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DAS BUCH Britannien, im Jahre 4 v. Chr.: In einer eisigen Winternacht wird in einem Rundhaus der Junge Nectovelin geboren, doch es ist eine Nacht des Todes und der Prophezeiungen. Kurz bevor seine brigantische Mutter infolge der schweren Geburt stirbt, spricht sie in lateinischen Versen von einer erneuten Invasion der Römer und beauftragt Nectovelin, die Wurzel der Knechtschaft auszureißen - ein Vermächtnis, das fortan das Leben des Jungen bestimmt. Als knapp vierzig Jahre später die Römer unter Claudius in Britannien landen, wird Nectovelin zum Augenzeugen der Invasion. Unter dem Eindruck der Prophezeiung wirft er sich dem Feind wagemutig entgegen -doch er verliert sein Leben und das Land seine Freiheit. Während die römische Lebensart sich ausbreitet und den Britanniern ihre Götter abhanden kommen, scheint sich die Wahrhaftigkeit der Prophezeiung zu verlieren. Über einhundert Jahre nach Nectovelins Geburt begibt sich Severa, eine ferne Nachfahrin, erneut auf die Suche nach den rätselhaften Versen. Doch sie kämpft nicht um Freiheit, sondern um Profit - denn der uralte Text prophezeit eine steingewordene Schlinge im Norden des Landes: Hadrians Wall. Geschickt manipuliert sie den Herrscher, das Bauvorhaben zu verwirklichen, investiert in die familieneigenen Steinbrüche - und scheitert. Denn die wahre Prophezeiung birgt die Stimme der Zukunft vor der vergehenden Zeit in sich - Worte, die aus der Ewigkeit abgeleitet sind - und die Suche nach Freiheit über schmerzliche vier Jahrhunderte hinweg ... DER AUTOR Der Engländer Stephen Baxter, geboren 1957, zählt zu den weltweit bedeutendsten Autoren naturwissenschaftlich-technisch orientierter Science Fiction. Aufgewachsen in Liverpool, studierte er Mathematik und Astronomie und widmete sich dann ganz dem Schreiben. Baxter lebt und arbeitet in Buckinghamshire. »Imperator« ist der Auftakt zu seiner neuen, atemberaubenden Saga Die Zeit‐Verschwörung. Eine Liste der im WILHELM HEYNE VERLAG erschienenen Bücher von Stephen Baxter finden Sie am Ende des Bandes.
STEPHEN BAXTER
IMPERATOR DIE ZEIT‐VERSCHWÖRUNG ERSTER ROMAN Aus dem Englischen übersetzt von Peter Robert Deutsche Erstausgabe WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN Titel der englischen Originalausgabe TIME'S TAPESTRY BOOK ONE: EMPEROR Deutsche Übersetzung von Peter Robert
ORTSNAMEN:
Banna, Birdoswald Calédonien, Schottland Camulodunum, Colchester Durovernum, Canterbury Eburacum, York Dolaucothi Londinium, London Mona, Anglesey Rutupiae, Richborough Gesoriacum, Boulogne Massilia, Marseilles Mediolanum, Mailand FLÜSSE:
Tamesis, Themse Sabrina, Severn Tinea, Tyne Ituna, Solway Cantiacer-Fluss, Medway WICHTIGSTE BRITANNISCHE VOLKSSTÄMME
Atrebaten Briganten Catuvellaunen Cantiacer Durotriger Icener Ordovicer Siluren ZEITTAFEL
55-54 v.Chr.: 4 v. Chr. : ca. 38 n. Chr.: 43 n. Chr.: 51 n. Chr.: 60-61 n. Chr.: 69-71 n. Chr.: 77-84 n. Chr.: 122 n. Chr.: 193-197 n. Chr.. 208-211 n. Chr. 259-274 n. Chr. 287-296 n. Chr. 296 n. Chr.: 306 n. Chr.: 312 n. Chr.: 314 n. Chr.: 324 n. Chr.: 337 n. Chr.: 350 n. Chr.: 367 n. Chr.: 378 «. Chr.: 383 n. Chr.: 407 n. Chr.: 409 n. Chr.:
Julius Caesars Feldzüge nach Britannien Nectovelins Geburt Nectovelins Geburt Claudius' Invasion in Britannien Niederlage des Caratacus Boudiccas Aufstand Bürgerkrieg unter den Briganten und deren Annexion Agricolas Feldzüge nach Calédonien Hadrian in Britannien; Baubeginn des Walls Britannien unter der Herrschaft von Clodius Albinus Severus' Feldzüge nach Calédonien Britannien unter der Herrschaft der gallischen Kaiser Britannien unter der Herrschaft von Carausias und Allectus Allectus Constantius Chlorus' Feldzug nach Britannien Konstantin der Große in Britannien zum Kaiser erhoben Sieg Konstantins über Maxentius im Westen Konstantin sammelt in Britannien Truppen für den Krieg gegen den Osten Konstantin Alleinherrscher, Gründung Konstantinopels Konstantins Tod Magnentius in Britannien zum Kaiser ausgerufen Verschwörung der Barbaren Niederlage der Römer gegen die Visigoten bei Adrianopel Magnus Maximus in Britannien zum Kaiser ausgerufen Konstantin III. in Britannien zum Kaiser ausgerufen britannische Revolution; offizielles Ende der römischen Herrschaft in Britannien
418 n. Chr.:
Exkommunikation des Pelagius
MASSE
1 römischer Fuß = 292 mm 1 römische Meile = 1 , 5 4 km ORACULUM NECTOVELINIUM (DIE PROPHEZEIUNG DES NECTOVELIN, 4 V. CHR.)
Aulaeum temporum te involvat, puer, at libertas habes : Cano ad tibi de memoriam atque posteritam, Omni gentum et omni deorum, imperatori tres erunt. Nomabitur vir Germanicus cum oculum hyalum; Scandabit equos enormes quam domuum dentate quasi gladio. Tremefacabit caelum, erit filius Romulum potens Atque graeculus parvus erit. Nascitur deus iuvenus. Ruabit Roma cervixis islae in laqueui cautei. Emergabit in Brigantio, exaltabitur in Romae. Pudor! comprecabit deum servi, sed ipse apparebit deum. Ecclesiam marmori moribundi fiet complexus imperii. Reminisce! Habemus has verità et sunt manifesta: Indico: omnis humanitas factus aequus sunt, Rebus civicum dati sunt ab architecto magno, Et sunt vita et libertas et venatus felicitae. O puer! involvaris in aulaeum temporum, fere! DIE PROPHEZEIUNG DES NECTOVEEIN (FREIE ÜBERSETZUNG UNTER BEIBEHALTUNG DES AKROSTICHONS)
Ach Kind! Verwoben in den Wandteppich der Zeit, und dennoch frei geboren,/Cum fortia sing ich dir von dem, was ist und was sein wird, und/Obendrein von allen Menschen, Göttern, und von drei mächt'gen Kaisern. / Nebst einem Mann, germanisch ist sein Name und seine Augen sind aus Glas,/Schreiten einher haushohe Pferde mit säbelgleichen Zähnen./Turbulente Himmel verkünden die Ankunft von Roms großem Sohn;/ Auch wird man ihn als kleinen Griechen kennen. /Und während Gott als Kind geboren wird,/Rammt römische Gewalt der Insel Hals in eine steingewordne Schlinge./Erhoben in Brigantien, wird später er in Rom gepriesen,/Paladin eines Sklavengottes, am Ende selbst ein Gott./Eingebunden in das Reich, bleibt von der Kirche toter Marmor nur./Ruf ins Gedächtnis dir die Wahrheiten, die wir für selbstverständlich halten - / Ich sage dir, dass alle Menschen gleich und frei erschaffen sind, mit/Rechten, unveräußerlich, vom Schöpfer ihnen zugeeignet;/Etwa dem Recht auf Leben, Freiheit und aufs Glücksbestreben. / O in die Zeit verwobnes Kind, versuch die Wurzel auszureißen!
PROLOG 4 v.CHR.
I Es war ein schwerer Tag, an dem Bricas Kind, Cunovics Neffe, sich ins Leben quälte, ein schwerer, langer Tag der Geburt und des Todes. Und es war der Tag, wie Cunovic später glaubte, an dem die eisigen Finger des Webers an den Fäden des Zeitteppichs zu zupfen begannen. Die Wehen setzten im hellen Schein der Mittagssonne ein, aber der Wintertag war kurz, und die Tortur zog sich bis in die Dunkelheit hinein. Cunovic saß die ganze Zeit mit
seinem Bruder Ban, dem Vater des Kindes, und der übrigen Familie dabei. Im verrauchten Halbdunkel unter dem dicken Strohdach drängten sich Bricas Mutter Sula und die Frauen der Familie in der Tageshälfte des Hauses, wo sie Brica beruhigende Worte zuflüsterten und ihr die Stirn mit warmen Tüchern abwischten. Die wachsamen Gesichter ihrer Angehörigen ähnelten eingefangenen Monden, die innerhalb der runden Mauern des Hauses hingen, dachte Cunovic versonnen. Doch als sich die schwierige Geburt immer mehr in die Länge zog, wuchs Bans stumme Sorge, und selbst die Kinder kamen ins Grübeln. Der Druide war der einzige Fremde, der Einzige, der nicht durch Blutsbande mit dem ungeborenen Kind 5
verwandt war, ein dünner Mann mit einem leichten, singenden Akzent, wie man ihn seinen Worten nach auf Mona sprach, jener im Westen gelegenen Insel der Gebete und Studien, wo er zur Welt gekommen zu sein behauptete. Jetzt wanderte er im Haus umher und intonierte dabei einen unablässigen Sprechgesang; seine halb geschlossenen Augen bewegten sich unruhig. Er war niemandem eine Hilfe, dachte Cunovic missmu‐ tig‐ Als Erster verlor der alte Nectovelin, Cunovics Großvater, die Geduld. Mit einem Knurren kam er auf die Beine, ein Berg aus Muskeln und Fett, und durchquerte die Hütte. Sein schwerer Lederumhang ‐ er roch nach Blut, Schweiß und Fett, nach Hunden, Pferden und Vieh ‐ streifte Cunovic, und er humpelte, wobei er sein linkes Bein deutlich schonte; angeblich handelte es sich um eine Verletzung aus dem Krieg gegen Caesar vor fünfzig Jahren. Er schob den ledernen Türvorhang beiseite und marschierte hinaus. Die anderen Männer, die stumm in der Nachthälfte des Hauses ge‐ sessen hatten, erhoben sich steifbeinig und folgten Nectovelin einer nach dem anderen. Als Ban ebenfalls aufstand, seufzte Cunovic und schloss sich ihm an. Nectovelin war alt; er würde der Urgroßvater des Kindes sein, das in dieser Nacht zur Welt kommen sollte. Aber Cunovics ganzes Leben lang hatte Nectovelin mit seiner Größe, seiner Kraft und seinem Vermächtnis von jugendlichem Kampfesmut die Familie geführt, und da s erst recht seit dem Tod seines einzigen Sohnes, des Vaters von Cunovic und Ban. 5
So war es auch in dieser Nacht: Wenn Nectovelin voranging, folgten ihm die anderen. Die Nacht draußen war frisch und wolkenlos, die Sterne wie Knochensplitter. Die Männer standen in kleinen Gruppen beisammen und unterhielten sich mit leiser Stimme; einige von ihnen kauten Rindenstücke. Der Dampf ihres Atems legte sich wie ein Helm um ihre Köpfe. Die Hunde, die in dieser Nacht nicht ins Haus durften, zerrten an ihren Leinen und versuchten winselnd, zu den Männern zu gelangen. Trotz der eisi‐ gen Kälte lag eine schwere Feuchtigkeit in der Luft; dies war ein mooriges Gebiet. Cunovic erspähte seinen Bruder ein wenig abseits von den anderen, am Rand des Grabens um die kleine Gruppe dicht beieinanderstehender Häuser. Er ging zu ihm hinüber. Reif knirschte unter den Ledersohlen seiner Schuhe. Die Brüder schauten in die Stille hinaus. Die kleine Gemeinschaft, die sich Banna nannte, befand sich auf einem Höhenzug mit Blick nach Süden über ein steilwandiges,
bewaldetes Tal. Es war eine mondlose Nacht, aber das Sternenlicht funkelte auf dem Wasser des Flusses am Fuß der Felswand, und Cunovics Blick schweifte über die sinnlich wogenden, dunklen Hügel weiter südlich. Hier war das Volk der Briganten zu Hause. Morgens sah man Rauchfahnen von Häusern aufsteigen, die eine Landschaft voller Menschen und deren Vieh sprenkelten. Sie lebten schon sehr lange hier, wie man an den verwitterten Grabhügeln inmitten uralter, verwachsener Gehölze sah, die sich an die 6
sem Rand der Felswand drängten. Doch nun war kein Licht zu sehen, denn die Häuser hielten ihre Helligkeit und Wärme im Innern wie geschlossene Münder. Cunovic wartete, bis sein Bruder bereit war, mit ihm zu reden. Ban war erst zwanzig, fünf Jahre jünger als er. »Ich bin froh, dass du hier bist«, sagte Ban schließlich. »Ich könnte deine Gesellschaft gebrauchen.« Cunovic war gerührt. »Ich weiß, ich war häufig fort. Ich dachte, wir würden uns auseinanderleben ...« »Niemals.« »Und außerdem bin ich keine große Hilfe. Schließlich habe ich keine Kinder. Ich habe das noch nicht durchgemacht.« »Aber du bist da«, sagte Ban ernst. »So wie auch ich für dich da sein werde. Wahrscheinlich vermisst du die Annehmlichkeiten deiner Reisen. In einer solchen Nacht wäre ein kurzes Bad in einem Becken mit dampfendem Wasser nicht zu verachten.« Cunovic grunzte. »Glaub nicht alles, was du hörst. Der König der Catuvellaunen hat sich ein Badehaus bauen lassen. Der Entwurf stammt von einem römischen Architekten, und er hat sich dafür dumm und dämlich bezahlt. Aber die Händler aus Gallien meinen, für sie sei es nicht mehr als ein Schlammloch, in dem sich die Schweine suhlen könnten. Obwohl man einem König so etwas natürlich nicht ins Gesicht sagt.« Das brachte Ban zum Lachen, aber Cunovic registrierte unbehaglich, dass einig e der lateinischen Begriffe, die er gedankenlos eingestreut hatte ‐ Architekt, zo
Entwurf, ja sogar bezahlt ‐, seinem Bruder wenig sagten. »Immerhin hast du es geschafft, von hier wegzukommen«, sagte Ban. »Deine Handelsgeschäfte laufen gut. Ist es nicht ein seltsames Gefühl, wieder hier zu sein? Du bist ein ausgewachsener Hund, der zum Wurf zurückkehrt, Bruder.« Cunovic ließ den Blick über die schlafende Landschaft schweifen. »Nein«, sagte er schlicht. »Im Süden gibt es verspielte kleine Hügel und Täler, die so eng bei‐ einanderliegen, dass man nicht über die nächste Kuppe hinausschauen kann. Das Erdreich ist voller Kalk. Die Sommer sind zu heiß, die Winter zu schlammig. Und Nächte wie diese gibt es dort überhaupt nicht...« Und er sog die eisgeschwängerte Luft mit einem reinigenden Atemzug tief in die Lungen. »Ah.« Ban lächelte. »Du vermisst Coventina.«
Coventina war die Göttin dieses Ortes. Man konnte die Kurven ihres Körpers in den wogenden Hügeln sehen, ihr Geschlecht in den grünen Schatten der Täler. »Ja, ich vermisse das alte Mädchen«, gab Cunovic zu. Ein lautes Schnauben nah an seinem Ohr ließ ihn zusammenfahren. Es war Nectovelin. »Dein Zuhause nennst du das. Aber du warst nicht hier, um beim Bau des neuen Hauses zu helfen, nicht wahr? Ich glaube, wir wissen, wo dein Herz ist, Cunovic.«
II Nectovelin schlich sich irgendwie immer an einen heran. Trotz seines massigen Körpers und seines Hinkebeins konnte er sich sehr leise bewegen, und er hielt sich stets im Windschatten. Er hatte nach wie vor die Instinkte eines Kriegers, dachte Cunovic, wagenspurentiefe Furchen, die sich tief in seine Persönlichkeit eingegraben hatten und mehr über seine Vergangenheit verrieten als all seine Prahlereien. Es verletzte Cunovic jedes Mal, dass dieser eindrucksvolle Mann, sein Großvater, so wenig von ihm zu halten schien. »Du täuschst dich in mir, weißt du«, sagte er. »Vielleicht habe ich mich nicht eigenhändig am Hausbau beteiligt, aber mit den Geschenken, die ich heimgeschickt habe, konntet ihr immerhin einen Teil der Baukosten bestreiten, nicht wahr?« Nectovelin räusperte sich und spuckte aus. »Du redest wie dieser Druide, bei dem sich meine Eingeweide kräuseln. Aber Worte sind wie Staub. Schau dich doch nur an! Du trägst einen wollenen Leibrock wie dein Bruder, aber dein Gesicht ist glatt, deine Haare sind gekämmt ‐ du hast sie dir sogar in den Nasenlöchern und an den Ohren ausgezupft, wenn ich mich nicht irre. Das Haus deines Körpers zeigt, was du sein möchtest.« 7
Cunovic trat einen Schritt näher an den alten Mann heran, eine bewusste Herausforderung, und Nectovelin versteifte sich kaum merklich. »Und du bist ein Heuchler«, sagte Cunovic leise. »Ich entsinne mich nicht, dass du meine silbernen Broschen und meine Weinkrüge abgelehnt hättest, mit denen du erst gestern fünf Stück Vieh von Macha gekauft hast, diesem anderen alten Brummbär aus dem Tal. Mag sein, dass es dir nicht gefällt, Großvater. Vielleicht ist es nicht mehr so wie in den alten Zeiten. Aber so geht es heutzutage nun einmal zu in der Welt.« Nectovelin starrte ihn finster an, reglos wie ein Wolf, sein Gesicht eine Maske, in der sich Schatten sammelten. Ban kam ihnen zu Hilfe. Er trat zwischen Bruder und Großvater. »Nicht heute Nacht, ihr beiden. Ich habe schon genug am Hals.« Nectovelin starrte ihm noch einige Herzschläge lang unverwandt in die Augen, und Cunovic schaute bereitwillig als Erster weg. Dann rückten die drei voneinander ab, und die Spannung ließ nach. In unbehaglichem Schweigen drehten sie sich zum Haus um. Es gehörte zu einem Dutzend Häuser, die von einem unregelmäßigen Graben umgeben waren, und sein kegelförmiger Umriss wirkte im Dunkeln niedrig und beinahe formlos. Aber es kam auf die Einzelheiten an. Die dicken Stützpfosten stammten von Bäumen, die man schon
als Schösslinge dazu ausersehen und entsprechend markiert hatte, und sie waren so gut befestigt und ausbalanciert, dass kein zentraler Pfeiler be 8
nötigt wurde. Der große, offene Innenraum war nach uraltem Brauch so angelegt, dass er die Zyklen des Tages und der Jahreszeiten widerspiegelte. Der einzige Eingang zeigte nach Südosten, zur aufgehenden Sonne bei der Tagundnachtgleiche. Wenn man im Haus herumging und der Spur des Sonnenlichts durch den Tag folgte, gelangte man von der Morgenseite des Hauses zur Linken, wo Kinder spielten, Tuch gewoben und Korn gemahlen wurde, zur Nachtseite, wo Nahrung zubereitet wurde und wo sich die Schlafplätze befanden. So lag auch Brica jetzt gleich links vom Eingang auf ihrem Lager aus Fellen, denn dies war der Ort der Geburt, während die älteste ihrer Großmütter rechts neben der Tür saß, bereit, in die tiefere Kälte des Todes hinauszugehen. Nach Cunovics Erfahrung hielten viele hochnäsige, die Römer nachäffende Bewohner des Südens solche Häuser für nichts weiter als große Misthaufen, aufgestapelt von Männern, die geistig auf der Stufe von Kindern standen. Aber da irrten sie sich. Briganten konnten jede beliebige Hausform bauen. Die meisten ihrer Scheunen und Getreidespeicher waren aus praktischen Gründen rechteckig, und manchmal bauten sie mit Stein, genau wie die Römer. Aber sie zogen runde, aus lebendigem Holz errichtete Häuser vor, die ihre Denkweise, die Zyklen ihres Lebens und ihre ins Land eingebettete Göttin widerspiegelten. All diese Gedanken gingen Cunovic ungeordnet durch den Kopf. Er war stolz auf sein Haus und den Beitrag, den er dazu geleistet hatte: ein brigantisches 8
Haus im alten Stil, teilweise mit neuem Geld bezahlt. Von hier stammte er; er würde immer ein Brigant sein. Doch als Hunde‐, Pferde‐ und Lederhändler hatte er es nicht nur mit brutalen Königen im Süden Britanniens zu tun, sondern auch mit kultivierten Menschen aus dem Mittelmeerraum, dem Herzen der riesigen und geheimnisvollen römischen Welt. Er hatte lernen müssen, anders zu sein. In Nectovelins Welt der Familie und der Treue wurde man von Bändern aus Eisen festgehalten, von der Geburt bis zum Tod. Cunovic bewegte sich in einer viel freieren Welt, einer Welt, in der er tun konnte, was ihm beliebte, solange er Geld verdiente. Er hatte gelernt, damit zurechtzukommen. Doch vor stolzen alten Männern wie seinem Großvater fühlte er sich manchmal, als zerreiße es ihn innerlich. Der Türvorhang raschelte schwer; ein wenig mehr Fackelschein fiel heraus, und Cunovic hörte Bricas Schreie und den besessenen Sprechgesang des Druiden. Ban stapfte unruhig und mit fahrigen Bewegungen auf und ab. »Es wird schlecht ausgehen. Es dauert schon zu lange.« »Das weißt du nicht«, sagte Cunovic. »Überlass das den Frauen.« »Vielleicht liegt es am Gebrabbel des Priesters«, knurrte Nectovelin. »Wer kann sich schon konzentrieren, wenn einem derart die Ohren vollgejammert werden ‐ und sei es nur darauf, ein Junges in die Welt zu pressen.« 2-5
In Cunovics Kindheit war es die Aufgabe der Priester gewesen, die Menschen über den Kreislauf der Jahreszeiten oder über Krankheiten des Viehs und des Getreides zu unterrichten ‐ überliefertes Wissen, das durch Generationen weitergegeben worden war, Wissen, für dessen Aneignung ein Novize auf Mona angeblich mindestens zwanzig Jahre seines Lebens benötigte. In den letzten Jahren hatten sich die Dinge jedoch geändert. Cunovic hatte gehört, dass die Römer der Priesterklasse in Gallien eine Verschwörung gegen die Interessen ihres Reiches vorwarfen und sie von dort vertrieben. Nun liefen die Priester also herum und hetzten die Menschen gegen die Römer auf. Außerdem behauptete Nectovelin immer, dass sich die Druiden mit ihren fremden Ideen nur zwischen die Menschen und ihre Götter drängen wollten. Wer brauchte einen Priester, wenn die Göttin überall in der umliegenden Landschaft sichtbar war? Aber Cunovic konnte es nicht lassen, den alten Mann zu ärgern. »Wenn er im Weg ist, wirf ihn hinaus, Großvater. Es ist dein Haus.« »Das geht nicht«, erwiderte Ban hastig. »Angeblich wird man verflucht, wenn man einen Druiden hinauswirft. « »Ob das nun stimmt oder nicht«, sagte Nectovelin, »es gäbe Ärger, weil genug Menschen es glauben. Keine Sorge, mein Enkelsohn. Wir werden den Priester ebenso verkraften wie den römischen Pisswein, den dein Bruder nach Hause bringt. Und wir werden mit dem weitermachen, was wichtig ist ‐ für deinen Jun 9
gen zu sorgen.« Ein widerwilliges Lächeln zerknitterte sein narbiges Gesicht. »Brica hat mir erzählt, dass ihr ihn nach mir benennen wollt.« »Nun ja, du bist auf den Tag genau siebzig Jahre alt, Großvater. Was bleibt uns da anderes übrig?« »Dann wollen wir hoffen, dass er so ein starker Bursche wird wie ich und die Gelegenheit bekommt, ein paar große Römernasen zu brechen, denn ich weiß, dass er zum Kämpfen geboren ist.« Cunovic sagte: »Und wenn es ein Mädchen ist, das dir auch nur annähernd ähnlich sieht, Nectovelin, wird sie noch Furcht einflößender sein.« Sie lachten gemeinsam. Dann schrie Brica, ein Laut, der die stille Nachtluft durchbohrte. Und sie begann hastig zu reden, ein hohes, schnelles, seltsames Gebrabbel, das Cunovic das Blut gefrieren ließ. Ban schrie auf und rannte zum Haus zurück. Cunovic lief mit ihm, und Nectovelin stapfte schwerfällig hinter den beiden her.
III Im Innern des Hauses lag Brica auf ihrem Lager aus Fellen. Die Frauen, die im Kreis um sie herumsaßen und nach den langen Wehen offenkundig erschöpft waren, lehnten sich hilflos zurück. Die Blässe von Bricas Gesicht stand in lebhaftem Kontrast zu dem purpurroten Fleck zwischen ihren Beinen, als weiche dort alle Lebenskraft aus ihr. Aber Cunovic sah einen kleinen Kopf, beschmiert mit grauer Flüssigkeit und noch verformt von dem
mühsamen Weg durch den Geburtskanal. Sula, die Großmutter des Säuglings, dessen Körper sich noch in Brica befand, stützte ihn mit ihrer starken Hand. Wie seine Mutter sah das Kind sehr blass aus, und es hatte einen rötlichen Haarschopf. Und Brica, deren Augen sich ebenso unruhig bewegten wie zuvor die des betenden Druiden, gab diesen rasenden Monolog von sich. Die Frauen waren entsetzt; einige von ihnen hielten sich die Ohren zu, um die Laute nicht hören zu müssen. Selbst der Priester war mit großen Augen in den dunklen Teil des Hauses zurückgetaumelt. Cunovic nahm den Anblick gebannt in sich auf. Bricas Monolog war unverständlich und sehr schnell, 10
ein hässliches Bellen ‐ aber er war überzeugt, einzelne Wörter zu erkennen. Sula, die den Kopf ihres Enkels hielt, blickte in müder Verzweiflung zu Ban auf. »Oh, Ban, das Kind ist schwach, sein Herz flattert wie das eines Vogels, und es will immer noch nicht herauskommen. Sie ist bald zu müde, um weiter zu pressen.« Sie musste die Stimme heben, um sich über Bricas Gebrabbel hinweg verständlich zu machen. »Dann müsst ihr sie aufschneiden«, sagte Ban. »Das wollten wir gerade«, sagte Sula. »Aber dann fing sie mit diesem Geschnatter an, und nun kann keine von uns mehr einen klaren Gedanken fassen!« Nectovelin knurrte. Mit zwei Schritten war er bei dem Druiden, schloss seine riesige Hand um einen Knäuel Stoff vom Gewand des Priesters und zog ihn ganz nah zu sich heran. »Du! Ist das dein Werk? Sind das Flüche, was sie da von sich gibt?« » Nein, nein! Beim Leben meiner Mutter!« Der dünne, bleiche Druide mit dem schütteren Haar mochte um die vierzig Jahre alt sein, und er zitterte in Nectovelins kraftvollem Griff. »Nectovelin!« Cunovics Ton war so scharf, dass sein Großvater sich umdrehte. »Das wird nichts nützen. Es hat nichts mit ihm zu tun. Lass ihn in Ruhe.« »Und woher weißt du das?« »Weil ich verstehe, was sie sagt. Das sind nicht die Worte von Göttern ‐ jedenfalls nicht die unserer Götter. « »Was dann?« 10
»Latein. Sie spricht Lateinisch.« Eine Stille trat ein, nur unterbrochen von Bricas unaufhörlichem Geplapper. Nectovelin ließ das Gewand des Druiden los, der beschämt zu Boden sank. »Wie ist das möglich?«, sagte Nectovelin mit schwerer Stimme. »Wer von uns beherrscht denn die lateinische Sprache?« »Keiner außer mir«, erwiderte Cunovic, »abgesehen von ein paar Wörtern, die ihr von mir oder den Händlern aufgeschnappt habt.« Und schon gar nicht die stille Brica, die sich in ihrem ganzen Leben wahrscheinlich nicht weiter als eine Tagesreise von ihrem Geburtsort fortgewagt hatte. »Was hat das dann zu bedeuten?« »Ich habe keine Ahnung ...«
Cunovic verstand allmählich immer besser, was Brica sagte. Es waren nur ein paar Zeilen, wie Knittelverse, die sie unablässig wiederholte. Ihm kam der Gedanke, dass jemand ihre Worte niederschreiben sollte. Er sollte es tun, schließlich war er das einzige des Schreibens kundige Mitglied der Familie. Er suchte seinen Beutel, zog eine Tafel und einen Griffel heraus und begann zu kritzeln. Die Kinder beobachteten ihn mit großen Augen; die Buchstaben, die im Wachs erschienen, mussten ihnen wie Zauberei vorkommen. Nectovelin machte ein finsteres Gesicht und wandte sich an Ban. »Angesichts einer solchen Geburt und einer Mutter, die Lateinisch plappert, liegt bereits ein Fluch auf seinem Leben. Nenne ihn, wie du willst, Ban. Er wird kein Krieger sein.« 11
In Ban schien etwas zu zerbrechen. »Du überheblicher alter Mann!«, brüllte er. »Kannst du denn selbst in einem solch fürchterlichen Moment an nichts anderes denken als an dich? Ich habe keine Zeit für dich und deinen uralten Krieg. Caesar ist längst tot, und das wirst du auch bald sein, und dann wird man dich und deine Prahlereien vergessen!« Einen schrecklichen Augenblick lang dachte Cunovic, der riesige Nectovelin werde seinen Enkel niederschlagen. Aber Nectovelin starte Ban nur so lange an, bis dieser den Blick abwandte. Verachtung verhärtete sein zernarbtes Gesicht, und er verließ das Haus. »Wir müssen sie aufschneiden.« Inmitten des Mysteriums von Bricas Geschnatter und des streitsüchtigen Gebarens der Männer sprach müder Pragmatismus aus Sulas Stimme. »Ban hat recht. Wir müssen das Kind befreien, bevor sie alle beide sterben.« Die anderen Frauen nickten und rückten näher. Sula hob ein Messer aus Feuerstein in die Höhe. Dieses Geschenk der Erde war das traditionelle Werkzeug für solch verzweifelte Momente, und seine sorgfältig gearbeitete Schneide war schärfer als das beste brigantische Eisen, ja sogar besser als römischer Stahl, wie Cunovic wusste. Brica schrie auf, als sich die steinerne Klinge in ihr Fleisch bohrte. Ban biss sich auf die Lippe; er war sich der Gefahren bewusst. Bricas Sturzbach lateinischer Wörter versiegte jedoch immer noch nicht; Cunovic kritzelte weiter auf seine Tafel. Die Wörter waren seltsam, rätselhaft und 3 i unzusammenhängend: haushohe Pferde ... kleinen Griechen ... toter Marmor ... Cunovic dämmerte allmählich, dass dies eine Beschreibung der Zukunft ‐ oder einer Zukunft ‐ war, eine Schilderung von Ereignissen, die erst eintreten konnten, wenn er und Brica und sie alle schon längst tot waren. Voller Furcht stellte er sich einen Zauberer in einer dunklen Zelle vor, irgendwo in der Vergangenheit oder der Zukunft, der dafür sorgte, dass sich in diesem Augenblick, in dem Geburt und Tod im Gleichgewicht waren, die fremdartigen Wörter in den Kopf der hilflosen Brica ergossen ‐ einen Zauberer, einen Weber, der die Fäden der Geschichte verwob, Fäden, die Menschenleben waren. Aber warum? Cunovic wusste nicht, ob er dem Guten oder dem Bösen diente, indem er diese Wörter niederschrieb ‐doch nachdem er einmal angefangen hatte, merkte er, dass er nicht
aufzuhören wagte. Und als die Worte im Wachs Gestalt annahmen, Worte in einer Sprache, die Brica unmöglich kennen konnte ‐ Worte in der Sprache des mächtigsten Reiches der Erde ‐, versuchte Cunovic, seine eigene abergläubische Furcht zu unterdrücken. 12
ERSTER TEIL INVASOREN 43‐70 N.CHR.
I Agrippina und ihre drei Begleiter ritten auf den Dünenstreifen zu, der die Küste säumte. Der Mittag nahte. Die vom Sonnenlicht getränkte Luft schmeckte herb wie bei einem Gewitter, und Agrippina spürte, wie sich ihre Haut in der sanften Brise straffte. Sie roch bereits das Salz in der Luft und meinte, das Rauschen der Wellen zu hören. Die vier hatten einen Landstreifen überquert, der bei Flut unter Wasser stand, um zu dieser Beinahe‐Insel zu gelangen, und nun umgab sie das Meer von allen Seiten. Am Rand der Dünen stiegen sie von den Pferden und ließen sie frei, damit sie nach Futter suchen konnten. Das Pferd, das Agrippina und ihren Bruder Mandubracius trug, ein geduldiger alter Wallach, den sie ritt, seit sie fünfzehn war, würde sich nicht weit entfernen. Dasselbe galt bestimmt auch für Nectovelins muskulöses Tier: Nicht einmal ein Schlachtross würde ihrem kriegerischen Vetter den Gehorsam verweigern. Cuneddas Stute jedoch war weitaus launischer, obwohl sie den Ritt zum Strand ebenso genossen hatte wie ihr Reiter. Sie überquerten die Dünen mit Essenspaketen, Lederflaschen mit Wasser und zusätzlicher Kleidung. Jeder von ihnen trug eine Waffe, ein Messer im Gürtel. 12 Dies war das Land der Cantiacer; zwar handelte es sich bei ihnen offiziell um Verbündete von Cuneddas Volk, den Catuvellaunen, aber die Beziehungen zwischen diesen eigentümlichen südlichen Stämmen waren unbeständig, und es zahlte sich immer aus, auf der Hut zu sein. Nectovelin schleppte das schwere Lederzelt, in dem sie schlafen würden; es war zusammengelegt und verschnürt. »Bei Coventinas verschrumpelter Zitze«, fluchte er, »das Ding ist heute noch schwerer als sonst.« Agrippina blieb ein wenig zurück und ließ Nectovelin voranstapfen. Der kleine, zehnjährige Mandubracius eilte hinter ihm her. Dadurch gewann sie einen der seltenen Augenblicke allein mit Cunedda. Sie beugte sich zu ihm und ließ sich von ihm einen Kuss rauben. »Aber ein Kuss wird reichen müssen«, sagte sie und löste sich von ihm. Cunedda lachte und ließ sie los. »Wir haben noch genug Zeit.« Sein südlicher Dialekt ähnelte ihrer eigenen brigantischen Sprache, klang jedoch ein wenig anders ‐ exotisch genug, um das Ohr zu erfreuen.
Cunedda war vierundzwanzig, nur ein Jahr älter als Agrippina. Ihre Haut war hell, seine dunkel, und er hatte pechschwarzes Haar und tiefbraune Augen. Heute trug er einen ärmellosen wollenen Leibrock, und die Sommersonne ließ seine Haut in einem unwiderstehlichen Honigbraun schimmern, von dem Agrippina mit ihrer blassen Haut und dem rotblond gesträhnten Haar nur träumen konnte. Sie fand, dass Cunedda wie ein Bewohner des Mittelmeerraums aussah, einer jener re 13 degewandten Jungen, die ihr in ihrer Jugend in Massilia so beharrlich und fruchtlos nachgestellt hatten. Und er war ein Prinz aus dem königlichen Geblüt der Catuvellaunen, ein Enkel des toten Königs Cunobelin, was ihn für sie noch faszinierender machte. Sie roch den salzigen Schweiß auf seiner bloßen Haut und sehnte sich danach, ihn in den Armen zu halten. Aber das konnte sie nicht, nicht jetzt. Sie gingen weiter. »Schau dir den alten Nectovelin an, wie er dahin‐stampft«, sagte Cunedda. »Er ist wie ein entwurzelter Baum aus dem Wald.« »Er geht wie ein Krieger«, sagte sie. »Schließlich war er ja auch nie etwas anderes.« »Er hat die Haarfarbe eurer Familie, dieses ergrauende Rot. Ist er wirklich dein Vetter?« »In gewissem Sinn. Mein Großvater, Cunovic, war der Bruder seines Vaters Ban.« »Er sieht nicht gerade aus wie der ideale Begleiter für einen netten Tag am Stra nd.« Agrippina zuckte die Achseln. »Es war seine Idee. Hauptsache, er lernt dich ein wenig kennen, Cun! Außerdem ‐ wenn überhau pt, hat er heute das Sagen ...« Cunedda hielt sich einerseits zu Handelszwecken in diesem Teil der Welt auf, um se in Tonwarengeschäft zu fördern; zugleich befand er sich jedoch auch im Auftrag d es catuvellau nischen Hofes in Camulodunum nördlich der großen Flussmündung als Gesandter bei den Cantiacern. Der Brigant Nectovelin war für diesen Tag zu seinem Leibwächter bestellt worden. 13
Es war nicht sonderlich ungewöhnlich, hier im Süden Briganten finden, die für die Catuvellaunen arbeiteten, die vorherrschende Macht in diesem Teil der Insel, schon bevor sich der längst verstorbene Cassivellaunus bei der römischen Invasion vor neunzig Jahren Caesar persönlich entgegengestellt hatte. Nectovelins Dienste für Cuneddas Familie hatten den jungen Mann überhaupt erst in Agrippinas Leben gebracht. Und sie hoffte, dass sie Nectovelin heute dazu bewegen konnte, die Tatsache zu akzeptieren, dass Cunedda hier bleiben würde. Sie überquerten die Dünenkuppe und sahen das Meer vor sich, ein blassblaues Tuch unter der sengenden Sonne. Für Agrippina, die das Mittelmeer mit eigenen Augen gesehen hatte, wirkte es beinahe mediterran, aber dies war oceanus, der Ozean, eine von der Flut aufgeblähte Bestie, vor der die abergläubischen Römer große Angst hatten. Ein paar Meilen vor der Küste lag eine flache Insel knapp über dem Meeresspiegel. »Hier sind wir nah genug am Wasser«, knurrte Nectovelin. Er ließ das schwere Zelt in den Sand fallen. Agrippina sah, dass der unter dem Zelt gefangene Schweiß auf seinem Rücken den Leibrock schwarz gefärbt hatte.
Mandubracius jauchzte auf. »Fangt mich, wenn ihr könnt!« Er rannte mit blitzenden Beinen zum Meer, eine Explosion zehn Jahre alter Energie. Er war so blass, dass er wie ein Gespenst aussah, als gehöre er kaum zu dieser Welt. 38
Nectovelin hob die Stimme nur ein wenig. »Hiergeblieben, mein Junge.« Mandubracius blieb sofort stehen. Er drehte sich um und trabte zurück. Cunedda staunte. »Er ist wie ein gut abgerichteter Hund.« »Oh, meine Hunde richte ich besser ab«, sagte Nectovelin. Mandubracius kam schwitzend und ein wenig keuchend, aber ohne jeglichen Groll zu ihnen. Nectovelin deutete auf das Zelt. »Da. Bau das auf.« »Das habe ich noch nie gemacht.« »Dann musst du lernen, wie es geht.« Mandubracius zupfte an der Lederplane. »Aber es ist heiß. Wir sind eine Ewigkeit gelaufen. Und es ist schwer. Schau, ich kannʹs nicht mal hochheben!« Nectovelin schnaubte. »Bei Coventinas rotzverkrustetem linkem Nasenloch, so was habe ich ja noch nie gehört. Während du hier wie ein Welpe herumstehst, hätte ein römischer Legionär schon eine komplette Festung ausgehob en. Na los, an die Arbeit. Ich gehe meine Füße baden.« Er marschierte davon. Cunedda sagte zu Mandubracius: »Ich hel fe dir ...« »Wenn er nicht weiterweiß«, sagte Agrippina sanft. »Lass es ihn zunächst allein versuchen. Komm. Geh mit mir ans Meer.« Sie folgten Nectovelin, während Mandubracius mühsam das steife Leder auseinanderfaltete. 14
II Nectovelin löste seine Sandalen und gab den Blick auf Füße frei, die eine Masse aus Haaren und vom Pilz befallenen Zehennägeln waren. Er trat ins Wasser und seufzte, als die kühlen Wellen über seine Zehen schwappten. Agrippina stieß ihre Sandalen ebenfalls von sich und folgte ihm. Cunedda, der schwerere Stiefel und Strümpfe im römischen Stil trug, setzte sich in den feuchten Sand, um sie auszuziehen. Dann standen die drei wie steinerne Statuen nebeneinander im Wasser und schauten ostwärts zu der grasbewachsenen Insel, dem ruhigen Ozean und dem fernen, unsichtbaren Europa dahinter. »Du überraschst mich, Nectovelin«, sagte Cunedda vorsichtig. »Weshalb?« »Du hast dem Jungen einen römischen Soldaten als Vorbild hingestellt. Was, wenn er irgendwann einmal einem Römer im Nahkampf gegenübersteht?« »Ich zeichne ihm ein überlebensgroßes Bild der Römer. Aber wenn Mandubracius sieht, was für kleine Jammergestalten sie in Wirklichkeit sind, wird er keine Angst vor ihnen haben.« »Dazu wird es sowieso nie kommen«, meinte 4o
Agrippina. »Die Römer werden weder gegen die Catuvellaunen noch gegen die Briganten oder sonst jemanden kämpfen.« »Caesar hat es getan«, erwiderte Nectovelin. »Und ich habe gehört, wie Caratacus von einem Aufmarsch römischer Truppen in einer gallischen Küstenstadt gesprochen hat«, ergänzte Cunedda. »Er und sein Bruder hatten für den Fall, dass die Römer herübergekommen wären, sogar ein paar tausend Mann an der Küste zusammengezogen. Natürlich sind sie nicht gekommen, und dieses Jahr ist es ohnehin zu spät für einen Feldzug, also sind alle wieder nach Hause gegangen. Aber trotzdem ...« »Aber trotzdem sind das alles bloß Gerüchte. Im Unterschied zu Caesars Zeit gibt es jetzt regen Handelsverkehr.« Sie zeigte auf einen Schatten am Horizont, ein gedrungenes Schiff mit schweren Segeln. Wahrscheinlich war es ein Handelsschiff aus Gallien, ein massiver Kahn aus zusammengenagelten Spanten, mit eisernem Anker und Segeln aus ungegerbtem Leder. »In Massilia heißt es, ein Einfall in Britannien lohne sich für die Römer nicht, weil sie so viel an den Zollgebühren verdienen.« »Caesar hat hier Krieg geführt.« »Außerdem haben die Römer Angst vor dem Ozean«, meinte Cunedda. »Ist es nicht so? Sie würden es ohnehin niemals wagen, das Meer zu überqueren.« »Caesar hat es überquert«, sagte Nectovelin schlicht. »In Wahrheit will niemand glauben, dass die Legionäre wiederkommen könnten, weil heutzutage 15
alle an den goldenen Zitzen Roms liegen. Du bist Töpfer, nicht wahr, mein Junge ?« »Ja.« Tatsächlich war Cunedda viel mehr als das; er hatte sein Erbe gut genutzt, betrieb nun ein florierendes Gewerbe und beschäftigte zwanzig Kunsthandwerker. »Und an wen verkaufst du deine Tonwaren? An die Römer?« »Nicht nur an die Römer ...« »Auch an diejenigen, die sie nachäffen. Die Trinovanten, die Icener, die Atrebaten. Diejenigen, die unter ihrem Schutz leben. Jedenfalls nicht an uns Briganten.« Nectovelin stupste Cunedda mit dem Finger vor die Brust. »Wenn die Römer nicht wären, könntest du nicht davon leben, habe ich recht?« »Immer mit der Ruhe, alter Mann«, sagte Agrippina. »Vergiss nicht, er bezahlt deinen Lohn.« Cunedda erwiderte: »Aber was ist denn schlecht daran, den Römern das Geld abzunehmen? Ich hätte gedacht, du würdest das gutheißen.« »Wieso kümmert es dich, was ich denke? Du bumst meine Base, stimmtʹs?« Cunedda errötete. »Dann hast du es also die ganze Zeit gewusst?«, fuhr Agrippina auf. Nectovelin tippte sich an die Stirn. »Glaubst du, ich hätte das reife Alter von siebenundvierzig Jahren erreicht, wenn ich blind und taub wäre? Außerdem hat Bala es mir erzählt.« Agrippina blieb die Luft weg. Bala von den Cantia 15-
cern war einmal ihre Freundin gewesen; sie hatten sich wegen Cunedda zerstritten. »Dieses niederträchtige Miststück. Ich reiße ihr die Kehle heraus!« Cunedda lachte. »Jetzt klingst du wirklich wie Nectovelins Base.« Nectovelin hielt sich ein Nasenloch zu und blies das andere aus. In seinem Bart blieb eine Schleimspur zurück, die er mit dem Ärmel wegwischte. »Deshalb seid ihr also an den Strand gekommen. Um mich rumzukriegen.« Agrippina hängte sich voller Zuneigung bei ihm ein. »Ach, nun mach keine Schwierigkeiten, du alberner alter Schwindler. Du weißt, du warst immer fast so etwas wie ein Vater für mich, seit mein eigener Vater gestorben ist.« »Aber du hast meine Erlaubnis nicht gebraucht, um die Beine breit zu machen.« »Sei nicht vulgär! Nein, aber ich möchte, dass du zu uns gehörst, dass du ein Teil unserer Beziehung bist.« Nectovelin musterte Cunedda. »Du hättest eine schlechtere Wahl treffen können. « »Danke«, sagte Cunedda trocken. »Aber ich dachte, du magst uns Catuvellaunen nicht.« »Nimmʹs nicht persönlich. Ich mag keinen von euch weichärschigen Südbritanniern. « Er sah sich mit wütender Miene an dem sonnenbeschienenen Strand um. »Das hie r ist das Arschloch Britanniens. Deshalb hat Caesar hier sein römisches Schwert reingesteckt.« »Wenn das hier ein Arschloch ist«, sagte Cunedda 16
bedächtig, »bist du dann der Darminhalt, der es durchquert, alter Krieger?« Nectovelin runzelte die Stirn, und Agrippina dachte einen schrecklichen Moment lang, er wäre beleidigt. Aber er zwinkerte Agrippina zu. »Nette Erwiderung. Aber ich war geistreicher, oder?« »Oh, du bist ein richtiger Cicero«, sagte Agrippina trocken. »Wahrscheinlich hast du doch ein bisschen was von einem Römer in dir ...« »Wie Cassivelaunus, als Caeser ihn sich geschnappt hatte.« Sie brachten es alle fertig, darüber zu lachen. Auf einmal sagte Nectovelin: »Aber wenn du ihr wehtust...« »Werde ich nicht«, versprach Cunedda. »Hast du Angst vor mir, Junge?« »Nicht vor dir«, sagte Cunedda tapfer. »Aber vor ihr.« Nectovelin schaute finster drein. Dann brach ein weiteres Lachen seine strenge Miene auf, und er klopfte Cunedda auf die Schulter. Agrippina machte ein paar Schritte nach vorn, und das tiefere Wasser plätscherte äußerst angenehm gegen ihre bloßen Beine. »Schaut.« Mit ihrem Zeigefinger zog sie die Küstenlinie nach. »Diese Bucht ergäbe einen guten Hafen. Sie wird von dieser Insel und den Kiesbänken dort drüben im Süden geschützt.« Cunedda sagte: »Auf diese Idee ist auch schon jemand anders gekommen.« Er zeigte auf einen Haufen Netze und eine Schar Möwen am Strand, die sich um 16
Fischabfälle balgten. »Ich verstehe gar nicht, wieso es hier nicht von Schiffen wimmelt.«
»Weil die Bucht noch zu neu ist«, sagte Nectovelin. »Vor ein paar Jahren gab es hier einen schweren Sturm. Dabei wurde eine Sandbank durchbrochen. Diese Insel hat es bei meiner Geburt noch gar nicht gegeben.« Cunedda nickte. »Dann war der Hafen zu Caesars Zeit also noch nicht hier?« »Nein. Er ist nicht einmal in der Nähe gelandet.« Nectovelin erzählte ihnen von Caesars schwieriger Landung unterhalb der weißen Kalkklippen an der Südküste. Agrippina dachte mit leisem Unbehagen an eine pikante Information, die sie bei einem Händler in Durovernum aufgeschnappt hatte, der Hauptstadt der Cantiacer, des hiesigen Volksstamms. Die Cantiacer hatten zwar noch keinen Namen für diesen neuen Hafen, die Römer aber sehr wohl: Sie nannten ihn Rutupiae. Dank ihrer unaufhörlichen, besessenen Landvermessung und Kartografie und der vorsichtigen Spionagetätigkeit ihrer Händler hatten die Römer die mögliche Bedeutung dieses Ortes noch vor den Einheimischen erkannt. Agrippinas Blick wurde von einem anderen Umriss am Horizont abgelenkt. Vielleicht ein weiteres Handelsschiff mit Ledersegeln aus Gallien. Heute schien reger Verkehr zu herrschen. Aber die Luft war dunstig, und sie konnte es nicht richtig erkennen. »Schaut«, sagte Cunedda, »Mandubracius winkt uns. Er hat das Zelt aufgebaut!« 17
In diesem Augenblick sackte das formlose schwarze Gebilde, das der Junge errichtet hatte, in sich zusammen. Nectovelin räusperte sich. »Er hat sein Bestes getan. Retten wir ihn.« Er verließ als Erster das Wasser und ging über den Strand voran. 17
III Sie verbrachten den Tag mit Spielen, Gesprächen, Essen und Trinken. Es war fast schon Hochsommer, das Licht schwand nur langsam vom Himmel. Nectovelin trank sogar ‐ wenn auch widerstrebend ‐ von dem römischen Wein, den Cunedda mitgebracht hatte. Agrippina war froh über Mandubraciusʹ Anwesenheit. Er war ein gutherziges, liebevolles Kind und wollte nicht mehr, als dass alle sich wohl fühlten. Tatsächlich fragte sie sich, ob sie es unbewusst so geplant hatte, dass Mandubracius zur Verbesserung der Stimmung dabei war, wenn sie Nectovelin ihre Beziehung zu Cunedda eingestünde. Als Erster erlag Mandubracius der Müdigkeit, dann Nectovelin, und sie zogen sich ins Zelt zurück. Cunedda und Agrippina entfernten sich ein wenig vom Schein des Feuers. Sie hatten ein paar zusätzliche Kleidungsstücke dabei, die sie auf dem kühlen Sand ausbreiteten, und sie legten sich nebeneinander nieder und schauten zu, wie die Sterne allmählich herauskamen. Die Wellen plätscherten leise. Cunedda nahm ihre Hand. »Glaubst du, er schläft wirklich? Ich habe gehört, dass alte Soldaten niemals schlafen.« 17
»Du machst dich über ihn lustig, aber er ist tatsächlich ein Krieger. Schließlich wurde seine Geburt von einer Prophezeiung begleitet!«
»Im Ernst? Erzähl«, bat Cunedda fasziniert. Also erzählte ihm Agrippina, dass Nectovelins Mutter während der schweren Geburt angeblich angefangen hatte, vor sich hin zu brabbeln. »Brica konnte nicht mehr erklären, wieso sie auf einmal lateinische Sätze daher plapperte, denn sie starb bei der Geburt ‐ aber das Kind, Nectovelin, hat überlebt.« Ihr Großvater Cunovic hatte eine recht gute Abschrift der »Prophezeiung« auf Pergament niedergelegt und sie Nectove‐ lin gegeben, als dieser älter geworden war. »Ich liebe solche Geschichten«, sagte Cunedda. »Wie lautete sie?« »Das weiß ich nicht genau. Sie enthielt ein paar Worte über die Römer, über Freiheit und eine Menge Zeug, das überhaupt keinen Sinn ergab. Cunovics Ansicht nach war es eine Art Orakel, das jemand Nectovelins Mutter eingegeben hatte ‐ ein Gott oder viel‐ leicht ein Zauberer aus der Zukunft, der sich an der Vergangenheit zu schaffen machte. Ein >Weber<, wie Cunovic ihn nannte. Ich glaube, die Prophezeiung hat ihm ziemliche Furcht eingeflößt. Er hat es nicht gewagt, seine Abschrift zu vernichten, war aber froh, als er sie Nectovelin übergeben konnte ... soweit ich weiß, trägt Nectovelin sie seither mit sich herum, obwohl er sie nicht lesen kann!« »Und doch hat sie ihn geprägt.« »Ja. Wegen der Prophezeiung glaubt Nectovelin, es 18
sei ihm bestimmt, ein Krieger zu sein und gegen die Römer zu kämpfen ‐ so wie sein Urgroßvater gegen Caesar gekämpft hat. Wahrscheinlich hat es nicht gerade geholfen, dass dieser Urgroßvater ihm auch seinen Namen gab. Allerdings war er fast sein ganzes Leben lang ein Krieger ohne Krieg. In Brigantien gibt es nur hin und wieder ein paar kleine Viehdiebstähle, und das ist einfach zu magere Kost für einen Krieger! Und zum Bauern hat er sowieso nie getaugt. Er war ständig launisch und aggressiv. >Als lebte man mit einem Gewitter zusammen<, hat meine Mutter immer gesagt. Er hatte nie Kinder, weißt du ‐ Geliebte, aber keine Kinder. Und als er hörte, dass ihr jungen Catuvellaunen abenteuerlustig würdet, kam er hierher, um ein bisschen zu kämpfen, obwohl er da schon in den Dreißigern war. Ein paar Trinovanten den Schädel einzuschlagen, das war ganz nach seinem Geschmack. Aber er ist immer noch ruhelos. Man merkt es ihm an ...« Seit den Zeiten des Cassivellaunus, als die Römer jenseits des Meeres vor sich hin gebrütet hatten, waren die Catuvellaunen damit beschäftigt gewesen, ein eigenes Reich zu errichten. Die Catuvellaunen rühmten sich immer noch ihres »Sieges« über Julius Caesar, obwohl Cassivellaunus in Wirklichkeit nicht mehr als ein Patt gegen die überforderten Römer erreicht hatte. Bevor Caesar Britannien endgültig verlassen hatte, hatte er darauf bestanden, dass die Catuvellaunen ihre Nachbarn, die Caesar freundlich gesonnenen Trinovanten, res 18
pektierten. Nun, daraus war nichts geworden; binnen kurzem hatten die Catuvellaunen mit unverschämter Dreistigkeit Camulodunum, den Hauptsitz der Trinovanten, eingenommen und zu ihrer eigenen Hauptstadt gemacht.
Unter der anschließenden jahrzehntelangen Regentschaft von Cassivellaunusʹ Enkel Cunobelin hatten sich die Catuvellaunen damit begnügt, in ihrem kleinen Reich auszuharren. Agrippina hatte den Eindruck, dass Cunobelin ein kluger und pragmatischer Herrscher gewesen war, der es geschafft hatte, die widerstreitenden Kräfte des volkseigenen Stolzes und der fortwährenden Bedrohung durch die römische Macht auszugleichen ‐ und dabei durch den lukrativen Handel mit Rom reich zu werden. Doch dann war Cunobelin gestorben. Sein Reich war in die Hände zweier seiner vielen Söhne übergegangen, Caratacus und. Togodumnus ‐ beides Onkel von Cunedda, obwohl sie nicht viel älter waren als er. Für sie lag Caesars Einfall in grauer Vorzeit. Und unter ihnen hatten die Catuvellaunen eine aggressive Expansion begonnen. Im Verlauf der darauf folgenden Überfälle und kleinen Scharmützel war Nectovelin rasch aufgestiegen und hatte einen Platz in den Räten der Fürsten gefunden. Während sein Reichtum wuchs, hatte Nectovelin einige Angehörige aus Brigantien zu sich geholt, die ihm helfen sollten, das Geld auszugeben. Aber er war nicht immer erfreut über die Resultate gewesen, zum 5°
Beispiel, als Agrippinas Mutter das Angebot angenommen hatte, ihre junge Tochter im Reich erziehen und ausbilden zu lassen, so wie zwei von Cunobelins jüngeren Söhnen. Die Römer behaupteten, dies stärke die Verbindungen zwischen den Völkern, aber nüchternere Denker bezeichneten es als »Geiselnahme«. Dennoch hatte Agrippinas Mutter die Vorteile einer römischen Ausbildung erkannt. Sie hatte ihrer Tochter sogar einen römischen Namen gegeben. Infolgedessen hatte Agrippina drei Jahre ihres Lebens in Massilia an der Südküste Galliens verbracht, wo sie Latein gebüffelt, Lesen und Schreiben gelernt, Rhetorik und Grammatik und die anderen Elemente einer römischen Ausbildung in sich aufgenommen und das mediterrane Licht aufgesaugt hatte. Das hatte sie in jeder Hinsicht verändert, wie sie wusste. Und doch hatte sie nicht gezögert, nach Hause zu kommen, als die Zeit um war. »Ich bin gegen Nectovelins Willen nach Massilia gegangen«, sagte Agrippina. »Aber ohne ihn wäre ich nicht hier im Süden gewesen. Ich hätte dich nicht kennengelernt. Und nichts von alledem wäre ohne die Prophezeiung geschehen.« Cunedda schüttelte den Kopf. »Eine seltsame Geschichte. Was für ein dramatischer Augenblick das gewesen sein muss ‐ die qualvollen Wehen, die Frauen um Brica herum, die Brüder, der vor sich hin brütende Großvater ‐, und dann sprudeln auf einmal diese lateinischen Wörter aus ihr heraus! Und das Echo dieses einen, in der Vergangenheit verlorenen Augen‐ 19
blicks hat sich durch Nectovelins ganzes Leben fortgepflanzt. « Diese romantischen Gedanken erinnerten Agrippina daran, weshalb sie sich so heftig in Cunedda verliebt hatte. Sie krümmte die Finger und strich ihm mit den Nägeln sanft über die Handfläche. »Aber obwohl sie sein Leben geprägt hat, kann Nectovelin seine eigene Prophezeiung nicht lesen.«
»Du könntest sie ihm vorlesen.« »Ich habe es ihm einmal angeboten. Er hat so getan, als hätte er es nicht gehört. Er kann es nicht ausstehen, wenn ich römische Schriften lese. Ich hätte ihm ebenso gut mit einem Legionsadler vor der Nase herum wedeln können.« Sie unterdrückte ein Seufzen. Sie hatte mit ihrem Vetter schon oft darüber diskutiert. »Worte verleihen einem solche Macht. Wenn er lesen könnte, wäre er jedem Römer ebenbürtig, sogar Kaiser Claudius selbst.« Er blickte zu ihr auf. Die Sterne spiegelten sich in seinen Augen. »Liebe Pina. Ein Kopf voller Worte und Träume ! « »Träume ? « »Wir müssen über die Zukunft sprechen. Über unsere Zukunft.« Er zögerte. »Pina ‐ Claudius Quintus hat mir eine Stellung in Gallien angeboten.« Diese plötzliche, unerwartete Neuigkeit versetzte ihr einen argen Dämpfer. Sie wusste, dass Quintus eine von Cuneddas wichtigsten Kontaktpersonen in seinem Tonwarengeschäft war. »Quintus expandiert«, fuhr Cunedda fort. Er wusste nicht genau, was in ihrem Kopf vorging. »Meine Arbeit gefällt ihm. Er wird sich als Partner an dem neuen Unternehmen beteiligen, aber ich werde die Geschäfte führen, genauso wie hier.« »Und du hast es nicht der Mühe für wert befunden, mir etwas von all dem zu sagen?« »Ich wollte erst sicher sein, dass der alte Nectovelin mich nicht sowieso von dir fernhält. Aber er scheint mich zu akzeptieren, nicht wahr? Also müssen wir nun entscheiden, was wir tun wollen. Denk darüber nach, Agrippina. Wenn ich nach Gallien gehe, stehen mir die Handelswege des ganzen Reiches weit offen. Und ich muss nicht jedes Mal, wenn ich eine neue Produktreihe herausbringe, einen weiteren schafsköpfigen Britannier anlernen!« »Jetzt klingst du selbst wie ein Römer«, sagte sie. Er sah sie an. Offenkundig versuchte er, ihre Stimmung einzuschätzen. »Und, ist das so schlimm? Du bist doch in Gallien aufgewachsen.« »Aber ich bin zurückgekommen«, erwiderte sie leise. Er runzelte die Stirn. »Hör zu, wenn es dich unglücklich macht, lassen wir es bleiben. Ich finde schon einen anderen Weg, aus Quintusʹ Vertrauen in mich Nutzen zu ziehen.« »Das würdest du für mich tun?« »Natürlich. Ich wünsche mir eine gemeinsame Zukunft mit dir, Pina. Aber es muss eine Zukunft sein, die wir beide wollen ...« Sie seufzte und legte sich zurück. Genau da lag das 20
Problem: Was wollte sie? In Gallien hatten ihre Freundinnen und Freunde, so nett sie gewesen waren, stets herabgeschaut auf sie, eine Barbarin von einem Ort außerhalb der Zivilisation. Doch nun schien es auch in Brigantien keinen Platz mehr für sie zu geben, denn dort konnte niemand die Erfahrung mit ihr teilen, wie beim Lesen in ihrem Geist Funken sprühten. Außerdem gab es auch praktischere Probleme. In Britannien konnte eine Frau einem Mann ebenbürtig oder sogar überlegen sein. Ihr eigener Volksstamm wurde von einer Frau namens Cartimandua regiert. In Rom würde sie jedoch nie mehr
sein können als jemandes Gemahlin ‐ und selbst wenn dieser Jemand so wunderbar war wie Cunedda, war das wirklich genug? »Ich habe dich durcheinandergebracht«, sagte Cunedda leise. »Tut mir leid. Wir reden morgen darüber.« Er legte seine warme Hand auf ihre Wange. »Kannst du den Himmel lesen, Agrippina? Siehst du an deinem Geburtsort dieselben Sterne? Da.« Er suchte einen hellen Stern heraus. »Das ist der Hund. Wenn wir ihn frühmorgens zum ersten Mal sehen, wissen wir, dass der Sommer vor der Tür steht. Er ist der Anführer des Rudels, verstehst du. Und im Winter halten wir Ausschau nach dem da« ‐ er zeigte auf einen anderen Stern ‐, »denn wenn er im Osten aufgeht, wissen wir, dass wir den Winterweizen ausbringen müssen. Wir glauben, dass einmal ein Mädchen an einen Strand gespült wurde ‐ vielleicht an einen ganz ähnlichen Strand wie diesen hier ‐, nachdem sie aus einem fernen Land hergeschwommen war. In ihrem Bauch trug sie die 21
Saat, aus der später der erste König der Catuvellaunen hervorgehen sollte. Aber in jener ersten Nacht fror sie, und es war dunkel. Sie zündete ein Feuer an, und die Asche stieg hoch in die Luft. Und so entstanden die Sterne.« »Bei uns gibt es ähnliche Geschichten«, sagte sie. »Und ja, wir lesen den Himmel.« Er strich ihr mit der Hand über die Seite, eine erregende Berührung. »Erzähl mir von Brigantien.« Sie lächelte im Dunkeln. »Brigantien ist ein großes Land, das sich von einem Meer bis zum anderen erstreckt, von Osten nach Westen und von Norden nach Süden. Man kann tagelang reiten, ohne an seine Grenzen zu gelangen. In unserer Sprache bedeutet der Name >hügelig<. Ich bin in einem Ort namens Eburacum geboren, was >Ort der Eiben< bedeutet. Unser heiliges Tier ist der Eber. Und Nectovelin wurde in Banna geboren, auf einem Höhenzug mit Blick auf ein Flusstal, das aussieht, als wäre es mit einem Löffel ausgehöhlt worden. Es ist ein schöner Ort.« »Und die aufregende Coventina, diese große Göttin, über die Nectovelin seine Scherze macht?« »Sie ist überall in der Landschaft. Man kann ihre Brüste in den wogenden Hügeln sehen, ihre Schenkel in den tief eingeschnittenen Tälern ...« Sie reagierte auf die Bewegungen seiner streichelnden Hand. »Oh, Cunedda ...« Ein Ruder klatschte ins dunkle Wasser. 21
IV Agrippina setzte sich abrupt auf. Cunedda war überrascht. »Was ist?« Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen. Als sie aufs Meer hinausschaute, sah sie nichts. Aber da war es wieder, das unverkennbare Klatschen eines ungeschickt gehandhabten Ruders, der dumpfe Laut von Holz auf Holz ‐ und ein unterdrückter Fluch, eine Männerstimme. »Das habe ich gehört.« Cunedda flüsterte jetzt. »Du hast scharfe Ohren.«
Ein Knurren aus der Dunkelheit. »Hört auf mit dem Gequassel.« Nectovelin war ein Schatten vor der Nacht. Agrippina fragte sich, ob er etwa die ganze Zeit wach gewesen war. »Glaubt ihr, das sind Piraten?«, fragte Cunedda nervös. »Wer landet sonst mitten in der Nacht?«, gab Agrippina zurück. Nectovelin grunzte leise. »Ja, wer wohl?« »Was meinst du?« »Wer immer das sein mag, sie brauchen nicht zu wissen, dass wir hier sind«, meinte Cunedda. »Wir sollten das Feuer löschen.« 22
»Schon geschehen«, sagte Nectovelin. »Aber sie werden den Rauch riechen ...« »Hallo!« Die kleine Stimme wehte vom Strand herauf. Es war natürlich Mandubracius. Er hielt eine Fackel in der Hand, und als er zum Meer hinunterging, war es, als schwebe er in einer Blase aus flackerndem Licht, eine schmale, geisterhafte Gestalt. Auf dem Wasser herrschte einen Moment lang völlige Stille. Aber dann kam eine Antwort. »Hallo« Eine Männerstimme mit starkem Akzent. Nectovelin fluchte derb. »Ich dachte, er schliefe noch. Meine Schuld, meine Schuld.« Cunedda wollte aufstehen. »Wir sollten ihn aufhalten. « »Nein.« Nectovelin hielt ihn am Arm fest. »Vielleicht lassen sie ihn laufen. Besser, wir gehen dieses Risiko ein, als dass wir uns jetzt zu erkennen geben.« Agrippina hatte das Gefühl, als wäre ihr Herz durch ein ledernes Band mit dem kleinen Jungen verbunden, der über den Strand lief. »Er ist nur ein Kind. Er ist neugierig, das ist alles.« »Pst«, sagte Nectovelin nicht allzu barsch. Mandubracius erreichte die Wasserlinie. Im flackernden Licht seiner Fackel konnte Agrippina nun undeutlich das gelandete Boot ausmachen. Es war größer, als sie es sich vorgestellt hatte, mit flachem Kiel, offenbar um die Landung am Strand zu erleichtern. Sie sah Männer an Bord, Gesichter, die im matten Fackelschein wie Münzen glänzten. Einer von ihnen stieg ins Wasser und sprach mit Mandubracius. Raues Geläch 22
ter ging durch die Menge an Bord des Landungsboots. Mandubracius schien Angst zu bekommen. Er warf die Fackel weg und wollte die Flucht ergreifen. Aber der Mann, der im Wasser stand, zog ein kurzes, plumpes Schwert und streckte Mandubracius damit nieder. Sofort schloss sich Nectovelins Hand fest um Agrippinas Mund. Vom Boot kam ein scharfes Wort, vielleicht ein Tadel. Agrippina glaubte, einen Namen zu hören: Marcus Allius. Und dann erlosch das Licht. All dies in einem einzigen kurzen Augenblick. »Hör mir zu«, sagte Nectovelin, und Agrippina hörte den Kummer in seinem rauen Flüstern. »Allein in diesem Boot sind bestimmt fünfzig Mann, und es werden weitere Boote kommen, Hunderte vielleicht, die überall in diesem Hafen landen. Wenn wir es mit ihnen aufzunehmen versuchen, werden wir ebenfalls sterben. Aber wir müssen am Leben bleiben und erzählen, was wir gesehen haben.« Agrippina wehrte sich weiterhin, aber Nectovelins Griff wurde noch fester. » Glaub mir, ich empfinde genauso wie du.
Mehr als das ‐ es ist meine Schuld. Und ich werde nicht ruhen, bis ich seinen Tod gerächt oder mein Leben für seines gegeben habe. Aber nicht jetzt, nicht heute Nacht!« Er löste seinen Griff allmählich und gab ihren Mund frei. Schwer atmend, der Sand rau auf ihrer Haut, flüsterte sie: »Also gut.« Cunedda rang ebenfalls nach Luft, und seine Augen waren weit aufgerissen. Er nickte. 23
»Dann folgt mir«, sagte Nectovelin. »Duckt euch und versucht, keine Spuren zu hinterlassen. Wir holen die Pferde, und dann ‐ nun, wir werden sehen. Kommt jetzt.« Er trat den Rückzug über die Düne an. Agrippina folgte ihm, und Cunedda bildete die Nachhut. Agrippina war sich der großen Gefahr bewusst, in der sie alle schwebten. Sie konzentrierte sich darauf, Nectovelins Anweisungen zu befolgen, und bemühte sich, keinen einzigen Halm des trockenen Dünengrases zu knicken. Aber sie wurde die Bilder dieser wenigen Momente nicht los, als die Fackel ins Wasser gefallen war: der glänzende Brustharnisch des Mannes mit dem Schwert, die Helme der im Boot aufgereihten Männer ‐ und der in die Höhe gereckte Legionsadler. 23
V Von seiner Bank im Heck des Landungsboots aus sah Narcissus die erste Welle der Boote, die auf den Strand fuhren. Unter den Sternen war nichts von dem dunklen Land dahinter zu erkennen, nichts als die Buckel von ein, zwei Dünen ‐ und vielleicht die Asche eines einsamen Feuers am Strand. Um Narcissus herum legten sich die nach Schweiß, Leder und Pferden stinkenden Legionäre unter den leisen Kommandos eines Zenturios in die Riemen. Die Ruderer hielten das Boot gegen die Flut an seinem Platz, denn Vespasians Befehl lautete, dass der Sekretär des Kaisers erst landen dürfe, wenn der General zu dem Urteil gelangte, dass der Landekopf einigermaßen gesichert war. Die Verzögerung betrug vielleicht eine halbe Stunde ‐ so kam es Narcissus, der in der Dunkelheit und der Stille saß, jedenfalls vor. Die Länge einer Stunde hing von der Länge des Tages ab, zwölf Stunden zerteilten das Intervall von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. In den Berichten längst verstorbener karthagischer Forscher hatte er jedoch gelesen, dass der Tag in diesen nördlichen Regionen eine ganz andere Dauer haben konnte als in Rom; im Sommer seien die Tage 23
länger, im Winter kürzer. Dass selbst die Zeit hier unbeständig war, verstärkte Narcissusʹ Gefühl der Unwirklichkeit auf diesem wogenden Meer, im Dunkeln, umgeben von den Grunzlauten nervöser, ängstlicher Soldaten. Er war weit weg von seiner Heimat, gestand er sich ein. Allerdings hatte er keineswegs die Absicht, sich vor diesen Männern eine Schwäche anmerken zu lassen. Viele von ihnen waren selbst höchstens halb zivilisierte Barbaren aus Germanien und Gallien und hatten erwartungsgemäß größere abergläubische Angst vor dem Ozean als vor allem, womit ihre entfernten Verwandten an der britannischen Küste sie unter Beschuss nehmen konnten. Und nach den würgenden
Lauten und dem Gestank von Erbrochenem zu urteilen, kamen viele von ihnen weitaus schlechter mit der sanften Dünung zurecht als Narcissus, der sich zumindest eines starken Magens rühmen konnte. Außerdem tröstete ihn das intensive Gefühl, einen entscheidenden historischen Moment mitzuerleben. Es fand es sogar bedauerlich, dass er auf diese Weise im Dunkeln landen musste, aber seine Anwesenheit an der Spitze der Invasion war nun einmal unumgänglich. Irgendwo da draußen waren die Flaggschiffe, die großen Triremen. Bei Tag boten diese imposanten Gebilde, die sich mit ihren glitzernden Rudern am Horizont abzeichneten, einen wundervollen Anblick, der jeden transozeanischen Barbaren in Angst und Schrecken versetzte; Narcissus wünschte, er könnte sie jetzt sehen. 24
Endlich leuchtete am Ufer ein Licht auf; eine Laterne, die hin und her geschwenkt wurde. »Es ist soweit, Leute«, knurrte der Zenturio. »Ehe ihrʹs euch verseht, werdet ihr den Fuß auf gutes, trockenes Land setzen. An die Ruder! Eins, zwei. Eins, zwei ...« Seine rhythmischen Kommandos weckten unangenehme Erinnerungen an das Schiff, auf dem Narcissus an der gallischen Küste entlang gesegelt war; das erbarmungslose Dröhnen der Trommel eines Schlagmanns hatte dafür gesorgt, dass die Rudersklaven auf ihren Bänken im Takt blieben. Narcissus war ein Freigelassener, ein ehemaliger Sklave. In seiner Position hatte er sich an den Umgang mit Sklaven gewöhnen müssen. Aber die große Nähe zu solch extremer Knechtschaft, wo Hunderte von Männern als Bestandteile einer Maschine benutzt wurden, war enervierend gewesen. Das flach gehende Landungsboot fuhr knirschend auf Sand, und der Zenturio sprang in knöcheltiefes Wasser. Während ein paar seiner Leute das Boot ruhig hielten, bot der Zenturio dem Sekretär den Arm. So schritt Narcissus ans britannische Ufer, fast ohne sich die Füße nass zu machen. Der General war anwesend, um ihn zu empfangen. Narcissus erwartete auch nicht weniger als eine persönliche Begrüßung durch Titus Flavius Vespasianus, den Legaten der zweiten Legion Augusta und Oberbefehlshaber der nächtlichen Operation am Strand ‐, denn obwohl Narcissus offiziell nur der für die amtliche Korrespondenz zuständige Sekretär des Kaisers war, hatte er das Ohr von Claudius. 6z
»Sekretär. Willkommen in Britannien. Ich bitte um Entschuldigung, dass ich dich warten ließ.« Vespasian war ein stämmiger, dunkler Mann von Mitte dreißig. Der Sohn eines asiatischen Bauern hatte eine schroffe Art und einen unvorteilhaften provinziellen Akzent, aber er sah aus, als wäre er in seiner Rüstung zur Welt gekommen. Vespasian führte Narcissus ein kleines Stück den Strand hinauf, weg von der feuchten Uferzone. Zwei von Vespasians Stabsoffizieren folgten ihnen in gebührendem Abstand. »Ich nehme an, die Landung ist ohne Gegenwehr erfolgt«, sagte Narcissus. »So gut wie. Unsere Täuschungsmanöver haben offenbar gewirkt.« Als die römischen Streitkräfte im gallischen Gesoriacum zusammengezogen worden waren, hatten sich an der britannischen Küste primitive Truppenverbände versammelt, um sie zu empfangen ‐doch als die Römer nicht gleich übergesetzt hatten, waren diese Bauernkrieger wieder
auf ihr Land zurückgekehrt. Die Überfahrt war dann schließlich so spät im Sommer erfolgt, dass die Britannier es offenbar endgültig aufgegeben hatten, auf sie zu warten. Aber Narcissus fragte: »>So gut wie< ohne Gegenwehr, Legat?« »Ein Junge kam zum Strand gelaufen, um das erste Landungsboot zu begrüßen.« »Ein Junge?« »Wir glauben, dass er allein war. Mein Dekurio Marcus Allius hat sich seiner angenommen.« Narcissus zuckte zusammen. »War es nötig, das 25
Blut eines Unschuldigen zu vergießen, kaum dass ein römischer Stiefel britannischen Boden berührt hat?« »Wir haben die Überreste eines Feuers, ein primitives Lederzelt und ein paar Spuren gefunden«, sagte Vespasian unbeteiligt. »Aber wir glauben, dass wir immer noch unentdeckt sind. Nur ein Junge, der am Strand sein Lager aufgeschlagen hatte ‐ am falschen Ort und zur falschen Zeit.« »Falsch für ihn, in der Tat.« Narcissus richtete sich im Gehen zu seiner vollen Größe auf und sog die salzige, nachtkühle Luft ein. »Und haben wir uns einen guten Landeplatz ausgesucht?« »Er ist so gut, wie wir es nach den Karten der Händler erwartet hatten«, antwortete Vespasian. »Dieser Ort, Rutupiae, wird künftig zweifellos ein bedeutendes Einfallstor für uns werden.« Er zeigte in die Dunkelheit. »Da drüben stelle ich mir einen Deich vor, und dort vielleicht ein Kastell ‐ ach, aber es wird alles im Schatten des Triumphbogens für Claudius stehen.« Vespasians Ton war durchaus respektvoll, aber Narcissus kannte ihn gut genug, um eine leise Andeutung von Spott herauszuhören. »Heute Abend ist es unser Ziel«, fuhr Vespasian fort, »den Landekopf vorzubereiten, sodass der Hauptteil der Streitmacht morgen an Land gehen kann ...« Narcissus hob die Hand. »Die Einzelheiten sind unwichtig.« »Dann gebe ich dir nur einen kurzen Überblick. Im Lauf der Nacht werden wir diese Halbinsel von einer Küste zur anderen mit mehrfachen Gräben und einer 25
Palisade befestigen, und dahinter errichten wir dann ein Zeltlager für die restlichen Landungstruppen. Wenn die Legionen morgen zum Appell angetreten sind, rücken wir aus. Wir sind an der Ostspitze einer Halbinsel gelandet. Von hier aus folgen wir dem Südufer eines Ästuars nach Westen, der Mündung eines Gezeitenstroms, den wir Tamesis nennen. Sobald wir den Fluss überquert haben, ziehen wir nordwärts nach Camulodunum, zum Zentrum der Catuvellaunen.« »Ah ja, diese lästigen Fürsten. Dieses >Zentrum< ‐ist das eine befestigte Stadt?« Vespasian lächelte. »Camulodunum ist nicht Troja, Sekretär. Aber die Catuvellaunen sind die größte Macht in diesem Winkel des Landes, und Camulodunum ist ihre Hauptstadt. Ihre Niederlage wird wesentlich dazu beitragen, dass die Ziele des Kaisers erreicht werden.« »Und der Zeitplan für dieses grandiose Unternehmen?«
»Wir sind zuversichtlich, dass wir Camulodunum schon dieses Jahr einnehmen werden, auch wenn die Zeit knapp ist.« »Der Kaiser selbst muss die Hauptstadt einnehmen.« Vespasian neigte den Kopf. »Das versteht sich.« »Es scheint alles sehr einfach zu sein, Legat.« Vespasian hob die Schultern. »Einfache Pläne sind die besten, sagt Plautius, und ich bin ganz seiner Meinung. Der Krieg bringt für gewöhnlich schon genug Komplikationen mit sich.« 26
Dieses Wort verwirrte Narcissus für einen Moment. »Komplikationen? ‐ Ah, du meinst die Britannier.« In dem Geflecht persönlicher, wirtschaftlicher und politischer Motive, die sie alle hierher gebracht hatten, vergaß man leicht, dass dieses Land keine leere Arena für römische Ambitionen, sondern bereits voller Menschen war. Sie erreichten die Dünenreihe über dem eigentlichen Strand. Narcissus erklomm eine niedrige Anhöhe und schaute landeinwärts, sah jedoch nichts von dem Land, auf das er im Namen Roms Anspruch zu erheben gedachte, nichts als weitere Dünen. Er atmete tief ein und aus. »Es riecht anders, nicht wahr? Britannien riecht nach Salz und Wind. Jetzt, wo ich hier stehe, wird mir klar, dass die Seltsamkeit der Überfahrt in Juliusʹ Erinnerungen gar nicht so übertrieben ist. Haben deine abergläubischen Soldaten recht, Vespasian? Sind wir wirklich über das Ende der Welt hinausgelangt, stehen wir im Begriff, den Mond zu erobern?« Vespasian grunzte. »Wenn es so ist, dann wollen wir hoffen, dass die Mondmenschen rechtzeitig ihre Steuern entrichten.« Er berührte den Sekretär an der Schulter. »Jetzt muss ich darauf bestehen, dass du dort herunterkommst und uns erlaubst, dich in Deckung zu bringen.« Narcissus lächelte. »Ich bitte darum, Legat.« Und er stieg im Dunkeln unbeholfen von der Sanddüne herunter. 26
VI Während die Legionäre ihr Lager errichteten, bewirtete Vespasian Narcissus in einem kleinen Zelt so nah am Wasser, dass der Sekretär das Plätschern der Wellen hörte, und so nah an den Landungsbooten, dass sie in aller Eile die Flucht ergreifen konnten, falls es unerwartet Probleme geben sollte. Sie tranken Wein, aßen Obst, schauten aufs Meer und unterhielten sich leise. Ein paar Angehörige des Wachtrupps nutzen die Gele‐ genheit, die Füße im Ozean zu baden, damit dessen Salz sie von Pilzen und anderen Krankheiten befreite. Soldaten achteten immer auf ihre Füße. Nach ein paar Stunden war das Lager fertig. Als Vespasian ihn hindurch geleitete, fiel Narcissus auf, wie ruhig und ordentlich alles war; es wirkte beinahe fröhlich. In den natürlichen Schutz eines Flussufers gekauert, ähnelte das Lager einer kleinen Stadt ‐ eine stattliche Reihe von Lederzelten, umschlossen von sauber ausgehobenen Gräben. Außen herum waren Wachen postiert, und Narcissus wusste, dass im Rahmen des
gestaffelten Verteidigungssystems weiter draußen im Land Kundschafter im Einsatz sein würden. Wider Erwarten spürte der Freigelassene, wie ihm ein Anflug von Stolz die Brust schwellen ließ. Vermut 27
lich gab es auf dieser ganzen verfluchten Insel keine so ordentliche Gemeinschaft wie diese, obwohl es lediglich ein wenige Stunden altes Marschlager war. Man konnte über die römischen Soldaten sagen, was man wollte ‐ und Narcissus hätte keinen zum Nachbarn haben wollen ‐, aber sie beherrschten ihr Handwerk. Und das Lager war der Beweis, dass die Römer es ernst meinten, dass sie hier waren, um dieses groß angelegte Projekt zu Ende zu führen, dass sie hier bleiben würden. Natürlich verfolgte jeder von ihnen dabei seine eigenen Ziele, von Vespasian und ihm selbst bis hinab zum niedrigsten Angehörigen der Hilfstruppen. Selbst der Kaiser, der sich bereits auf seinem langsamen Weg von Rom hierher befand, war darauf aus, so viel zu bekommen, wie er konnte. Aber die Summe all ihrer individuellen Bestrebungen ergab den Traum von einem Reich. Vespasian brachte Narcissus zu dessen eigenem Zelt. Draußen war ein Legionär postiert, ein Rohling, der sogar Narcissus selbst zu misstrauen schien. Im Innern war das von irgendeinem anderen haarigen Soldaten auf dem Rücken über den Ozean geschleppte Lederzelt muffig und roch irgendwie nach Meer. Aber es enthielt eine Bettstatt, eine Schale mit getrocknetem Fleisch und Obst, Wasser‐ und Weinschläuche sowie eine kleine Öllampe, die unruhig brannte. Vespasian bot Narcissus an, ihm Gesellschaft zu leisten, aber der Sekretär lehnte ab. Bald würde die Morgendämmerung anbrechen, und er merkte, dass er Zeit brauchte, um zu schlafen und nachzudenke n. 27
Als er endlich allein war, löste er seine Tunika und legte sich auf das Lager. Er spürte die Anspannung in seinem Körper ‐ die geballten Fäuste, das Zittern in seinen Eingeweiden. Er griff auf eine geistige Disziplin zurück, die ihm ein Gefangener von jenseits des Indus in seiner Sklavenzeit beigebracht hatte, und ließ sein Bewusstsein um den Körper herumschweben und die Anspannung in jedem Finger, jedem Zeh, jedem Muskel lindern. Dann versuchte er, sich auf die Erfordernisse des kommenden Tages zu konzentrieren. Er zweifelte nicht daran, dass die Unterwerfung Britanniens Monate, vielleicht sogar Jahre dauern würde. Aber am Morgen, wenn Aulus Plautiusʹ überschwängliche Legaten ihre Pläne für die erste Phase des Feldzugs weiterentwickelten, musste er bei klarem Verstand sein. Diese frühen Stunden waren entscheidend für die Verwirklichung der Pläne des Kaisers ‐ und der seinen. Caesar hatte Britannien als Erster ins Blickfeld der römischen Welt gerückt, auch wenn er damit natürlich seine eigenen Ziele verfolgt hatte. Es war eine Zeit gewesen, in der das Gefüge der Republik unter dem Druck der gewaltigen territorialen Ausdehnung Roms geächzt hatte und die römische Welt von der gegenseitigen Antipathie starker Männer zerrissen worden war. Der Einfall in Britannien, einem geheimnisvollen Land
jenseits des Furcht einflößenden Ozeans, hatte Caesars Glanz erheblich verstärken sollen. Caesar hatte Britannien zweimal angegriffen und war dabei tief ins Landesinnere vorgedrungen. Aber 28
seine überdehnten Versorgungslinien waren stets verwundbar gewesen. Und wie jeder abergläubische Soldat in Aulus Plautiusʹ vier Legionen sehr gut wusste, waren Caesars Bestrebungen gescheitert, als das launische Wetter des Ozeans seine Schiffe zerstört hatte. Nach dem zweiten Rückzug hatte er geplant, ein drittes Mal wiederzukommen. Aber im darauf folgenden Sommer hatten Rebellionen in Gallien seine Kräfte in Anspruch genommen, und danach war er von dem Aufruhr abgelenkt worden, der die Republik in ihren letzten Tagen in Atem gehalten hatte ‐ einem Aufruhr, der Caesar das Leben gekostet hatte. Nicht dass Caesars Errungenschaften unbedeutend gewesen wären. Er hatte das Wissen der Römer über Britannien enorm erweitert. Und er hatte die Britannier, besonders jene im Süden, in Römerfreunde und Römerfeinde gespalten, eine Teilung, die Roms Diplomaten und Händlern sehr zupass kam. Unter den ersten Kaisern war Britanniens Isolation jedoch bestehen geblieben. Der konservative, auf Konsolidierung und Reformen bedachte Augustus hatte keine so weitreichenden Ambitionen gehegt ‐ und der Verlust dreier Legionen in einem dunklen germanischen Wald hatte ihn auch nicht gerade angespornt. Während der Regentschaft von Augustusʹ Nachfolgern hatte die beschwichtigende, pragmatische Politik Cunobelins, eines lokalen Königs, den die Römer Cymbelinus nannten, den friedlichen Kontakt zwischen dem Reich und Britannien gefördert. Allerdings waren selbst in diesen Zeiten provisorische Pläne für die 28
Invasion Britanniens ausgearbeitet worden. Caligula war zwar labil gewesen, aber gewiss kein Narr, ebenso wenig wie seine Heerführer. Immerhin hatte er zu diesem Zweck in Gesoriacum einen Hafen mit einem Leuchtturm anlegen lassen. Doch nun waren Cunobelin und Caligula tot, und auf beiden Seiten des Ozeans verfolgte eine neue Generation neue Ziele. Erst vor zwei Jahren, in dem Chaos im Gefolge von Caligulas Ermordung, war Claudius von der Prätorianergarde, den Leibwächtern des Kaisers, auf den Thron gehievt worden. Seither hatte er sich dem Widerstand des Militärs, des Senats, der Equites und der Bürger gleichermaßen gegenübergesehen, obwohl er sich als überraschend fähiger, schnell dazulernender Herrscher erwies. Die militärische Macht war wie immer der Schlüssel, und Claudius brauchte in erster Linie einen militärischen Triumph ‐ umso besser, wenn er vor aller Augen sogar die Errungenschaften Caesars in den Schatten stellen konnte. Die räuberischen Mätzchen der catuvellaunischen Fürsten in Britannien boten ihm da den idealen Vorwand. Was Narcissus betraf, so würde er nur so lange überleben, wie er den Zielen seines Kaisers diente, auch wenn er dabei seine eigenen verfolgte.
Narcissus war als Sklave geboren. Wegen seiner Intelligenz und seines Charmes hatte er sich im Lauf der Zeit für eine Abfolge von Herren als so unschätzbar wertvoll erwiesen, dass es ihm gelungen war, bis in den kaiserlichen Haushalt vorzudringen ‐ und in Clau‐
71 dius, dem ersten Kaiser seit Augustus, der fähig war, einen scharfen Intellekt als wertvollste aller Waffen zu erkennen, hatte er einen echten Gönner gefunden. Claudius war es gewesen, der ihn freigelassen hatte. Und obwohl sein Titel nur »Korrespondenzsekretär« lautete, ab epistulis, war es Narcissus unter Claudius gelungen, seine Stellung zwischen dem Kaiser und dessen Untertanen zur Erlangung von Macht zu benutzen. Er hatte eigenen Reichtum angehäuft und sich sogar am gefährlichsten aller Spiele beteiligt, der Innenpolitik des kaiserlichen Haushalts, wo er sich in den unaufhörlichen Intrigen des Hofes mit Claudiusʹ neuester Gemahlin, Messalina, verbündet hatte. In Rom war Narcissus also ein mächtiger Mann. Doch nun hatte ihn das Schicksal über den Ozean geführt, in eine Welt außerhalb der Zivilisation. Und was noch schlimmer war, es hatte ihn unter die Soldaten verschlagen. Er verabscheute es, mit Soldaten zusammen zu sein. In ihrem Blick lag eine brutale Klarheit, und er wusste, wenn sie ihn anschauten, sahen sie nicht den Freigelassenen, nicht den mächtigen Verbündeten des Kaisers, sondern den ehemaligen Sklaven. Natürlich hatten die Offiziere die Pflicht, ihn zu beschützen ‐ insbesondere Vespasian, der Narcissus viele Gefälligkeiten schuldete. Aber Narcissus wusste, dass er sich letzen Endes nur auf sich selbst verlassen konnte ‐ auf sich selbst und den scharfen Verstand, der ihn bislang am Leben erhalten und so weit gebracht hatte. Allein in der fremden Dunkelheit, schloss er die Augen. In den schwierigen kommenden Stunden würde ihm schon eine Mütze voll Schlaf gute Dienste leiste n. 29
VII Nach einem anstrengenden Ritt, der zwei lange, schlaflose Tage und Nächte in Anspruch nahm, kehrten Agrippina, Nectovelin und Cunedda nach Camulodunum zurück. Agrippina ritt den geduldigen alten Wallach, und es gab keinen Augenblick, in dem sie Mandubraciusʹ warmen Körper hinter ihr nicht schmerzlich vermisste. Von der Welt um sie herum nahm sie nichts wahr. Sie sah nur immer und immer wieder die Szene am Strand : die lachenden Männer, das glitzernde Schwert, den langsamen Fall der Fackel ins Meer. Es war wie eine makellose, in sich geschlossene lateinische Gedichtzeile, die ihr unablässig durch den Kopf ging. Cunedda ritt schweigend dahin. Ihm fehlten die Worte; er hatte ganz offenkundig keine Ahnung, wie er mit der Situation fertig werden sollte, die so plötzlich seine und Agrippinas Träume von der Zukunft weggefegt hatte. Sie merkte, dass sie ihn durch ihre Insichgekehrtheit verletzte. Aber sie wollte nicht mit ihm sprechen, wollte nicht
über ihn nachdenken oder ihn berühren, weil sie Angst hatte, ihm und sich selbst wehzutun. Was Nectovelin betraf, so ritt er in seinem eigenen
30 grimmigen Schweigen dahin, so unergründlich wie ein Brocken Feuerstein. Auf erschöpften Pferden trafen sie am Abend des zweiten Tages in Camulodunum ein. Während sie einem ausgetretenen Pfad einen flachen Hang hinab folgten, sah Agrippina die Stadt, die sich vor ihr am Ufer des Flusses über die Tiefebene ausbreitete. Sie erstreckte sich meilenweit, ein grünbrauner Klecks mit stolz aufragenden, kegelförmigen Häusern, aus deren Strohdächern Rauch in die zunehmende Dunkelheit sickerte. Die drei überwanden Gräben und Schutzwälle, und bei den ersten Häusern stiegen sie ab und führten ihre Pferde durch schlammige Gassen, wobei sie über Hühner und Kinder hinwegstiegen. In der Luft g ein Brodem aus Holzrauch, Tierdung, Kochdünsten und dem scharfen Geruch von heißem Metall. Dies war die Hauptstadt der Catuvellaunen, die sie m Rahmen von Cunobelins behutsamen Eroberungen vor einigen Jahrzehnten den Trinovanten abgenommen hatten. Camulodunum war sicherlich eines der bedeutendsten Bevölkerungszentren im Südosten, ja sogar in ganz Britannien. Die unterschiedlichsten Handwerkszweige waren hier zu finden, Schmiede und Lederarbeiter, Töpfer und Tischler, und sogar eine Münzstätte, denn der beim Handel mit dem römischen Gallien reich gewordene Cunobelin war so weit gegangen, seine eigene Währung herauszugeben. Agrippina, die aus dem spärlicher bevölkerten Land der Briganten im Norden kam, war von dem Ort mächtig beeindruckt gewesen, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Doch nun sah sie Camulodunum wie mit den Augen eines einmarschierenden Legionärs. Nichts erweckte hier den Eindruck von Planung, es gab kein ordentliches Gittermuster der Straßen wie in einer großen römischen Stadt. Das Grün schob sich bis ins Zentrum der Siedlung, Felder, auf denen der Weizen wuchs, auf denen Schafe oder Rinder grasten, als wäre Camulodunum ein einziger riesiger Bauernhof. Ein Römer würde diese Ansiedlung sicherlich kaum als Stadt betrachten. Selbst die Verteidigungsanlagen waren nur verstreute Linien aus Wällen und Gräben. Heute herrschte in dem Ort jedoch hektische Betriebsamkeit. Menschen, die Kleiderbündel und Holzkisten schleppten, strebten in alle Richtungen. Agrippina, die ihr Pferd durch dieses Gewühl führte, spürte die Angst. »Die ganze Stadt ist in Aufruhr«, sagte Cunedda leise. »Sie haben schon von den Römern gehört.« Nectovelin lief dicht neben Agrippina her. »Neuigkeiten verbreiten sich schnell. Wir haben die Römer wahrscheinlich als Erste gesehen, aber Legionen kann man nicht verbergen.« »Die Leute scheinen mehr damit beschäftigt zu sein, ihre Schätze zu verstecken, als de n Widerstand vorzubereiten.« Nectovelin zuckte die Achseln. »Was hast du erwartet? Das sind Bauern. Sie haben Kinder, Vieh, Getreide auf den Feldern.«
»Meine Onkel werden schon den Kriegsrat einberufen haben«, sagte Cunedda nervös.
31 »Diese hitzköpfigen Fürsten«, knurrte Nectovelin. »Hoffen wir, dass die Klugheit siegt.« Sie gelangten zu Cuneddas Haus. Seine Schwester und seine Tante wohnten hier. Auf Cuneddas Ruf kamen zwei hässliche Hunde von dem kleinen Stück Land hinter dem Haus um die gerundete Mauer geschossen. Sie sprangen an ihm hoch und leckten ihm das Gesicht ab, und er ließ es sich gefallen; er empfand ganz offensichtlich eine schlichte Freude über die Zuneigung der Hunde. Agrippina beobachtete ihn und verspürte einen Stich im Herzen. »Die Hunde machen ihn glücklich.« »Er hat ebenfalls gelitten, Agrippina«, sagte Nectovelin leise. »Wenn ich nicht in Cuneddas Armen gelegen hätte, wäre ich bei Mandubracius gewesen. Ich hätte ihn vielleicht daran gehindert, an den Strand zu gehen.« »Hätte, würde, wäre, wenn. Du konntest es nicht wissen, Pina. Auch ohne Cunedda wäre es vielleicht auf dasselbe hinausgelaufen. Das ist schwer für dich, schwerer als für jeden von uns. Nicht nur, weil du Mandubracius verloren hast. Binnen kürzester Zeit ist aus deiner Bewunderung für Rom und deiner Überzeugung, dass die Römer niemals hierher kommen würden, leidenschaftlicher Hass geworden. Du darfst weder dir noch Cunedda an irgendetwas von alledem die Schuld geben. Deine Liebe zu Cunedda wird dir jetzt bei all dem helfen.« »Wirklich? Ich glaube, ich hasse den Römer, der Mandubracius getötet hat, mehr, al s ich Cunedda lie 31 be ‐ obwohl ich nicht einmal sein Gesicht gesehen habe. Ich hasse das Römische in mir mehr, als ich ihn liebe. Klingt das für dich vernünftig?« »Durchaus. Aber wer lässt sich schon von der Vernunft leiten? Komm. Bevor wi r uns mit den Fürsten befassen, sollten wir nach Möglich keit etwas essen, uns waschen und ein bisschen schlafen.« Sie reichte ihm die Zügel ihres Pferdes. »Nectovelin ‐ was wird mit uns geschehen, wenn die Römer kommen ?« »Das hängt davon ab, welche Entscheidung die Fürsten treffen. Und vermutlich auch davon, wie sie sich hinterher verhalten. Aber im tiefsten Inneren weiß ich, da ss wir auf lange Sicht siegen werden.« Sie starrte ihn an. »Woher willst du das wissen? ... Oh. Deine Prophezeiung.« »Ich trage sie immer bei mir.« Er schlug sich mit der geballten Faust auf die Brust. »Obwohl sie vor einem halben Jahrhundert niedergeschrieben wurde, spricht sie von der Ankunft der Römer. Aber sie spricht auch von Freiheit, Agrippina. Und das ist es, was mich leitet.« Sie ärgerte sich über das widernatürliche Ve rgnügen, das er bei all dem empfand. Während Agrippina seit der Landung der Römer in Verwirrung und Elend gestürzt und die Einwohn erschaft Camulodunums in Angst und Schrecken versetzt worden
war, schien Nectovelin gewachsen zu sein und klarer denken zu können. Endlich waren die Römer gekommen; dazu war er geboren worden.
32 Doch selbst jetzt verspürte sie noch einen leisen Funken Neugier. »Deine Prophezeiung ‐ spricht sie wirklich von der Zukunft? Verspricht sie uns im Ernst die Freiheit? Wenn du mir nur erlauben würdest, sie zu lesen ...« »Meine Kehle ist trockener als Coventinas räudiger Ellbogen. Ich brauche etwas zu trinken, und du auch. Danach reden wir über die Zukunft und auch über einen Krieg gegen Rom.«
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VIII In dieser Nacht fand Agrippina endlich Schlaf. Sie war so erschöpft, dass nicht einmal ihre sorgenvollen Gedanken sie noch wach halten konnten. Nicht lange nach Anbruch der Morgendämmerung stand sie auf und folgte Cunedda und Nectovelin zu der Halle, die nach wie vor »Cunobelins Haus« hieß. Der mächtige Rundbau war so groß, dass die Hälfte der Stadtbevölkerung darin Platz gefunden hätte. Das Tragwerk des gewölbten Dachs bestand aus dem Holz hundertjähriger Eichen. Es gab wenige ornamentale Verzierungen, ein paar Bossen, die die Maske des Kriegsgottes Camulos oder das Siegel Cunobelins trugen ‐ und hier und da die drei lateinischen Buchstaben »C‐A‐M«, mit denen der König seine Münzen gekennzeichnet hatte. Agrippina vermutete, dass nur wenige hier die Buchstaben als etwas anderes als ein Symbol für Cunobelin verstehen würden. Alles an dem gewaltigen Haus trug die Handschrift dieses klugen Königs. Dank seines Handelsverkehrs mit Rom war der alte Bär reich genug geworden, um römische Architekten und Maurer ins Land zu holen und sich, wenn er es gewollt hätte, einen steinernen Palast bauen zu lassen. Immerhin hatte er sich erlaubt, das 32
Badehaus seines Vaters zu renovieren. Aber da er um die Sensibilität seines Volkes gewusst hatte, hatte er auch dieses Bauwerk errichten lassen, ein Haus in seiner ureigenen, besten Tradition, bei dem jedes Element am richtigen Platz war. Nah an der zentralen Feuerstelle, wo das nächtliche Feuer unruhig niederbrannte, hockten vielleicht fünfzig Personen beieinander. Es waren die führenden Catuvellaunen und ihre Fürsten, Caratacus und Togodumnus, die Söhne Cunobelins. Man sah kahl geschorene Schädel in der Menge, wahrscheinlich Druiden. Die Fürsten und ihre Krieger trugen Waffen und Broschen ‐ Kleckse aus Eisen, Bronze und Silber ‐ sowie schwere goldene Torques um den Hals. In Camulodunum zeigte man seine Macht und seinen Reichtum, indem man ihn am Körper trug. Es gab jedoch auch Männer mit Ringen an den Fingern und ausgezupftem Gesichtshaar ‐ römischer Stil selbst hier in Cunobelins Haus, vor den Enkeln des Cassivellaunus. Die meisten Leute trugen jedoch die Arbeitskleidung der Gehöfte, so graubraun wie die Erde selbst.
Agrippina und ihre Gefährten fanden einen Sitzplatz auf einer Felldecke, die auf dem Boden lag. Sie merkten rasch, dass die gerade stattfindende Diskussion zänkisch und unbefriedigend war. Offenbar hatte man schon die ganze Nacht hindurch gestritten. Obwohl die Leute sich den Fürsten beugten, war dies eine sehr gleichberechtigte Debatte, in der sich jeder äußern durfte ‐ höchst unrömisch, dachte Agrippina, ganz anders als bei den gravitätischen Beratun 33 gen der römischen Heerführer, die sie sicher auch heute noch abhielten. Doch Caratacus und Togodumnus besaßen beide nicht die Autorität ihres Vaters Cunobelin, und sie waren auch längst nicht so scharfsinnig wie er ‐ und wenn man sie herausforderte, wurden sie in zunehmendem Maße wütend. Sie waren wie Über‐ bleibsel der Vergangenheit, dachte Agrippina, Männer aus einer Zeit, in der Anführer nur Körperkraft und Trinkfestigkeit benötigten. Cunobelin hatte immer Schwierigkeiten mit seinen Söhnen gehabt. Wie es bei seinem Volk und auch bei Agrippinas Briganten Brauch war, hatte er sich unbekümmert viele Frauen genommen, die ihm zwanzig Jahre lang einen steten Strom von Kindern gebaren. Cunobelin hatte noch erlebt, wie Enkelkinder ‐ unter ihnen auch Cunedda ‐ erwachsen wurden. Doch schon vor seinem Tod waren viele seiner Söhne untereinan ‐ der in Streit gera ten. Und als Cunobelin schließlich starb, war es, als wäre der Deckel von einem überhitzten Topf geflogen. Die beiden Söhne, die Cunobelin zur Erziehung und Ausbildung nach Rom geschickt hatte, Adminius und Cogidubnus, waren vertrieben worden ‐ es ging das Gerücht, sie seien nach Rom zurückgekehrt und hätten Claudius um Hilfe gebeten. Währendd essen scherten sich die beiden »Krieger«, Togodumnus und Caratacus, keinen Deut um den längst verstorbenen Caesar; die Unterschri ft unter seine Abkommen lag so lange zurück, dass sich niemand mehr daran erinnern konnte. 33
In der Folge hatten die Fürsten angefangen, ihre Nachbarn zu überfallen. Zu diesem Zeitpunkt hatte es Nectovelin zu den Catuvellaunen gezogen; freudig ergriff er die Gelegenheit, an ihrer Seite das Schwert zu schwingen. Die Überfallenen Stämme wurden in die Knie gezwungen, aber nicht einverleibt; die beiden herrschten über ein verdrossenes Imperium. Anfangs hatten all diese Turbulenzen dem Handelsverkehr der Catuvellaunen mit den Römern scheinbar nicht geschadet. Doch dann hatten die Fürsten einen Herrscher namens Verica abgesetzt, der die Atrebaten regiert hatte, einen Volksstamm, dessen weitläufiger Besitz viele Häfen an der Südküste umfasste. Verica, ein Freund Roms, war dorthin geflohen. Und diesmal hatte Claudius zugehört. Den ganzen Sommer hindurch, entnahm Agrippina dem Gespräch, hatten Händler und Kundschafter ‐ genau wie Cunedda es ihr erzählt hatte ‐ Gerüchte über eine Zusammenballung römischer Waffen und Männer in der gallischen Küstenstadt Gesoriacum mitgebracht. Die Fürsten und andere lokale Herrscher hatten sich hastig auf eine Invasion vorbereitet und ihre Kriegerscharen zur Abwehr römischer Landungsversuche an die Küste beordert ‐ nur um die gelangweilten und hungrigen
Truppen dann wieder aufzulösen. Vielleicht hatte nach neunzig Jahren Straflosigkeit niemand wirklich geglaubt, dass die Römer noch einmal wiederkommen würden. Seither hatten die Fürsten ihren eigenwilligen Umgang mit den Nachbarn der Ca‐ tuvellaunen fortgesetzt.
34 Und nun war der Sturm losgebrochen. Die Römer waren schließlich doch gelandet, spät im Jahr, ohne auf Widerstand zu stoßen, und jetzt rückten sie bereits von ihrem Landekopf aus. Der Streit drehte sich zu großen Teilen darum, wer an all dem die Schuld trug. War es töricht von den Fürsten gewesen, in ihrer Angriffslust den Waffenstillstand zu brechen? Hätten sie sich besser auf die Invasion vorbereiten und auf die Warnungen ihrer Kundschafter hören sollen? Agrippina konnte sich nicht dazu durchringen, den Fürsten Vorwürfe zu machen; sie hatten immerhin versucht, mit der Aufstellung einer Streitmacht zu reagieren. Und obwohl sie selbst die Römer weitaus besser kannte, als die beiden Söhne Cunobelins es taten, hatte sie nicht geglaubt, dass es tatsächlich eine Invasion geben würde. Niemand brannte auf einen Kampf. Zwar war dieser Ort nach Camulos, einem Kriegsgott, benannt. Doch trotz all der Messer in den Gürteln und der Schwerter an den Wänden der Holzhäuser, trotz all der Mythen vom catuvellaunischen Kriegervolk waren dies Bauern. Agrippina sah, dass einige von ihnen schon jetzt unruhig wurden, dass sie es kaum erwarten konnten, diesem nutzlosen Geschwätz zu entrinnen und wieder an ihr Tagwerk zu gehen. Aber ihre Fürsten waren nervös, weil man sie we gen ihrer mangelnden Vorbereitung kritisierte, und suchten nun Streit. Schließlich stand Nectov elin auf. Selbst die Fürsten verstummten, als der riesige Krieger darauf wartete, dass Stille einkehrte. »Nach dem, was ich höre, bin ich froh, dass ich mich heute Nacht ausgeschlafen habe,
34 statt all dieses Geschwafel über mich ergehen zu lassen. Die Frage ist nicht, wer schuld ist, sondern wie wir die Römer wieder loswerden, nachdem sie nun einmal hier sind.« »Der alte Mann hat recht.«Die Unterbrechung kam von einem der Druiden, einem dünnen jungen Mann in einem formlosen schwarzen Gewand. Er sprach mit dem Akzent des Westens, der Siluren oder Ordovicer. »Dieses Land ist heilig. Es darf nicht entweiht werden.« Nectovelin war verärgert. »Jeder weiß, was ihr für ein Spiel treibt, Priester. Die Römer haben deinesgleichen aus Gallien vertrieben, und ihr seid hierher geflohen, weil ihr nirgends anders hin könnt. Jetzt sind die Römer wieder hinter euch her, und ihr wollt unser Blut vergießen, um eure eigene feige Haut zu retten. Ist es nicht so?« Agrippina fand, dass Nectovelin ungerecht war. Die Gesetze der Priester machten es ihnen unmöglich, sich der römischen Herrschaft zu unterwerfen. Auf ihre Weise besaßen die Druiden durchaus eine ‐ wenn auch selbstmörderische ‐ Integrität. Und dieser junge Mann bewies nun, dass er nicht umsonst Priester war. Leise fragte er: »Würdest du ohne den Beistand deiner Götter gegen die römischen Legionen kämpfen?«
»Wer bist du, Junge«, brüllte Nectovelin, »dass du dich zwischen mich und meine Götter stellst?« »Ach, sei still, du Rabauke.« Eine stämmige Bäuerin namens Braint erhob sich. Ihr schmutziges Haar
35 ähnelte einem verräucherten alten Strohhaufen. Sie war ein Koloss von einer Frau, so muskulös wie ein Mann, aber Agrippina wusste, dass sie sechs Kinder großgezogen hatte und seit dem Tod ihres Mannes ganz allein eines der größten Gehöfte in der Umgebung bewirtschaftete. »Ich werde sagen, was keiner von euch Männern sich vor diesen großmäuligen Fürsten zu sagen traut: Wir sollten um Frieden bitten.« Nach einem kurzen, schockierten Schweigen kamen leise Entgegnungen. »Wenn die Römer Frieden schließen, dann nur zu ihren eigenen Bedingungen ‐ das wäre Kapitulation!« ‐ »Wir können nicht gegen sie kämpfen. Sie verfügen über die Mittel und Güter eines ganzen Kontinents, wir nur über ein paar Bauernhöfe.« ‐ »Kapitulation? Cassivellaunus hat Caesar ins Meer getrieben. Das schaffen wir auch! ...« Zu Agrippinas Überraschung stand Cunedda auf. Er gehörte zu den Jüngsten hier, aber sein Status als Angehöriger von Cunobelins Familie brachte ihm eine kurze Stille ein. »Bei allem Respekt vor Braint, ich glaube nicht, dass Frieden möglich ist. Dazu sind die Dinge schon zu weit gediehen. Und wir Catuvellaunen sind in großer Gefahr. Die Römer wissen bestimmt, dass wir ihr stärkster Feind sind, und wir haben mehr zu verlieren als alle anderen. Denkt nach: Wenn wir kämpfen und verlieren, werden uns die Römer unserer Macht berauben.« »Und wenn wir kämpfen und siegen?«, knurrte Nectovelin. »Dann kommen die Römer zurück, und ihre Rache
35 wird schrecklich sein. Sie können es sich nämlich nicht leisten, vor den von ihnen unterworfenen Völkern schwach zu erscheinen.« Caratacus schürzte verächtlich die Lippen. Der Fürst trug seine Rüstung, einen ledernen Brustharnisch, und hatte das Haar kurz geschnitten, sodass die Konturen seines Schädels zu erkennen waren. Sein Bruder sah ihm ähnlich, aber sein langes Haar war zu einem widerspenstigen Gewirr verfilzt. »Was schlägst du also vor, Neffe?«, blaffte Caratacus. »Dass wir kämpfen«, sagte Cunedda schlicht. »Ich bin kein Krieger ‐ mein Leben wird keinen hohen Preis kosten. Aber wir müssen so kämpfen, wie es Cassivellaunus getan hat. Wir müssen die Römer zum Stehen bringen. Und dann, wenn wir unsere Stärke bewiesen haben, müssen wir einen ehrenhaften Frieden schließen.« Er setzte sich zitternd hin. Agrippina tätschelte ihm den Arm. »Wohl gesprochen«, flüsterte sie. »Wenn sie zuhören.« Nectovelin erhob sich erneut. »Wir müssen also kämpfen«, sagte er mit schwerer Stimme. »Die Frage ist, wie?« Togodumnus rief schrill: »Der Junge hatʹs doch gesagt! Wie Cassivellaunus!«
»Ja«, sagte Nectovelin, »aber wie der siegreiche, nicht wie der besiegte Cassivellaunus.« »Was soll das heißen?« »Wir müssen unsere Stärken nutzen«, betonte Nectovelin. Niemand wisse, wie viele Soldaten die Römer »7
ins Feld zu führen gedächten, sagte er. Den Berichten zufolge waren schon viele Tausende gelandet, und am Horizont waren noch mehr ihrer Furcht einflößenden Schiffe zu sehen. Aber all diese Römer müssten täglich ernährt werden. »Wir kennen das Land, sie nicht. Ein Getreidefeld wird eine Waffe, wenn man es abbrennt, sodass hundert Legionäre hungern müssen. Wir locken sie so tief wie möglich ins Landesinnere. Und dann zermürben wir sie allmählich.« »Du schlägst also Überfälle vor«, sagte Togodumnus. »Hinterhalte.« Braint nickte. »So hat es Cassivellaunus gemacht. Außerdem hat er Verzögerungstaktiken angewandt. Er hat seine Verbündeten Abgesandte schicken lassen, die um Frieden verhandeln sollten. Das alles hat Caesar viel Kraft gekostet und seine Geduld auf eine harte Probe gestellt.« Der Druide kam auf die Beine. »Angriffe aus dem Hinterhalt? Verzögerungen? Vielleicht solltest du in dein eigenes Land zurückkehren, Nectovelin, denn wie ich höre, leben die Briganten davon, sich gegenseitig das Vieh zu stehlen.« Nectovelin funkelte ihn an. Aber Caratacus war sofort aufgesprungen. »Der Priester hat recht. Wir müssen mi t vernichtender Kraft kämpfen. Wir müssen eine große Streitmacht aus unseren Verbündeten aufstellen und uns den Römern in einer offenen Feldschlacht stell en. Es wird ein ruhmreicher Kampf sein ‐ und wir werden die Römer in den Oz ean zurücktreiben!«
36 Das brachte ihm ein paar Jubelrufe ein, aber Agrippina sah, dass die Unterstützung nur halbherzig war. Nectovelin blieb stehen. Trotz seines offensichtlichen Zorns über die Beleidigung durch den Priester sprach er bedächtig. »Aber genau das, Fürst, ist der Fehler, den Cassivellaunus am Ende begangen hat. Solange er begrenzte Scharmützel auf von ihm gewählten Gelände austrug, hat er gesiegt. Doch als er sich Caesar zur offenen Schlacht stellte, hat er verloren. Schaut euch doch um ! Ihr habt nur einige wenige Krieger. Es werden Bauern sein, die ins Feld ziehen. Und dies wird kein Krieg gegen die Trinovanten oder die Atrebaten sein, die euch ähnlich sind. Jetzt habt ihr es mit römi‐ schen Legionären zu tun, die von Kindheit an nur zu einem ausgebildet worden sind, nämlich zum Kampf. Selbst wenn ihr ein oder zwei Siege davontragt, was dann? Eure Bauern werden zur Ernte heimkehren oder um den Winterweizen zu säen. Die Legionäre müssen keine Ernte einbringen. Sie werden nicht einhalten, ehe sie euch nicht vernichtend geschlagen haben.
Du kennst mich, Caratacus. Ich habe an eurer Seite gekämpft. Ich würde mich niemals vor einem Kampf drücken. Aber ich bitte euch inständig, euch einen Kampf auszusuchen, den ihr gewinnen könnt.« Aber Caratacus wollte nichts davon hören. Er brüllte: »Ich sage, der Priester hat recht, du denkst wie ein brigantischer Viehdieb!« Nectovelin legte die Hand leicht an den Griff seines Dolches. Die Atmosphäre im Haus war zum Zerreißen gespannt.
37 Agrippina konnte es nicht mehr ertragen. Sie bahnte sich ihren Weg aus dem Haus in die staubige Luft Camulodunums. Ihr leuchtete Nectovelins Argument ein, dass geduldiger Widerstand die richtige Methode war, um die Römer zu zermürben. Aber sie war jetzt eine andere als noch vor ein paar Tagen. Caratacusʹ hitziges Geschrei vom totalen Krieg stieß in ihrem zornerfüllten Innersten auf Widerhall; sie sehnte sich danach, römisches Blut fließen zu sehen. 37
IX Narcissus gelangte zu einer Erhebung, die sich neben dem Weg dahinzog. Er trennte sich von seinen Begleitern und trieb sein Pferd die Anhöhe hinauf. Von dort schaute er zur Kolonne zurück. Er hätte es keinem der Offiziere, nicht einmal seinem Verbündeten Vespasian eingestanden, aber eine römische Armee auf dem Marsch war ein fantastischer Anblick. Die Legionäre zogen in einem endlosen Strom vorbei, ihre metallene Rüstung glänzte unter der wässrigen britannischen Sonne, und die Standartenträger identifizierten jede Einheit. Außerdem war die Armee laut. Die Landschaft erbebte unter dem leisen Donnern vieler tausend Füße, das vom amphitheaterartigen Gemurmel einer großen Zahl von männlichen Stimmen, dem Scheppern von Metall auf Metall und den schnei‐ denden Klängen von Signalhörnern überlagert wurde. Die Männer waren schwer beladen. Jeder von ihnen trug neben seinen Waffen und seiner Rüstung umfangreiches Gepäck mit diversen Utensilien: Säge, Korb, Axt, Wasserflasche, Sichel, Kette, Spaten, Teller und Pfanne sowie eine Dreitagesration. Narcissus hatte die Männer über diese Last murren hören; sie nannten sich »Mariusʹ Packesel«, nach Gaius Marius, dem 37
großen Feldherrn, der die römische Art der Kriegsführung nicht unwesentlich geprägt hatte. Aber dies bedeutete, dass jede Einheit auf Kommando kampfbereit war ‐ oder bereit, eine Befestigungsanlage auszuheben oder eine Brücke zu bauen ‐ und die Armee insgesamt nicht durch einen langen Gepäckzug belastet wurde. Abseits der aus Legionären bestehenden Hauptkolonne gingen oder ritten die Hilfstruppen. Die für spezielle Kampfaufgaben ausgebildeten Fußsoldaten ‐ die Steinschleuderer, Speerwerfer und Lanzenkämpfer, die Bogenschützen mit ihren Kettenpanzern und Bogen ‐marschierten wie die Legionäre, während berittene Einheiten die Kolonne zum Schutz der Fußtruppen flankierten. Die meisten
Angehörigen dieser Auxiliartruppen waren in den Provinzen oder sogar in den jenseits von ihnen gelegenen barbarischen Ländern rekrutiert worden, und mit ihren exotischen Helmen, Umhängen und Tuniken waren sie bunte Farbkleckse in der tristen britannischen Landschaft. Tatsächlich stammten jetzt auch viele Legionäre aus den Provinzen, eine große Veränderung seit Caesars Zeiten, und wenn die jeweiligen Kohorten nahe genug waren, hörte Narcissus das Geplapper fremder Zungen. Diese römische Armee war ein gewaltiges Völkergemisch; ihre Soldaten stammten aus aller Herren Länder, von Gallien bis Asien, von Germanien bis Afrika, und dennoch arbeiteten sie alle einträchtig unter dem Befehl eines guten Römers zusammen. Und die marschierenden Männer wirbelten eine Staubwolke auf, in der sich die Sonne fing, sodass sich 38.
ein Lichtband schnurgerade über die sanft gewellte britannische Landschaft erstreckte. Vespasian kam herbeigetrabt. »Du solltest dich nicht einfach so von der Kolonne entfernen, Sekretär. Vergiss nicht, wir befinden uns in Feindesland.« »Oh, ich stelle gern einmal deine Wachsamkeit auf die Probe, Legat. Und welch ein Anblick!« »Wohl wahr. Die armen kleinen Britannier.« Brittunculi. »Die Legionen werden sie zermalmen wie Pfefferkörner in einem Mörser.« »Nun, es ist ein organisatorisches Wunderwerk«, sagte Narcissus. »Als wäre eine ganze Stadt auf dem Marsch.« »Aulus Plautius ist nun einmal äußerst penibel.« »Seine Feinde behaupten, er sei nichts anderes als penibel«, sagte Narcissus leise. Vespasian zog die Augenbrauen hoch. »Willst du auch meine Loyalität auf die Probe stellen? Ich nehme an, das ist deine Aufgabe. Ich folge jedenfalls lieber einem Mann wie Plautius als einem Caesar. Wir brauchen Planung und Kontrolle, nicht Genialität ‐ Ein‐ satz für die Sache, nicht für sich selbst.« Narcissus dachte darüber nach. Tatsächlich kannte er Aulus Plautius ein wenig besser, als Vespasian wahrscheinlich vermutete. Die Plautier hatten eine etwas verworrene Beziehung zur kaiserlichen Familie. Eine Tochter des Vetters von Plautiusʹ Vater war die erste Gemahlin des Kaisers Claudius gewesen ‐ und ihre Mutter wiederum eine enge Freundin von Livia, der manipulativen und gefährlichen Gattin des Augustus.
38 Aulus Plautius war also von seiner Person her eine gute Wahl für dieses äußerst wichtige Vorhaben, und wie es sich ergab, eignete er sich dank seiner Erfahrung als Gouverneur von Pannonien auch in militärischer und politischer Hinsicht. Claudius war gewieft genug, sich jemanden auszusuchen, dem er vertrauen konnte ‐aber das hatte ihn nicht daran gehindert, Narcissus mitzuschicken, damit dieser ein Auge auf alles hatte. So wie der Kaiser Aulus Plautius vertraute, so konnte Narcissus Vespasian vertrauen, wie er wusste. Narcissus hatte seinen Einfluss geltend gemacht, um Vespasian diesen Posten in Britannien ‐ sein erstes Legionskommando ‐ zu verschaffen. Vespasian stammte aus einfachen Verhältnissen; dank der guten Verbindungen seiner Mutter war
es ihm gelungen, die gesellschaftliche Leiter emporzuklettern. Auf seinem ersten militärischen Posten als Tribun der Reitertruppen in Thrakien hatte er seine Sache gut gemacht. Narcissus hielt fortwährend Ausschau nach jungen Männern wie Vespasian, die offenkundig begabt waren und vorankommen wollten, aber von ihrer gesellschaftlichen Herkunft daran gehindert wurden. Sie gehörten zu den Hungrigen, die auf eine Gunst angewiesen waren ‐und einem danach stets etwas schuldeten. »Nun ja, es ist ein Wunderwerk, ganz gleich, wie dieses Abenteuer ausgeht«, sagte Narcissus. »Schau dir diese lang gestreckte Staubwolke an, die wir aufwirbeln. Sie zieht sich durchs ganze Land wie ein Traum von der Straße, die eines Tages hier entstehen wird.«
39 Vespasian grunzte. »Nicht >eines Tages<, Sekretär ‐heute.« Er zeigte auf die Nachhut der Kolonne. Hinter dem kurzen Gepäckzug und nach klobigen Gebilden, bei denen es sich um die Einzelteile vorgefertigter Belagerungsmaschinen handelte, machte Narcissus langsamer vorrückende Einheiten aus; er sah Fähnchen flattern und die Spiegel von Landvermes‐ sern aufblitzen. »Sie bauen die Straße schon?« »Warum nicht ? Wir haben diesen Weg nicht zufällig gewählt; wahrscheinlich wird er auf Jahrzehnte hinaus eine Hauptverkehrsader von Rutupiae ins Landesinnere sein. Da können wir es auch gleich richtig machen. Jedenfalls sind die Soldaten dadurch beschäftigt, und das kann ja nicht schaden.« »Und wir zeigen den Einheimischen, dass wir die Absicht haben zu bleiben.« » Ganz recht.« »Aha. Aber in was für einem Land wollen wir hier eigentlich bleiben?« Narcissus zog an seinen Zügeln, wendete sein Pferd und schaute auf die Landschaft des südlichen Britannien hinaus. Er sah ein sanft gewelltes Terrain. Waldgebiete ballten sich auf Hügelkuppen und ergossen sich in die Täler ‐ er glaubte, an einem Waldrand Schweine schnüffeln zu sehen ‐, aber der größte Teil des Landes war gerodet und von einem bunten Flickenteppich aus Feldern und Äckern überzogen. Überall standen Rundhäuser, gedrungene, dunkle Kegel. Das Gebiet war offenkundig dicht bevölkert ‐ wenngleich es heute verlassen dalag; als die Leute die römische Armee hatten
39 kommen sehen, waren sie vernünftigerweise weggelaufen oder hatten sich versteckt. Es gab verblüffend viele kreisrunde Strukturen: die Häuser, Gräben und Wälle, aber auch Kreise aus aufgerichteten Steinen, bei denen es sich nach allem, was er wusste, vielleicht um ehemalige Festungen oder Tempel oder einfach nur Gehege für die Schafe handelte. Ihm kam der Gedanke, dass Britannien aus der Luft betrachtet ‐ vielleicht von einer neugierigen Krähe ‐, von Kreisen bedeckt wäre, wie ein schlammiges Feld im Regen. Römer bauten jedoch geradlinig, und darum würde die neue Militärstraße diese Landschaft aus Kreisen so brutal wie ein Schwerthieb durchschneiden. Römerstraßen führten über lange Strecken geradeaus, weil sie für marschierende Armeen gedacht
waren, und solange sie eine gute Oberfläche und eine funktionierende Entwässerung besaßen und nicht zu steil für einen Soldaten mit seinem Gepäck waren, konnten sie so gut wie jede Landschaft durchqueren. Narcissus wusste, dass diese stupende Geradlinigkeit an sich schon ein bedrückendes Merkmal römischer Vorherrschaft war. Er befand sich hier in einem Land jenseits des Ozeans, einem Land am äußersten Rand des römischen Gesichtskreises, jenseits dessen Dunkelheit und Wahnsinn harrten. Die Armee aber war hier, um dem Chaos Ordnung aufzuzwingen. So lautete jedenfalls die Theorie. Doch dieses »Chaos« bestand aus ordentlichen kleinen Feldern und Bauernhäusern, dachte er. »Wir sind hier, um den
40 Mond zu zivilisieren«, sagte er leise. »Aber hier gibt es bereits eine Zivilisation!« »Und zwar eine friedliche«, stimmte ihm Vespasian ebenso leise zu. »Diese niedrigen Wälle sollen Schafe fernhalten, nicht Menschen.« »In Caesars Schriften ist die Rede von Invasorenwellen vom Kontinent. Es stimmt zwar, dass man Gefäße aus Germanien und Broschen aus Gallien sieht. Das heißt aber nicht, dass die Töpfer und Juweliere in Scharen herübergekommen wären! Julius wollte Bri‐ tannien wohl wilder erscheinen lassen, als es ist, damit seine Taten umso größer wirkten. Dennoch hätte ich das vorhersehen sollen«, sagte er. »Immerhin ist es unser politisches Bestreben, unseren Nachbarn Kultur zu bringen.« Für hochwertige Waren aus dem Imperium wurden Rohstoffe aus Britannien importiert: Erze, Weizen, Leder, Jagdhunde ‐ und in den letzten paar Dekaden zunehmend auch Sklaven, obwohl Narcissus aus persönlicher Erfahrung bezeugen konnte, dass Britannier leicht reizbare Diener waren. Das Imperium machte fette Gewinne mit diesem Handel, Tand als Gegenleistung für gewaltige Rohstoffmengen. Narcissus, ein nachdenklicher Mensch, hielt dieses Muster im Umgang einer höher entwickelten Kultur mit einer primitiveren für weitgehend unvermeidlich. Und all dies diente den längerfristigen Zielen des Reiches. Roms materielle Kultur war ein unschätzbar wertvolles Werkzeug zur Manipulation lokaler Eliten, und freundlich gesonnene einheimische Herrscher erwie
40 sen sich als kostengünstige Puffer gegen weiter entfernte Barbaren. »Wir haben diese südlichen Britannier also gezähmt. Ich hatte nur nicht erwartet, dass wir damit schon so weit gekommen sind.« Es ärgerte Narcissus irgendwie, dass die Landschaft nicht so fremdartig war, wie er gedacht hatte. »Vielleicht sind wir sogar noch weiter gekommen, als du denkst«, erwiderte Vespasian. Er brachte eine unregelmäßig geformte, geprägte Münze zum Vorschein. »Dies gehörte zu einem Schatz, einem Tribut, den der Herrscher eines hiesigen Dreckhaufens an Aulus Plautius entrichtet hat. Die Münze wurde vom König der Atrebaten ausgegeben ‐ unserem Freund Verica. Ja, die Britannier prägen ihre eigenen Münzen! Oder zumindest manche von ihnen.« Narcissus nahm die Münze. »Sie ist aus Gold.«
»Ja. Offenbar wurde sie nur für Tribute benutzt, nicht für den Handel, denn sie ist von zu großem Wert. Selbst diese halb zivilisierten Britannier kapieren anscheinend nicht, wozu eine Währung gut ist. Aber wir wissen noch immer wenig über die Gebiete jenseits dieser südöstlichen Ecke. Wir glauben, dass es da draußen mehr als zwanzig Stämme gibt, und bisher haben wir erst mit einer Hand voll von ihnen ernstlich Kontakt aufgenommen. Zweifellos gibt es in den Hügeln jede Menge Burschen mit haarigem Arsch, die noch nie auch nur etwas von Rom gehört haben.« Narcissus fühlte sich immer noch ein wenig unwohl. »Aber dieses Land hat seine eigene Geschichte.
41 Das erkennt man schon, wenn man es sich einfach nur von hier aus betrachtet. Und nun sind wir hier, um all das auszulöschen. Weißt du, wenn man ein Land besetzt, übernimmt man die Verantwortung für dessen Bevölkerung, vielleicht Millionen Menschen, für all ihre Hoffnungen und Träume. Ich frage mich manchmal, ob man in Rom weiß, welch schwerwiegende Folgen unsere Handlungen haben.« Vespasian sah Narcissus neugierig an. »Du verspürst doch nicht etwa Gewissensbisse, Sekretär ?« »Jeder nachdenkliche Mensch hat ein Gewissen.« »Die Britannier sind Bauern, nicht mehr. Mit einer Hand voll Glasperlen kann man sich eine Frau kaufen, und ihren Gatten obendrein mit einem Spiegel, damit er sich den struppigen Bart kämmen kann ‐ aber er wird Angst vor dem Barbaren haben, der ihm daraus entgegenschaut! Wir müssen uns diesen kindlichen Menschen gegenüber wie Eltern verhalten. Hart, aber gerecht.« »Oh, das ist mir klar.« Narcissus schüttelte seine Stimmung ab und rief sich ins Gedächtnis, dass es immer ein Fehler war, auch nur das leiseste Zeichen von Schwäche zu zeigen ‐ immer. Er ließ den Blick noch ein letztes Mal über die Landschaft schweifen. »Bei Apollos Augen, ich könnte es nicht ertragen, in einer dieser Holzhütten zu leben. Sie sehen wie große braune Misthaufen aus. Kein Wunder, dass die Britannier schon nach ein, zwei Bechern Wein nicht mehr wissen, wo vorne und hinten ist!« Vespasian lachte und ritt den Hang hinunter.
41
X Agrippina lag im niedrigen Strauchwerk auf dem Bauch. Sie war seit Tagesanbruch hier. Inzwischen konnte sie sich kaum noch bewegen, der Nacken tat ihr weh, und sie hatte nichts mehr zu essen und nur noch wenig Wasser. Aber hier lag sie, stumm und reglos, das Gesicht mit Erde geschwärzt, denn sie spähte die römische Armee aus. Obwohl sie in Gallien erzogen und ausgebildet worden war, hatte der Anblick einer römischen Armee auf dem Marsch aus solcher Nähe selbst sie überwältigt. Die Zehntausende dicht aufeinander folgender Männer hatten ihrer Schätzung nach nicht weniger als drei Stunden gebraucht, um an ihr vorbeizuziehen. Die ganze Zeit über war
der Lärm ohrenbetäubend gewesen. Die Römer flößten ihr gewaltigen Respekt ein, wenngleich sie sich an ihrer Scherbe des Hasses wegen Mandubracius und ihrem Rachedurst festklammerte. Aber sie bewahrte einen klaren Kopf. Sie hatte versucht, die Soldaten und Einheiten, Gepäckkarren und Lasttiere zu zählen, und bereits einen Läufer mit ersten Informationen zu dem Lager geschickt, das Caratacus etwas weiter westlich aufgeschlagen hatte, am Ufer des Cantiacer‐Flusses. Trotz ihrer kriegerischen, großen ioo Worte hatten die Fürsten fürs Erste Nectovelins Rat befolgt, zu beobachten, Informationen über die Römer zu sammeln und nur kleine Zermürbungsangriffe gegen sie zu unternehmen. Deshalb gehörte Agrippina nun zu einem Netz aus Spähern im ganzen Land. Nachdem der Hauptteil der Streitmacht an ihr vorbeigezogen war, blieb sie auf ihrem Posten, um zu sehen, was danach kommen würde. Sie erhielt eine Lektion in römischer Straßenbautechnik. Es hatte schon vor der Ankunft der ersten Soldaten begonnen. Landvermesser, geschützt von einer Reitertruppe, bezogen Positionen auf Kämmen und Hügeln. Sie hatten geheimnisvolle Apparaturen aus Holz, Schnüren und Bleigewichten dabei, die sie sich vor die Nase hielten. Agrippina nahm an, dass es darum ging, einen geraden Straßenverlauf zu gewährleisten. Anschließend wurde die Route mit Stöcken markiert, die alle paar Schritte in den Boden gesteckt wurden, und die Vermesser eilten weiter zu ihrer nächsten Position. Nachdem der Hauptteil der Armee auf der markierten Strecke vorbeigezogen war, folgte ein Bautrupp. Er schien aus Soldaten zu bestehen; ein Karren, auf dem sich Rüstungen und Waffen stapelten, begleitete sie, auch wenn jeder von ihnen noch ein Messer im Gürtel trug. Sie arbeiteten sich einen Weg entlang, der bereits von vierzigtausend Stiefelpaaren und Zehntausenden Hufen aufgewühlt worden war. Zuerst reinigten sie die zentrale Spur von Unterholz, dann hoben sie zu beiden Seiten Gräben aus und häuften das Erdreich auf die Trasse. Auf den Kamm aus Erdreich stapelten sie erst große, schwere Steine, dann eine Schicht aus kleineren Steinen, und schließlich schaufelten sie Kies darauf und verteilten ihn grob. Die kleineren Steine und den Kies führten sie in Karren mit, aber di e schweren Steine besorgten sie sich vor Ort ‐ meist aus den Trockensteinmaue rn örtlicher Gehöfte, aber es waren keine Bauern da, die sich beschweren konnten. Schließlich gingen die Soldaten‐Bauwerker auf dem neu angelegten Straßenstück hin und her und stam pften den Kies mit schweren Pfosten fest. Die Soldaten sangen bei der Arbeit unter der angenehm warmen britannischen Sonne. Viele ihrer Arbeitslieder waren lateinisch, aber Agrippina hörte auch etwas Gallisch und sogar ein wenig Germanisch heraus. Roms Soldaten kamen heutzutage nicht nur aus Rom. Agrippina hatte Gallien gesehen; sie wusste, was die Zukunft brachte. Von diesen Anfängen aus würden sich die Straßen über das Land ausbreiten wie Efeu über eine Mauer, würden sich teilen und ihre schnurgeraden Segmente hervorschießen lassen, b is
jeder Winkel des Landes erreicht war. Botschaften würden gedankenschnell über die Straßen jagen, und wenn die Soldaten das nächste Mal in diese Richtung marschieren mussten, würden sie viel schneller vorankommen als heute, durch den Schlamm und den Schmutz. Und die jungen Kämpfer Britanniens, die heute Überfälle auf die vorrückenden Römer vorbereiteten, würden künftig auf diesen Straßen weggeführt werden, um in 43
Germanien, Thrakien und Asien zu kämpfen, fern von der nebligen Kühle ihres Heimatlandes. So schluckte das Imperium seine Feinde und benutzte sie für seine weitere Ausdehnung ... Eine Hand schloss sich um ihren Mund. Agrippina wehrte sich, wurde jedoch auf den Boden gedrückt. Schreckliche Erinnerungen an die Nacht am Strand überfluteten sie. Doch dann wich die Last von ihrem Rücken, und sie konnte sich umdrehen und sah das breite, schmutzige Gesicht von Braint, der Bäuerin. »Tut mir leid«, zischte Braint. »Ich wollte nicht, dass du losschreist.« Agrippina bemühte sich, ihren Zorn im Zaum zu halten. »Das hättest du nicht tun sollen.« »Und du solltest darauf achten, was hinter dir geschieht«, erwiderte Braint. Sie kroch tiefer ins Unterholz und zuckte zusammen. Agrippina bemerkte erst jetzt, dass Braints Bein blutete. »Was ist passiert? Haben sie dich entdeckt?« »Beinahe. Ich habe mir das Bein an einem Stein aufgerissen und mein Messer verloren, aber ich bin entkommen. Riskante Tätigkeit, dieses Ausspähen. Kein Wunder, dass si e uns Frauen damit beauftragt haben.« »Du musst die Wunde verbinden. Soll ich dir mein Messer leihen?« »Nicht nötig.« Braint suchte auf dem Boden herum und förderte einen Brocken Feuerstein zutage. Sie schlug ihn gegen einen Stein, sodass er in zwei Hälften zerbrach ; das Innere war seidenglatt. Sie klopfte mit einem Kiesel gegen eine Hälfte des Steins, um lange, dün 43
ne Splitter abzuspalten, wählte einen davon und schnitt damit einen Streifen Stoff von ihrem Leibrock ab. All das dauerte nur ein paar kurze Augenblicke. »Und«, sagte sie, während sie arbeitete, »hast du die vorbeikommenden Legionäre gezählt? Wie viele sind es?« »Frag lieber nicht. Ich bin sogar hier geblieben und habe den Straßenbauern zugeschaut.« »O ja. Diese blonden, jungen Germanen mit den nackten Oberkörpern. Der Anblick hat dir bestimmt gefallen.« Sie grinste anzüglich und fasste sich in den Schritt. Agrippina, die ihre Fassung noch nicht ganz wiedergefunden hatte, musste unwillkürlich lächeln; sie hatte in der Tat ein paar unanständige Gedanken gehabt, als sie den Soldaten bei der Arbeit zugeschaut hatte.
»Ich habe gesehen, wie sie einen heiligen Ort zerstört haben«, sagte Braint. »Sie haben die Menhire eines Steinkreises umgestürzt und zerschlagen, um Geröll für ihre Straße daraus zu machen. Sie haben keinen Respekt.« »Aber es ist eine gewaltige Streitmacht, Braint. Selbst Caratacus wird den Mut verlieren.« »Darauf würde ich mich nicht verlassen«, erwiderte Braint düster. »Dazu ist er zu sehr in sich selbst verliebt. Gestern hat er einen weiteren Angriff auf die römische Kolonne angeführt. Er hat einen Karren mit Legionärsstrümpfen verbrannt und dabei drei Krieger verloren.« Sie schnaubte verächtlich. »Vielleicht bringen tausend solche Flohstiche die Römer ins Stocken. Aber Caratacus hält das für unter seiner Würde, und 44
ich kann es ihm nicht verübeln. Noch schlimmer ist, dass der römische Oberbefehlshaber den ganzen Tag lang Abgesandte empfangen hat. Ein reicher Einhei‐ mischer oder Dorfvorsteher nach dem anderen, der dem Kaiser Treue gelobt.« »Damit haben wir gerechnet«, sagte Agrippina. »Ja, aber einer von ihnen war ein Bruder der Fürsten. Cogidubnus.« Einer der Söhne, die Cunobelin zur Ausbildung und Erziehung nach Rom geschickt hatte. »Wie es heißt, wird Cogidubnus unter römischer Bewachung durchs Land reisen und Abkommen für den Kaiser aushandeln.« »Er würde seine eigenen Brüder verraten?« Braint hob die Schultern. »Cogidubnus würde wohl sagen, dass Caratacus und Togodumnus mit ihren Mätzchen in den letzten Jahren diesen Sturm über uns alle gebracht haben. Aber wie du weißt, Agrippina, gibt es in Familienangelegenheiten selten ein Richtig oder Falsch.« »Und was nun?« »Caratacus ist ungeduldig. Er ist drauf und dran, den bisherigen Plan aufzugeben ‐ die Scharmützel, die Hinterhalte. Bald werden die Römer den Cantiacer‐Fluss durchqueren müssen. Caratacus sagt, dort wolle er ihnen entgegentreten.« »Ist er nun doch auf eine offene Feldschlacht aus?« Agrippina verspürte eine Aufwallung widerstreitender Gefühle. »Vermutlich hat ihn der ganze Verlauf seines Lebens an diesen Punkt gebracht ‐ ihn und Togodumnus.« 44
Braint räusperte sich. »Wenn du im Zusammenhang mit den beiden das Wort >Ehre< gebrauchst, klebe ich dir eine. Die Fürsten sind zwei verzogene kleine Jungen, die keine Ruhe geben, bis alles nach ihrer Nase geht. Und der Druide liegt ihnen ständig im Ohr. Trotzdem bleibt uns nichts anderes übrig, als sie zu unterstützen. Und wer weiß, vielleicht siegen sie sogar.« Sie hatte den Stoffstreifen abgetrennt und fing an, sich das Bein zu verbinden. Agrippina begutachtete die Feuersteinsplitter. Nach all ihren Reisen hatte sie ein Gespür für die groben Strukturen des Lebens auf der gesamten britannischen Insel. Ja, im Süden gab es Münzen und Tonwaren, Bauernhöfe und Märkte. Aber weiter weg, dort, wohin die Römer, ihre Händler und ihre Kultur erst noch vordringen mussten, herrschten ältere Traditionen. Bei ihrem eigenen Volk, den
Briganten, maß man seinen Reichtum nicht in Münzen, sondern nach der Anzahl der Rinder, die man besaß. Man aß aus Holzschüsseln, nicht aus Tonschalen. Man lebte inmitten riesiger Steingräber, Relikten der Vergangenheit. Und am Feuer lauschte man Geschichten über Steinzeitkönige oder Kaiser aus den Zeiten von Kupfer und Zinn, ferne Vorfahren, die einst das Land regiert hatten, deren Reichtümer und Herrschaftsgebiete jedoch mit dem Aufkommen des Eisens spurlos verschwunden waren. Als Agrippina lesen gelernt hatte, waren ihr Zweifel am Wahrheitsgehalt der Familiengeschichten gekommen, die sie während ihrer ganzen Kindheit gehört hatte. Wie konnte an solchen alten Geschichten 45
etwas Wahres sein, wenn sie niemals niedergeschrieben worden waren? Aber die Geschichten wurden einer Zuhörerschaft vorgetragen die sie ebenso gut kannte wie die Erzähler; sie wurden immer aufs Neue weitergegeben, und in diesem Vorgang des Erzählens selbst wurde die Wahrheit der Geschichten gepflegt, von einer Generation zur nächsten. Darum war sie mit der wahren, weit zurückreichenden Geschichte ihres Volkes aufgewachsen. Britannien war ein uraltes Land voller tiefer kultureller Wurzeln. Und als Braint ohne bewusste Überlegung einen Stein aufgehoben und ein Werkzeug daraus gemacht hatte, hatte sich darin eine Tradition gespiegelt, die viel älter war als Rom. Doch nun waren die Römer hier, und ihre Armee war wie eine eiserne Axt, die sich in den Stamm eines uralten Baumes grub. Was immer die nächsten paar Tage bringen würden, nichts würde mehr so sein wie bisher, nie wieder ‐ und Agrippina war hier und erlebte es mit. Diese größere Perspektive schüchterte sie ein, obwohl ihr Rachedurst weiterhin brannte. Die Sonne ging unter, die Luft kühlte sich ab, und auf der glänzenden neuen Straße hatte sich schon eine ganze Weile nichts mehr getan. »Komm, wir kehren zum Lager zurück.« Braint streckte sich und zuckte zusammen, als sich ihre Wunde erneut schmerzhaft bemerkbar machte. Agrippina half ihr auf die Beine. Im zunehmenden Zwielicht schlugen die beiden den Weg durch verlassene Gehöfte zu Caratacusʹ Lager ein. 45
XI Narcissus und Vespasian entfernten sich von dem staubigen Chaos, das die Soldaten beim Aufbau des Lagers in der Nähe des Flussufers anrichteten. Am Nachmittag dieses heißen Tages schwitzte Narcissus ebenso stark wie das Pferd unter ihm. Wie immer war es jedoch eine Erleichterung, der Armee für eine Weile zu entkommen; nach einem weiteren Marschtag produzierten Zehntausende von Männern und ihre Tiere einen infernalischen Gestank. Sie hielten auf ein kleines Stück höher gelegenen Geländes zu, einen Hügelkamm. Narcissusʹ Pferd suchte sich vorsichtig seinen Weg über kalkhaltiges, mit Feuersteinen
übersätes Erdreich, das Narcissus neugierig betrachtete. Überall im nördlichen Gallien hatte er fast identisches Gelände gesehen. Es schien, sann er, als wären Gallien und Britannien in Wirklichkeit eine einzige Landschaft, zerteilt von einem Streifen Meer, so wie das Messer eines Chirurgen eine Gliedmaße amputierte. Es war ein faszinierender Gedanke, aber er hatte keine Ahnung, wie solch gewaltige Veränderungen in der Struktur der Erde vonstatten gegangen sein könnten. Vielleicht war Britannien ein Relikt von Atlantis, dachte er, oder übrig gebliebener 46
Bauschutt aus der Urzeit, als Riesen die Erde gemacht hatten. Vom Kamm aus schauten sie nach Westen, zum Fluss und den in der Nähe des Ufers herumwimmelnden Soldaten. Oberhalb der Furt war binnen weniger Stunden eine Festung für die Nacht entstanden, obwohl die Männer nach einem Marschtag mit schwerem Gepäck wie üblich murrten ‐ aber Soldaten beklagten sich immer, sagte Vespasian. Die rechteckige Festungsanlage wurde von einem Graben und einem niedrigen Erdwall begrenzt, den eine Palisade aus rasch in einem nahe gelegenen Gehölz gefällten und angespitzten Baumstämmen krönte. Im Inneren wurden die Lederzelte der Legionäre in den üblichen Reihen errichtet. Von einem Dutzend Feuer stiegen bereits Kochdünste empor, und selbst das Ausheben der Latrinen war eine durchorganisierte Arbeit. Als Narcissus weiter nach Westen schaute, über den glänzenden Flusskörper hinweg, sah er eine andere Streitmacht, die sich am gegenüberliegenden Ufer ballte. Das waren die Britannier, die dem römischen Vormarsch hier entgegentreten wollten. Die Britannier, denen die unübersehbare Disziplin der römischen Truppen vollständig fehlte, wirkten eher wie ein städtischer Pöbel, der aus Mediolanum oder Rom hierher versetzt worden war, dachte Narcissus müßig. Einige von ihnen schienen am Wasser eine Art Ritual zu veranstalten. Narcissus hätte schwören können, dass sie Becher und Teller, ja sogar Waffen zerbrachen und die Überreste ins Wasser warfen. War der Verstand der 46
Barbaren wirklich derart verwirrt, dass sie es für eine gute Idee hielten, am Vorabend der Schlacht ihre Waffen zu zerstören und in den Fluss zu werfen? Aber so unorganisiert und rätselhaft sie sein mochten, es waren Zehntausende, wie Narcissus beklommen sah; vielleicht waren sie den römischen Truppen zahlenmäßig sogar überlegen. Und hinter der am Fluss versammelten Menge erspähte er Pferde, die kleine, schnelle, zweirädrige Wagen hin und her zogen. Das waren die berühmten Streitwagen, über die Caesar so eloquent geschrieben hatte; sie übten für den Krieg. Vespasian zeigte jedoch keinerlei Anzeichen von Nervosität. Stattdessen schien der Legat das Schauspiel eher zu genießen. Er zeigte nach Osten, dorthin, woher sie gekommen waren. »Man kann den Pfad der Einheimischen sehen, dem wir bis zu dieser Furt über den Fluss gefolgt sind.« Der Pfad war in einer annähernd geraden Linie parallel zum Südufer der Tamesis‐Mündung verlaufen ‐ nicht gepflastert oder ordentlich angelegt wie eine Römerstraße, sondern offenkundig uralt, tief gefurcht und eindeutig nützlich. Die
Armee hatte seine Oberfläche gründlich verwüstet und ein Band aus aufgewühlter Erde hinterlassen, das sich in den Nachmittagsdunst erstreckte. Aber irgendwo dort hinten arbeiteten Gruppen von Straßenbauern; die nächste Streitmacht, die diesen Weg nahm, würde viel schneller vorankommen. »Den Kundschaftern zufolge ist der Fluss hier eine Achtelmeile breit«, sagte Vespasian. »Ein Stück flussabwärts weitet er sich ‐ schau, du kannst es sehen ‐auf etwa die doppelte Breite. Weiter stromaufwärts wird er rasch tiefer. Hier bei dieser Furt ist er also am leichtesten zu durchqueren, und das wissen die Britannier. Dies ist das erste große Hindernis, dem wir uns seit Rutupiae gegenübersehen, der erste Engpass, der unsere Formation einschnürt. Deshalb haben die Britannier sich hier versammelt, um uns zu empfangen. Zweifellos wollen sie uns einen nach dem anderen abschlachten, während wir mühsam die Furt überqueren.« »Aber die Britannier kennen das Land viel besser als wir. Weshalb stellen sie sich überhaupt zum Kampf? Sie könnten sich verstecken, uns piesacken und uns auszuhungern versuchen.« Vespasian zuckte die Achseln. »Sie haben schon ein paar eher halbherzige Versuche in dieser Richtung unternommen. Aber es scheint da drüben nicht allzu viel Sachverstand zu geben, Sekretär. Das haben wir uns schon in dem Augenblick gedacht, als wir ohne Gegenwehr gelandet sind.« »Ohne Gegenwehr ‐ bis auf einen törichten Jungen, der uns für Freunde hielt«, sagte Narcissus ein wenig wehmütig. »Nun, ich denke, du hast nicht vor, in die ziemlich erbärmliche Falle zu gehen, die die Britannier dir gestellt haben. Was dann?« Vespasian musterte ihn beinahe spitzbübisch. »Aber das würde den ganzen Spaß verderben! Willst du wirklich wissen, wie die Geschichte weitergeht, noch bevor die Schauspieler die Bühne betreten?« Narcissus wendete mürrisch sein Pferd und ritt den Hang hinunter. »Wie du wil lst. Ich werde den Rest des Tages mit Phoebus verbringen.« Das war der älteste der Chirurgen, die Aulus Plautius mitgebracht hatte ‐und wie fast alle guten Ärzte des Heeres war er Grieche, so wie Narcissus. »Während ihr Barbarenschädel spaltet, werde ich zur Abwechslung wohl endlich einmal eine zivilisierte Konversation führen. Und vi elleicht helfe ich, ein paar Wunden zu nähen oder ein paar eingeschlagene Schädel zu baden. Ich bin nämlich ziemlich sicher, Vespasian, dass die eisernen Klingen der Britannier trotz deiner Selbstgewissheit einigen Schaden anrichten werden, bevor dies vorbei ist.« Vespasian folgte ihm. Er war offenbar nicht beleidigt. »Ja, aber wir werden den Sieg davontragen. Denk daran, Narcissus, für diese Britannier ist das alles neu. Selbst ihre Anführer, diese räuberischen catuvellaunischen Fürsten, von denen wir so viel hören, haben noch nie in offener Feldschlacht gekämpft. Wir hingegen führen seit Jahrhunderten Krieg. Wir haben das Wissen großer Feldherren wie Scipio und Marius, Pompeius und Caesar bewah rt ‐ wir vergessen weder unsere Siege noch unsere Fehler.« »Wenn ihr etwas seid, dann systematisch«, gab Narcissus widerwillig zu. Vespasian sagte: »Es ist wirklich nicht leicht, dich zu erheitern. Sekretär, dies könnte das wichtigste Gefecht der ersten Phase unseres Feldzugs sein. Es ist kaum anzunehmen, dass die Britan nier noch einmal eine solche Streitmacht aufbieten
werden, nachdem wir sie auseinandergetrieben haben. Dies ist die Schlacht um Britannien! Aulus Plautius hat ausdrücklich betont, wie wichtig es ist, dass du verstehst, wie diese Schlacht sich entwickelt: Du hast schließlich das Ohr des Kaisers. Sieh und hör einfach zu und merk dir alles ‐ und erzähl Claudius, welch gute Arbeit wir heute für ihn geleistet haben.«
XII Nectovelin marschierte mit Agrippina und Cunedda durchs catuvellaunische Lager am Ufer des Cantiacer‐Flusses. Die drei waren auf der Suche nach Caratacus und Togodumnus. Nectovelin wollte in Erfahrung bringen, ob die Fürsten überhaupt eine Strategie verfolgten, und wenn ja, welche. Sie hatten nicht viel Glück. Das Lager war ein einziges Chaos. Die Krieger selbst sahen durchaus eindrucksvoll aus. Sowohl Nectovelin als auch Cunedda trugen ihre Kampfrüstung: Schwertgurte, Kettenhemden, Lederhosen, Eisenhelme und große rechteckige Schilde. Nectovelins Schild mit den Bronzeintarsien hungriger Eber in gehärtetem Holz war besonders hübsch, und es wurde von den Narben vieler Axthiebe geziert. Cunedda war jedoch angespannt, und seine Hand lag am Heft seines Schwerts. Er hatte zwar keinerlei Kriegserfahrung, sagte aber, sein Ehrgefühl erlaube ihm nicht, sich dem heutigen Kampf zu entziehen. Andere Krieger arbeiteten an ihren Waffen und ihrer Rüstung, flickten Löcher in ihren Kettenhemden und schliffen die Schneiden ihrer Schwerter. Viele der Möchtegern‐Kämpfer trugen jedoch nur die Arbeitskleidung von Bauern ‐ Leibröcke, Hosen 48
und Mäntel aus Wolle oder Leder ‐ und besaßen keine Waffen außer ihren Knüppeln oder Sicheln. Agrippina räumte ein, dass an diesem schlammigen Flussufer eine gewaltige Menschenmenge zusammengeströmt war. Caratacusʹ Armee bestand aus einem Aufgebot der Catuvellaunen und der Stämme, die ihnen Tribut schuldeten, hauptsächlich Trinovanten, Cantiacer, Icener und Atrebaten. Nectovelin schimpfte fortwährend darüber, dass die Uneinigkeit der britannischen Volksstämme seit Cassivellaunus den Römern den klarsten Vorteil verschaffte. Schon vor der Landung der Invasionstruppen hatten einige Herrscher im Süden römischen Soldaten den Zutritt zu ihren Territorien erlaubt und diese zu Protektoraten des Imperiums gemacht. Darum war es ein bedeutsames Meisterstück der Führungskunst, dass es den catuvellanischen Fürsten gelungen war, diesen wilden Haufen aus Angehörigen vieler Stämme zu versammeln, obwohl Nectovelin finster knurrte, er sehe keine Spur der von den Dobunnen versprochenen Krieger. Aber es war ein wüstes Durcheinander, ein buntes Gemisch, eine vielsprachige Menge, und es war schwer zu erkennen, wer die Führung innehatte. Zudem hatten die Kämpfer nicht nur ihre Familien mitgebracht, sondern auch ihre Hunde, Ziegen und Schafe. Kinder wimmelten um Agrippinas Füße und lieferten sich, angeregt von dem Lärm, spielerische Gefechte mit Holzstäben. Händler boten mit
lauter Stimme auf dem Rost gebratenes Fleisch, Kiefernzapfen und Haselnüsse feil. Angesichts des Radaus, den die Ausrufer, die schreienden Kinder, kläffenden Hunde und gackernden Hühner verursachten, ähnelte das Ganze eher einem riesigen chaotischen Markt als einem Heerlager. Auf diese Weise hatten die Catuvellaunen und ihre Verbündeten und Feinde stets ihre Kriege ausgetragen. Doch Agrippina warf nervöse, verstohlene Blicke über den Fluss, wo die ordentlichen, geraden Linien der Legionärsfestung deutlich zu sehen waren. »Also, was meinst du?«, fragte Cunedda Nectovelin. Der Krieger grunzte. »Was für ein Durcheinander. Sagen wir mal so: Meine Familie würde ich nicht hierher bringen.« »Ich bin deine Familie«, erwiderte Agrippina. »Ja, und ich musste dich daran hindern, eine Rüstung anzulegen!« »Hier sind viele Frauen, die sich auf den Kampf vorbereiten ‐ zum Beispiel Braint.« »Braint ist eine zähe alte Schreckschraube mit Unterarmen wie Coventinas bebende Schenkel.« »Das habe ich gehört«, knurrte Braint, die auf einmal direkt hinter ihnen stand. Agrippina war immer wieder überrascht, dass eine so massige Frau sich so leise bewegen konnte. Nectovelin seufzte. »Was ich meine, Pina, ist: Bei ihrem Anblick werden die Römer sich in die Hosen machen ‐ wohingegen du, mein Kind, sie nur zum Lachen brächtest, bevor sie widerwärtige Dinge mit dir anstellen und dir den Hals durchschneiden würden. n49 Ich bin mir sicher, dass du deine Gelegenheit zur Rache schon noch bekommen wirst«, sagte er grimmig. »Aber nicht heute, nicht hier. Nicht auf diese Weise.« »Ihr sucht Caratacus«, sagte Braint. »Seit die Sonne im Zenit stand.« »Die Fürsten sind unten am Was ser. Folgt mir.« Nectovelin und Braint gingen voran, hinunter zum Fluss. Der ohnehin schon su mpfige Boden war hier von Füßen und Hufen aufgewühlt und von tierischen Exkrementen bedeckt. Sie mussten sich ihren Weg durch hastig errichtete Verteidigungsanlagen bahnen: aufgehäufte Felsbrocken, Gräben, in den Boden gerammte Pfähle, alles dazu gedacht, die erwartete römische Durchquerung des Flusses zu verhindern. Die Menge wurde immer dichter, bis Agrippina zu allen Seiten eingezwängt war und der Lärm sowie der Gestank von Leder und Schweiß überwältig end wurden. Nectovelin und Braint mussten sich mit den Schultern gewaltsam einen Weg hindurch bahnen. Schließlich stand Agrippina am trä ge dahin‐strömenden Wasser. Doch selbst der Fluss war voller Menschen. Krieger marschierten im Wasser, das ihnen bis an die Knie reichte, auf und ab. Einige von ihnen drohten den Römern am ande ren Ufer mit dem Schwert oder schlugen mit den Klingen aufs Wasser. Frauen schnitten den Invasoren mit herausgestreckter Zunge und hervorquellenden Augen Grimassen. Selbst Kinder zeigten ihne n ihre blanken kleinen Popos.
Die Hand voll Römer am anderen Ufer, die sich die Füße im Fluss wuschen, ließen sich davon offenbar nicht aus der Ruhe bringen. Sie lachten, johlten und machten einander auf besonders amüsante Szenen aufmerksam: ein fetter aller Krieger, der im Wasser einen Kriegstanz aufführte, ein Hund, der in der Gischt herumtollte, weil er glaubte, dass an diesem sonnigen Nachmittag jedermann spielte. Agrippina zeigte auf eine Ente, die gelassen in der Mitte des Flusses schwamm, gefolgt von einer Reihe ihrer Jungen, in so ordentlicher Formation wie eine römische Legion. »Dieser ganze Unsinn macht nicht einmal den Entenküken Angst«, sagte sie trocken. »Vielleicht fühlen diese großen Kerle sich dadurch besser«, murmelte Braint. »Und Caratacus?«, fragte Nectovelin. »Da.« Braint zeigte hin. Die beiden Fürsten standen knietief im Wasser und arbeiten sich durch einen Haufen von Waffen. Sie zerstörten jeden Gegenstand, zerbrachen Dolchklingen und Schwerter, zertrümmerten Schilde mit Äxten und schleuderten die Stücke dann ins tiefe Wasser. Agrippina sah einen Priester in der Nähe der Fürsten; der Druide hatte die Arme ausgebreitet, als wolle er den Fluss selbst umarmen, und intonierte einen Singsang, während die Fürsten ihr Werk taten. Inmitten des grotesken Spektakels der sich in Drohgebärden ergehenden Krieger fand Agrippina diese Zeremonie würdevoll und seltsam bewegend. Ihr eigenes Bauernvolk hatte ähnliche Rituale, bei denen man den Göttern Haushaltsgegenstände wie Beche r, Kleidungsstücke und landwirtschaftliche Geräte wie Pflü n50 ge opferte. Man stellte sie in Zwischenräume wie Gräben, Durchgänge und Flussu fer ‐ Orte zwischen den Welten, wo die Wirklichkeit ins Schwimmen geriet. Es waren Opfe r für die Götter, Bitten um die Fortsetzung des Jahreszeitenzyklus ‐ und heute waren es Bitten um den Sieg und um Ehre im Krieg. Überdies lag Caratacusʹ Zerstörung seiner eisernen Waffen ein noch älteres Ritual zug runde. Es war der Abschluss eines Lebenskreises, denn manche glaubten, das im Feuer geborene Metall sei lebendig, und hielten es darum für angemessen, dass es zu guter Letzt im Wasser »starb«. Agrippina sah jedoch, dass zu den Gaben, die dem Fluss geopfert wurden, auch römische Waren gehörten: Keramik von der Insel Samos, gut gearbeitete gallische Dolche und Schwerter, ja sogar Münzen, die zweifellos m it dem Kopf des Invasorenkaisers geschmückt waren. Selbst in diesem heiligsten britannischen Ritual, dachte sie, hatten die Römer also bereits Fuß gefasst. Ein Läufer näherte sich Togodumnus. Er brachte offensichtlich schlechte Nachrichten. Fluchend schleuderte der Fürst seine letzten Opfergaben von sich und stampf te aus dem Wasser. Sein Bruder, Caratacus, fuhr mit seiner geduldigen Zeremonie fort. »Dafür wird Togodumnu s vielleicht noch bezahlen«, sagte Cunedda leise. »Man kehrt den Göttern nicht einfach den Rücken.« »Wahrscheinlich hat er gerade erfahren, dass die Dobunnen die Waffen vor den Römern gestreckt haben«, sagte Braint lakonisch. 50
»Bei den Göttern, Frau!«, fuhr Nectovelin sie an. »Wenn du Griechin wärst, würde ich dich als Orakel bezeichnen.« Braint zuckte die Achseln. »Ich höre nur hin, was die Leute sagen.« Cunedda fragte Nectovelin: »Wenn es heute schiefgeht, was wird dann aus uns allen ‐ den alten Leuten, den Frauen und Kindern?« Nectovelin grunzte. »Die Römer haben den Ozean nicht überquert, um Gnade walten zu lassen. Sie werden darauf aus sein, uns einen Schlag zu versetzen, der auf der ganzen Insel widerhallt. Vielleicht gelingt es uns aber auch ohne die Dobunnen, sie daran zu hindern. Doch es liegt in den Händen der Götter.« »Aber Nectovelin, deine Prophezeiung«, fragte Agrippina leise, »sagt sie nichts darüber, was heute geschehen wird?« Er legte die Faust auf das Kettenhemd, das seine Brust bedeckte. »Der Wortlaut auf dem Pergament ist kurz. Nur ein paar Zeilen. Man kann nicht erwarten, dass jede Kleinigkeit aufgeführt ist, die irgendwann einmal passieren wird.« »Das ist keine >Kleinigkeit<, Vetter!« Nectovelin funkelte sie an. »Hier wird uns kein Pergament helfen. Nur Eisen und Blut werden jetzt unsere Zukunft formen. Hör auf damit, Agrippina.« Sie wurden von fernem, zornigem Geschrei aus dem hinteren Teil der unorganisierten Masse von Britanniern unterbrochen. Caratacus, dessen Stiefel noch nass waren, lief mit einer Gruppe seiner Verbündeten I2.0
zum Ort des Tumults; sie hatten bereits ihre Schwerter gezogen. Braint sprang auf den Stumpf eines vom Sturm gefällten Baumes, um besser sehen zu können. »Es sind die Streitwagen«, rief sie. »Jemand geht auf die Pferde los.« »Die Bataver!«, brüllte Nectovelin. »Wer?«, fragte Agrippina. Er zog sein Schwert. »Pina, such dir einen sicheren Platz und bleib dort. Braint ‐ komm, du alte Schreckschraube, wir müssen vor dem Abendessen noch ein paar Römerschädel einschlagen.« Und er rannte davon und pflügte durch die dicht gedrängte Menge alter Frauen, Kinder, Ziegen und Schafe. »Es geht also los«, sagte Cunedda. Er schaute sich ein letztes Mal hilflos zu Agrippina um, dann folgte er Nectovelin. 51
XIII Vespasian fand seinen Bruder, obwohl es stockdunkel war. Sie trafen sich zu Pferde in einem Waldstück so nah am Fluss, dass sie dessen Gemurmel hören konnten. Sie waren allein, bis auf ihre engsten Stabsoffiziere und ein paar stämmige Legionäre als Leibwächter. Und überall um sie herum durchquerten mehr als zehntausend Männer in der Finsternis das Wasser. »Welch ein Glück, dass es so dunkel ist«, flüsterte Sabinus seinem Bruder zu. »Ja.« Allerdings war es kein Zufall, dass die Nacht mondlos war; bei der Planung des Feldzugs hatten sie die Mondphasen berücksichtigt. »Aber mich beschleicht allmählich
das Gefühl, dass die Britannier uns auch dann nicht bemerken würden, wenn wir den Fluss am helllichten Tage durchquerten.« »Kaum zu glauben, nicht wahr? Würdest du nicht zumindest ein paar Späher aufstellen ? Es ist ja nicht so, als hätten wir uns zu verbergen versucht.« Vespasian zuckte die Achseln. Seine Rüstung klapperte, als die miteinander verbundenen Platten aneinanderschabten. »Ich habe den Eindruck, diese Barbaren halten es für unehrenhaft, im Dunkeln he‐rumzuschleichen.« 52
»Und ist es ehrenhafter, sein Leben nutzlos wegzuwerfen? Nun, morgen um diese Zeit werden viele von ihnen diese Frage mit ihren Göttern erörtern können. Komm. Sehen wir nach, wie die Durchquerung läuft.« Sie wendeten ihre Pferde. Ein unberittener Stabsoffizier führte Vespasians Tier den von den Kundschaftern zuvor angelegten Pfad entlang, und das von Sabinus folgte ihnen. Flavius Sabinus war ein paar Jahre älter als Vespasian und schon vor seinem Bruder zum Militär gegangen. Er war langsamer vorangekommen und einmal sogar Stabsoffizier seines Bruders gewesen. In dieser Situation hatte es Rivalitäten gegeben, obwohl die Brüder ansonsten stets gut miteinander auskamen. Dank Vespasians Verbindungen zu Narcissus war Sabinus nun jedoch in den gleichen Rang erhoben worden wie sein Bruder und führte bei diesem britannischen Abenteuer eine eigene Legion. Und wie Vespasian schon immer gewusst hatte, erwies sich Sabinus im Feld als fähiger Mann. Jedenfalls war bisher alles gut gegangen. Die Britannier hatten nichts anderes getan, als am Ufer gegenüber dem Feldlager darauf zu warten, dass die Römer sich in ihre rostigen Eisenschwerter stürzten. Aulus Plautiusʹ kühle Kalkulationen bezüglich der Denkweise der britannischen Führer schienen sich zu bestätigen wie das Theorem eines griechischen Mahematikers, dachte Vespasian ‐ ein Vergleich, den er sich für Narcissus und dessen Briefe an Claudius merken musste. Unterdessen hatten alle acht von Plautiusʹ Bataverkohorten ein Stück stromabwärts vom Marschlager heimlich den Fluss durchquert. Vespasian war schon immer der Ansicht gewesen, dass die Bataver zu den nützlichsten Hilfstruppen zählten, denn sie waren speziell dazu ausgebildet, auch große Flüsse in voller Kampfmontur zu durchschwimmen. Und nachdem sie sich wie Hunde trocken geschüttelt hatten, griffen die Bataver die britannischen Linien von hinten an. Ihr Ziel war es, die feindlichen Streitwagen auszuschalten. Die Streitwagen hatten Caesar überrascht, als er vor hundert Jahren auf sie getroffen war. Sie waren furchterregend schnell und steuerten auf einen zu, während die schreienden Insassen ihre Speere schleuderten. Schon der Lärm ihrer Räder reichte, um Menschen und Pferde gleichermaßen in Panik zu versetzen. Der Feind konnte die Streitwagen als Waffe an sich benutzen, er konnte mit ihnen aber auch seine besten Soldaten dorthin bringen, wo sie am meisten Schaden anrichten würden. Für Caesar waren die Streitwagen ein Albtraum aus den Legenden vom trojanischen Krieg gewesen, und er hatte mit seinen phlegmatischen Legionären Schwierigkeiten gehabt,
diesen wendigen, mobilen Truppen etwas entgegenzusetzen. Selbst seine Reiterei war bedroht gewesen. Doch nach Caesars Zeit hatte man andere historische Erkenntnisse entstaubt. Wie sich herausstellte, war der Kampf mit Streitwagen früher in weiten Teilen des nördlichen Galliens und in Germanien verbrei 53
tet gewesen, jedoch schon vor Jahrhunderten in diesen Ländern außer Gebrauch gekommen. Trotz aller Mobilität kippten die Streitwagen nämlich häufig um oder brachen zusammen, und ihre Insassen verbrachten mehr Zeit mit dem Herumfahren als im Kampf gegen den Feind. Der Ausgang einer Schlacht hing wie immer von den langsamen Mühlen der Fußtruppen ab. In dieser wie auch in so vieler anderer Hinsicht schien es Vespasian, als wären die Britannier nicht auf dem Laufenden, was die Entwicklungen auf dem Kontinent betraf ‐ sie kannten nicht einmal die Gepflogenheiten ihrer barbarischen Nachbarn, geschweige denn die der Römer. Dennoch konnte ein Streitwagenangriff im Schlachtverlauf als Ablenkung dienen. Deshalb war man zu dem Schluss gekommen, dass man der Bedrohung am besten Herr wurde, indem man sie schon vor Beginn des Kampfes beseitigte, und hatte die Bataver hinübergeschickt, um die Sache zu erledigen, was diese höchst effektiv getan hatten. Nun war der Hauptteil der Streitmacht dabei, den Fluss zu durchqueren. Vespasian kam nah am Flussufer aus dem Schutz der Bäume, genau an der Stelle, welche die Kundschafter bei Tag ausgewählt hatten. Im Sternenlicht sah er die getüpfelte Oberfläche des Flusses ‐ und die Umrisse einer Reihe von Männern, die sich übers Flussufer ins Wasser begaben und, einem von den Kundschaftern ausgelegten Seil folgend, zur anderen Seite wateten. Die Männer hatten Bündel auf Kopf und Schultern ge 53
bunden und flüsterten miteinander, während sie durch das silbrige Wasser marschierten. Wie alles, was die römische Armee tat, war selbst dieses vorsichtige Massenwaten penibel geplant und ausgeführt. Ein Soldat kam grinsend auf ihn zu. Seine bloßen Beine waren dreckverschmiert. »Guten Abend, Herr.« »Marcus Allius, bist du das? Den Gestank dieser Füße würde ich selbst in stockdunkler Nacht erkennen.« »Die Hälfte von uns ist schon drüben.« »Gute Arbeit. Und keine Katastrophen?« »Oh, ich musste den Fluss zweimal durchqueren, bevor sie sich auch nur in die Nähe des Wassers getraut haben.« Vespasian sah, dass Allius sich die genagelten Sandalen um den Hals gehängt hatte und seinen neuen Helm trug, eine von Claudius persönlich in Auftrag gegebene Ausführung auf der Basis eines barbarischen Modells aus Germanien, mit einer Platte, die besseren Nackenschutz bot. Allius hatte jahrelang unter Vespasian gedient. Jetzt war er Dekurio in der ersten Kohorte von Vespasians Legion ‐ der größten Kohorte, nicht weniger als achthundert Soldaten. Allius war ein guter, verlässlicher, fantasieloser Mann, das Rückgrat jeder
Armee. Vespasian hatte gehört, dass er zu Beginn der Invasion als erster römischer Soldat an Land gegangen war ‐ er hatte sogar als Erster einen Britannier getötet, wenn auch nur einen dummen Jungen, der aus dem Dunkeln herbeigekommen war. Dadurch hatte Allius einen gewissen ikonischen Status erlangt, und deshalb hatte 54
Vespasian ihn zu dieser Durchquerung eingeteilt: als Glücksbringer. Nun sagte Allius: »Die Männer murren, Herr.« »Legionäre murren immer. Die Blutegel im Fluss werden uns wahrscheinlich einen härteren Kampf liefern als diese Brittunculi.« Es war ein lahmer Scherz, der Vespasian jedoch das Gelächter einiger Männer eintrug, die zur Durchquerung des Flusses anstanden. Aber er glaubte, einen Unterton von Besorgnis herauszuhören. Schließlich waren sie weit entfernt von daheim, sie hatten den Ozean überquert, und jetzt standen sie einer Barbarenhorde gegenüber, die sogar Caesar zum Stehen gebracht hatte. Legionäre waren keine Feiglinge, aber sie waren abergläubisch. Vespasian stieg ab und ging zu der Schlange. »Wir überleben das, stimmtʹs, Leute?« Zustimmendes Gemurmel. »Schon Schlimmeres erlebt, Herr.« Dies war so ziemlich das Äußerste an Enthusiasmus, was man von einem Legionär zu hören bekommen konnte. »Du.« Vespasian deutete willkürlich auf einen Mann. »Wie lauten deine Befehle für morgen?« »Morgen Früh werden die Britannier merken, dass wir an ihrem Flussufer sind. Wir sollen die Stellung dort halten, bis Legat Getas Legion bereitsteht.« »Gut. Aber ihr seid zahlenmäßig unterlegen, und so wird es auch bleiben, selbst wenn Geta zu euch stößt. Was meint ihr dazu?« Ein paar Männer zuckten unbehaglich die Achseln. »Ihr habt dieses ganze großspu 54
rige Getue am Fluss gesehen. Hört mir zu. Erstens, selbst wenn ein riesiger barbarischer Wilder mit einem baumdicken Knüppel auf euch losginge, könnte er euch nicht besiegen. Warum nicht? Weil ihr nicht allein seid. Und eure Kameraden können ebenso wenig besiegt werden, weil sie euch an ihrer Seite haben. Und noch ein Wort zu den Namen. Wisst ihr, was ihre Namen bedeuten ‐ Catuvellaunen, Cassivellaunus? Dieses vellau bedeutet gut, der oder das Beste, perfekt. Cassivellaunus hat sich also als >der perfekte Mann< bezeichnet. Die Catuvellaunen sind >die besten Krieger<.« Er grinste. »Wenn sie wirklich so perfekt wären, müssten sie es sich dann immerzu einreden? Ihr braucht keine pompösen Namen. Ihr seid römische Bürger und die besten Soldaten aller Zeiten. Merkt euch das.« Seine Worte brachten ihm einen leisen Jubelruf ein. Vespasian kehrte zu seinem Pferd zurück. »Ich glaube, das ist gut gelaufen«, sagte er zu Sabinus. »Ich fand schon immer, dass Humor das beste Mittel gegen die Angst ist.« »Mag sein«, sagte sein Bruder zu ihm, während sie davonritten. »Nur schade, dass du keine guten Witze kennst.« 54
XIV Es war eine schlechte Nacht für die catuvellaunischen Truppen gewesen. Der Angriff der Bataver auf die Streitwagen und Pferde hatte viele entmutigt, und die Schreie von Tieren mit durchtrennten Sehnen und aufgeschlitzten Bäuchen hatten durch die Dunkelheit gegellt. Als es dann langsam hell wurde, sahen sie zu ihrer Bestürzung die römischen Truppen am Westufer des Flusses ‐ auf ihrer Seite, der britannischen Seite. Niemand hatte das Geringste davon bemerkt, dass die Römer herübergekommen waren. Die Catuvellaunen wussten nicht einmal, wie sie das gemacht hatten. Aber hier waren sie, in der grauen Morgendämmerung. Die Römer waren in Einheiten von jeweils ein paar hundert Mann aufmarschiert, die Nec tovelin »Kohorten« nannte, ordentliche Rechteckformationen auf diversen erhöhten Stellen des sanft gewellten Geländes. Sie sahen aus wie Bauklötze, die ein Riesenkind heruntergeworfen hatte, fand Cunedda. Im Gegensatz dazu bildeten die Britannier eine einzige undifferenzierte Masse; die Krieger hatten in einer groben Linie vor ihren Angehörigen und ihrem Gepäck Aufstellung genommen. 55
Und noch bevor ein Speer geworfen oder ein Schwert erhoben worden war, schmolz die Streitmacht der Britannier bereits zusammen. Die Koalition der Fürsten war immer instabil gewesen. Der Morgen ging in den Vormittag über, und nichts geschah. »Warum greifen die Römer nicht an?«, fragte Cunedda nervös. »Sie warten darauf, dass wir angreifen«, antwortete Nectovelin. »Und das werden wir tun, wenn wir töricht sind. Wenn wir klug sind, warten wir ab.« »Wie lange ? Den ganzen Tag ?« »Wenn nötig, auch noch die ganze Nacht und einen weiteren Tag. Vergiss nicht, das hier ist unser Land. Sollen sie doch dort hocken bleiben und verhungern.« »Aber diese Warterei ist schwer«, klagte Cunedda. »Selbst ich sehne mich danach, endlich mein Schwert zu schwingen.« Nectovelin verzog das Gesicht. »Ja, so kämpfen die Britannier. Man lässt seine Leute gegenüber dem Haufen des Gegners antreten. Nach viel Gebrüll, vielen Beleidigungen und entblößten Ärschen gibt es vielleicht eine kleine Prügelei. Manchmal schickt man nur ein oder zwei Recken, die im Namen der anderen kämpfen. Wenn der Ehre dann Genüge getan ist, kehrt man auf seinen Bauernhof zurück.« »Aber die Römer kämpfen nicht so.« »O nein. Die Römer sind der Ansicht, was man anfange, das müsse man auch zu Ende bringen.« »Können wir sie heute schlagen, Nectovelin?« 55
»Natürlich. Wir sind mehr als sie, oder? Und sie sind weit weg von zu Hause. Aber es liegt nicht in unserer Hand, Cunedda. Die Entscheidung treffen die Fürsten. Ich zweifle
nicht an ihrem Mut. Aber wir werden sehen, ob wenigstens einer der beiden auch nur halb so klug ist wie ihr Vater.« Die beiden Streitmächte standen sich also gegenüber, dort die disziplinierten römischen Kohorten, unheimlich ruhig und still, hier der lärmende britannische Mob. Als die Hitze immer größer wurde und den letzten Rest des Morgennebels wegbrannte, begann Cunedda zu schwitzen, und er bekam Durst. Das lange Stehen ermüdete ihn, und seine unbequeme, schwere Rüstung steigerte seine Gereiztheit. Er wünschte sich, dass es endlich vorbei wäre, so oder so ‐ er wünschte sich, dass etwas passieren würde, irgendetwas ‐ und er hatte den Eindruck, dass die Spannung nahezu unerträglich wurde. Schließlich rannte ein Mann aus der britannischen Linie mit hervorquellenden Augen vorwärts und fuchtelte schreiend mit einem glänzenden Schwert herum. Cunedda hatte keine Ahnung, wer er war oder warum er das tat, aber es reichte, um das Patt zu beenden. Im Nu wuchs der Lärm zu einem tosenden Gebrüll an, so laut, dass Cunedda kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte, und überall um ihn herum drängten kräftige Leiber nach vorn, wobei Schwerter gegen Speere klapperten. Cunedda zögerte, aber ein Stoß in den Rücken trieb ihn vorwärts, hinter den anderen her. 56
Die gesamte britannische Linie ging gleichzeitig zum Angriff über, ohne dass ein einziger Befehl gegeben worden wäre. Cunedda wurde zur nächsten Anhöhe und der darauf stationierten römischen Kohorte mitgerissen. Aber die Römer wichen nicht zurück. Die Legionäre in der vordersten Reihe hatten ihre halb zylindrischen Schilde in den Boden gerammt und hielten sie fest, sodass sie einen Zaun bildeten, durch den Lanzen nach vorn ragten, Metallspitzen an hölzernen Schäften. Die Soldaten waren derart reglos, dass es Cunedda so vorkam, als werde er auf eine Steinmauer zugeschoben. Und bevor er die Schilde erreichte, wurden zu einem dünnen Trompetensignal römische Wurfspeere erhoben und in die Luft geschleudert. Unter einem von tausend Speeren geschwärzten Himmel kamen die vorrückenden Britannier zum Stehen. Die Männer an der Spitze taumelten zurück und erhoben ihre Schilde, aber die von hinten Heranstürmenden rannten in ihre Vordermänner hinein, und die Schar der Krieger ballte sich zu einem zappelnden Haufen. Cunedda sah sich auf einmal in einer zusammengedrängten Masse gefangen; er war so fest eingekeilt, dass er kaum Luft bekam und seine Füße vom Boden gelüpft wurden. Die Plötzlichkeit der Geschehnisse nach den Stunden des Stillstands überwältigte ihn. Dann sausten die ersten Speere herab. Keinen Schritt von Cunedda entfernt wurde ein Mann in den Boden genagelt, wo er kreischend um sich schlug; eine schaumige, rosafarbene Flüssigkeit quoll aus seinem aufge 56
spreizten Brustkorb. Weitere Speere kamen hernieder, durchbohrten Köpfe, Gliedmaßen und Rümpfe. Unter die Schlachtrufe mischten sich jetzt Schmerzensschreie, und der Zorn und die Enttäuschung der Masse verwandelten sich
in Panik. Aber sie konnten nirgendwohin, es gab keine Fluchtmöglichkeit, nicht einmal einen Weg nach vorn. Und immer noch fielen die Speere. Mit einer gewaltigen Anstrengung gelang es Cunedda, seinen Schild über den Kopf zu heben ‐ und im nächsten Moment bohrte sich eine Spitze aus gehärtetem Metall durch splitterndes Holz und blieb kurz vor seinem rechten Auge stehen. Er lebte, er atmete. Aber sein Schild wurde durch den darin steckenden Speer äußerst unhandlich. Es stellte fest, dass sich der Speer verbogen hatte. Der Schaft war durch ein weiches Metall mit der Spitze verbunden, und der Speer ließ sich nur schwer packen, geschweige denn aus dem Schild ziehen. Während Cunedda sich damit abmühte, sah er, dass er nicht der Einzige war. Auf einmal war der Boden von einer Art Hecke aus zertrümmerten Schilden und darin steckenden Speeren bedeckt, die sich derart ineinander verhedderten, dass sie jeglichen Ausweg versperrten. Die Speere sollten sich verbiegen, sah er, selbst wenn sie keine Todesopfer forderten. Diese List beeindruckte ihn. Cunedda hatte seit dem Beginn des Angriffs zu einem unorganisierten Mob gehört; jetzt stolperte und stürzte dieser Mob, und diejenigen, die sich noch bewegen konnten, kämpften miteinander um Raum und Luft. 57
Ein stetiges Trommeln ertönte, und Cunedda schaute nach vorn. Endlich rückten die Römer vor. Die blanke Schildmauer der vordersten Reihe hatte sich in keilförmige Formationen aufgelöst, die jetzt den Hang herabkamen. Die Römer trugen kurze, schwer aussehende Schwerter mit massiven Griffen, mit denen sie beim Vormarsch auf ihre Schilde trommelten. Und plötzlich verfielen die Römer in den Laufschritt. Als sie herankamen, prallten ihre Schilde mit einem dumpfen Laut auf britannische Körper. Die Menge der Britannier taumelte zurück, als hätte man ihr einen gewaltigen Faustschlag versetzt. Aus dem Schutz ihrer Schilde stachen die Römer nach den Gesichtern ihrer Feinde und hieben auf Köpfe und Hälse ein. Die Schläge landeten mit feuchten, fleischigen Geräuschen. Cunedda sah, wie ein Gesicht von der Stirn bis zur oberen Zahnreihe gespalten und ein Bauch aufgeschlitzt wurde, sodass sich graue Gedärme auf den Boden ergossen; bei einem anderen Mann hing der fast abgetrennte Unterkiefer auf beinahe komische Weise nur noch an einem Stück Knorpel, aber er kämpfte weiter. Grauenhafte Bilder, wohin er auch schaute. Und überall spritzte Blut, ein unglaubliches Purpurrot. Die Schreie konzentrierten sich jetzt an einer bestimmten Stelle, als die Männer in der vordersten britannischen Reihe, gefangen zwischen den römischen Schilden und ihren eigenen Kameraden, in großer Zahl den Tod fanden und die Luft sich mit dem Gestank von Kot, Urin und Blut füllte. Cunedda hatte keine Ahnung gehabt, dass es so 57
sein würde. Benommen versuchte er, weiter nach vorn zu gelangen. Er ließ seinen Schild mit dem darin steckenden Speer fallen, obwohl er wusste, dass er dadurch verwundbar wurde. Aber er war immer noch derart eingeklemmt, dass er nicht einmal die Arme heben konnte.
Und die Römer arbeiteten sich weiter voran. Cunedda sah deutlich, wie sie sich in ihre Schilde stemmten und die Britannier zurückschoben, während sie mit den Kurzschwertern nach ihnen stießen. Für Männer, die eine Rüstung trugen, bewegten sie sich mit erstaunlicher Wendigkeit, sie bückten und drehten sich, während sie ihr gräuliches Werk verrichteten und auf die Masse britannischen Fleisches vor ihnen einhackten. Ihre Rüstung bestand nicht aus Kettenpanzern oder massiven Platten, sondern aus einer Anordnung sich überlappender Metallstreifen, die irgendwie mit‐ einander verbunden waren, sodass die Soldaten sich mühelos bücken konnten. Die Legionäre verrichteten ihre Arbeit effizient, ohne Humor, Freude oder auch nur großes Interesse. Bald hatten sich die vordersten Römer so tief in die Menge gebohrt, dass sie nur noch wenige Schritte von Cunedda entfernt waren, und immer noch ging das zermürbende Gemetzel weiter. Er würde einen schmutzigen Tod sterben, dachte Cunedda, wie ein Tier in einem Pferch vor dem Messer des Schlachters. Die Nutzlosigkeit des Ganzen überwältigte ihn, ein Gefühl, das noch stärker war als die Angst. Aber wenn er schon sterben musste, dann würde er vorher wenigstens noch 58
einmal zuschlagen. Er bemühte sich, die Füße auf dem vom Blut glitschig werdenden Boden zu behalten, und versuchte erneut, sein Schwert zu heben. Etwas Hartes und Schweres knallte ihm in den Nacken. Eine massive Hand packte ihn im Genick und zog ihn zurück. In seinem Blickfeld schwamm alles von Blut, und dann wurde ihm dunkel vor Augen. 58
XV Irgendwie war es Nectovelin gelungen, Cunedda aus dem dichtesten Kampfgetümmel zu schleppen. Er brachte ihn in den Schutz eines Waldstücks auf einer kleinen, nicht von den Römern besetzten Anhöhe. Nectovelins Gesicht war eine Maske aus Blut. Er ragte über Cunedda auf. »Ich will kein Wort davon hören, dass du entehrt worden seist, weil man dir nicht erlaubt hat zu sterben. Du bist klug genug, um zu wissen, dass in einem sinnlosen Tod keine Ehre liegt. Und er wäre sinnlos gewesen, nicht wahr?« Cunedda setzte sich mühsam auf. Sie befanden sich im Schatten der Bäume, in kühlem Grün. Sein Kopf pochte schmerzhaft; Nectovelin erzählte, dass einer ihrer eigenen Krieger es fertiggebracht habe, ihn mit einem Knüppel zu treffen. Er war über und über mit Blut beschmiert, aber nur wenig davon war sein eigenes. Der Schlachtenlärm ging unvermindert weiter, und in der Luft lag der Gestank von Ausscheidungen und Tod. Er kroch an den Rand des Dickichts und spähte hinaus. Von dieser kleinen Anhöhe aus hatte er einen guten Blick auf die Aufstellung der römischen Armee. Die Einheiten waren immer noch harte, kompakte Blöcke, 58
rot, schwarz und silbern. Es waren zehn; die vier in der vordersten Reihe kämpften gerade gegen die Britannier, und zwei Reihen von jeweils drei Blöcken lagen dahinter
in Reserve. In größerer Entfernung wartete eine weitere Gruppe von zehn Kohorten mit ähnlicher Aufstellung. Ein wenig abseits von den unerschütterlichen Blöcken der Legionärskohorten waren auch noch kleinere Einheiten zu Fuß oder zu Pferde in Be‐ reitschaft. Das waren Hilfstruppen, wie er wusste, die Reiterei oder Spezialisten wie Bogenschützen und Steinschleuderer. Sie blieben auf ihrer Position; noch wurden sie nicht gebraucht. Im Vergleich dazu wirkte der formlose britannische Mob wie eine Flut, die vorwärtsgeschwappt war. Und wo immer die britannische Woge gegen einen stand‐ haften römischen Block anbrandete, bildete sich eine leuchtende Schaumkrone aus Blut. Nectovelin, der neben ihm hockte, zeigte auf etwas. »Schau, dort drüben.« Von Westen sah Cunedda weitere kompakte römische Einheiten kommen. Sie marschierten in stetigem Tempo auf das Kampfgetümmel zu. »Ich habe die Kohorten gezählt«, sagte Nectovelin grimmig. »Ich schätze, wir stehen heute drei römischen Legionen gegenüber. Jeweils zehn Kohorten, siehst du? Wir sind schon an zweien gescheitert. Und da kommt die dritte, um uns den Rest zu geben.« »Wie lange war ich bewusstlos?« Nectovelin zuckte die Achseln. »Ein paar Augenblicke. Nicht lange.« 59
Cunedda schaute nach oben und sah, dass die Sonne sich noch nicht merklich von der Stelle entfernt hatte, wo sie zu Beginn des Angriffs gewesen war. »Und doch ist die Schlacht bereits verloren.« »Oh, sie sind noch lange nicht mit dem Töten fertig. Aber ja. Wir haben die Schlacht in dem Moment verloren, als wir angegriffen haben. Schau.« Er zeigte auf den Bereich hinter den britannischen Linien, wo die Nichtkombattanten, die Frauen, Kinder und Händler, hastig ihre Sachen packten und flohen. »Die römische Reiterei wird sie verfolgen, aber die Frauen und Kinder werden wohl davonkommen. Agrippina hat eine Aussicht zu überleben.« Er lachte finster. »Ich habe noch nie viel von der römischen Reiterei gehalten.« »Was ist mit den Fürsten?« »Wer weiß?« »Nectovelin, im Kampfgetümmel da unten ‐ wie die Römer getötet haben ... Es war erbarmungslos.« »So töten zivilisierte Menschen«, sagte Nectovelin. »Es ist ein Beruf. Sie töten, wie sie Tonwaren herstellen. Einen Mann zu verschonen, sodass er noch einmal kämpfen kann, ist für sie« ‐ er machte eine Handbewegung ‐ »vergeudete Mühe.« »Warum hast du mich herausgeholt?« »Weil wir, bei Coventinas ausgeleierter Möse, heute zwar verloren haben, der Krieg aber noch lange dauern wird, Cunedda. Wir machen uns jetzt auf die Suche nach Agrippina, und dann sehen wir weiter.« Sie wandten sich vom Mahlwerk der Schlacht ab und schlüpften davon. 59
XVI
Agrippina erwachte davon, dass Cunedda sie an der Schulter rüttelte. »Pina! Das musst du dir ansehen.« Widerstrebend rollte sie sich auf den Rücken. Ihr war heiß unter ihrer dünnen Wolldecke, und sie hatte einen schweren Kopf, einen trockenen Hals und eine volle Blase. In der Luft hing noch der Rauch des Feuers der vergangenen Nacht, aber durch Ritzen im konischen Strohdach fiel strahlend helles Licht. Es war schon spät. Sie hatte wieder zu lange geschlafen und würde den ganzen Tag unter Kopfschmerzen leiden. Trotzdem wollte sie nicht aufwachen, nicht für einen weiteren trostlosen Tag im besiegten Camulodunum. Das Haus war leer, bis auf sie und Cunedda, dessen Angehörige vor den vorrückenden Römern nach Norden geflohen waren. Aber Cunedda war da; er kniete neben ihr. Agrippina hob die Hand und strich ihm übers Gesicht. Er ließ sich gerade einen Bart wachsen. Jetzt, wo die Römer so nahe waren, wagte er es nicht, sich Moden aus d em Mittelmeerraum wie dem Rasieren hinzugeben; im Verdruss über ihre Niederlage gingen die Catuvellaunen nun aufeinander los. Der dünne, struppige Bart stan d ihm eigentlich über 60
haupt nicht, aber es gefiel ihr, wie er seinen Geruch bewahrte. Ihre Liebe hatte sich nicht mehr von jenem schrecklichen Augenblick am Strand erholt. Aber es gab Zärtlichkeit und Trost. »Komm wieder ins Bett«, sagte sie, immer noch schläfrig. »Wir können nicht unser ganzes Leben im Bett verbringen, Pina. Außerdem hat Nectovelin etwas, was du dir ansehen musst.« Seine Augen funkelten vor Unter‐ nehmungslust. Selbst nach dem schrecklichen Schock er verlorenen Schlacht interessierte er sich viel zu ehr für die Welt, als dass er sich einfach hingelegt hätte und gestorben wäre. Wenn das so war, weshalb konnte sie dann nicht genauso empfinden? Die Bitterkeit brannte in ihr ie eine frisch geschmiedete Klinge. Ein Römer, ein Mann mit einem römischen Namen, Marcus Allius, hatte in einem Augenblick achtloser Überheblichkeit ihren kleinen Bruder getötet. Aber die Römer waren einfach zu mächtig. Es war, als sei Mandubracius vom Blitz getroffen worden; welchen Zweck hätte es, das Schwert gegen eine Gewitterwolke zu erheben? Welchen Zweck hatte es, auch nur zornig zu sein? Sie hatte die Hoffnung verloren. Aber dennoch schlug ihr Herz, und ihre Lungen füllten sich mit Luft, sie lebte noch. Und der liebe Cunedda war bei ihr. Sie seufzte, rollte sich steif herum und setzte sich auf. »Lass mir einen Moment Zeit.« Er musterte sie schelmisch. »Brauchst du Hilfe?« 60
Sie schnaubte. »Nein, außer du willst mir den Nachttopf halten.« Sie durchwühlte ihre Kleidung, bis sie einen weiten Leibrock fand, der nicht gar zu übel roch. Ihre Toilette bestand darin, dass sie sich mit den Fingern durch die schmutzigen Haare fuhr und mit einer Hand übers Gesicht wischte. Sie roch ihren Atem und merkte, wie sehr er stank. Sie sollte sich wirklich ein Stück Weidenrinde suchen, um ihre Zähne zu reinigen. Sie hatte keine Ahnung, wie sie aussah, und es war ihr auch egal. Nach der
Schlacht hatte sie all ihre Spiegel zerschlagen und die Stücke in den Fluss geworfen. Dies war nicht die Zeit für Spiegel oder andere römische Moden. Sie trat ins Freie hinaus. Es war kurz vor Mittag, nach dem Sonnenstand zu urteilen. Der Sommer war drückend heiß gewesen, und obwohl der Herbst bald kommen würde, wollte die lastende Hitze einfach nicht weichen. Sie ging mit Cunedda durch Camulodunum. In der Stadt herrschte reges Leben. Leute waren unterwegs, Karren rollten durch die Straßen, Kinder und Tiere liefen herum wie immer, und Rauchkringel stiegen von den Essen der Schmiede empor. Auch auf dem Markt herrschte großes Gedränge; Waren und Dienstleistungen wurden zum Tausch feilgeboten, ein junges Schwein gegen eine neue Sichelklinge, ein Korb Beeren gegen eine gefärbte Wolldecke. Dieses muntere Treiben hatte nichts mit den Römern zu tun, sondern mit den Jahreszeiten. Camulodunum war eine Bauernstadt, und ungeachtet der großen Ereignisse der Men 61
schenwelt folgten die Sonne und der Mond ihren geduldigen Zyklen durch den Himmel, und bald würde es Zeit sein, die Ernte einzubringen. Und doch war es nicht mehr so wie früher. Die Leute gingen freudlos ihrer Arbeit nach. Nur wenige wagten es, Waffen zu tragen; Cunedda tat es nicht. Die Schlacht hatte die Bevölkerung gelichtet. Es gab weniger junge Männer als zu Beginn des Sommers. Und es gab Verwundete, Menschen, denen Gliedmaßen fehlten ‐ selbst unter den Frauen ‐, und ein paar Hilflose, die überhaupt nicht mehr arbeiten konnten, lagen im Schatten und hatten hölzerne Schüsseln oder Schalen vor sich stehen. Aber niemand verhungerte in Camulodunum; wenn die Familie einen nicht mehr unterstützen konnte, tat es die Gemeinschaft. So war es seit der Niederlage am Fluss; diese Katastrophe lag nun bereits vierzig Tage zurück. Es waren lange Tage der Angst und des Wartens auf den Todesstoß gewesen, während die feuchte Hitze wie eine Kuppel über der Landschaft lag. Und die ganze Zeit über hockten die Römer in ihrem Lager, nur einen halben Tagesritt von Camulodunum entfernt. Jeder hatte erwartet, dass die Römer einfach in der Stadt einmarschieren würden. Wer hätte sie aufhalten können? Unter den Stadtbewohnern gingen Gerüchte über römische Gräueltaten in Gallien und Germanien um, über niedergebrannte Städte, ausgeweidete Säuglinge und vergewaltigte Frauen ‐ und Männer, wie es von diesen dekadenten Römern hieß. Jedenfalls wür 61
den sie an der Stadt ‐ dem Zentrum des stärksten Widerstandes, auf den sie wohl in ganz Britannien stoßen würden ‐ vermutlich ein Exempel statuieren wollen. Hin und wieder kamen römische Soldaten sogar nach Camulodunum geritten, als wollten sie ihr Eigentum inspizieren. Ihr Lateinisch klang rau und fremd, ihre Frechheit war aufreizend. Aber sie unternahmen immer noch nichts, und als die Tage ins Land gingen, wurde die Anspannung, nicht zu wissen, was kommen würde, immer unerträglicher.
Agrippina und Cunedda gelangten zu Braints Haus und gingen hinein. Braint selbst war unterwegs, aber Nectovelin war da; er durchstöberte einen Haufen von Rüstungen und Waffen. Es war so heiß im Haus, das Nectovelin sich bis zur Taille ausgezogen hatte; sein Leibrock und der Mantel lagen auf einem Kleiderhaufen an der Wand hinter ihm. Unter seinen Sachen fiel Agrippina eine dünne Ledermappe ins Auge. Sie sah wie eine jener Dokumentenhüllen aus, die sie in Gallien bei Advokaten und Geldverleihern gesehen hatte. Ihr fiel nur ein Dokument ein, das ein brigantischer Krieger wie Nectovelin in einer solchen Hülle bei sich tragen mochte. Cunedda hatte sie hergebracht, damit sie sich die Waffen anschaute, denn ein großer Teil von ihnen war römischer Herkunft. »Es ist uns gelungen, all diese Stücke von einem Haufen draußen vor ihrer Festung zu stibitzen. Nachdem die Römer uns in die Flucht geschlagen hatten, haben sie ihre Gefallenen auf dem 62
Schlachtfeld weggeschafft, aber nicht, ohne sie zuvor zu entkleiden.« Nectovelin grunzte. »Sie holen sich die Ausrüstung ihrer Toten zurück, um sie zu reparieren und wiederzuverwenden. Wirklich sehr sparsam, diese Römer.« »Schau, Agrippina«, sagte Cunedda und hob gebogene Eisenstreifen auf. »Die Rüstung eines Legionärs«, knurrte Nectovelin. »Sie nennen diese Platten lorica segmentata. Die modernste Rüstung, die man kennt ‐ doppelt so gut wie Kettenhemden und nur halb so schwer.« »Siehst du, sie ist körpergerecht geformt«, fuhr Cunedda fort. »Diese Teile bedecken die Brust, diese die Schultern und die hier den oberen Rücken.« Die Rüstung war beschädigt und teilweise blutbefleckt, aber Cunedda konnte ihr zeigen, wie ein Legionär die Streifen mit Metallhaken so verband, dass sie einen biegsamen Schutz bildeten. »Man kann sich damit sogar bücken, um die Zehen zu reinigen. Selbst ihre Schilde sind alles andere als schlicht.« Er hob ein Fragment eines zerbrochenen römischen Schildes auf, einen Teil eines Halbzylinders. An den Bruchstellen sah Agrippina Schichten aus dünnem Holz. » Siehst du ? Sie biegen diese Holztafeln in Form und verleimen sie dann. Nicht nur das, sie legen die Maserung der Schichten quer übereinander, um dem Ganzen größere Festigkeit zu verleihen.« »Festigkeit vielleicht«, sagte Nectovelin, »aber letztendlich hat das den Träger dieses Schildes draußen auf dem Feld auch nicht geschützt.« 62
»Irgendwelche Neuigkeiten von Caratacus?«, erkundigte sich Agrippina. »Nur dass er immer weiter nach Westen flieht«, antwortete Nectovelin. »Angeblich hofft er, bei den Siluren oder sogar bei den Ordovicern Zuflucht zu finden.« »Würden Fremde aus dem Westen für einen geschlagenen Fürsten aus dem Osten kämpfen?«, fragte Agrippina skeptisch. »Möglich wäre es«, sagte Nectovelin scharf. »Immerhin hat Caratacus sich den Römern entgegengestellt. Er hat zumindest nicht einfach aufgegeben. Ich denke, die Leute bewundern das.« »Und sein Bruder ...?«, fragte Cunedda.
»Soweit wir wissen, ist Togodumnus tot«, meinte Nectovelin. »Obwohl die Schlacht ein solches Durcheinander war, dass man es kaum mit Sicherheit sagen kann. Es geht das Gerücht, dass die Römer seinen Kopf zur Schau gestellt hätten.« Er schüttelte den Kopf. »Er hätte den Göttern des Flusses nicht den Rücken zukehren sollen.« Braint kam geschäftig mit zwei schlaffen Hühnern herein, deren Köpfe an gebrochenen Hälsen baumelten. Sie legte die Hühner neben die Feuerstelle und wischte die Hände aneinander ab, um sie von Blut und Federn zu reinigen. »Spielt ihr immer noch Soldaten? Schau dir diese Männer an, Agrippina ‐ hantieren mit der Rüstung eines toten Römers herum, während es wieder einmal uns überlassen bleibt, uns alle am Leben zu erhalten. Vielleicht braucht es eine Frau, um den 63
Legionären wirklich einen Kampf zu liefern ‐ hm? Und was Togodumnus betrifft... Wenn er noch am Leben wäre, wüssten wir es inzwischen, denn wir hätten ihn feige davonlaufen hören, während er hinter seinem Bruder hergerannt wäre. Auch die Priester sind abgehauen ‐ komisch, was?« Cunedda war inzwischen Krieger genug, um sich über ihre Worte zu ärgern. »Ich will so etwas nicht hören, Braint. Vielleicht können die Priester Caratacus dabei helfen, ein Bündnis unter den Volksstämmen im Westen zu schmieden. Hier wären sie zu nichts nütze ‐tatsächlich wären sie nur Fleisch für die Schwerter der Römer, denn die Römer hassen Druiden. Und was Caratacus und seinen Bruder betrifft, so haben die Fürsten im Feld Mut bewiesen. Mehr als diese Römer, die einfach nur dastanden und uns angreifen ließen.« Nectovelin schüttelte den Kopf. »Und dir mangelt es immer noch an Klugheit. Siehst du nicht, dass es mehr Mut braucht, bei einem Angriff die Stellung zu halten, bis der richtige Moment zum Zuschlagen kommt?« Cunedda war empört. »Ich weiß, du hast mir das Leben gerettet, Nectovelin. Und du hältst dich vielleicht für etwas Besonderes, gewappnet mit deiner berühmten Prophezeiung, die niemand jemals gesehen hat. Aber trotz deiner Tapferkeit bist du nur ein Mensch, so wie wir alle.« Nectovelin starrte ihn an wie ein Wolf, der überlegte, ob er einem Welpen eine Lektion erteilen sollte. Aber der Augenblick ging vorüber, und Nectovelin wandte sich ab. 63
Die Erwähnung der Prophezeiung erinnerte Agrippina an Nectovelins Mantel und die lederne Dokumententasche, die immer noch darunter herausragte. Neugier regte sich in ihr, ein unbekanntes Gefühl in diesen toten Zeiten. Sie hörte Lärm draußen und dann den dünnen Klang einer Trompete. »Was ist da draußen los?«, fragte Cunedda. »Es sind wieder mal Römer in der Stadt«, erklärte Braint. »Sie laufen herum, als gehörte sie ihnen ‐ was natürlich beinahe zutrifft.« »Gehen wir nachschauen, was sie vorhaben«, schlug Cunedda vor. »Ohne mich«, meinte Nectovelin. »Ich habe genug Römer für einen Sommer gesehen.«
Braint richtete sich kerzengerade auf. »Wenn du hier bleibst, du alter Griesgram, kannst du ausnahmsweise mal was Nützliches tun und diese Vögel rupfen.« Und sie beförderte die Hühner auf dem Boden mit einem Tritt vor Nectovelins Füße. »Schon gut, schon gut«, brummte der Krieger und bückte sich, um die Hühner aufzuheben. Er war mehrere Schritte von seinen Kleidern entfernt und hatte ihnen den Rücken zugekehrt. Agrippina konnte nicht widerstehen. Auf dem Weg zu Cunedda schob sie sich an Nectovelins Kleidern vorbei und steckte die Mappe in eine Falte ihres Leibrocks. »Pina?«, rief Cunedda. »Komme schon!« 64
XVII Vespasian und Narcissus schlenderten ins Herz Camulodunums ‐ wenn man es als Herz bezeichnen konnte, denn anders als selbst in der schäbigsten römischen Stadt schien es in dieser barbarischen Ansammlung misthaufenähnlicher Rundhäuser kein richtiges Zentrum zu geben. Es war ein kunterbuntes Durcheinander, Häuser standen neben Jauchegruben, Getreidespeichern und Tierpferchen, Heiligtümer neben Friedhöfen, Töpfereien und Schmiedewerkstätten neben Wohnhäusern und landwirtschaftlichen Gebäuden. Man hatte eher den Eindruck, durch ein unor‐ dentliches Gehöft zu gehen. Und dennoch gab es hier ein florierendes Handwerk. Narcissus, der neugierig in die Hauseingänge spähte, sah eine Töpferin an ihrer Scheibe; eine Frau arbeitete an einem senkrechten Webstuhl mit Gewichten und Spindeln aus Knochen und Ton. Vespasian, geschmückt mit seiner Paraderüstung mit den goldenen Intarsien, bewegte sich mit der einem siegreichen römischen Heerführer angemessenen Kühnheit. Narcissusʹ ganze Rüstung bestand jedoch aus seiner zweitbesten Toga, und während Vespasian wirklich so furchtlos sein mochte, wie er aussah, war i64
Narcissus alles andere als das, obwohl sie eine Palisade aus einem Dutzend stämmiger Legionäre umgab. Trotz aller Primitivität war dies immerhin die Hauptstadt eines Barbarenvolkes, das man kaum als unterworfen bezeichnen konnte. Vespasian spürte seine Nervosität. »Natürlich gibt es ein kleines Risiko, Sekretär. Aber die Symbolik ist alles. Dass wir beide nur mit ein paar Männern an unserer Seite hier ungehindert herumlaufen und überall hingehen können, wohin wir wollen ‐ das wird für diese elenden Britannier ebenso niederschmetternd sein wie eine weitere verlorene Schlacht. Und wo wir gerade von elenden Britanniern sprechen ...« Er tippte Marcus Allius auf die Schulter. »Dekurio, schick ein paar Männer los, um Rekruten für den Schaukampf vor dem Kaiser aufzutreiben.« Allius nickte und sprach mit seinen Männern; drei von ihnen lösten sich aus der Gruppe und gingen durch die Stadt, wobei sie die aufgebrachten, wachsamen Einheimischen musterten.
»Symbolik, ja«, sagte Narcissus trocken. »Womit wir beim Kaiser wären. Er ruht sich gerade bei Aulus Plautius an der Tamesis aus. Noch zwei Tage, und er ist hier.« »Dann müssen wir bereit sein«, sagte Vespasian leise. »Ich hoffe, Plautius geht ihm nicht allzu sehr auf die Nerven.« »Oh, das bezweifle ich. Aber wie ich den Kaiser kenne, ist er klug genug, die umfassendere Bedeutung seines gegenwärtigen Aufenthaltsorts zu erkennen. 65
Die Tamesis ist ein Abflusskanal für die südöstliche Ecke der Insel und wird darum in Zukunft sicher einer der wichtigsten Handels‐ und Verkehrswege sein. Aber die Einheimischen haben bisher wenig daraus gemacht.« »Tatsächlich gibt es eine kleine Siedlung am Fluss«, erklärte Vespasian. »Angeblich liegt sie genau an der Stelle, wo Caesar den Fluss überquert hat, und darum hat Plautius dort sein Lager aufgeschlagen. Sie ist sogar recht einnehmend. Fischersleute fahren in kleinen runden Korbbooten auf den Fluss hinaus. Der Ort ist dem hiesigen Flussgott Lud geweiht.« Narcissus lächelte. »Lud\ Klingt, als huste eine im Fluss lebende Bestie eine Gräte aus. Ob diese Fischersleute wohl irgendwann einmal die größte Stadt ihrer Insel nach dieser durchweichten Gottheit benennen werden?« Narcissus war nach Camulodunum gekommen, um Claudiusʹ triumphalen Einzug vorzubereiten. Die Invasion mochte Plautiusʹ Werk sein, aber der Sieg gebührte einzig und allein Claudius. Deshalb hatte Plautius bei seinem Vormarsch loyalerweise inngehalten, um auf den Kaiser zu warten. Der Tross des Kaisers hatte seine Reisevorbereitungen schon vor der Landung der ersten Truppen begonnen. Narcissus, der weitgehend für die Logistik dieser Reise verantwortlich war, beklagte sich gern bei Vespasian, es sei so, als organisiere man eine zweite Invasion. Im Gegensatz zu seinen beid en Vorgängern war dieser Kaiser auf sympathische Weise frei von Affek 65
tiertheit, Unersättlichkeit, Zügellosigkeit und Faulheit; Luxus bedeutete für ihn, sich in seine Bibliothek zurückziehen zu können. Aber ein Kaiser kam nicht umhin, mit einem gewissen Maß an Pomp zu reisen. Und dann waren da auch noch die enorm großen (und enorm teuren) exotischen Tiere aus Afrika, die Claudius auf dessen ausdrücklichen Wunsch bei seiner Eroberung Britanniens begleiten sollten. All das hatte Narcissus organisiert: spezielle Schiffe angeheuert, Übernachtungsgelegenheiten besorgt, ein kleines Heer von Dienern und Handwerkern aufgestellt. Die Kosten trugen zum großen Teil die unglücklichen Bewohner der Provinzen, durch welche die Reise führte. Zu guter Letzt hatte Claudius die Macht in Rom an seinen Mitkonsul Lucius Vitellius übergeben und sich auf den Weg gemacht, begleitet von einer Abteilung der Prätorianergarde und einer Reihe hochrangiger Römer, zum Teil Freunde und Berater, die der Kaiser gern in seiner Nähe hatte ‐ und, noch wichtiger, Feinde, die er noch näher bei sich haben musste. Er war auf dem Tiber zu Roms großem Hafen Ostia gefahren, dann mit dem Schiff an der Küste entlang nach Massilia und hatte schließlich Gallien
durchquert, zum Teil zu Lande, zum Teil per Schiff auf den Flüssen. Narcissus war mittels Militärdepeschen, die unter anderem einen erschreckenden Bericht über eine Beinahe‐Havarie noch vor Massilia umfassten, über die Fortschritte dieser Karawane auf dem Laufenden gehalten worden. Währenddessen hatte Plautius nicht auf der faulen Haut gelegen. Ein kluger Befehlshaber sorgte dafür, 15z
dass der persönliche Sieg seines Kaisers auch wirklich ein solcher sein würde. Abseits von Camulodunum war die römische Armee auf ihrem Feldzug weiter ins Innere der Insel vorgedrungen. Vespasian selbst hatte den Weg nach Westen eingeschlagen, unterstützt von der Flotte, die ihm an der Küste entlang folgte. Allerdings war der Legat nun zurückgerufen worden, um an den kaiserlichen Feierlichkeiten teilzunehmen. Und jetzt war es an der Zeit, die letzten Vorbereitungen für Claudiusʹ Sieg zu treffen. »Er wird unverzüglich ein Audienzhaus brauchen«, sagte Narcissus. »Die örtlichen Könige ‐ elf, nach unserer letzten Zählung ‐ stehen Schlange, um ihm Gehorsam zu schwören.« »Meine Soldaten sind gute Bauwerker«, erwiderte Vespasian gewandt. »Wir fertigen gerade die Einzelteile eines angemessenen Gebäudes an; mit genug Männern könnten wir es binnen eines Tages aufstellen lassen. Aber es darf erst nach seiner Ankunft errichtet werden ...« »Natürlich! In einer Stadt, die man noch gar nicht erobert hat, kann man schwerlich ein Audienzhaus errichten; damit würde man das Ganze der Lächerlichkeit preisgeben.« Sie näherten sich der imposantesten kuhfladenförmigen Holz‐und‐Lehm‐Behausung der Einheimischen. »Ich dachte an dieses hier«, sagte Vespasian. Narcissus war schockiert. »Du erwartest, dass ein Kaiser in diesem Misthaufen residiert?« »Das war der ... äh ... >Palast< des großen Königs 66
Cunobelin und seiner Söhne, die ihm nachgefolgt sind, Sekretär. So leben die Menschen hier.« »Mag sein, aber nicht die Römer ‐ und übrigens auch kein Grieche. Wenn es wirklich Cunobelins Haus ist, müssen wir natürlich in der Nähe sein, aber ich werde Claudius nicht in diesem Loch unterbringen.« Narcissus marschierte um das große Haus herum, bis er zu einem kleineren Gebäude gelangte, das für mediterrane Augen konventioneller wirkte, einer Holzhütte mit niedrigem Dach und rechteckigem Grundriss. »Wie warʹs damit?« Einer der Soldaten hüstelte und wandte den Blick ab; offenbar versuchte er, ein Lachen zu unterdrücken. »Ich glaube, das ist ein Stall, Sekretär. Oder eine Scheune. Man kann einen Kaiser doch nicht in einer Scheune einquartieren.«
Narcissusʹ Stolz war angestachelt. »Ein guter quadratischer Grundriss wird weitaus mehr nach dem Geschmack des Kaisers sein. Ich habe mich entschieden. Lass es säubern, Legat.« Vespasian verneigte sich mit ausdruckloser Miene. »Wie du wünschst. Ah, da ist Marcus Allius mit den Rekruten.« Die drei Soldaten kehrten mit ungefähr zwanzig Einheimischen zurück, allesamt Männer, keiner älter als vierzig Jahre. Sicherlich hätten sie die drei Legionäre mühelos überwältigen können, aber sie folgten ihnen so friedlich wie eine Schafsherde. Hinter ihnen kamen allmählich weitere Stadtbewohner herbei, um sich das Schauspiel anzusehen. 67
Allius bellte ein paar Worte im lokalen Dialekt, Schwertstahl blitzte auf, und die Männer nahmen rasch Aufstellung. Vespasian schritt die grobe Reihe in seiner glanzvollen Rüstung ab; im Kontrast zu diesen schäbigen Einheimischen sah er noch prachtvoller aus. »Bei Jupiter, was für ein trauriger Haufen. Wohlgenährt hätten sie ja meinetwegen sein können, aber auch noch x‐beinig, dickbäuchig und halb debil!« Narcissus murmelte fasziniert: »Sie betrachten uns wie Vieh. Sie wissen nicht, ob sie Angst vor uns haben oder uns um etwas zum Naschen bitten sollen.« »Tja, wir werden uns mit ihnen begnügen müssen«, sagte Vespasian. »Wir können ihnen über Nacht eine elementare Grundausbildung angedeihen lassen und sie ein wenig in Form bringen, sodass sie andeutungsweise Ähnlichkeit mit einer Kampfgruppe besitzen ‐jedenfalls in ausreichendem Maße, dass die Chronisten des Kaisers etwas haben, worüber sie schreiben können. Marcus Allius, verstehst du ihr Geplapper gut genug, um ihnen zu erklären, was von ihnen verlangt wird? Sie werden für ihren Auftritt bezahlt, aber nur, wenn sie einigermaßen gut kämpfen. Wir werden versuchen, die Verletzungen möglichst gering zu halten, und nur einige wenige werden ums Leben kommen.« »Sag ihnen, sie sollen sich das Gesicht anmalen«, verlangte Narcissus. Vespasian schürzte die Lippen. »Auf dem Schlachtfeld haben wir keine bemalten Gesichter gesehen, Sekretär. « »Caesar hat von bemalten Gesichtern berichtet, 67
also werden wir bemalte Gesichter haben. Blau, wenn möglich.« Narcissus, mit den Gedanken jetzt vollständig bei der dramatischen Ausgestaltung der siegreichen Ankunft des Kaisers, war mit dem Aufgebot vor ihm unzufrieden. »Es gab doch auch Frauen auf dem Schlachtfeld, nicht wahr?« Er marschierte kühn auf eine Gruppe von Zuschauern zu, ein Mädchen mit rotblondem Haar, das vielleicht attraktiv gewesen wäre, wenn man es gesäubert hätte, einen dunklen, trotzig dreinschauenden Jungen mit struppigem Bart ‐ und eine stämmige Bäuerin von vielleicht vierzig Jahren, deren Wange eine Narbe zierte, vielleicht von einer Klinge. »Die da, zum Beispiel. Du. Wie heißt du?« Allius übersetzte hastig. »Braint«, antwortete die Frau.
Narcissus schreckte vor der unverhüllten Feindseligkeit ihrer Miene zurück, wich jedoch nicht von der Stelle. »Sie sieht mir wild genug aus. Dekurio, erkläre ihr, was wir von ihr wollen. Und besorge noch ein paar, ja?« Er musterte die Frau von oben bis unten. »Ach, und sage ihr, sie soll während des Kampfes die Brüste entblößen. Das ergibt eine hübsche Nebensächlichkeit für die Chronisten.« Er entfernte sich von der Frau. Aber bei jedem Schritt kribbelte es ihn zwischen den Schulterblättern, als wäre Braints Blick ein dort hineingestoßener Dolch. 68
XVIII Während jedermann die durch Camulodunum stolzierenden Römer beobachtete, untersuchte Agrippina, hinter Braints breitem Rücken von fremden Blicken geschützt, die lederne Dokumentenmappe. Nachdem sie ein Leben lang fest an Nectovelins Brust gelegen hatte, war sie abgewetzt und ramponiert und stank nach seinem Schweiß und Blut. Das sorgsam gefaltete Dokument darin war nur ein einzelnes, vom Alter vergilbtes Blatt billig aussehenden Pergaments mit einem gebrochenen Siegel darauf. Und es waren nur sechzehn lateinische Zeilen, zählte sie rasch, waren in ordentlicher Handschrift niedergeschrieben worden. Konnte dies wirklich die Handschrift ihres Großvaters Cunovic sein, war dies sein Siegel? Fieberhaft las sie die ersten Zeilen: Ach Kind! Verwoben in den Wandteppich der Zeit, und dennoch frei geboren Cum fortia sing ich dir von dem, was ist und was sein wird, und Obendrein von allen Menschen, Göttern, und von drei mächtigen Kaisern. 68
Nebst einem Mann, germanisch ist sein Name und seine Augen sind aus Glas, Schreiten einher haushohe Pferde mit säbelgleichen Zähnen ... Wenn dies die Worte eines Gottes waren, so war es ein literarisch gebildeter Gott. Die Formulierungen waren elegant, die Metrik zumindest zweckdienlich. Sie fragte sich, ob der Text mehr Informationen enthielt, als man auf den ersten Blick sah; die Römer waren berühmt für ihre Freude an Wortspielen ‐ Verdichtungen, Akrostichen. Aber die Zeilen waren kurz und knapp. Nach der Anrede und der Erwähnung der »drei mächtigen Kaiser« folgte ein Hinweis auf einen Kaiser mit germanischem Namen, der jedoch rätselhafterweise »Augen aus Glas« besaß. Die andere konkrete Angabe über ein fremdartiges Tier verwirrte sie nur noch mehr. Konnten diese dunklen Andeutungen etwas mit der Invasion zu tun haben? Was hatte eine Prophezeiung ei‐ gentlich für einen Zweck, wenn sie sich nicht auf eine derartige Katastrophe bezog? Aber wenn es so war, was bedeutete das alles? Rasch überflog sie den restlichen Text. In den weiteren Zeilen war vage von einer »steingewordnen Schlinge« ‐ irgendein gewaltiges Bauvorhaben? ‐ und der Ausrufung eines Kaisers in Brigantien die Rede. Wie sollte so etwas möglich sein? Bei den letzten
paar Zeilen schien es sich um reine Poesie zu handeln, vielleicht aus einer ganz anderen Sprache übersetztes, unbehol 69
fenes Zeug über Freiheit und Glück: unanfechtbar, aber ohne großen Nutzen. Dies war jedoch eindeutig die Passage, die Nectovelins Herz berührt hatte ... »Sie haben sich Braint geschnappt.« Cunedda stand angespannt neben ihr, seine rechte Hand suchte ein Schwert, das er nicht mehr trug. Hastig steckte Agrippina das Dokument wieder in ihren Leibrock und hoffte, dass Cunedda nichts davon bemerkt hatte. »Was ist passiert?« »Sie scheinen Krieger zu rekrutieren. Irgendeine Vorführung für den Kaiser. Müssen sie uns demütigen? Und ich glaube, sie haben über Cunobelins Haus gesprochen.« Er zeigte hin. »Der Kaiser soll seine erste Nacht hier in der Scheune verbringen.« Agrippina verstand. Natürlich würde ein Römer einen quadratischen Grundriss suchen und die hiesigen Rundhäuser als barbarisch ablehnen. Es fiel ihr schwer, sich auf einfache reale Vorgänge zu konzentrieren, während die Prophezeiung, die Zukunft selbst, in ihrer Hand brannte. Sie hätte gern Zeit gehabt, um über sie nachzudenken und ihre Rätsel zu entschlüsseln. »Stell dir das nur mal vor«, sagte Cunedda, »der Kaiser persönlich, das Oberhaupt des Imperiums, wird hier wohnen, nur ein paar Schritte von der Stelle entfernt, wo wir jetzt stehen. Und wir können nichts dagegen tun!« »Vielleicht doch«, sagte Agrippina. Auf einmal flogen ihre Gedanken. Vielleicht war es die Prophezeiung, die ihren Verstand in Schwung brachte. »Cuned 69
da. Ich habe eine Idee. In der Scheune gibt es doch bestimmt unterirdische Vorratsgruben.« Er runzelte die Stirn. »Und?« »Meinst du, dass die Römer von ihnen wissen? Vielleicht ist ihnen gar nicht klar, dass das Gebäude ein Getreidespeicher ist. Wenn wir uns dort hineinschleichen könnten ...« Allmählich verstand er. »Und uns in den Gruben verstecken. Soll der Kaiser ruhig kommen. Und dann ...« Und dann, dachte Agrippina, konnten sie einen Schlag führen, der die ganze Welt erbeben lassen würde. Jähe Hoffnung sprühte Funken in ihrer Brust. Auch Cuneddas Lebensgeister schienen zum ersten Mal seit der Schlacht wieder gänzlich erwacht zu sein. »Braint hatte recht, Agrippina. Vielleicht braucht es eine Frau, um gegen die Römer zu kämpfen!« Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen. »Pst. Wir dürfen nicht riskieren, dass jemand uns hört. Gehen wir zu Nectovelin. Wir werden seine Hilfe brauchen.« Und sie musste die Prophezeiung wieder in seinen Kleiderhaufen stecken, bevor er diese elenden Hühner fertig gerupft hatte. Aufgeregt, entflammt von ihrem geheimen Plan, eilten die beiden Hand in Hand zu Braints Haus zurück. 69
XIX Mitten in der Nacht fiel es Agrippina, Nectovelin und Cunedda nicht schwer, sich in die alte Scheune zu schleichen. Wie Agrippina erwartet hatte, gab es dort tatsächlich eine Vorratsgrube im Boden. Die drei stiegen hinunter und brachten eine Armeslänge unter der Bodenfläche eine Decke aus Holzbrettern an. Nachdem sie sicher begraben waren, füllten Freunde von Braint das verbliebene Loch mit Erdreich auf, stampften es ordentlich fest und bedeckten dann den Boden mit Stroh. Kein Catuvellaune wäre auf diese List hereingefallen. Aber die Römer hatten sich das Innere des Gebäudes noch gar nicht angesehen und wussten wahrscheinlich nichts über catuvellaunische Scheunen, und die Möglichkeit, dass sie nicht misstrauisch sein würden, wenn sie hineinschauten und eine durchgehende Bodenfläche sahen, wog das Risiko auf. Nun mussten Agrippina und ihre Gefährten nur noch den Rest der Nacht und einen ganzen weiteren langen Spätsommertag in diesem Loch im Boden durchstehen. Es war nicht tief genug, dass sie aufrecht sitzen konnten, und so lagen die drei aneinandergeschmiegt da »wie drei Welpen eines Wurfs«, sagte 70
Nectovelin. Nach ein paar Stunden fand Agrippina selbst Cuneddas Nähe unangenehm. Sie hatten reichlich Wasser dabei, und während sich in dem luftdichten Loch allmählich eine erstickende Hitze aufstaute, tranken sie einen großen Teil davon. Nectovelin hatte Gefäße zum Urinieren mitgebracht. Er hatte sogar etwas zu essen dabei ‐ getrocknetes Brot, Dinge, die keinen Geruch von sich gaben, der den Argwohn eines schafsköpfigen römischen Soldaten erregen würde, wie er sagte. Agrippina verstand nicht, wie er in einer solchen Situation essen konnte, aber Nectovelin erklärte, er wolle nicht, dass ihr Magenknurren die Römer aus ihrem Schlummer weckte. Nectovelins Gedärm gab zwar keine Geräusche von sich, wohl aber giftige Gase, was nicht gerade zu ihrem Wohlbefinden beitrug. Sie hatten also nichts zu tun, als in der zunehmend stinkenden Dunkelheit zu liegen und zu warten. Zu warten und nachzudenken. Agrippina konnte die Prophezeiung nicht vergessen. Am liebsten hätte sie mit Cunedda und Nectovelin darüber gesprochen, aber sie wusste, dass es unmöglich war. Doch je mehr sie die Bedeutung der rätselhaften Zeilen zu ergründen versuchte, desto mehr fragte sie sich, was der Text wohl über ihre Aussichten auf einen Sieg an diesem Tag aussagte ‐ und je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr Furcht sammelte sich in ihrem Herzen. Drei mächtige Kaiser. Am späten Vormittag, nach ihrem Zeitgefühl zu urteilen, krachte und knallte es oben plötzlich, und man 70
hörte Hämmern und Splittern, durchsetzt von Pfiffen und fröhlichen Flüchen auf Lateinisch, Germanisch und Gallisch. Die Legionäre rüsteten die Scheune für den Aufenthalt des Kaisers aus. Agrippina lag stocksteif da, voller Angst, dass ein Husten
oder Niesen sie verraten würde, und machte sich Sorgen, irgendein fetter Soldat könnte in ihr Loch durchbrechen. Danach kam eine Pause, die sich wahrscheinlich über die Mittagszeit erstreckte. Agrippina hörte nur leisere Stimmen, das Klappern von Würfeln, Gelächter, das Klirren von Geschirr. Die in der Scheune stationierten Wachen vertrieben sich die Zeit. Am Nachmittag gab es dann größere Unruhe, rennende Menschen und das Unheil verkündende Schaben, mit dem Stichschwerter aus Scheiden gezogen wurden. Agrippina hörte Soldaten schreien und identifizierte lateinische Wörter: »Der Kaiser! Er kommt!« Endlich hatte Claudius seine Prozession von Rom bis hierher nach Camulodunum beendet. Agrippina hörte Marschschritte und Jubelrufe ‐ und dann dröhnende Schritte, als käme ein Riese in die Stadt, dazu Laute des Erschreckens und Gemurmel auf Catuvellaunisch. Sie hatte keine Ahnung, was das sein mochte, aber sie dachte beklommen an die Prophezeiung und deren se ltsame Worte über »haushohe Pferde«. Dann vernahm sie halbherziges Gebrüll und schnelle Schritte. Das musste der »Widerstand« sein, ein paar Dutzend Britannier , die man zusammengetrieben und gezwungen hatte, Aufständische zu spielen. Agrippina 71
hörte Schwerter auf Schilde klatschen, dann dumpfe Laute, vielleicht einschlagende Wurfspeere ‐ und Unheil verheißende Schmerzensschreie. Weshalb sollte der römische Kommandeur sein Versprechen halten, dass nur wenige Britannier bei diesem schändlichen Spiel verletzt würden? Sie stellte sich Braint dort draußen vor, zornig, trotzig, vielleicht bis zur Taille entkleidet, wie es diese mit einer Toga bekleidete griechische Schlange befohlen hatte. Braint zumindest würde den Römern nichts schuldig bleiben. Nachdem der »Widerstand« besiegt war, hörte man eine Zeit lang Räderrasseln, Marschschritte, Reden und planmäßigen Jubel. Dies musste der eigentliche Einzug des Kaisers in die Hauptstadt sein. Einige der triumphalen Ankündigungen wurden in catuvellaunischer Sprache vorgenommen; die Römer, methodisch wie immer, sorgten dafür, dass die Einheimischen genau wussten, was hier geschah, weshalb die Römer gekommen waren und was die Zukunft für die Bevölkerung Camulodunums bereithielt. Darauf folgten weitere Aktivitäten in der Scheune. Sie hörte dröhnendes Gelächter, das Klappern von Tellern, das Geräusch, mit dem Wein in Kelche gegossen wurde, und eilige Schritte, offenbar Sklaven, die das Essen und die Getränke auftrugen. Wie es schien, aßen der Kaiser und sein Gefolge gerade zu Abend. Die Gerüche zubereiteter Speisen drangen in die Grube hinab, und Nectovelins Warnung gemäß spürte Agrippina, wie ihr leerer Magen mit einem Knurren darauf reagierte. 71
Nectovelin drückte ihr ein Stück getrocknetes Fleisch in die Hand. »Was sagen sie?«, flüsterte er. Agrippina versuchte, dem Gespräch zu folgen. Sie hatte ihr Latein in Gallien gelernt, das selbst eine rückständige Provinz war; der Kaiser und sein Gefolge waren kultivierte
Römer mit entsprechend komplexer Ausdrucksweise. »Schwer zu sagen«, gab sie zu. »Die Invasion. Gallien und Britannien. Aber das ist nur die Oberfläche. Die Römer geben sich gern geistreich. Sie mögen Wortspiele ...« Nectovelin schnaubte. »Ein Mann sollte sagen, was er denkt.« »Das ist nicht die römische Art.« »Dann bin ich froh, dass ich kein Römer bin.« Der Lautstärke der Gespräche ließ allmählich nach. Liegen scharrten über den Boden, betrunkene Abschiedsworte wurden gewechselt. Offenbar war das Abendessen vorbei. Endlich identifizierte Agrippina die Stimme des Kaisers. Sie klang dünn, und hin und wieder geriet er ins Stottern. Die kurzen und knappen Antworten kamen vermutlich von Sklaven, aber auch von einer kultivierteren Stimme mit starkem Akzent ‐ vielleicht der Grieche mit der Toga, der gestern so arrogant durch Camulodunum spaziert war. Schließlich schickte der Kaiser alle hinaus. Nectovelin lauschte. Jetzt waren überhaupt keine Stimmen mehr zu vernehmen, auch keine Schritte, sondern nur ein leises Kratzen, vielleicht eine Feder auf Pergament, ein Griffel auf einer Wachstafel. Necto 72
velin flüsterte: »Das ist unsere Gelegenheit. Wir müssen schnell sein.« Agrippinas Herz klopfte, und sie umklammerte den Griff ihres Dolches. »Ich zähle bis drei«, zischte Nectovelin. »Eins, zwei, drei ...« 72
XX Agrippina rollte sich herum, zog die Beine unter den Körper und stieß sich zusammen mit den anderen nach oben. Die Bretter, die ihr zeitweiliges Grab abdeckten, zersplitterten und gaben nach, und Erdreich rieselte um Agrippina herab. Dann merkte sie, wie ihre Schultern gegen eine dichte Teppichmasse drückten. Damit hatten sie gerechnet. Nectovelin trieb sein Schwert in das Gewebe und durchtrennte es mit einem langen Schnitt. Sie schoben sich nach oben in den weichen Lichtschein von Fackeln und Öllampen. Agrippina kniff die Augen zusammen; es war das erste Licht, das sie an diesem Tag sah. Sie nahm die Szenerie im Nu in sich auf. Die Scheune war zu einem Palast geworden: Man hatte die Wände hastig weiß getüncht, und auf dem Fußboden lag ein dicker Teppich mit ornamentalem Webmuster. Öllampen verteilten Lichtpfützen. Niedrige gepolsterte Liegen und Tische standen im Raum verstreut, die Überreste der Abendgesellschaft. Inmitten all dieses Luxus kam sich Agrippina, die in ihrem Loch im Boden stand, wie ein schmutziges, stinkendes Tier in der Welt der Menschen vor. 72
Und an einem Ende der Scheune stand ein mit Schriftrollen und Pergamenten überhäufter Schreibtisch, an dem ein unscheinbarer, in eine schlicht aussehende Wolltunika gekleideter Mann saß. Er schaute sich zu den Eindringlingen um und stand langsam auf. Er war vielleicht dreißig Fuß von Agrippina entfernt.
»Claudius!«, brüllte Nectovelin und warf sein Schwert. Claudius zuckte zusammen, wich jedoch mit einem schlurfenden Schritt aus. Das Schwert bohrte sich in die Tischplatte und spießte dabei ein paar Schriftrollen auf. Der Angriff war bereits fehlgeschlagen, sah Agrippina. Es war Zufall, dass sich ihre Grube an einem Ende der langen Scheune befand, Claudiusʹ Schreibtisch hingegen am anderen, sodass er Zeit gehabt hatte, beiseitezutreten. Nectovelin brüllte seine Enttäuschung heraus, zog einen Dolch und rannte auf Claudius zu. Aber der Kaiser erholte sich von seinem Schrecken und rief nach seinen Wachen: »Custodiael« Als Erste reagierten die beiden älteren Römer vom Vortag in Camulodunum, der eindrucksvolle Kommandeur und der Grieche ‐ obwohl der Kommandeur seine Rüstung schon halb abgelegt hatte und der Grieche ein Nachthemd trug. Der unbewaffnete Kommandeur warf sich ohne zu zögern vor Nectovelins Beine und brachte ihn zu Fall. Nectovelin wehrte sich, aber der jüngere und ebenso schwere Römer war auf seinem Rücken, und im Nu hatte er Nectovelin den Dolch abgenommen und ihm diesen an die Kehle gesetzt. 73
Weitere Soldaten stürzten herein. Agrippina zögerte nicht. Sie packte den Griechen, drehte ihm mühelos den Arm auf den Rücken und schlitzte ihm mit einem wilden Schwung ihres Messers die Wange auf. Der Grieche stieß einen gellenden Schrei aus; seine Stimme war so hoch wie die eines gepeinigten Schafes. Der Kaiser schien sich mehr Sorgen um das Schicksal des Griechen als um sein eigenes zu machen. Er trat einen Schritt vor. »Narcissus!« »Bleib, wo du bist«, fauchte Agrippina auf Lateinisch. »Lass Nectovelin leben. Oder der hier stirbt vor deinen Augen.« Die volle Scheune war zu einem lebenden Bild geworden ‐ der Kaiser, Agrippina mit Narcissus, Nectovelin, dessen eigene Klinge in seine Haut schnitt, und die Wachen, die mit gezogenem Schwert wild umherstarrten. Einer von ihnen hielt Cunedda umklam‐ mert. Der Römer am Boden blickte auf. »Herr«, zischte er. »Lass mich dieses fette Schwein kaltmachen.« Claudius war ein kleiner Mann mittleren Alters. Sein rettender Schritt war ungleichmäßig gewesen, ein Hinken, und sein Mund öffnete und schloss sich wie das Maul eines nach Luft schnappenden Fisches, als er die Situation in sich aufnahm. In Gallien munkelte man, Claudius sei ein Schwächling, vielleicht sogar missgestaltet, der Kümmerling des kaiserlichen Wurfs. Komischerweise trug er dicke Socken; vielleicht hatte er auch Kreislaufprobleme. Aber er war ein Kaiser, und nach diesem ersten Augenblick des Schreckens stand 73
er hoch aufgerichtet da, und seine Stimme war fest. »Lass ihn aufstehen, Vespasian.« »Herr ...« »Lass ihn aufstehen! Ich bin jetzt nicht mehr in Gefahr.« Er warf einem seiner Soldaten einen Blick zu. »Mit der Frage meiner persönlichen Sicherheit befassen wir uns später,
Rufrius Pollio.« Der Mann, vielleicht der Befehlshaber des Wachtrupps, duckte sich furchtsam. »Aber ich möchte meinen Sekretär nicht an diese schmutzigen Banditen verlieren. Lass ihn aufstehen, sage ich.« Der römische Kommandeur, Vespasian, stieg widerstrebend von Nectovelin herunter. Er packte den Briganten mit einer großen, schweren Hand am Kragen und zerrte ihn auf die Beine. Dabei hielt er ihn am Arm fest. »Eine Bewegung, du hässlicher Bastard, und ich schneide dir die Kehle durch, ganz gleich, was der Kaiser sagt.« Nectovelin hatte den Kaiser nicht aus den Augen gelassen. Agrippina behielt ihre Messerklinge am Hals des Griechen, Narcissus. Claudius trat vor. Sein Gang war ungleichmäßig, aber er hatte die Lage jetzt offensichtlich im Griff. »Noch eine Kriegerin. Du hattest recht, was ihr Temperament betrifft, Narcissus. Aber die hier scheint unter all dem Dreck weitaus präsentabler zu sein als die muskelbepackten Vetteln, die du mir heute vorgeführt hast. Dieses recht attraktive rotblonde Haar ...« Der schwer atmende Narcissus versuchte offenbar, trotz des Messers an seinem Hals die Fassung wie 74
derzugewinnen. »Ich entschuldige mich für meinen schlechten Geschmack.« Vespasian knurrte : »Wir müssen dem ein Ende machen, Herr. « »Nur Geduld, Legat. Ich würde zu gern sehen, wie dieses kleine Drama weitergeht. Welch eine Besetzung ‐ ein haariger Wilder, ein schönes Mädchen und ein kleiner Schwächling, der, nach seinen schmachtenden Blicken zu urteilen, eher verliebt als ängstlich ist.« Agrippina, deren Zorn die Oberhand über ihre Furcht gewann, zischte: »Ich verstehe jedes Wort, das du sagst, Römer. « »Ja, du hast Lateinisch gesprochen, nicht wahr?« Claudius starrte sie an, sein kleines Gesicht von Neugier gefurcht. »Aber mit einem Akzent. Bist du Gallierin ? « »Ich bin Brigantin.« »Ich weiß nicht, was Briganten sind.« »Ein noch nicht domestizierter britannischer Volksstamm«, sagte Narcissus gepresst. »Ich bin in Gallien erzogen und ausgebildet worden«, erklärte Agrippina. »Dann weißt du sicher, wer ich bin.« »Du bist Claudius.« Er lächelte. »Tiberius Claudius Nero Germanicus, um genau zu sein.« Germanicus. Germanisch ist sein Name ... Die Erkenntnis schockierte sie, und sie drückte ihre Klinge einen Herzschlag lang nicht mehr ganz so fest an Nar 74
cissusʹ Kehle. Vespasian sah es; seine Augen waren hart, und er wartete auf eine Gelegenheit, sich auf sie zu stürzen. Sie konzentrierte sich mühsam. »Ich heiße Agrippina.« Claudius klatschte in die Hände. »Ein guter römischer Name! Deine Eltern hatten gesunde Instinkte, auch wenn du sie vermissen lässt. Welch eine Ironie, dass die Logik
deines Lebens dich zu diesem Punkt geführt hat.« Er wandte sich an Cunedda. »Und du?« »Ich bin Cunedda.« Trotz seines unsicheren Lateins sprach er mit fester Stimme, und Agrippina war stolz auf ihn. Nectovelin knurrte in seiner brigantischen Muttersprache : »Was sagen sie, Pina ?« Claudius drehte sich interessiert zu ihm um. »Ah, euer Kampfhund spricht auch! Aber dieser haarige Bursche kann kein Latein, würde ich vermuten. Sehr freundlich ist er nicht gerade, was?« Vespasian knurrte: »Kaiser ...« »Ach, stell dich nicht so an, Vespasian. Du«, fuhr er Cunedda an. »Sprich mit deinem Kameraden in seiner eigenen gutturalen Sprache, wenn du sie beherrschst, und berichte mir, was er sagt.« Claudius wandte sich an Agrippina. »Ihr seid also hier, um einen Kaiser zu töten.« »Das hatten wir vor.« »Und ich schwöre bei Coventinas geschundenem Arschloch, dass ich es tun w erde, sobald ich eine Gelegenheit dazu bekomme, kleiner Mann«, sagte Nectovelin finster, übersetzt von Cunedda. 75
Claudius nickte, als sei das eine nüchterne Tatsache. »Natürlich. Und wer hat euch geschickt?« »Ihr seid auf die Insel eingedrungen. Jeder Britannier, von den Briganten bis zu den Atrebaten, ist euer Feind.« »Also wirklich! Erwartest du etwa von mir, dass ich das glaube?« Claudius sprach mit dem Gebaren eines tyrannischen Vaters. »Heraus damit! Wer hat euch dazu angestiftet? War es Valerius Asiaticus? Oder Magnus Vinicius, der vor mir zum Thronfolger er‐ nannt worden war?« Er fuhr fort, Senatoren, Equites und Freigelassene aufzulisten, die einen Groll gegen ihn hegten und die er allesamt im Verdacht hatte, Komplotte gegen ihn zu schmieden oder eine Verschwörung zur Wiederherstellung der Republik anzu‐ zetteln. Cunedda ergriff das Wort. »Denkst du so gering von uns, dass du glaubst, wir brauchten einen Römer, der uns sagt, was wir tun sollen? Das haben wir aus eigenem Antrieb getan, um unser Land von euch zu befreien. Und selbst wenn wir heute scheitern, wird Caratacus mit den Männern aus dem Westen und dem Druiden an seiner Seite zurückkehren, und ihr werdet mit eurem Blut bezahlen!« Claudius schien verwirrt zu sein. »Caratacus?«, fragte er seinen Sekretär. »Ein Sohn Cunobelins«, sagte Narcissus mit zitternder Stimme. »Ah, natürlich, die nützlichen Fürsten, die ständig ihre Nachbarn schikaniert, ihre Rivalen in die Arme 75
Roms getrieben und selbst satte Gewinne mit ihren Sklaven gemacht haben.« Cunedda runzelte die Stirn. »Sklaven?« »Eure Fürsten haben sich als Widerstandskämpfer gegen Rom aufgespielt«, sagte Vespasian kalt. »Aber zur gleichen Zeit haben ihre Überfälle auf eure Nachbarn ihnen
einen steten Strom von Sklaven eingebracht, die sie auf die Märkte in Gallien geschickt und dort für römisches Gold verkauft haben.« Claudius beobachtete Cuneddas Gesicht. »Du bist wirklich enttäuscht, nicht wahr? Habt ihr Britannier etwas gegen den Sklavenhandel? War Caratacus für dich ein Held? Aber ist dir denn nicht klar, dass dies ein Bestandteil unseres Siegeszugs ist, dass der römische Sklavenmarkt eure Politik deformiert hat, lange bevor auch nur ein einziger Soldat seinen Fuß auf eure Insel gesetzt hat? Caratacus und sein Bruder haben ein dop‐ peltes Spiel getrieben, verstehst du? Sie waren keine Helden, mein Kleiner. Sie waren Heuchler und Narren. Solche Männer können niemals den Sieg über Rom davontragen.« Nectovelin war ebenso niedergeschmettert wie Cunedda, aber er sagte höhnisch: »Das werden wir ja sehen.« »Wie aufsässig du bist! Aber glaubst du denn wirklich, ihr könntet Erfolg haben, ihr und euer Caratacus? Wie sollte euch das gelingen? Rom ist ein System, verstehst du, ein System, dessen zeitliche Dimensionen weit über ein bloßes Menschenleben hinausreichen, selbst über das eines Kaisers. Und es ernährt sich von 76
Expansion. Mit dem Zustrom neu erworbener Reichtümer wird das Heer bezahlt, das dann wiederum neue Territorien und Reichtümer erobert ‐ und das Rad dreht sich weiter und weiter. Rom hatte schon immer die Absicht hierherzukommen; das ist Schicksal.« Seine Augen funkelten; er war fasziniert, als wäre dies alles ein intellektuelles Spiel, dachte Agrippina. »Kaiser sind auch früher schon ermordet worden, und sie werden zweifellos auch künftig ermordet werden. Ja, wenn ihr mich getötet hättet, wäre alles durcheinandergeraten, aber nur für kurze Zeit. Hast du dir eingebildet, du haariger Britannier, du könntest mit deinem Schwert Geschichte schreiben?« »Leeres Geschwätz, Römer«, sagte Nectovelin. »Du sprichst vom Schicksal. Aber ich habe eine Prophezeiung, die mir im Augenblick meiner Geburt zuteil wurde. Sie spricht von Sieg und Freiheit. Und darum werden wir gewinnen.« Aber da irrst du dich, dachte Agrippina, und ihr wurde das Herz schwer. 76
XXI »Eine Prophezeiung? Wie interessant. Was für eine Prophezeiung?« Nectovelin starrte ihn wütend an. »Durchsuch ihn, Vespasian.« Vespasian rief einen Wachposten zu Hilfe. Es dauerte nur einen Moment, dann wurde die lederne Dokumentenmappe in Claudiusʹ Hände gelegt. Claudius fingerte behutsam an der Mappe herum und rümpfte die Nase. »Sie riecht, als wäre sie an ein Pferd geschnallt gewesen.« Aber er löste die Schnüre, nahm das Pergament heraus und faltete es auseinander. Er ging damit zu einer Lampe, um besseres Licht zu haben, und kniff die Augen zusammen. Dann nahm er ein kleines Drahtgestell mit zwei eingesetzten Gläsern zur Hand und hielt es sich vor die Augen.
Agrippina stockte der Atem. Sie dachte an eine andere Formulierung in der Prophezeiung ‐ und seine Augen sind aus Glas. Wurde das alles irgendwie wahr? Nectovelin warf ihr einen argwöhnischen Blick zu. »Sieh an, sieh an«, sagte Claudius. »Eine britannische Prophezeiung in lateinischer Schrift ‐ und in einem recht guten Latein obendrein. Sag mir, wie das kommt.« Als Nectovelin nicht antwortete, legte der 77
Kaiser seine »Augen aus Glas« weg und drehte sich zu ihm um. »Dir ist doch klar, dass nur meine Neugier dich am Leben erhält.« Nectovelin schien vor Wut zu zittern. Agrippina begriff, dass die Prophezeiung für ihn ein Amulett war, dessen Zauberkräfte nichts mit ihrem eigentlichen Wortlaut zu tun hatten ‐ und jetzt, in diesem Augenblick seines endgültigen Scheiterns, musste er es ertragen, dass diese Worte von einem Fremden, einem Feind gelesen wurden. Aber er zwang sich, noch einmal die Geschichte seiner Geburt zu erzählen: das lateinische Geplapper seiner in den Wehen liegenden Mutter, wie ihre Worte von Agrippinas Großvater niedergeschrieben worden waren. Claudius musterte Agrippina. »Es ist also eine Familienangelegenheit. Und wann war das? Wie alt bist du, Mann?« Nectovelin nannte sein Alter: siebenundvierzig Sommer. »Siebenundvierzig, siebenundvierzig ...« Claudius ging zu seinem Schreibtisch zurück und sah mehrere Schriftrollen durch. »An irgendetwas erinnert mich das dunkel. Ist damals noch etwas anderes Wichtiges geschehen? Wir Römer haben eine Schwäche für gute Prophezeiungen, wisst ihr«, dozierte er, ohne die Gruppe der britannischen Rebellen und der angespannten Soldaten dabei anzuschauen. »Worin der Reiz liegt, ist klar. Wir Sterblichen tasten uns wie mit verbundenen Augen durch den Nebel der Ereignisse. Da wäre es doch wunderbar, wenn wir die Zukunft 77
deutlich sehen könnten ‐ oder auch nur die Vergangenheit! Wir Römer haben unsere eigenen prophetischen Bücher ...« Eine Zauberin namens Sibylle hatte einem römischen König die Sibyllinischen Bücher geschenkt, die, wie sie behauptete, die gesamte Zukunft Roms voraussagten. »Leider sind die Bücher vor über hundert Jahren einem Brand zum Opfer gefallen. Seither haben wir jedoch aus Heiligtümern in aller Welt eine Sammlung neuer Orakel zusammengetragen, die seit der Zeit des vergöttlichten Augustus im Apollo‐Tempel auf dem Palatin untergebracht ist. Vielleicht wird dieses neue Orakel einen Platz in jener seltsamen Bibliothek finden ‐was meint ihr? ... Ah, da haben wir es.« Er zog eine Schriftrolle heraus, entrollte sie auf seinem Schreibtisch und fuhr mit dem Daumen auf ihrer Oberfläche entlang. »Ahm ... diesem Kompendium zufolge war dein Geburtsjahr nicht weiter bemerkenswert, haariger Mann ‐ bis auf eines: eine weitere Geburt, die eines gewissen Propheten in Judäa. Die Juden, du weißt schon, ein reizbares Volk! Der Schurke wurde während der Regentschaft meines Onkels Tiberius gekreuzigt, soweit ich mich erinnere, und zwar zu
Recht. Sicherlich nur ein Zufall ‐aber wenn ich ein Gott wäre und eine Prophezeiung abfassen würde, wäre nichts daran zufällig. Und was haben wir hier nun wirklich?« Er nahm das Pergament wieder zur Hand und spähte durch seine Gläser darauf hinab. »Ziemlich kurz, was?« 78
Agrippina sagte unwillkürlich: »Nur sechzehn Zeilen.« Sie sah, wie Nectovelins Schultern sich versteiften. In diesem Augenblick wusste er genau, dass sie das Dokument gegen seinen ausdrücklichen Wunsch gelesen hatte. Wie immer die Sache heute ausgehen mochte, sie fürchtete, dass sie ihre Beziehung zu diesem Mann, der wie ein Vater für sie gewesen war, bereits zerstört hatte. Claudius beobachtete das interessiert; die Britannier schienen ihn zu faszinieren. »Sechzehn Zeilen, ja. Du hast sie offenbar gelesen, Mädchen. Aber ich frage mich, wie gut du sie verstehst ‐ wenn du deine Ausbildung nur in Gallien genossen hast, wahrscheinlich alles andere als gut. Da gibt es einige Feinheiten. Sieh an, da ist ja sogar ein Akrostichon.« Er hielt Agrippina das Pergament hin. »Schau, Mädchen, siehst du, dass die ersten Buchstaben der Zeilen, hintereinander gelesen, einen Sinn ergeben? A‐C‐O‐N ... Vielleicht ist das der Schlüssel zu dem Ganzen. Die ursprünglichen Sibyllinischen Bücher enthielten ähnliche Akrostichen, soweit ich mich erinnere. Eine faszinierende Verbindung. Hier gibt es einige ganz besondere Vorhersagen, nicht wahr? Da ist die Rede von einem Kaiser mit germanischem Namen ... und ich heiße Germanicus.« Er blickte abrupt zu Agrippina auf. »Interessant. Aber was hat es mit der steingewordnen Schlinge um den Hals der Insel auf sich ? « Er warf Vespasian einen Blick zu. »Gibt es auf dieser Insel eine Landenge, Legat?« 78
»Niemand weiß es, Herr.« »Und weiter gehtʹs, kryptisch und verwirrend ‐verblüffend, wie bei allen Orakeln dieser Art, sonst würden wir sie wohl nicht so hoch schätzen ‐ ah, und am Ende ein paar Zeilen über Freiheit und Glück und so weiter. Unbeholfene Poesie, sonst nichts; es überrascht mich, dass die Götter es für richtig hielten, sie darin aufzunehmen.« Er wandte sich an Nectovelin. »Du, haariger Mann ‐ kannst du das überhaupt lesen?« Claudius legte den Kopf in den Nacken und lachte. »Da hast du also eine Prophezeiung aus dem Mund deiner eigenen Mutter und in der Sprache eurer Bezwinger ‐ einer Sprache, die du weder verstehen noch lesen kannst! Ob die Götter die Zukunft nun kennen oder nicht, sie haben jedenfalls Sinn für Humor. « »Ich brauche sie nicht zu lesen«, erwiderte Nectovelin. »Ich weiß, was darin steht: dass ihr Römer von dieser Insel vertrieben werdet. Und das werde ich mit Vergnügen tun.« Claudius schien verblüfft zu sein. »Eigentlich steht dort nichts dergleichen.« Er wandte sich an Agrippina. »Glaubst du, dass dies prophetisch ist?« »Ja«, gab Agrippia zu. »Und was bedeutet es?« »Dass wir euch heute nicht besiegen können, glaube ich«, sagte sie leise. »Was ? Was ? Sprich lauter, Mädchen!«
Sie holte tief Luft und war sich bewusst, welches Leid sie Nectovelin mit ihren nächsten Worten zufü 79
gen würde, ob er nun am Leben blieb oder starb. »Wir können heute nicht siegen. Das besagt die Prophezeiung. « Nectovelin grollte wie ein Stier. Vespasians Hand schloss sich fester um seinen Arm. Überall im Raum spannten sich die Soldaten an, und Narcissus erschauerte in Agrippinas Griff. Claudius sagte leise: »Nun, in diesem Fall hängt es allein von dir ab, Agrippina, wie es nun weitergeht. Wenn du es mir erlaubst, werde ich euch verschonen. Nicht aus Mitleid, sondern weil ihr mich fasziniert, du und dein Geliebter.« »Und wenn ich dir erlaube, mich am Leben zu lassen, wirst du dann auch Nectovelin verschonen?« Der Handel klang sogar in Agrippinas eigenen Ohren seltsam. Nectovelin drehte sich zu Agrippina um. »Du hast mich heute schon einmal verraten, Kind. Tu das kein zweites Mal.« Auch Vespasian war empört. »Herr, du kannst doch nicht darauf hören!« Claudius ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Wie lustig, dass sowohl der Fänger als auch der Gefangene eine friedliche Lösung ablehnen!« Irgendwie hatte Agrippina die Situation unter Kontrolle. »Lass Nectovelin gehen«, sagte sie. Und in ihrer eigenen Sprache sagte sie zu Nectovelin: »Es tut mir leid. « »Entwaffnet ihn und werft ihn hinaus, Legat.« »Herr ...« 79
»Er ist bereits gebrochen. Er stellt keine Gefahr mehr für uns dar. Und nun müssen wir entscheiden, was wir mit euch zwei Kindern machen ‐ aber zunächst einmal solltest du aufhören, meinem Sekretär diese unerwünschte Rasur zu verpassen.« Nachdem Nectovelin hinausgeworfen worden war, ließ Agrippina Narcissus los. Er stolperte mit einem Ausdruck mörderischen Hasses weg von ihr, massierte seinen Hals und betastete die aufgeschnittene Wange. Der freigelassene Cunedda kam zu Agrippina. »Wie konntest du Nectovelin das antun?« »Ich habe ihm das Leben gerettet.« »Aber er hat seine Ehre verloren. Und die Prophezeiung ... « »Er hat die Prophezeiung nie verstanden. Claudius hatte recht. Es gibt Zeiten, in denen es ein großer Vorteil ist, wenn man lesen kann. Die Prophezeiung spricht von drei Kaisern, Cunedda. Claudius ist nur der erste. Wir können ihn also nicht besiegen ‐ nicht, wenn die Prophezeiung die Wahrheit sagt. Denn die Römer werden sehr, sehr lange hier sein.« Er rieb sich den vom Griff eines Soldaten lädierten Oberarm. »Und Mandubracius?« Sie zuckte zusammen. »Das habe ich nicht vergessen. Ich werde meinen Bruder rächen. Ich muss nur einen anderen Weg finden. Heute habe ich vor allem eines gelernt, Cunedda: Dieses Spiel wird lange dauern.« Rufrius Pollio, der Befehlshaber der Prätorianer‐ 182
garde, kam auf sie zu. Sein Schwert steckte in der Scheide, aber sein Blick war giftig ‐ schließlich war er ja auch in beträchtlichen Schwierigkeiten, weil er zugelassen hatte, dass Attentäter so nah an den Kaiser herangekommen waren. »Zeit zu gehen«, sagte er auf Lateinisch. »Kaiser ...«, platzte Agrippina heraus. Claudius drehte sich um. »Ich muss glauben, dass die Prophezeiung wahr ist, denn ihre Vorhersagen sind eingetroffen. Aber es gibt da eine Kleinigkeit, die ich nicht verstehe.« Claudius runzelte die Stirn. »Welche Kleinigkeit?« »Dass du in Begleitung fremdartiger Tiere nach Britannien kämst ‐ haushohe Pferde mit säbelgleichen Zähnen ...« Claudius starrte sie an. Dann wandte er sich an den Befehlshaber seiner Garde. »Öffne diesen Vorhang, Rufrius Pollio.« Der Soldat gehorchte, und der Vorhang gab den Blick auf ein Rechteck des dunkelblauen Abendhimmels frei. Und vor dem Fenster sah Agrippina einen Schatten vorbeiziehen: massig, aber anmutig, ein riesiger, nickender Kopf. Vielleicht abgelenkt von dem Licht aus der Scheune, drehte sich der Kopf, und ein verblüffend menschliches Auge schaute sie an. Ein Rüssel hob sich, und Stoßzähne blitzten auf. »Manche Dinge in eurem kleinen Gedicht sind gewiss nur na heliegende Vermutungen«, sagte Claudius in ernstem Ton. »Dass Rom unter dem einen oder anderen Kaiser hierher kommen würde, stand so gut 80
wie fest. Aber man fragt sich wirklich, wer außer den Göttern die da vorhergesehen haben könnte, nicht wahr?« Agrippina hatte das Gefühl, als wäre die Welt in Stücke zerbrochen und füge sich auf ganz andere Weise wieder zusammen. 80
XXII Als die stämmigen Soldaten Nectovelin in die Dunkelheit hinausstießen, störte der Tumult die Tiere in ihrem hastig errichteten Gehege. Sie stampften grollend hin und her, ihre massigen Körper wie Wolken, die über den dunkler werdenden Himmel zogen. Sie waren nicht glücklich. Sie entstammten verschiedenen Familien, denn den afrikanischen Händlern, die sie an die Römer verkauft hatten, waren solche Feinheiten egal gewesen. Die Seereisen wie auch die Reise über Land durch Gallien hatten ihnen ebenso wenig gefallen wie den meisten Begleitern des Kaisers. Nun waren sie an diesem fremden, kalten Ort eingesperrt, und da sie ihre Geschwister und Mütter vermissten, knurrten sie unruhig und rempelten einander unablässig an. Aber sie hatten Claudiusʹ Zwecken gedient, indem sie den Menschen auf dieser Insel Furcht eingeflößt hatten. Immerhin waren sie die ersten Elefanten seit zehntausend Jahren ‐ seit die Gletscher sich mürrisch zurückgezogen hatten und die letzten Mammuts gestorben waren ‐, die einen Fuß auf britannischen Boden gesetzt hatten.
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XXIII Claudius verließ Britannien nach nur sechzehn Tagen. Und er nahm Agrippina und Cunedda mit nach Rom. Auf dem palatinischen Hügel, wo die Kaiser seit Augustus ihre Paläste errichtet hatten, wanderten Agrippina und Cunedda schweigend unter himmelhohen Decken und auf seeflachen Marmorböden umher. Alles war vom satten mediterranen Licht getränkt. Claudius hatte Rom als ein System beschrieben, dessen zeitliche Dimensionen die Lebensspanne eines Menschen überschritten. Seit über einem halben Jahrtausend strömte der Reichtum Europas, Asiens und Afrikas nun bereits hierher, wie Wasser durch einen Trichter floss. Und das Ergebnis sah man überall um sie herum auf Roms marmorgetäfelten Hügeln. Obwohl sie offiziell weiterhin unter Bewachung standen, schien Claudius Wert darauf zu legen, dass Cunedda und Agrippina in seinem Haushalt blieben. Er teilte ihnen sogar Hauslehrer zu. Sie seien seine beiden Brittunculi, sagte er ohne erkennbare Boshaftigkeit. Später erfuhr Agrippina, dass er auch Gallier mit nach Hause gebracht hatte und ähnliches Interesse an dieser relativ neuen Provinz zeigte. Sie wurden wie 81
Haustiere behandelt, dachte Agrippina, aber es gab schlimmere Verhaltensweisen für einen Eroberer. Einen Monat nach der Rückkehr des Kaisers nach Rom wurde Agrippina zu Claudius gebracht und fand ihn in intensiven Vorbereitungen für seinen Triumphzug, der für das kommende Jahr geplant war. »Es gibt so viel zu tun«, erklärte er ihr, während er in Bergen von Korrespondenz herumwühlte. »So viele Kleinigkeiten müssen organisiert werden! Und es ist schwer, Dinge zu delegieren. Selbst Narcissus, den ich sehr schätze, versteht als Grieche wenig von den Traditionen, um nicht zu sagen Archaismen, mit denen Rom seine Angelegenheiten regelt. Außerdem bin ich gerade dabei, die Widmungsinschrift für meine Triumphbogen zu entwerfen.« Er zeigte ihr eine grobe Skizze. »Wie du siehst, nimmt mein offizieller Name schon die Hälfte des verfügbaren Platzes ein, pah! Aber ich habe die Worte sorgfältig gewählt, denke ich. Ich erwähne die förmliche Unterwerfung von elf Königen. Mit der Invasion war kein Ehrverlust für Rom verbunden, denn sie erfolgte als Reaktion auf den Bruch von Verträgen durch britannische Fürsten ‐ wirklich, das stimmt! Römische Kriege sind immer legal. Und hier zeige ich, dass die römische Herrschaft sich nun auch auf die Barbaren jenseits des Meeres erstreckt.« Barbari Transoceanum. »Wo werden deine Triumphbogen stehen?« »Der Senat hat mir drei zuerkannt ‐ in Rom, an der Küste des Ozeans, vielleicht dort, wo Plautius gelan 81
det ist, und vielleicht auch noch einen in Cunobelins Hauptstadt.« »In Britannien wird es nicht viele Feiern geben«, sagte Agrippina kühn. »Wieso nicht?«
»Eure Invasion war brutal. Ihr schert euch nicht um unsere Kultur, unsere Identität. Ihr wollt nur so viel wie irgend möglich aus uns herausholen.« Claudius lehnte sich zurück und schürzte die Lippen. »Wir sind also Banditen. Gewalttätige Räuber. Aber so ist das nun einmal. Ihr Britannier auf eurer Insel seid hinter dem Fortschritt Europas zurückgeblieben. Wir können lesen und schreiben; bei uns gibt es Recht und Gesetz; wir haben Aufzeichnungen; wir haben ein politisches System, das nicht vom Naturell seines Führers abhängt ‐ zumindest nicht ganz. Trotz all der unbestreitbaren Qualitäten eurer Kultur ist Britannien in dieser neuen Welt ein Anachronismus. Und beim Zusammenstoß einer höheren Kultur mit einer niedrigeren kann es nur ein Resultat geben. Die Zeiten ändern sich, Agrippina! Früher einmal war Rom eine lebensprühende, altehrwürdige Republik, und niemand hätte geglaubt, dass Demokraten die Demokratie aufgäben ‐ doch in Anbetracht der Spannungen, die ein weltweites Imperium mit sich bringt, schickten sich die Römer in die Kaiserherrschaft. Aber die Sonne geht trotzdem nach wie vor auf und unter. Wenn wir eure britannische Identität unterdrücken, gut: Legt sie ab! Die Zukunft gehört Rom ‐und du bist jetzt eine Römerin.« 82
Sie hörte aufmerksam zu und nickte. »Ich weiß deine Worte zu schätzen, Herr, aber ...« »>Aber du bist ein aufgeblasener alter Narr!<« Er lehnte sich mit einem Seufzen zurück. »Siehst du, ich bin ein solch weiser Herrscher, dass ich sogar deine Sätze für dich beenden kann. Und was ist mit euch beiden? Ich habe das Band zwischen euch gesehen, selbst in jener schwierigen Nacht in Camulodunum. Erblüht die Liebe hier im freundlichen römischen Licht?« Es zahlte sich aus, einem Kaiser zu sagen, was er hören wollte, aber sie sah keinen Sinn darin, ihm etwas zu verheimlichen, was offensichtlich sein musste. »Wir haben uns auseinandergelebt.« »Aber du hast Cunedda doch geliebt!« »Das stimmt. Aber ...« Aber die gewaltige Erschütterung der Invasion hatte ihre kleinen menschlichen Pläne über den Haufen geworfen, und Agrippina schien durch den Tod ihres Bruders vorzeitig gealtert zu sein. »Ich habe mich ihm wohl einfach entfremdet.« Er musterte sie. »Ich glaube, ich verstehe. Aber sag mir: Wenn ihr nicht mehr verliebt seid, was habt ihr jetzt für Pläne?« »Pläne?« Sie runzelte die Stirn. »Du machst die Pläne.« Claudius schaute verärgert drein. »Nun, dann erzähl mir, wovon ihr träumt.« »Cunedda ist Töpfer, wie sein Vater vor ihm. Ich glaube, er möchte gern nach Hause. Zurück nach Britannien. Und das Geschäft seiner Familie wiederaufbauen.« 82
Claudius nickte. »Eine kluge Entscheidung. Glaub mir, da ihr nun zu Rom gehört, wird es einen Markt für seine Tonwaren geben!« Er tippte sich an die Zähne. »Ich sehe keinen Grund, den Jungen hierzubehalten ‐jedenfalls nicht über den Triumphzug im nächsten Jahr hinaus. Ich werde mit Narcissus darüber sprechen.« Sie nickte. »Danke.«
»Und was ist mit dir?« »Ich würde gern in Rom bleiben«, erklärte sie mit fester Stimme. »Wie du gesagt hast, ich bin jetzt eine Römerin. Und ich glaube, ich bin einigermaßen intelligent. Vielleicht könnte ich Schreiberin werden ‐Chronistin.« »Oh, vielleicht findet sich etwas noch Besseres. Ich sehe gute Ansätze bei dir. Als Barbarin, ja schon als Nichtrömerin wirst du mit Vorurteilen konfrontiert sein; das möchte ich dir nicht verhehlen. Aber du könntest einen passenden Gemahl in einem angemessenen Beruf unterstützen: einen Advokaten vielleicht, oder einen Geldverleiher.« »Vielleicht gehe ich aber auch meinen eigenen Weg «, sagte sie. Er zog die buschigen Augenbrauen hoch. »Du bist wahrhaftig ehrgeizig.« Mehr als selbst du es ahnst, dachte sie bei sich. Immerhin war sie schon weit gekommen. Sie hatte den Sturm der Invasion überlebt. Sie hatte ein Mordkomplott gegen einen Kaiser ge schmiedet und auch das überlebt. Nun war sie hier, eine Frau vom Rand der Welt im Zentrum von all em. 83
Und obwohl ihr Hass auf Rom bedeutungslos geworden war, so vollständig war sein Sieg über sie, verbarg sie noch immer einen dunklen Ehrgeiz in ihrem Herzen. Claudius hatte sich erneut in seine Bücher und Pergamente vertieft. Wahrscheinlich hatte er bereits vergessen, dass sie hier war. Mit einer Verbeugung zog sie sich zurück und verließ den Raum. 83
XXIV Als die Römer ihre Belagerungswaffen ernstlich einzusetzen begannen und über die brennenden Mauern der Hügelfestung eine Wolke von Geschossen gesegelt kam, deren Eisenspitzen die bloßen Schädel sich in Drohgebärden ergehender Durotriger‐Krieger durchbohrten, wusste Nectovelin, dass der Krieg verloren war und Britannien zeit seines Lebens nicht mehr frei von Römern sein würde. Und als ein Bolzen sein Bein durchstieß ‐ er spürte, wie seine Kniescheibe gleich einem Stück Keramik zersplitterte ‐, wusste er, dass auch sein eigener Kampf vorbei war. Die Legionäre drangen in die Festung ein. Geschäftsmäßig steckten sie die Gebäude in Brand und begannen, die Überreste der Verteidigungsanlagen zu schleifen. Und sie liefen zwischen den Verwundeten umher. Manche töteten sie sofort mit dem Schwert. Alle, die so aussahen, als könnten sie ein Lösegeld einbringen, wurden zusammengetrieben und mussten sich unter einem mit Gewichten beschwerten Netz in den Schmutz setzen. Nectovelin gehörte zu denjenigen, die sie am Leben ließen; er saß inmitten stöhnender, verletzter Durotriger, von seinen eigenen Schmerzen gepeinigt. 83
Vespasian hatte mit seinem Angriff auf den Westen begonnen, als der Kaiser sich noch im Land aufhielt. Hier war mit Widerstand zu rechnen, wie Caratacus gewusst hatte, denn die Durotriger hegten einen Groll gegen die Römer, seit Caesar ihre Handelsverbindungen mit Gallien gekappt hatte. Und das hatte sich bestätigt. Die
Durotriger und andere Volksstämme stellten sich dem römischen Vormarsch mit einer Wildheit entgegen, welche die Catuvellaunen beschämte. Aber das hatte nicht genügt. Nicht einmal Nectovelin hatte vorausgesehen, mit welcher Brutalität und Erbarmungslosigkeit Vespasian angreifen würde. Der Legat hatte mehr als dreißig Schlachten ausgefochten und über zwanzig Städte eingenommen. Und Nectovelin hatte ebenso wenig vorausgesehen, wie wirkungsvoll die Römer eine Belagerung durchführen konnten. Vespasian war von der römischen Flotte unterstützt worden, die an der Südküste entlanggefahren war; der Anblick der riesigen, lautlosen Schiffe hatte denjenigen, die sie vom Land aus beobachtet hatten, eine Heidenangst eingeflößt. Und nun zerstörten die römischen Eroberer diese Festung. Es war ein sehr alter Ort. Eine Art Pfad ‐ oder eher ein tief ausgehöhlter Graben ‐ führte um den Hügel herum. Die Einheimischen sprachen von den alten Zeiten, in denen sie ihre Götter besänftigt hatten, indem sie auf diesem heiligen Pfad um den Hügel gegan‐ gen waren, den Damm repariert und Opfer dargebracht hatten. Kinder, die an Sommernachmittagen 84
im Erdreich buddelten, fanden oftmals geformte Steine oder bearbeitete Bronze‐ und Eisenstücke ‐ und hin und wieder sogar einen menschlichen Knochen. Dieser Hügel war seit unvordenklichen Zeiten bewohnt und verehrt worden; die Festung, die ihn krönte, war nur der neueste Beweis dafür. Doch nun waren die Römer gekommen, und das war das Ende. Die Legionäre stießen die Brustwehren in die Gräben und hebelten die großen Steine aus den hohen Torrahmen, um sicherzustellen, dass die Festung nie wieder benutzt werden konnte. Der Hügel würde aufgegeben werden, man würde vergessen, welchem Zweck er gedient hatte, und mit dem uralten Damm, den zerstörten Brustwehren und allem würde er ein Rätsel für spätere Generationen werden. Römer brachten immer zu Ende, was sie begonnen hatten. »... Ich kenne dich.« Die Worte waren lateinisch, aber Nectovelin hatte in seinen Jahren mit Agrippina ein paar Brocken aufgeschnappt. Benommen blickte er auf. Der Legat persönlich stand über ihm: Vespasian. Diesmal trug er nicht seine Paradeuniform wie in jener Nacht in Camulodunum, sondern einen abgewetzten und blutbefleckten Streifenpanzer. Seine Stirn war mit Schmutz und Schweiß beschmiert. Vespasian hatte immer eine große Ernsthaftigkeit ausgestrahlt, und Nectovelin spürte sie jetzt. Vespasian tötete Menschen in rauen Mengen; das war seine Aufgabe. A ber er genoss es nicht. Außer von seinen Stabsoffizieren wurde Vespasian 84
von einem jüngeren Mann begleitet, offensichtlich einem Durotriger, der als Dolmetscher diente. Er war sauber, sein Leibrock unbeschmutzt, und er zeigte keinerlei Scham in dieser brennenden Festung seines Volkes. Der junge Mann stellte eine Frage in der Sprache der Durotriger.
»Ich bin Brigant«, antwortete Nectovelin. Der junge Mann wechselte mühelos zu dieser Sprache. »Ich kenne dich«, wiederholte Vespasian durch seinen Dolmetscher. »Jene Nacht in Camulodunum. Du warst der Hanswurst, der versucht hat, den Kaiser zu töten.« »Und wenn ich nicht Pech gehabt hätte, wäre es mir gelungen.« Vespasian lächelte. »Pech? Aber du hast doch mit deiner Prophezeiung geprahlt. Ich weiß noch, wie ich sie aus deiner verschwitzten Achselhöhle geklaubt habe. Wo ist deine Prophezeiung jetzt? Hat sie das hier vorhergesehen ?« Nectovelin dachte an die uralte Festung, die jetzt von römischen Legionären zerstört wurde. Er dachte an die catuvellaunischen Bauern, die das Kettenhemd ihres Großvaters angezogen hatten und mit der Erwartung in die Schlacht gezogen waren, einen Zusammenstoß von Recken mitzuerleben, nur um stattdessen an einen römischen Fleischwolf zu geraten. »Nein, davon hat sie nichts gesagt«, erwiderte er. »Aber die Prophezeiung verheißt Freiheit für jeden Menschen, lange nachdem du tot bist, Römer.« »Aber nicht für dich.« 85
»Nein, nicht für mich. Ich sterbe für diese Freiheit, und für Coventinas steinernes Herz.« Und damit stieß Nectovelin seine Arme durchs Netz. Er riss sich an einer Hand die Haut ab und spürte, wie an der anderen ein Finger brach, aber er bekam die Hände durch das Gewebe und um Vespasians Hals, bevor ein Stabsoffizier mit seinem Stichschwert vortrat und ihm den Bauch aufschlitzte. 85
XXV Nach ihrer Entlassung aus dem Haushalt des Kaisers Claudius fand die vierundzwanzigj ährige Agrippina eine Anstellung als Buchhalterin. Sie arbeitete bei einem Geldverleiher, einem dicken, freundlichen Mann namens Marcus Crassus Cerealis, den sie schließlich heiratete. Trotz ihrer Ausbildung und Erziehung in Gallien fand Agrippina das Leben in Rom sehr seltsam. Das lag nicht nur an den Dimensionen und der lärmenden Geschäftigkeit dieser Welthauptstadt, sondern an den kleinen Dingen. In Eburacum war sie inmitten großer, weitläufiger Familienverbände aufgewachsen, in denen Ehen vergänglich waren, jeder im Rundhaus Verantwortung für die Kinder trug und Frauen weitgehend dieselbe Macht hatten wie Männer. Jetzt saß sie mit Cerealis, der trotz seines sanften Wesens eindeutig erwartete, dass sie allein ihm eine Familie schenkte, in einer Flucht winziger, abgeteilter Räume fest. Aber sie hatte sich dieses Leben selbst ausgesucht, und sie blieb dabei. Mit der Zeit gebar sie Cerealis zwei gesunde Mädchen, die sie auf römische Weise erzog. Sie verließ Rom nicht mehr, verfolgte jedoch stets 85
aufmerksam die Geschehnisse in ihrer Heimat, Britannien.
Aulus Plautius diente vier Jahre lang als Britanniens erster Statthalter. In dieser Zeit schuf er eine neue Provinz, Britannia, die den südöstlichen Teil der Insel umfasste. Die alten Stämme wurden reine Verwaltungseinheiten, civitates, in der römischen Provinz. Camulodunum, einst die Hauptstadt eines catuvellaunischen Reiches, verwandelte sich in eine Kolonie altgedienter Soldaten, die erste echte Römerstadt in Britannien, und wurde in Colonia Claudia umbenannt. Die Ausbeutung der Britannier begann unverzüglich mit der systematischen Abschöpfung des überschüssigen landwirtschaftlichen Reichtums der Provinz. Es gab Getreideabgaben und Frondienste, und bald wurde ihnen auch ein formalisiertes Steuersystem aufgezwungen. Im Westen leistete Caratacus erstaunlicherweise noch acht Jahre lang Widerstand. Wie Nectovelin richtig erkannt hatte, schätzte man ihn bei allen Volksstämmen Britanniens als den einzigen Mann, der vor den Römern niemals die Waffen gestreckt hatte ‐ ob‐ gleich er nie einen Kampf gewann. Agrippina schämte sich dafür, dass er schließlich von ihrer Königin Cartimandua verraten wurde, der viel daran lag, mit den Römern zu kooperieren. Sie erlebte mit, wie Caratacus nach Rom gebracht und im Triumphzug durch die Stadt geführt wurde. Den Römern gefiel sein Trotz, jetzt, wo er besiegt und ungefährlich war, und sie sahen in ihm Eigenschaften, die sie selbst verloren zu ha 86
ben glaubten. Agrippina war bestürzt, dass Caratacus in der Erinnerung nicht als der überleben würde, der er war, sondern nur als Element der römischen Ge‐ schichtsschreibung. Nachdem er nun ausgedient hatte, wurde er begnadigt und in Rente geschickt, und sie hörte nie wieder etwas von ihm. Die Zeit verging, und der Wandteppich der Geschichte wurde Faden für Faden weitergewebt. Der Sekretär Narcissus stolperte schließlich über die komplizierte Innenpolitik der kaiserlichen Familie. Agrippina, die immer befürchtet hatte, der Grieche könne für die Demütigung in jener Nacht in Camulodunum Rache nehmen, freute sich insgeheim über seinen Sturz. Trauriger war sie über Claudiusʹ Tod; man munkelte, er sei von seiner manipulativen neuen Gattin vergiftet worden. Agrippina sah eine gewisse Ironie darin, dass der gebrechliche Kaiser einen Anschlag im fernen Britannien überlebt hatte, nur um von einer Familienangehörigen in seinem eigenen Bett ermordet zu werden. Währenddessen litten die Britannier unter der Herrschaft ihrer »zwei Könige«, des Statthalters und des Prokurators, die gemeinsam die neue Provinz verwalteten. Als Agrippina vierzig war, löste das brutale Regime von Claudiusʹ Stiefsohn Nero einen Aufstand in Britannien aus, an dessen Spitze eine Icenerin namens Boudicca stand, die Soldaten im Ruhestand, Advokaten, Steuereintreiber und deren Familien in ihren neu‐ en Tempeln verbrannte. Ihr Name bedeutete »die Siege bringt« ‐ wäre sie Römerin gewesen, hätte man sie i86
vielleicht »Victoria« genannt. Braint hatte recht damit gehabt, dachte Agrippina, dass es eine Frau brauchte, um den Römern einen echten Kampf zu liefern. Boudiccas Vision reichte jedoch nicht über Zerstörung hinaus, sie schaffte es nicht, ihre Energien auf militärische Ziele zu konzentrieren, und am Ende stürzte sie ‐ aber erst, nachdem
Zehntausende den Tod gefunden hatten und die römische Macht über Britannien einen Augenblick lang ins Wanken geraten war. Nach Nero entwickelte sich ein blutiger Kampf um die kaiserliche Thronfolge, und schließlich brach ein Bürgerkrieg zwischen rivalisierenden Anwärtern aus. Für Agrippina war es eine schreckliche Zeit, ein Rückfall in die Tage Julius Caesars, als starke Männer mit Unterstützung privater Truppen um die Macht gerungen hatten. Tatsächlich ging das noch junge Imperium beinahe daran zugrunde. Die Krise wurde erst überwunden, als ein alter Bekannter Agrippinas, Vespasian, aus dem Ruhestand zurückkam und der dritte Kaiser binnen eines Jahres wurde. Mit der Tüchtigkeit und Erbarmungslosigkeit, die er in Britannien an den Tag gelegt hatte, stellte er bald die Ordnung in Rom wieder her. Zur gleichen Zeit gelangte Agrippinas Volksstamm ‐ die von Rom immer noch unabhängigen Briganten ‐ unter Cartimandua, die Cunobelin von den Catuvellaunen nachzueifern schien, durch den Handel mit der neuen Provinz im Süden zu Wohlstand. Die Kultur blühte auf, wie sie an den Briefen merkte, die sie aus der Heimat erhielt, die Literatur, die Musik, die 87
Kunst und die Bildung. Aber das weitläufige Brigantien war nach wie vor nur ein loser, schwer zu kontrollierender Verbund, und als sogar der Gemahl der Königin, Venutius, widerspenstig wurde, drang das Unbehagen über Cartimanduas römische Politik bis in ihr eigenes Schlafzimmer vor. Am Ende ließ sich Cartimandua auf eine leichtsinnige Affäre mit dem Schildknappen ihres Mannes ein, und Venutiusʹ Zorn löste einen Bürgerkrieg aus. Unter Vespasians starken Statthaltern retteten die Römer Cartimandua, rückten dann endgültig in Brigantien ein und fesselten es mit einem Netz von Festungen und Straßen. In Agrippinas altem Geburtsort Eburacum richteten sie eine Legionärsfestung ein. An‐ schließend ‐ eine Generation nach ihrer Landung im Südosten Britanniens ‐ drangen die Römer noch weiter nach Norden vor, ins neblige Hochland Calédoniens. In all diesen Wirren verlor Agrippinas Familie sämtliche männlichen Angehörigen, sodass es keine Erben mehr gab und sie im Alter von fünfzig Jahren unerwartet einen Mehrheitsanteil am Steinbruchunternehmen der Familie erhielt. Agrippina hatte kein Interesse daran, es selbst zu leiten ‐ aber Cunedda hatte einen Sohn gehabt, der in Camulodunum geboren war. Durch einen Briefwechsel übertrug sie ihm ihren Anteil, eine letzte Geste an einen längst verstorbenen Geliebten. Unter der feierlichen Ruhe von Vespasians Regentschaft wachte Agrippina über ihre heranwachsenden Kinder. Sie unternahm sporadische Versuche, Necto‐ 2.0I
velins Prophezeiung zurückzubekommen, die Claudius in der Gruft der Sibyllinischen Orakel abgelegt hatte, aber diese führten zu nichts. Und obwohl sie ihre Töchter zu starken, jungen Römerinnen formte, verschwieg sie ihnen nicht, woher sie eigentlich stammten. Sie erzählte ihnen lange Geschichten aus ihrer eigenen Kindheit über ihre brigantischen Vorväter, die bereits zu einer Zeit mit Bronze und Stein geherrscht hatten, als Roms sieben Hügel nur von Schafen beherrscht worden waren.
Doch ihr Körper ließ sie im Stich. Ein quälender Husten wurde immer schlimmer, bis sie eines Morgens erwachte und feststellte, dass sie Blut gespuckt hatte. Sie regelte ihre geschäftlichen Angelegenheiten, so gut es ging, zugunsten ihres trauernden, hilflosen Gemahls. Ihre Töchter, beide Anfang zwanzig, waren zu stolzen, starken, gut erzogenen und ausgebildeten Römerinnen herangewachsen, und sie machte sich wenig Sorgen um sie. Mit fünfzig sei man nun wirklich nicht mehr zu jung zum Sterben, erklärte sie ihnen. Außerdem, fand sie, waren ihre Jahre so ausgefüllt gewesen, dass es für zwei Leben gereicht hätte. Aber eine letzte Angelegenheit hatte sie noch zu erledigen. 88
XXVI Obwohl Marcus Allius stets in der Gunst seines Kommandeurs Vespasian gestanden und im Gefolge seiner Zeit in Britannien auch ein wenig Ruhm erlangt hatte, war er nie weiter aufgestiegen als bis zum Rang eines Zenturio ‐ und um die Wahrheit zu sagen, er hatte es auch nie gewollt. Er schied so früh wie möglich mit einer dicken Veteranenpension aus dem Heer aus und kaufte sich einen kleinen Weinberg einen Tagesritt von seiner Heimatstadt Rom entfernt. So wie er immer ein tüchtiger, aber niemals großartiger Soldat gewesen war, erwies er sich nun als erfolgreicher, aber keineswegs begüterter Winzer. Er zog einen starken Sohn groß, der wie sein Vater zum Militär ging. Im Alter von fünfundfünfzig Jahren, über ein Vierteljahrhundert nach seinem britannischen Abenteuer und so gesund wie eh und je, freute sich Marcus auf einen langen Lebensabend. Dann suchte ihn eines Tages ein Sklave auf, der einen Brief brachte. Die Nachricht kam von einer gewissen Agrippina, die in Britannien geboren war, aber nun in Rom lebte. Sie sei bei der Landung der Römer in Rutupiae eben 88
falls dabei gewesen, schrieb sie, und ihr Brief betreffe »eine unerledigte Angelegenheit«. Es sei ihr gelungen, Vespasians offiziellen Biografen zu konsultieren, um herauszufinden, welche Legion damals als Erste in Britannien gelandet sei, in jener dunklen Nacht in Rutupiae vor dreißig Jahren, welche Zenturie als Erste an Land gegangen sei und welcher Mann jener Zenturie, dessen Namen sie gehört zu haben glaube, als Erster den Fuß auf britischen Boden gesetzt habe. Agrippina fasste die Schritte zusammen, die sie unternommen hatte, um dafür Sorge zu tragen, dass sie und nur sie allein die volle Verantwortung für das Verbrechen übernahm, das gleich geschehen würde ‐ aber sie werde bereits tot sein, wenn Marcus Allius den Brief öffne. Marcus blickte zu dem Sklaven auf und fragte: »Was für ein Verbrechen?« Die Klinge in der Hand des Sklaven war das Letzte, was er sah. 88
ZWEITER TEIL
E R B A U E R 1 2 2 ‐ 1 3 8 N. C H R .
I Brigonius hatte eingewilligt, sich mit den Römerinnen nahe der Stadt Durovernum Cantiacorum zu treffen, auf der Straße nach Osten in Richtung Rutupiae an der Küste. Für einen Briganten war das weit von der Heimat entfernt. Aber Brigonius erreichte den Treffpunkt früh am Morgen, eine ganze Weile vor der vereinbarten Stunde, und er musste warten. Er fand einen Meilenstein, auf den er sich hocken konnte, setzte seinen verbeulten, alten, breitkrempigen Hut auf, um sich vor der Sonne zu schützen, und ließ sein Pferd das harte, schmutzige Gras neben der Straße fressen. Bald wurde ihm heiß, und sein Gesicht juckte unter dem immer noch neuen und ungewohnten Bart. Er war zweiundzwanzig Jahre alt. Die Stadt war ungefähr eine halbe Meile entfernt. Er sah sich den Ort neugierig an. Durovernum war eine Insel aus Holz und Stein mit Dächern aus leuchtend roten Ziegeln. Für Brigonius sah der Ort sehr seltsam aus, ganz anders als seine eigene Rundhäuser‐Gemeinschaft in Banna ‐ und er hatte auch keinerlei Ähnlichkeit mit der römischen Militärarchitektur, mit der er im Norden aufgewachsen war, jenen unzäh 89
ligen schachteiförmigen Kastellen und Wachtürmen wie dem in Banna. Römerstraßen war er jedoch gewohnt. Sie überzogen das ganze Land. Diese führte pfeilgerade nach Osten, und ihr festgestampfter Kiesboden war flach und eben. Sein Steinbrecherauge bemerkte, dass sie zwei‐oder dreimal neu gedeckt worden war, sodass sie sich stolz über das Ackerland rundum erhob. Alt oder nicht, die Straße war gut erhalten, ihre Entwässerungsrinnen waren freigespült, und sie schien sich nirgends abzusenken. Die römischen Soldaten, die sie gebaut hatten, hatten gute Arbeit geleistet, gestand er sich widerwillig ein. Heute wurde die Straße jedoch nicht von Soldaten benutzt. Ungefähr eine Stunde lang hatte Brigonius an diesem frühen Morgen seine Ruhe, nur er selbst war hier, sein Pferd, die Straße und der Gesang der Vögel. Doch im weiteren Tagesverlauf füllte sich die Straße: Menschen zu Fuß und zu Pferd, auf Karren, in Kutschen und Sänften. Die Stadtbewohner waren heiter, sauber, wohlgenährt und in bunte Farben gekleidet, und ihre Haut glänzte von kosmetischen Ölen. Sklaven gingen neben den Kutschen ihrer Herren einher oder trugen sie auf Sänften und Tragsesseln. Alle strömten nach Osten. Es war, als hätte jemand die Stadt hochkant gestellt und ihre Einwohner wie Öl aus einem Topf gekippt, sodass sie sich in Richtung Rutupiae ergossen, wo heute der Kaiser landen sollte. Brigonius kam sich auf seinem Stein neben dieser 89
glanzvollen Menge fehl am Platz vor, wie ein ungeschlachter Bauerntölpel aus dem Norden. Aber er war schließlich hierher bestellt worden, rief er sich ins Gedächtnis. Er holte Severas Brief aus seiner Reisetasche und las ihn erneut. Er war in blauer Farbe auf ein kleines, zusammengeklapptes, dünn gehobeltes Rechteck aus Holz mit einer senkrechten Kerbe in der Mitte geschrieben. Sein Name stand auf der Außenseite, zu‐
sammen mit einer Adresse: Vindolanda, das große, mitten in Brigantien hineingepflanzte Kastell, mit dem Brigonius eine Menge Geschäfte machte. Im Innern war der lateinische Text mit säuberlicher, ziemlich kleiner Handschrift in zwei ordentliche Spalten geschrieben. Aber er begann mit einem großzügigen Gruß ‐ »von Claudia Severa an ihren Freund Brigonius, ich grüße dich« ‐ und endete mit einer blumigen Ausschmückung der Unterschrift ‐ »in der Hoffnung, dass du beim Eintreffen dieses Schreibens ebenso wohlauf und vom Glück begünstigt sein mögest wie ich und meine Tochter, C. Severa« ‐, beides in anderer Handschrift als der Hauptteil des Textes, den vermutlich ein Schreiber auf Diktat abgefasst hatte. Brigonius konnte lesen und schreiben. Das musste er auch. Sein Vater war vor zwei Jahren gestorben, sodass Brigonius im Alter von nur zwanzig Jahren alleiniger Besitzer des familiären Steinbruchunternehmens geworden war. Sein Hauptkunde war das römische Heer, das Haustein für seine Kastelle und Straßen, seine Heiligtümer und Badehäuser verschlang. Und das 90
Heer war ein Bienenstock, in dem unablässig geschrieben wurde; ein Soldat konnte nicht einmal furzen, so schien es, ohne dass ein rangniederer Offizier eine Notiz darüber abfasste. Brigonius war also an Briefe gewöhnt. Einen Brief wie diesen hatte er jedoch noch nie erhalten. Er kam von weither, nämlich aus Rom: ein Brief aus Rom, an ihn adressiert. Die Briefschreiberin, eine vornehme Römerin namens Claudia Severa, behauptete, es gebe eine familiäre Verbindung zwischen ihr und Brigonius; eine Vorfahrin von ihr habe einen seiner Vorfahren gekannt. Und im Brief war die Rede vom bevorstehenden Besuch des Kaisers in Britannien. Das war keine Neuigkeit; jedermann sprach seit Monaten davon. Aber, schrieb Severa, der Besuch werde ihren beiden Familien, der von Brigonius und der von Severa, die Gele‐ genheit bieten, sehr reich zu werden. Woher wusste sie das alles? Aus einer Prophezeiung, erklärte sie. Brigonius wusste nicht recht, was er von all dem halten sollte. Der Hinweis auf Profite erregte seine Aufmerksamkeit, aber das Gerede von Familiengeschichten und Prophezeiungen schreckte ihn ab. Die abergläubischen Römer waren besessen von der Vergangenheit und der Zukunft, von toten Ahnen und Weissagungen künftiger Zeiten. Besser, man lebte in der Gegenwart und genoss das Jetzt, dachte er. Während er auf diesem Meilenstein saß und die selbstzufriedenen Cantiacer‐Bürger an ihm vorbeieilten, fragte er sich, ob er seine Zeit verschwendete. 2. I O
Doch dann erschienen die beiden Frauen. Und schon im ersten Moment seiner Begegnung mit Severa ‐oder vielmehr mit ihrer Tochter, Lepidina ‐ waren all seine Zweifel wie weggeblasen.
II Claudia Severa und ihre Tochter waren in einer kleinen Kutsche mit leuchtend rotem Stoff dach unterwegs. Ein Diener, wahrscheinlich ein Sklave, führte zwei gefügige
Pferde. Severa und Lepidina stiegen mit etwas deplatzierter Anmut aus der Kutsche und kamen auf Brigonius zu. Die Mutter mochte vierzig Jahre alt sein, die Tochter achtzehn oder neunzehn. Die zwei sahen sich sehr ähnlich; beide waren auffallend blass, und ihr rotblondes Haar türmte sich zu exotischen Skulpturen auf. Die ältere Frau trug eine Stola, einen strahlend weißen Tuchstreifen mit purpurroten Verzierungen. Unter ihrer weiten Kleidung steckte ein wohlgeformter Körper mit ausgeprägtem Busen, und sie ging mit wiegenden Hüften. Sie war sinnlich, sah jedoch kräftig aus, beinahe muskulös. Dies war eine eindrucksvolle Frau, dachte Brigonius sofort. Die Tochter war schmaler und schlanker, und sie bewegte sich mit einer geschmeidigen Schönheit. Sie trug einen langen Rock und eine Tunika in Rosa und Silbergrau ‐ die Farben verschmolzen nahezu vollkommen miteinander ‐, dazu ein Halstuch, irgendein purpurrotes und rosafarbenes Gewebe, so leicht wie Nebel. Sie war so zart, so blass, dass sie nur lose mit der Realität verbunden zu sein schien. Erneut kam er sich mit seinen schwarzen Haaren und der dunklen Haut wie ein Bauerntrottel vor, ein Klumpen Erde, verglichen mit diesem Geschöpf aus Luft und Feuer. Severa beobachtete ihn. »Du musst Brigonius sein«, sagte sie trocken. Immer noch wie ein Kind auf seinem Meilenstein hockend, starrte er das Mädchen an. Mühsam kam er auf die Beine, und eine Staubwolke stieg um ihn empor. Die Augen der Tochter weiteten sich, als sie sah, wie groß er war. »Verzeihung«, sagte er. »Ich bin Claudia Severa. Meine Tochter, Lepidina.« Das Mädchen wandte sich schüchtern ab. Er versuchte, seine Aufmerksamkeit au f Severa zu richten. »Wie hast du mich erkannt?« »Das war nicht schwer«, sagte Severa. »Ich habe nur nach dem Bart Ausschau geha lten. Die Cantiacer sind glatt rasiert, weißt du, wie alle guten Röm er!« »Ich, äh ...« Das Mädchen sprach zum ersten Mal. »Du scheinst von mir fasziniert zu sein, Brigantius.« »Brigonius. Ich bin Brigant. Mein Name ist Brigonius ...« »Gefä llt dir mein Halstuch?« Sie berührte es. Seine Farbe passte perfekt zu dem Grau ihrer Tunika, und es warf reflektiertes Sonnenlicht auf die weiche weiße Haut ihres Halses. Erneut konnte er den Blick nicht von ihr wenden. »Ein solches Material habe ich noch nie gesehen.« 91
»Wie könntest du auch. Das ist Seide. Sie kommt aus einem Land im Fernen Osten, noch jenseits der Parther. Niemand weiß, wie sie gemacht wird ‐ stell dir das vor!« Jetzt sah er, dass ihr Halstuch von einer kleinen Spange gehalten wurde: ein Gebilde aus gebogenem, sich kreuzendem Silberdraht, vielleicht ein stilisierter Fisch. »Das ist ein hübsches Schmuckstück. Der Fisch.« Severa hatte offensichtlich nichts von der Spange gewusst. Sie funkelte ihre Tochter wütend an. »Versteck das, du dummes kleines Ding!«
Widerwillig verhüllte Lepidina die Spange. Severa ging um Brigonius herum und musterte ihn von oben bis unten, als wäre er ein Pferd. »Nun, du bist offenbar ein von der Sinneslust verwirrter Narr, wie alle Männer. Aber du bist hinlänglich gesund, und du scheinst ehrlich zu sein. Ich glaube, wir wer‐ den miteinander ins Geschäft kommen, du und ich. Aber zuerst müssen wir den Kaiser begrüßen. Fährst du mit uns nach Rutupiae? In der Kutsche ist noch Platz.« Lepidina, die jetzt auf mädchenhafte Weise freundlich war, hängte sich bei ihm ein. Sie war weich und wohlriechend, wie eine duftende Wolke. »O ja, bitte. Wir haben Obst und Wein. Das wird bestimmt lustig!« So fand Brigonius sich zwischen Mutter und Tochter im Schatten des Kutschendachs wieder. Die Kutsche reihte sich in den Verkehrsstrom Rich 92
tung Rutupiae ein. Der Sklave führte Brigoniusʹ Pferd. Als sie über die flache Küstenebene rollten, stieg Brigonius schon bald ein erster Hauch salziger Meeresluft in die Nase, und er erspähte die strahlend weißen Schultern des Monuments in Rutupiae, ein Wahrzeichen, das in allen Richtungen meilenweit sichtbar war. Währenddessen füllte sich die Luft in der Kutsche mit dem anregenden Duft von Kosmetika, und die Frauen nötigten ihm einen wohlschmeckenden leichten Wein und in gemahlenen Pfeffer getunkte Erdbeeren auf. »Wir haben von euren Problemen gehört«, sagte Severa. »Problemen?« »Der Aufstand in Brigantien. Solche Dinge sprechen sich bis nach Rom herum, weißt du!« »Aufstand ist ein zu großes Wort dafür«, wehrte Brigonius ab. »Es hat mit einem Krawall in der Nähe von Vindolanda angefangen. Wegen einer Ungeschicklichkeit eines Dekurios.« Tatsächlich hatte der Offizier einen brigantischen Arbeiter geschlagen, den er fälschlich des Diebstahls bezichtigt hatte. »Ehe man sichʹs versah, gab es überall Ärger. Ein paar junge Leute haben die Gelegenheit für ihre kleinen, schäbigen Banditenaktionen genutzt.« »Ich dachte, es wäre ernster«, sagte Severa. »Oh, die Armee musste ausschwärmen.« Nachdem man die Soldaten aus ihren Bordellen und Badehäusern geholt hatte, waren sie wie üblich mit maximaler Gewalt gegen die Rebellen vorgegangen und hatten 92
Köpfe eingeschlagen, ein paar Dörfer niedergebrannt und einen Haufen Frauen und Kinder in die Sklaverei verschleppt. »Sie haben die Probleme rasch beseitigt.« »Ich verstehe nicht, weshalb die Leute überhaupt gegen die Armee kämpfen wollen«, sagte Lepidina. »Ich meine, was wäre, wenn sie gesiegt hätten? Also, ohne die Armee ...« Ihre Stimme verklang, und sie sah ihn mit leerer Miene, großen Augen und offenem Mund an, wie ein Kind.
Sie hatte ein erstaunlich behütetes Leben geführt, sann Brigonius. Er verspürte den Drang, sie zu beschützen ‐ einen Drang, der zweifellos vom Begehren herrührte, aber trotzdem echt war, dachte er. »Nicht jeder mag die Römer«, erwiderte er sanft. »Ihre Steuern, ihre Aushebungen zur Zwangsarbeit ...« »Du magst sie bestimmt«, sagte Lepidina scharf. »Du verkaufst ihnen deinen Stein.« »Das heißt nicht, dass sie meine Freunde sind.« Er grinste. »Ich nehme mir ein Beispiel an meinem Vater und presse die Römer bis zum Weißbluten aus, wenn ich kann.« Severa nickte ‐ beifällig, wie ihm schien. »Hast du viel von deinem Vater gelernt?« »Er ist vor ein paar Jahren gestorben.« »Dennoch stützt du dich noch immer auf seine Erfahrungen, während du allmählich deine eigenen erwirbst. Eine vernünftige Strategie. Wir alle sind von der Vergangenheit geprägt, nicht wahr, Brigonius? 93
Tatsächlich säßen wir jetzt nicht hier, wenn es nicht tief reichende historische Verbindungen zwischen uns gäbe.« »In deinem Brief sprichst du von deiner Großmutter, die Brigantin war, aber nach Rom gegangen ist.« »Agrippina, ja. Sie ist vor meiner Geburt gestorben, aber meine Mutter hat mir alles über sie erzählt. Ein faszinierendes Leben! Jemand sollte es aufschreiben. Und du musst wissen, Brigonius, sie kannte deinen Urgroßvater, der Cunedda hieß ...« »Wie mein Vater.« »Ja. Und dessen Vater vor ihm. Angeblich kannten sich Agrippina und Cunedda zur Zeit von Claudiusʹ Einmarsch in Britannien. Deine Angehörigen waren Catuvellaunen, Brigonius. Die Familie meiner Großmutter besaß einen Anteil an einem Steinbruchunternehmen. In ihren späteren Jahren übertrug Agrippina ihn deiner Familie ‐ dem Sohn jenes ersten Cunedda. So kam deine Familie zu ihrem Anteil an diesem Unternehmen und zog nach Brigantien, um es in Besitz zu nehmen. In gewissem Sinn stehst du also in meiner Schuld, nicht wahr?« Brigonius, der sich manipuliert fühlte, war sich da nicht so sicher. Lepidina hörte das alles offenkundig nicht zum ersten Mal. »Ich glaube, sie waren mehr als Freunde«, sagte sie spitzbübisch. »Agrippina und ihr Cunedda. Weshalb sonst ein solch extravagantes Geschenk? Ich glaube, sie haben sich geliebt!« Mit großen Augen flüsterte sie: »Was meinst du, Brigantius ‐ Brigonius? 93
Überschreitet die Liebe die Generationen, steht die Liebe außerhalb der Zeit?« Es war natürlich nur ein Spiel. Aber er verspürte eine warme Aufwallung im Innern. Die Geräusche draußen wurden lauter. Lepidina bückte sich und schaute unter der Plane hinaus. »Rutupiae!«, sagte sie. »Wir sind gleich da.« 93
III
Bald darauf blieb die Kutsche im dichten Verkehr stecken. Die drei Passagiere stiegen aus ‐ Brigonius zügig, die Frauen voller Eleganz ‐, ließen den namenlosen Sklaven mit der Kutsche zurück und gingen zu Fuß weiter. Die Luft vom Meer war frisch, die Sonne strahlte. Auf der Straße wimmelte es von Bürgern und ihren Fahrzeugen, Sklaven und Tieren. Alle strömten zur Küste, wo die Straße am Fuß des mächtigen Triumphbogens endete. Kinder rannten den Erwachsenen aufgeregt um die Beine, und das Stimmengewirr zahlloser Gespräche erhob sich aus der langsam vorrückenden Menge. Straßenhändler verkauften Fleischstücke an Spießen, Austern ‐ eine Spezialität von Rutupiae ‐, Andenken und Plunder zur Begrüßung des Kaisers, Fähnchen in kaiserlichem Purpur und Miniaturen des ernsten, bärtigen Gesichts, das den Menschen durch die Münzen so vertraut geworden war. Brigonius übernahm mit seinen breiten Schultern die Führung, und die drei bahnten sich ihren Weg durch das Gedränge. Brigonius überragte die meisten; vielleicht ernährten sich die Briganten besser als diese den Römern gehörenden Cantiacer. Seine Stimmung 94
hob sich; die Fröhlichkeit der Menge steckte ihn an. »Es hat etwas von einem Fest«, sagte er. »Natürlich«, erwiderte Severa. »Darum geht es ja. Die Kaiser haben sich an Feiertagen immer der Menge gezeigt, in den Amphitheatern. Nun lässt sich dieser neue Kaiser in den Provinzen sehen ‐ ich glaube, er möchte von einem Ende seines Reiches zum anderen reisen, als wäre es ein einziges riesiges Amphitheater.« »Warum?« »Nun, er kommt, um zu vereinen«, sagte sie. »Nicht, um zu erobern wie Claudius, oder um seiner Eitelkeit zu frönen wie Nero. Sie nennen ihn >Konsolidator<. Schau dich um, Brigonius. Glaubst du, dass irgendwer von diesen Leuten, und sei es das kleinste Kind, jemals den Tag vergessen wird, an dem er den Kaiser persönlich gesehen hat?« Brigonius grunzte. »Soweit ich höre, gibt es jede Menge Leute, die nicht vergessen werden, wie viel es sie kostet, ihn zu bewirten.« Severa lachte. »So jung und schon so zynisch!« Schließlich lösten sie sich aus der Menge. Sie kamen an eine Absperrung, hinter der Soldaten in Paradeuniformen mit leuchtend roten Mänteln und bunten Helmbüschen patrouillierten. Severa sprach mit einem der Soldaten und gab ihm eine Nachricht auf einem Stück Holz; er warf einen Blick darauf und eilte davon, um einen Vorgesetzten zu finden. Von hier aus konnte Brigonius Rutupiae sehen. Es war ein großer Hafen, ja sogar eine ziemlich große Stadt. Rechteckige Gebäude aus Stein und Holz brei‐ 94
teten sich um ein Hafenbecken aus, und das mit Ziegeln gedeckte Dach einer überaus prächtigen mansio, einer Herberge für besonders berühmte Besucher, glänzte wie poliert. Auf dem Meer lagen Schiffe vor Anker, vielleicht die, mit denen den Kaiser von
Gallien aus den Ozean überquert hatte. Schwer und komplex, wirkten sie mit ihren aufgerollten Segeln wie auf den blauen Himmel gemalt. Und im Vordergrund erhob sich alles beherrschend dieser vierbeinige Triumphbogen über die schnurgerade Straße von Westen; seine vier Säulen sahen wie die Beine eines Riesen aus. Mit weißem, aus Italien eingeführtem Marmor verkleidet, leuchtete er in der Sonne, nicht weniger als achtzig Fuß hoch: das Tor zum römischen Britannien. Brigonius, der Steinbrecher, fragte sich, wie der Architekt verhindert hatte, dass das Monument im weichen Küstensand versank. Es musste tiefe, massive Fundamente haben. Um die Beine dieses imposanten Bauwerks drängten sich Menschen, die wie Zwerge wirkten. Auf der Kreuzung unter dem Bogen errichteten Zimmerleute eine Bühne. Überall liefen Soldaten umher; Brigonius sah Legionsfahnen, das Funkeln der Windungen von Signaltrompeten. Es war ein echtes Schauspiel. Ein Dekurio kam auf Severa zu und winkte sie nach vorn. Mit einiger Erleichterung löste sich Brigonius aus dem Gedränge und ging mit den Frauen zur Bühne. »Du warst vermutlich noch nie hier, Brigonius«, sagte Severa leise. »Ruft dieser Anblick tief in deinem Innern einen Widerhall hervor?« »Ich verstehe nicht.« »Hier sind die Römer unter Claudius in Britannien gelandet. Damals gab es hier natürlich nichts, nur ein Stück Strand, keine Hafenanlagen ...« »Und kein hässliches Monument«, sagte Lepidina. »Und meine Großmutter und dein Urgroßvater Cunedda haben diese Landung miterlebt«, fuhr Severa fort. »Das hat Agrippina jedenfalls immer behauptet.« Brigonius war nicht beeindruckt. »Nun, hier wimmelt es heute nur so von Römern.« »Ein Kaiser kann schwerlich allein reisen. Wie ich höre, sind es achttausend Soldaten und wahrscheinlich ebenso viele Verwaltungsbeamte ‐ Schreiber und Buchhalter und Advokaten ‐, die ganze Reichsregierung ist mit ihm unterwegs. Und dann all die Köche und Putzfrauen, die Ärzte und Veterinäre, die Dichter und Musiker und Architekten und Schauspieler. Der Hof ist eine mobile Stadt. Kein Wunder, dass d ie Pro‐ vinzbewohner über die Kosten schimpfen!« Sie fanden einen Platz inmitten der Menge, die sich vor der Bühne versammelte, und machten sich auf eine längere Wartezeit gefasst. Severa ließ nicht locker. »Denkst du jemals an die Vergangenheit, Brigonius? An die Zeit Agrippinas und Cuneddas, die Zeit der Invasion, jene kurzen Tage, die seither unser Leben geprägt haben? Die Zeit häuft sich erbarmungslos auf. Dein Norden ist noch immer unruhig, aber der letzte große Aufstand im Süden, als die Städte brannten, liegt schon sechzig Jahre zurück. Sechzig Jahre.« 95
Brigonius wusste darüber Bescheid. Als Boudicca Camulodunum niedergebrannt hatte, waren seine Großeltern noch Kinder gewesen. Sie hatten es überlebt, sich aber bis zu ihrem Tod vor jedem Alarm, jedem Aufruhr gefürchtet ‐ und vor dem Geruch von Feuer.
»Und rund zwanzig Jahre davor hat die Invasion stattgefunden«, fuhr Severa fort. »Allmählich verblasst all das, es verschmilzt mit der Vergangenheit. Heute erinnert sich niemand mehr an ein römerloses Britannien.« Lepidina schien sich zu langweilen. »Weshalb redest du ständig über die tote Vergangenheit, Mutter?« »Wegen der Prophezeiung«, sagte Severa. »Deshalb sind wir hier, nicht wahr, Brigonius?« Sie zog eine Ledertasche aus einer Falte ihrer Tunika. »Hier drin«, sagte sie mit leuchtenden Augen, »ist ein einzelnes Blatt ‐ altmodisches Latein, auf ein Stück Pergament gekritzelt. Nur sechzehn Zeilen. £5 ist die Prophezeiung, Brigonius. Die Prophezeiung, von der ich in meinem Brief gesprochen habe. Sie wurde bei der Geburt eines Mannes namens Nectovelin niedergeschrieben, eines Vetters meiner Großmutter, Agrippina.« Sie erzählte ihm etwas über die Geschichte der Prophezeiung: dass Agrippina und Cunedda in Claudiusʹ Haus eingedrungen waren, dass sich ein Teil der Vorhersage auf verblüffende Weise bewahrheitet hatte ‐und dass Claudius das Dokument anschließend konfisziert und zu den Sibyllinischen Orakeln gelegt hatte. »Meine Großmutter ist nach Rom gezogen und hat 96
viele Jahre lang versucht, das Dokument wiederzubekommen. Es ist ihr nicht gelungen ‐ und meiner Mutter ebenso wenig ‐, aber ich habe schließlich die richtige Person gefunden, die man bestechen musste.« »Ts, ts«, machte Lepidina. »Du tadelst mich, dass ich mit einem Stück Silber am Hals das Gesetz breche, und plünderst selbst die Gruft der Sibyllinischen Orakel! Du bist eine Heuchlerin, Claudia Severa.« »Aber was ist das für eine Prophezeiung?«, fragte Brigonius. »Es ist nicht weniger als eine Skizze der Zukunft ‐der Zukunft der Römer und der Zukunft Britanniens unter ihrer Herrschaft.« »Der Zukunft?« Brigonius versuchte, im Kopf zurückzurechnen. »Aber sie muss schon über hundert Jahre alt sein.« »Hundertsechsundzwanzig«, sagte Lepidina munter. Sie strich mit den Fingern über den Fisch an ihrem Hals. »Sie wurde im selben Jahr niedergeschrieben, als Jesus von Judäa zur Welt kam.« »Wer ?« »Ach, der Held irgend so eines Mysterienkults aus dem Osten«, fauchte Severa, »ein neuer Fimmel meiner Tochter und anderer törichter Kinder in Rom.« Brigonius grinste. »Wenn die Prophezeiung so alt ist, sind wir schon in der Zukunft!« Severa nickte ernst. »Genau darum geht es. Die Prophezeiung hat bereits wahr zu werden begonnen, Brigonius. Die Prophezeiung ist Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem Dokument ‐ und durch 2Z4
sie sind unsere Familien über Generationen hinweg vereint.« Brigonius runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht recht, was du von mir willst, Severa.« »Hör dir an, was darin steht.« Und sie las ihm drei Zeilen aus der Prophezeiung vor:
»Turbulente Himmel verkünden die Ankunft von Roms großem Sohn; Auch wird man ihn als kleinen Griechen kennen. Und während Gott als Kind geboren wird, Rammt römische Gewalt der Insel Hals in eine steingewordne Schlinge ...« Brigonius hörte aufmerksam zu. »Was bedeutet das?« »Na, das ist doch ziemlich klar. Das Imperium ist riesengroß geworden, Brigonius, und hinter seinen langen, instabilen Grenzen schweifen Barbaren ruhelos umher. Dem neuen Kaiser ist daran gelegen, diese Grenzen zu befestigen. Er ist nach Germanien gereist, wo er lange Wälle aus Grassoden baut. Jetzt ist er hier in Britannien, wo er sich um die nördliche Grenze kümmern wird. Er hat vor, einen weiteren Wall quer durch Britannien zu ziehen ‐ im Norden, wo, wie ich gehört habe, zwei Flussmündungen aufeinander zulaufen und die Insel verschmälern. Verstehst du? Nach allem, was ich weiß, soll auch dieser Wall aus Grassoden bestehen, so wie die germanische Grenze. Aber einige meiner Teilhaber würden den Kaiser gern dazu bewegen, ihn aus Stein zu bauen.« 97
»Aus Stein?« Brigonius war verwirrt. »Quer durchs ganze Land? Dazu sind wohl nicht einmal die Römer imstande, oder?« »Oh, die sind zu vielem imstande, wenn sie eine Aufgabe gemeinsam anpacken. Und wenn wir Hadrian tatsächlich überreden können, mit Stein zu bauen, wird jemand vor Ort ihm diesen Stein liefern müssen.« Sie musterte ihn. »Dabei werden hübsche Gewinne herausspringen, Steinbrecher Brigonius.« »Aber woher willst du wissen, dass der Kaiser überhaupt einen Wall bauen will, obendrein auch noch aus Stein statt aus Grassoden?« Sie klopfte auf die Ledertasche. »Weil die Prophezeiung es sagt. >Eine steingewordne Schlinge< ‐ was könnte das sonst bedeuten?« Lepidina schien skeptisch zu sein. »Ja, aber was hat es mit dem >kleinen Griechen< und >Gott als Kind< auf sich?« Severa war ungeduldig. »Prophezeiungen sind immer kryptisch.« »Du kannst dir nicht nur die nützlichen Teile heraussuchen, Mutter! Fragst du dich nicht, was der eigentliche Zweck der Prophezeiung ist? Vorausgesetzt, was darin steht, ist wahr. Du willst sie benutzen, um Geld zu verdienen. Schön. Aber was hat Gott damit bezweckt, dass er sie uns geschickt hat?« Severa zuckte nur die Achseln. »Spielt das eine Rolle?« Brigonius war jedoch beeindruckt von Lepidinas Bemerkung. Manchmal erwies sie sich als erstaunlich 97
tiefgründig. Er fragte: »Severa ‐ warum tust du das? Du führst doch ein angenehmes Leben in Rom. Weshalb hast du die weite Reise hierher nach Britannien auf dich genommen?« Ihr Gesicht wurde hart. »Ein angenehmes Leben ‐vielleicht. Wir betrachten uns als Römerinnen. Lepidina ist in Rom geboren, so wie ich und meine Mutter vor mir. Drei Generationen. Aber für die echten Römer, das alte Blut, werden wir immer Barbaren
sein. Sie blicken ja sogar auf den Kaiser herab, weil sein Vater aus Iberia stammt! Nur Geld durchbricht solche Barrieren, Geld ‐ und zwar viel Geld ‐ spült vertrocknetes altes Blut weg. Genügt dir das als Motiv?« Die Menge geriet in Bewegung, als mit Togen bekleidete Männer im Gänsemarsch auf die Bühne kamen ‐ Beamte des kaiserlichen Hofes, erklärte Severa. Sie zeigte auf ein paar von ihnen. »Diese beiden sind wichtig für unser Vorhaben. Der kleine, gedrungene Bursche da ist Platorius Nepos.« »Der neue Statthalter.« »Ja, und ein alter Freund des Kaisers. Unter seiner Herrschaft wird unser Wall gebaut, wenn überhaupt. Und der magere Bursche in der Toga heißt Primigenius.« »Ein Sklavenname.« Der Erstgeborene. Aber Primigenius, drahtig, kahl, wachsam, sah für Brigonius nicht wie ein Sklave aus. Sein früher einmal vielleicht schönes Gesicht war immer noch wohlproportioniert, und der weiße Puder auf seinen Wangen ließ die Augen noch dunkler wirken. 98
»Er ist ein Freigelassener, aber er hat seinen Geburtsnamen behalten«, erklärte Severa leise. »Jetzt führt er den Haushalt des Kaisers ‐ und wie es heißt, hat er ihm auch schon das Bett gewärmt. Durch Primigenius werden wir Zugang zu Nepos und zum Kaiser erhalten. Also, wenn er dich ansieht, vergiss nicht zu lächeln. Na, was meinst du, Brigonius? Arbeitest du mit mir zusammen? Soweit ich sehe, hast du nicht viel zu verlieren.« Ihr Blick wanderte zu Lepidina. »Und vielleicht viel zu gewinnen.« Das kaum verhohlene Angebot erstaunte Brigonius. Konnte eine Mutter so kalt und berechnend sein, ihre Tochter auf diese Weise als Köder zu benutzen? Aber Lepidina war von den Geschehnissen auf der Bühne abgelenkt. »Da ist er!«, quietschte sie aufgeregt. Ein Mann kam mit großen Schritten auf die Bühne. Die Menge wogte laut schreiend nach vorn. Er war hochgewachsen, kräftig, muskulös und trug eine glänzende, goldene Rüstung. Seine Haut wirkte gebräunt, und das lockige Haar und der Bart waren braun und von der Sonne gesträhnt. Brigonius schätzte ihn auf ungefähr vierzig Jahre. Der Mann ließ den Blick über die Anwesenden schweifen ‐ und sein Blick blieb an Brigonius haften, der mit seiner Größe aus der Menge herausragte. Folglich sah sich Brigonius der komplexen Betrachtung durch einen Mann, einen Kaiser, einen Gott ausgesetzt ‐ Hadrian. »Er ist größer, als er auf den Münzen aussieht«, hauchte Lepidina. 98
IV Severa arrangierte eine Audienz bei Hofe. Sie würden den neuen Statthalter, Platorius Nepos, und mit etwas Glück vielleicht sogar den Kaiser selbst treffen. »Das hat mich einen Haufen Geld gekostet. Jeder Opportunist in der Provinz versucht, an Hadrian heranzukommen, wie du dir vorstellen kannst. Und es ist höllisch schwer, mit dieser manipulativen Schlange Primigenius zusammenzuarbeiten. Aber schließlich
habe ichʹs geschafft. Wenn alles klappt, liegen Jahre voller einträglicher Geschäfte vor uns ‐ jede Menge Zeit für mich, meine Schulden zurückzuzahlen.« »Wenn«, sagte Brigonius. »Du bist eine Spielerin, Severa! Und wenn Hadrian sich für Grassoden entscheidet, wie in Germanien?« »So darfst du nicht denken, Brigonius. Du musst optimistisch sein ‐ diese Gelegenheit ergreifen ‐ und dich später mit den Folgen befassen.« Jedenfalls würden sie erst an den Kaiser herankommen, wenn er die colonia von Camulodunum erreichte. Und wie Brigonius erfuhr, würde der kaiserliche Zirkus viele Tage für diese Strecke benötigen. Der Sinn und Zweck der Reise bestand schließlich darin, dass die Menschen Hadrian sahen. Es würde Aufenthalte 99 in der neuen Stadt Londinium und anderswo geben, damit die wohlhabenderen Bürger der Städte, die in dieser stark militarisierten Provinz bereits eine schwere Steuerlast trugen, den Eindruck gewannen, dass sie für die enormen Kosten dieses Besuchs eine entsprechende Gegenleistung bekamen. Statt zu warten, entschied Severa, dass sie, ihre Tochter und Brigonius schon vorausreisen würden. Wenn sie frühzeitig in Camulodunum eintrafen, hatten sie mehr Zeit, sich auf die Audienz vorzubereiten. Auf dem Weg nach Süden war Brigonius schnell und mit leichtem Gepäck gereist. Er war die ganze Strecke geritten und hatte seine Pferde bei Gasthäusern an der Straße gewechselt ‐ tnansiones, wie sie genannt wurden, Stationen, die in erster Linie für offi‐ zielle Meldereiter und den cursus publicus gedacht waren, den schnellen Postdiens t. Aber er hatte nicht in den Gasthäusern übernachtet, sondern in einem Lederzelt a us römischen Armeebeständen, das er in Vindolanda gekauft hatte. Er mochte Städte nicht; er hatte mit dem größten Vergnügen auf Feldern geschlafen, mit seinem eigenen klei nen Feuer und seinem angebundenen Pferd in der Nähe. Billiger war es außerdem. Die Rü ckfahrt mit zwei römischen Damen war etwas ganz anderes. Sie hatten keines wegs die Absicht, auf einem Feld zu nächtigen; die Frage stellte sich gar nicht erst. Severa bezahlte viel Geld, um eine neue Kutsche, Sklaven und Pferde zu mieten. Gewappnet mit einer schematischen Karte der Provinz, plante sie so 99
dann eine Reiseroute. Von Rutupiae aus würden sie westwärts durch Durovernum und am Südufer der Tamesis‐Mündung entlangfahren ‐ angeblich die Route, die einst auch Claudiusʹ Eroberungsarmee genommen hatte ‐, dann über kleinere Straßen nach Londinium. Dort würden sie den Fluss auf der neuen Holzbrücke der Römer überqueren und den Weg nach Norden einschlagen. Wie es sich ergab, führte diese Route durch die Gebiete mehrerer britannischer Volksstämme, darunter auch das von Brigoniusʹ Vorfahren, den Catuvellaunen. Auf Severas Karte, die nur die neuen Städte und Straßen der Römer sowie die Flüsse mit ihren neuen lateinischen Namen zeigte, waren sie jedoch nicht eingezeichnet. Und so brachen sie auf. Sie rollten durch friedliches Ackerland. Hecken oder Steinmauern markierten die Felder, auf denen an diesem Sommertag Weizen oder
Gerste wuchs. Abseits der Städte waren die Gebäude meist strohgedeckte Rundhäuser; hier und dort kräuselte sich Rauch in den Himmel. Von Anfang an war es eine unangenehme Reise. Lepidina und ihre Mutter hatten bereits den weiten Weg von Rom hierher zurückgelegt und machten keinen Hehl daraus, dass ihnen das Unterwegssein zum Hals heraushing. Brigonius hatte gehofft, er könnte die Fahrt zumindest nutzen, um Lepidina ein wenig besser kennenzulernen. An den ersten ein, zwei Tagen scherzte sie auch ein wenig mit ihm, langweilte sich dann jedoch bald und zog sich in den hinteren Teil der 100
Kutsche zurück, wo sie sich, eingekuschelt zwischen Kleiderbündeln, in Gedichtbücher vertiefte. Sie zeigte Brigonius die Bücher. Es waren auf Papyrusrollen geschriebene Gedichte eines gewissen Ovid. Brigonius fiel es schwer, sie zu lesen; sein Latein war nicht so gut, dass er all die Anspielungen und Wortspielereien erkannt hätte. Aber die Gedichte waren gewagtes Zeug, und sie brachten ihn in Verlegenheit. Severa zog ihn gnadenlos auf. »Du bist wie alle jungen Leute. Bildest du dir etwa ein, deine Generation hätte den Sex erfunden? ...« Aber diese Phasen heiterer Neckerei waren nur kurze Momente im Verlauf dieser ziemlich tristen Reise. Jedenfalls lernte Brigonius unterwegs nicht Lepidina besser kennen, sondern ihre Mutter, mit der er die langen Stunden im vorderen Teil der Kutsche verbrachte. An Severas Seite sah er sein eigenes Land mit ihren schärferen Augen. Achtzig Jahre nach Claudius war Britannia in zwei deutlich unterscheidbare Teile gespalten. Der Süden und Osten waren befriedet; dort bildete sich eine auf den neuen Städten basierende bürgerliche Regierung heraus. Aber der Norden und Westen blieben im Wesentlichen unter militärischer Kontrolle. Folglich war Brigonius unter einer Besatzungsmacht aufgewachsen. Die Römer hatten sogar verschiedene Na men für die beiden Bevölkerungen, die Britanni des Südens und die Brittones des Nordens. »Du fühlst dich unwohl in diesem Land, nicht wahr?«, sagte Severa. »Deine Heimat kommt dir ganz 23z
anders vor. Der Südosten Britanniens hat mehr mit Gallien oder Italien gemein als mit Britanniens Nordwesten.« Er versuchte, seine Gefühle in Worte zu fassen. »In seiner Heimat weiß man wenigstens, wer man ist. Dort sind die Dinge klar. Man ist Römer oder Brigant. Hier ist alles ‐ durcheinander.« Trotzig sagte er: »Aber selbst hier ist der römische Einfluss gering.« Sie zog die Augenbrauen hoch. »Schau dich um. Die Gehöfte waren vor der Straße hier. Das erkennt man daran, wie die Straße die Felder durchschneidet. Und die Bauern bearbeiten das Land, wie sie es immer getan haben, lange bevor die Römer kamen. Du siehst also, durch die Römer hat sich nicht viel geändert.«
»Meinst du?«, sagte Severa verschmitzt. »Schau dir das an.« Sie zeigte auf ein Bauernhaus, einen von Gärten umgebenen Komplex weiß getünchter Gebäude mit Ziegeldächern inmitten ausgedehnter Felder: Er war imposant, fast schon prunkvoll. »Ein solches Haus könnte man in den Mittelmeerraum versetzen, ohne dass es dort fehl am Platz wirken würde. Und was ist damit?« An einem Flussufer im Osten, undeutlich sichtbar in der dunstigen Luft, drehte sich langsam ein riesiges Rad. »Das ist eine Getreidemühle«, sagte sie. »Sie nutzt die Kraft des fließenden Wassers, wo früher menschliche Muskeln oder Ochsen die Arbeit erledigt hätten. Man kann auch den Wind nutzen, wenn man geschickt genug ist. Die Bauern erschließen sogar neues Land auf Hügelkuppen und in Flusstälern, dessen 101
Bestellung ihnen zuvor nicht lohnend erschien. Auch die Bevölkerung wächst. Ich weiß das, weil die Römer solche Dinge messen.« Brigonius schnaubte. »Die Römer zählen uns, damit sie uns besteuern können. Wenn die Bauern mehr Weizen anbauen, dann nur, um die Nachfrage der Soldaten zu befriedigen, die uns herumstoßen. Und dann müssen sie Steuern auf ihren Verdienst bezahlen.« »Ja«, sagte Severa ein wenig ungeduldig, »aber darum geht es doch. Du musst das alles als ein riesiges Rad betrachten, Brigonius ‐ wie das Wasserrad der Mühle dort drüben. Früher haben die Bauern ihre Feldfrüchte nur für den Eigenbedarf angebaut. Jetzt erzeugen sie einen Überschuss, den sie in die Städte bringen, um ihn dort zu verkaufen. Die Steuern, die sie auf ihre Gewinne entrichten, gehen in die Stadtentwicklung und den Sold der hungrigen Soldaten, die von den Überschüssen der Bauern ernährt werden müssen ... und so geht es immer im Kreis herum, ein Rad, das von einem Geldstrom angetrieben wird. Und jeder zieht Nutzen daraus, jeder wird wohlhabend, und überall herrscht Frieden. Wahrscheinlich haben nie mehr Menschen in Britannien gelebt als heute. Was ist falsch daran?« »Aber was hat das alles für einen Sinn? Das Mühlrad mahlt das Getreide fürs Brot. Welchem Zweck dient dein Geldrad?« »Nun, es zermahlt Menschen. Es zerbröselt kleine Stämme wie deinen und backt ein Imperium aus den Fragmenten.« 101
»Es macht alle gleich«, sagte Brigonius aufgebracht. »Ja! Und darin besteht seine Kraft.« Severa wühlte in ihrer Handtasche und brachte eine Münze mit Hadrians Kopf zum Vorschein. »Schau sie dir an, Brigonius. Du könntest auf Straßen wie dieser von Britannien bis nach Asien reisen, und überall könntest du in lateinischer Sprache dein tägliches Brot verlangen und es mit dieser Münze bezahlen. Eine einzige Sprache, eine einzige Währung auf einem ganzen Kontinent. Und Britannien gehört dazu! Sei nicht sentimental, Brigonius! Mach die Augen auf, dann siehst du die leuchtende Zukunft ‐ empfange sie mit offenen Armen.« Während sie diesen kleinen Vortrag hielt, nahm sie seine Hand. Ihr Griff war stark, ihre Haut sonderbar kalt. Als er ihr in die hellen Augen schaute, sah er ihren Ehrgeiz, und er
fragte sich unbehaglich, wie unsentimental sie bei der Verfolgung ihrer Ziele sein würde. Im hinteren Teil der Kutsche entschlüsselte Lepidina ein neues Wortspiel in Ovids Dichtung und lachte leise. Ihre Stimme klang so hell wie die eines Vogels. 102
V Im Gegensatz zu den meisten anderen britannischen Städten war Londinium nicht am Standort einer älteren Siedlung gegründet worden. Als Claudius an dieser Stelle vorbeigekommen sei, habe es hier nichts gegeben, erzählte Severa, nichts als die Lehmhütten einiger Fischersleute. Nun fuhren überall auf dem glänzenden Fluss Lastkähne und Seeschiffe zielstrebig dahin. Hafenanlagen breiteten sich sowohl am nördlichen als auch am südlichen Ufer des Flusses aus, und Kräne reckten sich wie dürre Vögel empor. Jenseits eines Hinterlands aus Lagerhäusern und Getreidespeichern sah man die Umrisse weiterer eindrucksvoller Gebäude, die gerade im Bau waren. Mit Hilfe ihrer skizzenhaften Karte zeigte ihm Severa, wo Londinium entstanden war. »Bis hierher wirken sich die Gezeiten auf den Fluss aus, siehst du, aber man kann ihn auch noch viel weiter im Landesinneren befahren. Und die Stadt selbst ist ein Knotenpunkt von Straßensystemen, die in alle Himmelsrichtungen führen. Sie ist ein natürlicher Hafen für den Handel mit Gallien und ferneren Regionen ...« Brigonius sah, dass es ein Hafen für eine Reichsprovinz war, ein Hafen für den Handelsverkehr mit 102
dem Kontinent. Britannien brauchte Londinium nicht; Britannia schon. Nach einer letzten Übernachtung näherten sie sich Camulodunum. Es war früher Morgen. Unweit der Stadt war die Straße, auf der immer mehr Verkehr herrschte, von Grabsteinen gesäumt, und Urnen waren halb im Erdreich begraben. Severa erklärte Brigonius, dass die Römer keine Beerdigungen innerhalb der Stadtgrenzen duldeten, sodass an den großen Ausfallstraßen Friedhöfe entstanden. Die Stadtmauer Camulodunums kam in Sicht, eine dunkle Linie, die quer über ansteigendes Gelände verlief. Meilenweit um die Mauer herum sah Brigonius jedoch größtenteils verlassene Rundhäuser, Scheunen, Erdwälle und Gräben. Die römische Stadt schien auf einen niedrigen Hügel gepflanzt worden zu sein, oberhalb einer ehemals viel ausgedehnteren Siedlung, die nun unter dem Pflug verschwand. Außerhalb Camulodunums fiel ihnen ein riesiges ummauertes Bauwerk aus hellem neuem Stein ins Auge, zu klein, um eine Stadt zu sein, und von der Form her auch kein Kastell. Wie sich herausstellte, war es eine Arena, in der unter der Schirmherrschaft von Priestern aus dem Tempel der Stadt Wagenrennen ausgetragen wurden. Diese Extravaganz erstaunte Brigonius. Aber die Instandhaltung der Arena wurde aus den Erträgen der Rennwetten bezahlt, und bei diesem Gedanken leuchteten Severas Augen auf ‐ sie war eine geborene Spielerin. Severa ließ einen Sklaven vorauslaufen, um alles für
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ihre Ankunft vorzubereiten. Daraufhin wurden sie auf der Straße von einem gewissen Flavius Karus empfangen, den Severa als Advokaten vorstellte, mit dem sie bezüglich Hadrians Grenzbefestigungen korrespondiert hatte. Brigonius und Karus musterten einander misstrauisch. Karus war ein hochgewachsener Mann, so groß wie Brigonius, aber er hatte einen dicken Bauch, der beim Gehen wie ein Wassersack wabbelte. Seine Haare waren so dunkel wie die von Brigonius, aber grau meliert, und er war glatt rasiert, während Brigonius einen Bart trug. Aus Anlass ihres Besuchs hatte er eine Toga angelegt, auch wenn sie ein wenig schmuddelig und am Saum mit Schlamm bespritzt war, aber er war eindeutig genauso britannisch wie Brigonius. Nicht nur das, dachte Brigonius, Karus schenkte Lepidina auch etwas zu viel Aufmerksamkeit. »Das ist also die entzückende Tochter, deren Gesellschaft du in deinen Briefen versprochen hast!« Lepidina war erwünschte wie auch unerwünschte männliche Aufmerksamkeit gewöhnt. Aber Brigonius glaubte, einen Schimmer von Berechnung in Severas Blick zu sehen. Er fragte sich erneut, ob sie die Reize ihrer Tochter als Lockmittel benutzte, um fette alten Narren wie Karus und Jünglinge wie ihn zu umgarnen. Die vier mussten zu Fuß zu Karusʹ Wohnhaus im Innern der ummauerten Stadt gehen; die Sklaven würden mit dem Gepäck folgen. Karus ging auf der belebten Straße voran. Über ihnen erhob sich die Stadtmauer: zwölf Fuß hoch, sagte Karus mit spöttischem Stolz, Z103
ohne die Brustwehren, und acht Fuß dick. Die Straße führte durch ein riesiges zweiflügeliges Tor. Karus meinte, es sei einmal ein Triumphbogen gewesen, den man zur Feier von Claudiusʹ Besuch errichtet habe. Nach Boudiccas desaströsem Aufstand sei er in die festen neuen Mauern der Stadt einbezogen worden. Unter dem Tor wurde Brigonius von einer Soldatenpatrouille angehalten, die grob seine Kleidung durchsuchte. Bei den Römern gab es ein Gesetz, demzufolge man in einer Stadt keine Waffe tragen durfte, und sie setzen es durch, insbesondere gegenüber Britanni. Brigonius fügte sich; er war daran gewöhnt. Die Frauen verfolgten diesen kleinen Wortwechsel, Severa mit dem faszinierten Blick einer Dohle, Lepidina einiger‐ maßen verwirrt. Vermutlich hatten sie noch nie gesehen, wie jemand aus ihrem Bekanntenkreis einer solchen Behandlung unterzogen wurde. Im Innern teilten enge Straßen die Stadt in Häuserblöcke auf, die Karus insulae ‐ Inseln ‐ nannte. Jede Fläche war mit Sprüchen und Zeichnungen bedeckt. Für Brigonius wirkte die Stadt eng und überfüllt, nur gerade Linien, rechte Winkel und ein Durcheinander verwirrender Bilder. Es war ein seltsamer Gedanke, dass irgendwo unter all diesem bemalten Stein und Putz Cunobelin einst im Herzen seines eigenen Reiches Hof gehalten hatte, in einer Hauptstadt, die jetzt vom Antlitz der Erde getilgt war. Karusʹ Haus befand sich in einer Nebenstraße. Es war ein hohes, schmales Gebäude mit rechteckigem Grundriss, leuchtend weiß verputzten Mauern und ei 2-103
nem roten Ziegeldach. Im Erdgeschoss standen die Türen weit offen und gaben den Blick auf ein Ladengeschäft mit einem breiten Tresen voller Lebensmittel frei: Fleisch, Gebäck, Obst. Obwohl es noch früh am Tag war, drängten sich Kunden vor dem Tresen und kauften ihr Frühstück. Bei dem Geruch von gegartem Fleisch lief Brigonius das Wasser im Mund zusammen, aber er fragte sich, weshalb all diese Leute nicht einfach zu Hause gegessen hatten. Karus führte seine Gäste durch den Laden zu einer Treppe im hinteren Teil. Wie sich herausstellte, gehörte ihm der Raum über dem Laden, der zu Brigoniusʹ Überraschung einem zweiten, auf das erste gestapelten Haus glich. Der ohnehin schon kleine Raum hier oben war durch innere Trennwände in noch kleinere Kammern unterteilt. Karus ging herum und zündete an der Wand befestigte Öllampen und Kerzen an. Die Kam‐ mern hatten winzige Fenster mit Scheiben aus bläulichem Glas, aber selbst an einem so hellen Morgen war es dunkel in der Wohnung, denn das Gebäude stand im Schatten anderer Häuser. Severa und Lepidina gaben kleine, anerkennende Laute von sich, als Karus sie herumführte. »Die Wohnung ist nicht so furchtbar groß«, sagte er entschuldigend. »Aber mehr kann sich ein armer Advokat nun mal nicht leisten. Ihr würdet nicht glauben, wie teuer der Grund und Boden in der Nähe des Stadtzentrums geworden ist.« »Ach, es ist überall dasselbe«, erwiderte Severa. »Du solltest die Wohnblöcke in Rom sehen. Manche 104
sind so hoch, dass sie garantiert umfallen würden, wenn sie nicht aneinanderlehnten. Aber du hast den Platz gut genutzt, Karus.« Ein kleiner Eckraum war ein Schrein. Die Gäste betrachteten Karusʹ Idole und Paraphernalien. Die meisten waren seinen Hausgöttern geweiht, aber Brigonius erkannte auch eine Statue von Fors Fortuna. »Eine Soldatengöttin«, sagte Severa. »Ich bin kein Soldat«, erklärte Karus und tätschelte seinen ausladenden Bauch. »Aber die meisten meiner Klienten sind welche. Dies ist immer noch eine Soldatenstadt, Severa. Es kann nicht schaden, den Segen ihrer Göttin zu suchen.« Er führte seine Gäste weiter. Brigonius berührte die Wand. Die Oberfläche war verputzt und weiß gestrichen, aber an manchen Stellen war der Putz abgeblättert, und man sah Holzflechtwerk. Die Zwischenräume waren mit Lehm und Stroh ausgestopft. Er fühlte sich in dieser kleinen, dunklen Wohnung zunehmend eingeengt. Es war noch schlimmer als in den Kastellen mit Steinmauern, die er besuchen musste, wenn er mit der Armee im Norden Geschäfte machte. Hier sperrten die dünnen Wände den Lärm in der geschäftigen Gasse draußen nicht aus, ebenso wenig wie die Gerüche aus der Gaststube unten. Nicht nur das, dies war Karusʹ Territorium, und der dicke Advokat schien die engen Räume mit seinem Gerede auszufüllen. Lepidina nahm seinen Arm. »Ist alles in Ordnung mit dir? Du wirkst wie ein Bär in einem Käfig.«
»Es geht mir gut«, sagte er steif. 105
»Nein, das stimmt nicht.« »Es ist nur ... weißt du, hier ist alles so anders.« Er machte eine Handbewegung und suchte nach den richtigen Worten. »Es liegt daran, dass die Mauern so flach, die Kanten so gerade, die Ecken so rechtwinklig sind. Und der Raum ist für verschiedene Verwendungszwecke unterteilt. Dort drüben schläft man, hier herüben arbeitet man.« Severas Interesse war geweckt. »Und das unterscheidet sich von deiner Lebensweise?« Er versuchte, das Haus zu beschreiben, in dem er aufgewachsen war und noch immer wohnte, das Haus, dessen offener runder Raum eine Karte der Zeitzyklen war. »Nun, kultivierte Menschen brauchen nicht mehr wie Tiere zu leben«, sagte Karus geringschätzig. Brigonius ballte die Fäuste, aber Severa legte ihm die Hand auf den Arm. »Dein Großvater hat zweifellos noch in einem solchen Haus gewohnt, Advokat«, ermahnte sie Karus. Brigonius entspannte sich mit einer bewussten Anstrengung. Karus nickte, was als Entschuldigung durchging, und der Moment war vorbei. Lepidina beobachtete das alles mit großäugigem Entzücken. Zweifellos wusste sie, dass die Männer ‐wäre es zu einer Prügelei gekommen ‐ sich im Grunde ihretwegen geschlagen hätten. »Und noch etwas«, sagte Brigonius, entschlossen, die Initiative zu behalten. »Wo bereitest du deine Speisen zu?« 105 Jetzt lachte Lepidina. »Niemand bereitet seine Speisen mehr selbst zu, du Dummerchen!« »Nicht?« »Du musst noch viel lernen.« Sie nahm seine Hand und zog ihn zur Tür. »Kommt mit. Ich habe Hunger. Schauen wir uns die Stadt an.« »Ohne mich«, sagte Severa. »Ich bin müde und könnte ein Nickerchen brauchen. Geht ihr beiden nur los und schaut euch um.« »Ach, dann gehen wir doch zu dritt!«, sagte Karus rasch. Er und Brigonius funkelten sich an. Die Frauen beobachteten sie, Lepidina mit unverhohlener Freude, Severa voller Berechnung. 105
VI Lepidina führte die beiden Männer die Treppe hinunter zum Tresen der Gaststube unter Karusʹ Wohnung. Nachdem sie unterwegs so still gewesen war, schien sie nun, wo sie sich in einer Stadt befanden, in ihrem Element zu sein. »Lassen wir meiner Mutter ruhig Zeit für ihr >Nickerchen<«, sagte sie in bedeutungsschwangerem Ton. Karus runzelte die Stirn. »Was willst du damit sagen?« »Ach, komm schon, Karus! Du weißt doch, was für eine Spielerin sie ist. Ehe eine Stunde um ist, wird sie hinausschlüpfen, um einen Buchmacher aufzusuchen und über
die Aussichten beim nächsten Wagenrennen zu diskutieren. Sie denkt, ich wüsste das nicht. Aber ich sage nichts, solange sie gewinnt ... Brigonius, willst du wissen, wie wir essen? Oh, ich habe kein Geld. Karus ...« Mit einem gekünstelten Seufzer förderte er ein paar Münzen für sie zutage, und sie drehte sich zum Tresen um. Brigonius und Karus standen steif nebeneinander. Dann wandten sie sich gleichzeitig einander zu. »Hör zu, Karus ...« M106
»Brigonius, ich wollte nicht ...« Sie brachen ab und lachten, und Karus fing noch einmal von vorn an. »Es sieht so aus, als würden wir vielleicht auf Jahre hinaus zusammenarbeiten, wenn alles gut geht. Also sollten wir uns nicht von einem prachtvollen, aber dummen Mädchen wie zwei brüns‐ tige Hengste vorführen lassen. Ich meine, das soll nicht heißen, dass ich nicht ... wenn sie wollte ... um die Wahrheit zu sagen, ich glaube, ich ziehe die Mutter vor, nachdem ich sie nun kennengelernt habe ... ihr stolzer Busen, und ihr Gang ...« Er verhaspelte sich und hielt inne. »Ist sie nicht wundervoll?« »Wir sollten Liebe und Arbeit auseinanderhalten«, sagte Brigonius mit fester Stimme. »Wir können es zumindest versuchen«, murmelte Karus. Lepidina kam mit einer Hand voll Speisen zurück. »Hier«, sagte sie und gab Brigonius etwas ab. »Siehst du? Man muss sein Essen nicht selbst zubereiten, man kauft es!« Das Essen erwies sich als ein Stück Brot mit einer Füllung aus Schweinehack. Das Fleisch war gut durchgebraten und mit Zwiebeln gewürzt. Brigonius nahm einen Bissen. »Wäre vielleicht besser, wenn es Rindfleisch wäre.« »Oh, die Römer mögen Rind nicht besonders«, sagte Karus mit vollem Mund. »Lamm auch nicht. Barbarenfraß, sagen sie.« »Die Soldaten in Vindolanda essen jede Menge davon.« 2-106
»Die kommen wahrscheinlich selber aus den Provinzen. « Brigonius hatte seine Mahlzeit bereits beendet. »Ist das alles?« »Ich besorge dir später noch mehr. Kommt, gehen wir zum Forum und machen wir einen kleinen Einkaufsbummel.« Lepidina nahm seine Hand ‐ dann geflissentlich auch Karusʹ Hand ‐, und sie machten sich auf den Weg. Die Straßen waren gepflastert, und zu beiden Seiten verlief ein Rinnstein; Brigonius stellte fest, dass die Erbauer gute Arbeit geleistet hatten. Neben den Menschen bevölkerten Tiere die Straßen ‐ Hühner, Schweine und viele Hunde. Dies war immer noch eine Stadt für Bauern. Fast alle Häuser bestanden aus Flechtwerk und Lehm, so wie Karusʹ Wohnung, aber ein oder zwei der imposanteren Gebäude waren aus Stein errichtet. Die meisten waren einstöckige Privathäuser, manche jedoch zur Straße hin geöffnet, wie Karusʹ Gaststube, sodass man in Werkstätten hineinschauen konnte, in denen Keramik geformt, Eisen bearbeitet, Glas gegossen und Tuch gewoben wurde. Einige der Bilder an den Mauern zeigten an, um was für eine Art Werkstatt oder Laden es sich jeweils handelte: Gemalte Töpfer drehten ihre Scheiben, Frauen stellten bunte Schmuckstücke zur Schau, und die Tavernen waren durch dicke, fröhliche Zecher
gekennzeichnet. Selbst die Bordelle hatten ihre Insignien, Strichmännchen in erstaunlich erfindungsreichen Stellungen, die Brigonius nicht anzustarren versuchte. 107
Manch mal verriet die Beschriftung der Wände, wer hier wohnte oder was er tat. Andere, ungeschliffenere Inschriften waren salopper ‐ Gebete, Beleidigungen, Flüche. Und einige Lobeshymnen auf die Roten, Blauen und Gelben verblüfften Brigonius ganz und gar. Karus erklärte, dies habe mit der Unterstützung der wichtigsten Wagenlenker‐Mannschaften bei den Rennen zu tun. Die verschiedenen Fraktionen verehrten ihre Helden, hassten einander und schlugen in den Nächten der Rennen Krawall. Draußen vor einem Laden stand ein großes Gefäß, in das ein stämmiger Mann geräuschvoll urinierte; Dampf stieg aus dem Hals des Gefäßes empor. Karus beobachtete Brigoniusʹ Gesichtsausdruck mit Belustigung. »Das ist ein Tuchwalker; mit dem gesammelten Urin der Passanten fixiert er seine Farbe. Ich bereite in meiner Wohnung keine Speisen zu, und ich uriniere dort auch nicht.« Brigonius grunzte unbeeindruckt. »Und wer sammelt deine Scheiße?« Karus grinste. »Komisch, dass du diese Frage stellst.« Sie kamen zu einer verriegelten Tür an der Stirnseite einer geschlossenen Halle. Karus holte eine kleine Münze heraus und steckte sie in einen Schlitz. Er betätigte Hebel an dem Schließmechanismus, bis die Münze verschluckt wurde, und das Schloss entriegelte sich mit einem befriedigenden dumpfen Geräusch. Karus öffnete die Tür, und Brigonius sah eine Latrine vor sich. Über zwei Reihen von Löchern im Boden 107
hockten Männer, Frauen und Kinder gleichermaßen auf Holzbänken. Einige lasen Briefe auf Holztäfelchen, andere unterhielten sich, wieder andere würfelten auf dem Boden zwischen ihnen. Ein Mann bückte sich, um sich den Hintern mit einem Schwamm an einem Stock abzuwischen. Es stank, wie nicht anders zu erwarten, aber der Geruch war weniger schlimm, als Brigonius gedacht hätte ‐ und dann hörte er unter den Löchern Wasser gurgeln. »Ah«, sagte er. »Dort unten fließt ein Fluss, der die Exkremente mitnimmt. Raffiniert.« Karus zuckte die Achseln. »Das Wasser wird wohl eher durch Rohre vom Fluß im Norden hierher geleitet. Öffentliche Wasserversorgung, verstehst du. Du müsstest einen Baumeister fragen; ich bin kein Fachmann.« Sie gingen weiter und kamen an einem unfertigen Bad vorbei, das jedoch schon in Gebrauch war. Brigonius erkannte es sofort an dem muffigen, morastigen Geruch, demselben wie bei dem Soldatenbad in Vindolanda. Schließlich erreichten sie den Marktplatz. Lepidina quietschte aufgeregt und erbat sich mehr Geld von Karus. Bald arbeitete sie sich durch Stände voller Schmuck, Parfümfläschchen und Haaröl. Die Männer gingen weiter. Erneut war Brigonius geradezu überwältigt. Im Vergleich zu dem provisorische n Markt, der beim Vindolanda‐Kastell entstanden war, wurde hier eine verwirrende Vielfalt von Waren feilgeboten: Kosmeti Z107
ka aller Art in kleinen Glasgefäßen und Fläschchen, Anstecknadeln und Spangen aus Silber und Kupfer, Teller, Schalen und Fliesen, Schuhe aus genähtem Leder. Die Hitze der Öfen von Bäckern und Garküchen brachte die Luft zum Glühen. Es gab sogar Geldverleiher, Geldwechsler und Advokaten ‐ und viele, viele Buchmacher. Auf dem Markt wimmelte es von Kauflustigen, darunter natürlich jede Menge Catuvellaunen. Aber Brigonius sah auch Germanen und Gallier jenes Schlages, der im Heer stark vertreten war, außerdem weitere exotische Gestalten mit sehr heller oder sehr dunkler Haut, die Wein und Gewürze zu exorbitanten Preisen offerierten ‐ vielleicht Händler von der anderen Seite des Imperiums oder sogar aus noch ferneren Regionen, die mit ihren Waren in diese Ecke Britanniens gekommen waren. Jedermann schien zuversichtlich zu sein, gut gelaunt zu kaufen und zu verkaufen und sich an einem Ort, wo er die Regeln kannte, zu Hause zu fühlen. Alle außer Brigonius. Und um jeden Stand drängten sich Bettler, die stumm um das Wechselgeld baten. In Banna gab es keine Bettler; dort kümmerten sich die Leute um ihre Angehörigen. Brigonius fragte sich , was der alte Cunobelin davon gehalten hätte, was aus seinen Nachfahren geworden war. Weitere öffentliche Gebäude umgaben das Forum. Karus führte Brigonius zu einer riesigen Halle, deren unfertige Mauern sich über die Köpfe der Kauflustigen erhoben. Sie gingen durch einen Säulengang und 108
über einen noch nicht überdachten Steinboden. Brigonius bemerkte Witterungsflecken auf dem Boden; offenbar befand sich das Gebäude schon eine ganze Weile in diesem halb fertigen Zustand. »Das wird die Basilika«, sagte Karus, »der Sitz der örtlichen Regierung, die aus den wichtigsten Persönlichkeiten der Stadt besteht ‐ sie werden zum Beispiel die Steuern einnehmen und nach Londinium schicken, damit der Prokurator dort alles zusammenzählt.« Die Errichtung des Gebäudes ging nur in dem Maße voran, wie die finanziellen Mittel verfügbar waren, und dauerte darum sehr lange. »Trotzdem, das ist die Aufgabe unserer Generation. Unsere Väter haben die Stadt gegründet. Nun müssen wir sie erbauen.« Brigonius runzelte die Stirn. »Ich dachte, das bezahlt alles der Kaiser.« Karus schürzte die Lippen. »Wo denkst du hin. Wir genießen die Früchte der römischen Zivilisation, aber bezahlen müssen wir sie schon selbst. Was wir natürlich mit Freuden tun. Weißt du, Brigonius, wenn du reich werden willst, musst du mit deinem Vermögen umzugehen lernen. Zunächst einmal muss man reich sein ‐ je reicher, desto besser. Reichtum verleiht Macht und Status, und man kann als Mäzen auftreten. Zweitens darf man nicht mit seinem Reichtum protzen. Sein Geld ausgeben, das schon; dafür sorgen, dass die Leute wissen, dass man welches hat ‐ aber auf zurückhaltende Art und Weise. Und man muss darauf achten, sein Vermögen in Projekte zu investieren, die dem öffentlichen Wohl dienen, so wie diese Basilika. 108
Paradox, nicht wahr? Aber Römer sind in vielerlei Hinsicht paradoxe Leute.«
Während des kurzen Spaziergangs schien der Advokat Brigonius gegenüber aufgetaut zu sein. »Weißt du, Brigonius, ich bin kein großer Denker. Lebe für den Tag, sage ich, denn das Gestern ist ohne Belang, und vielleicht gibt es kein Morgen! Aber was mir an Severas Briefen gefallen hat, ist ihr perspektivisches Denken zusammen mit ihrem Geschichtsbewusstsein. Vergiss nicht, vor hundert Jahren hat es noch keine Stadt wie diese gegeben, kein Gebäude, das auch nur eine andeutungsweise Ähnlichkeit mit dieser dachlosen Basilika gehabt hätte, nirgends in Britannien. Sie sind alle wie Pilze aus dem Boden geschossen. Mein Großvater war Jäger. Er trug mit Vogelfedern ausge‐ stopfte Schuhe aus Maulwurfsfell an den Füßen. Jetzt schau mich an, seinen Enkel! Ich bin Advokat. Meine Kanzlei befindet sich in einem mehrere Stockwerke hohen Häuserblock mit Fenstern aus Glas. Ich kaufe mein Essen bei Straßenverkäufern, bediene mit Hilfe meiner Münzen die Schlösser von Latrinen ‐ und auf jede Münze ist eine erbauliche Botschaft des Kaisers geprägt. Irgendwie hat die Prophezeiung es Severa ermöglicht, all das ‐ diese gewaltigen Veränderungen ‐zu sehen, als stünde sie ganz und gar außerhalb der Geschichte.« Aber Brigonius zupfte skeptisch an seinem Bart. Er dachte an seine Heimat im Norden, wo die Menschen ihr Vieh hüteten, wie sie es immer getan hatten ‐ so wie auch die überwiegende Mehrheit der Menschen 109
im Süden noch immer in der Erde scharrten. Dieses aufgehäufte Wunderwerk aus Stein und Handelsgeschäften war ein fragiles, leichtes Kunstprodukt, dachte er, errichtet auf der Ausbeutung von Bauern, in deren Leben sich durch die Anwesenheit der Römer ansonsten so gut wie nichts änderte. »Und wenn alles genauso schnell endet, wie es entstanden ist ‐ was dann?« Karus grinste. »Dann wäre ich in Schwierigkeiten. Ich bin nicht mein Großvater ‐ ich könnte mir kein Paar Schuhe anfertigen! Aber es wird nicht enden, nicht wahr? Severas Prophezeiung bietet uns die Gewähr dafür.« »Karus, diese Sache mit Severa und dem Steinwall ‐sie ist eine Spielerin, weißt du, genau wie Lepidina sagt.« »Ich weiß. Aber in dem bevorstehenden Spiel ist die Prophezeiung ihre gezinkte Karte, denke ich.« Sie verließen das unfertige Gebäude, passierten ein großes, halbkreisförmiges Theater und kamen an einen weiten, mit Steinen gepflasterten Platz. Hier erhob sich das imposanteste Bauwerk von allen. Es war ein mit glänzendem Marmor verkleideter Tempel im römischen Stil, mit doppeltem Säulengang und Terrakotta‐Dach. Eine Treppe führte zu einem offenen Innenraum hinauf, in dem Brigonius eine mächtige, überlebensgroße Bronzestatue erblickte. Er stand da und starrte den Tempel mit offenem Mund an, verblüfft von seiner gewaltigen Größe. Selbst das Fundament, eine mächtige, in die sandige Erde gegossene Platte aus Gestein und Mörtel, war riesig; sicherlich kam ihm nichts gleich, was es im vorrömischen Britannien gegeben hatte. »Das ist der Claudius‐Tempel, erbaut zu Ehren des zum Gott erhobenen Kaisers.« Karus schüttelte den Kopf. »Unglaublich, nicht wahr? Ich bin damit aufgewachsen, aber
selbst jetzt versetzt er mich noch in Erstaunen. Tatsächlich spricht man sogar in Rom davon, wo man schon alles gesehen hat.« Brigonius dachte daran, wie viel Geld und Arbeit dieses riesige Bauwerk aufgesaugt haben musste. »Es überrascht mich, dass die Menschen hier sich so etwas leisten konnten.« »Nun, vielleicht konnten sie es nicht«, sagte Karus leise. »Die Römer machen einen schließlich nicht reicher; sie besteuern einen nur. Der Tempel hat stets großen Unmut ausgelöst. Boudicca ist hergekommen und hat ihn in Brand gesteckt ‐ zusammen mit den Veteranen und deren Familien, die darin Schutz gesucht hatten. Nach ihrer Niederwerfung hat man eine Mauer um die Stadt gezogen und den Tempel wieder aufgebaut, größer, besser und teurer denn je. Aber er steht auf Asche, verkohlten Gefäßen und verbrannten Knochen. Das macht einen doch nachdenklich.« Lepidina kam herbeigelaufen. Stolz zeigte sie den beiden ein neues Halstuch und einen Kamm für ihre Mutter, und die Männer gaben anerkennende Laute von sich. »Also, was hältst du von Camulodunum, Brigonius ?« Brigonius hob den Blick zu den kalten, schönen Li 110
nien des Tempels. Wie konnte dies ein heiliger Ort sein? Seine Vorfahren hatten nah an der Erde gelebt, und das Göttliche war wesentlicher Bestandteil einer uralten Lebensart gewesen. Für sie war Holz lebendig, Stein hingegen war tot. Die Steinstadt, die sich hier erhob, war wie ein riesiges Grabmal. Er schaute in Lepidinas aufgeregte, funkelnde Augen. Seine Gefühle waren tief und konfus, und er bedauerte, dass er ihre Freude nicht teilen konnte. Er sagte nur: »Die Stadt wird gut aussehen, wenn sie fertig ist.« Der Advokat wandte sich ab. Vielleicht hatte er gemerkt, wie es wirklich in ihm aussah. Lepidina zauste Brigonius impulsiv den Bart. »Wenn du in einer römischen Stadt lebst, musst du auch wie ein Römer aussehen. Ich habe mitten auf dem Forum einen Barbier entdeckt.« Brigonius wich zurück. »Nicht meinen Bart. Den lasse ich mir nicht abnehmen.« Lepidina zog einen Flunsch. »Dann deine Haare. Diese Mähne müsste mal richtig gestutzt werden. Der Barbier ist gut; er kennt die neuesten Moden.« »Woher weißt du das?« Lepidina hielt eine Münze hoch, auf die ein Bild des Kaisers mit seiner Frisur geprägt war. »Was meinst du wohl? Komm schon.« Sie schleifte Brigonius zum Forum zurück. Wie ein Hund, der sich dem schwachen Zerren eines Welpen ergibt, folgte er ihr. 2-110
VII Einen Tag nach der Ankunft von Hadrians Karawane in Camulodunum sollten Severa und ihr zahmer Architekt ihren Vorschlag, die Nordgrenze der Provinz mit einem steinernen Wall zu befestigen, bei einem großen Festmahl präsentieren, dessen Gastgeber einer von Camulodunums wohlhabenderen Bürgern war, Marcus Claudius Verecundus. Severa hatte nur Tage gebraucht, um Verecundusʹ Vertrauen zu gewinnen
und diese Abmachung zu treffen. »Sie ist wirklich reizend und so geschickt darin, einen Fuß in die Tür zu bekommen«, sagte Karus bewundernd. »Ist sie nicht wundervoll?« Brigonius hatte keine Ahnung, was er sich von der Veranstaltung erwarten sollte. Er hatte schon viele Römer kennengelernt, aber in seinem Gewerbe, dem Verkauf von Haustein, hatte er es nur mit Soldaten zu tun. Hadrian regierte die Welt und wurde von Millionen Menschen als Gott verehrt; der Umgang mit einem solchen Wesen würde sicherlich alles andere als gewöhnlich sein. Am Tag des Festmahls traf Brigonius früh bei Verecundusʹ Anwesen ein, einem weitläufigen Gebäudekomplex, der mitten ins Stadtzentrum gesetzt worden 2‐111
war. Er schlenderte einigermaßen verwirrt umher; in seinem sauberen Leibrock fühlte er sich nicht so recht wohl. Die anderen Gäste, die ihre Runden machten, waren allesamt Bürger, die meisten im römischen Stil gekleidet. Brigonius und einige von ihnen nickten einander reserviert zu, aber er hatte nicht den Eindruck, dass er viele neue Freunde gewann. Das Zentrum des Hauses war ein Atrium, ein offener, mit Steinplatten gefliester und von Blumenbeeten eingefasster Bereich. Dort gab es Sitzbänke, bewundernswerte Statuen und Wandreliefs und sogar einen erstaunlichen kleinen Brunnen. Brigonius, stets fasziniert von Steinmetzarbeiten, Architektur und Baukunst, war beeindruckt, als er erfuhr, dass der Brunnen ausschließlich mit dem Druck des vom städtischen Versorgungssystem gelieferten Wassers funktionierte. Das Atrium war auf drei Seiten von einer Kolonnade aus schlanken Säulen umschlossen; dahinter lagen die Hauptgebäude, in denen der Raum nach üblicher römischer Art in quadratische Zimmer mit verschiedenen Bestimmungen unterteilt war, von Empfangsräumen mit niedrigen gepolsterten Liegen und Tischen über Schreibstuben voller Schriftrollen und Tafeln bis zu einer imposanten Küche mit einer riesigen Feuerstelle, über der Töpfe und Kessel an Ketten hingen. Es gab sogar ein kleines Badehaus mit einem Heizkessel unter dem erwärmten Boden. In jeder Ecke standen sehr junge, barfüßige Sklavinnen mit blond gefärbten und hochgesteckten Haa 111
ren, die Tabletts voller Speisen und Getränke hielten. Sie zitterten in ihren knappen Kleidern. In Anbetracht von Karusʹ regelmäßigen Klagen, wie teuer der Boden in der Stadt jetzt war, gelangte Brigonius zu dem Schluss, dass Verecundusʹ weitläufiges Anwesen ein Erkennungszeichen alten Reichtums war; seine Vorfahren mussten zu den ersten Einwohnern zählen. Und in der Tat stellte sich heraus, dass Verecundusʹ Großvater als Soldat mit der ersten Welle von Claudiusʹ Invasion nach Britannien gekommen war. Bei der Versetzung in den Ruhestand nach seinen fünfundzwanzig Dienstjahren hatte er beschlossen, sich hier niederzulassen, in einer Veteranenkolonie, die als eine Art militärischer Reserve in einer instabilen Region gegründet worden war. Obwohl Brigonius Verecundusʹ Haus ausgesprochen prächtig fand, war es nicht übermäßig
protzig, wie Karus ihm erklärte. Vielleicht machten sich darin noch einige Rudimente von Verecundusʹ asketischer militärischer Herkunft bemerkbar. Brigonius war erleichtert, als er die beiden Zimmer fand, die Severas Gruppe zugewiesen worden waren. Severa und ihre Tochter teilten sich ein Zimmer, Brigonius, Karus und Severas Architekt, Xander, das andere. Aber es gab darin keinen Platz für Brigonius. Xander, ein kleiner, dicker, pingeliger Grieche, baute mit Hilfe eines unglücklichen Sklaven, der ihm offenbar nichts recht machen konnte, gerade ein kompliziertes Architekturmodell zusammen, und der Boden war von grün angepinselten Gipshügeln, blauen Flussbändern 2‐112
und spielzeugartigen Kastellen und Türmchen übersät. Als Brigonius beinahe auf eine Festung getreten wäre und sie damit ausgelöscht hätte, scheuchte ihn Xander mit einem griechischen Wortschwall hinaus. Also begab sich Brigonius zu dem Zimmer, das Severa mit ihrer Tochter bewohnte. Der Raum war mit zwei Liegen und diversen niedrigen Tischen und Schränken möbliert, und überall lagen Kleider verstreut. Severa war nicht da ‐ aber Lepidina saß mit dem Rücken zur Tür vor einem Spiegel. Brigonius hielt den Atem an, blieb stehen und beobachtete sie. Lepidina hatte ihre Tunika geöffnet und nach hinten geschoben, sodass ihre Schultern entblößt waren, und ihr Haar war achtlos hochgebunden. Sie legte gerade Creme auf, die sie mit den Fingern aus einem Zinngefäß nahm und auf ihre Wangen rieb. Mit ihren unordentlichen Kleidern und den geschmeidigen Bewegungen, mit denen sie stumm ihre Haut massierte, hatte sie irgendwie etwas Verlassenes an sich. Natürlich wusste sie, dass er da war. »Du kannst genauso gut hereinkommen und richtig hinschauen, Brigonius.« »Tut mir leid.« »Nicht nötig.« Sie bückte sich, damit sie ihn im Spiegel sehen konnte, und lächelte. »Ich mache mich ja schließlich bereit, um gesehen zu werden.« Sie klopfte auf eine Liege neben ihrer Frisierkommode, und er setzte sich. »Vermutlich kommt das einem ungehobelten Barbaren wie dir alles schrecklich exotisch vor. Geradezu dekadent!« 112
Er ließ den Blick über ihre Pflegeutensilien schweifen, berührte eine Pinzette sowie Nagelreiniger und Nagelfeilen aus Bronze, einen Zahnstocher, einen Ohrspatel. Es war ein speziell für die Reise gedachter Satz von Gerätschaften; die einzelnen Teile hatten Löcher, sodass sie auf einen Tragring gehängt werden konnten. Es gab ein Sortiment von Tiegeln, aber nicht übermäßig viele; Zinngefäße mit weißer Creme, Wangenrot und kohlschwarzem Puder, Glasflaschen mit Parfüm. »Das ist ja gar nicht so viel«, sagte er. »Ich habe römische Soldaten mit behaarten Ärschen kennengelernt, die mehr solches Zeug hatten.« »Dieses Reisezubehör hat meiner Urgroßmutter Agrippina gehört. Es ist von sehr guter Qualität und funktioniert immer noch bestens.« Erneut kam sie ihm unter ihrer oberflächlichen Fassade zutiefst vernünftig vor. Das verstärkte nur den Reiz, den sie auf ihn ausübte.
»Hier.« Sie schöpfte ein wenig von der weißen Creme ab und hob die Finger an sein Gesicht, um ihm die Creme in die Wangen zu reiben. »Wie fühlt sich das an?« »Angenehm.« So war es. Die Creme war glatt und anfangs kalt, erwärmte sich jedoch bald auf seiner Haut, und als Lepidina sie weiter einrieb, spürte er eine pulvrige, körnige Struktur. »Woraus besteht sie ?« Sie zuckte die Achseln. »Aus Tierfett, denke ich. Stärke. Und irgendeiner komplizierten Zinnmischung.« »Zinn? Ich dachte, römische Damen nähmen Blei fürs Gesicht.« 2‐113
»Oh, das ist längst aus der Mode. Blei ist giftig ‐weißt du das nicht?« Sie fuhr fort, ihm Creme in die Wange zu reiben, und er genoss die Wärme ihrer Berührung, ihren nahen, frischen Atem auf seinem Gesicht. Aber er wich zurück. »Das genügt vielleicht.« »Oh, aber es geht doch gerade erst los. Das ist eine Grundierung, damit meine Haut wie eine Marmorstatue glänzt. Dann trage ich Wangenrot und Mascara auf ‐ das sind verbrannte Rosenblütenblätter, siehst du? ‐, um Wangen und Augen zu betonen. Die Zähne weiße ich mit Bimssteinpulver, und dann bespritze ich mir den Hals mit Parfüm ‐ das ist einer meiner Lieblingsdüfte, Myrrhe mit Gewürzen.« Er nahm ihre Hand und brachte sie damit zum Schweigen. Die Knochen ihrer Finger fühlten sich zerbrechlich an, wie die eines kleinen Vogels, und ihre Haut hob sich hell gegen seine ab. Verglichen mit seiner erdigen Dunkelheit war sie wie ein Geist, dachte er. Sie beugte sich ein wenig näher zu ihm; ihr Gesicht, ein perfektes Oval, füllte sein Blickfeld aus, und ihre Lippen streiften seine. »Ich wette, du rasierst dir nicht mal die Brust, was, Brigantius‐Brigonius?« Er zögerte einen Herzschlag. Wenn sie mit ihm spielte, einen unbeholfenen Barbaren quälte, stand ihm eine Demütigung bevor. Aber es war das Risiko wert. Er ließ die Hand um ihre Mitte gleiten. »Warum findest duʹs nicht heraus?« Sie kam auf ihn zu wie eine brechende Welle, und ihre Münder verschmolzen miteinander. 113
VIII Das offizielle Festmahl sollte am Nachmittag, ab der neunten Stunde, in Verecundiusʹ größtem Empfangsraum stattfinden. Dies war ein prächtiges, ausgedehntes Gemach, das fast die ganze Länge einer Atriumseite einnahm ‐ »eine veritable Basilika«, sagte Karus. Brigonius kam spät dorthin, aber nicht so spät wie der Kaiser selbst, der noch auf Eberjagd war. Brigonius fand den Raum voller Menschen vor. Leute ruhten auf den Liegen oder schlenderten mit aufgesetzter Lässigkeit umher. Die Männer waren ebenso sorgfältig zurechtgemacht wie die Frauen, das Gesicht rasiert, die Augenbrauen ausgezupft. Die Kleider der Frauen leuchteten in einer Explosion satter Farben, die Togen der Männer waren steif und strahlend weiß. Sklavinnen und Sklaven gingen mit Tabletts voller
Speisen und Getränke herum, Musiker spielten Lauten und catuvellaunische Flöten, und die Konversation perlte dezent dahin. Seltsamerweise schien ein großer Teil der Gespräche auf Griechisch geführt zu werden. Unter all der Kultiviertheit lag jedoch eine gewisse Anspannung, und die Leute beobachteten einander mit scharfen Augen. Sie waren wie ein Schwärm hungriger Vögel, fand Brigonius. 114
Und ein oder zwei Gäste waren bereits angetrunken. Ein fetter, schwitzender Mann ließ seine Hand ziemlich offensichtlich am Schenkel jedes Sklaven emporgleiten, der an ihm vorbeikam, egal, ob Junge oder Mädchen. Brigonius fragte sich, ob der Kaiser sich be‐ wusst verspätete, damit Alkohol oder Völlerei die Unwürdigeren unter den Bittstellern auslesen konnten. Als er sich zu seiner Gruppe gesellte, waren Severas Begleiter schon alle da ‐ Severa selbst und ihre Tochter, der Advokat Karus und der Architekt Xander, dessen Modell auf einem niedrigen Tisch stand und mit einem Laken abgedeckt war. Lepidina wirkte kühl und gefasst. Brigonius setzte sich und versuchte, den Blicken der anderen auszuweichen. Er hatte sich nach seinem Schäferstündchen mit Lepidina gewaschen und umgezogen, aber er war sicher, dass der Geruch ihrer Liebe noch an ihm haftete. Und natürlich beugte Karus sich zu ihm herüber. »Glückwunsch«, flüsterte er ein wenig betrunken. Brigonius fluchte. »Ist es so offensichtlich?« »Deine schiere animalische Freude ist unübersehbar, ja. Ich gratuliere dir; sie ist wirklich reizend. Aber keine Angst, ich nehme sie dir nicht weg, obwohl ich es natürlich könnte. Wie gesagt, ich habe nur Augen für die Mutter ...« Severas Augen funkelten, und sie schien sich insgeheim zu vergnügen. Severa wusste natürlich Bescheid; wenn Karus es gemerkt hatte, dann sie garantiert auch. Und Lepidina wusste, dass sie es wusste. 114
Was Brigonius betraf, so wusste er nur, dass diese komplizierten Frauen und ihre Spielchen über seinen Horizont gingen. Aber Lepidina war es wert. Und unter all dem verspürte er auch etwas nicht Greifbares. Seine Gefühle für Lepidina gingen über körperliches Begehren hinaus, und zwar schon seit dem Moment, da er sie kennengelernt hatte. Da war auch Zärtlichkeit. Verwandelte sich nach ihrer gemein‐ samen Stunde am Vormittag diese Zärtlichkeit jetzt etwa in Liebe ? Wie anfällig würde er dadurch für Severas Machenschaften? Zu Brigoniusʹ Erleichterung wurden nun die ersten Gerichte aufgetragen, sodass sich ihrer aller Aufmerksamkeit auf andere Dinge richtete. Als Vorspeise gab es Salat, Eier und Austern von der Küste ‐ und Schnecken, große, salzige Tiere aus Gallien. Karus, Xander und Severa langten ordentlich zu. Lepidina aß weniger, aber sie genoss jeden Bissen, das sah man ihr an. Brigonius tat sein Bestes. Als die ersten Teller abgeräumt wurden, war er bereits satt, aber bald darauf folgten weitere Teller, weitere Speisen. Er erfuhr, dass es mehrere Hauptgänge geben würde, darunter Wildschwein, Reh‐ und Schweinefleisch sowie
Haselmäuse, Hähnchen, Gänse, Drosseln und Pfauen; noch mehr Fisch und Meeresfrüchte ‐ und schließlich, in ferner Zukunft, einen Nachtisch aus Obst und Gebäck mit viel Honig. Selbst das Gemüse war ihm unbekannt. Lepidina zählte mit sanftem Spott in der Stimme römische Importe wie Kohl, dicke Bohnen, Pastinaken, Erbsen und Sellerie auf. All dies wurde auf erlesenen 115
Keramik‐ oder Silbertellern serviert, und obwohl man mit den Fingern aß, gab es eine verwirrende Vielfalt von Bestecken: spezielle kleine Gabeln, mit denen man Austern aus ihren Schalen pulte, Messer, mit denen man Fleisch vom Knochen kratzte. Brigonius staunte ohne Unterlass, welch ein großes Sortiment von Dingen einem wohlhabenden Römer zur Verfügung stand. Er gab nicht auf. Er probierte, was er erkannte, aber der eigenartige Geschmack der Soßen schreckte ihn immer wieder ab. Alles schien gleichzeitig süß und sauer zu schmecken, und die Römer übergössen jedes Gericht mit einer widerwärtigen Fischsoße. Severa sah ihn ärgerlich an. »Lass es stehen, wenn du willst, aber stochere nicht darin herum. Du isst wie ein Kind.« »Aber es ist alles so appetitlich«, sagte Brigonius trocken. Er hob eine im Ganzen gedünstete und mit Nüssen und Kräutern gefüllte Haselmaus am Schwanz hoch. Das brachte Lepidina zum Lachen, aber Severa wandte sich verächtlich ab. »Und überhaupt«, sagte Karus mit einem großen Bissen Hackfleisch im Mund, »es geht doch nicht ums Essen.« Er seufzte. »Obwohl es so sein sollte. Das Essen sollte immer eine zentrale Rolle spielen. Solange der Kaiser noch nicht da ist, könnten wir unsere Strategie noch einmal überprüfen.« »Ganz recht«, sagte Severa. »Xander! Komm her. Gehen wirʹs noch mal durch ...« Xander, der sich nur widerstrebend beim Essen un 115
terbrechen ließ, gesellte sich zu Severa, und sie begannen über Reiche, Grenzen und Wälle zu diskutieren. Hadrian musste die Befestigung der Grenzverläufe ins Auge fassen, weil sein Imperium die natürlichen Ausdehnungsgrenzen erreicht hatte. In Britannien war der militärische Vormarsch von Claudiusʹ Ausgangsposition bei Rutupiae im fernen Südosten der Insel wie eine Woge über das Land geschwappt und hatte ein Netz aus Kastellen, Straßen und Signaltürmen hinterlassen. Brigantien war die nördlichste politische Einheit, mit der die Römer auf diplomatischem Wege fertiggeworden waren. Unter Kaiser Domitian war der Statthalter Agricola jedoch noch weiter vorgedrungen; er hatte einen massiven Angriff gegen den fernsten Norden unternommen, und seine Schiffe waren ganz um die Nordküste herumgefahren. Aber es war kein angenehmer Feldzug für die Römer gewesen ‐ dieses neblige, sumpfige Bergland wurde von einem kaum greifbaren Volk bewohnt, das einfach nicht zu verstehen schien, wann es besiegt war ‐, und Agricolas auf die Garnisonsfestungen verteilte Streitmacht war über die Maßen verstreut worden. Als dann Truppen aus Britannien abgezogen worden war, um sich
mit Problemen an der Donau zu befassen, hatten sich die Römer nach Brigantien zurückziehen müssen. Woanders im Reich wurden ähnliche Grenzen erreicht. Domitians Nachfolger Trajan, ein weiterer auf Expansion erpichter Soldatenkaiser, hatte große Gebiete im Osten des Reiches hinzugewonnen. Aber gegen Ende seines Lebens waren seine Kräfte von Schwie 116
rigkeiten an den langen, verwundbaren Grenzen des Imperiums ‐ in Mesopotamien, Afrika, ja sogar erneut im nördlichen Britannien — aufgezehrt worden. Und während er abgelenkt gewesen war, hatten sich die Juden im Osten zu einer gewalttätigen Revolte erhoben, die ebenso gewalttätig niedergeschlagen worden war. Diese komplexe, instabile Lage hatte nun Hadrian geerbt, Trajans Nachfolger, der mit seinem Mentor im Feld gedient hatte. »Ihr müsst verstehen, wie diese Römer denken«, sagte der Architekt Xander. »Früher haben sie geglaubt, sie könnten ihre Eroberungsfeldzüge endlos fortsetzen. Wieso auch nicht? Schließlich wurden ihre Feldherren reich dabei. Expansion finanziert neue Ex‐ pansion, und immer so weiter. Warum nicht bis ans Ende der Welt? Aber in Wahrheit kommen die Römer nicht weiter als der Pflug ...« Als die Römer aus ihrem Kernland im Mittelmeerraum nach Norden und Süden, Osten und Westen vorgedrungen waren, hatten sie Länder erobert, in denen es bereits Landwirtschaft gegeben hatte, Länder, deren Ausbeutung ihre Stadt reich gemacht und ihnen die Mittel zur weiteren Expansion zur Verfügung gestellt hatte. Aber Rom konnte keine Wüsteneien erobern. Das Imperium sei also wie ein Meer, sagte Xander, das ansteige und das landwirtschaftliche Herz Europas überschwemme. Aber im Osten werde es von den Parthern eingedämmt, und im Norden, Westen und Süden brächen sich seine Wellen an Gestaden aus Wäldern, Wüsten und Bergen. 116
Xander war um die fünfzig, ein Mann mit rundem, rotem Gesicht und ergrauendem Haarschopf. In seiner schlecht sitzenden Toga, die Finger mit Sägemehl von seinen Spielzeugkastellen bestäubt, wirkte der Grieche erstaunlich weltfremd. Aber Severa hörte ihm zu, und Brigonius erkannte allmählich, dass die Griechen, die als kulturelle Ahnherren der Römer galten, die Dinge ganz anders sahen als ein unterjochtes Volk wie sein eigenes. Nun lächelte Xander. »Wie Alexander haben die Kaiser über den Rand der Welt geschaut und sind zurückgeschreckt, und ihr Geist hat sich bewölkt.« Hadrian, im Alter von vierzig Jahren zum neuen Kaiser ernannt, hatte eine politische Wende eingeleitet. Er wollte Trajans teuer erstandene neue Gebiete aufgeben und sich mit dem Reich nach Möglichkeit innerhalb »natürlicher Grenzen« ‐ Wüsten und Flüsse ‐einigeln. Und wo es nötig war, würden solche Grenzen befestigt werden. Als Brigonius darüber nachdachte, erschien ihm das in zunehmendem Maße als ein bemerkenswertes Projekt, denn wenn Hadrian damit Erfolg haben wollte, musste er die römische Denkweise umkrempeln. Wenn die Römer keine expansiven Eroberer mehr wären, müssten sie ihr Imperium in eine Gemeinschaft verwandeln. Selbst das Heer
müsste umstrukturiert werden, von einer mobilen Kampftruppe in eine Streitmacht, die befestigte Grenzen verteidigte. »Natürlich hat er seine Widersacher«, sagte Xander leise. »Es gibt jede Menge Heerführer, die beim 117
Beutemachen gern ihren Vorgängern nacheifern würden. Kritiker im Senat sagen, hinter einer Mauer zu sitzen und mit einem Speer nach seinen unbezwungenen Feinden zu stochern, sei nicht die römische Art ‐ aber die Hälfte von ihnen sind Narren, die immer noch von der Republik träumen und keine große Rolle spielen. Manche fragen sich auch, ob Hadrian auf lange Sicht nicht einen dramatischen Fehler begeht, indem er die Expansion beendet, die Roms Wirtschaft stets angekurbelt hat ‐ obwohl wir zweifellos alle tot sein werden, bevor jemand das beantworten kann.« »Eine bewundernswerte Zusammenfassung, Architekt«, sagte Karus. »Aber soweit es uns betrifft, läuft Hadrians Dilemma auf Folgendes hinaus: Wenn man nicht expandieren will, muss man die Grenzen stabilisieren.« Mit typisch römischer Großartigkeit beabsichtigte Hadrian, die Grenzen seiner nördlichen Provinzen zu einer einzigen Verteidigungslinie zu konsolidieren, einem ganz Europa umspannenden System aus Kastellen, Mauern, Erdaufschüttungen und Gräben; es sollte von Kleinasien aus westwärts führen, den großen, den Kontinent leerenden Flüssen folgend nördlich an Dacien, Noricum und Niedergermanien vorbei ‐ und dann über den Ozean nach Britannien springen. »Es dürfte wohl ziemlich klar sein, wo die britannische Grenze verlaufen wird«, sagte Karus. »Nördlich von hier, wo sich die Insel stark verschmälert, zwischen den Mündungen der Flüsse Tinea und Ituna.« »Schön und gut«, sagte Severa. »Die Frage ist, was 117
wird er dort bauen? Wir können ihm so viele Pläne und Modelle zeigen, wie wir wollen. Aber was wird diesen Mann davon überzeugen, dass er mit Stein bauen muss und nicht mit Grassoden, wie in Germanien?« »Seit Domitians Zeiten haben die Kaiser lineare Verteidigungsanlagen der einen oder anderen Art gebaut«, warf Karus ein. »Oh, das dürfen wir nicht erwähnen«, sagte Xander. »Jeder Kaiser möchte glauben, dass er die ganze Welt allein erbaut hat.« Brigonius steckte sich ein harmlos aussehendes Stück Fleisch in den Mund. »Tja, mich dürft ihr nicht fragen. Ich bezweifle, dass ich überhaupt etwas verstehen werde. Habt ihr es nicht bemerkt ‐ außer uns sprechen hier alle Griechisch!« Karus grunzte. »Und obendrein auch noch eine archaische Form. Wie prätentiös!« »Das tun sie dem Kaiser zuliebe«, erklärte Xander. »Seine Familie stammt aus den Provinzen, wisst ihr. Wie alle von sehr niedriger Geburt hat er die höchsten Ambitionen, und darum hat er beschlossen, ein hingebungsvoller Bewunderer alles Griechischen zu sein.« Brigonius fand, dass dieser aufgeblasene Wicht von einem Kaiser sprach, als wäre er eine kleine Nervensäge von einem Schuljungen.
»Nun«, sagte er, »in diesem Fall ist es schade, dass die Griechen keine Mauern aus Stein gebaut haben, denn Hadrian würde es ihnen gewiss gleichtun.« Karus schlug sich mit der Hand an die Stirn. »Möge 118
Jupiter mir die Rosette vergolden, aber genau das haben sie getan! Oder nicht, Xander? Du solltest es wissen, Mann!« Xander nickte mit großen Augen. »Natürlich, natürlich.« Karus grinste und packte Brigonius am Arm. »Mein Freund, ich glaube, du hast uns gerade den Sieg verschafft.« Severas Blick huschte misstrauisch zwischen dem Advokaten und dem Architekten hin und her. »Ich hoffe, ihr beiden wisst, was ihr tut.« Xander war aufgeregt und nervös, aber Karus setzte sein Advokatenlächeln auf. »Vertrau mir.« Und nun lief die Zeit ab, ob Severa Karus vertraute oder nicht. Trompeten erschallten, ein deutlich vernehmbares Signal über dem Geplauder. Alle Gesichter wandten sich dem ehemaligen Sklaven Primigenius zu, der neben einem strahlenden Marcus Claudius Verecundus, dem Gastgeber, an der Tür stand. Primigenius rief: »Erhebt euch für Publius Aelius Hadrianus.« Und der Kaiser betrat den Raum. Hadrian hielt eine kurze, huldvolle Begrüßungsansprache und bat dann alle, Platz zu nehmen und mit dem Mahl fortzufahren. Nach einer angemessenen Zeitspanne traten kleine Gruppen von Bürgern mit ihren Wünsch en, Gesuchen, Streitfällen oder Lobgesängen vor ihn hin. Severas Gruppe wartete, bis sie an der Reihe war. Brigonius beobachtete den Kaiser faszi niert. Hadrian saß mit seinen Höflingen zusammen und unter 118
hielt sich angeregt, vielleicht über die Jagd, von der sie gerade kamen. Der korpulente Mann trug eine Toga, aber sein Gesicht war gerötet, das dicke Haar dampfte von Schweiß, und er atmete schwer. Er kam Brigonius sofort wie ein Bündel von Widersprüchen vor. Man merkte, dass er zugänglich wirken wollte, aber sein Auftritt hätte nicht dramatischer sein können, wenn er zu Pferde hereingeritten wäre. Er strebte nach der griechischen Kultur, und doch verströmte er die urtümliche Faszination der Jagd. Er war der reichste Mann der Welt, die Quintessenz von Rom ‐ und doch trug er einen Barbarenbart, um dessen Pracht Brigonius ihn beneidete. Seine Haut war von den Narben einer Krankheit gezeichnet: ein weiterer Widerspruch, dass der mächtigste Mensch der Erde von einer Krankheit befallen sein sollte, die auch den gewöhnlichsten niederstrecken konnte. Und obwohl es niemanden gab, der mehr Macht besaß als Hadrian, hatte er einen furchtsamen, beinahe gehetzten Blick in den Augen. »Ja, ein komplizierter Mann«, flüsterte Severa, die den Kaiser anblickte. »Wo wir von der Zukunft reden: Ich glaube, Hadrian hat Angst vor ihr ‐ und nicht nur wegen der Klinge des Attentäters. Er ist ein Gelehrter, der weiß, dass die Geschichte unheilvolle Warnungen für die Römer birgt, denn Imperien sind auch früher schon gekommen und
gegangen; selbst das Reich des mächtigen Alexander hat dessen Tod kaum überdauert. Denkt an diese jüdische Rebellion unter Trajan ‐in Britannien kaum bekannt, aber eine schreckliche 119
Katastrophe im Osten. Im Gegensatz zu uns Britanniern wollen die Juden keine Römer werden; es ist ein Zusammenprall von Grundhaltungen, ein aufrüttelnder Schock für die Römer. Trotz Xanders Spott halte ich Hadrians Graecophilie für nötig ‐ nicht nur aus persönlichen, sondern auch aus politischen Gründen. Der Kaiser verkörpert die Identität des Imperiums, das griechisch und römisch ist, und darum muss er angesichts der jüdischen Herausforderung griechischer sein als die Griechen. Kein Wunder, dass Hadrian sich sogar noch mehr Sorgen über die Zukunft macht als über die Vergangenheit. Wohin er auch geht, überall zieht er Astrologen, Mystiker und Wahrsager zu Rate. Und ein nachdenklicher Mensch wie Hadrian will sicher Spuren in seinem Reich, in der Geschichte hinterlassen. Was sonst könnte seine Bedeutung im Leben nach dem Tode gewährleisten?« Karus hörte mit glänzenden Augen zu. »Ist sie nicht wundervoll?«, flüsterte er Brigonius zu. »Wie ich dir gesagt habe: Es ist, als stünde sie außerhalb der Zeit.« Lepidina sagte: »Der arme Mann.« »Wer?«, fragte Brigonius. »Der Kaiser. Wenn er wirklich derart gepeinigt wird. Vielleicht fände er Trost, wenn er den Lehren Jesu Christi folgte. Dann verstünde er nämlich, dass Städte und Reiche nicht zählen. Sie vergehen alle, sogar Rom. Aber die Stadt Gottes bleibt ewig bestehen.« Severa funkelte sie an. »Dieser judäische Renegat hat versprochen, dass alle gerettet würden, nicht nur 119 Kaiser, sondern auch Sklaven. Was nützt das irgend‐wem? Jetzt verschone uns mit deinem törichten Fimmel, Lepidina.« »Das ist kein törichter Fimmel«, gab Lepidina zurück. »Weshalb ist unsere Prophezeiung sonst mit ihm verbunden? Selbst Kaiser Claudius hat bemerkt, dass Nectovelin im selben Jahr geboren wurde wie der Judäer!« »Vergiss Kaiser Claudius. Ich bin deine Mutter, und ch sage dir, dass die Bestimmung unserer Familie nichts mit irgendso einem armseligen Unruhestifter aus dem Osten zu tun hat. Und außerdem ...« »Pst«, machte Xander. »Wir sind dran.« »Wurde auch Zeit«, brummte Karus. »Mir platzt gleich die Blase.« Die fünf ‐ Severa, Lepidina, Karus, Brigonius und der nervöse Xander ‐ traten auf den Tisch des Kaisers zu; der Architekt beaufsichtigte zwei schwitzende Sklaven, die sein Modell auf einer Holzplatte trugen. 119
IX Severa stellte sich und ihre Gruppe vor. Dann erteilte sie Xander das Wort. Der kleine Grieche stand furchtlos da, fand Brigonius, so furchtlos, wie nur der Repräsentant einer
älteren Kultur vor dem einer jüngeren stehen konnte, ungeachtet solcher Nebensächlichkeiten wie weltumspannender Macht. Xander sprach griechisch, und Brigonius bekam nur wenig von seinem Vortrag mit. Er begann mit einer allgemeinen Abhandlung über das Problem von Reichsgrenzen und verwies dabei auf historische Ereignisse bis zurück zu den Kriegen zwischen den Nachfolgern Alexanders des Großen. Währenddessen stand sein kostbares Modell aufreizend verhüllt neben ihm auf dem Boden. Karus hatte Brigonius gewarnt, dass es so sein würde. »Die Römer lieben Reden«, hatte er gesagt. Brigonius, der höchstens jedes vierte Wort verstand, merkte, dass seine Aufmerksamkeit abschweifte. Unter den Soldaten und Gelehrten am Hof des Soldaten‐ kaisers gab es nur wenige Fra uen. Eine von ihnen, eine schöne, aber mürrisch dreinschauende Frau, musste Hadrians Gemahlin Sabina sein, die angeblich von ihrem Großonkel Trajan in eine lieblose Ehe mit dem 2‐120 von ihm favorisierten Erben gezwungen worden war. Eine ältere Frau war bestimmt die berühmte Plotina, die Gattin des verstorbenen Trajan. Brigonius fragte sich, welche Spannungen hinter der ziemlich kalten Fassade dieser kaiserlichen Familie verborgen lagen. Hadrian hörte zwar zu, wirkte jedoch unruhig und unkonzentriert, ja sogar gelangweilt. Brigonius wusste, dass Hadrian sich als Gelehrten betrachtete. In einem Imperium, das Griechenland, Ägypten und Mesopotamien umfasste, einem Imperium wie einem riesigen Museum der Zivilisationen, musste ihm Britannien wahrlich öde erscheinen. Einen Atemzug lang ruhte Hadrians Blick auf Brigonius. Ein Aufblitzen in seinen Augen mochte bedeuten, dass er ihn wiedererkannte; vielleicht erinnerte er sich an ihn von der Ansprache in Rutupiae. Nun betrachtete er Brigonius eingehender, seinen Hals, den Rumpf, die nackten Beine. Brigonius, dessen Blut noch heiß war von der Stunde, die er mit Lepidina verbracht hatte, wandte sich ab. Auch dies gehörte zu den Dingen, die jeder über Hadrian wusste. In Brigantien waren homosexuelle Liebschaften nicht unbekannt, aber ungewöhnlich. Bei den Römern kamen sie häufiger vor ‐ aber es war nicht Hadrians Sexualität, sondern seine Leidenschaft, die für Gerede sorgte. Ein ernst zu nehmender Mann sollte nicht allzu viel Energie auf seine Bettwärmer verschwenden. Und nun bemerkte Brigonius, dass auch Primigeniusʹ Blick auf ihm ruhte ‐ dieses totenbleiche Gesicht, 2‐120 die schwarz geränderten Augen, die Lippen scharlachrot wie eine Wunde. Konnte es sein, dass dieser ausgezehrte ehemalige Sklave eifersüchtig war ? Brigonius unterdrückte einen Schauder. Endlich kam Xander zum Thema. Seine Sklaven zogen das Tuch weg, mit dem sein Modell abgedeckt war. Die Höflinge beugten sich alle vor, um sich die bemalten Hügel, die glänzenden Flussbänder und die hervorragend gearbeiteten Kastelle und Türme
anzusehen. Die kunstvollen Einzelheiten lösten kindliche Freude in ihren stark geschminkten Gesichtern aus. Xander beschrieb, welchen Verlauf der mächtige Wall seinem Vorschlag zufolge nehmen sollte. Der Ausgangspunkt würde im Osten liegen, bei einem kleinen Kastell namens Segedunum. Er würde den Fluss Tinea überqueren und dann nach Westen in höher gelegenes Gelände ansteigen. Bergspitzen und ein natürlicher Steilhang aus Basaltklippen sollten in die neue Grenze einbezogen werden. »Es wird so aussehen«, verkündete Xander, »als wäre der Wall direkt aus dem Gestein entsprungen!« Danach würde er noch einen Fluss überspannen, anschließend einen weniger dramatischen Verlauf durch weiteres zerklüftetes Land nehmen, zu guter Letzt eine Ebene überqueren und sich seinem Ziel an der Westküste nähern. Die Gesamtlänge, erklärte der Architekt, werde rund einundsiebzig Meilen betragen, die von Anfang bis Ende von einer fünfzehn Fuß hohen Steinmauer beherrscht würden. Nicht nur das, eine Erdaufschüttung und ein Graben vor der Nordseite des Walls böten weiteren Schutz. 2.121 Zudem seien im Abstand von jeweils einer Meile kleine Festungen in den Wall integriert, mit jeweils zwei Türmen zwischen jedem solchen Paar von Meilen‐Kastellen, die als Signal‐ und Sammelstellen dienen sollten. In jedem Meilen‐Kastell gebe es Tore, sodass der Wall so durchlässig oder geschlossen sein könne, wie die lokalen Befehlshaber es wünschten. Es bestand kein Zweifel, dass der Wall ein prächtiges Bauwerk werden würde, und Brigonius sah, dass Hadrian und mehrere seiner Höflinge sofort von Xander, seinem schönen Modell und der bezwingenden Vision eingenommen waren. Doch andere erhoben Einwände. Als Erster ergriff Aulus Platorius Nepos das Wort, Britanniens neuer Statthalter. Er sprach einige praktische Aspekte beim Bau dieses Monuments an. Unter Hadrian gab es in Britannien drei Legionen und fünfundsechzig Hilfstruppen, alles in allem rund dreiundfünfzigtausend Mann. Alle drei Legionen würden für den Bau des Walls eingesetzt werden ‐ rund fünfzehntausend Mann. Nepos machte eine Handbewegung, die das gesamte Modell umfasste. »Aber das alles muss spätestens in drei Jahren fertig sein. Darum frage ich dich: Bist du dir deiner Berechnungen sicher? Ist das in dieser Zeit mit den verfügbaren Arbeitskräften machbar?« Brigonius glaubte zu verstehen, warum die Bauzeit nur drei Jahre betragen durfte; die Amtsperiode eines Statthalters war für gewöhnlich nicht länger, und Nepos würde den Wall gewiss noch vor seiner Abberu 2‐121 fung vollendet sehen wollen. Xander wirkte jedoch schockiert, als er von dieser zeitlichen Begrenzung hörte; sein Mund öffnete und schloss sich. Dann gewann er die Fassung wieder und antwortete, ohne sich einschüchtern zu lassen, mit klarer und deutlicher Stimme. »Wir Griechen sind berühmt für unsere Rechenkünste. Ich kann dir versichern, Herr, dass meine Berechnungen zutreffend sind.« Der nächste Angriff auf den Vorschlag kam von einem Legaten, dem Kommandeur einer der drei gegenwärtig in Britannien stationierten Legionen. Er sprach von der
unter Trajan bereits eingerichteten Grenzkontrolle entlang einer Linie ein paar Meilen südlich des vorgeschlagenen Walls. Dort dienten bestehende und durch eine gute Straße verbundene Kastelle, darunter Vindolanda, bereits als Basis für eine schnelle und flexible Reaktion auf etwaige Schwierigkeiten. Wäre es nicht besser, diese schon vorhandene Barriere zu verstärken, anstatt mit dem Bau einer neuen zu beginnen? Xander war kein Militär, und zu seinem Glück blieb die Frage in der Diskussion unter Hadrians Beratern stecken, die sich in einen offenbar schon seit längerem schwelenden Streit darüber stürzten, ob eine sorgfältig geplante Befestigungsanlage auf lange Sicht nicht eine bessere Lösung des Problems der nördlichen Grenze darstellen würde. Hadrian ließ diese Diskussion eine Weile laufen, aber sie führte zu keinem Ergebnis. Der letzte Einwand wurde zaghaft von einem älteren Mann erhoben, einem erfahrenen Soldaten, der im Norden gedient hatte. Er wies bedächtig darauf hin, 122
dass der vorgeschlagene Wall mitten durchs Heimatland der Briganten führen würde. »Und die brigantischen Fürsten, die überlebenden jedenfalls, sind einflussreiche Leute in der lokalen Regierung«, sagte er. »Sie werden sich womöglich nicht so einfach damit abfinden, dass ihre Felder in zwei Teile zerschnitten werden.« Aber niemand unter den Höflingen nahm die Einwände von Provinzlern sonderlich ernst. Hadrian beugte sich vor, und alle verstummten. Er sprach in verschnörkeltem Griechisch, und Karus übersetzte im Flüsterton für Brigonius. »Die Idee gefällt ihm. Es ist ein kühnes Manifest. Aber er ist ein praktischer Mensch, der seine Sesterzen zählt. Er hat eine Grenzbefestigung aus Grassoden und Holz entlang des Rheins errichtet; ob das hier nicht auch ausreichen würde? Schließlich stellten die Nordbritannier keine so große Bedrohung dar wie die Germanen jenseits des Rheins.« Das war der entscheidende Einwand, und Severa erhob sich. Unter den Höflingen wurden angesichts der Einmischung einer Frau Augenbrauen hochgezogen, aber man ließ sie reden. »Ein Wall aus Holz und Gras wird für einen Germanen reichen ‐ aber einem Griechen hätte er niemals gereicht.« Und sie sprach von spektakulären langen Wällen, die die Griechen vor Jahrhunderten gebaut hatten und die Orte verbanden, von denen Brigonius noch nie gehört hatte: Sie führten von Athen nach Piräus und über schmale Meerengen wie bei Korinth. »Der Wall wird in der besten grie 122
chischen Tradition stehen«, sagte Severa, »aber mit seinem glänzenden, undurchdringlichen Stein wird er Meile für Meile ein wahrhaft römisches Manifest sein.« Xander, der ihr all dies zugeflüstert hatte, sah erfreut aus. Hadrian wirkte beeindruckt. Karusʹ Augen waren feucht. Er flüsterte Brigonius zu: »Dieser Verstand, dieses Feuer ‐ dieser wogende Busen! Ist sie nicht wundervoll?« Dem Kaiser reichte es allmählich mit den geschäftlichen Angelegenheiten. Die Höflinge lehnten sich zurück, Musik erklang, und eine Truppe von Tänzern, Jongleuren und Akrobaten stürmte in den Raum.
Nepos trat auf Xander zu und klopfte ihm auf den Rücken, eine forsche Soldatengeste, die den kleinen Architekten zusammenzucken ließ. Auf Lateinisch sagte er: »Als ich Statthalter in Thrakien war, gab es einen solchen Wall in meiner Provinz, bei Gallipoli. Sechshundert Jahre alt, haben mir die Historiker erklärt, und er steht noch heute.« Er wandte sich wieder dem Kaiser zu. »Dein Bau wird wahrhaftig in einer großartigen Tradition stehen, kleiner Grieche!« Hadrian lächelte. Aber Neposʹ Formulierung ‐ »kleiner Grieche« ‐schockierte Severa. »Wie hat er ihn genannt?« Nepos hatte ein lateinisches Wort benutzt: »Graeculus«, kleiner Grieche. »Das ist nur ein Spitzname aus Hadrians Kindheit«, sagte Karus. »Er hatte schon damals eine Vorliebe für alles Griechische ...« Severa drehte sich zu ihrer Tochter um, die ebenso 123
überrascht dreinschaute wie ihre Mutter. »Die Ankunft von Roms großem Sohn ... auch wird man ihn als kleinen Griechen kennen ... als kleinen Griechen! So steht es in der Prophezeiung, Mutter. Ach du meine Güte! Es wird wahr, es wird wirklich wahr ...« Der Kaiser und seine Höflinge unterhielten sich weiterhin fasziniert über Xanders Modell, ohne zu bemerken, welch metaphysischen Schock die Initiatoren des Projekts erlitten hatten. Und als Brigonius aufblickte, schaute er in die kalten Augen von Primigenius. Der Freigelassene schien alles andere als erfreut über diese Wendung der Dinge zu sein. 123
X Nachdem Hadrian seine Entscheidung getroffen hatte, ging alles sehr schnell. Der Statthalter Nepos bestand darauf, dass zumindest ein Stück Land umgebrochen und ein paar Steine gelegt wurden, bevor Hadrian die Provinz verließ. Außerdem mussten dieses Jahr unbedingt schon einige Fortschritte erzielt werden, wenn das ehrgeizige Projekt die Aussicht haben sollte, innerhalb von Neposʹ dreijähriger Amtszeit als Statthalter vollendet zu werden. »Ich möchte, dass sich die Steine schneller aufhäufen als Blätter im Herbst«, verkündete Nepos. Diese Anordnung versetzte Xander in Panik. Brigonius hatte das unangenehme Gefühl, dass Xanders Spielzeugarchitektur sich nicht ganz so reibungslos, wie er vorgegeben hatte, in ein reales, von fünfzehntausend bulligen Legionären auszuführendes Projekt übertragen ließ. Aber dem Willen eines Kaisers widersetzte man sich nicht. Ebenso wenig wie dem von Severa: Eiskalt, mit einer von der Prophezeiung geschürten Entschlossenheit, ließ sie keinen Raum für Zweifel. Folglich mussten sie alle ihr Bestes tun. Hadrian hatte vor, zu der nördlichen Legionärsfestung Eburacum zu ziehen, um seine Truppen zu inspi 123
zieren. Erneut ritten Severa und ihre Gruppe Hadrians Karawane voraus. Severa wollte jede Stunde nutzen, die sie herausschlagen konnte, um das Projekt schon vor dem Eintreffen des Kaisers auf den Weg zu bringen. Aber die Reise nach Norden verlief für Severas Gruppe angespannt und unerfreulich. Sobald sie den befriedeten Süden verließen, trat die Herrschaft des römischen Militärs offen zutage. Hier gab es keine Städte, sondern nur militärische Vorposten. Das Land war mit Wachtürmen und Signalfeuerstellen übersät und aufgewühlt von den Überresten der Marschlager. Brigonius war hier aufgewachsen; seit drei Generationen war dies die Heimat seiner Familie. Als Junge hatte er sogar am Fuß eines strengen römischen Wachturms gespielt, der schon vor seiner Geburt in Banna errichtet worden war. Seine Reisegefährten fanden die Landschaft jedoch seltsam und beunruhigend und schauten kaum aus den Kutschen. Xander und Karus vertieften sich unablässig in Pläne ihres Walls, Lepidina hockte zusammengekauert über ihren Gedichten, und selbst Severa war in gedrückter Stimmung. Für sie war dies der Rand der Welt, hinter dem nur ein Chaos lag, das die ruhigen Lichter der Zivilisation auszublasen drohte. Einmal versuchte Brigonius, Severa und Lepidina in ein Gespräch über diese Dinge zu verwickeln. Er sprach von Geschichten, die immer noch an briganischen Feuern erzählt wurden, von Sagen über Dyastien aus der Bronze‐ und Steinzeit, eine mündliche Überlieferung, die Jahrtausende zurückreichte. 124
»Ich weiß von einer meiner Tanten, dass Agrippina, meine Urgroßmutter, ihren Töchtern solche Geschichten erzählt hat...«, begann Lepidina. Severa schnitt ihr das Wort ab. »Das ist alles barbarischer Unsinn. Jeder weiß, dass Britannien von Flüchtlingen aus Troja besiedelt wurde. Deshalb hat Caesar es hier mit trojanischen Streitwagen zu tun bekommen. Und das ist es, was wir sind: Trojaner, Menschen von guter mediterraner Herkunft, ein paar Generationen später. Ich will nicht mehr darüber reden.« Schließlich näherte sich die Gruppe Eburacum. Die Legionärsfestung lag auf einer Hügelkuppe am nördlichen Ufer eines Flusses. Ihre Mauern waren quadratisch und kompromisslos, und eine Hüttensiedlung von Händlern, Soldatenfamilien und anderen Trabanten breitete sich außerhalb der Festungsmauern und südlich des Flusses aus. Eburacum war eines von sechs militärischen Machtzentren in der Provinz, zu denen noch zwei Legionärsfestungen und die drei coloniae, einschließlich Camulodunum, gehörten. Wie um die Dauerhaftigkeit des imperialen Würgegriffs um Brigantien zu betonen, waren die Befestigungsanlagen von Eburacum im letzten Jahrzehnt aus schwerem Stein neu errichtet worden. Sie gelangten an ein Tor in der Festungsmauer. Hier gebot ihnen eine Einheit von Soldaten unter dem Kommando eines Dekurios Halt und befahl ihnen, aus den Kutschen zu steigen, damit ihr Gepäck durchsucht werden konnte. Während sie am Tor warteten, gelang es Brigonius 124
endlich, Lepidina von den anderen wegzumanövrieren. Nach seiner Stunde mit ihr in Camulodunum und jenem Blitzschlag der Leidenschaft war er praktisch nie mehr mit dem Mädchen allein gewesen. »Du bist schon seit Tagen sehr still«, sagte er. Sie schnitt eine Grimasse. »Überrascht dich das? Dies ist ein schreckliches Land, Brigonius.« »Es ist nur anders, als duʹs gewohnt bist, das ist alles. Und vergiss nicht, deine Vorfahren kommen aus Brigantien.« Er nahm ihre Hand; sie war warm und weich. »Lepidina ‐ diese Stunde in Camulodunum, was dort passiert ist ...« »Du denkst an die Zukunft, nicht wahr?«, platzte sie heraus. »An unsere Zukunft, eine gemeinsame Zukunft für uns.« Er zögerte; die nächste Frage wollte ihm nicht über die Lippen kommen. »Du nicht?« »Doch. Doch, ich glaube schon«, sagte sie. Er atmete aus. »Aber wo wir vor all diesem Legionärsstein stehen ‐es kommt mir so unwirklich vor, Brigonius. Wir sind so verschieden, unsere Welten sind so weit voneinander entfernt wie die Sonne und der Mond. Könntest du in einer Stadt leben, und sei es auch nur ein Schlammloch wie Camulodunum? Oder könnte ich in einem von diesen komischen runden Holzhäusern wohnen? Ich möchte mit dir zusammen sein. Ich glaube, dass ich es möchte. Aber wie soll das gehen?« »Was sollen wir dann tun ?« »Wir sollten uns Zeit lassen, Brigonius. Es dauert 125
drei Jahre, einen Wall zu bauen. Für eine Liebe braucht man ein ganzes Leben.« Er lächelte. »Manchmal bist du wirklich tiefsinnig, Lepidina.« Sie wölbte eine Augenbraue. »Du herablassendes Ekel.« »Ob die Prophezeiung deiner Mutter wohl eine Hilfe wäre?« Lepidina lachte traurig. »Prophezeiungen befassen sich mit Belanglosigkeiten wie dem Fall von Imperien. Sie sagen nichts über die wichtigen Dinge wie Liebe und das menschliche Herz! Hör zu, Brigonius, wir müssen jetzt nicht über all dies nachdenken. Wenn es Mutter gelingt, ihren Wall zu erbauen, wenn du tausend Wagenladungen Stein ans römische Militär verkaufst, dann werden wir alle reich ‐ unglaublich reich. Und eines weiß ich über die römische Lebensweise, nämlich, dass Geld alles ändert. Wir werden leben können, wie wir wollen und wo wir wollen. Aber jetzt...« »Ja?« Sie küsste ihn leicht auf die Lippen. Als sie zur Kutsche zurückkamen, ging Severa auf sie los. »Ihr seid also ein Liebespaar.« Lepidina fuhr auf: »Mutter ...« Brigonius hob die Hände. »Claudia Severa, wenn du auf den Tag des Banketts in Camulodunum anspielst ...« »Als du sie gefickt hast? Das meine ich nicht. Was ist schon ein Fick? Tiere ficken. Menschen verlieben sich. Ich sehe es doch. Ihr fühlt euch wohl in der Ge 125
genwart des anderen. Wie ihr redet, wie ihr geht. Ihr verschmelzt miteinander. Es ist offensichtlich.« »Severa«, sagte Brigonius behutsam, »ich glaube nicht, dass wir unsere Herzen kennen. Noch nicht.« »Ach nein?« Severa beugte sich vor, und im Halbdunkel unter dem Blätterdach war ihr Gesicht eine Maske blutleerer Entschlossenheit. »Hört mir zu. Eure dummen Herzen spielen keine Rolle. Was zählt, ist das Projekt. Denn das Projekt ist unsere Zukunft ‐ die Zukunft unserer Familien auf viele Generationen hinaus. Merkt euch eins, ihr beiden: Ihr seid hier, um meinen Zwecken zu dienen. Halt einfach den Mund, Brigonius, tu, was man dir sagt, und wenn du mit meiner Tochter herummachen musst, dann tu es außer Sichtweite der Römer.« Und sie wandte sich mit einem höhnischen Lächeln ab. Brigonius war schockiert. Severa hatte ihre Tochter offenkundig als Lockvogel benut zt, um ihn zu ködern und ihrem Plan mit seinem Steinbruch eine gewisse Plausibilität zu verleihen. Nun hatte er eine unsichtbar e Linie überschritten, indem er Lepidina zu nahe gekommen war, und sie hatte zurückgeschlagen. In Severas kalten Berechnungen war kein Platz für Liebe ‐nicht einmal für Mitleid. Lepid ina war auf stille Weise zornig. Aber es war Brigonius klar, dass ihre Mutter sie ihr ganzes Leben lang derart heruntergeputzt hatte. Brigonius begann sich zu fra gen, wozu Severa fähig war, wie weit sie bei der Verfolgung ihrer Z iele gehen würde. Karus und Xander hatten natürlich jedes Wort 126
mitbekommen. Karus versuchte, das angespannte Schweigen zu überspielen, indem er sich die Hände rieb. »Nun, was mich betrifft, so könnte ich einen guten Schiss, ein Bad und etwas zu trinken und zu essen brauchen, nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.« Xander schnaubte. »Für einen Advokaten bist du manchmal ziemlich vulgär.« »Das ist der Brittunculus in mir«, sagte Karus fröhlich. Severa holte einen Brief aus ihrer Handtasche und entfaltete ihn; die Bindungen der Holztäfelchen knarrten leise. »Ich habe eine Einladung von einer gewissen Ceriala Petilia, der Base des Freundes eines Freundes, die zufällig die Gattin eines Tribuns ist. Sie hat sich erboten, uns bei sich aufzunehmen, solange wir hier sind. Eine gute Römerin. Keine Barbaren mehr!« »Dann müssen wir sie nur noch finden«, sagte Karus milde. Severa schaute sich um und sah einen Soldaten, der zum Tor hinüberging. Es war ein Zenturio, wie Brigonius an dem Weinstock erkannte, den er bei sich trug. »Du da! Komm her. Ich habe einen Auftrag für dich.« Und zu Brigoniusʹ Erstaunen befahl sie einem Zenturio der sechsten Legion, ihr Gepäck zu tragen, als wäre er ein gewöhnlicher Sklave. Er gehorchte unterwürfig. »Wundervoll«, sagte Karus, aber es klang unbehaglich. 126
XI »Damit ich das richtig verstehe«, sagte Präfekt Tullio, »ihr wollt einen Wall bauen.« Tullio, ein energischer, geschäftiger Mann von ungefähr vierzig Jahren mit knallrotem
Haarschopf, war es eindeutig gewohnt, das Kommando zu führen, und er beherrschte seine unordentliche Schreibstube im Hauptquartier von Eburacum mühelos. Xander, dessen Modell auf dem Boden von Tullios Schreibstube stand, saß ihm gegenüber. Brigonius fand, dass er nervöser wirkte als in Gegenwart des Kaisers. »Ja, einen Wall«, sagte er hartnäckig. »Siebzig Meilen lang.« »Einundsiebzig, um genau zu sein.« »Mit drei Legionen.« »Ja.« »Und das wollt ihr in drei Jahren schaffen.« »Ja.« Tullios Augen quollen hervor. »Ihr verarscht mich doch, oder?« Er lehnte sich zurück und rief durch die Tür: »He, Annius! Komm rein und hör dir das an. Das wird dir gefallen.« Ein anderer Soldat, offenkundig einer der Adjutanten des Präfekten, kam lässig ins Büro, wobei er mit ei Z127
nem Lederlappen einen Brustharnisch‐Streifen polierte. Er war ein muskulöser Mann, dessen Kopfform eine seltsame Ähnlichkeit mit einem Eimer aufwies, fand Brigonius: schmales Kinn, vorstehende Zähne, breite Stirn und ein Wust schwarzer Haare. »Was ist, Tullio?« Tullio wandte sich wieder an Xander. »Schieß los, mein Freund. Sag dein Sprüchlein auf. Wie viele Meilen ? Wie viele Kastelle und Türme ? ...« Während Xander erneut seinen Plan hervorstammelte, bogen sich Tullio und sein Kumpan vor Lachen. Um Xanders Demütigung noch zu verschlimmern, kamen zwei kleine Jungen mit den gleichen roten Haaren wie Tullio kreischend in den Raum gelaufen. Sie hatten mit kurzen Holzschwertern gespielt, aber als sie Xanders Spielzeugwall mit den winzigen Kastellen und Gipshügeln sahen, fielen sie begeistert darüber her. Von Panik erfüllt, versuchte Xander hektisch, die Jungen von dem Modell fernzuhalten, spornte sie damit aber nur an und machte alles noch schlimmer. Inmitten dieses Durcheinanders warf Brigonius einen Blick auf seine Begleiter. Karus sah aus, als hätte er alle Mühe, nicht selbst loszulachen. Severa jedoch schien kurz davor zu sein, aus der Haut zu fahren. Severa war hier in Eburacum bisher relativ zufrieden gewesen. Verglichen mit den Städten des Südens, ganz zu schweigen von Rom, war es ein rauer, militärisch gefärbter Ort. Aber die Offiziere der sechsten Legion und ihre Gattinnen bildeten eine geschlossene Gesellschaft, deren von Gönnerschaft, Verpflichtungen 127
und schriftlicher Korrespondenz geprägte Beziehungen bis nach Rom reichten ‐ eine Gesellschaft, die selbstverständlich jeden Britannier ausschloss. Diesem Kreis hatte sich Severa dank ihrer Freundin Ceriala unverzüglich zugesellt und so den Kontakt mit ihrer eigenen Welt wieder aufgenommen. Doch nun musste sie die Hänseleien dieses Hanswursts von einem Barbarensoldaten erdulden, und ihr Zorn war nicht zu über‐ sehen.
Das Problem war: Wenn der Wall jemals gebaut werden sollte, mussten sie Tullio überzeugen. Tullio war Präfekt der Hilfstruppen, die im Kastell bei Vindolanda stationiert waren, unmittelbar südlich des geplanten Walls. Er war ein Bataver, der seine Laufbahn als Kommandeur einer Einheit aus Angehörigen dieses germanischen Volksstamms begonnen hatte. Tullio hatte erkennbar von seiner Karriere im Heer profitiert. Durch seinen Dienst war er Bürger und Angehöriger der Equites geworden, der höchsten gesellschaftlichen Schicht Roms unterhalb der Senatoren. Er besaß eine schöne Wohnung hier in Eburacum und hatte sich sogar eine Frau genommen, eine dunkelhaarige Britannierin. Er war ein leibhaftiges Beispiel dafür, dass das Heer nicht nur ein Werkzeug der Unterwerfung und Kontrolle war, sondern auch eine Maschine, die Barbaren in dienende Soldaten, nützliche Veteranen und loyale Bürger verwandelte. Und da die Offiziere aus der Senatorenklasse ihre Provinzposten nur als Durchgangsstationen auf dem Weg zu glanzvolleren Karrierezielen bekleideten, war Tullio womöglich 128
der erfahrenste Soldat in Vindolanda oder überhaupt in allen nördlichen Römerfestungen. Und nun hatte Nepos, der als Statthalter Oberkommandierender der Armee in Britannien war, diesem stämmigen Mann einen merkwürdigen Auftrag erteilt. Der Wall würde von den Legionären erbaut werden, die als Nachfahren von Roms ersten Soldaten, Phalangen von Bauernsoldaten aus den Ebenen Lati‐ums, nach wie vor den Kern des Heeres bildeten. Alle drei britannischen Legionen würden Truppen schi‐ cken. Legionäre wurden im Bauhandwerk ausgebildet, und jede Legion hatte ihre eigenen Spezialistengruppen von Bauwerkern, Architekten und Baumeistern. Es gab wahrscheinlich keine Arbeiterschaft der Welt, die besser für eine solch gewaltige Aufgabe geeignet gewesen wäre. Doch sobald der neue Wall einmal gebaut war, sollte er nicht von Legionären, sondern von Hilfstruppen bemannt werden. Einige Hilfstruppen bestanden aus Fußsoldaten wie die Legionen, viele aber auch aus Spezialisten: Reitern, Schleuderern, Bogenschützen. Heutzutage waren viele Auxiliarsoldaten Provinzler, die wegen ihrer besonderen Fähigkeiten ins Heer aufgenommen wurden. Für die schnellen Operationen einer Grenzfestung zur Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung eigneten sich Auxiliareinheiten besser als die für die Feldschlacht im offenen Gelände ausgebildeten Legionen. Der Statthalter, ein pragmatischer Mann, hielt ei 128
nen »Vorarbeiter« für nötig, der das Projekt überwachte und Nepos rechenschaftspflichtig war. Als Kommandeur einer Hilfstruppe würde Tullio keine der Legionärseinheiten befehligen, die den Wall bauen sollten. Aber da seine Soldaten ihren Dienst am und auf dem Wall versehen würden, hatte Tullio ein ureigenes Interesse daran, dass er seinen Zweck erfüllte. Und darum, hatten kluge Berater entschieden, war Tullio genau der Richtige für die Aufgabe.
Das Problem war, dass dieser tüchtige, vertrauenswürdige Mann nun dasaß und sich über Xanders schönen Plan kaputtlachte. Karus erhob sich würdevoll. »Dies ist ein kaiserlicher Auftrag, ihr Herren. Wir alle haben ein Interesse daran, diesen Auftrag zu erfüllen. Und ihr lasst es ein wenig an Respekt gegenüber der Dame fehlen. Gehen wir doch bitte mit etwas mehr Ernst an die Sache heran.« Diese Masche schien zu wirken, und Tullio beruhigte sich. »Na schön. Und du, Butimas, wenn du dieses Kastell verschluckst, kannst du was erleben!« Tullio stieß mit dem Fuß nach seinen Söhnen, die, über ihre eigenen Scherze lachend, die Flucht ergriffen. Tullio wandte sich wieder Xander zu. »Tut mir leid, mein Freund. Versuchʹs noch mal. Mach mir deinen Wall schmackhaft.« Mit zittrigen Fingern reparierte Xander sein zunehmend ramponiertes Modell und wandte sich einer Mappe mit Skizzen auf Pergament zu. »Das hier ist die eigentliche Mauer. Fünfzehn Fuß hoch, zehn breit. 129
Ein Fundament aus Steinplatten in Lehm, dann zwei Reihen behauener Sandsteine um einen Kern aus Lehm oder Gussgestein. Vor der Mauer ‐ auf der Nordseite, zu den Barbaren hin ‐ ein achtzehn Fuß breiter Schutzwall aus Sand und dann ein V‐förmiger Graben, siehst du? Siebenundzwanzig Fuß breit, zehn tief, mit einem Entwässerungskanal am tiefsten Punkt.« »Und dieses Ding soll sich quer durchs Land ziehen, ja?« »Ja. Hiesige Flüsse werden in unterirdischen Kanälen durch den Wall geführt. Bei größeren Flussquerungen werden wir Brücken brauchen.« »Brücken, natürlich«, meinte Tullio immer noch spöttisch. Der Adjutant, Annius, sagte fröhlich: »Und obendrein wollt ihr Kastelle und Türme, nehme ich an.« »Ein Kastell jede Meile, mit einem Tor, und zwei Türme in der Steinmauer zwischen jedem Kastellpaar. Hier sind die Zeichnungen ... die Mauer wird verputzt und weiß gestrichen.« »Oh, sehr hübsch«, sagte Annius. »Ein solches Bauwerk quer über die engste Stelle des Landes wird ein imposantes Manifest sein.« »Mein Schwanz ist ein imposantes Manifest«, knurrte Tullio, »aber er wird nicht von einem Meer bis zum anderen reichen, ebenso wenig wie dieser Wall. Hör zu, mein Freund, lass mich dich aus deinem Elend erlösen.« Er nahm ein Notizbuch zur Hand, einen dicken Holzblock, und schüttelte ihn, sodass er sich in einen Stapel von Täfelchen verwandelte, die an den Rän 129
dern miteinander verbunden waren. Er tauchte eine Feder in Tinte und begann munter, Zahlen hinzukritzeln. »Einundsiebzig Meilen, sagst du? Zehn Fuß mal fünfzehn? Wenn eine Meile also, ahm, so viele Fuß hat ... Der Punkt ist nämlich der, mein Freund, ich habe mit Legionären gearbeitet. Ich weiß, wie viele Steine oder wie viel Erde ein Mann pro Tag bewegen kann ...« Er kam zu einem Ergebnis und tippte mit seiner Feder auf
das Holztäfelchen. »Um all diese Steine von den Steinbrüchen dorthin zu befördern, wo der Wall verlaufen soll, brauchten wir insgesamt zwanzig Millionen Legionärsarbeitstage. Wir haben im Höchstfall fünf zehntausend Legionäre, und jeder Mann kann vielleicht zweihundert Tage pro Jahr schaffen ‐ dieses Jahr weniger, weil wir schon Juni haben. Und wenn man die eine Zahl durch die andere teilt ‐ tja, hier ha‐ ben wirʹs ‐, werdet ihr feststellen, dass ihr über sechs Jahre braucht, um diesen Wall zu bauen. Nicht drei!« »Aber ...« »Kein Aber. Schau dir die Zahlen an!« Tullio warf dem Architekten sein Notizbuch hin. »Oh, es ist natürlich immer möglich, ein bisschen Zeit einzusparen. Man nimmt nur Stein, den es vor Ort gibt. Treibt die Legionäre ein bisschen mehr an. Setzt vielleicht lokale Arbeitskräfte oder Sklaven ein, obwohl ... wenn die nicht ausgebildet sind, werden sie nicht viel nützen. Aber nichts von alledem wird wirklich etwas ändern. Nein, ich sage, es geht einfach nicht, mein Freund.« Der alte Xander sah aus, als werde er gleich in Tränen ausbrechen. 130
Severa starrte Tullio wütend an. »Ich weiß nicht, weshalb wir diese Debatte überhaupt führen. Der Befehl zur Errichtung dieses Walls kommt von Kaiser Hadrian persönlich.« Tullio lehnte sich zurück und verschränkte seine massigen Arme. »Ist mir egal, ob er der Kaiser der Römer oder der König der Moorleichen ist. Man kann einen Sechsjahreswall nicht in drei Jahren bauen, Schätzchen.« Severas Wut war eisig. »Nenn mich ja nicht >Schätzchen<, du zotteliger ...« »Severa!«, fauchte Karus. Annius studierte das Modell. »Ich sage euch was. Warum bauen wir ihn nicht aus Grassoden? Hält die haarigen Burschen aus dem Norden genauso gut fern und ist in weniger als der Hälfte der Zeit erledigt.« »Grassoden? Grassoden}«, sagte Severa drohend. »Wenn ich jetzt einen Klumpen Gras in der Hand hätte, du unverschämter Narr, würde ich ihn dir mit Freuden in den Rachen stopfen ...« Brigonius fasste sie am Arm. »Warte«, flüsterte er. »Ich bin Steinbrecher. Ich habe ständig mit solchen Leuten zu tun. Es ist nur ein Spiel. Lass uns ein wenig Zeit.« Karus stand hastig auf. »Ganz recht. Schlafen wir drüber, ja?« Er ragte massiv über Severa auf, bis sie sich aus dem Raum geleiten ließ. Dann setzte er sich und stieß erleichtert die Luft aus seinen Hängebacken. »Reichlich übellaunig, die Gute, was?«, meinte Tullio. 130
»Das war noch gar nichts«, entgegnete Karus trocken. Brigonius sah Tullio an. »Kommen wir zum Geschäft, ja? Du hast gehört, was sie gesagt hat, Präfekt. Wir haben es hier mit dem Kaiser zu tun. Und der Kaiser will einen Steinwall.« »Hör zu, Schwarzbart«, sagte Tullio schleppend, »der Kaiser kann seinen Wall auf dem Mond bauen wollen, aber das heißt nicht, dass es machbar ist.« »Und was ist machbar?«
Annius zupfte an seiner Lippe. Auf seine schwerfällige Weise schien er der Kreativere der beiden zu sein, dachte Brigonius, und er versuchte zumindest, Lösungen zu finden. »Hört mal«, sagte er langsam. »Wie wärʹs, wenn wir ihn halb aus Grassoden und halb aus Stein bauen? Das ließe sich wahrscheinlich in der Zeit schaffen. Dann hat man das Beste von allem, eine vollständige Abwehrbarriere in drei Jahren und ein hübsches Stück Mauerwerk, um die Oberen zu beeindrucken.« Brigonius wollte diesen Vorschlag spontan zurückweisen, aber Xander sagte müde: »Vier Zehntel.« Brigonius drehte sich zu ihm um. »Was?« »Nicht die Hälfte. Vier Zehntel Grassoden, der Rest Stein, wie es der Plan vorsieht.« Er tippte auf Tullios Notizbuch. »Nach den Zahlen ist das machbar, wenn du in deinen Berechnungen ehrlich bist, Präfekt. Außerdem habe ich es vorher schon selbst ausgerechnet. « Tullio nahm das Notizbuch wieder an sich und 131
überarbeitete seine Berechnungen rasch. »In Ordnung. Ja, vier Zehntel Gras, sechs Zehntel Stein. Ja, das ließe sich machen.« Xander wandte sich an Brigonius. »Mehr bekommen wir in der Zeit nicht hin.« Karus sagte finster: »Und das hast du schon gewusst, bevor wir hierhergekommen sind? Weshalb hast du nichts gesagt, als wir dem Kaiser den Plan vorgetragen haben?« »Weil ich nicht wusste, dass wir nur drei Jahre Zeit haben würden«, sagte Xander. Er klang erschöpft. »Diese kleine Einzelheit hat Severa bis zur Audienz für sich behalten. Was hätte ich tun sollen ‐ vor Hadrian mit ihr darüber diskutieren?« »So schlimm ist das nicht«, sagte Annius fröhlich. »Auf diese Weise sind alle glücklich. Und ihr könnt eure Grassoden später immer noch durch Stein ersetzen.« Karus brummte, gab jedoch nach. Brigonius schaute sich um. »In Ordnung«, sagte er vorsichtig, weil er den Konsens nicht überstrapazieren wollte. »Dann stellt sich die Frage, welche Hälfte aus Grassoden bestehen soll.« Nach einer weiteren einstündigen Diskussion und ein oder zwei Krügen von Tullios derbem germanischem Bier gelangten sie zu einem Ergebnis. Von Segedunum am östlichen Ende würde der Wall als Steinmauer fünfundvierzig Meilen weit nach Westen verlaufen und dann den Rest des Weges als Grassodenwall bis zur Westküste führen. Die östliche Hälfte 131
des Walls lag näher an guten lokalen Steinquellen ‐darunter nicht zuletzt an Brigoniusʹ eigenem Steinbruch ‐, und die beiden Soldaten hielten die Sicherheitslage an diesem Grenzabschnitt für kritischer, darum war Stein für diese Strecke die richtige Wahl. »Und außerdem«, hob Tullio hervor, »ist der Kaiser im Osten. Er wird einen Grundstein legen und keinen Erdklumpen ausbuddeln wollen.« Die vier standen auf und schüttelten sich die Hände. »Dann haben wir also einen Plan«, sagte Brigonius müde, aber erleichtert. »Jetzt müssen wir ihn nur noch dem Kaiser schmackhaft machen.«
»Das ist der leichte Teil«, murmelte Karus. »Severa ist diejenige, vor der ich Angst habe ...« 132
XII Der Höhepunkt von Hadrians Besuch in Eburacum war der vierundzwanzigste Juni, ein religiöser Feiertag für alle Soldaten im gesamten Imperium, ganz gleich, wo sie postiert waren. Danach würde Hadrian nach Norden reiten und feierlich den ersten Grundstein des gewaltigen Walls legen, der die Insel Britannien bald in zwei Hälften teilen würde. Brigonius hatte viel über die Gewohnheiten seines einzigen Kunden, des römischen Heeres, lernen müssen. Das religiöse Leben eines Soldaten war kompliziert. Zunächst einmal brachte er seine eigenen Götter mit. So feierte beispielsweise ein Germane hier in Britannien am ersten März sein Matronalia‐Fest. Überdies erwartete man von ihm, dass er allen lokalen Gottheiten Respekt zollte. Die Soldaten schienen Brigantiens Coventina zu mögen, und dank der Mobilität des Heeres gewann sie selbst auf dem Kontinent Anhänger, in Gallien und Germanien. Aber die primitiv gefertigten Coventina‐Statuen der Soldaten waren fremdartig für die Briganten, die ihre Göttin in den Hügeln, den Flüssen und im Wind fanden und in diesen großbusigen romanisierten Karikaturen nicht wiedererkannten. 132
Das Zentrum des religiösen Lebens eines Soldaten bildete jedoch ein Kalender mit den Feiertagen der traditionellen römischen Gottheiten, römischen Festtagen, kaiserlichen Jahrestagen und Daten, die mit seiner Einheit zu tun hatten. Und von allen Feiertagen in diesem Kalender war keiner wichtiger als der vierundzwanzigste Juni, der Tag der Fors Fortuna, einer bei den Truppen beliebten Göttin. Brigonius hatte gehofft, den Tag in Lepidinas Gesellschaft verbringen zu können. Er wusste nicht genau, wie Severas Pläne nun aussahen und wie viel Zeit ihm und Lepidina noch vergönnt sein würde. Doch als die Festlichkeiten des Tages begannen, war Lepidina nirgends zu finden. Dann erhob Severa selbst gebieterisch Anspruch auf seine Begleitung. Neben ihr, deren Gesicht so hart und verschlossen war wie römisches Gussgestein, folgte Brigonius dem Kaiser auf seiner Rundreise zu den Soldaten. Begleitet von seinen Höflingen, ging Hadrian langsam von Kasernenblock zu Ausbildungsplatz und sah sich Darbietungen von Feldmanövern der Fußtruppen und Formationseinsätzen berittener Einheiten an. Es war ein Festtag, und der Wein und das britannische Bier versetzten den kaiserlichen Tross in immer ausgelassenere Stimmung. Brigonius hatte es sich zum Prinzip gemacht, in Gegenwart von Römern nüchtern zu bleiben, aber Severa schien entschlossen zu sein, ihn mit Alkohol abzufüllen, und er sah keinen Sinn darin, sich ihr zu widersetzen. Als er genug Ale intus hatte, 132
kam ihm selbst ihre Gesellschaft nicht mehr ganz so eisig vor.
Hadrian trank durchaus auch etwas, blieb jedoch auf die Rolle konzentriert, die er spielte. In kleinen Dingen war er gut; Brigonius hörte, wie er einer gemischten Einheit aus Reitern und Fußsoldaten gegenüber sein Verständnis dafür zum Ausdruck brachte, dass es für sie schwerer war, eine spektakuläre Darbietung zu inszenieren, als für eine reine berittene Einheit mit ihrer großen Zahl von Pferden. Jeder schien in seiner Gegenwart zu wachsen, und Brigonius verstand, weshalb er bei seinen Soldaten so beliebt war. Als römischer Soldat führte man kein schlechtes Leben, fand Brigonius in zunehmendem Maße. Man erhielt regelmäßigen Sold und recht gutes Essen. In den Kasernen gab es Kameradschaft, und in der zivilen Stadt außerhalb des Kastells mit ihren Geschäften, Wirtshäusern, Bordellen und Tempeln fand man immer ein wenig Entspannung oder auch eine Gefährtin, die eines Tages zur Gemahlin werden konnte. In der Kaserne mochte es von Läusen wimmeln, in der Stadt von Krankheiten. Aber die Läuse wurde man im Badehaus los, und wenn man erkrankte, stand ein Lazarett zur Verfügung ‐ das Heer betrieb die einzigen professionellen Krankenhäuser der Welt. Es war durchaus möglich, dass man während seiner ganzen fünfundzwanzigjährigen Dienstzeit nur an zwei oder drei Feldzügen teilnehmen musste ‐ vielleicht blieb einem sogar jedweder Kampfeinsatz erspart. Man war fast mit Sicherheit besser dran als die Brittunculi oder an 133
dere halb zivilisierte Provinzbewohner außerhalb der Mauern des Kastells ... Und hin und wieder kam ein Kaiser zu Besuch. Viele Soldaten hatten sich den üblichen römischen Bräuchen zum Trotz Barte wachsen lassen, um Hadrians Münzbilder nachzuahmen. Das belustigte Severa. »Schau sie dir an. Des Kaisers Bart ist berühmter als er selbst!« Zur Mittagszeit zog sich der Kaiser samt seinem Gefolge, mit Brigonius und Severa im Schlepptau, ins Hauptquartier der Festung zurück. An diesem Tag war der größte Aufenthaltsraum im Block als Schrein für viele Götter ausstaffiert worden, und der Tross machte es sich bequem, um einen langen Nachmittag hindurch Speis und Trank und der Wahrsagerei zu frönen. Zu Beginn seines großen Projekts war Hadrian auf der Suche nach guten Vorzeichen. Seit Tagesanbruch hatten seine Philosophen den Himmel beobachtet und nach ungewöhnlichen Wolken und Vogelschwärmen mit vielversprechenden Flugmustern Ausschau gehalten. Nun wurden Tiere auf Kohlebecken verbrannt, man stocherte in Innereien herum, betete zu Statuen und brachte Trankopfer dar, während Gelehrte sich durch Schriftrollen mit Prophezeiungen und Deutungen arbeiteten. Nur der finstere Freigelassene Primigenius saß abseits von alledem und beobachtete die Geschehnisse, wie er es immer trat. Severa wich Brigonius nicht von der Seite; sie war wie eine Gefängniswärterin, und Brigonius hatte 133
nichts anderes zu tun, als zu trinken. Die eintönigen Monologe der Philosophen und die dicke, vom Weihrauch dunstige Luft erweckten in ihm das Gefühl, außerhalb seines
Körpers zu schweben. Er versuchte, ein Gespräch mit Severa in Gang zu bringen. »Römer sind stets abergläubisch, nicht wahr?« »Und keiner mehr als Hadrian«, sagte sie. »Aber das ist nicht weiter erstaunlich. Er ist ein Soldat, der sich damit abgefunden hat, nach seinem Tod zu einem Gott erhoben zu werden ‐ in Ägypten beten sie ihn sogar jetzt schon an. Wie wäre das für dich, Brigonius? Kannst du dir das überhaupt vorstellen? Wärst du nicht auch fasziniert von der Vergangenheit und der Zukunft, wenn du glaubtest, dass du eines Tages die Zeit selbst überwinden könntest?« Derartige philosophische Erwägungen verwirrten Brigonius bestenfalls; jetzt flatterten die Worte in seinem Kopf herum. »Abergläubisch oder nicht, er ist immer noch ein Soldat. Und man merkt, dass er nach wie vor ein Gespür für seine Männer hat.« Er erspähte den Präfekten Tullio, der nahe bei Statthalter Nepos saß. Tullio schwieg, und sein Gesicht war wie Donner. »Aber es gibt einen Soldaten, dessen Leben der Besuch des Kaisers nicht verbessert zu haben scheint.« »Oh, für unseren Freund, den Präfekten, sind die Dinge nicht so gut gelaufen«, sagte Severa mit seidiger Befriedigung. »Er sitzt zwar noch auf seinem Posten, aber er hat einige Privilegien eingebüßt. So sind beispielswei se seine Frau und seine Kinder aus der Festung geworfen worden.« 134
»Weshalb?« Sie betrachtete ihre langen, perfekt manikürten Finger. »Wegen dieser Lösung, die du mit deinen Saufkumpanen ausgeheckt hast. Ein Wall, der zur Hälfte aus Stein, zur Hälfte aus Grassoden besteht.« Brigonius wusste, wie unzufrieden sie mit dieser Vereinbarung gewesen war, nicht zuletzt, weil sie dem Wortlaut ihrer Prophezeiung widersprach. »Nicht ganz zur Hälfte ...« »Sei still«, sagte sie kalt. »Mir ist nichts anderes übrig geblieben, als es zu akzeptieren. Aber es hat mich einige Mühe gekostet, es dem Kaiser zu verkaufen ‐oder genauer, dem Freigelassenen Primigenius. Ich musste ihm einige Gefälligkeiten versprechen.« »Was für Gefälligkeiten?«, fragte er besorgt. »Und trotz alledem hielt ich es noch für notwendig, jemand anderem einen Teil der Verantwortung zuzuschieben. Ich freue mich, sagen zu können, dass man die Schuld an den Abweichungen von der ursprünglichen Planung unserem rüpelhaften germanischen Freund Tullio zugeschrieben hat, nicht mir und auch nicht Xander.« Brigonius, den Kopf voller Bierdunst und Rauch, hatte das Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden. »Das ist ungerecht gegenüber Tullio. Er tut nur seine Pflicht. Und du hast dir ohne Not jemanden zum Feind gemacht. Das ist eine schlechte Angewohnheit, Severa.« »Natürlich ist es ungerecht, aber das macht es ja nur umso süßer. Das wird ihn lehren, mich >Schätzchen< zu nennen.« 134
Etwas in ihrem Ton alarmierte Brigonius, aber er schien außerstande zu sein, sich aufrecht hinzusetzen. »Diese Gefälligkeiten, die du versprochen hast...«
Ihr Gesicht zeichnete sich undeutlich vor seinen Augen ab. »Du bist noch nicht ganz hinüber, nicht wahr, kleiner Britannier? Das Gift, das ich dir ins Ale tun ließ, wird dich aber bald vollständig im Griff haben.« »Gift?« »Oh, es wird dir nicht schaden. Dein Körper wird nur für einen Sonnenuntergang und einen Sonnenaufgang nicht mehr deinem Willen gehorchen.« Sie fuhr ihm mit einer Fingerspitze über die Brust. »Wie schrecklich für dich. Aber mach dir nichts daraus, es gibt da jemanden, der imstande sein wird, deinen schönen Körper zu benutzen, während du weggetreten bist. Du hast es dir schon gedacht, nicht wahr? Du bist die Gefälligkeit, die den Handel versüßt, zu dem du mich gezwungen hast. Es ist keineswegs meine Entscheidung, o nein, es ist einfach eine Folge deiner eigenen Handlungen. Das ist dir doch klar, oder nicht?« Auf einmal fiel Brigonius wieder ein, wie Hadrian ihn angesehen hatte. Zorn und Angst überfluteten ihn, aber er konnte sich immer noch nicht bewegen; er rollte auf seiner Liege herum, eine hilflose Puppe, die Glieder so schwer wie Holzscheite. »Was hast d u getan ‐hast du mich Hadrian vers prochen?« Nun zeichnete sich ein anderes Gesicht über ihm ab: bleiche Haut, schwarze Augen, Lippen wie e ine Wunde. »O nein, nicht dem Kaiser«, flüsterte Severa ihm 135
ins Ohr. »Für den bist du weder hübsch noch jung genug. Sondern Primigenius, der über die Macht verfügt, die ich brauchte. Er ist nicht gerade begeistert über unseren Vorschlag, weißt du; er hat nämlich seinen eigenen Lieblingsarchitekten, den er gern gefördert hätte. Und dann ist da die simple Eifersucht eines Bettwärmers gegenüber dem anderen. Primigenius gelüstet es nach dir, aber gleichzeitig hasst er dich, denn er weiß, dass du dem Kaiser ins Auge gefallen bist, wenn auch nur kurz. Ist das nicht paradox? Wird es nicht die Nacht würzen, die ihr gleich miteinander verbringen werdet?« Sie kam noch näher; er spürte ihren Atem an seinem Ohr, roch die Gewürze auf ihrer Zunge. »Und wenn er in dir gewesen ist, Brittunculus, wird meine Tochter dich nie wieder anrühren.« Dieser rote Mund senkte sich auf ihn herab, aber er konnte sich nicht bewegen, konnte sich nicht wehren, konnte nicht einmal schreien. 135
XIII Brigonius ritt westwärts Richtung Banna, an der Linie des Walls entlang. Ein Jahr nach Hadrians Entscheidung hatte sich jener Teil Brigantiens in eine riesige Baustelle verwandelt. An diesem strahlenden Morgen im späten Frühling sah Brigonius von höher gelegenem Gelände aus eine Schneise aus aufgerissenem Erdreich, die über die Klippen und grün gekleideten Hügel von einem Horizont zum anderen führte, markiert von den Fähnchen und Stangen der Landvermesser und braun zernarbt von Wagenspuren und den Abdrücken von Füßen und Hufen. Es war ein Schnitt durch das
grüne Fleisch der Landschaft. Und überall an ihm entlang schufteten Legionäre, schleppten Steine und legten sie aus, Maden in der Wunde. In den restlichen Sommertagen des letzten Jahres hatte Statthalter Nepos seinen Arbeitskräften zum Ziel gesetzt, einen drei Meilen langen Abschnitt des Walls fertigzustellen, was ihnen mühelos gelungen war. Dieses Jahr, in der ersten vollständigen Bauzeit, sollten die drei Legionen, die am Wall arbeiteten, jeweils fünf weitere Meilen vollenden. Als Erstes errichteten sie die Meilen‐Kastelle und 136
die Türme. Die Kastelle hatten einen schlichten rechteckigen Grundriss, fünfzig Fuß breit und sechzig lang, mit Toren in der Nordmauer und im Süden. Im Inneren gab es kleine Gebäude und einen Ofen, und eine Treppe führte zu einer Aussichtsplattform. Die Türme waren noch schlichter, einfache, strohgedeckte Bauten mit einer quadratischen Grundfläche von zwanzig mal zwanzig Fuß, jeweils mit einer Feuerstelle und einem Unterstand für die Soldaten. Da die Türme und Kastelle zur Struktur des Walls gehörten, besaßen sie »Flügel«, stummelartige Erweiterungen im Osten und Westen, wo sich die Mauer anschließen würde. Der Bau ging so rasch voran, dass die Mauer mancherorts bereits errichtet wurde. Auf ein Fundament aus in Lehmstrich eingelassenen Steinplatten setzte man zwei Reihen behauener Steine, ordentliche, quadratische Blöcke. Dann wurde der Zwischenraum mit einem Gemisch aus Bruchsteinen und Lehm oder Mörtel gefüllt. Unter der Mauer legte man Entwässerungsrinnen an, und größere Flüsse wurden in Tunnels darunter hindurchgeführt. Die fertigen Abschnitte aus Stein wurden bereits verputzt und mit Kalkfarbe weiß getüncht, und rote Streifen liefen an der Linie des Walls entlang und markierten den Verlauf der beiden Mauersteinreihen. Brigonius, selbst ein Steinbrecher, staunte über das Arbeitstempo. Nicht nur der ungeheuer effiziente Transport der Steine beeindruckte ihn, sondern auch der Umgang der Römer mit opus caementitium. Ohne einen Kern aus diesem Gussgestein hätte die Mauer 136
niemals so rasch erbaut oder so robust werden können. Opus caementitium härtete sogar unter Wasser aus, was die Konstruktion von Brücken mit festen Fundamenten erlaubte. Wenn die Blendsteine irgendwann einmal gestohlen wurden oder zerfielen, würde der Kern aus Gussgestein trotzdem stehen bleiben; die Römer bauten für Jahrhunderte. Der Wall war nicht in derselben Weise als Verteidigungsbarriere gedacht wie die Mauer einer Festung, die einer Belagerung trotzen sollte. Sein Zweck war Kontrolle. Mit Hilfe der in regelmäßigen Abständen eingebauten befestigten Tore würde die Armee die Bevölkerungsströme im ganzen Gebiet kontrollieren und sogar Zölle erheben können. Der Wall war eindrucksvoll genug, um kleinere Raubzüge zu verhindern, aber bei größeren Unruhen würden sich die Legionäre in ihren Stützpunkten im Süden sammeln und durch die Tore hinausreiten, um dem Feind zur offenen Feldschlacht in freiem Gelände gegenüberzutreten. Brigonius begriff allmählich, dass der Wall nur eine Komponente in einem System gestaffelter Kontroll‐, Verteidigungs und
Kommunikationsmechanismen war, das sich von hier aus mittels Straßen und Kastellen nach Süden bis in die römische Provinz und sogar nach Norden erstreckte, wo man bemannte und befestigte Vorposten jenseits des eigentlichen Walls unterhalten würde. Doch als Brigonius den Wall imposant über die Klippen aufragen sah, fragte er sich, welche Bedeutung diese militärischen Theorien im Vergleich zur brutalen physischen Realität des Walls besaßen. Er war ein Mo
3 io nument für die Macht der römischen Denkungsart, wie es Britannien ‐ oder Tullio zufolge die ganze Welt ‐ noch nie gesehen hatte, und selbst ohne einen einzigen Soldaten würde ein solches Bauwerk sicherlich alle bis auf die fanatischsten Feinde Roms abschrecken. Aber schließlich, rief Brigonius sich ins Gedächtnis, war er ‐ obwohl ihm ein gewisses Leid zugefügt worden war ‐ kein fanatischer Feind Roms. Brigonius gelangte zu dem Kalksteinbruch, der ihm selbst gehörte, einer riesigen Scharte im Südhang eines Hügels, nicht weit von der Linie des Walls entfernt, einige Meilen östlich von Banna. Er kam von Norden, sodass er am Rand der in die Flanke des Hügels geschnittenen künstlichen Steilwand Halt machen und die Aktivitäten in der Grube beobachten konnte. Lange Reihen Steine schleppender Männer schlängelten sich von der Stirnwand des Steinbruchs zu Sammelpunkten bei den Karren. Das waren die Männer der Sechsten Legion; die meisten stammten aus Gallien und Germanien, manche jedoch auch aus noch ferneren Ländern. Tag für Tag hackten sie in den britannischen Kalkstein, schnitten grobe Steinblöcke zurecht und schleiften sie zu den Karren, damit sie zu den Bauplätzen befördert werden konnten. Das Arbeitstempo war auch hier erstaunlich. Obwohl die diesjährige Bauzeit noch nicht ganz vorbei war, hatte sich der Steinbruch, der dicken Schicht cremefarbenen Felsgesteins folgend, bereits enorm weit über den kleinen Biss in den grasbedeckten Hang 137
hinaus ausgedehnt, den Brigonius geerbt hatte. Die Legionäre besaßen ein Sortiment von Spezialwerkzeu‐gen, die Brigonius heiß begehrte, zum Beispiel schwere Hämmer, Keile und Brechstangen mit Stahlspitzen und Kräne zum Heben schwerer Blöcke. An einer Stelle des Steinbruchs trieb eine Wassermühle einen Aufwerfhammer an, dessen viele Arme wild auf unnachgiebiges Gestein einschlugen. Er hatte gerüchteweise gehört, dass in einem anderen Steinbruch in der Nähe des Walls der Stein mit einer wasserbetriebenen Säge abgebaut wurde. Aber letztendlich wurde die Aufgabe mit harter körperlicher Arbeit erledigt. Selbst von hier aus konnte Brigonius den glänzenden Schweiß auf den Rücken der schuftenden Legionäre sehen. Der Wall würde siebzig Meilen lang sein, und jemand musste jeden einzelnen Steinblock heraushauen, ihn zur Linie des Walls schleifen und einmörteln. »Brigonius.« Er drehte sich um. Es war Matto, sein Vetter, ein stämmiger Mann, zehn Jahre älter als Brigonius. Matto hatte einen schwarzen Bart und dunkle Haare, und er trug einen schweren, tiefblau bis schwarz gefärbten Wollmantel, sodass er wie ein dunkler Klecks
mitten an einem hellen Sommertag war. Man konnte sich kaum eine Gestalt vorstellen, die antirömischer gewirkt hätte. »Vetter. Du hast dich an mich herangeschlichen.« Matto grinste, und Brigonius sah gelbbraunen Steinbruchstaub, der sich tief in seine Poren gesetzt 138
hatte. »Genau so, wie du dich an uns anschleichen wolltest ‐ hm?« Er hatte recht. Es war ein Trick, den Brigonius von Tullio, dem Präfekten, gelernt hatte, der so etwas wie ein rüder Freund geworden war. »Alle Soldaten sind faule Hunde«, pflegte Tullio in seinem schwerfälligen, germanisch gefärbten Latein zu knurren. »Das liegt ihnen im Blut. Man kann sich nur aus einer unerwarteten Richtung und in einem unerwarteten Augenblick an sie anschleichen. Am liebsten sind mir die frühen Morgenstunden. Du solltest die Huren und Lustknaben wegrennen sehen ‐ wie rosafarbene Ratten!« Brigonius fragte Matto: »Bin ich derart berechenbar?« »Du solltest dir ein paar neue Beobachtungspunkte suchen. Hier ist die letzte Abrechnung.« Matto reichte Brigonius ein ausklappbares Notizbuch aus zusam‐ mengeklebten Holztäfelchen. Brigonius überflog die Zahlen; auf den ersten Blick schienen sie in Ordnung zu sein. »Irgendwelche Probleme ?« »Keine außer den Römern«, knurrte Matto. »Die Zahlen in ihren hübschen Kolonnen stimmen. Aber sie stehlen unseren Stein, Vetter.« »Das ist nicht wahr«, erwiderte Brigonius geduldig. Sie hatten diese Diskussion schon viele Male geführt. »Die Preise, die sie bezahlen, sind ruinös«, beharrte Matto. Das stimmte, selbst im Vergleich zu den Preisen, die Brigonius vor Hadrian und seinem Plan bei den Solda 138
ten in Vindolanda erzielt hatte. Aber zumindest bezahlten sie, obwohl sie sich den Stein auch einfach hätten nehmen können. Brigonius glaubte zu wissen, warum. Erstens behielten die Römer ein reines Gewissen, indem sie nicht stahlen, sondern bezahlten, und sei es auch nur ein Almosen; sie mochten Heuchler sein, aber sie zogen es vor, sich bei ihren Geschäften an die Gesetze zu halten ‐ an ihre Gesetze, hieß das. Und es gab noch einen subtileren Grund. Als Mat‐to begonnen hatte, für Brigonius zu arbeiten, hatte er die lateinische Sprache und gut genug schreiben und rechnen lernen müssen, um angemessene Aufzeichnungen zu führen. Matto hatte es vielleicht nicht bemerkt ‐ und Brigonius hatte nicht vor, ihn darauf hinzuweisen ‐, aber durch den unabdingbaren Umgang mit dem Heer eignete er sich Stück für Stück elementare Kulturtechniken an und wurde in das Wirtschaftssystem der Römer einbezogen. Das römische Heer war nicht nur ein Eroberungswerkzeug. Die größte Organisation der Welt, deren stolze dreihunderttausend Angehörige sich vom Tinea bis zum Euphrat verteilten, gebrauchte überall, wo sie tätig war, die lateinische Sprache und bezahlte mit der Währung des Reiches. Das Heer war ein Quell der römischen Lebensart, seine Wälle und Kastelle waren eine steinerne Woge der Akkulturation.
Jedenfalls wurden zur Errichtung des Walls so große Steinmengen abgebaut, dass Brigonius und seine Familie selbst bei den »ruinösen« Preisen der Römer heimlich, still und leise reich wurden. 139
Matto erzählte eine lange und komplizierte Anekdote über das Verhalten eines besonders unausstehlichen Dekurios im Steinbruch. Brigonius schnitt ihm das Wort ab. »Heute bist du noch schlechter gelaunt als sonst, Vetter. Irgendwas ist dir auf die Nüsse gegangen. Was ist los?« »Unter den Leuten herrscht große Empörung«, sagte Matto. »Es ist wegen der Steuerschätzung.« »Noch eine?« »Sie bauen ihren kostbaren Wall auf frisch gepflügtes Land, Brigonius. Auf mein Land. Und nun erklärt man mir auch noch, dass ich höhere Steuern für ihn entrichten muss. Und wenn ich mein Vieh künftig von einem Feld zum anderen bringen will, muss ich ein römisches Tor passieren und Zoll bezahlen!« »So ist es nun mal, Matto. Wenn du eine Beschwerde hast, wende dich an den Gemeinderat.« »Was hätte das für einen Sinn?«, erwiderte Matto entrüstet. »Dieses Pack hat sich doch längst an die Römer verkauft.« Ein großer Teil der brigantischen Edelleute war in die Regierung der civitas einbezogen worden, des römischen Verwaltungsbezirks, der den Namen des alten Stammesgebiets übernommen hatte. »Na schön«, sagte Matto jetzt düster, »man spricht davon, etwas zu unternehmen.« Brigonius verlor allmählich die Geduld. Jedes Mal, wenn er mit Matto geschäftliche Dinge besprechen wollte, musste er sich dieses Geschwätz anhören. »Was denn zum Beispiel? Was wollt ihr machen, den Statthalter mit Steinen bewerfen?« 139
»Kein Wunder, dass du das sagst«, erwiderte Mattet höhnisch. »Manche behaupten, du seist inzwischen römischer als die Römer.« Brigonius ließ sich nichts anmerken. »Dann gibt es nichts mehr zu sagen, nicht wahr?« Er klopfte auf die Aufzeichnung. »Danke dafür. Wir sehen uns nächste Woche.« Und er drehte sich wieder zum Schauspiel seines Steinbruchs und der schwer arbeitenden Legionäre um. Er hörte, wie Matto zu seinem Pferd stapfte. Brigonius wusste, dass er ein leichtes Ziel für den Groll seiner Landsleute bot, weil er viel zugänglicher war als ein Ratsmitglied. Am meisten machte ihm bei solchen Zusammenstößen jedoch die Erinnerung daran zu schaffen, was ihm vor einem Jahr in Eburacum angetan worden war. Er war bei Bewusstsein gewesen, hilflos, aber bei Bewusstsein, als Primigenius sich an ihm vergangen hatte. Als er es schließlich gewagt hatte, sich Lepidina wieder zu nähern, war sie vor ihm zurückgescheut, als ob der Gestank des Freigelassenen noch an ihm haftete. Was man ihm angetan hatte, war doch wohl schlimmer als irgendso ein kleiner Landraub, wie ihn Matto und seine Freunde über sich ergehen lassen mussten.
Aber die Römer waren wie das Wetter oder wie das Verstreichen der Zeit; man konnte nichts gegen sie tun, man musste mit ihnen zusammenarbeiten oder sich da‐ vonschleichen und sterben. Das war es, was Matto einfach nicht einsehen wollte. Und wegen dem, was ihm in jener Nacht widerfahren war, machte er weder den Römern noch dem Kai 140
ser Vorwürfe, nicht einmal dem verbitterten Freigelassenen Primigenius. Die Falle, in die er gegangen war, hatte ihm eine Frau gestellt: eine Römerin, aber von der Abstammung her seine eigene Landsmännin, Claudia Severa. Vorläufig gab es jedoch eine Menge zu tun. Er wendete sein Pferd und machte sich auf den Weg nach Banna. 140
XIV Brigoniusʹ Geburtsort lag unweit der Stelle, wo die westliche Wallkonstruktion aus Grassoden auf die östlichen Steinmauerabschnitte stieß. Darum sah er den Grassodenwall vor sich, als er Banna an diesem Abend erreichte. Wenn überhaupt, war er ein noch spektakulärerer Anblick als der Steinwall, denn entlang seiner Linie hatten die Legionäre die Vegetation bis zum darunterliegenden rosa‐weißen Geschiebemergel abgetragen. Die Grassoden, die sie gestochen und manchmal aus vielen Meilen Entfernung hierher transportiert hatten ‐ gute Grassoden waren nämlich schwer zu finden ‐, häuften sich auf einem zentralen Streifen verbliebenen Grüns. Der fertige Wall war vierzehn Fuß hoch und an der Basis zwanzig Fuß breit, in regelmäßigen Abständen unterbrochen von Türmen aus Stein und Holz, und vor der Nordseite des Walls entstand eine Aufschüttung aus weißem Lehm. Als Brigonius also von höher gelegenem Gelände hinabschaute, war der gerodete Streifen deutlich zu erkennen ‐ eine tiefe Schnittwunde in der Landschaft, leuchtend weiß in der Sonne, mit der grünbraunen Linie des Walls in der Mitte. 140
Endlich traf er in Banna ein. Südlich des Steilhangs lag immer noch das tief eingeschnittene Tal, und unten strömte der Fluss dahin, so wie immer. Aber die Römer hatten ihre Spuren in der Landschaft hinterlassen. Im Norden führte eine schnurgerade Straße zu den nördlichen Vorposten, und die Hügel, in denen seine Vorfahren einst die liegende Gestalt einer Göttin gesehen hatten, schimmerten jetzt von den Feuern der Wachtürme. Banna selbst war nun der Standort eines römischen Lagers. Brigonius sah die Umrisse der Wachposten vor der untergehenden Sonne; ihre bloßen Köpfe und die Spitzen ihrer Speere zeichneten sich deutlich über hölzernen Brustwehren ab. Überall herrschte rege Betriebsamkeit; auf den grob angelegten Straßen, die von Osten, Westen und Süden herbeiführten, wimmelte es von Menschen und Fahrzeugen, und der ehemals gras‐ bedeckte Boden um das Lager herum war eine einzige Schlammwüste. Das Lager selbst kauerte an der Steilwand, im Norden durch einen Komplex aus Gräben ‐einer davon
mit angespitzten Pfählen bestückt ‐ und im Rücken durch die Steilwand vor jeder Bedrohung geschützt. Als er sich den Verteidigungsanlagen des Lagers näherte, passierte Brigonius eine Abfolge von Wachposten. Im Innern standen die römischen Lederzelte in ordentlichen Reihen. Natürlich sah er überall Soldaten in ihren ledernen Tuniken und Hosen, ihren Wollmänteln und mit Riemen geschnürten Militärstiefeln. Jetzt trugen noch mehr von ihnen Barte, einen solchen Ein 141
druck hatte Hadrian bei seinem Besuch im vergangenen Jahr auf sie gemacht. Das Lager war ein grober Entwurf des Kastells, das hier bald entstehen würde, aber es funktionierte bereits, war schon ein einsatzfähiges Element im Verteidigungssystem der Provinz. Früher hatte an diesem Ort eine brigantische Gemeinschaft gelebt. Lange vor Brigoniusʹ Geburt war hier ein römischer Wachturm gebaut worden, eine klobige Steinsäule, die seine Kindheit überschattet hatte. Der Wachturm stand immer noch, aber sein Zuhause gab es nicht mehr; die Rundhäuser waren zerstört, die Verteidigungsgräben zugeschüttet. Das Einzige, woran Brigonius den Ort noch wiedererkannt hätte, war die elementare Form der Landschaft. Brigonius fand Tullio in seinem Zelt. Tullio hatte seinen Haushalt während der diesjährigen Bauzeit hierher verlegt und auch seine Adjutanten mitgenommen; von diesem Ort aus konnte er die Fortschritte des Steinwalls im Osten wie auch des Grassodenwalls im Westen überwachen. Einige seiner Offiziere waren ebenfalls hier, darunter sein enger Berater, der eimerköpfige Dekurio Annius, und er hatte sogar seinen Haussklaven dabei. Karus und Xander waren gerade anwesend; sie saßen mit der gelangweilt dreinschauenden Lepidina zusammen. Als Brigonius sich zu ihnen gesellte, gelangten sie ‐ beschwingt von dem Wein, den ihnen der Sklave servierte ‐ gerade ans Ende einer offenbar weitschweifigen Diskussion über Probleme, die mit dem Wall zu tun hatten. Tullio war wie üblich von Papierbergen umgeben. 141
Das Einsatzsystem des Heeres war ziemlich kompliziert, wie Brigonius gelernt hatte; Abteilungen wurden in alle Winkel die Provinz geschickt, sodass sich zu jedem gegebenen Zeitpunkt vielleicht nur die Hälfte oder zwei Drittel des nominellen Bestands einer Einheit wirklich im Heimatstützpunkt befand. Doch in den Akten der Einheit wurden die Pflichten jedes römischen Soldaten täglich verzeichnet. Dank der pingeligen Buchführung des Heeres konnten die Befehlshaber nicht nur genau feststellen, wo jeder Soldat sein sollte, sondern auch, wo er tatsächlich war. Um dieses ungeheure Gebirge von Aufzeichnungen zu bewältigen, brauchte es ganze Scharen von Schreibern, ein Heer innerhalb des Heeres. Heute drehte sich die Diskussion jedoch um den Wall. »Ein Kastell pro Meile, zwei Türme pro Meile«, sagte Xander mit fester Stimme. »So steht es im Plan. Und das bauen wir auch.«
»Und ich sage dir«, entgegnete Tullio, »dass es unmöglich ist. Dein Plan ist gut und schön. Ich bin ein großer Freund von Plänen. Ohne Plan würde mir der Schwanz aus der Unterhose purzeln. Aber ich rede jetzt von Tatsachen, von den Legionären da draußen, die gerade Steine und Grassodenblöcke aufeinanderstapeln. Und wenn man versucht, deine Eins‐pro‐Meile‐Regel strikt zu befolgen, Xander, dann pflanzt man Kastelle auf den Boden einer Rinne, wo man die Tore nicht öffnen kann, oder auf den Gipfel eines Kamms, wo man beim Öffnen der Tore in die Tiefe stürzen würde.« 142
»Römer Straßen führen immer geradeaus«, sagte Karus, selbst ein wenig spöttisch. »Bergauf und quer durch die Täler; jeder weiß das. Willst du behaupten, dass ihr einen simplen Wall nicht nach demselben Muster bauen könnt?« Tullio ignorierte ihn. »Und es ist nicht nur die Position der Kastelle. Ich höre das Murren der Legionstribunen, die von Eburacum zur Inspektion hergekommen sind. Wie sollten sie bei einem Angriff durch diese Spielzeugstadt‐Tore ausschwärmen ?« Xander sagte steif: »Ich habe die Breite und die Anzahl der Tore sorgfältig berechnet, um zu gewährleisten, dass ...« »Ja«, sagte Tullio, »aber die örtlichen Bauern müssen sie ebenfalls benutzen. Was sollen wir dem Legaten der Sechsten sagen, wenn er sich hinter einer Schafherde anstellen muss?« Das Bild war so absurd, dass Lepidina in allerliebstes Gelächter ausbrach. Brigonius bemühte sich, sie nicht anzusehen. Er wusste, dass das Wallbauprojekt zur allgemeinen Überraschung tatsächlich nach Plan lief. Aber die Frage der nutzlosen Meilen‐Kastelle bereitete Tullio ernsthaft Sorgen. Tullios Sklave, ein Junge von vielleicht vierzehn Jahren, kam mit einem Becher Wein zu Brigonius. Brigonius nahm ihn entgegen und sagte: »Danke.« Der Junge wirkte verblüfft, dass er überhaupt bemerkt wurde. »Wohl bekommʹs, Herr«, sagte er und zog sich wieder an seinen Platz zurück. 142
Brigonius schaute ihm nach und nippte an seinem Wein; es war Soldatenwein, starker, scheußlicher Stoff. Die Sprache des Jungen war britannisch, brigantisch. Sein Wurfname war Similis. Brigonius fragte sich, was Matto wohl dächte, wenn er seinen Vetter jetzt sähe, wie er vom britannischen Sklaven eines germanischen Offiziers im Sold des römischen Heeres Wein kredenzt bekam, während er an einem Wall arbeitete, der die Knechtschaft Nordbritanniens für immer sichern sollte. Und er sah Lepidina an. Er konnte nicht anders. Sie saß stumm da, mit gesenktem Kopf, die Hände um einen halb leeren Becher mit blutrotem Wein gelegt. Ein Jahr in den nördlichen Kastellen unter der Fuchtel ihrer Mutter hatte diesem Stadtmädchen nicht gut getan, und es war nichts mehr von der Lebhaftigkeit übrig, die sie während jenes ersten Besuchs in Camulodunum an den Tag gelegt hatte. Sie war ein Vogel in einem steinernen Käfig. Karus schien das bedrückte Schweigen zwischen ihnen zu bemerken. Während das Gespräch über die Zweckmäßigkeit der Meilen‐Kastelle allmählich dem Ende entgegenging, schlenderte der Advokat zu Lepidina herüber, nahm Platz und ließ sich
von dem Sklavenjungen den Becher nachfüllen. »Na«, sagte er, »wie gehtʹs deiner wundervollen Mutter? In letzter Zeit sehe ich sie nicht mehr so häufig.« »Ich auch nicht«, sagte Lepidina. »Sie ist zu sehr damit beschäftigt, dem Statthalter Briefe zu schreiben.« 143
»Ja, über die weiß ich Bescheid«, knurrte Tullio und blickte von seiner Diskussion auf. »Da stehen nur lauter gute Nachrichten drin. Sie überlässt es mir, ihm die Wahrheit zu sagen, was sich im Vergleich immer schlecht ausnimmt.« Er seufzte geräuschvoll. »Dieses elende Weibsstück!« »Sie ist eine schwierige Freundin«, sagte Karus, »aber ich möchte sie nicht zur Feindin haben.« »Und wie denkt sie über ihre kostbare Prophezeiung, nachdem sie sich nun nicht bewahrheitet?«, fragte Xander. Lepidina zuckte die Achseln. Karus warf den Soldaten einen unbehaglichen Blick zu. Brigonius wusste, dass die Römer Prophezeiungen, Omen, Wahrsagereien und dergleichen als Quellen der Macht betrachteten ‐ und man musste vorsichtig sein, erst recht unter einem Kaiser, der sich geradezu zwanghaft Gedanken über sein eigenes Schicksal machte. Aber Severa und ihre Familienprophezeiung waren am Wall zu einem beliebten Gesprächsstoff geworden, und viele machten sich darüber lustig. »Komische Sache, das mit der Prophezeiung«, sagte Annius auf seine vergnügte Art. »Da steht tatsächlich drin, dass Hadrian nach Britannien kommen und einen Wall bauen würde, stimmtʹs?« »Nicht ganz«, erwiderte Lepidina, »aber fast.« »Ich habe noch nie von einer so ... so ... wie soll ich sagen? ... spezifischen Prophezeiung gehört. Du, Tullio? Für gewöhnlich stochert man in Laub und Innereien herum und bekommt ein paar unheilvolle
3 M Omen, die alles Mögliche bedeuten können. Hier ist es anders ‐ nicht so, als gäben uns die Götter ihre üblichen Rätsel auf, sondern eher, als spräche ein Mensch zu uns. Als wüsste jemand in der Zukunft, was passieren wird, hätte es aufgeschrieben und in die Vergangenheit geschickt.« »Der >Weber<, wie meine Mutter ihn nennt. Der Autor der Prophezeiung«, meinte Lepidina. »Aha«, sagte Xander fasziniert. »Aber ist das denn in irgendeiner unserer Weltanschauungen überhaupt möglich? Erlauben wir irgendwem ‐ und seien es die Götter ‐, die Zukunft zu kennen oder die Vergangenheit zu ändern?« »Wenn die Legionäre sie auf Mona nicht alle an ihre heiligen Bäume genagelt hätten«, warf Karus trocken ein, »wäre es interessant, einem Druiden eine solche Frage zu stellen. Ich weiß, sie haben von einer fortwährenden Seelenwanderung zwischen unserer Welt und der Anderswelt gesprochen, aber jede unserer Seelen ist in die Zeit eingebettet. Daher glaube ich, dass Fragen nach der Existenz der Zukunft oder nach der Möglichkeit, an der Vergangenheit herumzuspielen, für sie bedeutungslos gewesen wären.«
»Aber in Griechenland«, sagte Xander hochmütig, »hat man weitaus kultiviertere Vorstellungen entwickelt.« »Geht das wieder los«, knurrte Tullio. »Noch mehr >kultivierter< Pferdemist.« Er schnippte mit den Fingern, damit der Junge ihnen Wein nachschenkte. Xander ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Zum 144
Beispiel gibt es die Idee der ewigen Wiederkehr, in der die Zeit zyklisch ist und jedes Ereignis immer von Neuem stattfinden muss, ohne Begrenzung. Das hat Aristoteles Probleme bereitet; er hat sich Gedanken über die Kausalität in einem Universum gemacht, in dem er nach dem Untergang Trojas ebenso existierte wie davor. Aber man könnte die >Vergangenheit< wohl wirklich beeinflussen, indem man dafür sorgt, dass eine Botschaft mit Informationen über sie so lange erhalten bleibt, bis sie irgendwann in der >Zukunft< wiederkehrt ...« »Und was ist mit der Ewigkeit?«, rief Karus. Er klang ein wenig betrunken. »Ich dachte, darüber hättet ihr Griechen jede Menge zu sagen, Xander.« »Und einige Römer auch«, erwiderte Xander milde. »Ewigkeit: eine Seinsweise, in der alle Ereignisse, frühere und künftige, gemeinsam existieren. Lukrez hat behauptet, zeitliche Dauer sei ein reines Geistesprodukt, denn die Ewigkeit sei die höhere Wirklichkeit, durch die wir uns bewegten, versteht ihr, und Bewegung vermittle den Eindruck von Veränderung. Aber Lukrez hat natürlich nur ältere Vorstellungen der Epikuräer weiterentwickelt. Und Piaton, ebenfalls ein Vorläufer von Lukrez, hat vor langer Zeit gesagt, unsere Zeitwahrnehmung sei ein >bewegtes Bild der Ewigkeit< ...« Brigonius bemühte sich, das alles zu verstehen. »Die Ewigkeit ist also wie ... wie was?« »Stell dir einen Wandteppich vor, Brigonius«, erklärte Karus, »in den Bilder von Bäumen in ihren ver‐ 32.6 schiedenen Entwicklungsstadien eingewoben sind: Samenkörner, Schösslinge, jung, reif, alt, umgestürzt und verrottet. Im Webmuster sind sie alle gleichzeitig da, verstehst du. Jetzt bist du eine Ameise, die an einem Faden des Wandteppichs entlangläuft. Dabei lässt du den Blick über die Bilder der jungen und alten Bäume gleiten und verbindest sie in deinem Kopf ‐und statt viele Bäume verschiedener Altersstufen zu sehen, bildest dir ein, nur einen Baum zu sehen, der wächst und stirbt und verrottet. Verstehst du? Ein bewegtes Bild, das aus etwas Unbewegtem abgeleitet ist, vergehende Zeit, die aus der Ewigkeit abgeleitet ist.« Brigonius legte die Stirn in Falten. »Ich glaube, ich kann dir folgen.« »Soll das alles nun heißen, dass die Zukunft zur Vergangenheit sprechen kann?«, fragte Annius. Karus lachte. »Vielleicht, wenn man dem richtigen Gott die richtige Frage stellt! Vielleicht ist die Zeit wirklich ein Wandteppich, und unser aller Leben sind seine Fäden. Und es gibt irgendwo wirklich einen Weber, einen Gott oder einen Menschen, der alles, Vergangenheit und Zukunft, mit einem Blick sieht ‐ und der mit ein paar geschickten Handgriffen das Webmuster ändern, die Geschichte korrigieren und unser Leben ändern kann. Aber dabei stellt sich natürlich immer die Frage nach dem Zweck.
Wenn der Weber oder die Weberin die Geschichte durcheinanderbringen will ‐ warum und mit welchem Ziel?« Keiner von ihnen hatte eine Antwort darauf. Tullio unternahm einen offensichtlichen und 145
freundlichen Versuch, Lepidina einzubeziehen. »Was ist mit deinem christlichen Gott, junge Dame? Was hat er über die Zeit und das Schicksal zu sagen?« »Jesus war der Mensch gewordene Gott«, antwortete Lepidina milde. »Was er uns zu sagen hatte, betrifft die Art und Weise, wie wir unser Leben führen. Wie wir übereinander denken. Über Zeitanschauungen hatte er nichts zu sagen.« »Aber wenn ich eure Mythologie richtig verstehe«, sagte Karus, »dann war Jesu Leben zeitgebunden, anders als bei den Göttern der Vergangenheit, und es kennzeichnete einen großen historischen Einschnitt. Er war der Mensch gewordene Gott, und mit seinem Leben und seinem Tod durch Mörderhand hat er die Menschheit erlöst.« Xander zog die Augenbrauen hoch. »Jesus ist also ein Gott, der sich einmischt, wie die alten olympischen Götter. Ich dachte, mit denen wären wir fertig! Und er ist ermordet worden? Auf welche Weise?« »Von den Römern«, sagte Lepidina. »Der Statthalter von Judäa hat ihn als Rebellen hinrichten lassen.« Tullio sagte mit rauer Stimme: »Ich kannte jemanden, der jemanden kannte, der deinen Christus kannte.« Lepidina machte große Augen. »Wirklich?« »Der Bursche, von dem ich rede, war ein Veteran im Ruhestand, als ich gerade zum Militär kam. Damals war ich achtzehn oder so. Ich habe ihn in Pannonien getroffen. Und er hat mir von einem Veteranen erzählt, den er in Afrika kennengelernt hatte, als er noch jung 145
war. Dieser Bursche war Zenturio gewesen, und er hatte an jenem Tag in Judäa Dienst, als dein Christus gekreuzigt wurde. Die Kameraden hätten Erbarmen mit ihm gehabt, meinte er. Als er am Kreuz gestorben ist, habe ihm einer von ihnen Soldatenwein zu trinken gegeben.« Er hob seinen Becher. »Solchen wie den hier.« Sie saßen ernst da und dachten darüber nach. Karus murmelte: »Während Gott als Kind geboren wird ...<« »Aus der Prophezeiung«, sagte Brigonius. »Ja. Ich habe mich oft gefragt, Lepidina, was diese Formulierung bedeutet. Selbst wenn man davon ausgeht, dass Severa recht hat, dass es in diesen Zeilen um Hadrian und den Wall geht, passt dieser Halbsatz nicht hinein. Du hast immer behauptet, die Prophezeiung sei mit deinem jungen Glauben verbunden, weil die Geburtsdaten eures Vorfahren und deines Christus übereinstimmten. Ich frage mich, ob diese Zeile uns etwas über einen großen künftigen Konflikt zwischen deinem jungen Gott und den alten Göttern erzählt. Aber wenn es so ist, wohin führt uns die Prophezeiung dann? Was will der Weber? ...«
Ein lautes Krachen ertönte, und ihnen stieg der Geruch von Rauch in die Nase. Tullio ließ seinen Becher mit Wein fallen und rannte aus dem Zelt. 32-9
XV Im Lager herrschte ein einziges Chaos. Soldaten ‐ einige nur halb bekleidet ‐ rannten in alle Richtungen und fummelten an Waffen und Rüstungen herum. Und in einer Ecke des Lagers stieg eine Rauchwolke auf. Xander schaute sich verwirrt um. »Was ist passiert? Was sollen wir tun?« »Gar nichts«, sagte Brigonius mit fester Stimme. Er fasste Lepidina am Arm. Ihre Miene war verschlossen, und er konnte nicht erkennen, was sie dachte oder empfand. Dies war nicht der richtige Ort für sie, sagte er sich ärgerlich. »Bleib bei mir. Das Lager wird offenkundig angegriffen. Hier sind wir am sichersten. Lass die Soldaten einfach ihre Arbeit erledigen.« Karus schüttelte den Kopf; er torkelte unübersehbar vom Wein. »Ich möchte wissen, wie sieʹs geschafft haben, das Lager in Brand zu stecken. Was haben sie benutzt, ein Katapult?« Tullio kam zu ihnen und sah Brigonius wütend an. »Du. Du bist Brigant. Wirst du mir Schwierigkeiten machen?« »Nein.« Tullio ließ nicht locker. »Was bist du dann? In dieser Nacht werden römische Schwerter vielen deiner 33° Landsleute den Bauch aufschlitzen. Bist du ein Verräter an deinem eigenen Volk?« Die Frage traf Brigonius ins Herz. »Nein«, sagte er. »Aber ich bin auch kein Narr. So wird man mit den Römern nicht fertig; das ist ein aussichtsloses Unterfangen.« »Und wie wird man mit den Römern >fertig
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sehender Zenturio trat auf sie zu. Sein Gesicht war von Asche gestreift, und von seiner Hand baumelte etwas herab, was von einer dunklen Flüssigkeit troff. »Er war im Lager. Er hatte hier zu tun; er ist früher schon hier gewesen. Wir hatten keinen Grund, ihm zu misstrauen. Aber er hatte eine Flasche mit Öl dabei, die er angezündet hat und ...« »Wer, Mann? Wer hat das getan?« Der Zenturio starrte Brigonius böse an. »Der gehört zu dir, glaube ich.« Er hob den Arm. Das Ding in seiner Hand war ein am Hals abgeschlagener menschlicher Kopf, aus dem noch immer Blut lief. Das Gesicht war hinter einem dichten schwarzen Bart verborgen. Der Zenturio warf das nasse Ding auf den Boden. Brigonius zuckte zusammen, wich jedoch nicht zurück, während Lepidina sich hinter ihm duckte. »Mat‐to«, flüsterte Brigonius. »Oh, du Narr.« Tullio machte ein finsteres Gesicht. »Für Beschuldigungen ist später noch Zeit. Zunächst einmal müssen wir die Situation in den Griff bekommen. Du«, wandte er sich an den Zenturio. »Du übernimmst die Verantwortung für die Vorgänge im Lager. Löscht dieses Feuer, bevor es noch mehr Schaden anrichtet.« Der Zenturio lief davon. »Annius, du kommst mit mir. Was machen diese Signalgeber da oben im Turm, holen die sich gegenseitig einen runter? Ich muss rausfinden, was im Land passiert ...«Er stolzierte davon, empört, zornig und überaus kompetent. Karus starrte den abgeschlagenen Kopf an. »Ich kannte diesen Mann.« 147
»Er war mein Vetter«, sagte Brigonius grimmig. »Er hat für mich gearbeitet, im Steinbruch.« »Was ging nur in seinem Kopf vor, Brigonius? Er muss doch gewusst haben, dass er einen einsamen Angriff auf ein Römerlager nicht überleben konnte.« »Aber der Tod war ihm egal«, sagte Xander leise. »Die Römer sind schon früher auf solche Selbstmordattentäter getroffen ‐ und sie wissen, dass es schwer ist, mit ihnen fertig zu werden. Wie Tacitus geschrieben hat: >Der Mann, der bereit ist zu sterben, wird euch stets überlegen sein.<« Die Flut von Befehlen, die Tullio von sich gab, tat alsbald ihre Wirkung. Soldaten schwärmten durchs Lager und machten Waffen und Rüstungen bereit. Währenddessen versammelten sich andere um das Feuer. Sie schleppten einen Karren mit einem schweren Wassertank herbei. Zwei bullige Fußsoldaten betätigten einen Zweimannhebel, und Wasser wurde aus einer Düse gepresst. Der Karren wurde hastig gedreht, sodass der Wasserstrahl der Feuerwehr auf die brennenden Zelte gerichtet war.
XVI Es wurde allmählich dunkel; der lange Tag ging in die Nacht über. Brigonius und seine Gruppe hockten mit Tullios Stab dicht gedrängt im Zelt des Präfekten. Außerhalb des Lagers war das Land in Aufruhr. Brigonius hörte Rufe und Schreie, und ein durchdringender Rauchgestank hing über dem Lager. Die Soldaten drückten sich auf ihren Wachposten herum und spähten in die gefährliche Dunkelheit.
Zu Brigoniusʹ Überraschung schickte Tullio seine Streitkräfte nicht sofort hinaus, um den Feind zum Kampf zu stellen. Während der Nacht ließen die Wachen nur Meldereiter durch. Auf dem alten Signalturm wurden Fahnen gehisst und Leuchtfeuer angezündet, und überall in der unruhigen Landschaft leuchteten als Reaktion darauf weitere winzige Feuer auf, als das Massenbewusstsein der Armee Informationen über die Geschehnisse aufnahm und weiterleitete. Bald wurde klar, dass der Aufstand koordiniert gewesen war. Überall an der Linie des Walls hatte es Angriffe gegeben, meist übereilte Selbstmordattacken. Zugleich war es im Land zu einer allgemeinen Erhebung gekommen, bei der Steuerbeamte und Ratsmitglieder, viele von ihnen selbst Briganten, beschimpft 148 und angegriffen und ihre Häuser geplündert worden waren. Der schlimmste Zwischenfall hatte sich westlich von Banna ereignet, wo eine Schar junger Männer den noch unfertigen Grassodenwall angezündet, den Verteidigungsgraben eingetreten und die neue Grenze der Römer insgesamt übel zugerichtet hatte. Die ganze Nacht hindurch saß Tullio in seinem improvisierten Kommandoposten und grübelte über Karten und Listen mit den Namen und Nummern von Abteilungen auf hastig aufgestellten Tischen. Aufzeichnungen, Tabellen, Listen, Informationen, Infor‐ mationen: Noch während das Land wie ein aufgestörter Ameisenhaufen kochte, waren Kommunikation, Geduld und Überlegung der Schlüssel zur römischen Reaktion. Als Brigonius hier saß, wurde ihm klar, wie falsch Matto mit seinem Widerstand gegen die Kulturtechniken der Römer gelegen hatte, denn sie waren die entscheidende Waffe der Armee. Durch Worte und Zahlen auf Papier konnten römische Kommandeure ihre Befehle unzweideutig über Hunderte von Meilen übermitt eln, und die blutigen Lektionen der Vergangenheit waren ohne Irrtum oder Verzerrung für immer gespeichert. Während Tullio und sein Stab arbeiteten, brachte ihnen der brigantische Sklaven junge etwas zu essen und weiteren Soldatenwein. Brigonius fragte sich, was im Kopf des Jungen vorging, was die Erhebung für ihn bedeutete. Wo war seine Familie ‐ nördlich oder südlich von hier? Aber Familien, ja sogar Namen waren ohne Belang, sobald ma n ein Sklave war; man hatte 148 keine Vergangenheit, keine Zukunft, keinen Daseinszweck außer dem, den der Herr einem zuwies. Selbst die eigenen Kinder waren Sklaven und bekamen Wurfnamen vom Herrn: »Erstgeborener« (Primigenius) vielleicht, »Ähnlicher« (Similis) oder »Kümm er‐ ling«. Aber in einer solchen Lage, dachte Brigonius, musste selbst der gefügigste Sklave eine Regung in seinem Herzen spüren. Die lange Nacht zog sich zäh dahin. Karus trank sich auf einer Soldatendecke in den Schlaf. Der nervöse, angesichts dieser echten Krise jedoch verblüffend stoische Xander hüllte sich in seinen Mantel und saß schweigend da, mit großen Augen. Lepidina kuschelte sich an Brigonius, und Brigonius hieß dieses Echo ihrer kurzen Liebe willkomm en, obwohl er wusste, dass sie nur Trost suchte. Was ihn selbst betraf, so konnte er nicht schlafen.
Die Sonne ging schon auf, als endlich die Trompeten erschallten. Brigonius ließ Lepidina auf eine Decke gleiten und begab sich hinaus, ohne seine Gefährten aufzuwecken. Einheiten von Soldaten formierten sich und machten sich bereit, auszurücken und dem Feind entgegenzutreten. Brigonius hörte, wie Tullio und seine Adjutanten ihre Informationen überprüften und den rangniederen Offizieren Befehle erteilten. Die Römer hatten ihre Reaktion aufgeschoben, bis sie eine ausreichend große Konterstreitmacht aus Abteilungen der Hilfstruppen in Banna, anderen Lagern in der Nähe und den Kastellen hinter der Walllinie zusammenstel 149 len konnten. Die Legionärstruppen, die zu den Bauarbeiten am Wall eingeteilt waren, griffen ebenfalls zu den Waffen, hielten sich aber zurück, während andere, besser ausgerüstete Einheiten aus der Legionärsfestung Eburacum vorrückten. Die Hilfstruppen würden die Hauptlast des Kampfes tragen, während die Legionen in Reserve gehalten wurden, denn man rechnete nicht mit einer großen offenen Feldschlacht... Und so weiter. So sollte das System funktionieren. Dank seiner schnellen Kommunikationswege, des exakten Berichtswesens und seiner Flexibilität konnte das numerisch niemals starke Heer rasch und effizient eingesetzt werden und seine Kräfte genau dort bündeln, wo sie am meisten benötigt wurden. Das Heer selbst war eine Hochtechnologie, sah Brigonius, im Verlauf jahrhundertelanger Eroberungen geschliffen und perfektioniert. Währenddessen machten sich die Soldaten einzeln bereit. Brigonius hatte jahrelang m it römischen Soldaten zusammengearbeitet. Obwohl sie den Brittunculi, zu deren Beaufsichtigung sie hier postiert waren, manchmal Hohn und Spott entgegenbrachten , wirkten sie auf ihn in zunehmendem Maße entwaffnend normal: ganz gewöhnliche Burschen, die ihre Arbeit machten und nichts anderes wollten als essen, schlafen und hin und wieder eine Frau. Doch nun sah er diese Männer so, wie sie wirklich waren. In ihrer Rüstung, die ihnen passte wie eine zweite Haut, Waffen mit der beiläufig vertrauten Berührung eines Liebhabers schwenkend, waren sie kaum noch me nschlich, dachte 149 er; sie waren ausschließlich aufs Töten erpichte Muskelberge. Und als sie sich zu ihr en straffen, disziplinierten Einheiten formierten, wirkten sie noch furchteinflößender. Brigonius wurde das Herz schwer, als er an die Streitmacht dachte, die sich ihnen entgegenstellen würde, ein en Haufen unzufriedener brigantischer Bauernjungen, aufge hetzt von Hitzköpfen wie Matto, ausgerüstet mit rostigen Waffen, die ihre Großväter seit Cartimanduas Zeiten in Getreidegruben verborgen hielten. 149
XVII Einen Monat nach der Niederschlagung des Aufstands reiste Statthalter Nepos aus Londinium an, um sich persönlich ein Bild von den Schäden zu machen.
Nepos klapperte die Kastelle ab, ritt am ganzen Wall entlang und sprach mit seinen höheren Befehlshabern, darunter auch Tullio. Er kehrte für ein paar Tage nach Eburacum zurück, um den Vorsitz bei den Prozessen gegen die mutmaßlichen Rädelsführer des Aufstands zu übernehmen. Und er verkündete mit der Ausgewo‐ genheit klügerer Römer, dass er eine Entschädigung für Bauern in Erwägung ziehe, die größere Ländereien verloren hätten ‐ immer vorausgesetzt, sie könnten beweisen, dass sie nicht am Aufstand teilgenommen hatten. Dann kam er nach Banna, wo er eine Überprüfung anordnete. Tullio, Annius und ihr Stab wurden einbestellt, ebenso wie höhere Offiziere aus den Kastellen, ein paar Tribunen aus jeder der drei Legionen und der Architekt, Xander, mit seiner Gönnerin Severa, dazu Brigonius und andere örtliche Zulieferer. Die Stimmung bei der Besprechung war von Anfang an gereizt. »Wie konnte das passieren, Präfekt?«, wollte Nepos von Tullio wissen. 150 »Es gab Mängel bei der Informationsbeschaffung«, gestand Tullio ein, »aber die haben wir abgestellt. Und die Sicherheitsmaßnahmen waren unzureichend, weshalb wir sie verschärft haben.« Brigonius konnte das bestätigen; die blauen Flecken, die ihm Soldaten an den Toren zugefügt hatten, bewiesen es. »Aber«, fuhr Tullio fort, »wir haben einfach nicht mit einem solchen Angriff gerechnet. Der Wall soll Überf älle aus dem Norden verhindern, nicht aus dem Süden!« Nepos schüttelte den Kopf. »Es fällt mir immer noch schwer, das zu glauben. Die s hat Auswirkungen auf alles, was wir hier tun. Wenn so etwas noch einmal passiert...« »Das wird es nicht«, sagte Severa rasch. »Dies war ein kleiner Aufruhr unt er unzufriedenen brigantischen Bauern, Statthalter. Wenn sie deine nachsichtigere Politik erst einmal akzeptiert haben ...« Nepos funkelte sie an, bis sie verstummte. »Meiner Ansicht nach bauen wir hier für Jahrhunderte, gute Frau. Vielleicht wird Brigantien ein oder zwei Jahre lang ru hig bleiben. Aber mit der Zeit wird eine neue Generation junger Stiere heranwachsen, die sich einbilden, ihre Großväter seien nicht weit genug gegangen ‐ es wäre nicht das erste Mal. Wir müssen auf alles vorbereitet sein.« Ein junger Mann in einer auf Hochglanz polierten Paradeuniform stand auf und ergriff das Wort. »Und das ist nicht das Einzige, woran wir denken müssen.« Er verneigte si ch vor dem Statthalter. »Mein Name ist Galba Iulius Sabinus, Herr. Ich bin ein Tribun der 150
Sechsten; mein Legat in Eburacum hat dir seinen Bericht über die neuen militärischen Anordnungen geschickt.« »Die verdammten Legionen sind gar nicht zum Einsatz gekommen«, knurrte Tullio. »Aber es hätte durchaus sein können«, sagte Sabinus, auf mühelose Weise Herr der Lage. Nepos nickte dem Tribun zu. »Ich habe den Bericht gelesen. Du kannst die Ergebnisse zusammenfassen, Iulius Sabinus.« Sabinus war ein gut aussehender junger Mann mit markanten Zügen und dichtem dunklen Haar. Brigonius dachte, dass er vermutlich ein echter Römer war ‐als Tribun
musste er der Senatorenklasse entstammen, und seine Karriere würde ihn eines Tages vielleicht auf einen Posten wie den von Nepos führen. Brigonius rief sich immer wieder in Erinnerung, dass die Geschehnisse in Britannien für Männer wie Nepos und Sabinus nur eine Episode in einer langen beruflichen Laufbahn waren. »Wir von der Sechsten, die wir schon vor dem Aufstand Zweifel am praktischen Nutzen des Walls hatten, haben inzwischen eine große Übung veranstaltet, um seine Brauchbarkeit zu prüfen. All dies steht ausführlich im Bericht ...« Das Konzept des Walls sah vor, dass bei größeren Unruhen im Norden die Legionen aus den dahinter‐liegenden Kastellen zum Einsatz kommen sollten, indem sie durch die Tore ausrückten und dem Feind nördlich des Walls zur offenen Feldschlacht entgegen 151
traten. Als Einheiten der Sechsten dies ausprobiert hatten, waren sie auf Probleme gestoßen. Zunächst musste man ein paar Meilen bis zum eigentlichen Wall marschieren. Dann musste man die Formation auflösen, um zum einen oder anderen Tor zu gelangen und hintereinander hinauszumarschieren, und genau wie Tullio erwartet hatte, sahen sich Legionäre in voller Kampfrüstung hinter Bauern mit ihren Karren und Schafherden in der Schlange stehen. Auf der anderen Seite des Walls musste man dann erneut Marschordnung annehmen. Während all dieser Zeit war man schrecklich verwundbar für einen Angriff. »Es hat einfach nicht funktioniert«, sagte Sabinus mit kühner Unverblümtheit. »Es ist sogar noch schlimmer«, sagte Tullio. »An manchen Stellen muss man den Fluss überqueren, um von den Kastellen zum Wall zu gelangen! Ich bin für den Wall verantwortlich gewesen, und ich sage es höchst ungern, aber wir sollten das ganze erbärmliche Ding abreißen. Unter Trajan sind wir ohne jeden Wall besser gefahren.« Xander, klein, dick und nervös, stand sofort auf und schüttelte die Hand ab, mit der Severa ihn zurückhalten wollte. »Was wir angefangen haben, müssen wir auch zu Ende bringen«, erklärte er mit Nachdruck in seinem stark akzentuierten Latein. »Man kann die Leistung des Walls als System nicht beurteilen, solange er nicht fertig ist, ebenso wenig wie man erwarten kann, dass ein Karren schon mit zwei Rädern fährt. Wenn mein Entwurf vollständig verwirklicht worden ist...« 151
»Wird der Plan immer noch nicht funktionieren«, sagte Tullio rundheraus. »Weil er immer noch die Fehler haben wird, die wir heute festgestellt haben. Verwundbarkeit von Süden her. Ungeeignete Durchgänge.« Sabinus nickte. »Mein Legat würde dem beipflichten. Wir müssen auch an die längerfristigen Implikationen einer solch statischen, starren Grenze für das Imperium als Ganzes denken. Allein schon die wirtschaftlichen Folgen ...« Nepos hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Jetzt merkt man dir deine Ausbildung an, Julius Sabinus«, sagte er trocken. »Mir bleiben nur ein paar Jahre auf diesem Stuhl; ich muss in kurzen Zeiträumen denken, nicht in langen.« Severa sagte rasch: »Im Land ist der Wall schon zu einem deutlich sichtbaren Zeichen der römischen Stärke geworden. Ihn jetzt aufzugeben, wäre ein klares Zeichen der Schwäche. Ein Rückzug.« Brigonius merkte, dass sie die Gefühle der Soldaten zu
manipulieren versuchte, um ein gewisses Maß an Kontrolle über das Projekt zu behalten. Nepos seufzte. »Leider muss ich dir darin zustimmen, Frau. Eine Aufgabe des Walls würde der Kaiser nicht akzeptieren. Das würde ihm in Rom schaden. Der Wall existiert, ob es uns passt oder nicht. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir weitermachen wollen, nicht darüber, wie wir lieber angefangen hätten.« Er wandte sich an Xander. »Wir werden dein kostbares Monument nicht einebnen, Architekt. Aber wel
152 che Änderungen würdest du vornehmen, um seine Mängel zu beheben?« Xander hatte sich unglücklicherweise in ein Schneckenhaus aus verletztem Stolz zurückgezogen. Er schrie den Statthalter beinahe an: »Der Entwurf kann nicht verändert werden! Er muss umgesetzt werden!« Tullio zog eine Augenbraue hoch, und Brigonius glaubte zu spüren, wie eine Woge der Erbitterung die Römer in dem Raum erfasste. So sind sie, die Griechen. Der ehrgeizige Sabinus sah seine Gelegenheit gekommen. »Wenn ich darf, Statthalter? Ich habe mir die Freiheit genommen, ein paar Modifikationen an Xanders Entwurf zu zeichnen, welche die Einwände, die wir heute gehört haben, vielleicht entkräften wür‐ den.« Er hielt eine Schriftrolle hoch. Auf Neposʹ zustimmendes Nicken hin breitete er sie auf einem niedrigen Tisch vor dem Statthalter aus. Brigonius sah, dass es eine grobe Holzkohle‐Skizze der Mauer mit Kastellen und Gräben war. »Zunächst einmal«, begann Sabinus, »die Verwundbarkeit von hinten. Wie du siehst, habe ich eine zusätzliche Wall‐ und Grabenanlage auf der Südseite hinzugefügt.« Der Querschnitt, den er gezeichnet hatte, zeigte einen Graben von rund zwanzig Fuß Breite am oberen Rand und zehn Fuß Tiefe, eingefasst von Aufschüttungen mit einem Durchmesser von zwanzig Fuß, die jeweils rund dreißig Fuß vom Rand des Grabens entfernt waren. »Diese Anlage wird ein Stück vom Wall zurückgesetzt sein und dadurch im Süden eine geschützte Zone erzeugen, einen Sicherheitsstrei 152 fen, wenn man so will, zu dem Zivilisten keinen oder nur kontrollierten Zutritt haben. Bei den Kastellen wird es natürlich kontrollierte Durchgänge und Dämme geben.« Annius nickte und zupfte an seiner Lippe. »Das würde funktionieren. Solche Konstruktionen habe ich schon gesehen.« Er schielte zu dem Architekten hinüber. »U nd wie lang soll dieser Streifen sein?« »Nun, er muss den Wall auf ganzer Länge wie ein Schatten begleiten«, erklärte Sabinu s mit Nachdruck. »Was hätte er sonst für einen Zweck?« Nepos hob die Hand. »Die praktischen Konsequenzen werden wir später erörtern. Ich glaube, wir sind uns alle einig, dass ein solches System nötig ist. Nun zu den Einwänden deines Legaten gegen die Tore, Sabinus ...« Sabinus lenkte ihre Aufmerksamkeit auf eine andere Ecke seiner Skizze. »Es ist eindeutig unpraktisch, dass die großen Kastelle von der Lini e des Walls zurückgesetzt und die Durchgänge so schmal wie bei den Meilen‐Kastellen sind. Die Lösung liegt auf der Hand. Wir müssen direkt am Wall neue Kastelle bauen, die groß genug sind, um
eine Auxiliareinheit zu beherbergen.« Er zeigte ihnen eine Skizze eines Kastells; das klassische Rechteck lag quer über der Linie des Walls. »Wie ihr seht, führt die Hälfte der Kastelltore ‐ was sechs Toren von Meilen‐Kastellen entspricht ‐ direkt in den nördlichen Bereich, sodass die Einheit unverzüglich von ihrem Kastell in den Norden ausschwär‐ men kann.« 153 Nepos warf Tullio einen Blick zu. »Präfekt? Wird das genügen?« Tullio zuckte die Achseln. »Die Nordmauern der Kastelle werden Schwachpunkte sein ...« »Das ließe sich verhindern«, sagte Annius munter. »Ein paar Gruben mit Pfählen würden reichen. Aber dadurch wird sich die Anzahl der Durchgänge im Wall verringern. Die Einheimischen werden dagegen sein.« Nepos sah ihn an. »Die Einheimischen haben gerade versucht, den Wall niederzubrennen, Soldat. Sollen sie ruhig dagegen sein.« »Herr, du hast mir befohlen, dieses Projekt rechtzeitig fertigzustellen, also noch innerhalb deiner Amtszeit«, knurrte Tullio. »Wir mussten ohnehin schon Kompromisse eingehen ‐ die Grassodensektionen zum Beispiel. Jetzt diese neuen Kastelle zu bauen ‐ wie viele, Tribun ?« »Zwölf«, sagte der Römer ruhig. »Zwölf also ...« Sabinus fügte hinzu: »Und wenn ihr schon dabei seid, würde ich den Neubau der Grassodensektionen in Stein empfehlen. Eine Mischung aus Grassoden und Steinen lädt auf lange Sicht nur zu Angriffen entlang des anfälligeren Grassodenabschnitts ein.« Tullio lachte. »Ja, das machen wir gleich noch mit. Hör zu, Statthalter ...« »Ich weiß, Tullio, ich weiß«, sagte Nepos. »Bevor wir die Unvermeidlichkeit einer Verschiebung des Fertigstellungstermins akzeptieren: Gibt es eine Möglichkeit, die Dinge zu beschleunigen? Wie wäre es zum 153 Beispiel, wenn wir die Dicke der Steinmauer verringerten? Muss sie zehn Fuß dick sein? Wenn es nun lediglich acht oder sechs Fuß wären? Würde das nicht genügen? ...« Sie begannen, über solche zeitsparenden Kompromisse zu sprechen. Sabinus stellte sich geschickt in den Mittelpunkt der technischen Diskussion und schloss dadurch Xander und dessen Gönnerin Severa aus. Xander verdrehte die Auge n in stummem Entsetzen über diese Verhunzung seiner Vision. Brigoniusʹ Interesse galt eher Severa. Während die Dimensionen des Projekts sich vor ihren Augen veränderten, büßte sie unzweifelhaft jegliche Kontrolle über die Ereignisse ein, die sie einmal besessen haben mochte. Nicht dass jemand Mitgefühl mit ihr gehabt hätte; dazu hatte sie sich zu viele Feinde gemacht. Aber Brigonius fragte sich, was hinter ihrem kalten, verbitterten Gesicht vorgehen mochte. Schließlich lehnte Nepos sich zurück. »Nun, ich glaube, wir haben eine Lö sung für all unsere Probleme bis auf eines gefunden: den zeitlichen Rahmen. Tullio ?« Tullio seufzte. »Der Kaiser wird mir wohl kaum die rheinischen Legionen schicken, damit sie die Arbeit erledigen, nicht wahr?«
Nepos lächelte. »Du bist ein aufrichtiger Mann. Ich möchte, dass du dich erst festlegst, wenn du dazu bereit bist. Aber wir sprechen von zusätzlichen Jahren, habe ich recht?« »Ich fürchte ja, Herr.« 154 Nepos klopfte sich an die Zähne. »Was immer die Zukunft bringt, der Wall wird also nicht mehr mein Problem sein ‐ mir aber auch nicht mehr zur Zierde gereichen.« Er erhob sich steif. »Ich sollte besser anfangen, meinen Brief an den Kaiser abzufassen. Guten Tag allerseits.« Als er hinausging, sammelten die anderen in verdrossenem Schweigen ihre Habseligkeiten ein. Aber Tullio klopfte Brigonius auf den Rücken. »Ich weiß gar nicht, warum du so ein ernstes Gesicht machst, Brittunculus«, sagte er. »Mir scheint, der Statthalter hat gerade einen zusätzlichen Berg von deinen Steinen bestellt.«
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XVIII Es dauerte einen weiteren Monat bis zum letzten Akt des Nachspiels der Rebellion. Die Hinrichtung sollte außerhalb des Lagers von Banna stattfinden. Jeder, der nicht mehr als einen halbtägigen Fußmarsch entfernt lebte, wurde aufgefordert, daran teilzunehmen, ebenso wie die Führer der civitas. Zur festgelegten Stunde verließ Brigonius das Lager. Er gesellte sich zu einer trübsinnigen Versammlung von etwa hundert Personen, Männer, Frauen und Kinder, die um das auf dem Boden liegende Kreuz herumstanden. Der Augusttag war ungewöhnlich warm: Es sei eine römische Hitze, sagte Karus, eine schwere Hitze, die einem jede Lust raube und die Gedanken zerfließen lasse, die Hitze der Eroberer. Zu Brigoniusʹ Überraschung war auch Severa erschienen, zusammen mit Karus. »Euch beide hätte ich hier nicht erwartet. Ich wusste nicht, dass ihr Geschmack an solchen Spektakeln findet.« »Ich ganz bestimmt nicht«, sagte Karus mit grauem Gesicht. »Für mich ist das so etwas wie eine grimmige Pflicht. Manchmal gehört es zu meinen Aufgaben, die Todesstrafe zu fordern. Ich finde, ich sollte mir hin
154 und wieder ins Gedächtnis rufen, was das nach sich zieht.« Severas Miene war ausdruckslos. Sie war in einen weißen Mantel gehüllt. »Was mich betrifft, so fand ich, dass ich die Folgen eines törichten Krawalls, der meine Pläne derart beeinträchtigt hat, bis zur Neige auskosten sollte. Allerdings hatte ich angenommen, dass meine Tochter hier wäre. Schließlich verehrt sie einen Gott, der auf diese Weise gestorben ist. Man sollte meinen, sie betrachte das hier als Teil ihrer theologischen Ausbildung.« »Du bist zu streng mit dem Mädchen«, sagte Karus leise. »Dies ist nicht der richtige Ort für sie, weißt du. Du zerstörst ihre Seele.« »Ich glaube, ich kenne meine Tochter.«
Karus betrachtete sie. »Früher habe ich dich bewundert. Ich habe dich begehrt ‐ ich bin sicher, du weißt das. Und deine Intelligenz hat mich in Erstaunen versetzt; dein Blick hat Jahrhunderte durchdrungen. Aber vielleicht hat dich deine Distanz von der Geschichte deiner Menschlichkeit beraubt, Severa. Vielleicht hast du etwas von der manipulativen Kälte des Webers in deinem Herzen ...« Aber seine Worte verklangen, und in Severas wütendem Blick lag nur Verachtu ng für diesen Mann, der ihr engster Verbündeter gewesen war. Was Brigonius betraf, so hatte er Severa nichts zu sagen. Irgendwie kam ihm d ie Gesellschaft dieser bösartigen, zielstrebigen Frau an diesem schrecklichen Tag angemessen vor. Es gab einen kleinen Tumult. Brigonius drehte sich 155
um und sah eine Gruppe von Soldaten, die einen Gefangenen aus dem Lager schleiften. Sie ragten über ihm auf; er war nur ein Junge. Brigonius und seine Gefährten mussten beiseitetreten, um die Gruppe durchzulassen. Einen Moment lang sah der Junge Brigonius in die Augen. Es war Similis, Tullios britannischer Sklave. Der Junge schien Brigonius zu erkennen, der ihm einmal gedankt hatte, weil er ihm Wein gebracht hatte. Dann ging der Moment vorüber, und die Verbindung zwischen ihren Seelen zerriss. Die Soldaten stießen den Jungen energisch zu Boden. Sie banden ihm die Arme ans Kreuz. Dann legten sie einen Fuß über den anderen und trieben einen langen eisernen Nagel hindurch, um beide Füße aufrecht am Kreuz zu befestigen. Es war ein außerordentliches Geräusch, als treibe jemand einen Spieß in eine Schweinehälfte. Der Junge blieb stumm; er keuchte heftig, voller panischer Angst. Wie Brigonius gehört hatte, war das Festnageln seltsamerweise mit relativ geringen Schmerzen verbunden. Mit einiger Anstrengung richteten die Soldaten das Kreuz grunzend auf und steckten seinen Fuß in ein Loch im Boden. Als das Kreuz in Position geruckelt wurde, glaubte Brigonius, das Fleisch in den Füßen des Jungen zerreißen zu hören. Jetzt begannen die Schreie. »Oh, habt Erbarmen!«, sagte Karus, aber es war ein Flüstern, zu leise, als dass die Soldaten es hören konnten. »Erbarmen?«, sagte Severa düster. »Das Leiden ist notwendig. Nicht für ihn und das Verbrechen, das er 155
begangen hat, sondern für uns, damit wir künftig nicht gegen die Gesetze verstoßen.« »Aber er hat gar kein Verbrechen begangen«, empörte sich Karus. »Das ist ja so maßlos ungerecht an der ganzen Sache!« Brigonius wusste, dass die Schuld oder Unschuld des Jungen keine Rolle spielte. In diesem Punkt hatte Severa recht. Die Rebellion war zerschlagen worden, ihre Anführer hatte man bestraft. Aber für die Soldaten in Banna war ein loser Faden übrig geblieben. Es war niemand gefunden worden, der Matto bei seinem Angriff auf das Herz ihres Lagers unterstützt hatte, niemand, der ihm die Tat befohlen hatte, niemand, der ihm geholfen hatte. Die Soldaten konnten den Gedanken nicht ertragen, dass ein Einzeltäter so tief in einen Stützpunkt vorgedrungen war, den sie für sicher hielten. Also musste
ein Sündenbock, eine Verschwörung her. Und da gab es praktischerweise einen brigantischen Jungen, der dem Präfekten diente. Manche munkelten, er sei bei Mattos Ankunft am Tor gesehen worden, oder beim Hauptquartier, bevor es in Brand gesteckt worden war, oder ... »Alles Lügen«, stöhnte Karus. Für einen Advokaten war er ein mitfühlender Mann, fand Brigonius; er spürte die Qualen des Jungen wie am eigenen Leib. »Alles Gerüchte, Missverständnisse ‐ der Wille, jemandem eine nicht existente Schuld in die Schuhe zu schieben!« Brigonius legte ihm die Hand auf die Schulter. »Severa hat ausnahmsweise recht. Sein Leiden ist nötig; es 35z ist ein Abschluss. Seien wir dankbar, dass es keinen von uns getroffen hat.« Karus spuckte auf den Boden, eine für ihn untypisch rüde Geste. »Manchmal bist du zu pragmatisch, Brigonius. Mag sein, dass es nötig ist, aber nicht für mich.« Er ging steifbeinig davon, und Severa folgte ihm mit unergründlicher Miene. Blut troff stetig von Similisʹ Füßen. Wenn er die Last seines Körpers mit den Armen trug, um seine zerrissenen Füße zu schonen, konnte er nicht atmen. Aber wenn er sich auf den Füßen hochstemmte, damit er Luft bekam, wurde das Reißen noch schlimmer. So zuckte und zappelte er und verlagerte sein Gewicht mit winzigen, aber qualvollen Bewegungen von einer Quelle des Schmerzes zur anderen. Während der Junge darum kämpfte, am Leben zu bleiben, zerstreute sich die Menge allmählich. Brigonius hatte das Gefühl, dass er bleiben sollte, obwohl er nicht recht wusste, weshalb. Wenn ihn jemand als >pragmatisch< bezeichnete, dann, so hatte er gelernt, war das als Beleidigung gemeint. Er hielt sich nicht für einen Feigling, auch nicht für einen Verräter an seinem uralten Volk. Er sah sehr genau, dass die Römer Unglück für viele brachten ‐und Elend oder Tod für jene, die sich ihnen widersetzten. Es war nur so, dass ihm ein wie auch immer gearteter Angriff auf die Römer völlig nutzlos erschien. Mat‐tos vergebliche Geste bewies das doch. Aber dadurch fühlte er sich auch nicht besser, als er hier stand und zusah, wie ein unschuldiges Kind an einem Kreuz starb. 156 Das Wimmern des Jungen wurde leiser, und er fiel in Ohnmacht. Bei Einbruch der Dunkelheit hatte einer der Soldaten, die am Fuß des Kreuzes standen, Mitleid mit ihm; er zertrümmerte ihm die Beine mit dem Heft seines Schwerts, und der Körper d es Jungen sackte tiefer herab. Da er sich nun nicht mehr abstützen konnte, würde er gewiss bald ers tickt sein. Aber sein Leichnam würde dort hängen bleiben, bis die Krähen sein Fleisch fraßen. Brigonius drehte sich um und kehrte ins Lager zurück.
156
XIX
Lepidinas Brief war ein Holztäfelchen, eng beschrieben. Sie sei aus Rom nach Britannien zurückgekehrt, schrieb sie, und werde dem Wall einen Besuch abstatten. Ihre Mutter komme ebenfalls mit ‐ tatsächlich habe ihre Reise mit Severa zu tun. Brigonius würde Lepidina also wiedersehen. Mit Schrecken dachte er daran, dass seit jenem schicksalhaften Tag der Entscheidung, als sie den Wall in Anwesenheit von Statthalter Nepos von einem Ende zum anderen neu geplant hatten, bereits fünfzehn Jahre vergangen waren. Und Lepidina war nun kein Mädchen mehr; Oberster der Gruppe, mit der sie im Kastell von Banna wohnen würde, war der Mann, mit dem sie seit vierzehn Jahren verheiratet war: Galba Julius Sabinus, einst ein tatkräftiger junger Legionstribun, jetzt ein Senator. Brigonius drückte den Brief an sein Herz und fragte sich, was er seiner Frau sagen sollte. Am vereinbarten Tag begab er sich zum Kastell von Banna. Er wurde durchs Westtor eingelassen. Manchmal dachte er, dass allein schon dieser doppelte Torbogen imposanter war als alles, was man in Brigantien vor der Ankunft der Römer gesehen hatte. 157 Er ließ sein Pferd von einem Sklaven in den Stall bringen und ging zu Fuß die durchs Kastell führende Hauptstraße entlang, die wie in jeder derartigen römischen Festung im gesamten Imperium via praetoria genannt wurde. Banna war jetzt keine Zeltstadt mehr. Gebäude drängten sich um ihn wie riesige Ziegelsteine: die Mannschaftsbaracken zu beiden Seiten, und vor ihm die gedrungenen Blöcke des praetorium, Tullios Kommandantenwohnhaus, und der principia, des offiziellen Hauptquartiers. Dahinter erspähte er das Lazarett und weitere Unterkünfte, Ställe und Werkstätten. In einem freien Bereich hatte man die Fundamente zweier Getreidespe icher gelegt, die einen Jahresvorrat für tausend Mann beherbergen konnten; ihre Böden würden zum Schutz vor den Elementen erhöht sein. Aber sie mussten erst noch errichtet werd en. Alles ging immer nur langsam voran, behindert vom Mangel an örtlic hen Gütern und Rohstoffen. Eines der imposantesten Gebäude war die Exer‐ zierhalle, in der die Soldaten bei rauestem nördlichem Wetter ausgebildet we rden konnten; sie war ein Monument aus Stein, groß genug, um darin Speere zu werfen. Auf den Straßen herrschte reges Leben; nicht nur Soldaten waren unterwegs, sonder n auch ihre Sklaven, außerdem örtliche Händler und Arbeiter. Der Zahlt ag lag noch nicht lange zurück, und die Straßenverkäufer gingen umher, steckten den Kopf in offene Türen und hielten Ausschau nach potenziellen Käufern ihrer Waren und Dienstleistungen. Umfriedet von seinen Mau 157 ern, autark, schloss das Kastell die ungezähmte Landschaft drumhe rum aus; es war wie eine Insel der römischen Lebensart, dachte Brigonius, unabhängig von der Welt draußen. Von der brigantisc hen Siedlung, die einst hier gestanden hatte, war jedoch keine Spur übrig geblieben. Den alten römischen Wachturm hatte man abgerissen, den Wald gerodet, das Marschland trockengelegt. Selbst die alten Hügelgräber, die den Ste ilhang
gesäumt hatten, die Gräber der Urahnen, waren dem Erdboden gleichgemacht worden. Hier war Brigonius zur Welt gekommen, ebenso wie die Vorfahren von Severa und Lepidina; hier hatte die seltsame Prophezeiung vor langer Zeit Nectovelins Geburt eingeleitet. Heutzutage lebten die einzigen Briganten in einer Hüttensiedlung, die um die Mauern des Kastells herum entstanden war, genauso wie bei Vindolanda. Coventina war endgültig vertrieben worden. Brigonius erreichte das Hauptquartier. Er überquerte den weiten, von Säulengängen umrahmten Hof mit dem Brunnen und lenkte seine Schritte zur zentralen Querhalle, der Basilika. Diese beiden Bereiche waren groß genug, um sämtliche Soldaten im Kastell aufzunehmen. Im rückwärtigen Teil der Basilika gab es eine Reihe kleinerer Räume, in der Mitte das Fahnenheiligtum, das aedes, mit seiner Hadrian‐Statue, de n Standarten der Einheiten im Kastell und anderen religiösen Wahrzeichen. Zwei Räume zu beiden Seiten waren die Schreibstuben des Adjutante n, des cornicularius, und der signiferi, der Standartenträger. Das
158 Fahnenheiligtum und die Schreibstuben waren nach vornhin offen und nur durch niedrige schmiedeeiserne Gitter abgetrennt. Dieser kleine Bereich war das Herz des Kastells. Die signiferi waren für so wichtige Dinge wie die Besoldung und die Verwahrung der Ersparnisse der Soldaten zuständig, und in einem Raum mit ver‐ stärkten Mauern hinter dem Fahnenheiligtum lagerte das Bargeld des Kastells. Brigonius hatte von Anfang an zugesehen, wie er gebaut wurde; er hatte den Römern sogar einen großen Teil der Steine verkauft, die sie dafür gebraucht hatten. Es war alles noch so neu, dass ihm der muffige Geruch von frischem Putz in die Nase stieg. Und heute hielt der Kommandant des Kastells in der Basilika einen Empfang für Sabinusʹ Gruppe ab. Von dem hübschen, jungen Tribun war nur noch wenig übrig; er war ein hart aussehender Mann seiner Welt geworden, kompetent und korpulent. Sabinus führte diese Delegation aus Rom an, die sowohl den Senat als auch den Haushalt des Kaisers repräsentierte. Sie war hier, um eine regelmäßige Inspektion des Walls vorzunehmen, sich einen Überblick über die allgemeine Situation im Norden zu verschaffen ‐ und, so munkelte man, sich mit einer kleinen Unannehmlichkeit zu befassen, die etwas mit Claudia Severas Benehmen zu tun hatte. Brigonius war über‐ rascht, dass Sabinus die Verantwortung für ein Problem übertragen bekommen hatte, das seine eigene Schwiegermutter betraf. Aber vielleicht war diese subtile Grausamkeit heutzutage typisch für Rom, das von 158 einem alternden, gleichgültigen und zunehmend kapriziösen Hadrian regiert wurde. Wie als Symbol für die komplexen Unerfreulichkeiten des kaiserlichen Hofes gehörte auch Primigenius zu den Repräsentanten des Kaisers. Der Freigelassene sah so wachsam und verschlagen aus wie eh und je. Aber er war klapperdürr, sein Schädel war kahl geschoren und das eingefallene Gesicht stark geschminkt; das Alter hatte einen hohen Tribut von ihm gefordert, und seine Schönheit war längst dahin. Brigonius
wurde dem Mann tatsächlich vorgestellt, aber nichts ließ darauf schließen, dass Primigenius ihn wiedererkannte. Und dann war da natürlich auch Lepidina mit ihrem finster dreinschauenden Gemahl. Sie war jetzt vierunddreißig, und das sah man ihr auch an, aber sie war immer noch herzzerreißend schön. Durch seine spärliche Korrespondenz mit Severa hatte Brigonius von Lepidinas Vermählung mit dem Römer erfahren. Aber er war trotzdem irgendwie schockiert, als er Lepidina zum ersten Mal an Sabinusʹ Arm sah. Brigonius hatte läuten hören, dass Sabinusʹ Karriere nicht ganz so erfolgreich verlaufen war, wie er es einst geplant hatte. Vielleicht war das der Grund für die Dunkelheit um seine Augen, die Linien um die heruntergezogen Winkel eines ziemlich grausamen Mundes und die Aura geduldiger Wehmut, die Brigonius bei Lepidina spürte. Im Verlauf der offiziellen Veranstaltung begegnete Brigonius ihr nur kurz. Sie konnten nichts anderes tun, 159 als Höflichkeiten auszutauschen; Brigonius ertappte sich sogar dabei, wie er sich nach der Gesundheit ihrer Mutter erkundigte. Doch als der Abend endete, bat er sie um ein Wiedersehen ‐ nur um der alten Zeiten willen, sagte er. Sie vereinbarten, am folgenden Tag einen gemeinsamen Ausritt entlang des Walls zu unternehmen. Lepidina wirkte weder unwillig noch besonders begeistert, sondern einfach nur höflich. Und dann war sie fort, davongewirbelt in der komplizierten Choreografie der gehobenen römischen Gesellschaft. In dieser Nacht fand er so gut wie keinen Schlaf. Es war fünfzehn Jahre her, und als er im Dunkeln neben seiner Frau lag, kam es ihm so vor, als hinge jeder Tag dieser Jahre schwer an seinem Herzen. Nach dem Tag der Entscheidung hatte sich Claudia Severa in den Süden Britanniens zurückgezogen. Manch mal hatte Brigonius auch jetzt noch geschäftlich mit ihr zu tun. Sie hatte in viele der Unternehmen investiert, die allerorts entstanden waren, um die Bedürfnisse des Wall‐Projekts zu befriedigen, darunter auch in das von Brigonius. Es gab Gerüchte, dass Severa sogar an einigen der florierenden Bordelle beteiligt war, die in der Umgebung der Wall‐Kastelle wie Pilze aus dem Boden schössen. Wenn sie etw as besaß, dann war es Unternehmungs geist. Am Tag der Entscheidung, als sie in den Augen des kaiserlichen Hofes letztendlich in Ungnade gefallen war, hatte sie allerdings jeglichen echten Einfluss auf das Wall‐Projekt verloren. Seitdem war sie nie wieder hierhergekommen. Brigonius war froh, dass sich ihr Umgang auf 159
Briefe und die trockenen Worte juristischer Vereinbarungen beschränkte. Er war froh, Severa los zu sein. Bei ihrer Rückkehr in den Süden hatte sie jedoch auch ihre Tochter mitgenommen, und was das betraf, waren Brigoniusʹ Gefühle zwiespältiger ‐ umso mehr, als er erfuhr, dass Severa zwar in Britannien geblieben, Lepidina aber nach Rom zurückgekehrt war, wo sie aufgewachsen war. Er hatte mit Tullio darüber gesprochen. Bei einem nächtlichen Gelage, als sie im Lichtschein der flackernden Fackeln an der Mauer des Walls Flaschen britannischen
Bieres leerten, sagte der schroffe alte Bataver, er könne ihn gut verstehen. »Natürlich vermisst du sie. Es spielt keine Rolle, dass du sie nicht haben kannst. Den Mond kannst du auch nicht haben, aber du würdest seine Schönheit vermissen, wenn er vom Himmel gepflückt würde, nicht wahr? Es gibt viele Wege, eine Frau zu lieben, Brigonius. Man braucht nicht mit dem Schwanz vor ihrer Nase herumzuwedeln. Man kann auch von ferne lieben. Ich muss es wissen.« Tullios grobes Gesicht war eine Maske aus Schatten und Narben. Für Brigonius war es ein seltener Blick in die Seele dieses rauen, tüchtigen Mannes, und er fragte sich, wie es wohl für Tullio gewesen war, als junger Rekrut die Heimat verlassen zu müssen, über den Ozean gebracht zu werden und sein Leben dann an einem Ort wie diesem zu fristen, so fern von daheim. Allmählich war das Trauma jener Nacht in Primigeniusʹ Höhle verblasst. Irgendwann hatte Brigonius sich wieder verliebt. Aber er vergaß Lepidina nie. 160
Und jetzt war sie wieder da. Seine Frau, die neben ihm im Bett lag, war ebenfalls wach. Die warme, praktische Cloda war die Tochter eines Holzhändlers. Ihr Mann hatte keine Geheimnisse vor ihr ‐ nicht einmal, was Lepidina betraf. Daher wusste Cloda, dass dieser Geist der Vergangenheit zurückgekehrt war, um sie für eine Weile heimzusuchen; sie wusste aber auch, dass Lepidina bald im Nebel verschwinden und Brigonius wieder ihr gehören würde. 160
XX Nicht lange nach Tagesanbruch traf er sich mit Lepidina am Tor des Kastells. Einer der Sklaven ihres Gemahls hatte Pferde für sie vorbereitet, dazu ein Paket mit Speisen und Wein. Es war ein heller Oktobermorgen, nur ein paar Tage nach der Herbst‐Tagundnachtgleiche, und für die Jahreszeit ungewöhnlich kalt; der Atem der Pferde bildete Wolken in der Luft, und dicker Tau glitzerte am Boden. Aber die Sonne stand tief, der Himmel war dunkelblau, und das intensive Licht ließ die Steinquader der Kastellmauern glänzen. Und in dieser Umgebung sah Lepidina wunderschön aus, dachte Brigonius hilflos. Sie trug einen praktischen Lederumhang, eine Wollhose und schwere Sandalen. An ihrem Hals sah er ein Medaillon, an das er sich zu erinnern glaubte, einen Fisch aus Silber. Ihr volles rotes Haar, in dem sich nun ein paar graue Strähnen zeigten, war aus der Stirn gekämmt und unter eine Wollmütze gestopft. Sie schien keine Kosmetika aufgelegt zu haben, und das natürliche Rosa ihrer Haut leuchtete. Sie war immer noch schön, aber es war nicht mehr die Schönheit eines Mädchens, dachte er. Dies war die wehmütige Herbstschönheit einer Frau an der Schwelle zum Alter. 160 Sie sah ihn mit ihren dunklen Augen an und wandte sich fast mädchenhaft ab. »Du starrst mich an. Du warst immer ein Narr, Brigantius‐Brigonius.« Aber es klang nicht vorwurfsvoll. »Tut mir leid. Aber du bist einfach so ...«
»Wenn du sagst, ich sei schön, boxe ich dich. Ich habe drei kräftige künftige römische Senatoren und eine Tochter zur Welt gebracht. Sie ist schön. Ich bin eine Mutter.« »Meinetwegen. Aber du siehst aus wie eine Brigantin.« Das schien sie zu berühren. »Tatsächlich?« »Du siehst aus, als gehörtest du hierher. Als gehörtest du ...« »Als gehörte ich an deine Seite. Meinst du das?« Er schaute ihr in die Augen, und für einen Moment dehnte sich die Welt um sie herum aus, das Kastell, die Pferde, der geduldige Sklave, ja sogar der mächtige Wall wichen zurück, und sie blieben allein in ihrem eigenen kleinen Universum. »Das bist immer noch du«, sagte er. »Da drin. Irgendwie sehe ich das.« »Ja. Wie viel Gepäck wir jetzt mit uns herumschleppen! Unsere erschlaffenden Körper, unsere Lebensgefährten und Kinder, unsere ganzen Angelegenheiten. Und doch sind wir immer noch da.« Er verliebte sich erneut in sie, dachte er, Coventina helfe ihm! Aber der Moment ging vorüber, und Brigonius zog an den Zügeln seines Pferdes. Sie ritten östlich von Banna an der Linie des Walls 161 entlang. Ihre Pferde waren lebhaft, froh, an diesem kalten Morgen ihre Muskeln betätigen zu können. Sie befanden sich auf der Südseite des Walls, zwischen der Mauer zu ihrer Linken und dem schützenden Schanzwerk zu ihrer Rechten, und ritten in die tief stehende Sonne hinein, die den Tau auf dem aufgewühlten Erdreich des umschlossenen Streifens glitzern ließ. An manchen Stellen sah man noch, wo die Linie des Walls Pflugfurchen querte ‐ das letzte Überbleibsel eines enteigneten Bauer n. Sie gelangten auf eine Anhöhe, und Brigonius zu gehe sein Pferd. Von hier aus hatten sie einen guten Blick auf den Wall, der sich vom westlichen bis zum östlichen Horizont über das Land zog; die knallroten Streifen, die auf die Mauer gemalt waren, leuchteten im nördlichen Licht der tief stehenden Sonne, der Sandstein der glatten Meilen‐Kastellmauern glühte. Der Wall war ein von Menschen erschaffenes Ding, das die natürliche Landschaft in zwei Teile zerschnitt. Und das Bild war nicht statisch, es enthielt nicht nur ein Ding aus Stein und Grassoden, sondern es gab auch Menschen darin. Trotz der frühen Stunde herrschte bereits Verkehr auf den groben Dämmen, die zum nächsten Meilen‐Kastell führten, und von dessen Feuerstellen stieg Rauch in die frische Luft empor. In einem Mauerabschnitt war ein Legionärstrupp eifrig bei der Arbeit; man hörte den glockenhellen Klang von Hacken auf Stein und ferne Rufe, wie Möwengeschrei. Selbst jetzt wurde noch am Wall gebaut, er wurde umgebaut und ausgebessert, und so würde es immer sein. 161 »Weißt du noch, wie wir vor all diesen Jahren nach Rutupiae gefahren sind?«, fragte Lepidina. »Meine Mutter hat mir erzählt, die Legionäre hätten dort nach ihrer Landung gleich als Erstes einen Wall errichtet, einen Schutzwall aus Holz und Grassoden, um die örtlichen Barbaren von dieser kleinen Insel vor der Küste fernzuhalten. Und nun haben
sich die römischen Wälle durch ganz Britannien bis hierher vorgearbeitet, um ... das zu werden. Wie viele Meilen lang ‐ siebzig, nicht wahr ?« »Inzwischen wohl achtzig«, sagte Brigonius. »Kommt darauf an, wie man misst ‐ an beiden Enden mündet der Wall in Verteidigungsanlagen an der Küste, die von Soldaten der Flotte gebaut wurden.« »Der alte Xander wäre entzückt gewesen, das zu sehen, wenn er es noch erlebt hätte.« »Ja, mag sein«, sagte Brigonius zweifelnd. »Aber schau dir das an.« Er führte sie ein Stück weiter, zum nächsten Meilen‐Kastell. Dort sah man deutlich zwei dicke Mauerflügel aus den Außenmauern der Festung ragen, während die eigentliche Wallmauer an den Anschlussstellen viel dünner war. »Wir mussten Kompromisse eingehen, die Xander verabscheut hätte. Dieses Meilen‐Kastell wurde schon vor der Entscheidung errichtet. Es sollte sich mit diesen Stummelflügeln in eine dickere Mauer einfügen. Aber dann haben wir beschlossen, den Mauerdurchmesser zu reduzieren, und darum passen die Flügel nun nicht mehr. Es gibt noch weitere derart verpfuschte Stellen, wo man sehen kann, wie dünnere Steinreihen dickere überlagern.« 162 »Ich verstehe. Es ist alles ziemlich unordentlich.« »So sind Soldaten nun mal«, sagte Brigonius. »Sie arbeiten solide und schnell, aber das Ergebnis ist immer eher zweckmäßig als elegant.« »Mag sein, aber schau dich um! Das ist mehr als ein Wall. Es ist wie eine gewaltige Stadt, die sich über achtzig Meilen von einer Küste zur anderen erstreckt. Ich lebe in Rom, aber ich habe noch nie etwas dergleichen gesehen ‐ ich wage zu behaupten, dass es auf der ganzen Welt nichts dergleichen gibt. Aber hier ist es, in Britannien, und du hast es gebaut, Brigonius. Und selbst wenn Rom verschwunden ist ‐ oh, keine Wider‐ rede, unser Kaiser, der selbst über die Trümmer verschwundener Reiche herrscht, hat ein profundes Gespür für die Vergänglichkeit aller Dinge ‐, selbst wenn die Römer vergessen sind, werden die mächtigen Ruinen dieses Walls den Menschen Ehrfurcht einflößen.« Aus einem spontanen Impuls heraus sagte er: »Weißt du, du erinnerst mich an deine Mutter.« Sie warf ihm einen misstrauischen Blick zu. »Was meinst du damit?« Er hob die Hände. »Nur ihre besten Eigenschaften. Als wir damals von Rutupiae nach Norden gefahren sind ‐ erinnerst du dich? Sie sprach mit mir, und es war, als sähe ich mein Land durch ihre Augen. So ist es jetzt auch mit dir.« Sie schürzte die Lippen. »Ich glaube, du versuchst, mir ein Kom pliment zu machen.« Er seufzte. »Aber diese Frau drängt sich immer wie der zwischen uns, nicht wahr?« 162 »Ja, so ist es. Wollen wir weiterreiten?« Sie ritten im Schritttempo weiter an der Linie des Walls entlang, und die Sonne st ieg stetig in den Himmel empor. Brigonius erzählte von seiner Frau, seinen Jungen; sie sprach von ihren Kindern, die unter so unvorstellbar anderen Umständen aufwuchs en. Und sie unterhielten sich über die alten Zeiten, über Karus, der sich schon vor längerem nach Camulodunum zurückgezogen hatte ‐ »Mir reicht es mit den geschichts‐träch tigen
Dingen«, hatte er protestiert, »ich will noch etwas vom Leben haben!« ‐, und über den alten Tullio, der seine fünfundzwanzig Jahre im Heer abgeleistet, ein ausgedehntes Gehöft mit einer Brut rothaariger Enkelkinder gefüllt und weiterhin seinen mächtigen Schwanz als Bezugspunkt in jedem Gespräch gebraucht hatte, bis er friedlich in seinem Bett entschlafen war. Sie hielten auf einer anderen hoch gelegenen Stelle inne und blickten auf ein weiteres Stück des Walls hinab, das sich in der Ferne verlor. »Vorhin hast du zu mir gesagt, du hättest das Gefühl, als gehörte ich noch immer an deine Seite.« »Du hast es an meiner statt gesagt«, rief er ihr sanft ins Gedächtnis. »Aber du hast es gedacht.« »Das stimmt.« »Und denkst du auch jetzt noch so?« »Ich weiß es nicht«, sagte er aufrichtig. »Es ist zu viel geschehen.« »Ja. Damit wir zusammen sein könnten, müsste der 163 Zeitteppich aufgeräufelt und neu gewoben werden ‐nicht wahr? Vielleicht, wenn ich vor all diesen Jahren in Brigantien geblieben wäre, statt mit meiner Mutter wegzugehen. Oder wenn du all dies aufgegeben hättest, um mit mir nach Rom zu kommen.« Er zuckte die Achseln. »Was bringt es, über solche Dinge zu spekulieren? Man kann die Geschichte nicht ändern.« »Nein. Aber, Brigonius ‐ was, wenn man es doch könnte? Meine Mutter glaubt nämlich, dies sei der Sinn der Prophezeiung.« In den dazwischenliegenden Jahren hatte er Severas rätselhaftes Dokument so gut wie vergessen. »Dieses alte, gespenstische Ding. Existiert es noch?« »Ja. Und in gewisser Weise hat die Prophezeiung sich erfüllt, das glaubt meine Mutter jedenfalls. Ihrer Meinung nach sind drei Zeilen von Belang für unser Jahrhundert.« Von Belang für unser Jahrhundert. Trotz der zunehmenden Wärme des Tages überlief Brigonius ein kalter Schauer. »Also enthält sie auch Worte, die für andere Jahrhunderte von Belang sind?« »O ja«, sagte sie. »Ich habe mich mit meiner Mutter immer darüber gestritten, ob die Prophezeiung nicht mehr ist als ein bloßes Werkzeug zur Erreichung ihrer ehrgeizige n Ziele. Nachdem ihre Pläne in sich zusammengebrochen waren, hat sie angefangen, darüber nachzudenken. Und sie ist zu dem Schluss gelangt, dass die Prophe zeiung eine Warn ung aus der Zukunft ist, dass ein Weber der Geschichte sie zurückgeschickt 163 hat, um unsere Zeit zu beeinflussen ‐ die für ihn die Vergangenheit wäre.« »Und was meinst du?« »Ich glaube immer noch, dass all dies etwas mit Christus zu tun hat. Denk daran, di e Prophezeiung wurde bei der Geburt meines Vorvaters Nectovelin verkündet, der zufällig im selben Jahr zur Welt kam wie Jesus von Judäa. Ich glaube, in Wirklichkeit steht die Prophezeiung irgendwie mit dem Geschick des Christentums in Verbindung,
und diese Ereignisse wie die Eroberung von Provinzen und der Bau von Wällen sind allesamt Zufall. Meine Mutter bestreitet das allerdings; wenn sie eines ist, dann eine loyale Anhängerin der Götter Roms. Wir haben uns immer über Jesus gestritten ... Aber was mir jetzt Sorgen macht, sind nicht die künftigen, sondern die gegenwärtigen Folgen der Prophezeiung.« »Was meinst du damit?« »Bei den angeblichen aufwieglerischen Umtrieben meiner Mutter geht es um dieses Schriftstück. Der Hof des Kaisers hat die Prophezeiung immer mit Misstrauen betrachtet. Jetzt ist meine Mutter der Subversion angeklagt worden. Und wo könnte man den Fall besser untersuchen als hier, am Ursprungsort der Prophezeiung?« »Deshalb ist Sabinus also hergeschickt worden.« Sie hielten inne, während der Wall sich leuchtend über die Landschaft um sie herumspreizte. Dann sagte Brigonius traurig: »Da reden wir nun über Mütter und Kaiser, über Wälle und Prophezeiungen. Aber nicht über uns.« 164
»Aber in Wahrheit gibt es kein Uns, über das wir reden könnten, nicht wahr?« »Nein«, sagte er hitzig. »Aber ich werde immer ...« Sie beugte sich von ihrem Pferd zu ihm herüber und legte ihm einen Finger auf die Lippen. »Es bleibt besser unausgesprochen.« Er nickte. »Wir sollten zurückreiten. Es ist bald Mittag.« »Natürlich.« Er gab seinem Pferd die Sporen, und die beiden trabten nebeneinander zurück nach Banna, um sich wieder den Angelegenheiten des Tages zu widmen, den Angelegenheiten ihrer schon seit langem getrennt verlaufenden Leben. 164
XXI Drei Tage später berief Galba Julius Sabinus eine »unumgängliche Versammlung«, wie er es nannte, in der Causa Claudia Severa ein. Brigonius wollte nichts damit zu tun haben. Ihm wäre es am liebsten gewesen, wenn Severa durch Brigantien gereist und wieder verschwunden wäre, ohne dass er sie zu Gesicht bekommen hätte. Doch zu seiner Bestürzung stellte er fest, dass er zu der »Versammlung« einbestellt worden war ‐ und zwar auf Geheiß von Severa selbst. Die Versammlung fand in der Schreibstube der Standartenträger im Kastell statt. Der kleine Raum, vollgestopft mit Unterlagen über die Besoldung und die Ersparnisse der Soldaten sowie andere militärische Nebensächlichkeiten, war eng und unbequem. Auf den niedrigen Tischen standen Öllampen, die das Halbdunkel vertreiben sollten, und ihr rußiger Rauch würzte die Luft. Kleine Statuen von Antinous, dem hübschen jungen Geliebten von Hadrian, füllten Wandnischen. Brigonius fand einen Platz auf einer Bank neben den Adjutanten des Präfekten. Severa war noch nicht da; sie verspätete sich. 164-
Der Präfekt von Banna, Tullios Nachfolger, war mit einigen seiner Adjutanten zugegen, ebenso wie Primigenius, der schattendünne Freigelassene. Sabinus trug als Einziger eine Toga. Er sah aus, als erscheine er heutzutage niemals ohne dieses Kleidungsstück in der Öffentlichkeit. Lepidina nahm ebenfalls teil, offenbar genauso widerstrebend wie Brigonius. Sie trug ihre römische »Uniform«, wie er es bei sich nannte ‐ edle Kleider, Kosmetika und eine skulpturartige Frisur. Die kräftige Brigantin, die er bei jenem morgendlichen Ausritt am Wall gesehen hatte, schien nur ein Traumbild gewesen zu sein. Sie war natürlich an Sabinusʹ Seite; dort gehörte sie hin. Aber sie lächelte Brigonius an. Während sie auf die Angeklagte warteten, hörte Brigonius den Soldaten zu, die sich über Würfelspiele unterhielten. Die Hauptpersonen in dem Fall, er selbst und Sabinus, Primigenius und Lepidina, waren nicht gesprächiger als die vielen Antinous‐Statuen . Brigonius war klar, welches Spiel heute auf dem Programm stand. Er wusste von sein en eigenen Kontakten mit dem römischen Gesetz, dass alle Kaiser Misstrauen gegen rivali sierende Machtzentren hegten. Dazu gehörten auch private Unternehmen wie seines, deren Geschäfte durch das Vertragsrecht streng kontrolliert und vom Prokurator de r Provinz überwacht wurden. Und insbesondere dieser Kaiser war besessen von Weissagungen. In der Härte seiner Regentschaft in jüngster Zeit war es z u einem Zeichen für ungesunden Ehrgeiz geworden, wenn man Prophezeiungen zu 165 rate zog; angeblich hatte Hadrian einen seiner jungen Verwandten wegen eines solchen Vergehens töten lassen. Man konnte all dies als Symptom für den Niedergang des Kaisers sehen, dachte er. Genauso wie alle die Antinous‐Statuen. Nach zwei Dekaden würde Hadrian viel Bewundernswertes hinterlassen. Er hatte sein Reich wieder aufgebaut. Brig onius kannte Bauern, die voller Bewunderung von einem anderen Projekt Hadrians sprachen, das weniger bekannt war als der Wall, wenn auch nicht weniger grandios in seinen Dimensionen: Nach seinem Besuch in Britannien ha tte er einen großen Teil des Sumpflands im Osten der Insel, der alten Heimat der Ic ener, trockenlegen lassen und dadurch die Bebauung vieler hundert Quadratmeilen ganz neuen Landes ermöglicht. Doch mit zunehmendem Alter waren Hadrians widersprüchliche Charakterzüge immer deutlicher zutage getreten. Er hatte sich stets stärker zum Osten als zum W esten hingezogen gefühlt, obwohl seine eigene Familie aus Iberien kam. In Ländern, in denen er schon jetzt als Gott verehrt wurde, sah er sich selbst vielleicht als einen Monarchen, der eb enso hoch über den Dingen stand wie einstmals die Pharaonen. Gute Römer murrten, dies widerspreche dem Geist ihrer unternehmungslustigen Stadt und deren Verwurzelung in den lärmenden Demokratien Griec henlands. Aber es gab auch praktischere Gesichtspunkte: Wenn sich das Zentrum des Imperiums nach Osten verschob, 165 sann Brigoniu s, was würde dann aus Britannien, seinem westlichsten Ende, werden?
Viele hielten den Tod eines der Lieblinge des Kaisers, des hübschen Jungen namens Antinous, für den Wendepunkt seiner Regentschaft. Antinous war während einer von Hadrians Reisen nach Ägypten im Nil ertrunken. Sein Tod schien Hadrian völlig aus dem Gleichgewicht gebracht zu haben. Auf einmal wimmelte es überall von Widmungen an seinen verlorenen Antinous, in Gestalt von Fresken, Mosaiken und Statuen, auf Vasen und Münzen, in Miniaturen und auf den Bühnen. Nicht einmal hier, in dieser Soldatenecke Britanniens, konnte man seinem schönen Gesicht entkommen. Wie es hieß, versuchte Hadrian, der sich pausenlos mit seinem eigenen Tod und der anschließenden Unsterblichkeit beschäftigte, einen Gott in der Person von Antinous zu erschaffen. Es entbehrte nicht der Ironie, dass Hadrian, wie Lepidina vor langer Zeit gesagt hatte, der theologische Trost zuteil geworden wäre, den er suchte, wenn er sich nur jenem einen geheimnisvollen Kult zugewandt hätte, den er immer abgelehnt hatte, dem Christentum; angesichts eines Mensch gewordenen Gottes in Jesus hätte er seinen Schmerz vielleicht nicht lindern müssen, indem er einen Menschen zu einem Gott erhob. Aber nichts davon rechtfertigte die Brutalität von Hadrians späten Jahren. Im Osten hatten sich erneut die Juden erhoben und einmal mehr die Identität des Reiches herausgefordert, und dieser angeblich tole 166 rante, integrative Kaiser hatte sie genauso brutal niedergeworfen wie der Eroberer Trajan. Diese Härte war in jeden Winkel des Lebens gesickert ‐ und selbst hier, am äußersten Rand des Imperiums, sollte sich diese Härte nun gegen Claudia Severa richten. Schließlich betrat Severa den Raum, und die flüchtigen Gespräche erstarben. Sabinus stand auf und verneigte sich. »Claudia Severa. Willkommen.« Severa war schlicht gekleidet; sie trug ein einfaches türkises Gewand und ein Kopftuch. Sie war mittlerweile Ende fünfzig und gut gealtert, fand Brigonius, auch wenn ihre aus dem Gesicht gekämmten Haare einen silbergrauen Helm bildeten. Aber ihre Augen waren noch genauso tot und kalt, wie er sie in Erinnerung hatte. Er war überrascht, als Severa wortlos den Raum durchquerte und sich neben ihn setz te. Brigonius schaute in sein Herz und stellte fest, dass sein Zorn jetzt, wo er diese Frau zum ersten Mal seit sechzehn Jahren sah, heftiger denn je loderte. »Weshalb hast du mich rufen lassen, Claudia Severa?« Sie hob die gefärbten Augenbrauen. »Weshalb bist du gekommen?« »Hältst du mich für deinen Freund?« »Nein. Ich habe wenige Freunde. Aber ich brauche jemanden, der mich heute unterstützt. Du hast keinen Grund, mich zu lieben, Brigonius, das weiß ich. Aber ich habe in diesen letzten zwanzig Jahren Geschäfte mit dir gemacht, und ich weiß, dass d u ein ehrlicher 166 Mensch bist.« Selbst jetzt war sie überheblich und ein wenig spöttisch. »Ich möchte nicht einmal dich allein vor Gericht stehen sehen, Claudia Severa. Ab er lies nicht mehr hinein.«
»Das würde mir nicht einmal im Traum einfallen.« Sabinus räusperte sich. »Vielleicht sollten wir anfangen ...« »Anfangen womit?«, fauchte Severa und ging sofort zum Angriff über. »Ist dies ein Gericht, Julius Sabinus?« Primigenius erhob sich, ausgemergelt wie ein Kadaver. »Ich glaube, wir hoffen alle, die Notwendigkeit eines Gerichtsverfahrens vermeiden zu können, Claudia Severa. Dennoch gibt es unerfreuliche Dinge, mit denen wir uns befassen müssen.« Severa schnaubte. »Ich frage mich, ob aus deinem Mund auch nur ein einziges wahrhaftiges Wort kommen kann, du Schlange.« »Bringen wirʹs hinter uns«, blaffte Sabinus. Von einem Tisch vor ihm hob Primigenius eine ramponierte Ledermappe auf. »Erkennst du das?« Er öffnete sie und entnahm ihr ein Dokument. Es war ein vom Alter abgenutztes Pergament, das nur ein paar Zeilen in einer unbeholfenen Handschrift enthielt, wie Brigonius sah. Lepidina schnappte nach Luft, aber er hätte auch so erkannt, was das war. Severa fragte drohend: »Woher hast du das?« Sie drehte sich um und ließ ihren zornigen Blick über 167 die A nwesenden schweifen. »Wer von euch ist der frumentarius, der die Habseligkeiten einer alten Frau durchwühlt hat?« Ein unbehagliches Schweigen trat ein. Die frumentarii waren eine von Hadrians unbeliebteren und unrömischeren Neuerungen, eine geheime Polizeitruppe, die er gegen Rivalen und Gegner einsetzte. Als niemand antwortete, sagte Sabinus streng: »Claudia Severa, es ist jetzt nicht wichtig, wie dieses Dokument in unsere Hände gelangt ist, sondern was es en thält.« »Es ist eine Prophezeiung«, sagte Primigenius. Er stolzierte mit dem Schriftstück im Raum umher, als zeige er es einem Gericht. »Sie befindet sich seit Generationen im Familienbesitz dieser Frau. Sie gehörte Claudia Severa, lange bevor der Kaiser nac h Britannien kam. Und hört euch das hier an.« Er las die entscheidenden Zeilen vor, über den kleinen Griechen, die Schlinge aus Stein. »Diese Frau glaubte, im Besitz einer Prophezeiung zu sein, welche die Entscheidung des Kaisers voraussagte, den Wall zu bauen. Und sie beschloss, mit ihrer Hilfe reich zu werden.« Er zeigte mit einem anklagenden Finger auf Severa. »Sag uns, dass dieses Dokument eine Fälschung ist, eine ungeschickte Fälschung.« Brigonius erkannte, dass dies in der Tat ein Ausweg für Severa war; wenn sie leugnete, dass die Prophezeiung echt war, dann würde sie als närrische alte Frau hingestellt werden , die nur Glück gehabt hatte, und vielleicht ‐ vielleicht ‐ ohne harte Strafe davonkom 167 men. Aber das würde sie nicht tun; Primigen ius kannte sie und ihren Stolz offenbar sehr gut. »Komm zur Sache, du lächerliche Schlange«, sagte Severa kühl. »Was wirfst du mir vor?«
»Nun, dem Kaiser vorenthalten zu haben, was ihm von Rechts wegen gehört«, sagte Primigenius, als liege das auf der Hand. »Wenn du geglaubt hast, dieses Dokument besäße wahrhaft prophetische Macht, hättest du es sofort hergeben sollen. Vielleicht hätten die Berater des Kaisers es zum Nutzen des Imperiums und des Kaisers selbst verwenden können. Stattdessen hast du sein Geheimnis für dich behalten, nicht wahr? Und du hast gehofft, mit seiner Hilfe Reichtümer anhäufen zu können ‐ Reichtümer, die eigentlich dem Kaiser gehören.« Severa wandte sich von Primigenius ab, als wäre sie angewidert, und richtete ihre Worte an Sabinus. »Schwiegersohn, du bist jetzt Senator. Kannst du dir nicht dein e eigenen Gedanken machen? Siehst du nicht, was hier geschieht? All dieses Gerede von Geheimnissen und Lügen, von Eifersucht und Diebstahl ‐es ist die Paranoia des Kaise rs in Reinkultur, als lebten wir alle in seinem Kopf!« Lepidina hatte den Blick gesenkt. Sie erinnerte Brigonius so stark wie noch nie an das stille Mädchen aus der Zeit ihres Besuchs im Norden. »Ich glaube nic ht, dass es deiner Sache dienlich ist, wenn du den Kaiser beleidigst, Mutter.« »Welcher Sache?«, rief Severa. »Ich frage dich noch einmal, Sabinus ‐ stehe ich hier vor Gericht?« 168 »Genug«, sagte P rimigenius scharf. »Ich gehe wohl recht in der Annahme, dass du die Ankla ge, die ich gegen dich vorgebracht habe, nicht bestreitest.« Ohne ihr eine Gelegenheit zur Antwort zu geben, wandte er sich an Sabinus. »Senator, ich schlage vor, wir kürzen die Sache ab und gehen zur Frage ihrer Reue über.« »Und was ist das für eine Reue}«, fauchte Severa. »Noch mehr Euphemismen?« »Entweder das oder ein vollständiges Gerichtsverfahren, Claudia Severa«, sagte Sabinus mit schwerer Stimme. »Das oder die Strafe des Staates. Das oder der Zorn des Kaisers.« Sie funkelte ihn an, verstu mmte jedoch. Sabinus nickte Primigenius zu. Der Freigelassene brachte eine Wachstafel zum Vorschein. »Ich habe deine Finanzen prüfen lassen, Claudia Severa. Dank deiner Prophezeiung hast du es zu einem Vermögen gebracht. Ich bin nicht rachsüch tig; das ist keiner von uns. Meiner Ansicht nach wäre es ein ausreichender Akt der Wiedergutmachung, wenn du deinen gesamten Ge winn dem Kaiser übereignen würdest.« »Meinen gesamten Gewinn?« Primigenius las eine rasche Zusammenfassung seiner Schätzung vor und nannte da nn eine Gesamtsumme: »Mehr als eine Million Sesterzen.« Eine verblüffte Stille trat ein. Es war eine Summe, die, wie Brigonius wusste, dem erforderlichen Eigentum eines Senators in Rom entsprach. »Dieser Betrag ist viel zu hoch angesetzt«, protestierte Severa. 168
»Nun ja, es war klar, dass du das sagen würdest.« Primigenius tippte mit einem manikürten Zeigefinger auf seine Wachstafel. »Aber es steht alles hier.«
»Lassen wir das dahingestellt sein«, sagte Sabinus. »Wenn du diese Summe in die Staatskasse einzahlen kannst, Schwiegermutter, ist die Angelegenheit erledigt.« »Das kann ich nicht«, sagte sie. »Selbst wenn ich wirklich so viel verdient hätte, könnte ich es nicht, denn ein großer Teil davon ist bereits ausgegeben.« »Für Luxusartikel?«, spottete Primigenius. »Für meine Kinder«, sagte Severa. Bei diesem Wort blickte Lepidina schockiert auf. Brigonius hatte geglaubt, sie wäre ein Einzelkind; offenbar hatte Lepidina das ebenfalls angenommen. Was hatte es mit diesen Kindern auf sich? ... Primigenius machte sich bereit, ihr den Todesstoß zu versetzen. Er sprach in ruhigem Ton, aber seine Worte waren erbarmungslos. »Dann bist du von diesem Augenblick an eine Schuldnerin, Claudia Severa. Und du kannst deine Schulden nicht begleichen, nicht wahr? Du kennst das Gesetz. Du wirst alles verkaufen müssen, was du besitzt. Aber auch das wird nicht reichen, habe ich recht? Also wirst du dich selbst verkaufen müssen. Du wirst deine Tage als Sklavin beschließen. So will es das Gesetz.« Lepidina erschauerte, und Brigonius wusste, dass sie das Schicksal ihrer Mutter geteilt hätte, wenn sie nicht verheiratet gewesen wäre. Aber Severa gab sich noch nicht geschlagen. »Das 169
hat nichts mit dem Kaiser zu tun, nicht wahr? Du tust das alles, weil ich dich beim Bau des Walls vor all diesen Jahren ausmanövriert habe, Primigenius. Hast du so lange auf deine Rache gewartet? Führst du eine Liste von Opfern, die du im Lauf der Jahre eines nach dem anderen abhakst?« »>Kinder<«, sagte Lepidina langsam. »Du hast >Kin‐der< gesagt.« Sie schaute mit ernstem Blick zu ihrer Mutter auf. Severa holte Luft. »Na schön. Ich habe einen Sohn. Aus einer früheren Ehe, Lepidina. Sein Vater war ein Narr, ein Trinker, und er ist bei einer Schlägerei ums Leben gekommen. Der Sohn, den er mir hinterlassen hat, ist nicht viel besser. Aber er ist dein Halbbruder, und er hat selbst Kinder. Meine Enkelkinder. Ich unterstütze sie, Lepidina. Und wenn ich das nicht mehr kann ...« Primigenius musterte Lepidina. »Sind diese Enkelkinder hübsch? Vielleicht bringen sie einen besseren Preis als eine ledrige alte Schreckschraube wie du.« »Du hast mich immer manipuliert«, sagte Lepidina kalt. »Du hast mich für deine eigenen Zwecke benutzt. Jetzt erfahre ich, dass du mich mein Leben lang belogen hast.« »Trotz der Vergangenheit, Lepidina ‐ hilf mir jetzt«, erwiderte Severa. Lepidina wandte sich ab. Primigenius machte leise »ts, ts«. »Noch mehr Feinde, Severa. Selbst unter deinem eigenen Fleisch und Blut?« 169
Severa wandte sich an Brigonius. »Du bist ein anständiger Mann. Hilf mir.« Brigonius wich überrascht zurück. Aber er rief sich in Erinnerung, dass unter ihrer harten Schale ein menschliches Herz schlug ‐ und sie war Lepidinas Mutter. »Mag sein, dass sie Vermögenswerte besitzt, die nicht auf deiner Liste stehen, Primigenius«,
wandte er sich an den Freigelassenen. »Sie hat beispielsweise in mein Unternehmen investiert.« Sabinus beugte sich vor. »Vielleicht bist du mit den Feinheiten des römischen Rechts nicht vertraut, Brigonius.« Es schien ihm zu gefallen, dass er diesen alten Liebhaber von Lepidina an seinen Platz verweisen konnte. »Wenn jemand Schulden hat, kann er keine Anteile verkaufen. Ihre Beteiligung an deinem Unternehmen und etwaigen anderen ist wertlos für sie. Verstehst du, Brigonius? Hast du noch etwas zu sagen?« Selbst jetzt war Severa nicht imstande, Brigonius in die Augen zu schauen. Und als Brigonius zögerte, grinste Primigenius ihn lüstern an. »Erlaube ihr nicht, dich noch einmal an mich zu verkaufen, Brittunculus. Einmal reicht.« Brigonius starrte Primigenius an und schwor sich, dass er eines Tages irgendwie seine eigene Rache an dem Freigelassenen nehmen würde. Er sagte: »Du hast dir schon immer unn ötig Feinde gemacht, Claudia Severa. Das ist ein Charakterfehler.« Severa grinste verächtlich und wandte sich ab. Selbst jetzt bewahrte sie Haltung. »Du wirst nicht gewinnen, Primigenius, ganz gleich, was du mir antust.
170 Du bist ein Sklave, der Sohn eines Sklaven. Ich bin etwas Besseres; meine Familie ist besser. Unsere Zukunft ist gesichert, ganz gleich, was du mit mir machst, denn wir haben die Prophezeiung.« Der Freigelassene grinste. »Ach, dieses alte Ding?« Er hob die Prophezeiung lässig hoch und wedelte damit herum ‐ und schwenkte sie über die nackte Flamme einer Lampe. »Aber deine Enkelkinder werden keinen Bedarf an Prophezeiungen haben. Als Sklaven werden sie nie wieder eine Entscheidung für sich selbst treffen. Außerdem werden deine Nachkommen in ein oder zwei Generationen nicht mehr lesen und schreiben können. Was nicht niedergeschrieben ist, kann nicht überleben.« Die Prophezeiung fing Feuer. »Und der letzte Rest dieses schrecklichen alten Fluchs wird für immer dahin sein.« Brigonius sah, wie die Flamme der brennenden Prophezeiung Lepidinas entsetzte Augen erhellte. Und auf Severas Gesicht zeichneten sich Kummer, Schuldbewusstsein und Furcht ab ‐ Furcht vor einer Zukunft, die nun für immer unbekannt bleiben würde.
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DRITTER TEIL IMPERATOR 314‐337 N .CHR. Die Goldmine von Dolaucothi war ein Gewirr von Steinbrüchen, Schächten und primitiven Verschlagen. Staub und beißender Rauch erfüllten die Luft. Das schiere Ausmaß der Grabungsarbeiten war überwältigend; der aufgerissene Boden erstreckte sich über Quadratmeilen. Die Anzahl der schwer schuftenden Arbeiter musste in die Tausende gehen; sie waren allesamt schmutzig, gebeugt und in Lumpen gehüllt, und noch mehr von ihnen wühlten sich wie Maulwürfe durch die Erde.
Thalius, ein Mann des Wortes, kam aus Camulodunum. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass es solche Orte gab; das im ungezähmten Westen gestrandete Bergwerk kam ihm vor wie eine Vision der christlichen Hölle, die nicht einmal der erfindungsreichste Hoftheologe hätte heraufbeschwören können. Und während der Aufseher der Mine, ein pummeliger kleiner Mann namens Volisios, ihn durch die offene Grube begleitete, war Thalius sehr froh über das parfümierte Tuch, das er sich an die Nase presste, und über die massive Präsenz des alten Soldaten Tarcho an seiner Seite. Irgendwo unter all den Elenden hier, glaubte Tha 171 lius, war der Junge, den er suchte: ein Sklave und Sohn von Sklaven, aber dennoch ein entfernter Verwandter ‐und ein Junge, der vielleicht den Schlüssel zur Vergangenheit und zur Zukunft besaß. »Dies ist die einzige Goldmine in ganz Britannien«, prahlte der Aufseher Volisios. »Wie ihr seht, arbeiten wir im Tagebau wie auch unter Tage. Dort ist der Junge, unten in den tiefen Schächten. Ich bringe euch gleich dorthin.« »Ich kann es gar nicht erwarten«, knurrte Tarcho. Thalius zeigte auf die Mauer eines Kastells, das etwas abseits des aufgewühlten Bodens der Mine auf einer Anhöhe lag. »Ihr habt die Armee ganz in der Nähe, wie ich sehe.« »Um Räuber und Barbaren abzuschrecken«, sagte Volisios. »Und vielleicht auch, um die Disziplin eurer Arbeiter aufrechtzuerhalten ?« Volisios runzelte die Stirn. Er mochte um die vierzig sein, rund zehn Jahre jünger als Thalius und Tarcho, ein kleiner, rundlicher Mann mit kahl geschorenem Schädel und ausgezupften Augenbrauen ‐ ein öliger, aalglatter Mann, dachte Thalius. Offenbar wusste er nicht, was er von Thalius und dessen angeblicher Suche nach einem bestimmten Sklavenjungen halten sollte. Weshalb sollte ein Mitglied der Kurie in einer der wichtigsten Städte aller vier britannischen Provinzen an einen Ort wie diesen kommen, wenn nicht, um zu spionieren, herumzuschnüffeln, nach Beweisen für die Hinterziehung von Steuern und anderen Abgaben zu
171 suchen? Und so wand und krümmte er sich, um die schäbige kleine Bereicherung durch Amtsmissbrauch zu verbergen, an der Thalius keinen Zweifel hatte. Volisios sagte: »Ihr müsst verstehen, dass die Arbeiter gar nicht hier wären, wenn sie nicht Abschaum oder die Brut von Abschaum wären ‐ und es ist eine teuflische Aufgabe, die Disziplin unter ihnen aufrechtzuerhalten.« Tarcho grunzte. »Und es sieht so aus, als hätte der Teufel alle Hände voll zu tun.« Er zeigte auf etwas. Auf einem Kamm in der Nähe des Kastells sah Thalius eine Reihe von Kreuzen, jedes acht bis zehn Fuß hoch, schlichte, strenge Gebilde, die sich als dunkle Schatten im Nachmittagslicht abzeichneten. Fetzen schienen von ihnen herabzubaumeln. »Wie ihr am Zustand dieser Leichen seht, ist es schon eine Weile her, dass wir Probleme hatten, und ich bin darüber nicht unglücklich.« Volisios begann, über die Kosten des letzten kleinen Aufstands zu sprechen. Die Betreiber dieses Bergwerks besaßen eine
Konzession, denn Dolaucothi gehörte dem Staat, und sie mussten von ihren Gewinnen einen Beitrag für die Instandhaltung des Kastells und den Unterhalt der Soldaten leisten. »Wir bezahlen sogar das Holz, an dem die Schurken gekreuzigt sind«, brummte er. »Aber wir kommen zurecht. Ich leite diese Mine nun seit zwanzig Jahren, ebenso wie mein Vater und dessen Vater vor ihm ...« Es war eine typische Geschichte. Viele Berufe waren schon längst erblich, ebenso wie Thaliusʹ Amt in 172 der Kurie von Camulodunum. Die Leute witzelten, heutzutage führe jeder die Arbeit seines Vaters weiter ‐jeder außer den Kaisern, die anderer Leute Väter umbrächten, um deren Arbeit zu übernehmen. »Mein Vater hat hier zu Zeiten von Kaiser Carausias gearbeitet«, fuhr Volisios fort. »Und auch während der ganzen römischen Invasion. Die hat ihn nicht weiter gestört, aber er ist nie drüber hinweggekommen, in welchem Maße anschließend die Steuern erhöht wurden !« »Carausias war kein Kaiser, sondern ein Usurpator«, sah sich Thalius genötigt, ihm ins Gedächtnis zu rufen. »Der Zweck der Invasion bestand darin, ihn vom Thron zu stoßen. Und natürlich sind die Steuern jetzt höher. Seit Hadrian hat sich einiges geändert.« Volisios schaute verwirrt drein. »Seit wem?« »Ein Kaiser aus uralten Zeiten«, erklärte Tarcho. »Vor hundert Jahren!« »Eher zweihundert«, verbesserte ihn Thalius milde. Er zeigte auf die Kreuze. »Die müsst ihr da herunterholen. Der Kaiser hat die Kreuzigung verboten.« »Tatsächlich ? Warum ?« »Was meinst du wohl?«, sagte Tarcho mit schwerer Stimme. »Weil Christus am Kreuz hingerichtet worden ist.« Volisios sah Thalius an und hob kaum sichtbare Augenbrauen. »Heutzutage ist jeder ein Theologe, hab ich recht?« »Deine Schützlinge werden gewiss froh sein, die Neuigkeit zu erfahren«, sagte Thalius. 172
»Vielleicht sage ich es ihnen erst, wenn es gar nicht mehr anders geht.« Volisios zwinkerte. »Lassen wir die Mistkerle ruhig noch ein bisschen im Ungewissen, hm?« Thalius warf erneut einen Blick auf die hässlichen Kreuze und dachte, wie seltsam es war, dass sein Bestreben, dem Mann zu dienen, der einst an solch einem Kreuz gestorben war, ihn auf derart komplizierte Weise an diesen schrecklichen Ort geführt hatte. Volisios schaute zum Himmel hinauf, wo sich schwere Wolken zusammenballten. »Nun, ich denke, wir sollten uns besser unter die Erde begeben. Glaubt mir, ihr wollt nicht dort unten sein, wenn es regnet... Kommt, hier entlang. Achtet darauf, wohin ihr tretet.« Er führte sie über zerklüftetes Gelände zur Mündung eines Tunnels, der ihnen schwarz entgegengähnte. 172
II Thalius stieg über Leitern und grob aus dem nackten Stein gehauene Treppen in die Dunkelheit hinab. Er war über fünfzig Jahre alt und kam sich steif und unbeholfen vor; körperliche Anstrengung war er nicht gewöhnt. Tarcho ging unterhalb von ihm voran, und Thalius war erneut dankbar für seine Anwesenheit. »Man sollte meinen, es gäbe eine bessere Methode, wichtige Leute hier herunterzubringen«, sagte Tarcho. »Eine hübsche, breite Treppe vielleicht. Oder einen Korb an einem Seil!« »Hier kommt nur selten jemand herunter, der nicht unbedingt muss«, rief Volisios herauf. Tarcho sagte: »Wenn ich jünger wäre, würde ich dich auf den Schultern tragen, Thalius.« »Ich komme schon zurecht, Tarcho. Aber fang mich auf, wenn ich falle.« »Ich werfe dir den Aufseher hin, damit du weich landest!« Schließlich erreichten sie das Fußende der Treppenfolge. Während Thalius und Tarcho Atem schöpften, rief Volisios einen Arbeiter und flüsterte ihm etwas zu. Der Mann lief ins Dunkel davon. Thalius stand auf dem grob behauenen Boden einer 39z
Höhle, die von Menschenhand ins Gestein getrieben worden war. Ein feuchter Gestank lag in der Luft. Man hörte das Geräusch von fließendem Wasser und das unablässige Knirschen von Holz auf Metall. Das einzige Licht stammte von qualmenden Öllampen an den Wänden. Es war heiß, und der Rauchgeruch war stark; Thalius hatte gehört, dass die Bergleute Feuer legten, um das Gestein aufzubrechen. Weitere ärmlich gekleidete Arbeiter rackerten sich hier ab. Einige von ihnen zogen Holzkarren voller Steinbrocken; andere beaufsichtigten die übrigen mit Peitschen und Knüppeln in den Händen, aber die Vorarbeiter waren ebenso schmutzig wie diejenigen, die sie kontrollierten. Thalius sah ins Gestein gehauene Gänge, die in noch tiefere Dunkelheit führten. Die Gänge waren schmal, manche nicht einmal hoch genug, dass man aufrecht darin stehen konnte, aber auch dort schufteten Arbeiter. Das mechanische Knirschen wurde noch durchdringender. Thalius schaute nach oben. In den Schatten über seinem Kopf drehten sich riesige Räder. Volisios sprach mit einigem Stolz über das Unternehmen, in dem seine Familie seit Generationen tätig war. »Wie ihr seht, steht uns hier jede Menge Wasser zur Verfügung. Wir werden von zwei Wasserspeichern versorgt. An der Oberfläche benutzen wir es zur Erzwäsche, und hier unten spülen wir damit das taube Gestein fort. Natürlich werden die tief gelegenen Stollen manchmal überflutet, aber wir pumpen sie sogar mit Hilfe von fließendem Wasser leer. Seht ihr die 173 Wasserräder über euch? Mit ihrer Kraft holen wir Wasser aus dem Schachtsumpf an die Erdoberfläche.«
Die Räder in der Luft faszinierten Thalius. Technik hatte ihn schon immer interessiert. »In einem Amphitheater in Gallien habe ich einmal eine Wasserorgel gesehen und gehört. Das erstaunlichste Ding, das mir je unter die Augen gekommen ist. Jetzt fühle ich mich, als wäre ich in einer noch größeren Maschine gefangen. « Tarcho zeigte auf die Stollen. »Die sehen mir schrecklich eng aus.« Volisios betrachtete den massigen Rumpf des alten Soldaten mit einem Anflug von Boshaftigkeit. »Oh, wenn man dich herschicken würde, damit du unter mir arbeitest, würde ich schon dafür sorgen, dass du bald dünner wirst. Man findet Gold in Adern im Quarz, und wir machen di e Gänge nicht breiter als die Adern selbst. Es ist eine Frage der Wirtschaftlichkeit, versteht ihr.« Er sprach über andere Einzelheiten des Ab‐ bauvorgangs, bei dem das herausgeholte Erz zerkleinert und dann in hölzernen Schwingtrögen gesiebt wurde, wobei Filter aus Schafwolle die winzigen Goldteilchen auffingen. »Wie ich höre«, warf Thalius ein, »graben sie in Germanien Schächte in den Boden, um Luft in die Stollen zu bringen. Hier nicht?« Volisios zuckte die Achseln. »Das wäre zu teuer.« »Aber eure Bergleute müssen doch in diesen Erdlöchern sterben.« »Die sterben sowieso«, sagte Volisios nüchtern. 174 »Man muss die Kosten für die Herstellung der Schächte gegen die Arbeitskosten abwägen.« »Sklaven sind auch nicht mehr so billig wie früher«, warf Tarcho ein. »Das sti mmt. Aber Sträflinge gibt es immer in rauen Mengen«, sagte Volisios. »Immer mehr Steuerhin‐terzieher, die von den Steuerinspektoren aufgespürt und hierher verfrachtet werde n.« Thaliu s wandte sich ab. »Mir ist klar, weshalb Kinder in diesen Rattenlöchern so nützli ch für euch sind ‐selbst wenn es ihnen mit ihren kleinen Fingern schwerfällt, den Quarz auseinanderzuklauben, hm?« Volisios sah ihn mit einer Mischung aus Gerissenheit und Vorsicht an. »Du verurteilst mich, nicht wahr ? Ich versuche nur, mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Wir betreiben hier ein Unternehmen und kein Waisenhaus.« »Vielleicht solltest du mir jetzt den Jungen bringen.« Volisios schaute sich um, und Thalius sah, dass der Mann, den der Aufseher zuvor herbeigerufen hatte, ein Stück entfernt wartend im Schatten stand. Er hielt eine kleinere Gestalt, die neben ihm stand, an ihrem dünnen Arm gepackt. Volisios schnippte mi t den Fingern, und der Mann kam herbei und zerrte den Jungen hinter sich her. Der Junge wehrte sich nicht, aber seine Gliedmaßen schlackerten, und er hatte den K opf abgewandt; er machte einen verdrossenen, passiven Eindruck. »Das ist der, den du suchst«, sagte Volisios. »Jedenfalls soweit wir wissen.« 174 Thalius spürte, wie sein Herz klopfte. Der Junge wurde in eine Lichtpfütze vor ihm geschoben. Er war in Lumpen gehüllt und vielleicht zwölf Jahre alt, aber so unterernährt und mager, dass sein Alter schwer
auszumachen war. Seine Gelenke waren so knubbelig wie Walnussbeutel, und die Rippen unter seiner zerfetzten Kleidung standen derart hervor, dass man sie zählen konnte. Er war schmutzig, mit schwarzen Streifen in seinem ovalen Gesicht. Aber es besaß trotzdem eine gewisse Schönheit, und die rotblonde Farbe seiner Haare leuchtete durch verfilzten Dreck. Tarcho fragte Volisios: »Wie heißt er?« »Audax«, sagte der Aufseher schroff. Ein gängiger Sklavenname. »Er wird nichts über seine Familie wissen«, warnte Volisios. »Wahrscheinlich hat man ihn seiner Mutter weggenommen, sobald er abgestillt war.« »Wenn ich sein Gesicht nur besser sehen könnte«, sagte Thalius. Er beugte sich zu dem Jungen hinunter und umfasste sein Kinn, um den Kopf anzuheben. Aber Audax zuckte zurück, und Thalius erkannte, dass einige der verfärbten Stellen um seinen Mund kein Schmutz, sondern blaue Flecken waren. Thalius trat zurück. Er war unschlüssig, was er nun tun sollte. Wenn er recht hatte, was die Herkunft dieses Jungen betraf, dann entstammte er einem Zweig seiner Familie, der vor fast zweihundert Jahren in die Sklaverei gestürzt worden war. Als er begonnen hatte, sich für die alte Sage einer verloren gegangenen Prophezeiung zu interessieren, 175 hatte er die Familiengeschichte bis zurück zu einer Spaltung unter der Herrschaft Hadrians verfolgt, als ein Bruder seiner Urahnin Lepidina zusammen mit deren Mutt er, einer Frau namens Severa, in die Sklaverei verkauft worden war. Thalius wusste , er hatte Glück gehabt, dass Lepidina dieses Schicksal erspart geblieben war, sonst wäre er ebenf alls als Sklave zur Welt gekommen ‐ sofern er überhaupt zur Welt gekommen wäre. Von jener Begebenheit aus hatte Thalius sich wieder zur Gegenwart vorgearbeit et und dabei dem Schick sal von Sklaven und deren Kindeskindern nachgespürt. Die Römer führten immer gute Unterlagen, und selbst die Auflistung des Sklavenhandels war überraschend vollständig ‐ aber seit die Ausdehnung des Reiches unter Hadria n zum Stillstand gekommen und die Zufuhr neuer Gefangener aus eroberten Gebieten versiegt war, stellten Sklaven ja auch eine Ware dar, für die sich die Buchführung lohnte. Schließlich hatte er den Faden der Abstammung bis hierher verfolgt, zu diesem Jungen, Audax ‐ der, wenn er recht hatte, der letzte Nachkomme dieses Bruders von Lepidina war. Falls die Ergebnisse seiner Nachforschungen zutrafen, dann hatte der einzige vielleich t noch verbliebene Rest der alten Prophezeiung in Gestalt dieses unglücklichen Sklavenjungen überlebt. Aber irgendwie hatte sich Thalius nie so recht überlegt, was er tun würde, wenn er dem Jungen von Angesicht zu Angesicht gegenüberstünde. »Lass es mich versuchen«, sagte Tarcho. Er machte 175 mit seinem massigen Körper ein paar schwerfällige Schritte nach vorn und kniete sich vor den Jungen. Er sprach mit sanfter Stimm e, in mehreren Sprachen; vielleicht war eine von ihnen ein britannischer Dialekt, die Mutte rsprache von Audaxʹ und Thaliusʹ
Vorfahren. Der Junge blickte nicht auf, aber zumindest zuckte er nicht zurück, wie bei Thalius. Mit einem beruhigenden Nicken nahm der alte Soldat erst die linke und dann die rechte Hand des Jungen und untersuchte die Handflächen und die Fingernägel. Er fuhr mit den Händen über die Arme und Beine des Jungen und fuhr ihm durch das verfilzte Haar ‐Thalius sah dort Läuse krabbeln ‐, schaute ihm in den Mund und ließ die Hand über Bauch und Rücken gleiten. Es war eine rasche Inspektion, als hätte er einen Hund vor sich. Der Junge erlebte so etwas offensichtlich nicht zum ersten Mal und ließ es widerstandslos über sich ergehen. Dann drehte Tarcho den Jungen um und hob den Fetzen hoch, der ihm als Tunika diente. »Thalius. Komm her und schau dir das an.« Thalius trat vor. Der nackte Rücken des Jungen war eine Ansammlung purpurroter Narben. Thalius wich angewidert zurück und wandte sich an Volisios. »Er ist geschlagen worden, und zwar heftig, wie es aussieht.« Volisios erwiderte seinen wütenden Blick. »Wenn ja, dann habe ich nichts damit zu tun.« »Nein«, sagte Tarcho mit fester Stimme. »Schau noch einmal hin, Thalius. Das sind keine Peitschen‐ 176 Striemen. Siehst du diesen Kreis, diese Krümmung hier?« Die auf primitive Weise in die Haut des Jungen eingeritzten Male waren Buchstaben: lateinische Buchstaben, grob in einem quadratischen Muster angeordnet. P E E O N E R R O S R I ACTA Während sie den Jungen anstarrten, drehte dieser den Kopf, und zum ersten Mal, seit e r hierhergebracht worden war, zeigte sich ein Funken Neugier in seinen Augen. Thal ius fragte sich, ob er überhaupt wusste, dass er vielleicht sein ganzes Leben lang eine Botschaft auf seinem Rücken mit sich herumgetragen hatte. 176
III Thalius war außerordentlich erleichtert, als sie wieder an die Oberfläche gelangten, obwohl er von dem Aufstieg völlig außer Atem war. Volisios geleitete Thalius und Tarcho zu seiner Schreibstube vor Ort, einem Klotz aus Lehmziegeln, der ein wenig besser ausgestattet war als die anderen Verschlage. Tarcho nahm den Jungen mit, um ihn zu säubern und etwas eingehender zu untersuchen. Thalius war froh, ihn in Tarchos Obhut geben zu können. Tarcho war zwar kein Arzt, aber er hatte Soldaten an der Front befehligt und besaß ein paar Grundkenntnisse in Anatomie und Medizin. Während Thalius wartete, wollte er sich nur ausruhen. Er war so erschöpft, dass er nicht einmal sprechen konnte. Volisios respektierte das; er servierte ihm etwas
verdünnten Wein, ein ziemlich saures Produkt britannischer Rebstöcke, und wandte sich einigen Verwaltungsarbeiten zu. Thalius dachte darüber nach, was für ein Glück er hatte, dass er Tarchos Unterstützung genoss. Tarcho war in den Fünfzigern, ungefähr im selben Alter wie Thalius selbst, aber ein größerer Gegensatz als der zwischen den beiden Männern war kaum vorstellbar. Tha 177 lius war ein begüterter Geschäftsmann. Er führte ein Töpfereiunternehmen und verkaufte dem Heer Becher und Teller. Sein Unternehmen befand sich seit Gene‐ rationen im Familienbesitz. Er war jedoch nicht so reich, wie er es hätte sein können, denn er hatte auch den Sitz seines Vaters im Stadtrat von Camulodunum geerbt, der Kurie. Seine Aufgaben ‐ das Einnehmen der Steuern, die Instandhaltung der Stadtmauern und andere Bürgerpflichten ‐ waren beschwerlich und kostspielig; natürlich hatte man sie aus eben diesem Grund zu obligatorischen und erblichen Obliegenheiten erklärt. Im Gegensatz dazu war Tarcho, der von einer langen Reihe von Soldaten germanischer Herkunft abstammte, ein Bär von einem Mann, ruhig, massiv und unerschütterlich, mit einem wilden zinnoberroten Bart, der jetzt von grauen Strähnen durchsetzt war. Er hatte den größten Teil von fünfundzwanzig Jahren in einer Garnison an der britannischen Ostküste gedient, davon allerdings einige Jahre unter der Regentschaft von Carausias, dem berüchtigten Usurpator. Constantius Chlorusʹ Dekret, dass die Dienstzeit von Soldaten wie Tarcho unter Carausias auf ihre Ruhestandsprivilegien angerechnet würde, sofern sie die Seite wechselten, war eine pragmatische Geste des Anführers der großen römischen Invasion in Britannien vor fast zwanzig Jahren gewesen. Aber was sollte jemand wie Tarcho mit seinem Ruhestand anfangen? Er war nicht verheiratet. Er war zu ruhelos, um Landwirtschaft zu betreiben, und hatte zu 177
viele Skrupel, um sich als Schläger eines Steuereintreibers zu verdingen. Deshalb war er auf der Suche nach einer geeigneten Arbeit nach Camulodunum gekommen und durch Freunde von Freunden an Thalius geraten, der einen verlässlichen Leibwächter gesucht hatte. Thalius war jedenfalls froh über seine Begleitung gewesen, als er sich aus der Sicherheit von Camulodunums Mauern gewagt und diese Reise durch eine der vier britannischen Provinzen und in eine andere im fernen Westen angetreten hatte. Auch wenn sie ein gegensätzliches Paar sein mochten, war Tarcho zu Thaliusʹ rechter Hand geworden, ebenso sehr ein Resonanzboden wie ein schützendes Muskelpaket. Beide kinderlose Junggesellen, fühlten sie sich gegenseitig in ihrer Gesellschaft wohl. Und sie wurden von einer gemeinsamen Religion vereint und getrennt: dem Christentum. Auf ihren Reisen hatten sie lange und interessante Diskussionen über das Wesen ihrer Religion geführt. Aber wie Volisios angemerkt hatte, war heutzutage schließlich jeder ein Theologe. Thaliusʹ Zweifel in Bezug auf den neuen Kaiser und die Richtung, in die er das Christentum führte, hatten in Tarchos Ausdrucksformen seines aggressiven Glaubens
konkrete Gestalt angenommen. Tatsächlich hatten eben diese Zweifel Thalius in die Mine geführt ‐und was er hier zu erreichen hoffte, stellte nur einen Schritt auf dem Weg zu seinem Endziel dar, einer Auseinandersetzung über die Richtung des Christentums mit dem Kaiser persönlich. 40z
Das Christentum war eine alte Leidenschaft in Thaliusʹ Familie. Angeblich reichte sie mehrere Jahrhunderte zurück, bis zu Severas Tochter Lepidina, die nicht lange nach Jesu Tod gelebt hatte. Thaliusʹ Religion war von einer altmodischen Art, eine Religion der Liebe und der Hoffnung, und seine Gemeinschaft war ein Verbund wohltätiger Vereinigungen, die sich gegenseitig halfen ‐ eine direkt von den Lehren Jesu Christi abgeleitete Religion, wie Thalius gern glaubte. Tarcho jedoch war ein Christ neuen Typs. Seine Religion war wie die seines Kaisers eine robuste Soldatenreligion, sein Gott ein Krieger, der andere Gottheiten im Kampf besiegt und damit seine Kraft unter Beweis gestellt hatte. Von ernsthafter Besorgnis erfüllt, hatte Thalius sich gezwungen gesehen, diese Metamorphose des Christentums zu einer militärischen Religion, die er nicht mehr wiedererkannte, abzulehnen. Aber die neue Richtung kam vom Kaiser persönlich. Was sollte man also tun, wenn man ein Gewissen besaß? Als Thalius erfuhr, dass der Kaiser nach Britannien reisen würde, um Soldaten für eine Streitmacht zu sammeln, war ihm eine Idee gekommen, ein Samenkorn, das in seinem Geist Wurzeln schlug. Der Kaiser würde Audienzen abhalten ‐ warum sollte dann nicht auch Thalius empfangen werden und seine Zweifel zur Sprache bringen? Jeder vernünftige Herrscher würde doch gewiss die Vorstellungen und Standpunkte derjenigen zur Kenntnis nehmen, die er zu regieren bestrebt war. Warum nicht auch die von Thalius? Aber kaum war er auf diesen faszinierenden Ge 178
danken gekommen, wurde er auch schon von Zweifeln geplagt. Nahm er sich nicht zu ernst? Wer war er, ein Angehöriger einer simplen provinziellen Kurie, sich zur kaiserlichen Politik zu äußern? In dieser Situation kam Thalius, der nach etwas suchte, was ihn weiterbrachte, auf die Idee, sich einer alten Familiensage zuzuwenden: der Prophezeiung, dem verloren gegangenen Poem der Zukunft. Vielleicht hoffte er vergeblich, es wiederzufinden, aber selbst in diesen Zeiten halsabschneiderischer Steuern war Thalius so wohlhabend, dass er es sich leisten konnte, sich seiner Faszination für die Familiengeschichte hinzugeben. Und wenn die Prophezeiung tatsächlich einen Blick in die wahre Zukunft bot, war es einen Versuch wert, sie zu finden ‐ erst recht in einer Zeit solcher Unsicherheit. Mit ihrer Autorität im Rücken ‐ immer vorausgesetzt, die Prophezeiung existierte, ließ sich aufspüren und war vorzeigbar ‐ hätte er womöglich die Rechtfertigung, einem Kaiser und seinem Hof gegenüberzutreten, und auch den erforderlichen Mut. Es war vielleicht falsch und nicht einmal sehr logisch, aber es war immerhin ein Plan, eine Strategie, und er hatte sie bis hierher verfolgt. Und schließlich besagte die seit den Zeiten der schon längst verstorbenen Lepidina weitergegebene Familiengeschichte, dass die Prophezeiung tatsächlich etwas mit dem Schicksal des Christentums zu tun
hatte. Wenn das zutraf ‐ wenn er sie entschlüsseln, sich ihrer Botschaft bedienen und dem Kaiser vermitteln konnte, dass sie 179
der Wahrheit entsprach, redete sich Thalius mit einer Art atemloser Vorfreude ein ‐, würde er der Menschheit vielleicht wirklich einen großen Dienst erweisen. Als er allmählich wieder zu Kräften kam ‐ Tarcho war mit dem Jungen immer noch nicht zurück ‐, befiel Thalius eine gewisse Unruhe. Er stellte seinen Becher ab und schlenderte unter Volisiosʹ nervösen Blicken in dem Raum umher. Es war ein Arbeitsraum voller Papiere. Ein Stapel von Advokatenbriefen war mit einem Quarzbrocken mit goldenen Einschlüssen beschwert, einem hübschen Stein, der ‐ zweifellos auf Kosten von großem menschlichem Leid ‐ aus der Erde geholt worden war. Es gab nur wenig Persönliches außer einem kleinen lararium, einem Hausschrein mit Ritualgegenständen für Götter, die Thalius nicht kannte. Inmitten dieses heidnischen Sammelsuriums befand sich jedoch auch ein primitives christliches Fischsymbol, eine Brosche aus einem Stück Bronzedraht. Solche religiösen Ver‐ mischungen waren allgemein üblich. Obwohl der Kaiser das Christentum förderte, war es nicht obligatorisch, das Heidentum also auch kein Verbrechen, und Roms fröhlicher Pantheismus konnte sich Jesus vorläufig als einen weiteren Gott einverleiben. Der interessanteste Gegenstand in dem Raum war ein gerahmter Satz Münzen. Sie waren während der Herrschaft von Carausias geprägt worden; einige zeigten das stolze Profil des Usurpators neben den rechtmäßigen kontinentalen Kaisern, die er zu seinen »Brüdern« erklärt hatte, andere stellten ihn als Erfüllung 179
vergilscher Prophezeiungen eines Retters von Rom dar. Volisios betrachtete ihn immer noch nervös. »Aha«, sagte Thalius, »du hast also Carausias unterstützt?« »Keineswegs«, sagte Volisios hastig. »Ich sammle nur die Münzen. Sie sind jetzt schon selten und ziemlich wertvoll. Denk nur ‐ die Münzen eines britannischen Kaisers! Das ist alles, Thalius ‐ nur eine Münzsammlung. « Thalius hatte noch nie gern um den heißen Brei herumgeredet. »Keine Angst, Mann. Ich bin kein Regierungsspitzel. Obwohl ich nicht daran zweifle, dass du eine Menge trüber Geheimnisse hast ‐ einen Münzenschatz? Ein paar Söhne, die du versteckt hast, um sie dem Frondienst zu entziehen?« Volisios zuckte die Achseln. »Versucht nicht jeder, mit ein paar Kleinigkeiten davonzukommen? Die Steuern sind heutzutage einfach unerträglich. Und die Korruption ist doch sowieso allumfassend.« »Da hast du recht«, gab Thalius widerwillig zu. »Zu viele sind bestechlich. Der Kaiser kommt nach Britannien, um eine Streitmacht für seinen Krieg gegen Licinius aufzustellen.« Licinius regierte die Osthälfte des geteilten Reiches. »Aber ich hoffe, dass er während seines Aufenthalts etwas unternimmt, um mit solchen Problemen aufzuräumen.« »Und diese elenden Steuern zu senken«, ergänzte Volisios. »Oh, dazu dürfte wohl nicht einmal der Kaiser im‐ 179
Stande sein«, sagte Thalius trocken und wandte sich wieder den Münzbildern des gescheiterten Usurpators zu. Thalius erinnerte sich gut an Carausiasʹ Herrschaft; bei dessen Machtergreifung war er in den Zwanzigern gewesen. Der Mann hatte die britannische Flotte befehligt, der es oblag, sächsische Piraten abzufangen, die aus Nordgermanien über das Meer kamen. Wie sich herausstellte, ließ er die Räuber zunächst passieren und raubte sie dann seinerseits aus, wenn sie nach Hause zurückzukehren versuchten. Als die Provinzre‐ gierung nicht ganz zu Unrecht Einwände gegen diese Politik erhoben hatte, hatte Carausias seine Truppen zur Rebellion geführt. Ein Jahrzehnt lang hatte er (und später sein Nachfolger, der wiederum ihm den Thron geraubt hatte) die kontinentale Tetrarchie ferngehalten und als Kaiser in Britannien geherrscht. Das war alles sehr aufregend, und der charismatische und fantasievolle Carausias war durchaus beliebt gewesen. Sein Inselreich war ein britannisches Imperium, das von einer Seestreitmacht aufrechterhalten wurde, mit einem eigenen »Rom« in Gestalt von Londinium, und der einigermaßen faszinierte Thalius hatte sich gefragt, ob dies ein Vorgeschmack auf die Zukunft sein mochte. Aber die nüchterne Wahrheit war, dass der Wechsel in der Hierarchie an der Spitze der Gesellschaft für den damals noch jungen Thalius, der gerade seine eigenen Bürden als Mitglied der Kurie von Camulodunum auf sich genommen hatte, keinerlei praktische 180
Auswirkungen gehabt hatte. Und die schwächliche Rebellion war entschlossen niedergeschlagen worden, als Constantius Chlorus mit einer starken Streitmacht in Britannien einmarschiert war und die Insel zurückerobert hatte. Ironischerweise war es Constantius Chlorus bestimmt gewesen, Vater eines weiteren britannischen Usurpators zu werden. Constantius war ein Mitglied der Tetrarchie gewesen, eines Kollegiums aus vier gemeinsam regierenden Kaisern ‐ ein System, das dem optimistischen Zweck diente, die kaiserliche Thronfolge zu stabilisieren, von dem jedoch kaum jemand geglaubt hatte, dass es die Abdankung seines Gründers, Diokletian, überdauern würde. Bei Constantiusʹ Tod rief die britannische Armee seinen Sohn in Eburacum zum Kaiser aus. Nach einer komplizierten Reihe politischer, dynastischer und militärischer Konflikte war der Sohn schließlich zum Herrn des Westreichs geworden, obwohl er nach wie vor seinem Rivalen im Osten gegenüberstand. Doch nach seinen Siegen galt er natürlich nicht mehr als Usurpator. Nur wenige von Thaliusʹ Freunden hatten sich so eingehend mit der Geschichte beschäftigt wie er, und nur wenige wussten, dass der arme, charismatische, dem Untergang geweihte Carausias lediglich der Letzte einer Reihe von Usurpatoren im ganzen Reich gewesen war. Der erste britannische Usurpator war ein Statthalter gewesen, der in Afrika geborene Clodius Albinus, der siebzig Jahre nach Hadrian mit der britannischen Garnison auf den Kontinent übergesetzt 180
hatte und dort von Kaiser Septimius Severus vernichtend geschlagen worden war. Severus hatte die Provinz sodann zweigeteilt, damit kein Statthalter je wieder so mächtig werden konnte. Ein Jahrhundert später hatte Constantius Chlorus sie erneut
geteilt; nun gab es nicht weniger als vier britannische Provinzen. Aber die Jahre zwischen Severus und Constantius hatten wenig Frieden gesehen. Thalius war zu dem Schluss gelangt, dass man all diese Instabilität an der Spitze des Reiches bis zu Hadrian und seinem vor fast zweihundert Jahren fertiggestellten Wall zurückverfolgen konnte. Der Wall selbst hatte sich als dauerhafte Grenze für Roms Ambitionen erwiesen. Obwohl Severus, der Sieger über Clodius Albinus, sich in die Gebiete jenseits des Walls vorgewagt und den fernsten Punkt des Hochlands erreicht hatte, war sein Feldzug auf dem öden Hochplateau versickert ‐ ebenso wie der von Agricola vor ihm. Danach hatten die Römer nie wieder versucht, den fernen Norden zu erobern. Aber das Ende der Expansion hatte Folgen. Ohne neue Provinzen, die man ausplündern konnte, bestand das Einkommen des Reichs einzig und allein aus den Steuern und anderen Abgaben, die es von seinen Völkern erhob. Währenddessen konnten die Barbaren jenseits der festen Grenzen, selbst in Calédonien, neue und stabilere Zusammenschlüsse bilden und wuchsen zu einer wachsenden Bedrohung heran. Während also immer weniger Reichtümer ins Imperium strömten, stiegen die Verteidigungskosten 181
und damit unausweichlich auch die Steuern, Generation für Generation. Der niedere Adel flüchtete vor seinen kostspieligen Pflichten in den Städten auf riesige ländliche Anwesen, während die Armen zur Steuerhinterziehung gezwungen und in Kriminalität und bittere Not getrieben wurden. Auch das Heer veränderte sich. Die dauerhaft an festen Grenzen stationierten Soldaten entwickelten verständlicherweise eine größere Loyalität zu ihren lokalen Kommandeuren als zu einem fernen Kaiser ‐und Heerführer, die einst jenseits der Reichsgrenzen nach Ruhm gesucht hatten, mussten ihre Ziele nun im Inneren verfolgen. Diese zentrifugalen Tendenzen brachten selbst in Britannien einen Usurpator nach dem anderen hervor, und nur eine neue Gattung harter, gnadenlos tüchtiger Soldatenkaiser hatte das Imperium aus einer sonst womöglich tödlichen Krise führen können. Aber es schien Thalius, dass der Charakter des Reiches sich in diesen Heimsuchungen verändert hatte ‐ und jetzt würde er sich unter einem neuen Kaiser ein weiteres Mal und vielleicht sogar noch drastischer verändern. Und Thalius, der Amateurhistoriker, hatten noch weiter in die Vergangenheit geschaut. Viele seiner Bekannten glaubten, bei Constantiusʹ Invasion in Britannien vor zwei Jahrzehnten habe es sich um den ersten römischen Angriff auf die Insel gehandelt ‐ als wäre Britannien schon immer römisch gewesen. Aber die Insel hatte sogar schon vor Claudiusʹ dreihundert Jahre zurückliegendem Abenteuer so etwas wie eine eige 181
ne Geschichte gehabt. Fasziniert hatte Thalius von britannischen Rebellen gelesen, die versucht hatten, das römische Joch abzuschütteln. Sie hatten sich Briganten, Icener oder Catuvellaunen genannt ‐ Namen, von denen Thalius geglaubt hatte, sie bezögen sich nur auf römische Verwaltungseinheiten. Er hatte keine Ahnung, wie die noch ältere
Historie dieser untergegangenen Volksstämme ausgesehen haben mochte. Bei seinen Nachforschungen in der Familiengeschichte hatte er zu seinem Erstaunen festgestellt, dass er selbst zumindest teilweise von brigantischer Herkunft war. Jetzt betrachteten sich die Britannier selbst als Römer ‐ und wenn sie rebellierten, wie Carausias, taten sie das innerhalb des Systems; sie versuchten nicht, es umzustürzen. Die Menschen von damals, seine eigenen Vorfahren, hatten eine andere Einstellung gehabt als die Menschen von heute, dachte Thalius. Er fragte sich, wie viel sich in den römischen Jahrhunderten noch verändert hatte oder verloren gegangen war. Draußen waren Geräusche zu hören. Volisiosʹ Schreibstube hatte kleine, blau getönte Glasfenster; als Thalius hinausschaute, sah er eine Gruppe von Arbeitern, die aus einem Bergwerksschacht heraufgebracht und zu einer primitiven Baracke geführt wurden. Als sie vorbeikamen, schauten sie wütend zur Hütte des Aufsehers herüber. Thalius fröstelte trotz der schweren Eisen, mit denen die Sklaven an den Beinen und am Hals gefesselt waren. Volisios trat neben ihn. »Vor denen brauchst du keine Angst zu haben«, sagte er mit leiser Verachtung. 182
»Die meisten sind ihr ganzes Leben lang so erbarmungslos ausgepeitscht worden, dass sie keine Hand gegen dich erheben würden, selbst wenn man ihnen die Ketten abnähme. Man muss das tun, weißt du.« »Was?« »Sie hart anfassen. Ich weiß, was du denkst, dass dies ein brutaler Ort ist. Aber ich muss meine Sklaven unterdrücken, um sie bis auf den letzten Blutstropfen auszupressen, weil die Steuereinnehmer mich auspressen. So ist das nun mal.« »Aber ist das der einzige Weg?«, sagte Thalius leise, auf einmal entsetzt von Volisiosʹ blutleeren Erklärungen. Volisios sah ihn ausdruckslos an. »Natürlich ist das der einzige Weg. So sind die Dinge eben. So sind sie immer gewesen, und so werden sie auch immer sein.« »Geht es wirklich nicht anders, Aufseher?« Thalius war zwar vielleicht etwas weltfremd, aber auch ein fantasievoller, nachdenklicher Mensch, und es war ein Tag voller intensiver Eindrücke für ihn gewesen: die höllischen Zustände in der Mine, die elende Verfassung seines Sklavenverwandten, die mächtigen, mahlenden Maschinen im Bergwerksschacht. Jetzt schüttelte er eine rasche Spekulation aus dem Ärmel. »Überleg doch mal. Dort unten habt ihr Männer, die Erz abbauen, und Wasserräder, die die Schächte leer pumpen. Was wäre, wenn ihr weitere Wasserräder installieren und mit deren Hilfe euer Erz abbauen würdet?« »Unmöglich«, sagte Volisios sofort. »Gewiss nicht für einen Baumeister, der erfin 182
dungsreich genug ist, um eine Orgel mit Wasserantrieb zu konstruieren. Was wäre, wenn das Bergwerk den Abbau eigenständig vornehmen könnte, so wie eine Orgel in einem Amphitheater ohne menschliche Hände spielt? Kannst du dir das nicht vorstellen?
Wäre es nicht möglich, dass das Imperium mit einer solchen Einkommensquelle wieder reich werden könnte, reich und stark ‐ und dass niemand dafür leiden müsste?« Volisios runzelte die Stirn. »Bist du ein Freund von Apparaten, Thalius? Ich habe mich immer eher zu episteme als zu techne hingezogen gefühlt ‐ zu wahrem, tiefem Wissen statt zu billigen Tricks und Kniffen.« Thalius ärgerte sich über diesen mit griechischen Begriffen verbrämten Snobismus. »Müssen wir so beschränkt sein in unserem Denken? Mich interessiert ein einzelnes Wasserrad mehr als tausend längst tote griechische Philosophen!« »Nun, das ist deine Sache.« »Ja, aber was wäre, wenn ... ?« »Außerdem, was sollten wir mit den ganzen Sklaven machen? Sie freilassen? Sie würden uns im Handumdrehen abschlachten.« Und Volisios wandte sich lachend ab. Thalius schaute aus dem Fenster, lauschte dem mahlenden Geräusch der riesigen Maschinen tief unter der Erde und dem Ächzen menschlichen Elends, und seine rudimentäre Vision einer technologischen Zukunft löste sich in Luft auf. Endlich brachte Tarcho den Jungen herein. 183
IV Audax war gewaschen, sein helles Haar geschnitten und gebürstet, und er trug eine frische Tunika. Er war wahrscheinlich so sauber und vorzeigbar wie noch nie in seinem Leben, dachte Thalius. Er bestand jedoch nur aus Haut und Knochen, und es gab Spuren wie die blauen Flecken um seinen Mund, die man auch mit noch so viel Wasser nicht wegwaschen konnte. Aber Audax klammerte sich an Tarchos Hand, und Thalius sah, dass es Tarcho irgendwie gelungen war, sein Vertrauen zu gewinnen. Thalius fiel auf, dass der Junge in seiner Gegenwart noch kein einziges Wort gesprochen hatte. »Abgesehen von diesen Narben auf seinem Rücken ist er bei leidlich guter Gesundheit«, sagte Tarcho jetzt. »Nichts, was ein bisschen Sonne und anständiges Es‐ sen nicht kurieren könnten.« Vorsichtiger fuhr er fort: »Er hat allerdings ein paar blaue Flecken an den Oberschenkeln. Außerdem Verletzungen am Mund und am Hals, und ...« »Es reicht«, blaffte Thalius. Tarcho sagte zu dem Aufseher: »Ich weiß, wie es an Orten wie diesem zugeht. So ein hübscher Junge wird für ein Stück Brot verkauft.« 183
»Was hast du erwartet?«, gab Volisios zurück. »Aber die Dinge sind komplizierter, als du wahrscheinlich denkst, Soldat. Die Männer sind in der Dunkelheit und der Feuchtigkeit gefangen, und sie suchen Trost beieinander, denn sonst haben sie ja nichts. Manche unserer älteren Arbeiter sind sogar >verheiratet<, und ihre >Ehen< funktionieren besser als meine eigene! Mag sein, dass dieser Junge misshandelt worden ist, aber es ist durchaus auch möglich, dass man ihn gut behandelt hat.« Doch er sah
den Jungen bei diesen Worten nicht an und bat ihn auch nicht, es zu bestätigen oder zu widersprechen. »Und die Male auf seinem Rücken?«, fragte Thalius behutsam. Tarcho nickte dem Jungen zu. Audax drehte sich um, hob seine Tunika hoch und entblößte dünne Beine, einen flachen Po und einen Rücken voller bläulich verfärbter Narben. Aber jetzt, wo der Schmutz weggewaschen war, konnte Thalius deutlich die Linien von sechzehn im Quadrat angeordneten Buchstaben erkennen: P E E O N E R R O S R I ACTA Tarcho kratzte sich am Kopf. »Und ist es nun das, weshalb du hergekommen bist?« »Wahrscheinlich.« 184
»Der Junge erinnert sich nicht daran, dass er diese Tätowierung bekommen hat.« »Das überrascht mich nicht«, sagte Thalius. »Siehst du, wie lang gestreckt und verzerrt die Buchstaben sind? Man muss ihm die Male beigebracht haben, als er noch sehr klein war, ein Säugling vielleicht. Als er dann größer geworden ist, sind sie mit ihm ge‐ wachsen. Vielleicht hat auch schon sein Vater und dessen Vater vor ihm diese Male gehabt, und sie sind jeweils bei der Geburt kopiert worden ...« Thalius sah es bildlich vor sich: ein Sklave, der auf schmerzhafte Weise Buchstaben in die empfindliche Haut seines Kindes ritzte, vielleicht mit einem Quarzsplitter aus den Goldflözen, und Schmutz oder Pflanzenfarbe hineinrieb. Es war der Fluch von Severas Verurteilung zur Sklaverei gewesen, dass wahrscheinlich schon ihre Enkelkinder nicht einmal mehr lesen und schreiben konnten. Nachdem die Prophezeiung verbrannt worden war, würden ihre Worte nach zwei, drei Generationen verloren sein. Doch offenbar hatte jemand einen Weg gefunden, dachte Thalius aufgeregt, zumindest einen Teil des Textes zu bewahren, indem er ihn in den Körper der Kinder ritzte. Thalius hatte etwas über seine Urahnin Severa gelesen; vielleicht hatte diese harte Frau selbst diese Methode ersonnen, die Prophezeiung in Blut und Schmerz zu retten. Volisios hatte einen Großteil seines Respekts vor Thalius verloren, seit dieser zugegeben hatte, dass er kein Regierungsinspektor war. »Du hast also, was du 184
wolltest. Was wirst du nun mit dem Jungen tun? Ihn wieder in die Grube schicken? Oder möchtest du, dass er dir vorher noch das Bett wärmt?« »Du widerst mich an«, fauchte Thalius. Aber Tarcho sagte: »Eigentlich hat er nicht ganz unrecht, Thalius. Sklaven sind teuer, weißt du.« »Er ist ein Blutsverwandter«, sagte Thalius. »Kein sehr enger, aber immerhin ein Blutsverwandter. Ich werde ihn nicht hier lassen, damit er zu Tode vergewaltigt wird. Nenne deinen Preis, Aufseher.«
Volisios nickte und griff geschäftsmäßig nach einem hölzernen Notizblock und einer Feder. Der Junge beobachtete das alles mit großen Augen; sicherlich hatte er kein Wort verstanden. Tarcho betrachtete erneut die Tätowierung. »Aber was bedeutet das?« »Ich weiß es nicht. Noch nicht. Aber es ist eindeutig ein Akrostichon.« »Ein was? Egal. Und wohin wird uns deine Suche als Nächstes führen?« »Nach Rutupiae.« »An die Ostküste? Wozu? Wer ist dort?« »Konstantin«, sagte Thalius schlicht. 185
V Thalius, Tarcho und Audax würden viele Tage brauchen, um von Dolaucothi im Westen Britanniens bis nach Rutupiae im östlichsten Winkel zu reisen, wo Thalius sich um eine Audienz beim Kaiser bemühen wollte. Sie brachen zu dritt mit Thaliusʹ Wagen auf. Tarcho kümmerte sich um den Jungen. Nachdem sie den Sabrina‐Fluss überquert hatten, verließen sie das »Soldatenland«, wie Tarcho es nannte, in dem wilde Bergbewohner Herden zottiger Schafe zwischen die Mauern römischer Kastelle trieben, und gelangten in die ruhigeren Gefilde des Südens und Ostens. Der Wagen rollte auf belebten, gut erhaltenen Straßen durch landwirtschaftlich genutzte, aber weitgehend verlassene Gebiete. Auf dem Weg nach Durovernum Cantiacorum und Rutupiae machten sie in mehreren Städten Halt, darunter auch für eine Nacht in Londinium. Mit ihren Basiliken und Foren, ihren Bade‐ und Stadthäusern sahen alle Städte gleich aus: allesamt Miniaturmodelle des fernen Rom. Aber viele der öffentlichen Gebäude hatten bessere Zeiten gesehen. Schäbige alte Basiliken waren zu Getreidespeichern, Viehställen oder Waffenkammern umgewandelt worden, und manchmal sah 185
man Brandschäden, bei denen niemand sich die Mühe gemacht hatte, sie zu beheben. Selbst in Londinium gab es eine monumentale Basilika, die nur halb vollendet und offenbar aufgegeben worden war; überwuchert von Ranken, mit einem Teppich aus Gras und Unkraut, schien sie sich schon vor der Fertigstellung in eine Ruine zu verwandeln. Und an der Nordseite des Flusses zog sich eine neue Mauer entlang und durchschnitt die Kais und Hafenanlagen, die einst die großen Handelsrouten durch die Provinzen versorgt hatten. Anders als früher steckten die mit zu hohen Steuern belasteten Menschen ihr Geld nicht mehr in die Stadtentwicklung. Die meisten wollten nicht einmal für die Instandhaltung der öffentlichen Kanalisation oder die Entsorgung des Mülls bezahlen. Infolgedessen stanken die Städte. Und jede Stadt war von Mauern umschlossen, massiven, dicken Barrikaden mit imposanten Blendsteinen und einem Kern aus Bruchstein und opus caementitium. Thalius wusste alles über solche Befestigungsanlagen; selbst in dem von jeher ummauerten Camulodunum lasteten die Kosten für die Renovierung der städtischen Verteidigungsanlagen schwer auf der Kurie.
Die Zeiten hatten sich geändert, seit diese Städte geplant worden waren. Auf dem Land war es jetzt erheblich gefährlicher, weil immer wieder organisierte Banden barbarischer Räuber den Wall im Norden überwanden oder über das Meer kamen. Es gab auch jede Menge einheimischer Banditen. Die Gesellschaft 186
war von oben bis unten vollkommen statisch, weil jeder von Geburt an auf seinen Beruf festgelegt war. Aber wenn der Bauernhof nicht mehr genug abwarf, wenn die Steuern und Abgaben so drückend wurden, dass es sich nicht mehr lohnte, das Land zu bestellen, gab es keinen Ausweg. Viele Bauern hatten sich deshalb einfach in die Nacht davongeschlichen und gehörten nun zu einer wachsenden Unterschicht von Wilderern und Banditen, die außerhalb des Gesetzes lebten. Die Städte waren wie Igel, dachte Thalius, ihre alten, schäbigen Gebäude kauerten sich hinter massiven Mauern zusammen, deren Finanzierung und Bau viele Generationen in Anspruch genommen hatten, und sie stellten in einer gefährlichen, entvölkerten Landschaft nervös die Stacheln auf. Dank seiner Geschichtskenntnisse wusste Thalius, wie seltsam diese Entwicklung einem Bürger in Hadrians Zeit vorgekommen wäre. Die Städte waren keine Zentren des Handelsverkehrs und der Kultur mehr; sie waren wie befestigte Gefängnisse für eine gefangene Bevölkerung. Aber in allen Städten gab es ein paar prächtige neue Häuser, die sich auf dem Schutt älterer Bauten erhoben. In einer Zeit, in der das Steuersystem jedermann bis aufs Blut auspresste, konnte man als Grundbesitzer, der die Anwesen der Gescheiterten und an den Rand Gedrängten aufkaufte, oder als geldgierige Regierungsmarionette immer noch reich werden. Unterwegs beobachtete Thalius den Jungen. Er fragte sich, wie viel Audax von dem erfasste, 186
was mit ihm geschah. Der Junge sprach nur, wenn man ihm eine direkte Frage stellte, und dann in einer gutturalen, wortkargen britannischen Sprache, die selbst Tarcho nur mit Mühe verstand. Sicherlich hatte er begriffen, dass Thalius ihn aus dem Bergwerk gerettet hatte, dass Thalius ein entfernter Verwandter war. Aber der Junge wirkte misstrauisch, vielleicht weil Thalius sich so offensichtlich für die Botschaft interessiert hatte, die er auf dem Rücken trug, und nicht für ihn selbst. Im Kopf des Jungen schien ein großes Durcheinander zu herrschen. Audax hatte sicherlich keine Ahnung, wer der Kaiser war. Warum sollte er auch? Die Rohlinge mit den Peitschen, die Herrscher über sein Leben in der Mine, hatten weitaus mehr Macht über ihn gehabt als Konstantin, sogar die Macht über Leben und Tod. Für einen großen Teil seines jungen Lebens hatte er nicht einmal den täglichen Kreislauf von Licht und Dunkelheit gesehen, und in weiten, offenen Landschaften, wenn sie aufgegebene Felder oder Moorland durchquerten, kauerte er sich meist zusammen, als sehne er sich nach der schützenden Umschließung der schmutzigen Wände, die ihn gefangen gehalten hatten. Audax wich Tarcho jedoch nicht von der Seite. Der große, kräftige Soldat achtete seinerseits darauf, dem Jungen gegenüber niemals die Stimme zu erheben. Thalius
dachte, mit Tarchos Unterstützung bestünde vielleicht doch noch Hoffnung für den Jungen; er war noch jung und hatte Zeit. Und was Tarcho be 187
traf, so schien er diesem hilflosen, halb geformten Kind gegenüber eine Art Fürsorgepflicht zu entwickeln. Was sagte das über Tarcho aus? Dass er Kinder hätte haben sollen, dachte Thalius. Und diesen zerbrechlichen Jungen wollte er also einem Kaiser vorstellen, dachte er, und seine Nervosität wuchs, je näher sie Rutupiae kamen. In gewissem Sinn standen ihm Türen offen. Als er erfahren hatte, dass Konstantin nach Britannien zurückkehrte, hatte er einem Freund eines Freundes eines Freundes am kaiserlichen Hof geschrieben, einem gewissen Ulpius Cornelius, und auf typisch römi‐ sche Weise einen Gefallen eingefordert: Er bat um eine Audienz während des Aufenthalts des Kaisers. Konstantin hatte seine Laufbahn als Soldat begonnen, und infolgedessen waren viele seiner Berater Soldaten. Cornelius war keine Ausnahme; früher ein hochrangiger Offizier im Heer, diente er nun als Präfekt unter Konstantin. Er gehörte zu dem inneren Kreis, der die Geschicke des Reiches lenkte. Zu Thaliusʹ nicht geringer Überraschung hatte dieser Ulpius Cornelius seinen Brief mit der Einladung beantwortet, kurz nach Konstantins Landung zum Hof in Rutupiae zu kommen. Und darum reiste Thalius nun dorthin, um einem Kaiser gegenüberzutreten ‐nicht zu seinem eigenen Vorteil, nicht einmal zum Nutzen des Reiches, sondern für Jesus Christus. Aber was würde er zu Konstantin sagen? Abgelenkt von seinen eigenen tiefschürfenden Überlegungen und einer immer stärker werdenden Furcht vor 187
seiner Begegnung mit dem Kaiser, gelang es Thalius nicht, das Prophezeiungs‐Akrostichon auf der Haut des armen Audax zu enträtseln; das kompakte Buchstabenmuster verhöhnte seinen alternden Verstand. 187
VI Kurz vor Rutupiae kamen Thalius und seine Begleiter nur noch im Schneckentempo voran, denn die Straße war voller Wagen, Pferde und Fußgänger ‐ Beamte und Bürger, reich und arm, unterwegs aus geschäftlichen Gründen oder um einmal im Leben einen Kaiser aus Fleisch und Blut zu sehen. Als sie zum ersten Mal die See erblickten, die im Osten schimmerte, hob sich Thaliusʹ Stimmung wie immer, wenn er das Meer sah. Es hatte etwas beeindruckend Urtümliches an sich, etwas noch weitaus Unbezähmbareres als das Land, das man immerhin in landwirtschaftlich genutzte Flächen aufteilen und mit Städten bestücken konnte. Solche Gefühle mochten seltsam sein für einen Stadtbewohner wie Thalius, ei‐ nen Mann, dessen ganzes Leben vollauf vom Fortbestand der Ordnung abhing, aber so empfand er nun einmal. Natürlich hatte sich sogar der Ozean verändert. Früher hatten die Britannier ihn liebevoll als einen gewaltigen Graben betrachtet, mächtiger als alle Werke Hadrians; er
hatte die Barbaren ferngehalten, die in Gallien und im römischen Germanien solche Verwüstungen anrichteten. Aber jetzt war der Ozean für die 188
Banditen weniger eine Barriere als vielmehr eine Wasserstraße zur Insel. Thalius hatte gelesen, dass diese »Sachsen« aus Nordgermanien durchaus ihre Gründe für die gefährliche Reise nach Britannien hatten. Ihre schmalen heimatlichen Küstenländer waren zwischen gewaltigen Volksbewegungen aus dem ferneren Osten ‐ dem geheimnisvollen Innern Asiens ‐ und dem Ozean selbst eingezwängt, der Jahr für Jahr unerbittlich anstieg. Folglich veränderte sich die Welt unter dem Einfluss der gewaltigen Kräfte von Völkerwanderungen und dem Wandel der Gezeiten, denen nicht einmal ein Kaiser Befehle erteilen konnte. Als Antwort auf diese Bedrohung war Rutupiae, einst eine offene Stadt, zu einer Festung geworden. Das Kastell war von einer riesigen Anlage von Doppelgräben umgeben, und die herbeiströmende Menge musste sich auf einen schmalen Damm zwängen, der zum Westtor führte. Vor ihnen starrten dicke Mauern mit eckigen Türmen finster auf sie herab. Die Mauern waren im soliden römischen Stil errichtet; das von Sklaven hergestellte Gussgestein war so stark, dass es dem Küstenwetter angeblich bis in alle Ewigkeit standhalten konnte. Doch Thalius erkannte Stücke von zerbrochenen Säulen und Fragmente von Statuen, die in die Mauern eingegossen waren; einige Brocken schienen sogar von Soldatengrabsteinen zu stammen. Alles war zertrümmert und wiederverwendet worden. Thalius fragte sich, wie viele der heute hier anwesenden Menschen wussten, dass Claudiusʹ 42.5
Invasionsstreitmacht einst an dieser Stelle gelandet war, und er sann über die Ironie nach, die darin lag, dass man einen Triumphbogen zum Gedenken an diese epochale Landung abgerissen hatte, um eine Festung zu bauen, die neue Eindringlinge abwehren sollte. Dies war ein grimmiges Zeitalter, in dem man sich abschottete und zusammenrückte, kein Zeitalter für große Gesten. Trotzdem beherbergte das Kastell ungeachtet seiner komplizierten Geschichte heute den Imperator persönlich, Konstantin, den Kaiser aller westlichen Provinzen, den Herrscher über die Hälfte der bekannten Welt. Und draußen auf dem Meer, hinter den aufragenden Kastellmauern, erspähte Thalius die purpurnen Segel der Schiffe, die den Kaiser und sein Gefolge hierhergebracht haben mussten. Thalius merkte, wie seine Anspannung wuchs; so aufgeregt war er nicht mehr gewesen, seit er als Kind, jünger als Audax, im Zirkus bei Camulodunum auf den Beginn der Wagenrennen gewartet hatte. Auf dem Weg durchs Westtor in die Festung absolvierten Thalius und seine Gruppe eine Abfolge von Kontrollen, die von Beamten der hiesigen Städte, der Provinzregierung, der Diözese Britannia, ja sogar der Präfektur Gallien und des kaiserlichen Hofes durchgeführt wurden. All diese Beamten nutzten die Gelegenheit, vom Besuch des Kaisers zu profitieren; sie erwarteten offenbar, dass man ihnen für die
gnädige Durchfahrtserlaubnis ein, zwei Münzen in die Hand drückte. Die Prozedur wurde von hartgesichtigen An‐ 189
gehörigen der germanischen Leibwache des Kaisers überwacht ‐ keine Prätorianer, Konstantin hatte diese überbezahlten Kaisermacher reduziert ‐, die ebenfalls nichts gegen ein paar kleine Zuwendungen hatten. Tarcho händigte ihnen grollend weitere Münzen aus dem schweren Geldbeutel aus, den er bei sich trug. Thalius ließ sich von den Menschenschlangen und der schäbigen Korruption jedoch nicht die Laune verderben. Man spürte förmlich den Eifer und die Nervosität, die Hoffnungen und Träume der Bittsteller, denn heute war Rom hier, an diesem windigen britannischen Gestade. Schließlich fand sich Thalius dank des Schreibens von Ulpius Cornelius in einer Menge von Petenten wieder, die gleich beim Westtor des Kastells vor einer eilig unmittelbar neben der Straße errichteten Bühne Aufstellung nahmen ‐ einer Bühne, auf der Konstantin selbst saß, Berater und Wachen zu beiden Seiten, und sich geduldig die Klagen und Bittgesuche anhörte. Wenn Thalius erwartet hatte, einen Soldaten auf diesem hölzernen Thron zu sehen, so war er enttäuscht. Konstantin war ein grobknochiger, kräftig aussehender Mann Anfang vierzig, aber die Haare reichten ihm bis auf die Schultern und waren so voll und blond, dass sie einfach falsch sein mussten. Er trug ein langes, fließendes Gewand aus Seide, wie es schien, bestickt mit goldenen Blumenmustern. Selbst seine Schuhe waren mit Edelsteinen besetzt. Und obwohl Thalius in Konstantins keineswegs hässlichem Gesicht die raue, aber herzliche Liebenswürdigkeit eines Soldaten zu erbli 42 ‐ 7 cken glaubte, musste man auf die Knie sinken und den Kopf auf den Boden drücken, wenn man sich ihm nähern wollte. »Er hat überhaupt keine Ähnlichkeit mit einem Römer«, sagte er leise. »Er sieht aus, als käme er aus Ägypten oder Persien. Augustus wäre entsetzt gewesen.« Tarcho knurrte: »Er sieht wie das aus, was er ist: der Imperator. Erwartest du, dass er sich wie ein Latrinenreiniger kleidet? Er muss etwas hermachen. Und er ist ein guter Mann.« Er legte die gewölbten Hände um den Mund und rief: »Alles Gute, Konstantin!« Thalius wusste, dass Konstantin bei den britannischen Soldaten immer beliebt gewesen war. Schließlich hatten sie beim Tod seines Vaters, Constantius Chlorus, den fünfunddreißigjährigen Flavius Valerius Constantinus in Eburacum zum neuen »Augustus«, einem Mitglied des Kaiserkollegiums, ausgerufen und dann unter ihm gekämpft, als er seinen bisher größten Sieg errungen hatte; er hatte seinen Rivalen Maxentius verdrängt und war alleiniger Herrscher des Westens geworden. Und er habe mit Hilfe des Christengottes gesiegt, hatte Konstantin verkündet. In der Nacht vor der Entscheidungsschlacht bei Rom war ihm der Christengott im Traum erschienen. Am Morgen hatte er seinen Soldaten befohlen, mit Kreide Kreuze auf ihre Schilde zu malen. Seit diesem Sieg hatte Gott endgültig einen festen Platz in seinem Leben und seinem Reich.
Die Früchte von Konstantins Bekehrung waren 190
jetzt vor Thalius zu sehen. Helena, die Mutter des Kaisers, reiste mit ihm; die ehemalige Konkubine entwickelte sich zu einer Art Pilgerin mit der Mission, durchs ganze Reich bis nach Judäa zu reisen, um Reliquien von Jesus Christus zu suchen. Und es gab Bischöfe im Gefolge des Kaisers und nun auch bei ihm auf der Bühne; sie waren fast so prachtvoll gekleidet wie er, sah Thalius voller Abscheu, reiche und mächtige Männer, die nichts, aber auch gar nichts mit der Vision des Zimmermannssohnes gemein hatten. Manche Zyniker behaupteten, mit einem Staubkorn im Auge sei jedermann imstande, ein Kreuz im Himmel zu sehen, und Konstantins »Bekehrung« sei vielleicht nicht zuletzt der Manipulation der Geschehnisse durch die listenreichen Bischöfe an seinem Hof zu verdanken. Und manche Christen der alten Schule, darunter auch Thalius, waren hochgradig besorgt darüber, dass nun eine Kriegergottheit in die Maschinerie des Staates einzementiert wurde und nicht der sanftere Gott der Lehren Jesu Christi selbst. Schließlich wurde Thalius nach vorn gewunken, und er marschierte mit klopfendem Herzen zum Podium des Kaisers ‐ aber dann versperrte ihm eben jener Mann den Weg, dessen Antwortschreiben ihn so weit gebracht hatte. Ulpius Cornelius, vielleicht vierzig Jahre alt, trug eine Toga mit purpurnen Rändern. Er war ein hochgewachsener, kantiger, hagerer Mann mit schwarzen, nach hinten gekämmten Haaren und einem kleinen Mund mit heruntergezogenen Mundwinkeln; seine 190
vorspringende Nase eignete sich ideal, um auf andere herabzublicken. Vor ihm kam Thalius sich armselig und schäbig vor, wie ein Provinzler aus den niederen Klassen. Wenn Konstantin wie ein östlicher Potentat aussah, so war Cornelius von Kopf bis Fuß der klassische Römer ‐ und deshalb an Konstantins Hof völlig fehl am Platz. Cornelius warf einen Blick auf eine Liste und musterte Thalius scharf. »Du bist also der Prophet«, begann er unverblümt. »Ich würde mich nicht so nennen«, sagte Thalius verlegen und irritiert. »Es ist eine Sage meiner Familie, die ...« »Aber in deinem Brief hast du von einer Prophezeiung gesprochen. Von bestimmten Warnungen vor einer ungewissen Zukunft, von gewichtigen Ereignissen, die noch zu unseren Lebzeiten eintreten würden ‐Ereignissen, die den Lauf der Geschichte ein für allemal ändern könnten. Stimmt das?« Sein Latein war so rein, dass es erstickt klang. »Ich bin Christ, Herr. Ich bin hier, weil ich mir Sorgen um die Zukunft der menschlichen Seelen mache, nicht ...« »Ja, ja. Aber ich bin das, was man heute einen >Hei‐den< nennt, obwohl ich mich eher als Verteidiger der römischen Tradition bezeichnen würde. Deine Sklavenreligion interessiert mich herzlich wenig. Es sind nicht die sorgenvollen Lobpreisungen deines Glaubens, die meine Aufmerksamkeit erregt haben, Bürger, sondern deine Behauptungen bezüglich dieser Pro 190
phezeiung. Ich habe in den Bibliotheken in Rom und Alexandrien Nachforschungen über deine Familie angestellt. Ich habe sogar eine Erwähnung in der biografischen Literatur über Kaiser Claudius gefunden. Stell dir das vor! Und dort steht tatsächlich etwas von einer Prophezeiung ... Aber du sagst, die Prophezeiung sei verloren gegangen.« »Nicht ganz«, erwiderte Thalius. Cornelius zog eine ausgezupfte Augenbraue hoch. Thalius fühlte sich genötigt, noch mehr zu sagen, aber er spürte Tarchos Hand auf seinem Arm und blieb stumm. Cornelius schien dieses Zwischenspiel zu bemerken, und er sah Tarcho mit neuem Interesse an. Er trat näher an Thalius heran und senkte die Stimme. »Hör mir zu. Die Dinge ändern sich. Unsere Großväter hätten das Reich, so wie es jetzt ist, nicht mehr wiedererkannt, und bald wird es sich erneut verändern, so oder so. Die Frage ist, wie diese Veränderung aussehen wird. Wenn an deiner Prophezeiung etwas dran ist, dann könnte sie in dieser Zeit großer historischer Umwälzungen eine sehr mächtige Waffe sein.« Thalius hörte nur ein Wort. »>Waffe
halte, die nichts mit Christus zu tun haben, sondern mit den römischen Traditionen und deren Fortbestand, wie auch mit dem Fortbestand der Stadt und des Reiches ‐ heute, morgen und übermorgen. Verstehst du?« »Ich glaube schon. Aber ich ...« »Und stimmt es«, sagte Cornelius beinahe sehnsüchtig, »dass deine Prophezeiung von Freiheit spricht? Ging es in den rätselhaften letzten Zeilen, die Claudius in seinen Erinnerungen erwähnt, wirklich darum? Hat der unbekannte Seher etwas über die Rückkehr zu den Freiheiten der Republik geschrieben, darüber, dass die schwere Hand der Caesaren von uns genommen wird?« »Ich weiß es nicht«, sagte Thalius. »Na schön. Jetzt, wo ich dich kennengelernt habe, sehe ich, dass du noch nicht für eine Begegnung mit dem Kaiser gerüstet bist. Ich werde dir eine andere Audienz ermöglichen. Bis dahin finden wir vielleicht Zeit, um miteinander zu reden. Geh jetzt.« Er wandte sich ab. Der entlassene Thalius war zutiefst enttäuscht, dass es ihm nun doch nicht vergönnt sein würde, Konstantin gegenüberzutreten; aber die höfischen Prozeduren gingen bereits weiter. Tarcho schnaubte. »Diese Römer und ihre Weissagungen ‐ sie waren schon immer ein abergläubischer Haufen!« »Aber ich bin nicht hierhergekommen, um mich gegen Konstantin zu verschwören.«
»Wirklich nicht? Vielleicht hat dieser hochnäsige 192
Römer dir tiefer ins Herz geschaut als du selbst.« Er zog an Thaliusʹ Ärmel. »Lass uns von hier verschwinden. Wir haben unseren Platz in der Schlange schon eingebüßt, und es gehört sich nicht, am Hof eines Kaisers herumzulungern.« Thalius ließ sich wegführen. Tarcho hielt Audax fest an der Hand. Der Junge hatte das ganze Geschehen stumm und mit großen Augen verfolgt.
192
VII Thalius schloss sich mit Tarcho und Audax der kaiserlichen Prozession an, als sie Rutupiae verließ. Der Kaiser wurde in einer farbenprächtig geschmückten Sänfte getragen, während sich seine Bischöfe wie exotische Vögel zusammenscharten. »Christus ist auf einem Esel nach Jerusalem geritten«, schimpfte Thalius. »Wie entsetzt wäre er beim Anblick dieser großspurigen Narren gewesen!« Tarcho, für den Christus und Gottvater so etwas wie ein Zenturio und dessen Kommandeur zu sein schienen, verwirrte diese Bemerkung lediglich. Konstantin wollte die Hauptstädte der vier Provinzen besuchen, darunter auch Londinium, die Hauptstadt der alles überspannenden Diözese, und überdies sämtlichen großen Militärstützpunkten einen Besuch abstatten, auch Eburacum und den Wall‐Kastellen im Norden. Der Kaiser verfolgte mehrere Ziele. Er wollte die Regierungen der neu gegliederten Provinzen stärken, die sein Vater ihm hinterlassen hatte, und für die Umsetzung der von Diokletian eingeleiteten und von seinem Vater weitergeführten Heeresreformen sorgen. Außerdem sollte sein Besuch ein umfassenderes Programm der Renovierung und Erneuerung der schäbi
192 gen öffentlichen Einrichtungen und der militärischen Infrastruktur in den vier Provinzen initiieren. Aber jeder wusste, dass Konstantin in erster Linie britannische Truppeneinheiten für seinen bevorstehenden Konflikt mit Licinius, dem Ostkaiser, abziehen wollte: Er war hier, um etwas von der Insel zu nehmen, nicht, um ihr etwas zu geben. Der Imperator war beliebt in Britannien, aber er würde auf erheblichen Widerstand stoßen, wenn er in solch unsicheren Zeiten die Truppenstärke der Diözese verringerte. Konstantin war klug genug, um das zu verstehen. Deshalb war er persönlich hierhergekommen, um die Menschen zu beruhigen und mit seinem Glanz zu blenden, während er die Garnisonen der Insel zur Ader ließ. Nach Londinium zog Konstantin weiter in Richtung Camulodunum. Unterwegs machte er jedoch einen großen Umweg nach Norden, um das weiter östlich gelegene Marschland zu besuchen, einen riesigen Ackerland‐Flickenteppich, der dem Meer mittels eines gewaltigen Systems aus Deichen, Kanälen, Entwässerungsgräben und Straßen abgerungen worden war ‐alles bezahlt von den Einheimischen und instandge‐ halten von Zwangsarbeitern und Sklaven. In älteren Landstrichen waren die Gehöfte
und Siedlungen aus Gemeinschaften und Anbaustrukturen hervorgegangen, die es dort schon jahrhundertelang gegeben hatte, bevor ein Römer seinen Fuß auf die Insel gesetzt hatte, und darum waren sie unordentlicher, älter und auf widerspenstige Weise chaotisch. Hier jedoch war das neue Land eine leere Leinwand für die von den römi 193 sehen Planern bevorzugten ordentlichen Muster gewesen, und darum verliefen die Straße und Deiche in dieser völlig ebenen, vollkommen künstlichen Landschaft Meile um Meile schnurgeradeaus. Für Thalius war dieses geometrische Marschland die Quintessenz der geradezu zwanghaft disziplinierten römischen Denkungsart. Die Landgewinnung war jedoch nicht vollständig gelungen. Hier und dort sah Thalius Bauern, die trübsinnig in sumpfigem Boden scharrten, und manche Gehöfte waren wegen der Überschwemmungen gänzlich aufgegeben worden. Wenn es stimmte, dass der Ozean in Germanien anstieg, dann war es hier vielleicht auch so. Während dieser Phase der Reise ließ sich ein Mitglied des kaiserlichen Hofes dazu herbei, sich zu Thalius und seinen Gefährten zu gesellen: Ulpius Cornelius. Seine anfängliche Begründung lautete, dass er Thalius einen Brief auf einem zusammengefalteten Holztäfelchen zeigen wollte, den er bei sich hatte. Thalius überflog ihn rasch. Er kam von einer gewissen Claudia Brigonia Aurelia, einer Witwe aus Eburacum ‐ und er betraf Prophezeiungen, die sich auf Konstantin bezogen. Thalius erschrak und gab ihn hastig zurück. Sein Unbehagen schien Cornelius Vergnügen zu bereiten. »In Aurelias Familie gibt es offenbar auch Sagen über Prophezeiungen und Kaiser. War einer ihrer Vorfahren in die komplizierten Geschichten verwickelt, die du mir erzählt hast?« 193 »Woher weiß sie von mir?« »Durch mich«, sagte Cornelius selbstgefällig. »Ich bin ein gründlicher Mensch, Thalius. Ich habe dir doch gesagt, dass ich in den Archiven Hinweise gefunden habe, welche die Existenz deiner Prophezeiung bestätigen. Ich bin ihnen nachgegangen und habe dabe i umfangreichen Gebrauch von meinen Kontakten in Britannien gemacht. Und wie e s sich ergab, wurde dabei diese Frau namens Aurelia auf mich aufmerksam, und es gelang mir, ihr Interesse zu wecken.« »>Ihr Interesse zu wecken
Thalius hatte den Eindruck, dass Cornelius bei ihm in Wirklichkeit ein offenes Ohr für seine Klagen über seine eigenen Kümmernisse suchte ‐ Kümmernisse, die für jemanden von Corneliusʹ patrizischer Herkunft allerdings ziemlich beträchtlich waren. »Der 194 Zerfall von Autorität und Tradition, den Konstantin ausgelöst hat, reicht bis ins Herz der Reichsregierung«, empörte er sich, »ja sogar bis an seinen eigenen Hof...« Konstantin hatte eine neue Schicht von Aristokraten erschaffen, die sich »Orden der kaiserlichen Gefährten« nannten. Sein Rat, das consistorium, entstammte dieser Gruppe. Auch viele der in schreiende Farben gekleideten Bischöfe, deretwegen Thalius so unbehaglich zumute war, gehörten dazu. Durch die Etablierung der »Gefährten« hatte Konstantin jedoch die alten Senatoren‐ und Equitesklassen ausgeschlossen. Corneliusʹ Familie, Senatoren seit den Zeiten der Republik, hatte ihren Einfluss weitgehend eingebüßt, und seine Stellung am Hof war gefährdet. Cornelius schäumte vor Zorn. »Nicht nur, dass Konstantin mit jahrhundertealten Traditionen gebrochen hat, ganz nebenbei hat er auch noch das der gegenseitigen Kontrolle dienende Kräftegleichgewicht in einem kaiserlichen System zerstört, das sich seit Augustusʹ Zeiten entwickelt hatte ...« Aber Thalius war davon überzeugt, dass Corneliusʹ Sorgen nicht dem Wohlergehen des Reiches galten, sondern seinen eigenen Ambitionen. Und es fiel Thalius auf, dass Cornelius trotz all seiner Kultiviertheit und Macht so besessen von höfischen Intrigen und seinen eigenen Bestrebungen war, dass er die tieferen Wahrheiten seiner Zeit einfach nicht sehen konnte. Schließlich war das Reich seit Thaliusʹ Geburt beinahe vollständig zusammengebrochen. Man konn 194 te sich über Konstantins Reformen beklagen, wie Thalius es ja auch tat, aber war es nicht möglich, dass der Kaiser in Wirklichkeit gar nicht anders handeln konnte, wenn er das Imperium zusammenhalten wollte? 194
VIII Endlich näherte sich die Karawane den abweisenden Mauern Camulodunums. Die ersten Kutschen gelangten an ein Tor in der Westmauer, das seltsamerweise früher einmal ein Triumphbogen gewesen war, bevor man ihn in die Mauer einbezogen hatte. Jetzt war es meistens verschlossen. Hier löste die Karawane sich auf. Froh darüber, Ulpius Cornelius für eine Weile los zu sein, führte Thalius seine Gefährten zu seinem Stadthaus ganz in der Nähe des Forums. Thaliusʹ letzter Aufenthalt in Camulodunum lag schon einige Monate zurück. Obwohl er hier aufgewachsen war und seine Geschäfte eng mit der Stadt verbunden waren, zog er sein einen halben Tagesritt entfernt gelegenes Landgut vor. Als er nun durch die schmutzige, verfallene Stadt ging, in der es von Straßenhändlern, kleinen Gaunern, Bettlern und Dirnen wimmelte, die alle vom flitterhaften Glanz des Hofes eines Soldatenkaisers angelockt wurden, wusste er wieder, warum.
Der prächtige alte Claudius‐Tempel stand jedoch immer noch, er erhob sich aus einem Meer unbebauter Grundstücke, verfallender Häuser, ungepflegter öffentlicher Gebäude und von Schmutz übersäter Stra 195
ßen. Als sie am Säulengang vorbeikamen, schaute Thalius hinein und sah die riesige, von Kerzen und Lampen beschienene Statue des schlauen alten Fuchses, den Arm noch immer zum Siegeszeichen erhoben, wie schon seit dreihundert Jahren. Im Innern dieses Tempels für einen vor langer Zeit gestorbenen Kaiser, an dessen Großtaten sich kaum einer der Passanten noch erinnerte, hatte man jedoch eine kleine christliche Kapelle errichtet. Thalius war erleichtert, als er sein bescheidenes, aber gut erhaltenes Stadthaus erreichte. Er war zu alt für diese Herumreiserei, dachte er, zu alt, um sich mit komplizierten und bösartigen Menschen wie Ulpius Cornelius abzugeben. Hinter den Mauern seines Hauses hatte er die Dinge wenigstens eine Zeit lang im Griff und konnte ein wenig Frieden finden. Darum war er nicht gerade erfreut, als er feststellte, dass er Besuch hatte. Im seinem Wohnraum wartete eine Frau auf ihn. Sie saß unter seinem teuersten Wandbehang, der einen von Säulengängen umgebenen Hof unter einer hellen mediterranen Sonne zeigte, und nippte an verdünntem Wein, der ihr von dem älteren Freigelassenen serviert wurde, den Thalius als Haushälter beschäftigte. Sie erhob sich, als Thalius auf sie zukam. Sie war ungefähr sechzig, schätzte Thalius, gut gekleidet und gelassen, mit hohen Wangenknochen und ausgeprägtem Kinn. Ihre Gesichtsfarbe war dunkel, und sie trug ihr grau meliertes schwarzes Haar aus dem Gesicht gekämmt. Sie fürchtete sich also nicht davor, ihr Alter zu 195
zeigen. Die Frau hatte etwas von Ulpius Corneliusʹ kaltem, befehlsgewohntem Gehabe und wirkte sofort einschüchternd auf Thalius. Und sie war bemerkenswert attraktiv. Trotz ihres Alters haftete ihr etwas Sinnliches, ja sogar Animalisches an, und sie schien die Dünste ihrer Düfte als Waffe zu benutzen, um ihn zu verwirren. Thalius, noch schmutzig von der Straße, kam sich in seinem eigenen Haus minderwertig vor. Ihre unwiderstehliche Anziehungskraft schwächte ihn, was sie ge‐ wiss bemerkte und zweifellos beabsichtigt hatte. Auf einmal war sein Leben noch komplizierter geworden, dachte er müde. »Ich glaube, du weißt, wer ich bin.« Ihre Stimme war rauchig. »Du musst Claudia Brigonia Aurelia sein. Deine Korrespondenz mit Ulpius Cornelius ...« »Welch ein hilfsbereiter Mann.« Sie warf Audax einen Blick aus wässrigen, aber hellen Augen zu. »Und das muss der geheimnisvolle Sklavenjunge sein.« Sie streckte eine knochige Hand aus. Audax versteckte sich hinter Tarchos massiger Gestalt. »Du machst ihm Angst.«
Sie schaute verständnislos drein. »Cornelius hat mich vor deiner Sentimentalität gewarnt. Du bist Christ, nicht wahr? Eine Religion von Soldaten und Sklaven, wie es heißt.« »Was willst du hier?« »Nun, dasselbe wie du, glaube ich. Wissen, was die 196
Zukunft bringt.« Und sie musterte den sich furchtsam duckenden Jungen, als wünschte sie, ihm die gezeichnete Haut einfach abziehen und mit ihr verschwinden zu können. Thalius schickte den Jungen mit Tarcho hinaus und befahl dem Haushälter, mehr Wein und Teller mit leichten Speisen zu bringen. Als das übliche gesellschaftliche Prozedere einsetzte, beruhigte sich Aurelia. Aber sie ließ Thalius keinen Moment aus den Augen, wie eine Eule, die eine Maus beobachtet. Sie erzählte ihm etwas über sich selbst. Geboren und aufgewachsen in Eburacum, war sie schon in jungen Jahren zur Witwe geworden. Sie hatte die geschäftlichen Beteiligungen ihres Gatten geerbt und war dann in seine Fußstapfen getreten; offenbar brauchte sie den Schatten eines Mannes nicht, um sich einen Platz in der Gesellschaft zu erobern. Ihr Gatte hatte Anteile an einem alten, im Familienbesitz befindlichen Stein‐ bruchunternehmen im Norden des Landes besessen, das Stein für Einrichtungen des Heeres lieferte, darunter auch für den Wall. Und dort im Norden hätten sich die Wege ihrer beider Familien einst gekreuzt, erklärte sie. »Das ist alles bloß eine Familiensage«, schnurrte sie. »Geschwätz. Aber in der Sage heißt es, ein Urahn meines Gatten, ein gewisser Brigonius, sei der Liebhaber deiner Urahnin Lepidina gewesen. Sie haben allerdings nie geheiratet und hatten keine Nachkommen.« »Und wann war das?« »Vor zweihundert Jahren. Zur Zeit des berühmten 196 Besuchs von Kaiser Hadrian«, antwortete sie und nippte an ihrem Wein. »Und so ist Nectovelins Prophezeiung in die Mythologie meiner Familie eingegangen. In meiner Jugend hat mich diese Geschichte immer gefesselt. Eine eigene Prophezeiung. Welch eine Macht! Daher war ich fasziniert, als ich von Ulpius Cornelius und seinen nicht sehr diskreten Nachforschungen erfuhr.« Sie warf einen ziemlich abschätzigen Blick auf seinen teuren Wandbehang. »Ich dachte, es wäre ein Faden, ein loser Faden im Wandteppich der Zeit, und konnte nicht widerstehen, daran zu ziehen. Das wiederum hat mich zu dir geführt, und hier sind wir nun.« »Du sprichst von Macht«, sagte Thalius unbehaglich. »Der Macht wozu?« »Zu sehen, wohin unser charismatischer Soldatenkaiser uns führt. Und«, sagte sie kälter, »von der Macht, etwas dagegen zu unternehmen.« Thalius zuckte zusammen, rang sich jedoch zu der Überzeugung durch, dass es in seinem eigenen Heim keine Spione des kaiserlichen Hofes gab. »Was hast du gegen Konstantin?« »Die Antwort ist einfach«, sagte sie. »Ich mag seine Steuern nicht.« Und so wie Cornelius sich lang und laut über Konstantins Politik im Herzen der Reichsregierung
beklagt hatte, so schimpfte Aurelia nun über die Auswirkungen der Dekrete des Kaisers auf ihre eigene Position. »Du scheinst mir nicht bankrott zu sein«, warf Thalius sanft ein.
197 »Nein, aber bei diesem Steuersatz wird es nicht mehr lange dauern! Thalius, ich weiß, du bist Geschäftsmann und Mitglied einer Kurie, so wie ich. Was für eine lästige Pflicht ‐ findest du nicht? Wusstest du, dass manche Verbrecher und Steuerhinterzieher zur Strafe tatsächlich Kurienaufgaben aufgebrummt bekommen haben? Und wenn man seine Pflichten nicht erfüllt, wird man von den Schlägern des Statthalters verprügelt. Ich weiß, dass es so ist, ich habe es mit eigenen Augen gesehen! Es wundert mich nicht, dass jedermann die Stadt verlässt, wenn er kann ‐ so wie du, Thalius, leugne es nicht.« Thalius seufzte. »Ich komme meinen Verpflichtungen nach«, sagte er. So war es auch, aber er wusste, dass sie die Wahrheit sagte. Als schlimmste Steuer galt allenthalben das chrysargyron, die »Gold‐und‐Silber«‐Abgabe, die Herstellern und Kaufleuten auferlegt wurde, von den Besitzern der großen Tonwarenmanufakturen bis hin zum kleinsten Schuster. Wie die Bauern auf Brachland wurden auch kleine Kaufleute ausgepresst, »bis ihre Knochen brachen«, wie Aurelia sagte. »Und zwar buchstäblich! Du hast es doch bestimmt auch erlebt, Thalius. Wie die Steuerbeamten die Stadt‐ und Landbewohner zum Forum zitieren ‐wie sogar Kinder gezwungen werden, gegen ihre Eltern auszusagen.« »Ich habe solche Dinge gesehen«, sagte Thalius stoisch. Er war sich auch der schockierenden Korruption sehr wohl bewusst, die auf jeder Ebene des Systems grassierte und es noch belastender machte. 197 Aurelia stellte ihren Weinpokal ab und beugte sich mit eindringlicher Miene vor. »Du bist bereits zu dem Schluss gelangt, dass ich eine egoistische alte Frau bin, die sich ausschließlich für den Inhalt ihres Geldbeutels interessiert. Spar dir die Mühe, es zu leugnen, man sieht es dir an der Nasenspitze an. Aber ich hoffe, du wirst erkennen, dass ich mir nicht nur Gedanken um mein eigenes Wohlergehen mache. Ich glaube, dass Konstantins Steuern auf lange Sicht zu unser aller Ruin führen werden, und ich übertreibe nicht. Und wenn das System zusammenbrich t, stürze ich mit ihm. Darum bin ich besorgt. Sagen wir, es ist aufgeklärter Eigennutz.« Dieses Argument war schwer zu widerlegen, und Thalius hatte es schon oft gehört. Aber genauso wie bei seinen Gesprächen mit Cornelius fragte er sich, ob Aurelia je daran gedacht hatte, da ss der Kaiser, bedrängt von steigenden Militärausgaben und ohne andere Einkommensquellen, vielleicht keine andere Wahl hatte, als seine Bürger bis zum Weißbluten zu besteuern. »Gibt es denn eine n anderen Weg?« »Ja, vielleicht. Weißt du, wie mein Gemahl gestorben ist? Natürlich nicht. Er ha t unter Carausias gekämpft. Und sein Vater unter Postumus, dem gallischen Kaiser, fünfundz wanzig Jahre vor Carausias. Zweimal seit Menschengedenken haben sich diese Inseln von Rom gelöst. Warum nicht noch einmal? Weshalb muss Britannien für
Rom bezahlen? Wieso müssen wir für die Aufrechterhaltung des kaiserlichen Hofes bezahlen ‐ du hast ihn gesehen, Thalius ‐, für 198 seine Bürokratie, seine Extravaganzen und sein Bauprogramm, seine zahllosen Kirchen, Kirchen, Kirchen? Und jetzt munkelt man, dass Konstantin plant, eine neue Hauptstadt in noch weiterer Ferne zu bauen, irgendwo im Osten. Weshalb sollten wir dafür bezah‐ len? Das wüsste ich gern.« »Und«, sagte er vorsichtig, »würdest du dich gegen Konstantin stellen?« »Ah.« Sie lächelte und lehnte sich träge zurück, auf undefinierbare Weise erotisch. »Das ist die Frage ‐ und da kommen wir zu deiner Prophezeiung. Ich bin keine Spielerin, Thalius.« »Du wirst dich gegen Konstantin stellen, wenn du dir deines Sieges sicher bist. Die Prophezeiung soll dir den Rücken stärken.« »Dir nicht auch? Und«, fügte sie ernst hinzu, »stimmt es, dass deine Prophezeiung von Freiheit spricht? Hat dieser unbekannte Seher, der Weber des Zeitteppichs, die Befreiung der Westprovinzen von Konstantins Unterdrückung versprochen?« Thali us erinnerte sich an Cornelius, dessen Freiheitstraum in der Freiheit bestand, ein traditioneller Römer zu sein; für diese britannische Frau bestand er in der Freiheit von den Fesseln des Zentrums, darin, britannisch‐römisch zu sein anstatt römisch. Aber das waren gewiss nur Fantasien, mit denen verführerische Phrasen in einem Dokument befrachtet wurden, das schließlich verloren gegangen war. »Ich weiß nichts von Freiheit«, sagte er trocken. »Und auch nichts von den Absichten des Webers. 198 Selbst der Name >Weber< ist nur ein Wort, das vo n meinem Vorfahren stammt und immer weitergegeben wurde. So ist es auch zu dir gekommen, ein Fragment der Spekulation. Wir wissen nichts über ihn, falls er überhaupt existiert.« Sie beugte sich vor. »Da wir uns jetzt verstehen, willst du mir nicht deinen Sklaven mit der tätowierten Haut bringen?« Thalius widerstrebte das sehr. Seit seiner Begegnung mit Cornelius hatte er ständig das Gefühl, dass e r Schritt für Schritt einen äußerst gefährlichen Weg eingeschlagen hatte. Und doch, was blieb ihm anderes übrig, selbst jetzt? Er wandte sich an seinen Haushälter und befahl ihm, den Jungen zu holen.
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IX Zwei Tage später lud Thalius Cornelius und Aurelia nachmittags in sein Stadthaus in Camulodunum ein. Er hatte dafür gesorgt, dass in seinem Esszimmer, dem triclinium, Speisen, Wein und Wasser bereitstanden, sodass sie nicht von Bediensteten gestört werden mussten, und er bestand darauf, dass auch seine Gäste ihre Diener draußen ließen; er schickte sie in die Küche, wo sie etwas zu essen und zu trinken bekommen würden. Und er erteilte seinem Haushälter den strikten Befehl, niemanden in den
Raum zu lassen ‐ und auch selbst draußen zu bleiben ‐, bis er, Thalius, ihm andere An‐ weisungen gab. Cornelius machte sich über ihn lustig. »Oh, Thalius! Du bist also doch ein Verschwörer!« »Nein, das bin ich nicht«, sagte Thalius kühl. »Aber wir leben in einer Zeit der Spione. Ich möchte niemanden bei uns im Raum haben, den ich nicht kenne und dem ich nicht vertraue.« Aurelia lächelte kalt. »Uns kennst du doch auch nicht ‐ und wenn du uns vertraust, bist du ein Narr.« »Aber wir sind ohnehin schon Komplizen«, sagte Thalius. »Ihr werdet mich nicht verraten, denn das würde bedeuten, dass ihr euch selbst verratet. Aufge 199
klärter Eigennutz ‐ hast du es nicht so ausgedrückt, Aurelia?« »Und der Junge«, sagte Cornelius, »der Sklave, von dem das Schicksal eines Imperiums abhängt?« »Ich habe ihn mit Tarcho in die Küche geschickt ‐und nebenbei bemerkt, ich habe Tarcho befohlen, den Jungen ebenso gut zu beschützen, wie er mich in den letzten acht Jahren beschützt hat.« »Weshalb hast du uns eingeladen, Thalius?«, fragte Aurelia. »Was willst du heute erreichen? Hast du alles schon so weit durchdacht?« »Ich bezweifle, dass das einer von uns getan hat«, knurrte Cornelius. »Offenbar haben wir ein gemeinsames Interesse«, sagte Thalius. »Vielleicht entdecken wir auch ein gemeinsames Ziel. Belassen wirʹs fürs Erste dabei.« Damit schienen sie sich zufriedenzugeben. In dem geschlossenen und verriegelten Raum tranken sie eine Weile schweigend ihren verdünnten Wein. Claudia Brigonia Aurelia ruhte auf ihrer Liege. Mit ihrer unangestrengten Selbstbeherrschung wirkte sie absolut überlegen. Ihre sanft gekreuzten Fesseln, die Art, wie ihr die Falten des Gewandes um Hüften und Schenkel fielen und von ihren Brüsten hingen ‐ Thalius war sicher, dass nichts von alledem Zufall war, sondern Ergebnis einer lebenslangen Selbstdisziplin. Zweifellos beherrschte sie mit solch einfachen Mitteln mühelos die Männer in ihrer Umgebung, selbst jetzt, wo sie allmählich alt wurde. Er dachte auch an die Geschichte von einer Jahrhunderte zurückliegenden, un 199
erfüllten Liebesaffäre zwischen ihren Vorfahren, die sie ihm erzählt hatte. Konnte es sein, dass solch unbefriedigtes Begehren ein Echo durch die nachfolgenden Generationen schickte? Aber das war ein sehr unchristlicher Gedanke, entschied er. Abgesehen von ihrer Sexualität spürte er, dass sie sich für etwas Besseres hielt und sich entsprechend benahm: Absurderweise fühlte er sich vor ihrem kritischen Blick in seinem eigenen Haus unwohl. Obwohl ihre Familie nicht bessergestellt war als die von Thalius, konnte sie ihre Ahnenreihe immerhin bis zu Claudiusʹ Invasion zurückverfolgen, jenem Zeitpunkt, an dem die britannische Geschichte begann ‐ aber sie sprach auch von Sagen aus der Zeit davor, denen zufolge ihre Familie von königlichem Geblüt war. Vielleicht war ihre Vorfahrin eine Prinzessin von Troja
gewesen, denn das Volk der Britannier stammte angeblich von Trojanern ab, die auf der Flucht vor dem Krieg gegen die Griechen jene Streitwagen mitgebracht hatten, mit denen sich Caesar konfrontiert gesehen hatte. Erst als Erwachsenem waren Thalius Zweifel an dieser importierten Legende aus dem Mittelmeerraum gekommen ‐ und er hatte sich zu fragen begonnen, welche wahre Geschichte bei der Auslöschung der britannischen Volksstämme durch Rom verloren gegangen, welche alte, im Gedächtnis bewahrte Weisheit verschwunden war. Während Aurelia dalag, wanderte Cornelius mit einem randvollen Weinpokal im triclinium umher und sah sich die Fresken und den Wandbehang an. Ihn 200
schienen Aurelias Reize kaltzulassen. Vielleicht, dachte Thalius, pflückte Cornelius wie angeblich viele von Konstantins östlich angehauchten Höflingen seine Früchte lieber von einem anderen Baum. Thalius stand mühsam auf, holte einen Weinkrug und schenkte ihnen nach. »In Ermangelung eines Dieners muss ich mich auf meine Pflichten als Gastgeber besinnen. Gefällt dir dieses Fresko, Ulpius Cornelius ?« Das Bild zeigte Jesus Christus zum Zeitpunkt seiner Mission, einen glattgesichtigen Mann von ungefähr dreißig Jahren, die Hand zur Segnung erhoben. Die Gestalt war von Symbolen umgeben: dem chirho, einem Strahlenkranz hinter dem Kopf und einem kleinen Akrostichon in einer unteren Ecke. »Ist ganz gut gemacht«, sagte Cornelius ziemlich herablassend. »Aber Christus war ein Fischer aus Judäa, nicht wahr?« »Ein Zimmermann.« »Und ein Unruhestifter. Er hätte niemals eine Toga getragen!« Thalius lächelte. »So ist er im Musterbuch abgebildet, und mein Künstler besaß nicht das Selbstvertrauen, von dem Entwurf abzuweichen.« »Interessante Symbolik.« Cornelius tippte mit einem Fingernagel auf das chirho. »Das habe ich schon einmal gesehen.« Aurelia entrollte sich träge von ihrer Liege und gesellte sich zu ihnen. »Es nennt sich Christogramm. Die ersten beiden Buchstaben von Christusʹ Namen auf Griechisch, übereinandergelegt ‐ siehst du?« 200.
»Ich habe das auf Tempelmauern gekritzelt gesehen. Sogar in Rom.« »Ein Relikt aus der Zeit der Verfolgung«, meinte Thalius. »Symbole wie dieses haben eine unter Druck stehende Gemeinschaft vereint.« »Aber jetzt stehen die Christen nicht mehr unter Druck«, entgegnete Cornelius. »Und euer Christogramm ist ein Symbol des Stolzes geworden, nicht wahr?« »Oh, das Christogramm ist mehr als das«, sagte Aurelia. »Schau noch einmal hin, Cornelius. Hast du solche Zeichen nicht auch in anderen Zusammenhängen gesehen?« Cornelius trat zurück und legte den Kopf schief. »Ja, in der Tat. In Ägypten, glaube ich. Es hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem ankh, einem uralten mystischen Symbol ‐ gewiss viel älter als das Christentum!«
»Als kleines Mädchen habe ich die griechische Schrift erlernt«, sagte Aurelia leise. »Es hat auch gewisse Ähnlichkeit mit einem Zeichen, das man bei der Bearbeitung eines Schriftstücks verwendet ‐ chirho für chreston, was >gut< bedeutet.« »Also ein Symbol mit vielen Bedeutungen«, sagte Cornelius. »Aber das ist Absicht«, sagte Aurelia. »Man kann ein chirho an seine Wand malen; ein Christ wird das Christogramm sehen, ein Heide ein ägyptisches Glückszeichen. Es spricht jeden an und erregt bei niemandem Anstoß. Es ist klug von den Beratern des Kaisers, seine Verwendung zu fördern.
201 Konstantin ist Christ. Jeder weiß das. Und er möchte das Christentum zur Hauptreligion des Reiches machen. Aber so gut wie alle anderen, die Einfluss besitzen ‐ wie du, Cornelius! ‐, sind nach wie vor Heiden. Auch die meisten Angehörigen des Heeres, obwohl Konstantin einer der ihren ist. Konstantin und die Bischöfe, die ihn manipulieren, gehen geschickt vor, mit Werkzeugen wie diesem raffinierten kleinen Symbol. Aber wie der Regen, der auf deine Dachziegel prasselt, Cornelius, bringt jeder Tropfen euch Heiden näher an den Tag, an dem das Dach einstürzt.« »Du hast offenbar gründlich über diese Dinge nachgedacht«, meinte Thalius. »Kaiser machen das Wetter«, sagte sie leise. »Am besten, man schenkt ihnen Aufmerksamkeit. Außerdem fasziniert mich diese ganze geschickte Inszenierung.« »Inszenierung, ja«, sagte Cornelius. »Und es gibt viele, die von vornherein an Konstantins Ehrlichkeit in Bezug auf seine Bekehrung zweifeln. Wie ist es überhaupt möglich, dass ein guter Heide Christ wird?« »Oh, ich glaube schon, dass er ehrlich ist«, sagte Aurelia. »Und was seine Bekehrung betrifft, so kannst du hier an der Wand des guten Thalius sehen, wie sie vonstatten gegangen ist.« Cornelius schaute erneut hin. »Du meinst diesen Strahlenkranz um Christi Kopf?« »Konstantin ist als Schützling Apollos aufgewachsen«, meinte Aurelia. »Und noch vor einigen Jahren hat er den Sonnengott, Sol Invictus, als seinen Schutz 201 gott angerufen. Manche würden Apollo mit der Sonne gleichsetzen, und andere setzen die Sonne mit eurem Christus gleich, Thalius; Jesus ist sol justitiae, die Sonne der Gerechtigkeit. Du siehst also, es gibt dort eine auf ihre Weise logische Entwicklung durch eine sich überlagernde Gleichsetzung von Gottheiten, von Apollo über die Sonne zu Christus. Aber es wird eines Tages eine ziemlich schwere Aufgabe für die Biografen sein, aus all dem schlau zu werden.« Ihre spöttische Analyse ärgerte Thalius. »All diese theologische Trickserei hat nichts mit der wahren Natur von Christus und seiner Botschaft zu tun.« Aurelia lachte nur. Cornelius drehte sich zu Thalius um. »Es fällt mir nicht ganz leicht zu verstehen, mein lieber Thalius, was du gegen einen Kaiser hast, der deinen lange an den Rand gedrängten Glauben angenommen hat.«
»Aber Konstantins Glaube ist nicht notwendigerweise auch meiner«, erwiderte Thalius unglücklich. »Konstantins Kriegergott hat nichts mit Christus und seinen Lehren zu tun. Und die Kirche, die er gründet, ist ein Spiegelbild des Mannes und seines Reiches: zentralisiert, autokratisch, intolerant, erbarmungslos. Deshalb sind die echten Christen entsetzt. Viele von uns wenden sich ab ‐ werden Asketen, Eremiten und Mönche, ziehen sich in die Wildnis zurück.« Cornelius zwinkerte Aurelia zu. »Welch ein Verlust für die Gesellschaft!« »Sei nicht so garstig, Cornelius«, mahnte Aurelia leise. 202 »Offen gestanden, Thalius«, fuhr Cornelius fort, »interessiert mich das Schicksal deiner unoriginellen kleinen Sekte wenig, wenn ich bedenke, wozu Konstantin sie augenscheinlich benutzen will.« »Und das wäre?«, fragte Aurelia interessiert. »Liegt das nicht auf der Hand? Konstantin verwandelt das Reich in eine Monarchie. Er wird ein ebenso absoluter und unangefochtener König sein wie die Herrscher des alten Persien oder Ägypten. Und er will die Einheit des Christentums nutzen, um das alles zu festigen; er zwingt uns diese fremde Religion auf, um uns alle zu kontrollieren.« »Du hast Thalius gefragt, was er gegen einen Kaiser habe, der seinen Glauben angenommen hat«, erwiderte Aurelia. »Nun frage ich dich, Ulpius Cornelius: Was ist schlecht an einem Kaiser, der sich zum Ziel gesetzt hat, das Reich zu vereinigen? Ist das nicht besser als das blutige Chaos deiner Jugend?« »Nicht, wenn es auf die falsche Weise geschieht«, antwortete Cornelius. »Nicht, wenn es bedeutet, alles aufzugeben, was Rom überhaupt erst stark gemacht hat. Denn wenn er das tut, mag er zwar auf kurze Sicht Erfolg damit haben, aber auf lange Sicht wird es nur zum Ruin führen.« Aurelia ließ ein spöttisches Lachen hören. »Und ich hatte dich für einen rationalen Menschen gehalten, Ulpius Cornelius. Bist du etwa ebenso abergläubisch wie Thalius? Fürchtest du, die alten Götter Roms könnten dich strafen, wenn du ihnen den Rücken kehrst?« 202 Cornelius errötete, und Thalius sah, dass der Vorwurf offenbar nicht ganz unberechtigt war. Aber der Höfling sagte: »Ich spreche von politischen Realitäten, Claudia Aurelia. Von einem System, das jahrhundertelang funktioniert hat. In unserem unendlich flexi‐ blen Pantheon hat es immer Platz für ein oder zwei andere Götter gegeben, sodass sich niemand, von Germanien bis Afrika, von Britannien bis Kleinasien, aus dem kollektiven Bewusstsein des Imperiums ausgeschlossen zu fühlen braucht. Nicht sein Heer hat Rom stark gemacht, sondern seine Integrationsfähigkeit.« »Aber das liegt daran, dass Roms Götter den Göttern seiner Untertanen so sehr ähneln«, erwiderte Aurelia. »Die Römer waren Bauern wie unsere Vorfahren, Thalius. Und Bauern, die mit ihrem Land verwurzelt sind, haben ortsgebundene Götter. Darum können diese Götter fröhlich nebeneinander existieren ‐ jeder auf seinem eigenen Stück Land. Die Juden waren jedoch Nomaden. Und ihr Gott, der zu Christi Gott wurde, war ein ortloser oder vielleicht allgegenwärtiger Gott, ein unendlicher Gott des Himmels .
Aber es gibt nur einen Himmel, und in einem solchen Konzept kann es nur einen Gott geben. Jetzt akzeptieren die Römer diesen einzigen nomadischen Gott als den ihren. Es wird zu einem Kampf auf Leben und Tod kommen, Cornelius, zu einem Kampf zwischen den alten Bauerngöttern und dem neuen Himmelsgott, denn für beide ist kein Platz. Jetzt wird es nur Ausgrenzung und Intoleranz geben.« Cornelius schürzte die Lippen, und Thalius sah, 203 wie sehr er es verabscheute, von einer Provinzlerin auf diese Weise analysiert zu werden, ganz gleich, wie zutreffend ihre Argumente sein mochten. »Nun, du bist auch hier, Claudia Aurelia. Was hast du gegen Konstantin?« Aurelia ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Vermutlich hatte sie in ihrem Arbeitsleben ständig mit einschüchternden Männern wie Cornelius zu tun. »Ganz einfach. Ich mache mir keine Sorgen um das Schicksal von Imperien, noch weniger um die unsterblichen Seelen der Menschen, sondern um Britannien.« Sie schimpfte über Konstantins übermäßig hohe Steuern und wiederholte die Gerüchte, die ihr zu Ohren gekommen waren, denen zufolge Konstantin plante, die Hauptstadt des Reiches endgültig in den Osten zu verlegen. »Irgendwohin nach Griechenland, heißt es, oder nach Kleinasien, vielleicht sogar nach Afrika. Weißt du etwas darüber?« Der Höfling zupfte an seiner Lippe. »Es gibt immer Gerüchte. Und es gibt praktische Fragen, die dabei eine Rolle spielen, nicht zuletzt der vorherige Sieg über Licinius. A ber ja, man spricht über solche Dinge. Rom wird immer das Herz des Imperiums bleiben. Aber Rom ist keine sonderlich geeignete Hauptstadt: Es liegt weitab von den Grenz provinzen wie Britannien, wo man die Kräfte des Imperiums konzentrieren muss. Es ist übervölkert, unordentlich, problematisch im Sommer ...« »Und«, sagte Aurelia lakonisch, »es wimmelt dort von potenziellen Gegnern des Kaisers, von dem stets 203 hungrigen Pöbel bis hin zu alten Familien wie deiner, Cornelius.« »Das will ich nicht bestreiten. Aber die nackte W ahrheit ist: Die Ostprovinzen sind weitaus reicher als die im Westen. Ist es nicht vernünftig, die Hauptstadt ins Wirtschaftszentrum des Reiches zu verlegen?« »Nur wenn man wil l, dass der Rest vernachlässigt wird, verdorrt und stirbt«, entgegnete Aurelia. »Tja ‐ also sind wir hier, der Christ, der Heide und die Provinzlerin mit den hochgesteckten Zielen, vereint in dem Glauben, dass etwas unternommen werden muss. Aber es wird nichts geschehen, ehe es uns nicht gelingt, die rätselhafte Tätowierung des Kindes zu entschlüsseln, habe ich recht?« »Da ist etwas dran, ja«, sagte Thalius düster. Aurelia seufzte und ließ sich wieder auf ihrer Liege nieder. »Ich habe daran gearbeitet, aber leider ohne Ergebnis.« »Diese Akrostichen sind ein christlic hes Spiel, nicht wahr? Wie das da an der Wand.« Cornelius zeigte auf ein Kryptogramm, das sorgfältig in eine Ecke des Chr istusbildes gemalt war:
R O T A S O P E R A T E N E T A R E P O S A T O R 204 »Der Maler des Freskos hat es hinzugefügt«, erklärte Thalius. Cornelius bückte sich, um es besser zu erkennen. »Sehr raffiniert. Liest sich waagrecht und senkrecht, vorwärts und rückwärts gleich. Aber was bedeutet es? Der Sämann Arepo führt sorgsam die Räder. Was ist das, ein Verweis auf ein heiliges Leben? Also wirklich, ich hasse Worträtsel!« »Vielleicht, aber das ist nicht alles«, meinte Aurelia. Sie erhob sich anmutig, tauchte eine zarte Fingerspitze in das Schwarz einer gelöschten Kerze, kniete sich vor das Akrostichon und schrieb mit ihrem geschwärzten Finger leicht auf die Wand. »Darf ich, Thalius? Es lässt sich bestimmt wieder abwischen. Wie ihr seht, kann man die Buchstaben zu einem Kreuz umstellen ‐nämlich so.« P A T E R PATERNOSTER O S T E R 204
Cornelius betrachte das Resultat eingehend. »Ein Kreuz für Christus ‐ hm? Und es heißt in beiden Richtungen Vater unser.« »Die ersten Worte des gleichnamigen Gebets«, sagte Thalius. Cornelius runzelte die Stirn. »Aber du hast nicht alle Buchstaben benutzt.« Er verglich das Kreuz mit dem ursprünglichen Akrostichon und tippte mit seinen eigenen geschwärzten Fingern darauf, um die Buchstaben in beiden zu paaren. »Mein Haushälter wird mir dafür den Bauch aufschlitzen«, stöhnte Thalius. Cornelius lehnte sich zurück. »Du hast einen Fehler gemacht, Aurelia! Es sind noch zwei A und O übrig.« »Das ist kein Fehler«, erwiderte Aurelia. »Es ist eine weitere Bedeutungsebene, Cornelius, zumindest für einen Christen. A und O, oder Alpha und Omega: Sie symbolisieren >Anfang und Ende< in der christlichen Offenbarung ...« Ihr scharfer Blick wurde glasig. »Oh.« Thalius fasste sie ein wenig erschrocken am Arm. »Alles in Ordnung ?« »Nein. Doch! Ich glaube, ich habe es.« »Was denn?« »Den Schlüssel zum Rätsel deines Sklaven, Thalius ‐ und vielleicht den Schlüssel zu unser aller Schicksal.« Sie stand auf. »Du musst mich zu dem Jungen bringen ‐ sofort!« 204
X Thalius führte sie zur Küche, wo Tarcho sich um den Jungen kümmerte. An der Tür empfing ihn der warme Geruch von Brot im Backofen. Drinnen zerstampfte Tarcho mit einem Stößel Gemüse in einem Mörser. Audax stand in der Nähe und sah ihm fasziniert
dabei zu. Aus einer Laune heraus blieb Thalius stehen, und seine Gäste warteten neugierig hinter ihm. Thalius hörte, wie Audax zu Tarcho sagte: »Als du Soldat warst, hast du keine Rüben zerdrückt.« Er lernte schnell, wie sich herausgestellt hatte, aber sein Latein war immer noch rudimentär und unsicher, sein Akzent stark, seine misshandelte Kehle rau. »O doch, und nicht nur das. Soldaten machen alles selbst.« »Soldaten kämpfen.« »Schon, aber nicht immer! Und wenn wir gerade nicht kämpfen, machen wir andere Sachen. Wir errichten Kastelle, legen Straßen an und bauen Brücken.« »Und zerdrücken Rüben.« »Wir zerdrücken Rüben und legen Straßen an.« »Arbeitet ihr auch im Bergwerk?« »Manchmal.« 205.
Audax schnitt eine Grimasse. »Weshalb solltet ihr im Bergwerk arbeiten?« »Tja, wenn man den Befehl bekommt, muss man es tun.« »Dann ist ein Soldat wie ein Sklave. Ihr müsst tun, was man euch befiehlt.« Tarcho sah den Jungen an. »Nein. So nicht. Ein Soldat ist auf eine Weise frei, wie es ein Sklave nie sein kann. Es ist ein gutes Leben.« »Warum ist es so gut?« »Weil der Kaiser uns braucht. Das ganze Imperium ‐ die Städte und die Mauern und die Kastelle ‐ ist wie ein riesiger Bauernhof, der die Aufgabe hat, das Heer zu ernähren. Warum? Weil ohne uns alles binnen eines Tages zusammenbrechen würde. Hast du schon mal was von einem Kaiser namens Severus gehört?« »Von wem ?« »Ist nach Britannien gekommen, um einen Aufstand niederzuschlagen.« »Carausias?« »Nein, lange davor. Während er hier war, hat Severus ganz Britannien eingenommen, bis weit nördlich des Walls. Seine Söhne haben es dann wieder verloren. Lange Geschichte. Jedenfalls musste Severus für Ordnung sorgen, und diese Aufgabe hat das Militär für ihn erledigt, und Severus war sich dessen bewusst. >Gebt den Soldaten zu essen<, hat er zu seinen Söhnen gesagt, >auch wenn alles andere vor die Hunde geht.< Oder so ähnlich. Ist vor hundert Jahren gestorben, aber er hat
205 te recht. Und seither hat jeder Kaiser seinen Rat befolgt. « »Soll ich zum Militär gehen, Tarcho?« Tarcho sah den Jungen überrascht an. »Na ja, dazu müsstest du aus der Sklaverei freigekauft werden ... Willst du das denn? Du müsstest für Rom kämpfen, weißt du.« »Das würde mich nicht zu einem Römer machen.« »Nein, stimmt. Aber wenn du kein Römer bist, was bist du dann?« »Was ich schon immer war. Brigant.« Thalius hörte fasziniert zu. Unter der Oberfläche Britannias überlebten also die alten Volksstämme, wenn auch nur im Gedächtnis von Sklaven.
»Ich möchte so sein wie du«, sagte Audax jetzt. »Ich habe Muskeln. Schau.« Er hob einen jämmerlich dünnen Arm und beugte ihn, um einen walnussgroßen Bizeps vorzuzeigen. Tarcho grinste und drückte den Jungen in einem kurzen und untypischen Moment der Zärtlichkeit an seine breite Brust. »Süß, die beiden«, flüsterte Aurelia. »Wie ein Achtjähriger, der sich um einen Dreijährigen kümmert.« Cornelius sagte leise: »Ich schlage vor, wir machen weiter, Thalius.« Thalius holte tief Luft. »Also schön.« Er hustete laut, um seine Anwesenheit anzukündigen, und betrat die Küche. Tarcho stand überrascht auf und stellte Mörser und Stößel weg. Audax versteckte sich hinter Tarcho. Tha 206
lius scheuchte das erschrockene Küchenpersonal mit einer Handbewegung hinaus. Tarcho trat vor. »Kann ich etwas für dich tun, Herr?« Thalius seufzte. »Du leider nicht, aber dein Schützling. Audax! Tritt vor.« Der Sklave gehorchte, ohne nachzudenken, mit gesenktem Kopf. Tarcho blieb einen Schritt hinter ihm. Thalius bückte sich und flüsterte: »Tut mir leid, mein Junge. Du musst uns noch mal deinen Rücken zeigen. Aber es dauert nicht lange, und ich verspreche dir, dass dir nichts geschehen wird. In Ordnung?« Der Junge antwortete nicht. Trotz Tarchos guten Absichten war der Geist des Jungen noch immer nicht mehr als ein Flackern. Thalius richtete sich auf. »Dreh dich um und hebe deine Tunika hoch. Du weißt, was du tun musst.« Der Junge beugte sich vor und enthüllte das Buchstabenraster, das er sein Leben lang mit sich herumgetragen, aber noch nie gesehen hatte: P E E O N E R R O S R I A C T A Cornelius bückte sich steif und betrachtete den Jungen. »Erzähl mir noch einmal, woher das stammt, Thalius.« Thalius zuckte die Achseln. »Ich weiß nur von Sa
206 gen, die über Generationen weitergereicht worden sind. Die ursprüngliche Prophezeiung war ein sechzehnzeiliges Gedicht. Sie wurde auf Hadrians Befehl hin verbrannt. Aber sie enthielt ein Akrostichon ‐ die ersten Buchstaben jeder Zeile, die vielleicht den Kern der Botschaft der Prophezeiung ergeben ‐, das im Gedächtnis bewahrt und weitergegeben wurde. Und später wurde es dann irgendwann in diesem Gittermuster verschlüsselt.« »Von deiner berühmten Prophezeiung ist also nur diese Ansammlung von Narben übrig.« Cornelius schaute genau hin und zeigte mit dem Finger auf die Buchstaben.
»Nun, wenn es ein Akrostichon ist, dann ist es raffinierter als jenes an deiner Wand, Thalius. Das konnte man von oben nach unten oder von links nach rechts und umgekehrt lesen, und es ergab immer einen Sinn. Dieses hier ergibt überhaupt keinen Sinn, ganz gleich, in welcher Richtung man liest!« »O doch, das glaube ich schon«, sagte Aurelia. Anspannung prägte ihr gealtertes Fuchsgesicht, und Thalius fragte sich, wie er sie jemals hatte attraktiv finden können. »Es ist so, wie ich es mir vorgestellt habe, aber jetzt, wo ich es vor Augen habe ‐ hier, seht ihr das A und das O unten links und oben rechts? Alpha und Omega ‐ erinnert ihr euch ? Es ist ein Akrostichon, das von und für Christen ersonnen wurde, genau wie das Pater Noster.« Thalius überlief es eiskalt. Wie konnte das sein? Wenn die alten Legenden zutrafen, entstammte das Akrostichon einem Gedicht, das im Geburtsjahr von
207 Christus niedergeschrieben worden war, als es noch gar keine Christen gab. »Aber da ist noch ein A und auch ein weiteres O ‐ach, was sollʹs! Kannst du dieses Durcheinander entziffern?«, fragte Cormelius. »Mit dem A und O als Anfang und Ende ... ja, ich glaube schon.« »Dann tu es, Frau!« Aurelia hielt inne und starrte die Narben eine Weile an. Plötzlich schien sie auf ganz untypische Weise zu zögern. »Zuerst müssen wir sicher sein, dass wir es auch wirklich wissen wollen.« Sie wandte sich von dem Jungen ab. »Ihr Römer habt ein Wort für einen solchen Augenblick, Cornelius: discrimen, eine zentrale Entscheidung, die das ganze Leben prägt, eine Entscheidung, die zum Triumph oder in die Katastrophe führen kann. Selbst wenn ich die Prophezeiung zu lesen vermag, sollten wir ihrem Rat folgen? Konstantins Ausrufung zum Kaiser ist vielleicht das bedeutendste Ereignis, das jemals in Britannia stattgefunden hat. Rom ist die größte Macht der Welt, und von Kaisern getroffene Entscheidungen lassen die Geschichte erbeben. Und nun erwägen wir, einen Kaiser von seinem gewaltigen Weg abzubringen. Mag sein, dass der Weber der Geschichte das will, aber wollen wir es auch? Sind wir uns sicher} Cornelius?« Cornelius dachte darüber nach. »Wenn man ihm keine Zügel anlegt, wird dieser Kaiser eben jene Kräfte vergeuden, die Rom stark gemacht haben. Rom muss sich neu entdecken ‐ und wenn Konstantin der Mann
207 ist, der diese Wiedergeburt ins Werk setzt, werde ich glücklich sein. Aber man muss ihm den Weg zeigen. Und was ist mit dir, Claudia Aurelia?« »Ich mache mir Sorgen um Britannien. Wir werden zu Tode besteuert. Und wenn das Herz des Reiches nach Osten verschoben wird, könnte der Westen verdorren. Ja, er muss davon abgebracht werden, bevor sein Kurs endgültig festgelegt ist. Ich bin mir sicher. Und du, Thalius? Wirst du der Prophezeiung folgen?« Thalius versuchte mit klopfendem Herzen, die Angelegenheit zu durchdenken. Die anderen nahmen beständig einen parteiischen Standpunkt ein, wie ihm schien. Tatsache war, dass die Welt ein anderer Ort war als die Arena, in der Rom seine ersten
überwältigenden Erfolge errungen hatte. Jetzt gab es keinen Raum mehr zur Expansion, und aus dem Herzen Asiens kamen ganze Völkerschaften, die vor Dürre und Hungersnöten flohen. Die Römer waren keine technischen Neuerer, aber Thalius hielt sie für soziale Neuerer. Sie hatten sich bereits einer gewaltigen Transformation unterzogen, als die Verwaltung ihrer ungeheuren Erwerbungen die anstrengenden politischen Prozesse einer Republik überansprucht hatte, und die Kaiser hatten das Licht der Welt erblickt. Jetzt strebte Konstantin als Reaktion auf den Druck einer neuen Zeit eine noch drastischere Me‐ tamorphose an, indem er ein Konglomerat von Provinzen mit unterschiedlichem Entwicklungsstand zu einer einzigen, streng kontrollierten Nation zusam‐ menzuschweißen versuchte, die der Autorität eines
208 Mannes unterstand und durch den theologischen Zement des Christentums verbunden war. Es schien Thalius, dass Konstantin von künftigen Generationen als wahrhaft groß, als Genie unter seinesgleichen gepriesen werden könnte. Aber was war mit dem Christentum? Wenn die Kirche bei der Bewahrung Roms korrumpiert oder zerstört wurde, entschied Thalius traurig, wäre dieser Verlust für die Menschheit sogar noch schlimmer als Roms Untergang. Was also sollten sie tun? Auf der Suche nach einem Fingerzeig schloss er die Augen zu einem kurzen Gebet. Wenn Konstantin nur sähe, wie sich seine Politik auf seine Untertanen auswirkte, würde er, um den Herausforderungen der Zeit zu begegnen, das Imperium vielleicht im Konsens statt mit Gewalt um eine neue Gruppe von Zielen vereinen ‐es als wahrhaft christlichen Staat wiederaufbauen ‐, sodass alle fünfzig bis sechzig Millionen Bürger gemeinsam vorwärtsschreiten konnten. Ein Brief, dachte er: ja, ein Brief, unterzeichnet von einem Spektrum besorgter, aber wohlmeinender Personen ‐ ein Brief, gestützt von der mysteriösen Autorität der Prophezeiung ‐, das würde den Kaiser vielleicht dazu bewegen, seine Standpunkte in vieler Hinsicht zu klären. Vielleicht konnte er auch anderen besorgten Gruppen zugänglich gemacht werden. Eine Petition also. Während er dastand, überlegte er sich schon ein paar geeignete Formulierungen für den ersten Absatz ‐ er würde Rat bezüglich der korrekten respektvollen Anrede für ein Schreiben an einen modernen Kaiser brauchen ...
208 »Bist du eingeschlafen, Thalius?« Corneliusʹ Ton war spöttelnd. Thaliusʹ Augen klappten auf. Aurelia beobachtete ihn mit ausdrucksloser Miene. »Was denkst du, Thalius?« Verärgert und abwehrend sagte er: »Ich denke, dass selbst Konstantins Handlungen belanglos sind im Vergleich zu den größeren Kräften, die unsere Zeit prägen. Ich denke, wir lenken uns vielleicht nur mit einem Wortspiel von den Unwägbarkeiten der Zukunft ab.« »Vielleicht ist das so«, sagte Cornelius, offenbar nicht beleidigt. »Und vielleicht sind wir nicht so oberflächlich, wie du zu glauben scheinst, Thalius. Was immer du sagst, wir müssen eine Entscheidung treffen. Was wirst du tun}«
Thalius, peinlich berührt von seinem Ausbruch, atmete tief durch. »Ich bin dabei.« Er warf Aurelia einen Blick zu. »Lies die Prophezeiung vor.« Aurelia trat auf den Jungen zu, der mit der verbissenen, alternativlosen Geduld eines geborenen Sklaven wartete, den Rücken gebeugt, die Tunika über den Kopf gezogen. Mit überraschender Zärtlichkeit berührte Aurelia ihn an der Schulter. »Tut mir leid, Kind. Es ist gleich vorbei.« Mit einer manikürten Fingerspitze begann sie, das Akrostichon nachzufahren. P E E O N E R R O S R I A C T A 209
»Von A nach O, von Alpha nach Omega ‐ von unten links nach oben rechts, denn nach eurem Brauch ist Gott immer auf der rechten Seite zu finden, nicht wahr, Thalius? Das ist also ein Weg zu Gott, der wahre Weg für den Frommen. Aber es ist ein langer, verworrener Weg. Wie schreiten wir voran? Ich glaube, diese diagonalen Buchstaben sind ein Hinweis: C, O und dann nach oben zum N ... C‐O‐N, vielleicht ein Verweis auf Konstantin in der lateinischen Schreibweise, Constantinus? Und dann würde ich sagen, wir folgen der Diagonale wieder nach unten ‐ S, T ‐ und dann in die Ecke ‐ A ‐, und arbeiten uns auf der langen Diagonale wieder nach oben ...« Thalius hielt den Atem an, als der Weg ihres Fingers, der sich an den Diagonalen des Quadrats entlangbewegte, Worte ergab: A * CONSTARE * PERIRE » O »Von Alpha bis Omega«, las er. »Standhaft bleiben. Sterben.« Cornelius richtete sich auf und schnaubte. »Ist das alles? Das ist ja nicht einmal ein Satz. Ein hübsches Motto für euch fromme Gestalten, nehme ich an. Bleibt standhaft im Tod, und ihr werdet zu Gott geführt. Schön. Aber uns nützt es nichts, oder?« Aurelia sagte: »Schau noch einmal genau hin, du Narr. Es gibt mehrere Bedeutungsebenen. Siehst du das nicht? (Zonstare ‐ Konstantin ‐ perire ...« Und in diesem Augenblick erkannte Thalius die Be 209
deutung der Botschaft. Der Textbrocken war dreihundert Jahre alt, und doch war er sehr spezifisch, und er traf wie ein von der Sehne geschnellter Pfeil ins Herz seines eigenen modernen Dilemmas. Wenn die wahre Kirche überleben sollte, musste Konstantin sterben. Der Sklavenjunge begann zu zittern. 209.
XI Nachdem Audax an Thalius verkauft worden war, hatte man ihn quer durchs Land zur Küste gebracht, an einen Ort namens Rutupiae. Dann hatte der Weg durch eine riesige Stadt und über einen breiten Fluss geführt, viele Meilen weit durch ein grünes Land voller Bauerhöfe, Kanäle und Gräben und schließlich in eine andere Stadt,
Camulodunum. Jetzt wurde er erneut in Thaliusʹ Wagen verfrachtet, um »zum Wall« gebracht zu werden, wie Tarcho sagte. Tarcho versuchte ihm zu erklären, wohin die Reise ging; dazu zeichnete er mit Stöcken Karten in den Schmutz. Audax wusste nicht einmal, was eine Karte war, und Norden, Süden, Osten und Westen waren ihm einerlei. Und er wollte Thaliusʹ Haus in Camulodunum nicht verlassen, wegen des Essens. Er war zusammen mit den Sklaven und Bediensteten in der Küche gespeist worden, und manchmal hatte Tarcho sich zu ihm gesellt. So gutes Essen hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht bekommen. Manchmal war es so viel, dass er keinen Hunger mehr hatte, so viel, dass er es nicht aufessen konnte. Tarcho versprach Audax, dass er nie mehr Hunger leiden müsse.
210 Aber ob er es verstand oder nicht, ob er mitkommen wollte oder nicht, ihm blieb natürlich nichts anderes übrig, als die Reise mitzumachen. Und jetzt waren sie mit neuen Leuten unterwegs, und das stellte ein weiteres Problem für Audax dar. Die Frau namens Aurelia begleitete sie, und manchmal auch Ulpius Cornelius. Dann hockten die drei ‐ Thalius, Cornelius und Aurelia ‐ hinten im Wagen und unterhielten sich im Flüsterton miteinander. Audax, der ganz und gar von ihrem guten Willen abhängig war, registrierte ihre Stimmungen mit großer Empfindsamkeit. Der übergewichtige, umständliche und unbeholfene Thalius war ein guter Mann. Audax konnte sich nicht vorstellen, dass er jemandem absichtlich etwas zuleide tat. Aber er war zerstreut. Wenn er einem seine Aufmerksamkeit schenkte, konnte man in seiner Freundlichkeit baden, aber dann wandte er sich ab, den Kopf voller Gedanken, und vergaß, dass man überhaupt existierte. Thalius war in Ordnung, aber man konnte sich nicht auf ihn verlassen. Was Aurelia betraf, so war sie eine alte Frau mit dem Körper eines jungen Mädchens. Mit ihrer Tünche aus Cremes zog sie eine Gestankswolke hinter sich her, von der Audax die Nase juckte. Sie war nicht unfreundlich zu ihm gewesen, als sie die Tätowierung auf seinem Rücken berührt hatte. Aber für sie war er nur ein Sklave, nicht mehr als ein Möbelstück, und ebenso leicht konnte man sich seiner entledigen. Audax begriff das sehr gut. Dieselbe Haltung legte auch Ulpius Cornelius an
210 den Tag. Manchmal sah er Audax jedoch mit einem suchenden Blick an. Vielleicht war Cornelius ein »Lustmolch«, wie die Jungen im Bergwerk die Männer ‐ Sklaven wie Aufseher ‐ nannten, die sie benutzten. Vielleicht dachte er darüber nach, wie er Audax allein zu fassen bekommen konnte, oder er träumte davon, was er tun würde, wenn es ihm gelang. Aber er unternahm keinen Annäherungsversuch. Tarcho ließ Audax keinen Moment lang aus den Augen. All diese Unannehmlichkeiten wurden jedoch von einer noch größeren Furcht in den Schatten gestellt.
Audax hatte fast sein ganzes Leben in den Bergwerken verbracht, eingeschlossen im Dunkeln. Bevor Thalius und Tarcho gekommen waren, hatte er nur bruchstückhafte Erinnerungen an die größere Welt besessen, Relikte aus seiner frühen Kindheit. Jetzt war er draußen im Freien, ohne Rückzugsmöglichkeit, und er verabscheute das gewaltige Pulsieren von Tag und Nacht. Es kam ihm unnatürlich vor, irgendwie außer Kontrolle. Thalius gab sich große Mühe, ihm den Unterschied zwischen »Endlichkeit« und »Unendlichkeit« zu erklären. Audaxʹ tiefe Verwirrung rührte davon her, dass er sein Leben in Umschlossenheit und Endlichkeit verbracht hatte und nun in einer unendlich offenen Welt gestrandet war. Audax erfasste diese Vorstellungen schemenhaft. Aber für ihn zeigten sie nur, dass Thalius nie ein Sklave gewesen war. Sklaven wussten, was Unendlichkeit war, selbst wenn ihnen die Worte dafür fehlten, denn Sklaven hatten ein Leben voller Arbeit
211 vor sich, ohne jegliche Wahlmöglichkeit, ohne Ende. Knechtschaft war Unendlichkeit. Das einzige Element in dieser riesigen offenen Außenwelt, zu dem er sich hingezogen fühlte, war die Sonne. Wenn der Himmel klar war, sank die Wärme dieser großen Lampe am Himmel tief in seine Knochen und sog sein Blut herauf. Thalius erklärte ihm sanft, dass die Sonne allen Dingen auf der Erde Leben schenkte und dass manche Menschen sie als Gottheit verehrten. Manche glaubten, sie sei eine Form von Thaliusʹ eigenem Gott, dem Christus, der auch ein Mensch gewesen war. Die Sonne erinnerte Audax an Tarcho mit seiner Kraft, seiner Wärme, seiner Geduld. Audax stellte sich Thaliusʹ Christus als einen riesigen, bärtigen Soldaten im Himmel vor, der nach germanischem Sauerkohl roch. Sie blieben ein paar Nächte in einem Ort namens Eburacum. Das war eine Stadt mit dicken Mauern und Türmen, die sich an einem Flußufer entlangzogen und auf die zivile Stadt herabschauten, die sich zu ihren Füßen zusammendrängte. Ein riesiges Gebäude ragte aus dem Zentrum der Stadt empor, auf Meilen hinaus in alle Richtungen sichtbar. Es war das militärische Hauptquartier der Römer, wie Tarcho sagte. Gegründet als Legionslager, war Eburacum immer ein wichtiger Ort gewesen. Ein Kaiser war hier gestorben, vor hundert Jahren: Severus, nach seinen Feldzügen ins nördliche Hochland und nachdem er Eburacum zur Hauptstadt von einer seiner zwei britannischen Provinzen gemacht hatte. Seit damals wa
211 ren die Festung und ihre Mauern massiv ausgebaut worden. Und mit Konstantin, den man in diesem imposanten Hauptquartier zum Kaiser ausgerufen hatte, war hier ein weiterer Herrscher geboren worden. Jetzt war Eburacum der Stützpunkt des nördlichen Militärkommandanten, des Herzogs der Britannier. Aber Thalius mochte den Ort nicht. »Mit seiner Hochnäsigkeit, seiner Arroganz und seiner monumentalen Militärarchitektur ist er der Stein gewordene Hochmut der absoluten Monarchie der Zukunft«, sagte er. Audax glaubte, dass nicht einmal Tarcho wusste, wovon er sprach.
Auf der Weiterfahrt nach Norden durchquerten sie erneut hügeliges Land. Der Himmel war weit und voller gewaltiger Wolken. Irgendwie fand Audax diese wildere, zerklüftetere Landschaft weniger einschüchternd als die Hügel des Südens mit ihren vielen Gehöften. Thalius erklärte ihm sanft, dass dieses Land Brigantien war, Audaxʹ Heimat. Aber seit Generationen hatte keiner von Audaxʹ Vorfahren mehr seine Heimat gesehen. Tarcho kam immer mehr aus sich heraus. Er zeigte auf Kastelle, Lager und Wachtürme; sie gehörten zu einem »tief gestaffelten Verteidigungssystem«, wie er sagte, das südlich der Linie des Walls weit ins Land hineinreichte. Und auf den Hügelkuppen und in den Tälern sah man überall ausgedehnte Waldgebiete. Das waren eigens angepflanzte Wirtschaftswälder, die den Wall mit Holz für die Bäder und Öfen versorgten. Der Wall schützte das Land zwar vor den Wilden im Nor
212 den, aber dafür musste das Land den Wall auch ernähren. Audax betrachtete im Stillen den Wall als riesige, gefräßige Bestie, die einem furchtsam geduckten Land das Blut aussaugte. Schließlich gelangten sie zu einem Ort namens Ban‐na, wo es ein Kastell gab. Bevor die Straße das Kastell erreichte, schlängelte sie sich durch ein Stück Ackerland, das dem Kastell gehörte ‐ Tarcho nannte es die »Soldatenwiese« ‐, und die Gruppe überquerte einen Graben, der von Unkraut und stinkendem Müll verstopft war. Dann kamen sie durch so etwas wie eine Stadt, die sich außerhalb der Mauern des Kastells östlich und westlich der Straße erstreckte, einen lärmigen, übel riechenden, übervölkerten Ort. Die Straßen ähnelten eher Schafsfährten als Römerstraßen. Einige Gebäude waren sehr gepflegt und hatten einen quadratischen Grundriss, aber die anderen waren nichts als Bruchbuden. Viele waren zur Straße hin offen, und Audax spähte in Werkstätten, in denen Metall bearbeitet wurde, oder in Läden, in denen sich Fleischstücke stapelten. Er sah Soldaten mit Militärgürteln und Rüstungsteilen, wie sie Tarcho trug, aber auch jede Menge Frauen, und überall liefen Kinder herum, die den Pferden in die Quere kamen. Audax gefiel es hier besser als in Camulodunum. Es schien ein fröhlicher Ort zu sein. Aber Tarcho führte ihn rasch an den Tavernen der Soldaten, den Spielhöllen und Bordellen vorbei. Endlich erreichten sie eine Steinmauer. Dies war das Kastell. Die Gebäude der schäbigen Stadt draußen 212 brandeten wie eine Welle gegen die Mauer an. Am Tor des Kastells mussten sie einen Obolus entrichten, und die Kutsche wurde nach Waffen durchsucht. Im Innern des Kastells stieg Audax ein überwältigender Gestank von Blut, Rauch und Urin in die Nase. Tarcho erklärte ihm, so sei das immer; die Soldaten benutzten ihren eigenen Uri n, um Leder für ihre Rüstungen und ihr Gurtzeug zu beizen. Während Au‐ relia und Cornelius sich parfümierte Stofffetzen vor die Nase hielten, sog Tarcho die stinkende Luft in vollen Zügen durch seine großen, schwarzen, von Rotz verkrusteten Nüstern ein. »Heimat! Das Schönste, was es gibt.«
Die Gebäude aus Stein, Lehmziegeln und Holz waren etwas ordentlicher als draußen, die schmalen Kopfsteinpflasterstraßen zwischen ihnen gerader. Aber man sah, dass die Gebäude alt und häufig ausgebessert worden waren. Audax dachte, zwei große, zweistöckige Gebäude mit leuchtenden Ziegeldächern müssten Paläste sein. Tarcho erklärte jedoch, es seien Speicher, in denen die Soldaten genug Getreide lagerten, um sich wochenlang ernähren zu können, falls die Barbaren doch einmal angriffen. Im Kastell waren noch mehr Soldaten, darunter ein paar, die auf ihren Posten auf den Mauern herumlümmelten. Tarcho sagte, die Besatzung habe ursprünglich aus einer tausend Mann starken Daker‐Kohorte namens »Hadrians Leute« bestanden. Heutzutage würden die meisten Soldaten allerdings vor Ort rekrutiert, seien also Britannier und keine Daker. 213 Aurelia hatte sich den Mantel über den Arm gelegt, damit er nicht über den schlammigen Boden schleifte. Sie schaute sich verächtlich in dem schäbigen Kastell um. »Das also ist aus den mächtigen römischen Legionen geworden!« »Hier waren nie Legionäre postiert, Herrin«, erklärte Tarcho. »Genau genommen gibt es heute gar keine Legionen mehr.« Sie erschauderte. »Bei Jupiter, ich wünschte, ich wäre nie hierhergekommen. Wenn das alles ist, was zwischen mir und den barbarischen Horden des Hochlands steh t, werde ich nie wieder ruhig schlafen.« Thalius, Aurelia und Cornelius wurden zum Quartier des Kastell‐Kommandanten geführt, einem imposanten alten Steingebäude. Tarcho brachte Audax zu einem vie l kleineren Haus aus Lehmziegeln und Stroh in einem Wohnblock. Das Haus gehörte einem Soldaten, einem alten Freund von Tarchos Familie, und es war keine Kaserne wie in früheren Zeiten, sondern ein richtiges Heim. Tarchos Freund wohnte hier mit seiner Frau, zwei jungen Söhnen und einem ganzen Rudel eifriger Hunde. Audax wusste nicht, was er von dem lärmigen Durcheinander halten sollte, und die Hunde, mit denen man die Sklaven im Bergwerk unter Kontrolle gehalten hatte, flößten ihm Angst ein. Aber Tarcho sprach ein paar leise Worte mit der Frau des Soldaten, und sie machte großes Aufhebens um Audax und gab ihm Brot und Fleisch zu essen, und Tarcho zeigte ihm das dakische Krummschwert ihres Gemahls, eine falx, und er fühlte sich allmählic h besser. 213
In dieser Nacht schlief Audax gut. Er lag auf einer kleinen Bettstatt in einer Ecke des Raumes, den er und Tarcho sich mit den Söhnen des Soldaten teilten, und fühlte sich sicher, umschlossen von den Mauern des Hauses, danach auch von den Mauern des Kastells, alles bewacht von Soldaten wie Tarcho. Thalius hätte vermutlich gesagt, es sei ein behagliches Stück Endlichkeit, herausgeschnitten aus einer unendlichen und beunruhigenden Welt. Er wurde im Dunkeln von einer großen Hand geweckt, die ihn sanft an der Schulter rüttelte. Ohne nachzudenken erschlaffte er, weil er sich wieder im Bergwerk wähnte. Wenn man sich gegen die Lustmolche wehrte, wurde alles noch schlimmer. Aber er be‐ fand sich noch immer in Banna, und es war Tarcho.
»Komm. Zieh dich an. Ich muss dir was zeigen.« Außerhalb des Hauses war das Kastell ein Schattenpfuhl. Die Stille wurde nur vom Husten eines Soldaten unterbrochen, der irgendwo auf den Mauern Wachdienst schob. Der Himmel war von einem dunklen Blaugrau, ein Vorbote der Dämmerung, und der Tau auf dem Kopfsteinpflaster reflektierte das Licht. Tarcho führte Audax zu einem Wachturm an der Mauer und zeigte ihm eine Leiter. »Sei vorsichtig«, flüsterte er. Aber Audax war es gewohnt, in pechschwarzer Finsternis Leitern hinauf‐ und hinunterzuklettern, und der Aufstieg bereitete ihm weniger Mühe als Tarcho. Sie gelangten auf die schmale Plattform auf der Turmspitze. Außer ihnen war niemand da. Hier oben 214
war die Luft taufrisch, und der allgegenwärtige Uringestank wurde vom grünen Geruch des wachsenden Grases vertrieben. Audax ließ den Blick über die Landschaft schweifen. Das Kastell stand am Rand eines Steilhangs, und als er nach Süden schaute, fiel das Land vor ihm zu einem tief eingeschnittenen Tal ab, in dem ein Fluss gurgelte. Ein feuchtwarmer Gestank stieg empor; das Badehaus des Kastells war dort unten am Wasser errichtet worden. Und als er nach Osten und Westen blickte, sah Audax endlich den Wall selbst. Er schloss sich nahtlos an die Kastellmauer an und erstreckte sich in großen, geraden Segmenten über das Land. Wo das zunehmende Licht im Osten auf die Südwand der Mauer fiel, glänzte der helle Stein. Bauten und Kastelle sprenkelten den Wall auf ganzer Länge, und Audax sah den Rauch von Feuerstellen emporsteigen, als wäre er ein einziges gigantisches Haus. Der Wall sei jahrhundertealt, erklärte Tarcho stolz. »Mein Ururur‐und‐so‐weiter‐Großvater hat zu denen gehört, die ihn erbaut haben. Er hieß Tullio. Ich kenne seinen Namen, weil er auf Steinen geschrieben steht, die man in die Mauer eingesetzt hat. Er kam aus Germanien, und seine Söhne und Enkel haben seither am Wall gedient. Und hier ist er nun, der Wall, unzählige Male geflickt, aber auch acht, neun, zehn Generationen später erfüllt er immer noch seinen Zweck, selbst wenn die Namen seiner Erbauer größtenteils vergessen sind. Was für Männer müssen das damals gewesen 214
sein, dass ihre Vision auch heute noch unser Zeitalter prägt! Was für Helden! Und einer von ihnen war mein Großvater.« Audax konnte sich einfach nicht vorstellen, dass dieses Ding, dieser Wall von Menschen erbaut worden war. Ebenso gut hätte man ihm erzählen können, Menschen hätten das Tal im Süden gegraben oder die Wolken gesponnen, die über ihm das Licht der Morgendämmerung einfingen. »Hat hier auch vor dem Wall schon jemand gelebt?« »Das weiß ich nicht. Jedenfalls niemand von Bedeutung, höchstens ein paar Barbaren. Zweihundert Jahre! Stell dir das vor.«
Lichter funkelten entlang der dunklen Linie des Walls, gelbe Feuerkleckse flackerten auf und erstarben. Audax erschrak. »Was ist das? Ein Angriff?« »Nein. Das sind Signalfeuer. Jetzt ist Wachwechsel. Überall am Wall beenden Soldaten ihren Dienst und zünden ihr Feuer an, damit ihre Kameraden sehen, es ist alles in Ordnung, alles in Ordnung ...« Sie blieben auf dem Wachturm, bis die Sonne aufgegangen war. Dann stiegen sie ins Kastell hinab und mischten sich unter das zunehmende Menschengewimmel des neuen Tages.
215
XII Eine Woche nach Thaliusʹ Ankunft in Banna traf Konstantin mit seinem Gefolge ein ‐ oder vielmehr mit einem Teil seines Gefolges; viele waren in Eburacum geblieben. Konstantin ordnete sofort eine Truppenschau an. Diese fand an einem hellen, frischen Morgen statt, und Thalius und seine Begleiter sahen als Corneliusʹ Gäste bequem von einem Pavillon aus zu. Die Soldaten in ihren Zenturien traten in Reih und Glied außerhalb der Mauern des Kastells an. Die Standartenträger der Zenturien reckten die Embleme ihrer Einheiten in die Höhe, und jeder trug ein labarum. Dies war eine neue, angeblich von Konstantin selbst erfundene militärische Standarte, ein langer, vergoldeter Speer mit einer Querstange, die ihm die Form des Christenkreuzes verlieh. Die Spitze des Kreuzes bildete ein Kranz aus Gold und kostbaren Steinen mit einem fein gearbeiteten chi‐rho‐Christogramm darin. Die Soldaten boten einen respektablen Anblick, obwohl Thalius sah, dass ihre Rüstungen und Waffen abgenutzt und vielfach ausgebessert waren ‐ angeblich waren manche Ausrüstungsteile über Generationen
215 hinweg vom Vater an den Sohn vererbt worden. Nicht nur das, bei Tageslicht wirkten auch die Mauern des Kastells heruntergekommen. Das Kastell und seine Truppen waren schon seit Jahrhunderten hier; sie versanken allmählich im kalten nördlichen Schlamm, während die Grenzen zwischen den Soldaten und der Zivilbevölkerung, aus der sie rekrutiert worden waren, zusehends verschwammen. Eines von Konstantins Projekten bestand darin, die bereits unter Diokletian eingeleiteten Heeresreformen zu festigen; sie spiegelten die militärische Realität des Zeitalters. Die frühere Unterscheidung zwischen Legionen und Auxiliareinheiten war aufgegeben worden. Jetzt setzte sich das Heer aus einer mobilen Feldstreitmacht und stehenden Grenztruppen wie hier in Banna zusammen. Es gab eine neue militärische Hierarchie von Herzögen und Grafen ‐ dazu gehörten etwa der in Eburacum stationierte Herzog der britannischen Provinzen sowie ein Graf der Sachsenküste*, der Küstenfestungen wie Rutupiae kontrollierte. Früher waren die Statthalter Ober kommandierende der Truppen in ihren Provinzen gewesen, aber jetzt waren die
Herzöge und Grafen unabhängig von den Statthaltern ‐ tatsächlich umfasste ihr Zuständigkeitsbereich im Allgemeinen mehr als eine Provinz. Dies war ein weiteres Beispiel für die beharrliche Strategie der Kai‐ * Lat. Dux Britanniarum und Comes Litoris Saxonici, Titel der Militärkommandeure bestimmter Regionen. Dux (Anführer) und Comes (Begleiter) wurden dann im Englischen zu duke (Herzog) und count (Graf). (Anm. d. Übers.)
216 ser, Macht aufzuteilen und etwaige Rivalen auf diese Weise klein zu halten. Thalius glaubte, die militärische Logik zu verstehen. Man hielt die Barbaren an der Grenze fern, und wenn sie doch einmal durchkamen, ließ man sie tief in ein von Befestigungsanlagen starrendes Land vordringen, während man seine mobilen Streitkräfte gegen sie zum Einsatz brachte. Selbst die ummauerten Städte gehörten in gewissem Sinn zum System. Aber Stagnation führte unweigerlich zum Verfall, und Grenztruppen wie diese neigten dazu, außer Form zu geraten und ihre Disziplin einzubüßen. Thalius hatte lebhafte Gerüchte über Korruption gehört, über befehlshabende Offiziere, die Sold für längst tote Soldaten bezogen. Es war ganz gut, dass der Kaiser gekommen war, um alles ein bisschen auf Vordermann zu bringen. Und es war ein großer Tag für diese Soldaten, eine Gelegenheit, die lebenslängliche Langeweile des Grenzdienstes mit einer Demonstration vor dem Kaiser persönlich aufzubrechen. Jeder wusste, dass Konstantin hier war, um nach Einheiten Ausschau zu halten, die er für den sich abzeichnenden Krieg gegen Licinius, den Ostkaiser, abziehen konnte. Viele der Soldaten, die hier in ihrem Kastell aufgewachsen waren, die eine eigene Familie hatten und deren Wurzeln Generationen zurückreichten, konnten sich wahrscheinlich nicht einmal vorstellen, wie es sein würde, unter einem Kaiser auf einem langen Feldzug in einem fremden Land zu dienen. Dennoch waren sie römische Soldaten, und zweifellos schlugen unter diesen ererbten
216 Panzerplatten nicht wenige Herzen heftig vor Erwartung. Endlich ritt der Kaiser selbst an ihnen vorbei, ein stämmiger, kräftiger Mann, begleitet von seinen Feldherren und Adjutanten. Sie alle trugen teure, farbenfrohe Paraderüstungen samt kunstvollen Helmen mit reich verziertem Nackenschutz und juwelenbesetzten Wangenklappen. Die Soldaten standen stramm und ließen die Musterung ihres Kaisers stolz über sich ergehen. Cornelius, der ewige Traditionalist, flüsterte Thalius einen Kommentar ins Ohr. »Was für eine bunte Mischung von Symbolen ‐ findest du nicht? Hier hast du ein römisches Heer, dessen Wurzeln ‐ das sollten wir nicht vergessen ‐ in den Bürger‐und Bauerngemeinschaften von Latium liegen. Und nun schau dir den Kaiser und seine Kumpane in ihren schicken Paraderüstungen an. Ich habe Ägypten‐ und Persienreisende sagen hören, je zentralisierter die Gesellschaft sei, desto häufiger sehe man die Protzerei mit solchen Rangsymbolen ...« »Ach, halt den Mund, Cornelius, du Langweiler«, zischte Aurelia. »Es ist nicht einmal mehr eine Stunde bis zu unserer Audienz beim Kaiser.«
»Da ich die Audienz in die Wege geleitet habe«, sagte Cornelius steif, »bin ich mir dessen sehr wohl bewusst.« »Ist der Junge bereit?« Thalius schaute zu Tarcho und Audax hinüber, die im Pavillon ein paar Reihen hinter den anderen saßen.
217 Der alte Soldat sah in seiner polierten Rüstung einigermaßen gepflegt aus, obwohl er offenkundig am liebsten draußen auf dem Feld bei den Soldaten gewesen wäre. Audax war gewaschen und in eine schmucke neue Tunika gesteckt worden, und man hatte ihm die Haare geschnitten und gekämmt. Er wirkte jedoch immer noch dünn und blass und sah viel jünger aus, als er an Jahren zählte ‐ er war nach wie vor der kleine En‐ gerling, den Thalius in Dolaucothi gefunden hatte. Und dennoch war er der Schlüssel zu allem. »Er ist bereit«, sagte Thalius zu Aurelia. »Gut«, sagte Cornelius. »Gehen wir es noch einmal durch. Ich führe dich, Thalius, mit dem Jungen hinein. Es ist mir gelungen, das Interesse des Kaisers an der Prophezeiung zu wecken, die in den Rücken des Jungen eingeritzt ist. Solche Dinge faszinieren ihn, wie alle diese leichtgläubigen Soldaten. Dann rufe ich dich nach vorn, Claudia Aurelia ...« »Und ich zeige ihm mit Aurelias Hilfe, wie man das Akrostichon liest«, ergänzte Thalius. »Eine Vorhersage seiner eigenen Ermordung«, sagte Cornelius mit kaltem Grinsen, gerade leise genug, dass niemand außer ihnen es hören konnte, aber doch so laut, dass Thalius befürchtete, jemand hätte es gehört. »Anschließend lege ich ihm unsere Denkschrift vor.« Thalius klopfte auf seine Toga, unter der er die zehn Pergamentseiten verstaut hatte, ein in Schönschrift abgefasstes Exemplar des letztendlich vereinbarten Textes: Aufrichtiger Rat, demütig dargeboten von besorgten Bürgern.
217 Jetzt, wo sie so nahe daran waren, merkte er, wie seine Zuversicht wuchs. Es war ein außergewöhnlicher Versuch, den sie hier unternahmen, die Denkweise eines Kaisers derart tiefgreifend zu ändern, und Thalius hatte in den letzten zwei Nächten kaum ge‐ schlafen. Der Kaiser fürchtete zwar keinen Menschen, wohl aber Gott, und vielleicht würde er die Prophezeiung wie beabsichtigt als Warnung verstehen und empfänglich für die Logik ihres Schreibens sein. Dann bemerkte er, wie Cornelius und Aurelia einen Blick wechselten, den er nicht deuten konnte. Das rief ihm ins Gedächtnis, dass er diese Situation nicht im Griff hatte. Seine Zuversicht verdunstete wie Tau, und eine Furcht vor Möglichkeiten, die sich seiner Vorstellungskraft entzogen, fraß sich in seinen Magen.
217
XIII
Audax empfand es nicht als Ehre, dem Kaiser vorgeführt zu werden. Es war wie damals, als man ihn vor den Aufseher Volisios geschleift hatte, weil er in einer Quarzader vor Müdigkeit gestürzt war und sich dabei die Hand aufgeschnitten hatte, sodass er tagelang zu nichts nütze gewesen war. Er war gar nicht auf den Gedanken gekommen, zu seiner Verteidigung anzuführen, dass ihn eine Bande von Lustmolchen zwei Nächte lang am Schlafen gehindert hatte. Der Aufseher hatte ihn eine Weile angebrüllt, ihm dann die Reihe der Kreuze gezeigt, an denen die von Vögeln angefressenen Überreste von Sklaven baumelten ‐ dort werde er ebenfalls enden, wenn er noch einmal einen Fehler mache ‐, und ihn dann einem stämmigen Rohling zum Auspeitschen übergeben. Genauso empfand er es auch jetzt, als Thalius und Aurelia ihn in den kunstvoll ausgestalteten, schreinartigen Raum führten, wo der Kaiser auf seinem Thron saß. Der Raum war von Licht erfüllt, das von der Kleidung und der juwelenbesetzten Krone des Kaisers zurückgeworfen wurde und ihn blendete. Audax erkannte ein paar der Leute um den Kaiser herum. Rechts von 218 ihm saß Helena, seine Mutter; sie war fast so auffällig gekleidet wie ihr Sohn. Zur Linken des Kaisers stand Cornelius; sein Blick war auf Audax gerichtet, während er dem Kaiser etwas zuflüsterte. Und hinter ihnen standen Soldaten mit harten Augen, die Hand am Heft ihres Stichschwerts, und beobachteten jede Bewegung. Er wurde bis auf einen Schritt an den Kaiser herangeführt, so nah, dass er ihn berühren konnte. Konstantin war Furcht einflößend. Audax glaubte spüren zu können, wie Hitze von ihm ausstrahlte. Er hatte sein Leben lang den Instinkt unterdrückt, Widerstand zu leisten, aber diesmal konnte er nicht anders; er wich zurück. Doch dann schaute Konstantin ihm in die Augen und lächelte ihn an. Plötzlich wirkte er menschlich, und Audaxʹ Furcht legte sich ein wenig. Thalius und Aurelia ‐ er nervös, sie mit ruhiger Zuversicht ‐ begannen, Audaxʹ Narb en und deren Entstehung zu beschreiben. Sie sprachen lateinisch, aber Audax bekam das eine oder andere mit; es ging um eine Familiengeschichte, um eine reiche Frau, die ihre Nachkommen in die Sklaverei verkauft hatte ... Konstantin hörte mit leicht gelangweilter Miene zu. Audax stellte sich vor, dass er jeden Tag Hunderten von Leuten zuhörte, die ihm alle unbedingt eine Geschichte erzählen mussten. Dann folgte die Enthüllung der Narben. Aurelia drehte den Jungen um und befahl ihm , die Tunika über den Kopf zu ziehen. Audax wartete, den Kopf von seiner Tunika umhüllt. Er roch seinen eige nen Schweiß und hörte die gedämpften Stimmen der Erwachsenen, 218
während sie über das Einzige an ihm sprachen, was ihn für sie interessant machte. Ein Akrostichon ... christliche Elemente, das Alpha und das Omega ... verschlüsselte Wörter. Er spürte, wie ein warmer, schwerer Finger über seinen Rücken fuhr, vielleicht der des Kaisers, und seine barsche Stimme kitzelte die Wörter heraus: constare, perire. Der Junge wurde aufgerichtet, die Tunika rutschte wieder herunter, und er wurde zum Kaiser umgedreht. Audax sah, dass einer der Wachposten das Schwert gezogen hatte.
Jeder verstand die wahre Bedeutung der beiden Wörter. Plötzlich herrschte eine enorme Spannung in dem Raum, und Audax, der in ihrem Mittelpunkt stand, hatte große Angst. Es war Helena, die als Nächste sprach. Bedroht ihr meinen Sohn? Wird er heute sterben? Man sah Thalius an, wie erschrocken er war; mit dieser Reaktion hatte er nicht gerechnet. Seine Antwort kam hastig. Niemand wird sterben ... Keine Drohung ... Wir bringen Euch die Prophezeiung in gutem Glauben, wir haben sie nicht verfasst ... Wir hoffen, dass sie Euch als Richtschnur für eine bessere Zukunft für uns alle dienen möge ... Wir bringen Euch einen Brief... Er tastete unter seiner Toga nach seinem Dokument, und die Wachen starrten ihn noch aufmerksamer an. Und während sie abgelenkt waren, stellte Audax plötzlich fest, dass er ein Messer in der Hand hielt, eine schöne, polierte Klinge. Aurelia hatte es dort hineingelegt. Als er auf die Klinge hinunterschaute, schlossen 219
sich ihre kalten Finger um Audaxʹ Hand und das Messer. Und sie versetzte Audax einen Stoß und streckte dabei seinen Arm, und die Klinge wurde nach vorn gestoßen. Audax beobachtete das alles, als befände er sich außerhalb seines Körpers. Ihm war sein Leben lang eingebläut worden, dass man sich nicht wehrte, wenn ein Erwachsener einen herumschubste; nicht einmal einen Muskel durfte man rühren. Darum war es seine Hand, die das Messer hielt, aber Aurelias Kraft, die es durch Stoffschichten, eine kurzzeitig widerstehende Haut und dann in die feuchte Wärme dahinter stieß. Noch während sich das Messer in die Brust des Kaisers bohrte, schrie Aurelia: »Nein! Der Sklave ist ein Schurke! Helft mir, ihn aufzuhalten, oh, helft mir!« Als das Messer bis zum Heft eingedrungen war, wich Aurelia mit einem Aufschrei zurück. Einen Herzschlag lang rührte sich niemand. Audax und Konstantin waren durch das Messer miteinander verbunden; das Heft lag noch in der Hand des Sklaven, die Klinge steckte in der Brust des Kaisers. Konstantins Mund stand offen; Speichelfäden spannten sich zwischen seinen Lippen. Audaxʹ Hand, die gegen den ungeheuer warmen Körper des Kaisers drückte, fühlte sich klein an. Dann brach ein Pandämonium los. Helena schrie auf, die Soldaten brüllten und zogen ihre Waffen, und Thalius und Aurelia wurden gepackt und festgehalten. Aber niemand wagte es, den Kaiser oder den Jungen anzurühren.
219 Konstantin hob die Hand, und alles erstarrte Der Kaiser atmete langsam und bedächtig und schaute Audax weiterhin in die Augen. »Beweg dich nicht«, sagte er auf Brigantisch. Audax war so überrascht, dass ihm ein paar Worte herausrutschten. »Ihr sprecht Brigantisch.« Vielleicht bewegte sich sein Arm dabei ein winziges bisschen. Konstantin schnappte nach Luft, und sein riesiger Körper erschauerte, als wäre er eine Marionette, gesteuert von dem Jungen und dem Messer.
»Ich war hier Soldat«, sagte Konstantin atemlos. »Ich habe viele Jahre unter meinem Vater gedient. Dies war meine Heimat. Ich habe Britannisch gelernt. Wie heißt du? Niemand hat daran gedacht, es mir zu sagen.« »Audax, Herr.« »Audax. In Ordnung, Audax, hör mir genau zu. Es gibt zwei sehr wichtige Dinge, die ich dir sagen muss. Das erste ist: Ich weiß, es war nicht deine Schuld. Ich habe gesehen, wie die Frau dich gestoßen hat ‐ wie ist ihr Name?« »Aurelia.« »Ja. Ich habe es gesehen. Also, ganz gleich, was heute geschieht, ob ich am Leben bleibe oder sterbe, du wirst nicht bestraft werden. Glaubst du mir?« Audax überlegte. »Nein«, sagte er. Konstantin knirschte mit den Zähnen. »Ich wünschte, meine Berater wären nur halb so ehrlich. Ich bin der Kaiser, Audax. Wenn ich ein Versprechen gebe, wird es gehalten. Also glaube mir.«
220 »Was ist das zweite?« »Das zweite ist, dass ich als Soldat eine Menge über den menschlichen Körper gelernt habe. Größtenteils, indem ich Löcher in andere Menschen gebohrt habe. Und ich weiß, wenn du dieses Messer auch nur ein kleines Stück bewegst, durchtrennst du die Blutgefäße meines Herzens, und dann sterbe ich ganz bestimmt. Wenn du es nicht bewegst, bleibe ich vielleicht am Leben. Verstehst du jetzt, weshalb ich dich gebeten habe, dich nicht zu bewegen?« »Ja«, sagte Audax. Ja, er verstand. Aber sein ausgestreckter Arm wurde müde, und das Blut rann leuchtend rot aus den Gewändern des Kaisers und tränkte seine Hand in glitschiger Wärme. Er bewegte sich kaum merklich, auch wenn er sich noch so viel Mühe gab, stillzuhalten. Er konnte nicht anders. Und bei jeder ruckhaften Bewegung spürte er, wie der Kaiser in Reaktion darauf erbebte und sich wand. Audax hatte gesehen, wie ge‐ kreuzigte Sklaven auf diese Art zuckten und zappelten, winzige Bewegungen, während sie versuchten, den Schmerz in ihrer Brust und den Füßen zu lindern. Und so, wie Audax gelernt hatte, die Todesangst in den Gesichtern der Gekreuzigten zu erkennen, sah er jetzt die Furcht in Konstantins ergrauendem Gesicht, unter der Klammer der Gelassenheit. Der Kaiser sagte: »Siehst du den Mann hinter mir? Den hochgewachsenen Mann mit der Brille ‐ mit den Glasstücken auf der Nase? Das ist mein Arzt ‐ ein Grieche. Er heißt Philip, und er ist sehr gut. Wenn du 220 einverstanden bist, nimmt Philip dir das Messer ab, dann bleibe ich am Leben. Oder du kannst dich dafür entscheiden, das Messer zu drehen, dann sterbe ich.« Audax hörte Aurelia schreien: »Töte ihn, Sklave! Töte das Ungeheuer ...« Dann wurde sie zum Schweigen gebracht, vielleicht von der schweren Hand eines Soldaten. Audax blieb reglos stehen. Ihm tat der Arm weh.
Der Kaiser sagte: »Warum, glaubst du, will diese Frau, dass ich sterbe?« »Die Wörter auf meinem Rücken sagen, dass Ihr sterben werdet.« »Na schön. Aber was meinst du, Audax? Meinst du, deine Entscheidung sollte von einer Prophezeiung abhängen? Schau mich an. Was siehst du?« Audax betrachtete den Mann vor ihm: Er war stämmig und kräftig. Er erinnerte Audax an Tarcho. »Einen Soldaten«, sagte er. »Ja. Gut. Das bin ich in erster Linie, und das werde ich immer sein.« »Ich will auch Soldat werden«, sagte Audax. Konstantin nickte kaum merklich. »Dann verspreche ich dir, dass du einer sein wirst ‐ wenn du beschließt, mich am Leben zu lassen. Aber es ist deine Entscheidung, Audax. Verrückte Sache, was? Hier sind wir, Kaiser und Sklave, der Höchste und der Niedrigste, der Oberste und der Unterste. Und dennoch hast du in diesem Augenblick dank eines schlichten Messers mehr Macht hat als jeder andere Mensch der 221 Welt, und jedes Mal, wenn du auch nur zitterst, erbebt die ganze Geschichte.« »Das stimmt«, flüsterte Thalius. »Das stimmt! Eine dreihundert Jahre alte Prophezeiung, die wahr wird ‐ das Schicksal der ganzen künftigen Welt ‐ alles konzentriert sich auf diesen Moment, auf ein Messer in der Hand eines Sklaven!« Aber Tarcho brachte ihn grob zum Schweigen. Konstantins Stimme wurde schwächer, sein Gesicht graue r. »Die Welt ist kompliziert, Audax«, flüsterte er. »Die Zukunft ist unbekannt. Und trotzdem müssen wir Entscheidungen treffen. Was meinst du, worauf solche Entscheidungen beruhen sollten? Auf Wörtern, die dir in den Rücken geritzt wurden, oder auf dem Urteil eines Manne s wie mir?« Audax fühlte sich losgelöst von der Welt, als werde er gleich ohnmächtig. Sein ausgestreckter Arm war so steif, seine bluttriefenden Finger so taub, dass er das Messer kaum noch spürte und nicht mehr wusste, ob er stillhielt oder nicht. Und als die Welt grau wurde, glaubte er die Wände des Raumes einstürzen zu seh en wie eine Maue r im Bergwerk, die den Blick auf Gänge zu im Nebel liegenden Bestimmungsorten freigab. Undeutlich erkannte er, dass der Kaiser die Wahrheit sprach, ebenso wie Thalius, dass gewichtige Ereignisse mit ihren Auswirkungen auf das Leben von Menschen für noch unge borene Generationen davon abhingen, was er jetzt tat. Wem sollte er also vertrauen ‐ wem oder was? Wäre Konstantin Tarcho gewesen, hätte er nicht ge
221 zögert ‐ Tarcho, der einzige Mensch in seinem Leben, der jemals wirklich freundlich zu ihm gewesen war, vielleicht abgesehen von seiner Mutter, an die er sich nur vage erinnerte. Und doch war Konstantin Tarcho so ähnlich, dass er glaubte, ihm vertrauen zu können. Menschen waren real, dachte Audax. Menschen, ihre Charaktere und ihre Urteile. Das war das Einzige auf der Welt, was zählte. Wörter, Prophezeiungen, waren nichts. »Ruft Euren Arzt«, sagte er.
Konstantins Augen bewegten sich nicht, aber seine Gesichtszüge wurden weicher. »Philip. Komm her. Aber bitte ganz langsam ...« Niemand wagte es, sich zu rühren, bis der griechische Arzt das Messer aus Audaxʹ Hand genommen und dann langsam aus der Brust des Kaisers gezogen hatte. Audax wich befreit zurück, mit brummendem Schädel, und dieses seltsame Gefühl der Losgelöstheit verschwand; der Raum schloss sich, bis er wieder nur ein Raum war. Dann folgte eine Explosion von Bewegungen, und Klingen blitzten auf. Tarcho packte Thalius und Audax und zog sie aus dem Getümmel.
222
XIV Im Herbst des Jahres, in dem Konstantin gestorben war, verabredete sich Thalius mit Audax vor der Treppe des Claudius‐Tempels in Camulodunum. Beunruhigt fragte er sich, wie er Audax erkennen sollte. Immerhin waren seit jener außergewöhnlichen Audienz beim Kaiser dreiundzwanzig Jahre vergangen. Und außerdem hatte er Angst davor, sein Haus zu verlassen. Es war ein Markttag, ein strahlend heller Herbstmorgen, und die Stadt würde von Bauern, ihren Frauen und Bälgern, ihren Hunden, Schafen und Rindern und den Händlern, Dirnen und kleinen Dieben wimmeln, die es auf sie abgesehen hatten. An manchen Tagen ähnelte Camulodunum eher einem riesigen Viehgehege als einer Stadt, dachte er mürrisch. Im außergewöhnlichen Alter von fünfundsiebzig Jahren fiel es Thalius zunehmend schwerer, seinen Alltag zu bewältigen, und an Tagen wie diesem zog er es vor, sich einfach in seinem Stadthaus einzuigeln. Aber er hatte keine ʺWahl, denn dies war der einzige Tag, an dem Audax sich mit ihm treffen konnte. Der Junge hatte von seinem Posten im fernen Konstantinopel herkommen müssen, wobei der größte Teil seines Urlaubs für die komplizierte Reise durchs West
222 reich draufgegangen war, und trotzdem musste er die meiste Zeit in Londinium verbringen, im Hauptquartier der Diözese der vier britannischen Provinzen. Nun, wenn Audax bereitgewesen war, eine so weite Strecke zurückzulegen, konnte Thalius doch wohl den Mut aufbringen, vor die Tür zu treten, um ihn willkommen zu heißen. Und schließlich waren sie beide wegen des alten Tarcho hier. Das Durcheinander vor dem Tempel war so schlimm, wie Thalius befürchtet hatte. Straßenhändler hatten Stände auf den Stufen und sogar im Säulengang aufgebaut. Sie verpesteten die Luft mit dem Gestank von bratendem Fleisch und verkauften Kleider, billigen Schmuck, gebrauchte Tonwaren, kleine Miniaturen der göttlichen Helena ‐ zahllosen Tand. Hier gab es so gut wie nichts Ungebrauchtes und kaum etwas, was nicht im Umkreis von einer Meile hergestellt worden war. Thalius sah, dass viel Tauschhandel getrieben, aber nur wenige Barverkäufe getätigt wurden ‐ ein halbes Hähnchen gegen ein hübsches Stück Jade, ein Verpflichtungsschein für ein Tagewerk an einem Strohdach gegen eine viel benutzte, häufig ausgebesserte
Amphore. Wer Bargeld besaß, hortete es außer Sichtweite der Steuereintreiber, aber Thalius war sich bewusst, dass wahrscheinlich auch die Eintreiber und ihre Spione jetzt auf dem Marktplatz ihre Runden drehten. In einer Zeit, in der sogar die Soldaten bereit waren, sich ihren Sold in Naturalien auszahlen zu las 223
sen, blieb ein Schwarzmarkt nicht lange schwarz. Thalius fühlte sich auf diesem Markt außerordentlich unwohl, wie eine Maus inmitten eines Schwarms von Mäusen, die sich wechselseitig von ihrem Müll ernährten. Auch die Menschen um ihn herum waren unangenehm. Fast alle waren sie jünger als er ‐ nun, daran war er seit Jahren gewöhnt ‐, und sie waren grob und unhöflich und ließen einander und erst recht alten Dummköpfen wie Thalius gegenüber jeglichen Respekt vermissen. Es war eine Zeit der Selbstsucht, dachte er, eine Zeit der schlechten Manieren. Und alles nur wegen Konstantin. Die arme, törichte, längst tote Aurelia hatte auf ihre bornierte Weise recht gehabt. Die Last der exzessiven Besteuerung, die gewaltige und immer noch wachsende Kluft zwischen Arm und Reich hatte die Gesellschaft auf jeder Ebene rauer gemacht. Aber was gab es für eine Alternative? Dann stieß er jedoch inmitten des ganzen Plunders auf einen Tisch, auf dem sich Bücher stapelten. Er sah Schriftrollen, Haufen von Holztäfelchen, sogar ein paar eng beschriebene Wachstafeln. Thalius begann herumzustöbern; es war eine Erleichterung, sich einfach nur mit Büchern zu beschäftigen. Aber keines war ungebraucht, und manche sahen aus, als wären sie nicht einmal vollständig. Und sehr viele waren (für ihn) völlig uninteressante Abhandlungen über diverse Aspekte der christlichen Religion. Es gab enorme Mengen von diesem Zeug. Seit Konstantins Übernahme des Christentums lieferten sich 223
seine Bischöfe und Theologen, trunken von plötzlicher Macht und plötzlichem Reichtum, heftige interne Kämpfe um Häresien und Gegenhäresien. Verwirrt von den faszinierenden theologischen Vielschichtigkeiten, lasen die Menschen heutzutage nur noch die Bibel und die dazugehörigen Erläuterungen ‐ wenn sie überhaupt etwas lasen. Und während die Zahl der des Lesens und Schreibens Unkundigen wuchs und die des Lesens und Schreibens Kundigen sich in den Mystizismus zurückzogen, gebrauchte niemand mehr seinen Verstand, stellte niemand mehr Fragen, erinnerte sich niemand mehr daran, dass die Dinge einmal anders gewesen waren als jetzt. Aber Thalius machte rasch einen Tacitus ausfindig, einen Plinius und einen Cicero, Überbleibsel eines Zeitalters, in dem die Menschen noch imstande gewesen waren nachzudenken, zu diskutieren und zu schreiben. Er schaute ins Halbdunkel des abgedeckten Standes hinter dem Tisch. Ein Junge saß auf einem Schemel, kaute auf irgendeinem Kraut herum und beobachtete mit lasziv‐lüsternem Grinsen ein Mädchen am Nachbarstand. Thalius schnippte mit den Fingern. »Du da!« Der Kopf des Jungen fuhr zu ihm herum. »Sprichst du mit mir?«
»Ja, aber nur, weil es sich offenbar nicht vermeiden lässt, denn wie es scheint, bist du der Kommissionär dieser Bücher. Welcher Provenienz sind sie?« Der Junge legte die Stirn in Falten. »Was?« 224
Thalius seufzte. »Verkaufst du diese Bücher? Woher stammen sie?« »Aus ʹner Entrümpelung«, sagte der Junge. »Preise stehen dran.« Sein Latein war primitiv und grob vereinfacht. Er war vielleicht sechzehn, mit einer harten, unwirschen Miene. Thalius hatte keine Angst vor ihm, war jedoch irgendwie verwirrt. Dieser Junge war praktisch außerhalb der Gesellschaft aufgewachsen, die Thalius gekannt hatte, ohne jeden Zwang, die Regeln eines zivilisierten Diskurses einzuhalten. Welch eine Quelle für die Zukunft Britanniens und des Imperiums! Thalius strich mit einem Finger über die Schriftrollen. Sie waren wahrscheinlich die Trümmer einer kleinen Tragödie; zweifellos hatten sie einmal einem Mitglied der Kurie gehört, einem Menschen, der mehr oder weniger so war wie er selbst, dem es jedoch nicht gelungen war, bei der unablässigen Gratwanderung, die das bürgerliche Leben in dieser Zeit darstellte, das Gleichgewicht zu bewahren. Er sah jedoch einige interessante Titel, zum Beispiel Wahre Geschichte von einem Syrer und Griechen namens Lukian. Thalius hatte das Werk als Junge gelesen und seither andere Geschichten von fantastischen Reisen in ferne Winkel der Welt oder gleich ganz ins Weltall hinaus gesucht ‐ keine Mythen, die ihm stets ein wenig hohl erschienen, sondern Überlegungen, was wirklich möglich sein könnte. Aber er hatte gelernt, sein Interesse an derartigen Spekulationen für sich zu behalten. Hochnäsige sogenannte Literatur 224
kenner behaupteten nämlich immer, solche Geschichten wären nur etwas für pubertierende Jungen, die Autoren hätten eigentlich nichts Neues mehr zu erzählen, und die Charakterzeichnung werde zugunsten der Ideen geopfert. Es nützte Thalius nichts, wenn er einwandte, dass es doch gerade um die Ideen ging. Voller Bedauern legte er den Lukian wieder hin; er besaß bereits ein besseres Exemplar, auch wenn er es nicht zur Schau stellte. Während er blätterte, bemerkte er einen jüngeren Mann neben ihm, der sich ebenfalls durch die Haufen der Schriftrollen arbeitete. Er rempelte Thalius zu dessen erheblichem Ärger an, während er die Bücher zu studieren versuchte. Der Junge hinter dem Tisch begann sich für Thalius zu interessieren. »Wenn du wirklich was kaufen willst, hätte ich da vielleicht was für dich.« Er wühlte unter dem Tisch herum und förderte eine Schriftrolle zutage, die noch abgegriffener war als die anderen. Thalius, dessen Augen wässrig, aber noch scharf waren, sah, dass er die Erinnerungen des Kaisers Claudius in den Händen hielt. »Handelt von seiner Zeit hier in Camulodunum. Das ist sein Tempel«, sagte er und reckte lässig einen Daumen über die Schulter. »Ich weiß, wessen Tempel das ist!«, blaffte Thalius. Der Junge verzog keine Miene. »Dann eben ein gutes Andenken.«
Thalius wusste, dass solch ein Objekt außerhalb der großen Bibliotheken der mediterranen Städte in der Tat schwer zu finden war ‐ und noch schwerer, 225
seit Konstantin seine Hauptstadt Hunderte von Meilen nach Osten verlegt hatte. Und er nahm an, dass die Rarität ihren Preis haben würde. »Zeig her. Ist sie vollständig, in gutem Zustand? Eine Abschrift der wievielten Generation?« Bücher waren heutzutage ebenso zerschlissen wie alles andere; man musste sie immer prüfen. Er griff nach der Schriftrolle. Der Junge hielt sie vor seine Brust. Ungehalten über die Gedankenlosigkeit, beugte sich Thalius über den Tisch. Und just in dem Moment, als er seinen Schwerpunkt am weitesten nach vorn verlagert hatte, versetzte ihm der junge Mann neben ihm einen Faustschlag in den Bauch, und es gab eine Explosion unglaublich starker Schmerzen, während eine Hand in seiner Tuni‐ ka stöberte. Eine andere, viel stärkere Hand packte ihn an einem Stück Stoff im Nacken. »Thalius. Alles in Ordnung?« Zwei, drei tiefe Atemzüge lang spürte Thalius, wie sein Herz raste, und ihm wurde grau vor Augen. Aber er sank nicht zu Boden. Allmählich ließ der Schmerz in seinem Bauch nach. Er blickte auf. Vor ihm stand ein Mann, vielleicht in den Dreißigern, gut gebaut, mit leuchtend rotblonden Haaren. Er war Soldat, wie man an der kunstvollen Militärspange an seiner Schulter und an seinem teuer aussehenden Gürtel erkennen konnte. Der Mann hob die Hände. In jeder hielt er einen Gegenstand: Claudiusʹ Erinnerungen und Thaliusʹ ledernen Geldbeutel. »Diese beiden Gauner haben im Rudel gejagt.« Er warf
5°5 Thalius den Geldbeutel hin, und dieser fing ihn ungeschickt auf. »Ich hatte leider beide Hände voll und musste sie laufen lassen.« Thalius schaute sich um. Die Kaufwilligen schoben sich unbeirrt an ihnen vorbei; von den Räubern war nichts zu sehen. »Welch eine Schande«, knurrte er. »Bücher als Lockmittel für Diebstahl und Gewalt zu benutzen! Was ist nur aus der Welt geworden?« »Ich glaube, das gehört dir, nicht wahr?« Der Mann reichte Thalius die Claudius‐Rolle. Thalius nahm sie mit einem unbehaglichen Gefühl entgegen. »Ich freue mich schon darauf, sie zu lesen«, sagte er. »Aber wie soll ich sie bezahlen?« Der Soldat lachte. »Immer noch der gute alte Thalius ‐ grundehrlich, aber so weltfremd, dass du darüber nachdenkst, wie du die Männer bezahlen sollst, die dich gerade ausrauben wollten! Vergiss es, Thalius. Nimm die Schriftrolle ‐ sie werden nicht zurückkommen, um sie dir wieder abzunehmen. Wahrscheinlich war sie sowieso gestohlen, und sie wird sonst nur verrotten.« Thalius nickte. »Wenn man es nicht korrekt regeln kann ...« Er blickte auf. »Aber woher kennst du meinen Namen?« Der Soldat lächelte. »Du hast dich wirklich nicht verändert, mein lieber Thalius. Als ich hierherkam, wusste ich, dass ich nur dem Geruch muffiger alter Bücher folgen musste, um dich zu finden.«
»Audax!« 226
XV Thalius schämte sich der Tränen, die in seinen Augen brannten. »Ich bin solch ein Narr. Irgendwie hatte ich erwartet, den kleinen Jungen von damals vor mir zu sehen. Herrje, wie sehr du dich verändert hast! Ich hätte dich wirklich nicht wiedererkannt ‐ was für ein Baum von einem Mann aus dem kläglichen Schössling herangewachsen ist, den ich vor all den Jahren in dieser Goldmine gefunden habe!« Aber Audaxʹ Gesicht bewölkte sich ein wenig, und Thalius erkannte, dass es Erinnerungsschichten gab, an die man wohl am besten nicht rührte. Hastig fuhr er fort: »Außerdem hatte ich angesichts all der Bücher ganz vergessen, dass ich hier war, um nach dir Ausschau zu halten, weißt du. So ist das heute leider bei mir. Und jetzt beschützt du mich, so wie der arme Tarcho mich all diese Jahre beschützt hat.« »Es ist lange her.« »Und wie geht es deiner Frau?« »Melissa geht es gut. Wir haben ein Stadthaus in Konstantinopel ‐ kleiner als deines, Thalius, aber für uns ist es gerade richtig.« Vorsichtig sagte er: »Dort scheint alles besser zu sein. Im Osten. Es gibt jede Menge kleine Bauern, die ihr eigenes Land besitzen 226
anders als hier, wo ein paar Superreiche ganze Landstriche ihr Eigen nennen. Dort gibt es nicht dieselbe ...« Er wedelte mit der Hand; die mangelnde Wortgewandtheit des Soldaten machte sich bemerkbar. »Enorme Ungleichheit?«, beendete Thalius betrübt den Satz für ihn. »Ich weiß, Audax, sie richtet uns alle zugrunde, ebenso wie der Niedergang der Bildung ... Aber du hast Söhne. Tarcho hat mir alles über sie erzählt. Er war immer begeistert von deinen Briefen.« Audax lächelte. »Ich habe den älteren Tarcho genannt ‐ aus ihm wird auch ein Soldat, glaube ich! Aber der jüngere hat mehr Verstand als Muskeln. Er ähnelt eher dir, Thalius. Letztlich sind wir doch eine Familie. Ich bin froh, dass ich ihn nach dir genannt habe.« Thalius war entzückt. »Es wäre wundervoll, wenn ihr näher bei uns leben würdet, dann könnte ich ihn kennenlernen ‐ und ihm vielleicht ein bisschen Privatunterricht erteilen.« »Mein Platz war immer an der Seite des Kaisers.« »Ich verstehe.« »Jedenfalls bin ich jetzt hier ‐ wegen des ersten Tarcho ...« »Ja. Der arme Tarcho! Komm. Gehen wir ein Stück.« Sie entfernten sich von dem Bücherstand. Audax bahnte ihnen mit Hilfe seiner breiten Schultern und der militärischen Insignien mühelos einen Weg, und sie stiegen die Stufen hinauf, durchquerten den Säulengang und betraten den Tempel. Die relative Stille 226
unter dessen Dach war eine Erleichterung für Thalius, aber er hatte Schmerzen beim Gehen. Audax berührte Thalius am Arm und bot ihm an, ihn zu stützen. »Wie geht es dir?« »Mir ist, als hätte dieser Schläger seinen Arm bis zum Ellbogen in mir versenkt«, keuchte Thalius. »Wenn du meinst, dass du einen Arzt brauchst ...« »Ich würde lieber mit dir spazieren gehen, alter Freund.« Audax schaute sich in dem Tempel um. »Ich war seit meiner Kindheit nicht mehr hier, und damals war ich zu jung oder zu verwirrt, um das alles zu verstehen. Eine verblüffende Pracht, nicht wahr?« »Du meinst, für eine heruntergekommene Provinz wie diese ? Nun ja, das stimmt, aber er hat die Jahre gut überstanden.« Obwohl ein wenig Schutt und die welken Blätter des soeben zu Ende gegangenen Sommers auf dem Boden lagen, war das imposante alte Monument nicht in gar so schlechtem Zustand. Man sah, wofür das Geld jener Stadtbewohner ausgegeben wurde, die wie Thalius immer noch genug Bürgersinn be‐ saßen, um sich um ihre Gemeinschaft zu kümmern: Reparaturen an den Dachziegeln, Ausbesserungsarbeiten an Säulen mit Frostrissen. »Aber außer dem göttlichen Claudius ist er jetzt auch Christus geweiht.« Thalius zeigte auf ein labarum, das in einer Ecke stand, das Feldzeichen eines christlichen Soldaten. »Er steht noch«, sagte Audax. »Das ist mehr, als man heutzutage von vielen heidnischen Tempeln behaupten kann.« 227
Seit jenem schicksalhaften und letzten Besuch in Britannien vor all diesen Jahren hatte Konstantin sein Programm der Christianisierung des Reiches kontinuierlich vorangetrieben. Er hatte sich auf ein langes, geduldiges Spiel eingelassen, aber als die Macht der Heiden in den herrschenden Klassen und im Heer immer geringer geworden war, hatte er sich schließlich imstande gefühlt, das Christentum zur Hauptreligion des Imperiums zu erklären ‐ und eine Reformation anzuordnen. Der Reichtum der heidnischen Tempel war der Kirche und der Staatskasse übereignet worden. Audax rieb sich das glatt rasierte Kinn. »An einigen dieser Dinge war ich beteiligt. Es war ein vergleichsweise guter Plan zum Reichwerden, selbst für einen Kaiser, der immer eine Nase für Geld hatte, wie ein Hund für einen Knochen.« Thalius lachte, fuhr jedoch bei dem Schmerz zusammen. »Ganz schön zynisch für einen Soldaten der Leibwache des Kaisers!« Audax zuckte die Achseln. »Man kann realistisch und loyal zugleich sein, oder nicht?« »Stimmt. So wie Tarcho.« »Es überrascht mich nicht, dass der Claudius‐Tempel noch steht. Selbst Konstantin hätte kaum die Anordnung erteilen können, seinen vergöttlichten Vorgängern geweihte Heiligtümer auszurauben ‐ erst recht, wo er selbst zu einem Gott werden soll.« Thalius fiel der Unterkiefer herunter. »Du machst Witze! Nachdem er sein Leben lang das Christentum verbreitet hat? Nun, hier wird es ein populärer Schach 227
zug sein. In Camulodunum haben sie Konstantin immer geliebt. Eine Soldatenstadt, weißt du. Und seine Mutter ‐ sie erwägen, sie zur Schutzheiligen zu ernennen !« »Nun, eins weiß ich sicher. Auf seine Weise war Tarcho ein guter Christ. Und er hätte auf gar keinen Fall hier begraben sein wollen.« »Nein, wahrhaftig nicht«, sagte Thalius. »Komm, statten wir ihm einen Besuch ab.« Sie durchquerten den Tempel, schlängelten sich zwischen den umlagerten Marktständen hindurch und gingen die Hauptstraße der Stadt entlang. Früher eine Achse des Invasorenkastells aus Claudiusʹ Zeit, war sie nun mit Schutt übersät, und die Rinnsteine waren von Schmutz verstopft. Unterwegs sprachen sie über die Folgen jener Nacht, in der Aurelia versucht hatte, den Kaiser zu ermorden, der Nacht, die ihre Geschicke für immer miteinander verbunden hatte. Konstantin hatte überlebt. Sein griechischer Arzt hatte gesagt, die Wunde sei zwar tief gewesen, zum Glück habe die schmale Klinge jedoch alle lebenswichtigen Organe verfehlt. Aurelia selbst, die ihren Fanatismus bis zum Augenblick des Angriffs vor Thalius geheim gehalten hatte, war sofort von den Klingen der kaiserlichen Leibgarde niedergestreckt worden, und das war ihr Ende gewesen. Tarcho hatte Thalius und Audax vor den Wachen abgeschirmt, aber sie waren alle in Haft genommen worden, als die Suche nach Komplizen begonnen hatte. Die verdienst‐ 228
volle Denkschrift, die Thalius unglückseligerweise bei sich getragen hatte, hätte ihn in der fiebrigen Atmosphäre eines paranoiden Hofes den Kopf kosten können. Thalius war immer der festen Überzeugung gewesen, dass Tarcho ihn gerettet hatte, indem er seinen Anklägern aus dem Militär gegenüber energisch die Ansicht vertreten hatte, Thalius sei naiv und unschuldig gewesen ‐ einfach dumm, um das Kind beim Namen zu nennen. Audax hingegen hätte hingerichtet werden können, ohne dass irgendwelche Fragen gestellt worden wären ‐ zumindest hätte ihm die Folter gedroht, denn laut römischem Recht war die Aussage eines Sklaven nur dann gültig, wenn sie unter der Folter gewonnen worden war. Aber wenn Tarcho Thalius gerettet hatte, so war es Konstantin selbst gewesen, der Audax gerettet hatte. In jenen Momenten, als sie in einer Umar‐ mung auf Leben und Tod miteinander verbunden gewesen waren, hatte der Kaiser etwas in dem Sklaven gesehen, was ihm gefiel, und er hatte gelobt, ihn zu beschützen. Als der Aufruhr sich gelegt hatte, hatte Thalius dem Jungen in aller Eile die Freiheit geschenkt und ihn Tarcho überantwortet, dem es seiner Ansicht nach viel besser gelungen war, die Sicherheit des Jungen zu gewährleisten, als er selbst es jemals vermocht hätte. Was Ulpius Cornelius betraf, die andere Hauptfigur des Dramas, so hatte dieser lautstark den Missbrauch seines Vertrauens beklagt und sich in den Schatten des Hofes zurückgezogen, und Thalius hatte ihn 228
nie wiedergesehen. Und er hatte nie erfahren, ob Cornelius ein Komplize bei dem Mordversuch und er selbst der einzige Hintergangene gewesen war.
Tarcho hatte dafür gesorgt, dass das Versprechen des Kaisers eingelöst wurde und Audax die Gelegenheit bekam, das Soldatenleben auszuprobieren. Im Alter von sechzehn Jahren war er in die Grenzgarnison in Banna aufgenommen worden. Bei dem gesunden Essen, unter ärztlicher Aufsicht und dem Ausbildungsregiment der Armee war er sofort aufgeblüht; mit achtzehn hatte er die letzten Spuren des geisterhaft blassen Sklavenjungen abgelegt, den Thalius aus dem Bergwerk geholt hatte. Wie sich jedoch schon sehr bald herausgestellt hatte, war er zu tüchtig, um sein Leben in der Stagnation eines Grenzpostens zu vergeuden. Mit einem Empfehlungsschreiben des Kommandanten von Banna war Audax zu den Einheiten des Feldheeres in Gallien versetzt worden. Danach hatte Thalius ihn nur noch selten gesehen. Bei Konstantins erstem ernsthaftem Zusammenprall mit Licinius, dem Ostkaiser, war Audax noch zu jung für einen Kampfeinsatz gewesen. Konstantin hatte einen Teilsieg errungen; Licinius hatte Gebiete abgetreten, jedoch überlebt. Die entscheidende Kraft‐ probe war zehn Jahre nach Konstantins Besuch in Britannien gekommen, und mittlerweile war Audax alt genug gewesen, um in den Krieg zu ziehen. »Es war großartig, Thalius«, sagte er jetzt. »Wie es heißt, war es der größte Krieg seit einem Jahrhun 229
dert ‐ auf jeder Seite kämpften vielleicht hundertfünf‐zigtausend Mann, und er wütete ein Jahr lang in ganz Europa und Asien, bis Konstantin in der Nähe von Byzantium schließlich den Endsieg errang ...« Audax verzichtete darauf, Thalius irgendwelche Kriegsgeschichten zu erzählen, und der ältere Mann war froh darüber. Der Bürgerkrieg war eine weitere schreckliche interne Vergeudung von Mitteln gewesen, die sicherlich besser gegen äußere Feinde wie die Franken und die Alemannen, neue barbarische Zusammenschlüsse an der Rheingrenze, die Goten an der Donau und die wiederauflebenden Perser im Osten eingesetzt worden wären. Noch während Konstantin gegen Licinius gekämpft hatte, hatten Visigoten die Gelegenheit zur Überquerung der Donau genutzt, sodass Konstantin plötzlich an einer dreihundert Meilen langen Front Krieg hatte führen müssen. Nach Konstantins Sieg über Licinius hatte er Audax zu seiner persönlichen Leibwache geholt, den scholae palatinae. »Du hast mir schon einmal das Leben gerettet«, hatte er den Jungen auf Brigantisch begrüßt. »Deshalb kann ich mich, glaube ich, darauf verlassen, dass du es wieder tun wirst!« So war es gekommen, dass Audax Konstantin beim nächsten großen Abenteuer seiner Regentschaft gefolgt war ‐ dem Umzug nach Osten. Auch in diesem Punkt hatte Aurelia recht gehabt, und jahrzehntealte Gerüchte hatten sich als wahr erwiesen. Der Ort, den Konstantin gewählt hatte, war Byzantium, eine kleine griechische Stadt in Kleinasien ‐ der Ort, wo er den 5M Endsieg über Licinius errungen hatte. Die neue Stadt wurde nur zwei Jahre nach diesem Sieg eingeweiht und nach hektischen Umbaumaßnahmen vier Jahre später zur Hauptstadt erhoben.
»Die neue Hauptstadt muss wundervoll sein.« »Eigentlich nicht«, sagte Audax unverblümt. »Man hat sie in aller Eile aus dem Boden gestampft. Einige der neuen Gebäude sind ziemlich schäbig, und sie hat einiges heruntergekommenes Pack angezogen, das kann ich dir sagen. Immerhin gibt es ein eigenes Forum, einen eigenen Senat und eine kostenlose Getreidezuteilung, genau wie in Rom. Aber sie ist noch nicht Rom!« »Ach, sie wird schon noch wachsen.« Und bald würde der Reichtum aus dem Osten ins Imperium strömen, dachte Thalius betrübt, über Handelsrouten nach Indien und in noch fernere Länder, und niemand würde sich mehr für die Westprovinzen mit ihrer Armut und ihren langen, verwundbaren Landgrenzen interessieren: Es war genau so, wie Aurelia befürchtet hatte. Aber davon sagte er Audax nichts. »Sie ist das Epizentrum des Reiches und wird es tausend Jahre lang bleiben. Und wir haben miterlebt, wie sie gegründet wurde. Ist das nicht wunderbar?« Die Augen des jungen Mannes glänzten. »Du fehlst mir, Thalius. Du hast es wirklich immer wieder geschafft, dass ich die Dinge in einem faszinierenden neuen Licht sehe.« Gerührt nahm Thalius seinen Arm. »Dann müssen wir einander schreiben. Auf diese Weise wird meine 230
verschrobene Fantasie vielleicht dein Leben bereichern, wie deine Kraft und dein Mut stets meines bereichert haben.« Schließlich gelangten sie zu einer kleinen Kirche. Sie war eine von vielen in Camulodunum, ein bescheidener, kastenförmiger Bau mit rechteckigem Grundriss. Aber sie war säuberlich aus den wiederbenutzten Steinen der Ruine eines teuren Hauses errichtet worden, und ein Holzkreuz ragte über ihr Ziegeldach auf. »Am Ende seines Lebens ist Tarcho immer hierhergekommen, um seine Andacht zu verrichten«, sagte Thalius. »Tatsächlich ist diese Kirche aus einer Soldatenkapelle entstanden ‐ hier war früher einmal ein Mithräum, glaube ich.« Audax schien kein Wort herauszubekommen. Dann sagte er schroff: »Und er ist hier begraben?« »In der Kirche. Sein Grab ist nicht gekennzeichnet. « »Ein passender Ort für einen Soldaten.« »Ja. Vielleicht war es für ihn der richtige Zeitpunkt, um von uns zu gehen. Er hat Konstantin stets bewundert, weißt du. Ein >guter Junges hat er immer gesagt. Und er hat gern Berichte über die Vorbereitungen für den Feldzug gegen Persien gehört. Alexanders Traum sei wieder zum Leben erwacht, meinte er. Ich glaube, es hat ihm in gewissem Sinn gefallen, im selben Jahr zu sterben wie ein solcher Mann.« Sanft bohrte er nach: »Nun ist Tarcho tot, und Konstantin auch ‐ was kommt wohl als Nächstes, Audax?« »Mag sein, dass es momentan ein paar Probleme 230
gibt«, sagte Audax mit grimmiger Untertreibung. »Der Feldzug gegen Persien war selbst am kaiserlichen Hof umstritten. Der Osten hat die Römer immer geschlagen, wenn sie zu weit vorgedrungen sind. Und dann ist da die Nachfolge. Konstantins drei
Söhne haben ihre Jugend damit verbracht, einander wie Welpen in einem Sack zu bekämpfen. Ich fürchte, dass es zu Blutvergießen kommt, bevor einer von ihnen den Lorbeerkranz erringt.« Thalius seufzte. »Und das Reich wird weiter geschwächt, während unsere Feinde abwarten und zuschauen. Du musst auf dich aufpassen, Audax.« »Das werde ich tun«, sagte Audax. »Ich spiele mit dem Gedanken, mich auf einen Posten fern vom Hof versetzen zu lassen.« »Das ist klug. Weißt du, manchmal bin ich froh, dass ich nicht mehr jung bin ‐ manchmal erscheint es mir tröstlich, dass ich den Rest des Dramas nicht mehr miterleben werde. Aber vielleicht denkt jeder alte Mann, dass die Welt ebenso rasch verfällt wie sein Körper.« »So darfst du nicht denken.« »Man muss realistisch sein«, ermahnte ihn Thalius. »Aber, Audax ...« Er fragte behutsam: »Was ist mit der Prophezeiung?« Audaxʹ Miene wurde hart. »Ich muss ihr wohl dankbar dafür sein, dass sie mir das Leben gerettet hat. Ich wäre bestimmt in diesem Erdloch verreckt, wenn ihr nicht gekommen wärt, um mich ‐ und sie ‐zu suchen. Aber als ich zum Heer gegangen bin, habe 231
ich mir die Tätowierung auf dem Rücken wegbrennen lassen.« Thalius zuckte zusammen. »Aber die Narben ...« »Die sind mir lieber als das abscheuliche Ding, das vorher dort war. Thalius, glaubst du immer noch, der wahre Zweck der Prophezeiung bestünde darin, das Schicksal der Kirche zu verändern?« Das überraschte Thalius. Seit dem Tag des Mordversuchs hatte er mit niemandem mehr über solche Dinge gesprochen. »Du hast also darüber nachgedacht. « »Ich bin kein Philosoph, weißt du«, erwiderte Audax. »Aber dieses Ding war seit meiner Geburt auf meinen Rücken tätowiert, und auf den langen Feldzügen hatte ich reichlich Zeit, mir Gedanken über seine Bedeutung zu machen. Ich sehe es so: Die Prophezeiung war eine Botschaft, und jemand hat sie geschickt. Aber ob es Gott oder ein Dämon war, oder sogar ein Zauberer ...« »Der Weber«, sagte Thalius leise. »Und wenn Konstantin den Tod gefunden hätte, wäre das Christentum vielleicht nicht ins Reich integriert und die Hauptstadt womöglich nicht nach Osten verlegt worden. Die Geschichte hätte einen anderen Verlauf genommen ‐ die Geschichte der ganzen Welt, für alle Zeit.« »Ja. Nun, wer immer die Prophezeiung geschickt hat, er hat eine bestimmte Absicht damit verfolgt. Die Frage ist, welche. Dieses Akrostichon enthielt christliche Symbole, das A und das O. Könnte es wirklich sein, dass der Absender die Erhebung des Christen‐ 231
tums zur Reichsreligion durch Konstantin verhindern wollte?« »Das habe ich damals wohl geglaubt«, gestand Thalius, »obwohl andere die Prophezeiung und ihre verlorenen Versprechungen von >Freiheit< auf ihre eigene
Weise gedeutet haben. Vielleicht wollte der Weber, was ich immer wollte ‐ seltsamer Gedanke! Jedenfalls hat Konstantin die Kirche erneuert, und dabei ist genau das herausgekommen, was ich befürchtet hatte. Die Bischöfe haben angefangen, alle zu bestrafen, die von der offiziellen Linie abweichen. Die Verfolgten sind Verfolger geworden! Ach, ich glaube, dass die Kirche dank Konstantin ewig leben wird. Es ist nur nicht mehr meine Kirche.« Audax grunzte. »Wenn der Verfasser der Prophezeiung also die Absicht hatte, die Kirche zu >retten<, ist er gescheitert.« »Wirklich? Vielleicht willst du einfach nicht glauben, Audax, dass die gesamte Zukunft von deinen Entscheidungen in jenen schrecklichen Momenten abhing, als du dieses Messer in der Hand hieltest ‐ aber so war es, weißt du. Und bedenke Folgendes.« Ein Schauer überlief ihn, und er verspürte einen ersten, schleichenden Anflug von Furcht. »Wenn die Geschichte um uns herum verändert worden ist, Audax, wenn wir jetzt in der falschen Geschichte leben ‐ woran sollten wir das erkennen?« Audax hatte keine Antwort darauf. »Wirst du deinen Söhnen von der Prophezeiung erzählen?«
5*9 »Nein.« »Das musst du aber«, sagte Thalius mit fester Stimme. »Wir sind eine erstaunliche Familie mit einer erstaunlichen Geschichte. Du würdest ihnen sonst ihre Vergangenheit rauben, ihre Identität. Hier«, sagte er aus einem spontanen Impuls heraus und gab Audax die Schriftrolle mit Claudiusʹ Erinnerungen. »Nimm das. Bewahre es für sie auf, bis sie älter sind. Claudius war ebenfalls eng mit der Prophezeiung verbunden, und vielleicht hilft das dem kleinen Tarcho oder dem kleinen Thalius, die Leerstellen in der Geschichte zu füllen. Wenn dein Thalius so intelligent ist, wie du sagst, weiß er am Ende vielleicht viel mehr über diese seltsame Angelegenheit, als ich ... als jeder von uns jemals wusste. Ich habe die Prophezeiung nie mit eigenen Augen gesehen«, rief er sich wehmütig in Erinnerung, »nicht einmal die wenigen Zeilen, die vielleicht die großen Umwälzungen in unserem Leben beschrieben haben ...« Audax zögerte, dann nahm er die Schriftrolle. »Also schön, Thalius. Ich werde dafür sorgen, dass sie erfahren, dass dies von dir ist.« Er hob den Blick zum bewölkten Himmel und schaute nach dem Sonnenstand. »Es wird Zeit für mich, Thalius. Meine Pflichten ‐ ich muss mich hier mit ein paar Leuten treffen. Wegen der kaiserlichen Erben.« »Ich verstehe«, sagte Thalius. Audax trat zurück und ging wieder auf die belebte Straße hinaus. »Hoffentlich sehen wir uns vor meiner Abreise noch einmal.« 232
»Du weißt ja, wo ich bin ‐ ich gehe heutzutage nicht mehr weit weg.« Aber Audax war bereits in der Menge verschwunden. Thalius, allein, mit leeren Händen, spürte erneut einen stechenden Schmerz in seinem geschundenen Bauch. Mit vorsichtigen Bewegungen wandte er sich ab und machte sich auf den Heimweg. 232
EPILOG 4 1 8 N. C H R .
I Isolde hatte nicht die geringste Lust, mit ihrem Vater nach Britannien zu reisen. Einer der Gründe dafür war, dass die neunzehnjährige Isolde niemanden in Rom kannte, der auch nur bis nach Gallien gereist war, das sich zum großen Teil in den Händen von foederati befand, germanischen »Verbündeten« des Reiches. Über Britannien wussten Isoldes Freundinnen und Freunde lediglich, dass Riesen dort einen mächtigen Wall quer über die schmälste Stelle der Insel errichtet hatten, um herumtollende Ungeheuer fernzuhalten. Unsinn, sagte Nennius, ihr Vater, wie nicht anders zu erwarten. Man merkte, wenn er wirklich zornig wurde, weil ihm dann eine helle Röte in die runden Wangen stieg und sich bis zu der kahl geschorenen Stelle auf seiner Schädeldecke ausbreitete. Britannien sei nur eine Insel, seine Einwohner seien Menschen, keine Ungeheuer ‐ und es gebe zwar einen Wall, aber er sei von Römern und nicht von Riesen erbaut worden. Also wirklich, die britannische Revolution, bei der »armselige Rebellen« sich geweigert hätten, ihre Steuern zu bezahlen, liege noch keine zehn Jahre zurück. Britannien habe sich schon mehrmals vom Imperium gelöst 52-233
und werde zweifellos wieder mit dem Mutterstaat vereinigt, wenn es die Zeit und die Mittel erlaubten. »Und überhaupt«, erklärte er ihr mit einem gewissen maliziösen Frohlocken, »werden wir einen Vetter von mir besuchen, der direkt an dem berühmten Wall lebt. Wir haben einen gemeinsamen Großvater, mein Vetter Tarcho und ich, einen Sklaven, der zu einem Soldaten namens Audax wurde und eine zentrale Rolle in der Geschichte mit der Prophezeiung spielte. Und weißt du, wie es kommt, dass ich dort einen Vetter habe? Weil wir beide, du und ich, selbst Britannier sind, Tochter ‐ ein paar Generationen später, aber trotzdem Britannier ...« Nenniusʹ neuester Plan hatte mit einer Prophezeiung zu tun, wie er sagte, einer verloren gegangenen und nun teilweise wiedergefundenen Prophezeiung, die verkündet worden war, sich aber nicht erfüllt hatte ‐einer Prophezeiung, die vielleicht die Welt geprägt hätte. Er glaubte, dass der Schlüssel zur Rekonstruktion dieses Rätsels und vielleicht sogar zur Wiederentdeckung der Prophezeiung selbst in Britannien lag. Wegen der Sage, die sich mit diesem alten Mann verband, musste Isolde also nun eine Reise über die Grenzen des Imperiums hinaus antreten. Isolde hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass ihr Widerworte nichts nützten. Ihr ganzes Leben war von den Ambitionen ihres Vaters bestimmt worden, und so war es auch jetzt. Doch als sie ein Gallien durchquerten, in dem man nur germanische Worte vernahm, und dann im Ledersegel‐Boot eines blonden sächsischen 233
Händlers mit schlechten Zähnen in See stachen, fühlte sie sich schrecklich verwundbar. Sie war eine schwangere Frau, die nur von einem zerstreuten alten Mann begleitet wurde. Darüber hinaus hob sich ihr Magen jedes Mal, wenn das Boot rollte und schaukelte. Der Händler bot ihr eine Arznei an, einen kalten Tee aus germanischen Kräutern, aber Nennius untersagte ihr, ihn auch nur zu probieren. Sie versuchte sich einzureden, dass sie bei ihrem Vater in Sicherheit war, aber das hatte sie schon als kleines Kind nicht geglaubt. Dafür schenkte er ihr einfach nicht genug Aufmerksamkeit. Isoldes Mutter war jung gestorben, und sie selbst hatte schon als kleines Mädchen gesehen, wie weltfremd Nennius war. Er mochte ein geachteter Denker und Mönch sein, berühmt für seine Freundschaft mit dem großen Theologen Pelagius, aber es gab Tage, an denen er seine Hose nicht richtig herum anziehen konnte. Tatsächlich war Isolde mit dem Gedanken groß geworden, dass sie in ihrer Beziehung die Erwachsene war. Isolde war ihm für kurze Zeit entronnen, als sie einen jungen Mann namens Coponius geheiratet hatte, der aus einer alten Römerfamilie stammte. Aber sein gutes Aussehen hatte über seine schlechte Konstitution hinweggetäuscht. Nur einen Monat, nachdem Isolde festgestellt hatte, dass sie schwanger war, war er ihr von einer der hässlichen kleinen Seuchen entrissen worden, die in den letzten Jahren an der römischen Bevölkerung genagt hatten. Deshalb war Isolde nichts 52-234
anderes übrig geblieben, als zu ihrem Vater nach Hause zurückzukehren, eine neunzehnjährige Witwe mit einem Kind unter dem Herzen. Nennius war keineswegs herzlos; Isolde wusste, dass ihr Vater sie liebte. Aber da er immer dem einen oder anderen Traum nachhing ‐ und jetzt geradezu platzte vor Entschlossenheit, diese außergewöhnliche Reise quer durch die bekannte Welt zu unternehmen ‐, war in seinem Kopf kein Platz für Isolde. Das Boot landete bei einem Ort namens Rutupiae, wo ein grimmig aussehendes Kastell über einem guten Naturhafen aufragte. Das Kastell hatte schon bessere Zeiten gesehen. Seine ausgeklügelten Schutzgräben waren von Müll verstopft, und die Blendsteine seiner massiven Mauern zerbröselten unter dem Angriff der ätzenden Meeresbrise. An manchen Stellen sah es so aus, als wären sie herausgebrochen und entwendet worden. Nennius war aufgeregt, denn hier, so behauptete er, hätten die römischen Invasoren vor Jahrhunderten zum ersten Mal den Fuß auf die Insel gesetzt. Der einzige Römer aus solchen unvordenklichen Zeiten, von dem Isolde jemals gehört hatte, war Julius Caesar, und als sich herausstellte, dass nicht er es gewesen war, der Britannien erobert hatte, verlor sie das Interesse. Jedenfalls gab es hier jetzt keine Kaiser, aber dafür wimmelte es von Sachsen. Diese Germanen, die in Ansammlungen kleiner Holzbauten außerhalb der Wall‐und Grabenanlage des Kastells lebten, wickelten den spärlichen Handelsverkehr mit dem Kontinent ab. 234
Das alte Kastell, das errichtet worden war, um ihre Piraten‐Vorfahren zu vertreiben, nutzten sie als Lager und Aufbewahrungsort, und wie in Gallien hörte man auch hier nur germanische Sprachen. Isolde und ihr Vater entdeckten eine kleine Holzkirche an der nordwestlichen Ecke des Kastells, in der es einen hübschen Taufstein aus wiederverwendeten roten römischen Dachziegeln gab. Sie sprachen Dankgebete für ihre bisher ohne Zwischenfälle verlaufene Reise. Dann kehrten sie zu dem kleinen Kai zurück und standen unsicher beieinander, während der Händler sein Boot entlud. Die Sachsen sahen in Isoldes Augen sehr ungewöhnlich aus. Viele von ihnen waren blond und blauäugig. Die Männer Schoren sich die Haare über der Stirn und ließen sie am Hinterkopf wachsen, sodass ihr Gesicht lang wirkte, wie das eines Wolfes. Scharen von Kindern rannten in der Holzhüttensiedlung herum. Vielleicht waren ihre Väter Piraten gewesen, aber die Menschen hier waren eindeutig Einwanderer, die nirgends anders hinwollten. Allerdings trug jeder Erwachsene ein Messer an der Hüfte; selbst einige der älteren Kinder hatten Waffen. Isolde war erleichtert, als sich ein junger Mönch durch die Menge drängte, um sie zu begrüßen. Ebenso wie Nennius trug er ein sc hlichtes Gewand aus schwerem braunem Tuch, zugebunden mit einem Seilgürtel. Er war jung, wohl nicht viel älter als Isolde. Aber seine streng geschnittene Tonsur kam Isolde ziemlich altmodisch vor, obwohl sie keine Expertin für Mönchs 235
moden war. Sein Name sei Dämon, sagte er. »Ich bringe Grüße vom Bischof von Camulodunum, und ich bin hier, um euch dorthin zu begleiten.« »Ach, wie freundlich, wie zuvorkommend«, brabbelte Nennius. »Mein bisheriger Briefwechsel mit Bischof Ambrosius war schon eine große Freude, und das Geschenk seiner Gastfreundschaft wird uns bestimmt höchst willkommen sein ...« Dämon führte sie zu einer einfachen, aber gedeckten und zweckdienlichen Kutsche. Er hatte einen Mann dabei, einen ungehobelt wirkenden Diener, der für einen Sklaven zu mürrisch war; er schleppte das Gepäck der Besucher vom Kai zum Wagen. »Der Bischof lässt euch ausrichten«, fuhr Dämon fort, »dass die Ehre ganz auf seiner Seite liegt. Jeder Freund von Pelagius ist in seinem Palast willkommen.« ‐ Nennius nickte. »Britannien ist eine Art Zuflucht für uns Pelagier geworden, fürchte ich. Aber schließlich ist Pelagius hier geboren; er ist einer von uns.« »Vielleicht habt ihr die neuesten Gerüchte noch nicht gehört«, sagte Dämon vorsichtig. »Über Pelagiusʹ Exkommunikation durch Papst Zosimus? Welch ein Triumph für Augustinus und seine Leute.« »Bischof Ambrosius tröstet uns damit, dass die Wahrheit und das Gute am Ende den Sieg davontragen werden«, sagte Dämon honigsüß. Während sie sich unterhielten, gingen sie zur Kutsche. Isolde fühlte sich blutleer und kraftlos; ihr war sogar ein wenig schwindlig, aber ihr Vater kümmerte 235
sich natürlich nicht um sie, ebenso wenig wie Dämon, der junge Mönch, und niemand half ihr.
Die Sachsen waren mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt und beachteten sie nicht weiter, als sie an ihnen vorbeikamen. Die Schulterriemen der Frauengewänder waren mit Spangen befestigt, sie hatten Ärmelschließen um die Handgelenke und trugen Gürtel um den Leib, von denen seltsame Glücksbringer aus Metall wie große Schlüssel herabhingen. Isolde fand Gefallen daran, und die Metallarbeiten schienen von guter Qualität zu sein. Ob sie wohl an irgendwelchen Märkten Halt machen würden, wo sie ein paar Einkäufe tätigen konnte? 236
II Die Reise nach Camulodunum würde zwei Tage dauern. Die drei saßen in Dämons Kutsche, während der Diener schweigend vor ihnen herging und die Pferde führte. Um aus dem Hafengebiet herauszukommen, mussten sie einen Zoll in römischer Währung an einen fetten, behaarten Sachsen entrichten. Isolde wollte wissen, wer den Zoll erhob, und der junge Mönch erklärte, dass die Regierungen der vier britannischen Provinzen nach wie vor funktionierten und Steuern eintrieben ‐ wenn auch nicht mehr im Ausmaß der »alten Zeiten«, wie er sie nannte, vor der britannischen Revolution und der Vertreibung der Steuereinnehmer der Diözese, einer Revolte, die stattgefunden habe, als er, Dämon, ungefähr fünfzehn gewesen sei. Außerhalb des Hafengebiets war die Reise nicht gerade angenehm. Die Straße, auf der sie fuhren, sei eine der ersten jemals in Britannien gebauten Römerstraßen, erklärte ihr Vater. Wenn das stimmte, war sie sehr alt, und sie war ziemlich heruntergekommen. Man sah, wo Pflastersteine herausgebrochen worden waren, und da niemand die Schäden behoben hatte, gab 236-
es jede Menge Schlaglöcher, die Isolde schmerzhaft durchrüttelten. Einmal musste der Diener die scheuenden Pferde beruhigen. Mit dürftigen Worten erklärte er, in dem verstopften Abflussgraben liege ein Toter; Fliegen, die von dem verwesenden Leichnam aufstiegen, hätten die Tiere erschreckt. Isolde wandte den Blick ab und bemühte sich, flach zu atmen. Das Land selbst war still. Es war eine Landschaft aus Bauernhöfen, Feldern mit Steinmauern und kleinen Holzhäusern. Sie sah sogar ein paar prächtige Bauernhäuser mit Ziegeldach, umschlossen von abweisenden Mauern. Aber viele davon standen offenkundig leer, sie waren verrammelt oder sogar niedergebrannt, und etliche Felder waren eindeutig verlassen, ihre vom Regen erodierten Furchen erstickten im Unkraut. Nur selten sah Isolde jemanden, der den Boden bestellte. Nennius machte Dämon gegenüber eine entsprechende Bemerkung. »Das liegt an den Sachsen«, sagte der junge Mönch. »Hier gibt es zu viele von ihnen. Deshalb packen die Leute ihre Sachen und ziehen in die Städte oder zu Verwandten weiter westlich oder nördlich, oder nach Gallien. Selbst die Reichen haben alles verkauft, wenn sie konnten, und sind verschwunden.« Leise fügte er hinzu: »Die Sachsen sind Heiden, wisst ihr. Wir kommen nicht gut miteinander aus.« Isolde fragte sich, welche Spannungen sich hinter diesen schlichten Sätzen verbargen.
Am Abend des zweiten Tages erreichten sie Camulodunum. Die Stadt selbst lag hinter massiven Mau 237 ern; sie ähnelte eher einer gewaltigen Festung als einer Stadt. Und auf den wogenden Feldern außerhalb der Stadt und am Fluss waren weitere Sachsen ‐ sehr, sehr viele, Krieger mit ihren Pferden, Frauen und Kindern; sie hausten in Zelten oder in Ansammlungen kleiner Holzhütten, die sie zum Teil in der Arena eines aufgegebenen Zirkus errichtet hatten. Beklommen durchquerten die Reisenden dieses weitläufige Lager an der alten Römerstraße. Es war fast, als belagerten die Sachsen die Stadt. Dämon beruhigte sie, dass sie nichts zu befürchten hätten, die Sachsen seien Söldner und von den Stadtbewohnern zu ihrem Schutz angeheuert worden. Isolde zweifelte nicht daran, dass es nützlich war, diese wild aussehenden Krieger auf ihrer Seite zu haben. Aber sie fragte sich, was geschehen mochte, wenn das Geld, mit dem sie bezahlt wurden, irgendwann einmal ausging. Sie gelangten durchs Westtor in die Stadt. Es war ein großer doppelter Torweg, fast zur Gänze von Steinbrocken versperrt, sodass immer nur eine Person hindurchgehen konnte. Ein Soldat in arg ramponierter Rüstung stand dort und trieb weitere Zölle ein, diesmal für die Kurie, den Stadtrat. Isolde war froh, die trostlose, menschenleere britannische Landschaft hinter sich lassen zu können und in die Stadt zu kommen. Aber dies war nicht Rom. Die Stadt in ihren Mauern war eine Schüssel voller Schutt, eine zerstörte Landschaft aus baufälligen Häusern, von Unkraut überwucherten Gärten und verschlammten 237 Gräben. Die Badehäuser waren geschlossen, das Theater war eine mit Trümmern gefüllte Müllkippe, und selbst auf der Hauptstraße versank man bis zu den Knöcheln im Dreck. Es gab keines der öffentlichen Gebäude, die sie in einer Stadt von dieser Größe erwartet hätte, und wenn doch, dann wurden sie für andere Zwecke genutzt. Die wenigen prachtvollen Häuser waren zumeist verlassen, und als sie daran vorbeikamen , sah Isolde Kochfeuer auf Mosaikböden. Dämon erklärte, dass die Armee in den dunkelsten Tagen der Barbareneinfälle und des Banditentums ihre Waffenwerkstätten, Depots und Viehgehege in den Schutz der Stadtmauern verlegt hatte. Darum war die Stadt erneut zu einer Festung geworden , so wie Jahrhunderte zuvor, zu Beginn ihrer Existenz. Jetzt war die römische Armee natürlich fort, aber die Sachsen und andere Söldner benutzten immer noch die von ihr hinterlassene Infrastruktur. Innmitten der dachlosen Gebäudehülsen, der Schutthalden und Abwasserseen gab es jedoch funktionierende Amtsräume, in denen der Stadtrat oder die Prov inzregierung immer noch Steuern einnahm, Frondienste organisierte und Recht sprach. Und Camulodunum schien voller kleiner, aber massiver Kirchen aus wiederverwendeten Steinen und Ziegeln zu sein, die sich aus dem allgemeinen Müll erhoben wie Pilze aus dem Kompost. »Hier gibt es mehr Kirchen als Menschen«, scherzte Nennius wehmütig . Dämon suchte sich gut gelaunt seinen Weg auf der von Müll übersäten Straße. Für ihn war das alles nor
238 mal. Für Isolde und Nennius jedoch stank der ganze Ort wie der riesige Abfallhaufen, der er war. Und es gab so wenige Menschen, dass Isolde sich wie ein Kind vorkam, das durch ein riesiges, von den Erwachsenen verlassenes Haus schlich. Der Bischofspalast war eines der imposanteren Gebäude, ein ungefähr (dreißig Jahre altes Stadthaus im pseudo‐klassischen Stil mit separaten Blocks, die um ein Atrium angeordnet waren. Isolde erfuhr, dass es einst einem Steuerbeamten der Diözese gehört hatte. Bischof Ambrosius empfing sie persönlich. Er trug ein bodenlanges, kostbares purpurrotes Gewand und war ungefähr in Nenniusʹ Alter, sah jedoch trotz seines zurückweichenden silbernen Haars aus, als könnte er immer noch einen kräftigen Schlag führen. Als er Isoldes Hände nahm, fasste sie zum ersten Mal wieder Mut, seit sie und ihr Vater Rom verlassen hatten. Nach zwei Tagen auf der Straße waren sie alle verschwitzt, schmutzig und hungrig, und der Gestank der Stadt hing selbst hier in der Luft. Es gab kein Badehaus, aber eine Bodenheizung und warmes Wasser, und nachdem Isolde eine Stunde lang in ihren Duftwassern und Cremes geschwelgt hatte, fühlte sie sich fast wieder wie ein Mensch. Sie betrat ein großes, gut eingerichtetes triclinium und gesellte sich zu ihrem Gastgeber und seinen Gästen. Das Mahl, das man ihnen auftischte, bestand aus sehr viel Fleisch, größtenteils vom Lamm und vom Schwein, aber es gab auch Olivenöle, Datteln und ein ziemlich gutes Fischöl, Importe vom Kontinent, die
238 dem Bischof zufolge heutzutage ein Luxus waren. Allerdings fehlte Wein, und Ambrosius entschuldigte sich dafür, dass er ihnen wässriges britannisches Bier vor‐ setzte, aber es war stark genug, um Isoldes Blut zu wärmen. Ihr Vater, der ihre Anwesenheit wie üblich vergessen zu haben schien, machte keinerlei Anstalten, sie ins Gespräch einzubeziehen, und Dämon tat es ebenso wenig. Aber der Bischof war freundlich zu ihr, und sein Diener, ein anderer junger Mönch, umsorgte sie aufmerksam. Während die von der Reise herrührenden Beschwerden im Lichtschein des niedrigen Feuers allmählich nachließen und verschwanden, begnügte sich Isolde damit, das Gespräch über sich hinwegspülen zu lassen. Ambroisus und Nennius waren Kirchenmänner ungefähr gleichen Alters, beide Ende fünfzig, einer aus dem Herzen des Imperiums, der andere aus dessen nunmehr amputiertem Arm, und sie hatten turbulente Zeiten erlebt. Und wie alle Männer ihres Alters glaubten sie, dachte Isolde zärtlich, dass die Welt seit einem goldenen Zeitalter, das ein paar Jahrzehnte zurücklag, im Niedergang begriffen war. Eine Generation nach Konstantin geboren, der jetzt »der Große« hieß, sprachen sie ehrfurchtsvoll von dem ersten christlichen Kaiser, dessen Amtszeit eine vergleichsweise friedliche Phase gewesen war. Doch in der gesamten bekannten Welt herrschte schlechtes Wetter. Selbst im Imperium begannen die gewaltigen Weizen‐ und Hirseernten auszufallen, die
239 Nahrungsgrundlage der großen Stadtbevölkerungen. Und im Gefolge der ersten Hungersnöte unter den Barbaren kamen Flutwellen von Flüchtlingen aus dem Innersten Asiens und schwemmten andere vor sich her, die umso unnachgiebiger gegen die Grenzen des Reiches brandeten. Konstantin hatte die Grenze stabilisiert, indem er Barbarenvölkern erlaubt hatte, innerhalb des Reiches neue Heimatländer zu gründen ‐ und das waren enorme Menschenmengen, zum Beispiel nicht weniger als dreihunderttausend Sarmater. Diese »Föderationspolitik« brachte eine Weile Frieden, rief jedoch auch erhebliches Murren hervor, weil viele sich fragten, ob das Imperium solch einen gewaltigen Zustrom verkraften konnte. Auch mit den Barbaren in Britannien gab es Probleme. Als Ambrosius ein Junge von fünf Jahren gewesen war, hatte es eine »barbarische Verschwörung« gegeben, eine große Invasion aus mehreren Richtungen zugleich: Die Pikten waren über den Wall gekommen, die Skoten, Iren und Sachsen übers Meer. Ein ganzes Jahr lang hatten Chaos und Anarchie geherrscht. Ambrosius sagte, er und seine Angehörigen hätten sich innerhalb der Stadtmauern eingeigelt, während die Jungen einander grauenerregende Geschichten über die kleine Kinder fressenden, fremden Wilden erzählten, die im Land umherschweiften. Gleichzeitig trug der auf Konstantins Tod folgende Bruderkrieg unter seinen drei rivalisierenden Söhnen neue Unruhe ins Herz des Reiches. Britannien brachte 239 Usurpatoren wie Magnentius hervor, der einen von Konstantins Söhnen tötete, nur um bei Mursa in Pannonien einem anderen zu unterliegen. Das Imperium wurde erneut zu einer Arena des Konflikts zwischen starken Männern und ihren Armeen. Als Konstantins Verträge dann von einer Barbarengruppe, den Visigoten, gebrochen wurden, führte der jahrzehntelang vor sich hin köchelnde Konflikt schließlich zur Schlacht bei Adrianopolis ‐ einer Schlacht, die die Römer verloren und die einen schrecklichen Blutzoll unter ihnen forderte. Die Zeiten hatten sich geändert, das geschwächte Reich konnte sich solche Aderlä sse nicht mehr leisten, und nach Mursa und Adrianopolis war es dem römischen Heer nicht mehr gelungen, seine a lte Stärke wiederzuerlangen. Die Kaiser nahmen barbarische Verbündete in ihre Truppen auf, und noch mehr fremde Völker siedelten sich Konstantins Präzedenzfall folgend innerhalb der Grenzen an, doch nun verlief der Prozess fast völlig unkontrolliert. Auf diese Weise wurde das Heer barbarisiert und das Reich durch fremde Gemeinwesen ausgehöhlt. Die Britannier fühlten sich zunehmend ungeschützt, und ihre Elite und das Offizierskorps brachten einen Usurpator nach dem anderen hervor ‐ ungefäh r einen pro Generat ion, weil junge Rebellen davon träumten, alles besser zu machen als ihre Väter. Und jeder dieser Usurpatoren setzte unmittelbar nach seinem Machtantritt auf den Kontinent übe r und nahm noch mehr Soldaten aus der britannischen Garnison mit. Einer
240 mit dem imposanten Namen Magnus Maximus ‐ »der Große, der Größte« ‐ tötete einen anderen Kaiser und genoss die zweifelhafte Ehre, als erster westlicher Herrscher die Hinrichtung eines christlichen Häretikers befohlen zu haben. Aber die Soldaten, die bei jeder fehlgeschlagenen Rebellion und jeder offiziell angeordneten Versetzung zur Stärkung des Zentrums aus der britannischen Garnison abgezogen wurden, kamen nicht mehr zurück. Und als die Armee als Druckmittel der Steuereinnehmer ausfiel, brach das Steuersystem allmählich zusammen. Die Menschen horteten ihre Münzen in der Hoffnung auf bessere Zeiten, und es bildete sich eine Tauschwirtschaft heraus. Die sinkende Nachfrage löste jedoch großes Elend aus, und Ambrosius, damals noch ein junger Priester, nahm sich der hungernden Armen an. Dann überquerte an einem Silvesterabend eine gewaltige Horde von Alanen, Sueben und Vandalen den zugefrorenen Rhein und drang nach Gallien und Iberien vor. Britannien war abgeschnitten. Die finanziellen Zuwendungen aus den Schatzkammern des Zentrums, mit denen die verbliebenen britannischen Truppen bezahlt wurden, versiegten. Zwar flatterte noch die Standarte des Imperiums über den Kastellen und Städten, aber unter ihr war nicht mehr viel von der römischen Armee übrig. Nach einer Abfolge blutiger, pan ischer Staatsstreiche stellte ein Heerführer von niedriger Geburt, der sich als »Konstantin der Dritte« titulieren 240
ließ, eine weitere zerlumpte Armee auf und setzte wie seine Vorgänger sofort auf den Kontinent über. Konstantin war der letzte Würfelwurf, der letzte britannische Versuch, Britannia zu retten. Als Konstantins Niederlage auf fremden Schlachtfeldern nur noch eine Frage der Zeit war, gab es einen weiteren Wendepunkt. Diesmal erhoben sich nicht das Offizierskorps und die herrschende Elite in den Städten, sondern die vergleichsweise Armen und Niederen. Was hatte es für einen Sinn, sich von einem Zentrum, das eher Usurpatoren hervorbrachte, als die Barbaren fernzuhalten, durch Steuern auspressen zu lassen? Nachdem die Revolte einmal ausgebrochen war, breitete sie sich wie ein Lauffeuer aus. Die Steuereinnehmer wurden aus ihren Schreibstuben und luxuriösen Stadthäusern geworfen, und dann wandten sich die christlichen Armen gegen die immer noch heidnischen Reichen. Die Regierung der Diözese brach zusammen. Die mittleren Beamten in den Städten und den vier Provinzregierungen schlossen sich den Rebellen an und legitimierten und organisierten den Aufstand. Diese »britannische Revolution« lag noch keine zehn Jahre zurück, und Isolde glaubte, in der ruhigen Stimme dieses Kirchenmannes den Stolz auf die Ereignisse herauszuhören. Nicht, dass nun alles vollkommen gewesen wäre. Die vier Provinzregierungen hatten angefangen, unabhängige Armeen aufzubauen, die meist aus germanischen Söldnern bestanden. Aber die Zivilisation war gerettet worden, bis der Tag kam, der kommen musste, an dem Britannien erneut mit dem 240
Zentrum der römischen Welt wiedervereinigt wurde, zu der es immer gehört hatte.
»Und es war ein Kampf um Freiheit.« Nennius freute sich mit einer Revolutionsbegeisterung ‐ so dachte Isolde ein wenig säuerlich ‐, wie sie nur ein recht gut im Futter stehender alter Mann weitab vom Geschehen aufbringen konnte. »Ist das nicht eine uralte Tradition in Britannien? Man könnte sogar sagen, das Werk von Pelagius ist davon durchdrungen.« »Oh, lass das nicht Augustinus hören ...« Isolde hatte Pelagius einmal getroffen, als kleines Mädchen. Er war in Britannien geboren und ungefähr zehn Jahre älter als ihr Vater, und obwohl er kein Kleriker war, hatte er überzeugende Ansichten darüber entwickelt, welche Richtung die römische Kirche einschlug, die er für korrupt, unmoralisch und träge hielt. Und er hatte erhebliche Einwände gegen die Lehren von Augustinus vorgebracht, einem Bischof aus Afrika, der die Meinung vertrat, die Menschen seien von Geburt an mit fundamentalen Fehlern behaftet und ihre Handlungen hingen von Gottes Willen ab. Pelagius hingegen bestand darauf, dass die Menschen im Grunde gut und selbst für ihre moralische Entwicklung verantwortlich seien. »Aber eine Kirche freier Männer und Frauen kann vom Zentrum nicht kontrolliert werden und eignet sich darum nicht für eine imperiale Religion«, sagte Nennius düster. »Vielleicht wird die römische Kirche in Zukunft mit allen Pelagiern so verfahren wie mit Pelagius selbst ... Stell dir das vor, Ambrosius! Ex 241
kommuniziert, weil er behauptet hat, dass die Menschen einen freien Willen besitzen! Was ist nur aus der Welt geworden? Und welchen Weg nimmt unsere Kirche?« »Die Frage ist, welchen Weg nimmst du, mein Freund«, sagte Ambrosius mit sanftem Humor und schenkte Bier nach. »Bist du immer noch entschlossen, deinen Vetter am Wall aufzusuchen? Das wird keine leichte Reise.« »Nein. Aber wie ich dir geschrieben habe, ist es ein Traum von Freiheit, der mich dorthin zieht. Pelagius würde es gutheißen! Ein Traum, oder vielmehr ein Hinweis, ein verlockender Hinweis auf eine bessere Zukunft ...« Und er begann, von einer Familiensage und von fragmentarischen Prophezeiungen zu sprechen, von Kaisern und historischen Ereignissen. Für Isolde näherte sich der Abend jedoch dem Ende. Erschöpft von der Reise, mit Speisen, Getränken und dem sanft schlummernden Kind im Bauch, entschuldigte sie sich und ging zu Bett. Die alten Männer unterhielten sich leise weiter, während der junge Dämon, der am Feuer kauerte, so aufmerksam zuhörte wie ein junger Hund vor seinem Herrn.
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III Für Isolde war die lange, mühselige Reise nach Norden zum Wall, am Rückgrat dieser tristen Insel entlang, eine wahre Tortur. Auf schlechten Straßen passierten sie eine schäbige ummauerte Stadt nach der anderen, und jedes Mal, wenn sie unsichtbare Provinzgrenzen überquerten, mussten sie weitere Zölle entrichten.
Isolde war von den wogenden Schmerzen ihres Körpers derart in Anspruch genommen, dass sie die Veränderungen im Charakter der Landschaft kaum wahrnahm, von den wogenden Kalkhügeln des Südens mit ihren verlassenen Gehöften und befestigten Landhäusern zum zerklüfteteren Norden mit seinen abweisenden Kastellen. Aber je weiter nördlich man kam, desto weniger Sachsen sah man. Vielleicht hatten die Menschen im Norden andere Möglichkeiten gefunden, auf sich aufzupassen. Schließlich gelangten sie zum Wall. Obwohl der Anstrich verblichen war und man hier und dort auf primitive Weise ausgebesserte Schäden sah, war der Wall noch heil und sehr eindrucksvoll, und seine mächtigen Linien zogen sich über die schmälste Stelle des Landes.
242 Und der Wall war bemannt. Nennius wandte sich nach Westen; sein Ziel war ein Kastell namens Banna. Bald erreichten sie ein Meilen‐Kastell, wie Nennius es nannte; das Tor war mit Steinen blockiert. Zwei schmutzige Soldaten in wollenen Tuniken hielten sie an, um weitere Zölle aus ihnen herauszupressen. Den Soldaten zufolge unterstand die gesamte Linie des Walls dem Befehl des »Herzogs der britannischen Provinzen«. Die Soldaten gaben ihnen eine Quittung, die auf ein Holztäfelchen gekritzelt war, damit sie keine weiteren Zölle entrichten mussten. Isolde fand den Wall und seine Soldaten, sogar den Vorgang des Zöllezahlens, beruhigend vertraut. Lieber diesen Anschein römischer Lebensweise spüren, als wie im Süden für seinen Schutz auf die Horden blonder barbarischer Krieger angewiesen zu sein. Über den verwitterten Steinen der Meilen‐Kastelle war jedoch keine Standarte errichtet; hier flogen keine Adler. Sie fuhren weiter nach Westen, vorbei an weiteren Meilen‐Kastellen und Wachtürmen, bis sie schließlich Banna erreichten. Das Kastell breitete sich am oberen Rand eines eindrucksvollen Steilhangs aus, und im Süden schlängelte sich ein Fluss mit strahlend hellen Kiesufern durch bewaldete Gebiete. Die Nordmauer des Kastells fügte sich in di e Linie des Walls ein. Außerhalb der Kastellmauern standen Häuser und andere Bauten , aber sie sahen verlassen aus, ihre Dächer fehlten, und die Lehmwände sanken wieder in die Erde. 242 Sie fuhren durch einen Torweg in der Ostmauer. Die diensthabenden Soldaten ließen sie durch, nachdem sie einen kurzen Blick auf die Quittung des Meilen‐Kastells und einen Transitbrief geworfen hatten, den Nennius von seinem Vetter Tarcho, dem hiesigen Kommandanten, bekommen hatte. In dem Kastell wimmelte es von Menschen, und es herrschte reges Leben und Treiben; Männer, Frauen und Kinder gingen ihren Angelegenheiten nach. Die zivile Siedlung draußen mochte verlassen sein, aber die Menschen waren nicht fortgegangen, sondern nur hinter die Mauern des Kastells umgezogen. Und die Soldaten waren offenkundig immer noch hier. Isolde erkannte einen Getreidespeicher, dessen Boden zu Belüftungszwecken erhöht war, einen zweiten Getreidespeicher, der leer zu stehen schien, und kl otzige Gebäude, vielleicht das Hauptquartier des Kastells. Manche der Gebäude waren recht
eindrucksvoll, groß und aus Stein errichtet. Viele waren jedoch baufällig, mit eingestürzten Dächern, und in ihren Mauern fehlten Steine, die offensichtlich gestohlen worden waren. Nennius war aufgeregt. Einst hätten ihre fernen Vorfahren hier gelebt, sagte er. Er wisse das, weil sein Großvater, Audax, ihm erzählt habe, dass die berühmte Prophezeiung hier in Banna das Licht der Welt erblickt habe. Aber von jener verlorenen urtümlichen Heimat war in diesem verfallenden Kastell keine Spur zu sehen, und selbst Nenniusʹ nostalgische Begeisterung erlahmte bald. 243 Zu Isoldes Überraschung wurden sie zu dem intakten Getreidespeicher geführt. Als sie hineingingen, stellte sie fest, dass er in eine Halle umgewandelt worden war; hölzerne Trennwände unterteilten den Innenraum. In dem Gebäude roch es jedoch immer noc h nach Landwirtschaft, fand Isolde, ein trockener, stec hender Geruch von Getreide, das hier einst aufgehäuft worden war, um Hunderte inzwischen längst toter Soldaten zu ernähren. Sie wurden von Nenniusʹ Vetter Tarcho, dem Kommandanten von Banna, und seiner Frau Maria empfangen. Tarcho, augenscheinlich im selben Alter wie Nennius, in den Fünfz igern, war ein großer, schwerer, etwas dicklicher Mann mit borstigem Schnurrbart und hellen, rotblonden, grau melierten Haaren. Er trug die Insignien eines römischen Soldaten einschließlich eines hübschen Offiziersgürtels, aber auch ein e Schulterspange und einen Gurt voller Messer, wie ein Sachse. Seine Frau, eine pummelige Kugel aus Energie und Geschäftigkeit, trug ebenfalls silberne Ärmelschließen, wie Isolde mit leisem Neid bemer kte. Die Sachsen selbst waren noch nicht in großer Zahl bis hierher vorgedrungen, ihre Mode aber offenbar schon. Nennius begrüßte Tarcho überschwänglich. Für ihn näherte sich eine lange Suche ihrem Ende. Für Isolde war es jedoch nur ein weiterer Tag ihrer Schwangersch aft, und ein langer, harter Tag obendrein. Maria sah es und nahm Isolde sofort unter ihre Fittiche. »Oh, meine Liebe, ich weiß genau, wie du dich fühlst. Kein Wunder, ich hatte selber fünf, alles Jun
243 gen, alle so dick wie ihr Vater, und schau ihn dir nur an. Komm«, sagte sie und nahm Isolde am Arm, »mal sehen, ob wir in dieser armseligen Soldatenhütte ein bequemes Plätzchen für dich finden ...« Sie führte Isolde zu einem kleinen, abgeschiedenen Raum mit einer Liege und Kissen und brachte ihr warmes Wasser in einer Schüssel. Ihre Handfläche war rau, ihr Griff fest, die Haut trocken, die Hand einer Arbeiterin. »Ich weiß, du bist weit weg von zu Hause«, sagte Maria, »und du hast bestimmt Angst. Aber dein Vater und mein Mann sind Vettern, also bist du hier bei deiner Familie, nicht wahr? Und glaube mir, du bist hier besser aufgehoben als irgendwo sonst. Die Soldaten hatten schon immer die besten Ärzte. Du wirst in guten Händen sein, das verspreche ich dir.« »Danke«, sagte Isolde aufrichtig. Es war eine gewaltige Erleichterung, nicht ausschließlich auf ihren Vater angewiesen zu sein.
Der Tag neigte sich bereits dem Ende entgegen. Sie legte sich hin und schlief eine Weile, um vor dem Abendessen wieder zu Kräften zu kommen. An diesem Abend gesellte sich Isolde als Letzte zu den anderen. Sie hatten sich im größten Raum der Getreidespeicher‐Halle versammelt, der wie ein römisches triclinium mit Liegen um einen kleinen Tisch in der Mitte eingerichtet war. Nennius ließ sich über die Politik in Rom aus. Vor ihm auf dem Tisch lag eine kleine Ledertasche. Isolde wusste, dass sie Dokumente enthielt, die etwas mit dem Zweck seiner Reise zu tun hatten ‐ der Suche nach der Prophezeiung, wie er
244 sie nannte, die vor so langer Zeit verloren gegangen war. Isolde hatte das Gefühl, als wäre ihr Bauch schwerer denn je. Sie ließ sich auf einer der Liegen nieder. Die Lampen und Kerzen tauchten den Raum in ein recht freundliches Licht, und die Speisen ‐ Fleisch, Brot und gedünstetes Gemüse ‐ wärmten und waren genießbar, selbst wenn ihnen für Isoldes Geschmack ein wenig Würze fehlte. Diese Ecke des alten Getreidespeichers war auf zwei Seiten von unverputzten Mauern eingefasst, in die man Löcher geschlagen hatte, um Fenster einzusetzen. Es war ein Arbeitsraum, eine Art Schreibstube mit Schreibtischen, auf denen sich Schriftrollen und Tafeln häuften. In dem Durcheinander auf den Schreibtischen blitzten hier und dort christliche Symbole auf ‐ ein Bronzefisch, ein chi‐rho‐ Medaillon. Und die Papiere auf Tarchos Schreibtisch waren mit einer Steinfigur beschwert, einer liegenden Frau, die man blau angepinselt hatte, in der Farbe der Jungfrau Maria. Isolde erfuhr später, dass es eine viel ältere, von einem Soldaten gefertigte Statue war, die eine örtliche Göttin na‐ mens Coventina darstellte, von der man nur noch den Namen kannte; durch die Bemalung hatte man nun eine Muttergottes aus ihr gemacht. Doch trotz dieser Spuren von Zivilisation, von Religion und Kultur hatte der Ort etwas Brutales an sich, fand Isolde. Etwas Unzivilisiertes. An den Wänden hingen Rüstungen und Waffen neben den Köpfen von Tieren: Hirsche, ein Fuchs, ein Wolf. Sie sah sogar die
244 ausgebreiteten Schwingen eines Bussards, der offenbar dem Pfeil eines Soldaten zum Opfer gefallen war. Tarcho, dessen Messer an seinem Gurt glitzerten, schien hier in seinem Element zu sein. In Isoldes Augen wirkte er eher wie ein Barbar als wie ein Römer, und in seiner harten, berechnenden Miene lag etwas, das ihr nicht gefiel. Maria gab Tarcho das Stichwort: »Du und Nennius, ihr habt also denselben Großvater.« »Er hieß Audax«, sagte Tarcho, den Mund voller tropfendem Fleisch. »Er wurde als Sklave geboren, starb jedoch als Soldat. Er hat seinen Sohn Tarcho genannt, nach dem Soldaten, der ihn aufgenommen und sich um ihn gekümmert hat. Dieser Tarcho war mein Vater, und er hat mich nach sich selbst benannt.« »Ah ja«, sagte Nennius, »aber Audax stammte aus einer alten Familie, deren Angehörige nicht immer Sklaven gewesen waren. Er war offenkundig ein kluger Mann, und diese erbliche Intelligenz scheint er an seinen zweiten Sohn ‐ meinen Vater ‐
weitergegeben zu haben. Er hieß Thalius, nach einem anderen Gönner von Audax. Thalius ging nach Rom, wo ich und meine Tochter geboren wurden. Der alte Audax wäre bestimmt stolz gewesen, dich als Befehlshaber eines solchen Ortes zu sehen, Tarcho.« Tarcho zuckte die Achseln. »Vor zehn Jahren habe ich als Soldat im römischen Heer gedient. Dann kam die britannische Revolution. Bauernjungen im Aufruhr«, sagte er abschätzig. »Wir hatten keine Ahnung, was hier oben vor sich ging. Wir haben nur an unse 245
rem Abschnitt des Walls den Frieden gewahrt. Aber es gab keinen Sold mehr ...« Da der Sold ausgeblieben war, hatten einige der am Wall stationierten Soldaten ihre Posten verlassen. Manche hatten sich als Söldner verdingt, andere waren zu den Banditen und Räubern übergelaufen ‐ und wieder andere, sagte Tarcho, seien mit ihrer Dienstakte im Gepäck nach Gallien gegangen, in der sehnsüchtigen Hoffnung, ihren ausstehenden Sold zu bekommen. Aber die meisten der Soldaten am Wall, die dort geboren und aufgewachsen waren, wo ihre Vorväter seit Generationen gedient hatten, waren an Ort und Stelle geblieben. Dies war ihre Heimat; wohin sollten sie gehen? »Als der Staub sich legte, haben wir neue Befehle vom Herzog bekommen.« »Vom Herzog?«, fragte Isolde. »Dem Herzog der britannischen Provinzen.« Der Militärkommandeur, der unter den Kaisern den Oberbefehl über den Wall und die nördlichen Kastelle hatte, die ihn sicherten. »Er bekam keine Befehle mehr von der Diözese, auch nicht vom Präfekten in Gallien oder vom Kaiser.« Unversehens von seiner Befehlskette befreit, übernahm der Herzog der britannischen Provinzen die Macht. Er befahl, dass die Soldaten weiterhin als Armeeeinheiten fungieren, die Bevölkerung schützen und die Ordnung aufrechterhalten sollten. Da vom Zentrum jedoch kein Sold mehr kam, oblag es den Einheimischen, den Bauern, das Kastell zu versorgen, indem 245
sie in Naturalien zahlten ‐ mit Nahrungsmitteln, Materialien, Tieren und Arbeit. »Es gab vernehmliches Murren«, sagte Tarcho ehrlich. »Aber dann kamen die Pikten. Eines Nachts haben sie versucht, heimlich über den Wall zu klettern. So was von dreist! Nun, meine Männer haben ihre römischen Rüstungen und Waffen hervorgeholt, und wir haben uns formiert und dieses Pack verjagt. Danach haben die Bauern höchst bereitwillig ihren Obolus entrichtet, und als der Herzog vor ein paar Monaten in Banna war, sind sie gekommen, um ihm zuzujubeln ...« Isolde fragte sich zynisch, was den Bauern anderes übrig geblieben war, als zu bezahlen. Dieser Herzog der britannischen Provinzen, ein römischer Befehlshaber, schien sich als Kriegsherr eines sehr alten Schlages herauszustellen, und der Wall war seine Machtbasis. Kein Wunder, dass dieser Getreidespeicher etwas von der Halle eines Barbarenhäuptlings hatte. Trotzdem, vielleicht waren die Einheimischen froh über eine gewisse Ordnung und einen gewissen Schutz, denn das war besser als nichts. Und
wenn sie auf ihrem Land arbeiteten, war es vielen von ihnen vielleicht herzlich gleichgültig, wer sich von heute auf morgen als ihr Herr bezeichnete. Sie merkte, dass Tarcho kein Wort über die Provinzregierung in Eburacum verlor, die offiziell nach wie vor die Herrschaft über dieses Gebiet besaß. Augenscheinlich war die politische Lage auch zehn Jahre nach der britannischen Revolution immer noch ungeklärt.
55* »Ah«, sagte Nennius, »aber hat es so kommen müssen} Musste die große Flut des Imperiums von Britannien zurückweichen?« Tarcho runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, was du meinst.« »Pelagius predigt den freien Willen«, sagte Nennius. »Jeder von uns hat die Freiheit, sein Schicksal zu formen. Die Zukunft ist nicht festgelegt ‐ sie hängt von den Entscheidungen ab, die wir treffen ‐, und darum war auch die Vergangenheit formbar, abhängig von den Handlungen der Menschen.« Er lächelte. »Es gibt einen Abschnitt bei Livius, geschrieben vor der Zeit des Augustus, in dem er darüber spekuliert, was wohl geschehen wäre, wenn Alexander weitergelebt hätte, statt so früh zu sterben. Angenommen, er hätte seine Aufmerksamkeit nach Westen gelenkt, statt seine Kräfte in den endlosen Wüsten des Ostens zu verzetteln?« »Dann wäre er schon damals mit Rom aneinandergeraten«, sagte Maria. »Ja ‐ mit einem jungen, kraftvollen Rom, das ihn besiegt hätte ‐ das schreibt jedenfalls der gute Römer Livius! Die Geschichte, die uns so festgelegt vorkommt, ist in Wahrheit ein brüchiger Wandteppich, dessen Webmuster von menschlichen Launen abhing. Und genau darauf will ich hinaus. Wenn die Entscheidungen der Kaiser anders ausgefallen wären, flöge der Adler vielleicht auch jetzt noch über Britannien.« »Das kann ich mir nicht vorstellen«, meinte Tarcho nüchtern.
246 »Dann nimm ein Beispiel«, sagte Nennius. »Was, wenn dieser Wall nie gebaut worden wäre} Wenn Kaiser Hadrian beschlossen hätte, nicht die hiesige Grenze zu befestigen, sondern die gesamte Insel Britannien zu erobern, bis hinauf in den Norden, und wenn er ein oder zwei Legionen abgestellt hätte, um sie zu halten? Man hat es nämlich mehrmals versucht, weißt du, angefangen von Claudius über Severus bis hin zu Kon‐ stantes Chlorus, der eine Streitmacht in den fernen Norden geführt hat.« »Aber der Boden da oben ist schlecht, und die Menschen sind hässliche Wilde, die in den Sümpfen leben«, wandte Tarcho pragmatisch ein. »Was hätte das für einen Zweck gehabt? Besser, man zieht hier eine Linie.« »Kurzfristig vielleicht. Aber wir leben mit den langfristigen Folgen von Hadrians Entscheidung, Tarcho. Und was stellen wir fest? Geschützt von einer Grenze aus Stein, haben die Barbaren sich hinter dem Wall organisiert, zusammengeschlossen und fähige Anführer gefunden, und nun brechen sie durch, um uns zu zermalmen. Doch wenn Hadrian das Land der Caledonier erobert hätte, wären sie jetzt Römer, und Britannien wäre sicher, zumindest im Innern. Denk darüber nach ‐ eine ganze Insel als Garnison
für Westeuropa. Hätte man Gallien und Spanien dann nicht verteidigen können, als die Franken und Goten kamen ?« »Tja nun, wenn ihr wissen wollt, was ich denke«, sagte Maria unvermittelt, »so sind wir alle in diese
247 verfahrere Situation geraten, weil Konstantin das Imperium derart verwildern ließ. Das ist meine Meinung. Deshalb wimmelt es in Gallien von Franken, in Spanien von Goten und im Süden Britanniens von Sachsen. Ich weiß es, wir waren dort unten. Sie machen sich nicht das Geringste aus unserer Lebensweise, und sie interessieren sich nur für sich selbst. Und wer ist jetzt stark genug, um sie hinauszuwerfen? Niemand, so siehtʹs aus.« Tarcho grunzte. »Ich verstehe, worauf du bei der Sache mit Hadrian hinaus willst, Nennius. Aber sie hat recht. Wenn man über Entscheidungen und deren schreckliche Folgen sprechen will, muss man auch an Konstantin denken. Schließlich hat er seine Hauptstadt nach Konstantinopel verlegt und das ganze Geld mitgenommen.« »Dann gibt es noch eine andere Möglichkeit«, sagte Nennius. »Angenommen, Konstantin hätte seine Hauptstadt nicht in den Osten, sondern in den Westen verlegt ‐ nach Gallien oder sogar nach Britannien, wo er immerhin zum Kaiser ausgerufen worden war. Stellt euch vor, das Imperium wäre von Londinium oder Eburacum aus regiert worden! Warum nicht? Britannien war relativ stabil und auch reich: Sein Ge‐ treide und seine Metalle haben die Armeen am Rhein und an der Donau über viele Generationen hinweg versorgt. Deshalb war Britannien der Sitz eines Usurpators nach dem anderen, darunter auch Konstantin selbst. Und hätte das Imperium mit der britannischen Garnison im Rücken nicht vielleicht doch gerettet
247 werden können, wenn die Kaiser sich auf uns statt auf die fetten Fleischtöpfe des Ostens konzentriert hätten ?« Londinium als Hauptstadt des römischen Weltreichs! Der Gedanke war so atemberaubend, dass er sie alle einen Moment lang verstummen ließ ‐ aber Isolde wusste, es war gar keine so abwägige Idee. Schließlich hatten viele der Usurpatoren der letzten paar Jahrzehnte vor der abschließenden britannischen Revolution versucht, ein separatistisches Imperium der westlichen Provinzen zu errichten. »Ich verstehe bloß nicht, was dieses ganze Gerede bezwecken soll«, sagte Maria jetzt. »Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn jemand dieses statt jenes getan hätte ‐ na und? Was geschehen ist, ist geschehen. Die Vergangenheit mag für jene, die in ihr gelebt haben, formbar gewesen sein, Nennius, aber für uns ist sie zweifellos unabänderlich.« »Ach wirklich?«, erwiderte Nennius. »Habt ihr gelesen, was Augustinus über die Ewigkeit gesagt hat ‐wenn er gerade mal keine Hetzreden gegen Pelagius geschwungen hat, meine ich? Gott ist ewig, nicht zeitgebunden wie wir. Er ist über die Zeit erhaben ‐ich glaube, so hat erʹs ausgedrückt. Für ihn existieren Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gemeinsam in einem zeitlosen Augenblick. Und wenn das so ist, könnte Gott dann nicht ebenso in die Vergangenheit eingreifen wie in die Zukunft?«
Tarcho zupfte an seinem Schnurrbart. »Ah. Ich glaube, ich verstehe, worauf du hinauswillst, Vetter.«
248 Nennius nickte. »Deshalb bin ich hergekommen. Wir müssen über Nectovelins Prophezeiung reden.« Und er zog Pergamente aus der Ledertasche, die vor ihm auf dem Tisch lag.
248
IV Nennius gab ihnen einen kurzen Überblick über die Geschichte der Prophezeiung: dass Nectovelins Mutter sie bei dessen Geburt von sich gegeben hatte, dass sie Ereignisse vorherzusagen schien, die während der Regentschaft von Claudius, Hadrian und Konstantin eingetreten waren. Ein Rest von ihr hatte in Form von Tätowierungen in der Haut von Generationen von Sklaven bis hin zu Audax überlebt. Doch abgesehen davon war sie für die Geschichte verloren ‐ vielleicht. »Ich habe das hier«, sagte Nennius und schwenkte eines seiner Dokumente, eine abgegriffene Schriftrolle. »Das sind die Erinnerungen des Kaisers Claudius, der die Prophezeiung offenbar mit eigenen Augen gesehen hat. Dieses Schriftstück hat meinem Vater gehört; er hat es von Audax bekommen und mir bei seinem Tod hinterlassen. Die Prophezeiung, wie Claudius sie beschreibt, umfasste sechzehn Zeilen, und obwohl er sie hier nicht wiedergibt ‐ er nimmt offenbar an, dass sie seinen Lesern vorliegt ‐, fasst er sie größtenteils so gut zusammen, dass man sie rekonstruieren kann. Diese Geschichte der Prophezeiung hat mich schon als kleines Kind fasziniert, als ich sie auf den Knien
248 meines Großvaters gehört habe. Sie handelt von Kaisern, versteht ihr, von drei römischen Kaisern, die nach Britannien kommen würden. Und sie enthält einen sehr wichtigen Abschnitt über Konstantin. Nach dem, was ich gelesen habe ‐ und was mein Großvater mir von den Ereignissen in seiner eigenen Jugend erzählt hat ‐, wurde der Leser darin eindringlich aufgefordert, den Kaiser zu töten! Ich glaube, Konstantins Ermordung war der Zweck der Prophezeiung. Alles andere, die Vorhersagen über Claudiusʹ Invasion und den Bau des Walls, diente nur als Beweis für ihre Echtheit. Es sollte die Besitzer der Prophezeiung in Konstantins Zeit dazu bringen, ihren Auftrag ernst zu nehmen. Aber das sind nur Vermutungen. Wie gern wüsste ich mehr! Ich habe meine eigene Rekonstruktion des Textes niedergeschrieben ‐ hier irgendwo ...« Er wühlte in seiner Tasche und brachte weitere Pergamente zum Vorschein. »Aber die letzten paar Zeilen lassen sich aus Claudiusʹ Erinnerungen nicht rekonstruieren; sie scheinen ihn nicht interessiert zu haben. Er beschreibt sie nur als >Geschwafel über Freiheit und die Rechte von Völkern<.«
Maria sagte: »Du hast davon gesprochen, dass Gott die Macht besitzt, die Vergangenheit umzuschreiben. Willst du damit sagen, dass Gott unserer Familie befohlen hat, einen Kaiser zu töten?« Die Antwort fiel Nennius nicht leicht. »Sicherlich nicht Gott selbst ‐ aber wenn Gott über solche Macht verfügt, wäre es dann nicht möglich, dass Menschen ihm eines Tages nacheifern könnten? Was, wenn es
249 ein Mensch war ‐ ein Mann oder vielleicht sogar eine Frau unserer Zeit, oder unserer Zukunft ‐, der durch die Macht des Gebets nach der Vergangenheit gegriffen hat, um mittels der Prophezeiung Änderungen daran vorzunehmen? In unserer Familiensage ist die Rede von einem Weber, der außerhalb des Zeitteppichs steht und am Verlauf unserer Leben zupfen kann, als wären es bloße Fäden.« »Und wenn er es getan hat, dieser Weber ‐ was hat er damit bezweckt? Warum sollte Konstantin sterben?«, fragte Tarcho. »Um das Christentum zu retten«, erklärte Nennius lebhaft. »Dieses Ziel haben unser Großvater und seine Gefährten jedenfalls aus dem erhalten gebliebenen Akrostichon herausgelesen. Wäre Konstantin damals gestorben, hätte er das Christentum nicht korrumpieren und zu einem Arm des Staates machen können ‐und es wäre nicht derart intolerant geworden. Es hätte keine Verfolgung der einen Christen durch die anderen gegeben, keine Hetzjagd auf einen Denker wie Pelagius.« Tarcho nickte. »Christen aus der Zukunft wollten also Konstantin umbringen lassen und ihrer Religion die verlorene Reinheit wiedergeben. Willst du darauf hinaus ?« »Ja«, sagte Nennius. »Nun ja, vielleicht. Ich weiß es nicht! Ich rekonstruiere jahrhundertealte Ereignisse und die mysteriösen Motive der dahinterstehenden Figuren, ohne dass mir das Hauptbeweisstück, die Prophezeiung, zur Verfügung steht.« 249
Tarcho runzelte die Stirn. »Für mich klingt das alles ein wenig teuflisch.« »Aber wenn man solche Macht hätte, wenn man die Geschichte verändern könnte ‐ warum sollte man sie auf diese Weise einsetzen?«, sagte Maria nachdenklich. »Die Kirche überlebt auch dort, wo das Imperium abstirbt ‐ wie hier in Britannien. Sie ist wie eine Kleiderhülle über dem Körper des Reiches, die noch steht, obwohl das Skelett im Innern zerfallen ist. Wenn ich die Geschichte verändern könnte, würde ich mir keine Gedanken über die Kirche machen, denn sie ist robust genug, um den Eingriffen von tausend Konstantinen zu widerstehen. Ich glaube, ich würde einen Weg suchen, die Rückkehr Britanniens zu Rom zu beschleunigen.« Nennius nickte weise. »Natürlich. Britannien hat immer zur römischen Welt gehört. Es ist nur eine Frage der Zeit ...« »Nein«, fauchte Tarcho. »Die Dinge liegen jetzt anders. Rom ist das letzte einer Reihe alter Imperien, die bis zu Alexander zurückreicht. Aber die Welt hat sich verändert, und Roms Zeit ist um. Wenn die Caesaren wirklich jemals wiederkommen, wird man ihnen keinen freundlichen Empfang bereiten.« Er musterte Nennius. »Weißt du, Vetter, du solltest hierbleiben. Hier in Brigantien. In unserer Familie hat es alles Mögliche
gegeben, Soldaten, Steinmetzen, Gelehrte. Im tiefsten Innern waren wir jedoch immer Briganten.« Nennius runzelte die Stirn. »Aber der Trojaner Äneas ist nach Britannien gekommen und ...« 250
Tarcho machte eine wegwerfende Handbewegung. »Vergiss diesen Quatsch. Hier im Norden wissen wir immer noch, wer wir sind. Unser Großvater Audax ist als Sklave aufgewachsen, aber er hat trotzdem im Gedächtnis behalten, dass er Brigant war. Und jetzt, wo die Römer fort sind, können wir Brigantia ihre alte Macht wiedergeben. Denk darüber nach. Warum nicht einmal ein Reich der Briganten ‐ und mit uns an der Spitze? Wir könnten es sogar mit den Caesaren aufnehmen.« Seine Augen leuchteten. Isolde fragte sich, was der Herzog der britannischen Provinzen und die Regierung in Eburacum wohl zu derartigen Bestrebungen sagen würden. Und Nennius schaute verwirrt drein. Isolde wusste, dass exilierte Britannier in Rom sich damit brüsteten, Nachfahren von Trojanern zu sein, die der Belagerung der Griechen entflohen waren; Namen wie »Briganten« hielten sie nur für künstliche Bezeichnungen, die solche Gruppierungen von den Römern aus verwaltungstechnischen Gründen verpasst bekommen hatten. Würde die Zukunft also der Vergangenheit gleichen? Würde Rom zurückkehren, wie Maria zu hoffen schien? Oder konnten Tarchos alte, ausgelöschte Volksstämme wirklich wiedererstehen, sofern sie überhaupt jemals existiert hatten? Und was war mit all den Sachsen, die im Süden herumwuselten? Sie würden nicht verschwinden. Isolde hatte das Gefühl, dass die Zukunft viel komplizierter sein würde, als Maria und Tarcho es sich vorstellten oder erhoffen ‐ komplizierter und blutiger ... 250
In diesem Augenblick verspürte sie die erste Wehe. Sie biss sich auf die Lippe, krümmte sich zusammen und krallte die Hände in den Bauch. Maria beugte sich vor. »Isolde! Ist alles in Ordnung mit dir?« Typischerweise nahm Nennius nicht einmal Notiz davon, dass seine Tochter Probleme hatte. Tarcho ebenso wenig. »Wir müssen über den Grund meines Besuchs reden«, sagte Nennius. »Mein Großvater hat mir von der Prophezeiung erzählt. Er war zu dem Schluss gelangt, dass unsere Familie die Wahrheit über sich selbst im Gedächtnis bewahren muss. Aber die Prophezeiung war natürlich verloren. Oder nicht} Ich konnte einfach nicht glauben, dass es keine einzige Abschrift von ihr gibt! Claudius deutet an, dass sich ein Exemplar unter den uralten Sibyllinischen Orakeln befand. Ich habe dort nachgesehen ‐ aber Stilicho, Honoriusʹ Vandalengeneral, hat die Orakel vor Jahrzehnten vernichten lassen.« »Und darum«, sagte Tarcho, »hast du mir geschrieben.« Nennius saß kerzengerade und konzentriert auf seiner Liege. »Ich weiß, wie peinlich genau ihr beim Militär schon immer Aufzeichnungen geführt habt, Tarcho. An diesem Ort ist das Original der Prophezeiung angeblich vernichtet worden. Aber ich habe mich gefragt, ob nicht gerade hier auch eine Abschrift von ihr überlebt haben könnte, tief
unten in einem alten Gewölbe. Hätte nicht irgendein ordentlicher und obendrein abergläubischer Soldat dafür gesorgt? Und da
251 rum habe ich dir geschrieben und dich gebeten, im Vorfeld meines Besuchs nach ihr zu suchen ‐ und, tja, hier bin ich. Komm schon, Vetter, spann mich nicht länger auf die Folter! Sag mir, ob du etwas gefunden hast.« Eine weitere Wehe. In ihrem Schmerz klammerte sich Isolde an Maria, die neben ihr saß. Maria murmelte tröstende Worte. Tarcho, der sich offenkundig zu langweilen begann, zuckte die Achseln. Er griff in seine Tunika und zog ein arg ramponiertes Holztäfelchen hervor. »Du hattest recht. Jemand hat eine Abschrift angefertigt, zumindest aus der Erinnerung ‐ ein Heide wahrscheinlich, der zu abergläubisch war, um das Risiko einzugehen, die Götter zu verärgern, indem er ihre Worte vernichtete; auch in diesem Punkt hast du recht. Hier.« Er warf es Nennius zu. »Ist wahrscheinlich sowieso alles eine Fälschung oder ein Schwindel.« Nennius nahm das Täfelchen und klappte es behutsam auf. Eine weitere Aufwallung von Schmerz, und da war Flüssigkeit zwischen Isoldes Schenkeln. Jetzt stieß sie einen Schrei aus. Maria tastete mit ruhiger Kompetenz zwischen Isoldes Beinen. »Das Fruchtwasser ist abgegangen. Oh, mein Gott, ich glaube, ich fühle seinen Kopf!« »Das kann nicht sein. Es ist noch zu früh«, keuchte Isolde. Maria krempelte die Ärmel hoch und bat Isolde, sich hinzulegen. »Die bestimmen ih ren Zeitpunkt selbst,
251 meine Liebe.« Sie wandte sich an einen wartenden Diener. »Du da, hol meine Schwester her. Und bring uns sauberes Wasser und Tücher.« Der Diener eilte hinaus. Selbst jetzt galt Nenniusʹ Interesse noch mehr seiner kostbaren Prophezeiung als seiner Tochter. Er las: »>Ach Kind! Verwoben in den Wandteppich der Zeit, und dennoch frei geboren/Cum fortia sing ich dir von dem, was ist und was sein wird< ... Sechzehn Zeilen ‐das Alpha‐Omega‐Akrostichon ‐ es ist alles da ‐ oh, Tarcho, ich glaube, es ist wirklich echt! Und hier sind die Zeilen über Claudius und Hadrian ... den >kleinen Griechen<, ha, ich wusste, was das bedeutete, meine Rekonstruktion war fast richtig. Dieser Verweis auf einen >Gott als Kind< muss sich auf die Geburt des Christentums beziehen, denn in Hadrians Zeit hat unsere Religion Fuß gefasst. Oh, und hier sind die Zeilen, die sich auf Konstantin beziehen müssen. >Erhoben in Brigantien, wird später er in Rom gepriesen,/Paladin eines Sklavengottes, am Ende selbst ein Gott. / Eingebunden in das Reich, bleibt von der Kirche toter Marmor nur.< ... Ja, ja! Ist Konstantin nicht in Eburacum zum Kaiser ausgerufen worden? Hat man das Christentum nicht immer als Sklavenreligion bezeichnet? Hat er sich nicht nach seinem Tod vergöttlichen lassen, trotz seiner Bekehrung zum Christen? Und eine Kirche, die sich in toten Marmor verwandelt hat ‐ ja, das bezieht sich gewiss auf Konstantins
Institutionalisierung der Religion. Sie sagt die Wahrheit! Ich wusste es. Ich wusste die ganze Zeit,
252 dass die Prophezeiung echt war, dass sie wahrheitsgetreu war. Wenn Thalius und seine Ränkeschmiede dieses Dokument nur zur Gänze hätten sehen können! Wie anders wäre die Geschichte dann wohl verlaufen ?« Isolde hörte kaum etwas von alledem. Ihre Welt schnurrte auf das Innere ihres Kopfes zusammen, das Aufblähen und Zusammenfallen ihrer Lungen und die pulsierenden Kontraktionen ihres Bauches. Maria flüsterte ihr ins Ohr: »Keine Angst, Liebes. Wir holen den Militärarzt. Er ist auch der Sohn eines Arztes. Ich habe dir ja gesagt, du bist in guten Händen ...« Irgendwie fand Isolde die Worte schlüpfrig, sie entwanden sich ihrem Griff wie Fische in einem Fluss. Was waren Worte neben der blutigen Realität des Schmerzes? Aber noch während meerestiefe Qualen über ihren Körper spülten, verspürte sie den Zwang zu sprechen. Sie drehte den Kopf, öffnete den Mund ‐ aber die Wörter, die ihr von den Lippen strömten, waren hart und unverständlich, selbst für sie. Sie versuchte es erneut, aber es kamen nur noch mehr fremdartige Wörter heraus. Tarcho drehte sich zu ihr um. Seine Neugier war erwacht. »Was sagt sie?« »Ich weiß es nicht.« Maria runzelte besorgt die Stirn. »Lateinisch ist es nicht ‐ oder? Vielleicht irgendeine britannische Sprache.« »Ich glaube, es ist Germanisch«, sagte Tarcho. »Sächsisch vielleicht. Oder Anglisch. Weshalb sollte ein Mädchen wie sie lernen, sächsisch zu sprechen?«
252 Aber das habe ich nicht gelernt, dachte Isolde, eingesperrt in ihrem eigenen Kopf. Sie versuchte erneut zu sprechen, aber ihrem Mund entströmte nur noch mehr von diesem sich wiederholenden Geplapper, diesem Sächsisch. »Ich weiß, was das bedeutet«, flüsterte Maria mit gerötetem Gesicht. »Es passiert noch einmal.« »Was?«, fragte Tarcho. »Die Prophezeiung! Du hast doch gehört, was Nennius erzählt hat. Es ist genauso wie bei Nectovelins Geburt ‐ oh, hol einen Griffel, du Narr, und schreib es auf!« Tarcho machte große Augen. Dann verschwand er aus Isoldes Blickfeld. Isolde wünschte sich so sehr, dass ihr Vater zu ihr käme, aber er grübelte immer noch über seinem Dokument. »Und die letzten Zeilen der Prophezeiung ‐endlich! ...« Der Schmerz wurde noch stärker. »Es kommt!«, rief Maria. Nennius las: »>Ruf ins Gedächtnis dir die Wahrheiten, die wir für selbstverständlich halten ...<« »Der Kopf des Kindes ‐ ich kann ihn sehen!« Selbst jetzt, als ihr ganzer Körper vor Schmerz pulsierte, plapperte Isolde hilflos sächsisch. »Weshalb spricht sie sächsisch?«, knurrte Tarcho. »Die Zukunft ist brigantisch, nicht sächsisch!«
»Das liegt vielleicht nicht in deiner Hand«, sagte Maria. »Und jetzt halt den Mund, du Narr, und hilf mir.«
253 »>Ich sage dir, dass alle Menschen gleich und frei erschaffen sind, mit/Rechten, unveräußerlich, vom Schöpfer ihnen zugeeignet;/Etwa dem Recht auf Leben, Freiheit und aufs Glücksbestreben ...<« Nenniusʹ Stimme klang verblüfft. »Leben, Freiheit und das Streben nach Glück? Was hat das zu bedeuten? Wenn das die Worte des Webers sind, was ist das für ein Traum? Oh, was hat das zu bedeuten?« Der Schmerz packte Isolde wie eine gewaltige Faust, und ihr Kind fiel Maria in die Arme. Lesen Sie weiter in: STEPHEN BAXTER EROBERER Die Zeit‐Verschwörung Zweiter Roman
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NACHWORT Ich bin Adam Roberts zutiefst dankbar für seine fachkundige Hilfe bei Nectovelins Prophezeiung; außerdem hat er mir durch die Lektüre des Buches im Manuskriptstadium einen unschätzbaren Dienst erwiesen. Des Weiteren danke ich meinem Agenten Robert Kirby und meinem Lektor Simon Spanton für ihre diesmal besonders klugen Anregungen in Bezug auf das Konzept dieses Projekts. Ständig kommen neue archäologische Indizien ans Licht, schriftliche Quellen werden neu beurteilt, und unser Wissen über Britannia verändert sich kontinuierlich. Ein Beispiel dafür ist Alan Bowmans Life and Letters on the Roman Frontier (British Museum Press, 2003) über die erstaunlichen »Vindolanda‐Briefe«, einen Haufen Korrespondenz, der zum Teil erst in den i99oer‐Jahren entdeckt wurde. Ein umfassendes neueres Werk ist A Companion to Roman Britain, herausgegeben von Malcolm Todd (Blackwell, 2004). Ich habe den Companion als Ratgeber bei der Wahl unter verschiedenen Namensschreibweisen benutzt. Die beste Landkarte des römischen Britannien ist nach wie vor die Historical Map and Guide des Ordnance Sur‐vey (fünfte Auflage). Sie diente mir als Quelle für un 253 terschiedlich geschriebene Ortsnamen, die in Todds Companion nicht vorkommen. (Aus Gründen der Klarheit habe ich keine Versionen latinisierter Ortsnamen aus der Zeit vor der Invasion gebraucht: etwa Camulodunon statt Camulodunum.) Ein gutes, wenn auch etwas veraltetes Werk über die Claudius‐Invasion ist The Roman Invasion o f Britain von Graham Webster (Routledge, 1993). Eine gute Quelle über das Leben Konstantins stellt Michael Grants The Emperor Constantine dar (Weidenfeld and Nicolson, 1993). Neue Interpretationen von Britannias Untergang finden sich u. a. in Ken Darks Britain and the End o f the Roman Empire (Tempus, 2000) und in Neil Faulkners The Decline and Fall o f Roman Britain (Tempus, 2000).
Was Orte betrifft: Ein Werk aus jüngerer Zeit über Richborough (Rutupiae) ist Stephen Johnsons Rich‐borough and Reculver (English Heritage, 1997), und Patrick Ottaways Roman York (Tempus, 2004) befasst sich mit York (Eburacum). Eine prächtige neue Statue vor dem York Minster, an der Stätte des Hauptquartiers der Römerfestung, erinnert an Konstantins dortige Ausrufung zum Kaiser. Ein Werk jüngeren Datums über Colchester (Camulodunum) ist Philip Crummys City o f Victory (Colchester Archaelogical Trust, 1997). Der Zirkus bei Colchester ist eine neue Entdeckung, die zur Zeit der Abfassung dieses Manuskripts noch nicht publiziert war. Mit Birdoswald (Banna) beschäftigt sich Tony Wilmott in Birdoswald Roman Fort (Tempus, 2001), und das Standardwerk 254
über den Wall ist Hadrianʹs Wall von David Breeze und Brian Dobson (Penguin, 2000). Aber ein Besuch dieser wundervollen Orte ist durch nichts zu ersetzen. Für alle Fehler oder Ungenauigkeiten bin natürlich ausschließlich ich allein verantwortlich. Stephen Baxter Northumberland Juni 2005
N A C H B E M E R K U N G D E S Ü B E R S E T Z E R S Leider ist bislang keines der oben genannten Werke in deutscher Sprache erhältlich. Einen gut lesbaren Überblick über die hier behandelten Geschehnisse gibt jedoch Kai Brodersen, Das römische Britannien (Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1998), in dem sich weitere Lektüreempfehlungen finden. Über die Geschichte und die Kultur der Kelten existiert auch im Deutschen umfangreiche Literatur, z. B. Helmut Birkhans Kelten: Versuch einer Gesamtdarstellung ihrer Kultur (Verlag der österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1997 ).