SCAN BY KEIMCHEN
Buch Indiana Jones bricht in die Wüste Gobi auf, wo der Forscher Starbuck einen brandneuen Dinoknoch...
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SCAN BY KEIMCHEN
Buch Indiana Jones bricht in die Wüste Gobi auf, wo der Forscher Starbuck einen brandneuen Dinoknochen entdeckt hatte. In der Äußeren Mongolei muss sich Indy mit Kriegsherren herumschlagen, die das Land in Aufruhr halten, und stößt auf Steinzeitmenschen. Schließlich sieht Indy das lebende Gegenstück vom Saurierknochen: einen Triceratops! Autor Max McCoy, preisgekrönter Journalist und Autor mehrerer Romane, lebt in Pittsburg, Kansas Bereits erschienen Rob MacGregor Indiana Jones und der letzte Kreuzzug (9678) • Wolfgang Hohlbein Indiana Jones und die Gefiederte Schlange (9722) • Wolfgang Hohlbein Indiana Jones und das Schiff der Götter (9723) • Wolfgang Hohlbein Indiana Jones und das Gold von El Dorado (9725) • Wolfgang Hohlbein Indiana Jones und das Schwert des Dschingis Khan (9726) • Wolfgang Hohlbein Indiana Jones und das verschwundene Volk (41028) • Wolfgang Hohlbein Indiana Jones und das Geheimnis der Osterinseln (41052) • Wolfgang Hohlbein Indiana Jones und das Erbe von Avalon (41144) • Wolfgang Hohlbein Indiana Jones und das Labyrinth des Horus (41145) • Rob MacGregor Indiana Jones und das Orakel von Delphi (42328) • Rob MacGregor Indiana Jones und der Tanz der Giganten (42329) • Rob MacGregor Indiana Jones und die Herren der toten Stadt (42330) • Rob MacGregor Indiana Jones und das Geheimnis der Arche Noah (42824) • Rob MacGregor Indiana Jones und das Vermächtnis des Einhorns (43052) • Rob MacGregor Indiana Jones und die Macht aus dem Dunkel (43162) • Martin Caidin Indiana Jones und die Hyänen des Himmels (43163) • Martin Caidin Indiana Jones und die weiße Hexe (43534) • Max McCoy Indiana Jones und der Stein der Weisen (43535) • Max McCoy Indiana Jones und die Brut des Sauriers (35301) Indiana Jones Sammelbande Wolfgang Hohlbein Indiana Jones und das Schwert des Dschingis Khan/Indiana Jones und das Geheimnis der Osterinseln (11608) - Rob MacGregor Indiana Jones und der Tanz der Giganten/Indiana Jones und das Orakel von Delphi (13172) -Wolfgang Hohlbein Indiana Jones und die Gefiederte Schlange/Indiana Jones und das Gold von El Dorado (13194) Weitere Bande sind in Vorbereitung
Max McCoy
und die Brut des Sauriers Roman
Ins Deutsche übertragen von Caspar Holz
BLANVALET
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Indiana Jones and the Dinosaur Eggs« bei Bantam Books, New York
Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. Das Papier enthält Recycling-Anteile. Blanvalet Taschenbücher erscheinen im Goldmann Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Berteismann. Deutsche Erstveröffentlichung 9/2000 EU & © 1996 by Lucasfilm, Ltd. All rights reserved. Used under authorization. Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2000 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Berteismann GmbH Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung der Copyright Promotions GmbH, Ismaning Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: F. Regös Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck: Eisnerdruck, Berlin Verlagsnummer: 35301 Redaktion: Patricia Rosenmüller V. B. • Herstellung: Peter Papenbrok Printed in Germany ISBN 3-442-35301-7 13579 10 8642
Die Mongolei, ein Land voller Geheimnisse, Widersprüche und Verheißungen ... das wüstenähnliche Hinterland war geradezu mit weißen, fossilen Knochen gepflastert, die allesamt von uns unbekannten Tieren stammten. Granger hob ein paar Stücke einer fossilen Eierschale auf, die seiner Einschätzung nach von einer längst ausgestorbenen Vogelrasse stammten. Damals ahnte noch niemand, dass dies die ersten von Menschen der Neuzeit entdeckten Dinosauriereier waren ... ROY CHAPMAN ANDREWS
PROLOG Das Schloss der Verdammten
Forteresse Malevil Marseille, Frankreich Oktober 1933 Die Faust traf Indiana Jones wie ein Vorschlaghammer, ließ seine Oberlippe über den Schneidezähnen aufplatzen und rief hinter seinen Augen ein bunt schillerndes Farbenspiel hervor. Falls Indy jemals härter geschlagen worden war, so konnte er sich nicht daran erinnern. Kraftlos kippte sein Kopf nach hinten gegen die Brust des hünenhaften Franzosen, der ihm die Arme an den Körper presste. Um ihn herum wurde es dunkel, und Indy befürchtete, das Bewusstsein zu verlieren. Dann füllte der kupferartige Geschmack von Blut seinen Mund, und die Wut weckte noch einmal seine Lebensgeister. Indy brachte ein blutverschmiertes, schiefes Grinsen zu Wege. »Bei wem hast du Zuschlagen gelernt?«, fragte er. »Bei deiner Großmutter?« Der Mann, der auf ihn einprügelte - das Gegenstück des Hünen, der Indys Arme festhielt - sprach kein Wort Englisch, aber den beleidigenden Unterton der Bemerkung bekam er mit. Er schlug Indy abermals, nur härter und diesmal in den Magen. »Schuljungenspötteleien, Dr. Jones? Von einem Mann Ih-
res Rufes hätte ich etwas mit ein wenig mehr Gehalt erwartet. Dabei habe ich so lange darauf gewartet, Sie kennen zu lernen.« Rene Belloqs gut gelaunte Stimme hallte von den düsteren Höhlenwänden wider. Der französische Archäologe saß, die Beine übereinander geschlagen, auf einem aufrecht stehenden, gelben Metallkanister, den weißen Hut, sein Markenzeichen, tief in die Stirn gezogen. Auf einem übervollen, chaotischen Schreibtisch hinter ihm, unter einer nackten, an einem durchgescheuerten Draht von der Decke herabhängenden Glühbirne, standen eine zur Hälfte geleerte Flasche des örtlichen Weißweins sowie eine vergessene Käseplatte. Rings um den Schreibtisch stapelten sich Holzkisten jeder Art und Größe, die Namen von Bestimmungshäfen aus aller Welt in Schablonenschrift an den Seiten. In Belloqs Schoß lag Indys Brieftasche, die er untersuchte, als wäre sie ein aus dem Sand der Zeit gerettetes Artefakt. Indys Rinderpeitsche, sein Revolver und Filzhut lagen zu Belloqs Füßen. »Ich hatte auf ein erfreulicheres Zusammentreffen gehofft«, meinte Belloq. »Für die grobe Behandlung, die Ihnen durch die Gebrüder Daguerre zuteil wurde, möchte ich mich entschuldigen, aber schließlich wusste ich nicht, wer Sie sind, und in meinem Beruf kann ich es mir nicht erlauben, Risiken einzugehen. Ich habe Ihren beruflichen Werdegang mit einigem Interesse im Herald-Tribune verfolgt, insbesondere Ihre Heldentaten in Mittelund Südamerika. Ich hatte sogar bereits davon geträumt, eines Tages mit Ihnen zusammenzuarbeiten, aber dazu ist es ja leider nicht gekommen.« »Und das ist gut so«, fauchte Indy. »Ich fürchte, nein, Dr. Jones«, erwiderte Belloq. »Verraten Sie mir, was Sie hier eigentlich tun? Ich könnte mir vorstellen, dass Ihre Freundin mit den tizianroten Haaren Sie für ziemlich gerissen hielt, als Sie mir auf der Canebiere von einem Laden zum nächsten und schließlich heute
Abend hierher, zur Forteresse Malevil, gefolgt sind. Warum waren Sie so sehr darauf bedacht, mir auf den Fersen zu bleiben, Dr. Jones?« »Geschäfte«, keuchte Indy. Belloq musste lachen. »Zum Vergnügen jedenfalls ganz sicher nicht«, meinte er. Belloq summte einige Takte der Marseillaise, nahm Indys Revolver und schüttelte die Patronen in seine Hand. Die Hülsen steckte er zusammen mit Indys Brieftasche in die Brusttasche seines weißen Jacketts, dann ließ er die Trommel wieder einrasten. »Dies ist mein Revier, Dr. Jones, und die gesamte Provence ist mein Reich. Einhundert Augenpaare haben Ihren amateurhaften Versuch, mich zu beschatten, mitverfolgt, und einhundert Münder haben mich über alle Ihre Bewegungen auf dem Laufenden gehalten. Was hatten Sie gehofft, mir stehlen zu können?« Belloq sagte zu den Schlägern etwas auf Französisch, die daraufhin von ihm abließen. Indy sackte auf die Knie, konnte sich aber fangen, bevor er vollends auf die Steinplatten stürzte. Belloq hielt ihm den Webley hin. Indy nahm den Revolver behutsam entgegen und steckte ihn zurück ins Halfter. Dann hob Belloq die Rinderpeitsche vom Boden auf und ging daran, sie ebenso zu untersuchen wie zuvor Indys Brieftasche. »Seltsam, dass Sie eine so altmodische Waffe mit sich herumtragen«, meinte Belloq. »Aber irgendwie auch passend, wenn man die Neigung der Amerikaner zu plumpen und brutalen Dingen bedenkt.« »Das ist keine Waffe«, widersprach Indy, »sondern ein Werkzeug. Es hat sich als nützlich erwiesen.« »Das kann ich mir vorstellen, Dr. Jones. So wie ich die Gebrüder Daguerre gelegentlich nützlich finde. Diese Geschäfte, von denen Sie sprachen«, drängte Belloq. »Erzählen Sie mir mehr davon.«
»Das ist eine lange Geschichte.« »Die Zeit ist knapp«, erwiderte Belloq. »Sie sind in einem kritischen Augenblick, zur Springflut bei Vollmond, in mein Versteck gestolpert. Beeilen Sie sich, denn meine Gäste werden in Kürze eintreffen.« Indy zog sich in eine sitzende Haltung hoch. Aus geschwollenen Augen musterte er den Metallkanister, auf dem Belloq saß. Er war mit einem Totenkopfsymbol gekennzeichnet sowie mit einer Aufschrift in deutscher Sprache, die seinen Inhalt als Nervengas auswies, wie man es im Weltkrieg eingesetzt hatte. Ein paar Meter von der Stelle entfernt, wo Belloq saß, endeten die Steinplatten. Die einzelne Glühbirne über dem Schreibtisch vermochte das endlose Dunkel dahinter nur unzureichend auszuleuchten, dennoch konnte Indy das Plätschern von Wellen gegen Stein hören. »Ich bin gekommen, um Ihnen ein Geschäft vorzuschlagen«, erklärte Indy und rieb sich das Kinn. »Aus verlässlicher Quelle weiß ich, dass ein gewisser Gegenstand - ein detailliert gearbeiteter Kristallschädel unbekannten Alters - hier auf dem Schwarzmarkt angeboten wurde. Und der Schwarzmarkt in Antiquitäten, das sind Sie, Belloq. Das weiß jeder.« »So scheint es«, sagte Belloq und entbot einen knappen militärischen Gruß. »Wegen dieses Schädels bin ich hier, Belloq. Das Museum wird Ihren Preis bezahlen, ohne irgendwelche Fragen zu stellen.« »Sie hätten den Schädel, als Sie ihn hatten, nicht mehr aus der Hand geben sollen, mein Freund«, erwiderte Belloq. »Von meiner italienischen Kontaktperson, einer reizenden fascista, weiß ich, dass sich der Schädel vorübergehend in Ihrem Besitz befand - für kurze Zeit.« »Nennen Sie mir Ihren Preis.« »Sie sind wohl kaum in der Lage zu verhandeln, Dr. Jones. Außerdem bezweifle ich, dass Ihr Museum bereit wäre,
den Gegenwert von zwei Millionen Dollar für ihn zu bezahlen.« »Über diese Summen verfügt kein Mensch.« »Manche doch, fürchte ich. Ich habe einen überaus einflussreichen Käufer an der Hand.« »Kein Museum der Welt würde auch nur die Hälfte dieses Preises zahlen.« »Beweisen Sie ein wenig Fantasie, mein Freund«, entgegnete Belloq. »Der Schädel besitzt eine Anziehungskraft, die weit über die eines Museumsstückes hinausreicht.« »Sie bluffen.« »Bluffen wäre für mich alles andere als von Vorteil«, meinte Belloq traurig. »Kein Geld der Welt wäre es wert, die Leute zu hintergehen, mit denen ich es zu tun habe. Bedauerlicherweise ist das der Nachteil des Schwarzmarkts -würde ich ein legales Geschäft betreiben, könnte ich mit einem Aktenkoffer in der Hand so viel stehlen, wie ich wollte, und Geschäftspartner vom Schlage eines Claude oder Jean Daguerre wären völlig überflüssig.« Als sie mitbekamen, dass ihre Namen erwähnt wurden, grinsten die Brüder. »Hören Sie«, sagte Indy. »Vielleicht könnten wir uns irgendetwas überlegen -« »Dafür ist es zu spät.« Belloq sah auf seine Uhr. »Der Schädel steht nicht mehr zum Verkauf. In wenigen Minuten wird die Übergabe abgewickelt sein. Aber verzweifeln Sie nicht, Dr. Jones. Die Zeit vereitelt oft die allerbesten Pläne, und letztendlich sind wir in Wahrheit nichts weiter als die Verwalter all jener Dinge, die wir zu besitzen glauben. Dinge gehen verloren, werden vergraben oder vergessen und fallen einem anderen in die Hände.« »Was wollen Sie damit sagen?« »Nehmen Sie zum Beispiel diese Höhle und die darüber liegende Festung. Im Mittelalter befand sich beides im Besitz meiner Familie. Hier war mein angestammtes Zuhause. Es wurde uns jedoch genommen, als wir die falsche Partei bei ihrer
Anwartschaft auf den Thron unterstützten - wir sind Templer, müssen Sie wissen, und es gibt Menschen, die behaupten, dass die Seele von Jesus Christus in uns weiterlebt. Leider nahmen andere heftigen Anstoß an dieser Sicht der Dinge. Forteresse Malevil wurde von einer Reihe unwürdiger Besatzer okkupiert, verfiel während der Revolution und bildet heute wieder den Mittelpunkt eines Familienbetriebes, auch wenn dieser Betrieb in mehr als einem Sinne unterirdisch operiert. Möglicherweise wird Ihnen oder Ihren Nachfahren - der Schädel auf die gleiche Weise noch einmal in die Hände fallen.« »So lange kann ich nicht warten.« »Warum sind Sie so versessen darauf?«, fragte Belloq. »Ihr Interesse an diesem ausgesprochen fein gearbeiteten Quarzbrocken ist mehr als rein beruflicher Natur, hab ich Recht? Bestimmt sind Sie nicht so abergläubisch, an den dunklen Fluch zu glauben, der auf dem Schädel liegt... oder haben Sie sich etwa von den geheimnisvollen Verheißungen des Schädels verführen lassen?« Belloq sah abermals auf seine Uhr. »Aha, die Flut.« »Nennen Sie Ihren Preis«, wiederholte Indy. »Was immer Sie verlangen.« »Ich bin durchaus habgierig«, antwortete Belloq. »Unter anderen Umständen würde ich Sie - wie sagt man - mehr als reich entlohnen. Aber jetzt von einem bereits abgeschlossenen Geschäft zurückzutreten, käme einem Selbstmord gleich, und für diese Art von Dummheit bin ich einfach viel zu sehr auf mich selbst bedacht.« »Wer«, fragte Indy, »könnte so böse sein, dass er Ihnen Angst macht?« Jenseits der Steinplatten begann das Wasser zu steigen. Unmittelbar unter der Wasseroberfläche schwebte wellenförmig der erleuchtete Bug eines deutschen U-Boots heran, gefolgt vom ungeschützten Rohr eines 45-Millimeter Bordgeschützes. Im Schein der Positionslampen konnte
Indy die verräterische Ausbuchtung eines parallel zur Schnauze verlaufenden Torpedorohres erkennen. »Seit Hitler Anfang des Jahres Kanzler wurde«, sagte Belloq, »haben die Nazis nichts unversucht gelassen, geheimnisumwitterte Schätze von angeblich übernatürlichen Kräften ausfindig zu machen. Der Kristallschädel steht auf ihrer Liste sehr weit oben.« Das eindringliche Surren von Elektromotoren und die verdauungsähnlichen Geräusche der Ballasttanks, die getrimmt wurden, füllten die Höhle, als das Unterseeboot sich bemühte, in halb abgetauchter Position seinen neutralen Auftrieb in der engen Höhle aufrechtzuerhalten. Der vor Periskop und Radioantennen strotzende Kommandoturm bewegte sich knapp zwei Meter oberhalb der Wasseroberfläche, und auf seinem Vorbau waren die undeutlichen Umrisse einer doppelt gesperrten Buchstabenzahlenkombination zu erkennen: U-357. Wenn man nicht seitlich neben dem Boot stand, war es unmöglich zu identifizieren. Aus der Luke des Kommandoturms kamen zwei Matrosen zum Vorschein und kletterten hinunter auf die sattelähnlichen, von Meerwasser umspülten Ballasttanks, auf deren Oberseite Schmeisser-Maschinengewehre befestigt waren. Nachdem sie die Leinen an den jahrhundertealten, in die Steinplatten eingelassenen Ringen festgemacht hatten, nahmen die Soldaten rechts und links von Belloq Aufstellung. Die Daguerre-Zwillinge zogen ihre Waffen. »Steckt die Dinger weg, ihr Idioten«, fuhr Belloq sie auf Französisch an. Der Kapitän des U-357, ein müde aussehender ehemaliger Berufsoffizier mit Namen Wagner, hatte von der Aussichtsplattform des Kommandoturms zugesehen, wie das Boot vertäut wurde. Mittlerweile zufrieden, rief er etwas in die offen stehende Luke. Franz Kroeger zwängte seine Schultern durch die Luke
und erschien an Deck. Kroeger war all das, was Wagner nicht war: Er war jung, hoch gewachsen, blond und trug eine frisch gebügelte schwarze Uniform, die seine perfekten Körperproportionen noch unterstrich. Die Uniform wies, von dem runenartigen Doppelblitz am Kragen abgesehen, keinerlei Abzeichen auf. Kroeger war Obersturmbannführer der neu gebildeten Leibstandarte SS, der persönlichen Leibwache Hitlers, und wollte für den Fall, dass etwas aus dem Ruder lief, vermeiden, dass irgendwelche Hinweise unmittelbar auf den ehemaligen Anstreicher verwiesen, der erst wenige Monate zuvor deutscher Reichskanzler geworden war. Kroegers Stiefel klangen hart auf den eisernen Sprossen, als er vom Turm herabstieg. Das Deck über dem Steuerbord-Satteltank lag oberschenkeltief unter Wasser, dennoch gelang es Kroeger, beim Hindurchwaten Haltung zu bewahren. Auf den Steinplatten angelangt, blieb Kroeger stehen und zog ein Zigarettenetui aus seiner Brusttasche. Er zündete sich mit einem amerikanischen Feuerzeug eine Players an, deren Rauch seinen jungen, blonden Kopf gleich einem bösartigen Glorienschein umkränzte. »Monsieur Belloq.« In seinem schweren deutschen Akzent klang der Name wie >Bellosh<. »Ich bitte um Entschuldigung, aber ich spreche besser Englisch als Französisch, außerdem bin ich überzeugt, dass Ihr Deutsch mir schmerzlich in den Ohren klingen würde. Sie können mich Franz nennen, ich stehe ganz zu Ihren Diensten.« Er schlug die Hacken zackig gegeneinander und reckte den Arm zum Nazigruß. Belloq erwiderte ihn mit einem halbherzigen Winken. »Haben Sie den fraglichen Gegenstand?« »Er befindet sich hier drin«, antwortete Belloq, den Kanister unter sich tätschelnd. »Ihren Anweisungen entsprechend wurde er noch nicht versiegelt. Haben Sie das Geld?« »Immer schön der Reihe nach«, erwiderte Kroeger. »Zuerst muss ich die Ware prüfen.«
Belloq entfernte den Deckel von dem Kanister und entnahm ihm einen Gegenstand, der in Indys Augen einer ledernen Bowlingkugeltasche ähnelte. Er wollte Kroeger die Tasche bereits reichen, zog sie dann aber noch einmal zurück. »Obersturmbannführer«, sagte Belloq, »Handschuhe, bitte.« Kroeger ließ ein angewidertes Schnauben vernehmen, zog aber dennoch ein Paar Lederhandschuhe aus seiner Uniformtasche und streifte sie über. Dann nahm er den Behälter von Belloq entgegen und holte mit der behandschuhten Rechten den Kristallschädel heraus. »Ich hatte nicht erwartet, dass er so schön sein würde«, meinte Kroeger. »Er ist prachtvoll. Sehen Sie nur, wie sich das Licht darin bricht!« Kroeger hielt den Schädel in die Höhe. Indy - und die anderen - hielten den Atem an. Selbst im schwachen Schein der elektrischen Glühbirnen entsprang plötzlich tief im Innern des Schädels ein scheußlicher Regenbogen aus gebrochenen Farben, der über ihren Köpfen schimmerte. Der bläuliche Schein der Korona, hervorgerufen durch elektrische Aufladung, tanzte Kroegers Arm hinunter bis zur Schulter. Als Kroeger den Schädel in seiner ausgestreckten - und behandschuhten Hand - drehte, schienen seine leeren Augenhöhlen alle zu durchbohren, die seinen Blick erwiderten. »Welche Macht verbirgt sich angeblich in diesem Ding?«, fragte Kroeger. »Was macht ihn so besonders, dass Menschen bereit sind, ihr Leben und ihren Ruf aufs Spiel zu setzen, um ihn zu besitzen?« »Genau diese Frage hab ich mir auch schon gestellt«, antwortete Belloq. Indy bekam feuchte Hände. Er musste an das erste und einzige Mal denken, als er den Schädel mit bloßen Händen angefasst hatte und er im Rhythmus seines Herzschlags zu
pulsieren schien. Indy stand so dicht bei Kroeger, dass er hätte die Hand ausstrecken und ihm den Schädel entreißen können ... »Der Kanzler wird überaus erfreut sein«, meinte Kroeger und ließ den Schädel in seinen Lederbehälter zurückfallen. »Selbst wenn seine Macht auf bloßem Aberglauben beruht, handelt es sich um ein unvergleichliches Kunstwerk, das inspirierend auf uns alle wirken wird, die wir bis in den Tod und darüber hinaus Treue geschworen haben.« Die Höhle wirkte urplötzlich unendlich viel düsterer. Nachdem er den Behälter Belloq wiedergegeben hatte, der ihn behutsam in den Kanister zurückstellte, zog der Obersturmbannführer seine Handschuhe aus und schnippte mit den Fingern. Zwei Matrosen schleppten eine Kiste vom Deck des U-357 heran. Sie setzten die Kiste vor Belloqs Füßen ab. »Wollen Sie nicht nachschauen?«, fragte Kroeger. »Ich vertraue Ihnen«, antwortete Belloq. »Ich habe ohnehin keine andere Wahl. Was könnte ich schon tun, wenn sie Blei- statt Goldbarren enthielte? Sie könnten diese Höhle mitsamt der darüber gelegenen Festung Malevil in Stücke sprengen.« »Könnten wir«, sagte Kroeger. »Aber das werden wir nicht tun.« »Merci«, bedankte Belloq sich freudlos. »Allerdings bestehen wir darauf, dass Sie sich von nun an Ihrer dubiosen Machenschaften enthalten«, fuhr Kroeger fort. »Sie haben Ihr Glück gemacht. Geben Sie sich damit zufrieden, und widerstehen Sie der Versuchung, Aufträge von unseren Konkurrenten anzunehmen.« »Aber mon ami«, protestierte Belloq. »Das war nicht Teil der Abmachung. Ich bin Archäologe. Das ist keine Frage des Geldes, sondern der Leidenschaft.« »Ah, die Leidenschaft«, meinte Kroeger versonnen. »Die Schwäche der nichtarischen Rassen. Meines Wissens sind die Franzosen ganz besonders anfällig für sinnlose Gefühls-
duselei. Wie schwierig muss es sein, mit einem solchen Handikap zu leben.« »Sie machen wohl Scherze«, platzte Indy heraus. »Wer seid ihr Typen eigentlich?« Kroeger betrachtete Indy, als hätte er eben erst von ihm Notiz genommen. Er trat vor und musterte ihn aus stechenden blauen Augen, die er gegen den Rauch, der von der in seinem Mundwinkel hängenden Zigarette aufstieg, leicht zugekniffen hatte. Kroeger fasste Indy unter dem Kinn, drehte sein Gesicht ins Licht und nahm das jüngste Werk der Daguerre-Zwillinge in Augenschein. Sein Daumen verweilte über der Narbe an Indys Kinn, die eine Rinderpeitsche dort vor vielen Jahren hinterlassen hatte. »Wer ist diese jämmerliche Figur?« »Er heißt Jones.« Indy packte Kroegers Handgelenk. Die Matrosen rechts und links neben Belloq schwenkten ihre Maschinengewehre herum. Im selben Augenblick zogen auch die Daguerre-Zwillinge ihre Waffen, und Belloq in der Mitte fuhr erschrocken zusammen. Belloq fing an zu lachen, wenn auch wenig überzeugend. »Er ist ein Niemand«, meinte der Franzose in gespielter Unbekümmertheit. »Ein Narr ... Ein amerikanischer Tourist, der sich ganz durch Zufall in diese Höhle verirrt hat. Wie Sie selber sehen, haben sich meine Leute seiner bereits angenommen.« »Zu dumm, dass sie sich nicht mehr um seine Zunge gekümmert haben«, erwiderte Kroeger und machte seinen Männern ein Zeichen, die Waffen zu senken. »Jones ... ein Allerweltsname, was?« »Ich komme viel rum«, gab Indy zurück. Kroeger hob die Lasche von Indys Halfter an und zog den Webley heraus. »Reisen amerikanische Touristen immer bewaffnet ins Ausland, Herr Jones?«»Doktor Jones«, korrigierte Indy. »Ich bin
Universitätsprofessor. In Princeton. Im Übrigen ist die Waffe nicht geladen - in fremden Städten wird mir schnell unbehaglich, daher trage ich sie bei mir, für den Fall, dass ich jemandem Angst einjagen muss.« »Tatsächlich?«, fragte Kroeger. Er presste den Webley gegen Indys Schläfe und drückte ab. Der Hahn traf mit einem scharfen, metallischen Klicken auf. »Ah, wie ich sehe, sprechen Sie die Wahrheit.« Kroeger lachte. »Es ist nicht nötig, dass Sie Ihre Zeit mit diesem Kerl vergeuden«, meinte Belloq hastig. »Er ist wirklich vollkommen harmlos.« »Vollkommen«, pflichtete Indy ihm bei. »Sagen Sie, ich dachte immer, diese alten U-Boote wären dem Versailler Vertrag gemäß vernichtet worden, doch wie es scheint, hat man dieses hier vergessen.« Er nahm den Revolver behutsam von Kroeger entgegen und schob ihn zurück ins Halfter. »Aber vermutlich wart ihr zu sehr damit beschäftigt, Juden zu verfolgen, Zeitungen zu verbieten und Gerichtsverhandlungen zugunsten von Standgerichten abzuschaffen. Nicht wahr, Major?« »Obersturmbannführer«, verbesserte Kroeger, und biss sich dann auf die Lippe. »Gar nicht dumm. Ich bin beeindruckt. Aber verraten Sie mir eins, warum spielen Sie mit Ihrem Leben?« »Das ist allemal besser, als samstagabends Bücher zu verbrennen.« »Ihr Amerikaner macht mir Spaß«, sagte Kroeger. »Für euch ist alles nur ein Witz, und was ihr nicht begreift, zieht ihr in den Schmutz. Nein, warten Sie, ich will Ihnen auch einen erzählen. Er handelt von einem Amerikaner, der sich zur falschen Zeit am falschen Ort befindet, und dessen übertrieben sentimentaler französischer Freund außer Stande ist, ihn zu retten. Köstlich. Oh, tut mir Leid. Wie es scheint, kennen Sie ihn bereits.« »Belloq hat keine Freunde«, sagte Indy.
»Stimmt das, Rene?«, fragte Kroeger. »Sie pflegen keinerlei Umgang mit diesem Mann, es besteht keine Verbindung? « »Keine.« Belloq zuckte die Achseln. »Dann wird es Ihnen sicher nichts ausmachen, ihn zu töten«, meinte Kroeger. Er nahm einem seiner Matrosen die Maschinenpistole ab und drückte sie Belloq in die Hand. »Die Waffe dürfen Sie behalten als Andenken an Ihre Dienste für das Dritte Reich. Und seien Sie nicht überrascht, wenn man Sie von Zeit zu Zeit an Ihre Pflichten gegenüber dem Vaterland erinnert.« Kroeger schnippte mit den Fingern, und die Matrosen hoben den gelben Metallkanister an und trugen ihn vorsichtig an Bord des U357. Der Obersturmbannführer folgte ihnen, trat von den Steinplatten auf das vom Wasser überspülte Deck des U-Bootes und hielt dann inne. »Tut mir Leid, dass wir keine Gelegenheit hatten, uns näher kennen zu lernen, aber leider ist meine Zeit begrenzt, da die Ebbe bald einsetzen wird und ich nicht die geringste Lust verspüre, dieses U-Boot auf französischem Boden auf Grund zu setzen. Auf Wiedersehen, Doktor Jones.« Kurz darauf war Kroeger im Inneren des Kommandoturms verschwunden und hatte die Luke hinter sich geschlossen. Das Unterseeboot hatte bereits Fahrt aufgenommen. Der Turm glitt tiefer ins Wasser, als das Boot im Rückwärtsgang auf den unterirdischen, ins offene Meer führenden Höhlenausgang zuhielt. »Gut möglich, dass ich diese Typen eines Tages hassen werde«, meinte Indy gedankenversunken. Belloq warf Claude, dem am nächsten stehenden DaguerreZwilling, die Maschinenpistole zu. »Sie werden mich doch wohl nicht umbringen wollen«, meinte Indy und zeigte Belloq seine leeren Hände. »Die Nazis sind weg. Außer uns ist niemand hier. Ich dachte, wir wären Freunde. Was war mit dem Gerede, wir könnten eines Tages zusammenarbeiten?«
»Völlig ausgeschlossen«, meinte Belloq. »Wenn ich Sie nicht umbringe, werden die mich umbringen. In Anbetracht der Umstände, Dr. Jones, ist das ein kleiner Preis für meinen Seelenfrieden.« Claude Daguerre stieß die Mündung der Maschinenpistole in Indys Richtung und drückte auf den Abzug, doch nichts passierte. Jean machte einen Schritt nach vorn und versuchte, seinem Bruder die Waffe aus der Hand zu reißen. Belloq beschimpfte sie auf Französisch, sie sollten den Sicherungshebel suchen, doch Indy kroch bereits auf das Wasser zu. Er war gerade dabei, sich seinen Hut und seine Rinderpeitsche zu schnappen, die vor Belloqs Füßen lagen, als er das Klicken des Sicherungshebels vernahm. In der Höhle brach ein Rattern von Maschinengewehrfeuer und ein Pfeifen von Querschlägern los, als die Maschinenpistole, Gegenstand eines Hin- und Hergezerres zwischen den DaguerreZwillingen, zum Leben erwachte. Belloq schrie die Zwillinge auf Französisch an, genauer zu zielen, schließlich wüsste jeder Chicago-Gangster, der etwas auf sich hielt, wie man mit einer vollautomatischen Waffe umging, wieso dann nicht sie? Indy stülpte sich den Hut fest auf den Kopf, holte tief Luft und sprang ins schwarze Wasser. Kugeln zischten an ihm vorüber, deren Blasenspuren ihre Flugbahn markierten wie UnterwasserLeuchtspurgeschosse. Er spürte, wie sich eines der Geschosse stechend in seinen Oberschenkel bohrte, widerstand aber dem Drang, die Wunde zu berühren, und schwamm stattdessen mit aller Kraft dem sich langsam entfernenden Unterseeboot hinterher. Im schwachen Schein der Positionslampen konnte er die Umrisse des Bordgeschützes erkennen, und als er es erreicht hatte, wickelte er seine Peitsche fest um dessen Mündung. Er hörte das rhythmische Surren der Schrauben, als das Unterseeboot den Durchgang passierte, und das unangenehm harte Knirschen von Metall auf Stein ließ sein Herz ein wenig schneller schlagen. Als das U-Boot tiefer ging,
nahm der Druck auf seinen Ohren ein schmerzhaftes Ausmaß an. Indy riskierte es, eine Hand von der Mündung des Bordgeschützes zu lösen und presste, indem er sich die Nase zuhielt und sich vorsichtig schnauzte, Luft in die winzigen Eustachischen Röhren hinten in seinem Hals. Er vernahm ein Knacken in den Ohren, als der Druckausgleich stattfand und die Schmerzen schlagartig nachließen. Seine Brust jedoch brannte wie Feuer. Das in seiner Lunge entstehende Kohlendioxid drängte darauf, herausgelassen zu werden. Aus Erfahrung wüsste er, dass sich dieses Gefühl bei ihm nach eineinhalb Minuten unter Wasser einstellte. Er öffnete den Mund und ließ einen kleinen Teil der verbrauchten Atemluft entweichen, wodurch das Brennen etwas nachließ und er ein wenig Zeit gewann. Professionelle Taucher konnten die Luft vier Minuten oder länger anhalten, Indy dagegen wüsste, dass seine Obergrenze ein gutes Stück darunter lag. Im günstigsten Fall blieben ihm noch neunzig Sekunden. Wenn das U-Boot bis dahin den Durchgang nicht hinter sich gelassen und den Hafen erreicht hatte, würde er sterben, darüber war er sich im Klaren. Er schloss die Augen und zwang seine Gedanken, sich mit etwas anderem zu beschäftigen, sich von seinen gemarterten Lungen und dem Pochen in seinem Kopf zu lösen und sich mit grünen Feldern und sonnenbeschienenen Weiden zu befassen. Plötzlich erschienen die blassblauen Augen von Alecia Dunstin vor seinem inneren Auge, und er betrachtete ihr welliges Haar, ihr sanft geschwungenes Kinn und ihre vollen Lippen. Er musste an ihre erste Begegnung im British Museum in London denken, als er, den Hut in der Hand, vor ihrem Schreibtisch gestanden hatte, während ihre bemerkenswert blauen Augen bis auf den tiefsten Grund seiner Seele zu blicken schienen. Wenn er ertrank, überlegte er, würde er nur eins bedauern. Schließlich beschleunigte das Schlagen der Antriebsschrauben, und der Sog des Wassers an seinem Körper
nahm zu. Das Unterseeboot hatte die Durchfahrt verlassen. Indy ließ das Geschütz los. Er spürte, wie das Deck des U-Boots schräg unter seinen Füßen wegglitt, als es träge wendete und den Bug seewärts richtete. Indy streifte sich die Schuhe von den Füßen und strebte an die Luft. Das U-Boot hatte sich lediglich auf einer Tiefe von zehn Metern befunden, und er hatte die Oberfläche im Nu erreicht. Gierig sog er ein paar Lungen frischer Nachtluft ein, orientierte sich und schwamm, die ganze Zeit über Rene Belloq verwünschend, an Land. Alecia Dunstin hatte Indy innerlich für jene eine Stunde verflucht, die sie draußen vor dem Eingang der Ruinen der Forteresse Malevil hatte warten müssen, verflucht deswegen, weil er ihr nicht erlaubt hatte, ihn in die Tiefe der Höhle zu begleiten. Als sie es leid war, ihn zu verwünschen, begab sie sich zu einem Cafe unmittelbar am Hafen, trank einen Kaffee, betrachtete den Vollmond am Himmel und wartete noch ein wenig länger. Schließlich begann sie, sich Sorgen zu machen. Sie war eher überrascht als erleichtert, als sie Indy zum Ufer schwimmen sah. Sie verließ ihren Tisch und suchte sich vorsichtig einen Weg am Ufer entlang bis zum Festungssockel. Sie watete hinaus, nahm ihn im hüfttiefen Wasser in Empfang, schlang sich seinen linken Arm um die Schultern und half ihm auf das felsige Ufer. Indy hustete und spuckte und ließ sich auf dem nächstbesten Felsen nieder. Er ließ seinen Kopf zwischen die Knie sinken, bis das Gehuste nachließ. Anschließend wischte er sich mit dem Handrücken über den Mund und sah zu ihr hoch. »Er ist uns durch die Lappen gegangen«, meinte er niedergeschlagen. Alecia setzte sich neben ihn und legte ihm eine Hand aufs Bein. Als er daraufhin schmerzlich das Gesicht verzog, nahm sie die Hand wieder fort und musste zu ihrem Entsetzen feststellen, das sie voller Blut war.
»Du bist verletzt«, stellte sie fest. »Angeschossen«, präzisierte er. »Mein Gott«, sagte Alecia. »Wir bringen dich sofort zu einem Arzt.« »Nein.« Indy befühlte die Wunde zaghaft mit den Fingerspitzen. »Das Wasser hat den größten Teil der Wucht abgefangen. Ich kann die Kugel unmittelbar unter der Haut ertasten. Ich denke, ich kann sie mit einem Messer herausschälen.« »Ich finde trotzdem, wir sollten dich zu einem Arzt bringen«, erwiderte sie. »Oder wenigstens zu einem Apotheker. Das könnte sich leicht entzünden, weißt du.« »Ich werde es überstehen«, sagte er. »Wie bist du hier draußen in die Bucht gelangt?«, wollte Alecia wissen. »Ich habe mich von einem deutschen U-Boot mitnehmen lassen. Belloq hat den Schädel an die Nazis verhökert. Da, du kannst die Blasenspur noch immer im Mondlicht erkennen. Es fährt dicht unter der Oberfläche, und wenn du genau hinschaust, kannst du das aus dem Wasser ragende Periskop und die Funkantennen sehen.« »Es scheint angehalten zu haben«, meinte Alecia. »Hm.« Indy nahm sein Taschenmesser heraus und schnitt sein Hosenbein auf, um seine Verletzung besser untersuchen zu können. »Ich wünschte, sie würden absaufen. Weißt du, dass Belloq versucht hat, mich umzubringen?« »Natürlich«, erwiderte Alecia. »Ich habe nachgedacht, Indy. Vielleicht ist das ganze Gerede über den Fluch wirklich Unsinn. Tun wir einfach so, als hätte es ihn nie gegeben und hören wir auf damit, ihm nachzujagen. Lass den Schädel sausen.« »Das haben wir schon einmal versucht«, sagte er. »Fang bloß nicht wieder davon an«, erwiderte sie streng. »Das Messer da ist nicht steril.« Sie legte ihm die Hand unters Kinn und drehte sein Gesicht, sodass er gezwungen war, sie anzusehen.
»Eines Tages wirst du in eine Klemme geraten, aus der du dich nicht wieder befreien kannst, sei es eine zu tief sitzende Kugel, eine zu deftige Prügelei oder irgendeines von hundert anderen schlimmen Dingen.« »Ich war ganz nah dran, Alecia«, erwiderte er. »So nah diesmal, dass ich nur die Hand hätte auszustrecken brauchen. Aber dieses U-Boot kann ihn nicht den ganzen Weg bis nach Berlin transportieren, und irgendwo unterwegs wird sich eine weitere Gelegenheit ergeben - und eine weitere Chance für ein gemeinsames Leben.« »Diese Geschichte treibt uns noch beide in den Wahnsinn«, meinte Alecia. »Zu allem Überfluss sind wir daran auch noch selber schuld. Gehen wir das Ganze also praktisch an. Der Hypothese zufolge unterliegt man dem Fluch, das zu töten, was man liebt, wir sollten sie also einem allerletzten Test unterziehen. Zeige mir, was du empfindest.« »Das kann ich nicht«, erwiderte Indy. »Versuch es«, forderte sie ihn auf. »Wir sind allein.« »Denk daran, was all die anderen Male passiert ist«, wandte Indy ein. »Reiner Zufall«, sagte Alecia. Sie beugte sich vor und streifte seinen Mund mit ihren Lippen. »Was ist los mit dir?«, fragte sie. »Hältst du nichts mehr von wissenschaftlichen Methoden?« »Gott steh uns bei«, erwiderte er. Er nahm sie in die Arme und küsste sie. Der KUSS enthielt die ganze Macht einer über lange Sommermonate versagten Leidenschaft, die nicht hatte enden wollen, eine verbotene Sehnsucht, die drohte, beide um den Verstand zu bringen. »Und jetzt sag es«, forderte Alecia ihn auf, als sie sich außer Atem von ihm löste. »Du weißt doch, was ich fühle.« »Sag es, verdammter Mistkerl.«
Indy holte tief Luft. »Alecia Dunstin«, setzte er an, »Ich, äh -« »Oha«, meinte Alecia. Ihr Blick fiel über seine Schulter Richtung Hafen. Indy drehte sich um. Von sehr weit draußen, wenn auch schnell näher kommend, schien ein leuchtendes Tentakelpaar im Mondschein nach ihnen zu greifen. »Torpedos«, stellte er fest. Die heftig gegeneinander drehenden Schrauben wühlten fluoreszierendes Plankton auf, als sie durch das Hafenbecken auf den Sockel der alten Festung zuschössen. »So viel zu den wissenschaftlichen Methoden«, sagte Indy und zog Alecia auf die Beine. Auf allen vieren kletterten sie den felsigen Uferhang hinauf, und als Indy sah, dass die Torpedos ihr Ziel fast erreicht hatten, ging er hinter dem größten Felsen, den er finden konnte, in Deckung und zog Alecia mit hinunter. Als die erwartete Explosion ausblieb, riskierte Indy einen Blick über den Rand des Felsens und sah, dass die Blasenspur der Torpedos unterhalb der alten Festung verschwunden war. »Es können unmöglich beides Blindgänger gewesen sein«, meinte er. Wie als Antwort darauf erschütterte der dumpfe Knall einer Doppelexplosion die Festung. Indy spürte die Wucht der Sprengung bis in seine Eingeweide und hielt Alecia fest umklammert, bis das dumpfe Grollen verebbte. Als der Schauer aus Meerwasser und kleinen Steinen nachließ, richtete sich Alecia mit einem verdutzten Ausdruck im Gesicht auf. »Sie konnten es unmöglich auf uns abgesehen haben«, sagte sie. »Oder etwa doch?« »Nein«, meinte er. »Das war nur ein Denkzettel für Belloq. Aber wenn wir dort unten geblieben wären und unser Experiment fortgesetzt hätten, hätte uns die Druckwelle beide umgebracht.« Die Explosion hatte ein Schar von Touristen aus den Cafes
und Geschäften rings um den Alten Hafen bis hin zu den die Forteresse Malevil umschließenden Befestigungsmauern angelockt. Weit vorgebeugt und aufgeregt schnatternd deuteten sie auf Indy und Alecia, und eine der Frauen blätterte hektisch in ihrem Sprachführer. »Sprich nicht mit ihm«, meinte ihr Ehemann in breitem Chicagoer Akzent. »Der Kerl sieht aus wie ein Landstreicher.« »Ich werde ihn fragen, ob er verletzt ist«, beharrte die Frau. »Uhh aweh wuh mall« »Es geht uns ausgezeichnet«, rief Indy zurück. »Was ist passiert?« »Der Treibstofftank unseres Fischerbootes ist explodiert«, rief Indy. »Vermutlich hätte ich in seiner Nähe nicht rauchen sollen. Aber wir sind nicht verletzt, wenigstens nicht ernsthaft. Danke der Nachfrage.« »Siehst du?«, meinte die Frau. »Für einen Landstreicher spricht er ganz gut amerikanisch.« »Das tun die alle«, erwiderte der Mann. »Was lediglich beweist, dass sie einen verstehen, selbst wenn sie wie angewurzelt dastehen und einen anstarren, als käme man vom gottverdammten Mond. Komm jetzt, Edith. Ich sehe sofort, wenn ich einen betrunkenen Penner vor mir habe. Wahrscheinlich hat das Boot nicht einmal ihnen gehört. Gib ihnen ein bisschen Kleingeld, dann lass uns gehen.« Die Frau öffnete ihr Portemonnaie und warf eine Hand voll Münzen über die Festungsmauer. Die Münzen landeten klirrend zwischen Indy und Alecia auf den Felsen. Anschließend entfernten sich die Touristen ohne sich noch einmal umzusehen, und die Menge zerstreute sich. »Wieso werfen die Menschen in solchen Augenblicken eigentlich immer mit Münzen nach mir?« überlegte Indy. »Tja«, meinte Alecia, bürstete sich den Staub von den Kleidern und versuchte, ihre Fassung wiederzufinden. Sie hob eine Fünfzig-Cent-Münze von der Erde auf und betrachtete sie.
Auf ihrer Wange glitzerte eine einzelne Träne im Mondlicht. »Sieh es doch einmal so«, sagte er, die Träne mit einem Daumen abwischend. »Wir sind jetzt ein kleines Bisschen reicher. Wir wissen, dass die wissenschaftliche Methode funktioniert. Und wenn wir getötet worden wären, dann wären wir wenigstens glücklich gestorben.« »Aber Indiana«, meinte sie leise, »genau da liegt das Problem. Ich will gar nicht sterben. Tut mir Leid, aber ich kann so nicht mehr weiterleben.«
KAPITEL EINS Drachenknochen
Princeton, New Jersey Halloween, 1933 Indiana Jones, allein in seinem winzigen Büro im vierten Stock der Abteilung für Kunst und Archäologie, schraubte die Scotchflasche auf und warf einen verächtlichen Blick auf den Stapel aus Studentenaufsätzen und unbeantworteter Post auf seinem Schreibtisch. Draußen tollten ausgelassene Dämonen und Kobolde auf der Suche nach neuen Opfern über das Universitätsgelände. Indiana Jones' Tür jedoch war verschlossen. Sogar sein Telefon hatte er abgestellt. Er hatte die Nase voll von sämtlichen Spielarten des Aberglaubens und wollte nicht daran erinnert werden, dass sein Glaube an die Wissenschaft mit seinen eigenen, bitteren Erfahrungen noch immer unvereinbar war. Seit einer Woche schon war ihm nicht mehr nach Arbeiten zumute, und je mehr der Papierstapel anwuchs, desto geringer wurde seine Neigung, auch nur damit anzufangen. Sich jeden Tag in den Unterricht zu schleppen war zu einer unerträglich lästigen Pflicht geworden, und er hatte viele seiner Vorlesungen eingeschränkt und durch umfangreiches Bücherstudium sowie Gastlektoren ersetzt. Seine Studenten hätten Grund gehabt, besorgt zu sein, wäre der meistens für ihn einspringende Ersatzmann nicht Marcus Brody vom American Museum of Natural History gewesen.
Zur Zeit kreiste Indys Tagesablauf um den täglichen Posteingang. Nur wenn die Abteilungssekretärin Penelope Angstrom ihm wie jeden Morgen ein frisches Briefebündel überreichte, sah er für einen Augenblick einen Hoffnungsschimmer am Horizont. Gewöhnlich ging er die Briefe, ohne sie zu öffnen, langsam durch, während er Miss Angstrom bat, beim Verlassen des Büros die Tür zu schließen. Wenn er damit fertig war, ging er sie noch einmal durch. Wie üblich war kein einziger von ihnen in London abgestempelt. Die Flasche Scotch war seine neueste Beigabe. Er hatte sie an diesem Abend mit ins Büro genommen und sich unter dem Vorwand, seiner nachlassenden Arbeitsmoral ein wenig auf die Sprünge helfen zu wollen, eingeschlossen. Als er sich vorstellte, wie sein Vater, Professor Henry Jones, auf diesen unverzeihlichen Vertrauensbruch zwischen Lehrer und Studenten reagieren würde, gestattete er sich ein schiefes Grinsen. Er schenkte sich etwas Scotch ein, schwenkte die rauchige Flüssigkeit im Glas, und erhob es zu einem spöttischen Toast. »Auf dich, Alecia«, sagte Indy. »Oder wenigstens auf dein Andenken.« Als er die Augen schloss und das Glas an die Lippen setzte, klopfte es so leise, dass Indy nicht sicher war, ob sich tatsächlich jemand an der Tür befand. Er hielt, das Glas dicht unter seinem Kinn, inne und rief, als das Klopfen sich wiederholte, die Abteilung sei geschlossen. »Bitte verzeihen Sie«, war eine Frauenstimme zu vernehmen. »Aber ich suche einen gewissen Doktor Jones.« Indy atmete erleichtert auf. In Princeton war Koedukation unbekannt, es konnte also keine Studentin sein, die ihn aufsuchte, um zu erfahren, was aus dieser oder jener Hausarbeit geworden war. »Einen Augenblick«, rief er, strich sich übers Haar und rückte seine Krawatte zurecht. Er war fast schon an der Tür,
als ihm der Scotch einfiel. Mit einem Satz war er wieder an seinem Schreibtisch, schraubte die Flasche zu und suchte hektisch nach einem Versteck. In keiner einzigen Schreibtischschublade und in keinem Aktenschrank war noch genügend Platz, also stellte er die Flasche neben seinem Stuhl auf den Fußboden und schnappte sich das Glas. Er wollte es gerade in die Topfpflanze neben der Tür leeren, zögerte dann aber doch, aus Angst, die Pflanze könnte es nicht überleben. Verzweifelt kippte er den Inhalt hinunter und knallte das Glas zurück auf die Schreibtischplatte. »Ich bin Jones«, stammelte Indy, als er die Tür aufriss. Dann musste er husten und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Vor ihm stand eine Frau von Mitte bis Ende Zwanzig in der Ordenstracht einer Nonne. Sie stand unbeweglich, die Hände über einer Papiertüte vor ihrem Körper gefaltet. Am vierten Finger ihrer linken Hand blinkte ein goldener Reif. Zuerst hielt Indy die Nonnentracht für ein Halloweenkostüm, für eine Posse, die sich einer seiner Kollegen ausgedacht hatte, um ihn ein wenig aufzumuntern. »Tut mir Leid, ich habe nichts für Ihre Tüte.« »Wie bitte?« Als Indy den abgenutzten Rosenkranz erblickte, der an ihrer Seite hing, wusste er, dass ihm ein peinlicher Fehler unterlaufen war. »Entschuldigen Sie«, sagte er. »Was kann ich für Sie tun, Schwester?« »Ich möchte mich für die Störung entschuldigen«, antwortete sie. »Ich war bei Ihnen zu Hause, aber dort war alles dunkel, daher dachte ich, vielleicht machen Sie noch Überstunden. Hoffentlich bin ich nicht aufdringlich.« »Ganz und gar nicht«, erwiderte Indy und kam sich wieder vor wie in der Schule. »Das heißt, solange Sie mich nicht zwingen, meine Lateinlektion aufzusagen. Bitte kommen Sie herein.« Indy entfernte einen Stapel Bücher von einem Holzstuhl
und bot ihr an, sich zu setzen. Auf dem Weg zurück zu seinem Platz hinter dem Schreibtisch stieß er mit dem Fuß versehentlich gegen die Scotchflasche, die daraufhin unter dem Schreibtisch hindurch bis in die Zimmermitte rollte. »Mein Name ist Schwester Joan«, sagte sie, während die Flasche vor ihren Füßen zur Ruhe kam. Sie hob sie auf und studierte das Etikett. »Sie feiern noch immer das Ende der Prohibition? Ich für meinen Teil konnte dem Geschmack von diesem Zeug nie etwas abgewinnen - mir kam es immer so vor, als versuchte man, flüssigen Rauch hinunterzuschlucken.« »Es ist nicht so, wie Sie denken«, sagte Indy mit einem schiefen Grinsen. »Selbstverständlich nicht«, erwiderte sie, während sie versuchte, auf dem Schreibtisch eine freie Stelle für die Flasche zu finden. »Sogar der Herr hat sich ab und an ein Schlückchen Wein gegönnt.« Indy nahm ihr die Flasche ab und stellte sie hinter sich aufs Fensterbrett. »Verzeihen Sie, dass ich hier einfach so eindringe«, meinte Joan. »Ich kenne Ihren Ruf und bin gekommen, weil ich Sie um Hilfe bitten möchte.« »Sprechen Sie weiter«, forderte Indy sie auf. Joan musterte ihn argwöhnisch. »Erst einmal sollten Sie wissen, dass ich beschattet werde. Zwei vermummte Gestalten haben meine Spur beharrlich bis vor die Stufen dieses Gebäudes verfolgt, und vermutlich warten sie noch immer draußen. Sollten Sie sich bereit erklären, mir zu helfen, könnte es sein, dass Sie sich einer nicht geringen persönlichen Gefahr aussetzen.« »Heute ist Halloween, Schwester«, erwiderte er. »Leute laufen in allen möglichen seltsamen Kostümen herum.« »Richtig, aber diese beiden Männer sind mir bereits seit über einer Woche auf den Fersen. Sie haben das Haus meines Vaters in Connecticut durchstöbert, und ich fürchte, sie waren es auch, die unseren Gärtner ernsthaft verletzt haben,
als er ihnen dabei in die Quere kam. Mehrere gebrochene Rippen und eine ausgerenkte Schulter.« »Warum sollten sie so etwas tun?« »Das weiß ich nicht«, sagte Joan. »Sehen Sie, Dr. Jones, meine Familie und ich sind überzeugt, dass der Mensch seinem Wesen nach gut ist. Ein derartiges Vorgehen ist mir vollkommen unverständlich. Es könnte jedoch etwas mit dem Gegenstand in dieser Tüte hier zu tun haben, und damit, dass mein Vater Angus Starbuck ist.« »Der Paläontologe.« Indy spürte, wie sich seine Gedanken zu ordnen begannen. »Kennen Sie ihn?« »Selbstverständlich. Ich bin ihm begegnet, als ich in Schanghai auf einen Zug wartete, und wir verbrachten eine wunderbare Stunde damit, uns über die Dinosaurierstatuen im Central Park zu unterhalten. Wie geht es ihm?« »Er ist verschollen«, sagte Joan. »Irgendwo in der Wüste Gobi. Von dort stammt auch dieses Fossil, das ihn im Übrigen erst in ein so entlegenes und gefährliches Land gelockt hat.« Sie öffnete die Tüte und entnahm ihr einen eigenartig geformten Stoßzahn. Indy zog seine Brille aus der Jacketttasche, als Joan ihm den Stoßzahn reichte. Er war über einen Fuß lang und an seinem Ansatz fast ebenso breit. »Bemerkenswert«, sagte er, als er ihn im Schein der Schreibtischlampe untersuchte. Er durchwühlte seine Schreibtischschublade nach einem Vergrößerungsglas. »Erzählen Sie mir mehr über Ihren Vater. Wann ist er verschwunden? « »Vor sechs Monaten. Der letzte Brief, den ich von ihm erhielt, war in einer Stadt namens Urga in der Mongolei aufgegeben worden.« »Russen und Chinesen liefern sich bereits seit Jahrzehnten ein Tauziehen um die Äußere Mongolei«, sagte Indy.
»Seit der Machtübernahme durch die Kommunisten im Jahr 1921 werden dort sämtliche Ausländer verdächtigt, Spione, Saboteure oder Schlimmeres zu sein. Sie ist äußerst schwierig zu bereisen. Sechs Monate Abstand zwischen zwei Briefen könnte man für diesen Teil der Welt durchaus als normal ansehen.« »Oder irgendein Warlord foltert ihn, um zu erfahren, wo er noch mehr von diesen Knochen finden kann«, meinte Joan. »Dinosaurierfossilien werden von den Chinesen „Drachenknochen“ genannt, sie glauben, dass sie magische Kräfte besitzen. In pulverisierter Form eingenommen, gelten sie als Heilmittel gegen praktisch alles, angefangen bei einer gewöhnlichen Erkältung bis hin zum Mangel an Vitalität bei Männern. Ein geheimer Fundort dieser Fossilien wäre auf dem Schwarzmarkt ein Vermögen wert, Dr. Jones.« »Schon möglich«, sagte Indy. »Trotzdem klingt das unwahrscheinlich, Schwester. Sie irren sich, was das Wesen dieses Fundstückes anbelangt. Es handelt sich nicht um ein Fossil.« »Was meinen Sie damit?« »Es ist nicht versteinert. Knochensubstanz bleibt über Millionen von Jahren erhalten, weil Mineralien in ihre Poren eindringen, die das Original mit der Zeit bis in die kleinste Einzelheit ersetzen. Dieses Exemplar weist jedoch keine der für Versteinerungen charakteristischen Merkmale auf, dafür ist es viel zu leicht und zu weich.« »Dann handelt es sich also um eine Fälschung.« »Es stammt von einem lebenden Tier«, sagte Indy. »Von was für einer Art Tier?« »Ich bin Archäologe, kein Zoologe. Nur ein Experte könnte dies mit einiger Gewissheit feststellen. Ich vermute aber, dass es von einem Rhinozeros stammt.« »Warum sollte mein Vater dann darüber so in Aufregung geraten?« »Das weiß ich nicht. Aber wir können einen Freund von mir im American Museum of Natural History fragen. Morgen
ist Samstag, ich habe also keine Vorlesungen. Würde es Ihnen etwas ausmachen, morgen früh mit mir den Zug nach New York zu nehmen?« »Dann werden Sie mir also helfen?« »Was den Knochen anbetrifft, ja. In der Zwischenzeit wollen wir hoffen, dass morgen mit der Frühpost ein Brief Ihres Vaters eintrifft. Ich denke, Sie werden feststellen, dass wir dieses Rätsel in Kürze werden lösen können.« Joan nickte. »Wissen Sie schon, wo Sie heute Nacht unterkommen werden?« »Ich bin sicher, der Christliche Verein Junger Frauen verfügt über geeignete Unterkünfte«, erwiderte sie fröhlich, obwohl sie dabei die Augen abwendete. »So weit ich weiß, befindet er sich nur ein paar Querstraßen von hier, und ein flotter Spaziergang wird mir bestimmt gut tun.« »Sie sehen völlig erledigt aus, Schwester«, meinte Indy. »Könnten Sie sich vorstellen, heute bei einer Freundin von mir zu übernachten? Penelope Angstrom ist unsere Abteilungssekretärin, und ich bin sicher, sie würde sich über die Gesellschaft freuen. Bitte gestatten Sie, dass ich für Sie anrufe, und wenn Miss Angstrom einverstanden ist, bringe ich Sie persönlich hin.« Joan errötete. »Ja, natürlich«, erwiderte sie. »Entschuldigen Sie, aber einen Augenblick lang dachte ich, Sie würden mich fragen, ob ich die Nacht bei Ihnen verbringen möchte.« »Der Gedanke war mir gekommen.« »Dr. Jones! Sie sind betrunkener, als ich dachte.« »Ich meinte natürlich, weil Sie glauben, verfolgt zu werden, und wegen dieser Geschichte mit dem Gärtner Ihres Vaters«, sagte Indy. »Glauben Sie mir, Schwester, lieber laufe ich einer Klapperschlange über den Weg als mit einer Nonne anzubändeln.« »Sie drücken sich überaus unverblümt aus«, meinte Joan. »Aber ich fürchte, Sie wollen einfach nur aufrichtig
sein. Wie es scheint, teilen die meisten Männer Ihre Vorbehalte.« »Sie klingen enttäuscht.« »Offen gesagt ist dies einer der Aspekte meiner Berufung, mit denen ich mich noch nicht gänzlich abgefunden habe.« Sie hielt, erschrocken über das, was sie gerade gesagt hatte, inne. »Verstehen Sie mich nicht falsch, Mr. Jones. Was ich meinte, war, die meisten Männer behandeln Nonnen, als bestünden sie aus Gips und Farbe statt aus Fleisch und Blut. Ich habe nie ... ich wollte sagen, Sie dürfen nicht schlecht von mir denken.« »Wenn Sie versprechen, mich nicht als Säufer zu bezeichnen, nenne ich Sie auch keine -« »Einverstanden«, meinte Joan hastig. Indy wollte sie fragen, zu welchem Orden sie denn eigentlich gehörte, beschloss dann aber, einen passenderen Augenblick abzuwarten. Stattdessen griff er zum Telefonhörer und tippte ein paar Mal auf die Gabel, um die Vermittlung zu bekommen. »Ich glaube. Sie müssen erst die Kabel wieder anschließen, damit es funktioniert.« Grinsend steckte Indy die Verbindungskabel wieder in die Messingklemmen und zog die Muttern an. »Darf ich Ihnen eine Frage stellen, Dr. Jones?« »Nur zu.« »Sie scheinen mir nicht zu der Sorte Mann zu gehören, die sich mit einer Flasche Alkohol in ihrem Büro einschließt. Mit welcher Art von Dämonen haben Sie gerungen?« »Dämonen«, wiederholte Indy. »Eine überaus treffende Formulierung.« Doch eine Erklärung blieb er schuldig. »Wissen Sie was, Schwester?«, fragte Indy, während er das Fenster öffnete. »Ich habe dieses Zeug nie wirklich gemocht.« Damit schraubte er die Flasche auf, hielt sie hinaus und ließ den Inhalt auf den Rasen fünf Stockwerke tiefer gluckern.
Unter der Decke der Galerie im dritten Stockwerk des American Museum of Natural History hing ein lebensgroßes, aus Winkeleisen, Lindenholz und Pappmache hergestelltes Modell eines Blauwals. Das sechsundsiebzig Fuß lange Modell war mitten im Sprung aus der Galerie im dritten Stock (Säugetiere aus aller Welt) hinunter durch ein riesiges Treppenhaus, das in den zweiten Stock (Säugetiere Nordamerikas) führte, erstarrt. Joan hielt inne und betrachtete, wie zehntausende Museumsbesucher vor ihr, den gewaltigen, bedrohlich über ihr aufragenden Rumpf des Blauwals. »Das größte Lebewesen, das je existierte«, bemerkte sie staunend. »Sogar noch größer als die Dinosaurier. Dabei ernährt er sich ausschließlich von Plankton, und das ist mikroskopisch klein. Welch ein Triumph für uns Säugetiere.« »Ich mag Säugetiere wie jeder andere auch«, sagte Indy und zog sie am Ellbogen weiter. »Aber wenn wir uns noch länger in diesem Stockwerk aufhalten, werden sie uns katalogisieren.« »Wenigstens befänden wir uns in der richtigen Abteilung«, gab sie zurück. Sie hielt die Papiertüte, in der sich der Stoßzahn befand, fest umklammert. »Kommen Sie«, sagte Indy. »Brody wartet. Später werden Sie noch genug Gelegenheit haben, Ihre Artgenossen zu besuchen.« Ein paar Minuten später saßen sie in Marcus Brodys Büro im fünften Stock des Museums. Während Joan ihre Geschichte erzählte, drehte Brody den Stoßzahn immer wieder in den Händen und fuhr ein ums andere Mal mit den Fingern über die Spitze. In dem reichhaltig dekorierten Büro war es grabesstill, und Indy ertappte sich dabei, wie er in dem bequemen Ledersessel einnickte. »Wach auf, Indy«, meinte Brody vorwurfsvoll, als die Geschichte beendet war. »Du benimmst dich unhöflich.« »Verzeihung.« »Bringen Sie ihn bloß nicht dazu, dass er sich entschuldigt«,
meinte Joan. »Ich fürchte, er hat eine übertriebene Vorstellung von Ritterlichkeit. Er hat die Nacht draußen in seinem Auto verbracht und mich vor Armeen von Kobolden beschützt.« »Was für ein ritterlicher Zeitgenosse«, meinte Brody und legte den Stoßzahn auf den Schreibtisch. »Grund genug, ihm dieses eine Mal zu verzeihen. Möchtest du Kaffee, Indy? Das sollte dich wieder aufrichten.« Indy nickte. »Schwester? Möchten Sie auch etwas? Tee, vielleicht?« Joan schüttelte den Kopf. Brody betätigte die Gegensprechanlage auf seinem Schreibtisch und bat seinen neuen Assistenten, Kaffee für zwei zu bringen. »Nun«, sagte Joan. »Was halten Sie davon?« »Von dem Stoßzahn? Ich weiß nicht recht«, erwiderte Brody. »Ich neige dazu, mich Indys Einschätzung anzuschließen, trotzdem sollten wir eine Expertenmeinung einholen, was meinen Sie?« Ein paar Minuten später brachte Brodys Assistent das Tablett mit Kaffee herein. Der Assistent war ein verschlossener junger Mann Mitte Zwanzig mit kurz geschorenem Haar und einer von übermäßigem Studieren und zu wenig Sonne blassen Gesichtsfarbe. »Diesen jungen Mann«, sagte Brody, »solltest du kennen lernen, Indy. Er ist Doktorand an der Columbia und arbeitet hier ein paar Stunden in der Woche, um Kost und Logis bezahlen zu können. Darüber hinaus ist er mein Neffe. Sein Name ist James Brody, in der Familie wird er allerdings Sunny Jim genannt.« »Onkel«, bat der junge Mann flehentlich. »Entschuldige, James. Ähem. Ich möchte dir Indiana Jones und seine Bekannte, Schwester Joan, vorstellen. Indiana ist Professor für Archäologie in Princeton, und Schwester ... entschuldigen Sie, welchem Orden, sagten Sie, gehören Sie gleich an?«
»Ich sagte gar nichts.« »Natürlich«, sagte Brody. Der junge Mann nickte zerstreut und murmelte ein paar Nettigkeiten. »Jim!«, rief Brody. »Könntest du nicht ein bisschen höflicher sein?« »Ich dachte gerade über etwas nach, Onkel, das Joe mir gestern erzählt hat. Er meinte -« »Wer ist denn Joe?«, wollte Indy wissen. »Der junge Joe Campbell, Doktorand an der Columbia und Lehrer an der Canterbury School in Connecticut«, antwortete Brody. »Er hat Jim ganz in seinen Bann gezogen. Dieser Campbell verbringt seine Wochenenden damit, sich, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, im Museum herumzudrücken und stundenlang die Exponate anzustarren, insbesondere die, die mit den amerikanischen Indianern zu tun haben. Um ehrlich zu sein, der Junge bereitet mir eine Gänsehaut. Ich glaube, er würde glatt hinaufklettern und selber zum Ausstellungsstück werden, wenn -« »Was hatte dieser Joe denn gestern zu erzählen?«, versuchte Indy, Brodys Wortschwall zu unterbinden. »Ich bin nicht sicher, ob ich es präzise wiedergeben kann«, antwortete James, plötzlich lebendig geworden. »Aber Joe hat in letzter Zeit ziemlich viel darüber nachgedacht, wie Kulturen, die noch über keine schriftliche Überlieferung verfügen, Werte anhand von Mythen weitergeben, und wie überraschend ähnlich diese Mythen einander sind. Es ist, als gäbe es nur einen einzigen Helden und einen Abenteuerzyklus, der, mit wechselnden Namen und Einzelheiten, wieder und wieder erzählt wird. Die Geschichte Christi, zum Beispiel. Ob es so passiert ist oder nicht spielt dabei gar keine Rolle -« »Ach, was für ein Unfug!«, rief Brody. »Aber Onkel, da siehst du es doch selbst«, wandte James ein. »Was zählt, ist das mythische Grundmuster, nicht seine Nachprüfbarkeit. Religion verwandelt Mythos in Theologie,
und genau an dem Punkt bekommen wir Schwierigkeiten. Sieh doch, wie heftig du auf die Hypothese reagiert hast, dass die Auferstehung kein tatsächliches, überprüfbares Ereignis sei. Das haben wir dem Einfluss der westlichen Zivilisation zu verdanken.« »Und worauf sollen wir stattdessen vertrauen?«, fragte Brody. »Darauf, was sich hier drin befindet«, gab James zurück, und legte Brody eine Hand aufs Herz. »Joe sagt, die aufgezeichnete Geschichte ist ein Albtraum, aus dem wir uns bemühen zu erwachen.« »Das ist ein Zitat aus Ulysses«, merkte Indy an. »Und vermutlich sollen wir all unsere Bücher wegschmeißen, den Wundern der modernen Technik den Rücken kehren, zu einem Leben in Strohhütten zurückfinden und einen Medizinmann rufen, wenn wir krank sind«, fuhr Brody fort. »Jetzt fängst du wieder damit an, Onkel«, sagte James. »Bei dir wird alles immer gleich zu einer Frage des 'Alles oder nichts«. Du hast ganz offensichtlich deine natürliche Fähigkeit verloren, Wissen und Geist miteinander zu verbinden.« »Pah!«, machte Brody. »Eigentlich«, meinte Joan, »finde ich die Vorstellung, dass die aufgezeichnete Geschichte ein Albtraum ist, geradezu zwingend, vor allem, wenn man ihre jüngsten Kapitel in Betracht zieht Senfgas, Luftbombardements, Schlangen von Bedürftigen, an die Nahrungsmittel verteilt werden, und organisiertes Verbrechen. Die Rückkehr zu einer primitiveren Lebensweise ist vielleicht gar keine so schlechte Idee. Das hätte etwas, naja, Unschuldiges.« »Und würde jede Menge Dreck machen«, stichelte Brody. »Beachten Sie Ihren Onkel überhaupt nicht«, sagte Indy. »Das sind alles Dinge, die Sie für sich ganz alleine herausfinden müssen. Außerdem bin ich sicher, dass Marcus in Ihrem Alter auch von neuen Ideen begeistert war.«
»Noch bin ich nicht reif fürs Altersheim«, protestierte Brody. »Sieh her, Jim, warum machst du dich nicht nützlich und bringst diesen Knochen eben hinunter ins Laboratorium im zweiten Stock. Bitte Dr. Larson, ihn sich einmal anzusehen und uns eine erste Einschätzung zu geben. Wir werden solange warten. Und halte dich von diesem Campbell fern, wenigstens für ein paar Tage.« »Jawohl, Sir«, sagte der junge Mann und nahm den Knochen behutsam entgegen. Als James gegangen war, legte Indy seine Hand auf Marcus Brodys Schulter. »Du gehst zu hart mit dem Jungen um«, sagte er. »Lass ihm ein wenig Leine. Die Welt ist noch ganz neu für ihn, also lass ihm seinen Spaß, solange er noch kann. Außerdem haben die Ideen seines Freundes vielleicht sogar etwas für sich, auch wenn die Welt des Marcus Brody noch nicht reif für sie ist.« »Gott steh mir bei, sollte sie es jemals sein«, gab Brody zurück. »Wir dürfen diesen spontanen Regungen nicht einfach nachgeben und mir nichts dir nichts Tausende von Jahren der Gelehrsamkeit und Tradition überspringen. Was würde aus uns werden?« »Vielleicht wären wir einfach glücklich«, schlug Joan vor. »Oder unvorstellbar unglücklich«, entgegnete Brody. »Entschuldigen Sie, ich streite immer noch mit meinem Neffen. Du hast Recht, Indy. Ich bin zu hart mit ihm. Weißt du, Jims schnelle Auffassungsgabe und Willensstärke erinnern mich an einen anderen jungen Burschen, mit dem ich mich angefreundet habe, als er noch Doktorand war, und der hat sich gar nicht mal so schlecht gemacht.« Indy musste grinsen. »Und das nicht etwa, weil er sich keine Mühe gegeben hätte«, sagte er. »Nun, ich bilde mir gerne ein, dass ich daran nicht ganz unbeteiligt war«, sagte Brody. »Übrigens, auch wenn ich in dieser Angelegenheit zu sehr den besorgten Onkel spiele,
aber wie entwickeln sich die Dinge mit deiner britischen Bibliothekarsfreundin?« »Du meinst Alecia«, sagte Indy. »Das ist vorbei, Marcus. Zumindest, bis ich den Kristallschädel gefunden und dorthin zurückgebracht habe, wo er hingehört.« »Das tut mir Leid«, meinte Brody. »Sie hat die Beziehung aus gesundheitlichen Gründen aufgekündigt«, meinte Indy traurig. »Du weißt, ich glaube nicht an Flüche, aber dieser - dass ich alles zerstören werde, was ich liebe, solange ich den Schädel nicht zurückbringe - scheint zu wirken. Ich kann es ihr nicht einmal verdenken, Marcus, aber das macht es auch nicht einfacher -« Das Telefon auf Brodys Schreibtisch schrillte. »Aha, sieht aus, als hätten wir eine Meinung von dem guten Doktor«, sagte Brody und nahm den Hörer ab. Während er zuhörte, wurde sein Gesicht ernst. Er suchte in seinen Taschen nach einem Stift und einem Stück Papier, dann machte er sich rasch ein paar Notizen. Brody fragte: »Sind Sie absolut sicher?«, dann legte er den Hörer wieder auf und nahm hinter seinen Schreibtisch Platz. »Das war Larson«. sagte er. »Und?« »Der Knochen stammt von einem erst vor kurzem gestorbenen Tier.« Er warf einen Blick auf seine Notizen. »Nach Larsons Einschätzung ist es erst seit einigen Monaten tot.« »Das dachten wir doch auch, oder?«, fragte Indy. »Nun ja, nicht ganz«, sagte Brody. »Was ich damit sagen will, ist - und das ist Larsons Expertenmeinung -, dass dieser Stoßzahn von einem Triceratops stammt. Das ist ein Tier aus der Kreidezeit, die vor dreiundsechzig Millionen Jahren endete. Ein Dinosaurier.« Indy verschüttete seinen Kaffee. »Ist er sich ganz sicher?«, wollte Joan wissen. »Es steht noch einiges an Arbeit aus, Experimente müssen durchgeführt werden«, erklärte Brody. »Durchaus mög-
lieh, dass es sich um eine Laune der Natur handelt, um eine Art kosmischen Streich. Larson jedenfalls ist völlig aus dem Häuschen. Er möchte, dass wir sofort runterkommen, außerdem möchte er sich mit Schwester Joan über die Herkunft des Knochens unterhalten.« Indy betupfte den Kaffeeflecken auf seiner Hose mit seinem Taschentuch. »Wenn er echt ist«, sagte er, »könnte es sich um die bedeutendste wissenschaftliche Entdeckung aller Zeiten handeln.« »Und die befindet sich in unserer Hand.« Brody strahlte. »Das heißt, vorausgesetzt, Schwester Joan wäre so freundlich, ihn uns zur Verfügung zu stellen ... Ich verspreche, dass wir ihn wie unseren Augapfel hüten und demjenigen unsere Anerkennung zollen werden, dem sie gebührt.« »Daran zweifle ich nicht«, erwiderte sie. »Ich muss allerdings gestehen, das alles ist ziemlich schwer zu glauben. Außerdem dürfen Sie nicht vergessen, meine größte Sorge in dieser Geschichte gilt nach wie vor dem Auffinden meines Vaters.« »Ihres Vaters? Ach ja, richtig«, meinte Brody. »Marcus«, warnte Indy leise. »Was gibt's, Indy?« Indy erhob sich aus seinem Sessel und ging hinüber zum Fenster. Er stopfte seine Hände in die Taschen und blickte durch das Glas in Richtung Osten, in den Central Park und darüber hinaus. »Dieser Knochen könnte vielleicht der Auftakt zur größten wissenschaftlichen Entdeckung aller Zeiten sein«, sagte er. »Irgendwo dort draußen existiert vielleicht ein lebender Triceratops, dem einer seiner Stoßzähne fehlt. Und selbst wenn dieses Tier tot sein sollte, gibt es vielleicht noch andere ... Möglicherweise wartet eine ganze Herde von Dinosauriern in der Äußeren Mongolei nur darauf, dass wir sie entdecken, Marcus.« Brody stockte der Atem.
»Das alles entnehmen Sie einem Artefakt?«, fragte Joan. »Nein, das hier ist kein Artefakt«, erläuterte Indy. »Artefakte sind von Menschen geschaffene Gegenstände. Dies ist ein Ökofakt, ein Werk der Natur. Aber eins ist richtig, sollte der Stoßzahn tatsächlich echt sein, könnte er sich als der Rosettastein der Paläontologie erweisen. Er könnte uns die Antworten auf Fragen liefern, die unsere Fantasie beherrschen, seit Sir Richard Owen vor einem Jahrhundert den Begriff Dinosaurier prägte. Nur müssten wir dann für das Studium lebender Dinosaurier einen neuen Begriff erfinden.« »Ich nehme an, dann hat die Suche nach meinem Vater ganz plötzlich eine zusätzliche Bedeutung bekommen«, meinte Joan. »Und Dringlichkeit«, fügte Brody hinzu. Er griff hinter sich und zog eine Farbkarte Asiens herunter. »Im Vergleich dazu könnte die Suche nach Dr. Livingstone wie ein Spaziergang durch den Park erscheinen ...« »Das Museum wird also eine Expedition aussenden?«, fragte Joan. »Das Museum ist doch gar nicht in der Lage, eine komplette Expedition zu finanzieren«, protestierte Indy. »Genau genommen war die Verwendung von Museumsgeldern für Expeditionen oder praktische wissenschaftliche Arbeit in den letzten beiden Jahren strikt untersagt. Aus diesem Grund verlässt Marcus sich auch auf meinen Ein-Mann-Beschaffungsdienst, um die Sammlungen auf dem neuesten Standzuhalten.« »Das ist wahr«, musste Marcus gestehen. »Die Depression hat das Museum ebenso hart getroffen wie alle anderen öffentlichen Einrichtungen, und bedauerlicherweise war ein großer Teil der Museumsgelder fest in Eisenbahnanleihen angelegt... Aber dies ist etwas anderes, Indy. Ich bin sicher, ich kann den alten Herrn davon überzeugen, dass dies eine Gelegenheit ist, wie sie sich nur ein einziges Mal im Leben bietet.«
»Den alten Herrn?«, fragte Joan. »Darüber hinaus bin ich sicher, dass wir auf private Investoren zurückgreifen können.« »Henry Fairfield Osborn«, erklärte Indy. »Seit 1908 Direktor dieses Museums. Wenn er sich bereit erklärt, eine Expedition an irgendeinen Ort der Welt zu finanzieren, dann in die Mongolei. Er hegt schon seit Jahren eine Lieblingstheorie, der zufolge die Wiege der Menschheit in Zentralasien steht, und die frühesten menschlichen Fossilien dort zu finden sind.« »Das fehlende Bindeglied?« »Etwas in der Art«, sagte Indy. »Unsere wahren Gründe müssen allerdings ein streng gehütetes Geheimnis bleiben«, fuhr Brody fort. »Schließlich wollen wir nicht, dass die halbe Welt versucht, uns auf dem Weg dorthin zuvorzukommen.« »Aber die Mongolei, Markus. Denk doch an die Schwierigkeiten. « »Ja, ich weiß«, erwiderte Brody und zog mit dem Zeigefinger eine Verbindungslinie von Schanghai bis in das Herz Asiens. »Eine Expedition sähe sich mit einigen der härtesten Bedingungen auf diesem Planeten konfrontiert. Temperaturen, die einen tagsüber rösten und nachts gefrieren lassen. Heftige Stürme und blutrünstige Bandenführer, dazu Karten, die nahezu nutzlos sind. Ebenso gut könnten wir eine Expedition auf die Rückseite des Mondes starten, so wenig wissen wir über das Landesinnere. Und dabei haben wir die Einstellung der von den Russen kontrollierten Regierung der Mongolei noch nicht einmal berücksichtigt. Andererseits habe ich auch gar nicht behauptet, es würde einfach werden.« »Das tust du nie«, meinte Indy. »Schließlich kann man nicht erwarten, dass der letzte noch lebende Dinosaurier durch irgendein Maisfeld in Kansas stapft, oder?« Brody nahm den Hörer ab und drückte ein paar Mal auf die Gabel. »Ihr zwei geht nach unten und
sprecht mit Larson. Und ich werde mich an die Arbeit machen und deine Expedition auf die Beine stellen.« »Meine Expedition?«, fragte Indy. »Ich stehe mitten im Trimester, ich kann unmöglich weg. Denk doch an die erforderlichen Vorbereitungen - wir benötigen Lastwagen, Kamele und Gerät. Und das immer unter der Voraussetzung, dass uns die Chinesen, die Russen und die Mongolen überhaupt ins Land lassen.« »Indy«, unterbrach ihn Brody. »Wir haben nur diese eine, wenn auch glänzende Chance. Deine Studenten können warten. Aber möglicherweise existiert irgendwo in der Mongolei ein lebender, atmender Dinosaurier, der das nicht kann.« Dr. Jonathan Larson nahm einen ordentlichen Schluck aus einem Becherglas mit Äthylalkohol und betrachtete den Stoßzahn eingehend. Anschließend reinigte er seine Brille mit dem Hemdzipfel, schloss für einen Moment fest die Augen und riss sie wieder auf. »Das ist kein Traum«, sagte Indy. »Sind Sie sicher, dass er echt ist?«, fragte Joan. »So sicher, wie man nur sein kann«, antwortete Larson. »Wir besitzen zwar kein Original, um Vergleiche anzustellen, aber er stimmt bis in die Einzelheiten mit den fossilen Stoßzähnen überein, die wir haben. Er stammt ohne Zweifel von einem Triceratops und nicht von einem Rhinozeros.« »Können Sie irgendetwas über das Alter oder den Gesundheitszustand des Tieres sagen?«, fragte Indy. »Einiges«, erwiderte Larson. »Zum Beispiel weist die Spitze des Stoßzahnes - möglicherweise von Beutezügen und Kampfschäden - dasselbe Abnutzungsmuster auf wie die Fossilien,- dem Anschein nach dürfte es also von einem kräftigen, gesunden Exemplar stammen. Zudem scheint dieser Stoßzahn von einem ausgewachsenen Tier zu stammen, wenn er auch ein wenig kleiner als viele der fossilen
Exemplare ist. Meine Vermutung ist, er stammt von einem weiblichen Tier. Aber wer will das schon mit Gewissheit sagen?« Er nahm noch einen Schluck aus dem Becherglas. »Er muss exakt katalogisiert werden«, fuhr Larson fort. »Zuerst müssen wir ihn hinunter in die Fotoabteilung bringen. Anschließend werden wir uns überlegen müssen, wo wir ihn aufbewahren wollen.« »Sie werden ihn doch nicht in einen dieser schrecklichen Formaldehydbehälter stecken, oder?«, fragte Joan. »Aber woher«, erwiderte Larson. »Ich denke, das Beste wäre, ihn in einem der Kühlräume in der Küche unterzubringen und darauf zu hoffen, dass keiner der Köche einen Eintopf daraus kocht.« Larson entnahm dem Regal hinter sich eine hölzerne Kiste zum Aufbewahren von Proben und stellte sie auf den Tisch. Anschließend legte er den Stoßzahn mit zitternden Händen hinein und verschloss den Deckel mit den Schnappriegeln. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, ihn in die Fotoabteilung zu bringen?«, fragte Larson. »Ich fürchte, ich traue mir nicht zu, ihn selbst so weit zu tragen. Es sind drei Stockwerke -« »Ich weiß, wo es ist«, unterbrach Indy und nahm die Kiste an sich. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich ihn trage?«, fragte Joan. »Es ist die letzte greifbare Verbindung, die ich mit meinem Vater habe, und ich fürchte, ich werde ihn sehr lange nicht mehr in die Finger bekommen.« Indy nickte zum Zeichen seines Einverständnisses und überließ ihr die Kiste. »Sehen Sie sich vor mit dem Zeug«, sagte Indy, als er die Tür zu Larsons Labor schloss. »Könnte sein, dass Sie es noch brauchen, um außer sich selbst noch ein anderes Exemplar zu konservieren.« Als sie im dritten Stock den Aufzug verließen und über
die Galerie zur Fotoabteilung schlenderten, die unmittelbar neben der Abteilung für öffentliche Bildung lag, bemerkte Indy zwei am Geländer lehnende Asiaten. Offenbar waren sie in eine Diskussion über den Blauwal vertieft. Beide trugen safranfarbene Gewänder, die sie als Buddhisten auswiesen, und beide hatten kahl geschorene Köpfe. Joan ging auf der äußeren, den Männern am nächsten gelegenen Seite. Als sie an ihnen vorüberkam, bedachte einer von ihnen sie mit einem kurzen Nicken, jener Form der knappen Verbeugung, die im Osten ebenso gebräuchlich ist wie das kurze Antippen der Hutkrempe im Westen, und Joan lächelte. Dann griff der Mann blitzschnell wie eine Schlange zu und riss ihr die Probenkiste aus den Händen. »Indy!«, kreischte Joan. Der Mönch mit der Kiste war ein Geflatter aus Orange, als er auf das Treppenhaus zurannte. Indy setzte ihm nach, doch der andere Mönch stellte sich ihm genau in den Weg. Er nahm eine Kampfhaltung ein, und seine nackten Zehen krallten sich wie Klauen in den Fußboden. Leicht vorgebeugt machte er sich auf einen Zweikampf gefasst. Indy trat dem Mönch mit dem Absatz seines gut polierten Budapesters auf den vorderen Fuß. Als dieser daraufhin den Fuß mit den pochenden Zehen in die Hände nahm, trat Indy ihm das andere Bein unter dem Körper weg. Dann setzte er über ihn hinweg und lief Richtung Treppenhaus. Der flüchtende Mönch, der einen beträchtlichen Vorsprung hatte, nahm zwei Stufen auf einmal. Offenbar hatte er jedoch auf dem Absatz zwischen zweitem und drittem Stock ein Hinweisschild übersehen, das vor einem feuchten Boden warnte. Ein Hausmeister, griesgrämig damit beschäftigt, den Boden zu wischen, nachdem mehrere Mitglieder einer zweiten Klasse aus Brooklyn sich nach Durchwandern der
Schrumpfkopf-Ausstellung übergeben hatten, verfolgte verblüfft, wie der Mönch auf dem glatten Boden an ihm vorüberschlidderte und ganz zwanglos gegen die Wand klatschte. Als der Mönch auf dem Boden zusammensank, entglitt die Probenkiste seinen Händen. Indy schlidderte ebenfalls am Hinweisschild vorbei und prallte, während er mit seinen Budapestern verzweifelt Halt zu finden versuchte, neben dem Mönch gegen die Wand. Er versuchte, sich auf die Kiste zu werfen, doch der Mönch stieß sie mit dem Fuß außer Reichweite. »Schnappen Sie sich die Kiste!«, rief Indy. »Meinen Sie mich?«, fragte der Hausmeister. Mittlerweile hatte der Mönch Indy im Schwitzkasten und versuchte, ihm das Kinn über die rechte Schulter zu drehen. »Schaffen Sie mir den Kerl vom Hals«, murmelte Indy. Der Hausmeister schlug mit dem zotteligen Ende des Mopps auf den Mönch ein. »Nehmen Sie das andere Ende«, schlug Indy vor. »Was? Oh.« Der Hausmeister drehte den Mopp herum und schwang den Griff wie einen Baseballschläger gegen den kahlen Kopf des Mönches. Der Mönch ließ von Indy ab, packte den Stiel mit seiner rechten Hand und entriss ihn dem Hausmeister. Dann brach er das Moppende mit einem Fußkantentritt ab. Der Hausmeister ergriff die Flucht. Indy schnappte sich die Probenkiste, krabbelte über den nassen Fußboden und rannte mit ihr die Treppe wieder hinauf. Der Mönch stürzte, den Moppstiel schwingend, hinter ihm her. Am oberen Treppenende hatte der Mönch Indy eingeholt und rammte ihm den Stiel genau zwischen die Schulterblätter. Indy wurde gegen das Geländer der Galerie geschleudert, die Probenkiste entglitt seinen Händen und landete, außer Reichweite, auf dem Rücken des Blauwals.
»Tja«, grinste Indy, »und was machst du jetzt?« »Hai!«, kreischte der Mönch und stürzte sich auf ihn. Indy duckte sich. Der Mönch ging, wie verrückt mit Armen und Beinen rudernd, über das Geländer und segelte wie ein Stabhochspringer durch die Luft. Er versank im Rücken des Wales, als der Maschendraht nachgab und Putzbrocken aus der völlig überlasteten Verankerung der Halteseile von der Decke rieselten. Der Mönch nahm die Probenkiste an sich und rief seinem Partner, der mit übereinander geschlagenen Beinen neben Joan hockte und sich den Fuß rieb, etwas auf Mandarin zu. Er sprang auf und machte sich, mal humpelnd, dann wieder rennend, aus dem Staub. »Holen Sie Hilfe. Riegeln Sie das Museum ab«, brüllte Indy, während er auf das Geländer kletterte. »Und sagen Sie Brody, ich kaufe ihm einen neuen Wal.« Indy sprang auf den Rücken des Blauwals und versank mit einem Fuß in der Außenhaut. Putzbrocken trudelten von der Decke herab, als die Halteseile kreischend protestierten. »Damit hast du nicht gerechnet, was?«, meinte Indy an seinen Widersacher gewandt. Zwei der Halteseile rissen, und der Wal neigte sich prekär nach Steuerbord. Vom zweiten Stock aus konnte die Lehrkraft, die die Zweitklässler anführte, die beiden Männer auf dem Rücken des Modells nicht sehen, sie fing an zu schreien und zog die Kinder fort, als der Wal zornentbrannt in ihre Richtung zu schlingern schien. Der Mönch schlug mit der Faust ein Loch in Pappmache und Maschendraht und verschwand mitsamt Probenkiste im Bauch der Bestie. Indy setzte ihm nach und kratzte sich an einem Stück Draht die Wange auf, als er sich ins Walinnere fallen ließ. »Verdammt«, fluchte er und befühlte vorsichtig seine Wange.
Dann huschte ihm etwas über die Füße, und er kickte es fort. Es war eine Maus, eine aus einer Familie jener lästigen Nager, die die Halteseile überwunden hatten, um sich im Pappmachebauch des Wals ein verborgenes Heim zu schaffen. Der Mönch war im Begriff, sich über den Winkeleisenkiel des Tieres einen Weg zu dessen Maul zu bahnen. In diesem Augenblick löste sich ein weiteres Halteseil, dessen Widerhaken krachend im zweiten Stock landeten und dabei einen gläsernen Schaukasten zertrümmerten. Der Rest des Wales schlug schwer auf dem Fußboden auf. Die Mäusefamilie stob in sämtliche Richtungen auseinander. »Gut gemacht!«, rief einer der Zweitklässler. Der Mönch rollte rücklings entlang des Kiels, und Indy bekam ihn am Kragen seines Gewandes zu fassen. »Wer bist du?«, herrschte er ihn an. Der Mönch hielt die Probenkiste umklammert und starrte Indy aus ruhigen braunen Augen an. Er lächelte geheimnisvoll, dann entschuldigte er sich auf Mandarin, das Indy verstand. »Wofür?«, fragte Indy. Der Mönch bohrte ihm die Finger hart in den Solar Plexus. Unfähig ein Wort hervorzubringen, ging Indy in die Knie. Mit seiner Rechten bekam er den Saum des Mönchsgewands zu fassen und riss einen Fetzen heraus. »Das geht vorbei«, meinte der Mönch. Dann trat er ein Loch in den Bauch des Wals und machte sich mitsamt Probenkiste aus dem Staub. Nach einigen Minuten war Indy so weit, dass er nach draußen kriechen konnte. Er lag auf dem Fußboden und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Marcus Brody kam herbeigeeilt und stand über ihm. Mit verschränkten Armen begutachtete er den Schaden im zweiten Stock. »Sie sind entkommen«, erklärte er. »Mitsamt Stoßzahn.«
»Das tut mir Leid«, antwortete Indy. Brody kniete neben ihm nieder und untersuchte seine Wange. »Für Entschuldigungen haben wir jetzt keine Zeit«, meinte er. »Du musst noch heute Nachmittag nach Schanghai aufbrechen. Kannst du in drei Stunden gepackt haben? Ich werde Dr. Morey in Princeton anrufen, versuchen, ihm deine Abwesenheit zu erklären und mich erbieten, bis zu deiner Rückkehr deinen Unterricht zu übernehmen. Zuerst aber müssen wir einen Arzt deine Wange nachsehen lassen. Sieht aus, als müsste sie genäht werden.« »Großartig«, meinte Indy. Eine Maus huschte über Indys übel zugerichtete Budapester, dann gaben die Überreste des Wals ein letztes gequältes Kreischen von Draht und Metall von sich und fielen in sich zusammen.
KAPITEL ZWEI Schanghai
Schanghai, China 7. November 1933 »Ich kann diesen Ort nicht ausstehen«, meinte Indy verdrießlich. »Das Hotel oder die Stadt?« »Schanghai«, erwiderte Indy. »Jedesmal wenn ich hier bin, bekomme ich ein ungutes Gefühl in der Magengrube. Es gibt Orte, an denen gedeiht nichts als Unheil.« Sie waren gerade dabei, ihr Frühstück in der Restaurantvorhalle des Cathay einzunehmen, jenes Hotels, in dem Noel Coward drei Jahre zuvor während eines Grippeschubes in weniger als einer Woche das Stück Private Lies geschrieben hatte. »Kommen Sie, Jones«, meinte Granger, während er seine Pfeife anzündete und seinen leeren Frühstücksteller zur Seite schob. »Was gibt es an der Hure des Orients nicht zu mögen? Sechs Millionen Menschen auf engstem Raum. Unzureichende sanitäre Einrichtungen und Krankheiten, wohin das Auge blickt. Gangster, Bordelle, Opiumhöhlen. Jeden Augenblick kann ein Bürgerkrieg ausbrechen, während die Kaiserliche Japanische Armee die Stadt in regelmäßigen Abständen für ihre Bombenübungen benutzt. Ich könnte mir denken, Mr. Jones, das kommt Ihrem amerikanischen Sinn fürs Abenteuer entgegen.«
»Ich wüsste es zu schätzen, wenn Sie der Stadt ein wenig mehr Respekt entgegenbringen würden«, sagte Joan. »Schanghai wird auch das Paris des Orients genannt, und das zu Recht. Das Übel, das es hier gibt, ist eine Folge westlicher Einflussnahme, fürchte ich, und nicht die Schuld Chinas.« Granger räusperte sich. »Ganz recht«, meinte er diplomatisch. Indy schob sein Frühstück von sich und konzentrierte sich auf seinen Kaffee. Drei Tage in der Enge einer amerikanischen Frachtmaschine, die auf ihrem Weg nach China kreuz und quer über den Pazifik geirrt war, hatten ihn erschöpft. »Sie täten gut daran, die Eier zu essen, Jones«, meinte Granger. »Das ist die letzte vernünftige Mahlzeit, die Sie auf Wochen bekommen werden. Wo wir hinfahren, gibt es weder MichelinFührer noch Vier-Sterne-Hotels, mein braunäugiger Freund.« Walter Granger war Abenteurer, Großwildjäger und hatte an mehreren Expeditionen in die Äußere Mongolei teilgenommen, bevor die Grenzen für Ausländer geschlossen wurden. Tatsächlich war Granger eine Schlüsselfigur bei einer Expedition des American Museum of Natural History in die Mongolei gewesen, die in den zwanziger Jahren das erste der Wissenschaft bekannte Dinosaurierei entdeckt hatte. Trotz seiner bereits ergrauenden Schläfen war Granger über einsachtzig groß, kerzengerade und hatte nicht ein einziges Gramm Fett an seinem sonnengebräunten Körper. Sein einziger körperlicher Makel bestand in einem übel zugerichteten rechten Ohr. An diesem Morgen war er gekleidet, wie er jeden Morgen gekleidet war, mit einem Khakihemd mit Patronenschlaufen über den Brusttaschen. Sein allgegenwärtiger Buschhut mit einem Band aus Leopardenfell, das von eben jener Katze stammte, die ihm den größten Teil seines rechten Ohrs abgefressen hatte, war eben-
falls aus Khaki. Granger trug den Hut sogar in geschlossenen Räumen, mit der Begründung, er könne besser hören, wenn er ihn aufhabe. Doch von seiner unbestreitbaren Eignung abgesehen -und trotz seiner Eigenarten - war der eigentliche Grund, weshalb man Granger gebeten hatte, die Expedition zu leiten, der, dass Indy ihm vertraute. Vor vielen Jahren hatte Granger ihn davor bewahrt, für einen Stamm polynesischer Kannibalen zum Hauptgang zu werden, indem er sie davon überzeugte, dass blauäugige Fremde erheblich schmackhafter sind als die weitaus verbreitetere braunäugige Spielart, und sie auf die Fährte eines berüchtigten holländischen Sklavenhändlers namens Conrad angesetzt. Später hatte sich der Stamm bei Granger für den Tipp bedankt. Granger klopfte seine Pfeife in einem Aschenbecher aus und schob den Stiel in eine der Patronenschlaufen über seiner Brusttasche. Anschließend räumte er die Mitte des Tisches frei und breitete eine Karte aus, deren sich einrollende Ecken er mit Hilfe des Salz- und Pfefferstreuers sowie Indys Kaffeetasse festhielt. »Ich habe die Route heute Morgen ausgearbeitet, während ich auf Sie gewartet habe«, erläuterte Granger. »Sie müssen natürlich noch Ihren Segen dazu geben, aber ich denke, Sie werden mit mir einer Meinung sein, dass sie so am vernünftigsten ist. Von Schanghai aus fahren wir mit dem Zug nach Kaigan, wo die Gleisstrecke am Fuß des Shen Shei-Gebirges endet. Von dort aus werden wir auf einem tückischen Straßenabschnitt, der sich in Serpentinen an den Steilhängen entlangwindet, bis zu einem Tor in der Chinesischen Mauer am Wanshan-Pass fahren. Das liegt etwa eintausend Meilen von hier entfernt.« »Ja, ich denke, das ist auch die Strecke, die mein Vater genommen hat«, meinte Joan. »Er erwähnte so etwas in einem der letzten Briefe, die ich erhielt.« »Es ist der einzige Weg hinein oder hinaus«, fuhr Granger
fort. »Der Pass war schon seit Jahrtausenden in Gebrauch, bevor Marco Polo ihn zu Gesicht bekam ... Nach Erreichen der Hochebene haben wir bis zur Hauptstadt Urga ein dreihundert Meilen langes Stück namens „Straße der Verlassenheit“ vor uns. Dort wird es Indys Aufgabe sein, bei der von den Russen kontrollierten Regierung die erforderlichen Genehmigungen zu beschaffen. Wenn nicht, ist die Expedition dort zu Ende.« »Ich werde meinen ganzen Charme einsetzen«, witzelte Indy. »Vorausgesetzt, bis dahin läuft alles gut«, fuhr Granger fort, »werden wir uns bei einem der zahlreichen Händler entlang der Urga-Straße Kamele für unsere Karawane besorgen. Anschließend brechen wir nach Westen auf und dringen mehrere hundert Meilen in die Wüste Gobi vor. Diese Wüste ist der Heuhaufen, und Ihr Vater, Schwester Joan, die sprichwörtliche Stecknadel.« »Aber wenn uns das Glück zur Seite steht«, sagte Indy, »werden wir auf dem Weg dorthin einige Hinweise gesammelt haben, die uns in die richtige Richtung lenken.« »Und wenn nicht?«, fragte Joan. »Aussichtslos wäre noch milde formuliert«, meinte Granger. »Dann werde ich dafür beten, dass uns Glück beschieden ist«, erwiderte sie. Ein junger Chinese betrat das Restaurant, suchte Granger mit den Augen, kam an ihren Tisch und übergab ihm eine Hand voll Frachtlisten. »Ich möchte euch einen ziemlich fähigen Burschen vorstellen«, sagte Granger. »Das ist Wu Han, ein Gelehrter und Spezialist für alles, der während der letzten Tage geholfen hat, die Expedition zusammenzustellen. Offen gestanden, ich habe Brody erklärt, ich glaube nicht, dass ich es schaffe. Und ohne Wu Han hier hätte ich das auch nicht.« Wu Han verneigte sich vor Joan, dann schüttelte er Indy die Hand.
»Es war mir ein Vergnügen, meinen amerikanischen Freunden zu helfen«, sagte Wu Han in tadellosem Englisch. »Ich hoffe nur, dass ich auch weiterhin von Nutzen sein kann. Sind Sie zum ersten Mal in Schanghai? Vielleicht könnte ich ein kleine Zerstreuung vorbereiten?« »Für Dr. Jones ist das ein alter Hut«, meinte Joan, »aber ich bin zum ersten Mal hier und könnte ein wenig Zerstreuung gebrauchen. Ich möchte mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen, eine neue Stadt zu erkunden.« »Es gibt eine Menge zu besichtigen«, sagte Wu Han. »Darf ich Sie heute Abend abholen kommen? Vielleicht möchte Dr. Jones sich uns ebenfalls anschließen? Mr. Granger ist, wie ich gehört habe, ein großer Fan des amerikanischen Hot Jazz.« »Jazz?«, fragte Indy erstaunt. »Naja, vielleicht.« »Gut«, meinte Wu Han. »Erwarten Sie mich gegen sechs Uhr, vorausgesetzt, es ist Ihnen recht. Entspricht alles Ihren Wünschen, Mr. Granger, Sir? Darf ich mich entschuldigen?« »Ja, natürlich«, antwortete Granger, der die Frachtlisten überflog, die Wu Han mitgebracht hatte. Wu Han verbeugte sich. »Ich fange Sie nachher ab«, setzte er hinzu. »Hole Sie ab«, verbesserte Granger. »Es muss heißen „ich hole Sie nachher ab“.« »Ganz recht«, erwiderte Wu Han. »Aha«, meinte Granger. »Der größte Teil der Ausrüstung, mit Ausnahme einer Sonderlieferung, die ich von unseren Freunden im Britischen Armeedepot angefordert habe, wurde auf drei offene Güterwagen verladen. Laut Fahrplan müssen wir um 5.00 Uhr abfahren, zumal Brody in seinen Anweisungen unmissverständlich zum Ausdruck gebracht hat, dass der Zeitfaktor entscheidend ist. Wie gut der Jazz auch immer sein mag, Indy, ich schlage vor, dass Sie heute Nacht ein wenig schlafen.« »Schlafen«, seufzte Indy. »Jones.« Granger beugte sich verschwörerisch zu Indy.
»Brody hat in seinem Kabel keinen Zweifel daran gelassen, dass das vorrangige Ziel dieser Expedition darin besteht, Professor Starbuck aufzuspüren. Ein Teil der von ihm angeforderten Ausrüstung scheint jedoch nicht einmal ansatzweise dafür geeignet zu sein. Wozu brauchen wir mehrere Liter Tierbetäubungsmittel? Ich war klug genug, ihm nicht zurückzukabeln und zu fragen, was eigentlich gespielt wird, aber jetzt, da ich Ihnen gegenübersitze, glaube ich, ist der richtige Zeitpunkt gekommen. Was in aller Welt, Jones, wird hier gespielt?« »Im Augenblick kann ich Ihnen nur so viel verraten«, sagte Indy, »dass Brody die Wahrheit sagte, als er meinte, unser Auftrag bestünde darin, Professor Starbuck aufzuspüren. Sie sind kein Narr, Granger. Aber stellen Sie mir keine weiteren Fragen, bis wir sicher in der Mongolei angekommen sind.« »Ein merkwürdiges Begriffspaar«, sagte Granger. »Was meinen Sie?«, fragte Joan. »Sicher«, antwortete er, »und Mongolei.« Indy zeichnete die Wegstrecke von Schanghai bis in die Mongolei mit dem Finger nach. Dann spreizte er seine Hand und überbrückte die Entfernung von Peking bis zum Shen-SheiGebirge mit Daumen und kleinem Finger. »Ich hätte diese Expedition lieber von Peking aus gestartet«, erklärte Indy. »Das ist eine Stadt, die mir gefällt. Sauber, wunderschön, freundliche Menschen. Außerdem liegt sie näher an unserem Ziel.« »Dadurch würden wir den Japsen unangenehm nahe kommen«, widersprach Granger. »Seit sie die Mandschurei eingenommen haben - Manchuku, wie sie sie nennen -ist es im Norden nirgendwo mehr sicher.« »Mir wäre es lieber, wenn Sie sie Japaner nennen würden«, bat Joan. »Wieso?«, fragte Granger. »Uns nennen sie noch schlimmer. Sie haben einen Namen für uns, der »große Füße und stinkt nach Hamburger« bedeutet. Und von den Chinesen und Koreanern haben sie eine noch schlechtere Meinung.«
»Wenn wir von anderen das Beste erwarten, dann sollten wir es auch von uns selbst verlangen«, beharrte Joan. »Außerdem bin ich sicher, dass nicht alle Japaner so empfinden.« »Ich bin sicher, Sie haben Recht, Schwester«, erwiderte Granger. »Trotzdem bin ich froh, dass ich mich nicht den ganzen Weg bis in die Gobi und wieder zurück damit herumschlagen muss.« »Was soll das heißen?«, fragte Joan und versteifte sich. »Sie bleiben hier«, erklärte Indy. »Also, das widerspricht doch jeder Logik«, protestierte Joan. »Keiner von Ihnen beiden kennt meinen Vater. Sie besitzen nicht einmal eine Fotografie neueren Datums, auf die Sie zurückgreifen können. Was, wenn Sie einen wichtigen Hinweis übersehen?« »Tut mir Leid«, erwiderte Indy, »aber die Gobi ist kein Ort für Frauen. Da draußen gibt es Dinge, die Sie sich nicht einmal ansatzweise vorstellen können.« »Woher wollen Sie wissen, was ich mir ansatzweise vorstellen kann?« »Nun ja«, sagte Indy, »ich dachte lediglich -« »Schauen Sie«, unterbrach ihn Granger. »Haben Sie eine Vorstellung, was geschehen würde, wenn Sie einem der dortigen Warlords in die Hände fielen? Er würde Sie schneller an einen Mädchenhändler verhökern, als Sie ein „Ave-Maria“ aufsagen können, und es gäbe nichts, was wir dagegen tun könnten.« »Sie werden mir keine Angst einjagen, nur damit ich die artige, kleine Nonne spiele«, schäumte Joan. »Die katholische Kirche versucht das schon seit Jahren, und es hat nicht funktioniert, wieso glauben dann zwei ungehobelte Kerle wie Sie, es könne ihnen gelingen?« Granger hüstelte verlegen und schaute fort. »Muss ein toller Orden sein, dem Sie angehören«, meinte Indy. »Lassen Sie Ihre Scherze«, sagte Joan und wischte sich
mit dem Handrücken die Tränen ab. »Oh, ich weiß, was Sie jetzt denken - Sie denken, wie schwach ich doch bin und leicht beim geringsten Anlass in Tränen ausbreche. Schön, dann werde ich Ihnen jetzt mal was erklären. Ich weine nicht meinetwegen. Ich weine Ihretwegen, weil Sie solche Neandertaler sind.« Indy beugte sich über die Karte und bohrte seinen Finger in das Zentrum der Mongolei. »Urga«, sagte er. »Sie kommen mit bis nach Urga. Und kein Stück weiter.« Falls die Besucher des Lotus Eater Nachtklubs wussten, dass Asien am Rand eines Bürgerkriegs stand, so ließen sie es sich nicht anmerken. Das gut gekleidete internationale Publikum stellte, wie Indy fand, ein Abbild der übrigen Welt im Kleinen dar: Man trank und speiste und tanzte, als würde das Fest niemals zu Ende gehen. Joans Ordenstracht hatte in diesem exotischen Lokal, auf dessen Tanzfläche sich die Uniformen aus einem Dutzend Nationen drängten, und wo man den Lärm der dazugehörigen Sprachen vernahm, keinen einzigen erstaunten Blick hervorgerufen. Die einzigen chinesischen Gesichter in der Menge waren die der Kellner, der Jazzband, die ebenso verbissen wie erfolglos den Dixilandsound einzufangen versuchte, und des Klubbesitzers, eines mondgesichtigen Gangsters mit Namen Lao Che. Laos harte Augen besaßen, seinem rundlichem Erscheinungsbild zum Trotz, einen entschieden wölfischen Glanz. Indy kannte ihn vom Hörensagen, war ihm aber noch nie begegnet. »Dies ist der beste Nachtklub in Schanghai«, rühmte sich Wu Han. »Hier kommen nur die besten Leute her.« »Wenn das die besten sind«, meinte Indy, »dann will ich die schlechtesten gar nicht erst sehen.« Er hatte das unablässige Kommen und Gehen verfolgt, das sich an Lao Ches Tisch vorüberschob, und voller Verdruss die Geldsummen
registriert, die dabei über den Tisch gingen. In die Wand hinter dem Tisch war eine abgeschlossene Vitrine eingelassen, die mehrere Reihen mit Gefäßen enthielt, der größte Teil bestand aus Steingut, einige jedoch waren aus reich verziertem Elfenbein oder Jade. »Tut mir Leid«, sagte Wu Han niedergeschlagen. »Gefällt Ihnen der Hot Jazz nicht? Wir könnten das Lokal wechseln.« »Die Musik ist gut«, erwiderte Indy. »Sehr gut sogar. Ich hatte nicht die Absicht, Sie zu kränken. Mir wird nur äußerst mulmig, wenn ich sehe, was sich an den Tischen abspielt.« Wu Hans Gesicht wurde ernst. »Lao Che ist ein überaus mächtiger Mann, Dr. Jones«, erklärte er. »Man tut besser daran, so zu tun, als nähme man von derlei Aktivitäten keinerlei Notiz. Er hat Schanghai fest im Griff.« Wu Han ballte die Finger seiner rechten Hand zu einer festen Faust. »Ich möchte mich entschuldigen, wenn ich Sie dadurch, dass ich Sie hierher gebracht habe, gekränkt haben sollte.« »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen«, erwiderte Indy leichten Mutes. »Wir werden gehen«, sagte Wu Han. »Nein, kommt nicht in Frage«, entgegnete Indy. »Außerdem ist es sehr unhöflich, das Lokal zu verlassen, solange die Band mitten in einem Stück ist. Wir werden noch ein paar Stücke bleiben.« »Wie Sie wünschen.« »Hat Ihnen der Besuch auf der Hafenpromenade heute Abend gefallen?«, erkundigte sich Indy. »Aber ja«, antwortete Joan. »Wu Han ist ein außerordentlicher Führer.« »Da gebe ich Ihnen Recht«, sagte Indy. »Im Grunde ist er in allem, was er tut, ziemlich außergewöhnlich. Er erkennt instinktiv, was nötig ist, und tut es. Ich weiß nicht, was Granger Ihnen zahlt, aber es ist auf jeden Fall zu wenig.« Wu Han machte eine leichte Verbeugung.
»Die Ehre, mit dem großen amerikanischen Archäologen zusammenzuarbeiten, ist Lohn genug«, erwiderte er. »Außerdem war Joan so freundlich, mein unzulängliches Englisch zu verbessern.« »Ihr Englisch ist perfekt«, lachte Joan. »Nur bei Ihren Redewendungen könnten Sie ein wenig Unterstützung gebrauchen.« »Verzeihen Sie meine Direktheit«, sagte Indy, »aber Sie werden doch bezahlt?« »Man hat sich meiner Dienste durch eine Übereinkunft mit meinem Arbeitgeber versichert«, erklärte Wu Han. »Ihrem Arbeitgeber?«, fragte Indy. »Granger sagte, Sie seien Gelehrter. Unterrichten Sie an der Universität?« »Nein«, antwortete Wu Han. »Ich war Student der politischen Wissenschaften, aber bevor ich mein Examen ablegen konnte, war ich gezwungen, meiner ehrenwerten Familie zuliebe die Universität zu verlassen.« »Tja, manchmal ist es selbst für einen Gelehrten und Alleskönner schwer, an Geld zu kommen«, meinte Indy. »Sie arbeiten also für einen hiesigen Geschäftsmann.« »Richtig.« Wu Hans Gesicht hellte auf. »Hören Sie«, sagte Indy. »Wir brauchen jemanden wie Sie, der für den reibungslosen Ablauf dieser Expedition sorgt, jemand, der die unvermeidlichen Widerstände entschärft, auf die wir bei den Einheimischen stoßen werden. Sie werden Geld dafür bekommen, um Ihre Familie werden Sie sich also keine Sorgen mehr machen müssen, und wenn wir zurückkommen, werde ich es so einrichten, dass Sie Ihr Studium beenden können ... vielleicht in Amerika.« Wu Han machte ein Gesicht, als hätte Indy ihm einen Schlag in den Magen versetzt. »Was ist denn?«, fragte Joan. »Ich habe ein solch großzügiges Angebot nicht verdient«, sagte Wu Han. »Ich bin Ihnen zwar sehr dankbar für Ihr Vertrauen, aber ich fürchte, es ist mir nicht möglich, Schanghai zu verlassen.«
»Sie verschweigen uns etwas« / stellte Indy fest. »Der Respekt verlangt, dass ich meine Pflichten meiner Familie und meinem Arbeitgeber gegenüber erfülle«, erklärte Wu Han. »Aber meine Gebete werden Sie auf Ihrer Reise begleiten.« »Dieser Arbeitgeber«, sagte Indy. »Das ist Lao Che, hab ich Recht?« Wu Han schwieg. »In was für Schwierigkeiten stecken Sie?« »Bitte, Dr. Jones. Sie dürfen meine Familie nicht vergessen.« »Wo befindet sich Ihre Familie zur Zeit?«, wollte Joan wissen. »Vielleicht können wir ihr helfen, und dann wären Sie diesen Gangster los.« »Familie tot«, antwortete Wu Han, dessen Englisch sich im gleichen Maße auflöste, wie die Gefühle in seinem Innern aufwallten. »Eltern und kleine Schwester starben bei Grippeepidemie.« »Das tut mir Leid«, sagte Joan. »Das braucht es nicht«, erwiderte Wu Han. »Das ist der Lauf der Dinge. Wir haben uns in der Zeit, die uns vergönnt war, sehr geliebt.« »Aber wenn sie nicht mehr leben«, fragte Joan, »wieso hat Lao Che Sie dann durch sie in der Hand?« »Er ist im Besitz ihrer Seelen«, antwortete Wu Han leise. Joan schien verwirrt. »Ihre Asche«, erläuterte Indy. »Der Bastard hat ihre Asche.« »So ist es«, bestätigte Wu Han. »Auf diese Weise hat er viele aus meinem Volk in seiner Gewalt. Man verlangt abscheuliche Dinge von uns, wir werden gezwungen, dabei zu helfen, die Menschen mit Hilfe von Opium und Prostitution zu Sklaven zu machen. Ich führe seine Bücher. Trotzdem schäme ich mich.« »Wie lange müssen Sie für ihn arbeiten, um ihre Asche auszulösen?«
»Zehn Jahre«, antwortete Wu Han. »Für jeden Einzelnen von ihnen.« »Dann sind Sie über fünfzig, bevor Sie Ihre Freiheit wiedererlangen«, stellte Joan fest. »Ich habe keine andere Wahl«, sagte Wu Han. »Aber wir sprechen von ihrer Asche«, meinte Joan, »nicht von ihren Seelen.« »Wir befinden uns in China«, gab Indy zu bedenken. »Wenn die Toten nicht unter Einhaltung eines bestimmten Rituals im Familiengrab beigesetzt werden, wandern ihre Seelen über die Erde und flehen die noch lebenden Verwandten an, ihrer Qual ein Ende zu bereiten.« »Das ist doch lächerlich«, entfuhr es Joan. »Tatsächlich?«, fragte Indy. »Ich bin sicher, einige Ihrer religiösen Überzeugungen werden Wu Han gleichermaßen absurd erscheinen. Nur ist er zu höflich, es offen auszusprechen.« Joan errötete. »Tut mir Leid«, meinte sie. »Nein«, sagte Wu Han. »Ich bin es, der sich entschuldigen sollte, weil ich Ihren sorgenfreien Abend mit meinen unmaßgeblichen Problemen belaste. Bitte, vergessen Sie das alles. Ich werde Ihnen einen anderen Klub zeigen, wo der Hot Jazz ausgezeichnet ist.« Wu Han erhob sich. »Augenblick noch«, sagte Indy. »Sie wollen noch bleiben?« »Verraten Sie mir eins«, sagte Indy. »Wünschen Sie sich nicht mehr als alles andere, dieses unehrenhafte Leben ablegen und sicher sein zu können, dass Ihre Familie in Frieden ruht? Und sollte dies geschehen, würden Sie dann die Expedition begleiten und Ihre Ausbildung beenden, wenn wir wieder zurück sind?« »Natürlich, Dr. Jones. Aber -« »Kein Aber. Und nennen Sie mich Indy.« »Bitte«, wand sich Wu Han. »Ich kann meine Überein-
kunft mit Lao Che unmöglich brechen. Ich würde das Gesicht verlieren und meine Familie entehren. Mir sind die Hände gebunden. Ich habe mein Wort gegeben.« »Ich habe niemandem mein Wort gegeben«, entgegnete Indy. »Und wenn ich zulasse, dass einer meiner Freunde auf diese Weise von einem mit Drogen handelnden, schweinegesichtigen Schmalspurgangster misshandelt wird, verliere ich mein Gesicht. Können Sie das verstehen?« »Freund.« Wu Han sprach das Wort voller Ehrfurcht aus. »Dr. Jones«, sagte Joan. »Bei allem gebührenden Respekt für Wu Han und die Überreste seiner Familie, ich glaube nicht, dass wir uns hier einmischen sollten. Meinen Sie nicht auch, dass wir das den Behörden überlassen sollten?« »Vermutlich hat Lao Che auch die Asche von deren Vorfahren in seinem Wandschrank eingeschlossen«, erwiderte Indy. »Wu Han, welche der Urnen hinter ihm gehört Ihrer Familie?« »Drittes Regal, Mitte. Die steinerne Urne mit den Schriftzeichen für Frieden und Wohlstand darauf.« »Sie müssen mir helfen, Schwester - das heißt, wenn Sie mit von der Partie sind.« »Selbstverständlich bin ich mit von der Partie, wie Sie es ausdrücken. Vorausgesetzt Sie glauben wirklich, Wu Han helfen zu können, ohne uns alle umzubringen.« »Seien Sie unbesorgt«, versicherte Indy. »Nach Lage der Dinge wird es ihnen schlimmstenfalls gelingen, einen von uns umzubringen, bevor die anderen fliehen können. Ich werde mich jetzt zur Herrentoilette begeben und auf dem Weg dorthin so tun, als wäre ich außerordentlich betrunken. Wenn ich an den Tisch zurückkehre, werde ich bei äußerst übler Laune sein. Also denken Sie daran, ich bin nicht Ihr Freund.« »Nicht mein Freund?« Wu Han klang verwirrt. »Wir tun nur so als ob.« »Ja, natürlich.« Als die Band am Ende eines Stückes angelangt war, stand
Indy auf, blieb einen Augenblick lang schwankend stehen, dann langte er hinüber, ergriff Joans halbvolles Weinglas und leerte es. Dann knallte er es mit solcher Wucht wieder auf den Tisch, dass es umstürzte, bis zum Rand rollte und anschließend auf dem Boden zerschellte. Aller Augen richteten sich auf sie. »'tschuldigung«, sagte Indy mit einem blöden Grinsen und gerade so genuschelt, dass es überzeugend wirkte. Dann durchquerte er gemächlich den Raum und wankte dabei unbeholfen rücklings gegen einen weiteren Kellner, dessen Tablett scheppernd zu Boden fiel. »Ihr erster Tag in diesem Job?«, fragte er. »Bitte, Sir«, erwiderte der Kellner und langte zuerst nach der Schweinerei auf dem Fußboden und schließlich nach Indys Ellbogen. »Soll ich Ihnen vielleicht helfen, zur -« Indy riss sich von ihm los. »Mir geht es ausgezeichnet«, beharrte er und setzte seinen Weg fort. Der Bandleader warf Indy einen besorgten Blick zu, dann begann er, eine schwungvolle Version von Ain't We Got Fun zu spielen. In der Herrentoilette angelangt, nickte Indy dem Wärter, der einen Korb mit heißen Handtüchern bereit hielt, freundlich zu. Indy trat vor den Spiegel, inspizierte seine Frisur und deutete schließlich mit dem Daumen auf die Tanzfläche. »Da draußen herrscht ein abenteuerliches Chaos«, sagte er. »Ein Betrunkner hat ein großes Tablett mit Getränken auf die Erde fallen lassen. Offenbar ist der Hausmeister nicht aufzutreiben. Vielleicht sollten Sie gehen und den anderen helfen.« Der Wärter wirkte unschlüssig. »Gehen Sie nur«, drängte Indy und tat, als bewundere er sein eigenes Spiegelbild. »Meine Begleiterin würde gerne tanzen, und in dem Chaos da draußen ist das unmöglich.« Er wühlte in seiner Hosentasche und ließ ein paar Münzen auf den Teller des Toilettenwärters fallen.
Der Wärter nickte und eilte hinaus. Die Tür hatte sich kaum geschlossen, als Indy zum Aschenbecher neben der Tür hinüberging. Er war bis auf einen glimmenden Zigarrenstummel sauber - offenkundig nahm der Wärter seine Arbeit ernst. Indy faltete das Taschentuch aus der Brusttasche seiner Smokingjacke auseinander und breitete das Stoffquadrat auf dem Boden aus. Stirnrunzelnd hob er den feuchten Zigarrenstummel mit bloßen Fingern auf und warf ihn fort. Dann schaufelte er mit beiden Händen mehrere Hände voll Sand aus dem Aschenbecher in das Taschentuch. Als er glaubte, ungefähr die richtige Menge zu haben, knotete er das Taschentuch an den Ecken zusammen. Er war gerade dabei, das Päckchen in seine Socke zu stopfen, als der Wärter zurückkehrte. »Alles unter Kontrolle, Sir«, verkündete dieser. »Natürlich ist es das«, pflichtete Indy ihm bei und ging. Auf dem Weg zurück zu seinem Tisch wiederholte Indy seinen Auftritt mit nur unwesentlich verminderter Energie, setzte sich aber nicht hin. »Ich möchte, dass Sie mich Lao Che vorstellen«, sagte er, sich mit beiden Händen an der Tischkante abstützend. »Aber, Dr. Jones«, erwiderte Wu Han. »Das ist vielleicht nicht der richtige Augenblick.« »Sofort«, beharrte Indy, ein wenig lauter als nötig. »Wie Sie wünschen.« Wu Han senkte den Blick. Indy stützte sich auf Wu Hans Schulter, während sie sich zum Ecktisch hinüberbegaben. Joan folgte ein paar Schritte hinter ihnen, Indy mit jedem Schritt heftig ob seiner Unfähigkeit beschimpfend, sein Aufnahmevermögen für Alkohol richtig einzuschätzen. Lao Che wurde von drei seiner Söhne flankiert. Alle drei stammten von verschiedenen Müttern. Es gab einen Dicken, einen übertrieben Dürren sowie einen, der so gut aussehend wie die anderen hässlich war. Jeder von ihnen wies die verräterische Beule einer versteckten Waffe unter seinem Jackett auf.
Wu Han bat den Gangster in hektischem Chinesisch um Verzeihung und entschuldigte sich für Indys pöbelhaftes Benehmen. Lao Che entgegnete lachend, alle Amerikaner seien Trottel, warum sollte also ausgerechnet dieser eine Ausnahme bilden? Lao Che schien sich nur vage zu erinnern, um wen es sich bei Wu Han handelte. »Arbeitest du für mich?«, fragte Lao Che argwöhnisch auf Chinesisch. Wu Han erwiderte, man habe ihn beauftragt, bei der amerikanischen Expedition zu helfen, und gab ihm anschließend rasch einige ergänzende Informationen. »Freut mich, Sie kennen zu lernen, Dr. Jones«, brummte Lao Che auf Englisch. »Freut mich, dass Sie sich amüsieren. Darf ich Ihnen noch etwas bringen lassen? Oder Ihnen, Schwester?« »Nein, danke«, sagte Joan. »Außerdem denke ich, Dr. Jones hatte bereits mehr als genug. Wie Sie sehen, kann er einem ganz schön zu schaffen machen.« »Ich fürchte, da hat sie Recht.« Indy feixte. »Ist sie Ihr Gewissen?«, wollte Lao Che wissen. »Verraten Sie mir eins, wieso begleitet Sie eine katholische Ordensschwester? Haben Sie etwa die Absicht, bei Ihrer Ankunft in der Mongolei ein paar Menschen zu bekehren, Dr. Jones?« »Ich tue, was ich kann«, erwiderte Joan. »Immer eine Seele auf einmal.« »Genau wie ich!«, rief Lao Che. »Man darf auf seiner Suche nach den irdischen Freuden die spirituellen Aspekte des Lebens nicht vernachlässigen, was? Wo wir gerade von irdischen Freuden sprechen, ich hoffe, Sie werden sich morgen früh nicht allzu unwohl fühlen. Möchten Sie, dass ich Ihnen eines meiner Mädchen mit nach Hause gebe, damit sie sich um Ihre in Bälde einsetzenden Kopfschmerzen kümmert? Es ist die beste Medizin gegen Kater, die ich kenne. Ich bin sicher, die gute Schwester wird angesichts eines solchen Aktes der Barmherzigkeit ein Auge zudrücken.«
»Nein, danke, Lao«, erwiderte Indy. »Und falls Schwester Joan fähig ist, ein Auge zuzudrücken, so wäre mir das neu.« Lao Che lachte. »Dieser Bursche hier - wie zum Teufel lautet gleich sein Name? Ich habe so viele Angestellte, dass ich sie mir nie merken kann berichtet, dass alles für Ihre Abreise bereit ist«, erklärte er. »Ich hoffe, Sie und Mr. Granger haben feststellen können, dass er Ihnen ein wenig von Nutzen war?« »Durchaus«, erwiderte Indy. »Er ist ein ausgezeichneter Angestellter. Sie sollten sich beglückwünschen, dass Sie ein so vorzüglicher Charakterkenner sind - und ein so gerissener Geschäftsmann.« »Das kommt nur auf den richtigen Ansporn an«, entgegnete Lao Che bescheiden. »Darüber hinaus sind Sie offenbar auch ein vorzüglicher Kenner von Sammlerstücken«, fuhr Indy fort. »Ich habe von unserem Tisch aus Ihre Sammlung von Totenurnen gesehen und konnte nicht umhin, sie zu bewundern. Wu Han hat versucht, mir abzuraten, Sie danach zu fragen, er meinte, Sie seien zu bescheiden, über sie zu sprechen. Trotzdem würde ich sie mir gerne einmal aus der Nähe ansehen.« »Sie sind wirklich nichts Besonderes«, sagte Lao Che. »Nein bestimmt, sie sind ganz unwiderstehlich«, sagte Indy, der mittlerweile immer nüchterner klang. »Selbst aus der Entfernung konnte ich erkennen, dass es sich um eine recht umfassende Sammlung handelt. Ich wäre Ihnen überaus dankbar, wenn ich kurz einen Blick darauf werfen dürfte.« Lao Che spielte mit dem Vitrinenschlüssel, der an einer goldenen Kette um seinen Hals hing. »Im Ernst, Mr. Jones«, sagte er, »die meisten von ihnen sind wirklich ganz gewöhnliche Stücke.« »Wo bleiben Ihre Manieren?«, meinte Joan tadelnd. »Sehen Sie nicht, dass Sie Mr. Che in Verlegenheit bringen?« »Das war keinesfalls meine Absicht«, erwiderte Indy. »Das Museum wäre wirklich interessiert, einige der Urnen
für die Komplettierung seiner Begräbnisausstellung anzukaufen. Aber ich kann durchaus verstehen, dass er sich nur äußerst ungern von ihnen trennen möchte.« »Dr. Jones!«, protestierte Wu Han. »Derartige Dinge sind unverkäuflich.« Lao Che grinste breit. »Ach, kommen Sie«, sagte er. »Möglicherweise könnte ich mich überreden lassen, zu einer Museumssammlung beizutragen. An welcher der Urnen wären Sie am meisten interessiert?« Lao Che streifte die Kette über den Kopf und drehte sich um, den Schlüssel in der Hand. »Die Jadeurne im obersten Regal«, antwortete Indy. »Einige von ihnen enthalten leider immer noch Asche«, sagte der Gangster, als er die Vitrinentür öffnete. »Wer weiß nach so langer Zeit schon, wem sie gehört? Allerdings verlangen die guten Sitten, dass die Überreste hier in Schanghai bleiben, wo sie hingehören, da möglicherweise noch ein Nachkomme gefunden werden könnte.« »Natürlich«, sagte Indy. »Das Museum ist ausschließlich an den Stücken selbst interessiert.« Lao Che hob die Jadeurne vorsichtig herunter und stellte sie unter den aufmerksamen Blicken seiner Söhne auf den Tisch. »Ausgezeichnet«, meinte Indy. Er zog seine Brille aus der Hemdtasche und schob sie auf seinen Nasenrücken. Daraufhin beugte er sich vor, bis er auf Augenhöhe mit dem Stück war. »Darf ich?«, fragte er. Lao Che war unschlüssig. »Das Museum wäre bereit, für Stücke dieser Qualität eine stattliche Summe zu bieten«, sagte Indy. »Bitte«, strahlte Lao Che, »seien Sie mein Gast.« Indy hob die Urne auf und wog sie in den Händen. Er strich mit den Daumen über die fein gearbeiteten Reliefs aus fauchenden Drachen und dahingleitenden Kranichen.
»Es ist Manchu«, erläuterte Lao Che. »Aus der Manchu-Dynastie?«, fragte Joan. »Nein«, erklärte Indy. »Es handelt sich um ein vor vergleichsweise kurzer Zeit entstandenes Stück aus der großen Volksgruppe der Manchu. In China existieren mehr als fünfzig solcher Volksgruppen, jede mit einer eigenen Kultur, eigenen religiösen Überzeugungen und einer eigenen Sprache. Deswegen herrscht dort beinahe ständig ein bürgerkriegsähnlicher Zustand, und deswegen sind Reisen und Politik hier so überaus schwierig. Im Grunde gelten nur die Han als echte Chinesen. Aber selbst bei den Han gibt es zahllose Untergruppen mit hunderten von Dialekten.« »Gibt es hier ein Exemplar einer Han-Vase?« »Ja«, sagte Indy und gab Lao Che den Jadebehälter zurück. »Die Steinernen dort in der Mitte. Wenn Sie nichts dagegen haben, Lao.« Der Gangster ergriff eine Urne neben der, die Indy wollte. »Nein«, sagte Indy. »Die Han-Vase, dort. Ja, genau.« Nervös rückte Lao Che mit der steinernen Vase heraus. Wu Han sog den Atem ein und schloss die Augen. »Sehen Sie, wie schlicht dieses Exemplar gearbeitet ist?«, fragte Indy und hielt sie dicht unter die Tischkante, als er sie Joan zeigte. Dabei beugte diese sich vor und tat, als betrachte sie sie. Indy tippte mit dem Daumen auf seine Jacketttasche. Joan zog die Tasche mit dem Zeigefinger auf, und Indy nahm in einer einzigen Bewegung den Deckel von der Urne und schüttete die Überreste von Wu Hans unmittelbaren Anverwandten in die rechte Tasche seiner Smokingjacke. »Keinerlei Verzierungen, bis auf die ins Auge fallenden Schriftzeichen für Friede und Wohlstand. Ziemlich schlicht, finden Sie nicht?« Indy hielt die Vase in die Höhe. »Und hier, auf der Unterseite -« »Dr. Jones!«, rief Joan. Die Vase entglitt Indys Fingern und fiel zu Boden. Als Indy sich bückte, um sie aufzuheben, zog er das Taschentuch
mit dem Sand aus dem Aschenbecher aus seiner Socke und verteilte den Inhalt rings um die Vase auf dem Boden. »Oh nein, sehen Sie nur, was ich angerichtet habe«, sagte Indy. »Wie es scheint, habe ich die sterblichen Überreste irgendeines armen Teufels über den ganzen Fußboden verteilt. Warten Sie, lassen Sie mich das wieder einsammeln.« Wu Han fiel beinahe in Ohnmacht und musste sich an Joans Arm festhalten, um nicht neben Indy auf dem Fußboden zu landen. »Meine Söhne werden diese Schweinerei zusammenkehren«, befand Lao Che. Lao Ches spindeldürrer Sohn gesellte sich unter dem Tisch zu Indy, während der dicke in die Urne hineinlinste und dabei ein angewidertes Geräusch von sich gab. Mit Daumen und Zeigefinger entfernte er einen Zigarettenstummel aus der Asche. »Tut mir Leid«, meinte Indy, dessen Kopf kurz über der Tischkante erschien, »muss auf dem Fußboden gelegen haben.« Lao Che brummte etwas. »Vielleicht sollten wir ein andermal damit weitermachen«, schlug Indy vor, rappelte sich auf und klopfte sich die Asche von den Knien. »Am besten, wenn ich ein wenig nüchterner bin als gerade jetzt.« Lao Che starrte Indy überrascht an. »Kommen Sie, Dr. Jones«, sagte Wu Han und zog ihn am Arm. »Wir bringen Sie zu Bett. Auch der erste Abschnitt einer langen Reise beginnt am frühen Morgen, und Sie müssen einsatzbereit sein.« Als sie draußen vor der Tür des Lotus Eaters einer nach dem anderen in ein Taxi kletterten, zog Indy seine Smokingjacke aus und reichte sie Wu Han. »Ich denke, das hier«, sagte er, »gehört wohl Ihnen.« Die im unmittelbar neben den Docks von Schanghai gelegenen Rangierbahnhof auf eine Dreiergruppe aus offenen Gü-
terwagen verladene Ausrüstung der Expedition erweckte im frühmorgendlichen Licht verräterisch den Eindruck einer Militäroperation. Der Gegenstand, der bei den Eisenbahnarbeitern die meiste Aufmerksamkeit weckte, war das auf der Ladefläche eines der brandneuen Lastwagen montierte 30-MillimeterSchnellfeuergewehr. Die Lastwagen waren der Expedition von der Dodge Motor Company zur Verfügung gestellt worden, die das Museum bereits in der Vergangenheit mit Fahrzeugen ausgerüstet hatte, das Schnellfeuergewehr jedoch stammte aus dem Armeedepot der Briten. »Ich muss schon sagen«, schäumte Joan, als die Plane über dem Lastwagen und dem Gewehr festgezurrt wurde. »Brauchen wir dieses abscheuliche Ding wirklich? Wir sind hier, um meinen Vater aufzuspüren, nicht um einen Krieg anzuzetteln.« »Schwester«, erwiderte Indy, dessen Atem in der kalten Luft zu stehen schien, »das könnte auf ein und dasselbe hinauslaufen. Dort draußen gibt es Dinge - Banditen, Warlords, Privatarmeen -, von denen Sie sich absolut keine Vorstellung machen. Dinge, die sich mit Ihrem Glauben an das grundsätzlich Gute im Menschen keineswegs vereinbaren lassen.« Indy sah auf seine Uhr. Es war Viertel nach Vier. »Wu Han«, sagte er, den Reißverschluss seiner Lederjacke hochziehend. »Besteht die Möglichkeit, dass wir uns jetzt sofort heimlich davonstehlen? Ich wäre gern unterwegs, bevor jemand Verdacht schöpft, dass wir aufgebrochen sind.« »Das ist ein Güterzug«, meinte Wu Han, »für den ein Fahrplan existiert. Es gibt Dinge, die bedacht werden müssen, wie zum Beispiel entgegenkommende Züge auf demselben Gleis. Aber ich will versuchen, den Lokomotivführer zu überzeugen.« »Versuchen Sie es hiermit.« Indy drückte Wu ein Bündel Scheine in die Hand. »Betrachten Sie die Angelegenheit als erledigt«, sagte Wu Han.
Granger lief am Zug entlang, ein Klemmbrett in den Händen und die Pfeife im Mund, und inspizierte die Güterwagen ein letztes Mal auf all das, was sich an Bord befinden sollte. »Fahren wir endlich los«, rief Indy. »Augenblick noch«, meinte Granger. »Falls wir etwas nicht dabei haben, können wir nicht mal eben in die Drogerie an der Ecke springen und es nachkaufen. So weit reicht nicht einmal der Arm von Sears and Roebuck.« Indy trat auf die Plattform am hinteren Ende des Passagierwaggons, der an den letzten Güterwagen der Expedition gekoppelt war. Er hatte Joan im Schlepptau. Indy hörte, wie der Klang des Zylinderkopfs der alternden Dampflokomotive tiefer wurde, als der Druck im Dampfkessel stieg. »Der Zug fährt ab, ob Sie an Bord sind oder nicht«, rief er Granger zu. »Also gut, alter Knabe«, schrie Granger zurück. »Fahren Sie nicht gleich aus dem Hemd. Aber ich weiß nicht, was die Eile soll, laut Fahrplan bleiben uns wenigstens noch fünfundvierzig Minuten bis zur Abfahrt.« »Nennen Sie es amerikanischen Ehrgeiz«, gab Indy zurück und nahm neben Joan auf einem der hartlehnigen Holzsitze Platz. Als Granger erschien und sich ihnen gegenüber niederließ, ruckte der Waggon, die Lokomotive zog an und brachte die locker aneinander gekoppelten Waggons unter Spannung. Dann öffnete der Lokomotivführer die Drosselklappe ein paar Stufen weit, und der Schanghaier Rangierbahnhof begann ringsum zurückzugehen. »Was Sie gestern Abend für Wu Han getan haben, war bewundernswert«, meinte Joan an Indy gewandt. Sie gab ihm verlegen einen Klaps auf die Schulter seiner Lederjacke. »Noch haben wir Schanghai nicht verlassen«, gab Indy zu bedenken. Er zog seinen Filzhut ins Gesicht, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Er fühlte sich nicht wohl. Ihm war zwar nicht gerade übel, aber er litt an einer schrecklichen Verdauungsstörung. Joan hatte darauf bestanden, am Abend
vorher, vor ihrem Besuch im Nachtklub, eine traditionelle chinesische Mahlzeit einzunehmen, und Indy befürchtete, dass er einen schlechten Aal gegessen hatte. »Sagen Sie mir Bescheid, wenn wir die Stadt sicher hinter uns gelassen haben.« Wu Han kletterte von der Lokomotive herunter und ließ den Zug passieren. Als der Passagierwaggon nahte, nahm er ein paar Schritte Anlauf, packte die Haltestange und schwang sich auf die hintere Plattform. Auf einem buddhistischen Friedhof in den Außenbezirken der Stadt brannten noch immer Räucherstäbchen, während fröhlich bunte Gebetsfähnchen über den Überresten seiner Familie flatterten. Ihre Asche war sicher in einer heimlich angekauften, granitenen Gruft beigesetzt worden. Wenn Wu Hans Zeit käme, würde man den Deckel der Grube öffnen und seine Asche über der seiner Eltern und seiner kleinen Schwester verstreuen. Wu Han verweilte einen Augenblick lang auf der Plattform. Ihm war eine große Last von den Schultern genommen worden. Er sog die Luft in tiefen Zügen ein und bemerkte, so als wäre es das erste Mal, den Geruch der Stadt: eine Mischung aus Abwässern, Meerwasser und dem Holzrauch der Lokomotive, dazu der unverkennbare Gestank von verdorbenem Fleisch und Fisch von dem nahen, unter freiem Himmel liegenden Markt. »Bis dann, Lao Che«, sprach Wu Han in den Wind. »Auf dass ich nie wieder deinen Gestank einatmen muss.« Drei Stunden außerhalb von Schanghai, während der Güterzug bei voller Geschwindigkeit auf seinem Strang aus Schmalspurgleisen durch einen endlosen Flickenteppich aus Kanälen und Reisfeldern dahinraste, rüttelte Joan Indiana Jones wach. »Zeit fürs Frühstück«, sagte sie und stellte ihm eine Pappschachtel auf den Schoß. Indy fühlte sich noch weniger wohl als bei der Abfahrt
des Zuges. Er untersuchte den Inhalt der Schachtel. Größtenteils Reis, dazu ein kleiner Bissen Fisch, eingewickelt in ein großes Seetangstück. Des Weiteren ein paar Essstäbchen aus Bambus und eine Papierserviette. Der Fisch roch für sein Empfinden ein wenig zu sehr nach Aal. »Das ist unappetitlich«, sagte Indy und schob die Schachtel von sich. »Gibt es Kaffee?« »Grünen Tee«, erwiderte Joan. »Auf dem Kohleofen am vorderen Ende des Waggons steht eine ganze Kanne. Gleich daneben gibt es auch einen Wasserkühler. Ist Ihnen nicht gut?« »Ich habe mich schon besser gefühlt«, erwiderte Indy. »Man hat Sie gestern Abend gewarnt, nicht zu viel zu trinken.« »Sehr komisch.« Indy war nicht amüsiert. »Das war nur gespielt, haben Sie das schon vergessen?« »Ich denke, Sie hatten ein wenig zu viel Spaß daran.« »Das ist der schlechteste erste Eindruck, den ich je hinterlassen hab«, murmelte Indy und schleppte sich in den Mittelgang. Obwohl der Zug als Güterzug deklariert war, hatte sich der Passagierwaggon bei einem halben Dutzend Halts seit dem Verlassen Schanghais mit Menschen gefüllt. Es waren ausnahmslos Chinesen, und viele von ihnen hatten ihre Habseligkeiten, zu einem Bündel geschnürt, vor den Füßen liegen. Während er sich in den vorderen Teil des Waggons begab, setzte Indy wiederholt ein Lächeln auf, das jedoch kein einziges Mal erwidert wurde. Er warf einen Blick in das offene, zerbeulte Fünf-Gallonen-Fass, das als Wasserkühler diente, und in dem Käfer sowie andere, weniger eindeutig identifizierbare kleine Partikel schwammen. Er nahm eine Blechtasse, spülte sie mit Wasser aus dem Fass aus und schenkte sich etwas Tee aus dem Kessel auf dem mit Kohle befeuerten Ofen ein. Während er an der brühend heißen Flüssigkeit nippte, betrachtete er die Ausrüstung der Expedition durch das
schmutzige Glas an der Stirnseite des Waggons. Die Planen waren da, wo sie hingehörten, und alles war noch in Ordnung. Dann sah er sich müßig im Innern des Passagierwaggons um und schloss aus dessen Stil sowie seinem abgewetzten Zustand, dass er bereits seit der Jahrhundertwende in Betrieb sein musste. Als er sich in einer Kurve das Bremssystem ansah, das unter dem vorausfahrenden flachen, offenen Güterwagen hing, wurde ihm klar, dass seine Einschätzung übertrieben wohlwollend gewesen war. Der Zug war zwar mit Luftbremsen ausgerüstet, aber es handelte sich um eine ältere Bauart, die für ihr Funktionieren auf die Zufuhr von aus der Lokomotive herbeigepumpter Druckluft angewiesen war. Die neueren, sichereren Bremsen - die in Amerika seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Betrieb waren - waren so konstruiert, dass die Bremsen griffen, sobald Druckluft verloren ging. Wenn das System leckschlug oder die Waggons von der Lokomotive getrennt wurden, griffen die Bremsen automatisch. Die einzige Möglichkeit, diesen Zug im Falle eines Systemversagens zu bremsen, bestand darin, von Hand ein riesiges Handrad am Ende eines jeden Waggons zu drehen. »Großartig«, verkündete Indy und spuckte einen Käfer aus. Den Rest des Tasseninhalts schüttete er aus dem Fenster. »Schmeckt Ihnen der Tee nicht?«, erkundigte sich Wu Han, von hinten kommend. »Kann ich Ihnen etwas anderes holen, Indy? Auf den Waggons gibt es einen kleinen Vorrat an Schokoladeriegeln und amerikanischer Limonade. Möchten Sie vielleicht etwas davon?« »Limonade?«, fragte Indy. »Ja«, sagte Wu Han. »Kräuterlimonade.« »Für eine Kräuterlimonade könnte ich jemanden umbringen«, meinte Indy. »Mein Magen ist schon den ganzen Vormittag verkorkst.« »Ich könnte Ihnen auch ein Medikament besorgen.«
»Nein, eine Kräuterlimonade ist genau das, was ich brauche. Wegen der Kohlensäure, wissen Sie. Aber auf den Güterwagen ist alles fest verzurrt, und es wäre zu viel Aufwand. Vielleicht sogar gefährlich, Sie könnten das Gleichgewicht verlieren.« »Kein Problem«, erwiderte Wu Han. »Ich stamme aus einer alten Akrobatenfamilie. Außerdem weiß ich genau, wo ich suchen muss, nämlich auf dem mittleren Waggon. Man braucht die Plane bloß an einer Ecke anzuheben, und da liegen sie schon.« »Ich werde Sie begleiten.« Beim Sprechen musste Indy ein mörderisches Aufstoßen unterdrücken. »Setzen Sie sich nur«, meinte Wu Han gut gelaunt. »Ich bin im Jetzt zurück.« »Im Nu«, verbesserte Indy. »Ich bin im Nu zurück.« »Natürlich. Vielen Dank.« Plötzlich war Wu Han durch die Tür und spazierte gekonnt über die Ladung. Indy setzte sich hin und verfolgte, wie sein junger chinesischer Freund auf den mittleren Waggon hinübersprang. An der Ecke eines Frachtbündels hielt er inne, löste den Strick, mit dem die Plane befestigt war, und bog den Deckel einer der Kisten mit den Fingern hoch. »Mit dem möchte ich nicht Armdrücken machen«, dachte Indy im Stillen. Wu Han entnahm der Kiste zwei Flaschen Kräuterlimonade, verschloss sie wieder und zurrte die Plane fest. Während er noch damit beschäftigt war, bemerkte Indy eine zweite Gestalt, die hinter die Ladung auf dem flachen Waggon huschte und sich von hinten an ihn heranschlich, ein schwarz gewandeter Mann mit einem Messer zwischen den Zähnen. »Passen Sie auf, hinter Ihnen!«, rief Indy durch die halb geöffnete Tür des Passagierwaggons, doch seine Worte gingen im Rauschen des Fahrtwindes und dem Geratter des Zuges unter. Wu Han hielt die beiden Flaschen grinsend in die Höhe.
Die Gestalt hatte sich bis auf Armeslänge an Wu Han herangeschlichen. Indy öffnete die Tür vollends und sprang auf die Plattform. Er zog den Webley aus seinem Halfter und zögerte. Das Rucken des Zuges würde das Zielen erschweren. Indy befürchtete, Wu Han an Stelle seines Angreifers zu treffen. »Runter!«, brüllte er. Der Mörder hatte das Messer in der rechten Hand erhoben. »Was?«, rief Wu Han zurück. Indy zielte über Wu Hans Schulter und feuerte. Die Kugel traf den Mörder in die Schulter und schleuderte ihn rücklings auf die mit einer Plane abgedeckte Motorhaube einer der Dodge-Lastwagen. Einen Augenblick lang versuchte er, hektisch um sich greifend, einen festen Halt zu finden, dann rollte er über den Rand des flachen Waggons auf den Gleiskörper. Indy überquerte den ersten Waggon und gesellte sich zu Wu Han. »Das war kein Spaß, als Sie sagten, Sie könnten jemanden für eine Kräuterlimonade töten«, stellte Wu Han fest. »Gehen Sie zurück in den Passagierwaggon«, kommandierte Indy. »Möglicherweise gibt es hier draußen noch mehr von der Sorte. Erklären Sie Granger, dass wir hier draußen Ärger haben, und sorgen Sie dafür, dass Schwester Joan drinnen bleibt und den Kopf unten hält.« »Wird gemacht.« »Warten Sie«, rief Indy. Er nahm sich eine der Limonadenflaschen. »Flaschenöffner?« »Sofort«, antwortete Wu Han. Indy entfernte den Kronkorken und hatte ein Drittel des Flascheninhalts hinuntergestürzt, bevor Wu Han wieder beim Passagierwaggon angelangt war. Indy setzte sich auf eine Frachtkiste. Während er wartete, leerte er, seine Pistole in der Hand, den Rest der Flasche.
»Ich liebe Kräuterlimonade«, verkündete er. Kurz darauf spürte er, wie sich ein gewaltiger Rülpser in seinem Magen zusammenbraute, und da er auf dem offenen Waggon alleine war, öffnete er den Mund und ließ der Natur freien Lauf. Er rülpste ausgiebig und laut, und augenblicklich ließ der Druck in seinen gequälten Eingeweiden nach. »Dr. Jones«, sagte eine Stimme auf Mandarin, während er gleichzeitig die Spitze einer Messerklinge in seinem Nacken spürte. »Haben Sie Ihre Manieren vergessen? Aber vermutlich hatten Sie nie welche.« »Hat Lao Che dich geschickt?« »Wer sonst?«, fragte die Stimme, zu Englisch mit britischem Akzent hinüberwechselnd. »Nein, drehen Sie sich nicht um. Die anderen können mich nicht sehen, und wir wollen sie doch nicht beunruhigen. Und seien Sie vorsichtig mit der Pistole - es könnte jemand verletzt werden, wissen Sie. Lassen Sie sie in Ihrem Schoß.« »Du bist der Boss.« »Sie können unmöglich erwartet haben, dass man Ihnen dieses alberne Täuschungsmanöver im Nachtklub gestern Abend durchgehen lässt. Es war in dem Moment durchschaut, als Laos ältester Sohn zur Toilette ging und herausfand, dass sich jemand am Aschenbecher dort zu schaffen gemacht hatte.« »Ich fand es ganz clever.« »Kann ich mir denken«, meinte die Stimme. »Sie haben die Wahl. Entweder verraten Sie mir, wo Wu Han die Überreste seiner Familie versteckt hat, damit Lao Che seinen Vertrag wiederherstellen kann, oder ich töte erst Sie und anschließend Wu Han.« »Du würdest mich auch töten, wenn ich es dir verriete«, sagte Indy. »Schon möglich, aber dann würde ich es schnell tun, anstatt Ihre Eingeweide über die Ladefläche dieses Güterwaggons zu verteilen. In diesem Zug gibt es keinen Arzt, Dr.
Jones, und Sie würden verbluten, wie sehr sich Ihre Freunde auch bemühten, Sie wieder zusammenzuflicken.« »Und warum solltest du Wu Han nicht töten, wenn ich es dir verrate?« »Seine Dienste sind zu wertvoll für Lao Che«, erwiderte die Stimme. »Er will ihn zurück. Einen guten Angestellten auf eine so wenig Gewinn bringende Weise zu vergeuden, wäre ein Zeichen mangelnden Geschäftssinns. Ihre armselige Expedition dagegen ist eine andere Geschichte. Der Boss wäre entzückt, wenn er sähe, dass sie endet, noch bevor sie überhaupt begonnen hat.« »Wer zum Teufel bist du?«, fragte Indy. »Ein Profi.« »Wie dein Kumpel eben? Oder hatte der bloß seinen schlechten Tag?« »Er war unvorsichtig. Ich nicht.« Granger stand in der Tür des Passagierwaggons, einen 7.5-Millimeter-Karabiner in der Hand. Indy winkte ihm lächelnd zu und bedeutete ihm per Handzeichen, zurückzugehen. Granger schien verwirrt und stieg hinüber auf den ersten Güterwaggon. »Sagen Sie dem alten Narren, er soll in den Waggon zurückgehen. « »Er kann mich nicht hören«, gab Indy zurück. »Dann erschießen Sie ihn.« Indy spürte, wie ihm das Blut zwischen den Schulterblättern hinunterrann, als sich das Messer fester in die weiche Vertiefung an seinem Schädelansatz bohrte. »Töten Sie ihn.« Indy richtete die Webley auf Granger und schoss. Die Kugel bohrte sich mit einem dumpfen Schlag hinter ihm in eine Kiste. Granger wirkte entgeistert und wusste nicht, ob er lachen oder das Feuer erwidern sollte. »Idiot!«, brüllte er. Indy rollte nach vorne ab, wodurch der Blick auf den Meuchelmörder frei wurde. Granger riss sein Gewehr hoch,
doch die dunkle Gestalt hatte sich hinter der Ladung verkrochen, bevor er einen Schuss abgeben konnte. Indy kroch zurück zu dem Waggon, auf dem Granger hinter einem der Lastwagen kniete, und versuchte, einen ungehinderten Schuss auf ihren Gegner abzufeuern. »Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Granger. »Kommt darauf an, wie man es betrachtet«, fauchte Indy gereizt. »Sehen Sie sich meinen Nacken an.« »Nicht der Rede wert«, meinte Granger. »Nicht der Rede wert? Es fühlt sich an, als würde ich verbluten.« »Fleischwunden bluten immer wie der Teufel.« Nach seinem Ton zu urteilen, betrachtete Granger die Angelegenheit als erledigt. »Wer ist der Kerl überhaupt?« »Ein Komplize Ihres Gangsterfreundes Lao Che.« »Wir sind nicht befreundet«, meinte Granger beleidigt. »Aber wenn man einen Job zu erledigen hat, nimmt man eben, was einem in die Hände fällt, wissen Sie. Mussten Sie wirklich auf mich schießen, Jones?« »Er hat mich mit einem Messer bedroht«, gab Indy zurück. »Außerdem habe ich absichtlich daneben geschossen. Ich wette, Sie sind froh, dass der Zug da nicht gerade über einen Hubbel gefahren ist, was?« »Ich weiß nicht, wie Sie darauf kommen, dass Sie schießen können.« Granger schüttelte den Kopf. »Konzentrieren Sie sich, Jones. Drücken Sie ganz sachte auf den Abzug. Ich habe Sie beobachtet. Wenn Sie schießen, halten Sie jedes Mal den Atem an und drücken so heftig auf den Abzug wie ein vierjähriger Junge bei seiner Schreckschusspistole.« »Tut mir Leid, wenn ich Ihre kleine Unterhaltung störe«, sagte Joan und kroch neben sie, »aber was haben Sie vor, gegen diesen Burschen da hinten zu unternehmen? Falls Sie es nicht bemerkt haben, er ist gerade dabei, die Planen über dem Lastwagen dort drüben aufzuschlitzen.« »Sagte ich nicht, Sie sollen dafür sorgen, dass sie hinten bleibt?«, schimpfte Indy.
»Was zum Teufel könnte er im Schilde führen?«, überlegte Granger. »Sagen Sie, das große Maschinengewehr auf dem Lastwagen ist doch nicht etwa geladen? Ich meine, Sie haben es doch noch nicht mit einem Magazin versehen, oder?« »Ohne das wäre es doch nutzlos.« »Na, großartig«, meinte Indy. »Oh, ich bezweifle, dass der Kerl im Stande ist zu begreifen, wie man das Ding bedient. Das ist ziemlich kompliziert, wissen Sie, und die meisten dieser einfachen Burschen haben keinerlei Erfahrung mit modernen Feuerwaffen. Sobald es sich nicht um einen Frontlader handelt, sind sie aufgeschmissen.« Der Killer riss den Bolzen an dem britischen Maschinengewehr nach hinten und legte einen Patronengurt ein. Er kauerte hinten auf dem Lastwagen, und die Mündung des Gewehrs zielte in die Luft. Zur Probe feuerte er in den Himmel, lachte irre, dann schwenkte er den Lauf nach unten und gab einen kurzen, hemmungslosen Feuerstoß auf den Lastwagen ab, hinter dem die anderen sich versteckten. Die Frontpartie des Dodge erzitterte, als die Kugeln sich hineinbohrten, die Plane zerfetzten und Metall- und Glassplitter in die Höhe spritzen ließen. Als die Schießerei endete, senkte sich der Lastwagen auf zwei platte Vorderreifen und begann, in großen Mengen Öl und Frostschutzmittel zu verlieren. »Ich denke, wir sollten uns auf die Suche nach einem sichereren Versteck machen«, schlug Granger vor. »Der Waggon hier ist mit Benzinfässern beladen.« »Wie lautet Ihr Plan, Indy?«, fragte Joan. »Ich habe keinen Plan«, gab Indy zurück. »Wieso muss ausgerechnet ich immer einen Plan haben?« »So ist das eben«, erwiderte Joan. »Also lassen Sie sich etwas einfallen.« »Herrgottnochmal.« Indy nahm seinen Hut ab und stülp-
te ihn Joan über den Kopf. »Passen Sie für mich darauf auf. Ich möchte nicht, dass er durchlöchert wird, verstanden?« »Was soll ich tun?«, fragte Granger. »Nageln Sie ihn hinten auf dem Lastwagen fest«, antwortete Indy. Indy sprintete zum vorderen Ende des Waggons und sprang hinunter auf die Kupplung, während 30-Millimeter-Geschosse jenen Bereich durchsiebten, wo er sich eben noch befunden hatte. Er glitt mit seinen Stiefeln auf dem mit Schmierfett überzogenen Eisen ab, konnte sich aber gerade noch fangen, bevor er abstürzte. Sich am Chassis des Waggons festhaltend, begann er, sich darunter entlangzuhangeln. Während der Gleiskörper unter ihm vorübersauste, stellte er sich vor, wie der Killer versuchte, das Maschinengewehr auf die Ladefläche zu richten. Falls diese Möglichkeit bestand, entschied er, würde der Killer vermutlich auch dahinterkommen. Endlich langte Indy am Ende des Waggons an und packte die Zugstange mit beiden Händen. Die Absätze seiner Stiefel schlugen Funken auf dem Gleiskörper, als er sich auf die Kupplung hinaufhievte. Schließlich hockte er oben auf der Kupplung zwischen den Waggons und ruhte sich kurz aus. Einen Augenblick lang studierte er den Mechanismus, dann holte er sein Taschenmesser hervor und rammte es tief in den Bremsschlauch. Er musste es mit aller Kraft drehen, bis sich die Klinge endlich unter dem Zischen entweichender Luft in den widerspenstigen Schlauch bohrte. Anschließend zog Indy den Bolzen heraus und stemmte sich gegen den Hebel, mit dem die Kupplung gelöst wurde. Schließlich bewegte er sich. »Wollen doch mal sehen, wie du damit fertig wirst«, verkündete Indy. Als die Waggons sich voneinander zu lösen begannen, stellte Indy fest, dass er sich auf der falschen Seite der Kupplung befand. Sobald die Entfernung zwischen den Waggons größer wurde, wäre er dem Maschinengewehr des Killers
schutzlos ausgeliefert, und ihm bliebe, unabhängig davon, ob er sich auf, neben oder unter dem Waggon befände, nicht genügend Zeit, sich in Sicherheit zu bringen. Mittlerweile wurden die Waggons nur noch von dem beschädigten Schlauch zusammengehalten. Durch das Anwachsen der Zuglast von den hinteren Waggons geriet die Leitung wie eine Bogensehne unter Spannung. Indy sprang auf die Zugstange des vorderen Waggons, als die Bremsleitung genau an jener Stelle riss, wo er eben noch den Einschnitt angebracht hatte. Plötzlich von einem Teil ihrer Last befreit, gewann die alte Lokomotive an Geschwindigkeit. Weiter vorn senkte sich die Bahnstrecke in einer weit geschwungenen Kurve hinunter in ein Flusstal. Die Gleise überquerten den Fluss auf einem hohen Viadukt aus hölzernen Streben. Indy winkte seinen Freunden auf dem zurückfallenden Waggon linkisch zu. Dann zog er den Webley und kletterte vorsichtig auf die Ladefläche des offenen Waggons, darauf bedacht, tief hinter der Ladung in Deckung zu bleiben, damit der Killer ihn nicht sehen konnte. Unterstützt von dem allmählich stärker werdenden Gefalle und dem Ausbleiben jeglicher Bremswirkung, gewann die Lokomotive immer mehr an Geschwindigkeit. Als der Zug sich in der Kurve wie ein Fächer ausbreitete, begab Indy sich zur Seite des Waggons und versuchte, mit den Armen rudernd die Aufmerksamkeit der Besatzung auf der Lokomotive auf sich zu lenken. Aus dem Schornstein pufften Rauch und Funken. Bestimmt wussten sie, dass sie, wenn es ihnen nicht gelang, den Zug abzubremsen, am Ende der Kurve entgleisen und in den Fluss stürzen würden. Indy stellte das Winken ein. In den Fenstern im Führerhaus der Lokomotive war niemand zu sehen, obwohl das Antriebsräderpaar zu beiden Seiten des Kessels ungestüm über die Gleise stampfte. Die Besatzung hatte die Drosselklappe offen gelassen und war,
als die Schießerei begann, in den nächstbesten Bewässerungsgraben gesprungen. »Das ist keine Art, eine Eisenbahn zu betreiben«, murmelte er. Indy spähte über den Rand einer Kiste. Der Killer, mit beiden Händen am Maschinengewehr nach einem Ziel suchend, hockte noch immer auf der Ladefläche des Dodge. »Schneide uns los!«, flehte Indy. Als Antwort zersplitterte ein Feuerstoß den Kistendeckel. »Hör zu, du schießwütiges Sprachgenie«, brüllte Indy. »Wir werden beide draufgehen, wenn wir nicht schnell etwas unternehmen. Ich klettere jetzt über diese Kiste, also hör auf herumzuballern.« Indy steckte seine Pistole ins Halfter. Er nahm die Hände hoch und spreizte die Finger. Dann kniff er die Augen zusammen, biss die Zähne aufeinander und richtete sich langsam auf. Als er vollkommen aufrecht stand und feststellte, dass man ihn nicht erschossen hatte, grinste er und stemmte die Hände in die Hüften. »Gut«, rief er. »Ich wusste doch, dass man mit dir reden -« Der Killer hantierte wie wild mit dem Messer, um den Gewehrverschluss freizubekommen. Beim letzten Feuerstoß hatte das Gewehr eine Ladehemmung erlitten, und eine seitlich im Auswurf klemmende Patronenhülse machte ein Feuern unmöglich. Indy sprang auf die Motorhaube des Lastwagens. »Hände weg von dem Gewehr«, kommandierte er und zog seinen Revolver. Der Killer wich vom Maschinengewehr zurück. »Und jetzt kupple uns aus. Mach schon, schnell!« Der flache Waggon schwankte auf den Federn hin und her, während der Zug auf den Fluss zuschoss. Der Killer ging vorsichtig zur Vorderseite des Waggons, zog den Bolzen heraus und hob den Hebel an. Der Waggon zeigte allerdings nicht die geringste Neigung, sich vom Rest des Zuges zu entfernen.
Indy steckte die Pistole in den Gürtel und packte das Rad, um die Bremsen von Hand auszulösen. Das Rad war festgerostet. »Fass mit an«, sagte er. Der Killer begab sich auf die andere Seite des Rades. Schließlich begann das Rad sich zu drehen, erst langsam und dann, mit dem Geräusch gequälten Metalls, immer schneller. Funken stoben von den Rädern des Güterwaggons. Bei dieser Geschwindigkeit waren die Bremsen für den Schwung des Waggons kaum mehr als eine lästige Störung. Quälend langsam begannen die Lokomotive und der Rest des Zuges, sich nach vorn zu schieben. »Gut«, rief Indy. Der Waggon befand sich gerade mal zwanzig Meter hinter dem Rest des Zuges, als die Lokomotive aus den Gleisen sprang und über die Seite des Viadukts nach unten in den Fluss stürzte. Der Kohletender sowie ein halbes Dutzend Güterwaggons wurden ebenfalls über die Seite gerissen. Indy duckte sich. Die Lokomotive explodierte, als das kalte Flusswasser in den überhitzten Dampfkessel eindrang. Die Explosionstrümmer bombardierten Brückengerüst und Waggon wie Schrapnellssplitter. Dort, wo der Zug entgleist war, waren die Gleise stark verzogen, aber nicht unterbrochen. Der Waggon bockte heftig, als er über die beschädigte Stelle ratterte, verlor schließlich an Geschwindigkeit und rollte auf der anderen Seite des Flusses gemächlich aus. »Geschafft«, meinte Indy und rappelte sich auf. »He, Kumpel, wir haben es überstanden!« Doch von dem Killer kam keine Antwort. Er lag, einen Dampfkesselbolzen in der Stirn, tot auf der Ladefläche des Güterwaggons.
KAPITEL DREI Am Wanshan-Pass
Die drei Güterwagen der Expedition, geschoben von einer winzigen Rangierlok, waren schließlich am Ende der Bahnstrecke in der Stadt Kalgan ausgerollt und stehen geblieben. Eine angeheuerte Mannschaft hatte fast den ganzen Vormittag gebraucht, sie zu entladen. »Wir haben nicht genug Platz, um die gesamte Ausrüstung unterzubringen«, erklärte Wu Han Indy, als die Helferkolonne den von Kugeln durchsiebten Dodge eine behelfsmäßige Doppelrampe hinunterschob. Die platten Vorderreifen des Lastwagens weigerten sich jedoch, der vorgegebenen Spur zu folgen, und als die Frontpartie des Lastwagens von den Planken abrutschte, sprangen die Arbeiter nach allen Richtungen auseinander. Der Lastwagen glitt den Rest des Weges auf dem Fahrgestell nach unten und hüpfte, als die Hinterräder den Boden berührten. »Wir brauchen drei Lastwagen, nicht zwei. Was sollen wir tun, Boss?« »Haben Sie schon mal ein Gespann gefahren?«, wollte Indy wissen. Indy nahm seinen Filzhut ab und wischte sich mit einem staubigen Ärmel über die Stirn. Trotz der Kälte war er von der morgendlichen Schufterei schweißgebadet. »Das war wirklich gute Arbeit vorhin, Jones«, meinte Granger. »Sie haben es nicht nur geschafft, eine Lokomotive sowie den größten Teil eines Güterzuges zu vernichten,
obendrein ist es Ihnen auch noch gelungen, exakt ein Drittel der Expeditionsfahrzeuge aus dem Verkehr zu ziehen und uns dabei gleich auch noch zwei Tage hinter unseren Zeitplan zurückzuwerfen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Brody darüber begeistert sein wird, mein braunäugiger Freund.« »Bitte«, wandte Wu Han ein. »Das war nicht Indys Schuld. Die Killer ... und das Maschinengewehr »Granger hat einen überaus schrägen Sinn für Humor«, erklärte Indy Wu Han. »Aber machen Sie sich keine Sorgen, er amüsiert sich nur ein wenig auf meine Kosten. Wäre er wirklich wütend auf mich, würde er kein einziges Wort mit mir sprechen.« »Aha«, sagte Wu Han. »Aber das ergibt doch keinen Sinn.« »Genauso wenig wie bisher alles auf dieser Expedition«, beendete Indy die Diskussion. »Was sollen wir wegen des zerstörten Automobils unternehmen?«, wollte Granger wissen. »Wir können es uns wohl kaum leisten, den Rest unseres Materials hier zu lassen.« »Was meinen Sie, gibt es einen Schmied in dieser Stadt?« »Selbstverständlich«, antwortete Wu Han. »Dann suchen Sie ihn. Bringen Sie in Erfahrung, ob er im Stande ist, den Lastwagen wieder in Ordnung zu bringen. Ich glaube nicht, dass der Zylinderblock einen Riss bekommen hat, es wird also hoffentlich nur darum gehen, den Kühler und dergleichen wieder zusammenzuflicken.« »Aber«, protestierte Wu Han, »ich bezweifle, dass der Schmied in dieser Stadt jemals ein neues amerikanisches Automobil zu Gesicht bekommen, geschweige denn repariert hat.« »Darauf werden wir es wohl ankommen lassen müssen«, gab Indy zurück. »Außerdem scheinen Sie von allem ein bisschen zu verstehen. Im Übrigen benötigen wir diesen dritten Lastwagen unbedingt, da wir ansonsten für die
Rückkehr aus der Wüste Gobi nicht genügend Vorräte dabei haben werden.« Indy zählte ein paar Scheine ab und gab sie Wu Han. »Das ist unser letztes Papiergeld«, erklärte er. »Den Rest habe ich für diesen armseligen Abklatsch einer Lokomotive ausgegeben, die uns das letzte Stück des Weges hierher geschoben hat. Für die Reparatur des Lastwagens sollte es allerdings mehr als ausreichen. Und sorgen Sie dafür, dass Sie bei Ihrer Abfahrt genügend Benzin dabei haben.« »Das ist alles an Geld, was der Expedition noch zur Verfügung steht?« »Nein«, erwiderte Indy. »Das ist lediglich unser letztes Papiergeld. Die Chinesische Mauer befindet sich sieben Meilen von hier, hoch oben auf dem Berg dort, und sobald wir sie passiert haben, ist unser Geld wertlos. Von da ab heißt es ausnahmslos Gold oder Tauschhandel.« Bis Wu Han den Schmied ausfindig gemacht und sichergestellt hatte, dass die Änderungen vorgenommen werden konnten, und er Indy Bericht erstattet hatte, waren die beiden fahrtüchtigen Automobile bereits mit allem beladen, was sie nur tragen konnten. »Die Reparatur wird den Rest des Tages in Anspruch nehmen«, meinte Wu Han. »Vielleicht auch länger. Der Schmied meinte, schneller könnten er und seine Gehilfen nicht arbeiten.« »Aber kann er ihn in Ordnung bringen?«, fragte Indy. »Ich hatte etwas Mühe, seinen Dialekt zu verstehen«, erwiderte Wu Han, »aber er hat mir versprochen, er könne den Wagen soweit reparieren, dass er fährt. Ich habe ihm erklärt, dass er dem weißen Teufel, der unsere Expedition leitet, Rede und Antwort stehen muss, wenn er versagt.« »Damit haben Sie natürlich Granger gemeint.« »Nein, Indy. Der weiße Teufel, das sind Sie.« »Mit jeder Meile, die wir vorwärts kommen«, sagte Indy, »ist es, als würden wir tiefer in die Vergangenheit reisen. Flugzeuge, Lokomotiven und jetzt ein Schmied, der eine
pferdelose Kutsche aus dem zwanzigsten Jahrhundert reparieren soll. Wenn wir bei Professor Starbuck eintreffen, sind wir wahrscheinlich wieder in der Steinzeit angelangt.« »Wieso fahren Sie nicht voraus?«, schlug Wu Han vor. »Das Wetter ist mild, und es gibt jede Menge Tageslicht. Die Expedition liegt schon weit genug hinter dem Zeitplan zurück.« »Sind Sie sicher?«, fragte Indy. »Aber ja.« »Wählen Sie den besten der angeheuerten Arbeiter aus. Er soll Sie begleiten, wenigstens für eine Weile, denn oft ist das alleinige Überqueren der Mauer der letzte Fehler, den ein Reisender macht«, sagte Indy. »Außerdem sollten Sie Ihre Waffe jederzeit schussbereit halten. Haben Sie keine Angst, sie zu benutzen. Diese Leute haben gesehen, dass Sie zur Expedition gehören, sie wissen, dass Sie Geld dabei haben, seien Sie also auf der Hut.« »Aber Indy«, wandte Wu Han ein. »Ich habe gar keine Waffe.« Indy öffnete eine von Grangers Kisten und entnahm ihr einen 45er Colt Automatic. Er zeigt Wu Han, wie er geladen wurde, dann reichte er ihm eine Schachtel Patronen. »Vergessen Sie nicht«, erläuterte Indy, »den Auslöser zurückzuziehen, wenn Sie das Magazin zum ersten Mal in den Griff einführen. Dadurch wird eine Patrone in die Kammer geladen und gleichzeitig der Hahn gespannt. Verstanden?« »Klar, Boss«, antwortete Wu Han. Indy stopfte Wu Han den Colt in den Hosenbund. »Lassen Sie ihn dort stecken, wo die Leute ihn sehen können.« Er hielt inne. »Und sollten Sie aus irgendeinem Grund gezwungen sein, ihn zu ziehen, gehen Sie davon aus, ihn auch abzufeuern, selbst wenn Sie eine Kugel in die Luft schießen müssen. Bei diesen Leuten bringt es Unglück und gilt es als Zeichen der Feigheit, wenn man eine Waffe zieht, ohne sie abzufeuern.«
»Ich mag keine Waffen, Indy.« »Gut«, meinte Indy. »Das ist die beste Voraussetzung, sie auch zu benutzen. So, falls alles klappt, schlagen wir heute Abend ungefähr dreißig Meilen jenseits der Mauer, an der Straße nach Urga, unser Lager auf. Sollten Sie - falls die Reparatur länger dauert - nicht bis Tagesanbruch dort sein, werden wir ohne Sie aufbrechen müssen. In diesem Fall kommen Sie nach, so schnell Sie können.« »Seien Sie unbesorgt, Indy. Sie können auf mich zählen. Ich schulde Ihnen weit mehr als mein Leben, und wir Hans begleichen unsere Schulden.« Indy kletterte in das Fahrerhaus des Lastwagens. Er trat auf den Anlasser, der Sechszylindermotor drehte ein paar Mal durch und erwachte dann tuckernd zum Leben. »Xanadu«, meinte Indy, sich ein letztes Mal umsehend. »Es heißt, Kubla Khan habe wenige Meilen von hier seinen Sommerpalast errichten lassen. Sie wissen schon, das Gedicht von Coleridge »In Xanadu verfügte Kubla Khan den Bau eines stattlichen Lustpalasts ...«, zitierte Joan. »Tut mir Leid, aber wie das Paradies scheint mir das hier nicht gerade auszusehen.« Die beiden Lastwagen verließen die Stadt und nahmen den Weg über die alte Straße, die dem Flussbett hinauf bis auf das mongolische Hochplateau folgte. Granger hatte die Führung übernommen, er fuhr den Lastwagen mit dem Maschinengewehr auf der Ladefläche. An manchen Stellen war die Straße von zahllosen Karrenrädern so tief zerfurcht, dass Indy von dem vorausfahrenden Lastwagen oft nicht mehr als den Lauf des Maschinengewehrs sehen konnte. Joan war überrascht, wie viele Menschen auf der Straße waren, die Waren zum Markt in Kalgan transportierten oder von dort mitbrachten, manche mit Karren, viele aber auch zu Fuß. »Was glauben Sie, woher die alle kommen?«, wunderte sie sich laut.
»Sehen Sie sich die Berghänge genau an«, entgegnete Indy. »Die Menschen hier leben größtenteils in Erd- oder Felshöhlen, denn dort ist es im Winter warm und den Sommer über kühl. Aber da die Höhlen dieselbe Farbe haben wie die Erde ringsum, müssen Sie schon sehr genau hinsehen, um sie zu erkennen.« Sieben Meilen hinter Kalgan, auf einer Höhe von knapp dreitausend Fuß über der Ebene, erreichten sie den Fuß des Passes. Die Straße begann unvermittelt anzusteigen, und Indy musste in den kleinsten Gang schalten, um zu verhindern, dass der Lastwagen an den steileren Steigungen stecken blieb. »Das soll ein Pass sein?«, fragte Joan. »Das ist der flache Teil«, erwiderte Indy. Auf einer Strecke von elf Meilen kletterten sie weitere zweitausend Fuß, auf einer Straße voller Serpentinen und Spitzkehren. Indy hatte alle Hände voll zu tun, um zu verhindern, dass die Räder des Lastwagens in den tieferen Rillen stecken blieben oder abhoben, wenn sie über Steine holperten, die in manchen Gegenden der Welt als Findlinge durchgegangen wären. Als Joan bereits glaubte, sie würden den Gipfel nie erreichen, bogen sie um eine Kurve ... und vor ihnen erstreckte sich die Chinesische Mauer. Granger hatte am Straßenrand angehalten. Er hockte auf dem Trittbrett des Lastwagens, rauchte gemächlich seine Pfeife und genoss die Aussicht. Indy lenkte den Lastwagen neben Grangers. »Schauen Sie, wo wir gewesen sind«, meinte er. Nach Süden hin erstreckte sich Meile für Meile eine zerfurchte Hügellandschaft, die aussah, als hätte man sie einer Reliefkarte Chinas für den Erdkundeunterricht entnommen. An zahllosen Stellen waren die Hügel von Wind und Regen blank gewaschen worden, und durch diese Narben konnte man das Rückgrat der Erde selbst erkennen. »Kein Wunder, dass ich mir den Hintern wund gesessen habe«, meinte Joan.
Um diese schroffen Hügelketten wand sich, einer altersgrauen Schlange gleich, die Chinesische Mauer - das größte und zweifellos längste Bauwerk in der Geschichte der Menschheit, das sich über viertausend Meilen durch den Norden Chinas erstreckte. Einige Mauerteile waren zweitausend Jahre alt, dieser Abschnitt jedoch, der im Laufe der Jahrhunderte immer wieder umgebaut worden war, stammte aus einer Zeit, die weniger als eintausend Jahre zurücklag. An ihrem Granitfundament war die Mauer vierzig Fuß breit, und zwischen den Brustwehren auf der Oberseite verlief eine mit Ziegelsteinen gepflasterte, von Generationen von Arbeitern und Soldaten ausgetretene Straße. Das Innere der Mauer war mit Sand gefüllt. Alle Arbeiten bei ihrem Bau waren von Hand erfolgt, Stein für Stein und einen sandgefüllten Karren nach dem anderen. Indy lehnte sich aus dem Seitenfenster des Lastwagens. »Granger, Sie fahren wie ein Wahnsinniger.« »Ging nicht anders«, gab Granger zurück, den Stiel seiner Pfeife zwischen seine vom Tabak fleckigen Zähne klemmend. »Ich hatte Angst, denn ich wusste, dass Sie hinter mir waren. Sind wir bereit zum Grenzübertritt?« »Ich werde eine Weile die Führung übernehmen.« Indy legte einen Gang ein und fuhr vorsichtig an. Die Straße führte durch ein Tor in einem festungsähnlichen, vier Stockwerke hohen Wachturm unter der Chinesischen Mauer hindurch. Das Tor selbst stand jedoch offen, und der Wachturm war nur von Krähen bemannt. »Ursprünglich hatte man sie als Abwehr gegen die mongolischen Eindringlinge errichtet«, erklärte Indy, als der Lastwagen in den Schatten der Mauer eintauchte. »Das Vorhaben scheiterte jedoch. Dschingis Khan überrannte die Mauer wie jener Gott, der er nach Dafürhalten einiger auch war, und eroberte den größten Teil Chinas.« »Was hat sie dann genützt?«, fragte Joan. »Eine ganze Menge«, gab Indy zurück, die Augen gegen
die Dunkelheit zusammenkneifend. »Wie sich herausstellte, lag ihr eigentlicher Wert in einer umfassenden Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, die China als Nation einte, ganz ähnlich den Pyramiden in Ägypten.« »Davon könnten wir jetzt zu Hause auch ein wenig gebrauchen«, meinte Joan. Plötzlich stellte sich ihnen eine Gestalt in den Weg und brüllte etwas. Indy verstand das Kommando nicht, da es in einem Dialekt gegeben wurde, den er noch nie gehört hatte, die Absicht der mit einem Gewehr bewaffneten Gestalt, die sich auf der mongolischen Seite vor dem Lastwagen aufgebaut hatte, war jedoch unmissverständlich: Er hatte seinen rechten Arm, die Handfläche ihnen entgegen gedreht, ausgestreckt. Indy stieg auf die Bremsen, und die Räder kamen rutschend zum Stehen. Granger, der ihnen dichtauf folgte, stand nicht so schnell auf der Bremse. Obwohl sie nur mit wenigen Meilen pro Stunde fuhren, prallte die vordere Stoßstange seines Lastwagens so heftig gegen Indys, dass dieser ein paar Fuß nach vorn geschoben wurde. Der vorstehende Kühlergrill des Dodge hatte die speckigen Hosen des Soldaten kaum berührt, trotzdem machte er einen Satz, als hätte der Lastwagen ihn gebissen. Seine dunklen Augen glühten vor Empörung. Er murmelte etwas von Dämonen in Automobilen, dann forderte er Indy mit dem Lauf seiner fünfzig Jahre alten, einschüssigen Büchse fuchtelnd auf, aus dem Lastwagen auszusteigen. Indy glitt langsam mit erhobenen Händen hinter dem Lenkrad hervor. »Ich nehme an, du bist nicht vom mongolischen Fremdenverkehrsamt?«, fragte Indy. »Oder hat das Leben hier draußen dich so reizbar gemacht, dass du dich einfach so zum Spaß vor alles wirfst, was sich bewegt?« Der Soldat zischte. »Offenbar verstehst du kein Englisch«, stellte Indy fest.
Der Soldat zog einen speckigen Papierfetzen aus einer Ledertasche, die er um den Hals trug. Er faltete ihn auseinander, strich ihn glatt und reichte ihn Indy. »Können Sie das lesen?«, fragte Joan. »Ja.« Indy zog seine Brille aus der Brusttasche. »Bei der chinesischen Schrift handelt es sich um eine Bilderschrift, was bedeutet, dass sie auf Symbolen und nicht auf Lauten basiert. Das ist vermutlich auch der Grund, weshalb er, in Anbetracht der Vielzahl von Dialekten, die dieses Tor passieren, diesen Zettel bei sich trägt. Er ist ziemlich abgegriffen, aber ich denke, ich kann ihn entziffern. Was ist denn das hier für ein Fleck? Blut?« »Hören Sie auf, Vor träge zu halten, Jones«, rief Granger. »Lesen Sie den verdammten Wisch einfach vor.« »Hier steht, sein Name sei Feng, und dass er ein Bevollmächtigter des großen Generals Tzi ist. Feng muss mit dem seinem Rang entsprechenden Respekt behandelt werden, blah, blah, blah, Mitglied des Rotary Clubs sowie der Zunft der Halsabschneider. War nur ein Scherz. Jedenfalls hat Tzi ihn zum Torwächter des Südens ernannt, und alle Durchreisenden sind verpflichtet, vor ihrer Weiterreise zwecks Prüfung und Erteilung einer Genehmigung bei Feng vorstellig zu werden, oder sie laufen Gefahr, sich den Zorn von Tzi persönlich zuzuziehen.« Indy gab ihm das Schreiben zurück. Feng hielt die Büchse in der Armbeuge, während er es wieder sicher im Beutel verstaute und diesen anschließend zurück unter sein Hemd stopfte. »Also schön, wir stehen dir zur Begutachtung zur Verfügung«, sagte Indy. »Ich hoffe, wir finden deine Anerkennung. Mein Name ist Jones, dies ist Schwester Joan, und der Mann hinter uns nennt sich Granger.« Feng schnippte ungeduldig mit den Fingern. »Ich glaube, er will Papiere sehen«, sagte Joan. »Gibt es Schwierigkeiten?«, rief Granger von hinten. »Bleiben Sie in Ihrem Lastwagen, Walter«, sagte Indy in
freundlichem Ton, während er Pass und Visum aus seiner Jackentasche zog und beides dem Soldaten reichte. »Nicht schießen, jedenfalls noch nicht.« Feng klappte den Pass auf, blätterte rasch durch die Seiten, dann warf er ihn Indy wieder zu, der ihn in seiner noch immer erhobenen linken Hand auffing. »Vermutlich kann er nicht lesen«, meinte Indy. »Was kann er dann wollen?«, fragte Joan. »Geld, was sonst.« Indy schenkte Feng sein gewinnendstes Lächeln und langte vorsichtig nach seinem Revolver. Er fasste ihn an dem unten am Griff angebrachten Ring und legte ihn auf die Motorhaube des Lastwagens. Dann deutete er auf das Gewehr des Soldaten und machte eine Abwärtsbewegung mit der Hand. Der Soldat zögerte erst, dann senkte er die Waffe. Indy lächelte abermals und griff unter sein Hemd. Die Waffe wurde wieder angehoben. »Augenblick«, rief Indy. »Sieh mal, was ich hier habe.« Indy zog ein einzelnes Goldstück aus der Tasche seines Geldgürtels und hielt es in die Höhe. Es war ein Amerikanischer Adler - eine Zehn-Dollar-Goldmünze - ein wenig kleiner als ein Vierteldollar, allerdings weit schwerer. Feng grinste, nahm ihn entgegen, und biss mit seinen schief stehenden Zähnen in den Rand. »Warum tut er das?«, wollte Joan wissen. »Echtes Gold ist weich«, erwiderte Indy. »Wenn er hineinbeißen kann und dabei eine Kerbe zurückbleibt, weiß er, dass es sich um den wahren Jakob handelt.« Feng ging in die Hocke, hielt die Büchse aber aufrecht zwischen seinen Beinen. Er legte die Münze auf die Erde und gab Indy zu verstehen, er solle sich für ein Palaver zu ihm setzen. »Er will reden«, stellte Joan fest. »Er will verhandeln. Er denkt sich, dort, wo das herkam, gibt es noch mehr.«
Feng zeigte erst auf die Münze, dann auf Indys Lastwagen und malte mit den Fingern fünf Linien auf die Erde. Anschließend zeigte er auf Grangers Lastwagen und malte fünf weitere Linien. »Zehn«, sagte Indy. »Er will zehn Goldstücke dafür, dass er uns durchlässt.« »Der Mann hat offensichtlich den Verstand verloren«, erwiderte Granger. »Zehn Dollar sind mehr, als die meisten dieser Nomaden in zehn Jahren zu Gesicht bekommen, und einhundert stehen völlig außer Frage. Von diesem General Tzi habe ich noch nie etwas gehört. Wahrscheinlich hat er diesen Wisch eigenhändig geschrieben, um Leuten wie uns ein wenig Geld abpressen zu können.« »Regen Sie sich nicht gleich auf«, rief Indy. »Noch sind wir nicht am Ende.« Indy sah Feng an und schüttelte den Kopf. Er wischte die Linien aus, die Feng gemalt hatte, deutete auf die beiden Lastwagen und malte eine Linie auf die Erde. Feng zischte und wischte Indys Angebot fort. Dann malte er sieben Linien auf den Boden. Jetzt war es an Indy, zu zischen. Feng hob beschwichtigend die Hand. Er löschte die beiden letzten Linien aus und zeigte dann unverschämt feixend durch die Windschutzscheibe des Lastwagens auf Joan. »Es scheint, als hätten wir eine Lösung gefunden«, meinte Indy. »Denken Sie nicht mal daran«, fauchte Joan. »Schon gut, schon gut«, gab Indy sich geschlagen. Indy hielt zwei Finger in die Höhe, dann zeigte er auf Joan und schüttelte ernst den Kopf. Feng hielt vier Finger in die Höhe. »Nein«, erwiderte Indy. Dann nahm er zwei weitere Goldadler aus der Tasche, legte sie neben den ersten auf den Boden und verschränkte die Arme. Er machte, noch immer in der Hocke, einen Schritt zurück, um zu unterstreichen, dass dies sein letztes Angebot war.
Feng trommelte mit den Fingern auf den Kolben seines Gewehrs. Er sah erst Indy, dann die Lastwagen an, dann senkte sich sein Blick abermals auf die Münzen. Schließlich raffte er die Goldstücke zusammen, wickelte sie in einen schmutzigen Lappen und vergrub sie tief in seiner Hosentasche. »Erledigt«, sagte Indy. »Dreißig Dollar.« »Das ist noch immer Wegelagerei«, murmelte Granger. Die Lastwagen rollten durch das Tor auf die mongolische Hochebene. Feng schlich zu seiner an die Mauer angebaute Hütte, stellte seine Büchse ab und ließ sich neben seinem Kochfeuer nieder, von dem er aufgestanden war, als er das Geräusch der Lastwagen vernommen hatte. Am Spieß über den Flammen bruzzelte irgendein Nagetier. Ein an die Mauer angeketteter Hund lief auf und ab und verfolgte aus hungrigen, intelligenten Augen das Geschehen. Statt eines Halsbandes hatte man ihm das Ende einer schweren Eisenkette fest um den Hals geschlungen und mit einem Vorhängeschloss gesichert. Indy hielt den Lastwagen an. Irgendetwas stimmte mit dem Hund nicht. Es war ein reinrassiger deutscher Schäferhund, wie Indy an seiner gewölbten Brust und seinem Kopf erkannte, eine Schäferhundrasse, die für ihre Intelligenz und Treue bekannt war. Dieses Tier war ein Männchen und hatte blaue Augen. Ihm fehlte sein rechtes Ohr. Die Wunde war zwar verheilt, aber andere Spuren deuteten darauf hin, dass er misshandelt worden war. Er war nicht nur im Begriff zu verhungern, wovon sein schmerzlich ausgemergelter Bauch und seine vorstehenden Rippen zeugten, sondern hatte darüber hinaus ein regelrechtes Geflecht aus Peitschenstriemen auf dem Rücken. Feng riss einen Brocken von dem Nager ab, warf ihn sich in den Mund und kaute zufrieden. Der Hund lief vorwärts, bis die schwere Kette der Länge nach gespannt war, dann begann er, um ein Stück Fleisch zu winseln.
Feng rief ihm zu, er solle still sein. Der Hund bleckte die Zähne und knurrte. Noch nie hatte Indy so viel Hass in den Augen eines Hundes gesehen. Wie ein wildes Tier riss er an der Kette, schnappte nach den Gliedern und biss im Versuch sich zu befreien darauf herum. Feng murmelte etwas und ging eine Reitpeitsche holen, die an einem Haken in der Hütte hing. Dann begann er, sorgfältig darauf bedacht, nicht in den von der Eisenkette festgelegten Radius zu treten, hemmungslos auf den Hund einzudreschen. Statt zu winseln, knurrte der Hund und versuchte bei jedem Hieb, die Peitsche mit dem Maul zu packen. Feng schrie überrascht auf, als das Ende von Indys Rinderpeitsche in sein Handgelenk schnitt. Er hatte nicht mitbekommen, dass Indy beim Geräusch des ersten Peitschenhiebs aus dem Lastwagen gestiegen war und dass Indys Peitsche größer und länger war als die, mit der er auf den Hund einschlug. »Na, wie gefällt dir das?«, erkundigte sich Indy. Feng ließ die Reitpeitsche fallen. »Das tut weh, nicht wahr?«, meinte Indy. Feng rannte los und hielt auf seine sichere Hütte zu, während Indys Rinderpeitsche knallend und klatschend auf seinem Rücken niederging. Er schnappte sich sein Gewehr, wandte sich herum und wollte schießen, musste aber feststellen, dass Granger mit seinem schussbereiten Repetiergewehr hinter Indy Aufstellung genommen hatte. Feng ließ seine Büchse fallen. »Du kannst General Tzi ausrichten«, rief Granger, »er soll zur Hölle fahren.« Indy nahm den Spieß mit dem Gerippe des Nagetiers und ging entschlossen auf den Hund zu. Der Hund knurrte, sein gesundes Ohr schmiegte sich eng an seinen Kopf, und die Haare in seinem Nacken stellten sich auf. »An Ihrer Stelle wäre ich vorsichtig«, meinte Granger.
»Das Tier sieht ganz so aus, als könnte es einen Mann in Stücke reißen, und wenn man bedenkt, was dieser Feng ihm angetan hat, wäre das praktisch Notwehr. In Anbetracht des bemitleidenswerten Zustandes, in dem der Hund sich befindet, wäre es besser, ihn zu töten.« »Wir werden diesen Hund auf keinen Fall töten«, sagte Indy, während er sich auf die Knie niederließ. Er hielt ihm das Gerippe hin, der Hund schnappte blitzschnell danach und zerrte es vom Spieß. Anschließend ging er daran, große Fleisch- und Knochenstücke herunterzuschlingen. »Schwester Joan«, rief Indy. »Bringen Sie mir den Bolzenschneider aus dem Werkzeugkasten auf der Ladefläche.« Indy streckte die Hand vor und wollte den Hund streicheln. Der Hund schnappte grimmig nach ihm. »Ich will dein Fressen nicht«, meinte Indy besänftigend. »Komm einfach her. Ich will dir doch nur helfen.« Joan brachte Indy das langstielige Werkzeug, und während der Hund das Gerippe hinunterschlang, schob Indy ihm die Klingen des Schneiders unter die Kette an seinem Hals. Dann drückte er die Griffe unter Aufbietung seiner gesamten Kraft zusammen, man hörte ein metallisches Klirren, und der Hund war frei. »Ich denke, am besten steigen wir alle wieder in die Lastwagen«, sagte Granger zurückweichend, das Gewehr auf Feng gerichtet. »Ich glaube, ich habe mehr Angst vor dem Hund als vor diesem Kerl hier.« »Wieso war der Hund bloß so an die Mauer gekettet?«, fragte Joan, als Indy in den Lastwagen kletterte. »Ist das irgendein barbarischer Brauch?« »Nicht, dass ich wüsste, Schwester.« Als Indy den Lastwagen anließ, begann Feng, unmittelbar vor der Tür seiner Hütte stehend, lauthals zu zetern. Er schwor Indy, seinen Kindern und Kindeskindern Rache. Er versprach, er werde Indy dafür bezahlen lassen, dass er sich einem Bevollmächtigten von General Tzi gegenüber respektlos verhalten habe, und hoffte inständig, dass Indy ihn verstand.
Daraufhin spie Feng aus und schleuderte die Goldstücke in den Staub. Indy ließ die Kupplung kommen. Die Lastwagen nahmen schnell Fahrt auf. Plötzlich wurde dem Hund bewusst, dass er frei war, und er verließ trabend den Kettenradius. Schließlich ging er auf Feng los, der ins Innere der Hütte stürzte und dem Hund die Tür vor der Schnauze zuschlug. Danach hockte Feng, zitternd vor Angst und Wut und das Gewehr im Schoß, mit übereinander geschlagenen Beinen in der Hütte. Nach einer Stunde des Wartens blickte der Hund sehnsuchtsvoll nach Norden, wohin die Lastwagen entschwunden waren. Dann schaute er in die untergehende Sonne. Der Hund trottete in nördlicher Richtung davon. Als Feng sicher sein konnte, dass der Hund verschwunden war, kam er aus seiner Hütte hervor und kratzte die Goldmünzen aus dem Staub.
KAPITEL VIER Die Straße der Verlassenheit
»Es wird Zeit, aufzubrechen.« Indy nickte, trotzdem setzte er das Fernglas an und suchte ein letztes Mal den Horizont ab. Sie hatten die Nacht ohne Zwischenfall in den sanft geschwungenen Tabu-Hügeln verbracht, und in der kurz vor dem Morgengrauen einsetzenden, einem das Mark gefrieren lassenden Kälte hatte Indy einen Grat erklommen, von dem aus man die Straße nach Urga überblicken konnte. Oben auf dem Grat befand sich ein Obo, ein spitz zulaufendes Steinmal, das Reisende als Zeichen ihrer Dankbarkeit für ihre bis dahin sichere Reise zurückgelassen hatten. Die Sonne stand mittlerweile deutlich über dem Horizont. »Konnten Sie irgendetwas sehen?« »Nur diesen Hund«, antwortete Indy. »Den von der Mauer?«, fragte Granger. »Offenbar ist der Hund uns nachgelaufen«, sagte Indy. »Er bleibt am Horizont, gerade nahe genug, um uns nicht aus den Augen zu verlieren, aber außerhalb der Reichweite unserer Gewehre.« »Verdammt«, meinte Granger. »Sie werden ihn nicht erschießen.« »Doch, das werde ich, sobald er sich ins Lager verirrt«, schwor Granger. »Ein Tier, das auf so entsetzliche Weise misshandelt wurde, ist zu allem fähig. Es könnte einem die
Kehle zerfleischen, bevor man überhaupt merkt, wie einem geschieht.« »Er hatte Gelegenheit, mir die Kehle zu zerfleischen, aber er hat es nicht getan.« »Sie hatten Glück«, erwiderte Granger. »Wu Han hoffentlich auch.« »Ich bin sicher, es geht ihm ausgezeichnet. Der Junge weiß sich zu helfen, wissen Sie. Vermutlich konnte der Schmied die Arbeit nicht an einem Tag erledigen. Seien Sie unbesorgt. Wu Han wird rechtzeitig zu uns stoßen.« »Hoffentlich haben Sie Recht«, gab Indy zurück. »Zwischen Kalgan und Urga liegen dreihundert Meilen der schlimmsten Straße, die man sich nur vorstellen kann, und dabei habe ich Schmeißfliegen wie diesen Feng nicht einmal berücksichtigt. Haben Sie einen Stein?« »Was?«, fragte Granger. »Sie erwarten doch nicht etwa, dass ich diesen albernen Aberglauben teile, oder?« »Machen Sie schon«, beharrte Indy. »Geben Sie her. Ich weiß, dass Sie nicht so sind, außerdem können wir jede Hilfe gebrauchen, die wir bekommen können, ob wir nun daran glauben oder nicht.« Granger holte einen faustgroßen Stein aus der Tasche seiner Jagdweste. Indy nahm ihn und platzierte ihn genau auf der Spitze der eigentümlichen Gedenkstätte. Gegen Mittag des nächsten Tages fuhr die kleine Autokolonne nach Tuerin ein, dem auf halben Weg gelegenen Punkt auf der Straße nach Urga. Nichts regte sich in dem winzigen Flecken, als die Lastwagen sich ihren Weg bis in die Mitte einer Ansammlung aus Gebäuden bahnten. Indy schaltete die Zündung aus, blieb einen Augenblick lang sitzen und lauschte in die nur von dem niemals nachlassenden Wind unterbrochene Stille. Ein Staubwirbel raste die Hauptstraße hinunter, verstreute Abfall und alte Zeitungen und war kurz darauf ebenso schnell verschwunden, wie er entstanden war.
»Ist das etwa eine Geisterstadt?«, fragte Joan. »Keineswegs«, antwortete Indy. »Wir werden beobachtet, dessen können Sie sicher sein.« Granger stieg aus seinem Lastwagen aus und zog sein Gewehr aus der Halterung hinter sich. Er hängte es sich über die Schulter und ging zur Vorderseite seines Lastwagens, wo er einen Leinenschlauch mit Wasser herunternahm, der an der Stoßstange gehangen hatte. Er klopfte den Staub vom Schlauch, schraubte den Deckel ab und nahm einen langen Zug. Anschließend feuchtete er sein Halstuch an und wischte sich über Gesicht und Nacken. Indy ging zu Granger hinüber, den Blick starr zu Boden gerichtet. Dann ging er in die Hocke und hob eine zerfressene MessingPatronenhülse auf. Ähnliche Patronenhülsen lagen überall verstreut umher. »An dieser Stelle sind vor zwölf Jahren viertausend chinesische Soldaten massakriert worden«, erklärte Granger. »Die Armee wurde von einer Streitmacht aus dreihundert berittenen Mongolen unter der Führung eines russischen Barons vernichtet. Die Mongolen waren tagelang geritten, um hierher zu gelangen, und haben im ersten Tageslicht angegriffen, nachdem sie ihre Ponys nur ein paar Minuten hatten ausruhen lassen. Am Ende haben sie ihre Munition gespart und die Chinesen mit ihren Gewehrkolben erschlagen oder mit ihren Säbeln durchbohrt. Die wenigen Chinesen, die in die Wüste fliehen konnten, sind erfroren. Damals herrschten vierzig Grad minus.« »Der Schatten des Dschingis Khan«, murmelte Indy, und ließ die Patronenhülse fallen. Indy nahm den Leinenwasserschlauch und reichte ihn Joan, bevor er selber einen Schluck trank. Auf Joans Gesicht war eine Staubkruste festgebacken, und ihre Ordenstracht war schlammverschmiert. Vierzig Meilen zuvor, dort wo die Straße einen schmalen Fluss querte, waren die Lastwagen in einem Schlammloch stecken geblieben, und alle hatten mit anfassen müssen, um die Räder freizubekommen.
»Werden wir heute Nacht hier unser Lager aufschlagen?«, wollte Joan wissen. »Ganz recht«, antwortete Indy. »Hier werden wir unsere Kamele kaufen. Das Messezelt müssen wir dort drüben auf der kleinen Lichtung aufstellen, und das hier werden wir am höchsten Mast aufhängen, um unsere Anwesenheit bekannt zu geben.« Indy nahm ein Stück blauen Seidenstoffs aus seinem Beutel und reichte es Joan. Es war einen Fuß breit und drei Fuß lang. »Das ist eine sogenannte hata«, erklärte Indy. »Eine Art mongolische Visitenkarte.« Zwanzig Minuten später hatten sie die Zelte aufgestellt, und Granger bereitete in der Messe über einem Benzinkocher das Mittagessen zu. Angelockt von dem Duft von Kaffee und brutzelndem Schweinefleisch kamen die Bewohner von Tuerin, ihre Kinder im Schlepptau, langsam aus ihren Häusern hervor, um die Besucher in Augenschein zu nehmen. Granger stellte das Essen in die Mitte des Holztischs, während Indy drei Becher dampfenden Kaffees einschenkte. »Ich hoffe, Sie haben genug für alle gemacht«, bemerkte Joan. »Seien Sie nicht albern«, höhnte Granger. »Wir können schlecht das ganze Dorf verköstigen. Diese Lebensmittel müssen eine Weile reichen.« »Die Kinder sehen hungrig aus«, erwiderte sie. »Glauben Sie vielleicht, sie würden uns zu essen geben, wenn die Situation umgekehrt wäre?«, fragte Granger. »Ja«, erwiderte Joan ruhig. »Ich glaube, das würden sie.« Indy stellte den Topf auf den Herd zurück und betrachtete die Menschenmenge, die zusammengeströmt war, durch die offene Zeltöffnung. Die meisten waren Frauen und kleine Kinder, aber es waren auch ein paar alte Männer darunter. Sie standen einige Meter hinter dem Messezelt, die Hände schüchtern vor dem Körper verschränkt.
»Wo sind die Männer?«, fragte Joan. »Zwei Drittel der männlichen Bevölkerung der Mongolei besteht aus Lamas«, erklärte Granger und erhob sich. »Ich habe ihre Religion nie begriffen, obwohl ich viele von ihnen danach gefragt habe. Angeblich handelt es sich um eine spezielle buddhistische Sekte unter der Herrschaft des Dalai Lama - dem lebendigen Gott, wie er hier genannt wird - meiner Meinung nach ist es jedoch eher ein ziemlich gewiefter Schwindel. Ein ganz angenehmes Dasein, wenn Sie mich fragen, sich warm und trocken in seinen Klöstern zu verkriechen. Vermutlich können sie mit vollem Bauch besser beten.« Granger schloss die Zeltöffnung. »Und das andere Drittel der männlichen Bevölkerung?«, fragte Joan nach. »Natürlich Banditen.« Indy betrachtete seine Portion Fleisch mit Gemüse und nahm seine Gabel zur Hand. Er spießte ein Stück Dosenfleisch auf und führte es an die Lippen, dann schmiss er das Esswerkzeug hin. »Granger, ich kriege keinen Bissen runter, solange diese Leute Hunger haben.« »Ich auch nicht«, meinte Joan. »Missionare.« Granger machte ein angewidertes Gesicht. »Also schön, wir haben noch eine ganze Menge Kartons mit Milchpulver und zusätzlichem Dosenfleisch, das wir meiner Ansicht nach nicht unbedingt brauchen. Vermutlich könnten wir, wenn es hart auf hart kommt, auf die altbewährte Methode zurückgreifen und uns unser Abendessen schießen. Aber ich warne Sie, Jones, gut möglich, dass wir uns von Nagetieren ernähren, bevor diese Geschichte vorüber ist.« »Besser Ratten essen, als eine Ratte sein«, entschied Indy, während er sich erhob, um das Milchpulver holen zu gehen. »Kann ich nicht wenigstens vorher noch zu Mittag essen?«, beschwerte sich Granger.
Joan schlug die Zeltöffnung zurück. Dann ging sie hinaus, ergriff die Hände eines kleinen Jungen und seiner Mutter, führte sie ins Zelt und setzte sie an den Tisch. Sie nahm Grangers Teller und stellte ihn vor sie hin. »Nein«, gab Joan zurück. »Können Sie nicht. Die Gäste gehen vor.« Die übrigen aus der Menge folgten. Die nächste Stunde über waren Indy und Joan damit beschäftigt, Essen zuzubereiten und es den offenkundig mit einem unerschöpflichen Appetit ausgestatteten Bewohnern Tuerins vorzusetzen. Als der letzte Teller blank gewischt war, erschien eine kunstvoll gewandete Gestalt in der Öffnung des Messezeltes. Der Mann war mindestens einsachtzig groß und besaß einen langen, schwarzen Schnauzer, der über sein ausgeprägtes Kinn herabhing. In seiner Armbeuge lag ein Gewehr russischer Herkunft. Seine schwarzen Augen wanderten von einem Gesicht zum anderen. Schweigend sammelten die Frauen ihre Kinder zusammen und gingen. Man ließ nur einen alten Mann bei den amerikanischen Abenteurern am Tisch zurück, und der war gerade damit beschäftigt, sein letztes Stück Schweinefleisch mit dem Gaumen zu zermalmen. »Wer gibt meinen Kindern zu essen?«, verlangte der Mann auf Englisch zu wissen. »Wer würde das nicht tun?«, gab Indy zurück. Der Mann fing unvermittelt an zu lachen und trat mit einem großen Schritt ins Zelt. »Ihr Amerikaner«, sagte er, die Umgebung mit einer ausholenden Handbewegung erfassend. »Für euch ist jeder Tag ein Festtag. Trotzdem bin ich Ihnen für Ihre Gastfreundschaft dankbar, auch wenn wir es eigentlich sein sollten, die Ihnen zu essen geben.« Indy reichte ihm die Hand, und er schüttelte sie. »Ich bin Indiana Jones«, sagte er und stellte anschließend Joan und Granger vor.
»Mein Name ist Meryn«, erwiderte der Mann geziert. »Meine Freunde werden Ihnen bestätigen, dass ich der beste Kameltreiber in der gesamten Mongolei bin. Andere werden zustimmen, ich sei der beste und flinkeste Dieb. Und meine Feinde - ach, könnten sie sich nur aus ihrem Grab zu Wort melden -, sie würden Ihnen bestätigen, dass ich ein überaus leidenschaftlicher Krieger bin.« »Ich kann nur hoffen, dass wir Freunde werden«, bemerkte Indy. »Selbstverständlich sind wir Freunde«, polterte Meryn. »Ein Feind gibt Ihren Kindern nichts zu essen, nicht einmal, nachdem er Ihre Frau genommen hat. Sie haben unter meinen Frauen die freie Wahl. Wie ich sehe, haben Sie bereits drei von Ihnen kennen gelernt.« »Welche waren es denn?«, fragte Joan. »Nun, die hübschesten selbstverständlich.« »Wir benötigen dringend einen guten Kameltreiber«, sagte Indy. »Dann haben Sie ihn gefunden. Verraten Sie mir, sind Sie Freunde des großen Andrews? Vor vielen Jahren hat mein Vater für Andrews Kamele in das Herz der Gobi getrieben, damals, als die Amerikaner jenen Ort entdeckten/wo die Fossilien des großen Alleigorhei-Horhai verborgen lagen. Vor seinem Tod vertraute er mir an, dass er Andrews bis zum Tor der Hölle selbst gefolgt wäre.« »Ich kannte Ihren Vater«, meinte Granger. »Tut mir Leid zu hören, dass er tot ist.« »Die Chinesen«, sagte Meryn traurig. »Oder die Russen. Möglicherweise können es aber auch die Japaner gewesen sein, ich bin nicht sicher. Wir haben seinen Leichnam nie gefunden. Andererseits tröstet mich die Gewissheit, dass er viele dieser Hunde mit in den Tod genommen hat.« »Davon bin ich überzeugt«, meinte Indy. »Sie sprechen sehr gut Englisch«, bemerkte Granger. »Mein Vater«, erklärte Meryn. Granger schenkte einen Becher Kaffee ein und stellte ihn
auf den Tisch. Meryn hängte den Riemen seines Gewehrs an eine Zeltstange und nahm Platz. »Wie viele Kamele werden Sie benötigen?« »Sehr viele«, antwortete Indy. »Was ich nicht habe, werde ich für Sie stehlen«, gab Meryn zurück und nippte am Kaffee. »Haben Sie Zucker?« »Stehlen?«, fragte Joan, als sie die Blechdose mit Zucker vor ihn hinstellte. »Nur so eine Redensart.« Während er sprach, löffelte Meryn so viel Zucker in den Becher, dass der Kaffee überzulaufen drohte. Anschließend setzte Meryn den Becher an die Lippen und sog das sirupartige Gebräu schlürfend in sich hinein. »Sagen Sie, haben Sie jemals etwas von einem Burschen namens General Tzi gehört?«, erkundigte sich Granger. Meryn hätte sich beinahe am Kaffee verschluckt. »Tzi«, fauchte er. »Wo haben Sie diesen verabscheuungswürdigen Namen gehört?« »Wir sind diesseits von Kalgan, an der Großen Mauer, auf einen seiner Abgesandten gestoßen, einen ziemlich unangenehmen Zeitgenossen namens Feng«, erklärte Granger. »Ich hoffe, Sie haben ihn umgebracht.« »Leider nein.« »Tzi, der Kannibale«, fuhr Meryn fort, »schimpft sich selber General und behauptet, er sei ein Patriot im Kampf gegen die Kommunisten, dabei vergießt er das Blut aller. Er entsendet seine Truppen von einer uneinnehmbaren Bergfestung aus, wo er unter dem Schutz des Falschen Lamas der Schwarzen Gobi lebt.« »Was ist das, dieser Falsche Lama?«, wollte Joan wissen. »Das, was bei den Lamas dem Antichristen entspricht«, erklärte Indy. »Der Falsche Lama ist der Gegenspieler des Lebendigen Gottes in Urga«, erläuterte Meryn. »In den Wirren, nachdem die Kommunisten die Religion für ungesetzlich erklärt hatten, gelang es dem Falschen Lama, eine kleine Gruppe
von Gefolgsleuten um sich zu scharen und mit ihnen in die Wüste zu marschieren. Ohne die bösartige Macht des Schwarzen wäre Tzi ein Nichts.« »Wie tröstlich«, sagte Indy. »Wieso wird er der Kannibale genannt?« »Weil man ihm nachsagt, dass er die Herzen seiner Opfer verspeist«, sagte Meryn. »Er ist unbarmherzig und spürt seine Opfer mit Hilfe eines Rudels von Wildhunden auf, die er mit Menschenfleisch füttert.« Joan erbleichte. »Das ... fällt schwer zu glauben.« »Ich fürchte, nein«, meinte Granger. »Wildhunde sind in diesem Land besonders gefährlich, weil viele von ihnen auf den Geschmack von Menschenfleisch gekommen sind. Deswegen war ich auch wegen dieser Bestie so besorgt, die Indy an der Mauer befreit hat. Und glauben Sie nur nicht, Jones, ich hätte nicht bemerkt, dass Sie für diese Mörderbestie draußen vor dem Lager etwas zum Fressen zurückgelassen haben.« »Und wie sind sie nun auf den Geschmack gekommen?«, wollte Joan wissen. »In den kleineren Dörfern nimmt der Aberglaube überhand«, meinte Granger. »Die Körper der Toten gelten als so unrein und als solche Brutstätte für böse Geister, dass man die frisch Verstorbenen einfach hinten auf einen Karren wirft. Anschließend zieht der mutigste Mann aus dem Dorf mitsamt Karren los und fährt auf Teufel komm raus kreuz und quer durch das Land, ohne sich ein einziges Mal umzusehen. Irgendwann fällt der Leichnam durch das Gepolter vom Karren und wird zum Fressen für die Hunde.« »Das ist der Stoff, aus dem Albträume sind«, stellte Joan fest. Granger seufzte. »Wenn es weiter nichts wäre als ein schlimmer Traum.« »Reden wir von etwas Angenehmerem«, schlug Meryn vor. »Was gedachten Sie für die Kamele zu bezahlen, nach denen Sie so verzweifelt suchen?«
Joan war erschöpft, trotzdem musste sie feststellen, dass sie in der stillen Einsamkeit ihres Zeltes keine Ruhe fand. Jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, beschwor ihr Verstand Bilder von Wildhunden mit glühenden Augen herauf, die sie erbarmungslos durch die Wüste verfolgten. Schließlich gab sie es auf. Sie zog sich an, streifte einen schweren Wollmantel über und trat aus dem Zelt. Der Wind hatte sich gelegt, und die Sterne funkelten. Sie ging ein Stück, lehnte sich gegen Indys Lastwagen und dachte an ihren Vater. Ein Hund begann zu bellen. Joan erstarrte. Das Gebell kam irgendwo aus der Dunkelheit und wurde zunehmend lauter. Sie raffte den Mantel um sich und ging ein paar Schritte auf die Zelte zu. Der Hund, den Indy von der Mauer befreit hatte, kam wie verrückt bellend mitten ins Lager gesprungen. Er pflanzte sich zwischen Joan und den Zelten auf, die Beine gespreizt, die Haare in seinem Nacken aufgestellt. »Nicht bewegen«, rief Granger Joan zu. Granger war aus seinem Zelt geschlüpft und hielt sein Gewehr in der Hand. Er löste die Sicherung mit einem leisen Klicken und hob das Gewehr behutsam an seine Schulter. »Oh, mein Gott«, entfuhr es Joan. Joan befand sich genau in der Schusslinie. Granger wollte versuchen, auf das Tier zu feuern, ohne Joan dabei zu gefährden, und begann, sich langsam seitwärts zu bewegen. Der Hund kam immer näher, immer noch wild kläffend. »Gleich hab ich's geschafft«, sagte Granger. »Bleiben Sie ruhig.« »Oh, mein Gott«, wiederholte Joan. Granger machte noch zwei Schritte nach rechts, dann begann er, ganz langsam auf den Abzug zu drücken. Plötzlich rannte der Hund los. Im selben Augenblick, als Granger feuerte, schlug Indy den Lauf des Gewehrs in die Luft, und die Kugel verschwand sirrend im nächtlichen Himmel.
Joan brach zusammen, als der Hund zum Sprung ansetzte. Das Tier flog über sie hinweg und landete mitten auf Fengs Brust, der im Begriff war, sich mit gezogenem Messer an die Nonne heranzuschleichen. Feng wurde nach hinten geworfen, und der Hund schlug seine Zähne tief in sein Handgelenk. Mittlerweile stürmten auch noch andere, Messer und Gewehre schwenkende Gestalten ins Lager. Granger schob eine weitere Patrone in den Lauf und schoss der am nächsten stehenden in die Brust. Der Bandit landete mit einem widerwärtigen Seufzen vor Indys Füßen, den Dolch noch immer mit seiner leblosen Hand umklammert. Indy zog seinen Revolver und griff die Eindringlinge wild um sich schießend an. Sie stoben auseinander, doch nicht bevor es einem von ihnen gelang, Indys Wange mit einem Säbel aufzuschlitzen. »Nicht schon wieder«, stöhnte er, die Blutung mit der bloßen Hand eindämmend. »Sie ist eben erst verheilt.« Feng befreite sich mit einem Fußtritt von dem Hund und rannte/ Flüche hinter sich schleudernd, in die Nacht hinaus. »Mutig sind sie nicht gerade, was?«, meinte Granger nachdenklich. »Man braucht nicht viel Mut, um Menschen im Schlaf umzubringen«, erwiderte Indy. »Bei Ihnen alles in Ordnung, Schwester?« »Ich bin nur ein wenig mitgenommen«, antwortete sie. »Wenn der Hund nicht »Denken Sie nicht mal darüber nach«, meinte Indy. Er kniete nieder und klopfte mit der flachen Hand auf den Boden. Der Hund kam vorsichtig näher und ließ sich von ihm die Hand auf den Kopf legen. »Hätte Loki hier nicht so zu bellen angefangen, wären wir jetzt wahrscheinlich alle tot.« »Ich bin froh, dass ich mich in dem Tier getäuscht habe«, meinte Granger.
»Als ich klein war, hatte ich einen Hund, dessen Tod ich nie habe verwinden können. Er war mein bester Freund.« Dann fügte Indy so leise hinzu, dass die anderen ihn nicht hören konnten: »Um die Wahrheit zu sagen, er war sein Namensvetter.« »Sie haben ihn Loki getauft?«, fragte Joan. »Aber ja«, gab Indy zurück. »Nach dem nordischen Gott des Unheils, der an eine Mauer gekettet wurde.«
KAPITEL FÜNF Die Stadt des Lebendigen Gottes
Zwei Polizisten führten Indiana Jones und Granger mit vorgehaltener Waffe aus dem feuchten Gefängnis, in dem sie ihre erste Nacht in der alten befestigten Stadt Urga verbracht hatten. Keiner der beiden hatte ein Auge zugetan, zumal sie wiederholt Befragungen in russischer Sprache über ihren Aufenthalt in der Mongolei ausgesetzt gewesen waren. Wie benommen stand Indy auf der Straße und blinzelte ins Sonnenlicht. Seine Nase juckte höllisch, doch seine Hände blieben, wie auch die von Granger, auf dem Rücken gefesselt. »Wollen Sie uns nicht losbinden?«, fragte Indy. Einer der Polizisten rammte ihm den Lauf seines Gewehrs ins Kreuz und stieß ihn weiter. »Ich nehme an, das heißt nein«, meinte Granger. Ihre beiden Bewacher waren Burjaten, Angehörige eines Stammes aus dem Norden der Mongolei, der sich schon seit Generationen als Russen betrachtete. Keiner sprach, als sie Indy und Granger durch die dicht gedrängten Straßen scheuchten, und sie lächelten auch nicht, als Indy sich -auf Russisch - scherzhaft für die kostenlose nächtliche Unterbringung und das ausgezeichnete Essen bedankte. »Wo bekommen Sie eigentlich Kakerlaken in dieser Größe her?«, erkundigte sich Indy. Die Stadt erstreckte sich auf einer Länge von fünf Meilen
am Tola-Fluss und hatte sich, größter Anstrengungen der Kommunisten zum Trotz, ihren ganz eigenen Charakter bewahrt, eine eigenartige Mischung aus drei Kulturen -der chinesischen, der mongolischen und der russischen. Bei den russischen Gebäuden handelte sich es ausnahmslos um gedrungene, rot oder orange gestrichene Zweckbauten, die Wohnhäuser dagegen glichen reich verzierten Bauernhäusern. Die traditionellen mongolischen Gebäude waren von hohen, grob behauenen Holzpalisaden umgeben, auf denen Gebetsfahnen flatterten, und im Geschäftsviertel der Stadt gab es Reihe auf Reihe saubere chinesische Ladengeschäfte mit ihren hölzernen Ladentheken und den mit blauen Jacken bekleideten Kaufleuten. Allerdings waren seit der Machtübernahme durch die Kommunisten im Jahr 1924 sämtliche Spuren religiösen Lebens aus dem architektonischen Gesamtbild entfernt worden. Die Kirchen, Kapellen und Klöster der Stadt hatte man allesamt dem Erdboden gleich gemacht. An ihre Stelle waren mit Sandsäcken geschützte Maschinengewehrnester getreten. Diese hässlichen Bauten beherrschten jede wichtige Straßenkreuzung. Das russische Konsulat war ein riesiges, rotes Gebäude, das auf dem Gelände einer kurz nach der kommunistischen Machtübernahme zerstörten Kirche stand. Obwohl die mongolische Regierung angeblich autonom war, geschah nichts ohne die Billigung der russischen Funktionäre. Indy und Granger wurden die Treppen hinauf und durch einen trostlosen Steinkorridor gestoßen und schließlich in ein kahles Büro gebracht, in dem Joan bereits auf sie wartete. »Alles in Ordnung bei Ihnen?«, fragte Indy. »Ja«, antwortete sie. »Ist dies ein Verhör?«, erkundigte sich Indy auf Russisch. »Selbstverständlich nicht«, antwortete der Außenminister hinter seinem mächtigen Schreibtisch. Er war ein kleiner, zu Kahlheit neigender Mann mit ungesunder Gesichtsfarbe,
und sein Name lautete Badmanjohni. Er legte die Fingerspitzen aneinander, während er sich ihnen über seinen mächtigen Schreibtisch entgegenbeugte. »Wieso sind wir dann verhaftet?«, fragte Indy. »Das sind Sie nicht«, erwiderte der Minister. »Man hat Sie vierundzwanzig Stunden wegen des Verdachts der Spionage festgehalten, nach Befragen von Schwester Joan hier bin ich allerdings überzeugt, dass Sie harmlos, wenn auch irregeleitet, sind.« Der Mann bedeutete den Burjaten, dass sie sich entfernen konnten. »Wo ist mein Hund?«, wollte Indy wissen. »Er befindet sich im Untergeschoss, eingesperrt in einem Käfig, der normalerweise für Leoparden benutzt wird«, antwortete der Minister. »Es wurde ihm kein Haar gekrümmt. Zu meinem Leidwesen kann man das nicht von dem Polizisten behaupten, der ihn mit Gewalt aus dem Fahrerhaus Ihres Lastwagens zerren und ihm eine Leine anlegen musste. Die Wunde musste mit mehreren Stichen genäht werden, und am Ende hat man das Tier wie in Ihren Wild-West-Shows mit einem Lasso einfangen müssen. Andererseits, habe ich mir erzählen lassen, erinnert Urga euch Amerikaner an die Zeiten des Wilden Westens.« Indy schmunzelte. »Was ist mit unseren Lastwagen?«, fragte Granger. »Sie stehen draußen und warten auf Sie«, erwiderte der Minister liebenswürdig. »Wir haben für Sie sogar die Tanks mit Benzin gefüllt und das Öl nachgesehen.« »Service mit einem Lächeln auf den Lippen«, witzelte Indy. »Hören Sie, wir waren auf dem Weg in dieses Büro, als Ihre Schergen über uns hergefallen sind und uns ins Gefängnis verschleppt haben. Wir hatten die feste Absicht, die erforderlichen Empfehlungsschreiben für unsere Weiterreise zu beschaffen.« »Es tut uns Leid, dass wir Ihnen Unannehmlichkeiten bereitet haben«, sagte Badmanjohni. »Ich hoffe, Sie akzeptieren
meine aufrichtige Entschuldigung. Allerdings lassen sich derartige Dinge nur unter größten Schwierigkeiten bewerkstelligen, Dr. Jones. Gewöhnlich nimmt die Bearbeitung solcher Genehmigungen Monate in Anspruch, und das in den friedfertigsten Zeiten. Wir waren nicht darauf vorbereitet, dass drei Amerikaner mit einer bewaffneten Motorkolonne in die Stadt einfallen und sicheres Geleit durch die Gobi verlangen.« »Aber im Falle einer Mission der Barmherzigkeit lassen sich doch bestimmt gewisse Überlegungen anstellen«, setzte Indy unbeholfen an. Es war einige Jahre her, dass er Umgangsrussisch gesprochen hatte, und er stellte fest, dass er nach den passenden Worten suchen musste. »Tut mir Leid, aber mein Russisch ist ziemlich unbeholfen. Könnten wir bitte Englisch sprechen?« »Selbstverständlich.« »Wir sind hier, um Professor Starbuck ausfindig zu machen und ihn sicher zu seiner Familie zurückzubringen.« »Dies alles hat mir die gute Schwester bereits erklärt, im Übrigen stehe ich Ihrer Mission durchaus wohlwollend gegenüber«, antwortete der Minister. »Aber die Region ist unsicher. Die Russen misstrauen den Chinesen, die Chinesen misstrauen den Russen, und alle hassen die Japaner. Es wird Gerüchte über Spionage und Intrigen geben.« »Hören Sie, wir sind keine Spione«, erklärte Indy. »Dies ist eine wissenschaftliche Expedition, die vom Museum of Natural History finanziert wird. Wir verfolgen zwei Ziele -erstens, Professor Starbuck zu finden, und zweitens, alle Fossilien, die er möglicherweise gefunden hat, unversehrt abzutransportieren. So einfach ist das.« »In allen praktischen Belangen besteht kaum ein Unterschied zwischen einer wissenschaftlichen Expedition und einer strategischen«, erwiderte Badmanjohni. »Beide dienen dazu, Informationen zu sammeln, Fotografien und Karten anzufertigen. Aus eben diesem Grund haben wir bereits seit mehreren Jahren keine Expeditionen mehr in die Gobi
gelassen. Sie haben ein Funkgerät und eine fotografische Ausrüstung dabei, nicht wahr?« »Das wissen Sie doch.« Indy verlor allmählich die Geduld. »Unsere Lastwagen wurden durchsucht.« »Dieser Umstand wird sich als etwas problematisch erweisen«, sagte Badmanjohni. »Wenn Sie jedoch bereit wären, gewisse Zugeständnisse zu machen, ließe sich vielleicht eine Regelung finden. Es würde allerdings mehrere Wochen dauern, die Schwierigkeiten im Einzelnen auszuräumen.« »Wir haben aber nicht mehrere Wochen Zeit«, wandte Joan ein. »In einem Monat herrschen dort draußen in der Wüste vierzig Grad unter Null, und mein Vater könnte erfroren sein, bevor wir ihn finden.« »Möglicherweise gibt es einen Weg, die Dinge zu beschleunigen«, schlug Badmanjohni vor. »Aber das wird nicht einfach werden. Was ich zu sagen versuche, Dr. Jones, ist, dass es nicht billig werden wird.« »Aha, jetzt kommen wir endlich zum Punkt«, meinte Indy. »Offenbar hat er nicht die Absicht, über Religion zu diskutieren«, bemerkte Joan. »Wie viel?«, fragte Indy. »Wie können Sie annehmen, ich würde um Zahlen feilschen, solange wir über eine so heikle Angelegenheit sprechen?«, erwiderte Badmanjohni. »Sie beleidigen mich.« Indy wandte dem Minister den Rücken zu, langte in sein Hemd und nahm eine Hand voll Goldmünzen aus seinem Geldgürtel. Anschließend drehte er sich wieder um und legte sie auf den Schreibtisch. »Vielleicht besänftigt das Ihren Stolz.« Badmanjohni schob die Münzen mit einer wischenden Bewegung in eine Schreibtischschublade, ohne sie zu zählen. »Ich werde sehen, was sich machen lässt, Dr. Jones. Kommen Sie in drei Tagen wieder. Dann werden wir wissen, ob meine Bemühungen erfolgreich waren oder nicht. In
der Zwischenzeit schlage ich vor, dass Sie und Schwester Joan sich das eine oder andere ansehen, für den Fall, dass Ihre Bitte abgeschlagen wird. Möglicherweise muss Ihre lange Reise in die Mongolei dann nicht als vergeblich angesehen werden. Übrigens schlage ich um Ihrer selbst willen vor, dass Sie die Stadt nicht mehr Urga nennen. Dies ist Ulan Bator, die Rote Stadt.« »Vielen Dank«, erwiderte Indy widerstrebend. »Übrigens, Dr. Jones«, fügte Badmanjohni hinzu. »Wir haben uns erlaubt, den Kurzwellensender, die Kameras und dieses merkwürdige Maschinengewehr zu beschlagnahmen, bis über Ihre Anfrage entschieden ist. Für jede der anderen Waffen, die Sie bei sich führen, ist eine Genehmigung im Wert von zehn Dollar erforderlich, und die Lastwagen kosten jeweils fünfzig. Sie können diese Gebühren jetzt gleich entrichten, wenn Sie wollen.« »Wie viel haben Sie diesem Burjaten-Dieb bezahlt?«, wollte Granger wissen, als sie wieder draußen waren. »Ungefähr fünfhundert Dollar«, antwortete Indy, als er und Loki die Stufen des Konsulats hinunterstiegen. »Und ich rechne damit, dass es noch weitere fünfhundert Dollar kosten wird, bis das Abkommen endgültig besiegelt ist.« »Diese verdammten Roten«, schimpfte Granger. »Was tun wir jetzt?«, fragte Joan. »Wir schauen uns die Sehenswürdigkeiten an«, sagte Indy, »und verhalten uns in den nächsten Tagen so unauffällig wie nur möglich.« »Wirklich schade, dass die Religion verboten wurde«, bemerkte Joan. »Ich hätte dem Dalai Lama gerne einen Besuch abgestattet.« »Aber das können Sie noch immer«, meinte Granger. »Mag sein, dass Religion illegal ist, aber damit verhält es sich wie mit der Prohibition in den Vereinigten Staaten - es bedeutet nicht, dass Sie sie nicht bekommen können. Sie müssen nur wissen, wo sie zu finden ist. Der Dalai Lama ist
in den Untergrund gegangen und residiert in einem Lager am Stadtrand, wo ein Dutzend Mönche um ihn herumscharwenzeln. Natürlich ist der letzte rechtmäßig anerkannte Dalai Lama 1923 gestorben, und es besteht eine gewisse Meinungsverschiedenheit darüber, ob dieser wahrhaftig die jüngste Wiedergeburt Buddhas auf Erden ist, aber ich werde Sie trotzdem hinbringen, damit Sie ihn kennen lernen. Schließlich erhält man nicht jeden Tag Gelegenheit, Gott persönlich zu begegnen ,- hab ich Recht, Schwester?« Zwei Mönche in roten Gewändern mit himmelblauem Ärmelaufschlag geleiteten sie durch das von einer Palisade aus grob behauenen Pfählen umgebene Lager ins Innere einer gelben Hütte vor den Lebendigen Gott. Indy nahm steif, seinen Filzhut in den Händen, Haltung an, während Granger, die Hände in den Hosentaschen, lässig hinter ihnen stand. Indy verbeugte sich und zog Joan dabei mit hinunter, dabei raunte er Granger leise zu, ein wenig Respekt zu zeigen. »Du meine Güte«, meinte dieser, nahm seinen Hut ab und verbeugte sich. »Wir sind sehr erfreut, Sie kennen zu lernen«, stammelte Joan. Der Lama war ein Mann mittleren Alters mit milchigblauen Augen und kahl geschorenem Schädel. Er saß mit übereinander geschlagenen Beinen auf einem Kissen und trug ein einfaches, safranfarbenes Gewand und darunter schwarze Hosen. »Treten Sie näher«, erwiderte der Lama. »Meine Augen versagen mir den Dienst. Die Ärzte meinen, bis zum Frühjahr werde ich vollständig erblindet sein.« »Das tut mir Leid«, sagte Joan, während sie seiner Aufforderung nachkamen. Die Mönche in den roten Gewändern brachten drei Kissen. Indy hieß Granger seine Füße bedecken, als sie sich auf ihnen niederließen. »Das muss es nicht, meine Liebe«, entgegnete der Lama.
»Ich habe genug vom Leid in dieser Welt gesehen, ihre Schönheit dagegen wird vor meinem inneren Auge niemals verblassen. Seit mehreren Wochen habe ich Sie nun schon kommen sehen, und was haben Sie für eine lange Reise hinter sich! Übers Meer und über Land.« »Sie haben uns gesehen?«, fragte Joan. »In meinen Träumen«, erwiderte der Lama. »Ich sah außerdem Rudel von Wildhunden und Banditen sowie eine Menge Ungemach, das noch vor Ihnen liegt.« »Was können Sie uns sonst noch sagen?«, fragte Joan. »Was kann man aus Träumen schließen?«, antwortete der Lama. »Dass Sie sich nicht auf einer Reise des Körpers, sondern der Seele befinden, ist offenkundig, meine Liebe. Sie suchen etwas, das vor langer Zeit verloren ging.« »Meinen Vater«, sagte sie. »Mehr als nur Ihren Vater«, erwiderte der Lama. »Sie sind auf der Suche nach dem Ahnen aller Ahnen, nach der Welt, wie sie war, bevor sie durch die Erkenntnis korrumpiert wurde. Nach dem Garten Eden.« »Ja, da haben Sie Recht«, beeilte sich Joan zu sagen. Dann fragte sie: »Werde ich ihn finden?« »Wer bin ich, das zu sagen?«, fragte er. »Das liegt bei Ihnen. Ich kann nur in meine Träume blicken, nicht in Ihr Herz.« »Verzeihen Sie«, unterbrach Indy und zog einen orangenen Stofffetzen aus seiner Hemdtasche, »aber sind Sie sicher, dass es nicht Ihre Spione waren, die Sie über unser Kommen unterrichtet haben? Sie haben uns doch bestimmt die Mönche in New York auf den Hals gehetzt?« Der Lama untersuchte den Stofffetzen. »Der Stoff sagt mir nichts«, meinte der Lama. »Sie tun so, als sollte er das. Allerdings stammt dieses spezielle Stück Stoff aus einem unserer entlegenen Klöster mitten in der Wüste Gobi.« »Das können Sie durch einfaches Hinsehen feststellen?«, fragte Granger.
»Nein, durch Befühlen«, erwiderte der Lama. »Die Webart ist unverkennbar. Erzählen Sie mir mehr von diesen Mönchen, die, wie Sie sagen, hinter Ihnen her waren. Was haben sie gewollt?« »Sie haben den Stoßzahn gestohlen«, sagte Indy. »Aha, einen Stoßzahn.« Der Lama seufzte. »Jetzt kommen wir der Sache schon näher. Können Sie mir diesen Stoßzahn beschreiben? Nein, warten Sie. Ich möchte Ihnen etwas zeigen, und Sie verraten mir, ob es jenem Gegenstand ähnelt, den man Ihnen entwendet hat.« Er sagte etwas zu den Mönchen, und kurz darauf brachte ihm einer von ihnen einen leuchtend bunten Reliquienschrein. Der Lama sprach ein Gebet, anschließend öffnete er den Deckel des hölzernen Behälters und entnahm ihm ein kleineres Exemplar jenes Stoßzahnes, der aus dem Museum of Natural History entwendet worden war. »Kommt er Ihnen bekannt vor?«, fragte er. »Durchaus«, antwortete Indy, den Stoßzahn begutachtend. »Aber es ist nicht der, der uns gestohlen wurde. Dieser ist kleiner. Außerdem ist er versteinert.« »Er wurde von Generation zu Generation weitervererbt und ist unvorstellbar alt«, erklärte der Lama und legte ihn in den Kasten zurück. »Wissen Sie, was das ist?« »Wissen Sie es?«, fragte Indy. »Selbstverständlich«, antwortete der Lama. »Es handelt sich um den Stoßzahn des legendären Allergorhai-Horhai, des heiligen Steintieres aus der Wüste. Viele sagen, der Horhai sei nichts weiter als eine Legende, hier jedoch haben wir einen greifbaren Beweis, eine Mahnung an die unergründlichen Zyklen der Welt. Ist Ihnen dieses Tier bekannt?« Indy bejahte. »Es heißt, es lebe noch immer in der Gobi.« »Das habe ich gehört.« »Ist dieses Tier Gegenstand Ihrer Suche?« »Wir sind hier, um Professor Angus Starbuck zu finden,
der irgendwo in der Gobi verschollen ist. Schwester Joan hier ist Starbucks Tochter.« »Aber das Tier suchen Sie auch. Sonst hätten Sie mir diesen Stofffetzen nicht gezeigt«, sagte der Lama. »Ich habe von Ihrem Professor Starbuck gehört. Er ist in den Klöstern jenseits der Wüste gut bekannt, und ich werde Sie, sofern ich kann, bei Ihrer Suche nach ihm unterstützen. Wenn ich mich recht erinnere, wurde er zum letzten Mal in der Region von Gurbun Saikhan gesehen.« »Den Ort kenne ich«, sagte Granger hastig. »Er liegt in der Nähe einer Stelle, die sich Leuchtende Klippen nennt und an der die Andrews-Expedition zahlreiche hervorragende Fossilien gefunden hat.« »Gurbun Saikhan«, wiederholte Indy. »Die Drei Ehrbaren. « »Der Ort wurde vor drei Generationen nach Ihnen benannt.« Granger schnaubte verächtlich. »So ein Unsinn«, sagte er. »Vermutlich hat irgendein armer Nomade an der Stelle drei Antilopen geschossen.« »Vielleicht wäre es hilfreich, wenn Sie Ihren Hut wieder aufsetzen würden«, schlug der Lama vor. »Ihr Gehör - oder zumindest Ihre Fähigkeit, zuzuhören - scheint ein wenig beeinträchtigt zu sein.« Indy musste lachen. »Wissen Sie außerdem noch etwas über meinen Vater?«, fragte Joan. Der Lama schüttelte den Kopf. »Er ist eine ziemlich legendenumwobene Gestalt, und was immer er während der langen Trecks in die Wüste entdeckt, behält er für sich.« »Dr. Jones«, fuhr der Lama fort. »Ich wünsche Ihnen das Beste bei Ihrem Bemühen, Professor Starbuck ausfindig zu machen. Es gibt jedoch etwas, um das ich Sie bitten muss.« »Ich werde tun, was immer in meiner Macht steht«, antwortete Indy. »Sollten Sie bei Ihrer Suche nach Professor Starbuck zu-
fällig auf den Horhai stoßen, müssen Sie sich bereit erklären, ihn vor allem Unheil zu bewahren. Können Sie das tun?« Indy zögerte. »Bei dem Horhai handelt es sich um ein Tier aus der Legende«, sagte er. »In der Legende stößt man oft auf die bedeutendsten Wahrheiten.« »Aber was soll ich Ihrer Ansicht nach zu seinem Schutz unternehmen?« »Die Antwort darauf liegt in Ihrer Seele«, erwiderte der Lama. »Wenn die Zeit kommt, werden Sie die Antwort ganz aufrichtig in sich selber suchen müssen. Für einen Mann der Tat ist das oft das Allerschwierigste. Sind Sie dazu bereit, Dr. Jones?« »Ja«, antwortete Indy. »Gute Neuigkeiten«, verkündetete Badmanjohni, als die drei das Büro des Außenministeriums im russischen Konsulat betraten. »Ich habe Tag und Nacht gearbeitet und schließlich die erforderlichen Genehmigungen für Ihre Expedition erhalten.« »Ausgezeichnet«, meinte Granger. Badmanjohni breitete die Papiere auf dem Schreibtisch aus. Darunter waren auch ihre drei Pässe, die sogar mit den entsprechenden Visa abgestempelt waren. »Es wären nur noch ein, zwei unbedeutende Details zu klären«, erläuterte der Minister. »Natürlich müssen Sie Ihre gesamte Funkund Fotoausrüstung abgeben. Das Maschinengewehr steht selbstverständlich außer Frage. Außerdem benötige ich noch weitere siebenhundert Dollar.« »Was?«, fuhr Granger auf. »Wollen Sie uns etwa fertig machen?« »Damit das gewünschte Resultat erzielt werden kann, müssen Gefälligkeiten verteilt werden«, meinte Badmanjohni achselzuckend. »Der Betrag ist nicht verhandelbar.«
Indy zählte die Goldmünzen ab und stapelte sie auf den Schreibtisch, während Granger die Genehmigungen an sich nahm. »Da wäre noch eine letzte Bedingung«, sagte der Minister. »Ohne vorherige Prüfung und Billigung durch die Volksrepublik Mongolei darf absolut nichts dieses Land verlassen. Alle Ihre Proben müssen zur Überprüfung hierher, nach Ulan Bator, gebracht werden.« Granger sah Indy an. »Kein Problem«, meinte der. »Wir müssen sowieso noch einmal herkommen, um Schwester Joan abzuholen.« »Sie können mich doch nicht allen Ernstes hier, an diesem gottverlassenen Ort, zurücklassen wollen?«, flehte Joan, als sie das Konsulat verließen. »Wo soll ich denn wohnen? Etwa im Frauengefängnis?« »Nun, zumindest ist Ihnen das bereits vertraut«, bemerkte Granger. »Der Lama hat Sie in sein Herz geschlossen«, sagte Indy. »Er hat Sie eingeladen, bis zu unserer Rückkehr in einer Hütte seines Lagers zu wohnen, und ich schlage vor, Sie nehmen sein Angebot an. Das ist hier für Sie der sicherste Ort.« »Das werde ich nicht tun«, erwiderte sie. »Hören Sie, Schwester«, sagte Indy. »Wir hatten eine Abmachung, haben Sie das schon vergessen? Sie sollten bis Urga mitkommen und keinen Schritt weiter.« »Sie haben eine Abmachung getroffen«, stammelte sie. »Ich habe mich mit keinem verdammten Wort dazu geäußert. Sie waren nur der Annahme, ich hätte zugestimmt.« »Eine fluchende Nonne«, meinte Granger. »Ihr Orden muss stolz auf Sie sein.« »Ach, fahren Sie doch zur -« »Ich kann mir schon denken, wohin«, unterbrach Granger sie. »Jetzt hören Sie mir mal zu. Müssen wir Sie fesseln und im Lager abliefern, oder werden Sie ausnahmsweise
vernünftig sein? Ich schwöre Ihnen, wenn nötig, werde ich den Mönchen erzählen, dass Sie verrückt sind und zu Ihrem eigenen Besten in Ihr Zimmer gesperrt werden müssen.« Joan schwieg. »Wir tun Ihnen damit einen Gefallen«, fuhr Granger fort. »Wollen Sie diesen Wildhunden in Wirklichkeit begegnen oder nur in Ihren Albträumen?« »Also gut«, gab Joan sich geschlagen. »Von mir aus bringen Sie mich zurück ins Lager. Aber Sie täten gut daran, mir genug Geld dazulassen, damit ich mich bis zu Ihrer Rückkehr selbst versorgen kann.« Sofort nachdem die Lastwagen vom Lager aus nicht mehr zu sehen waren, sammelte Joan ihre Sachen zusammen und machte sich zu Fuß auf den Weg in das Geschäftsviertel von Urga, das beruhigende Gewicht von zehn Goldstücken in den Taschen ihrer Ordenstracht.
KAPITEL SECHS Wildhunde
Mit zwei Automobilen und dreißig zu einer langen Karawane auf den reliefartig geformten Sanddünen aufgereihten Kamelen drang die Expedition endlich in die Wüste Gobi vor. Grangers Lastwagen, ohne das Maschinengewehr, hatte die Führung übernommen. Über dem Fahrerhaus wehte eine amerikanische Flagge, die mittels einer langen Stange auf der Ladefläche des Lastwagens befestigt war. Auch wenn der Anblick der Stars and Stripes jedesmal einen leisen Anflug von Patriotismus in Indys Herz auslöste, so flatterte die Fahne dort auch aus praktischen Gründen: Auf diese Weise konnte der Lastwagen leicht ausgemacht werden, sobald er, wenn Granger die beste Route für die Karawane auskundschaftete, hinter den Dünen verschwand. Indys Lastwagen hatte einen blauen Wimpel aufgezogen, den das Logo des American Museum of Natural History zierte -das Skelett eines Mannes, der versucht, das Skelett eines sich aufbäumenden Pferdes im Zaum zu halten. Die Anregung für dieses Motiv ging auf eines der beliebtesten Ausstellungsstücke des Museums zurück, Indy dagegen gefiel das Piratenhafte des Wimpels - in der entlegenen Wüste Gobi, wo die Mongolen Pferde verehrten und die Toten fürchteten, sprach er, ganz ohne es zu wollen, Bände. Es ging nur langsam voran, und Granger überprüfte die zurückgelegte Strecke laufend anhand seines Kompasses
und seiner Karten. Wenn sie für den Abend Halt machten, bestimmte er gewöhnlich mit Hilfe seines Sextanten und seiner astronomischen Tabellen ihren genauen Standort, legte anschließend ihre Höhe mit einem Barometer fest und nahm eine entsprechende Eintragung in seinem Logbuch vor. Die von dieser Gegend erhältlichen Karten waren ebenso bar aller Details wie Karten des offenen Meeres. Gelegentlich machte die Wüste einem harten, verkrusteten, mit verkümmerten, an Tamarisken erinnernden Bäumen bestandenen Untergrund Platz, doch Wasserlöcher passierten sie keine. Tierisches Leben war selten und menschliche Besiedlung nicht vorhanden; in der einen Woche seit Verlassen Urgas waren sie keiner einzigen Menschenseele begegnet - wenn man von dem häufigen Sichten eines Burjatensoldaten zu Pferd absah, der vom Außenminister ausgesandt worden war, um der Expedition nachzuspionieren. Als das Pferd des Soldaten an Erschöpfung krepierte, luden sie den ungläubigen Mann ein, sich der Expedition anzuschließen, erklärten ihm aber, er müsse für seine Lebensmittel- und Wasserrationen auch seinen Anteil an der Arbeit übernehmen. Der Soldat war dankbar und willigte rasch ein. Manchmal trafen sie in der Nähe des verräterischen Steinkreises, wo einst eine mongolische Jurte - ein gedrungenes, spitz zulaufendes Zelt - gestanden hatte, auf ein ausgebleichtes, unmittelbar neben einer verwitterten Essschale hockendes Skelett. Bei den Mongolen war es üblich, die Zelte abzubrechen und Tote oder Sterbende der unbarmherzigen Natur zu überlassen. Obschon Granger es schockierend fand, vermochte Indy die nackte Notwendigkeit dieser Handlungsweise einzusehen. Bekanntlich hatten die nordamerikanischen Prärieindianer sich in strengen Wintern ähnlich verhalten. Tagsüber war es so heiß, dass Indy gezwungen war, seine Lederjacke abzulegen, nachts dagegen fiel die Temperatur auf den Gefrierpunkt oder noch darunter. Meryn und die
anderen Treiber schienen diese extremen Bedingungen klaglos hinzunehmen. Indy dagegen hatte den Eindruck, dass das ständige Auf und Ab der Temperaturen an seinen Kräften zehrte. Er war harte Bedingungen gewöhnt, normalerweise aber nur für ein, zwei Tage. Danach hieß es für eine heiße Dusche zurück ins Basislager. Hier draußen gab es kein Wasser, das man hätte entbehren können. Granger dagegen war endlich in seinem Element. Er summte beim Morgenkaffee und nahm im Schein einer Coleman-Laterne bis tief in die Nacht ausführliche Eintragungen in seinem Logbuch vor. Seine Stimmung verschlechterte sich am Morgen des siebenten Tages, als Joan unvermittelt auf einem völlig abgehetzten und mit einer bedenklichen Schweißschicht bedeckten Schecken ins Lager geritten kam. Sie hatte ihre Ordenstracht gegen ein farbenprächtiges chinesisches Überkleid eingetauscht, und an ihrer Hüfte baumelte ein altmodischer, einschüssiger Revolver. Ihre Lippen waren ausgetrocknet, und sie hatte einen schlimmen Sonnenbrand. »Überrascht, mich zu sehen?«, krächzte sie. Anschließend sank sie aus dem Sattel in Indys Arme, und wenig später brach des Pferd zusammen und verschied. »Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht?«, fragte Indy, während er einen Lappen mit Wasser aus der Feldflasche durchtränkte und ihn Joan auf die Stirn legte. Er hatte sie zu sich ins Zelt gelegt, um sie nicht länger der Sonne auszusetzen. »Haben Sie uns etwa nicht geglaubt, als wir Ihnen erklärten, wie unbarmherzig die Wüste ist?« »Doch, das schon«, krächzte sie, »aber ich dachte doch, ich könne Sie in nur ein oder zwei Tagen einholen. Irgendetwas in meinem Innern sagte mir, dass ich bei dieser Reise dabei sein müsse, dass Sie meinen Vater nicht ohne mich finden könnten. Allerdings hatte ich nicht die Absicht, das Pferd umzubringen, wirklich nicht.« »Sie können von Glück reden, dass das Tier es bis hierher geschafft hat, Schwester«, sagte Indy. »Wenn es nur
wenige hundert Meter früher den Geist aufgegeben hätte, hätten wir Sie nie gefunden.« »Wie geht es ihr?«, erkundigte sich Granger durch die Zeltöffnung. »Sie ist gebraten, aber nicht ganz durch. Erfroren, aber nicht ungenießbar. Sie wird es überleben.« »Gut«, gab Granger zurück. »Entschuldigen Sie Jones, aber könnte ich hier draußen mal kurz mit Ihnen reden?« »Sie ruhen sich aus«, befahl Indy Joan. »Ich lasse Ihnen die Feldflasche hier, aber trinken Sie nicht zu viel auf einmal, sonst bekommen Sie Krämpfe. In Ordnung?« »Danke.« Joan hielt inne. »Und ... es tut mir Leid.« »Ich bin bloß froh, dass Sie es überlebt haben«, erwiderte Indy. »Sie müssen da oben einen verdammten Glücksstern haben.« Er verließ das Zelt, gefolgt vom dahintrottenden Loki. Er gesellte sich zu Granger, der so weit abseits stand, dass Joan nicht mithören konnte. Er hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und paffte wütend an seiner Pfeife. »Ist sie reisefähig?«, fragte er. »Morgen, vielleicht«, antwortete Indy und kraulte Loki den Kopf. »Aber ich fürchte, wir werden mindestens einen Tag hier festsitzen.« »Der Teufel soll diese Frau holen«, stieß Granger hervor. »Ich dachte, Nonnen sollten sich, naja, eben wie Nonnen benehmen. Sie sollten bleiben, wo sie sind, wenn man ihnen das sagt.« »So wie ein gut abgerichtetes Pferd?« »Sie wissen genau, was ich meine«, fauchte Granger. »Sie hat die gesamte Expedition gefährdet. Die Treiber sagen wegen der Anwesenheit einer ausländischen Frau bereits Unheil voraus, und ich kann nicht behaupten, dass ich es ihnen verdenke. Bei der Durchquerung dieser Ödnis müssen wir ein gewisses Tempo vorlegen. Wir sind vierzig Meilen vom nächsten Brunnen entfernt, und es gibt keine Garantie dafür, dass er nicht trocken ist.«
»Vielleicht sollten wir sie mit einer kleinen Schale voll Essen zurücklassen.« Granger schwieg. »Langsam neige ich dazu, mich ihrer Sicht der Dinge anzuschließen«, meinte Indy. »Wer so verzweifelt nach seinem Vater sucht, hat ein Recht darauf, bei der Suche dabei zu sein. Wäre sie ein Mann, würden wir nicht zweimal darüber nachdenken, oder?« »Ja, aber sie ist kein Mann. Und genau darum geht es.« »Was denn, nur weil sie eine Frau ist, ist sie nicht im Stande, die Entbehrungen zu ertragen, mit denen wir es zu tun bekommen werden? Wissen Sie, was sie getan hat, als ihr da draußen das Wasser ausging, Granger? Sie hat ihren eigenen Schweiß getrunken. Sie sagte, in einem Artikel im National Geographie habe sie gelesen, die Beduinen täten das. Was glauben Sie, wie viele Männer so viel Geistesgegenwart besessen hätten?« Granger verfiel abermals in Schweigen. »Sprechen wir mit Meryn«, schlug Indy vor. »Er soll den Treibern die Situation erklären und ihnen erzählen, sie sei eine Heilige was ja schließlich nicht einmal gelogen wäre - und dass wir sie brauchten, um Professor Starbuck zu finden. Er soll ihnen den Befehl geben, ein Lager einzurichten, wir würden ein oder zwei Tage hier bleiben. Und ihnen erklären, wenn ihnen das nicht passt, dann könnten sie abmarschieren, wohin sie immer wollen.« Am Morgen des zweiten Tages wurde die Reise fortgesetzt. Joan fuhr bei Indy im Lastwagen mit. Keiner der Kameltreiber hatte sich aus dem Staub gemacht, aber Granger schmollte immer noch. Meryn hatte Joan zu ihrem Mut beglückwünscht und ihr mit übertriebenem Gehabe einen aus einer Leopardenkralle hergestellten Talisman überreicht, den sie an ihrem Gürtel tragen sollte. Im Gegenzug hatte sie ihm ihren Rosenkranz geschenkt. »Sai«, hatte Meryn gerufen und als Zeichen seiner
Anerkennung den Daumen in die Höhe gereckt, bevor er den Rosenkranz am Kolben seines Gewehrs befestigt hatte. »Soll das heißen, Sie haben Ihrem Gelübde abgeschworen?«, fragte Indy. Joan erwiderte nichts. Am Nachmittag erreichten sie den Brunnen. Nach westlichen Vorstellungen war der Brunnen alles andere als bemerkenswert, nur ein paar rings um ein schiefes Loch geschichtete Steine, doch die Spuren von Mensch und Tier, die diese kleine Oase umgaben, zeugten von ihrer Bedeutung. Indy warf einen Eimer über den Rand und vernahm erleichtert das Klatschen, als er auf Wasser traf. »Den Göttern sei Dank«, meinte Granger leise. »Also, bei unserem Wasserverbrauch müssen wir behutsam vorgehen. Der Brunnen wird aus einer unterirdischen Quelle gespeist, aus der das Wasser sickert, anstatt zu fließen, daher müssen wir vorsichtig sein, damit wir sie nicht erschöpfen. Sonst verurteilen wir den nächsten armen Teufel, der hier des Weges kommt, womöglich zum Tod durch Verdursten.« Granger legte die Reihenfolge fest, in der die Dinge erledigt werden würden: Als Erstes würden die Tiere getränkt werden, anschließend durften die Treiber trinken und ihre Wasserschläuche füllen, danach sollten die Kühler der Lastwagen aufgefüllt werden. Erst dann war Granger bereit, Indy aus ein paar Zeltbahnen und einem zwischen den Ladeflächen der Lastwagen gespannten Seil eine behelfsmäßige Duschkabine errichten zu lassen. Für jeden Duschenden legte er eine knapp bemessene Ration fest - es würde einen gemeinsamen Eimer für das Einseifen geben sowie für jeden einen vollen Eimer, um sich damit abzuspülen. Die Mongolen hielten die gesamte Prozedur natürlich für idiotisch. Indy war von den Dreien der Letzte, der duschen durfte, und ging mit seinem Wasser sparsam um. Zuerst putzte er sich die Zähne und rasierte sich, dann seifte er sich ein und
schüttete sich den Eimer Wasser langsam über Kopf und Körper. Als er fertig war, fühlte er sich so gut wie schon lange nicht mehr. »Das war wunderbar«, sagte er an niemand Besonderes gewandt, als er, seinen Revolvergürtel umschnallend, hinter der Zeltbahn hervorkam. Es war ein warmer Nachmittag, und er hatte sein Hemd offen gelassen, um die Brise auf der Haut zu spüren. »Was Sie nicht sagen«, meinte Joan. Indy fuhr zusammen. Sie saß auf der Ladefläche des Lastwagens und bürstete ihr langes, braunes Haar. Um den Oberkörper hatte sie fest ein Handtuch geschlungen. Arme und Beine aber waren nackt, und das Handtuch, mit dessen Hilfe die Schicklichkeit gewahrt werden sollte, betonte ihre Figur eher noch. Indy blieb stehen und wollte etwas erwidern, doch plötzlich fehlten ihm die Worte. Die anderen befanden sich in einiger Entfernung auf der anderen Seite des Lastwagens. »Was ist?«, fragte sie. »Verzeihen Sie«, stammelte Indy. »Mir war nur aufgefallen, wie gut Sie riechen.« Seine Bemerkung schien Joan nicht weiter zu beeindrucken. »Das tun wir alle, nach einer Dusche.« »Nein«, widersprach Indy. Er sah hin und bemerkte, dass ihre nackten Füßen über dem Boden baumelten. »Ich meine, das ist etwas anderes.« »Dr. Jones.« Joans Lippen wurden zu einem dünnen Strich. »Starren Sie etwa auf meine Beine?« »Entschuldigung«, sagte er. »Es sind schöne Beine.« »Es tut Ihnen doch bloß Leid, dass Sie dabei erwischt wurden«, zog sie ihn auf. »Waren Sie so lange in der Wüste, dass Sie jetzt schon mit einer Nonne flirten? Zumindest glaube ich, dass ich noch eine bin. Es wird zunehmend einfacher, das zu vergessen.« »Was Sie nicht sagen«, erwiderte er.
»Was ich meinte, ist, hier draußen schert es niemanden, was man tut. Hier gibt es nur den Wind, den Himmel und die Wüste. Niemand sitzt einem im Nacken und versucht einem einzureden, wie man zu leben oder sich Gott zu nähern hat. Wissen Sie, was ich meine?« »Hören Sie, ich habe noch Arbeit zu erledigen«, sagte Indy. »Es gibt eine ganze Reihe von Dingen, um die ich mich am besten sofort kümmere -« »Ich denke, genau das ist der Unterschied zwischen Religion und Spiritualität«, sagte sie. »Religion ist eine Einrichtung. Ihre Aufgabe besteht darin, ihr eigenes Fortbestehen zu sichern, indem sie den Menschen erklärt, was sie zu tun haben. Spiritualität dagegen meint das persönliche Verhältnis eines Individuums zu dem Allmächtigen.« »Wollen Sie Ihre Sachen? Ich gehe Ihre Kleider holen, wenn Sie wollen«, bot er an. »Das kann ich schon selbst«, antwortete sie. Joan ließ sich von der Ladefläche des Lastwagens gleiten, wodurch sich das Handtuch, das sie um den Körper geschlungen hatte, zusammenschob und ihr über die Knie rutschte. Indy sah rasch fort und hatte den Kopf noch immer abgewandt, als sie zu ihm trat und ihm die Arme um den Hals schlang. »Wissen Sie was, Dr. Jones?«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Ich glaube, Gott möchte nicht, dass ich noch länger Nonne bleibe.« Indy musste schlucken. »Und wissen Sie noch etwas?« »Nein«, meinte er mit belegter Stimme. »Was?« »Ich glaube, es ist mir gelungen, Ihnen einen gehörigen Schrecken einzujagen.« Sie schnippte mit dem Finger gegen sein Ohrläppchen. »Schande über Sie, dass Sie mich angestarrt haben, als wäre ich das Spezialgericht des Tages. Und Schande über mich, dass ich es genossen habe.« Kurz darauf schlug Meryn lauthals rufend Alarm. »Banditen!!«
Die heranfliegenden Mongolenponys stürmten wie der Wind auf den Brunnen zu, sodass Indy kaum Zeit blieb, Joan unter die Ladefläche des Lastwagens zu reißen und seinen Webley zu ziehen, bevor die Banditen sie erreicht hatten. Der bedauernswerte Burjatensoldat, den man ausgesandt hatte, der Expedition zu Pferd zu folgen, musste als Erster dran glauben. Eine Lanze durchbohrte ihm den Hals. Meryn schoss den an der Spitze reitenden Banditen mit seiner einschüssigen Büchse aus dem Sattel, dann stürzte er sich, die Büchse wie eine Axt schwingend, auf den Nächsten. Der Kolben traf den Banditen in den Magen und holte ihn von seinem Pferd. Als er auf dem Boden aufschlug, war Meryn sofort mit seinem Krummdolch über ihm und schlitzte ihm in einer einzigen Bewegung die Kehle auf. Schließlich ging Meryn selbst zu Boden, als eine Kugel ihn in die Schulter traf. »Sie rühren sich nicht von der Stelle«, befahl Indy Joan. Indy stürzte aus der Deckung des Lastwagens hervor und warf sich mitten ins Kampfgetümmel. Ein Bandit preschte zwischen ihn und Meryn. Indy packte die Trense seines Pferdes und zerrte wütend daran, wodurch das Eisen sich in den weichen Pferdegaumen bohrte. Das Pferd stürzte in einem undurchschaubaren Durcheinander aus Zähnen und um sich tretenden Hufen hin und begrub seinen schreienden Reiter unter sich. Indy erreichte Meryn, packte den Kragen seiner Jacke mit einer Hand und ging daran, ihn in die Sicherheit des Lastwagens zu schleifen, während er gleichzeitig mit dem Webley ein regelrechtes Sperrfeuer legte. Sie hatten es fast geschafft, als ein besonders grimmig dreinblickender Bandit auf einem tänzelnden Pony ihnen den Weg abschnitt. Indy richtete den Webley auf den Kopf des Banditen und drückte auf den Abzug. Der Hahn senkte sich mit einem folgenlosen Klicken auf eine bereits abgefeuerte Patronenhülse.
»Auszeit?«, rief Indy hoffnungsvoll. Der Bandit legte seine Muskete an, die Mündung genau auf Indys Brust gerichtet. Dann hörte man den donnernden Knall eines großkalibrigen Gewehrs ... und das Blut des Banditen strömte in gewaltigen Mengen auf seine Hemdenbrust. Auf der Ladefläche des Lastwagens lud Granger sein 7.5Millimeter-Gewehr durch, und eine leere Hülse flog aus dem Verschluss. Dann schob er mit handwerklicher Präzision eine neue Patrone nach und nahm ein anderes Ziel aufs Korn. Indy zog Meryn unter den Lastwagen. Loki war ebenfalls dort, bei Joan, und knurrte. »Wie sieht es aus?«, rief er zu Granger hinüber. »Wir verlieren«, erwiderte Granger zwischen zwei Schüssen. »Es müssen ungefähr dreißig sein, und von uns sind gerade noch sechs übrig. Außerdem haben sie sich mit der Hälfte unserer Kamele aus dem Staub gemacht.« »Wo ist Ihre Waffe, Schwester?«, fragte Indy, während er den Webley nachlud. »Oben auf der Ladefläche, bei meinen Kleidern.« Indy richtete sich feuernd auf und riss die im Halfter steckende Pistole herunter. »Sie täten gut daran, sie auch zu benutzen, wenn Sie die Absicht haben, am Leben zu bleiben«, rief er, als er sie ihr zuwarf. »Falls es Ihnen entgangen sein sollte, die Lage ist ernst.« Joan richtete den Revolver auf die verschwommen dahineilenden Umrisse einer der Banditen und drückte ab, doch nichts geschah. Dann feuerte sie noch zwei Mal, und der Bandit brach zusammen. »Gut gemacht«, rief Indy. »Weiter so.« Plötzlich wurde es still im Lager, allerdings herrschte so dichter Rauch, dass Indy nicht erkennen konnte, was vor sich ging. Granger sprang von der Ladefläche des Lastwagens herunter und ging neben Indy in die Hocke.
»Was halten Sie davon, Jones?« »Ich weiß nicht«, meinte Indy. »Vielleicht haben sie sich zurückgezogen.« »Das glaube ich kaum.« Indy schüttelte den Kopf. »Sie hatten uns genau da, wo sie uns haben wollten. Augenblick - hören Sie das?« »Mein Gott«, hauchte Granger. »Das ist Hundegebell.« »Sie haben das Hunderudel mitgebracht, um uns den Rest zu geben«, sagte Indy. »Schnell, wir müssen in die Fahrerhäuser der Lastwagen. Hört sich an, als seien es Hunderte, und alle können wir nicht erschießen.« Die Banditen trieben die Hunde in das Lager, woraufhin sich die Tiere um alles drängten, was auf dem Boden lag, die gefallen Banditen eingeschlossen, und daran gingen, das Fleisch von den Knochen zu reißen. Joan vergrub ihr Gesicht an Indys Schulter. »Das kann ich nicht mitansehen«, meinte sie. Schließlich entdeckten die Hunde die Überlebenden unter der Ladefläche des Lastwagens. Loki stürzte sich mit einem Satz mitten unter das Rudel, woraufhin ein fürchterlicher Kampf entbrannte, während Indy und Granger ihre Waffen auf die Tiere leerten, die ihnen am nächsten waren. Aufgestachelt vom Geruch des Blutes, waren die Hunde für einen kurzen Augenblick abgelenkt, als sie über ihre eigenen Verwundeten herfielen. »Schießen Sie weiter«, befahl er Joan. »Das ist mehr als ernst.« Mittlerweile kamen die Hunde von allen Seiten, schnappten nach Händen und Gesichtern und zerrissen ihnen die Kleidung. Indy und Granger nahmen Joan in die Mitte und kämpften weiter. Einer der Hunde schlug seine Zähne in die Ferse von Meryns Stiefel und machte Anstalten, den Bewusstlosen unter dem Lastwagen hervorzuzerren. Granger erschoss das Tier, zog Meryn zurück und erlitt dabei eine Reihe von Bisswunden an Händen und Armen.
»Eine teuflische Art, sein Leben auszuhauchen«, bemerkte Granger. Eine Salve aus einem Dutzend Gewehre erschütterte das Lager, gefolgt von einer zweiten und schließlich einer dritten. Die Hunde, viele aus dem Rudel sterbend zurücklassend, begannen sich zu zerstreuen, und die Banditen, die nur stehen blieben, um ab und zu einen Schuss auf ihre neuen Angreifer abzugeben, zogen sich endlich aus dem Lager zurück. In wenigen Augenblicken war es wieder still im Lager, dafür stank es jetzt nach Nitrat, und überall lagen Hunde- und Menschenleichen herum. Durch den in Schienbeinhöhe wabernden Pulverrauch konnte Indy ein mongolisches Reiterstiefelpaar erkennen, das auf sie zuhielt. »Die Hunde sind fort.« Indy und Granger krochen ins Freie. Der Fremde war groß, elegant gekleidet und hielt eine kunstvoll verzierte Luntenschlossmuskete in der Armbeuge. An seinem Gürtel hing ein Messer, dessen Silbergriff mit Edelsteinen besetzt war. Er hatte die Zügel eines prachtvollen Schimmels, eines Arabers, in der Hand, und hinter ihm folgte gemächlichen Schritts ein Dutzend ganz ähnlich ausstaffierter Männer. »Wir sind Ihnen dankbar«, meinte Granger. »Das sollten Sie nicht«, erwiderte der Fremde. »Ich lasse Ihnen Ihr Leben, aber wie es scheint, haben Tzis Männer Ihre Karawane in einen blutigen Trümmerhaufen verwandelt. Vielleicht wäre es barmherziger gewesen, Sie jetzt gleich und schnell sterben zu lassen, anstatt später und sehr viel langsamer mitten in der Wüste.« »Danke, dass Sie uns die Wahl gelassen haben«, sagte Indy. »Ich werde einen Preis als Gegenleistung für meine Dienste fordern, denn meine Männer reiten nicht umsonst. Ein paar Kamele vielleicht, und Munition. Wir könnten uns einig werden, falls die Frau zum Verkauf steht.«
Indy blickte hinunter auf Joan. Sie lag, auf die Ellbogen gestützt, unter dem Lastwagen und verband Meryns Schulter. Das Handtuch drohte, von ihrem Oberkörper herunterzurutschen. Plötzlich wurde sie sich der auf sie gerichteten Blicke bewusst und zog das Handtuch wieder hoch. »Sie gehört zu mir«, sagte Indy schnell. »Das ist schade«, meinte der Mann. »Ich bin schon lange ganz versessen darauf, mit einer Frau aus dem Westen das Tier mit zwei Rücken zu machen, aber noch habe ich keine gefunden, die dazu bereit gewesen wäre. Woran liegt das, was meinen Sie? Hier in der Mongolei betrachten Frauen es als Ehre, sich den Gästen hinzugeben.« »Bei uns ist es Brauch«, erwiderte Indy, »genau dies nicht zutun.« »Was seid ihr Amerikaner doch für ein rückständiges Volk.« »Sagen Sie, seid ihr Burschen eigentlich auch Banditen?«, wollte Granger wissen. »Was für ein hässliches Wort«, sagte der Mongole. »Wir ziehen es vor, Korsaren, Freibeuter, Guerillas, Freischärler, Söldner oder einfach Patrioten genannt zu werden. Wir stehlen, um unseren Kampf gegen die Kommunisten fortsetzen zu können.« »Wir haben ein wenig Geld, das wir mit Freuden mit Ihnen teilen würden.« Granger hielt ihm eine Hand voll Münzen hin. »Pah!«, meinte der Mann und schlug ihm die Münzen aus der Hand. »Was interessiert uns Geld hier draußen in der Wüste! Wo sollen wir es ausgeben, was würden wir dafür bekommen? Gebt uns Lebensmittel, Wasser, Getreide für unsere Pferde, Frauen für unser Vergnügen sowie Waffen und Munition, damit wir im Stande sind, unsere Feinde zu vernichten. Das sind die Dinge, die das Leben eines Mannes ausmachen. Beleidigt uns nicht mit diesen wertlosen Metallstücken, für die ihr euch in den Städten die Hände schmutzig macht.«
»Wer sind Sie?«, fragte Granger. »Ich bin Tzen Khan, ein Nachfahre des großen Dschingis Khan, und das ist meine Bande. Wir führen entweder ein Leben in Freiheit oder wir sterben. Normalerweise kommen wir fremden Karawanen nicht zur Hilfe, aber vor allen anderen Dingen bewundere ich Mut. Ihr habt tapfer gekämpft und viele von diesen Hunden in Menschengestalt in die Unterwelt geschickt, wo sie hingehören.« Khan trat vor und musterte aufmerksam Indys Gesicht. »Ich mag dich«, meinte er. »Warum weiß ich nicht, aber ich mag dich. Ich bin sicher, dass wir uns schon einmal begegnet sind, vor langer Zeit, in einem anderen Leben. An dem Feuer in deinen Augen sehe ich, dass du immer schon ein Abenteurer warst, jemand, den es in fremde Länder zieht. Wer weiß? Vielleicht warst du, bei den vielen tausend Namen, die wir geführt haben, einst Marco Polo und ich Kubla Khan!« »Vielleicht«, gab Indy zurück. »Kommt in meine Jurte, und wir werden den Kampf ausführlich diskutieren. Mein Lager liegt gleich hinter jenen Sanddünen dort, nicht mehr als einen halben Kilometer entfernt. Heute Nacht wird es kalt werden, und dein verwundeter Freund sollte vor den Elementen geschützt werden. Und habt keine Bange, ich habe reichlich Ziegenfleisch!« »Indy«, sagte Joan. »Was sollen wir mit den Toten machen? « »Wir werden dem mongolischen Brauch folgen«, antwortete er, »und es der Wüste überlassen, sich um sie zu kümmern.« Trotzdem verbrachte Indy zwanzig Minuten damit, zwischen den Toten nach Loki zu suchen. Die verwundeten Hunde, auf die er stieß, erschoss er, nicht aus Rache, sondern aus Barmherzigkeit. Die Kameltreiber waren mit Ausnahme von Meryn alle tot. Dasselbe galt für eine große Zahl von Banditen, die
überall im Lager verstreut umherlagen. Das hatten Khans Männer besorgt, die von ihren Messern Gebrauch gemacht hatten, um Munition zu sparen. Von Loki indes fand Indy keine Spur. Khans Jurte war ein fast sechs Meter hohes, spitz zulaufendes, über einen Gitterrahmen aus Weidenästen gespanntes Zelt, das trotz seines stabilen Aussehens in weniger als einer halben Stunde errichtet oder abgebrochen werden konnte. Als Joan die Felltür auseinander schlug, stellte sie zu ihrem Erstaunen fest, dass die Jurte ebenso luxuriös eingerichtet war wie jedes westliche Wohnzimmer. Es gab Teppiche in leuchtend bunten Farben und mit verschwenderischen Schnitzereien verzierte Möbel, darunter eine eindrucksvolle rote Lacktruhe, die ein Abbild Buddhas zierte. Die Wände waren mit gesteppten Decken behängt. Das an Stricken aufgehängte Bett diente gleichzeitig als Sofa, und in einer Ecke gab es einen eisernen Herd mit einem Abzug, der nach oben durch das Zeltdach führte. Auf dem Herd stand ein großer, auf niedriger Flamme vor sich hinköchelnder Topf mit Zwiebeln und Schaffleisch. »Wieso reisen wir eigentlich nicht mit einem solchen Zelt?«, fragte Joan. »Weil wir unwissende Westmenschen sind«, erwiderte Indy, als er und Granger Meryn hineinhalfen. »Wir schlafen in diesen eiskalten, dünnwandigen Zelten, die praktisch jede steife Brise zum Einsturz bringt, und dann beglückwünschen wir uns noch dazu, zivilisiert zu sein.« Sie legten Meryn auf das an Seilen aufgehängte Bett. Indy klappte den Verbandskasten auf, und während er sich anschickte, den Verband zu wechseln und Sulfonamidpulver auf die Wunde zu streuen, trugen eine Frau und ein junges Mädchen großzügig bemessene Portionen Hammeleintopf auf. Das Mädchen mochte etwa siebzehn sein und hatte üppiges, schwarzes Haar, und keine der beiden sprach bei der Arbeit.
»Ist es ernst?«, erkundigte sich Joan. »Nein«, meinte Indy. »Es ist ein glatter Durchschuss. Die Wunde wird verheilen, vorausgesetzt, wir können sie sauberhalten.« Als Khans Tochter eine hölzerne Schale mit Eintopf neben ihn stellte, bemerkte Indy, dass ihr Gesicht narbenübersät war, wie von einer bösen Akne, nur schlimmer. »Was ist mit Ihrer Tochter passiert?«, fragte Joan. »Sie ist nicht meine Tochter«, erwiderte Khan. »Ich habe sie und die Frau vor einem Kerl aus General Tzis Bande gerettet. Sie wären beide als Sklavinnen verkauft worden, wenn ich sie nicht gefunden hätte. Jetzt bleiben sie aus freien Stücken hier, es steht ihnen frei zu gehen, wann immer sie dies wünschen.« »Erzählen sie uns von diesem Tzi«, forderte Granger ihn auf. »Das waren doch seine Truppen, die uns angegriffen haben, oder?« »Selbstverständlich«, stimmte Khan ihm zu. »Niemand außer Tzi benutzt Wildhunde. Sein befestigtes Lager liegt nicht weit von hier, vielleicht drei oder vier Tage. Eines Tages, wenn die Macht des Falschen Lamas gebrochen ist, werde ich ihn aufsuchen und vernichten.« »Und sich die Konkurrenz vom Hals schaffen?«, fragte Granger. »Er ist schließlich ein Rivale von Ihnen.« »Mehr als das.« Khans Augen füllten sich mit Hass. »Tzi hat meine Familie umgebracht. Meine Frau und meine drei wunderschönen Töchter. Alles Prinzessinnen. Er war eifersüchtig auf ihre Liebe zu mir, deshalb hat er ihre Herzen verspeist.« »Er hat buchstäblich ihre Herzen gegessen?«, wollte Granger wissen. »So weit ich weiß, hat er sie zuerst gekocht.« »Wie entsetzlich«, sagte Joan. »Ich wurde vor Verzweiflung fast wahnsinnig und irrte tagelang durch die Wüste, bis mein bester Freund mich fand und mich nach Hause in meine Jurte brachte. Als Tzi später
herausfand, dass ich einen weiteren lieben Menschen bei mir aufgenommen hatte, entführte er meinen besten Freund. Er folterte ihn zu Tode, anschließend schickte er mir als Warnung sein Ohr.« Joan schauderte. »Wie entsetzlich.« »Allerdings«, meinte Granger und rieb sich die Überreste seines verstümmelten Ohrs. »Das ist auch der Grund, weshalb ich niemandem mehr nahe stehen möchte«, fuhr Khan fort. »Deswegen sprechen die Frau und das Kind nicht mit mir. Obwohl sie hier in meiner Jurte schlafen, lebe ich allein.« »Khan«, sagte Indy. »Wenn Sie gelobt haben, mit niemandem mehr Freundschaft zu schließen, aus Angst, das Leben des Betreffenden zu gefährden, wieso haben Sie dann gesagt, dass Sie mich mögen?« Khans Antwort klang unbekümmert. »Oh, ich dachte. Sie würden ohnehin nicht lange überleben.« »Na, großartig«, meinte Indy. »Khan«, fragte Joan, »was ist mit dem Gesicht des Mädchens passiert?« »Pocken«, beantwortete Indy ihre Frage. »Sie kann von Glück reden, dass sie überlebt hat.« »Er hat Recht«, sagte Khan. »Viele aus meiner Gruppe haben unter dieser Krankheit gelitten. Wen sie nicht tötet, den zeichnet sie. Wenn man sie einmal gehabt hat, kommt sie allerdings nie mehr zurück.« »Wir haben Medikamente dagegen«, erklärte Indy. »Impfstoffe. Spritzen. Sie würden diejenigen aus Ihrem Volk, die diese Krankheit noch nicht hatten, davor bewahren, sie zu bekommen. Wir alle hatten sie bereits, deshalb müssen wir nicht befürchten, uns anzustecken. Aber wir könnten den Pockenimpfstoff mit Ihnen teilen und Ihnen zeigen, wie man ihn anwendet, und Ihnen darüber hinaus noch andere Medikamente überlassen, die gegen Infektionen wirksam sind. Viele aus Ihrem Volk, die ansonsten sterben müssten, würden überleben.«
»Das klingt gut« erwiderte Khan. »Ich kenne solche Mittel schon seit einiger Zeit, hätte mir aber niemals träumen lassen, dass man sie mir bis vor die Tür meiner Jurte bringen würde. Sie würden uns im Kampf gegen den Kommunismus stärken und uns helfen, Tzi zu töten, sobald er nicht mehr durch das Böse geschützt ist.« Khan versetzte Indy einen Klaps auf die Schulter. »Ich werde Folgendes tun: Als Gegenleistung für die Medikamente werde ich Ihre Karawane mit frischem Proviant versehen sowie eine Eskorte bis zur Grenze meines Territoriums, drei Tagesritte von hier, bereitstellen. Darüber hinaus kann ich nichts tun, denn das Land wird von Tzi und dem Falschen Lama kontrolliert. Wäre der Bann gebrochen, könnte ich mehr tun, aber das wage ich nicht. Kugeln sind der Schwarzen Magie nicht gewachsen, und ich muss eine günstige Gelegenheit abwarten, bis ich den Tod meines Weibes, meiner Töchter und meines besten Freundes rächen kann.« »Ich wünsche Ihnen viel Erfolg dabei«, erwiderte Indy. »Und ich Ihnen!« Khan lächelte. »Es war angenehm, wieder einen Freund zu haben, wenn auch nur für kurze Zeit. Ich hoffe, wir werden uns auch im nächsten Leben wieder begegnen, aber vielleicht wäre es interessanter, wenn wir dann Feinde wären, was? Wenn ich doch nur einen Feind hätte, den ich bewundern kann, ich könnte als glücklicher Mann sterben.« »Bleiben Sie in der Nähe«, meinte Granger. »Gut möglich, dass die Kommunisten sich als ein mehr als ebenbürtiger Gegner erweisen.« Eine Woche und ein Dutzend kleinerer Abenteuer nach Verlassen der Obhut von Khans Bande, langte die Karawane - bestehend aus zwei Automobilen und zehn von Meryn getriebenen Kamelen am Fuß der Leuchtenden Klippen an. Ein eindrucksvolles und gigantisches Gebilde aus rotem Sandstein, erhoben sich die Klippen über dem Wüstenplateau wie auf einem Bild aus einem Märchenbuch für Kinder -
mit ihren leuchtenden Farben erinnerten sie an nichts so sehr wie an unvorstellbar gewaltige Festungen, Kathedralen und Türme. Zwei Minuten, nachdem er die Lastwagen hatte Halt machen lassen, war Granger bereits auf die ersten Schalenreste eines Dinosauriereis gestoßen, die er Indy zeigte. »Die Gegend hier ist voll davon«, meinte Granger. »Egal in welche Richtung, Sie können keine dreißig Meter gehen, ohne über sie zu stolpern. Als wir zuerst auf sie stießen, hielten wir sie für Vogeleier - stellen Sie sich das vor, es ist keine zehn Jahre her, da wussten wir noch nicht einmal, wie Dinosaurier sich vermehrt haben.« Indy nahm das Stück Schale in die Hand und rieb mit dem Daumen über die poröse Oberfläche. Sie fühlte sich an wie ein Hühnerei, nur größer. »Vielleicht waren Dinosaurier nichts weiter als eine riesige Vogelart«, schlug er vor. »Sie müssen etwas an Ihrem Humor tun, Jones«, bemerkte Granger. »Er fängt an, ein wenig schal zu werden.« »Das tut mir Leid«, meinte Indy. »Wieso gibt es hier so viele Fossilien?«, fragte Joan. »Schließlich hat man überall auf der Welt Fossilien gefunden - in Montana zum Beispiel, und sogar in Kansas - aber nichts davon lässt sich mit den Funden in der Nähe dieser roten Sandsteinklippen vergleichen.« »Das weiß niemand mit Sicherheit«, erklärte Granger, »wenn es auch viel mit der unveränderten Beschaffenheit dieses speziellen Teils der Welt zu tun haben könnte. Allem Anschein nach sieht es hier noch genauso aus wie vor achtzig Millionen Jahren, gegen Ende der Kreidezeit, der letzten Blütezeit der Dinosaurier.« »Ich komme mir vor wie auf einer Reise in die Vergangenheit«, meinte Joan. »Stellen Sie sich nur vor, welche Wunder sich zwischen manchen dieser Felsen verbergen müssen«, sagte Granger. »Hier gibt es Hunderte von Quadratmeilen, die zu erforschen
sind, und mit der Hand voll Expeditionen, die während der letzten zehn Jahre hierher gekommen sind, haben wir gerade mal die Oberfläche angekratzt.« »Ist eigentlich überhaupt schon jemand in diese Felsklippen hineingeklettert?« »Nicht sehr weit«, sagte Granger. »Sie sind zu zerklüftet.« »Aber sie sind so wunderschön. Wie der Grand Canyon, der Versteinerte Wald und Pikes Peak in einem.« »Meryn!«, rief Granger. »Wir werden hier unser Lager aufschlagen. Mach die Tiere fest und richte dann die Messe und eine Latrine ein. Ich schätze, wir werden mindestens vierzehn Tage hier bleiben.« »Ich kann kaum glauben, dass wir endlich hier sind«, sagte Joan. »Der Ort wirkt so abgelegen - so als wären wir auf dem Grund des Ozeans oder auf der dunklen Seite des Mondes. Wenn sie uns wenigstens den Kurzwellensender gelassen hätten. Oder eine Kamera! Wie gerne hätte ich ein paar Fotografien von diesem Ort gemacht!« »Können Sie zeichnen?«, fragte Indy. »Ein wenig.« »Dann sollten Sie vielleicht mit einer Skizze in dem kleinen Notizbuch anfangen, das Sie mit sich herumschleppen und in dem Sie herumkritzeln, sobald Sie glauben, wir Übrigen schauen nicht hin. Was ist das, Ihr Tagebuch?« »Ich führe es, seit ich klein war«, gestand Joan. »Also, wie wollen wir mit der Suche nach meinem Vater beginnen? « »Wir werden damit anfangen, an Türen zu klopfen«, antwortete Indy. »Gurbun Saikhan liegt nur ein paar Kilometer entfernt, und wir werden an jeder Jurte zwischen hier und dort Halt machen und nachfragen.«
Gurbun Saikhan bestand aus einem von einer lockeren Ansammlung aus Jurten und Ziegenställen umringten Erdwall. Der Dorfälteste, ein zahnloser Greis, der eine alte
Tonpfeife rauchte, kam heraus, um sie zu begrüßen. Es gab die übliche Mahlzeit aus Hammeleintopf sowie Geschenke als Zeichen gegenseitiger Wertschätzung - Indy hatte sich für diese Gelegenheit in New York in aller Eile noch einen Vorrat an Postkarten zugelegt -, und der Alte stellte voller Stolz, in der Annahme, die riesige, Fackel tragende Dame sei die bevorzugte Göttin seiner amerikanischen Besucher, eine Abbildung der Freiheitsstatue neben das Buddhaporträt in der Jurte. Obwohl Indy den im Dorf gesprochenen Dialekt nicht verstand, hatte er eine Kreidetafel mitgebracht, auf die er eine Reihe von chinesischen Schriftzeichen malte, um sein Anliegen verständlich zu machen: Wohin ist der alte weiße Mann gegangen! Glücklicherweise war der alte Mann ein wenig des Schreibens und Lesens kundig. Er nahm die Tafel an sich und schrieb seine Antwort mit einer Sorgfalt nieder, als müsse er eine Klassenarbeit in der Schule schreiben: Er ist in den Himmel gegangen. Indy und Joan sahen einander an. Indy hatte das Schriftzeichen für Flugzeug vergessen, daher breitete er stattdessen die Arme aus und imitierte ein Motorengeräusch. Dann sah er den Alten erwartungsvoll an. »Bahai«, erwiderte der Alte und schüttelte den Kopf. Soweit hatte Indy ihn verstanden. Indy malte rasch ein paar neue Schriftzeichen. Wie ist er in den Himmel gegangen! Zu Fuß, natürlich. Er ist in die Berge gegangen! Ja. Allein? Ja. Warum! Hab nicht gefragt. Die nächste Frage bereitete Indy mehr Kopfzerbrechen.
Wohin in die Beige ist er gegangen? Weiß nicht. Mehr war aus dem Alten nicht herauszubekommen. Sie wollten sich gerade wieder auf den Weg machen, als Indy ein eigenartiges Schmuckstück bemerkte, das an der Zeltwand hing. Es handelte sich offenkundig um eine aus einem mit Schnitzereien verzierten und an einem Lederband befestigten Schalenstück eines Dinosauriereis hergestellte Halskette, die sehr alt aussah. Was Indys Aufmerksamkeit erregte, war der Umstand, dass die Schnitzerei einen Mann zeigte, der auf einem Triceratops ritt. Indy nahm seine Tafel erneut zur Hand. Haben Sie das gemacht! Nein. Die Alten haben das gemacht. Ich habe es gefunden. Wo? Am Fuß der Klippen. Kann ich es behalten! Aber ja. Ich werde ein anderes finden - es gibt sie überall. »Was halten Sie davon?«, fragte Indy Joan, als sie in den Lastwagen stiegen. Sie nahm die Halskette und betrachtete die eingeritzte Zeichnung. »Das haben also die Dorfbewohner hergestellt«, sagte sie. »Sie haben keine Vorstellung, wie ein Dinosaurier aussehen müsste«, widersprach Indy. »Und die Abbildung ist völlig korrekt.« »Dann ist es also alt, ein Fossil.« »Sie verstehen nicht«, meinte Indy. »Das ist ausgeschlossen. Die Dinosaurier waren lange ausgestorben, als der Mensch auf die Erde kam.« Am Abend nach dem Essen untersuchte Granger das Schalenstück mit seinem Vergrößerungsglas. Er paffte an seiner Pfeife, hielt die Schale mal näher, mal weniger nah vor die Linse, schließlich drehte er sie um.
»Und«, fragte Indy, »was halten Sie davon?« »Ich weiß nicht«, sagte Granger. »Möglicherweise existierte eine Steinzeitkultur, die vor vielen tausend Jahren hier lebte und Dinosauriereier verehrte. Das scheint aus den zahllosen aus Eierschalen hergestellten Schmuckstücken hervorzugehen, die wir gefunden haben, und aus den Überresten verschiedener Höhlenwohnungen, auf die wir bei unserer ersten Expedition gestoßen sind. Andererseits stellt diese Schnitzerei, in Anbetracht dessen, was man über die Erdgeschichte weiß, einen Anachronismus dar.« »Es scheint, als wüssten wir nicht alles«, meinte Indy. »Was, wenn sie gar kein Anachronismus ist? Angenommen, es existierte eine Steinzeitkultur, die nicht nur fossile Eier verehrte, sondern darüber hinaus auch lebende Dinosaurier. Wenn es einen Flecken auf der Erde gibt, wo ein Dinosaurier die Chance hatte, bis in die unmittelbare Vorgeschichte - und möglicherweise gar bis ins zwanzigste Jahrhundert - zu überleben, dann hier. Dieser Ort ist praktisch die späte Kreidezeit.« »Jones« - Granger rieb sich die Augen - »was ist das für eine weite, seltsame Reise geworden.« »Das waren Ihre eigenen Worte, und das ist nicht mal zwölf Stunden her«, erwiderte Indy. »Wer weiß schon, welche Wunder dort oben in den Bergen noch zu entdecken sind? Deswegen ist Starbuck in diese Klippen hinaufgestiegen, Walter, denn genau dorthin führt die Spur.« In diesem Augenblick wurde unvermittelt der Zelteingang zurückgeschlagen. »Meryn!«, brüllte Granger. »Stör uns jetzt nicht. Siehst du nicht -« Meryn konnte ihn nicht hören. Sein Körper kippte mit dem Gesicht voran ins Messezelt, und aus seinem Rücken ragte ein garstig aussehendes Messer. Generals Tzis Lieutenant, ein untersetzter junger Mann mit einem von den Pocken schlimm gezeichneten Gesicht, kam hinter dem Lauf eines Thomson-Maschinengewehrs
mit einem fünfzigschüssigen Trommelmagazin ins Zelt gestakst. Ein halbes Dutzend Soldaten drängte hinter ihm herein und ging ohne Umschweife daran, ihnen die Hände auf den Rücken zu binden. »Was machen wir jetzt?«, fragte Joan. »Nichts«, gab Indy zurück. »Jedenfalls noch nicht.« Als Indy nach der Tracht Prügel, die ihm die Soldaten verabreicht hatten, wieder zu sich kam, stellte er fest, dass man ihn und die anderen mit Ketten an die Wand einer unwirtlichen Sandsteinhöhle gefesselt hatte. Sein Webley und seine Rinderpeitsche waren selbstverständlich verschwunden, ebenso sein Filzhut. »Alles in Ordnung, alter Knabe?«, erkundigte sich Granger. »Denke schon«, antwortete Indy. »Wenigstens habe ich nicht das Gefühl, dass etwas gebrochen ist - nur ein wenig verbogen.« »Einen Augenblick lang dachte ich, Sie wären uns abhanden gekommen.« Man hatte ihnen die Handgelenke mit Handschellen über dem Kopf an der Wand befestigt, und die Höhle wurde von einer knisternden und flackernden Talglampe ausgeleuchtet, die an einer einzigen schweren Kette von der Mitte der Höhlendecke herabbaumelte. Joan hing zwischen ihnen, die Augen geschlossen. »Wie geht es ihr?«, erkundigte sich Indy. »Körperlich ist sie unversehrt, denke ich«, erwiderte Granger. »Aber sie hat natürlich einen ziemlichen Schock erlitten. Der Anblick, als Tzis Soldaten einigen armen Hirten den Bauch aufschlitzten, war zu viel für sie. Sie fing hysterisch an zu schreien, bis die Soldaten sie mit Ohrfeigen zum Schweigen brachten, daraufhin hat sie die Augen geschlossen und seitdem nicht wieder geöffnet. Das ist jetzt annährend sechs Stunden her, wenn mich mein Zeitgefühl nicht völlig im Stich gelassen hat.«
»Konnten Sie unter Ihrer Augenbinde durchsehen und feststellen, wohin man uns gebracht hat?« »Nein«, sagte Granger. »Aber so viel, wie wir gekraxelt sind, dürften wir uns ganz in der Nähe der Felsklippen befinden.« »Was ist das hier für ein Kerker?« »Ich fürchte, es ist kein Kerker. Nach dem blutigen Knochenhaufen in der Ecke zu schließen, ist das hier ihre zentrale Fleischverwertung ... äh, Jones?« »Ja, Walter.« »Wie lautet Ihr Plan?« »Tut mir Leid, damit kann ich im Augenblick nicht dienen. « Man hörte das Rasseln eines Schlüssels, der in einem Schloss gedreht wurde, dann schwenkte die schwere Höhlentür nach innen. General Tzi, flankiert von zwei seiner Maschinengewehr schwenkenden Soldaten, betrat watschelnd den Raum. Tzi war von einer geradezu lächerlichen Leibesfülle und trug einen schwarzen Fu-Manchu-Schnauzer, der über seinen Unterkiefer herabhing und beim Sprechen bebte. Bekleidet war er mit einer verblichenen, grünen Armeeuniform aus dem Weltkrieg, auf dessen Brust reihenweise Verdienstmedaillen hingen. Die Medaillen stammten aus einem halben Dutzend verschiedener Staaten und waren einer Reihe von Soldaten entwendet worden, die er getötet hatte. Auf die Schultern seiner Uniform hatte er übergroße Goldsterne gepinnt. Unter dem Arm trug er eine Reitpeitsche. Hoch oben auf seinem Scheitel balancierte Indys Filzhut. Er war mehrere Nummern zu klein, ein Effekt, der hätte komisch wirken können, hätte Indy nicht gewusst, wer Tzi war. Einer der Wachtposten trug einen Eimer mit Wasser in der Hand, das er Joan auf Tzis Befehl ins Gesicht schüttete. »Hallo«, meinte Tzi.
»Fahren Sie zur Hölle«, prustete Joan. »Dort sind wir bereits, meine Liebe«, gab Tzi zurück. »In der Felsenburg des Falschen Lamas. Ich verfolge Ihren Treck schon seit geraumer Zeit durch die gesamte Mongolei, seit dieser Geschichte mit Feng an der Chinesischen Mauer.« »Sie müssen über ein beachtliches Kommunikationsnetz verfügen«, bemerkte Indy. »Dem Falschen Lama entgeht nichts«, behauptete Tzi. »Blödsinn«, fauchte Granger. »Im Grunde haben Sie Recht. Schon seit Generationen staunen Ausländer über das Tempo, mit dem sich Neuigkeiten hier, wo es weder Telegrafenleitungen noch Funkstationen gibt, verbreiten. Die Antwort ist eigentlich ganz einfach. Klatsch verbreitet sich wie ein Lauffeuer von Wasserstelle zu Wasserstelle, und alle meine Agenten sind darin ausgebildet, auf jede Information zu achten, die sich als nützlich für mich erweisen könnte. Information bedeutet Macht, würden Sie mir da nicht zustimmen?« »Ich würde Ihnen nicht einmal zustimmen, wenn Sie sagten, zwei mal zwei sei vier«, erklärte Indy. »So viel Mut im Angesicht des sicheren Untergangs.« Tzis Augen funkelten böse. »Es wird mir eine Freude sein, Ihr Herz in ein wenig Sherry zu dünsten und es heute zum Abendessen zu verspeisen. Auch das ist Macht, finden Sie nicht? Jenes Organ zu verzehren, das als die Quelle des Mutes gilt? Hm, Sie sind Universitätsprofessor, nicht wahr, Dr. Jones? Vielleicht löffele ich Ihnen einfach noch obendrein das Hirn aus Ihrem Schädel.« »Ich hoffe, Sie verderben sich an mir den Magen«, gab er zurück. »Tzi«, warf Granger ein. »Ich habe eine ziemlich erfolgreiche Karriere als Großwildjäger hinter mir, und es gibt eine Menge Beweise sowohl für meinen Mut als auch für meinen Einfallsreichtum. Manch einer würde beides vielleicht sogar als legendär bezeichnen. Wieso laben Sie sich
nicht an meinen Knochen, alter Knabe, und lassen die anderen laufen?« »Weil Sie ein alter Narr sind, den ich nicht sonderlich appetitanregend finde«, antwortete Tzi. »Ich werde Sie meinen Hunden vorwerfen.« »Also wirklich«, meinte Granger. »Dabei kann Jones nicht mal schießen.« »Und was soll ich nur mit der hier anfangen?«, fragte Tzi, hielt Joan seine Reitpeitsche unters Kinn und drehte ihren Kopf in den Schein der Fackel. Dann streckte er die Hand vor und betatschte die Vorderseite ihrer Bluse. Joan spie ihm ins Gesicht. »Tja, was soll ich nur mit ihr machen«, fuhr er, sich die Spucke abwischend, fort. »Sie zu verspeisen wäre eine Schande, denn dann wären Sie nicht mehr da! Nein, ich denke, ich werde Sie noch ein paar Tage zu meinem Vergnügen hier behalten und anschließend als Sklavin verkaufen. Hier in der Gegend gibt es viele Männer, die neugierig auf Frauen aus dem Westen sind, und ich werde keine Mühe haben, einen Käufer aufzutreiben. Was ist Ihre Expedition doch für ein einträgliches Geschäft für mich geworden. Welch hohen Preis die Frau hier doch erzielen wird!« »Tzi...« Joan gab vor, einen geschäftsmäßigen Ton anzuschlagen. »Ja, meine kleine Konkubine?« »Ganz offensichtlich verlangt es Sie vor allem nach Macht und Wissen«, fuhr sie fort. »Was für eine Frau! Ihr entgeht wirklich nichts.« »Wenn Sie uns beseitigen, werden Sie das Geheimnis des Allergorhei-Horhai niemals erfahren«, schloss sie. »Des heiligen Tieres?« »Genau das meine ich.« »In der Legende heißt es, wer vom Fleisch des heiligen Tieres isst, wird unverwundbar«, meinte Tzi versonnen. »Aber das ist nur eine alberne Legende.« »Das ist es keineswegs«, widersprach Joan. »Wir sind ge-
kommen, um den Horhai zu suchen, und standen kurz vor der Entdeckung seines Verstecks, als Ihre Leute uns aufgegriffen haben.« Tzi erteilte den Wachtposten blaffend den Befehl, sie loszulassen. Joan schlang Tzi die Arme um den Hals. »Wissen Sie auch, was das Fleisch des Horhai ebenfalls bewirkt?«, flüsterte sie. »Es macht Sie unsterblich.« »Gehen wir nach oben und diskutieren wir das mit dem Schwarzen Lama«, meinte Tzi. »Präpariert die beiden Amerikaner für das Abendessen. Und achtet diesmal darauf, dass das Herzgewebe nicht verletzt wird, wenn ich bitten darf.« Die Wachtposten hängten sich die Maschinengewehre auf den Rücken und näherten sich Indy und Granger mit Kürschnermessern. Zwischen ihnen stand der Wassereimer, in den sie die erlesensten Stücke zu werfen gedachten. »Tzi«, säuselte Joan. »Ja, mein kleiner Leckerbissen?« Einer der Wachtposten fuhr mit der Klinge an Indys Hemdenbrust hinunter und sprengte die Knöpfe ab. Der zweite Posten, der wegen der Rüge, die er von Tzi erhalten hatte, zögerte, bat den ersten Posten um einen praktischen Rat. »Wir brauchen sie. Sie haben sämtliche Karten, Hinweise und dergleichen im Kopf, und wenn Sie sie verspeisen, werden wir nicht wissen, wo wir den Horhai suchen müssen, denn ich bin in diesen Dingen hilflos. Ich verlaufe mich schon, wenn ich nur um den Block gehen muss, wissen Sie?« Tzi hielt inne. Der Wachtposten zeichnete mit der Spitze des Kürschnermessers einen feinen, roten Strich auf Indys nackten Oberkörper und Brustkorb und legte damit das bevorzugte Schlachtschema fest. Anschließend forderte er den anderen Posten auf, weiterzumachen. »Bindet sie los«, sagte Tzi. Das Messer hatte gerade längs neben Indys Brustbein ein
feines Blutrinnsal erzeugt, als der Wachtposten die Klinge wieder absetzen musste. Er murmelte etwas, schmiss das Messer in den Eimer und befreite Indys Handgelenke von den Handschellen. »Danke.« Indy grinste. Der andere Wachtposten verfuhr auf die gleiche Weise mit Granger. »Erinnert mich daran«, murmelte Granger, sich die Handgelenke reibend, »dass ich von diesen Kerlen so viele wie möglich umbringe, bevor wir von hier verschwinden.« Die Wachtposten führten sie aus dem Verlies und durch einen gewundenen, von Stufen unterbrochenen Korridor, der in einen großen Saal mündete. Schwarze Gebetsmühlen säumten beide Seitenwände des Saales, und sobald einer der schwarzgewandeten Mönche mit den roten Ärmelaufschlägen vorüberging, wurden die Mühlen in eine Rückwärtsdrehung versetzt. Statt der Gebetsstöcke trugen die Mönche lange, schwarze Lanzen mit silbernen Spitzen in den Händen. In der Mitte des Saales, auf einem Dreifuß über einem prasselnden Feuer, stand ein riesiger Kessel, und als es in dem Kessel brodelte, konnte Indy für einen kurzen Augenblick menschliche Arme und Beine erkennen, die in der kochenden Brühe heftig hin und her geschleudert wurden. An der Stirnwand des Saales, auf einem hohem, aus rotem Sandstein gemeißelten Thron, saß eine übertrieben dürre Gestalt in einem schwarzen Kapuzengewand. Ein Gesicht vermochte Indy nicht zu erkennen. Unter dem Saum des Gewandes lugte ein altmodisches und vergilbendes Paar Schuhe hervor, Krakauer genannt, deren abgeknickte Spitzen Vogelfüßen glichen. »Kommen wir zur Sache«, sagte Indy. »Ich hab noch viel zu erledigen.« »Auf eine Audienz beim Schwarzen Lama«, erklärte Tzi, als eine Dreiergruppe von Mönchen mit hölzernen Schalen, die mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit gefüllt waren, vortrat, »muss man entsprechend vorbereitet werden.«
»Sie können mich von mir aus umbringen, aber das Zeug aus dem Topf werde ich nicht trinken«, schwor Indy und biss die Zähne aufeinander. »Seien Sie nicht so melodramatisch, Dr. Jones«, sagte Tzi. »Die Milch der frommen Denkungsart, wie wir sie nennen, ist ausschließlich denen von uns vorbehalten, die ihre Seelen dem Schwarzen Lama versprochen haben. Es handelt sich lediglich um ein Mittel, das Ihnen die Zunge lösen soll, damit wir an die Wahrheit herankommen.« »Was ist das?«, Indy roch an der Schale, die ihm ein Mönch hinhielt. »Es handelt sich um Rentierurin, den uns unsere Freunde aus dem nahen Sibirien zur Verfügung gestellt haben«, erläuterte Tzi. »Rentiere ernähren sich von einer Rotkappe genannten Pilzsorte, dem Fliegenpilz, dessen an sich bereits kräftige halluzinogene Eigenschaften bei der Durchleitung durch die Rentiernieren noch verfeinert werden.« »Das werde ich auf keinen Fall trinken«, sagte Indy. Tzis Lieutenant - derselbe, der sie bereits mit vorgehaltener Waffe aus dem Lager abgeführt hatte - rammte Indy von hinten kommend einen Holzpflock in den Mund und riss seinen Kopf zurück, wie bei einem Pferd, das man zügeln will. Die Wachtposten hielten Indy fest. Er versuchte, den Holzpflock durchzubeißen, doch der war zu stabil. Der Mönch ließ den Schaleninhalt über den Pflock rinnen, woraufhin die nach Ammoniak riechende Flüssigkeit in Indys Mund hineinlief und sich hinten in seiner Kehle sammelte. Während die Wachtposten ihn zwischen sich festhielten, presste ihm der Mönch die Hand auf Nase und Mund. Indy hatte die Wahl, entweder die Flüssigkeit hinunterzuschlucken oder zu ersticken. Indy schluckte. Der Lieutenant lachte. »Gut gemacht, Chang«, lobte Tzi den Lieutenant. »Es wird nicht weh tun«, meinte Tzi an die anderen gewandt. »Sicher, der Magen wird sich Ihnen umdrehen, und
möglicherweise werden Sie sich, wenn es vorüber ist, eine Weile übergeben müssen, weitaus schmerzhafter würde es für Sie jedoch werden, wenn Sie sich so zur Wehr setzten, wie Dr. Jones dies getan hat.« Granger und Joan schluckten den Inhalt ihrer Schalen hinunter. »Das ist ein Albtraum, oder?«, meinte Joan. »Ich meine, eigentlich liege ich schlafend in meinem Zelt und habe einen entsetzlichen Albtraum. Wildhunde kann ich noch akzeptieren. Aber von Kannibalen gefangen gehalten und gezwungen zu werden, die Bekanntschaft des Teufels zu machen - das kann nur ein Traum sein. Mir reicht's, ich werde jetzt einfach aufwachen.« »Das ist kein Albtraum, Schwester«, erklärte Indy ihr. »Verdammt«, erwiderte sie. »Ich bin ja noch immer hier.« »Also gut«, sagte Tzi. Die Wachtposten stießen die drei über den steinernen Fußboden hinüber zum Thron. »Auf die Knie.« »Kommt nicht in Frage«, sagte Indy. Die Wachtposten schlugen ihm mit Knüppeln in die Kniekehlen, woraufhin seine Beine nachgaben. Er fiel auf Hände und Knie. Granger wurde die gleiche Behandlung zuteil. »Möge Gott mir vergeben«, sagte Joan und kniete nieder. »Um den brauchen Sie sich hier keine Sorgen zu machen«, meinte Tzi. »Und wie geht es jetzt weiter?«, fragte Indy. »Sehen Sie dem Falschen Lama ins Gesicht. Erlauben Sie dem Schwarzen Lama, in Ihre Seele einzudringen und sich mit den Geheimnissen vertraut zu machen, die Sie so sorgfältig vor dem Licht des Tages zu verbergen suchen. Wir sind alle von Natur aus böse, wir stammen aus der Finsternis, und in die Finsternis werden wir zurückkehren. Licht ist nichts weiter als eine Illusion.« Indy versuchte, überall hinzuschauen, nur nicht auf die Gestalt auf dem Thron, musste jedoch feststellen, dass seine Augen unerbittlich in die Dunkelheit unter der Kapuze
gezogen wurden. In wenigen Augenblicken hatte ihn diese Leere so in ihren Bann geschlagen, und die Finsternis schien so vollkommen und besänftigend, dass er völlig vergaß, wieso er sich überhaupt erst dagegen gesträubt hatte. Granger und Joan vermochten sich ebenso wenig daran zu erinnern. Ein Sternbild schien sich in der Leere zu formieren. Die Gestalt auf dem Thron hob eine knochige, in einem roten Handschuh steckende Hand und schlug die Kapuze zurück. Indy stockte der Atem, als er den wirren, roten Haarschopf über die Schultern des schwarzen Gewandes fallen sah. Alecia lächelte ihm entgegen, ihre blauen Augen brannten sich ins Zentrum seiner Seele, und schließlich fragte sie, was er zu sehen erwartet hatte. »Ich weiß es nicht«, stammelte er. »Du hättest nicht gedacht, dass die Liebe dich so lange auf diese Weise quälen würde, hab ich Recht?«, fragte sie. »Wie kann wahre Liebe so schmerzhaft sein? Wie kann echte Liebe so quälend sein? Nein, Junior. Aber du hast die Antwort auf diese Frage immer schon gewusst. Meine Namen sind Furcht und Begierde, und es wird dir nie gelingen, die beiden miteinander zu versöhnen.« »Nein«, erwiderte Indy. »Das sind die Gefühle, die die Welt beherrschen. Die Begierde ist der Köder. Der Tod ist der Haken. Liebe ist eine Illusion, eine willkommene Ausrede für alle, die zu schwach sind, sich zu nehmen, was sie wirklich wollen. Du bist schwach, und bislang hast du genau das bekommen, was du verdienst: nichts.« »Du bist nicht Alecia.« »Natürlich bin ich es«, antwortete sie beschwichtigend. »Oder erinnerst du dich etwa nicht mehr an die Tätowierung auf meinem Rücken? Oder an die Suche nach dem Stein der Weisen? Oder an die eintausend anderen Dinge, die wir seit jenem Tag, als du ins British Museum spaziert kamst, geteilt haben?«
»Manchmal hasse ich dich«, erwiderte er. »Das ist ganz natürlich«, raunte sie. »Hass ist ein gesundes Gefühl. Wenigstens ist er erfüllt von Leidenschaft. Glaubst du wirklich, du hättest diese Gedanken wegen dieser Nonne gehabt, wenn du mich lieben würdest? Und überhaupt, warum solltest du mich nicht hassen? Wir haben alles geteilt, bis auf jenes eine, wonach du dich am meisten sehnst. Dabei hättest du es so leicht haben können, so voll und ganz, hättest du nur »Hätte ich nur was?« »Hättest du nur aufgehört, die Welt retten zu wollen«, antwortete sie. »Die Welt will nicht gerettet werden. Wenn es so wäre, dann gäbe es weder einen Hitler noch einen Mussolini. Und weißt du was? Tief in deinem Herzen weißt du ganz genau, dass ein einzelner Mensch niemals etwas ändern kann. Diese Vorstellung ist dumm und sinnlos. Und der Grund, weshalb du diese Kerle in den gestärkten Uniformen so sehr hasst, ist, dass sie dich an dich selbst erinnern. Du würdest nämlich einen perfekten Nazi abgeben, Junior.« Alecia fing an zu lachen. »Ich kann sehr wohl etwas verändern«, sagte Indy beinahe flehentlich. »Ich muss etwas verändern können Alecias Gelächter erlosch, und das Gesicht unter der Kapuze begann sich langsam zu verändern. Die blauen Augen wurden zu goldenen Schlitzen, und das Haar wich zurück und machte Schuppen Platz. »Ich bin der Schlangenkönig«, erschallte eine Reptilienstimme aus dem Maul der Schlange. »Der Urwurm, das in der Zeit gefangene Bewusstsein, der Kreis des Lebens, die Vernichtung der Schwachen durch die Starken. Das Leben ist bedeutungslos. Es ist nichts weiter als ein endloser Verdauungskanal ...« Indy wandte den Kopf ab. »Es gibt sehr wohl so etwas wie Bedeutung«, widersprach er mit zitternden Knien.
Als er wieder hinzusehen wagte, stellte er fest, dass er in die Augenhöhlen eines grinsenden Kristallschädels blickte. »Erzähl uns von dem Horhai«, forderte ihn der Schädel mit einer freundlichen Frauenstimme auf. »Der Triceratops.« Indy schüttelte den Kopf und versuchte zu begreifen, wieso er sich plötzlich mit diesem Schädel unterhielt. »Sprich weiter.« Indy holte tief Luft. »Sprich weiter, sagte ich!« »Also, eins möchte ich mal klarstellen«, erwiderte Indy. »Sie sind der allmächtige und allwissende Falsche Lama, richtig? Wieso fragen Sie mich dann Dinge, die Sie längst wissen müssten?« »Du jämmerlicher Wurm! Wie kannst du es wagen, meine Fragen mit einer Gegenfrage zu beantworten?« »Granger?«, fragte Indy. »Sind Sie hier?« »Sowohl hier als auch da«, antwortete Granger. »Wissen Sie noch, woran ich Sie erinnern sollte?« »Ja«, meinte er. »Gut, jetzt ist es soweit.« Indy wirbelte herum und riss dem überraschten Mönch hinter ihm die Lanze aus der Hand. Er stieß sie mit voller Wucht Richtung Thron. Die silberne Klinge bohrte sich vollständig durch die vermummte Gestalt, bis sie hinter ihr knirschend auf den Sandstein stieß. Die vergilbten Krakauer tanzten einen Totentanz. Einen Augenblick lang herrschte verblüfftes Schweigen. »Sie haben ihn umgebracht«, rief einer der Wachtposten, die Thompson schlenkernd in den schlaffen Händen. Granger packte zu, entriss ihm die Waffe und eröffnete das Feuer. Der Wachtposten zuckte wie eine Marionette, als die Kugeln seinen Körper durchsiebten, während der andere Wachtposten seine Waffe fallen ließ und die Flucht ergriff. Anschließend belegte Granger das Innere der Höhle in weitem Bogen mit einem Feuerstoß. Die Kugeln schlugen
sirrend gegen die Felsenwände, prallten von der Decke ab, brachten den eisernen Kochtopf wie eine Kesselpauke zum Erklingen und ließen die Gebetsmühlen in der richtigen Richtung kreiseln. Inmitten dieser Kakophonie aus rechtschaffenem Zorn rannten die Soldaten und Mönche in Deckung. Tzi lief watschelnd hinter ihnen her. »Der Fliegenpilz hat sie um den Verstand gebracht«, schrie er. »Rennt um euer Leben!« Der Filzhut rutschte ihm vom Kopf und landete mit der Öffnung nach oben auf dem Steinfußboden. Sowohl Tzi als auch sämtlichen Soldaten und Mönchen abgesehen von jenen, die vom Pech geradezu verfolgt waren gelang es, ein Versteck zu finden, denn Granger hatte Mühe, zwischen den echten Zielen und den Feen und Elfen zu unterscheiden, die er durch die Felsenkammer springen sah. »Verdammte Kobolde«, murmelte er, während er mit zusammengebissenen Zähnen einen weiteren Feuerstoß abgab. Ein Heinzelmännchen kam hinter dem Eisenkessel hervorgesprungen und stemmte seine winzigen Hände in die Hüften. »Das nennst du Schießen?«, fragte es tadelnd. »Das kann ja meine Patentante aus dem Märchen besser, und die ist schon seit vierhundert Jahren tot!« »Indy!«, brüllte Granger. »Was zum Teufel treiben Sie da? Kommen Sie her und helfen Sie mir!« Indy war auf den Thron geklettert und hockte auf dem Schoß des Falschen Lamas. Er versuchte, ihm mit aller Kraft den, wie er glaubte, Kristallschädel zu entreißen. Schließlich löste sich der Schädel auf, und Indy hielt stattdessen den runzligen Kopf eines sehr alten Mannes in den Händen. Er ließ los, woraufhin der Schädel auf die Schultern rollte und Blut aus einem Mundwinkel rann. Er war, wie Indy jetzt ganz deutlich erkennen konnte, nichts weiter als ein alter Mann in seltsamen Kleidern.
Indy sprang herunter und schnappte sich seinen Filzhut, dann hob er das Maschinengewehr auf, das der Wachtposten hatte fallen lassen. Des Weiteren sammelte er ein paar Handgranaten ein, die mit Bügeln am Gürtel des toten Postens befestigt waren. »Wo geht es raus?«, fragte Granger. »Hinter dem Thron gibt es einen Durchgang«, rief Indy, »verborgen hinter einem Wandbehang. Er führt bestimmt nach draußen, denn der Wandbehang bewegt sich immer wieder leicht im Wind.« »Schön und gut, aber wohin führt er?« »Offenbar handelt es sich um einen Fluchtweg des so genannten Schwarzen Lamas, für den Fall, dass es brenzlig wird.« Indy gab einen Feuerstoß auf eine Gruppe von Soldaten ab, die es gewagt hatte, hinter einer Säule hervorzulugen. »Da er ihn nicht mehr benötigt, denke ich, wir sollten ihn benutzen.« »Also los«, rief Granger und schob Joan vor sich her. »Rennen Sie. Das ist unsere einzige Chance, Schwester.« Sie stolperte in einen engen Durchgang. Granger, der sein Magazin leer geschossen hatte, warf seine Waffe fort und folgte ihr. Indy schnappte sich eine der noch immer neben dem Thron lodernden Fackeln, jagte eine letzte Salve in den riesigen Saal, dann folgte auch er. »Tolle Nummer, die Sie da abgezogen haben«, meinte Granger anerkennend, als sie den Korridor entlangrannten. »Sie haben diesen Fakir auf seinem Thron festgepinnt, als wäre er ein Insekt für Ihre Sammlung.« »Der Plan war nicht gerade wohl durchdacht«, meinte Joan. »Aber effektiv.« »Sagen Sie mal, Jones, was haben Sie eigentlich gesehen?« »Schlangen und Totenschädel«, antwortete Indy. »Eine Frau, die ich gut kenne. Und Sie?« »Ich?«, lachte Granger. »Ich hab überhaupt nichts gesehen, bis auf einen bemitleidenswerten alten Mann.« »Klar«, meinte Indy rennend. »Deswegen haben Sie auch
ständig von Kobolden fantasiert. Das ist es also, was Sie in Ihren Albträumen sehen, was? Und was ist mit Ihnen, Joan?« Sie stolperte, stützte sich an der Wand ab und presste sich den Handrücken vor den Mund. Ihr Atem ging schwer. »Wollen Sie die Wahrheit hören?«, fragte sie, um Beherrschung bemüht. »Ich hab mich selbst gesehen.« Dann musste sie sich übergeben.
KAPITEL SIEBEN Bei den Leuchtenden Klippen
»Lauft!«, brüllte Indy, während er die Stifte beider Handgranaten herauszog. Er wartete, den Rücken zur Wand und eine Granate in jeder Hand, während das Getrappel der Stiefel auf dem Steinboden des Korridors immer lauter wurde. Als es sich anhörte, als wären die Soldaten nur noch wenige Meter entfernt, schleuderte Indy die Granaten um die Ecke. Die Sicherungsringe lösten sich von den Griffen, als sie auf die Soldaten zurollten. Indy rannte los und warf sich zu Boden. Hinter ihm, jenseits der Ecke, brachte die Explosion die Decke des Durchgangs zum Einsturz, wodurch dieser verschlossen wurde. »Gut gemacht«, rief Granger. »Was?«, fragte Indy, schüttelte den Kopf und zupfte an seinen Ohren. Granger gab ihm einfach einen anerkennenden Klaps auf die Schulter. Der Durchgang entließ die Dreiergruppe zu ebener Erde hinaus in die Wüste, auf eine Koppel, auf der Tzis Pferde und Kamele untergebracht waren, und die durch Felsen und verkrüppeltes Gestrüpp vor neugierigen Blicken geschützt war. Die beiden Lastwagen der Expedition standen innerhalb des Zauns geparkt. Ein überraschter Wachtposten warf einen Blick auf die Maschinenpistole in Indys Händen, betrachtete dann seine eigene, einschüssige Waffe, ließ das Gewehr fallen und ergriff die Flucht.
»Eine weise Entscheidung«, bemerkte Indy. Dank der rauen Behandlung durch die Soldaten hatte Grangers Lastwagen einen Platten, daher kletterten sie in das Fahrerhaus des anderen, desjenigen mit der Fahne, auf der das Museumslogo abgebildet war, und Indy übernahm das Steuer. »Fast hätte ich's vergessen«, sagte Indy. Er öffnete den Wagenschlag und feuerte mit dem Maschinengewehr in den Kühler des anderen Lastwagens. »He«, rief Granger, »der gehört zur Expeditionsausrüstung.« »Wollen Sie etwa, dass sie uns mit der Expeditionsausrüstung verfolgen und umbringen?«, fragte Indy. Dann ging seine Hand zur Zündung. »Wo sind die Schlüssel?«, stöhnte er. Indy bückte sich unter das Armaturenbrett und zerrte an einem spaghettiähnlichen Drahtgewirr herum, bis er die richtigen Farben gefunden hatte. »Ich brauche ein Messer, eine Zange, irgendwas«, sagte er. Granger reichte ihm eine Nagelschere, die er im Handschuhfach gefunden hatte. Rasch entfernte Indy die Isolierung von den Drähten, sorgsam darauf bedacht, diese nicht abzubrechen. Anschließend verzwirbelte er die blank gelegten Teile der Kupferdrähte miteinander. Als er mit dem Fuß auf den Starter trat, sprang der Motor sofort an. Indy legte einen Gang ein und lenkte den Lastwagen durch das Gatter auf die Hochebene. Hinter ihm zerstreuten sich Pferde und Kamele nach allen Himmelsrichtungen in die Wüste. »Wohin?«, fragte er. »Ich hab nicht die geringste Ahnung«, meinte Granger, »schließlich weiß ich nicht einmal, wo wir gewesen sind. Der einzige markante Punkt, den ich wiedererkenne, sind die Leuchtenden Klippen dort drüben, ich schlage also vor, wir halten darauf zu.« Joan drehte sich um. Die Felsenburg des Falschen Lamas
befand sich inmitten eines gewaltigen Sandsteinmassivs, das durch den Wüstenboden zu Tage trat. Nichts deutete darauf hin, dass das Innere der Felsformation bewohnt war. »Wie lange werden sie wohl gebraucht haben, das alles aus dem Felsen zu schlagen?« »Sie dürfen nicht vergessen, dass dies die Nachfahren jenes Volkes sind, das die Chinesische Mauer errichtet hat«, gab Indy zu bedenken. »Ich bin sicher, es hat Generationen gedauert, und Tzi und sein toter Freund sind lediglich die Letzten, die sich dort unrechtmäßig eingenistet haben.« Indy sah auf die Tankanzeige, dann hinüber zum Fuß der Leuchtenden Klippen. Er klopfte mit dem Finger auf die Anzeige und registrierte mit Bestürzung, dass sich die Nadel nach unten statt nach oben bewegte. »Hoffentlich schaffen wir es bis dahin«, meinte Indy. »Wir fahren praktisch jetzt schon auf dem letzten Tropfen.« Indy griff unter das Armaturenbrett und zog an dem Draht, mit dem die Auspuffklappe geöffnet wurde. Das Motorengeräusch wuchs zu einem kehligen Dröhnen an, dem eines Flugzeuges nicht unähnlich, während der Lastwagen durch die offene Wüste raste. Dreißig Minuten später fing der Motor an zu stottern und erstarb. Indy nahm den Gang heraus und ließ den Lastwagen noch ein paar Meter näher an die Leuchtenden Klippen heranrollen, bis die Gesetze der Bewegung die Räder schließlich stehen bleiben ließen. Sie hatten die Klippen fast erreicht und waren so nahe, dass sie die märchenhaften Spitzen und Türme ausmachen konnten. »Ist hinter uns schon irgendwas zu erkennen?«, fragte Indy. »Nein«, meinte Granger. »Aber das wird nicht mehr lange dauern.« Sie kletterten aus dem Lastwagen, und Granger inspizierte den Wasserschlauch an der vorderen Stoßstange. Er war leer. Alles andere war von dem Lastwagen abmontiert worden.
Indy holte die Fahne des Museums ein und faltete sie, wie er es bei den Pfadfindern gelernt hatte, behutsam zu einem croissantförmigen Paket zusammen, das er sich unters Hemd stopfte. »Wir sitzen fest«, jammerte Joan. »Mitten in diesem gottvergessenen Land, ohne Wasser oder Proviant. Was machen wir jetzt?« »Wir werden zu Fuß weitergehen«, sagte Indy und machte sich mit großen Schritten auf den Weg in Richtung Klippen. »Außerdem schlage ich vor, dass Sie im Gehen ein Gebet sprechen.« Eine halbe Stunde darauf blieb Granger stehen und stemmte die Hände in die Hüften. Sie waren etwa eine Viertelmeile vom Fuß der Klippen entfernt. »Indy«, sagte er. »Was glauben Sie, stehen wir noch immer unter dem Einfluss der Pilze?« »Keine Ahnung«, gab dieser zurück. »Ich glaube eigentlich nicht. Warum?« »Sehen Sie, dort drüben.« Granger deutete auf halber Höhe auf die Klippen. »Sehen Sie das? Dort mitten zwischen den Klippen gibt es eine Burg von derselben Farbe wie der Sandstein.« Er schirmte seine Augen mit den Händen ab. »Stimmt«, meinte Indy. »Erst dachte ich, ich bilde mir das Ganze nur ein, dass es vielleicht nur eine Nachwirkung der Droge ist, aber ich sehe ständig Menschen oben auf den Türmen hin und her laufen und im Wind flatternde Gebetsfahnen. Hab ich den Verstand verloren, oder sind wir hier draußen in der Wüste gestorben, und dies ist das Tor zum Himmel?« »Vielleicht ist es das Tor zur Hölle«, schlug Joan vor. »Unsere Gebete sind offenbar erhört worden«, sagte Indy. »Das Tor ist aufgegangen, und man schickt eine Gruppe von Leuten, um uns zu begrüßen. Und wenn der heilige Petrus beziehungsweise der Teufel nicht plötzlich eine seltsame Vorliebe für orangene Gewänder entwickelt hat, handelt es sich, denke ich, um eine Abordnung von Lamas.«
Ein großer, athletisch aussehender Weißer mit wallendem weißen Bart, einem Stab in der Hand und hinter ihm herwehendem Gewand führte die Abordnung der Lamas an. Als das Trio auf die Gruppe stieß, streckte Granger grinsend seine Hand aus. »Dr. Starbuck, nehme ich an?« Der ergriff herzlich Grangers Hand. »Aber gewiss«, erwiderte Starbuck. »Ich bin Walter Granger. Und das hier ist -« »Indiana Jones«, sagte Starbuck. »Freut mich, Sie wiederzusehen, Dr. Jones. Hoffentlich sind nicht allzu viele Teilnehmer Ihrer Expedition von Tzi und seinen Kannibalen abgeschlachtet worden.« »Wir sind die Letzten, die noch übrig sind«, sagte Indy. »Tut mir Leid, das zu hören«, antwortete Starbuck. »Ich hoffe nur, Sie haben all diese Risiken nicht auf sich genommen, bloß um mich zu finden, denn ich bin durchaus mit Absicht verschollen. Ich habe nicht mal meiner Toch -« Starbuck starrte Joan an. Eine Träne rollte über ihre schmutzverschmierte Wange. Er ging einen Schritt auf sie zu, nahm von einem der anderen Mönche eine Wassergurde entgegen und wusch ihr mit den Händen das Gesicht. »Joan?«, fragte er. »Bist du es? Kind, ich habe dich überhaupt nicht erkannt. Du siehst nicht nur älter aus, sondern auch irgendwie verändert. Wie um alles in der Welt hast du es fertig gebracht, dich so weit von zu Hause zu entfernen?« Starbuck zog Joan in die Falten seines Gewandes, während sie sich an seiner Schulter ausweinte. »Daddy«, schluchzte sie, »ich hab dich so vermisst. Warum hast du nicht geschrieben?« . »Das ist kompliziert, mein Schatz«, antwortete Starbuck. »Komm mit zurück ins Kloster, und dir wird alles klarwerden.« Das Trio folgte Starbuck durch saubere, lichtdurchflutete Korridore voller freundlicher Mönche, die sich höflich verbeugten, als sie vorübergingen. Indy fiel auf, dass ihre
Gewänder von derselben derben Webart waren wie jener Stofffetzen, den er dem Eindringling in New York aus dem Gewand gerissen hatte. »Sie sind in ein Kloster eingetreten?«, erkundigte sich Granger im Gehen. »Deswegen waren Sie also wie vom Erdboden verschluckt?« »Ich bin nirgendwo eingetreten«, erklärte Starbuck. »Aber die eigenen Kleidungsstücke verschleißen mit der Zeit, und diese Gewänder sind praktisch und bequem. Der Stoff wird hier an Ort und Stelle von den Mönchen hergestellt und eingefärbt.« Er ging voran, eine Wendeltreppe hinauf, die in einen der Türme führte. Am oberen Treppenende klopfte er an eine hölzerne Falltür. »Ich bin's, Starbuck.« Ein Mönch öffnete die Falltür. Er kam Indy seltsam bekannt vor, und als er sah, dass sein Gewand geflickt war, wusste er auch, weshalb. Die drei gelangten in einen beheizten Raum, in dem ständig drei mit Ziegenmist befeuerte Kohlepfannen brannten. Auf einem Strohlager in der Mitte des Raumes lagen drei Eier. Jedes hatte ungefähr die Größe eines amerikanischen Fußballs und war von einer eigentümlich grünen, mit Rosa durchsetzten Farbe. Indy hielt den Atem an. »Das glaube ich nicht.« Er staunte. »Träume ich?« »Sie träumen keineswegs«, erwiderte Starbuck, »obwohl ich zuerst ganz genauso reagiert habe. Es hat eine Weile gedauert, bis ich überzeugt war, dass dies echte Dinosauriereier sind nichtsdestotrotz ist das die unbestreitbare, wenn auch ein wenig fantastische Wahrheit.« Indy näherte sich den Eiern ehrfurchtsvoll. »Darf ich sie anfassen?«, fragte er. »Selbstverständlich«, meinte Starbuck. »Aber seien Sie wirklich vorsichtig.« Indy hatte einen Kloß in der Kehle, als er hinüberging
und seine Hand behutsam auf eines der Eier legte. Die Schale fühlte sich ledrig an und warm. Indy hatte das traumähnliche Gefühl, durch ein Tor gegangen zu sein und mit der Vergangenheit in Kontakt zu treten. Granger und Joan kamen behutsam an seine Seite und betrachteten staunend die Eier. »Ich hätte nie gedacht, dass sie so schön sind«, meinte Joan. Dann bewegte sich in einem der Eier etwas, und Indy zog erschrocken seine Hand zurück. »Die Eier leben!«, stieß er hervor. »Das hoffen wir zumindest«, meinte Starbuck. »Es handelt sich um die Eier eines Triceratops. Ich bin mir nicht ganz sicher, was die Trächtigkeitsdauer anbetrifft, aber nach meiner Schätzung dürfte sie bei etwa achtzehn Monaten liegen. Damit müsste das Schlüpfen unmittelbar bevorstehen, wenn man die Zeitspanne seit dem Tod der Mutter in Betracht zieht.« »Der Stoßzahn«, sagte Indy. »Der Stoßzahn stammte von der Mutter.« »So ist es«, sagte Starbuck. »Ich habe ihn Joan zu ihrer Zeitung geschickt, bevor ich mir recht darüber im Klaren war, wohin mich dieses Abenteuer führen würde. Ich wusste natürlich, dass es sich um den Stoßzahn eines Triceratops handelte, und ich wusste, dass er von einem lebenden Tier stammt. Sie hatten zweifellos die gleiche Vermutung, Dr. Jones, sonst wären Sie kaum hier.« »Warum haben Sie ihn geschickt?« »Ich war so aufgeregt, dass ich Joan an dem Fund teilhaben lassen wollte, auch wenn ich mich nicht traute, eine schriftliche Erklärung über seine Bedeutung beizufügen. Außerdem wusste ich, dass sie auch von alleine darauf kommen konnte. Erst später wurde mir klar, dass es ein Fehler war, der Welt einen solchen Köder zu schicken, also haben zwei Klosterbrüder ihn wieder zurückgeholt. Tut mir Leid, dass wir zu spät gekommen sind, um zu verhindern, dass Sie Ihre Zeit vergeuden.« »Unsere Zeit vergeuden?«, fragt Granger. »Wir sind im
Besitz von lebenden Dinosauriereiern. Ich kann nicht behaupten, dass wir mit der Reise hierher unsere Zeit vergeudet haben.« Zum allerersten Mal bemerkte Indy einen Anflug von Ehrfurcht in Grangers Stimme. »Und hier werden sie auch bleiben«, erklärte Starbuck. »In unserer Verzweiflung haben wir nichts unversucht gelassen, sie am Leben zu erhalten. Aber weder kennen wir die richtige Temperatur, noch wissen wir, wie oft sie gewendet werden müssen, und auch sonst wissen wir im Grunde gar nichts, außer, dass sie feucht gehalten werden müssen. Wir haben die Eier hierher gebracht, damit wir uns rund um die Uhr um sie kümmern können und sie vor Raubtieren sicher sind. Sehen Sie, diese Eier diese Eier sind die letzten ihrer Art. Abgesehen von der Mutter ist uns kein weiteres Tier derselben Art bekannt.« »Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist, sie hier zu lassen«, meinte Granger. »Sie müssen untersucht werden. Sie gehören in ein Museum, und wir sollten sie unverzüglich nach New York schaffen.« Grangers plötzliche Leidenschaft beunruhigte Indy. Starbuck wollte Granger soeben widersprechen, als Indy, durch ein Geräusch von draußen alarmiert, an das schmale Fenster des Turmes trat. »Ich fürchte, es gibt noch einen anderen Räuber, dem Sie kaum werden entgehen können, und ich fürchte, wir haben ihn geradewegs bis vor Ihre Tür geführt«, sagte Indy. »General Tzi. Er steht dort draußen auf der Ebene und hat zweifellos die Absicht, das Kloster zu stürmen.« Starbuck trat neben Indy ans Fenster. »Wir werden die Eier von hier fortschaffen müssen«, erklärte Starbuck. »Gütiger Gott«, entfuhr es Granger. »Da unten bringen sie eine Haubitze in Stellung. Tzi meint es offensichtlich ernst.«
»Ich werde die Glaubensbrüder alarmieren«, sagte Starbuck. »Professor«, sagte Indy. »Nur noch eine Frage. Wenn ich richtig verstanden habe, sagten Sie soeben, Sie hätten den Stoßzahn an Joans Zeitung geschickt, aber eigentlich kann das doch gar nicht stimmen. Wollten Sie nicht sagen, Sie hätten ihn an ihren Orden geschickt?« »An ihren Orden? An was für einen Orden denn?«, fragte Starbuck, während er die Falltür öffnete und hinunterzusteigen begann. »Joan arbeitet als Reporterin für den Kansas City Star.« »Tut mir Leid«, sagte Joan. »Ich wollte es Ihnen die ganze Zeit beichten, aber ich wusste einfach nicht, wie.« »Ich werde nachsehen, ob Professor Starbuck und die Mönche Hilfe brauchen«, improvisierte Granger. »Sieht ganz so aus, als hätten Sie beide das eine oder andere zu besprechen.« Er verließ ebenfalls den Turm. »Was soll die Verkleidung?«, wollte Indy wissen. »Naja, wenn ich Ihnen gestanden hätte, dass ich Reporterin bin, hätten Sie mich dann etwa ernst genommen?«, fragte Joan. »Ich wollte meinen Vater finden und wusste, dass Sie genau der Richtige wären, um mir dabei zu helfen, aber ich verfügte nicht über die nötigen finanziellen Mittel, um eine solche Expedition auf die Beine zu stellen. Also rechnete ich mir aus, dass ich die Unterstützung des Museums gewinnen müsste, spielte die Dumme und sorgte dafür, dass es den Anschein hatte, als sei es Ihre und Brodys Idee.« Indys Gesicht war rot vor Wut. »Und dass Sie wussten, dass Sie der Geschichte des Jahrhunderts - nein, des Jahrtausends - auf der Spur waren, hat wahrscheinlich ebenfalls nicht geschadet«, erwiderte er. »Wie konnte ich nur so dämlich sein? Diese ständige Fragerei wegen jeder Kleinigkeit, Ihre Forderung, uns auf dem gesamten Weg begleiten zu dürfen ... jetzt klingt das alles völlig logisch.«
»Er ist schließlich mein Vater«, sagte Joan. »Und ich hatte das verzweifelte Verlangen, ihn zu finden. Als ich vom Glauben meiner Familie an das grundsätzlich Gute im Menschen sprach, war das ebenfalls nicht gelogen. Aber als ich den Vorschlag machte, mich in die Mongolei zu schicken, haben mich meine Chefredakteure beim Star nur ausgelacht, also müsste ich mir etwas einfallen lassen, um hierher zu kommen. Die Ordenstracht war ein Halloweenkostüm, das ich damals, Anfang der Woche, bei einer Party getragen hatte, also beschloss ich, es zu benutzen. Mittlerweile sehe ich ja ein, dass das falsch war, aber damals erschien es mir durchaus vernünftig.« »So etwas nennt man moralische Bemäntelung«, sagte Indy. »Ich weiß, was ich getan habe, war nicht richtig«, gestand sie kleinlaut. »Und offensichtlich hat es Ihnen auch noch Spaß gemacht«, meinte Indy. »Sie haben die durch und durch schlampige Nonne gespielt. Offenbar hatten Sie so viel Spaß daran, dass ich wette, es ist Ihnen schwer gefallen, Ihre Kostümierung abzulegen.« »Ich war ganz auf mich gestellt und hatte die meiste Zeit Angst«, sagte Joan. »Ich bin auch nur ein Mensch, wissen Sie.« »Oh, Sie sind ein bisschen mehr als nur ein Mensch. Hatten Sie die Absicht, mir zu beichten, dass Sie gar keine Nonne sind, bevor oder nachdem Sie mich ins Bett gezerrt hätten, Schwester?« Sie sah ihn an. »Tut mir Leid, aber das ist ein Angewohnheit, die ich nur schwer ablegen kann.« Sie müsste gegen ihren Willen lachen. »Hören Sie, Dr. Jones. Wir wissen beide, dass Sie auf diese Expedition gegangen wären, ob ich nun eine Nonne oder eine Zeitungsreporterin bin, oder ob ich zwei Köpfe und lila Haare habe. Wem hat es also geschadet?«
Sie nahm ihm den Filzhut ab, schlang ihm die Arme um den Hals und küsste ihn. Heftig. Indy riss sich von ihr los. »Tut mir Leid«, meinte er. »Ich vergebe mein Herz nicht an Lügnerinnen. Außerdem liebe ich eine andere.« »Meinen Sie etwa diese Hexe, die Ihnen den Laufpass gegeben hat?« »Haben Sie Hexe gesagt -« »Sie haben mich sehr gut verstanden«, gab Joan zurück. »Ich kann einfach nicht glauben, dass Sie sie immer noch lieben, nach allem, was sie Ihnen angetan hat, und ganz offensichtlich weiß ich längst nicht alles. Aber nach allem, was ich bei Ihren Gesprächen mit Brody und Granger aufgeschnappt habe, kann ich mir zusammenreimen, dass Sie viel zu gut für sie sind.« »Sie verstehen nicht«, protestierte Indy. »Und was, bitte, muss ich unbedingt an Indiana Jones verstehen?«, fragte sie. »Dass ich ein hoffnungslos schwärmerischer Romantiker bin«, erwiderte er. »Dass ich meinen Freunden gegenüber Wort halte, dass ich nicht herumschlafe, wenn ich jemand anderen liebe. Dass ich meine Wertvorstellungen nicht aufgebe, nur weil ich ein paar tausend Meilen von zu Hause entfernt bin. Dass es Dinge auf dieser Welt gibt, die man mit Wissenschaft nicht erklären kann, aber vielleicht mit Herz und Gefühl, und dass ich nie, niemals, mit einer jungen Frau ausgehen würde, die sich als Nonne verkleidet.« Das erste Geschoss der Haubitze sprengte ein Loch von der Größe eines Getreidekorbes in die Außenwand des Klosters. »Es wird Zeit, das sinkende Schiff zu verlassen«, meinte Indy. »Mit einem Maschinengewehr und fünf Magazinen Munition werden wir Tzis Armee kaum aufhalten können.« »Wenn wir nur besser bewaffnet wären«, meinte Granger.
»Sind wir aber nicht, also müssen wir fliehen«, erwiderte Indy. »Selbst wenn wir Waffen hätten«, sagte Starbuck, »würde ich nicht soweit gehen, jemanden zu töten. Dadurch würden wir uns mit diesen Tieren auf der anderen Seite des Tores auf dieselbe Stufe stellen.« »Manchmal ist es besser, ein lebendiges Tier zu sein«, hielt Granger dagegen, »als ein toter Philosoph. Lassen Sie es mich wissen, falls Sie ein paar Waffen auf treiben.« »Professor«, sagte Indy, »tut mir Leid, aber ich fürchte, Tzi wird dieses Kloster in Trümmer legen. Sie müssen den Glaubensgenossen klar machen, dass sie sich uns anschließen sollen.« »Die kommen schon zurecht«, beharrte Starbuck, während er ein Dinosaurierei von dem Strohlager hob und es in Indys Büchertasche gleiten ließ. »Sie sind dieses Katz- und Mausspiel mit Tzi und seinen Männern gewohnt und werden sich zerstreuen, sobald wir aufbrechen. Ich gehe davon aus, dass wir dadurch etwas Zeit gewinnen.« »Welchen Weg nehmen wir?«, wollte Joan wissen. »Es gibt einen schmalen Durchgang in den Klippen«, antwortete Starbuck. »Dahinter liegt ein Tal, in dem sich seit Ewigkeiten nichts verändert hat. Wir müssen vorsichtig sein, denn der Pfad ist gefährlich, außerdem müssen wir alles daran setzen, dass Tzis Männer uns nicht ins Tal folgen. Ich wünschte nur, es gäbe einen anderen Ort, wo wir Schutz suchen könnten, aber ich fürchte, das ist unsere letzte Hoffnung -und die letzte Hoffnung dieser drei Kleinen hier.« Starbuck legte ein weiteres Ei in einen mit Stroh gefüllten Lederbeutel und reichte ihn Joan, die ihn wie eine Handtasche unter ihre Achsel klemmte. »Geben Sie das mir«, erbot sich Granger, als Starbuck das letzte Ei in einem Beutel verstaute. »Ich habe die Hände frei, und Sie werden genug damit zu tun haben, vorauszugehen. Ich verspreche, ich werde es hüten wie meinen Augapfel.«
»He«, meinte Indy und pfiff Granger an. »Hübsche Handtasche.« »Das müssen Sie gerade sagen«, erwiderte Granger. »Soweit ich weiß, haben Sie Ihre kleine Tasche doch schon drei oder vier Mal um die Welt geschleppt.« »Dies hier«, erwiderte Indy, »ist eine Büchermappe. Das dagegen ist eine Handtasche.« »Na schön«, gab Granger sich geschlagen und nahm seinen Stock in die Hand. Er klopfte gegen die Rückwand des Turms und bröckelte den Putz über dem verborgenen Durchgang ab. Die Mönche hatten Anweisung, den Durchgang, sobald sie verschwunden waren, wieder notdürftig zu verputzen, bevor sie das Kloster verließen. Starbuck nahm ein Bündel Fackeln in die Hand, entzündete eine davon an der nächststehenden Kohlepfanne und wandte sich zur Gruppe um. »Auf ins Gelobte Land«, sagte er und betrat den Durchgang. »Und Religion spielt in meiner Familie doch eine Rolle«, fauchte Joan, als sie sich vor Indy drängte, um zu ihrem Vater aufzuschließen. »Irrsinn offenbar auch«, brummte Indy. Granger war der Letzte in der Reihe, der den Durchgang betrat, und während er dies tat, schlug eine Haubitzengranate im Turm ein, sprengte dessen Spitze weg und verteilte die Kohlepfannen über den Dielenboden. Außerdem wurde durch die Explosion ein Deckensplitter in die Ledertasche geschleudert, die Granger trug, und ein feines Rinnsal aus Fruchtwasser begann, den Pfad hinter ihnen zu markieren.
KAPITEL ACHT Das Tal der Glückseligkeit
»Der Durchgang wurde in grauer Vorzeit angelegt und steckt für den, der nicht sehr genau aufpasst, voller Fallstricke«, rief Starbuck nach hinten. »Ich bin sicher, so etwas haben Sie noch nicht erlebt.« Indy musste grinsen. Der Pfad führte tief in den Berg hinein, und das erste Hindernis, auf das sie stießen, bestand aus einem schmalen, natürlichen Steg, der einen gähnenden Schlund überspannte. »Seien Sie vorsichtig«, warnte Starbuck, während er behutsam wie ein Seiltänzer einen Fuß vor den anderen setzte. »Dieser Abgrund ist bodenlos.« »Jede Schlucht, die so tief ist, dass man nicht ohne weiteres bis auf ihren Grund sehen kann«, merkte Granger an, »ist angeblich bodenlos.« Damit hob er einen Stein auf und ließ ihn, als er die Mitte der Brücke erreicht hatte, aus seiner ausgestreckten Hand fallen. Er wartete. Dreißig Sekunden später wartete er noch immer. »Mal sehen«, rechnete Indy nach. »Den Gesetzen fallender Körper zufolge muss der Stein mittlerweile ... das wären 16,08 mal 30 im Quadrat ... etwa 14.000 Fuß oder annähernd drei Meilen tief gefallen sein. Ich würde das als bodenlos bezeichnen. Sie nicht?« »Wir haben ihn bloß nicht gehört«, gab Granger zurück und ging weiter. Der natürliche Steg endete an einer grandiosen, in den
Fels geschlagenen Treppe, und diese Treppe führte mehrere hundert Fuß weit in den Berg hinein, bevor sie sich in Serpentinen am Rand einer Felsschlucht entlangzuwinden begann. Sie konnten bis hinunter auf den Grund der Schlucht blicken, da diese mit geschmolzener Lava gefüllt war. »Ich wusste gar nicht, dass wir uns hier in der Nähe von aktiven Vulkanen befinden«, bemerkte Joan. Die Hitze hatte ihr das Haar ins Gesicht geklebt, und das Gewicht des Eis begann schmerzhaft an ihrer Schulter zu ziehen. »Der Vulkan ist Teil des komplizierten ökologischen Systems jenes Tales, in das wir gehen«, erläuterte Starbuck. »Boden und Wasser sind warm und trotzen sogar den härtesten Wintern in der Gobi.« »Klingt, als wäre es ein Paradies«, sagte Joan. »Das ist es auch«, gab Granger ihr Recht. »Und ich hoffe, daran wird sich so schnell nichts ändern.« Die Treppe endete an einem jähen Abgrund. Jemand hatte ein schweres Tau um den Fuß eines Stalagmiten geschlungen, und dieses Tau verschwand in der Dunkelheit jenseits der Kante. Tief unten floss der Strom aus geschmolzenem Gestein. »Jetzt kommt der schwierige Teil«, kündigte Starbuck an. »Bis hierhin war es einfach?«, fragte Joan. »Wir müssen uns an diesem Tau hinüberhangeln.« Starbuck übergab die Fackel an Granger. Dann ließ er sich zu Demonstrationszwecken auf der Kante des Abgrundes nieder, packte das Tau mit beiden Händen und stieß sich ab. Einen Augenblick lang pendelte er hin und her, dann ging er daran, die Beine nach oben zu ziehen, bis er das Tau schließlich mit den Knöcheln zu fassen bekam. »Das ist die beste Methode, um auf die andere Seite zu gelangen«, rief er. »Ziehen Sie sich Hand über Hand daran entlang.« »Was mache ich derweil mit der Fackel?«, wollte Granger wissen.
»Geben Sie sie mir. Ich nehme sie zwischen die Zähne«, erbot sich Indy. Joan war als nächste an der Reihe. Sie hängte sich den Beutel mit dem Ei um den Hals und ergriff voller Zuversicht das Tau. Sie schwang ihre Beine nach oben und begann, sich hinüberzuziehen. »Meine Hände tun weh«, beklagte sie sich auf halber Strecke. »Machen Sie weiter, Schwester«, versuchte Indy sie von hinten aufzumuntern. » Sie bluten schon.« Das Blut an ihren Handflächen machte das Tau gefährlich schlüpfrig, und Joans Tempo verringerte sich auf wenige Zoll pro Zug. Doch als sie versuchte, sich zu beeilen, um die Tortur abzukürzen und den Schmerzen an ihren Händen ein Ende zu machen, verlor sie ganz den Halt am Seil. Sie wippte an ihren Knöcheln hängend auf und ab, der Lederbeutel hing unter ihrem Kinn. »Das Ei!«, schrie Indy. Wegen der Fackel klangen die Worte aus seinem Mund gedämpft. »Was soll ich tun?«, murmelte Joan. »Sprechen Sie kein Wort«, kommandierte Indy. Er hakte einen Arm um das Tau und nahm die Fackel aus dem Mund. »Alles anhalten. Das Seil darf nicht in Schwingung versetzt werden. Joan, können Sie das Ei mit den Händen erreichen?« »Nein«, rief sie. »Der Riemen ist zu lang.« »Also gut, hören Sie genau zu«, sagte Indy. »Ich möchte, dass Sie ganz vorsichtig mit der Hand nach unten langen und den Riemen umfassen. Und zwar fest. Haben Sie das verstanden?« »Ja«, antwortete Joan. »Aber das Blut schießt mir in den Kopf, außerdem wird mir ziemlich schwindelig.« »Ziehen Sie den Beutel langsam nach oben.« »In Ordnung!«, rief sie. »Langsam!«
»Mach ich doch!« »Das reicht«, sagte Indy. »Jetzt versuchen Sie, das Ei mit den Fingerspitzen in den Beutel zurückzuschieben. Es liegt ganz außen auf dem Rand, also stoßen Sie nicht dagegen.« »In Ordnung«, sagte Joan. Ihre Fingerspitzen streiften die ledrige Oberfläche des Saums. Sie hatte das Ei fast schon wieder in vollem Umfang über den Beutelrand geschoben, als das Tau unvermittelt ruckte, weil mehrere Fasern rissen. Das Ei sprang aus dem Beutel. Mehrere Sekunden lang stürzte es in die Tiefe, dann traf es zischend auf dem Lavastrom auf. »Oh, mein Gott!«, rief Joan. »Tut mir Leid. Ich wollte doch -« »Es war nicht Ihre Schuld«, sagte Indy. »Es hängen zu viele von uns an. diesem Tau. Wir müssen unbedingt so schnell wie möglich auf die andere Seite.« »Aber Indy«, protestierte Joan. »Ich komme mit den Armen nicht ans Seil, dazu fehlt mir die Kraft. Außerdem ist mir wirklich schwindelig, Indy, und müde bin ich auch.« »Halten Sie sich fest«, rief Indy. Er hangelte rasch bis zu der Stelle, wo sie hing. Dann wechselte er die Fackel abermals in die andere Hand, hakte seinen linken Arm um das Tau und streckte ihr seinen rechten Arm entgegen. Sie kämpfte gegen ihr eigenes Gewicht an und reckte ihre linke Hand nach oben. Ihre Fingerspitzen berührten sich, dann hatte Indy ihre Hand umklammert und zog sie hoch. Das Tau ruckte erneut, als weitere Fasern rissen. Joan fing an zu weinen. »Los geht's«, meinte Indy. »Zerbrechen Sie sich deswegen nicht den Kopf. Es war absolut nicht Ihre Schuld. Wir haben noch zwei unversehrte Eier übrig.« »Das muss ich richtig stellen«, sagte Granger, als er seine Finger in die aus seinem Beutel tropfende Flüssigkeit tauchte. »Wir haben nur noch Ihr unversehrtes Ei, meins
dagegen, fürchte ich, hat sich irgendwie in Rührei verwandelt. Um ehrlich zu sein, es riecht ziemlich unangenehm.« »Das ist ja schlimmer als beim Eierwerfen auf dem Jahrmarkt«, meinte Indy. »Ach, Granger? Falls ich nicht heil aus dieser Geschichte herauskomme, tun Sie mir einen Gefallen, und halten Sie nicht die Lobrede bei meinem Gedenkgottesdienst. Ich möchte nicht, dass Sie mich in Verlegenheit bringen.« »Fiele mir nicht im Traum ein, alter Knabe. Die braunen Augen, Sie wissen schon.« Als sie allesamt die andere Seite erreicht hatten, zog Indy sein Messer aus dem Futteral und durchtrennte das Tau vollends. Er sah dem zerfransten Ende nach, als es in die Dunkelheit fiel. »Das dürfte Tzi die Sache ein wenig erschweren«, sagte Indy. »Falls er überhaupt kommt«, meinte Starbuck. »Nein«, warf Granger ein. »Wenn er kommt.« »Und was ist, wenn wir zurück wollen?«, fragte Joan. »Dann bauen wir uns ein Katapult«, erwiderte Indy. »Kommen Sie«, sagte Starbuck. »Wir sind fast am Ziel.« Nach weiteren dreihundert Metern endete der Durchgang in einer großen Höhle. Sie schlidderten einen schlammigen Abhang hinunter bis zum Boden und traten durch die Höhlenöffnung hinaus in ein sonnenbeschienenes Tal. Indy blinzelte. Das Tal stand voller Fichten, großblättriger Farne sowie einer Anzahl blühender Pflanzen, die er nicht identifizieren konnte. Ein von der Hüfte an aufwärts nacktes Mädchen von achtzehn oder zwanzig Jahren in einem Rock aus Antilopenfell kam auf Indy zu und legte ihm eine Girlande aus diesen ungewöhnlichen Blumen um den Hals. Dann lief sie lachend davon. »Willkommen in der Steinzeit«, meinte Starbuck.
»Das sind die Dünenbewohner«, erläuterte Starbuck, während er das übrig gebliebene Dinosaurierei in einem kleinen,
rasch extra dafür angefertigten Holzschrein auf ein Lager aus Farnen bettete. »Oder zumindest sind es die Vettern jener Dünenbewohner, deren Schmuck Sie draußen in der Nähe der Leuchtenden Klippen gefunden haben. Sie verehren den Allergorhai-Horhai oder Triceratops so wie die Prärieindianer den Büffel. Seit unzähligen Generationen bildet er den Mittelpunkt ihres Lebens. Nur sind mittlerweile sämtliche Dinosaurier verschwunden, bis auf unser eines Ei.« »Aber dieses Tal«, wunderte sich Indy. »Wie konnte es so lange von allen Einflüssen unberührt überdauern? Das hier ist nicht wie die späte Kreidezeit, das ist sie.« »Naja, Sie haben ja selbst gesehen, wie schwer es ist, hierher zu gelangen«, sagte Starbuck. »Es wird natürlich durch die Leuchtenden Klippen geschützt. Außerdem ist dieses Gebiet äußerst abgelegen. Diese Menschen waren mehrere Jahrtausende lang vom Rest der Menschheit abgeschnitten. Nach der mongolischen Folklore über den Horhai zu schließen, die man natürlich auch als Legende abtun kann, hat sich offenbar von Zeit zu Zeit ein versprengter Reisender hierher verirrt. Tatsächlich aber hat das gelegentliche Hinzukommen eines Fremden diesen Menschen geholfen zu überleben, da auf diese Weise ihre Erbanlagen aufgefrischt wurden. Ihre Erbanlagen sind durchaus allgemein verbreitet, dadurch ist offenbar nicht allzu viel durcheinander geraten.« »Wie viele sind es?«, fragte Granger. »Sechsundvierzig«, antwortete Starbuck. »Darunter sechsundzwanzig Erwachsene. Es gibt ein Dutzend Kinder, die Übrigen sind Alte. Sowohl die Kinder als auch die Alten werden von der Gemeinschaft als Ganzes versorgt.« »Ich wünschte, ich hätte eine Kamera dabei«, sagte Joan. »Dieser Ort ist unglaublich. Könnt ihr euch vorstellen, welch eine Sensation eine Bildreportage hervorrufen würde?« »Aus genau diesem Grund bin ich froh, dass du keine Kamera
dabei hast«, meinte Starbuck. »Nichts hätte eine vernichtendere Wirkung auf diese Menschen, als entdeckt zu werden. In wenigen Wochen gäbe es hier in diesem Tal eine Landebahn, und was würde dann passieren?« »Aber wären sie nicht glücklicher?«, fragte Granger. »Bestimmt machen Krankheiten diesen Menschen schwer zu schaffen. Wäre die moderne Welt nicht ein Segen für sie?« »Ganz sicher nicht«, erwiderte Starbuck mit Nachdruck. »Sie wäre ein Fluch. Sie sind so lange isoliert gewesen, dass die meisten in den modernen Gesellschaften verbreiteten Krankheiten bei ihnen unbekannt sind. Pocken, zum Beispiel. Sie sind doch alle geimpft? Sehr gut. Nach der Invasion Amerikas haben sie sich unter den Stämmen der amerikanischen Ureinwohner wie ein Lauffeuer verbreitet.« »Invasion?«, fragte Granger. »Ich bin zutiefst überzeugt, Mr. Granger, dass es den amerikanischen Indianern sehr viel besser ergangen wäre, wäre ihr Kontinent nicht von den Europäern entdeckt worden. Für unsere Dünenbewohner hier gilt dasselbe. Sehen Sie sich doch um! Sie lachen und spielen wie Kinder. Sie sind wohl genährt und werden von den meisten Krankheiten verschont, die unter den Menschen wüten, darüber hinaus leben sie in einem Tal, in dem stets ein gemäßigtes Klima herrscht. Das Kloster hat dieses Tal über Hunderte von Jahren beschützt, und wenn nötig richtet man dort ein gebrochenes Bein oder hilft bei einer schwierigen Geburt, aber ansonsten besteht ein absolutes Kontaktverbot.« »Unglaublich«, meinte Granger. »Ich weiß nicht, ob ich diese Menschen bedauern oder beneiden soll.« »Warum diese Unentschiedenheit?«, fragte Starbuck. »Die Menschen hier brauchen für ihr Überleben nicht zu arbeiten. Alles, was sie brauchen, befindet sich hier. Außerdem sind sie nie mit dem Begriff der Sünde in Berührung gekommen.« »Der Garten Eden«, meinte Joan.
»Verzeihen Sie, Professor«, wandte Granger ein. »Ich weiß Ihre Ansichten zu schätzen, aber wie steht es um Ihre Verantwortung gegenüber der Wissenschaft? Verhalten Sie sich nicht egoistisch, wenn Sie das alles hier wie Ihr ganz persönliches Paradies für sich behalten?« »Ich denke, ich werde dieser Verpflichtung am besten gerecht, wenn ich hier bleibe«, erwiderte Starbuck. »Seit meiner Ankunft vor sechs Monaten habe ich umfangreiche Aufzeichnungen angefertigt, und ich habe die Absicht, damit fortzufahren. Schließlich habe ich erst die Oberfläche ihrer Sprache und ihrer Lebensweise angekratzt. Ich weiß nicht einmal, welchen Namen ich ihnen geben soll. Sie selbst nennen sich canobi, was einfach „Menschen“ bedeutet. Für das, was ein Fremder ist, haben sie weder ein Wort noch einen Begriff. Sie machen zwischen sich und anderen keinen Unterschied. In ihren Augen sind wir alle Angehörige desselben Stammes - wir waren lediglich so lange fort, dass sie sich nicht an uns erinnern. Deswegen verspüren sie auch keine Angst.« »Ursprüngliche Unschuld«, sagte Joan. »Womit wir es hier zu tun haben, ist der Ursprung aller Kulturen wir alle stammen von Menschen wie den Dünenbewohnern ab, wenn nicht gar von den Dünenbewohnern selbst. An geologischen Maßstäben gemessen hat der moderne Mensch dieses Tal der Glückseligkeit gerade erst verlassen. Stellen Sie sich vor, welch ein Segen es für die Welt bedeutete, wenn wir einen Blick in diese neolithischen Köpfe werfen und herausfinden könnten, was uns zu dem macht, was wir sind. Es gibt viel zu tun, Dr. Jones, und uns bleibt nur sehr wenig Zeit dafür.« »Wie meinen Sie das?«, fragte Indy. »Die Zeit läuft ab für dieses glückliche Tal«, erklärte Starbuck. »Es ist unvermeidlich, dass der Rest der Welt von den Menschen hier erfährt. Wenn das geschieht, ist die Gelegenheit, sie in ihrer natürlichen Umgebung zu studieren, vorüber. Dann ist dies nicht mehr die Steinzeit, sondern
nichts weiter als ein weiterer Schandfleck der Rückständigkeit auf dem Antlitz des zwanzigsten Jahrhunderts.« »Sagen Sie«, warf Granger ein, während er den Inhalt seines Beutels betrachtete. »Was wollen wir eigentlich mit diesem angeschlagenen Ei machen? Gibt es eine Möglichkeit, es zu konservieren?« »Ich fürchte, nein«, antwortete Starbuck. »Sie verderben ziemlich schnell.« »Welch eine Verschwendung.« Granger schüttelte den Kopf. »Nicht unbedingt«, meinte Starbuck. »Die Eier gelten bei den Menschen hier als Delikatesse, und es war eine Heidenarbeit, sie daran zu hindern, aus unseren drei Exemplaren hier neolithische Omeletts zu braten. Außerdem glauben sie, dass der Verzehr von Dinosauriereiern einen mystischen Aspekt hat, der ihnen Lebenskraft verleiht und das Überleben ihrer Art sichert. Da wir ohnehin nichts zur Rettung des Eis unternehmen können, schlage ich vor, wir braten es und überprüfen so ihren Aberglauben.« »Ausgezeichneter Vorschlag«, rief Granger. Starbuck tätschelte das Ei, bedeckte es mit einem Farnwedel und erhob sich. »Ich habe die Hoffnung, für dieses Volk ein wenig Zeit zu gewinnen. Noch ein paar Jahre - Jahrzehnte, wenn wir Glück haben -, dann wird dies alles nicht mehr existieren. Aber bis dahin würde ich gerne hier bleiben, bei diesen Menschen leben und sowohl sie als auch den kleinen Triceratops, der jeden Augenblick schlüpfen kann, studieren. Wenn dann die Welt über dieses Tal hereinbricht und lauthals nach der Geschichte verlangt - wird sie erzählbereit vorliegen.« »Was wird aus Joan?«, fragte Indy. Sie hatte sich aus dem Gespräch verabschiedet, um ein wenig zwischen den Menschen umherzustreifen. Ein schlanker junger Bursche mit schwarzem Haarschopf folgte ihr, einen Strauß Blüten aus der Kreidezeit in der Hand.
»Sie wird selbst eine Entscheidung fällen müssen«, sagte Starbuck. »Eine einzige Fotografie, ein einziges Kabel, und der Untergang dieses Tals der Glückseligkeit ist besiegelt. Aber ich bin nicht ihr Gebieter, sondern nur ihr Vater.« »Eins würde ich gerne wissen«, sagte Indy. »Die junge Frau, die uns begrüßte, schien überaus freundlich zu sein. Verzeihen Sie die Frage, aber wie vertraut ist Ihr Verhältnis zu diesen Menschen?« »Sie nennen mich Großvater.« Starbuck lachte. »Und so fühle ich mich ihnen gegenüber auch. Außerdem bin ich zu alt, mir ihre Sitten und Gebräuche anzueignen, zumal niemand in der Lage wäre, den Platz von Joans Mutter einzunehmen, die bei der Entbindung gestorben ist.« »Setzen Sie sich zu mir, alter Knabe«, meinte Granger. Es war am selben Abend nach dem Festmahl aus DinosauriereiOmelette, als Granger Pfeife rauchend zufrieden auf einem Felsen hockte. Indy saß neben ihm, zupfte einen Grashalm ab und begann, darauf herumzukauen. »Das Ei war vorzüglich«, setzte Granger an. »Ich hab nichts davon gegessen«, antwortete Indy. »Es war ein bisschen so wie früher, wenn ich als kleiner Junge ein Ei zum Frühstück bekam, in dem sich ein Embryo befand. Meist brauchte ich nur daran zu denken, um mich noch Tage danach zu übergeben. Ich wünschte nur, wir hätten eine Möglichkeit gehabt, es zu konservieren - was gäbe ich für ein wenig Formaldehyd aber leider hat sich das erübrigt.« »Tja, wir könnten ein Vermögen machen, wenn wir nur noch ein paar von diesen Eiern in die Hände bekämen. Wir könnten sie für eintausend Dollar pro Menü bei Abendgesellschaften auftischen. Grangers berühmter Dinosaurier vom Grill. Klingt nicht schlecht, was?« »Könnten Sie vielleicht mal einen Augenblick lang ernst sein?«
»Das war nur teilweise scherzhaft gemeint«, erwiderte Granger. »Wissen Sie, dieses Ei gehört wirklich in die Außenwelt. Es ist viel zu wertvoll, um es in diesem vergessenen Tal zu lassen, wo es Gefahr läuft, von den Eingeborenen verspeist zu werden ... Was ist mit Ihnen, Jones? Sie ziehen ein Gesicht, als hätten Sie Ihre Einberufung bekommen.« »In gewisser Weise«, sagte Indy. »Vor ein paar Minuten bin ich noch einmal in die Höhle zurückgegangen und konnte hören, wie Tzis Hunde auf der anderen Seite der Schlucht mit dem Tau unsere Fährte aufnahmen. Starbuck täuscht sich, was die Zeit betrifft, die diesen Menschen noch verbleibt. Es ist keine Frage von Jahrzehnten oder auch nur Jahren ... sondern eine Frage von Stunden, und wenn Tzi dieses Tal entdeckt, wird er alles vernichten, was sich darin befindet.« »Was sollen wir also tun?«, fragte Granger. »Ich werde fortgehen«, sagte Indy. »Ich werde versuchen, Tzi von der Fährte abzulenken und ihn weit von hier fort in die Steppe zu locken. Ich werde alles versuchen, um ihn von diesem Tal abzulenken.« »Sie waren schon immer ein Idealist«, meinte Granger. »Eigentlich hatte ich gehofft, eine Weile bleiben zu können. Wir sind doch erst ein paar Stunden hier. Es ist ein angenehmes Tal, außerdem hatte ich noch nicht einmal Gelegenheit, die Menschen hier kennen zu lernen, ihre Namen zu erfahren und so weiter und so fort. Einige von ihnen scheinen wirklich nicht auf den Kopf gefallen zu sein. Ganz zu schweigen davon, dass es schöne Menschen sind.« »Wir können diese Menschen nicht wirklich kennen lernen«, widersprach Indy. »Sie sind wie erstaunliche, bewundernswerte Kinder, wir dagegen sind große, täppische Erwachsene. Außerdem, was würde es uns nützen, wenn wir hier blieben? Wie sollen wir kämpfen, wenn Tzi schließlich mitsamt seinen Hunden und Söldnern aus der Höhle heruntergestiegen kommt?« »Wir werden kämpfen, so wie wir es immer getan ha-
ben«, antwortete Granger. »Wir haben unsere Haut oft genug mit ein wenig Beharrlichkeit und einer ordentlichen Portion Glück gerettet, um zu wissen, dass man nie sagen kann, wie diese Dinge ausgehen. Man darf niemals aufgeben. Es ist besser, auf den Beinen zu sterben als auf den Knien.« »Also schön«, sagte Indy. »Angenommen, es geschieht ein Wunder und wir siegen. Wir zeigen diesen Menschen, wie man mit Speeren und Knüppeln umgeht und vertreiben Tzi gewaltsam aus dem Tal. Wir stünden trotzdem als Verlierer da, denn wir hätten diesen Menschen das Töten beigebracht.« »Das werden sie ohnehin früh genug lernen.« »Ich würde gerne hier bleiben«, erklärte Indy. »Ich wollte von dem Augenblick an hier bleiben, als ich den Fuß in dieses Tal setzte und das Mädchen mit den wunderschönen Augen mir die Blumen schenkte. Es war nicht einfach nur Neugier, als ich Starbuck fragte, ob er mit den Menschen hier auf vertrautem Fuß steht. Ich hatte die Absicht, mir hier mein Leben einzurichten. Keine Kämpfe mehr, kein Gefluche und vor allem keine Faschisten mehr in ihren Schaftstiefeln. Aber ich kann nicht. Es wäre meiner Ansicht nach verkehrt.« »Jones, Sie bereiten mir Kopfschmerzen.« »Ich werde es Ihnen leicht machen.« Indy erhob sich, schulterte das Thompson und das dazu gehörige fünfschüssige Magazin. »Ich werde tun, was in meiner Macht steht. Sie können mich begleiten oder es sein lassen.« »Also gut«, willigte Granger ein. »Aber da wären noch zwei Punkte. Unsere Diskussion über das letzte Triceratops-Ei ist längst noch nicht abgeschlossen. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass es in ein Museum gehört, oder, falls ein Junges schlüpft, in irgendeine Art von Zoo.« »Einverstanden«, sagte Indy. »Darüber werden wir uns unterhalten, wenn es soweit ist. Und der zweite Punkt?« »Das Maschinengewehr übernehme ich«, sagte Granger.
KAPITEL NEUN Kind des Donners
Indy spähte mit geröteten Augen über den Rand der Senke hinaus in die Steppe. Auf der Suche nach irgendeiner Spur von Tzi erfasste sein angestrengter Blick jede Auffälligkeit, jeden Felsen und verkümmerten Baum. Die ganze letzte Woche über hatten er und Granger mit Tzi und seinen Soldaten ein tollkühnes Versteckspiel gespielt, sie von dem Tal fort und immer tiefer hinein in die Steppe gelockt. In Grangers fähigen Händen hatten die fünf Schuss im Thompson fünf Soldaten erledigt, Soldaten, die sich zu weit von den übrigen aus Tzis Truppe entfernt und ihren Fehler mit dem Leben bezahlt hatten. Von diesen unvorsichtigen Soldaten stammten ein paar Lebensmittel, etwas Wasser, ein Mauser-Gewehr sowie der Webley-Revolver, den man Indy, so erschien es ihm mittlerweile, eine ganze geologische Epoche zuvor abgenommen hatte. Indy hatte nur noch wenige Patronen für den Webley -eine Hand voll in seiner Jackentasche, dazu die sechs in der Trommel. Mongolische Reiter gehörten zu den besten berittenen Soldaten der Welt und würden für die Handfeuerwaffe ein nur schwer zu treffendes Ziel abgeben. Granger war noch schlimmer dran. Das Kastenmagazin des Mauser enthielt zehn Schuss, und sein Patronengürtel war leer. »Wir haben kein Wasser mehr«, verkündete Granger. »Gestern haben wir den letzten kümmerlichen Rest von
diesem Nagetierfleisch gegessen.« Er nahm seinen Safarihut vom Kopf und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß aus der Stirn. Indy verfolgte, wie die Schatten unterhalb einer steilen Böschung in der untergehenden Sonne länger wurden. »Ich nehme an, es wäre sinnlos zu fragen, ob Sie auch eine gute Nachricht haben?« »Was?«, fragte Granger geistesabwesend. »Eine gute Nachricht«, wiederholte Indy. »Haben Sie eine?« »Diese kleinen Pferde sind völlig erschöpft«, meinte Granger zu ihm gewandt und stülpte sich den Hut wieder auf den Kopf. »Wir haben sie zu scharf geritten. Ich hab versucht, Sie zu warnen, Jones, aber Sie wollten ja nicht auf mich hören.« In der hereinbrechenden Dunkelheit war eine verstohlene Bewegung zu erkennen, die von einer Antilope stammen mochte oder aber von einem der Soldaten Tzis. Indy beobachtete die Stelle aufmerksam, als er die Bewegung erneut bemerkte, und diesmal war er sicher, dass es sich um einen Menschen handelte, der langsam auf sie zugekrochen kam. »Da draußen sind sie«, fügte er hinzu. »Sie robben in unsere Richtung. Noch außer Reichweite für die Pistolen.« Granger nahm die Stelle in Augenschein, auf die Indy unverwandt starrte. »Jetzt sehe ich es auch. Wenn der Bursche einer von Tzis Spähern ist, werden sie zuerst die Wildhunde auf uns hetzen.« Er hob sein Mauser an, den Gewehrgriff mit seinen schweißnassen Fingern knetend. »Der Platz hier ist denkbar ungeeignet, um sich bis zum letzten Schuss zu verteidigen«, erklärte Indy. »Sie sind im Begriff, die ziemlich unangenehme Angewohnheit zu entwickeln, mit unnötiger Deutlichkeit auf das Offenkundige hinzuweisen, Jones. Um mir auszurechnen, dass zwanzig Patronen nicht reichen werden, um ungefähr einhundert Wildhunde und fünfzig mongolische
Kannibalen umzubringen, bin ich nicht auf die Unterstützung eines Universitätsprofessors angewiesen.« Indys rotbraunes Pony stellte die Ohren auf und wandte den Kopf, etwas spürend, Richtung Ausbiss. »Jetzt fallen sie über uns her.« Indy griff nach dem We-bley in seinem Gürtel und fühlte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. »Glauben Sie, er wird als Erstes die Hunde einsetzen?«, fragte er. »Ich hoffe, sie schicken nicht die Hunde. Ich würde gerne Tzi aufs Korn nehmen.« »Die Hunde werden kommen, verlassen Sie sich darauf«, erwiderte Granger. »Sie sind ein wahrer Trost«, sagte Indy. Der Rotfuchs schnaubte abermals, senkte den Kopf und riss an der Leine, mit der er an einem kleinen Baum festgebunden war. Beide Pferde hatten etwas Wildes im Blick. Sie hatten das näher kommende Hunderudel gewittert. »Was haben die Pferde nur?«, fragte Indy. »Was sollen sie schon haben?«, erwiderte Granger. »Die Hunde werden auch sie erwischen. Zuerst werden sie ihnen den Bauch aufreißen und ihre Eingeweide auf dem Erdboden verteilen. Anschließend werden sie sie in aller Ruhe vertilgen.« »Lassen Sie sie laufen«, schlug Indy vor. Granger stimmte ihm zu. »Natürlich. Ich denke, wir haben keine Verwendung mehr für sie. Außerdem könnten wir etwas Zeit gewinnen, wenn sie die Ponys verfolgen und uns in Frieden lassen.« Granger legte das Mauser fort und ging hinüber zu der Stelle, wo die Pferde angebunden waren. Er band den Rotfuchs los und wickelte die Zügel um den Sattelknauf, damit sie sich nicht in seinen Hufen verfingen, dann ließ er das Tier frei. Es bäumte sich auf und ergriff dann mit fliegenden Hufen quer über die Steppe die Flucht. Anschließend machte er das Gleiche mit dem anderen Pferd.
Indy sah sich um. Die Ebene war zu beiden Seiten der Rinne über mehrere hundert Meter gut einsehbar. Er richtete sein Augenmerk wieder auf die steile Böschung, wo er den sich bewegenden Schatten gesehen hatte. »Was meinen Sie, ist es hier besser«, fragte Indy, »oder dort unten?« »Ich würde es vorziehen, hier zu bleiben.« Granger kam zurück und nahm das Mauser wieder in die Hand. Anschließend nahm er eine Hand voll Sand auf und ließ ihn durch die Finger rieseln. »Lohnt es sich dafür zu sterben, dass wir mit unserem letzten Atemzug behaupten können, wir hätten, sagen wir, dem einzigen lebenden Triceratops geholfen zu schlüpfen?« »Man kann auch für weniger sterben«, erwiderte Indy. »Außerdem ist das längst nicht alles. Es geht schließlich auch um Joan und Starbuck und um die Dünenbewohner -oder wie immer sie sich selber nennen. Glauben Sie, Tzi würde auch nur einen Einzigen von ihnen verschonen?« »Wenn es uns gelungen wäre, das Ei nach New York zu schaffen, wäre uns wenigstens der Ruhm für die größte wissenschaftliche Entdeckung aller Zeiten sicher«, meinte Granger. »Stellen Sie sich die Sensation vor, wenn es tatsächlich schlüpfen würde. Stattdessen werde ich wohl in einem Mongoleneintopf enden.« »Immer mit der Ruhe«, meinte Indy zu ihm. »Schließlich verspeisen sie nur das Herz, und Ihres ist so schwarz, dass Tzi davon vermutlich mächtige Verdauungsbeschwerden bekommt. Augenblick mal, ich sehe etwas ...« Ein Tier drückte sich am Sockel derselben Felsformation vorbei. »Ein Hund«, sagte er leise, mit wachsender Besorgnis. »Ist es keine Ironie, dass ich ausgerechnet durch das Tier, das mir am liebsten ist, den Tod finden werde?« »Ich hab mir immer vorgestellt, dass mich am Ende irgendein Tier erwischt.« Granger rieb sich beim Sprechen das verstümmelte Ohr. »Ein Leopard, ein Elefant. Vielleicht ein Löwe. Wäre das nicht ein eindrucksvoller Abgang? Aber
ein Hund? Sie haben bestimmt noch nie gesehen, dass sich jemand einen Hund an die Wand seines mit Büchern gesäumten Studierzimmers gehängt hätte. Außerdem gibt ein Hund noch nicht einmal ein anständiges Hutband ab.« Der nächste Wildhund kam hinter dem ersten über die Felsen geschlichen. »Es wäre schon ein Riesenzufall, wenn genau jetzt dieser Bandit Khan auftauchen würde.« Granger hielt inne und lauschte. »Sie kommen.« »Endlich«, meinte Indy. »Ich bin die Warterei leid.« Über den gesamten Horizont verteilt kamen berittene Mongolenkrieger, umgeben von Rudeln rennender Hunde, in ihre Richtung galoppiert. Indy machte sich nicht die Mühe, Hunde oder Reiter zu zählen, nicht, wenn er nur noch ein Dutzend Kugeln sein Eigen nennen konnte. »Jones«, sagte Granger. »Ja?« »Kein Mensch rechnet damit, dass er jemals in eine solche Situation gerät, trotzdem bin ich froh, dass ... Was ich sagen will, ist, es gibt niemanden, mit dem ich lieber ... Verdammt, Jones, Sie wissen, was ich sagen will.« »Das Gefühl beruht auf Gegenseitigkeit«, gab Indy zurück. Auf einem kastanienbraunen Hengst mit durchhängendem Rücken sitzend, kamen General Tzi und sein Lieutenant Chang, flankiert von Dutzenden mongolischer Krieger mit den verschiedensten Waffen in den Händen, durch den unteren Teil des engen Tales heraufgeritten. Bei den meisten Waffen handelte es sich um einschüssige Musketen, es waren aber auch ein paar Männer mit Repetiergewehren in den Armen darunter. Um sie herum trottete ein Rudel Wildhunde, die sich gegenseitig anjaulten und knurrten, so als warteten sie nur auf das Zeichen, mit dem Fressen zu beginnen. »Wir sind erledigt«, flüsterte Granger kaum hörbar. »Es sind zu viele. Sie haben uns eingekreist.«
»Es könnte vermutlich noch schlimmer sein«, merkte Indy trocken an. »Nämlich wie?«, fragte Granger und versuchte, Indys Gesicht zu ergründen. »Sie könnten Körbe voller Schlangen dabei haben.« Indy musterte Tzis rundliches Gesicht, dann betrachtete er Changs halb geschlossene Augen, seine Hakennase und den Ziegenbart, der sein Kinn zierte. »Diese beiden Kerle sind wirklich hässlich«, fügte er hinzu und hob den Lauf seines Webley an, während sein Finger sich um den Abzug krümmte. »Was sie mit uns vorhaben, wird ziemlich hässlich werden«, fauchte Granger. »Falls sich eine Gelegenheit bietet, feuere ich auf General Tzi, sobald er in Reichweite kommt. Wenn ich den Wind berücksichtige, gelingt es mir vielleicht, ihn vom Pferd zu holen. Das sollte ihnen den Wind aus den Segeln nehmen!« »So nahe wird er nicht heranreiten«, versicherte Indy. »Dafür ist dieser fette Mistkerl zu gerissen. Die Drecksarbeit wird er seinen Hunden überlassen.« »Es sind zu viele«, bemerkte Granger, der sich als Jäger mit in Rudeln angreifenden Tieren auskannte. »Sie werden sich von allen Seiten auf uns stürzen.« Indy schluckte trocken. »Mit unseren Waffen werden wir sie nicht verscheuchen können.« »Wahrscheinlich nicht, so wie Sie schießen«, gab Granger ihm Recht. »Würden Sie bitte aufhören, an der Art herumzumäkeln, wie ich schieße«, fuhr Indy ihn an. »Es sieht vielleicht nicht übermäßig elegant aus/aber es erfüllt seinen Zweck.« »Indy«, sagte Granger. »Heben Sie zwei Kugeln auf, dann werden wir ja sehen.« »Wozu?« »Für uns«, sagte Granger. »Wie es aussieht, ist unsere Situation hoffnungslos.« »So hoffnungslos werde ich niemals sein«, entgegnete
Indy. »Wenn sie mich tot sehen wollen, werden sie sich die Chance, mich zu töten, erkämpfen müssen.« Er machte seine Pistole schussbereit. »Kopf runter, Jones!«, rief Granger. Doch Indys Aufmerksamkeit wurde ganz von einem einzelnen Tier, ein gutes Stück hinter den Reitern und den anderen Hunden, in Anspruch genommen. »Die Kreatur hatte die Schnauze dicht über dem Boden. Es war ein ungewöhnlich großer Hund mit blauen Augen, und seinem Verhalten nach schien er General Tzi und seine Männer eher zu verfolgen, als dass er dem Rudel angehörte. Auf diese Entfernung war das schwer einzuschätzen, aber es sah so aus, als hätte er nur ein Ohr. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich schwören, das ist Loki«, murmelte Indy. Doch für eine genauere Betrachtung des Hundes blieb keine Zeit. Einer der Mongolenkrieger riss sein Pony herum und jagte es die Flanke der Senke hinunter. Indy spannte den Hahn seines Webley. Der Krieger hämmerte dem Pferd seine Fersen in die Rippen und griff, dicht über den Hals des Ponys gebeugt und einen Karabiner in den Händen, an. »Der Narr begeht Selbstmord«, sagte Granger, am Lauf seines Mausers entlang zielend. Plötzlich war der Reiter verschwunden. Einen Sekundenbruchteil später hing er, mit einem Fuß in einer Seilschlaufe, nur wenige Zentimeter über dem Boden auf der von ihnen abgewandten Seite hinter seinem Pferd und spähte zwischen den dahinfliegenden Beinen des Ponys hindurch, und fast schien es, als lächelte er sie dabei an. »Was zum Teufel hat er vor?«, wunderte sich Granger stirnrunzelnd. Indy entspannte sich ein wenig. Das war reine Effekthascherei, kein Angriff. »Man nennt es Kosakenritt. Ich hab ihn einmal im Süden Russlands gesehen. Offenbar möchte General Tzi, dass seine Männer ein wenig Theater spielen, bevor sie uns töten, damit wir Angst vor ihm bekommen.
Schätze, er wird uns beide erst umbringen, wenn wir ihm verraten haben, wo das Ei zu finden ist, deswegen beabsichtigt er, uns einzuschüchtern, damit wir sehr gesprächig werden.« »Ich kann ihn nicht erschießen, ohne das Pferd zu töten«, sagte Granger und senkte seinen Lauf, als der Reiter abermals hinter seinem Pony verborgen war. »Ein Neun-Millimeter-Geschoss ist nicht im Stande, diese Mengen von Knochen und Gewebe zu durchdringen. Ich würde nur eine Kugel vergeuden.« Der Mongole galoppierte an ihnen vorüber, dann lenkte er sein dahinrasendes Pony von ihnen fort. Indy warf einen Blick nach hinten in die Senke und bemerkte, dass der Hund, den er einen Augenblick zuvor noch gesehen hatte, verschwunden war. Dann richtete er sein Augenmerk auf Tzi und Chang. »Sieht so aus, als wäre General Tzi noch fetter geworden«, bemerkte Indy. »Es geht doch nichts über eine Kost aus Menschenherzen, um ein wenig Speck auf die Hüften eines hungrigen Warlords zu zaubern.« »Herrgott nochmal, Jones. Was für ein unpassender Augenblick für schlechte Scherze.« Der Krieger kehrte zu seiner Truppe zurück. Er ritt zu Tzi hinüber und redete mit den Händen fuchtelnd auf ihn ein. Tzi nickte, dann richtete er einen Unheil verheißenden Blick auf Indy und Granger. Einen Augenblick lang saß er auf seinem Pferd wie in Bronze gegossen. »Diesmal greifen sie wirklich an«, meinte Granger. »Mit den Kunststückchen ist es vorbei.« »Sie gehen mir mit Ihrem Gejammer allmählich auf die Nerven, Granger. Noch sind wir nicht tot.« Indy nahm erneut das Rudel Hunde in Augenschein. »Ich möchte beinahe schwören, dass ich Loki noch vor einer Minute gesehen habe, nur weiß ich, dass es sich unmöglich um denselben Hund handeln kann. Wenn er könnte, hätte er längst den Weg zu uns zurück gefunden.«
Als Indy über die Schulter blickte, sah er, wie sich eine Anzahl berittener Krieger anschickte, einen lockeren Ring um sie zu bilden. Er musste zugeben, dass es ein Furcht erregender Anblick war, wie sie mit ihren zwischen den Hufen der Pferde dahintrottenden Hunden auf breiter Front angeritten kamen. Gewehrläufe und Schwerter blinkten in der Nachmittagssonne. Granger geriet mächtig ins Schwitzen, als er sah, wie sich der Ring immer enger zusammenzog. Ein Entrinnen schien unmöglich. »Das habe ich jetzt davon, dass ich auf Sie gehört habe, Jones«, fuhr Granger ihn gereizt an. »Wäre es nach mir gegangen, befände ich mich jetzt auf dem Rückweg nach New York. Die Freundschaft zu Ihnen wird mich das Leben kosten, und das alles nur wegen Ihrer dämlichen Gefühlsduselei angesichts eines Reptilieneis.« Grangers plötzlicher Ausbruch verschlug Indy die Sprache. Bevor er etwas erwidern konnte, verhüllte ein Staubwirbel den Vormarsch von General Tzi und seiner Armee zum Rand der Senke. Überall kraxelten Scharen von Wildhunden umher, die Augen auf die beiden Männer in der Mitte des immer enger werden Kreises geheftet. Indy stellte sich mit dem Rücken gegen Granger. »Vielleicht war es alberne Gefühlsduselei, andererseits könnte Starbuck der Welt ein seltenes Geschenk machen, das uns zwingt, alles, was wir über die Vergangenheit wissen, umzuschreiben«, sagte er über seine Schulter. »Aber in Anbetracht unserer langjährigen Freundschaft werde ich Ihre schlechte Laune einfach nicht beachten. Ich unterbreche diese kleine Meinungsverschiedenheit nur äußerst ungern, aber Sie sollten versuchen, so viele Hunde wie möglich zu töten. Vielleicht locken ein paar Gewehrschüsse jemanden herbei, der uns zur Hilfe kommt, bevor es zu spät ist.« »Das nennen Sie einen Plan?.«, knurrte Granger über seine Schulter. »Falls es Ihnen entgangen sein sollte, dafür ist
es längst zu spät. Ich hätte von Anfang an nicht auf Sie hören sollen, Jones.« General Tzi hob die Hand und machte sich bereit, das Zeichen zum Angriff auf Granger und Indy zu geben. Stille senkte sich über den weiten Ring aus Kriegern. Immer mehr Stammesangehörige zogen ihre Krummsäbel, auf denen sich das gleißend helle Sonnenlicht spiegelte. Die meisten Hunde stellten ihr Gebell ein, so als wüssten sie, was gleich geschehen würde. »Dr. Jones!«, rief Tzi. »Was ist das für ein Gefühl zu wissen, dass Sie gleich durch die Hand des großen General Tzi sterben werden?« Wegen des Windes war seine Stimme kaum zu verstehen. »Eigentlich gar kein so schlechtes«, erwiderte Indy aus vollem Hals. »Gerade sprachen wir darüber, dass heute ein guter Tag ist, sich von frischem Hundefleisch zu ernähren! Und meine letzte Kugel hebe ich mir auf für Sie, Sie fetter, alter -« »Es ist soweit!«, rief Tzi und bedachte Chang mit einem niederträchtigen, halbseitigen Grinsen. Ein Hund kam aus der Senke getrottet und näherte sich neugierig General Tzis Pony, wobei er leicht lahmte, so als zwänge ihn eine alte Verletzung zu hinken. Indy sah den Hund, als dieser plötzlich zu rennen begann. Tzis Soldaten waren von so vielen Hunden umgeben, dass sie ihn anfangs gar nicht bemerkten. General Tzi wandte seinen massigen Kopf herum, und seine Schweinsaugen weiteten sich. Er brüllte, auf den heranstürmenden Hund deutend, ein Kommando. Chang zog sein Schwert, doch er kam zu spät. Der Hund war bereits in der Luft, die Reißer gebleckt. »Das ist Loki«, sagte Indy ungläubig und kniff die Augen halb zusammen, um sich dessen zu vergewissern, was er sah. »Das ist doch gar nicht möglich Tzi versuchte, den aufgerissenen Fang des Hundes abzuwehren, indem er beide Arme nach oben riss und den Kopf
zur Seite drehte, trotzdem landete Loki bei Tzi im Sattel. Rasiermesserscharfe Reißer bohrten sich in seine fleischige rechte Wange, dabei wurde der übergewichtige Warlord durch den wuchtigen Satz des Hundes vom Rücken seines Braunen gestoßen. Er stürzte schwer zu Boden und landete ächzend mit einem dumpfen Schlag, während ihm das Blut aus dem Gesicht spritzte. Loki zog sich knurrend zurück, einen baumelnden Fetzen blutigen Gewebes im Maul. Chang rief den anderen Kriegern etwas zu, während er mit dem blinkenden Schwert auf Loki losging und mit seiner Klinge zum tödlichem Schlag gegen den Schäferhund ausholte. Unter Tzis Wildhunden rief der Geruch von Blut jedoch eine weitaus heftigere Reaktion hervor. Erst zwei, dann ein halbes Dutzend Tiere sprangen auf ihn und rissen an seiner blutenden Wunde, während der Warlord um sich zu treten und zu kreischen begann. Immer mehr Wildhunde landeten auf Tzis feistem Leib, um überall dort zuzubeißen, wo frisches Blut hinspritzte. »Gütiger Himmel«, murmelte Granger. Mittlerweile fiel das gesamte Rudel in seiner rasenden Fressgier über ihn her. Zwanzig Hunde, am Ende sogar noch ein paar mehr, schnappten zu und zerrten an Tzis Fleisch, rissen Fetzen seiner Kleidung und Haut heraus. Tzi wälzte sich, vor Schmerzen kreischend, am Boden hin und her und schlug wild mit Armen und Beinen um sich. Indy beobachtete, wie Loki ein kurzes Stück davontrabte, anschließend setzte sich der Schäferhund auf seine Hinterbeine und sah zu, wie General Tzi von seinen eigenen Hunden in Stücke gerissen wurde. Keiner der anderen Mongolen kam dem General zu Hilfe. Chang ließ sein Pony zurückgehen, schob sein Schwert in die Scheide zurück und starrte dabei unverwandt hinunter auf das Rudel fressender Hunde. Einer der Wildhunde riss Tzis linken Fuß ab und schlich sich von dannen, um an diesem Leckerbissen aus Fleisch und Knochen herumzuna-
gen. Als Chang dies bemerkte, rief er seinen Kriegern etwas zu, doch wegen des Lärms der vielen knurrenden Hunde konnte Indy seine Worte nicht verstehen. »Gütiger Gott«, stieß Granger abermals atemlos hervor. Der Angriff war so schnell erfolgt, dass er keine Zeit gehabt hatte, etwas zu sagen. »Das war Loki, der General Tzi von seinem Pferd gestoßen hat, hab ich Recht?« »Das war er, allerdings.« Indy seufzte und untersuchte aus der Entfernung das Fell seines geliebten Hundes. »Wozu braucht man Patronen, wenn man sich auf die Treue eines Hundes verlassen kann? Ich kann mich nicht erinnern, wann ich jemals so froh über das Erscheinen eines Freundes war.« Die Wildhunde labten sich noch immer an Tzis Kadaver, allerdings rührte sich Tzi, von einem gelegentlichen Zucken oder Drehen abgesehen, wenn ein Hund einen Fleischbrocken herausriss, jetzt nicht mehr, und auch seine gespenstischen, einem das Blut gefrieren lassenden Schreie waren verstummt. Überall gab es dunkle, tief rote Blutlachen, die rasch von den kleineren Tieren aufgeschleckt wurden. Ein scheckiges Weibchen riss Tzi den Bauch auf und vergrub seine Schnauze auf der Suche nach seinen inneren Organen in seinem Brustkorb. Immer mehr Mongolenkrieger ritten langsam auf Chang zu, steckten ihre Schwerter in die Scheide, senkten ihre Gewehre und schenkten Granger und Indy keine Beachtung mehr. »Sie halten eine Art Palaver ab«, bemerkte Granger. »Bestimmt geht es darum, was sie mit uns vorhaben.« Er steckte seine Pistole in den Gürtel und verfolgte das Geschehen. »Glauben Sie, sie werden uns ziehen lassen?« Loki löste sich aus dem Tumult und kam in Indys Richtung getrabt. »Verdammt, was für ein prachtvoller Anblick«, sagte Indy kaum hörbar. Er überging Grangers Frage und hoffte, Loki würde es bis zu ihnen schaffen, bevor Chang oder einer
der anderen auf die Idee verfiel, sich an ihm für das zu rächen, was er General Tzi angetan hatte. Indy sah, dass Loki lahmte, er bemerkte all die alten Narben, mit denen der Körper des Hundes übersät war, sowie ein paar neu hinzugekommene, und natürlich das fehlende Ohr. Loki kam schwanzwedelnd näher. Auf der Oberlippe des Hundes war ein kleiner Rest von Blut zurückgeblieben, den er mit seiner langen rosaroten Zunge fortschleckte. »Ich dachte, du wärst tot«, sagte Indy, als er den Hals des Hundes an sich zog und in die rätselhaften, beinahe menschlichen blauen Augen blickte. Loki machte ein Geräusch in seiner Kehle, ein glückliches Geräusch. »Schön, dich zu sehen«, sagte Indy leise, dann fing Loki an zu japsen. »Du siehst aus, als wärst du halb verhungert ... Was ist los, kannst du dich nicht überwinden, das zu fressen, womit die anderen gefüttert werden?« Eine Unruhe am Ende der Senke machte Indys Wiedervereinigung mit Loki ein Ende. Chang schickte sich an, aus Gründen, die Indy nicht verstand, seine Krieger abzuziehen. Die Nomaden, die noch vor wenigen Minuten einen tödlichen Ring um sie gezogen hatten, wendeten ihre Ponys und machten sich auf den Weg zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Ihre Hundemeute nahmen sie mit. Sie ritten in einer Wolke aus hellem Sandsteinstaub davon und überließen Granger und Indy sich selbst. »Was denn, jetzt bringen sie uns also doch nicht um«, stieß Granger hervor. Ein paar von Tzis Wildhunden nagten noch ein wenig an dessen verstümmelten Kadaver herum, bis einer der Krieger einen scharfen Pfiff ausstieß und der Nahrungsaufnahme der Tiere ein Ende machte. Ein braunfelliger Köter schleppte Tzis blutverschmierten, abgerissenen Kopf in Richtung Senke, bis ein scheckiger Hund sich im Streit um die Beute wild in der Flanke des braunen verbiss. Tzis abgenagter Schädel schien zu grinsen, als er wie eine unförmige Kugel über den Rand der Senke rollte. Die Nomaden hatten es von Anfang an nicht auf uns ab-
gesehen«, meinte Indy. »Tzi und dieser Falsche Lama hatten sie völlig in ihren Bann gezogen. Jetzt, da sie beide tot sind, lassen sie uns vielleicht in Ruhe.« »Vielleicht«, meinte Granger. »Aber meiner Meinung nach hatten wir einfach Glück.« »Ja«, sagte Indy. »Glück in Gestalt eines Hundes mit blauen Augen.« »Wir könnten noch ein wenig mehr davon gebrauchen, um die Pferde wieder einzufangen«, sagte Granger. »Das war ein verdammt idiotischer Einfall, sie einfach laufen zu lassen. Wir müssen zurück ins Tal. Unser Ei wartet auf uns.« »Es ist nicht unser Ei«, erinnerte ihn Indy. »Es gehört dahin, wo es sich zur Zeit befindet, in das Tal. Es ist geschichtlich zu bedeutend, um darüber zu streiten, wem es denn nun gehört.« »Augenblick mal!«, beschwerte sich Granger. »Sie und ich, wir haben das Ei vor seiner sicheren Vernichtung bewahrt. Wir können von Glück reden, dass wir aus dieser Geschichte lebend herausgekommen sind. Das Ei gehört uns, und wir sollten es nach New York mitnehmen.« »Es bleibt im Tal der Dünenbewohner, wo es von jemandem bewacht wird, der weit mehr Recht darauf hat als wir. Lassen Sie den Mist mit irgendwelchen Besitzansprüchen, Granger. Das Argument zieht bei mir nicht, und das wissen Sie.« »Wie können Sie es wagen!« »Dieses Ei und was immer sich darin befindet, gehören in das Tal, und Schluss.« »Der Ruhm für den Fund gebührt mir, Jones.« »Wir haben die Eier sozusagen alle gemeinsam gefunden.« Indy tätschelte Lokis Kopf, er hatte genug von diesem sinnlosen Streit. Im Aufstehen warf er einen letzten Blick auf die Mongolen. »Verschwinden wir von hier, bevor sie es sich anders überlegen und uns doch noch an die Hunde verfüttern.«
»In dieser Angelegenheit ist das letzte Wort noch nicht gesprochen«, sagte Granger. Indy bedachte seinen Freund mit einem unbeugsamen Blick. »Nein, vermutlich ist es das wirklich noch nicht«, sagte er. »Aber wir können uns woanders einigen ... zu einem anderen Zeitpunkt.« »Versuchen Sie nicht, mich in dieser Sache unter Druck zu setzen, Jones. Ich habe jedes Recht darauf, den Ruhm für diese Entdeckung für mich zu beanspruchen, und das wissen Sie. Seit ich Sie kenne, Jones, habe ich immer unsichtbar im Verborgenen gearbeitet, während Sie die Schlagzeilen geradezu angezogen haben. Jetzt bin ich an der Reihe mit ein bisschen Ruhm und Reichtum.« »Ach, halten Sie den Mund«, meinte Indy zu ihm. »Wir müssen noch zwei Ponys wiederfinden.« Keiner der beiden sprach, weder während der zeitraubenden Suche nach den Ponys noch danach, auf dem noch längeren Ritt zurück in das verwüstete und geplünderte Kloster in den Leuchtenden Klippen. Da sie die Ponys beim Eintritt in die Berge nirgendwo sicher zurücklassen konnten, ließen sie sie abermals frei umherstreifen. Sie durchquerten den gefährlichen Durchgang im Dunkeln so vorsichtig wie nur möglich, denn sie hatten bereits zwei sengend heiße Tage und ebenso viele frostkalte Nächte ohne Nahrung und Wasser hinter sich. Indy hatte die Führung übernommen und ging auf dem jäh abfallenden, schmalen Felsvorsprüngen ein paar Schritte vor Granger. Loki, dessen Zehennägel auf den steinigen Passagen klickten, trabte hinterher. Als die aufgehende Morgensonne den Himmel jenseits der hoch aufragenden Sandsteingipfel endlich in ein fahles Licht tauchte, kamen sie bei jener Höhle heraus, die den Eingang des üppigen Tales bildete. Indy blieb kurz stehen, um diesen unheimlichen,
ursprünglichen Anblick in sich aufzunehmen, und ließ den Blick über die Spuren der steinzeitlichen Zivilisation unten gleiten: die strohgedeckten Hütten und weiter unten den kleinen Schrein, den sie für das Ei errichtet hatten. Er fragte sich erneut, ob die Weisheit des heiligen Mannes aus Urga nicht vielleicht doch all dem. modernen Wissen überlegen war, als er ihm das Versprechen abgenommen hatte, das Allergorhei-Horhai genannte Tier zu beschützen. Hier, im Herzen der Mongolei, warteten lebendige Antworten auf Rätsel, die mit dem Anbeginn der Menschheit und dem Ende des Dinosaurierzeitalters zu tun hatten. Indy spürte, wie seine Feindseligkeit gegenüber Granger verebbte. »Man fühlt sich fast schon wie zu Hause, nicht?«, fragte er »Ja«, stimmte Granger ihm zu, »da ist etwas dran.« »Wo sind denn all die anderen?«, fragte Indy. »Ich sehe keine Menschenseele.« »Das liegt daran, dass sie alle unten beim Schrein sind«, antwortete Granger. »Sehen Sie! Ich glaube, dort unten steht die gesamte Bevölkerung dicht gedrängt beisammen. Ich glaube, wir sind gerade noch rechtzeitig gekommen, Jones.« Vor dem Schrein begrüßte Starbuck sie herzlich. Er umarmte Indy, doch bevor er dasselbe mit Granger machen konnte, hielt ihm der Jäger die Hand entgegen. »Kommen Sie und sehen Sie, was hier passiert!«, rief Starbuck, während er Granger die Hand schüttelte. »Im Ei bewegt sich etwas. Ab und zu kann man ein leises Klopfen aus dem Innern der Schale hören - ich glaube, einer seiner sich entwickelnden Stoßzähne steht kurz davor, die Schale zu durchbrechen. Sehr wahrscheinlich entwickelt sich zuerst das kleinere Exemplar vorne auf der Nasenspitze, damit es diese Aufgabe übernehmen kann.« Die gesamte Bevölkerung drängte sich gestikulierend um den Schrein und diskutierte aufgeregt in einer Sprache, die
weder Indy noch Granger zu verstehen vorgaben. Schließlich ließ sich ein junges Mädchen zu Boden fallen und schlang die Arme um Loki, woraufhin mehrere andere Kinder ihrem Beispiel folgten. »Wo steckt Joan?«, erkundigte sich Indy. »Sie ist bei dem Ei, wie stets, mein Freund. Sie schläft neben ihm und verlässt niemals den Schrein. Während der letzten beiden Tage hat es sich immer häufiger bewegt. Es kann jeden Augenblick schlüpfen.« »Wahrscheinlich haben sie noch nie einen Hund zu Gesicht bekommen«, meinte Indy. »Dann sind wir quitt«, erwiderte Granger. »Ich habe noch nie einen Triceratops gesehen.« »Wo haben Sie beide nur gesteckt?«, wollte Starbuck wissen. »Wir haben überall nach Ihnen gesucht. Es war, als wären Sie einfach verschwunden.« »Wir hatten noch etwas zu erledigen«, antwortete Indy, doch Starbuck war viel zu aufgeregt, um ihn zu bitten, das näher zu erklären. Der alte Mann nahm Indy beim Arm und führte ihn durch die steinzeitliche Menschenmenge mitten in den Schrein. Loki löste sich von den Kindern und folgte, sich vorsichtig den Weg durch das Gewirr aus Beinen und nackten Füßen suchend, seinem Herrn. Joan hockte neben dem Ei, ein Notizbuch auf dem Schoß. Auf der aufgeschlagenen Seite war eine Skizze des Eis mitsamt Schrein zu erkennen. »Haben Sie mich vermisst?«, fragte Indy. »Und wie«, antwortete sie und wandte den Blick ab. »Ich hatte nicht erwartet, einen von ihnen beiden jemals wiederzusehen, lebendig oder sonstwie. Mein Vater wusste nicht, wohin Sie gegangen waren, ich dagegen schon.« »Deswegen haben wir Ihnen nichts davon erzählt«, sagte Indy. »Ich dachte, ich wäre Ihnen wenigstens ein Wort des Abschieds wert.«
»Ich hatte Angst, Sie würden versuchen, mich umzustimmen«, meinte Indy. »Wo ist Tzi?«, erkundigte sie sich. »Tot«, antwortete Indy. »Von seinen eigenen Wildhunden aufgefressen. Wäre Loki nicht gewesen, wären wir niemals mit dem Leben davongekommen. Kein anderer Hund hätte wissen können, was er tun musste, um uns zu helfen.« »Manche Tiere verfügen über eine bemerkenswerte Intelligenz.« Starbuck bückte sich, um Lokis Ohr zu kraulen, zog seine Hand aber zurück, als dieser knurrte. »Andere wiederum sind schlechte Menschenkenner.« Indy lachte. Joan streckte die Hand aus. Loki schnupperte daran, dann ließ er sich ein paar Mal tätscheln. »Armer Kerl. Du siehst ausgehungert aus, und überall frische Wunden. Aber wir werden dir gleich wieder auf die Beine helfen -« Ein Klopfen unterbrach sie. »Da!«, rief Starbuck voller Begeisterung und deutete mit zitterndem Finger auf das Ei. »Hören Sie doch! Der Triceratops steht kurz davor auszuschlüpfen. Er kann sich jetzt jeden Augenblick zeigen.« Granger zwängte sich an Indy vorbei, um zu dem Ei zu gelangen, und beugte sich darüber, während das leise, unregelmäßige Klopfen anhielt. »Es lebt«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Das verdammte Biest lebt tatsächlich. Wenn die Welt das sieht, werden wir die berühmtesten Forscher auf Erden sein.« Indy schob seinen Filzhut in den Nacken. »Wir sollten unsere Dinosaurier nicht verteilen, solange sie nicht geschlüpft sind«, meinte er gut gelaunt. »Das muss noch geklärt werden«, meinte Granger. »Es kann unmöglich Ihr Ernst sein, das Tier von hier fortzuschaffen«, sagte Starbuck. »Ich dachte. Sie wären mit mir einer Meinung, dass es viel zu riskant wäre, es aus diesem Tal zu entfernen, über Hunderte von Meilen durch die Wüs-
te zu transportieren und anschließend per Schiff nach Amerika zu verfrachten. Tausend Dinge könnten schief gehen.« »Er hat Recht«, sagte Indy. »Außerdem, wie wollen Sie es an den Behörden in Urga vorbeibekommen? Schließlich haben wir uns bereit erklärt, alles von ihnen prüfen zu lassen, was wir aus der Wüste mitbringen. Wollen Sie denen etwa den größten Fund des Jahrhunderts überlassen?« »Wir könnten es herausschmuggeln«, schlug Granger vor. »Bitte«, flehte Starbuck. »Sie dürfen es nicht fortschaffen. Noch besteht eine geringfügige Chance, dass irgendwo in diesem Tal ein weiteres lebendes Ei existiert - vielleicht sogar ein weiterer lebender Triceratops. Wenn Sie das Ei von hier entfernen, würden Sie damit die Art dem sicheren Untergang ausliefern. Und sollten Sie versuchen, es aus der Mongolei herauszuschmuggeln, könnten Sie es dadurch am Ende töten. Womit wollen Sie es füttern? Wissen Sie überhaupt, dass der Triceratops sich von diesen wunderschönen Blüten aus der späten Kreidezeit ernährt, die Ihnen die Leute hier bei Ihrer Ankunft um den Hals gehängt haben? Wo wollen Sie die draußen finden?« »Selbst ein totes Exemplar wäre der bemerkenswerteste Fund, den die Welt je zu Gesicht bekommen hat«, erwiderte Granger. »Ich weigere mich, von dieser Expedition mit leeren Händen zurückzukehren. Außerdem hat Joan sich mit den Umständen hier bereits vertraut gemacht und wird wissen, wie sie es auf dem Heimweg betreuen muss.« »Ich gehe nicht zurück nach Hause«, sagte Joan. »Was?«, fragte Granger. »Ich bleibe hier«, sagte sie. »Hier gehöre ich hin.« »Und was wird aus Ihrer Geschichte für die Zeitung?«, fragte Granger ungläubig. »Wollen Sie die etwa nie Schwarz auf Weiß sehen?« »Irgendwann wird sie veröffentlicht werden.« Sie lächelte. »Und ich bin überzeugt, es wird eine ganz große Sache. Aber jetzt ist nicht der rechte Augenblick dafür. Und die Welt da draußen ist nichts für mich.«
»So ein Unfug«, widersprach Granger. »Sie sind lediglich vernarrt in diese gut aussehenden, knackigen Steinzeitburschen. Wenn Sie die erst einmal leid sind, werden Sie ganz sicher wieder nach Hause wollen.« Joan schüttelte den Kopf. »Haben Sie alle den Verstand verloren?«, brüllte Granger. »Sie drei haben einfach nicht das Recht, eine solche Entscheidung zu fällen und der Öffentlichkeit einen weltbewegenden Fund vorzuenthalten, nur weil Sie sich für befähigter halten, ihn für sich allein zu erforschen. Das ist unerhört. Diese Expedition wurde vom Museum in Auftrag gegeben. Marcus Brody hat seinen Teil dazu beigetragen - er hat, wie auch schon in der Vergangenheit, die ganze Geschichte finanziert, deshalb gehört unser Fund dem Museum. Brody muss dazu gehört werden, und ich kann mir ziemlich genau denken, was er dazu zu sagen haben wird.« »Brody wird derselben Meinung sein«, erwiderte Indy, »vorausgesetzt, ich erhalte Gelegenheit, ihm die Dinge unter vier Augen zu erklären. Abgesehen davon bleibt dies alles unter uns, Granger, bis Professor Starbuck hier entscheidet, dass der richtige Augenblick gekommen ist.« Grangers Augen verengten sich zu Schlitzen. »Sie wollen mich um die Anerkennung bringen, Jones, die mir verdientermaßen dafür zusteht, dass ich Sie hierher geführt habe«, wetterte Granger. »Das werde ich mir nicht widerstandslos bieten lassen.« Er ging, die Hände zu Fäusten geballt, auf Indy los. »Was ist nur in ihn gefahren?«, fragte Joan. »Keine Ahnung«, sagte Indy. »Vielleicht erlebt er gerade eine Nachwirkung dieses Fliegenpilzgetränks.« »Sie halten mich also für verrückt, ja?« »Jetzt machen Sie mal halblang, Granger«, protestierte Indy. »Jeder hier wird dafür sorgen, dass Ihnen der Ruhm für die Leitung dieser Expedition zugeschrieben wird. Wir alle wollen nur eins, das Beste für das, was sich im Innern dieses Eis befindet. Hier ist es sicherer, und das wissen Sie.«
Granger blieb ein paar Zentimeter vor Indys Brust stehen, während in seinen dunklen Augen blanker Zorn aufblitzte. »Ich werde nicht zulassen, dass Sie unsere Freundschaft ausnutzen, Jones.« »Das ist keineswegs meine -« »Ich trage die Verantwortung für diese Expedition, falls Sie sich erinnern, also treten Sie zurück, und lassen Sie mich meine Arbeit machen. Alles, was Sie auf dieser Reise angefasst haben, haben Sie ruiniert. Der Dinosaurier geht nach New York, und ich werde mich von Ihnen nicht daran hindern lassen, ihn mitzunehmen.« »Tun Sie das nicht. Sie denken nicht klar.« »Mit meinem Verstand ist alles in Ordnung«, lachte Granger. »Aber Ihr Denken zielt an der Sache vorbei. Was immer sich in diesem Ei befindet, wird mich zurückbegleiten, und damit Schluss.« »Sie lassen mir keine andere Wahl«, seufzte Indy. »Puh!«, machte Joan und versuchte, das Thema zu wechseln. Sie legte Indy den Arm um die Hüfte, damit er sich nicht auf Granger stürzen konnte. »Liegt es an mir, oder ist es hier drinnen wirklich so heiß?« »Das liegt nicht an der Hitze«, meinte Indy, »sondern an der Dummheit.« Granger schlug mit seiner prallen Faust so schnell nach Indys Kinn, dass Joan keine Zeit mehr hatte auszuweichen. Indy stieß Joan zur Seite und riss den Unterarm hoch, um Grangers wuchtigen Schlag abzuwehren. Joan landete im selben Augenblick auf dem Fußboden des Schreins, als Grangers Faust den Muskel unterhalb seines Ellbogens traf. Indy spürte einen spitzen Schmerz, zuckte zusammen und wich einen Schritt zurück. »Das hätten Sie nicht tun sollen«, fügte er mit einer Stimme hinzu, die an trockenen Sand erinnerte. »Zum Teufel mit Ihnen, Jones!«, schrie Granger und schleuderte seine linke Faust sirrend in Indys Richtung. Katzenschnell wich Indy dem unkontrollierten Schlag
aus und verpasste Granger einen Schwinger in den Magen, der sich in das weiche Fleisch bohrte und tief in seiner Kehle ein Grunzen erzeugte. Für einen kurzen Augenblick gaben Grangers Knie nach, dann richtete er sich wieder auf und hielt sich den Bauch. Indy feuerte eine linke Gerade ab, die mit solcher Wucht den Knochen über Grangers Schläfe traf, dass seine Knöchel knackten und dessen Kopf zur Seite geschleudert wurde. Granger taumelte rücklings in die Nähe des Schreins, wütend mit den Augen blinzelnd, um seinen wirren Kopf klar zu bekommen. »Das Ei!«7 schrie Starbuck und stürzte zu Granger, um ihm den Weg zu verstellen. Granger schüttelte den Kopf, ging in die Hocke, und plötzlich kehrten alle seine Sinne gleichzeitig zurück. Er warf sich auf Indy und zielte mit einem gefährlichen rechten Haken auf die Wange seines Gegners. »Verdammt, Granger!«, schrie Indy. »Sie zwingen mich, Ihnen ein wenig Verstand in Ihren Hohlschädel zu prügeln.« Grangers sirrende Faust verfehlte Indys Gesicht bestenfalls um Haaresbreite, was Indy eine unverhoffte Bresche verschaffte, während sein Gegner noch mit dem Gleichgewicht rang. Er rammte Granger abermals die Faust in den Magen, schließlich wollte er einen Freund, der vorübergehend die Beherrschung verloren hatte, nicht ernsthaft verletzen. Sein Hieb rief bei Granger ein noch tieferes Ächzen hervor, und er taumelte unter der Wucht von Indys Knöcheln nach hinten. Rückwärts wankend und nach Luft japsend stolperte er auf weichen Knien Richtung Schrein. »Das Ei!«, rief Starbuck abermals. Granger geriet ins Stolpern und prallte gegen den viel kleineren und leichteren Starbuck. Die beiden Männer fielen über das Nest, in dem sich das Ei befand, dann stürzten sie auf den festgetretenen Boden. Joan schrie. Im selben Augenblick warf Indy sich mit aus-
gestreckten Armen Richtung Ei. Das kostbare Stück blieb einen Augenblick lang unschlüssig auf der Kante des Schreins liegen, dann rollte es herunter. Das Ei fiel wie in Zeitlupe in Indys Hände, doch sein Gewicht ließ dessen Knöchel auf den Steinfußboden schlagen. Es folgte ein Knacken, das wie ein Donnerschlag durch die Höhle hallte, ein Geräusch, das bei Indy und Starbuck ein Stöhnen anderer Art hervorrief. »Es ist zerbrochen!«, kreischte Starbuck. Joan wimmerte, als litte sie Schmerzen. Indy beobachtete, wie die Schale an ein, zwei Stellen auseinander platzte. Eine Flüssigkeit sickerte in seine Hände, schließlich brach das Ei fast genau in der Mitte auseinander. Indy stand da, ein klebriges, sich windendes Etwas aus rauer Haut und Panzerplatten in der Hand, das so schwer war, dass er vor Anstrengung ächzte. Ein albtraumartiges Gesicht erhob sich aus dem fleischigen Knäuel, das er in den Händen festzuhalten versuchte. Dunkle Reptilienaugen musterten ihn einen Augenblick lang. Über den Augen standen zwei Buckel hervor, zwei winzige Stoßzähne im frühesten Entwicklungsstadium. Eine einzelne, elfenbeinfarbene Erhebung zierte die Nase des winzigen Geschöpfs. Indy war verblüfft, wie sehr es einem winzigen Rhinozeros glich. Joan stöhnte: »Es ist ein Triceratops, und er lebt.« Das Geschöpf gab keinen Laut von sich. Es hörte auf, sich in Indys Händen zu winden, drehte seinen unansehnlichen Kopf ins Licht der Karbidlampe. Indy setzte es behutsam auf dem Höhlenboden ab, woraufhin Starbuck neben ihm auf die Knie ging. »Ein lebendes Fossil«, stellte er voller Ehrfurcht fest. »Jetzt ist es kein Traum mehr.« Das Tier bewegte seine Stummelbeine, probierte sie aus. Als einen Augenblick lang niemand etwas sagte, stöhnte Granger abermals und hielt sich beide Hände vor den Bauch. Eine Sekunde darauf stemmte der Triceratops seine Hin-
terbeine unter den Leib und stand, das Hinterteil in die Luft gereckt, unsicher auf. Als Nächstes stellte er sich leicht schwankend auf die Vorderbeine, bis er sich seines Gleichgewichts sicher war. Und noch immer gab er kein Geräusch von sich. »Ich will verflucht sein«, meinte Indy leise. »Hier haben wir den letzten Dinosaurier auf Erden vor uns, und er schaut uns an, als wären wir diejenigen, die nicht hierher gehören.« Indy nahm seine Hände fort und wischte die klebrige Flüssigkeit, die an seinen Händen und Fingern haftete, am Stroh ab. Granger richtete sich auf und riet Indy, sich für eine weitere Runde fliegender Fäuste bereit zu halten. »Sehen Sie sich dieses Tier an, Granger«, sagte Indy, sich bis zu den Knien aufrappelnd. »Wie können Sie oder überhaupt irgendjemand annehmen, eine solche Sensation hätte es verdient, von einem Tierpräparator ausgestopft zu werden? Dieses Geschöpf ist Teil eines Ganzen, das viel gewaltiger ist, als irgendeiner von uns zu begreifen vermag. Wir dürfen auf keinen Fall irgendetwas unternehmen, das das natürliche Gleichgewicht ins Wanken bringen könnte. Dank einer wundersamen Laune des Schicksals ist es diesem Triceratops gelungen, genau hier seinem Aussterben zu entgehen. Er darf nicht von hier fortgeschafft werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass er das nicht überlebt, wäre viel zu groß.« Granger rappelte sich auf. »Meinen Sie nicht, dass die Natur - oder Gott, falls Ihnen das lieber ist - einen Plan für diesen lebenden, atmenden Anachronismus hat? Wir dürfen ihn nicht töten, so wie wir andere Lebewesen auf diesem Planeten getötet haben. Ich bin sicher, Granger, alter Knabe, er würde ein verdammt in- teressantes Hutband abgeben, aber mir scheint, dass er eine wichtigere Bestimmung hier auf Erden hat.« Indy erhob sich vorsichtig, Grangers Hände nicht aus den Augen lassend.
Granger betrachtete den Babydinosaurier nachdenklich mehrere Sekunden lang. Das Tier stand einfach da und beobachtete, wie vier Menschen es anstarrten. »Tut mir Leid«, meinte Granger und holte tief Luft. Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Auf einmal konnte ich an nichts anderes denken, als an ein ganzes Leben voller Entbehrungen und ohne gerechten Lohn.« »Ohne gerechten Lohn?«, fragte Indy. »Sind Sie verrückt, Granger?« »Normalerweise nicht.« »Denken Sie an die Abenteuer, die wir gemeinsam durchgestanden haben«, sagte Indy. »Wie viele Menschen können von sich behaupten, sie hätten in dieser Welt tatsächlich etwas bewirkt, statt einfach nur in der breiten Masse mitzuschwimmen?« »Das kann man nicht auf die Bank bringen«, beschwerte sich Granger. »Freundschaft ist für ein Sparkonto ebenfalls ungeeignet«, entgegnete Indy, »trotzdem würde ich Ihre Freundschaft nicht gegen alles Geld der Welt eintauschen. Ich weiß, Sie können diese komischen Käuze in den orangenfarbigen Gewändern nicht ausstehen, aber was sie über Geld zu sagen haben, klingt ganz vernünftig.« »Tut mir Leid, dass ich eben den Kopf verloren habe«, meinte Granger. Starbuck sorgte für allgemeine Ablenkung, als er den Dinosaurier mit der Fingerspitze berührte. »Er wird Hunger bekommen«, meinte Granger. Dann sprach er mit einem der Kinder draußen vor dem Schrein. Kurz darauf wurde ein Weidenkorb mit bunten Blüten in den Schrein gebracht. Starbuck hielt dem Babysaurier eine der Blüten hin. Er schnupperte daran, dann nahm er sie in seinen papageienähnlichen Schnabel und kaute zufrieden. »Er frisst«, rief Starbuck aufgeregt.
Ein Geräusch ließ Indy und die anderen zusammenfahren. Es klang wie das Grunzen eines Frischlings. Der winzige Triceratops schnaubte durch die länglichen Nüstern am Ende seiner etwas plumpen Nase, wobei er mit seiner spitzen, gekräuselten Lippe nach Starbucks Finger zu schnappen versuchte. »Er hat uns „guten Tag“ gesagt«, scherzte Starbuck. Joan kniete neben ihrem Vater nieder und starrte den Babysaurier völlig fasziniert an. »Willkommen im zwanzigsten Jahrhundert«, sagte sie ruhig. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie überrascht wir sind, dich hier zu sehen.« Indy wandte sich zu Granger um. Der reichte ihm zur Versöhnung die Hand. »Tut mir aufrichtig Leid, wie ich mich aufgeführt habe, Indy.« Indy rieb sich die abgeschürften Knöchel und grinste. »Kein Wort mehr darüber. Aber eins müssen Sie mir versprechen ... wir werden niemandem die Lage dieses Tales verraten, bevor Professor Starbuck und Joan sich nicht einig sind, dass der Augenblick gekommen ist, der Welt unser Geheimnis zu verraten.« »Einverstanden«, sagte Granger. Sie gaben sich die Hand. Später, als Joan das schlafende Dinosaurierbaby in den Armen hielt, setzte Indy sich neben sie. »Man kann sich das kaum vorstellen«, meinte sie. »Dieses winzige Knäuel aus Hörn und Haut wird irgendwann einmal über zehn Meter lang sein und acht Tonnen wiegen. Ein richtiges Monster.« »Aber Schwester« - Indy grinste - »Sie sehen ja beinahe glücklich aus.« »Bin ich auch«, sagte sie. »Zum ersten Mal in meinem Leben denke ich an etwas anderes als an mich selbst. Mein Vater braucht mich, und diese kleine Echse braucht mich ebenfalls. Zwei von dreien, das ist gar nicht schlecht.«
»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte Indy. »Ich hatte gehofft, Sie würden diese glückliche Dreieinigkeit vollständig machen.« Indy schwieg. Sie legte ihm eine Hand auf den Arm, Dann beugte sie sich vor, vorsichtig, um das schlafende Baby nicht zu stören, und küsste ihn so leidenschaftlich, wie dies in dieser schwierigen Stellung möglich war. Indy schloss die Augen und fühlte, wie die Welt um ihn herum versank. »Bleiben Sie hier, bei mir«, drängte sie ihn. »Klingt verlockend«, antwortete Indy. »Warum dann also nicht?«, wollte sie wissen. »Ein Paradies wie dieses werden Sie nie wieder finden. Kein Krieg, kein Verbrechen, keine Geldsorgen. Alles, was Sie sich nur wünschen können, gibt es hier bereits - und mehr.« »Da gebe ich Ihnen Recht«, sagte Indy. »Es ist wirklich ein Paradies. Und ich denke, nach einer Weile könnte ich mich sogar dazu überwinden, Ihnen zu verzeihen, dass Sie mich, Brody und Granger nach Strich und Faden hinters Licht geführt haben. Ach, was rede ich. Ich hab Ihnen längst vergeben.« »Bleiben Sie hier«, drängte sie ihn. »Ich kann nicht.« »Warum nicht?« »Es wäre zu einfach«, sagte Indy. »Ich möchte all den Hass und die Enttäuschungen vergessen, die es auf der Welt gibt. Aber das wäre einfach zu verdammt bequem. Es scheint verkehrt.« »Was ist daran so verkehrt, sich wohl zu fühlen?«, fragte Joan. »Gar nichts, wenn es das ist, wohin das Schicksal einen verschlägt«, erwiderte er. »Aber für mich ist das nichts. Mein Gefühl sagt mir, dass ich da draußen noch einiges zu erledigen habe.« »Und außerdem lieben Sie noch immer -« »Alecia«, sagte Indy.
Joan wandte den Blick ab. »Aber ich werde mit der Gewissheit in die Welt zurückkehren, dass Sie wirklich der gute Mensch sind, für den ich Sie bei unserer ersten Begegnung hielt«, sagte Indy. »Trotz allem, was auf dieser Reise vorgefallen ist, trotz der Kannibalen und all der Entbehrungen, haben Sie mir den Glauben an die Menschen zurückgegeben. Und das werde ich mit nach Hause nehmen. Das und das Wissen, dass Sie und Ihr Vater hier sind und sich um der Zukunft Willen um die Vergangenheit kümmern.« »Sie werden mir fehlen«, sagte sie leise. »Sie mir auch«, erwiderte Indy. »Aber machen Sie weiter Ihre Notizen. Schreiben Sie dieses Buch. Das sind Sie der Welt schuldig. Das ist Ihre Bestimmung.«
KAPITEL ZEHN Das Messer des Dschingis Khan
Der Wüstenwind wehte heiß und trocken über Indys sonnenverbrannte Haut. Die Wölbung seines Hutes war schweißdurchtränkt, und sein verschwitzter Nacken und die Oberarme waren voller feiner Sandpartikel. Loki trottete neben ihm her und hielt sich im Schatten seines Herrn, um sich nicht unmittelbar der Sonne auszusetzen. Neben ihnen ging Granger, das Mausergewehr wie eine Stange über die Schulter geschwungen. Weit im Süden versank eine hohe Bergkette violett in dem von mächtigen, über die offene Ebene hinwegfegenden Steppenwinden, aufgewirbelten Dunst. Die wenigen verkümmerten Bäume, da und dort als Punkte am Horizont zu erkennen, boten dem erschöpften Wanderer kaum Schatten. Indy wusste, dass sowohl er als auch Granger, und vermutlich sogar der Hund zu durstig waren, um noch viel länger weiterzumarschieren. Sie hatten sich vor Verlassen des verborgenen Tales mit Wasser und Lebensmitteln gefüllte Gurden um die Schultern gehängt, doch obwohl sie versucht hatten, ihre Vorräte so gut es ging zu rationieren, waren diese jetzt erschöpft. »Halt«, rief Granger. »Was gibt's?«, fragte Indy müde. »Dort drüben, Jones.« Granger zeigte. »Auf der Hügelkette Richtung Süden. Es sind ungefähr vierhundert Meter, aber ich glaube, ich habe eine Antilope gesehen.«
Indy nickte. »Ich werde versuchen, sie zu erlegen«, meinte Granger. »Es ist einen Versuch wert. Wir brauchen Fleisch, außerdem können wir das Blut trinken.« Indy verzog das Gesicht. »Sie bleiben hier«, erklärte Granger. »Mit Ihnen und dem Hund im Schlepptau komme ich für einen Schuss nicht nahe genug heran. Warum ruhen Sie sich dort drüben im Schatten des Felsens nicht ein wenig aus. Und rühren Sie sich nicht von der Stelle, denn ich muss Sie bei meiner Rückkehr wiederfinden können.« »Kein Problem«, meinte Indy. »Ich kann eine Verschnaufpause gebrauchen.« Indy schleppte sich bis zum Felsen und ließ sich, den Rücken der Schattenseite zugewandt, nieder. Loki lief ihm hinterher und legte ihm, um Zuneigung bettelnd, den Kopf auf den Oberschenkel. »Wie geht es dir?«, fragte Indy den Hund. »Hast du Durst? Ich auch.« Der Hund japste glücklich. Sie warteten bereits seit über einer Stunde im Schatten des Felsens, als Loki knurrte. »Was ist denn, alter Knabe?« Der Hund sah Indy aus besorgten Augen an, als könne er ihn verstehen. Dann knurrte er abermals, und das Fell auf seinem Rücken sträubte sich. Indy war sicher, dass sie sich mittlerweile wieder in dem von Tzen Khan kontrollierten Gebiet befanden, wieso witterte Loki also Ärger? Oder hatte Grangers Erinnerungsvermögen versagt und sie in ein von einem anderen Warlord kontrolliertes Gebiet geführt? Lokis Knurren hielt an. Das gesunde Ohr des Schäferhundes stellte sich auf und drehte sich in die Richtung einer ein paar hundert Meter entfernten Sanddüne. Indy vertraute auf die scharfen Sinne des Hundes.
»Irgendetwas ist hinter dieser Düne«, sagte Indy sich im Stillen. Er stand auf, zog den Revolver aus dem Gürtel, und begann, sich behutsam vorwärts zu bewegen. Als sie sich dem oberen Rand der Düne bis auf etwa fünfzig Meter genähert hatten, begann Loki zu zaudern. Leise winselnd sah er Indy aus Augen an, die ihn anzuflehen schienen, sie sollten umkehren. »Komm weiter, Loki. Was immer sich dahinter verbirgt, es kann nicht allzu schlimm sein. Tzi ist tot, bleibt also nur noch -« Loki fing wild an zu bellen, als eine Gestalt über den Dünenkamm geritten kam. Ein breitbrüstiger Mongole auf einem nervösen Braunen ließ sein Tier auf dem Grat der Düne Halt machen. »Das ist General Tzis Hengst«, entfuhr es Indy tonlos. »Aber der ist längst tot. Wie es aussieht, ist dies Tzis Lieutenant. Zumindest ist er so hässlich, dass er es sein könnte.« Indy wusste, dass Chang ihnen nicht der Geselligkeit wegen nachgeritten war. Chang hatte es auf eine Herausforderung, einen Kampf abgesehen. Indy wunderte sich, wieso Chang eine andere Gelegenheit abgewartet hatte, wo er und die Soldaten sie doch an der Senke hätten töten können. »Hoffentlich ist er alleine gekommen«, sagte Indy. In der festen Überzeugung, dass jedes Anzeichen von Schwäche tödlich wäre, ging Indy entschlossen weiter. Loki fiel in einen Trab, um mit ihm Schritt zu halten, knurrte leise, das eine Ohr nach vorn gestellt. Je weiter sich Indy Pferd und Reiter näherte, desto sicherer wurde er, was die Identität des Mongolen anbetraf. Chang hatte einen Karabiner bei sich, dessen Schaft er auf eines seiner Knie stützte. Ohne einen Muskel zu rühren, beobachtete er, wie Indy näher kam, seinen Hengst mit straffen Zügeln unter Kontrolle haltend. Indy war längst in Reichweite des Gewehrs, und noch immer saß Chang fest wie Granit im Sattel seines Pferdes.
»Was zum Teufel mag er bloß vorhaben?«, fragte Indy an Loki gewandt. Als sie näher kamen, wurde Lokis Knurren lauter, eine Warnung, wie der Hund sie nicht deutlicher geben konnte. Indy überquerte eine Sandsteinplatte, wo er in seinen Stiefeln einen besseren Stand hatte, setzte seinen Weg dann fort bis auf den nächsten Streifen zuckerfeinen Sandes. Auf dem Grat der Düne blieb Indy stehen, Chang sorgfältig im Auge behaltend und auf jede schnelle Bewegung vorbereitet, mit der dieser sein Gewehr an die Schulter reißen konnte. Chang verharrte vollkommen reglos, während eine trockene Windbö den Sand von den nervösen Hufen seines Pferdes wehte. Mit einem schnellen Rundblick vergewisserte sich Indy, dass sie alleine waren. »Jones!«, rief Chang. »Wo haben Sie große Eier versteckt?« Beim Klang von Changs Stimme fing Loki an zu knurren. »Wir haben keine Eier.« »Sagen Sie mir, wo Sie die Eier haben, oder Sie sterben«, rief Chang, das Gesicht eine unentzifferbare Maske der Unerschütterlichkeit. »Ein Mönch hat General Tzi vor Tod von Eiern erzählt. Von Allergorhai-Horhai-Eiern.« »Wir hatten Hunger«, antwortete Indy, »also haben wir sie gegessen.« Lagen Soldaten hinter der Düne versteckt? Zweifellos war Chang nach Tzis Tod Anführer der Armee geworden. Oder war Chang ganz alleine im Geschäft mit prähistorischen Eiern, damit etwaige Gewinne nicht unter seinen Verwandten aufgeteilt werden mussten? »Das nicht komisch«, rief Chang. »Das war auch kein Scherz«, erwiderte Indy. Das unaufhaltsame Zunehmen der Winde von Westen her bewirkte, dass immer größere Wolken aus Staub und Sand über die Ebene gepeitscht wurden. Jetzt, da ein dichter Sandschleier zwischen ihnen hing, würde Chang vielleicht so ungenau zielen, dass er ihn mit seinem Gewehr verfehlte.
»Sie reden, sonst töte ich Sie!« »Ich rede ja. Die Eier sind zerbrochen. Es war ein Unfall, also haben wir ihren Inhalt gegessen. Der Geschmack war fürchterlich. Zäh wie Gummi. Wie schlechtes Hühnerfleisch.« Jetzt war Changs Geduld erschöpft. Er ließ sein Pferd langsam vorwärts gehen und ritt näher an Indy heran. »Sie mir verraten, Jones, sonst ich Ihnen schneide Herz heraus!« Ein sengender Wind fegte über die Düne hinweg und blies den Sand in auf und ab trudelnden Wirbeln in die Luft. Indy wäre fast der Hut vom Kopf geweht worden, bis er dessen Krempe schließlich in die Böen knickte. »Es gibt Leute, die behaupten, ich hätte gar kein Herz«, sagte Indy. »Eine Frau aus England sagte einmal, mein Herz sei aus Stein.« Chang drängte den Braunen weiter die sandige Schräge hinunter, doch als er näher kam, wurde er rasch von körnigen Wolken fahlen Staubes eingehüllt. Der böige Wind pfiff heulend über die Grate der umliegenden Sanddünen, fegte schreiend durch die Öffnungen der Felsformationen und wirbelte bei seinem Hinwegfegen über das Land immer mehr Staubteilchen und Sand auf. Jetzt! dachte Indy, als das kastanienbraune Pferd, gegen den Wind ankämpfend, ein kleines Stückchen näher kam. Indy machte einen Satz nach vorn, packte den Lauf von Changs Karabiner und zog ihn aus dem Sattel. Changs Fuß verfing sich im Steigbügel. Das Pferd begann, beide hinter sich herschleifend, die Düne hinabzutraben. Unter keinen Umständen wollte Indy das Gewehr loslassen, denn er befürchtete, Chang könne sein Versprechen wahr machen und ihn erschießen. Der Braune verfiel in den tiefen Sandverwehungen in einen unbeholfenen Galopp. Böen windgepeitschten Sandes schlugen Indy ins Gesicht und brannten ihm in den Augen, während er sich um den Karabiner balgte. Chang drückte
auf den Abzug, und die Waffe gab mehrere Schüsse ab. Indy ließ nicht los, obwohl der Lauf heiß wurde. Plötzlich hatte Changs Stiefel sich aus dem Steigbügel befreit, und die beiden wälzten sich den Abhang einer Sanddüne hinunter. Indy ließ das Gewehr los, ließ Chang weiterrollen, griff derweil nach seinem Revolver und versuchte es mit einem schnellen Jetztoder-Nie-Schuss. Chang kam zum Stillstand und warf sich auf Indy. Der donnernde Knall des Webley übertönte das Heulen des Windes, und Indy glaubte das monotone Sirren der fliegenden Kugel zu hören. Chang wurde nach hinten geworfen, als ihm der Karabiner aus den Händen gewirbelt wurde. Der Braune rannte noch immer. Der Kannibalenleutnant landete auf dem Rücken und rutschte auf einem abgleitenden Sandbrett hinunter bis zum Fuß der Düne. Loki bekundete seinen Beifall durch lautes Bellen. Sand schlug Indy ins Gesicht, bis sich der Wind, wie mit Absicht, so weit legte, dass er Changs Umrisse deutlich erkennen konnte. »Ein Glückstreffer«, sagte sich Indy im Stillen. Der dunkelrote Fleck auf der Brust des Mongolen wurde immer größer. Sich vergewissernd, dass Chang sich nicht bewegte, stapfte Indy vorsichtig die Düne hinunter. Als er drei Meter entfernt war, hielt er den Revolver vor seinem Körper auf ihn gerichtet. Chang lag reglos da, die Augen geschlossen, während das Blut ihm über den Bauch strömte. Indy stand über ihm, einen Schatten auf jene Stelle werfend, wo der Mongole gefallen war. Blut lief in den Sand und versickerte gleich dort, wo es von Changs Rippen hinuntertroff. Sein Karabiner lag ein paar Meter entfernt außer Reichweite, ein rostiger polnischer Armeekarabiner, dessen Schaft von Nachlässigkeit und vielem Gebrauch ganz verschrammt war. Als Indy sich überzeugt hatte, dass Chang bewusstlos
war, ging er in die Hocke und untersuchte seinen leblosen Körper nach einem Anzeichen dafür, dass das Herz noch schlug. Er streckte die Hand aus, um Changs Halsschlagader abzutasten. Chang schlug die Augen auf - er versuchte Indys Hemdenbrust zu packen und bekam eine Hand voll Stoff zu fassen, während seine andere Hand sich zu einer Kralle formte, um Indy das Gesicht zu zerkratzen. Fingernägel bohrten sich in Indys Wangen. Indy wich zurück und schwang seine Waffe wie einen Knüppel, um Chang am Kinn zu treffen. Der Lauf seines Webley prallte mit dumpfem Schlag gegen Haut und Knochen, doch die Hand des Mongolen nahm Indy die Sicht, daher blieben ihm nur das Geräusch und Gefühl seines Schlages, um die Wucht des Aufpralls einzuschätzen. Er vernahm ein Ächzen und fiel rücklings auf sein Hinterteil. Im selben Augenblick lockerten Changs Finger ihren eisenharten Griff an Wange und Stirn. Chang rollte um sich tretend auf die Seite und machte ein Geräusch wie ein waidwundes Tier. Eine winzige Fontäne aus Rot sprudelte neben seinem rechten Ohr, wo ein Fetzen seiner Kopfhaut sich gelöst hatte. Das vordere Visier von Indys 38er war blutverschmiert - ein Hautstreifen baumelte daran -, bis er ihn an seinem Hosenbein abwischte. Indy kam schwer atmend auf die Beine, sein Herz schlug wie eine Trommel. »Das war knapp«, keuchte er, nachdem er eine Bestandsaufnahme seines Zustands vorgenommen hatte. Als er sein Gesicht berührte, blieb eine rotverschmierte Spur an seinen Fingern zurück. Chang bedeckte das Loch über seinem Ohr mit einer braunen Hand. Er wurde still und wälzte sich auf den Rücken. Der Blick, mit dem er Indy bedachte, war hasserfüllt. »Der heiße Atem Buddhas Sie gerettet, Jones«, stieß er keuchend unter größten Mühen hervor, während sich rosafarbener Schaum auf seinen Lippen bildete, was eine zerrissene Lunge vermuten ließ, wo Indys Kugel seine Brust
durchdrungen hatte. »Der Erleuchtete Ihr Leben verschont, indem er Wind hat wehen lassen ...« Er spuckte einen Mund voll Blut. »Sie hatten die Chance, die Finger davon zu lassen, Chang.« »Sie haben Ei des Horhai. Es gehört uns.« Indy schlug mit der Faust in den Sand. »Wieso beharrt ihr harten Kerle eigentlich alle darauf, euch würde irgendwas gehören?«, fragte er. Chang lag im Sterben, und aus irgendeinem Grund hatte Indy das Bedürfnis, sich zu erklären. »Das Ei ist ausgeschlüpft. Der Horhai lebt.« Chang blinzelte ungläubig. »Der Horhai lebt?«, fragte er, während ihm das Blut beim Sprechen über das Kinn lief. Indy nickte. »Er lebt«, wiederholte er. »Wenn nichts schief geht und niemand sie behelligt, könnten die Horhai als Art wiederauferstehen. Meine Freunde sind Wissenschaftler und wissen, was sie tun.« Der Tod begann Changs Augen zu trüben. »Der Erleuchtete muss so gewollt haben«, hauchte er. Dann hob er die Hand und betrachtete das Blut an Fingern und Handfläche. »Und das auch.« Chang lächelte. »Das nächste Mal«, sagte er, »ich nicht dem Falschen Lama folgen.« Seine Lider schlössen sich flatternd, er hustete ein letztes Mal und hörte auf zu atmen. Kurz darauf entwich ein Luftstoß aus seinem Mund, als seine Lungen sich leerten. »Das will ich nicht hoffen«, sagte Indy leise. Er erhob sich und wischte sich den Sand von den Händen. Dann zögerte er. Er sah den Leichnam an, dann Loki, der an Changs Hosenbein schnupperte. »Komm schon, alter Knabe, so hungrig sind wir auch wieder nicht.« Loki zögerte kurz, sog den Wind durch die Nase ein, dann folgte er Indy, fort von der Düne. Sie waren noch nicht wie-
der beim Felsen, da hatte der Wind bereits begonnen, ihre Fußspuren und die anderen Zeichen des verzweifelten Kampfes zu verwischen. Loki reckte die Nase in die Luft und fing an zu bellen. Über die Dünen schleppte sich der seltsamste Apparat, den Indy jemals zu Gesicht bekommen hatte. Es handelte sich um den dritten Lastwagen der Expedition, jenen, den man in Kalgan zurückgelassen hatte, allerdings wurde er jetzt von einem Pferdegespann gezogen. Die Windschutzscheibe war herausgeschlagen worden, und auf dem Fahrersitz saß Wu Han, der aber statt des Lenkrads ein paar Zügel in den Händen hielt. Auf der Ladefläche des Lastwagens stapelten sich die Vorräte. Granger saß lachend auf dem Beifahrersitz. Quer über der Motorhaube des Lastwagens lag eine Antilope. »Dr. Jones!«, rief Wu Han durch die nicht vorhandene Windschutzscheibe. »Endlich habe ich Sie gefunden, nachdem ich die Gobi kreuz und quer durchkämmt habe. Ich sagte doch, Sie können sich auf mich verlassen!« »Wu Han!«, rief Indy fassungslos. »Was haben Sie bloß mit unserem Lastwagen angestellt?« »Tut mir Leid, aber das war es, was der Schmied meinte, als er behauptete, er könne ihn reparieren«, erwiderte Wu Han. »Hoffentlich sind Sie nicht böse. Er ist langsam, aber zuverlässig.« »Ich bin überhaupt nicht böse, Wu Han«, sagte Indy. »Ich freue mich nur, Sie zu sehen. Außerdem haben Sie Recht -Sie sind tatsächlich aufgetaucht, als wir Sie brauchten. Jetzt können wir gemütlich zurückfahren, auch wenn unser Lastwagen statt einhundert nur noch zwei Pferdestärken hat.« Granger reichte Indy eine Feldflasche. Indy schüttete sich ein wenig Wasser in die Hand und ließ Loki es aufschlecken. Dann nahm er selbst einen langen, kräftigen Schluck. »Wo ist Schwester Joan?«, erkundigte sich Wu Han.
»Im Himmel«, antwortete Indy. »Das tut mir Leid«, erwiderte Wu Han gesenkten Hauptes. »Das braucht es nicht«, sagte Indy. »Sie befindet sich in Gesellschaft ihres Vaters, so wie sie es von Anfang an gewollt hat.« »Ja«, sagte Wu Han, »das kann ich verstehen.« Indy zog die Fahne der Expedition aus seiner Tasche. Wu Han fand eine lange Stange, die sie gemeinsam über dem Fahrerhaus des Lastwagens montierten. Sie faltete sich auseinander und flatterte im Wind. »Na bitte«, meinte Indy. »Wie gefällt es Ihnen?« »Naja«, meinte Granger, während er sich gegen den Lastwagen lehnte. »Nicht gerade das, was ich mir vorgestellt hatte, aber es wird gehen. Ein passender Ausklang der verrücktesten Expedition, die ich je mitgemacht habe. Statt irgendetwas aus der Wüste Gobi mitzubringen, waren wir darauf bedacht, so viel wie möglich hier zu lassen.« Eine Oase lockte, smaragdgrün vor braunem Sandstein inmitten einer unfruchtbaren Ebene, auf dem Grund eines flachen Tales. Ein Mongolenkrieger auf einem scheckiggrauen Pony näherte sich Indy von einer Felsformation, die Aussicht gewährte auf Khans Dorf aus Jurten, und einen zur Verhinderung eines Überraschungsangriffs nahebei aufgestellten Beobachtungsposten. Indy ließ das Gespann anhalten und wartete auf die Erlaubnis, hinunterzufahren und mit Khan zu sprechen. Der Posten galoppierte heran und verhielt sein Pferd abrupt inmitten einer Staubwolke. Der Mongole war klein und drahtig, hatte eine lange Narbe auf der Wange und Spuren von Pockennarben auf der Haut, ein Überlebender der Pockenepidemie. Indy glaubte, den Mann bereits in Khans Begleitung gesehen zu haben. »Sie sind Mr. Jones«, sagte er in stockendem Englisch. Er hatte ein sehr altes russisches Mosin-Gewehr dabei, das er
sofort überrascht senkte, als er Loki erblickte. Der Hund trabte neben dem Lastwagen her. »Wir sind hier, um General Khan unsere Aufwartung zu machen«, erklärte Indy. »Ich bringe Kunde vom Tod General Tzis und der Vernichtung des Falschen Lamas.« »Davon haben wir gehört«, antwortete der Posten. »Der erhabene Tzen Khan befindet sich in der Wüste und bittet Buddha, ihm das Nirwana zu zeigen, wo es keine Schmerzen gibt, keinen Kummer, kein Verlangen. Er bittet ihn um eine Vision. Er trauert noch immer um seine Familie.« Der Blick des Postens fiel abermals auf Loki. »Das ist Ihr Hund?» »Ja, sicher«, erwiderte Indy. »Er war es, der uns vor General Tzi und seiner Bande aus Hunden und Kannibalen gerettet hat.« »Wunderbar!«, rief der Posten. »Ich bin froh, dass es dich freut«, sagte Indy etwas verwirrt. Der Mongole strahlte. »Khan wird überaus dankbar sein für diese wunderbaren Neuigkeiten. Vor allem für die sichere und unerwartete Rückkehr seines Freundes.« »Es freut mich, dass ich hier sein kann«, meinte Indy. »Sag mir, wo ich ihn finden kann.« »In der Wüste, Richtung Norden. Dort gibt es einen heiligen Berg, wo Khan sich zum Beten hinbegibt. Sie können ihn in der Ferne erkennen, wenn Sie mit Ihrem Herzen ganz genau hinschauen.« Er zeigte in die angegebene Richtung. Trotz der wehenden Sandwolken, die zu ihrem ständigen Begleiter geworden waren, konnte Indy die schwachen Umrisse eines kahlen Berges am Horizont erkennen. »Folgen Sie mir«, sagte der Posten und schwenkte seinen Grauschimmel herum. »Ich heiße Turi. Wenn Sie es wünschen, werde ich Sie in unser Lager bringen und Ihnen anschließend ein Pferd geben, damit Sie Khan an der heiligen Stätte aufsuchen können.«
Indy ruckte kurz an den Zügeln, und der von Pferden gezogene Lastwagen fuhr ihm hinterher, gefolgt vom trabenden Loki. »Reitet ihr Mongolen eigentlich immer im Galopp?«, brüllte Indy, seinen Hut festhaltend. »Das Leben ist kurz!«, rief Turi. »Die Wüste ist weit! Reitet man langsam, sieht man wenig. Reitet man schnell, dann sieht man viel!« »Wo hast du so gut Englisch sprechen gelernt?« »Als ich ein kleiner Junge war, kamen amerikanische Missionare nach Urga, damals, bevor die Kommunisten sie vertrieben haben«, erklärte Turi. »Tzen Khans Vater schickte uns beide dorthin, damit wir etwas lernen.« Sie fuhren hinunter zu einem von Felsen und einigen verkümmerten Bäumen umgebenen Quellteich. Um den Teich herum hatte man Dutzende von Zelten errichtet, aus denen neugierige Dorfbewohner hervorkamen, um sie hereinreiten zu sehen. Einige von ihnen zeigten auf Loki und begannen, aufgeregt untereinander zu tuscheln. Turi rief einem Stammesangehörigen etwas zu. Kurz darauf kam eine Gruppe von Frauen mit Tongefäßen voll Wasser und Schalen geräucherten Ziegenfleisches aus einem der Zelte herbeigeeilt. Man bot Indy einen Krug mit dunklem Rotwein an, den er höflich ablehnte, während ein junger Mongole mit einem aufgezäumten, rotbraunen Wallach, der einen typischen Mongolensattel aus Holz trug, am Teich erschien. Indy aß Ziegenfleisch, und auch Loki fraß sich satt. »Kümmern Sie sich um das Gespann«, trug er Wu Han auf. »Granger, werden Sie mich begleiten?« »Nein, Jones, ich denke nicht«, antwortete Granger. »Zwischen Ihnen und Khan scheint eine Art geistige Verbindung zu bestehen, und ich will gar nicht erst so tun, als würde ich sie begreifen. Ich werde einfach hier bleiben und mich mit Ziegenmilch mästen lassen.« »Ganz wie Sie wollen«, meinte Indy und ergriff die Zü-
gel seines Pferdes. »Können wir aufbrechen, Turi? Ich würde gerne vor Sonnenuntergang dort sein.« »Verstehe, Dr. Jones. Sie möchten Khan glücklich machen, damit seine lange Suche nach dem inneren Frieden ein Ende hat.« Turi schwang sich auf sein geschecktes Pony, dann rief er einigen Dorfbewohnern in der Nähe des Teiches etwas in seinem heimischen Dialekt zu. »Was hast du ihnen gesagt?«, wollte Indy wissen. »Ich sagte, dass Sie und Loki für den Tod Tzis und des Falschen Lamas verantwortlich sind. Vielleicht wird es jetzt weniger Krieg unter uns geben.« Indy stieg auf und schaute zu Loki hinunter. »Kommst du?«, fragte er. »Ich weiß, deine Pfoten sind wund, und dies wäre ein guter Ort, sich auszuruhen. Du kannst hier bleiben, wenn du willst.« »Jones, Sie haben den Verstand verloren«, rief Granger. »Glauben Sie etwa, der Hund könne Sie verstehen?« Loki bellte. Indy konnte nicht anders, er musste grinsen. »Dieser offenbar schon«, gab er zurück. Der Berg ragte bedrohlich über dem Wüstenboden in die Höhe, eine schroffe Masse aus gewaltigen, seltsam geneigten Sandsteinplatten, so als wäre die Erde unter ihnen leicht durcheinander geraten, als vulkanische Kräfte sie nach oben und durch die Erdkruste gedrückt hatten. Indy warf einen Blick über die Schulter und sah den Staub von Turis Pferd in einen wolkenlosen Abendhimmel wallen, als dieser in sein Dorf zurückritt. Kurz vor Sonnenuntergang flauten die stürmischen Wüstenwinde ab, und rings um den Berg blieb eine menschenleere Gegend zurück, in der sich so wenig regte wie auf einem stehenden Gewässer. Indy ritt langsam auf den Fuß eines steilen Berghanges zu, wo er abstieg und sein Pony in dem kurzen, von der Sonne verdorrten Gras zwischen den großen Gesteinshaufen grasen ließ.
In diesem Augenblick bemerkte er Lokis seltsames Verhalten. Der Schäferhund schaute den Hang hoch und fing an zu winseln. Es klang fast wie das Weinen eines Menschen und glich keinem Geräusch, das der Hund jemals zuvor von sich gegeben hatte. »Du weißt, wer dort oben ist?«, fragte Indy. Loki richtete seine blassblauen Augen auf ihn, und als Indy sie sah, wurde ihm auf einmal instinktiv klar, dass dies nicht die Augen eines Tieres waren. »Die Frage ist«, sagte Indy leise, »wer bist du?« Loki schaute ihn noch einen Augenblick unverwandt an, dann machte er sich alleine auf den Weg den Berg hinauf. Indy blieb stehen, bis er merkte, dass er im Begriff war, zurückgelassen zu werden, dann begann auch er, die Felsen hinaufzuklettern. Man brauchte eine halbe Stunde, bis man in die Nähe des höchsten Punktes gelangte. Dicht unterhalb des Gipfels hinkte Loki bereits schlimm, er schlängelte sich zwischen Felsen hindurch, kam auf kahlen Steinplatten wieder zum Vorschein, stets dicht gefolgt von Indy. Um den Berggipfel lag eine Stille, die nur vom Geräusch von Indys Stiefeln gestört wurde. Indy legte jeden ihm noch verbliebenen Funken seiner Entschlossenheit in die letzten paar Meter, bis er schließlich auf einer flachen Stelle herauskam, von der aus man die Wüste meilenweit in alle Richtungen überblicken konnte. Am anderen Ende des Plateaus stand eine Gestalt in wehendem Gewand, das Gesicht dem Himmel zugewandt, die Hände ausgebreitet. Selbst wenn er den Allmächtigen um Gnade anflehte, machte Khan eine würdige Figur. Indy eilte zu ihm, doch es war Loki, der neue Kräfte entwickelte und auf dem Plateau zu laufen begann, bis er bei Khan angelangt war. Erschrocken drehte Khan sich unvermittelt um. Erst sah er Indy, dann fiel sein Blick auf das Tier zu seinen Füßen. Langsam ließ er die Hände an seine Seite sinken.
Indy ging auf ihn zu und versuchte, seinen Gesichtsausdruck zu deuten, als er stolpernd vor ihm stehen blieb. »Ich glaube, Sie haben nicht erwartet, uns jemals wiederzusehen«, sagte er ruhig, noch außer Atem nach dem schwierigen Anstieg. Khan schüttelte den Kopf und kniete nieder. »Nein«, erwiderte er in zurückhaltendem Tonfall und streckte die Hand nach Lokis Schnauze aus. Loki schleckte Khans Hand sachte ab, gab aber keinen Laut von sich. »Buddhas erste große Wahrheit besagt, dass Leben Leiden bedeutet«, sagte Khan. »Ich bin auf diesen Berg gestiegen, weil ich nach Einsicht für diese Wahrheit suchte, und um mich für meinen großen Kummer zu wappnen. Und jetzt stelle ich fest, dass das Universum vor lauter Freude weint.« »Was meinen Sie damit?«, fragte Indy. »Sie haben mir meinen besten Freund zurückgebracht.« »Was?« »Den Hund«, erklärte Khan. »Er war stets mein bester Freund, im Verlauf mehrerer Leben. In diesem hat Buddha ihn als Hund wiedergeboren.« »Aber -« »Tzi hat ihm das Ohr abgeschnitten und mir geschickt«, sagte Khan. »Ich hatte Angst, er sei tot. Aber jetzt sehe ich, dass Tzi versucht hat, ihn in das Rudel seiner Hunde einzugliedern, ihn zu zwingen, Menschenfleisch zu fressen oder zu verhungern.« »Das hat nicht funktioniert«, meinte Indy. »Selbstverständlich nicht«, sagte Khan. »Eine so große Seele wie die Zolos kann durch Folter nicht gebrochen werden.« »Das fällt schwer zu glauben«, meinte Indy. »Ich hatte gewissermaßen gehofft, den Hund für mich behalten zu können.« Khan lachte.
»Eher hätten Sie sich Hoffnung machen können, den Wind zu besitzen.« »Dieser Hund ist also die Wiedergeburt Ihres alten Kumpels - wie war gleich sein Name, Zolo? -, der seit mehreren Jahrtausenden an Ihrer Seite steht, wollen Sie mir das weismachen?« »Ich kann Ihnen nur so viel erklären, Marco Polo/Indiana Jones. Es gibt auf dieser Welt Dinge, die wir nicht immer begreifen. Wir Sterbliche können nur das wissen, was ein Sterblicher wissen kann.« Khan heftete seinen Blick auf Indy. »Dies ist weder ein Hund, noch kann ich Ihnen erklären, was er ist. Es steht geschrieben, dass nur ein Lama die wahre Erleuchtung erlangen kann. Buddha enthüllt sein Wissen über das Jenseits nur dem, der sein Gelübde ablegt. Das wird für Sie sehr schwer zu glauben sein, trotzdem kann ich Ihnen nur so viel sagen, dass dieses Tier sehr viel mehr ist, als es scheint. Dieser Hund ist die Inkarnation eines Verbündeten und Freundes, der lange tot und doch noch ungeboren ist, er ist der Sitz der Seele eines Mannes.« Indy zögerte einen Augenblick. »Ich glaube durchaus«, sagte er traurig, »dass dieser Hund etwas ganz Besonderes ist. Wenn Sie sagen, er sei Ihr Freund, dann freut es mich, dass Sie wieder vereint sind.« Khan lächelte. »Für jemanden, der den Pfad zur Erleuchtung nicht kennt, sind Sie sehr weise.« Khan berührte Loki liebevoll am Kopf und sagte etwas in einer fremden Sprache, die Indy nicht verstand. Loki saß auf seinen Hinterpfoten und betrachtete aufmerksam Khans Gesicht. »Er hat mir das Leben gerettet«, sagte Indy. »Er hat Tzi getötet.« Khans Lächeln wurde breiter. »Dann hat er den Tod meiner Familie gut gerächt«, mein-
te Khan. »Wenn das stimmt, dann lebt der Falsche Lama selbstverständlich ebenfalls nicht mehr.« »So ist es«, sagte Indy. »Großartig. Ich hoffe, er hat gelitten.« »Khan«, sagte Indy. »Ich hänge ein wenig an diesem Hund. Ich werde ihn vermissen, aber hier gehört er hin, und vermutlich wusste ich das schon die ganze Zeit.« »Sie sind ein wahrhaft guter Freund. Sie haben viele aus meinem Volk vor den Pocken bewahrt, und nun bringen Sie mir meinen engsten Gefährten zurück. Ich muss einen Weg finden, Sie für Ihre Freundlichkeit zu belohnen.« »Sie sind mir nichts schuldig«, sagte Indy. »Unsinn!«, gab Khan zurück. »Was wir in der Wüste gefunden haben, war Lohn genug.« »Sie haben gefunden, wonach Sie gesucht haben?« »Sogar noch mehr«, erwiderte Indy. Er wandte sich dem Sonnenuntergang zu. »Ich sollte mich jetzt auf den Weg machen«, sagte Indy. »Mein Freund in New York wartet ungeduldig auf Nachricht. Leider verfügen wir nicht über das ausgezeichnete System des Wasserstellen-Telegraf s.« Er langte hinunter und kraulte Loki hinter dem Ohr. »Bis dann, Partner. Wir sind oft genug mit knapper Not entkommen. Danke, dass du mich vor Chang gewarnt hast, und danke für deine Hilfe, als Tzi uns aufgespürt hatte.« Als Antwort gab der Schäferhund ein Japsen von sich. »Warten Sie!«, sagte Khan. Er schlug sein Gewand auseinander und zog einen Dolch mit eigenartig gekrümmter Klinge hervor. Der Griff funkelte vor glitzernden Edelsteinen, Rubinen, Smaragden und Saphiren. »Dies ist das Messer von Dschingis Khan«, erklärte er. »Es ist seit vielen Generationen ein Erbstück meiner Familie. Es soll als Zeichen unserer Freundschaft dienen, solange wir beide leben und darüber hinaus!« Khan reichte ihm das Messer mit beiden Händen.
»Das kann ich unmöglich annehmen«, protestierte Indy. »Es muss ein Vermögen wert sein.« »Pah!«, machte Khan. »Wahrer Reichtum lässt sich nur im Herzen seiner Freunde messen. Nehmen Sie es!« Indy ließ sich das Messer von Khan in die geöffnete Hand legen. In diesem Augenblick bemerkte er die Gravierungen auf der Klinge, eine Art Karte sowie eine Inschrift, die im schwindenden Tageslicht schwer zu entziffern war. »Was bedeuten diese Schriftzeichen?«, fragte Indy. »Das ist ein Geheimnis«, sagte Khan, »das nicht einmal ich zu enträtseln vermag. Der Legende nach war dieses Messer schon zu Zeiten des Großen Khan sehr alt.« Sein Gesicht wurde ernst. »Können Sie sie lesen, Indiana Jones?« »Vielleicht, mit ein wenig Arbeit«, erwiderte Indy. »Diese Schriftzeichen scheinen für den Namen Qin-Shi-Huang zu stehen, den ersten Kaiser von China. Ich weiß nur sehr wenig über ihn - viel weiß im Grunde niemand -, nur dass sein Grabmal angeblich ein maßstabgetreues Modell des Universums ist, in dem Edelsteine die Sternbilder darstellen und unablässig fließende Quecksilberströme die Flüsse.« »Jetzt treiben Sie Ihr Spiel mit meiner Leichtgläubigkeit«, sagte Khan. »Nun, so jedenfalls lautet die Geschichte«, erwiderte Indy. »Ich habe nicht behauptet, sie sei wahr. Vielen Dank für dieses wunderschöne Geschenk. Ich werde es stets in Ehren halten.« Indy steckte das Messer hinter seinen Gürtel. »Leben Sie wohl«, sagte Khan. »Möge Ihre Reise sicher sein - aber nicht zu sicher, das wäre langweilig.« Indy lächelte. »Ein wenig Langeweile wäre mir ganz recht.« »Dann sollen Sie Ihren Frieden finden.« Khan richtete den Blick hinaus über die Wüste, wo sich hinter Felsen und Sanddünen violette Schatten bildeten. »Innerer Friede ent-
springt dem Geist«, erklärte er wissend. »Er kennt weder einen bestimmten Ort noch eine bestimmte Zeit. Buddha hat allen Menschen die Möglichkeit gegeben, ihren Frieden zu finden. Nur wenige wissen, wo sie nach dem Nirwana suchen müssen. Es existiert im Geist des Menschen.« Indy hielt ihm die Hand hin. »Bis zum nächsten Mal«, sagte er. »Auf Wiedersehen, Indiana Jones«, sagte Khan. »Und überlegen Sie sich genau, wonach Sie suchen wollen - Sie könnten es finden.« Sie schüttelten sich die Hand, und Indy gab Loki einen letzten freundschaftlichen Klaps auf den Kopf. Dann ging er, ohne sich noch einmal umzusehen. Drei Wochen später rollte der von Pferden gezogene Lastwagen in die Stadt Kalgan ein. Sie verkauften das Gefährt dem Schmied und benutzten das Geld, um die Zugpassage nach Schanghai zu bezahlen. Während sie darauf warteten, in den Zug einzusteigen, verfasste Indy ein Kabel an Brody. Es lautete: AMERICAN NATURAL HISTORY MUSEUM z. Hd. MARCUS BRODY STARBUCK GEFUNDEN STOP PARADIES VERLOREN STOP KABELN SIE GELD AN CATHAY HOTEL SCHANGHAI STOP JONES STOP ENDE
Sie bestiegen den Zug in Kalgan und ließen die Shen-Shei-Berge hinter sich. Das Stampfen der Dampflokomotive schien Indy ganz allmählich wieder ins zwanzigste Jahrhundert zurückzubringen. »Was meinen Sie, Jones«, sagte Granger. »Glauben Sie, die Welt wird je davon erfahren? Oder werden Starbuck und seine Tochter einfach im Nebel der Zeit verloren gehen?« »Ich kann nicht behaupten, dass ich es ihnen verdenken würde«, antwortete Indy, während er durch das Fenster einen Lastwagenkonvoi mit chinesischen Soldaten betrach-
tete, der, vor Bajonetten nur so strotzend, darauf wartete, dass der Zug vorüberfuhr. »Und ich frage mich, ob nicht wir es sind, die von der Zeit verschlungen werden, solange wir mit all dem Lärm und Rauch eines Sturzbombers vorwärts rasen.«
EPILOG Das Grab von U-357
Vor der Küste Dänemarks 31. Dezember 1933 Bei dem Versuch, einen engen Fjord anzulaufen, wo ein neutraler Lastwagen darauf wartete, den Kristallschädel nach Berlin weiterzutransportieren, hatte sich U-357 die Steuerbord Ballasttanks aufgerissen. Getrieben von der Angst, der Druckkörper könnte an den scharfkantigen Felsen Schaden nehmen, hatte der Kapitän des U357 dieses unter großen Mühen wieder ins offene Meer hinausmanövriert, dabei jedoch das wahre Ausmaß des Schadens an den Ballasttanks zu spät bemerkt. Die in den Aussparungen und Nischen des Steuerbordtanks eingesperrte Luft lieferte genügend Auftrieb, um das Schiff in dem flachen Fjord manövrierfähig zu halten, doch als mit zunehmender Wassertiefe auf offener See der Druck auf ihre Decks zunahm, war das empfindliche Gleichgewicht zwischen Treiben und Sinken in Sekundenschnelle verloren gegangen. Trotz der Bemühungen, das Schiff mit Hilfe der auf Hochtouren laufenden Elektromotoren wieder an die Oberfläche zu steuern, hatte U-357 schließlich dem unentrinnbaren Zugriff der Tiefe nachgegeben. Das Schiff war mit dem Bug voran in vierzig Meter tiefem Wasser gesunken und hatte, da der Steuerbordtank nicht einsetzbar war, keinen positiven Auftrieb mehr erlan-
gen können. Man hatte keine Zeit gehabt, einen langen Draht auszulegen, jene Unterwasserantenne, die erforderlich war, um aus der Tiefe Funkkontakt aufzunehmen, daher blieb die Lage seiner allerletzten Ruhestätte für Berlin ein Rätsel. Selbst die Männer in Schaftstiefeln, die im Lastwagen warteten, waren sich über seine Position im Unklaren, denn es war unter Wasser und bei Funkstille in den Fjord eingefahren. Zeitpunkt und Koordinaten der Übergabe waren bereits Tage zuvor vereinbart worden. Während das Unterseeboot immer tiefer in das eiskalte Wasser eintauchte, blieb der Mannschaft nichts weiter übrig, als sich mit zusammengebissenen Zähnen für eine Fahrt zu wappnen, von der es keine Wiederkehr geben würde. Als es schließlich mit dem Bug auf Grund stieß, wodurch zwar der vordere Torpedoraum geflutet wurde, der übrige Rumpf aber unbehelligt blieb, war unter der Besatzung spontaner Jubel ausgebrochen. Nicht etwa, weil man doch noch auf Rettung hoffte - jeder einzelne der Männer war sich darüber im Klaren, dass das Boot rettungslos verloren war -, sondern aus einem Gefühl der Erleichterung heraus. Sie würden langsam an dem von ihren eigenen Lungen abgesonderten Gift ersticken, statt zu ertrinken. Die Wartezeit verbrachten sie mit Kartenspielen, Lesen oder dem Schreiben von Briefen an Familien, die diese niemals lesen würden. Indiana Jones entdeckte das Unterseeboot auf jener Position, deren Koordinaten ihm Belloq zur Verfügung gestellt hatte, allerdings hatte er nicht erwartet, dass das Boot auf einem Felsvorsprung über einem einhundertfünfzig Meter tiefen Abgrund liegen würde. Belloq hatte gegenüber Indy nicht durchblicken lassen, woher er, im Gegensatz zu Berlin, die Position des verschollenen Unterseebootes kannte, oder warum er sich entschieden hatte, diese Information preiszugeben. Letzteres, vermutete Indy, hatte damit zu tun, dass die Nazis Belloq Bellosh! - wie einen Handlanger behandelt hatten. Doch was immer seine Beweggründe
gewesen sein mochten, Indy kümmerte dies nicht. Wichtig war, dass der Kristallschädel sich einmal mehr in Reichweite befand, wenn auch noch nicht in seinen Händen. Aber bald, sagte sich Indy im Stillen, während der Messingtauchhelm mittels Bolzen an der Brustplatte des NylonTaucheranzuges befestigt wurde. Bald. Dann sprang er in seinen Bleischuhen über Bord und begann seinen Abstieg. Dank der ausgezeichneten Echolotung der Mannschaft des französischen Bergungsschiffes Jules Verne landete er fast genau auf dem Deck des U-357. Zwar hatte er bereits einige Tauchgänge in Anzügen mit starrem Helm hinter sich, aber noch nie hatte er es gewagt, in so kaltem Wasser so tief zu tauchen. Sein Atem ging stoßweise. Er zwang sich, die Kontrolle wiederzuerlangen, bevor er weitermachte. Mit komisch anmutenden, übertrieben ausladenden Schritten auf dem Grund des Meeres laufend, begab Indy sich zum Bug des Unterseebootes und kletterte durch den Riss in dessen Rumpf in den Torpedoraum. Er war sorgfältig darauf bedacht, mit den Luftschläuchen nicht an den scharfen Kanten hängen zu bleiben, außerdem zog er reichlich Schlauch mit ins Bootsinnere, um sich dort nach Belieben bewegen zu können. Er knipste die Tauchlampe an seinem Gürtel an. Dann zog er einen Schraubenschlüssel aus seinem Gürtel und löste unter großen Mühen den Mechanismus in der Mitte der Druckschleuse zwischen dem Torpedoraum und dem Rest des Bootes. Luftblasen - die letzte Luft, die die Mannschaft eingeatmet hatte - entwichen am Rand der Tür, als das Bootsinnere sich dem Wasserdruck der Umgebung anpasste. Außerdem spürte er, wie ein Ächzen vom Vordersteven bis zum Heck durch das Boot ging, als dieses sein Gewicht verlagerte. Die Tür ließ sich mühelos an den Angeln öffnen. Indy stieg unbeholfen durch das Schott und folgte dem Gang. In
dem klaren, kalten Wasser trieb jede Menge Papier und Abfall, doch von einem gelben Blechkanister keine Spur. Indy setzte seinen Weg fort bis zu den ein paar Meter weiter hinten im Gang liegenden Offiziersunterkünften und öffnete die Kabinentür. Kroeger trieb ihm gespenstergleich aus der Kabine entgegen, die Arme ausgestreckt, als wolle er nach ihm greifen, während das blonde Haar über seiner makellosen Stirn hin und her wehte. Indy schreckte zurück und stieß mit dem Hinterkopf gegen den Taucherhelm. Instinktiv versuchte er, die wunde Stelle zu reiben und legte seine behandschuhte Hand an den Helm, doch natürlich ohne Erfolg. Indy zog Kroegers Leichnam aus dem Durchgang, dann nahm er die Tauchlampe hinter seinem Gürtel hervor und leuchtete damit das Innere der Kajüte ab. Die Zeit wurde knapp. Die Mannschaft der Jules Verne hatte erklärt, ihm blieben bei dieser Tiefe nur etwa fünfzehn Minuten für die Durchsuchung des Wracks. Hielt er das Zeitlimit nicht ein, riskierte er die Taucherkrankheit. Indy wollte die Offiziersunterkünfte soeben verlassen, als ihm ein Gedanke kam. Er richtete das Licht nach oben. Der gelbe Kanister trieb unter der Decke. Indy zog den Kanister herunter und klemmte ihn sich unter den Arm, dann ging er daran, sich mühsam auf demselben Weg, den er gekommen war, durch den Gang zurückzuschleppen. Obwohl seine Arme und Beine eiskalt waren, rann ihm der Schweiß unter dem Tauchhelm von der Stirn und tropfte ihm in die Augen. Er hatte das Schott des Torpedoraums fast erreicht, als er spürte, wie sich das Deck unter seinen Füßen bewegte. Der Gang hatte sich urplötzlich zur Seite geneigt, als U-357 nach Backbord krängte und sich ein paar Zentimeter weiter über den Felsvorsprung schob. Die gekrümmte Innenwand des Druckkörpers erschwer-
te das Gehen sehr. Indy stolperte über Rohrleitungen und anderes an der Wand befestigtes Gerät. Also versuchte er es mit Schwimmen. Das funktionierte wegen der Bleischuhe nicht. Er brachte zwar einen Beinschlag zu Stande, kam aber nicht von der Stelle. Schließlich packte er seinen Luftschlauch und begann, sich mit seiner rechten Hand daran entlang Richtung Bug zu ziehen. Seine Linke kämpfte mit dem nach oben treibenden, gelben Kanister. Als er sich durch die Schottöffnung zwängte, ging ein Zittern durch das Boot, das daraufhin rücklings über den Klippenrand zu kippen begann. Der gelbe Kanister entglitt Indys Griff und blieb im Gewirr aus Rohrleitungen und Ausrüstungsgegenständen im Torpedoraum hängen. Von Panik ergriffen hangelte er sich durch den Torpedoraum und durch den klaffenden Riss im Rumpf nach draußen. Der Bug des U-357 scharrte über den Meeresboden auf den Abgrund zu und drohte Indy durch den Sog mit hinunter in die Tiefe zu ziehen. Indy riss ungestüm an der Rettungsleine, um der Mannschaft zu signalisieren, sie solle ihn nach oben ziehen. An Deck der Jules Verne nahm die Mannschaft Indy den Taucherhelm ab. Hinter ihm lief die Pumpe, mit der Luft durch den Schlauch nach unten gepumpt wurde, langsam aus. »Was ist passiert?«, fragte der Tauchmeister, eine Zigarette lässig im Mundwinkel. »Ich hatte ihn schon in der Hand«, keuchte Indy. »Ich hatte ihn unter dem Arm, dann geriet das U-Boot in Bewegung und begann, über den Klippenrand zu kippen. Ich musste ihn loslassen und machen, dass ich nach draußen komme.« »Tja, so ist das mit Schiffswracks«, meinte der Tauchmeister. »Wenn sie durch das Öffnen und Schließen der Luken ihr Gewicht verlagern, weiß man nie, was passiert. Aber wenigstens sind Sie lebend rausgekommen, Monsieur. «
Indy sah auf, als die anderen aus der Mannschaft an die Reling liefen und auf etwas zeigten. Als das U-357 am Ende seines tiefen Sturzes am Fuß des Felsvorsprungs auf dem Grund des Meeres angelangt war, hatte sich sein Rumpf verzogen, war auseinander gebrochen und hatte alle möglichen schwimmenden Trümmerteile freigegeben: Mützen, Kleidungsstücke, unbenutzte Schwimmwesten, Konservendosen mit Lebensmitteln. »Sehen Sie doch!«, rief Indy. Ein gelber Kanister war unvermittelt aufgetaucht und tanzte fröhlich auf den Wellen. »Machen Sie kehrt«, rief Indy. »Wir holen ihn ein.« Doch noch während die Jules Verne herumschwenkte, kam ein weiterer Kanister, etwa zweihundert Meter entfernt, an die Oberfläche. Plötzlich waren da noch ein dritter und vierter, und schließlich sah man, verteilt über eine mehrere Morgen große Wasserfläche, eine große Anzahl gelber Kanister. Die Besatzung holte einen nach dem anderen an Bord, nur um festzustellen, dass es sich um Ölfässer handelte, die allerdings jener Art Gasbehälter ähnelten, in dem Belloq den Schädel verpackt hatte. »Tut mir Leid«, meinte der Kapitän an Indy gewandt. »Wir können sie unmöglich alle einsammeln. Der Wind, die Gezeiten, die Strömung
Nachwort
Indiana Jones und die Brut des Sauriers wurde durch Roy Chapman Andrews' Expeditionen in die Äußere Mongolei in den zwanziger Jahren inspiriert. Diese Expeditionen, die wegen der Entdeckung des ersten der Wissenschaft bekannten Dinosauriereis (leider in versteinertem Zustand) weltweit für Schlagzeilen sorgten, wurden vom American Museum of Natural History in New York finanziert. Die Entdeckung beflügelte weltweit die Fantasie, denn damals wussten die Wissenschaftler noch nicht, wie Dinosaurier ihre Jungen zur Welt brachten. Darüber hinaus handelte es sich um ein durch und durch märchenhaftes Abenteuer, da die Äußere Mongolei zu den wenigen Orten auf der Welt gehörte, die man zu Recht noch als terra incognita bezeichnen konnte. Daher sind einige Bemerkungen über Andrews, das Museum, das durch ihn berühmt wurde (vielleicht verhielt es sich auch umgekehrt), sowie andere Dinge, die mit diesem Ur-Indiana Jones in Beziehung stehen, angebracht. Andrews wird oft - zusammen mit den samstagnachmittäglichen Fernsehserien und den James Bond-Filmen - als Inspiration für die unter dem Namen Indiana Jones bekannte Figur angeführt. Doch ob nun Indys gemeinsame Schöpfer George Lucas und Steven Spielberg dabei Andrews im Sinn hatten oder nicht, er war in vielfältiger Hinsicht ein Indiana Jones aus dem wahren Leben: Er war gewandt, mu-
tig, einfallsreich und stand oft im Mittelpunkt von Entdeckungen und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen. Eine Schwarzweißfotografie von Andrews in The New Conquest of Central Asia, einem umfangreichen Werk über seine abenteuerliche Fossiliensuche in der Mongolei, zeigt ihn, wie er neben einem Gelege von Dinosauriereiern posiert. Er ist ganz in Khaki gekleidet, an seinem Gürtel hängt ein Revolver im Halfter, und seine Augen liegen im Schatten eines breitkrempigen Hutes. Fügt man in Gedanken die Rinderpeitsche hinzu, so ergibt sich ein Bild, das aus jedem der Indiana-Jones-Filme entnommen sein könnte. Andrews wurde am 26. Januar 1884 in Beloit, Wisconsin, während eines Wintersturmes mit Temperaturen von zweiunddreißig Grad unter Null geboren. Nach seinem Collegeabschluss ging er nach New York - das Geld für die Reise hatte er sich mit dem Ausstopfen von Tieren verdient -, um sich ganz der Erfüllung seines Kindheitstraumes zu widmen, für das American Museum of Natural History zu arbeiten. Als ihm der Museumsdirektor bei seinem Vorstellungsgespräch erklärte, es sei absolut keine Stelle frei, erbot sich Andrews, den Fußboden zu schrubben. Auf die Frage, wie ein junger Mann mit Collegeabschluss sich ernsthaft um eine so untergeordnete Tätigkeit bewerben könne, erwiderte Andrews, es handele sich schließlich nicht um irgendeinen Fußboden - sondern den des Museums. Nachdem er ein paar Monate den Mopp geschwungen und gelegentlich bei kleineren Arbeiten ausgeholfen hatte, erhielt Andrews mit dem Auftrag, bei der Konstruktion eines lebensgroßen Modells eines Blauwals zu helfen, seine erste echte Chance. Der Wal, der in der Galerie des dritten Stockes hängen sollte, hatte sich für das Museum als große Enttäuschung erwiesen, denn seine Außenhülle aus Papier war eingefallen, was ihm ein eher ausgezehrtes denn majestätisches Aussehen verlieh. Andrews löste das Problem, indem er eine Außenhaut aus Maschendraht und Pappmache ersann.
Von da an betraute man ihn mit zunehmend anspruchsvolleren Aufgaben. Andrews wurde in die ganze Welt geschickt, um echte Wale für das Museum zu beschaffen. Schließlich bat ihn ein Herausgeber, einen Artikel über Wale und Walfang zu schreiben, woraus sich für Andrews eine weitere Leidenschaft entwickelte, die ihn sein ganzes Leben lang beschäftigte: das Schreiben über seine Abenteuer. Nach einer kurzen Auftragsarbeit in China während des Ersten Weltkriegs, in deren Verlauf es zu zweifelhaften Kontakten mit dem Nachrichtendienst der Armee kam, kehrte Andrews in das Museum zurück, wo er 1920 dem Direktor Henry Fairfield Osborn einen ehrgeizigen Plan vorschlug, der fast an Tollkühnheit grenzte: Eine Expedition in die kaum bekannte Wüste Gobi sollte den Versuch unternehmen, die Geschichte der gesamten zentralasiatischen Hochebene zu rekonstruieren. Dies vertrug sich ausgezeichnet mit Osborns Überzeugung, dass in diesem Gebiet die prähistorische Wiege allen menschlichen und tierischen Lebens auf der Erde liegen müsse. Die Mongolei, so glaubte Osborn, würde sich als jener Ort erweisen, wo man das viel zitierte „fehlende Bindeglied“ der Evolution entdecken würde. Im April 1922 leitete Andrews die erste Expedition in die Mongolei, eine Gegend, die bis dahin nicht gerade durch ihre Fossilienfunde von sich reden gemacht hatte. In Wahrheit hatte man dort erst einen einzigen Rhinozeroszahn entdeckt. Doch vier Tage nach Passieren der Chinesischen Mauer in die Äußere Mongolei stieß die Expedition buchstäblich zu ihren Füßen auf ein wahres Füllhorn von Fossilien. Und 1923 entdeckte die Expedition in jenem Gebiet, das sie Leuchtende Klippen getauft hatte, versteinerte Dinosauriereier. Diese Expeditionen, die in den zwanziger Jahren fortgeführt wurden, hatten zur Folge, dass das Museum eine umfassende Sammlung von Fossilien erwarb, und begründeten
den Ruf der Mongolei als einer der ergiebigsten Fossilienfundstätten der Welt. Wegen der Veränderungen des politischen Klimas, nachdem die russischen Kommunisten ihren Einflussbereich auf diese Region ausgeweitet hatten, kam es 1930 zur letzten Expedition. Obwohl keine dieser Expeditionen etwas zu Tage förderte, das auch nur entfernt an das fehlende Bindeglied erinnerte, blieb Andrews bis zu seinem Tod davon überzeugt, dass der Garten Eden der Evolution in der Mongolei verschüttet liege und nur darauf warte, entdeckt zu werden. Obwohl Andrews eine Vielzahl anderer Abenteuer erlebte und auch weiterhin Bücher über sie schrieb, sollte keines davon jener glorreichen Ausgrabungssaison im Jahr 1923 auf der mongolischen Hochebene mehr den Rang streitig machen. 1933 löste Andrews Osborn als Direktor des Museums ab. Das Museum befand sich an einem Tiefpunkt. Der wirtschaftliche Niedergang hatte ihm schwer zugesetzt, und sämtliche praktischen wissenschaftlichen Arbeiten waren eingeschränkt worden. Leider war Andrews diesmal der anstehenden Aufgabe nicht gewachsen, aufgrund seiner Berühmtheit konnte er sich jedoch noch jahrelang auf dem Direktorensessel halten. 1941 schließlich, auf Anraten eines Wirtschaftsberaters, bat der Aufsichtsrat Andrews, seinen Posten aufzugeben. Andrews setzte sich in Carmel, Californien, zur Ruhe, wo er 1960 starb. Obwohl die meisten von Andrews Schriften nicht mehr aufgelegt werden, war er zu seiner Zeit ein beliebter Autor, und viele seiner Bücher lassen sich noch in den Beständen der öffentlichen Bibliotheken jeder größeren Stadt finden. Zu den Titeln, nach denen man Ausschau halten sollte, gehört eine Autobiografie Under a Lucky Star (1943), sowie eine Sammlung tatsächlicher Begebenheiten mit dem Titel Heart of Asia (1951). Zu seinen naturwissenschaftlichen Arbeiten zählen Whale Hunting with Gun and Camera (1916), The New Conquest of Central Asia (1932) und This Amazing Planet (1941).
Das American Museum of Natural History
Zu Beginn dieses Jahrhunderts hat ein moppschwenkender Angestellter namens Roy Chapman Andrews das Museum einmal als 'den wunderbarsten Flecken in New York' bezeichnet, und dieser Einschätzung würden viele Menschen noch heute zustimmen. Ecke 81. Straße und Central Park West gelegen, ist das Museum ein Labyrinth aus ineinander verschachtelten, tausende von Exponaten enthaltenden Gebäuden, die zu wochenlanger sorgfältiger Erkundung einladen. Darüber hinaus beinhaltet der Komplex noch das Naturemax Theatre und das Hayden Planetarium. Zu den beliebtesten Exponaten des Museums gehört ein dreißig Meter langes Glasfasermodell eines Blauwals (der Ersatz für das Pappmachemodell, das Jahrzehnte lang dort hing), der größte, je in den Vereinigten Staaten gefundene Meteorit sowie viele tausend Dinosaurierfossilien, darunter auch mehrere Dutzend Eier. Dennoch sollten Besucher Vorsicht walten lassen, wenn ihnen beim Anblick dieser Fossilien der Name Andrews über die Lippen kommt - das inoffizielle Kürzel für die derbe Behandlung eines Exponats lautet „RCA“, Andrews' Ruf entsprechend, alle Dinge auf möglichst direkte Art zu erledigen. Das Museum wurde 1869 von Albert S. Bickmore gegründet, einem Naturwissenschaftler, der von der Vision besessen war, das führende naturgeschichtliche Museum des Landes in der ersten Stadt des Landes zu errichten. Mit den Jahren entwickelte sich das Museum zu einer Stadt in der Stadt, wozu auch die Veröffentlichung seines eigenen Magazins, Natural History, seinen Beitrag leistete. Doch auch über seine Funktion als unersetzliche wissenschaftli-
ehe Hilfsquelle hinaus wurde das Museum durch sein Anliegen, die Welt der Natur verständlich zu machen, für viele Amerikaner zu einem wichtigen Ort geistiger Entspannung und intellektueller Anregung. Im American Museum of Natural History werden auch die Gedenkgottesdienste für Joseph Campbell abgehalten, jenen Mythologen, der gemeinsam mit Boll Moyers in den 80er Jahren mit The Power of Myth das Fernsehpublikum in den Bann schlug. Campbell hatte als kleiner Junge ehrfurchtsvoll staunend vor den Exponaten aus Masken und Totems amerikanischer Ureinwohner gestanden. Diese Ehrfurcht inspirierte ihn zu einem lebenslangen geistigen Abenteuer. Obwohl im Laufe der Jahre zahlreiche Artikel und mehrere Bücher über das Museum geschrieben wurden, gehört das Buch von Douglas J. Preston mit dem Titel Dinosaurs in the Attic (1986) nach wie vor zu den besten. Der Band enthält eine Fülle von Anekdoten über die Sammlungen des Museums.
Der Allergorhai-Horhai Trotz einiger äußerlicher Unterschiede zu seinem Gegenstück in Indiana Jones und die Brut des Sauriers handelt es sich bei dem Allergorhai-Horhai um den sagenumwobenen Sandwurm der Wüste Gobi. Andrews schrieb, dass zwar alle Bewohner des Nordens der Mongolei an ihn glaubten, er aber trotzdem nie jemandem begegnet sei, der behauptet hätte, tatsächlich ein Exemplar gesehen zu haben. «Es heißt, er sei ungefähr zwei Fuß lang«, schreibt Andrews, »der Körper ist wurstförmig und weist weder Kopf noch Beine auf; er ist so giftig, dass bereits die Berührung den sofortigen Tod bedeutet.« Andrews schloss daraus, dass das Tier wahrscheinlich der Welt der Sage entstammt, diese aber dennoch ein Körnchen Wahrheit enthalten müsse, da sämtliche Beschreibungen, die man ihm gegeben hatte, sich sehr ähnlich waren.
Ein sechzig Millionen Jahre alter Fisch Gelegentlich stößt die Wissenschaft durch einen Zufall auf ein Tier, das längst als ausgestorben gilt, und genau dies geschah im Jahr 1938, als ein südafrikanisches Fischerboot einen seltsam aussehenden Fisch namens Coelacanth in seinen Netzen an Bord hievte. Es war das erste je gefundene Exemplar dieses Fisches, das nächstjüngere (und offenkundig tote) Exemplar, über das die Wissenschaft verfügte, war sechzig Millionen Jahre alt. Ältere Exemplare reichten mehr als vierhundert Millionen Jahre zurück, sie waren sogar älter als die ältesten Dinosaurier. Seit dem Aufkommen von Unterwasserfahrzeugen hat man zahlreiche lebende Coelacanthen oder Quastenflosser auf dem Grund des Ozeans in einer Tiefe von etwa zweihundert Metern beobachten können - allerdings ausschließlich im Indischen Ozean, wo auch das erste Exemplar an Bord gehievt worden war. 1965 jedoch fand man in Spanien einen einhundert Jahre alten religiösen Kultgegenstand aus Silber, offenkundig eine detaillierte Darstellung des unverwechselbaren Quastenflossers. Die Entdeckung warf folgende Frage auf: Woher wusste ein Spanier aus dem neunzehnten Jahrhundert, wie dieser Fisch aussah?