche Leute aus dem Osten. Es kommt nicht häufig vor, dass wir einen ganzen Zug männlicher Sklaven bekommen. Die meisten bevorzugen Frauen. Sollen sie unten oder an Deck untergebracht werden?« 178 Nicht die geringste Brise gelangte nach unten, und doch spürte Zacharias einen Luftzug. Während Marcus sich auf die Leiter zubewegte, flüsterte Gnade: »Ja, befreie mich.« Natürlich würde er es versuchen, aber er konnte doch keine Wunder vollbringen! Gott hatten ihn verlassen, oder er hatte Gott verlassen ... Sie sprach nicht mit ihm. Sie sprach mit dem Geist aus Luft, der über seinem Kopf tänzelte. Eine kühle Berührung wirbelte um seine Finger. Das Seil um ihre Hände wurde locker und teilte sich, gab nach wie weicher Flachs. Sie beugte die Handgelenke, und das Seil fiel zu Boden. Sie war frei. »Ja.« Ihre Stimme war kaum deutlicher als die Brise auf seiner Haut. »Ihn auch.« Auch seine Fesseln lösten sich, und er legte die geschwollenen Hände an seine Brust. Ein Gefühl wie von tausend Nadelstichen bemächtigte sich seiner Handflächen und Finger, als das Blut in sie zurückströmte. Frei. Aber noch immer gefangen. Oben klirrten Ketten. »Anna sagt, Ihr wärt ein Sünder und Ungläubiger«, murmelte Gnade im Schutz des Rasseins und Scharrens der Ketten an der Leiter, als die Sklaven in den Frachtraum hinuntergeschafft wurden. »Stimmt das?« »Ich weiß nicht, was ich glaube, Eure Hoheit«, flüsterte er. »Aber ich finde, wir sollten jetzt lieber darüber nachdenken, wie wir hier rauskommen, und nicht darüber, ob ich ein Abtrünniger bin.« »Aber was ist mit Eurer Seele ? Werdet Ihr nicht in den Abgrund geworfen? Macht Euch das keine Angst?« »Nein, Eure Hoheit. Ich habe eine Vision vom Kosmos gesehen. Ich habe keine Angst.« »Nicht? Alle sagen, Ihr wärt ein Feigling.« Sie sagte es ohne jede Boshaftigkeit. Er drehte sich ein bisschen, um mehr zu sehen. Der Frachtraum war tief und lang; das andere Ende lag im Dunkeln. Der Geistliche wandte den Gefangenen den Rücken zu und sprach mit seinem 179 Diener, der die Sklaven in den Frachtraum trieb. Arme, leidende Seelen. Zacharias fragte sich kurz, welch schreckliches Schicksal sie alle bei ihrem neuen Herrn erwartete. Wulfhere war im Profil zu sehen, aber er drehte den Kopf und bemerkte die Bewegung von Zacharias. Auf seinem Gesicht flackerten Lampenlicht und Schatten, und so war es unmöglich, seine Miene zu erkennen. Er rührte sich nicht. »Macht Euch bereit«, flüsterte Gnade. Ein Ruf erklang von einem der angeketteten Sklaven. Ketten fielen klirrend auf den Boden, als Eisenschellen sich öffneten. Gnade sprang auf. »Folgt mir!«, schrie sie und machte einen Satz auf die Leiter zu. »Ihr seid frei!« Zacharias war auf den Beinen, ehe er überhaupt begriff, dass er dem Befehl gehorcht hatte. Die Sklaven zögerten, benommen oder erstarrt. Wie lange waren sie schon Gefangene, gewöhnt daran, dem Ruf der Peitsche zu gehorchen, der bindenden Kraft der Fesseln ? Marcus wirbelte herum, als Gnade die Leiter erreichte. Er sprang vor, um das Mädchen an den Beinen zu packen. Zacharias hastete am reglos dastehenden Wulfhere vorbei und prallte gegen den kleinen Geistlichen. Alle drei - Geistlicher, Frater und Kind -stürzten zu Boden. Einer der Sklaven schoss vor, schlug Marcus' Diener nieder, und jetzt setzten sich auch die anderen in Bewegung. Zacharias versuchte, sich von Marcus zu befreien,
der auf ihm lag; er sah nichts als ein Chaos aus Körpern, bis jemand neben ihm stehen blieb. An der Tätowierung der Beine erkannte er, dass es sich um einen Qumaner handelte, der den Pfad des Schamanen gewählt hatte. »Das Kind«, sagte der Mann in erkennbarem qumanischem Dialekt. »Das Kind mit der Magie rettet uns.« Kampfgeräusche schallten vom Deck herab. Marcus fluchte, trat um sich, als der Sklave ihm Gnade entriss. Sie schrie vor Triumph auf und lief mühelos wie eine Spinne die Leiter hoch. Zacharias kämpfte sich auf die Knie, machte einen Satz auf die Leiter zu, als der letzte der Sklaven sich in Sicherheit brachte. 180 »Haltet ihn auf!«, brüllte Marcus. »Wulfhere! Um Gottes willen, lauft ihr nach!« Der Diener hob den Stab, als Zacharias gerade nach den Sprossen griff. Ein Hieb knallte von hinten gegen seinen Kopf. Dunkelheit hüllte ihn ein. VI Ein Angebot
1 »Meine Tochter ist unerträglich! Wie ist es möglich, dass sie deiner Obhut entkommen konnte und fast entführt worden wäre?« Anna kniete mit dem Rücken zu Prinz Sanglant; sie zitterte und wartete darauf, dass jeden Augenblick die Rute auf sie niederfahren würde. Er war so wütend, wie sie es noch nie bei ihm erlebt hatte. Matto hatte zwanzig Hiebe erhalten, und Thiemo hatte verlangt, die gleiche Anzahl zu bekommen, auch wenn er sich als Edelmann nicht auf solche Weise hätte demütigen lassen müssen. Sie hätte allerdings jegliche Achtung vor ihm verloren, wäre er nicht bereit gewesen, seinen Teil der Strafe ebenfalls auf sich zu nehmen. Sowohl sie als auch Thiemo wussten nur zu gut, wer eigentlich schuld war. Jetzt war sie an der Reihe. »Es war mein Fehler, Hoheit«, sagte sie unter Tränen. »Ich war nicht die ganze Zeit über an ihrer Seite. Sie hat mich gebeten, mit den Soldaten würfeln zu dürfen, aber ich bin nicht mitgegangen. Dabei ist sie weggelaufen. Sie muss durch ein Abflussrohr gekrochen sein.« Sie hatte den ganzen Tag geweint, zuerst vor Ärger wegen der schrecklichen Auseinandersetzung zwischen Matto und Thiemo, dann vor Angst, als sie Gnades Verschwinden bemerkt hatte, dann vor Erleichterung, als das Mädchen spät am Tag mit einem uner182 warteten Gefolge im Schlepptau zurückgekehrt war. Und jetzt schließlich weinte sie stumm vor Entsetzen. Besser, sich in Staub aufzulösen, als den Zorn des Prinzen zu erdulden. »Und dann auch noch diese Unverschämtheit, als würde dies Unrecht nicht genügen! Hast du meine Tochter mit diesem Gerede über den Phönix verdorben?« Immerhin schauten nicht alle zu, nur Hauptmann Fulk, Feldwebel Cobbo, Bruder Breschius und der Adler, dessen Miene ernst und angespannt war. In der Ferne hörte sie Gnade vor Wut kreischen. Sanglant hatte das Mädchen in eine der kleinen Zellen sperren lassen. Vielleicht hatte er vor, seine Tochter ebenfalls auszupeitschen. Vielleicht würde er zu Gnade gehen, wenn er mit ihr fertig war. Die Hitze machte die Erdwälle und den staubigen Boden knochentrocken. Sie musste blinzeln, so grell war die Sonne. Schweiß rann ihr das Rückgrat hinunter. »Stimmt das?« Die Rute pfiff über ihren Rücken. Sie spürte einen brennenden Schmerz an ihrem Schulterblatt, als die Spitze dort vorbeizischte, es aber kaum berührte. Anna brach in Tränen aus und zitterte heftig»Ich bitte um Vergebung, Hoheit. Aber ich habe nur die Wahrheit gesagt.« Sie warf sich auf den Boden, presste das Gesicht in den Staub. Er fluchte so heftig, dass sie das Gefühl hatte, er würde sich in einen tollwütigen Hund verwandeln. In den abgerissenen, stinkenden Daemon, für den sie ihn damals gehalten hatte, als sie ihm, dem Gefangenen, vor vielen Jahren in der Kathedrale von Gent zum ersten Mal begegnet war. »Mein Prinz«, sagte Bruder Breschius so sanft wie möglich, »sie ist noch ein Mädchen, kaum eine Frau. Was nützt es Euch, sie auf diese Weise in Angst und Schrecken zu versetzen?« Sie schluchzte hilflos, als der Prinz einmal, zweimal, dreimal mit der Gerte auf den Boden schlug, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Staub wirbelte bei jedem Hieb auf, spritzte ihr ins Gesicht. »Meine Tochter ist halsstarrig. Verdorben. Unmöglich. Ein 183 Balg Jetzt wird nur zu deutlich, dass auch sie in die Ketzerei eingetaucht ist. Und sie hat die Dreistigkeit, ihrem eigenen Vater zu sagen, dass er verflucht ist!« »Ich konnte nicht umhin, sie umringt von Sklaven zu sehen, die sie als Magierin verehren, die sie befreit hat«,
erklärte Breschius. »Es muss beängstigend sein, zu sehen, wie die eigene Tochter allmählich in ihr Erbe hineinwächst, mein Prinz.« Manchmal war Stille schlimmer als lautes Geschrei. Alles, was sie sah, waren seine Stiefel, sechs Schritte in die eine Richtung, dann eine scharfe Kehrtwendung, sechs Schritte zurück und wieder eine Kehrtwendung. Nur ein sehr, sehr wütender Mann ging so auf und ab, jeder Schritt kurz und bestimmt. Die Wut strömte aus ihm heraus, bis sie glaubte, darin zu ertrinken. Schluchzer schüttelten ihren ganzen Körper, sosehr sie sich auch bemühte, sie zurückzuhalten. Jetzt war sie ganz und gar eine Frau, in der alten Tradition. Oh, Gott, warum hatte sie es nur getan ? Matto und Thiemo hassten einander nun, und sie hatte selbstbezogen, dumm und unehrenhaft ihre Pflicht gegenüber Gnade vernachlässigt. Was passierte mit Leuten, die mitten in einem fremden Land ausgestoßen wurden, ohne irgendwelche Verwandten, die ihnen helfen konnten? Verdiente sie es nicht, als Sklavin verkauft oder von Bettlern ihrer Schuhe wegen umgebracht zu werden ? »Was ist mit Eurem Bruder, Adler?«, fragte der Prinz schroff, während er weiter auf und ab schritt. »Ich bitte um Verzeihung, mein Prinz. Mein eigener Kummer benebelt meinen Geist. Hat Zacharias sich frei entschieden, bei den Verrätern zu bleiben, statt ihr in die Freiheit zu folgen? Ich bete, dass es nicht so ist. Doch wenn er ihr folgen wollte, es aber nicht konnte, ist er jetzt ein Gefangener. Oder tot.« »Ich hätte Wulfhere und Zacharias nicht in die Stadt gehen lassen dürfen, Prinz«, sagte Hauptmann Fulk. »Ich hätte wissen müssen, dass Prinzessin Gnade versuchen würde, ihnen zu folgen. Ich hätte Wulfhere nicht ohne Begleitung -« »Nein.« Die Stiefel machten eine Handbreit vor Annas Nase Halt. Ihre Tränen hatten den hellen Staub feucht und dunkel wer184 den lassen. »Es ist meine Schuld. Ich hätte Wulfhere niemals trauen dürfen. Ich wusste, was er war. Mein Vater ist nicht schlecht darin, andere Menschen zu beurteilen, aber ich habe mich von meiner Wut blenden lassen. So sei es. Steh auf, Anna.« Niemand widersetzte sich einem solchen Tonfall. Sie rappelte sich auf. Schmutz befleckte ihre Tunika und ihre Beinkleider und auch ihr Gesicht. Ihre Nase lief, aber sie wagte nicht, eine Hand zu heben und sich das Gesicht zu säubern. Sie schluckte ein weiteres Schluchzen hinunter. »Ich habe noch etwas zu erledigen«, teilte er den anderen mit. »Edelfrau Eudokia wird nicht erfreut darüber sein, dass ich den Palast so überstürzt verlassen habe. Sie wird es als Beleidigung auffassen.« »Aber Ihr habt Prinzessin Sapientia und Bruder Heribert und den größten Teil der anderen dort zurückgelassen«, sagte Breschius. »Ja. Und jetzt muss ich zu ihnen zurück und die Verhandlungen wieder aufnehmen. Bruder Breschius, Ihr bleibt hier bei Hauptmann Fulk.« Er hielt einen Moment inne und blickte zu der Zelle, in der Gnade eingeschlossen war. Die Schreie und Proteste des Mädchens waren noch nicht versiegt, auch wenn die Worte von den Mauern gedämpft wurden. Sie war ein hartnäckiges Kind. Klügere, weniger halsstarrige Kinder hätten längst zu schreien aufgehört, aus Furcht vor dem, was noch kommen mochte, oder auch nur aufgrund der Vorstellung, dass es besser war, ihn versöhnlich zu stimmen, statt ihn zu verärgern. Gnade nicht. Die Sklaven, die sie befreit hatte, knieten neben der Tür; es war ihnen verboten, sie zu sehen, doch sie weigerten sich wegzugehen. »Treue Diener«, bemerkte der Prinz sarkastisch. »Sollen sie dort bleiben, bis ich mich um sie kümmern kann. Also gut, Hauptmann. Ihr übernehmt den Befehl.« Er ging davon, gefolgt von ein paar Soldaten. »Geh jetzt, Kind«, sagte Bruder Breschius sanft. »Du hast gesündigt und bist bestraft worden. Geh jetzt und bringe es in Ordnung.« 185 »Wie kann ich es in Ordnung bringen? Wird der Prinz mich hinauswerfen?« »Nicht dieses Mal. Bitte die Person um Vergebung, der du am meisten geschadet hast, und schwöre, niemals wieder deine Pflicht zu vernachlässigen. Prinzessin Gnade ist nicht verloren gegangen. Betrachte es als Warnung, dich nie wieder ablenken zu lassen.« Wusste er Bescheid? Sie errötete. Sicher wussten nur sie und Matto und Thiemo, was letzte Nacht geschehen war. Sie neigte respektvoll den Kopf und lief zu der dunklen Zelle ganz in der Nähe von der, in der Gnade eingesperrt war. Die Tür war so niedrig, dass sie hineinkrabbeln musste, aber drinnen war es angenehm kühl und dunkel. Sie roch Blut und Schweiß und sah im schwachen Licht zwei Gestalten auf dem Bauch liegen. Selbst diese reglosen Körper hatten noch immer die Macht, in ihr die Begierde zu wecken, die sich letzte Nacht Bahn gebrochen hatte. Was für eine Närrin sie doch war! »Anna?« Matto stöhnte und rührte sich. »Beweg dich nicht«, flüsterte sie und berührte seinen Knöchel. »Hat dir jemand Salbe auf den Rücken gestrichen?« »Feldwebel Cobbo«, sagte Matto. »Er hat die ganze Zeit über geflucht. Oh, Gott, Anna. Wieso hast du es nur tun
müssen?« »Du bist nicht der Einzige, der gelitten hat«, rief Thiemo. »Ihr armseliger Ersatz für einen Mann. Ihr habt die Hiebe doch nur auf Euch genommen, weil Ihr Angst hattet, dass Anna allein mich trösten würde, wenn ich verletzt wäre, und Euch nicht!« »Du hast kein Recht, so mit mir zu sprechen!« »Das stimmt! Ich bin nur ein armer gewöhnlicher Junge, mein geiler Herr. Und ich sollte auch nicht begehren, was Ihr Euch bereits genommen habt, nicht wahr?« »Schluss jetzt!« Anna versetzte Thiemo einen Tritt gegen das Bein, ehe er etwas erwidern konnte. Es war schwer, zärtliche Gefühle für ihn aufzubringen, wenn sie die Hiebe roch, die er und Matto erhalten hatten, und sich daran erinnerte, wie nah die Rute auch ihrem Rücken gekommen war. »Das geschieht Euch recht«, zischte Matto und bäumte sich auf. »Geschieht Euch ganz recht, stinkender Ziegen186 Ohne nachzudenken, legte sie ihm eine Hand auf den Rücken und drückte ihn nach unten; er heulte vor Schmerz auf. Als sie die Hand zurückriss, war sie feucht von Blut. »Schluss jetzt!« Sie hätte am liebsten geweint, aber ihre Brust war wie zugeschnürt. »Haben wir nicht schon genug Schaden angerichtet?« 2 Die Tür zum Palast der Statthalterin war verschlossen, und Sanglant und sein kleines Gefolge mussten wieder einmal draußen warten, während der Eunuch, der als Türsteher diente, im Innern verschwand. Um diese Tageszeit jedoch gewährte der Schatten, der vom Palast erzeugt wurde, ein wenig Schutz vor der Hitze. Sanglant hatte nur ein Dutzend Männer bei sich; die Übrigen hatte er ein paar Stunden zuvor bei seiner Schwester im Palasthof gelassen. Er schäumte vor Wut, während er wartete. Er hatte sich für so klug gehalten, als er Gnade beim Haupttross des Heeres in der Festung zurückgelassen hatte, während er mit Edelfrau Eudokia verhandelte. Auf diese Weise sollte Gnade aus jedem Unheil herausgehalten und nicht als Geisel genommen werden können, falls das Schlimmste geschehen wäre und die Statthalterin eine Intrige geplant hätte. Aber Gnade wurde jeden Tag älter, viel zu schnell. Der Gedanke an das, was geschehen war, machte ihn so wütend, dass er seine Furcht und seinen Zorn zu einem Knoten binden und so weit von sich stoßen musste, dass er ihn nicht mehr sah. Er durfte sich von solchen Gefühlen nicht beeinträchtigen lassen. Ah, um der Liebe Gottes willen, wie hatte Gnade nur so ungezähmt werden können? Was hatte er falsch gemacht? Er hörte die Schritte mehrerer Personen, kurz bevor die schweren Türflügel nach innen aufschwangen und ein Trupp arethusanischer Soldaten herausmarschiert kam. In ihrer Mitte schritt ein General oder Edelmann, was Sanglant an der soldatischen Hal187 tung und dem gerissenen, hochmütigen Blick erkannte, mit dem er ihn musterte, bevor er ihm ein knappes Grinsen gewährte, das Sanglant zu seinem Mitverschwörer oder seinem Gimpel machte. Der Mann hatte breite Schultern, kräftige Arme und nur noch ein Auge; das andere hatte er vermutlich in einer Schlacht verloren. Er war eindeutig ein Kämpfer. Sanglant nickte, erkannte in ihm einen verwandten Geist, ob er nun Verbündeter oder Feind war, und sie maßen einander noch einen Moment mit Blicken, bevor der General von einem seiner Offiziere angesprochen wurde und sich abwandte. Der Trupp überquerte den Platz in Richtung der Ställe, wo gesattelte Pferde bereitstanden. Basil tauchte im Türrahmen auf, erkennbar an seinem jadegrünen Gewand, während sein rundliches, dunkles, glattes arethusanisches Gesicht ganz so aussah wie das der anderen Eunuchen: alters- und geschlechtslos. »Mein Prinz«, sagte er. »Man heißt Euch zum Essen willkommen.« Sie traten durch die lange Halle ein, und Sanglant wurde zu einem breiten Vorhof geführt, wo ein Diener ihm die Hände und das Gesicht mit warmem Wasser wusch, das er aus einem silbernen Krug goss. Die Soldaten blieben hinter dem Prinzen zurück, als er in eine Laube gebeten wurde, deren kunstvolle Reben aus goldenen Blättern sich um ein Holzgatter wanden. Tücher, die in bestimmten Abständen geschlitzt waren, boten Schatten und ließen zugleich eine Brise durch. Kein Windhauch bewegte die Luft außerhalb der Laube. Sanglant hörte das Pfeifen der Blasebälge - verborgen von den Tüchern standen draußen in der Sonne Sklaven und arbeiteten, um es denen im Innern der Laube so angenehm wie möglich zu machen. Die Höchst Erhabene Edelfrau Eudokia hatte bereits zum Essen an einem langen, schmalen Tisch Platz genommen; ein Tuch bedeckte den Teil vor ihr, während der Tisch ansonsten nackt war. Prinzessin Sapientia saß auf dem Ehrenplatz rechts von ihr, und ein Junge von etwa zehn Jahren, ein dunkelhaariges Kind von geringer Schönheit mit schlaffem Gesichtsausdruck, zappelte auf einem 188 Sofa, das links von der Edelfrau am Tischende stand. Zwei Diener kümmerten sich um den Jungen, fütterten ihn und wischten ihm Kinn und Lippen ab, wenn er sabberte. Ein Dutzend Höflinge aß in furchtsamem Schweigen, während die Bediensteten Platten brachten, die nach Knoblauch, Zwiebeln, Lauch, Öl und Fischsoße stanken. Edelfrau Bertha saß fünfzehn Plätze vom Kopfende des Tisches entfernt; von den Übrigen, die er bei seiner Schwester zurückgelassen hatte, war niemand anwesend, bis auf Heribert, der mit beherrschter Miene hinter der
Prinzessin stand und die Faust ballte. Sapientia blickte auf und lächelte, als Sanglant eintrat. Edelfrau Eudokia machte Basil ein Zeichen, woraufhin der ihm bedeutete, den einzigen noch freien Platz einzunehmen: neben dem Kind auf dem Sofa. Der Junge war zwar mit fürstlichen Regalien ausgestattet, schien aber ansonsten unbedeutend zu sein. Sapientias einfältiges Grinsen bestätigte ihm, dass Edelfrau Eudokia dabei war, sich auf ihre armselige arethusanische Weise für die vorangegangene Auseinandersetzung und seinen überstürzten Aufbruch zu rächen. »Ich bitte Euch, Prinz Sanglant«, ließ Edelfrau Eudokia durch Basil mitteilen, der als Übersetzer bei ihr stehen blieb, »trinkt auf meine Gesundheit.« Er trank von einem Likör, der nach Fisch stank, und unterdrückte tapfer ein Würgen. »Ihre Königliche Hoheit, meine teure Kusine Prinzessin Sapientia, hat mich mit einer Darstellung der vielen barbarischen Bräuche unterhalten, die beim Volk Eures Vaters üblich sind. Stimmt es, dass ein Prinz sich als Mann beweisen muss, indem er ein uneheliches Kind zeugt? Und zwar mit irgendeinem Geschöpf, von welch niedrigem Stand und wie unansehnlich es auch sein mag, da er nur danach als Erbe des Herrschers anerkannt werden wird? Seid Ihr der Balg, der aus einer solchen Verbindung hervorgegangen ist?« Sapientias Wangen waren vor Befriedigung gerötet. »Das bin ich«, antwortete er. »Ein Mischling, die Brut der Verfluchten, ist das ebenfalls richtig?« »Das ist es!«, rief Sapientia aus. »Sie sind alle verschwunden, vor tausenden von Jahren ausgelöscht«, wandte Eudokia ein. »Es ist unmöglich.« 189 »Es ist wahr«, sagte Sanglant ruhig. Er würde nicht zulassen, dass Sapientia sah, wie ihr Pfeil ihn getroffen hatte. »Ihr habt möglicherweise jinnisches Blut in Euch, oder Eure Mutter war eine Hure, die aus den östlichen Wüsten nach Westen geschafft wurde, um einem Prinzen zu Gefallen zu sein.« Sapientia kicherte, verbarg dann ihren Ausrutscher mit einem Schluck Wein. Die Diener reichten eine Platte mit irgendwelchem Fleisch herum, das in einer üblen, nach ranzigem Öl stinkenden Lake schwamm. Die Höflinge verschlangen es gierig, aber Sanglant brachte es nicht über sich, mehr als einen Bissen davon zu sich zu nehmen. »Ein Bastard, und doch tragt Ihr wie die Eunuchen keinen Bart. Stimmt es, dass Ihr selbst einen Bastard gezeugt habt, der mit Euch reist?« »Meine Tochter ist kein Bastard.« Er legte das Messer beiseite, denn er hatte Angst davor, es aus einem Impuls heraus auf seine Gastgeberin zu schleudern - oder auf Sapientia, die ihn anstarrte, hin- und hergerissen zwischen Schadenfreude und Verlegenheit. »Ich bin verheiratet, und sie ist das rechtmäßige Kind von mir und meiner Frau.« »Lassen die Barbaren dann also auch Bastarde heiraten? Wir hier erlauben so etwas nicht. Es würde das Blut der edlen Geschlechter beflecken, aber zweifellos ist das wendische Volk schon an sich ein Bastardvolk. Daher ist es auch keine Überraschung, dass es eine solche Vergiftung seines Blutes zulässt. Doch wenn Ihr wollt, könnte ich das Kind hier aufziehen. Bastarde sind bekannt dafür, dass sie Unheil anrichten. Ich könnte sie so erziehen, wie es einer adligen Dienerin ansteht, und dafür sorgen, dass sie nicht durch dariyanische Ketzerei in die Irre geführt wird.« »Ich halte das für keine gute Idee«, erwiderte Sanglant. »Was hast du sonst mit ihr vor?«, fragte Sapientia. Sie leerte ihren Becher Wein, als wollte sie sich Mut antrinken. »Es gibt für sie nichts in Wendar, Bruder. Sie hat keinen Landbesitz und keine Aussichten, was immer du auch behaupten magst. Und sie ist ein Balg. Befreie dich von ihr, und wir alle werden glücklicher sein. Glaubst du, ich ahne nicht schon längst, was du mit ihr vorhast? Dass sie meine Position einnehmen soll? Genau das habe ich meiner teuren Kusine Eudokia auch erzählt, während du dich wieder einmal auf die Jagd nach deiner Tochter gemacht hast. Oje. Hast du sie auch diesmal eingefangen?« Einzig der Anblick von Heribert hielt Sanglant davon ab, seiner Schwester eine wütende Antwort zu geben. Heribert war ziemlich bleich und fuhr sich zur Warnung mit einem Finger über die geschlossenen Lippen. Sanglant leerte also einen Becher von dem widerlich schmeckenden Likör und ließ zu, dass dessen Brennen seiner Wut die Schärfe nahm. »Sie ist in Sicherheit, und das wird auch so bleiben. Das habe ich geschworen. Ich bitte dich, das ebenfalls nicht zu vergessen.« »Ich werde es nicht vergessen«, murmelte sie. Sie errötete, und ihre Wangen glänzten vor Schweiß. Edelfrau Eudokia lächelte salbungsvoll, sichtlich amüsiert über diesen geschwisterlichen Streit. »Es ist üblich, dass Brüder und Schwestern sich streiten.« Sie streckte die Hand aus, um dem Jungen mit ihrer dicklichen Hand die schlaffe Wange zu tätscheln. »Leider habe ich in der Vergangenheit auch mit meinem Bruder gestritten, aber jetzt ist er tot, in einer Schlacht gefallen, und sein süßes Kind ist zu mir gekommen.« Der Junge lächelte sie unsicher an, dann warf er Sanglant einen furchtsamen Blick zu und sprach leise ein paar Worte, die Sanglant nicht verstand. Augenblicklich brachte einer der Diener ein Tablett mit Süßigkeiten, und der Junge pickte wählerisch einige heraus, während Sapientia vor sich hin brütete und Sanglant den Drang unterdrückte, einfach aufzuspringen und irgendwohin zu laufen, solange es ihn nur weit genug von all dem wegbrachte, was ihm so zusetzte. Und das war im Augenblick fast alles. Schließlich fand er Zuflucht in einem strategischen Rückzug. »Ich hatte gehofft, mit Euch darüber reden zu können, welche Abmachungen sich bezüglich unserer Reise nach
Osten treffen lassen.« »Davon bin ich überzeugt. Aber bevor wir das tun, bitte ich Euch, mir zu erzählen, welche Synode die heilige Kirche von Wendar anerkennt. Oder vielleicht ist sie noch zu jung, um überhaupt 190 191 eine anzuerkennen, denn wir, die wir hier leben, haben nichts davon gehört. Wie Ihr wisst, ist Arethusa die alte Heimat der Zeugin St. Thekla. Wir haben uns als Erste zur Verkündigung des heiligen Daisan bekannt.« »Nun, Sapientia, als was stellst du das wendische Volk wohl dar, wenn du dich im Beisein unserer Feindin über mich und meine Tochter lustig machst - als ein Volk von Löwen oder von Dummköpfen?«, fragte er später, als sie sich endlich von dem langen Festmahl hatten befreien können und zur Festung zurückritten. »Wer sagt denn, dass sie unsere Feindin ist?« »Kann sie etwas anderes sein? Hat sie irgendwelche Bemerkungen von sich gegeben, die nicht höhnisch, belustigend oder hämisch gemeint waren? Du hast dich heute Morgen über ihre Beleidigungen genauso geärgert wie ich.« »Vielleicht habe ich meine Meinung geändert, während du weg warst.« Sapientias Wangen waren noch immer gerötet. Sie reckte das Kinn, aber ihr Lächeln war zittrig, als könnte es jeden Augenblick in sich zusammenfallen. »Du hast gestohlen, was mir gehört, und ich bin beinahe eine Gefangene wie Bulkezu - auch wenn du gegenüber den anderen so tust, als würden wir gemeinsam befehlen. Glaube nicht, dass ich zu dumm bin, um nicht zu merken, was du mit deiner Tochter vorhast! Du willst, dass sie an meiner Stelle herrscht. Und wenn schon nicht sie, was hält dich davon ab, Königin Adelheid und ihre kleine Tochter zu unterstützen ? Erst warst du auf Bayan eifersüchtig und jetzt auf mich. Ich werde nicht ruhen, ehe ich nicht zurückerlangt habe, was von Geburt wegen mir gehört.« »Ich habe dir nichts genommen! Ich habe dich nie verraten.« Ihr Blick hatte einen unheimlichen Glanz, und zum ersten Mal ernüchterte ihre Wut ihn ganz und gar. »Für wen hältst du mich eigentlich? Für eine Löwin? Oder für einen Dummkopf?« 192 3 »Armseliger Narr.« Wie aus dem Nichts ergoss sich kaltes Wasser über Zacharias' Kopf und seine Schultern. Keuchend und schnaufend atmete er das brennende Salzwasser ein. Er würgte, aber er hatte nichts im Magen, und schließlich sank er zurück, griff sich an den Bauch und stöhnte. Die Toten litten nicht so sehr. Schritte erklangen auf den Planken. »Gott im Himmel, was stinkt es hier«, erklang die gebildete Stimme von Bruder Marcus. »Nun. Er lebt noch.« »Hattet Ihr gehofft, er würde sterben?« Diese Stimme gehörte eindeutig Wulfhere, aber Zacharias konnte sich nicht erinnern, wo er war oder wieso Wulfhere so über ihn sprach, während der Boden auf Übelkeit erregende Weise auf und nieder schwankte. »Es würde mein Leben leichter machen, nicht wahr? Wir werden ihn über Bord werfen, wenn wir weit genug vom Land entfernt sind, sodass er nicht ans Ufer zurückschwimmen kann.« »Sofern er überhaupt schwimmen kann.« »Ich werde kein Risiko eingehen.« »Werdet Ihr ihn selbst über Bord werfen oder Euren Diener die Tat ausführen lassen?« »Ich werde tun, was ich tun muss. Ihr wisst, welchem Ziel wir dienen.« Die Worte klangen so kalt, dass Zacharias schlagartig hellwach war; sein Verstand war klar, die Übelkeit von Furcht gedämpft. Bulkezu hatte zumindest aus Freude über seine eigene Grausamkeit getötet. Dieser Mann würde kein Vergnügen daraus ziehen, aber er würde auch nicht davor zurückschrecken, sofern er es als notwendig erachtete. »Ungeheuer«, krächzte Zacharias und spuckte Meerwasser und Galle aus. Er kämpfte sich hoch, setzte sich auf. Seine Brust schmerzte. Der Hinterkopf pochte so schlimm, als würde eine unerbittlich enge Eisenkappe seinen Schädel umklammern. 193 »Bruder Zacharias.« Eine Hand legte sich auf seine Schulter. »Bewegt Euch bitte nicht. Ihr habt einen schlimmen Schlag auf den Kopf bekommen.« »Ich kann schwimmen. Ich bin Bulkezu entkommen, indem ich geschwommen bin. Es wird Euch nichts nützen, mich über Bord zu werfen.« »Wer ist Bulkezu?«, fragte Marcus. »Ein qumanischer Prinz«, antwortete Wulfhere. »Vielleicht habt Ihr die Zerstörung, die das qumanische Heer über Wendar gebracht hat, vergessen - oder Ihr habt gar nichts davon erfahren. König Henry ist nicht aus Aosta zurückgekehrt, um die Qumaner zu vertreiben. Es blieb Prinz Sanglant überlassen, dies zu tun.« »Seid Ihr Prinz Sanglants Fürsprecher? Ihr überrascht mich, Bruder Lupus. Was interessiert es uns, was auf der Erde vor sich geht? Wenn wir unseren Beitrag nicht leisten, wird eine weit schlimmere Umwälzung über die Menschheit kommen.« Zacharias schirmte mit den Händen das Licht einer Lampe ab. Er blinzelte, als er den anderen Mann musterte.
»Seid Ihr ein Mathematikus?«, fragte er und griff sich an die Brust, wo er all die Monate das Papier verborgen hatte. Es war weg. Panik trieb ihm Tränen in die Augen. »Sucht Ihr das hier?« Marcus zeigte ihm das Pergament mit den Diagrammen und Zahlen, die die Handschrift einer Mathematiki verrieten, einer Zauberin, die das Wirken der Himmel studiert hatte. »Woher habt Ihr es?« »Ich habe es aus einem Tal im Alfar-Gebirge. Nachdem ich den Qumanern entkommen war, bin ich eine Weile mit der Aoi-Frau gereist, die behauptet hat, sie wäre Prinz Sanglants Mutter. Aber sie hat mich nach der Feuersbrunst verlassen.« Seine körperlichen Schmerzen beunruhigten ihn weit weniger als der Anblick des kostbaren Zettels in den Händen eines anderen Mannes. Er hätte am liebsten gierig danach gegriffen, aber etwas an der Miene des Mannes machte ihn vorsichtig, sogar hoffnungsvoll. Wenn er nur das Richtige sagte, würde er vielleicht am Leben bleiben. »Ich habe das Pergament in einer kleinen Hütte oben am Hang des Tals ge194 funden. In diesem Augenblick wusste ich, dass ich diejenige gesucht hatte, die darauf geschrieben hat. Ihr müsst wissen, als ich mit Kansi-a-lari gereist bin, hat sie mich an einen Ort geführt, den sie den Palast der Irrungen genannt hat. Dort habe ich -« Er brach ab, denn Marcus beugte sich vor, die Lippen leicht geöffnet. »Der Palast der Irrungen? Was für ein Ort ist das?« »Er lag draußen im Meer, vor der Küste von Salia. Wir mussten bei Ebbe dorthin gehen. Doch irgendeine alte Magie lag über dieser Insel. Wir sind einen Pfad hinaufgestiegen. Ich dachte, nur eine einzige Nacht wäre vergangen, während wir hinaufgeklettert sind, aber stattdessen waren es Monate. Das Jahr lag zusammengerollt um den Palast herum, und wir sind das Jahr hinaufgestiegen, nicht die Insel. Ich kann es nicht besser erklären -« »Ihr macht das schon sehr gut. Habt Ihr gesehen, wie die Aoi-Frau ihre Zauberei gewirkt hat?« »Ja, das habe ich. Ich habe gesehen, wie sie Bulkezu besiegt hat. Ich habe gesehen, wie sie Visionen ins Feuer geatmet hat. Und ich habe gesehen, wie sie ihren Sohn mit verzauberten Pfeilen gerettet hat. Oh, Gott.« Ein Hustenanfall packte ihn, und er spuckte Galle. »Holt ihm etwas Wein«, verlangte Marcus. »Ich möchte hören, was er zu sagen hat. Wieso habt Ihr mir nicht erzählt, dass er mit Prinz Sanglants Mutter gereist ist? Er kann nicht wissen, was er gesehen hat, aber bei einer vorsichtigen Befragung könnte sich für ein gebildetes Ohr so manches enthüllen.« »Es wäre besser, wir würden ihn töten und es sofort hinter uns bringen«, beharrte Wulfhere. »Nein!«, platzte Zacharias heraus. »Sie hat mich durch die Geisterwelt geführt. Ich habe -« Seine Kehle brannte. »Ich habe eine Vision vom Kosmos gesehen!« Krämpfe schüttelten seinen ganzen Körper, und ein schrecklicher, mahlender Schmerz erwachte am Haaransatz in seinem Nacken. Er kippte nach vorn und verlor beinahe das Bewusstsein. Nach einer Weile, von der er nicht wusste, wie lange sie gedauert hatte, kämpfte er sich durch den Dunst der Benommenheit und stellte fest, dass er sich vornübergebeugt hatte und sich auf seine 195 Arme stützte. Wulfhere war mit einer Weinhaut zurückgekehrt. Dankbar trank er, spuckte die Hälfte auf sein stinkendes Gewand, bevor er sich ermahnte, vorsichtig mit seinem kranken Magen zu sein. Er musste seinen Verstand benutzen. »Was ist das für eine Vision, die Ihr gesehen habt?«, fragte Marcus, als Zacharias die Weinhaut hinlegte. »Wenn ich Euch jetzt alles sage, werdet Ihr keinen Grund mehr haben, mich am Leben zu lassen. Es stimmt, dass ich Prinz Sanglant gefolgt bin, mein Herr, aber nur, weil ich gehofft hatte, dass er mich zu seiner Frau führen würde, derjenigen, die man Liathano nennt. Sie ist es, die ich suche.« Marcus hatte ein außerordentlich schlaues Gesicht und ausdrucksvolle Augenbrauen, die sich jetzt vor Überraschung wölbten. »Wieso sucht Ihr sie?« »Ich suche jemanden, der mich unterrichten kann, wer immer es auch ist. Ich möchte die Geheimnisse der Himmel verstehen.« »Wie wir alle.« »Ich würde alles tun für die Person, die mich unterrichtet, mein Herr.« »Alles? Würdet Ihr auch meinen teuren Freund Bruder Lupus töten, wenn ich es Euch sage?« Er deutete auf Wulfhere, der im bleichen Lichtschein der Lampe hockte; sein vernarbtes und gealtertes Gesicht verriet keinerlei Regung, während er das Gespräch der beiden Männer verfolgte. Ein Luftzug zupfte an Zacharias' glanzlosem Haar, wirbelte eine Strähne um sein Ohr. War dies das Flüstern eines Daemons? War Marcus ein Malefikus, der die verbotene Magie und unheilige Geschöpfe beherrschte ? Zacharias zitterte; seine Entschlossenheit gerann unter einer Flut von Zweifeln und bösen Ahnungen. Doch er konnte jetzt nicht zurück. Er war ein Gefangener. Er war so gut wie tot. »Ich bin kein Mörder, mein Herr. Dafür habe ich nicht den Mut. Aber ich bin klug, und ich habe ein hervorragendes Gedächtnis.« »Ja?« »Ja, mein Herr. Deshalb war es mir gestattet, den Eid als Frater abzulegen, obwohl ich nicht lesen und schreiben kann. Ich kenne alle Heiligen Verse, und noch vieles darüber hinaus -« 196
»Das stimmt«, bemerkte Wulfhere. »Er hat ein ungeheuer gutes Gedächtnis.« »Ist er klug?« Der alte Mann seufzte schroff. Wieso wirkte er so beunruhigt? »Klug genug. Er hat sieben Jahre als Sklave der Qumaner überlebt, sagt er. Er ist allein geflohen, sagt er. Er hat Prinz Sanglant gesucht und ohne die Hilfe von irgendjemand anderem gefunden, sagt er. Er spricht oft von dieser Vision vom Kosmos, der er im Palast der Windungen teilhaftig wurde. Er unterhält die Soldaten mit der Geschichte. Er sagt, er hätte einen Drachen gesehen.« »Ich sage ihnen nur die Wahrheit!« »Nun«, murmelte Marcus. »Ein Drache. Vielleicht seid Ihr zu wertvoll, um einfach über Bord geworfen zu werfen, Zacharias. Vielleicht könnt Ihr der Heiligen Mutter auf andere Weise dienen. Vielleicht werde ich Euch sogar beibringen, was ich weiß. Das wird am Ende genauso nützlich sein, wie Euch zu töten.« Zacharias wagte nicht zu weinen. »Ihr werdet feststellen, dass ich ein guter Schüler bin, mein Herr. Ich werde Euch nicht enttäuschen.« »Wir werden sehen.« Marcus wedelte mit der Hand vor Zacharias' Gesicht. »Ihr müsst Euch waschen. Ich kann Euren Gestank nicht ertragen. Bruder Lupus?« Wulfhere presste die Lippen zusammen, als wäre er fest entschlossen, das bittere Gebräu nicht zu schlucken, das jetzt auf seiner Zunge lag. »Wollt Ihr so weitermachen?«, fragte er dann. »Wir sind wenige, und unsere Feinde sind zahlreich.« Marcus hatte das Grinsen eines Engels, was Zacharias nervös machte. Die wilden schwarzen Locken des Geistlichen gaben seinem rundlichen, eher sanften Gesicht ein engelsgleiches Aussehen, beinahe etwas Unschuldiges. Beinahe. »Wenn dieser Mann uns dienen will und kann, wieso sollte ich ihn dann töten? Wir alle können Gott auf die eine oder andere Weise dienen. Diese Lektion habe ich von derjenigen gelernt, die uns führt.« »Das habt Ihr wohl«, erwiderte Wulfhere sarkastisch. »Also gut. 197 Seid Ihr zufrieden, Zacharias? Werdet Ihr tun, was Bruder Marcus sagt?« Zacharias wurde von einer solchen Woge der Hoffnung überschwemmt, dass er seine Übelkeit vergaß, und auch seinen Schmerz. »Ihr werdet mich unterrichten?« »Ich werde Euch alles beibringen, was ich kann«, stimmte Marcus mit ironischem Lächeln zu. »Solange Ihr mir so dient, wie ein Schüler seinem Herrn dienen muss. Tut, was ich sage. Seid gehorsam. Stellt keine Fragen.« »Das kann ich tun!« Flüsterte Wulfhere da etwa wieder: »Armseliger Narr« ? Sicher war es nur das Quietschen des Schiffes, das auf den Wellen schwankte. Nur eine Erinnerung, die ihn verhöhnte. »So soll es geschehen«, sagte Marcus, der nichts davon mitbekommen hatte. »Ich werde Euch die Geheimnisse des Himmels beibringen, Bruder Zacharias. Ich nehme Euch in unsere heilige Gruppe auf.« »Dann bin ich Euer«, rief Zacharias. Er begann zu weinen. Nach so langer Zeit hatte er gefunden, was er gesucht hatte. »Ich bin ganz und gar Euer.« 4 »Bringt die Sklaven her.« Sanglant deutete auf die dreizehn Männer, die vor der Zelle knieten, in der Gnade eingesperrt war. Feldwebel Cobbo trieb sie zu ihm. Die Männer waren sicher nicht dumm, wenn auch Barbaren und Ungläubige. Sie erfassten die Bedeutung seines Ranges sofort, auch wenn sie lieber seiner jungen Tochter die Treue geschworen hätten. Sie knieten vor ihm nieder, ein ziemlich abgerissener, aber trotzig dreinblickender Haufen, halb nackt und in der Hitze deutlich schwitzend - doch sie ließen sich von seinem prüfenden Blick nicht einschüchtern. Sechs von ihnen waren Qumaner, nackt bis auf einen Lenden198 schürz. Ihre Haut war voller Schmutzstreifen, aber die Haare waren sauber und ordentlich gekämmt, mit Stoffstreifen zu losen Zöpfen auf dem Rücken zusammengebunden. Ihre Mienen waren freundlich, beinahe fügsam. Sie wirkten wie jene jungen Soldaten, die am liebsten am Feuer ein Lied singen, durch und durch gutherzig und leicht zufrieden zu stellen sind und nur selten Streit untereinander beginnen. Der Rumpf des siebten Sklaven war mit Tätowierungen übersät: sich windende Tiere inmitten von Schlachtengetümmel, Greifen, die Wild fraßen, Löwen, die Menschen rissen, und ein Reiter, der auf einem achtbeinigen Pferd über Leichen ritt. Vier von den übrigen sechs sahen wie Ungläubige unterschiedlichster Herkunft aus - sie mochten aus Salavii stammen, aus Polenie, Starviki oder ähnlichen Landen. Ihre glanzlosen Haare waren dunkel, ihre Arme muskulös und die Schultern breit. Ihre Mienen waren gleichmütig und die Blicke frei von jedwedem rebellischen Funken, obwohl ihre Knöchel und Handgelenke die nässenden Narben von Fesseln trugen. »Sind auch Daisaniten dabei?«, fragte Sanglant. Breschius beherrschte erstaunlich viele Sprachen, und jetzt redete er die vier Männer in einigen davon an. Alle vier gaben ihm eine Antwort. »Es sind alles Ungläubige, mein Prinz. Sie wurden von Räubern in die Sklaverei verkauft. Dieser Salavii sagt, wendische Banditen hätten ihn gefangen genommen und an einen arethusanischen Kaufmann verkauft. Er
möchte nach Hause zurückkehren. Die anderen drei würden gern in den Dienst Eurer Tochter treten, sofern sie als Diener eine Mahlzeit am Tag erhalten und das Versprechen ihrer Herrin, sie niemals fortzuschicken.« »Der Salavii kann gehen. In meinem Heer soll es keine Sklaven geben.« Breschius sprach mit kehliger Stimme ein paar Worte. Der Salavii erhob sich nervös, als wartete er auf einen Peitschenhieb. »Es ist ein langer Weg in die Lande der Salavii«, bemerkte Hauptmann Fulk. »Wenn der Mann es bis nach Hause schafft, ist er nicht nur stark, sondern auch schlau.« 199 »Gebt ihm Brot, Bier und eine Tunika«, sagte Sanglant. »Ich möchte nicht, dass es heißt, ich hätte ihn nackt weggeschickt.« Noch während Breschius zu sprechen ansetzte, schoss der Mann auf das Tor zu, als fürchtete er, dass ihm jeden Augenblick ein Speer in den Rücken gestoßen würde. Fulk pfiff, und bei dem durchdringenden Signal sprangen die Wachen zur Seite, damit der Mann ungehindert aus der Festung laufen konnte. Die übrigen drei Ungläubigen verlagerten angsterfüllt ihr Gewicht, aber Breschius beruhigte sie mit wenigen Worten. »Es gab für ihn keinerlei Grund, uns zu trauen«, sagte Sanglant. »Aber ich bezweifle, dass er weit kommen wird.« Er wandte sich den letzten beiden Sklaven zu. Sie waren noch dunkelhäutiger und trugen zerlumpte Gewänder und zerrissene spitze Filzkappen über kurz geschnittenen Haaren. Sanglant musterte sie stirnrunzelnd. Die beiden hielten die Köpfe gesenkt und den Blick nach unten gerichtet, schienen aber junge, starke Männer zu sein. »Es sind Jinnen, nicht wahr?«, fragte er Breschius. »Sind sie Gläubige?« »Seht Ihr das Zeichen auf ihren Wangen?« »Ist es ein Sklavenzeichen?« »Nein, mein Prinz. Oder besser gesagt, ja, aber nicht so, wie Ihr denkt. Jeder junge Jinne kennzeichnet sich auf diese Weise, wenn er ins Erwachsenenalter übergeht. Auf diese Weise bindet er sich selbst an die Huldigung Gottes. Kein Jinne darf heiraten, wenn er sich nicht zum Sklaven des Feuergottes gemacht hat, den sie verehren.« »Und doch waren es Menschen, die sie auf der Erde zu Sklaven gemacht haben, und nicht ihr Gott. Sagt ihnen, dass es ihnen freisteht, zu gehen, wohin sie wollen.« »Ich spreche ihre Sprache nicht, mein Prinz.« Er versuchte dennoch, mit ihnen zu reden, gab aber auf, als keine Antwort kam. »Sie sind sicher keine Kaufleute, sonst würden sie zumindest eine der Sprachen beherrschen, die von Händlern benutzt werden.« »Dann können wir nur hoffen, dass die Zeichensprache genügt. Was ist mit diesen Qumanern? Euer Qumanisch ist nicht so gut wie das von Bruder Zacharias, nicht wahr?« 200 Der Zorn kehrte kurz zurück, obwohl er schon geglaubt hatte, ihn vertrieben zu haben. Er ballte die linke Hand zur Faust und warf einen Blick zu Gnades Zelle. Inzwischen war sie still geworden. Vielleicht hatte sie sich einfach nur heiser geschrien. »Ich spreche nur schlecht Qumanisch, mein Prinz. Ich habe niemals bei den Qumanern gepredigt. Ich bitte um Vergebung ...« Bevor Sanglant etwas erwidern konnte, hob der tätowierte alte Qumaner die Hände, die Handflächen zum Himmel gewandt. »Hoher Herr«, sagte er in leidlichem Wendisch, »hört mich an, der den Namen Gyasi trägt. Vor vielen Jahreszeiten, als ich jung bin, sprechen die Geister in mein Ohr, an dem Tag, an dem der Mond dunkel und hungrig ist. Sie sagen mir - sie haben gesagt -, dass irgendwann in der Zukunft ein Kind mich von der Eisenfessel befreien wird. Ihr muss ich dienen. So geschieht es heute, dass ihre Prophezeiung sich erfüllt. Ich tue, was die Geister mir aufgetragen haben. Ich gehorche meinen Ahnen. Ich werde wie ein Sklave für Eure Tochter sein. Diese Söhne von meinem Stamm werden ihr ebenfalls folgen.« »Wo habt Ihr die wendische Sprache gelernt?«, fragte Sanglant. »In unserem Stamm halten wir Sklaven vom Volk des Westens. Ich kann die Sprache von allen Sklaven meines Stammes sprechen. Auf diese Weise gehorchen sie dem Begh und seiner Mutter. Es gibt weniger Unfrieden.« »Sie haben Narben auf der linken Schulter«, sagte Breschius. »Eine Wolfsschnauze, das Zeichen des KirshatClans.« »Wie seid Ihr in die Sklaverei geraten?«, fragte Sanglant. »Ihr tragt die Zeichen eines Schamanen. Wie kann ein solch mächtiger Mann zum Sklaven werden?« »Ich habe mich geweigert, dem Ruf des Pechanek-Begzs zu folgen, als er zum Krieg gegen die westlichen Lande aufgerufen hat. Ich sage dem Kriegsrat - ich habe ihm gesagt -, dass der Kirshat-Clan der Pechanek-Hure Bulkezu nicht folgen soll. Aber sie schicken ihre Söhne trotzdem zu ihm, denn sie haben Angst vor ihm. Als Strafe für meinen schlechten Rat verkaufen sie mich und die Söhne meiner Schwestern in die Sklaverei. Drei sind gestorben. Diese sechs, die Starken, überleben.« 201 »Bulkezu!« Sanglant lachte. »Bulkezu wird Euch keinen Ärger mehr bereiten. Er ist mein Gefangener, hier in diesem Lager.« Der alte Schamane nickte, ungerührt angesichts dieser Enthüllung. »Die Geister haben mir von Bulkezus
Schicksal berichtet.« Er wandte sich an seine Neffen, sprach auf Qumanisch mit ihnen. Zwei spuckten auf den Boden. Ein dritter lachte; die anderen grinsten. Es war etwas Unangenehmes an dem fröhlichen Glanz in ihren Mienen, dem Augenzwinkern und dem schadenfrohen Grinsen, während sie über den Sturz ihres Feindes nachdachten. »Ihr seid tatsächlich ein großer Edelmann, wenn Ihr Bulkezu bezwungen habt«, fügte Gyasi hinzu. »Aber Ihr tragt keine Greifenschwingen. Wie könnt Ihr den Mann besiegen, der zwei Greifen getötet hat? Bulkezu ist trotz allem größer als Ihr.« »Wir werden sehen. Ich reise nach Osten, um Greifen zu jagen.« Der Schamane riss die Augen auf. Er klopfte sich zweimal mit der geballten Faust gegen die Stirn, berührte beide Schultern und dann das Brustbein dort, wo eine Tätowierung einen barhäuptigen Mann zeigte, der sich mit einem Greifen paarte. »Das ist ein Furcht erregender Pfad, großer Edelmann. Er könnte Euer Tod sein.« Sanglant lächelte, auch wenn er schon lange aufgehört hatte, den Fluch seiner Mutter erheiternd zu finden. »Kein Wesen, sei es männlich oder weiblich, ist in der Lage, mich zu töten. Ich fürchte die Greifen nicht. Könnt Ihr mich durch das Grasland zu den Schlupfwinkeln der Greifen führen?« »Nein, Herr. Meine Macht ist die des Wolfes - Steinbock und Wild zu jagen. Ich bin kein Greifenkämpfer. Die Geheimnisse der Greifenschlupfwinkel sind unserem Volk verloren gegangen. Seit drei Generationen hat kein Krieger des Kirshat-Stammes mehr Greifenschwingen getragen. Wir sind inzwischen ein schwacher Clan. Unsere Mütter sterben jung. Unsere Beghs haben vergessen, wie man der Weisheit der alten Frauen lauscht. Deshalb hat sich der Kriegsrat nicht geweigert, als Bulkezu nach Soldaten für sein Heer verlangt hat.« Ein Ruf erklang von der Dienst habenden Wache, gefolgt von drei Hornklängen, die andeuteten, dass ein Feind sich näherte. 202 Soldaten eilten aus dem Schatten, wo sie sich ausgeruht hatten, hoben ihre Schilde, Bögen und Speere und eilten zum ungeschützten Tor. Die Sklaven blickten auf, erhoben sich aber nicht. Sanglant lief zum Wachturm beim Tor. Oben auf der gen Nordosten gewandten Mauer gestikulierten die Männer wild. Fulk und Hathui folgten ihm, während Feldwebel Cobbo die Sklaven zurück zu der Zelle trieb, in der Gnade erneut zu schreien begann. »Lasst mich raus! Lasst mich raus! Anna! Ich brauche dich! Papa!« Sanglant kletterte auf die Mauer und begab sich, begleitet von Fulk und Hathui, zu dem bröckligen Wachturm. Die zwei Wachen - Sibold und Fremen - unterhielten sich leise murmelnd, während sie weiter beobachteten. Sie hatten die Reiter anhand der Staubwolke bemerkt, obwohl die Truppen noch zu weit entfernt waren, um Hinweise auf ihre Stärke und Herkunft erkennen zu können. Unten im Tor zog ein Dutzend Männer die Holzplanken über den Graben zurück. Schatten verbargen die Tiefe des steilen Grabens, in dem Bulkezu gefangen war. Bewegte sich Bulkezu? Begab er sich zum Grund des Lochs, wachsam angesichts der neuen Entwicklung? Schon hörte Sanglant das unverkennbare Schwirren und Surren der Schwingen, schwach, aber bestimmt. Er beschattete die Augen, blinzelte nach Westen zu den Reitern, die sich der Festung aus dem hügeligen Grasland näherten, das sich im Norden und im Westen bis zum Horizont erstreckte. »Qumaner«, sagte er zu Fulk. Fulk rief in den Hof hinunter. »Schickt Lewenhardt hoch!« Er schützte die Augen vor der Sonne, starrte die Staubwolke an. »Seid Ihr sicher, Prinz Sanglant? Ich kann kaum etwas erkennen.« »Ich höre Schwingen.« »Sibold«, befahl Fulk, »blase das Hörn noch einmal. Ich will jeden Mann auf der Mauer haben, und eine Barriere beim Tor, um den Graben noch mehr zu sichern. Qumaner.« Sibold fluchte fröhlich, bevor er drei scharfe Hornrufe erklingen ließ. Die Hälfte der Männer hatte sich bereits versammelt, und die Übrigen kamen herbeigelaufen, setzten die Helme auf oder be203 festigten Lederriemen an ihren Körpern. Trotz all dem Lärmen und Rufen hörte Sanglant die gedämpften Schreie seiner Tochter aus der Zelle, in die er sie hatte schaffen lassen. »Mein Prinz!« Lewenhardt kam die Leiter zum Wachturm hochgeklettert und beugte sich so weit wie möglich über die Mauer. Er trug einen lächerlichen Schlapphut, der seine Augen allerdings besser schützte als eine Hand. Sanglant legte die Fäuste auf die Mauer, rieb so lange über den schroffen Stein, bis er sämtliche Gedanken an Gnade verscheucht hatte und sich auf das Geräusch in der Ferne konzentrieren konnte, das bisher nur er hörte. Alles andere wehrte er ab - die Geräusche, als Holzplanken zum Tor gezerrt wurden, die Schritte auf dem Boden und den Leitern, als Männer ihre Positionen auf der Mauer einnahmen, das Schluchzen von Gnade, das Glockengeläut in der Stadt... Er lauschte nur dem Wind, der durch das Gras strich, dem Donnern von Pferdehufen in der Ferne, dem Pfeifen von Schwingen. Er lauschte der Tonhöhe und der Stärke des Pfeifens. »Greifenschwingen.« Er stützte sich ab, um besser sehen zu können. Erklang da ein dünner Schrei im Wind, als würde ein Mann vor Furcht und Schmerz aufheulen? Es war so schnell vorüber, dass er sich nicht sicher war. Die Schwingen sangen, zwar nicht wie ein großer Chor, aber es waren doch eindeutig mehr als ein paar einzelne Stimmen. »Nicht viel mehr als fünfzig«, sagte er. »Sicher weniger als hundert.«
»Dafür wirbeln sie ziemlich viel Staub auf«, bemerkte Fulk. »Können es wirklich so wenige sein?« »Mehr als hundert«, sagte Lewenhardt. »Vielleicht zweihundert. Nicht alle haben Schwingen.« »Wieso haben nicht alle Schwingen?«, wollte Fulk wissen. »Wo ist Bruder Breschius?«, fragte Sanglant. »Fremen«, sagte Fulk, »geh und hol den guten Bruder.« Sanglant warf einen Blick zur Stadt, die von hier wie ein Gewirr aus Mauern und Dächern wirkte, unterbrochen von dem hohen Turm des Palastes der Statthalterin und der hellen Kuppel des Jin204 na-Tempels. Da das Land zum Meer hin abfiel und immer flacher wurde, verschmolz es regelrecht mit der schimmernden Weite der friedlichen Wasserfläche. Schiffe lösten sich vom Kai, ihre Ruder peitschten das Wasser, als sie sich vom Hafen wegbewegten, um einem möglichen Angriff auf die Stadt zu entgehen. Das Schiff, auf das Wulfhere geflohen war, befand sich bereits außer Sichtweite. Laut Robert von Salia, der Gnade und ihr neues Gefolge gefunden und zum Lager zurückgebracht hatte, war das Schiff bereits ausgelaufen, bevor Sanglant auch nur vom Verschwinden seiner Tochter erfahren hatte. Oh, Gott, was sollte er mit seiner unnatürlichen Tochter nur tun ? Wie hatte er bloß so dumm sein können, Wulfhere zu trauen? »Ich sehe ihre Schwingen!«, rief Sibold triumphierend. »Gott im Himmel!«, fluchte Lewenhardt, als auch andere Männer auf der Mauer einen besseren Blick auf die Reiter erhaschten. Die Schwingen blitzten unruhig im Licht auf, das sich über das Gras ergoss, als hätten sie die Sonne mit ihren weißen und grauen Federn eingefangen. »Was seht Ihr?« Sanglant fuhr mit den Fingern über das Heft seines Schwertes. »Ich sehe Greifenschwingen, mein Prinz. Ein Paar. Und mit Gold versehene Türme.« Männer liefen unten herum, schafften beiderseits der Grube Stämme und Wagen an Ort und Stelle. »Die Barriere ist nur schwer zu überwinden«, bemerkte Sanglant, als er nach unten sah. »Aber es ist nicht unmöglich. Da kommt der Frater. Vielleicht kennt er das Geheimnis dieser >Türme<.« Fremen lief mit dem Frater im Schlepptau herbei. Breschius hatte einige Mühe mit der Leiter, denn er hatte nur die eine Hand. Er benutzte den Ellbogen, um sich an den Sprossen festzuhalten, während er mit der verbleibenden Hand hochgriff und die Füße nachzog. Als er oben angekommen war, wurden die herannahenden Reiter langsamer, und die Soldaten, die die Barrikade auf der äußeren Seite der Grube errichtet hatten, liefen gerade über die letzten beiden Holzplanken zurück, die anschließend ebenfalls in 205 die Festung gezogen wurden. Die Stadt hatte ihre Tore geschlossen. Die große Glocke hörte auf zu schlagen. »Wir sind auf uns allein gestellt«, bemerkte Fulk leicht amüsiert. »Wir haben keine Freunde unter den Stadtbewohnern. Mag die Statthalterin Euch nicht, Prinz Sanglant?« »Die Statthalterin traut uns nicht, Hauptmann. Wieso sollte sie auch ein Heer von der Größe des unsrigen in ihrem Gebiet willkommen heißen? Wenn sie gegen uns kämpft, könnte sie gewinnen, aber sie und ihre Soldaten und ihre Stadt werden leiden. Wenn sie verliert, verliert sie alles. Ich vermute, sie hofft, dass wir dem Angriff die Spitze nehmen, damit sie dann den Rest erledigen kann.« »Aber wir sind in der Überzahl.« »Gegenüber der Statthalterin? Oder den Qumanern?« Fulk lachte. »Es ist weise, wenn sie Euch fürchten, mein Prinz.« »Ja?« Oder war er einfach nur ein Narr, der einer verrückten Idee folgte ? Vom ersten Augenblick an, da er die Hafenstadt und das sich nördlich des Meeres erstreckende Grasland gesehen hatte, war ihm klar gewesen, dass er in eine Welt gelangt war, die so ganz anders war als alles, was er bisher erlebt hatte. Da Zacharias verschwunden und womöglich tot war, war er mehr denn je auf Bulkezus Wissen angewiesen. Bulkezu würde viele Gelegenheiten haben, ihn zu verraten oder ihn und sein Heer in die Irre zu führen. Bulkezu war schlau genug, sie zu töten, wenn er sich nur entschloss, mit ihnen unterzugehen. Doch wie sollte Sanglant in einem solch riesigen Land ohne die Hilfe derjenigen, die es kannten, Greifen und Zauberer aufspüren? »Frauen!«, sagte Lewenhardt und lachte. »Es sind qumanische Krieger bei dem Trupp, aber auch Frauen. Diese Türme sind ihre Kronen. Es ist eine Art Hut.« »Ich wusste nicht, dass die Qumaner Frauen haben«, sagte Sibold und packte seinen Speer fester. »Ich dachte, sie würden sich mit Wölfinnen und Raubkatzen paaren.« »Es stimmt, dass Qumanerinnen Kronen wie diese Türme tragen«, erklärte Breschius. »Ich habe allerdings nie eine aus der Nähe gesehen.« 206 »Nicht mehr als zweihundert Reiter«, sagte Fulk. »Seht ihre Standarte. Sie tragen das Zeichen des PechanekStammes.« »Ah.« Sanglant nickte. »Das ergibt einen Sinn. Sie kommen wegen Bulkezu.« »Glaubt Ihr, mein Prinz? Woher sollen sie wissen, dass wir hier sind und ihn bei uns haben?« »Ihre Schamanen sind sehr mächtig«, erklärte Breschius. »Auch wenn das nichts ist im Vergleich zur Macht der kerayitischen Zauberinnen.« »Qumanische Magie hat Bayan getötet«, sagte Sanglant.
»Prinz Sanglant!«, rief Fulk. »Wenn sie hinter Euch her sind -« »Nein, um mich braucht Ihr keine Angst zu haben, Fulk. Ihre Magie kann mir nichts anhaben.« Er berührte das Amulett an seiner Brust, aber der Stein erinnerte ihn an Wulfhere, und sogleich kehrte seine Wut zurück. Er durfte jetzt nicht an den Verrat des Adlers und seine eigene Leichtgläubigkeit denken. Er musste sich auf das konzentrieren, was vor ihm lag. Die Reiter blieben an der Grenze der Reichweite eines Katapults stehen; sie waren nahe genug, dass man ihre Anzahl gut schätzen konnte, aber nicht so nah, dass die Männer in der Festung sie genau erkennen konnten. Nicht mehr als sechzig hatten Schwingen, aber der Reiter mit den Greifenschwingen stand glitzernd, schimmernd und bedrohlich hinter den anderen. Über dreißig Reiter trugen konische Hüte, die mit goldenen Plättchen versehen waren. Einer dieser Hüte war überaus groß, mindestens so lang wie Sanglants Arm, sodass er sich fragte, wie man ihn beim Reiten auf dem Kopf behalten konnte. Eine Gestalt ohne Schwingen und Turmhut löste sich von der Gruppe, hielt eine schlaffe Bürde über dem Widerrist des Pferdes. »Lewenhardt, was hält der Reiter da vor sich?« »Es ist eine Leiche, mein Prinz.« Als der Reiter die Hälfte der Strecke zwischen den Qumanern und der Festung zurückgelegt hatte, stieß er die Last vom Pferd, sodass sie auf den Boden fiel. Lewenhardt zuckte zusammen. »Ich glaube, es ist der Sklave, der von uns weggerannt ist, mein Prinz.« 207 »Geradewegs in ihre Arme, mögen Gott Barmherzigkeit mit seiner Seele haben. Hauptmann, holt den Schamanen, der sich Gyasi nennt.« »Könnt Ihr ihm trauen, mein Prinz?« »Wir haben sonst niemanden, der übersetzen kann. Er kann seinen Wert - oder seine Wertlosigkeit - unter Beweis stellen.« Fulk kletterte die Leiter hinunter. Der Reiter näherte sich der Mauer bis auf Bogenschussweite, dann zügelte er sein Pferd. »Der Junge ist nicht älter als zwölf oder vierzehn, würde ich sagen«, erklärte Lewenhardt. »Ist das eine Art Mutprobe?«, fragte Sanglant. »Oder ist er so unwichtig?« »Ich kenne die Bräuche der Qumaner nicht gut genug, mein Prinz«, sagte Breschius. »Aber bei ihnen darf sich kein Junge als Mann bezeichnen und Schwingen auf dem Rücken tragen, solange er noch keinen Mann getötet hat. Deshalb diese Köpfe.« Sibold erschauerte. »Hässliche Arbeiten, diese Schrumpfköpfe.« Er hatte einen verschlagenen Blick und neigte zur Ungeduld, aber ein Teil seines unschätzbaren Wertes als Soldat lag in seinem verwegenen, unbekümmerten Wesen. »Es heißt, dass Edelfrau Bertha den Kopf ihrer Mutter nicht begraben hätte, als sie ihn Bulkezu abgenommen hat, sondern ihn als Talisman mit sich herumträgt. Stimmt das, Prinz Sanglant?« »Das solltest du sie selbst fragen, Sibold.« Der Soldat lachte. »Ich bete darum, dass Ihr es mir nicht befehlt. Sie macht mir Angst. Sie ist kalt. Ich schätze, sie ist ein bisschen verrückt.« »Sibold.« Er zog den Kopf ein, aber das Grinsen blieb. »Ich bitte um Vergebung, mein Prinz.« »Der Schamane ist hier, Prinz Sanglant.« Breschius trat zur Seite, um auf der Plattform Platz zu machen, als Fulk mit Gyasi zurückkehrte. »Was hat das zu bedeuten?« Sanglant deutete auf den einzelnen Reiter und die vielen anderen Reiter dahinter. 208 »Er ist ein Bote, großer Edelmann.« Er hob die Hände, legte sie wie einen Trichter um seinen Mund und stieß einen gellenden Schrei aus. Der Reiter zuckte sichtlich zusammen, hatte sich aber schon kurz darauf wieder in der Gewalt und drängte sein Pferd weiter, blieb knapp außerhalb des Schattens stehen, den die Mauer warf. Er rief etwas auf Qumanisch. »Großer Edelmann, dieser junge Wurm bezeichnet sich selbst als Boten der Mutter von Bulkezu, die gekommen ist, den Mann zu suchen, der ihren Sohn als Gefangenen hält.« »Sprecht weiter.« »Die Mutter von Bulkezu möchte wissen, was Ihr für ihren Sohn verlangt.« »Was ich für ihn verlange?« Sanglant lehnte sich an die Mauer. Die heiße Sonne fiel auf sein Gesicht, und die Brise zupfte an seinen Haaren. »Welche von ihnen ist die Mutter von Bulkezu ? Wisst Ihres?« »Die da sind die Mutter von Bulkezu«, erklärte Gyasi und deutete mit einem Kopfnicken auf die Gruppe von Frauen mit ihrer geflügelten Eskorte. Sanglant warf Breschius einen Blick zu, aber der Frater zuckte die Schultern. Es war schwer zu sagen, wie gut Gyasi Wendisch verstand. »Ich kann Bulkezu nicht austauschen. Ich habe ihn in der Schlacht besiegt und am Leben gelassen, damit er sich seine Freiheit verdienen kann. Ich brauche ihn, damit er mein Heer sicher durch das Grasland und zu den Ländern führt, wo wir Greifen jagen und Zauberer aufspüren können.« »Wollt Ihr das wirklich, großer Edelmann ? Es ist ein gefährlicher Weg. Ihr werdet vielen Schwierigkeiten begegnen.« »Ich will es wirklich. Ich kann Bulkezu nicht aufgeben. Doch welchen Handel könnte ich mit diesem Stamm
eingehen, damit diese Leute mich nicht an meiner Suche hindern?« Gyasi summte leise vor sich hin, wie jemand, der tief in Gedanken versunken war. »Die Leute sind schlau und gerissen. Ein Mann kann sein Leben seinem Bruder verpflichten und ihm danach trotzdem einen Stich in den Rücken versetzen.« 209 »Es sind immer noch einige wütend darüber, dass Ihr Bulkezu erlaubt habt, die Schlacht heil und wohlbehalten zu überstehen, mein Prinz«, sagte Breschius. »Ich werde nicht vergessen, dass er für Prinz Bayans Tod verantwortlich ist. Und auch Prinzessin Sapientia vergisst es nicht.« »Und doch reitet Ihr mit mir, Bruder Breschius.« »So wie Prinzessin Sapientia. Aber ich glaube nicht, dass sie in dieser Angelegenheit eine Wahl hatte, auch wenn sie die eigentliche Erbin ist.« »Ist sie das? König Henry hat auch noch andere Kinder. Er hat ein Kind mit Königin Adelheid, das er bevorzugen könnte, vergesst das nicht. Wieso seid Ihr noch bei mir, Bruder Breschius? Wem dient Ihr?« »Ich diene der Wahrheit, Prinz Sanglant, und Gott.« »Und mir?« Breschius lächelte, und sein Gesicht hellte sich auf. Er war zu demütig, um in seine eigene Schlauheit verliebt zu sein, aber auch zu weise, um sich selbst zu verunglimpfen. »Welche Gefahr Ihr auch darstellen mögt, Prinz Sanglant, ich glaube, weit mehr als Eure Absichten bedrohen uns jene, die die Zauberei ohne jede Zurückhaltung anwenden wollen.« »Ich bitte Euch, Prinz«, sagte Hathui, die bis jetzt geschwiegen hatte. »Ich möchte Einwände dagegen äußern, dass Bulkezu seinem Stamm zurückgegeben wird. Er hat niemals für das bezahlt, was er mir angetan hat.« Sanglant drehte sich zu dem qumanischen Schamanen um. »Sagt dem Jungen all das, was ich gesagt habe, und auch, dass hier eine Frau ist, die eine persönliche Beschwerde gegen Bulkezu vorzubringen hat, der ihre Ehre gestohlen und ihren Körper verletzt hat. Sie sucht Vergeltung. Deshalb werden wir ihn nicht freigeben. Aber wir suchen keinen Krieg mit seinem Volk. Wenn ich meine Greifenfedern habe und meine Zauberer getroffen habe, lasse ich Bulkezu frei. Vielleicht ziehen sie in Erwägung, bis dahin einen Waffenstillstand zu vereinbaren.« Gyasi gab die Nachricht weiter, und der Bote antwortete mit einem Ausruf der Zustimmung, ehe er zu seinen Leuten zurück210 kehrte. Sie sahen, wie er bei den Frauen stehen blieb. Nach einiger Zeit kehrte der Junge begleitet von zwei Reiterinnen zurück. Die eine trug einen großen, konischen Hut voller Goldplättchen, die in der Sonne blitzten, um den leuchtend orange- und ebenholzfarbene Perlen wie herabfallende Vorhänge drapiert waren. Ihre Tunika war leuchtend blau, reichte bis zum Knie und war zum Reiten geschlitzt. Darunter trug sie eine blaugrün gestreifte Hose mit eingenähten Perlen am Knie und an den Knöcheln. Unter dem Gewicht ihres Schmucks konnte er kaum das Gesicht ausmachen -dunkel, ernst, mit breiten Wangenknochen und schmalen Lippen. Die andere Frau trug nur einen weichen grauen, ungeschmückten Filzhut als Schutz gegen die Sonne und eine schlichte Ledertunika mit einer weiten Hose darunter. Ihre Haare hatten den goldbraunen Glanz einer Frau aus dem Westen oder den Bergen; sicherlich war sie keine Qumanerin, sondern eher eine Sklavin, sofern die dicken Bronzearmringe an beiden Handgelenken ein Hinweis auf ihren Rang waren. Der Junge überbrachte die Botschaft und warf, als er zu Ende gesprochen hatte, ein Kleidungsbündel auf den Boden. Der Stoff öffnete sich und enthüllte ein Dutzend Goldketten. »Was hat er gesagt?«, fragte Sanglant. »Das Gold ist für die gestohlene Ehre.« Hathuis Augen weiteten sich, als sie sich über die Mauer lehnte und auf das viele Gold blickte, das dort unten lag. »Ich bin einverstanden!«, sagte sie atemlos. »Gott im Himmel! Mit diesem Reichtum kann ich meine Neffen und Nichten mit einer Mitgift ausstatten!« »Und was ist mit den zwei Frauen?«, fragte Sanglant. Gyasi kratzte sich die hagere Brust an der Stelle, an der sich die Tätowierung des achtbeinigen Pferdes und seines Reiters befand. Der Reiter trug einen konischen Hut wie die Mutter, aber das Antlitz ließ keine deutlich weiblichen Züge erkennen. Er summte und murmelte in sich hinein, nickte und hüpfte wie eine nervöse Krähe auf einem Bein. Dann sprach er. »Die Mutter möchte Bulkezu sehen, bevor sie weiter verhandelt. Auf diese Weise kann sie sehen, ob er wirklich lebt und nicht schon tot ist.« 211 Sanglant grinste und wandte sich an die Männer beim Tor. »Ich komme runter. Legt eine Holzplanke über den Graben. Haltet Eure Pfeile und Speere bereit.« »Mein Prinz!« Ihre erstaunten Ausrufe waren Antwort genug, aber sie gehorchten wie immer. Ansonsten wären sie ihm auch nicht so weit auf einem solch gefährlichen Weg gefolgt. Er kletterte die Leiter hinunter, ließ die meisten Wachen oben zurück und lief zur Barrikade. Er kletterte über die Wagen und setzte einen Fuß auf die breite Holzplanke, die gerade von einem seiner Soldaten über den Graben geschoben wurde. Von unten kam Bulkezus spöttisches Gelächter. Der Gefangene stand halb im Schatten, das Gesicht nach oben gerichtet, um ihn zu mustern, die Gesichtszüge geisterhaft und undeutlich. »Ist der Prinz gekommen, um gegen mich zu kämpfen? Wird der Hund in die Grube springen, um gegen den Greifen anzutreten? Oder fürchtet er mich noch immer?« Sanglant hörte das herannahende Hufgetrappel, und sein Blut summte in der Tonhöhe eines bevorstehenden
Kampfes, als er über die Holzplanke ging. Die Bretter schwankten, aber er verlor das Gleichgewicht nicht. Er hatte keine Angst zu stürzen. »Werft den Wurm herunter, damit ich eine Mahlzeit aus ihm machen kann. Oder findet der Hundeprinz jetzt Vergnügen an kriechenden Wesen?« Sanglant sprang leichtfüßig auf den festen Boden, als die Reiter um die Ecke der Festung bogen und genau wie er stehen blieben. Sie musterten einander. Die Frau war eindeutig zu jung, um Bulkezus Mutter sein zu können. Ihre Nase war zu flach, mehr Stummel als Nase, als dass man sie hätte als hübsch bezeichnen können, aber sie hatte strahlend schwarze Augen, so gefährlich wie die eines Falken, und ein so grimmiges Stirnrunzeln, dass sein Lächeln versiegte und er innehielt. Er fragte sich, ob er ihre Absichten falsch eingeschätzt hatte. Die Sklavin neben ihr sah Sanglant ziemlich unverhüllt an, als würde sie seinen Wert abschätzen, seine Möglichkeiten als Zuchthengst, während ihre Herrin, die Sanglant nicht weiter beachtete, zum Rand der Grube ritt und nach unten blickte. Die Ledertunika 212 der Sklavin umhüllte einen ziemlich attraktiven Körper, volle, runde Brüste, rote Lippen, einen aufreizenden Blick Es war zu ruhig. Niemand sprach. Als er in die Grube blickte, war er so verblüfft, dass er fast das Gleichgewicht verloren hätte und gestürzt wäre. Bulkezu war vor dem Schatten seiner Verwandten geflüchtet. Er kauerte am anderen Ende der Grube, wie ein in die Enge getriebener Hase. Der Furcht erregende Begh, der die qumanischen Horden vereinigt hatte, der unzählige Wendaner niedergemetzelt hatte, der Prinz Bayan in der Schlacht besiegt hatte, war vor Angst vollkommen erstarrt. Sanglants Soldaten schrien und verhöhnten den Mann, den sie alle hassen gelernt hatten. Sie drängten sich an die Steinmauer, an die Wagenbarriere, hockten nebeneinander und genossen es, ihn derart erniedrigt zu sehen. »Ruhe!«, rief Sanglant. Sie gehorchten und schwiegen. Die Frau hob den Kopf und sah Sanglant mit einem Blick an, als würde ein Falke seine Beute abschätzen. Er hielt diesem Blick stand, wich weder zurück, noch rückte er weiter vor, und nach einiger Zeit lenkte sie ihr Pferd weg. Inzwischen hatte Gyasi die Barriere aus Karren erreicht und stellte sich auf eins der Gerüste, um die Geschehnisse zu verfolgen. »Großer Edelmann! Seid wachsam!« Die goldgekrönte Frau erreichte ihre Begleiter und sprach zu dem Jungen. Als sie geendet hatte, gab der Junge ihre Worte wieder. »Was hat er gesagt?«, wollte Sanglant wissen. »Sie fragt, ob Ihr der Hengst seid, der so lange bei ihnen bleibt, bis Bulkezu zu ihnen zurückkehrt.« »Sie möchte eine Geisel als Sicherheit für unsere ehrlichen Absichten.« »Es ist üblich bei den Stämmen, eine hoch geschätzte Tochter oder einen Sohn gegen einen anderen zu tauschen, um den Frieden zu erhalten. Es ist ein großes Angebot, hoher Herr. Wenn Ihr Euch in ihre Obhut begebt, werden ihre Stammesleute Euch über die Ebene geleiten. Wir nennen dies das Geschenk der Messer.« 213 »Das Geschenk der Messer?« »Damit Euch niemand in den Rücken stechen wird.« »Werden sich auch andere qumanische Stämme daran halten, sofern wir welchen begegnen?« »Vielleicht, großer Edelmann. Nach Bulkezus Sturz sind sie in alle Winde zerstreut. Vielleicht gibt es Wölfe, die nach Euren Fersen schnappen, aber kein Heer wird gegen Euch kämpfen, da Ihr selbst so viele Soldaten habt. Kein Stamm wird so kühn sein, gegen den Mann zu kämpfen, der den Furcht erregenden Bulkezu besiegt hat. Er ist der Mann, der zwei Greifen getötet hat. Seit vielen Generationen ist dies keinem anderen Begh unserer Stämme gelungen.« »Eine Eskorte und das Versprechen sicheren Geleits - als Tausch für eine Geisel? Eine, die mir - und auch ihnen - teuer genug ist, dass sie nicht damit rechnen müssen, dass ich die Geisel einfach bei ihnen zurücklasse ? Eine von würdigem Rang ? Eine, die zu wertvoll ist, als dass ich sie verlieren möchte?« »Bis Ihr dieses Land verlasst und Bulkezu zurückgebt.« Bruder Breschius tauchte neben Gyasi auf; er wirkte blass und beunruhigt. »Ihr wisst, was für Wilde die Qumaner sind, mein Prinz. Wie könnt Ihr in dem Wissen, dass sie Wendars großer Feind sind, mit ihnen einen Vertrag schließen?« »Wer ist heutzutage nicht unser Feind? Ich traue den Arethusanern nicht, und ich habe auch keinen Grund zu der Annahme, dass sie irgendwelche Führer haben, die uns dorthin bringen könnten, wohin wir wollen. Nein. Edelfrau Eudokia kann uns nicht helfen, und wir können ihr auch nicht trauen.« »Kennt Ihr die Bräuche der Steppenvölker, mein Prinz?«, wurde Breschius jetzt direkter. »Wenn diese Frau möchte, dass Ihr ihrem Stamm als Geisel dient, geht es nicht nur um Eure Anwesenheit. Ihr seid ein großer Edelmann, der stark genug war, um ihren Sohn zu besiegen. Die alten Mütter dieser Völker gebären Männer wie Pferde. Sie wollen Euren Samen für ihr Geschlecht und ihren Stamm.« »Gott mögen mir helfen!«, sagte Sanglant. »Ein Hengst für die Stuten.« Edelfrau Ilona hatte ihn gewarnt, auf
ihre Weise. Aber er hatte ihr nicht geglaubt. 214 Die Sonne verströmte ihren goldenen Glanz, als sie die westlichen Hügel berührte. Schon bald würde es dunkel werden. Die Soldaten warteten in bemerkenswert unbehaglichem Schweigen. Sogar Gnade hatte wieder aufgehört zu schreien. »Aber ich bin nicht die einzige wertvolle Geisel hier«, sagte er, und ein Schauer des Triumphs lief durch seinen Körper. Er lachte. Manchmal war es tatsächlich möglich, zwei Vögel mit einem Stein zu erschlagen. »Gyasi, sagt der Mutter von Bulkezu, dass ich ihr einen Vorschlag mache. Sagt ihr bitte, dass ich eine edle Prinzessin habe, die sich sehr gut dafür eignen würde, als Sicherheit für Bulkezus unversehrte Rückkehr mit seinen Müttern zu reisen.« VII Ein Bienenstich
1 Die Langschiffe schälten sich geisterhaft aus dem Nebel, der den Temes einhüllte, und landeten am Strand unterhalb der befestigten Stadt Hefenfelthe. Zwei Flusstore waren in die massive Mauer eingelassen, aber sie blieben verschlossen; den Gerüchten nach waren sie so unbezwingbar wie die Tore an Land und der berüchtigte Abflusskanal. Wie der Bug eines mächtigen Schiffes ragten die große, von den Königinnen von Alba errichtete Halle und die Zitadelle jenseits der Mauer auf. Starkhand kannte deren Ruf. Die Macht der Königinnen und ihrer Baumzauberer hatte bisher verhindert, dass Hefenfelthe jemals erobert worden war, obwohl sich bereits viele Heere an den Mauern aufgerieben hatten. Zehnter Sohn hob das Schlachtenbanner. Die erste Welle von Aikha-Kriegern schwärmte vom Hauptschiff, gefolgt von ihren Brüdern überall am Strand. Der Nebel verbarg sie, aber Starkhand konnte jeden Einzelnen spüren, ob er auf zwei Beinen lief oder auf vieren. Selbst die Hunde waren leise. Sie wussten, welche Belohnung jene erwartete, die diesen Tag überlebten. Eine rote Fackel flackerte am östlichen Flusstor auf. Ketten rasselten, und während die Vorhut auf die Mauer zurannte, schwang das Tor auf. Drei Männer hasteten heraus, bedeuteten dem Heer mit einem Winken, die Stadt zu betreten. 216 Starkhand brauchte nur einen kurzen Augenblick, um sie zu erkennen: drei reiche Kaufleute in Seide und Leinen, niedergedrückt vom Gewicht ihrer goldenen, mit Edelsteinen besetzten Halsketten und Ringe. Als sie im Handelszentrum von Slaisby zu ihm geschafft worden waren, hatten sie sich höchst begierig gezeigt, im Gegenzug für Münzen und das Versprechen auf einen neuen Markt ihre Königin zu verraten. Aber niemand konnte zwei Herren dienen. Zehnter Sohn, der ganz vorne lief, schnitt dem Ersten die Kehle durch, und die anderen wurden mit raschen Hieben niedergestreckt. Sie hatten nicht einmal die Zeit zu schreien. Das Heer eilte achtlos an den Leichen vorbei; nur einige Hunde hielten kurz an, um an ihnen zu nagen, und mussten von ihnen weg- und durch das offene Tor getrieben werden. Starkhand wartete am Schiffssteven, während die Sonne höher kletterte, noch immer verborgen von dem Nebel, der vom Wasser aufstieg. Die Ketten des westlichen Tores quietschten jetzt, und eine zweite Tür öffnete sich zur Stadt hin. Fackeln wurden auf den Mauern der Zitadelle entfacht, als die albischen Soldaten und ihre Königin der Bedrohung gewahr wurden. Ein schrilles Hörn, eine Glocke und ein durchdringender Schrei erklangen im Innern, aber es war bereits zu spät. Rauch wand sich von den Häusern nahe der äußeren Mauer empor, vermischte sich mit dem Nebel. Feuer loderte in den Häusern auf, und mit den Flammen wurden Schreie, Flüche und das gequälte Jammern der heimgesuchten Bewohner weitergetragen, ein schrecklicher Lärm, ein schöner Lärm. Die Sonne löste die tief über dem Fluss hängenden Nebelbänke auf und verströmte ihr Licht über die mächtigen Mauern von Hefenfelthe, die gefeit gegen Waffen, aber nicht gegen Verrat gewesen waren. Jene, die sich widersetzten, wurden getötet; über die Übrigen entschied das Schicksal. Einige blieben verschont, weil sie sich versteckt hielten, andere, weil sie flohen. Es starben ebenso viele um Gnade winselnd wie im Kampf. Hefenfelthe hatte seine Tore vor den FelsenKindern verschlossen und würde daher allen albischen Städten, Dörfern und Gehöften als Beispiel dienen, dass es besser war, sich Starkhands Herrschaft zu beugen, als gegen sie anzukämpfen. 217 In der zweiten Nacht der Schlacht lagen die engen Straßen von Hefenfelthe verlassen da, und die Flammen waren erstickt worden, da er nicht vorhatte, die ganze Stadt niederzubrennen. Während seine Krieger an der Zitadellenmauer Position bezogen, sah Starkhand zu, wie die Königin von Alba hoch oben auf ihrem Turm erschien. Fackeln und Lampen um sie herum zeigten sie in strahlendem Glanz. Sie trug eine leuchtende Rüstung; ein Wolfshelm verbarg ihr Gesicht. Ein goldenes Banner mit dem Bild eines weißen Hirsches flatterte neben ihr in dem Wind, den ihre Zauberer herbeigerufen hatten. Sie setzte ein Hörn an die Lippen. Während der Ton in der
Luft hing, flogen brennende Pfeile von den Zinnen der Zitadelle aus in alle Richtungen; ihre Ziele waren die Dächer weit entfernter Gebäude. Sie wollte die Stadt rings um sie herum in Brand setzen, aber es würde ihr nicht gelingen. »Die Männer sollen jenseits des Feuers die Gebäude niederreißen, in einem Kreis um die Zitadelle herum«, sagte er zu Zehnter Sohn, der rußgeschwärzt und blutverschmiert neben ihm stand. »Auf diese Weise können sich die Flammen nur in die Richtung des Zufluchtsortes der Königin ausbreiten.« Er führte den Angriff auf das Feuer selbst an, mit seiner eigenen Axt, und am Ende hatten sie einen breiten Pfad durch die Stadt geschlagen und die Dächer auf der anderen Seite dieser Lücke nass gemacht. Bei Anbruch der Morgendämmerung fing die Ostmauer der Zitadelle Feuer, und Rauch drohte die Verteidiger zu ersticken, schlug ihnen getragen von genau dem Wind entgegen, den die Baumzauberer herbeigerufen hatten, um das Feuer gegen ihre Feinde zu treiben. Er gab den Befehl zum letzten Angriff selbst, ließ ihn aber von anderen durchführen - von Jüngeren, Unbedarfteren, die ihren Wert beweisen, seine Aufmerksamkeit erlangen oder einen größeren Anteil am Schatz bekommen wollten. Rammböcke wurden herbeigeschafft. Unter den dicken Holzköpfen, die so geschnitzt waren, dass sie den Schädeln der gehörnten Bergschafe ähnelten, barsten die Tore der Zitadelle. Als seine Krieger ins Innere drängten, verlieh ihnen der Rauch einen großen 218 Vorteil. Die albischen Soldaten ertranken in Feuer und Rauch, aber für die FelsenKinder, die lange zuvor zu einer Zeit geboren worden waren, als das Blut der Drachen menschliches Fleisch in wachen Stein verwandelt hatte, waren diese Dinge keine echte Bedrohung. Er folgte der Vorhut durch das zerstörte Tor und marschierte mit seiner Leibwache, seinen Nestbrüdern und den Kriegern von Rikin-Fjord die Schneise entlang, die der Angriff geschlagen hatte. Überall lagen Leichen herum, aber der dichte Rauch erstickte den Geruch des Blutes. Am Eingang der langen Halle tobte eine Schlacht, als die FelsenKinder sich Einlass zu verschaffen versuchten. Pfeile prasselten in einem wilden Hagel auf Schilde. Speerspitzen bohrten sich in Holz. Läden krachten und gaben unter der Wucht von Axthieben nach, aber in jeder neu geschaffenen Lücke blitzten Speere auf, denn albische Soldaten schlössen sie mit ihren Körpern, riefen nach Verstärkung und stießen laute Flüche aus. Pfeile und heißes Öl regneten vom Turm herunter. Die nackten Seiten des riesigen Steingebäudes - des größten, das er je gesehen hatte - boten keinerlei Angriffsfläche. Der erste Stock, viermal so groß wie er, hatte keine Fenster, und in den drei höheren Ebenen waren die Fenster nichts weiter als schmale Schlitze. Der einzige Weg zum Turm führte durch die Halle. »Werft Fackeln«, sagte er zu Zehnter Sohn. »Wir müssen sie ausräuchern.« Doch obwohl die Wände der Zitadelle brannten, kaum dass sie mit dem Feuer in Berührung kamen, erloschen die Flammen auf dem Schieferdach der mit schweren Balken versehenen Halle. Einige Fackeln flogen durch ein paar zerbrochene Läden ins Innere, wurden von den Verteidigern jedoch rasch ausgetreten. Schon sammelten sich dunkle Wolken, beschworen von den Baumzauberern, um die Feuer zu löschen. Blitze zuckten über den Himmel, Donner grollte. Die ersten Regentropfen prasselten auf Starkhands nach oben gerecktes Gesicht. Krieger errichteten hastig eine Schutzwand aus Schilden, um die Männer am Rammbock vor Pfeilschüssen zu schützen. Er beteiligte sich ebenfalls eine Zeit lang an dieser Aufgabe. Die Schlä219 ge des Rammbocks gegen die verstärkte Tür bebten durch seine Arme. Der Aufprall übertönte selbst das Klirren der Waffen. Der Regen fiel jetzt in Strömen, verwandelte sich erst in Graupel und dann in hämmernden Hagel. Aber was für einen menschlichen Feind höchst unangenehm gewesen wäre, bedeutete seiner Art gar nichts. Seine Standarte schützte sie vor Magie, und ihre dicke Haut bewahrte sie vor fast allem anderen. Eisen vermochte sie zu verletzen. Ein genügend heißes Feuer würde sie irgendwann töten, und sie konnten ertrinken. Aber die FelsenKinder waren nicht auf die gleiche Weise schwach wie die Menschen. Die Stärke von Stein war ein Teil ihrer Natur, und ihre größte Schwäche hatte immer in ihrer Neigung bestanden, sich allein auf diese Stärke zu verlassen, statt auch Intelligenz und Schlauheit einzusetzen, die das Erbe jenes Teils von ihnen waren, der von ihren menschlichen Ahnen stammte. Die Tür zur großen Halle ächzte und verzog sich und zerbarst beim nächsten Schlag; das Holz zersplitterte und machte ihnen den Weg frei. Mit einem Aufschrei sprangen die Krieger in die Lücke. Viele starben oder wichen verletzt zurück, aber immer mehr drängten weiter, und ihre schiere Zahl und der allgegenwärtige Nebel aus Rauch verliehen ihnen einen Vorteil. Wurde der Kampf erst einmal in die große, rauchige Halle getragen, war alles nur noch eine Frage der Zeit. Er drängte sich, umringt von seiner Wache, durch die Tür. Die Halle war an den Turm angebaut worden; das eine Ende grenzte direkt an den unteren Teil der Westmauer. Stufen führten zu einer Empore, einem breiten Balkon, auf den die albischen Soldaten sich zurückgezogen hatten, um die einzige Tür zu schützen, die in den Turm der Königin führte. Der Kampf war lang und blutig, aber nachdem seine Soldaten erst einmal die Treppe kontrollierten, konnten sie sich langsam und durch ihre Schilde geschützt die Verteidiger einen nach dem anderen vornehmen. Er konnte geduldig sein. Er hatte Zeit. Die Nacht kam, und der Kampf ging im Licht von Fackeln weiter. Rauch wand sich in dunstigen Schwaden um die Balken, wie luftige Schlangen, die halb Gestalt angenommen hatten. Manch-
220 mal hörte er nichts als das Atmen der Soldaten, die sich ausruhten und darauf warteten, dass sich ein Schild senkte, eine Öffnung auftat, wenn sich ein Mann zu weit von einem anderen entfernte. Hin und wieder war von den albischen Kriegern eine geflüsterte Bemerkung zu hören, und es gab Bewegung in ihren Reihen, wenn ein Mann sich hineinzwängte, um den Platz eines Verletzten oder Erschöpften einzunehmen. Er bewunderte die Treue, Tapferkeit und Stärke derjenigen, die bis zum bitteren Ende durchhielten. Es war in der Tat eine Schande, dass alle diese Kämpfer sterben mussten. Gegen Mitternacht berichtete Zehnter Sohn, dass die übrigen Teile der Zitadelle gefallen und die Feuer gelöscht waren. Die FelsenKinder herrschten also jetzt über Hefenfelthe, bis auf den Turm. Hatten sie aber erst einmal die Königin und ihre Baumzauberer ergriffen und getötet, würde sich auch der Rest von Alba ergeben. Es war dumm, zu glauben, dass es so leicht sein würde. Kurz vor Anbruch der Dämmerung donnerte es so tief und schwer, dass er es in den Füßen spüren konnte. Als der Klang versiegte, nahm er ein seltsames Schwächer werden bei den albischen Soldaten wahr, als würden sie ihre Schilde senken und als gäbe es eine Flut unsichtbarer Bewegung im Turm. Seine Soldaten nutzten den Vorteil und stürmten die Tür, überwältigten die zwanzig Männer, die sie die ganze Nacht gehalten hatten. Starkhand folgte der Vorhut, die die Leiter erklomm. Der Turm besaß vier Stockwerke, jedes einzelne eine riesige Kammer, ausgestattet mit kostbaren Möbeln und Wandteppichen, wie sie für ein Königshaus angemessen waren. Niemand war hier, um sich ihnen noch zu widersetzen; die Zimmer waren leer und verlassen - bis sie zu den Zinnen kamen, dem höchsten Punkt des Turms, von wo sein Feind den letzten, verzweifelten Angriff geführt hatte. Hier wartete die Königin von Alba auf sie. Er hatte nicht erwartet, dass sie so jung sein würde. Sie war blond und hatte die blauen Augen, die bei den Menschen in nördlichen Landen üblich waren. Ihre Haut war hell und glatt und nicht mit der Sonne in Berührung gekommen, ihre Miene stolz und unbewegt. Sie trug ein 221 Gewand aus schimmerndem silbernem Stoff, mit Goldfäden durchwirkt, und einen siebenzackigen Silberreif auf der Stirn. Neben ihr kniete ein alter Mann mit einem Stab aus lebendem Holz, gekrönt von sieben schösslingsgrünen Zweigen. Er hielt den Kopf geneigt, als wäre er zum Sterben bereit. War es möglich, dass ihr nur ein einziger Zauberer zur Seite stand? Oder war sie selbst eine Zauberin? Fünf Kinder klammerten sich an ihr Gewand, vollkommen ruhig bis auf die Jüngste, die ein Schluchzen zu unterdrücken versuchte und daher in unregelmäßigen Abständen würgende Geräusche von sich gab, die ihn reizten. Jenseits der Zinnen erstreckte sich Hefenfelthe in unheimlicher Stille, während die Sonne den Fluss vom Nebel befreite und der Tag anbrach. Krähen kreisten über den Gebäuden und rauchenden Ruinen. Als die Königin ihn sah, nahm sie das jüngste Kind auf den Arm. Sie stand da und wartete angespannt mit gerötetem Gesicht und leuchtenden Augen. In diesem Augenblick begriff er, dass sie keine Magie besaß, um sich zu schützen. Selbst der alte Mann war zu schwach, um sie zu beschützen, auch wenn er eindeutig ein Baumzauberer war. Sie ging davon aus, dass sie und ihre Begleiter von ihren Feinden getötet werden würden. Er war reingelegt worden. Und dabei hätte gerade er, der den Sieg und die Niederlage bei Gent erlebt hatte, sich an die Gerissenheit der Menschen erinnern müssen. »Wo sind sie?«, fragte er, aber sie verstand die wendische Sprache nicht. Von unten erklangen Rufe, als Zehnter Sohn auf den Treppenstufen erschien. »Es führt ein Tunnel vom untersten Stockwerk weg.« »Die Königin und ihre Zauberer sind entkommen.« Wut packte ihn. Sie hatten ihn überlistet! Wieso hatte er es nicht kommen sehen? »Sie haben den Tunnel hinter sich zum Einsturz gebracht. Ich habe Sklaven befohlen, ihn freizulegen, und Patrouillen ausgeschickt, um das Gebiet außerhalb der Mauern zu erkunden.« 222 Aber es war bereits zu spät. Er wusste es, ebenso wie Zehnter Sohn. So wie das Mädchen und der alte Mann und die fünf kleinen Kinder, die zurückgelassen worden waren, um sich seinem Zorn zu stellen. Als Opfer. Die albischen Königinnen herrschten auf die alte Weise - sie boten ihren Göttern Blut als Gegenleistung für Macht. Hier herrschte der Kreisgott von Alains Volk nicht uneingeschränkt. Sogar die Götter bekriegten sich bei den Menschen, suchten nach Vorherrschaft. So sollte es denn also geschehen. Wenn diese sieben zurückgelassen worden waren, bedeutete das, dass sie für seine Feinde nicht wertvoll genug waren, um gegen Lösegeld oder etwas anderes eingetauscht werden zu können. Er hob sein Schwert, machte einen Schritt nach vorn seine Füße kommen so hart auf dem Boden auf, dass ihm die Luft wegbleibt. Er taumelt, schnappt nach Luft, um sie zu rufen, aber Adica ist verloren, in den Wirbelwind hineingerissen. Er streckt die Hände nach ihr aus, aber sie schließen sich um nichts als Erde. Gras kitzelt ihn im Gesicht. Er riecht Regen und hört ein gedämpftes Brüllen wie das eines Löwen, doch es ist nur der Wind, der sich in den Bäumen verfängt, oder vielleicht auch das Rauschen von unsichtbaren, verblassenden Schwingen.
Verschwunden. Die Hunde lecken ihm übers Gesicht, versuchen, ihn jaulend und winselnd dazu zu bringen, aufzustehen. Er hebt den Kopf. Riesige Schemen umgeben ihn. Er ist mitten in einen urtümlichen Kreis von aufrecht stehenden Steinen gefallen. Jenseits des Kreises markieren vier Hügelgräber die Grenze, überwuchert von Gras und vereinzelten Blumen. Sein Herz klopft schneller vor Freude. Aber dies ist nicht der Ort, den er gekannt und lieben gelernt hat. Der Wald um ihn herum verhindert jeden Blick auf das Land, das jenseits der Lichtung liegt. Der Hügel, die Gräber der Königinnen, der sich windende Fluss und das Dorf sind nicht mehr da. Der 223 Frieden, den er dort gefunden hat, bleibt ihm verwehrt. Adicas Liebe, die sie ihm aus freien Stücken gewährt hat, ist ihm entrissen. Sie ist tot. Er hat es von Anfang an gewusst, als er unwissend in ihr Land geraten war, aber vielleicht hat er es nie glauben wollen. Vielleicht hat er gedacht, dass er tatsächlich gestorben war. Schließlich hätte er eigentlich tot sein müssen. Nach der Schlacht mit den Löwen auf diesem alten Grabhügel war er dem Tod so nahe gewesen, dass ein Teil von ihm beschlossen hatte zu glauben, dass er gar nicht mehr lebte, sondern auf die Andere Seite hinübergegangen war, zum Feld des Paradieses, das an die Kammer des Lichts grenzt, wo seine Seele schließlich in Frieden ruhen konnte. Oh, Gott. Der Frieden verhöhnt ihn, denn was er in dieser Nacht gesehen und erfahren hat, ist deutlich schrecklicher als seine schlimmsten Befürchtungen. Wieso hatten die Geweihten das getan? Hatten sie gewusst, was sie da gewirkt hatten? War die Errettung einiger weniger eine solche Zerstörung wert gewesen? Sein Hund Kummer schiebt den Kopf unter Alains Bauch und stupst ihn an. Rage zupft an seiner Hand. Er kämpft sich auf die Füße, aber er weiß nicht mehr, wo er ist oder was ihn erwartet. Die Hunde treiben ihn zum Waldrand, wo sich ein Pf ad zwischen den Bäumen hindurchschlängelt. Zweige peitschen ihm ins Gesicht, während er den Pfad entlanggeht. Schließlich wird der Weg breiter, und der Boden ist von einem Teppich aus Fichtennadeln übersät. Er geht einfach drauflos. Er darf nicht denken. Er darf sich nicht erinnern. Wenn er einfach nur weitergeht, kann er vielleicht vergessen, dass er noch am Leben ist. Aber vielleicht ist es unmöglich, einfach nur weiterzugehen, einfach nur zu existieren. Das Schicksal handelt, und das Herz und die Seele antworten. Der Pfad führt auf einen Kamm; ein Stamm liegt auf dem Boden wie eine Bank. Hier macht er eine Pause und schöpft Atem. Die Hunde lecken ihm die Hände, während er den Anblick in sich aufnimmt. Ein Flusstal breitet sich unter ihm aus, eine Hand voll Dörfer 224 ziehen sich wie Trauben am Fluss entlang. Noch näher liegen die aus Mörtel und Holz bestehenden Gebäude eines Klosters und des dazugehörenden Gutes. Mit dem kräftigen Wind, der ihm ins Gesicht bläst, dringt ein Hornruf zu ihm herauf, lässt ihm Tränen in die Augen treten. Ein Gefolge taucht aus dem Wald auf, folgt dem Band einer Straße. Er zählt ein Dutzend Menschen: vier Berittene und sechs, die neben zwei von Ochsen gezogenen Wagen hergehen. Leuchtende Banner flattern in der Brise. Er muss etwas sagen, er muss sie warnen. Er läuft den Pfad hinunter. Immer wieder muss er Halt machen und sich ausruhen, aber sein Gram und seine Panik treiben ihn weiter. Wieder und wieder steht er auf, das Herz rast, der Atem geht mühsam; er rennt den Pfad entlang, bis er ebenerdig verläuft, den Wald verlässt und zu einem schönen Gut führt. Felder erstrecken sich in Reihen nebeneinander, und die Parzellen einer Obstwiese sind von säuberlich geschnittenen Hecken eingezäunt. Die Gebäude liegen ein Stück zurück hinter ein paar Zypressen. Bienen summen um seinen Kopf, und eine lässt sich an seinem Ohr nieder, als würde sie dort Nektar suchen. Gänse schreien über ihm, fliegen nach Süden. Drei Männer in den Gewändern von Laienbrüdern arbeiten auf einem der Felder, bereiten den Boden für den Winterweizen vor. Einer führt einen Ochsen, ein anderer hält den Pflug. Es ist der Dritte, der Alain aus dem Wald stolpern sieht. Er läuft mit der Hacke in der Hand auf ihn zu, als hätte er vergessen, sie wegzulegen, aber vielleicht möchte er sie auch als Waffe benutzen. Der Laienbruder hebt eine Hand zum Zeichen des Friedens und bleibt in sicherem Abstand zu Alain stehen. »Willkommen, Bruder. Ihr seht aus, als wärt Ihr in großer Not. Können wir Euch irgendwie helfen?« Seine Kameraden haben ihre Arbeit unterbrochen; einer läuft bereits auf die Obstwiese zu, auf der noch mehr Menschen arbeiten. Alain spürt die sanfte Berührung der Biene an seinem Ohrläppchen, spürt das Kitzeln ihrer Fühler auf seiner Haut. Ihre Flügel schlagen, summen gegen sein Ohr, aber sie fliegt nicht weg. »Könnt Ihr sprechen, Bruder?«, fragt der Mann sanft, während 225 hinter ihm einige Männer von der Obstwiese auftauchen und zu ihnen laufen. »Habt keine Angst. Hier wird Euch nichts geschehen.«
Die Biene sticht. Das heiße Gift strömt tief in ihn hinein, mitten ins Herz der Erinnerung. Weinend sinkt er auf die Knie, als Bilder ihn überfluten, ihn auslöschen: In einem kurzen Augenblick zerriss Magie die Welt. Erdbeben erschütterten das Land, aber was auf der Oberfläche zu sehen war, war nichts, verglichen mit der Zerstörung, die im Innern der Erde tobte. Höhlen stürzten ein und wurden verschüttet. Tunnel wurden zusammen geschoben wie Blasebälge. Die atemberaubenden Städte des Koboldvolkes, dem Anblick der Menschen verborgen und daher unbekannt und unbeachtet, verschwanden in so riesigen Spalten, dass sich das Land darüber unwiderruflich veränderte. Meerwasser drang in Spalten, die sich im Boden auftaten, tiefer und tiefer und tiefer, traf auf geschmolzenes Feuer und verströmte zischenden und spuckenden Dampf in jede kleine Ritze, bis die Rückströmung den Dampf und das zischende Wasser zurück ins Meer spülte. Flüsse flössen rückwärts. Die Häfen der südlichen Stämme wurden von den anschwellenden Fluten verschluckt, oder sie blieben hoch oberhalb des Wasserspiegels und trocken zurück, als das Wasser abgesogen wurde, und waren plötzlich durch lange Sandflächen, die einst die Untiefen markiert hatten, weit entfernt vom Meer. Deltas trockneten aus. Berge spien Feuer, und flüssiger roter Stein glitt die Hänge hinunter, verbrannte alles, was ihm im Weg stand. Im Norden stürzte ein Drache auf die Erde und erstarrte binnen eines Lidschlags zu einem Steinkamm. Das Land, das die Verfluchten zu ihrer Heimat erkoren hatten, wurde mitsamt den Wurzeln ausgerissen, wie ein Baum, der von der Hand eines Riesen aus dem Boden gezogen wurde. Er konnte nicht sehen, wohin die Hand dieses Land warf. Nur, dass Adica tot war. Flügel aus Flammen umhüllten ihn, blendeten ihn. »Ich wollte sie nicht verlassen, aber ich konnte nichts sehen.« Er 226 hat die ganze Zeit gesprochen, in einem Schwall, so gewaltig wie die Flut. »Das Licht hat mich geblendet.« »Still, Freund.« Stimmen erklingen überall um ihn herum, ein Chor ganz in der Nähe und doch in weiter Ferne, denn sein Kummer hat sie nicht dazu bewegt, sich innerlich an seine Seite zu stellen. »Das sind sehr große Hunde«, murmelt einer. »Ungeheuer«, pflichtet ein anderer ihm bei. »Ob sie beißen?« »Da kommt Bruder Hospitalus.« Ein beleibter Mann drängt sich durch die Menge und nähert sich mutig, wenn auch vorsichtig. Rage und Kummer hocken sich hin. »Kommt, mein junge«, sagt er und kniet sich neben Alain. »Ihr seid hier in Sicherheit. Wie heißt Ihr? Woher kommt Ihr?« »Oh, Gott. So viele Tote. Bitte, Gott - keine weiteren Toten mehr. Kein Töten mehr.« »Was habt Ihr gesehen, Sohn?«, fragt der Mönch freundlich. So viel Leiden. Es sprudelt in einem Strom ungebetener Worte aus ihm heraus. Hat er erst einmal begonnen, muss er bis zum Ende weitermachen, so wie die Beschwörung sich bis zur Vollendung zusammen gewoben hatte, unaufhaltsam, nachdem sie auf dem Webstuhl in Gang gesetzt worden war. Die Höhlen, in denen Horns Volk sich verkrochen hat, werden von dampfendem Wasser überflutet, und so sitzen die Toten und die Sterbenden im finsteren Dunkel in der Falle. Ein Sturm aus Erde und Geröll begräbt Shu-Shas Palast. Shevros fällt unter eine gewaltige Lawine, als er die Hälfte vom Schreienden Fels erklommen hat. Wellen löschen eine Reihe von friedlichen Dörfern an den Ufern von Fallenders Insel aus. Kinder schreien hilflos nach ihren Eltern, während sie im wirbelnden Wasser um sich schlagen. Das Blut und die Eingeweide verwundeter Drachen regnen auf die Menschen herab, die verzweifelt und vergeblich Schutz bei den sieben Steinen suchen, und Fleisch brennt sich in den Fels. Ein Sandsturm begräbt die Oase, in der die Wüstenleute gelagert haben, und die Bäume werden von dem gewaltigen Wind einfach 227 umgeknickt. Die Löwenfrauen rasen vor der Sturmwelle davon, aber am Ende werden auch sie unter einem Berg aus Sand begraben. Sturmböen zerstören die Zelte des Pferdevolkes, so starke Winde, dass alles, was nicht sofort umstürzt, gen Himmel gerissen wird und schließlich hart auf den Boden zurückfällt. Sämtliche Bäume im Umkreis von vielen Wegstunden um Königinnengruft gehen in Flammen auf, und jene vom Weißhirsch-Stamm, die bisher von Pfeilen und Krieg verschont geblieben waren, sterben jetzt. Oh, Gott, wo sind Maklos und Agalleos? Hani und Dorren? Wo ist Kel? Sie sind alle tot. Ist dies das Mittel, durch das die Zauberer Frieden bringen wollten? War ihnen klar, was sie da taten? Kann es möglich sein, dass sie gewusst haben, was geschehen würde? »Adica kann es nicht gewusst haben. Wenn sie es gewusst hätte, hätte sie sich niemals für so viel Zerstörung hergegeben.« Er muss glauben, dass es so ist. Aber er wird sich immer fragen, ob sie es gewusst hat, und wenn dem so war, ob sie in dem Wissen um den Preis
trotzdem mit den anderen zusammengearbeitet hat. Haben sie die Verfluchten wirklich so sehr gehasst? »Es war alles umsonst. Sie sind immer noch hier. Ich habe sie gesehen.« Geisterhafte Gestalten, mehr Schatten als Wirklichkeit, wandeln in den Zwischenräumen zwischen der Erde und der Anderen Seite, für immer gefangen im Niemandsland, weder das eine noch das andere, jene Verfluchten, die nicht in ihrem Heimatland waren, als es von der Erde weggerissen wurde, wurden dennoch mit ihm weggezerrt; jetzt existieren sie nicht ganz auf der Erde und sind doch nicht getrennt von ihr, so wie alles, das von der Erde kommt, an die Erde gebunden ist. Aber ist es denn nicht so, dass jetzt kein reinrassiger Verfluchter mehr auf dem gleichen Boden wandelt wie die Menschen? Haben die Menschenzauberer nicht bekommen, was sie wollten? Ist die Erde nicht frei von den Verfluchten? »Wir werden niemals Frieden finden«, schreit er und wendet 228 sich an die Männer, die sich um ihn herum scharen. Er muss es ihnen begreiflich machen. »Was an die Erde gebunden ist, wird zur Erde zurückkehren. Das Leiden ist nicht vorüber. Die Umwälzung wird erneut stattfinden, wenn das, was auseinander gerissen wurde, wieder an seinen ursprünglichen Platz zurückkehrt.« »Der Herrin sei Dank, Vater«, sagt Bruder Hospitalus, als die versammelten Brüder jemanden hindurchlassen. »Ihr seid gekommen.« Der Abt ist ein junger Mann, kräftig und gut aussehend, der Sohn eines Hauses von Rang. Er hat einen sarkastischen Blick, und ein Funken Humor flackert in seiner Miene, aber er ist rasch ernüchtert, als er Alain und die ruhigen, aber bedrohlichen Hunde mustert. Der beleibte Bruder Hospitalus hält Alains Handgelenk mit sanftem Druck, nicht schroff, aber doch bereit, ihn festzuhalten, sollte er davonlaufen wollen. »Er ist ein Wanderer, Vater Ortulfus«, sagt Bruder Hospitalus. Seine Finger betasten Alains Haut. Wie die Biene scheint er ihn testen zu wollen, aber er hat noch nicht gestochen. »Noch einer?« Der Abt hat leuchtend blaue Augen, helle Haare und die Hautfarbe des Nordens. Adicas Volk war dunkler, untersetzter und schwarzhaarig. »Ich habe noch nie so viele Wanderer auf der Straße gesehen wie in diesem Sommer. Ist er ein Ketzer?« »Bisher hatten wir noch nicht den Eindruck, Vater«, sagt einer der Mönche unruhig. »Er redet wirres Zeug über das Ende der Zeit. Er ist nicht richtig im Kopf.« »Still, Adso«, tadelt Bruder Hospitalus, bevor er sich an den Abt wendet. »Er ist nicht gewalttätig, nur gequält.« Er wendet sich Alain voller Mitgefühl zu. »Kommt, mein Sohn. Ihr werdet nicht weglaufen, nicht wahr? Habt keine Angst; hier bei uns werdet Ihr keinen Schaden erleiden. Wir haben ein Bett, in dem Ihr schlafen könnt, und Haferbrei und Arbeit, um Eure Hände beschäftigt zu halten. Das wird Euren Geist von diesen Fantasien befreien. Hier werdet Ihr Heilung finden.« Das heiße Gift dringt tief. Die Worte sind schlimmer, als jeder Bienenstich es sein könnte. Niemand wird ihm glauben. 229 Und Adica ist tot. Niemand wird mit ihm um sie trauern, denn das können sie nicht. Sie wissen nicht, dass sie gelebt hat, und sie können es auch nicht glauben. Er ist als Fremder nach Hause gekommen, hat alles verloren, was ihm etwas bedeutet hat. Am Ende hat er nicht einmal sein Versprechen gehalten, mit ihr zu sterben. Welchen Sinn hat es noch zu leben? Starkhands Fuß kam auf dem Boden auf, riss ihn in die Wirklichkeit zurück. Einen Schritt hatte er gemacht, nur einen einzigen Schritt. Der Himmel hellte sich auf, und das silberne Band des Flusses glitzerte, als das Sonnenlicht den Nebel vom Wasser vertrieb und seine Augen blendete. Ein Strom von Bildern überflutete ihn. Sämtliche Farben von Alains Sein hatten ihn in dieser Vision überschwemmt, ihn beinahe ertränkt. Die Freude war wie eine gewaltige Flut. Doch die Freude hatte mit einer schrecklichen Stimme gesprochen. So viele Tote. Bitte, Gott - keine weiteren Toten mehr. Kein Töten mehr. »Kein Töten mehr.« Er hörte seine eigene Stimme und schüttelte die Trance von sich ab. Das Mädchen drehte sich um, wollte das jüngste Kind über die Zinnen werfen. Er machte einen Satz nach vorn und riss ihr das Kind aus den Händen, stieß den knienden Zauberer beiseite. Das Mädchen kletterte auf die Zinnen, um selbst in die Tiefe zu springen. »Haltet sie auf!« Sofort wurden sämtliche Menschen in Gewahrsam genommen. Das Kind, das er festhielt, wand sich in seinem Griff und begann, vor Furcht zu schluchzen. »Still!« Sie hörte auf zu weinen. »Kein Töten mehr.« Seine Stimme kam ihm unvertraut vor, und doch klang sie nicht anders als sonst. War es Weisheit, die ihn sprechen ließ? Was auch geschehen mochte, er war gezeichnet durch die starken Bande zwischen ihm und Alam, gebunden durch ein Weben, das selbst die WeisMütter nicht verstanden. Wo war Alain gewesen? Er war mehr als drei Jahre lang aus 230 Starkhands Träumen und offensichtlich auch von der Erde verschwunden gewesen. Was hatte die Vision der Zerstörung zu bedeuten, die ein Ausmaß angenommen hatte, dass sie sogar die bedächtigen Überlegungen der
WeisMütter hemmte? In all den Jahren, als Alain verschwunden gewesen war, in den Monaten zwischen der Schlacht beim RjalmarsFjord und diesem Tag, hatte er sich so verhalten, so gedacht und geplant wie immer. Aber es hatte etwas gefehlt. Es war, als wäre die Welt grau geworden, als sähe er erst jetzt wieder ihre Farben. Denn die Welt war wahrhaftig ein wunderschöner Ort, zermürbt durch Leiden, gefärbt vom Licht, niemals in Ruhe. Er würde nie frei von dieser Verbindung sein. Und das wollte er auch gar nicht. Bevor Alain ihn bei Lavas aus dem Käfig befreit hatte, war er so wie seine Brüder gewesen - ein Sklave jener allumfassenden Lust, zu töten, Krieg zu führen und zu plündern, von der sein Volk gefangen gehalten wurde. Er war nicht besser gewesen als die anderen, noch dazu im Nachteil, weil er von kleinerer Statur war als sie. War es Alains Einfluss in seinen Träumen gewesen, der einen wesentlichen, sich durch seine Natur schlängelnden Faden verändert hatte? Die Soldaten um ihn herum murmelten unruhig, noch immer voller Kampfeslust. Sie hatten Hefenfelthe eingenommen, aber sie hatten keinen richtigen Sieg errungen. »Wieso sollten wir diese Geiseln töten?«, fragte er und sah sie der Reihe nach an. Sie würden die Nachricht zu seinem Heer tragen, ein Bruder zum anderen, und so würde sich die Botschaft von Starkhands Weisheit verbreiten. »Die Königin von Alba und ihre Zauberer erlangen Macht durch das Opfern des Blutes ihrer Untertanen. Sie haben diese hier als Opfer zurückgelassen, in dem Wissen, dass wir sie aus Zorn töten würden, wenn wir begreifen, dass wir um unsere Beute betrogen worden sind. Wenn wir sie also töten, werden wir genau das tun, was sie wollen, und ihre Magie stärken. Deshalb werden wir sie nicht töten. Sie werden unsere Gefangenen werden. Die Macht der Königin und ihrer Zauberer wird zum Sklaven unserer Macht werden.« 231 Das Mädchen begann zu weinen, als sie begriff, dass sie ihrer Königin nicht so dienen würde, wie es ihr befohlen worden war. Einer von seinen Rikin-Brüdern trat mit seiner Standarte aus dem Turm. Starkhand schob das Schwert zurück in die Scheide und ging mit dem Kind auf dem Arm zu den Zinnen. Er hob die Standarte hoch, sodass seine Krieger unten ihn sehen konnten. Lautes Gebrüll brach in ihren Reihen aus, hallte durch die eroberte Stadt. Die Magie, die in dem Stab lebte, summte in seiner Handfläche. Die Brise brachte den Zauber, der von der Standarte hing, zum Singen, und die Knochenflöten pfiffen, die Perlen und Ketten bimmelten leise, und ihr Klang verschmolz mit dem Klappern und Scharren von Holz, Leder und Knochen. Wieder einmal hatte die Magie, die von den Priestern seines Volkes gewirkt worden war, ihn vor der Magie seiner Feinde geschützt. Draußen auf den Feldern jenseits der Mauern flohen die letzten Flüchtlinge, die während des Kampfes um die Zitadelle aus ihren Häusern gekrochen waren, in den Schutz der fernen Bäume. Die Felder und der Wald von Alba erstreckten sich in alle Richtungen, durchschnitten von dem breiten Strom und einem nahe gelegenen Nebenfluss. Es war ein fruchtbares Land. Aber noch war es nicht sein Land. »Wir suchen die Königin und ihre Zauberer.« »Wo können wir sie finden?«, fragte Zehnter Sohn. Starkhand sah das weinende Mädchen mit dem Silberreif und den sieben Zacken an. Sechs Opfer warteten bei ihr, alles zusammen sieben Seelen. Es konnte kein Zufall sein, dass Alain ihm nach so langer Zeit inmitten eines Steinkreises erschienen war, der dem Kreis ähnelte, den die WeisMütter auf dem Fjell bei Rikin-Fjord errichtet hatten. »Sie werden sich an einen Ort der Macht zurückziehen. Benachrichtigt die vorderen Gruppen und die Kundschafter. Alle Gefangenen werden nach Festungen und Sümpfen befragt, in denen sich eine kleine Gruppe verteidigen könnte. Aber wir sollten auch nach einem Steinkreis suchen, vielleicht einem mit sieben Steinen. Ich glaube, dort werden wir die Königin finden.« VIII Ratten und Löwen
1 Sonnenlicht strömte über die Dielen des Dachzimmers, beleuchtete nicht nur den drei Monate alten Staub auf dem Boden und den leeren Pritschen, sondern auch Hannas Fußstapfen, die sich von der Falltür geradewegs zum Fenster zogen. Es war so heiß hier oben, dass sie kaum atmen konnte. Sie stolperte gegen einen der Fensterläden, der aus den Angeln gerissen und auf den Boden gelegt worden war, stieß ihn mit dem Fuß beiseite. Dann lehnte sie sich aus dem Fenster und schnappte nach Luft. Im späten Frühling war der König mit Königin Adelheid nach Süden geritten, um gegen die jinnischen Piraten zu kämpfen, die den südöstlichen Provinzen zusetzten. Hanna war im Hochsommer nach einer zermürbenden Reise über die Berge angekommen, aber die Palastverwalter hatten ihr nicht gestattet, Henrys Heer zu folgen. Sie konnte nicht davon ausgehen, so hatte man ihr gesagt, dass ihr Umhang und das Adlerabzeichen ihr in jenen
Teilen des Landes, die dem König gegenüber nicht loyal waren, eine sichere Durchreise gewährten. Sie musste warten. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und kauerte sich in den Schatten, entschied jedoch schon bald, dass brennende Sonnenstrahlen in der frischen Luft immer noch besser waren als die 233 erstickende Hitze der Schlafquartiere. Sie rückte den mit einer Krempe versehenen Hut so zurecht, dass er den größten Teil des direkten Lichts abhielt, und lehnte sich erneut aus dem Fenster. Ein Gemisch von Gerüchen stieg von den umliegenden Gebäuden auf: Dünger, Pisse, Schmutzwasser, gebratenes Schweinefleisch und dazu ein Hauch von Weihrauch, der inmitten der Gerüche menschlichen Lebens fast unterging. Von hier oben konnte sie über mehrere Dächer hinweg die Spitze der königlichen Kapelle sehen, jenseits davon die Außenmauern und die flimmernde Luft, die über der unteren Stadt mit den gewaltigen Steingebäuden hing. Der Fluss schnitt wie ein Band aus geschmolzenem Eisen durch die Straßen, begleitet von einem Dunstschleier aus Hitze, Staub und Kochfeuern. Darre kam ihr unglaublich groß vor, ein einziges Gewirr aus Gassen und prächtigen Straßen mit so vielen Häusern, dass sie unmöglich zu zählen waren. Hinter der äußersten Mauer befanden sich Felder und Weinberge, noch weiter in der Ferne Berge und ein dunkles Band, das die Straße zum Meer kennzeichnete. Wolkenfetzen hingen über diesen versengten Höhen, kündeten davon, dass es später in der Stadt Erleichterung von der Hitze geben würde. Stieg da etwa Rauch von der höchsten Stelle auf? Hatte jemand in dieser Höhe ein Feuer errichtet? Sie konnte es nicht genau erkennen, und es kam ihr seltsam vor, dass jemand so etwas tun sollte. Hanna hatte so viele Ecken, Senkgruben, Aborte, Balkone, schattige Lauben und Lagerräume aufgesucht, wie es ihr im Palast gestattet worden war. Sie hatte sogar das Gefängnis unten in der Stadt besucht und den Turm, in dem andere aostanische Herrscher ihre Feinde untergebracht hatten, auch wenn Adelheid dort jetzt keine Geiseln hielt. Sämtliche Turmzimmer waren leer, bar jeglicher Möbel und voller Staub. Sie hatte sich nach Markgraf Villam erkundigt. Einem tragischen Sturz zum Opfer gefallen, als er betrunken gewesen war. Sie hatte nach Herzogin Liutgard von Fesse gefragt und nach Herzog Burchard von Avaria. 234 Mit dem König gen Süden geritten. Sie hatte nach Schwester Rosvita gefragt, der Beraterin des Königs. Weder tot noch fort. Wie konnte jemand weder tot noch fort sein? Wie war es möglich, dass die Verwalter des Palastes und die Legionen von Bediensteten keinerlei Gerüchte über ihr Schicksal gehört hatten? Rosvita war hier gewesen, als König Henry angekommen war; jetzt war sie es nicht mehr. Hanna hatte nichts über die Übergangszeit zwischen Ankunft und Aufbruch in Erfahrung bringen können. Sie stellte fest, dass ihre Gedanken immer und immer wieder zu Hathuis Vorwürfen zurückkehrten. Entweder hatte Hathui gelogen, oder die aostanischen Verwalter logen jetzt. Sie beugte sich weiter aus dem Fenster, ganz benommen von der Höhe, aber selbst von dieser Stelle aus konnte sie nur eine Ecke vom Palast der Skopos sehen. Sie hatte gehofft, dort Antworten zu finden, doch die Wachen hatten sie nicht eingelassen. Mit einem Seufzer kauerte sie sich wieder in den Schatten, versuchte mit einiger Mühe, die überhitzte Luft zu atmen. Schritte erklangen auf der Leiter. Sie wirbelte herum und zog ihr Messer. Der Stiel eines Besens wurde durch die offene Luke geschoben, gefolgt vom Rest, der hochgestoßen und seitwärts auf den Boden geworfen wurde. Eine Frau tauchte auf, packte den Besen, richtete sich auf und fuhr zusammen, als sie Hanna sah. »Oh, Herr im Himmel!«, rief sie aus. »Habt Ihr mich erschreckt!« Sie trug die Tunika einer Bediensteten, darüber einen staubigen Überwurf und ein schlichtes Kopftuch aus Leinen. Sie war nicht so jung wie Hanna, aber auch noch nicht alt. »Ich bitte um Vergebung. Ich wusste nicht, dass hier oben jemand ist.« »Ich auch nicht.« Die Dienerin kicherte kameradschaftlich, wenn auch ein bisschen gezwungen. »Nun, ich nehme an, das bedeutet, dass niemand von uns Augen im Rücken hat oder um Ecken und durch Wände sehen kann.« Hanna schob das Messer zurück, als die Frau zum anderen Ende des langen Zimmers ging. Dort bückte sie sich unter dem steilen 235 Dach und begann zu fegen. Staub stieg in Wolken um sie herum auf, und sie hielt inne, band sich den Überwurf über Mund und Nase. »Es ist immer besonders schlimm, wenn man zum ersten Mal seit langer Zeit irgendwo sauber macht«, sagte sie fröhlich, während Hanna überrascht zusah. »Es kommt mir viel zu heiß vor, um ausgerechnet jetzt diese Schlafsäle zu putzen.« Den ganzen Sommer über war die Hitze wie ein Rammbock gewesen. Sie hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt. »Nur zu wahr. Aber das Wetter kann plötzlich abkühlen, jetzt, wo der Sommer in den Herbst übergeht. Wenn man das Herbst nennen kann. Wir müssen daran denken, diese Räume wieder zu bewohnen. Letztes Jahr war es unglaublich heiß, noch heißer als dieses Jahr, und dann gab es auch noch unerwartet viel Regen und einen
schrecklichen Hagel.« »Wie ich gehört habe, ist der König letztes Jahr sehr krank gewesen.« Die Dienerin sah sie an, aber bis auf die Augen war ihr Gesicht nicht zu erkennen. Ihr Blick hatte etwas seltsam Forschendes, eine merkwürdige Eindringlichkeit. Aber als die Stille sich unangenehm ausbreitete, fegte sie weiter. »Letzten Sommer, ja, da hatte er hohes Fieber. Zwei Monate hat er das Bett nicht verlassen, und die Heere haben den ganzen Sommer und Herbst ohne ihn gekämpft. Es gab keine Siege und keine Niederlagen. Das haben sie gesagt.« Wieder dieser durchdringende Blick. »Das heißt natürlich, wenn das stimmt, was sie sagen. Aber wie können wir einfachen Diener wissen, was wahr ist und was nicht?« »Adler können es.« »Aber wo sind die Adler? Mit dem König weggegangen, bis auf den Rotschopf, der zu krank war.« »Rufus?« »Ja, genau«, fuhr die Dienerin freundlich fort. Ihre Stimme klang gedämpft von dem Stoff. »Er ist letztes Jahr auf Befehl von Bischof in Constanze nach Süden gekommen, nicht wahr?« 236 »Das hat er mir zumindest gesagt.« Mit einer Nachricht wie die, die Theophanu geschickt hatte, aber der König hatte ihr keine Beachtung geschenkt. »Ja, der arme Junge. Er war so krank, dass selbst die Palastheiler dachten, er würde am Fieber sterben. Deshalb musste er in diesem Frühling zurückbleiben, als der König nach Süden geritten ist.« »Aber alle anderen Adler sind mit dem König nach Süden geritten, nicht wahr? Wieso hat niemand von ihnen einen Bericht nach Darre geschickt ? Wieso sehen wir immer nur aostanische Boten?« »Woher soll ich wissen, was der König denkt ? Ich kann nur dem Herrn und der Herrin danken, dass sein Heer sowohl über die Ungläubigen als auch über die Ketzer gesiegt hat. Und über ein paar aostanische Edelleute, denen es lieber wäre, wenn gar kein Herrscher über ihnen steht. Das habe ich jedenfalls gehört.« Was sie sagte, passte zu dem, was Hanna von Rufus erfahren hatte. »Und ich habe gehört, dass der König und die Königin noch vor Jahresende die kaiserliche Krone erhalten werden.« »Das sagt man schon, seit ich hier bin. Die ganzen zweieinhalb Jahre. Vielleicht wird das eines Tages auch endlich geschehen.« Während das gleichmäßige Geräusch, das der Besen beim Fegen auf dem Holz verursachte, wie eine Begleitmusik ihrer Gedanken war, begriff Hanna plötzlich, was an dieser geschäftigen Frau seltsam war. »Ihr stammt aus Wendar.« »Ja, das stimmt. Ich heiße Aurea und komme vom Landgut Landelbach in Fesse. Und Ihr seid dieser neue Adler, der vor ein paar Monaten hergekommen ist, nicht wahr?« »Ja. Mein Name ist Hanna Birtas-Tochter. Ich komme von einem Ort namens Friedleben in der Nordmark.« Ein leises Poltern erschütterte den Boden, und das gesamte Gebäude schwankte. Hanna schrie auf. »Was war das?« Das Poltern verklang, das Gebäude war wieder ruhig, und Aurea fegte weiter. »Habt Ihr noch nie ein Erdbeben erlebt? Wir haben hier alle paar Monate eins.« »Nein, ich kenne kein Erdbeben. Und das Wetter bei uns ist nicht annähernd so heiß wie das, was ich heute aushalten muss.« Sie zitterte noch immer. 237 »Nur zu wahr. Hier ist es wochenlang heiß, nicht nur so ein kleines Weilchen wie im Norden, wo ich herkomme. Es ist nicht natürlich.« Hanna atmete tief ein, noch immer bemüht, sich zu beruhigen. »Ein alter Freund von mir würde sagen, dass Aosta näher an der Sonne liegt und es hier deshalb heißer ist.« »Ja? Das klingt komisch. Näher an der Sonne!« Aurea summte vor sich hin. »Aber es ist nicht komischer als viele andere Geschichten, die ich hier in Darre gehört habe. Schwester Heriburg sagt, dass es im Osten Schlangen gibt, die direkt von den Kühen Milch saugen. Im Süden können keine Pflanzen wachsen, weil die Sonne zu heiß scheint, und die Leute dort haben riesengroße Ohren, die sie tagsüber wie Zelte benutzen, um sich vor der Sonne zu schützen. Sogar hier gibt es Geschichten über fromme Geistliche, die vor den Blicken der Leute versteckt wie Ratten im Kerker der Skopos hausen. Aber ich nehme an, diese Geschichten sind genauso wahr wie die von meiner Großmutter. Sie hat gesagt, dass sich im Norden am Meer ein Drache in Stein verwandelt hätte. Und da liegt er immer noch, sagt man, aber nichts kann ihn wieder zum Leben erwecken.« Sie hielt den Blick auf die Holzdielen gerichtet, wo der Staub sich in den Ritzen sammelte. Hanna glaubte, an der jetzt staubgeschwängerten Luft zu ersticken, aber sie wagte nicht, sich zu rühren. Sie musste nachdenken. Wie seltsam, Geistliche zu erwähnen, die in Kerkern eingesperrt waren. Vielleicht war es nur eine Redewendung, eine alte Geschichte, die sich die Palastbediensteten zum Zeitvertreib erzählten. Aber vielleicht auch nicht. »Ich habe Geschichten über Männer gehört, die sich in Wölfe verwandeln können«, sagte sie schließlich vorsichtig. »Aber nie über irgendwelche Geistlichen, die sich in Ratten verwandeln. Die Geschichte über den Drachen, der sich in Stein verwandelt hat, kenne ich auch. Wenn ein großer Sturm am Nordmeer aufkommt,
kann man das Wehklagen der Drachen hören. Das hat meine Großmutter immer gesagt.« »Es gibt viele Geschichten über Drachen«, stimmte die Diene238 rin ihr zu, ohne aufzusehen. »Aber ich habe noch nie eine Geschichte über jemanden gehört, der so ein Tier gesehen hat. Ratten, na ja. Ratten habe ich schon viele gesehen.« »In einem Palast wie diesem muss es ein ganzes Heer von Ratten geben.« »Und die größten von ihnen sind unten im Kerker. Ich bin sicher, dass sie irgendwie zwischen den Steinmauern festsitzen. Es gibt nur die eine Treppe, und die wird von den treuen Wachen der Heiligen Mutter bewacht. Sie sind sehr scharfsichtig, diese Burschen. Alle sagen das. Sie spießen jede Ratte mit ihrem Messer auf, wenn sich eine die Stufen hoch wagen sollte. Ich kenne eine Frau, die sagt, es passiert jedes Jahr, und dann braten sie die Ratten, die sie gefangen haben, und werfen die verbrannten Kadaver den Hunden zum Fraß vor.« Sie sah auf, und ihr Blick war wie ein scharfes Pochen in Hannas Kopf. »Man brauchte schon eine ganze Menge Ratten, um den Bauch eines Hundes zu füllen«, sagte Hanna, die immer noch im Dunkeln tappte. »Nicht, wenn sie so groß sind wie ein Hund, oder sogar noch größer, wie ein Mensch oder sogar ein Pferd, was manche behaupten. Ein Pferd!« Die Dienerin kicherte. »Ich glaube nicht an solche dummen Geschichten. Eine Ratte kann niemals die Größe eines Pferdes haben, und wo sollte sie sich auch verstecken? Aber ich kann mir vorstellen, dass sie ziemlich groß werden, sich von Abfall und den Fingern von Gefangenen ernähren und von ihren Zehen.« Dieser scharfe Blick machte Hanna vorsichtig. Verfolgte Aurea eine verborgene Absicht mit ihrem Gerede, oder wollte sie sich einfach nur die Zeit vertreiben ? »Ich erinnere mich an Geschichten, die meine Großmutter mir erzählt hat.« Hanna ging durch das Zimmer, bis sie die Falltür erreichte. Sie blinzelte hinunter, konnte aber keine lauernden Schatten erkennen, keine lauschende Komplizin. »Ich tausche gern alte Geschichten über Drachen, Ratten und Wölfe aus. Ich habe auch ein paar auf Lager.« »Das kann ich mir vorstellen. Schließlich seid Ihr ein Adler«, 239 stimmte die Frau ihr zu. Sie fegte hinter Hanna vor dem Fenster, ließ winzige Häufchen Staub und Dreck zurück. »Adler sehen alle möglichen Dinge, die wir Übrigen nicht sehen können, nicht wahr? Schließlich reisen sie im Auftrag des Königs in seltsame und ferne Lande. Ihr könnt Euch gern zu uns anderen aus Wendar gesellen, wenn wir uns zur Vesper in der Kapelle von St. Asella beim Westtor der Stadt treffen. Ein Geistlicher aus Wendar, Bruder Fortunatus, liest die Messe auf Wendisch. Aber nur am Himmelstag, merkt Euch das. An diesem Tag dürfen wir alle hingehen.« Da es allein im Palastbereich ein Dutzend Kapellen gab, und etwa fünfhundert weitere in der unteren Stadt, hatte Hanna keine Ahnung, welche Kapelle die Frau meinte. Die meisten erkannte sie nur am Bild der Heiligen über dem Säulengang. Aber irgendwie kam ihr das alles komisch vor, das ganze Gerede von Geistlichen, die verborgen wie Ratten im Kerker lebten, von Augen, die durch Wände sehen konnten, und von reisenden Adlern. Vielleicht sah sie hier eine Verschwörung, wo gar keine war, aber es würde nicht schaden, diesem Pfad ein bisschen zu folgen. »Ich kenne St. Asella nicht. Gibt es eine Möglichkeit, wie ich die Kapelle erkenne, die ihr gewidmet ist?« Die Frau hörte auf zu fegen. Ihr Blick war so unschuldig wie der eines Lamms, aber in ihren Worten lag ein spitzer Stachel. »St. Asella ist lebendig eingemauert worden.« 2 Im zunehmenden Dämmerlicht bildeten die hohen Bäume einen bedrohlichen Hintergrund zu den gewölbten Grabhügeln und dem Steinkreis. Als Ivar und seine kleine Gruppe sich der schmalen Lücke in der Wand aus Bäumen näherten, von der sie sich einen Pfad versprachen, warf er einen Blick zurück auf die Lichtung. Er hatte noch nie einen Steinkreis in so gutem Zustand gesehen: Jeder einzelne Stein stand aufrecht, sämtliche Stürze waren intakt. Er sah aus, als wäre er erst vor wenigen Monaten errichtet oder wieder240 hergestellt worden. Nur der große Stein in der Mitte lag auf dem Boden. Seine Kameraden blieben stehen, als die Dämmerung sich herabsenkte und eine Brise durch den Wald strich. Die Grabhügel schienen eine Beschwörung auszusenden, sie zurückzulocken. Ivar konnte sich einfach nicht bewegen, als würden tote Hände seine Füße packen und ihn festhalten. Die Stille brach, als ein Zweig knackte. »Glaubst du, wir sind wirklich in der Nähe von Kloster Herford?«, fragte Ermanrich mit piepsender Stimme. »Solange wir nur weit weg vom qumanischen Heer sind, ist es mir egal, wo wir sind.« Ivar wusste, dass er mutiger klang, als er sich fühlte, während das Tageslicht schwand. Ein Wolf heulte in der Ferne, ein zweiter antwortete ihm, und alle griffen zu ihren Waffen. »Wo ist Baldwin?« »Er war direkt hinter dir«, sagte Ermanrich. »Er hat nicht auf uns gewartet.« Der jüngere Löwe, Dedi, zeigte auf die Bäume. »Er ist losgegangen, um sich den Pfad anzusehen.« »Wieso hat ihn niemand aufgehalten?«, wollte Ivar wissen. Ermanrich sah ihn erstaunt an. »Wann hat Baldwin schon auf irgendjemanden von uns gehört?«
»Nein, Ivar, sei nicht böse auf Dedi.« Sigfrid legte Ivar sanft, aber beharrlich eine Hand auf den Arm. »Ermanrich sagt nur die Wahrheit, das weißt du genauso gut wie wir.« »Verdammter Narr. Wieso konnte er nicht warten?« Aber Baldwin hörte niemals zu, er tat nur immer so. »Wahrscheinlich hat er geglaubt, dass Markgräfin Judith nach ihm suchen würde, und ist deshalb weggelaufen«, scherzte Ermanrich nervös. »Wieso sollte eine Markgräfin wie Judith ausgerechnet nach jemandem wie ihm suchen?«, fragte Dedi und schnaubte ungläubig. »Still!«, forderte Hathumod sie auf. »Hört nur!« Geräusche drangen aus dem Wald, als würde jemand um sich schlagen. Dann brach Baldwin zwischen den Bäumen hervor, wedelte wild mit den Armen. »Ein Löwe!« Er war nicht mehr als zehn Schritte auf die Lichtung gelaufen, da stolperte er und stürzte zu Boden. 241 Die anderen rannten zu ihm, um ihn zu beruhigen, aber noch während sie um ihn herumschwärmten, sprang er auf. Entsetzen stand in seinem wunderschönen Gesicht. »Da ist ein alter Schuppen bei einem Felsen, nicht weit von hier, und ich habe meinen Kopf hineingesteckt. Als hinter mir ein Geräusch ertönte, so als würde jemand husten, habe ich mich umgedreht - und da stand ein Löwe oben auf dem Felsen!« »Ein Löwe?«, fragte Gerulf. »Von welcher Kohorte?« »Nein, ein richtiger Löwe. Ein Tier. Er war gelbbraun und sah ziemlich hungrig aus. Dann ist ein zweiter gekommen und hat sich neben den ersten gestellt.« Gerulf schnaubte. »Ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr mich nicht zum Narren halten würdet, Sohn. Es gibt im Norden keine Löwen, abgesehen von denen, die man vielleicht in der Tierschau des Königs findet. Löwen leben im Süden.« »Ich weiß, was ich gesehen habe.« »Wenn es ein hungriger Löwe war, wieso hat er Euch dann nicht gefressen?«, fragte Dedi mit einem Lachen. »Oder war er zu sehr damit beschäftigt, Euer hübsches Gesicht zu bewundern?« Ivar trat genau in dem Augenblick zwischen Dedi und Baldwin, als der zum Schlag ausholte. »Baldwin kann nichts für sein Aussehen. Es gibt keinen Grund, ihn deswegen zu hänseln. Außerdem wird es jetzt ohnehin dunkel. Ich habe keine Lust, noch eine weitere Nacht hier in diesem Steinkreis mit den Hügelgräbern zu verbringen. Ihr etwa?« Niemand hatte Lust darauf, nicht einmal Sigfrid, der aufgrund seines starken Glaubens am wenigsten zu ängstigen war. »Hier, zwischen den Steinen und den Gräbern, könnte alles Mögliche passieren«, erklärte Ermanrich. »Da nehme ich es lieber mit den Löwen auf.« »Wir lassen dir gern den Vortritt«, sagte Hathumod trocken zu ihrem Vetter. »Dann kriegen sie eine gute Mahlzeit und haben es nicht nötig, noch jemanden von uns zu fressen.« »Da ist der Pfad.« Gerulf deutete auf die Lücke. »Ich hasse es, überhaupt irgendeinen Pfad nehmen zu müssen, wenn es dunkel wird und Wölfe in der Nähe heulen«, sagte Ivar. 242 »Ganz zu schweigen von den Löwen«, fügte Dedi hinzu. »Ihr werdet es schon noch sehen«, murmelte Baldwin. »Wie groß ist denn dieser Schuppen?« Gerulf nickte Ivar zu, um ihm zu zeigen, dass er seine Meinung teilte und sie nicht zu weit gehen sollten, um sich nicht im Dunkeln zu verirren. »Ein einzelner Mensch könnte darin Platz finden, aber er hätte es nicht bequem«, sagte Baldwin. »Allerdings bildet der Felsen an der Stelle, an der ich die Löwen gesehen habe, einen Überhang.« »Das könnte uns für eine Nacht Unterschlupf gewähren«, sagte Gerulf. »Wir können dann morgen weiterziehen.« »Ihr glaubt mir nicht!« Baldwin sah sie der Reihe nach an. »Niemand glaubt mir!« Ivar spürte Regentropfen in seinem Gesicht. Ein Windstoß fuhr durch die Bäume, kündete von noch stärkeren Niederschlägen. »Es könnten Wölfe gewesen sein«, sagte er zögernd. Als er Baldwins entrüstete Miene sah, sprach er schnell weiter. »Oder eben Löwen. Ich hasse es, in offenem Gelände gegen sie kämpfen zu müssen. Wir haben genug Waffen, um uns gegen gierige Tiere wehren zu können, solange wir nur eine feste Mauer im Rücken haben.« »Gut, Sohn!«, erwiderte Gerulf fröhlich. »Wenn wir ein Feuer entfachen können, wird uns ein guter Überhang am besten dienen, ob es nun ein Wolf oder ein Löwe oder sogar ein Guivre auf uns abgesehen hat. Das ist jedenfalls allemal besser, als hier draußen zu stehen und nass zu werden. Aus Euch wäre ein guter Löwe geworden, Junge.« »Ich wäre gar nicht zu den Löwen gegangen«, entgegnete Ivar, gekränkt über diese Bemerkung. »Ich wäre einer der Drachen geworden, wenn mein Vater, ein Graf in der Nordmark, mich mit ihnen hätte reiten lassen, statt mich in die Kirche zu stecken.« »Ich bitte um Vergebung«, sagte Gerulf hastig. »Ich wollte Euch nicht beleidigen.« Ein Anflug von Verlegenheit ließ sie alle erstarren, als ihnen klar wurde, welch unterschiedliche Ränge sie bekleideten - auch wenn sie den Qumanern als Kameraden, als Gruppe entkommen waren. Erst der Regen erlöste sie aus dieser Erstarrung. Sie schleppten sich über den Rest der grasbewachsenen Lichtung, 243
schützten die Köpfe so gut wie möglich vor dem Regen und versuchten, die Fackeln trocken zu halten. Glücklicherweise verlief der Pfad zwischen den Bäumen gerade. Sie waren kaum mehr als hundert Schritt bergab gegangen, als sie auf einen Felsvorsprung stießen. Klippen erhoben sich über und unter ihnen, leicht versetzt wie die Schultern eines kauernden Tieres. Angetrieben von einer frischen Böe prasselte der Regen auf sie herab, und sie stolperten in den Schutz, den der Überhang bot. Im letzten verblassenden Licht entdeckte Ivar einen winzigen Schuppen aus Holzstöcken ein Stück abseits draußen im Regen, aber wie Baldwin gesagt hatte, war darin kaum genug Platz, dass auch nur ein einziger Mann sich hätte hinlegen können. »Kommt her, hier ist genug Holz, dass wir die ganze Nacht über ein Feuer brennen lassen können. Noch ist es nicht zu nass«, sagte Gerulf. Dann fügte er hinzu: »Sofern die Herren damit einverstanden sind, meine ich.« Sie suchten so schnell wie möglich Reisig zusammen und entfachten das Feuer gerade in dem Augenblick, als es wirklich zu dunkel wurde, um noch etwas sehen zu können. Nach einigem Hin und Her hatten sie die Wachen eingeteilt: Gerulf und Hathumod übernahmen die erste, gefolgt von Dedi und Ermanrich, dann zum Schluss Ivar und Sigfrid. Baldwin hatte sich bereits in seinen Umhang gewickelt und an der innersten, trockensten Stelle des Überhangs zum Schlafen hingelegt. Sie legten Fackeln in Reichweite bereit, für den Fall, dass sie sie als Waffen gegen umherstreifende Tiere benötigten, und ließen sich für die Nacht nieder. Ivar legte sich neben Baldwin. Er schlief sofort ein und wurde erst viel später geweckt - von Hathumods Stimme, die so weich war wie die Berührung von Hasenfell auf nackter Haut, aber beharrlicher. »Nein, Freund Gerulf, es ist keine Ketzerei, auch wenn die Kirche das gesagt haben mag.« »Ich bitte um Vergebung, Edelfrau Hathumod, aber wieso sollten die Kirchenmütter lügen? Wieso sollten die heiligen Frauen, die die Gewänder und das Siegel der Skopos getragen haben, ihrerseits alle bei einer solchen Täuschung mitgemacht haben?« 244 »Einige haben es einfach nicht gewusst. Sie haben gelernt, was wir gelernt haben, und wussten es nicht besser. Aber natürlich entzieht es sich meiner Kenntnis, wieso die alten Mütter die Wahrheit verheimlicht haben, als sie die frühen Schriften verfassten. In Wirklichkeit sind sie die Ketzer gewesen, und der Feind hat durch sie gesprochen. Aber jetzt ist die Wahrheit enthüllt und leuchtet hell, sodass wir alle sie sehen können. Ich habe Wunder gesehen ...« Ivar hatte ähnliche Worte von Edelfrau Tallia gehört, deren gequälter Körper und eifernder Blick sie alle in Quedlingham auf den Pfad der Ketzerei geschickt hatten. Während er wieder wegdämmerte, wunderte er sich darüber, dass Hathumod trotz ihrer gewöhnlichen Stimme und ihres durchschnittlichen Aussehens so überzeugend wirken konnte. Ein Fuß stieß ihn an, und als er sich umdrehte, um der Aufforderung den Rücken zu kehren, kam ein neuer Tritt. »Nein, nein«, murmelte er, ganz in der Überzeugung, er wäre in Quedlingham, »es ist noch nicht Zeit für die Vigilien, oder?« »Das könnte sein«, flüsterte Ermanrich fröhlich. »Aber da der Himmel bewölkt ist und ich die Sterne nicht sehen kann, weiß ich nicht, welche Stunde wir haben. Du bist an der Reihe.« Ivar stöhnte. Alles tat ihm weh. Selbst seine Finger pochten, aber als er sich langsam erhob und die Hand um seinen Speer schloss, fühlte sich das irgendwie seltsam an. Die Erinnerung ließ ihn schlagartig wach werden. Er hatte in der Schlacht zwei Finger verloren. Vielleicht waren die Qumaner ihnen schon auf der Spur, bereit, ihm den Kopf abzuschlagen. Er richtete sich auf und stieß sich augenblicklich den Kopf am Felsen an. »Still«, zischte Ermanrich. »Es gibt keinen Grund zu fluchen. Wir haben während unserer Wache nichts bemerkt, und die anderen zuvor auch nicht. Ich glaube, Baldwin hat die Löwen mit seinem hübschen Gesicht verjagt.« »Gott im Himmel.« Ivar trat an Ermanrich vorbei nach draußen. Die kalte Nachtluft schlug ihm ins Gesicht. Er hatte die ganze Zeit die rauchige Luft eingeatmet, und seine Lunge schmerzte von dem Ruß. Es hatte aufgehört zu regnen, aber er konnte noch 245 immer keine Sterne sehen. »Ich hatte ganz vergessen, wie sehr ich es gehasst habe, mitten in der Nacht zum Beten aufzustehen.« »Wo ist dein reiner Glaube ? Erinnerst du dich nicht an die Wunder?« »Sie haben niemals zu den Vigilien stattgefunden.« Sigfrid stand beim Feuer und wiegte sich mit geschlossenen Augen vor und zurück, während er ein Gebet murmelte. Ivar legte ein Holzscheit ins Feuer und rieb sich die Hände, um sie zu wärmen. Ermanrich und Dedi ließen sich nieder, um zu schlafen. Ivar wollte Sigfrid nicht beim Beten stören, also stand er still da und hielt Wache. Er hatte aber auch keine Lust, selbst zu beten. In der Kirche seiner Kindheit und Jugend, der Kirche seiner Mütter und Großmütter, hatte er viele Gebete gelernt. Doch seit er Zeuge des Wunders des Phönix und der blutigen Wunden von Edelfrau Tallia geworden war, wusste er, dass die Kirche ihn angelogen hatte. Vielleicht konnten Sigfrid und Hathumod noch beten, vielleicht veränderten sie die Worte so, dass sie die lang verborgene Wahrheit widerspiegelten. Aber Gebete kamen Ivar wie ein trügerisches Festmahl vor, hübsch anzusehen und köstlich duftend, aber nach Asche schmeckend, wenn man sich daranmachte, es zu verspeisen. Vielleicht hatte er so viele Treuebrüche und Niederlagen erleiden müssen, weil er selbst an das geglaubt hatte,
was falsch war. Doch auch andere glaubten, was ihnen beigebracht worden war, und sie hatten nicht so gelitten wie er. Nein, seine Prüfungen mussten wirklich etwas damit zu tun haben, seine Entschlossenheit zu prüfen. Vielleicht war es ihm vergönnt gewesen, die Wunder zu bezeugen, weil er sich Liaths Schmeicheleien widersetzt hatte. Sie hatte ihn verführt, aber er war ihr entkommen. Selbst wenn er noch immer von ihr träumte - hier in dieser regnerischen Nacht, verloren in einem fernen Land - und sich fragte, was wohl aus ihnen allen werden würde. Wenn Liath nicht gewesen wäre, hätte sein Vater ihn vielleicht zu den Drachen gehen lassen. Aber natürlich wäre er dann bei Gent zusammen mit den anderen Drachen von den Aikha getötet worden - bis auf den verfluchten Prinz Sanglant, von dem jeder 246 wusste, dass er von seiner unmenschlichen Mutter verzaubert worden war, um nicht getötet werden zu können. Wenn man es so betrachtete, hatte Liath ihn vielleicht vor dem Tode bewahrt. Oder vielleicht war es auch gar nicht Liath gewesen. Vielleicht hatte Gott ihn gerettet, damit er und seine Freunde Ihren Willen vollenden konnten. Gott hatte sie vor den Qumanern gerettet, war es nicht so ? Gott hatte sie durch ein Wunder vom östlichen Grenzland ins Herz von Wendar gebracht. Gott hatte den Sommer zum Herbst werden lassen und ihre Wunden geheilt, hatte durch diese Zeichen die ihnen obliegende Aufgabe enthüllt: Es war an ihnen, die Wahrheit über den Tod des heiligen Daisan zu verkünden, damit jede einzelne Seele sie vernehmen konnte. Gott hatte ihnen die Wahrheit übermittelt und sie vor dem sicheren Tod gerettet, um zu sehen, was sie mit diesem Geschenk anfangen würden. Der Schatten huschte knapp außerhalb des Lichtscheins ihres Feuers vorbei. Vor Schreck fiel ihm der Speer aus der Hand. Als er sich bückte, um ihn wieder aufzuheben, bemerkte er einen zweiten Schatten, dann einen dritten. »Schsch, Sigfrid! Wölfe!« Als würden sie vom Klang ihres Namens herbeigerufen, kamen die Wölfe näher. Sie waren geschmeidig und mager und beäugten die schlafende Gruppe hungrig. Das Leittier gähnte, entblößte scharfe Zähne. Während Ivar tief Luft holte, um die anderen zu wecken, zählte er zwei, dann vier, dann acht solcher Tiere, bereit zum tödlichen Angriff. Sie verteilten sich, verschwanden in der Nacht. Der Schrei blieb ihm in der Kehle stecken, als ein Löwe in den Feuerschein trat, den goldglänzenden Kopf hob und ihn ansah. Er hatte riesige Schultern und mächtige Flanken, und als er gähnte, blitzten seine Zähne wie die Spitzen von Dolchen. Unterdrücktes Gestammel drang aus Ivars Kehle. Eine Zeit lang, in der er einmal oder auch tausendmal hätte einatmen können, starrte er den Löwen an, und der Löwe starrte ihn an, ruhte in seiner Kraft wie das Urteil Gottes. 247 Dann erinnerte er sich, dass er die anderen wecken musste, ehe sie in Stücke gerissen und in einen Festschmaus verwandelt wurden. Jemand berührte ihn, und er zuckte zusammen, aber noch immer brachte er keinen Ton heraus, und es war sowieso nur Sigfrid. »Nicht, Ivar«, sagte er sanft. »Sie beschützen uns nur.« Seine kleine Hand legte sich wie ein Felsklotz auf Ivars Unterarm. Ivar wagte nicht, sich zu rühren, denn noch hatte der Löwe nicht angegriffen. Während er zusah - zu benommen, um irgendetwas zu tun -, schritt ein zweiter Löwe majestätisch in den Schein des Feuers. Dessen Fell war so hell, dass es wie Silber wirkte. Auch er blieb stehen und starrte Ivar an, und zwar mit einem klugen Blick, der ihm augenblicklich klar machte, dass dieser Löwe bis auf den Grund seiner Seele schauen konnte. Er kannte alle seine Geheimnisse, jeden verbitterten und armseligen Gedanken, den Ivar sich je gemacht hatte, alles Schlechte, das er jemals anderen gewünscht hatte, jeden gierigen Drang, dem er nachgegeben hatte. Er kannte die Tiefe von Ivars unziemlicher Leidenschaft für Liath und wusste, dass er seiner Gier gestattet hatte, seine unaufdringliche Zuneigung zu Hanna zu ersticken, die sich niemals von ihm abgewandt hatte, so schlecht er sie auch behandelt hatte. Er erkannte, wie weit Ivar den Ausschweifungen von Prinz Ekkehard und seinen Kumpanen anheim gefallen war. Aber er sah auch dessen Bemühungen, den Menschen in Gent und den Dorfbewohnern in den Marklanden die Wahrheit über das Opfer und die Erlösung des heiligen Daisan näher zu bringen. Er sah, wie Ivar seinen Freunden auf dem Schlachtfeld geholfen und die verwundeten Löwen in Sicherheit gebracht hatte. Er sah, durch ihn, den prächtigen Flug des Phönix, und dieser Dinge wegen vergab er Ivar seine Sünden. »W... wieso sollten sie uns beschützen?«, stammelte er, als er endlich wieder sprechen konnte. »Löwen sind Gottes Geschöpfe«, sagte Sigfrid. »Sie warten hier.« »Auf was warten sie?« »Ich weiß es nicht.« Regen fiel und versiegte. Die Löwen gingen hin und her, lösch248 ten die Spuren der Wölfe aus. Ihre gleichmäßigen Bewegungen -ihr Auf-und-ab-Gehen, ohne dass sie jemals näher kamen - machten ihn so schläfrig, dass er im Stehen wegzudösen begann, wieder wach wurde - und erneut
einnickte. Und dann stellte er fest, dass die Dämmerung angebrochen war. Licht war im Osten zu sehen, und vom Felsvorsprung aus sah er, wie der Wald zu einer tiefen Schlucht hinabfiel, in der Bäume wild wucherten, um dann wieder zu zwei bewaldeten Hügeln anzusteigen. Im Süden war der Rand einer ordentlichen Lichtung zu sehen, die von einer Siedlung kündete; vielleicht waren es die Felder von Kloster Herford. Sigfrid hatte zwischen den Felsen eine Quelle gefunden und trank von dem Wasser, während die anderen aufwachten, sich streckten und ebenfalls kamen, um ihren Durst zu stillen. Ivar ging ein paar Schritte umher, aber der Boden verriet an keiner Stelle, was er in der Nacht gesehen hatte. Er sah weder Spuren von Wölfen und ganz sicher nichts, was den gewaltigen Tatzen von Löwen ähnelte, die so groß gewesen waren, dass sie eigentlich irgendwelche Spuren hätten hinterlassen müssen. Gerulf trat neben ihn. »Ich sehe, Ihr habt es auch schon bemerkt. Sieht für mich ganz nach dem Kloster aus. Wir marschieren am besten gleich los, damit wir nicht noch eine Nacht in diesem Wald verbringen müssen.« »Oh, Baldwin«, sagte Dedi bei der Quelle, als Baldwin noch immer reichlich verschlafen dort auftauchte; obwohl er ziemlich zerknittert aussah, war er kaum weniger hübsch als sonst. »Es war ziemlich ruhig in der Nacht, auch wenn Euer dicker Freund Ermanrich mir die ganze Zeit über mit erstaunlichen, unglaublichen Geschichten die Ohren voll gequatscht hat.« Er machte eine Pause, wie ein Dieb, der einen Moment lauschte, bevor er die Edelsteine aus dem Seidenbeutel nahm. »Ich fürchte, Eure Löwen haben sich nicht dazu entscheiden können, uns einen Besuch abzustatten, was ?« Ein Handgemenge entspann sich und wurde von Hathumod unterbrochen, die beiden mit einem Stock auf den Rücken schlug. Gerulf packte Dedi und zerrte ihn zur Seite. »Sei nicht so unhöflich, Neffe! Dieser Mann ist ein Edelmann.« 249 Dedi murmelte etwas, das nicht zu verstehen war. »Ich habe die Löwen gesehen!«, entgegnete Baldwin. »Aber nie glaubt mir jemand.« Ivar untersuchte den Boden erneut, aber die einzigen Spuren, die er fand, stammten von seinen eigenen Stiefeln. »Es heißt, der Feind bringt bei Nacht seltsame Visionen«, sagte er. »Oder auch Gott«, erwiderte Gerulf. »Für uns Sterbliche ist es schwer, den Unterschied zwischen beiden zu erkennen. Habt Ihr während Eurer Wache irgendetwas bemerkt?« Ivar hatte nicht den Mut, über das zu sprechen, was er gesehen hatte, und auch Sigfrid erwähnte es mit keiner Silbe. IX Ein schweres Verbrechen
1 In Darre konnte man den Lauf der Zeit in jeder Straße erkennen. In der Nähe des Flusses hängten Wäscherinnen Kleidungsstücke auf die umgestürzten Säulen eines Tempels, der einmal der Göttin der Liebe geweiht gewesen war. Miteinander wetteifernde Herbergen für Pilger füllten dreistöckige Wohnhäuser in der Nähe der riesigen Bäder, die zur Zeit von Kaiser Tianathano erbaut worden waren. Rinder und Ziegen grasten in der gigantischen Arena, in der früher Pferderennen stattgefunden hatten. Der gewaltige Marktplatz aus Ziegelsteinen, der während der Herrschaft von Kaiserin Thaissania - Die Mit Der Maske - eingerichtet worden war, war von einer stets wechselnden Ansammlung behelfsmäßiger Buden verdrängt worden, die im Schutz der Säulengänge alter Tempel an den Hauptstraßen standen; diese Tempel waren einst errichtet worden, um Götter zu ehren, deren Namen Hanna nicht kannte, die aber Liath womöglich vertraut gewesen wären. Das vierstöckige Aquädukt der alten dariyanischen Baumeister führte noch immer Wasser von den Bergen in die Stadt, und unter seinen Bögen suchten Bettler Schutz vor der Sonne. Umherziehende Schuster flickten Schuhe auf den Marmorstufen der Paläste, die jetzt leer waren, und Huren tummelten sich dort, wo sich einst Kaiser ganz anderen Genüssen hingegeben hatten. Da die 251 Hälfte der Gebäude in der Stadt verlassen war, musste niemand in Hütten leben; jede Frau dort hatte ein geräumiges und nur leicht beschädigtes Dach über dem Kopf, selbst wenn sie hungerte. Die Dariyaner hatten ihre Stadt so gebaut, dass sie bis zum Ende der Zeit bestehen würde. Und vielleicht würde sie das auch tatsächlich tun. Hanna fand es unglaublich, dass so viele Menschen an einem Ort leben konnten. Es fiel ihr schwer, sich vorzustellen, wie die Stadt vor vielen hundert Jahren ausgesehen haben musste, als alle Gebäude einem Zweck gedient und die Mischlinge des alten Kaiserreichs stolz und entschlossen die Straßen bevölkert hatten. »Entschuldigung.« Sie blieb ganz in der Nähe der Bäder im Schatten eines Säulengangs beim Stand eines Kaufmanns stehen; der findige Junge verkaufte Kupfermedaillons mit den Bildnissen von Heiligen. »Ich habe
mich verlaufen. Welche Straße führt zum Westtor?« Sie hatte in den Monaten, die sie nun schon hier war, genug Aostanisch gelernt, um sich in solchen Situationen helfen zu können; zu verstehen, was die Einheimischen antworteten, war deutlich schwieriger. Dieser Mann war daran gewöhnt, mit Fremden umzugehen. Er sah sie an, heftete seinen Blick auf ihre blonden Zöpfe, dann musterte er ihren Kameraden Rufus, dessen Haare so ungewöhnlich rot waren wie ihre blond. Er spuckte auf den Boden und deutete mit einem Lächeln, das seine Zahnlücken offenbarte, nach rechts, wo die Straße sich gabelte. »Nicht sehr gesprächig, was?«, bemerkte Rufus, als sie weitergingen und dabei nach wie vor versuchten, sich im Schatten zu halten. »Ich glaube, er mochte uns nicht.« Die Hitze verwandelte die Stadt in einen Glutofen. Hanna schwitzte so sehr, dass sie es aufgegeben hatte, sich die Stirn abzuwischen. Die Tunika klebte an ihrem Rücken, und dort, wo ihr Hut auf die Stirn drückte, hatte sich ein Streifen aus klebrigem Schweiß gebildet. »Niemand von ihnen tut das. Sie halten uns für Barbaren. Sie glauben, wir stehlen ihnen ihr Korn und ihre Hühner.« Sie blieben stehen, um das Amphitheater anzustarren, allge252 mein bekannt als der Ring. Es türmte sich links von ihnen auf, während sie der Straße in östlicher Richtung folgten. Der Fluss lag hinter ihnen, und als Hanna sich umdrehte - die Augen von der breiten Hutkrempe vor der Sonne geschützt -, konnte sie den Hügel mit den beiden Palästen sehen, den Palast der Skopos gleich neben dem Herrscherpalast. Es waren kunstvoll verzierte neue Gebäude, die auf irgendeinem alten Tempel errichtet worden waren. Von den Leuten, die dort wohnten, wurde dieser Teil »Oberstadt« genannt, um ihn vom übrigen Darre abzugrenzen. »Ich glaube, dass es in ganz Wendar und Varre nicht so viele Gebäude gibt.« »Das ist gut möglich.« »Ich bin froh, dass du mit mir kommst«, fügte sie hinzu. »Ich hätte es gehasst, hier ohne einen Kameraden herumzulaufen. Jede Nacht sollen mindestens zehn Morde geschehen.« »So sagt man, und die Hälfte der Opfer kommt aus dem Norden und wird aus reiner Boshaftigkeit umgebracht. Ich weiß nicht, ob das stimmt.« »Nach Einbruch der Dämmerung würde ich den Palast jedenfalls ganz bestimmt nicht allein verlassen. Man fühlt sich zu mehreren einfach sicherer, finde ich.« Sie stießen auf einen großen Markt für Lebensmittel, der sich dicht an die Mauern schmiegte, weil es so leichter war, jeden Tag das Gemüse und das Obst von den Feldern herbeizuschaffen. Hühner in Käfigen gackerten neben Drosseln und Tauben. Obst- und Gemüsehändler wachten über ihr Angebot an Äpfeln und Feigen, Quitten, Liebstöckel, Zwiebeln und die üblichen Berge von Rüben. Üppige Bündel aus roten Pfingstrosen und weißen Lilien wurden zum Verkauf angeboten, neben Schalen mit Senfkörnern und getrockneten Pflaumen. Der Kräuter- und Gewürzmarkt bildete einen eigenen Bereich; die schweren Gerüche machten Hanna ganz benommen, als sie daran vorbeikamen. Aber nur wenige Leute schienen einzukaufen. Die längste Schlange befand sich vor dem alten Gerichtshof, wo dank der Gnade der Skopos jeden Himmelstag Korn und Olivenöl an die Armen verteilt wurden. Frauen in geflickter Kleidung warteten unruhig 253 in der Schlange, blinzelten nach vorn, um herauszufinden, ob sie es bis zum Tor schaffen würden, ehe die Gaben für diese Woche ausgegangen waren. Sogar Kinder standen geduldig da, zu hungrig, um herumzulaufen und zu spielen, und ganz benommen von der grellen Sonne. Drei Jungen mit zerrissener Kleidung und rotzverschmierten Oberlippen riefen den beiden Adlern hässliche Flüche entgegen. »Wendische Hunde!« »Sie fressen uns alles weg! Diese Schweine!« »Ihre Mütter waren Säue!« Hanna ging schneller. An schattigen Stellen warteten mürrisch noch viel mehr Leute, oder sie lehnten an den Marmorwänden der großen, alten und fast baufälligen Gebäude. Wachen standen an der Kolonnade, behielten etwa zwanzig junge Halbstarke im Auge, die auf den Stufen eines alten Tempels auf der anderen Straßenseite herumlungerten. Hanna konnte nur vermuten, dass einige von ihnen Flüche vor sich hin murmelten; andere würfelten. Ein paar spuckten in Richtung der Straße, aber es war schwer zu sagen, ob sie Hanna und Rufus oder die Stadtsoldaten zu beleidigen versuchten. »Es hat den Anschein, als würde es wenigen an nichts mangeln und den Übrigen an allem«, sagte Rufus. »Ich habe gehört, dass der Krieg die Schatztruhen des Königs leert. Die Palastbediensteten haben gesagt, es wäre schlimmer als je zuvor. Sie hassen uns, weil es unser König ist, der den Krieg anführt.« »Wäre es nicht am besten für Aosta, wenn alle Fremden vertrieben würden und die Edelleute sich vor einem einzigen Herrscher verneigten?« »Das hoffe ich«, sagte Hanna eifrig. War dies nicht der Grund, weshalb sie Hathui den Rücken gekehrt und so weit geritten war? Weil sie Vertrauen in König Henry hatte ? Ein Mann stolperte auf die Straße und stieß mit Hanna zusammen. Er griff ihr an die Brust und murmelte: »Wendische Hure!« Sein Atem stank.
Sie schob ihn mit einem Ächzen von sich, als Rufus sich um254 drehte und erschreckt feststellte, dass vier junge Halbstarke mit hässlichem Grinsen im Gesicht auf sie zukamen. Die Stadtsoldaten sahen teilnahmslos zu. Hanna packte Rufus am Arm und zog ihn weiter. »Da ist das Tor!« Es hieß, dass es in Darre kein Tor gab, in dessen Nähe nicht mindestens vier Kirchen waren, errichtet auf den Ruinen der alten, aus der Zeit des Kaiserreichs stammenden Tempel. In Sichtweite des Westtors gab es sechs, mit einer Ausnahme schlichte Backsteingebäude, in denen kaum mehr als fünfzig Gläubige Platz finden konnten. Bei der sechsten Kirche handelte es sich um einen kuppelförmigen Tempel, von dem jegliche heidnischen Statuen entfernt worden waren. Er war St. Mark dem Krieger neu geweiht worden; sein Schwert der Rechtschaffenheit, die dem Gläubigen Stärke verleiht, leuchtete in hellen Farben über dem Säulengang. Aber welche Kirche war die, die sie suchten? »Sie kommen näher!«, keuchte Rufus. Zwei Frater eilten die Stufen zu der Kapelle von St. Mark hoch. Nicht weit entfernt gingen drei Geistliche in den bescheidenen Gewändern von Novizinnen vorbei; die kleinste von ihnen sah in ihre Richtung. »Ich bitte Euch ...« Die Novizinnen schienen sie nicht zu hören oder nicht zu verstehen. »Oh, Mist«, fluchte Rufus. »Sie haben Messer.« »Lauf!« »Adler!« Eine Sänfte mit einem Presbyter tauchte auf, die von vier Männern getragen wurde. Die vier Halbstarken verzogen sich. Hanna kniete auf einem Bein nieder; Rufus sank auf beide Knie. Der Stein brannte heiß unter ihr, trotz der Beinkleider. »Eure Exzellenz«, murmelte sie atemlos. Ihr Herz raste noch immer vor Furcht. »Wir sind geehrt über Eure Aufmerksamkeit.« Sie erkannte Bruder Petrus. Kühl und machtvoll hatte er sie nach ihrer Ankunft in Darre empfangen, hatte geduldig und mit aristokratischer Zurückhaltung ihrer Botschaft gelauscht. Dann 255 hatte er ihr versichert, dass ihre Angelegenheit vor den König gebracht werden würde, sobald Henry aus dem Süden zurückkehrte, aber dass es zu gefährlich für sie wäre, selbst nach Süden zu reiten - und seither hatte sie ihn nicht mehr gesehen. »Kommt Ihr oft in die Unterstadt?«, fragte er im Ton eines Mannes, der überrascht ist, eine Ungläubige am Herd des Gottes in Einigkeit zu sehen. »Nein, Eure Exzellenz. Ich bin an die Größe dieser Stadt nicht gewöhnt. Es gibt so viele Straßen und Gassen und so viele Leute.« »Das ist nur zu wahr.« Er sah zum Gerichtshof. Die Menge, die sich dort versammelt hatte, um Korn und Speisen zu bekommen, wurde immer unruhiger, je mehr sich der Tag dem Ende zuneigte. Viele standen noch immer mit leeren Händen da. »So viele Leute, und nicht alle mit Gottes besten Absichten in ihren Herzen. Seid vorsichtig. Sogar einige von Euren wendischen Landsleuten treiben sich in den Schatten herum, spinnen Intrigen unter den Unschuldigen und Leichtgläubigen.« »Ich bedaure, dass meine Landsleute so gottlos sind, Eure Exzellenz.« »Was ein jeder Mensch täte, der in Gott vertraut. Da gibt es eine Frau, eine Dienerin, die sich Aurea nennt. Sie ist nicht besser als der Stachel des Dreschflegels, den der Feind schwingt. Nehmt Euch vor jenen in Acht, die Euch in der Hoffnung, Unruhe zu verbreiten, falsche Geschichten erzählen.« Weil Hanna den Kopf in respektvollem Gehorsam gesenkt hielt, verbarg die Krempe ihre Miene. Seltsam, dass er Aurea erwähnte, mit der sie erst zwei Tage zuvor im Dachzimmer gesprochen hatte. »Habt Ihr mit dieser Frau gesprochen, Tochter?« »Ja, das habe ich. Ich freue mich immer, wenn ich im Palast Menschen finde, die meine eigene Sprache sprechen, Eure Exzellenz. Landsleute von mir.« »Hat sie von Verschwörungen und Verrat gesprochen?« Nur über Geistliche, die wie Ratten im Kerker hausten. Und über Augen, die durch Mauern sehen konnten, und reisende Adler. Aber vielleicht sah sie ja eine Verschwörung, wo gar keine war. Vielleicht 256 hatte die Frau lediglich eine verständnisvolle Zuhörerin für ihre Geschichten gesucht. Bruder Petrus konnte nicht wissen, dass Hanna vor über einem Jahr in den südlichen Wäldern von Wendar mit Hathui gesprochen hatte. Er wusste nicht, was sie wusste. Da Hanna nicht antwortete, sprach er weiter. »Ich hoffe, Ihr werdet zu mir kommen, Tochter, wenn es etwas gibt, das Ihr mich wissen lassen wollt. Ihr müsst nur im Palast der Skopos nach mir fragen. Es heißt, Ihr wendischen Adler seht alles Mögliche, das wir Übrigen nicht sehen können. Ich weiß, dass Ihr Eurem König über alle Maßen treu ergeben seid.« Er sagte etwas auf Aostanisch, und seine Diener trugen ihn weiter. Sie blickte sich um, während sie sich erhob, um sicherzugehen, dass sich keine verdächtigen Gestalten näherten,
aber die jungen Halbstarken waren in der Menge verschwunden. Seine Worte jagten ihr einen Schauer über den Rücken. Hatte Aurea nicht fast das Gleiche gesagt - nämlich dass ein Adler alles Mögliche sah ? War es nur eine Redewendung, oder hatten sie zufällig die gleichen Worte benutzt? Hatte er ihr eine Warnung zukommen lassen wollen? »Es gefällt mir nicht, wenn diese hohen und mächtigen Kirchenleute wissen, wer ich bin«, bemerkte Rufus. »Wo ich herkomme, pflegen die Alten zu sagen, dass es besser ist, im Wald ein hungriges Schwein auf der Suche nach Nahrung zu sein, ohne dass jemand deinen Namen kennt, als ein fetter Hahn, der im Gehege herumstolziert und alle Blicke auf sich zieht, wenn die Zeit des Festschmauses gekommen ist.« »Er hat uns vor einem Kampf mit diesen Halbstarken gerettet.« »Das stimmt. Man sollte den kleinen Segnungen niemals den Rücken kehren.« Die drei Geistlichen waren ganz in der Nähe stehen geblieben, während eine von ihnen einen Stein aus dem Schuh schüttelte. »Komm jetzt, Schwester Heriburg«, sagte eine von ihnen mit scharfer Stimme in klarem Wendisch. »Wir bekommen keinen Sitzplatz mehr in der Kapelle, wenn du dich nicht beeilst. Du weißt, wie voll es wird, wenn Bruder Fortunatus die Messe hält.« »Ich bitte um Vergebung, gute Schwestern. Wir sind wendische 257 Adler, Diener des Königs, und möchten die Messe in der Kapelle von St. Asella besuchen. Dürfen wir Euch begleiten?« »Wahre Diener von König Henry sind herzlich eingeladen, sich zu uns zu gesellen, die wir die treuen Geistlichen seiner Gelehrtenschule sind«, sagte die Große in demselben scharfen Tonfall, in dem sie gerade ihre Kameradin gescholten hatte. »Ich danke Euch«, erwiderte Hanna höflich. »Wir werden Euch gerne Gesellschaft leisten. Ich heiße Hanna, und das hier ist Rufus.« Es waren Hochgeborene, die an müßiges Geplauder mit Gewöhnlichen nicht gewöhnt waren; die Ruhige blickte besorgt drein, und die anderen beiden zögerten einen Augenblick, ehe sie weitereilten, Hanna und Rufus ihnen dicht auf den Fersen. »Ihr seid Geistliche in König Henrys Gelehrtenschule?«, fragte Hanna. Übermut führte ihre Zunge, und sie wollte herausfinden, wie die Geistlichen antworteten. »Seid Ihr mit dem König hergekommen?« »Wir leben jetzt seit mehr als zwei Jahren in Darre«, erklärte die Große, als sie den Säulengang der Kapelle von St. Mark passierten und sich nach links in eine Seitenstraße wandten. Ein Turm kennzeichnete eine alte Kirche, die auf einem deutlich älteren Fundament errichtet worden war. Ein halbes Dutzend Schlitze in den Wänden beleuchtete das Innere. Zwei Geistliche zündeten Leuchter an der Wand an, als das letzte Sonnenlicht verblasste. Es gab Bänke im Hauptschiff, die bereits zum größten Teil mit Wendisch sprechenden Leuten besetzt waren. Die Geistlichen gingen nach vorn, um sich neben ihren Schwestern niederzulassen. Hanna drängte sich im hinteren Teil neben Rufus und legte den Schlapphut auf ihre Knie. Aurea war nirgends zu sehen. Hatte sie die Frau vielleicht falsch verstanden? Die weiß getünchten Wände der kleinen Kapelle verrieten nicht das Geringste; es gab nicht einmal bemalte Fenster, nur kleine Schlitze, durch die etwas Luft ins Innere gelangte. Aufgrund der dicken Steinmauer war es hier jedoch kühl. Sie schwitzte nicht mehr. Zwei Geistliche gingen das Hauptschiff entlang zum Chor und zündeten für die Vesper die Lampen auf den Drei258 fußen an, die am Rand einer jeden Bankreihe angebracht waren. Eine Diakonissin betrat den runden Chor von einem anderen Raum her und näherte sich dem Altar; sie hob die Hände zum Segen und begann mit der Liturgie. »Geheiligt ist das Land der Mutter und des Vaters des Lebens und der Heiligen Botschaft, wie sie sich im Kreis der Einigkeit offenbart, jetzt und für immer und in alle Ewigkeit.« »Amen«, murmelte Hanna. Die Liturgie stahl sich sanft in ihre Gedanken, und ihre Lippen formten die Antworten, ohne dass sie nachdenken musste. »Beten wir im Frieden zu unserem Herrn und unserer Herrin.« »Herr, erbarme dich. Herrin, erbarme dich.« Wie betete Ivar wohl, sofern er noch am Leben war? Wie beteten Ketzer? Ihre Aufmerksamkeit wurde auf die Flamme gelenkt, die neben ihr brannte - ein flackerndes, goldenes Glühen, unruhig und kräftig, das zischte, als wollte es Geheimnisse ausplaudern. Waren da winzige Flügel im Innern der Flamme? Bewegten sich Schatten hinter dem Schleier aus Feuer, der da vor ihren Augen tanzte? Jenseits des Feuerscheins blickte sie auf einen anderen Ort. Sechs Männer und eine Frau folgen einem verlassenen Pfad durch unebenes Waldland, während der Nachmittag sich dem Abend nähert. Die Sonne scheint für kurze Zeit, aber dann ergießt sich ein Schauer über die Gruppe, von einem starken Südwind nach Norden getrieben. Der Wind reißt einem der Männer die Kapuze vom Kopf. Sie erkennt die roten Haare auf Anhieb, dann auch seine Gesichtszüge. Es ist Ivar. Freude erfüllt sie. Ist es möglich, dass er noch lebt? Hitze versengt ihr Gesicht, als sie sich näher herabbeugt und versucht, seine Aufmerksamkeit zu erlangen. »Hanna? Du verbrennst dich!« Sie riss sich von der Vision los und fand sich in der Kirche wieder, blinzelte mit trockenen Augen, denn die
Flamme hatte die Tränen getrocknet. Die Lampe zischte und flackerte, aber es war nur eine gewöhnliche Flamme, so wie all die anderen, die das Hauptschiff erleuchteten. » ... bitten wir um fruchtbare Jahreszeiten, um eine Fülle von 259 Früchten der Erde in einer Zeit der Not und um Frieden in diesem Land. Lasset uns beten.« »Hanna?« Rufus packte ihren Arm so fest, dass es schmerzte. »Wirst du ohnmächtig? Ich dachte schon, du würdest in die Lampe fallen.« »Nein.« Ihre Zunge fühlte sich geschwollen an, und sie war ganz benommen, gleichermaßen tief betrübt und in Hochstimmung. »Die Adlersicht.« Er errötete, was bei seinem hellen Teint leicht zu erkennen war, und neigte beschämt den Kopf. »Ich weiß, was man so sagt und was einige der anderen behaupten, aber ich habe selbst nie irgendeine Vision im Feuer oder Wasser gesehen.« Er zögerte, dann begriff er, dass er noch immer ihren Arm festhielt, und ließ los, als wäre sie irgendwie giftig. Seine Miene war jetzt düster, seine Mundwinkel nach unten gezogen. »Was ist mit dir?« Sie schüttelte den Kopf ein bisschen zu schnell. »Nur Schatten in den Flammen. So wie jetzt. Nur Schatten.« »Geheiligt sind die Demütigen und Geduldigen, denn die Gnade Gottes wird am Ende der Tage über sie kommen. Geheiligt sind die im Herzen Reinen, denn ihr Ruhm wird für immer scheinen.« »Amen«, sagte sie zusammen mit Rufus und den anderen Versammelten. Die Vorstellung, Ivar könnte noch am Leben sein, war fast noch schlimmer, als seinen Tod akzeptieren zu müssen. Ein Geistlicher trat vor und hielt die Lesung für diesen Himmelstag. Der Mann kam ihr bekannt vor, aber vermutlich lag das nur an dem bartlosen Gesicht und den Haaren. Wie alle Geistlichen, die sich von der Welt und den Pflichten als Hausherr, Soldat oder Bauer zugunsten der Kirche abgewandt hatten, war er glatt rasiert und trug die Haare kurz geschoren. Er wartete einen Augenblick, bis die Leute sich auf den harten Bänken zurechtgerückt hatten und wieder Stille eingekehrt war, damit sie ihn hören konnten. Die Steinmauern dämpften sämtliche Geräusche; sie konnte nichts mehr von draußen hören, so als wären sie nicht länger in Darre, sondern an einen heiligen Ort entrückt, losgelöst von der Welt. 260 »Ich bitte Euch, Schwestern und Brüder, hört die Lektion, die Gott heute, am Festtag der heiligen Dominica, sprechen.« Die Worte der Liturgie waren ihr vertraut; sie wusste, was die Gebete bedeuteten, auch wenn sie nicht jedes einzelne Wort erkannte. Aber nach den vielen Monaten in Aosta, in denen sie nun tagtäglich eine fremde Sprache gehört hatte, war sie so verblüfft, als er jetzt Wendisch sprach, dass sie einen Augenblick brauchte, um zu verstehen, was er sagte. »Und so geschah es, dass eines Tages nach den Regenfällen das geliebte Kind in die Berge ging. Als das Mädchen am Fluss unterhalb eines überhängenden Felsens entlangging, lösten sich die Steine und fielen auf sie nieder, begruben sie. Ihre mächtigen Kameraden jammerten und weinten, doch vergeblich! Der Löwe brüllte, und der Bulle brüllte, und der große Adler schrie, aber sie konnten das Kind unter den vielen Steinen nicht finden. Die demütigen Zaunkönige, die geringsten unter den Vögeln, flogen auf die Spitze des Steinhügels und riefen: >Still!< Als schließlich alle schwiegen, hörten sie die schwache Stimme des Mädchens. Sie weinte. Sie lebte noch unter den Steinen. Und wie brüllte der Löwe, wie brüllte der Bulle, und wie schrie der große Adler! Aber trotz ihrer mächtigen Stimmen, ihrer scharfen Klauen und all der Kraft ihrer Glieder konnten sie das Felsgestein nicht verrücken. Der blinde Maulwurf blinzelte aus der Erde und sagte: >Ich kann ein Loch zu dem gefangenen Kind graben, und durch dieses Loch kann sie dann in Sicherheit kriechen.< >Aber wie lange wird das dauern?<, fragte die weise Eule. Sicherlich wird das Kind sterben, bevor ein so kleines und schwaches Wesen wie du einen so großen Tunnel gegraben hat, dass sie hindurch kriechen könnte! < Der Löwe brüllte, und der Bulle brüllte, und der große Adler schrie, aber alle ihre mächtigen, vereinten Stimmen konnten das Kind nicht nähren, das da unter dem Fels gefangen war. Die kleine braune Feldmaus rief ihre Schwestern und Brüder, ihre Vettern und Kusinen, all ihre Verwandten herbei. Sie schlüpf261 ten zwischen die Lücken der Steine und trugen kleine Stücke Brot und Eichelhülsen voll Wasser zu dem gefangenen Kind, und auf diese Weise blieb sie sieben Tage lang am Leben, während der geduldige Maulwurf ein tiefes Loch durch die Erde grub, das so breit war, dass das Kind entkommen konnte. Und der Löwe und der Bulle und der große Adler verstummten, als sie sahen, dass es die Arbeit ihrer geringeren Brüder war, die das Kind gerettet hatte.« Hannas Kopf ruhte auf den gefalteten Händen. Sie hatte das seltsame Gefühl, als würde er diese Botschaft fast nur für sie sprechen. Sie sah auf, bemerkte die drei jungen Geistlichen auf den vorderen Bänken. Die Große warf einen Blick zurück, wie zu einem Gruß. Hatte diese junge Frau ihre Kameradin nicht mit »Schwester Heriburg« angeredet, dem gleichen Namen, den auch die Dienerin Aurea beiläufig erwähnt hatte? »Sie kennen sie«, murmelte sie.
»Wie bitte?«, flüsterte Rufus. »Nichts, gar nichts«, sagte sie abwehrend, aber tief in ihrem Innern wusste sie es. Sie sollte diese Geistlichen sehen und die Geschichte über die Arbeit der Geringen und Kleinen hören. Das Wissen strömte von ihren Fußsohlen herauf, machte sie schwindlig. Sie hatte fast den Eindruck, als würde die Lampe neben ihr schwanken. Ivars Schwester Rosvita war tatsächlich noch am Leben, begraben im Kerker, weil sie gesehen hatte, was die Mächtigen verheimlichen wollten. Hathui hatte die Wahrheit gesagt. Ein Rumpeln ging durch den Boden, ein knirschendes Brüllen wie das einer entfernten Lawine. Die Lampe schwankte in den Ketten, als der Dreifuß über den Stein rutschte. Eine Frau schluchzte laut auf. Die Bank machte einen Satz, als würde sie weggeschoben. Rufus fluchte. »Verdammt! Nicht schon wieder!« Erregte und ängstliche Stimmen wurden laut. Die Leute schössen auf die Tür zu, und als Hanna begriff, dass das Rumpeln und Schwanken aufgehört hatte, hatte sich schon die halbe Kirche geleert. Doch von draußen, durch die offenen Türen hindurch, hörte sie noch immer Geschrei. Am Herd stand der Geistliche, der die 262 Predigt gehalten hatte, und sprach mit den drei jungen Geistlichen. Sie wirkten angespannt und besorgt, während sie dem zunehmenden Lärm lauschten. In der Ferne rief ein Hörn zu den Waffen. Eine Frau rannte zurück in die Kirche, gefolgt von einem Dutzend anderer. »Schließt die Tür!«, schrie sie auf Wendisch. »Es gibt einen Aufruhr! Sie wollen alle Wendaner töten, die sie finden!« Die Leute rannten zur Tür, verschlossen sie und schoben Bänke davor. »Oh, Herrin! Es war die Schlange der Bedürftigen! Die Leute sind wahnsinnig geworden.« Die Tür erzitterte, als von draußen etwas mit Wucht dagegen prallte. Der linke Flügel knirschte und öffnete sich einen Spalt. »Helft uns!«, schrie einer der Männer. Zusammen mit ein paar Kameraden schlug er die Tür wieder zu. Hanna rannte mit Rufus zu ihnen und lehnte sich mit der Schulter gegen die Tür. Schläge erschütterten ihren Körper, als sie sich fest gegen das Holz stemmte. Durch die Tür hörte sie die Schreie von Männern und Frauen, doch die Wut und die ungestüme Raserei eines Mobs, der vor Hunger und Angst entflammt war, machten die Worte unverständlich. Und die Tatsache, dass es eine fremde Sprache war und nicht die ihre. Ein Axthieb erschütterte die Tür, gefolgt von einem zweiten. »Das schaffen wir nie! Sie werden uns alle töten!« Stimmengewirr erhob sich inmitten der Kirche, als die Gläubigen immer lauter weinten, stöhnten und jammerten. »Bitte, verzweifelt nicht!«, rief der Geistliche, der die Predigt gehalten hatte. »Habt keine Angst. Gott werden uns beschützen.« »Sie haben nur eine einzige Axt«, rief Hanna zwischen zwei Schlägen. »Sonst hätten sie die Tür längst eingeschlagen. Führt noch ein anderer Weg aus der Kirche? Oder gibt es eine andere Stelle, auf die wir achten müssen?« »Oh, Gott«, jammerte jemand in der schluchzenden Menge. »Vom Zimmer der Diakonissin führt eine Tür zur Gasse!« Zu spät. Ein grauenhafter Schrei zerriss die Luft. Die Diakonissin, die die Messe geleitet hatte, trat taumelnd aus dem niedrigen 263 Bogengang, der zu dem Zimmer führte. Als sie vornüber auf die Knie sank, konnten alle das Messer in ihrem Rücken sehen. »Nehmt die Bänke!«, rief Hanna, als die Tür erzitterte. Der Mob hatte es offensichtlich aufgegeben, gegen die Tür zu schlagen, sondern wartete darauf, dass jemand sie mit der Axt zerstörte. »Hebt sie auf und benutzt sie als Schilde. Werft sie. Zwei zusammen können eine heben.« Ihre Muskeln pochten bereits, ihre Arme waren mit blauen Flecken übersät. Die Tür erbebte wieder. Splitter lösten sich aus dem Holz. Wie schnell würde die Axt durchkommen? Es war nur eine Frage der Zeit. Doch wenn sie die Tür verließen, um sich dem neuen Angriff zu stellen, würden sie von zwei Seiten angegriffen werden. Niemand rührte sich. Zwei zerlumpte Männer tauchten aus dem Bogengang auf. Der erste stolperte über die Diakonissin und stürzte; er fluchte, als sein Kamerad über ihn fiel. »Rufus!« Hanna sprang, dicht gefolgt von Rufus, von der Tür weg und rannte zum Altar. »Greift Euch eine Bank!«, rief sie den erstarrten Geistlichen zu, die einfach nur zusahen, wie die beiden Halbstarken aufstanden und zerbrochene Stuhlbeine wie Knüppel hoben. Sie packte das Ende einer Bank, während Rufus das andere nahm. »Aus dem Weg.« Der männliche Geistliche schob die drei jungen Frauen beiseite. »Hoch!« Hanna und Rufus warfen die Bank, als die zwei Halbstarken auf sie zurannten. Sie prallte direkt auf sie, und sie gingen zu Boden. Sie hörte einen Knochen brechen. Einer schrie. Der andere knallte mit dem Kopf hart auf den Steinboden und erschlaffte. Hanna riss ihm das Stuhlbein aus der Hand. Rufus zog der blutüberströmten Diakonissin das Messer aus dem
Rücken. Die große Geistliche war an die Seite der Diakonissin getreten, packte ihre Knöchel und zog sie mit beachtlicher Ruhe zur Seite; eine Blutspur blieb zurück. »Es werden mehr von dort kommen«, sagte Hanna. »Ich bin überrascht, dass sie nicht schon da sind.« Sie wandte sich an den 264 Geistlichen. »Kann man die Tür zum Zimmer der Diakonissin fest verschließen?« »Ja, ich zeige es Euch.« »Gibt es hier nichts, was als Waffen dienen könnte?« »Ich kann auf diese Weise nicht kämpfen«, sagte er ruhig, aber er nahm die heilige Lampe, die den Herd beleuchtete, und riss das Altartuch vom Herd, sodass die kostbaren Silbergefäße klappernd auf den Boden fielen. Der heilige Wein und das reine Wasser ergossen sich auf den Stein, liefen die Risse im Boden entlang und vermischten sich mit dem Blut der Diakonissin. »Das wird mich schützen. Schwester Heriburg, du musst dafür sorgen, dass diese Verbrecher weder entkommen noch irgendjemandem Schaden zufügen«, sagte er dann und reichte der kräftigsten der jungen Geistlichen die Lampe. »Wie soll ich das tun?« »Irgendwie. Du musst es tun.« Er wandte sich an Hanna und Rufus. »Hier entlang.« Hanna hatte niemals in einem Chor gestanden, war niemals hinter den Herd und in eines der Heiligtümer gelangt, in denen die Diakonissinnen und Geistlichen in aller Stille meditierten und sich mit Gott berieten. An solchen Orten schliefen die Diakonissinnen, und die Kirche brachte hier die kostbaren Gewänder und Gefäße für die Messe unter. Sie erhaschte einen Blick auf zwei verblasste Wandvorhänge an den Chorwänden, dann - den Knüppel in der Hand, um sich zu wehren - duckte sie sich in den Bogengang. Der Geistliche und Rufus folgten ihr. Nach zwei Schritten gelangten sie in einen niedrigen, quadratischen Raum, der ziemlich freudlos mit einer einfachen Bettstelle, einem Stuhl, einem Tisch und einer Kiste ausgestattet war. Zwei brennende Lampen hingen friedlich von zwei eisernen Dreifüßen. Der Tisch lag auf dem Kopf, und auf dem Boden waren die herausgerissenen Seiten eines Gebetsbuches zwischen den zerbrochenen Stücken eines Stuhls verstreut. Die Kiste war geöffnet, und ein junger Mann mit schmutzigen Haaren und noch schmutzigerer Kleidung durchwühlte sie so eifrig, dass er Hanna und die anderen nicht kommen hörte. Es war unmöglich, zu erkennen, ob er ein Messer besaß. Beunruhigenderweise war 265 niemand in Sicht, obwohl die nach draußen führende Tür weit offen stand. All dies nahm Hanna wahr, noch ehe der Junge aufblickte. Bestürzung zeichnete sich auf seinem Gesicht ab, als er wie ein Hund die Zähne fletschte und seine Hand zum Gürtel fuhr. »Die Tür!«, rief Hanna und machte einen Satz nach vorn. Sie schlug ihm das Stuhlbein auf den Kopf, als ein Messer in seiner Hand aufblitzte. Er sackte wie ein Stein zu Boden. Das Messer fiel zwischen ein paar heilige Bücher, die er in seiner Suche nach etwas Kostbarem achtlos auf den Boden geworfen hatte. Durch die offene Tür hindurch hörte sie einen zweiten, weit entfernten Hornruf, gefolgt von Rufen des Triumphs und der Angst. Krachend schlug Rufus die Tür zu, was den Lärm von draußen dämpfte. Er ächzte vor Anstrengung und schob den Riegel vor. Aus dem Bogengang, der zur Kapelle zurückführte, hörte Hanna ein seltsames, schlurfendes Geräusch. Das ständige Weinen und Jammern gingen in dem Lärm beinahe unter, den die gegen die Vordertüren hämmernde Menge veranstaltete. »Wieso gibt es für die Kirchentür keinen solchen Riegel?«, fragte Hanna, während sie, Rufus und der Geistliche sich ansahen und dann auf den bewusstlosen Jungen am Boden blickten. »Die Tür zu Gottes Herd muss stets offen stehen«, erklärte der Geistliche. »Es ist immer eine Geistliche oder eine Diakonissin wach, um sich um die Lampen beim Herd zu kümmern. Diebe könnten jedoch durch die Seitentür eindringen, wenn sie Silber und Seide suchen, während Gottes Diener hier ruhen. Was machen wir mit dem hier?« Der hier hatte Warzen auf der Nase und den Händen und Eiterbläschen auf der Unterlippe. Sein Gestank brachte Hanna zum Husten. Seine Handgelenke waren so dünn wie Stöcke. Vom Hunger hatten sich tiefe Schatten unter seinen Augen eingegraben. Speichel lief ihm aus dem erschlafften Mund in den ungepflegten Bart. »Gibt es hier ein Seil?«, fragte Rufus aufgeregt. »Wir müssen ihn festbinden.« 266 Der Junge stöhnte. Sie hörten einen Ruf und Schritte, und eine der jungen Novizinnen kam in den Raum gestürzt. »Der König ist zurückgekehrt! Er ist beim Tor. Der Mob zieht sich zurück. Wir sind gerettet, Bruder Fortunatus!« Sie alle waren viel zu angespannt, um sich angesichts dieser hoffnungsvollen Neuigkeit freuen zu können, und Bruder Fortunatus warf Hanna einen Blick zu, wie ein entflohener Sklave es gegenüber seinem Kameraden tun mochte, kurz bevor ihm die Fesseln wieder angelegt wurden. »Zunächst einmal, Schwester Gerwita.« Er wies mit einem Kopfnicken auf den stöhnenden Jungen. »Schafft ihn raus und lasst ihn laufen. Ich möchte nicht jede arme Seele der Gerichtsbarkeit der Stadtwache übergeben.« »Aber -«, setzte Rufus an.
»Nein«, sagte Bruder Fortunatus. »Er hatte sein Messer noch bei sich, also kann er Diakonissin Anselva kaum angegriffen haben. Sein einziges Verbrechen ist Armut, und er hat auch noch nichts gestohlen. Die anderen beiden hingegen müssen für das, was sie der Diakonissin angetan haben, verurteilt werden.« Jubel brach in der Kirche aus, hallte durch den Bogengang. Hanna packte den Jungen an den Knöcheln und schleifte ihn zur Tür, während Fortunatus den Riegel zurückschob und sie öffnete. Es war zwar noch nicht richtig dunkel, aber die Häuser in der Gasse standen so dicht beieinander, dass sie sich vorsichtig vorantasten musste; mehr als einmal trat sie in irgendeinen Abfallhaufen. Der Gestank war überwältigend. Sie lehnte den Jungen an die Kirchenmauer. Er rührte sich und würgte. Sie taumelte zurück zur geöffneten Tür und warf dabei einen Blick die Gasse entlang zur Hauptdurchgangsstraße. Fackeln und Lampen erleuchteten eine atemberaubende Prozession. Ein unglaublicher Lärm hallte von den Mauern in der Straße wider; das Geklapper von Pferdehufen auf den Pflastersteinen vermischte sich mit den Jubellauten und Begeisterungsrufen. Rauch stach ihr in die Nase. Glockengeläut rief die Stadtwache herbei. Sie bückte sich, um sich nicht den Kopf zu stoßen, und schlüpfte wieder ins Zimmer zurück. Rufus verriegelte die Tür hinter ihr, 267 während sie im Licht der Lampe die Sohlen ihrer Sandalen untersuchte, um sicherzugehen, dass sie nicht in irgendetwas Widerliches getreten war. Sie nahmen beide Lampen mit, als sie zum Chor zurückkehrten. Die Vordertüren waren aufgerissen worden. Die meisten Gläubigen hatten die Kirche verlassen, aber ein Dutzend wartete bei der Tür, zu vorsichtig, um wegzugehen. Die Mauern wirkten jetzt ganz anders, und als Hanna ihre Lampe hochhielt, bemerkte sie, dass sie nicht getüncht waren. Die zwei Wandvorhänge lagen auf dem Boden, waren fest um die zwei Verbrecher gewickelt. Es war seltsam, sie so zusammengekrümmt zu sehen. Die große Geistliche und die Schwester namens Gerwita kauerten beim Herd und flüsterten mit Bruder Fortunatus, der noch immer das Altartuch in der Hand hielt. Die Dritte kniete bei der verletzten Diakonissin; sie hielt eine löwenförmige Lampe in der einen Hand und presste mit der anderen ein Stück Stoff, das sie von ihrem Gewand abgerissen hatte, auf die Wunde am Rücken. Blut befleckte das weiße Gewand der Diakonissin. Hanna kniete sich neben sie. »Schwester Heriburg, wird sie überleben?« Die Schwester hatte ein sanftes, freundliches Gesicht, aber einen Blick, der so hart war wie der Anblick schwarzer Sturmwolken im Winter. »Ich bete dafür. Es liegt jetzt in Gottes Hand.« Rufus war zur Tür gegangen, um den Schaden zu untersuchen, den die Axt angerichtet hatte. Hier im Bereich des Chors waren sie jetzt allein, abgesehen von dem gedämpften Stöhnen und den furchtsamen Flüchen der Männer, die in die Wandbehänge gewickelt auf dem Boden lagen. Sie hatten nur zwei Lampen. Im Hauptschiff brannten noch fünf oder sechs, aber die meisten waren von den Gläubigen zur Tür mitgenommen worden, bildeten einen Schleier aus Licht, der das abschirmte, was dahinter lag. »Seid Ihr Henry treu ergeben, Adler?«, fragte Bruder Fortunatus, der neben sie getreten war. »Ja. Deshalb bin ich gekommen.« »Von Prinzessin Theophanu.« Sie war zwar diesem Mann in all den Monaten, die sie im könig268 liehen Palast herumlungerte, noch nie begegnet, aber sie wusste, dass die Nachricht über ihre Ankunft sicher von den geringsten Hallen zu den höchsten weitergetragen worden war. »Ich bin auf Befehl von Prinzessin Theophanu hierher geritten, um ihrem Vater, dem König, eine Nachricht zu überbringen.« »In der Zeit, als Ihr bei Theophanu gewesen seid, ist da niemals ein Adler eingetroffen?« Sie erhob sich steif. Ihre Beine schmerzten, und ihre Schulter pochte. Sogar ihre Finger taten weh, so fest hatte sie das Stuhlbein gepackt, als sie dem Dieb einen Schlag auf den Kopf versetzt hatte. Die beiden Frauen standen jetzt neben Bruder Fortunatus: die große, deren Namen sie noch immer nicht wusste, und die schüchterne Gerwita. Sie wirkten kaum wie ruchlose Verschwörer. War es nicht möglich, dass Henry Feinde hatte, die versuchten, jene in die Falle zu locken, die ihm am meisten ergeben waren ? Wenn EJathui die Wahrheit gesagt hatte, würden jene, die jetzt Henry beherrschten, alle auszulöschen versuchen - sogar einen gewöhnlichen, machtlosen Adler, der ihnen zuwiderhandeln könnte. Alles war möglich. Der laute Jubel draußen schwoll noch einmal gewaltig an, als einige angesehene Personen - vielleicht Henry und Adelheid persönlich - die Straße entlangzogen. »Während ich bei Prinzessin Theophanu war, ist kein Adler zu ihr gekommen, aber nördlich der Berge ist mir eine Kameradin begegnet, die aus Aosta kam. Sie ist in die eine, ich bin in die andere Richtung geritten. Ich weiß nicht, wo sie sich jetzt aufhält.« Bei der Erinnerung an Hathuis Miene am Ende ihres Gesprächs vor so vielen Monaten schnürte sich ihr die Kehle zu. Doch bei aller Verbitterung, die sich ihrer immer bemächtigte, wenn sie an Sanglant und Bulkezu dachte, konnte sie Hathui nichts Böses wünschen. »Ich bete darum, dass sie wohlauf ist.« »Achtet auf -« Fortunatus brach ab, als Rufus ihr etwas zurief und die Leute an der Tür in Dankesrufe ausbrachen und mit gesenkten Köpfen niederknieten. Eine große, elegante Gestalt trat aus dem Schein des Lampenlichts wie ein Engel, der aus der Dunkelheit kam, um die Umnachteten in die Erlösung zu führen.
269 Nur war der hier kein Engel. Sie erkannte ihn, noch bevor sie ihn deutlich sah. Wer ihn einmal gesehen hatte, würde ihn niemals vergessen können - schon gar nicht, wenn er wie jetzt vom Licht etlicher Lampen und vom aufrichtigen Jubel der Leute umgeben war, die ihm dafür dankten, dass seine rechtzeitige Ankunft sie vor dem sicheren Tod bewahrt hatte. Ein Feuer brannte in Hannas Herzen, und sie machte ein paar Schritte nach vorn, bevor sie sich in Erinnerung rief, was er Liath angetan hatte. Sie hörte kaum das Flüstern und die Schritte hinter ihr, als Hugh die Kirche betrat. Presbyter Hugh, wie ihn hier alle nannten. Alle hatten von ihm gesprochen, aber es war leicht, Worte zu ignorieren. Worte hatten keine goldenen Haare, kein hübsches Gesicht und keine anmutige Gestalt. »Ist es hier passiert?«, fragte er mit empörter Besorgnis. Er erhaschte einen Blick auf Rufus. »Ein Adler! Ich danke Gott, dass Ihr überlebt habt. Möge die Herrin Erbarmen haben! Seht nur, wie sie versucht haben, durch die Tür zu brechen.« Es war unmöglich, nicht von dieser schönen Stimme bewegt zu werden, so volltönend und beruhigend klang sie. Unmöglich auch, sich nicht einlullen zu lassen, bis zu dem Moment, als er aufblickte und sie direkt ansah. Sie erstarrte auf der Stelle, fand sich fast in der Mitte des Hauptschiffs wieder, ohne dass sie gewusst hätte, wie sie dorthin gelangt war. Als wäre sie von einem Strick gezogen worden. Er sah sie. Er kannte sie. »Er weiß es immer.« Liath hatte diese Worte vor langer Zeit in Friedleben gerufen. Und er hatte es an jenem Tag tatsächlich gewusst. Er war zurückgekehrt, um Hanna daran zu hindern, mit ihrer Freundin zu sprechen. Er hatte derjenigen, die er zu seiner Sklavin gemacht hatte, nicht den geringsten Trost gegönnt. So wie Bulkezu. Durch Hannas Körper lief ein solcher Schauer der Vorahnung, dass die Lampe in ihrer Hand zitterte. Er lächelte freundlich, und sie erinnerte sich daran, wie er sie an jenem Tag in Friedleben im 270 Schein der Kapelle angesehen hatte: als würde er sie mustern, um herauszufinden, ob sie eine Bedrohung für ihn darstellte. Er hatte sie damals weggeschickt. Sie war nur eine Gewöhnliche. Er mochte sich an ihr Gesicht erinnern, wegen ihrer Verbindung zu Liath, aber sie bezweifelte, dass er sich ansonsten an sie erinnerte. Es war besser, wenn sie den Namen nicht kannten, den man trug. »Wir haben gehört, dass ein Adler von Prinzessin Theophanu gekommen ist«, sagte er und trat auf sie zu. Sie erinnerte sich daran, dass sie niederknien musste; auf diese Weise fand sie einen weiteren blauen Fleck unter ihrem rechten Knie, den sie sich unbemerkt zugezogen haben musste. Er blieb bei ihr stehen, sah sie aber nicht an, denn er musterte mit einem Ausdruck milder Überraschung den Chor. »Seid Ihr die Letzten hier?« Rufus stand hinter ihm; auch er starrte verblüfft auf den Chor und die sich krümmenden Wandteppiche. Sie drehte sich um. Die vier Geistlichen waren verschwunden. »Die anderen Geistlichen -«, begann Rufus. »- sind in Todesangst mit dem Rest geflohen«, unterbrach sie ihn. »Nur wir sind noch hier. Eure Exzellenz, darf ich mich bitte erheben? Da vorn sind eine verletzte Diakonissin und zwei Verbrecher, die sie angegriffen haben. Die Frau ist schwer verletzt.« Hugh kniete neben der Diakonissin nieder und hob den blutbeschmierten Stoff von der Wunde. Er runzelte die Stirn und legte ihr seine Finger an den Hals, dann schüttelte er den Kopf. »Sie ist tot. Mögen Gott Gnade mit ihrer Seele haben.« Nachdem er einen Segen gemurmelt hatte, blickte er auf. »Kennt Ihr ihren Namen?« »Nein, Eure Exzellenz«, log sie. »Mein Kamerad und ich sind heute zum ersten Mal nach St. Asella gekommen, weil es hieß, dass wir hier die Messe auf Wendisch hören könnten, wonach unsere Seelen sich nach so langer Zeit in einem fernen Land gesehnt haben.« »Ah.« Er wischte seinen mit einem Tropfen Blut verschmierten Zeigefinger am Gewand der Diakonissin ab und erhob sich. »Adler.« Er machte Rufus ein Zeichen. »Draußen warten einige Soldaten des Königs. Sorgt dafür, dass diese Verbrecher in den Kerker geschafft werden. Ich lasse Geistliche von der Gelehrtenschule der 271 Königin kommen, die die arme Diakonissin wegbringen und die Beerdigung vorbereiten werden.« Er trat zum Herd und musterte die heilige Lampe, die auf dem nackten Steinboden abgestellt worden war, die verstreut umherliegenden Gefäße und das achtlos hingeworfene Altartuch. »Ein schwerwiegendes Verbrechen«, sagte er, als er das Altartuch und die Gefäße aufhob und alles wieder an Ort und Stelle schaffte, den goldgesäumten Stoff über der Herdstelle glatt zog und die kostbaren Gefäße in der richtigen Anordnung abstellte, sodass sie die Herrlichkeit der Kammer des Lichts widerspiegelten, die alle treuen Seelen erwartete. »Es ist ein schwerwiegendes Verbrechen, sich gegen jene zu verschwören, die Gott und den Herrschenden dienen.« Sein Blick fiel auf sie, die nur auf seine Erlaubnis wartete, gehen zu dürfen. Er hatte wunderschöne Augen in einem hellen, betörenden Blau, aber in ihren Tiefen sah sie einen Splitter aus Eis. »Nicht wahr, Hanna?« »Eure Exzellenz.« Das war alles, was sie herausbrachte.
»Ihr werdet mich begleiten. Ihre Majestäten König Henry und Königin Adelheid werden Euren Bericht hören wollen. Ebenso wie ich.« 2 Das Kloster Herford wirkte etwas heruntergekommen, als hätte sich ein unfähiger Verwalter nicht genügend darum gekümmert. Als Ivar sich jedoch mit seinen Kameraden dem Haupttor näherte, sahen sie Gerüste am Kirchturm. Männer arbeiteten auf Leitern und Plattformen, tünchten die Wände. Jenseits der niedrigen zweifachen Palisade, die die Klostergebäude vom übrigen Besitz trennte, banden Laienbrüder neues Stroh auf das Dach des Dormitoriums der Mönche. Vor den Mauern sägten und hämmerten andere Männer, um Bänke und Tische herzustellen, während drei Arbeiter damit beschäftigt waren, einen Brennofen aus Ziegelsteinen zu bauen. 272 Der Torwächter hatte große Hände, eine große Nase und verfiel in eine fast schon übertriebene Fröhlichkeit, als er erkannte, dass es sich bei den Besuchern um Edelleute handelte. »Kommt herein, Freunde, kommt herein. Wir freuen uns, Nachrichten aus dem Osten zu erhalten.« Er wandte sich an einen mageren Jungen, der gerade auf einen Apfelbaum klettern wollte. »Sag dem Gastmeister, dass ich Besucher mitbringe.« Der Junge rannte davon. Sie folgten etwas langsamer, da der Torwächter deutlich hinkte. Aber diese Behinderung schwächte sein Mundwerk nicht im Geringsten. »Der alte Abt ist letztes Jahr gestorben, möge er friedlich in Gottes Händen ruhen. Vater Ortulfus ist in diesem Frühjahr zu uns gekommen, und auch wenn ich ungern schlecht über die Toten rede, muss ich doch sagen, dass er die Dinge wieder in Ordnung gebracht hat, denn ich fürchte, das Kloster war ein bisschen heruntergekommen. Vater Ortulfus hat sogar jemanden nach Darre geschickt, um zu erfahren, ob sich ein Handwerker finden lässt, der den Einhorn-Springbrunnen reparieren kann, von dem Ihr sicher gehört habt.« »Ich fürchte, das haben wir nicht -«, begann Ivar. Der Torwächter redete jedoch einfach weiter, während er sie zu einem Seitentor drängte, von dem aus man zu einem Innenhof gelangte. Der Hof war von einem hohen Zaun umgeben und beherbergte einen kleinen Kräutergarten, eine mit Kies bestreute freie Fläche und drei eckige Blockhäuser, die alle frisch verputzt waren. »Nein? Ihr werdet ihn früh genug sehen. Hier muss die junge Edelfrau allerdings zurückbleiben, denn Frauen haben jenseits der Klostermauern keinen Zutritt. Vater Ortulfus hat seine Kusine mitgebracht, die die Aufsicht über das Gästehaus führt; bei ihr sind ein paar Dienerinnen, um sicherzustellen, dass es den Edelfrauen, die mit der Rundreise des Königs oder anderen Reisenden hier vorbeikommen, an nichts mangelt. Ich muss gestehen, dass Frauen unter der Leitung von Vater Bardo die Erlaubnis hatten, sich im Kloster aufzuhalten, aber das ist jetzt nicht mehr so.« Eine hübsche junge Frau mit heller Haut und einem fast geistlosen süßen Lächeln trat aus einem der Landhäuser. »Wen habt Ihr uns denn da mitgebracht, Bruder Felicitus ?« Sie konnte kaum älter 273 als vierzehn sein. »Wir hatten seit einer Ewigkeit keine Besucher mehr, aber ich fürchte, Edelfrau, Ihr benötigt dringend ein Bad.« Sie klatschte in die Hände. Drei andere, genauso junge Frauen eilten herbei, gefolgt von einer eher würdevoll einherschreitenden älteren Matrone, die das Gesicht eines Wachhundes hatte, der bereit war, erst zuzubeißen und dann zu knurren. »Ich bin Edelfrau Beatrix«, sprach das erste Mädchen weiter. »Vater Ortulfus' Kusine. Er ist jetzt mein Vormund, da meine Eltern tot sind. Er hat mich hierher gebracht - oh!« »Oh!«, machten auch ihre jungen Kameradinnen. Sie hatten Baldwin entdeckt. »Geht am besten gleich weiter, Bruder Felicitus«, sagte die Matrone drohend und stellte sich zwischen ihre Schützlinge und die Versuchung. Hathumod trat mit einem streitbaren Funkeln in den Augen vor. »Ich danke Euch für Euer Willkommen, Edelfrau Beatrix. Ich bin Hathumod. Meine Großmutter war eine Gräfin in den Marklanden. Ich bin zuerst Novizin in Quedlingham gewesen -« »Wie seid Ihr dann hierher gekommen?«, unterbrach Edelfrau Beatrix sie, ohne dabei den Blick von Baldwin abzuwenden. Der starrte derweil sehnsüchtig auf einen mit einer Markise überdachten Tisch, der mit Wein, Brot und Käse gedeckt war. »Wo sind Eure Kameradinnen ?« »Ich bitte Euch, Freunde.« Bruder Felicitus räusperte sich. »Ziehen wir uns an einen geeigneteren Ort zurück.« »Ich bin so hungrig«, sagte Baldwin wehleidig. »Wir haben seit zwei Tagen nichts gegessen.« Edelfrau Beatrix raste zum Tisch und holte Baldwin einen ganzen Laib noch ofenfrisches Weißbrot. »Ich danke Euch«, sagte er und betrachtete jetzt mit der ganzen Wucht seines hellen Blicks ihr unschuldiges Gesicht. Ivar hatte den Eindruck, sie würde in Ohnmacht fallen, aber vielleicht war er selbst ganz benommen, weil das frische Brot so gut roch und auch er furchtbar hungrig war. »Kommt, kommt.« Bruder Felicitus scheuchte seine Schützlinge auf das Tor zu. »Halten wir uns hier nicht länger auf. Wenn Ihr 274 mir bitte folgen würdet, ich werde dafür sorgen, dass Ihr etwas zu essen bekommt.« Während die Männer sich zurückzogen, begann Hathumod zu sprechen. »Wie ich hierher gekommen bin, ist eine
lange Geschichte. Wenn Ihr genügend Geduld für sie aufbringt, wird sie Euch vollkommen verändern.« »Eine Geschichte kann gar nicht zu lang sein, wenn sie spannend ist, denn hier ist es schrecklich ruhig«, erwiderte Beatrix. »Wir bekommen so wenig Besuch ...« »Sie ist noch sehr jung«, sagte Bruder Felicitus, während er das Tor zumachte und damit sich und die anderen vom Wohnbereich der Frauen ausschloss. Die Männer folgten ihm durch ein Tor im Holzzaun, der den klösterlichen Bereich von den unheiligen Gebäuden zwischen dem inneren und dem äußeren Zaun trennte. »Aber ihre Eltern sind tot, ihr älterer Bruder ist mit Prinzessin Sapientia nach Osten geritten, und ihre ältere Schwester ist bei der Schlacht zur Befreiung Gents umgekommen. Sie ist entfernt mit Herzogin Luitgard verwandt, aber der König hat die Herzogin auf seine große Reise nach Aosta mitgenommen. So blieb es ihrem Vetter Ortulfus überlassen, sie zu leiten.« Nachdem er die hochrangige Herkunft des Abtes deutlich gemacht hatte, fühlte er sich berechtigt, Baldwin argwöhnisch zu mustern, als fürchtete er, dass der Neuankömmling vorhatte, die arme, junge Edelfrau Beatrix in ein Leben voller Ausschweifungen zu locken. Baldwin war jedoch zu sehr damit beschäftigt, den Brotlaib in vier gleich große Teile zu brechen, um das zu bemerken. »Ich bin sicher, dass Vater Ortulfus ein frommer Mann ist«, sagte Ivar. »Das ist er. Hier ist das Dormitorium der Arbeiter.« Felicitus deutete auf eine lange Halle mit einer Veranda davor. »Hier wohnen die Diener des Abtes und des Königs.« Er nickte den beiden Löwen zu. »Unser Zirkator Bruder Lallo wird sich Euer annehmen. Da kommt er schon.« Bruder Lallo war muskulös und makellos gepflegt. Für einen Zirkator - den Mönch, der die Handwerker beaufsichtigte - waren seine Hände bemerkenswert sauber. 275 »Können sie arbeiten?«, fragte er, während er Gerulf und Dedi musterte. Ihm schien nicht zu gefallen, was er sah. Sie waren alle ungekämmt. »Ich habe in diesen Tagen ein volles Haus, denn es herrschen unruhige Zeiten, wie Ihr sehr wohl wisst, Bruder Felicitus. Ich wünschte, Ihr hättet mich vorher gefragt -« »Und riskiert, dass Ihr sie weiter nach Oerbeck schickt, wo sie nicht mehr als eine dünne Suppe zum Essen bekommen? Wir sind immer noch ein Kloster des Königs, Bruder, und Gottes Haus. Wir haben eine Verpflichtung gegenüber Reisenden.« »Und Vagabunden, wie es aussieht!«, erwiderte Bruder Lallo säuerlich. »Immerhin haben sie keine Hunde dabei! Dann kommt also mit. Ihr seht kräftig aus, das muss man Euch lassen.« »Wir sind Löwen im Dienste des Königs«, sagte Gerulf aufrichtig verärgert. Lallo blinzelte. »Wieso seid Ihr dann nicht beim König?« Dedi setzte zum Sprechen an, doch Gerulf bedeutete ihm zu schweigen. »Das ist eine lange und verdammt seltsame Geschichte, denn ich habe etwas erlebt, das nur wenige glauben würden -« Er brach ab, rieb sich das Kinn. »Nun ja. Meine Kehle ist zu trocken, um viel zu reden.« »Dann kommt mit«, sagte Lallo eifrig. »Wir werden Euch Bier holen lassen. Es gibt Haferbrei und Äpfel zum Essen. Eine lange Geschichte ist hier stets willkommen.« Während Gerulf und Dedi zum Schlafsaal der Arbeiter gingen, reichte Baldwin Ivar, Ermanrich und Sigfrid ihren Anteil vom Brot. Ivar hatte seinen hinuntergeschlungen, noch ehe sie das innere Tor erreichten, aber er wurde dadurch nur noch hungriger. Beim inneren Tor übergab Bruder Felicitus sie der Obhut des rundlichen Gastmeisters, der dafür sorgte, dass sie sich waschen konnten und mit sauberen Gewändern ausgestattet wurden, die ihrem Rang angemessen waren und in denen sie rechtzeitig zum abendlichen Mahl am Tisch des Abtes erscheinen konnten. Vater Ortulfus war jung, lebhaft und sah gut aus. Er hatte einen sarkastischen Blick, aber als er sich erhob, um die Gäste zu begrüßen, blitzte in seinem Gesicht auch eine gewisse Fröhlichkeit auf. Die Mönche am Tisch rissen vor Staunen den Mund auf, als sie 276 Baldwin sahen, der sich inzwischen gewaschen hatte. »Meine Spione haben mir von Eurer Ankunft berichtet. Bitte nehmt auf diesen bescheidenen Bänken Platz.« Ivar lächelte nur, denn sämtliche Möbelstücke im Esszimmer des Abtes waren so kunstvoll geschnitzt und bemalt, wie es dem Sohn eines vornehmen Hauses angemessen war. »Ihr seid sehr freundlich, Vater Ortulfus. Wir haben einen seltsamen Weg beschritten. Ich bin Ivar -« »- Sohn von Graf Harl aus der Nordmark und seiner letzten Frau, Edelfrau Herlinda«, beendete Ortulfus den Satz. »Bevor ich Abt wurde, hatte ich die Ehre, Mitglied der Gelehrtenschule von Bischöfin Constanze zu sein. Nie werde ich die Verhandlung vergessen, in der ein ausgesuchter Rat in Autun über die Vorwürfe gegen Hugh von Austra geurteilt hat. Und ich nehme an, Ihr werdet es auch nicht vergessen, Bruder Ivar.« Ivar errötete. Er wusste, dass seine helle Gesichtshaut ihn verriet, denn so war es immer bei ihm. Seine Wangen brannten. »Nein, ich vermute, ich werde es nicht vergessen.« Baldwin hatte sich bereits neben einem schlanken, vornehm wirkenden Mönch niedergelassen, dessen Gesichtsausdruck leider alles andere als rein war, als er Baldwin anbot, die Platte mit dem dampfenden und großzügig gewürzten Hähnchen mit ihm zu teilen. Ermanrich und Sigfrid blieben noch bei der Tür stehen, warteten auf Ivars Reaktion. »Gott wissen, dass Vater Hugh überheblich war«, sagte Ortulfus, während sein Gefolge aus Klosterdienern und hochrangigen Mönchsbrüdern begierig zusah. »Ich nehme an, das kommt daher, dass er der Sohn einer
Markgräfin ist.« Er warf Baldwin einen kurzen Blick zu, ehe er Ivar sarkastisch anlächelte. »Ich gebe zu, Bruder Ivar, dass es mir nicht Leid getan hat, Euch so gegen Vater Hugh auftreten zu sehen, auch wenn Ihr es nur deshalb getan habt, weil Ihr von der Zauberin, von der die Rede war, selbst verzaubert worden wart.« »Vielleicht war dem so«, erwiderte Ivar und fühlte sich gleichermaßen angegriffen wie geschmeichelt. »Vielleicht hat Hugh auch gelogen. Ich könnte Euch erzählen -« 277 »Davon bin ich überzeugt«, unterbrach der Abt ihn freundlich. »Aber ich bitte Euch, trinkt und esst zuerst, denn Ihr seht hungrig aus. Als Bischöfin Constanze mich zum Abt dieses Klosters ernannt hat, hat sie mir eingeschärft, stets gut für Reisende zu sorgen. Wollt Ihr nicht einen Teller mit mir teilen, Bruder Ivar?« Niemand konnte eine solche Ehre zurückweisen. Auf diese Weise saßen die vier Besucher voneinander getrennt, und jeder wurde von einem Klosterbruder unterhalten. Der Wein floss in Strömen. Der Abt knauserte nicht, wenn es ums Essen ging. Das köstliche Hähnchen übertraf alle Erwartungen, die Ivar gehegt hatte, gefolgt von einer klaren Brühe, mit der man den Gaumen reinigte, denn danach kam das Fleisch, ein Stück Rinderbraten, das so schwer war, dass zwei Diener die Platte gemeinsam tragen mussten. Dem Fleisch folgten drei verschiedene Nachspeisen, von denen eine üppiger war als die vorhergehende, und dann gab es auch noch Äpfel, Birnen, Pflaumen, Kirschen und die klebrigen Honigkuchen, die an Festtagen üblich waren. Im Laufe des Mahls wurde Ivar klar, dass dieses erstaunliche Festessen tatsächlich zu Ehren einer Heiligen abgehalten wurde. Ein junger Mönch mit einem so gewöhnlichen Gesicht, dass man zögerte, ihn zweimal anzusehen, sang mit höchst lieblicher Stimme verschiedene Hymnen zu Ehren von St. Ingrith, der Schutzheiligen der Weber und Wohltäterin all jener, die mit einem unerwarteten Schicksalsschlag zu kämpfen hatten. Die Schlacht gegen die Qumaner war Ende Aogoste geschlagen worden. Der Festtag von St. Ingrith wurde gegen Ende Setenter gefeiert, beinahe einen ganzen Monat nach der Tagundnachtgleiche. Es war unmöglich, dass in den zwei Tagen, seit sie den Qumanern entkommen waren, beim Kloster Herford über ein Monat vergangen sein sollte. Und es war genauso unmöglich, dass sie den Weg vom östlichen Grenzland bis ins Herz von Wendar durch das Betreten eines Hügelgrabs bewältigt haben sollten. »Ihr habt gesagt, Ihr hättet eine seltsame Geschichte für uns«, meinte Vater Ortulfus. »Ich gestehe, dass die Sünde der Neugier an mir nagt, denn wie ich glaube, ist Euer gut aussehender Kamerad der berühmte junge Bräutigam von Markgräfin Judith - mit278 hin der gleiche Junge, der in der Nacht nach der Verhandlung gegen Hugh von Austra verschwunden ist.« Obwohl Baldwin die ganze Zeit über den Anschein erweckt hatte, als würde er sich nur um sein Essen kümmern, sprang er jetzt auf, bereit wegzulaufen. »Ich werde nicht zu ihr zurückgehen!« Ortulfus lachte überrascht auf. »Nein, das werdet Ihr sicher nicht. Wisst Ihr möglicherweise gar nicht, dass sie vor drei Jahren in einer Schlacht gegen die Qumaner getötet wurde?« Der reife, süßliche Geruch des Pflaumenweins bereitete Ivar Übelkeit. Der Hospitalus rülpste. Der Sänger brach ab und schwieg, und alle wandten sich dem Abt und seinen Gästen zu. »Ich verstehe nicht ganz, was Ihr da sagt«, erklärte Ivar und schob den Becher Pflaumenwein von sich. »Wir haben vor nicht einmal einem Monat gesehen, wie Markgräfin Judith ihre Truppen unter dem Befehl von Prinzessin Sapientia und Prinz Bayan in die Schlacht gegen die Qumaner geführt hat.« Die Mönche legten ihre Löffel und Messer nieder, blickten Vater Ortulfus beunruhigt oder bedeutungsvoll an. Ivar musterte sie. Jeder von ihnen trug ein Gewand und ein Zeichen, das seinen Platz innerhalb der Klosterordnung verriet. Der Abt trug einen Kreis der Einigkeit aus Elfenbein mit wunderbar geschnitzten Miniaturszenen aus dem Leben des heiligen Daisan. Neben ihm saß der rundliche Gastmeister, dessen Umhang von einer Schnalle in der Form eines Weinfasses zusammengehalten wurde, die für Gastfreundschaft stand. Der Stellvertreter des Abtes, der Prior, trug ein Dutzend Schlüssel aller Formen und Größen an einer Goldkette um den Hals. Der Hospitalus hatte seinen Merkurstab, der Kellermeister seinen silbernen Löffel, der Hauptschreiber seine Feder, der Novizenmeister einen Stift und der Küster ein kleines goldenes Gefäß, das für das Öl stand, das das Licht auf dem heiligen Altar nährte. Selbst die Bediensteten, die sich in sämtlichen Ecken des Zimmers um die Kohlenpfannen kümmerten, trugen Broschen aus Bronzedraht, der zu Besen zusammengedreht war, auch wenn sie mit ihren kräftigen Schultern und der soldatischen Haltung so aussahen, als kämen sie geradewegs aus einem Krieg. »Mein Freund«, begann Vater Ortulfus und wählte seine Wor279 te mit Bedacht, »Prinz Bayan ist seit zwei Jahren tot, in der Schlacht an der Veser gefallen. Es ist eine lange Reise von den Marklanden bis hierher zum Kloster Herford, und sie ist nicht einmal von so kräftigen jungen Männern wie Euch in einem Monat zurückzulegen.« Er schob seinen Becher eine Handbreit nach rechts. Ein Diener trat ein, beugte sich zum Ohr des Küsters hinab, flüsterte ihm etwas zu und wartete dann. Mit einem entschuldigenden Nicken erhob sich der Küster. »Ich bitte Euch, Vater, wir haben kein Öl mehr für die Herdlampe.« »In Ordnung.« Der Küster verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich. Vater Ortulfus fuhr fort. »Nach der Verhandlung in Autun ist der Hof davon ausgegangen, dass Ihr den Klauen
von Markgräfin Judith durch die Hilfe von Prinz Ekkehard entkommen seid, dessen Vorliebe für Edelmann Baldwin - wie soll ich sagen - bekannt geworden war. Als wir hörten, dass Prinz Ekkehard die neue Markgräfin Gerberga geheiratet hat, glaubten jene von uns, die sich an die Verhandlung erinnerten, dass die Heirat in gewisser Weise einen Ausgleich für den Raub von Judiths jungem Ehemann darstellen sollte. Ihr könnt Euch also vorstellen, dass Euer Erscheinen hier und zu diesem Zeitpunkt mehr Fragen aufwirft als beantwortet.« »Setzt Euch wieder hin«, sagte Baldwins Tischnachbar mit einem öligen Lächeln. »Möchtet Ihr nicht noch ein Stückchen Honigkuchen?« Baldwin blieb störrisch stehen. »Ihr braucht nicht zu befürchten, dass hier jemand den Verwandten von Markgräfin Judith loyal ergeben ist«, fügte Vater Ortulfus hinzu. »Wir sind zuerst und vor allem Diener unserer höchst gnädigen und herrlichen Bischöfin und Herzogin Constanze.« Ermanrich und Sigfrid sahen Ivar an. Ivar erhob sich langsam. »Baldwin, ich bitte dich, setz dich wieder hin.« Mit einem reizenden Stirnrunzeln nahm Baldwin wieder 280 Platz. »Ist dies irgendein Trick, Vater Ortulfus? Wir sind weit und auf seltsamen Pfaden gereist, und wir haben viele Wunder gesehen, von denen eines darin bestanden hat, dass Gott uns vor den Qumanern gerettet hat. Wir haben von Gott die Verpflichtung erhalten, jenen, die noch in Dunkelheit verweilen, die Wahrheit zu bringen, denn es ist uns offenbart worden, dass die Kirche all die Jahre eine falsche Lehre verbreitet hat. Denn Gott hat die Welt so geliebt, dass Sie uns Ihren einzigen Sohn geschenkt hat, damit Er unsere Sünden auf sich nehmen konnte.« Ermanrich übernahm das Wort. »Er wurde vor Kaiserin Thaissania, Die Mit Der Maske, gebracht, und Er weigerte sich, vor ihr niederzuknien, denn Er wusste, dass nur Gott einer solchen Huldigung würdig ist. Die Kaiserin hat Ihn häuten lassen, wie es damals gewöhnlich mit Verbrechern geschah, und Ihm wurde das Herz herausgeschnitten und auf den Boden geworfen, wo die Hunde es in Stücke rissen. Sind wir nicht selbst diese Hunde?« »Ich wusste es!«, donnerte der Prior. »Das ganze Gerede, das wir im letzten Jahr von den Vagabunden gehört haben, musste ja irgendwoher kommen. Hier liegt die Wurzel des Übels!« »>Ein Novize, vergiftet durch Ketzerei.<« Der Abt hatte eine elegante Art, seine Wut zu zeigen. Seine Verachtung und seine Entrüstung waren eine gut geschärfte Waffe. »Dessen hat man Euch schon angeklagt, als Ihr bei der Verhandlung von Hugh von Austra vorgetreten seid, Bruder Ivar. Leugnet Ihr und Eure Brüder etwa, dass die Mutter und der Vater des Lebens das Universum erschaffen haben? Bekennt Ihr Euch immer noch zur abscheulichen Ketzerei der Erlösung?« »Es ist keine Ketzerei! Die Schwester des Königs, die jetzt Äbtissin von Quedlingham ist, hat Sigfrid zur Strafe die Zunge herausschneiden lassen, weil er nicht aufgehört hat, die Wahrheit zu sagen. Und doch spricht er mit einer reineren Stimme als Ihr oder ich, aufgrund des Wunders, als der Phönix sich aus der Asche erhoben hat. Wieso hätte Gott ihm seine Stimme wiedergeben sollen, wenn er doch nur Falschheiten von sich gibt?« »Es war das Zeichen des heiligen Daisan.« Sigfrids Gesicht leuchtete, als er sich an den Ehrfurcht gebietenden Augenblick er281 innerte, da der Phönix seine Schwingen ausgebreitet hatte und in aller Pracht in den Sonnenaufgang aufgestiegen war, eine Spur aus Blumen hinter sich herziehend. »Denn der heilige Daisan ist auch vom Tode auferstanden, um für uns alle das Leben zu werden.« »Ihr seid noch immer befleckt«, erklärte Vater Ortulfus. »Wenn Ihr mit Gott gehen wollt, so geht in Schweigen und befreit Euer Herz vom Griff des Feindes. Verschont uns mit weiteren derartigen Geschichten, die sich wie eine Pest auf der Erde verbreiten !« Zu spät erkannte Ivar die Bediensteten als das, was sie wirklich waren: Soldaten, die den Dienst quittiert hatten. Sogar der Abt wirkte wie ein Mann, der im Heer der Bischöfin an einigen Schlachten teilgenommen hatte. Sie waren viele, und Ivar und seine Freunde waren nur wenige. »Aber es ist ein Phönix da gewesen«, beharrte Baldwin. »Ich hasse es, wenn die Leute mir nicht glauben.« »Wo hat dieses Wunder denn stattgefunden?«, wollte der Prior wissen. »In den Grenzlanden, einige Tagesreisen östlich von Gent«, antwortete Ivar. »Das ist praktischerweise ziemlich weit weg von hier«, meinte der Abt. »Habt Ihr keine anderen Zeugen?« »Die Dorfbewohner haben es gesehen«, sagte Ermanrich. »Die Dorfbewohner sind nicht hier, mein Freund. Was ist mit den Löwen, die Euch begleitet haben ? Oder mit Edelfrau Hathumod?« »Prinz Ekkehard hat es gesehen, genau wie alle seine Kameraden«, erklärte Baldwin. »Prinz Ekkehard wohnt jetzt auch weit weg im Osten, und er ist mit Markgräfin Gerberga verheiratet -« »Das ist er nicht!«, rief Baldwin, der besonders ungehalten wurde, wenn er sich auf absolut sicherem Boden wusste. »Er ist Abt von St. Perpetua in Gent. Es kann unmöglich verheiratet sein. Und er war gerade in der Schlacht, zusammen mit uns. Ich habe gesehen, wie er niedergeschlagen wurde!« »Es heißt, dass Prinz Ekkehard viele Dinge überlebt hätte, da-
282 runter Schlachten, Gefangenschaft und seine eigenen verräterischen Taten. Ich glaube, Eure Erinnerung ist etwas durcheinander geraten, Bruder Baldwin.« »Das ist sie nicht« »Baldwin.« Ivar hatte das ungute Gefühl, als würde er etwas furchtbar Wichtiges übersehen. »Vater Ortulfus, Ihr müsst uns vergeben, wenn wir etwas verwirrt wirken. Es kommt mir so vor, als wären erst wenige Nächte vergangen, seit wir Markgräfin Judith und Prinz Bayan lebend gesehen haben. Es kommt mir vor wie ein schlechtes Omen, wenn ich höre, dass sie tot sind.« »Ivar!« Sigfrids Flüstern klang wie das Gemurmel von Geistern im Wind. Sigfrid war etwas eingefallen, an das die anderen nicht gedacht hatten. »Was ist?« »Das Jahr«, sagte Sigfrid zaghaft. »Das Jahr?« »Welches Jahr ist jetzt?« »Jeder Narr weiß das. Es ist - ahm - welches Jahr ist denn, Sigfrid?« Der Prior wollte sprechen, doch Vater Ortulfus forderte ihn zum Schweigen auf, indem er die Hand hob. »Fahrt fort, Bruder Sigfrid«, sagte der Abt deutlich sanfter als bisher; seine plötzliche Freundlichkeit machte Ivar sehr unruhig. »Welches Jahr ist jetzt?« »Das Jahr siebenhundertdreißig unseres Herrn und unserer Herrin«, antwortete Sigfrid ruhig, aber ein trauriges Stirnrunzeln verunzierte sein zartes Gesicht. Die Tür hinter dem Abt öffnete sich. »Abt Ortulfus«, sagte ein Bruder, der den Kopf hereinstreckte, »die Brüder haben sich versammelt und warten.« Es war Zeit für das Gebet. »Es war ein Wunder«, sagte Sigfrid störrisch. Er war klein und hatte ein wenig anziehendes Äußeres, doch er besaß sowohl den Verstand als auch die Stärke des Glaubens, um mit einer Eindringlichkeit zu sprechen, die andere zum Zuhören zwang. »Fragt in Quedlingham nach, denn dort wird man sich deutlich genug daran 283 erinnern, dass man mir die Zunge herausgeschnitten hat. Wie ist es sonst möglich, dass ich jetzt sprechen kann, wenn nicht durch ein Wunder?« »Das ist eine Frage, die nicht leicht zu beantworten ist«, stimmte Ortulfus ihm zu und stand auf. Seine Mitbrüder erhoben sich ebenfalls, und nur Baldwin, Sigfrid und Ermanrich blieben auf den Bänken sitzen. »Ihr könnt sicher sein, dass ich an Mutter Scholastika schreiben werde, um ihre Darstellung zu hören. Aber es wird viele Wochen dauern, wenn nicht sogar Monate, ehe ich eine Antwort erhalte, und ich muss entscheiden, wie ich solange mit Euch verfahre. Tatsächlich verbreitet sich die Ketzerei wie eine Pest, wenn man sie nicht ausbrennt.« Die Mönche bauten sich vor der Tür auf, und wenn auch der Hauptschreiber nicht wie ein Kämpfer aussah, so erweckten die anderen ganz gewiss den Eindruck, als könnten sie sich in einer Auseinandersetzung zur Wehr setzen. Sie saßen in der Falle. »Ihr hinkt drei Jahre hinterher«, fügte Vater Ortulfus hinzu. »Dies ist der Herbst des Jahres siebenhundertdreiunddreißig seit der Verkündung der Heiligen Botschaft durch den heiligen Daisan.« Drei Jahre. Sigfrid schwankte, und Ermanrich gab nur ein leises Quieken von sich, während seine Augen sich vor Entsetzen weiteten und der Mund sich zu einem großen, erstaunten und ungläubigen »O« öffnete. Niemand wusste besser als Ivar, wie gut Sigfrid sich um seine Studien kümmerte. Sigfrid hatte sich nicht geirrt. »Was für drei Jahre?«, fragte Baldwin. Ivar spürte den Griff der alten Königin, die ihm im Hügelgrab erschienen war und ihn an der Gurgel gepackt hatte, die ihm mit Händen kalt wie ein Grab das Leben ausgepresst hatte. Magie hatte sie im Griff gehabt, und jetzt zahlten sie den Preis dafür. Sie waren den Qumanern entkommen, aber nicht um den Preis von zwei Nächten. Nicht einmal um den Preis von einem Monat. »Drei Jahre«, flüsterte er. »Vielleicht haben wir geschlafen«, sagte Ermanrich, dem der 284 Sinn ausnahmsweise einmal nicht nach einem Witz stand. »So wie dieser Edelmann Berthold, den wir im Hügelgrab gesehen haben.« Die Mönche murmelten überrascht und beunruhigt, und ein entsetzter Diener eilte aus dem Zimmer, als er den Namen hörte. »Das ist eine Lüge!«, rief der Prior, ein rauer Mann, der wie ein Soldat wirkte. »Sie sind nicht nur Ketzer, sondern auch noch Lügner ! Ich war an dem Tag hier, als Markgraf Villams Sohn in der Steinkrone beim Hügelgrab verschwunden ist. Die Tunnel sind eingehend nach dem jungen Edelmann abgesucht worden, aber niemand hat ihn jemals wieder gesehen.« »Wir haben ihn gesehen!«, wandte Baldwin ein. »Ich verstehe nicht, wieso niemand von Euch glaubt, was wir sagen.«
»Ruhe bitte!«, bat Vater Ortulfus. Seine Stimme war so scharf wie ein Peitschenhieb. Kalte Luft strömte durch die geöffnete Tür herein, wirbelte durch die Wärme der Kohlenpfannen. Ein dunstiger Regen verdunkelte die Steinfliesen im Hof, die hinter dem auf der Türschwelle geduldig wartenden Bruder zu sehen waren. Mitten im Hof stand ein schöner steinerner Springbrunnen in Gestalt von vier sich auf den Hinterbeinen aufbäumenden Einhörnern. Eine Zypressenhecke verbarg die Kolonnade auf der anderen Seite des Hofes, aber einige kräftige Mönche hielten sich dort auf. Der Abt hatte jede Fluchtmöglichkeit versperrt. »Abt Ortulfus«, bat der Diener erneut. »Die Brüder warten darauf, dass Ihr die Messe zur Vesper haltet.« »Dann kommt also«, sagte Vater Ortulfus grimmig. »Lasst uns alle zusammen beten, denn sicher benötigen wir in einer solchen Stunde der Unruhe und Verwirrung die Führung Gottes.« X Die Tiefe seines Blicks
1 »Der Adler, Eure Majestät. Er ist vor kurzem von Prinzessin Theophanu aus Osterburg gekommen.« Den ganzen Morgen hatten alle im Palast von nichts anderem gesprochen als von Henrys und Adelheids Triumphzug in die Stadt am Abend zuvor. Von Stunde zu Stunde wurde die Geschichte größer: wie der König eigenhändig die Aufstände niedergeschlagen hatte, wie die Barmherzigkeit der Königin Kinder vor dem Tod gerettet hatte, wie Unzufriedene ihre Knüppel beim Anblick von Presbyter Hugh niedergelegt hatten. Gott hatten auf die Rechtmäßigkeit ihrer Unternehmungen in Aosta herabgelächelt. Man hatte vor der Stadt Otiorno einen großen Sieg über die jinnischen Banditen errungen. Wenngleich die arethusanischen Eroberer im südlichen Aosta noch immer die Macht innehatten, war die Herrschaft von Henry und Adelheid im nördlichen und mittleren Aosta unbestritten. Doch trotz dieser Heldentaten epischen Ausmaßes wirkte der Anblick, der Hanna dann erwartete, in seinem vertrauten Zauber verblüffend normal. König Henry saß in einem der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Zimmer an einem Tisch und starrte auf die Schachpartie, die er und Herzogin Luitgard von Fesse begonnen 286 hatten - Elfenbein gegen Schwarz. Hanna kniete nieder, dankbar für den weichen Teppich unter ihrem Knie. Da der König nicht sofort von seinem Spiel aufsah, hatte sie Zeit, das Zimmer und die Anwesenden in Ruhe zu mustern. Der König wirkte nur wenig älter als zu dem Zeitpunkt, da sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Waren wirklich drei Jahre vergangen, seit sie seinen Hofstaat bei Autun verlassen hatte, um mit einer Kompanie Löwen nach Osten aufzubrechen? Einen Großteil dieser Zeit hatte sie nur verschwommen wahrgenommen, hatte sie in Gefangenschaft oder krank verbracht. Und sie war lange Zeit unterwegs gewesen. Durch ein geöffnetes Fenster war etwa die Hälfte des königlichen Gartens zu sehen. Ein dunkelhaariges Kind spielte in diesem Garten, begleitet von einem ganzen Heer von Bediensteten. Selbst aus dieser Entfernung hörte Hanna das Mädchen vor Entzücken kreischen, als die Zofen sie zu fangen versuchten, während sie auf wackligen Beinen die sich windenden Pfade eines Blumenlabyrinths entlanglief, dabei gelegentlich ins Stolpern geriet, sich aber - in einem neuen Ausbruch von Tatendrang - immer wieder aufrappelte. Mathilda, das Kind von Henry und Adelheid, war die erklärte Erbin der Königreiche Wendar und Varre und des Königreichs Aosta. Sie war nicht viel älter als zwei Jahre, aber alle sprachen von ihr als dem Kind, das später einmal Kaiserin sein würde. Niemand sprach noch von den Kindern, die Henry mit Sophia hatte, abgesehen von leise geflüsterten Bemerkungen über die Unzuverlässigkeit der Arethusaner und der Geschenke, die sie brachten. Und schon bald würde Mathilda nicht mehr das einzige Kind von Henry und Adelheid sein. Adelheid lag auf einem Sofa, und der Wölbung ihres königlichen Bauches nach zu urteilen, befand sie sich etwa in der Mitte einer zweiten Schwangerschaft. Während eine Sängerin zur Laute sang, unterhielt sich die Königin auf sprunghafte Weise mit dem weißhaarigen Herzog Burchard und einem halben Dutzend edler Höflinge. Adelheid hatte eine so anmutige Art, ihre Hände zur Unterstützung ihrer Worte einzusetzen - wie herumschwirrende 287 Vögel oder Schleifen sah es aus -, dass Hanna gar nicht bemerkte, wie sie die Königin anstarrte. Bis plötzlich ihr eigener Name erklang. »Hanna! Der König wird jetzt Euren Bericht anhören.« Henry rückte seinen Turm vor und bedrohte Liutgards Bischof, ehe er sich umdrehte. »Was habt Ihr gesagt, Vater Hugh?« Er musterte Hanna mit zusammengekniffenen Augen, stützte das Kinn in die Hand. Mit Edelsteinen besetzte Ringe glitzerten an seinen Fingern: ein gestreifter Mugelschliff aus Onyx, ein polierter Saphir und ein wächserner roter Karneol. An seinem Gesicht war nicht abzulesen, ob er sie wieder erkannte.
»Eure Majestät.« Verriet irgendetwas in seiner Miene, seiner Haltung, seinem Ton, dass Hathuis Vorwurf zutraf? Sie fand nichts Verurteilenswürdiges. Er schien ganz er selbst zu sein, ein in Würde und Glück gekleideter Herrscher. »Eure Tochter, Ihre Höchst Königliche Hoheit Prinzessin Theophanu, schickt mich mit einer dringenden Botschaft zu Euch.« Sie neigte den Kopf, ließ die Worte sich entfalten, die sie nur für diesen einen Augenblick vor über einem Jahr auswendig gelernt und jeden Tag aufgefrischt hatte. »>An meinen Vater, Seine Glorreiche Majestät Henry, König von Wendar und Varre, sende ich, seine treue Tochter Theophanu, aufrichtige Gebete für seine Gesundheit, sein Wohlergehen und seine Weisheit. Ich bitte Euch, mein König, lasst meine flehenden Worte Euer tiefes Mitleid für den Zustand Eures Königreichs erwecken.<« Die Litanei der Beschwerden ging Hanna leicht über die Lippen. Streit in Wendar und Varre. Der salianische Bürgerkrieg ausgeweitet und nach Varingia und Wayland getragen. Hungersnot und Pest, Hochwasser und Hagelstürme. Eine Heimsuchung durch Ketzerei und die Zerstörung durch qumanische Feldzüge unter dem Kommando von Bulkezu, der so weit gegangen war, dass er Prinz Ekkehard zum Gefangenen gemacht und mit Schmeicheleien und kostbaren Geschenken dazu verleitet hatte, sich gegen seine eigenen Landsleute zu stellen. Echstatt niedergebrannt und der Palast von Augensburg noch immer eine Ruine, in der die Krähen 288 sich mit den Leichen der unglücklichen Gefangenen Bulkezus den Bauch voll schlugen. Eine sich ausbreitende Roggenfäule, die das Korn und alle, die es aßen, vergiftete. Ein zweiköpfiges Kalb, das lebendig geboren worden war. Tallia schwanger von Conrad, und der Herzog feierte in Mainni Penitir, als wäre er ein König. Bischöfin Constanzes anhaltendes Schweigen aus Autun. Der Tod von Herzogin Rotrudis, gefolgt von Intrigen und Streitereien ihrer unwürdigen Erbinnen. Prinz Bayans Tod in der Schlacht gegen die Eindringlinge, und Prinzessin Sapientia unterwegs nach Osten mit Sanglant, der ihr Heer für sich beansprucht und zu seinem gemacht hatte. Der Verräter Prinz Ekkehard Markgräfin Gerberga zur Ehe versprochen. Hugh gab einen unterdrückten Laut von sich. »Markgräfin Gerberga?« Henry klang überrascht. »Judith ist vor drei Jahren in der Schlacht gegen die Qumaner getötet worden, die unter dem Befehl des gleichen Bulkezu standen, den Prinz Bayan und Prinz Sanglant bei der Veser besiegt haben.« Es war unnötig, sie damit zu unterhalten, wie Judiths Kopf als Schmuckstück an Bulkezus Gürtel gehangen hatte. »Ihre Tochter Gerberga hat Olsatia und Austra geerbt.« »Die Heirat der Markgräfin mit Ekkehard ist ein schwerwiegender Schritt, Eure Majestät«, sagte Liutgard, die sich jetzt, da Hanna ohnehin unterbrochen worden war, ebenfalls zu Wort meldete. »Niemand, der der Kirche versprochen ist, darf zu einer Ehe gezwungen werden. War Ekkehard nicht einem Kloster versprochen?« »In der Tat«, erwiderte Hugh. Trauerte er um seine Mutter? Oder hatte er bereits gewusst, dass sie tot war? »Ekkehard ist zum Abt von St. Perpetua in Gent ernannt worden. Es war Euer eigener Wunsch, ihn der Kirche zu übergeben, Eure Majestät. Denkt an den Zwischenfall mit Edelmann Baldwin. Ihr habt Prinz Ekkehard nicht die Erlaubnis gegeben, von seinem Schwur entbunden zu werden und in den Krieg zu ziehen oder zu heiraten.« »Das ist Rebellion.« Henry packte einen schwarzen Drachen und drückte ihn, bis die Knöchel weiß wurden. »Meine eigenen Söhne und meine Tochter stellen sich gegen mich.« 289 »Prinzessin Sapientia ist vielleicht nur Sanglants Schachfigur«, sagte Hugh. »Das scheint mir wahrscheinlich«, erklärte Liutgard. Sie warf Herzog Burchard einen Blick zu, der wie die übrigen Anwesenden näher gerückt war, um zuzuhören. »Sanglant ist die stärkere Persönlichkeit, sofern es stimmt, dass es sich wirklich um eine Rebellion und nicht um etwas ganz anderes handelt. Wenn jedoch die Qumaner in unsere Heimat eingefallen sind, hat er den restlichen Teil ihres Heeres vielleicht nur nach Osten verfolgt, um sicherzustellen, dass sie Wendar nicht erneut bedrohen können.« »Mein Gott«, murmelte Burchard. Der Gedanke daran, was die Qumaner in Avaria angerichtet hatten, ließ ihn so zerbrechlich erscheinen, als wäre er ein ausgetrockneter Stock, der im Sturm hin und her geschüttelt wird. »Ich hätte dort sein müssen, um mein Volk zu verteidigen. Sind die Qumaner denn nicht auf Widerstand gestoßen? War wirklich niemand mehr da, der gegen sie gekämpft hat?« Hanna traute sich nicht, ihn direkt anzusehen, denn sie hörte die Scham in seiner Stimme. Und hatte er nicht auch allen Grund dazu? Schließlich hatte er seine Pflicht vernachlässigt, sein eigenes Volk zu beschützen. »Niemand, Herzog Burchard, abgesehen von den gewöhnlichen Leuten, von denen viele bei der Verteidigung des Landes und ihrer eigenen Familien gestorben sind. Ich weiß nicht, wie viele Edelleute mit Euch nach Aosta geritten sind. Jene, die in Avaria zurückblieben, haben den Qumanern Geld gegeben, um sie loszuwerden. Edelmann Hedos Sohn hat seinen Posten aufgegeben, um sich an der Auseinandersetzung in Saony zu beteiligen. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist.« »Das genügt«, murmelte Hugh. Sie zuckte zusammen, rechnete mit einem Schlag. Es kam keiner. Ihr Knie schmerzte dort, wo es sich in den Teppich bohrte, der doch nicht so dick war - nicht dick genug jedenfalls, um sie vor der Härte des Marmorbodens zu schützen. »Ich habe noch mehr zu berichten.« Henry erhob sich. »Ich habe genug gehört«, schnitt er ihr das Wort ab. 290
Sogar Liutgard wirkte überrascht. Niemand verbot einem Adler das Wort. Niemals. 4 »Adelheid.« Der König streckte die Hand aus und machte sich zum Gehen bereit. Als er sich umdrehte, blickte Hanna ihm direkt ins Gesicht. Sie sah seine Augen. Nie hatte sie das verschiedenfarbige Braun seiner Augen vergessen, gelb geädert und mit einem strahlenden Grün darin. Er hatte wunderschöne Augen, eines Herrschers würdig, tief, mächtig und bezwingend. Seine Augen hatten sich verändert. Sie konnte noch immer das Braun oder zumindest die Erinnerung an die Pigmentierung erkennen. Aber die tiefe Farbe war verblasst, war zu einer wässrigen hellblauen Substanz geworden, die in den Tiefen seines Blicks zuckte wie ein wildes Tier, das eingesperrt war und sich gegen die Fesseln wehrte, die es in seinem Käfig hielten. Erschauernd schwankte sie, stützte sich mit einer Hand ab. Der Smaragdring, den er ihr gegeben hatte, schimmerte an ihrem Mittelfinger: ein polierter, milchgrüner Stein in einem goldenen Ring, der mit Granaten besetzt war. Sie hatte geschworen, Zeugnis abzulegen vor dem König, der ihr diesen Ring geschenkt hatte. Aber sie war sich nicht sicher, ob der Mann, der dort stand, der gleiche Mann war, dem sie ihre Treue geschworen hatte, für den sie all die vergangenen Monate gelitten und überlebt hatte. »Eure Majestät.« Henry strich an ihr vorbei. Seine Begleiter folgten ihm auf die überdachte Terrasse, von der aus man auf den Garten und das Labyrinth blicken konnte. »Papa! Papa!«, kreischte Prinzessin Mathilda und rannte in seine Richtung. Eine Hand voll beunruhigt dreinblickender Männer und Frauen, allesamt Wendaner, blieb im Zimmer zurück. »Ich würde gern den Rest Eurer Botschaft hören, Adler«, sagte Herzog Burchard. Er stützte sich auf einen Stock, als er näher trat. 291 »Ich bitte um Vergebung, Herzog.« Hugh trat geschmeidig neben sie. Er hatte sie nicht allein gelassen, seit sie in der Nacht zuvor die Kapelle von St. Asella verlassen hatten; sie hatte sogar auf einer Pritsche in seinem Zimmer geschlafen, neben seinen anderen Bediensteten. »Ich habe den Befehl, die Nachricht des Adlers niederschreiben zu lassen, damit König Henry sie lesen kann, wenn er mehr Muße hat, Prinzessin Theophanus Worte zu bedenken. Wenn Ihr diesen Adler befragen wollt, müsst Ihr warten, bis ich mit ihm fertig bin. Bitte vergebt mir diese Unannehmlichkeit. Eure Not ist offensichtlich.« Herzog Burchard presste die Lippen zusammen. Er warf Herzogin Liutgard einen Blick zu. Aber diese Zeichen waren zu schwach, um einer näheren Überprüfung standzuhalten, und vielleicht handelte es sich auch nur um das zittrige Zucken eines alternden Mannes. »Ich weiß, dass Ihr der gehorsame Diener des Königs seid, Euer Gnaden«, sagte Burchard schließlich. »Ich bitte Euch, gestattet einem Eurer Diener, den Adler zu mir zu bringen, wenn Ihr seine Botschaft niedergeschrieben habt, damit ich ihn befragen kann. Es scheint, als hätte sie Wissen aus erster Hand über die qumanische Invasion.« »So sieht es aus«, erwiderte Hugh mit einem leichten Heben der Stimme, wodurch Hanna sich aufgefordert fühlte aufzustehen. Sie wartete noch immer auf den Schlag. Er bedeutete ihr, dem Diener zu folgen, der Hugh stets mit einer Mappe im Arm an den Fersen klebte. Kurz bevor sie das Zimmer verließ, warf sie noch einmal einen Blick zurück - gerade rechtzeitig, um zu bemerken, wie Burchard der Herzogin zunickte, während er ihr nachsah. Der Herzog von Avaria und die Herzogin von Fesse wandten sich einander in vertraulicher Beratung zu, der eine ergraut und gealtert, die andere jung und strahlend. Die Tür schloss sich, entzog die beiden ihrem Blick, und Hanna wurde mitgezerrt, als Hugh sein Gefolge in raschem Schritt schattige Säulengänge entlang und über einen in gleißendes Licht getauchten Hof führte, der den königlichen Palast von dem der Skopos trennte. 292 Erst jetzt erkannte Hanna, welche Richtung sie einschlugen. Die Augen mit der Hand zu beschatten nützte nur wenig gegen die grelle Sonne oder die nagende Furcht in ihrem Innern. Ihr Knie schmerzte noch immer. Sie durchquerten den Schatten eines mächtigen Bogens und gingen dann etwas gemächlicher Korridore entlang, in denen nur gelegentlich das Schlurfen von Geistlichen zu hören war. Die geöffneten Fenster gewährten kurze Blicke auf sonnenbeschienene Gärten, die aufgrund der Trockenheit des Sommers goldbraun und versengt waren, während die Gischt der Springbrunnen in der Luft Regenbögen erzeugte. Sie spürte die feuchte Luft, während sie vorbeigingen, eine rasch nachlassende, schwache Berührung. Wohin brachte Hugh sie? Der goldene Heiligenschein seiner Haare strahlte ebenso sehr wie das Licht der Sonne. Seine Haltung war anmutig, sein Benehmen voller Demut und ohne falsche Bescheidenheit. Wann immer sie einen flüchtigen Blick auf sein Gesicht warf, wurde sie an die Geschichten von unschuldigen Kindern erinnert, die während ihrer Gebete eingeschlafen waren und dann einen Engel gesehen hatten. Dies war kein Traum. Ältere Presbyter neigten respektvoll die Köpfe, als Hugh vorbeiging, und er blieb stehen, um mit einer solch
ungekünstelten Aufrichtigkeit mit ihnen zu sprechen, dass es unmöglich war, ihm Stolz oder Selbsterhöhung vorzuwerfen. Es war schwer, sich vorzustellen, wie er im bescheidenen Gewand eines Fraters in der Dorfkirche von Friedleben vor einer Gemeinde von halben Heiden und durch und durch gewöhnlichen Leuten des Nordens, die er ganz offensichtlich verachtete, hochmütig die Messe geleitet hatte. Sogar Graf Harl hatte im Vergleich zu Hughs Eleganz ungehobelt gewirkt, und Hugh hatte sich nicht die Mühe gemacht, seine Verachtung für Harl und Ivar und ihre rauen nordischen Verwandten zu verbergen. Doch der Hugh, den sie jetzt hier sah, war in jeder Hinsicht so anders, dass sie ganz benommen war, als würde sie doppelt sehen. Dieser Mann schien nicht der gleiche arrogante Frater zu sein, 293 der Liath missbraucht hatte, der von Wulfhere überlistet worden war und der Friedleben im Zorn verlassen hatte. Den sie närrischerweise wegen seiner schönen Gestalt und seiner sauberen Hände bewundert hatte. Vielleicht hatte er sich geändert. Vielleicht hatten Gott ihn geheilt. Vielleicht verbarg seine Schönheit jetzt nichts weiter als ein aufrichtiges und reines Bestreben, Gott und dem König zu dienen. Entsprach die äußere Gestalt dem Innern? Oder hatte Hathui Recht? Wenn die Augen des Königs sich nicht verändert hatten, musste die Erinnerung ihr einen Streich spielen. Aber wenn es doch so war, hatte ein luftiger Daemon ihn heimgesucht, der sich in seiner sterblichen Gestalt verbarg und nur durch das Fenster seiner Augen zu erkennen war. Da sie nie zuvor im Palast der Skopos gewesen war und es sich um ein solches Gewirr aus Zimmern und vielfach verzweigten Korridoren handelte, hatte sie längst die Orientierung verloren, als sie vor einer Doppeltür stehen blieben. Die Türen waren mit Blattgold überzogen, das über ein ins Holz gearbeitetes Relief gehämmert worden war; es waren Szenen aus der Ekstase des heiligen Daisan, der sieben Tage lang gebetet und gefastet hatte, während seine Seele durch die sieben Sphären zur Schwelle der Kammer des Lichts aufgestiegen war. Wachen mit Goldüberwürfen, die die Herrlichkeit der Skopos -Gottes Stellvertreterin auf Erden - verkörperten, öffneten die Türen zu einer Halle, die von dem durch etliche hohe Fenster fallenden Licht wie gestreift wirkte. Am anderen Ende der Halle befanden sich ein Podest und ein einzelner Stuhl. Dahinter war ein Wandgemälde mit dem Translatus des heiligen Daisan zu sehen; es zeigte, wie sein Körper von dem Herrn und der Herrin, Gott in Einigkeit, in die Kammer des Lichts getragen wurde. Die Erde lag zu seinen Füßen. Das Wandgemälde füllte die ganze Mauer aus, wurde nur ganz rechts von einem Vorhang in Lapislazuliblau begrenzt, der die Tiefe des Meeres darstellte. Ansonsten war die Halle leer. Hugh sprach mit einer der Wachen, und der Mann eilte den 294 Korridor entlang. Dann betrat Hugh die Halle. Seine Schritte hallten durch den Raum, als er sich vom Schatten zum Licht und vom Licht zum Schatten bewegte, gefolgt von Hanna und dem Diener. Die zweite Wache blieb bei der geöffneten Tür zurück. Sie hielten vor dem Podest inne und warteten schweigend. Hanna musterte den Boden, die Streifen aus Marmor und Porphyr, die breite, gegenläufige Spiralen bildeten. Das Dach wölbte sich hoch über ihnen, und an jedem Bogen glitzerten raffinierte Mosaiken. Sogar der einzige Stuhl war ein Meisterwerk; in das dunkle Holz waren elfenbeinfarbene Rosetten und geometrische Muster aus in Gold eingefassten Edelsteinen eingearbeitet. Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie so viele Amethyste gesehen. Der Diener räusperte sich. Hugh hielt die Augen geschlossen, als würde er beten. Aber sie wollte ihn nicht ansehen. Ihn anzusehen bedeutete, an Bulkezu erinnert zu werden. »Kann es wirklich jemanden geben, der hübscher ist, als Ihr es seid?«, hatte sie Bulkezu gefragt. »Einen. Ich habe ihn in einem Traum gesehen.« Dies konnte ein Traum sein, abgesehen davon, dass sie durch die Fenster einen Gärtner hören konnte, der Unkraut zusammenharkte. Es war besser, ein hungerndes Schwein im Wald als ein fetter Hahn auf dem Hof zu sein, wenn das Festmahl anbrach. Sie hatte Liath einmal darum beneidet, dass sie Hughs Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Jetzt wusste sie es besser. Glöckchen klingelten, als eine Geistliche durch den Vorhang trat und ihn für eine andere Frau aufhielt. Diese trug ein weißes Gewand mit einer bestickten Seidenstola, die über ihren Schultern lag. Ein Goldreif glänzte an ihrem Hals, und auf ihrem Kopf trug sie eine goldene Kappe, die ihr helles Haar fast vollständig verdeckte. Ein riesiger schwarzer Hund trottete hinter ihr her und knurrte leise, als er den Kopf hob. Hanna sank auf die Knie. Sie hatte nie damit gerechnet, einmal vor der Skopos zu stehen, der mächtigsten Person auf der Erde, die Gott am nächsten war. Sie neigte den Kopf und faltete die Hände so fest, dass ihre Knöchel weiß wurden. Ihre Knie schmerzten 295 schon jetzt, aber sie wagte nicht, der Heiligen Mutter ins Gesicht zu sehen. »Bruder Hugh.« Die Stimme der Skopos war weder weich noch laut. Sie klang nicht scharf, aber es lag auch keinerlei barmherziges Mitleid darin. »Ihr dürft Euch nähern.« Hugh betrat die Stufen und kniete vor ihr nieder, um ihren Ring zu küssen. Als er zurücktrat, setzte sie sich. Der Hund ließ sich zu ihren Füßen nieder, legte den Kopf auf die riesigen Pfoten. Er starrte Hanna an wie einen
Feind, der bereit war, auf ihn zuzuschießen oder anzugreifen, sodass er das Vergnügen haben würde, sie in Stücke zu reißen und ihre Knochen abzunagen. Hatte sie diesen Hund nicht schon zuvor gesehen, oder einen, der ähnlich ausgesehen hatte? »Wer ist dieser Adler?«, fragte die Skopos. »Sie heißt Hanna, Heilige Mutter. Sie stammt aus der Nordmark von Wendar. Früher war sie eine Freundin von Liathano. Sie ist vor kurzem mit einer Nachricht von Prinzessin Theophanu in den Süden gekommen. Nichts, was wir nicht schon gehört hätten, abgesehen davon, dass sie vor vielen Monaten persönlich mit Prinz Sanglant gesprochen hat. Er ist jetzt mit einem Teil des Heeres, das die Qumaner besiegt hat, nach Osten geritten.« »Warum reitet er nach Osten, Adler?« Konnte sie es wagen, die Wahrheit zu sagen? »Ich bin nur ein Adler, Heilige Mutter«, erwiderte sie, überrascht, dass sie genug Atem hatte, um hörbare Worte zu formen. Ich bin nur ein Schwein, das sich im Wald versteckt. »Viele Monate lang bin ich die Gefangene von Prinz Bulkezu vom Stamm der Pechanek gewesen, dem Anführer des qumanischen Heeres. Als Prinz Sanglant und Prinz Bayan Bulkezu an der Veser besiegten, wurde ich befreit. Prinz Sanglant schickte mich nach Westen, um seinem Vater die Nachricht von seinem Sieg zu überbringen.« Sie hätte noch viel mehr sagen können, aber am Ende lief alles auf eine einzige Entscheidung hinaus: Hasste sie Sanglant dafür, dass er Bulkezu verschont hatte, mehr, als sie die Macht derjenigen fürchtete, die möglicherweise den König verzaubert hatten? Wenn Hugh tatsächlich getan hatte, was Hathui ihm vorwarf, be296 deutete das dann nicht, dass die Heilige Mutter daran beteiligt war? Hanna wusste nicht, wem sie trauen konnte oder wer von ihnen gefährlicher war. »Eure Exzellenz«, begann Hugh, »dieser Adler hat Neuigkeiten über Prinz Sanglant und seine Begleiter. Ich glaube, es wäre gut, sie eingehend zu befragen -« Eine Geste der Skopos, von Hanna nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen, ließ ihn verstummen. »Gehört Ihr zu denen, die die Adlersicht beherrschen?« Die Frage überraschte sie. »Ja, Heilige Mutter.« »Wer hat sie Euch beigebracht?« »Ein Adler namens Wulfhere, Heilige Mutter.« »Wulfhere.« Eine vielfältige Mischung von Gefühlen färbte ihre Stimme. »Wann habt Ihr Wulfhere das letzte Mal gesehen?« »Er reitet mit Prinz Sanglant, Heilige Mutter.« »Ja, das hat er getan.« Die zarte Stelle zwischen ihren Schulterblättern kribbelte, als würde ein Bogenschütze am anderen Ende der Halle an der Tür stehen und mit einem Pfeil darauf zielen. Hat er getan - was bedeutete, er tat es nicht mehr. Auf welcher Seite stand Wulfhere ? Die Erde erzitterte unter ihren Knien. Der Hund bellte einmal, ehe er sich unter den Thron legte. Ein Knirschen ließ den Palast erbeben und verklang so rasch, wie es gekommen war. Das Harken hörte auf, und es blieben nur noch schwache Echos, mehr eine Erinnerung an das Geräusch als das Geräusch selbst. Hugh hustete. »Sie kommen immer häufiger.« »Gott sind wütend, dass wir nicht rascher und entschiedener daran gearbeitet haben, die arethusanischen Eindringlinge zu vertreiben. Schwester Abelia, bringt die Kohlenpfanne und entfacht ein Feuer.« Die Geistliche nickte und verschwand hinter dem Vorhang. »Es wird nicht funktionieren«, sagte Hugh kurz angebunden. »Glaubt Ihr nicht, Bruder Hugh?« »Wenn ich es nicht konnte, wie soll sie es dann schaffen?« »Das mag schon sein, aber wir dürfen keinen Pfad unbeschrit297 ten lassen. Es wird Monate dauern, sogar Jahre, die verlorenen Kronen ausfindig zu machen und zu erneuern. Meine Gesandten haben Geschichten über eine intakte Krone vernommen, die sich in Dalmakia am Meer befinden soll, aber die arethusanischen Tyrannen dort weigern sich, sie dorthin reisen zu lassen. Von allen Seiten werden wir behindert. Wir sind zu wenige, und unsere Feinde sind zu viele. Schwester Venia ist verschwunden, und das Kloster von St. Ekatarina ist verschlossen und offensichtlich verlassen. Wir müssen zu siebt sein, wenn der Zeitpunkt gekommen ist und wir dank der Hilfe der Tempestari klarer Himmel sicher sein können. Ich brauche meine Tochter.« »Ist es weise, so offen zu sprechen, Heilige Mutter?« »Euch gegenüber, Bruder Hugh? Ihr seid unserem Orden freiwillig beigetreten, und mit einem eindeutigen Ziel. Gibt es einen Grund, weshalb ich Euch nicht trauen sollte?« »Ich meinte, vor diesem Adler, Heilige Mutter.« »Vor dem Adler? Sie ist nur eine Dienerin.« »Auch Diener haben Zungen, Heilige Mutter.« Hanna hielt den Kopf gesenkt, aber sie spürte den vernichtenden Blick. So mochte sich eine Fliege fühlen, kurz bevor sie erschlagen wurde. Und wie eine Fliege versuchte sie, stillzuhalten und übersehen zu werden - als
jemand von so geringer Bedeutung, dass man sich mit ihr nicht zu beschäftigen brauchte, wo es sich doch um weit wichtigere Dinge zu kümmern galt. »Wenn meine Tochter ihr vertraut hat, gibt es möglicherweise noch eine Verbindung zwischen ihnen.« Die Geistliche kehrte zurück und stellte eine Kohlenpfanne auf der Stufe vor Hanna ab, dann trat sie zur Seite und bearbeitete einen kleinen Blasebalg, bis die Kohlen glühten und Flammen aufflackerten. »Seht gut zu und lernt, Schwester Abelia«, sagte die Skopos, ehe sie sich Hanna zuwandte. »Benutzt Eure Adlersicht, um die zu suchen, die Ihr als Liathano kennt.« Man sagte nicht »Nein« zur Skopos. Hanna beugte sich vor, woraufhin der Hund bedrohlich knurrte, dann hörte sie, wie er sich auf Befehl der Skopos wieder hin298 setzte. Sie konnte sich kaum konzentrieren, während dieses wilde Wesen dort lauerte. Das Tier hatte nicht so bedrohlich gewirkt, als Edelmann Alain es befehligt hatte. Ohne dass sie es gewollt hatte, erkannte sie jetzt den Hund. Sie hatte ihn und Edelmann Alain das letzte Mal gesehen, als König Henry Alain die Grafschaft Lavas weggenommen und stattdessen Edelmann Jeoffrey und seiner jungen Tochter übergeben hatte. Ein Hund von Lavas. Niemand, der die Hunde von Lavas jemals gesehen hatte, konnte sie mit irgendeinem anderen Hund verwechseln. Wie war die Skopos an ihn gekommen? Hanna hatte Alain das letzte Mal mit den Löwen auf dem Schlachtfeld gesehen. War er nicht dort gestorben ? Ihr Blick fiel nach vorn und durch den Vorhang aus Feuer. Er kann seinen Kummer nur ertragen, indem er schweigt und so viel arbeitet, dass seine Seele abstumpft. Im Herbst gibt es auf einem blühenden Gut für zwei fähige Hände viel zu tun; Äpfel werden für Apfelwein ausgepresst, Flachs wird gerottet, Holz gespalten und gesägt, Stroh geschnitten, um damit Dächer zu reparieren. Er bindet Holz mit den Resten des Flachses zusammen, taucht die Bündel in Bienenwachs und Harz, um so Fackeln für die Wintermonate herzustellen. Seine Hände wissen, wie sie die Arbeit zu erledigen haben. Und das ist gut so, denn sein Kopf scheint mit Wolle voll gestopft zu sein, die ihn benommen macht. »Habt Ihr am Meer gelebt?«, fragt Bruder Lallo und tritt zu ihm auf die Veranda des Dormitoriums. Die Hunde liegen folgsam zu seinen Füßen. »Ihr habt ein Gespür fürs Flechten und Netze machen.« Überrascht - was hatte er gerade gedacht? - bemerkt er, dass er Weidenruten zu einer Fischreuse geflochten hat, die die Fischer in den Fluss zu werfen pflegen, um Fische zu fangen. »Was habt Ihr gesagt, Bruder?« »Der Feind freut sich über Füße, die vom Pfad guter Arbeit abweichen! Haltet Eure Gedanken hier bei uns. Ich habe gefragt, ob Ihr am Meer gelebt habt.« 299 Sich an das Meer zu erinnern bedeutet, sich an Adica und die lange Reise zu erinnern, als sie von den Merwesen gezogen wurden, als sie in die Tiefe gestarrt und gesehen haben, wie sich die riesige Stadt unter ihnen entfaltet hat, so seltsam und wunderbar. Und all das ist jetzt tot. Der Schmerz ertränkt ihn. Die Trauer macht ihn stumm. Es ist eine Art von Wahnsinn. Vielleicht war alles nur ein Traum. hallo zupft sich stirnrunzelnd am Ohr. »Ihr seid eine harte Nuss. Genug davon. Es ist Zeit zum Beten, Brüder.« Er scheucht seine Schützlinge zur Vesper. Alain legt die halb geflochtene Tischreuse beiseite und folgt den anderen. Die Dämmerung hat eine bestimmte Art, sich des Klosters zu bemächtigen, ihn unerwartet im Zwielicht zu erwischen. Vielleicht ist er zu lange im Zwielicht gegangen und hat es nie bemerkt. Kummer und Rage trotten neben ihm her. Trotz ihres Furcht erregenden Aussehens verhalten sie sich lammfromm. Niemand hier hat Angst vor ihnen, und die Mönche geben ihm bereitwillig Reste, um sie zu füttern. Jeder Hund isst so viel wie ein Mann, und sie leisten keine Arbeit zugunsten des Klosters, also arbeitet er doppelt so hart - wenn er sich nicht vergisst und in diesen verschwommenen Stumpfsinn verfällt. Er will die Portionen für die Hunde genauso verdienen wie seine eigenen. Die Hunde setzen sich gehorsam vor der Kirche hin. Er geht mit den anderen hinein. Als sie das Querschiff entlangschreiten und dann den dunklen Mittelgang betreten, sieht er, wie der Küster herbeieilt und noch mehr Öl für die Lampen an den fünf Altären bringt. Die Lampen flackern, da die Dochte austrocknen, aber als er seinen Platz bei den anderen Arbeitern im hinteren Teil des Mittelschiffs einnimmt und ein Gebet murmelt, stößt der Küster einen verblüfften Ausruf aus und bleibt mitten im Seitenschiff stehen. Eine Tür öffnet sich. Der elegante Abt tritt mit dem Prior und einigen vornehm aussehenden Männern ein, die ihm unbekannt sind. Sind diese Besucher schon einmal hier gewesen? Der eine ist ein bemerkenswert schöner junger Mann, unnatürlich hübsch und seltsam 300 vertraut. Er lächelt und nickt, wann immer Vater Ortulfus spricht, sagt aber nichts. Sein rothaariger Kamerad beantwortet die Fragen des Abtes. Die Lampen am Hauptaltar und an den sieben Stationen, die den Schülern gewidmet sind, brennen kräftig. Der Küster zögert verwirrt, aber als Vater Ortulfus zum Eröffnungslied ansetzt, schlüpft er an seinen Platz vorne bei den anderen Klosterbrüdern und stellt den unbenutzten Topf mit dem Öl neben sich auf den Boden. Vater Ortulfus hat eine dünne Stimme; sie klingt nicht voll, aber aufrichtig. »Geheiligt ist das Land der Mutter
und des Vaters des Lebens und der Heiligen Botschaft, wie sie sich offenbart im Kreis der Einigkeit, jetzt und für immer und in alle Ewigkeit.« Die Liturgie gleitet an ihm vorbei, so wie Wasser einen Felsen hinunterströmt. Der Abt schreitet die Stationen ab, indem er in einem komplizierten Muster von Lampe zu Lampe geht; hätte er einen Faden bei sich, würde er Wahrheit in Stein weben. Vater Ortulfus wirkt aufgeregt, abgelenkt durch einen nagenden Ärger, der seine Mundwinkel dazu bringt, sich nach unten zu ziehen, wenn er sich vergisst. Als er zum Altar zurückkehrt, um die Predigt zu halten, blüht seine Entrüstung auf, und er tadelt die Versammlung mit Zitaten aus der Heiligen Botschaft. »>Schon oft habe ich solche Dinge vernommen, Ihr, die Ihr mit jedem Atemzug Ärger bereitete Es ist der Feind, der Euch hartnäckig im Streite macht, der Euch dazu bringt, mit Euren Reden die Herzen des einfachen Mannes und der leichtgläubigen Frau in Unruhe zu versetzen. >Ist es möglich, dass Gott uns in die Klauen der Übeltäter geworfen haben, dass sie uns der Gnade derer überlassen haben, die sich der Bosheit hingehend Wenn Ihr mit Gott gehen wollt, dann geht in Schweigen und befreit Euer Herz vom Griff des Feindes. Lasst keine weiteren solcher Geschichten hören, die sich wie eine Plage auf der Erde verbreiten.« Die Steinsäulen saugen seine scharfen Worte in zurückhaltendem Schweigen auf. Eingemeißelte Blumen krönen jede Säule, und auf diesen Blumen ruhen Dachgewölbe, die mit Reben verziert sind. Hoch oben an der Wand über dem mittleren Altar ste301 hen die Gipsstatuen der Märtyrer; jede einzelne von ihnen stellt einen Gipfel der Heiligkeit dar. Ihre ernsten Mienen bewegen sich nicht; das können sie auch nicht, denn sie sind nur Darstellungen. Und doch dringt ihr unveränderlicher Blick tief in sein Herz. Tot. Tot. Tot. Alle tot. Im Mittelschiff leben Mäuse. Er lockt ein paar von ihnen aus ihren Verstecken, wenn er spät in der Nacht vor der Nachtmette nicht schlafen kann und wie ein Schatten im Kloster herumläuft, von einem Ort zum anderen. Sie schlüpfen in seine Hand, so klein und hilflos und warm, geben ihm geringfügigen Trost. Stammt das Scharren von ihnen? Er hat ein scharfes Gehör, seit er sich an den Aikha-Prinz gebunden hat, der als Starkhand bekannt ist. fetzt hört er nicht das Trippeln der Mäuse auf Holz, sondern das Keuchen eines Menschen, das Kratzen von Fingern auf dem Arm eines anderen, um dessen Aufmerksamkeit zu erwecken. Er blickt nach rechts und erhascht einen Blick auf zwei Männer, die die geflickten, aber sauberen Überwürfe von Löwen tragen. Sie starren ihn entsetzt und staunend an, den Mund aufgerissen, das Gebet vergessend. Genau wie er lauschen sie nicht mehr der Predigt des Abtes, die jetzt donnernd ihr Ende erreicht, während von den versammelten Mönchen, Novizen, Arbeitern und Besuchern die Bitte um Vergebung aufsteigt. Sie starren ihn an, als würden sie ihn erkennen. Die hohen Wände drehen sich um ihn. Die gewölbte Decke erzittert, die Reben zucken. Von draußen hört er Rage jaulen. Ist das nicht der junge Löwe Dedi, der eines Abends beim Würfelspiel gewonnen und dafür von dem armen, dummen Folquin eine Tunika erhalten hat? Der ältere Mann hatte sich als Onkel des jungen ausgegeben, und vermutlich war er das auch. Doch die beiden sind vor langer Zeit im Osten gestorben. Ist diese Kirche ein Sammelplatz für tote Seelen, die im Fegefeuer gefangen sind, so wie er selbst? Wieso ist dann Adica nicht bei ihm? Er beugt sich vornüber, als die Männer um ihn herum im Ge302 bet auf die Knie sinken, aber er kann nichts mehr sehen oder hören, während er gegen heiße Tränen ankämpft. Die Trauer frisst sich tief in seinen Bauch. Klauen zerreißen sein Herz. Er sackt neben den anderen Arbeitern nach vorn und verharrt so, bis der Anfall ihn ertränkt. »Wer ist dieser junge Mann, den sie sieht?« Die Worte rissen Hanna zurück, und ihr Kopf war voller Fragen. Wie kommt es, dass er noch lebt? Was bekümmert ihn so? Nein, sie musste sich konzentrieren. Es war so lange her, seit sie Liath zum letzten Mal gesehen hatte - damals, im Palast von Werlida, als Liath in Ungnade gefallen war, nachdem sie Sanglant gegen den Willen von König Henry geheiratet hatte. Eines Nachts war sie dann heimlich davongeritten und nicht mehr zurückgekehrt, aber Hanna sah sie immer noch deutlich vor sich, groß, ein bisschen zu schlank, als bekäme sie nie genug zu essen, die Haare zu einem Zopf geflochten, die Augen leuchtend blau. In Friedleben hatte niemand daran gezweifelt, dass Liath und ihr Vater Edelleute waren, vom Rad des Schicksals auf die Erde geschickt. Aber Liath hatte Hanna aufgrund ihres unterschiedlichen Ranges nie anders behandelt. Liath hatte sie einfach nur als eine andere Seele betrachtet, die vor Gott gleich war. Oh, Gott. Wo war Liath jetzt? Feuer flackerte hell in den Kohlen, bevor es so rasch erstarb, als hätte ein eisiger Wind es ausgelöscht. Sie sank wieder auf die Fersen, schwitzte und zitterte. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Weinte sie um Liath, um Alain oder um sich selbst? Sie wischte sich die Nase ab.
»Nichts«, sagte Hugh. »Wie ich Euch gesagt habe, Liath wandelt nicht mehr auf dieser Erde.« »Wer ist dieser junge Mann, den sie gesehen hat?«, fragte die Skopos erneut. »Er kommt mir vertraut vor ... nein, ich kenne ihn nicht.« »Die Hunde bei ihm könnten Nestbrüder von dem sein, der mich bewacht. Ist der hier nicht ein Abkömmling von Taillefers berühmten Hunden? Wieso sehe ich seinesgleichen an der Seite ei303 nes gewöhnlichen Jungen? Adler, was für ein Mann war das, den Ihr in den Flammen gesehen habt?« Wie konnte sie eine Zauberin anlügen, die so mächtig war, dass sie in die Vision sehen konnte, die Hanna mit ihrer Adlersicht erschuf? »Seine Name ist Alain, Heilige Mutter. Er war der Erbe von Graf Lavastin, bis -« »Lavastin!« Hanna zuckte bei dem scharfen Ton zusammen, aber die kleine Bewegung machte den Hund argwöhnisch, und so kam er unter dem Thron hervor und baute sich vor ihr auf. Das Knurren in seiner Kehle war so leise, dass es fast nicht zu hören war. Sie wich zurück. Nur ein einziger Befehl, und er würde ihr das Gesicht zerfleischen. »Lavastin.« Das Wort klang wie die Berechnung eines Feldherrn, der kurz davor stand, sich auf einen heiligen Feldzug zu begeben. »Schwester Abelia, Ihr werdet morgen aufbrechen und Bruder Severus aufspüren. Ich möchte, dass dieser Alain gefunden und zu mir gebracht wird.« »Ja, Heilige Mutter.« Die Skopos erhob sich und verließ mit ihrer Begleiterin den Raum. Der Hund tappte gehorsam hinter ihr her. »Wisst Ihr, wo Liath ist, Hanna?«, fragte Hugh, als der Vorhang an Ort und Stelle zurückgefallen war. »Habt Ihr sie in den Flammen gesehen?« »Nein, Eure Exzellenz.« »Wisst Ihr, was aus ihr geworden ist, Hanna?« »Ich habe die Geschichte gehört, die Prinz Sanglant erzählt hat - dass glühende Daemonen sie gestohlen hätten.« »Glaubt Ihr diese Geschichte?« Sie heftete ihren Blick auf das Wandgemälde. Das Beben hatte im Gips einen Riss erzeugt, der mitten durch den linken Fuß des heiligen Daisan verlief. »Aus welchem Grund sollte Prinz Sanglant lügen, Eure Exzellenz?« »In der Tat, aus welchem Grund?« Ein Blick sagte ihr alles, was sie wissen musste: Er war nicht Bulkezu, der den Kampf der Willenskräfte schätzte. Er sah sie nicht 304 einmal an; er hatte sie bereits entlassen. Das Ungeheuer Bulkezu hatte in ihr jemanden mit einiger Bedeutung gesehen, sie fast als Kameradin betrachtet, weil sie das Glück einer kerayitischen Schamanin war. Weil sie es gewagt hatte, sich ihm zu widersetzen. Für Hugh war sie lediglich eine Dienerin. Er erinnerte sich nur wegen ihrer Verbindung zu Liath an ihren Namen. Sie zählte ganz und gar nicht für ihn - nur Liath zählte, damals und jetzt. Was ihr eine gewisse Freiheit gab, die sie bei Bulkezu nie gehabt hatte. »Prinz Sanglant ist kein Dichter, Eure Exzellenz. Die Dichter sind es, die Geschichten erfinden, um ihre Zuhörer zu verwirren und zu täuschen. Ich glaube nicht, dass er eine falsche Fährte legen würde, um seine Feinde in die Irre zu führen. Das ist nicht seine Art.« Er gab ein kleines Geräusch von sich, das nach Zustimmung klang. »Nein, er ist kein gebildeter Mann. Da ist auch ein Kind. Lebt sie noch?« »Als ich den Prinzen das letzte Mal gesehen habe, ja.« »Sieht sie aus wie ihre Mutter?« Seltsamerweise trieb ein kalter Luftzug durch die Halle und strich über ihren Nacken. »In gewisser Hinsicht, Eure Exzellenz. Sie sieht sowohl ihrer Mutter als auch ihrem Vater ähnlich. Sie ist noch sehr jung.« »Noch sehr jung«, murmelte er, als würde er mit sich selbst sprechen, als hätte er vergessen, dass Hanna da war. »Und weich und gefügig, wie es die Jugend oft ist. Es ist zu schade, dass Bruder Marcus versagt hat. Doch es könnte noch eine andere Möglichkeit geben ...« Sie machte sich auf weitere Fragen gefasst. Es kamen keine. Er hatte sie bereits vergessen. Sie verlagerte ihr Gewicht auf die Fersen, um den Druck von den Knien zu nehmen. Von draußen war wieder das Harken zu hören. Als Hughs Schweigen sich in die Länge zog, begann sie mitzuzählen. Sie war bei neunundvierzig angekommen, als Hugh wieder sprach. 305 »Ja. So muss es gehen.« Er eilte zur Tür, blieb stehen und drehte sich um. »Kommt, Hanna. Ihr müsst Euren Bericht abgeben. Ein Geistlicher wird ihn aufschreiben.« »Eure Exzellenz.« Sie stand auf. »Es ist die Pflicht eines Adlers, dem Herrscher direkt zu berichten.« Er wartete in einem Streifen Sonnenlicht. »Eure Treue ist lobenswert. Aber es ist nicht möglich, dass Ihr heute dem König berichtet. Er ist zu beschäftigt, um Euch zu empfangen.« »Dann werde ich warten. Es ist der Befehl des Königs persönlich, dass wir Adler nur ihm allein Bericht erstatten, wenn wir an seinen Hof kommen. Ich wage es nicht, dem ausdrücklichen Befehl des Königs zuwiderzuhandeln,
Eure Exzellenz. Bittet mich nicht, gegen den Eid zu verstoßen, den ich König Henry geschworen habe.« Seine Lippen zuckten vor Ärger, und er ballte die rechte Faust, diejenige, mit der er Liath meistens geschlagen hatte. Aber dies war nicht der rücksichtslose, hochmütige junge Frater, der die Schmach erlitten hatte, dem halb heidnischen, gewöhnlichen Volk der Nordmark mit kaum verhohlener Verachtung als Geistlicher dienen zu müssen. Dieser Mann besaß den Rang eines Presbyters, den Respekt seiner Kameraden, die Liebe der gewöhnlichen Aostaner und eine beispiellose, aufgrund seines bescheidenen Benehmens und seiner unbestreitbaren Schönheit angenehm erscheinende Machtfülle. Er unterhielt sich mit der Heiligen Mutter und stand zur Rechten des Königs und der Königin, die schon bald Kaiser und Kaiserin sein würden. »Nein, und das solltet Ihr auch nicht«, sagte er schließlich mit vollkommener Liebenswürdigkeit. »Es ist der Eid dem König gegenüber, der einem Adler Ehre verleiht. Ihr seid zusammen mit Prinz Ekkehard von den Qumanern gefangen genommen worden, nehme ich an?« »Ja, Eure Exzellenz.« »Wie sollen wir dann wissen, ob Ihr Euch nicht auch gegen Eure Landsleute gewandt habt, sofern diese Geschichte über Prinz Ekkehards Verrat wahr ist ? Wie können wir sicher sein, dass diese Geschichten, die Ihr uns bringt, wahr sind und nicht gelogen? Un306 terstützt Ihr den rechtmäßigen König? Oder unterstützt Ihr jene, die gegen ihn vorgehen?« Gott, was war sie für einen Närrin gewesen, dass sie geglaubt hatte, ihn überlisten zu können. Er lächelte traurig. Das Licht, das auf ihn herabströmte, ließ ihn wie einen leibhaftigen Heiligen erstrahlen. »Der König muss Euch daher also auch als Verräterin betrachten, Adler. Ihr wisst, wie er über Wulfhere denkt, den er aus einem weit geringeren Anlass vom Hof verbannt hat. Wie soll er auch sonst mit Verrätern umgehen? Wie soll er es ertragen, mit seinem Adler zu sprechen, wenn er glauben muss, dass dieser ihn zusammen mit seinen liebsten Kindern verraten hat?« Obwohl er sich nicht gerührt hatte, wirkte er jetzt noch viel größer, und es war, als besäße er die Macht, denen, die in der Dunkelheit gefangen waren, das Licht zu bringen - oder jenen, die unter seinem strahlenden Glanz gefangen waren, den Tod. »Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, damit Ihr nicht sofort wegen Verrats eingesperrt werdet, Hanna. Tatsächlich habe ich das bereits für Euch getan. Die Kerker hier sind nicht gesund. Die Ratten werden groß. Wenn Ihr nicht mit mir zusammenarbeitet, kann ich nichts für Euch tun, kann ich mich nicht für Euch beim König einsetzen. Ich weiß nicht, was dann mit Euch geschehen wird. Habt Ihr das verstanden?« 2 Keuchend kam er wieder zu sich, während alle um ihn herum sich erhoben. Die Messe war zu Ende. Die beiden Löwen saßen nicht mehr auf den Bänken rechts von ihm. Vielleicht hatte er sie sich auch nur eingebildet. Er träumte, brachte Vergangenheit und Gegenwart durcheinander. Nur Adica schien wirklich zu sein - sie und das bronzene Armband an seinem rechten Oberarm, das er nicht abnehmen konnte. »F-Freund.« Iso hinkte und stotterte. Von seinen Eltern verlas307 sen, hatte er bereits sein halbes Leben im Kloster verbracht. Obwohl er sich verhielt, als wäre er höchstens sechzehn, sah er so aus, als hätten ihn Schmerzen und Kummer und ein unstillbarer Hunger aus seiner Kindheit deutlich früher altern lassen. »Es ist ein ... äh ... es ist ein ... äh, verletztes Tier. Komm mit.« Er hatte knochige Finger, die auch durch noch so viel Haferbrei nicht dicker wurden, und mit ihnen zupfte er jetzt an Alains Ärmel, während die Arbeiter darauf warteten, dass die Mönche vor ihnen hinausgingen. Der Abt rauschte mit ernster Miene nach draußen, und die Gäste folgten ihm, die Gesichter vor Bestürzung gerötet. Aber Iso zupfte weiterhin an Alains Ärmel, und das stumme Flehen riss ihn aus seinen Gedanken. »Ich komme.« Er ließ sich von Iso aus der Kirche führen, und gefolgt von den Hunden gingen sie zu den Ställen. Iso hatte nicht mehr viele Zähne, weshalb er nur Haferbrei und andere weiche Nahrung zu sich nehmen konnte. Manchmal taten ihm die verbliebenen Zähne weh; heute Abend war es so. Alain wusste es, weil Iso sich hin und wieder über den rechten Unterkiefer strich, als versuchte er, eine Fliege zu verscheuchen, und eine Träne befeuchtete das rechte Auge, rollte ihm die Wange hinunter und wurde durch eine neue ersetzt. Iso klagte niemals über Schmerzen. Vielleicht hatte er keine Worte dafür, aber vielleicht kannte er es auch gar nicht anders. Vielleicht hatte er in seinem ganzen Leben keinen Tag ohne irgendeinen körperlichen Schmerz verbracht, sei es nun, dass ihm die missgestaltete Hüfte wehtat, die verschrumpelte linke Hand, die vor langer Zeit verbrannt und vernarbt war, oder die hässlichen Narben auf seinem Rücken. Doch trotz all seiner Schmerzen - oder vielleicht auch deswegen - hasste Iso es, Tiere leiden zu sehen. Mehr als einmal hatte er sich von einer wütenden Katze einen Kratzer eingefangen, wenn er eine Maus aus ihren Klauen befreit hatte, oder er hatte es riskiert, am Waldrand von einem verletzten, hungrigen Hund gebissen zu werden, dem er ein kleines Stück Fleisch angeboten hatte. Die Buchenwälder in der Nähe des Klosters waren so stark gerodet worden, dass der nahe gelegene Wald von Schösslingen und üppigen Büschen beherrscht wurde. Die Hunde rochen eine Ge308
fahr im Unterholz jenseits des Stalls, und ihr Fell sträubte sich, sie bleckten die Zähne und knurrten. Zweige knisterten, als irgendein Wesen sich rührte. Es klang groß. Das dämmrige Licht verstärkte noch das Gefühl, dass es sich um etwas Riesiges handelte. Alain packte Iso bei der Schulter und hielt ihn zurück. Der Geruch von Eisen kitzelte seine Nase, und der Geschmack von Furcht machte sich in seinem Mund breit. Obwohl er nur den Hauch eines Schattens dort sah, wo junge Buchen sich mit Geißblatt und Segge um Platz für die Wurzeln stritten, bekam er eine Gänsehaut. Im Osten erhob sich der abnehmende Mond; es war zwei Tage nach Vollmond. »S-sie t-töten ihn, w-wenn s-sie ihn f-finden.« Tränen tropften von Isos Kinn und benetzten Alains Hand. »Still.« Alain machte den Hunden ein Zeichen, und sie setzten sich gehorsam hin, auch wenn ihnen das nicht gefiel. Vorsichtig trat er vor, um die Büsche zu teilen. Das Wesen, das da im Schatten der Segge lag, zuckte mit dem Kopf, und diejenigen von Alains Gliedern, auf die der bernsteinfarbene Blick fiel, erstarrten. Iso wimmerte. Kummer jaulte. Das Wesen war so groß wie ein Pony und hatte einen leuchtenden Schimmer. Es scharrte mit seinen Klauen über den Boden. Blätter lagen überall verstreut. Es hatte den Kopf eines Adlers und den Körper eines Drachen, und ein peitschenähnlicher Schwanz schlug gegen die Segge hinter ihm. Unbeholfen wuchtete es sich nach hinten. Es war zum Fliegen bestimmt, aber die Flügel waren noch voller Flaum, hatten noch keine richtigen Federn. »Was i-ist das?«, flüsterte Iso. »M-meine Füße f-fühlen sich so langsam an.« »Es ist ein Guivre.« Seine scheußliche Gestalt hätte ihm eigentlich Angst einjagen müssen. »Es ist ein Junges.« Die Erstarrung löste sich. Es hatte nicht den kraftvollen Blick eines ausgewachsenen Guivre, der einen Menschen an den Boden nageln konnte. Das Junge stieß unbeholfen den Kopf nach vorn, aber es konnte ihn nicht erreichen, denn ein Bein war unter dem Körper begraben. Es hatte mehr Angst vor Alain als der vor ihm und davor, was aus dem jungen Guivre einmal werden würde. »Es kann noch nicht einmal 309 fliegen. Siehst du die Flügel? Sie haben noch keine Federn. Es müsste eigentlich noch im Nest sein.« »E-es ist ein U-Ungeheuer. S-sie werden es t-töten, w-wenn sie es f-finden.« »Ja, das werden sie.« Vielleicht sollten sie das auch. Ein einziger Ruf würde ein ganzes Heer herbeirufen, und mit Stöcken, Schaufeln und Hacken würden sie es totschlagen, ihm den Schädel zerschmettern. Aber es war noch so jung, und es war frei, nicht angekettet und gequält wie das, das Agius getötet hatte. Auf seine Weise war es wunderschön - dort, wo sich die letzten Strahlen des Sonnenlichts mit dem silbrigen Glanz des Mondlichts verbanden, glänzte die schuppige Haut. Nur Gott wussten, wie es hierher gekommen war. Dann sah er die Wunde, die den linken Oberschenkel bis zum Knochen aufgerissen hatte. »Iso, hol etwas gekämmten Flachs und einen Streifen in Fingerkraut getauchtes Leinen. Schnell, Freund. Und pass auf, dass dich niemand sieht.« Iso murmelte die Worte in sich hinein, wiederholte sie. Er konnte sich nur schwer etwas merken. Er ging mit einem rollenden Schritt davon, denn zu allem Überfluss war auch noch ein Bein kürzer. Alain zwängte sich in den Busch und hockte sich neben das Junge, das ihn vergeblich anzischte. Es konnte ihn weder erreichen noch sich zurückziehen. Blätter wirbelten auf und flatterten wieder zu Boden, als die Brise nachließ. In der Ferne erhoben sich Stimmen zur Komplet, dem letzten Gebet des Tages. Der Gesang der Mönche verband sich mit seiner eigenen Stimme, als er leise mit dem Guivre-Jungen sprach. Er sprach mit ihm über Adica, über die Wunder, die er gesehen hatte, als er als Toter in ihrem Land gelebt hatte. Er sprach über die Drachen, die sich majestätisch in den Himmel erhoben hatten, und von den Löwenköniginnen, auf deren gelbbraunen Rücken er und seine Kameraden geritten waren. Er sprach über Wesen, die er in dunklen Schluchten und tiefen Höhlen gesehen hatte, und über die Merwesen und ihre herrliche Unterwasserstadt. 310 Ein Guivre konnte natürlich nicht denken, aber das Junge lauschte ihm auf die Weise, in der halb wilde Wesen sich von einer friedlichen Stimme beruhigen ließen. Die Hunde lagen vollkommen still daneben; ihre Köpfe ruhten auf den Vorderbeinen, und ihre Augen leuchteten. Iso kehrte mit vollen Händen zurück. Das junge Guivre starrte Alain mit seinem bernsteinfarbenen Blick unverwandt an, hielt aber still, als er die Wundränder zusammendrückte, einen Streifen Leinen auf den Schnitt legte und alles mit dem Flachs fest genug zusammenband, dass es halten würde, ohne ins Fleisch zu schneiden. »Füge keinem Menschen irgendein Leid zu«, sagte er zu dem Guivre, »sondern nimm dir, was du zum Leben brauchst, von den Tieren im Wald, denn sie sind deine rechtmäßige Beute. Mögen Gott über dich wachen.« Während er sich unter einen ausladenden Haselnuss-Strauch zurückzog, erwachte das Junge zum Leben. Es breitete die Flügel aus, schlug mit ihnen auf die Zweige ein, als wollte es Donner herbeirufen. Kummer und Rage bellten, und das Wesen torkelte in den Wald davon, benutzte die Flügel, um sich vorwärts zu bewegen, da es sich nicht in die Luft erheben konnte. Mit lautem Getöse geriet es außer Sicht. Hinter ihnen hatte die letzte Hymne die abschließende Kadenz erreicht. Die Messe war vorüber. Dies war die Zeit des Tages, da die Gläubigen sich ihren letzten Arbeiten widmeten, ehe sie sich zum Schlafen bereitmachten. Iso hüpfte besorgt von einem Bein aufs andere. »S-sie werden es hören und k-kommen.« Er hatte keine Angst vor dem Tier, nur davor, was Bruder Lallo ihm antun mochte, weil er die Komplet ver-passt hatte. Die Ställe, nur einen Steinwurf entfernt, blieben seltsam ruhig, obwohl jetzt eigentlich die Zeit war, in der die
Arbeiter, die keine eigene Bettstelle im Dormitorium besaßen, ein letztes Mal die Tiere versorgten, ehe sie sich selbst einen Platz auf dem Heuboden suchten. Lange Zeit blieb Alain am Waldrand stehen, obwohl er wusste, dass er Iso zum Schlafsaal bringen musste. Stattdessen 311 lauschte er dem sich immer weiter entfernenden Tier, bis er schließlich nicht mehr das leiseste Geräusch wahrnehmen konnte. Würde es sich zu einem Furcht erregenden ausgewachsenen Guivre entwickeln, das Menschen jagte? Hatte er, indem er es verschont hatte, sein eigenes Volk dazu verdammt, Opfer seines Hungers zu werden? Er erinnerte sich an das arme Guivre, das Edelfrau Sabella gehalten hatte, das ausgehungert und krank gewesen und mit sterbenden Menschen gefüttert worden war - und am Ende so unbarmherzig wie ihre übrigen Verbündeten benutzt worden war. Er bedauerte nicht, dass er jetzt eines gerettet hatte, nachdem er einst ein anderes getötet hatte. Seufzend wandte er sich vom Wald ab und ging zum Dormitorium zurück, während Iso neben ihm herhumpelte, dabei keuchte und vor sich hin murmelte. Es würde schwer für ihn sein, nichts von dem Guivre zu erzählen, aber wer würde ihm schon glauben? Alain lachte leise. Vielleicht war Ungläubigkeit eine Form der Freiheit. Zum ersten Mal, seit er aus dem Steinkreis gestolpert war, niedergedrückt von der Erinnerung an Adica, spürte er eine gewisse Leichtigkeit in seinem Innern, den Hauch einer Heilung. Als sie zu den Ställen kamen, wären sie fast in Mangod hineingerannt, der hier schon gearbeitet hatte, als Alain noch gar nicht geboren war. Er war ein Krüppel wie Iso, denn er hatte sich einmal einen Arm gebrochen, der nie wieder richtig zusammengewachsen war. Als er seinen Hof an den Sohn seiner Schwester verloren hatte, war er ins Kloster gegangen. Seine Stimme klang aufgeregt, und er hüpfte von einem Bein aufs andere, wie ein Kind, das pinkeln musste. »Hast du's gehört?«, fragte er mit dem Akzent der Westländer. »Heute Morgen sind ein paar heilige Mönche zum Abt gekommen, zusammen mit zwei Soldaten des Königs. Sie behaupten, sie haben unter dem Hügel Schläfer gesehen, von denen einer so ausgesehen hat wie der Sohn vom alten Villam, der vor ein paar Jahren da oben verschwunden ist. Ziemlich starke Magie, sagen sie. Und eine Offenbarung, die sie uns mitteilen wollen.« Seine Worte machten Alain nervös; sie kribbelten wie Nadeln in 312 einem eingeschlafenen Fuß. Als er mit Iso an den Ställen vorbeiging, sah er die meisten Arbeiter auf der Veranda, obwohl sie sich normalerweise um diese Zeit bereits hingelegt hätten. Ein Dutzend Mönche stand bei ihnen, drängelte sich nach vorn. In einer Ecke kauerten sechs Novizen in hellen Gewändern, die eigentlich in völliger Abgeschiedenheit in ihrem eigenen Bereich lebten und schliefen, bis sie das Gelübde ablegten. »>Das Herz wurde ihm herausgeschnitten! Und dort, wo das Blut seines Herzens die Erde berührte, erblühten Rosen.<« »D-das ist eine Frau!«, stammelte Iso, während sie sich durch die Menge drängten, die sich dort auf der Veranda des Dormitoriums versammelt hatte. Nicht einmal der Blick des Guivre hätte Alain solch eine Angst einjagen können wie diese Stimme. Er kannte diese Stimme. »>Aber durch sein Leiden und durch sein Opfer hat er uns von unseren Sünden erlöst. Unsere Rettung vollzieht sich durch diese Erlösung. Denn obwohl er starb, wurde er wiedergeboren. So hat Gott ihn in Ihrer Weisheit erlöst, denn war er nicht Ihr einziger Sohn ?<« »Ketzerei«, murmelte ein Mönch neben Alain. »Sie kommt aus dem Osten, von den Arethusanern.« »Alles Lügner, diese Arethusaner«, flüsterte sein Begleiter. »Ich will aber trotzdem hören, was sie zu sagen hat.« »Lasst Euch von den anderen keine Angst einjagen. Lasst Euch nicht einreden, dass die Worte, die ich spreche, Ketzerei wären. Es ist die Kirche, die lange Zeit die Wahrheit vor uns verborgen hat -« »Und mit welchem Ziel?« Ein älterer Mönch trat vor. »Sind die alten Mütter nur Leichtgläubige und Närrinnen gewesen, die sich von einer Lüge haben täuschen lassen? Wollt Ihr behaupten, dass sie uns absichtlich verdammen wollten, indem sie uns die Wahrheit über die wahre Natur des heiligen Daisan und seine letzten Tage auf der Erde vorenthalten haben? Ihr habt mich mit Eurem wilden Gerede noch nicht überzeugt!« Alain drängte sich weiter vorwärts, bis er in der Lage war, die Sprecherin zu sehen. Es war Hathumod. Irgendwie war sie der Schlacht im Osten entkommen und hatte Herford erreicht. Er schob sich zurück, wollte nicht, dass sie ihn sah. 313 Ein Stirnrunzeln kräuselte ihr kaninchenähnliches Gesicht, während sie den Spötter musterte. Sie wirkte unglaublich unschuldig. Niemand konnte ernster dreinblicken als sie. »Bruder Sigfrid wird darauf antworten«, erwiderte sie. Vier Männer standen neben ihr: der hübsche Blonde und der Rothaarige, die Alain schon bei der Messe gesehen hatte, ebenso ein kräftiger Bursche, der Hathumod ähnelte, und dann ein schlanker junger Mann, der nicht größer als Iso war, aber offensichtlich völlig unversehrt. Die beiden Löwen Dedi und Gerulf standen hinter ihnen, hielten die Arme vor der Brust verschränkt, während sie ihren Blick mit geübter Wachsamkeit über die Menge schweifen ließen. Als Dedi in seine Richtung blickte, verbarg sich Alain hinter einem anderen Arbeiter, und als
er wieder aufsah, war der schlanke junge Mann auf eine Bank geklettert, um sich an die Leute zu wenden. Er trug ein zerlumptes Mönchsgewand, aber trotz seines abgerissenen Äußeren antwortete er mit einer Stimme, die sowohl volltönend als auch lieblich klang. »Wahrlich, Brüder, ich wage nicht, mich über die Heiligen Mütter zu stellen, aus deren Worten unsere höchst heilige Kirche einst erblühte. Doch Ihr und ich, wir wissen, wie wenige Schriften uns überliefert sind, wie viele verloren gegangen sind. Was würden die alten Mütter uns jetzt sagen, wären sie hier und könnten frei sprechen? Welche Bruchstücke sind uns trotz all der Bemühungen unserer Brüder und Schwestern, die den größten Teil der heiligen Schriften niedergeschrieben und abgeschrieben haben, erhalten geblieben ? Haben wirklich stets die Heiligsten im Skriptorium gearbeitet? Wer hatte einen Vorteil davon, diese Wahrheit zu verbergen?« »Genau! Genau!«, murmelte ein Mönch, der sich möglicherweise an einen alten Groll erinnerte. »Wer hat einen Vorteil davon, diese Ketzerei zu verbreiten?«, fragte ein anderer laut. Die Arbeiter standen einfach nur mit offenem Mund da und staunten. Einige fingerten an dem hölzernen Kreis herum, der um ihren Hals hing. »Ketzer werden verbrannt«, erklärte Sigfrid. »Sie haben nichts 314 davon, dass sie die Wahrheit predigen. Als im Jahr vierhundertsieben aufgrund der Doktrin der Trennung der Bruch mit dem arethusanischen Patriarchen stattfand, fürchteten möglicherweise jene, die in der heiligen Kirche die Macht besaßen, dass sie den Stab der Herrschaft verlieren würden. Möglicherweise wollten sie jede Diskussion über die göttliche Natur des heiligen Daisan für alle Zeit im Keim ersticken.« »Der heilige Daisan hat keinen Anteil an Gottes göttlicher Natur!«, rief einer der Novizen, wie ein Hund, der sofort bellt, kaum dass er eine Fährte gerochen hat. »Der heilige Daisan ist genauso wie wir!« »Ist es wirklich möglich, dass der heilige Daisan an Gottes Wesen keinen Anteil hat?«, fragte Sigfrid. »Kann der Sohn ganz anders als die Mutter sein ? Sind sie nicht von der gleichen Art ? Würde Gott Ihre Heilige Botschaft jemandem enthüllen, der von Dunkelheit befleckt ist, wie wir alle, die in dieser Welt leben? Nein, Freund, Sohn und Mutter sind von gleicher Natur, und der Sohn kommt direkt aus dem Wesen der Mutter -« Bruder Lailos Gebrüll kam aus dem Zwielicht wie das eines eingesperrten Löwen, der endlich freigelassen wird. »Was ist das für ein ketzerisches Gerede? Diese armen, närrischen Männer sind meine Schützlinge. Woher nehmt Ihr Euch das Recht, sie zu verführen?« Er stapfte auf die Veranda und schlug dabei mit dem Stock um sich. Die Arbeiter machten ihm rasch Platz. Sein Blick fiel auf den armen Iso. Er packte den Jungen und schüttelte ihn so lange, bis seine Zähne klapperten. »Müssen wir dich wegen Ungehorsams rauswerfen?« Die anderen Arbeiter zerstreuten sich jetzt rasch. Die armen Novizen brachten sich fast um bei dem Versuch, nicht gesehen zu werden, aber ihr Herr kam hinter Bruder Lallo hergelaufen, das Gesicht rot vor Zorn. Andere Fackeln flackerten auf, als ein ganzer Schwärm von Mönchen herbeigeeilt kam, um die Ursache des Aufruhrs zu ergründen. Der Abt und einige derjenigen, die ein besonderes Amt bekleideten, hasteten die Stufen zur Veranda herauf. »Ihr habt meine Gastfreundschaft missbraucht, indem Ihr vor 315 diesen armen Schwachköpfen predigt!«, schrie Vater Ortulfus und starrte Hathumod und ihre Kameraden finster an. »So seid Ihr also nicht nur Ketzer, sondern auch noch Eidbrecher, die erst unser Brot nehmen und es uns dann ins Gesicht schleudern, indem Ihr die Gesetze übertretet, mit denen wir dieses Kloster führen?« Als Sohn von Edelleuten hatte er ein vornehmes Verhalten und zeigte seine Wut auf elegante Art. Seine Verachtung war eine wohl geschärfte Waffe. Der zarte Sigfrid ließ sich jedoch nicht einschüchtern. Seine Freunde traten zu ihm zur Bank, und die Löwen bildeten einen Schutzschild, als wollten sie sich einem unerbittlichen Feind entgegenstellen. »Gott hat uns auferlegt, die Wahrheit zu sprechen, Vater. Es wäre eine Sünde, würden wir schweigen. Ich fürchte Eure Wut nicht, denn ich weiß, dass Gott Ihre Hände über uns hält.« »So sei es.« Vater Ortulfus winkte seinem stämmigen Prior. »Prior Ratbold wird Euch nach Autun bringen, wo Bischof in Constanze sich mit Euch beschäftigen kann. Auf Ketzerei steht der Tod.« Der Rothaarige trat mit der Ruhe eines Mannes vor, der der Schlacht ins Gesicht gesehen hatte und nicht zurückgewichen war. »Wir werden nicht nach Autun gehen. Wir werden friedlich diesen Ort verlassen, aber wir werden uns nicht zu Gefangenen machen lassen.« »Ich soll erlauben, dass Ihr im ganzen Land Eure üblen Lügen verbreitet?« Vater Ortulfus schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht.« Prior Ratbold gab einigen kräftigen Mönchen, die hinter ihm halb in den Schatten verborgen standen, ein Zeichen. Iso zitterte in Lailos Griff wie ein gefangenes Reh. Der Abt fuhr fort. »Ihr werdet nach Autun gebracht und dort der Autorität der Bischöfin unterstellt werden -« »Ich werde nicht nach Autun gehen!«, schrie der Hübsche gereizt. Plötzlich erkannte Alain ihn: Er war die hübsche junge Trophäe, die Markgräfin Judith sich geholt hatte und mit der sie bei der Rundreise des Königs herumstolziert war, als wäre der Junge ein Zuchthengst. »Wir werden nicht gehen, und Ihr könnt uns nicht dazu zwingen!« 316 Die Stimmung veränderte sich, als würde sich der Wind drehen und plötzlich in einen Sturm verwandeln. Die
Novizen wurden von ihrem Herrn und seinen Gehilfen weggeschafft. Ratbolds Helfer hoben drohend ihre Stöcke, zum Angriff bereit. Dedi hob die Bank hoch, und sein Onkel zog sein Tischmesser heraus, während der junge Edelmann hinter den rothaarigen Anführer zurückwich. Alain konnte es nicht mehr mit ansehen und trat zwischen die beiden zerstrittenen Gruppen. »Ich bitte Euch, entweiht diesen Boden nicht durch einen Kampf.« Die Worte kamen ungeheißen, als er sich jetzt an Vater Ortulfus wandte. »Diese Männer sind mit Prinz Ekkehard geritten. Diese Frau dient Gott mit Hingabe und einem reinen Herzen. Diese Löwen sind treue Soldaten des Königs. Sie haben eine Schlacht im Osten geschlagen, im Heer von Prinzessin Sapientia und Prinz Bayan, und verdienen mehr Gehör als das hier!« Vater Ortulfus war so überrascht darüber, dass ein gewöhnlicher Arbeiter in einem solchen Ton mit ihm sprach, dass er kein Wort herausbrachte. Hathumod schrie auf und warf sich Alain zu Füßen. »Edelmann Alain!« Sie griff nach seiner Hand und küsste sie. Erschreckt trat Alain zurück, um sich ihr zu entziehen. »Wie seid Ihr hierher gekommen? Wie seid Ihr dieser schrecklichen Schlacht entkommen? Ich bitte Euch, gebt uns Euren Segen!« Ihre Unterwerfung schmerzte, war wie eine alte Wunde, die neu aufgerissen wurde. »Nein, ich bitte Euch«, sagte er verzweifelt. »Steht auf, Hathumod. Ihr dürft nicht vor mir niederknien.« »Was sollen wir tun, Edelmann Alain ?«, fragte sie. »Wir werden tun, was Ihr befehlt.« Vater Ortulfus sah benommen und schweigend zu, umgeben von seinen verblüfften Mitbrüdern. Am Waldrand schrie eine Eule. Heftiges Flügelschlagen war zu hören, und einen Augenblick dachte Alain, das Guivre wäre zurückgekehrt und würde sie alle in Stein verwandeln. Die Eule schrie erneut. Das Mondlicht hatte inzwischen die nach Osten weisende Veranda erreicht, glitt Hathu317 mods Arme hoch und beleuchtete ihr Gesicht, sodass sie kreidebleich und halb tot wirkte. »Bischöfin Constanze ist eine gerechte Frau. Sie wird nicht voreilig über Euch urteilen«, sagte er. »Aber was ist mit Euch, mein Herr? Ihr seid bei Bruder Agius gewesen, ehe sein Martyrium begann. Ihr habt ihn sprechen hören.« »Bruder Agius war ein gequälter Mann.« Das war die einzige Antwort, die Alain geben konnte. »Ich weiß nicht, ob er Recht oder Unrecht hatte, und auch von Euch weiß das niemand. Gefährdet Eure Seelen nicht, indem Ihr Gewalt an diesen friedlichen Ort bringt, ich bitte Euch. Geht nach Autun. Wenn Eure Sache wohl begründet ist, wird die Bischöfin Euch anhören.« »Ich will nicht nach Autun gehen!«, wandte Markgräfin Judiths junger Ehemann ein. »Sei still, Baldwin«, sagte der Rothaarige. »Da sind zwanzig kräftige Männer mit Stöcken, und wir haben nur Messer. Wenn wir tot sind, können wir wohl kaum die Wahrheit verkünden.« »Wir haben nichts zu befürchten, denn die Wahrheit ist auf unserer Seite«, erklärte Sigfrid. »Erinnere dich an den Phönix, Baldwin. Verliere nicht den Glauben.« »Ich habe den Glauben nicht verloren, mein Herr«, rief Hathumod. Sie streckte kühn die Hand aus und berührte Alains Wange an der Stelle, an der seine Haut gezeichnet war, dann errötete sie und zog die Hand wieder zurück. Sie fingerte an ihrem Ärmel herum und legte ihm einen alten, verrosteten Nagel in die Hand. »Ich habe nicht vergessen, dass Gott uns geprüft hat, indem Sie uns ein zerbrochenes und kein vollkommenes Gefäß angeboten hat. Ich besitze den Nagel noch immer.« Sicherlich war das Guivre zurückgekehrt und richtete mit ganzer Kraft seinen unheilvollen Blick auf ihn, denn er konnte sich nicht von der Stelle rühren. Der Nagel brannte auf seiner Haut. Er hatte sich von Versprechen und Bürden befreit, aber was er der zentaurischen Schamanin gegeben hatte, kehrte nun zurück, um ihn zu quälen. Würde er nie frei von Tallias Sünde sein? War es möglich, dass er sie noch immer liebte? War die Erinnerung an das 318 Glück mit Adica nur ein Delirium gewesen, das sich im Geist eines verwundeten Mannes verfangen hatte? Er weigerte sich, die Ketten wieder anzulegen, die ihn einst gefesselt hatten. »Er gehört mir nicht mehr.« Er drückte ihn in Hathumods bleiche Finger. »Ich bin nicht der, für den Ihr mich haltet. Ich bin jetzt an dieses Kloster gebunden -« »Wer seid Ihr?«, fragte der Abt. »Als Ihr zu uns gekommen seid, habt Ihr vom Ende der Zeit gefaselt, und nun tretet Ihr wie der Edelmann eines vornehmen Hauses auf.« »Er war ein Löwe«, sagte Dedi, der jetzt zum ersten Mal sprach. »Nein, er war ein Graf«, sagte Hathumod. »Die Bosheit und die Gier anderer haben ihm seinen Rang genommen und ihn erniedrigt. Ich weiß, wer er wirklich ist.« »Er ist ein geborener Arbeiter«, erklärte Bruder Lallo. »Ich habe die Schwielen an seinen Händen gesehen. Er kann flechten und weben wie jemand, der am Meer aufgewachsen ist.« »Das kann doch alles nicht wahr sein.« Gereiztheit schwang un-überhörbar in Vater Ortulfus' Stimme mit. »Ich bin niemand, Vater.« Er konnte die Verbitterung nicht aus seiner Stimme heraushalten, obwohl er wusste, dass Verbitterung eine Sünde war. Er durfte Gott nicht für das Glück zürnen, das er mit Adica gehabt hatte - er verstand nur zu gut, wie kurz das Leben und das Glück waren. »Ich bin nur der uneheliche Sohn einer Hure und eines unbekannten Vaters.« »Und doch folgen diese Furcht erregenden Hunde Euch so folgsam wie Lämmer. Man könnte meinen, Ihr hättet
sie verhext.« »Ihr könnt denken, was Ihr wollt«, erwiderte Alain. »Gott allein wissen die Wahrheit über das, was ich bin. Ich weiß nichts über die Familie meiner Mutter, nur dass sie selbst arm und als Hure gestorben ist.« Hathumod wimmerte; es war die Art von weinerlichem Geräusch, die ein kleines Tier machen mochte, wenn es in den Klauen eines Falken gefangen war. »Und wer seid Ihr jetzt?« Der Blick von Vater Ortulfus war dem eines Falken ziemlich ähnlich. 319 »Ich bin dankbar, als gewöhnlicher Arbeiter in Frieden in diesem Kloster arbeiten zu dürfen.« Der Küster löste sich von den anderen Brüdern, die beim ersten Anzeichen von Gewalt ein Stück zurückgewichen waren. »Denkt an das Öl, Vater!«, flüsterte er so laut, dass alle es hören konnten. Der Abt biss sich auf die Lippe und zögerte, dann bedeutete er dem Küster zurückzutreten. Er wandte sich wieder an Alain. »Ist es Eure Absicht, Euch zum Bekehrten zu erklären? Ein Jahr und einen Tag an diesem Ort zu arbeiten und dann, wenn diese Zeit vorüber ist, Euer Leben als Mönch Gott zu widmen?« Die Nacht war so still, friedlich und kühl - ohne die beißende Kälte, die mit dem Winter kommen würde -, dass sich ihre Ruhe wie ein Zauber über die Anwesenden ergoss und all die Spannungen wegspülte, die erst wenige Augenblicke zuvor ausgebrochen waren. Die Abendbrise strich über Alains Gesicht und erfüllte seine Seele mit Frieden. Er erinnerte sich an den Hauch der Heilung, der nach dem Verschwinden des Guivre über ihn gekommen war. War das eine Vorahnung gewesen? Der Mann, der ihn aufgezogen hatte, sein Stiefvater Henri, hatte geschworen, ihn der Kirche zu übergeben, als Gegenleistung für das Recht, ihn aufzuziehen. Hatte er sich nicht von diesem Schwur abgewandt, als er sich der Herrin der Schlachten überantwortet hatte? Aber sie hatte ihm nichts als Tod gebracht. Nein, auch Liebe. Er musste ehrlich bleiben. Denn bei allem Leid, das er erlebt hatte, hätte er nie seine Liebe zu Lavastin geleugnet, die zu Adica und sogar die zu Tallia, die sich gegen ihn gewandt hatte. Oder zu seinen treuen Hunden, die ihm folgten. Es war Zeit, zu jenem ersten Schwur zurückzukehren, auch wenn er damals noch ein Kind gewesen war. »Ja«, sagte er und begegnete dem gierigen Blick des Abtes. »Ich werde ein Jahr und einen Tag arbeiten und dann als Mönch in das Kloster eintreten. Ich werde mein Leben Gott widmen, wie ich es schon längst hätte tun sollen.« »So sei es also.« Vater Ortulfus wandte sich an Prior Ratbold. »Führt unsere Besucher zu den Zellen. Es gilt immer noch, die An320 gelegenheit mit Edelmann Berthold zu untersuchen. Wir werden morgen eine Gruppe zu den Hügelgräbern schicken. Ich möchte sie noch weiter befragen, wenn wir wissen, ob ihre Behauptung in irgendeiner Weise zutrifft.« »Was ist, wenn wir sie morgen nicht wieder finden?«, wandte der gut aussehende Baldwin ein. »Ich will nicht wieder zu diesen grauenhaften Gräbern. Sie haben mir Angst eingejagt.« Hathumod wandte sich ihm verärgert zu. Ihr tränenverschmiertes Gesicht glitzerte im Licht des Mondscheins. »Schweig jetzt, Baldwin! Ich habe genug von deinem Gejammer! Was auch immer geschehen wird, es wird uns kein Schaden zugefügt werden, nicht wahr, Edelmann Alain?« Er kannte die Zukunft nicht. Doch tief in seinem Innern hatte er keine Angst um sie. Sie waren keine bösartigen Lügner, vermutlich nur fehlgeleitet in ihrem Glauben - sie klammerten sich verzweifelt an die Leidenschaft, die die Vision des gequälten Agius ihnen übermittelt hatte. »Es wird Euch kein Schaden zugefügt werden«, stimmte er zu. »Vater Ortulfus ist ein guter Mann. Er wird sich anhören, was Ihr zu sagen habt, solange Ihr aufrichtig seid.« Als Prior Ratbold die Besucher weggeführt hatte, krochen die Arbeiter wieder auf die Veranda und in den Schlafsaal, schlüpften in der Hoffnung, dass niemand sie bemerken würde, in ihre Betten. Vater Ortulfus ging nicht sofort. Seine Begleiter kauerten neben ihm, während der Mond höher stieg und den Waldrand in silbrig graues Licht tauchte. Von hier aus konnte man die anderen Gebäude des Klosters nicht sehen, nur eine Ecke der Ställe, die dürren Umrisse von Apfel- und Birnbäumen und die eingezäunten Gärten, die um diese Jahreszeit bis auf eine Reihe Rosmarin brachlagen. Der Küster näherte sich Alain und verneigte sich nervös. Er trug unter einer knielangen, mit Fell gesäumten Wolltunika ein gutes Leinengewand, wie es seinem Rang entsprach. »Es steht eine Zelle für Euch bereit, Bruder. Sie liegt etwas abseits von den übrigen, wie es Eurem Rang entspricht, aber sie hat ein gutes Bett, einen Teppich und andere kleine Annehmlichkeiten.« 321 Alain sah ihn überrascht an. »Nein, Bruder, weshalb sollte ich solche Annehmlichkeiten wollen? Ich werde hier mit meinen Brüdern arbeiten, bis ich meinen Schwur erfüllt habe. Eine Bettstatt im Dormitorium ist gut genug für mich.« Vater Ortulfus sah ihn an, sagte aber nichts. Er und seine Begleiter gingen leise davon. Alain blieb auf der Veranda stehen, und nach einer Weile hörte er ein unterdrücktes Weinen. Er betrat das Dormitorium und fand
Iso auf der Pritsche, das Gesicht in der rau-en Hanfdecke vergraben. Iso versuchte, ein Schluchzen zu unterdrücken. Alain kniete sich neben ihn und legte ihm eine Hand auf den knochigen Rücken. »Es ist alles in Ordnung.« Iso versuchte zu sprechen. Die Furcht machte sein Stottern nur noch schlimmer. »A-aber s-sie w-werden mich rrauswerfen. Ich w-weiß nicht, w-wo ich h-hingehen s-soll.« »Nein, mein Freund, niemand wird dich rauswerfen. Du bleibst hier, wo du hingehörst.« Während Iso sich beruhigte, bemerkte Alain, dass ihm viele der Arbeiter lauschten, arme Männer, von denen mehrere verkrüppelt waren, andere schwach im Denken, während einige einfach nur Pech gehabt oder die Gewissheit einer täglichen Mahlzeit gesucht hatten. Sie dienten dem Kloster tagein, tagaus mit ihrer Arbeit, obwohl nur wenige von ihnen jemals die Erlaubnis haben würden, eines Tages das Gelübde als Mönch abzulegen. Es war so still im Schlafsaal, dass man eine Maus über den Dachvorsprung laufen hören konnte. Es war so still, dass der Mond den Atem anzuhalten schien. Der Wind strich nicht durch die Dachsparren, und Alain konnte auch keine Brise in den Bäumen hören. Rage knurrte und ließ sich neben Alains Bettstatt nieder. Es war zu dunkel, um mehr als ihren Schatten sehen zu können. Kummer stand bei der Tür, so still, als hätte er sich in Stein verwandelt. »Schlaf jetzt, Iso«, sagte er. »Ihr müsst euch alle ausruhen. Morgen gibt es viel zu tun. Macht euch keine Sorgen.« Sie bewegten sich noch ein Weilchen unruhig, aber schließlich schliefen sie. Alain lag jedoch noch lange wach, ehe der Schlaf ihn übermannte. Erinnerungen trieben in Wolken dahin, verschwom322 men und beunruhigend. Er spürte noch immer die Berührung des Nagels wie Gift auf seiner Haut, und lange Zeit sah er Kummer wachsam in der offenen Tür stehen. XI Zeichen und Omen
1 Einst war sie als Gefangene von Elend umgeben gewesen. Jetzt war sie eine Gefangene im Luxus. Das Essen war besser, und sie schlief auf einer bequemen Pritsche in einem geräumigen Zimmer, zusammen mit den ergebenen Dienern von Presbyter Hugh. Sie erlebte niemals, dass jemand zum Zeitvertreib oder aus Langeweile oder Nachlässigkeit getötet worden wäre. Ansonsten gab es allerdings wenig Unterschiede. Zweimal trat ein Diener von Herzog Burchard zu einem von Hughs Verwaltern und bat um die Erlaubnis, sie mitnehmen zu dürfen, damit der Herzog sie befragen konnte; nach der zweiten abschlägigen Antwort kam der Mann nicht wieder. Hugh gestattete niemandem, mit ihr zu reden, nicht einmal den anderen Adlern. Sieben standen Henry außer ihr zur Verfügung, darunter auch Rufus, aber sie schliefen und aßen in anderen Quartieren, die sie nicht betreten durfte. Und sie wurde auch niemals mit Botschaften irgendwo hingeschickt, im Gegensatz zu ihren Kameraden, die verschiedene Orte in Aosta aufsuchten, gen Norden nach Karrone reisten oder sogar bis nach Salia. Sie trug keine Ketten, aber sie durfte sich nicht frei bewegen. Natürlich war dies einer Gefangenschaft vorzuziehen, bei der sie all den Unbilden ausgesetzt war, die sie bei den Qumanern hatte erdulden müssen, auch wenn es ihr noch nicht einmal so schlimm 324 ergangen war wie den Unglücklichen, die im Tross des Heeres gefolgt und gestorben waren. Natürlich war es besser so. Aber das machte es längst nicht gut. Ob Hugh vermutete, dass sie Hathui getroffen und ihre Vorwürfe gehört hatte, wusste sie nicht; er sprach nie davon. Vielleicht kam es ihm gar nicht in den Sinn. Vielleicht wäre sie schon längst tot gewesen, hätte er so etwas in Betracht gezogen. Tatsächlich schenkte er ihr keinerlei Aufmerksamkeit mehr, sobald sie ihm von ihren Reisen und Aufträgen berichtet hatte, während ein Geistlicher eifrig mitgeschrieben hatte. Er hatte sie ausgefragt, sie hatte geantwortet. Sie hatte nicht alles gesagt, was sie wusste, aber vielleicht hatte sie genug gesagt. Sie wusste nicht, ob er sie der Untreue oder des Verrats verdächtigte. Aber, das war ihre Meinung, jemandem, der so unablässig wohltätig war wie Hugh, konnte man nicht trauen. Und dennoch. Kleine gute Werke ebneten den Pfad, den er jeden Tag beschritt. Er fürchtete sich nicht davor, die hässlicheren Teile der Stadt zu betreten, in denen die Menschen unter den schlimmsten Bedingungen lebten: Bettler, Wanderschuster und ganze Familien, deren Arbeit einzig daraus zu bestehen schien, alles Brauchbare aus den Abwasserkanälen und Abfallhaufen zu sammeln. In einer Stadt, in der große Armut herrschte, schickte er keinen Bettler weg, ohne dem armen Mann Brot und eine Münze zu geben. Er bezahlte aus eigener Tasche Arbeiter und
ließ sie die von dem leichten Erdbeben zerstörten Mauern und Gebäude reparieren. Hin und wieder erlöste er Gefangene, die auf den Markt gebracht wurden, um als Haussklaven verkauft zu werden - jene, die sich als Daisaniten bekannten. Jede Woche hielt er eine Messe in der Kapelle der Bediensteten, zu der Einlass hatte, wer immer im Palast arbeitete, ob von hohem oder niedrigem Rang. Kein anderer Presbyter erniedrigte sich auf eine solche Weise, wo es doch genügend Geistliche gab, die sich um die Geringeren kümmern konnten. Niemand am Hof sprach sich gegen ihn aus. Und es gab auch 325 kein einziges Gerücht über eine unziemliche Verbindung zwischen dem schönen Presbyter und der jungen Königin. Während die Tage vergingen, konnte Hanna mit eigenen Augen sehen, dass Hugh niemals mit Königin Adelheid allein war. Niemals. Es war so auffällig, dass sie es schon nicht mehr für einen Zufall halten konnte. Aber die Königin war ohnehin schwanger. Ein zweites Kind würde Adelheids Zugriff auf den kaiserlichen Thron besiegeln. Und die ganze Zeit stand Hugh zur Rechten des Königs. So war es auch an diesem Tag, am Festtag von Allerseelen, dem zwölften Tag des Octumber. Umgeben von seinem Hofstaat empfing der König Besucher in der königlichen Halle. Hanna wartete rechts vom Thron; sie stand an der Wand und sah zu, wie Hugh jeden einzelnen Bittsteller abfing, ehe er die Erlaubnis erhielt, das Podest zu besteigen und vor dem König und der Königin niederzuknien. Keine Botschaft gelangte zu Henry, die nicht zuerst Hugh gehört hatte. Er kontrollierte, was der König wusste und wie der König entschied. Hughs Einfluss blieb unterschwellig, aber stets vorhanden. War es möglich, dass niemand außer ihr das so deutlich erkannte ? Sie musterte die Höflinge, die miteinander plauderten, während sie warteten - strahlende Erscheinungen in ihren schönen Kleidern und den kostbaren Juwelen. Sie sah keinerlei Argwohn auf ihren Gesichtern oder in ihren Blicken. Ein Wind hatte die Hitzewelle vertrieben, die sich ungewöhnlich lang bis in den Herbst hingezogen hatte, wollte man den Einheimischen Glauben schenken. Daher war es keine große Mühe, den Nachmittag mit Geplauder und in solchem Glanz zu verbringen, während Bittsteller kamen und gingen. Die meisten von ihnen waren Kunsthandwerker und Mitglieder der Zünfte jene Leute, die sich um das große Fest anlässlich der Krönungszeremonie kümmerten. Seit der König seinen unausweichlichen Aufstieg zum Kaiser begonnen hatte, gab es keinerlei Hinweise mehr auf vertraute Kameradschaft zwischen ihm und den Edelleuten - so, wie früher Markgraf Villam und Schwester Rosvita dem König mit Rat und 326 Tat zur Seite gestanden hatten. War Henry stolz geworden? Würde die Krone, die schon bald seinen Kopf zieren sollte, ihn weit über die erheben, die einmal seine Kameraden gewesen waren? Sie fragte sich, ob sie sich das Aufblitzen des hellen Blaus in seinen Augen nur eingebildet hatte. Vielleicht hatte Hathui den König verraten und versucht, sie in die Verschwörung mit hineinzuziehen. Vielleicht hatte ihre Treue zu Liath sie verwirrt, und das vertraute Durcheinander von Neid, Liebe, Treue und einem kleinen Fünkchen Groll hatte sie zusätzlich verunsichert. Doch Liath hatte sie und die Adler zurückgelassen. Wieso sollte sie sich an eine Freundschaft klammern, die vermutlich ihr viel mehr bedeutet hatte als Liath ? Aber sie konnte diese Treue nicht abschütteln. Sie verstand die Ängste und Schwächen, die Liath angetrieben hatten, jetzt besser. Was immer in der Vergangenheit geschehen war, sie konnte die Erinnerung an die Kameradschaft und das, was sie verbunden hatte, nicht einfach beiseite schieben. Plötzlich hatte sie das seltsame Gefühl, als würde jemand sie ansehen. Sie wandte den Kopf und sah einen Geistlichen, der bei einem Dutzend anderen an einem Tisch seitlich neben dem Thron des Königs saß. Diese Mitglieder der Königlichen Schule schrieben die Namen und Bitten eines jeden Handwerkers auf, verfassten eine vollständige Niederschrift des großen Unterfangens, an dem sie jetzt alle teilnahmen und das schließlich in der Krönung des ersten Kaisers seit den Tagen von Taillefer einhundert Jahre zuvor gipfeln würde. Der Mann hatte zu schreiben aufgehört und starrte sie an: Bruder Fortunatus, der die Messe in der Kapelle von St. Asella gehalten hatte. Er wandte den Blick nicht sofort ab, als sie ihn ansah. Er musterte sie, runzelte leicht die Stirn; er hatte ein ausgemergeltes Gesicht, als wäre er früher einmal deutlich schwerer, gesünder und glücklicher gewesen. Vermutlich fragte er sich, wieso sie in Hughs Gefolge zu finden war. Vermutlich fragte er sich, ob sie ihn verraten hatte. Ein Höfling näherte sich dem König und kündigte drei betagte Geistliche an, Angehörige der berühmten Stiftung der gelehrten 327 St. Melania von Kellai. Sie hatten die Heilige Botschaft studiert und wollten mit vorsichtigen Voraussagen verschiedene, unter guten Vorzeichen stehende Tage für die Krönung auswählen. Der König und die Königin lauschten, als die Gelehrten darüber diskutierten, ob die Krönung besser am Festtag von St. Peter dem Schüler stattfinden sollte, wenn auch Lichtmess war, oder zwei Tage später am Festtag von St. Eulalia, die bei der Geburt des heiligen Daisan anwesend gewesen war, was die Zustimmung der Heiligen zu der Geburt eines neuen Reiches bedeutete. Neben Hanna unterhielten sich leise zwei von Hughs Geistlichen, während die Unterhaltung vor dem König andauerte. »Sicher, aber die Gründe für eine Krönung am zweiundzwanzigsten Novarian sind sehr gewichtig, wenn wir nur
an die Sterne denken.« »So etwas würden sie nie öffentlich sagen! Die Leute fürchten die Mathematiki immer noch.« »Das wird nicht ewig so bleiben. Die Heilige Mutter hat persönlich die Berechnungen durchgeführt. Sie hat selbst gesagt, dass sich der Augenblick, da Jedu vom Löwen in den Drachen tritt, sehr dafür eignen würde - dass der König sich genau dann krönen soll, wenn das geringere Tier in das größere übergeht.« »Aber ich habe andere sagen hören, wir sollten besser auf eine Konjunktion mit der Sternenkrone warten, denn die steht für das Reich und würde so mehr Erfolg bedeuten. Erekes tritt am elften Askulavre in Konjunktion zur Krone.« »Erekes ist flüchtig, Bruder. Aber tritt nicht Somorhas kurz danach in die Konjunktion zur Krone? Und bleibt sie da nicht viele Tage lang, bis in den Fevrua hinein?« »Weil sie rückläufig ist. Das kann wohl kaum ein gutes Omen sein. Aber am ersten Sormas berührt sie das Halsband des Kindes und kündet damit vom Segen des Himmels.« So ging es endlos weiter. Hughs private Schule, sein Zirkel aus Geistlichen und Kirchenangehörigen, war durchsetzt von Frauen und Männern, die sich dazu bekannten, die Lehren der Mathematiki zu verstehen, einer Magie, die einhundert Jahre zuvor von einem Kirchenkonzil geächtet worden war. Mit der neuen Skopos 328 selbst eine Meisterin der magischen Künste - war sie jedoch wieder zu neuen Gunsten gelangt. Bruder Fortunatus war nicht der Einzige, der Hanna beobachtete: Auch Herzogin Liutgard musterte sie mit zusammengekniffenen Augen, als frage sie sich, wieso ein Adler Schutz unter Hughs Fittichen suchte - oder wieso Hugh einen Adler im Käfig seines treuen Gefolges hielt. Sie senkte den Blick und starrte auf ihre Füße und das gute Paar Stiefel, das sie trug. Sie war dem Pfad, den andere ihr vorgegeben hatten, schon zu lange gefolgt. Vielleicht war es an der Zeit, auf einen Weg abzuzweigen, den sie selbst wählte. 2 Die Tür zu der Kammer, in der Ivar allein die Nacht verbrachte, war so niedrig, dass er sich tief bücken musste, um hineinzugelangen. Eingehüllt in eine Decke kauerte er auf der steinernen Plattform, die als Bett diente. Er konnte nicht schlafen, denn scheußliche Krämpfe von dem reichhaltigen Essen schüttelten ihn. Wieso mussten die Rechtschaffenen leiden, während es den Boshaften gut ging? Ivar konnte sich nicht vorstellen, dass Hugh auch nur eine einzige derart unbequeme Nacht verbrachte. Zweifellos lag er jetzt in einem gemütlichen Bett und wurde von Bediensteten versorgt. Hatte er eine Frau bei sich? Doch dieses Bild wollte nicht recht Gestalt annehmen. Hugh hatte in Friedleben nie Interesse an irgendwelchen Frauen gezeigt, abgesehen von Liath. Vielleicht verspürte er genauso viel Begierde wie andere Männer, konnte sich aber einfach besser beherrschen. Bei dem Gedanken an Hugh wallte Ärger in ihm auf, bis er schließlich zu dem Eimer in der Ecke ging und die Reste des Essens erbrach. Als er wieder auf das harte Bett zurücksank, fühlte er sich ein wenig besser. Er durfte nicht zulassen, dass Verzweiflung und Hass ihn beherrschten. Er durfte nicht zulassen, dass die Erinnerung an Liath ihn quälte. Er musste einen Weg finden, seine Ka329 meraden aus diesem Gefängnis herauszubringen, und das konnte er nicht, wenn Eifersucht, Furcht und Hass ihn verschlangen. Früher hatte er immer sehr impulsiv gehandelt. Plötzlich überkam ihn die Erinnerung an seine ältere Halbschwester Rosvita. Sie wäre nie in eine so unangenehme Situation geraten. Sie wäre nie so dumm, dass sie sich wegen einer voreiligen Tat oder irgendwelcher gedankenloser Worte in einer Gefängniszelle wieder finden würde. Wie oft war sie ihm in seiner Kindheit als leuchtendes Beispiel für Klugheit und Beherrschung vorgehalten worden? Er musste versuchen, wie sie zu sein. Er musste seine Leidenschaften zügeln und nachdenken. Wie konnten drei Jahre in der Zeitspanne von zwei Nächten vergangen sein ? Am Morgen kam der Prior mit einer Gruppe von Männern und nahm Gerulf und Baldwin mit, dessen entrüstete Klagen durch die dicke Tür hindurch zu hören waren. Später brachte ein Diener Wildbret, Brot und übrig gebliebenen Nachtisch, aber Ivar rührte nur das Brot an. Der Wein löschte zwar nicht seinen Durst, aber die Kost aus Brot und Wein linderte die Schmerzen in seinen Gedärmen etwas. Der Tag verging quälend langsam. Die Nachmittagsandacht - die None - kam und ging, und schließlich wurden alle sieben unter Bewachung ins Zimmer des Abtes geführt. Ivar brauchte nur einen einzigen Blick auf die Gesichter von Baldwin und Gerulf zu werfen, um Bescheid zu wissen. »Nichts, Vater Ortulfus«, sagte der Prior. »Wir haben jedes Hügelgrab betreten und einen Gang zur Kammer in der Mitte gefunden. Das war vor fünf Jahren bei Villams Männern genauso, nachdem der Junge verschwunden war. Die Kammern sind leer. Wir haben keine Tunnel oder Treppen gesehen, die weiter hineinführen, und wir haben auch keinerlei Hinweise auf Edelmann Berthold oder seine Kameraden gefunden.« Der Abt musterte Ivar, während er mit einem Schmuckstück spielte: Es war ein Hirsch aus Elfenbein, so kunstvoll geschnitzt, dass jedes kleine Detail - die Ohren, die Augen, die Nasenlöcher und die Haarbüschel an den Beinen - Konturen bekommen hatte. 330 Ein Diener kam mit einem zugedeckten Eimer, um weitere Kohle in die Kohlenpfanne zu legen.
»Es verwirrt mich, dass Edelmann Ivar und seine Kameraden eine solche Behauptung aufstellen, wenn sie doch wissen müssen, wie leicht sie sich widerlegen lässt. Sie kommen mir nicht wie Narren vor - nun, vielleicht mit einer Ausnahme. Doch diese Angelegenheit liegt jenseits meiner Urteilsbefugnis. Nur die Bischöfin kann über Fälle von Ketzerei entscheiden, und darüber, ob diese Geschichten wahr sind. Ein Phönix, der sich aus der Asche erhebt, der die Lahmen und die Kranken heilt. Drei Jahre, die in der Zeitspanne von zwei Nächten vergehen. Eine Reise, die über Land zwei Monate dauern würde, einfach so durch das Betreten und Verlassen eines Hügelgrabs vollbracht, durch ein Labyrinth von Kammern, die weit unterhalb der alten Grabhügel liegen.« »Zauberei!«, rief der Prior. »Wie die Geschichten über Wegelagerer, die die Seelen ihrer Gefangenen essen.« »Schweigt!«, schalt Ortulfus ihn. »Gebt keine Gerüchte von Euch, wenn Ihr nicht wollt, dass das Übel auch Euch befällt. Edelmann Ivar, bei der Verhandlung gegen Hugh von Austra habt Ihr gestanden, mit einer Frau Umgang zu pflegen, die wegen des Verbrechens der Zauberei verdammt und ausgestoßen worden war. Was soll ich jetzt tun? Ich muss Euch alle nach Au tun schicken.« »Ich will nicht wieder nach Autun!«, schrie Baldwin. »Und du hast nichts von den Löwen gesagt!« »Oh, Gott«, rief Gerulf und vergaß ausnahmsweise einmal seinen Rang als demütiger Löwe. »Seine Fantastereien helfen uns auch nicht gerade weiter.« »Nein, halt«, sagte der Prior plötzlich. »Was für Löwen?« »Die Löwen auf diesem Felsüberhang«, erwiderte Baldwin gereizt. »Bei dem kleinen, alten Schuppen.« Vater Ortulfus stellte den Hirsch ab. Seine Miene wurde nachdenklich, sogar besorgt. Der Küster flüsterte dem Schreiber verstohlen etwas zu, und der Kellermeister rieb sich nervös die Hände, während der Prior an den Schlüsseln zupfte. Sie wussten etwas. Hier lag ihre Chance. »Ich habe die Löwen auch gesehen«, erklärte Ivar. »Sie sind in 331 der Nacht gekommen, als ich mit Sigfrid Wache gehalten habe. Sie haben ein Rudel Wölfe vertrieben und über uns gewacht, während wir unter einem Felsüberhang in der Nähe des Schuppens Unterschlupf gesucht haben.« Der Abt wurde unschlüssig. Sie hatten etwas gefunden, das ihn möglicherweise überzeugen konnte. »Ihr habt nie gesagt, dass ihr die Löwen gesehen habt!«, rief Baldwin empört. »Ihr habt alle in dem Glauben gelassen, ich wäre verrückt!« Und schlagartig löste sich die Hoffnung auf Vater Ortulfus' Unterstützung wieder auf. Er nahm den Hirsch in die Hand und musterte seine Gefangenen mit einem spöttischen Seufzer. »Wie passend, dass es Euch gerade jetzt einfällt, zu erwähnen, dass Ihr Löwen gesehen habt, Edelmann Ivar.« »Aber ich habe sie gesehen«, beharrte Ivar. Er hörte, wie schrill seine Stimme klang. Es war so schwer, ruhig zu bleiben, wenn das Unheil einem ins Gesicht starrte. Möge Gott Erbarmen haben! Mutter Scholastika hatte Sigfrid die Zunge herausreißen lassen, weil er Ketzerisches von sich gegeben hatte. Was würde Bischöfin Constanze ihnen antun? »Wieso habt Ihr Euren Kameraden nicht davon erzählt?«, fuhr Ortulfus fort. »Einen Löwen in diesem Teil der Welt zu sehen wäre höchst ungewöhnlich, findet Ihr nicht? Habt Ihr einen Löwen gesehen, Edelmann Ermanrich? Edelfrau Hathumod? Gerulf? Dedi?« Nacheinander schüttelten sie zögernd die Köpfe. »Wieso habt Ihr nichts gesagt?«, wiederholte Ortulfus seine Frage. »Es ... es kam mir wie ein Traum vor. Ich konnte am Morgen keine Spuren finden, daher dachte ich, vielleicht hätte ich von den Löwen nur geträumt, weil Baldwin sie erwähnt hatte.« »Und Ihr, Bruder Sigfrid?« Die Stimme von Vater Ortulfus klang umso vernichtender, da sie so beherrscht war. »Es waren Löwen da, aber dass sie existieren, begreift man erst, wenn man sie mit eigenen Augen sieht.« 332 »So sei es also. Verdächtigt der Ketzerei und Zauberei. Über diese Angelegenheit muss Bischöfin Constanze urteilen, denn ich kann es nicht. Prior Ratbold, stellt eine Gruppe bereit, die sie zur Verhandlung nach Autun begleitet.« 3 »Ich bin einmal zur Kapelle von St. Asella gegangen«, gestand Hanna, als sie an diesem Abend zusammen mit anderen wendischen Bediensteten in Hughs Gefolge das Essen einnahm. »Geht Ihr häufig dorthin?« »Ja, das tun wir«, sagte die Näherin Margret. Gewöhnlich lag eine Stickerei oder etwas zum Flicken in ihrem Schoß. Es war seltsam, ihre Hände mit irgendetwas anderem beschäftigt zu sehen, selbst wenn es sich um etwas so Gewöhnliches handelte wie das Löffeln eines Eintopfs aus Lauch und Rüben. »Presbyter Hugh ist sehr großzügig, wie Ihr wisst. Er gestattet uns, an einem Tag in der Woche in St. Asella die Vesper zu besuchen.« »Habt Ihr keine Angst, so spät noch in der Unterstadt herumzulaufen? Die Aostaner mögen die Wendaner nicht.« »Sie mögen uns nicht«, bestätigte der Schreiber Vindicadus, »aber wir herrschen trotzdem über sie, ob es ihnen nun gefällt oder nicht.« Er warf Margret einen Blick zu. Die Näherin strich sich eine Strähne grauen Haares aus der Stirn. »Wir gehen noch bei Tageslicht hin. Da ist es ziemlich sicher. Wenn dann der Abendgesang vorüber ist, sind wir alle zusammen. Wir kehren als Gruppe zum Palast zurück. Niemand belästigt uns, wir hören nur hin und wieder ein paar Flüche.«
»Ich frage mich, ob ich Euch nicht einmal begleiten könnte. Es würde mein Herz erfreuen, eine Messe in Wendisch zu erleben. Meine Ohren sind es langsam leid, nur Aostanisch zu hören, wenn Ihr mir diese Worte verzeiht.« »Ihr müsst Euch dafür nicht entschuldigen, aber Ihr müsst den Verwalter fragen.« »Vindicadus« war nicht der Name, den der 333 Schreiber von seiner Mutter erhalten hatte. Er war von niederer Geburt und stammte aus einem Dorf im westlichen Avaria, aber er hatte Lesen und Schreiben gelernt, und in einem grenznahen Kloster in Austra war ihm die Tonsur eines Geistlichen gewährt worden. Dort waren seine Fähigkeiten - und wie die Gerüchte lauteten, auch sein hübsches Gesicht und seine angenehme Gestalt -Markgräfin Judith aufgefallen. Er war offensichtlich schnell erblüht und rasch verwelkt, denn obwohl er gut aussah, war er bereits fett, und es war Hanna nicht klar, aus welchen Gründen er in Darre gelandet war. Hugh ließ ihn Abschriften von königlichen Urkunden und Kapitularien anfertigen, die für die Skopos von Interesse sein könnten, oder irgendwelche Besorgungen erledigen. Am nächsten Tag erklärte der Verwalter, dass einem solchen Unterfangen nichts im Wege stünde, solange Hanna bei Margret und Vindicadus bliebe. Er bezeichnete den heiligen Presbyter als einen großzügigen Herrn, der es begrüßte, wenn seine Diener ihm gehorchten und Gottes Willen gemäß lebten. So fand sie sich am nächsten Abend, als die Vesper begann, im hinteren Teil des Mittelschiffs von St. Asella wieder, und sie beobachtete und wartete, während Margret und Vindicadus die Köpfe im Gebet gesenkt hielten. »Mögen die Mutter und der Vater des Lebens Erbarmen mit uns haben ...« Zwei männliche Geistliche hielten an diesem Tag die Messe, aber sie entdeckte Fortunatus und die drei jungen Frauen im hinteren Teil des Chors. Saß da in der dritten Bank die Dienerin Aurea? Obwohl Lampen im Gang brannten, war es schwer zu sagen, denn ein Schal verbarg ihr Gesicht. »Lasset uns im Frieden zu Unserem Herrn und Unserer Herrin beten.« Die beruhigenden Worte vermischten sich mit dem leise geflüsterten Klatsch einiger Frauen in der letzten Bank, die mehr daran interessiert waren, sich über den Tag auszutauschen, als ihre ewigen Seelen zu retten. Es war schwer, sich auf die Gebete zu konzentrieren. Es gab so viele Ablenkungen, Gedanken, die ihr durch den Kopf schössen, obwohl sie sich bemühte, sie beiseite zu schie334 ben. Sie spürte ein leichtes Rumpeln im Bauch, ein Andenken an den stark gewürzten, drei Tage alten Laucheintopf, den sie am Nachmittag gegessen hatte. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, als sie rülpsen musste, während die beiden Geistlichen die Stationen abschritten, die das Leben und das Amt des heiligen Daisan bestimmten, der den Gläubigen die Heilige Botschaft überbracht hatte. Sie fühlte sich unwohl, ein bisschen zittrig sogar, als wäre der Eintopf nicht mehr gut gewesen. Sie schloss die Augen, aber die Übelkeit ging nicht vorbei. Die Bank machte einen Satz zurück. Der Boden erzitterte so sehr, dass sie gegen Margret fiel. Dann sackte sie nach vorn und schlug sich das Knie an der Bank vor ihr auf. Ein Schrei zerriss das monotone Gemurmel, als der Boden sich in die andere Richtung bewegte und hin und her schwankte. Ein Ziegel fiel in den Mittelgang. Ein Dreifuß schaukelte vor und zurück, fiel um, sodass sich brennendes Öl in den Gang ergoss. Die Menschen sprangen auf, schrien und riefen vor Furcht, während Hanna verständnislos auf das brennende Öl starrte, das den Steinboden entlangströmte und sich immer weiter ausbreitete. Jetzt regneten noch mehr Ziegel herab. Staub dämpfte das Licht der Lampen. Chaos brach aus. Die Leute schössen auf die Tür zu, brüllten, während ein zweiter Dreifuß umkippte. Die Tunika eines Mannes fing Feuer. Der Boden bebte jetzt nicht mehr, aber einer Frau fiel ein Ziegel auf den Kopf, als sie mit den anderen zum Ausgang hastete. Sie stürzte und wurde von ihrer entsetzten Begleiterin weitergerissen. Ein Mann prallte gegen Hanna und schob sie zur Seite. »Runter!«, rief Hanna und zerrte Margret mit sich. Sie benutzten die Bänke als Schilde, kauerten sich unter sie. Vindicadus war verschwunden. Ein Ziegel traf die Holzbank rechts über ihr und zerbarst in zwei Teile, die jeweils vor und hinter der Bank zu Boden fielen. Staub bedeckte ihr Gesicht. Schreie betäubten ihre Ohren. Sie sah einen Mann zu Boden gehen, der von der verängstigten Menge niedergetrampelt wurde. »Wir müssen hier raus!«, rief Margret. 335 »Nicht da entlang!« Es war schwer, bei all dem öligen Rauch, der ihre Lunge mit jedem Atemzug füllte, noch zu sprechen. Sie hielt Margret am Ärmel fest und hustete. »Es gibt einen anderen Weg am Herd vorbei!« Sie kletterten über umgestürzte Bänke oder krochen unter ihnen hindurch; einige standen auf wundersame Weise aufrecht, andere waren umgefallen. Als sie das Seitenschiff erreichten, rannte Margret jedoch zur Tür. Hanna stolperte durch beißenden Rauch und herabregnenden Staub auf den Herd zu. »Adler!«, rief ein Mann. »Hier entlang!« Tränen traten ihr in die Augen, und sie musste sich Nase und Mund mit dem Ärmel zuhalten, um überhaupt noch atmen zu können. Eine feste Hand schob sie nach vorn. Sie stolperte über Schutt, stürzte hart auf das ohnehin schon mitgenommene Knie und lag plötzlich flach auf dem Boden, als jemand gegen sie prallte. Andere Hände rissen sie weg, zerrten sie in Sicherheit, und gemeinsam stolperten sie hinaus an die frische Luft. Die Gasse war
voller Schutt und heruntergefallenem Mauerwerk. Sie arbeiteten sich über Haufen von Ziegelsteinen, rutschten und stolperten, schürften sich die Hände auf und zerrissen sich die Kleidung, bis sie endlich die Stelle erreichten, an der die Gasse auf die große Straße stieß. Dort kauerten sie sich nebeneinander, eine verlorene Gruppe von acht verängstigten, unglücklichen Seelen. Staubwolken verhüllten den Himmel, verdeckten die ersten Sterne und senkten sich wie Nebel auf die Straße. Rauch stieg himmelwärts, als Flammen sich in dem Chaos ausbreiteten. Überall stürmten Männer und Frauen in wilder Panik ziellos durch die Straßen; sie rannten und riefen, und viele von ihnen suchten ein Tor, das aus der Stadt herausführte. Es war schwer, etwas zu erkennen, da der Staub ihnen jede Sicht nahm. »Oh, Gott! Seht nur!« Hannas Nacken schmerzte, aber mit einem Ächzen drehte sie sich um. Der Wind hatte eine Lücke in den Staub geblasen. Der von einer Kuppel gekrönte Tempel, der St. Mark dem Krieger geweiht war, war eingestürzt. Staub stieg in dichten Wolken auf, trieb langsam gen Himmel. Die Schreie und das Stöhnen der 336 Menschen, die in den Trümmern lagen, bildeten einen entsetzlichen Chor. In der Ferne erklang ein Hörn. Trommeln waren vom Palast zu hören; die Oberstadt war durch all den Staub und Rauch nur noch bruchstückhaft zu erkennen. Tiefrot schickte die Sonne sich an, hinter dem Horizont zu versinken. Es sah aus, als würde auch der Himmel brennen. Bruder Fortunatus stand neben Hanna und vergoss Tränen der Angst, des Mitleids oder des Schmerzes. »Was habt Ihr mit der Parabel von dem Kind sagen wollen, das unter einem Erdrutsch begraben liegt?«, fragte sie plötzlich. Sein Gesicht war mit Staub und Blut verschmiert, und seine Augen wirkten im Vergleich dazu verblüffend weiß, so wie die eines Geisterpferds. »Seid Ihr eine Spionin von Presbyter Hugh?« »Ich bin ein Adler des Königs, Bruder. Aber auf meiner Reise nach Aosta bin ich einer Kameradin begegnet, einer Frau namens Hathui -« Er sank auf die Knie. Um ihn herum riefen seine Kameraden etwas, während erneut die Trommeln und das Hörn erklangen. In der Ferne hörte sie Pferde irgendeine Straße entlangdonnern. Niemand achtete auf sie. Ein Ziegel fiel von der Mauer der Kapelle von St. Asella und zerbarst, als er kaum eine Körperlänge von ihnen entfernt auf den Boden prallte. »Wir sind verzweifelt, Adler.« Fortunatus nahm ihre Hände, als wäre er ein Bittsteller und sie eine Herrscherin. »Schwester Rosvita ist seit mehr als zwei Jahren im Kerker der Skopos eingesperrt. Ich bitte Euch, helft uns, sie zu befreien.« »Wie ist es möglich, dass der König dies zugelassen hat? Sie ist seine vertraute Beraterin. Hat sie sich gegen ihn gewandt?« »Niemals! In jener Nacht haben wir nur erfahren, was Hathui uns völlig entsetzt erzählt hat. Sie sagte, dass die Königin und der Presbyter sich verschworen hätten, um den König mittels Zauberei, mittels eines Daemons zu beherrschen. Schwester Rosvita hat sich mit dem Adler aufgemacht, Markgraf Villam und den König aufzusuchen. Sie muss die Wahrheit gesehen haben. Wieso sonst hätte man sie einsperren sollen?« »Wieso haben sie sie nicht einfach getötet?« 337 »Das habe ich mich oft gefragt, aber -« »Seht nur!«, rief Schwester Heriburg. Reiterei näherte sich auf der von Menschen wimmelnden Straße, wie Geister, die sich im Nebel heranpirschen. Die Soldaten drängten sich durch die verängstigte Menge, die mit Ziegeln nach ihnen warf und sie beschimpfte. »Nie wird es einen günstigeren Zeitpunkt geben als jetzt«, sagte Hanna, während sie ihren Blick über das Chaos schweifen ließ. »Sie werden sämtliche Wachen benötigen, um Ruhe und Ordnung wiederherzustellen, die Verletzten aus den Trümmern zu bergen, den König und die Königin sowie die Heilige Mutter zu beschützen. Wenn wir jetzt gehen, können wir sie vielleicht befreien. Wer kommt mit mir?« »Ich bin dabei!«, rief Fortunatus und stand auf. »Meine Kameraden können selbst für sich sprechen.« Er deutete auf die Übrigen. »Ich bin dabei!« »Ich auch!« »Ich würde Schwester Rosvita niemals verlassen!« »Gott segne Euch, Adler.« Aurea wischte sich mit dem Schal Blut von der Wange; sie weinte. Sie alle weinten jetzt, all diese sanften, gebildeten, hochgeborenen Geistlichen. Wie viel Härte hatten sie erlitten, diese drei Mädchen, die gerade erst aus dem Kloster gekommen waren? Die beiden jungen Männer sahen auch nicht viel weltlicher aus. Nur Fortunatus und Aurea wirkten, als wären sie aus härterem Holz geschnitzt, das weniger leicht zu zerbrechen war, sollte Unheil über sie hereinbrechen. Aber sie alle hatten mehr als zwei Jahre in Darre ausgehalten, um ihre eingesperrte Lehrerin zu schützen. Hanna bewunderte ihre Loyalität. Sie konnte sich auch nicht vorstellen, dass Schwester Rosvita sich jemals gegen den König wenden würde, so wie sie selbst es nie tun würde. Aber wenn der König nicht mehr sein eigener Herr war, musste sie tun, was in
ihrer Macht stand, um gegen jene zu kämpfen, die ihn in seinem eigenen Körper zu einem Gefangenen machten. »Wir müssen uns beeilen, solange noch Chaos herrscht. Wohin 338 kommt man, wenn man dieser Straße in die andere Richtung folgt? Können wir den Palast über Seitengassen erreichen? Wir brauchen Fackeln.« Fortunatus wagte sich in die Kirche und kehrte mit drei wundersamerweise nicht zerstörten Lampen und einer Kanne Öl zurück. Sie arbeiteten sich zum Palast zurück, hielten sich von den größeren Straßen fern, auf denen sie vermutlich Soldaten begegnet wären. Die Zerstörung war zwar überall, aber nirgends so schlimm wie bei der Kuppel von St. Mark. Dennoch mussten sie über etliche Schuttberge und Trümmer steigen. Sie hörten noch immer die Schreie von Verschütteten, Verletzten und denjenigen, die um das Leben von geliebten Menschen bangten. Der Staub brachte sie zum Husten, daher hielten sie sich Tücher vors Gesicht. Ihre Kleider waren schmutzig, die Gesichter von Ruß, Asche und Staub geschwärzt. Die Hauptrampe, die zu den Palästen hinaufführte, war von fliehenden Höflingen und Bediensteten verstopft. Ein Feuer war in einem Flügel des königlichen Palastes ausgebrochen. Es war nicht leicht, gegen den Strom dieser vielen panischen Menschen anzukommen, aber beim Tor gereichte ihnen dies zum Vorteil, denn unbemerkt von den Wachen gelangten sie hinein. Sie drängten sich durch die aufgeregte Menge und sammelten sich in der verhältnismäßigen Ruhe einer Nische, in der Reisende ihre durstigen Reitpferde tränken konnten. Als Hanna ihre Lampe hochhielt, kam plötzlich ein lüsternes Medusengesicht zum Vorschein. Das Erdbeben hatte die Haare zerrissen, und ein Stück von dem Wasserbecken war zu Boden gefallen. Wasser tropfte aus einer losen Leitung. »Wisst Ihr, wo wir Schwester Rosvita finden?«, fragte Hanna. »Ja, ich weiß es«, antwortete Fortunatus. »Dann werden wir beide sie suchen. Ihr zwei kommt auch mit.« Sie deutete auf die jungen Männer, die sich als Jerome und Jehan vorstellten. »Schwestern, Ihr müsst Euch hier umsehen. Wir brauchen Pferde, Lasttiere, irgendeinen Wagen oder Karren für den Fall, dass Schwester Rosvita zu schwach ist, um zu reiten. Decken. Vorräte, wenn es sich ergibt. Waffen. Ich benutze einen Stab und 339 einen Bogen. Ein Schwert für den Fall, dass wir in eine ernste Notlage geraten. Messer sind immer noch besser als gar nichts.« »Wir sind alle keine Kämpfer«, sagte Fortunatus. »Platz da! Macht Platz für Seine Ehren!« Hanna warf einen vorsichtigen Blick in den staubigen Hof, aber der Dunst und das unruhige Flackern der Fackeln machten es ihr unmöglich, zu erkennen, welcher Höfling oder Presbyter da gerade floh. Vielleicht hatte der König seine junge Königin bereits in Sicherheit gebracht. Vielleicht wartete Henry in einer von Rauch erfüllten Halle, unfähig, eine Entscheidung zu treffen, ehe sie ihm nicht ein anderer ins Ohr flüsterte. Sie konnte sich jetzt nicht mit solchen Dingen beschäftigen. Sie konnte in dieser Nacht vielleicht einen Menschen retten. Sie konnte nicht die ganze Welt retten. Aurea und die jungen Frauen zogen los, um Reittiere und einen Wagen zu suchen. Fortunatus führte sie durch die Flure der Bediensteten in den Palast der Skopos, zu dem alten Tor, durch das früher die Leichen zum Fluss hinuntergeschafft worden waren. Hier beim Tor führte eine Reihe von Stufen weiter hinunter in den Unterbau des Palastes. Es gab keine Wachen, die ihnen den Weg verstellten. Sie schlichen langsam voran. Ein Rumpeln dröhnte unter ihren Füßen, und sie blieben stehen und drückten sich an die Mauer; sie fürchteten, das Mauerwerk könnte nachgeben und sie unter sich begraben. Jerome stöhnte auf vor Angst. Der alte Palast wirkte ziemlich stabil. Es ging weiter nach unten, über Steinstufen, die von unzähligen Füßen glatt geschliffen worden waren, hinunter zu den Räumen, die man aus dem Grundgestein gehauen hatte. Die Luft war klarer hier unten, frei von dem Staub, der ihren Lungen bisher zugesetzt hatte. Sie stolperten in den Wachraum. Alle waren geflohen, hatten eine umgestürzte Bank und einen Tisch mit Würfeln und Steinen achtlos zurückgelassen. Auf einem Holzteller befanden sich ein halber Laib Brot und ein Stück Käse. Zwei Becher waren umgekippt und hatten ihren Inhalt über den Tisch verteilt; die Bierlache trocknete bereits wieder. Ein einzelner Helm aus Leder lag auf dem Boden. Aber nicht alle konnten fliehen. Hilferufe, Gebete und sogar das 340 armselige Gelächter eines Wahnsinnigen hallten durch die beiden Tunnel, die sich noch tiefer in den Fels gruben und in denen sich die Zellen der Gefangenen befanden. »Hierher«, sagte Fortunatus und eilte einen der Tunnel entlang. »Was ist mit den anderen Gefangenen?«, fragte Jehan. Er und Jerome hasteten wie unruhige Hunde mit hochgezogenen Schultern hinterher. »Ketzer, Malefiki und noch Schlimmeres«, rief Fortunatus. »Wir dürfen sie nicht freilassen.« »Ich bitte Euch, Wachmann! Lasst mich raus!« »Ist das Ende der Welt gekommen?« »Erbarmen! Habt Erbarmen!«
»Es gibt keinen anderen Gott als das Feuer!« Die Schreie hallten durch die Gänge. Obwohl die dicken Wände sie etwas dämpften, zerrissen sie Hanna das Herz. Würden diese gefangenen Seelen hier sterben müssen? Sie bückte sich, um den Helm aufzuheben. Eine Ratte schoss darunter hervor, lief ihr über die Finger, und sie schrie entsetzt auf und machte einen Satz nach hinten. Fluchend prallte sie gegen die Wand. Einen Augenblick lang, als sie einatmete, ohne Luft zu bekommen, dachte sie schon, sie würde ersticken. Die Wände schlössen sich um sie herum, sahen im matten Glühen der Lampe Schwindel erregend aus. Die Luft roch abgestanden. Bei einem weiteren Beben könnte der gesamte Palast über ihnen zusammenbrechen. Sie würden lebendig begraben werden. »Reiß dich zusammen!« Sie drehte den Helm mit dem Fuß um und hob ihn vorsichtig auf. Keine Ratten. Sie stellte ihn auf den Tisch, ehe sie die drei Stufen in den niedrigen Tunnel hineinging, der in die entgegengesetzte Richtung führte wie der, in dem Fortunatus verschwunden war. Sie hörte hinter sich das Scharren eines Riegels, der angehoben wurde, hörte ganz in der Nähe das Kratzen von Händen oder Klauen an den Wänden, das Kichern eines Wahnsinnigen. Die Flamme zuckte in einem Luftstrom. Stimmen. »- den Posten verlassen!« 341 »Nein, Feldwebel! Was spielt es für eine Rolle, wenn Gott sich entscheiden, sie sterben zu lassen? Ich ertrage es nicht, hier unten zu bleiben, wo es so dunkel ist. Die Wände werden einstürzen. Ich habe Angst, Feldwebel. Zwing mich nicht zu gehen! Zwing mich nicht zu gehen!« Sie lief zum Wachraum zurück. Die Wachen waren mitsamt ihren Waffen geflohen. Sie packte den Helm, befestigte ihn auf ihrem Kopf, dann prüfte sie das Gewicht der Bank. Wenn eine einfache Bank bereits einmal als Waffe gedient hatte, würde sie es bestimmt auch ein zweites Mal tun. Glücklicherweise war die hier leichter als diejenige, die sie und Rufus in der Kapelle von St. Asella hochgehoben hatten. Sie hoffte, dass Rufus und die anderen Adler mit einem Auftrag des Königs außerhalb der Stadt waren. Sie betete, dass der König in Sicherheit war. Eine Lampe verjagte die Dunkelheit oben an der Treppe. Hanna glitt in den Schatten der gewölbten Öffnung, hielt die Bank hochkant gegen ihre Knie gedrückt. Ihre Arme brannten unter dem Gewicht. Ihr Herz raste. In der Ferne hörte sie wie durch einen Nebel Fortunatus' Stimme. »Kommt, Schwester Rosvita. Wir sind hier, um Euch zu retten.« »Bruder Fortunatus?« Die Stimme klang so verändert - mehr wie das Krächzen eines Frosches als wie die Stimme einer Frau -, dass Hanna sie fast nicht erkannt hätte. Aber sie war nicht kraftlos. Sie klang schwach, aber nicht willensschwach, geschwächt, aber nicht besiegt. Wie konnte jemand zwei Jahre in einem solchen Loch überleben ? Es war fast so, als wäre man in den Abgrund gestoßen worden. »Ich werde dich mit der Peitsche vor mir hertreiben, wenn es sein muss!«, schrie der Feldwebel. »Was sollen wir der Skopos sagen, wenn -« Schatten fielen vor ihren Füßen auf den Boden. Sie hob die Bank. Die beiden Soldaten gerieten genau in dem Augenblick in Sicht, als Jehan und Jerome mit Rosvita in der Mitte an der Mündung des Tunnels auftauchten. Fortunatus folgte ihnen. Sie ließ die Bank mit aller Kraft auf die Köpfe der Soldaten nie342 dersausen, ehe sie die Möglichkeit hatten, auch nur ein Wort auszustoßen. Der Feldwebel ging sofort zu Boden, wurde mit voller Wucht von der Bank getroffen. Der Soldat taumelte zwei Schritte vorwärts, ehe seine Knie nachgaben. Er stützte sich auf die Hände und würgte. Kein Erbarmen. Sie schlug mit der Bank erneut auf ihn ein, und er fiel flach zu Boden. Blut floss ihm aus der Nase. Hanna stellte die Bank hin und nahm ihnen die Waffen und Gürtel ab: einen Speer, ein kurzes Schwert und zwei Messer. »Wir haben keine Zeit, ihnen die Rüstung abzunehmen. Wir müssen sie einsperren.« Der Soldat war immer noch nicht bewusstlos, aber er konnte nur noch wimmern und sich schwach wehren, als sie ihn in die offene Zelle wälzte, in der Rosvita eingesperrt gewesen war. »Ich bitte Euch, habt Erbarmen!«, schluchzte er und scharrte mit den Fingern über den Boden. Er versuchte aufzustehen, aber seine Beine gaben nach. Sein Gesicht und der vordere Teil seiner Tunika waren mit Blut und Erbrochenem verschmiert. Der Feldwebel war bewusstlos und schwer, und Fortunatus hatte einige Mühe, ihn von der Stelle zu bewegen. Gemeinsam gelang es ihnen jedoch, ihn den Tunnel entlangzuziehen und - nachdem sie den flehenden, weinenden Soldaten beiseite gestoßen hatten - die Tür zuzuschlagen und den Riegel vorzuschieben. »Oh, Gott.« Ein Schwindelgefühl erfasste sie, als sie all das Stöhnen, die Schreie, das Flehen und Betteln hörte, sodass sie taumelte und sich an der Wand festhalten musste. »Wir müssen gehen«, sagte Fortunatus. Es war ein Albtraum, als wäre sie in das Loch gefallen, wo die Seelen all der Menschen, die Bulkezu ermordet hatte, für immer in Stein gefangen waren, niemals frei, niemals in der Lage, zur Kammer des Lichts
aufzusteigen. Sie ließ alle hinter sich zurück. Sie ließ sie im Stich. »Jehan und Jerome haben Schwester Rosvita nach oben getragen! Jeden Augenblick kann jemand kommen! Wir können für diese Leute nichts tun!« 343 »Wir könnten sie freilassen.« »Wer weiß, was für schlimme Verbrechen sie begangen haben ? Wieso sollte die Skopos sie sonst hier einsperren? Habt Ihr nicht gehört, wie der Abtrünnige den Eid gerufen hat, den die Feuerhuldiger schwören?« »Was ist, wenn sie ebenso unschuldig eingesperrt sind wie Schwester Rosvita?« »Das Risiko dürfen wir nicht eingehen. Was ist, wenn auch nur einer von ihnen verrückt ist und uns aufzuhalten versucht ? Wir müssen mit Schwester Rosvita verschwinden, bevor noch mehr Leute kommen. Ich versichere Euch, dass die Skopos, Presbyter Hugh und die Königin nicht ruhen werden, sie zu finden, wenn sie erst einmal erfahren haben, dass sie entkommen ist. Ich bitte Euch, Adler.« »Es tut mir Leid«, flüsterte sie, wohl wissend, dass keiner der Gefangenen sie hören konnte, obwohl sie ihre verzweifelten, angsterfüllten Stimmen vernahm. »Mögen Gott mir vergeben.« Sie nahmen die letzte Öllampe und ließen den Kerker in widerlicher Dunkelheit zurück. Eine seltsame Kraft bemächtigte sich jetzt ihrer Glieder, und sie raste die Stufen hinauf, ohne außer Atem zu kommen, bis sie oben angelangt war. Die Luft stank hier nach Staub und heißer Asche, und ihre Lunge schmerzte. Am Tor des Toten Mannes warteten Aurea und die beiden jungen Schwestern mit einem Maultier, einem Gaul mit zerschundenem Rücken und einem Handkarren, in dem die jungen Brüder Schwester Rosvita so sanft wie möglich auf Decken gebettet und mit einer weiteren Decke zudeckt hatten. Die jungen Frauen machten viel Aufhebens und flüsterten miteinander, wollten Schwester Rosvitas Hände kaum loslassen, drückten sie, küssten sie immer wieder. Aurea hielt die Reittiere fest. Sie vergoss stumme Tränen, so überwältigt von ihren Gefühlen, dass ihr Gesicht ganz verzerrt war, während sie in die Dunkelheit zum Hauptflügel des Palastes starrte. Das Geräusch marschierender Soldaten, ein Hörn und Trommeln erklangen. Verließen die Soldaten den Palast, um durch das Haupttor in die Stadt zu gelangen, oder kehrten sie zur Garnison des Palastes zurück? Hanna wusste 344 es nicht. Lichter bewegten sich auf dem schmalen Pfad, der zum Flussufer führte. »Fortunatus.« Die krächzende Stimme gewann an Kraft. »Was ist geschehen? Wieso bin ich hier?« Fortunatus küsste mit trockenen Augen Rosvitas Hände. »Gott haben ein Wunder gewirkt, Schwester.« Er wurde vom Geräusch eiliger Schritte abgelenkt. »Wo ist Heriburg?«, fragte er. »Sie ist einfach weggelaufen!«, rief eines der Mädchen betrübt. Aber da kam sie schon wieder, beladen mit Büchern. »Ich habe Eure Geschichte, Schwester!«, rief sie. »Ich wusste, Ihr würdet keine Ruhe finden, wenn wir sie zurückgelassen hätten. Wir müssen uns beeilen. Eine ganze Kompanie Soldaten ist auf dem Weg hierher.« »Die Bücher!« Rosvita lehnte sich erschöpft im Wagen zurück. Heriburg legte die Bücher rechts und links von ihr hin, und Hanna zog die Decke über sie, um sie zu verbergen. »Kommt«, sagte Hanna. »Wir müssen uns mit dem Karren abwechseln. Wenn uns unterwegs jemand fragt, was wir vorhaben, sagen wir, dass wir Bücher und Urkunden aus der Königlichen Schule in Sicherheit bringen.« Sie mussten zu viert anfassen, um den Karren den steilen Pfad hinunterzulenken, aber auf der breiten Straße, die zum westlichen Tor führte, hatten sie mehr Glück. Hier war kein einziges Gebäude zusammengebrochen; allerdings mussten sie zwischen den vielen Leuten hindurch, die sich auf der Straße aufhielten, zu verängstigt, um ihre Sachen zu holen, aber auch nicht bereit, die Stadt ohne ihre Habseligkeiten zu verlassen. Ein paar schickten ihnen Flüche hinterher, als hätten die Wendaner das Unheil über die Stadt gebracht. Ein Mann warf einen Stein, der Aurea an der Wange traf und einen hässlichen Kratzer zurückließ. Danach hielten sie die Köpfe gesenkt, und Hanna war froh, dass sie nicht durch das östliche Tor gehen mussten, wo sich die Stimmung noch deutlicher gegen die Wendaner richtete. Der Lärm trieb sie weiter, Schreie, Jammern, Trommeln, lautes Dröhnen, das schließlich zu einem langen, rumpelnden Echo verklang. Als sie zum Tor kamen, standen dort drei Wächter, aber Hanna 345 und ihre Kameraden ließen sich in die Sicherheit einer Meute aus klagenden, schreienden Frauen zurückfallen; es waren Wäscherinnen, ihrer Kleidung und ihren Gesprächen nach zu urteilen, beladen mit Bettzeug und tropfnassen Wäschestücken. »Mögen Gott Barmherzigkeit haben«, murmelte Fortunatus, als sie die Mauer passierten. Sie waren entkommen. Sie gingen weiter, blickten furchtsam von einer Seite zur anderen, aus Angst, jemand könnte sie erkennen und sie rufen, aber nichts geschah. Sie schritten dahin, lösten sich am Karren ab und trotteten mit tausenden anderer Flüchtlinge die Straße entlang. Überall auf den Feldern und entlang des offenen Weidelands, das die Stadt umgab, blieben die Menschen erschöpft stehen. Niemand traute sich, den Rest der Nacht unter einem Dach zu verbringen. All dies sah Hanna nur in Bruchstücken, als Schemen, die sich in der Dunkelheit verloren. Staub hüllte den Himmel hinter ihr ein, verbarg ihn zur Hälfte. Es war Neumond und daher so dunkel, dass das unheimliche
Glühen von Dutzenden von Feuern die Stadt wie einen Schmiedeofen wirken ließ - die Schmiede der alten Götter, die einst hier geherrscht hatten. Vielleicht waren sie zurückgekehrt, um Rache zu üben. Vielleicht hatten Gott die Eindringlinge bestraft. Sie übernahm den Karren, schob ihn weiter, bis sie glaubte, ihr würden die Hände abfallen. Sie biss die Zähne zusammen, während sie Jehan folgte. Niemand hatte bisher die Reittiere benutzt. Ohne dass sie darüber gesprochen hatten, waren sie sich einig, die Tiere nicht zu früh zu verausgaben. Niemand von ihnen aß etwas. Hanna wusste nicht, ob sie irgendwelche Vorräte besaßen, ob sie wenigstens Wasser hatten. Ihre Kehle schmerzte. Die Nacht zog sich endlos dahin, während sie sich abwechselnd mit dem Karren abmühten und später auf dem Maultier ausruhten. Schon bald ließen sie die Flüchtlinge hinter sich und bewegten sich einsam die verlassene Straße entlang. Nach einiger Zeit stieg der Boden an. Sie hatten die Gebirgsausläufer erreicht. Nach dem ersten Hang blieben sie stehen, drehten sich um und warfen einen 346 Blick den Weg zurück, den sie gekommen waren. Fortunatus zog die Decke beiseite, sodass Schwester Rosvita etwas sehen konnte. Er hielt eine Lampe neben sie. Darre brannte, nicht nur die Stadt selbst, sondern auch die sie umgebende Ebene, auf der die Menschen Feuerstellen errichteten, an denen sie sich versammelten. Dicht bei den Mauern brannten auch Scheiterhaufen. Seltsamerweise spuckte die Luft im Südwesten, in den Bergen, Funken. Hanna zitterte. Die Erde rumpelte und wurde wieder ruhig. »Wohin gehen wir?«, fragte Fortunatus. »Wir können das Alfar-Gebirge um diese Jahreszeit nicht mehr überqueren.« Schweigen folgte auf seine Worte. Nicht einmal Hanna hatte einen Vorschlag zu machen. Sie und Fortunatus hatten die anderen bis hierher geführt, aber jetzt waren sie am Ende eines Seils angelangt, das aus Spontaneität, Mut und Loyalität geflochten worden war. Wenn Hugh erst bemerkte, in welche Richtung sie geflohen waren, würde er sie verfolgen. Sie zitterte, als ein kalter Wind vom Hochland zu ihnen herabwehte. Rosvita rührte sich, reckte die Glieder. »Hört zu«, sagte sie mit krächzender Stimme. »Hört zu.« Sie hörten zu, aber alles, was sie vernahmen, war der Nachtwind. Sogar der Lärm der Stadt war hinter ihnen zurückgeblieben. »Wir müssen dorthin gehen, wohin uns niemand folgen kann. Wir können nur hoffen, dass sie uns Zuflucht gewähren.« Mit einiger Mühe kämpfte sie sich auf die Ellbogen. Ihre Haare waren vollkommen weiß geworden, verblüffend angesichts des Drecks im Kerker. »Wir müssen zum Kloster von St. Ekatarina gehen. Mutter Obligatia hat uns schon einmal geholfen. Wenn sie noch lebt, dürfen wir hoffen, dass sie uns vielleicht wieder helfen wird.« 347 4 Auch nach jenem Morgen, an dem Hathumod und ihre Kameraden das Kloster Herford verließen, versiegte das Getuschel nicht. Noch Tage und Wochen nach ihrem Aufbruch, während der Herbst andauerte und der Winter seine Kraft sammelte, hingen ihre ketzerischen Worte wie ein Gespenst in den Winkeln des klösterlichen Anwesens. Zweifel setzten den Mönchen und Arbeitern zu. Viele spotteten, aber andere flüsterten von Zeichen und Wundern, von einem Phönix, von Löwen und von sieben unschuldigen, heiligen Schläfern, die unter einem Hügel verborgen waren. Obwohl Vater Ortulfus mehr als einmal eine heftige Rede über die Gefahren der Ketzerei hielt, konnte man sogar ihn in seltsamen Abständen immer wieder dabei antreffen, wie er in der Bibliothek Bücher studierte oder gedankenverloren am Waldrand stand, den Blick wie Kummer in jener Nacht auf eine unsichtbare Gefahr gerichtet - oder auf ein Versprechen. XII Ein Kalb im Schlachthaus des Winters
1 Es war ein langweiliger Ritt vom Kloster Herford nach Autun, und es herrschte eine fürchterliche Kälte. Ivar verlor den Überblick über den Lauf der Tage, die sich ihre Eskorte verbissen voranmühte. Einmal waren sie gezwungen, eine ganze Woche im kalten Außengebäude eines Klosters zu verbringen, weil Eisschollen den Fluss unpassierbar machten. Ein anderes Mal hatte Prior Ratbold so hohes Fieber, dass sie in den Ställen eines abgelegenen Klosterguts hausen mussten, während der Prior im Delirium lag. Am fünften Tag jedoch hatte er ausgeschwitzt, was immer ihn geplagt hatte, und zwei Wochen später war er wieder kräftig genug, um Weiterreisen zu können. Von den anderen erkrankte jedoch niemand.
Beim Kloster Dibenvangar wäre Sigfrid die Zunge fast zum zweiten Mal herausgeschnitten worden, weil er sich - nur er war klein genug dafür - durch eine Lücke im Bretterzaun gezwängt und ins Novizengebäude geschlichen hatte. Den ganzen Abend über predigte er dort, ehe Prior Ratbold sein Verschwinden bemerkte. »Ein Fuchs unter Hühnern!«, brüllte der Prior wutentbrannt. »Man kann ihn offensichtlich nur aufhalten, indem man dafür sorgt, dass er nicht sprechen kann!« 349 Der sanftmütige Abt von Dibenvangar riet Ratbold von irgendwelchen gewalttätigen Handlungen ab und schickte die ganze Gruppe am nächsten Tag wieder auf die Reise - aber nicht, ohne den eigensinnigen Gefangenen in der Morgendämmerung einen Rat zu erteilen. »Verzweifelt nicht, Freunde«, sagte er ruhig. »Ihr seid nicht allein.« Diese rätselhaften Worte hoben Ivars Stimmung beträchtlich, während die Tage sich dahinzogen. Doch als sie schließlich ins Rhaune-Tal abstiegen, überkam ihn ein Anfall von Wehmut. Eine schmerzhafte Vorahnung nagte an ihm. Wie würde Bischöfin Constanze über ihren Fall urteilen? Würde sie nachsichtig oder streng sein ? Würden sie exkommuniziert werden? Oder sogar getötet? Er empfand es als sehr schwierig, in schlechten Zeiten genauso entschlossen zu sein wie in guten. Das Rhaune-Tal war ein fruchtbares Gebiet, voller blühender Besitztümer und üppiger Güter. Obwohl die Straßen und Felder jetzt unter einer Schneedecke lagen, wirkten sie ordentlich und gepflegt. Bischöfin Constanze hütete eine fruchtbare Herde. An der Fährstelle hing eine Glocke unter einer Überdachung aus Binsen. Prior Ratbold läutete daran. Die Übrigen stiegen von den Pferden und führten die Tiere umher, um sie warm zu halten, während auf der anderen Seite des Flusses der Fährmann aus seinem Haus trat. Er warf einen Blick auf die Gruppe, ging ins Haus zurück und kam eine Weile später wieder heraus, um das Floß an einem über den breiten Fluss gespannten Tau auf ihre Seite zu ziehen. Er musste dreimal hin- und herfahren, um alle hinüberzubefördern. Ivar grübelte vor sich hin, während er wartete. Gerulf und Dedi waren bei der ersten Gruppe. Die beiden Löwen plauderten inzwischen freundschaftlich mit den Mönchen, von denen sie bewacht wurden; drei von ihnen waren selbst bei den Löwen gewesen, ehe sie sich aus dem Krieg zurückgezogen und der Kirche überantwortet hatten. Trotz der Zweifel wegen der ketzerischen Vorwürfe, denen Gerulf und Dedi ausgesetzt waren, achte350 ten diese Mönche frühere Kameraden. Es war eine ganz eigene Form der Freundschaft, die nicht auf Familienbanden gründete, sondern auf dem gemeinsamen Dienst dem König gegenüber. Sie alle hatten gekämpft, hatten Kameraden sterben sehen, hatten gelitten und waren marschiert und bei alldem stets treu ergeben gewesen. Eine solche Veranlassung, seine Schützlinge nett zu behandeln, hatte Prior Ratbold, der jüngere Sohn eines edlen Hauses, nicht. Seine Familie hatte keinerlei Verbindungen zu einer der ihren, und ihre Familien waren auch nicht wichtig genug, um irgendeine Rolle zu spielen. Für Ratbold waren sie Ketzer, nichts weiter. Vielleicht hätte Ivars Schwester Rosvita ihm helfen können, sofern sie es gewollt hätte, aber sie war nicht hier. Und sein Vater hatte sich seit langem bemüht, ihn loszuwerden. Das alte familiäre Elend überkam ihn wieder, während er sich an der Reling des Floßes festhielt, als er mit der letzten Gruppe übersetzte. Braungrünes Wasser wirbelte unter seinen Stiefeln. Ein großer Ast krachte gegen das Floß, das zu schaukeln begann, sodass die Pferde unruhig wurden, ehe der Fluss ihn wieder mitriss. Alle hatten ihn verlassen. Sein Vater hatte sich nie viel aus ihm gemacht, und er war noch ein Kind gewesen, als seine Mutter gestorben war. Für seine Brüder und Schwestern war er eine Last gewesen, das rothaarige Kind, das ihnen im Weg war. Hanna war weggeritten, um ein Adler zu werden. Liath hatte ihn in Versuchung geführt und dann die Umarmung eines Prinzen vorgezogen. Doch sein Leben war gut gewesen, ehe Hugh nach Friedleben gekommen war. Er konnte sich noch daran erinnern, wie sehr er Hugh einst gehasst hatte - es war ein Gefühl gewesen, als hätte er eine brennende Klinge in der Hand gehalten. Der Hass hatte sich einmal gut angefühlt. Jetzt strömte er mit dem Wasser des Flusses davon, floss hinab zum Meer. Wenn er sich in den Fluss stürzte, würde ihn niemand vermissen. Nicht einmal Hugh würde es kümmern. Hugh erinnerte sich vermutlich nicht einmal mehr an seinen Namen. Der Fluss zerrte an dem Floß ebenso wie an seinem Herzen. Er sah Schemen im Wasser, Wassernymphen, die ihm etwas zuriefen 351 und ihre Arme nach ihm ausstreckten, während sie winkten und weinten. Komm zu uns, sagten sie, während ihre Körper von Wellen umwogt wurden. Ein kaltes Grab, aber ein friedliches. Er packte die Reling fester und beugte sich vornüber, ganz schwindlig vor Verzweiflung. Das Wasser wirkte so tröstlich. So endgültig. »Bist du verrückt?« Baldwin packte Ivar an der Schulter und riss ihn zurück. »Du könntest reinfallen und ertrinken, und was soll ich dann tun? Du hörst ja gar nicht zu, was ich sage! Da, kannst du es sehen? Das ist der Turm vom Palast der Bischöfin von Autun.« Ivars Augen waren voller Tränen, sodass er nichts sehen konnte. Ermanrich kam an seine Seite, stützte ihn, indem er ihm eine Hand auf den Arm legte. »Ja, ich sehe es, Baldwin«, sagte er, ohne den Blick von Ivar
abzuwenden. »Siehst du es auch, Ivar?«, rief Baldwin ungeduldig. Der Flusswind fuhr durch seine hellen Haare, und seine Wangen waren gerötet. Wenn die Wassernymphen trauerten und jammerten, dann wahrscheinlich, weil sie gerade begriffen hatten, dass sie niemals Hand an so hübsche Wesen wie Baldwin legen konnten. »Das Banner der Bischöfin weht nicht über dem Palast! Sie ist nicht da! Und wenn sie nicht da ist, kann sie auch keine Gerichtsverhandlung abhalten !« Zum Missfallen des Fährmanns traten die anderen jetzt neben Ivar. Das Floß schwankte wie ein unbeholfenes Pferd, und Wasser strömte über die Planken und sickerte wieder zurück. »Wohin mag die Bischöfin gegangen sein?«, fragte Hathumod. »Sie ist nicht nur die Bischöfin von Autun, sondern auch die Herzogin von Arconia«, erklärte Ermanrich. »Sie wird auch im Herzogtum Pflichten zu erfüllen haben, nicht nur in Autun. Als ich Novize in Fiersbarg war, habe ich sie einmal mit ihrem Gefolge vorbeireiten sehen.« Er warf einen Blick auf die Wachen, die an der anderen Reling standen, um das Gleichgewicht zu halten. Der Fährmann und sein Helfer zogen kräftig an dem Seil, während die Strömung sich alle Mühe gab, sie flussabwärts mitzureißen. »Bischöfin Constanze ist eine weise Edelfrau«, fuhr Ermanrich etwas leiser fort. »Es wurde immer nur voller Achtung von ihr ge352 sprachen, selbst dann, wenn niemand mithören konnte. Sie wird eine gerechte Richterin sein.« »Sofern es eine gerechte Richterin überhaupt gibt«, murmelte Ivar. »Du musst auf Gott vertrauen, Ivar«, tadelte Sigfrid. »Hat Sie nicht bisher stets über uns gewacht?« Baldwin lehnte sich gegen Ivar, legte seine warme Hand auf dessen kalte Hand und beugte sich zu ihm. »Natürlich hat Sie das.« Seine Stimme war wie eine sanfte Liebkosung. »Wir wären schon zwei- oder dreimal gestorben, hätte es Gott nicht gegeben. Ich wäre immer noch mit Markgräfin Judith verheiratet.« Die drei Jahre zuvor gestorben war. Es kam ihm irgendwie nicht richtig vor, und es erschien ihm auch nicht möglich, dass so viel Zeit vergangen sein sollte. Hatte Vater Ortulfus sich vielleicht nur einen schlechten Scherz mit ihnen erlaubt? »Ivar, was wird wohl passieren, wenn Bischöfin Constanze nicht da ist?«, fragte Ermanrich hoffnungsvoll. Die anderen wiederholten seine Frage: die schüchterne Hathumod, der zarte Sigfrid, sogar Baldwin, obwohl er nicht sprach, sondern nur in reizvoller Verlegenheit die herrlichen Lider niederschlug. Sie warteten darauf, dass er etwas sagte. Sie erwarteten Antworten von ihm. Wieso auf Gottes Erde kamen sie darauf, dass er irgendwelche Antworten haben könnte, wo er doch nicht einmal in der Lage war, sein eigenes Herz zu ergründen? Und doch verlangten sie, dass er sie führte. Sie zählten auf ihn. Sie brauchten ihn. »Da!« Baldwin streckte die Hand aus. »Siehst du es jetzt?« Ivar erhaschte zwischen den Bäumen hindurch einen Blick auf einen steinernen Turm, der aber sogleich wieder außer Sicht geriet, als das Floß ans Ufer gelangte. Das Banner, das auf dem Turm flatterte, sah gar nicht aus wie die weißgoldene Standarte von Bischöfin Constanze. Bevor Ivar das Floß verließ, starrte er noch einmal den Fluss an. Hatte er sich die Wassernymphen bloß eingebildet? Jetzt sah er jedenfalls nur vorbeiströmendes Wasser, dessen melodisches Rauschen in seinen Ohren klang. Ihre Pferde wurden gebracht, sie 353 stiegen auf und ritten weiter. Als sie aus dem Wald kamen, ragte Autun vor ihnen auf: Die große Brustwehr zog sich um einen leicht zu verteidigenden Hügel, während die neueren Siedlungen, die sich jenseits der alten Mauern entlang des Flusses erstreckten, von Palisaden umgeben waren. Der Palast der Bischöfin stand zwischen einer Kathedrale aus Stein und Holz und dem alten Turm des Herzogs, einem viereckigen Wachturm, der aus der Zeit des Dariyanischen Reiches stammte und ganz aus Stein war. Oberhalb dieser herrlichen Gebäude und somit auf dem höchsten Teil des Hügels befanden sich Taillefers berühmter Palast und die prachtvolle achteckige Kapelle, in der seine irdischen Überreste in einem Marmorgrab aufbewahrt wurden. Das Banner auf dem Palast der Bischöfin zeigte das grüne Guivre mit ausgebreiteten Flügeln und einem roten Turm in den Krallen, das Zeichen für die Anwesenheit des Herzogs von Arconia. »Seltsam«, murmelte Prior Ratbold. »Wieso weht das bischöfliche Banner nicht an seiner Seite, wie es eigentlich sein müsste?« Sie warteten am Haupttor, während die Wachen von Autun nach einem Hauptmann der Zitadelle schicken ließen, einem Mann namens Ulric. Dieser hatte ein grimmiges Gesicht und einen zynischen Blick, und er kam mit Befehlen seiner Vorgesetzten. »Ketzer, ja?«, fragte er müde, als hätte er so etwas an diesem Tag schon hundertmal gehört. »Und Ihr seid den ganzen Weg vom Kloster Herford bis hierher gereist? Liegt das nicht im Herzogtum Fesse?« »Das ist wahr, Hauptmann«, stimmte Ratbold ihm zu. »Aber Ihr erinnert Euch vielleicht, dass Vater Ortulfus noch bis vor kurzem ein Mitglied der bischöflichen Schule gewesen ist. Deshalb hat er die Abtei von Herford erhalten, als die Stelle des Abtes frei geworden ist.« »Oh, ja, das stimmt.« Ulric zog eine Grimasse, als hätte man ihn gezwungen, Maden zu essen. »Ich werde Euch
die Gefangenen abnehmen, Prior, und dafür sorgen, dass sie so untergebracht werden, wie sie es verdienen. Ihr könnt Euch wieder auf den Weg machen.« 354 »Ohne zumindest eine Unterkunft für die Nacht und eine warme Mahlzeit für unsere Mühe zu erhalten?« Auf eine solche Beleidigung hätte jeder wütend reagiert, und Prior Ratbold war ohnehin kein sonderlich gutmütiger Mensch. »Ich kann nicht glauben, dass wir nach einer vierwöchigen Reise so einfach weggeschickt werden, wo wir hier bis zu den Knöcheln im Dreck stehen und es vermutlich bald schneien wird.« Die Mönche tuschelten leise miteinander; sie waren entsetzt über einen solchen Verstoß gegen die Sitten der Gastfreundschaft. »Wo sollen wir heute Nacht bleiben?« »Der Fährmann hat genug Platz, um Euch unterzubringen.« Als Ratbold erneut Einwände erheben wollte, packte Ulric den Prior völlig überraschend am Gewand und zog ihn dicht zu sich heran. Nur Ivar stand nah genug, um die leisen Worte des Hauptmanns verstehen zu können. »Hört gut zu, Freund. Ich rate Euch dringend, sofort umzukehren und Euch wieder auf den Weg zu machen, ehe jemand davon Wind bekommt, wer Euer Herr ist. Ihr habt großes Glück, dass ausgerechnet ich heute Nachmittag Dienst habe, sonst würdet Ihr schon längst in einer hübschen kleinen Zelle sitzen. Habt Ihr mich verstanden?« »A-a-aber -« Ausnahmsweise fand Prior Ratbold einmal keine Worte. Ulric ließ ihn los und sah mit zusammengekniffenen Augen und einem verbitterten Stirnrunzeln zu, wie Ratbold sich beeilte, mit seinen Kameraden kehrtzumachen und nach Süden zu reiten, weg von der Stadt. Der Hauptmann hatte die Geduld eines Heiligen. Erst als eine Obstwiese und eine Biegung der Straße die Mannen aus Kloster Herford vor seinen Blicken verbargen, wandte er sich seinen Gefangenen zu. »Schafft die Ketzer rein«, sagte er spöttisch zu seinen Wachen. »Was sind schon sieben mehr im Dienste unserer Herrin?« Sie wurden in einen niedrigen Raum oberhalb der Soldatenunterkünfte gebracht. Es war die Art von Gefängnis, in das man Soldaten steckte, die eines Verbrechens - etwa eines armseligen Diebstahls oder einer Schlägerei beschuldigt wurden. Hier hausten 355 sie vier Tage lang, wie sie an dem bisschen Tageslicht erkennen konnten, das durch den Rauchabzug fiel. In regelmäßigen Abständen wurden ihnen Essen und Trinken gebracht, zweimal am Tag ihr Eimer geleert. Sie hatten kein Feuer, aber jede Menge Stroh als Polsterung, und obwohl Ivar ununterbrochen fror, war es durch die von unten heraufdringende Wärme einigermaßen erträglich. Dem Lärm und der Geschäftigkeit nach zu urteilen, schien eine große Zahl Soldaten in Autun versammelt zu sein - so viele, als wäre der König selbst hier anwesend. In dem schwachen Licht konnten sie nicht erkennen, was vorging. Sie konnten nur lauschen und beten. Am fünften Morgen wurde die Falltür geöffnet, und eine Wolke aus Rauch und ein Befehl drangen zu ihnen herauf. Nacheinander kletterten sie die Leiter hinunter. Ihr unbeholfener Abstieg auf der wackeligen Leiter machte sie verletzlich, zumal ein Dutzend grimmig dreinblickender Wachen unten wartete. Es war unmöglich, unter diesen Umständen an Flucht auch nur zu denken. »Sie müssen ein Bad nehmen, ehe sie Ihrer Höchst Exzellenten Hoheit vorgestellt werden können.« Hauptmann Ulric blieb vor Baldwin stehen, kratzte sich am Bart, während er den jungen Mann von oben bis unten musterte. »Sorgt dafür, dass der hier saubere Kleidung erhält. Jemand soll ihm die Haare und den Bart stutzen, aber achtet darauf, dass weder er noch seine Kameraden das Rasiermesser in die Hand kriegen.« »Auf der Suche nach einer Sonderzuteilung, Hauptmann?«, scherzte eine der Wachen, ein schlanker junger Mann mit hellen Haaren. »Halt den Mund, Erkanwulf. Ich tue, was ich tun muss, um meine Position und die unter meinem Befehl stehenden Männer zu schützen. Wenn ich durch so etwas die Gunst Ihrer Hoheit erringe, so sei es. Und jetzt an die Arbeit.« »Irgendwas ist da faul«, flüsterte Ermanrich, ehe er mit dem Stiel einer Hellebarde einen Schlag auf den Rücken erhielt. »Nicht reden«, sagte der mit Namen Erkanwulf. Wie sein Hauptmann hatte auch er einen grimmigen Zug um den Mund, als hätte er etwas Ungenießbares gegessen. 356 Ivar warf Gerulf einen Blick zu, aber der alte Löwe zuckte nur die Schultern. Hier stimmte etwas nicht, aber es war unmöglich, zu erkennen, was es war; nicht zu übersehen war hingegen die ungewöhnliche Anzahl von Soldaten, die sie zu Gesicht bekamen, als sie von den Unterkünften über den geschäftigen Hof zu den berühmten Palastbädern marschierten. In diesen steinernen Hallen, die vor langer Zeit von Dariyanischen Baumeistern errichtet worden waren, hatte Kaiser Taillefer Hof gehalten, während er sich den Luxus eines Bades gegönnt hatte. Dichter hatten die heilenden Kräfte der Bäder besungen, und auf mehr als einem aus dieser Zeit stammenden Wandteppich war Taillefer zu sehen, wie er es sich in den Bädern zwischen Höflingen bequem machte oder beim Essen auf einer Liege ruhte, wie es den alten Dariyanern nachgesagt wurde. Der große Kaiser hatte den Ruhm des alten Dariyanischen Reiches für eine kurze und herrliche Zeitspanne wieder aufleben lassen. Und doch war das Heilige Dariyanische Reich mit Taillefers Tod zusammengebrochen. Niemand nach ihm war stark genug gewesen, um es zusammenzuhalten.
Zwei ältliche Frauen führten um diese Zeit die Aufsicht über die Bäder. Nicht einmal diese alten Weiber waren unempfänglich für Baldwins betörende Schönheit, und als sie schließlich mit ihm fertig waren, sah er besser aus als seit vielen Wochen. Die Haare waren in dem Stil geschnitten, den die königlichen Prinzen bevorzugten, und der Bart war so gestutzt, dass seine schöne Kinnline betont wurde. Eine Wache brachte ihm eine saubere, schlichte Wolltunika, die verglichen mit der verschmutzten Reisekleidung jedoch mehr als angemessen war. Sogar Gerulf pfiff bewundernd. »Gott im Himmel«, fluchte Dedi, der sich anscheinend nicht zurückhalten konnte. »Bin ich froh, dass meine Fridesuenda ihn nie gesehen hat. Sie hätte glatt vergessen, dass ich überhaupt existiere.« Baldwin sah aus, als würde er jeden Augenblick anfangen zu weinen, wie ein Kalb, das gerade begriffen hatte, dass es zur Schlachtbank geführt werden sollte. Ivar legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Bleib einfach in meiner Nähe.« 357 »Du wirst mich nicht verlassen, Ivar, oder?« »Natürlich nicht, Baldwin. Ich werde dich nie verlassen. Niemals.« Baldwins strahlender Blick bereitete Ivar Unbehagen, aber er verspürte auch leichte Erregung. Was hatte er denn schon getan, um solch eine Treue zu verdienen? Nun, ein paar Dinge vielleicht, und er errötete, als er sich jetzt daran erinnerte. Jene Monate, in denen sie mit Prinz Ekkehard getrunken und gehurt hatten, waren nicht jene, über die er gern nachdachte - es war, als wären sie von einer Plage der Lüsternheit und der Gier befallen gewesen, die alles Gute in ihnen weggebrannt hatte, bis sie nur noch verrottende Hüllen gewesen waren. Aber es war nicht alles schlecht gewesen. Er bereute die Vertraulichkeiten nicht, die er mit Baldwin erlebt hatte, weil zumindest sie einer aufrichtigen Liebe entsprungen waren. Liebe. Oh, Gott. Wieso hatte er es zuvor nie gesehen, wo es ihn doch die ganze Zeit angestarrt hatte ? Da stand Baldwin in seiner ganzen Schönheit, so lieblich, dass ihm jede Frau und auch ein paar Männer zu Füßen gelegen hätten, wenn er sich nur ein wenig Mühe gegeben hätte. Aber es war Ivar, den er vertrauensvoll ansah, Ivar, an den er sich klammerte, Ivar, dem er durch dick und dünn folgte. Er liebt mich. Hauptmann Ulric tauchte auf; er fluchte, als er Baldwin und Ivar sah und das zwischen ihnen herrschende Schweigen bemerkte. »Sagt mir jetzt bitte nicht, dass er ihn für eine Frau nicht hochkriegt.« »Er ist ein Novize und der Kirche verschworen«, entgegnete Ivar wütend, nahm aber seine Hand von Baldwins Schulter. Er wusste, dass sein Gesicht sich rötete. Seine Gesichtsfarbe verriet ihn immer. Die Wachen kicherten, bis Ulric sie mit einem kurzen Befehl zum Schweigen brachte. »Schafft sie weiter. Ihre Höchst Exzellente Hoheit liebt es nicht, warten zu müssen.« Von den Bädern in Taillefers Palast führte eine in den Fels gehauene Treppenflucht nach oben. Es schneite leicht; weiße Flocken 358 wirbelten herab und puderten Felsen und Dächer, aber nicht eine einzige berührte sie, denn die Treppe war überdacht. Das hölzerne Dach war errichtet worden, damit der Kaiser auch bei Regen zu seinen Bädern gelangen konnte, ohne nass zu werden. Es wurde von schlanken Steinsäulen getragen, und jede dieser Säulen war wie ein Tier geformt: Drachen, Greifen, Adler und Guivre begleiteten so ihren Aufstieg. Einmal kam Ivar auf gleiche Höhe mit einem vornehmen Phönix, aber als er stehen blieb, um die bemalten Federn zu berühren, stieß Erkanwulf ihm das stumpfe Ende seines Speers in den Rücken. »Geht weiter, wie der Hauptmann es gesagt hat.« Durch Zufall ging er irgendwann neben Baldwin her, und während er immer höher stieg, konnte er den Blick nicht von ihm abwenden - von den lockigen Haaren, die auf seine Tunika fielen, und dem Hals, der an den Stellen, an denen Baldwins Tunika im Rhythmus seiner Schritte hin und her rutschte, noch immer feucht glänzte. Liebte Baldwin ihn wirklich? Oder war er nur einfach das Einzige, an das Baldwin sich klammern konnte? Durch ein Tor mit dariyanischen Rosetten gelangten sie in den Palasthof. Auch hier standen Wachen. Sie waren überall - ein Wespennest aus Wachen bevölkerte Autun, allesamt aufgewühlt und angespannt. Ivar und seine Gruppe betraten jetzt einen Hof, der an der einen Seite von einer steinernen Kolonnade begrenzt wurde und auf der anderen von einer mächtigen Brustwehr. Am anderen Ende des Platzes sah Ivar die achteckige Kapelle mit den steinernen Strebepfeilern, die an jeder Ecke herausragten. Einmal hatte er in dieser Kapelle beten und vor dem Steinsarg knien dürfen, der Taillefers Ruheplatz war. Er erinnerte sich an das ernste, vornehme Gesicht und ganz besonders an die kostbare Krone, die Taillefer in den Händen hielt, eine goldene Krone mit sieben Spitzen, die jeweils mit einem kostbaren Edelstein verziert waren. Aber jetzt hatte er nicht einmal die Zeit, die Kapelle von außen anzustarren, denn schon wurde er die Kolonnade entlang und in die Halle geschoben. In dieser Halle hatte er versucht, sich in die Verhandlung gegen Liath und Hugh einzumischen. Wie erbärmlich er versagt hatte. Er hatte Schläge für sein Verhalten bekom359 men, Liath war exkommuniziert worden, und Hugh hatte man nach Süden geschickt, wo er sich dem Urteil der Skopos stellen sollte. Zweifellos hatte der Bastard mit seiner charmanten Art inzwischen die Gnade der Heiligen Mutter errungen. Und nach allem, was Ivar wusste, war Liath tot.
Er konnte keine tote Frau hassen. War Hanna auch tot? Tränen traten ihm in die Augen, als er die Wandbehänge anstarrte, das hohe, sich fast im Düstern verlierende Dach und die Lampen, die an jeder Säule und jedem Balken hingen. Die etwa hundert flackernden Flammen erzeugten genug Hitze, um den Raum zu erwärmen. Es war seltsam, wieder hier zu stehen. Er schien dazu verdammt zu sein, in dieser Halle Kummer zu erleiden. Baldwin nahm seine Hand und drückte sie, dann ließ er sie los, als die anderen zwischen sie gedrängt wurden. Drei fürstliche Stühle standen auf dem Podest. Zwei davon waren nicht besetzt. Soldaten, Höflinge, Bedienstete und Gefolgsleute unterhielten sich beiläufig miteinander, während auf dem Podest eine edle Prinzessin die Richterin spielte. Sie war eine kräftige, gut aussehende Frau in mittlerem Alter, vermutlich jenseits aller Hoffnungen, noch Kinder zu gebären, und sie trug ein Golddiadem auf der Stirn und die kostbar bestickte Kleidung einer Prinzessin, die jeden Augenblick in den Krieg reiten mochte. Ivar hatte kaum Zeit, einen Blick auf den Goldreif zu werfen, der an ihrem Hals glänzte und auf ihr königliches Blut verwies, da wurde er auch schon weiter gestoßen. Ein Dutzend Schritte später blieb er vor den Stufen zum Podest stehen. Ein Speerschaft traf ihn so hart in den Kniekehlen, dass er das Gleichgewicht verlor. Ein Reflex brachte ihn dazu, sich hinzuknien, und er kam hart auf dem Boden auf, ebenso wie seine Kameraden. Hauptmann Ulric trat neben sie, um seine Gefangenen besser zu präsentieren. »Eine weitere Gruppe von Ketzern, Eure Hoheit.« »Möge der Herr uns retten«, flüsterte Gerulf, der so dicht hinter Ivar kniete, dass das eine Knie unangenehm gegen Ivars Fuß drückte. »Was hat diese Verräterin da oben auf dem Platz der Richterin zu suchen?« 360 2 Sie folgten der Schlucht im hellen Licht des Vollmonds. Durch das Spiel der Schatten und in der beklemmenden Stille erhielt die Landschaft etwas Unheimliches, aber sie mussten weitergehen. »Es ist nicht mehr sehr weit.« Es fiel Hanna schwer, den Führer zu verstehen; das Aostanisch, das in Darre gesprochen wurde, schien nicht viel mit der Sprache zu tun zu haben, die in dieser gottverlassenen Gegend gesprochen wurde, auch wenn es die gleiche sein sollte. »Ich erkenne den Weg wieder«, sagte Fortunatus. Er hielt die Zügel des Maultiers, auf dem Schwester Rosvita ritt. »Ich nicht, abgesehen von einigen Fetzen, die mir wie aus einem Traum vorkommen«, erwiderte Rosvita. »Ihr seid sehr krank gewesen, als wir damals hier gewesen sind.« »Reise in Eile, ruhe in Weile«, pflichtete sie ihm bei und warf einen Blick den schmalen Pfad zurück, den sie gekommen waren. Sie waren jetzt von Felsen umgeben, die von Gottes Hand zu schrecklichen Gesichtern geformt worden waren, die von oben auf sie herabstarrten. »Wir sind offensichtlich dazu verdammt, von Feinden verfolgt zu werden, wenn wir hierher reiten.« Hanna warf ebenfalls einen Blick zurück. Es war so dunkel, dass sie nur diejenigen erkennen konnte, die ihr direkt folgten: die drei Mädchen, dann Jerome und Jehan mit einer Ziege und schließlich die Dienerin Aurea, die Hannas Stab in den Händen hielt. Bei Tageslicht hätten ihnen Staubwolken verraten können, wo sich die Verfolger befanden, aber bei Nacht mussten sie sich auf andere Kunstgriffe verlassen. Sie fingerte an dem Amulett herum, das sie um den Hals trug. Heriburg hatte es aus Fenchel und den verwelkten Blumen von Edelweiß gewebt - nur mithilfe dieser Amulette waren sie so weit gekommen, ohne von der Heiligen Mutter und ihrem Rat von Zauberern aufgespürt worden zu sein. Jehan hustete, dann auch Ruoda. Ein abgehackter Laut, der tief aus ihrer Brust kam. Auch mit Krankheiten hatten sie zu kämpfen. »Hier.« Der alte Führer blieb stehen und pfiff leise. Ein Stein fiel 361 auf den Kies vor ihm, und ein Junge kam aus den Felsen geklettert. Das Kind hatte die gleiche leicht gebogene, vornehme Nase wie er, die in seinem kleinen Gesicht etwas groß wirkte, und die für die Landbewohner dieser unwirtlichen Gegend typische drahtige Gestalt. Der Junge redete so schnell, dass Hanna nicht mehr als ein paar Worte aufschnappte, aber Rosvita lauschte aufmerksam. Dann wandte sie sich an die anderen, die hinter ihr warteten. »Der Junge sagt, dass etwa zwanzig Reiter eine Stunde oder mehr hinter uns sind, angeführt von einem Edelmann, der so hübsch ist, dass einige im Dorf sich fragen, ob er ein Engel sein könnte und wir die Dämonen sind, die er auf Gottes Rat hin verfolgt.« »Wie haben sie uns gefunden?«, fragte Heriburg. »Wir hätten ihnen verborgen bleiben müssen. Wir haben die Amulette - und außerdem alle Möglichkeiten der Irreführung ausgeschöpft.« »Aber das war offensichtlich nicht genug.« Rosvita hob die Hand, um sie vom Reden abzuhalten. »Vielleicht haben sie unsere Spur im Dorf aufgenommen. Es spielt keine Rolle. Wir müssen uns beeilen, wenn wir das Kloster erreichen wollen, ehe sie uns einholen.« Sie gingen weiter. Sie hatten so gut wie nichts mehr außer ihrer Entschlossenheit. Beim letzten Dorf hatten sie den Handkarren gegen die Dienste des alten Mannes eingetauscht. Es war das Einzige von einigem Wert, das sie noch besessen hatten. Die Stute hatte zu lahmen begonnen, und die letzten Münzen, die Fortunatus dabeigehabt hatte, waren einige Tage zuvor für eine Milchziege, Korn und Wein ausgegeben worden. Sie hatten nichts außer
ihrer Kleidung und den Umhängen, den kostbaren Büchern, Hannas Stab, Bogen, Köcher und Messer und drei Essmessern, die sie abwechselnd benutzten. Sogar die Decken hatten sie gegen Quitten, Haferbrei und einige getrocknete Fische eingetauscht - und alles mittlerweile aufgegessen. Als die Dämmerung die Berge im Osten erhellte, ging der Mond hinter dem westlichen Hochland unter. In dem schwachen Licht, das so unbeständig war wie ihre Hoffnung, folgten sie dem Weg 362 rechts der Rinne, bis sie auf ein flaches Feld gelangten, das zum Fuß eines riesigen Kegels aus Vulkangestein führte, der sich wie der Hammer Gottes vor ihnen auftürmte. Baumstümpfe und kleine Flecken trockener Büsche gaben dem Gelände einen leprösen Anstrich. Nicht ein einziger Vogel war zu hören. Dort, wo das Tal breiter wurde, wich es an beiden Seiten von dem gewaltigen Felsen zurück, aber die steilen Berge rechts und links verengten sich schon bald wieder. Schatten beherrschten noch immer das Tal. Es gab keinen Hinweis auf irgendwelches Leben. »Mein Gott«, sagte Hanna. Sie hatte das Gefühl, als würden ihre Beine nachgeben. »Seid Ihr sicher, dass da oben jemand lebt?« »Ganz sicher.« Rosvita stieg ab und rief. Niemand antwortete. Sie rief erneut. Sie warteten. Der Wind strich über den Felsen. Über ihnen flatterte ein heller Fetzen an einer schmalen Kante, die aus der Klippe herausragte, aber Hanna konnte nicht genau erkennen, was es war. Niemand antwortete. Es gab keine Möglichkeit, den steilen Hang hinaufzuklettern. Der Führer warf wiederholt einen Blick zurück zu der Rinne, als erwartete er, jeden Augenblick die Reiter daraus hervorbrechen zu sehen. Schließlich rückte er von ihnen ab und rannte mit beunruhigender Schnelligkeit den Weg zurück, den sie gekommen waren. »Lass ihn gehen«, sagte Rosvita zu Aurea, die schon hinterher rennen wollte und den Stab drohend schwang. »Es war ein guter Tausch, und er hat uns gegeben, worum wir ihn gebeten haben.« »Und zweifellos haben seine Verwandten uns für einen ebenfalls angemessenen Preis an die verraten, die uns folgen«, sagte Aurea verbittert. »Ich hoffe, sie haben einen besseren Tausch gemacht als er mit uns«, sagte Fortunatus. »Die Achse an dem Karren war bereits angeknackst und kurz davor, endgültig zu brechen.« »Meine Stimme ist zu leise«, sagte Rosvita. »Wir müssen alle zusammen rufen.« Das taten sie, aber noch immer kam keine Antwort. Es wurde heller um sie herum, auch wenn sie noch im Schatten des Felsens standen. 363 »Wie sollen wir da hochkommen?«, fragte Hanna. »Damals gab es Strickleitern«, erklärte Fortunatus. Er blinzelte, als die Sonne über die Berge im Osten stieg, und deutete auf den flatternden Stoff, den Hanna schon zuvor bemerkt hatte. »Da ist auch eine, man kann die Ecke sehen. Aber sie ist hochgezogen.« »Dann muss noch jemand dort oben sein«, sagte Rosvita. »Wenn alle gegangen wären, wären die Leitern unten.« »Oh, Gott, ich habe Angst«, sagte Gerwita und begann zu weinen. »Was werden sie uns antun, wenn sie uns ergreifen?« »Ich werde hochklettern«, sagte Hanna. »Wenn ich diese Kante erreichen kann, können wir zumindest bis dorthin und wären damit außerhalb ihrer Reichweite.« »Aber nicht außerhalb der Reichweite ihrer Pfeile«, erwiderte Fortunatus. Rosvita blickte ernst drein; es war ein Blick, dem Hanna in den letzten Wochen zu vertrauen gelernt hatte. »Es ist gefährlich, da hinaufzuklettern, Adler. Wir könnten uns ein Stück weiter in der Schlucht verstecken und hoffen, dass unsere Verfolger kehrtmachen, wenn sie davon überzeugt sind, dass wir ihnen entkommen sind.« »Das könnten wir tun. Aber ich glaube nicht, dass es klappen würde.« »Man kann an der Nordseite hochklettern«, sagte Fortunatus. »Edelmann Johan Eisenkopf hat seine Soldaten da hochgeschickt. Erinnert Ihr Euch nicht, wie sie von dem Daemon getötet worden sind?« »Ja, die armen Seelen. Mögen Gott Erbarmen mit ihnen haben.« »Wir sitzen in der Falle, nicht wahr?«, fragte Aurea. »Ganz egal, was wir tun. Denn selbst wenn wir da hochkommen, sind wir nicht genug, um einen Angriff abzuwehren, sollten sie auf die Idee kommen, ihre Soldaten über die Nordseite zu schicken.« »Wir werden sehen«, sagte Rosvita. »Man kann unter solch ungewöhnlichen Umständen selbst Fallen errichten. Sie können uns nicht ewig belagern. Und es gibt noch eine andere Möglichkeit...« Sie sprach nicht weiter, sondern sah Hanna eingehend an, dann nickte sie. 364 »Ich werde gehen«, sagte Hanna. Von den Geistlichen war dafür niemand verwegen genug, und sie hatten auch nicht die Kraft, Rosvita die Klippe hochzuschaffen. Schwester Rosvita selbst konnte erst recht keinen Felsen hochklettern, sosehr sie in den Wochen ihrer Flucht auch an Kraft gewonnen hatte. Fortunatus führte Hanna um den riesigen Felsen herum zur Nordseite. Es dauerte eine Weile, denn der Felsvorsprung war groß, und hinter dem ebenerdigen Feld, wo einst Olivenbäume gestanden hatten, war der Boden so zerklüftet, dass sie langsam gehen mussten, um sich ihren Weg über umgestürzte Felsbrocken und
kleine Rinnen zu suchen. Sie schwitzte und war völlig außer Atem, als Fortunatus schließlich stehen blieb und wortlos nach oben deutete. Sie musterte die Konturen und Gesimse, achtete auf die Botschaften, die sich darin zeigten, wie Wiesenknopf und dürre Kiefern Wurzeln in den Spalten und Gesimsen geschlagen hatten. »Hier«, sagte Hanna, streifte die Handschuhe ab und reichte sie Fortunatus. Sie nahm ein Seil, ihr Messer und eine zur Hälfte mit Bitterbier gefüllte Haut und ließ den übrigen Teil ihrer Ausrüstung bei Fortunatus zurück. »Ich werde warten, bis ich sehe, dass Ihr wohlbehalten oben angekommen seid. Dann kehre ich zu den anderen zurück.« Sie bahnte sich ihren Weg über das Geröll bis zu der Stelle, wo sie mit dem Aufstieg beginnen wollte. Das Klettern an sich war nicht so schwierig, wie sie befürchtet hatte, solange sie nicht nach unten schaute. Ihre Finger und Hände begannen zu schmerzen; damit hatte sie gerechnet. Aber auch ihre Schultern taten weh, die Fußsohlen, die Oberschenkel, jeder Muskel, den sie anspannen musste, um sich festzuhalten. Sie lernte, erst den Staub von den Stellen zu wischen, an denen sie sich mit der Hand festhalten wollte; die Gefahr abzurutschen war geringer, wenn keine Steinchen unter ihren Fingern waren. Hin und wieder zwängte sie die Knie in Vertiefungen und Nischen, und ein- oder zweimal konnte sie sich gegen den Fels lehnen und etwas ausruhen, weil die Wand schräger war. Doch in solchen Momenten, in denen sie Zeit hatte nachzudenken, wurde ihr auch immer wieder klar, dass ein oben 365 lauernder Feind sie nur zu leicht mit ein paar Felsbrocken in den Tod stürzen könnte. Aber niemand tat es. Es kamen keine Reiter aus der Wasserrinne geritten. Es rührte sich auch über ihr nichts, während sie sich hocharbeitete, sich ausruhte, wann immer es ihr möglich war, aber nie sehr lange. Angreifer waren nicht die einzige Gefahr, die ihr drohte; das Geröll am Fuß des Hangs war Beweis genug. Einer ihrer Finger begann zu bluten, und jedes Mal, wenn sie versuchte zuzupacken, spürte sie einen stechenden Schmerz. Alles blieb ruhig, lediglich eine leichte Brise strich über sie hinweg. Die Sonne wärmte ihre Schultern, obwohl die Luft noch kühl war. Schwester Rosvita hatte einen Plan. Sie mussten den Vormarsch ihrer Verfolger verlangsamen, das war alles. Solange sie daran glaubte, hatte sie die Kraft weiterzuklettern. Solange sie nicht nach unten blickte. Der steile Hang wurde jetzt etwas sanfter, aber auch rutschiger durch viele lockere Steine. Nachdem sie einmal fürchterlich ausrutschte und fast von der Klippe gestürzt wäre, wischte sie jetzt auch mit dem Fuß erst das Geröll beiseite, ehe sie ihn aufsetzte. So kroch sie weiter, bis der Boden ebener wurde und sie einen Wald aus Felsspitzen erreichte. Sie stolperte auf einen breiten Pfad und zögerte; sie war sich nicht sicher, welche Richtung sie einschlagen sollte. Schließlich begann sie, einfach in eine Richtung loszumarschieren. Nach etwa zwanzig Schritten stieß sie auf eine abgeflachte Kuppe, die von einem Steinkreis gekrönt wurde. Der Anblick verblüffte sie. Sie hatte noch nie einen Steinkreis in solch gutem Zustand gesehen, aber die aufrechten Steine wirkten eher unheilvoll als großartig, so als wären sie der geheime Schlüssel zu einem Ort, der besser unerforscht blieb. Der Wind war jetzt beißend, trotz ihrer Tunika, die nach der Anstrengung schweiß-nass war. Sonnenlicht glitzerte auf einem ovalen Flecken aus Sand, etwa drei Schritte vor dem nächsten Bogen, wo ein eindrucksvoller Sturzstein die Lücke zwischen zwei Menhiren überbrückte. Aus diesem Winkel konnte sie nicht erkennen, ob es insgesamt acht oder neun waren. Etwas Weißes glänzte auf dem steinigen 366 Boden. Sie machte einige Schritte darauf zu, blieb dann aber stehen. Ein säuerlicher Geschmack bildete sich in ihrer Kehle. Zerbrochene Skelette lagen innerhalb und außerhalb des Steinkreises, die Überreste von mindestens zwölf Leuten. Eines lag keine zwei Körperlängen von ihr entfernt; es war vollkommen abgenagt, die Knochen von Wind und Regen durcheinander gebracht, die zerfallende Tunika von Felsen und Rippen zerrissen. Ein Stück Stoff hatte sich wie eine Zunge im weit offenen Mund verfangen. Zitternd schlug sie das Kreiszeichen vor der Brust, um die ruhelosen Geister abzuwehren. Hier war kein Lebewesen zu sehen. Sie ging bis zu der Stelle zurück, wo sie auf den Pfad gestoßen war, und schlug die andere Richtung ein. Der Pfad zog sich an der Felswand entlang; auf der einen Seite ragte die Klippe in die Höhe, auf der anderen Seite fiel der Fels steil in die Tiefe ab. Sie hielt sich mit einer Hand an der Felswand fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Nur einmal blickte sie über die Felskante nach unten. Waren die winzigen Gestalten dort Rosvita und die anderen? Ihre Knie gaben nach, und Schwindel machte sie benommen. Sie blieb eine Weile knien, bis sie aufhörte zu zittern. Danach hielt sie den Blick nur auf den Pfad gerichtet. Der Wind zerrte an ihren Haaren. Obwohl die Sonne hoch stand, verströmte sie keine Wärme. Nach einiger Zeit verbreiterte sich der Pfad zu einer Terrasse, an deren anderem Ende der Eingang zu einer Höhle lag. Sie zögerte. Ein feuchter Geruch wehte ihr entgegen, aber es war hell genug, um sehen zu können. Vorsichtig trat sie ein. Die Höhle war niedrig, und Licht fiel durch Öffnungen, die sich an einer Wand befanden und zu schmalen Terrassen führten. Auf die erste Höhle folgte eine zweite, und auch da gab es eine Terrasse. Tiere waren hier gehalten worden; überall lagen haufenweise verbrannte, zerbrochene Gebeine herum. Es wurde dunkler, ihre Schritte zögerlicher. Sie kletterte über eine niedrige Mauer, deren Seiten mit kleinen viereckigen Durchbrüchen - wie Schießscharten - versehen waren. Sie waren nicht natürlichen Ursprungs. Wer immer diesen Ort errichtet hatte, war davon ausgegangen, dass es einen Angriff geben würde und man sich verteidigen musste. 367
Auf der anderen Seite der Mauer befand sich ein Tunnel, der tiefer ins Innere des gewaltigen Felsens führte. Ein raffiniertes System von in den Stein gehauenen Schächten ließ genug Sonnenlicht hereinströmen, dass sie gut sehen konnte. Dennoch wäre sie beim nächsten Hindernis fast in den Tod gestürzt. Sie spürte einen frischen Luftzug im Gesicht und blickte nach unten auf den Boden, der trüb im Schatten lag. Erschreckt schrie sie auf und machte einen Satz zurück, um nicht über die Kante in eine Spalte zu stürzen. Keuchend saß sie da und lauschte ihrem eigenen Atem. Sie tastete mit der Hand nach einem Stein und warf ihn in die Spalte. Sie zählte. Bei »acht« hallte ein schwaches Klack aus der Tiefe empor. »Oh, Gott«, murmelte sie. Sie fand einen weiteren Stein und warf ihn über die Spalte. Klack. Es war nicht weit, aber auf jeden Fall zu weit, um zu springen. Auf der anderen Seite lag ein breites Brett, eine behelfsmäßige Brücke. Schwester Rosvita hatte Recht. Vielleicht waren die heiligen Nonnen und Laienschwestern, die einmal hier gelebt hatten, inzwischen tot, aber sie waren ganz sicher nicht weggegangen. Jemand war zurückgeblieben, um in diesem Felsen zu leben oder zu sterben. »Schwestern«, rief sie. »Ich bitte Euch, hört mich an. Ich suche Mutter Obligatia oder eine der heiligen Schwestern, die unter ihrem Schutz stehen. Ich komme von Schwester Rosvita -« Wieder erklang ein scharfes Klack, als ein weiterer Kiesel auf das Felsgestein prallte. Als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah sie, was sich hinter der Spalte und dem Brett befand: Dort endete der Tunnel vor einer Steinmauer. Selbst wenn sie eine Möglichkeit fand, die Kluft zu überwinden, war der Weg dort zu Ende. Es gab keinen Weg hinein. Ihre Flucht war umsonst gewesen. Tränen strömten ihr übers Gesicht, ließen sie würgen. Sie hatte versagt, hatte Rosvita und die anderen im Stich gelassen. Sie würden wieder zu Gefangenen werden, auf die Gnade von Leuten angewiesen, die so mächtig waren, dass sie den König verzaubern 368 konnten. Ihre Verfolger hatten Rosvita und die anderen vielleicht schon ergriffen, während sie noch nach einem Weg in die Freiheit suchte. Es war alles umsonst gewesen. Sie wusste nicht, wie lange sie dort gesessen hatte, benommen und erschöpft, nur dass sie zu entmutigt war, um sich zu rühren. Klack. Noch ein Kiesel - nur hatte sie diesmal gar keinen geworfen. Eine Stimme erklang in der Dunkelheit. »Wer seid Ihr?« Sie sprang auf, machte einen Satz von der Spalte weg. Es war niemand da. Niemand zu sehen. Nur Stille. Klack. Die Stimme hatte Aostanisch gesprochen, und so antwortete sie so gut, wie sie es nach den vielen Monaten in Darre konnte. »Ich heiße Hanna. Ich komme mit Schwester Rosvita und ihren Kameraden. Wir sind auf der Flucht vor ihren Feinden. Ich bitte Euch, helft uns.« »Wer ist Schwester Rosvita?« Enttäuscht und wütend biss sie die Zähne zusammen, bis sie begriff, dass es sich möglicherweise um eine Prüfung handelte. »Sie ist eine Geistliche aus Wendar, die Beraterin von König Henry. Sie hat den König beschützt und beraten, aber sie hat sich Feinde gemacht, vor denen sie jetzt flieht. Ich bitte Euch, wir haben keine Zeit zu verlieren.« »Woran könnte man Schwester Rosvita erkennen? Was ist ihr Lebenswerk?« »Dem König zu dienen, so gut sie es vermag!«, rief Hanna verzweifelt. Klack. Sie musste denken wie eine Geistliche, wie eine Kirchenfrau denken würde. Handeln, wie Schwester Heriburg gehandelt hatte, als sie nach dem Erdbeben aus Darre geflohen waren. »Ein Buch! Eine Geschichte der Prinzen von Wendar. Sie hat es noch immer bei sich!« Klack. 369 Ein lautes Schleifen erklang. Die nackte Wand jenseits der Spalte bewegte sich ein Stück zur Seite, und durch die Lücke trat eine schlanke Gestalt, eine ausgezehrte, leichenblasse Frau in den zerrissenen Gewändern einer Nonne, die Ärmel hochgeschoben, sodass dünne Arme zu sehen waren. Sie schob das Brett geschickt über die Schlucht, bis das eine Ende auf Hannas Seite lag. »Ich heiße Schwester Hilaria. Wir leben seit dem Tag, als der Daemon uns angegriffen hat, tief im Felsen. Es kostet uns all unsere Kraft, unsere Gefangene zu bewachen und unsere Heilige Mutter zu pflegen. Wir haben uns von der Welt draußen abgewandt. Es war der Kieselstein, der meine Aufmerksamkeit erregt hat, als ich Wasser holen wollte. Ich bin sofort gekommen, um nachzusehen. Folgt mir, Freundin. Wenn wir Schwester Rosvita retten wollen, müssen wir uns beeilen.« 3
Die Frau, die Gerulf als Verräterin bezeichnet hatte, beäugte sie mit königlicher Würde und kühlem Blick. Als sie jedoch Baldwin rechts von Ivar knien sah, leuchteten ihre Augen auf. Aber eine Prinzessin von ihrem Format hätte sich nicht einmal durch Baldwins einzigartige Lieblichkeit zu irgendetwas verleiten lassen. »Ihr seid wegen des Vorwurfs der Ketzerei und der Verstrickung in zauberische Angelegenheiten nach Autun gebracht worden. Doch Ihr habt von mir nichts zu befürchten. Hier in Arconia ist die Wahrheit willkommen.« Sie machte eine Pause, wartete auf eine Erwiderung. Vielleicht war sie neugierig, wer von ihnen sich als Anführer erweisen würde. Auch Ivar wartete, bis ihm klar wurde, dass die Übrigen davon ausgingen, dass er sprach. »Eure Hoheit«, sagte er stockend. »Ich ... ich bin Ivar, Sohn von Graf Harl und Edelfrau Herlinda aus der Nordmark -« »Ich weiß, wer Ihr seid.« Sie gab ein amüsiertes Schnauben von sich. »Ich habe die Verhandlung gegen Judith von Austras unehe370 liehen Sohn Hugh vor ein paar Jahren nicht vergessen, und auch nicht die Rolle, die Ihr dabei gespielt habt. Es war einer der wenigen unterhaltsamen Tage, die ich während meiner Haft hier in Autun erleben durfte. Ich glaube mich zu erinnern, dass Ihr mit Schwester Rosvita verwandt seid, der bevorzugten Geistlichen meines Bruders Henry. Ah!« Sie blickte erwartungsvoll auf, als ein großer Mann auf das Podest trat, begleitet von einem gut aussehenden, wohlgeformten Mädchen von etwa elf oder zwölf Jahren. Sie hatte dunkle Haut, aber unerwartet helles, goldbraunes Haar, ein Kontrast, der ihn schmerzlich an Liath erinnerte, obwohl es sonst keinerlei Ähnlichkeiten gab. »Herzog Conrad«, sagte Hauptmann Ulric mit deutlich mehr Wärme, als er gegenüber der Prinzessin gezeigt hatte. »Edelfrau /Elfwin.« »Gott im Himmel!«, fluchte der Herzog, während er sich auf den linken Stuhl setzte, während der mittlere frei blieb. Das Mädchen stand hinter ihm, hielt sich an der Stuhllehne fest, während sie die Gefangenen mit anmaßend durchdringendem Blick musterte. »Das ist also der berühmte Bräutigam, der den Klauen von Markgräfin Judith entkommen ist!« Zwei scheckige Hunde liefen zu ihm und leckten ihm die Hände, ehe sie sich demütig zu seinen Füßen niederließen. »Kein Wunder, dass die Markgräfin so wütend war«, sinnierte die Prinzessin. Sie hatte ein markantes Gesicht. Ihre silbernen Haare waren geflochten und mit Bändern geschmückt, aber sie trug sie unbedeckt wie eine unverheiratete Frau oder eine Soldatin. Sie winkte Ivar zu. »Edelmann Ivar, Ihr hattet gerade angefangen zu reden, als Herzog Conrad gekommen ist. Fahrt bitte fort.« Es war unmöglich, Conrad den Schwarzen mit irgendjemandem im ganzen Königreich zu verwechseln. Und obwohl Henry viele Schwestern besaß, waren nur zwei älter als er: seine uneheliche Halbschwester Alberada, die im Osten als Bischöfin wirkte, und die Frau, die ihm den Thron schon einmal streitig gemacht hatte, als sie eine Rebellion gegen ihn angeführt hatte. »Edelfrau Sabella«, sagte Ivar, den Kopf respektvoll geneigt. »Wir sind keine Ketzer. Es ist die Kirche, die die Wahrheit verbirgt. 371 Ist es wirklich möglich, dass Ihr die wahre Botschaft von Gott und die Wahrheit über das Opfer und die Erlösung des heiligen Daisan gehört und angenommen habt?« Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Baldwin zu. »Wenn der Bericht stimmt, seid Ihr alle Novizen aus Quedlingham«, sagte sie geistesabwesend. »Das waren wir, Eure Hoheit, aber wir sind bestraft worden, weil wir die wahre Botschaft gepredigt haben. Wir konnten jenen entkommen, die uns gequält haben. Jetzt wandern wir umher, so gut es geht, und verbreiten die wahre Botschaft unter all jenen, die in der Nacht der Lüge und Täuschung leben.« »Dann lass sie predigen«, sagte Conrad ungeduldig, während er einem seiner Hunde über den Kopf strich. Er sah auf und betrachtete seine Tochter; deren ernste Miene verwandelte sich augenblicklich in ein charmantes Grinsen, wohl ihr bester Verbündeter bei ihrem Kampf gegen die Welt. Er zwinkerte ihr fröhlich zu, ehe er sich wieder an Sabella wandte. »Lass sie predigen«, wiederholte er. »Wir wollten gerade auf die Jagd gehen, als du nach mir gerufen hast.« »Ihr wollt uns predigen lassen?«, fragte Sigfrid nach Luft schnappend. Er hatte ganz vergessen, dass Ivar ihr Sprecher war. »Ja, wir lassen Euch predigen«, antwortete Sabella mit einem Lächeln, das offensichtlich an Baldwin gerichtet war. »Hier in Varre sind alle eingeladen, so zu predigen, wie es ihrem Wissen über das Opfer und die Erlösung entspricht.« Baldwin wirkte vollkommen verblüfft. »Das dürfen wir?«, quiekte Ermanrich, und Hathumod seufzte glücklich. »Ja, ja, das dürft Ihr«, sagte Conrad. Er klopfte mit einem Fuß auf den Boden, während er sich auf dem Stuhl zurücklehnte. Seine Hunde jaulten und schlugen unruhig mit dem Schwanz; sie spürten seine Stimmung. »Wenn es sonst nichts zu regeln gibt, was meiner Aufmerksamkeit bedarf, werde ich jetzt gehen, Kusine.« »Nein, nein, Vetter. Warte bitte noch einen Augenblick. Hinter den Novizen stehen zwei Soldaten, dem Bericht nach Löwen, die meinem Bruder weggelaufen sind.«
372 »Weggelaufen?« Conrad richtete sich auf. »Ich habe noch nie erlebt, dass ein Löwe seinem Herrscher weggelaufen ist. Welche Klage habt Ihr gegen König Henry vorzubringen?« »Wir haben gar keine Klage gegen ihn vorzubringen«, erklärte Gerulf tapfer. »Und wir sind auch nicht weggelaufen. Wir sind nach Osten marschiert, um gegen die Qumaner zu kämpfen, und standen zeitweise unter dem Befehl von Prinz Bayan.« »Und doch seid Ihr jetzt nicht im Osten«, bemerkte Conrad. »Wie läuft der Feldzug dort?« Gerulf warf Ivar einen Blick zu, unsicher, wie er darauf antworten sollte, aber Ivar bedeutete ihm, sich gegenüber Conrad wie ein Bote zu verhalten. »Wir haben keine neueren Nachrichten als Ihr, Herzog. Prinz Bayan und Prinzessin Sapientia sind jenseits des östlichen Grenzlands auf dem Schlachtfeld mit dem qumanischen Begh Bulkezu zusammengestoßen, und es ist schlimm für sie ausgegangen. Die Qumaner sind zahlreich, wir aber sehr wenige. Die wendischen Streitkräfte brauchen unbedingt Verstärkung, sonst werden die Qumaner die Marklande überrennen. Das ist alles, was wir wissen.« »Vor zwei Jahren hat Prinz Sanglant den gleichen Prinz Bulkezu vor Osterburg an der Veser besiegt«, bemerkte Conrad. »Zumindest haben wir das gehört. Dem Gerücht nach ist Prinz Sanglant nach der Schlacht nach Osten geritten, aber ich weiß nicht, mit welcher Absicht.« »Ich habe gehört, dass er gegen Henry rebellieren will«, sagte Sabella. »Aber wie kann es eine Rebellion sein, wenn Henry mehr an seiner aostanischen Königin und ihren Ländern interessiert ist als an denen, die er bereits regiert?« »Wir haben seit der Schlacht, die Prinz Bayan und Prinzessin Sapientia gegen die Qumaner verloren haben, keine Neuigkeiten mehr vernommen«, erklärte Ivar. »Nun, sagen wir es deutlicher«, meinte Conrad. »Henry hat die aostanische Königin geheiratet und weilt in Aosta, um Adelheid den Thron zurückzugeben und sich seinen eigenen kleinen Spielchen bezüglich seiner Hoffnungen auf Taillefers Reich zu widmen. Wenn er sich entschließt, seinem eigenen Land den Rücken zu 373 kehren, darf er sich nicht wundern, wenn andere hier an seiner Stelle herrschen.« Es drang kein plötzliches Todesgeläut aus Taillefers Kapelle. Es senkte sich auch kein Schweigen wie Grabgestank über die Anwesenden. Diese Worte überraschten offensichtlich niemanden außer den sieben Gefangenen, die erst kürzlich in die Stadt gekommen waren. »Ihr rebelliert gegen König Henrys Autorität«, sagte Ivar. Er wusste, dass er wie ein Idiot klang. »Nein, Kind«, erwiderte Sabella. »Henry hat uns verlassen. Wir kümmern uns einfach nur um jene, die er zurückgelassen hat. Ich bitte Euch, bedenkt, was es für Euch bedeutet, dass Conrad und ich jetzt über das Königreich Varre herrschen. Ihr dürft frei predigen. Niemand wird versuchen, Euch aufzuhalten, Euch zu exkommunizieren oder zu bestrafen. Ist das nicht mehr, als Ihr jemals unter Henrys Herrschaft zu erwarten gehabt hättet?« Gerulf murmelte leise wütende Worte vor sich hin, und Ivar beruhigte den alten Löwen, indem er ihm eine Hand auf den Arm legte. »Sicher, es ist weit mehr, als wir erwartet hatten. Wir hatten damit gerechnet, wegen des Vorwurfs der Ketzerei von Bischöfin Constanze vor Gericht gestellt zu werden.« »Bischöfin Constanze herrscht hier nicht mehr«, sagte Sabella, während Conrad unruhig sein Gewicht verlagerte. »Ihr seid vor ihr sicher.« Es war zu viel, um alles auf einmal zu begreifen. War es tatsächlich möglich, dass sie hier einen Hafen gefunden hatten, in dem sie Gott in Frieden dienen konnten ? »Für wen herrscht Ihr hier als Regentin, wenn nicht für König Henry?« »Ah.« In dem Ausruf lag keinerlei Freude, nicht einmal die respektvolle Erwartung, die sie bei Conrads Eintreten gezeigt hatte. Conrad erhob sich. Sabella nicht. »Ich bin froh, dass du es für angemessen erachtet hast, deine Gebete zu unterbrechen, Tochter.« In Quedlingham hatte Ivar viele Male durch die Lücke im Zaun des Novizenhofes geblinzelt und einen Blick auf ihre heilige Gestalt erhascht. Dort war sie in Sack und Asche gegangen. Jetzt trug sie königliche Gewänder, auf die mit Goldfäden springende Rehe 374 aufgestickt waren. Sie war diejenige, die ihnen die Wahrheit gebracht hatte. Ihr weizenblondes Haar glänzte vor Gesundheit, und ihr schmales Gesicht war rundlich geworden. Sogar an den Fingern, einst nichts als Haut und Knochen, hatte sie jetzt Fett angesetzt. Als sie sich bewegte, um Herzog Conrads Hand in einer Geste ängstlicher Zuneigung zu berühren, konnte man erkennen, weshalb sie so viel plumper wirkte als in Quedlingham, wo sie ihren irdischen Körper mit Fasten und härenen Hemden gequält hatte. Edelfrau Tallia war hochschwanger. Hathumod sprang auf. Ihr sonst so sanftes Gesicht war vor Wut verzerrt. »Lügnerin! Betrügerin! Ich habe den Nagel gesehen, mit dem Ihr Euch selbst misshandelt habt. Ich weiß, mit welchen Lügen der Feind Euch verführt hat und wie Ihr demjenigen, der Euch Ehre erwiesen hat, den Rücken gekehrt habt. Und jetzt das! Das! Ihr habt das heilige Versprechen entehrt, das Ihr ihm gegeben habt -« Ermanrich packte seine Kusine und zerrte sie zu Boden, obwohl sie sich dagegen wehrte. Die unerwartete
Raserei hatte sie so im Griff, dass sie nichts mehr um sich herum wahrzunehmen schien. Aber es war bereits zu spät. Tallia kreischte hysterisch auf; ihre Schreie mischten sich mit Schluckauf und solch jammervollem Gestöhne, dass Ivar sie am liebsten geschlagen hätte, damit sie nur endlich aufhörte. »Um Gottes willen«, sagte Sabella. »Beherrsche dich, Tallia.« »Ich kann nicht! Es ist mir egal! Ich will sie nicht hier haben. Sie hat mich verraten, als ich sie gebraucht habe! Sie hat mich im Stich gelassen! Alles, was sie sagt, ist eine Lüge. Sie ist eine bösartige, üble Frau -« Conrad erhob sich mit der Anmut eines riesigen Bullen und versetzte Tallia einen Schlag ins Gesicht. Seine junge Tochter zuckte bei dem Geräusch zusammen, presste aber die Lippen befriedigt aufeinander. Tallia hörte so abrupt zu weinen auf, dass Ivar zusammenfuhr; er fürchtete schon, sie würde auf der Stelle tot umfallen, aber stattdessen begann sie zu schluchzen. Conrad legte ihr einen Arm um die Schulter. 375 »Still jetzt, Tallia.« Er klang so angewidert wie ein Mann, der ein Hündchen vom Herrscher erhalten hatte und dann feststellen musste, dass es die Angewohnheit hatte, ins Bett zu pinkeln. »Beruhige dich. Was wünschst du dir?« Tallia zitterte und sah ihn schließlich mit einem Blick an, der genauso demütig war wie der seiner Hunde. Bemerkenswerterweise waren ihre Augen nach all dem Jammern und Stöhnen immer noch trocken. »Sie ist eine bösartige, üble Frau.« Ivar erinnerte sich noch deutlich an ihre Stimme. Wer sonst konnte so rein sprechen, auf eine solch monotone Weise leidenschaftlich? Diese Stimme, das Zeichen, das wie ein Wunder an ihren Händen aufgetaucht war, das Wunder der Rose - das alles hatte ihn in die Arme der Ketzerei getrieben. Aber vor allem war es ihre Stimme gewesen, die wie ein Stachel in sein Herz gedrungen war. »Eine bösartige, üble, üble Frau.« »Das hast du bereits gesagt«, bemerkte Conrad. »Was hat das mit uns zu tun?« »Sie hat gelogen, was den Nagel betrifft!«, schrie Hathumod und riss sich von Ermanrich los. »Gott ist niemals zu ihr gekommen und hat ihre Hände verletzt. Sie hat es selbst getan! Sie ist das zerbrochene Gefäß, das der Feind auf die Erde geschickt hat, um Gottes heiligem Boten zu schaden!« Ermanrich packte sie erneut, diesmal mit Dedis Hilfe, denn sie zuckte und wehrte sich und stand offenbar kurz vor einem Anfall. Ivar hätte nie gedacht, dass in Hathumod, diesem kleinen, sanften Häschen, so viel Wut stecken könnte. Und er hatte das unangenehme Gefühl, dass es nicht sehr klug war, die Tochter eines großen Prinzen so öffentlich zu beleidigen. »Schafft diese Wahnsinnige weg«, sagte Sabella kühl. »Ich lasse nicht zu, dass mein Hof auf eine solche Weise gestört wird.« »Bitte, lasst mich mit ihr gehen«, bat Ermanrich. »Sie ist meine Kusine. Sie ist nicht schlecht -« »Geht!«, befahl Sabella. »Oh, Gott! Schafft auch die anderen weg.« »Tötet sie!«, schrie Tallia, die sich jetzt in den Schutz von Conrads Arm geflüchtet hatte. »Tötet sie! Tötet sie einfach!« Sie be376 gann zu schluchzen, und während die Wachen Ivar schroff mit sich zerrten, hörte er sie murmeln: »Niemand darf es je erfahren.« »Eine Exekution könnte die Soldaten daran erinnern, wem ihre Loyalität zu gelten hat«, bemerkte Sabella. »Stehen bleiben, sofort!«, brüllte Conrad. Hauptmann Ulric brachte die Gefangenen zum Stehen. Er verhielt sich wie ein guter Soldat, der es sich nicht gestattete, Fehler zu machen, indem er seine Pflichten vernachlässigte. Seine Männer sahen Conrad respektvoll an, als der Herzog weitersprach. »Ich werde nicht zulassen, dass zwei unschuldige Löwen getötet werden. Ich hasse es, gute Soldaten zu verlieren.« »Und abgesehen davon wäre es eine Schande, solcher Schönheit ein Ende zu machen«, bemerkte Sabella, während sie Baldwin musterte. »Ich habe sein >Ende< nicht gesehen«, lachte Conrad, während er warnend seinen Griff um Tallia verstärkte, »aber ich bin sicher, du wirst Gefallen daran finden, Kusine.« »Das mag wohl sein.« Sabellas Lächeln bereitete Ivar eine Gänsehaut. »Was ist mit den anderen?« »Ihr müsst sie töten! Ihr müsst sie töten!«, schluchzte Tallia. Sie hob ihr blasses Gesicht und sah ihren Mann an, der deutlich dunkler war als sie. »Du weißt, wie sehr ich dich liebe, Conrad. Würdest du das nicht für mich tun?« Sie stockte. Vielleicht war sie klug genug, auf diese Frage keine Antwort zu verlangen. Ihre dünnen Lippen verzogen sich zu einem listigen Lächeln, als sie seinen Arm abschüttelte und einen Schritt nach vorn machte. »Bin ich hier nicht Königin, Mutter?« Ihre Augen hatten einen fiebrigen Glanz, als sie sich mit den Händen über den Bauch strich. »Genau das hast du mir versprochen. Dass ich Königin sein würde und meine Kinder über ein Reich herrschen würden, in dem alle Menschen an die Heilige Botschaft des Erlösers glauben. Wenn du zu zimperlich dazu bist, befehle ich eben die Hinrichtung. Wachen! Schafft diese Frau und ihre Kameraden weg und richtet sie hin, auf meinen Befehl! Sofort!« Conrad zuckte mit den Schultern; er war nicht gewillt einzu377 greifen. Sabella hob die Hand, als wollte sie ihre Zustimmung geben. Baldwin sprang vor, drängte sich an den Wachen vorbei und warf sich Sabella zu Füßen. »Ich bitte Euch«, rief er, den Blick seiner kornblumenblauen Augen mit aller Kraft auf sie gerichtet. »Wenn Ihr sie tötet, werde ich
Euch für alle Zeit hassen. Ihr könnt ein störrisches Pferd schlagen, aber das heißt nicht, dass es auch laufen wird. Wenn Ihr sie jedoch am Leben lasst, werde ich tun, was immer Ihr von mir verlangt.« Sabella zwinkerte - sie war entweder von seiner außerordentlichen Schönheit oder von der offensichtlichen Dummheit seiner spontanen Geste ganz benommen. »Was immer ich verlange?« Conrad fluchte anerkennend. »Nun, das ist ein Angebot, das mich einem harten Ritt über die Felder entgegensehen lässt.« »Wachen! Tut, was ich befehle!« Tallias Stimme brach und ging in ein Jammern über. »Halt den Mund«, sagte Sabella, ohne ihre Tochter anzusehen. Sie konnte den Blick nicht von Baldwins herrlicher Gestalt abwenden. »Aber ... aber du hast gesagt, ich wäre die Königin -«, wandte Tallia ein. »Schafft sie nach Königinnengruft«, sagte Conrad. »Stell dir vor, welches Willkommen den Ketzern dort gewiss sein dürfte.« Sabella verzichtete darauf, den Herzog als Zeichen der Zustimmung anzusehen. Sie wirkte verblüfft angesichts der Ereignisse, die ihr Baldwin direkt in den Schoß geworfen hatten. »Vielleicht solltest du ihn gleich in deine Gemächer schaffen lassen und es hinter dich bringen«, fügte Conrad laut prustend hinzu. »Nein, Vetter, das wäre dein Stil, nicht meiner«, erwiderte Sabella. »Ich pflege eine gut gewürzte Mahlzeit zu genießen und nicht wie ein Hund hinunterzuschlingen. Es ist gut, dass Judith tot ist, sonst müssten wir uns noch um diesen hübschen Leckerbissen prügeln.« »Ihr hört mir nicht zu!«, rief Tallia. »Ich habe gesagt, ich will, dass sie getötet werden!« 378 »Geh, Tallia, kehre zu deinen Gebeten zurück«, erwiderte ihre Mutter. »Du musst dich ausruhen und deine Kräfte schonen.« »Aber -« »Tochter, aus Königinnengruft gibt es kein Entrinnen, also brauchst du dir um deine Ehre, oder worum es sonst gehen mag, keine Sorgen zu machen. Um Gottes willen, Conrad, schaff sie weg.« »Komm, Tallia«, sagte Conrad mit fester Stimme, aber es war die große Hand um ihre Taille, die sie zwang, sich zu bewegen. Er zerrte sie weg, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen, plauderte dabei freundlich mit seiner Tochter, während sie die Halle verließen. Ivar fühlte sich ganz benommen, und Sigfrid neben ihm stöhnte. Hathumod schluchzte leise, Ermanrich zitterte, und Gerulf und Dedi standen starr da. Während sie auf das warteten, was kommen würde, richteten sie den Blick auf die Eingänge, als suchten sie nach einer Fluchtmöglichkeit. Baldwin sah keinen von ihnen an. Er kniete vor Edelfrau Sabella und war bereits allein. »Hauptmann, schafft die Gefangenen weg. Stellt eine Eskorte zusammen, die die Frau und die drei Jungen nach Königinnengruft bringt. Conrad kann über die Löwen verfügen, wie es ihm beliebt.« Gerulf legte Dedi eine Hand auf den Arm, entweder um ihn zu beruhigen oder um ihn zurückzuhalten, aber der jüngere Löwe reagierte nicht darauf. Er wirkte zu benommen. »Wie Ihr wünscht, Eure Hoheit«, antwortete Hauptmann Ulric mit tonloser Stimme. »Ich werde Euch dafür belohnen, dass Ihr Edelmann Baldwin zu mir gebracht habt, Hauptmann«, fügte Sabella hinzu. »Ihr seid sehr großzügig, Eure Hoheit.« Ulric gab seinen Gefangenen ein Zeichen. »Bewegt Euch! Na los, bewegt Euch!« Was konnte Ivar tun? Dort kniete Baldwin, der sich nun doch noch mit Tränen in den Augen zu ihm umdrehte. Die ganze Zeit hatte Ivar angenommen, dass Baldwin, weil er so verflucht hübsch war, nicht wirklich an irgendetwas anderem gelegen sein konnte als an seinem eigenen hübschen Gesicht. Aber jetzt gab es keinen Zweifel, was Baldwins Gefühle betraf. Er hatte sich geopfert, um Ivar und die anderen zu retten. 379 Hätte ich das Gleiche getan, hätte ich für Baldwin alles riskiert, sämtliche Vorsicht über Bord geworfen? Oder hätte ich ihn so behandelt, wie Liath mich behandelt hat? Die Scham brachte ihn zum Erröten. Baldwin zuckte zusammen, als er Ivar derart von seiner Gesichtsfarbe verraten sah. »Geht weiter, Mann«, sagte Erkanwulf. »Ihr könnt nichts dagegen tun.« Ivar spürte einen Speer im Rücken und taumelte nach vorn, während Baldwin sich abwandte; seine Schultern hoben und senkten sich, als er leise zu schluchzen begann. Es blieb Ivar nichts anderes übrig, als ihn zu verlassen. Genauso, wie Liath ihn bei Quedlingham verlassen hatte. XIII Nach der Dunkelheit
1 Schwester Hilaria brachte mithilfe eines Feuersteins und eines Stück Eisens eine Lampe zum Brennen. Als die Flamme aufloderte, wischte sie sich Tränen aus den Augen. »Ich bin an den Geruch nicht mehr gewöhnt«, sagte sie entschuldigend. Sie hielt die Lampe hoch und bedeutete Hanna, den Felsen wieder an den alten Platz zurückzuschieben. »Dann kann uns niemand folgen.« Der Stein, der den Pfad versperrte, war so vorzüglich ausbalanciert, dass er sich leicht an seinen alten Platz rücken ließ. Hanna drehte sich um, wischte sich den Staub von den Händen und musterte ihre neue Kameradin. Die flackernde Flamme brachte die Nonne noch immer zum Blinzeln. »Ich kenne diese Wege so gut, dass ich kein Licht mehr benutze. Auf diese Weise sparen wir unser kostbares Öl. Aber es geht natürlich schneller, wenn es hell ist. Folgt mir.« Der Boden war glatt, und Hanna stützte sich mit einer Hand an der Wand ab, während sie hinter Hilaria herging, darum bemüht, nicht gegen sie zu prallen. Von der Nonne ging ein strenger Geruch aus, der an überreife Hefe erinnerte und ziemlich unangenehm war. Das Licht der Lampe verjagte die Schatten um sie herum, vermochte aber kaum die Düsternis aufzulösen. Tunnel gingen immer wieder zur Seite ab, führten manchmal aufwärts, 381 manchmal abwärts. Als sie eine weitere Öffnung passierten, stieg Hanna der Gestank von faulen Eiern in die Nase. Sie blieb stehen, weil sie von dem starken Geruch würgen musste, und sah, wie sich ein Irrlicht im unteren Teil der Dunkelheit bewegte und etwas hell aufblitzte, wie das Schimmern von Augen. »Schwester!« Sie packte die Nonne am Arm. »Ich habe da unten im Tunnel etwas gesehen.« Die Nonne lächelte geheimnisvoll, wirkte aber unbesorgt. »Ja, wir sind nicht allein.« Sie eilte weiter. Hanna folgte ihr, trotz der Gänsehaut, die ihr über den Rücken lief. Hinter ihr herrschte absolute Schwärze. Es war besser, sich nicht umzudrehen, für den Fall, dass sich etwas anschleichen sollte, aber sie tat es trotzdem. Sie sah nichts als eine alles verschlingende Dunkelheit. »Sind wir hier sicher? Wohin führen diese Tunnel?« »In die Tiefen der Erde. Wir stehen auf einem Labyrinth, Freundin, dessen Herz sich weit jenseits unserer Kenntnisse befindet. So viel ist uns, die wir in Dunkelheit wandeln, verloren gegangen.« Sprach Hilaria von der kleinen Gemeinschaft von Nonnen oder von der Menschheit? Es war schwer zu sagen. »Habt keine Angst. Die Wesen, die dort in der Erde hausen, haben uns keinen Schaden zugefügt. Ich wünschte, das könnte ich auch von unseren Mitmenschen behaupten.« Sie kamen zu einer Rampe, die sich zu einer Höhle öffnete, die breit genug war, dass Hanna eine leichte Luftveränderung spürte. Die kleine Flamme vermochte kaum, die Dunkelheit zu erhellen. Hanna konnte weder die Decke noch den Boden erkennen, sondern erhielt nur die Ahnung von einem Raum, der so groß war, dass er Ungeheuer oder ein Gutshaus mitsamt Außengebäuden hätte beherbergen können. »Lebt Ihr hier?« »Nein. Aber wir haben hier einmal ein Heer untergebracht. Hier geht es weiter.« Das Licht bildete einen Heiligenschein um sie herum, als sie die breite Höhle durchschritten und auf einen in den Fels gehauenen Gang stießen. Ihre Schritte hallten leise nach. Sie bogen um eine 382 Ecke und fanden sich vor einem anderen versperrten Gang wieder. Hanna stemmte sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen den großen runden Stein, aber er ließ sich nicht so leicht verschieben wie der andere. Schließlich gelang es ihr, ihn zu bewegen, und mit einem Knirschen rollte er in eine kleine Vertiefung im Boden. »Wartet.« Hilaria zwängte sich durch die Lücke. »Ihr müsst den Stein wieder zurückrollen.« »Kehren wir nicht über diesen Weg zurück?« »Nein. Wir nehmen einen anderen Weg.« Sie überquerten einen Graben im Fels, der Hanna an einen Kanal erinnerte, durch den Regenwasser abfließen mochte. Als sie eine steile Rampe erklommen, stellte sie fest, dass sie die Wände sehen konnte. Hilaria drückte die Flamme aus. Vor ihnen befand sich eine Kammer aus Stein. Lüftungsschächte ließen Licht herein, und Hanna erkannte, dass dies einmal eine Küche gewesen war, mit Herdstellen, einem schweren Tisch und einem halben Dutzend offener, aber leerer Fässer. »Rasch.« Hilaria ging so schnell durch die Kammer, dass Hanna kaum Zeit hatte, sich umzusehen. Das Licht schimmerte hell und angenehm, als sie die aus dem Fels gehauenen Kammern betraten, die einmal das Kloster St. Ekatarina beherbergt hatten. Als gute Nonnen hatten die Schwestern die äußeren Räume nicht überstürzt verlassen. Abgesehen von einer dicken Staubschicht befanden sich das Dormitorium, die Kapelle, die Bibliothek und das Refektorium in einem sehr guten Zustand. Bänke in der Kapelle, Pulte und Stühle in der Bibliothek, Tische und Bänke in der Esshalle, zwei Webstühle - alles war ordentlich aufgestellt. Bevor die Nonnen geflohen waren, hatten sie sich die Zeit genommen, um aufzuräumen. Leuchtende Fresken schmückten
die Wände, und die Geschichte, die sie erzählten, erregte Hannas Aufmerksamkeit: Seltsam gekleidete Leute wanderten durch von Steinkronen gewebte Bögen aus Licht. »Hier entlang!« Hanna schüttelte sich kurz, ehe sie Hilaria auf eine Terrasse und ins grelle Sonnenlicht folgte. Ein Ruf erklang von unten, aber die Nonne antwortete nicht, sondern hob ein Stück schweres weißes 383 Zelttuch hoch, unter dem sich eine zusammengerollte Strickleiter befand. Ein kleiner Schubs ließ die Leiter die Klippe hinunterpoltern. »Ich bitte Euch, beeilt Euch. Seht Ihr die Staubwolke?« Dort, wo sich der ebene Boden zu Bergen auffaltete, schnitt eine Wasserrinne durch das Hochland. Dies war der Pfad, den sie genommen hatten. Die Berge waren eher große Hügel, die so alt waren, dass nichts übrig geblieben war außer ihren nackten Rücken und dem zerklüfteten Gelände. Im Laufe des Winters war nur wenig Regen gefallen. Jetzt verriet der trockene Pfad ihre Verfolger. Staub wirbelte auf und zeigte den Vormarsch ihrer Feinde. »Gott im Himmel«, murmelte sie. »Sie sind so nah.« »Geht«, sagte Schwester Hilaria. »Weiter unten findet Ihr eine steile Treppe. An ihrem Fuß befindet sich eine zweite Leiter. Werft sie nach unten. Dann geht die Felsstufen zu einer dritten Leiter hinunter. Dies ist die längste. Sie müssen sie hochklettern, um sich in Sicherheit zu bringen.« Vor lauter Eile schürfte Hanna sich mehr als einmal die Knöchel auf. Die Leiter machte weniger Mühe als die steilen Stufen, die ihr das Gefühl gaben, als würde sie mitten in der Luft hängen und jeden Augenblick hinunterstürzen. Sie kam zu einem Absatz, holte eine weitere Strickleiter hervor und rollte sie über die Kante, fluchte, als sie sich verfing. Ihre Kameraden unten am Boden waren jetzt still. Als sie sich über die Seite hievte, um nach unten zu klettern, sah sie ihre nach oben gewandten Gesichter. Sie kauerten am Fuß des Felsens. Sie musste ihnen nichts zurufen - sie wussten, was geschah. Ihre Ellbogen schmerzten, als sie die nächste Treppe und die nächste Leiter hinunter gestiegen war, wo sie einen breiteren Absatz fand - breit genug, um zwei Körben Platz zu bieten, die unter einen Überhang geschoben worden waren. Eine zerbrochene Kurbel lag daneben. Der Wind hatte die Felsbrocken zur Seite gerollt, die die Ecke des Zelttuchs festgehalten hatten, mit dem die Leiter abgedeckt gewesen war - und dieses weiße Stück hatten sie flattern sehen. Unten, am Fuß der Klippe, weinte Gerwita. 384 Ein Reiter tauchte bei der Lücke auf, wo die Rinne sich zu offenem Gelände verbreiterte. Mit einem Schrei drehte er sich um und verschwand auf dem gleichen Weg, den er gekommen war. Hanna packte die Leiter und warf sie nach unten. Sie entrollte sich mit einem Zischen, fiel klappernd den Fels entlang. Aurea packte das Ende und zog es ganz herunter. »Los!«, rief Hanna. »Bringt mir zuerst meinen Köcher und die Pfeile!« Es war gut, dass sie kein Gepäck hatten. Heriburg ging als Erste, auf dem Rücken die schwerste Tasche mit den Büchern. Nach ihr kam Jehan; er hatte sich den Köcher mit den Pfeilen umgehängt. Das Seil spannte sich, als die Geistlichen nach oben kletterten. Hanna hörte Fortunatus' Stimme. »Nein, Schwester Rosvita! Jetzt müsst Ihr gehen. Besser, sie kriegen uns als Euch.« »Schwester!«, rief Hanna. »Keine Einwände! Kommt rasch hoch!« Sie suchte nach der Staubwolke, aber von diesem Winkel aus war sie hinter den Hügeln verborgen. Sie wusste nicht, wie weit entfernt ihre Verfolger noch waren und ob es sich bei dem ersten Reiter um ihren Anführer oder um einen Kundschafter gehandelt hatte, der dem Haupttross weit voraus war. Schon bald hörte sie Heriburgs keuchende Atemzüge. Als die junge Geistliche auftauchte, griff Hanna ihr unter die Arme und half ihr auf den Absatz. Heriburg krabbelte weiter und blieb einen Moment auf Händen und Knien hocken, bevor sie aufstand und die Treppe in der Klippe musterte. Sie verzog das Gesicht und kletterte weiter. Jehan rollte sich auf den Absatz. »Ich fürchte, Gerwita ist nicht kräftig genug, um so viele Leitern hinaufzusteigen«, sagte er. Hanna packte einen der großen Körbe und prüfte die Stärke des Seils und die Festigkeit des in den Stein gehämmerten Hakens, an dem das Seil befestigt war. »Achtung da unten!«, rief sie, bevor sie den Korb hinunterwarf. Gemeinsam mit Jehan gab sie so viel Leine nach, bis er unten angekommen war. Rosvita hatte schon die Hälfte der Leiter hinter sich gebracht, gefolgt von Jerome, der sie 385 stützte. Unten half Fortunatus Gerwita in den Korb. Aurea ließ die Ziege frei. Mit Jehans Hilfe war es nicht ganz so schwer, Gerwita hochzuziehen, wie Hanna befürchtet hatte. Das Mädchen war während ihrer Flucht dünn geworden und wog kaum mehr als ein Kind. Als sie sie auf den Absatz gehievt hatten, zogen sich auch Rosvita und Jerome über die Kante und brachen keuchend auf dem schmalen Stück zusammen. Ruoda und Fortunatus hatten jetzt den größten Teil des Weges auf der Leiter hinter sich, während Aurea gerade erst zu klettern begann. Die Dienerin hatte ihren Gürtel umgelegt, um sich Hannas Stab auf den Rücken zu schnallen, doch er verlangsamte ihr Vorankommen beträchtlich. Jedes Mal, wenn sie den Oberkörper bewegte, stieß er gegen den Felsen. »Da!« Jerome deutete auf die Rinne.
Erst erschien ein Reiter, dann kamen fünf weitere aus der Schlucht auf das freie Gelände geritten. Während sie sich verteilten, tauchten zwanzig weitere auf. Einer von ihnen trug ein Banner mit dem silbernen Kreis der Einigkeit auf einem roten Feld. Neben ihm ritt ein Mann in einem roten Umhang. »Ein Presbyter«, keuchte Jerome. Rosvita hob den Kopf, um nachzusehen, aber es war offensichtlich, dass schon diese kleine Bewegung sie erschöpfte. Ihre Haut hatte jede Farbe verloren, und ihre Lippen waren beinahe blau. »Geht weiter«, sagte Hanna. Heriburg und Jehan hatten den zweiten Absatz erreicht. Kurz darauf kam ein Korb herunter, landete neben Hanna. »Schwester Rosvita muss den Korb benutzen«, sagte Gerwita; ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Ich werde klettern.« Rosvita erhob keine Einwände, als Hanna und Jerome ihr in den Korb halfen. Kaum war er unterwegs, wobei er immer wieder gegen den Fels stieß, hängte Hanna die Sehne in den Bogen ein und kniete mit einem Pfeil in der Hand nieder. »Könnt Ihr gut mit dem Bogen umgehen?«, fragte Jerome zaghaft. »Nein, nicht sehr gut«, gab sie zu. »Aber ich will niemanden tö386 ten, sondern sie nur dazu bringen, so lange Abstand zu uns zu halten, bis wir oben sind.« »Wenn Ihr die Nordseite hochklettern konntet, werden sie es auch können.« »Wenn sie sie finden. Wenn sie auf die Idee kommen, es zu tun. Wir haben ein bisschen Zeit gewonnen.« »Wofür?« Sie lächelte ihn an. Wie die anderen Geistlichen war er jung - allerdings nicht viel jünger als sie - und eher niedlich und ein bisschen weltfremd. Ein Junge, der in der Gelehrtenschule aufgewachsen war und sein Leben mit Schreiben, Lesen und Beten verbracht hatte. Für ihn gab es die Strömungen nicht, die das gewöhnliche Volk heimsuchten, das nur wenig gegen Hungersnöte, Krieg, Dürre und Pest zu tun vermochte. Natürlich war auch kein Geistlicher gegen diese Schrecken gefeit, aber die Kirche bot einen Schutz und eine Sicherheit, für die ein gewöhnlicher Bauer oder Landarbeiter nur beten konnte - und die er selten erhielt. »Dass Schwester Rosvita uns rettet.« Die Antwort stellte ihn zufrieden; sie alle vertrauten Rosvita. Er eilte die Treppe hoch, folgte Gerwita. Ein Kopf tauchte rechts von ihr auf. »Bruder Fortunatus!« Sie war selbst erstaunt darüber, wie froh sie war, ihn zu sehen. Während all der Zeit ihrer schrecklichen Reise hatte er sich seine Gutmütigkeit und seinen aufgeweckten Humor bewahrt und sich so allmählich ihre Zuneigung erobert. Aber sie rührte sich nicht, als er sich über den Rand schwang und umdrehte, um Ruoda zu helfen, die geräuschvoll schnaufend mit hochrotem Gesicht und triefender Nase oben ankam. »Geh weiter«, sagte er zu Ruoda. »Geh weiter und hilf den anderen. Ich werde nachkommen.« Aurea hatte erst die Hälfte der Leiter hinter sich. Als die Reiter an den Stümpfen der Olivenbäume vorbei über das offene Feld ritten, tauchten noch einmal zwanzig Reiter aus der Rinne auf. Es war nicht schwer, zu erraten, wer sie befehligte. Selbst aus dieser Entfernung, obwohl sie weder sein Gesicht noch seine Haarfarbe erkennen konnte, wusste Hanna, dass der Mann 387 in dem roten Umhang Hugh war. Sie wusste es, als hätte er neben ihr gestanden und ihr die Worte ins Ohr geflüstert. Hanna. Ihr wisst, dass es am besten ist, wenn Ihr auf uns wartet. Glaubt nicht, dass Ihr mir entkommen könnt. Ihr seid vom Feind in die Irre geleitet worden, aber wir sind barmherzig »Nicht gegenüber Liath«, murmelte sie und legte einen Pfeil an die Sehne. Sie zielte auf die herannahenden Reiter, schätzte die Entfernung ab und wartete. Plötzlich war der Stab vor ihren Augen. Während Fortunatus Aurea über den Rand zog, kam der erste Reiter in Schussweite. Hanna ließ den Pfeil von der Sehne schnellen. Er fuhr direkt vor den Reitern in den Boden und veranlasste sie, die Pferde zu zügeln. »Zieht die Leiter hoch!«, rief Hanna, während sie einen zweiten Pfeil an die Sehne legte. Sie hatte nur noch ein Dutzend Pfeile übrig. Fortunatus und Aurea zerrten an der Leiter und warfen sie gegen die Körbe, während die Reiter sich außer Bogenschussweite zurückzogen. »Geht! Geht!«, rief sie. »Ich werde Euch Deckung geben!« Die Reiter, die von dem Presbyter angeführt wurden, schlössen jetzt zu den fünf Kundschaftern auf. Fortunatus und Aurea kletterten die Leiter hoch, während Hanna wartete. Jetzt endlich konnte sie die Unschuldigen beschützen. Monatelang hatte sie zugesehen, wie die Qumaner ihre Landsleute abgeschlachtet hatten, ohne etwas zu tun. Sie hatte sich niemals in Gefahr gebracht. Sie war niemals in der Lage gewesen, etwas zu tun. Aber jetzt konnte sie etwas tun, und sie würde es tun. Sie hatte keine Angst mehr. Hugh und die anderen machten bei den Kundschaftern Halt und berieten sich. Je länger es dauerte, ehe sie zu einer Entscheidung kamen, desto mehr Zeit hatten Rosvita und ihre Kameraden zu entkommen. Hanna wartete mit angelegtem Pfeil.
Aber sicher begriff auch Hugh ihre missliche Lage. Als er sich von den Übrigen löste, hörte sie seine Kameraden etwas rufen, aber er hob die Hand und brachte sie zum Schweigen. Er ritt allein weiter. 388 Sie schoss einen zweiten Pfeil ab, zielte direkt vor die Beine seines Pferdes. Das Tier scheute, aber Hugh zügelte es und ritt ruhig weiter. Sie konnte ihn jetzt deutlich sehen. Das Licht der Sonne, die sich den westlichen Hügeln zuneigte, tauchte ihn in Gold. Vielleicht war die Welt nur erschaffen worden, um ihn zur Schau stellen zu können. Er war wunderschön. Aber das war Bulkezu auch. Sie legte einen dritten Pfeil an und spannte den Bogen. »Lasst uns in Frieden, ich bitte Euch«, rief sie nach unten. Er zügelte sein Pferd, und es wäre ein Leichtes gewesen, ihn zu töten, doch sie brachte es nicht über sich. Sie konnte einen Menschen nicht kaltblütig töten. Wäre es einfacher gewesen, wenn er nicht so wunderschön gewesen wäre ? »Ich bitte Euch, Adler, tut nichts Voreiliges«, rief er. »Wo ist Schwester Rosvita? Wenn ich mit ihr sprechen kann, können wir sicher eine Vereinbarung treffen.« Jetzt meldete sich Rosvita von weiter oben zu Wort. Ihre Stimme klang schwach und krächzend, aber sie war dennoch deutlich zu hören. »Ich weiß, was Ihr seid, Vater Hugh. Ich weiß, was Ihr getan habt. Ich befürchte, wir sind jetzt Feinde. Vergebt mir, aber es kann keine Verhandlungen geben.« Er seufzte, wie eine Mutter es bei einem störrischen Kind tun mochte, das einen Fehler gemacht hat, es aber nicht zugeben will. »Ihr könnt nicht entkommen, Schwester Rosvita. Ich halte es für besser, wenn Ihr Euch ergebt.« Er beschattete die Augen, warf einen Blick auf die untergehende Sonne. Es würde noch etwa eine Stunde hell sein. »Wenn Ihr Euch weigert, werde ich gezwungen sein, Euch und Eure Gruppe zu belagern. Ich weiß, dass man an der Nordseite hochklettern kann.« »Wieso lasst Ihr sie nicht einfach gehen?«, rief Hanna. »Was für einen Schaden hätte es? Wenn Ihr sie töten wolltet, hättet Ihr das doch längst tun können, als sie noch eingesperrt war.« Hugh lächelte sanft. »Ich will ihren Tod nicht, Adler.« Hanna zitterte. Wie einfach wäre es doch, ihm einen Pfeil mitten in die Brust zu schießen. Ich will seinen Tod nicht. War es Zauberei, die ihre Hand zurückhielt und ihren Verstand benebelte? 389 Oder nur die Erinnerung an die Leidenschaft eines naiven Mädchens? Ich war einmal dieses Mädchen. Rosvita wusste die Wahrheit über König Henry und den Daemon, von dem er besessen war; sie hatte gesehen, wie Villam durch Hughs Hand gestorben war. Aber Hugh hatte sie nicht getötet, als er es mit Leichtigkeit hätte tun können. Er ist durchtriebener als ich. Doch Hanna wusste, wenn sie ihn nicht töten konnte, musste sie mit den anderen flüchten und beten, dass Schwester Rosvita eine List einfiel, mit der sie Hugh entkommen würden. Rosvita war die Einzige, die das konnte. Nicht einmal Liath kam gegen Hugh an -er hatte sie zu sehr misshandelt. So wie Bulkezu mich misshandelt hat. Ich bin nicht anders als Liath. Ich muss lernen, stark zu bleiben, was immer ich auch erlitten habe - und ich habe noch nicht einmal das Schlimmste erlitten. Die anderen Reiter blieben weiterhin außer Bogenschussweite. Sie stand auf, hängte die Sehne aus und kletterte die steilen Stufen hoch, die in den Fels gehauen waren. Sie widerstand dem Drang, sich umzuschauen, obwohl sie die Rufe von Männern und das Geräusch von Pferdehufen hörte. Jeder, der sie mit einem Pfeil hätte durchbohren wollen, hätte jetzt leichtes Spiel gehabt, während sie sich innerhalb der Reichweite ihrer Bögen an den Fels klammerte. Aber es schoss niemand. Sie erreichte den nächsten Absatz, wo Fortunatus auf sie wartete. Aurea und Ruoda kämpften sich die zweite Leiter zum nächsten Absatz hoch. Der Korb prallte ein Stück über Aurea gegen den Fels, und er schrammte an der Wand entlang, als er hochgezogen wurde. Hanna konnte Rosvita von da aus, wo sie stand, nicht sehen, aber sie holte glücklich Luft und lehnte sich gegen den Felsen, während sie zuschaute, wie der Korb sich von ihr entfernte. »Es wird nicht leicht sein, sie loszuwerden«, sagte Fortunatus grinsend. Er war von der Anstrengung rot im Gesicht, aber sein üblicher trockener Humor brachte sein Gesicht zum Strahlen. »Seht.« 390 Die Bediensteten unten hatten begonnen, ein Lager aufzuschlagen. »Wieso hat Edelmann Hugh nicht den Wunsch, Schwester Rosvita zu töten?«, fragte Hanna. »Kann sie ihn denn nicht überführen, wenn sie gegen ihn aussagt?« »Sofern irgendein Gericht ihr glaubt.« »Was spielt es dann für eine Rolle für ihn, ob sie lebt oder stirbt? Für ihn wäre es doch besser, sie zu töten und die Bedrohung aus der Welt zu schaffen.« »Das sollte man eigentlich annehmen«, pflichtete Fortunatus ihr bei. Er schaute zum Korb hoch, der sich jetzt dem nächsten Absatz näherte; besorgte Gesichter blickten über die Kante und warteten auf seine sichere Ankunft. »Wäre ich an Hughs Stelle, ich hätte mich ihrer so schnell wie möglich entledigt. Vielleicht war es
nicht Hughs Entscheidung, dass sie am Leben blieb. Vielleicht hat die Skopos ihn zurückgehalten.« »Glaubt Ihr das?« »Ich bin nur ein einfacher Geistlicher. Ich kann die Gedanken der Heiligen Mutter oder ihrer bevorzugten Presbyter nicht erahnen. Sie sind so weit über mir, wie ... wie ein Adler über dem bescheidenen Zaunkönig steht.« »Ich würde Euch eher für einen Sperling halten, Bruder. Sie fliegen im Schwärm. Zaunkönige sind Einzelwesen, nicht wahr?« »Wir werden zum Abendessen für den Adler da unten werden, wenn wir jetzt nicht fliegen, Freundin.« Sie bestand darauf, dass er zuerst ging. Inzwischen waren sie so hoch, dass ein Bogenschütze Schwierigkeiten haben würde, sie zu treffen. Niemand versuchte es. Hughs Bedienstete fuhren damit fort, das Lager aufzuschlagen, während der Nachmittag verging. Einer von ihnen fing die Ziege ein, während zwanzig Soldaten Fackeln nahmen und um den Fuß des riesigen Felsens herum ausschwärmten und Wachposten bezogen. Am Morgen würden sie klettern, so wie sie selbst es getan hatte. Dann würden sie und ihre Kameraden wirklich in der Falle sitzen, ähnlich wie Rosvita in ihrer Kerkerzelle. Als Hanna den obersten Absatz erreichte, hatte Schwester Hila391 ria die ersten Ankömmlinge bereits in den Schutz der Klostermauern geführt. »Gut gemacht«, sagte Hilaria zu Hanna, als diese sich über den Rand hievte und flach auf dem Boden liegen blieb, atemlos und schweißgebadet. Ihr Herz pochte. Ein Krampf bildete sich in ihrer rechten Hand, und sie biss die Zähne zusammen, als eine Woge aus Schmerz durch ihre Hand und den Unterarm zuckte. Nach einer Weile konnte sie die Finger wieder beugen. Hilaria blieb neben ihr stehen, und Hanna rollte sich auf den Rücken, setzte sich auf und starrte mit verschwommenem Blick in das Nichts jenseits der Felskante. Hammerschläge ertönten, als ein unsichtbarer Diener einen Pfosten in den Boden trieb. Sie erkannte den gleichmäßigen Rhythmus, die Art, wie der Ton sich änderte, wenn der Hammer nicht genau traf. Die Sonne war jetzt zu einem rotgoldenen, glühenden Ball geworden, der sein Licht orange- und rosafarben über die Berge ergoss. Die Berge im Osten waren dunkler geworden, und die Farben wurden blasser, als die Dämmerung herabsank. »Sie können bei Nacht nicht klettern«, sagte Hilaria. »Wir müssen uns beeilen. Wenn Schwester Rosvita tun kann, was sie angedeutet hat, ist heute Nacht unsere einzige Möglichkeit. Ich bete, dass Mutter Obligatia stark genug ist.« »Was will sie denn tun?«, fragte Hanna und erhob sich. Aber Hilaria war bereits hineingegangen, und Hanna blieb nichts anderes übrig, als ihr mit schmerzenden Gliedern zu folgen, während Hugh seine Belagerung begann. 2 Als Rosvita mit ihrer Gruppe tiefer in das verlassene Kloster vordrang, wurde sie von einem Ernst ergriffen, als würde sich ein Umhang um ihre Schultern legen. Die Düsternis erinnerte sie an die zwei Jahre, die sie im Kerker unter dem Palast der Skopos verbracht hatte, doch hier, das wusste sie, war sie endlich frei. Sie hatte ihren Pfad gewählt, ob zum Guten oder zum Schlechten, das mochte noch dahingestellt sein, aber sie hatte die Verantwortung für jene übernommen, die ihr folgten und ihrer Führung bedurften. König Henry war noch immer ein Gefangener. Sie würde vielleicht nie die Kraft haben, ihn zu befreien, aber sie musste es versuchen. Wenn Hugh sie gefangen nahm und Anne übergab, würde dies alles hier umsonst sein. Als das Licht schwächer wurde, ergriff Gerwita die Hand von Rosvita. »Ich habe Angst«, flüsterte sie. Sie blieben auf einem Treppenabsatz stehen. Weiter vorn befanden sich die Küchen, aber Schwester Hilaria deutete auf die Stufen, die nach unten zum Brunnen führten. »Hier entlang.« »Gehen wir nicht zu der großen Höhle, in der Königin Adelheid und Prinzessin Theophanu mit ihrem Gefolge gelagert haben?«, fragte Rosvita. »Diesmal nicht.« Hilaria stellte die Lampe ab und schlug Feuerstein gegen Stein, entfachte so einen Funken an einem Stück getrocknetem Pilz. Die winzige Flamme flackerte auf und erfasste den Docht. »Sind alle da?«, fragte sie und hob die Lampe, um sich selbst einen Überblick zu verschaffen. »Dann folgt mir.« Gerwita hielt sich an Rosvitas Gewand fest, als sie jetzt die steilen, nur von dieser einen Flamme beleuchteten Stufen hinabgingen. Die junge Novizin war in den Wochen ihrer Flucht sehr tapfer gewesen, aber die letzte Etappe zum Booster hatte sie ziemlich mitgenommen, und jetzt weinte sie unaufhörlich. Die anderen schlurften vorsichtig weiter, tasteten sich die einzelnen Stufen hinunter, ohne die Füße unnötig zu heben. Die Decke über ihnen wirkte wie ein Grabdeckel, aber sie konnten immerhin aufrecht gehen und mussten sich nicht durch irgendwelche engen Gänge zwängen. Ruoda hustete; sie hatte sich zwei Wochen zuvor eine Erkältung zugezogen, die ihre Lunge angegriffen hatte. Sie brauchte dringend Ruhe, genau wie die anderen. Sie alle mussten sich ausruhen. Sie waren jetzt seit vierzig Tagen auf der Flucht, ge393 jagt und verängstigt. Auf diese Weise war es unmöglich, wieder zu Kräften zu kommen. Es verwunderte sie, dass sie überhaupt so lange durchgehalten hatten. »Schwester Rosvita!«
Eine geisterhafte Gestalt tauchte am Rand des Flammenscheins auf. Es dauerte zwei Atemzüge, ehe Rosvita Schwester Diocletia erkannte, die Weberin. Sie stand ein Stück unterhalb von ihnen auf einer Stufe. Wie Hilaria sah auch sie ziemlich ausgemergelt aus, und ihre Haut war leichenblass, so weiß wie Pilze. Aber ihr Lächeln hatte immer noch jene geduldige Wärme, an die Rosvita sich so gut erinnerte. »Ich hoffe, Ihr bringt uns gute Nachrichten, Schwester Rosvita«, sagte Diocletia. »Wir sind ziemlich erschöpft. Ich fürchte, wir sind am Ende unserer Kräfte.« »Bitte, sagt mir, was mit Euch geschehen ist. Wieso habt Ihr das Kloster verlassen? Wo ist Mutter Obligatia?« Hilaria und Diocletia wechselten einen Blick. Sie waren die kräftigsten und gleichmütigsten Nonnen von St. Ekatarina gewesen, und selbst jetzt noch, da sie so zerbrechlich und mitgenommen aussahen, spürte Rosvita eine starke Willenskraft in ihnen. »Wir bringen Euch jetzt zu ihr«, sagte Hilaria schließlich. Sie gingen weiter hinunter, immer weiter, bis Rosvita es schließlich aufgab, die Stufen zu zählen, und sich daran gewöhnt hatte, den Fuß über die in den Stein gemeißelte Leiste zu heben, die sich am Rand einer jeden Stufe befand und verhindern sollte, dass man ausrutschte. Der Stein war ziemlich kalt, aber nicht nass. Sie hörte den Nachhall der Schritte der anderen - wenngleich vom Fels gedämpft -, genau wie ihre Atemzüge, aber niemand sagte etwas. Das Licht vermochte die Dunkelheit kaum zu vertreiben. Sie spürte festen Stein rechts und links von sich, der einzige Hinweis, dass sie nicht geradewegs in die Grube abstiegen. Hatten die Kirchenmütter Unrecht, wenn sie lehrten, dass die Sündigen in alle Ewigkeit körperlos und hilflos durch eine Wolke aus beißendem Äther stürzten ? Es war vielleicht näher liegend, zu vermuten, dass jede irrende Seele sich ihren eigenen Pfad den steilen Hang des Abgrunds hinuntermeißelte und sich so auf den mühseligen Weg 394 in die Verdammnis begab. Die Sünde selbst war die Strafe dafür, dass man sich von dem abwandte, was richtig war. Sie war kurz davor, sich selbst in das Lager des Feindes zu begeben, womit sie sich von Königin Adelheid, die sie damals hierher geführt hatte, nicht mehr sehr unterscheiden würde. Wer hätte damit gerechnet, dass Adelheid sich ihrem Mann gegenüber so treulos verhalten würde? Doch vielleicht hatte Furcht sie dazu getrieben, und nicht nur Treulosigkeit. Vielleicht war sie Hughs vergifteten Worten erlegen oder dem Einfluss der Skopos. Sie hatte vielleicht nur getan, was sie als notwendig erachtete, um ihrem kleinen Kind einen Thron und sich selbst eine herausragende Position unter den Prinzen des Landes zu sichern. Vielleicht war Adelheid in dem Glauben in die Grube hinabgestiegen, dass das, was sie tat, richtig war. Was auch ich glauben muss. Rosvita wusste, was sie zu tun hatte, um ihre Kameraden vor ihren Verfolgern zu schützen. Aber das machte es noch lange nicht richtig. Sie rutschte auf ein paar losen Kieseln aus und packte Gerwitas Hand, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Fortunatus hinter ihr rief den anderen eine Warnung zu. Sie erreichten den Fuß der Treppe; gewölbte Wände verloren sich rechts und links in der Schwärze. Der Brunnen war trocken bis auf eine glänzende Wasserschicht in einer Aushöhlung hinter Hilaria, aber er war nicht leer. In der Mitte befand sich ein Loch im Felsen, und eine stabile Holzleiter ragte aus der Tiefe empor. »Wie viel weiter ist es noch?«, keuchte Gerwita. »Nicht mehr weit«, antwortete Diocletia freundlich. Sie drehte sich um und packte die Leiter, stellte sich auf die Sprossen. »Folgt mir. Schwester Hilaria wird als Letzte gehen.« Rosvita ging als Zweite. Die Sprossen waren vom vielen Benutzen ausgetreten. Zuerst spürte sie den Felsen in ihrem Rücken, aber nach sechs Sprossen war mehr Platz, und nach sieben weiteren hatte sie den Grund erreicht. Eine Hand packte ihren Ellbogen. »Tretet zur Seite«, sagte Diocletia. »Wir müssen uns hier alle versammeln, ehe wir weitergehen.« 395 Nacheinander kamen die anderen die Leiter herunter; die Sprossen quietschten unter ihrem Gewicht, und Füße schlurften über den Stein, wenn sie unten ankamen, und dann schoben sie sich an Rosvita vorbei in die Dunkelheit. Es war so still, dass sie die einzelnen Atemzüge voneinander unterscheiden konnte: Gerwitas Atem war flach und von Tränen erstickt, Jeromes rasch und nervös, Heriburgs gleichmäßig. Ruoda hustete feucht, Jehan eher trocken. Der Adler bewegte sich, und die Pfeile in ihrem Köcher klapperten. Aurea prüfte den Boden mit dem Stab: tap tap tap. »Au«, fluchte Fortunatus. »Das war mein Zeh.« Alle kicherten nervös. Über ihnen löschte Hilaria die Lampe, sodass ihnen auch noch dieses kleine bisschen Licht verloren ging. Die Sprossen quietschten erneut leise, und wieder schlurften Füße über den Boden. »Sind alle da?« Es war unmöglich, Diocletias hohe, krächzende Stimme mit der ihrer Kameradin zu verwechseln, die um einiges tiefer war. »Wir sind alle hier«, bestätigte Hilaria. Es war zu dunkel, als dass Rosvita auch nur die Hand vor Augen hätte sehen können. Es war, als hätte die Erde sie verschluckt. »Wohin gehen wir?«, fragte der Adler rechts von ihr. »Tiefer hinunter«, antwortete Hilaria. »Wie können wir noch tiefer hinuntergehen?«, fragte Gerwita mit zittriger Stimme. Ihre Finger streiften Rosvitas Hand und blieben dort, hielten ihr Handgelenk mit Daumen und Zeigefinger umfasst, wie es ein Kind bei seiner Mutter tun mochte.
Ein schleifendes Rumpeln dröhnte durch den Raum. Trockene Luft, leicht schwefelhaltig, strich über Rosvitas Gesicht. »Haltet Euch an den Händen«, sagte Diocletia, »und sprecht Eure Namen, damit wir wissen, dass wir niemanden vergessen haben.« Jemand kicherte nervös, aber Rosvita konnte das Lachen niemandem zuordnen. Nach einigem Umhertappen sprachen sie ihre Namen, einige leise, andere mit mehr Kraft. Als Hilaria sich als Letzte meldete, spürte Rosvita, wie Diocletia an ihrer Hand zog, und sie folgte ihr grimmig in eine Schwärze hinein, die sie sich 396 kaum schlimmer hätte ausmalen können. Gerwita hinter ihr unterdrückte ein Schluchzen. »Still, Tochter«, murmelte Rosvita und drückte ihre Hand. »Wir sind hier gut aufgehoben. Sie werden nicht zulassen, dass uns etwas geschieht.« Eine Ewigkeit lang bewegten sie sich in einer Dunkelheit, die nur deshalb eine Richtung und einen Raum hatte, weil hin und wieder ein Luftzug zu spüren war und ihnen schwache Gerüche flüchtig in die Nase stiegen: nach faulen Eiern, Hefe, einer Schmiede, Flechten und seltsamerweise auch Salzwasser. Zumindest blieb der Boden eben. Niemand stolperte oder lief gegen irgendetwas, obwohl sie weder ihre eigenen Füße noch sonst etwas sehen konnten. Schon bald hing ein gleichmäßiges, mühsames Schnaufen in der Luft - es klang wie der Blasebalg eines Schmieds oder die Atemzüge eines vom Lungenfieber befallenen Menschen. »Man könnte meinen, es wäre ein schlafender Drache, dem sich ein paar in die Irre geführte Schatzjäger nähern«, sagte Fortunatus in die Dunkelheit hinein. Hilaria lachte. »Das könnte man in der Tat meinen, hätten wir eine solche Kreatur in diesem Labyrinth versteckt. Aber es ist kein Drache, Bruder, sondern etwas weit Seltsameres und Unerwarteteres.« Ein Hauch von Farbe war an den Mauern zu sehen, verwandelte die Schwärze in verschiedene Grautöne. Der Tunnel teilte sich an einer Kreuzung, ging in fünf verschiedenen Richtungen weiter. Diocletia führte sie zum Licht, auf das Schnaufen zu. »Mögen Gott Erbarmen mit uns haben«, sagte Gerwita leise und drängte sich dicht hinter Rosvita, als sich der Tunnel zu einer Höhle öffnete, die nicht größer war als eine Dorfkirche. Die Felswände waren voller seltsamer bunter Streifen. Hier hatten die Nonnen einen schlichten Wohnbereich eingerichtet. Vier Pritschen standen an der einen Wand, drei davon mit ordentlich gemachten Federbetten, die vierte eher unordentlich. An einem Tisch saß eine dünne Frau in einem zerrissenen Nonnengewand auf der einzigen Bank und rang unruhig die Hände. Sie blickte nicht auf, als sie eintraten. Neben dem Tisch befanden 397 sich drei mittelgroße Kisten; sie waren groß genug, um Kleidung oder eine kleine Bibliothek aus Schriftrollen darin unterzubringen. Töpfe und Amphoren waren an der anderen Wand aufgebaut, halb im Schatten verborgen. Rosvita fand es bemerkenswert, dass sie hier überhaupt etwas sehen konnte. Zwei Öllampen standen auf einem Felsregal in der Höhlenwand, aber keine davon brannte. »Woher kommt das Licht?«, murmelte Hanna. »Woher kommt das Geräusch?«, fragte Fortunatus. Das ungemachte Bett bewegte sich, als würde ein Tier zum Leben erwachen. »Sind sie in Sicherheit?« »Mögen Gott gepriesen sein!« Rosvita lief zu der Pritsche und kniete neben ihr nieder. »Mutter Obligatia! Gott sind barmherzig! Ihr seid noch am Leben.« »Schwester Rosvita!« Eine schmerzhaft dünne Hand tauchte zitternd unter der Bettdecke auf. Rosvita nahm sie, achtete darauf, sie nicht zu fest anzufassen, damit sie die alten Knochen nicht zerdrückte. »Ich habe gebetet, Euch wieder zu sehen, aber ich muss gestehen, dass ich nicht die Hoffnung hatte, Gott würden uns so segnen. Wir sind Gefangene, aber wir wissen nicht, gegen welchen Feind wir kämpfen. Seid Ihr gekommen, um uns zu retten?« Rosvita lachte verbittert. Obligatia sah so krank aus, dass es unmöglich war, sich vorzustellen, wie eine so zerbrechliche Person überhaupt noch am Leben sein konnte - es sei denn aufgrund eines gewissen Starrsinns, eines Pflichtgefühls oder einfach aus Unfähigkeit, die Hoffnung aufzugeben. Das Alter hatte ihre Haut trocken und zerbrechlich werden lassen, als würde schon die bloße Berührung sie in Staub verwandeln. Die anderen sahen sich jetzt vorsichtig in der Höhle um; sie verteilten sich, suchten die Quelle des Lichts und des beständigen Schnaufens. Schwester Diocletia beugte sich zu der sitzenden Nonne und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Es war Schwester Petra, die Bibliothekarin und Schreiberin. Sie sah so verändert aus, als wäre die Hälfte ihrer Seele verschwunden und hätte den Rest in einem zerbrochenen Gefäß zurückgelassen. »Bitte sagt mir, was geschehen ist, Mutter Obligatia. Wieso habt Ihr die Klosterräume verlassen? Wo sind die anderen?« 398 »Dinge, die wir uns nie hätten erträumen können, wandeln auf der Erde, auch wenn sie barmherzigerweise die meiste Zeit vor unseren Blicken verborgen sind. Betet, dass es so bleibt. Wir haben gesehen ...« Die kräftige Stimme geriet ins Stocken. Obligatias Körper war schwach, aber ihr Blick war noch immer scharf und fest. Er richtete sich jetzt auf Rosvita. »Wir haben schreckliche Dinge gesehen, Schwester.« »Seht nur!«, rief Hanna von der anderen Seite der Höhle. »Es sind die Flechten - von ihnen geht ein Glühen
aus.« »Ich bin die Ereignisse so oft durchgegangen, dass ich das Gefühl habe, ich hätte sie mindestens hundertmal erlebt. Doch zuerst muss ich Euch etwas fragen, Schwester Rosvita. Wir haben die arme Paloma nach Darre geschickt, wo sie Euch aufsuchen sollte. Hat sie Euch gefunden?« »Mögen Gott Erbarmen mit ihr haben. Ja, sie hat uns gefunden, aber sie ist ermordet worden. Wir hatten keine Möglichkeit, Euch zu benachrichtigen. Und wir wissen auch nicht, wer sie getötet hat, oder warum. Wir haben nur Vermutungen.« Mutter Obligatia seufzte tief, und es klang wie ein Echo des rhythmischen Schnaufens, das sie die ganze Zeit über hörten: schwuu schwaah schwuu schwaah. »Das hatte ich befürchtet. Ich wusste, sie würde uns nicht im Stich lassen. Ich bete, dass sie Frieden in der Kammer des Lichts bei Unserer Mutter und Unserem Vater des Lebens gefunden hat.« Sie murmelte ein Gebet, und Rosvita stimmte mit ein. Die Worte gingen ihr leicht über die Lippen. Wie oft hatte sie schon ein Gebet über die Toten gesprochen? Zu oft. »Dann ist diese Geistliche gekommen. Sie hat um Zugang zu unserer Bibliothek ersucht und erklärt, sie käme von der Gelehrtenschule in Darre, um alte Chroniken zu untersuchen. Wir hatten keinen Grund, ihr zu misstrauen.« »Aber Ihr glaubt nicht, dass sie wegen der alten Chroniken gekommen ist?«, fragte Rosvita, während sie das Kissen so zurechtrückte, dass die alte Frau etwas aufrechter sitzen konnte. Obligatia ächzte vor Schmerz, als Rosvita ihr aufhalf. »Die guten Schwestern betten mich immer wieder um«, sagte 399 sie. »Trotzdem habe ich wunde Stellen vom vielen Liegen. Aber ist es nicht die gerechte Strafe für meine Blindheit?« »Eure Blindheit?« »Sie nannte sich Schwester Venia.« Heriburg und Fortunatus rückten näher, um besser hören zu können. »An eine solche Geistliche kann ich mich nicht erinnern«, erklärte Heriburg. »Der Name kommt mir vertraut vor«, sagte Fortunatus. »Es gibt so viele Geistliche in der Palastschule, aber ich glaube, eine Frau mit diesem Namen hat der Skopos gedient.« Obligatia verzog die Lippen, aber nicht zu einem Lächeln. »Ich weiß, dass sie das nicht getan hat. Sie ist zu uns gekommen, um uns zu töten. Sie hat die arme Schwester Lucida ermordet und ihr warmes Blut benutzt, um eine Kreatur heraufzubeschwören, die keine irdische Gestalt und Substanz hatte und nach Eisen stank. Sie hat dieses Ding geschickt, um uns zu töten, oder um mich zu töten, wie ich vermute, auch wenn Schwester Sindula die Einzige war, die von ihm getötet wurde. Es hat Sindula verschlungen, als wäre es aus Feuer, und nur ihre versengten Knochen sind zurückgeblieben. Mögen Gott Erbarmen mit ihr haben.« Mit schwacher Hand machte sie das Kreiszeichen in der Luft. »Aber ich glaube, in Wirklichkeit bin ich das Ziel von Schwester Venia gewesen. Sie wissen, wer ich bin, und sie werden nicht aufhören zu versuchen, mich umzubringen.« »Ich kann das, was ich Euch sagen muss, nicht mit freundlichen Worten sagen, Mutter Obligatia. Ich habe herausgefunden, was mit Eurer Tochter geschehen ist.« Obligatia schloss die Augen. Eine Träne quoll unter einem geschlossenen Lid hervor, rollte nach unten und verlor sich in der Ohrmuschel. »Meine Tochter«, sagte sie leise. »Selbst nach so vielen Jahren trauere ich um das, was ich verloren habe.« Wie sollte man angesichts solchen Kummers sprechen, in dem Wissen, dass die nächsten Worte nur Trauer hervorbringen konnten? Sie musste es tun. Wenn die Wahrheit nicht ans Licht kam, hatten sie keine Möglichkeit, sich zu befreien. 400 »Eure Tochter ist jetzt die Skopos. Sie nennt sich Anne, und sie ist eine Mathematiki, eine mächtige Zauberin.« »Meine Tochter.« Die Worte strichen durch die Luft wie eine Feder, eine flüchtige Berührung. Obligatia schwieg eine lange Zeit, aber sie vergoss keine weitere Träne. »Dann ist es meine Tochter, die sicherstellen will, dass ich tot bin.« Rosvita blickte auf und sah Fortunatus' treues Gesicht neben sich, blass vor Betroffenheit. »Wir hätten auf Prinz Sanglant hören sollen. Er hat uns vor Anne und ihrer Brut von Zauberern gewarnt, bevor wir nach Aosta gereist sind. Wir haben nicht auf ihn gehört.« »Wie hätten wir es wissen können?«, fragte Fortunatus. »Macht Euch keine Vorwürfe, Schwester.« »Und jetzt, da sie Taillefers Enkelin in eine Position gebracht haben, die ihrer Herkunft würdig ist, hat sie Angst vor dem, was ich weiß«, sagte Obligatia. »Was ich bin.« »Vielleicht«, erwiderte Rosvita. »Aber glaubt nicht, dass andere Anne erhoben haben. Sie hat sich selbst erhoben. Als die Heilige Mutter dementia gestorben ist - möge sie in Frieden in der Kammer des Lichts ruhen -, ist Anne vor den König und die Königin getreten und hat ihre Macht ausgespielt. Auf diese Weise hat sie sie dazu gebracht, ihre Wahl zur Skopos zu unterstützen. Sie hat ihm gesagt...« Sie erinnerte sich so deutlich an die Worte, als wären sie erst eine Stunde zuvor gefallen. Das war der Preis, den sie für ihr wunderbares Gedächtnis zu zahlen hatte: dass sie sich in unvorhergesehenen Abständen auf unerwünschte Weise mit einer fürchterlichen
Klarheit an jeden schmerzhaften Augenblick erinnerte, den sie jemals durchlebt hatte. »Sie hat gesagt: >Denn ohne meine Hilfe werdet Ihr kein Kaiserreich mehr haben, über das Ihr herrschen könntet.<« »Ihr habt ein außerordentlich gutes Gedächtnis, Schwester.« »Ich habe zwei Jahre im Kerker der Skopos verbracht. Ich hatte Zeit, zu meditieren, zu beten und mein Buch des Gedächtnisses immer wieder durchzugehen.« Und sie hatte die Möglichkeit gehabt, im Geiste ihre lang vernachlässigte Geschichte zu vollenden. Sie hatte die Möglichkeit 401 gehabt, jene Fähigkeiten zu stärken, die ihnen vielleicht gestatten würden, dieser misslichen Lage zu entfliehen. Das Schnaufen war wie ein Ein- und Ausatmen, und jetzt spürte sie auf ihrer Haut den leichten Luftzug, der das Geräusch begleitete. Es war weniger eine Brise als vielmehr die Wirkung eines Blasebalgs, der die Luft durcheinander wirbelte. Die Temperatur in dieser Höhle blieb niedrig, aber es war sicher nicht so kalt wie draußen. Obwohl sie um ihr Leben fürchten mussten, hatten sie es hier bequemer als Hughs Männer. Die Ironie brachte sie zum Lächeln. »Ich hatte noch ein anderes Kind«, sagte Obligatia in die Stille hinein. »Ein anderes Kind.« Sie stockte; ihre Stimme zitterte so sehr wie ihre Hände. Sie tastete über die Decke, die ihren dünnen Körper umhüllte, bis sie Rosvitas Hand gefunden hatte, und drückte sie fest. »Was ist aus Bernard geworden? Ich habe ihn gesehen, in -« »Ihr habt ihn gesehen?« »Nein, nein, ich habe ihn in seinem Kind gesehen.« »Ihr habt sein Kind gesehen?« Schwester Hilaria kehrte mit einem Eimer Wasser zurück, den sie neben der Äbtissin abstellte. Sie kniete neben der Pritsche nieder und tauchte ein Stück Stoff ins Wasser, um die Stirn und den Hals der alten Frau zu betupfen. »Ihr ermüdet sie, Schwester Rosvita«, tadelte sie. »Das muss ich auch, wenn wir das hier überleben wollen. Was wollt Ihr damit sagen, Mutter? Wie konntet Ihr sein Kind sehen? Der Mann, von dem ich denke, dass er Euer Sohn ist, hat kein Kind.« Hilaria sah sie scharf an. »Sie lügt nicht.« »Das wollte ich auch gar nicht unterstellen -« »Hört mich an«, sagte Mutter Obligatia freundlich. »Als der Dämon zu uns gekommen ist, wussten wir, dass wir alle sterben würden. Er hat Schwester Sindula mit der gleichen Leichtigkeit verschlungen, mit der wir einen Atemzug tun, und wir hätten ihn nicht davon abhalten können, auch uns zu töten. Aber dann ist aus der Luft ein Daemon erschienen. Ich glaube nicht, dass es ein En402 gel war. Es war eine Frau mit Flügeln aus Feuer, aber sie trug einen irdischen Bogen und Pfeile. Sie war es, die den Dämon mit ihrem Pfeil getötet und von der Erde verbannt hat. Sie war es, die uns geraten hat, die Zauberin festzubinden, die uns angegriffen hat. Sie war es, die ...« Sie begann, leise zu weinen, unfähig, angesichts ihrer überwältigenden Trauer fortzufahren. Hilaria legte ihr ein feuchtes Tuch auf die Stirn und murmelte dabei Worte des Trostes. Rosvita brannte innerlich. Sie schämte sich, dass sie den Kummer dieser Frau sah und doch insgeheim frohlockte. Sie war so nah dran. Tief in ihrem Innern begriff sie, dass sie die Zeit im Kerker hatte erdulden müssen, dass sie all das hatte riskieren müssen, um zu diesem Augenblick zu gelangen. »Sie hat uns das Leben gerettet. Aber ich habe sie erkannt. Ich habe sie erkannt.« Obligatia schob das Tuch von ihrer Stirn. »Ich bitte dich, Hilaria, ich werde in dieser Stunde schon nicht sterben.« Rosvita sah den angespannten Kiefer und den störrischen, festen Blick und wusste, dass es diese Erinnerung war, die sie so lange am Leben erhalten hatte. Obligatias Stimme hatte die alte Stärke zurückerlangt; sie hatte ihre Trauer unter Kontrolle gebracht, wie alle es tun müssen, die ein hohes Alter erreichen, denn sonst wären sie schon viel früher an Kummer gestorben. »Ich habe sie gesehen, Schwester Rosvita. Ich habe Bernards Kind gesehen. Ich habe ihn in ihrem Gesicht gesehen. Ich weiß nicht, was sie ist oder woher sie gekommen oder wohin sie gegangen ist. Könnt Ihr erklären, was da geschehen ist?« Die anderen waren näher herangerückt, um zuzuhören; sie schienen von der Eindringlichkeit, mit der Obligatia erzählt hatte, ganz benommen. Aber nicht alle. »Ihr habt Liath gesehen.« Der Adler drängte sich neben Rosvita, baute sich mit ihrem kräftigen Körper neben ihr auf, mit ihrer hellen Hautfarbe, die für die Bewohner des Nordens typisch war, und den Haaren, die so farblos wie Schnee waren. »Ich habe sie in den letzten zwei oder drei Jahren auch gesehen, immer nur für kurze Augenblicke, mehr nicht. Sie hatte Flügel aus Flammen. Ich 403 dachte, es wären Visionen, Halluzinationen. Aber jetzt muss ich annehmen, dass Prinz Sanglant die Wahrheit gesagt hat. Sie ist von glühenden Daemonen in die Himmelssphären emporgehoben worden.« »Ich werde nie vergessen, wie wir ihre Stimme aus einem Wirbel aus Luft heraus gehört haben«, sagte Fortunatus grimmig. »Es war der Tag, an dem Prinz Sanglant zum Hof des Königs zurückgekehrt ist. An dem wir gesehen haben, dass er seine Tochter von einem Daemon stillen ließ.«
»Wann ist das gewesen?«, fragte Hanna. »Bevor er nach Osten geritten ist. Bevor Ihr zu ihm gestoßen seid.« »Ja«, sagte sie nachdenklich. »Das würde passen. Es würde mit dem zusammenpassen, was Ihr und Schwester Rosvita über Eure eigene Geschichte erzählt habt, und es würde zu den Schlussfolgerungen passen.« »Liath ist Annes Tochter«, sagte Rosvita, als könnte der Nagel in den undurchdringlichen Fels getrieben werden, wenn sie nur hart genug zuschlug. »Wie kann sie die Tochter von Anne sein, aber wie Bernard aussehen, wenn die Geschichte wahr ist, die Prinz Sanglant uns erzählt hat? Wenn nur ein Elternteil ein Mensch war?« »Es ist dann möglich, wenn die Heilige Mutter Anne diejenige ist, die lügt«, sagte Hanna. Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, abgesehen von dem Schnaufen, Gerwitas Schluchzen und Ruodas Husten. Wenn die Heilige Mutter log. Hanna sprach weiter. Ihre Stimme klang wie Eis. »Wieso sollte sie nicht lügen? Wenn Liath und alle, die Liath kannten, glauben sollten, dass sie von Kaiser Taillefer abstammte? Ich habe Bernard gekannt. Er hat seine Tochter geliebt. Und sie haben sich sehr ähnlich gesehen. Obwohl ihre Haut tiefbraun war, konnte jeder Narr erkennen, dass sie Vater und Tochter waren, so wie ein Hündchen oder Fohlen die Zeichen seiner Erzeuger trägt.« »Mein Enkelkind«, murmelte Obligatia. »Ist es wirklich möglich? Bernard hat eine Tochter? Ist es wirklich möglich?« Wie 404 grausam der Ausdruck der Hoffnung in ihrem Gesicht war. »Mein Sohn - lebt er noch?« Hanna kniete neben der Pritsche nieder. Sie war keine hübsche Frau, eher kräftig als gut aussehend, aber ihre Miene war jetzt so voller Mitleid, dass aus ihrem Innern wahre Schönheit erstrahlte die eine Frage des inneren Herzens und nicht des äußeren Anscheins war. »Es tut mir Leid, Mutter. Er ist vor Jahren gestorben, als er versucht hat, seine Tochter vor jenen zu schützen, die sie verfolgt haben. Ich habe seine Leiche gesehen.« »Mein Sohn.« Die Worte verloren sich im Nichts, aber Obligatia weinte nicht. Vielleicht hatte sie nicht mehr die Kraft zum Weinen. »Er war ein guter Mann. Er hatte nicht mehr Schwächen als wir alle und viele Tugenden. Er hat anderen geholfen, bis für ihn nichts mehr übrig war. Aber er hat sich vor jenen gefürchtet, die ihn und Liath zu finden versuchten. Er hat sich alle Mühe gegeben. Er hat sie geliebt.« Schwuu schwaah schwuu schwaah. Waren sie von einem Bann befallen? Rosvita hatte fast den Eindruck. Niemand rührte sich oder sprach. Nur Mutter Obligatia war stark genug, den Bann zu brechen. Sie hatte zu lange überlebt, um sich derart überwältigen zu lassen. »Wieso wünscht meine Tochter meinen Tod, Schwester Rosvita?« Rosvita blickte Fortunatus an, dann Hanna, aber beide schüttelten nur den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich kann es nur vermuten. Sie hat nicht aufgegeben. Ein Presbyter von edler Geburt wartet unten am Fuß des Felsens. Morgen in der Morgendämmerung wird er Soldaten die Nordseite hochschicken, um uns zu ergreifen.« »Er kann uns hier nicht erreichen.« »Wie können wir uns hier ernähren, gefangen im Fels und ohne jede Möglichkeit, an Nahrung und Wasser zu gelangen? Wie habt Ihr die letzten zwei Jahre überlebt?« »Wo ist Teuda?«, fragte Obligatia. »Sie kommt gleich, Mutter«, erklärte Hilaria. »Sie hat nach der Gefangenen gesehen und genug Brot für alle eingepackt.« »Helft mir beim Aufstehen«, sagte Obligatia. 405 Mit Rosvitas und Hilarias Hilfe erhob sich die Äbtissin. Sie bestand darauf, sich auf die Bank zu setzen, obwohl die Anstrengung sie sichtlich auf eine harte Probe stellte. Schwester Petra, die noch immer besorgt die Hände rang und vor sich hin murmelte, schwieg, als Obligatia ihr beschwichtigend den Arm tätschelte, wie man es bei einem unruhigen Hund tun mochte. »Schwester Petra geht es seit jenem schrecklichen Tag nicht mehr gut«, sagte Obligatia ohne jede Ironie angesichts ihres eigenen angeschlagenen Zustands. Doch ihre Miene wies eine solche Klarheit und Willensstärke auf, dass Rosvita die Energie der alten Frau und ihre sichtbare geistige Gesundheit unwillkürlich mit dem bestürzten Blick von Petra verglich, die in die Schatten starrte und die Lippen bewegte, ohne zu sprechen. »Schwester Carita ist gestorben, kurz nachdem wir hierher geflohen sind, möge ihr Geist in Frieden in der Kammer des Lichts ruhen. Hilaria, Diocletia und Teuda sind noch immer unerschütterlich wie Felsen.« »Gott gewähren uns Stärke«, erklärte Diocletia, die aufgestanden war, um Obligatia Platz auf der Bank zu machen. »Wir dienen Euch in diesem Leben so treu, wie wir Gott im nächsten dienen werden, Mutter.« Obligatia nickte; sie schien sich der Bürde, die mit der Loyalität der Schwestern verbunden war, voll und ganz bewusst. Rosvita sah auf und bemerkte, dass ihre eigenen treuen Kameraden sie mit der gleichen furchtbaren und wunderbaren Standhaftigkeit anblickten. Wie Lavastins Hunde hatten sie sich aus ganzem Herzen entschieden und würden niemals schwanken. »Beten wir zu Gott, dass wir uns als ihrer Treue würdig erweisen«, murmelte sie leise wie zu sich selbst, aber
Obligatias Gehör hatte in all der Zeit nicht gelitten. »Amen«, flüsterte die alte Frau. Sie legte die Hände auf den Tisch und kämpfte sich mit einiger Anstrengung hoch. Rosvita beeilte sich, ihr zu helfen, indem sie sie mit einer Hand unter dem Ellbogen stützte. »Auf diese Weise behaupte ich meine Kraft. Meine Aufgabe auf dieser Erde ist noch nicht beendet. Ich habe noch ein paar Dinge zu erledigen.« »Da ist Teuda.« Diocletia eilte zu einem Gang, der dem Tunnel, 406 durch den sie den Raum betreten hatten, gegenüberlag. Dort tauchte die Laienschwester auf, die, wie Rosvita sich erinnerte, früher die Gärtnerin gewesen war. Teuda trug einen großen Lehmkrug mit Wasser und einen Korb, den sie auf den Tisch stellte. Er war voller weißer Kuchen, die wie kleine Brotlaibe aussahen, aber aus einer Substanz waren, die Rosvita nicht kannte. Sie verströmten keinerlei Geruch. Obligatia segnete das Essen und das Wasser, setzte sich hin und bedeutete Teuda, das Brot herumzureichen. Als Rosvita in das Stück hineinbiss, das man ihr reichte, bemerkte sie, dass es nicht nur keinen Geruch, sondern auch keinerlei Geschmack hatte. Es war fest, aber nicht hart, gab etwas nach, wenn man hineindrückte, war aber nicht feucht. »Was ist das?«, fragte Hanna argwöhnisch, als traute sie sich nicht, hineinzubeißen. »Wir nennen es Brot«, sagte Teuda. »Rümpft nicht die Nase, meine Freundin. Es ist ein Geschenk an uns, ohne das wir schon vor Monaten verhungert wären.« »Ein Geschenk von wem?«, fragte Hanna, noch nicht ganz zufrieden mit der Antwort. »Schwester Hilaria hat gesagt, dass es hier Kreaturen gibt, die tief in der Erde hausen. Hat es mit ihnen zu tun?« Als würde ein einziger Gedanke sie leiten, blickten Teuda, Hilaria und Diocletia gleichzeitig Mutter Obligatia an. Nur die arme Schwester Petra reagierte nicht; sie knabberte an ihrem Kuchen herum wie eine Maus und blickte immer wieder zu den Schatten, als rechnete sie damit, dass eine Katze herausspringen würde. »Ich habe einmal eine Geschichte gehört«, sagte Ruoda, die bisher still gewesen war, weil die Erkältung ihr so zusetzte und sie mit aller Kraft gegen Fieber und Krankheit ankämpfte. »Ich habe gehört, dass der Reichtum der salianischen Könige von einer tiefen Mine stammt, die weit hinunter in die Erde reicht, wo ein Schatzhaus aus Gold liegt. Oder Eisen. Kein Mensch kann in den tiefen Schächten leben, so heißt es. Die Salianer haben Kreaturen versklavt, die unter den Menschen stehen, aber über den gewöhnlichen Tieren. Sie hausen tief in der Erde und suchen nach Silber und Gold.« 407 Obligatia nickte. »Vor langer Zeit haben Kreaturen dieses Labyrinth aus dem Fels gehauen. Es reicht tief hinab. Wir haben nur einen winzigen Teil erkundet. Paloma pflegte Seilrollen mit hinunter zu nehmen und abzurollen, damit sie wieder zurückfand. Aber auch sie hat nur herausgefunden, dass sich noch unendlich viel jenseits unserer Kenntnisse befindet. Welche Klugheit und welche Fähigkeiten müssen sie besessen haben, um solch ein gewaltiges Netzwerk zu erschaffen!« »Wollt Ihr damit sagen, dass dies alles - und noch mehr - nicht natürlichen Ursprungs ist? Dass es aus dem Fels gehauen wurde?« »So wie das Kloster, das die Gründungsschwestern ebenfalls auf etwas aufgebaut haben, das bereits vorhanden war. Dieses Labyrinth ist nur die oberste Schicht der Zwiebel, wie wir glauben. Wir werden die Wahrheit nie erfahren.« Gerwita begann wieder zu weinen; ihre Nerven waren so angespannt, dass schon die leiseste Berührung sie zum Zittern brachte. »Bitte erzählt weiter«, sagte Rosvita. »Welches Geheimnis liegt unter dem Felsen? Ich bin wahrhaft verwundert.« Das Brot hatte Obligatia genug Kraft gegeben, dass sie aufrechter sitzen und an dem metallisch schmeckenden Wasser nippen konnte, das Teuda in einen hölzernen Becher gegossen hatte. »Nachdem die Kreatur, die Schwester Sindula umgebracht hat, getötet worden war, haben wir Schwester Venia gesucht und festgebunden. Eine Verhandlung war unnötig. Sie wurde auf frischer Tat ertappt, gleich neben Schwester Lucidas Leiche und den Beweisen ihrer Zauberei. Doch was konnten wir tun ? Ganz offensichtlich waren wir in Gefahr. Hätten wir sie gehen lassen, hätte sie sicher erneut zugeschlagen. Sie hätte zu denen zurückkehren können, die sie geschickt hatten, um zusätzliche Hilfe zu holen. Doch ich konnte es auch nicht über mich bringen, sie zu töten, nicht einmal, um uns zu retten. Ich habe keine andere Möglichkeit gesehen, als sie gefangen zu nehmen, damit sie kein weiteres Unheil anrichten konnte. Ich habe allerdings befürchtet, dass ihre Auftraggeber andere Leute schicken würden, wenn sie nicht mit einem Bericht zurückkehrte. Und nach einiger Zeit taten sie das auch. Wohin sollten wir fliehen, wo Zuflucht suchen? Wem konnten wir trauen? 408 Am Ende haben wir uns zurückgezogen. Ich wollte nicht, dass jenen, die in meiner Obhut stehen, irgendein Leid zugefügt wurde.« »Wenn Ihr Euch denen freiwillig ausgeliefert hättet, die Euch gesucht haben, hätten vielleicht diejenigen in Eurer Obhut ungestört weiterleben können«, sagte Hanna plötzlich. »Habt Ihr das einmal in Betracht gezogen?« Teuda war eine grobknochige Frau und nicht so dünn wie die anderen; sie baute sich vor Hanna auf, stemmte die Fäuste in die Hüften und reckte herausfordernd das Kinn. »Mit welchem Recht wagt Ihr es, so respektlos mit unserer Heiligen Mutter zu sprechen?« Obligatia lächelte. Ein Leopard mochte so lächeln, bevor er seine ahnungslose Beute verschlang. »Nein, lass sie sprechen. Die Frage ist gerechtfertigt. Wieso habe ich mich nicht ausgeliefert, um sie zu retten?«
»Als hätten diese Verbrecher uns nicht dennoch getötet!« »Still, Teuda. Aber das ist tatsächlich der erste Grund. Wieso sollte ich annehmen, dass jene, die von meiner Existenz wussten und mein Geheimnis kannten, nicht alle losen Enden beseitigen würden ? Wenn sie nicht zögerten, mich zu töten, wieso sollten sie dann zögern, jene zu töten, die unter meinem Schutz standen? Wer würde das Verschwinden von ein paar zurückgezogenen Nonnen bemerken? Nur wenige wussten von uns. Wir waren für niemanden wichtig.« »Ihr wärt für Liath wichtig, wenn Ihr wirklich ihre Großmutter seid. Oh, Gott, wie oft hat sie gebetet, etwas über ihre Familie zu erfahren ...« Hanna verstummte, klug genug, gegenüber dieser Frau, die so viel erlitten und trotz allem überlebt hatte, Demut zu empfinden. »Und da habt Ihr die andere Antwort. Ich bin eigennützig, Kind. Wenn Bernards Tochter noch lebt, wenn es noch irgendeine Hoffnung gibt, dass ich ihre Hand drücken und in ihrem Gesicht seines finden kann, dass ich sie umarmen und küssen kann, wie Verwandte es zu tun pflegen, dann will ich das auch tun.« Zu Rosvitas Überraschung kniete Hanna nieder und neigte den Kopf. »Vergebt mir, Mutter. Ich habe Euch falsch eingeschätzt.« »Es gibt nichts zu vergeben, Kind -« 409 Gerwita sank auf die Knie und schluchzte laut auf. »Ich habe gesündigt!«, rief sie. Ihre Worte wurden von heftigem Weinen unterbrochen. »Ich habe Euch verraten! Gott mögen mir vergeben!« Sie streckte die Hand nach dem Essmesser auf dem Tisch aus, mit dem Teuda die Kuchen aufgeschnitten hatte. Fortunatus packte sie an den Handgelenken und nahm ihr das Messer ab, bevor sie es sich in den Bauch rammen konnte. »Flieht!«, schluchzte sie hilflos. »Wo immer Ihr Euch auch versteckt, er wird Euch finden. Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie groß seine Macht ist.« Immer neue Schluchzer erschütterten ihren Körper; sie wippte vor und zurück, als wollte sie einen Dämon verjagen. Die sanfte, hübsche und zurückhaltende Novizin hatte sich in eine Frau verwandelt, die von Schmerz und Schuld förmlich zerrissen wurde. Es war, als würde die Zeit einen Augenblick stillstehen - sie alle waren so entsetzt, dass sie einander nur wortlos anstarren konnten. Aber Rosvita spürte, wie sich Angst und Bestürzung ihre Zehen hinaufwanden, in ihre Glieder krochen und sie überfluteten. Die Furcht kratzte mit langen Fingern an ihrem Herzen, ähnlich wie die Ratten im Kerker, die niemals aufhörten, an den Lebenden zu nagen, die zu benommen und zu schwach waren, um noch etwas zu fühlen und sich wehren zu können. »Hugh«, sagte sie schließlich. Gerwita schluchzte. Sie kniete vornübergebeugt da, den Oberkörper auf den Oberschenkeln, während sie immer wieder mit dem Kopf auf den Boden schlug. »Haltet sie fest«, sagte Rosvita. »Sie darf sich nichts antun.« »Sie hat uns verraten!«, rief Heriburg. »Wir wären entkommen. Es musste ja einen Grund dafür geben, dass sie unsere Spur gefunden haben, trotz allem. Sie hat uns verraten!« »Heriburg! Hör auf!« Heriburg schloss abrupt den Mund, aber sie trat einen Schritt zurück und packte Ruodas Hand. Die beiden jungen Frauen warfen ihrer Kameradin, die sie seit langem kannten, wütende Blicke zu. Wenn Blicke töten könnten ... Rosvita kniete sich neben Gerwita. Als sie die Novizin berühr410 te, zuckte Gerwita zusammen, wich seitwärts vor ihr zurück und jammerte und schrie wie eine Frau, die den Tod ihres einzigen Kindes betrauerte. »Gerwita! Still jetzt! Sei ruhig und hör mir zu!« Es dauerte einen Augenblick, ehe Gerwita sich beruhigte, ihre Schluchzer hinunterschluckte. Dann lag sie still da, das Gesicht verborgen, und schwieg. »Sieh mich an.« Gerwita hob den Kopf. Sie hatte sich die Stirn auf dem Stein aufgeschlagen, und Blut lief ihr in die Augen. »Hast du uns freiwillig verraten? Für Geld? Um irgendwie bevorzugt zu werden? Aus Begierde?« Tränen strömten Gerwita über das rundliche Gesicht. Zuerst schien sie gar nichts sagen zu können, aber schließlich sprudelten die Worte aus ihr heraus. »N-nein, Schwester Rosvita. Ich würde Euch niemals freiwillig verraten, für nichts, gar nichts. A-aber er hat meine Familie bedroht. Ich habe einen jüngeren Bruder, der Novize im Kloster St. Galle ist. Es ist eine große Ehre für unsere Familie, denn wir sind nicht von hohem Rang. Er sagte, er befürchte, dass ihm etwas zustoßen könnte, wenn ich nicht auf ihn höre und ihm helfe. Ich habe ihm geglaubt, Schwester. Ich habe geglaubt, dass er meinem Bruder etwas antun könnte.« »Wieso bist du mit der Geschichte nicht sofort zu mir gekommen?« »W-weil Ihr im Kerker wart!«, schrie sie völlig außer sich, zugleich wütend und gedemütigt. »Wie hättet Ihr mir da helfen können?« »Was wollte er von dir? Er konnte nicht wissen, dass ein Erdbeben Darre heimsuchen würde. Er konnte nicht ahnen, dass es mir die Möglichkeit zur Flucht geben würde.«
Gerwita verbarg beschämt das Gesicht in den Händen. Rosvita konnte ihre erstickten Worte kaum verstehen. »Er wollte wissen, was Ihr wisst, wie viel Ihr über die Heilige Mutter Anne wisst. Die Skopos. I-ich habe es ihm gesagt.« Sie weinte wieder, hustete und schluchzte. »Gott mögen mir vergeben. Ich habe ihm alles gesagt.« Fortunatus begann zu kichern, dann lachte er freiheraus. 411 Wütend versetzte Heriburg ihm einen Schlag ins Gesicht. »Kind!« Obligatias Stimme dröhnte wie ein Hammerschlag. »Nein, nein, beruhigt euch«, sagte Rosvita und erhob sich. Fortunatus' Wange war gerötet, aber der Schlag hatte ihn nicht aus der Ruhe gebracht; er lächelte noch immer auf seine trockene, ironische Weise. »Bruder Fortunatus hat Recht. Gerwita, du hast mich nicht verraten. Ich glaube sogar, dass du mir das Leben gerettet hast, Tochter.« »Was?«, fragten einige ungläubig. Gerwita war zu verwirrt, um Einwände zu erheben. »Wieso hat Hugh mich nicht töten lassen? Ich habe immerhin gesehen, wie er Villam umgebracht hat. Ich weiß, dass er ein Malefikus ist, dass er mithilfe von Zauberei einen gefangenen Daemon - den gleichen, der in der Steinkrone oben auf diesem Fels gefangen war - in König Henrys Körper versetzt hat. Wieso hat er mich nicht getötet? Mein Zeugnis ist schließlich einiges wert, und ich glaube, es könnte und würde ihn vor einem kirchlichen Gericht verdammen.« Schweigen herrschte bei den anderen; sie warteten verwirrt und gespannt. Nur Fortunatus begriff. »Er will mich benutzen, um sich vor Anne zu schützen. Die Heilige Mutter Anne weiß nicht, wie viel ich über ihre Vergangenheit weiß. Sie weiß nicht, dass ich das Geheimnis ihrer Geburt, ihrer inzestuösen Heirat kenne.« »Ihre inzestuöse Heirat?«, flüsterte Obligatia schwach und schien regelrecht zusammenzusacken. »Ich bitte Euch, Mutter. Lasst es mich später erklären. Ich glaube nicht, dass Ihr Euch für das Verhalten Eures Sohnes schämen müsst. Aber denkt nach. Hugh weiß, was ich weiß, weil Gerwita es ihm gesagt hat. Wenn ich am Leben bin, hat er eine Waffe, die er notfalls gegen Anne benutzen kann.« »Wieso sollte er der Heiligen Mutter Schaden zufügen wollen?«, fragte Aurea. »Weil er ein sehr zielstrebiger Mensch ist. Das ist seine Schwäche, wie Fortunatus richtig erkannt hat.« 412 »Ich glaube nicht, dass Presbyter Hugh ein so einfacher Mensch ist, der nur einen Grund für das hat, was er tut«, fügte Fortunatus hinzu. »Es mag noch andere Gründe geben, wieso er Euch am Leben gelassen hat, Schwester Rosvita.« Hanna meldete sich zu Wort. »Wenn auch vielleicht nur den, Euch wissen zu lassen, dass er die Macht hat, über Euer Leben und Euren Tod zu entscheiden. Es gibt einige Geschöpfe auf dieser Welt, die nach einer solchen Macht hungern.« »Das stimmt«, pflichtete Rosvita ihr bei. »Aber noch hat er mich nicht, und ich habe nicht vor, mich von ihm ergreifen zu lassen.« Sie wandte sich an Mutter Obligatia, die einfach nur nickte, als wüsste sie, was als Nächstes kommen würde. »Ihr müsst mir vertrauen, Mutter. Wo ist Eure Gefangene?« »Nicht weit von hier, in einem sicheren Grab. Sie spricht nicht mehr mit uns, aber ich glaube, sie ist noch bei Verstand.« »Und diese Wesen, von denen Ihr Euer Brot erhaltet - was ist mit denen?« »Sie gehören uns nicht. Schon bald, nachdem wir tief in den Felsen geflohen waren, haben wir ein verletztes Wesen gefunden. Wir haben alles darangesetzt, es zu heilen. Danach führten diese Wesen uns zu einer Quelle tief im Felsen, neben der wir dieses Brot ernten konnten - auch wenn es kein richtiges Brot ist. Von diesem Nahrungsmittel haben wir uns bisher ernährt.« »Lasst Eure Gefangene zurück. Befreit sie, wenn es sein muss. Ich stimme Euch zu, dass es sich nicht mit einem guten Gewissen vereinbaren lässt, sie zu töten, wenn sie hilflos ist. Sollen andere über sie urteilen und sie ihrer Sünden wegen vor Gericht bringen. Wir haben keine Zeit dafür. Sucht zusammen, was Ihr braucht. Wir werden Euch tragen, Mutter.« »Oh«, sagte Obligatia, nichts weiter. »Aber sie haben den Felsen umstellt«, wandte Gerwita ein. »Wie können wir entkommen?« »Ich hatte zwei Jahre Zeit, zu meditieren, zu beten und mich an all das zu erinnern, was ich gesehen und gehört habe. Meine Erinnerung ist gut, und ich konnte viele Tage über den Zauberspruch nachdenken, den Hugh von Austra gewebt hat, als wir mit der Kö413 nigin vor Edelmann Johan geflüchtet sind. Und jetzt muss ich wissen, Mutter - habt Ihr in all den Jahren die Überlieferung der Mathematiki studiert? Seid Ihr im Besitz des Wissens, um die richtigen Berechnungen anzustellen?« Es fiel Obligatia schwer, das lang gehütete Geheimnis zu offenbaren, aber schließlich nickte sie. »Die Äbtissinnen von St. Ekatarina haben die Inschriften der Wände studiert. Sie haben Berichte von Reisenden aufgeschrieben. Dieses Wissen ist stets an die neue Äbtissin weitergegeben worden - zuletzt an mich. Aber ich und meine Vorgängerinnen haben nie herausgefunden, welche Beschwörungen die Steine öffnen.«
»Ich kenne sie.« Rosvita winkte ihren Kameradinnen zu, die voller Hoffnung und Vertrauen dastanden und warteten. Dies war die Bürde des Führens. »Wenn Ihr bereit seid, uns zu helfen, Mutter«, fuhr sie fort, »werden wir uns jetzt aufmachen. Es war ein klarer Tag, als wir gekommen sind. Wir können nur beten, dass der Himmel noch immer klar und unbewölkt ist. Diese Nacht ist unsere einzige Möglichkeit. Wenn wir heute Nacht nicht entkommen, werden wir für immer gefangen sein.« 3 Nach der Dunkelheit kam das Licht. Antonia, die ehemalige Bischöfin von Mainni, hatte ihre Gefangenschaft stumm ertragen, aber das bedeutete nicht, dass sie nicht in ausführlichen Einzelheiten geplant hätte, welche Bestrafung sie - und Gott - ihren Peinigern zukommen lassen würde, wenn sie erst einmal frei wäre. Sie hatte gebetet, und sie hatte meditiert. Auf eine gewisse Weise hatten Gott sie für ihren Eifer und ihre Treue belohnt, indem Sie ihr diese Pause bescherten, so endlos sie auch scheinen mochte. Immerhin hatte sie Zeit gehabt, über die sündige Natur der Welt nachzudenken, über die unzähligen Wege, 414 auf denen ihre Bewohner - ganz besonders die Menschheit - sich verirrt hatten. ' Zumindest die Tiere des Wassers, der Felder und des Himmels waren schlicht und daher unschuldig. Vielleicht waren auch einige Kinder unschuldig, doch sie bezweifelte es. Die Klauen des Feindes gruben sich tief und rasch ein. Wie viele Kränkungen hatte sie selbst als Kind durch ihre Verwandten erleiden müssen, selbst durch die Geringsten unter ihnen? Natürlich hatten sie alle am Ende ihre gerechte Strafe erhalten, aber sie hatte die Lektion, die sie gelernt hatte, nie vergessen. Am Ende konnten nur die Unschuldigen frei von Furcht sein, und die offensichtliche Tatsache, dass fast jeder Mensch - alt oder jung, Frau oder Mann - litt und Angst hatte, bedeutete doch offensichtlich, dass sie alle schuldig waren. Wären sie unschuldig gewesen, hätten Gott keinen Grund, sie zu bestrafen. Diese Grübeleien schenkten ihr Trost, und dennoch gab sie sich von Zeit zu Zeit der Sünde hin und ärgerte sich über jene, die ihr Schaden zugefügt und ihr Vertrauen missbraucht hatten. Tatsächlich hatte sie längst begriffen, dass Schwester Anne gar nicht so heilig war, wie sie schien, sondern von der Sünde überheblichen Stolzes heimgesucht wurde. Anne musste gewusst haben, in welche Gefahr sie Antonia geschickt hatte. Sie musste gewusst haben, dass die Nonnen dieses einsamen, armen und erbärmlich kleinen Klosters eine überraschende Macht besaßen, um sich ihrer Zauberei entgegenzustellen und sie zu binden - würden sie eine solche Macht nicht besitzen, hätten sie nicht einen geflügelten Daemon aus Feuer herbeirufen können, der das Galla bekämpft und verbannt hatte. Antonia hatte nicht versagt. Sie war von jenen verraten worden, die sie geschickt hatten. Zweifellos fürchtete Anne sie wegen ihrer größeren Rechtschaffenheit. Es war immer so, dass die Bösen die Reinen beneideten. Und doch hatten Gott sie wieder belohnt. Anne hielt sie für tot, und wenn Gott sie nach angemessener Zeit befreien sollten, würde sie zuschlagen können, wo und wann Anne es am wenigsten erwartete. Viele, viele Stunden, Tage oder Wochen - es war unmöglich, das Vergehen der Zeit zu verfolgen, wenn man in so einem 415 schwarzen Loch lebendig begraben war - hatte sie damit verbracht, über die Niederlage des Lasters gegenüber der Tugend nachzudenken und ihren letzten Triumph über Anne und ihre Untergebenen auszukosten. Sie musste nur geduldig sein. Sie war eine alte Frau, und sie wurde nicht jünger, doch sie wusste tief in ihrem Innern, dass Gott sie nicht verlassen würden. Gott würden ihr nicht den letzten Sieg vorenthalten, der den Gerechten zustand. Nach der Dunkelheit kam das Licht. Ein Lichtschimmer flackerte über ihr, als das Loch in der Decke ihrer Grube sich öffnete. Das Licht kündete eine Mahlzeit an, so klein sie auch war: ein Eimer Wasser und ein Tablett mit einer weichen Substanz, die man kauen musste - und die sie nicht verachten durfte, wie sie vermutete, da sie sie bisher am Leben erhalten hatte. Als das Licht stärker wurde, sich das Schwarz in ein trübes Grau verwandelte, hob sie den Blick. Sie musste ihre Augen stärken für den Tag, da das Sonnenlicht wieder auf sie fiel. Sie hörte Flüstern, fing einzelne Wortfetzen auf. War das der Bariton eines Mannes, der sich um die leichteren Töne einer Frau herumwand? Sicher nicht. Sie hatte gehofft, niemals dem Wahnsinn anheim zu fallen, aber vielleicht hatten Gott einen neuen Weg auserkoren, sie zu prüfen. Sie wartete, dass das Seil mit dem kostbaren Wasser und dem Essen herabgelassen wurde - es war der einzige Augenblick, in dem sie verwundbar waren, und sie genoss ihre Besorgnis, die beinahe wie ein greifbarer Geruch zu ihr herunterwehte. Etwas kratzte an dem Fels über ihr entlang. Zwei Speere wurden durch das Loch geschoben, und sie war tatsächlich so verblüfft, dass sie einen Schritt zurück machte, um sich in Sicherheit zu bringen. Als die Speere hart auf dem Boden landeten, begriff sie ihren Irrtum: Es war eine Leiter. Die Stimmen wurden schwächer, zogen sich zurück, nahmen das Licht mit. Sie hatten weder Wasser noch Brot zurückgelassen. 416
Was hatte das zu bedeuten? Es war nicht an ihr, Gottes Willen zu hinterfragen. Sie erhob sich, band sich das abgenutzte Laken, das sie ihr gegeben hatten, wie einen Gürtel oberhalb der Taille um die Rippen. Sie hatte darauf geachtet, ihren Körper zu ertüchtigen, war immer wieder in der ovalen Grube im Kreis gegangen, hatte sich so sauber wie möglich gehalten und das Wasser klug zum Waschen und für den Abort eingeteilt, der ein viel kleineres Loch und so tief in die Erde eingelassen war, dass sie den Gestank ihres eigenen Abfalls nicht riechen konnte. Die Sprossen trugen ihr Gewicht mit Leichtigkeit, aber sie war sich nicht sicher, ob die Leiter nicht abrutschen würde, wenn dort oben niemand war, um sie an Ort und Stelle zu halten. Aber wie sonst sollte sie nach oben gelangen ? Vorsichtig kletterte sie hoch, und nachdem sie sich über den Rand gezogen hatte, blieb sie für ein paar Atemzüge liegen, ganz benommen von der veränderten Luft und dem Jubel, den das Wissen um die Freiheit durch ihren Körper schickte. Sie hatte keine Zeit zu verlieren. Wieso hatten sie sie freigelassen ? Sie erhob sich, bewegte sich vorsichtig von der Grube weg und tastete nach der Wand. Ein schwaches Glühen lag in der Luft; sie folgte ihm, war vorsichtig bei jedem Schritt, da sie nicht wusste, was für Fallen ausgelegt sein mochten. Der Gang war glatt und gerade. Flechten wuchsen in Flecken an der Mauer; diese Pflanzen verströmten das gleichmäßige, wenn auch schwache Licht, begleitet von einem Schnaufen, das wie der rasselnde Atem eines schlafenden Riesen klang. Der Gang wandte sich scharf nach links, mündete in eine Höhle von der Größe einer bescheidenen Dorfkirche. Ein paar Reste zeugten davon, dass sie bewohnt gewesen war: vier behelfsmäßige Pritschen, ein Tisch und eine Bank, einige Kisten und Amphoren. Eine Öllampe stand unangezündet auf dem Tisch, daneben ein Lederbeutel voller Wasser, dessen Seiten feucht glänzten, und ein Leinentuch, in das einige dieser Brotlaibe eingewickelt waren. Sie waren geflohen und hatten sie zurückgelassen. 417 Gut. Sie konnte von den Schuldigen kein besseres Verhalten erwarten, doch ihre Sündhaftigkeit war möglicherweise nicht der einzige Grund, weshalb sie weggegangen waren. Jemand hatte sie vertrieben. Die Düsternis und das beständige Schnaufen beunruhigten sie. Sie zitterte, und ein Schauer kroch ihr Rückgrat entlang, als würde der Feind sie berühren. Irgendwo hinter ihr raschelten Kieselsteine. Gestalten lauerten im Fels. Sie hatte sie während ihrer Gefangenschaft gehört, daher zweifelte sie jetzt nicht an dem Beweis, den ihre geschwächten Augen ihr lieferten. Es war besser, sie floh, solange sie noch die Kraft dazu besaß. Sie band das Essen zusammen, hängte es sich mitsamt dem Beutel über die Schulter und nahm die Lampe. Weil ihre Hände zitterten, brauchte sie mehrere Versuche, um mit dem Feuerstein Funken zu entfachen und eine Flamme zu entzünden. Als die Lampe brannte, eilte sie in den Gang auf der anderen Seite, schützte die Augen so gut wie möglich vor dem hellen Licht. War das hinter ihr der Klang von Schritten? Wer folgte ihr da? Hatten die anderen sich versteckt, in der Hoffnung, sie gehen zu sehen? Gott hatten Erbarmen mit ihr. Obwohl sich der Gang schier unendlich in die Länge zog, täuschte er sie nicht mit Kehren und Windungen. Hin und wieder kam sie an Öffnungen vorbei, aus denen bestimmte Gerüche zu ihr wehten: nach Meer, faulen Eiern, Weihrauch und aufgehendem Brot - und einmal war da auch der vertraute Eisengeruch, der das Galla begleitete. Aber diese kleinen Gänge waren entweder zu niedrig, um einen Menschen durchzulassen, oder sie befanden sich zu hoch in der Wand, als dass ein Mensch daran denken konnte, hineinzuklettern. Nur ein einziger Pfad führte in die richtige Richtung - das war schließlich Gottes Plan. Schon bald fand sie Spuren derjenigen, die ihr vorausgegangen waren: einen abgenutzten Lederstreifen, einen Fleck, der von vergossenem Wasser stammte, ein weggeworfenes Stück Pergament, das sie zusammenrollte und in ihren Ärmel schob. Geräusche hall418 ten durch den Gang: Flüstern und Flüche, zwei klickende Geräusche, als würden Steine von hoch oben herunterfallen, ein hohes Kichern, das Scharren von Füßen. Einmal hörte sie ein Pferd wiehern; das Geräusch war so seltsam, dass sie zusammenzuckte und sich fragte, ob sie zu halluzinieren begann: erst die Stimme eines Mannes, dann das Wiehern eines Pferdes. Es spielte keine Rolle. Der Gang schien abrupt vor einer Felswand zu enden, führte aber links davon durch eine schmale .Öffnung in einen breiten, runden Raum, dessen Boden voller Pfützen war, während die höheren Stellen mit feuchten Kieselsteinen übersät waren. Die Luft roch hier anders, war voller Feuchtigkeit. Sie betrat den Raum, vorsichtig darauf bedacht, wohin sie ihre Füße setzte. Ziemlich in der Mitte der Kammer stand eine Leiter, die durch ein Loch in der Decke nach oben führte. Geflüster erklang. Sie stand da, und obwohl sie die brennende Lampe in der Hand hielt, war ihr unbehaglich zumute. Sie trat rasch zur Leiter, und mit einiger Mühe gelang es ihr, in der einen Hand die Lampe zu halten und sich mit der anderen festzuklammern, während sie sich Sprosse für Sprosse nach oben arbeitete.
Ihr Kopf war gerade auf gleicher Höhe mit dem Boden des Geschosses über ihr, als sie plötzlich Echos hörte. Es dauerte einen Augenblick, ehe sie begriff, dass sie weiter voraus die Stimmen derer hörte, die vor ihr diese Leiter erklommen hatten. Doch diese Stimmen vermischten sich mit Geflüster von irgendwo unter ihr. Klick. Das Geräusch ließ sie zusammenzucken. Sie blickte nach unten. Blasse Schatten huschten in die Kammer. Die Kreaturen waren so gespenstisch weiß wie Leprakranke und mit einem Hauch silberweißer Schuppen überzogen; sie wichen zurück, als würde das Licht sie schmerzen. Sie hatten keine Augen, nur Ausbuchtungen in den Gesichtern, die wie riesige, feuchte Eiersäcke wirkten. Aber es war nicht nur diese Missbildung, die sie so grotesk und missgestaltet machte, sofaisch, als wären sie zerbrochene Gefäße, aus denen der Feind versucht hatte, eine Verhöhnung der Engel zu erschaffen. Ihre Köpfe waren zu groß für ihre Körper, und Pusteln 419 bedeckten ihre verdrehten Glieder. Einige trugen Talismane und Amulette um den Hals; die Schmuckstücke klimperten leise, als sie in einer wortlosen Musik, die so unverständlich war wie ihr tierisches Gemurmel, aneinander schlugen. Sie schlurften näher, und die klauenbewehrten Hände fuhren durch die Luft, als suchten sie nach Beute. Antonia kletterte die letzten Sprossen hoch, stellte die Lampe auf den Boden neben sich und schwang sich über den Rand. Dann zog sie die Leiter nach oben. Gott hatten sie nicht befreit, damit sie solchen Kreaturen in die Hände fiel. Keuchend rückte sie von dem Loch weg. Konnten sie springen? Fliegen? Graben? Sie hoffte, sie waren dort unten gefangen, in die Tiefen des Felsens verbannt. Sie hob die Lampe auf und eilte eine in den Fels gehauene Treppe hoch. Weiter vorn hörte sie die schwachen Stimmen und die Schritte jener, die ihr vorausgegangen waren. Selbst wenn sie versucht gewesen wäre, sich zu beeilen und sie einzuholen, hätte sie es nicht gekonnt. Schon bald musste sie stehen bleiben, schnappte vornübergebeugt nach Luft, während ihre Seiten sich hoben und senkten. Erst nach einiger Zeit konnte sie weitergehen, und jedes Mal schaffte sie weniger Schritte, ehe sie anhalten und sich ausruhen musste - doch jedes Mal gaben Gott ihr auch den Willen und die Kraft weiterzugehen. Sie hatte ein scharfes Gehör, das sich in der Zeit, in der sie nichts gesehen hatte, sogar noch verbessert hatte. Unterstützt von einem guten Orientierungssinn und einem Gespür dafür, wann der Weg falsch war, folgte sie der Spur ihrer Peiniger durch sich windende Gänge, an nach Pferd riechenden Höhlen und ausgetrockneten Müllhaufen vorbei und trat schließlich hinaus in die blendende Herrlichkeit einer wolkenlosen Vollmondnacht. Sie konnte den Mondschein kaum ertragen und musste sich - nachdem sie die Lampe gelöscht hatte - ausruhen, um die Übelkeit zu bekämpfen. Nach einer Weile war sie in der Lage weiterzugehen, obwohl ihre Augen immer noch schmerzten. Die Nachtluft wirbelte mit einer solch verwirrenden Mischung von Gerüchen um sie herum, dass sie zur Seite taumelte und am Rand einer Klippe stehen blieb. 420 Der Pfad führte an der Schulter des gewaltigen Felsens entlang, in dem sich das Kloster befand, das sie vor so langer Zeit aufgesucht hatte. Der Mond versank hinter dunklen Bergen. Die Dämmerung stand bevor, und mit ihr der Sonnenaufgang. Auf dem Gipfel des großen Felsens erwachten Funken und Lichtfäden zum Leben. Zauberei! Sie erkannte die Handschrift eines Mathematikus, der Sternenlicht in eine Steinkrone wob. Nur Anne und ihre Untergebenen kannten diese gut gehüteten Geheimnisse. Hatten sie sie doppelt verraten ? Erstaunt und zutiefst angewidert humpelte sie so schnell wie möglich weiter, obwohl ihre Füße schmerzten und ihr Rücken brannte und ihre Augen noch immer wehtaten. Sie zog die Lampe, den Wasserbeutel und das Bündel hinter sich her; sie schienen kaum noch Bedeutung für sie zu haben, und sie wogen immer schwerer, als sie müder wurde. Der Pfad führte durch einen Hain aus Felsspitzen, bevor er auf einer flachen Kuppe mit einem Steinkreis darauf verschwand. Dort standen sie, die Schurken, jene, die sie in die Grube geworfen hatten. Doch ihre Augen mussten nach so langer Dunkelheit gelitten haben, denn im Vergleich zu damals, als sie das Kloster aufgesucht hatte, schienen es jetzt doppelt so viele zu sein. Und drei von ihnen waren eindeutig Männer. Zwei von ihnen trugen eine Pritsche, auf der sich genau die Frau befand, die Antonia hatte töten sollen. War es die Macht von Mutter Obligatia gewesen, die Antonias Galla besiegt hatte? Oder hatte Anne Antonia betrogen, indem sie jemand anderem die Geheimnisse der Mathematiki beigebracht hatte? Obligatia winkte einer Frau, die auf einem ovalen Sandhaufen kleine Steine in der Farbe des Mondlichts aufstellte. Die Frau erhob sich und begann, mit klarer, gebieterischer Stimme zu singen. »Matthias, führe mich, Mark, beschütze mich, Johanna, befreie mich, Lucia, helfe mir, Marianna, reinige mich, Peter, heile mich, Thekla, sei stets meine Zeugin, dass die Herrin mein Schild sei und der Herr mein Schwert.« Mithilfe eines polierten Gehstocks fuhr 421 sie die Linien zwischen den Steinen nach, und bei jeder Linie im Sand wand sich ein Lichtfaden von den Himmeln nach unten, um sich an den Steinen festzuhalten. »Möge der Segen Gottes auf uns ruhen. Gott
herrschen ewig, die Welt unaufhörlich.« Die anderen waren zu eifrig mit ihrer Zauberei beschäftigt, um Antonia zu bemerken, aber sie war selbst so erschöpft von dem Aufstieg, dass sie nichts tun konnte. Die Frau im Steinkreis arbeitete rasch, während sich das Licht der Nacht merklich auflöste, webte Fäden dorthin, wohin Mutter Obligatia sie schickte. Rufe erklangen hinter Antonia, und sie zuckte so heftig zusammen, dass sie gegen den Fels taumelte und zu Boden sank. Sie war derart mitgenommen, dass sie nicht einmal mehr stehen konnte. »Schnell!«, rief eine der Geistlichen, eine sehr junge Frau, die jetzt zu schluchzen begann, während eine andere sie mit scharfen Worten zum Schweigen brachte. Die Frau sang, während sie mit dem Stab die Fäden zwischen den Monolithen zu einem neuen Muster webte. Das Netz aus Licht summte, pulsierte wie zum Tanz einer unsichtbaren Spinne, die sich in ihrem eigenen Netz verfangen hatte. Licht blühte auf, bildete einen Bogen über dem nächststehenden Steinsturz. »Jetzt!«, rief die Frau. Das Licht des Webens beleuchtete ihr hageres Profil. Antonia kannte sie: Es war Schwester Rosvita, eine hochrangige Geistliche aus dem Norden von Wendar, eine angesehene Beraterin von König Henry. Was tat sie hier? Wieso war sie nicht in Darre beim König und seinem Hof? Wieso sah sie so alt aus? »Haltet sie auf!« Die Stimme eines Mannes erklang aus dem Wald aus Felsnadeln hinter ihr. »Los!«, rief eine junge Frau inmitten der Geistlichen, die die hellen Haare der Völker des Nordens hatte. Sie trug den Umhang eines Adlers; ihr Gesicht, das Antonia nur kurz sah, kam ihr vage vertraut vor. Antonia biss die Zähne zusammen und kämpfte sich mit Mühe auf die Beine, aber es war zu spät. Hinter sich hörte sie Männer über den felsigen Boden eilen; Schritte knirschten auf Stein. Vor ihr eilten die Geistlichen durch den leuchtenden Bogen. 422 Die ersten beiden trugen Mutter Obligatia. Nacheinander verschwanden auch die anderen. »Rosvita!« Zu Antonias Überraschung tauchte Hugh von Austra zwischen den Felsnadeln auf, wütend, zerzaust und überlistet. Etwa zwanzig Soldaten drängten sich hinter ihm, stießen vor Entsetzen und Verwunderung laute Rufe aus. Rosvita, die die Letzte war, hielt an der Schwelle des schimmernden Bogens inne und warf einen Blick zurück. Sie bemerkte den Mann, der jetzt atemlos und wutentbrannt neben Antonia stand, aber sie lächelte nicht und runzelte auch nicht die Stirn. Sie sah ihn einfach nur abschätzend an, bemerkte jetzt auch zum ersten Mal Antonia, zeigte jedoch keinerlei Überraschung. Die Krone aus Licht wurde schwächer. Schwester Rosvita drehte sich um, trat hindurch und verschwand. Die Krone zerfiel in tausend spuckende Funken, die wie Glühwürmchen zu Boden fielen. »Verflucht!«, entfuhr es Hugh. Seine Hände waren schmutzig, die goldenen Haare unordentlich. Er trug die Tunika und die Hose eines Laienbruders; die Kleidung war abgenutzt und an einem Knie sogar aufgerissen, als wäre er geklettert, ebenso wie die gewöhnlichen Soldaten, die sich hinter ihm drängten. Doch trotz allem blieb er wunderschön, fast strahlend in seiner Wut, als die Sonne mit ihrem erbarmungslosen Glanz hinter ihm aufstieg. Antonia hob einen zerrissenen Ärmel, um die Augen zu bedecken. Die Helligkeit bereitete ihr scheußliche Kopfschmerzen, und Flecken aus Licht und Schatten blitzten und wirbelten in ihrem Kopf. »Ich bitte Euch, Presbyter Hugh«, sagte sie und stellte zufrieden fest, dass ihre Stimme ihr gehorchte und ruhig und fest klang. »Ich wurde hier in einer dunklen Grube gefangen gehalten und wäre Euch sehr dankbar, wenn Ihr mich zu meinem rechtmäßigen Platz bringen könntet.« Bei ihren Worten wurde er zurück in die Gegenwart gerissen. Er wischte sich einen Schmutzfleck aus dem Gesicht. 423 Nach einer Weile sprach er. Er war jetzt wieder ganz beherrscht, hatte die glühende Gefühlsaufwallung beiseite geschoben. »Ihr müsst Schwester Venia sein. Die Heilige Mutter Anne hat Euch unwiderruflich verloren geglaubt, Schwester, aber ich bin hocherfreut, Euch gesund und wohlbehalten vorzufinden.« Er blickte gen Himmel, ehe er ihr seinen Arm bot. »Kommt. Ziehen wir uns in den Schatten zurück. Ich bitte Euch, sagt mir, was geschehen ist und wieso Ihr nicht nach Darre zurückgekehrt seid.« Er fand eine Stelle, an der sie gut sitzen konnte, und sorgte dafür, dass ein Soldat einige Tuniken auslegte, damit sie es bequem hatte. Er schickte Soldaten los, um das Gelände auszukundschaften. In der Zwischenzeit bot man ihr Wein an, einen feinen Tropfen, der ihren Gaumen reinigte. Nach dieser Stärkung war sie in der Lage, ihm ihre Geschichte zu erzählen, vorsichtig darauf bedacht, dass ihre Wut auf Anne nicht in ihren Worten durchklang. Hugh hatte inzwischen sicherlich einen wichtigen Platz in Annes Rat inne; sie konnte nur Vermutungen anstellen, was seine Loyalität betraf. »So seid Ihr also nach zwei Jahren der Gefangenschaft wieder frei«, sagte er verwundert und lachte. »Als Tausch gegen Schwester Rosvita, wie es scheint. Eine schlaue Ironie.« »War Rosvita auch eine Gefangene?« »Das war sie, ja. Sie ...« Er runzelte die Stirn, als er zum Steinkreis blickte, der fast ganz von den Felsnadeln verborgen wurde. »Sie hat Dinge herausgefunden, die für sie zu gefährlich sind. Die Heilige Mutter Anne,
Königin Adelheid und ich mussten etwas tun, um König Henry zu helfen, der unter den Einfluss schlechter Berater geraten war. Zu ihnen gehörte auch Rosvita.« Diese Bemerkung überraschte sie. Antonia hatte niemals gezögert, sich jener zu entledigen, die sie bedroht hatten. »Ihr habt sie nicht einfach getötet?« Sein Lächeln hätte einem jeden Mädchen das Herz gebrochen, so sanft und traurig war es, wie das eines liebenswürdigen Liebhabers, dessen Pläne durch die Ankunft eines höherrangigen Bewerbers zunichte gemacht wurden. »Ihr seid eine Frau, Schwester Venia, und daher aus härterem Holz geschnitzt als ich. Ich bin emp424 findsam, wie Männer es nun mal sind. Ich bewundere Schwester Rosvita zu sehr, als dass ich so willkürlich mit ihr umgehen könnte. Ich hatte auf eine andere Lösung gehofft.« Sie glaubte ihm nicht. Er wusste, wie er Zuneigung hervorlocken konnte, während er seine wahren Motive verbarg. »Eine Lösung mag sich durchaus jenen anbieten, die sowohl geduldig als auch reinen Herzens sind, Vater Hugh.« Er lachte erneut; diesmal klang es angenehm. »Ich fürchte, ich bin nicht reinen Herzens, Schwester Venia. Ich kämpfe wie jede menschliche Seele gegen die Versuchung an.« Es bestand keine Notwendigkeit, ihn an ihre eigene Tugend zu erinnern - die Leute mochten es gewöhnlich nicht, wenn sie von den wenigen, denen Gott Ihre Gunst erwiesen, ermahnt wurden. Er zögerte, ehe er weitersprach. Diesmal lag ein seltsames Zittern in seiner Stimme. »Sagt mir, an welche Einzelheiten Ihr Euch noch erinnert, was diesen glühenden Daemon mit Flügeln aus Feuer betrifft. Wie hat sie das Galla besiegt? Und wie könnt Ihr so sicher sein, dass es eine Frau war?« Sie hatte nicht vergessen, was ihn antrieb. Die Schwäche eines Mannes war das Geschirr, mit dem er zum Arbeiten gebracht werden konnte. »Ich habe sie nur durch die Sinne gesehen, die einem Galla zur Verfügung stehen, das von einer anderen Existenzebene stammt. Sie war strahlend und mächtig und ziemlich sicher eine Frau. Zweifelt nicht daran.« »Das tue ich nicht. Hat sie gesprochen?« »Wenn sie es getan hat, habe ich sie nicht gehört. Doch Mutter Obligatia hat etwas gesagt, als sie sie gesehen hat.« »Die Äbtissin hat diese Erscheinung auch gesehen?« »In der Tat. Sie hat sie erkannt.« »Sie hat sie erkannt?« »Sie hat >Bernard< gesagt, bevor sie ihren Irrtum begriffen und erkannt hat, dass da kein Mann vor ihr stand, sondern vielmehr ein Geschöpf mit dem Körper einer Frau.« »Bernard«, murmelte er. »Aber natürlich, Vater und Tochter haben sich sehr ähnlich gesehen. Aber wenn das wahr ist, wie -« 425 »Ihr seid wegen etwas verwirrt, Bruder Hugh?« Er zuckte zusammen, wie ein Kind, das aufblickt und feststellt, dass es dabei erwischt wurde, wie es Unheil stiftet. »Nein, Schwester. Ich frage mich nur, ob ich ein Maultier oder einen Esel suche.« Sie kicherte. »Ihr sprecht von Liath. Glaubt Ihr, sie ist gar nicht Annes Kind?« Er drehte sich um, als wollte er sein Gesicht und das, was sich darauf abzeichnen mochte, verbergen. Als er sie dann wieder ansah, war seine Miene kühl und verschleiert. Nur eine gewisse Anspannung der Haut über den Augen verriet sein tiefes Interesse. »Es ist schwer zu sagen, was man glauben soll.« »Die Welt ist voller Geheimnisse«, pflichtete sie ihm bei und musterte ihn. »Ich gehe davon aus, dass Anne diejenigen, die sie unterstützen, mit dem belohnen wird, was sie sich am meisten wünschen. Oder zumindest würde ich das tun, wenn ich in ihrer Position wäre.« »Würdet Ihr das?« »O ja, das würde ich. Gott belohnen uns alle am Ende mit dem, was wir uns am meisten wünschen. Es ist das Schicksal der meisten Leute, dass sie ihre Wünsche nicht kennen, bevor sie in den Abgrund gestoßen werden aber bei näherem Hinsehen können sie erkennen, dass ihr ganzes Leben ein einziger langer Dialog mit der bösartigen Neigung war. Doch es gibt nur wenige, die klarsichtig bleiben und Gott dienen und am Ende erhalten, was sie verdienen.« »Wir müssen alle hoffen, dass wir zur Kammer des Lichts aufsteigen«, meinte er mit einem frommen Nicken. »Sonst werden Gott in alle Ewigkeit das Gesicht von uns abwenden.« »Ist es das, was Ihr möchtet, Vater Hugh?« Er zitterte. Die Bewegung war geringfügig, aber von einer Frau, die so lange in der Grube gekauert hatte, durchaus zu bemerken. Sie hatte gelernt, sich auf das Gehör, die Berührung und den Atem zu verlassen, um jede leise Färbung des Lebens um sich herum wahrzunehmen. »Oder würdet Ihr alles riskieren, um sie zu besitzen?« Er konnte nicht antworten. 426 Sie lächelte und legte ihm tröstend eine Hand auf die Fäuste, die er in seinem Schoß ballte. Wie er so den Blick
demütig gesenkt hielt, spielte er sein Profil zu seinem vollen Vorteil aus; selbst im Schatten schimmerten seine Haare, als würde sich das Sonnenlicht darin verfangen. Es war schwer vorstellbar, dass irgendeine Frau ihm widerstehen konnte. »Anne wird sie Euch niemals geben. Aber ich werde es tun.« Er errötete, aber er sah sie nicht an. »Das ist ein kühnes Versprechen. Wie wollt Ihr eine Frau ergreifen, die nur halb menschlich ist? Wie wollt Ihr Euch Anne widersetzen?« »Anne muss nicht wissen, dass ich noch lebe. Wenn sie glaubt, dass ich hier gestorben bin, hat sie keinen Grund, sich gegen mich zu wappnen. Ich will ihr keinen Schaden zufügen. Sie hat sich eine große, achtbare Aufgabe gestellt. Niemand sonst könnte dies übernehmen, nur sie -« »Und jene, die ihr helfen, die Sieben Schläfer. Zu denen Ihr gehört, oder einmal gehört habt.« »Es ist wahr, dass ich während meiner Zeit bei den Sieben Schläfern viel gelernt habe. Ich habe auch gelernt, dass die schwächsten von ihnen sterben, wenn sie einen mächtigen Zauber weben. Der Zauber fordert seinen Preis für die Macht, die entfesselt wird.« Er sah sie auf eine Weise an, die ihr verriet, dass sie ihn verblüfft hatte; er beugte sich vornüber, legte die Hände auf den Fels. Offensichtlich hatte er diese bemerkenswerte, unglückliche Möglichkeit noch nie in Betracht gezogen. »Ist das wahr? Wird der Cauda Draconis abgeschlagen?« »Ich habe zwei Jahre in dieser Grube ausgeharrt, Vater Hugh, aber diese zwei Jahre haben mir die Zeit gegeben, über vieles nachzudenken, was mich schon vorher verwundert hat. Sicher gelte ich jetzt als die Schwächste der Sieben Schläfer. Anne sammelt und bearbeitet die Macht der Zaubereien, die wir weben, aber sie bringt sich selbst nicht in Gefahr. Deshalb braucht sie einen Cauda Draconis, auch wenn ich mich als stärker erwiesen habe, als sie dachte, denn es war die arme, dumme Zoe, die gestorben ist.« »Seid Ihr nicht bereit zu sterben, um Gottes Willen auf Erden zu wirken?« 427 »Natürlich bin ich das. Aber ich bin nicht überzeugt, dass die Heilige Mutter Anne alles weiß, dass sie den ganzen Willen Gottes kennt oder versteht. Auch ich komme aus königlichem Haus. Ich habe treu und ergeben im Norden als Bischöfin gedient, ehe ich selbst betrogen und beiseite geschoben wurde. Ich beherrsche selbst verschiedene Arten von Magie, und, wie ich gesagt habe, ich hatte sehr viel Zeit, um zu meditieren, zu beten und nachzudenken.« Sie lächelte, als er sich wieder zurücklehnte. Sie hatte die Räder in Bewegung gesetzt, Versprechungen gemacht, sich selbst offenbart. Er würde jetzt spüren, dass er in einer stärkeren Position war als sie, und das würde ihn leichtsinnig werden lassen. »Ihr seht also, Vater Hugh, ich bin jetzt von Eurer Gnade abhängig. Ihr könntet mich wegen meiner mangelnden Loyalität verhaften und Anne übergeben und Euch so bei ihr einschmeicheln.« Er war zu vornehm und zu gut erzogen, um dagegenzuhalten, dass eine solche Tat unter seinem Niveau wäre. Die Presbyter im Dienst der Kirche kauften, verkauften und betrogen einander bei jeder Gelegenheit, die sich ihnen bot, um am Hof der Skopos eine bessere Position zu erlangen. »Oder Ihr könntet mich irgendwohin begleiten, an einen abgelegenen, aber zivilisierten Ort, an dem ich mich erholen kann.« »Anne ist eine mächtige Zauberin«, wandte er ein. »Sie könnte uns beide auslöschen, sollte sich ihr Ärger gegen uns richten. In der Tat könnte sie uns in diesem Augenblick ausspionieren, denn sie beherrscht die Adlersicht.« Antonia zog unter ihrem zerrissenen, schmutzigen Gewand ein Amulett heraus. »Wenn Ihr Euch nicht gegen die Weitsicht geschützt habt, Vater Hugh, seid Ihr längst nicht so weise, wie Ihr scheint.« Er fuhr sich mit der Hand an die Brust, enthüllte aber nichts. »Ich könnte Euch aber auch unterstützen, Schwester Venia, und zu einer privaten Villa begleiten, in der Ihr wieder zu Kräften kommt - und Euch dann später Anne übergeben, wenn es meinen Zielen zweckdienlicher ist.« »Das wäre möglich. Aber ich glaube, dass Anne Liath niemals 428 aufgeben wird, und ich glaube, dass es Liath ist, die Ihr am meisten begehrt.« Füße scharrten auf dem Kies, als einer seiner Soldaten sich näherte, aber außer Hörweite stehen blieb. Er neigte gehorsam den Kopf, während er darauf wartete, herangewinkt zu werden. »Was ist, Gerbert?«, fragte Hugh freundlich. »Die Jungs haben einen Weg durch das alte Kloster gefunden, Edelmann Hugh. Wir müssen nicht den gleichen Weg zurückgehen, den wir gekommen sind, sondern können die Leitern auf der anderen Seite benutzen.« »Und das Kloster?« »Verlassen, Edelmann Hugh. Da hat schon sehr lange niemand mehr gelebt. Es scheint, als wären alle geflohen oder gestorben. Wir haben Knochen gefunden.« Hugh erhob sich. »Ich brauche vier Männer und einen Stuhl oder eine Pritsche, auf der Schwester Venia getragen werden kann. Ich werde das Kloster selbst untersuchen, aber ich gehe davon aus, dass wir morgen aufbrechen werden. Der Koch soll eine Suppe und Haferbrei für unseren Gast zubereiten - etwas, das den Magen nicht belastet.« »Jawohl.« Der Mann ging davon. Hugh setzte sich nicht wieder hin. Er wirkte nachdenklich, sogar unsicher. Er war versucht, aber auch ängstlich,
habgierig, aber durch Vorsicht gebunden, wie ein halb erwachsenes Fohlen, das darüber nachdenkt, ob es durch das offene Tor seines vertrauten Pferchs und zum weiten Wald dahinter laufen soll. Die aufgehende Sonne veränderte die Schatten, und Licht kroch jetzt den Stein empor, auf dem Antonia saß. Ihre Augen schmerzten noch immer, aber der Schmerz wurde allmählich erträglicher. »Ich kenne einen solchen Ort, wie Ihr ihn Euch wünscht«, sagte Hugh schließlich und reichte ihr die Hand. XIV Der herannahende Sturm
1 In der kerayitischen Sprache, so erklärte Breschius, gab es viele Worte für die verschiedenen Arten von Kälte. Nicht kalt genug, um Suppe gefrieren zu lassen. Kalt genug, dass Lämmer gut zugedeckt werden mussten. So kalt, dass bronzene Wasserkrüge barsten. Kalt genug, um Drachenfeuer in Eis zu verwandeln. Jetzt war es kalt genug, um Pisse gefrieren zu lassen, dachte Sanglant, als er in den schwachen Schutz seines Zeltes zurücktaumelte. Die drei glühenden Kohlenpfannen an den Wänden erwärmten das Zeltinnere gerade genug, dass er sich aus den dicken Fellen schälen konnte, die ihn draußen nicht genügend wärmten. Malbert hängte sie über die Kreuzstreben. Der Prinz trug immer noch so viel Kleidung wie sonst im wendischen Winter draußen. Sein Gesicht brannte vom scharfen Frost. »Wie halten diese Leute das nur aus?«, fragte er die zwei Dutzend Leute, die sich bibbernd in seinem Zelt zusammendrängten. »Ich friere nicht«, sagte Gnade. »Papa, sieh dir die Buchstaben an, die ich geschrieben habe. Ich hoffe, sie gefallen dir.« Sie saß auf der anderen Seite des Zeltes mit gekreuzten Beinen auf einem Federbett, und tatsächlich trug sie nichts weiter als eine gewöhnliche Wolltunika, während der Umhang locker über ihren Beinen 430 lag. Heribert kniete neben ihr. Mit vor Kälte weißen Fingern hob er die Wachstafel auf, mit deren Hilfe er ihr das Schreiben beibrachte. »Mein Prinz.« Eine Frau in der Kleidung qumanischer Sklaven löste sich aus der Menge und sank auf ein Knie. »Ihre Höchst Glorreiche Hoheit Prinzessin Sapientia verlangt, Euch zu sehen. Sofort.« Allein der Gedanke, wieder in die Kälte hinauszutreten, hätte einen starken Mann vor Verzweiflung und Wut zum Weinen bringen können. Außerdem gefiel ihm der Ton nicht, den Sapientia sich ihm gegenüber im Laufe der Monate angewöhnt hatte, die sie nun schon in der Obhut der Pechanek-Qumaner war. Aber jetzt war nicht die Zeit, armselige Kämpfe auszufechten. Er bedeutete Malbert, ihm beim Anlegen der Felle zu helfen. »Hathui. Breschius.« Der Frater und der Adler hüllten sich ebenfalls in ihre Felle, und Hathui griff nach einer Laterne. »Was ist mit meinen Buchstaben? Willst du sie dir nicht ansehen?« »Morgen, mein Liebes.« »Ich will mitgehen!« »Das geht nicht.« »Du kannst mich nicht aufhalten! Ich gehe raus, ob du es willst oder nicht!« »Das wirst du nicht tun, Gnade. Du wärst eine viel zu wertvolle Geisel für sie. Ich kann den Pechanek nicht trauen. Wenn sie dich in ihre Gewalt bekommen, werde ich gezwungen sein, ihnen Bulkezu auszuhändigen, um dich zurückzubekommen, und dann haben die Qumaner keinen Grund mehr, uns zu den östlichen Landen zu führen, wo wir Greifen jagen können.« »Ich will Greifen jagen!«, rief sie, indem sie das Thema wechselte. Sie würde nie zugeben, dass sie Unrecht hatte. »Wenn du alt genug bist.« »Ich bin alt genug!« »Eure Hoheit«, versuchte Heribert es sanft, »Ihr seid noch nicht einmal eine Frau. Und Ihr habt auch erst vor ein paar Mo431 naten damit begonnen, Euch im Umgang mit Waffen zu üben, noch dazu in begrenzter Weise wegen dieses gottverdammten Winters.« »Nie siehst du dir meine Buchstaben an! Du hasst mich!« Gnade warf sich auf das Federbett, drückte das Gesicht in die Decke und schluchzte geräuschvoll. Ihre Begleiter versuchten, sie zu beruhigen. Es war eine Erleichterung, nach draußen in die grausame Kälte des Winters zu treten. »Ist die junge Prinzessin nicht alt genug, um verheiratet zu werden?«, fragte die Sklavin, die neben Sanglant herging. Sie hatte eine unangenehme Art, einen Mann von der Seite anzusehen, aber er war sich nicht sicher, ob
es als Aufforderung gedacht war. »Sie ist noch keine Frau.« »Sie könnte dennoch verlobt und in die Obhut der Familie ihres Mannes gegeben werden, damit sie deren Bräuche kennen lernt.« j »In welchem Land bist du geboren?« »In Avitania, mein Prinz.« »Also bist du Salianerin.« »Das erklärt alles«, murmelte Hathui. Sanglant kicherte; er spürte eine unterschwellige Feindseligkeit zwischen den beiden Frauen, die sich nur bei offiziellen Anlässen begegneten. »Wir haben andere Bräuche. Wie kommt es, dass du einem qumanischen Herrn dienst?« »Ich wurde an einen arethusanischen Kaufmann verkauft und dann nach Osten auf das Landgut einer adligen Familie gebracht. Dort haben qumanische Plünderer mich gefangen genommen.« Sie sagte all dies ohne jeden Hinweis auf Zorn oder Trauer. »Du hast bei einem guten Lehrer Wendisch gelernt.« Sie warf einen Blick auf Hathui. »Bruder Zacharias war, was er war.« »Ebenfalls ein Sklave!«, erwiderte Hathui ärgerlich. Die Sklavin nickte, wich jedoch einem Streit aus. Vermutlich hatte sie die Neigung zum Streiten schon vor langer Zeit aufgegeben. Sie war eine unerschütterliche Frau, abgesehen von diesem sinnlichen Blick, der wie ein offenes Fenster in einem ansonsten 432 verschlossenen Haus wirkte. Sie ertrug die Kälte ohne Klagen, obwohl sie weniger anhatte als er selbst: eine schwere Hose und eine Tunika aus Filz und einen Fellumhang, dessen Pelz nach innen gewandt war. Er schmiegte sich eng an ihren Körper, der ziemlich üppig war, wie er von der wärmeren Jahreszeit noch in Erinnerung hatte, Weil sie die Geduld einer Frau besaß, die seit vielen Jahren einem harten Herrn diente und auf keinerlei Entspannung hoffen konnte, sagte sie nichts, als er sich Zeit ließ und einen gewundenen Weg durch sein Lager nahm, das um die beiden Hauptzelte herum errichtet worden war. Beim Eingang zu dem Zelt neben seinem eigenen blieb er kurz stehen, um mit den Wachen zu sprechen. »Wie geht es dem Gefangenen, Anshelm?« »Er verhält sich ruhig, Prinz Sanglant.« »Nun, das ist ja mal was.« »Ja, mein Prinz. Seit die Qumaner da sind, hat er kaum einen Mucks von sich gegeben. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mal erlebe, wie er sich wie ein verängstigter Junge in die Hose macht, aber ich muss gestehen, der Gedanke erfreut mich noch immer.« Feldwebel Cobbo drängte sich durch die Zeltklappe nach draußen. »Ich habe Stimmen gehört.« Er neigte den Kopf. »Prinz Sanglant.« Sanglant erhaschte einen Blick auf die Gestalt im Zeltinnern; so schwer, wie der Gefangene mit Ketten beladen war, kam es ihm wie ein Wunder vor, dass er überhaupt aufrecht sitzen konnte. Aber genau das tat er. Bevor die Zeltklappe ihm wieder die Sicht nahm, spürte Sanglant die Kraft von Bulkezus Blick wie einen scharfen Windstoß auf seinem Gesicht. Ruhig, aber nicht gebrochen. »Wir haben gerade über den Gefangenen gesprochen«, sagte Anshelm. »Könnte es sein, dass er beim Anblick seiner Mama die Stimme verloren hat?« Cobbo lachte. »Nie hätte ich gedacht, dass dieses Tier jemals selbst so viel Angst haben könnte! Ich musste wirklich lachen, als er so gedemütigt wurde!« Im Gegensatz zu seinen Soldaten verschaffte Bulkezus Demüti433 gung Sanglant kein Vergnügen - er erinnerte sich nur zu gut an seine eigene. »Seid wachsam.« Er nickte und ging weiter. Das Lager war in konzentrischen Kreisen errichtet worden, wobei die Zelte in ungleichmäßigen Abständen standen, um den schroffen Wind so gut wie möglich zu brechen. Er blieb bei jedem Zelt stehen und erkundigte sich nach den Soldaten. Manche Gruppen hatten immer das Vorrecht, sich im inneren Ring zu befinden. Der Heiler kam heraus, um ihn zu begrüßen; er pfiff, als die kalte Luft in seine Lunge strömte. »Uhh! Jede Nacht denke ich, dass es eigentlich gar nicht noch kälter werden kann. Und dann scheint es doch so zu sein!« »Wie viele sind heute Abend krank?« »Nicht mehr als zwanzig. Bei Chustaffus war es gestern am schlimmsten, aber heute scheint es ihm offensichtlich schon wieder besser zu gehen. Diese qumanischen Hexen haben ein Gebräu, das das Fieber senkt und die Lungen reinigt. Abgesehen von den ersten beiden armen Jungen haben wir keinen Mann mehr an das Lungenfieber verloren, was ich für ein Wunder halte. Chuf ist ein kräftiger Bursche. Ich mache mir keine Sorgen um ihn.« Sanglant nickte und ging weiter.
Resuelto und die anderen verbliebenen wendischen Pferde -mehr als ein Drittel der Herde war gestorben mussten unter großen Unannehmlichkeiten in Schutzhütten untergebracht werden. »Nein, es stimmt«, sagte der Stallmeister, während Sanglant den Wallach striegelte und dann, als er damit fertig war, den letzten Apfel aus der Tasche zog, den er aus Sordaia mitgebracht hatte. Er war verschrumpelt, und die Schale war nicht mehr fest, aber Resuelto schlang ihn hinunter und rieb sein Maul in der Hoffnung auf mehr an Sanglants Schulter. »Wir werden heute Nacht noch eins verlieren«, fuhr der Stallmeister fort. »Koliken. Die armen Tiere vertragen das Wetter nicht. Ich pflege schon sechs, die zusammengebrochen sind, und zwei von ihnen werden es nicht schaffen. Die Schwachen bieten aber nicht einmal viel zum Essen, so wenig Fleisch, wie sie noch auf den Rippen haben.« »Ich hätte nie gedacht, jemals so viel Pferdefleisch zu essen«, 434 sagte Sanglant müde. Sogar der kräftige Resuelto hatte gelitten, verlor mehr und mehr Fleisch, das ihn eigentlich vor der Kälte schützen sollte. Sanglant betete, dass sie den schlimmsten Teil des Winters nun überstanden hatten, doch obwohl Breschius und Heribert das Verstreichen der Tage verfolgt und ihm versichert hatten, dass das neue Jahr bereits gekommen und es eigentlich schon wieder Frühling war, hatte er keine Ahnung, wie lange diese zermürbende Kälte noch andauern mochte. Die Hände des Stallmeisters waren zerschrammt vom Arbeiten und übersät mit weißen Narben. Er schniefte und wischte sich die Nase ab. »Hört nicht auf zu laufen«, sagte er, dann machte er eine Geste in Richtung der Pferde. »Ich hoffe, das Fleisch verwandelt uns nicht alle in solche Wallache wie die, die wir essen!« »Sie versuchen, bei Laune zu bleiben«, sagte Breschius, als sie am zweiten Ring von Zelten entlanggingen. »Das tun sie. Nun, Ditmar. Berro. Wie geht's heute Nacht?« »Ganz gut, Prinz Sanglant.« »Wir würfeln, mein Prinz.« »Nein, wir träumen von richtigen Frauen, Prinz Sanglant. Diese qumanischen Frauen sind die hässlichsten Wesen, die ich je gesehen habe! Sie haben nicht einmal Nasen!« »Ich habe eine gesehen, die war so hübsch wie jedes wendische Mädchen. Das war allerdings, bevor es so kalt wurde.« »Und wo ist sie jetzt? Vermutlich in dicke Felle gehüllt und mit diesem stinkenden Fett voll geschmiert wie ihre Mutter!« Die Sklavin stand ein Stück abseits und sagte nichts. So ging es von Zelt zu Zelt weiter. Die Soldaten begrüßten Sanglant fröhlich, trotz der beißenden Kälte und der endlosen Reise nach Osten durch das ödeste Land, das sie je gesehen hatten. Die Männer hatten die kleineren Zelte zu größeren zusammengenäht und behelfsmäßig verspannt, aber es genügte, um den heulenden Winden standzuhalten und mehr Männer zu beherbergen, sodass es in den Nächten für alle wärmer war. Seine erfahrensten, stärksten Männer hatte er im äußeren Ring postiert, zusammen mit den Steppenpferden, die die Kälte ertrugen und sich durch den treibenden Schnee arbeiten konnten, um 435 Gras, Zweige oder Baumrinden zu finden. Wie die qumanischen Frauen waren die qumanischen Pferde außergewöhnlich hässlich, aber kräftig. Er hob die Hand, um vier Wachen zu begrüßen, die hinter Vorhängen aus Filz zusammengekauert Schutz vor dem schneidenden Wind suchten, der unbarmherzig an dem Stoff zerrte. Die abgedeckte Lampe, die Breschius trug, schaukelte hin und her, als ein Windstoß sie mit voller Wucht traf. »Prinz Sanglant! Es ist kalt hier draußen.« »Wie geht's?«, fragte er. »Wir haben einen Pinkelwettbewerb veranstaltet, um herauszufinden, wessen Pisse es bis auf die Erde schafft, ehe sie gefriert.« »Sibold hat sein Schwert zu lange draußen gelassen, und es ist abgefroren. Jetzt wird er nie eine Frau kriegen!« »Ein paar zusammengebundene Stöcke werden ihm sicher helfen, oder, Bärbeiß?« »Das hoffe ich, denn das ist mehr als das, was du hast, Lewenhardt!« »Still jetzt, Männer.« Hauptmann Fulk tauchte aus dem Zelt auf, als er die Stimmen hörte. »Geht rein, ihr wart lange genug draußen.« Mit erleichterten Seufzern huschten die Männer ins Innere. Eis löste sich knisternd von der Zeltklappe und regnete in einem kristallinen Sprühnebel auf den schneebedeckten Boden. »Wie geht es den Männern, Hauptmann?« »Ganz gut.« »Und was machen die Vorräte?« Fulk runzelte die Stirn, als vier Soldaten stöhnend und sich die behandschuhten Hände reibend nach draußen traten, um die Plätze der anderen einzunehmen. Die Männer begrüßten den Prinz warmherzig, traten mit den Füßen auf und rieben sich die Arme, blinzelten in die Dunkelheit zu den Feuerstellen, die das eine Bogenschussweite entfernte qumanische Lager kennzeichneten. Im Nomadenlager sang jemand; die Stimme hob und senkte sich in einem nasalen Jaulen. Trotz des pfeifenden Windes war Sanglant in
436 der Lage, ein paar Worte aufzuschnappen - Mann, Frau, Fluss, Eis, Ertränken, Tod. Falls die Pechanek-Qumaner auch fröhliche Lieder kannten, hatte er sie zumindest noch nicht gehört. »Wir haben noch zwei Fässer mit gesalzenen Fischeiern, Prinz Sanglant. Ich kann den Geschmack kaum noch ertragen. Armeleuteessen, wie Bruder Breschius uns gesagt hat, aber es wird schwierig werden, wenn wir nicht bald irgendwo hinkommen, wo wir neue Vorräte finden. Wir werden jeden Tag die schwächsten Pferde schlachten und ihr Fleisch essen müssen.« »Oder wir müssen ihr Blut trinken, wie es die Qumaner tun.« »Ich bete, dass wir so etwas Barbarisches niemals tun müssen, Prinz. Ihr Milch wein ist schon schlimm genug.« »Ja? So schlecht finde ich ihn nicht.« Breschius trat neben ihn und starrte auf die Lücke zwischen den beiden Lagern. Schneeflocken wirbelten im stets gegenwärtigen Wind, aber Breschius blinzelte in die Dunkelheit, als suche er etwas, das außerhalb von Sanglants Sichtweite lag. Der Prinz hörte kurz das Läuten von hellen Glocken, das im heulenden Wind verklang. »Wisst Ihr, wo wir sind, Bruder, oder wann wir damit rechnen können, bessere Unterkunft und Vorräte zu finden?« Breschius schüttelte bedrückt den Kopf. »Weißt du es?«, wandte Sanglant sich an die Sklavin. Sie zuckte mit den Schultern, sah von ihm weg. »Solche Fragen kann ich nicht beantworten, Prinz Sanglant.« »Hast du dich inzwischen an deinen Namen erinnert?«, fragte er. Ihre stete Gelassenheit verärgerte ihn. Zacharias hatte seine Häscher wenigstens gehasst und verunglimpft. »Ihr könnt mich nennen, wie Ihr wollt, Prinz. Was immer Ihr wünscht - ich bin verpflichtet, mich mit allem einverstanden zu erklären. So haben die Mütter es mir befohlen.« Ihre vollen Lippen waren rot und wohlgeformt. Hatte sie angedeutet, dass er sie in sein Bett bitten sollte? Oder verfuhr sie mit ihm einfach nur auf die einzige Weise, die sie kannte, um herauszufinden, was er von ihr wollte, da es ihr an offenem Trotz mangelte? Bat sie um die Freiheit? 437 »Der Wind könnte schlimmer sein«, sagte Breschius plötzlich. »Man kann sehen, wie der Hang uns vor dem Gröbsten schützt.« »Es fällt mir schwer, mir alles noch schlimmer vorzustellen«, sagte Hathui. Fulk schlug das Kreiszeichen vor der Brust. »Mögen Gott barmherzig sein. Ich freue mich auf den Frühling, Prinz.« »In Wendar ist bereits Frühling«, sagte Breschius. »Aber wenn die Winterkälte vorüber ist und das wärmere Wetter einsetzt, wird das Reisen noch schlimmer, da es den ganzen Tag regnen wird.« »Und im Sommer wird man gekocht«, sagte Hathui. Sanglant lachte. »Ein schöner Ort, um sein Heim zu errichten.« Er wandte sich an die Sklavin. »Komm, nimm das Seil.« Jeden Nachmittag, wenn sie anhielten, um das Lager aufzuschlagen, spannte ein qumanischer Junge zwischen den beiden Lagern ein Seil, für den Fall, dass ein Schneesturm aufkommen sollte. Weil der Boden gefroren war, konnten sie keinen Pflock hineintreiben, um die Enden des Seils zu befestigen, und so hatten Gya-si und seine Neffen sich als Wächter und Torhüter angeboten. Sie befestigten das Seil an dem kleinen Zelt, in dem sie jede Nacht schliefen. Sanglant duckte sich unter das Vordach, das den Eingang schützte und schräg herabhing, um den Wind abzuhalten. Der alte Schamane hockte mit geschlossenen Augen auf der Schwelle. Hinter ihm sah Sanglant durch eine schlitzähnliche Öffnung die flackernde Flamme einer Lampe und dunkle Schemen. Eine Eule schrie in der Nähe, wie jede Nacht, und Gyasi hob die Hände an den Mund, um ihr zu antworten. »Großer Edelmann«, sagte er, ohne die Augen zu öffnen. »Seid gewarnt. Ein Sturm zieht auf.« »Schlimmer als das hier? Droht meinen Leuten Gefahr?« »Ich lausche noch.« Hauptmann Fulk folgte ihm unter das Vordach. »Hauptmann, gebt die Nachricht weiter, dass die Männer alles sichern sollen.« »Jawohl, Prinz. Wünscht Ihr eine Eskorte?« Sanglant warf einen Blick auf die Sklavin, die außer Hörweite war. Er sprach leise. »Wir haben immer noch Bulkezu. Wenn ich 438 Schwäche oder irgendetwas zeige, das als Furcht gedeutet wird, könnten die Pechanek sich veranlasst fühlen, uns anzugreifen.« »Sie könnten Euch gefangen nehmen, Prinz, und dann müssten wir um Eure Freilassung feilschen.« »Wir haben Eide geschworen und eine Vereinbarung getroffen.« »Diese Leute sind heimtückisch«, sagte Gyasi. Er hielt die Augen noch immer geschlossen. »Ein Mann kann seinem Bruder das Leben versprechen und ihm hinterher trotzdem einen Dolch in den Rücken stoßen.« »Wie soll ich mich schützen?« Einer der Neffen schlüpfte aus dem schlitzähnlichen Eingang. Er fiel in einer Geste der Unterwerfung vor Sanglant auf die Knie, wie es bei den Qumanern üblich war, dann glitt er mit dem Bogen auf dem Rücken in die
Nacht. Da Gyasis Gesicht im Schatten lag, konnte Sanglant es nicht genau erkennen, aber er wusste auch so, wann der Schamane die Augen öffnete. Er spürte seinen starrenden Blick, auch wenn er ihn nicht sehen konnte, so wie man den Glanz der Sonne auf dem Rücken fühlte oder die abschätzenden Blicke einer interessierten Frau. »Wir beschützen Euch, großer Edelmann. Bulkezu hatte einmal einen Bruder, der wie ich ein Schamane war. Jetzt ist er tot.« »Er war derjenige, der mit seiner Magie Prinz Bayan getötet hat.« Gyasi zuckte mit den Schultern. Bayans Schicksal war für ihn nur von geringer Bedeutung. »Vor vielen Jahreszeiten bin ich aus dem Stamm verbannt worden wie eine kranke Frau, die keine Söhne zu ihrem Schutz hat. Meine Verwandten wissen, dass ich keine Liebe für sie in meinem Herzen hege, nachdem sie mich mit Stöcken geschlagen und mein Zelt niedergebrannt haben. Beim Pechanek-Stamm gibt es keinen Schamanen, der so mächtig ist, dass er den Schamanenpfad neben mir beschreiten könnte. Fürchtet sie nicht. Sie fürchten mich. Wenn sie Euch töten, werde ich ihr Fleisch essen und ihre Gebeine zermahlen und den Hunden zum Fraß vorwerfen.« 439 Sanglant lachte. »Dann werde ich ohne Furcht in ihr Lager gehen. Ich gehe alleine, Fulk, mit Breschius und Hathui. Sie könnten mich so oder so töten, wenn sie es wollen, und es ist besser, wenn sie mich weiterhin fürchten, weil ich sie nicht fürchte.« »Mir gefällt das nicht, mein Prinz.« »Ich habe mich entschieden.« Fulk nickte unglücklich. Er war ein überaus wertvoller Hauptmann: ein guter Mann in jeder Hinsicht, der außerdem auch noch wusste, wann seine Einwände auf Gehör stießen und wann es besser war, zu schweigen. Gyasi schloss die Augen und stimmte einen Singsang an, als hätte er sie bereits vergessen. Sanglant trat in den stürmischen Wind und packte das Seil. Während sie über die freie Fläche schritten, zischte die Lampe und erlosch trotz der Glaseinfassung. Mit der Hand am Seil war es dennoch möglich, sich mit einiger Sicherheit über den unebenen Boden fortzubewegen. Eine dunkle Gestalt glitt geisterhaft an ihnen vorbei - einer von Gyasis Neffen, der die Grenze des Lagers auskundschaftete. Sie und ihr Onkel bewachten das Lager bei Nacht und schliefen tagsüber auf dem Rücken der Pferde. Die Kälte schien ihnen nichts auszumachen. War es klug, sein Leben in ihre Hände zu legen ? Oder wurde er immer leichtsinniger? Diese lange Reise zerrte an seinen Nerven, da er auf die Gnade anderer angewiesen war, ohne selbst die Richtung oder Geschwindigkeit bestimmen zu können. Früher war er auf Geheiß seines Vaters geritten und hatte diese Tatsache nie in-frage gestellt, aber er hatte die Fähigkeit zu gehorchen verloren; er konnte es nicht mehr ertragen, von jemandem beherrscht zu werden, und er wusste, dass er sich selbst in Gefahr brachte, wann immer er die Grenzen des Möglichen auslotete. Er hatte sich in eine selbst gewählte Wildnis begeben. Er wusste nicht, was er am Ende der Reise finden würde. Vor Beginn des Winters hatte er den Gestank des qumanischen Lagers riechen können, lange bevor er dort war. Jetzt waren Eis und Schnee barmherzig. Schneller als erwartet erreichte er das Ende des Seils, das an ein dünnes Band voller Glöckchen gebunden 440 war, das das gesamte qumanische Lager umgab. Die Glocken bimmelten im zwischen den Zelten heulenden und tosenden Wind. Erst als die Wache zurücktrat, um ihn durchzulassen, stieg ihm der vertraute widerliche Gestank nach ranzigem Fett in die Nase, der sich mit dem Geruch von Abfällen, Schweiß und furzenden Pferden vermischte. Die Qumaner hatten ihre Zelte in Form eines gekrümmten Windbrechers errichtet, hinter dem sich der größte Teil der Herde befand und eine Hand voll Dungfeuer brannten. Die Männer hockten um sie herum, und es war Sanglant unbegreiflich, dass sie sich nicht zu Tode froren. Er hatte schon kein Gefühl mehr in den Zehen, und seine Finger brannten, als hätte er sie mit Eis eingerieben. Obwohl der allgemeine Menschenverstand und seine eigenen Beobachtungen dagegen sprachen, stimmte es vielleicht doch, dass die Qumaner nicht ganz menschlich waren. Wie sonst konnte man sich ihre unnatürliche Unempfindlichkeit gegenüber der Kälte erklären? Das Zelt der Mütter bestand aus weißem Filz und überspannte zwei Wagen. Der Stoff hob sich kaum von dem Schnee ab, der darum herumwirbelte. Der Eingang ging nach Süden, zur wind abgewandten Seite. Zwei Wachen traten beiseite und ließen ihn die Stufen erklimmen, die ins Innere führten. »Achtung auf der Schwelle«, murmelte Breschius, als Sanglant sich duckte und durch die Öffnung trat. Rauch schwängerte die Luft im Innern, gesättigt mit einem süßsauren Weihrauchgeruch, der den Übelkeit erregenden Gestank nach ranzigem Öl nicht zu überdecken vermochte. Zwei Musiker saßen neben dem Mittelpfosten des Zeltes; einer stimmte eine mit einer Eisenspitze versehene Fiedel, während der andere eine Sammlung von Rasseln und Rindenstreifen um eine Flöte herum verteilte. Obwohl mehrere Kohlenpfannen auf Dreibeinen eine angenehme Wärme erzeugten und sie nicht direkt auf dem gefrorenen Boden sitzen mussten, lief ihm angesichts der kleinen Flöte ein kalter Schauer den Rücken hinunter: Blutherz hatte ihn mit einem solchen Instrument gequält, mit einer Knochenflöte, die er aus den Gebeinen seiner Männer angefertigt hatte. 441 Sechs Männer saßen mit gekreuzten Beinen auf Decken und Kissen unweit der Musiker; sie alle befanden sich im linken Bereich des runden Zeltes. Einer war jung und hübsch, seine Gesichtszüge erinnerten an einen jüngeren Bulkezu. Seine Hände ruhten auf einem Flügelpaar aus Greifenfedern, und er hielt wie die anderen den
Blick auf den rechten Bereich des Zeltes gerichtet, wo die drei Mütter von Bulkezu aufrecht auf zwei Sofas saßen. Die steife Haltung der Männer erinnerte ihn an Bulkezu, der in Ketten gelegt war und doch kerzengerade saß. Sapientia dagegen lehnte lässig neben der jüngsten Mutter. Ein Sklavenmädchen massierte die bloßen Füße der wendischen Prinzessin. »Bruder!«, rief sie, unterließ es aber, sich zu erheben, um ihn angemessen zu begrüßen. »Ich hatte dich früher erwartet!« Die drei Mütter von Bulkezu begrüßten ihn nicht. Obwohl die eine noch ein Mädchen war, die andere mittleren Alters und die dritte ein unglaublich fettes altes Weib, hatte es den Anschein, als wären sie alle ein und dieselbe Frau, nur in verschiedenem Alter und in verschiedenen Körpern. Hatte eine der beiden älteren tatsächlich Bulkezu ausgetragen, ihn selbst geboren? Er wusste es nicht, und Zacharias war nicht hier, um ihm die qumanischen Gebräuche und Worte zu erklären. Sapientia und ihre neuen Verbündeten befanden sich ihm gegenüber somit im Vorteil. Die Sklavin aus Salia trat hinter das Sofa der Mütter. Tatsächlich blieben nur die Sklaven stehen. Er fing einen Blick des Greifenkriegers auf. Mit einem schwachen Zukneifen des einen Auges - als wollte er grinsen, traute sich aber nicht - warf der junge Mann ihm ein mit einem rotgoldenen Greifen besticktes Kissen zu. Sanglant ließ sich mit gekreuzten Beinen darauf nieder, spiegelte so die Haltung der anderen Männer. Hathui kauerte sich am Eingang nieder. Breschius neigte den Kopf, hielt noch immer die Lampe und blieb stehen. »Bulkezus Mütter sind unzufrieden«, sagte Sapientia. Sie nippte an einer Schüssel mit der vergorenen Milch, die die Qumaner wie Bier hinunterstürzten. Als sie fertig war, reichte sie die Scha442 le einem schwarzhaarigen Mädchen, das nicht älter als zehn oder zwölf Jahre war. Die Mütter von Bulkezu beobachteten ihn. Sie blinzelten nie. Sie hätten in Stein gemeißelt sein können: Mädchen, Mutter und altes Weib, undurchschaubar und verdrießlich. »Wir reisen zu langsam«, sprach Sapientia weiter. »Wir verbringen zu viel Zeit damit, jeden Tag das Lager aufzuschlagen und abzubauen, weil du darauf bestehst, dass unser Heer die großen Zelte benutzt. Sie wollen wissen, wieso die westlichen Soldaten solche Schwächlinge sind.« »Diese westlichen Soldaten haben ihren großen Begh und ihr mächtiges Heer besiegt.« »Unter Bayans Führung! Mithilfe der Ungrianer, die uns verlassen haben.« »Ich habe die Schlacht gewonnen, Sapientia, wie mutig Bayan auch gekämpft hat. Bulkezu ist mein Gefangener.« »Nur, weil du mich verraten hast.« »Weil du die stärkste Figur auf diesem Schachbrett bist. Niemand sonst hätte genauso viel Bedeutung gehabt wie Bulkezu, und das ist wichtig, wenn wir unser Ziel erreichen wollen. Du hast dich selbst damit einverstanden erklärt.« »Vielleicht redest du dir ein, dass ich mich einverstanden erklärt habe, mich den Pechanek als Geisel auszuliefern. Wenn du das tust, bist du ein Lügner. Du hast mich gezwungen. Ich hatte keine Wahl.« Das Getränk und die Wut holten ihre Gefühle an die Oberfläche, wo sie so leicht zu erkennen waren wie ein breiter Pfad im Wald: Bestürzung, verletzter Stolz, Zorn, Scham. »Aber das heißt nicht, dass ich hilflos bin, Bruder. Ich werde hier so geehrt, wie ich es verdiene. Würde ich das Heer befehligen, würden wir diese Probleme nicht haben. Du hättest unsere Pferde loswerden sollen. Die Steppenpferde sind besser. Du hast unseren Vormarsch behindert, weil du so viele töten musstest. Was für eine Verschwendung an Pferdefleisch! Du wirst das gesamte Heer verlieren, bevor wir die Jagdgründe erreichen!« »Wir haben fünf Männer von achthundert verloren.« 443 »Der Winter ist noch nicht vorüber!« »Wo sind deine wendischen Begleiterinnen, Schwester? Ich habe Brigida oder Everelda schon seit Tagen nicht mehr gesehen, ebenso wenig wie deine Dienerinnen.« Ihr gerötetes Gesicht wurde kreideweiß. Ihre Hände zitterten, als sie die flache Schüssel aus den Händen der Sklavin nahm. Sie trank einen großen Schluck, senkte die Schüssel, sah ihn an, führte sie wieder an die Lippen und leerte sie. Die Sklavin beugte sich vor und flüsterte dem alten Weib etwas ins Ohr. Die alte Frau hob in einer gebieterischen Geste die Hand. Der Fiedelspieler stellte sein Instrument senkrecht auf den Dorn und spielte eine leiernde Melodie. Die Qumaner im Zelt lauschten aufmerksam, als nach einem endlos scheinenden Vorspiel das aus nichts als dem Geleier bestand - der andere Musiker mit hoher, näselnder Stimme zu singen begann. Obwohl Sanglant sich einige Mühe gegeben hatte, die Grundlagen der qumanischen Sprache zu lernen, fiel es ihm schwer, einzelne Worte herauszuhören: Augen, Speer, Greifen und die allgegenwärtigen Anspielungen auf Tod und Fluss, gewöhnlich miteinander verbunden. Hin und wieder führte der Mann einen Streifen Birkenrinde an die Lippen und ahmte den Ruf der Vögel nach, als wollte er so die Monotonie eines Gesangs unterbrechen, dessen Melodie nicht mehr als fünf Noten zu umfassen schien. Sanglants Gedanken schweiften umher. Wann hatte er angefangen, seine arme Schwester zu verachten? Er musterte sie verstohlen durch den Dunst in der Luft. Sie war so süß gewesen, als sie als kleines Mädchen Fangen mit ihm gespielt hatte, voller Leidenschaft
für das, was sie mochte, und das, was sie nicht mochte. Jetzt war sie von Neid zerfressen. Vielleicht hatte er gehofft, die Qumaner würden das Problem lösen, das sie für ihn darstellte. Sie war schwierig und leicht zu beeinflussen, und sie hatte trotz ihres Namens keinen Sinn für Weisheit. Bayan hätte etwas aus ihr machen können, aber Bayan war tot. König Henry war verzaubert, und niemand sonst im Königreich verfügte über die Autorität, eine Heirat für sie zu arrangieren, außer ihr selbst. 444 Ein voreiliger Schwur führt zu einer schwachen Verbindung, hieß ein Sprichwort. Hatte er nicht voreilig geschworen, Liath zu heiraten? Es war fast befriedigend, sich mit solchen Beschuldigungen zu piesacken. Doch er zögerte wohl zum tausendsten Mal, diesen verworrenen Pfad zu beschreiten. In jeder verzweifelten Nacht, wenn er voller Sehnsucht an sie dachte, wenn er sich daran erinnerte, dass sie anscheinend nie die gleiche Sprache gesprochen hatten, wenn sie zusammen gewesen waren, wenn er an den kurzen Blick auf den hellen Funken im Herzen der Flamme dachte, der in ihrem Innern war, wurde ihm die närrische Leidenschaftlichkeit dessen vor Augen geführt, was sie getan hatten. Wie hatten sie nur so dumm sein können? Er konnte es nicht bedauern. Die salianische Sklavin kniete neben ihm. Er hatte sie zuvor nicht bemerkt, aber jetzt spürte er, wie die vollen Brüste unter ihrer Filzjacke seinen Arm berührten, und ein schmerzliches Gefühl durchzuckte ihn. »Dies ist die Geschichte der Ahnen des qumanischen Volkes.« Ihre ausdrucksvolle Stimme war wie ein Kontrapunkt zu der monotonen Melodie. »Ist sie lang?« »Nein. Sie dauert nur fünf Nächte. Hört zu!« Der Gesang schwoll an und senkte sich wie Wellen am Strand, aber jetzt brachten zwei Sklaven - ein Mädchen auf der Seite der Frauen und ein Mann auf der Seite der Männer - Keramikpfeifen mit köchelndem Dampf in den Bäuchen. Ein rauchiger Geruch stieg von ihnen auf. Sapientia sog gierig an der Pfeife, ehe sie sie an die Mütter weitergab, an das Mädchen mit den wilden Augen, die mächtige Matrone, das säuerliche alte Weib. Die qumanischen Krieger sogen nacheinander an der Pfeife, die den Männern vorbehalten war. Als Sanglant an die Reihe kam, atmete er vorsichtig ein. Der Rauch hinterließ einen süßlichen Geschmack auf der Zunge, brannte sich aber tief in seine Lunge, wie ein angeschwollener, schwer mit Träumen beladener Wurm, der sich eingrub. 445 Er hatte das Gefühl, als würde er vom Teppich abheben, aber es war ein ganz anderer Teil von ihm, der das tat, der sich von dem Seil löste, das ihn mit der Erde verband. Er jagte allein im hohen, vom Winterwind gepeitschten Gras der Wind hatte eine bösartige Seele, die sein Fleisch zu verzehren trachtete, bis nur noch seine nackten Gebeine in der Steppe lagen. Der Wind war sein Feind. Ähnlich wie in einem Traum kam er völlig unerwartet an einen Strand, sah sich dort selbst im kalten blauen Wasser, aber mit einem Gesicht, das nicht sein eigenes war, mit Augen wie Mandeln, einem Schnauzer und kurzen schwarzen Haaren, auf denen sich ein Hut aus weißem Fuchsfell befand. Wenn ich nicht ich selbst bin, wer bin ich dann? Im Gras hinter ihm erklang ein johlender Schrei, eine Herausforderung: der Greif, der ihn ebenso jagte, wie er ihn jagte. Sie liefen ins hohe Gras, kämpften gegen den Wind an, stolperten und schlugen um sich, bis er den Greif - die Greifin - zu Boden drückte. Sie verwandelte sich in eine Frau mit glänzender Eisenhaut, wehrte sich unter seinem Körper, als er in sie eindrang. Während der Vergewaltigung verwandelte sie sich zurück in eine Greifin, aber sie war bereits sein. Er hatte sie gezähmt. Er hatte sie mit seinem Samen geschwängert. In dieser Nacht schoss er brennende Pfeile gen Himmel, um seinen Sieg zu feiern, und jeder davon verwandelte sich in einen Stern. So entstand das qumanische Volk aus der Paarung von Mensch und Greif. Er wandte den Kopf, als der Schein des Feuers von der Haut der Sklavin zurückstrahlte, ihren Augen den Glanz von Eisen verlieh, ihre Haut beschattete, bis sie wie Metall schimmerte, silbern und kräftig. War sie eine Greifin, die ihn in ihrer menschlichen Gestalt verfolgte? Er nahm ihren Moschusgeruch wahr, aber er hatte keine Ahnung, ob Zauberkraft ihren Körper einhüllte, um ihn für sich einzunehmen, oder ob es sich nur um das uralte Geheimnis der Anziehungskraft zwischen Mann und Frau handelte. Sie drehte sich um, und als sie ihr Gewicht verlagerte, veränder446 te sich auch das Licht. Ein Mann duckte sich unter der Zeltklappe hindurch und trat nach draußen. Beißender Rauch wirbelte durch die Luft. Er schwebte auf dem Dunst, starrte auf Sapientia hinunter, die auf ihrem Sofa schlief und leise schnarchte, während die Mütter von Bulkezu an ihren Pfeifen saugten und mit ausdrucksloser Miene seinen leeren Körper anstarrten. Der Greifenkrieger fuhr mit einem Finger an der scharfen Kante einer der Federn entlang, aus denen seine vor
ihm ausgebreiteten Flügel bestanden. An diesem Blutstropfen entlang trieben Sanglants Gedanken durch das rauchige Loch, bis er über dem Lager kauerte und die Zelte unter sich wie einen Schwärm Pilze sah, mitgenommen von Wind und Schnee. Er konnte den herannahenden Schneesturm riechen. Eine einzelne Gestalt ging den langen Hang hinauf, an dessen Fuß sie ihr Lager errichtet hatten, aber er stieg noch höher, so mühelos wie ein Adler, der den Auftrieb des Windes nutzt. Ein Schneesturm näherte sich, hart und voller Kraft, so unerbittlich wie die steingesichtigen Mütter und ihr Hass auf den Mann, der den Sohn ihres Stammes besiegt hatte. Der Wind atmete Eis durch seinen Geist. Die alten Hügel neigten sich unter dem Gewicht des Sturms. Etwas anderes wartete, noch weiter entfernt als der sich nähernde Sturm. Er konnte es nicht sehen, aber er spürte es auf seiner Haut - ein Kribbeln in der kalten Luft, das an Funken erinnerte. In der Ferne hörte er den schwachen Warnruf einer Eule. Es kommt etwas. Er stürzte schwer durch die zitternde Nachtluft zurück in das Gefängnis seines Körpers und richtete sich mit einem Ruck auf, als er wieder zu sich kam. Lippen berührten sein Ohr. Die salianische Frau lehnte an ihm, überwältigt von der Mattigkeit, die die Droge bewirkte, und stöhnte leise mit solch deutlicher Begierde, dass er schlagartig durch und durch von einer unanständigen Erregung erfasst wurde, die heiß und kräftig durch ihn hindurchwallte. Seine Hände tasteten zu den Schnüren, die ihre Jacke verschlossen. Er spürte die verheißungsvolle Haut dicht neben sich, nur eine 447 dünne Schicht Kleidung trennte sie von ihm, und es war leicht, sich dieser zu entledigen. Sie drängte sich begierig an ihn. Er folgte der Bewegung, und sein Blick glitt ihren Körper entlang zu den sinnlich geschwungenen nackten Füßen, aber das verschlungene Muster im Teppich erregte seine Aufmerksamkeit. Während die Sklavin sanft an seinem Ohr knabberte, folgte er mit dem Blick diesem anderen Pfad, bis er dem kalten Starren der Mütter begegnete. Sie warteten darauf, dass er den Spalt in seiner Rüstung öffnete. Sie warteten darauf, dass er das Gesicht verlor, selbst wenn dies bedeutete, ihre Sklavin dazu zu bringen, sich öffentlich mit ihm zu paaren wie eine läufige Hündin, die jeden Hund in der Nähe verführt. Jeder Mann hat seine Schwachstelle. Er schob sie von sich weg und kämpfte sich auf die Beine. Der eine Qumaner sang noch immer, während der andere weiterhin mit dem Bogen über die Saiten strich. »Er hörte ein Donnern in der Luft. Tarkan hörte das Donnern der Flügel, dieser Flügel, die schlugen, als der Jäger näher kam. Jetzt waren die Himmel ganz erfüllt von dem Geräusch, als die große Kreatur sich näherte.« War da Donner zu hören, oder brauste nur der Wind um die Zelte? Schlagartig hörten die Musiker auf, und es wurde still. Der Greifenkrieger beugte sich nach vorn, um längs über die Eisenflügel zu blasen; der Ton klang leise und war zugleich süß und tödlich. Sanglant trat zum Eingang. Hathui stand neben ihm, als er die Zeltklappe hob und lauschte. »Es nähert sich etwas«, sagte er. 2 »Anna! Wach auf!« Eine Hand drückte Annas Unterarm. »Anna! Wach auf!« 448 »Au!« Sie setzte sich auf und stellte fest, dass Gnade auf der Pritsche hockte, die sie sich teilten. Der Atem des Mädchens schickte Dampfwölkchen in die Luft. Anna legte sich wieder hin, zog zitternd Decke und Felle bis zum Hals. »Anna!« Die Stimme des Mädchens klang wie ein heiseres Wispern. Die Höflinge des Prinzen um sie herum schliefen fest, einige schnarchten, andere pfiffen im Schlaf, wieder andere verhielten sich so still und ruhig wie Tote. »Es kommt etwas. Ich muss rausgehen und nachsehen, was es ist.« »Eure Hoheit!« »Nicht rufen! Ich verbiete es dir.« Gnade, bereits angekleidet, bewegte sich schnell. Es war ein fast unnatürlicher Glanz um sie, der nur im Dunkeln sichtbar war - ein schwacher Hauch, der nicht vom Licht stammte, sondern von ihrem Sein, als schimmerte ihre Seele durch die Haut hindurch. Als diese verworrenen Gedanken endlich Sinn für Anna ergaben, bewegte sich die Zeltklappe, und Gnade glitt hinaus in die tödliche Nacht. Sie holte tief Luft, wollte um Hilfe schreien. Und tat es dann doch nicht. Das letzte Mal, als Gnade ihr weggelaufen war, hatte Prinz Sanglant Thiemo und Matto ausgepeitscht und ihr damit gedroht, sie wegzujagen, sollte sie ihre Pflicht ein zweites Mal vernachlässigen. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie die Rute sich in den Boden gegraben hatte, wie der Dreck, der von dem Hieb aufgewühlt worden war, zwischen ihren Zähnen geknirscht hatte. Er würde sie, Thiemo und Matto in die tödlich kalte Winternacht verbannen. Vor Entsetzen entfuhr ihr ein leises Wimmern, dann brach ihre Stimme ab, als hätte eine Hand ihr die Kehle
zugedrückt. Zitternd griff sie nach der dritten Tunika, dem Umhang und den Fellen, wickelte sich unbeholfen darin ein und befestigte sie mit Nadeln und Schnallen. Die Schlafstelle von Thiemo und Matto befand sich ganz am anderen Ende des Zeltes; der Prinz hatte sie gezwungen, sich eine Pritsche zu teilen, damit sie lernten, einander zu achten. Doch mehr als seine Strafe hatten die unbarmherzige Kälte und die schier endlose 449 Reise ihren Ärger gedämpft. Anna kroch zwischen den Pritschen mit den schlafenden Gestalten hindurch und rüttelte sie wach. »Schnell! Die Prinzessin ist weg!« Sie erreichte den Eingang, ohne auf irgendwelche Hindernisse zu stoßen. Die Nachtluft schlug ihr grausam entgegen. Es war anstrengend, zu atmen, aber sie drängte sich an den Wachen vorbei, musterte das dunkle Lager und wandte sich dann an die Männer. »Wo ist die Prinzessin?« Ihre Augen schmerzten, brannten von der kalten Luft, als sie in den Augenhöhlen zu gefrieren schienen. »Die Prinzessin?« Sie konnte die Gestalt nicht erkennen, die da sprach, aber es war die Stimme von Den. »Anna, du schlafwandelst wohl. Ich habe die Prinzessin hier draußen nicht gesehen. Sie liegt drinnen in ihrem warmen Bett, im Gegensatz zu uns. Du gehst am besten wieder rein.« Das Stöhnen des Windes veränderte sich, wurde schriller. Das Zelt erzitterte, das gesamte Gestell bog sich unter einem Windstoß. Schnee wirbelte herab, kam plötzlich in wahren Fluten aus Weiß herunter. Überall im Lager erklangen laute Rufe, und die Pferde wieherten voller Angst. »Mögen Gott uns beschützen!«, rief Dens Kamerad Johannes. Ein blendender Vorhang aus Schnee trieb auf einem Sturm herbei und nahm ihnen die Sicht auf die nahe stehenden Zelte. Der Wind brüllte. Thiemo und Matto stolperten aus dem Zelt. Im Innern erhoben sich besorgte Stimmen, als das Zelt im Wind schwankte. Thiemo schrie, aber sie konnte seine Worte bei dem lauten Wind nicht verstehen. Sie kauerte sich unbeholfen unter den spärlichen Schutz, den das Vordach bot. »... Prinzessin Gnade!«, rief Matto, doch die Worte wurden vom Wind weggerissen. »Wo ist sie?«, schrie Thiemo. Heribert tauchte am Eingang auf, eine Lampe in der Hand, die lange genug brannte, dass sie sein angstvolles Gesicht sehen konnte. Ein Windstoß rüttelte am Zelt und hob sie tatsächlich vom Boden hoch, während die Männer um sie herum laut aufschrien. Die Lampe erlosch. Ein Ächzen und Krachen zerriss die Luft, als das 450 Zelt neben ihnen - in dem sich der Gefangene befand - von der Wucht des Windes umgerissen wurde. Die Zeltwände wehten auf, Zeltstangen brachen, die einzelnen Teile wirbelten davon. Soldaten beeilten sich, den Stoff zu packen, aber sie konnten nicht einmal aufrecht stehen. Schnee stürzte herunter. Sie konnte Den und Johannes nicht mehr erkennen. Der eisige Griff des Windes brannte in ihrem Gesicht und machte ihre Finger steif. Ihre Zehen wurden taub. Sie wurde in die Sicherheit des Zeltes zurückgerissen - sofern man es als Sicherheit bezeichnen konnte, da die Wucht des Sturms das ganze Zelt knirschen und knarren ließ. Männer griffen nach den Zeltstangen und versuchten verzweifelt, sie am Boden zu halten. Thiemo brüllte ihr etwas zu, seine Hand klammerte sich so fest um ihr Handgelenk, dass es schmerzte, aber sie konnte ihn bei dem lauten Wind nicht hören. Heribert kniete neben dem Federbett, in dem eigentlich Gnade hätte liegen müssen. »Sie ist weg!«, schrie Anna. »Sie wird sterben!« Sie riss sich von Thiemo los und schob sich durch die Zeltklappe nach draußen, ehe er sie aufhalten konnte. Sie stürzte sich in den Schneesturm, stolperte, als eine Hand ihren Stiefel packte und sie hinunter in den wehenden Schnee riss. Es war keine Hand gewesen; es war ein Stück Seil. Ihre Finger waren so kalt, dass sie ihren Knöchel kaum aus der Schlinge befreien konnte, und mit jedem verstreichenden Augenblick fraß sich die Kälte mehr und mehr in ihre Knochen. Es war mühsam, zu stehen, aber der Wind drängte sie weiter, als sie durch die Überreste des zusammengebrochenen Zeltes stolperte. Zweimal prallte sie mit Soldaten zusammen, die über die Zeltwände krochen. Sie riefen ihr etwas zu und hielten sie fest, aber sie entwand sich ihnen. Sie musste weitergehen. Sie musste Gnade finden. Sie stolperte über einen umgestürzten Pfosten und stürzte in ein Nest aus glühenden Schlangen, die um sie herum zuckten und sich mit ihren Zungen durch ihre Handschuhe fraßen, um ihre Haut zu durchbohren. Sie schrie vor Entsetzen, bis sie begriff, dass es keine Schlangen waren, sondern kaltes Eisen. Eine Kette wand sich unerwartet um ihren Kopf, grub sich in ihr 451 Auge, ehe sie an ihrer Wange entlangschürfte und sich wie eine Viper um ihren Hals legte. Eine Kraft, die noch mächtiger war als der Wind, zerrte sie nach hinten gegen eine feste Wand. Die Kette würgte sie. Sie riss den Kopf zurück, versuchte, Luft zu bekommen. Schnee bedeckte ihre Lippen und ihre Augen; sie schluckte, kämpfte gegen den harten Griff an. »Hör auf, dich zu wehren, sonst muss ich dich töten.« Bulkezus Stimme konnte den heulenden Wind übertönen, was sonst niemandem gelang. Sein eisiger Griff
würgte den nutzlosen Schrei ab, der in ihrer Kehle aufgestiegen war. Er drückte sie nach unten auf die Ketten, kniete sich auf ihre Brust, sodass sein Gewicht sie gegen die metallenen Kettenglieder presste. Es schmerzte, als ob scharfe Messer sich in ihren Rücken bohrten, doch vor Entsetzen brachte sie kein Wort heraus. So werde ich also sterben. Schnee wehte ihr ins Gesicht, und Tränen traten ihr in die Augen. Ihre Beine brannten, als die Kälte durch die Kleidung drang und ähnlich einer brennenden Hitze ihre Beine versengte. Er packte ihre Kehle mit einer Hand, drückte gegen die weiche Kuhle. Sie würgte, hustete, ertrank. Gestalten schwammen durch die Wand aus Schnee, hielten inne, als sie sahen, dass der Gefangene sich selbst eine Gefangene genommen hatte. Schachmatt. Sie hatte den Prinzen viele Male Schach spielen sehen; sie hatte schweigend dabeigesessen, während Bruder Heribert der ungeduldigen Gnade die grundlegende Strategie dieses Spiels zu erklären versucht hatte. »Löwen kann man opfern, um andere Figuren weiterzubringen«, hatte er gesagt. Aus dem Augenwinkel erhaschte sie einen Blick auf eine vorsichtige Bewegung an ihrer Seite, aber allein der Versuch, den Kopf auch nur leicht zu bewegen, brachte Bulkezu dazu, noch fester zuzudrücken. Sie wimmerte; seine Mundwinkel zogen sich zu einem Lächeln nach oben, aber er sah sie nicht an. Sie lag reglos da, während ihr Körper vor Entsetzen und Kälte immer tauber wurde. Bulkezus Hand um ihren Hals zuckte - einmal, zweimal, dreimal, als würde er auf etwas reagieren, das sie 452 nicht sehen konnte. Er schoss vor, fiel dann zurück, das eine Knie hart gegen ihren Bauch gepresst. Er hatte einem der Soldaten des Prinzen den Speer entrissen. Welcher von ihnen war es gewesen, wer hatte ihr Leben aufs Spiel gesetzt? Sie war nur ein Löwe. Der Prinz würde sie eher opfern, als Bulkezu zu verlieren. Tränen verwandelten sich auf ihrer Wange zu Eis. Sie konnte ihre Lippen nicht mehr spüren, genauso wenig wie ihre Finger oder die Zehenspitzen. Wie hatte sie nur so dumm sein können? Wenn sie nicht in Panik geraten wäre, wenn sie einen klaren Kopf behalten und um Hilfe gebeten hätte, würde sie nicht hier liegen und in seiner Gewalt sein. Wenn Gnade nicht weggelaufen wäre. Abscheu und Wut packten sie mit ebensolcher Kraft wie der Sturm: Ich hasse sie, diese verwöhnte Blage. Es ist mir egal, ob sie tot ist! »Anna! Anna! Lass sie los, du hässliches Ungeheuer!« Laute Rufe erklangen. »Halt sie fest!« »Zurückbleiben, Hoheit!« »Sie hat mein Messer!« »Pack sie, du Narr!« Der Schaft des Speers knallte gegen ihren Kopf, als Bulkezu ihn herumdrehte, um einen neuen Angriff abzuwehren. Die Geräusche eines Handgemenges erklangen, Angstschreie von den Soldaten, und dann prallte etwas - ein Körper - mitten auf Annas Brust, so hart, dass ihr die Luft wegblieb. Durch die Wucht gruben sich die Ketten tief in ihre Schulterblätter. Sie brachte ein keuchendes Wimmern zustande, als ihre Sicht verschwamm. Blut tropfte in ihr Ohr und gefror. Sie konnte ihr Auge nicht mehr öffnen. Gnade hatte versucht, sie zu retten. Rufe drangen schwach zu ihr, und ein Stück entfernt herrschte hektische Bewegung, die sie mehr spürte als hörte. Bulkezu setzte sich jetzt rittlings auf beide Körper, während er sich auf einen neuen Angriff gefasst machte. Er lachte schrill und schadenfroh, ein Klang, der das Schreien des Windes übertönte. 453 »Lasst mich frei, Prinz der Hunde«, rief Bulkezu siegesgewiss. »Sonst werde ich sie töten.« Gnade wimmerte vor Schmerz. Prinz Sanglants Stimme wehte auf dem tosenden Wind zu ihr heran, ein klangvoller Tenor, der nur zu leicht den Lärm einer Schlacht durchdrang. »Lasst sie frei, und ich werde Euch freilassen, sobald wir die Jagdgründe der Greifen erreicht haben.« Bulkezu lachte erneut. »Wo ich dann von meinem eigenen Stamm gejagt werde?« »Also gut«, rief Sanglant. »Ich lege meine Waffen nieder und biete mich an ihrer Stelle an -« »Eure Tochter ist eine viel wertvollere Geisel, als Ihr es seid. Wenn Ihr mich nicht freilasst, töte ich sie. Ich werde sie jedoch mitnehmen, damit Ihr meinen Stamm davon abhaltet, mich zu jagen.« Wieso war Gnade auf einen Feind losgegangen, den sie unmöglich besiegen konnte? Jetzt war sie bewusstlos, verwundet und Bulkezus Gefangene. »Nehmt mich als Geisel, und meine Soldaten werden dafür sorgen, dass Euer Stamm Euch nicht jagt. Ich kann nicht verhandeln, wenn das Leben meiner Tochter -« Der Wind brüllte, löschte den Klang von Sanglants Stimme aus, als eine Woge aus Weiß über sie hinwegschwappte. Sie konnte Bulkezu mit ihren gefrorenen Augen durch den heulenden weißen Nebel des Sturms nicht mehr sehen. Dies war das Ende.
Etwas Weiches und Seidiges strich ihr über die Lippen. Das beißende Brennen von Schnee und Eis verebbte völlig unerwartet in einer warmen Windböe. Weiße Blütenblätter wirbelten wie eine Wolke aus Schmetterlingen über ihr. Eis schmolz auf ihrem Gesicht, und es bildeten sich Rinnsale, als die Blütenblätter ihren Mund und die Augen kitzelten. Dies war kein natürlicher WindZauberei! Die Soldaten schrien angesichts der herabregnenden Blütenblätter und der seltsamen Veränderung des Windes besorgt und überrascht auf. 454 »Ha!«, rief Bulkezu. Irgendetwas Schweres traf ihn, riss ihn von ihr herunter. Inmitten der herabströmenden Blütenblätter kämpften und rangen zwei Männer miteinander - Sanglant und Bulkezu. Die Ketten wanden sich um sie, schürften über ihre Beine, brannten an ihren Armen. Schnee, der sich in den Kettengliedern verfangen hatte, wirbelte auf. »Holt die Prinzessin!«, rief Matto. »Anna! Anna!«, schrie Thiemo und lief auf sie zu. Sie war gefangen in einem Gewirr aus stechendem, beißendem Eisen. Sie kämpfte sich auf die Knie, aber eine Hand packte ihren Knöchel und riss so kräftig daran, dass sie nach vorn fiel, während sie gleichzeitig zurückgezogen wurde. Eisen riss die Haut an ihrer Wange auf. Sie schrie. Bulkezu warf sie auf Gnades ausgestreckten Körper. Annas geschwollenes Auge wurde in den Matsch aus Schnee, Blütenblättern und Schlamm gepresst, der jetzt den Boden bedeckte, aber sie konnte die schreckliche Szenerie dennoch erkennen, die sich nur eine Handbreit vor ihrem Gesicht entfaltete. Bulkezu packte Gnade an den Haaren und riss ihren Kopf zurück. Eine Messerklinge legte sich an die zarte Haut ihrer Kehle. Der Prinz fluchte heftig, aber hilflos. Bulkezu lachte sein kicherndes, wahnsinniges Lachen, das gewiss Milch sauer werden und Eier im Nest gerinnen lassen konnte; sie hatte es seit Monaten nicht mehr gehört. Sie begann zu weinen. Die Soldaten um sie herum waren jetzt totenstill, während die Blütenblätter weiter herunterwirbelten. »Jetzt sitzen wir beide in der Falle«, sagte Bulkezu. »Nur eine kerayitische Zauberin oder ihre Herrin kann einen solchen Wind entfachen.« Er lachte erneut. »Lasst mich frei. Ich bin noch immer schnell genug, um das Mädchen zu töten, und stark genug, es selbst dann zu tun, wenn Ihr mich vorher verwundet. Meine Freiheit. Oder das Leben Eurer Tochter.« Etliche Leute hatten sich jetzt um sie versammelt, verharrten aber in ein paar Schritten Entfernung, als würde ein unsichtbarer Zaun vor ihnen aufragen. Die Klinge an Gnades Kehle brachte einen Tropfen Blut hervor, doch das Mädchen blieb nach wie vor reglos. 455 War sie bereits tot? Im Lager war inzwischen Chaos ausgebrochen: Pferde wieherten schrill vor Angst, Männer riefen und fluchten, eine dünne Stimme schrie vor Qual. Ein lautes Hornsignal erklang: der Ruf zu den Waffen. Blütenblätter fielen überall herab, während der warme Wind sie überschwemmte. »Mein Prinz! Kommt rasch!« »Prinz Sanglant! Ein Heer nähert sich!« »Wir sind in einen Hinterhalt gelockt worden!« »Reiter, Prinz Sanglant!« »So sei es denn.« Sanglants Stimme war nur selten frei von Gefühlen, aber jetzt war es schwer zu sagen, ob Wut, Verzweiflung, Furcht oder kalte, rasende Verbitterung ihn beherrschte. »Eure Schwester, Prinzessin Sapientia, Prinz -« »Nicht jetzt, Breschius. Hauptmann Fulk, wir brauchen Speere, um einen Angriff der Reiter abzuwehren.« »Jawohl, Prinz.« Etwas traf Anna am Kopf, rutschte ihre Nase herunter und landete im Schnee und in den Blütenblättern. Ein Schlüssel. »Möge die Jagd beginnen, Bulkezu. Wenn Ihr ihr etwas antut, werdet Ihr ein Zehnfaches von dem erleiden, was sie erleiden musste.« Bulkezus Gewicht verlagerte sich schmerzhaft auf ihrem Rücken, als er den Schlüssel vom Boden aufhob. Das Messer streifte Gnades Kinn, als er sich bewegte. Ketten fielen klirrend zu Boden. Er packte Gnades Tunika am Rücken und hob sie daran hoch, wobei er das Messer noch immer an ihre Kehle hielt. »Wenn du willst, dass sie am Leben bleibt, musst du uns begleiten«, sagte er zu Anna, ohne sie anzusehen. »Ich habe nämlich keine Zeit, mich um sie zu kümmern.« Gnade hatte ihr Leben für sie riskiert. Anna konnte jetzt nichts weniger als das Gleiche tun. Sie kämpfte sich auf die Beine, schwankend und benommen. Blut tüpfelte den aufgewühlten Schnee, befleckte die Eisenglieder der Kette. Männer liefen um sie herum, rannten mit Waffen in den 456 Händen zum Rand des Lagers. Stallburschen versuchten, die sich wie toll gebärdenden Pferde zu beruhigen,
während Blütenblätter in Wolken durch die Luft trieben. Schlamm spritzte überall auf, als der warme Wind den Schnee schmolz und Füße die Feuchtigkeit ins Gras und in die Erde traten. Anna stolperte hinter Bulkezu her, folgte ihm durch den Lärm und das Chaos. Niemand achtete auf sie, aber vielleicht kam ihr das auch nur so vor, weil sie nicht gut sehen konnte. Er hatte keine Mühe, Gnade mit der einen Hand festzuhalten, während er mit der anderen den Speer schwang; er war stark geblieben während all der Monate seiner Gefangenschaft. Männer hatten sich am Rand des Lagers in Position gebracht, angespannt, aber bereit - ihre Speere und Schilde bildeten eine schwache Verteidigungslinie. »Lasst ihn durch! Lasst ihn durch!«, rief Matto vor ihnen. »Mögen Gott ihn verfluchen! Macht Platz für ihn, sonst tötet er sie noch beide!« Bulkezu trug die Prinzessin an der Reihe der Männer vorbei. Er blieb gerade lang genug stehen, um sich das Mädchen über den Rücken zu legen und sich so gegen mögliche Pfeilschüsse zu wappnen, dann stürmte er mit dem Messer und dem Speer in der Hand den Hügel hoch, schweigend, aber schwer atmend. Schnee verwandelte sich unter seinen Füßen in Matsch, als die letzten Blütenblätter um sie herum zu Boden schwebten. Im Osten war das Licht der bevorstehenden Dämmerung zu sehen. Gnade wachte schließlich auf, trat ihm mit den Füßen in die Kniekehlen. »Ruhig, Wurm!« Die eiserne Schärfe seiner Stimme brachte sie dazu, aufzuhören. Er wird uns töten, dachte Anna, zu benommen, um zu weinen. War es besser, sich zu wehren und dabei zu sterben, oder sollte sie ihm einfach folgen und darauf hoffen, dass sie entkommen konnten? Obwohl er hart zu kämpfen hatte, wurde er nicht langsamer. Sie erreichten die Hügelkuppe, als der Rand der Sonne den Horizont 457 zersplitterte. In dem breiten Tal auf der anderen Seite wand sich ein Fluss durch das hohe Gras, das wie Gold schimmerte. Das Tiefland endete abrupt am Fuß der steilen Felsklippen, die am östlichen Horizont aufragten. Ein Blütenblatt strich an ihrer Wange entlang; ein anderes senkte sich auf Gnades nach oben gerecktes Hinterteil. Der Wind trug den Geruch von Gras und Frühling mit sich. Schnee schmolz zu schmutzigen Haufen zusammen, die eisigen Überreste des Winters. Der Frühling hatte Einzug gehalten. Auf seinen Flügeln näherte sich sowohl von links als auch von rechts ein Heer aus berittenen Männern mit Bögen und Speeren in den Händen. Es waren keine Qumaner - sie trugen keine Flügel -, aber sie hatten etwas Unförmiges an sich, auch wenn Anna aufgrund ihres zugeschwollenen Auges und der brennenden Schmerzen an Rücken und Armen nicht genau erkennen konnte, was es war. Auch Bulkezu sah die Soldaten, spürte den Boden erzittern, als sie näher kamen. »Hexen!« Er spuckte auf den Boden, bevor er sich einen Hang hinunterkämpfte, der von dem geschmolzenen Schnee und dem feucht glänzenden Matsch, den seine Schritte aufwirbelten, ziemlich rutschig war. Einmal stolperte er und fluchte, als er auf ein Knie sank, aber dabei lockerte er nicht einmal einen Augenblick seinen Griff. Er war unglaublich stark. Seine Hände waren so unnachgiebig wie Eisenketten. Er hatte das Messer in einen Stiefel geschoben, wo Gnade es nicht erreichen konnte. Anna fragte sich, ob sie wohl in der Lage wäre, es zu packen. Aber er trug immer noch den Speer in der einen Hand. Wenn er sie tötete, würde Gnade ihm ganz allein ausgeliefert sein. Während sie den Hang hinunterstiegen, wurde das Gras allmählich höher, reichte jetzt nicht mehr nur bis zu den Knien wie auf der Kuppe, sondern - kaum dass sie ebenen Boden erreichten bis zu den Oberschenkeln. Das helle Meer raubte ihr jede Sicht auf die Umgebung, nur die zerklüfteten Gipfel der Felsklippen waren noch zu sehen. Bulkezu watete in diesen Ozean aus Gras hinaus, das ihm bald bis zur Taille reichte, dann bis zur Brust und schließlich höher war als ein Pferd. 458 Sie hatte gehört, dass Greifen in den Landen umherstreiften, in denen das Gras haushoch stand. Vielleicht würde sie auf diese Weise sterben: Bulkezu würde sie als Lockvogel für den Greifen benutzen, den er töten wollte, um sich selbst neue Schwingen zu bauen. Das Gras peitschte ihr ins Gesicht, ließ sie ihre Gedanken auf das richten, was vor ihr lag, während sie weiterlief. Ich werde nicht sterben. Ich werde Gnade nicht sterben lassen. Es musste einfach eine Möglichkeit zur Flucht geben. Bulkezu sagte nichts, schritt einfach in gleichmäßigem Tempo weiter. »Bitte«, sagte Gnade schließlich. »Wenn du mich runterlässt, kann ich selbst gehen.« Er blieb stehen, ließ sie auf den Boden hinunter und wartete schwer atmend und ohne zu sprechen, während die Prinzessin zusammenzuckte und sich vorsichtig aufrichtete. »Anna?«, krächzte sie. »Ich bin hier, Hoheit.« Annas Schultern pochten, ihr Auge schmerzte, und ihre Wange brannte. Hoch über ihnen sah sie den Himmel, ein Flickenteppich aus Blau und Weiß zwischen hin und her schwankenden Grashalmen. Es war unmöglich zu erkennen, in welche Richtung sie gingen; sie konnte jetzt auch die Felsen im Osten nicht mehr sehen. Nur der Pfad, den Bulkezu ins Gras trampelte, verriet ihren Weg, und hinter ihnen richteten sich die Grashalme bereits wieder auf.
»Geh.« Er stieß Gnade mit dem Speer weiter. Die beiden Gefangenen gingen nebeneinander vorneweg. Es war anstrengend, das Gras niederzutrampeln, sich mit erhobenen Armen vorwärts zu kämpfen. Der Blütenstaub machte ihre Haare stumpf und bildete eine Schmutzschicht auf ihren Lippen. Schon bald schwitzte sie, obwohl es nur im Verhältnis zu der tödlichen Kälte warm war, die sie gerade erst überlebt hatten. Zweimal wich sie seitwärts von ihrer Richtung ab; sie wollte versuchen, einen Bogen zurück zum Lager zu schlagen, aber jedes Mal versetzte Bulkezu Gnade einen so heftigen Stoß, dass das Mädchen aufschrie und Anna wieder auf den alten Weg zurückkehrte. Er trieb sie wie Tiere in die Richtung, in die er wollte. 459 Einmal versuchte Gnade wegzulaufen. Wahrscheinlich hatte sie gehofft, dass er von seiner langen Gefangenschaft langsam geworden wäre, aber er fing sie ein, versetzte ihr mit dem Speerschaft einen kräftigen Schlag auf den Rücken und sah gleichgültig zu, wie sie stöhnte und sich mit Annas Hilfe wieder aufrappelte. Auch er wirkte erschöpft, aber in seiner Miene lag eine solch kalte Entschlossenheit, dass Anna wusste, er würde niemals aufgeben. Ihre Blicke begegneten sich. Er hatte wunderschöne Augen; sogar sein Gesicht war, obwohl von Narben übersät, noch immer schön - sofern man solch dunkelhäutige Gesichter überhaupt bewundern konnte. Aber er musterte sie so, wie ein Mann seine Pferde begutachtete, während er darüber nachdachte, welches das Gesündeste sein mochte und welches er würde töten müssen, um auf der langen Reise etwas zum Essen zu haben. »Komm, Gnade«, sagte sie. Zusammenzuckend und lautlos weinend tastete Gnade nach Annas Hand und ging weiter, ohne irgendetwas zu sagen. Irgendwann erhob sich die Sonne über das Gras, zog ihre Bahn am Himmel. Anna schwitzte jetzt richtig in ihrer Winterkleidung, aber sie wagte es nicht, sie abzulegen. Wenn diese Wärme nur einem Zauberspruch entstammte, würde es vielleicht nicht lange dauern, ehe der Winter ihnen wieder zusetzte. Wie lange konnte eine Hexe das Wetter beeinflussen? Wie groß war die Reichweite eines Zauberspruchs ? Es war gut möglich, dass sie aus dieser Wärme direkt in einen Schneesturm marschierten. Eine Wetterhexe konnte solch einen machtvollen Sturm gewiss nicht einfach so wegwischen, ganz egal, wie mächtig sie auch sein mochte. Sie stolperte weiter, konzentrierte sich auf jeden einzelnen Schritt, das einzig Wichtige im Augenblick. Solange sie weitergingen, würde er sie nicht töten. Ein schriller Schrei zerriss den Himmel, ein unheimlicher Schrei, der kein Ende zu nehmen schien und ihr einen kalten Schauer über den Rücken jagte. »Weiter!«, sagte Bulkezu, obwohl sie schon von allein schneller geworden war, als sie den Ruf gehört hatte. Hatte er etwa Angst? 460 Sie hätte sich fast umgedreht, um seine Miene zu sehen, aber sie traute sich nicht. Es waren meist die verwundeten Tiere, die einem übel zusetzten. Der Schrei erklang erneut, diesmal links von ihnen und nicht hinter ihnen, und dann folgte ein Schrei von rechts. »Wir werden gejagt«, flüsterte Gnade und drückte ihre Hand. Bulkezu versetzte ihr einen Stoß mit dem Speerschaft. »Weiter! Weiter!« Sie hörte das Murmeln von Wasser - und dann fiel der Boden jäh ab, und sie rutschte aus. Sie stolperte einen steilen, kurzen Hang hinunter, brach aus dem dichten Gras und taumelte auf ein mit Kieselsteinen übersätes Flussufer hinaus. Der Fluss war kaum breiter als eine Speerwurfweite, längst nicht so tief und breit wie die Veser bei Gent. Im Osten, auf der anderen Seite des Flusses und vom Ufer aus aufgrund des Geländes sichtbar, wogten Wolken über die Felsenspitzen. Ein Schleier strömte von den Wolken nach unten. Sie roch den kühlen Geruch von fallendem Schnee. Der Schneesturm tobte tatsächlich noch über den Bergen, streckte sich nach Norden und Süden, als wollte er sie, die sich im Herzen eines Bannes befanden, mit riesigen Armen umfassen. Über ihnen schien die Sonne so fröhlich wie an irgendeinem gewöhnlichen Frühlingstag. Bulkezu fluchte laut und blieb am Ufer stehen. Er ging nicht weiter, obwohl der Fluss seicht zu sein schien. Sie hockte sich hin, um sich Wasser ins Gesicht zu spritzen. Es schmerzte besonders an den blauen Flecken und Schnitten so sehr, dass sie keuchen musste. Sie bemühte sich jedoch, das Geräusch zu unterdrücken, damit er nicht erfuhr, wie viel Angst sie hatte. Das war die Lektion, die sie und Matthias in Gent gelernt hatten: Lass dich niemals von der Angst beherrschen. Wer sich von der Angst beherrschen ließ, starb. Der klagende Schrei zerriss wieder die Luft, näher diesmal. Von rechts kam eine Antwort, und plötzlich erklang auch ein dritter Ruf ein Stück hinter ihnen. Ein Reiter galoppierte am Flussufer entlang auf sie zu. Anna blinzelte, überlegte, ob die heiße Sonne oder ihre Verletzungen ihren Verstand benebelt hatten. Die Kreatur hatte nur einen einzigen Kopf, war aber eindeutig menschlich. Oder etwa nicht? 461 »Gott im Himmel«, murmelte sie und schlug das Kreiszeichen vor der Brust; sie rechnete damit, dass Bulkezu sie ins Wasser treiben würde. »Mögen der Herr und die Herrin uns beschützen.« »Anna! Es sind Zentauren! Ich habe sie kommen hören!« Bulkezu machte einen Satz nach rechts, aber als Gnade auf den Hang zurennen wollte, wirbelte er zurück, packte
sie und hielt ihr das Messer an die Kehle. Drei Reiter brachen aus dem Gras und zielten mit angelegten Pfeilen direkt auf Gnades Brust. Annas Herz pochte wie wahnsinnig. Es waren keine Reiter. Es waren keine Menschen. Es waren weibliche Geschöpfe - das war offensichtlich, denn sie waren barbusig -, aber an der Hüfte verlor sich die menschliche Gestalt, ging in eine Tiergestalt über. Es waren Frauen mit den Körpern von Pferden. Zentaurinnen. Bulkezu rührte sich nicht, ließ aber auch das Messer nicht sinken. Eine der Zentaurinnen, eine cremefarbene Stute mit dunklen Haaren auf dem Menschenkopf, sprach in einer Sprache mit Bulkezu, die Anna nicht verstand. Noch immer rührte er sich nicht, obwohl er umzingelt war. »Sie haben dir gesagt, dass du uns gehen lassen sollst!«, rief Gnade empört und wand sich in seinem Griff. »Ich hasse dich, du nach Fett stinkender Sack.« Er ließ sie los. Die Zentaurinnen wichen - die Pfeile noch immer auf ihn gerichtet - ein Stück zurück, rührten sich aber nicht, als er flussaufwärts in Richtung der Felsen davonrannte. »Ich habe dir gesagt, dass etwas kommt, Anna! Nie glaubt mir jemand!« Anna taumelte. Die Sonne verwandelte das schwankende Gras in einen grüngoldenen Dunst, in dem alles verschwamm. Eine Wolke aus weißen Schmetterlingen erhob sich vom Flussufer, und es blitzte jedes Mal auf, wenn sie einen Flügelschlag taten. In der Ferne erklang ein Ruf in einer hohen Tonlage, verschmolz mit dem Gemur-, 462 mel des Flusses. Weit über ihnen löste sich eine anmutige Gestalt von der Vorhut des neuen Sturms, der sich von Osten näherte. »Sieh nur!«, schrie Gnade. »Sieh nur!« Die Eisenflügel blitzten und funkelten, als sie das Sonnenlicht einfingen. Das Wesen besaß den stolzen Kopf eines Adlers und den starken Körper eines Löwen, und ein Schlangenschwanz peitschte beim Fliegen hin und her. Es mochte sie bemerkt haben, beachtete sie aber nicht; vielleicht waren sie es nicht wert, beachtet zu werden. Sicher war es zu weit entfernt, als dass eine der Zentaurinnen auf es hätte schießen können. »Ich wusste doch, dass wir die Jagdgründe erreicht haben! Jetzt können wir jagen!« Annas Knie gaben nach, aber sie sackte nicht auf den Boden. Starke Arme umfingen sie, und sie wurde mit der gleichen Leichtigkeit hochgehoben und auf den Rücken der cremefarbenen Stute gesetzt, mit der eine erwachsene Frau ein müdes Kleinkind aufnahm. Sie klammerte sich an die Mähne der Kreatur und setzte sich aufrecht hin. Das hier war weder eine Stute noch eine Frau. Wesen aus den Legenden hatten sie gerettet. Bulkezu hatte ihnen nichts getan, hatte sie weder vergewaltigt noch umgebracht. Sie waren frei. Sie lachte und weinte gleichzeitig, unfähig, Worte des Dankes zu sagen. Aber sie musste auch gar nichts sagen, denn Gnade hatte bereits angefangen, Fragen zu stellen, wollte mehr über die Greifen und den Fluss und die Schmetterlinge erfahren. Eines Tages würde Anna nach Gent zurückkehren und von ihren Abenteuern erzählen. Matthias würde ihr niemals glauben. Bei diesem Gedanken musste sie nur noch mehr weinen. 3 »Zentauren!«, flüsterte Hauptmann Fulk. Wie die übrigen Männer starrte auch er erstaunt auf das Heer aus etwa fünfhundert nichtmenschlichen Wesen, die sich der hastig aufgestellten Linie näherten. 463 »Die Männer sollen in Position bleiben«, sagte Sanglant. »Aber unternehmt erst etwas, wenn ich ein Signal gebe. Oder wenn ich falle.« »Mein Prinz!« »Ich weiß, was ich tue. Breschius, ich möchte, dass Ihr mich begleitet.« Er schob sein Schwert in die Scheide und trat vor seine Soldaten, die sich unterhalb des Hangs mit dem Rücken zum Lager aufgestellt hatten. Es war keine gute Position, denn die Zentauren konnten sie mit der Wucht ihres Angriffs in ihr eigenes Lager zurückdrängen, das ein einziges Gewirr aus hin und her rennenden, verängstigten Pferden, verhedderten Seilen und zusammengefallenen Zelten war. Andererseits befanden sich in einem solchen Durcheinander unberittene Soldaten im Vorteil gegenüber vierbeinigen Kreaturen. Breschius und Hathui schlössen sich ihm an, als er den Hang hoch- und auf die Kreaturen zuging, die sich von der Kuppe her näherten. Er hörte, wie hinter ihm im Lager seine Männer einander zuriefen, die Pferde beruhigten, Rüstungen suchten, sich Waffen reichten und die Reihen für den Fall verstärkten, dass das Schlimmste eintreten würde. Er hatte nur seinen roten Umhang, um sich vor einem Angriff zu schützen - und den Fluch seiner Mutter. »Sind dies die Zauberer, die wir suchen, Breschius?« »Das können wir nur hoffen, Prinz. Das Bwr-Volk hat wenig Erbarmen mit unsereins.« »Seid versichert, dass ich die Geschichte des Dariyanischen Reiches und das Schicksal, das es durch die Hand eines Bwr-Heeres erlitt, gut kenne. Aber in den alten Geschichten hat es immer geheißen, dass das Bwr-Volk nicht nur gekommen wäre, um zu plündern und Sklaven zu nehmen, sondern auch, weil es das Kaiserreich
gehasst hätte. Wieso haben die Zentauren die Dariyaner so gehasst?« »Die Dichter unterhalten, indem sie hübsche Muster auf schlichte Stoffe sticken. Ich glaube, Blutgier und Neid genügen, um den Einfall des Bwr-Volkes zu erklären, bei dem das Dariyanische Reich vernichtet wurde. Schließlich haben sie mehr Ähnlich464 keit mit Tieren als wir. Doch hätten diese Zentauren einen Angriff im Sinn gehabt, hätten sie ihn im Schutz des Sturms ausführen können, als wir hilflos waren.« »Das sehe ich genauso.« Gras raschelte um seine Beine, als er den Spuren folgte, die Bulkezu auf seinem Weg den Hügel hinauf hinterlassen hatte - zusammengedrückte Schneereste, die zu Schlamm schmolzen und so das Gehen erschwerten. »Glaubt Ihr, dass Wetterhexen bei ihnen sind, die den Sturm herbeigeführt haben?« »Nun, es heißt, dass die Zentauren den kerayitischen Schamanen einst die Wettermagie beigebracht hätten, mein Prinz. Sie hätten also tatsächlich den Schneesturm vor sich herschicken oder ihn mit diesem frühlingshaften Wind bekämpfen können.« »Die Qumaner ziehen sich zurück, Hoheit«, sagte Hathui. »Sie lassen ihre Zelte zurück und fliehen.« »Behaltet sie im Auge, für den Fall, dass sie uns von hinten angreifen.« Er wagte es nicht, den Blick von den neuen Gegnern abzuwenden, nun, da er und seine Kameraden in Bogenschussweite kamen. Er musste versuchen, diese nichtmenschlichen Wesen zu seinen Verbündeten zu machen, aber er war sich ganz und gar nicht sicher, ob sie seine Aussagen über Verschwörungen in weit entfernten Landen und eine riesige Umwälzung glauben würden. Und was war mit Gnade? Was sie womöglich durch den qumanischen Anführer zu erleiden hatte ... Er musste jeden Gedanken an sie beiseite schieben, wenn er jetzt etwas erreichen wollte. Obwohl es nur im Vergleich zur bisherigen entsetzlichen Kälte warm war, schwitzte Sanglant in der unerwartet grellen Sonne. Er hielt kurz inne, um Luft zu holen und sich die Stirn abzuwischen. Die gewaltige Linie der Zentauren kam vor ihm zum Stehen. Erst jetzt bemerkte er, dass sie zwar Bögen und Speere in den Händen hielten, aber keine Rüstungen trugen. »Mögen Gott uns beistehen«, sagte er leise und halb lachend. »Ist es möglich, dass sie alle weiblich sind? Gibt es keine Hengste unter ihnen? Nicht einmal Wallache?« »Vorsicht, mein Prinz«, sagte Breschius. »Da kommt gerade eine auf Euch zu.« 465 »Was ist mit den Qumanern, Hathui?« Sanglant hielt den Blick auf die silbergraue Zentaurin gerichtet, die jetzt den Hang herunterkam, mit schlichter Eleganz durch das blasse Wintergras schritt. »Sie scheinen wirklich zu fliehen, Hoheit. Ich vermute, sie haben nicht damit gerechnet, dass wir auf solche Wesen stoßen.« »Es ist nur weise von ihnen, Angst zu haben«, bemerkte Breschius, aber seine Stimme klang fest für einen Mann, der sich unbewaffnet einem Heer näherte, das sich genauso gut als Feind wie als Freund entpuppen konnte. Sanglant warf einen Blick auf den rechten Arm des Fraters, der in einem Stumpf endete, aber obwohl auch Breschius schwitzte, schien er keine Angst zu haben. Sanglant wartete, beeindruckter, als er zugeben wollte, als die Zentaurin nur eine Körperlänge von ihm entfernt stehen blieb und ihn ebenso eingehend musterte wie er sie. Sie war alt. Strähnen aus schwarz glänzenden Haaren verbargen sich in dem schönen silbernen Fell und den rauen Zöpfen aus menschlichem Haar, das ihr bis über die Hüfte fiel. Sie trug keinerlei Kleidung, nur einen Köcher auf dem Rücken und an der einen Hand einen Lederhandschuh, der bis über das Handgelenk reichte. Das Fell und die Haare mussten einmal ganz schwarz gewesen sein und einen hübschen Kontrast zu ihrer cremefarbenen Haut gebildet haben. Grüngoldene Farbstreifen waren jetzt auf ihrem menschlichen Körper zu sehen, auch auf ihren Brüsten, die herabhingen wie die alter Weiber, die die Jahre des Gebarens weit hinter sich gelassen haben. Es war schwer, an ihrem Gesicht abzulesen, wie alt sie war, denn ihre Gesichtszüge waren nicht ganz menschlich; sie ähnelten einem menschlichen Gesicht und doch auch wieder nicht, waren ihm verwandt und doch völlig anders. Ihre Augen hatten einen Ausdruck, der auf uralten Schmerz und hart errungene Weisheit hindeutete. Ähnlich einer rechtschaffenen Bischöfin umgab eine Heiligkeit sie wie ein Umhang um ihre Schultern. Sie wirkte älter als jedes andere Wesen - menschlich oder nichtmenschlich -, das er je gesehen hatte. Er neigte respektvoll den Kopf. »Ich grüße Euch, Geheiligte«, sagte er, indem er den kerayitischen Titel benutzte, der die übliche 466 Anrede der ältesten Schamanen war, wie Breschius ihm erklärt hatte. Sie reagierte auf seine eingehende Musterung mit eigenen abschätzenden Blicken. »Ich kenne Euch nicht, aber Ihr habt das Aussehen meines alten Feindes. Und doch seid Ihr nicht derjenige, den ich gesucht habe, den ich erhofft hatte. Ist er nicht zurückgekehrt?« »Ich weiß nicht, von wem Ihr sprecht.« »Nicht? Ist er in Eurem Land denn nicht bekannt?« »Wer ist Euer alter Feind, Geheiligte?« »Die Menschen nannten sie einst die Verfluchten, aber die Sprache, die Ihr jetzt sprecht, unterscheidet sich von der, die Ihr gesprochen habt, als Ihr jung wart.«
»Ich habe immer Wendisch gesprochen, sogar als Kind«, begann er, brach dann aber ab. »Ihr sprecht nicht von mir.« Als wer jung war? Er hatte das Gefühl, als würde er am Rand eines Abgrunds entlangwanken, dessen Tiefe er nicht ausloten konnte. »Wie alt seid Ihr, Geheiligte?« Sie lächelte, und ein bisschen Wärme und freudige Anerkennung stahlen sich in ihre Miene. »Ihr seid scharfsichtig, der Ihr zweierlei Blut in Euch tragt, denn ich rieche in Euch sowohl die Menschheit als auch das Blut meines alten Feindes. Wie werdet Ihr genannt?« »Ich bin Sanglant, Sohn von Henry, König von Wendar und Varre.« »Dann ist >Henry< Eure Mutter? Sie ist König von ihrem Volk?« »Henry ist mein Vater.« Ihre Überraschung verblüffte ihn. Obwohl er sich nicht sicher war, ob ihre Miene so zu deuten war wie ein menschliches Antlitz, schien sie über das Wort »Vater« bestürzt zu sein, als wäre es ungehobelt von ihm oder sogar ein bisschen unanständig, es zu benutzen. Aber sie erholte sich rasch. »Dann seid Ihr also von einem Hengst aus dem Menschengeschlecht gezeugt worden. Wer ist Eure Mutter?« »Meine Mutter wandelt nicht mehr auf der Erde. Sie ist eine Aoi, eine der Verlorenen.« 467 »Euer Aussehen ähnelt mehr den Ashioi als den Menschen. Ihr seid daher auf zweifache Weise ein Prinz nach dem Verständnis Eures Volkes, denn Eure Mutter muss eine Schamanin mit großer Macht sein. Ich habe sie gesehen - oder vielmehr, ich muss sie gesehen haben, denn während des Exils der Ashioi hat nur eine die Kreuzungen überwunden, an denen sich die Welten und die Zeiten treffen. Sie allein hat die Erde betreten, nach der sie sich so sehnen.« »Dann wisst Ihr von ihrem Exil?« Ihr Lächeln war jetzt weniger freundlich, sogar verbittert. »Ich habe mitgeholfen, es herbeizuführen, Prinz Sanglant. Kennt Ihr die Geschichte nicht?« »Ich kenne jedenfalls keine Geschichte über das Exil der Aoi, in der Euer Volk erwähnt wird, Geheiligte. Ich würde Eure Geschichte gerne hören.« »Das werdet Ihr, zu gegebener Zeit.« Er spürte den Stachel der Verärgerung, denn er war nicht daran gewöhnt, dass man so mit ihm sprach. Sie schien seinen Ärger jedoch nicht wahrzunehmen und sprach einfach weiter. »Zuerst muss ich wissen, was Euch in Begleitung dieses Abschaums, der sich selbst als Kinder der Greifen bezeichnet, hierher geführt hat.« Er warf einen Blick über die Schulter. Die Qumaner waren geflohen, hatten ihre Zelte und die Hälfte der Wagen zurückgelassen, aber keines ihrer Pferde. Der Staub, den sie aufgewirbelt hatten, bildete eine Wolke, die ihre Flucht verbarg - oder vielleicht war es auch nur ein Schleier, den einer ihrer Schamanen erschaffen hatte. Er drehte sich wieder um. »Wie kommt es, dass Ihr Wendisch sprecht, Geheiligte? Seid Ihr schon einmal jemandem von meinem Volk begegnet?« »Ich habe den Biss der Schlange überlebt und trage jetzt ihre Magie in meinem Blut.« Sie warf den Kopf in den Nacken wie ein unruhiges Pferd. »Solche Dinge sind nicht wichtig. Wenn Ihr gekommen wärt, um uns anzugreifen, Prinz Sanglant, hättet Ihr das sicher schon getan. Und Ihr wärt auch nicht allein zu uns gekom468 men, lediglich begleitet von zwei unbewaffneten Kameraden, wenn Ihr nicht mit uns sprechen wolltet. Was möchtet Ihr ? Wieso seid Ihr so weit gereist?« »Ich wollte Euch treffen«, sagte er, »denn es ist bekannt, dass beim Stamm der Kerayiten - Euren Verbündeten mächtige Zauberer leben. Ich suche mächtige Zauberer und die Federn der Greifen.« »Ihr seid weit geritten, auf der Suche nach etwas, das Ihr vermutlich nicht erhalten werdet. Welche Absicht verfolgt Ihr, Prinz Sanglant? Was für ein Mensch seid Ihr, dass Ihr wünscht, was Ihr nicht haben könnt?« Er lachte, denn der Schmerz verließ ihn niemals, hatte jetzt sogar neue Narben hinterlassen. »Ich habe bereits verloren, was mir am wichtigsten ist. Zweimal. Was ich jetzt suche, wünsche ich nicht für mich, sondern nur um der Pflicht willen jener Pflicht willen, in die ich als der Sohn eines Königs hineingeboren wurde. Ich schulde meinem Volk Schutz und Wohlergehen. Glaubt bitte nicht, dass Ihr, nur weil Ihr weit entfernt von den Städten und Ländern meines Volkes lebt, vor denen in Sicherheit seid, die Magie wirken.« »Die Sieben sind gestorben, und auch ihr Geschlecht ist schnell ausgestorben. Nur die Kerayiten erinnern sich noch an das alte Wissen.« »Meint Ihr die Sieben Schläfer? Sie leben noch, und sie haben gelernt, große Macht zu wirken, die sie erneut weben wollen, um die Verlorenen zurück in den Äther zu schicken.« Zeigte sich da Ungeduld in ihrer Miene? Sie stampfte mit dem Hinterfuß auf, und er hatte den seltsamen Verdacht, dass sie, wäre sie dazu in der Lage gewesen, die Ohren vor Ärger zurückgelegt und nach ihm geschnappt hätte, wie es eine Stute tat, die es leid war, von einem Hengst belästigt zu werden. »Wenn Ihr mir nur gestatten würdet, Euch die Geschichte ganz zu erzählen -« »Ich kenne die Geschichte, wie Ihr sie nicht kennen könnt. Ich weiß, was bevorsteht, Prinz Sanglant, wie Ihr es nicht wissen könnt.« »Viele werden sterben -« 469
»Ja. Viele werden sterben. Das ist immer so. Die Ashioi waren einmal unsere Feinde. Wir haben uns mit den Menschen verbündet, um gegen sie Krieg zu führen. Aber am Ende war es Euer Volk, das uns verkrüppelt und erniedrigt hat. Es ist Euer Volk, das uns jetzt bedroht, die Qumaner, die Sazdakhen, die Jinnen, die Arethusaner all diese Daisaniten, die uns diese krank machenden Botschaften bringen. Wir haben damals den falschen Feind gewählt. Oder vielleicht war unser Schicksal auch bereits besiegelt.« »Ich bin nicht Euer Feind!« »Ich könnte dagegenhalten, dass Ihr sogar auf doppelte Weise unser Feind seid. Doch ich werde mich bereit erklären, mit Euch zu sprechen, als wärt Ihr eine Frau, Prinz Sanglant. Aber nur, wenn Ihr Euch als ein würdiger Anführer erweist.« Die Worte verärgerten ihn, aber er antwortete so gelassen wie möglich. »Wie kann ich das tun?« »Habt Ihr es nicht bereits erwähnt? Männer beweisen ihre Eignung auf die immer gleiche Weise, ob sie Menschen sind oder Pferde. Sie existieren, um zu zeugen und die Herde zu beschützen, wo bloße Gewalt nötig ist. Es läuft eine Bestie frei im Gras herum -« »Ihr habt ihn gesehen?« Ein kurzer Hoffnungsschimmer. Dann blitzte Wut auf, heiß und stark. »Er hat meine Tochter gefangen genommen!« »Vernichtet die Bestie, die im Gras jagt«, erklärte sie. »Dann werde ich wieder mit Euch sprechen.« »Werdet Ihr mir nicht helfen, meine Tochter zu retten?« Sie hob den Arm. Eine riesige Eule glitt herab, ließ sich auf dem Handschuh der Zentaurin nieder. Breschius schnappte hörbar nach Luft. Die Zentaurin beugte sich dicht zu der Eule, aber obwohl Sanglant ein außerordentlich scharfes Gehör besaß, konnte er nur ein Rascheln vernehmen, so sacht wie das Aneinanderreihen weicher Federn. Sie schickte die Eule wieder zurück in die Luft, und das Tier stieg über den Reihen der Zentaurinnen in die Höhe, geriet rasch außer Sichtweite. Die Zentaurin musterte Sanglant erneut. »Jagt, Prinz Sanglant. Wenn Ihr zurückkehrt, werden wir verhandeln.« 470 Mit einem Zucken ihres Schwanzes machte sie einen Schritt zur Seite, drehte sich um und stapfte den Hügel hinauf zu ihrem Heer. Hathui hatte von Hauptmann Fulk einen Speer erhalten und kam den Hang hochgehastet, um ihn Sanglant zu bringen. Er öffnete seinen Umhang und kehrte das Innere nach außen, verbarg den roten Stoff, sodass stattdessen das helle Fuchsfell zum Vorschein kam, das besser mit dem Gras verschmolz. »Hoheit.« Hathui reichte ihm den Speer; von allen, die er besaß, war dieser am besten ausbalanciert. Fulk hatte natürlich - eine gute Wahl getroffen. »Ich bitte Euch, Prinz, seid vorsichtig. Wir alle aus Wendar und Varre sind verloren, wenn Ihr zugrunde geht.« »Und ich bin verloren, wenn ich zulasse, dass ein Mann wie er meine Tochter entführt und misshandelt.« »Er will, dass Ihr ihm folgt. Zweifellos muss er einen neuen Greifen töten und Euch besiegen, wenn er seine Ehre wiederherstellen und seine Position zurückerlangen will. Prinzessin Gnade dient ihm dabei lediglich als Köder.« »Das hoffe ich«, sagte Sanglant. Er musterte den Himmel und den Hügel. »So wird es leichter sein, ihn zu finden.« »Soll ich Euch begleiten, Hoheit?« »Nein. Bringt das Lager in Ordnung. Findet eine besser geeignete Stelle, wenn möglich. Befestigt es gegen einen unerwarteten Angriff, von welcher Seite er auch kommen mag. Nehmt Euch von den Qumanern, was Ihr braucht. Vergesst nicht, dass sie zurückkommen und Euch überfallen könnten, wenngleich ich glaube, dass Gyasi Euch warnen kann, sobald sie sich nähern.« »Sofern wir ihm trauen können«, erwiderte Hathui. »Ich glaube ihm, dass er sich an denen rächen will, die ihm Leid angetan haben. Behaltet ihn im Auge, aber verwerft nicht, was er zu sagen hat.« »Wie Ihr wünscht, Prinz«, sagte Breschius. »Was ist, wenn Bulkezus Stamm ihn für sich fordert?«, fragte Hathui. »Sie sind geflohen, bevor sie ihre Seite des Tauschhandels einfordern konnten, und haben meine Schwester mitgenommen. Es spielt keine Rolle.« 471 Er hob den Speer. Im Osten, wo eine Reihe zerklüfteter Felsen aus der Hochebene aufragte, türmten sich Sturmwolken. Er roch den Sturm im Wind. Draußen im Grasland, in den Gefilden jenseits der Reichweite der Zentauren-Hexe, herrschte noch immer Winter. Dessen eisige Attacke war nicht annähernd so stürmisch wie seine Wut. »Bulkezu ist jetzt ein toter Mann.« 4 Nur einen einzigen Augenblick hielt Liath Alain und seine Hunde fest, als sie das Herz des brennenden Steines durchquerte. Dann wurden sie ihr von dem Gewicht der Welt unter ihr entrissen, und Liath wirbelte zwischen den Welten, verlor das Gleichgewicht. Die Erde drehte sich unter ihr, als sie auf eine Welt zurückstürzte, die sie einige Tage zuvor verlassen hatte. Sie erhaschte einen kurzen Blick auf den flackernden Schimmer der Sternenkrone, die sich über das Land erstreckte. Aber die sich drehenden Sphären fingen sie ein, schleuderten sie
von den Landen weg, die sie kannte. Die schweren Elemente der Erde und des Wassers zogen sie nach unten, während ihre Flügel sich auflösten - ihre ätherische Substanz war zu zerbrechlich, um in der Welt unten bestehen zu können. Als sie vom Äther ins Netz der festen Welt übertrat, stürzte sie durch eine Unterwelt, die weder das eine noch das andere war, weder auf der Welt unten gründete noch im Äther trieb, so wie die Heimat der Ashioi es tat. Sie erhaschte einen Blick auf eine Gruppe schattenhafter Gestalten, die sich auf dem Marsch befanden und mit Speeren und Bögen ausgestattet waren. Es waren Kinder und Hunde dabei, Männer und Frauen, bewaffnet und bereit. Sie trugen eine Kleidung, die der der Verlorenen ähnelte, und der junge Mann, der sie anführte, kam ihr seltsam vertraut vor, obwohl sie wusste, dass sie ihn nie zuvor gesehen hatte. Er sah ein bisschen wie Sanglant aus. 472 Er blickte auf, schien sie zu spüren, konnte sie aber nicht sehen. »Bald!«, rief er den Leuten zu, die ihm folgten. »Wir müssen nicht mehr lange warten! Beeilt euch! Macht euch bereit!« Sie streckte die Hand nach ihm aus, suchte eine Antwort auf dieses Rätsel, aber sie taumelte weiter, von einer Kraft gezogen, die sie weder ergründen noch sehen konnte. Sie wurde von dem festen Griff einer Hand nach Osten gezogen, während die Welt herumwirbelte und sie hilflos gegenüber dem großen Gewicht war, das an ihr zerrte. Was verband sie mit der Erde, was rief sie zurück? War es Sanglant? Das Kind? Sie hatte nur einen kurzen Augenblick zum Beten, bevor sie in einen fauchenden Schneesturm fiel, der so bitterkalt war, dass sie keine Luft bekam, weil ihre Lunge gefror und ihr Gesicht brannte und ihr Mut zerbarst, zerbrach und zersplitterte. Kälte. Sie war taub vor Kälte. Sie würde niemals wieder Wärme spüren. Hugh würde mit seiner Lampe kommen und sie zurück in die Kirche bringen, wo er sie zu seiner Sklavin gemacht hatte. Sie wimmerte. Gott im Himmel, lasst mich nicht erneut in eine solche Gefangenschaft geraten. All dies zuckte so schnell durch ihren Geist wie ein Stein, der aus der Hand und zu Boden fällt. Dann, als der beißend kalte Schnee in ihre Haut biss und der Wind ihr entgegenheulte, kämpfte sie sich auf die Knie, trotzte dem Sturm. Sie war nicht mehr das Mädchen von damals. Sie war nicht mehr unfähig, sich zu verteidigen. Sie war nicht mehr allein. Sie war durch die Sphären gewandelt. Sie hatte das Volk ihrer Mutter besucht. Sie hatte Frieden mit dem Andenken ihres Vaters und seinen Kämpfen geschlossen. Sie hatte die Tür geöffnet, hinter der Pa ihre Macht versiegelt gehabt hatte. Hugh konnte sie nicht mehr beherrschen. Aber die Kälte konnte sie noch immer töten. Das Heulen des Sturms machte sie fast taub, und der Schnee blendete sie so sehr, dass sie nicht weiter sehen konnte als einen Steinwurf, egal, wohin sie blickte. Sie kniete vornübergebeugt im 473 Gras, das ihr ebenfalls keinen Schutz gewährte. Aber in den fasrigen Halmen war Feuer. Sie drehte sich zur windabgewandten Seite und rief Feuer aus dem Gras. Flammen züngelten nach oben, brannten wild in einem leuchtenden Bogen, und sie drängte sich so nah an das Feuer wie möglich, achtete dabei jedoch auf ihren Umhang und die Kleidung. Das Feuer wärmte sie eine Zeit lang, aber der Schneesturm schlug auf das Feuer ein und erstickte die Flammen eine nach der anderen, bis sie zuckten, kleiner wurden und ganz erstarben. Der Wind heulte auf, verstreute die Asche. Sie zog sich den Umhang fester um die Schultern. Ihre Finger wurden jetzt trotz der Handschuhe taub. Ihre Ohren schmerzten. Die Kälte versengte sie. Wieder rief sie Feuer herbei, diesmal in einem größeren Bogen. Als die Flammen in einem Halbkreis um sie herum zum Leben erwachten, tauchte eine gebückte Gestalt aus dem Schneesturm auf, näherte sich ihr im Laufschritt. Es war ein Mann; so viel konnte sie erkennen. Er trug einen Speer. Sie zog ihr Messer und wartete. Es war sinnlos, bei diesem Wind Pfeile abzuschießen. Die Hitze des Feuers schmolz den Schnee um sie herum; eiskaltes Wasser sammelte sich an ihren Füßen, nässte ihre Stiefel. Der Mann blieb in angemessenem Abstand von ihr stehen, musterte sie, so wie sie ihn musterte. Obwohl er offensichtlich kaum wärmere Kleidung trug als sie, wirkte er nicht so, als würde er kurz vor dem Erfrieren stehen. Er lächelte seltsamerweise, während er sie betrachtete. Eis säumte seine schwarzen Haare, und er hatte eine gewaltige Narbe auf der einen Wange, die sein Antlitz beeinträchtigte, ohne dass er dadurch hässlich wurde. Ansonsten kam er ihr vor wie jeder andere Mensch, der in einem solchen Sturm gefangen war: wachsam, frierend, verzweifelt und voller Respekt vor dem Feuer hinter ihrem Rücken. »Ich habe das Feuer gesehen«, rief er. Seine Worte waren kaum zu hören, so laut heulte der Wind. »Seid Ihr diejenige, die man Liathano nennt? Ich hätte nicht gedacht, Euch in diesem Land zu finden.« Sie hatte diesen Mann nie zuvor gesehen. Oder doch? Erinne474 rungen nagten an ihr, aber sie hatte keine Zeit, sich den Luxus der Vorsicht zu gönnen. Fragen mussten bis später
warten. Sie spürte ihre Füße kaum noch, und die heißen Flammen verloren ihren Kampf gegen den Sturm, erstarben um sie herum trotz ihrer anfänglichen Wut. Gegen einen Schneesturm konnte nicht einmal Feuer siegen. Der Hautfarbe und den Gesichtszügen nach zu urteilen, musste dieser Mann zu einem Stamm der Steppe gehören. Obwohl sie Barbaren waren, kannten sie dieses Land so gut wie niemand sonst. »Wisst Ihr, wo wir Unterschlupf finden können?«, rief sie so laut wie möglich, um trotz des Windes gehört zu werden. Er lachte, und es klang wie ein wahnsinniges und eher beunruhigendes Gackern. »Hier gibt es keinen anderen Unterschlupf als das Nest der Greifen.« »So sei es«, erwiderte sie, »denn hier draußen ohne Schutz werde ich ganz sicher sterben, während ich im Nest eines Greifen immer noch überleben könnte.« Er machte eine Geste mit seinem Speer. In diesem Sturm kamen ihr alle Richtungen gleich vor. »Kommt«, sagte er. Sie wappnete sich innerlich gegen den Wind und folgte ihm. XV Eine glücklose Fliege
1 Die Winterwinde trieben kalten Regen über die Landschaft, wie durch die offenen Türen der Halle zu sehen war, die einmal der Königin von Alba gehört hatte und in der jetzt Starkhand Hof hielt. »Bring die Gefangenen her.« Ein Hauptmann trieb die Gefangenen zum Podest; es waren Erwachsene und Kinder, ein Haufen zerlumpter Flüchtlinge. Sie hatten in den Wäldern nicht besser als Tiere gelebt, als eine Patrouille auf ihre Ansammlung von Bretterverschlägen und behelfsmäßigen Zelten gestoßen war und sie eingekesselt hatte. Der Winter hatte sie zu sehr geschwächt, als dass sie hätten Widerstand leisten können, und jetzt schüchterten Starkhands Hunde sie so sehr ein, dass sie vor Angst nicht wegzulaufen wagten. Zitternd kauerten sie beisammen, und es war schwierig, sie voneinander zu unterscheiden. Die Kleidung hing ihnen in Fetzen von den abgemagerten Körpern; sie erinnerten an Vieh, das man besser schlachtete und als Suppenknochen nutzte, als es draußen auf den Winterweiden grasen zu lassen, wo ihm nur der Tod blieb und die Kadaver von Wölfen verschlungen werden würden. Aber diese hier waren nicht gestorben, oder zumindest nicht alle. Täglich nahmen seine Soldaten solche Flüchtlinge gefangen, Leute, die aus der Stadt entkommen oder von den nahen Höfen ge476 flohen waren, die einst die Stadt mit Nahrung versorgt hatten. Während seine Streitkräfte das Gelände jenseits des Temes durchkämmten, hatte er eine andere Aufgabe zu erledigen. Er winkte seinem Übersetzer, einem Kaufmannssohn aus Hessu namens Yeshu. Wie ein gut abgerichteter Hund näherte sich Yeshu ohne jede Furcht. »Finde heraus, was für Leute das sind«, trug er ihm auf. Die Kaufleute aus Hessu brachten ihren Kindern viele Sprachen bei, damit sie den Handelsstraßen besser folgen konnten. Yeshu sprach seine entstellte Muttersprache ebenso wie Albisch, Wendisch und Salianisch. »Sie sagen, sie sind Handwerker, Herr«, erwiderte er, nachdem er die älteste Frau befragt hatte. »Ihrem Bericht nach sind sie aus der Stadt geflohen und haben sich im Waldland versteckt. Die Hälfte von ihnen ist in diesem Winter gestorben, behaupten sie.« »Was für Handwerker?« »Zimmerleute und Drechsler, Herr.« Er sah sich in der großen Halle um, die nach der Schlacht im vergangenen Herbst behelfsmäßig mit Möbeln ausgestattet worden war, aber ein paar gute Handwerker gebrauchen konnte. »Sind sie miteinander verwandt? Gehören sie zum gleichen Stamm?« »Sie stammen aus zwei Clans und drei Häusern, Herr.« Yeshu trug eine Kappe, unter der schwarze Locken hervorlugten. Seine dunkle Hautfarbe unterschied sich deutlich von der der hellen, blonden Flüchtlinge. »Dies haben sie mir gesagt: Sie haben sich auf der Flucht zusammengetan, weil einige ihrer Verwandten miteinander verheiratet sind, wie es bei albischen Handwerkern üblich ist.« »Holzarbeiter«, sagte Starkhand nachdenklich und musterte sie. Sie waren ein trauriger Haufen, und viele von ihnen würden möglicherweise immer noch sterben, egal, welche Gnade er ihnen auch erwies. Aber dass sie so lange überlebt hatten und so zahlreich zusammengeblieben waren, um sich zu schützen, ließ auf Klugheit und einen Sinn fürs Praktische schließen. Ein Werkzeug konnte arg mitgenommen, sogar fast zerbrochen aussehen, und doch mochte es noch zu reparieren sein. Und nützlich. 477 Es gab mehr als einen Weg, ein Land zu erobern.
»Sorge dafür, dass sie so viel Korn und Salz erhalten, wie sie für den Rest des Winters benötigen. Sie dürfen in Frieden ihrem Gewerbe nachgehen, solange sie sich wieder in ihren Heimen einrichten und sich den Aufgaben widmen, an die sie gewöhnt sind. Sie werden meinen Schutz mit Arbeit bezahlen. Diese Halle muss instand gesetzt werden. Die Türen schließen nicht richtig. Was hat ihre Königin als Zehnten von ihnen verlangt?« Wieder folgte eine Unterhaltung. Der Junge war gut im Handeln; da Starkhand verstand, was Yeshu den albischen Gefangenen sagte, verstand er auch, dass die Älteren dem Jungen trotz ihrer offensichtlich hoffnungslosen Lage einzureden versuchten, dass die albische Königin weniger als einen Zehnten verlangt hatte. Starkhand wusste jedoch aufgrund der Aussagen anderer Gefangener und der Kaufleute aus Hessu, mit denen er Handelsverbindungen gepflegt hatte, dass dies nicht stimmte. »Genug«, sagte Starkhand schließlich auf Wendisch. Nicht einmal Yeshu hegte den Verdacht, dass er die albische Sprache beherrschte. Tatsächlich war er selbst überrascht, dass er sie verstand, aber seit Alains Rückkehr lagen die Sprachen aller Kreaturen auf geradezu unheimliche Weise offen vor ihm, als hätten die AltMütter sein sterbliches, verkrüppeltes Blut mit ihrer allumfassenden Weisheit überschwemmt. »Wenn sie darüber streiten, wollen sie nicht die Wahrheit sagen. Ein Tag von dreien wird der Zehnte sein, den sie mir geben müssen. Wenn sie aufrichtig sind, können sie sich das Privileg verdienen, das jene erhalten, die mir gegenüber loyal sind, und müssen nur einen von sechs Tagen für mich arbeiten. Sag ihnen, sie sollen in ihre Häuser zurückkehren und sie wieder aufbauen.« Mit einer solchen Barmherzigkeit hatten sie nicht gerechnet. Weinend und wimmernd warfen sie sich vor ihm auf den Boden und schworen Gehorsam, aber er wusste, dass er ihnen nicht trauen konnte. Um sein Missfallen zu zeigen, wählte er das am gesündesten aussehende Kind aus, um es als Akolythin zu Mutter Ursuline nach Rikin-Fjord zu schicken. Er machte sich nichts aus den Streitereien zwischen den Göttern der albischen Baumzauberer 478 und dem Kreisgott, an den die Wendaner glaubten, aber die Anhänger des Kreisgottes waren nützlicher für ihn, zumal die Baumzauberer nach wie vor seine Gegner waren. Nachdem die Gefangenen weggetrieben worden waren, fuhr er mit den Fingern über den Holzkreis, den er um den Hals trug. Seine Berater - die Anführer von Hakonin, Vitningsey, Jatharin und Isa, Papa Otto und Samiel, der Kaufmann aus Hessu, den er zu seinem Verwalter ernannt hatte, weil er lesen, schreiben und rechnen konnte - schwiegen respektvoll, während er nachdachte. »Die Holzarbeiter können auch flussaufwärts eine Brücke bauen, da, wo der Fluss schmaler wird. Das würde unsere Aufgabe erleichtern. Wenn das Frühjahr kommt und sie mit der Halle fertig sind, sollen sie an einem von vier Tagen daran arbeiten.« »Ja, Herr.« Draußen im Hof geriet eine Gruppe von Spähern in Sicht. »Lasst sie durch.« Sein Herold - einer seiner Nestbrüder - rief sie herbei. Der Hauptmann - einer von Hakonins Söhnen - erstattete Bericht: Sie waren den gewundenen Temes entlang nach Süden und Westen geritten. Eine Befestigung hatten sie niedergebrannt, und dreimal war es zu Gefechten gekommen, ohne dass jemand getötet worden war. Es gab zwei Städte, die zwar ordentlich befestigt waren, aber mit einer genügend großen Streitmacht eingenommen werden konnten. Von der albischen Königin hatten sie nichts gesehen. Starkhand wandte sich an seine Berater. »Von den acht Gruppen, die ich ausgeschickt habe, sind sechs zurückgekehrt. Niemand hat irgendeine Spur von der Königin gesehen. Wir warten auf die Neuigkeiten aus dem Norden.« »Wir sollten jetzt die Städte überfallen, die wir plündern können«, sagte der Anführer von Vitningsey, der Hundetöter genannt wurde. »Wir sollten dort zuschlagen, wo unsere Schläge die größte Wirkung haben, und uns nicht damit abgeben, nach Schätzen zu suchen«, sagte der Anführer von Hakonin, der Feuerstein genannt wurde. 479 »Diese Gefangenen sind eine Bürde«, fuhr Hundetöter fort. »Wenn wir sie töten würden, wären wir in der Lage, weiter nach ihrer Königin und ihren Reichtümern zu suchen. Was sagst du dazu, Eisenklaue?« »Ich sage nichts«, erwiderte der Anführer von Isa. »Ich warte immer noch darauf, ob der Sohn von Rikin flieht oder fällt.« Der Anführer von Jatharin blieb still, wie meistens. Starkhand nickte Papa Otto zu, der im Laufe der Zeit gelernt hatte, dass sein Herr es vorzog, von ihm einen Rat zu bekommen, statt dass er schwieg. »Wenn Ihr die albische Königin besiegt, könntet Ihr an ihrer Stelle herrschen. Aber solange sie oder jemand von ihrem Geschlecht am Leben, frei und mit den Baumzauberern verbündet ist, werden die Alben sich um ihr Banner scharen und für ihre heidnischen Götter kämpfen. Kämpft gegen ihre Götter, und Ihr werdet Alba gewinnen.« »Töte das albische Volk, und es wird niemand da sein, der dich bekämpfen kann«, sagte Hundetöter. Papa Otto schüttelte den Kopf. »Tötet das albische Volk, und das Land wird veröden, wird weit weniger wertvoll für Euch sein als die gute Ernte, die Bauern hervorbringen könnten, um Handwerker und Soldaten zu ernähren.«
Starkhand erhob sich und musterte das Gefolge, das sich um ihn versammelt hatten: Berater, FelsenKinder, die begierig darauf waren, Ruhm und Gold zu erringen, Menschen, die bereit waren, einem besseren Herrn zu dienen als dem, den sie zurückgelassen hatten, Sklaven, Gefangene - und Zweifler wie Eisenklaue, die nur darauf warteten, dass er versagte, damit sie ihm entringen konnten, was er bisher erreicht hatte. Aber sogar Eisenklaue, der schlauer war als die meisten anderen, durchschaute Starkhands Ziele und Methoden nicht ganz. »Wir werden warten, bis wir Nachricht aus dem Norden haben. Unsere Streitkräfte werden weiterhin das Land durchkämmen, bis alles im Umkreis von drei Tagesmärschen um Hefenfelthe unter unserer Kontrolle ist. Brennt nieder, was ihr niederbrennen müsst, aber errichtet dort etwas, wo es nötig ist. Ein niedergebranntes Haus ist kein starkes Haus; es kann keinen Regen, Sturm und 480 Wind abhalten. Die Priester des Kreisgottes sollen euch folgen und unter den Alben umhergehen.« Genau so würde es geschehen. Er saß da und schüttelte seinen Stab; er klapperte leise, und die Glöckchen bimmelten, als er seinem Herold winkte. »Bring die nächste Gruppe. Sind Bauern dabei?« Es waren Bauern dabei. Diese hungernde, armselige Gruppe schickte er zufrieden mit Saatgut und genug Korn, dass sie den Winter und den Frühling überstehen würden, zurück auf ihre Höfe. Er sprach weiter Recht, während der Morgen verstrich, der Regen aufhörte und der Himmel aufklarte, obwohl der Wind noch immer durch die Halle fuhr und die Menschen zum Zittern brachte. Die Zimmerleute würden einiges zu tun haben. Seit kurzem fielen ihm immer mehr Gefangene in die Hände, und nicht alle widerwillig. Es war nicht schwer, dafür zu sorgen, dass Gerüchte die Arbeit für ihn erledigten - er ließ albische Kundschafter, die von den tief im Wald verborgenen Gruppen ausgesandt wurden, die Verteidigungslinien um Hefenfelthe herum durchdringen, sodass sie sich selbst einen Überblick über die zunehmende Betriebsamkeit in der Stadt verschaffen konnten. Er ließ sie mit eigenen Augen sehen, dass ihre Landsleute hart arbeiteten, dass sie zu essen hatten und am Leben waren. 2 Königinnengruft. Das Wort hatte einen unheilvollen Klang, aber das sanft hügelige Land, durch das sie mit ihrer Eskorte zogen, wirkte trotz der Winterkälte sehr schön. »Schön genug für einen Friedhof«, sagte Ermanrich, den Blick auf die unbelaubten Obstbäume und die verwelkten Gärten des Dorfes gerichtet, das sie passierten. Leute kamen aus den Häusern und schauten zu, wie sie vorbeimarschierten, sagten aber nichts. Sie 481 tuschelten miteinander, deuteten auf das Banner, das diese Gruppe als einen Trupp Soldaten von Edelfrau Sabella kennzeichnete. »Sie mögen uns nicht«, flüsterte Hathumod. »Oder sie mögen Edelfrau Sabella nicht«, murmelte Ivar. »Du darfst nicht verzweifeln.« »Jetzt zumindest noch nicht«, sagte Ermanrich. »Da ist eine Palisade. Kommt mir vor wie eine Festung.« Als sie sich der Kammlinie näherten, konnten sie sehen, dass die Mauer aus Baumstämmen in der engen Mündung eines Tals endete. Außerhalb der Palisade befand sich ein behelfsmäßiges Lager mit Soldatenunterkünften, Zelten und einer kleinen Anzahl von Häusern nahe bei einem Bach. Ein paar Männer trieben sich dort herum, starrten sie an - dem Aussehen nach Soldaten. Eine Frau erschien im Türrahmen eines Bauernhauses, zog eine Tunika über ihr schmutziges Hemd und grinste, als sie vorbeimarschierten. »Hey, ihr da! Wie hübsch!« Es war nicht ganz klar, ob sie zu den Gefangenen oder zu der Eskorte sprach. Ein Mann tauchte neben ihr auf, gab ihr einen Schlag auf den Hintern und ging pfeifend nach draußen. »Was ist das?«, rief er seinen Kameraden zu. »Eine neue Lieferung von Spatzen für den Käfig? Junge Kerle und ein Mädchen! Das wird die Katzen zu den Tauben treiben!« Beim Tor empfing sie ein mürrischer Hauptmann und scheuchte die Gefangenen ins Innere. Die Eskorte schickte er gleich wieder weg, ohne den Männern auch nur ein Bier anzubieten, mit dem sie sich die Kehlen hätten befeuchten können, ehe sie sich in der Kälte wieder auf den Weg nach Autun machen mussten. »Wir sind zehn Tage unterwegs gewesen!«, wandte der junge Erkanwulf ein, der von Hauptmann Ulric den Befehl übertragen bekommen hatte. »Können wir nicht wenigstens die Nacht hier verbringen und unsere Kleidung trocknen, ehe wir zurückgehen ?« »Verschwindet!«, blaffte der Hauptmann. »Niemand hat die Erlaubnis, sich hier aufzuhalten, abgesehen von den Wachen, die unter meinem Befehl stehen. So hat es Ihre Hoheit, Edelfrau Sabella, angeordnet.« Erkanwulf schaute finster drein, warf den Gefangenen einen 482 Blick zu und befahl schließlich mit einem enttäuschten Schulterzucken seinen Männern, sich wieder auf den Weg zu machen. »Das war das«, sagte der Hauptmann und schloss das Tor wieder, sodass die vier Gefangenen auf der einen und der Hauptmann und seine Wachen auf der anderen Seite standen.
»He!«, rief Ivar vom Innern der Palisade; sie standen jetzt ganz allein dort. »Was ist mit uns?« Der Riegel wurde vorgeschoben. Sie waren eingeschlossen. Er drehte sich um. Sie standen am Anfang eines Tals mit mehreren Feldern, einer mit Schafen gesprenkelten Weide, einem Bach und einer Ansammlung von Gebäuden. »Dies ist ein sehr altes Kloster«, sagte Sigfrid, der die Anlage musterte. »Seht ihr? Es handelt sich um einen alten Grundriss.« »Um was für einen alten Grundriss?«, fragte Ermanrich. »Um denjenigen, der üblich war, bevor die Reformen von St. Benedicta und die sorgfältigen Pläne der Brüder von St. Galle für ein neues Ideal hinsichtlich des Grundrisses und der Struktur eines Klosters gesorgt haben. Quedlingham und Herford folgen einem neuen Stil. Dieses Kloster hier nicht. Vielleicht war es im Dariyanischen Kaiserreich einst ein herrschaftliches Haus, das dann in ein Kloster umgewandelt worden ist. Aber ich halte es für wahrscheinlicher, dass der Architekt es den dariyanischen Villen nachempfunden hat. Nicht alle Einzelheiten stimmen. Seht nur, wie die Abwasserleitungen -« »Wieso sollte man ein Gefängnis im Stil einer Villa bauen?«, fragte Hathumod. »Still«, sagte Ivar. Ein sehr hübsches Mädchen näherte sich ihnen und beäugte sie argwöhnisch. »Wer seid Ihr?«, fragte sie. »Man hat uns nicht benachrichtigt, dass jemand kommt. Was wollt Ihr?« Ivar machte einen Schritt nach vorn. »Wir sind von Edelfrau Sabella geschickt worden, um uns Eurem Kloster anzuschließen.« » Seid Ihr das ?« Sie warf den Kopf zurück, und bei der Bewegung rutschte ihr Schal halb vom Kopf. Sie hatte so üppige schwarze Locken, dass die drei Jungen zunächst einmal gafften, ehe sie sich daran erinnerten, dass sie Novizen waren und das Mädchen eine 483 heilige Nonne, die sich dem Dienst gegenüber Gott verschrieben hatte. Sie schnaubte, lächelte angesichts ihres Unbehagens. Hathumod starrte sie bewundernd an. »Kommt mit.« Der Hauptteil der Anlage bestand aus einem rechteckigen Gebäude mit einem Innenhof in der Mitte. Wachen standen an den Doppeltüren, aber das schwarzhaarige Mädchen achtete nicht auf sie, sondern drängte die Neuankömmlinge in die dahinter liegenden Gemächer. »Euer Gnaden! Bischöfin Constanze!« Sie hatte eine durchdringende Stimme und keine Scheu, sie zu benutzen. »Wir haben neue Schafe. Glaubt Ihr, es sind Spione der Besatzerin?« Eine silberhaarige Frau saß an einem Schreibtisch, eine ältere Frau, den gekrümmten Schultern und der Haarfarbe nach zu urteilen. Ivar sah sich im Zimmer um, in der Hoffnung, die Bischöfin zu sehen, an die er sich von der Verhandlung in Autun noch gut erinnerte - sie war jung und strahlend und hübsch gewesen, wie es der Tochter eines königlichen Hauses anstand. Eine ältliche Nonne betrat den Raum, blieb stehen und runzelte die Stirn. »Schwester Bona!«, schalt die Nonne das Mädchen, das sie hereingelassen hatte. »Du musst erst um Erlaubnis fragen, ehe du hier hereinplatzt -« »Nein, ist schon gut«, sagte die Frau am Schreibtisch. Mühsam und offensichtlich ein Bein und eine Schulter schonend, drehte sie sich um. »Gib mir bitte meinen Stab.« Ivar schnappte nach Luft. Bischof in Constanze lächelte trocken. Sie war noch immer hübsch und sprühte vor Autorität, aber sie schien um dreißig Jahre gealtert zu sein. Als sie sich erhob und Bona zu ihr sprang, um ihr zu helfen, begriff Ivar, wieso. Sie konnte kaum gehen. Sie musste irgendwelche ernsten Verletzungen erlitten haben, aber er wagte es nicht, danach zu fragen. »Setzt Euch bitte«, sagte sie geduldig zu ihren Besuchern. Bona half ihr auf den Bischöfinnensitz, und Ivar, Sigfrid, Ermanrich und Hathumod knieten hastig vor ihr nieder. Sie reichte ihnen die Hand, und sie küssten sie. »Sie sind Spione!«, beharrte Bona. 484 »Sind sie das? Ich bin mir nicht so sicher, ob ich das glaube. Sabella ist nie eine raffinierte Schachspielerin gewesen. Ich erinnere mich an Euch, Ivar. Ihr seid der Sohn von Graf Harl aus der Nordmark. Ihr habt bei der Verhandlung gegen Hugh von Austra ausgesagt. Ich habe damals bewundert, wie tollkühn und leidenschaftlich Ihr Euch für die Gerechtigkeit eingesetzt habt, auch wenn Ihr Euch an diesem Tag in vielerlei Hinsicht einen Bärendienst erwiesen habt. Wenn ich mich recht entsinne, seid Ihr kurz darauf verschwunden. Man hat Euch für tot gehalten oder geglaubt, Ihr wärt mit Prinz Ekkehard, meinem Neffen, weggelaufen.« Er neigte beschämt den Kopf. »Letzteres, Euer Gnaden. Es ist nichts, dessen ich mich rühmen könnte.« »Bona, bring Wein und etwas zu essen.« Bona stolzierte nach draußen, kehrte aber schon bald mit einem Tablett zurück. Ein halbes Dutzend anderer Leute kam hinzu, als sie gerade damit fertig waren, der Bischöfin ihre Namen und ihre Abstammung zu nennen. Constanze kicherte, als sie die Nonnen ins Zimmer strömen sah. »Ihr seht, Ihr seid heute das Tagesgespräch, meine Freunde. Wir führen hier im Kloster von St. Asella ein sehr ruhiges Leben.« »Ich dachte, der Ort würde Königinnengruft heißen«, sagte Ivar.
»So heißt er auch. Er ist von der heiligen Königin Gertruda gegründet worden. Sie hat vor einigen Jahrhunderten gelebt. Ihre Geschichte steht in den Chroniken jener Zeit geschrieben - in denen, die von St. Gregoria von Tur aufgezeichnet worden sind. Sie ist gegen ihren Willen mit einem grausamen König verheiratet worden, der kein richtiger Daisanit war. Tatsächlich war er ein Heide oder Ungläubiger, ganz wie es ihm beliebte und gerade den politischen Erfordernissen entsprach. Als er starb - von einer früheren Frau vergiftet, glaube ich -, ist Gertruda in dieses Tal geflohen und hat das Kloster zu Ehren von St. Asella gegründet.« »Die sich selbst lebendig eingemauert hat«, sagte Sigfrid und nickte ernst. Constanze lächelte. »Ihr habt gut gelernt, Bruder Sigfrid. Wir können einen neuen Gelehrten in unseren Reihen gut gebrauchen, denn meine Schule ist im letzten Jahr sehr klein geworden.« 485 Der Schmerz verließ sie niemals, das war deutlich. Aber sie verfügte über eine stille Entschlossenheit, die dafür sorgte, dass weder Schmerz noch Niederlage sie zerbrechen konnten. Sie hatte sich ihren Humor bewahrt, einen unterschwelligen Sinn für Ironie. »Königin Gertruda hat das Gelübde als Nonne abgelegt, um der Eheschließung zu entgehen, zu der ihre habgierigen Verwandten sie zwingen wollten. In ihrer Schläue erschuf sie einen Zufluchtsort auch für andere Frauen - und ein paar Männer -, die ebenfalls einer erzwungenen Heirat entgehen und sich stattdessen Gott widmen wollten.« »Zu schade, dass Baldwin nichts von diesem Ort gewusst hat«, murmelte Ermanrich. Ivar runzelte die Stirn. Scham flackerte in ihm auf, verwandelte sich in Ärger. »Er hat es gewusst!« »Ah!«, sagte Constanze. »Das klingt ganz nach einer interessanten Geschichte. Nun gut. Ihr habt eine Zuhörerschaft, denn wir hören und sehen sonst nichts. Das ist das Schicksal derer, die in Königinnengruft eingeschlossen sind - lebendig begraben zu sein. Wir würden gerne erfahren, was draußen in der Welt vor sich geht. Erzählt uns Eure Geschichte, ich bitte Euch darum.« 3 Zu Beginn des Frühlings stand Alain knietief im schlammigen Wasser und schwang eine Schaufel. Er und ein Dutzend Laienbrüder zogen Entwässerungskanäle durch einen Streifen Marschland, damit das stehende Wasser abgeleitet wurde und das Land sich ausbreiten konnte. Das Klatschen, mit dem die nasse Erde gegen den Rand fiel, sorgte für einen gleichmäßigen Rhythmus, während die Männer um ihn herum sangen. »Draußen in den vier Ecken der Welt Gingen die Heiligen. Singet wieder ihre Lieder.« Die Geschichten der frühen Heiligen eigneten sich gut als Chorgesang zum Arbeiten, weil man immer neue Verse hinzufügen konnte, solange die Laienbrüder sich an weitere Heilige erinnerten, über die man singen konnte. Der Nachmittag verging rasch. Rage und Kummer warteten ein Stück weiter oben am Hang, während Alain sich bückte, die Schaufel in den Boden stieß und Schlamm und tropfende Pflanzen auf den ansteigenden Hang warf. Normalerweise dösten die Hunde den ganzen Nachmittag, während er arbeitete, aber jetzt knurrte Rage leise, erhob sich und wandte ihre Aufmerksamkeit von ihm ab. Sie schnüffelte im Wind. Bruder Iso band Schilf zusammen, um den Rand zu stützen; er hob eine Hand und schützte die Augen vor der Sonne, während er nach Westen blinzelte. Es war ungewöhnlich mild für diese Jahreszeit, warm genug, dass man die Umhänge nur noch bei Nacht benötigte. »Ich hab einen!«, rief Bruder Lallo und hielt einen zuckenden Aal hoch. Die anderen jubelten und lachten, als der Aal dem Griff von Bruder Lallo entglitt und mit einem Platschen ins Wasser zurückplumpste, das vom vielen Graben ganz trüb war. »R-R-Rauch«, sagte Iso mit ausgestrecktem Finger. Eine Rauchschwade stieg südwestlich über den skelettartigen Bäumen auf, deren Zweige noch keine neuen, grünen Blätter ausgetrieben hatten. »Kommt das vom Kloster?«, fragte einer der Brüder verängstigt. »Brennt es da?« »Nein, es ist weiter weg.« Lallo musterte die Rauchsäule, die Bäume und den Himmel. »Es muss von einem der Gehöfte kommen.« »G-glaubt Ihr, es s-s-sind Banditen?«, stammelte Iso, denn er hatte den ganzen Winter Geschichten über Banditen und üble Magie gehört und oft vor dem Einschlafen geweint, weil er Angst vor dem hatte, was ihm seine Träume und die dunklen Stunden bringen mochten. Kummer erhob sich jetzt ebenfalls, starrte wie Rage nach Westen. Er bellte einmal. Zwei Brüder tauchten zwischen den Bäumen auf und kamen in 487 einem Bogen um das bewirtschaftete Land herum zu ihnen geeilt, wichen dabei den Dolinen aus, in denen der Schlamm des Winters noch nicht von Sonne und Wärme vertrieben worden war. Dieser letzte Winter hatte zwar wenig Schnee, aber zu viel Regen gebracht. Ganze Felder mit Winterdinkel und Winterroggen, Jahre zuvor dem Marschland um das Kloster herum abgetrotzt, mussten wieder entwässert werden, um die Ernte zu retten. »Brüder! Ah! Da ist ja Bruder Alain! Vater Ortulfus fragt nach dir, Bruder. Komm bitte mit.« Der eine der beiden Brüder blieb auf den Feldern und nahm Alains Stelle ein, der andere ging mit ihm zum Kloster zurück. Die Hunde trotteten hinterher. »Was gibt es, Egbert?« »Nichts Gutes. Siehst du den Rauch? Er stammt vom Gehöft von Bauer Hosend. Eins von seinen Schafen ist vor ein paar Tagen hergebracht worden, weil es Probleme mit den Lämmern gab -«
»Ich erinnere mich.« »Ja. Jetzt geht das Gerücht, dass im Gehöft die Viehseuche ausgebrochen ist. Was ist, wenn unsere Schafe sie nun auch haben?« Alain machte das Kreiszeichen. »Gott im Himmel, der arme Mann!« »Hoffentlich hat sie sich noch nicht ausgebreitet... mögen Gott uns helfen! Wir könnten unser ganzes Vieh verlieren!« »Nein, Bruder. Bete für die Geplagten, aber bitte nicht um Sorgen. Wir wissen noch nicht, ob seine Schafe krank sind oder ob unser Vieh sich angesteckt hat.« Bruder Egbert warf ihm einen Blick von der Seite zu, dann machte er das Kreiszeichen vor der Brust und murmelte leise ein Gebet. »Weise Worte, Bruder. Ich werde mich bemühen, Gottes Willen anzunehmen.« Vater Ortulfus erwartete sie bei dem niedrigen Zaun, der die Klostergebäude umgab. Schafe und Lämmer grasten auf dem Weideland, und dahinter erstreckte sich ein von Schneisen durchzogenes Waldstück, aus dem die Mönche sich ihr Brenn- und Bauholz holten. Prior Ratbold stand mitten in der kleinen Herde von Milchkühen, prüfte ihre Schnauzen und Hufe. 488 »Habt Ihr die Nachricht vernommen, Bruder Alain?«, fragte Vater Ortulfus. »Das habe ich, Vater.« Ortulfus nickte kurz; er war kein Mann, der große Worte machte. »Ihr werdet Prior Ratbold zu dem Gehöft begleiten. Wenn es die Viehseuche ist, muss das Gesetz befolgt werden. Der Bauer muss alle Tiere einpferchen. Wenn sie tot sind, muss er sie verbrennen, und danach muss er ihre Köpfe als Warnzeichen vor der Seuche auf Pfähle aufspießen.« »Wieso schickt Ihr mich, Vater? Ich bin an der Küste aufgewachsen. Ich weiß mehr über das Fischen als über das Hüten von Schafen.« »Geht mit ihm«, sagte Ortulfus in einem Ton, der jede Widerrede verbot. »Tut Euer Möglichstes.« Ratbold kehrte zurück und schüttelte den Kopf. »Die braune Kuh hinkt, Vater, aber es ist zu früh, um zu sagen, weshalb. Es könnte auch einfach nur vom Matsch kommen.« Er wischte sich den Schmutz von den Händen, als er Alain zunickte. »Es ist unnötig, lange zu warten, Bruder. Gehen wir?« Sie machten sich mit einem Schlauch voller Bier und einem Laib Brot und Käse auf, damit sie dem geplagten Bauern nicht auch noch die Vorräte wegnehmen mussten. Der Marsch zu dem Gehöft würde eine Stunde dauern; es lag am südlichsten von all denjenigen, die im Schatten eines unter dem Schutz des Königs stehenden Klosters entstanden waren. Sämtliche Bauern in der Umgebung brachten Vater Ortulfus zweimal im Jahr den Zehnten Salz, Honig, Hühner, Brennholz und gelegentlich auch ein Kind, wenn zu viele Münder angesichts spärlicher Ernten zu einer Belastung wurden. Ein Teil des Korns, das sie zum Mahlen in die Mühle brachten, war für das Vorratslager des Klosters gedacht, als Reserve für magere Zeiten. Die Ernte im letzten Sommer war ausreichend gewesen, trotz der Gerüchte über Fäulnis und Dürre, die die Ernten südlich und westlich der Ländereien von Herford heimsuchten. Dieser Frühling war ungewöhnlich warm. Die Blumen blühten bereits, die Bäume trieben aus, und grüne Schösslinge reckten sich an den Bö489 schungen der feuchten Gräben. Die Straße war matschig, und so gingen sie am Rand, mühten sich durch kniehohen Rainfarn und knospende Disteln, die Alain mit einem Stock niederschlug, um dem Prior und den Hunden das Vorankommen zu erleichtern. Das Schlagen mit dem Stock ging ihm leicht von der Hand, erweckte Erinnerungen an Scharmützel, in denen er Monate oder Jahre zuvor gefochten hatte. Es könnte auch gut ein ganzes Leben vergangen sein. Alles, was er geliebt hatte, war verschwunden und würde nie wieder zurückkehren. »Ihr seid beunruhigt, Bruder«, sagte Ratbold auf seine unverblümte Weise. Alain wischte sich eine Träne weg. Ratbold hatte den Ruf, ein mürrischer Mann zu sein, ungeduldig und schroff jenen gegenüber, die er verachtete, und vielleicht stimmte es auch, dass der Prior jene geißelte, die ihm wie Dummköpfe vorkamen. Aber nie in all den Monaten, die Alain nun schon im Kloster Herford lebte, hatte Ratbold Bruder Iso oder irgendeinen anderen Laienbruder, den man als »schlicht« hätte bezeichnen können, getadelt oder belächelt. »Ich denke nur daran, was ich verloren habe, Prior, meine arme Frau, die jetzt tot ist.« Ratbold antwortete nicht, sondern überließ es Alain, fortzufahren. Die Sonne beleuchtete unzählige Veilchen, die entlang der Straße wuchsen und sich mit goldschimmerndem Huflattich vermischten, dem Vorboten des Frühlings. »Ich bin zufrieden hier, denn ich glaube, dass dies der Ort ist, an dem ich nach Gottes Willen sein sollte, aber ich bin noch immer traurig, wenn ich an sie denke. Sie hätte ein Heilmittel gegen die Viehseuche gekannt.« »Hätte sie das? Kennt irgendjemand so etwas, abgesehen von Hexen und Zauberern?« »Seht Ihr diese Veilchen? Ein Sirup aus ihren Blättern stellt ein Heilmittel gegen den Husten eines Kindes dar. Eine Kompresse kann Kopfschmerzen lindern. Getrockneter und verbrannter Huflattich kann ebenfalls Husten lindern. Das und noch viel mehr habe ich von ihr gelernt.« 490 »Jede Kräuterfrau kennt solche Überlieferungen. Und auch Bruder Hospitalus.«
»Sie hat große Macht gehabt. Leider. Deshalb ist sie gestorben.« »Ah. Die Umwälzung, von der Ihr gesprochen habt, als Ihr zu uns gekommen seid.« »Ich weiß, dass niemand von Euch mir glaubt«, sagte Alain müde. »Und ich kann nicht erkennen, wie ich das, was in Bewegung geraten ist, aufhalten soll. Wenn ich es wüsste, würde ich etwas tun, aber ich weiß nicht, wohin ich gehen soll, wo ich Leute finden kann, die mir zuhören -« Rage jaulte auf wie ein erschrecktes Hündchen und sprang ins Gebüsch. Kummer bellte einmal und folgte ihr. Zweige brachen und raschelten, kennzeichneten ihren Weg. »Ein Hase«, vermutete Ratbold. Alain blieb stehen und stützte sich auf seinen Stock. »Ich habe eher den Eindruck, dass sie Angst haben.« »Diese Hunde sollen Angst haben?« Ratbold schnaubte, dann neigte er den Kopf zur Seite. »Hört nur!« Von weiter vorn auf der Straße drang der Lärm einer berittenen Prozession zu ihnen - das Klirren von Harnischen, das Rumpeln von Wagenrädern und die schwachen Bruchstücke eines Kirchenlieds. Die beiden Männer warteten, bis der Zug in Sicht kam, ein Dutzend herrliche Pferde, die einer hohen Edelfrau angemessen gewesen wären, begleitet von drei Wagen und zwanzig Soldaten mit Hellebarden und einem unverwechselbaren Banner: dem goldenen Kreis der Einigkeit auf schwarzem Grund. »Sie kommen von der Skopos!«, flüsterte Ratbold. Er vergaß seinen Stab, der ihm aus der Hand rutschte und in eine Gruppe von Veilchen fiel. Die prächtigen, edlen Geistlichen, die die Prozession anführten, nahmen keine Notiz von den beiden arg mitgenommenen Brüdern, die demütig am Straßenrand standen. Die vorbeirumpelnden Wagen bespritzten sie mit Matsch, während Ratbold sie anstarrte, zu erstaunt, um etwas zu sagen. Alain sah sie nur an. Es war etwas Vertrautes an dem schlanken, älteren Geistlichen, der an der Spitze ritt. Wieso waren die Hunde weggelaufen? 491 Die Prozession bewegte sich rasch voran und geriet dann außer Sicht. »Geistliche von der Skopos persönlich! Wie erhaben sie ausgesehen haben! Und was für schöne Pferde das waren! Habt Ihr die Stickerei auf den Satteldecken gesehen ?« Ratbolds Gesicht war gerötet vor lauter Aufregung. »Glaubt Ihr, sie wollen in Herford übernachten?« »Sie können auf dieser Straße kaum woandershin wollen.« Es raschelte im Gebüsch, als Rage und Kummer wieder auftauchten; ihre Hinterteile wackelten heftig, als sie um Verzeihung baten. Alain strich ihnen über die Köpfe und tätschelte ihnen die Schultern, während Ratbold wieder ruhiger wurde und seinen Stock aufhob. »Nun, Bruder Alain. Wir haben einen Auftrag zu erledigen.« Auch die Hunde schienen begierig darauf, in die entgegengesetzte Richtung weiterzugehen als die Prozession, und obwohl Alain sich umdrehte und einen Blick zurückwarf, fand er nicht heraus, was ihnen solche Angst bereitet hatte. Bauer Hosend begrüßte sie an dem Zaun, der die von seiner Familie gerodete Lichtung umgab. Er war nicht unbedingt erfreut, sie zu sehen. Das Feuer war jetzt hinter einer Reihe von gesunden Apfelbäumen und einer dicken Hecke verschwunden. Der Geruch stach Alain in die Nase. »Kommt herein, Brüder! Wir haben noch ein bisschen Apfelwein vom Herbst übrig. Er ist etwas herb, aber er wird dennoch Eure Kehlen befeuchten. Es war nicht nötig, eigens herzukommen. Wir haben alles im Griff. Es gibt hier nichts zu sehen. Nichts. Gar nichts.« Eine Gruppe von Kindern verschiedenen Alters starrte sie traurig an, hielt sich aber von den Hunden fern. Das älteste war ein Mädchen; nachdem sie jedem einen Holzbecher mit herbem Apfelwein gereicht hatte, musterte sie sie mit hoffnungslosem Blick, die Hände fest in ihre Schürze gewickelt. Sie hatte Warzen auf den Fingern ihrer linken Hand, und ihre linke Wange war von einem blasigen Hautausschlag befallen. Auch die jüngeren Geschwister hatten diesen Ausschlag. 492 »Meine gute Frau ist vor zwei Jahren gestorben und hat mich mit all diesen kleinen Kindern allein gelassen. In dieser Gegend gibt es keine Frauen, die man heiraten könnte, denn sie sind alle schon verheiratet oder zu jung. Letztes Jahr war da eine Witwe, aber sie ist am Ausfluss gestorben, ebenso wie meine Jüngste. Ich hatte einen Mann als Helfer, einen aus dem Osten, aber er war nicht gut. Er hat gestern seine Sachen gepackt, sechs Eier genommen und uns verlassen. Ich nehme an, er ist derjenige, der diese Geschichten verbreitet.« Er war nervös, aber es waren nicht die Hunde, die ihm Angst einjagten; er blickte nur ein einziges Mal in ihre Richtung. »Können wir die Herde sehen, mein Freund?«, fragte Ratbold. »Der gute Abt hat uns gebeten, unser Möglichstes zu tun.« Der Bauer sah aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen, als er sie hinter sein Haus führte, das in Wohnräume und einen Stall unterteilt war, in dem das Vieh überwinterte. Der eingepferchte Bereich neben dem Stall war vom Winterregen in knöcheltiefen Matsch verwandelt worden, aber jetzt befand sich kein Schaf darin. Sie gingen an dem Garten und dem Hühnerstall vorbei zu einer Weide, auf der ein Hund mit leuchtenden Augen und ein älterer Junge über eine Herde wachten. Die Hunde näherten sich vorsichtig, um den anderen Hund zu beäugen, der sie aus der Ferne musterte, leise knurrte, aber seinen Posten als Wächter der Schafe nicht aufgab. »Es ist nur der Matsch«, betonte der Bauer. »Deshalb werden sie lahm. Ich habe sie da rausgeholt, um ihre Hufe aus dem Schlamm zu kriegen. Ich musste nur zwei schlachten. Die habe ich verbrannt, nur um sicherzugehen, weil ich wusste, dass die Leute reden würden. Die anderen, die waren heute Morgen noch so gesund wieder Regen.«
Ratbold fluchte. Zwei Muttertiere lagen auf dem Boden, das dritte lahmte furchtbar. Die Lämmer wirkten unnatürlich ruhig neben ihren Müttern, sie tollten nicht herum und reagierten überhaupt nicht, als die Fremden zu ihnen traten. Ratbold ging zu dem humpelnden Muttertier und griff nach einem Bein, umfasste den Huf mit seiner starken Hand. »Es ist die Viehseuche, ja«, sagte er. »Die Blasen sind nicht leicht zu sehen. 493 Aber hier sind sie, da, wo das Hörn auf die Haut stößt. In der Spalte. Spürt Ihr, wie heiß der Huf ist?« Die anderen beiden Muttertiere hatten keine Blasen, weigerten sich aber aufzustehen. »Oh, Gott!« Der Bauer kauerte unruhig neben Ratbold und bemühte sich, die Tränen zurückzuhalten. »Gibt es noch Hoffnung für sie?« »Es ist gegen das Gesetz des Königs, die Viehseuche zu verbergen«, sagte Ratbold. »Ihr müsst sämtliche Tiere einpferchen und nach ihrem Tod verbrennen, die Schädel als Warnung auf Stangen spießen -« Das erste Geräusch, das sich dem Bauern entrang, war ein wortloser, verzweifelter Schrei, gefolgt von einem Ausbruch von Schluchzern und Wehklagen. »Meine guten Schafe! Meine guten Schafe! Was wird jetzt mit uns geschehen?« Die Kinder hinter ihm fingen an zu heulen. Wenn diese Familie ihre Herde und damit all das verlor, was die Tiere ihr brachten -Wolle, Lämmer, Fleisch und Käse -, kam das für sie einer Katastrophe gleich. »Ich möchte ihre Hufe baden«, sagte Alain. »Vielleicht nützt es irgendwas. Habt Ihr Wundkraut oder Brunelle?« Der Bauer konnte vor Tränen kaum sprechen. »Nein. Nichts davon. Ich habe auch noch nie davon gehört. Gibt es ein Mittel gegen die Viehseuche?« »Ihr wisst, dass es keins gibt«, sagte Ratbold. »Und jetzt verlasst uns bitte, denn Bruder Alain und ich müssen besprechen, was als Nächstes geschehen wird.« Weinend zog sich der Vater zu seinen Kindern zurück und sah hilflos zu, wie Ratbold Alain tadelte. »Bruder Alain, es ist eine Sünde, falsche Hoffnungen zu wecken. Es gibt kein Mittel. Er wird seine gesamte Herde verlieren.« »Ich bete, dass er das nicht tut!« »Wenn die Viehseuche erst einmal eine Herde trifft, trifft sie alle Tiere. Dies ist ganz sicher die Tat des Feindes. Wir können nur hoffen, dass wir die Seuche hier ausrotten, damit sie sich nicht auf andere Höfe und das Kloster ausbreitet.« 494 »Vater Ortulfus hat gesagt, wir sollten unser Möglichstes tun. Hat irgendjemand einmal ein Bad aus Kräuterwasser oder eine Salbe ausprobiert?« »Alain, wenn es ein Heilmittel gegen die Viehseuche gäbe, hätten wir es inzwischen gefunden. Ihr könnt tun, was Ihr wollt, aber das wird keinen Unterschied machen. Wir müssen die Tiere einpferchen und hier bleiben, um sie zu beobachten. Wir können nicht darauf vertrauen, dass der Bauer dem Gesetz gehorcht. Er wusste, dass es die Viehseuche war - und er hat versucht, es zu vertuschen. Wenn die Tiere alle tot sind, sorgen wir dafür, dass sie verbrannt werden, und kehren dann zum Kloster zurück. Das ist der einzige Weg.« »Darf ich ihre Hufe trotzdem baden, Prior? Es wird mir nichts zustoßen, und es könnte ihr Leiden verringern.« »Es ist dumm -«, begann Ratbold, doch dann unterbrach er sich, als hätte eine Stimme, so leise, dass Alain sie nicht hören konnte, ihn gescholten. »Nein. Tut, was Ihr wollt, Bruder Alain.« »Huflattich könnte auch funktionieren«, grübelte Alain. Drei der Kinder hatten Entzündungen an den Lippen, obwohl er nie gehört hatte, dass die Viehseuche auch Menschen befiel. Doch auch die Kinder konnten aus Adicas Kräuterwissen einen Nutzen ziehen - vielleicht in Form eines Breis, um Entzündungen zu heilen und Ausschlag zu lindern, oder einer Salbe, um Warzen zu entfernen oder die Augen zu beruhigen. Adica war verschwunden, und sein Leben mit ihr war in der weißen Hitze des schrecklichen Zauberspruchs vernichtet worden, den sie und ihre Kameraden gewirkt hatten, um ihre Feinde zu töten. Aber was sie gelernt hatte, würde nicht verloren gehen, solange er lebte und das Wissen weitergeben konnte. Das Mädchen und die beiden jüngsten Kinder gingen hinter ihm her, hielten weiterhin Abstand zu den Hunden, als er Huflattich und Veilchen sammelte. Er zeigte dem Mädchen, was er tat, ließ sich von ihr helfen. Die Blüten kochte er zu einem Sirup, die Blätter zerstampfte er, um einen frischen Breiumschlag daraus herzustellen. Es dämmerte bereits, als er auf der Weide auf einen Stuhl sank 495 und die Hufe der Schafe wusch. Die Tiere waren zu krank, um sich zu wehren, obwohl die Blasen nicht schlimmer geworden waren, seit sie das erste Mal einen Blick darauf geworfen hatten. »Wird es ihnen bald besser gehen?«, fragte das Mädchen und hockte sich neben ihn. Er hatte ihre Warzen mit Enzianöl bestrichen; purpurne Flecken zeichneten jetzt ihre Hand, und eine grüne Paste bedeckte ihre Wange. Sie roch nach Heilkräutern, wie ein Kind, das sich im wilden Frühlingsgrün gewälzt hatte. »Ich hoffe, dass es so sein wird, aber es liegt jetzt in Gottes Händen. Ich werde hier bleiben und über sie wachen.« Die Kinder waren vor Kummer und Furcht erschöpft und gingen ohne Murren ins Bett. Der Bauer bestand darauf, die Nacht draußen bei seinen kostbaren Schafen zu verbringen. »Ich werde die erste Wache mit ihm halten«, sagte Alain zu Ratbold.
Der Prior nickte. Weil es eine schöne Nacht war, rollte Ratbold sich im Schutz eines nahe stehenden Baumes in eine Decke, und der Bauer setzte sich müde auf den Boden; sämtliche Kraft schien ihn verlassen zu haben. Nach einer langen Zeit des Schweigens sprach der Mann. »Ist es hoffnungslos? Wird Eure Kräuterkunst sie heilen? Ich bin am Ende -« »Ich weiß es nicht.« Er war hilflos und verzweifelt, konnte nichts tun. Er war noch nicht einmal in der Lage gewesen, Adica zu retten. Auch er beherbergte eine Fäule in seiner Seele. Auch er war eingepfercht, wartete nur darauf, zu sterben. Er war gefangen und würde vielleicht noch viele Jahre auf der Erde ausharren, wenn Gott nicht barmherzig waren viele Jahre, in denen er sich an Adicas Liebenswürdigkeit und an das Licht erinnern würde, das sie verströmt hatte. Es wäre besser gewesen, zusammen mit ihr den Pfad entlangzugehen, der zur Anderen Seite führte. Doch wie konnte er diese Welt, die so schön war, verlassen? Sogar hier, während dieser Todeswache, erblühte die Nacht um ihn herum. Ein Ziegenmelker schnurrte. Die dunstige Luft verbarg die Hälfte der Sterne am Himmel, doch die anderen funkelten uner496 wartet hell. Geräusche entfalteten sich unter dem Laubdach, das nur von einer trägen Brise bewegt wurde: das Atmen der Mutterschafe, das Umherhuschen einer Maus, das Knistern von Insekten, das entfernte Rauschen eines Baches. Der Schatten einer Fledermaus glitt vorbei; eine Eule schrie. Gras kitzelte an seinen Fingern, wo seine Hand den Boden berührte, und er spürte, wie ein winziger Körper in den Schutz seiner Hand kroch, als eine Eule vorüberflog, kurz zu sehen und schon wieder in den Bäumen verschwunden. Eine winzige Zunge fuhr über seine Haut. Er saß ganz still da, um die Maus nicht zu verscheuchen. Der Wind raschelte in den Zweigen, und das Gras schwankte und flüsterte, spielte um sein Handgelenk, erzählte ihm eine Geschichte von weit entfernten Landen, die einst für ihn verloren waren ... Die letzte Patrouille bringt die lang ersehnten Neuigkeiten. Im Norden liegen Moore, in denen die Baumzauberer ihre Geheimnisse verbergen. Dorthin ist die Alben-Königin geflohen, um ihre Macht wiederherzustellen. Auf einer Insel mitten in dieser Ödnis aus Wasser und Schilf befindet sich eine Sternenkrone. Aber das Marschland verschluckt Fremde, die dumm genug sind, ohne Führer dorthin zu gehen. »Wir werden einen Führer finden«, sagt Starkhand und bedeutet ihnen, mit dem Bericht fortzufahren. Hefenfelthe ist nur eine der vielen Festungen der Königin. Andere Hügelfesten bewachen die Pfade, die durch feindliches Gebiet nach Norden führen; dieses Gebiet wimmelt jetzt von albischen Kriegstruppen und einem immer größer werdenden albischen Heer, das zusammengerufen wurde, um sich den Eindringlingen zu widersetzen. Wenn das Heer der Aikha marschiert, wird es auf heftigen Widerstand stoßen. Noch ehe sie auch nur die undurchdringliche südliche Grenze der Moore erreicht haben, werden sie sich Schritt für Schritt vorwärts kämpfen müssen. »Ich habe keine Angst vor den Alben«, sagt er zu seinen Soldaten, »und ihr habt auch keine. Aber ein Land lässt sich nicht nur durch Kämpfe auf den Straßen erobern. Ich achte die Gefahren, die das Marschland bietet, aber ich halte sie nicht für unüber497 windlich. Gibt es keinen Fluss, den wir befahren können? Strömt nicht auch das Wasser dieser Moore irgendwann ins Meer?« Das Wasser der Moore fließt nach Norden; das haben seine Kundschafter herausgefunden, aber sie haben nicht die Moore selbst ausgekundschaftet, sind auch nicht über sie hinaus weiter nach Norden vorgestoßen, sobald sie Gewissheit hatten, dass die Gerüchte über den Aufenthaltsort der Königin der Wahrheit entsprachen. Andere Stimmen erheben sich, erzählen von eigenen Beobachtungen. Seit Generationen haben die Aikha gelegentlich die albische Küste überfallen, und es ist allgemein bekannt, dass ein großes Schwemmland den mittleren Teil der nördlichen Küste beherrscht. Wie viele Flüsse allerdings in dieses Schwemmland münden, weiß niemand, und die Aikha haben diese Kanäle auch niemals untersucht. Sie könnten hunderte von Flüssen und Bächen entlangfahren, ohne jemals zu finden, was sie in diesem Gewirr aus Wasserwegen und Morast eigentlich suchen. »Wir könnten Kundschafter schicken«, sagt er, »aber wir können nicht auf ihren Bericht warten. Die albische Königin darf keine Zeit haben, ihre Position zu festigen. Wir müssen über Land marschieren und von Süden her zuschlagen - wir müssen durch die Moore ziehen.« Eisenklaue schüttelt den Kopf. »Hast du nicht gehört, was er gesagt hat? Die Alben werden uns auf Schritt und Tritt bekämpfen, in einem Land, das sie so gut kennen wie ihre eigene Hand. Es sind Hunde, die ihrer Königin treu ergeben sind. Sie werden den ganzen Weg nach uns schnappen und beißen.« »Fürchtest du sie?« »Nein! Nein! Nein!«, protestiert Eisenklaue, als er erkennt, dass er sein Gesicht verloren hat, indem er zur Vorsicht mahnte. »Wir sind stärker als sie, aber es fehlt uns an Leuten. Die Alben werden niemals die Waffen niederlegen.« »Werden sie das nicht? Sind in Hefenfelthe nicht lauter Alben, die in den Schmieden arbeiten, die diesen Turm wieder aufbauen und die Felder pflügen?« Er wirft einen Blick auf Papa Otto, der ruhig zwischen seinen Beratern wartet. Er hat die Worte nicht vergessen, die Otto vor
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langer Zeit im Schutz eines Zeltdachs zu ihm gesagt hat, während ein bitterkalter Winterwind Eis über die Felsen einer kleinen Bucht trieb. Dieser Tag liegt jetzt lange zurück; es war vor jenen Tagen, da Fünfter Sohn des Fünften Wurfs den Namen Starkhand angenommen hat, bevor er Anführer des Rikin-Stammes geworden ist und seine Feinde bei Kjalmars-Fjord besiegt hat. Lange ist es her, aber dennoch vor seinem geistigen Auge lebendig. »Ich habe keine andere Wahl, als Euch zu dienen«, hatte der Sklave Otto gesagt. Hass hatte seine Miene verzerrt, aber er war hilflos gewesen und hatte nicht gegen den Herrn vorgehen können, den er verabscheute und verachtete. Starkhand hebt den Kopf, um in den Frühlingswind zu schnüffeln. Seine Hunde liegen unruhig um ihn herum; sie rühren sich und wedeln mit den Schwänzen und jaulen - sie wollen laufen. Die meisten seiner Truppen wollen laufen. Bei dem Sieg über Hefenfelthe haben sie sich nicht beweisen können, er hat nur ihre Begeisterung angespornt. Sie ärgern sich über die Zurückhaltung. Doch es stimmt, dass die Aikha nur wenige sind, während die Menschen viele sind. Aber wie die Aikha und ihre menschlichen Brüder halten die Alben Sklaven, gibt es bei ihnen Kriegsgefangene, Mittellose, Unglückliche, Schwache und Hilflose, jene, die geboren sind, um zu dienen. Jene, die ihre Herren hassen. »Wir werden marschieren«, sagt Starkhand und hebt seinen Stab. Der Wind ächzt in den Knochenflöten und bringt Perlen zum Klappern und Glöckchen aus Fingerknochen zum Klingen. »Wir haben andere Verbündete, die noch nicht wissen, dass sie auf uns warten.« Ein Kitzeln an seinen Fingern weckte ihn, und er schreckte auf. Starkhand würde ihm helfen! Das wurde ihm mit jener Kraft klar, mit der das Licht die Dunkelheit verdrängt, wenn Zunder vom Feuer erfasst wird und aufflammt. Erinnerungen, die vor seinem geistigen Auge eingebrannt waren, wurden plötzlich verständlich, im Gegensatz zu vorher, als er in dem Albtraum, den er durch das Herz des von Adica und den anderen gewebten Bannes 499 gesehen hatte, noch keinen Sinn hatte erkennen können. An jenem lang zurückliegenden Tag waren die Aikha geboren worden, erschaffen aus der unnatürlichen Verschmelzung von Menschen, großen Menhiren und Drachenblut. Starkhand würde zuhören, und er würde ihm glauben. Er war schon halb aufgestanden, als ihm plötzlich einfiel, unter seinen Füßen nachzusehen. Die Maus war weg. Er rieb sich die Augen, warf einen Blick zum Himmel, um die Position der Sterne zu bestimmen. Wie lange hatte er geschlafen? Wie schnell konnte erhandeln? »Bruder Alain!« Ratbold kam von seinem behelfsmäßigen Schlafplatz am Rande des Waldes herübergestolpert; er kratzte sich das stoppelige Kinn und wirkte ziemlich verärgert. »Ihr habt mich nicht geweckt! Wo sind die Schafe?« Er hielt inne, als Rage ihn anknurrte; die Hündin war über sein angriffslustiges Heranmarschieren erschreckt. Die neu erwachte Sonne vergoldete die östlichen Baumwipfel mit einem zarten rosafarbenen Glühen. Der Nebel, der Alains Seele niederdrückte, löste sich auf, als würde die aufgehende Sonne ihn wegbrennen. »Mögen Gott ihn verfluchen!« Ratbold schritt zur Mitte der Weide; nur er selbst und Alain standen jetzt dort, wo zuvor die Schafe gelegen hatten. Flach gedrücktes Gras verriet die Stelle. »Dieser verfluchte Mann hat seine Schafe weggebracht!« »Wartet, Prior. Ich höre sie.« Alain konnte den Bauern nicht sehen, aber er konnte ihn hinter den Bäumen lachen und rufen hören. »Kommt her! Kommt her! Seht Euch an, wie sie gehen!« Bauer, Kinder und Lämmer kamen auf die Lichtung gehüpft, machten Luftsprünge vor Freude; die Muttertiere trotteten unter der Aufsicht des Hofhundes mittendrin. Ratbold war zu erstaunt, um sie zu schelten. Er eilte zu ihnen, ignorierte den kläffenden Hirtenhund und untersuchte barsch die Hufe und die Mäuler der Muttertiere. Die Lämmer stoben auseinander, als er zwischen sie trat. Die Kinder und der Hund rannten herum, der Hund bellte, die Kinder schrien vor Freude, als sie die Lämmer vom Waldrand 500 zurücktrieben. Leichte Wolken jagten von Osten herbei und verdüsterten die Sonne; ein Schauer legte einen feuchten Nebel über die Szene, verging so rasch, wie er gekommen war, und die Sonne kam wieder hinter den Wolken hervor. »Unmöglich«, rief Ratbold, während er die Muttertiere der Reihe nach ausgiebig untersuchte. »Ich habe doch gesagt, es war nicht die Viehseuche!«, rief der Bauer siegesgewiss. »Nur die Fäule, oder ein Pilz. Und jetzt sind sie geheilt! Nachdem ich sie aus dem Matsch rausgeholt habe.« »Unmöglich«, wiederholte Ratbold. Aber es war wahr. Ratbold bestand darauf, noch zwei weitere Tage zu bleiben, um sicherzugehen, dass die Krankheit nicht erneut
ausbrach. Er glaubte nach wie vor an die Viehseuche und fürchtete, dass sie sich ohne seine Aufsicht ausbreiten würde. Alain wäre lieber so schnell wie möglich nach Herford zurückgekehrt, sah aber auch die Bedürfnisse des Bauern. Es gab keinen Grund, untätig herumzusitzen, wenn der Frühling mit etlichen Aufgaben wartete. Wegen der drohenden Viehseuche weigerte sich der Rinderhirte dieses Gebietes, seine Ochsen zum Pflügen zu bringen, und so musste die Erde mühselig mit den Händen umgegraben werden. Drei Tage arbeiteten sie, schwitzten trotz des kalten Wetters. An den Abenden erzählte Alain den Kindern Geschichten oder brachte der Ältesten ein bisschen von seinem mageren Kräuterwissen bei, damit sie entsprechende Kräuter der Speisekammer beifügen und einfache Krankheiten lindern konnte. Als drei Tage vergangen waren, zeigten die Schafe nicht den geringsten Hinweis darauf, dass sie möglicherweise hinkten oder Blasen oder entzündete Stellen hatten. Der Ausschlag der Kinder verheilte. Frohen Herzens machte er sich schließlich mit Ratbold wieder auf den Weg. »Wieso habt Ihr mich in jener Nacht nicht geweckt?«, fragte Ratbold, als sie den Hauptpfad erreichten und in Richtung des Klosters abbogen. 501 »Ich bin eingeschlafen, Prior. Ich bitte Euch, vergebt mir. Ich hatte fest vor, Euch zu wecken.« »Ist schon gut. Ihr müsst Euch nicht bei mir entschuldigen.« Ratbold wirkte geistesabwesend, während sie weitergingen. Er schwenkte seinen Stock wie eine Waffe, hieb die Köpfe der Disteln ab, während sie einherschritten. »In jener Nacht habe ich geträumt, dass ich in einer hohen Halle vor dem König stehen würde, der sich meinen Fall anhören wollte.« »Vor dem König? Nicht vor dem Abt?« »Nein, vor dem König, denn ich war wie ein Soldat gekleidet, so wie damals, als ich im Dienst des Königs gestanden habe.« Es kam Alain vor, als wäre es lange her, dass er selbst vor dem König gestanden hatte. Henry hatte gegen ihn entschieden, hatte ihn enterbt und ihm das Land genommen, das ihm der sterbende Lavastin vermacht hatte. Aber der König hatte ihm gegenüber Gnade walten lassen und ihm einen Platz bei seinen eigenen einfachen Löwen geboten. Alain konnte keinerlei Verärgerung in seinem Herzen finden, als er sich an diesen Tag erinnerte. Er hoffte lediglich, dass Edelmann Jeoffrey sich als guter Verwalter der Grafschaft Lavas erwies und dass seine Tochter und Erbin sich als ebenso klug erweisen würde, wie es Lavastin zu seiner Zeit gewesen war. Nur, dass er Lavastins Erwartungen nicht gerecht geworden war, schmerzte ihn - mehr nicht. »Welchen Fall wolltet Ihr in Eurem Traum vor den König bringen? »Ich weiß es nicht.« Ratbolds gewohntes Stirnrunzeln war so deutlich wie immer, auch wenn seine Missbilligung sich diesmal gegen ihn selbst richtete. »Ich habe die ganze Zeit nur gewartet, wie ein Mann, der auf Messers Schneide vor dem Abgrund steht und nicht weiß, ob er in die Grube hineinfallen oder zur Kammer des Lichts erhoben wird. Dann bin ich aufgewacht. Ihr wisst, was danach geschehen ist. Ich hätte in Gott vertrauen sollen.« Sie gingen eine Weile weiter, ohne zu sprechen. Der Frieden des Morgens senkte sich auf sie herab. Es war, als wären sie die einzigen Menschen auf der ganzen Welt, ganz allein bis auf die Rotkehlchen und einen Schwärm schreiender Gänse, die nach Norden 502 flogen. Vögel sangen irgendwo im Wald, aber die Bäume waren still, denn es wehte kein Wind. Wasser tropfte von den Zweigen. Flache Pfützen standen vollkommen ruhig in den Mulden und Fahrspuren des Pfades. Die Hunde trotteten mit aufgestellten Ohren dahin, stets wachsam, blieben hin und wieder stehen, um Wasser aufzuschlecken. »Wieso bleibt Ihr im Kloster Herford, Bruder?«, fragte Ratbold schließlich. »Ihr habt mich aufgenommen, als ich verzweifelt und allein war. Genügt das nicht als Grund? Aber ich kann nicht länger bleiben. Ich weiß jetzt, wohin ich gehen muss. Ich muss denjenigen finden, der meine Geschichte glauben und mir helfen wird.« »Schade«, murmelte Ratbold. »Das ist der Lohn für unseren Mangel an Glauben.« »Was meint Ihr damit? Auch ich hatte in jener Nacht einen Traum, Prior. Ihr dürft Euch oder den anderen keine Vorwürfe machen. Wieso solltet Ihr auch ? Wie hätte irgendein gesunder Mensch die Geschichte glauben können, die ich Euch damals erzählt habe? Ich kann sie ja selbst kaum glauben, obwohl ich sie erlebt habe. Und doch weiß ich, dass sie wahr ist und dass ich etwas tun muss - ich weiß nicht, wie, und ich weiß auch nicht, was. Vielleicht kann ich gar nichts tun. Aber ich muss handeln. Ich muss es versuchen. Ich kann es nicht länger ertragen, nur zuzusehen und abzuwarten.« Ratbold kam aus dem Tritt, stolperte, richtete sich aber wieder auf, als Alain stehen blieb, um ihm zu helfen. »Lasst mich mit Euch gehen, Bruder.« »Ihr wollt mit mir gehen?« Die Bitte erstaunte Alain, denn sie kam völlig unerwartet. »Ich möchte Euch dienen -« »Wie stellt Ihr Euch das vor? Vater Ortulfus verlässt sich auf Euch, Prior Ratbold. Er kann das Kloster nicht ohne Eure Hilfe führen. Ich muss allein gehen. Ich will in die Lande reisen, die den Aikha gehören.« »Den Aikha! Wollt Ihr ein Missionar werden?« Alain lachte, als ein winziger Frosch aus einer Pfütze sprang und in einem Brombeergebüsch verschwand.
Monatelang war er von 503 Trauer wie gelähmt gewesen, unfähig, etwas zu fühlen, zu denken oder sich zu rühren, aber an dem Morgen, als er aufgewacht war und die Schafe hatte herumlaufen sehen, da war das Blut in seine Glieder zurückgekehrt, die Wärme in seine Haut und das Gefühl in sein Herz. Es war schmerzhaft gewesen, aber er hatte es willkommen geheißen. Adica war fort. Er hatte sie verloren. Aber er hatte noch immer eine Aufgabe zu erfüllen. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich denjenigen finden muss, der sich Starkhand nennt, den ich in meinen Träumen sehe.« Ratbold wandte das Gesicht ab und berührte die nicht sichtbare Wange mit einem Finger, als würde er eine Träne wegwischen. »So sei es also, Bruder. Niemand hier wird Euch aufhalten.« Niemand. Als sie das Kloster erreichten, wurden sie in Vater Ortulfus' Arbeitszimmer gebracht, wo der gute Vater erhabene Gäste unterhielt - dieselben Geistlichen, die drei Tage zuvor an ihnen vorbeigeritten waren, ohne auch nur die geringste Notiz von den einfachen Mönchen am Straßenrand zu nehmen. Der älteste von ihnen war ein schlanker Mann namens Severus, dessen asketisches Gesicht vermuten ließ, dass er nach langen Tagen einsamer gelehrter Studien viele lange Nächte kniend im Gebet verbracht hatte. Er weigerte sich, Wendisch zu sprechen, sondern redete nur Dariyanisch. »Hätten wir das gewusst, hätten wir ihn sofort mitnehmen und uns gleich wieder auf den Weg machen können. Diese Verzögerungen bringen uns nichts als Schwierigkeiten. Ich bin das ganze Stück vom südlichen Salia bis hierher geritten, während meine Gehilfen dort die notwendige Arbeit an meiner Stelle überwachen. Ich bin unterwegs nach Alba.« Er sah Alain mit zweifelnder Miene an, die Lippen fest zusammengepresst. »Ist er derjenige? Ist das der Mann, den wir holen sollen?« Er schüttelte den Kopf, aber sein skeptischer Blick fiel auf die Hunde, die treu zu beiden Seiten der Tür saßen. Nicht einmal 504 Vater Ortulfus verbot den Hunden, ein Zimmer zu betreten, wenn sie es wollten. Sie alle hatten herausgefunden, dass die Tiere, wenn man sie in Ruhe ließ, ziemlich friedfertig waren. »Sind das seine Hunde?« »Sie gehören mir«, erwiderte Alain. »Wer hat Euch geschickt, Bruder?« »Ihr seid kühn, dass Ihr sprecht, ohne angesprochen worden zu sein.« »Ich bitte um Vergebung, Bruder, aber es ist wohl offensichtlich, dass ohne mein Wissen über mich gesprochen worden ist. Prior Ratbold und ich sind gerade erst von einem entfernten Gehöft zurückgekehrt. Wir haben uns dort einige Schafe angesehen, die unter dem Verdacht standen, an der Viehseuche erkrankt zu sein.« Die anderen Geistlichen erzitterten, rangen die Hände und flüsterten leise miteinander. »Ja, wie diese guten Geistlichen erzählen, herrscht in dem Gebiet südlich von hier eine Viehseuche«, sagte Vater Ortulfus. »Sie sind unterwegs an aufgespießten Tierschädeln und vollständig niedergebrannten Gehöften vorbeigekommen. Es ist eine schreckliche Seuche, auch wenn einige behaupten, es wäre das Werk von Seelen raubenden Banditen. Aber ich habe Euren Bericht noch nicht gehört, Bruder. Prior Ratbold, was ist mit Bauer Hosend?« »Er hat zwei seiner Schafe verbrannt.« Ratbold sah Alain an, dann die Geistlichen, bevor er seinen Blick wieder auf den Abt richtete. »Aber die anderen ... die anderen Muttertiere und die Lämmer ...« Er zögerte, war nicht bereit, in Anwesenheit von Fremden weiterzusprechen. »Fahrt fort.« Die Worte kamen abgehackt. »Es gibt ... keine Viehseuche ... in unserem Gebiet.« Ortulfus hatte keine Erfahrung damit, seine Gefühle und Gedanken zu verbergen. Da er einem alten, edlen Geschlecht entstammte und in jungen Jahren in eine machtvolle Position gelangt war, hatte er nie gelernt, seinen Gesichtsausdruck zu kontrollieren. Als er jetzt ungläubig erst Ratbold und dann Alain ansah, verriet der Blick sein Innerstes. 505 Die Intensität von Ortulfus' Blick verblüffte Alain. Sie wollen auf mich nicht verzichten. Von Lavas war er verjagt worden; niemand hatte ihn gewollt, obwohl er von den Löwen akzeptiert worden war, weil der König seine Zustimmung gegeben hatte und auch, wie er hoffte, weil er so hart gearbeitet hatte. Adica und ihr Dorf hatten ihn als einen der ihren angenommen, aber er war dort einer Schamanin von großer Macht und schrecklicher Weisheit übergeben worden. Hier im Kloster Herford hatte man ihn aus Wohltätigkeit aufgenommen, und er hatte immer geglaubt, er würde mehr geduldet als geliebt. Hatte er sich in den guten Brüdern geirrt? Was für ein Mann würde so traurig lächeln wie Ortulfus jetzt, der den Eindruck erweckte, als suchte er die Frage zu einer Antwort, die er bereits kannte ? »Bruder Alain, diese ehrenwerten Geistlichen kommen von der Skopos in Darre. Es ist ihr Wunsch, dass Ihr nach Darre reist, um dort die Skopos zu treffen.« Ihr Wunsch, sagte Ortulfus, aber in seinem Ton hörte Alain etwas anderes. Ihr Befehl.
»Wieso sollte die Skopos mich sehen wollen?« »Wir stellen keine Fragen«, sagte Bruder Severus kühl. »Wir gehorchen nur. Wir werden morgen früh aufbrechen.« Ortulfus bedeutete Ratbold und seinen anderen Gehilfen, sich ihren eigenen Aufgaben zu widmen, sich um das Essen zu kümmern oder zu den anderen Arbeiten zurückzukehren. »Ihr könnt gehen, Bruder Alain, und die notwendigen Vorbereitungen treffen.« Alain dachte daran, Einwände zu erheben. Noch immer beherrschte ihn der mächtige Drang, Starkhand zu suchen, aber die Stimme von Tante Bei mit ihrem Sinn fürs Praktische erklang in seinem Kopf. Wenn Starkhand wirklich in Alba ist, wie willst du das Meer überqueren, wenn du weder irgendwelche Güter noch Münzen hast, um die Überfahrt zu bezahlen? Er war arm und lebte unter der stillschweigenden Duldung der 506 Kirche. Sicher hatte die Skopos einen wichtigen Grund, wenn sie ihn sehen wollte. Vielleicht besaß sie Wissen über die magischen Kräfte, die ihn hierher verschlagen hatten. Er würde dafür sorgen, dass sie ihm glaubte. Wenn sie ihm erst glaubte, mussten alle anderen es ebenfalls tun. »Dann werde ich also gehen, Vater. Mit Eurem Segen.« Ortulfus schüttelte den Kopf; noch immer lag das feste, ironische Lächeln auf seinen Lippen. »Ihr habt meinen Segen, Bruder Alain. Bitte, behaltet uns in guter Erinnerung.« »Wie könnte ich das nicht? Ihr habt mich aufgenommen, als ich fast wahnsinnig vor Trauer war. Ihr habt mir Unterkunft gewährt. Ich bete, dass niemandem von Euch etwas zustoßen wird.« Vater Ortulfus stützte sich auf einer Stuhllehne ab und senkte demütig den Blick. Tränen schimmerten in seinen Augen. Es gab nichts mehr zu sagen. Alain pfiff die Hunde herbei und verließ das Zimmer, aber als er wegging, hörte er, dass sie weitersprachen. »Er ist gar nicht so, wie ich erwartet hatte«, sagte Bruder Severus, dessen Stimme möglicherweise weiter drang, als er im Sinn gehabt hatte. »Nein, Eure Exzellenz«, erwiderte Vater Ortulfus kühn. »Es ist nicht an uns, darüber zu urteilen.« Iso weinte. »Lass m-m-mich mitkommen, B-Bruder. Ich bin g-ganz allein hier.« »Du bist nicht allein. Die anderen werden sich um dich kümmern.« Er war traurig, dass er Iso verlassen musste, der so zerbrechlich, so verkrüppelt, so vertrauensvoll war. Er hatte Simplizius seinem Schicksal überlassen, ohne es zu wissen; jetzt kam es ihm doppelt verbrecherisch vor, Iso zurückzulassen. Aber der Junge hätte die Härten einer langen Reise nicht überstanden, und Alain bezweifelte außerdem, dass die hochmütigen Geistlichen, die der Skopos dienten, geduldig gegenüber jemandem waren, der ihre Reise nur verzögern würde. Auf ihn wirkten sie jedenfalls sehr ungeduldig, als er in der kalten Luft der Morgendämmerung zu ihnen trat. Tau 507 glitzerte auf den Grashalmen, und das Vieh graste seelenruhig auf der Weide. Wie Ratbold ihm in der vergangenen Nacht erzählt hatte, gab es keinen Hinweis darauf, dass die Viehseuche auf die Herde des Klosters übergegriffen hatte. Sämtliche Laienbrüder und Mönche versammelten sich am Tor, um ihn zu verabschieden; Vater Ortulfus stand an der Spitze. Sogar Bruder Lallo weinte. Iso zitterte vor lauter Weinen. Sie alle blieben am Tor stehen und sahen ihm schweigend nach, abgesehen von den krampfartigen Schluchzern des armen Iso. Alain warf immer wieder einen Blick über die Schulter, hob seine Hand ein zweites, ein drittes, ein viertes und ein fünftes Mal, um seine Abschiedsgrüße zu übermitteln. Ein paar hoben die Hand zur Antwort. Hinter ihnen stieg die Sonne allmählich höher, und als die Straße eine Kurve machte, verlor er das Kloster erst wegen der grellen Sonnenstrahlen aus den Augen, die über den Wald hinwegloderten, ehe es schließlich hinter der Biegung der Straße ganz verschwand. XVI Ein Pfeil ins Herz
1 Im Schutz eines behelfsmäßigen Daches saß Gnade unnatürlich still da, die Beine gekreuzt, die Hände auf den Knien, und sah zu, wie die Zentaurinnen sich berieten. Die Frauen-Pferde stellten sich in einem Kreis auf, die Hinterbeine nach außen gerichtet, die Rümpfe einander zugewandt. Sie sprachen mit Stimmen, die sowohl an die Laute von Menschen als auch an die von Pferden erinnerten, und ihre Worte wurden immer wieder von Schnauben unterbrochen, von hin und her peitschenden Schwänzen und dem Aufstampfen von Hufen. Sie waren noch immer oben auf dem Hang, während Wachen das Land in allen Richtungen beobachteten. Die Streitmacht des Prinzen befand sich außer Sichtweite, aber am Himmel waren die von ihren Feuerstellen aufsteigenden
Rauchschwaden zu sehen. Die Zentaurinnen hatten sie nicht ins Lager des Prinzen zurückgebracht. Das stille Verhalten von Gnade machte Anna nervös. Sie hatte noch nie erlebt, dass die Prinzessin so lange nichts gesagt hatte. Hatte die Schamanin das Mädchen verzaubert? »Geehrte? Darf ich nachsehen, ob die Verletzungen heilen?« Eine nicht unbeträchtliche Anzahl richtiger Menschen reiste mit dem Heer der Zentaurinnen; sie alle hielten sich bei dem fröh509 lieh bemalten Wagen auf, dessen Bewohnerin Anna nie zu Gesicht bekam. Die Heilerin war eine von ihnen, obwohl auch sie irgendwie merkwürdig aussah mit den dunklen, schwarz umrandeten Augen und den großen Händen und Füßen. Sie trug eine Filzjacke, einen zum Reiten geschlitzten Rock mit einer Lederhose darunter sowie eine Kopfbedeckung aus Filz, die mit bronzenen Spiralen und herumstolzierendem Wild geschmückt war. Ihre Stimme war tief, aber beruhigend, und die Hände, mit denen sie Annas Wunden untersuchte, fühlten sich sanft an. »Wie kommt es, dass Ihr Wendisch sprecht?«, fragte Anna. Die Heilerin lächelte. An ihrer Kopfbedeckung festgenähte Glöckchen klingelten, als sie nickte. »Wir bereiten uns auf dieses Treffen vor. Aus diesem Grund lernen manche die Sprache Eures Volkes. Die Geheiligte sieht den Tag, der kommt, und den Tag, der vorüberzieht.« Konnte die Schamanin in die Zukunft sehen? Wie viel Macht hatte sie? Anna hätte jedoch nicht sagen können, dass sie besonders beunruhigt war, als die Heilerin ihr Haferschleim und scharfe, vergorene Milch gab, ehe sie sie dann mit Gnade allein ließ. Die Milch machte sie schwindlig. Sie wurde sich ihrer Hände, ihrer Lippen und Ellbogen auf unnatürliche Weise bewusst, gewahrte den rot-orangefarbenen Teppich, auf dem sie saßen, die zerfetzten Wolken, die über ihr an einem blassblauen Himmel hingen und im Osten in von Sturm kündendes Grau übergingen. Sie roch den Winter, aber er berührte sie nicht. Gnade rührte weder den Haferschleim noch die Milch an. Ihr Gesicht war tränenverschmiert, aber sie blieb still, behielt ihre Furcht und Unsicherheit für sich. Anna brach es fast das Herz, als sie sie derart hilflos sah. Sie war so jung, war trotz ihrer Größe erst drei oder vier Jahre alt und somit noch immer ein Kleinkind, auch wenn ihr Körper so rasch gealtert war. Obwohl sie aussah, als wäre sie bereits etwa zwölf Jahre, besaß sie noch kaum Erfahrung oder Reife. Kein Wunder, dass ihr Vater Angst um sie hatte. Er musste gewusst haben, dass es nur eine Frage der Zeit war, ehe sie sich in Schwierigkeiten brachte, die er nicht beheben konnte. Es war ein Wunder, dass die Zentaurinnen sie aus Bulkezus Gewalt befreit 510 hatten, aber auch wenn die fremdartigen Wesen eher höflich und ruhig wirkten, befanden sie sich auch jetzt noch in ernster Gefahr. Es war kein Wunder, dass Gnade Angst vor den Zentaurinnen hatte. Sie hatte nie eine andere Autorität kennen gelernt als ihren Vater, der sie abgöttisch liebte. Dann hatte Bulkezu sie misshandelt, und jetzt war sie die Gefangene dieser seltsamen Wesen. Gnade war nicht in Gent gewesen, hatte die entsprechende Lektion nie gelernt. Sie wusste nicht, dass man sich manchmal in irgendeinem Unterschlupf verkriechen und dort auf den richtigen Zeitpunkt warten musste, weil man keine Macht mehr über den Sturm hatte, der um einen herum tobte. Die alte Schamanin warf plötzlich den Kopf herum, löste sich aus dem Kreis und trat zu ihnen. Gnade stand auf und machte einen Schritt auf sie zu. Ihr kleines Gesicht lag vor Entschlossenheit in Falten, und Wut schimmerte in ihren schwarzen Augen. »Wann bringt Ihr mich zurück zu meinem -« Sie fuhr herum, wirbelte zur Seite, als hätte die Hand eines Riesen sie mit sich gezogen. Sie griff sich mit den Händen an die Kehle, verdrehte die Augen und blickte zum Himmel. Ganz kurz sah Anna aus dem Augenwinkel ein Licht aufblitzen - kaum sichtbar und schon wieder verschwunden. Gnade schrie. »Ich höre sie! Ich höre sie! Sie ist zurückgekommen! Sie ist ganz aus Feuer!« Sie sackte schlaff zu Boden. »Gnade!« Anna schüttelte sie, rieb ihr die Hände, aber Gnade reagierte nicht, obwohl sie atmete und die Augen offen standen. Ein Schatten fiel auf das Gesicht der Prinzessin. Anna blickte auf und stellte fest, dass die Schamanin dicht bei ihnen stand. »Was habt Ihr getan?«, rief sie, schwieg aber sodann, als der Blick der Schamanin auf sie fiel. Die Zentaurin sagte nichts, musterte Gnade nur kühl. Ihr Gesicht sah trotz seiner menschlichen Form unheimlich aus, was vielleicht nur an dem leuchtenden Glanz ihrer Augen lag, vielleicht aber auch an der beunruhigenden, hornähnlichen Farbe ihrer Haut und den damit kontrastrierenden goldenen und grünen Streifen auf ihrem Körper. 511 Es musste ein Zauberspruch gewesen sein. Langsam erhob sich Anna, auch wenn es wehtat, sich zu bewegen. Sie hatte blaue Flecken und Schnittwunden und Schmerzen, aber es war unbestreitbar, dass die Zentaurinnen sie und die Prinzessin vor Bulkezu gerettet
hatten. Bei all ihrer seltsamen Fremdartigkeit wirkten sie nicht verrückt. »Wer ist zurückgekommen?«, fragte Anna schroff, ließ Klugheit und Höflichkeit beiseite. »Wer ist aus Feuer?« Die Schamanin schnüffelte in der Luft und blickte nach Osten. »Eine mächtige Kraft hat das Land betreten.« Gnade konnte nicht sprechen, aber Anna hatte die Sprache nicht verloren. »Was habt Ihr mit uns vor? Wo ist Prinz Sanglant? Wieso können wir nicht zurück zu unserem Volk? Was habt Ihr mit Prinzessin Gnade gemacht?« Die Schamanin musterte Anna, als wäre die junge Frau eine besonders abscheuliche Made, die sie bei näherem Hinsehen vielleicht zu zerquetschen beabsichtigte. Schon dieser Blick war wie ein Zauberspruch. Anna zog den Kopf ein. Vielleicht würde das Ende schnell kommen, ein von den Himmeln herabgerufener Blitzstrahl, der sie in Asche verwandelte. »Ich habe Prinzessin Gnade nichts getan, ihr lediglich die Grausamkeiten der Bestie erspart, die das Gras heimsucht. Ich weiß nicht, was sie jetzt befallen hat.« »Es gibt Heiler im Lager des Prinzen -« »Dies sind keine irdischen Beschwerden. Wir können nichts tun.« »Aber es muss etwas getan werden!« »Muss es das?« Der Ton ließ Anna zusammenzucken, aber es kam kein Hieb. »Der Sturm verausgabt sich von allein. Ein warmer Wind wird ihn beenden, und die ersten Frühlingsblumen werden hervorsprießen. Wir werden warten. Wir werden uns nicht in diese Jagd einmischen.« Anna wischte sich die Augen und kniete neben Gnade nieder, faltete ihre Hände über dem Herzen des Mädchens. Gnades Brust hob und senkte sich in einem gleichmäßigen Rhythmus, aber ihre Augen waren noch immer offen, sahen nichts und reagierten nicht. 512 »Was tut Ihr?«, fragte die Schamanin neugierig. »Das Einzige, was ich noch tun kann. Ich bete.« 2 Wenn man das Ende der Welt gesehen hat und sich in einem Sturm aus Eis verliert, bleibt einem nichts anderes mehr übrig, als sich auf ein unsichtbares und sogar unbekanntes Ziel zuzukämpfen. Der Wind zerrte an ihr. Der Boden wurde felsig, als sie aufzusteigen begannen. Der Fremde, der sie führte, geriet immer wieder außer Sicht, verschwand hinter einem Vorhang aus Schnee, der sich nur dann auflöste, wenn die Windrichtung sich änderte. Seine offenen Haare wirbelten in dem Sturm hin und her, kringelten sich wie zuckende Schlangen. Vornübergebeugt kämpfte er sich den steilen Hang hinauf, ohne sich umzudrehen und nachzusehen, ob sie ihm folgte. Wohin sonst sollte sie auch gehen ? Sie liefen unendlich lange weiter, bis ihre Hände und Füße taub waren und sie das Gewicht ihres Bogens auf dem Rücken nicht mehr spürte. Ihre Wangen brannten. Zweimal rutschte sie aus und stolperte, als lockeres Geröll, das unter der Schneeschicht nicht zu erkennen war, unter ihren Füßen wegrutschte. Sie fluchte jedes Mal, wenn sie sich die Knie und einmal sogar einen Ellbogen stieß. Der Wind heulte vom Gipfel zu ihnen herunter, schlug auf sie ein; ein Kieselstein riss ihr unterhalb eines Auges die Haut auf, aber das Blut wurde vom Sturm weggeweht. Er verschwand. Sie ging über Geröll, rutschte aus, fiel mit den Knien zuerst auf den Boden und fand sich zwischen Knochen herumkrabbelnd wieder. Ihre Hände waren so taub, dass sie nicht genug spüren konnte, um das Gleichgewicht wiederzuerlangen. Er riss sie hoch und schob sie weiter in den Schutz einer Art Hütte, die aus Stöcken und Gras bestand. Ein alter, bedrohlicher Geruch hing in der Luft, aber immerhin hatte der schneidende Wind nach513 gelassen, sodass sie ihn sprechen hören konnte - grammatikalisch richtiges Wendisch, wenn auch mit deutlichem Akzent. »Wenn Ihr ein Feuer entfacht, können wir vielleicht überleben.« Endlich vor dem Wind geschützt, begann sie, am ganzen Körper zu zittern. Es war schwer, sich zu konzentrieren, sich auch nur den eigenen Namen in Erinnerung zu rufen, ganz zu schweigen davon, an einem solch gefährlichen Ort Feuer herbeizurufen. Die trockenen Pflanzen warteten nur darauf, in ein brennendes Inferno auszubrechen. Er stieß mit dem Fuß einen Haufen Unrat an, den sie zu spät als Feuerstelle aus getrocknetem Dung erkannte. Als sie sich hinkniete, knirschten und knackten ihre Kniegelenke wie die einer alten Frau. Ein Fingerknöchelchen rutschte unter einem Knie weg und rollte zur Feuerstelle. Was für ein Jäger verzehrte menschliches Fleisch, errichtete aber Nester wie ein Vogel ? Sie kannte die Antwort bereits. Obwohl es schwer war, mit tauben, schmerzenden Händen die Bewegungen durchzuführen, zog sie einen Handschuh aus und legte ihre Finger auf die oberste Dungschicht. Draußen im Freien hatte sie das Feuer einfach so herbeigerufen; hier musste sie bewusst vorgehen, als versuchte sie, mit einer Nadel schönste Seide zu bearbeiten, um nicht von der selbst erschaffenen Feuersbrunst verschlungen zu werden. Feuer flammte auf, züngelte hoch, während sie sich mühsam auf dem Boden niederließ. Sie war vollkommen außer Atem. Es war so kalt. So kalt.
»Woher kommt Ihr?«, fragte der Mann. Mit einiger Mühe hob sie den Kopf. Er kauerte ihr gegenüber, starrte sie mit einem intelligenten, beunruhigend intensiven Blick über das Feuer hinweg an. Seine Haare waren jetzt keine Schlangen mehr, sondern einfach nur noch lange, dichte schwarze Haare, die der Wind durcheinander gebracht hatte. Sie musste an Sanglant denken er war es niemals müde geworden, ihre Haare zu kämmen. Es war das Einzige gewesen, wobei er hatte still sitzen können, während er sonst immerzu herumlaufen und sich bewegen musste. Oh, Gott, wo war Sanglant jetzt? Wo war ihre Tochter? Sie hat514 te gebetet, dass die Kraft ihrer Sehnsucht sie zu ihnen zurückziehen würde, aber jetzt verzweifelte sie. Aus welchem Grund sollten sie sich in einem solchen Ödland aufhalten ? Sie hatte keine Zeit, sie zu suchen, denn die Zeit und die Gezeiten und die unfehlbare Bewegung der Sterne würden nicht stehen bleiben. Wie konnte sie zu ihnen zurückkehren, wenn sie doch wusste, dass sie vielleicht einen Pfad entlanggezogen wurde, der sich möglicherweise für Tage, Monate oder gar Jahre nicht mit ihrem kreuzte? Sie wusste nicht, wie lang es her war, seit sie diese Welt verlassen hatte. Sie wusste auch nicht, wie viel Zeit ihr noch bis zur großen Beschwörung blieb. »Sagt mir zuerst, wer Ihr seid«, erwiderte sie vorsichtig. »Wenn ich Euer Feind wäre, wärt Ihr längst tot.« Sie lachte, denn als er sprach, erinnerte sein Gesicht sie an Katzenmaske. Sie berührte ihr Schwert, Lucians Freund, um sich daran zu erinnern, dass es noch immer an ihrem Gürtel hing. »Vielleicht. Aber es ist möglich, dass Ihr nicht in der Lage seid, mich zu töten. Es ist möglich, dass Ihr es nicht wollen würdet.« »Es ist möglich, dass Ihr jetzt meine Geisel seid.« »Es ist möglich, dass Ihr meine seid.« Er lachte. Es war ein Widerhall ihres Lachens, aber seine Stimme war kratzig, und sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass er ihr etwas Wesentliches verschwieg, nicht nur seine Identität und seine Absichten, sondern ein tieferes Geheimnis. Als würde ein Feuer unter einer Torfschicht schwelen und könnte jederzeit unerwartet ausbrechen und die Hand versengen, die darin grub. »Ich bin niemand, nur ein Mann auf der Suche nach Greifenflügeln.« »Und das hier«, sie machte eine die Hütte umfassende Geste, »das ist ein Greifennest?« »Ja.« »Dann seid Ihr am richtigen Ort, um dem Schicksal zu begegnen, das Ihr begehrt.« Wieder das Lachen, das gleiche beunruhigende Gackern. »Und Ihr? Woher kommt Ihr? Was sucht Ihr?« Sie sagte nichts. Er fuhr sich mit der Hand an der Kehle entlang. Die beiläufige 515 Bewegung machte sie nervös. Ohne es eigentlich zu wollen, berührte sie den Goldreif, den sie trug, den zu tragen sie aber nicht länger das Recht hatte. »Nur jene vom Geschlecht der Herrscher tragen den Ring aus Gold um den Hals«, sagte er. »Wer ist Euer Vater?« »Ein bescheidener Mann, in dessen Ahnenreihe weder ein König noch eine Königin steht. Wie kommt es, dass Ihr Wendisch sprecht? Seid Ihr ein Kaufmann?« »Ich bin nichts, bin namenlos und ziellos, bis ich Greifenschwingen habe.« »Und was werdet Ihr dann sein?« »Das hängt davon ab, ob ich meinen Feind besiege. Er trägt auch einen Goldring um den Hals.« Sie errötete, spürte ihre Haut heiß werden und ihr Herz rasen. Vielleicht kämpfte Henry im Osten. Es war unwahrscheinlich, dass dieser Mann etwas über Sanglants Verbleib wusste, und sie wagte nicht, Wissen zu enthüllen, das er möglicherweise gegen sie verwenden konnte. »Wie können Greifenschwingen Euren Feind vernichten?« »Die Federn von Greifen sind gefeit gegen Magie. Vielleicht auch gegenüber der Euren, Liathano.« Er war vermutlich ein bisschen verrückt, und sicherlich spielte er jetzt ein Spiel, indem er das Feld wechselte, seinem Gegner Sand in die Augen streute. Dieser Mann war nicht ihr Freund. Es war immer noch schwierig, abzuschätzen, ob er ihr Feind war. Sie änderte ihre Taktik. »Woher kennt Ihr meinen Namen?« Das Feuer knisterte, während er sie musterte, den Kopf zur Seite neigte und lauschte. Sie hörte nur das Heulen des Windes und das leise flüsternde Rascheln von den äußersten Schichten des riesigen Nests. »Ich suche Euch, weil Ihr einen Namen von großer Macht habt. Weil Ihr einen Palast niedergebrannt habt. Feuer ist eine Waffe.« »Dann wisst Ihr auch, dass Ihr mich nie töten oder gefangen nehmen könnt. Feuer ist eine Waffe, gegen die nicht einmal Greifenfedern etwas ausrichten können.« 516 »Ihr habt Euren Zweck bereits erfüllt. Hört nur.« Sie lauschte. Aber alles, was sie hörte, war der Wind. Er packte seinen Speer und stürmte ohne Vorwarnung nach draußen. Sie sprang auf - und im gleichen
Augenblick erzitterte das ganze Nest. Stöcke und Geröll regneten auf sie herab. Eine zerbrochene Eierschale von beunruhigender Größe fiel von oben herunter und zerbarst vor ihren Füßen in etliche Stücke. Die niedrige Öffnung bebte, als würde jemand eindringen wollen. Ein Tier schrie draußen schrill auf. Ein riesiger Schatten bewegte sich vor dem Eingang, und noch bevor sie Deckung suchen konnte - nicht dass es überhaupt irgendeine Spalte oder einen Schlupfwinkel gegeben hätte -, brach ein riesiger Adlerkopf durch die Öffnung. Schneeflocken glitzerten auf dem Schnabel. Die Federn an der Kehle hatten einen Glanz wie von Eisen, und die Augen waren wie Bernstein. Der Kopf ruhte auf den gelblichen Tatzen eines Löwen, die mit grausamen Krallen versehen waren. Der Greif war heimgekehrt. 3 Sanglant hatte nie Grund gehabt, über die Grenzen des Fluches seiner Mutter nachzudenken. Seine Wunden hatten sich nie entzündet, waren immer verheilt. Erkältungen und Fieberanfälle, von denen andere belästigt wurden, hatte er nie gehabt. Er konnte weder im Kampf sterben noch durch Intrigen, sondern lediglich zusehen, wie seine Verbündeten und Feinde zusammenbrachen. Jetzt, einige Stunden, nachdem er den nicht sehr tiefen Fluss überquert hatte, kauerte er sich in seinen Umhang, während der eiskalte Sturm an ihm zerrte und ihn bis auf die Knochen auskühlte. Beim Gehen waren seine nassen Füße warm geworden, aber jedes Mal, wenn er stehen blieb, wurden sie wieder steif und brannten. Der Sturm, dachte er, ist weder männlich noch weiblich. Die Kälte ist keine Krankheit, sondern lediglich ein Zustand. Vielleicht musste Bulkezu ihn gar nicht töten, sondern brauch517 te lediglich Sanglants erfrorenen Körper zu holen und konnte dafür die Anerkennung einheimsen. Aber Sanglant blieb nichts anderes übrig, als ihn zu verfolgen und zur Strecke zu bringen. Ganz zu Beginn, als er durch Ungria und die Steppe nach Osten gereist war, hatte die Pflicht ihn angetrieben. Jetzt waren es Hass und Wut. Bulkezu hatte seine Tochter entführt. Allein der Gedanke daran machte ihn ganz benommen vor Zorn, sodass er am liebsten aufgeschrien und sich wie ein tollwütiger Hund gebärdet hätte. Aber er war ein Mann, und er würde Bulkezu nur dann besiegen und seine Tochter wiederbekommen, wenn er wie ein Mann dachte und sich auch so verhielt. Wie jagte man einen Greifen? Indem man ihn in seinem Nest aufsuchte. So wie er als Kind eines Menschen und einer Aoi hatten auch Greifen etwas von verschiedenen Wesen an sich: von einem Adler, einem Löwen und einer Schlange. Löwen suchten die Ebenen heim, so sagte die Überlieferung, und Adler liebten Flüsse und Berge, bevorzugten häufig auch offenes Land. Bevor sich der Sturm um ihn herum geschlossen hatte, hatte er einen ungehinderten Blick auf die Landschaft im Osten werfen können; ein Fluss wand sich dort durch ein breites, grasbestandenes Tal, endete abrupt vor steilen, zerklüfteten Felsen. Er kämpfte sich auf die Füße und wandte sich nach Osten, dem Wind entgegen. Um ihn herum wütete die Kälte, aber er marschierte immer weiter. Während der Tag verstrich, verwandelte sich der graue Himmel in einen düsteren blaugrauen Schatten, und die hohen Klippen wurden zu einer schwarzen Wand. Der Schnee verlor sich; zurück blieb gefrorener, vom Wind freigefegter Boden. Die Temperatur stieg zwar nicht an, aber sie sank auch nicht. Die ganze Nacht ging er weiter, änderte nie das Tempo seiner Schritte. Er hatte seine Stimme verloren, und auch in seinem Kopf formten sich keine Worte. Seine Gedanken existierten in ihrer rohen, unmenschlichen und natürlichen Gestalt, als er seine Sinne nach außen kehrte, suchte, lauschte und schnüffelte. 518 Die Nacht sprach zu seinen Ohren: »Es ist nichts vor dir und nichts hinter dir.« Die Erde sprach zu seinen Füßen, als er mit jedem Schritt die dünne Schicht am Boden aufbrach: »Dies ist ein hartes Land. Pass auf.« Die Kälte sprach durch seine Haut: »Ich komme von den Bergen, vom Himmel, von den kalten Welten dahinter. Komm zu mir, und ich werde dich wegtragen.« Der Wind sprach sehr deutlich, trug einen Geruch heran, als Sanglant sich den östlichen Gipfeln näherte. Ein Hirsch legte sich verletzt und blutend nieder, um zu sterben. Ein vom Winter ausgehungerter Wolf und seine Gefährtin näherten sich langsam, zogen ihre Kreise um das Festmahl. Ein einsamer Adler stürzte sich in die heftigen Winde, suchte hoch oben über den westlichsten Felsauswüchsen eine warme Luftströmung. Feuer. Eine lodernde Flamme zerrte hoch über ihm, direkt östlich, an dem Wind. Ein Lagerfeuer oder ein Leuchtfeuer. Ein Zeichen. Sanglant lauschte dieser Feuersbrunst, aber seine Suche wurde vereitelt, als der Wind sich drehte und von anderen Geheimnissen wisperte, ganz so, als wüsste er, dass Sanglant nach Hinweisen auf menschliches Leben suchte. Der Wind ärgerte ihn erneut, indem er wieder die Richtung änderte und von Osten her blies. Während sich die Nacht dahinzog, verwandelte sich der kalte Wintersturm in eine schläfrige Brise, die von Frühling kündete und von Süden her die Kammlinie entlangwehte. Sanglant begann, die Fährte zu verlieren.
Er lief schneller. Mittlerweile ging es leicht bergauf, dann wurde es steiler, und schließlich musste er den Stab zu Hilfe nehmen, um den Hang hinaufzuklettern. Er roch und hörte das Gelände mehr, als dass er es sah; seine Sehfähigkeit war nachts nicht besonders gut, und so verriet der über das Land wogende Wind den Pfad. Spät in der Nacht, als der Geruch der Morgendämmerung bereits in der Luft lag und die Wolkendecke zu kleinen Flecken zerrissen war, durch die Sterne schimmerten, sah er hoch oben zwischen den Felsen ein Licht aufblitzen. Der abnehmende Mond durchbrach die Wolken, und sein Licht verlieh den Steinen einen silbernen Glanz. Mithilfe dieses Lichts 519 suchte er sich zwischen umgestürzten Steinen einen Weg, vorsichtig darauf bedacht, nicht auszurutschen und sich mit einem lauten Geräusch zu verraten. Er hatte angenommen, dass das Feuer noch weit entfernt lag, und war nicht darauf vorbereitet, sein Fauchen so nah zu hören; vielleicht war es auch nur eine Täuschung, ein Echo, das von den steilen Felswänden der Klippen widerhallte. Das Tal hinter ihm lag in Dunkelheit, so unergründlich wie das Meer. Er blieb stehen und schnappte nach Luft, schloss die Augen und lauschte, wartete darauf, dass ein Fuß über den Felsen scharrte und ihm die Anwesenheit seines Feindes verraten würde. Er konnte ihn nicht riechen, aber ein Jucken zwischen seinen Schulterblättern und in seinen Handflächen sowie ein Flüstern in seinen Gedanken sagte ihm, dass Bulkezu in der Nähe war. Rauch kitzelte seine Nase. Er schob sich an einem Felsvorsprung entlang näher, arbeitete sich an ein paar Felsblöcken vorbei, die von den Klippen weiter oben gefallen waren. Hinter diesem Hindernis lag mitten am Abhang eine Art Höhle, bildete eine geschützte Nische, in der Greifen ein gigantisches Nest aus miteinander verwobenen Zweigen, Gräsern, Schilf, Knochen, Stoff-Fetzen und Eisenfedern gebaut hatten. Das riesige Nest brannte lichterloh - und zwischen diesem Nest und dem anderen Ende der Höhlung, wo sich eine Felsklippe aus dem Berghang abspaltete, kauerte ein Greif. Es war ein herrliches Geschöpf, größer als ein Ochse und mit glänzenden Eisenschwingen und einem blasssilbernen Fell. Es hielt den Adlerkopf hoch erhoben und starrte eine Gestalt an, die etwa einen Steinwurf von ihm entfernt stand. Der schlanke Mensch hatte sich auf einen Haufen wild zusammengewürfelter Steine zurückgezogen. Zwischen dem Greifen und seinem Feind herrschte lauerndes Stillhalten, denn keiner von beiden rührte sich. Das Feuer loderte und fauchte. Sanglant packte seinen Speer fester, als ein schwaches Glühen den östlichen Horizont jenseits der Klippen erhellte. Der Greif verlagerte seine Position, peitschte mit seinem Schwanz und 520 machte sich zum Sprung bereit. Das letzte Glitzern des untergehenden Mondlichts tauchte den Berg in Silber und enthüllte die Gestalt und das Gesicht der Person, die da auf den Steinen stand. Liath. Er träumte. Bulkezu hatte ihn mit einem Zauberbann belegt. Das Mondlicht vergoldete ihre Haare, sodass sie hell glänzten. Ihr Gesicht hatte sich in all den Jahren nicht verändert, und das blaue Feuer in ihren Augen schien so hell zu strahlen, dass er glaubte, tatsächlich Feuer sich in ihnen spiegeln zu sehen, obwohl er sicher zu weit weg stand, um Einzelheiten in ihrem Gesicht erkennen zu können. Das Feuer verzehrte das Nest, Rauch und Flammen schössen himmelwärts, und ein schwacher Schimmer aus goldenem, orangefarbenem und rotem Licht umtanzte auch sie wie eine Aura, sodass sie erstrahlte, als unsichtbares Feuer ihren Körper umgab. Sie war genauso schön, wie er sie in Erinnerung hatte, aber da war jetzt auch noch etwas anderes - sie war auf eine beunruhigende Weise mächtig, wie die Glut eines gut genährten Herdfeuers, die den Schmied davon abhielt, sich ihm zu sehr zu nähern. Sie sah ihn nicht. Der Wind erfasste den Saum ihres Umhangs, hob ihn hoch und wirbelte ihn um ihre Knie. Sie stand auf den Steinen und zielte mit angelegtem Pfeil, ohne ihn jedoch abzuschießen. Der Greif sprang noch immer nicht, sondern schlug lediglich mit dem Schwanz auf den Boden und wirbelte eine Staubwolke auf. Sanglant starrte Liath an, verblüfft über ihr unerwartetes Auftauchen. Wo war sie all die Zeit gewesen? Wieso hatte sie ihn nie gesucht? Oh, Gott. Ein einzelner Pfeil war nutzlos gegen einen Greifen. Er machte einen Schritt nach vorn - und in diesem Augenblick streifte der Tod seine Schultern. In einer fließenden Bewegung drehte er sich um und duckte sich, entging nur knapp dem Speerstoß, der aus dem Schatten hinter ihm gekommen und auf sein Gesicht gezielt war. Bulkezu hatte sich an ihn herangeschlichen, während er benommen und ahnungslos seine verloren geglaubte Frau angestarrt hatte. Er stolperte, Steine rutschten unter ihm weg, und 521 er konnte seinen eigenen Speer gerade noch rechtzeitig hochreißen, um Bulkezus zweiten Stoß abzuwehren. Er stürzte schwer, ließ den Speer los, der über den Boden rollte. Bulkezu war mit einem Satz bei ihm und baute sich breitbeinig vor ihm auf, hatte seinen Speer in den Händen und hob ihn zum letzten, nach unten gerichteten Stoß. Die Zeit dehnte sich, wie Sanglant es so oft in der Schlacht erlebt hatte, wenn die Welt um ihn herum zusammenzuschrumpfen begann, bis nur noch er und der Feind, gegen den er gerade kämpfte, übrig blieben. Er suchte nach seinem Messer, aber sein Gürtel war beim Sturz verrutscht, und die Scheide befand sich jetzt unter
ihm. Konnte jemand, der mit einem Fluch wie dem seinen belegt war, einen Stoß ins Herz überleben? Bulkezu rief etwas - ein Wort, einen Schlachtruf, einen Fluch -, und sein vernarbtes Gesicht strahlte vor Siegesgewissheit, als er ein irres Lachen von sich gab und den Speer fester packte, um den tödlichen Stoß auszuführen. Der Pfeil bohrte sich auf der linken Seite in seinen Oberkörper, traf ihn mitten ins Herz. Sanglant warf sich nach rechts, während Bulkezu mit einem überraschten Ausdruck im Gesicht nach vorn sackte. Doch auch so fiel die Leiche auf seine Beine, und während er sich noch bemühte, sich von ihr zu befreien, stieß der Greif einen gellenden, schrillen Schrei aus. Eine Staubwolke und eine scharfe, auf ihn einhämmernde Windböe, die von den Flügelschlägen stammte, behinderten ihn, als er Bulkezu den Speer aus der Hand riss und losrannte. Kleine Steinchen und Dreck stoben in die Luft und prasselten ihm ins Gesicht, sodass er kaum etwas sehen konnte. Er kam zu spät. Der Greif hatte sich bereits in die Luft erhoben, und während er hilflos zusah - zu weit entfernt, um seinen Speer auch nur werfen zu können -, packte das Tier Liath und hob sie hoch. Sie hatte bereits einen neuen Pfeil halb aus dem Köcher gezogen, aber als der Greif sie mit nach oben nahm, verlor sie ihn, und er prallte dort auf die Steine, wo sie eben noch gestanden hatte. Fluchend sah Sanglant zu, wie die riesige Kreatur nach Westen 522 über die Ebene davonflog, während die Sonne hinter ihm über die Gipfel stieg. Die Morgendämmerung brach an, und mit ihr wehte eine warme Brise von den Felsen herab. Er schwitzte jetzt ziemlich, sowohl von der Anstrengung als auch aufgrund der steigenden Temperatur. Nebel quoll aus dem Tal, hüllte das Tiefland in ein ungewisses Zwielicht, und in diesem weißen Dunst verschwanden der Greif und Liath. »Gnade!«, rief er. »Anna!« Es kam keine Antwort. Ein Tier huschte über die Felsen. Ein Schwärm Mauersegler kreiste auf der Suche nach Insekten über der nächstgelegenen Klippe. Bulkezus Leiche lag zwischen ein paar Felsbrocken. Der Wind raunte in dem Gefieder des Pfeils, der aus seiner Brust ragte. Erstaunlicherweise war kein Blut zu sehen. Er rief erneut, lauschte, aber er hörte nichts als den Wind, der stöhnend über die Gipfel fuhr, das Knistern des ersterbenden Feuers und das Scharren des verdammten Tieres. Für einen kurzen Augenblick geriet es in sein Blickfeld - ein hasenähnliches Tier mit kleinen Ohren -, ehe es auf der Suche nach Deckung wieder davonschoss. Eine Eule kam in Sicht und ließ sich auf einem Felsblock nieder. Er hatte den Eindruck, als musterte sie erst ihn und dann das brennende Nest, bevor sie sich wieder in die Lüfte erhob und nach Westen flog. Er erkannte sie - es war die Vertraute der Schamanin. Durch die Sinne der Eule sah sie alles; vielleicht wusste sie auch alles. Und doch weigerte sie sich, ihm zu helfen. Er schwitzte wie wahnsinnig, als er zwischen den Steinen nach dem Pfeil tastete, den Liath hatte fallen lassen, ihn ins Freie zog und anstarrte. Er taumelte, und in seinem Geist herrschte nichts als Leere. Der Anblick von Liath hatte ihn völlig verblüfft - ihn, der bisher in der Schlacht rasch und entschieden gehandelt hatte. Langsam, wie ein Schlafender, der gerade erwachte und seine Umgebung musterte, betrachtete er den Gegenstand in seiner Hand genauer. Er selbst hatte diesen Pfeil in Verna für sie befiedert. Er erkannte die Gänsefedern, die alle vom selben Flügel stammten, und Resueltos Pferdehaare, mit dem die Federn befestigt waren. 523 Wie war es möglich, dass sie nach drei Jahren noch immer diesen Pfeil besaß ? War sie die ganze Zeit nie irgendeiner Gefahr ausgesetzt gewesen? Hatte sie ein bequemes Leben geführt? Was tat sie hier in der Steppe ? Wie war sie hergekommen ? Wieso hatte sie ihn in all der Zeit nie gesucht? Er weinte, ohne sich dessen zu schämen - so, wie ein Mann zu weinen pflegte, wenn ihn ein mächtiges Gefühl überkam. Ärger, Wut, Furcht, Lust, Pflichtgefühl, Versagensangst, Ehre und Enttäuschung vermischten sich in seiner Brust zu einem Wirrwarr ohne Ende oder Anfang. Grimmig kehrte er zu Bulkezus Leiche zurück, aber abgesehen von etwas Steppengras, Steinen und Staub gab es keinerlei Spuren an den Stiefeln, Ärmeln oder der Hose des Toten, die ihm hätten sagen können, wo er sich möglicherweise noch aufgehalten hatte. An seinen Händen war kein Blut. Der Pfeil, der Bulkezu getötet hatte, passte zu dem, den der Prinz in der Hand hielt. Er rollte Bulkezu auf die Seite und schob den Pfeil durch, zog ihn am Rücken wieder heraus. Fleischfetzen klebten an der Spitze. Blut sickerte träge aus dem Körper, tröpfelte auf den Stein. Das Nest brannte noch immer, fiel schließlich in sich zusammen, während Aschefahnen in die Luft stiegen und vom Wind davongetragen wurden. Der Schrei eines Greifen erscholl über den Klippen. Sanglant starrte über das Tal, sah aber nichts, abgesehen von der Nebeldecke, die sich zu Fetzen, Flecken und weißen Fingern entrollte. Die strahlende Sonne stieg höher in den Himmel und verkündete einen neuen, herrlichen Tag. 4 Sie und ihr Gefährte hatten am Tag zuvor gut gegessen. Zwei Sonnen lang hatten sie einen Hirsch gejagt, ihn
dann am Oberlauf des kleineren fließenden Wassers zur Strecke gebracht. Dass der Hirsch trotz der Jahreszeit unerwartet fett gewesen war, war der 524 erste Glücksfall auf ihrer Reise nach Norden gewesen. Der Flug von den Bergen, in denen sie überwintert hatten, war hart gewesen, weil entlang des Weges zu den Nestgründen noch immer bittere Kälte herrschte. Schnee und raue Winde hielten sich dieses Jahr ungewöhnlich lange. Die späten Schneefälle machten sie nervös und wachsam, als sie neben ihrem Gefährten im Nest vom letzten Jahr kauerte. Die Fäden, aus denen das große Nest der Welt gewebt war, erzitterten unter einer Berührung, die so weit entfernt war, dass sie kaum wahrnehmbar war. Sie kam sich wie eine glücklose Fliege vor, die sich auf einem tauglänzenden, unschuldig wirkenden Haar niederlassen will und dann den Fuß einer Spinne den äußersten Rand ihres komplizierten Netzes streifen spürt. Vielleicht gehörten die späten Schneefälle auch zu dieser Störung. Vielleicht würde die Brutzeit durch diese unsichtbaren Kräfte gestört werden. Vielleicht würden die Jungen, wenn es denn welche gab, leiden und sterben. Sogar das Pferdevolk befand sich auf dem Marsch, war aus allen vier Windrichtungen zusammengekommen und bildete eine große Herde. Das allein konnte schon jede Kreatur beunruhigen. Irgendetwas in der Luft erweckte ihre Aufmerksamkeit - ein Geräusch, das eigentlich gar kein Geräusch war, eine Berührung, die keine Berührung war, ein Funke, der eigentlich nichts war, was man mit dem Auge sehen konnte. Weil sie aufmerksam war, roch sie die Ausdünstung von verhülltem Feuer, das die verborgenen Wege entlangfegte - jene pochenden Kraftlinien, die das große Nest der Welt zu einem einzigen Stück verwoben. Ihr Gefährte hob augenblicklich den Kopf, als er die schwache Erschütterung spürte. Er war natürlich etwas kleiner als sie und nicht so stark, aber schlau und einfallsreich und nie streitsüchtig, wie es viele Männchen sein konnten. »Geh«, sagte sie zu ihm in der Sprache der Greifen; es waren keine richtigen Worte, sondern eine Mischung aus kleinen Bewegungen, Scharren auf der Erde, Gerüchen und dem polternden Muster ihres Gesangs. »Wir haben uns zu früh nach Norden aufgemacht. Folge dem größeren fließenden Wasser nach Süden bis zum sonnenbeschienenen Stein. Ich werde dich dort treffen.« 525 Es war eine kurze Reise, aber so würde er aus dem Weg und in Sicherheit sein. Er erhob sich in die Lüfte, und sie wartete einen Moment, blickte ihm hinterher, als er sich flügelschlagend auf die Stelle zubewegte, wo der sich schlängelnde Wasserlauf durch die Jagdgründe schnitt. Als er weit genug weg war, stellte sie die büschligen Ohren auf und dehnte die Klauen, während sie nach der zufällig erspürten Unordnung in der normalerweise ruhigen Oberfläche des großen Nests der Welt suchte. War das verhüllte Feuer bereits vergangen, oder wanderte es noch immer auf der Erde umher? Da! Sie bemerkte es, wie sie ein gedämpft glühendes Feuer unter einem schneebedeckten Hang wahrnehmen würde. Es wanderte über das Tiefland, wo Schneestürme die Landschaft einhüllten. Sie erhob sich vom Rand der Felsklippe ebenfalls in die Luft und kämpfte gegen Windböen, während sie sich in den Sturm stürzte. Das Wirbeln und Brüllen des Windes erfreuten sie, obwohl es sie von der Jagd ablenkte. Sie tauchte im Sturzflug durch die Turbulenzen, flog eine Kurve, stieg auf, tauchte wieder in den Talgrund ab und flog an den hohen Felsen entlang, die vom Plateau in die Höhe ragten. Hier wehten fröhliche Winde, aufgewühlt vom Nebeneinander von Tiefland und Klippen, und das Fliegen war ein schierer Genuss. Als sie sich daran erinnerte, dass sie eigentlich jagen wollte, hatte sie die Spur verloren. Ein Hauch warmer Luft wehte von Osten heran und verhüllte die Ausdünstung des Feuers, das sie angelockt hatte. Sie spürte es noch immer - die beständige, aber schwache Berührung einer Feder, die mit den Fäden sang, die das große Nest der Welt verbanden, aber irgendwie war es jetzt in die Felsen aufgestiegen, halb verschluckt von der Taubheit der Steine. Der kalte Wind blies noch immer kräftig, aber sie schmeckte Blumenblüten in der Luft. Sie schwenkte herum und flog zum Nest zurück, umwirbelt von Schneeflocken, und traf unerwartet auf den Eindringling. Der Mann stürmte aus dem Nest heraus und stieß auf ihren ungeschützten Unterleib ein, aber er hatte die Entfernung nicht richtig eingeschätzt. Sie landete und machte einen Satz auf ihn zu, doch 526 er schlüpfte so gewandt wie ein Wiesel an ihr vorbei und verschwand im Schutz der Felsen. Sie prallte mit voller Wucht gegen ihr Nest, das zwar erzitterte, aber standhielt, so wie es all die Jahre in den Stürmen standgehalten hatte. Sie schrie vor Wut darüber, dass sie ihn nicht erwischt hatte. Sein Geruch, der in der Luft gerann, machte sie schier wahnsinnig: Er war ein Mörder. Nur wenige Menschen jagten im Land der Greifen, töteten welche von ihrem Volk. Von diesen wenigen starben die meisten durch ihre Verwandten. Dem hier haftete der Gestank von zwei erfolgreichen Versuchen an. Wieso war er trotzdem wieder hier? War es nicht genug, dass er bereits zwei von ihrem Volk getötet und entweiht hatte? Hatte er auch das Nest entweiht? Sie duckte sich und steckte den Kopf ins Nest, dessen muffig kalte Vertrautheit durch den anhaltenden Gestank seiner Berührung befleckt war. Kein Junges würde jetzt noch hier gedeihen können. Allein durch seine Anwesenheit hatte er das Nest vergiftet.
Er war nicht allein gewesen. Ein zweites Wesen hatte in dem höhlenartigen Nest Zuflucht gesucht. Sie warf ihm einen Blick zu und war geblendet. Der Schleier, der das ätherische Feuer verbarg, hatte auf diese kurze Entfernung nur wenig Nutzen. Keine gewöhnliche irdische Kreatur verströmte ein solches Strahlen. Diese Daemonin loderte mit einer Aura aus Feuer. Sie zuckte zurück, voller Angst vor dieser schrecklichen Macht, und neigte respektvoll den Kopf. Tief in der Kehle sang sie ein Lied von Höflichkeit und Wertschätzung, ließ ein leises Wimmern der Beschwichtigung ertönen. »Achtung!«, rief die Feuerdaemonin und sprang zur Seite. Eine Speerspitze traf sie am Hinterteil, und sie schlug mit dem Schwanz um sich, um die Spitze zu entfernen. Der Mörder tänzelte mit dem Speer in der Hand zur Seite. Er lachte. Sie machte einen Satz, aber das Licht war schwach. In der Nacht konnten die Menschen besser sehen als sie. Steine kullerten herunter, als das Daemonen-Wesen aus dem Nest schoss und die Geröll-Lawine emporkletterte, die sich an der einen Seite der Höhlung auftürmte. 527 Sie umkreiste die Höhlung, aber der Mörder war in der Dunkelheit verschwunden. Die Daemonen-Frau stand mit einem gespannten Bogen oben auf den Steinen, einen Pfeil an der Sehne und bereit, ihn abzuschießen. Der Bogen flimmerte ätherisch, immer wieder blitzte eine blaue Aura entlang seiner geschwungenen Linie auf. Das Herz des Bogens bestand aus Eibenholz, aber die ihm innewohnende Wirksamkeit kam von den Knochenstreifen, die auf diesem Herz befestigt waren: nicht das Hörn eines Widders, sondern die Knochen eines Greifen. Aus diesen Streifen wogten die Essenz der gestohlenen Kraft eines toten Greifen und ein Überbleibsel seiner göttlich angehauchten Seele, umgaben den gesamten Bogen mit einer verzauberten Macht, die durch das Herz aus Eibenholz versiegelt und gebunden war. Doch der Daemonen-Frau haftete nicht der Geruch einer »Mörderin« an. Obwohl sie den Bogen schwang, hatte sie ihre Hände nicht mit dem Tod eines Greifen befleckt. Hatte sie nicht eine Warnung ausgestoßen? Machte sie das nicht zu einer Verbündeten ? War ihr Herz aus Feuer nicht wunderschön ? Alles war ruhig, abgesehen von dem stöhnenden Wind, doch nur ein unvorsichtiges Junges hätte geglaubt, dass der Mörder wirklich gegangen war. Sie neigte den Kopf, um Spuren zu erspähen, die seinen Weg verraten mochten, konnte aber nichts sehen. Es war zu dunkel. Ein Schritt flüsterte auf dem Boden - ein schwaches Schlurfen. »Achtung!«, rief die Daemonen-Frau. Sie sprang zur Seite - im gleichen Augenblick, da der Speer aus den Schatten heranzuckte, aber obwohl sie auf den dunklen Umriss einschlug, konnte sie ihn nicht gut genug sehen, um ihn zu treffen. Die Daemonen-Frau fluchte. In Einklang mit dem großen Nest der Welt und den Fäden, die es bildeten, spürte die Greifin, wie die Kreatur die schlafenden Funken aus Feuer erweckte, die in den Stöcken und Zweigen und den getrockneten Dingen hausten, aus denen sie und ihr Gefährte im Laufe der Jahre ihr Nest gebaut hatten. 528 Feuer erwachte. Das Nest brach in Flammen aus. Wie angewurzelt stand der Mörder ungeschützt im Licht. Die Greifin machte einen Satz auf ihn zu. Er floh zurück in die Nacht, als ein Pfeil auf ihn zuschoss und auf den Felsen prallte. Die Hitze des Feuers brachte den Schnee in der Höhlung zum Schmelzen und schickte Rinnsale den Hang hinunter, der nach Westen ins Tal abfiel. Sie warteten eine ganze Weile, während das Nest brannte. Die Daemonen-Frau legte einen zweiten Pfeil an die Sehne; ihr ganzer Körper war angespannt, als sie in die Dunkelheit starrte, um irgendeinen Hinweis auf eine Bewegung zu erhaschen. Nichts. Die Greifin schritt in der Höhlung auf und ab, ließ dabei den Schwanz hin und her peitschen, konnte aber in den Nachtschatten nichts erkennen; sie hatte scharfe Augen und eine ausgeprägte ätherische Wahrnehmungsfähigkeit, doch ihre anderen Sinne waren nicht sehr stark. Sie streckte die Flügel. Die Daemonen-Frau oben auf den Steinen schien sich ebenfalls zu strecken, als kämpfe sie darum, die eigenen unsichtbaren Flügel auszubreiten, aber so viel Mühe sie sich auch gab, sie konnte die Schwerkraft der Erde nicht überwinden, die die Macht des Äthers verhüllte. Sie schien zu zögern, schien den Schutz nicht verlassen zu wollen, den der Felsen bot, doch zugleich war sie unglaublich ruhelos und begierig darauf, wegzugehen. Die Greifin schritt auf und ab, suchte nach Spuren des Mörders, fand aber keine. Sie wurde schläfrig, denn sie war ein Geschöpf des Tages, und ließ sich schließlich neben dem brennenden Nest nieder. Ihre Gedanken schweiften umher. Sie würden das Nest neu aufbauen müssen, aber es war so oder so unbrauchbar gewesen, und jetzt konnten sie immerhin die gleiche Stelle benutzen und mussten keinen neuen Platz suchen. Feuer reinigte. Die Hitze beruhigte sie, während Schneeflocken langsam zur Erde wirbelten und sich in Wellen aus Hitze und Rauch auflösten. Zu spät hörte sie den Ruf. Sie sprang auf, als eine Gestalt aus der Nacht in die Höhlung platzte. Ein zweiter Mann sprang auf den 529
ersten zu. Die beiden balgten sich auf den Steinen, aber der zweite Mann stieß dem ersten die Waffe weg und setzte mit einem Triumphschrei zum Todesstoß an. Die Daemonen-Frau schoss den Pfeil ab. Ihr Pfeil durchdrang das Herz des Mörders. Er fiel vornüber, sein Körper verhedderte sich mit dem des Lebenden - noch ein Jäger, dieser hier mit Magie in den Knochen und im Fleisch. Die Greifin sah keinen Grund, darauf zu warten, was der Lebende tun würde, denn im Gegensatz zu ihm schützte sie keine Magie. Da es Nacht war, befand sie sich zu sehr im Nachteil. Sie sprang also auf und riss die Daemonen-Frau mit sich in Sicherheit. Die Frau war nicht schwerer als ein Gebirgshirsch. Der zweite Jäger unten rief ihnen etwas nach, aber sie tauchte in den Tieflandnebel und flog geradewegs zu dem sonnenbeschienenen Stein. Sollte der Jäger es wagen, sie zu verfolgen, würde sie ihn erwarten. In der Zwischenzeit aber hatte sie eine Freundin vor den Raubzügen der barbarischen Menschen gerettet. Die Daemonen-Frau verhielt sich klugerweise still, kämpfte nicht gegen den Griff der Klauen an. Ein Sturz aus dieser Höhe wäre tödlich für sie. Sie flog höher, suchte die Spur des größeren fließenden Wassers, das sie zum sonnenbeschienenen Stein führen würde. Ein warmer Wind stieg über den Felsen auf. Waren die paar Tropfen Feuchtigkeit, die auf ihre Klauen fielen, die letzten Überreste des Schnees oder der Atem des schweren Tieflandnebels, der sie begrüßte? Was für Geräusche gab dieses Weibchen da von sich ? Hätten sie nur eine gemeinsame Sprache gehabt, damit sie einander Dank sagen konnten für die Hilfe, die sie sich in dieser kalten Nacht gewährt hatten. 5 Sanglant tauchte aus der Dunkelheit auf, als wäre er ihr gefolgt. Sein Anblick überraschte sie so durch und durch, dass sie den heimtückischen Angriff ihres Feindes nicht bemerkte. Was tat 530 Sanglant in diesem gottvergessenen Ödland? Hatte seine Anwesenheit sie angezogen, als sie zur Erde zurückgekommen war? Und wenn er hier war, wo war dann Gnade? Diese Gedanken lenkten sie ab. Zu spät sah sie den anderen Mann aus der Dunkelheit springen und Sanglant angreifen. Sie spannte den Bogen. Schoss den Pfeil ab. Herzsucherin ließ sie nicht im Stich. Aber ehe sie mehr tun konnte, als einen neuen Pfeil anzulegen, erhob sich die Greifin in die Lüfte. Krallen schlössen sich um ihre Schulter und rissen sie hoch. Sie trat einmal mit den Füßen um sich, und die Greifin verstärkte den Griff. Schmerz durchfuhr sie. Der Pfeil fiel ihr aus der Hand, und sie hätte beinahe auch den Bogen verloren. In der Welt unten konnte keine ätherische Flamme brennen, oder zumindest hatte sie nicht die Kraft, eine hervorzurufen. Sie versuchte es erneut, konzentrierte sich auf die sich entfaltende Pracht der Flammen, aber es kam nichts. Sie war erdgebunden, ein Wesen aus Fleisch, und alles, was Feuer war, war durch die Hand der Welt unter ihr verhüllt und gefesselt. Selbst wenn sie sich freikämpfte, würde sie in den Tod stürzen, denn sie konnte nicht länger fliegen. Sie war eine Gefangene, eingesperrt vom Gewicht der Erde. Sie weinte, nicht nur vor Schmerzen, weil die Greifin so fest zupackte, sondern auch vor Wut und Verzweiflung. Als die Sonne hinter ihnen aufstieg, löste sich der Nebel auf und enthüllte ein üppig mit Gras bewachsenes Tal. Ein Fluss glitzerte im Sonnenlicht. Westlich davon erhoben sich Hügel, und hinter ihnen, im Osten, lag die Kammlinie der Felsen. Der Anblick der herrlichen Landschaft trocknete ihre Tränen. Wie war es möglich, dass die Welt so schön war? Ihre Mutter hatte, durch einen Bann gefesselt, keine andere Wahl gehabt, als auf der Erde zu bleiben und sich zu gegebener Zeit der irdischen Substanz des Kindes unterzuordnen, das in ihrem ätherischen Leib heranwuchs. Liath hatte sich entschieden zurückzukehren. Sie hatte zurückkehren wollen. Sie folgten den Windungen des Flusses nach Südwesten, und die 531 Greifin flog immer niedriger, bis sie dicht über dem Wasserspiegel waren, der von der Schneeschmelze angestiegen war. Steine brachen die Strömung immer wieder; Elritzen blitzten auf und stoben unter der Wasseroberfläche auseinander. Ein Hirsch schoss aus dem Schutz des dicht bewachsenen Ufers und sprang in das hohe Gras dahinter. Ein goldener Adler packte einen Sperling und sah stumm und leise zu, wie sie vorbeiflogen. Liaths Stiefel streiften das kalte Wasser. Das gurgelnde Geräusch des Flusses drang an ihre Ohren. Als sie das Ufer erreichten, ließ die Greifin sie los, und sie stolperte auf den grasbewachsenen Hang, rutschte fast ins Wasser, weil sie nur eine Hand freihatte. Sie drückte ein Knie in den Boden und hielt sich an einigen aus dem Boden ragenden Wurzeln fest. Dann krabbelte sie hoch und sank keuchend ins Gras, zitternd, aber unverletzt. Ihr Bogen lag gekrümmt neben ihr auf dem Boden. Die Greifin über ihr schrie, und der Schrei hallte weithin durch die Luft. Sie kämpfte sich auf die Beine, wischte sich die Knie ab und zog ihr Kurzschwert. Sie blickte sich um und entdeckte dort, wo der Fluss um eine Landspitze herumfloss, einen langen Stein, der halb vom Gras verdeckt war. Als sie hinaufkletterte, konnte sie einen guten Blick auf das Land um sie herum werfen. Eine hügelige Graslandschaft erstreckte sich in alle Richtungen, so hoch, dass sie am westlichen Horizont nur den buckeligen Bogen der Berge und im Osten die zerklüfteten Gipfel der Felsen erkennen konnte. Die Sonne hatte sich gerade über die östliche Kammlinie erhoben. Ein paar Nebelschwaden hingen noch am Flussufer, als
hätten sie sich in den Büschen verfangen, die vom Wasser des Flusses genährt wurden. Der goldene Adler flog flussabwärts hinter der Spur der Greifin her, sah sie und zog nach Westen davon. Kurz darauf kam eine Eule in Sicht und ließ sich auf einem kleinen Hügel etwa eine Bogenschusslänge entfernt nieder. Es war ein riesiges Tier, mit gesprenkeltem Gefieder und riesigen Ohrbüscheln. »Ich kenne dich«, rief Liath. »Was willst du? Wo bin ich?« Die Eule zwinkerte ihr zu, die großen Augen schlössen und öff532 neten sich über einer bernsteinfarbenen Iris und nadelstichgroßen Pupillen. Dann flog sie davon. Ein leises »Paff« erklang hinter ihr. Sie drehte sich verblüfft um, wäre fast von dem Stein gerutscht, fing sich aber wieder. Sie erstarrte. Ein silbriger Greif kam von hinten heranstolziert. Er war kleiner als die Greifin, die sie vor dem Speerstoß des Steppenjägers gerettet hatte. Sie starrte dieses mächtige, Ehrfurcht gebietende Tier an und fragte sich, ob es wohl dumm gewesen war, einzugreifen. Vielleicht hatte die Warnung, die sie gerufen hatte - Worte, zu denen sie sowohl durch die raschen Bewegungen des Jägers verleitet worden war wie auch durch ihr eigenes Misstrauen gegenüber seinen Motiven und der Art, wie er sie gerade dann verlassen hatte, als die Greifin angekommen war -, Ereignisse in Gang gesetzt, die sie hierher geführt hatten - und nun saß sie hier, nur einen Steinwurf von einem Greifen entfernt, der den Eindruck machte, als wollte er sie mit Haut und Haar verschlingen. Der Greif ließ sich auf die Hinterbeine nieder und musterte sie interessiert, wie ein Hund einen Mensch betrachten mochte, von dem er irgendwelche Wonnen erwartete. Hinter ihm, weit genug entfernt, dass sie halb so groß wirkte wie der silbrige Greif, schritt die Greifin auf und ab. Sie trampelte das hohe Gras nieder, sodass dort, wo das Land zu einer breiten, schüsselförmigen Senke abfiel, ein niedriger Felsvorsprung zum Vorschein kam. Der Fluss plätscherte hinter ihnen vorbei. Außerhalb ihres Blickfelds rief ein Vogel sein wildes »Piwitt«, und als sie sich umdrehte, sah sie ihn in taumelndem Flug rasch über das Gras davonfliegen. Obwohl sie sich nicht rührte, hatte auch sie das Gefühl, als würde sie fallen. Taumeln. Erinnerungen schwappten über sie hinweg, hervorgerufen vom Anblick dieses breiten, flachen Steins, des wogenden Grases und der beiden Greifen - sie im Farbton von dunklem Eisen und er silbrig glänzend. Durch die Spiegelung der Rüstung, die der Engel des Krieges getragen hatte, hatte sie eine Vision erhalten. Sie hatte eine Erinne533 rung durchlebt, die keine Erinnerung war, sondern eine schreckliche Vorahnung einer zukünftigen Zeit. Hatten die alten Philosophen nicht gesagt, dass im Äther, weit jenseits der Grenzen der Erde, die Engel und ihre Verwandten sowohl voraus in die Zeit als auch zurück sehen konnten? Wenn sie sich still verhielt, mochten sich ihre Federn mit dem hellen Gras vermischen, und nur ein scharfes Auge würde sie erspähen können. Sanglant hatte es auf ihren Gefährten abgesehen, einen silbrigen Greifen, der auf dem sonnenbeschienenen Stein schlief. Der Prinz hielt seinen Speer so, als wollte er gleich zustoßen. Seine Augen schätzten den nächsten Schritt ab, wie auch ihre es taten. Sie würde nicht zulassen, dass er ihren Gefährten tötete. Sie ging auf ihn los, und er wirbelte zu ihr herum. Der Schaft seines Speers barst unter ihrem Angriff, und ihr Gewicht drückte ihn zu Boden. Seine Knie bohrten sich in ihren Bauch, und er versuchte, sie von sich zu stoßen, griff verzweifelt nach ihrer Kehle, die Handflächen voller Schnittwunden, als er ihre Eisenfedern zu packen versuchte. Sie zielte auf seine verletzlichen Augen. Tot. Die Greifin hatte Sanglant getötet. Hier, bei diesem Stein. Hier, bei diesen Greifen, durch deren Augen sie das ganze Geschehen gesehen hatte. Sie hatte genau die Kreatur gerettet, die zum tödlichen Hieb ansetzen würde. »Oh, Gott«, flüsterte sie. Wenn sie die Greifen tötete, konnten sie Sanglant nicht mehr töten. Sie schob ihr Schwert zurück in die Scheide und tastete nach dem Bogen, legte einen Pfeil an die Sehne und spannte ihn. Aber der Bogen schwankte wild in der Hand hin und her, wich dem Ziel immer wieder aus. Wie oft sie sich auch bemühte, ihn auf die Brust des nächststehenden Tieres zu richten, er zuckte jedes Mal weg. Sie konnte nicht auf die Greifen zielen. Herzsucherin weigerte sich, sie zu töten. Besaßen die Greifen irgendeine Fähigkeit, sodass sie nicht zu töten waren? Oder war es 534 das verzauberte Herz des Bogens, das davor zurückzuckte, den Greifen Schaden zuzufügen? Nur mit dem Kurzschwert gegen sie zu kämpfen war lächerlich und selbstmörderisch. »Denk nach, du Närrin«, murmelte sie, während der silberne Greif sie mit fast schon komischer Liebenswürdigkeit betrachtete, als würde ihr Kampf mit dem Bogen ihn zugleich amüsieren und interessieren. Er machte keinerlei Anstalten, auf sie loszugehen. Sie jagen mich nicht. Diese Furcht erregenden Kreaturen hatten sie nicht angegriffen. Die größere senkte den Kopf, so wie Hunde,
wenn sie zum Spiel einladen wollen. In der Sphäre von Jedu hatte sie die sich entfaltende Szene durch die Augen der Greifin gesehen. Jetzt stand sie genau an dieser Stelle, lebendig und anwesend. Sanglant lebte; sie hatte ihn selbst gesehen. Also hatte ihn sein Schicksal beim sonnenbeschienenen Stein noch nicht ereilt. Er würde der Greifin folgen. Sie zog die Kapuze des Umhangs über den Kopf, um sich vor dem grellen Glanz der Sonne zu schützen, und lehnte sich mit dem Kurzschwert über den Oberschenkeln gegen den Stein, um auf ihn zu warten. 6 Als der Nebel sich lichtete, kletterte Sanglant den Felshang wieder herunter. Hin und wieder schürfte er sich die Hände auf, einmal sogar ziemlich heftig auch seine Knie, aber die Unannehmlichkeit ließ seine Wut, seine Enttäuschung und sein drängendes Verlangen nur noch heller auflodern. Die Greifin hatte Liath mitgenommen. Bulkezu war tot und konnte nicht mehr dazu gebracht werden, zu sagen, was er mit Gnade gemacht hatte. Und jetzt musste er mitten in einer Wildnis, die ihm völlig unbekannt war, die keinerlei Ähnlichkeit mit den Feldern, dem Waldland und den Hügeln hatte, in denen er aufgewachsen war, Greifen jagen. 535 Er rief immer wieder, während er marschierte, unternahm zahlreiche kurze Abstecher, um Höhlen und Überhänge zu untersuchen, aber er fand keinerlei Hinweise auf Gnade oder Anna, nicht einmal darauf, dass Bulkezu hier gewesen war. Als er kurz vor Mittag das Tal erreichte, hielt er auf den Fluss zu. Sein Gehör und sein ausgeprägter Geschmacks- und Geruchssinn halfen ihm sehr; obwohl auf verwirrende Weise jegliche Orientierungsmöglichkeit fehlte, kaum dass er das hohe Gras betreten hatte, führten ihn der Geruch von fließendem Wasser und die Veränderung des Pflanzenbewuchses sicher durch das Tal. Verkrüppelte Fichten wuchsen an den Ufern, und in einem dieser Wäldchen blieb er spät am Nachmittag stehen. Er rutschte den kalkigen Hang hinunter, der auf einem Vorsprung über dem Fluss endete. Diese Klippe war zwar nicht viel höher als eine Armeslänge, aber da sie aus weichem Gestein bestand und das mit der Schneeschmelze einhergehende Hochwasser die Verwitterung vorangetrieben hatte, war sie gefährlich bröckelig. Er hockte sich hin, und während das Wasser um seine Füße wirbelte, trank er ein paar Schlucke und dachte über seine Situation nach. Er spritzte sich Wasser ins Gesicht - es war so kalt, dass er zusammenzuckte - und wusch sich den gröbsten Schmutz von den Händen. Ihm war leicht schwindelig; er hatte großen Hunger, aber nichts mehr zu essen, und er konnte seinen Durst nur mit Wasser aus dem Fluss löschen. Wenigstens besaß er einen Wasserschlauch, um ein bisschen mitnehmen zu können. Seine Tochter war verschwunden und vielleicht tot. Seine Frau Ein Greif schrie. Der schrille Ruf kam von weiter flussaufwärts. Er wartete, aber es ertönte kein zweiter Ruf. Zumindest konnte er hoffen, Liath zu finden. Er hievte sich mithilfe seines Speers auf die Klippe, packte die kräftigen Wurzeln eines wuchernden Busches und kletterte hoch. Der Geruch der Fichtennadeln stieg ihm in die Nase. Der Himmel über ihm blieb herrlich klar; die harte blaue Kuppel des Himmels war mit vorbeiziehenden Wolken gesprenkelt, die sich wie Flügel aus Spinnfäden auflösten. Er riss eine Hand voll Klee ab und aß die frischen Blätter, denn er wusste, dass sie ihm etwas Kraft geben würden. Er 536 pflückte noch mehr für später, rollte es dann zu einem Bündel zusammen, das er mit Grashalmen zuschnürte und in einen Ärmel schob. Die anderen Blätter kannte er nicht, und er wagte es nicht, sie einfach auszuprobieren. Er konnte es sich nicht leisten, dass ihm von irgendwelchen giftigen Pflanzen schlecht wurde. Schließlich überprüfte er seine Waffen, das Messer und den Speer, die beide aus gutem Eisen bestanden. Er hatte ein Jahr Gefangenschaft bei Blutherz überlebt. Er würde auch das hier überleben, und er würde seine Tochter finden - lebendig oder tot. Es war am besten, nicht darüber nachzudenken, dass er sie nie würde rächen können, wenn sie tot war. Ihm war die gewaltige Befriedigung, Bulkezu getötet zu haben, nicht gewährt worden. Er marschierte flussaufwärts, musterte den Himmel und das wogende Gras, über das der Wind strich. Die Schatten des Tages wurden länger, als die Sonne dem goldenen Bogen der westlichen Berge entgegensank. Die eisige Sichel des zunehmenden Mondes kroch über die dunklen Hügel. Eine Weihe glitt nahe am Flussufer vorbei. Ein aufgeschrecktes Waldhuhn rannte raschelnd ins höhere Gras. Er folgte ihm, trat fast auf ein verlassenes Nest, das zur Hälfte von den Winterstürmen zerfetzt worden war. Er kniete nieder, aber es war noch zu früh, um Eier zu finden. Als er das Schlagen von Flügeln hörte, war er nicht in der Lage, einen Blick über das Gras zu werfen, da er so tief gebückt dahockte. Er verhielt sich deshalb still wie eine Maus, die den Schatten eines Falken über sich sah. Ein silbriger Greif - nicht der, der Liath mitgenommen hatte - flog weniger als einen Steinwurf entfernt an seinem Versteck vorbei flussaufwärts. Er wartete, bis das Flügelschlagen nicht mehr zu hören war, dann folgte er ihm. Dabei hielt er sich im hohen Gras, um nicht gesehen zu werden, oder hinter den Büschen und den schmalen Baumreihen, die dicht am Ufer überleben konnten. Als der Fluss eine lang gezogene Biegung machte, stieg das Land am Flussufer an, fiel aber nach Osten hin sanft ab und bildete dort eine Senke. Der Boden war abgetragen, und breiter, ebener Fels war zu sehen. Der Silbergreif lag auf dem warmen Stein und sonnte sich, 537 den Kopf auf die Tatzen gelegt, die Flügel über dem Körper gefaltet. Der Schwanz zuckte unaufhörlich auf und
ab, als würde der ruhige Körper ein unruhiges Herz verbergen. Ein Blick über die Landschaft enthüllte nichts als Gras, die speerähnlichen Spitzen von drei einsamen Fichten und ein paar graue Felsen, die hier und da aus dem Gras ragten. Es waren keine Vögel zu hören, nur das Seufzen des Windes. Er war allein mit dem Greifen. Er machte einen Schritt, dann einen zweiten, während er seinen Speer fester packte und sich seitwärts weiterschob. Sein scharfes Gehör rettete ihn - das und die schwerfällige Masse der Greifin. Ihre schlurfenden Schritte klangen wie ein Schrei in der Stille. Sanglant wirbelte herum, riss den Speer hoch, um sich zu schützen, aber ihr Körper riss ihn zu Boden, und der Speer zersplitterte unter der Wucht ihrer nach ihm greifenden Klaue. Sie war riesig. Er riss sein Knie hoch, stieß es ihr in den Bauch. Der spitze Kopf schwenkte herum, um einen besseren Blick auf ihn zu erhaschen. Sanglant versuchte verzweifelt, ihre Kehle zu packen, aber jedes Mal, wenn seine Hand sich darum schloss und er sich an ihrem Hals hochziehen und unter ihr wegwinden wollte, schnitten ihre Federn ihm in die Finger. Blut strömte aus unzähligen Schnittwunden an seinen Händen. Die Greifin warf den Kopf zurück und stieß zu. Er warf sich zur Seite, aber nicht weit genug. Schmerz wallte durch seine Brust, und vor seinen Augen verschwamm alles. Seine blutenden Hände öffneten und schlössen sich machtlos, als suchten sie nach irgendeiner Waffe, die sie festhalten konnten, aber da war nichts, nichts als Luft, und sogar diese schwache Bewegung schickte Wellen von Schmerz durch seinen Körper, bis er weder denken noch sich rühren konnte. Er konnte nicht einmal mehr sehen. Die Qual machte ihn blind. Er konnte nur auf den Todesstoß warten. Er konnte nur noch warten. Ein Blitz aus Hitze und Feuer explodierte um ihn herum. Hatte die Greifin wieder zugeschlagen ? War dies der Schmerz des Todes ? Oder war er bereits tot und stieg durch die Sphären zur kalten, strahlenden Ewigkeit der Kammer des Lichts auf? 538 Ich will nicht sterben. Ich bin noch nicht so weit. Schmerz und die Hitze, die in unendlichen Wellen über ihn hinwegwogte, rissen seine Gedanken mit. Der Schatten der Greifin verschwand. Grelles Sonnenlicht wärmte sein Gesicht, und er musste blinzeln. Liath stand über ihm; die goldbraunen Haare fielen ihr unordentlich über die Schultern. Sie mussten gekämmt werden. Er liebte es, ihre Haare zu kämmen. Diese üppigen Haare gleichmäßig zu kämmen war eines der wenigen Dinge gewesen, das die Unruhe zu beschwichtigen vermocht hatte, die stets an ihm nagte. »Ich bete zu Gott, dass ich nicht zu spät komme«, sagte die Vision von Liath, obwohl es unmöglich war, dass sie neben ihm kniete. Sie hatte ihn vor vier Jahren ohne ein Wort verlassen, ihn und das Kind. Er hatte ihr eine Menge zu sagen - all das, was sich im Laufe der Monate angesammelt hatte, einiges davon schwärend und ranzig und anderes schmerzhaft und süß. Ein richtiger Körper schützte ihn vor dem pochenden Licht, das ihn quälte. Etwas berührte seine Stirn. »Sanglant, ich bitte dich, antworte mir, wenn du kannst.« Ihre Lippen berührten seinen geöffneten Mund. Es war, als würde ein dürstender Mann Wasser erhalten, Kraft für den bevorstehenden Kampf. Niemals sollte jemand sagen können, er hätte nicht bis zum letzten Atemzug gekämpft. »Du wirst mich niemals töten können«, hatte er zu Blutherz gesagt. An manchen Tagen waren dies die einzigen Worte gewesen, die ihm noch einfielen. »Er lebt.« Ein Feuer brannte hinter ihr, oder vielleicht war es auch die untergehende Sonne, die ihr goldenes Licht über das im Wind wogende Gras verströmte. Ein Messer blitzte auf, aber er konnte sich gegen den tödlichen Hieb nicht wehren. Er war wie gelähmt, starrte das Messer in ihrer Hand an. Sie schnitt seine Tunika auf, sodass Luft an die Haut gelangte. Sämtliche Farbe wich aus ihrem Gesicht, als sie sah, was unter dem Stoff lag. »Ich war zu langsam«, sagte sie. »Zu spät.« 539 Ein paar einzelne Regentropfen klatschten auf seine Wange, obwohl er am dunkler werdenden Himmel keine Regenwolken sah. In der Nähe stieß ein Greif seinen gellenden Schrei aus. »Pass auf«, flüsterte er und versuchte, seine Wohltäterin zu warnen, die Liaths Gestalt angenommen hatte. Der Schmerz ließ ihn halluzinieren. »Die Greifin ist auf der Jagd. Ihre Federn ...« »Still«, sagte sie. »Ruh dich aus.« »Greifenfedern durchtrennen die Fäden der Magie.« Sie setzte sich hin, ihre Miene war eine seltsame Mischung aus Furcht und verblüffter, freudiger Überraschung. »Greifenfedern durchtrennen die Fäden der Magie!«, wiederholte sie. Blaues Feuer blitzte in ihren Augen, tief in ihrem Herzen entfacht. Der Funke blendete ihn, und er stürzte wirbelnd in die Tiefe, obwohl er doch rücklings auf dem Boden lag. Er hat Flügel, oder er muss welche haben, denn er erhebt sich über die Erde und über seinen Körper, über das Gras, wie ein Drache, der sich in die Lüfte abstößt, ein bisschen schwerfällig, ein bisschen nachdenklich, aber entschlossen und mächtig. Er sieht einen Mann auf dem Boden liegen, dessen Oberkörper schrecklich aufgerissen ist. Seine Drachenaugen sind so scharf, dass er sogar das Herz in dem zerfetzten Hohlraum
schlagen sehen kann, pulsierend und dunkelrot. Blut strömt über Schulter und Arm, befleckt seine Tunika, das Gras und die Erde. Eine wunderschöne Frau kniet neben dem Körper. Obwohl sie genauso aussieht wie Liath vor drei Jahren, muss sie eine Hexe sein, die in der Lage ist, sich in der Gestalt einer anderen zu verbergen. Doch sie spricht mit Liaths Stimme und bewegt sich mit Liaths unruhiger Anmut und starrt trotzig nach oben, als eine Eule in Sicht gerät und sich eine Manneslänge entfernt von den beiden Menschen niederlässt. Dahinter schreiten Greifen wie Wachen auf und ab, im notwendigen Abstand zu dem schwelenden Ring aus Feuer, der sich jetzt in Asche verwandelt. Die Greifen sind solch herrliche Geschöpfe, dass sich seine Aufmerksamkeit von der Frau und dem Mann und dem besonderen Ring aus sterbendem Feuer abwendet. Die Greifin ist größer und von dunklerer Farbe, und ihre Flügelfedern 540 strahlen wie gutes Eisen. Der Greif sieht eher silbern aus und ist kleiner, aber seine Federn wirken genauso scharf. Die Federn glänzen, wenn das Licht der untergehenden Sonne auf sie fällt. Als der silberne Greif sich umdreht, um zurück zum sonnenbeschienenen Stein zu gehen, spreizt er die Flügel, und einzelne Federn fallen ab, wie bei einem Vogel in der Mauser. Sie schweben nicht richtig im Wind zur Erde, so wie eine gewöhnliche Vogelfeder, aber sie sind auch nicht so schwer wie Eisen und fallen daher nicht so gerade herunter wie ein Schwert oder ein Messer. Ein lebender Greif würde eine unendliche, wenn auch nicht üppige Versorgung mit Federn gewährleisten, wahrend ein toter Greif lediglich ein einziges Mal Federn bietet. Man könnte Greifen halten, so wie ein Bauer Gänse hält, denkt er, während auch er im Wind treibt und die Gedanken sich zu unwirklichen Fetzen auflösen. »Ich brauche Hilfe«, sagt die Frau zu der Eule, obwohl es seltsam wirkt, dass ein Mensch mit einer Eule spricht, die schließlich nur ein stummes Tier ist. »Ich habe nicht die Macht, eine solche Wunde zu heilen. Ich bin hilflos. Ich bitte dich, hilf mir jetzt, wenn du es kannst.« Eine Hand zerrte an ihm. Der Schmerz riss ihn ins Bewusstsein zurück, und einen Moment lang bedauerte er, mit eigenen Augen zu der Frau aufzublicken, die er mehr als alles andere auf der Welt liebte. »Liath?«, flüsterte er. Tränen rannen ihr übers Gesicht. »Mein Liebling«, sagte sie. Der Schmerz verschluckte ihn, und die Welt verging. XVII Der zerbrochene Faden
1 Am Ende des zweiten Tages ihrer Reise übernachteten sie auf dem kleinen Gut eines unbedeutenderen Edelmanns, das kaum genügend Platz besaß, um sämtliche Mitglieder in der Halle und in den Ställen unterzubringen. Edelmann Arno begrüßte sie mit Namen; die Geistlichen hatten bereits auf dem Hinweg hier Halt gemacht. Die nach Norden führende Straße und ein zerfurchter Pfad nach Westen waren frei, aber den Weg nach Süden verstellten Handkarren, ein Wagen und gefällte Bäume. Die Stelle wurde von einem Dutzend Feldarbeitern mit Schaufeln, Sensen und angespitzten Stäben bewacht; einer besaß sogar einen Speer, der mit einer metallenen Spitze versehen war. Bei einem dürftigen Essen aus saurem Apfelwein, gebratenem Hähnchen und Frühlingsgemüse übernahm die Edelfrau des Hauses selbst die Aufgabe, sie zu warnen. »Ihr solltet nicht die Straße nach Süden nehmen, Eure Exzellenzen.« Sie sah erschöpft aus, das Gesicht war blass, und sie hatte dunkle Ringe unter den Augen. Die Hände lagen auf ihrem schwangeren Bauch und zitterten jetzt, als sie ihren Mann ansah, der seit einer Verletzung in der Schlacht bei Kessal gegen das Guivre hinkte, wie sich herausstellte. »Die Straße nach Westen wird Euch bessere Dienste leisten«, 542 fügte der Mann hinzu. »Ihr würdet nicht mehr als zehn zusätzliche Tage benötigen. Es ist sicherer so.« Während er sprach, umklammerte er die Armlehnen seines Stuhls so fest, dass die Knöchel weiß wurden. »Ich muss sofort nach Westen weiterziehen, da sich meine Reise bereits übermäßig verzögert hat«, sagte Bruder Severus. »Aber die anderen müssen nach Süden reiten, nach Darre.« »Ich bitte Euch, nehmt nicht diesen Weg, Eure Exzellenz. Sämtliche Höfe sind von der Viehseuche befallen. Wir haben gehört, dass nicht einer von zehn Höfen noch Schafe, Milchvieh oder Schweine besitzt. Wir haben gestern zwei Familien zurückgeschickt. Sie haben versucht, mit ihren Herden nach Norden zu fliehen. Wir beten morgens, mittags und abends, dass unsere eigene Herde sich nicht ansteckt.« »Aber vor sechs Tagen habt Ihr uns noch durchgelassen. Ich habe damals keine Hindernisse vorgefunden.« »Die Seuche war noch nicht so weit nach Norden gelangt, Eure Exzellenz.« Der Edelmann ließ weiteren Apfelwein kommen und entschuldigte sich zum wohl vierten Mal, dass er keinen Wein mehr hatte. Die lange Halle, in der sie speisten, war kaum größer und breiter als die in Tante Bels Haus in Osna. Obwohl der Boden
sauber war, wirkten die Wandteppiche heruntergekommen, und den Kindern, die unter Dachvorsprüngen auf Strohmatratzen kauerten, liefen die Nasen. »Wir haben die Straße erst vor drei Tagen gesperrt. Wir haben Gerüchte gehört, dass es auch Banditen in dieses Gebiet gezogen haben soll. Wir haben furchtbare Geschichten gehört -« »Sprecht nicht weiter darüber«, sagte Severus und widmete sich wieder seinem Essen. Er beäugte das wohlschmeckende Hähnchen mit einem gekünstelten Stirnrunzeln. »Meine Kameraden werden nach Süden Weiterreisen. Gott beschützen die Rechtschaffenen.« Die Eheleute sahen einander an, aber sie konnten nicht das Geringste tun. Einfachen Landedelleuten war es ebenso wenig möglich, den einmal gewählten Pfad der Geistlichen der Skopos zu verändern, wie sie das Herannahen der Flut aufhalten konnten. Bruder Ildoin war der jüngste von Severus' Geistlichen, ein 543 schmächtiger junger Mann mit einem verunstalteten Gesicht, das zwar liebenswürdig, aber auch häufig unaufmerksam wirkte, und zwei dauerhaft krummen Fingern an seiner linken Hand, die durch einen Unfall in der Kindheit verunstaltet waren. Er hatte seiner Seele noch nicht sämtliche Tropfen Barmherzigkeit entwrungen, im Gegensatz zu Severus, der solch verschwenderische und lästige Gefühle sicher längst aus seinem Herzen entfernt hatte, wie Alain glaubte. »Wir haben kein Vieh bei uns«, sagte Ildoin zu der Frau, »nur Pferde. Und Pferde stecken sich mit der Seuche nicht an, weshalb Ihr vor uns sicher seid. Ebenso wie all jene, bei denen wir in den nächsten Tagen noch übernachten werden.« Damit mussten ihre Gastgeber sich zufrieden geben. Am nächsten Morgen nahm Severus sich zwölf Männer als Begleiter und ritt nach Westen. Seinen Vertreter, einen Mann namens Arcod, sowie Bruder Ildoin gab er Alain als Begleitung mit auf den Weg nach Süden, außerdem zehn kräftige Geistliche, die aussahen, als wären sie genauso mit einem Speer vertraut wie mit einem heiligen Buch. »Wohin geht Bruder Severus?«, wollte Alain von Ildoin wissen, während sie das Gut hinter sich ließen. »Ich dachte, er würde auch nach Darre zurückkehren.« Ildoin hatte eine ganz eigene Art, das Kinn zu recken, wenn eine Bemerkung oder ein unerwarteter Anblick ihn verblüffte, so als würde er vor einem scharfen Schlag zurückweichen. »Bruder Severus ist ein großer, heiliger Mann, einer der persönlichen Berater der Skopos, möge sie gesund und wohlauf bleiben und noch viele Jahre unter Gottes Schutz stehen. Wir hinterfragen seine Handlungen nicht! Wie auch immer, er ist ein mächtiger Mann, und zwar nicht nur im Hinblick auf weise Ratschläge, sondern -« »Bruder Ildoin!« Arcod kam neben sie geritten. »Müßiges Geschwätz ist die Brutstätte für die Maden des Feindes. Wir reiten schweigend weiter oder singen Göttliche Hymnen.« Alain war zufrieden damit, schweigend in ihrer friedlichen Karawane mit den Maultieren in der Mitte und den wachsamen Hunden links und rechts von ihm dahinzureiten. Es war ein schöner 544 Frühlingstag. Zuerst begleitete sie Vogelgesang, und ein Schwärm Gänse schrie über ihnen. Aber als der Morgen verging, bemerkte Alain, dass die fröhlichen Geräusche einer unbehaglichen Stille wichen. Am späten Vormittag kamen sie an einem verlassenen Weiler vorbei; eine Hand voll leerer Hütten reihte sich entlang der Straße. Rauchschwaden trieben ein Stück weiter entfernt himmelwärts, ansonsten gab es keinen Hinweis auf Leben. »Sollen wir nachsehen?«, fragte Alain. »Nein«, sagte Arcod. »Das geht uns nichts an. Unsere Aufgabe ist es, Euch zur Skopos zu bringen.« Nachdem sie einige Zeit durch offenes Waldland geritten waren, erstreckte sich vor ihnen eine zweite Lichtung. Das ordentliche Dach des Langhauses, die eingezäunte Gartenparzelle, die Abfallgrube und die drei Grubenhäuser ließen vermuten, dass hier eine wohlhabende Bauersfamilie gewohnt haben musste. Pfosten säumten die Straße, vier auf jeder Seite. Und auf jedem dieser Pfosten war zur Warnung ein Schafskopf aufgespießt, leuchtend weiß vor dem üppigen Frühlingsgrün, das überall aus dem Boden spross. An einigen Schädeln haftete noch etwas Fleisch, aber die meisten waren von den Aas fressenden Krähen, von denen noch immer ein ganzer Schwärm zwischen den Gebäuden herumhockte, sauber abgepickt worden. Auch hier rührte sich nichts, hörten sie keine Willkommensrufe. Aber der Boden der Veranda war sauber, als hätten die Besitzer das Haus erst vor kurzem verlassen. Wolken zogen sich düster zusammen. Ein kalter Wind blies von Süden her, und ein leichter Sprühregen begann zu fallen. »Noch so eins!«, rief der Geistliche, der ganz vorn ritt. Er war für diese Aufgabe ausgewählt worden, weil er Wendisch sprach. »Hallo! Wohnen hier irgendwelche Leute?« Als sie auf eine weitere Lichtung ritten, fanden sie ein paar Hütten, einen leeren Hühnerstall, eine kleine, überdachte Koppel, einen halb mit Wasser gefüllten Trog und einen verlassenen Pflug. An allen vier Enden der Koppel waren Pfosten in den Boden gerammt worden, und darauf steckten der Schädel eines Schafes, die Schädel zweier gehörnter Rinder und etwas, das verdächtig wie ein Hundeschädel aussah, dem Fleckchen Haut und dem hellen Fell an 545
der Schnauze nach zu urteilen. Getrocknete Pflanzen waren ihm in die Augenhöhlen gestopft worden, und ein Durcheinander aus winzigen geschnitzten Holzfiguren hing an einem Lederriemen vom Kiefer herab. Rage bellte einmal. Kummer jaulte. »Eine Hexe hat ihre Hände mit Magie und Amuletten beschmutzt«, sagte Arcod. »Kein Wunder, dass Gottes Zorn auf sie niederfuhr.« »Glaubt Ihr?«, fragte Alain. »Vielleicht haben sie nur versucht, sich zu schützen.« »Dann hätten sie nach einer Diakonissin oder einem Frater schicken sollen, statt solch unheiliges Weben vorzunehmen.« Sie hielten sich nicht lange auf, sondern ritten beunruhigt weiter. Es war nicht einmal eine Krähe zu sehen. Als die Lichtung hinter ihnen lag, warf Ildoin einen Blick zurück zu Arcod, der weiter hinten ritt, ehe er es für sicher hielt, mit Alain zu sprechen. »Ich bin froh, dass Eure Hunde bei uns sind. Ich kriege eine richtige Gänsehaut, so tot und still, wie es hier ist. Ich frage mich, wohin all die Bauern gegangen sind.« »Vermutlich geflohen«, sagte Alain. »Sie werden zu Verwandten unterwegs sein, die sie aufnehmen. Seid Ihr diesen Weg nicht erst vor zwei Wochen entlanggeritten?« »Bei Wind und Regen«, bestätigte Ildoin und kratzte sich das stoppelige Kinn. Wie die anderen Geistlichen ließ er seinen Bart wachsen, statt sich die Mühe zu machen, sich während der Reise zu rasieren. »Wir sind freundlich aufgenommen und bewirtet worden. Zur Vesper müssten wir zu einem Dorf an einem kleinen Fluss kommen. Dort haben wir übernachtet. Als wir auf dem Hinweg vorbeigeritten sind, hatte die Viehseuche das Dorf noch nicht erreicht. Wir haben ihnen jedoch von dem erzählt, was wir auf der Reise südlich des Flusses gesehen haben.« »Ich frage mich, wohin die Vögel geflohen sind«, sagte Alain. »Und wovor sie so große Angst haben, dass sie nicht mehr singen.« Das Dorf bestand aus einer kleinen Holzkirche, einer Mühle, sechs Häusern und einem Kai, an dem ein Fährfloß angebunden war, 546 aber es waren keine Menschen zu sehen, nicht einmal Hunde oder Hühner. Über jeder Türschwelle hingen Pflanzen und geschnitzte Amulette, aber trotz der Schutzmaßnahmen waren die Bewohner nicht verschont geblieben. Es gab keinerlei Hinweise, dass hier noch jemand lebte. Sie wandten sich hinunter zum Flussufer. Die Hunde waren unruhig, schnüffelten in der Luft, als würden sie eine Gefahr spüren, deren Ursprung sie nicht ausmachen konnten. Das Seil der Fähre hätte eigentlich über dem Wasser hängen müssen, straff gespannt zwischen den tief ins Wasser getriebenen Pfosten zu beiden Seiten des Flusses. Aber es war durchtrennt worden. Das eine Ende bewegte sich in der Strömung, tanzte in dem vom Frühlingsregen und der Schneeschmelze hoch stehenden Wasser auf und ab. Alain stieg vom Pferd und zog das lose Seil zum Ufer. Das Endstück war vom Wasser bereits ausgefranst und kaum mehr als eine nasse Masse aus fasrigem Material. Um den Fluss zu überqueren, würden sie also rudern oder schwimmen müssen. Er betrachtete das stille Dorf, während Arcod zwei Männer ausschickte, die es auskundschaften sollten. Die Hunde wollten sich einfach nicht hinsetzen. Rage knurrte tief in der Kehle. Kummer jaulte unruhig. »Da vorn ist ein Graben ausgehoben worden.« Ildoin deutete auf einen Flickenteppich aus Feldern. »Er sieht frisch aus.« »Vielleicht gibt es dort eine Schaufel -«, sagte Alain. »Es ist nicht nötig, dass wir alle da hingehen«, unterbrach ihn Arcod. »Ihr und ich und der Junge werden gehen. Die Übrigen können hier bleiben und auf die Pferde aufpassen.« Alain, Ildoin und Arcod ließen die anderen Geistlichen auf der Straße zurück und marschierten über vier ungepflügte, lang gezogene Felder, auf denen noch immer die stoppeligen Reste des Herbstweizens standen. Der Geruch wehte ihnen schon entgegen, ehe sie nahe genug heran waren, um sehen zu können, was sich hinter dem langen Hügel aus aufgeschütteter Erde verbarg. Der Gestank von verbranntem Fleisch vermischte sich mit dem nach Verwesung. Ildoin würgte, und sämtliche Farbe wich aus seinem Gesicht. Arcod bedeckte seine Nase mit dem Zipfel seines Ärmels. »Rage! Komm her!«, befahl Alain, aber sie ließ sich am Rand 547 des Feldes nieder und jaulte, hielt den Kopf in die Richtung der Männer bei den Pferden. »Es ist die Viehseuche«, sagte Arcod, als Kummer die oberste Erdschicht abkratzte. Der Geruch von verbranntem Fleisch stieg aus dem Graben auf. Kummer schnüffelte zwischen den verrenkt daliegenden Beinen der Schafe herum; noch immer hing Fleisch an den Knochen. Die armen Tiere waren in aller Eile verbrannt und begraben worden, ehe die Arbeit wirklich beendet worden war. Aber der Hund scharrte weiter, folgte einer anderen Spur, die ihn lockte und sich dann wieder entzog. Während zu beiden Seiten Dreck herabrieselte, schwärmten plötzlich Maden aus, eine zuckende Masse, die sich eilends in Sicherheit brachte und wieder in der aufgewühlten Erde verschwand. Bei ihrem Anblick taumelte Ildoin zurück, sank auf die Knie und erbrach sich. Kummer hatte einen Stiefel freigelegt. Es war noch ein Fuß darin. Kummer stupste ihn mit der Nase an, nahm die lederne Fußspitze ins Maul und zerrte sie zur Seite. Sie fiel vornüber, enthüllte eine klaffende, verwesende Wunde, wo der Fuß vom Knöchel abgetrennt worden war. Galle brannte in Alains Magen, aber er zwang sich,
auch nach dem restlichen Körper zu suchen. Niemand verdiente es, wie Abfall weggeworfen zu werden. »Gott mögen uns helfen«, sagte Arcod entsetzt und kreidebleich. Er blieb zurück, nicht willens, noch näher heranzutreten. »Ich könnte besser graben, wenn Ihr mir Euren Stab geben würdet«, sagte Alain. »Ich möchte den Rest der Leiche nur ungern mit meinen bloßen Händen freilegen.« Arcod schien ihn nicht gehört zu haben. »Was für ein Untier zerhackt einen Menschen, als wäre er eine Kuh?« Er zitterte so sehr, dass der Stab das Einzige war, was ihn noch aufrecht hielt. Ildoin würgte noch immer; er hielt sich den Bauch mit den Händen, stöhnte und starrte dabei den verstümmelten Fuß an. »Oh, Gott.« Rage bellte und machte Anstalten, sich umzudrehen und mit einem unangenehmen Knurren zum Dorf zurückzutrotten, doch dann richteten sich ihre Nackenhaare auf, und sie blieb abrupt stehen. 548 Alain erhob sich, augenblicklich argwöhnisch geworden. »Ich bitte Euch, Bruder Arcod. Diese Untiere könnten noch immer in der Nähe lauern. Wir sollten diesen Ort verlassen. Jetzt sofort.« »Jetzt!« Die seltsame Stimme kam aus der Ferne, gedämpft, aber gebieterisch. »Wer ruft da?« Arcod wirbelte herum, starrte zum Dorf und hob seinen Stab. Zu spät. Ein Pfeil bohrte sich in den Hals eines der Geistlichen, die an der Straße warteten. Der Mann fiel in einem sanften Bogen nach hinten; er fiel und fiel, als würde sich die Zeit dehnen und ein Atemzug eine Stunde oder ein Jahr dauern. Dann sackte sein Körper plötzlich zusammen und schlug schlaff auf dem Boden auf. Die anderen Männer schrien laut auf und griffen nach ihren Stäben und Kurzschwertern, aber die Wegelagerer hatten den Vorteil der Überraschung und der Deckung auf ihrer Seite. Das Zischen der Pfeile erschien denjenigen, die so weit weg standen, dass sie dem Massaker nur hilflos zusehen konnten, wie eine entsetzliche Begleitmusik. Alles geschah so schnell. Ein zweiter Mann ging zu Boden, als er sich umdrehen und nachsehen wollte, was es mit dem Geschrei auf sich hatte. Ein dritter versuchte, auf sein Pferd zu steigen, aber er hatte fünf Pfeile im Rücken, ehe er im Sattel saß. Zwei Geistliche duckten sich hinter ihren Pferden, zogen sie an den Zügeln mit und rannten auf den Fluss zu, aber eine Horde von Männern, mindestens zwanzig, strömte aus der Mühle und der Kirche und verfolgte sie. Andere zielten vom Turm und vom oberen Stockwerk der Mühle auf sie. Zwei auf der Straße stehende Wegelagerer deuteten auf die drei Männer bei dem verräterischen Graben. »Wo sind die anderen Brüder?«, keuchte Ildoin. »Wir haben keinen Warnruf gehört.« »Sie sind entweder tot oder gefangen.« Alain riss Arcod den Stab aus der Hand; der Geistliche stand da und schnappte wie ein Fisch an Land nach Luft, den Mund weit offen und benommen vor Entsetzen. »Nehmt Bruder Ildoin und lauft zu den Bäumen. Lauft 549 zum Gut zurück. Warnt den Edelmann. Er soll Soldaten schicken ...« Arcod rührte sich nicht. Sechs Waffen schwingende Männer kamen auf Alain und seine Kameraden zu. »Lauft! Jemand muss überleben, um davon zu berichten!« »Was ist mit Euch, Bruder Alain?« »Ich werde versuchen, Euch Zeit zu verschaffen, damit Ihr fliehen könnt.« Noch immer zögerte Arcod. Alain schob ihn auf die Bäume zu. »Jetzt lauft schon!« Ein taumelnder Schritt führte zu einem weiteren, dann zu einem dritten. Arcod packte Ildoin am Ärmel und riss ihn hoch. »Lauft, Bruder!«, weinte er. »Lauft!« Sie stolperten und taumelten über den Graben und liefen über die Felder auf den Wald zu. Alain gestattete es sich nicht, ihnen nachzusehen und sich davon zu überzeugen, dass sie den Wald auch erreichten und nicht von anderen Wegelagerern getötet wurden. Er musste sich dem Feind stellen. Einer der anderen Geistlichen schaffte es bis zum Ufer, wurde dann jedoch niedergestochen. Wie durch ein Wunder wurde nur ein einziges Pferd verletzt. Seit die Wegelagerer die kostbaren Reit- und Lasttiere erbeutet hatten, schien ihre Zielstrebigkeit deutlich nachzulassen. Ein Mann in einem Umhang beugte sich über die frischen Leichen, eine Flasche in der Hand. Die anderen machten sich daran, die Toten auszuziehen und die Satteltaschen zu leeren - abgesehen von den sechs Männern, die über die Felder auf Alain zugerannt kamen. Er packte den Stab mit beiden Händen und pfiff die Hunde zu sich. Gegen Pfeile hatten auch sie keine Chance. Aber er wusste, dass sie ihn niemals verlassen würden, und nach all dieser Zeit bezweifelte er, dass sie ihn überleben würden. Es war seltsam, dass er sich so ruhig fühlte. Er musste den anderen genug Zeit verschaffen. »Sitz.« Winselnd ließen Rage und Kummer sich rechts und links von ihm nieder. »Ich bitte Euch, Herr der Barmherzigkeit, Herrin der Gerechtigkeit, lasst meine Kameraden entkommen.« 550 Er hob den Stab, packte ihn mit beiden Händen und hielt ihn sich waagrecht über den Kopf, um den Angreifern
zu zeigen, dass er keine Bedrohung für sie darstellte. Die Wegelagerer wurden langsamer, und zwei von ihnen legten Pfeile an die Sehnen ihrer Bögen. Wie er erkennen konnte, hatten sie abgesehen von diesen beiden Bögen jedoch nur behelfsmäßige Waffen bei sich - angespitzte Stäbe und Speere, an deren Enden Steinklingen befestigt waren. »Schön, Euch zu sehen, Brüder!«, rief er. »Dank sei dem Herrn und der Herrin, dass Ihr mich aus den Händen dieser geschwätzigen Geistlichen befreit habt!« Er machte zwei Schritte nach vorn, ehe er den Hunden einen neuen Befehl gab. »Bleibt hier.« Er ging weiter. Die sechs Männer blieben stehen, vier von ihnen nebeneinander, die beiden mit den Bögen ein Stück weiter entfernt seitlich von ihnen. »Ich bitte Euch, lasst mich Eurer Bruderschaft beitreten«, sprach Alain mit klarer Stimme weiter, während er mit gemessenen Schritten auf sie zuging, den Stab noch immer hoch über dem Kopf. »Ich sehne mich danach, meinem Leben im Dienst der Kirche zu entfliehen.« »Komm nicht näher!« Er wusste nicht, wer von ihnen gesprochen hatte, obwohl er auf diese Entfernung die zerrissene Kleidung und die abgehärmten Gesichter deutlich erkennen konnte. Einer von ihnen, den dünnen Beinen und den schmalen Hüften nach zu urteilen, kaum älter als ein Junge, lief zum Dorf zurück, während die anderen mit erhobenen Waffen warteten. »Komm nicht näher«, sagte der Anführer noch einmal, ein dunkelhaariger Mann in einer zerschlissenen Tunika und dreckigen Beinlingen und mit den Narben von Fesseln an den Handgelenken. Er hatte Warzen auf der Nase. »Warte hier, sonst werden wir dich töten.« »Ja, Ihr habt Recht, dass Ihr niemandem traut. Es ist eine harte Welt, wie ich selbst erfahren habe. Es scheint, als würden diejeni551 gen, die etwas haben, es für sich allein horten, während den anderen nur übrig bleibt, sich um die Knochen zu streiten.« Einige der Männer nickten zustimmend. Der Anführer versetzte dem Nächststehenden einen Tritt. »Hör auf, du Tölpel. Wir werden sehen, was Vater Benignus dazu zu sagen hat. Er ist der Herr über Leben und Tod.« Alain bekam eine Gänsehaut, als er die so gleichgültig gesprochenen Worte hörte; das war der Tonfall eines Mannes, der über alle Maßen müde war und Dinge gesehen hatte, die ihn nicht länger an der Macht des Bösen zweifeln ließen. Ein erstickendes Gift umgab die Männer, das weder sichtbar noch hörbar war, sondern das man nur fühlen konnte. »Ist er das?« Alain wusste, dass er ruhig bleiben musste, um sie davon zu überzeugen, dass er ein Flüchtling war, der unbedingt in ihre Gruppe aufgenommen werden wollte. »Ich bin stets glücklich, wenn ich einen Mann der Macht kennen lerne.« »Da kommt er schon«, sagte der Anführer. Er kratzte sich an der Nase, dann zupfte er mit den Fingern an seinem zotteligen Bart und den dünnen Haaren. Vater Benignus ritt auf einer schönen Stute, die mit gut gearbeitetem Zaumzeug und einem Sattel versehen war. Seine Kleidung war indes um nichts kostbarer als die der anderen Halsabschneider, abgesehen von ein paar hübschen Lederhandschuhen, die seine Hände verbargen, und einem grauen Umhang über seinen Schultern. Das kirchliche Gewand, das er zum Reiten aufgeschlitzt hatte, war voller Flecken - Blut und andere, nicht zu erkennende Substanzen. Die langen Ärmel waren ausgefranst, der Saum zerrissen. Die Stiefel an seinen Füßen waren von schlechter Behandlung abgestoßen und fleckig - oder vielleicht auch, weil sie zu lange unter der Erde gelegen hatten. Der Mann trug einen breitkrempigen Hut, der sein Gesicht beschattete, obwohl es eigentlich nicht so sonnig war, dass eine solche Kopfbedeckung nötig gewesen wäre. Am Rand war ein dünner Schleier angenäht, wie er von Imkern getragen wurde, was es Alain unmöglich machte, sein Gesicht zu erkennen. Er zügelte sein Pferd, stieg aber nicht ab, als der Unteranführer mit ihm sprach - so leise, dass Alain die Worte nicht verstehen 552 konnte. Dieses seltsame Wesen hätte ihn mit einem einzigen Wort verdammen können, aber Alain stellte sich ihm ohne jede Spur von Angst entgegen, trotz der eindeutig kranken Aura, die Vater Benignus fast wie ein verdrehter Heiligenschein umgab, dem eher der Gestank des Bösen entströmte als der Odem des Guten. Alain warf seinen Stab zu Boden. Die Hunde hinter ihm rührten sich nicht, sondern warteten auf einen Befehl von ihm. »Dein Gesicht kommt mir bekannt vor«, sagte Vater Benignus schließlich, an Alain gewandt. Seine Stimme war ein weicher, verschwommener Tenor. »Wie lautet dein Name? Woher kommst du?« »Ich heiße Alain. Ich stamme aus Osna, einer freien Stadt unter dem Schutz der Grafen von Lavas.« »Die Hunde«, sagte Benignus. Das Zucken seiner Schultern zeugte von einer unerwarteten Erkenntnis. Als er den Kopf hob, um Rage und Kummer näher zu mustern, erhaschte Alain einen Blick auf sein blasses, geflecktes Gesicht, aber der Schleier rutschte schnell wieder zurück. »Ich habe diese Hunde in Begleitung eines Jungen gesehen, der ein Gefangener von Bischöfin Antonia war. Er war ein Kamerad des ketzerischen Fraters, der sich Bruder Agius genannt hat. Bist du dieser Junge?« »Ja, der bin ich.«
Obwohl zwei Männer Pfeile auf ihn richteten, blieben seine Hände ruhig. Wenn er starb, würde er auf die Andere Seite gehen, wo Adica auf ihn wartete und wo die Wiesenblumen blühten. Aber seine Ruhe schmolz allmählich dahin, und das Jucken seiner Neugier wurde stärker. »Und wer seid Ihr, Vater Benignus ? Wie ist es möglich, dass unsere Wege sich bereits einmal gekreuzt haben?« »Du wirst mich nicht erkennen. Ich war dazu verdammt, von jenen missbraucht zu werden, die mächtig genug waren, mich wegzuwerfen, als ich ihnen nicht mehr von Nutzen war. Ihre Gleichgültigkeit und ihre Gier haben mich gezeichnet. Aber ich habe nicht vergessen, was sie mir beigebracht haben. Und so findest du mich jetzt hier.« Er deutete auf das tote Dorf, den stillen Wald, die frischen Gräben und auf die Männer, die mit der Leichenfledderei 553 fertig waren und sich nun bereitmachten, mit ihrer neuen Beute aufzubrechen. »Ich reise jetzt in besserer und ehrlicherer Gesellschaft, als ich sie damals, als ich noch geglaubt habe, dass der Herr und die Herrin mich vor dem Bösen beschützen würden, unter den edelsten Höflingen und den heiligsten Kirchenleuten gefunden habe. Bartholomeo sagt, du wärst ein Gefangener dieser Geistlichen gewesen. Ist das wahr?« Alain lächelte. »Selbst wenn es nicht wahr wäre, würde ich das jetzt sagen? Schließlich bin ich Eurer Gnade ausgeliefert.« Das Geräusch, das der andere Mann von sich gab, war schwer zu deuten, zumal Alain sein Gesicht nicht sehen konnte. »Nehmt ihn mit«, sagte Vater Benignus zu Bartholomeo. »Aber tötet ihn und die Hunde, falls er zu fliehen versucht.« 2 Die Verletzung hätte ihn töten müssen, aber er atmete noch. Seine Brust hob und senkte sich in einem flachen, unsteten Rhythmus. Im ersten, schrecklichen Augenblick hatte sie tatsächlich gebrochene Rippen und die dunkle Faust seines schlagenden Herzens sehen können, aber der Riss schloss sich bereits allmählich wieder, als der Körper sich selbst zu heilen begann. Die Wunde war so tief, dass sie Angst hatte, sie könnte bei jeder Berührung aufbrechen; dennoch riss sie Streifen von seiner Tunika ab, um daraus ein kleines Polster zu machen, das sie locker auf die Wunde legte. Sie wusch die Haut um die Wunde herum mit Flusswasser, aber auch der kalte Schock vermochte ihn nicht aufzuwecken. Schließlich riskierte sie es, sich zu entfernen, um am Flussufer ein paar Zweige und Binsen zu sammeln. Sie war noch nicht weit gekommen, als sie den schweren Schritt eines Greifen hörte, und sie rannte zurück zu Sanglant. Sie kam gerade rechtzeitig, um die Greifin sich heranpirschen zu sehen. Sie hob bereits eine Klaue, stand kurz davor, den Hilflosen in Stücke zu reißen. Liath sprang zwischen sie und Sanglant und schwang ihr Schwert. 554 »Das ist meiner!«, rief sie. »Er gehört mir! Rühr ihn nicht an!« Die Greifin schnaubte überrascht und zog sich zurück. Zwei Federn lösten sich bei dieser Bewegung von ihren Flügeln, und Liath hob sie auf und steckte sie in ihren Köcher. Das Feuer, das sie vorhin herbeigerufen hatte, war noch immer nicht gänzlich erloschen. Kleine Stücke verbrannten Grases wirbelten durch die Luft. Ein leichter Ascheregen ließ sich auf ihrer Kleidung und ihren Haaren nieder, bevor er vom Wind verweht wurde. Schließlich hörten ihre Hände so weit zu zittern auf, dass sie in der Lage war, die Binsen, das Gras und die Zweige zu kleinen Fackeln zusammenzubinden. Nachdem sie die sechste Fackel neben sich gelegt hatte, setzte sie sich neben Sanglant. Aus den Augenwinkeln sah sie die Greifen umherstreifen. Als sie sich konzentrierte, ihren Geist von all dem leerte, was sie ablenkte - und das war so einiges -, glaubte sie, den Glanz des Zauberspruchs sehen zu können, der in sein Fleisch und Blut und in seine Knochen gewebt worden war. Seine Mutter hatte große Macht in seinen Körper gewoben, um ihn vor Schaden zu bewahren und ihm seine unnatürliche Kraft der Selbstheilung zu geben. Jetzt würde er wie früher deshalb Qualen leiden, aber er würde vermutlich auch überleben, wie er schon zuvor ein halbes Dutzend in der Schlacht erlittene, eigentlich tödliche Verletzungen überlebt hatte. In Jedus Reich hatte sie den Tod Dutzende von Malen durchlebt, den seine Hände ausgeteilt hatten. Sie hatte ihn niedergestreckt gesehen. Doch dies war nicht die Wiedervereinigung, die sie erwartet hatte. Die Sonne ging unter. Der Himmel färbte sich orangerot, gefolgt von einem dunstigen Purpurrot, ehe die ersten Sterne mit dem fast im Zenit stehenden Viertelmond auftauchten. Ein paar Wolken verhüllten den Himmel zum Teil, aber sie konnte das Himmelsgewölbe - den schönsten Anblick der Schöpfung - zum größten Teil sehen. War es wirklich erst sieben oder acht Tage her, seit sie Verna verlassen hatte, von ihren Verwandten mitgerissen worden war? Aber was sie bisher von der Landschaft um sie herum gesehen hatte, stimmte mit keinem einzigen der Orte überein, an 555 denen sie jemals gewesen war - und sie war weiter herumgekommen als die meisten anderen: Aosta, Kartiako, Aquila, Salia, Varre und Wendar. Den Überlieferungen ihres Vaters nach lag östlich der Grenzlande ein weites Grasland inmitten der Wildnis, monatelange Tagesritte entfernt. Sanglant konnte unmöglich in sieben oder acht Tagen so weit gereist sein. Sie lehnte sich so zurück, dass eine Hand leicht an seiner Kehle ruhte, um seinen Puls zu spüren, und strich hin und wieder mit den Fingern über seine Lippen.
Die Helligkeit des Nachthimmels verblüffte sie. Der Seelenfluss ergoss sich von Licht erfüllt über den westlichen Quadranten des Himmels. Wie hatte sie diese überwältigende Schönheit vergessen können? Stets spürte sie bei diesem Anblick, wie ihre Seele sich beruhigte. Der strahlende Somorhas hing tief am westlichen Horizont, sank aber rasch der Sonne hinterher und ließ den glühenden Seirios zurück, den ersten Stern, der sichtbar wurde, wenn sich die Dämmerung in Nacht verwandelte. Sie suchte den Himmel nach Hinweisen ab. Es war Frühling, musste Frühling sein, da der Drache sich im Osten aufbäumte und das Kind sich im Westen zum Schlafen niederlegte. Aturna stand im Löwen, nahe am Zenit - der einzige andere Wandelstern, der sichtbar war. Aber es gab viele strahlende Fixsterne am Himmel zu sehen: den gelblichen Glanz des Auges des Guivre; den leuchtenden Kopf der älteren Schwester; das bläuliche Auge des Drachen; Rijil, den lichtdurchschossenen Fuß des Jägers und Vulneris, die rote Wunde an seiner Schulter. Sie strich mit der Hand über Sanglants Schulter und führte die Finger an ihre Lippen, schmeckte das Blut. Er lag erschreckend still da, murmelte nicht einmal, wie er es sonst im Schlaf zu tun pflegte. Blut sickerte noch immer aus der Wunde, aber es war nicht mehr der grauenhafte Schwall wie zu dem Zeitpunkt, als sie ihn erreicht hatte. Ihre Hilflosigkeit zerrte an ihr wie ein ständiger Schmerz, aber sie besaß keine heilende Magie. Sie trug auch keine Kräuter bei sich, aus denen sie einen Umschlag hätte machen können. Sie war 556 nicht kräftig genug, um ihn zu tragen, und sie besaß kein Pferd. Am nächsten Morgen, wenn sie wieder sehen konnte, würde sie versuchen, einen Schlitten zu bauen, um ihn hinter sich herzuziehen. Wohin konnte sie ihn bringen? Die Sterne zogen auf ihrer vorgezeichneten Bahn weiter, während die Nacht andauerte. Wo war sie? Und welche Zeit war jetzt? Der Saphir und der Diamant glitten tief über den nördlichen Horizont, und im Süden waren zwar Pfeil und Bogen sichtbar, nicht aber die Jägerin, die sie schwang. Sie befand sich hier ähnlich weit nördlich wie in Wendar und vermutlich ein bisschen südlicher als Friedleben. Norden und Süden waren anhand der Höhe der einzelnen Sterne leicht zu bestimmen. Sie saß mit ihrem tödlich verletzten Ehemann mitten in einer riesigen Wildnis, bewacht von Greifen, während der Nachtwind mit ihren Haaren spielte und wispernd durch das Gras strich. Der Mond sank nach Westen, gefolgt von Aturna, dem Roten Magier. Neue Konstellationen stiegen auf, und mit ihnen die Planeten Jedu und Mok. Der Engel des Krieges schimmerte unheilvoll in der Schlange, während die Kaiserin der Fülle mit dem Einhorn reiste. Wo hatte Mok gestanden, als sie das letzte Mal auf der Erde gewesen war? Es war noch nicht so lange her, nur sieben oder acht Tage, dass sie zu dem herrlichen Himmel hochgesehen hatte. Sie suchte in ihrer Stadt des Gedächtnisses, ging durch die sieben Tore, die den sieben Sphären entsprachen, bis sie die Krone des Hügels erreicht hatte, wo sich die Sternwarte befand. Hier hatte sie in Nischen und Spalten all ihre Beobachtungen versteckt, mit Figuren und Bildern versehen, damit sie sich an jede Einzelheit erinnerte. Moks Pfad war leicht zu finden und in Erinnerung zu rufen, ein goldener Alkoven, in dem eine kräftige Frau auf einem Thron den Vorsitz hatte, umgeben von einem Füllhorn, Weizengarben, fetten Kälbern und - auf dem gewölbten Dach des Alkovens - Zeichen, die die einzelnen Häuser der Nacht darstellten. Sieben oder acht oder zehn Tage zuvor hatte sie in Verna die Konstellation des Dra557 chen mit einer winzigen, glänzenden Weizengarbe versehen, um Moks Voranschreiten zu kennzeichnen. Weil Mok ein Jahr brauchte, um durch jedes Haus zu wandern, bedeutete dies, dass der Planet in der Zwischenzeit durch die Schuppen, die Schlange und den Bogenschützen gereist war, ehe er das Einhorn erreicht hatte. Und in jedem einzelnen Haus hatte er ein Jahr verbracht. Vier Jahre. War es möglich, dass sie so lange weg gewesen war ? Die Himmelsphären konnten nicht lügen, denn wie der heilige Daisan geschrieben hatte, besaßen sie nicht die Freiheit, über sich selbst zu herrschen. Sie waren Untertanen der unwandelbaren Gesetze des Herrn und der Herrin und taten nur, was ihnen befohlen wurde, nichts sonst. Vier Jahre, möglicherweise sechs Monate mehr oder weniger. Würde ihre Tochter sie wieder erkennen? Erinnerte sich Gnade überhaupt daran, dass sie eine Mutter hatte ? Ein schrecklicher Gedanke tauchte auf, so wie Moder sich unter die Oberfläche eines sauberen Hauses schleicht und die Fundamente und Pfosten schwächt: Hatte Sanglant sie für tot gehalten und sich neu verheiratet? Ich bin zu lange weg gewesen. In höchstens anderthalb Jahren würde Mok durch das Einhorn und den Heiler wandern und dessen andere Seite erreichen. Wenn Erekes zurückgeht. Wenn der strahlende Somorhas beim Zurückweichen wieder in die Schlange eintritt. Wenn ]edu und Aturna das Haus des Drachen betreten. Wenn Mok beim Rückwärtsgehen auf dem Scheitelpunkt zwischen dem Heiler und dem Büßer schwebt. An dem gleichen Tag, an dem die Sternenkrone den Himmel krönt. An dem gleichen Tag in weniger als achtzehn Monaten, an dem die Sternenkrone die Himmel krönen würde,
würde der Weg für Anne offen stehen, eine große Beschwörung zu weben, um das Land der Aoi wieder in den Äther hinauszuschleudern und eine zweite Umwälzung zu erschaffen. Sofern Liath nicht einschritt. Anne aufzuhalten war wichtiger als alles andere, sogar wichti558 ger als das Leben ihres Ehemanns. Sogar wichtiger als ihr eigenes Glück. »Ich werde dich nicht wieder verlassen«, flüsterte sie, aber Sanglant konnte sie nicht hören. Bei Anbruch der Morgendämmerung rührte sich Sanglant, ohne jedoch die Augen zu öffnen oder sich seiner Umgebung bewusst zu sein. Er fühlte sich heiß an, aber seine Haut war nicht grau, wie es kurz vor dem Tod der Fall gewesen wäre. Als die sich ankündigende Sonne den östlichen Himmel rötlich färbte und die Klippen in ein sanftes Glühen tauchte, ließen die Greifen sich auf dem sonnenbeschienenen Stein nieder. Sie wusste, dass sie wach waren, erkannte es an der Art und Weise, wie ihre Schwänze hin und her zuckten. Sie stand auf und streckte sich, aber bei der Bewegung erhob sich auch die Greifin und starrte nach Osten über den Fluss. Der kleinere Greif folgte ihrem Beispiel. Auch Liath drehte sich um. Sie hatte Zentauren bisher nur in ihren Träumen gesehen - majestätische Kreaturen, eher wild als zivilisiert, aber von immenser Macht und voller Magie. Es waren nicht viele - nicht mehr als ein Dutzend -, aber als sie näher kamen, starrte sie so verwundert drein, dass sie erst spät daran dachte, einen Pfeil aus dem Köcher zu nehmen und ihren Bogen zu spannen. Nachdem sie sie bemerkt hatten, wandten sie sich flussabwärts und verschwanden aus ihrem Blickfeld. Kurz darauf hörte sie das Trommeln ihrer Hufe und sah sie im Licht der neuen Sonne, die das Gras in Gold hüllte, wieder auftauchen. Die Greifen trotteten auf dem sonnenbeschienenen Stein unruhig hin und her, als hätten sie sich gern zurückgezogen, wollten sie aber nicht allein lassen. Wie kam es, dass sie die Treue dieser Wesen errungen hatte? Liath hatte keine Ahnung. Voller Achtung vor dem gespannten Bogen, den sie in der Hand hielt, blieb die Herde außerhalb der Bogenschussweite stehen. Es waren alles Zentaurinnen, die keine Kleider trugen. Ihre Rümpfe waren lediglich bemalt, und die Rundungen ihrer frauenähnlichen 559 Körper waren unmöglich zu übersehen. Zwei von ihnen hatten einen Wagen bei sich, dessen Deichsel und Querstange so gebaut waren, dass sie den Wagen ziehen konnten, ohne ihre Hände benutzen zu müssen. Eine silbergraue Zentaurin trottete allein nach vorn, unbewaffnet bis auf den Köcher mit Pfeilen, der auf ihrem Rücken hing. In Anbetracht der sich ganz in der Nähe aufhaltenden Greifen war das sehr mutig, und in ihren Händen war noch nicht einmal ein gespannter Bogen zu sehen, als sie am Rande der verbrannten Stelle stehen blieb. Die Zentaurin hatte keinerlei Möglichkeit, sich zu verteidigen, sollten die Greifen auf sie losstürzen. Nun, da sie näher herangekommen war, erkannte Liath, dass sie eigentlich gar nicht grau war, sondern vielmehr uralt; ihr Fell war aufgrund ihres enorm hohen Alters verblasst, so wie die schwarzen Haare eines alten Weibes silbern zu werden pflegten. Grüngoldene Streifen bedeckten teilweise die hornfarbene Haut des Frauenkörpers. Ihre Augen hatten einen unmenschlichen Glanz. Es war auch etwas seltsam Vertrautes an ihr, das nagende Gefühl einer Verbindung, als wären sie sich schon einmal zuvor begegnet. Einer der Greifen stieß einen schrillen Schrei aus, als eine Eule über den Fluss flog. Die Zentaurin hob einen Arm, sodass der Vogel auf dem in Leder gehüllten Unterarm Platz nehmen konnte. Liath senkte den Bogen. »Schön, Euch zu sehen«, rief sie auf Wendisch, nicht ganz sicher, ob die Zentaurin ihre Sprache verstand. »Sofern Ihr in freundlicher Absicht kommt. In der Sprache der Menschen heiße ich Liathano. Ich bitte Euch, wir benötigen dringend Eure Unterstützung ... falls Ihr bereit seid, uns zu helfen.« Die Zentaurin überquerte mit feierlicher Würde den verbrannten Streifen. Asche stob dort auf, wo ihre Hufe den Boden berührten. Einmal musste sie einen Schritt zur Seite machen, um einer heißen Stelle auszuweichen, die noch nicht erloschen war. »Ihr seid Liathano«, sagte sie. »Bekannt als die Strahlende.« »Woher kennt Ihr mich?« »Ich wandle auf den Pfaden, die von dem brennenden Stein ge560 zeichnet sind, der das Tor zwischen den Welten ist. Ich kann nicht in die Sphären aufsteigen, denn ich kann die Erde nicht verlassen, aber ich habe die Spuren Eures Vorbeiziehens gesehen. Ich habe einen kurzen Blick auf Euch geworfen. Ich kenne Euren Namen, weil es der gleiche ist wie mein eigener.« »Ich habe einen arethusanischen Namen«, wandte Liath ein. »Wie könnt Ihr den gleichen haben?« Ein Funke blitzte in der Stadt des Gedächtnisses auf, rief Erinnerungen zurück, die sie im Herzen des brennenden Steins gesehen hatte, als sie einen Augenblick lang Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als eine einzige, sich zu allen Seiten hin erstreckende gewaltige Landschaft sehen konnte. Eine Zentaurin teilt das Schilf am Ufer eines flachen Sees. Ihr Fell hat den dichten Schimmer des Nachthimmels, und ihr schwarzes Haar fällt bis über die Taille. Eine grobe, helle Mahne, der einzige Kontrast zu ihrem schwarzen Fell, läuft ihr Rückgrat entlang, mit Ferien und den Knöchelchen von Mäusen zu Zöpfen geflochten. »Seht!«, ruft sie. »Seht, was wir gewirkt haben!« Sie schießt einen Pfeil ab.
»Li'at'dano!« Die Worte bleiben stecken, als würden sie von Dornen festgehalten. Jahre zuvor hatte ein demütiger Frater mit Namen Bernard seine Tochter nach einer sehr alten Schamanin der Zentauren benannt, von der in den Chroniken der Arethusaner berichtet wurde. Es hieß, sie hätte den Angriff des Bwr-Volkes auf das Dariyanische Kaiserreich bezeugt und überlebt. Einige bezeichneten sie als unsterblich. Alle hielten sie für so mächtig, dass es die menschliche Vorstellungskraft überstieg. »>Liathano<«, wiederholte sie störrisch, benutzte die weicheren Konsonanten der Sprache des Westens. Es war kaum zu glauben, und doch stand sie da, direkt vor ihr. »Wie ist es möglich, dass Ihr noch am Leben seid?« Die Zentaurin hob den Arm, um die Eule freizulassen, die auf der Suche nach einem Ruheplatz zu den Büschen am Flussufer flog. 561 »Ich bin nicht menschlich, nicht einmal halb menschlich wie Ihr. Wir sind ganz und gar anders, geboren aus der Welt, lange bevor die Menschen hier wandelten. Deshalb fürchten Eure Leute uns, deshalb jagen und bekriegen sie uns, abgesehen vom Stamm der Kerayiten, die wir als unsere Töchter aufziehen. Ich bin nicht wie Ihr, Strahlende.« »Nein. Das seid Ihr nicht.« Sie war eine Fleisch gewordene Legende. Es war unmöglich, dass irgendein Geschöpf so lange leben konnte, Generation um Generation, und doch wusste sie tief in ihrem Innern, in dem Herz aus Feuer, das einst ihrer Mutter gehört hatte, dass es genau so war. »Ihr habt die Umwälzung herbeigeführt«, sagte Liath. »Ich verfüge nicht über die Macht des Arbeitens und Bindens.« »Ihr habt die Sieben unterrichtet, die sie gewebt haben.« »Es stimmt, dass ich jene ermutigt habe, die die große Beschwörung ersonnen und gewoben haben. Niemand von uns hat begriffen, was wir da hervorrufen würden. Ich bedauere, was ich getan habe.« »Bedauert Ihr es genug, dass Ihr bereit seid, beiseite zu treten und zuzusehen, wie Eure alten Feinde auf diese Welt zurückkehren? Das Land, auf dem die Ashioi leben, ist der Erde entrissen worden. Ihr wisst das. Ich habe das Exil betreten. Es kehrt an die Stelle zurück, von der es gekommen ist. Und so sollte es auch sein. So muss es sein. Ich bin zurückgekommen, um die Sieben Schläfer aufzuhalten. Sie möchten eine zweite Beschwörung über die erste weben und die Ashioi in den Äther zurückschicken. Wenn Ihr vorhabt, ihnen zu helfen oder mich zu behindern, sind wir Feinde.« Die alte Schamanin deutete auf Sanglant, der noch immer nicht die Augen geöffnet hatte. Er zeigte keinerlei Anzeichen von Bewusstsein, merkte nicht, dass die Zentaurinnen eingetroffen waren und diese Unterhaltung stattfand. »Sind das nicht voreilige Worte, wenn ich die Mittel habe, diesen Mann zu retten?« Weil er so still dalag, war es leicht, die hübschen Linien seines Gesichts zu bewundern, die klaren Linien seiner Glieder. Er hatte 562 nichts von seiner Stärke oder Schönheit verloren. Es war ihm nicht anzusehen, dass vier Jahre vergangen waren, abgesehen vielleicht von den Falten um die Augen, die die Folge von Sorgen und Anstrengung waren. Diese Hände hatten sie einst gestreichelt; diese Lippen hatten sie einst auf höchst befriedigende Weise geküsst, und sie betete, dass sie es wieder tun würden. Er war nur ein Mann. Viele Menschenleben würden so oder so verloren sein - egal, was auch geschah -, aber eine zweite Umwälzung würde eine unvorstellbare Anzahl von Menschen betreffen, würde ganze Dörfer und Städte auslöschen und vielleicht sogar, wie sie gesehen hatte, ganze Zivilisationen. Im Herzen des brennenden Steins war sie Zeugin der Umwälzung geworden, die Städten von unglaublicher Schönheit das Herz herausgerissen hatte -Städten, die von Geschöpfen errichtet worden waren, die nicht der Menschheit entstammten, die aber in ihrer schlauen Geschäftigkeit irgendwie auch wie sie waren: den Kobolden und dem Mervolk. Sie existierten in Legenden, in Geschichten über Tiere, die nicht so dumm wie das Milchvieh und doch immer noch Tiere waren. Aber vielleicht waren die Geschichten auch gar nicht wahr; vielleicht hatte die Menschheit die Wahrheit vergessen oder versteckt, um so die Scham über das zu verbergen, was sie unwissentlich getan hatte. »Ich liebe ihn, aber sein Leben ist nur ein einziges. Ich würde mein eigenes Leben opfern, um seines zu retten, aber ich werde nicht die Welt opfern. Ich werde so viele retten wie möglich und dafür sorgen, dass Gerechtigkeit geschieht. Dazu bin ich fest entschlossen.« Ein kurzes Lächeln huschte über das gealterte Gesicht der Zentaurin. Es war kein Ausdruck der Erheiterung, aber auch kein Spott. »Ihr seid wie ein abgeschossener Pfeil, Strahlende.« Sie neigte den Kopf- ein Zeichen ihres Respekts, nicht der Unterwerfung. Schließlich schloss sie die Lücke zwischen ihnen, und Liath musste all ihre Willenskraft aufwenden, um nicht einen Schritt zurückzuweichen, so seltsam war die Aura der Zentaurin, ihre ganze Erscheinung. Abgesehen davon ragte sie wie ein gewöhnliches Pferd hoch über ihr auf, höher, als sie erwartet hatte. Sie war 563 groß, und sie hätte einen Menschenschädel mit einem heftigen Tritt leicht zermalmen können. Aber sie streckte die Hand aus und reichte Liath einen Pfeil aus dem Köcher auf ihrem Rücken. »Wir sind keine Feinde, Strahlende. Diesen Pfeil werde ich Euch geben, zusätzlich zu meiner Hilfe dabei, diesen
Menschen in Sicherheit zu bringen. In meinem Lager ist ein Kind in unserem Gewahrsam, das er gezeugt hat.« »Meine Tochter?« Der Bogen glitt ihr aus den schlaffen Händen und fiel auf den Boden. »Gnade? Wie ist sie zu Euch gekommen?« Alle Fragen, über die sie nachgedacht hatte, seit sie Sanglant wieder gesehen hatte, brachen sich jetzt Bahn. »Was hat Sanglant hier getan? Wieso hat er Greifen gejagt? Wie ist er hierher gekommen? Ist er allein? Ist er verbannt worden? Wie weit sind wir von Wendar entfernt? Wie geht es meiner Tochter? War sie die ganze Zeit bei ihrem Vater? Wie ist sie in Eure Obhut gelangt? Welchen Groll hegte der Mann, der Sanglant angegriffen hat? Wie können wir nach Westen zurückkehren?« Li'at'dano kicherte. »Ihr seid noch jung, wie ich sehe. Ihr sprudelt über wie ein Fluss bei Flut.« Sie bückte sich, hob den Bogen und die beiden Pfeile auf und reichte sie Liath. »Lasst uns in unser Lager zurückkehren. Wenn wir dort sind, werde ich Eure Fragen beantworten.« 3 Das Seltsame war, dass die Heilerin, die sich um ihn kümmerte, wie eine Frau gekleidet war, aber einem Mann ähnelte und auch wie einer roch. Er war ganz benommen vor Schmerzen und daher vermutlich unfähig, in der Welt einen passenden Sinn zu erkennen. Der Himmel hatte eine absonderliche, schmutzig weiße Färbung angenommen, die so gar nicht Wolken ähnelte, und zudem die unglückliche Angewohnheit, herunterzusacken und sich aufzublähen. Der Effekt ließ Galle in seiner Kehle aufsteigen, und der üble 564 Geschmack verstärkte nur noch die Art, wie der Schmerz in tausend Stücke zerbrach und sich tiefer in Fleisch und Knochen bohrte. Manchmal war die Gnade des Todes dem Leben vorzuziehen. Dennoch. Niemals sollte man sagen können, dass er nicht bis zu seinem letzten Atemzug gekämpft hätte. Er versuchte, ihren Namen zu sprechen, aber er konnte keine Worte über seine Lippen bringen. »Er rührt sich«, sagte die Heilerin zu einer unsichtbaren Person. »Sieh, wie seine Finger zucken. Hol die Strahlende her.« Ein Schatten glitt über die gewölbte Wand des Himmels, verzerrt von Ecken und Winkeln, und plötzlich erkannte er seine Umgebung: Er lag im Innern eines Zeltes. Er spürte einen kleineren Körper schlafend neben sich, aber als die Zeltklappe sich hob, blitzte ein Lichtstrahl herein und ließ jede einzelne Schmerzspitze erneut aufflackern. Er keuchte laut auf. Agonie zersprengte seine Gedanken. »Sanglant.« Ihre Stimme riss ihn aus der Benommenheit des Schmerzes. Diesmal würde er sprechen. »Liath? Wo bist du gewesen? Du hast uns verlassen.« Sie weinte leise. »Ich bin von meinen Verwandten weggebracht worden, aber ich hatte keine Flügel zum Fliegen. Ich konnte ihnen weder folgen noch zu dir zurückkehren. Aber jetzt bin ich in den Sphären gewandelt, Liebling. Jetzt bin ich zu dir und unserem Kind zurückgekommen.« »Ah«, sagte er. Das Licht verblasste. Er stürzte in Dunkelheit. Und erwachte. Alles schmerzte, aber der Schmerz war nicht mehr unerträglich; er war nur noch ein schreckliches, schmerzhaftes Pochen, das durch seinen Körper wogte. Die Luft hämmerte gegen die Zeltwände, spielte eine komplizierte Melodie, die sich abhängig von der Kraft des Windes hob und senkte und ihre Richtung änderte, obschon sie hauptsächlich von Südosten zu kommen schien. 565 Er hörte Liaths Stimme. »Ich kann nichts erkennen. Ich habe nur wenig Wissen über das Heilen. Ich verstehe nicht, wieso sie in diesen Zustand der Benommenheit gesunken ist. Was kann ich tun, um sie aufzuwecken?« »Seht genauer hin, Strahlende.« Die Stimme der Schamanin brachte unerwartete Gefühle in seiner Brust hervor Gereiztheit darüber, dass sie ihn so schnell entlassen hatte, Furcht um seine verlorene Tochter, Entschlossenheit, Bulkezu zu jagen. Bulkezu war tot. Aber er war nicht durch Sanglants Hand gestorben. Ein seltsamer Geruch kitzelte ihn in der Nase, eine leicht brennende Wärme, die süß und scharf und doch nicht wirklich ein Geruch war. Es waren der Geschmack und die Berührung von Zauberei. Liath schnappte nach Luft, wie es eine Frau tun mochte, die zu höchster Ekstase getrieben wurde. »Ich sehe es! Es ist ein heller Faden, genau dort. Sie ist immer noch mit der Daemonin verbunden, die sie gestillt hat und die dann in die Sphäre von Erekes zurückgekehrt ist.« »Nein, wie Ihr sehen könnt, ist der Faden zerbrochen.« »So ist es, mögen Gott uns helfen. Solange ich zwischen den Sphären gewandelt bin, ist die Verbindung zwischen ihnen nie zerbrochen. Aber als ich in die Welt darunter eingetreten bin ... stellt Euch einen Menschen an einem Flussufer vor und einen anderen im Boot auf diesem Fluss. Beide sind durch ein Seil miteinander verbunden. Wenn dieses Seil reißt, wird der auf dem Fluss von der Strömung mitgerissen werden.« »Sie hat die Milch des Äthers getrunken, und das hat sie verändert. Sie ist nicht wie ein Kind der Erde groß
geworden, nicht, wenn sie erst vor vier Jahren geboren wurde.« »Sie ist so schnell groß geworden.« »In körperlicher Hinsicht, aber nicht, was den Geist betrifft. Jetzt ist der Faden der unirdischen Ernährung durchtrennt. Sie treibt umher, ist weder in dieser Welt noch in der dort oben.« »Was können wir tun?« »Ah. Da stellt Ihr mir eine Frage, die ich nicht beantworten 566 kann. Ich bin nicht in den Sphären gewandelt, und von denen, die im Boden der Erde feststecken, kann niemand die Leiter erreichen.« »Wie ist dann nur mein Vater zu diesem Wissen gelangt, das er mir beigebracht hat, sodass ich es nutzen konnte, um hinaufzusteigen?« Die Schamanin kicherte. Etwas an ihrer kameradschaftlichen Reaktion ärgerte Sanglant genauso, wie eine beständig summende Mücke ihm den Schlaf erschweren mochte. Die Zentaurin hatte ihn nicht so respektvoll behandelt. Er war nicht daran gewöhnt, als etwas Geringeres als der Sohn des Königs behandelt zu werden, als ein Prinz und Hauptmann eines mächtigen Heeres. Er war nicht daran gewöhnt, dass er sich gegenüber jemandem bewähren musste. »Liath!«, sagte er nachdrücklich. Er stellte fest, dass er sich aufrichten konnte. Die Bewegung machte ihn benommen. Seine Brust schmerzte. Er klammerte sich an der Pritsche fest, auf der er saß, und wartete, dass der Schmerz verging, was er schließlich auch tat. Er erinnerte sich nur zu gut an den Prozess des Heilens. Er hatte diese Qual mehr als einmal durchgemacht. Sie würde in Wellen anschwellen und abebben, bis er wiederhergestellt war. Er berührte seine Kehle an der Stelle, wo eine frühere Verletzung dazu geführt hatte, dass seine Stimme seither anders klang. Oder zumindest fast wiederhergestellt. Es war immer noch besser, als tot zu sein. »Sanglant!« Liath hatte ihre Haare auf dem Rücken zu einem Zopf geflochten, und ihr Gesicht war sauber. Sie strahlte vor Freude und ergriff seine Hände. »Ein mächtiger Zauberspruch«, bemerkte die Schamanin hinter ihr. Ihr Stutenkörper füllte das halbe Zelt aus, und sie ragte hoch über der Pritsche auf, die auf dem Boden vor ihr stand. Eine kleine Gestalt lag zusammengerollt darauf. Es war Gnade, unverletzt, aber vollkommen schlaff. Gewöhnlich schlief Gnade mit zusammengeballten Fäusten, die sie sich unter das Kinn hielt; jetzt lag sie da wie eine Leiche. »Was habt Ihr mit meiner Tochter gemacht?«, fragte er. 567 Liath zuckte leicht zusammen; sie beherrschte sich rasch, aber nicht schnell genug, dass er ihren ersten Impuls, vor seiner Wut zurückzuweichen, nicht bemerkt hätte. »Hat sie einen Zauber über sie gesprochen?« »Nein, Lieber, sie hat gar nichts getan.« »Wieso liegt sie dann da wie eine Leiche, der man die Seele entrissen hat?« »Ich bitte dich, Sanglant, sprich nicht solch unheilvolle Worte! Gnade ist zur gleichen Zeit in diese Benommenheit gesunken, als ich auf die Erde gefallen bin. Zumindest glauben wir das. Sie soll gesagt haben, dass sie mich gehört hätte und dass ich ganz aus Feuer wäre. Oh, Gott!« Die Worte klangen bedauernd. »Sie ist so groß. Sind es wirklich vier Jahre gewesen?« »Drei Jahre! Vier Jahre! Ich bin kein Geistlicher, der das verfolgt. Mir kam es vor, als würde ich eine Ewigkeit in den Abgrund stürzen. Aber vielleicht hast du unter der Trennung ja weniger gelitten als ich!« Sie wich einen Schritt zurück, verblüfft über seine Wut. Auch er war verblüfft. Aber die Wut kochte einfach hoch, immer weiter, er konnte sie nicht aufhalten. »Woher weißt du, dass diese Kreatur nicht unsere Feindin ist? Sie hat sich geweigert, mir bei der Suche nach Gnade zu helfen. Und jetzt finde ich Gnade hier, in ihren Klauen. Woher weißt du, dass sie unserer Tochter keinen Schaden zugefügt hat?« »Ihr Volk hat Gnade aus dem Griff des Mannes namens Bulkezu gerettet. Gnades Zofe Anna hat mir die Geschichte erzählt. Anna? Anna!« »Sie holt gerade Wasser, Strahlende«, sagte die Heilerin. Sanglant hatte sie nicht bemerkt, aber sie saß am Eingang auf einem Kissen, die Hände im Schoß gefaltet. »Anna kann verzaubert worden sein -« »Sie schien mir praktisch genug veranlagt zu sein. Komm schon, Liebling.« Liath beugte sich zu ihm und legte ihm die Hände auf die Schultern. Er erkannte ihre Gesten sofort; er begriff, dass sie besorgt war, sogar ängstlich. Ganz sicher behandelte sie ihn wie einen aufgeregten Hund, den man beruhigen musste, ehe 568 er sich für die Nacht in den Hundezwinger zurückzog. »Deine Wunden sind noch nicht genügend verheilt. Du solltest dich hinlegen und dich ausruhen.« »Wieso stellst du dich auf ihre Seite und nicht auf meine?« Das kränkte sie, und sie versteifte sich, reckte die Schultern und das Kinn. »Ich stelle mich auf niemandes Seite.
Ich bin so sehr eine Gefangene oder ein Gast des Pferdevolkes wie du. Und wie unsere Tochter. Ich habe wenig mehr als ein Jahr Zeit, um ein großes Unterfangen zu planen. Ich werde mich mit denen verbünden, die mir helfen, Anne davon abzuhalten, eine große Umwälzung von schrecklicher Kraft und mit entsetzlichen Auswirkungen herbeizuführen - Gott im Himmel, Sanglant! Du weißt, wovon ich spreche! Du bist in Verna gewesen. Wieso streitest du mit mir?« Einen Moment lang - so lange, wie man brauchte, um Luft zu holen - zitterte eine schimmernde Aura um sie herum, als würden ihr Flügel aus Flammen wachsen. Diese Liath hatte eine schreckliche Macht. Sie war irgendwie die gleiche Frau, die aus Verna verschwunden war, und doch auch jemand ganz anderes, ein Wesen, nicht ganz menschlich und auch nicht die hübsche, anmutige, gelehrte und doch zerbrechliche Frau, die er geheiratet hatte. Die er vor Hugh gerettet hatte, vor Henrys Zorn, vor einem Leben als Flüchtling. Die ihn gebraucht hatte. Diese Liath hatte Bulkezu mit einem einzigen Schuss getötet und zwei Greifen mit einem lodernden Ring aus Feuer vertrieben. Sie sprach mit der alten Schamanin, als wären sie von gleichem Rang. Sie starrte ihn jetzt herausfordernd an. »Ich weiß nicht, wer du bist«, sagte er. XVII Grimmwall
1 Das Land nördlich von Hefenfelthe war fruchtbar und üppig, so grün wie jedes andere Land, das Starkhand jemals gesehen hatte. Es war mit seichten Flüssen und vielfach verzweigten Bächen durchsetzt und so sanft, dass es seinem Heer nur wenig Probleme bereitete. Das Frühjahr brachte wiederholt Niederschläge, aber obwohl es an einem von drei Tagen regnete, kamen sie gut voran. Nur hin und wieder stießen sie auf ihrem Marsch nach Norden auf Widerstand. Überwiegend fanden sie jedoch verlassene Dörfer und Ställe vor. »Die Späher sind zurückgekehrt!«, rief Zehnter Sohn, der mit der Vorhut marschierte. Menschliche Vorreiter gaben den Ruf weiter, und das Heer kam geräuschvoll zum Stehen, als die Nachricht auch bei den hinteren Reihen anlangte. Die Vorhut hatte einen jener sanften, lang gezogenen Hänge erreicht, von denen Starkhand einen Blick zurück auf sein Heer werfen konnte, das sich die alte dariyanische Straße entlangschlängelte. Auf der gepflasterten Straße kamen sie rasch voran, wenngleich sie möglichen Angriffen aus den umliegenden Wäldern ausgesetzt waren. Die FelsenKinder marschierten in geordneten Reihen zu fünft nebeneinander; jede Einheit trug die Standarte ihres Stammes mit 570 sich. Rikins Brüder hatten vorne und hinten den Ehrenplatz inne, während Hakonin die Wagen mit den kostbaren Belagerungsmaschinen, den Vorräten, zusätzlichen Waffen, den Schätzen und der Beute sowie den eisernen Gerätschaften bewachte, die als Schmieden benutzt werden konnten. Wie das Rudern kräftigte auch das Ziehen der Wagen die Krieger an jenen Tagen, an denen es keine Kämpfe gab. Was die anderen Stämme anging, so entsprach ihr Rang in der Marschordnung der Ehre, die sie in der letzten Schlacht oder dem letzten Scharmützel errungen hatten; es war der ständige Tanz prahlerischen Wetteiferns, der den Eifer der Soldaten aufrechterhielt. Sogar die menschlichen Truppen durften an diesem Wettbewerb teilnehmen, und tatsächlich kämpften seine eigenen Leute aufgrund ihrer Anwesenheit nur noch härter. Niemand wollte zur Zielscheibe des Spotts werden, weil er weniger Feinde getötet oder weniger Beute errungen hatte als die Weichen. »Da sind sie«, sagte Zehnter Sohn am siebten Tag, nachdem sie Hefenfelthe verlassen hatten. Die Sonne näherte sich dem Zenit. Starkhand ging mit Hakonins Anführer sowie Papa Otto und dem jungen Übersetzer aus Hessu nach vorn. Die Späher kamen im Galopp die Straße entlanggeprescht. Acht waren ausgeschickt worden. Nur fünf kehrten zurück. Vorreiter ritten in scharfem Tempo auf sie zu, und die fünf Späher stiegen ab. Ihre erschöpften Reittiere waren begierig darauf, von den Menschen am Zügel gepackt und langsam herumgeführt zu werden, sodass sie sich abkühlen konnten. Nur Pferde, die in den Fjorden gezüchtet worden waren, gewöhnten sich jemals richtig an den Geruch der FelsenKinder. Einer der Späher trat vor und erstattete Bericht; das beeindruckende Tiermotiv auf seinem Oberkörper kennzeichnete ihn als einen Sohn von Hakonin. »Eine beträchtliche Streitmacht bewegt sich westlich von uns nach Nordosten. Sie tragen das Banner des Hirsches der Königin und eins mit einem weißen Eber. Sie werden schon bald diese Straße kreuzen. Wenn sie vor uns sind, werden wir weiter vorn mit noch Schlimmerem zu rechnen haben. Auf unserem Weg befinden sich Befestigungen, eine Reihe von Gräben und Wällen. Das 571
Land wird schmaler. Es gibt steile, bewaldete Hänge auf der einen Seite und Moore auf der anderen, aber in der Mitte bleibt ein Korridor. Dort liegen die Befestigungen.« »Sind sie neu errichtet worden?«, wollte Starkhand wissen. »Nein, sie sind alt.« Starkhand gestikulierte. Die Nachricht wurde nach hinten zur dreizehnten Reihe weitergegeben, wo sich die Freiwilligen aus Alba befanden. »Traust du diesen Abtrünnigen?«, fragte der Hakonin-Späher. Anhand der Zeichen auf seiner Schulter sah Starkhand, dass es Erster Sohn eines Dreizehnten Wurfs war. »Es sind keine Abtrünnigen, Erster Sohn. Sie hatten nichts, dem sie hätten abtrünnig werden können. Sie waren Sklaven. Jetzt suchen sie Ehre und eine Position in meinem Heer, weil sie vorher keine besaßen, ja nicht einmal die Chance, eine zu erringen.« »Und doch sind sie weich.« Erster Sohn bleckte die Zähne, um die Edelsteine aufblitzen zu lassen, die er sich in Starkhands Schlachten verdient hatte. Er war gerissen, kühn und unabhängig. Es lohnte sich, ihn im Auge zu behalten, ob zum Guten oder zum Schlechten. »Das mag sein«, stimmte Starkhand ihm zu. »Sie müssen sich erst noch beweisen.« Zwei Männer, der eine jung, der andere in mittleren Jahren, traten zu ihnen. Beide kannten dieses Land, oder zumindest behaupteten sie das. »Wie heißt ihr?«, fragte Starkhand, denn er wusste, dass bei den Menschen Namen Macht gaben und dass das Wissen über den Namen des Gegenübers auch demjenigen Macht verlieh, der ihn aussprach. Der ältere Mann sprach mit einem seltsamen Akzent. »Ich heiße Ediki. Das ist mein wahrer Name, obwohl mein Herr mich in der Art seines Volkes Wulf genannt hat. Ich bin im Moor geboren. Als ich ein Junge war, hat der albische Edelmann von Weorod mich gefangen genommen und als Sklave in die große Stadt verkauft. Wir sind jetzt ziemlich nah bei dem Gutshaus und den Ländereien von Weorod. Der Junge hier heißt Erling. Seine Mutter war eine 572 Verwandte von mir. Sie ist noch vor mir entführt worden, aber er wurde in der Stadt geboren und ist dort aufgewachsen. Von ihr weiß er einiges über diese Gegend.« »Ich werde dich bei dem Namen nennen, mit dem du geboren wurdest, Ediki.« Dann wandte er sich an den Kundschafter. »Erzähl ihm von den Befestigungen.« Ediki lauschte andächtig, nickte die ganze Zeit über, während Erster Sohn sprach und Yeshu übersetzte. »Ja, das ist genau da, wo sich Weorod niedergelassen hat. Die Erdwälle werden Grimmwall und die Schlingel genannt. Sie wurden zu Lebzeiten meiner Ururgroßmutter von der Winterkönigin von Lindale errichtet, die Aelfroth hieß. Ihre Brüder führten von den westlichen Hochlanden aus Krieg gegen sie. Mithilfe der Erdwälle hat sie versucht, sie zurückzuhalten.« Erling kratzte sich an dem Sklavenzeichen auf seiner Wange, aber ob er das tat, weil es juckte oder weil er nervös war, konnte Starkhand nicht erkennen. Im Gegensatz zu Ediki war er weder klein noch dunkel, sondern hatte die Größe und die helle Haut, die bei den blonden Alben üblich waren. »Meine Mutter hat mir gesagt, dass Grimmwall von den alten Südländern erbaut worden ist, die sich Dariyaner genannt haben und früher hier geherrscht haben, bevor die Alben gekommen sind. Sie hat gesagt, er wäre errichtet worden, um die Alben davon abzuhalten, hier einzudringen.« Ediki zuckte mit den Schultern. »Wenn das so war, hat es jedenfalls nicht funktioniert. Vielleicht hat der Junge Recht, vielleicht ich.« »Wann haben die Alben dieses Gebiet erobert? Du bist kein Albe?« »Die Hellhäutigen? Nein. Sie sind Nachzügler. Wir sind das echte Volk. Dieses Land gehört von den ersten Tagen an uns. Die Alben sind keine Freunde von uns.« Er sah zu Starkhand auf. Mit seiner breiten Brust, den kräftigen Schultern und dem kohlschwarzen Haar, das mit einem Lederstreifen zurückgebunden war, wirkte Ediki mehr wie ein Sumpfgeist denn wie ein Mensch. Aber sein Blick war scharf, und seine Hände waren ruhig. Sofern 573 er sich vor den FelsenKindern fürchtete, konnte er das zumindest gut verbergen. »Herr, nur der Onkel der Königin hat Anspruch auf das Zeichen des Ebers. Wenn dieser hohe Edelmann und sein Heer Grimmwall und die Schlingel erreichen, werden wir hart kämpfen müssen, um an ihnen vorbeizukommen, vermute ich. Weorod wird ebenfalls Krieger unter Waffen haben. Wenn der hohe Edelmann die Königin unterstützt, dann ist sie so stark, wie sie nur sein kann.« Starkhand nickte. »Deshalb müssen wir die Befestigungen als Erste erreichen und unsere Positionen einnehmen.« »Es gibt bereits eine kleine Streitmacht, die sie hält«, fügte Erster Sohn hinzu. »Dieser Edelmann Weorod, von dem der Sklave gesprochen hat.« Starkhand grinste ihn an, bleckte herausfordernd die Zähne. »>Der Sklave< ist in meinem Heer kein Sklave mehr, sondern ein Soldat. Jetzt geht es nur noch um Geschwindigkeit. Wir werden im Eiltempo marschieren, sie frontal angreifen, während Erster Sohn seine Hakonin-Brüder durch den Wald führt und von der Seite angreift. Sofern er dazu in der Lage ist.«
Erster Sohn grinste als Antwort; er nahm die Herausforderung an. Die beiden Schlingel waren kleinere Schutzwälle, mit deren Hilfe das tief gelegene Gelände zwischen den Waldstücken gehalten werden sollte, wobei ihre Position zusätzlich von einem Netz aus Bächen unterstützt wurde, die dieses Land durchzogen. Doch wer immer Grimmwall auch hielt, hatte nicht genügend Kämpfer, um auch diese westlichen Schutzwälle zu bemannen, und so war es ein Leichtes, über sie hinwegzuschwärmen und nach Osten zu marschieren, während der Nachmittag voranschritt. »Werden wir Männer zurücklassen, die diese kleineren Wälle halten?«, fragte Zehnter Bruder. Starkhand schüttelte den Kopf. »Nein. Heute werden wir sehen, was unsere albischen Verbündeten wert sind. Alle sollen weiter vorrücken.« Die Sonne befand sich hinter ihnen. Ihre Schatten wurden lang 574 und immer länger, als sie sich in Schlachtordnung aufstellten und auf den letzten großen Wall zubewegten. Der Grimmwall war in der Tat grimmig; die Wälle waren auf raffinierte Weise quer über dem grasbewachsenen Heideland errichtet, wobei das eine Ende in einen dicht bewachsenen Wald aus Eichen und Eschen ragte, während das andere ins flache Moor auslief. Von der Stelle aus, von der sie sich jetzt näherten, erstreckte sich der Grimmwall zu beiden Seiten weiter, als mit dem bloßen Auge zu erkennen war. Die Verbindung aus hoch aufragendem Erdwall und davor klaffendem großem Graben stellte ein ernst zu nehmendes Hindernis dar. Dahinter lag Weorod, wo Ediki als junger Mann ergriffen und als Sklave in die ferne Stadt verschleppt worden war. Rauchfahnen stiegen von den Feuerstellen im Gutshaus auf - vielleicht von Herdfeuern oder auch von Schmieden, in denen sich die Alben zum Krieg rüsteten. Erster Sohn und sein Stoßtrupp waren bereits im Wald verschwunden, als Starkhand seine Standarte hob, um das Zeichen zum Angriff zu geben. Es handelte sich um nichts weiter als einen direkten Angriff auf eine ziemlich unterlegene Streitmacht. Er gestattete Vitningsey, den Angriff zu führen, und begab sich selbst in die zweite Reihe. Schweigend rannten sie tief geduckt los, begleitet von den Hunden. Diese Soldaten waren wendig und stark, und so fiel es ihnen leicht, in den steilen Graben hinunterzuspringen und auf der anderen Seite wieder hinaufzuklettern; sie hoben die Schilde über die Köpfe, als Pfeile und Speere auf sie herabregneten. Aber selbst die Waffen, die sie erreichten, vermochten ihrer kräftigen Haut nur wenig Schaden zuzufügen. Die. Alben auf dem Wall rühmten sich des Besitzes bronzener und steinerner Waffen, aber sie besaßen offensichtlich keinen Stahl, der fast als Einziges die Haut seiner Krieger hätte aufschlitzen können. Die Verteidiger waren so wenige, dass sie ohnehin in einer hoffnungslosen Lage waren. Er kletterte den Graben hoch und stieß einen blutenden Körper beiseite, während die erste Welle sich über die Kante des Walls schwang und schweigend ihre Arbeit verrichtete. Nur die Schreie unglücklicher Männer und das Geräusch, mit dem Speere und Äxte sich in Schilde und Fleisch gruben, mischten sich in das Heulen des Windes. Als er - nur von einem einzigen 575 Pfeil belästigt, der den Hang hinter ihm nach unten rollte - oben ankam, sah er sowohl das Kampfgetümmel wie auch die Landschaft dahinter. Im dunstigen Licht der tief stehenden Sonne, die das Heideland mit Gold übergoss, erhaschte er einen Blick auf ein paar Gebäude in einiger Entfernung, die von einer niedrigen Palisade und Feldern und Weiden umgeben waren. Winzige Gestalten flohen mit nichts außer dem, was sie tragen konnten, von dem Anwesen. Unterhalb der Stelle, an der er stand, bildeten die verbliebenen albischen Verteidiger - nicht mehr als sechzig Mann - dicht gestaffelte Gruppen, die Schildwälle fest geschlossen, während die Überlebenden des ersten Angriffs versuchten, sich neu zu formieren und zurückzuziehen. Weit hinter sich hörte er ein Hornsignal. Der albische Edelmann und sein Heer näherten sich rasch. Damit sein Plan funktionieren konnte, musste Starkhand unverzüglich die Kontrolle über den gesamten Wall erringen. Erster Sohn brach zwischen den Bäumen hervor und griff die albischen Verteidiger von hinten an, genau, wie er es geplant hatte. Der albische Schildwall brach zusammen, und die Hunde begannen, auch noch die Verletzten zu töten. Um ihn herum strömte das Heer über den Wall und auf der anderen Seite wieder hinunter wie eine Flutwelle über eine Sandbank. Zehnhundert, wie Alain es auf die Art und Weise, wie die Wendaner Menschen ordneten, sagen würde. Er brauchte keine genauen Zahlen, um sich klar zu machen, dass er zwar ein großes Heer besaß, aber dennoch gezwungen gewesen war, eine zweite Gruppe von der gleichen Größe als Garnison für Hefenfelthe und das Umland zurückzulassen. Vierzig Schiffe waren nach Norden gesegelt, damit er Verstärkung vom Meer aus erhalten konnte - sofern er das Meer erreichte. Vom Wall hatte er eine bessere Sicht auf die Landschaft im Nordosten, wo das Land sich zu einem flachen Moor absenkte, das sich ewig hinzuziehen schien, baumlos, offen und völlig kahl. Er sah keinerlei Deckungsmöglichkeiten für sein Heer, keine Möglichkeit, sich heimlich zu nähern, nicht die geringste Deckung. Und doch hielt sich da draußen im pfadlosen Moor die Königin von Alba versteckt. 576 »Herr, wir sind so weit.« Außer Atem blieb Ediki mit den vierzig Freiwilligen neben ihm stehen - Männer, die Erster Sohn Abtrünnige genannt hatte, Männer, die einst Sklaven gewesen waren. Sie waren stark, aber das Laufen und der Aufstieg hatten sie etwas ermüdet. Waren sie stark genug, um zu tun, was notwendig war?
»Ihr wisst, welches Risiko ihr eingeht«, sagte er. »Und ihr wisst, was geschehen wird, wenn ihr versagt, ja?« »Das wissen wir, Herr. Wir wissen, was du uns versprochen hast. Es ist das Risiko wert. Wir empfinden keinerlei Zuneigung gegenüber denjenigen, die uns unterdrücken.« Ediki spuckte auf die Leiche, die zu Starkhands Füßen lag; es war ein blonder, kaum erwachsener Jugendlicher, dessen Kinn von einem Axthieb zerschmettert worden war. Gestorben war er allerdings durch den Speerstoß, der ihm den Bauch aufgeschlitzt hatte. »Sie sind nicht einmal meine Verwandten. Sie sind über das Meer gekommen.« »So wie wir«, sagte Starkhand. »Das war nicht als Beleidigung gemeint«, erwiderte Ediki, während die anderen Alben leise murmelten. Ein paar von ihnen waren so klein und stämmig wie Ediki, hatten dunkle Haare und braune Augen, aber die Übrigen hatten die Größe und die helle Haut der Alben. »Aber es waren die Alben, die meine Ahnen vor langer Zeit in die Berge und ins Moor getrieben haben.« »Sie haben meine Mutter vergewaltigt«, sagte Erling plötzlich wie ein Mann, der sich beweisen muss, indem er seine Wut zeigt. »Ich bin ein Bastard und der Sohn einer Sklavin. Du bist der einzige Mensch -« Er zögerte, als würde er Starkhand zum ersten Mal sehen. Seit Starkhand so viel Zeit bei den Menschen verbracht hatte, wusste er, was die meisten von ihnen an seinem Aussehen beunruhigte: die Klauen, die aus den knöchernen Handrücken herausragten; die schuppige, kupferfarbene Haut; die schwarzen, geschlitzten Augen; der Zopf aus rauem weißem Haar und die Juwelen, die aufblitzten, wann immer er die Zähne bleckte. So sehr ein Mensch und doch kein Mensch. Erling fasste sich rasch wieder und sprach weiter. »- der einzige Herr, der mir etwas anderes angeboten hat als Ketten und die Peitsche.« »Das habe ich«, pflichtete Starkhand ihm bei. »Und das habe ich 577 versprochen. Soll der Sklave zum Herrn werden und der Herr zum Sklaven.« Ein halbes Dutzend seiner Soldaten eilte von unten herauf; sie trugen Kettenhemden, blutverschmierte Tuniken und Helme mit geöffneten Visieren, die sie den Toten abgenommen hatten. »Zieht das an«, sagte Starkhand, »und nehmt dann eure Plätze ein. Wir haben nicht viel Zeit.« Inzwischen befand sich sein gesamtes Heer hinter dem Wall und stellte sich so auf, wie sein Plan es vorsah: Ein Drittel kniete in gestaffelten Reihen gleich unterhalb des Kamms nieder, ein anderes Drittel machte sich auf, das ein Stück entfernt gelegene Gutshaus anzugreifen, während sich die Übrigen auf den Flanken verteilten. Hundert Soldaten krochen unter dem Befehl von Erster Sohn in den Wald zurück, wobei sie den gleichen Weg nahmen, den sie gekommen waren. Starkhand kniete neben Ediki, der ihn mit einem der rechteckigen albischen Schilde verbarg. Seine albischen Freiwilligen trugen jetzt die Kleidung der Männer, die zuvor diesen Wall verteidigt hatten. Zwei Banner kamen in Sicht, flatterten im Sonnenlicht: der Hirsch der Königin und der Eber. Zwar glänzte kein Wolfskopf bei dem Heer, aber vorneweg ritt ein Mann, dessen Helm mit den Hauern und der Schnauze eines Ebers verziert war. Das Heer näherte sich wohl geordnet, diszipliniert und zuversichtlich. Starkhand schätzte es auf fünf- oder sechshundert Mann, genug, um großen Schaden anzurichten, wenn es zu einem richtigen Kampf kommen sollte. Sie konnten an der von den Aikha aufgewühlten Erde erkennen, dass eine große Streitmacht vor ihnen hier vorbeigekommen war. Erling trat vor und wedelte mit den Armen. »Beeilt Euch!«, rief er. »Brüder, beeilt Euch! Herr, ich bitte Euch, gebt Acht! Eine kleine Gruppe von ihnen versteckt sich im Wald, um Euch aus dem Hinterhalt anzugreifen. Sie wollen Euch erschrecken und glauben machen, sie hätten den Wall eingenommen. Die anderen sind am Wall entlang ins Moor abgeschwenkt. Wir haben sie bisher abgewehrt, aber wir haben nicht viel Zeit, bevor sie wieder angreifen!« 578 Die anderen albischen Freiwilligen traten neben ihn, boten ein leichtes Ziel für Pfeile, sollte die albische Streitmacht ihnen die Geschichte nicht abnehmen. Es erforderte Mut, sich so ungeschützt in die Schusslinie zu stellen. »Beeilung!«, riefen sie. »Beeilt Euch! Wir brauchen Verstärkung!« Einen Augenblick, ein Jahr oder zehn Atemzüge lang fragte sich Starkhand, ob der albische Edelmann mit dem Eberkopfhelm in die Falle gehen würde. Dann machte Erster Sohn seinen Zug - Äxte und Speere klapperten und rasselten gegen Schilde, erzeugten gewaltigen Lärm im Wald. Diese Alben hatten noch nicht begriffen, dass die Felsen-Kinder lautlos angriffen. Der albische Anführer rief einen Befehl; sein Banner tauchte erst ab und erhob sich dann wieder als Zeichen zum Vormarsch, und die Streitmacht stürmte los, sodass die Ordnung sich auflöste, als die Männer sich gegenseitig überholten und in den Schutz des Walls zu gelangen versuchten. Starkhand bleckte die Zähne. Hinter sich spürte und hörte er das Gemurmel seiner Krieger, die ihre Waffen fester packten. Als die ersten Alben die Krone des Erdwalls erreichten und in dem Glauben, ihre Brüder würden sie erwarten, unbeholfen über die Kante kletterten, hatten sie nicht die geringste Chance. Ganz am Ende - das Gemetzel war mittlerweile vorbei, und die Sonne verschwand bereits hinter dem westlichen Horizont - ergriffen sie den Eberkopf lebend. Er war ein Mann von unbestimmtem Alter, schlank, hart und allem Anschein nach gerissen. Ein Mann, der sich nicht leicht unterwerfen würde. Er war zu stolz, um sein Schicksal
zu verfluchen, und zu schlau, um seinen Atem damit zu verschwenden, um Gnade oder Milde zu flehen, als Starkhands Soldaten ihn auszogen. Er trug kostbare Kleidung unter dem Kettenhemd, eine wattierte Tunika mit Goldrand sowie die goldenen Armbinden der albischen Edelmänner, zwei goldene Ketten und Silberringe und Armreifen - es war auf jeden Fall eine üppige Beute. Im Laufe seines Lebens hatte er drei Verletzungen 579 erlitten, die seit langem verheilt waren, aber an diesem Tag blutete nur seine rechte Hand von einem Hieb, der ihm den Handschuh weggerissen hatte. Sein Schild war fast in zwei Teile gespalten worden, aber er war damit immer noch besser dran als die vier jungen Männer, die bei einem letzten Versuch, ihn aus der Schlacht zu schaffen und ins Moor zu entkommen, gestorben waren. Die albischen Freiwilligen versammelten sich und musterten ihn. Sie hatten den Blick hungriger Hunde, die darauf warteten, gefüttert zu werden, aber von Ketten der Furcht zurückgehalten wurden - weil sie den vernarbten und kampfgestählten Edelmann fürchteten, der da bis aufs Hemd ausgezogen barfuß, unbewaffnet und ganz auf ihre Gnade angewiesen vor ihnen stand. Dennoch konnte Starkhand ihre Furcht riechen, denn sie stank so ranzig wie altes Fleisch. »Die Jungen sollten nicht sterben, um die Alten zu retten«, bemerkte Ediki ernst, als er die vier Leichen musterte, die ausgestreckt zu Füßen des Edelmanns lagen. »Ich bin der Onkel der Königin und heiße Eadig, Graf des Mittellands und Herrscher von Wyscan«, sagte der Edelmann zu Starkhand, als hätte Ediki gar nicht gesprochen. Er beachtete die ehemaligen Sklaven einfach nicht. »Welches Lösegeld forderst du von mir, Räuber? Wie kann ich die Soldaten auslösen, die noch leben?« Starkhand hob beide Hände, drehte die Handflächen in einer Geste nach oben, die er von den Menschen übernommen hatte. »Es ist nicht an mir, über dein Schicksal zu entscheiden. Ich habe ein paar ganz bestimmten von meinen Edelleuten versprochen, dass sie die Überlebenden versklaven können, wenn sie wollen.« Eadigs hochmütiger Blick glitt über die gebrandmarkten Gesichter von Ediki und den anderen, schweifte dann weiter zu den Aikha, die jetzt die Toten ausraubten oder sich innerhalb des befestigten Gutshauses für die Nacht einrichteten. »Du hast Edelleute bei dir? Ich dachte, ihr wärt wie wilde Hunde, die in Rudeln jagen und alles verschlingen, was ihnen in die Quere kommt.« »Dann hast du uns noch nicht verstanden. Aber es sollte dich nicht beschäftigen, was wir sind. Du hast unter deinen eigenen Männern Edelleute, Eadig, denn du bist einmal einer von ihnen 580 gewesen. Nun, hier sind andere. Ich nenne sie dir, damit du weißt, wer dir Gnade oder Gerechtigkeit widerfahren lässt. Hier ist Edelmann Ediki von Weorod -« »Eadwulf ist der Herr von Weorod!«, rief der Edelmann entrüstet. »Die Nichte meines Vetters hat ihn vor fünf Jahren geheiratet!« »Eadwulf ist tot oder wird schon bald tot sein. Dieser Mann hier zu meiner Rechten ist Edelmann Ediki von Weorod. Hier ist sein Verwandter, Edelmann Erling von - welches Land beanspruchst du?« Erling lachte; der Siegestaumel machte ihn verwegen. »Südlich von Hefenfelthe liegt Gut Braiden. Meine Mutter ist dort begraben. Es steht unter der Herrschaft von Edelfrau Ealhflaed.« »Also schön, Edelmann Erling, du bist jetzt der neue Herr von Gut Braiden. Was die anderen betrifft -« Aber als er sich zu ihnen umdrehte, um herauszufinden, was sie beanspruchen würden, trat Eadig in der furchtlosen Art eines Mannes vor, der es gewohnt war, zu herrschen, und damit rechnen konnte, dass seine Befehle befolgt wurden. Sein Tonfall war mürrisch und verächtlich, und er zitterte angespannt wie ein Hund, der an der Leine zerrt. »Du hast nicht die Autorität, jenen ihr Erbe zu stehlen, die diese Ländereien rechtmäßig erworben haben!« »Habe ich diese Autorität nicht?«, fragte Starkhand neugierig. »Ich habe das Recht, das mir die Waffengewalt zubilligt. Willst du das bestreiten?« »Es ist wider die Natur, dass Sklaven den Platz von Freien einnehmen und sich anmaßen, wie Herren über jene zu herrschen, die durch Gesetz und göttliche Gunst rechtmäßige Edelleute sind!« Starkhand trat dicht an ihn heran, fuhr eine Handbreit vom Gesicht des Grafen entfernt die Klauen aus. Eadigs Miene änderte sich von Grund auf; sein Blick flackerte nervös über die Leichen, die auf dem Wall und den Feldern herumlagen. Seine Nasenflügel bebten, sein Gesicht war bleich, aber er wich nicht zurück. »Deine Einwände verwirren mich«, sagte Starkhand. Er drehte die linke Hand herum, sodass die Klauen besser zur Geltung kamen. »Du hast über sie geherrscht. Das Rad des Schicksals hat sich 581 gedreht, und jetzt hast du sowohl das Gesetz als auch die göttliche Gunst verloren. Wieso ist das wider die Natur? An einem Tag mag es einem Wolf gut ergehen, und er reißt Schafe, am nächsten Tag wird er von den Speeren der Schäfer aufgespießt.« »Du kannst mich einen Sklaven nennen, aber ich werde dennoch der Graf des Mittellands bleiben.« Starkhand grinste und bleckte die Zähne. »Erling, knie nieder.« Erling tat es, das eine Knie auf dem Boden, das Gesicht gehorsam erhoben und demjenigen zugewandt, der über ihn herrschte. »Ich ernenne dich hiermit zum Grafen des Mittellands und Herrn von Wyscan.« Eadig begann zu protestieren, aber Starkhand fuhr mit der Spitze einer Klaue über sein Kinn, und der Mann
verstummte. »G-Graf ?«, stammelte Erling. »Ich hätte nie gedacht, dass... ein Gut, Herr, aber zum Grafen ernannt zu werden »Ich benötige loyale Männer, die herrschen, Erling. Du bist einer von ihnen. Ich bin nicht der Ansicht, dass es eine leichte Aufgabe ist. Ich erwarte von dir, dass du ein verantwortungsvoller Verwalter dieser Ländereien wirst. Die Reichtümer von Alba dürfen nicht verschwendet werden. Es gibt andere Männer, die das begehren, was du jetzt erhalten hast. Diene mir gut, und es wird dir wohl ergehen. Diene mir schlecht, und du wirst sterben.« »J-ja, Herr.« Der junge Mann war jetzt so weiß im Gesicht, dass das Brandzeichen sich tiefrot von seiner blassen Haut abhob. Seine Kameraden starrten ihn an, flüsterten miteinander und begannen, sich zu beäugen, als fragten sie sich, wem von ihnen ihr großzügiger Wohltäter wohl die größte Belohnung gewähren würde. »Nicht alle von euch werden mir gut dienen«, bemerkte Starkhand. »So ist die Natur der Menschen, wie ich herausgefunden habe. Aber ich herrsche über dieses Land, und jene, die ich erhoben habe, kann ich auch wieder zu Fall bringen.« »Nur solange du lebst.« Eadig spuckte Starkhand ins Gesicht. »Du kannst die Königin und ihren Rat nicht besiegen, und du kannst auch nicht Gottes Gunst erlangen.« »Lass mich ihn für dich töten!«, rief Erling und sprang auf. Starkhand beachtete den Speichel nicht. Er war so unbedeutend 582 wie Regen, auch wenn er wusste, dass die Menschen so etwas für eine tödliche Beleidigung hielten. »Edelmann Ediki, wie dient dieser namenlose Sklave uns besser - lebend oder tot?« Ediki dachte mit ernstem Stirnrunzeln über diese Frage nach, ganz, wie sie es verdiente. »Lebend, mein Herr, aber verkrüppelt. Wenn er blind ist, kann er keine Sklaven in eine Rebellion führen oder mit Waffengewalt gegen uns vorgehen.« »Also gut. Sorg dafür, dass ihm die Augen herausgenommen werden, Edelmann Erling. Er sollte die Operation möglichst überleben. Edelmann Ediki, begleite mich ein Stück. Wir brauchen Fackeln.« Es wurden Fackeln gebracht. Sie kletterten zurück auf den Wall, wobei sie darauf achteten, nicht auf die Leichen der albischen Soldaten zu treten. Es gab viele von ihnen. Eadigs Schreie zerrissen die Luft, und einen Augenblick roch Starkhand den sauren Gestank von verkohltem Fleisch. Er unterließ es, einen Blick zurückzuwerfen. Vierzig Aikha-Soldaten mit Fackeln begleiteten sie. Der ebene Pfad oben auf dem Wall teilte sich hier und da um eine Palisade oder einen Haufen Äste und Zweige, die zu einem Hindernis aufgeschichtet worden waren. Während die Nacht voranschritt und der Mond den Zenit erreichte, kamen sie an das nördliche Ende des Walls. Das Mondlicht war so hell, dass er die Landschaft überblicken konnte: Links von ihm erstreckte sich ein Mischwald nach Süden und Westen, aber im Nordosten fiel das Land zu einer weiten zinngrauen Fläche ab. Was er von diesem Ödland roch, war unbeschreiblich - süß, berauschend und mit einem schwachen Hauch Salz versehen. »Die Moore«, sagte Starkhand. »Da draußen wartet die Königin auf uns.« »Du wirst dich verirren, wenn du das Heer ohne Führer dort hineinmarschieren lässt«, sagte Ediki. »Du wirst dich verirren und sterben. Geister leben dort, die Seelen der Menschen, die dort ertrunken sind.« »Du hast als Junge in diesem Land gelebt.« »Ja, aber ich habe viel von dem Wissen verloren, das ich damals 583 hatte. Die Wasserläufe werden sich geändert und die sicheren Pfade werden sich verlagert haben.« »Die Königin hat ihren Weg in die Sicherheit gefunden.« »Das hat sie, mein Herr. Sie hat Verbündete und Sklaven, so wie du. Aber ich kenne welche, die uns vermutlich helfen werden. Ich habe Verwandte, die die albische Königin nicht mögen. Gib mir etwas Zeit, und ich werde sie finden.« »Wie viel Zeit? Je länger sie sich mir entzieht, desto stärker wird sie. Du kannst nicht Edelmann von Weorod bleiben, wenn die Königin von Alba zurückerhält, was sie verloren hat.« Ediki grinste, das war im Mondlicht leicht zu erkennen. Für einen Mann seines Alters hatte er kräftige, gerade Zähne - und noch nicht einen einzigen verloren. Das war bemerkenswert angesichts der vielen verheilten Striemen, die Starkhand an dem Tag auf Edikis Rücken gesehen hatte, als der Mann zu seinem Heer gestoßen war. »Bevor der Mond wieder voll ist, mein Herr, werde ich einen Führer ins Moor finden. Das verspreche ich. Aber die Königin ist mächtig, und ihre Zauberer sind gefährlich, wie meine Verwandten zu ihrem Kummer in jenen Tagen herausgefunden haben, als wir noch frei waren und über dieses Land geherrscht haben. Damals, vor langer Zeit.« Starkhand warf Zehnter Sohn einen Blick zu, der nahe genug bei ihnen stand, dass er jedes Wort verstehen konnte. Sein Nestbruder schüttelte die Standarte, und die Knöchelchen und Perlen erklangen, klapperten aneinander. »Ich habe keine Angst vor den Baumzauberern, und die solltest du auch nicht haben. Wir sind stark, die wir im Norden geboren wurden. Deine Familie wird in diesem Land wieder herrschen, wenn sie zu denen gehört, die
mir gut und treu dienen. Zeige mir, wie ich die Königin finden kann. Dies ist die erste Aufgabe, die ich dir und deinem Stamm stelle.« Ediki neigte den grau werdenden Kopf als Zeichen des Gehorsams und Einverständnisses; er wirkte ernst und zufrieden. Das tagelange Reisen und Kämpfen hatte ihn nicht ermüdet. »Es ist eine kleine Aufgabe verglichen mit den Jahren, in denen ich mich be584 müht habe, den Kopf aufrecht zu halten, obwohl ich ein Sklave war.« Mondlicht glänzte auf dem Wasser. Die Schönheit der halb sichtbaren Landschaft und die ruhige Nacht überschwemmten Starkhand wie eine ansteigende Flut. Es war so still. Die Landschaft war ihm ein Rätsel, eine pfadlose Ödnis aus Wasser und Schilf, die - trotz allem - ein Ort unzähliger Wunder war. Brachten die Geister der ertrunkenen Menschen das Wasser zum Glänzen, oder war es nur der Schimmer des Mondes? Lichter flackerten und blitzten und erstarben in den Schatten zwischen dem Riedgras und dem Schilf; jedes einzelne flammte einen Augenblick wie eine Kerze auf, ehe es wieder erlosch. Wie das Leben, dachte er. Sein eigenes Leben würde eine helle, kurzlebige Flamme sein, die so lange die Dunkelheit zerteilte, wie ein Blitz den Himmel entflammte, aber nicht mehr. »Was sind das für Lichter?«, fragte er Ediki. »Sie brennen einen Augenblick, und dann sind sie weg.« Der Edelmann von Weorod lächelte traurig, als er den Blick über das Land seiner Kindheit schweifen ließ. »Es sind die Seelen der Männer, die wir heute getötet haben. Sie suchen das Tor, das zur Anderen Seite führt, zum Land der Toten, wo die Wiesenblumen blühen.« 2 Ediki lenkte das Kanu einen Seitenkanal entlang in ein Labyrinth aus Riedgras und Schilf. Kleine, mit Gras oder niedrigem, weiß blühendem Weidengebüsch bewachsene Inselchen hoben sich wie die runden Buckel von Walen aus dem seichten Wasser. Durch dieses Gewirr glitten sie nun, Ediki am Heck des Kanus und sein Neffe Elafi am Bug. Sie hatten Elafi zehn Tage nach dem Angriff auf Grimmwall gefunden, und es hatte Edikis ganze Überredungskunst erfordert, den jungen Mann davon zu überzeugen, dass er genau der war, der 585 zu sein er behauptete. Am Ende hatte Starkhand zugestimmt, die Flüchtlinge im Sumpfland allein zu treffen. Nur unter dieser Bedingung hatte sich Elafi bereit erklärt, sie hinzuführen. Die Sonne ging gerade auf, als die zunehmende Mondsichel unterging. Die letzten Sterne verblassten, und der Himmel hellte sich allmählich auf. Der sanfte Hauch einer Morgenbrise fuhr leise wispernd durch das Schilf, wie das Gemurmel der Ertrunkenen. »Wir sind da, Onkel«, sagte Elafi, drehte sich um und grinste Ediki an. »Du bist ein bisschen langsam und nachlässig, aber du lenkst wie jemand, der im Moor aufgewachsen ist.« Das da erwies sich als nichts Spektakuläreres als ein breiter Hügel aus Riedgras und Schilf, der vor ihnen aus dem Wasser ragte. Aber Starkhand konnte riechen, dass hier Menschen lagerten. Das Kanu glitt an ein schlammiges Ufer, wo das Schilf zurückgeschnitten worden war; ansonsten war unmöglich zu erkennen, dass die Insel bewohnt war. »Da ist sie«, erklärte Elafi unnötigerweise, als eine kleine Frau mittleren Alters sich durch das Schilf drängte und am Strand stehen blieb. Schlamm quoll zwischen ihren Zehen hindurch. Sie starrte sie an und strahlte vor Freude. »Manda!« Ediki kletterte hastig aus dem Boot und lief auf die Frau zu. Er lachte, und sie packte ihn und drückte ihn kräftig an sich. Sie weinte. »Bruder. Bruder. Ich dachte schon, wir hätten dich verloren.« Elafi bedeutete Starkhand, ebenfalls aus dem Kanu zu klettern. Gemeinsam zogen sie das Boot an den Strand und verstauten es an einer Stelle, wo es nicht gesehen werden konnte. Ein halbes Dutzend schlichter Boote war im Schilf versteckt. Starkhand nahm seine Standarte und seinen Speer und folgte dem jungen Mann zum Lager, wo Ediki alle begrüßte, angefangen vom jüngsten Kind bis zum ältesten Erwachsenen. Dies war ein Flüchtlingslager, in dem etwa zwanzig Menschen lebten, die Hälfte von ihnen Kinder. Der stabilste Unterschlupf bestand aus einem Schuppen aus Holzscheiten mit einem Schilfdach, und die Menschen trugen Röcke und Umhänge aus raffiniert geflochtenem Gras. Es gab nur einen einzigen Kochtopf sowie Körbe 586 und geschärfte Stöcke, die als Fischspeere dienten. Und doch gab es jede Menge zu essen: gerupfte Enten und Wasserhühner, gehäutete Wühlmäuse und Hasen, ausgeweidete Flussbarsche, Plötzen und Hechte und unzählige glitschige Aale sowie Blüten und junge Blätter von den Frühlingsblumen. Ein Junge näherte sich mit einem Becher aus Bronze. »Willst du trinken, Geehrter?«, fragte er kühn. Starkhand sah den Becher nachdenklich an. Die Flüssigkeit, die darin dampfte, roch ganz und gar nicht angenehm. Ediki eilte mit seiner Schwester zu ihm. »Meine Verwandten bieten dir das Gastrecht an«, erklärte er. »Ich bitte dich, Herr, trink.« Er schenkte ihnen sein aufblitzendes Grinsen, in dem Wissen, dass sie ihn prüften. Er nahm den Becher und erhob ihn. »Ich bin allein gekommen, um euch ein Bündnis anzubieten«, sagte er und trank die Hälfte. Das
Gebräu lief die Kehle leichter hinunter, als er vermutet hatte, begleitet von einem Nachgeschmack, der so scharf auf seiner Zunge brannte, dass er vor Überraschung beinahe lachen musste. Aber stattdessen streckte er Manda den Becher mit dem Rest darin entgegen. Edikis Schwester trat zu ihm. »Ich bin Manda, die Großmutter dieses Clans. Ich heiße dich willkommen. Ich habe von dir geträumt, Drachenmann.« Sie war nicht schlank und muskulös wie ein Krieger; sie war untersetzt, sogar etwas pummelig, trotz des offensichtlichen Elends, das sie und ihr Clan erlitten hatten, und sie hatte die gleichen -kurz geschnittenen struppigen schwarzen Haare wie Ediki, nur das in ihren weniger Grau war. Auf den ersten Blick sah sie wie jede andere gewöhnliche Frau aus. Er bemerkte jedoch Autorität in ihrer Haltung, und an der Art und Weise, wie sich die anderen ihr fügten und sich zurückhielten, bis sie gesprochen hatte, erkannte er, dass sie die Anführerin war. Sie war ein geschärfter Speer, geschmiedet in einer Zeit der Not. Wie ein Speer besaß sie Gewicht und Gleichgewicht, und ihre Sicherheit war wie das scharfe Ende einer tödlichen Klinge. »Ich habe Träume«, erklärte sie ihm. »Ich habe geträumt, dass 587 ein Mensch kommen würde, der kein Mensch ist, und dass er in einem Schiff segeln würde, das kein Schiff ist, sondern ein Drache aus Holz. Die Göttin hat mir gesagt, dass dieser Mensch, der kein Mensch ist, mir meinen Bruder zurückbringen wird, der uns vor vielen Jahren weggenommen wurde. Die Göttin hat mir auch gesagt, dass ich ihm den Becher anbieten soll, der zwischen Verbündeten gereicht wird.« Sie nahm ihm den Bronzebecher ab und trank den Rest, zuckte angesichts der Schärfe zusammen und grinste dann fast ebenso wie zuvor er. Sie pfiff zwischen kräftigen Zähnen hindurch. Der Junge nahm ihr den Becher ab und zog sich zurück, damit sie allein mit Starkhand sprechen konnte. Sogar Ediki ging zurück in das Durcheinander des Lagers. Einige seiner Verwandten hängten sich an ihn, noch immer verwundert über sein Auftauchen, aber niemand sagte etwas. Sie sahen vielmehr einfach zu, als die Verhandlungen begannen. »Was willst du, Fremder?« »Ich möchte eure Hilfe, um die Königin von Alba aufzuspüren und zu töten und die Macht ihrer Baumzauberer zu vernichten. Wenn dies geschehen ist, werde ich über Alba herrschen und diejenigen belohnen, die mir geholfen haben.« Die Sonne stieg höher. Licht glänzte auf dem Wasser. Ein Schwärm Gänse flog über sie hinweg, schrie so laut, dass Manda wartete, bis sie vorüber waren, ehe sie sprach. »Du wirst ihre Macht niemals zerstören können. Ihre Magie ist sehr stark. Sie hat uns besiegt, hat meinem Volk vor langer Zeit den Anspruch auf dieses Land streitig gemacht und vor wenigen Monden mich und meinen Clan verjagt. Die Königin und ihr Heer haben uns von der heiligen Insel vertrieben, auf der wir seit dem Anbeginn der Zeit als Hüter gelebt haben. Meine Mutter war eine Hüterin. Das Recht auf das Land und die Ehre der Hüterschaft hat sie von ihrer Mutter erhalten, und die wiederum von ihrer, bis zurück in die früheste Zeit. Es gibt dort genug Land, um ein bisschen Korn anzubauen und eine große Herde Schafe und Gänse zu halten. Das ist alles weg. Wie du siehst, haben sie uns von dort vertrieben.« 588 Sie deutete auf das behelfsmäßige Lager, die primitiven Unterkünfte, die offenen Feuerstellen, die zerlumpten Kinder. Sie hatten nicht viel mitgenommen auf ihrer Flucht. Aber sie wirkten nicht hungrig und verzweifelt. »Du kommst mit einem Heer«, sagte sie. »Willst du sie angreifen?« »Sollte ich das tun?«, fragte er zurück. »Auf dem Landweg? Nein. Ihr würdet alle im Moor sterben.« »Was ist, wenn wir vom Meer aus heransegeln?« »Es ist schwierig, jenen Ort vom Meer aus zu erreichen. Das Wasser ist seicht. Die Baumzauberer werden Nebel aufkommen lassen, um euch zu verwirren.« »Unsere Schiffe können auch in flachem Wasser segeln. Die Magie der Zauberer wird uns nicht behindern. Aber wir kennen den Weg nicht, der vom Meer zu diesen Inseln führt.« Zu seiner Überraschung zuckte sie mit den Schultern. »Selbst ich weiß nicht, welche Flüsse ins Schwemmland führen und wie sie sich durch das Moor schlängeln. An der Küste leben einige Menschen, die es wissen, aber genau diese Clans haben die Königin zur heiligen Insel geführt. Sie werden uns nicht helfen. Sie machen gemeinsame Sache mit den Alben.« »Ohne Hilfe werden unsere Schiffe sich im Sumpfland verirren, nicht wahr?« Sie legte die Hände um den Mund und ließ einen Ruf erklingen. Ein zweiter Ruf antwortete aus der Ferne, von irgendwo zwischen dem Riedgras und dem Schlamm. »Das ist mein anderes Kind, Ki. Sie ist die Tochter meiner Schwester - und jetzt meine Tochter. Du kannst sie nicht sehen, und das können auch die Weißhaarigen nicht. Um im Moor zu jagen, brauchst du einen Führer.« »Ich brauche Führer für mein Heer, und ich brauche eine Hüterin für die heilige Insel.« Ihr Lächeln blitzte kurz und heftig auf, aber ihre Miene blieb ernst. »Gib mir den heiligen Anspruch auf die Insel zurück, der meinem Clan vor langer Zeit übertragen wurde, und ich werde dir helfen. Aber wenn du nur Versprechungen machst und mich be589
friedlich - ein Mann, der sich mehr für Taten interessierte als für Worte. Ein guter Soldat, ein hervorragender Anführer und ein loyaler Prinz. Hugh hatte ihn nach seinem Jahr als Gefangener von Blutherz mit dem Titel »Prinz der Hunde« verhöhnt, und es lag eine gewisse Wahrheit in dem Namen. Aber sie wusste nicht, was er jetzt war. Er hatte vier Jahre ohne sie gelebt, Jahre, die für sie kaum mehr als eine Woche gewesen waren. »Ich weiß nicht, wie sehr er sich verändert hat, während ich in den Sphären gewandelt bin.« »Es ist am besten, man trennt sich von einem Pura, wenn er unberechenbar und gefährlich geworden ist.« »Das ist bei uns nicht Brauch. Er benötigt Zeit, sich von seiner Verletzung zu erholen.« Von seiner Wut. Die Schamanin stellte die Ohren auf. Sie erreichten den Hügel und drehten sich um, sodass sie auf das Lager der Zentaurinnen blicken konnten, das sich am Grund einer Mulde befand. »Wie kann ich meine Tochter retten?«, fragte Liath. »Sie ist bei der Trennung der Verbindung nicht gestorben. Daraus müssen wir Hoffnung schöpfen, dass sie sich davon erholen kann.« »Sie muss essen und trinken, wenn sie überleben will.« »Es ist möglich, sie eine Zeit lang mithilfe von Zauberei zu ernähren.« »Mein Vater hat gesagt, dass sich eine Raupe in einem Kokon in einen Schmetterling verwandelt. Es ist ein magisches Binden aus sich selbst heraus. Könnte Zauberei sie verändern?« »Ich weiß es nicht. Aber wenn wir sie nicht aufwecken können, ist es vielleicht die einzige Möglichkeit, sie am Leben zu erhalten, bis wir herausfinden, wie wir sie heilen können.« Liath seufzte. Im Osten fiel das Gelände zu einem Tal ab; der Fluss in der Ferne flimmerte, als das fließende Wasser im Sonnenlicht aufblitzte. In riesigen Windungen bahnte sich der Fluss seinen Weg durch das Gras. Weiter östlich leuchteten die Felsen, als das Sonnenlicht des Nachmittags auf ihnen spielte und Farbschnipsel einfing. Als sie nach Westen blickte, blendete die Sonne sie, doch mit zusammengekniffenen Augen konnte sie eine hügelige Landschaft erkennen. 592 »Steigt da Rauch auf?«, fragte sie und deutete auf graue Säulen, die sich gen Himmel erhoben. Die Schamanin musste die Augen nicht zusammenkneifen, um zu erkennen, was Liath meinte. »Dort lagert Prinz Sanglants Heer.« »Er hat ein Heer bei sich ? Woher hat er es ? Wie lange dauert es, von hier zurück nach Wendar zu reisen?« »Viele Monate, nehme ich an.« »Er hat über eine so weite Entfernung ein Heer mitgenommen? Wie ist das möglich? Er muss viele Verluste erlitten haben, sowohl an Menschen als auch an Tieren.« »Das weiß ich nicht. Darüber haben wir nicht gesprochen.« »Nein«, sagte Liath. Sie fragte sich, was Li'at'dano stattdessen mit Sanglant besprochen hatte oder ob sie überhaupt irgendetwas mit ihm besprochen hatte. »Wir müssen seine Leute benachrichtigen, dass wir hier sind. Wieso hat er sein Heer verlassen und sich allein ins Grasland aufgemacht?« »Um die Bestie zu jagen.« »Die Greifen?« »Nein. Den Mann. Den Mörder. Aber auch Greifen. Er sucht Greifenfedern und Zauberer, um gegen diese >Sieben Schläfer< zu kämpfen, von denen auch Ihr gesprochen habt. Er hat gehofft, beides hier im Grasland zu finden.« »Und hat er sie gefunden?« »Er hat Euch gefunden, und er hat mich gefunden und jene, die unter meinem Schutz stehen. Und was die Greifen betrifft...« Sie deutete zum Himmel, wo einer oder beide Greifen kreisten, die nicht willens waren, Liath aus den Augen zu lassen. »Da sind sie.« Sie gingen wieder hinunter ins Lager der Zentauren. Das größte der runden Filzzelte stand in der Mitte, während die übrigen sich in einem spiralförmigen Muster anschlössen. Die Zentauren reisten mit leichtem Gepäck; trotz ihrer großen Zahl zählte Liath nur zwanzig Zelte, von denen zehn wie ein schützender Pferch den äußersten Ring bildeten. Es sah jedoch nicht so aus, als ob die Zentaurinnen niemanden hinaus- oder hereinlassen wollten, abgesehen von Wölfen. 593 Die Zentaurinnen hatten auch einige ihrer kerayitischen Verbündeten mitgenommen, darunter auch die Heilerin, die sich um Sanglant kümmerte, und zwei Dutzend Wagen, die zum größten Teil von Ochsen gezogen wurden. Nur zwei waren so gebaut, dass die Zentauren sie selbst ziehen konnten. Die meisten Wagen standen im äußersten Ring und bildeten so ein Hindernis. Einer jedoch, leuchtend bemalt und gebaut wie ein kleines Bauernhaus auf Rädern, stand neben dem Zelt in der Mitte, in dem Gnade schlief und Sanglant sich erholte. Es gab auch Pferde - richtige Pferde -, aber sie wurden getrennt gehalten und sowohl von den Zentaurinnen als auch ihren menschlichen Verbündeten beaufsichtigt. Ganz in der Nähe waren einige Männer damit beschäftigt, Schafe zu scheren und die ungewaschene Wolle in riesigen Lederbeuteln zu sammeln. Als Liath und die Schamanin das Lager betraten, blickten einige Zentaurinnen Liath neugierig an, näherten sich aber nicht. Ein paar junge Zentaurinnen folgten ihren Muttertieren, und ein halbes Dutzend Fohlen ebenfalls, die immer wieder die Zitzen der Zentaurinnen anstupsten. Sämtliche erwachsenen Zentaurinnen trugen Bögen auf
dem Rücken und einen Köcher voller Pfeile. Drei Frauen kochten Schafseintopf in einem Eisenkessel, der über einem Herdfeuer hing; eine andere polierte Fußbänder und Lederkapuzen für Hühnerhabichte, während ihre Kameradin einen Käfig flickte; zwei klopften Wolle, während wieder andere die geklopfte Wolle mit kochendem Wasser übergössen - Vorbereitungen für die Herstellung von Filz, mit dem sie ihre Zelte bedeckten und aus dem sie ihre Teppiche und Teile ihrer Kleidung herstellten. Fünf Männer waren damit beschäftigt, Milch in einem Fass umzurühren; die Milch schäumte. Der herbe Geruch brannte in Liaths Nase. Plötzlich begriff sie, wie hungrig sie war. »Kommt«, sagte die Schamanin. »Es gibt noch eine, die Ihr treffen müsst, denn wir zwei sind nicht genug, um jene zu besiegen, die sich uns in den Weg stellen.« »Dann sind wir also Verbündete? Das habt Ihr bisher noch nicht gesagt.« »Wenn wir keine Verbündeten wären, würdet Ihr nicht neben 594 mir hergehen, und ich auch nicht neben Euch. Ich bin nicht so dumm, mich und mein Volk gegen jemanden zu stellen, der sogar von den Greifen gefürchtet wird. Ihr seid nicht so wie andere Menschen, Strahlende. Euer Vater hat Euch die Gestalt gegeben, die von den Menschen benutzt wird, aber Euer Herz und Eure Seele sind in den Himmeln geboren worden.« »Es stimmt, dass es für mich in keiner dieser Welten leicht ist, weder hier noch dort. Es ist nicht leicht, eine Wahl zu treffen. Ich kann nicht beides haben.« »Dann habt Ihr bereits gewählt.« Sie blieben vor dem bemalten Wagen stehen. »Hier lebt meine Schülerin. Sie hat ihr Glück getroffen, und so muss sie sich nun vor jenen verbergen, die nicht zu ihrer Familie oder ihren Sklaven gehören. Aber ich nehme an, Ihr steht jenseits solcher irdischen Verbote. Ihr beide müsst Euch treffen. Geht hinein.« »Ich möchte keine Verbote überschreiten, wenn dadurch jemand anderem Schaden zugefügt wird.« Li'at'dano lachte; es klang eher wie ein Schnauben. »Sorgatani wird kein Schaden zugefügt werden, sondern nur denjenigen, die von ihrer Macht heimgesucht werden. Ich glaube, Ihr seid mächtig genug, dass Euch nichts geschehen wird.« Liath lachte. Ein seltsames Gefühl von Heiterkeit überkam sie. »Dann bete ich, dass Ihr Recht behaltet.« Sie verspürte keine Angst, lediglich Neugier, als sie die Stufen zu dem hohen Wagen hinaufstieg. Bevor sie an die Tür klopfen konnte, öffnete sich diese bereits und glitt zur Seite. Liath duckte sich und trat über die Schwelle. Sie rechnete damit, sich beengt zu fühlen, aber hier war Magie am Werk, prickelte bis tief in ihre Knochen. Das Innere des Wagens war deutlich größer, als es von außen den Anschein hatte. Es gab keine andere Möglichkeit, die Geräumigkeit der Kammer zu erklären, die sich ihrem überraschten Blick bot. Sie erinnerte an das Innere eines runden Zeltes. Die Ecken verloren sich im Schatten, und möglicherweise existierten sie auch gar nicht wirklich. Wände flatterten in der Brise, blähten sich auf und sanken wieder in sich zusammen, obwohl sie hätte schwören können, dass sie aus 595 Holzplanken bestanden. Streben stützten das runde Filzdach; sie gingen von einem Pfahl in der Mitte aus, der kerzengerade war und durch ein Rauchloch stieß. Liath war ganz sicher, dass sie von außen keinen Pfahl aus dem Dach des Wagens hatte ragen sehen. Der Himmel, den sie durch das Rauchloch erkennen konnte, hatte einen grauen Schimmer und war mit wandernden Funken gesprenkelt, wies also nicht das kräftige Blau des freien Himmels auf. Links im Zelt stand ein eingebautes Bett mit einer Kiste am Fußende. Darauf - an allen Seiten ordentlich unter die Matratze geklemmt - lag eine farbenprächtige Filzdecke, die kunstvoll mit leuchtenden Tieren verziert war einem goldenen Phönix, einem silbernen Greifen und einem roten Hirsch. Teppiche und zwei Kissen vervollständigten das Mobiliar, denn ansonsten war diese linke Seite des Zeltes leer. Hinter dem Pfosten in der Mitte stand ein Altar mit einem goldenen Becher darauf, der bis zum Rand mit Öl gefüllt war und dessen Oberfläche brannte. Außerdem sah sie einen Spiegel, in dessen Griff Gold und Perlen eingelassen waren, eine silberne Handglocke und eine zugestöpselte Flasche. Neben dem Altartisch stand ein tragbarer Ofen. In der Kohlenpfanne glühten Kohlen, und daneben stand ein Bronzefass auf einem flachen Stein, gefüllt mit leicht qualmender Asche. Eine junge Frau hockte neben der Kohlenpfanne, in der rechten Hand eine Eisenschaufel für die Asche; sie starrte Liath an, wie man einen Bullen mustern mochte, der mitten im Gebet in eine Kirche platzte. Eine zweite, sehr viel ältere Frau stand neben einer hohen Bank; sie hielt in ihrer Tätigkeit inne, eine weiße Flüssigkeit in zwei Becher zu gießen. Sie hatte einen wunderschönen, doppelschnauzigen Wasserkrug aus Silber in der Hand, wobei die Schnauzen jeweils von dem Hals, dem Kopf und dem geöffneten Maul eines Kamels gebildet wurden. »Ihr werdet die Strahlende genannt, weil Ihr leuchtet.« Liath sah sich um, suchte die Quelle der Stimme. Die dritte Person im Raum saß auf einem breiten Sofa. Ein über die Pfosten an den vier Ecken gespanntes Gazenetz aus schönster, durchsichtiger Seide verhüllte sie und das Sofa. Neben diesem Sofa befand sich eine hohe Truhe, die kunstfertig zu einem Regal mit großen und kleinen Schubladen gearbeitet worden war, jede ein596
zelne liebevoll mit Geweih tragenden Hirschen und hochmütigen Widdern bemalt. Daneben lag auf einem Holzstamm ein wunderschöner Sattel, dessen Überwurf bis zum Teppich hinabhing; die silbernen Ornamente im Rahmen und auf der Sitzfläche blitzten im rauchgeschwängerten Licht. Ein Zügel war achtlos über den Zwiesel geworfen worden. »Trinkt mit mir.« Ihre Stimme klang hell und lebhaft, aber fest. Sie bedeutete Liath, näher zu treten. Liaths Schritte erzeugten keinerlei Geräusch auf dem Teppich, der über einer gewebten Grasmatte ausgebreitet worden war. Als sie sich näherte, schob die Frau den Gazeschleier etwas beiseite, sodass Liath sich auf ein besticktes Kissen am anderen Ende des Sofas setzen konnte. Liath hatte nie Schwierigkeiten gehabt, im dämmrigen Licht etwas zu erkennen, aber der Hauch von Zauberei vernebelte ihre Sehfähigkeit; sie konnte keinen klaren Blick auf das Gesicht der Frau werfen, obwohl sie kaum mehr als eine Armeslänge von ihr entfernt saß. Die Frau trug ein Gewand aus goldener Seide. Schmuck glänzte im dämmrigen Licht: ein hoher, mit Gold versehener Kopfschmuck, an dem Bänder aus Perlen und Filigranarbeiten aus Gold hingen, sowie bis zu den Schultern herabhängende Ohrringe, die geschwungen waren wie Schilfboote und an etwa einem Dutzend Ketten baumelten. Wann immer sie sich bewegte, klirrten die Ohrringe leise, und die Filigranarbeiten aus Gold raschelten. Die ältere Dienerin gab ebenfalls klimpernde Geräusche von sich: Sie trug Fußkettchen und Armbänder mit winzigen Glöckchen daran und Silberohrringe, die tanzten und sangen, wenn sie sich rührte. Sie kam mit dem Silberkrug und goss ihnen aus dem Maul des Kamels von dem berauschenden Gebräu ein, das einen scharfen, stechenden Geruch verströmte. Als Liath davon trank, stieg ihr das Getränk sogleich zu Kopf. »Ihr seid diejenige, die den Namen meiner Lehrerin trägt«, bemerkte die andere Frau. »In meiner eigenen Sprache werde ich Liathano genannt.« Die andere Frau versuchte sich einige Male an dem Wort, konnte aber die weichen Konsonanten nicht hervorbringen. Schließlich lachte sie, erheitert über ihre Bemühungen. 597 Liath stimmte in das Lachen ein und sagte dann: »Ihr heißt Sorgatani.« »Ja, so heiße ich. Auch ich bin nach einer benannt, die vor mir war. Weil sie in dem Jahr gestorben ist, in dem ich geboren wurde, sind ihr Name und ihre Seele auf mich übergegangen.« »Steigen die Seelen Eures Volkes denn nicht zum Fluss des Lichts auf?« »Sie bleiben auf der Erde. Seelen durchlaufen mehrere Leben. Wir werden wieder und wieder in die Welt hier unten geboren. Kennt Euer Volk diese Wahrheit denn nicht?« Liath schüttelte den Kopf. »Ich habe vor kurzem vieles gesehen, sodass ich die Welt oben und unten mit ganz anderen Augen betrachte. Aber es stimmt, dass mein Volk nicht das Gleiche glaubt wie Ihr. Der Herr und die Herrin warten in der Kammer des Lichts, die jenseits der Welt dort oben existiert. Dorthin steigen unsere Seelen nach unserem Tod auf, um in Frieden und Harmonie mit Gott zu leben.« »Das ist sehr seltsam«, erwiderte Sorgatani. Sie schwieg, dann brach sie in fröhliches Gelächter aus. »Was tun Eure Seelen in dieser Kammer des Lichts? Tanzen sie? Essen sie? Finden sie Vergnügen im Bett? Reiten und jagen sie?« Eine Kirchenfrau hätte sich durch diese Fragen beleidigt fühlen können, aber Liath schloss daraus auf einen Verstand, der ihrem nicht unähnlich war. »Was diese Fragen betrifft, herrscht Uneinigkeit zwischen den Kirchenmüttern. Einige sagen, dass nur unsere Seelen in der Kammer des Lichts existieren können, dass wir uns in der ewigen Glückseligkeit, die die Anwesenheit Gottes bedeutet, auflösen würden. Andere sagen, dass unsere Körper vollständig wiederhergestellt würden, dass wir mit unseren Körpern in der Kammer des Lichts sein würden, aber ohne jeden Makel der Finsternis. Der Feind wird in der Kammer des Lichts nicht Fuß fassen können.« »Wenn Eure Körper wiederhergestellt sind, was esst Ihr dann? Wer ernährt diesen riesigen Stamm?« »Gott sind die Nahrung, mit der die Gesegneten genährt werden.« 598 »Werden Gott dann nicht verzehrt?« »Nein. Gott haben keine materielle Substanz, nicht so wie wir.« »Ich gebe zu, ich bin verwirrt. Wer ist dieser Feind?« »Finsternis und Verdorbenheit.« »Aber Finsternis und Verdorbenheit gibt es überall. Sie sind ein Teil der Erde. Wie kann ein Ort existieren, an dem es dies alles nicht gibt? Ist dann dieser Feind der Grund, weshalb die Menschen böse Dinge tun?« »Nein, ganz und gar nicht. Wir leben unser Leben gemäß unserem freien Willen. Finsternis ist in die Welt gekommen, aber es ist an uns, zwischen dem, was gut ist, und dem, was böse ist, zu wählen. Wenn Gott es anders gemacht hätten, wenn wir nicht das Böse wählen könnten, wären wir Sklaven, ein Instrument in der Hand Derer, die uns in Bewegung gesetzt haben<, um den heiligen Daisan zu zitieren.« »Wer ist dann für das Böse verantwortlich?« »Die Finsternis ist aus den Tiefen aufgestiegen und hat die vier reinen Elemente verdorben.« »Das ist doch gewiss unmöglich. Die Welt hat immer genau so existiert, wie sie vor langer Zeit vom Großen Gott erschaffen wurde. Die Finsternis ist ein Teil der Schöpfung gewesen, nicht die Grundlage für das Böse.« »Was glaubt Ihr dann, wer für das Böse verantwortlich ist?«
»Es gibt viele Geister in der Welt oben und in der Welt unten, und einige von ihnen sind boshaft oder gar böse. Sie suchen uns mit Krankheiten und Unglück heim, und so müssen wir uns vor ihnen schützen.« »Was ist mit dem Bösen, das die Menschen einander antun?« »Gibt es dafür nicht Antworten genug? Gier, Begierde, Wut, Neid, Angst. Verwandeln diese Gefühle sich nicht in Böses, wenn sie in den Herzen der Menschen zu schwären beginnen ?« Liath lachte. »Dagegen kann ich nichts einwenden. Dieses Getränk hat mir die Zunge gelöst und macht mich etwas schwerfällig. Ich habe seit vielen Tagen nichts gegessen.« »Kein Gast unseres Stammes soll Hunger leiden!« Sorgatani klatschte in die Hände. Die jüngere Dienerin brachte 599 ein Holztablett und stellte es vor Liath ab. Drei Emailleschüsseln enthielten Joghurt, in Fett geschmorte Klöße und eine scharfe Gerstengrütze. Die beiden Dienerinnen zogen sich zurück; die Glöckchen klingelten und verklangen, als sie sich mit gesenkten Köpfen neben die Schwelle hockten. Sorgatani wandte den Blick ab, während Liath aß, die sich zwang, das Mahl nicht hinunterzuschlingen. Als sie fertig war, räumte die Dienerin das Tablett wieder ab. »Ich bitte Euch um Entschuldigung, wenn meine Fragen Euch beleidigt haben sollten«, sagte Sorgatani. »Ihr seid mein Gast. Wir kennen einander nicht.« »Nein, Ihr müsst Euch nicht entschuldigen. Wie der heilige Daisan geschrieben hat, ist es hervorragend, wenn jemand Fragen zu stellen weiß<.« Die ältere Dienerin füllte Liaths Becher nach, und sie trank, genoss den Nachgeschmack, der an Mandelmilch erinnerte. Das vergorene Getränk überflutete ihre Glieder mit Wärme und führte dazu, dass der durch den Rauchabzug sichtbare Himmel sich langsam drehte, so wie eine Sphäre sich um ihre eigene Achse drehte. Sie und Sorgatani waren dabei die Achse, und die ganze Welt drehte sich um sie herum, oder aber sie selbst drehten sich - es war schwer zu sagen. »Wie kommt es, dass Ihr so gut Wendisch sprecht?« Sorgatani leerte ebenfalls einen zweiten Becher. »Menschen werden mit einem Geschick geboren, das sie während ihres Lebens entweder zum Glück oder zum Unglück führt. Wir Schamaninnen unseres Volkes haben so viel Macht, dass in unserem Körper kein Platz mehr für dieses Geschick ist, und daher wird es im Körper einer anderen Person geboren. Mein Glück, wie wir dieses Geschick auch nennen, wurde im Körper einer Frau des wendischen Volkes geboren. Weil ich sie in meinen Träumen sehe, verstehe und spreche ich ihre Sprache.« »So etwas habe ich noch nie gehört. Ist es üblich, dass das Glück einer kerayitischen Schamanin in einer Fremden geboren wird?« »Unser Glück wird dort geboren, wo das Schicksal es hinverschlägt und wo unser Weg liegt. Es ist mein Schicksal, dass mein 600 Weg im Westen liegt und mit dem Eures Volkes verbunden ist. Ich glaube, Ihr kennt sie, denn sie spricht in ihren Träumen von Euch. Sie heißt Hanna -« »Hanna!« Liath hatte Hanna seit Werlida nicht mehr gesehen seit sie mit Sanglant vor Henrys Zorn geflohen war. »Wisst Ihr, wo sie ist? Oh, noch besser, ich werde sie suchen. Gibt es hier ein Feuer, in das ich schauen könnte?« Sorgatani hob eine Hand, und die ältere Dienerin brachte den Silberbecher auf dem Tablett herbei, auf dem zuvor die Schüsseln gestanden hatten. Liath legte eine Hand auf die schimmernde, brennende Oberfläche, die so weich war wie Wasser, das von einigen Feuerwellen berührt wurde. Mit Leichtigkeit trieb sie einen Pfad durch die Flamme und suchte Hanna. Sie fand nur das funkelnde, blauweiße Flackern des brennenden Steins, als wäre Hanna im Tor gefangen und würde über die alten Pfade zwischen den Steinkronen wandeln. »Wie ist das möglich?«, flüsterte sie. Schatten tanzten und verklangen, machten sie benommen. Dann fand sie sich in Sorgatanis Zelt wieder. Das Öl in dem Becher war verbrannt und enthüllte auf dem Grund ein erstaunliches Rad aus Pferdeköpfen, die sich wie eine Windmühle drehten, wobei einer hinter dem anderen herjagte, bis sie begriff, dass sie auf ein in das Silber eingearbeitetes Muster starrte. Sie ließ den Becher los. Das Klirren winziger Glocken verkündete das Nahen der älteren Dienerin, und der Becher verschwand. »Sie wandelt nicht auf der Erde«, sagte Liath, überrascht, dass sie überhaupt sprechen konnte. Die Anstrengung hatte sie ermüdet, und Hannas Schicksal lastete wie eine unglaublich schwere Bürde auf ihr. Hanna war ihr Nordstern, der einzige feste Punkt in einer unruhigen Welt. »Ich hoffe, sie ist nicht tot.« »Sie wandelt zwischen den Kronen«, sagte Sorgatani leichthin, als wäre das Wandeln zwischen den Kronen keine größere Tat als ein morgendlicher Spaziergang am Fluss. »Wer außer den Sieben Schläfern weiß sonst noch vom Geheimnis der Kronen?« 601 »Eine Frau, glaube ich, die von Hanna aus einem tiefen Loch gerettet wurde, das Ihr Kerker nennt. Jetzt wandeln sie zwischen den Kronen, um ihren Verfolgern zu entkommen. Sie ist in Sicherheit.« »Was ist das für eine Frau?« »Ich weiß nicht, wie sie heißt. Eure Namen sind so verwirrend und schwer auszusprechen.«
Liath unterdrückte ihre Enttäuschung. Dies war nicht der Zeitpunkt, ihre Verbündeten gegen sich aufzubringen. »Habt Ihr eine Möglichkeit herauszufinden, wie lange sie noch in Sicherheit ist?« »Nur die Geheiligte kann in beide Richtungen durch die Zeit sehen. Sie kann über große Entfernungen sehen und durch den Schleier der Zeit das Herz des brennenden Steins erkennen. Könnt Ihr das nicht?« »Ich kann durch Feuer sehen, aber nicht in das Herz der Kronen. Ich habe kurze Blicke auf die Vergangenheit und die Zukunft erhascht, als ich durch den brennenden Stein gewandelt bin, aber dieser Anblick ist mir hier auf der Erde verwehrt.« »Was heißt es dann, durch Feuer zu sehen?« »Es ist eine Gabe jener, die in meinem Land den Eid als Adler geschworen haben. Sie können Menschen und Orte durch Feuer sehen. Die Adler sind Boten des Herrschers. Auf diese Weise können sie auch die Augen und Ohren des Herrschers sein.« »Könnt Ihr mir diese Zauberei beibringen? Oder ist sie verboten?« Ihre Stimme wurde wehmütig. »Es gibt noch so viel, was ich gerne lernen möchte, aber es ist mir so viel verboten. Wir leben unter dem Schutz des Pferdevolkes. Sie sind immer unsere Verbündeten und unsere Mütter gewesen, unsere Wächterinnen.« Sie verlagerte ihr Gewicht auf dem Sofa, glättete eine kleine Erhebung in dem bestickten Kissen, auf dem sie saß, und rückte etwas näher zu Liath heran. »Ich weiß, ich bin ungeduldig. Ich hoffe, dass mein Schicksal mich eines Tages nach Westen führt, wo ich neue Dinge sehen werde.« »Seid Ihr eine Gefangene?« Plötzlich war das Zischen des brennenden Öls das einzige Geräusch, gerade so, als hätte sich eine alles dämpfende Decke über 602 sie gesenkt. Vom Lager draußen, das durch die Wände sicherlich zu hören sein musste, vernahm sie hingegen nichts. Es war, als hätte Magie sie dem normalen Lauf der Welt entrissen und mitten in ein Labyrinth gestoßen, in dem Sichtbares und Geräusche verändert und gekrümmt worden waren, sodass sie eine Speerlänge von ihren Kameraden entfernt stand und doch durch eine Mauer aus Stein oder einen Schleier aus Zauberei vollkommen getrennt von ihnen war. »Ich bin eine Gefangene meiner Macht.« Sorgatani sprach mit der gleichen nüchternen Stimme, mit der die Verwalterin eines Gutes verkünden mochte, welches Vieh zum Schlachten im Novarian bestimmt war. »Das Pferdevolk ist immun, ebenso wie meine Blutsverwandten und die anderen Schamanen. Jene, die mir dienen, sind durch Magie an mich gebunden, damit sie in meiner Anwesenheit nicht leiden.« »Mir ist nichts geschehen.« »Ihr seid wie ich. Ihr besitzt eine Seele, die Euch von einem anderen Wesen übertragen wurde. Ich habe meine von meiner Tante erhalten. Ihr habt Eure von einem Wesen aus Feuer bekommen.« »Habt Ihr mit eigenen Augen das Schicksal gesehen, das die gewöhnlichen Menschen erleiden, die in die Gegenwart einer Schamanin gebracht werden?« »Nein. Dieses Wissen habe ich von meiner Lehrerin.« »Ist es überprüft worden? Wenn Ihr es nicht selbst gesehen habt, woher wisst Ihr dann, dass es stimmt und nicht nur ein Aberglaube ist?« Sorgatani lachte schmerzlich. »Was ist, wenn es wahr ist, Liathano? Soll ich in ein Lager von Fremden gehen, ohne mich darum zu kümmern, dass ich Leuten, die ich nicht kenne, den Tod bringen könnte? Es gibt in unserem Stamm Geschichten darüber, wie eine kerayitische Schamanin einen ganzen Stamm vernichtet hat, der Krieg gegen uns geführt hat, indem sie um die Mittagszeit in das feindliche Lager gegangen ist. Jede einzelne Seele ist gestorben, und der Stamm ist von der Erde und aus dem Andenken verschwunden. Ich wage nicht, ein solches Risiko einzugehen. Ich will Wissen erlangen, nicht den Tod bringen. Ich bin keine Kriegerin.« 603 »Ich bin auch keine Kriegerin, und doch muss ich manchmal kämpfen. Nach allem, was ich gesehen habe, wünschte ich, ich wäre nicht mitten in einen Krieg zurückgekehrt, denn es gibt noch so vieles zu lernen und zu erfahren. Dieser Krieg kommt mir wie eine Wüste vor, ein unfruchtbares Ödland. Und dennoch muss ich sie durchqueren.« »Ihr sprecht wie mit meinem eigenen Herzen.« Sorgatanis Ohrringe klimperten, als sie sich auf dem Kissen bewegte. Ihre Worte waren zurückhaltend, die Worte einer Frau, die sich scheute, ihre tiefsten Gefühle preiszugeben, weil sie niemals eine enge Gefährtin gehabt hatte, sondern nur die Kameradschaft der Pflicht kennen gelernt hatte, den Schutz von Mächtigeren und die unausweichliche Aussicht, ein Leben in Einsamkeit zu führen, wenn sie ihre Macht erst richtig erlangt hatte. Macht ängstigte jene, die sie nicht besaßen, und dies mochte umso mehr so sein, wenn sie sich im Körper einer ansonsten gewöhnlichen Frau verbarg. »Ihr müsst einsam sein«, sagte Liath. Die Erinnerung an die bittere Einsamkeit, die sie mit ihrem Vater erlebt hatte, als sie all die Jahre Flüchtlinge gewesen waren, war noch immer so lebendig wie damals. Man konnte unmöglich Vertrauen aufbringen, wenn man immer weglief. Es war schwer, Leuten die Hand zu reichen, die man schon bald wieder hinter sich zurücklassen musste und niemals wieder sehen würde. Die Jahre in Friedleben waren das letzte Geschenk ihres Vaters an sie gewesen, und gerade weil er ihr diese kostbare Erholung gegönnt hatte - die Zeit, freundschaftliche Bande mit Hanna und Ivar zu knüpfen -, hatte er den Tod gefunden. Er hatte
seinen Feinden die Gelegenheit gegeben, ihn zu ergreifen, weil er seine Tochter hatte glücklich machen wollen. Spontan streckte Liath die Hand aus. »Wir sind uns sehr ähnlich, Ihr und ich. Wir könnten Schwestern sein.« Sie nahm die dunkle Hand der anderen Frau. Ein Blitz zuckte dort auf, wo sie sich berührten. Ein Knall wie ein Donnerschlag betäubte Liath, und sie zuckte zusammen. Die Dienerinnen sprangen auf, die Glöckchen klingelten, aber Liath kümmerte sich nur um ihre Hand. Als die Tränen versiegten und 604 sie genügend Mut aufbrachte, drehte sie die Hand um und musterte sie. Rote Blasen brodelten auf der Haut. Es brannte unglaublich. »Ich bitte Euch, vergebt mir!« »Nein, Ihr müsst mir vergeben.« Sorgatani klang, als wäre sie den Tränen nahe. Sie gab ihren Dienerinnen einen Befehl, und die ältere eilte zur Truhe und brachte eine kleine Lederflasche. Sie verbeugte sich tief vor Liath und strich ihr eine süßlich riechende Salbe auf die Wunde, als Liath die verbrannte Hand ausstreckte. »Ich hätte Euch davor warnen sollen, mich zu berühren«, fuhr Sorgatani fort. »Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass Ihr so nah bei mir sitzt. Wenn ich mir etwas wünschen könnte, dann, dass Ihr mich nicht verlassen werdet, nun, da Ihr die Wahrheit kennt. Da Ihr seht, wie es ist.« »Ich sehe, wie es ist«, sagte Liath verwundert. Sie hob den Blick. Die Wunde hatte den Schleier aus Zauberei aufgelöst, der die Kerayitin bisher verhüllt hatte. Sie konnte Sorgatani jetzt ganz deutlich sehen - eine hübsche, mandeläugige Frau, nicht älter als sie selbst, mit schwarzen Haaren, die ordentlich zu Zöpfen gebunden waren. Sie hatte breite Wangenknochen in einem ovalen Gesicht und eine dunkle Haut. »Ich sehe Euch. Vorher konnte ich Euch nicht so deutlich sehen.« Sorgatani starrte zurück, musterte Liath abschätzend, und sie lächelten beide und senkten gleichzeitig den Blick. Liath blies auf die Hand. Der kühlende Atem und die Salbe linderten den Schmerz etwas. »Darf niemand Euch berühren? Könnt Ihr niemals einen Ehemann haben?« »Keine Kerayitin wird jemals einen Ehemann haben. So lautet das Gesetz. Wir sind die Töchter des Pferdevolkes. So wie sie keine Ehemänner haben, ist es auch bei mir und meinen Schwestern. Eine von uns hat vor vielen Jahren geheiratet - es ist gestattet worden, weil er ihr Glück war. Als er gestorben ist, ging das Glück in den Körper ihres Sohnes über. Sie sind jetzt beide tot, Mutter und Sohn. So ist das Schicksal.« »Lebt Ihr immer allein, nur in diesem Wagen?« Ein solches Schicksal kam Liath so grauenhaft vor, dass sie sich bemühte, das 605 Mitleid aus ihrer Stimme herauszuhalten. Sorgatani verdiente Besseres als Mitleid. »Wir haben Puras, die sich mit uns vereinigen und uns Vergnügen und Gesellschaft schenken. Ihr habt auch einen Pura, nicht wahr? Den Prinzen, der im Gras gejagt hat.« »Er ist mein Ehemann«, sagte sie, verwundert, dass ihre Stimme trotz der unruhigen Gedanken so gleichmütig klang. Er ist mein geliebter Ehemann, aber ich kenne ihn kaum. »Oh! Ihr in den westlichen Ländern dürft Ehemänner haben, nicht wahr? Es ist ein gängiger Brauch bei den barbarischen Frauen. Wenn Ihr Euren Ehemann nicht mehr wollt, würde ich ihn gern als Pura haben, falls Ihr damit einverstanden seid, ihn einzutauschen. Es stimmt, dass ich einsam bin.« Was war sie nur für eine Närrin gewesen, dass sie geglaubt hatte, sie könnte den Problemen entkommen, indem sie den wütenden Sanglant einfach allein ließ und wegging. Im Laufe der Jahre war Sanglant vielleicht zu der Überzeugung gelangt, dass sie niemals zurückkehren würde; vielleicht hatte er ihren Verlust betrauert und war von ihrem plötzlichen Auftauchen völlig überwältigt worden. Abgesehen davon, dass er schwer verwundet gewesen war. Die Zofe Anna hatte ihr erzählt, dass er sich sehr um Gnade kümmerte und dass er sich Sorgen über das unnatürliche Wachsen seiner Tochter machte. Anna hatte nur wenig über ihre Reise nach Osten gesprochen, und erst Li'at'danos Worte hatten Liath begreifen lassen, was für ein gewaltiges Unterfangen es war, ein westliches Heer so weit in die Wildnis zu führen. Sanglant wusste um die Bedrohung, die Anne und die anderen darstellten - er hatte keine Angst, sich ihnen entgegenzustellen. »Er ist noch immer mein Ehemann, auch wenn wir lange Zeit getrennt waren. Habt Ihr keine Männer in Eurem eigenen Stamm, die Ihr begehrt?« Sorgatanis Schulterzucken sagte alles. »Wie geht es Eurer Hand?«, fragte sie stattdessen. »Wird sie heilen? Habe ich sie verunstaltet?« Liath drehte die Hand, um erneut einen Blick darauf zu werfen. »Es ist bereits weg«, sagte sie voller Erstaunen. Nur noch ein klei606 ner Stich, wie von einer Biene, und ein rosa glänzender Fleck verrieten, mit welcher Hand sie Sorgatani berührt hatte. »Ihr seid wirklich sehr mächtig! Ich hoffe, wir können Verbündete werden.« »Ich hoffe, wir können Freunde werden.« Sorgatanis Lächeln war wie eine seltene Blume, wunderschön, kostbar und leuchtend. Heftiges Klopfen erklang an der Tür. Die gesamte Konstruktion erzitterte. In einer Kakophonie von Glocken sprang die jüngere Dienerin auf und schob die Tür zur Seite, um nach draußen zu sehen. Fackellicht blitzte durch
die Öffnung ins Innere. Draußen war erstaunlicherweise die Nacht angebrochen, obwohl Liath nicht das Gefühl hatte, als wäre während ihres Gesprächs mit Sorgatani so viel Zeit vergangen. »Strahlende!« Die mächtige Stimme der Schamanin hatte die Wucht einer Lawine. Sogar Sorgatani zitterte unwillkürlich. »Kommt rasch, Strahlende! Prinz Sanglant ist verschwunden. Er hat das Kind mitgenommen.« 2 Sein Kopf pochte heftig, und er wusste, dass ein Schmerz von dieser Intensität, der jede Stelle in seinem Körper berührte, nicht gerade hilfreich war, wenn es galt, einen klaren Gedanken zu fassen. Aber er würde nicht länger als Gefangener in diesem Lager der Zentaurinnen bleiben. Wenn seine Frau ihm nicht bei seiner Flucht half, dann war das eben so. Er hatte vier Jahre ohne sie überlebt. Er war die ganze Zeit allein zurechtgekommen. Er konnte auch jetzt allein zurechtkommen. »Mein Prinz! Ihr solltet nicht aufstehen!« Es war erstaunlich, wie viel Qual allein das Stehen verursachte. »Meine Kleider, Anna.« Es war eigentlich kinderleicht, sich anzuziehen, und doch zog er eine Grimasse, als er die Wolltunika über die Unterkleidung streif607 te. Da er sich nicht einmal bücken konnte, um die Stiefel zu binden, setzte er sich auf die Kiste und ließ es Anna tun. »Wo ist mein Speer?« Seine Sachen lagen auf dem Teppich neben der Pritsche, was darauf schließen ließ, dass er im Grunde kein Gefangener war. Sanglant schob diesen Gedanken jedoch beiseite, als er sich das Schwert über den Rücken hängte. Er biss die Zähne zusammen und warf den Umhang darüber, schob ihn über der linken Schulter etwas zurück, damit er das Schwert ziehen konnte, wenn es notwendig war. Bei jeder Bewegung schoss ein Schmerz wie von tausend Messerstichen in seine Muskeln, und heißes Feuer lief seine Sehnen entlang. Seine Brust schmerzte schrecklich; jeder Atemzug tat weh. »Hier ist er, Prinz Sanglant.« »Bist du kräftig genug, um Gnade zu tragen?« »Ich glaube schon, Hoheit. Aber -« »Nimm sie hoch.« »Ihre Hoheit Liathano ist noch nicht zurückgekehrt, Prinz Sanglant. Sie ist mit der Schamanin weggegangen -« »Anna!« Anna kniete neben Gnade nieder, schlang ihre Arme um das Mädchen und hob sie auf. Gnade war nicht viel kleiner als sie, wog aber weniger, und Anna war kräftig und hartnäckig. Sie legte sich das bewusstlose Mädchen wie einen Sack Korn über die Schulter. Sanglant umklammerte den Speer. Das zusätzliche Gewicht des Schwertes auf dem Rücken kam ihm vor wie die Hand eines Riesen, die ihn zu Boden drückte, aber er weigerte sich, der Schwäche nachzugeben. Die Heilerin saß ruhig an der Tür und verfolgte seine Bemühungen schweigend. Neugier lag in ihren schwarz umränderten Augen, aber ihr breites Gesicht war so ausdruckslos wie unbearbeiteter Stein. Als Sanglant die Zeltklappe erreichte, erhob sie sich. »Eure Verletzung ist noch nicht verheilt«, sagte sie mit ihrer ruppigen Stimme. »Es ist nicht klug, wenn Ihr jetzt herumlauft.« »Ich kehre zu meinem Heer zurück.« Er verließ das Zelt, stützte sich auf den Speer und blieb stehen, 608 um nach Luft zu schnappen, während Anna mit Gnade über die Schwelle und neben ihn trat. Die Dämmerung hatte sich herabgesenkt, aber der zunehmende Mond spendete genug Licht, sodass Sanglant davon ausgehen konnte, den Weg durch das Gras zu finden. Die Heilerin folgte ihnen. Sie war nicht sehr viel größer als Anna, hatte aber deutlich breitere Schultern. In ihren Händen trug sie eine Schafshaut und eine Lederflasche. »Wollt Ihr versuchen, mich aufzuhalten?«, fragte Sanglant. Er fühlte sich nicht gut, denn ihm war schwindlig, der Mond schien zu hell, und der Boden schwankte unangenehm. »Nein, Herr. Ich habe die Pflicht, Euch zu heilen. Ich werde Euch folgen.« »Versucht nicht, mich aufzuhalten.« Starrsinn war die einzige Kraft, die er jetzt noch hatte - dies und die brennende Wut, die ihn antrieb. Liath hatte ihn verlassen, hatte ihm seine Siege gestohlen und plauderte kameradschaftlich mit der Kreatur, die seine Tochter entführt und sich geweigert hatte, ihm zu helfen, das Kind aus Bulkezus Klauen zu befreien. Etwas in seinem Gedankengang passte nicht zusammen, aber er zog es vor, sich wieder in den Schutz jener zu begeben, denen er vertraute - er wollte nicht diesen unheimlichen Kreaturen und ihren menschlichen Kameraden verpflichtet sein. Er wollte Verbündete haben, die ihn mit Respekt behandelten. »Sie kommen mir eher wie Sklaven vor, wenn man mich fragt«, sagte er zu niemand Bestimmtem, während er durch das Gras auf den westlichen Kamm zuhumpelte, hinter dem sein Heer lagerte. Der Schmerz der Heilung
hatte seine Nerven so empfindsam gemacht, dass er in der Lage war, die Rauchschwaden der Feuerstellen seines Heeres aus den kräftigen Gerüchen herauszufiltern, die von dem Lager der Zentaurinnen um ihn herum stammten: die Gerüche von gekochter Wolle, Blut, vergorener Milch und Pferden. »Von wem sprecht Ihr, Hoheit?«, fragte Anna. Jetzt, da es dunkel war, gingen nicht viele im Lager herum, und jene, die es taten, versuchten nicht, ihn aufzuhalten. Er stolperte häufig, aber er besaß sein Schwert und seinen Speer, auch wenn er 609 diesen zum Gehen benötigte. Zelte türmten sich wie Hindernisse vor ihm auf, ließen sich aber leicht umrunden, auch wenn der zusätzliche Weg seinen Preis forderte. Nach einer Ewigkeit gelangten sie zum Rand des Lagers. Er musterte den langen Hang vor ihm und fragte sich, wie er den Kamm erreichen sollte. »Wollt Ihr etwas trinken?«, fragte die Heilerin fürsorglich und hielt ihm die Schafshaut hin. Er zweifelte nicht daran, dass sie betäubenden Wein enthielt. »Nein«, sagte er, obwohl er außerordentlich durstig war. Er drehte sich um und ließ seinen Blick über das Lager schweifen. Eine Gruppe von Zentaurinnen versammelte sich eine Speerwurflänge von ihm entfernt. Sie berieten sich, machten aber keine Anstalten, ihm zu folgen. Eine hatte eine Lampe bei sich. Das Licht spielte über die Körper der Zentaurinnen, beleuchtete die Kurven ihrer Brüste, die Perlenketten, die struppigen kastanienbraunen Zöpfe, die der einen über die Schultern hingen und bis zur Hüfte reichten, wo der Körper der Frau in den der Stute überging. Die langen Haare erinnerten ihn an Liath, an die Art und Weise, wie ihre Zöpfe über den Rücken fielen und beim Gehen hin und her schwangen. Wohin war Liath gegangen? Wieso war sie nach den wenigen vernünftigen Dingen, die er gesagt hatte, weggerannt? Wieso war sie nicht zurückgekehrt? Zweifellos verband sie mehr mit dieser Schamanin. Liath hatte sich so verändert - sie war nicht mehr die Person, die er geheiratet hatte. Es war, als hätte er eine Fremde getroffen, die vertraute Kleidung trug - oder eine alte Kameradin, die nicht mehr die gleiche Sprache benutzte. »Wo sind eigentlich die männlichen Zentauren?«, fragte er plötzlich. »Reiten die Männer nicht in den Krieg? Oder warten sie in der Wildnis, während die Stuten für sie kämpfen?« Die Heilerin wartete - offensichtlich verlangte sie von ihm, dass er sich selbst die Antwort gab. Als Sanglant nichts mehr sagte, sprach sie, als hätte sie ein besonders begriffsstutziges Kind vor sich. »Kein Mann des Pferdevolkes wandelt auf der Erde.« »Sind sie alle verkrüppelt? Tot? Kastriert?« 610 »Kein Mann«, wiederholte die Heilerin in dem Versuch, hilfreich zu sein. »Nur Pferde.« Sie deutete auf die entfernten Herden, die sich zum größten Teil außer Sichtweite auf der anderen Seite des Lagers befanden. Sanglant schüttelte gereizt den Kopf. Er hasste es, wenn die Dinge keinen Sinn ergaben, aber er hielt es nicht für wichtig, darüber zu streiten, zumindest nicht jetzt. Er begann, den Hang zu erklimmen. Sie kletterten hinauf, machten einen langsamen Schritt nach dem anderen, bis Anna eine Pause benötigte. Sanglant war dankbar dafür, wagte es aber nicht, sich hinzusetzen, denn er fürchtete, dass er dann nie wieder aufstehen würde. Sie kniete nieder und legte Gnade ins Gras. »Ich werde sie tragen«, sagte er zu Anna, die offensichtlich vollkommen außer Atem war. Sie schnaufte, beugte sich vornüber und stemmte die Hände in die Seiten. Gnade rührte sich nicht. Ihre Augen standen noch immer offen, aber sie nahm nichts um sich herum wahr. Sie schien weder auf Geräusche noch auf Berührungen zu reagieren. Das Einzige, was sie tat, war atmen. Er hatte ihr gegenüber versagt. Er hatte sie schließlich doch nicht beschützt. »Ich kann sie tragen«, sagte die Heilerin. »Das wäre gut«, flüsterte Anna, die immer noch hastig atmete. Er wusste, dass er nicht die Kraft dazu besaß, was seine Verärgerung nur noch steigerte. Aber irgendwann würden Liath und die Schamanin in das Zelt zurückkehren und ihm folgen. Er wollte sich nicht schändlich wie ein verletzter Hund in die Gefangenschaft zurückschleppen lassen. »Also gut.« Die Heilerin ging in die Hocke, schob die Arme unter Gnades schlanken Körper und erhob sich mit Leichtigkeit. Vielleicht war es die Art, wie ihre Schultern sich unter der Filzjacke krümmten oder wie die schmale Hüfte eine Linie mit den Schultern bildete, oder es war die breite Ausprägung ihrer Hände. Vielleicht fantasierte er auch und sah wie ein Wahnsinniger 611 kleine Schnipsel der Wahrheit unter all der Falschheit, in die sich die Welt kleidete. Die Heilerin war ein Mann, aber ein Mann, der sich als Frau verkleidete. Sanglant schüttelte den Kopf und machte sich mit zusammengebissenen Zähnen wieder auf den Weg. Es spielte keine Rolle. Er halluzinierte, oder die Kerayitin war stärker, als er gedacht hatte. Es war nicht wichtig. »Das Lager ist... ?«, fragte er, denn der Wind drehte sich, und er verlor den Geruch. »In dieser Richtung.« Anna erhob sich, die eine Hand in die Rippen gestützt. »Ich habe den Rauch gesehen. Ich weiß, wohin wir gehen müssen.«
Es war sogar noch schwieriger, bergab zu gehen, denn bei jedem Schritt schoss ein Schmerz von der Ferse aufwärts bis in seinen Schädel. Grimmig schleppte er sich dahin. Er würde das Lager auf jeden Fall erreichen, und dort würde er sich ausruhen, und er würde seine Tochter nicht verlassen, ehe sie sich nicht erholt hatte oder gestorben war. Oh, Gott. Was, wenn sie wirklich starb? Nein, der Herr der Barmherzigkeit würde nicht so grausam sein. Andererseits - wieso nicht? Die Herrin der Gerechtigkeit konnte nicht so willkürlich sein, und doch - wieso nicht? Er schlurfte weiter, während der Mond den Zenit erreichte und zu sinken begann, hin und wieder von Wolken verborgen. Die am Himmel vorbeiziehenden Wolken machten ihn ganz benommen, als würde sich alles drehen, und er erinnerte sich an das heftige Gespräch, das er vor Jahren mit Liath geführt hatte, als sie in Ver-na gewohnt hatten. Auch dort hatte sie sich ungezwungen bei den anderen Zauberern aufgehalten, von denen sie als eine der ihren anerkannt worden war, während er als Außenseiter gegolten hatte. Die alten Gefühle waren wieder aufgeflackert, als sie mit dieser Schamanin gesprochen hatte, hatten ihn daran erinnert, dass er ein Störenfried war, dass er in ihrem Leben weniger wichtig war als das Weben und Binden der in ihre Seele gewebten Magie. 612 Sie hatte Pfeile in den Himmel geschossen, um herauszufinden, ob die Erde sich drehte oder nicht vielmehr die Sphären. Ihre Fragen hatten zu Beginn keinerlei Sinn für ihn ergeben, und doch konnte er sich jetzt in einem kleinen Winkel seines Verstandes vorstellen, wie die Erde als Kugel sich endlos drehte, während die Himmelssphären in unendlicher Ruhe verharrten. Oder vielleicht war es auch die Erde, die unbeweglich blieb, während die Sphären sich drehten, Sphären im Innern von Sphären, die sich alle in unterschiedlichem Maß, in unterschiedlicher Geschwindigkeit und Richtung bewegten. Waren es die Drehungen der Erde, die ihn jetzt schwindlig machten? Oder waren es die Erschöpfung und die Verletzung? Die Wunde an seiner Brust hatte sich wieder geöffnet; die Tunika klebte vom Blut auf seiner Haut, wurde beim Gehen hin und her gerissen, sodass die verletzte Stelle abwechselnd trocknete oder erneut nässte. Kein gewöhnlicher Mann hätte so schnell wieder auf den Beinen sein können, nachdem ihm die halbe Brust weggerissen worden war, aber gewöhnliche Männer waren auch nicht verflucht wie er. Er konzentrierte sich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen, drückte die Fersen in den Boden und rollte den Fuß über den Spann ab, bis zum Ballen und dann wieder von vorn. Es war erstaunlich, wie diese einfache Bewegung so entmutigend sein konnte, so erschöpfend und so schwierig. Selbst der Wind an seiner Wange trug eine besondere Bedeutung mit sich. Wie weit war dieser Wind gereist? Hatte er eine Heimat, oder reiste er einfach nur immer wieder um die Erde ? Vielleicht war es dieser Wind, der die Erde dazu brachte, sich zu drehen, oder die Drehungen der Erde brachten den Wind hervor. Er war benommen, das war offensichtlich. Wieso sonst sollte sein Geist solch gequälten und unerwarteten Pfaden folgen? Der Geruch von Rauchfeuern erregte seine Aufmerksamkeit. Sie befanden sich jetzt näher am Lager seines eigenen Heeres als an dem der Zentauren; er konnte die einzelnen Gerüche auf die gleiche Weise unterscheiden, wie ein geübter Mensch auf seinem Gaumen die Mischung der Gewürze eines üppigen Mahls schmecken konnte. 613 Sie könnten es tatsächlich schaffen. Ein Schatten bedeckte den Mond, glitt aber rasch zur Seite. Die Heilerin - der Heiler - schrie vor Angst auf und fiel auf die Knie, presste Gnade fest an sich, um sie zu beschützen. Anna schrie ebenfalls. Der Silbergreif flog über ihnen, landete unbeholfen auf dem Boden und blieb mit schlagenden Flügeln vor ihnen stehen. Er hob den gewaltigen Adlerkopf, wandte ihn zur Seite, um einen besseren Blick erst mit dem einen Auge, dann mit dem anderen zu bekommen. Die Augen glänzten wie winzige Sonnen. Als die Klauen über den Boden schrappten, peitschte der Schwanz ins Gras, und eine Wolke aus Spreu stob auf. Anna wimmerte. Der Heiler rührte sich nicht. Die Kreatur sank auf die Hinterbeine, bereit zum Sprung. Er war zu schwach, um sie zu töten. Als er nach vorn sank, kaum in der Lage, sich auf den Speer; stützen, blieb ihm nichts weiter als sein Verstand. Ein Greif ist zu einem Teil Adler, zu einem anderen Teil Löv und zu einem dritten Teil Schlange, so sagten die Dichter. Löwen waren wilde Tiere, und Schlangen waren Schädlinge, aber Adler lebten seit langer Zeit als Jagdvögel in Harmonie mit den Menschen. Sanglant ließ den Speer sinken, löste seinen Umhang und nähr ihn in einer einzigen geschmeidigen Bewegung, die ihn seine ganze Kraft kostete, von den Schultern. Die Wunde in der Brust platzte erneut auf. Adrenalin befeuerte ihn weiterzumachen, als er den Umhang in einem hohen Bogen über den Kopf des Greifen schwang, und während das Tier einen Augenblick von dem Flattern des Stoffes abgelenkt war, sprang er auf es zu und warf den Umhang über seinen Kopf, sodass die Augen bedeckt waren. Angespannt wartete er auf die heftige Reaktion des Greifen. Derart verhüllt und blind wurde der Greif vollkommen reglos. »Geh weiter«, sagte Sanglant heiser. Blut tropfte von seinem Bauch. Schweiß glänzte an seinem Nacken. »Geh, Anna. Geh zum Lager und hol Hilfe. Bring ein Seil mit, das stärkste im ganzen Lager. Eine gute Kordel aus
Pferdehaar und außerdem Nadeln, die 614 kräftig genug sind, um diesen dicken Umhang zu durchstechen. Nimm Gnade und geh. Jetzt sofort!« Anna drückte den Arm des Heilers. Der arme Kerayit zögerte, von der Pflicht hin- und hergerissen, aber der Greif machte ihm Angst. Als er daher von Sanglant die Erlaubnis erhalten hatte zu gehen, verließ er ihn und folgte Anna mit Gnade auf den Armen. Sanglant blieb dort stehen, wo er war, hielt den Umhang unterhalb des gewaltigen, grausamen Schnabels fest. Wenn es ihm gelang, den Greifen so verhüllt zu lassen, während er unter Qualen ein- und ausatmete und seine Brust noch viel stärker schmerzte als zuvor, würde er auch einen nächsten Atemzug aushalten, und noch einen und noch einen. Dann konnte er aushalten, bis Hilfe kam. Der Wind fuhr flüsternd durch das Gras. Die Sterne über ihm drehten sich, aber vielleicht war es auch nur sein Kopf, der sich drehte. Und doch hielt er aus. Obwohl der Greif reglos blieb, spürte Sanglant leichte Verlagerungen und Anspannungen in ihm, wie bei einem Pferd, das sich im festen Griff eines Reiters befand: Mal zuckte eine Schulter, mal legte der Greif ein büschliges Ohr zurück oder stellte es auf, mal bebten die unter Kontrolle gehaltenen Muskeln. Sanglant sprach mit dem Greifen, wie er mit Resuelto zu sprechen pflegte, in der Hoffnung, dass das Tier sich an seine Stimme gewöhnte, dass die Zeit verstrich und ihm die Chance gab zu überleben. In der Hoffnung, dass er an etwas anderes denken konnte als an den tief in seiner Brust aufflammenden Schmerz, der so heiß und stürmisch war, dass er schon fürchtete, wie eine Flamme ausgeblasen zu werden. Aber er hielt seine Stimme ruhig und beschwichtigend. »Was für ein Tier bist du eigentlich? Woher kommt deine Art? Wieso haben Gott euch erschaffen? Du bist ein starker, gut aussehender Kerl, nicht wahr? Du erinnerst mich an meinen Wallach Resuelto, der so stark und schön ist wie du und noch dazu treu ergeben. Ein schönes Pferd. Ein guter Kamerad. Bist du wie ein Pferd, das auf gute Behandlung reagiert ? Oder bist du so wild, dass du mich töten wirst, sobald du die Gelegenheit dazu hast?« 615 Solange der Umhang fest über die Augen des Greifen gezurrt war, solange der Greif nicht sehen konnte, wehrte er sich nicht. Das Spiel des Mondlichts auf seinen hellen Hinterbeinen faszinierte Sanglant, aber auch die gefalteten Flügel und die Stelle an den Schultern, wo der Löwenkörper in den Adlerkopf überging, waren ein wahres Wunder. Die funkelnden Sterne schienen sich in den Eisenfedern widerzuspiegeln, die so scharf waren, so gefährlich, so dicht bei seinen Händen und seinem Körper. Aber sie berührten ihn nicht, denn er war durch die unerwartete Fügsamkeit des Greifen geschützt. Er wartete, geschwächt, aber dickköpfig. Der Mond erreichte die westlichen Berge; schon bald würde genug Licht herrschen, um mehr als nur vage Konturen erkennen zu können. Aber Sanglant hatte sich nie nur auf das verlassen, was man sehen konnte. Er lauschte dem Murmeln des Windes im Gras, dem melodischen Reiben der Greifenfedern, wo die Brise durch sie hindurchfuhr, dem Schrappen winziger Klauen im Gras, wenn eine Maus oder ein Hase auf Futtersuche hindurchhuschte. Er hörte in der Ferne einen Ruf, der von einer anderen Stimme zum Schweigen gebracht wurde. Sie näherten sich besonnen, bewegten sich rasch, aber nicht leichtsinnig. Fulk führte sie an, dicht gefolgt von den anderen. Fackeln erhellten die Nacht, und das Knistern und Zischen der Flammen und der pechartige Geruch des Rauches ließen den Greifen unruhig werden. »Ganz ruhig«, sagte Sanglant. Er hätte ihn gerne gestreichelt, aber bei der Berührung seines Kopfes und der Nackenfedern hätte er sich die Hände verletzt, und er traute sich nicht, die Hand nach der gelbbraunen Schulter auszustrecken, weil dabei möglicherweise der Umhang verrutschte. »Prinz Sanglant!«, rief Fulk aus sicherer Entfernung. Ein ehrfürchtiges Flüstern erhob sich von dem Trupp; viele sprachen gleichzeitig. Die Männer liefen nicht zu ihm, dazu waren sie zu gut ausgebildet. Obwohl der Greif sie also roch, hörte und spürte, versetzten sie ihn nicht in Panik. Noch nicht. »Ruhig, Hauptmann. Kommt mit dem stärksten Faden her, den 616 Ihr habt, einer Zeltnadel und einem kräftigen Seil. Wir müssen diesen Umhang über dem Kopf festnähen und den Greifen dann ins Lager führen. Er ist mit einem Adler verwandt. Kein Grund, dass wir ihn nicht festbinden und zähmen könnten.« Schweigen folgte seinen Worten, als wären es die Bemerkungen eines Irren gewesen, aber Hauptmann Fulk trat trotzdem vor. Seine Beine strichen mit einem leisen Zischen durch das Gras, die Schritte klangen gleichmäßig. Ein Mann, der nicht einmal in der schlimmsten Situation die Nerven verlor. Ein Mann, dem ich trauen kann, dachte Sanglant. Er wagte es nicht, sich umzudrehen und Fulk anzusehen, weil seine Hände taub waren. Wenn er sich bewegte, würde der Greif möglicherweise erkennen, dass er sich mit einem einzigen heftigen Ruck von dem befreien konnte, was ihm die Sicht nahm. Fulk wurde von einem verfluchten Narren mit einer zischenden Fackel begleitet, und der Greif erzitterte durch und durch. Der Mann drehte sich jedoch so, dass der Wind den Geruch der Fackel wegtrug und die Szenerie trotzdem erhellt wurde, damit Fulk sehen konnte, was er tat.
»Ich bitte Euch, Hauptmann, macht schnell. Näht den Stoff fest zu und bindet ihm die Vorderfüße so zusammen, dass er sich gerade noch bewegen kann. Wir werden den Rest des Seils als Leine benutzen.« »Jawohl, mein Prinz.« Hauptmann Fulk war ein hervorragender Soldat. Er tat, wie ihm geheißen, ohne zusammenzuzucken. Sanglant rückte zur Seite, damit Fulk unter den Kopf des Greifen schlüpfen konnte, wo er begann, den Umhang zusammenzunähen. Er arbeitete rasch und mit einer bemerkenswert ruhigen Hand. Von seiner Position aus konnte Sanglant gerade eben über die Schulter des Tieres zu dem Mann blicken, der unbekümmert genug gewesen war, Fulk mit der Fackel zu begleiten. Es war Sibold. Natürlich. Der junge Soldat strahlte. »Ich sehe, Ihr habt Euren Greifen gefunden, Prinz. Ich habe ihnen doch gesagt, Ihr würdet ihn finden.« XX Ein starkes Gift
1 Bartholomeo ernannte einen kräftigen Dummkopf zu Alains Wächter, einen Mann, der von den anderen Stinker genannt wurde. Dieser Mann war groß und stank, und er hatte ein fürchterliches Mundwerk, fluchte und murrte unaufhörlich. »Nenn mich wie die anderen, und ich beiß dir deine beschissenen kleinen Ohren ab«, warnte Stinker, während sie das Dorf in südlicher Richtung durchquerten. Er trat gegen einen der toten Geistlichen, um zu beweisen, wie abgebrüht er war, aber ansonsten waren die Leichen einfach liegen gelassen worden, als Vater Benignus den Befehl zum Abmarsch gegeben hatte. »Wetten, dass du neidisch auf meinen großen Schwanz bist?« Alain warf Bartholomeo einen Blick zu; der Mann ging hinter ihm und kratzte sich besorgt das Kinn, blickte aber beschämt zur Seite. »Ich bin ja auch ein großer Mann, Schwanzlutscher«, fügte Stinker hinzu. »So 'n Schwanzlutscher musste ja wohl gewesen sein, wo du mit diesen pissenden Geistlichen unterwegs warst. Aber jetzt liegen sie blutend in ihrer Pisse, was? Ich hasse sie. Ich hasse sie alle.« »Wieso?«, fragte Alain. 618 Stinker machte Anstalten, ihn zu schlagen, aber Kummer knurrte, und der Mann wich zurück, während die anderen Räuber kicherten. »Willstes mit mir aufnehmen, ja?«, rief Stinker. »Was is mit dir, Roter?« Er versetzte einem Jungen, auf dessen Wange und Kinn ein riesiges rotes Muttermal prangte, mit seinem Stab einen Stoß in den Rücken. »Lachste über mich, Hundeohr?« Er spuckte einem zweiten Mann vor die Füße. »Wülste was von mir?« »Wülste eins in die Fresse kriegen?«, schnaubte Hundeohr und zupfte an dem Ohrläppchen des verbliebenen Ohres. »Nur zu. Musst es nur sagen, Stinker.« »Haltet die Klappe«, blaffte Bartholomeo. »Ihr wisst, was mit den letzten zwei Männern passiert ist, die sich geprügelt haben. Ihr wisst, dass Vater Benignus so was nicht duldet. Und ihr wisst auch, was dann passiert.« Das brachte sie zum Schweigen. Sie gingen durch den Wald nach Süden, bis es so dunkel war, dass sie kaum noch etwas sehen konnten. Sie wickelten sich in ihre Umhänge und legten sich auf den Boden. Ein Dutzend Männer etwa die Hälfte der Gruppe - hielt unruhig und ängstlich Wache. Alain gestattete ihnen, ein Seil um seine Handgelenke zu schlingen und es locker an einem Baumstamm zu befestigen; an diesen lehnte er sich und döste, während die Nacht verstrich. Nicht eine einzige Eule schrie. Er hörte überhaupt keine Geräusche, nur das unterbrochene Rauschen des Regens. Soweit er erkennen konnte, verbrachte Vater Benignus die ganze Nacht auf seinem Pferd, ohne auch nur ein einziges Mal abzusteigen. Als die Wegelagerer sich in der Morgendämmerung stöhnend erhoben und mit den gefangenen Pferden, der Kleidung, dem Essen und der Ausrüstung, die sie den toten Geistlichen abgenommen hatten, zum Aufbruch bereitmachten, packte Alain Bartholomeo am Arm. »Bleibt der heilige Vater immer auf seinem Pferd sitzen? Wie pinkelt er?«, flüsterte er. »Halt die Klappe.« Bartholomeo riss kräftig am Seil. »Noch bist 619 du nicht tot, aber das wirst du schon bald sein, wenn du nicht den Mund hältst.« Rage knurrte leise, und Bartholomeo wich vor der riesigen Hündin zurück. Sie machte jedoch keinen Satz auf ihn zu. Es war nur eine Warnung gewesen.
»Halt deine Hunde von uns fern«, warnte Bartholomeo, während er wegging. »He, Stinker! Kümmere dich um deinen Gefangenen.« »Still.« Alain strich Rage über den Kopf, und auch Kummer rieb seine Schnauze an ihm, suchte seine Aufmerksamkeit. Stinker hielt einigen Abstand zu den Hunden. Niemand sprach, als sie sich wieder aufmachten. Sie alle schienen zu wissen, wohin sie gingen. Es war eine harte Schinderei durch die hügelige Landschaft, während ein Nieselregen durch das Laubdach aus Birken und Eichen fiel. Viele Bäume hatten noch nicht ihr volles Blattwerk entfaltet, das den Regen hätte abhalten können, und die Wildpfade verwandelten sich durch die Vorangehenden in Matsch. Hin und wieder verbarg sich eine unerwartete Pfütze auf dem Pfad, bis schließlich alle nasse Füße hatten, ob sie nun barfuss gingen oder Schuhe trugen. Regen tropfte von den Zweigen, sodass auch die Schultern völlig durchnässt waren, und die Haare klebten am Kopf und im Nacken. Sie erreichten das Lager gegen Mittag. Vom Pfad aus erhaschte Alain zwar noch keinen Blick auf irgendein Lager, aber die Hunde wurden von einer zunehmenden Unruhe erfasst, hoben schnüffelnd die Köpfe, schössen immer wieder ins Unterholz davon, bis er sie mit scharfer Stimme aufforderte, bei ihm zu bleiben. Kurz bevor sie den Wald wieder verließen, stieg ihm der Geruch von Rauch in die Nase, aber weil sie Rückenwind hatten, verzog der sich rasch wieder, und so roch Alain die Feuerstellen erst, als sie den Wald hinter sich gelassen hatten und er sie sehen konnte. Es war keine richtige Lichtung, lediglich eine Stelle, an der ein paar Bäume gefällt worden waren. Ein alter, riesiger Baumstumpf, der im Laufe der Zeit verwittert und braun geworden war, kennzeichnete die Stelle, an der einst eine gewalti620 ge alte Eiche gestanden hatte. Eine Reihe von zerlumpten Zelten und behelfsmäßigen Hütten breitete sich auf der Lichtung aus, an der der Pfad endete. Alain blieb stehen und sah sich um. Am anderen Ende der Lichtung ragten sieben schroffe Säulen wie die aufgerichteten Zacken eines Drachenrückens aus dem Boden. Diese zerklüftete Kammlinie erhob sich starr über die Bäume, ein unordentlicher Haufen aus natürlichem, hellem Felsgestein mit Öffnungen, Stufen, Nischen, Überhängen und in den oberen Felsspitzen - so etwas wie in Stein gehauenen Fenstern. Die zerklüftete Kammlinie erinnerte ihn an den Kamm des Drachenrückens bei Osna. In den letzten Bildern von Adicas Welt hatte er Drachen vom Himmel fallen sehen, kurz bevor er von ihr weggerissen worden war. Ein unerwartet heftiger Stich der Trauer durchbohrte ihn, und keuchend sank er auf die Knie und bedeckte das Gesicht mit den Händen. »He, Junge, beweg deinen armseligen Hintern!« Jemand versetzte ihm einen Fußtritt in die Hüfte, aber der Schmerz hinterließ kaum einen Eindruck. Ebenso wenig wie Bartholomeos Stimme, die so schwach klang, als wäre sie etliche Wegstunden entfernt. »Hör auf, Stinker. Geh weiter. Ich sorge dafür, dass er hier bleibt.« Stinkers Gestank entfernte sich, ging in dem Rauch und dem Lärm des Lagers unter, als Alain sich bemühte, in seiner Trauer und der Welt, in der er zurückgeblieben war, einen Sinn zu erkennen. Waren dies wirklich Drachen, die durch Magie zu Stein geworden und auf die Erde gefallen waren, als die große Trennung die Welt zerteilt hatte? Er drückte seine Hände in den Schlamm, und während die Hunde jeden anknurrten, der sich zu nähern wagte, beugte er den Kopf, schloss die Augen und lauschte mit allen Sinnen zwischen den vor das Gesicht gehaltenen Händen hindurch. Er suchte ziellos nach einem Echo, das von der Anwesenheit eines gewaltigen, zu Stein erstarrten Drachen kündete. War dieses 621 Gemurmel eine Erinnerung seiner Atemzüge? Oder war es nur der Wind, der in den Bäumen raschelte ? Wie aus weiter Ferne hörte er die Geräusche der vorbeischlurfenden Wegelagerer und ihre sarkastischen Bemerkungen darüber, wie er so auf dem Boden kniete, aber er achtete nicht darauf, sondern suchte weiter, suchte tiefer in der Erde. War dieses schwache Trommeln der Herzschlag der Erde, der in den brachliegenden Linien sang, die die gesamte Welt miteinander verbanden? Diese Fäden zogen ihn mit sich, so wie ein klarer, gerader Weg durch einen eigentlich undurchdringlichen Wald führte, und er spürte, wie sein Bewusstsein sich ausdehnte, wie es sich von seinem Körper entfernte. Stimmen riefen ihm durch den Stein zu. Wer. Bist. Du? Was. Hast. Du. Gesehen? Hilf. Uns. Er konnte nicht zu ihnen durchdringen. Er war nicht stark genug. Er suchte jenen, den er unbedingt finden musste, hoffte, ihn über die riesige Entfernung hinweg, die sie trennte, erreichen zu können. Starkhand. Da! Der Faden zerbarst zu Licht und wurde zur Vision. Er gleitet über eine Welt, die nur aus Wasser und Himmel besteht, oben grau und unten grau, aber nach einigen Augenblicken begreift er, dass Riedgras und Flecken von Schilf die Gleichförmigkeit in dem riesigen Gebiet aus dunklem Wasser durchbrechen. In der Wolkendecke über ihm ist jedoch keine Lücke. Büschel aus Grün deuten auf Inseln hin. Überall sind Vogelschwärme, Flügel blitzen in beständiger Bewegung. Der Lärm ihrer Schreie,
ihres Kreischens, Pfeifens und Flötens ertränkt die kräftigen Paddelschläge im Wasser. Er beugt sich über den Rand des Kanus, starrt in das trübe Wasser und sieht sich selbst. Er ist Starkhand. Seine Zähne blitzen, als er grinst. Juwelen glitzern im spiegelnden Wasser. Unter der Oberfläche tummeln sich Fische. Er könnte mit den Händen hineingreifen und Aale fangen. Hier, an diesem scheinbar unwirtlichen Ort, hat er Reichtümer gefunden. 622 »Langsam«, sagt das Mädchen. »Wir sind dicht dran.« Das Schnattern von Vögeln überdeckt die Geräusche, die sie bei ihrem Näher kommen verursachen, obwohl das Kanu das Wasser ohnehin kaum lauter teilt als das Plätschern von Enten. Die beiden jungen Führer kennen das Geheimnis des lautlosen Paddelns, während sie die Ruder eintauchen und drehen. Das Boot gleitet in einen dichten Schilf bestand, und das Mädchen schlüpft über den Rand ins knietiefe Wasser und watet ans Ufer. Ki sieht anders aus als ihr Vetter, sie ist nicht klein und dunkel, sondern eine halbe Handbreit größer, hat blonde Haare und hellblaue Augen, wie sie bei den Alben üblich sind. Für die heutige Jagd hat sie sich Schlamm ins Haar geschmiert. Halb von den Pflanzen verborgen bedeutet sie ihm, ihr zu folgen. Er verlässt den Einbaum, vorsichtig darauf bedacht, nicht an seine Standarte zu stoßen, die im Boot liegt. Elafi lehnt sich zur anderen Seite, damit es sich nicht schief legt oder plätschernde Geräusche verursacht. Das Wasser streicht um seine Beine, als er so lautlos wie möglich zu Ki watet, auch wenn er in seinen Ohren wie ein Fisch klingt, der auf der Suche nach der Tiefe im flachen Wasser zappelt. Schlamm saugt sich an seinen Füßen fest. Tief gebeugt kniet er am Ufer neben einem Nest aus Gras, in dem sich vier winzige Eier befinden. Ki nimmt eins heraus, bricht es mühelos auf und schluckt den glitschigen Inhalt hinunter. Das Mädchen reicht ihm ein zweites Ei. »Nimm die eine Hälfte, lass die andere zurück.« Niemand von seiner Art isst Eier; es ist verboten. Als er das Ei an Elafi im Kanu weiterreicht, spricht Ki erneut. »Von hier aus kannst du die heilige Insel sehen.« Sie kriechen einen niedrigen Damm hoch, bewegen sich so langsam wie möglich, um keine Vögel aufzuschrecken. Ammern hocken auf den Spitzen schwankender Schilfhalme, aber sie erheben sich nicht in die Lüfte, nicht willens, dieser kriechenden Tiere wegen ihre Nester zu verlassen. Die Vögel haben Recht, uns zu fürchten, denkt er. Sie haben keine Möglichkeit, gegen uns zu kämpfen. 623 Ki teilt das Schilf und winkt. Er kriecht neben sie und lässt seinen Blick über einen letzten glitzernden Streifen offenen Wassers schweifen. Drei Inseln erheben sich aus dem Marschland, zwei von ihnen sind klein, rundum mit Erdwällen geschützt, die sowohl als Dämme dienen als auch als Befestigungen. Die dritte ist eine ganz und gar natürliche Insel, hoch genug, dass die Gezeiten und die Frühlings- und Sommerfluten sie nicht überschwemmen können. Es sind so viele bewaffnete Männer auf der Insel, dass das Land von ihnen wimmelt, als wären sie Heuschrecken. Zelte stehen auf den niedrigeren Inseln, aber es sind einige Stellen frei gelassen worden, auf denen Männer mit Schwertern üben. Selbst aus dieser Entfernung kann er das Klatschen und Klirren von Hieben hören und deutet es als Vorbereitung auf einen Krieg. Ein Langhaus und drei Hütten haben den Ehrenplatz auf einer der Inseln, aber sie sind sichtlich schon vor langer Zeit erbaut worden, nicht erst vor kurzem. Ein goldenes Banner mit dem Bild eines weißen Hirsches flattert vom Strohdach des Langhauses. Die Albenkönigin ist hier. Er kann sie riechen. Ihre Macht und die Magie ihrer Baumzauberer haben einen Geruch, der so scharf wie Rauch ist. »Sieh nur!«, flüstert Ki und deutet auf etwas. Auf dem niedrigen Hügel der dritten Insel wimmelt es von Zähnen - oder zumindest denkt er das, bis er begreift, dass sich da oben auf dem Hügel eine Steinkrone erhebt. Das Unterholz ist um den Steinkreis herum unbarmherzig zurückgeschnitten worden, und Männer arbeiten mit Seilen, Brechstangen und Erdrampen daran, einen umgestürzten Monolithen wiederaufzurichten. »Was geht da vor?« Sie schüttelt angewidert den Kopf. »Als unsere Familie über diesen heiligen Ort gewacht hat, haben wir ihn in Frieden gelassen. Ich glaube, dies hat nichts Gutes zu bedeuten. Sie werden die alten Geister aufwecken. Männer sind vom Meer gekommen.« »Solche wie ich?« »Nein, nicht wie du«, sagt sie kühn. »Es sind keine Drachenmänner. Ihr hättet den heiligen Ort nicht verändert, nehme ich an. Dies sind Kreispriester, die von den Ländern östlich des Mee624 res gekommen sind. Elafi hat gesehen, dass es zwischen den Kreispriestern und den Baumpriestern einen Kampf um die Gunst der Königin gegeben hat.« »Wie hat er das gesehen?« »Mitten in der Krone gibt es eine Stelle, von der aus man alles beobachten kann, ohne selbst gesehen zu werden. Nur unsere Familie weiß davon, denn wir haben dieses Geheimnis von den Großmüttern erhalten.« »Kannst du mich hinführen?« Ki grinst voller freudiger Erwartung. »Erst, wenn der Mond dunkel ist. Vorher ist es nicht sicher.«
Aus dem ruhigen Wasser erhebt sich ein majestätischer Reiher, gleitet mit ausgebreiteten Schwingen und eingezogenem Kopf über sie hinweg, während seine tief herabhängenden Beine über das Schilf streichen. Sein Schatten berührt sie kurz. Ki murmelt einen Segen oder eine Beschwörung und zieht den Kopf ein. »Es ist ein Zeichen für die Gunst der Göttin«, flüstert sie. Vielleicht. Die Götter kommen Starkhand wankelmütig vor, erweisen ihm ihre Gunst ganz nach unbekannter und unvorhersehbarer Lust und Laune oder entziehen sie ihm. Die FelsenKinder mussten sich niemals mit den Spielen der Götter belasten. Sie sind selbst die Herren ihres Schicksals. Aber nur ein Narr wirft Dreck in sauberes Wasser, wenn er durstig ist. »Wenn deine Göttin auf uns herablächelt, werden wir tatsächlich Erfolg haben.« »Was hast du vor?« Er blickt zum grauen Himmel auf. Er riecht eine Veränderung des Wetters, den nassen Geschmack des Ostwinds. Ein dunstiger Regen nähert sich. Er kann den Schatten sehen, als der Regenschleier über die Teiche und das dunkle Wasser hinweg auf sie zukommt. »Wir werden warten, bis der Mond dunkel ist«, sagt er. »Dann wirst du mir diesen geheimen Ort im Innern der Krone zeigen.« Das Mädchen ist scharfsinniger als die meisten seiner Berater. 625 Sie hat nie unter der Fuchtel eines Herrn gelebt, der über ihr Leben hätte entscheiden können. Deshalb hat sie keine Angst, ihm Fragen zu stellen. Deshalb hat sie keine Angst, ihn ins Moor zu führen. »Und dann?« Starkhand bleckt die Zähne, lässt sie aufblitzen, was das Mädchen einen Augenblick verblüfft. Vielleicht versteht sie jetzt zum ersten Mal die Bedrohung, die er darstellt. Ki packt das Messer fester, aber sie rührt sich nicht, sondern starrt ihm nur geradewegs in die Augen. »Ich würde gerne wissen, wer diese Kreispriester sind und was sie mit der Steinkrone vorhaben. Wenn ich das herausgefunden habe, werde ich wissen, was ich als Nächstes tun muss. Auch ich habe Träume.« Ki presst kurz die Lippen aufeinander und kneift die Augen zusammen. »Träume sind gefährlich, mein Herr. Meine Mutter sagt, dass Träume Menschen getötet haben, dass sie diejenigen zu Fall gebracht haben, die einst Königinnen waren, und auch jene, die nach ihnen herrschen wollten.« Der Regen hat sie nun erreicht, fällt rauschendes Wasser. Man kann kaum noch weiter als einen Speerwurf sehen; die Inseln sind verborgen. Aber er spürt die Gegenwart der Steinkrone wie ein Pochen tief in seinen Knochen. Ein Ruf dringt über das Wasser zu ihnen. Ein Jubelruf. Ein Stein ist aufgerichtet und im Boden befestigt worden. »Gefährlich, ja«, stimmt er ihr zu, »aber es ist noch gefährlicher, sie nicht zu beachten.« Das summende Geflüster verschwand, und Alain fand sich auf dem Boden wieder; Matsch quoll durch seine Finger, und seine Knie waren kalt und nass. Das tiefe Bewusstsein, das im Herzen des Steins lebte, wurde übertönt vom Lärm des Lagers: dem Schrappen eines Mühlsteins, der Korn zu Mehl mahlte, den ständigen Schlägen eines Hammers, dem Gegacker der Hühner, dem Meckern der Ziegen und dem aufgeregten Rufen, mit dem die Neuankömmlinge ihre Verbündeten begrüßten. Und dann war da noch das Geräusch einer weinenden Frau. 626 Er blinzelte, versuchte, die Flut von Geräuschen und Bildern abzuschütteln, aber es ging nicht. Vor langer Zeit hatte er von den WeisMüttern geträumt, hatte sie durch Starkhands Augen gesehen, und in jenen Träumen hatten sie von einem großen Weben gesprochen, das die Erde zusammenband. Sie hatten von der großen Umwälzung gewusst, denn sie waren von ihr erschaffen worden. Die Ältesten unter ihnen waren unvorstellbar alt. Kummer und Rage jaulten und leckten ihm übers Gesicht, als er sich auf die Fersen niederließ. Auch die WeisMütter versuchten auf ihre langsame und geduldige Art, den bevorstehenden heftigen Sturm zu mildern. Die Steinkronen waren der Schlüssel. Wenn er Starkhand und die WeisMütter erreichen konnte, würde er vielleicht endlich einmal handeln können. Sein Wissen könnte ihnen helfen. Adicas Tod würde nicht umsonst gewesen sein, wenn das, was er damals gesehen hatte, ihm jetzt half, andere zu retten. Ein Pferd blieb neben ihm stehen. »Betest du?«, fragte Vater Benignus. Er schüttelte den Schlamm von den Händen und wischte sie dann an den Beinen ab. »Wir alle sollten beten, Vater«, sagte er und stand auf. »Ein Sturm steht bevor.« Der Schleier, der das Gesicht des Mannes verbarg, zitterte, als Benignus sein Gewicht auf eine Weise verlagerte, wie es ein erschöpfter Mann tun mochte, der fürchtet, in den Sumpf zu rutschen. Aber er stieg nicht ab. Er hob eine behandschuhte Hand und bedeutete Alain, ihm zu folgen. Bartholomeo war die ganze Zeit neben Alain gewesen, und er kam auch jetzt mit, hielt sich dabei aber eine Armeslänge von den Hunden entfernt. Alain musterte das Lager. Zusammen mit den Neuankömmlingen hausten hier vielleicht sechzig Leute, von denen allerdings ein Drittel nicht aus freiem Willen hier war. Deren Füße waren so fest mit Seilen
zusammengebunden, dass sie nur schlurfen konnten, während sie sich ihren verschiedenen Aufgaben widmeten, Wasser holten, die Ziegen molken und Korn mahlten. Sämtliche Ge627 fangenen waren Frauen, und es gab kaum Kinder, abgesehen von ein paar Säuglingen, die an der Hüfte ihrer Mütter hingen, und drei Kleinkindern, die schmutzig und nackt im Matsch saßen und wie Schweine kreischten, die kurz davor standen, aufgespießt zu werden. Als Stinker an diesen Kindern vorbeikam, fluchte er laut, versetzte einem einen kräftigen Schlag, packte ein zweites und schüttelte es. Dann schlug er auch noch die junge Frau, die herbeigerannt kam, um die ängstlichen Kinder zu beruhigen. »Hexe! Wenn du diese kreischenden Bälger nicht zum Schweigen bringen kannst, können wir sie genauso verkaufen wie ihre Schwestern und Brüder!« Das Seil um Alains Handgelenke war kaum mehr als eine Zurschaustellung seiner Fügsamkeit gewesen. Jetzt schüttelte er es ab und rannte zu der erschreckten Frau und dem stinkenden, vernarbten Mann, der aussah, als wollte er sie erneut schlagen. Vielleicht suchte er nur nach einem Anlass. »Was für ein Mensch bist du eigentlich«, fragte Alain, »dass du so feige bist und deine Stärke gegenüber denen zeigen musst, die so viel schwächer sind als du?« Köpfe drehten sich herum. Hundeohr brach in schallendes Gelächter aus und erhielt dafür einen Stoß von seinem Kameraden Rot. Bartholomeo sagte ein paar Worte, die zu leise waren, als dass Alain sie hätte hören können. Die gefangenen Frauen im Lager wurden so still, als hätte der Blick eines Guivre sie berührt, und obwohl ihn niemand ansah, wurde ihm augenblicklich klar, dass alle genau wussten, was da vorging. »Du arschleckender Bastard!«, brüllte Stinker, der jetzt seinen gewünschten Kampf hatte. Er machte einen Satz. Kummer sprang auf ihn zu, aber Stinker hatte mit einem Angriff gerechnet, hüpfte zur Seite und versetzte dem Hund mit seinem Stab einen Schlag gegen den Kopf, sodass er zu Boden sank. Rage wich zurück; sie jaulte, lief aber nicht weg, sondern hielt sich in sicherem Abstand zu dem Stab, während sie Stinker umkreiste und nach einer Öffnung suchte. Alain blieb stehen und hob nicht einmal die Arme, um den Hieb abzuwehren. Die Frau neben ihm sank mit einem Schrei der Angst und Verzweiflung zu Boden. 628 Vater Benignus drehte sich um. Ein Windstoß fuhr raschelnd durch die Bäume. »Eloie! Eloie! Isabaoth!« Er hob eine Hand und zermalmte etwas in seiner Faust. Stinker blieb eine Armeslänge von Alain entfernt stehen. Sein Schrei gellte durch die Luft, und sein Gesicht verzerrte sich in großer Qual, als er zuckend herumsprang, auf sich selbst einschlug und dabei stöhnte und schrie. Seine Beinkleider wurden nass von seiner Pisse, und der Gestank von Kot breitete sich aus, als sich sein Darm entleerte. Er schnatterte und spuckte Blut und brach schließlich in einem stinkenden Haufen vor Alain zusammen. Stille senkte sich über das Lager. Der Wind erstarb. Eines der Kleinkinder schluchzte, bevor es von der Frau weggeschafft wurde, die ebenfalls schniefte und Tränen hinunterschluckte. Die beiden anderen Kinder folgten ihr auf dürren Beinen. Andere Frauen nahmen die Kinder auf und standen zitternd und mit gesenkten Augen da. Kummer jaulte und ging langsam zu Alain, der ihn vorsichtig streichelte und die Beule betastete, wo der Stab ihn verletzt hatte. Rage knurrte noch immer leise und trottete ebenfalls zu ihm. Stinker war auf den Rücken gefallen. Ein faustgroßes Loch hatte sich durch die Fetzen aus rauem Sackleinen gebrannt. Alain kniete neben dem toten Mann nieder und streckte die Hand nach der Brandwunde aus. »Nicht anfassen!«, rief Bartholomeo entsetzt. »Nur Vater Benignus darf -« Er brach ab und blickte zu Vater Benignus, der schweigend und mit hängenden Schultern auf seinem Pferd saß, als hätte er sich überanstrengt. Bartholomeo neigte den Kopf und wartete auf einen Schlag. Niemand rührte sich. Alain löste die verbrannte Tunika von dem nässenden Fleisch. Stinker trug ein Amulett um den Hals, und es war dieses simple Binden, das in Flammen ausgebrochen war und die Haut verbrannt hatte. Er stank wirklich, und nicht nur nach den Ausscheidungen, die er im Todeskampf von sich gegeben hatte. Alain sah Vater Benignus an. »Ist das Gerechtigkeit?« 629 Bartholomeo gab einen erstickten Laut von sich. Was bisher als Schweigen geherrscht hatte, vertiefte sich jetzt zu einer furchtbaren, erwartungsvollen Pause, ballte sich zu dem Augenblick hin, in dem die Axt des Henkers nach unten sausen würde. »Was ist Gerechtigkeit?«, erwiderte Vater Benignus mit einer Stimme so voller Überdruss, dass sie fast gefühllos klang. Er lenkte sein Pferd vorwärts und blieb neben der Leiche stehen. Mit einem Stock fischte er nach dem Amulett, riss dann so kräftig daran, dass der Riemen sich löste, der es um den Nacken gehalten hatte. Mit einer raschen Bewegung fing er das Amulett mit der Hand auf und führte sein Pferd zu einem Wagen, der von einem Zelt bedeckt wurde und so ein Haus auf Rädern darstellte. »Bartholomeo, bring ihn zu mir. Ich will keine weiteren Störungen.« »Ja, Vater Benignus«, flüsterte Bartholomeo und kratzte sich die warzige Nase. Er sah Alain nicht an, sondern trat zu dem toten Stinker und wich dabei ängstlich dem knurrenden Kummer aus. »Komm mit, du Narr«,
murmelte er leise. »Begreifst du nicht, wie gefährlich es ist, den guten Vater warten zu lassen?« »Wer sind diese Frauen?«, fragte Alain, ohne sich zu rühren. »Gute Beute.« »Nicht besser als Sklavinnen, so gefesselt, wie sie sind. Was ist mit ihren Kindern passiert?« »Du stellst zu viele Fragen. Wenn du dumm genug bist, fragst du Vater Benignus und nicht mich. Ich bin nur ein armer Mann.« »Selbst ein armer Mann ist nach Gottes Ebenbild gestaltet, oder nicht? Ist das recht, was ihr hier tut?« Bartholomeo fing an zu zittern, und der Glanz des Schweißes auf seinem Gesicht und die Blässe unter seinem dreckigen Bart verrieten Alain, dass der Mann Angst hatte. Er berührte den Stoff seiner Tunika, genau über einer leichten Ausbuchtung, wo auch er ein Amulett trug. Alain schüttelte den Kopf. »Es tut mir Leid, überhaupt jemanden so leiden zu sehen, aber sicher habt ihr hier schwerwiegende Verbrechen begangen. Ich sehe überall Hinweise darauf. Ich bitte dich, Freund, denk an das Schicksal deiner Seele.« 630 »Hier ist der Wagen«, murmelte Bartholomeo. »Warte draußen.« Vater Benignus hatte die Zügel seines Pferdes einem stotternden Jugendlichen übergeben, der das Zaumzeug festhielt, während der verhüllte Mann sich schwerfällig vom Sattel auf das Gerüst des Wagens schwang und im Inneren verschwand. »Platz!« Rage und Kummer ließen sich neben dem Wagen nieder, aber sie sahen aus, als wollten sie jeden Augenblick aufspringen. Während Alain zur Heckklappe kroch, hörte er das verblüffte Gemurmel der Wegelagerer im Lager. Sie alle sahen zu, so wie Wölfe einen verletzten Elch beobachteten und darauf warteten, dass sein Zucken genügend nachließ, damit sie ihn in Stücke reißen konnten. Er folgte Vater Benignus. »Ich wusste, dass du kommen würdest.« Vater Benignus kehrte Alain den Rücken zu, entfachte eine Kerze und ließ das Amulett in eine mit einer klaren Flüssigkeit gefüllte Schüssel gleiten. Es zischte, und die Flüssigkeit kochte und beruhigte sich wieder, verströmte den starken Geruch von Essig. »Die anderen haben Angst vor mir, wie es sich gehört. Auch du solltest Angst vor mir haben.« Das Zelt war gerade hoch genug, dass er in der Mitte des Wagens aufrecht stehen konnte. Die Flamme flackerte unruhig, als der Mann den Schleier löste und den breitkrempigen Hut abnahm. Er hatte lange, fettige Haare, die einmal blond gewesen sein mochten; so viel konnte Alain in dem schwachen Licht erkennen, ehe Benignus sich umdrehte und ihn ansah. Er sank erschöpft auf ein schmales Bett. Vater Benignus war grauenhaft entstellt. Sein Gesicht war halb weggefressen, der Knochen lag bloß. Die Augen eiterten, und Entzündungen hatten seit langem seine Ohren verzehrt. »Seid Ihr ein Aussätziger?« Alain zitterte. Lepra war ansteckend, übertrug sich von einem Menschen auf den anderen. Sie würde jeden treffen. Sie war Gottes schlimmste Strafe. Doch Alain konnte jetzt nicht mehr umkehren. Weil Vater Benignus keine Lippen hatte, sah es aus, als würde er 631 die ganze Zeit über lächeln, so wie ein Skelett. Seine Zähne waren gut, kräftig und weiß; es fehlten lediglich zwei. »Ich bin kein Aussätziger.« Spott schwang in Benignus' Stimme mit. »Ich bin der Geringste unter den Menschen, aber kein Aussätziger. Ich bin derjenige, der schnell vergessen wurde, sogar von denjenigen, die mich benutzt und dann weggeworfen haben. Genauso schnell vergessen von Schachfiguren wie von Bischöfinnen, denn auch du warst nur eine Schachfigur wie ich, nicht wahr? Auch wenn Vater Agius dich bei sich behalten hat. Hat er dich mit seiner Ketzerei vergiftet?« Alain erkannte jetzt seine Stimme, auch wenn sie von all seinem Elend und der Qual ganz verzerrt klang. Er erinnerte sich an die hellblauen Augen. »Ich weiß, wer Ihr seid. Ich habe Euch einmal Bruder Willibrod genannt. Ihr wart ein Geistlicher im Gefolge von Bischöfin Antonia. Sie hat Euch und anderen die Aufgabe des Bindens und Wirkens übertragen. Ihr habt die Amulette hergestellt, die Edelfrau Sabellas Streitkräfte vor der Beschwörung geschützt haben, die den Menschen durch den Blick des Guivre gedroht hat. Sie wollten die Schlacht gegen König Henry gewinnen.« »Aber Vater Agius hat das Guivre getötet! Unsere ganze Arbeit war umsonst! Also wurden wir beiseite geschoben, wir alle, die wir uns vergiftet hatten, indem wir Gottes Werk ausführten. Bis auf Heribert, der sich niemals mit dem Binden und Wirken beschmutzt hatte! Wir sind der Gnade der Schwestern von St. Benigna übergeben worden, die uns zum Sterben auf einem Dachboden eingesperrt haben!« Willibrod zitterte am ganzen Körper, dann würgte er und griff nach einem Fläschchen, das an einem Nagel hing, der das Zelt am Wagen befestigte. Seine gelähmte Hand konnte das Lederfläschchen nicht festhalten. Alain ging hin, nahm das Fläschchen herunter und entstöpselte es. Was Willibrod trank, war anscheinend nicht stärker als Essig, vermischt mit einem Geruch, der so scharf war, dass Alain Kopfschmerzen bekam. Er reichte dem Mann das Fläschchen. Aber das Gefäß entglitt Willibrods zitternden Händen, und die Flüssigkeit ergoss sich über den Boden. 632
Keuchend und würgend schrie Willibrod vor Schmerz auf, als die Flüssigkeit über das Holz lief und einzusickern begann. Er warf sich auf den Boden, zuckte und leckte das Gebräu auf wie ein wahnsinniger Hund. Alain ließ sich neben ihm nieder. »Rühr mich nicht an!« Willibrod zuckte vor Alain zurück, prallte gegen das Gestell des Wagens, aber das schien keine Auswirkungen auf ihn zu haben. »Ich bitte Euch, Bruder. Lasst mich das machen.« Alain rettete das Fläschchen; etwa ein Drittel war ausgelaufen. Die Flüssigkeit brannte an seinen Fingern, und er zuckte zusammen. Willibrod riss ihm die Flasche aus der Hand und setzte sie an den Mund, schluckte gierig, während Alain hastig die Finger an seiner Kleidung abwischte. Der Essig verursachte Blasen auf seiner Haut. »Womit vergiftet Ihr Euch da?« Er blies auf die Hand, aber es bildeten sich immer mehr Blasen dort, wo die Flüssigkeit ihn verbrannt hatte. Willibrod ließ das Fläschchen sinken. Seine Hände hatten aufgehört zu zittern, aber sein Gesicht war so grauenhaft wie zuvor, der Mund zu einer ewigen Grimasse erstarrt. »Das Destillat des Lebens«, flüsterte er. Die Augen rollten zurück, als hätte er Drogen genommen. »Die Seelen sterbender Menschen. Daraus lässt sich ein starker Zaubertrank brauen.« Hatten der Schmerz und der Kummer ihn in den Wahnsinn getrieben? Doch seine Augen waren erschreckend klar, hatten den Blick eines Mannes, der wusste, welch schreckliche Dinge er getan hatte und dass er dafür niemals genug würde büßen können. »Töte mich«, bat Willibrod heiser; seine Stimme war kaum hörbar. Das Essigaroma und der faulige Gestank der Wunden und des Eiters waren so erstickend wie Rauch. Alain hustete, rang nach Luft und trat einen Schritt näher auf den anderen Mann zu, als ein Beben durch seine Gestalt ging, sein Körper zu zucken und zu zittern begann. Alain beugte sich vor, um ihn festzuhalten, aber ehe er ihn berühren konnte, veränderten sich seine Augen; die starre Agonie seines Blicks wurde trüb, und seine Miene veränderte sich 633 auf die gleiche Weise, wie der Himmel sich verändert, wenn Wolken die Sonne bedecken. »Zurück!« Der Gestank seines Atems verblüffte Alain - es war der Gestank, der sich von einem Schlachtfeld erhebt und Aasvögel anzieht. Es war der Gestank nach Verwesung und Verzweiflung, und doch sprach Benignus wie ein siegreicher General. »Rühr mich nicht an. Wieso bist du gekommen?« Rage bellte draußen zweimal und schwieg dann. Alain zog sich zur Zeltklappe am Eingang zurück. »Ihr seid nicht mehr Willibrod.« »Willibrod ist auf dem Dachboden unter der Obhut der Schwestern von St. Benigna gestorben. Das Leben hat ihn nicht ganz verlassen, aber er ist dennoch gestorben.« Das totenkopfähnliche Grinsen war immer noch da. »Jetzt bin ich Vater Benignus und räche mich an der Welt.« »Ihr rächt Euch an Menschen, die Euch niemals etwas getan haben. Menschen, die nichts mit den Schmerzen zu tun haben, die Bischöfin Antonia und Edelfrau Sabella Euch zugefügt haben. Das Böse, das man Euch angetan hat, rechtfertigt nicht das Böse, das Ihr Unschuldigen zufügt.« »Was bringt dich auf die Idee, dass ich noch an so etwas wie richtig und falsch glaube? Wie wurden meine Loyalität und der treue Dienst meiner Kameraden von Gott belohnt? Jetzt habe ich Macht, und ich werde sie so nutzen, wie es mir beliebt. Ich diene weder Gott noch dem Feind. Ich diene nur mir selbst.« Der Zaubertrank hatte ihn erneuert. Er erhob sich, wirkte kraftvoll, unerwartet mächtig und auch ziemlich bösartig. »Bist du auf meiner Seite, Bruder Alain? Oder ziehst du es vor, zu sterben, damit ich mich von deiner Seele nähren kann?« 634 2 Liath rauschte durch den Eingang und blieb abrupt stehen. Ihr Herz raste, aber das kam nicht nur davon, dass sie von Sorgatanis Wagen hierher gerannt war. Was sie sah, ließ sie vor Wut und Besorgnis erzittern. Das Zelt war leer, die Unordnung ein Hinweis auf das hastige Verschwinden von Sanglant und den Übrigen. Er war weg, weg, weg. Wie konnte er nur so dumm sein? Eine schalenähnliche Lampe stand auf einer geschlossenen Truhe und entzündete sich durch die Kraft ihrer Gefühle. Die Flamme bedeckte die Oberfläche des Öls. Als sie sprach, zitterte ihre Stimme. »Er wird zurück zu seinem Heer gegangen sein.« »Das nehmen wir an.« Die Schamanin trat nicht durch die Tür, sondern streckte nur den Kopf ins Innere. Hinter ihr löste sich der nächtliche Nebel auf, als das Licht der Morgendämmerung den Himmel erhellte. »Habt Ihr ihn gehen sehen?« »Ich nicht, aber andere.« »Und sie haben ihn nicht aufgehalten?« Das Öl brannte so heftig, dass sie es mit ihrem geistigen Auge schloss, als würde man ein Fenster schließen. Genauso erstarben jetzt die Flammen. Rauch wirbelte auf, verschwand und ließ einen schwachen Geruch zurück. Sie ging zu der Lampe und warf einen Blick hinein. Das kurze Aufflackern hatte den Ölstand in der flachen Schale kaum verringert. In Sorgatanis Wagen war eine ganze Schale voller Öl verzehrt worden, während sie nach Hanna gesucht hatte. Sie war davon ausgegangen, dass das viele Öl von der Kraft ihres Sehens verbraucht worden wäre, aber jetzt begriff sie, dass sie sich sehr viel länger als vermutet in diesem Tor aufgehalten hatte.
Sie hatte Hanna die ganze Nacht gesucht, während Sanglant seine Tochter und seine Dienerin genommen hatte und zurück zu denen gewankt war, denen er vertraute. Sie trat gegen die Pritsche, auf der er gelegen hatte. Es fühlte sich gut an, gegen irgendetwas zu treten. 635 »Wir werden ihm folgen müssen«, sagte sie und nahm ihre Waffen auf, die sie zwischen Gnades Pritsche und der Zeltwand auf den Boden gelegt hatte. »Wieso müsst Ihr gehen?«, fragte Li'at'dano, als Liath nach draußen trat. Die Zentaurin wirkte aufrichtig verwirrt. »Wir sind Verbündete, Ihr und ich. Es gibt viel zu tun, wenn wir gegen diese Sieben Schläfer kämpfen wollen. Wir haben eine lange Reise vor uns, es sei denn, Ihr könnt die Kronen selbst weben.« »Ich muss zu meinem Ehemann gehen«, sagte Liath und rückte das Schwert und den Köcher zurecht. »Er ist nur ein Mann. Ihr könnt einen anderen finden, wenn es an der Zeit ist, wieder zu gebären.« »Nicht einen wie ihn!« Ihr Blick schweifte über das Lager. »Wieso gibt es keine männlichen Zentauren bei euch? Es gibt Männer und Frauen bei den kerayitischen Verbündeten, aber ich sehe keine Männer unter Eurem Volk.« Li'at'dano blinzelte. Einen Augenblick fürchtete Liath, dass sie die Schamanin beleidigt hatte. Obwohl ihre Gesichtszüge denen der Menschen sehr ähnelten, gab es doch einen Unterschied in der Art und Weise des Gesichtsausdrucks, der ihr grundsätzliches Anderssein verriet. Sie ist wie ich und doch nicht wie ich, dachte Liath. Ich kann nicht davon ausgehen, dass sie so denkt wie ich oder dass unsere Ziele gleich sind. Wir sind Verbündete, keine Schwestern. »Ich bitte Euch«, sagte sie laut. Sie bedauerte, dass sie Sorgatani nicht mehr Fragen über die Zentaurinnen gestellt hatte. Bei Sorgatani hatte sie sich vollkommen wohl gefühlt, hatte sie das Gefühl gehabt, als könnte keine Bemerkung wirklich missverstanden werden. Sie hatte sich in Einklang mit ihr gefühlt. »Ich bitte Euch, ich wollte Euch nicht beleidigen, sollte ich etwas angesprochen haben, das Ihr als ein Tabu betrachtet.« »Wir sind, wie wir sind, und das ist das, was Ihr seht«, sagte Li'at'dano schließlich. »Es ist uns ein Rätsel, wieso das bei Euch anders ist. Es ist die große Schwäche der Menschheit.« »Ich verstehe Euch nicht, aber ich bitte Euch, mir zu vergeben, wenn ich mich auf eine Weise verhalte, die Euren Bräuchen nicht 636 entspricht. Ich muss meinem Ehemann folgen. Wenn es jemanden gibt, der mich begleiten möchte, wäre ich sehr dankbar. Ich weiß nicht, wo sich sein Lager befindet.« »Ihr habt bereits eine Eskorte.« Li'at'dano deutete auf den westlichen Hang. »Das Tier fürchtet und begehrt Euer Herz aus Feuer.« Die Greifin schritt auf dem grasbewachsenen Hügel auf und ab, stets außerhalb der Bogenschussweite der Zentaurinnen. Die aufgehende Sonne tauchte die Federn in Gold, und ihre Flügel schimmerten, als das Licht auf ihnen spielte. Die Schönheit der Greifin war umso beeindruckender, als sie so riesig, gefährlich und wild aussah. Ihr Schwanz peitschte über das Gras; sie war aufgeschreckt und besorgt. »Gott mögen mir helfen«, murmelte Liath. Wenn sie Sanglant folgen wollte, blieb ihr jedoch nichts anderes übrig, als an ihr vorbeizugehen. »Nach Westen und Norden«, fügte Li'at'dano hilfreich hinzu. »Ihr könnt den Rauch ihrer Lagerfeuer sehen. Lasst uns nicht lange warten. Wir müssen rasch weiterziehen. Das Rad des Himmels dreht sich, was immer wir auf der Erde auch tun werden.« »Ich weiß.« Sie drehte sich um und sah die Schamanin an, deren Blick ihr kalt und ruhig vorkam, aber nicht feindselig. Sie sah einfach nur ganz anders aus als die Menschen. »Ich hätte bei meinen Verwandten bleiben können, jenseits der Himmel«, sagte sie schließlich. »Ich hätte der Menschheit den Rücken kehren können, aber ich habe es nicht getan. Dies sind die Ketten, die mich an die Erde binden. Ich kann ihnen jetzt nicht entfliehen, und ich will es auch gar nicht.« Li'at'dano nickte; es war ein Zeichen der Zustimmung, aber nicht unbedingt des Verstehens. »Das ist bei uns nicht so. Ich werde mich nicht in Eure Bräuche einmischen, denn Ihr untersteht nicht meinem Befehl. Und jetzt geht rasch.« Rasch gehen. Plötzlich überwältigte sie die Angst, dass Sanglant und ihrer Tochter etwas Schreckliches zugestoßen sein könnte. Sie war so weit gereist - was war, wenn sie ihn jetzt verlor? 637 Als die Greifin Liath kommen sah, trottete sie zur Seite, schlug mit dem Schwanz auf den Boden, als wäre er eine Peitsche. Liath folgte ihr; zweifellos wusste das Tier, wohin es ging, und Liath entdeckte Spuren eines Weges - nicht unbedingt eines richtigen Pfades, aber es waren Hinweise darauf zu sehen, dass eine kleine Gruppe erst vor kurzem hier vorbeigegangen war: zerbrochene Grashalme, Blutstropfen auf glänzenden Blättern, eine Stelle, an der jemand gelegen hatte. Diese kleinen Zeichen gaben ihr Zuversicht, aber sie wunderte sich. »Wieso führst du mich?«, fragte sie laut. »Wieso interessiert dich dieser Weg? Was suchst du?« Die Greifin schwang den riesigen Kopf herum und starrte Liath mit ihrem bernsteinfarbenen Blick an. Dann zog sie den Kopf ein und breitete mit einem Zittern die Flügel aus, die wie ein Heer von Schwertern in der Sonne aufblitzten, ehe sie sie wieder anlegte. Sie gingen in raschem Tempo weiter. Liath musste rennen, um mit der
Greif in Schritt zu halten. Sie begann, das Schlimmste zu befürchten, als sie bald darauf eine Stelle erreichten, an der der Boden von vielen Stiefeln niedergetrampelt worden war und wo Klauen die Erde aufgerissen hatten. Sanglant hatte also doch noch Greifen gejagt. Doch er war viel zu schwach, um einen töten zu können. Und es war nicht genug Blut zu sehen, nur einzelne Tropfen hier und da. Wenn der Greif ihn in Stücke gerissen hatte, war das zumindest nicht hier geschehen. Und wenn er den Greifen getötet hatte, hätte hier geronnenes Blut auf den Kampf hindeuten müssen. Sie lief schneller, als sie den Rauch der Lagerfeuer gleich jenseits des nächsten Hügels sehen konnte, und ihr Atem kam abgehackt. Die Greifin schoss zum Hügelkamm und blieb dort stehen, schimmerte in der Morgensonne und schrie wütend eine Kampfansage heraus. Liath rannte in der Hoffnung weiter, nicht zu spät zu kommen, und Adrenalin durchströmte sie. Als sie dann den Hügel erklomm und das unerwartet große Lager vor sich liegen sah, als sie sah - und wie hätte sie es nicht sehen können? -, was 1 Sanglant getan hatte, begann sie zu lachen, weil sie sonst sicher geweint hätte. 3 »Da ist ein Greif auf dem Hügel, Prinz Sanglant!« Sogar Hauptmann Fulk konnte ängstlich klingen, wenn er bis an die Grenze des Erträglichen getrieben wurde. »Gott im Himmel! Und eine Frau geht neben ihm her. Sie trägt einen Bogen bei sich.« Das Zögern, das diesen Worten folgte, wog so schwer, dass Fulks Erstaunen fast hörbar war. »Möge der Herr uns gnädig sein!« »Prinz Sanglant«, sagte Heribert leise. Freudig. »Es ist Liath.« Sanglant hatte bisher nicht gewusst, dass es schmerzen konnte, die Augen zu öffnen, aber so war es. Alles schmerzte. Das Atmen tat weh. Das Sonnenlicht tat weh, aber er blickte trotzdem zu dem Lichtfleck am östlichen Hügel. Es war jedoch schwer, etwas zu erkennen, denn die Sonne schien so grell. Das Tier dort oben sah groß und wild aus, und die Flügel glänzten unheilvoll, als sie sich jetzt ausbreiteten. Die Greifin schrie, als wollte sie zum Kampf aufrufen. Pferde wieherten vor Angst, und er hörte Männer rufen. Als Antwort auf den Schrei reckte sich der Silbergreif und zerrte an den Seilen und Ketten, die ihn banden, aber die Soldaten hatten gute Arbeit geleistet. Ein Seil riss, aber die anderen und die Ketten über den tödlichen Schwingen hielten. Bärbeiß eilte herbei, packte das hin und her schwingende Seil und befestigte es mithilfe einiger Kameraden wieder. Diesmal verletzte sich niemand, was jedoch geschehen war, als Sanglant mit dem an den Füßen gefesselten und durch den Umhang blinden Greifen ins Lager gekommen war und sie ihn angepflockt hatten. »Was tun wir, mein Prinz?«, fragte Fulk, noch immer nervös. Pferde stampften auf und wieherten; ihnen gefiel nicht, dass sich die Greifin näherte, trotz der Beschwichtigungsversuche der Pferdepfleger. 639 Die Greifin sah in der Tat Furcht erregend aus. Der Eisengeschmack wehte zu ihnen. Sie war zweifellos gekommen, um ihren Partner zu holen. Aber was im Himmel tat Liath da? Wieso ging sie neben der Greif in her, als wäre die ihr folgsamer Hund? »Wo ist Lewenhardt? Wir brauchen jeden Bogenschützen. Speerkämpfer sollen in versetzten Reihen im Umkreis Position beziehen. Verdoppelt die Wachen bei den Pferden, sofern das nicht bereits geschehen ist.« Er lag auf einem Sofa, das die Soldaten in die Mitte des Lagers geschafft hatten, damit er nahe - aber nicht zu nahe - bei seinem gefangenen Greifen sein und mit ihm sprechen konnte. Der Greif hatte sich an ihn gewöhnt. Sanglant biss die Zähne zusammen und versuchte aufzustehen, aber er hatte nicht die Kraft dazu. Hathui, Fulk und Breschius machten Anstalten, ihm zu helfen, doch er winkte sie ungeduldig weg. »Sie soll zu mir kommen. Ich muss mich nicht bewegen.« Ich kann mich nicht bewegen. »Prinz.« Sie sahen einander an, und wären Gedanken Worte gewesen, hätte er so einiges gehört, aber sie schwiegen dankenswerterweise. Liath kam vom Hügel zu ihnen herunter, während die Greifin oben blieb. Vielleicht war sie klug genug, sich den Soldaten gegenüber vorsichtig zu verhalten, die sich mit grimmigen Mienen und bewaffnet überall im Lager verteilten. Vielleicht befehligte Liath sie auch nur mit Worten. Vielleicht besaß sie so viel Macht. »Möchtet Ihr Schatten, mein Prinz?«, fragte Hathui. »Nein«, sagte er, denn die Wärme der Sonne - soweit sie zu Beginn des Frühlings vorhanden war - war wie Balsam auf seiner Haut, als könnte allein das Licht ihn wieder zusammenflicken. Sanglants Gefolge versammelte sich um ihn herum, hielt aber Abstand zu dem gefesselten Greifen. Dem Tier hatte es nicht gefallen, das Lager zu betreten; der Geruch der Pferde hatte seine Instinkte geweckt. Sibold und einige andere Männer hatten Verletzungen erlitten, aber niemand war bei der Anstrengung, ihn zu fesseln, gestorben. Immer noch blind durch den Umhang, hatte 640 der Greif sich in sein Schicksal ergeben. Jetzt rührte er sich wieder, denn er wusste, dass seine Gefährtin in der Nähe war. Aber der Umhang hielt ihn immer noch in Schach. Er hasste und fürchtete die Blindheit. Der Greif gehörte jetzt ihm, und Sanglant hatte nicht vor, ihn zu verlieren. Nicht einmal an seine Frau.
Sie betrat das Lager bewaffnet und strahlend, blieb eine Manneslänge von dem Sofa entfernt, auf dem er lag, stehen. Sanglant wurde von dem langen Zopf abgelenkt, der ihr über Schulter und Brust bis zur Taille fiel. Er erinnerte sich daran, wie die Spitze des goldbraunen Zopfes beim Gehen auf ihrem Rücken hin und her flog. »Prinz Sanglant«, sagte sie auf formale Weise und riss ihn damit in die kalte, grausame Wirklichkeit zurück. Dieses Spiel konnten zwei spielen. »Ich bin Prinz Sanglant.« Für den Fall, dass du das vergessen hast. Ihre Miene veränderte sich nicht, aber sie reckte das Kinn, woran er erkannte, dass der Hieb saß. Dennoch fuhr sie auf die gleiche Weise fort. »Ich bin gekommen, um dir ein Bündnis vorzuschlagen. Du bist nach Osten marschiert, um Greifen und Zauberer zu finden. Ich sehe, dass du deinen Greifen gefangen hast. Was ist mit dem zweiten Teil deiner Suche?« »Ich glaube, ich kann einen Greifen dazu bringen, mir aus der Hand zu fressen und auf meinen Ruf zu hören. Sind Zauberer auch so gehorsam?« In ihren Augen blitzte Wut auf- sie sprühten regelrecht. Es war unheimlich, wie das blaue Feuer ihrer Iris funkelte, ganz so, als würde es brennen. »Können wir uns allein unterhalten?«, fragte sie schließlich. Er hatte genug Kraft, um die Hand zu heben. Fulk jagte alle Neugierigen weg, bis nur noch er selbst, Hathui, Breschius und Heribert blass und besorgt dastanden. »Ich höre«, sagte Sanglant auf sehr formale Weise. »Wo ist unsere Tochter?« 641 »Bei mir. Sie steht unter meinem Schutz und dem ihrer treuen Diener, die ihr vier lange Jahre lang ergeben gedient haben, ohne ihr von der Seite zu weichen, manchmal sogar unter Gefährdung ihres eigenen Lebens.« Er konnte an den zusammengekniffenen Lippen und dem Zucken ihrer Schultern erkennen, wie auch dieser Hieb sie traf, aber sie wankte nicht. »Sie leidet an einer Krankheit, die von keinem gewöhnlichen Heiler geheilt werden kann. Sie wird sterben, wenn sie nicht unter dem Schutz der Zauberei steht, bis wir wissen, wie wir sie heilen können.« »Sie ist noch nicht gestorben. Ich glaube, es war deine Rückkehr, die sie verwundet hat.« »Sanglant!« Aber sie zögerte. Sie dachte angestrengt nach, auch wenn ihre Miene nichts verriet. Seine Begleiter starrten sie an, verwundert über ihr Auftauchen, und vielleicht auch verwundert über diese Unterhaltung, die mehr an die taktischen Bewegungen rivalisierender Familien erinnerte als an die Wiedervereinigung sich nahe stehender Personen. Heribert schien etwas sagen zu wollen, aber Sanglant begegnete seinem Blick, und mit einem scharfen Seufzer verlagerte Heribert sein Gewicht von einem Bein aufs andere und hielt den Mund. »Sanglant.« Wieder zögerte sie, aber nur, um ihre Stimme zu sammeln und so leise sprechen zu können, dass nicht einmal jene sie hörten, die in der Nähe standen. »Wieso sprichst du mit mir, als wären wir Feinde?« Es kümmerte ihn nicht, ob andere mithörten. Er wollte sogar, dass andere mithörten. »Feinde? Schlimmer noch als Feinde! Du hast mich verlassen! Du hast mich in Verna zurückgelassen. Deine Tochter ist verzaubert, auf eine Weise mit einem Bann belegt, die niemand hier begreifen kann, aber du warst nicht hier, um etwas dagegen zu tun. Jetzt wird sie vielleicht sterben. Ich bin mit alldem allein zurückgelassen worden. Vier Jahre lang! Ich dachte, du hättest mir Treue geschworen, aber du bist nicht anders als meine Mutter, wie sich herausgestellt hat. Du hast deinen Ehemann und dein Kind verlassen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.« 642 Es tat so gut, zurückzuschlagen. Er wollte, dass seine Worte sie verletzten, und das taten sie auch. Er sah sie aschfahl werden, sah, wie sie die Hände zu Fäusten ballte und ihr ganzer Körper sich anspannte. Aber sie hatte ihre eigenen Waffen. »Deine Mutter ist niemals mit König Henry verheiratet gewesen.« »Das stimmt! Sie hat ihm nichts versprochen! Sie hatte keine Pflicht zu erfüllen! Aber du! Wieso hast du uns verlassen? Wieso hast du so lange gewartet, zu uns zurückzukehren?« Jetzt war sie wirklich wütend; sie strahlte regelrecht vor Zorn. »Ich habe dich nicht verlassen! Meine Verwandten haben mich in Verna einfach mit sich genommen. Ich habe nie darum gebeten, mit ihnen zu gehen. Als ich ihnen nicht höher in die Sphären folgen konnte, war ich plötzlich im Land deiner Mutter, wo ich herausgefunden habe, dass alles wahr ist, was Anne sagt. Schlimmer noch, ihre Deutung der Wahrheit ist durch ihre eigenen Fantastereien verzerrt. Aber jetzt bin ich in den Sphären gewandelt. Ich habe durch das Tor des brennenden Steins in eine uralte Vergangenheit geblickt. Ich weiß, welche Zerstörung uns erwartet, wenn Anne ein zweites Mal diesen Bann webt.« Sie war jetzt ungemein aufgewühlt. Ihre Stimme war so laut, als müsste sie über den Lärm einer Schlacht hinweg zu hören sein, sodass der Greif innehielt und alle im Lager verharrten und sich ihr zuwandten. »Ich habe dich nicht vier Jahre lang verlassen. Im Land der Ashioi verrinnt die Zeit nicht nach dem gleichen Maßstab wie bei uns. Es gibt dort einen alten Zauberer, der in den Tagen der großen Umwälzung gelebt hat, als sein Volk und das Land seines Volkes von der Erde weggerissen wurden. Er ist dein Großvater, Sanglant. Er lebt noch, auch wenn er nach unseren Maßstäben bereits zwanzig oder mehr Jahrhunderte leben muss. Als ich in
dieses weit entfernte Land gegangen bin, als ich die Leiter der Magie hinaufgestiegen und in den Sphären gewandelt bin, ist es mir so vorgekommen, als wären nicht mehr als sieben Tage vergangen. Es ist mir so vorgekommen, als hätte ich Verna erst wenige Tage zuvor verlassen. Ich 643 hätte nicht früher zurückkehren können! Ich habe mein Möglichstes getan. Ich habe gelitten, und ich habe gelernt, und ich habe mich großen Gefahren ausgesetzt, und ich habe das Zentrum meiner eigenen Macht kennen gelernt. Vielleicht bin ich die Einzige hier, die Anne aufhalten kann. Vielleicht ist mir diese Pflicht, diese Aufgabe auferlegt worden. Vielleicht wiegt das Leben von unzähligen tausenden und zehntausenden mehr als das eines Einzigen, auch wenn es sich um das Leben und das Glück meines geliebten Mannes handelt. Es tut mir Leid, dass vier Jahre für dich vergangen sind! Ich habe nicht gewollt, dass dies passiert, aber ich hätte nichts anders machen können. Ich hätte dort bleiben können, bei meinen Verwandten, an einem Ort, der um vieles besser und strahlender ist als das hier! Aber ich habe mich entschieden, zu dir zurückzukehren. Zu Gnade. Zur Erde. Zur Heimat meines Vaters. Und ich habe sicher mit einem besseren Empfang gerechnet als dem hier!« In der vollkommen verblüfften Stille, die diesen Worten folgte, brach mit einem lauten Whuusch eine Flamme am Kamm entlang aus und veranlasste die große Greifin, sich in die Luft zu erheben und einen sichereren Ruheplatz zu suchen. Gras knisterte, und Soldaten schrien auf. Rauch wehte gen Himmel, als Liath verblüfft aufsah und bemerkte, dass die Flammen sich stürmisch ausbreiteten. Mit eindringlichem Blick wandte sie die Aufmerksamkeit von Sanglant ab, runzelte die Stirn. Die Flammen erloschen schlagartig. Rauch stieg auf, und Asche regnete herab und trieb im Wind davon. Sanglant wurde jetzt von einem völlig unerwarteten - oder von vornherein zum Scheitern verurteilten - Anflug von Erregung überflutet, als er sie auch nur ansah, ihr so nahe war, dass er ihren Geruch wahrnehmen konnte. Seine Wut machte seine Sinne noch empfindlicher, was sich durch ihre Anwesenheit verstärkte, auch wenn sie sich nicht berührten. Sie war so schön, nicht auf eine gewöhnliche Weise, sondern so, wie er es in Erinnerung hatte, als er in den Nächten in Gent von ihr geträumt hatte, als er in den Nächten in Verna neben ihr aufgewacht war, als er erstaunt und erfreut und völlig ausgehungert nach ihr gewesen war, als er sich nach der Berührung ihrer Haut, ihrer Hände, ihrer Lippen gesehnt hatte. 644 Vielleicht konnte er noch nicht gehen, aber er brachte genug Kraft auf, um die Arme zu bewegen. Er umfasste ihren Nacken mit einer Hand, genau am Haaransatz. Allein diese Berührung machte ihn trunken vor Leidenschaft. Er zog ihren Kopf zu sich herunter und küsste sie. Und küsste sie. Und küsste sie. Ihre Wärme brachte ihn zum Schmelzen wie das Feuer der Sonne, als würde allein die Begierde ihn wieder heilen. »Prinz Sanglant! Die Greifin!« Er ließ Liath los, und sie sprang auf. Ihre Wangen waren gerötet, und ihre Augen leuchteten. Sie war genauso von Leidenschaft erfüllt wie er. Aber hinter ihr stapfte die Greifin zwischen den Zeltreihen herum. Die Männer wichen zurück, doch das Tier schlug nicht zu. Fulk machte mit erhobenem Speer einen Schritt nach vorn, wurde jedoch von Liath aufgehalten. »Nicht bewegen!«, sagte sie scharf. Heribert war grauweiß wie saure Milch geworden, und Hathui spannte sich an, zog eine Grimasse, als sie sich auf den Tod gefasst machte. Nur Breschius sah in aufrichtiger Ehrfurcht zu, als die Greifin den Kopf wandte, um ihn zu mustern. Der Frater erweckte den Anschein, als wäre er in diesem Augenblick zum Sterben bereit, solange ihn der Tod durch ein solch schrecklich schönes Wesen ereilte. Dann ging die Greifin an ihm vorbei und baute sich vor Sanglant auf. »Rühr dich nicht!«, sagte Liath, aber natürlich konnte er sich ohnehin nicht rühren, auch wenn er die Greifin hätte töten wollen. Ein Gestank nach Eisen entströmte ihr wie die heiße Luft einer Schmiede und drang ihm bis ins Mark. Er musste die Augen schließen. Schweiß trat auf seine Stirn. »Und jetzt?«, fragte er und öffnete die Augen wieder. Er lachte fast. Er war vollkommen hilflos; die Greifin könnte ihm den Kopf abreißen, und selbst der Fluch seiner Mutter würde ihn davor nicht schützen. Aber er konnte den Blick nicht von der Gestalt seiner Frau abwenden, die hinter dem riesigen Kopf der Greifin zu sehen war. Er wusste, was sich unter Liaths Tunika befand - er sah 645 die Kurven ihrer Hüften, die Wölbung ihrer Brüste, und tatsächlich stellte die Greif in nach all der Zeit eher eine Ablenkung dar als eine Gefahr. In diesem Augenblick. In diesem Moment. Vielleicht würde es gar nicht so schlecht sein, zu sterben, wenn man in den Armen derjenigen lag, die man mehr als alles andere liebte. Die Greifin schnaufte, was wie ein pfeifendes Husten klang, und der Silbergreif stieß im Gegenzug einen jaulenden Ruf aus. »Möchtest du den Greifen freilassen?«, fragte Liath. »Nein«, sagte er trotzig. »Ich brauche Greifenfedern. Ein lebendes Tier dient mir genauso gut oder sogar noch besser als ein totes. Ich beanspruche ihn.« »Das tut sie auch.« Liath lachte ebenfalls - wenn auch nicht laut. Aber es war in ihrer Miene zu erkennen. Sie hatte keine Angst vor den Greifen, und noch wichtiger, sie begehrte ihren Mann noch immer.
Die Greifin neigte den Kopf, bis der tödliche Schnabel nur noch eine Armeslänge von seinem Gesicht entfernt war, seinen Geruch suchte oder sein Wesen zu ergründen versuchte. »Liebst du mich noch?«, fragte er, daran denkend, dass er vielleicht sterben würde, ohne noch einen weiteren Atemzug machen zu können. Er musste es wissen. Jetzt lachte sie. »Ich habe einen Eid geschworen, keinen anderen Mann als dich zu lieben, Sanglant, also spielt es wohl kaum eine Rolle, oder? Ich habe mich gebunden. Ich werde niemals frei von dir sein.« »Dank sei Gott.« Die Greifin schnaufte erneut, und das Geräusch fuhr zitternd durch seinen Körper. Sie hob den Kopf, setzte sich dann auf die Hinterbeine, als wäre sie ein Wachhund. Das hörbare Keuchen der Soldaten und seiner Begleiter umgab ihn wie das Gemurmel eines aufkommenden Windes. Eine Eisenfeder löste sich und wehte zu Boden, schnitt durch das Gras neben seinem Sofa. Er griff danach und stellte fest, dass er sich nicht verletzte, wenn er die Finger von dem gefiederten Ende und den Kanten fern hielt. »Ich war nicht einmal fähig, Bulkezu zu töten«, sagte er leise und starrte die Feder an. Seine Wut war noch nicht ganz ver646 schwunden, nur hinuntergeschluckt. »Ich brauche diesen Greifen, sonst kannst du das Heer auch gleich selbst führen.« Sie zog eine Grimasse, als ein Schatten ihr Gesicht bedeckte. »Ich bin keine Anführerin. Ich bin keine Herrscherin.« »Du bist Taillefers Erbin!« »Das bin ich nicht!«, sagte sie triumphierend. »Anne ist nicht meine Mutter. Ich bin nicht das Kind einer menschlichen Frau. Belaste mich nicht mit Taillefers Vermächtnis. Ich bin frei davon.« Er ließ die Feder los und schloss die Augen, als ein schmerzhafter Krampf seine Brust erfasste. Nach einer Weile konnte er wieder sprechen. »Wenn du nicht Annes Kind bist - wenn du nicht Taillefers Urenkelin bist, was ist dann mit Gnade? Was ist mit ihrem Anspruch?« »Du bist das Kind eines Herrschers, Sanglant. Gnade ist Henrys Enkelin. Genügt das nicht als Anspruch?« Nein. In all der Zeit hatte er Gnade vor seinen Verbündeten aufmarschieren lassen, als wäre sie die rechtmäßige Erbin von Taillefer. Jetzt herauszufinden, dass dieser Anspruch nicht berechtigt war, verschlug ihm die Sprache. Die Greifin ließ sich richtig nieder und legte den Adlerkopf auf die Vorderbeine. Sie schloss die Augen und schnaufte noch einmal. Die Wucht des Geräuschs bebte durch ihre Schultern und die gelbbraunen Hinterbacken. Ihr Schwanz schlug auf den Boden und wurde dann ruhig. »Ich bin nicht Annes Tochter«, wiederholte Liath so leise, dass er sie nur hören konnte, weil er ein unnatürlich scharfes Gehör besaß. »Ich bin das uneheliche Kind meines Vaters Bernard und einer gefangenen Feuerdaemonin. Es ist wahr, dass mein Vater aus einem edlen Haus stammt, aber es ist ein sehr geringes Geschlecht.« »Du hast gesagt, dass Sturm dein Verwandter wäre.« »Das hat Wulfhere mir erzählt. Ich glaube, dass es stimmt. Aber Wulfhere hat gelogen, was Anne betraf, und so hat er vielleicht in der anderen Sache auch nicht die Wahrheit gesagt.« 647 »Oh, Gott«, flüsterte Sanglant, als seine Erregung nachließ, sodass er seine Erschöpfung und seine Schmerzen wieder spürte. »Wie können wir wissen, was wahr ist und was Lüge? Wie können wir den richtigen Pfad finden?« »Greifen und Zauberer.« Ihr Blick flackerte zu der schlafenden Greifin, und er sah in ihrer Miene, dass sie nicht ganz so furchtlos war, wie er geglaubt hatte - die Kreatur machte sie nervös, auch wenn sie überzeugt war, dass sie ihr nichts tun würde. »Du bist die ganze Zeit auf dem richtigen Weg gewesen. Du hast erhalten, weshalb du so weit marschiert bist. Zusammen können wir uns nach Westen wenden und gegen Anne kämpfen.« »Wir werden ein mächtiges Heer benötigen, um unsere Feinde zu besiegen.« »Ich kann dir kein Heer bringen.« »Und das verlange ich auch nicht von dir«, sagte er gereizt. »Ich besitze einen Talisman, der besser ist als Greifenfedern. Ich weiß, wie man ein Heer aushebt. Zuerst müssen wir eine Versammlung einberufen ...« Aber er war so schwach, dass er nicht einmal aufrecht sitzen konnte. »Ich brauche zwei Tage zur Heilung.« »Die Himmel drehen sich weiter, unabhängig von unseren Verletzungen. Wir müssen uns beeilen.« »Ich brauche zwei Tage! Ich kann nicht ...« Er hustete, verzog das Gesicht, und nur der Druck ihrer Hände auf seinen Schultern verhinderte, dass er zuckte und dabei die Wunde wieder aufriss. Er packte ihre Finger und atmete mit geschlossenen Augen, die Lippen zusammengepresst und das Gesicht verzerrt, während er darauf wartete, dass der Anfall vorüberging. »Prinz Sanglant. Liath, was ist los?« »Bring ihm etwas zu trinken, Heribert, ich bitte dich. Wein, wenn ihr welchen habt.« »Wir haben nichts als diese eklige vergorene Stutenmilch.« »Das wird genügen. Sie wird den Schmerz lindern.«
Sie löste den Druck auf seiner Schulter und streichelte seine Wange. Er hielt ihren Zopf fest, drehte ihn mit der Hand herum, ließ sich von der Berührung ablenken und atmete den Schmerz mit jedem Atemzug aus, bis er sich entspannen konnte. 648 »Gnade«, sagte er schließlich, als er wieder sprechen konnte. »Was ist mit Gnade?« »Ich kenne die Zauberei nicht, die sie befallen hat. Vielleicht hat Pa in seinem Buch etwas darüber geschrieben, aber ich habe das Buch nicht mehr.« »Hugh hat das Buch deines Vaters.« »Hugh stellt eine weitere Gefahr dar«, pflichtete sie ihm bei. »Ich werde zu Li'at'dano gehen. Ich werde ihr deinen Wunsch nach einer Versammlung überbringen. Ich werde sie bitten, alles Mögliche zu tun, um Gnade zu schützen.« »Können wir ihr trauen? Die Zentaurinnen haben das alte Kaiserreich zerstört. Sie haben die Menschen damals gefürchtet und gehasst. Sie fürchten sie auch jetzt.« »Ich vertraue Li'at'dano.« »Vertraust du ihr bei dem Leben deiner Tochter?« »Vertraust du mir bei ihrem Leben, Sanglant?« »Ah!« Es war ein unerwarteter Hieb, ein Messerstich im Dunkeln. Die Worte fielen ihm schwer, nach allem, was vorgefallen war, aber er sprach sie trotzdem. »Tu, was du tun musst.« 4 »NEIN.« Der Gestank von Willibrods Zauberei erfüllte das Zelt und brachte Alains Augen zum Tränen, aber er weinte auch vor Trauer und Abscheu. Er tastete mit den Händen hinter sich, fand den rauen Zeltstoff, die Klappe über dem Eingang, und hielt sie fest. »Ich werde Eurer Gruppe nicht beitreten. Und Ihr werdet mich auch nicht töten. Ihr habt keine Macht über mich.« »Ich habe Macht«, flüsterte Willibrod. »Die Macht, die Herzen der Menschen zu verwandeln, sodass sie einander fressen und sich dem Schlimmsten hingeben, das in ihnen ist. Die Macht, andere leiden zu lassen. Die Macht, die Schwachen zu jagen. Ich bin nicht schwach.« 649 »Du bist allein.« Willibrod machte einen Schritt auf ihn zu, aber Alain blieb stehen und riss den Zeltstoff zur Seite, damit Licht ins Innere strömte. Willibrod schrie auf und taumelte zurück. Er griff nach dem Hut mit dem Schleier, während draußen Rage und Kummer ein solches Gebell anstimmten, dass die Leute, die näher gekommen waren, um zu lauschen, sich vor Angst zerstreuten. »Könnt Ihr die Berührung der Sonne ertragen? Oder die Berührung der Erde? Ihr seid verletzlich, Willibrod. Indem Ihr Eure Macht missbraucht habt, habt Ihr die Waffe geschmiedet, die Euch töten wird.« Willibrod wimmerte noch immer vor Schmerz, als er sich bemühte, den Schleier über das Gesicht zu ziehen. Alain trat aus dem Zelt und stellte sich auf die heruntergelassene Heckklappe des Wagens. Rage sprang auf Bartholomeo und eine Gruppe von fünf anderen Männern zu, die näher gekommen waren, und sie wichen zurück, bis sie in sicherer Entfernung waren. Rot hob seinen Stab, um sich zu schützen, aber der Hund trottete davon, sodass er außerhalb seiner Reichweite war. »Vater Benignus ist nicht Herr über Leben und Tod!« Alain hob seine Stimme, damit sie kräftiger klang; er wusste, dass er die Furcht der Wegelagerer vor Willibrod zu seinem Vorteil nutzen konnte. Die Wut machte ihn verwegen. »Er kann euch nur so lange töten, wie ihr die Amulette tragt, die er euch gegeben hat.« »Sie beschützen uns vor dem Tod!«, rief Bartholomeo. »Niemand, der ein Amulett trägt, ist bei einem Kampf gefallen.« »Gegen welche unerbittlichen Feinde habt ihr denn gekämpft? Arme Bauern? Verängstigte Kinder? Leute, die keine besseren Waffen haben als Schaufeln und Hacken? Würde es euch auch so gut gegenüber bewaffneten Männern ergehen ? Denn bewaffnete Männer werden schon bald kommen. Die Truppen von Edelmann Arno werden herreiten, gewarnt von meinen Kameraden. Wie wollt ihr gegen gut ausgebildete Soldaten überleben?« Der Wagen unter seinen Füßen zitterte, und er sprang von der Hecktür und landete auf dem Boden. »Wird Vater Benignus euch beschützen? Er kann nicht einmal 650 sich selbst beschützen! Hat jemals Licht seine Haut berührt seit dem Tag, als er euch um sich geschart hat? Haben seine Füße jemals den Boden berührt? Er fürchtet Licht und Erde, weil er kein starker Mann ist, sondern schwach. Er braucht euch nur aus einem Grund, damit ihr ihm Seelen bringt, die er trinken kann, um seine Hülle so einen Tag länger am Leben zu erhalten. Am Ende wird er auch eure Seelen essen, weil sein Hunger ihn dazu treibt.« Jetzt hatte er sie. Zwanzig von ihnen flüsterten, wichen zurück, als Willibrod durch den Zelteingang ins Freie drängte. Der Malefikus war wieder verschleiert und trug Handschuhe, ohne einen Fetzen Haut zu offenbaren. Frauen kauerten am Felsen. »Tötet ihn«, sagte Willibrod. »Der Mann, der ihn tötet, kann sich heute eine Frau aussuchen.«
Alain machte einen Schritt auf die Männer zu. Ihre Gesichter waren freudlos, einige wirkten mitgenommen und müde, andere wie unausgebildete Hunde, die sich dem kleinsten Instinkt folgend auf jemanden stürzten. »Ist das die Belohnung, die er euch gibt? Dass ihr Frauen zu einem Akt zwingen könnt, aus dem sie keinerlei Vergnügen ziehen und für den sie euch hinterher hassen?« »Was interessiert es uns, ob sie uns hassen«, rief Hundeohr, »solange wir unser Vergnügen mit ihnen haben können? Ich bin Sklave auf dem Gut eines Edelmanns gewesen. Da hat es nie Frauen für mich gegeben. Jetzt habe ich zumindest was, das ich vorher nicht hatte.« »Ich habe einen guten Wollumhang und eine Silberkette«, sagte Rot. »So was hatte ich vorher nie!« »Genug zu essen und Fleisch!« Die Übrigen murmelten ihre Zustimmung. Sie waren Gesetzlose und Ausgestoßene, Sklaven und Diener, obdachlose Tagelöhner, die - wie Willibrod - nach Belieben derjenigen, die Macht über sie hatten, benutzt und weggeworfen worden waren. Wieso sollten sie sich darum scheren, ob sie sich bösen Neigungen hingaben? Sie hatten ohnehin keine Hoffnung. Edelmann Arnos Männer würden sie wie Ungeziefer vernichten, also nahmen sie das an, was Willibrod ihnen bot, denn es war ein Festmahl verglichen mit den 651 Brocken, die man ihnen in ihrem früheren Leben vor die Füße geworfen hatte. Er konnte sie mit seinen Argumenten nicht überzeugen. Bartholomeo legte einen Pfeil an die Sehne. Rot und Hundeohr machten ein paar bedrohliche Schritte auf Alain zu; sie hoben die Stöcke, zögerten nur, weil die Hunde knurrten. Ihre Amulette hingen um ihren Hals. Ihre Amulette. Dieser Gestank nach Essig enthielt den Schlüssel. »Wisst ihr, wie Vater Benignus sich am Leben erhält?«, rief Alain. »Tötet ihn!«, schrie Willibrod vom Wagen. »Es mag stimmen, dass niemand von euch sterben wird, wenn ihr die Armen und Hilflosen angreift. Aber ihr kämpft gegeneinander, und Vater Benignus bestraft jene, die den Frieden stören. Und wenn dieser Mann stirbt, wird seine Seele in seinem Amulett gefangen. Wenn dieser Mann« - er deutete auf Willibrod - »dann das Amulett nimmt, taucht er es in Wasser und trinkt die Seele des Toten. Der Trank verleiht ihm Leben für einen weiteren Tag oder eine weitere Woche. Er ernährt sich von euch. Er hat euch um sich geschart, damit er euch benutzen kann. Er hegt keine Liebe euch gegenüber. Er macht sich nichts aus den Härten, die ihr einst erdulden musstet, und es kümmert ihn auch nicht, welche Grausamkeiten ihr über andere bringt. Er lebt aus keinem anderen Grund als wegen seines eigenen Hungers. Am Ende wird er euch alle töten.« »Tötet ihn!«, schrie Willibrod erneut, aber die Wegelagerer verhielten sich ruhig, flüsterten miteinander, fingerten an den Amuletten herum und senkten die Bögen. »Oder ich werde dich töten!«, brüllte Willibrod. »Eloie! Eloie! Isaba-« Bartholomeo ließ den Pfeil von der Sehne schnellen. Er zerriss das zerfetzte Gewand. Willibrod wirbelte zurück und prallte gegen das Zelt. Der Zeltstoff wurde zerrissen, als das Gestell zerbrach, aber er wedelte mit den Armen und blieb weiterhin stehen, obwohl der Pfeil mitten aus seiner Brust ragte. Er hob die Hand, um den Fluch zu beenden. 652 »Eloie! Eloie!« Kummer machte einen Satz und packte sein Bein. Die Kraft seines Bisses brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Willibrod taumelte. Mit einem schrecklichen Schrei wankte er, fuchtelte mit den Armen und verlor den Halt. Sein Gewand flatterte, und der Schleier teilte sich; er traf hart auf dem Boden auf, während Kummer vor Schmerz jaulend zurückwich. Der Hund schüttelte den Kopf hin und her, als wäre er gestochen worden, rieb seine Schnauze an der Erde. Stille setzte ein, schwer und durchdringend. Kein Vogelgesang, kein Raunen des Windes in den Bäumen, kein einziges Geräusch störte die unnatürliche Stille. Willibrod rührte sich nicht. Im Lager wimmerten Stimmen vor Furcht. Ein Kind schrie und wurde von seiner erschreckten Mutter beschwichtigt. »Oh, Gott«, sagte einer der Männer. Seine Stimme zerbrach den Bann, der Alain gefangen nahm. Er kniete neben Willibrod nieder und zupfte an seinem Gewand. Der Körper veränderte sich, klapperte und ratterte. Was war von ihm noch übrig? Obwohl Alain schnüffelte, roch er keinen Verwesungsgestank, nur eine Spur des Essiggeschmacks. Er machte sich auf den schrecklichen Anblick gefasst, den er zu sehen bekommen würde, und hob den Schleier und den Hut. Er sah einen grinsenden Schädel mit weit offen stehendem Kiefer. Willibrod war weg. Nur sein Gerippe war noch da, wurde dunkler, als das Sonnenlicht in die hellen Gebeine fuhr. Rage machte einen Satz, knurrte wild, und Kummer tat es ihr gleich. Zu spät sprang Alain auf. Ein Stab knallte gegen seinen Kopf. Er ging zu Boden, seine Hände und Beine waren ohne jedes Gefühl und wie gelähmt von dem Hieb. Um ihn herum waren die knurrenden Hunde zu hören, die sich in der Minderheit befanden, und die Schreie und Rufe der näher kommenden Wegelagerer. »Geht«, murmelte er den Hunden zu, aber er hatte keine Stimme. Sein Kopf brannte, und der Rest seines
Körpers war taub. Wieso hatte er ihnen den Rücken zugekehrt? Auch nur diesen 653 einen Augenblick lang, als er dachte, Willibrods Tod und Zerfall hätten sie entsetzt. Sogar dieser eine Augenblick war zu lang gewesen. Wut und Trauer kochten in ihm hoch. Was hatte er seinen treuen Hunden angetan? Besser, sie rannten weg und retteten sich. Er rührte sich, versuchte, sich zu erheben und sie zu beschützen. Ein zweiter Hieb knallte gegen seinen Rücken, und ein dritter explodierte schmerzhaft in seinem Nacken. Dem heftigen Schmerz folgte das Gefühl eines langen, benommenen Gleitens, als er in der Strömung eines glitzernden Flusses zum Meer gezogen wurde. Hin und wieder tauchte er an die Oberfläche und hörte Stimmen, sah jedoch nur dunklen Nebel. »Er weiß, wer wir sind! Er weiß, was wir getan haben! Ich bin dafür, ihn zu töten!« »Töten wir ihn! Machen wir ihn fertig!« »Nein! Halt ein, Rot! Leg das Messer weg!« Es war Bartholomeo, der jetzt sprach. »Was haben wir davon, wenn wir ihn töten ?« »Wir müssen ihn loswerden!« Das war Hundeohr. »Dieser Edelmann Arno wird schon bald hinter uns her sein, wenn es stimmt, was dieser Verfluchte hier gesagt hat. Wir müssen das Lager verlassen. Wir müssen weglaufen, uns vielleicht sogar trennen. Ich bin dafür, ihn zu töten.« »Töten wir ihn! Töten wir ihn!« »Wir könnten Münzen und Brot für ihn bekommen, wenn wir ihn und die Frauen auf dem Sklavenmarkt verkaufen. Er ist kräftig und gesund. Die salianischen Händler werden uns einen guten Preis für ihn zahlen.« Wo waren Rage und Kummer? Er konnte sie nicht sehen, auch nicht hören. Oh, Gott, waren sie tot? Hatten die Wegelagerer sie getötet? Er war so nachlässig gewesen, ein richtiger Dummkopf, dass er sich auch nur einen Augenblick lang abgewendet hatte. Die Strömung riss ihn mit sich und zog ihn tief nach unten. XXI Vertrauen
1 Sanglant glitt so unmerklich vom Wachzustand in den Schlaf, dass der Übergang geschah, als sie gerade blinzelte. Heribert deckte ihn mit einem Laken zu, während Liath Hathui zu sich winkte. »Ich bitte dich, gib mir einen Bericht über das, was passiert ist, als ich weg war.« »Hast du einen Tag Zeit, dir meine Geschichte anzuhören?« Liath lächelte trocken. »Nein. Sag mir nur das Wichtigste. Ich kann den Rest später erfahren. Komm mit, du kannst es mir erzählen, während ich bei meiner Tochter sitze.« »Ich werde bei Prinz Sanglant bleiben«, sagte Heribert. Liath fand einen alten Mann bei Gnade, dessen nackter Oberkörper mit Tätowierungen von ineinander verschlungenen Tieren übersät war. Seine Augen weiteten sich, als er sie sah, und er trat respektvoll zurück, summte mit seiner quäkenden Stimme eine Melodie. Der Klang lief ihr Rückgrat auf und ab, als würde ein unvollendeter Zauber sich Eingang zu verschaffen suchen. Andere verneigten sich ehrfurchtsvoll vor ihr: die kerayitische Heilerin und drei besorgte wendische Diener - die junge Frau mit der eigentümlichen Hautfarbe, die Anna hieß, ein Jugendlicher namens Matto und ein junger Edelmann namens Thiemo, der freundlich zu Anna war und wütend auf Matto zu sein schien, ob655 wohl sie beide gleich alt waren und auch Kameraden hätten sein können. Sie sind nicht so viel jünger als ich, dachte Liath, aber sie kam sich unglaublich alt vor. Sie war so weit gereist, dass sie manchmal das Gefühl hatte, als wäre sie in der Zeit von wenigen Tagen um hundert Jahre gealtert. Aber als sie sich über die Pritsche beugte, auf der Gnade lag, konnte sie sich nicht vorstellen, dass sie auch nur alt genug war, um Mutter eines Kindes zu sein, das aussah, als wäre es zwölf Jahre alt. Aber das war Gnade ja auch nicht. Sie war nicht einmal vier Jahre alt; es war nur die ätherische Verbindung mit Jerna, die ihr Wachstum so beschleunigt hatte. Würde ihr kleines Mädchen strahlend brennen und nur eine kurze Zeit leben? Sie könnte schon bald älter als ihre Eltern sein, in ihrer zweiten Kindheit herumwanken und die Erinnerung an das vergessen, was einst ihr Leben gewesen war. Es war zu schmerzhaft, daran zu denken. »Wie ist Euer Name ? Wer seid Ihr?«, fragte Liath den alten Mann. Er nickte. »Ich bin Gyasi. Ich bin ein Schamane des Kirshat-Stammes. Ich schulde ihr mein Leben.« Er deutete auf Gnade. »Deshalb diene ich ihr.« »Kennt Ihr eine Zauberei, die sie aufwecken könnte?«
Er schnalzte mit der Zunge und hob das Kinn - eine verneinende Antwort. »Dies ist ein mächtiger Zauberspruch. Ich kenne ihn nicht. Ich bin machtlos.« Sie starrte auf das Kind, das ihr entrissen worden war. Anna kämmte die dicken Haare des Mädchens, und Liath fragte sich, ob es nicht praktischer wäre, die Haare einfach abzuschneiden. War ihre Tochter stolz auf ihre Haare? Sie wusste nicht einmal eine solch kleine Einzelheit. Sie wusste eigentlich gar nichts. Gnade war eine Fremde. »Hathui, ich bitte dich«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme. »Erzähl mir, was in den Jahren passiert ist, in denen ich weg war.« Die Sonne hatte den Zenit erreicht, als sie aus dem Zelt trat. Sanglant schlief immer noch. Die Greifin döste neben ihrem Gefähr656 ten zufrieden in der Mittagssonne. Die Soldaten hatten die unruhigen Pferde weggeführt. Während sie ihren Arbeiten nachgingen, machten sie einen großen Bogen um die Greifen. Sie hielten auch Abstand zu Liath. Sie behandeln mich, als wäre ich gefährlich. Sie rief Hauptmann Fulk zu sich und bat ihn, Resuelto satteln zu lassen. »Ich werde ins Lager der Zentaurinnen zurückreiten.« »Wie viele Männer möchtet Ihr als Eskorte, Hoheit?«, fragte er. »Ich brauche keine Eskorte. Heribert, bleibst du bei Sanglant?« »Wie in all den vier Jahren«, sagte er, hielt den Blick aber auf die Greifen gerichtet. »Ist es ungefährlich? Werden sie uns angreifen, wenn du weg bist?« »Ich hoffe nicht.« »Seid Ihr sicher, dass Ihr keine Eskorte haben wollt ?«, erkundigte sich Hauptmann Fulk noch einmal. »Seht dort.« Er deutete auf ein Zelt, das anders war als die wendischen Zelte, die für einen Feldzug gedacht waren - es war ein pilzähnliches Filzgebilde, das sich nur wenig vom Boden abhob und eher eine Wölbung darstellte als ein Zelt. Drei kräftige junge Qumaner standen unter dem schrägen Vordach, die Blicke auf die Greifen gerichtet. Doch dann sah Liath, dass Fulk auf zwei andere Männer deutete, die im Schatten des Zeltes kauerten. Sie kamen vorsichtig näher, so wie hungernde Bettlerkinder sich einem Stück Brot nähern mochten, das am Straßenrand liegen geblieben war, darauf erpicht, keinerlei Aufmerksamkeit auf sich oder das Brot zu ziehen. Sie trugen schäbige Gewänder, die anders geschnitten waren als die der Westländer, und rote Mützen mit einem Kringel an der Spitze. »Was tun die zwei Jinnen hier?« »Sie waren bei den Sklaven, die Eure Tochter befreit hat. Wir haben ihnen die Freiheit angeboten, aber es ist niemand hier, der ihre Sprache spricht. Ich weiß nicht, ob sie bleiben, weil sie nicht wissen, dass sie frei sind, oder ob sie nicht wissen, wohin sie gehen sollen. Sie können gut mit Pferden umgehen und übernehmen ihren Teil der Arbeit. Wir können uns nicht über sie beklagen, auch wenn es Ungläubige sind.« 657 Die beiden jungen Männer stürzten auf sie zu. Fulk machte einen Satz und zog sein Schwert. »Halt, Hauptmann!« Es war lange her, dass Liath Jinnisch gesprochen hatte, und eigentlich konnte sie es auch besser lesen als sprechen. Die wichtigsten Worte hatte sie jedoch nicht vergessen. »Geehrte Herren, es ist besser, wenn ihr euch mit mehr Vorsicht nähert.« Die beiden Männer warfen sich bäuchlings auf den Boden und berührten mit der Stirn dreimal die Erde, ehe sie sich auf die Knie erhoben und die Hände mit nach oben gekehrten Handflächen hochhielten. »Was bedeutet das?«, fragte Fulk erstaunt. Ihre Haltung wirkte befremdlich, so als würden Sklaven ihre Unterwerfung bekunden. »Was bedeutet dies, geehrte Herren?«, fragte sie, ebenso erstaunt wie Fulk. Einer hob den Kopf. Er hielt die Fingerspitzen aneinander, verbarg die Augen hinter dem umgekehrten »V«, das seine Hände bildeten, und antwortete. »Verschmäht Eure Diener nicht, Strahlende. Lasst uns Euch dienen, die Ihr auf der Erde wandelt und mit menschlicher Stimme sprecht. Wir erkennen in Euch eine heilige Botin von Astareos.« »Was sagen sie?«, fragte Fulk, als einige von Sanglants Soldaten sich in gewissem Abstand um sie herum versammelten. Es gab im Lager nicht viel mehr zu tun, als auf die schrecklichen Greifen zu starren; die Männer begrüßten eine Abwechslung. Liath hatte vergessen, wie sehr sie es hasste, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit einer größeren Menge von Menschen zu stehen; und alles Leben am wendischen Hof hatte mit einer größeren Menge von Menschen zu tun. Man konnte ohne ein Gefolge kein Prinz sein. Und keine Edelfrau konnte allein mit ihrem Vater reisen und sich mit ihm durch die Welt schlagen. Einer der Jinnen sprach. »Wenn wir Euch verstimmt haben, wenn wir gesündigt haben, indem wir die Aufmerksamkeit auf Euch gelenkt haben, Strahlende, sprecht nur ein Wort, und wir erbärmlichen Würmer werden uns die Kehlen durchschneiden.« »Nein«, sagte sie hastig. »Tut euch nichts an. Ich bin überrascht, weiter nichts. Es hat nichts zu sagen.« Das war das erste jinnische Wort, das sie gelernt hatte, ein Wort, so nützlich und aussagekräftig, dass man es nicht richtig
ins Wendische übersetzen konnte. Es hat nichts zu sagen. »Wie lautet Euer Wunsch, Strahlende? Wir sind Eure Diener.« Sie wollte kein Gefolge. Sie hatte sich nie an eins gewöhnen können. Aber als sie sich jetzt im Lager umsah, als sie die glänzenden Rücken der Greifen sah, die Herdstellen, die Zelte, das geduldige Heer von Männern und Frauen, die Sanglant durch die Wildnis gefolgt waren, nur weil er sie darum gebeten hatte, da wusste sie, dass ihr das, was sie sich am meisten wünschte - Alleinsein -, versagt bleiben würde. Die Pflicht hatte Vorrang. »Gehorcht diesem Mann, wie ihr es bisher getan habt«, sagte sie schließlich, sich in ihr Schicksal fügend. »Er heißt Hauptmann Fulk. Er ist ein guter Mann. Ich muss zum Lager des Pferdevolkes gehen. Wenn ich zurückkehre, könnt ihr mir dienen.« Sie weinten vor Dankbarkeit. Sie hätte auch weinen können, vor Enttäuschung, aber sie hatte nicht die Zeit dazu. Sie wollte sich jetzt nicht auch noch damit herumschlagen, dass diese Männer etwas in ihr sahen, das sie nicht war. »Ich bitte Euch, sagt mir, was sie wollen«, verlangte Fulk erneut, zu neugierig, um sich von ihrer mürrischen Miene abhalten zu lassen. »Die Jinnen huldigen Astareos, dem Feuergott«, erklärte sie schließlich. »Es ist kein Geheimnis, dass ich ebenso wie Prinz Sanglant nur zur Hälfte ein Mensch bin. Durch irgendeine jinnische Magie können sie wohl die Seele meiner Mutter in mir sehen. Sie halten mich für einen Engel.« »Ich werde einer Versammlung zustimmen«, sagte Li'at'dano, als Liath zum Lager der Zentaurinnen zurückgekehrt war, um die zweite Phase ihres Feldzugs einzuleiten. »Aber ich bin nicht an die Gegenwart von Männern gewöhnt, die den Anspruch erheben, mit 658 659 Autorität zu sprechen. Sie sind gefühlsbetont und wankelmütig. Ich pflichte Euch bei, dass ein Hengst ein hübsches Geschöpf ist, aber er ist nur zum Kämpfen und zum Zeugen gut. Dennoch, weil ich ein paar Männer der Menschen und Ashioi kennen gelernt habe, die - wie soll ich sagen ? - in der Lage gewesen sind, mit der gleichen Schärfe und dem gleichen Verstand wie eine Frau zu sprechen, werde ich gestatten, dass diejenigen an der Versammlung teilnehmen, die Ihr aufgezählt habt. Als Gegenleistung -« Dies war der Teil der Verhandlung, den Liath am meisten hasste: all die Bedingungen und Ausnahmen und Ansprüche und Forderungen. »-wird das Mädchen in die Obhut meines Volkes gebracht werden. Wir werden gut für sie sorgen und sie mit Magie beschützen, damit sie nicht leiden muss oder schwächer wird.« »Und wenn sie aufwacht?« »Falls sie aufwacht.« »Was ist, wenn ich feststelle, dass ich sie Euch nur gegeben habe, damit Ihr sie als Geisel halten könnt? Wenn ich nach dem Sieg über Anne - den wir erringen müssen - herausfinde, dass Ihr Gnade als Waffe benutzt, die Ihr uns an die Kehle haltet, damit wir uns mit jedweden Bedingungen einverstanden erklären, die Ihr aufstellt?« »Verzweifelte Zeiten erfordern verzweifelte Maßnahmen. Ihr müsst mir vertrauen, Tochter. Tragt Ihr nicht meinen Namen?« Liath lachte verärgert. »Das ist kein Grund.« Li'at'dano neigte zustimmend den Kopf. »Richtig, das ist kein Grund. Aber dies ist ein Grund: Sie wird bereits schwächer. Wenn sie keinen Schutz von uns erhält, wird sie in drei oder vier Tagen sterben.« Liath stellte ihren Fuß auf die Stufen, die zu Sorgatanis Tür führten, und blieb dort einen Moment stehen, um die Pferdeherden zu mustern, die die Zentaurinnen und ihre kerayitischen Verbündeten begleiteten. Diese Tiere waren nicht zu vergleichen mit den kräftigen Pferden, die die Hälfte der Reittiere in Sanglants Heer bildeten - die Herde der Zentaurinnen war mächtig, die Pferde be660 saßen schlanke Glieder, lange Beine und große Köpfe. Die Kerayiten setzten Ochsen zum Ziehen der Wagen ein, während auf ihren schönen Pferden sowohl Männer als auch Frauen ritten. Im Augenblick widmeten sich die Mitglieder des Stammes den notwendigen Aufgaben des täglichen Lebens, während sie auf Li'at'danos Befehl zum Aufbruch warteten. Frauen und Männer arbeiteten zusammen, wenn auch an unterschiedlichen Aufgaben. Bei der Herde sah sie Stuten, Wallache und Hengste - die besten der männlichen Tiere, diejenigen, die heil geblieben waren. Es waren Fohlen da, von den schlaksigen, unbeholfenen Neugeborenen bis zu Einjährigen, und auch bei den Zentaurinnen gab es Fohlen, wenngleich nicht so viele und nur weibliche. Das beunruhigte sie. Liath klopfte an die Tür. Die jüngere Dienerin öffnete ihr. Sorgatani kniete neben der Kohlenpfanne und hantierte an einem kleinen Topf herum, der auf den Kohlen stand. Kräuter schrumpften und qualmten darin. Der Geruch stieg Liath unmittelbar in die Nase und verursachte ihr Kopfschmerzen. Sie wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum, um den Rauch zu verteilen, während Sorgatani kicherte. »Ihr solltet Euer Gesicht sehen!« Die junge Kerayitin erhob sich, reichte der älteren Dienerin den Bronzelöffel und ließ sich auf dem breiten Bett nieder. »Setzt Euch zu mir. Hier ist es nicht so rauchig.«
Tatsächlich verschwand ein guter Teil des Qualms durch das Rauchloch, durch das Liath noch immer den gleichen grauen Schimmer sah, der weder Tag noch Nacht war. In der Welt da oben änderte sich gar nichts. Diese Gewissheit gewährte ihren besorgten Gedanken ein bisschen Frieden. Sie setzte sich neben Sorgatani. »Ich hatte nicht erwartet, Euch so schnell wieder zu sehen, Liath.« »Hier bin ich.« Sie lächelte. »Ich bin gekommen, um zu verhandeln, aber ich stelle fest, wie wenig es mir gefällt. Als ich all die Jahre mit meinem Vater gereist bin, nur er und ich, haben wir einfach Entscheidungen getroffen und entsprechend gehandelt. Wir 661 mussten niemandem gefallen oder überzeugen oder uns mit irgendwem streiten.« »Ihr habt alleine gelebt und seid alleine gereist, ohne Familie oder Stamm? Ohne Herde? Ohne Bedienstete oder Kameraden? Gab es keine Kusinen oder Tanten? Hattet Ihr denn keine Mütter?« »Ich hatte keine Mutter.« »Keine Mütter!« Das Bekenntnis schockierte Sorgatani, aber sie erholte sich rasch. »Ich sehe, dass eine ganze Geschichte an diesen Worten hängt.« »Das stimmt. Wenn Ihr mit uns nach Westen reist, um gegen unsere Feinde zu kämpfen, kann ich sie Euch in ihrer ganzen Länge erzählen.« Sorgatani hatte ein lebhaftes, ausdrucksvolles Gesicht und die strahlenden Augen jener Menschen, die das Leben liebten. Es war diese Vitalität, die sie so schön machte, nicht nur die tatsächlich hübschen Gesichtszüge. »Ist dies Eure Art, die Verhandlung zu beginnen? Ihr seid zu direkt. Ihr müsst mit einem Gespräch über die Jahreszeit beginnen, darüber, ob ein Frühlingssturm die Wärme vertreiben könnte und wie viel Regen es bis zum Sommer geben wird. Dann ergeht Ihr Euch in freundlichen Bemerkungen über mein Geschlecht, meine Herde und die Kleidung, die meine Bediensteten tragen. Wir würden uns dann die Geschichten unserer Großmütter erzählen. Das wäre nur der Anfang. Und am übernächsten Tag würdet Ihr dann schließlich zu dem Grund Eures Besuches kommen. In der Zwischenzeit muss ich Euch so behandeln, wie es einem Gast zusteht.« Sie winkte. Die jüngere Dienerin trat näher und bot beiden einen Becher mit in dampfendes Wasser getauchten Kräutern an. »Was ist das?«, fragte Liath. Das Gebräu verströmte den Geruch von Minze, machte den Kopf benommen und war verlockend. »Wir nennen es Khey. Ich weiß nicht, ob es in Eurer Sprache ein Wort dafür gibt.« »Ich glaube nicht.« Liath nippte daran und seufzte. »Es schmeckt sehr gut.« Sie nahm noch einen Schluck, ehe sie sich zurücklehnte und Sorgatani anblickte. »Darf ich direkt zur Sache 662 kommen? Wir müssen so schnell wie möglich aufbrechen. Die Reise zurück in den Westen wird viele Monate dauern. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Es wird schwierig werden -« »Ihr wollt den ganzen Weg nach Westen über Land zurücklegen? Das könnte Jahre dauern! Der Westen ist so weit entfernt.« »Wie sollen wir sonst dorthin gelangen?« »Oh!«, sagte Sorgatani. »Oh.« Sie fingerte an ihren Ohrringen herum - diesmal trug sie winzige goldene Schweine, die an zarten Ketten hingen. »Wenn man Euch noch nichts gesagt hat, habe ich jetzt nicht die Erlaubnis, mit Euch darüber zu sprechen.« »Müsst Ihr die Erlaubnis dazu haben, mit mir zu sprechen?« »Wir sind die Töchter des Pferdevolkes, wurden ihnen schon vor vielen Generationen übergeben. Als Töchter ist es unsere Pflicht und Aufgabe, unseren Müttern zu gehorchen.« »Euren >Müttern<. Aber nicht Euren Vätern. Wo sind all die männlichen Zentauren?« Sorgatani starrte sie verdutzt an; sie ließ das Schwein los, und die Hand sank nach unten. Liath hätte auch sagen können: »Wo sind all die sprechenden Hunde, die als Herzöge über Euch herrschen?« »Töten sie sie?« Liath ließ nicht locker. »Töten sie wen?« »Töten sie die Hengstfohlen?« »Natürlich töten sie die Hengstfohlen nicht! Kein guter Hirte würde so etwas tun. Die besten werden als Puras aussortiert, und die übrigen werden kastriert. Wallache sind kräftige, zuverlässige Reittiere. Wir können sie auch verkaufen, denn wir sind für die Qualität unseres Pferdefleisches berühmt. Wir handeln entlang der Wüstenstraße. Die Leute rühmen unsere Pferde und zahlen gut mit Seide, Gold, Gewürzen und Khey.« »Sorgatani. Wo sind die Männer des Pferdevolkes?« Sorgatani stellte ihren Becher ab und klatschte in die Hände. Die jüngere Dienerin brachte ein Tablett mit kandierten Früchten, die Sorgatani Liath reichte, ehe sie sich selbst ein paar nahm. Die Früchte waren gleichzeitig süß und würzig, kitzelten auf der Zunge, während sie wartete. 663 »Ich verstehe, was Ihr wissen wollt«, sagte Sorgatani, nachdem sie eine Aprikose und zwei gezuckerte Pfirsichscheiben gegessen hatte. Sie leckte sich die letzten Zuckerkörner von den Lippen. »Sie sind bei den Herden.« »Bei den Herden?«
»Ja. Sie verlassen die Herden natürlich niemals.« Liath leerte ihr Khey, schürzte die Lippen angesichts des süßen Nachgeschmacks. »Was ist mit den alten Geschichten über den Angriff des Bwr-Volks auf das Dariyanische Kaiserreich? Ihr großer General ist Azaril der Grausame gewesen.« Sorgatani nickte ernst. »Es stimmt, dass sie diesen Namen erworben hat, und am Ende hat das Pferdevolk ihres Ehrgeizes wegen gelitten. Es hat niemals wieder die alte Stärke zurückerlangt, seit in ihren Feldzügen so viele gestorben sind.« »Aber Azaril war ein Mann, oder nicht? Er hat Frauen als Geiseln genommen und sie gezwungen, ihn zu heiraten. Es gibt eine berühmte Geschichte über eine Heilige -« Sie brach ab, als Sorgatani kicherte. »So erzählt man es sich in den Geschichten Eures Volkes? Vielleicht haben die Leute gesehen, was sie sehen wollten. Ich kann nur sagen, was ich weiß. Nicht alle kerayitischen Stämme leben beim Pferdevolk. Wir sind zahlreicher geworden als sie. Die Letzten des Pferdevolkes haben sich zu den ältesten Weidegründen zurückgezogen, als ihre Kräfte schwanden. Ich wurde von meinem Stamm weggeschickt, um von der Geheiligten ausgebildet zu werden, und daher lebe ich bei ihnen und kenne einige Wahrheiten über dieses Volk.« Liath konnte sich den Rest zusammenreimen: Die Zentaurinnen hatten die Männer zurückgelassen, damit sie das bewachten, was ihnen am wichtigsten war, ihre Heimat und das Herz der Herde. Es schien ihr jetzt nur zu offensichtlich, aber Sorgatanis Miene brachte sie auf den Gedanken, dass noch einiges unausgesprochen geblieben war. »Seid Ihr froh, dass Ihr bei der Geheiligten lernen könnt?« »Es ist die größte Ehre überhaupt. Sie ist die Älteste des Pferdevolkes. Sie ist eine mächtige Schamanin.« 664 »Wünscht Ihr Euch manchmal, Ihr könntet wieder nach Hause zu Eurem Stamm zurückkehren?« Sorgatani zuckte mit den Schultern und sagte nichts, aber auf ihrer Wange schimmerte eine Träne. 2 Bei Sonnenuntergang ritt Liath zurück ins wendische Lager. Ihre jinnischen Diener rannten sofort zu ihr. Einer führte Resuelto weg, der andere bot ihr eine Schale Eintopf und Stutenmilch, während er geschickt einen Stuhl aufstellte, damit sie sitzen konnte. »Wo ist Prinz Sanglant?«, fragte sie Hauptmann Fulk, als er zu ihr kam. »Er schläft im Zelt, Hoheit.« »Und meine Tochter?« Er runzelte die Stirn, und eine Furche bildete sich zwischen den Brauen. »Sie schläft ebenfalls. Die Heilerin verfügt über bestimmte Fähigkeiten. Es ist ihr gelungen, Prinzessin Gnade aufrecht hinzusetzen und ihr ein bisschen Suppe und Honig einzuflößen.« »Hat sie keine Anzeichen gezeigt aufzuwachen?« »Nein, Hoheit.« Die Greifen schimmerten in der Dunkelheit; ihre Flügel strahlten schwach. Sie hatten die Köpfe auf die Vorderbeine gelegt und schienen zu schlafen. »Haben die Greifen etwas gegessen? Wenn sie hungrig sind, könnte es gefährlich werden.« »Prinz Sanglant hat sich bereits darum gekümmert.« In Fulks Stimme schwang ein leiser Tadel. »Zwei Hirsche wurden heute Nachmittag hergebracht.« »Ah.« Sie hätte wissen müssen, dass Sanglant, auch wenn er verletzt war, an so etwas denken würde. Sie aß mechanisch, in dem Wissen, dass sie essen musste, um bei Kräften zu bleiben. Der Eintopf war heiß, schmeckte aber fad. Nur die vergorene Stutenmilch hatte einigen Biss. Hauptmann 665 Fulk und der Diener blieben in der Nähe, und der Jinne nahm alles wieder mit, als sie fertig war. »Möchtet Ihr mir sonst noch etwas mitteilen, Hauptmann?«, fragte sie. »Hoheit.« Mehr sagte er nicht. Er ging mit ihr zu dem Zelt, in dem ihr Ehemann und ihre Tochter schliefen. Sie kannte Fulk nicht - sie wusste nicht, ob er sprechen wollte und nur schwieg, weil er Angst vor ihr hatte. Dies war Sanglants Heer, es waren Sanglants Leute, ihm alle treu ergeben. Sie war einfach nicht daran gewöhnt, mit einer solch großen Menge zu reisen - mit hunderten von Leuten, beinahe tausend, wie sie aufgrund der Ausmaße des Lagers vermutete. Sanglant kannte dieses Leben sehr genau, und es gefiel ihm. Er war nie glücklich gewesen in der Einsamkeit von Verna. Sogar im Innern des Zeltes war ein Dutzend Menschen anwesend; die Hälfte von ihnen schlief, die Übrigen unterhielten sich gemütlich oder beendeten ihre Arbeiten, ehe sie die Flammen der kostbaren Öllampen löschten. Sie warfen Liath einen Blick zu, sagten aber nichts, als sie ihre Waffen und den Umhang ablegte. Liath kniete neben Gnade nieder und strich dem Kind über die glatten Haare. Ihre Tochter atmete, ohne die Welt um sich herum wahrzunehmen. Die kerayitische Heilerin saß am Fußende der Pritsche. Liath zog die Stiefel aus und legte sich neben Sanglant. Es war gerade genug Platz auf der Reisepritsche, dass sie sich neben ihn zwängen konnte. Die Wärme seines Körpers spendete einen gewissen Trost. Sie war noch nicht daran gewöhnt, allein zu schlafen, denn ihrer eigenen Zeitrechnung nach hatte sie ihn erst vor ein paar Tagen
verlassen, während sie all die langen Monate in Verna immer neben ihm gelegen hatte. Sie erwachte bei Morgengrauen und sah einen ihrer jinnischen Diener wie einen treuen Hund beim Fußende der Pritsche kauern. Die anderen hockten am Eingang, hielten Wache, während verschiedene Leute hinaus- und hineingingen. Sie setzte sich auf. Sanglant schien sich die ganze Nacht nicht gerührt zu haben. Er war nicht mehr so blass, und seine Atemzü666 ge gingen ruhiger. Sie winkte die Heilerin zu sich, und gemeinsam untersuchten sie die Wunde an seiner Brust. Die Kerayitin schüttelte den Kopf, pfiff scharf durch die Zähne, als würde ihr nicht gefallen, was sie da sah. »Es sieht aus, als würde es heilen«, flüsterte Liath, die Sanglant nicht aufwecken wollte. »Ja«, stimmte die Heilerin mit gerunzelter Stirn zu. »Es ist nicht normal, dass es so schnell heilt. Die Wunde hätte ihn töten müssen. Aber sie ist nicht tödlich.« Was für eine Zauberei hatte Sanglants Mutter in den Körper ihres Sohnes gewebt? Diese Frage hatte Liath Ältestem Onkel niemals gestellt, und vielleicht hätte nicht einmal er darauf antworten können. Er selbst war nicht in den Sphären gewandelt, aber seine Tochter. Sie hatte ihren Vater an Macht überholt, wenn auch nicht an Weisheit. Auch Liath hatte an Macht gewonnen, indem sie in den Sphären gewandelt war, aber ihre Macht war mehr die Folge einer Selbsterkenntnis als eine verstärkte zauberische Kraft. Im Gegenteil, ihre Unwissenheit wurde ihr jetzt nur umso deutlicher - die Lücke zwischen dem, was sie gesehen hatte und was sie wirklich verstand, gähnte so gefährlich neben ihr wie der Abgrund. »Ich werde mich zu meiner Tochter setzen«, sagte sie, als Fulk niederkniete, um zu fragen, was für Befehle sie für das Heer hatte. »Wer mit mir sprechen will, soll draußen auf mich warten; ich werde bald kommen. Schickt Hathui ins Lager der Zentaurinnen, um folgende Nachricht zu überbringen: Morgen früh werden wir zu einem Treffpunkt zwischen unserem und ihrem Lager reiten. Dort können wir den Kriegsrat abhalten.« Fulk betrachtete sie mit ernster Miene. Sie konnte ihn nicht einschätzen, obwohl er nicht mürrisch oder redefaul wirkte. Er kam ihr als genau das vor, was er auch war: jene Art Mann, die man in einem Kampf gerne neben sich hätte. Vorausgesetzt, er war auf der gleichen Seite. Er nickte und wollte gehen, doch dann drehte er sich noch einmal um. »Ich werde dafür sorgen, dass Silber und Domina etwas zu fressen bekommen.« »Silber und Domina?« 667 »Die Greifen, Hoheit. Der Prinz hat ihnen diese Namen gegeben.« Machte er sich über sie lustig? Oder war es nur ein Witz? Ihr blieb nichts anderes übrig, als zustimmend zu nicken. Sie bettete Gnades Kopf in ihren Schoß, während Sanglant neben ihnen weiterschlief. Sie suchte verzweifelt nach den Spuren der kleinen Gnade in dem schmalen Kindergesicht. Die Pausbacken waren verschwunden, und es war schwierig, eine Ähnlichkeit zwischen ihr und ihrem Vater oder ihrer Mutter zu finden, denn die Gesichtszüge waren jetzt erschlafft. Die Hautfarbe hatte einen üblen Grauton angenommen, und die schwarzen Haare wirkten leblos. Ihre Lippen waren so blutleer wie die einer Leiche. Die Heilerin flößte ihr etwas Honig und Brühe ein, indem sie ihr ein Stück Schilfrohr in den Mund steckte und die Flüssigkeit hineinzwängte. Eine solch magere Ernährung konnte jedoch nur den größten Hunger stillen. Ich habe vier Jahre ihres Lebens aufgegeben, die einzige Zeit, die sie möglicherweise gehabt hat. Sie weinte leise, aber es war weder ein großer Anfall noch eine sie tief erschütternde Trauer; weder schluchzte sie hemmungslos, noch stöhnte sie vor Kummer. Liebe ich sie denn nicht? Wenn sie sie mehr lieben würde, würde sie dann eine heftigere Trauer empfinden ? Doch das leichte Gewicht des Kindes schien ihr mehr Trost zu sein als Kummer. Sie bedauerte, was sie verloren hatte, aber sie wusste, dass sie nichts hätte anders machen können. Die Feuerdaemonen hatten sie mitgenommen, ohne sie zu fragen, ob sie das wollte; als sie sich im Land der Ashioi wieder gefunden hatte, war ihr die volle Tragweite ihrer Verpflichtung klar geworden. Die Pflicht zu erfüllen mochte grausam sein, aber es war notwendig. Hätte sie dieses Opfer nicht gebracht, würde Anne ohne jeden Widerstand gewinnen. Anne war schon zu Beginn bereit gewesen, Gnade zu opfern; vielleicht hatte Jernas Geschenk darin bestanden, Gnade vier Jahre Leben mit einem liebevollen Vater zu geben. Anne konnte immer noch gewinnen, und Gnade konnte sterben, aber Gnade wäre ohne Jernas Ernährung ganz sicher gestorben, und noch hatte Anne nicht gesiegt. 668 In den Spalten des brennenden Steins lagen viele Pfade, von denen einige in die Vergangenheit führten, einige in die Gegenwart und andere nur Möglichkeiten waren, die sich auflösten, sofern kein Fuß sie entlangschritt. Aber es wäre schön gewesen, Gnade wachsen zu sehen, zu sehen, wie ihr Gesicht sich bewegte, wie sie sprach, lachte und sang, zu spüren, wie sie ihre kleinen Arme um die Taille der Mutter schlang, so wie andere Kinder es taten, ihre warme Wange an ihrer eigenen zu spüren. Es wäre schön gewesen, ihre Tränen zu trocknen und ihre kleinen Wehwehchen wegzuküssen. Es war einfach alles so schnell gegangen - eine Hand voll Tage, die auf der einen Seite wie ein zusammengerolltes Seil gelegen hatten, das dann auf der anderen vollkommen gespannt worden war. Die Jahre waren ihr zwischen den Fingern zerronnen, ohne dass sie ihr Vorbeiziehen überhaupt bemerkt hatte.
Das schwach erleuchtete Zelt war ein angenehmes Plätzchen, während die Stunden vergingen. Gnades Begleiter erwachten und machten sich an ihre Arbeit, aber sie sprachen untereinander und näherten sich Liath mit Fragen und Bitten, und mindestens viermal kam Fulk und bat sie, nach draußen zu gehen und eine Person zu treffen, die wegen irgendeiner Angelegenheit mit ihr sprechen wollte - eine Angelegenheit, von der sie aus irgendeinem Grund dachten, dass sie sie ihr unterbreiten mussten. Konnten sie nicht einfach tun, was nötig war, und sie in Ruhe lassen? Heribert saß eine Zeit lang neben ihr, der einzige Mensch, der schweigen konnte. Er hielt Gnades schlaffe Hand und weinte still. Die Soldaten draußen widmeten sich ihren Arbeiten, aber einmal hörte sie einen Greifen schreien und kurz darauf die zermalmenden, reißenden Geräusche, als die Kreaturen sich an ihre Mahlzeit machten. Nach einiger Zeit erwachte der Jinne und tauschte den Platz mit seinem Kameraden, der zu Liath trat. »Wie lautet Euer Wunsch, Strahlende? Darf dieser erbärmliche Wurm Euch etwas zu essen bringen?« »Wie heißt du?« »Wie immer Ihr mich nennen wollt, Strahlende.« 669 »Ich möchte dich genau so nennen, wie dein Kamerad dich nennt.« »Er nennt mich >Bruder<, Strahlende.« Sie lächelte. »Dann seid ihr wirklich Brüder?« »Das sind wir, Strahlende.« »Hat euer Vater oder eure Mutter euch nach der Geburt einen Namen gegeben?« Er zuckte leicht zusammen. »Es wäre ein Verstoß gegen Gott, einem Neugeborenen einen Namen zu geben, solange es noch keine drei Sommer gelebt hat und noch nicht wie ein Mensch sprechen kann.« »Welchen Namen habt ihr dann erhalten, als es Zeit war, euch einen zu geben?« Er sah sie an, wandte den Blick aber sofort wieder ab. Wie sein Bruder war er nicht annähernd so groß wie ein durchschnittlicher Wendaner. Seine Haut war noch dunkler als ihre, und die Augen waren dunkelbraun, fast schwarz, mit langen Wimpern und dichten schwarzen Brauen. Sie wusste nicht, wie lange er ein Sklave gewesen war, aber etwas an seiner und seines Bruders Art, ihr ständig dienen zu wollen, hatte einen gewissen lästigen Charme. »Mein Kindername war Moskito, Strahlende, und mein Bruder hieß Mücke. Wir haben unsere Tanten sehr geärgert und deshalb diese Namen bekommen. Aber als wir ins Männerhaus geschickt wurden, um durch das Feuer besiegelt zu werden« - er strich über das Zeichen an seiner Stirn -, »erhielten wir unsere Männernamen, die ich einer Frau gegenüber nicht laut aussprechen darf, nicht einmal einer Botin Gottes gegenüber.« »Dann werde ich euch Moskito und Mücke nennen müssen, so wie eure Tanten es getan haben.« »Das ist in Ordnung, Strahlende.« Sie kicherte, aber ihre Erheiterung gefiel ihm. »Ich möchte Brühe und heißes Wasser haben.« Sie beriet sich mit der Heilerin. »Diese Kräuter kann man in Wasser tauchen, sodass ich meine Tochter waschen kann.« Alles geschah nach ihren Wünschen, aber auch die Tinktur auf Gnades Haut änderte nichts an deren bewusstlosem Zustand. San670 glant schlief den ganzen Tag, und am Nachmittag ging Liath nach draußen, um frische Luft zu schnappen und eine Weile allein in den Hügeln außerhalb des Lagers umherzuwandern. Die große Greifin - Domina - folgte ihr einen Steinwurf entfernt. Ihre Beine strichen durch Gras, und hin und wieder wirbelte die Berührung ihrer Federn einige Halme auf, die in der Brise flatterten und wieder zu Boden taumelten. Nur die bedrohliche Anwesenheit der Greif in hielt Moskito und Mücke auf Abstand; sie schienen erpicht darauf, ihr so auf die Pelle zu rücken wie die Stechfliegen, nach denen ihre Tanten sie benannt hatten. Sie wurde verrückt von all diesen Zelten, Soldaten, der Kameradschaft und dem offenbar unaufhörlichen Wunsch aller Menschen dort, auch über die albernsten Themen zu reden, sodass man nie in Ruhe nachdenken konnte, ohne unterbrochen zu werden. Wie hielt Sanglant das nur aus? Wie konnte es überhaupt irgendjemand aushalten ? So viel musste getan werden, während sie sich auf ihren Kampf gegen Anne vorbereiteten, und sie brauchte Zeit zum Nachdenken. Es gab hier kein Papier, auf dem sie hätte Berechnungen anstellen können, und es ganz und gar im Kopf zu machen war sogar für eine Mathematika eine ungeheuer schwere Aufgabe und fast unmöglich auch für jemanden, der im Auswendiglernen geübt war. Wie konnte man bei diesen ständigen Unterbrechungen nur irgendetwas erledigt bekommen ? »Liath!« Dieses Mal war es Hathui, die von ihrem Auftrag zurückkehrte. Erst verspätet erinnerte sie sich, dass Liath, einst ihre Kameradin bei den Adlern, jetzt etwas ganz anderes war. Sie verbeugte sich. »Hoheit. Ich habe eine Nachricht zu überbringen.« »Was gibt es, Hathui? Und sei bitte nicht so förmlich mir gegenüber.« »Nein? Du hast dich verändert, Liath.« »Ja, so sagt man«, erwiderte Liath leicht säuerlich. »Was gibt es für Neuigkeiten?« »Die Zentaurinnen werden uns gleich nach Sonnenaufgang treffen.«
Liath blickte hinunter auf das Lager, auf die Zelte, auf die be671 helfsmäßigen, von gespannten Seilen abgetrennten Pferche und auf das freie Gelände rings um den schlafenden Greifen. Weiter entfernt und nicht in Windrichtung der Greifen bewachten Soldaten grasende Pferde. Es gab so viele Leute hier, ganz sicher mehr, als in Friedleben gelebt hatten, und sie alle hingen herum, arbeiteten, tratschten oder übten sich an den Waffen. Es war die Rundreise eines Königs, und war Sanglant denn nicht ihr König, wenn auch nicht dem Namen nach ? »Also morgen früh«, sagte Liath. Sie war erschöpft angesichts einer solch großen Versammlung. »Werden wir dann endlich nach Westen reiten? Ich habe Angst, dass wir bereits zu spät kommen könnten, um König Henry noch zu retten.« Hathui sah sie mit festem Blick an. Sie rechnete mit einer schlechten Nachricht, fürchtete sich aber nicht davor, sie zu hören. Drei neue Narben waren in ihrem Gesicht, seit Liath sie zum letzten Mal gesehen hatte, und sie hinkte. Ihre Verletzungen hatten ihren Kampfgeist nicht gebrochen, aber Liath bemerkte eine gewisse Verletzlichkeit in ihrer Miene. »Du bist Henrys treuer Adler, Hathui, nicht wahr?« Stolz funkelte in ihrem Gesicht. Sie reckte das Kinn. »Das bin ich.« »Dann werde ich dir die Wahrheit sagen. Ich weiß es einfach nicht. Ich habe deine Geschichte gehört, und ich halte es für wahrscheinlich, dass seine Wächter ihn am Leben lassen werden, bis Prinzessin Mathilda älter ist. Es ist sogar möglich, dass sie ihn gar nicht töten, sondern nur kontrollieren wollen.« Trotz seines verdrehten Charakters war Hugh ihr nie wie jemand vorgekommen, der sich am Töten ergötzte. Er mochte jemanden würgen, bis er oder sie sich ergab, aber er würde nicht schadenfroh Blut vergießen. Er entledigte sich der Probleme lieber auf ordentliche und elegante Weise. »Das ist unsere einzige Hoffnung.« »Was ist mit dir, Liath ? Du hast auf dein Adlerabzeichen verzichtet, um Prinz Sanglant zu folgen, aber jetzt rebelliert der Prinz gegen seinen Vater. Es hieß, du wärst die Urenkelin von Kaiser Taillefer, aber du leugnest das jetzt. Was bist du dann ? König Henrys Untertanin? Oder bezeichnest du dich auch als Rebellin?« 672 Liath schüttelte den Kopf. »Mein Kampf reicht so weit über die Autorität des Königs hinaus, dass ich meine Pläne nicht vordringlich von seinem Wohlergehen abhängig machen kann. Wenn wir Schwester Anne nicht aufhalten, werden wir möglicherweise alle sterben. Was spielt sein Geschlecht - oder meins oder deins - dann noch für eine Rolle? Stimmt es nicht, dass wir vor Gott alle gleich sind? Vielleicht werden wir es herausfinden.« »Und was dann?« Hathuis Gesicht und Lippen waren aufgesprungen von den vielen Monaten, die sie der Kälte und dem eisigen Wind ausgesetzt gewesen war, doch der Sonnenschein der letzten paar Tage hatte ihre Adlernase verbrannt, und sie schälte sich jetzt. Es war ihr nicht anzumerken, ob es wehtat. Sie hatte zweifellos Schlimmeres erlitten. Nein, Hathui hatte keine Angst vor der Wahrheit. Sie konnte alles ertragen. »Was dann?«, wiederholte Liath. »Ich bin in den Sphären gewandelt. Ich habe Dinge gesehen, die ich nicht beschreiben kann, die ich aber, wenn ich die Augen schließe, noch genauso eindringlich vor mir sehe wie zu dem Zeitpunkt, als ich sie erlebt habe. Ein Daemon aus funkelndem Eis hat mir den Weg verstellt. Ein See aus brennendem Wasser hat sich durch meine Hand gefressen. Ein goldenes Paradies, verdorben von Illusion und falscher Hoffnung. Räder, die sich drehten und brannten. Eine Regenbogentreppe, die in die höchsten Gefilde der Himmel reichte. Den Tod meiner Mutter. Und noch vieles mehr.« Hathui nickte. Liath hatte nicht ausführlich über ihre Reise gesprochen, nicht einmal zu Sanglant, aber der Adler verstand die besondere Tragweite. Der Wind fuhr durch das Gras. Die Sonne sank gen Westen, und ihre Strahlen wärmten Liaths Haut. »Ich habe eine Sternenkrone über dem Land gesehen, die sich über Taillefers Reich und noch weit darüber hinaus erstreckt hat. Vor sehr langer Zeit haben sieben Zauberer einen gewaltigen Bann gewoben, um das Land zu trennen. Ich glaube nicht, dass diese sieben Zauberer so viel Macht hatten, weil sie von edler Herkunft waren. Ich glaube, sie waren im Besitz von hart erworbenem Wissen, und sie waren höchst entschlossen und mutig. Sie haben ihre Fein673 de so sehr gefürchtet und gehasst, dass sie bereit dazu waren, alles zu riskieren, um sich von ihnen zu befreien. Sie waren bereit zu sterben. Und zu töten.« Bereit, zu sterben und Freund und Feind mit in den Tod zu reißen. Eines dieser Opfer hatte sie gekannt. Durch eine unbekannte Zauberei war Alain in der alten Vergangenheit gewesen. Was wusste er von dem großen Zauberspruch, der dort gewoben worden war? Er mochte wertvolles Wissen besitzen, entscheidendes Wissen. Sie musste ihn nur finden. »Und dann?«, fragte Hathui. »Und dann?« Die Bemerkung brachte sie dazu, sich in Erinnerung zu rufen, was sie eigentlich laut gesagt hatte. »Nur dies. Wieso haben Gott jedem von uns eine Seele gegeben? Wiegt die Seele von König Henry mehr als deine? Oder tragen alle Frauen und Männer eine Bürde von gleichem Wert? Wenn König Henry uns retten kann, werde ich ihm gerne folgen. Aber wenn er es nicht kann, sehe ich keinen Grund, wieso ich ihm blindlings folgen sollte, nur weil er der Sohn eines Königs ist.« »Das sind gefährliche Worte.«
»Sind sie das? Oder sind es vielleicht eher praktische? Schwester Anne ist tatsächlich die Enkelin von Kaiser Taillefer, aber das heißt nicht, dass wir tun müssen, was sie will, nur wegen des kaiserlichen Throns ihres Großvaters.« Sie musterte Hathuis argwöhnische Miene und schüttelte bestürzt den Kopf. »Nein, du selbst bist weit mehr wert als sie, Hathui.« Die Greifin hinter ihr schnaufte, und Hathui zuckte zusammen, dann trat sie unruhig zur Seite, sodass sie das Tier und Liath gleichzeitig sehen konnte, als wäre sie nicht sicher, wer von beiden die größere Gefahr darstellte. Würde es immer so sein? Liath wusste, dass ihre Reise sie verändert hatte, und jetzt fragte sie sich, ob sie sich bei anderen Menschen jemals wieder unbeschwert fühlen konnte. Sanglant war wach, als sie zum Zelt zurückkehrte, und nicht nur das, er war auch auf. Seinen Bewegungen haftete nur eine vage Erinnerung an die Steifheit an, die man bei einem Mann, der erst 674 kürzlich eine solche Verletzung erlitten hatte, erwarten würde. Tatsächlich saß er auf einer Bank und aß. Er bemühte sich, das Essen nicht herunterzuschlingen, aber er hatte offensichtlich großen Hunger. Als sie durch die Zeltklappe trat, sah er augenblicklich hoch, legte den Löffel beiseite und stand auf. Sie hatte vergessen, wie sich in dem Zimmer, in dem er sich aufhielt, alles nur um eines drehte - nämlich um ihn. Dabei verlangte er nicht nach dieser Aufmerksamkeit, sondern er besaß einfach das Glück des Königs, den Glanz des Herrschers, der alle Blicke auf sich zog, ob man ihn nun ansehen wollte oder nicht. »Liath«, sagte er. Das war alles. Was er nicht sagte, benötigte keine Worte. Er starrte sie an. Verschlang sie mit seinem Blick, wie die Dichter sagten. Er musste sie nicht einmal berühren. Zwei Lampen entzündeten sich, und Flammen flackerten. Sie errötete, widmete ihre Aufmerksamkeit dem Feuer und löschte die Flammen. Er lachte, dann setzte er sich zufrieden wieder hin und nahm seinen Löffel auf. »Prinz Sanglant.« Hauptmann Fulk trat mit einem jungen Soldaten hinter sich ein. »Was ist?« Sanglant sah den zweiten Mann an und winkte ihn zu sich. »Was gibt es Neues, Lewenhardt? Hattest du Wache?« »Jawohl, mein Prinz. Gyasi kehrt mit vierzig Kameraden zurück, die Hälfte geflügelt und die anderen Frauen oder Jungen. Sie werden in der nächsten Stunde hier sein.« »Schön. Ich möchte, dass mein bester Stuhl draußen aufgestellt wird, umgeben von einer Ehrenwache. Der Stuhl soll nach Westen zeigen. Ruf die Hauptleute zusammen. Ich möchte sie hier empfangen.« Er saß auf einer Bank, die so raffiniert zusammengesteckt war, dass sie mit Leichtigkeit in tragbare Teile zerlegt werden konnte. Er sah Liath an und rückte zur Seite, machte ihr Platz. Als sie saß, reichte er ihr den Löffel, damit sie von seinem Eintopf essen konnte. Bei dem Geruch, so sanft und ölig er auch war, knurrte ihr Magen, und der Mund wurde wässrig, sodass sie sich gleich an die Arbeit machte. Die ganze Zeit über spürte sie ihn ne675 ben sich, spürte sie die kleinste Bewegung, wenn er sein Gewicht verlagerte, sich auf einen Ellbogen stützte oder mit dem Fuß gegen ihren stieß. Sie hatte vergessen, wie groß er war, in einem anderen Sinne als nur bezüglich seiner Muskeln und der Breite seiner Schultern. Dies war der glorreiche Prinz, in den sie sich in Gent verliebt hatte - der sich auf wundersame Weise von seinen tödlichen Wunden erholt hatte und der Anführer des Heeres war, das ihm wie ein gut ausgebildeter Hund auf den Fersen folgte. In der nächsten Stunde ließ die Flut an Bittstellern nicht nach. Keine Klage war zu gering, um sie nicht zu erheben; kein Soldat zu unmaßgeblich, um nicht Zutritt zu ihm zu erhalten; keine Entscheidung zu gewichtig, denn offensichtlich wusste er genau, wann ein Entschluss sofort gefasst und wann er noch einmal in Ruhe überdacht werden musste. Ein Pferd musste geschlachtet werden, aber das Fleisch und die Knorpel konnten in den Eintopf wandern, die Haare und Sehnen für die Bögen und zur Verstärkung der Seile genutzt werden, das Fell geschabt, die Hufe eingekocht werden. Zwei Männer hatten einen Streit gehabt, und einer von ihnen hatte ein Messer gezogen und den anderen damit verletzt, wenn auch nicht tödlich. Sanglant steckte sie einfach in verschiedene Einheiten und verbot ihnen zu sprechen. »Sollte man nicht ein Exempel statuieren, um andere Männer vom Streiten abzuhalten?«, flüsterte Liath. Obwohl ihre Füße aneinander stießen, achtete er darauf, sie ansonsten nicht zu berühren und sie vor den Männern, die darauf warteten, angehört zu werden, auch nicht anzusehen. »Dies ist die Zeit für eine weiche Hand, nicht eine harte«, murmelte er so leise, dass nur sie und Heribert, der ganz in der Nähe stand, es hören konnten. »Niemand würde es laut sagen, aber es ist eine Liebesangelegenheit. Meine Soldaten sind weit gereist, ohne den Trost von Frauen zu erfahren. Solche Dinge geschehen. Ich werde sie nicht bestrafen, weil sie Erleichterung gesucht haben.« Er zog seinen Fuß weg, als hätte er sich verbrannt. Aber dann machte er es zunichte, indem er grinste, allerdings ohne sie anzusehen. 676 Dieses Grinsen hatte die Kraft von hundert Liebkosungen. Ihr wurde heiß, aber sie war vorbereitet; sie bewachte die Wucht ihrer Begierde, denn sie wollte nicht das Zelt in Brand setzen. Sie konnte sie beherrschen - mehr oder weniger. Doch indem sie sie unterdrückte, begehrte sie ihn nur umso mehr. Hauptmann Fulk streckte seinen Kopf ins Zelt. »Prinz Sanglant.«
Er bewaffnete sich rasch und hielt nur kurz inne, um Gnade einen Kuss zu geben, ehe er mit Liath nach draußen ging. Ein Dutzend Hauptleute und edle Kameraden warteten dort auf ihn. »Wer ist diese hübsche Kuh?«, fragte ein großer Mann in einer bestickten Tunika und dem pelzgesäumten Umhang eines Edelmanns. Er grinste sie anzüglich an, während er seinen Blick an ihr auf und ab wandern ließ, und sie wusste, dass sie ihn schon einmal gesehen hatte, konnte ihn aber nicht einordnen. »Kann ich sie haben, wenn Ihr mit ihr fertig seid?« Sanglant blieb abrupt stehen und drehte sich um. Augenblicklich brachen die Gespräche der Anwesenden ab. Es gibt Dinge, die keine Gestalt, keinen Körper haben, und doch kann man sie so sehr spüren wie das Schlagen eines Steins gegen den Kopf. »Was habt Ihr gerade über meine Frau gesagt, Wichman?«, fragte er so freundlich, dass Wichman kreidebleich wurde und einen Schritt zurücktrat, obwohl Sanglant sich nicht gerührt, ja nicht einmal den kleinen Finger bewegt hatte. Jetzt erkannte Liath ihn - es war Herzogin Rotrudis' rücksichtsloser Sohn, der Gent monatelang heimgesucht und Meisterin Giselas arme Nichte gegen ihren Willen in sein Bett geholt hatte. Sanglants Einmischung ärgerte sie hielt er sie für hilflos? Doch sie wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Sie besaß keine Übung darin, Worte wie Schwerter zu kreuzen. Sie hatte Macht, aber die hatte auch ein Speer. Sie kochte innerlich, als Wichman sich zurückzog und die anderen Edelleute vortraten, um Sanglant zu begrüßen und sich über seine Wiederherstellung zu äußern. Sie begegneten ihr wachsam oder freundlich, ganz nach ihrer Natur. Liath musste noch lernen, wer sie waren, aber Namen und Titel regneten in so rascher Abfol677 ge auf sie herab, dass sie sich unmöglich merken konnte, welcher Name zu welchem Gesicht passte. »Und das ist Edelfrau Bertha, meine starke rechte Hand«, sagte Sanglant schließlich. »Sie ist die zweite Tochter von Markgräfin Judith.« Das erweckte Liaths Aufmerksamkeit. »Ihr seid Hughs Schwester«, sagte sie, ohne dass sie die Worte wirklich hatte aussprechen wollen. »So sagte mir meine Mutter.« Bertha sah gar nicht aus wie Hugh; sie war weder sonderlich elegant noch so hübsch, aber sie wirkte kräftig und kompetent. »Und das behauptet auch er, da er dadurch den Vorteil genießt, unsere Unterstützung zu erhalten, wenn er sie braucht. Ich hätte es mir anders gewünscht, da ich ihn schon immer verabscheut habe.« Sie lächelte spöttisch, als Liath ihre Miene zu beherrschen versuchte, denn sie hatte nicht erwartet, dass ein Familienmitglied so abschätzig über Hugh reden würde. »Habe ich Euch beleidigt? Vielleicht habt Ihr Zuneigung ihm gegenüber gehegt.« Sanglant warf ihr einen Blick zu, aber sie schüttelte den Kopf, spürte, wie seine Schultern sich anspannten, während er auf ihre Antwort wartete. »Nein, das habe ich nicht. Ich bin nur überrascht.« »Meine Mutter hat ihn verdorben. Und dabei ist er nur ein uneheliches Kind. Wieso sollten meine Schwestern und ich uns nicht über ihn ärgern ? Nun, so sei es. Wie dieser gute Adler erzählte, hat er seine angemessene Belohnung bekommen und erfreut sich einer Position von großer Macht und großem Einfluss. Viele Edel-frauen werden um Zutritt zu seiner heiligen Bettkammer betteln. Das war schon immer so bei ihm, doch er hat sie alle abgespeist, so wie man einem hungrigen Hund Fleisch vor die Nase hält und es dann wegzieht, bevor er zupacken kann. Es gefällt ihm, wenn sie betteln. Und genau das tun sie.« Sanglant wirkte wütend, und wenn Berthas Meinung auch durchaus annehmbar war, schien Liath die Haltung der Edelfrau nicht gerade einfühlsam zu sein. Aber sie wusste nicht, wie sie das Thema wechseln sollte. 678 Heribert trat vor. »Sie kommen, Prinz.« Bertha sah an Liath vorbei und lachte. »Nicht so viele, wie Ihr gewünscht hattet, was?« Sanglant ließ sich auf dem Stuhl nieder. »Das hängt davon ab, was sie zu sagen haben.« Die anderen stellten sich um ihn herum auf, offensichtlich einem vertrauten Muster folgend. Liath wusste nicht, wo sie sich hinstellen sollte. Wohin passte sie? Sie war sich so stark vorgekommen, als sie in den Sphären gewandelt war, aber dort hatte sie ganz allein gehandelt. Hier würde sie sich vielleicht niemals in das Heer einfügen, das Sanglant führte. Sie starrte auf die letzten Reste der Sonne, eine goldrosafarbene Schicht, die sich über den westlichen Bergen ausbreitete. Oh, Gott, wie geschickt Sanglant seinen Platz gewählt hatte: Es sah aus, als würde die Sonne untergehen, um ihm zu huldigen. Gyasi tauchte an der Spitze von zwanzig Reitern auf, die auf den verhüllten Greifen zeigten und einander etwas zuriefen. Sie trugen zwei Banner bei sich, das eine mit drei schmalen Streifen versehen, das andere mit einer Mondsichel. Sanglant rückte sich zurecht, legte die Hand locker an das Heft seines Schwertes, als Gyasi abstieg und sechs Qumaner zu ihm führte: vier geflügelte Krieger und zwei Frauen mit unmöglich hohen konischen Hüten, die mit Perlen und Gold verziert waren. Die beiden barbarischen Frauen trugen sogar noch mehr Schmuck als Sorgatani, als würde das Gewicht des Goldes darüber entscheiden, wie wichtig sie waren. Als sie sich näherten, glitt Liath zur Seite und verließ die Menge. Wichman sah sie an, als sie an ihm vorbeiging, und sie zuckte zusammen, prallte gegen Bruder Breschius, der die andere Hälfte von Sanglants Schule bildete. »Ich bitte Euch, Bruder, begleitet mich«, sagte Liath leise, und Breschius folgte ihr gehorsam eine
Steinwurflänge weit weg von den Übrigen. Sie blieben bei einer Gruppe von Soldaten stehen, die gekommen waren, um zuzusehen und um ihren Prinzen vor den Eindringlingen zu schützen. »Was wisst Ihr über diese Qumaner?« »Wenig genug.« »Was bedeuten diese Zeichen?« 679 »Es ist das Zeichen der Klaue eines Schneeleoparden, das Wappen des Pechanek-Stammes. Es sind diejenigen, die uns an dem Tag verlassen haben, an dem wir auf das Pferdevolk gestoßen sind. Das andere Zeichen ...« Er zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Bruder Zacharias hätte es gewusst. Er wusste eine ganze Menge, denn er hat als Sklave im Pechanek-Stamm gelebt.« »Ich kenne keinen Bruder Zacharias. Wo ist er jetzt?« »Er ist mit Wulfhere geflohen, als wir in Sordaia waren.« »Ich habe die Geschichte zum Teil gehört. Ist es wirklich sicher, dass Wulfhere Prinz Sanglant verraten hat?« Breschius zuckte erneut mit den Schultern. »Wer kann das wissen ? Sowohl er als auch Zacharias sind in Begleitung eines kleinen, dunklen Mannes gewesen, eines mächtigen Zauberers, wie Gyasi sagt. Das ist alles, was ich weiß. Ich war mit Prinz Sanglant im Palast der Erhabenen Edelfrau Eudokia und habe den Vorfall deshalb nicht miterlebt. Nur Bruder Robert war dabei, der Heiler von Edelfrau Bertha. Der arme Mann ist vor ein paar Monaten am Lungenfieber gestorben. Es ist ein Wunder, dass Prinz Sanglant so viele von uns am Leben erhalten hat. Aber vielleicht ist es auch kein Wunder. Er hat das Glück des Herrschers.« Das hatte er, als er den qumanischen Gesandten gestattete, vor ihm niederzuknien. Der Greif schüchterte sie ein; er hatte Recht gehabt, was das betraf. »Wie kommt es, dass Ihr in seinem Dienst steht, Bruder? Ich kann mich nicht erinnern, Euch bei der Rundreise von König Henry gesehen zu haben.« »Ich bin kein Wendaner. Ich bin in Karrone geboren, aber schon früh in ein Kloster in den Marklanden geschickt worden. Dort habe ich gelernt, Wendisch zu sprechen. Ich habe meine Hand im Dienst gegenüber Gott verloren, denn ich machte mich auf, denen, die in Dunkelheit leben, das Licht der Einigkeiten zu bringen. Es ist eine komplizierte Geschichte, aber das bisschen genügt vielleicht, dass es für Euch einen Sinn ergibt. Ich bin ein Sklave der Kerayiten gewesen und wurde von einer ihrer Schamaninnen zu ihrem Pura erwählt.« Erstaunt betrachtete sie ihn näher, aber es umgab ihn nichts 680 Rätselhaftes. Er wirkte ruhig und selbstsicher, ein Mann mittleren Alters, der gut genug aussah, um die Aufmerksamkeit einer jungen Frau zu erregen, die zur Einsamkeit verdammt war. Natürlich war er damals jung gewesen. »Ihr lebt jetzt nicht mehr bei den Kerayiten.« Breschius' Lächeln war von Trauer bedeckt, einem alten Kummer, von dem er sich nie ganz erholt hatte. »Sie ist gestorben, und ich bin in den Dienst von Prinz Bayan gekommen. Als er gestorben ist, habe ich geschworen, Prinz Sanglant zu folgen.« »Wieso?« »Erkennt Ihr das denn nicht? Seht Euch diese Qumaner an. Sie kommen her, um sich mit dem Mann zu verbünden, der ihren größten Anführer besiegt hat, dem Mann, der das Heer geführt hat, das ihre Reihen vernichtet hat. Auch sie erkennen das. Sie werden sich ihm nicht widersetzen.« Doch nicht alle, die Sanglant begegneten, erlagen seiner Ausstrahlung. Li'at'dano tat es nicht. »Nun, da Ihr bei den Kerayiten gelebt habt, Bruder, sagt mir doch bitte, wieso die Männer bei den Herden bleiben?« »Wie bitte?« »Wieso nur die Frauen ausreiten, um uns zu treffen?« »Ah, ja. Das hat mich auch verwundert, denn die Kerayiten, mit denen ich gereist bin, hatten nur wenig mit dem Pferdevolk zu tun. Aber ich habe die Wahrheit schließlich herausgefunden. Das Pferdevolk ist anders. Es gibt nur Frauen.« »Wie kann es nur Frauen geben? Was heißt das?« »Es heißt genau das. Es gibt nur Frauen.« »Wie können sie sich dann vermehren?« »Sie haben Puras, nicht wahr? Die Hengste. Nur die weiblichen Fohlen werden richtig erwachsen. Die Männchen sind alles Pferde.« Ein unheimliches Pfeifen erhob sich aus den Reihen der Qumaner, und der verhüllte Greif zerrte an den Ketten. Er hob den Kopf und schrie, als das Pfeifen noch schriller wurde. Sanglant stand auf und schritt durchs Gras, während über ihm Domina auftauchte und am Himmel kreiste. Die letzten Sonnenstrahlen blitzten in ih681 ren Schwingen aus Eisenfedern auf. Das Pfeifen versiegte, als die Qumaner zu ihren Pferden flüchteten und sich dort duckten, während ihr Schatten über sie hinwegglitt. Aber Sanglant begab sich in Reichweite des Silbergreifen, und noch bevor Liath eine Warnung ausrufen konnte, packte er das Seil und zog den Kopf nach unten.
»Fulk!«, rief er. »Bringt mir Fleisch!« Sie standen da, er und der Greif, verbunden in einem Kampf der Willenskräfte, während die Greifin einen besorgten Schrei ausstieß und sich schließlich mit wild schlagenden Flügeln auf dem Boden niederließ. Die Männer riefen durcheinander und liefen davon, um sich in Sicherheit zu bringen. Es machte Liath wütend, dass Sanglant sich schon so bald wieder in Gefahr brachte, aber sie verschränkte die Hände und ertrug es mit zusammengebissenen Zähnen und wild hämmerndem Herzen. Sie war klug genug, nicht einzugreifen. Irgendein närrischer Soldat rannte mit einer Tasche zum Prinzen; er hatte sogar ein dummes Grinsen im Gesicht und genoss die Gefahr offensichtlich. Er wäre vermutlich dort stehen geblieben, hätte Sanglant ihm nicht befohlen, sich zu entfernen. Unter den Blicken aller Anwesenden, während Domina so dicht bei ihm stand, dass sie ihn mit einem einzigen Satz unter ihren Klauen hätte begraben können, fütterte er Silber mit dem Fleisch. Der Greif fraß ihm direkt aus der Hand, aber Sanglant achtete darauf, dass der heimtückische Schnabel seine Finger nicht berührte. »Die Qumaner folgen dem, der die Schwingen eines Greifen trägt. Und Sanglant will nicht einfach nur einen Greifen töten, sondern ihn sogar zähmen«, murmelte Breschius bewundernd neben Liath. Der Geistliche war genauso ein Narr wie alle anderen. Aber es stimmte, dass Sanglant einen herrlichen Anblick bot, wie er so ganz ohne Furcht bei dem Greifen stand, Herr seines eigenen Schicksals. »Und alle, die das gesehen haben, werden diese Geschichte jetzt zu ihren Stämmen tragen.« 682 3 Schließlich verteilte sich die Menge bis auf die zwei Dutzend Begleiter, die sich in und vor seinem Zelt aufhielten. Liath fand sich ohne Stiefel neben Sanglant auf der Pritsche wieder. Im Licht war Sanglants schwaches Lächeln sichtbar, der Rest von ihm lag im Schatten. »Ich bitte dich, Heribert«, sagte er leise, »lösch die Lampe.« Heribert rollte mit den Augen, erhob sich jedoch von seinem Schlaffell, befeuchtete seine Finger und griff nach der Lampe, die an einem Pfosten hing. Er drückte die Flamme aus. Sanglant seufzte schwer. Hundert Gedanken schössen Liath durch den Kopf und erstarben. Und dann umarmte er sie. Er drängte sie mit seinem Gewicht auf die Pritsche, sodass er halb auf ihr lag, das eine Bein über ihrem Knie. »Du hast keine Ahnung«, murmelte er. »Du hast keine Ahnung. Nicht ein Tag ist vergangen, an dem ich nicht an dich gedacht habe. An dem ich nicht um dich getrauert habe. Dich verflucht habe. Dich vermisst habe. Du hast keine Ahnung, wie sehr ich dich vermisst habe, wie sehr du mir gefehlt hast.« Er drängte sich noch dichter an sie. Sie wand sich etwas, und seine Hände auf ihrem Körper wurden zupackender, als sie sich immer wieder küssten und er mit einer Hand unter ihre Tunika fuhr, den Konturen ihrer Rippen folgte. Dann hustete jemand. »Ich kann nicht«, flüsterte sie, schlagartig wie erstarrt. Er spannte sich an. »Du kannst nicht?« Wut färbte seine Stimme. Wann immer er sprach, war eine unterschwellige Wut zu spüren, die nur darauf wartete, zuschlagen zu können. Aber dies war keine Schlacht gegen ihn. »Es sind so viele Menschen hier drin«, flüsterte sie. Ein Dutzend mindestens, und die meisten rührten sich noch, machten sich zum Schlafen bereit. Das Husten war vermutlich nichts weiter als 683 ein Räuspern, ein Reinigen der Kehle, aber es hatte sie schlagartig aus ihrer Leidenschaft gerissen. Sie spürte, dass seine Aufmerksamkeit sich von ihr wegbewegte. Seine Finger klopften einen Rhythmus auf ihren Rippen, während er über ihre Worte nachdachte. »Sie schlafen«, flüsterte er. »Das tun sie nicht! Nicht alle.« »Aber sie tun es schon bald.« »Und wenn nicht?« »Dann tun sie zumindest so, als würden sie es tun.« Es bedeutete ihm nichts, ihm, der sein ganzes Leben in einer solchen Menge zugebracht hatte, der niemals wirklich allein war, der keine Privatsphäre kannte und sie sicher auch nicht begehrte. Die einzige Zeit, da er tatsächlich allein gewesen war, war als Gefangener von Blutherz gewesen, und selbst da hatten die Aikha-Hunde ihn umgeben, sein Rudel. Sicher hatte ihn die Einsamkeit halb in den Wahnsinn getrieben. »Ich kann einfach nicht«, wiederholte sie, nicht sicher, ob sie sich ihm verständlich machen konnte. Der Druck all der Leute um sie herum war zu viel. Sie konnte das nicht einfach ignorieren. Und sie konnte es nicht ertragen. »Ich halte das nicht länger aus«, sagte er heiser. »Das wo interessiert mich nicht, aber das wann. Und wenn ich es jetzt nicht tue, das schwöre ich dir, Liath, werde ich vor Verzweiflung sterben.« Er packte ihren Umhang, nahm ihre Hand, zog sie hoch und sagte im Befehlston in das Zelt hinein: »Niemand folgt uns!« Heribert begann zu kichern, dann lachte das halbe Zelt. Sie brannte innerlich vor Scham, aber Sanglant achtete
nicht darauf, denn das tat er nie. Er zog sie aus dem Zelt, und nachdem er einem halben Dutzend verblüffter, aber rasch erheiterter Wachen befohlen hatte zurückzubleiben, lachte auch sie, rannte mit ihm mit bloßen Füßen durchs Gras. Sie hatte den Gürtel zurückgelassen, und so klatschte der Saum ihrer Tunika immer wieder gegen die Waden. Als sie den Kamm des Hügels erreicht hatten, stellte sie ihm ein Bein, und sie fielen hin, rollten über den Boden, rangen und kicher684 ten miteinander, bis sie eine ebene Stelle des Hangs erreichten und in einer Kuhle von der Größe mehrerer Männer liegen blieben. Er küsste sie so ausgiebig und intensiv, dass sie ganz benommen wurde. Grashalme hingen in ihren Haaren und den Ärmeln und zwischen ihren Zehen, und seltsamerweise lenkte ihn das Gras mehr ab als sie. Fluchend strich er sich die Halme von der Kleidung. Dann nahm er den Umhang ab, schüttelte ihn aus und breitete ihn auf dem Gras aus. Nachdem er auf dem Stoff herumgetrampelt war, um das Gras niederzudrücken, zog er sie zu sich herunter. Sie löste seinen Gürtel, plötzlich ganz versessen auf diese Aufgabe, wollte ihn nur noch berühren, seine nackte Haut auf ihrer spüren, aber er hielt ihre Hand fest. »Nein, noch nicht. Noch nicht.« Er küsste ihre Knöchel, zog sie dann zu sich heran. »Oh, Gott. Lass es mich genießen.« Sie lagen eine Weile einfach nur da. Sie schloss die Augen und ließ die kühle Frühlingsbrise über ihr Gesicht streichen. Jetzt, da sie so eng umschlungen dalagen, konnte sie nichts zum Frieren bringen. Er atmete so leise und still wie die strahlenden Sterne, die über ihnen leuchteten. »Liath«, fragte er nach einer Weile, »liebst du mich noch?« »Das hast du mich schon einmal gefragt. Warst du mit meiner Antwort nicht zufrieden?« »Du hast mich nicht gefragt, ob ich dich noch liebe.« Ärger flackerte kurz in ihr auf, wie eine Sternschnuppe, die über den Nachthimmel streift, dann lachte sie und rollte sich auf ihn, sodass er unter ihr gefangen war. »Liebst du mich noch, Sanglant? Ich weiß, dass du mich noch begehrst, das ist offensichtlich, aber Begierde ist nicht immer Liebe.« »Ich liebe dich noch«, sagte er. Jedes Lachen war aus seiner Stimme gewichen. »Aber ich kenne dich nicht. Ist das immer noch Liath unter all diesen Kleidern? Ist das noch Liath unter dieser Haut? Ist das noch Liath oder nicht ein Geist, der gekommen ist, um mich zu quälen? Wirst du mich wieder verlassen?« »Niemals freiwillig«, flüsterte sie. Er schüttelte schroff den Kopf; sie konnte die Bewegung ebenso spüren wie sehen. Obwohl sie nachts sehr gut sehen konnte, be685 deutete das Sehen sehr viel weniger als die Berührung, als das Riechen, das Schmecken seiner Verzweiflung und seiner Verärgerung. »Ich fürchte den Tod nicht. Ich fürchte nur den Wahnsinn. Ich habe dich vier Jahre lang verflucht, weil du mich verlassen hast, weil Wut das Einzige war, was mich vor der Verzweiflung bewahrt hat. Ich weiß, dass wir einen großen Kampf begonnen haben. Ich weiß, dass die Umstände uns zwingen könnten, dass wir eine Zeit lang - wie ich bete, nur eine kurze Zeit - auf verschiedenen Straßen reisen müssen. Aber ich möchte, dass du mir jetzt versprichst, was du mir in Färse versprochen hast, als unser gegenseitiges Einverständnis durch den Vollzug der Ehe und den Tausch der Morgengaben rechtskräftig und bindend geworden ist. Wenn es keine Verbindung zwischen uns geben kann, dann sei es so. Ich kann es erleiden und allein weitermachen, wenn ich weiß, dass dies das Ende ist. Aber ich kann dich nicht gleichzeitig so sehr lieben und mich immerzu fragen, ob du mich noch einmal so gedankenlos verlassen wirst, wie meine Mutter meinen Vater verlassen hat. Wie sie mich verlassen hat.« Der Wind strich über ihren Nacken. Kälte lief ihr Rückgrat entlang, und sie bebte. Die Qual in seiner Stimme war schrecklich, aber sie wusste, dass Sanglant kein Mann der Feinheiten war. Was er empfand, drückte er aus. Er kannte es nicht anders. Er konnte nicht anders sein. »Da«, sagte er heiser. »Ich habe es gesagt. Du weißt, wie viel du mir bedeutest, Liath. Gott wissen, wie verzweifelt ich von dir geträumt habe, tagsüber und nachts. Am schlimmsten war es nachts. Ich hatte immer mal wieder eine Konkubine für kurze Zeit, oder ich hatte keine, aber es machte eigentlich keinen Unterschied. Ich konnte nicht aufhören, an dich zu denken und mich zu fragen, ob du jemals zu mir zurückkehren würdest, ob ich und das Kind dir wirklich etwas bedeutet haben. Oder ob du tot wärst. Es gab Tage, Gott mögen mir helfen, da dachte ich, es wäre leichter, wenn du einfach tot wärst, denn dann hätte ich gewusst, dass du mich nicht verlassen wolltest. Dass du mich noch immer aufrichtig liebst. Dass du den Schwur damals, als du mich für tot gehalten hast, nicht voreilig gesprochen hast, dass du dein Versprechen nicht in 686 einem Anfall von Verliebtheit und Begierde gegeben hast, sondern weil es der Wunsch deines Herzens war, was auch immer die Welt und die Himmel dir geboten haben. Dass du mich ebenso sehr willst wie ich dich.« Er packte ihre Handgelenke, hielt sie rechts und links von sich fest. »Ich muss es wissen, Liath. Ich muss es wissen.«
Sie weinte lautlos; die Tränen flössen mit all der Kraft seines Schmerzes und seiner Aufrichtigkeit aus ihr heraus. Nach einer Weile war sie in der Lage, mit belegter Stimme zu sprechen. »Ich hatte Flügel aus Flammen. Flügel. Meine Verwandten haben mich in das Haus meiner Mutter eingeladen, eine Stadt, die von ätherischem Feuer umgeben ist. Es ist der schönste Ort, den ich jemals gesehen habe. Ein Fluss aus Feuer floss dort, und ich bin der Strömung sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft gefolgt. Die Leiter der Magier lag ausgebreitet vor mir. Ich habe einen Blick auf das geheimnisvolle Herz des Kosmos geworfen. Nichts war vor mir verschlossen. Nichts. Nicht einmal mein eigenes Herz. Denn das ist es, was ich am meisten fürchte.« »Dein Herz?« Er heftete den Blick auf sie, dunkel und schrecklich. Die Brise wehte ihm Strähnen seiner schwarzen Haare übers Gesicht; die Bewegung war zu undeutlich, als dass gewöhnliche Sterbliche sie hätten wahrnehmen können - im Gegensatz zu ihr. Sie wusste jetzt, was sie war, und auch, was sie nicht war. »Einfach ... einfach ...« Jedes Wort war ein Kampf. Die Wahrheit war so schwer. »Mutig genug zu sein, um zu vertrauen. Um zu lieben. Mutig genug zu sein, um sich nicht zu verstecken. Ich weiß nicht...« Die Gefühle erstickten sie, und sie schloss die Augen, um sie zu verbergen, als könnten sie durch sie nach draußen explodieren. Körner aus Feuer zitterten überall um sie herum, im Gras, in der Erde, im Wind. Es waren die Samen einer zerstörerischen Feuersbrunst. Sie wagte nicht, sie loszulassen. Er hob die Hand und berührte ihr Kinn. Die Liebkosung seiner Finger war wie kühlendes, beruhigendes Wasser. »Ich bin nicht so wie du«, sagte sie. »So offen. So aufrichtig.« »So wahnsinnig«, murmelte er. 687 Sie lächelte. Die salzige Flüssigkeit ihrer Tränen kitzelte ihre Lippen. »So wahnsinnig. Und so stark.« »Bin ich das?« »Ja, das bist du. Ich weiß nicht, ob ich so aufrichtig und wahrhaftig lieben kann. Pa und ich haben so lange abseits der Welt gelebt. Wir haben uns versteckt. Wir haben uns vor den Blicken jener verborgen, die uns gejagt haben. Als Hugh mich zu seiner Sklavin gemacht hat, habe ich eine noch höhere Mauer errichtet, um mich zu schützen. Es war leichter so; es war der einzige Weg, den ich kannte. Aber selbst als du da warst, als ich dich hineingelassen habe, hat die Mauer noch gehalten. Ich war gewöhnt an sie. Ich fühlte mich sicherer damit, dass sie mich schützte. Aber dann ... Als ich in die Himmel aufgestiegen bin, habe ich alles gefunden, was ich mir jemals gewünscht hatte.« Sie hob den Kopf und starrte durch die Tränen hindurch auf den wunderschönen Himmel, der so voller Sterne war, dass es den Anschein hatte, als wäre dort ebenso viel Licht wie Dunkelheit. Er war still. Er rührte sich nicht, ließ lediglich ihre Hände los. »Ich hätte die Welt weit unterhalb von mir ihrem Schicksal überlassen können. Ich hätte alles hinter mir zurücklassen können. Für immer. Anne und ihre Schläfer, Henry und seine Kriege, alles und jeden. Hanna und Ivar. Dich und das Kind. Ich hätte mich zu den Verwandten meiner Mutter gesellen und dieses Fleisch abstreifen können. Aber ich musste es wissen. Ich konnte dich nicht verlassen, weil ich dich nie richtig kennen gelernt habe. Ich weiß nicht, ob ich dich so sehr will wie du mich. Aber ich muss es versuchen. Deshalb bin ich zurückgekommen.« Die Sterne brannten am Nachthimmel. Reisten ihre Verwandten dort, so hoch über ihr? Sie hatten ihren Weggang nicht betrauert; die Lebensspanne eines Menschen bedeutete ihnen nur wenig. Sie hatten einfach nur einen Blick in ihr Herz geworfen und sie gehen lassen. Sie nahm sein Gesicht in die Hände. »Sieh in mein Herz, Sanglant.« »Oh, Gott«, murmelte er, wie ein Mann, der seinen Todeshieb erhielt, aber er blickte ihr ins Gesicht, suchte darin. 688 Sie verharrte in dieser Position, wartete, während der Wind durch das Gras rauschte. Eine Eule schrie. »Feuer«, flüsterte er heiser, als wäre er vor Verwunderung ganz benommen. Aber andererseits klang seine Stimme immer so. »Feuer ist dein Herz.« Er erhob sich, stieß sie dabei fast von sich und umfing sie gleichzeitig in einer so festen Umarmung, dass sie kaum atmen konnte. »Ich will nicht mehr warten«, fügte er halb lachend und halb außer Atem hinzu, ganz und gar lebendig und wach und wissend, dass er alles andere verschluckte, den Himmel, die Welt, die Geräusche und das Licht. Nun. Alles außer dem Gras, das ihre linke Fußsohle kitzelte. Aber als sie ihn küsste, als er sie küsste, verlor sich auch diese Ablenkung. 4 Wäre die Daemonin nicht dabei gewesen, hätte sie leichtes Spiel mit dem Jäger gehabt, der jetzt ausgestreckt im Gras schlief, verletzlich war und sich weit weg von seinem Stamm befand. Aber hatte sie ihn nicht schon einmal getötet? War dieser Hieb nicht kräftig genug gewesen, um sogar einen Elch oder Bären zu töten ? Er hatte sich erholt, weil Magie in seine Knochen gewebt war. An diesem Jäger war mehr, als sie sehen und riechen konnte. Er hatte ihren Gefährten gefangen genommen und gezeigt, dass er über ihn herrschte. Wenn sie jetzt den Jäger tötete, wäre das eine Beleidigung des Tanzes der Männer - ihres Geburtsrechts -, die mit den anderen um ihren Platz kämpften.
Nun. Sie konnte ihren Gefährten verlassen, oder sie konnte dem Jäger und der Daemonin folgen, die den Jäger auf die gleiche Weise als Gefährten beanspruchte wie sie vor vielen Jahreszeiten ihren eigenen. Wind fuhr durch das Gras und sang leise in ihren Federn. Die 689 ätherischen Wellen nahmen in jeder Jahreszeit zu und ab, aber die Fäden, die die Welt banden, gruben neue Kanäle; das spürte sie. Die Welt war im ständigen Wandel. Da ihr Nest zerstört war, würde es dieses Jahr keine Jungen geben. Es würde eine ganze Jahreszeit dauern, den Nestboden zu erneuern, und sie wollte ihren Gefährten nicht verlassen. Vielleicht war es besser, für eine Jahreszeit die alten Wege zu verlassen, sich in neues Gebiet zu wagen, den Pfaden zu folgen, die von den hämmernden Kraftlinien geschaffen wurden, die sich zu neuen Mustern webten. Solange ihr Gefährte gefangen war, würde sie dem Jäger folgen. Wieso auch nicht? XXII Ein neues Schiff
1 »Sie wissen, dass wir hier sind«, sagte Starkhand zu seinen versammelten Anführern und Beratern in der Halle von Weorod, wo Edelmann Ediki auf dem Platz des Edelmanns saß und den Vorsitz über die Bediensteten und Sklaven führte, die den Anwesenden Fleisch und Getränke brachten. »Wie unsere Verbündeten berichten, haben zwei albische Schiffe gestern Verstärkung zur Insel gebracht.« Regen trommelte auf das Dach. Unter den Dachgesimsen auf allen Seiten der Halle kauerten Kinder und Hunde und schauten zu. Einige waren Sklaven gewesen, andere die Kinder derjenigen, die vorher hier geherrscht hatten, aber Ediki hatte den Befehl gegeben, dass jeder die Gelegenheit erhalten sollte, sich unabhängig von der Geburt zu beweisen. So war es bei den Aikha, ihren neuen Herren, hatte Edelmann Ediki erklärt, aber so war es auch uralter Brauch seiner Ahnen gewesen. »Wir haben keine Schiffe an diesem Ufer«, sagte Hundetöter. »Wie können wir über das Wasser angreifen? Wir sterben, wenn wir hindurchwaten.« »Wir müssen die Wasserwege auskundschaften, die sich ins Meer ergießen«, sagte Feuerstein. »Dann können unsere Schiffe dort entlangsegeln und von Norden angreifen.« 691 »Wir werden viele Kundschafter haben«, pflichtete Starkhand ihm bei; er musterte seine Leute und wartete, bis Yeshu alles ins Albische übersetzt hatte. Er sprach zuerst in seiner eigenen Sprache und dann auf Wendisch, aber obwohl er Albisch ganz gut verstand, fiel es ihm immer noch schwer, es zu sprechen. »Manda, die Anführerin des Eel-Stammes, hat uns vierzehn Boote und vierundzwanzig ausgebildete Führer zur Verfügung gestellt. Ich brauche Freiwillige, die den Norden auskundschaften.« Etwa sechzig Mann - FelsenKinder wie auch Menschen - waren in die Halle gekommen und hörten zu, und wie Starkhand erwartet hatte, erhob die Hälfte von ihnen ihre Stimme und bat, gehen zu dürfen. Es waren diejenigen, die Ehre, Ruhm und Reichtümer suchten, die Edelmann Edikis neuen Besitz voller Neid ansahen oder einfach nur die Gefahr suchten. Starkhand hob die Hand, und es wurde still in der Halle. »Zwei Männer werden jeweils ein Boot besetzen. Jeder, der das Meer und unsere Schiffe erreicht, erhält einen Goldnomia. Für jedes Schiff, das durch das Moor hierher zurückgebracht wird, gibt es einen weiteren Nomia.« Sie waren begierig darauf, aufzubrechen, trotz des trüben Wetters. Als die Versammlung sich auflöste, nahm er Zehnter Sohn mit nach draußen. Etliche Soldaten hatten sich versammelt, um die Entwicklung des Rates zu verfolgen, und sie schlössen sich jetzt zu Gruppen zusammen, gingen zurück zu ihren Zelten und Schlafstellen oder bereiteten sich auf ihre Wache vor. Die Zelte breiteten sich zwischen der Palisade und dem Erdwall aus, schützten sich mit Wagen und erst kürzlich ausgehobenen Gräben vor unerwarteten Angriffen. Alle warteten mit unterschiedlicher Geduld auf einen neuen Schlag. Solange die Königin lebte, herrschte sie noch. Starkhand trat in den Schutz eines leeren Kuhstalls und stand mit Zehnter Sohn da, während Regen durch das Strohdach sickerte, das nach dem Winter noch nicht repariert worden war. Obwohl die Ställe gesäubert worden waren, klebten noch Klumpen von Mist am Boden, und der Geruch von Tieren und Kot hing an der Erde. 692 »Ich werde zwei Brüder mitnehmen, aber ich möchte, dass du zurückbleibst, nicht, weil ich dir nicht trauen würde, sondern gerade weil ich dir traue.« Zehnter Sohn nickte. Er akzeptierte die Bemerkung - wie verblüffend sie auch sein mochte, da die FelsenKinder niemals über Vertrauen gesprochen hatten. »Die Standarte bleibt bei mir. Wenn ich falle, wird sie niemand anderem von Nutzen sein. Die Magie ist an mein
Leben gebunden.« »Ja«, stimmte Zehnter Sohn ihm zu. »Wenn du fällst, wird dieses Heer in tausend Stücke zerbersten, und alle werden aufeinander einschlagen. Wieso wartest du nicht auf die Schiffe?« »Wenn ich auf die Schiffe warte, wird die Königin wissen, dass ich komme. Wenn ich jetzt gehe, wird sie nicht damit rechnen. Ich möchte diese Krone mit eigenen Augen sehen. Ich muss wissen, was sie da vorhaben. In meinen Träumen ...« Er brach ab. Er sprach selten von seinen Träumen, weil die FelsenKinder nicht träumten, aber er wusste, dass die Träume, die er mit Alain teilte, viele Geheimnisse offenbarten und dass diese um vieles kostbarer waren als Edelsteine und Gold. »Was wirst du tun, wenn du dort bist?«, fragte Zehnter Sohn. »Das weiß ich noch nicht«, gestand er. Während die meisten FelsenKinder eine solche Antwort als Zeichen von Schwäche gewertet hätten, sah Zehnter Sohn in dem unvorbereiteten Vorgehen eine Stärke. Der Regen ließ nach, als der graue Nachmittag in eine frühe Dämmerung überging. Die schweren Wolken hingen tief am Himmel. Ein Kind lachte. In der Nähe saßen Elafi und Ki neben einem kleinen Weidenkorb auf dem Boden. Sie hatten sich gewünscht, Starkhands Lager und sein Heer zu sehen, und hatten es fast den ganzen Tag lang erkundet, aber jetzt machten sie sich an die Vorbereitungen für die Reise dieser Nacht. Seltsamerweise banden sie Stücke von Kerzen an die Füße zweier zeternder Tauben. Aus dem Lager drang der Lärm von Hammerschlägen auf Eisen zu ihm, aber im Augenblick interessierte ihn sein Kamerad mehr. 693 »Wieso folgst du mir?«, fragte er schließlich. Da sie Nestbrüder waren, ähnelte Zehnter Sohn äußerlich Starkhand. Auch er war schlanker als die meisten anderen Felsen-Kinder, aber eine Handbreite größer als Starkhand und im Schulterbereich und am Brustkorb kräftiger. Er war größer und stärker als die meisten FelsenKinder, aber Stärke war nicht alles. »Ich bin nicht so schlau wie du, Bruder«, sagte Zehnter Sohn schließlich, »aber ich bin schlau genug, um zu wissen, dass mein Glück mit deinem steht und fällt. Hakonin und die anderen Anführer werden nicht hinter meiner Standarte marschieren. Wenn du stirbst, bin ich nichts.« »Was ist es, das du dir wünschst? Du bist mir gegenüber so loyal, wie es bei den Menschen üblich ist. Ich würde dich belohnen, wenn du das möchtest.« Zehnter Sohn bleckte die Zähne. Wie alle Krieger hatte er Juwelen in seine Zähne gebohrt, die von seiner Kühnheit kündeten. »Kannst du mir alles geben, um das ich dich bitte?« »Nein. Ich kann dir nicht den Mond oder die Sonne geben. Ich kann dir kein anderes Leben geben als das, das das Schicksal für dich bestimmt hat. Ich kann dich nicht zu etwas anderem machen, als du bist.« Zehnter Sohn nickte, zufrieden mit der Antwort. Seine geflochtenen Haare schimmerten im grauen Nachmittagslicht so weiß wie Knochen. »Solche Dinge möchte ich nicht. Ich möchte das, was bei den Menschen sogar die Sklaven besitzen. Ich möchte einen Namen.« Als sie später über das Wasser des Moors glitten, dachte Starkhand nach. Einen Namen. Ganze Generationen lang hatten die WeisMütter die Namen gehütet wie Gold. Nur den Anführern eines Stammes hatten sie erlaubt, sich einen zu nehmen. Der geringste Sklave bei den Menschen hatte einen Namen wieso nicht die Mitglieder seines eigenen Volkes? Betrachteten die WeisMütter ihre Enkel als geringer als Sklaven? Oder hatte es bei Geschöpfen, die ihrem Leben kaum 694 mehr Gedanken widmeten als die Hunde, die ihnen folgten, nie einen Grund gegeben, ihnen Namen zu geben? Verlangten auch die beiden Krieger aus Rikin, die ihn begleiteten, Namen für sich, oder war nur Zehnter Sohn von diesem Fieber erfasst worden? »Du bist so nachdenklich«, sagte Ki. Sie und Elafi paddelten so ruhig wie Enten, während sich die Dämmerung herabsenkte. Sogar die Tauben, die sich in dem Käfig zu Kis Füßen befanden, blieben stumm. Schilf raschelte am Boot, teilte sich vor dem Bug, während sie einen Sumpf durchfuhren, der gleich nordwestlich der Insel lag, auf der sich die Königin und die Krone befanden. Hier, in der Nähe dieser Insel, wo sich ihr Heer aufhielt, waren die Vögel verjagt worden, sodass sie das Wasser für sich hatten und kein Flügelschlagen sie verraten konnte. »Still«, sagte Elafi, während er das Boot an einem flachen Ufer entlang- und unter den ausladenden Zweigen einer Weide hindurchlenkte. Starkhand duckte sich, als Zweige über ihm und an den Seiten raschelten. »Still«, wiederholte Elafi. Das Grün verbarg das Land um sie herum, aber die Alben hatten immer noch Ohren. »Hast du was gehört?« Es war eine Frauenstimme, die Albisch sprach. »Nein, habe ich nicht.« Ihr Begleiter klang gelangweilt. »Hier, stell den Korb ab und sieh dich um.« »Das werde ich nicht tun! Ich werde dieses Ding nie wieder hochkriegen, so schwer, wie es ist!« »Tu es trotzdem, du Narr! Du hast genauso gehört wie ich, dass die Wilden gekommen sind und Weorod niedergebrannt haben. Dass sie den Onkel und den Bruder unserer Königin bei Grimmwall getötet haben. Sie könnten überall sein, sich wie Schlangen anschleichen und zu uns kriechen, um uns umzubringen. Ich glaube,
ich habe da drüben was entlangstreichen hören, bei der Weide da.« Elafi setzte einen Talisman an die Lippen und blies leise darauf. »Sieh nur«, sagte die Frau kurz darauf. »Es ist ein Hirsch.« 695 Etwas brach durch das Riedgras und die Zweige in der Nähe, verschwand mit einem leisen Platsch im Wasser. Sie fluchte. »Er war zu schnell für mich.« »Und du hast einen Pfeil vergeudet, obwohl wir keinen einzigen erübrigen können. Es ist zu dunkel, um ihn jetzt zu suchen. Machen wir weiter. Bald kommt wieder die Flut. Wildfleisch wäre lecker gewesen, sicher, aber all das Gerede von den Wilden macht mir eine Gänsehaut.« Sie warteten still unter der Weide, während die Dämmerung unmerklich in die Nacht überging und die Stimmen sich entfernten. »Sei still«, sagte Elafi schließlich. »Das gilt für dich, Ki.« Er drückte mit dem Ruder die Zweige auseinander, und sie tasteten sich aus ihrem Versteck, während die biegsamen Zweige über ihnen leise Geräusche verursachten und die zur Hälfte neu entwickelten Blätter sie an den Armen und im Gesicht kitzelten. Mit zunehmender Nacht legte sich ein dunstiger Glanz übers Wasser, als hätten sich die Wolken gesenkt, um das Moor zu berühren. Es war schwer, etwas zu erkennen. Aber Elafi wusste, was er tat, und Starkhand spürte die Veränderung der Strömung, wenn sie von Schilfgruppen verlangsamt wurde, ebenso wie er den Geruch salziger Strömungen unterhalb des glatten, frischeren Wassers der Oberfläche roch. Die Ebbe hatte ihren tiefsten Punkt erreicht. Eine Spießente sauste vorbei. Ki bückte sich zu dem Käfig am Kanuboden. Daneben befand sich eine kleine Ausbuchtung. Geschickt nahm sie mit einer kupfernen Zange ein Stück Kohle aus dieser Ausbuchtung und entfachte einen Funken am Docht, dann ließ sie die zwei Tauben frei. Sie flatterten der Spießente hinterher, und die Kerzenstücke an ihren Füßen wackelten, lösten sich und wirbelten nach unten ins Wasser. Die meisten zischten und gingen im Wasser aus, aber zwei setzten mit der Spitze auf, hüpften ein bisschen und brannten weiter. »Sumpflichter«, flüsterte Erster Sohn des Zehnten Wurfs, der im Grenzland, wo Gut Weorod an das Moorland stieß, Wache gestanden hatte. »Ein guter Trick«, bestätigte Letzter Sohn des Vierten Wurfs, 696 während er sich umdrehte, um die Lichter hinter ihnen zu betrachten. Elafi entzündete eine winzige Lampe und hielt sie vor den Bug des Schiffes, um den Weg voraus zu beleuchten, während Ki andere Kerzen entzündete und ins Wasser setzte. Die losen Enden gingen zischend aus, als das Kielwasser sie hin und her schüttelte. Weiter draußen jenseits der Weide flackerte ein echtes Sumpf licht auf und verschwand. Starkhand konnte nicht umhin, die Raffinesse dieser Täuschung zu bewundern. Sie umrundeten eine Schilfgruppe, die ihnen Schutz gewährte, als sie die abbröckelnde Felsenklippe erreichten. Dort befand sich eine uralte Weide, deren Stamm so dick war wie das Bein eines Riesen. Bei dem niedrigen Wasserstand ragte der unterste Teil aus dem Wasser. Nebel umhüllte die Insel wie ein Laken, und Geräusche drangen zu ihnen: das Wiehern eines Pferdes, das Bellen eines Hundes, das Rumpeln eines Handkarrens, der knappe Ruf einer Wache an ihren Kameraden, ein schrilles Pfeifen, das von einer harmonischen Musik aus Trommelklängen und Gesang begleitet wurde. Die Musik wirbelte durch den Nebel wie ein sich um Starkhand wickelnder Faden, zog ihn immer tiefer in den Dunst hinein. Seile scheuern an seinen Handgelenken und Knöcheln, während er dahinschlurft, immer wieder unangenehm mitgerissen wird, wenn der Wagen, an dem er festgebunden ist, schneller wird. Einmal prallt er gegen ihn, weil er nicht damit gerechnet hat, dass er stehen bleibt. Spitze Steine bohren sich in seine Füße, und er bewegt sich in der Hoffnung, angenehmeren Boden zu finden. Ein Mann ruft ihm einen Fluch zu; eine Peitsche knallt mehr aus Verärgerung auf seinen Rücken als deshalb, weil er die Reihe aufgehalten hätte. Er zuckt vor Schmerz zusammen, aber erweint nicht. Er hat keine Stimme. Er kann nichts sehen. Er ist blind und stumm. Das Kanu prallte gegen den Stamm der Weide, als Starkhand den Kopf zurückwarf und den Nebel mit Blicken durchsuchte. Aber die Vision hatte sich bereits ebenso aufgelöst wie die Sumpflichter. Sie war verschwunden. 697 Was war mit Alain geschehen? Wo waren die Hunde? Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, sich diese Fragen zu stellen. Sie konnten hier, am Fuß der Klippe, nur zu leicht angegriffen werden; eine Wache bewegte sich irgendwo über ihnen. »Was ist das für ein Licht?«, rief die Wache. Elafi griff nach dem Stamm. Er fuhr mit den Fingern unter die Rinde und hob ein Stück ab; ein Loch kam zum Vorschein, das groß genug war, um das Boot durchzulassen. Die Weide war im Innern morsch. Elafi und Ki lenkten das Boot durch die Öffnung, als über ihnen gerade eine zweite Wache der ersten antwortete. »Sumpflichter. Da, gerade ist es wieder ausgegangen.« Sie glitten unter den knorrigen Wurzeln der Weide dahin und gelangten in eine Kammer voller Schlamm, in der es nach Verwesung stank. Das Kanu wackelte, als Ki sich gefährlich weit über das Heck beugte, um die Öffnung
hinter ihnen wieder zu schließen. »Von hier aus müssen wir klettern«, flüsterte Elafi. Sie verließen das Kanu, wobei sie darauf achteten, dass es nicht umkippte, und wateten durch knietiefen Schlamm zu einer Felsenböschung. Die Luft drang wie Flüssigkeit in Starkhands Lunge; der Matsch legte sich klatschend und schmatzend um seine Schienbeine. Er hatte niemals einen so abstoßenden Geruch erlebt, und er achtete darauf, die Standarte vom Schlamm fern zu halten, damit nicht irgendein Gift die Magie darin zerstören konnte. Elafis Gesicht wurde von der Lampe erhellt, als sie die Böschung hochkletterten. Dann hob er die Lampe, und es wurde ein Maul mit riesigen Zähnen sichtbar. Der Kiefer und die Zähne irgendeines gewaltigen Wesens bildeten den Eingang, durch den sie in einen niedrigen Tunnel gelangten. »Was ist das?«, fragte Erster Sohn, als Letzter Sohn überrascht grunzte. »Ein geflügelter Drache«, sagte Ki hinter ihm. »Vor langer Zeit ist er von den alten Zauberern getötet worden, genau an dieser Stelle. Die Gebeine eines geflügelten Drachen sind voller Magie. Deshalb haben unsere Feinde ihn nie gefunden.« Stufen aus Schieferplatten waren in die Erde eingelassen wor698 den, berührten die riesige Wirbelsäule an der einen Seite. Als die Kreatur gestorben war, hatte sie sich nach rechts gerollt, und es war der unglaublich lange Brustkorb, der die feuchten Erdwände des Tunnels stützte. Es hatte daher den Anschein, als würden sie in ihrem Bauch klettern. Nur Ki und Elafi konnten aufrecht stehen; die FelsenKinder mussten sich bücken und die Stufen ertasten, da Elafis Körper den größten Teil des Lichtscheins verdeckte. Vielleicht war es die Magie in den Gebeinen des geflügelten Drachen. Vielleicht war es die Dunkelheit oder die Nähe zur Steinkrone. Mit jedem vorsichtigen Schritt auf einer der Schieferstufen wallten kurz aufflackernde Geräusche und Empfindungen durch Starkhand hindurch. »Mir gefällt das Geräusch nicht!«, sagt einer der Männer - sie alle stinken widerlich, so viel weiß er. »Geht weiter! Geht weiter! Wenn sie uns hier kriegen, werden wir alle umgebracht.« Seine Finger rutschten an einer glatten Rippe ab, aber er fing sich rasch und ging einen weiteren Schritt hinauf. »Steh auf, Hexe! Sonst töte ich das Kind.« Eine Frau schluchzt, fleht weinend um Gnade. Er dreht sich um, sucht die Richtung, aus der die verzweifelte Stimme gekommen ist. Weit weg, wie in einem Traum, hört er Pferdehufe. »Weiter! Weiter!« »Wir trennen uns und treffen uns in der Stadt.« Er streckt die Hand aus, findet den Arm der weinenden Frau und hilft ihr auf. Eine Gerte schneidet in sein Ohr, das schon die ganze Zeit -pocht und geschwollen ist, und er zuckt zurück, als Schmerz durch seinen Kopf wogt. Starkhand taumelte und konnte sich kaum wieder fangen. Er versuchte, sich mit den Händen an der Wand festzuhalten, fuhr die Klauen aus und kratzte mit ihnen an der Erde entlang, sodass Dreck und Erdklümpchen zu Boden rieselten. »Starkhand?« Erster Sohn schien überrascht angesichts dieses Anzeichens von Schwäche. Elafi zischte. »Still jetzt! Still!« Sie warteten, während Elafi in die Dunkelheit vorausging. Bei 699 jedem Schritt flackerte der gewölbte Knochen über ihm auf, bis der junge Mann einfach verschwunden war. Starkhand machte einen Schritt nach vorn, um ihm zu folgen. »Ich nehme die Trau mit.« Schreiend wehrt sie sich. Ihr Arm wird seinem Griff entzogen, aber bevor sie weggerissen wird, drückt sie ihm ein Bündel in den Arm. Der Wagen ruckelt weiter, und er verliert beinahe den Halt, als das Seil sich anspannt. Er stolpert vorwärts, hält das Bündel an sich gedrückt, fragt sich, was es sein mag. Flüssigkeit sickert durch den Stoff auf seine Hände. Eine Weile ist er nur damit beschäftigt, hinter dem Wagen herzulaufen, während Stöcke ihn und die anderen Angebundenen weiterstoßen. Es hat noch mehr wie ihn gegeben, aber im Laufe der vielen Tage - er kann sich nicht erinnern, wie viele es waren - sind die Übrigen zurückgeblieben, gestorben oder weggeschafft worden. Er weiß es nicht. Er kann nichts sehen, und was er hört, wird häufig von stechenden Schmerzen in seinem Kopf unterbrochen. Aber er vermisst etwas. Das weiß er. Hin und wieder weint er vor Wut und Verzweiflung. Als der Wagen auf einen glatten Waldpfad einbiegt und das Gras seine schwieligen, mitgenommenen Füße angenehm kitzelt, zieht er den Stoff zurück und betastet das Bündel mit einer Hand. Ein Kind. Er trägt ein Kind. Blut sammelt sich in der Vertiefung der eingefallenen Brust. Es ist bereits tot. Ein Strom von Empfindungen und Gefühlen raste durch ihn hindurch, bis er vollkommen überwältigt war. Er schnappte nach Luft, als er erneut taumelte, sich auf den Stab lehnte, um nicht zu stürzen. Seine Füße rutschten auf etwas Rundem, Zylindrischem aus, und er schwankte, als er das Gleichgewicht wiederzuerlangen versuchte, um vor den anderen keine Schwäche zu zeigen. Die an der Standarte befestigten Knochenperlen klimperten leise.
Staubkörner wirbelten um seine Nase und machten seine Zunge trocken. »Vorsicht.« Die Berührung von Elafis Hand auf seinem Arm kam mitten aus der Dunkelheit. »Da vorn sind Knochen. Man kann leicht darauf ausrutschen. Gleich da vorn.« 700 Der Tunnel mündete in eine von Kragsteinen gestützte trockene, staubige Kammer, in der sich Alkoven mit ordentlichen Knochenhaufen darin befanden. Sie flackerten kurz auf, als Elafi sich umdrehte und die Lampe in jeden einzelnen Alkoven hielt. Starkhand richtete sich auf, ebenso wie Erster Sohn und Letzter Sohn, und starrte voller Ernst auf diese Begräbnisstätte. Kis Atemzüge wirkten überaus laut, als wäre sie verängstigt oder von Ehrfurcht ergriffen. Doch was gab es hier, vor dem man Angst haben könnte? Starkhand warf einen Blick in den Tunnel zurück, der bis auf diesen letzten Abschnitt vom Gerüst des Drachenskeletts gebildet wurde. Die Lebenden fanden eine Verwendung für die Toten. »Hier liegen die Weisen begraben«, sagte Ki. »Dies wird mein Ruheplatz werden«, fügte Elafi hinzu. »Bist du ein Zauberer?« Der junge Mann lächelte. Seine Wangen und die Nase waren mit Schmutz verschmiert, und seine Augen wirkten sehr dunkel. »Hast du einen Hirsch gesehen, draußen bei der Weide, wo wir uns versteckt haben? Die Alben haben einen gesehen.« Starkhand nickte. »Bist du mächtiger als die Baumzauberer?« »Ich bin ihnen nicht ganz unähnlich. Aber allein kann ich sie nicht bekämpfen. Ich bin der letzte Zauberer meines Clans.« »Und es ist gut, dass du eine schlaue Kriegerin wie mich zu deinem Schutz hast«, sagte Ki. Elafi lächelte, während er die Lampe in der Mitte der Kammer abstellte, unter dem höchsten Punkt der Decke. Er nickte Starkhand zu. »Von hier aus musst du allein weitergehen. Was jetzt passiert, liegt ganz bei dir und deinen Göttern.« »Wo ist die Steinkrone?« Elafi deutete nach oben. »Diese Kammer befindet sich in der Mitte des Steinkreises. Die großen Steine stehen dahinter, am Rand des Kreises, mit den Füßen im Boden. Sie werden an die Erde gekettet, damit die Toten nicht fliehen können.« Waren unter allen Steinkronen Kammern verborgen? Brüteten die WeisMütter menschliche Knochen aus? Oder etwas anderes? Doch seit Alains Rückkehr hatte er eine Vermutung, wie die 701 Wahrheit lauten mochte. Er hatte nur noch nicht entschieden, was er tun sollte. »Erklär mir den Weg«, sagte er. Elafi deutete auf einen der Alkoven. »Du kriechst hier durch. Der Tunnel windet sich ziemlich, aber ich glaube, du bist schlank genug, um hindurchzupassen. Du wirst eine Leiter finden. Früher, in der alten Zeit, hat sie zum Haus des Zauberers geführt, aber du wirst sehen, dass es seit langem zugewachsen und jetzt ein Geheimnis ist. Deshalb wissen die Alben auch nichts davon. Es gibt eine Falltür, die der Onkel des Vaters des Vaters meiner Mutter in den Boden eingelassen hat. Du kannst durch das alte Fundament kriechen. Über dem alten Schutzdach ist ein neues errichtet worden. Von dort kannst du die Steinkrone überblicken, ohne selbst gesehen zu werden. Oder du kannst hinausgehen und im Steinkreis herumgehen, wenn du das wagst. Die Alben und ihre Baumzauberer haben Angst vor den Steinkronen. Sie wagen sich bei Nacht nicht dorthin. Diese Kreispriester sind vielleicht mutiger.« Er nickte Starkhand zu. »Auch du trägst ihr Zeichen. Vielleicht weißt du es.« »Vielleicht.« Er rammte das geschärfte Ende der Standarte in den Boden und trat es fest, ehe er sich an Erster Sohn und Letzter Sohn wandte. »Bewacht sie.« Einer der Alkoven enthielt nur Tierknochen, die genauso dalagen wie die anderen und so auf den ersten Blick wie Menschenknochen wirkten. Starkhand vermutete, dass sie dorthin gelegt worden waren, damit man kein Sakrileg beging, wenn man vorbeikroch - was er jetzt tat. Er arbeitete sich durch einen schmalen Gang, der sich zweimal zurückwand; beim zweiten Mal war die Biegung so scharf, dass er ein Stück zurückmusste, um die Axt zu lösen und vor sich herzuschieben. Erde juckte in seinen Ohren. Der Eisenkopf stieß gegen die Wand, aber es gelang ihm, die Axt so zu halten, dass sie sich um die Biegung führen ließ. Er wand sich ebenfalls darum und kroch über den Holzgriff. Vor dem Axtkopf befand sich eine Mauer aus aufgeworfener Erde, und er berührte die unterste Sprosse einer Holzleiter. Es war zu dunkel, um etwas sehen zu können, und er zögerte, fragte sich, ob die Visionen wie702 der auftauchen würden, ob sie ihn möglicherweise sogar lähmen würden, aber nichts geschah. Es war unmöglich, zu erahnen, was mit Alain passiert war. Da Alain nichts sehen konnte, war auch er in diesen Träumen blind und verloren. Aber es war immer noch besser, als Alain vollkommen verloren zu haben, wie es in der Zeit gewesen war, da dieser ganz von der Erde verschwunden war. Starkhand kämpfte sich auf die Knie und steckte die Axt wieder in die Schlinge zurück, ehe er die Sprossen ausprobierte. Eine bog sich unter seinem Gewicht durch, aber alle hielten, als er hinaufstieg. Der Weg nach oben
war unerwartet lang, und Erde umgab ihn an allen Seiten; die Metallglieder des langen Gürtels, den er um die Taille trug, schrappten mit einem Geräusch daran entlang, als würde ein Vogel nach Insekten picken. Als er die oberste Sprosse erreicht hatte, tastete er mit der Hand über sich und fand einen Metallriegel. Er fingerte daran herum, bis er den Haken gefunden hatte, der ihn festhielt. Dann hielt er inne und lauschte. Er hörte nicht das Geringste. Nach einer Weile stützte er sich mit den Knien gegen die Sprossen, nahm die Axt in die Kampfhand und löste den Haken, um Licht und Geräusche hereinzulassen, aber nichts als Dunkelheit umfing ihn. In der Ferne hörte er die gedämpften Geräusche des Lagers. Er musste sich etwas anstrengen, um nach draußen zu kriechen, denn die Falltür ließ sich nicht ganz öffnen; das Dach über ihm war zu niedrig - und eigentlich war es gar kein Dach, sondern ein Boden. Der Raum war einst mit Erde und Schutt gefüllt gewesen, und eine dünne Schmutzschicht legte sich auf seine Haare und reizte seine Augen, aber einer von Elafis Vorfahren - vielleicht sogar der gleiche Onkel - hatte einen Gang hindurch getrieben. Er tastete sich weiter, schob die Axt vor sich her und berührte nicht nur Erde, sondern auch Tonscherben, Holzstücke, zwei Nägel und einmal ein Stück Wollstoff. Ein Schritt erklang direkt über ihm, gedämpft von Bodenbrettern und noch einer anderen Schicht, möglicherweise Binsen oder noch mehr Erde. Er schob sich weiter, bis er plötzlich keinen Boden mehr unter den Händen spürte. Er tastete 703 nach vorn, fand sich an einer Stelle wieder, an der er sich hinhocken konnte und von der aus er an krummen Planken vorbei einen unerwarteten Blick auf die Steinkrone hatte. Fackeln brannten verblüffend hell, aber der Kreis zwischen den teilweise wiederhergestellten Steinen war leer. Er hörte Stimmen. »Es stört mich, dass wir diesen Ungläubigen verpflichtet sind. Ich traue ihnen nicht. Sie sind einfach und primitiv. Sie sind ungehobelt und hochmütig.« »Geduld, Vater Reginar.« Der zweite Mann sprach Wendisch mit auffallend korrekter Grammatik, aber einem deutlichen Akzent und häufigen Pausen, in denen er nach den unbekannten Worten suchte. »Solange sie mithilfe von Waffen diese Kronen beherrschen, müssen wir uns mit ihnen verbünden.« »Ihr seid gerade erst hier angekommen, Bruder Severus. Ihr wisst nicht, wie sie sind. Sie liegen mit dem Feind im Bett! Was sie für Dinge tun! Habt Ihr gesehen, dass die Königin mehr als einen Ehemann hat? Mindestens vier scharwenzeln um sie herum, alte und junge. Sie nimmt jede Nacht einen anderen mit in ihr Bett, und es gibt sogar zwei Jugendliche, die dem Alten das Bett wärmen. Es ist abstoßend. Ich glaube nicht, dass Gott gewollt hätten, dass wir -« Er hatte die gereizte Stimme eines Mannes, der es gewöhnt ist, jeden beliebigen Wunsch erfüllt zu bekommen, aber Severus schnitt ihm mit einer schroffen Erwiderung das Wort ab. »Wir haben keine andere Wahl. Wo sind ihre Zauberer?« Getadelt, aber deshalb nicht sanftmütiger, antwortete der junge Mann in verächtlichem Ton: »Sie weigern sich, nachts hierher zu kommen. Sie sagen, es ist verboten.« »Gott im Himmel! Wenn sie sich weigern, nachts hierher zu gehen, kann keiner von ihnen lernen, die Kronen zu weben!« »Ja, Bruder. Das haben wir bemerkt.« »Gut. Ich habe ihre Königin begrüßt und mit ihr über ein Bündnis zwischen Königin Adelheid und König Henry und diesen Alben gesprochen. Prinz Ekkehard sollte sich als fügsam genug erweisen, dass er sich als Ehemann für ihre Tochter eignet, wenn wir ihn nur finden.« 704 »Ist mein Verwandter nicht der Kirche übergeben worden?« »Das mag sein. Aber wenn die Skopos wünscht, dass er ihr auf diese Weise dient, wird niemand Einwände erheben.« »Nein, in der Tat nicht, Bruder Severus. Nein, sicher nicht. Dass sie mich für diese Ehre auserwählt hat!« Nur Junge konnten so leidenschaftlich schmeicheln. »Dass sie mich auserwählt hat, um ihr bei diesem großen Unterfangen zu helfen -« »In der Tat.« Die schnippische Art, in der Bruder Severus sprach, brachte den jungen Mann zum Schweigen. »Schwester Abelia mag sich als überzeugender erweisen, was die Zauberer betrifft, da sie sich Frauen zu beugen scheinen. Ich verabscheue es ebenso sehr wie Ihr, zu warten, aber wir haben keine andere Wahl.« Starkhand rüttelte an einem der Bretter, bis es sich zur Seite schieben ließ, und zwängte sich hindurch. Dann hielt er inne, lehnte an dem Gebäude, während die zwei Männer keine drei Schritte von ihm entfernt aus dem Haus und ein paar Stufen hinunter auf das Gras gingen. Sie sprachen noch immer. »War die Reise schwierig, Bruder Severus? Es lauern viele Gefahren heutzutage.« »Wir sind durch einen Umweg aufgehalten worden. Ich musste für die Skopos einen Auftrag beim Kloster Herford erledigen, aber danach sind wir schnell geritten und haben Medemelacha ohne Probleme durchquert.« Herford. Alain hatte sich im Kloster Herford aufgehalten. Die Erinnerung nagte wie das lästige Jaulen eines Hundes an Starkhand. Hatte er Severus' mürrische Stimme in seinen Träumen gehört? »Der Krieg läuft nicht gut für die Alben, wie Ihr vielleicht gesehen habt«, sagte der jüngere Mann. »Der Onkel und der Bruder der Königin sind unterwegs, um Hilfe zu holen, aber wir haben noch nichts von ihnen gehört. Es geht das Gerücht, dass das Heer vollständig von den Aikha vernichtet worden wäre. Wer ist schlimmer? Diese
Alben mit ihren heidnischen Riten oder die gottlosen Aikha?« »Unsere Aufgabe ist eindeutig, Reginar. Wie Gott die Ungläubigen zu bestrafen wünschen, geht uns nichts an, es sei denn, es be705 einflusst unser Unterfangen. Es stimmt, dass viele Gefahren auf uns lauern, sowohl von den Alben als auch den Aikha, von den Ketzern und dem Bürgerkrieg. Wir sind den Aikha-Schiffen bei der Überfahrt ausgewichen, dank dem Herrn. Ich musste eine kleine Täuschung errichten -« »Aber Ihr habt uns beigebracht, die Fähigkeiten der Täuscher als ein Gewebe von Lügen zu verabscheuen, Bruder! Ihr habt uns gelehrt, dass sie unserer Fähigkeiten und ernsten Ziele unwürdig wären !« »So ist es. Sicher sollte man einen geringen Barden verabscheuen, der für sein Essen singt und das gewöhnliche Volk mit unflätigen Melodien unterhält, unangemessen für zivilisierte Ohren, die mit der Heleniade und der Philologia von St. Martina aufgewachsen sind. Aber natürlich haben Gott jedes Wesen zu einem bestimmten Zweck erschaffen, wie vulgär dieser auch sein mag.« »Ich bin ein paar wenigen solcher minderwertigen Geschöpfe selbst begegnet!« »In der Tat. Es ist unsere Aufgabe, zu herrschen, ihre aber ist es, zu dienen. Auf jeden Fall begleitet uns auf unserer Reise das Recht der Herrin, sonst wären wir nicht bis hierher gekommen, noch dazu in so rascher Zeit.« »Das ist ein Segen, Bruder.« »So ist es. Doch die Angelegenheit ist noch nicht erledigt. Es gibt noch viel zu tun, und wir haben weniger Zeit, als nötig wäre. Wir haben kaum die Möglichkeit, jemanden nach Norden zu schicken, wenn die siebte Krone im Gebiet der Aikha liegt, wovon wir ausgehen. Und auch wenn unsere Brüder die salianische Krone gefunden haben, der Bürgerkrieg wird immer schlimmer. Ich fürchte, es ist nicht ungefährlich für Schwester Abelia, dorthin zu reisen, um die anderen zu beaufsichtigen. Ihre Arbeit an der Wiederherstellung der Kronen geht nur langsam voran. Es ist schwer, Arbeiter zu finden, die bereit sind, sich zu quälen, während sie ständig um ihr Leben fürchten müssen.« Starkhand verspürte den starken menschlichen Drang zu lachen. Tatsächlich schien es manchmal, als wären weit größere Kräfte als er selbst am Werk, die ihm den Pfad ebneten. 706 Die beiden gewandeten Männer traten zu der Grasnarbe, die im großen Steinkreis lag. Das flackernde Fackellicht warf unheimliche Schatten auf die Steine. Vier von den sieben Monolithen mussten noch aufgerichtet werden. Eine dritte Gestalt tauchte auf, eilte an einem der umgestürzten Steine vorbei auf sie zu. »Bruder Severus?« »Schwester Abelia.« Trotz des Fackellichts sah Starkhand sie fast nur als Schatten, aber er konnte sie aufgrund ihrer Größe und ihrer Bewegungen auseinander halten. Severus war hochmütig, während der jüngere Mann, Reginar, sich mit mehr Kühnheit und weniger Disziplin bewegte. Die Frau verströmte zumindest Entschlossenheit; sie war am weitesten entfernt von ihm und am schwierigsten zu sehen. »Wie sieht es aus?« »Schlecht, Bruder Severus«, erwiderte sie mit offensichtlichem Abscheu. »Es ist so, wie Vater Reginar gesagt hat. Sie werden die Steine nicht bei Nacht betreten, welche Gründe ich ihnen auch nenne. Sie sagen, es ist ihnen verboten. Ich glaube, sie sind feige.« Starkhand schlich vorwärts, während die zwei Männer ihren Worten lauschten. Er bemerkte eine Wache, eine kräftige Gestalt, die fast hinter einem wuchernden Gebüsch verborgen war. Den Hügel hinunter lagen Zelte, etwa eine Bogenschussweite entfernt. Ansonsten waren sie allein. Der Wind wehte in Böen, und ein Nieselregen fiel zischend auf das Gras, verging so schnell wieder, wie er gekommen war. Der junge Mann zog seine Kapuze hoch, aber der ältere achtete nicht darauf. Er schien innerlich zu kochen, rieb sich die Finger am kahl werdenden Schädel und wirkte ungeduldig, als wollte er sich endlich um die anstehenden Aufgaben kümmern und alle ärgerlichen Hindernisse hinter sich lassen. Starkhand trat hinter sie, prüfte das Heft der Axt in seiner Hand. Das Gefühl des Schafts in der Handfläche verlieh ihm stets ein gutes Gefühl. »Was werden wir tun, Bruder?«, fragte Schwester Abelia. Als sie den Schatten von Starkhands Bewegung sah, keuchte sie und schlug die Hände vors Gesicht, zu verblüfft, um wegzurennen. 707 Starkhand bleckte die Zähne, als die beiden Männer sich vollkommen überrascht umdrehten und dann vor Schreck vor ihm zurückwichen. Menschen waren körperlich so schwach, und diese hier waren sogar noch schwächer, unbewaffnet und unvorbereitet. Trotzdem war es nie gut, sie zu unterschätzen. »Es gibt eine einfache Lösung für Euer Problem«, sagte er in vollkommenem Wendisch. Er berührte den hölzernen Kreis an seinem Hals. »Schließt ein neues Bündnis.« 2 Bei Morgendämmerung ritt Sanglant mit dem Schwert an der Seite, aufrecht sitzend und mit gereckten Schultern zu der Versammlung. Ein wohl geordnetes Gefolge aus zwanzig Begleitern folgte ihm. Auf seinen Lippen lag ein zufriedenes Lächeln. Als er den Zentaurinnen das erste Mal begegnet war, hatten sie ihm kaum Respekt gezollt, aber damals hatte er noch nicht erlebt, wie Bulkezu getötet worden war, und er hatte den Greifen noch
nicht gefangen genommen und noch nicht mit seiner Frau geschlafen. Das Lächeln verschwand, als sein Blick über die zwanzig wartenden Zentaurinnen glitt, die von der alten Schamanin angeführt wurden, und über den Wagen mit der kerayitischen Zauberin. Die Zauberin wurde von einem Dutzend Männer begleitet, die sich nach Art der Steppe mit Kurzbögen, Speeren und geschwungenen Schwertern bewaffnet hatten. Diesen Fremden sollte er seine geliebte Tochter übergeben - das war der Preis für ein Bündnis mit ihnen. Gnade war das Opfer, und es zerriss ihm das Herz, zu wissen, dass sie ohne ihre Hilfe sicherlich sterben würde. Oder möglicherweise sogar schon tot war. Er warf einen Blick zurück zu dem Wagen mit Gnade. Liath ritt neben ihm, ebenso wie Anna, Matto, Thiemo, Heribert, die kerayitische Heilerin und zwei Soldaten. Li'at'dano hatte die grüngoldenen Farbstreifen auf ihrem Körper erneuert; sie bildeten einen harten Kontrast zu dem silber708 grauen Fell. Die Schamanin trug einen Bogen und einen Köcher auf dem Rücken. Ihre Begleiter waren auf ähnliche Weise bewaffnet, aber einige hatten auch übel aussehende Speere, deren Spitzen mit funkelndem Stahl versehen waren. Sie hatten ihre Körper ebenfalls mit Streifen bemalt und ihre Gesichter mit Kalkstrichen und Ockertupfen versehen. Er konnte sich gut vorstellen, wie sie zu tausenden durch die Straßen des alten Dariya gestürmt waren, dabei alles niedergebrannt, geplündert und getötet hatten. Li'at'dano musterte ihn wie einen wilden Hund, der sich in der Hoffnung auf ein paar Reste ins Lager geschlichen hatte. Mit augenfälliger Gleichgültigkeit ihm gegenüber wartete sie darauf, dass Liath ihr Pferd neben seinem zugehe, und gab erst dann mit einem Aufstampfen des Vorderbeins zu verstehen, dass sie die Ankömmlinge wahrgenommen hatte. Die anderen Zentauren wiederholten die Geste und gaben leise Pfeiftöne von sich. Die beiden Qumaner hinter ihm, die sich bereit erklärt hatten, ihn zu begleiten, antworteten auf das Pfeifen. Ein Rebhuhn stob aus dem Gras auf und flog dicht über dem Boden, die Flügel wie zur Antwort surrend. Als es verschwand, verklang der Lärm sämtlicher Bewegungen und Stimmen, bis nur noch das Geräusch des durch das hohe Gras streichenden Windes zu hören war. Insekten zirpten. Ansonsten war es still. Liath ritt voraus und kam zwischen den beiden Gruppen zum Stehen. Sie hob die Hand, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. »Wir haben eine gefährliche Aufgabe zu bewältigen, aber wir sind nur wenige, und wir haben wenig Zeit. Folgendes weiß ich. Vor zweitausendsiebenhundertundzwei Jahren und etwa sieben Monaten sind die Ashioi von menschlichen Zauberern mithilfe der Steinkronen und unter der Leitung einer mächtigen Schamanin von dieser Welt vertrieben worden.« Sie selbst unterließ es, Li'at'dano anzusehen, aber Sanglant wandte sich ihr zu. Die alte Zentaurin starrte lediglich vor sich hin. Hatte sie die gleichen Gefühle wie ein Mensch? Er bezweifelte es. »Diese Beschwörung hat in allen Ländern unaussprechliche Zerstörung verursacht, und sie hatte nicht die erhofften Auswir709 kungen. Das Land der Ashioi ist nicht für immer in den leeren Raum geschleudert worden. Das Land der Ashioi folgt vielmehr einem Pfad, der sich zurückwindet und es wieder zur Erde zurückbringt. Entsprechend den Aussagen von Bruder Breschius und Bruder Heribert, die den Verlauf der Tage verfolgt haben, ist heute der neunzehnte Yanu im Jahr siebenhundertundvierunddreißig nach der Ekstasis des heiligen Daisan. Wenn die Sternenkrone die Himmel krönt, am zehnten Oktumbre im Jahr siebenhundertundfünfunddreißig, wird die Beschwörung vollendet sein. Das von den Ashioi bewohnte Land wird zu den Wurzeln zurückkehren, von denen es weggerissen worden ist. Denn entsprechend dem Wirken des Universums müssen alle Dinge an ihren rechtmäßigen Platz zurückkehren.« Da sie Wendisch sprach, übersetzten einige Zentaurinnen leise für ihre Kameradinnen, so wie Gyasi für die Pechanek-Qumaner-einen Mann und eine Frau -, die das Missfallen ihrer Stammesmütter auf sich gezogen hatten, weil sie ihm folgten. Hin und wieder machte Liath eine Pause, um auf die Übersetzungen zu warten, aber wenn sie dann weitersprach, tat sie es mit der gleichen ruhigen Stimme, unerbittlich bemüht, ihnen die Einzelheiten des herannahenden Sturms zu verkünden. »In neunzehn Monaten werden Zerstörung und Tod über uns hereinbrechen. Wir haben keine Möglichkeit, den Folgen dessen zu entgehen, was vor so langer Zeit in Gang gesetzt wurde.« Sie ließ sie über diese Worte nachdenken und sah währenddessen Sanglant an. Er lächelte nicht. Aber das musste er auch nicht. Er wusste bereits, was er unbedingt hatte erfahren müssen: dass sie sich einerseits verändert hatte, andererseits aber auch nicht, da das vertraute Gewebe ihres Seins von neuen Fäden durchzogen war. Was es ihm nicht leichter machte, das zu tun, was er an diesem Tag tun musste. »Die Mathematika, die als Schwester Anne bekannt ist, will diese alte Beschwörung noch einmal weben, um die Ashioi und ihr Land ein zweites Mal von der Erde zu verbannen. Ich weiß mit Sicherheit, dass es die Ashioi zerstören wird. Ihr Land ist bereits so 710 lange von der Erde getrennt, dass es zu sterben begonnen hat. Es gibt nur noch wenige von ihnen, und diese
wenigen sind geschwächt. Es gibt fast keine Kinder.« An dieser Stelle zögerte sie, und nur ihr Mann erkannte, wie viel Anstrengung es sie kostete, jetzt nicht zu dem Wagen mit Gnade zu blicken; die anderen dachten vermutlich, sie würde nur eine Pause machen, um Luft zu holen. »Vielleicht sind welche unter Euch, denen das Schicksal der Ashioi nichts bedeutet. Denen möchte ich Folgendes sagen: Welche Auswirkungen Annes Weben auf die Erde selbst hat, weiß ich nicht, aber ich bin überzeugt, dass es viele, viele Lebewesen vernichten wird, dass Unzählige sterben werden und dass es eine allumfassende Zerstörung in einem Maße hervorrufen wird, wie wir sie uns gar nicht vorstellen können. Ich habe gesehen ...« Sie brach ab, als sie von Erinnerungen überwältigt wurde, aber dann schluckte sie tapfer und sprach weiter. »Ich habe in die Vergangenheit gesehen. Ich weiß, welche gewaltige Zerstörung diese Beschwörung damals verursacht hat. Ich bin überzeugt, dass sie eine schreckliche Spaltung des Stoffes der Erde bewirkt, wenn sie ein zweites Mal gewebt wird - eine weit größere Spaltung als damals bei der ersten Beschwörung. Es werden so oder so viele sterben - das lässt sich jetzt nicht mehr ändern. Aber was Anne vorhat, ist nicht nur falsch, sondern es wird uns allen Zerstörung und Verzweiflung bringen. Ich kann über niemanden von Euch bestimmen. Ich kann nur über mich selbst bestimmen. Ich habe gesehen, wie Taillefers Krone sich über die Länder erstreckt. Ich weiß ziemlich genau, wo sich die einzelnen Steinkreise befinden, die Anne kontrollieren muss, um die Beschwörung zu weben. Sieben Kronen sind für die Beschwörung nötig, und so könnten wir sie möglicherweise unwirksam werden lassen, indem wir bei einer oder zwei oder der Hälfte der Kronen das Weben aufhalten. Ich werde so schnell wie möglich zu der Krone in der Mitte reisen, wo Anne das Weben selbst leiten wird. Ich werde sie aufhalten. Oder ich werde sterben.« Resueltos Ohren zuckten, als Sanglant den Griff an den Zügeln verstärkte. 711 »Ich hoffe, Ihr werdet mir helfen. Wenn Ihr es aber nicht tut, bitte ich Euch darum, beiseite zu treten und mich nicht zu behindern.« Sie atmete tief aus und hob das Kinn. Sie erstrahlte, als das Sonnenlicht auf sie fiel. Sie war so wunderschön. Sosehr Sanglant sie auch begehrte, er starrte sie nun doch mit einer Mischung verschiedener Gefühle an: Verlangen, Liebe, Wut - die sich noch immer irgendwo in einer dunklen Höhle regte -, aber auch Respekt und Stolz auf ihre Stärke. Ein bisschen Ehrfurcht vielleicht vor der strahlenden Verheißung der Macht, die sie aus ihrem Innern befreit hatte. Es stimmte, dass sie über andere nicht bestimmen konnte, aber sie selbst würde hingehen, wohin sie gehen musste, und indem sie diesen Mut aufbrachte, würden andere ihrem Weg folgen. Er konnte gegen Anne nicht auf der Ebene der Zauberei kämpfen, aber ohne ein starkes Heer im Hintergrund würde Liath Anne vielleicht niemals erreichen, und sicher würde sie niemals das Chaos und die Wirren beherrschen können, die im Gefolge der Umwälzung in Wendar und anderen Ländern ausbrechen würden. Vielleicht hatten Gott Ihre Hand im Spiel gehabt, als Sie sie zusammengeführt hatten - denn sicher würden sie beide jeweils für sich allein nicht erfolgreich sein können. »Ich habe so klar und deutlich gesprochen, wie ich es vermochte«, endete sie. »Ich habe gesagt, was ich weiß, so einfach wie möglich. Ich muss schon bald aufbrechen. Am besten noch heute, aber ganz sicher morgen.« Sie sah zu dem Wagen, in dem Gnade umgeben von ihren treuen Begleitern lag, aber sie presste die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen und ließ die Hand sinken. »Das ist alles, was ich zu sagen habe.« Stille folgte ihren Worten, abgesehen von dem immerzu durch das Gras streichenden Wind. Es war nicht warm, aber dennoch brachte der starke Wind Sanglant nicht zum Frösteln. Wolken sammelten sich bei den östlichen Felsen, wurden von den Gipfeln in kleinere Fetzen zerrissen. Sonst rührte sich nichts. »Du weißt, dass ich auf deiner Seite stehe.« Sanglant führte Resuelto zwei Schritte auf sie zu. Seine Stimme war leicht zu hören. 712 »Ich werde tun, was notwendig ist, um Schwester Anne aufzuhalten.« »Welche Rolle spielen wir dabei?«, fragte Wichman hinter ihm. »Mir gefällt dieses ganze Gerede von Zauberei nicht.« »Zauberei wird uns nicht vor einem Pfeil in den Rücken schützen. Anne wird sich nicht nur mit Magie, sondern auch mit Soldaten wappnen. Deshalb brauchen wir sowohl die Greifenfedern als auch Zauberer. Und ohne eigene Soldaten sind wir zu verletzbar gegenüber jenen, die Henrys Heer besitzen.« Wichman schnaubte, und Gemurmel breitete sich bei den Umstehenden aus. »Gehen wir einmal davon aus, dass dies alles wahr ist«, sagte Edelfrau Bertha. »Ich habe im letzten Jahr weit seltsamere Dinge gesehen, als dass ich solchen Geschichten nicht glauben könnte. Aber wieso sollten wir den Aoi helfen? Ihr sagt, das Land wird zurückkehren und jene, die wir als Schwester Anne kennen und die unsere Skopos ist, wird eine große Beschwörung gegen die Verlorenen errichten, der eine ungeahnte Zerstörung folgen wird. Aber was ist, wenn diese Beschwörung vielleicht alles besser macht? Was ist, wenn wir das Land der Verlorenen für immer verbannen könnten und uns nie wieder Sorgen um sie machen müssten? Würde uns das nicht die Möglichkeit geben, unsere eigenen Schlachten zu schlagen und König Henry wieder nach Wendar zu bringen? Die Verlorenen sind uns nicht verpflichtet. Wir wissen nicht, wie viele sie sind und ob sie unsere
Verbündeten oder unsere Feinde sein werden, wenn sie zurückkehren.« Liath nickte. »Eine berechtigte Frage, Edelfrau Bertha.« Sie rief sich den Trick von Ältester Onkel in Erinnerung, nahm den Gürtel ab und hielt ihn hoch. »Stellt Euch vor, dass diese Seite der Schnalle das Land darstellt, in dem die Ashioi wohnen.« Sie sprach fast die gleichen Worte wie Ältester Onkel, drehte den Gürtel einmal eine halbe Umdrehung um sich selbst und zeigte, wie ein zweiseitiger Gürtel aufgrund dieser halben Umdrehung zu einem einseitigen Gürtel wurde und wie das Land der Ashioi wieder dorthin zurückkehren musste, wo es einst gewesen war. »Die Beschwörung, die Anne weben will, kann nur zu dem Zeitpunkt Erfolg ha713 ben, wenn das Land sich auf der Erde befindet. Das bedeutet aber, dass es zweimal eine Zerstörung geben wird einmal nämlich, wenn das Land die Erde berührt, und ein zweites Mal, wenn es durch die neue Beschwörung erneut von der Erde geschleudert wird. Genau das dürfen wir nicht zulassen. Wir müssen versuchen, die Rückkehr so sanft wie möglich zu gestalten und eine zweite Trennung zu verhindern.« Viele in Sanglants Gefolge sprachen jetzt und stellten Fragen, aber ihre Stimmen versiegten, als Li'at'dano vortrat. »Was geschehen ist, ist geschehen«, sagte sie. »Ich werde Euch helfen, Liathano, sosehr es mir möglich ist. Ich möchte Euch meine Schülerin Sorgatani mitgeben.« »Ihr werdet nicht selbst mitkommen?«, fragte Liath. »Meine Macht ist an dieses Land gebunden. Wenn ich es verlasse, werde ich sterben. Ich werde Kriegerinnen an meiner Stelle schicken, dreihundert, die mit aller Kraft für Euch kämpfen werden.« Sie winkte eine stämmige Stute mit einem cremefarbenen Fell und verblüffend schwarzen Haaren zu sich. »Diese Tochter kann Capi'ra genannt werden. Sie wird jene anführen, die mit Euch kämpfen.« »Weiß Sorgatani, dass diejenigen, die mich begleiten, ein hohes Risiko eingehen, dabei zu sterben ? Wir werden mitten im Zentrum kämpfen.« »Das weiß sie.« Liath nickte. »Dann werden wir losmarschieren, sobald wir das Lager abgebrochen haben.« Sanglant mischte sich ein, ehe die Schamanin antworten konnte. Liath hatte Mut und Macht, aber sie hatte nur wenig Vorstellung davon, was es bedeutete, ein Heer zu bewegen. »Wir werden Hilfe benötigen, wenn wir eine so lange und anstrengende Reise überstehen wollen. Könnt Ihr uns Führerinnen geben ? Nahrungsmittel? Vorräte?« Li'at'dano verlagerte ihr Gewicht und machte eine Geste mit den Händen. Wäre sie ein Pferd gewesen, dachte Sanglant, hätte sie die Ohren aufgestellt, um ihr Missfallen zu zeigen. Sie wandte sich an Liath, nicht an ihn. 714 »Zwei Tagesritte von hier befindet sich eine Steinkrone. Es handelt sich um ein altes Denkmal, das lange vor der Zeit errichtet wurde, als mein Volk in dieses Weideland kam. Wenn Ihr in der Lage seid, eine Krone zu weben, könnt Ihr von einer Krone direkt zur nächsten reisen.« Der Glanz der Sonne wurde stärker. Die Banner und Flaggen flatterten im Wind. Sanglants Gedanken rasten, als er sich mit der Bedeutung dieser Aussage beschäftigte. Er musste ein Lachen unterdrücken, obwohl ihm eher nach Weinen zumute war. »Wieso habt Ihr mir das nicht schon früher gesagt?«, rief Liath. Sie zitterte fast vor Aufregung. »Anne wird niemals einen Angriff aus dieser Richtung erwarten! Ich bin dazu in der Lage!« »Mit einem ganzen Heer?«, fragte Hauptmann Fulk, dann besann er sich und sah Sanglant an. »Prinz Sanglant, wenn ich bitte sprechen dürfte.« Er drängte sein Pferd nach vorn. Als der Prinz ihm mit einem Nicken die Erlaubnis gab, sprach er weiter. »Auf diese Weise hat Hugh von Austra damals Prinzessin Theophanu und Königin Adelheid mit ihren Truppen vor einem aostanischen Herrscher namens Johan Eisenkopf gerettet, der sie als Geiseln nehmen wollte.« »Hugh!« Es war nur ein Wort, das Liath sagte, mehr nicht. Sie sah zur Seite, verbarg ihr Gesicht vor Sanglant. »Sprecht weiter«, sagte er kurz angebunden zu Fulk. Er hasste es, über Hugh zu reden. »Es handelte sich damals um fünfundsiebzig Personen und fünfzig Pferde, viel weniger, als jetzt hier sind. Trotzdem war der Pfad ziemlich mitgenommen, als die Letzten hindurchgegangen sind. Das hat jedenfalls Schwester Rosvita gesagt. Wir hätten sie fast verloren, als der Pfad hinter uns zusammengebrochen ist. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass wir ein Heer dieser Größe durch die Kronen bringen können.« »Es ist nicht möglich«, pflichtete Li'at'dano ihm bei. »Es ist schon erstaunlich, dass überhaupt irgendein Zauberer in der Lage war, eine Gruppe in der von Euch genannten Größe hindurchzubringen. Die Kronen waren dazu gedacht, nur wenige Leute zu befördern.« 715 »Hugh hat es getan«, sagte Liath gefährlich schnell. »Mit nur fünfundsiebzig Menschen und fünfzig Pferden«, sagte Sanglant. »Aber wir haben fast tausend Personen. Und einen Greifen, dessen Federn vor Magie geschützt sind.« »Oh, Gott«, murmelte Liath. »Ich hatte den Greifen vergessen. Kann ein solches Geschöpf überhaupt durch die Kronen gehen?« »Wenn ich bitte sprechen darf. Prinz Sanglant, Liath«, sagte Hathui. »Bedenkt auch dies. Schwester Rosvita hat
mir gesagt, dass Monate vergangen sind während der Zeit, die sie durch die Kronen getreten sind.« Fulk nickte. »Was viele von uns hier bestätigen können.« Sie nickte ihm zu und sprach weiter. »Auf die gleiche Weise, wie vermutlich auch vier Jahre auf der Erde vergangen sind, während du deinen Aussagen zufolge nur eine Hand voll von Tagen in der Welt da oben verbracht hast.« »Zweifelt Ihr an ihren Worten?«, fragte Li'at'dano. Hathuis Lächeln war knapp. »Nein, Geheiligte. Das tue ich nicht, denn ich kenne Liath schon seit langem, wie Ihr Euch vielleicht erinnert, seit der Zeit, da sie noch ein Mitglied jener Gruppe war, der ich die Treue geschworen habe.« »Erzählt weiter, Hathui«, sagte Sanglant. Er hatte sie zuvor gebeten, ein paar Worte zu sprechen, die sie jetzt schlau auf die unerwarteten Ausführungen über die Steinkrone abgestimmt hatte. »Zauberei ist gefährlich, mein Prinz, und unsicher. Es scheint mir unwahrscheinlich, dass das ganze Heer durch die Kronen gehen kann. Hinzu kommt die Frage, wie wir unsere Unterstützer warnen sollen, wenn wir alle zusammen reisen. Wir sollten nicht alle zusammenbleiben. Es wäre besser, wir würden uns trennen.« »Uns trennen?«, fragte er, sich der eigenen Zeilen ebenso bewusst wie Hathui sich der ihren. »Wenn der Sturm kommt, wird niemand vor ihm geschützt sein. Jene, die den König und Wendar unterstützen, müssen wissen, was sie zu tun haben. Wenn sie nicht vorbereitet sind, werden die Kräfte, die die Erde erschüttern, schreckliche Kämpfe unter denen nach sich ziehen, die leiden müssen und Angst haben.« Li'at'dano winkte Hathui nach vorn. »Ihr seid weise, Tochter«, 716 sagte die alte Schamanin. »Ich würde Euch gern näher begutachten, denn es ist nicht jedem Geschöpf gegeben, Weisheit zu erlernen.« »Ich danke Euch, Geheiligte«, murmelte Hathui, aber sie sah Sanglant an, als wollte sie sagen: »Rettet mich!« Niemand bezweifelte Hathuis Mut, aber es war eindeutig, dass das Pferdevolk und ganz besonders die alte Schamanin sie nervös machten. Hathui lenkte ihr Pferd - nicht ohne eine gewisse Bestürzung - näher an Liaths heran, genau zwischen die Menschen und die Zentaurinnen, die verbündet und doch in vielerlei Hinsicht so verschieden waren. Die Schamanin musterte Hathui eine Zeit lang, ehe sie sich an Liath wandte. »Sie ist eine würdige Tochter. Werdet Ihr sie mir als Teil unserer Abmachung überlassen?« »Sie ist dem Herrscher verschworen«, sagte Sanglant gereizt. »Einer seiner bevorzugten Adler. Sie muss zu ihm zurückkehren, wenn ihre Flucht beendet ist.« »Wie schade«, murmelte Li'at'dano, erhob aber keinen weiteren Anspruch. Liath sah die Falle jetzt, aber sie war bereits zugeschnappt. »Werden wir beide dann nicht zusammen reisen?«, fragte sie Sanglant. Nie zuvor hatte Sanglant etwas Schwierigeres getan. »Um Anne zu besiegen, brauchen wir ein größeres Heer, nicht nur diese siebenhundert Leute hier. Um Anne zu besiegen, brauchen wir ein Heer, das sogar noch größer ist als das, mit dem wir Bulkezu geschlagen haben. Ein Greif bringt mir mehr als nur Federn, mit denen ich die Magie unserer Feinde durchschneiden kann. Er kann mir auch ein Heer bringen.« Liath öffnete den Mund, um Einwände zu erheben, schwieg dann jedoch. Sanglant sprach weiter. »Ich muss nach Westen reiten, um so viele Qumaner um mich zu scharen wie möglich. Markgräfin Waltharia hält Soldaten bereit und wartet nur auf meine Rückkehr. Von den Marklanden aus werde ich mich nach Süden wenden und weitere wendische Soldaten versammeln. Bruder Breschius 717 hat mir versichert, dass der Brinne-Pass fast das ganze Jahr hindurch begehbar ist, wenn das Wetter gut bleibt. Ich werde auf diesem Weg nach Aosta gehen und dann nach Darre, um meinen Vater zu befreien.« »Aber ...!« Die Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. Sie war aschfahl vor Entsetzen, und ihre Hände umklammerten die Zügel so fest, dass ihre Knöchel weiß wurden. »Aber das bedeutet, wir müssen -« Sie konnte es nicht aussprechen. Und er konnte es auch nicht. Er konnte kaum den Gedanken ertragen: Das bedeutet, wir müssen uns trennen. Sie mussten sich wieder trennen, ohne zu wissen, wie viele Monate oder Jahre vergehen würden, bis sie sich wieder trafen. Ohne zu wissen, ob sie sich überhaupt jemals wieder begegnen würden. Es bereitete ihm kein Vergnügen, ihr das Messer im Leib herumzudrehen. »Es muss sein. Glaubst du, dass ein Greif durch die Kronen gehen kann?« Sie schüttelte verzweifelt den Kopf. »Nein, Vermutlich werden die Federn die Fäden der Beschwörung zerschneiden. Es würde die Vernichtung all jener bedeuten, die auf diesem Weg zu reisen versuchen.« »Anne hat ihr Netz sehr gut gewoben. Sie kontrolliert nicht nur die Zauberei und die Kronen, sondern auch Henrys und Adelheids Heere. Wir müssen ihr ebenbürtig sein. Dies ist der einzige Weg.« Sie schloss die Augen und sagte nichts, denn sie wusste, dass er Recht hatte. Sosehr er es auch hasste, dies war tatsächlich der einzige Weg. »Da ist noch etwas, Geheiligte«, sagte er, unfähig, Liaths Schweigen zu ertragen, und in dem Wissen, dass er schwach werden würde, wenn sie die Chance zu sprechen bekäme. Er deutete auf den Wagen. »Was ist mit meiner Tochter?«
Li'at'dano wartete und wartete, aber Liath sprach weder, noch öffnete sie die Augen. Tränen nässten ihre Wangen, aber sie gab keinen Laut von sich, sondern saß einfach nur da, aufrecht und leidend. Schließlich neigte die Schamanin den Kopf mit einer leisen Ge718 ringschätzung in Sanglants Richtung, aber vielleicht war es auch nur die Art und Weise einer Lehrerin gegenüber einer angemessenen Frage eines Schülers. »Ich habe lange über das Kind nachgedacht. Möglicherweise habe ich einen Weg gefunden, wie wir Zeit gewinnen können, um sie zu retten.« 3 Obwohl Anna damit beschäftigt war, sich fertig zu machen, fand Matto die Zeit, sie zu belästigen. »Wir könnten uns später heute Nacht ins Gras schleichen.« »Und von den Greifen fressen lassen?« »Der Prinz hat es getan. Draußen im Gras.« Sie sah ihn an, und er errötete schamvoll, hievte eine Kiste auf einen der Wagen. Thiemo stapfte zu ihnen. »Belästigst du sie?« »Geht das Euch etwas an?« Beide erweckten den Eindruck, als wären sie mit Luft aufgebläht, versuchten, größer und kräftiger zu erscheinen, auch wenn Matto unzweifelhaft die breiteren Schultern besaß, aber Thiemo dafür einen Handteller größer war. »Aufhören!«, sagte Anna. »Spielt es eine Rolle, dass ihr aufeinander eifersüchtig seid? Was wird mit uns passieren? Denkt ihr auch mal daran? Werden wir Gnade verlassen, oder wird man uns bitten, bei ihr zu bleiben?« Bei ihr zu bleiben. An diesem gottverlassenen Ort, vielleicht für immer von ihrer Heimat getrennt. Sie brach in Tränen aus. Matto und Thiemo wichen zurück, als sie an ihnen vorbeirauschte und zu dem leeren Zelt zurückging. Gnade hatte den ganzen Morgen im Wagen gelegen; niemand hatte sie stören wollen, abgesehen von der Heilerin, die ihr in bestimmten Abständen Flüssigkeit durch das Schilfrohr einflößte. Was spielte es für eine Rolle? Gnade würde den Zentaurinnen übergeben werden, und die Übrigen würden über die unendliche 719 Steppe zurückreisen. Sie konnte den Gedanken daran nicht ertragen. Sie fing an, die Reisematratzen aufzurollen, das Einzige, was noch zu tun war. »Ich werde sie nicht verlassen. Aber ich möchte nicht hier bleiben. Ich möchte nicht hier bleiben.« So war es immer bei denen, die dienten. Aber es war ihr auch nicht besser ergangen, als sie vor dem Einmarsch der Aikha in Gent gelebt hatte, unter der harten Knute ihres Onkels. Die Aikha hatten sie aus dem Haus ihres Onkels befreit, aber die Zeit, in der sie sich mit Matthias in Gent hatte verstecken müssen, war nicht angenehmer gewesen. Ganz im Gegenteil. Matthias war erpicht darauf gewesen, irgendwo in die Lehre zu gehen, sobald sich die Gelegenheit dazu bot. Er schätzte den Wert eines ordentlichen Lebens mit der Gewissheit einer täglichen Mahlzeit und einem Dach über dem Kopf. Krieg und Pest und Hungersnot mochten ihm zusetzen - gegen die Taten Gottes konnte man sich nicht verteidigen -, aber als Mitglied von Meisterin Suzannes Haushalt genoss er einen gewissen Schutz. Hatten Gott nicht gewollt, dass sie mit Gnade ging? Wieso sonst hätte sie die Stimme genau in jenem Augenblick zurückerlangt? Welche Macht die irdischen Edlen auch über sie haben mochten, verglichen mit der Macht Gottes war sie nur eine Feder im Wind. »Anna?« »Geh weg, Matto.« »Nein, Anna, wir werden nicht gehen. Wir haben darüber gesprochen.« Thiemo stellte sich neben ihn, und beide knieten sich neben sie, als sie dabei war, die letzte Matratze zusammenzurollen. Alle anderen hatten das Zelt bereits verlassen; sobald auch dieses eingepackt war, würden sie losmarschieren. »Wir haben darüber gesprochen, Anna. Wir werden bei dir bleiben, alle beide. Egal, was passiert. Wir werden Prinzessin Gnade nicht verlassen. Und dich auch nicht.« Sie konnte nicht sprechen, so fest saß der Kloß in ihrem Hals. Sie band die Matratze zusammen und hob eine andere hoch, was auch Thiemo und Matto taten. Schweigend trugen sie alles nach draußen zum Wagen, während Soldaten das Zelt abbauten. 720 Sie reisten den ganzen Nachmittag, zuerst bis zum Fluss und dann durch das hohe Gras flussaufwärts. In dieser Nacht schlief sie unruhig unter dem Wagen, während Thiemo und Matto Wache hielten. Sie erwachte zu dem Geräusch von Schritten; der Wagen quietschte, als die Heilerin das bewusstlose Mädchen aufsetzte und ihr die kostbare Flüssigkeit einflößte. Genug, um sie einen weiteren Tag am Leben zu halten. Das war alles, was sie erhoffen konnten. Sie rollte sich herum, konnte aber nicht wieder einschlafen. Der ständige vom Gras ausströmende Duft reizte ihre Kehle, sodass sie rau war und schmerzte. Der Wind war kalt geworden, und sie zitterte unter den Laken, sehnte sich nach einem warmen Menschen neben sich. Aber was sie auch tun mochte, für welchen sie sich auch entscheiden mochte, stets würde der andere verärgert und eifersüchtig sein. Wie konnte sie beide dazu bringen, in harmonischem Einklang zu leben? Was war, wenn sie jahrelang hier draußen lebten, allein bei einem fremden
Volk? Wie war es zu verhindern, dass Matto und Thiemo sich am Ende schlagen würden? Oder noch Schlimmeres taten? Was war, wenn sie entschieden, dass keiner von ihnen sie wollte ? Sie wartete, bis beide an das andere Ende des Wagens gelangten, und kroch heraus, erhob sich und lief ins Gras davon, tief gebückt, damit sie sie nicht sahen. Obwohl sie keiner einzigen Wache begegnete, ging sie nicht zu weit weg; sie bekam den Eisengestank des Greifen nicht aus dem Kopf. Der vermummte Greif marschierte gehorsam an der Spitze des Zugs, während die große Greifin über ihnen flog, sich aber am Abend neben ihrem Kameraden niederließ. Sie hörte sie, noch bevor sie sie sah, hörte ihre gedämpften Stimmen und blieb am Rand einer Gruppe von verkrüppelten Pappeln gleich am Flussufer stehen. Durch die sich entrollenden, gerade erst knospenden Blätter an den Bäumen hindurch sah sie ein merkwürdiges Tier auf einem Felsen oberhalb des Flusses sitzen. Sie erstarrte, und ihr Herz raste. Sie wusste, wie dumm es gewesen war, den Schutz des Lagers zu verlassen. Wenn sie sich nicht rührte, würde das Tier vielleicht davongehen, ohne sie zu bemerken. 721 Sein leises Lachen brachte sie zum Zittern, und erst jetzt begriff sie, dass sie gar nicht auf ein Tier starrte, sondern auf den Prinzen und seine Frau, die eng umschlungen und in einen einzigen Umhang gehüllt dasaßen. Wie mochte es sich anfühlen, so dazusitzen, seinen festen Arm zu spüren, seine Lippen, seine leise Stimme, die so sanft war wie die Liebkosung des Windes ? Sie schlich näher heran. »Wieso hast du nicht vorher mit mir darüber gesprochen? Wieso hast du bis zu der Versammlung gewartet, wenn du vorher schon alles geplant hattest?« »Wenn ich es mit dir allein besprochen hätte, hättest du mir davon abgeraten. Dann hätte ich es nicht tun können. Auf diese Weise gibt es kein Zurück.« »Oh, Gott. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dich zu verlassen, wenn wir nicht wissen, ob wir uns ... Wenn ich sterbe, Sanglant -« »Still. Still.« Sie schwiegen eine Zeit lang, aber schließlich riss die Frau sich wieder zusammen. »Ich werde etwa fünfzig Soldaten zu meinem Schutz benötigen. Damit müssten wir beweglich sein und hätten einen echten Schutzschild, ohne dass es zu viele sind, um beim Reisen durch die Kronen in Gefahr zu geraten.« »Ja, fünfundzwanzig Berittene und fünfundzwanzig Zentaurinnen. Und ein paar Packpferde. Du musst Breschius mitnehmen. Und was den Hauptmann betrifft ... Wichman ist mutig und kühn.« »Kaum besser als ein Wilder!« »Wen dann?« »Bertha scheint mir sehr fähig und ausgeglichen zu sein.« »Sie ist nicht ausgeglichen, aber sie weiß, wann sie ruhig bleiben muss.« »Und ich nehme an, sie wird nicht jedes hübsche Mädchen vergewaltigen, das ihr über den Weg läuft.« Er kicherte. »Dazu kann ich nichts sagen - ich weiß nicht, ob die Gerüchte stimmen.« Liath gab einen scharfen, angewiderten Ton von sich, und unter 722 dem Umhang kam Bewegung auf. »Das ist nicht zum Lachen. Wie kannst du so etwas für komisch halten?« »Vergib mir, mein Liebling. Du hast Recht. Wichmans Verhalten ist nichts, worüber man sich belustigen sollte.« Er neigte den Kopf und küsste sie eine Weile, während Anna zuschaute, obwohl sie wusste, dass sie es nicht tun sollte. Sie konnte die beiden nicht richtig sehen, dazu war nicht genug Mondlicht vorhanden, aber sie sah ihre Schemen, und sie konnte den Kuss in der Luft spüren, als wäre er ein lebendes Wesen, das sie anstupste. Nach einer Weile lösten sie sich voneinander, und Liath sprach vorsichtige Worte, so bedacht, als würde sie über Eis gehen. »Ich weiß, dass du viele Jahre allein warst, und doch ärgere ich mich, dass du mich betrogen hast.« »Wer hat wen zuerst betrogen?« »Ich habe dich nicht verlassen! Ich hatte keine Wahl.« Er schwieg. Es wurde heller, als der gewölbte Mond sich von den Wolken befreite. Sein silberner Schein fiel auf das Wasser. »Wie viele Geliebte hast du gehabt?«, fragte Liath. »Wie viele? Oh.« Er zögerte, dann seufzte er. »Also, zuerst -« »Nein, ich meinte nicht, dass du mir alle aufzählen musst.« »Wieso hast du dann gefragt?« Er stand auf, ließ sie mit dem Umhang um die Schultern zurück und ging zum Fluss, wo er nach einem Stein suchte und ihn ins Wasser warf. Das Platschen konnte Anna hören, aber nicht sehen. »Nicht genug. Zu viele. Und keine von ihnen warst du. Ich habe dich gehasst, weil du mich verlassen hast.« Und das war auch nur recht!, hätte Anna am liebsten gerufen. Welche Frau hätte einen solchen Mann verlassen können? Es war leicht, sich über Notwendigkeiten und Pflicht auszulassen, aber wenn man sich wirklich etwas aus einem anderen Menschen machte, würde man ihn nicht zurücklassen, was immer auch geschah. Solange man nicht dazu aufgefordert wurde. »Oh, Gott, Liath. Es schmerzt mehr als jede Verletzung, die ich jemals erlitten habe. Ich kann den Gedanken
nicht ertragen, dich wieder zu verlassen.« 723 »Ich weiß. Ich weiß. Aber welche Möglichkeit haben wir, Liebling? Wir sind Gefangene der Macht. Wenn wir überleben, werden wir wieder vereint sein. Und jetzt komm her. Bleib nicht so weit weg von mir stehen.« »Schsch! Anna!« Sie sprang abrupt auf, so unerwartet erklangen diese Worte hinter ihr. »Was tust du hier draußen?« »Ich bitte um Vergebung, Hauptmann Fulk! Ich bin nur hergekommen, um - äh - zu pinkeln.« »Wenn du fertig bist, solltest du wieder zurück ins Lager gehen. Es ist nicht klug, sich jenseits der Wachlinie aufzuhalten.« Er blickte ganz bewusst nicht zum Fluss, wo sich die zwei Gestalten jetzt umarmten. Er wartete, bis sie sich seufzend erhob, sich umdrehte und ihm dann ins Lager folgte. Der Steinkreis hatte einst - bevor der Fluss sich ein neues Bett gegraben hatte - auf einer Insel gestanden. Jetzt wurde der Hügel nur noch auf der einen Seite vom Flusswasser umspült. Das alte Flussbett hatte sich an einem Ende mit Geröll gefüllt, und so hatte sich zwischen dem Festland und dem Hügel eine Art Brücke aus mit Steinen übersäter Erde gebildet. Die Soldaten führten ihre Pferde ans Wasser, um sie zu tränken, während der Prinz, seine Frau und die alte Schamanin mit einem Dutzend Begleitern die Steinkrone untersuchten. In diesem Teil der Welt gab es nur wenig Bäume, und sogar das Gebüsch entlang des Flussufers war von den Winterwinden und heftigen Schneefällen so mitgenommen, dass die Krone leicht zu sehen war. Die gen Westen sinkende Sonne ließ die Steine golden schimmern; ein paar von ihnen glitzerten, als tief eingegrabene Kristalle das Licht einfingen, ganz so, als würden sie aus Granit oder Marmor bestehen. Die insgesamt neun Steine bildeten einen ovalen, nicht ganz runden Kreis. Zwei von ihnen hatten Schlagseite, und einer stand gefährlich nah bei einer steilen Klippe, wo das Wasser die Erde abtrug. Das Gras zwischen den Steinen war niedergetrampelt worden, und in der Mitte befand sich eine kleine Erhöhung. »Ich habe noch nie eine Krone gesehen, bei der alle Steine so or724 dentlich gestanden haben wie bei der hier«, murmelte Thiemo. Er trat unruhig von einem Bein aufs andere, während sie bei Gnades Wagen standen und von dort aus zusahen. »Ich kriege davon eine richtige Gänsehaut«, pflichtete Matto ihm bei. Die beiden Jungen warfen sich einen Blick zu, der Anna plötzlich das Gefühl gab, ausgeschlossen zu sein. Dann blickten die beiden sie an, und das kurze Gefühl von Kameradschaft zwischen ihnen verflüchtigte sich wieder. Mit geballten Fäusten und steifen Rücken wandten sie sich ab. Niemand machte Anstalten, sich um das Lager zu kümmern. Wie Anna warteten alle besorgt und unsicher auf das, was jetzt geschehen würde. Das Heer formierte sich weiter draußen im Gras, abseits von der kleinen Gruppe, die Liath begleiten würde. Noch ein Stück weiter weg bewachte ein Dutzend Soldaten den vermummten Greifen. »Was wird jetzt passieren?«, fragte Matto, unfähig, die Spannung länger zu ertragen. »Seht nur«, sagte Anna. »Sie kommen zurück.« Ein kräftiger, kalter Wind blies jetzt aus Richtung Norden, und die Heilerin erhob sich von ihrem Platz bei Gnade und schnüffelte in der Luft. Mit einem Stirnrunzeln schüttelte sie den Kopf. »Schnee«, sagte sie, als Thiemo sie fragend anblickte. Während der Prinz und sein Gefolge zu dem wartenden Heer marschierten, eilte Hauptmann Fulk zu einer Gruppe von Feldwebeln, die auf seine Befehle warteten. Die mächtige Zentaurin bei der alten Schamanin trottete zu ihren Kameradinnen, und dann konnte Anna sehen, wie die zwei Linien sich vermischten, als sich Einheiten der Zentaurinnen neben berittene Krieger stellten. kerayitische Bogenschützen bildeten die Vorhut, während Fulk die Nachhut befehligte. Nur Bertha und ihre zwei Dutzend Soldaten blieben an Ort und Stelle stehen, gemeinsam mit einem Dutzend Zentaurinnen, dem Wagen der Zauberin und ihren kerayitischen Begleiterinnen. Der Prinz schritt zu dem offenen Wagen, auf dem Gnade lag. Er beugte sich über den Wagenrand und streichelte das blasse Gesicht seiner Tochter. Gnade atmete sacht, aber es war offensichtlich, dass 725 es nur noch Stunden dauern mochte, ehe ihre Seele ihren Körper verließ. Liath trat neben ihren Ehemann. Tränen glänzten auf ihren Wangen, und sie wischte sie ungeduldig weg. »Wir tun, was wir tun müssen«, sagte sie. »Ich weiß.« Auch er weinte, aber er machte keine Anstalten, die Tränen wegzuwischen. Er stand eine Weile da, hielt die Augen geschlossen und ließ die Hand auf den eingefallenen Wangen des Mädchens ruhen. Liath sagte nichts. Vielleicht war sie herzlos, dachte Anna unfreundlich; sie hätte eigentlich viel bestürzter wirken müssen. Aber vielleicht - nur vielleicht - spiegelte ja das, was in ihrem Gesicht zu sehen war, auch nicht das Innere ihres Herzens wider. Vielleicht. Schließlich seufzte der Prinz tief und zog seine Hand zurück. Er ließ den Blick über Gnades Begleiter schweifen. Es hatte den Anschein, als würde er sie zählen. »Also gut«, sagte er dann. »Es geht um eine Aufgabe, zu der ich niemanden zwingen möchte, die ich Euch aber trotzdem anbiete. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, Gnade zu retten - indem wir sie in das Hügelgrab unterhalb
der Krone legen und dabei hoffen, dass die Beschwörung, die meine Frau weben wird, sie in eine Art Schlaf versetzt.« »Für wie lange?«, fragte Heribert. Er trat vor und betrachtete das Mädchen nachdenklich. Sanglant zuckte mit den Schultern. »So lange, bis die Sternenkrone die Himmel krönt. Dies ist unsere einzige Hoffnung. Andernfalls wird sie morgen tot sein.« Tränen traten ihm wieder in die Augen, und er musste eine Pause machen, aber dann riss er sich zusammen. »Die Geheiligte hat uns erklärt, dass sieben Personen notwendig sind, um die Beschwörung gelingen zu lassen. Das bedeutet, ich benötige sechs Leute, die Gnade begleiten. Ich kann ihnen weder das Leben noch den Tod versprechen. Es kann sein, dass gar nichts geschieht, dass nach Liaths Weggang alle unversehrt wieder herauskommen. In diesem Fall werden sie mit uns nach Westen reisen. Sie könnten aber auch sterben oder in anderthalb Jahren in dieser gottvergessenen Wildnis erwachen. Wenn dies ge726 schieht, werden Zentaurinnen hier sein, um sie zu retten. Das hat uns die Geheiligte versprochen. Nun.« »Ich bin dabei«, sagte Heribert sofort. Der schreckliche Ausdruck auf seinem Gesicht hätte Anna fast zum Weinen gebracht, aber es war schwer genug zuzuhören, ohne vor Angst wegzulaufen. Es war schwer zu wissen, was sie tun musste, und sich doch gleichzeitig davor zu fürchten, es zu tun. »Ich gehe auch mit«, sagte die Heilerin in ihrem gebrochenen Wendisch. »Die Geheiligte hat es mir befohlen.« Gyasi trat vor. »Wir dienen Gnade im Leben und im Tod. Meine Neffen und ich werden dabei sein.« »Nein, ich brauche Euch, Gyasi. Ich brauche Euch als Führer, und Ihr müsst für die Qumaner übersetzen und sie überzeugen. Ihr dient meiner Tochter besser, wenn Ihr mir helft, den Krieg zu gewinnen.« »Dann nehmt so viele meiner Neffen, wie Ihr braucht, Prinz.« Sanglant nickte. »Das mache ich.« »Ich werde mitgehen.« Annas Stimme zitterte, als sie die Worte sprach. Nie in ihrem Leben hatte sie so viel Angst gehabt, nicht einmal, als Bulkezu sie als Geisel genommen hatte. »Und ich auch«, sagte Matto. »Ich ebenfalls«, erklärte Thiemo, der sich nicht bloßstellen lassen wollte. Sanglant nickte. Seine Stirn war so stark gerunzelt, dass es aussah, als hätte er dort eine Narbe. »Ich brauche einen Eurer Neffen, Gyasi. Einen, der kämpfen kann.« Der Schamane nickte. Matto war kreidebleich, und Thiemo stand so starr da, dass er fast linkisch wirkte. Sie sagten nichts, schauten sich weder gegenseitig an noch sie, als könnte schon ein einziger Blickkontakt ihren Entschluss ins Wanken bringen. »Sie muss hineingetragen werden«, sagte Liath. »Sie können auch ein paar Dinge mitnehmen.« »Wie bei einer Beerdigung«, murmelte Sanglant heiser. »Früher hat man Königinnen und Könige auf diese Weise bestattet, zusammen mit ihren Schätzen.« Er schüttelte sich und ging vom 727 Wagen weg. »Bringen wir es also hinter uns. Ich kann es nicht länger ertragen.« »Ich werde sie tragen«, sagte Matto. »Ich will es tun!«, beteuerte Thiemo. »Nein, keiner von Euch wird es tun«, sagte Sanglant scharf. »Ich werde sie selbst tragen.« Sie bildeten eine kleine Prozession, als sie beladen mit Bündeln über einen Geländestreifen hinwegschritten, der vermutlich früher einmal eine Sandbank gewesen war. Niemand rief ihnen etwas nach oder wünschte ihnen eine gute Reise. Anna trat Steine weg, die vom Wasser rund geschliffen und liegen geblieben waren, als sich die Strömung verlagert und das Flussbett in Stauwasser verwandelt hatte. Als sie die ehemalige Insel erreichten, stiegen sie durch niedriges Gebüsch einen mäßig steilen Hang hinauf. Mücken und winzige Fliegen schwärmten um Anna herum, und sie verscheuchte sie. Sie war richtig erleichtert, als sie an den Steinen vorbei in den Ring traten, denn aus irgendeinem seltsamen Grund überquerten weder Mücken noch Fliegen die von ihnen gebildete unsichtbare Linie. Die Erhöhung inmitten des Steinrings stellte sich als ein Hügelgrab heraus, das so gebaut war, wie Anna es von den alten Gräbern entlang des Flusses nördlich von Gent kannte. Es war größer, als es aus der Ferne den Anschein gehabt hatte. Ein Eingang aus Steinen war mit Torf abgedeckt worden und jetzt mit Gras, gelben Veilchen und - zu ihrer Überraschung - einer Reihe verschiedener Schwertlilien bewachsen. Die Blumen erinnerten sie an die Kränze auf den Särgen von Toten, aber sie packte ihr Bündel mit Kleidern einfach nur fester und ging weiter. Einmal warf sie einen Blick über die Schulter zurück zum Heer, das sich in Marschordnung aufstellte. Die Einheiten standen eng beisammen, einige der Wagen waren verlassen und zur Seite geschoben worden - unter anderem auch der, in dem Gnade gelegen hatte. Berthas Trupp sammelte sich an der Sandbank und blieb dort stehen. »Ich möchte mich jetzt von ihr verabschieden«, sagte Liath. Sie gab ihrer Tochter einen Kuss auf die Stirn, dann zog sie einen Pfeil aus ihrem Köcher, trat aus dem Steinkreis und blieb bei einem in 728 östlicher Richtung gelegenen Sandfleck stehen - so nahe an der Klippe, dass sie bei einem einzigen weiteren Schritt in den Fluss gestürzt wäre.
Was sie auch verdient hätte, dachte Anna, aber dann erstickte sie den Gedanken aus Angst, dass solche Gefühle sie verdammen könnten. Sie musste beten, musste ihre Gedanken auf ihre sterbende Herrin lenken, aber ihre Hände zitterten so sehr, dass ihr das Bündel zu entgleiten drohte, obwohl es locker gewickelt und leicht zu halten war. »Anna?« Matto rückte neben sie. »Nein, lass sie in Ruhe«, murmelte Thiemo. »Hört auf!« Ihr Tonfall sorgte dafür, dass sich Köpfe kurz zu ihr umwandten, ehe die Aufmerksamkeit der anderen wieder den feierlichen Vorgängen galt. Li'at'dano sprenkelte Ocker über Gnades schlaffen Körper, gab dann einen Tupfer auf Sanglants Wangen, formte daraus eine Linie, die mit einem roten Zeichen auf seiner Stirn endete. Sie bemalte auch die anderen auf diese Weise, und als Anna an der Reihe war, musste sie sich zusammenreißen, um vor der Zentaurin nicht zurückzuweichen. Ihre Augen wirkten so ausdruckslos, und die Pupillen waren nicht richtig geformt. Nicht die Spur einer menschlichen Regung belebte das cremefarbene Gesicht. Sie hätte sie alle mit einem einzigen Tritt töten können, wenn sie gewollt hätte - nun, alle außer Prinz Sanglant. Und wenn sie erwachten - falls sie erwachten -, würde diese Zentaurin ihre Hüterin sein. Sie hatte eigentlich keine Angst vor Li'at'dano, aber der Gedanke daran, möglicherweise unzählige Jahre bei den Zentaurinnen zu leben, bereitete ihr ein unangenehmes Gefühl. Der Prinz ließ sich beim niedrigen Eingang nieder und zwängte sich auf den Knien ins Grab, hielt dabei seine Tochter an sich gepresst. Heribert folgte ihm mit einer Lampe und einer Decke, und nach ihm kam die kerayitische Heilerin mit dem schweren Lederbeutel, in dem sie die Werkzeuge ihres Gewerbes trug. Dann war Matto an der Reihe. Er holte tief Luft und warf einen 729 Blick zurück auf Anna und Thiemo, aber er sagte nichts, ließ sich auf Hände und Füße hinunter und kroch den anderen hinterher. Als er drinnen war, duckte Anna sich unter dem Türsturz hindurch; sie konnte tief gebückt gehen, musste nicht kriechen wie die großen Männer. Der Gestank der Erde überwältigte sie. Der schräge Boden neigte sich nach unten, und während sie das Bündel vor sich herschob, weil sie beim besten Willen nicht wusste, wie sie es tragen sollte, wich die Decke über ihr zurück, bis sie sich etwas weiter aufrichten konnte. Der Gang zog sich länger hin, als es in Anbetracht der äußeren Abmessungen des Hügels möglich zu sein schien, und als sie die Kammer erreichte, hatte es im flackernden Lampenlicht den Anschein, als wäre der Raum weit größer, als er eigentlich sein dürfte. Die durch Kragsteine gestützte gewölbte Decke war so hoch, dass Sanglant aufrecht stehen konnte. Die Wände waren mit Nischen durchsetzt, aber die Lampe spendete nicht genügend Licht, um sehen zu können, was sich darin verbarg. Thiemo packte sie am Handgelenk, als er sich neben ihr aufrichtete. »Tote«, flüsterte er. »Sie begraben hier Tote.« Ein Schrei blieb ihr in der Kehle stecken. »Bitte«, sagte Heribert leise zum Prinzen. Der Geistliche hatte die Lampe abgestellt und breitete jetzt das Laken in der Mitte der Kammer aus. Mit grimmiger Miene legte Sanglant seine Tochter auf das Laken, schlug die Enden um ihre Füße und küsste sie zweimal. Der qumanische Junge kam hereingekrochen und sah sich in der gewölbten Kammer um. Er hatte die Hände nicht an den Waffen, aber es tat gut, ihn bewaffnet zu sehen, so wie auch Matto und Thiemo ihre Schwerter trugen und sie selbst ein Messer am Gürtel hatte. Nur die Heilerin und Heribert hatten nichts, um sich zu verteidigen. Der Prinz hob die Lampe und beleuchtete ein letztes Mal die Gesichter jeder einzelnen Person. Dann sprach er. »Es spielt keine Rolle, ob meine geliebte Tochter überlebt, nur, dass Ihr sechs bereit wart, ihr sogar im Angesicht des Todes zu dienen. Das werde ich Euch niemals vergessen. Wenn wir 730 uns wieder sehen, werdet Ihr eine gerechte Belohnung erhalten. Niemand hat mir jemals einen größeren Dienst erwiesen als Ihr.« Es gab nichts weiter zu sagen. Anna wartete ungeduldig darauf, dass er endlich ging, denn es war unerträglich zu sehen, wie er sich verabschiedete. Vielleicht würde sie ihn nie wieder sehen - ihn, den sie auf der ganzen Welt am meisten liebte. Er hielt die Lampe, während sie alle sich im Kreis um das bewusstlose Mädchen niederließen. Dann stellte er die Lampe neben Bruder Heribert, der sich die Finger leckte und den brennenden Docht löschte. »Viel Glück«, sagte er. Er umarmte schließlich Heribert und war verschwunden. Sie hörte ihn den Gang hinaufkriechen. »Es ist seltsam«, sagte Matto flüsternd. »Ich kann überhaupt kein Licht sehen. Dabei sind wir gar nicht so weit gegangen, und der Gang hat keine Biegung gemacht.« Sie tastete nach seiner Hand, drückte sie und griff mit der anderen nach Thiemo. So saß sie da und hielt sie beide fest. Die kerayitische Heilerin sang leise mit nasaler Stimme. Obwohl die Worte und die unheimliche Melodie keinen Sinn ergaben, war es irgendwie beruhigend. Sie warteten. Die Schwärze war durchdringend und überschwemmte sie. Sie konnte nichts sehen, nicht einmal Matto oder
Thiemo, die dicht neben ihr saßen. Aber der Druck ihrer Hände beruhigte sie. Schließlich ließ ihr Zittern nach und hörte dann ganz auf. Der kalte Griff der Realität packte sie; möglicherweise würde sie sterben, hier und jetzt, oder vielleicht auch nicht - aber sie hatte ihre Entscheidung getroffen und musste jetzt nur noch warten. Es war seltsam, sich so ruhig zu fühlen. »Was ist das?«, flüsterte Matto. »Still!«, sagte Heribert, der jetzt ihr Anführer war. Ein kaum hörbares Poltern ließ den Boden unter ihr erzittern, war mehr zu spüren als zu hören. »Das Heer zieht weiter«, murmelte Thiemo. »Nein«, sagte Matto. »Das würden wir nicht spüren, dazu sind sie zu weit weg.« 731 »Was ist es dann?« »Still«, sagte Heribert. Die kerayitische Heilerin schwieg, als ein hoher, singender Ton an der Grenze ihres Hörvermögens erklang. Eine zweite Stimme gesellte sich zur ersten, aber dies war keine menschliche Stimme, nicht einmal die von irgendetwas Lebendem; diese Stimme stammte von einem Wesen, das so alt und kalt war, dass die Stimme zwar große Schönheit besaß, aber keine Wärme. Ihre Harmonie wand sich durch Annas Knochen, und Finger aus kalter Furcht krochen ihr Rückgrat entlang. Sie zitterte; der unheimliche Kontrapunkt verursachte ihr Ohrenschmerzen, und die Melodie der Stimmen stach mitten durch ihre Brust, wie Messer, deren Klingen in eiskaltes Wasser getaucht worden waren. »Oh, Gott«, hauchte Thiemo wie in Ekstase. Matto wimmerte vor Schmerz. Licht blitzte kurz auf, ein blaues Feuer, und in diesem Augenblick sah sie die anderen um die leichenähnliche Gestalt von Gnade sitzen. Die Nischen fingen Feuer, erblühten zu einem Labyrinth aus Gängen. Sie blickte in das Durcheinander des Labyrinths, das sich in alle Richtungen und in keine Richtung erstreckte und dessen Anker eine glühende Steinsäule war, in deren Herz Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft lebten, zu einem unergründlichen Strang ineinander verwoben. Sie sah. Ein silbergoldenes Band weht durch die Himmel, so gewunden, dass sie die eine Seite des Bandes nicht von der anderen unterscheiden kann, nicht erkennen kann, ob es überhaupt zwei Seiten hat oder nicht alles nur eine unbegrenzte glänzende Oberfläche ohne Ende ist. Der Glanz der Sterne blendet sie, und dann verschwindet die Herrlichkeit des Himmels, als ein Schatten auftaucht, so gewaltig, dass er den halben Himmel bedeckt. Ein mächtiges Gewicht drückt sie nieder, treibt ihr die Luft aus der Lunge. Sie kämpft, aber das Gewicht geht mitten durch sie hindurch, und als sie keuchend, würgend und nach Luft schnappend hochkommt, sieht sie 732 knorrige, kauernde Gestalten, die mit ihren Klauen durch Steintunnel greifen eine junge Frau in höchst eigentümlicher Kleidung und mit einem vernarbten Gesicht, die von einem Speer aus Licht niedergestreckt wird, als sie vor einer flammenden Steinkrone steht einen jungen Edelmann, der umgeben von sechs Kameraden schläft einen halb nackten Krieger und seine Kameraden auf einem Pfad; sie tragen mit Steinspitzen versehene Speere in den Händen und Rachegefühle im Herzen; ihre Körper sehen aus wie die von Männern und Frauen, aber sie haben Tiergesichter: ein Wolf, ein Falke, ein Greif, eine große Katze, eine Echse mit geschwungener Schnauze einen Mann, begleitet von zwei Hunden, dessen Gesicht im Schatten verborgen liegt, als er neben einem toten Mann niederkniet, dessen Fleisch auf schreckliche Weise zerfällt, bis nur noch Knochen übrig sind Gnade, zu einer jungen Frau herangewachsen und auf einem goldenen Thron sitzend den Aikha, der sie in Gent in der Kathedrale gefangen hatte, aber dann laufen ließ, am Vordersteven eines Schiffes, umgeben von grimmigen Kriegern; seine Gestalt hebt sich von dem kunstvoll geschnitzten Drachenbug ab; als das Schiff auf den Strand aufläuft, springt er heraus und greift an der Spitze seines Heeres ein Geschöpf an, das halb Frau und halb glitzernder Wolfskopf ist. Überall fallen Körper zu Boden. Blut strömt das Ufer hinunter in die Untiefen, die von der Strömung aufgewirbelt und schlammig sind, bis sie in der Tiefe den furchtbarsten Anblick überhaupt sieht: Gnades verwelkte Leiche, die auf einem Scheiterhaufen brennt. »Nicht noch mehr!«, keucht sie, als die Visionen in einer wilden Flut über sie hinwegströmen und sie ertränken. Blaues Feuer verschluckt sie. Thiemos Hand zuckt in ihrer, und er sackt gegen sie. Dann - nichts mehr. 733 4 Die Schiffe kamen in Dreier- und Fünfergruppen, geführt von dem Mann, der mit Mandas Stammesleuten durch das Moor nach Nordosten zum Meer gerudert war. Als die Flotte sich versammelte, wurde die heilige Insel, auf die die Königin sich zurückgezogen hatte, von einem undurchdringlichen Nebel eingehüllt, der sich von Tag zu Tag weiter über das Wasser ausdehnte. Acht Tage, nachdem Elafi und Ki ihn zu dem geheimen Pfad unter dem Hügel geführt hatten, machte Starkhand seine Truppen bereit, arbeitete seinen Plan aus und brachte seine Schiffe in Position. Als Zeitpunkt des Angriffs wählte er die Morgendämmerung. Die Dämmerung kam nie, oder zumindest schien es so. Die Sonne trat über die Schwelle der Nacht, aber nicht das geringste bisschen Licht vermochte den zähen Nebel über dem Moor zu durchdringen. Selbst die wilden Hunde wirkten niedergedrückt von seinem Gewicht.
»Wir sollten bis morgen warten«, murmelte Hundetöter. »Unsere Schiffe werden zerstreut werden, und der Nebel wird unseren Angriff durcheinander bringen.« »Nein. Dieser Nebel riecht nach den Baumzauberern. Die steigende Flut arbeitet für uns, denn sie ist hoch und stark. Mein Schiff wird den Angriff anführen.« Starkhand trat zum Vordersteven seines Schiffes und hielt sein Banner vor sich. Als sie in die Düsternis ruderten, bildeten sich große Wassertropfen auf dem Stab und am Schiffsrumpf, während der Nebel dünner wurde. Schon bald tröpfelte Wasser von allen Oberflächen, und um sie herum und hinter ihnen nahmen Schattenschiffe Gestalt an, mehr Trugbilder als Wirklichkeit. Während sie weiterruderten, riss der Nebel zu Schwaden auf, und die Schiffe nahmen feste Gestalt an. Wie von einem einzigen Willen geführt, beugten sich die Männer über die Ruder, rührten das schlammige Wasser auf, als sie voranglitten. Hunde reckten die Köpfe über die Reling, um in der Luft zu schnüffeln, und ihre glänzenden Flanken zitterten vor Aufregung. Hin und wieder glitt ein 734 Schiff knirschend über eine hohe Sandbank oder eine Schilfinsel, die von der Flut überspült worden war, aber ansonsten diente ihnen der flache Tiefgang der Schiffe sehr gut. Feuerpunkte flammten auf den Inseln auf, als die Alben sich auf die Schlacht vorbereiteten. Starkhand lehnte sich nach vorn, um den Wind zu schmecken: War das der Geruch der Furcht ihrer Feinde, durchsetzt mit dem Gestank des Zerfalls? Als er sich umdrehte und die Flanken begutachtete - also jene Schiffe, die einen Bogen machten, um die Insel von der anderen Seite anzugreifen -, erzitterte das Deck unter seinen Füßen. Zehnter Sohn stand am Heck und rief eine zusammenhanglose Warnung. Hinter ihnen schaukelten auch andere Schiffe, aber abgesehen von einer geringfügigen Morgenbrise war kein Wind zu spüren. Gebell und Gejaule zerrissen die Ruhe; Männer riefen sich alarmiert etwas zu. Dunkle, gekrümmte Gestalten wanden sich aus dem Wasser. Das Boot neigte sich so plötzlich zur Seite, dass er gegen die Reling fiel und sich kaum mit der freien Hand festhalten konnte, sogar fast über Bord gegangen wäre. Ein Hund rutschte an ihm vorbei und prallte hart gegen die Reling. Tentakel schlängelten sich über die Planken. Er warf die Standarte auf das Deck, aber ehe er sich wieder aufrichten konnte, packte ihn etwas am Knöchel und riss ihn so kräftig mit, dass er rücklings ins Moor stürzte. Das Wasser verschluckte ihn. Während er herumwirbelte, orientierte er sich, aber als er versuchte, sich hinzustellen, versank sein Fuß im Schlick. Wurzeln und Schlingpflanzen wanden sich um seine Beine. Über ihm zerteilte der Rumpf des Bootes die schlammige Brühe. Ein Ruder traf ihn am Kopf, und er taumelte. Die lebenden Wurzeln umhüllten ihn, zogen ihn in den glitschigen Schlamm. Ihm ging die Luft aus. Seine Lunge war fast leer. Er zog seine Axt aus dem Gürtel und packte eine Wurzel, hackte zweimal auf sie ein, ehe er sie durchtrennt hatte, doch für jede, die er wegschnitt, schlängelte sich eine neue um ihn herum. Er ging methodisch vor, aber sein Leben glitt ins Wasser davon. Er ertrank. 735 Dunkelheit. Er war blind und halluzinierte auf eine Weise, die einer Panik so nahe kam wie noch nie irgendetwas in seinem kurzen Leben. Ketten scheuern an seinen Knöcheln und Handgelenken, ziehen ihn nach unten, während sein Wächter mit einem Händler feilscht. »Stimmt schon, er ist blind, aber seht ihn Euch an. Seine Arme und Beine sind noch in Ordnung. Er ist gesund. Und er ist so gut wie hirnlos. Er erinnert sich nicht einmal mehr an seinen eigenen Namen.« Der Kaufmann schnaubt angewidert. »Ihr wollt mir ein lahmes Pferd anpreisen, weil es für Kinder einfacher ist, mit ihm Schritt zu halten? Nein, zwanzig Skeattas sind genug für ihn.« »Zwanzig! Das ist Diebstahl! Ich gebe ihn Euch für vierzig, aber nur, weil er blind ist. Sein Gehör ist so scharf wie das eines Hundes. Seht nur, wie stark er ist!« »Stark? Kommt mir eher so vor, als wäre er betäubt. Er ist wahrscheinlich stumm und noch dazu krank im Kopf.« Feuchte Hände prüfen die Muskeln an seinen Armen, drücken und messen sie. Sie halten inne und klopfen auf Metall. »Was ist das für ein hübsches Stück? Bronze, noch dazu kunstvoll gearbeitet. Das könnte Euch einen guten Preis unten in der Schmiedestraße bringen.« »Es lässt sich nicht abnehmen«, erwidert sein Wächter zögernd. »Es lässt sich nicht abnehmen?« Finger packen den Armreif, den er von den Skrolin erhalten hat - der letzte Gegenstand, der ihn mit dem verbindet, was er war, ehe er alles vergessen hat. »Was für ein Narr- oh! Ah! Ah! Mist! Es hat mich verbrannt!« »Glaubt Ihr, wir hätten es ihm nicht sofort abgenommen, wenn wir gekonnt hätten? Es ist Magie daran. Vielleicht ein Fluch.« »Magie! Ein Fluch! Fünfzehn Skeattas sind mehr als genug für einen wie ihn.« »Fünfzehn! Fünfunddreißig, das ist mein letztes Angebot.« Was sind »Skrolin«? Das Wort hängt in seinem Gedächtnis, aber er kann kein Bild dazu entstehen lassen,
erinnert sich nur an 736 das Geräusch klauenbewehrter Füße, die über Stein scharren. Schließlich ist er blind. Die Hände des Kaufmanns fahren an seinen Seiten hinunter und drücken sein Gesäß. Er hat einmal Kleidung getragen, aber sie ist ihm gestohlen oder verkauft worden. Er trägt jetzt nur einen Lendenschurz und eine zerfranste, stinkende Decke um die Schultern. Der Wind ist kalt, aber er bringt ihm auch eine Rüstung aus Lärm, die ihn einhüllt und ertränkt. »Austern! Austern!« »Hast du schon gehört? Zwei salianische Herzöge beanspruchen den Thron. Es heißt, ihre Heere sind schon auf dem Marsch.« »Sind wir hier sicher?« Ein Wagen rumpelt vorbei. Hühner gackern. Er riecht das staubige Aroma von ungemahlenem Weizen, der leicht zu faulen anfängt - die letzten Reste eines Wintervorratslagers. Er hört die gleichmäßigen, vorsichtigen Hiebe eines Arbeiters, der einen Stein meißelt, das Schaben eines Breitbeils auf Holz. Zwei Frauen lachen, aber ihre Stimmen verklingen, als sie weitergehen; wie alle anderen nehmen sie keine Notiz von dem gerade stattfindenden Handel. Er steht unterhalb ihrer Aufmerksamkeit, im Hintergrund, ist in der Marktstadt nur eine weitere Ware, die darauf wartet, verkauft zu werden. Ein Schwein quietscht, als ihm die Kehle durchgeschnitten wird, ein schreckliches Geräusch, das nicht aufhören will, bis es schlagartig zwischen zwei Atemzügen abbricht. Er zittert am ganzen Körper. »Nun, er kann schlecht weglaufen, wenn er blind ist«, räumt der Kaufmann als Antwort auf eine ungehörte Frage ein. »Ich glaube, ich weiß, wer einen Burschen wie den hier gebrauchen könnte - dumm, schwachsinnig und blind, aber ansonsten gesund. Dreißig Skeattas. Nehmt es oder geht woandershin.« »Abgemacht.« Die letzte Wurzel teilte sich unter seiner Axt. Er stieß sich mit den Füßen ab und brach durch die Wasseroberfläche, schnappte nach Luft. Auf den anderen Schiffen schrien Männer vor Entsetzen. Planken knirschten, als Pflanzen aus dem Wasser schössen 737 und versuchten, die Bretter auseinander zu reißen und die Boote in die Tiefe zu zerren. Zehnter Sohn erreichte ihn als Erster, zog ihn hoch und über den Bootsrand. Er fiel auf die Knie, packte die Standarte, die unberührt auf dem Deck lag, und stieß den Schaft mit brennender Lunge und von Wasser und Schlamm triefendem Körper dreimal auf den Boden. Die Pflanzen verwelkten und fielen in den Schlamm zurück. Das wirbelnde Wasser beruhigte sich. Neben ihm knurrte ein Hund. Noch immer hustend musterte er seine Flotte. Er hatte keine Zeit, sich mit der Vision zu beschäftigen, die ihn beinahe ertränkt hatte. Ein Schiff war gekentert; die Krieger und Hunde waren an den Sumpf verloren, da die FelsenKinder nicht schwimmen konnten. Doch es würden so oder so Männer in der Schlacht verloren gehen. Diese Schlacht hatte bereits begonnen, als die Magie der Baumzauberer sich vor seinem Talisman zurückgezogen hatte. Er hob die Standarte. Trommeln verkündeten den Vormarsch, während die Ruder rhythmisch durchs Wasser peitschten. Sie näherten sich dem Ufer. Brennende Pfeile der Alben zogen leuchtende Bögen über den Himmel und prallten gegen die Schilde der auf dem Vorderdeck versammelten Krieger. Drei Inseln ragten vor ihnen aus dem Sumpf. Ein hastig aufgeschütteter Erdwall umgab das Land, und darauf befand sich eine behelfsmäßige Palisade, die weder robust noch hoch war. Der Feind hatte das Land jeglicher Vegetation beraubt, hatte sie für Gebäude, Feuer oder als Nahrung benutzt, und der Gestank des überfüllten Lagers trieb über das Wasser. Und über alldem erhob sich am höchsten Punkt der größten Insel die Steinkrone. Sein Schiff schob sich durch Schilfbüschel und kam am schlammigen Ufer zum Halten. Ein zweites Schiff glitt daneben, dann ein drittes. Hunde strömten über die Reling, begierig auf Blut. Seine Krieger sprangen von den Booten und griffen den Wall an. Unbenutzte Masten wurden als Rammböcke mitgenommen, und schon bald hatten sie die Palisade an einem Dutzend Stellen durchbrochen. Aber eine Barriere aus albischen Speeren und Schilden füllte jede Lücke, kaum dass sie vorhanden war, und albische Bogen738 schützen rannten hinter dem Schildwall hin und her, schössen aus tödlich kurzer Entfernung auf die vielen Hunde. Bei jedem Vorstoß über den Wall trieb ein Gegenangriff die FelsenKinder zurück, aber niemals ganz bis zum Wasser, niemals ganz bis zu ihren Schiffen. Noch mehr strömten ans Ufer, um der Vorhut zu helfen. Die Königin von Alba erhob sich über dem Kampfgetümmel; ihr wie ein Wolfskopf geformter Helm glänzte, und hinter ihr wurde ihr Banner in die Höhe gereckt. Eine Reihe von großen Schildmännern beschützte sie; sie waren so muskulös und kräftig wie Bären und allesamt mit großen Äxten bewaffnet. »Zehnter Sohn! Halte die Standarte und verlasse nicht das Schiff. Ich führe einen Gegenangriff.« Starkhand musste dabei gesehen werden, wie er die Königin besiegte, so wie er es bei Kjalmars-Fjord mit seinem Herausforderer Nokvi getan hatte, den er über Bord geworfen und den Merwesen übergeben hatte. Die Sonne stand hoch am Morgenhimmel. In ihrem Licht sahen die Steine auf dem Hügel aus, als würden sie
glühen. Er hörte Geräusche von der anderen Seite der Insel; die Schiffe an den Flanken griffen jetzt ebenfalls an. Schreie und Rufe stiegen wie aufgeschreckte Vögel gen Himmel. »Jetzt!« Er drängte sich in die vorderste Reihe, einen halben Kopf kleiner als die meisten seiner Brüder. Sie kämpften sich über den Wall, gruben ihre klauenbewehrten Füße in den Boden, um sich besseren Halt zu verschaffen, als die Alben versuchten, sie zurückzutreiben, und Speere auf ihre Schilde prallten. Pfeile regneten auf sie herab, und viele seiner Krieger taumelten zurück oder fielen, aber die Übrigen hielten die Linie, während andere rasch nachrückten. Die albische Verteidigungslinie dehnte sich immer weiter aus und wurde unter dem heftigen Angriff dünner. Der Blutzoll war auf beiden Seiten hoch, aber Starkhand hatte ein größeres Heer und noch eine Überraschung in der Hinterhand. Wieder tauchte die Königin auf. Sie griff ungestüm von der Flanke her an, schnitt so die vordersten Männer von der Verstärkung ab. Feuerstein attackierte diese Alben mit zwanzig Hakonin739 Kriegern, aber die Männer der Königin waren ungewöhnlich groß und besaßen einen beachtlichen Leibesumfang, sodass sie dem Angriff der Aikha standhalten konnten. Schild drängte sich gegen Schild, und es herrschte eine Pattsituation. Starkhand steckte hinter seinem eigenen Schild fest, als ein Dutzend Männer die Lücke füllte und ein weiteres Dutzend sich auf die Aikha warf; sie drückten und ächzten, während überall um sie herum Äxte Schilde spalteten, Speere zustießen und Pfeile zischten. Ein riesiger Mann geriet in Sicht, ragte hoch über der Kampflinie auf. Die Königin machte Platz, um ihn durchzulassen. Er war gewaltig, wie ein lebendiger, sich bewegender Baumstamm in Gestalt eines Mannes. Sein Helm war über dem Gesicht geschlossen, nur der lockige moosgrüne Bart war zu sehen. Seine Axt krachte auf den Kopf eines Kriegers nieder, der gleich rechts von Feuerstein stand; der Schädel des Unglücklichen barst, und Blut ergoss sich über den Aikha, als er zusammenbrach und so eine Lücke entstehen ließ. Drei Männer sprangen vor, um es mit dem Riesen aufzunehmen, aber er fegte sie mit einer Seitwärtsbewegung seines Schildes beiseite, als würde er Staub vom Tisch wischen. Die Erde erzitterte. Wieder hob sich die Axt und senkte sich. Feuerstein parierte den Hieb mit seinem Schild, aber der Metallrand und der hölzerne Innenteil zersplitterten, und er sackte unter der Wucht des schrecklichen Schlages wie ein Stein zu Boden. Erneut erzitterte die Erde, als würde sie sich unter der Anspannung heben und krümmen. Die Linie verschob sich; die Aikha verloren - unmöglich genug -angesichts einer solch unüberwindlichen Kraft den Mut. Die Axt des Riesen hob sich erneut, würde gleich wieder zuschlagen und die Linie durchbrechen. Der Hügel explodierte in einer goldenen Flamme und grünem Nebel. Ein Brüllen, das das Blut eines jeden Wesens hätte gefrieren lassen können, ließ die Luft erzittern. Jenseits der Steine erhob sich der geflügelte Drache von der Felsenklippe, in der er jahrhundertelang eingeschlossen gewesen war - aber jetzt war er kein Skelett mehr, sondern ein Wesen aus Fleisch und Blut. Tödliches Gift 740 tropfte aus seinem Maul mit den riesigen Fängen. Die Flügel schlugen in einem donnernden Rhythmus und schleuderten Staubwolken und einen feuchten Nebel aus giftigem Dampf in die Luft. Der Drache zog den Schwanz an den Körper, benutzte ihn wie ein Ruder und stürzte sich auf die Albenkönigin. Die Hunde rannten zum Wasser. Die Hälfte der albischen Männer floh blindlings, aber es gab keinen Ort, an den sie hätten fliehen können, und so kämpften sie verzweifelt, während sie vor Entsetzen schrien. Die Übrigen standen wie gelähmt da, und nur eine Hand voll Wächter der Königin war geistesgegenwärtig genug, um sich der neuen Bedrohung zu stellen. »Jetzt!«, schrie Starkhand triumphierend, und mit lautem Siegesgeheul drängten die Aikha vorwärts, um die albischen Linien zu zerschmettern. Feuerstein sprang auf und grub seine Axt in die Brust des Riesen, tänzelte dann zur Seite, als die riesige Kreatur ins Wanken geriet und flach auf den Boden stürzte und dabei zwei albische Soldaten unter sich begrub. Starkhand raste durch die Lücke, stürzte sich mit einem Dutzend Krieger auf die benommenen Wächter und überrannte sie. Der geflügelte Drache über ihm löste sich in einem Regen aus klappernden, herunterfallenden Knochen auf, und die Illusion verblasste mit einem Gebrüll, das nicht weniger eindrucksvoll war als die panischen Schreie der besiegten Alben, von denen die Aikha so viele wie möglich töteten. Starkhand machte gerade in dem Augenblick einen Ausfall gegen die Königin, als diese zu fliehen versuchte. Sie parierte und schwang ihr Schwert, aber er wich dem Hieb aus, duckte sich innerhalb ihrer Reichweite, schlug ihren Schild beiseite und trennte ihr den Kopf ab. Der Wolfskopf rollte zur Seite und blieb auf dem Boden liegen, die Schnauze gen Himmel gerichtet. Ihr Herzblut strömte vom offenen Hals auf den Boden. »Los!«, rief er Erster Sohn zu, der auf diesen Befehl gewartet hatte. Zwanzig Soldaten rannten durch das Chaos auf die Steinkrone zu. Zehnter Sohn kämpfte sich zu ihm durch, um ihm die Standar741 te zu reichen. »Nicht ganz so gut wie die Illusionen von Blutherz«, bemerkte er. »Die Farben waren zu hell. Aber der giftige Dampf war nett. Töten solche Kreaturen mit Gift?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe ein solches Tier noch nie zuvor gesehen.« Überall um sie herum ging das Töten weiter, als das Kampfgeschehen sich auf das albische Lager zubewegte. Am Ufer drehten die kühnsten Hunde sich um und kehrten ins Getümmel zurück. »Komm mit.« Die restlichen albischen Soldaten standen Rücken an Rücken und bildeten einen festen Schildwall um die Mitte des Lagers und das riesige weiße Zelt, in dem die Königin und ihre Familie untergebracht gewesen waren. Zwei Frauen mit goldenen Bändern um die Stirn standen unter einem weißen Vordach, die eine sehr alt, die andere so jung, dass sie noch ein Mädchen war. Sie trug eine Rüstung, aber keinen Helm, und wirkte nicht stark genug, um das Schwert hochheben zu können, das sie in ihrer linken Hand hielt. Beim Zelteingang kauerten Kinder, strohblonde Jungen und Mädchen in der Kleidung von Edlen, die einen deutlichen Kontrast zu den vierzig oder mehr dürftig gekleideten Sklaven bildeten, die sich an die Zeltwände drängten. Gefangen, wie die Diakonissin Ursuline einmal vielsagend erklärt hatte, »zwischen dem Feind und den Allerletzten«. Sie als Einzige waren unbewaffnet. Jeder Erwachsene im Lager, nicht nur die Soldaten, hatte irgendeine Waffe in der Hand, eine Schaufel, eine Hacke, eine Mistgabel, einen angespitzten Pfahl, viele einen behelfsmäßigen Knüppel. Sogar die restlichen Baumzauberer, junge wie alte, hielten ihre belaubten Stöcke wie Speere und nicht wie Stäbe, mit denen sie ihre Magie wirkten. Sie wussten, dass ihre Magie sie im Stich gelassen hatte. Starkhand winkte drei Soldaten zu. »Hebt mich auf einen Schild.« Er stellte seine Füße jeweils an den Rand des runden Schildes und schwankte etwas, als die Soldaten ihn hochhoben, bemüht, das Gleichgewicht zu halten. Seine eigenen Krieger zogen sich von der vordersten Linie zurück, und sogar die Alben schwiegen, die Waffen bereit, als sie zu ihm hochstarrten. Ein Bogenschütze schoss einen Pfeil auf ihn ab, aber er wich seitlich aus, und so 742 streifte das Geschoss lediglich seine Schulter, war nichts als ein Kitzeln auf seiner kupfernen Haut. Die anderen hielten sich zurück. »Für einige von euch kann es heute kein Erbarmen geben«, rief er. »Aber jene unter euch, die als Sklaven gelebt haben, hört mich an. Werft eure Knechtschaft ab und tretet zu uns. Soll der Sklave zum Herrn werden und der Herr zum Sklaven. Wenn ihr zu uns kommt, werdet ihr Land erhalten und die Möglichkeit, ein neues Leben zu beginnen. Wenn ihr aber dort bleibt, werdet ihr mit denjenigen sterben, die über euch geherrscht haben.« Die junge Königin hob ihr Schwert und reckte es gen Himmel. War es Angst oder Wut, was sich da auf ihrem jungen Gesicht abzeichnete? »Tötet sie!«, kreischte sie. Die bewaffneten Leute, abgesehen von den Soldaten, wandten sich alle gleichzeitig um und metzelten die unglücklichen Sklaven nieder. Starkhand sprang vom Schild. »Keine Gnade!« Die Aikha stürmten vorwärts. Sie zeigten keinerlei Gnade, nicht an diesem Tag, an dem auch Alain keine Gnade erwiesen worden war. Schwarze Wut erfasste sein Herz, und er selbst tötete die Königinnen und die schreienden, verängstigten Kinder. Als alle Alben tot waren, setzte er sich auf den vergoldeten Stuhl der Königin und ließ den Blick über die Inseln schweifen, während seine Soldaten sich vor ihm versammelten. Die meisten Leichen lagen auf dem Boden, aber er hatte seinen Männern befohlen, die Körper der Baumzauberer an den Masten der Schiffe aufzuhängen. Zelte lagen zertrampelt auf dem Boden; Leichenhaufen zeugten von heftigen Kämpfen; ein paar Pferde und Schafe waren getötet worden, und eines der Schiffe hatte Feuer gefangen und schwelte jetzt, während seine Männer Eimer voll Wasser über dem qualmenden Deck ausgössen. Das Gemetzel verströmte einen besonders scharfen Geruch, weil so viele auf so engem Raum gestorben waren. Ein einsamer Hund, mager und grau, schnüffelte in den Trüm743 mern herum und blieb geduckt und mit hängenden Ohren stehen, um an einer Blutlache zu lecken. Drei AikhaHunde fingen seinen Geruch auf und rasten auf ihn zu, und er schoss jaulend davon. Die Hunde verschwanden aus Starkhands Blickfeld, aber die Jagd endete in wüstem Gebell und einem abgerissenen Schmerzensschrei. Es war ein blutiges Feld, wahrhaftig, aber das war bei allen Schlachtfeldern so. Die Menschheit mochte den Krieg verherrlichen oder sich gegenseitig in Schwierigkeiten verstricken, um ihre Konflikte als notwendig und gerecht zu rechtfertigen, aber er wusste es besser. Sie waren Mittel zum Zweck, eine Wahl an Stelle einer anderen - wirkungsvoll, brutal und entscheidend, wenn man zum richtigen Zeitpunkt auf dem richtigen Schlachtfeld kämpfte. Er hatte getan, was er tun musste, um das zu bekommen, was er haben wollte. Aber er konnte den Makel von Alains Leiden nicht aus seinem Kopf bekommen. Es kam ihm so vor, als könnte er sich nicht einmal an seinen größten Siegen erfreuen. Draußen im Moor tauchten zwanzig kleinere Boote auf: Manda und ihre Leute ruderten zur heiligen Insel, die sie wieder für sich beanspruchen wollten. »Sie wird gereinigt werden müssen«, sagte er zu Zehnter Sohn. »Ich bin gespannt, ob sie die Leichen verbrennen, vergraben oder im Wasser versenken werden.« »Wenn sie sie verbrennen oder versenken, könnte das Land hier vergiftet werden«, sagte Zehnter Sohn. »Wenn ich an ihrer Stelle wäre, würde ich darum bitten, dass die Leichen zum Festland geschafft und dort beseitigt werden.«
Starkhand nickte. Zwanzig von seinen Rikin-Verwandten näherten sich, bewachten seine neuen Verbündeten, die sich beim Steinkreis verborgen hatten. Während er wartete, dachte er nach und sprach schließlich zu seinem Kameraden. »Ich bin nicht die AltMutter, dass ich dir einen Namen geben könnte. Aber ich bin auch nicht Blutherz oder einer der anderen Anführer von früher, die zufrieden mit dem sind, was sie für sich erlangen. Nein. Wieso sollte ich hier aufhören? Wieso sollte ich zögern?« 744 Soldaten traten beiseite, machten Platz für Erster Sohn und ihre Verbündeten. Sie blieben zehn Schritte vor ihm stehen. »Wie du befohlen hast, Starkhand«, sagte Erster Sohn. »Niemand von den Kreispriestern ist getötet worden.« Er machte einen Schritt zur Seite, um Bruder Severus die Gelegenheit zu geben, allein vorzutreten, der dadurch sein Dutzend Begleiter unter dem Schutz - oder der Bewachung - der Kohorte von Erster Sohn zurückließ. Es war offensichtlich, dass zwar einige die veränderten Umstände mit stoischer Ruhe aufnahmen, andere jedoch weit weniger zuversichtlich waren. Derjenige, den er als Vater Reginar kannte, sah ganz eindeutig so aus, als wollte er sich jeden Augenblick erbrechen, während er auf die Hunde starrte, die sich an den Leichen gütlich taten. »Edelmann Starkhand.« Bruder Severus sprach Wendisch mit einem starken Akzent, schnitt die Worte auf hochmütige Weise am Ende ab. Es war ihm nicht anzumerken, ob der Anblick des Gemetzels ihm zusetzte, aber er verlor die bevorstehende Angelegenheit nicht einen Moment aus dem Blick. »Wir haben unseren Teil der Abmachung erfüllt. Jetzt erwarten wir, dass Ihr den Euren erfüllt.« Er griff in einen langen Ärmel und zog ein Pergament heraus, das frisch mit Tinte beschrieben war. »Wir haben einen Vertrag aufgesetzt, in dem wir die Einzelheiten unserer Vereinbarung aufgeführt haben. Es ist nur noch Euer Zeichen nötig, um den Handel zu besiegeln.« Starkhand erhob sich und reckte die Standarte. Die FelsenKinder warteten mit ihrer üblichen, aus Stein geborenen Geduld. »Was hält mich davon ab, Euch jetzt zu töten, da Ihr in meiner Gewalt seid?« Severus seufzte mit der Müdigkeit eines Mannes, der von den dummen Fragen närrischer Kinder belästigt wird. »Wir sind Zauberer, Edelmann Starkhand. Ihr solltet unsere Macht fürchten.« »Aber das tue ich nicht.« Er deutete auf den Boden mit den vielen Leichen, die sie umgaben, zeigte auch auf die schauerlichen Trophäen, die von den Masten seiner Flotte hingen. »Die Magie der Baumzauberer hat mich nicht besiegt. Wieso sollte Eure es tun?« 745 Severus' Mundwinkel zuckten, aber er lächelte nicht. Er hob lässig die Hand, und ein Wind erhob sich von der Erde. Das Vorzelt blähte sich auf, als würde eine unsichtbare Kreatur sich darunter aufrichten. Die Stoffbahnen der Zelte überall um sie herum flatterten und schlugen hin und her. Die Banner knatterten. Die Leiche der jüngsten Königin rollte herum, als eine Bewegung in der Erde sie zur Seite drängte, und Maden kamen dort am Boden zum Vorschein, wo ihr Herzblut sich gesammelt hatte. Sämtliche Hunde, die sich bisher an den Leichen gütlich getan hatten, jaulten auf, als wären sie gebissen worden, und sprangen wie ein Schwärm Heuschrecken ins Wasser. Dort blieben sie, jaulend und ängstlich, während Blut und Innereien aus ihren Schnauzen tropften und das Ufer zusätzlich verschmutzten. Starkhand bleckte die Zähne, nichts weiter. Dieser Severus war nicht zu unterschätzen. Im Gegensatz zu den meisten Menschen konnte man ihn nicht ängstigen, und er war auch kein Narr. »Wir sind nicht so leicht zu töten«, sagte Severus, während Wind das Wasser aufwühlte und die Schiffe zum Schaukeln brachte. Starkhand wartete, ohne einzugreifen, bis die Zauberei abflaute. »Hätte ich Euch töten wollen, hätte ich das schon längst getan. Seid versichert, dass ich kein Abkommen schließe, wenn ich nicht vorhabe, mich daran zu halten.« Er berührte die Narbe am Rücken der linken Hand mit den Lippen, erinnerte sich an das, was mit Blut besiegelt worden war, als Alain ihn aus dem Käfig befreit hatte. Wo befand sich Alain jetzt? Wie konnte er ihn finden - ohne jeden Orientierungspunkt, der ihm den Weg wies? »Ich werde den Vertrag unterzeichnen, aber Ihr müsst ihn mir erst laut vorlesen.« »Natürlich. Reginar?« Der junge Mann hatte seine Arroganz ein wenig verloren, aber auch er besaß ein bestimmtes Maß an Mut, denn er nahm Severus das Pergament aus der Hand und las mit einer Stimme vor, die zwar anfangs zitterte, aber schließlich gleichmäßig und kräftig klang. 746 »Diese Vereinbarung über gegenseitige Hilfe und ein Bündnis wird ausgesprochen und besiegelt zwischen der Heiligen Mutter Anne in Person ihres Beraters Bruder Severus und jenem, der als Starkhand bekannt ist, König der Aikha. Als Gegenleistung für die Hilfe, die Bruder Severus ihm bei der Niederschlagung der Königinnen von Alba gewährt hat, sowie für die wesentliche Hilfe bei der Geltendmachung seines Anspruchs auf das Königreich von Alba verpflichtet sich Starkhand, jene zu bewachen, die die Krone auf der Insel Wyfell wiederherstellen wollen. Sie werden neben den Bewahrern der Insel in Frieden leben und die Erlaubnis haben, die alte Kunst der Mathematiki innerhalb der Grenzen des Steinkreises zu studieren. Als zusätzliche Gegenleistung für unsere
Unterstützung und unseren Segen wird Starkhand uns dabei helfen, die anderen Kronen, die wir suchen, wiederherzustellen und zu schützen, darunter eine im Aikha-Land und eine weitere im Königreich Salia. Er wird Missionaren gestatten, sich frei unter seinem Volk und unter den albischen Ungläubigen zu bewegen.« Der Text war umgeben von Einleitungen und Anhängen -rechtliche Formulierungen, die mit der Neigung der Menschen zu tun hatten, Dinge kompliziert zu machen, die man am besten einfach ließ. Schließlich legte Bruder Severus das Pergament offen auf ein Brett und hielt es ihm so hin, dass er sein Zeichen darunter setzen konnte. Starkhand benetzte die Finger mit dem Blut der jungen Königin und zog zwei Streifen unter die sauberen Buchstaben, von denen er keinen einzigen lesen konnte. Das würde sich ändern müssen. Wenn er mit den Menschen handeln wollte, musste er sicher sein, dass sie ihn nicht aufgrund seiner Unwissenheit betrügen konnten. »Es ist geschehen«, sagte Severus zufrieden. »Wir werden mit dem Wiederaufbau beginnen, sobald Ihr uns Arbeiter zur Verfügung stellen könnt ...« Selbst ein derart beherrschter Mann wie dieser Bruder zuckte zusammen, als er den Blick über die blutverschmierten Leichen schweifen ließ, über das Schlachtfeld, die unruhigen Hunde. »Wenn die Insel wieder bewohnbar ist.« »So sei es«, pflichtete Starkhand ihm bei. Er hob erneut die Standarte, eine Geste, die seine Soldaten über747 all auf der Insel zum Schweigen brachte. Als er dann sprach, tat er es in der Sprache der FelsenKinder, die nur wenige Menschen gelernt hatten. »Und so fangen wir an.« Er starrte über das Moor zum Horizont. Die letzten Nebelschwaden lösten sich im kalten Licht der Sonne und in einem frischen Nordwind auf, der vom entfernten Meer heranwehte. Es hatte schließlich doch nicht so lange gedauert, das albische Königreich zu vernichten: ein paar Jahreszeiten, einen langen Feldzug. »Früher, in den alten Tagen, hätten die Anführer unseres Volkes Alba geplündert und wären nach Hause gesegelt, um ihre Tüchtigkeit und ihre Kühnheit zu feiern. Sie hätten nichts weiter als Gold und Plunder errungen. Wir haben unser Leben immer auf diese alte Weise gelebt. Aber es gibt hier mehr zu erringen als Schätze. Wir müssen uns nicht mit Plunder zufrieden geben. Ich sage jetzt, wir sollten den alten Wegen nicht länger folgen.« Seine Krieger warteten. Sie hatten gelernt, dass es gut war, abzuwarten, was als Nächstes kam. Severus und sein Gefolge zogen sich zurück, als Starkhand nach vorn trat; sie alle zeigten ein gewisses Unbehagen, als sie sich umsahen und vielleicht zum ersten Mal die Größe und Macht des Volkes begriffen, mit dem sie sich gerade verbündet hatten: hunderte von Kriegern auf dieser Insel und unzählige weitere überall in Alba oder im Land ihrer Geburt, das die Menschen Aikha-Land nannten. Denn die Menschen konnten alles benennen, weil Namen Macht waren. »Es gibt etwas, das jeder Mensch besitzt, von uns aber nur die Allergrößten. Es ist etwas, um das nur wenige gebeten haben und das zu erhalten sich viele fürchten.« In der Halle der AltMütter, in einer Dunkelheit, die vom Geruch von Erde und Felsen, von Wurzeln und Würmern, vom Geruch der Gebeine der Erde durchdrungen war, hatte er ihr Urteil erduldet und ihre Worte gehört. Er wiederholte sie jetzt, sprach sie als Herausforderung. »Wer bist du?« Sie sahen ihn an und warteten, die Rikin und Hakonin, die Isa und Vitningsey, die Jatharin und das, was von Moerin übrig war, und noch viele mehr. Sie veränderten den Griff an ihren Äxten 748 und Speeren, schoben mit ihren Füßen Leichen zur Seite, sodass sie sich anders hinstellen konnten, um besser sehen zu können. »Mit welchem Namen werdet ihr genannt werden, wenn die Melodie des Stammes getanzt wird? Wenn das Leben des Grases besungen wird, das jeden Winter stirbt? Wenn das Leben der Leere besungen wird, das ewig lebt?« »Es ist falsch!«, rief der Anführer der Jatharin, der zum ersten Mal die Stimme erhob. »Das ist respektlos gegenüber den AltMüttern, die allein entscheiden dürfen, ob ein Sohn eines Namens würdig ist!« »Vielleicht. Aber vielleicht warten sie auch nur darauf, dass wir es selbst tun, obwohl wir uns bisher davor gefürchtet haben. Wir kennen alle unseren Platz in dem Wurf, dem wir entsprungen sind. Dieser Platz hat jahrelang über uns bestimmt. Wieso sollte das noch länger so sein? Wir sind jung in der Welt, und wir werden niemals alt werden. Sogar der Schwächste der Weichen kann eine längere Lebensspanne für sich erhoffen als der Stärkste von uns, meine Brüder.« Er machte eine Pause, damit sie auf die Leichen auf dem Boden blicken konnten, damit sie die Geistlichen mustern konnten, die sich um Severus versammelt hatten. Die lockeren Gewänder der Kreispriester konnten die Schwäche ihrer Körper nicht verbergen - oder die Schärfe ihres Geistes, verstärkt durch Lernen und die Fähigkeit, zu planen und zu ersinnen. »Wieso warten wir? Wieso sollte nicht jeder von uns einen Namen besitzen? Wieso sollte nicht jeder von uns hoffen, in dem Tanz genannt zu werden, der die Melodie eines jeden Stammes ist ? Wieso sollte nicht jeder von uns versuchen, in den Chroniken der Weichen genannt zu werden? Sollen sie die Namen derjenigen hören, die sie fürchten.«
Er bleckte die Zähne. Er reckte die Standarte etwas höher. »Wer ist mutig genug?« Bedrückendes Schweigen folgte. Es war eine Sache, dem Weg des Krieges zu folgen, aber etwas ganz anderes, sich gegen einen alten Brauch aufzulehnen, der das Maß ihrer Sicherheit war jener einzigen Sicherheit, die sie in ihrem kurzen Leben erfuhren, 749 das von den AltMüttern und den Anführern - den Stärksten unter ihnen - geleitet wurde. Zehnter Sohn machte einen Schritt nach vorn. »Ich möchte genannt werden. Ich möchte einen Namen.« »Wie sollen wir dich nennen, Bruder?« »Aufrecht.« Andere sprachen jetzt so rasch, dass Starkhand wusste, auch andere FelsenKinder hatten über diese Frage nachgedacht. »Wildhieb!« »Scharfspeer!« »Langnase!« »Ha! Ein guter Name für dich, Bruder!«, rief Hakonins Erster Sohn. »Ich möchte Raschtod genannt werden.« Einige klopften sich mit der Faust auf die Brust, als sie ihren Namen sagten, während andere lediglich das Wort sprachen, als wäre dies Anspruch genug. Viele blieben stumm, doch als die Namen ausgesprochen wurden, wagte niemand, Einwände zu erheben, nicht einmal Jatharin. Als die letzten Namensnenner fertig waren, nickte Starkhand und stieß den Schaft seiner Standarte dreimal auf den Boden. »Alba gehört den FelsenKindern, die von den Menschen >Aikha< genannt werden. Wir haben noch Arbeit hier in Alba zu tun, um das zu festigen, was jetzt uns gehört, aber wir werden hier nicht stehen bleiben. Ich richte meinen Blick nach Osten und sehe Salia im Krieg mit sich selbst, sehe Bruder gegen Bruder kämpfen. Wo Brüder gegeneinander kämpfen, ist das Land geschwächt. Das wissen wir aus unseren eigenen Kämpfen. Deshalb sind wir so lange schwach gewesen.« Das Wasser des Moors glitzerte im grellen Licht der Sonne; es war ein so klarer Frühlingstag, dass Starkhand jeden einzelnen Halm in den Schilfgürteln erkennen konnte, die um die Hügel herum besonders üppig wuchsen. Eine Leiche trieb im Wasser; ihre Tunika blähte sich auf, als sie von Wellen erfasst wurde. Im Norden befanden sich das Schwemmland und das Meer, und niemand würde die Reise der Aikha behindern. Gänse flogen über sie hinweg. Einer der Geistlichen flüsterte Bruder Severus etwas zu, 750 aber der alte Mann schüttelte ungeduldig den Kopf, bedeutete dem Unruhigen, still zu sein. Ihre Verbündeten waren besorgt, und das sollten sie auch sein. Sein Heer wartete, so unruhig wie die Gänse und bereit, sich wieder auf den Marsch zu begeben, die nächste Schlacht zu schlagen. Aber die Disziplin, die er ihnen beigebracht hatte, hielt sie zurück. Sogar die Hunde saßen gehorsam da, leckten sich die blutigen Schnauzen und Pfoten. Sie waren bereit. »Wir sind nicht mehr schwach«, rief er. »Von dieser Insel aus werden wir ein neues Schiff zu Wasser lassen, und wir werden es Imperium nennen.«
Bitte lesen Sie weiter in STERNENKRONE 10. Danksagung Ich möchte mich besonders bei Sherwood Smith bedanken, dessen triftige Bemerkungen zu dem vorletzten Entwurf mich dazu gebracht haben, die letzten Szenen einmal mehr zu überprüfen und daraufhin eine entscheidende Szene in der Mitte des Buches zu ändern. Meine Lektorin Sheila Gilbert blieb während der langen und mühsamen Arbeit an diesem Buch geduldig und verständnisvoll; Debra Euler und das restliche Team von DAW Books zögerten nicht, sich über mich lustig zu machen, wenn es nötig war. Die üblichen Verdächtigen standen mir mit Rat und Tat zur Seite - ihr wisst, wer gemeint ist.