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Julia – Band 1461 – Immer für dich da 1. KAPITEL Liv lehnte sich gegen die Haustür - eine schwere, solide Eichentür. Dann nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und klingelte. Es war vier Uhr morgens, und vermutlich war sie der letzte Mensch, den Ben sehen wollte. Aber sie hatte keine andere Wahl, nicht nach allem, was passiert war. Sie würde sich später bei ihm entschuldigen - falls er dann noch mit ihr reden würde. Der schrille Klang der Türklingel hallte durch das stille Haus. Liv zog sich den Mantel enger um die Schultern. Sie wusste nicht, ob sie vor Kälte oder wegen des Schocks zitterte. Ihr einziger Gedanke war, dass Ben die Tür aufmachen musste. Er musste einfach zu Hause sein, denn sie wusste nicht, wo sie sonst hingehen sollte. Mit der impulsiven und verzweifelten Entscheidung, bei Ben zu klingeln, war sie, Olivia Kensington, mit ihrer Weisheit am Ende. „Schon gut, ich komme ja", sagte Ben leise, während er die Treppe hinunterrannte und sich dabei den Morgenmantel zuband. Er schaltete das Außenlicht an, als er durch den Flur eilte, und schloss die Tür auf. Blinzelnd sah er sie an. „Liv?" Liv blickte zu ihm auf, ihre Augen schimmerten grün-golden in dem grellen Licht. Ihr dunkles Haar war zerzaust, und sie lächelte strahlend. Ganz offensichtlich war ihr weder bewusst, dass es mitten in der Nacht war, noch, dass sie ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Wie schon so oft hätte er sie am liebsten erwürgt. Stattdessen lehnte er sich gegen den Türrahmen, verschränkte die Arme vor der Brust und seufzte. „Was, um alles in der Welt, machst du hier - noch dazu um diese Uhrzeit?" fragte er entnervt, obwohl er sonst sehr geduldig war. „Du hast dich nicht selber ausgesperrt, dafür bist du zu weit von zu Hause entfernt. Also, was ist los, Liv? Warst du hier in der Gegend auf einer Party, die zu früh zu Ende war? Ist dir langweilig geworden? Hast du dich verlaufen?" Sie schüttelte den Kopf. „Nein? Okay, ich gebe auf. Verrate mir doch bitte, wie ich zu der zweifelhaften Ehre komme, dich so spät..." Er blickte auf die Uhr. „... Verzeihung, so früh am Morgen vor meiner Haustür begrüßen zu dürfen?" Wieder lächelte sie strahlend. „Entschuldige bitte, ich weiß, dass es sehr spät ist. Es ist nur ... Du hast mir doch vor einigen Wochen am Telefon erzählt, dass du eine Haushälterin suchst." „Haushälterin?" Das bedeutet Ärger, ging es ihm durch den Kopf. „Und?" erkundigte er sich dann vorsichtig und warf einen verstohlenen Blick auf das wartende Taxi. Wollte sie ihm etwa um diese Uhrzeit eine Bewerberin für die Stelle präsentieren? Das brachte nur Liv fertig. „Ich würde mich gern um die Stelle bewerben - wenn sie noch frei ist." „Du?" Es verschlug ihm die Sprache. Er trat näher an sie heran und sah ihre tränenverschmierte Mascara und ihr gezwungenes Lächeln, während ihre Lippen bebten. „Du meine Güte, was ist denn passiert, Liv?" fragte Ben sanft und legte den Arm um sie. Liv atmete tief ein und rang sich erneut ein Lächeln ab. Betont gleichgültig zuckte sie die Schultern, presste jedoch die Lippen zusammen. „Oscar ... Er hat mich vor die Tür gesetzt. Er hat gesagt ... Das möchtest du sicher nicht wissen." Sie schauderte. „Jedenfalls hat er uns hinausgeworfen - ich habe versucht, dich über Handy anzurufen, aber offensichtlich hatte Oscar es schon abschalten lassen." Liv klang verstört, und er spürte eine unbändige Wut in sich aufsteigen. Er blickte zu dem wartenden Taxi in der Auffahrt. Der Fahrer stellte den Motor ab, und Ben konnte das Schreien eines Säuglings hören. „Du hast die Kinder mitgebracht?" Sie nickte, und er strich sich mit der Hand durch das kurz geschnittene Haar und seufzte erleichtert. „Komm herein, Liv. Kommt alle herein", forderte er sie sanft auf. Liv straffte sich. „Ben, könntest du mir einen Gefallen tun? Ich habe kein Geld für das Taxi, und ich muss vergessen haben, meine Kreditkarten einzustecken ..." Sie verstummte und biss sich auf die Lippe. „Natürlich, ich übernehme das. Komm jetzt herein, du zitterst ja vor Kälte." Sanft schob er sie ins Haus und drückte sie auf einen Stuhl, bevor sie vor Erschöpfung umfiel. „Wie viel bekommen Sie von mir?" fragte er den Taxifahrer und zuckte insgeheim zusammen, als dieser die Summe nannte. „Ich bringe die Kinder ins Haus. Könnten Sie das Gepäck hineintragen?" „Es gibt kein Gepäck, Kumpel. Nur diese beiden schreienden Kinder. Eins von ihnen hat die Windeln ziemlich voll - bin ich froh, dass ich nicht derjenige bin, der es wickeln muss!" Der Fahrer grinste. Ben öffnete die hintere Tür des Taxis und hob den winzigen Säugling heraus, der immer noch aus Leibeskräften schrie. Der arme kleine Kerl war erst vier Wochen alt, vielleicht sogar noch jünger. Ben wusste es nicht mehr genau. Ein kleines Mädchen, das Livs dunkle Locken und dunkle Wimpern hatte, lag schlafend in einer Ecke des Wagens. Offensichtlich verströmte sie diesen intensiven Geruch. Er brachte zuerst den Säugling hinein zu Liv, holte seine Brieftasche und ging wieder hinaus. Als er das kleine Mädchen aus dem Taxi nehmen wollte, wurde es wach und fing an zu weinen. „Es ist alles in Ordnung, deine Mummy wartet drinnen auf dich", versuchte er sie zu beruhigen und half ihr aus dem Wagen. Das Taxi fuhr davon. Das Kind stolperte zielstrebig auf die Eingangstür zu. Ben ging ihm nach, schloss die Haustür und lehnte sich einen Moment dagegen, während er Liv betrachtete, die völlig erschöpft zu sein schien. Sie hatte Ringe unter .den Augen und sah blass und ausgezehrt aus, und ihre Augen waren glanzlos, nun, da sie aufgehört hatte, sich selber etwas vorzumachen. Sie wirkte so verzweifelt, dass er den Wunsch verspürte, Oscar umzubringen. Er sollte einen langsamen, schmerzhaften Tod sterben. Ben setzte sich neben Liv auf die Couch und legte ihr die Hand aufs Knie. „Deine Tochter braucht eine frische Windel." Sie rang sich ein Lächeln ab, und ihm wurde warm ums Herz. „Ich weiß, aber ich habe keine." Der Säugling begann wieder zu schreien, und Ben betrachtete ihn nachdenklich. „Kann ich dir dabei behilflich sein, ihm ein Fläschchen zu geben? Oder stillst du ihn?" Ihr Lächeln wurde noch eine Spur trauriger. „Zu Anfang habe ich ihn gestillt, aber Oscar war eifersüchtig. Und er sagte, es wäre nicht gut für meine Figur. Ich dagegen war der Meinung, wenn wir schon Kinder hätten ..." Sie verstummte und biss sich auf die Lippe. Dann sah sie ihn mit einem Blick an, der ihm fast das Herz brach: „Ben, ich habe überhaupt nichts dabei - weder für die Kinder noch für mich. Kein Fläschchen, keine Windeln, einfach gar nichts. Es tut mir Leid, dass ich dich so überfallen habe, aber ich wusste einfach nicht, wohin ich sonst gehen sollte ..." Wieder verstummte sie, und offensichtlich war sie einem Nervenzusammenbruch nahe. Ben strich ihr beruhigend über das Bein und stand auf. „Ich hole dir ein paar kleine Handtücher, die du als Windeln verwenden kannst. Ansonsten nimm dir alles, was du brauchst, aus der Küche. Ich werde inzwischen in den Supermarkt fahren, der rund um die Uhr geöffnet hat, und das Nötigste einkaufen." Er ging rasch nach oben, zog sich etwas über und kam mit einem Stapel Tücher wieder. Liv saß immer noch dort, den schreienden Säugling auf dem Arm, während das kleine Mädchen sich wimmernd an ihre Beine schmiegte. „Komm", sagte er sanft und führte Liv in die Küche. Er gab ihr die Handtücher und nahm ihr das Baby ab, während sie im Badezimmer versuchte, ihrer kleinen Tochter aus den Tüchern eine Windel zu machen. „Armer kleiner Kerl", sagte Ben leise und wiegte den immer noch schreienden Säugling sanft hin und her. „Wie heißt du denn? Wie ich Oscar kenne, hast du sicher einen ziemlich dummen Namen - Hannibal oder so ähnlich." „Oscar waren die Namen egal. Er heißt Christopher, nach meinem Vater, und ich nenne ihn Kit." Ben sah Liv an, die ihre Tochter auf dem Arm hielt, und fragte sich, wie weit Oscars Gleichgültigkeit gegangen war. Es war ihm nicht einmal wichtig gewesen, dass diese wunderschöne und tapfere junge Frau seinen Namen trug. „Schreit er immer so laut?" erkundigte er sich, als Kit von neuem zu Weinen begann. „Nur wenn er Hunger hat, aber ich habe nichts, was ich ihm geben könnte ..."
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„Wann hast du aufgehört, ihn zu stillen?" meinte Ben. „Letzte Woche. Warum?" „Du könntest doch probieren, ob es noch klappt. Vielleicht reicht es nicht aus, um seinen Hunger zu stillen, aber es würde ihn zumindest trösten, bis ich mit den Einkäufen zurückkomme. Der Supermarkt ist ganz in der Nähe, und in einer halben Stunde bin ich schon wieder da mit Flaschennahrung und Windeln." Zweifelnd sah Liv ihn an. „Ich kann es versuchen, aber ich glaube nicht, dass es funktioniert. Er ist so furchtbar ausgehungert ..." Vor Verzweiflung traten ihr die Tränen in die Augen. Sie nahm das Baby zärtlich auf den Arm und versuchte, es zu beruhigen. Doch Kit wollte nicht beruhigt, sondern gefüttert werden, und es war klar, dass er weiter schreien würde, bis er etwas zu essen bekäme. „Ich setze den Wasserkessel auf. Mach es dir doch in einem der großen Sessel am Fenster gemütlich, während ich zum Supermarkt fahre. Was soll ich sonst noch mitbringen?" „Den gesamten Inhalt des Kinderzimmers?" scherzte sie halbherzig. „Ich nehme mein Handy mit. Die Nummer hängt hier an der Pinnwand. Wenn dir noch etwas einfällt, ruf mich einfach an. Ich komme so bald wie möglich wieder." Ben ging in die Garage, öffnete mit der Fernbedienung das Tor und fuhr tief in Gedanken versunken zum Supermarkt. Oscar, dieser Widerling, hatte Liv und die Kinder also mitten in der Nacht aus dem Haus geworfen - mit welcher Begründung? Ben war sich nicht sicher, ob er es wirklich wissen wollte. Im Supermarkt blickte er hilflos an den scheinbar endlosen Regalreihen mit Windeln entlang. Es gab Windeln für Mädchen und für Jungen, Windeln für verschiedene Altersgruppen, in verschiedenen Größen, Windeln mit bunten Aufdrucken und Windeln zum Wiederverschließen eine überwältigende Vielzahl verschiedener Sorten. Bei der Flaschennahrung war es nicht viel besser. Verzweifelt ließ er den Blick über die Regale gleiten und fragte sich, ob Kit eine ungewohnte Sorte überhaupt vertragen würde. Und was war mit Melissa? Er erinnerte sich nicht an ihren Kosenamen. Maisie oder so ähnlich. Was aß sie wohl normalerweise? Ben fühlte sich, als müsste er ein Minenfeld überqueren. Seine Chance, heil anzukommen, war so gering, dass er aufgab, sein Handy aus der Tasche nahm und seine Telefonnummer wählte. Liv schreckte hoch, als das Telefon klingelte. Sie hatte geschlafen, ebenso wie Missy, die wieder zu weinen begann. Kit lag an ihrer Brust, er war zu erschöpft, um zu schreien. Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, stand Liv auf und nahm den Hörer ab. „Hallo?" „Welche Sorte und welche Größe Windeln brauchst du für die Kinder?" erkundigte sich Ben ohne Umschweife. Sie sagte ihm alles und hörte ihn leise vor sich hin reden, während er suchend zwischen den Regalen entlangging. „Hier sind sie. Wie viele soll ich mitbringen?" „Fürs Erste reicht eine Packung von beiden." Liv überlegte kurz, beschloss dann allerdings, direkt zur Sache zu kommen: „Du warst doch allein, als ich geklingelt habe, oder? Ich meine, ich habe dich nicht bei einem Tete-ä-tete gestört und muss befürchten, dass jemand aus dem Schlafzimmer kommt und mir peinliche Fragen stellt?" Er lachte. Zumindest klang es wie ein Lachen, wenn auch ein wenig angestrengt. Aber schließlich war es fünf Uhr morgens, er hatte also allen Grund, nicht in allerbester Stimmung zu sein. „Nein, du hast mich nicht bei einem Tete-ä-tete gestört", erwiderte er. „Nur bei meinem Schönheitsschlaf." „Ben, es tut mir wirklich Leid", begann sie, und er hörte auf zu lachen. „Mach dir keine Gedanken deswegen, Liv", beruhigte er sie. „Danke. Bitte bring auch etwas mit, womit ich die Fläschchen sterilisieren kann." Ben sagte etwas Unverständliches und legte auf. Würde er auch nichts Wichtiges vergessen? Sie hätte mitgehen sollen, doch sie war einfach zu müde, zu erschöpft und enttäuscht. Merkwürdigerweise war sie nicht verletzt - nicht so, wie sie es sein müsste. Vor allem war ihr Stolz verletzt, weil Oscar ihr so grausame Dinge an den Kopf geworfen hatte. Und sie war wütend - sie platzte fast vor Wut! Liv ging in der Küche hin und her, während ihr Ärger immer stärker wurde, und als Ben zurückkam, war sie so außer sich, dass sie Oscar hätte umbringen können. Ben warf ihr einen Blick zu und zog die Brauen hoch, während er seine Einkäufe auf dem Küchentisch ausbreitete. „Flaschenmilch. Sterilisiermittel. Essen für Maisie." „Missy", berichtigte sie ihn, und um seinen Mund zuckte es leicht. „Missy", wiederholte er. „Windeln für kleine Jungen und große Mädchen. Ein Schlaf anzug. Ein Kleid. Strumpfhosen. Eine Jacke. Ein Schlafstrampler für Kit. Und ..." Er zog eine Tüte aus der Tragetasche. „... Toffees." „Ich liebe dich", sagte sie ernst, riss die Packung auf und steckte sich ein Bonbon in den Mund. Himmlisch! Er hatte sich also daran erinnert. „Also, Missy", wandte sie sich an ihre Tochter, „du gehst jetzt ins Bett." Sie nahm die Babysachen, und plötzlich wurde ihr wieder bewusst, was für eine Zumutung ihre nächtliche Invasion für Ben sein müsste. Schüchtern wandte sie sich an ihn. „Stört es dich, wenn wir eine Weile bei dir bleiben, vielleicht ein paar Tage? Und wenn wir dir auf die Nerven gehen ..." „Liv", unterbrach Ben sie, „mach dir bitte keine Gedanken deswegen. Ich komme mit nach oben und helfe dir. Was soll ich mitbringen?" Liv blickte auf die Einkäufe und dann zu Kit, der zwischen mehreren Kissen auf einem der Sessel schlief. Sie zuckte die Schultern. „Beide Sorten Windeln. Sonst nichts. Sobald die Kinder im Bett sind, werden sie schlafen - zumindest hoffe ich das", fügte sie seufzend hinzu. „Ich habe ein Babybett für den Fall, dass mich Freunde mit ihren Kindern besuchen kommen. Ich werde es für dich aufstellen. Welches der Kinder soll darin schlafen?" „Missy", sagte Liv sofort und war erleichtert, weil sie nun keine Angst mehr zu haben brauchte, dass ihre kleine Tochter die Treppe hinunterfiel. „Kit kann in einer Schublade schlafen." „Damit du sie zumachen kannst, wenn er wieder anfängt zu schreien?" fragte Ben schmunzelnd und führte sie in ihr Schlafzimmer. Trotz allem müsste sie lachen. „Keine schlechte Idee." Die Kinder schliefen sofort ein, Missy im Babybett und Kit daneben in der geräumigen Schublade eines großen Mahagonikleiderschranks, die Liv ihm mit Kissen zu einem Bett hergerichtet hatte. Dann gingen Ben und sie wieder nach unten. Er bot ihr einen Stuhl an und drückte ihr einen Becher Tee in die Hand, bevor er sich ebenfalls setzte und die Beine unter dem Küchentisch ausstreckte. „Du trinkst jetzt deinen Tee", befahl er. Sie drehte den Becher hin und her und ließ die Ereignisse des vergangenen Tages noch einmal Revue passieren. Ben schwieg und beobachtete sie. Nach einer Weile stand Liv auf, trat ans Fenster und ließ den Blick gedankenverloren über die Auffahrt und den Garten mit der gepflegten Hecke und dem makellosen Rasen schweifen. Doch sie nahm nichts von alldem wahr. Immer sah sie nur Oscar vor sich, der ihr mit selbstgefälligem, spöttischem Lächeln erzählte, bei wem er gewesen sei und was er getan habe - mit sämtlichen Details. Sie wandte sich zu Ben um. „Willst du gar nicht wissen, was passiert ist?" fragte sie mit bebender Stimme. „Wenn du bereit bist, wirst du es mir schon erzählen", erwiderte er ruhig. Liv stellte den Becher ab, verschränkte die Arme vor der Brust und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. „Er ... er ist so ein..." „Schwein?" „Genau." Ben zuckte die Schultern. „Das war er schon immer. Du hast nur sehr lange gebraucht, bis du dahinter gekommen bist. Ich wundere mich, dass du es nicht schon früher gemerkt hast." „Niemand hat mich darauf aufmerksam gemacht." „Die meisten Leute sind eben eher zurückhaltend", meinte er und rührte in seinem Tee. „Für mich war es jedenfalls so offensichtlich, dass ich gar nicht glauben konnte, dass du es nicht auch siehst." „Ich war eben blind." Sie seufzte. „Anfangs hat er mich ja auch geradezu auf Händen getragen - damals, als ich noch eine gute Figur hatte." Er presste die Lippen zusammen, und seine blauen Augen funkelten zornig. Gut, dass Oscar nicht hier ist, dachte sie. Ben würde ihn umbringen.
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„Also, was ist heute Abend passiert?" Liv nahm den Becher und setzte sich wieder an den Tisch, auf dem eine Zuckerdose stand. Gedankenverloren ließ sie Zucker vom Löffel in die Dose rieseln. „Oscar kam sehr spät nach Hause, nach Mitternacht. Er hatte mir nicht gesagt, dass er später kommen würde, und deshalb hatte ich mit dem Essen auf ihn gewartet. Aber er wollte gar nichts davon, denn er hatte schon gegessen." „Allein?" Sie schnaufte verächtlich. „Da kennst du Oscar aber schlecht. Er isst nie allein. Er tut überhaupt nichts allein. Nein, er war bei seiner Geliebten gewesen, die er schon seit sechs Monaten hat." Liv spürte, wie die aufkommende Wut ihr die Kehle zuschnürte, und nahm sich noch ein Toffee. „Sechs Monate!" wiederholte sie empört, während sie das Papier aufriss und sich das Bonbon in den Mund schob. „So lange hatte er diese Geliebte schon, und praktischerweise wohnte sie ganz in der Nähe seines Büros, so dass er nicht weit fahren muss-te, wenn er Lust auf Sex hatte." Wütend zerbiss sie das Toffee. „Weißt du, was er zu mir gesagt hat?" fuhr sie aufgebracht fort, während sie wild gestikulierte. „Er sagte, dass er eine richtige Frau wolle, eine, die weiß, wie man einen Mann glücklich macht. Dass er meinen schwabbeligen Bauch satt habe und meine hängenden ..." Sie verstummte und atmete tief ein. „Er wollte keine Frau, die nach dem Erbrochenen von Babys riecht, und er hatte keine Lust mehr, ständig über herumliegende Spielsachen zu stolpern. Vor allem hätte er genug von schreienden Kindern und einer Frau, die nie so funktionierte, wie sie sollte - als wäre ich eine Spülmaschine! Ich bin seine Frau! Nein, das stimmt nicht, denn er konnte sich nie dazu entschließen, mich zu heiraten, aber du weißt, was ich meine." „Und dann?" fragte Ben sanft. Liv versuchte, sich zu beruhigen, und seufzte erneut. „Ich sagte ihm, wenn er so darüber denken würde, dann gäbe es für mich keinen Grund, mir seine Bösartigkeiten noch länger gefallen zu lassen, und ich würde am nächsten Morgen ausziehen. Er erwiderte, von ihm aus könne ich sofort verschwinden. Also habe ich die Kinder geweckt und bin gegangen." „Ohne deine Kreditkarten." „Ja, leider", gab sie wehmütig zu. „Das war in der Tat ein taktischer Fehler. Aber davon abgesehen war es das Beste, was ich seit Jahren getan habe." Sie blickte auf und bemerkte, dass Ben sie anlächelte. „Was ist los?" erkundigte sie sich. „Ich finde, das hast du großartig gemacht", antwortete er, noch immer lächelnd. „Es hat lange gedauert, aber du hast es geschafft." Liv trank ihren Tee in einem Zug aus. Allmählich ließ die Anspannung nach, und plötzlich bemerkte sie, wie ausgehungert sie war. Hungrig und erschöpft, aber in Sicherheit. „Hast du vielleicht so etwas wie Toast?" Ben lächelte jungenhaft. „Natürlich. Eigentlich ist es inzwischen auch schon fast Zeit zum Frühstücken." Liv schlief wie ein Murmeltier. Erst nach elf wachte sie auf, als sie Kit vor ihrer Tür schreien hörte - und Ben, der beruhigend auf ihn einredete. „Liv? Kann ich hereinkommen?" Sie setzte sich auf und zog die Decke bis unters Kinn. „Ja, komm herein!" Die Tür ging auf, und Ben trat ein. Er trug den dicken Wollpullover und seine heiß geliebten Jeans, die er auch schon am Vorabend beziehungsweise am Morgen - getragen hatte. Sie hatte nur drei Stunden geschlafen. Ben sah frisch und ausgeruht aus. Er schien bereits geduscht zu haben, sein kurzes dunkles Haar war noch feucht. Liv lächelte ihn an, und er trat zu ihr ans Bett. „Hallo. Hier ist ein Baby, das ziemlich energisch nach seiner Mutter verlangt." Er lehnte Kit an seine Schulter und streichelte ihn, und beim Anblick des großen Mannes und des winzigen Säuglings schnürte sich Liv die Kehle zu. Ben legte Kit die Hand auf den kleinen Kopf und drückte ihn an seine frisch rasierte Wange. „Ganz ruhig, mein Kleiner", sagte er beruhigend. Wehmütig stellte sie fest, wie liebevoll er mit dem Baby umging, während Oscar gegenüber Kit - seinem eigenen Sohn - fast gleichgültig gewesen war. „Geht es ihm gut?" fragte sie schuldbewusst. „Es tut mir Leid, ich habe gar nicht gehört, dass er geschrien hat." „Das macht doch nichts", erwiderte Ben. „Ich war sowieso schon wach. Er hat nur ziemlich großen Hunger, und ich fürchte, meine Wickelkünste gefallen ihm auch nicht so recht. Missy schläft noch." Sie nahm ihm den Kleinen ab, und ohne nachzudenken, zog sie das T-Shirt hoch und legte ihn an die Brust. Sofort hörte er auf zu schreien, und als sie lächelnd aufblickte, sah sie, dass Ben starr und mit undurchdringlicher Miene ihre Brust betrachtete. Nach einem Moment räusperte er sich und wandte den Blick ab. Liv schloss die Augen und seufzte. O nein. Es war ihm unangenehm. Das hatte sie nicht gewollt. „Es tut mir Leid ..." begann sie, doch er schnitt ihr das Wort ab. „Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest", entgegnete er. „Ich werde dich in Ruhe lassen. Soll ich dir vielleicht etwas zu trinken bringen? Meine Schwestern verlangen immer, dass man ihnen Tee kocht, weil sie beim Stillen Durst bekommen." „O ja, bitte, wenn es dir nichts ausmacht." Er blieb im Türrahmen stehen und wandte die Augen nicht von ihrem Gesicht ab. „Soll ich auch ein Fläschchen vorbereiten, oder möchtest du es zuerst so versuchen?" Sie betrachtete seufzend ihre Brust, die weich und hell war, nicht mehr prall und blau geädert wie kurz nach der Geburt. „Ich weiß nicht", sagte sie unsicher. „Ich möchte ihn gern stillen, wenn es möglich ist, aber ich will nicht, dass er hungrig bleibt." „Ich werde vorsichtshalber ein kleines Fläschchen vorbereiten, und nachher rufe ich eine Hebamme an und bitte sie herzukommen, damit du alles in Ruhe mit ihr besprechen kannst. Was hältst du davon?" „Nicht eine Hebamme, sondern eine Sozialarbeiterin", berichtigte sie ihn. „Die Hebamme kümmert sich nur in den ersten zehn Tagen nach der Geburt um die Frauen. Und außerdem geht es Kit und mir ausgezeichnet." „Ich werde sie trotzdem anrufen. Vielleicht kann sie dir wichtige Ratschläge geben." Daraufhin ließ er sie mit Kit allein, der eifrig trank. Doch sie merkte, dass er nicht satt wurde, und so war sie dankbar für das Fläschchen, das Ben ihr brachte. Und dann kam auch schon die Sozialarbeiterin, eine Vertrauen erweckende, sympathische Frau, die ihr viele gute Tipps gab. Liv war sehr froh darüber, denn sie hatte auch Missy auf Oscars Drängen hin mit der Flasche großgezogen und daher nicht viel Erfahrung mit dem Stillen. „Das wird Ihnen bestimmt gut gelingen", versicherte ihr die Sozialarbeiterin. „Trinken Sie viel, stillen Sie ihn, wann immer er Hunger hat, und geben Sie nur zusätzlich das Fläschchen, wenn es absolut notwendig ist, damit Sie genug Schlaf bekommen. Dann werden Sie bald feststellen, dass Sie mehr Milch haben, als der kleine Mann trinken kann. Und jetzt muss ich ihn noch einmal knuddeln, bevor ich gehe." Sie nahm Kit auf den Arm und spielte mit ihm, während Liv sich Gedanken darüber machte, wie lange sie wohl Bens Gastfreundschaft noch in Anspruch nehmen und von seiner Gutmütigkeit profitieren könnten. Missy lag neben ihr in dem großen Sessel, beobachtete interessiert die Sozialarbeiterin und lutschte am Daumen. Von Zeit zu Zeit fielen ihr die Augen zu. Ausgezeichnet, dachte Liv. Wenn Missy einen Mittagsschlaf machen und Kit auch ein wenig schlafen würde, dann könnte sie endlich in Ruhe mit Ben über die Stelle als Haushälterin sprechen. Nicht, dass sie viel Ahnung von Hausarbeit hatte ... Sie war mit neunzehn Jahren von zu Hause aus- und in eine Wohngemeinschaft gezogen, wo sie sich fast ausschließlich von Joghurt und Tomaten ernährt hatte. Eines Tages hatte sie Oscar kennen gelernt und war nach einiger Zeit zu ihm gezogen. Da sie Personal gehabt hatten, hatten ihre Aufgaben lediglich darin bestanden, von Zeit zu Zeit am Wochenende zu kochen, wenn sie weder ausgehen noch Essen bestellen wollten. Eigentlich konnte sie nur Salate zubereiten - Models hielten sich im Allgemeinen kaum in der Küche auf. Mein Verhältnis zum Kochen könnte man mit dem Verhältnis eines Eunuchen zu einer wunderschönen Frau vergleichen, die er verführen möchte - zu frustrierend, um auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, dachte Liv ironisch. Ich habe nicht gerade die besten Voraussetzungen, gestand sie sich seufzend ein. Aber sie würde es schon lernen. Sie musste! Ben saß in seinem Arbeitszimmer. Er lehnte sich zurück und hörte Liv zu, die ihren Kindern im Raum über ihm mit sanfter Stimme ein
3
Schlaflied sang. Der Gesang war tröstlich und beruhigend und berührte Ben tief. Dann hörte das Singen auf, und er vernahm leise Schritte auf der Treppe. Vor seinem Zimmer hielten sie inne, und er stand auf und öffnete die Tür. Liv stand im Flur und hatte gerade anklopfen wollen. Er lächelte sie an. „Hallo. Möchtest du einen Tee trinken? Ich wollte gerade welchen kochen." „Ich wollte mit dir sprechen." „Können wir das vielleicht beim Teetrinken tun?" „In Ordnung, aber ich mache den Tee." Sie wandte sich um, ging rasch in die Küche und füllte den Kessel mit Wasser. Ben setzte sich in einen der gemütlichen Sessel bei den großen Fenstern, blickte in den Garten hinter dem Haus und wartete. Aus Erfahrung wusste er, dass Liv sich nicht zur Eile antreiben ließ. Sie machte alles auf ihre Art, das hatte er im Lauf der Jahre begriffen. Er liebte seine Küche, die sich von der Vorder- bis zur Rückseite des Hauses erstreckte. Neben seinem Schlafzimmer war die Küche der einzige Raum im Haus, der zu beiden Seiten Fenster hatte. Im Sommer konnte man die Türen zum Garten hin öffnen oder draußen Kaffee trinken und dabei den Vögeln und dem Geräusch des weit entfernten Straßenverkehrs zuhören. Und im Winter war es in der Küche warm und behaglich. Eigentlich benutzte er die anderen Zimmer nur dann, wenn er Besuch zu sich nach Hause einlud. Und das hatte er in letzter Zeit immer seltener getan. Er hatte genug von Klatsch und oberflächlichem Small Talk und traf sich nur noch mit Geschäftspartnern, zumeist im Hotel oder Restaurant. Es widerstrebte ihm, Fremde in sein Haus - und damit in seine Privatsphäre - zu lassen. „Ich wollte mit dir über die Stelle sprechen." Überrascht blickte er Liv an. „Die Stelle?" „Die Stelle als Haushälterin - du hast mich vor ein paar Wochen angerufen, um mir zu Kits Geburt zu gratulieren. Dabei hast du erwähnt, dass du eine Haushälterin suchst." Ben dachte an Mrs. Greer, die seit vielen Jahren für ihn arbeitete. Sie war eine ausgezeichnete Haushälterin, aber sie konnte nicht kochen. Er wollte Mrs. Greer weiter beschäftigen und nur für diese Aufgabe jemanden einstellen. Jetzt, wo Liv und die Kinder da waren, würde Mrs. Greer mehr zu tun haben, und wenn Liv die „Stelle" aus Stolz unbedingt wollte, dann sollte sie sie eben bekommen. Sie musste ohnehin für die Kinder und sich selbst kochen, also würde es für sie nicht wesentlich mehr Arbeit bedeuten. Doch sie würde sich wohler fühlen. Außerdem konnte er so sicherstellen, dass sie eine Weile bei ihm blieb, und er könnte ein Auge auf sie und die Kinder haben, damit ihnen nicht noch einmal so etwas Schlimmes passierte. Und er würde Gesellschaft haben. Ben lehnte sich zurück. „Bist du denn qualifiziert für die Arbeit?" fragte er. Zu seiner Verwunderung nahm Liv ihn ernst. Sie errötete, straffte sich und sah ihn entschlossen an. „Nein, eigentlich nicht", gab sie offen zu. „Aber ich werde es lernen. Ich werde Bücher lesen und üben und Neues ausprobieren. Du brauchst keine Angst zu haben, dass du eine Salmonel-lenvergiftung bekommst, Ben. Ich werde mein Bestes tun." Er schmunzelte. „In Ordnung, du hast mich überzeugt. Du kannst sofort anfangen. Was ist aus dem Tee geworden?" Liv warf einen Blick in die Teekanne, in der sie heftig herumgerührt hatte, und errötete erneut. „Ich ... ich mache neuen. Ich glaube, ich habe die Teebeutel zerdrückt." Ben unterdrückte ein Lachen, und insgeheim betete er, dass dies kein schlechtes Omen für ihre künftigen Kochversuche war. 2. KAPITEL „Was ist mit deinen Sachen?" fragte Ben, während er nachdenklich seinen Tee trank. „Meinen Sachen?" „Na ja, die Dinge in Oscars Wohnung, die dir gehören. Deine Kleider, die Kindersachen, all dein persönlicher Kram. Wann willst du all das herbringen?" „Das kann ich nicht", erwiderte Liv resigniert. „Oscar hat gesagt, dass er nichts davon hergeben wird." Ben presste die Lippen zusammen und strich sich ungeduldig mit der Hand durchs Haar. „Aber du brauchst doch zumindest die Sachen für die Kinder. Besonders Missy werden die vertrauten Spielsachen und Kleider fehlen, und auch du benötigst mehr als die eine Hose, die du jetzt trägst. Willst du wirklich all deine persönlichen Dinge Oscar überlassen?" Liv zuckte die Schultern und bestrich eine weitere Scheibe Toast mit Butter. Ob sie nun wollte oder nicht, sie würde Oscar nicht dazu bewegen können, ihr zu geben, was ihr gehörte. „Würdest du mir einen Vorschuss auf mein erstes Gehalt geben? Dann könnte ich ein paar Dinge gebraucht kaufen und ..." „Und Oscar all deine Sachen in den Rachen werfen? Wozu braucht er sie denn?" „Um mich zu demütigen? Oder als Waffe, für den Fall, dass er mich zurückhaben will?" Sie biss in den Toast. Er blickte sie nachdenklich an. „Würdest du das tun - zu Oscar zurückgehen?" „Nie im Leben", erwiderte sie entschieden. „Nichts, was Oscar tun oder sagen könnte, würde mich dazu bringen, zu ihm zurückzugehen. Er hat sich nie wirklich etwas aus mir gemacht, ich war damals nur interessant für ihn, weil mein Gesicht auf den Titelblättern der Modezeitschriften war und jeder mich kannte. Jetzt bin ich ihm egal." Ben trank seinen Tee aus. „Ich muss los", sagte er. „Ich habe ein zweites Auto, einen Kleinwagen, mit dem ich immer dann fahre, wenn ich am Flughafen oder Bahnhof parken muss - er wird nicht so leicht gestohlen wie der Mercedes. Du kannst ihn gern nehmen. Im Wagen ist auch eine Fernbedienung für das Garagentor und das Tor an der Auffahrt." „Danke. Ich könnte vielleicht etwas fürs Abendessen einkaufen ... Oh, ich habe nicht daran gedacht, dass ich keine Kindersitze habe." „Das werden wir so bald wie möglich regeln. Du kannst gern meine Putzfrau anrufen, sie hütet auch immer die Kinder ihrer Schwester und ist sehr nett und hilfsbereit. Sie heißt Mrs. Greer, ihr Name steht an der Pinnwand. Ach ja, Geld ..." fuhr er fort. „Ich gebe dir eine Scheckkarte für mein Konto. Ich kann dir doch vertrauen, oder?" Er hatte es nicht ernst gemeint, aber trotzdem verletzten seine Worte sie. Oscar hatte sie immer misstrauisch kontrolliert und genau aufgepasst, wie viel sie ausgab und wofür. Ihr Geld hatte er dagegen mit vollen Händen zum Fenster hinausgeworfen, und es war schon lange nichts mehr davon übrig. „Liv, ich habe doch nur Spaß gemacht", meinte Ben sanft und legte seine große Hand auf ihre schmale. „Mach dir keine Gedanken. Kauf alles, was du dringend brauchst. Wir können dann morgen in Ruhe die restlichen Sachen für die Kinder besorgen. Wenn du bis dahin noch etwas benötigst, fahr einfach los, und kauf es." „Musst du nicht ins Büro?" fragte sie besorgt. „Ich bringe deinen ganzen Tagesablauf durcheinander." „Ich arbeite viel von zu Hause aus - mein Computer ist über Fax und E-Mail mit dem Netzwerk der Firma verbunden, außerdem habe ich ausgezeichnete Mitarbeiter. Ich kann mir ohne Probleme mal einen Tag freinehmen." Er stand auf. „Pass auf dich und die Kinder auf. Und wenn du etwas brauchst, ruf mich einfach über mein Handy an." „Wohin fährst du denn?" erkundigte Liv sich unwillkürlich und ärgerte sich über sich selbst - sie wollte auf keinen Fall besitzergreifend erscheinen. „Nach London - zu einem geschäftlichen Treffen. Ich komme aber nicht sehr spät zurück. Du brauchst nichts zu kochen, wir können etwas bestellen, wenn ich wieder da bin. Falls Missy Hunger bekommt, plündere einfach die Küche - du wirst schon etwas Essbares finden." Ben beugte sich zu ihr, um sie auf die Wange zu küssen. Im selben Moment wandte sie den Kopf, und seine Lippen streiften ihre. Obwohl die sanfte Berührung nur den Bruchteil einer Sekunde dauerte, berührte sie etwas in Livs Innerem. Noch lange nachdem er gegangen war, blickte sie starr auf die Tür, durch die er verschwunden war. Nachdenklich strich sie sich mit den Fingern über den Mund. Noch immer spürte sie seine Lippen auf ihren - warm, sanft und verführerisch. Warum nur übte ein KUSS von ihm eine derart starke Wirkung auf sie aus? Sie fühlte sich plötzlich so lebendig, so begehrenswert...
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Ben parkte den Wagen in der Tiefgarage, sprach mit dem Wächter und gab ihm ein großzügiges Trinkgeld. Dann fuhr er mit dem Aufzug drei Stockwerke nach oben und trat in das mit dickem Teppich ausgelegte Foyer. Eine stark geschminkte Blondine schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und schlug ein Bein über das andere, wobei ihr Minirock noch einige Zentimeter höher rutschte. „Kann ich Ihnen helfen?" erkundigte sie sich in verführerischem Tonfall. „Ich möchte zu Oscar Harding." „Haben Sie einen Termin?" Ben setzte sein charmantestes Lächeln auf. „Nein, aber ich bin sicher, dass er mich trotzdem gern empfangen wird. Würden Sie so nett sein und ihm Bescheid sagen, dass Ben Warriner hier ist?" Sie griff zum Hörer, und er drehte sich um und ließ den Blick über die Schilder an den Türen gleiten. Sein Name war nicht zu sehen, und sicher hatte Oscar ein besonders protziges Schild an der Tür, um deutlich zu machen, wie wichtig er war. Sein Büro war also vermutlich weiter den Gang entlang. Ben wandte sich wieder der Blondine zu. „Mr. Ben Warriner möchte mit Ihnen sprechen, Mr. Harding. Er sagt, Sie würden ihn sicher empfangen ... Oh, gut, ich werde es ihm sagen." Sie legte den Hörer auf und wandte sich mit einem verlegenen Lächeln an ihn. Sicher hatte Oscar sich nicht gerade druckreif ausgedrückt, und sie versuchte, es ihm, Ben, etwas diplomatischer beizubringen. „Mr. Harding hat heute leider keine Zeit mehr für Sie", log sie. „Er bittet Sie, einen Termin zu vereinbaren, wenn es Ihnen nichts ausmacht." „Es macht mir etwas aus", entgegnete er. „Ich hatte einen sehr weiten Weg bis hierher. Wo ist sein Büro?" Unwillkürlich glitt ihr Blick in Richtung des Ganges. Die Situation schien ihr sehr unangenehm zu sein. „Nein, das geht nicht. Es tut mir Leid, aber Mr. Harding wird Sie ohne einen Termin nicht empfangen ..." „Und ob er das wird", schnitt Ben ihr das Wort ab. Ohne auf ihre protestierenden Rufe zu achten, ging er den Korridor entlang, während die Sekretärin schnell zum Telefonhörer griff. Er stieß eine Flügeltür auf und erblickte ein überdimensionales Schild, auf dem in riesigen Messinglettern die Aufschrift „OSCAR HARDING, GESCHÄFTSFÜHRER" prangte. Ben öffnete die Tür und trat ein. Oscar, der an seinem Schreibtisch gesessen hatte, stand auf. „Was fällt dir eigentlich ein, dich hier so aufzuspielen, Warri-ner?" fragte er. Ben lächelte grimmig, als er auf dem Schreibtisch die Fotos von Liv und den Kindern sah - Oscar, der perfekte Familienvater. „Ich bitte um Verzeihung. Ich musste dringend mit dir sprechen, aber leider hast du nicht auf meine Anrufe reagiert. Den ganzen Tag habe ich versucht, dich zu erreichen." „Ich habe eben viel zu tun." „Haben wir das nicht alle? Allerdings bin ich in den letzten vierundzwanzig Stunden ein wenig abgelenkt worden - dreifach, um genau zu sein. Da fällt es einem schwer, sich zu konzentrieren." „Ich dachte mir schon, dass Liv zu dir kommen würde", sagte Oscar selbstgefällig. „Immer wenn ihr etwas zu heiß wurde, ist sie zum guten alten Ben gerannt." „In diesem Fall würde ich wohl eher von ,eiskalt' sprechen", erwiderte Ben. „Willst du mich eigentlich nicht hinauswerfen lassen?" Oscar lachte, setzte sich und wies auf den gegenüberstehenden Stuhl. „Du meine Güte, nein! Wir sind doch beide erwachsene Männer. Was kann ich für dich tun? Sollst du ein gutes Wort für sie einlegen und ihre Rückkehr vorbereiten?" Ben schluckte die aufkommende Wut hinunter und ging langsam zum Fenster. Er zog es vor zu stehen - es würde seine Autorität gegenüber diesem Kriecher unterstreichen. Es würde ohnehin nicht lange dauern. Liv schlief, als er nach Hause kam, in seinen Lieblingssessel gekuschelt. Ihre dunklen Wimpern hoben sich von der hellen Haut ab, und sie wirkte fast so jung wie Missy. Bei ihrem Anblick wurde Ben warm ums Herz. Er kniete sich neben den Sessel und legte die Hand auf ihr Knie. „Liv?" Langsam öffnete sie die Augen, und er strich ihr eine Strähne aus der Stirn. „Hallo." Sie setzte sich auf. „Hallo. Ich dachte, du würdest früher wiederkommen." „Ich wurde aufgehalten. Ich war bei Oscar. Morgen können wir deine Sachen abholen." Sprachlos sah sie ihn an. „Wirklich? Wie hast du das angestellt?" Ben lächelte. „Ganz einfach. Ich habe ihm klargemacht, dass ich ein paar Dinge ausplaudern könnte, über die er lieber Stillschweigen bewahren möchte." Liv stand auf. „Es macht ihm also gar nichts aus, wenn wir meine Sachen holen?" „Danach habe ich ihn nicht gefragt. Wir nehmen einfach alles, was dir oder den Kindern gehört. Ich habe für morgen um elf Uhr einen LKW und zwei Möbelpacker bestellt. Am besten nimmst du erst einmal alles mit und entscheidest dann hier in Ruhe, was du behalten und was du wegwerfen möchtest." „Oder verkaufen. Viele meiner Kleider passen mir nicht mehr. Ich könnte sie sicher an einen Secondhandshop verkaufen. Das Geld kann ich gut gebrauchen." „Wo ist eigentlich .das ganze Geld geblieben, das du als Model verdient hast?" fragte Ben verwundert. „Es muss doch ein kleines Vermögen gewesen sein." Sie lachte bitter. „Hast du die tollen Autos und die extravaganten Möbel in der Wohnung nicht gesehen?" „Ich war nur in Oscars Büro." „Dort ist auch eine ganze Menge von dem Geld geblieben. Er hat sich damit ,ein passendes Image' aufgebaut, wie er es nannte. Er hat schon dafür gesorgt, dass nicht ein Penny davon übrig geblieben ist." „Du hast ihm dein ganzes Geld gegeben?" Liv schnaufte. „,Gegeben' ist nicht das richtige Wort. Was glaubst du, wovon wir gelebt haben? Sicher nicht von seinem Unternehmen, das steht doch ständig kurz vor dem Bankrott, und Oscar tut alles, damit niemand es bemerkt. Ich habe es auch nur zufällig herausgefunden. Es war Oscar äußerst wichtig, den Schein zu wahren. Dazu gehörte auch, dass ich ein Vermögen für meine Garderobe ausgab. Ich war für ihn so etwas wie ein dekoratives modisches Accessoire." Sein Hass auf Oscar wurde immer stärker, doch Ben wollte seine Gedanken nicht an ihn verschwenden und versuchte, sich abzulenken. „Wie steht es mit unserem Abendessen? Hast du Hunger?" fragte er Liv. Sie nickte. „Und wie! Ich habe noch ein paar Scheiben Toast gegessen, als ich Missy gefüttert habe, aber das war alles." „Ich werde uns etwas bestellen. Was möchtest du denn - Chinesisch, Indisch ...?" „Ich würde für mein Leben gern wieder einmal Fish and Chips essen", sagte sie sehnsüchtig. „Das letzte Mal ist bestimmt zehn Jahre her." „Dagegen müssen wir natürlich etwas unternehmen", erwiderte Ben lächelnd. „Heute kaufe ich das Essen hier im Ort, aber demnächst werden wir ans Meer nach Aldeburgh fahren - dort gibt es die besten Fish and Chips der ganzen Welt." Er fuhr zum nächsten Imbiss, und als er zurückkam, sah er Liv fasziniert beim Essen zu. Sie saß im Schneidersitz in einem der Sessel und verzehrte hingebungsvoll ihre Fish and Chips. Schließlich zerknüllte sie die leere Verpackung, leckte sich der Reihe nach sämtliche Finger ab und seufzte wohlig. „Das war fantastisch." Ben lächelte. „Und ich dachte immer, dass Models sich ausschließlich von Salat ernähren." Schuldbewusst blickte sie ihn an. „Ja, das waren sicher Tausende von Kalorien - aber das ist mir egal. Ich hatte so einen Hunger! Mit der Diät kann ich morgen anfangen." „Du hast es nicht nötig, eine Diät zu machen." „O doch", entgegnete sie. „Ich habe ziemlich zugenommen." Das stimmte, doch er fand sie jetzt wesentlich attraktiver als früher. Er konnte überschlanken, magersüchtig wirkenden Frauen nichts abgewinnen. Er mochte sanfte Rundungen - keine Frauen, die so dünn waren, dass er Angst haben musste, ihnen die Knochen zu brechen. Ben warf Liv, die den Kessel mit Wasser füllte, einen nachdenklichen Blick zu. Ihren Worten über das Stillen zufolge war es wohl Oscars Verdienst, dass sie ihren Körper nicht schön fand.
5
Ungläubig schüttelte Ben den Kopf. Er hatte sich heute sehr zurückhalten müssen, um Oscar nicht eine Abreibung zu verpassen. Zum Glück würde Oscar nicht da sein, wenn sie morgen in die Wohnung fahren und Livs Sachen holen würden - diese Bedingung hatte er, Ben, gestellt. Er hatte ihm einen gehörigen Schrecken eingejagt, sicher würde Oscar weder Liv noch den Kindern irgendwelche Probleme bereiten. Und falls doch, so hatte er, Ben, noch weitere Trümpfe in der Hand, die er, ohne zu zögern, gegen ihn ausspielen würde. Er hatte während der vergangenen vier Jahre - seit Liv mit Oscar zusammengezogen war - Informationen über ihn gesammelt, denn er verachtete und verabscheute ihn zutiefst. Oscar bemühte sich zwar, ein eindrucksvolles Image aufzubauen, war jedoch nichts weiter als ein Kriecher. Er, Ben, hoffte nur, dass Liv nie die ganze Wahrheit über ihn erfahren würde. Es war ein merkwürdiges Gefühl, in die alte Wohnung zurückzufahren. Die Kinder waren in der Obhut von Mrs. Greer geblieben, einer mütterlichen und herzensguten Frau, zu der Liv sofort Vertrauen gefasst hatte. Dann waren Ben und sie mit dem Mercedes nach London gefahren. „Bist du wirklich sicher, dass Oscar nicht da sein wird?" fragte sie ihn nun wohl schon zum tausendsten Mal, als er in der Tiefgarage parkte. Ben lächelte nachsichtig. „Ganz sicher. Mach dir keine Gedanken, Liv." Er hatte Recht. Oscar war nirgends zu sehen, doch die Wohnung rief Erinnerungen in ihr wach, zumeist unangenehme. Die Möbelpacker arbeiteten schnell, und schon nach einer halben Stunde deutete nichts mehr darauf hin, dass sie und die Kinder dort gewohnt hatten. Sie nahm alle Fotos von den Kindern mit, die Spielsachen, alle Dinge aus ihrer Zeit als Model und sämtliche Sachen, die sie aus dem Haus ihrer Eltern mitgebracht hatte. Und ihre wunderschönen Kleider, die ihr nie wieder passen würden, extravagante Designermodelle und maßgeschneiderte Abendroben. Liv, die Jeans und einen weiten Wollpullover trug, seufzte bei diesem Anblick. Ihr Leben würde sich von Grund auf ändern, doch sie bereute ihre Entscheidung, Oscar zu verlassen, nicht. Es war das Beste gewesen, was sie in den vergangenen vier Jahren getan hatte. „Ich habe alles", sagte sie. Ben nickte und wandte sich an die Möbelpacker. „Okay, Kumpels, das war's. Wir sehen uns dann in Suffolk." Die Männer verschwanden, und Liv und Ben gingen ein letztes Mal durch die Wohnung. „Bist du traurig?" fragte er, doch sie schüttelte energisch den Kopf. „Überhaupt nicht. Es ist erschreckend, aber ich empfinde gar nichts." Er legte den Arm um sie und drückte sie liebevoll an sich. „Dann lass uns nach Hause fahren", meinte er. Und genauso empfand sie es auch: als würde sie wirklich nach Hause fahren. Missy strahlte über das ganze Gesicht, als sie ihre Spielsachen wiederhatte. Liv war froh, dass sie und Ben alles geholt hatten -auch die vielen Erinnerungsstücke wie zum Beispiel Missys erste Haarlocke und ihre Babyfotos. Sie wäre todunglücklich gewesen, wenn diese Schätze verloren gegangen wären, und sie war sicher, dass Oscar sie nicht vermissen würde. Er hatte ja auf seinem Schreibtisch im Büro Fotos von ihr und den Kindern - natürlich nur, um einen Vertrauen erweckenden Eindruck zu machen, das perfekte Oberhaupt einer perfekten Familie. Momentan benahmen sich die Mitglieder dieser Familie allerdings alles andere als perfekt. Missy weinte, weil sie ein verkehrt herum liegendes Teil nicht in ihr Holzpuzzle einfügen konnte, und Kit, der gerade aufgewacht war, hatte Hunger und schrie. Liv half Missy mit dem Puzzleteil, nahm dann den Säugling aus seinem Bettchen und setzte sich mit ihm in den Sessel. Als sie ihren Pullover hochgeschoben und Kit an die Brust gelegt hatte, hörte er sofort auf zu schreien und begann zu trinken. Liv schloss die Augen und lehnte sich entspannt in dem gemütlichen Sessel zurück. Sie musste sich noch Gedanken über das Abendessen machen. Zuerst allerdings musste Kit gestillt werden, und dafür brauchte sie Ruhe und ... „Tee?" Liv öffnete die Augen. Ben stand vor ihr. Er bemühte sich, ihre Brust nicht anzusehen. Obwohl diese durch den Pullover fast völlig verdeckt war, schien er unangenehm berührt zu sein. Und trotzdem war er zur Stelle, um ihr einen Gefallen zu tun - gerade so, als könnte er ihre Gedanken lesen. Er war wirklich ein großartiger Freund. „Ja, bitte", antwortete sie lächelnd. „Kit ist ganz ausgehungert. Mrs. Greer hat gesagt, er hätte das Fläschchen nicht so gut angenommen. Vielleicht hat er sich wieder daran gewöhnt, gestillt zu werden." „Das hoffe ich, denn es tut euch beiden gut. O Missy, passt es nicht?" Ben hockte sich zu ihrer kleinen Tochter auf den Boden und half ihr mit dem Holzpuzzle. Als sie fertig waren, hob Missy das Puzzle hoch und schwenkte es voller Stolz herum, woraufhin alle Teile wieder herausfielen. Erneut half er ihr dabei, die Teile richtig einzusetzen. Liv beobachtete sie dabei. Anschließend machte er Tee und setzte sich in den Sessel ihr gegenüber. Von Zeit zu Zeit beugte er sich vor, um Missy zu helfen. Ansonsten wandte er die Augen nicht von seinem Becher ab. Er schien es absichtlich zu vermeiden, sie anzusehen. „Ist es dir unangenehm, wenn ich Kit hier stille?" fragte sie leise. „Soll ich lieber mit ihm nach oben gehen?" Ben sah ihr in die Augen und betrachtete dann das Baby und ihre Brust. Seine Miene war undurchdringlich. „Nein, es ist mir nicht unangenehm, Liv", erwiderte er sanft. „Du kannst Kit stillen, wo immer du möchtest." Damit wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Tee zu. Liv lehnte Kit an die Schulter und ließ ihn ein Bäuerchen machen, bevor sie ihn an die andere Brust legte. Sie hatte sich inzwischen schon gut an das Stillen gewöhnt und war froh darüber, dass Ben ihr versichert hatte, es wäre ihm nicht unangenehm. Sicher war es die Wahrheit, denn sonst würde er nicht bei ihr sitzen bleiben und mit ihr Tee trinken. Vielleicht hatte er sie nur deswegen nicht angesehen, weil er gefürchtet hatte, es wäre ihr unangenehm. Liv beschloss, sich keine Gedanken mehr darüber zu machen, und blickte auf den kleinen, mit weichem Flaum bedeckten Kopf des Säuglings. Kit war noch so winzig, konnte sich jedoch bereits sehr gut durchsetzen. „Ich habe die Babysitze ins Auto gebracht", sagte Ben unvermittelt. „Wenn du also irgendwohin fahren möchtest, kannst du es jederzeit tun." Verständnislos blickte sie ihn an. „Irgendwohin fahren?" „Ja, zum Beispiel zum Einkaufen." Sie musste noch die Zutaten für das Abendessen besorgen. O nein! „Toll, vielen Dank!" Liv rang sich ein Lächeln ab. „Was würdest du heute Abend gern essen?" „Was kannst du denn kochen?" fragte er. Sie überlegte fieberhaft. „Hm ... vielleicht Hühnchen mit Soße?" „Das klingt gut. Mit was für einer Soße?" Fertigsoße, hätte sie fast geantwortet. Doch als sie seinen erfreuten Blick sah, erwiderte sie: „Ich weiß es noch nicht. Möchtest du Reis oder Kartoffeln dazu?" „Reis." Mist, dachte Liv. Reis zu kochen war kompliziert. Sogar sie konnte Kartoffeln schrubben und dann im Ofen backen, aber mit Reis hatte sie schon immer Schwierigkeiten gehabt. Warum hatte sie es nur vorgeschlagen? Sie würde Reis im Kochbeutel kaufen müssen - das war idiotensicher. Kit hatte fertig getrunken. Liv legte ihn auf den Schoß, zog sich den Pullover wieder richtig an und stand auf. „Ich gehe ihn jetzt wickeln. Möchtest du mitkommen, Missy?" Missy schüttelte den Kopf. „Puzzle", sagte sie und sah Ben hoffnungsvoll an. „Helfen", forderte sie ihn auf, und zu Livs Erstaunen kniete er sich tatsächlich auf den Teppich und half ihr. „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm", meinte er leise. „Du kannst mich schon genauso leicht um den kleinen Finger wickeln wie deine Mutter." Er kitzelte sie an der Nase, und sie quietschte vor Vergnügen. Liv riss sich vom Anblick der beiden los und ging mit Kit nach oben.
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Vielleicht hatte sie Glück, und er würde während des Einkaufs schlafen, bis sie wieder zu Hause waren. Kit schrie. Von dem Moment an, als sie den Supermarkt betraten, schrie er aus Leibeskräften. Liv schob den Einkaufswagen mit ihm im Babysitz an den Regalen mit dem Gemüse, den Milchprodukten, den Babypflegemitteln und der Tiefkühlkost entlang. Sie kaufte eine Fertigsoße, Hähnchenbrust, Reis im Kochbeutel und tiefgekühlte Erbsen, außerdem Essen für Missy und ein Fertigdessert. Auf dem Weg nach Hause verfuhr sie sich. Sie besaß keinen sehr guten Orientierungssinn, und da Kit ununterbrochen schrie, fiel es ihr schwer, sich zu konzentrieren. Niemand war zu Hause, als sie ankamen. Liv war enttäuscht, sie hatte sich in den vergangenen beiden Tagen sehr an Bens Gegenwart gewöhnt. Sei nicht albern, er muss eben arbeiten, schalt sie sich. Schließlich hatte sie seinen Tagesablauf schon genug durcheinander gebracht und konnte nicht auch noch erwarten, dass er sich nur nach ihr richtete. Aber ohne ihn erschien ihr das Haus richtig verlassen. Sie legte Kit in sein Bettchen, wo er weiter schrie, während sie die Einkäufe ins Haus brachte. Zum Glück schloss die Garage direkt ans Haus an. Missy stolperte auf den Stufen, die ins Haus führten, schürfte sich die Hände auf und schrie noch lauter als Kit. Liv wusch ihr die Kratzer aus und tröstete sie. Sie fragte sich, wie sie es fertig bringen sollte, das Abendessen zuzubereiten. Schließlich gelang es ihr, Kit zu beruhigen. Als er endlich schlief, ging sie in die Küche und las die Anweisungen auf dem Soßenglas durch. Sofort war sie beruhigt - es klang so einfach, dass man kaum etwas falsch machen konnte. „Also, kleine Miss, möchtest du mir beim Kochen helfen?" Missy nickte eifrig, und Liv hob sie auf die Arbeitsplatte direkt neben dem Waschbecken. Sie wusch sich und ihrer Tochter die Hände, dann setzte sie Missy in den Hochstuhl am Küchentisch und schnallte sie fest. „Als Erstes lesen wir noch einmal die Anleitung durch", erklärte sie. „Das Huhn zerteilen und in eine Auflaufform geben, die Soße hinzufügen, im Ofen garen. Das ist ja kinderleicht." Mis-sy kicherte. „Soll ich das Huhn zerteilen?" Missy nickte und sah aufmerksam zu, wie Liv das Fleisch würfelte und auf dem Boden der Form verteilte. „Und jetzt die Soße", fuhr sie fort. Das Glas ließ sich erst öffnen, nachdem sie heißes Wasser darüber hatte laufen lassen. Als sie sich wieder zu ihrer Tochter umwandte, stellte sie entsetzt fest, dass diese mitten auf dem Küchentisch saß und vergnügt mit der Zuckerdose spielte. „Wie bist du aus dem Hochstuhl herausgekommen?" fragte sie entgeistert. Missy strahlte sie an. „Aufgemacht", erklärte sie stolz. „Missy schlau." Noch etwas, worauf sie in Zukunft Acht geben musste! Liv setzte ihre Tochter wieder in den Stuhl und nahm ihr die Zuckerdose ab. Zum Glück war diese fast leer, was hätte Missy sonst alles anrichten können! „Als ob ich nicht schon genug um die Ohren hätte. Jetzt bleib bitte sitzen!" Sie schnallte Missy wieder an. Rasch goss sie die Soße über das Huhn und schob die Auflaufform in den Ofen. Sie machte Toast mit Rührei und Speck für Missy und schenkte ihr ein Glas Saft ein. Anschließend stillte sie Kit, badete beide Kinder und brachte sie ins Bett. Danach kochte sie den Reis, stellte ihn warm, garte das Gemüse und deckte den Tisch. Das Huhn wurde langsam knusprig, die Kinder waren im Bett, der Tisch fertig gedeckt - geschafft! Zufrieden setzte Liv sich in einen Sessel und wartete auf Ben. Es schmeckte einfach scheußlich. Sie hatte keine besonders hohen Erwartungen gehabt, doch so schlimm hatte sie es sich nicht vorgestellt. Angewidert schob Liv den Teller weg und sah Ben an. „Es tut mir wirklich Leid. Es hörte sich so an, als wäre es einfach zuzubereiten und lecker. Ich hätte nie gedacht, dass die Soße so scheußlich schmecken würde." Sie stocherte im Reis herum. Er war gelungen, aber ganz matschig von der Soße. Auch das Huhn war gut geworden, allerdings war die Soße so reichlich bemessen gewesen, dass alles danach schmeckte. Mit gerunzelter Stirn meinte Ben: „Soll es vielleicht süßsauer schmecken - ohne das Saure?" Süß...? „O nein!" rief Liv entsetzt und schlug die Hand vor den Mund. Er erstarrte und blickte sie fragend an. „Was ist denn?" „Missy", sagte sie. „Ich musste das Glas heiß abspülen, und als ich mich wieder zu ihr umgedreht habe, war sie aus ihrem Hochstuhl gestiegen und hat auf dem Tisch mit der Zuckerdose gespielt." „War das Fleisch in ihrer Reichweite?" Sie nickte zerknirscht. „Es stand direkt neben ihr. Sie wollte mir beim Kochen helfen, und vermutlich hat sie den gesamten Inhalt der Zuckerdose darüber ausgeleert - o Ben, es tut mir so Leid!" „Mach dir keine Gedanken. In Zukunft musst du eben besser auf die Zuckerdose aufpassen. Aber hast du nicht behauptet, du könntest kochen?" neckte er sie. „Nein, ich habe nur gesagt, dass ich es lernen würde - und dass ich dich nicht vergiften werde", erinnerte Liv ihn. „Ich habe nie behauptet, dass mein Essen dir schmecken würde." Um seinen Mund zuckte es leicht. Seufzend räumte sie die Teller ab. „Gibt es noch etwas zum Nachtisch?" Er duckte sich, für den Fall, dass sie etwas nach ihm werfen würde. Sie unterdrückte ein Lachen. „Du hast wohl noch nicht genug Zucker gehabt", erwiderte sie amüsiert. Ben sagte etwas Unverständliches, und sie strich ihm tröstend über die Wange. „Natürlich bekommst du Nachtisch. Ich habe einen fertigen Schokoladenkuchen gekauft, und nicht einmal mir wird es gelingen, ihn beim Auspacken ungenießbar zu machen. Und ich verspreche dir, dass er die ganze Zeit außerhalb Missys Reichweite war." Ben lachte, und sie stellte den Kuchen, zwei Teller und Schlagsahne auf den Tisch. Gemeinsam aßen sie den ganzen Kuchen auf. Er scheint gar nicht böse auf mich zu sein, dachte Liv und war wieder einmal verwundert darüber, dass ein so netter Mann wie Ben nicht verheiratet war. Die Frauen in Suffolk mussten alle blind und taub sein. „Wäre eine Tasse echter Kaffee zu viel verlangt, oder soll ich mir lieber einen Instantkaffee kochen?" erkundigte er sich trocken, und lachend schlug sie mit dem Geschirrtuch nach ihm. „Wo darf ich den Kaffee servieren?" „Vielleicht in meinem Arbeitszimmer? Da ist es sehr gemütlich. Allerdings muss ich dann immer daran denken, dass ich eigentlich arbeiten musste." „Wir könnten auch einfach hier bleiben. Diese Sessel sind sehr gemütlich." „Gute Idee." Ben half ihr dabei, das Geschirr hinauszutragen. Anschließend setzten sie sich wieder, tranken Kaffee und unterhielten sich stundenlang über alles Mögliche. Sie hatten sich schon immer gut unterhalten können, und nie hatte es ihnen an Gesprächsthemen gemangelt. In all den Jahren, seit wir uns kennen, war die Stimmung zwischen uns nie angespannt oder peinlich, dachte Liv, als sie vor dem Schlafengehen Kit stillte. Mit einer Ausnahme. Damals, als sie ihm erzählt hatte, dass sie mit Oscar zusammenziehen würde. Ben war merkwürdig distanziert gewesen, und sie hatte das unerklärliche Gefühl gehabt, dass ihre Entscheidung ihn verletzt hatte. Doch er hatte sich nie für sie als Frau interessiert. Das hätte er ihr sicher gesagt, und außerdem schien er ständig von Frauen umschwärmt zu sein. Es war das einzige Mal in zehn Jahren gewesen, dass er ihr Handeln scheinbar missbilligte, und es hatte sie schwer getroffen. Die Freundschaft zu Ben war ihr überaus wichtig, seit sie mit ihrer Familie in das Haus neben dem seiner Familie gezogen war. Sie war fünfzehn, er zweiundzwanzig gewesen. Er hatte damals in einer anderen Stadt studiert und nach seiner Rückkehr im Unternehmen seines Vaters gearbeitet. Ben und sie hatten viele gemeinsame Bekannte, und obwohl sie natürlich viel zu jung war, um für ihn als Frau interessant zu sein, war er immer besonders nett und hilfsbereit und begleitete sie geduldig zu zahlreichen Partys. Die Jahre vergingen, doch immer blieb Ben ihr bester, verlässlicher Freund und Vertrauter. Er brachte ihr das Autofahren bei und feierte mit ihr die bestandene Prüfung und ihren ersten Vertrag als
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Model. Sie hatte damals ihr Studium abgebrochen und sich auf ihre Karriere als Model konzentriert. Ben war immer für sie da gewesen, auch als sie sich zum ersten Mal unglücklich verliebt hatte. Nie hatte er sie kritisiert oder versucht, ihr in etwas hineinzureden. Bis sie Oscar begegnet war. Damals hatte Ben sich eine Zeit lang von ihr zurückgezogen, und er hatte ihr furchtbar gefehlt. Liv fragte sich, ob er sie überhaupt als Frau wahrnahm. Sie musste lachen. Beschwerten die meisten Frauen sich nicht darüber, dass ihre Männer sie nur als Frau und nicht als Menschen sahen? Außerdem waren Ben und sie nur sehr enge Freunde, nichts weiter, und sie war sich sicher, dass er sie nach all dieser Zeit immer nur als seine gute Freundin betrachten würde. Überrascht stellte sie fest, dass dieser Gedanke sie traurig stimmte. 3. KAPITEL Am nächsten Tag packte Liv die Kinder in den Geschwisterwagen, deckte sie sorgfältig zu und spannte das Verdeck auf, für den Fall, dass es regnen würde. Dann ging sie los ins Stadtzentrum von Woodbridge. Sie fand einen Secondhandshop, der kaum getragene Designersachen führte. Als Liv aufzählte, was sie zu verkaufen hatte, war die Besitzerin begeistert. „Darf ich zu Ihnen nach Hause kommen und gemeinsam mit Ihnen die Kleider durchsehen? Dann kann ich Ihnen sagen, was sich verkaufen lässt und was nicht, und Sie brauchen nicht alles hierher zu bringen." „Okay", willigte Liv erleichtert ein. Sie war froh darüber, dass sie nicht die beiden Kinder und die vielen Sachen gleichzeitig würde befördern müssen. „Jetzt beginnt gerade die Ballsaison - haben Sie vielleicht auch Abendgarderobe?" „Haufenweise", erwiderte Liv. „Gibt es in Woodbridge viele sehr schlanke Frauen?" „Jede Menge", antwortete die Frau seufzend. „Ich hasse sie. Wann soll ich vorbeikommen - tagsüber oder abends?" „Lieber tagsüber." Abends, wenn Ben nach Hause kam und sie kochen und die Kinder baden musste, hatte sie mehr als genug zu tun. Sie verabredeten eine Uhrzeit für den folgenden Tag. Anschließend schob Liv den Kinderwagen durch die Straßen und betrachtete die Schaufenster. Was für eine hübsche Stadt, dachte sie. In einer Apotheke kaufte sie Vitamintabletten für die Kinder. Als sie aus einer Bäckerei trat, stieß sie mit einem anderen Kinderwagen zusammen. „Entschuldigung", sagte sie, blickte auf - und erkannte Kate, ihre alte Freundin vom College, die sie überrascht ansah. „Liv? Liv Kensington? Was machst du denn hier?" „Pst", machte Liv, die keine Aufmerksamkeit erregen wollte. Niemandem würde eine Frau mit zwei kleinen Kindern auffallen, doch ihr Name war einmal so bekannt gewesen wie der von Liz Hurlington. Sie wollte nicht an ihre Zeit als Model erinnert werden - nicht jetzt, da sie mehr als zehn Kilo zugenommen hatte und ihre Frisur eine Katastrophe war. „Ich wohne hier zurzeit bei einem Freund. Und was ist mit dir? Du siehst toll aus! Erzähl mir alle Neuigkeiten über dich." Kate lachte. „Da gibt es nicht viel zu erzählen. Andy und ich haben geheiratet - du erinnerst dich doch noch an Andy, ich habe ihn am College kennen gelernt -, und wir haben drei Kinder. Dies sind die beiden jüngeren. Wir wohnen in Woodbridge. Wo wohnst du genau?" Liv nannte ihr die Adresse, und Kate war sprachlos. „Dann sind wir ja fast Nachbarn! Du musst uns unbedingt besuchen. Was hast du denn jetzt vor?" Liv zuckte die Schultern. „Nichts Besonderes. Ich muss bald zurück, weil Kit demnächst aufwachen wird." „Komm doch mit zu mir", lud Kate sie ein. „Wir könnten zusammen Kaffee trinken oder Mittag essen. Ich würde mich so gern in Ruhe mit dir unterhalten." Gesagt, getan. Gemeinsam schoben sie die Kinderwagen den Hügel hinauf zu Kates Haus. Während Kate in der chaotischen, aber urgemütlichen Küche Kaffee kochte, stillte Liv Kit und sah den Kindern beim Spielen zu. Missy war begeistert von ihren neuen Spielkameraden - und deren Spielzeug. „Du wohnst also bei Ben?" Kate setzte sich zu Liv an den Küchentisch. „Du musst mir alles ganz genau erzählen! Wie kommt es, dass dein Mann nichts dagegen hat, dass du dich beim Schwärm aller Frauen einquartierst? Ist er noch zu retten? Andy wird schon nervös, wenn Ben in seiner Abwesenheit nur den Fuß auf unsere Schwelle setzt - er befürchtet, meine Hormone würden völlig verrückt spielen!" Sie lachte, und Liv rang sich ein Lächeln ab, um nicht unhöflich zu erscheinen. Hormone? Was wollte Kate damit sagen? Hatte sie, Liv, sich die leise Erregung vielleicht doch nicht eingebildet, die sie verspürt hatte, als Bens Lippen ihre gestreift hatten? „Ich habe gar keinen Mann", gestand sie. „Oscar und ich haben nie geheiratet." „Ach ja, ich erinnere mich noch an die Artikel über dich und Oscar Harding - aber das ist Jahre her!" „Vier Jahre, um genau zu sein", bestätigte Liv bitter. „Inzwischen macht sich keine Zeitschrift mehr die Mühe, über mich zu schreiben." „Vier Jahre! Du meine Güte! Aber ich erinnere mich, es war kurz nach Jakes Geburt. Das erklärt auch, warum ich Zeit hatte, Zeitschriften zu lesen! Und wo ist Oscar jetzt?" Liv zuckte die Schultern. „In London. Ich habe ihn verlassen." „Mitsamt den Kindern? Das muss ihn ja ganz schön mitgenommen haben." Liv lächelte ironisch. „Da kennst du Oscar schlecht." „Das tut mir wirklich Leid", sagte Kate mitfühlend. „Und wie wirst du damit fertig? Wovon lebst du?" „Ich bin Bens neue Haushälterin", berichtete Liv und musste lachen. „Er hat eine Engelsgeduld mit mir - ich kann nämlich überhaupt nicht kochen. Und wenn Missy die Zuckerdose über dem Essen ausleert, hilft es mir auch nicht gerade weiter." Kate lachte, bis ihr die Tränen kamen. „Entschuldige bitte, aber ich stelle mir gerade vor ..." „Vermutlich liegst du damit ganz richtig", erwiderte Liv trocken. „Es hat einfach scheußlich geschmeckt. Aber wahrscheinlich wäre es auch ohne Missys Hilfe nicht besonders lecker gewesen." Kate hörte auf zu lachen und sah sie nachdenklich an. „Soll ich dir beibringen, wie man kocht? Sag es mir ruhig, wenn du nicht möchtest, aber es gibt da ein paar ganz einfache Gerichte, die Ben umhauen werden. Ich habe eine ganze Sammlung solcher Rezepte - ich greife immer dann darauf zurück, wenn ich etwas bei Andy durchsetzen möchte." Mit einem viel sagenden Lächeln fuhr sie fort: „Ganz besonders gut bin ich in der Zubereitung von Aphro-disiaka." „Danke, aber dafür habe ich keine Verwendung. Ben und ich sind einfach gute Freunde." Kate blickte sie verblüfft an. „Wirklich? Wie schade! Na, vielleicht entwickelt sich ja noch etwas - du solltest die Hoffnung nicht aufgeben." Liv schüttelte den Kopf. „Nein, da muss ich dich enttäuschen. Aber ich würde gern ein paar Rezepte von dir lernen. Ich brauche diese Stelle." Sie fingen sofort damit an. „Ich werde einfach das Essen, das ich für heute Abend geplant hatte, schon jetzt für uns beide kochen", erklärte Kate. „Dann kannst du Ben heute Abend noch einmal damit beeindrucken. Das Allerwichtigste dabei ist, Ruhe zu bewahren - und auf keinen Fall die Soße zu stark zu erhitzen." An diesem Abend sollte Liv jedoch keine Gelegenheit haben, ihre neuen Fähigkeiten auszuprobieren, denn als Ben nach Hause kam, erklärte er, er müsse gleich wieder los. Nach einer halben Stunde war er geduscht und umgezogen, und Liv schnupperte anerkennend. „Tolles After Shave." „Von Chanel. Ich mag es, weil es nicht so süß riecht." Vielsagend zog Liv die Brauen hoch. Ben lächelte. „Also, ich muss los zum Essen." „Du misstraust wohl meinen Kochkünsten", sagte sie schmollend. Er lachte und nahm sie in den Arm. „Arme kleine Liv", neckte er sie. „Du kannst es dir heute Abend vor dem Fernseher gemütlich machen. Warte nicht auf mich, ich komme wahrscheinlich erst spät wieder. Ich gehe zu einem Geschäftsessen mit einer Speditionsfirma - sie wollen mit mir ins Geschäft kommen und schmieren mir jetzt Honig um den Bart."
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„Ich kann ihnen gern Missy zur Verfügung stellen", erwiderte sie trocken, und wieder lachte er. „Lieber nicht! Ich wünsche dir einen schönen Abend. Du siehst müde aus, ich finde, du solltest früh schlafen gehen. Die letzten Tage waren sehr anstrengend für dich. Bis morgen dann." Nachdem er ihr einen flüchtigen KUSS auf die Stirn gegeben hatte, ging er. Der herbe Duft seines After Shaves hing noch in der Luft. Ohne Ben wirkte das Haus leer und verlassen. Am nächsten Tag, einem Samstag, probierte Liv das neu erlernte Rezept aus, doch sie vergaß Kates Anweisungen und ließ die Soße zu heiß werden. „Das schmeckt wirklich toll", lobte Ben sie und sah großzügig über die geronnene Soße hinweg. Sie war strenger mit sich. „Die Konsistenz ist merkwürdig - der Joghurt ist zu stark erhitzt worden." „Es schmeckt jedenfalls viel besser als das Huhn", versicherte er. Liv lächelte tapfer und servierte den Nachtisch - wieder einen fertigen Kuchen aus dem Kühlregal des Supermarkts. Doch in der nächsten Zeit wurden ihre Kochkünste immer besser. Kates Rezepte waren tatsächlich einfach umzusetzen, aber es fiel Liv schwer, sich um die Mahlzeiten und den Haushalt zu kümmern und gleichzeitig auf die Kinder aufzupassen. Die meiste Hausarbeit wurde ohnehin von Mrs. Greer erledigt, die dreimal pro Woche kam. Allerdings schien Missy überall Chaos anzurichten, was Liv große Sorgen machte, denn Oscar hatte sich immer sehr über die Unordnung aufgeregt. Sie wollte Ben auf keinen Fall verärgern und versuchte, das Durcheinander auf die Küche zu beschränken. So konnte sie Missy im Auge behalten, während sie das Essen vorbereitete. Doch meistens griff sie auf tiefgefrorenes Gemüse zurück, weil es schneller und einfacher zuzubereiten war. Ben beschwerte sich nie und war Missy gegenüber immer freundlich und geduldig, und Liv war ihm zutiefst dankbar dafür. An manchen Tagen zog er sich allerdings in sein Arbeitszimmer zurück - vermutlich weil es an diesen Tagen besonders chaotisch zuging. So auch an einem Freitag, etwas über zwei Wochen nach ihrer Ankunft. Ben kam nach Hause, blickte sich um, seufzte nur und verschwand in seinem Arbeitszimmer, ohne ein Wort mit ihr zu wechseln. „Möchtest du einen Tee?" rief sie ihm nach. „Ja, gern. Entschuldige bitte, aber ich habe sehr viel zu tun." Sie brachte ihm den Tee, und er bedankte sich geistesabwesend. Traurig kehrte sie in die Küche zurück. „Sei nicht albern", schimpfte sie mit sich. Schließlich war sie seine Haushälterin, und nur weil sie seit Jahren befreundet waren, musste er nicht jeden Tag nach der Arbeit alles liegen und stehen lassen, zu ihr in die Küche kommen und sich den Rest des Abends mit ihr unterhalten. Vielleicht hatte er wirklich viel zu tun, und es hatte nichts mit dem Durcheinander zu tun, das Missy verursachte. „Ja, und vielleicht können Schweine fliegen", sagte Liv leise, als Ben in die Küche trat. „Das glaube ich nicht", meinte er lächelnd. „Wie kommst du darauf?" Sie schlug spielerisch nach ihm. „Ich habe nur laut gedacht. Was ist, schmeckt dir der Tee nicht?" „Doch, er ist gut." Ben lehnte sich gegen die Arbeitsfläche. „Ich habe nur keine Lust zum Arbeiten und dachte, ich könnte mich vielleicht stattdessen mit dir unterhalten. Wie war dein Tag?" Sie hatte sich also ganz umsonst Sorgen gemacht! „Nicht schlecht", log sie. Tatsächlich hatte Kit den ganzen Tag geschrien, und auch Missy war - vermutlich seinetwegen - unruhig und weinerlich gewesen, so dass sie, Liv, kaum etwas hatte erledigen können. Und in der Küche - Bens Lieblingsraum - sah es so aus, als wäre eine Bombe explodiert. Doch es schien ihn nicht zu stören. Er war so freundlich und gut gelaunt wie immer, und wieder einmal fragte sie sich, womit sie das verdient hatte. Weil ich es vier Jahre mit Oscar ausgehalten habe, dachte sie ironisch. Dafür verdiente sie wirklich eine Entschädigung. „Es tut mir Leid, dass es hier so furchtbar unordentlich aussieht", sagte sie zerknirscht. „Ich wollte die ganze Zeit aufräumen, aber ich bin einfach nicht dazu gekommen." „Das macht doch nichts", erwiderte Ben gelassen. „Soll ich dir beim Kochen helfen?" Von oben war ein Weinen zu hören, und Liv blickte ihn seufzend an. „Nein, danke. Ich sehe nur schnell nach Kit, dann mache ich das Essen. Oder hast du es eilig?" Er schüttelte den Kopf. „Nein. Ich wollte dir nur Gesellschaft leisten - das wäre ein guter Vorwand, um mich vor der Arbeit zu drücken." „Falls Kit Hunger hat, bringe ich ihn mit. Du kannst mir ja einen Tee kochen", fuhr sie lächelnd fort. „Dann hast du eine gute Ausrede." Sie lief nach oben und nahm Kit aus seinem Bettchen. „Was ist denn, mein Kleiner?" fragte sie zärtlich. „Hast du Hunger?" Sein winziger Mund saugte suchend an ihrem Hals, und so nahm sie Kit mit in die Küche, setzte sich und begann, ihn zu stillen. Ben brachte ihr den Tee, betrachtete sie einen Moment und räusperte sich schließlich. „Ich muss noch einen wichtigen Anruf erledigen", sagte er schnell und ging in sein Arbeitszimmer. Lügner, dachte Liv traurig. Sie hatte geglaubt, es wäre ihm nicht mehr unangenehm, ihr beim Stillen zuzuschauen, doch offensichtlich hatte sie sich getäuscht. Sie seufzte und streichelte den seidenweichen Haarflaum des Babys. Kit nahm ständig zu und wurde zusehends größer. Bald würde er einen größeren Schlafstrampler brauchen. Er war jetzt schon sechs Wochen alt. Einerseits kam es ihr vor, als wären erst fünf Minuten seit seiner Geburt vergangen, andererseits schienen es wegen der vielen Dinge, die seitdem passiert waren, Jahre zu sein. Zum Glück hatte sie nichts von Oscar gehört, und das würde wohl auch so bleiben. Kein großer Verlust, überlegte Liv. Sicher legte er keinen Wert darauf, mit den Kindern in Kontakt zu bleiben, und nach allem, was er ihr angetan hatte, verdiente er die beiden auch gar nicht. In den zweieinhalb Wochen, in denen sie nun hier waren, war Ben den Kindern ein besserer Vater gewesen, als Oscar es jemals gewesen war. Liv dachte daran, dass sie zur Vorsorgeuntersuchung gehen sollte, um sich zu vergewissern, dass sie sich von der Geburt erholt hatte. Doch das hatte noch Zeit - ihr und Kit ging es ja gut. „Ist alles in Ordnung mit Kit?" Sie blickte auf. Ben stand auf der Türschwelle. „Ja, ihm geht es gut. Hast du deinen Anruf erledigt?" „Es war niemand zu Hause. Ich versuche es später noch einmal. Möchtest du noch Tee?" Liv nickte, und er nahm ihr den Becher ab, wobei er es sorgsam vermied, Kit anzusehen. Sie ließ das Baby sein Bäuerchen machen und legte ihn dann an die andere Brust, während Ben ihr Tee einschenkte. Um ihn nicht in Verlegenheit zu bringen, zog sie ihren Pullover zurecht. Eine ihrer Freundinnen hatte immer einen breiten Wollschal benutzt, um ungestört ihr Kind stillen zu können. Das war eine gute Idee. Liv nahm sich vor, ihre Sachen gleich morgen nach einem solchen Schal durchzusehen. „Morgen Abend findet eine Feier statt", erzählte Ben, während er sich setzte und den Blick auf seinen Becher gerichtet hielt. „Ich muss hingehen - sie wird von meinem Unternehmen veranstaltet. Möchtest du mich vielleicht begleiten? Du bist doch früher immer gern auf Partys gegangen." Ja, dachte sie, damals, als ich noch bis mittags ausschlafen konnte! „Und was machen wir mit Kit?" „Wir müssen ja nicht lange bleiben. Die Party geht von acht bis Mitternacht. Wir könnten zum Beispiel von neun bis um elf Uhr hingehen und Mrs. Greer bitten, währenddessen auf die Kinder aufzupassen." Liv überlegte. „Was müsste ich denn anziehen? Geht es sehr förmlich zu? Ich weiß nicht, ob ich etwas habe, was mir noch passt - seit Kits Geburt hat meine Oberweite ziemlich zugenommen." Unwillkürlich betrachtete er ihre Brüste und wandte den Blick dann schnell wieder ab. „Ja, vermutlich hast du Recht. Es geht nicht sehr förmlich zu, aber wahrscheinlich werde ich einen Smoking tragen müssen." „Vielleicht habe ich ja doch etwas Passendes zum Anziehen. Ich hätte große Lust, wieder einmal auszugehen - das habe ich schon seit über einem Jahr nicht mehr getan. Oscar wollte sich nicht mit mir zeigen, solange ich schwanger war." Ben schnaufte. „Er hat dich wirklich mies behandelt." Liv zuckte die Schultern. „Wahrscheinlich hat er nie wirklich Kinder gewollt. Es war wohl nur ein Zugeständnis an mich, damit er sich ungestört mit seiner Geliebten vergnügen konnte und trotzdem an mein Geld kam - bis nichts mehr da war."
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Sie seufzte. „Mit dem Geld hätte ich mich und die Kinder über Wasser halten können, aber natürlich habe ich keine rechtlichen Möglichkeiten, es zurückzubekommen. Oscar würde einfach behaupten, ich hätte alles verschwendet. Und damit hätte er sogar Recht. Ich habe es wirklich verschwendet - an ihn." „Soll ich dir Geld geben, damit du dir morgen ein Kleid kaufen kannst?" fragte er sanft. „Ich könnte auf die Kinder aufpassen, während du einkaufen fährst." „Du wirst währenddessen nichts anderes erledigen können", warnte sie ihn. „Missy hält mich von morgens bis abends auf Trab. Er lachte. „Ich weiß. Meine Schwestern haben auch kleine Kinder, Liv. Das ist für mich nichts Neues. Mach dir keine Sorgen, ich werde gut auf die beiden aufpassen." Nachdenklich betrachtete sie Kit, der in ihrem Arm eingeschlafen war. Sie strich ihm zärtlich über den Kopf und zog dann den Pullover hinunter. „Möchtest du ihn halten?" Ben nickte und streckte die Arme nach dem Baby aus. „Es könnte sein, dass er dir etwas Milch aufs Hemd spuckt", erklärte sie. „Er hat noch kein zweites Bäuerchen gemacht." „Das macht nichts. Das Hemd muss sowieso in die Wäsche. Dabei fällt mir ein ... Wolltest du zufällig gerade Weißwäsche machen? Das Hemd, das ich morgen zu meinem dunklen Anzug anziehen will, ist noch im Wäschekorb. Ich habe noch ein zweites, aber dieses gefällt mir besser." „Ich werde mich sofort darum kümmern", sagte Liv schnell und ging nach oben. Beim Anblick des überquellenden Wäschekorbs in seinem Schlafzimmer bekam sie ein schlechtes Gewissen, denn eigentlich kümmerte sie sich darum. Sie suchte die Weißwäsche zusammen und trug sie nach unten. Ben hielt Kit eine Nasenlänge von seinem Gesicht entfernt und schnitt Grimassen. Kit betrachtete ihn interessiert. „Du wirst ihm Angst einjagen", bemerkte sie trocken. „Das glaube ich nicht. Er ist nicht so ängstlich, wie du denkst", entgegnete er. Liv ging in den Hauswirtschaftsraum und schaltete die Waschmaschine an. Als sie wieder in die Küche kam, schlief Kit selig in den starken Armen von Ben, der aussah wie der stolze Vater in Person. Plötzlich war sie traurig darüber, dass nicht er der Vater ihrer Kinder war. Sofort ermahnte sie sich, nicht so etwas Albernes zu denken. Ben und sie hatten schließlich nur eine rein freundschaftliche Beziehung. Aber wenn sie den Mann und das Haus ihrer Träume hätte schildern sollen, dann wäre diese Beschreibung Ben und seinem Haus sehr nahe gekommen. Liv seufzte, und Ben sah sie an. „Bist du müde?" fragte er. Sie nickte. „Ein bisschen. Kit war letzte Nacht sehr unruhig und hat viel geweint. Ich werde wohl gleich nach dem Essen ins Bett gehen." „Ich könnte uns etwas bestellen", bot er an. „Dann brauchst du nicht zu kochen." Liv schüttelte den Kopf. „Nein, das kommt nicht in Frage", lehnte sie ab. „Schließlich bezahlst du mich dafür, dass ich deinen Haushalt führe, und ich tue so gut wie gar nichts." „Das macht doch nichts", beruhigte er sie. „Wie wäre es, wenn ich Rührei auf Toast machen würde, während du Kit ins Bett bringst?" Dankbar lächelte sie ihn an. „Das ist eine tolle Idee", stimmte sie ihm zu. „Mir ist auch gerade eingefallen, dass ich noch nichts aus der Kühltruhe genommen habe. Ich wollte es schon vorhin tun, aber irgendwie bin ich ..." Sie verstummte und zuckte hilflos die Schultern. „... nicht dazu gekommen? Das Gefühl kenne ich. Bring Kit ins Bett, und lass dich ein bisschen von mir verwöhnen. Du hast es dir redlich verdient." Liv gab nach. Sie war todmüde, und wenn sie morgen Abend an Bens Seite strahlen sollte, musste sie dringend Schlaf nachholen. Verzweifelt durchsuchte Liv ihren gesamten Kleiderschrank. Keines ihrer Abendkleider passte ihr noch. „Ich würde gern kurz in die Stadt fahren. Wärst du so nett, auf die Kinder aufzupassen?" bat sie Ben. „Ich bleibe bestimmt nicht lange weg." Er nickte. „Natürlich." Liv fuhr zu dem Secondhandshop, und die Inhaberin berichtete, sie hätte fast alle von ihren Sachen bereits verkauft. „Ich würde mir gern die Abendkleider ansehen. Ich gehe heute aus, und seit ich das Baby bekommen habe, passen mir meine Sachen nicht mehr. Vielleicht könnten Sie es von dem abziehen, was ich für die verkauften Kleider bekomme?" „Selbstverständlich. Sehen Sie sich nur in Ruhe um. Gestern Abend habe ich von einer Frau aus London noch einige neue Sachen bekommen, und bisher hatte ich keine Zeit, sie auf die Kleiderständer zu hängen. Die Frau hat ungefähr Ihre Konfektionsgröße." Und tatsächlich fand Liv ein wunderschönes Kleid. Es war vorn hochgeschlossen und hatte einen tiefen Rückenausschnitt. Es war schwarz, einfach, aber raffiniert geschnitten - und es passte wie angegossen. „Ich nehme es", sagte sie rasch und versuchte, nicht an das Loch zu denken, dass dieser Kauf in ihre Ersparnisse reißen würde. Sie würde eben noch mehr ihrer alten Sachen verkaufen, denn Ben zuliebe wollte sie so hübsch wie möglich aussehen. „Haben Sie passende Schuhe?" Liv nickte. „Ich habe Hunderte von Schuhen. Ich habe nur um die Brust herum zugenommen - und um die Taille und die Hüften", fuhr sie lachend fort. „Eigentlich sind wohl nur meine Füße nicht dicker geworden." „Aber in diesem Kleid sehen Sie wirklich toll aus", bemerkte die Inhaberin. „Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen Abend. Haben Sie vielleicht noch mehr Kleider, die Sie verkaufen möchten?" „Ich werde nachsehen", versprach Liv. Die Frau gab ihr einen Scheck, und auf dem Nachhauseweg fuhr Liv bei der Bank vorbei und zahlte das Geld auf ihr Konto ein. Sie könnte auch ihren Schmuck verkaufen. Es waren einige sehr wertvolle Stücke darunter, und sie brauchte sie nicht - die finanzielle Absicherung ihrer Kinder war wichtiger als ihre Eitelkeit oder sentimentale Erinnerungen. Als Liv nach Hause kam, ging Ben mit Kit auf dem Arm in der Küche auf und ab. Er sprach beruhigend auf das Baby ein, das aus Leibeskräften schrie. „Ich bin wieder da." Sie ließ Mantel und Tasche fallen und streckte die Arme nach Kit aus. „Ich glaube, er hat Hunger", meinte Ben. „Ich wollte ihm kein Fläschchen machen, jetzt, da es so gut mit dem Stillen klappt. Soll ich Wasser für den Tee aufsetzen?" Dankbar lächelte sie ihm zu. „Ja, bitte. Du bist wirklich ein Schatz. Hallo, Missy, meine Süße", begrüßte sie ihre Tochter, die in ihrem Hochstuhl am Küchentisch saß. Missy strahlte. „Missy "nete", verkündete sie begeistert und zeigte ihr eine klebrige rosafarbene Masse. „Das ist selbst gemachtes Knetgummi", erklärte Ben. „Ich habe meine Schwester Janie angerufen und sie um das Rezept gebeten. Es besteht zu gleichen Teilen aus Mehl, Salz und Öl, außerdem aus Backpulver und Lebensmittelfarbe. Es soll scheußlich schmecken, so dass wohl keine Gefahr besteht, dass sie es aufisst." „Da bin ich aber froh." „Missy geholfen", erzählte ihre Tochter stolz. Er lächelte. „Sie hat mir beim Umrühren geholfen, als die Masse abgekühlt war - solange sie noch heiß war, habe ich sie lieber außerhalb ihrer Reichweite gehalten." Liv war froh, dass er so umsichtig und verantwortungsvoll mit den Kindern uniging. Sie setzte sich bequem hin und begann, Kit zu stillen, während Missy mit klebrigen Händen eifrig das Knetgummi bearbeitete. Ben half ihr, mit Keksformen kleine Sterne auszustechen. Als das Wasser kochte, machte er Tee und setzte sich zu Liv. „Hier ist dein Tee. Du siehst aus, als würdest du ihn dringend brauchen. Wie war dein Einkauf?" „Ich habe ein wunderschönes Kleid in einem Secondhandshop für Designermode gefunden. Würdest du so nett sein und es aus der Tüte nehmen und aufhängen? Ich habe die Tüte vorhin einfach fallen lassen, weil ich Kit beruhigen wollte, und möchte nicht, dass es zerknittert." Mit gerunzelter Stirn nahm er das Kleid heraus. „Was ist?" fragte sie ungeduldig, denn seine offensichtliche Missbilligung verunsicherte sie. „Gefällt es dir nicht?" „Nein, es ist wirklich ein sehr schönes Kleid", beruhigte er sie. „Mir war nur nicht bewusst, dass du vorhin in die Stadt gefahren bist, um
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etwas zum Anziehen für die Feier zu kaufen. Ich hätte dir ein Kleid gekauft, Liv. Ich habe dir gestern angeboten, dir Geld dafür zu geben." Liv spürte, wie sie errötete. „Aber ich wollte nicht, dass du mir ein Kleid kaufst. Ich möchte nicht von dir abhängig sein. Das Kleid ist fast neu, und mehr konnte ich mir einfach nicht leisten. Das ist doch nicht so schlimm - ich habe schon immer gern die Secondhandshops durchforstet. Und außerdem ist es nichts Billiges, sondern ein Designerstück." „An dem Kleid gibt es nichts auszusetzen. Mir gefällt nur die Vorstellung nicht, dass du so etwas tun musst - nach allem, was du durchgemacht hast. Ich wünschte, du würdest zulassen, dass ich dir einen Gefallen tue." „Nein." Das klang sehr ablehnend, doch sie wollte einfach nichts mehr von ihm annehmen. Es war schon genug, dass sie beide so taten, als wäre sie seine Haushälterin. Sie wollte sich auf keinen Fall von ihm aushalten lassen. Erneut versuchte Liv, es ihm zu erklären. „Ich brauche einfach meine Unabhängigkeit, Ben. Oscar hat mich nach Strich und Faden ausgenutzt, und so etwas möchte ich niemandem antun. Außerdem ist es doch nur ein Kleid, nichts weiter. Dass es aus dem Secondhandshop stammt, bedeutet lediglich, dass es bereits getragen wurde - wie alle anderen Kleider, die ich besitze." „Oh, Liv." Ben strich ihr sanft übers Haar. „Du brauchst dich deswegen nicht aufzuregen. Ich mache mir nur Vorwürfe, weil du meinetwegen zu der Feier gehst." Sie beruhigte sich wieder. „Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen. Mir ist es lieber so." Damit war das Thema für sie beide erledigt. Doch während sie sich für die Feier zurechtmachte, empfand Liv eine leichte Enttäuschung darüber, dass er nicht einfach nur gesagt hatte, was für ein schönes Kleid es wäre. Sie wünschte, dieses Gespräch hätte nicht stattgefunden, denn sie wollte nicht, dass irgendetwas zwischen Ben und ihr stand. Liv zog das Kleid an, ohne es eines Blickes zu würdigen, schlüpfte in die hochhackigen Schuhe und sah anschließend nach den Kindern. Vor einer halben Stunde hatte sie Kit gestillt, und jetzt schliefen beide. Mit ein bisschen Glück würde Kit erst aufwachen, wenn Ben und sie wieder da wären. Für den Notfall hatte sie Mrs. Greer gebeten, ihm ein Fläschchen zu geben. Mrs. Greer war bereits gekommen und unterhielt sich in der Küche mit Ben. Ihre Anwesenheit gab Liv den Mut, Ben gegenüberzutreten. Sie knöpfte sich den Mantel bis zum Hals zu, nahm ihre Handtasche und ging die Treppe hinunter. In diesem Moment trat Ben aus der Küche. „Ah, Liv, du bist also auch fertig." Gemeinsam gingen sie zum Wagen und fuhren zum Hotel, in dem die Feier stattfand. Ben parkte das Auto, öffnete die Beifahrertür und führte Liv ins Gebäude. „Soll ich dir den Mantel abnehmen?" fragte er zuvorkommend und gab ihren Mantel an der Garderobe ab. Als er sich wieder zu ihr umwandte, ließ er den Blick über sie gleiten und sagte dann lächelnd: „Du siehst wunderschön aus." Und tatsächlich gaben ihr sein warmes Lächeln und sein bewundernder Blick das Gefühl, schön und begehrenswert zu sein. Wie konnte es sein, dass ausgerechnet Ben, der nie mehr sein würde als ihr bester Freund, solche Empfindungen in ihr weckte? 4. KAPITEL Es war eine. Party, wie Liv sie schon unzählige Male erlebt hatte: Die meisten Gäste kannten einander vom Sehen, man unterhielt sich in kleinen Gruppen mit den verschiedensten Leuten und tauschte Neuigkeiten und Klatsch aus. Natürlich kannte sie diesmal niemanden, doch Ben führte sie an seinem Arm umher und stellte sie überall als „meine alte Freundin Liv" vor. Sie bemerkte, dass einige Frauen sie verstohlen aus den Augenwinkeln betrachteten und sich zu fragen schienen, ob sie wohl tatsächlich die Liv Kensington war. Die meisten Gäste begrüßten sie allerdings nur freundlich und setzten ihre Unterhaltung fort. Ben war der geborene Gentleman. Er war höflich und zuvorkommend und schien sich an alle Namen erinnern zu können. Liv war beeindruckt. Mit einigen Gästen unterhielt er sich über Geschäftliches, aber da sie nicht genau wusste, was Logistik, der Bereich, in dem Ben arbeitete, genau bedeutete, verstand sie nicht viel. Sie bemühte sich, allen höflich zuzulächeln, bis sie das Gefühl hatte, sie würde einen Krampf bekommen. Um sich einen Moment Ruhe zu gönnen, ging sie zur Damentoilette. Sie hörte zwei Frauen hereinkommen, die sich angeregt unterhielten. „Hast du die Frau gesehen, die mit Ben Warriner gekommen ist?" fragte die erste. „Ich bin mir sicher, dass es Liv Kensington ist - das Model." „Das glaube ich nicht", entgegnete die zweite. „Liv Kensington war sehr schlank - und schlank ist diese Frau nun wirklich nicht!" Liv sah an sich hinunter und seufzte. „Aber ihr Gesicht kommt mir so bekannt vor", fuhr die erste Frau fort. „Ich möchte mal wissen, was sie mit Ben zu tun hat." „Ich habe gehört, dass sie bei ihm wohnt", flüsterte die andere. „Das ist ja interessant! Darüber wird Tash nicht begeistert sein!" Liv schrak zusammen. Wer war Tash? Ben hatte ihr gesagt, dass er keine Beziehung hätte. Hatte er sie etwa angelogen, damit sie sich keine Gedanken machte? Aber vielleicht war Tash ja auch nur eine frühere Geliebte. Sie, Liv, hatte jedenfalls nicht das Gefühl, dass Ben gerade die große Liebe erlebte und sie ihm dabei im Weg stand. Wenn er eine feste Beziehung hatte, dann hätte er es ihr sicher erzählt und ihr seine Freundin vorgestellt. Liv wartete, bis die Frauen gegangen waren, denn sie wollte keine peinliche Situation provozieren. Als sie in den Festsaal zurückkam, sah sie Ben mit einer sehr hübschen blonden Frau am anderen Ende des Raums stehen. War das etwa die geheimnisvolle Tash? Sie war selbstbewusst, elegant und hatte eine perfekte Figur. Ihr Lachen zerrte an Livs Nerven. Die Frau legte besitzergreifend die Hand auf seine Wange, und Ben wandte den Kopf zur Seite, um ihre Handfläche zu küssen. Zu ihrer Überraschung wurde Liv von einer Welle der Erregung überflutet, und zum ersten Mal sah sie Ben nicht mehr als den engen Freund, der er immer für sie gewesen war, sondern als einen attraktiven, weltgewandten und leidenschaftlichen Mann. Ein Mann, der eine Frau in seine Arme schließen und die ganze Nacht hindurch lieben würde. Liv war durcheinander, ihre starken Gefühlen überwältigten sie. Plötzlich sah Ben auf, und ihre Blicke trafen sich. Er lächelte der Frau zu und nahm sanft, aber entschlossen ihre Hand von seiner Wange. Dann kam er auf Liv zu, nahm sie beim Ellenbogen und flüsterte ihr verschwörerisch „Rette mich!" zu, während er sie auf die Tanzfläche führte. „Vor wem?" fragte Liv, als sie zu tanzen begannen. Noch immer war sie erschrocken über die Intensität ihrer Gefühle, und seine Berührung schien sie zu verbrennen. „Vor Tash - Natasha Baker", erklärte Ben. „Eine alte Flamme, die immer noch glaubt, ich würde ihr gehören. Jedes Mal, wenn ich sie sehe, macht sie sich wieder an mich heran." „Vielleicht würde es helfen, wenn du nicht so intensiv mit ihr flirten würdest", bemerkte Liv trocken. In diesem Moment wurde ihr klar, dass das, was sie empfunden hatte, als er die Hand der blonden Frau geküsst hatte, nur eins sein konnte - Eifersucht. Sie konnte es kaum glauben, denn obwohl sie ihn bereits mit vielen Frauen gesehen hatte, war sie noch nie eifersüchtig gewesen. Vielleicht lag es daran, dass er bei Tash all seinen Charme eingesetzt und ihre Hand so zärtlich geküsst hatte. Mit einem Lächeln in seinen schönen Augen hatte er ihr seine ganze Aufmerksamkeit geschenkt und das Gefühl gegeben, sie wäre für ihn das Wichtigste auf der Welt. Und jetzt widmete er diese Aufmerksamkeit ihr, Liv. Er legte die Hand auf ihre Taille und zog sie etwas näher zu sich heran. Sie umfasste seine Schulter und spürte seine Muskeln unter dem feinen Wollstoff. Ihre andere Hand lag in seiner. Obwohl sie hochhackige Schuhe trug, musste Liv nach oben blicken, um ihm in die Augen zu sehen. Wegen der gedämpften Beleuchtung konnte sie den Ausdruck in seinen Augen jedoch nicht erkennen. Sein Mund war ihrem sehr nah, und sie verspürte den starken Wunsch, Ben zu küssen, seine Lippen auf ihren zu spüren und herauszufinden, ob ihre Erregung nur ein flüchtiges Gefühl gewesen war. Ben zog sie näher an sich, und Liv lehnte den Kopf an seine Schulter. Gemeinsam bewegten sie sich im Takt der Musik, wie sie es schon so oft getan hatten. Und doch war es diesmal ganz anders. Denn nun wusste Liv, dass Ben mehr für sie war als nur ein Freund. Plötzlich wurde ihr klar, warum sie, ohne zu zögern, zu ihm gekommen war, als Oscar sie hinausgeworfen hatte. Sie liebte Ben, und sie wusste, dass zwischen ihnen von nun an nichts mehr so sein würde wie zuvor.
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Die zwei Stunden, die sie auf der Party verbrachten, erschienen Liv unerträglich lang. Sie musste lächeln und höflich sein und sich unterhalten, doch am liebsten hätte sie sich in eine dunkle Ecke geflüchtet, um sich über ihre Gefühle völlig klar zu werden. Schließlich warf Ben ihr einen prüfenden Blick zu und sah auf die Uhr. „Wenn du möchtest, können wir nach Hause fahren - ich habe meine Pflicht erfüllt", flüsterte er. Liv nickte. Plötzlich fühlte sie sich nicht mehr in der Lage, Fröhlichkeit vorzutäuschen. „Ja. Wahrscheinlich schreit Kit schon." Er führte sie ins Foyer und sah plötzlich wieder aus wie früher und nicht wie der weltgewandte, attraktive Fremde, der sich noch vor einer Stunde mit Tash unterhalten hatte. Und der mit ihr, Liv, getanzt hatte. Mit einem Mal verstand sie, was Kate mit Hormonen, die verrückt spielten, gemeint hatte. Sie fragte sich, warum sie erst nach so langer Zeit gemerkt hatte, wie stark sie sich zu Ben hingezogen fühlte. Und das war nicht alles. Sie liebte ihn, und ihre Liebe war tief und unerschütterlich. Aber offensichtlich erwiderte er ihre Gefühle nicht. Nach wie vor war sie für ihn das kleine Mädchen aus der Nachbarschaft, als das er sie kennen gelernt hatte, und nicht die hübsche junge Frau, die sie jetzt war. Er wollte sie beschützen, amüsierte und ärgerte sich oft über ihr Verhalten, doch er hätte es sicher nicht einmal bemerkt, wenn sie zwei Köpfe gehabt hätte. Für ihn war sie nur die kleine Liv - die er zwar sehr lieb hatte, aber nie leidenschaftlich lieben würde. Im Moment war es ihr recht, denn sie war noch nicht bereit für eine neue Beziehung. Doch wenn sie es einmal wäre, was dann? Liv seufzte tief. Ben sah sie aufmerksam an. „Alles in Ordnung, Liv?" „Ja, ich bin nur müde." Als sie zu Hause ankamen, war alles ruhig, nur das leise Geräusch des Fernsehers war zu hören. Mrs. Greer saß in der Küche und sah das Ende einer Talkshow. „Ich habe ein paar Mal nach den beiden Kleinen gesehen, aber sie haben die ganze Zeit tief und fest geschlafen", berichtete sie. „Ich fahre Mrs. Greer nach Hause. Könntest du uns einen Kaffee machen?" fragte Ben. Liv schüttelte den Kopf. „Wenn es dir nichts ausmacht, gehe ich gleich nach oben. Kit wird jeden Moment aufwachen. Vielen Dank, Mrs. Greer. Was schulde ich Ihnen?" „Gar nichts, meine Liebe, Ben hat mir das Geld schon gegeben. Ich hoffe, Sie hatten einen wunderschönen Abend." Liv rang sich ein Lächeln ab und überlegte, ob sie Ben das Geld zurückgeben sollte. Sie dachte daran, dass er ihr ein Kleid hatte kaufen wollen, und entschied sich dagegen. „Ja", zwang sie sich zu antworten, „es war sehr schön." Das ist noch nicht einmal gelogen, dachte sie, als sie nach oben ging. Mit Ben zu tanzen war wunderschön gewesen. Doch ihre Gefühle für ihn hatten es ihr nicht leicht gemacht, es zu genießen, und mit der Zeit würde es immer schwerer werden. Vielleicht sollte sie lieber ausziehen und sich eine Wohnung suchen. Oscar würde sie und die Kinder finanziell unterstützen müssen, und sie würde ihren Stolz überwinden und darauf bestehen müssen, dass er seine Pflicht erfüllte, es sei denn, sie konnte anderswo eine ähnliche Stelle finden. „Sei nicht albern", sagte sie zu sich selbst. „Du schaffst es ja kaum, für Ben zu kochen, geschweige denn für eine ganze Familie!" Und wer würde schon freiwillig Kits Geschrei und Missys Chaos ertragen? „Niemand", gab Liv sich selbst die Antwort. „Außerdem würde Oscar Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um nicht einen Penny herausrücken zu müssen. Du hast keine andere Wahl, als hier zu bleiben, Olivia. Finde dich damit ab - und mach das Beste daraus." Oben angekommen, warf sie einen Blick in Bens wunderschönes Schlafzimmer, das sich wie die Küche von der Vorderseite des Hauses bis zu Rückseite erstreckte und an jedem Ende ein großes Fenster hatte. Die meisten Möbel waren weiß und sehr schlicht. Decke und Kissen mit Bezügen aus reinem Leinen lagen auf dem großen Bett, an der Wand standen passende Kleiderschränke. Es gab einen Tisch mit einer Leselampe und einem Stuhl aus matt schimmerndem Holz, auf dem Boden lag ein dicker Teppich, und einige großflächige, geschmackvolle Gemälde hingen an der Wand. Normalerweise war sein Schlafzimmer immer ordentlich, doch heute konnte man erkennen, dass er sich schnell hatte umziehen müssen. Seine Hose und sein Hemd lagen da, wo er sie ausgezogen hatte. Liv fiel ein, dass er auf einen Anruf gewartet und danach in aller Eile geduscht und sich umgezogen hatte. Sie legte die Hose ordentlich zusammen, nahm das Hemd und wollte es in den Wäschekorb werfen. Unwillkürlich barg sie das Gesicht in dem Stoff und atmete Bens Duft ein. Ihr Blick fiel auf das Bett, und sie fragte sich, wie viel Zeit Ben darin wohl mit Tash oder einer der anderen bildschönen Frauen verbracht hatte, die sie heute Abend auf der Party gesehen hatte. „Das geht dich gar nichts an", wies sie sich selbst zurecht und kämpfte gegen ihre Eifersucht. „Vergiss es, du hast keinerlei Ansprüche auf ihn." Liv warf das Hemd in den Wäschekorb und sah nach den Kindern. Kit war aufgewacht und wurde bereits unruhig. Bevor er Missy aufwecken konnte, trug sie ihn in ihr Zimmer. Das schwarze Kleid war nicht gerade ideal zum Stillen, und so zog Liv es schließlich aus. Sie konnte ihren Morgenmantel nicht finden, und da Kit zu schreien begann, zog sie ihren BH aus und setzte sich, so wie sie war, auf das Bett, um ihn zu stillen. Plötzlich stand Ben im Zimmer. Er war hereingekommen, ohne zu klopfen. „Entschuldigung", sagte er und ging wieder hinaus. Liv seufzte. Dann zog sie schnell ihr Nachthemd über und rief: „Komm wieder rein!" Vorsichtig trat er ein. „Es tut mir Leid, dass ich so hereingeplatzt bin", meinte er schuldbewusst. „Ich wusste nicht, dass du nichts anhattest." „Ich musste das Kleid ausziehen, Kit war schon ganz unruhig", erklärte sie. „Wolltest du etwas Bestimmtes?" Ben schüttelte den Kopf, setzte sich auf den Bettrand und blickte starr zum Fenster hinaus in die Dunkelheit. „Ich mache gerade Kaffee und wollte nur wissen, ob du auch welchen möchtest oder ob ich dir einen Tee kochen soll." „Ein Tee wäre herrlich." Sie hatte ein schlechtes Gewissen, da Ben sie ständig mit Tee zu versorgen schien. „Ich komme gleich runter." „Bleib ruhig hier, ich bringe dir den Tee", erwiderte er und ging nach unten. Liv lehnte sich gegen das Kopfende des Betts und seufzte wehmütig. Wenn Ben ihr Geliebter wäre, dann würde er sich näher zu ihr setzen und vielleicht dem Baby sanft über den Kopf streichen, während sie es stillte. Danach würde er es in sein Bettchen bringen, sich zu ihr ins Bett legen und sie zärtlich und leidenschaftlich zugleich lieben. „Du bist ja total verrückt", schimpfte sie mit sich selbst. „Noch vor zwei Stunden war er nichts weiter als dein alter Freund Ben, und jetzt stellst du dir schon vor, wie er dich berührt, dich küsst und ..." Sie verstummte und biss sich auf die Lippe. Wie sollte sie es nur aushalten, mit ihm zusammenzuwohnen, wenn ihre Gefühle für ihn so stark waren? Doch sie hatte keine andere Wahl. Sie wusste einfach nicht, wo sie sonst unterkommen sollte. Außerdem hatte sie kein Geld, um sich und die Kinder zu ernähren. Auch dass Oscar sie finanziell unterstützen würde, war mehr als unwahrscheinlich. Und bei Ben ging es den Kindern gut, sie bekamen genug zu essen und hatten ein Dach über dem Kopf. Sie würde also versuchen müssen, ihre Gefühle für Ben, so gut es ging, zu verdrängen. Es klopfte, und die Tür öffnete sich einen Spaltbreit. „Zimmerservice", sagte Ben, und trotz allem musste Liv lachen. „Komm herein. Kit hat fertig getrunken." Ben trat ein, stellte zwei Becher auf den Nachttisch und nahm ihr dann Kit ab. „Trink deinen Tee, ich kümmere mich um ihn", wies er sie an und lehnte ihn an seine starke Schulter. Warum nur berührte es sie immer so, einen Mann zusammen mit einem winzigen Baby zu sehen? Während sie den Tee trank, beobachtete sie, wie Ben mit dem Kleinen kuschelte, und als er Kit einen KUSS auf die Stirn gab, schnürte sich ihr die Kehle zu. „Er ist todmüde - soll ich ihn wickeln und ins Bett bringen?" fragte er. Liv stand auf und nahm ihm das Baby ab. „Ich mache das schon. Trink du deinen Tee." Kurz darauf lag Kit frisch gewickelt in seinem Bettchen. Plötzlich bemerkte Liv, dass Ben auf der Türschwelle stand und sie beobachtete. „Du gehst sehr gut mit ihnen um", sagte er. „Du auch - du solltest selber Kinder haben."
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Er schnaufte und drehte sich weg. „Da besteht wohl keine Gefahr." Hatte sie sich verhört, oder hatte er es wirklich gesagt? Sie folgte ihm den Flur entlang und zögerte, als sie feststellte, dass er auf dem Weg in sein Schlafzimmer war. Ben wandte sich um und sah sie an. „Alles in Ordnung?" fragte er. „Brauchst du noch etwas?" Liv schüttelte den Kopf. „Ich wollte dir nur dafür danken, dass du mich mit zu der Party genommen hast." Er lachte leise. „Es hat dir doch überhaupt nicht gefallen!" „Teilweise schon", entgegnete sie. Im Stillen fügte sie hinzu: Mit dir zu tanzen hat mir sogar sehr gut gefallen. „Dann also bis morgen." Ben wandte sich ab und schloss leise die Tür hinter sich. Sie blieb einen Moment vor der Tür stehen, dann seufzte sie tief und ging in ihr Zimmer. „So ist es nun einmal", sagte sie zu sich, „du wirst dich damit abfinden müssen." Mitten in der Nacht wachte Liv auf. Sie hatte einen großartigen Einfall: Sie könnte wieder als Model Geld verdienen. Ihre Figur war zwar nicht mehr das, was sie einmal war, aber ihr Gesicht war nach wie vor fotogen, und vielleicht könnte sie auch ihren Körper wieder in Form bringen, wenn sie endlich weniger essen und Sport treiben würde. Ben hatte einen Fitnessraum mit Hanteln und verschiedenen Sportgeräten. Wenn sie zum Beispiel jeden Tag auf dem Lauf-band trainieren würde, während die Kinder schliefen, würde sie vielleicht bald wieder in der Lage sein, als Model zu arbeiten, wenn auch nicht mehr in demselben Umfang wie früher. Dann hätte sie genug Geld, um sich und die Kinder zu ernähren, und sie müssten Ben nicht mehr zur Last fallen. Gleich morgen würde sie zu David, ihrem früheren Agenten, nach London fahren - beziehungsweise am Montag, denn der nächste Tag war ein Sonntag. Er würde ihr sagen können, wie ihre Chancen standen, wieder ins Modelgeschäft einzusteigen. Zum ersten Mal seit Wochen gab es für sie wieder einen winzigen Hoffnungsschimmer, und mit einem glücklichen Lächeln schlief Liv ein. „Guten Morgen, aufstehen!" Blinzelnd öffnete Liv die Augen. „Wie spät ist es?" „Halb neun, und Kit hat Hunger!" erwiderte Ben. „Und Missy möchte auch frühstücken. Hier ist ein Becher Tee für dich. Ich bringe dir Kit und nehme Missy mit nach unten." Sie setzte sich im Bett auf. Die Sonne war bereits aufgegangen. Liv hatte gerade den ersten Schluck heißen Tee getrunken, als Ben mit dem quengelnden Baby wieder ins Zimmer kam. Er legte es ihr in die Arme und ging nach unten. Missy folgte ihm. „Missy Frühstück", verlangte sie fröhlich. „Missy will Ei." „Sag ,bitte'." „Bitte." „Braves Mädchen." Ihre Stimmen entfernten sich. Liv lehnte sich behaglich zurück und begann, das Baby zu stillen. Zur Seite gebeugt, trank sie ihren Tee, damit sie nichts auf es verschüttete. Sie war stolz darauf, wie leicht ihr das Stillen inzwischen fiel. Kit wirkte viel zufriedener und ausgeglichener als früher. Liv wickelte ihn und legte ihn wieder ins Bettchen, bevor sie nach unten ging. Missy war mit Ben in der Küche und aß Rührei. „Und wo ist mein Rührei?" fragte Liv gespielt empört. Er lächelte jungenhaft. „Ich wollte es lieber ganz frisch zubereiten. Du kannst inzwischen den Kaffee eingießen." Sie füllte ihm einen Becher mit dampfendem Kaffee und setzte sich. Missy verteilte ihr Rührei mit dem Löffel über den gesamten Tisch. Oscar hätte einen Tobsuchtsanfall bekommen und verlangt, dass ich sie füttere, dachte Liv. Ben dagegen ließ Missy einfach spielen. „Ich werde meinen früheren Agenten fragen, wie es für mich als Model mit Arbeit aussieht", sagte sie unvermittelt. Ben verharrte mitten in der Bewegung. „Warum?" Liv zuckte die Schultern. „Weil ich Geld verdienen muss -warum sonst? Ich muss für mich und die Kinder sorgen, wir fallen dir nur zur Last. Dir ist doch klar, dass ich als Haushälterin nichts tauge. Ich schaffe es ja kaum, mich richtig um meine Kinder zu kümmern, geschweige denn irgendetwas im Haushalt zu erledigen. Mrs. Greer muss ständig hinter uns herräumen, und das alles ist dir gegenüber einfach nicht fair." „Es wird mit der Zeit besser werden." Sie strich sich durch das zerzauste dunkle Haar. „Nein, Ben, das wird es nicht. Wir fallen dir nur zur Last." „Das solltest du besser mich beurteilen lassen." Liv seufzte und trank einen Schluck Kaffee. „Wir haben dein Leben total durcheinander gebracht", fuhr sie fort. „Bevor ihr gekommen seid, habe ich ein ziemlich einsames Leben geführt, das sich nur um meine Arbeit drehte. Ehrlich, Liv, ich finde es schön, dass ihr hier seid." „Es ist wirklich nett von dir, das zu sagen, Ben, aber ich kann deine Hilfsbereitschaft nicht weiter ausnutzen." „Du nutzt mich nicht aus. Ich gebe zu, dass du deine Tätigkeit als Haushälterin wegen der Kinder etwas vernachlässigst, aber das machst du auf andere Art wieder gut. Du kannst dir nicht vorstellen, wie gut es tut, dass jemand da ist, wenn ich nach Hause komme - jemand, der mich kennt, der meinen Humor versteht, der mir ein Lächeln schenkt und mich fragt, wie mein Tag war." „Was du da beschreibst, ist aber keine Haushälterin, Ben", erwiderte Liv leise, „sondern eine Ehefrau." Ben sah sie mit undurchdringlicher Miene an. „Dann heirate mich doch." Vorsichtig, um nichts zu verschütten, stellte sie den Becher ab. Ihr Herz schlug wie wild, und eine jäh aufkeimende Hoffnung erfüllte sie. „Was?" „Heirate mich", wiederholte er. „Sei für mich da, wenn ich nach Hause komme, und ich werde für dich da sein, wenn die Kinder krank sind oder du Schwierigkeiten hast." „Warum, um alles in der Welt, würdest du mich heiraten wollen?" fragte Liv ungläubig. Er lächelte wehmütig. „Weil ich dich liebe", gestand er ruhig. Einen Moment lang hätte sie ihm fast geglaubt, doch dann kam sie wieder zur Vernunft und lachte kurz auf. „Du bist wirklich ein Schatz", meinte sie sanft, „und ich weiß nicht, wie ich die letzten Wochen ohne dich überstanden hätte. Aber glaubst du nicht, dass das ein bisschen zu weit geht?" Ben schüttelte den Kopf. „Nein. Ich weiß, es klingt verrückt, aber warum eigentlich nicht? Oscar hat dich verlassen, und auch in meinem Leben gibt es niemanden. Es muss ja nicht für immer sein, Liv, aber solange du dir nicht wirklich sicher bist, was du willst, wäre es für dich und die Kinder eine Art Sicherheit." Sie setzte sich auf und blickte ihn starr an. „Du meinst es also wirklich ernst - du willst mich heiraten?" Er nickte. „Ich habe bisher nie darüber nachgedacht, aber je länger ich es tue, umso besser gefällt mir der Vorschlag. Also, wirst du mich heiraten und zulassen, dass ich für euch sorge?" Liv unterdrückte den Impuls, sofort Ja zu sagen. „Was hättest du davon?" hakte sie nach. Ben lehnte sich zurück und drehte seinen Becher hin und her. „Du bekommst ein Dach über dem Kopf, Essen und ein Taschengeld, aber ich bekomme eine komplette kleine Familie. Ich finde, für mich springt eine ganze Menge mehr dabei heraus", antwortete er lächelnd. Er meinte es also tatsächlich ernst. Plötzlich kam ihr ein Gedanke, und sie errötete. „Und was ist mit...?" Sie verstummte. „Ich bin kein Unmensch", erwiderte er sanft. „An unserer Beziehung würde sich nichts ändern. Du würdest weiterhin in deinem Zimmer schlafen und ich in meinem. Und wenn du dich irgendwann in jemanden verliebst, lasse ich dich gehen." „Und was ist mit dir?" erkundigte sie sich leise. „Was passiert, wenn du dich verliebst?" In seinen Augen lag ein unendlich trauriger Ausdruck. „Das wird nicht geschehen. Es gibt im Leben nur eine einzige große Liebe." Liv atmete tief ein und wandte den Blick ab, weil sie den Schmerz in seinen Augen nicht ertragen konnte. Wann? Wer? Wo? Warum hatte Ben ihr nie davon erzählt? „Denk darüber nach", sagte er. „Ich gehe jetzt joggen. Was hältst du davon, wenn wir nachher nach Aldeburgh fahren und die berühmten
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Fish and Chips essen?" Liv nickte zustimmend, und Ben ging hinaus. Sie war völlig durcheinander. Würde sie wirklich in der Lage sein, eine Vernunftehe mit ihm zu führen? Mit ihm gemeinsam unter einem Dach zu leben und zu wissen, dass er sie nie in die Arme schließen würde? Doch was sollte sie sonst tun? Mit den Kindern in eine schäbige Mietwohnung ziehen und auf seine Freundschaft verzichten, nur weil sie nicht alles haben konnte? Ben nahe zu sein, auf Dauer mit ihm zusammenzuleben - wenn auch rein platonisch - war mehr, als sie sich je erhofft hatte. Und wenn er wirklich der Ansicht war, dass ihre Gegenwart das Chaos, das die Kinder täglich verursachten, wieder gutmachte, welchen Anlass zur Klage hatte sie dann? Und auch den Kindern würde es gut tun, in seiner liebevollen Obhut aufzuwachsen. Er hat Recht, dachte Liv. Sie waren beide einsam, und wenn sie heiraten würden, wären sie zumindest zufrieden. Sie, Liv, würde sich nie in einen anderen verlieben, und eine unglückliche Liebe hatte auch Ben das Herz gebrochen. Wenn sie also beide nicht glücklich werden konnten, warum sollten sie es dann nicht gemeinsam versuchen? Es schien in jedem Fall verlockender als die tränenreiche, aufreibende Beziehung mit Oscar. Und vielleicht würde Ben sie, Liv, eines Tages, wenn sie nicht mehr stillen würde und abgenommen hätte, auch als Frau sehen und nicht nur als gute Freundin. Vielleicht würden Ben und sie dann eine richtige Ehe führen, und sie würde nachts seine Lippen auf ihren und seine starken Arme um sich spüren. Tief in Gedanken versunken, badete sie die Kinder und zog sich und Missy warm an. Kit wurde in einen gefütterten Schlafsack gesteckt. Im Flur traf sie Ben, der bereits vom Laufen zurück war. Er trug Jeans und ein Sweatshirt, und seine Haare waren noch feucht vom Duschen. Er sah einfach umwerfend aus. „Ja", sagte sie unvermittelt. Fragend sah er sie an. „Ja was?" „Ja, ich werde dich heiraten." Seine Augen begannen zu funkeln, und er lächelte. „Gut. Komm her." Ben zog sie an sich und küsste sie flüchtig. Die sanfte Berührung seiner Lippen ließ ihr Herz schneller schlagen, und Liv überlegte, ob sie gerade den größten Fehler ihres Lebens begangen hatte ... 5. KAPITEL Es war ein wunderschöner Tag. Kit war friedlich und schlief die meiste Zeit, Missy war erstaunlich brav, und Ben ... Ben war so gut gelaunt, witzig und rücksichtsvoll wie immer. Sie saßen am Meer und aßen Fish and Chips. Kit schlief friedlich im Kinderwagen, und Missy wurde abwechselnd von Liv und Ben gefüttert. Genießerisch verzehrte Liv ihre Portion. „Wenn ich nicht aufpasse, werde ich noch zur Kugel", sagte sie und seufzte. Ben lachte. „Das glaube ich nicht. Du hast momentan mehr Appetit als sonst, weil du Kit stillst und dich noch von der Geburt erholst - und weil du von morgens bis abends in Bewegung bist." Sie wünschte, er hätte Recht, denn sie könnte sich nicht mehr wie früher nur von Tomaten und Joghurt ernähren. Um abzunehmen, würde sie mit ihrem Training in seinem Fitnessraum beginnen müssen. Aber daran wollte sie jetzt nicht denken. Jetzt saß sie hier an der See, gemeinsam mit Ben und den Kindern, die Sonne schien, und sie wollte einfach diesen schönen Tag genießen. Ben und Missy sahen sich gemeinsam ein Rettungsboot an, während Liv mit Kit wartete. Dann machten sie einen Spaziergang am Wasser entlang. Liv entdeckte an der Landstraße ein winziges Häuschen, das wie ein Puppenhaus wirkte, und fragte sich, ob wohl jemand darin wohnte. „Das ist ein Ferien-Cottage", erklärte Ben. „Davon gibt es hier mehrere, zum Beispiel das House in the Clouds, ein ehemaliger Wasserturm. Wir werden einmal gemeinsam dorthin fahren und ihn uns ansehen." „Buggy", verlangte Missy. Liv setzte sie neben Kit und schnallte sie fest. „Trinken", fuhr ihre Tochter fort. „Gute Idee", bemerkte Ben. „Wir könnten in ein Cafe gehen." Sie fuhren mit dem Auto an der Küste entlang, bis sie eine kleine Teestube fanden. Genau in diesem Moment wachte Kit auf, und Liv setzte sich in eine ruhige Ecke und stillte ihn, wobei sie die Brust mit ihrem Mantel bedeckte. Ben goss den Tee ein, bestellte Saft für Missy und half ihr beim Trinken. Fast kam es Liv so vor, als wären sie schon seit Jahren verheiratet. Vielleicht ist es gar keine so verrückte Idee, dachte sie. Wenn ich meine Gefühle für Ben nicht zeige, was schadet es dann, dass ich ihn liebe? Alles, was ich tue, werde ich nicht aus Pflichtgefühl tun, sondern weil ich ihn liebe. „Wegen der Hochzeit ..." sagte Liv, als sie auf dem Nachhauseweg waren. Ben sah sie an; seine Miene war undurchdringlich. „Hast du es dir anders überlegt?" Liv lachte leise. „Nein, du etwa?" Er schüttelte den Kopf. „Im Gegenteil - je mehr ich darüber nachdenke, umso besser gefällt mir die Idee." „Und wann wollen wir heiraten?" „Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Was meinst du denn?" Sie blickte auf ihre Hände, während sie einen der Mantelknöpfe hin- und herdrehte. „Ich fände es schön, wenn wir noch vor Weihnachten heiraten würden." Ben legte die Hand auf ihre. „In Ordnung. Ich werde in meinem Kalender nachsehen, und dann können wir uns gemeinsam ein Datum überlegen. Und, Liv", fuhr er fort, „ich finde, niemand braucht zu erfahren, warum wir heiraten, nicht?" Liv musste an ihre Eltern denken, die an der Algarve wohnten. Die beiden würden sich über die Neuigkeit freuen, obwohl sie ein wenig überrascht wären. Sie könnte ihnen unmöglich die Gründe für die Hochzeit erklären. Auch Bens Eltern und seine Schwestern Janie und Cläre würden keinerlei Verständnis dafür haben. Ihnen würde nichts anderes übrig bleiben, als ihre Familien in dem Glauben zu lassen, sie würden aus Liebe heiraten. Und bei ihr traf es ja auch zu - sie jedenfalls würde, ohne zu lügen, sagen können, dass sie Ben schon seit Jahren liebte. „Nein, du hast Recht", stimmte Liv zu. „Wir sagen einfach, dass wir eben etwas länger gebraucht haben, um uns über unsere Gefühle klar zu werden." Was ja auch der Wahrheit entsprach. Ihr war es schon immer schwer gefallen, jemanden zu belügen. Ben schlug einige Daten vor, das früheste bereits in der folgenden Woche. „Wir müssen allen rechtzeitig Bescheid sagen, damit sie es einplanen können", gab sie zu bedenken. „Es sei denn, du hattest vor, sie zu überraschen und ihnen erst im Nachhinein davon zu erzählen." Er lachte schallend. „Das würde ich nicht wagen! Meine Schwestern würden mir das Leben zur Hölle machen. Nein, sie werden natürlich dabei sein, ebenso wie meine Eltern. Deine werden sicher auch aus Portugal kommen, oder?" Sie nickte. „Warum fragen wir sie nicht alle, wann es ihnen passt?" Sie verbrachten also den restlichen Sonntagabend damit, sämtliche Familienmitglieder anzurufen und ihnen die große Neuigkeit mitzuteilen. Liv hörte Bens Lügengeschichten zu und wünschte sehnlichst, sie wären wahr. Als sie ihren Eltern mitteilte, sie liebe Ben, entsprach es der Wahrheit. Ihre Eltern waren außer sich vor Freude. „Ich konnte es dir ja nie sagen", sprudelte ihre Mutter hervor, „aber ich habe Oscar nie gemocht, und ich bin so froh, dass du Ben heiraten wirst. Ich wusste schon immer, dass ihr füreinander bestimmt seid!" Liv war überrascht. Warum hatte ihre Mutter ihr das nie erzählt? „Wann könnt ihr nach England kommen?" unterbrach sie ihre Mutter in ihren Lobeshymnen auf Ben.
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„Wann immer ihr wollt. Nichts kann so wichtig sein, dass man es nicht für eure Hochzeit absagen könnte. Ich kann es zwar immer noch nicht glauben, dass du uns nicht über deine Trennung von Oscar informiert hast, aber vermutlich kannst du kaum an etwas anderes denken, seit du mit Ben zusammen bist!" Liv errötete schuldbewusst. Sie hätte es ihren Eltern früher oder später gesagt, wollte jedoch nicht, dass diese sich Sorgen um sie machten. Die beiden waren an die Algarve gezogen, weil es ihrem Vater gesundheitlich nicht gut ging, und so wollte sie sie nicht unnötig belasten. „Soll ich zuerst mit den anderen sprechen und euch dann noch einmal anrufen?" schlug Liv vor. „Das ist eine gute Idee, aber sag uns bitte rechtzeitig Bescheid! Soll ich schon vorher kommen und dir bei den Vorbereitungen helfen? Wo werdet ihr heiraten? Doch sicher nicht in London? Und was ist mit den Blumen für die Kirche?" „Mum", unterbrach Liv sie sanft, „wir kümmern uns schon selber um alles. Und vermutlich werden wir nur standesamtlich heiraten." „Nein, Olivia!" protestierte ihre Mutter sofort. „Ihr müsst auch kirchlich heiraten!" „Wir werden darüber nachdenken", erwiderte Liv diplomatisch. „Das heißt bei dir immer ,nein'", bemerkte ihre Mutter trocken. „Nein, es bedeutet, dass ich mit Ben darüber reden werde. Ich sage dir dann Bescheid. In Ordnung, Mum?" Liv verabschiedete sich und legte den Hörer auf. Sie sah Ben an. „Mum möchte, dass wir kirchlich heiraten." „Das möchte ich auch", antwortete er ruhig. Liv dachte einen Moment nach und nickte dann zustimmend. „Eigentlich möchte ich es auch gern, aber ich wusste nicht, wie du darüber denkst, weil wir ja keine ..." Sie verstummte. „Keine was?" fragte Ben und blickte sie eindringlich an. „Nun, weil wir keine richtige Ehe führen werden." „Doch, das werden wir", widersprach er rau. „Wir werden füreinander da sein und Freud und Leid teilen. Wir werden den Kindern ein Zuhause bieten, und wir werden einander Freunde und Vertraute sein. All das ist viel wichtiger als vorübergehendes körperliches Begehren." Liv musste daran denken, was sie empfunden hatte, als Ben und sie miteinander getanzt hatten. Sie errötete, weil eine leidenschaftliche Beziehung genau das war, wonach sie sich sehnte. „Vermutlich hast du Recht", räumte Liv ein. „Wir könnten zur Abendandacht in die Kirche gehen", schlug Ben vor, „und mit dem Pfarrer sprechen. Er kann uns sicher einige Terminvorschläge machen. Es muss ja nicht unbedingt ein Samstag sein, oder?" „Nein. Wollen wir die Kinder mitnehmen?" „Ich kann Mrs. Greer bitten, auf sie aufzupassen." „Die arme Mrs. Greer hat sicher schon genug von uns. Beschwert ihr Mann sich nicht, dass sie nie zu Hause ist?" „Er ist Invalide, deshalb sind sie froh über jedes zusätzliche Einkommen." Während Ben Mrs. Greer anrief, durchsuchte Liv ihren Klei-derschrank. Schließlich entschied sie sich für einen dunklen Wickelrock, den sie sich nach Missys Geburt gekauft hatte, und einen weichen Wollpullover. Die Abendandacht war schön und stimmungsvoll. Liv sah sich in der Kirche um und dachte: Ja, hier möchte ich Ben heiraten, hier, wo sich schon Tausende von Paaren vor Gott das Jawort gegeben haben. Wie viele von ihnen wohl zusammengeblieben sind? Vermutlich erschreckend wenige. Sie wollte jedoch für Ben da sein, in guten wie in schlechten Zeiten, bis er sich entschließen sollte, sie zu verlassen. Und da sie ihn liebte, würde sie ihn gehen lassen. „Komm, lass uns mit dem Pfarrer sprechen", riss Ben sie aus ihren Gedanken. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass die Andacht bereits vorbei war. Der Pfarrer begrüßte sie freundlich, und als Ben von ihren Hochzeitsplänen berichtete, zog er einen Kalender aus den Falten seines Talars. „Möchten Sie bei mir vorbeikommen, oder soll ich zu Ihnen kommen?" „Würden Sie das tun?" bat Ben ihn. „Das würde es uns erleichtern, wegen der Kinder." „Kinder?" wandte sich der Pfarrer an Liv. „Sie waren also schon einmal verheiratet?" Liv schüttelte den Kopf. „Nein." „Dann sind es Ihre Kinder?" fragte er Ben. „Nein, zumindest noch nicht, aber ich wünschte, sie wären es", antwortete dieser. Er legte den Arm um sie. Alles nur zum Schein, dachte sie, umarmte ihn allerdings ebenfalls. Sie wollte sich keine der seltenen Gelegenheiten, ihn zu berühren, entgehen lassen. „Das klingt, als hätten Sie einiges zu erzählen", erwiderte der Pfarrer lächelnd. „Wie wäre es mit morgen?" „Ja, das geht." Ben nannte ihm die Adresse und erklärte ihm den Weg. Der Pfarrer schüttelte ihnen zum Abschied die Hand, so dass Liv sich von Ben lösen musste und leider keinen Vorwand mehr hatte, den Arm wieder um ihn zu legen. Sie wünschte sich sehnlichst, ihn berühren zu können, wie eine Ehefrau ihren Mann berührte. Liv kämpfte mit den Tränen und folgte Ben nach draußen zum Wagen. „Eine wunderschöne Kirche", sagte er leise. „Ja, sehr schön", stimmte sie ihm zu. „Bist du dir sicher, dass du mich wirklich heiraten möchtest, Liv?" Was meinte er damit? Hatte er etwa gemerkt, was sie für ihn empfand? „Natürlich", erwiderte sie entschieden. „Warum denn nicht?" Er zuckte die Schultern. „Nun, ich bin nicht Oscar." „Dann würde ich dich auch nicht heiraten." „Aber du hast ihn einmal geliebt." „Zumindest dachte ich das. Und was ist mit dir? Du hast mir noch immer nicht von der Frau erzählt, die dir das Herz gebrochen hat." Ben ließ den Motor an und presste die Lippen zusammen. „Mach dir keine Gedanken über mich, Liv. Für mich zählt nur, dass es dir dabei gut geht." Schweigend fuhren sie zurück. Während Ben Mrs. Greer nach Hause brachte, bereitete Liv das Abendessen vor. Kit lag in der Wippe und gluckste zufrieden vor sich hin, Missy spielte begeistert mit Bauklötzen, und sie, Liv, würde heiraten. Was konnte man sich mehr wünschen? Bens Liebe, dachte sie wehmütig und schloss die Augen, um Kraft zu schöpfen. Und vielleicht wäre sein gebrochenes Herz irgendwann wieder heil, und er würde sie endlich als Frau sehen ... Die Hochzeit sollte am letzten Freitag im November stattfinden, weniger als zwei Wochen später. Am Montagabend beauftragten Ben und Liv einen Partyservice mit der Bewirtung und schrieben eine Gästeliste. Am Dienstagmorgen war bereits alles erledigt, sie musste nur noch das Brautkleid kaufen. Ben bestand darauf, es zu bezahlen. „Du musst dir nur ein Kleid aussuchen und es zurücklegen lassen, ich werde es dann abholen und bezahlen. Bitte, Liv, lass uns nicht noch einmal darüber streiten." Für ihre Hochzeit wollte sie ein ganz besonderes Kleid, um für Ben so hübsch wie möglich auszusehen. Sie hoffte, dass sie ein Kleid finden würde, das ihr passte. In Slip und BH stand sie vor dem Spiegel und seufzte. Was war nur aus ihrer superschlanken Modelfigur geworden? Sie erinnerte sich an endlose Beine, schmale Hüften und hervorstehende Schlüsselbeine. Damals hatte einfach alles an ihr elegant ausgesehen. Und jetzt hatte sie überall Speckrollen - keine sanften Kurven, sondern Speckrollen. Ihre Brüste waren größer geworden, ihr Taillenumfang hatte beträchtlich zugenommen, und die Haut an ihrem Bauch war durch die beiden Schwangerschaften stark gedehnt. Liv hatte bereits vergeblich versucht, sich durch Bauchmuskelübungen wieder in Form zu bringen. Sie würde es doch einmal mit Bens Fitnessraum versuchen müssen. Vermutlich war es nicht so einfach, wieder einen flachen Bauch zu bekommen. Und ihre Beine waren zwar immer noch lang, aber dicker als vorher. Sie hatte einmal Kleidergröße sechsunddreißig getragen - und das, obwohl sie über einen Meter siebzig groß war. Und jetzt pass-te ihr wegen
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ihrer Oberweite manchmal nicht einmal mehr Größe vierzig. Es klopfte an der Tür. „Liv? Ich bin es, Kate. Ben hat mir gesagt, dass du mit mir sprechen möchtest." „Komm herein!" rief Liv und machte sich nicht die Mühe, ihren Morgenmantel überzuziehen. „Ich betrachte mich gerade im Spiegel und finde, dass mein Körper ganz furchtbar aussieht." Kate trat ein und musterte sie eingehend. „Du findest deinen Körper also furchtbar? Wir können gern tauschen - ich bin fast zehn Zentimeter kleiner als du und bestimmt fünf Kilo schwerer!" Liv lächelte ihrer Freundin im Spiegel zu. „Vielleicht, aber dich starren auch nicht alle an und denken: Du meine Güte, ist Liv Kensington fett geworden!" „Dich starrt auch niemand an", erwiderte Kate unverblümt. „Alle Frauen blicken auf die derzeitigen Supermodels - und sind neidisch auf sie, weil sie so dünn sind. Und außerdem finde ich, dass du toll aussiehst." Liv war nicht ganz überzeugt, fühlte sich allerdings sofort besser. Hoffentlich hatte Kate Recht, und sie stand wirklich nicht mehr im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. Und dass sie nicht mehr so schlank war wie früher, war auch nicht wichtig -dafür hatte sie zwei wundervolle Kinder. „Danke", sagte sie herzlich und zog sich Jeans und einen Wollpullover an. „Wo sind denn deine Kinder?" „Jake ist in der Schule, und die beiden anderen sind im Kinderhort. Warum fragst du?" „Weil ich einen Anschlag auf dich vorhabe. Ben und ich heiraten am Freitag, und du sollst mir dabei helfen, das Brautkleid auszusuchen." Ungläubig sah Kate sie an, dann schrie sie begeistert auf und fiel ihr um den Hals. „O Liv, wie schön! Natürlich helfe ich dir, aber willst du das Kleid nicht lieber in London kaufen?" Liv schüttelte den Kopf. „Nein, ich möchte ein schlichtes Kleid, nichts Extravagantes." Kate versicherte ihr, dass es auch in der Umgebung viele Läden gab, die Brautmoden führten. Ben bestand darauf, auf Missy und Kit aufzupassen, und so durchstöberten sie zu zweit die Geschäfte, während Kate versuchte, so viel wie möglich über die bevorstehende Hochzeit und Livs plötzlichen Sinneswandel herauszufinden. „Mir hast du doch erzählt, ihr beide wärt nur gute Freunde", schimpfte sie im Spaß. „Hast du mich etwa angelogen?" Liv schüttelte den Kopf. „Nein, wir haben nur einen etwas längeren Anlauf gebraucht." „Du bist wirklich zu beneiden - natürlich liebe ich Andy über alles, aber Ben ist wirklich ein Traum von einem Mann, und du wirst von nun an jeden Morgen neben ihm aufwachen können ..." Kate seufzte. Nichts wünschte Liv sich mehr, und Kate durfte auf keinen Fall wissen, dass es nie geschehen würde. Sie gingen in ein großes Kaufhaus in Ipswich und sahen sich die Brautkleider an, doch alle waren entweder zu schlicht, zu aufwendig oder hatten die falsche Farbe. Sie, Liv, brauchte ein weißes Kleid, denn die cremefarbenen passten nicht zu ihrem dunklen Haar und der olivfarbenen Haut, aber die meisten weißen Kleider hatten für ihren Geschmack zu viele Spitzen und Rüschen. „Darin sehe ich aus wie eine riesige Sahnetorte mit zu viel Zu-ckerguss", sagte Liv unglücklich und ließ sich von Kate ins nächste Geschäft führen. Und hier fanden sie es - ein schlichtes weißes Kleid aus seidenweichem Stoff mit einem V-förmigen Stickerei-Einsatz am Dekollete, langen Ärmeln und einem Rock, der weder zu gerade noch zu bauschig war. Rock und Ärmel waren gerafft, und es hatte eine kleine Schleppe. Wenn sie, Liv, Oscar geheiratet hätte, hätte sie ein ganz anderes Kleid ausgesucht - ein schmal geschnittenes Designerkleid von schlichter Eleganz und um einiges teurer als dieses. Doch sie war nicht mehr das superschlanke, modebewusste Model von damals - jetzt war sie Mutter zweier Kinder, und sie fühlte sich schön in diesem Kleid, das ihre Weiblichkeit unterstrich. „Du siehst einfach toll aus", bemerkte Kate wehmütig. „Ich wünschte, ich würde auch noch einmal heiraten." Liv musste lachen. „Wie soll ich mein Haar tragen? Soll ich es einfach hochstecken oder einen Schleier tragen?" fragte sie die Freundin. „Wie wäre es hiermit?" Kate hielt ihr einen aus Seidenbändern geflochtenen Haarschmuck mit einem kleinen Schleier entgegen, der perfekt zu dem Kleid passte. Ich werde den Schleier über meinem Gesicht tragen, wenn ich Ben das Jawort gebe, dachte Liv. Damit niemand mir ansieht, was ich für ihn empfinde. Bens Handy, das sie mitgenommen hatte, klingelte. „Habt ihr schon ein Kleid gefunden?" erkundigte er sich. Im Hintergrund hörte Liv Kit schreien. „Ja, wir sind fertig." „Gut. Könntet ihr dann bald nach Hause kommen? Kit scheint langsam ungeduldig zu werden." Und Ben wohl auch, so wie es klang. „Ja, wir machen uns jetzt gleich auf den Weg", versprach Liv, und innerhalb einer halben Stunde waren sie da. Kate fuhr weiter, um ihre Kinder abzuholen, Ben verschwand eilig in seinem Arbeitszimmer, und Liv kümmerte sich um die Kleinen. Sie hatte gelernt, andere Dinge zu erledigen, während sie Kit stillte, und so kochte sie Kaffee, während er trank. Missy verlangte einen Keks, und obwohl es in Kürze Mittagessen geben sollte, gab Liv ihr einen. Dann wickelte sie beide. Es wird Zeit, dass Missy lernt, aufs Töpfchen zu gehen, dachte sie. Doch wegen der Aufregung der vergangenen Wochen und der bevorstehenden Hochzeit hatte sie nicht genug Zeit und Ruhe gehabt, um sich darum zu kümmern. Sie legte Kit in sein Bettchen und nahm ihre Tochter bei der Hand. „Zeit fürs Mittagessen." Doch Missy schüttelte den Kopf. „Missy schlafen", erwiderte sie, legte sich auf den Teppich und steckte den Daumen in den Mund. Nach kurzem Zögern legte Liv sie ins Bett. „Schlaf gut, Darling", sagte sie. „Bis später." Sie küsste Missy sanft und strich ihr behutsam die Locken aus der Stirn. Vielleicht sollte sie jetzt mit Ben über die weiteren Vorbereitungen für die Hochzeit sprechen. Sie klopfte an die Tür seines Arbeitszimmers. „Herein!" Vorsichtig öffnete sie die Tür. Seine Stimme hatte ungeduldig geklungen, doch als Liv eintrat, lächelte Ben. „Hallo. Hast du die beiden ruhig gestellt?" Erleichtert stellte sie fest, dass er nicht böse war, weil er den ganzen Morgen mit Kinderhüten verbracht hatte. „Sie schlafen beide. Ich wollte fragen, was du gern zu Mittag essen möchtest, und wenn du gerade ein bisschen Zeit hast, könnten wir vielleicht noch die Vorbereitungen für die Hochzeit besprechen." „Ja, natürlich." Er stand auf und streckte sich, wobei ihm das Hemd aus den Jeans rutschte und den Blick auf seinen muskulösen Oberkörper freigab. Liv schluckte und sah woandershin. Dann wandte sie sich um und ging in die Küche. Wie sollte sie es nur ertragen, mit einem Mann zusammenzuleben, der so unglaublich sexy war - und für sie immer unerreichbar bleiben würde? Jetzt, da Ben und sie heiraten und unter einem Dach leben würden, könnte sie es nicht ertragen, von ihm abgewiesen zu werden - so sanft und behutsam er es auch tun mochte. Verdammt, verdammt, verdammt ... „Streitest du dich mit dem Wasserkessel?" erkundigte Ben sich amüsiert. „Nein, ich habe nur laut gedacht." Liv nahm zwei Becher aus dem Schrank. „Möchtest du Kaffee?" „Ja, bitte." Er setzte sich an den Tisch und rührte nachdenklich mit einem Löffel in der Zuckerdose. „Wie viele Leute kommen zur Hochzeit, und wo bringen wir sie unter?" „Unterbringen?" Verständnislos sah sie ihn an. „Ja, sie müssen schließlich irgendwo übernachten. Ich habe sechs Schlafzimmer, in einem schlafe ich, in einem die Kinder. Wir müssen also deine und meine Eltern sowie meine Schwestern, ihre Männer und ihre Kinder in vier Zimmern unterbringen, denn natürlich werden sie erwarten, dass wir beide zusammen in einem Zimmer schlafen." Daran hatte sie nicht gedacht. Sie errötete, drehte sich um und begann, schnell Kaffee in die Kanne zu löffeln. „Wir ... wir könnten doch in ein Hotel gehen und in getrennten Zimmern schlafen, dann würde niemand etwas bemerken." „Und die Kinder?" Liv überlegte, und schließlich hatte sie eine Idee. „Wie wäre es mit einer Familiensuite mit zwei Zimmern - eins für die Kinder und eins für
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uns?" „Kein schlechter Vorschlag. Ich möchte auf jeden Fall verhindern, dass meine beiden Schwestern an der Schlafzimmertür lauschen und uns am nächsten Morgen unter die Lupe nehmen, um festzustellen, ob wir übernächtigt wirken! Sie haben sich schon immer sehr für mein Privatleben interessiert." „Und wenn wir für alle Gäste Hotelzimmer reservieren?" Ben schüttelte den Kopf. „Darauf würden sie sich niemals einlassen. Aber einen Vorteil hat es auch, wenn wir im Hotel schlafen: Wir brauchen uns weder um das Essen noch um den Abwasch zu kümmern!" Sie rang sich ein Lächeln ab, doch eigentlich war ihr zum Weinen zu Mute. Da sprachen sie nun über ihre Hochzeitsnacht, als wäre sie ein Problem, obwohl sie doch etwas ganz Besonderes sein sollte. „Soll ich uns Rührei zum Lunch machen?" bot Ben an. Liv reichte ihm einen Becher Kaffee. „Du schlägst immer Rührei vor - kannst du nichts anderes kochen?" Er lachte. „Ich beschränke mich eben auf die Dinge, in denen ich gut bin. Was würdest du denn gern essen? Überbackenen Käsetoast?" Sie biss sich auf die Lippe, um ein Lachen zu unterdrücken. „Ich könnte ein Käseomelett machen - als Kompromiss." „Einverstanden", erwiderte er. „Und während du kochst, mache ich uns frischen Kaffee. Dieser hier ist so stark, dass man ihn als Lösungsmittel verwenden könnte. Wenn wir nicht heiraten würden, müsste ich dich wegen Nichterfüllung deiner Haushaltspflichten entlassen." Als sie ihn entgeistert ansah, schloss er sie in die Arme und fügte begütigend hinzu: „Das war doch nur Spaß, Liv. Keine Angst, ich werde nicht ständig an dir herumkritisieren wie Oscar." Sofort fiel die Anspannung von ihr ab. Liv legte die Arme um Ben und genoss es, ihm nahe zu sein. Es war wie immer eine rein freundschaftliche Umarmung. Warum also ließen sie einander plötzlich los und traten verlegen einen Schritt zurück? 6. KAPITEL Kate war in ihrem Element. Liv hatte sie gebeten, ihr bei den Vorbereitungen für die Hochzeit zu helfen und ihre Brautjungfer zu sein. „Ich wollte dich gestern schon fragen", erklärte sie, „aber ich bin nicht dazu gekommen. Ich habe ja keine Schwester, und du und Ben seid meine engsten Freunde - und ihn kann ich wohl schlecht bitten, meine Brautjungfer zu sein." Kate lachte. „Solange ich ein einfaches Kleid tragen darf und nicht so eine Sahnetorte aus Rüschen und Spitze, tue ich es gern", antwortete sie. „Vielleicht könnten wir dort etwas für dich ausleihen, wo ich das Brautkleid gekauft habe", schlug Liv vor. Sie rief in dem Geschäft an, und tatsächlich gab es zu dem Brautkleid passende Kleider in verschiedenen Farben zu leihen. „Ich fahre nachher gleich hin und probiere sie an", versprach Kate. „Wie aufregend - ich werde die Brautjungfer eines berühmten Models!" „Na ja, ein ehemaliges berühmtes Model", berichtigte Liv sie. „Außerdem glaube ich nicht, dass es Publicity geben wird." „Da wäre ich mir nicht so sicher", entgegnete Kate. „Ben ist ein ziemlich bekannter und bedeutender Geschäftsmann. Wenn die Presse Wind von der Hochzeit bekommt, wird es jede Menge Publicity geben." Liv musste ihr Recht geben, aber immerhin war es nur noch eine Woche bis zur Hochzeit, und sie hoffte, dass die wenigen Gäste nichts ausplaudern würden. „Hast du Oscar erzählt, dass du heiraten wirst?" „Nein. Ich teile ihm die Dinge mit, die er meiner Meinung nach wissen sollte. Meine Hochzeit gehört nicht dazu." Kate lachte wieder. „Du bist nicht sehr gut auf ihn zu sprechen, stimmt's?" „Er hat mich auch nicht besonders gut behandelt, Kate", erwiderte Liv ruhig. „Er hat mir alles genommen - mein Geld, mein Selbstvertrauen, meine Lebensfreude. Das einzig Positive, das sich über ihn sagen lässt, ist, dass er mir zwei Kinder geschenkt hat. Das war auch der Grund, warum ich ihn nicht schon vor zwei Jahren verlassen habe." „Ich freue mich so für dich, dass du Ben heiraten wirst - ich schwärme für ihn, seit wir Nachbarn sind, aber ich wäre nie darauf gekommen, dass er dein Ben aus unserer Collegezeit ist." War er wirklich noch ihr Ben, den sie, Liv, seit ihrer frühesten Jugend anhimmelte? Jemand hatte ihm das Herz gebrochen, und seitdem lebte er sehr zurückgezogen. Im Großen und Ganzen war er noch der Alte, aber ihr schien es, als hätten seine Augen den Glanz verloren. „Ich kann es immer noch nicht glauben, dass wir wirklich heiraten", sagte sie nachdenklich. „Das werdet ihr aber. Schließlich hast du das Kleid gekauft und einen Partyservice beauftragt - das hast du doch, oder?" Lächelnd nickte Liv. „Ja, natürlich." „Und du wirst den tollsten Mann heiraten, der mir je begegnet ist." Kate seufzte. „Du hast wirklich Glück!" Doch Liv war sich da nicht so sicher. Seit der Umarmung gestern war Ben leicht zurückhaltend, nicht kalt oder abweisend, aber er schien sich von ihr fern zu halten. Sie fragte sich, ob er seinen Entschluss, sie zu heiraten, vielleicht bereute. Nach dem Abendessen, als die Kinder bereits im Bett lagen, beschloss sie, ihn zu fragen. Ohne um den heißen Brei herumzureden, sprach sie ihn darauf an: „Ben, bist du dir wirklich sicher, dass du mich heiraten willst?" Aufmerksam beobachtete sie sein Gesicht, konnte allerdings keine Reaktion feststellen. „Ja, ganz sicher", erwiderte er ruhig. „Warum willst du das wissen?" „Du bist so ... distanziert." Er lächelte leicht gequält. „Das tut mir Leid. Ich bin momentan beruflich sehr eingespannt. Es hat nichts mit dir zu tun." „Versprich mir bitte, dass du es mir sofort sagst, wenn du deine Meinung ändern solltest", bat sie ihn eindringlich, während sie krampfhaft die Arbeitsplatte umfasste. Ben kam zu ihr und schloss sie in die Arme. „Liv, mach dir keine Gedanken. Alles wird gut, vertrau mir." Diesmal waren sie beide nicht verlegen, und Liv lehnte sich erleichtert an seine Schulter, während ihre Anspannung nachließ. Sie hatte bereits befürchtet, dass Ben einen Rückzieher machen würde, doch er schien nach wie vor fest entschlossen zu sein. „Ich habe in einem Hotel ganz in der Nähe die Familiensuite für unsere Hochzeitsnacht reservieren lassen", sagte er, das Gesicht in ihrem Haar geborgen, „und eine Babysitterin bestellt, damit wir in Ruhe essen gehen können." Liv trat einen Schritt zurück und sah ihn an. „Meinst du, wir werden überhaupt Appetit haben?" „Ich werde bestimmt Hunger haben, und ich kann mich nicht daran erinnern, dass du in den letzten Wochen jemals Essen abgelehnt hast", neckte er sie lächelnd. „Und jetzt hör auf, dir Sorgen zu machen. Du wirst sehen, alles wird perfekt sein." Am Morgen ihrer Hochzeit war es kühl, aber sonnig, und es wurde ein für die Jahreszeit ungewöhnlich milder Tag. Die Mitarbeiter des Partyservice kamen um zehn, und kurz darauf trafen ihre Eltern ein, die bei Freunden in London übernachtet hatten. Ihr Vater umarmte Liv stürmisch, und als er sie losließ, hatte er Tränen in den Augen. „Ich freue mich so für dich", meinte er. „Er hat Ewigkeiten an seiner Rede geschrieben", flüsterte ihre Mutter ihr zu, als sie sie ebenfalls zur Begrüßung in die Arme schloss. „Er ist ganz aus dem Häuschen. Das Haus ist wunderschön - hast du diese wundervolle Blumendekoration gemacht?" „Wo denkst du hin? Ich habe den ganzen Tag damit zu tun, diese beiden kleinen Ungeheuer zu bändigen." „Missy Biest", ergänzte ihre Tochter fröhlich und streckte die Arme nach der Großmutter aus. „Oma Arm!" Ihre Mutter nahm Missy auf den Arm und küsste sie, und ihr Vater kitzelte sie und kniff ihr zärtlich in die Nase. Missy quietschte vor Begeisterung. Liv übergab ihrem Vater seinen Enkel und ging in die Küche, um Kaffee zu kochen. Als Ben einige Minuten später dazukam, las ihre Mutter Missy ein Buch vor, ihr Vater hielt stolz seinen Enkelsohn auf dem Arm, und Liv versuchte, ihre Haare auf Lockenwickler zu drehen, während sie Kaffee trank. „Ben!" Erfreut schloss ihre Mutter ihren zukünftigen Schwiegersohn in die Arme. Er beugte sich zu ihr und küsste sie auf die Wange,
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schüttelte ihrem Mann die Hand und strich Missy über den Kopf. Dann wandte er sich an Liv. „Diese Lockenwickler machen dich unglaublich sexy", neckte er sie. Die Kehle war ihr wie zugeschnürt. Er klang so gelassen, so natürlich, als würde er es ernst meinen. „Ihr beide dürft euch doch bis zur Hochzeit gar nicht sehen", schalt ihre Mutter sie gespielt empört. „Ich kann Ben ja nicht wegen einer alten Tradition aus seinem eigenen Haus werfen", wandte Liv ein. „Aber ich werde aufpassen, dass er mich nicht in meinem Brautkleid sieht, bevor wir in der Kirche sind", versprach sie. Ben sah aus dem Fenster. „Janie und ihre Familie sind angekommen", berichtete er. „Und da sind meine Eltern und Cläre und Martin, mein Trauzeuge." Liv warf einen Blick in den Spiegel neben der Eingangstür. „Ich werde sie wohl in diesem Zustand begrüßen müssen." Sie seufzte resigniert. „Ich muss mich noch umziehen, und mein Haar ist völlig zerzaust. Eigentlich sollte Kate vorbeikommen und mir damit helfen." „Sie hat vorhin angerufen, um Bescheid zu sagen, dass sie sich verspäten wird. Eines ihrer Kinder hat im Garten irgendetwas gegessen und musste sich übergeben", erzählte Mrs. Greer, die gerade mit einem Arm voller Spielzeug vorbeikam. Großartig, dachte Liv. Bens Familie war eingetroffen, sie hatte erst die Hälfte der Lockenwickler im Haar - und ihre Trauzeugin musste sich um ein krankes Kind kümmern! Doch sie machte sich unnötig Sorgen, denn sämtliche Mitglieder von Bens Familie kannten und liebten sie. Sie wurde umarmt und geküsst, und alle versicherten ihr, wie toll sie aussehe. „Danke für das Kompliment, aber ich glaube euch kein Wort", erwiderte sie lachend und setzte Wasser auf. Inmitten des allgemeinen Durcheinanders fragte sie einer der Mitarbeiter des Partyservice: „Könnten wir jetzt vielleicht in die Küche? Wir haben noch eine Menge zu tun, und im Esszimmer sind wir bereits fertig." „Also, alle Mann raus aus der Küche!" kommandierte Ben gut gelaunt. Liv drehte die letzte Haarsträhne auf. Sie trug immer noch Jeans und einen Wollpullover. „Du hast doch wohl ein Brautkleid, oder?" Janie zog die Augenbrauen hoch. „Natürlich, aber Ben darf mich darin nicht sehen, also kann ich mich noch nicht umziehen." „Wir helfen dir beim Umziehen", beschloss Cläre, und sie und Janie nahmen Liv an den Händen und zogen sie nach oben. „Ich muss Kit noch stillen, bevor ich mich umziehe", wandte Liv ein. „Tu das - in der Zwischenzeit kümmern wir uns um deine Frisur und dein Make-up. Soll Kit auch mit in die Kirche?" „Ich hätte gern beide Kinder dabei, auch wenn es vielleicht albern klingt. Aber vielleicht ist Kit noch zu klein, um an einem Gottesdienst teilzunehmen." „Wenn du ihn dabeihaben möchtest, kommt er natürlich mit. Es werden sicher Hunderte von Kindern in der Kirche sein, und falls deine Kinder wirklich schreien sollten, gehen wir einfach mit ihnen nach draußen." Liv war bereit. Ihr Haar war in kunstvollen Locken aufgetürmt, der Schleier festgesteckt, das Brautkleid saß perfekt - und Cläre war am Rande eines Nervenzusammenbruchs. „Das Kleid ist neu, die Haarspangen von Kate geliehen, das Strumpfband blau - aber du hast nichts Altes, wie es die Tradition verlangt!" „Ben?" schlug Janie lachend vor. „Ich könnte einen alten BH anziehen", sagte Liv. „Doch nicht am Tag deiner Hochzeit - deine Wäsche muss so verführerisch sein wie möglich! Hast du vielleicht ein altes Schmuckstück?" Liv überlegte. „Ich habe eine antike Kette mit einem Diamantanhänger, die Ben mir zu meinem achtzehnten Geburtstag geschenkt hat." „Perfekt." Liv legte die Kette um den Hals und drehte sich um, als Kate eintrat. „Wie sehe ich aus?" „Wunderschön!" lautete die einstimmige Antwort, und Liv seufzte erleichtert. „Ich muss noch einmal mit Ben reden." „Das geht nicht, er darf dich nicht im Brautkleid sehen!" „Aber es ist wichtig. Er kann auf der einen Seite der Tür stehen und ich auf der anderen. Ich muss unbedingt mit ihm sprechen." Die drei gingen nach unten, und kurze Zeit später klopfte Ben leise an die Tür. „Liv? Alles in Ordnung?" „Ja. Mach die Augen zu." Gehorsam schloss er die Augen, und Liv öffnete die Tür. Ben trug einen schwarzen Frack, eine Nadelstreifenhose und ein gestärktes weißes Hemd mit Schlips. Er sah unglaublich gut aus. „Bist du dir wirklich sicher?" fragte sie, und er öffnete die Augen und sah sie fest an. „Absolut sicher. Und du?" Liv nickte lächelnd. „Du schummelst - mach sofort wieder die Augen zu!" Seufzend gehorchte er, streckte dann blind die Arme nach ihr aus und zog sie an sich. „Keine Angst, Liv", flüsterte er. „Alles wird gut." Schließlich drehte er sich um und ging wieder nach unten. „Ich hatte schon Angst, dass du die Hochzeit im letzten Moment platzen lassen würdest", gestand Janie, die mit den anderen beiden die Treppe heraufkam. „Ja, du hast uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt", bestätigte Kate. „Wir sollten uns jetzt auf den Weg machen. Andy, Steve und Martin nehmen die Kinder, dann kommen wir und dann du und dein Vater im Hochzeitswagen - und vergiss deine Blumen nicht!" Ihre Mutter gesellte sich zu ihnen und betrachtete Liv aus einigen Metern Entfernung. Tränen traten ihr in die Augen, als sie sagte: „Du hast noch nie so schön ausgesehen, mein Liebling." Sie drehte sich wieder um und ging die Treppe hinunter. Nach einigem Hin und Her waren nur noch Liv und ihr Vater im Haus. „Du siehst wunderschön aus", stellte er fest. „Und du hättest dir keinen besseren Ehemann aussuchen können. Ich hoffe, dass ihr sehr glücklich miteinander werdet." Liv rang sich ein Lächeln ab. „Das werden wir sicher", erwiderte sie gespielt zuversichtlich. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihren Vater auf die Wange. „Der Wagen ist da, wir müssen los", bemerkte sie und nahm ihren Brautstrauß. Vor dem Kirchentor hörte sie die Klänge des Hochzeitsmarsches. Sie atmete tief ein, legte die Hand auf den Arm ihres Vaters, lächelte Kate zu und schritt langsam den Gang entlang. Ben wartete vor dem Altar. Erst als sie neben ihm stand, wandte er den Kopf und zwinkerte ihr lächelnd zu. Es war ein sehr schöner Gottesdienst, und als sie Ben das Jawort gab, empfand Liv eine innere Stärke, die ihr nie bewusst gewesen war. Doch als er „Mit Leib und Seele will ich für dich da sein" sagte, erfüllte tiefe Traurigkeit sie. Sicher ist er in Gedanken bei ihr, dachte Liv wehmütig. Wie viel musste die unbekannte Frau ihm bedeutet haben, dass er die Hoffnung auf eine glückliche Liebe aufgegeben und sich entschlossen hatte, sie, Liv, zu heiraten! Und dann kam der Moment, als Ben ihren Schleier hob, um sie zu küssen. „Keine Angst, ich werde dich nicht beißen", flüsterte er, und sie musste trotz allem lächeln. Es war nur ein kurzer, flüchtiger KUSS, und doch verspürte Liv ein plötzliches, starkes Verlangen. Sie konnte noch keinen klaren Gedanken fassen, als eine Kamera zu klicken begann. „Ich dachte, wir wollten keine Fotos machen lassen", sagte sie verwirrt. „Aber wir brauchen zumindest ein paar Bilder, die wir unseren Enkelkindern zeigen können", entgegnete Ben und lächelte in die Kamera. Liv war in ihrem Leben bereits unzählige Male fotografiert worden, und so machte es ihr keine Mühe, mit Ben vor dem Kirchenportal für die Fotografen zu posieren, bis der Wind zunahm und sie nach Hause fuhren, bevor allen Gästen die Hüte wegwehten. Als sie ankamen, hob Ben Liv hoch und trug sie über die Schwelle, und auch dieser Moment wurde von den Fotografen festgehalten. „Würden Sie bitte noch einmal die Braut küssen?" bat einer von ihnen, und Ben blieb stehen, um ihm den Wunsch zu erfüllen. Bei der Trauung in der Kirche hatten sie sich geküsst, um die Erwartungen der Anwesenden zu erfüllen. Doch diesmal war es anders, Ben küsste sie leidenschaftlich, und einen Moment lang war Liv glücklich und gab sich der Illusion hin, dass er ihre Gefühle erwiderte. Aber schließlich blickte er den Fotografen an und erkundigte sich lächelnd: „Zufrieden?"
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Und ihr wurde wieder einmal klar, dass er sie nicht wirklich liebte und sein Verlangen nur gespielt war. Sie musste endgültig aufhören, sich Hoffnungen zu machen. Der Tag schien sich in die Länge zu ziehen. Liv tat ihr Bestes, um die glückliche Braut zu spielen, und war sehr froh, als Kit hungrig wurde und sie so die Gelegenheit hatte, der allgemeinen Aufmerksamkeit zu entfliehen. Sie trug ihn in ihr Schlafzimmer, zog das Brautkleid aus und den Morgenmantel an und begann, ihn zu stillen. Es klopfte an der Tür, und Ben trat ein. Er hatte seinen Frack ausgezogen und trug nun einen Kaschmirpullover und hielt einen Becher Tee in der Hand. „Ich dachte, du hast vielleicht Durst", erklärte er und setzte sich neben ihr aufs Bett. Liv bedankte sich und nahm den Tee entgegen. Ben lächelte entschuldigend. „Nichts zu danken. Ich war auch froh, mich einmal davonstehlen zu können. Das Ganze ist ziemlich anstrengend, stimmt's?" Liv nickte. „Es fällt mir schwer, ihnen die ganze Zeit etwas vorzuspielen." Sie hoffte, er würde ihr nicht anmerken, wie traurig sie war. „Aber bald haben wir es ja geschafft - wir nehmen die Kinder und verschwinden, und wenn wir morgen zurückkommen, sind sie alle wieder weg." Er schnaufte. „Darauf würde ich mich nicht verlassen. Ich habe eher den Eindruck, dass meine Familie sich hier häuslich niedergelassen hat. Vor morgen Abend werden wir sie bestimmt nicht los." „Noch vor vier Wochen hast du ein unbeschwertes Junggesellendasein geführt", sagte sie wehmütig. Ben lachte. „Stimmt. Trotzdem bereue ich meine Entscheidung nicht. Der heutige Tag ist für uns beide sehr anstrengend, aber wir dürfen nicht vergessen, dass wir gute Gründe für diese Heirat haben." Sanft berührte er den Diamantanhänger. „Den habe ich dir einmal geschenkt", bemerkte er, sichtlich gerührt darüber, dass sie die Kette am Tag ihrer Hochzeit getragen hatte. „Du siehst wunderschön aus, Liv", fuhr er fort und lächelte traurig. Sie hielt den Atem an. Würde Ben sie berühren, wie ein Mann seine Ehefrau berührte? Würde er ihr die Hand auf die Brust legen, sie sanft streicheln? Ben zog die Hand allerdings zurück und stand auf, den Blick auf Kit gerichtet. „Ich glaube, er hat fertig getrunken", meinte er, und seine Stimme klang angespannt. Dann ging er hinaus. Liv war verwirrt. Er hatte sich doch mittlerweile daran gewöhnt, ihr beim Stillen zuzusehen, und er war auch entspannt gewesen, bis sein Blick Kit gestreift hatte. Machte es ihn traurig, dass das Baby nicht von ihm war? Hatte er sich mit der Frau, die er liebte, vergebens Kinder gewünscht? War sie vielleicht bei der Geburt gestorben? Nein, denn das hätte sie, Liv, sicher erfahren. Ben hätte nicht vor ihr verbergen können, dass er bald Vater werden würde oder dass die Frau, die er liebte, gestorben war - höchstens zu dem Zeitpunkt, als sie mit Oscar zusammengezogen war und sie und Ben eine Zeit lang keinen Kontakt zueinander hatten. Vielleicht hatte er sich deshalb nicht bei ihr gemeldet? Sie würde es nie erfahren, wenn er es ihr nicht selbst erzählte. Doch sie bezweifelte, dass er es jemals tun würde. Liv wickelte Kit und legte ihn in sein Bettchen, wo er sofort einschlief. Anschließend zog sie einen seidenen Hosenanzug an, der sehr bequem, aber elegant genug für das Hotel war. Und ab morgen würde sie endlich wieder ihre heiß geliebten Jeans und Pullover tragen können. Ben ging in sein Arbeitszimmer, wo er ein wenig allein sein und sich von dem Trubel erholen wollte. Er war sehr angespannt, und Liv schien es nicht viel besser zu gehen. Als er die Tür öffnete, erblickte er seine Schwester Cläre, die telefonierte und ihm einen schuldbewussten Blick zuwarf. „Ja, genau", sagte sie in den Hörer, „buchen Sie es einfach ab, ich gebe Ihnen die Nummer meiner Kreditkarte." Nachdem sie die nötigen Angaben gemacht hatte, legte sie auf und strahlte ihn an. „Ich hatte etwas vergessen, das ich noch bestellen wollte, und heute ist der letzte Tag, an dem das Sonderangebot gilt. Du hast doch nichts dagegen, dass ich dein Telefon benutzt habe, oder?" Sie tätschelte ihm die Wange und ging hinaus, ohne eine Antwort abzuwarten. Ben glaubte ihr kein Wort und zweifelte keine Sekunde daran, dass sie etwas im Schilde führte. Er ließ den Blick über den Schreibtisch gleiten - und erblickte den Zettel, auf dem er den Namen und die Telefonnummer des Hotels notiert hatte, in dem Liv und er die Nacht verbringen würden. Hatte Cläre etwa im Hotel angerufen und irgendeinen Streich ausgeheckt? O nein, dachte er, bitte nicht jetzt, wo wir beide kurz davor sind, die Nerven zu verlieren. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als vor dem ganzen Trubel zu flüchten, und vor allem machte er sich ernsthafte Sorgen um Liv. Der Mann, dem sie die letzten vier Jahre ihres Lebens gewidmet hatte, hatte sie hinausgeworfen, und sie hatte erst vor wenigen Wochen ein Baby bekommen. Was sie brauchte, waren Ruhe und Frieden, damit sie wieder zu sich selbst fand. Er hoffte inständig, dass seine Schwestern keinen allzu üblen Streich geplant hatten. Ben drückte auf die Wahlwiederholungstaste. „Grange Hotel", meldete sich eine weibliche Stimme. „Entschuldigung, falsch verbunden", sagte er leise und legte auf. Verdammt! Ben sah auf die Uhr. Es war fast fünf, sie konnten sich also bald auf den Weg machen. Er ging nach oben und klopfte an Livs Tür. Liv war gerade dabei, die letzten Sachen für das Hotel einzupacken. „Fertig?" fragte er, und sie nickte. „Meine Sachen und die der Kinder sind gepackt. Was ist mit deinem Gepäck?" „Auch fertig. Lass uns gehen." Sie gingen nach unten, um sich von allen zu verabschieden, und Ben bemerkte, wie Janie unauffällig nach oben schlich. Sie tauchte erst wieder auf, als er und Liv in den Flur traten. „Ich hole unser Gepäck", sagte er zu Liv. Sah Janie wirklich schuldbewusst aus, oder bildete er es sich nur ein? Er brachte die Taschen zum Auto und ging wieder ins Haus, um Liv und die Kinder zu holen. Zum Abschied ging ein Konfettiregen auf sie nieder. Als sie endlich im Auto saßen, atmete Ben tief ein und fühlte sich sehr erleichtert - bis beim Losfahren ein ohrenbetäubendes Scheppern ertönte. „O nein!" Ben lächelte Liv resigniert zu. Den ganzen Weg zum Hotel zogen sie das Band mit den Blechdosen hinter sich her -mitten durch den Feierabendverkehr. Viele Leute hupten und winkten ihnen fröhlich zu. Er lächelte tapfer, während Liv lauthals lachte. „Das Lachen wird dir noch vergehen", warnte er sie. „Cläre hat im Hotel angerufen und irgendetwas geplant, und ich glaube, Janie hat sich am Gepäck zu schaffen gemacht." Die erste Überraschung erwartete sie gleich an der Rezeption. „Ah, Mr. und Mrs. Warriner", meinte die Empfangsdame und lächelte. „Ihre Reservierung ist geändert worden, Sie bekommen die Hochzeitssuite." „Verdammt", fluchte Ben, während ihm Konfetti vom Kopf auf den Tresen rieselte. Liv konnte ein Lachen nicht unterdrücken. „Ich finde das gar nicht komisch", beschwerte er sich, doch ihr Lachen war so ansteckend, dass er nicht ernst bleiben konnte. „Ich bringe Cläre um", schwor er, während er Kit auf den Arm nahm und hinter dem Hotelangestellten herging, der ihr Gepäck trug. Liv folgte ihm mit Missy. An der Tür der Hochzeitssuite hing ein überdimensionales silbernes Schild, auf dem „Just married" stand. Als sie allein waren und sich umsahen, konnte Liv sich nicht länger beherrschen und prustete los. Das gesamte Zimmer war mit Massen von Tüll und weißer Spitze dekoriert. Am Fußende des riesigen Betts stand ein Rollwagen mit einer eisgekühlten Flasche Champagner, Blumen und Pralinen. „Was für eine nette Idee!" bemerkte Liv lachend und blickte sich um. Ben betrachtete die spärliche Möblierung - außer dem Bett waren da nur noch ein Tisch, zwei Sessel und ein Kleiderschrank. Außerdem gab es kein zweites Zimmer für die Kinder - man hatte lediglich zwei kleine Betten in die Suite gestellt. Nicht einmal ein zweites Bett war da. Ben wandte sich an Liv. „Wer von uns beiden wird heute Nacht auf dem Fußboden schlafen?" Sie sah sich suchend um. Ernüchtert sank sie auf das Bett und betrachtete ihn. „Wir werden uns das Bett wohl teilen müssen", erwiderte sie. Ihr Blick fiel auf den Champagner. „Aber da keiner von uns heute noch Auto fahren muss, können wir guten Gewissens anstoßen. Machen wir die Flasche auf, und ertränken wir unseren Kummer!" Ben entkorkte den Champagner, schenkte ein und reichte ihr eins der langstieligen Gläser. „Auf uns", sagte er.
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Sie blickte ihn wehmütig an. „Auf uns", erwiderte sie leise, schloss die Augen und trank einen großen Schluck. 7. KAPITEL Liv war leicht beschwipst, aber sie fand, dass sie an einem solchen Tag ein Recht darauf hatte, sich zu betrinken. Um sieben kam die Babysitterin. Kit schlief bereits, und auch Missy lag leise schnarchend im Kinderbett, den Daumen im Mund und den Po in die Höhe gestreckt. Weder Liv noch Ben hatten sich umgezogen, denn sie wollten nach dem Abendessen früh schlafen gehen. Als sie hinunter zum Restaurant gingen, dachte Liv: Ben und ich sind jetzt verheiratet. Sie konnte es nicht glauben. Das Restaurant war bereits gut besucht, doch man führte sie zu einem freien Tisch am Fenster, und sofort tauchte aus dem Nirgendwo ein Streichquartett auf, das das Essen mit betörenden Serenaden musikalisch untermalte. Liv warf Ben einen verstohlenen Blick zu und begann zu kichern. „Ich erkenne deutlich die Handschrift meiner Schwestern", bemerkte er trocken. „Vermutlich ist das ihr Hochzeitsgeschenk - sie hatten angekündigt, dass wir es etwas später bekommen würden. Ich hoffe für sie, dass sie außer Landes sind, wenn wir morgen nach Hause kommen." „Sie haben es bestimmt gut gemeint", sagte sie lächelnd. Es störte sie nicht, dass sie von zahlreichen Gästen neugierig angeblickt wurden. Sie hatte sich bereits als Teenager daran gewöhnen müssen, im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses zu stehen, denn vor einigen Jahren hatte sie sich kaum in der Öffentlichkeit zeigen können, ohne erkannt zu werden. Um seinen Mund zuckte es leicht. „Du trägst es wirklich mit Fassung", stellte Ben fest und warf einen Blick auf die Speisekarte. „Was möchtest du essen - vielleicht die Pilze mit Knoblauchfüllung?" „Denk daran, dass wir gemeinsam in einem Bett schlafen werden", erinnerte sie ihn, und bei dem Gedanken wurde ihr heiß. „Wie wäre es dann mit den geschmorten Sellerieherzen in Rahmsoße?" „Das klingt köstlich. Wollen wir uns als Hauptgericht den Hummer teilen?" „Einverstanden." Auf ein fast unmerkliches Zeichen von Ben hin kam der Ober und nahm ihre Bestellung auf. Als er gegangen war, kam der Weinkellner an den Tisch. „Darf ich Ihnen die Weinkarte bringen?" bot er an, doch Ben lehnte höflich ab. „Vielen Dank, aber ich denke, wir haben bereits genug getrunken. Bitte bringen Sie uns einfach einen Krug Wasser mit Zitrone." Der Kellner brachte das Gewünschte, und Ben schenkte ihnen ein. Es war sicher eine vernünftige Entscheidung, doch Liv hatte nicht die geringste Lust, vernünftig zu sein. Vielleicht lag es an den zahlreichen Gläsern Champagner, die sie bereits getrunken hatte - zwei auf der Hochzeit und im Hotel noch einmal zwei oder drei auf leeren Magen. Morgen habe ich bestimmt einen Kater, dachte sie und trank ein Glas Wasser. Ben füllte nach, und als die Sellerieherzen gebracht wurden, fühlte sie sich schon etwas weniger beschwipst. „Geht es dir besser?" fragte er, und sie lächelte verlegen. „Ja, danke. Ich war schon ziemlich angetrunken." „Das habe ich bemerkt. Du hast noch nie viel Alkohol vertragen, und heute hast du ganz schön viel getrunken." Kein Wunder, dachte sie, ich habe heute den Mann meiner Träume geheiratet, und er nimmt mich nicht als Frau wahr. Das Essen war köstlich. Abgesehen von ihrer mit Satin und Tüll dekorierten Suite war das Hotel sehr schön und geschmackvoll. Auch gegen die Hochzeitssuite wäre nichts einzuwenden, wenn sie dort eine richtige Hochzeitsnacht verbringen würden. „Woran denkst du gerade?" „Ich dachte nur daran, was für ein schönes Hotel es ist", erwiderte Liv nicht ganz wahrheitsgemäß. „Auf jeden Fall ist es hier besser als zu Hause bei unseren Familien - ich hätte inzwischen vermutlich einen Tobsuchtsanfall bekommen." Traurig schüttelte sie den Kopf. „Sie tun das alles nur, weil sie uns lieben, Ben. Und sie freuen sich, weil sie nicht wissen, dass alles nur gespielt ist." „Das ist es nicht", entgegnete er rau. „Es ist sicher keine Liebesheirat im klassischen Sinn, aber wir werden eine richtige Ehe führen. Ich habe alles ernst gemeint, was ich bei der Trauung gesagt habe." Auch dass du „mit Leib und Seele" für mich da sein wirst? dachte Liv traurig. Sie sah ihm in die Augen, doch als sie spürte, dass ihr die Tränen kamen, wandte sie schnell den Blick ab. „Danke", flüsterte sie. „Ich auch." Nach dem Dessert verbeugten sich die Musiker des Streichquartetts und gingen. Ben folgte ihnen und überreichte einem von ihnen diskret einen Geldschein. Er setzte sich wieder an den Tisch. „Möchtest du noch etwas essen?" Liv schüttelte den Kopf und sah auf die Uhr. Es war erst neun, und der Gedanke, dass sie viele Stunden mit Ben in der Hochzeitssuite würde verbringen müssen, erfüllte sie mit Panik. Sie hatte ihre Gefühle noch nicht wieder so weit unter Kontrolle, dass sie sich neben ihn in das riesige Bett legen konnte. „Ich gehe nach oben und sehe nach Kit. Wahrscheinlich ist er schon ganz ausgehungert." „Wir könnten danach in die Bar gehen, dort spielt eine Band", schlug Ben vor. „Ja. Wo sollen wir uns treffen, wenn ich fertig bin?" „In der Bar?" „Einverstanden." Als Liv die Suite betrat, saß die Babysitterin vor dem Fernseher, die Füße auf dem Tisch. Schnell nahm sie die Füße hinunter. „Der Kleine ist ein bisschen unruhig", berichtete sie. „Das habe ich schon vermutet", meinte Liv. „Ich werde ihn jetzt füttern." „Soll ich das für Sie tun?" „Nein, ich stille ihn", antwortete Liv, und das junge Mädchen errötete. „Soll ich aus dem Zimmer gehen?" bot sie an. Liv lehnte ab, doch die Gegenwart des Teenagers machte sie verlegen, und so ging sie ins Badezimmer und setzte sich auf den Wannenrand, um Kit zu stillen. Dann wickelte sie ihn und legte ihn ins Bettchen, wo er sofort wieder einschlief. Auch Missy gab keinen Mucks von sich, sie war todmüde gewesen, nachdem sie den ganzen Tag mit ihren Cousinen und Cousins gespielt hatte. „Ich gehe wieder nach unten", sagte Liv zur Babysitterin. „Können Sie noch ein paar Stunden bleiben?" „Gern", erwiderte das Mädchen. „Ich habe bis Mitternacht Zeit." „Vielen Dank. Rufen Sie bitte an, wenn es Schwierigkeiten geben sollte." „ Okay", erwiderte sie und wandte sich schon wieder dem Fernseher zu. Liv ging nach unten. Ben war an der Bar und unterhielt sich angeregt mit zwei anderen Männern. Er lachte - ein tiefes, wohlklingendes Lachen -, und es tat ihr gut, es zu hören. In den letzten Tagen hatte er viel zu selten gelacht. Ben streckte ihr die Arme entgegen. „Liv, lass mich dir einige meiner Freunde vorstellen. Das sind Jerry Carpenter und Simon Fortune. Jerry und Simon, das ist meine Frau Liv." Die beiden Männer reichten ihr die Hand. „Schön, Sie kennen zu lernen, Liv", sagte Jerry, und Simon fügte hinzu: „Sie hätten aber etwas Besseres verdient als den alten Ben. Kein Wunder, dass er so ein Geheimnis daraus gemacht hat." „Achte nicht auf die beiden - sie sind bloß eifersüchtig", bemerkte Ben ungerührt und legte ihr besitzergreifend den Arm um die Schultern. „Bitte entschuldigen Sie uns, Gentlemen, wir müssen unseren Hochzeitstag feiern." Sie setzten sich an einen kleinen Tisch mit Blick auf die Tanzfläche, und Ben bestellte für sie beide Irish Coffee. Nach einer Weile angespannten Schweigens erkundigte er sich: „Möchtest du tanzen?" Liv nickte. Er führte sie auf die Tanzfläche, und ihr fiel wieder einmal auf, was für ein guter Tänzer er war. Sie hatten früher oft auf Partys miteinander
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getanzt. Doch plötzlich spielte die Band statt der Rock-'n'-Roll-Stücke ein langsames, romantisches Lied. Ben zögerte einen Moment, dann zog er sie an sich. Liv hielt den Atem an. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter, und die Nähe zu ihm machte sie schwindelig und erfüllte sie mit Verlangen. Ihre Herzen schlugen im selben Takt, und ihre Beine berührten sich leicht, während sie zur Musik über die Tanzfläche schwebten. Das nächste Lied war ebenfalls langsam. Liv schloss die Augen und versuchte, ihren Schmerz zu vergessen und diesen Moment mit Ben zu genießen, seine Nähe, seinen Körper. Jemand stieß von hinten gegen sie, und sie stolperte gegen Ben. Hatte sie es sich eingebildet, oder war er wirklich erregt? Unvermittelt trat er einen Schritt zurück und ließ sie los. „Sollen wir uns wieder setzen? Es wird langsam etwas voll auf der Tanzfläche." Sie war überrascht, wie nervös er klang. „In Ordnung", stimmte sie zu, leicht amüsiert über seine Reaktion. Sie gingen zu ihrem Tisch, an dem jedoch inzwischen jemand anders Platz genommen hatte. „Lass uns nach oben gehen", schlug Liv vor, und es schien ihr, als würde Ben noch nervöser wirken. „Wir können uns vom Zimmerservice einen Drink bringen lassen oder uns Tee oder Kaffee kochen." „Ja, das ist eine gute Idee", erwiderte er. Schweigend gingen sie nach oben. Die Unbeschwertheit ihrer langjährigen Freundschaft schien ihnen endgültig abhanden gekommen zu sein. Ben bezahlte die Babysitterin und wandte sich an Liv. „Möchtest du noch etwas trinken?" „Nein, danke, ich bin ziemlich müde", antwortete sie und merkte, wie ihr Magen sich vor Nervosität zusammenkrampfte. „Dann kannst du zuerst ins Badezimmer gehen. Ich mache mir noch einen Drink und sehe ein bisschen fern." Ben goss sich einen Whiskey aus der Minibar ein und setzte sich. Liv öffnete ihre Reisetasche, um ihr Nachthemd herauszunehmen. Doch sie konnte es nicht finden. „O nein!" „Was ist denn?" „Mein Nachthemd ist nicht mehr da. Hier ist nur dieses ... dieses winzige Nichts aus Seide und Satin!" Verzweifelt hielt sie ihm das Neglige hin. Ben betrachtete es eine Weile schweigend, dann schloss er die Augen und seufzte. „Ich wusste doch, dass Janie etwas im Schilde führt!" Er öffnete seinen Koffer und begann zu fluchen. „Meinen Schlafanzug haben sie auch geklaut und mir stattdessen das hier untergeschoben!" Er hielt einen äußerst knappen Stringtanga hoch, und sie errötete. „Und was, verdammt noch mal, ist das?" Aufgebracht schlug er den Kofferdeckel zu. Liv runzelte die Stirn. „Was denn?" „Das sage ich dir lieber nicht", erwiderte er. Doch sie beharrte darauf, es zu erfahren, und schließlich gab er nach und reichte ihr eine Tube. „Körperlotion mit Schokoladengeschmack?" fragte sie matt. „Wenn ich die beiden in die Finger bekomme ..." sagte er wütend und warf die Tube wieder in den Koffer. „Du kannst ihnen keinen Vorwurf machen", meinte sie sanft. „Wenn es eine richtige Hochzeit wäre, dann würde ich heute Nacht das Neglige tragen und du den Tanga, und wir würden auch die Schokoladenlotion benutzen. Wenn wir sie nicht belo-gen hätten, würden wir über das alles nur lachen." Liv nahm ein T-Shirt und einen sehr züchtigen Baumwollslip aus ihrer Tasche und ging ins Badezimmer. Sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, begannen ihr die Tränen über das Gesicht zu laufen. Sie setzte sich auf den Rand der Badewanne, drehte das Wasser auf und weinte sich die Augen aus. Die Tür ging auf, und Ben trat ein. Er kniete sich vor Liv auf den Boden, umfasste zärtlich ihr Gesicht und sah sie an. „Liv, es tut mir Leid", flüsterte er, zog sie an sich und wiegte sie sanft hin und her, bis ihre Schluchzer nachließen und die Tränen versiegten. „Entschuldige." Sie befreite sich aus seinem Griff und putzte sich die Nase. „Ich muss furchtbar aussehen." „Du siehst sehr hübsch aus. Wasch dir das Gesicht, und komm ins Bett." Ben ging hinaus. Liv wusch sich und zog das hüftlange T-Shirt und den Baumwollslip an. Sobald sie fertig war, ging er ins Badezimmer. Als er wieder herauskam, trug er lediglich ebenfalls sehr züchtige Boxershorts. Lächelnd sagte er: „Ich dachte, ich verzichte heute einmal auf den Tanga." Sie rang sich ein wehmütiges Lächeln ab. „Auf welcher Seite möchtest du schlafen?" fragte sie. „Das ist mir egal. Aber vielleicht solltest du lieber auf der Seite näher bei den Kindern schlafen?" Liv nickte und legte sich ins Bett. Ben kam zu ihr und streichelte ihr liebevoll die Wange. „Es tut mir wirklich Leid, dass es so ein schrecklicher Tag für dich war, aber das liegt einfach daran, dass so viele Erwartungen an solch einen Tag geknüpft sind und wir eben keine Beziehung führen, die den allgemeinen Maßstäben entspricht. In Zukunft wird es viel besser werden", versprach er. „Ich weiß, dass ich nicht der Mann bin, den du dir ausgesucht hättest, nur leider kann man nicht immer alles bekommen, was man gern möchte. Man muss das Beste aus dem machen, was man hat. Aber ich werde für dich da sein, in guten wie in schlechten Zeiten, Liv, solange du es willst." Ich will doch niemand anderen als dich! dachte Liv verzweifelt. Sie grübelte über seine Worte nach. Das Beste daraus machen ... Tat sie das? Und wenn es für ihn eines Tages nicht mehr das Beste wäre? Würde er sie dann verlassen wie Oscar? Oder würden sie weiterhin zusammenleben und sich ständig streiten und aufeinander herumhacken? Was er gesagt hatte, klang sehr vernünftig, aber würde ihre Beziehung der Realität des Alltags standhalten können? Liv hatte Angst, dass er seine Meinung ändern würde. Sie umfasste sein Gesicht und wünschte, sie könnte die Sorgenfalten wegküssen. „Danke", flüsterte sie und küsste ihn flüchtig auf den Mund. Er zögerte einen winzigen Moment, dann drehte er ihr den Rücken zu. Der Abstand zwischen ihnen schien unüberbrückbar. „Gute Nacht, Liv", erwiderte Ben ruhig. „Schlaf gut." Liv war allerdings zu aufgewühlt, um zur Ruhe kommen und schlafen zu können. Sie seufzte, kämpfte mit den Tränen und bereitete sich auf eine schlaflose Nacht vor. Als sie am nächsten Morgen nach Hause kamen, stand die ganze Auffahrt voller Autos. „Bitte schimpf nicht mit ihnen", bat Liv Ben, als sie mit den Kindern ins Haus gingen. Er presste die Lippen zusammen und nickte. Als sie die Küchentür öffneten, kam ihnen schon eine Horde Kinder entgegengelaufen. „Hallo, Onkel Ben! Ist Tante Liv auch da? Und wo ist Missy?" „Wo ist das Baby?" „Ich will auf den Arm!" „Ruhe!" schalt Ben sie lachend, beugte sich hinunter und schloss sie nacheinander in die Arme. Missy konnte es kaum erwarten, wieder mit ihren Cousins und Cousinen zu spielen. Liv erblickte Janie und Cläre, die sie schuld-bewusst ansahen. „Seid ihr sehr böse auf uns?" fragte Cläre. Ben warf ihr einen strafenden Blick zu, doch dann lachte er gutmütig. „Die Dekoration der Hochzeitssuite war zwar ein bisschen zu viel des Guten, aber wir vergeben euch großmütig. Das habt ihr allerdings vor allem Liv zu verdanken, sie hat alles getan, um mich zu beschwichtigen." Janie lächelte ihr dankbar zu. „Wir haben uns in eurer Abwesenheit ein wenig nützlich gemacht und Livs ganze Sachen in deinen Kleiderschrank geräumt. Wusstest du eigentlich, dass du zwanzig Anzüge besitzt?" Schweigend tauschten Liv und Ben einen Blick. „Die Hälfte davon ist wahrscheinlich schon lange aus der Mode", mutmaßte Cläre. An Liv gewandt, fuhr sie fort: „Am besten nimmst du dir den gesamten Inhalt des Schranks einmal vor und sortierst alles aus, was ihm nicht mehr passt oder unmodern ist. In der Stadt gibt es einen
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Secondhandshop, wo du alles hinbringen kannst." Liv, die den Laden nur allzu gut kannte, rang sich ein Lächeln ab. „Vielen Dank." „Gern geschehen." Cläre lächelte strahlend und kochte anschließend Kaffee für alle. „Wir haben beschlossen, dass wir bis morgen bleiben", sagte Mrs. Warriner. „Ich hoffe, es ist euch recht?" Bevor Ben antworten konnte, fügte sie hinzu: „Wir haben Liv und Glen und Margaret so lange nicht gesehen, und gestern hatten wir wenig Gelegenheit, uns mit ihnen zu unterhalten." „Ihr wollt also alle noch bleiben?" fragte Ben leicht irritiert, und sie nickten einvernehmlich. „Nur wenn es euch recht ist. Ihr seid zwar frisch verheiratet, aber die jungen Leute nehmen so etwas heute ja nicht mehr so wichtig, und es kommt so selten vor, dass wir alle zusammen sind. Dabei fällt mir etwas ein ... Ihr beide kommt doch Weihnachten sicher zu uns, oder? Es wird vielleicht etwas hektisch, aber wir würden uns sehr freuen." Liv warf Ben einen flehenden Blick zu, und er schüttelte den Kopf. „Nein, tut mir Leid, Dad. Wir haben beschlossen, Weihnachten ganz ruhig zu verbringen, nur wir vier. Liv braucht nach all den Aufregungen in diesem Jahr etwas Ruhe, um sich zu erholen." Trotz allem war es ein sehr schöner Tag, wenn man davon absah, dass Ben sie ständig berührte, den Arm um sie legte und sie im Vorbeigehen auf die Stirn küsste - kleine, zärtliche Gesten, die wohl die Erwartungen seiner Familie erfüllen sollten. Dadurch war für sie jedoch alles noch schwerer zu ertragen. Zudem hatte sie kaum Gelegenheit, sich abzulenken, da man ihr nicht erlaubte, auch nur einen Finger zu rühren. Zum Mittagessen gab es die Reste des Büfetts vom Vortag und zum Nachtisch die Hochzeitstorte. Abends bestellten sie Essen bei einem chinesischen Restaurant. Die Mahlzeit an dem langen Esstisch wurde von Gelächter und fröhlichen Gesprächen begleitet. Liv, der man weiterhin verbot zu helfen, blieb folgsam sitzen und trank noch ein Glas Wein. Wenigstens wird Kit dann durchschlafen, dachte sie ironisch. Nach dem Essen unterhielten sich alle noch lange angeregt. Schließlich sagten Liv und Ben ihren Gästen gute Nacht und gingen nach oben. Wieder würden sie gemeinsam in einem Bett schlafen müssen. „Ich könnte auf der Couch in meinem Arbeitszimmer übernachten", schlug Ben vor. „Die ist doch viel zu kurz. Im Kinderzimmer ist noch ein Bett, wo ich ..." „Da hat Janie Adam und Peter einquartiert. Die anderen Kinder schlafen in dem kleinen Zimmer, das an das Schlafzimmer von Cläre und Martin anschließt." Entnervt strich er sich mit den Fingern durchs Haar. „Es tut mir wirklich Leid, aber es sieht so aus, als hättest du keine andere Wahl, als noch einmal mit mir das Bett zu teilen, Liv." Er sah sie so unglücklich an, dass sie am liebsten geweint hätte. Sie nahm ihn in die Arme. „Ich hatte schon unattraktivere Angebote." Ben lachte. „Es ist ja auch nur für eine Nacht. Es tut mir wirklich Leid, dass meine Eltern sich so aufdrängen." Eindringlich bat sie ihn: „Bitte gib wegen Weihnachten nicht nach. Ich glaube nicht, dass ich sie alle so bald noch einmal ertragen könnte nicht wenn wir sie fortwährend anlügen müssen." Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich werde mich nicht umstimmen lassen", versprach er. Liv duschte und zog sich ein knöchellanges Baumwollnachthemd an, das Bens Schwestern sicher überhaupt nicht gefallen hätte. Er lachte, als er sie darin sah. Als er aus dem Badezimmer kam, trug er das männliche Gegenstück - einen langärmeligen Pyjama. „Keinen Tanga?" neckte sie ihn. „Nein, meine kleine Liv. Ich will dich ja nicht schockieren!" Meine kleine Liv. Ich bin eine erwachsene Frau! hätte sie am liebsten geschrien. Sie legte sich ins Bett und kehrte ihm dabei den Rücken zu. Erst als sie an seinen regelmäßigen Atemzügen merkte, dass er schlief, konnte sie sich entspannen. „Liv?" Widerstrebend wachte Liv auf. Sie wollte noch nicht aufstehen, im Bett war es so schön warm und gemütlich ... „Liv? Kit schreit." Sie streckte einen Arm aus und stieß gegen Bens Brust. Langsam fiel ihr wieder ein, wo sie war. Ihr wurde bewusst, dass sie eng an Ben gekuschelt lag, den Kopf an seiner Schulter und ein Bein auf seinem - als wäre sie seine Geliebte. Schlaftrunken stand sie auf und ging ins Kinderzimmer zu Kit. Sie war zu verlegen, um sich wieder zu Ben ins Bett zu setzen, und so ging sie nach unten in die Küche, um Kit zu stillen. Doch Ben war bereits dort und setzte Wasser auf. „Das ist wirklich nicht nötig", protestierte sie, aber er lächelte nur. „Mach dir keine Gedanken, ich tue das gern. Außerdem hätte ich selber gern eine Tasse Tee. Du solltest Kit lieber stillen, bevor er alle aufweckt und das ganze Haus wieder Kopf steht." Liv setzte sich, um Kit die Brust zu geben. Ben stellte ihr einen Becher mit dampfendem Tee hin, nahm ebenfalls Platz und gähnte herzhaft. „So müde?" fragte sie lächelnd. „Ich finde es sehr anstrengend, unsere Familien hier zu haben." Er schloss einen Moment lang die Augen. „Und du, wie geht es dir?" Nun, da sie mit ihm und dem Baby in der schummrigen Küche saß, während alle anderen schliefen, ging es ihr gut. Wie würde es allerdings sein, wenn sie erst alle wieder abgereist wären und Ben und sie in ihren Alltag zurückkehren würden? „Mir geht es ganz gut", erwiderte Liv wahrheitsgemäß. „Ich würde mich nur gern einige Tage lang ausruhen." Ben nickte. „Ich auch. Nur werden wir dazu leider kaum Gelegenheit haben. Du musst dich den ganzen Tag um Missy und Kit kümmern, und auf mich kommt eine Menge Arbeit zu - bald beginnen die Leute mit den Weihnachtseinkäufen. Am liebsten würde ich jetzt für einen Monat auf die Azoren fliegen - ohne mein Handy." Liv musste lachen, und auch Ben lächelte. Sie ging nach oben, um Kit zu wickeln und wieder ins Bettchen zu legen. Als sie in Bens Schlafzimmer trat, lag er im Bett, den Arm auf dem Gesicht. Leise schloss sie die Tür und legte sich neben ihn. Vorsichtshalber wandte sie ihm den Rücken zu. Doch ihr Körper schien seinen eigenen Willen zu haben, denn als sie aufwachte, lagen Ben und sie eng aneinander gekuschelt -so eng, dass sie spüren konnte, wie erregt er war. Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, stand sie auf. Er protestierte leise, und sie seufzte. Sie wusste, dass morgendliche Erregung bei Männern nichts zu bedeuten hatte. Es hatte nicht das Geringste damit zu tun, dass sie in seinen Armen gelegen hatte. Liv versuchte, sich damit zu trösten, dass ihre Gäste heute abreisen und Ben und sie wieder getrennt schlafen würden. Dieser Gedanke stimmte sie allerdings nur noch trauriger. 8. KAPITEL Als sie wieder allein waren, räumte Liv mit Bens Hilfe ihre Sachen wieder in ihr Schlafzimmer. Ohne ihn neben sich konnte sie sich nachts zwar besser entspannen, schlief jedoch nicht mehr so gut. Gerade als Kit nachts durchzuschlafen begann, musste sie Mrs. Greer weismachen, dass in Bens Schrank kein Platz für ihre Sachen war und sie ihn auch nicht immer nachts stören wollte, wenn sie aufstand, um Kit zu stillen, denn schließlich arbeitete Ben momentan sehr viel. Mrs. Greer schien kein Wort davon zu glauben und warf ihr nur einen viel sagenden Blick zu, aber das war Livs geringstes Problem. Wirklich Sorgen machte sie sich darum, wie sie Geld verdienen könnte. Das Geld, das der Verkauf ihrer Sachen eingebracht hatte, würde nicht ausreichen, damit sie die Kinder neu einkleiden konnte. Missys Füße waren gewachsen, und außer neuen Schuhen würde sie bald eine neue Winterjacke brauchen. Schon jetzt waren ihr bereits die Ärmel und Beine fast aller Pullover, Hosen und Strumpfhosen zu kurz. Und auch Kit wurde zusehends größer. Der arme kleine Kerl musste Missys rosafarbene Babysachen auftragen.
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Wie so oft war Kate die Retterin in der Not. „Ich habe noch so viele Jungensachen. Komm doch vorbei und such dir einige aus." „Aber vielleicht bekommst du noch ein Baby und brauchst sie selber", wandte Liv ein. Kate lachte schallend. „Das glaube ich kaum. Ich bin abends meistens gar nicht lang genug wach, um schwanger zu werden, und abgesehen davon wollen Andy und ich kein viertes Kind." Also nahmen sie die Kinder und gingen zusammen zu ihr. Beim Anblick der Babysachen wurde Kate sentimental. „Ich weiß noch, wie Jake das hier zum ersten Mal getragen hat", erinnerte sie sich und erzählte ihr die Geschichte in allen Einzelheiten. Obwohl Liv protestierte, wurde der Berg der ihr zugedachten Babysachen immer größer. Sie bestand darauf, für die Kleider zu bezahlen, und Kate wurde fast ein wenig böse. „Zum letzten Mal, ich will nichts dafür haben", sagte sie entschieden. „Wenn dir dabei wohler ist, kannst du die Sachen ausleihen. Aber ich habe das meiste davon geschenkt bekommen, und da wäre es nicht richtig, Geld dafür anzunehmen." Liv gab nach. „Also gut", stimmte sie zu. „Ich werde die Sachen nur leihen, und falls du wider Erwarten doch noch ein Baby bekommen solltest, gebe ich sie dir zurück." „Vielleicht bekommst du ja auch noch eins", erwiderte Kate fröhlich. „Du willst doch ein Kind von Ben, oder? Und er möchte bestimmt auch eins. Alle Männer wünschen sich einen Stammhalter, der ihren Namen weiterträgt." Der Gedanke war Liv noch nie gekommen. Sicher wollte Ben Kinder, aber bestimmt mit der Frau, die ihm das Herz gebrochen hatte, nicht mit ihr, Liv - seiner guten Freundin, die so zugenommen hatte und nicht einmal in der Lage war, ihm den Haushalt zu führen! Andererseits gab es ja auch noch andere Methoden, ein Kind zu bekommen ... Liv fuhr nach Hause und wusch die Kindersachen, die lange Zeit in einer Truhe auf Kates Speicher gelegen hatten. Während die Waschmaschine lief, legte sie Kit auf den Teppich in der Küche und zog ihm die Windel aus. Sicher tat es ihm gut, einmal frische Luft an der Haut zu spüren. Sie beschloss, Missy langsam an das Töpfchen zu gewöhnen. „Wie war's, kleine Miss?" fragte sie ihre Tochter. „Sollen wir dir die Windel ausziehen, und du zeigst mir, ob du schon aufs Töpfchen gehen kannst?" Missy nickte begeistert und begann sofort, an ihrer Windel zu zerren. Mit nacktem Po lief sie über den Teppich. „Töpfchen!" verlangte sie entschlossen. Liv stellte es ihr hin und gab ihr Saft zu trinken. Zum einen Ende hinein, zum anderen wieder hinaus, dachte sie. Und es funktionierte tatsächlich. Kurze Zeit später stand Missy auf. „Pipi!" sagte sie stolz. Liv umarmte und lobte sie, leerte das Töpfchen aus und stellte es wieder hin. „Sollen wir dir wieder Windeln anziehen?" schlug sie vor, aber Missy lehnte empört ab. Liv überließ sie Mrs. Greers Obhut und fuhr rasch zum Supermarkt, um spezielle Windeln zu kaufen, die sich besonders schnell öffnen ließen. Außerdem kaufte sie eine köstlich aussehende Lachspastete für das Abendessen. Ich werde Ben um mehr Geld bitten müssen, dachte sie und hatte sofort ein schlechtes Gewissen. Die Windeln waren sehr teuer, und eigentlich war es nicht gerecht, dass Ben sie bezahlen musste. Denn schließlich erbrachte sie keinerlei Gegenleistung für seine Großzügigkeit. Wenn sie sich zumindest nachts lieben würden wie ein richtiges Ehepaar, dann hätte sie, Liv, weniger das Gefühl, ihm nichts bieten zu können. Doch wenn Ben nach Hause kam, erwartete ihn nichts weiter als ein heilloses Durcheinander und ein misslunge-nes oder fertig gekauftes Abendessen, nach dem er allein ins Bett ging. Und morgens verließ er das Haus, bevor sie aufgestanden war. Was für ein großartiges Leben, dachte sie ironisch. Kein Wunder, dass Oscar genug von mir hatte. Sie seufzte tief, als sie die Einkäufe aus dem Wagen nahm und ins Haus ging, wo sie von Mrs. Greer und einer völlig aufgelösten Missy begrüßt wurde - ihr war ein kleines Missgeschick auf dem Läufer im Flur passiert. „Wein nicht, Darling", versuchte Liv sie zu trösten. „Das bisschen Pipi macht doch nichts." „Nicht Pipi", sagte Missy unglücklich und schluchzte. Mrs. Greer blickte ratlos drein. O nein. Jetzt ruinierten sie auch noch Bens Teppiche! „Sieh mal, ich habe dir ganz schlaue Hosen gekauft", munterte Liv Missy auf. „Die ziehen wir dir jetzt mal an." Missy nickte kleinlaut. Sie war müde, und nach einer Stunde zog Liv ihr eine normale Windel an und brachte sie ins Bett. Auch Kit war nach dem aufregenden Vormittag müde, den er auf dem Teppich verbracht hatte. Dieser musste jetzt dringend gewaschen werden. Während die beiden schliefen, räumte Liv die Küche auf, wischte vorsichtshalber den Boden und bereitete das Abendessen vor. Der Lachs war bereits fertig, aber sie musste noch Kartoffeln schälen und das Gemüse garen. Doch noch bevor sie fertig war, waren die Kinder schon wieder wach. Missy wollte sofort wieder aufs Töpfchen und lief ohne Windel herum. Ben kam früher als erwartet nach Hause. Mit Missy auf dem Arm betrat er die Küche. Es gab ein platschendes Geräusch - Ben erstarrte und blieb unvermittelt stehen. Er blickte an sich hinunter. „Geht Missy neuerdings aufs Töpfchen?" fragte er vorsichtig, und Liv nickte kleinlaut. „O Ben, das tut mir wirklich Leid. Ich wollte es gerade ausleeren, und jetzt ist deine Hose ganz nass!" „Ich habe es bemerkt", erwiderte er trocken. „Meine Socken fühlen sich auch etwas feucht an. Nicht so schlimm, der Anzug muss sowieso in die Reinigung." Schnell wischte Liv alles auf und leerte das Töpfchen aus. Währenddessen machte sie sich ununterbrochen Vorwürfe, weil sie nicht rechtzeitig daran gedacht hatte. Ben hatte wirklich schon genug Ärger! „Leider ist uns im Flur noch ein Missgeschick passiert", gestand sie zerknirscht. „Das wäre nicht das erste Mal", antwortete er gelassen, setzte Missy ab und gab Liv einen KUSS auf die Stirn. „Das ganze Durcheinander ist mir wirklich sehr unangenehm, Ben. Heute war kein besonders guter Tag." „Das kann man wohl sagen! Meine Sekretärin hat gekündigt, weil sie mit ihrem Mann nach Leeds zieht." Er seufzte. „Du hast nicht zufällig Erfahrung mit Sekretariatsarbeit?" „Nein, tut mir Leid." Sie war erleichtert, dass sie dies guten Gewissens verneinen konnte. „Ich habe schon überlegt, ob ich einem meiner Manager die Sekretärin abspenstig machen soll. Sie arbeitet sehr gut, wenn sie auch etwas direkt ist, aber damit würde ich zurechtkommen. Natürlich wäre er nicht gerade erfreut darüber." Nachdenklich nahm er sich eine geschälte Mohrrübe. „Was gibt es zum Abendessen?" „Lachspastete." Anerkennend zog Ben die Augenbrauen hoch. „Du wirst ja immer mutiger", bemerkte er. „Sie ist nicht selbst gemacht", gestand Liv, und er lachte. „Du bist zu ehrlich, Liv. Keine andere Frau hätte das jemals zugegeben." Während Ben sich umzog und telefonierte, kochte Liv Tee und machte Essen für die Kinder. Dann ging sie schnell nach oben und brachte die beiden ins Bett, um sich in Ruhe dem Essen widmen zu können. Obwohl sie sich sehr viel Mühe damit gab, musste sie später feststellen, dass die Pastete leider etwas zu lange im Backofen geblieben war. Doch Ben schien es nichts auszumachen. „Es schmeckt ausgezeichnet", lobte er. „Gut eingekauft." Liv lachte, und er goss ihr ein Glas Wein ein. „Hier - du musst dich ein bisschen entspannen, schließlich hast du einen anstrengenden Tag hinter dir." „Du auch." „Ach, bei mir gehört das zum Beruf." Sie musste an Kates Bemerkung denken, dass Ben sich sicher ein Kind wünsche. „Ich bin eigentlich auch sehr gern Mutter, aber es ist anstrengend und nervenaufreibend, und mit den beiden Kindern habe ich den ganzen Tag alle Hände voll zu tun." „Endlich siehst du das ein!" Liv lächelte gequält. „Aber andere Frauen schaffen es mit Leichtigkeit, nebenbei noch die Hausarbeit zu erledigen."
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„Das stimmt nicht. Viele haben wie du Probleme, beides zu bewältigen", widersprach er. Kate sicher nicht, dachte Liv. Ihre Freundin war allerdings schon immer außergewöhnlich fleißig und tüchtig gewesen. Liv drehte das Weinglas hin und her und überlegte, wie sie das Gespräch auf das Thema „Baby" bringen konnte. Schließlich ent-schloss sie sich, ganz offen zu sein, wie immer. „Möchtest du ein Baby?" Ben stellte sein Glas ab und räusperte sich. „Wie bitte?" Seine Miene war undurchdringlich. „Ich habe dich gefragt, ob du ein Baby möchtest. Kate sagte heute, dass die meisten Männer sich einen Stammhalter wünschen, und da du der einzige Sohn deiner Eltern bist, dachte ich..." „Was genau meinst du damit, Liv?" fragte er ruhig. Liv zuckte die Schultern. „Also ... ich weiß ja, dass du nicht... dass wir nicht so eine Beziehung führen, aber wenn du dir ein Baby wünschst, gibt es ja auch noch andere ... Befruchtungsmöglichkeiten." „Nein", erwiderte er und lehnte sich zurück. „So stark ist mein Wunsch nach einem Kind nicht. Und glaubst du nicht, dass du mit zweien schon genug zu tun hast?" „Es war nur so eine Idee. Ich dachte, wenn es dein eigenes Kind ist, dann wäre das ganze Durcheinander hier vielleicht nicht mehr so schlimm für dich. So könnte ich auch etwas für dich tun, nicht nur umgekehrt." „Ich finde, du tust eine ganze Menge für mich", sagte Ben sanft. „Außerdem gefällt es mir hier viel besser als früher. Aber es wäre nicht richtig, wenn wir zusammen ein Kind bekommen würden - nicht ohne Liebe." Sie schluckte und wandte den Blick ab. „Es war nur ein Vorschlag", meinte sie unsicher. „Ich hole den Nachtisch." „Für mich nicht, ich bin satt." Ben stand auf. „Ich muss noch arbeiten und werde wieder ins Büro fahren." Kurze Zeit später war er fort, und Liv fühlte sich einsam in dem plötzlich so stillen Haus. Während sie den Tisch abräumte, liefen ihr die Tränen über das Gesicht. „Das war wirklich dumm von dir", schalt sie sich. „Du hättest dir doch denken können, dass er so reagieren würde." Nachdem sie das Geschirr in die Spülmaschine geräumt hatte, ging sie nach oben und fiel erschöpft ins Bett. Erst nach Mitternacht hörte sie Ben nach Hause kommen, und sie fühlte sich etwas weniger einsam. Auch wenn es nicht immer einfach war, so war es doch besser, ihn in ihrer Nähe zu haben. Sie nahm sich fest vor, künftig nichts mehr zu tun oder zu sagen, was die Harmonie zwischen ihnen trüben könnte. Das war das Mindeste, was sie für Ben tun konnte, wenn sie ihm schon kein Kind schenken durfte. Am nächsten Tag fuhr Liv zum Secondhandshop und erhielt einen weiteren Scheck. „Die Sachen verkaufen sich sehr gut", erzählte die Inhaberin. „Führen Sie auch Kinderkleidung aus zweiter Hand?" erkundigte sich Liv, die Missy einen Mantel kaufen wollte. Die Frau verneinte, erklärte ihr aber den Weg zu einem solchen Geschäft. Der kleine Laden führte entzückende Kinderkleidung, und Liv erstand einen Mantel, einen Hut, Schlafanzüge und einen Overall. Sie war sehr zufrieden, weil sie viel gespart hatte und Ben nicht um Geld hatte bitten müssen. Zu Hause zeigte sie ihm ihre Einkäufe. Ben presste die Lippen zusammen. „Ich hätte dir Geld für all das gegeben, Liv", sagte er leicht verärgert - wie damals, als sie das Kleid für die Party gekauft hatte. „Aber es sind meine Kinder, Ben", entgegnete sie. „Warum solltest du ihre Sachen bezahlen müssen?" „Weil du meine Frau bist." „Nur auf dem Papier." Er blickte sie ungläubig an und strich sich mit den Fingern durchs Haar. „Ich dachte, das hätten wir geklärt." „Das dachte ich auch. Ich habe dir schon einmal gesagt, dass ich unabhängig sein möchte." „Unab... Verdammt, Liv, wir sind verheiratet! Du brauchst nicht unabhängig zu sein!" „Doch", beharrte Liv. „Es sind nicht deine Kinder, also brauchst du sie auch nicht zu unterstützen." „Ich liebe die beiden", meinte Ben sanft, „und ich würde sie gern adoptieren. Es ist mir gleichgültig, ob ich der leibliche Vater bin oder nicht. Ich möchte für die beiden sorgen, und ich will nicht, dass sie in gebrauchter Kleidung herumlaufen, nur weil du zu stolz bist!" Er schwieg unvermittelt und wandte sich ab. „Es tut mir Leid. Ich wünschte, du würdest mich dir helfen lassen. Ich würde euch so gern Geborgenheit geben, Essen, ein Dach über dem Kopf - als Dank für die Wärme, die ihr in mein Leben gebracht habt. Aber du schließt mich aus, Liv, und das tut weh." Liv unterdrückte die aufsteigenden Tränen. So sah Ben es also? „Ich ... ich will dich nicht ausschließen, Ben", antwortete sie leise, „aber ich möchte keine Almosen von dir annehmen." „Sei nicht albern, Liv." Ben schloss sie in seine Arme. „Ich mache mir oft Vorwürfe, weil ich dich zu dieser Ehe überredet habe. Lass mich wenigstens etwas für die Kinder tun, damit ich mein Gewissen beruhigen kann." „Du tust doch so viel", entgegnete sie, das Gesicht an seiner Schulter geborgen. „Du gibst ihnen ein Zuhause, Geborgenheit, deine Liebe. Das ist unglaublich viel." Sie löste sich widerstrebend aus seiner Umarmung. „Aber ich möchte trotz allem unabhängig sein", fügte sie bestimmt hinzu. „Ich bin es einfach gewohnt, und ich hasse es, um Geld bitten zu müssen. Ich möchte es spontan ausgeben können." „Das kannst du auch. Mir macht es nichts aus." „Nein, aber mir." Sie senkte den Blick. „Wie schon gesagt, ich werde vielleicht versuchen, wieder als Model zu arbeiten - nur ab und zu, um wenigstens etwas Geld zu verdienen." Ben schwieg. Nach einer Weile seufzte er. „Das ist natürlich deine Entscheidung, aber möchtest du wirklich wieder in dieser Branche arbeiten?" Liv zuckte die Schultern. „Ich weiß es nicht. Modeln ist das Einzige, was ich wirklich kann. Und ich habe damals gut verdient. Warum also nicht?" Er antwortete nicht. Stattdessen kochte er sich einen Tee, ging in sein Arbeitszimmer und machte die Tür hinter sich zu. Am nächsten Tag stieg Liv in den Zug nach London. Da Taxifahren teuer war, fuhr sie von der Liverpool Street Station mit der U-Bahn zur Modelagentur. Es regnete, und ihr Haar begann sich zu kräuseln. „Hallo", grüßte sie freundlich, als sie eintrat, während sie versuchte, sich mit der Hand das Haar zu glätten. Die junge Frau an der Rezeption erkannte sie offenbar nicht. „Kann ich Ihnen helfen?" fragte sie höflich. Liv blinzelte. „Ich bin Liv Kensington", erklärte sie. Doch die Frau war wohl zu jung, um sich an ihren Mädchennamen zu erinnern. Fragend sah sie sie an. „Ich würde gern mit David sprechen." „Normalerweise muss man sich erst von seiner Sekretärin einen Termin geben lassen ..." „Von Wendy?" „Nein, Cläre. Wendy arbeitet schon lange nicht mehr hier. Soll ich Cläre bitten herunterzukommen?" „Nein, danke", erwiderte Liv, „ich gehe nach oben." „Aber das können Sie nicht!" „Doch, das kann ich." Liv war bereits auf dem Weg zum Lift. Sie war sicher, dass David sie auch ohne Termin empfangen würde. Sie hatte Recht, allerdings ließ er sie eine halbe Stunde warten. „Entschuldige, Darling, ich hatte den ganzen Vormittag höllisch viel zu tun. Wie geht es dir? Wie ich höre, hast du geheiratet - das ist großartig! Du musst mir alles erzählen!" Liv folgte ihm in sein Büro, während er im Gehen Cläre anwies, Kaffee zu kochen. „Um ehrlich zu sein, David, ich denke darüber nach, wieder zu arbeiten, und wollte mit dir darüber sprechen." „Arbeiten?" Er zog fragend die Augenbrauen hoch. „Was meinst du damit?" War das so schwer zu begreifen? „Ich möchte wieder modeln", erklärte sie geduldig. „Sicher werde ich jetzt, nachdem ich zwei Kinder bekommen habe, nicht mehr so viele Aufträge erhalten wie früher, aber ..."
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David sah sie entgeistert an. „Liv, Darling, dich will doch niemand mehr sehen! Du bist passe, das Gesicht vom letzten Jahr -um ganz ehrlich zu sein, bist du nicht einmal mehr das. Und die beiden Geburten haben deiner Figur nicht besonders gut getan. Wie alt ist das Baby jetzt?" „Zehn Wochen", sagte sie heiser. Abschätzend ließ er den Blick über sie gleiten. „Du müsstest wirklich abnehmen, meine Liebe ... Auf den Laufsteg kommst du sicher nie mehr. Vielleicht könntest du Fotos für Kataloge machen, da sind reifere Models gefragt, aber selbst dann müsstest du an deiner Figur arbeiten - es sei denn, du hast an Pornohefte gedacht." „Porno...?" Liv war sprachlos. Er lächelte entschuldigend. „Tut mir Leid, Liv, aber so ist es nun einmal." „Hier kommt der Kaffee!" Cläre trug lächelnd ein Tablett herein, doch Liv hatte genug. „David, ich gehe", erklärte sie, um Fassung ringend. Dann drehte sie sich um und verließ sein Büro. „Viel Spaß noch mit deinen Kindern", rief er ihr nach. Als die Tür der Agentur hinter ihr ins Schloss fiel, konnte Liv die Schluchzer nicht mehr unterdrücken. Blind vor Tränen lief sie durch die Straßen und kümmerte sich nicht darum, dass die Leute sie anstarrten. Erst nach einigen Stunden, als es bereits dunkel wurde, merkte sie, dass sie sich verlaufen hatte. Sie hielt ein Taxi an und fragte, wo sie war. „In Camden", sagte der Fahrer. Sie war also mehrere Kilometer gelaufen. „Bitte bringen Sie mich in die Liverpool Street", bat sie. Es war Rushhour, und sie kamen nur langsam vorwärts, so dass Liv fast ihr ganzes Geld für die lange Taxifahrt ausgeben musste. Am Bahnhof stieg sie in einen überfüllten Zug, und als sie zu Hause ankam, öffnete Ben ihr die Tür. Er sah besorgt aus. „Wo, zum Teufel, bist du gewesen? Mrs. Greer musste nach Hause und hat mich im Büro angerufen. Missy hat geweint, und Kit hat mehrere Stunden lang geschrien, weil er Hunger hatte - das Fläschchen wollte er nicht." „Ich war bei David, meinem Agenten", erwiderte Liv matt. „Ich habe mit ihm über meine Möglichkeiten gesprochen, wieder als Model zu arbeiten." „Und?" Liv schluckte. „Er sagte ... dass mich niemand mehr sehen will. Er hat mir vorgeschlagen, Fotos für Kataloge zu machen." Sie ertrug es nicht, Ben alles zu erzählen - es schmerzte noch zu sehr. Ben seufzte und schloss sie in die Arme. „O Liv, das tut mir Leid", sagte er leise, und sie schmiegte sich an ihn und weinte, bis ihre Tränen versiegt waren. Dann riss sie sich zusammen, putzte sich die Nase und erklärte wütend: „So ein Schwein - er hätte nicht so ehrlich sein müssen!" Liv humpelte in die Küche und füllte den Kessel mit Wasser. Anschließend setzte sie sich, um ihre Stiefel auszuziehen. Sie hatte mehrere offene Blasen an den Füßen und war völlig erschöpft. „Wie wäre es, wenn du ein schönes heißes Bad nimmst, und ich mache inzwischen Tee und bringe ihn dir nach oben?" schlug Ben vor. Ich will meinen Körper nicht ansehen müssen, dachte sie, doch der Gedanke an heißes Wasser war einfach zu verlockend. „Wo sind die Kinder?" fragte sie. „Im Bett. Du hast den ganzen Abend Zeit." Dankbar lächelte sie Ben zu und ging langsam die Treppe hinauf. Sie ließ Wasser einlaufen und tat so viel Schaumbad hinein, dass sie ganz in den Schaum eintauchen und den Anblick ihres Körpers einen Abend lang vergessen konnte. „Reifere Models", schimpfte sie, als sie in die Wanne stieg. „Das klingt ja gerade so, als sei ich fünfundvierzig und würde mindestens Größe vierundvierzig tragen!" Insgeheim wusste sie jedoch, dass David Recht hatte - nur superschlanke Models schafften es bis an die Spitze. Sie musste also eine andere Möglichkeit finden, um Geld zu verdienen. Sie konnte sich nicht vorstellen, wieder aufs College zu gehen - ihr war klar, dass sie sich nicht als Lehrerin eignete. Außerdem waren die beiden Kinder noch zu klein, als dass sie sie allein zu Hause hätte lassen können. Doch was sollte sie sonst tun? Es klopfte leise an der Tür. Liv vergewisserte sich, dass sie bis zum Kinn mit Schaum bedeckt war. Eigentlich konnte Ben sie ruhig nackt sehen, denn offensichtlich fand er sie nicht im Geringsten attraktiv. Sie seufzte. „Komm herein." Ben öffnete die Tür und schien erleichtert, weil sie von Schaum bedeckt war. „Fühlst du dich jetzt besser?" Liv nickte. „Ich bin immer noch wütend, aber ich beruhige mich langsam. Es tut mir wirklich Leid, dass du dir meinetwegen Sorgen gemacht hast." „Das ist schon vergessen und vergeben. Gleich morgen früh besorge ich dir ein Handy. Und bitte hör endlich auf, dir wegen deiner Unabhängigkeit Gedanken zu machen, Liv. Im Moment sind deine Kinder das Wichtigste. Sie brauchen dich, und du brauchst sie." Er stellte ihren Tee ans Kopfende der Badewanne, küsste sie auf die Stirn und ging hinaus. Seufzend musste sie sich eingestehen, dass Ben Recht hatte. Sie war zu müde, um sich mit ihm darüber zu streiten, doch sie würde Buch darüber führen, was sie ihm schuldete, und irgendwann würde sie ihm alles zurückzahlen. Sie, Liv Kensington, hatte noch nie auf Kosten anderer gelebt, und sie hatte nicht vor, es jemals zu tun. 9. KAPITEL Nach zwei Tagen waren die Blasen an ihren Füßen verheilt. Liv hatte die meiste Zeit zu Hause verbracht und oft mit Kit und Mis-sy gespielt. Ihre kleine Tochter war ein richtiger kleiner Sonnenschein und machte ihr viel Freude. Sie war fröhlich und übermütig und hatte eine sehr direkte Art, Dinge anzupacken. Wie ihre Mutter war sie äußerst eigensinnig, und so weigerte sie sich hartnäckig, die neuen Spezialwindeln zu tragen. Dadurch gewöhnte sie sich jedoch schnell daran, aufs Töpfchen zu gehen, und innerhalb einer Woche trug sie keine Windeln mehr unter ihren Hosen. Liv war stolz, denn mit zwanzig Monaten war ihre Tochter noch sehr klein dafür. Allerdings passierte Missy immer noch dann und wann ein Missgeschick, etwa als sie einmal auf Bens Schoß einnickte. Der völlig durchnässte Ben trug sie nach oben und zog ihr einen frischen Overall und sich Jeans statt des Anzugs an. „Vielleicht sollte ich bei der Reinigung Mengenrabatt beantragen", sagte er trocken, und Liv dachte schuldbewusst daran, dass bereits zwei seiner Anzüge wegen der Kinder in der Reinigung waren. „Zum Glück hast du so viele Anzüge", bemerkte sie, und er lächelte jungenhaft. Am nächsten Tag beschloss Liv, Kate zu besuchen und um Rat zu bitten, wie sie in Zukunft Geld verdienen könnte. „Ich liebe meine Kinder sehr", erzählte sie Kate, als sie zusammen Kaffee tranken, „aber ich möchte mich weiterbilden und meinen Verstand benutzen, bevor er völlig einrostet." „So wie meiner?" fragte ihre Freundin fröhlich. „Ich hatte mir felsenfest vorgenommen, irgendwann wieder zu unterrichten. Aber dazu müsste ich mein Referendariat wiederholen. Ich habe es abgebrochen, als ich mit Jake schwanger war. Und eigentlich habe ich gar keine Lust mehr dazu, denn ich bin mit meinem jetzigen Leben sehr zufrieden." Sie lächelte. „Versuch doch einfach, es zu genießen, Liv." „Aber ich möchte nicht finanziell von Ben abhängig sein", erklärte Liv. Verwundert sah Kate sie an. „Aber warum denn? Er schwimmt doch geradezu in Geld! Hast du eigentlich eine Vorstellung, wie groß sein Unternehmen ist?" Das hatte sie nicht, doch Kates Reaktion ließ sie es erahnen. „Es geht mir ums Prinzip", beharrte Liv. Kate lachte gutmütig. „Wenn ich mit Ben verheiratet wäre, würde ich jeden Tag ausgiebig shoppen gehen. Und er hätte sicher nicht einmal etwas dagegen - er betet dich ja förmlich an." Liv schüttelte den Kopf. „Nein, eigentlich ist er mehr wie ein guter Freund zu mir." Schnell wechselte sie das Thema, als sie Kates ungläubigen Blick bemerkte. „Fällt dir denn gar nichts ein, was ich tun könnte, um finanziell unabhängig zu sein?" „Du könntest es doch wieder als Model versuchen", schlug Kate in aller Unschuld vor. Fast hätte Liv ihr erzählt, was David gesagt hatte.
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Doch der Schmerz war noch zu frisch. „Nein, ich möchte nicht mehr in dieser Branche arbeiten", erwiderte sie. „Wie wäre es dann mit Telefonmarketing?" „Während die Kinder im Hintergrund schreien?" „Du hast Recht, das war wohl kein sehr guter Vorschlag." Kate lachte und wechselte das Thema. „Hast du schon Weihnachtsgeschenke gekauft?" Liv dachte unbehaglich daran, dass sie noch nicht einmal Weihnachtskarten gekauft hatte. „Nein, noch kein einziges", gab sie zu. „Was soll ich nur einem Mann schenken, der schon alles hat?" „Sexy Unterwäsche für dich", antwortete Kate wie aus der Pistole geschossen. Liv errötete. „Lieber nicht." „Spielverderberin!" Liv schüttelte den Kopf. „Nein, es ist nur ... Wir ... Ich ..." Sie verstummte. „Du trägst keine sexy Unterwäsche?" fragte Kate. Plötzlich hatte Liv das Bedürfnis, der Freundin ihren größten Kummer anzuvertrauen. „Wir schlafen nicht miteinander", gestand sie und senkte den Blick. Ungläubig sah Kate sie an. „Ich dachte, du liebst ihn!" „Das tue ich auch", gestand Liv traurig. „Und auf seine Art liebt er mich sicher auch - aber nicht als seine Ehefrau. Er findet mich nicht attraktiv. Jetzt, nach der Geburt, habe ich natürlich auch nicht viel zu bieten ..." „Unsinn", unterbrach Kate sie, „wovon redest du? Du siehst großartig aus. Und wenn Ben es nicht auch findet, dann muss er schwul sein." „Nein, er ist nicht schwul. Allerdings gab es da einmal eine Frau, die ihm das Herz gebrochen hat. Er spricht nicht über sie, aber er sagte, eine solche Liebe gäbe es nur einmal. Ich war nach der Trennung von Oscar am Boden zerstört, und Ben wusste, dass ich mich in den nächsten Jahren nicht auf eine neue Beziehung einlassen würde. Also haben wir geheiratet. Er wollte mir und den Kindern Geborgenheit und ein Zuhause schenken und ist froh, dass er nicht mehr so einsam ist. Es ist nicht so schlimm, wie es klingt, Kate, nur manchmal..." Liv verstummte unvermittelt. Kate war entgeistert. „Du hast mit diesem fantastischen Mann ein Abkommen über euer Zusammenleben geschlossen?" Hilflos zuckte Liv die Schultern. „Damals schien es eine gute Idee zu sein. Doch kurz vor der Hochzeit habe ich festgestellt, dass ich Ben liebe, und gehofft, dass auch er eines Tages ... Aber vor ein paar Tagen habe ich ihn gefragt, ob er ein Kind wolle, und er hat geantwortet: ,nicht ohne Liebe.' Also liebt er mich offensichtlich nicht, denn sonst hätte er Ja gesagt." Kate stand auf und umarmte sie. „O Liv, es tut mir so Leid", meinte sie leise. Liv atmete tief ein, straffte sich und rang sich ein Lächeln ab. „Also keine sexy Unterwäsche für mich. Fällt dir vielleicht noch etwas anderes ein, was ich Ben schenken könnte?" „Handschuhe? Einen Schal? Oder Socken - die kann man immer gebrauchen, und niemand wird dir unterstellen, dass du ihn mit Socken verführen willst." Als Liv wieder zu Hause war, machte sie den Kindern Mittagessen und brachte sie ins Bett. Ben würde erst in einigen Stunden nach Hause kommen, und so beschloss sie, endlich den Fitnessraum auszuprobieren. Unschlüssig betrachtete sie die Geräte und Hanteln. Schließlich stellte sie das Laufband an. Nach ein paar Minuten erhöhte sie die Geschwindigkeit und begann zu joggen. Doch schon nach fünf Minuten war sie völlig außer Atem, und ihre Beine zitterten. Keine Kondition, dachte sie verärgert und drosselte die Geschwindigkeit wieder. Aber mit der Zeit würde sie fitter werden. Liv beschloss, am nächsten Tag auch einige Übungen für den Bauch zu machen. Als sie Kit später aus seinem Bettchen hob, hatte sie bereits leichten Muskelkater. Liv hörte, wie die Eingangstür geöffnet wurde, und vergewisserte sich schnell, dass das Töpfchen nicht herumstand. Missy lief Ben entgegen. „Hallo, Missy", begrüßte er sie und nahm sie auf den Arm. „Und wie geht es deiner Mum heute?" fragte er und küsste Liv leicht auf die Wange. Sie lächelte. „Gut, und dir?" „Furchtbar! Mein Manager bringt mich um, wenn ich ihm seine Sekretärin ausspanne, also muss ich mir eine neue suchen. Es gibt jede Menge Interessentinnen, aber sie sind alle jung und unerfahren. Sobald sie die erste Überstunde machen müssen, werden sie sich bei der Gewerkschaft über mich beschweren." „Bist du so schlimm?" „Überhaupt nicht. Wenn mich jemand bittet, ihm freizugeben, tue ich es sofort - bei voller Bezahlung. Und ich zahle gut. Ich erwarte gute Arbeit und Einsatzbereitschaft, aber ich habe keine überhöhten Ansprüche, und ich bin nicht unfair. Einige meiner Manager tyrannisieren ihre Sekretärinnen geradezu. Ich weiß, dass Julie gern für mich arbeiten würde, nur wird John es nie zulassen." „Du bist doch der Geschäftsführer", bemerkte Liv etwas erstaunt. „Du kannst tun, was du möchtest." Ben schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht einfach über die Köpfe der anderen hinweg entscheiden, Liv. Wir sind ein Team und müssen zusammenarbeiten. Ich finde nur, dass Julies Talent verschwendet wird und eine dieser jüngeren Sekretärinnen für meinen Manager viel geeigneter wäre. Ihnen gegenüber hätte er vielleicht nicht mehr das Gefühl, dass er ständig seine Überlegenheit demonstrieren muss." „Dann versuch, ihm das klarzumachen. Er muss doch einse-hen, dass ..." Er schnaufte verärgert. „Das Einzige, was John interessiert, ist sein eigener Vorteil, und er hat keine Lust, eine neue Sekretärin einzuarbeiten. Aber du hast Recht, ich sollte ihn gar nicht fragen. Vielleicht könnte ich ihm eine Gehaltserhöhung geben, um ihn zu versöhnen." „Hat er denn eine Gehaltserhöhung verdient?" Ben musste lachen. „Eigentlich nicht. Er hat gerade erst eine bekommen." „Dann stell eine neue Sekretärin für ihn ein, und lass Julie sie einarbeiten, bevor du sie ihm abspenstig machst." „Du hast Recht", sagte er und stand auf. „Ich rufe John jetzt gleich an. Wunder dich nicht, wenn du mich schreien hörst." Ben ging hinaus, und Liv setzte Teewasser auf. Wenige Minuten später kam er zurück. „Ich habe es ihm gesagt. Er war natürlich nicht gerade erfreut, aber er hat es akzeptiert." Er lächelte. „Danke für deinen Rat, Liv. Du bist großartig." „Du hättest es ihm so oder so gesagt", entgegnete sie. Ben lachte. „Du kennst mich wirklich gut. Sollen wir etwas zum Abendessen bestellen?" Schuldbewusst erwiderte sie: „Nein, ich koche uns etwas. Dieses ganze Fast Food ist ungesund. Außerdem gehört das zu meinen Aufgaben." „Nicht schon wieder! Liv, würdest du bitte endlich damit aufhören? Bring die Kinder ins Bett, ich hole uns etwas zu essen." Nach kurzer Zeit kam Ben mit einem indischen Gericht wieder. Es schmeckte köstlich, doch Liv musste daran denken, was David gesagt hatte. Wenn ich weiter so viel esse, werde ich kein Gramm abnehmen, überlegte sie. Also nahm sie nichts von der fettigen Soße, aß nur ein wenig Fleisch und viel Gemüse und Reis. Ben schien es nicht zu bemerken. Als er ihr eine weitere Portion anbot, lehnte sie ab. „Nein, danke, ich bin satt." Er aß den Rest und goss ihr ein Glas Wein ein. „Lieber nicht, solange ich Kit noch stille", wehrte sie ab. „Ein einziges Glas wird ihm nicht schaden." Liv gab nach, aber als Ben in sein Arbeitszimmer ging, schüttete sie den Wein heimlich in den Ausguss und füllte das Glas mit Wasser. Sie sah nach den Kindern und schaltete dann den Fernseher ein, doch es lief keine interessante Sendung. Liv klopfte leise an die Tür des Arbeitszimmers. „Sollten wir nicht Weihnachtskarten schreiben?" fragte sie Ben. Überrascht blickte er sie an. „Das hat meine Sekretärin schon erledigt." „Auch die persönlichen?" „Nein, dazu bin ich einfach noch nicht gekommen", gestand er schuldbewusst. „Würdest du das vielleicht übernehmen?"
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„Hast du schon Karten gekauft?" Er schüttelte den Kopf. „Gut, dann besorge ich sie morgen. Setzt du dich nachher noch zu mir?" Das klang viel wehmütiger, als ihr lieb war. „Nein", erwiderte Ben zerstreut, „ich muss dieses Projekt heute fertig ausarbeiten, und es wird sicher noch einige Stunden dauern." Er hatte sich bereits wieder dem Computer zugewandt. Dann gehe ich heute eben früh ins Bett, dachte Liv. Sie stillte Kit und legte sich anschließend mit einem Buch ins Bett. Schon nach wenigen Minuten war sie eingeschlafen. Die Feiertage verliefen ruhig und ohne besondere Vorkommnisse. Für Missy war es das erste Weihnachten, das sie bewusst erlebte, und sie war hellauf begeistert. Ben, der in dieser Hinsicht keinen Widerspruch duldete, hatte ihr neue Schuhe, ein wunderhübsches Kleid und ein gelb-rotes Auto aus Kunststoff geschenkt, das richtige Türen und ein Lenkrad hatte und mit Pedalen vorwärts zu bewegen war. Missy war überglücklich und fuhr den ganzen Tag lang den Flur auf und ab, bis die Tapete bereits erste Blessuren aufwies und Liv sie mit ihrem neuen Gefährt in die Küche verbannte, was Missys Freude jedoch keinen Abbruch tat. Die ungewohnte Anstrengung machte Missy müde, und Liv war froh darüber, denn sie ging, wenn Ben bei der Arbeit war, so oft wie möglich in seinen Fitnessraum. Seit sie weniger aß, zeigten sich allmählich die ersten Resultate. Bis Ben nach Hause kam, ernährte sie sich ausschließlich von Obst, und danach mied sie besonders fette Speisen und verzichtete auf den Nachtisch. Wenn er sie darauf ansprach, behauptete sie, sie hätte bereits bei Kate Kuchen gegessen. Nach und nach verlor sie an Gewicht und wurde zunehmend fitter. Doch sie war ständig müde, und Kit schrie oft, weil sie immer weniger Milch hatte. Liv fragte die Kinderärztin, ob sie schon Flaschennahrung zufüttern dürfe. „Nicht zu viel", lautete die Antwort, „aber etwas glutenfreies Getreide können Sie ihm ohne Bedenken geben." Also stillte Liv ihn mittags nicht mehr, sondern gab ihm stattdessen ein Fläschchen Reisbrei. Bald wird er mich gar nicht mehr brauchen, dachte sie. Dann kann ich ihn einmal in der Woche zu Hause hüten lassen und einen Kurs besuchen. Sie informierte sich über die angebotenen Collegekurse, aber es war nichts dabei, was für sie in Frage kam. Eines Tages kam Kate zu Besuch, als Liv Missy gerade eine selbst erfundene Geschichte erzählte und kleine Bilder dazu malte. „Der kleine Hund rollte sich behaglich auf dem Kissen zusammen, und bald war er fest eingeschlafen." Sie malte die winzige Nase des Hundes schwarz aus und legte den Stift weg. „Ende." „Ist dir eigentlich klar, wie gut deine Zeichnungen sind?" fragte Kate beeindruckt. „Ach, das sind doch nur Kritzeleien, nichts Besonderes", wehrte Liv ab. „Und ob sie etwas Besonderes sind! Und auch die Geschichte war toll. Wenn du finanziell unabhängig sein willst, könntest du Kinderbücher schreiben und illustrieren. Wir haben das ganze Haus voll solcher Bücher - kurze Geschichten mit farbenfrohen Bildern, die sich sehr gut verkaufen." „Meinst du, davon könnte man leben?" „Natürlich! Eine Freundin von mir tut das auch. Wenn du möchtest, erkundige ich mich genauer bei ihr." Zweifelnd betrachtete Liv ihre Zeichnungen. „Und du meinst wirklich, dass ich genug Talent habe? Ich erfinde diese Geschichten ja nur für Missy und weil es mir Spaß macht." „Aber wäre das nicht ideal - eine Arbeit, die dir wirklich Spaß macht? Auf jeden Fall ist es besser, als im Supermarkt Waren in die Regale zu räumen." Lachend musste Liv ihrer Freundin Recht geben. Fieberhaft überlegte sie. Wenn Kates Vermutung stimmte und ihre Geschichten sich wirklich verkaufen würden, hätte sie eine Arbeit, die sie von zu Hause aus erledigen könnte. Sie könnte sich einen Arbeitsplatz in der Küche einrichten und während des Schreibens die Kinder beaufsichtigen. „Wenn du möchtest, rufe ich meine Freundin sofort an", bot Kate ihr an. Einige Minuten später teilte sie ihr bereits den Namen des Verlags mit, an den sie sich wenden sollte. Liv rief ihn sofort an, um sich näher zu erkundigen. „Ich muss einige Zeichnungen und ein Manuskript einsenden", erzählte sie Kate. „Aber die Zeichnungen sind wichtiger." Sie dachte einen Moment nach. „Könnte ich mir ein paar eurer Kinderbücher anschauen, damit ich eine Vorstellung habe, wie das Ganze aussehen soll?" „Natürlich", erwiderte Kate sofort, und schon am nächsten Morgen brachte sie ihr eine ganze Tasche voller Kinderbücher mit und sagte ihr, welche sich am besten verkauften. Die Bücher waren für Kinder verschiedener Altersgruppen. Liv las einige aufmerksam durch und dachte: Das kann ich auch. Sie hätte Ben am liebsten sofort davon erzählt, doch in letzter Zeit hatte sie zu viele Rückschläge erlebt und wollte erst sicher sein, dass ihr Vorhaben ein Erfolg werden würde. Gleich am nächsten Tag wollte sie Zeichenmaterial kaufen und mit der Arbeit beginnen. Liv brachte die Kinder, die ihren Mittagsschlaf halten sollten, ins Bett, zog Sportschuhe, Leggings und ein Sweatshirt an und ging in den Fitnessraum. Nach einigen Bauchmuskelübungen und einer halben Stunde auf dem Laufband war sie am Ende ihrer Kräfte. Verschwitzt und außer Atem ging sie nach unten in die Küche - und stieß beinah mit Ben zusammen, der früher als erwartet nach Hause gekommen war. Stirnrunzelnd betrachtete er ihr von der Anstrengung gerötetes Gesicht. „Was, um alles in der Welt, hast du gemacht?" „Ich trainiere, um abzunehmen und wieder in Form zu kommen. Hast du etwas dagegen?" Wütend erwiderte er: „Du bist ja völlig erschöpft. Kein Wunder, dass du keine Energie für die Hausarbeit mehr aufbringst! Und was ist mit Kit? Bekommt er deswegen neuerdings Flaschennahrung - weil du nicht mehr genug Milch hast?" „Er ist vier Monate alt und ..." „Was hast du dir dabei gedacht, so unvernünftig zu sein? Außerdem isst du in letzter Zeit viel zu wenig, du wirst immer dünner!" „Es ist mein Körper, und wenn ich schlank und fit werden will, kannst du mich nicht davon abhalten", sagte Liv trotzig. „Und ob ich das kann", entgegnete er grimmig, schloss die Tür des Fitnessraums ab und steckte den Schlüssel in die Hosentasche. „Du kannst Kit in den Kinderwagen packen und ihn den ganzen Tag draußen herumschieben - das ist ein ausreichendes Fitnesstraining für dich, solange er noch so klein ist. Was war das Letzte, das du heute gegessen hast?" „Ein Apfel", antwortete Liv seufzend. „Und was hast du davor gegessen?" „Eine Banane." „Und davor?" „Abendessen." Ben funkelte sie an. „Ich hätte dir wirklich etwas mehr Verstand zugetraut. Du setzt jetzt sofort Wasser auf, machst Tee und isst etwas Vernünftiges, und wenn ich dich füttern muss! Wo sind die Kinder?" „Sie schlafen beide. Ich habe immer nur trainiert, wenn sie im Bett waren." „Vielleicht sollte ich Missy lieber wecken, damit sie auf ihre kindische Mutter aufpassen kann." Er ging die Treppe hinauf. „Nenn mich nicht kindisch, nur weil ich nicht mehr so fett sein will!" rief sie ihm aufgebracht nach und lief hinter ihm die Stufen hinauf. Unvermittelt blieb Ben stehen und wandte sich um, so dass sie gegen ihn prallte. „Du bist nicht fett", sagte er sanft und legte ihr die Hände auf die Schultern. Die sanfte Berührung ließ sie erschauern. „Du bist eine wunderschöne Frau, aber du bist kein Model mehr, sondern die Mutter zweier Kinder, für die du die Verantwortung trägst. Deshalb musst du gut auf dich aufpassen." Die Kehle war ihr wie zugeschnürt. Ben hatte Recht, aber ... „Aber ich möchte so gern wieder schlank und hübsch sein ..." „Das bist du doch", beruhigte er sie. „Du bist viel hübscher als während deiner Zeit als Model. Damals hast du ausgesehen, als würdest du nur aus Haut und Knochen bestehen. Und jetzt geh duschen, ich mache dir inzwischen etwas zu essen." Liv duschte und zog sich an. Wenn ich wirklich so gut aussehe, wie kommt es dann, dass er sich nicht für mich interessiert? grübelte sie. Als sie wieder in die Küche kam, war der Tisch bereits gedeckt. Unter Bens strengem Blick trank sie zwei Tassen Tee und aß drei Scheiben Toast. Ihre Karriere als Model war ohnehin ein für alle Mal vorbei, also konnte sie ebenso gut nach Herzenslust essen. „Bist du jetzt zufrieden?" erkundigte sie sich ein wenig schnippisch, als sie fertig war.
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„Ja." Ben lächelte. „Und heute Abend gehen wir zusammen essen." Liv blickte ihn an. Konnte es sein, dass er endlich die Frau in ihr entdeckt hatte? Sie schöpfte wieder Hoffnung, doch mit seinen nächsten Worten machte er alles zunichte. „Ich möchte dir Julie vorstellen und mich gleichzeitig dafür bedanken, dass du uns zusammengebracht hast." Was meinte er mit zusammengebracht? Er hatte doch wohl keine Affäre mit Julie? Aber warum sollte er das nicht? Er war ein attraktiver, leidenschaftlicher Mann. Dass er sie, Liv, gern hatte und respektierte, musste ja nicht bedeuten, dass er keine sexuelle Beziehung mit einer anderen Frau hatte. Männer hatten oft Affären mit ihren Sekretärinnen. Unwillkürlich musste sie an Oscar denken. Angst schnürte ihr plötzlich die Kehle zu. O nein, bitte nicht, dachte Liv. Sie konnte unmöglich mit Ben essen gehen - Julies herablassendes Lächeln könnte sie nicht ertragen. „Ich ... ich habe keine Zeit", log sie schnell. „Ich glaube, Missy hat sich erkältet, und außerdem muss ich noch so viele Briefe schreiben. Ein anderes Mal vielleicht." Sie stand auf, räumte die Teller in die Spülmaschine und ging schnell nach oben. Als sie wieder nach unten kam, war Ben bereits gegangen. Auf dem Küchentisch lag eine kurze Nachricht von ihm: Ich bin wieder ins Büro gefahren und gehe nachher mit Julie essen - wie verabredet. Denk daran, genug zu essen. Ben. Sofort bereute Liv ihre unüberlegte Reaktion. Wenn sie seine Sekretärin kennen lernen würde, könnte sie zumindest einschätzen, mit was für einer Rivalin sie es zu tun hatte. „Aber wozu?" fragte sie sich wehmütig. „Er nimmt mich ja doch nicht wahr." Sie verdrängte den Gedanken an Julie, setzte sich an den Küchentisch und begann mit den Entwürfen für die Kinderbücher. Wenn Ben wirklich Oscars Beispiel folgen sollte, war es für sie wichtiger als je zuvor, finanziell unabhängig zu sein. Denn noch einmal würde sie eine solche Erniedrigung nicht durchstehen. Nicht einmal für ihre Kinder. 10. KAPITEL Die ganzen nächsten Wochen hindurch arbeitete Liv konzentriert an den Zeichnungen. Wann immer die Kinder schliefen, setzte sie sich an den Küchentisch und beschäftigte sich mit den Entwürfen. In letzter Zeit schien Ben immer häufiger abends spät nach Hause zu kommen, doch sie wollte sich nicht darüber den Kopf zerbrechen. Sie hatte das alles schon während ihrer Beziehung mit Oscar durchgestanden. Ben erwähnte das Abendessen mit seiner Sekretärin nie wieder, doch Julie spukte ständig in ihren Gedanken herum. Zudem hatte er sie, Liv, seitdem auch nicht mehr mit zu einer geschäftlichen Feier genommen oder ihr vorgeschlagen, mit ihm auszugehen. Also gab sie sich die größte Mühe, ihre Gefühle zu unterdrücken, war ihm gegenüber freundlich, aber distanziert, und arbeitete fleißig an den Entwürfen. Sie erzählte Missy die Geschichte, die sie sich ausgedacht hatte, und ihre kleine Tochter war hellauf begeistert: „Noch mal!" Liv freute sich über das Lob. Bei Kates Kindern erzielte sie einen ähnlichen Erfolg. Immer wieder wollten diese ihre Geschichten hören. Mit großem Ehrgeiz arbeitete sie die Entwürfe aus, die sie einsenden wollte, verpackte das Manuskript und die Zeichnungen sorgfältig und brachte alles zur Post. Als Absender hatte sie Kates Adresse angegeben, damit Ben nichts bemerken würde -insbesondere für den Fall, dass das Ganze ein Misserfolg werden sollte. Und dann hieß es abwarten. Aus Januar war Februar und dann März geworden, und inzwischen kam Ben fast jeden Abend erst spät nach Hause. Wenn er da war, entspann sich nur selten ein ungezwungenes Gespräch zwischen ihnen, es sei denn, sie unterhielten sich über die Kinder. Als Liv eines Morgens das Frühstücksgeschirr wegräumte, kam Kate und wedelte aufgeregt mit einem Brief herum. „Sofort aufmachen", befahl sie. Mit zittrigen Fingern riss Liv den Umschlag auf und nahm das Schreiben heraus. Sehr geehrte Mrs. Warriner, vielen Dank für die Einsendung Ihrer Entwürfe und Ihres Manuskripts, die auf großes Interesse gestoßen sind. Wir möchten Sie einladen, sich persönlich bei uns vorzustellen, da wir gern mit Ihnen über Ihre Arbeiten sprechen würden. Wir möchten Sie deshalb bitten, uns anzurufen, um einen Termin zu vereinbaren, und Ihre Entwürfe mitzubringen. Mit freundlichen Grüßen ... Ungläubig sah sie Kate an. „O nein", brachte sie atemlos hervor. „Sie wollen mit mir über meine Zeichnungen sprechen!" „O Liv, das ist ja großartig!" jubelte Kate und umarmte sie. Aufgeregt betrachtete Liv das Schreiben. Sollte dies wirklich ihr Weg in die Unabhängigkeit sein? Denn ihr war klar geworden, dass sie nicht auf Dauer bei Ben würde bleiben können. Jedes Mal, wenn er Julies Namen erwähnte, gab es ihr einen Stich ins Herz. Kate kümmerte sich um Missy und Kit, während Liv telefonisch einen Termin mit dem Verlag für den kommenden Dienstag um elf vereinbarte. Sie würde wegfahren, nachdem Ben das Haus verlassen hatte, und wenn sie das Verlagsbüro um ein Uhr wieder verlassen könnte, wäre sie um halb vier oder vier in Woodbridge -rechtzeitig, um das Abendessen für Ben zuzubereiten. Und falls es ein Misserfolg wäre, würde Ben nie davon erfahren. Liv war so aufgeregt, dass sie unglaublich erleichtert war, als Ben am Montagabend anrief und ihr sagte, er würde erst sehr spät nach Hause kommen. Normalerweise wäre sie enttäuscht gewesen, doch dieses Mal war sie froh, dass sie sich nicht zu verstellen und ihre Nervosität zu überspielen brauchte. Die Kinder waren im Bett und schliefen. Liv durchstöberte bereits zum dreißigsten Mal ihren Kleiderschrank nach einem passenden Outfit für den nächsten Tag, als es an der Tür klingelte. Sie blickte auf die Uhr. Viertel nach sieben. Wahrscheinlich ein Wohltätigkeitsverein, der um eine Spende bittet, dachte sie und ging nach unten. Vor der Haustür stand eine kleine, pummelige Frau Ende dreißig mit einigen Blättern Papier in der Hand. „Mrs. Warriner?" „Ja", erwiderte Liv vorsichtig. „Ich bin Julie Bream, Bens Sekretärin. Ich wollte ihm nur schnell diese Papiere vorbeibringen, da wir sowieso gerade hier vorbeigekommen sind. Ich habe sie extra für ihn fertig geschrieben, weil er sie noch heute Abend benötigt. Er sagte mir, er wäre heute früh zu Hause, so dass er genügend Zeit hätte, um die Papiere in Ruhe durchzusehen." Sie lächelte und fuhr fort: „Um ehrlich zu sein, hatte ich gehofft, Sie endlich einmal kennen zu lernen. Ben hat diese wundervollen Fotos von der Hochzeit auf seinem Schreibtisch - und er hat mir schon so viel von Ihnen und den Kindern erzählt, da wollte ich Sie so gern einmal persönlich treffen." „Es freut mich auch, Sie kennen zu lernen", antwortete Liv ein wenig überrumpelt. „Aber Ben ist noch nicht zu Hause." Julie schien überrascht zu sein. „Tatsächlich? Dann habe ich ihn wohl missverstanden. Vielleicht ist ihm noch etwas Wichtiges dazwischengekommen. Er kommt bestimmt bald." „Bestimmt", sagte Liv unsicher. „Vielen Dank, dass Sie die Papiere vorbeigebracht haben. Ich werde sie ihm geben, sobald er nach Hause kommt." „Oh, nichts zu danken", winkte Julie strahlend ab. „Wie gesagt, ich freue mich, Sie endlich kennen zu lernen. Wirklich schade, dass Sie damals im Januar nicht mit zum Essen kommen konnten. Es war so ein netter Abend. Paul, meinem Mann, hat es auch sehr gut gefallen - er ist froh darüber, dass ich jetzt für Ben arbeite und nicht mehr für John. Der hat immer versucht, mit mir zu flirten, und das ist auf Dauer wirklich nicht angenehm. Jetzt muss ich aber los, Paul wartet im Wagen auf mich. Heute ist unser Hochzeitstag, und ich bekomme ihn so selten im Anzug zu Gesicht! Es hat mich wirklich gefreut!" Sie lächelte ihr noch einmal zu, wandte sich um und ging eilig zum Wagen, wo ihr Mann auf sie wartete. Ungläubig sah Liv ihr nach. Das also war Julie - diese herzliche Frau, die wie ein verliebter Teenager von ihrem Mann sprach? Sie machte einen grundehrlichen Eindruck. Es war völlig ausgeschlossen, dass sie eine Affäre mit Ben hatte. Liv musste daran denken, wie viele Stunden sie wegen dieser Frau gegrübelt hatte, und sie hätte sich ohrfeigen können. Wäre sie damals im
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Januar mit Ben und Julie essen gegangen, wäre ihr bereits vor zwei Monaten klar geworden, dass sie keinen Grund dazu hatte. Stattdessen hätte sie sich wochenlang den Kopf zermartert! Trotz allem wusste sie noch immer nicht, wo Ben heute Abend war. Julie hatte geglaubt, er wäre zu Hause, und sie, Liv, hatte angenommen, er wäre bei der Arbeit. Wo aber war Ben wirklich? Ihr wurde plötzlich klar, wie fremd sie einander geworden waren, und wehmütig dachte Liv daran, wie unbefangen und freundschaftlich ihre Beziehung gewesen war, als sie vor einigen Monaten mitten in der Nacht an seiner Tür geklingelt hatte. Doch mittlerweile war er alles andere als liebevoll, und sie wechselten kaum noch ein Wort miteinander. Ben kam erst um zehn nach Hause. Liv, die gerade ins Bett gehen wollte, drückte ihm schweigend die Papiere in die Hand, die Julie ihr gegeben hatte, und sagte dann ausdruckslos: „Diese Unterlagen hat deine Sekretärin für dich abgegeben. Sie sagte, du hättest früh nach Hause gehen wollen, und war überrascht, dass du noch nicht da warst." Er rieb sich den Nacken und erwiderte: „Ich musste noch zu einem geschäftlichen Treffen, das ich nicht eingeplant hatte." Sie hatte den Eindruck, dass er sie anlog, und es machte sie unendlich traurig. „Ich sollte die Papiere besser sofort durchgehen. Du wolltest gerade ins Bett?" fragte er. Liv nickte schweigend. „Also, dann gute Nacht, bis morgen." Das war alles. Kein Lächeln, kein noch so flüchtiger KUSS, wie Ben es noch vor gar nicht so langer Zeit getan hatte. Er wünschte ihr eine gute Nacht, drehte sich um und ging. Sie legte sich ins Bett, doch sie konnte nicht schlafen. Unruhig warf sie sich hin und her und lag bis fast vier Uhr wach. Am nächsten Morgen war sie erschöpft und übernächtigt und versuchte, die Ringe unter ihren Augen mit Make-up abzudecken. Dann zog sie das sorgfältig ausgewählte Kostüm an, eilte zu Kate, um die Kinder bei ihr abzuliefern, und fuhr Hals über Kopf zum Bahnhof, wo sie in letzter Sekunde den Zug erwischte. Mühsam kämpfte Liv sich durch die vollen Abteile, wobei ihr die Mappe mit ihren Entwürfen ständig im Weg war. In der U-Bahn in London erging es ihr nicht viel besser, und als sie schließlich ihr Ziel erreicht hatte, war sie völlig außer Atem und mit den Nerven am Ende. Gerade noch rechtzeitig zur verabredeten Uhrzeit betrat sie das Verlagsgebäude und nahm in der Eingangshalle Platz, um darauf zu warten, dass jemand sie abholte. Sie war furchtbar nervös. Wenn nun die Entwürfe, die sie mitgebracht hatte, nicht nach dem Geschmack des Lektors waren? Wenn sie nun alles ändern musste und es ihm letztendlich doch nicht gefiel? Wenn ...? „Mrs. Warriner?" Liv blickte auf und sah eine sehr leger gekleidete junge Frau auf sich zukommen. „Guten Tag, ich bin Trudy. Bitte kommen Sie doch mit mir nach oben, die anderen warten schon auf Sie. Wir können es alle kaum erwarten." Was können sie kaum erwarten? fragte Liv sich. Was meinte Trudy nur damit? Sie brauchte nicht lange auf eine Erklärung zu warten. „Mrs. Warriner, wir sind hin und weg von Ihrer Geschichte", teilte der Lektor ihr lächelnd mit. „Sie ist witzig, warmherzig und farbenfroh allerdings ein bisschen zu farbenfroh, um ehrlich zu sein. Wir würden die Farbintensität mit Ihrer Erlaubnis gern ein wenig abschwächen, um Probleme mit dem Druck zu vermeiden. Aber davon abgesehen sind die Geschichte und die Zeichnungen einfach wundervoll. Allerdings lohnt es sich nicht, mit großem Aufwand Werbung zu machen, wenn es nur bei diesem einen Buch bleiben sollte. Deshalb möchten wir gern wissen, ob sie noch Material für weitere Bücher haben." Liv atmete tief ein, um sich zu beruhigen. Dann lächelte sie und antwortete: „Ja, natürlich. Ich habe einige Entwürfe mitgebracht. Ich wusste nicht genau, was Sie sich vorstellen, aber diese Zeichnungen werden Ihnen einen ungefähren Eindruck von meinen Ideen vermitteln." Sie öffnete die Mappe und nahm einen Stapel Blätter heraus. Sofort beugten ihre Gesprächspartner sich über die Zeichnungen und begannen, sie aufmerksam zu betrachten. Liv hörte sie leise lachen, und als sie schließlich aufblickten, glänzten ihre Augen vor Begeisterung. „Ihre Entwürfe sind einfach fantastisch", sagte Trudy. „Sie sind unglaublich begabt, Olivia - wir dürfen Sie doch Olivia nennen?" „Sagen Sie bitte Liv zu mir", erwiderte Liv. Eine Frau schnalzte mit den Fingern. „Liv Kensington! Ich wusste doch, dass ich Sie irgendwoher kenne. Das ist wirklich ungerecht - so viele Begabungen auf einmal zu haben!" Liv lachte leise. „Eigentlich bin ich ein ganz gewöhnlicher Mensch." „Nur keine falsche Bescheidenheit", entgegnete der Lektor trocken. „Stellen Sie Ihr Licht nicht unter den Scheffel. Sie haben wirklich Talent, Liv, und wir würden gern mit Ihnen zusammenarbeiten - vorausgesetzt, Sie sind einverstanden. Vielleicht könnten wir das bei einem gemeinsamen Mittagessen besprechen?" „Mittagessen?" Fragend sah sie ihn an. „Wäre das ein Problem für Sie?" Sie schüttelte den Kopf. „Nein, es ist nur ... Könnte ich bei meiner Nachbarin anrufen? Sie passt auf meine Kinder auf." „Selbstverständlich." Die anderen wandten sich wieder den Entwürfen zu, während Liv Kate anrief. „Kate, würdest du so lieb sein und die Kinder noch ein bisschen bei dir behalten? Der Lektor möchte mit mir zu Mittag essen und dabei alles besprechen." „Das klingt ja großartig! Natürlich passe ich auf die beiden auf. Viel Erfolg!" „Danke. Ich erzähle dir nachher alles." Liv legte auf und wandte sich an den Lektor. „Alles in Ordnung, sie wird auf die Kinder aufpassen, bis ich nach Hause komme." „Fantastisch." Er rieb sich die Hände und führte Liv zur Tür. „Überlassen wir meinen Mitarbeitern die weitere Planung. Wären Sie so nett, uns die Entwürfe hier zu lassen? Wir schicken Sie Ihnen so bald wie möglich zurück. Meine Sekretärin wird Ihnen eine Quittung über den Inhalt der Mappe ausstellen." „Werde ich ein Copyright auf meine Entwürfe bekommen?" fragte Liv, bemüht, einen klaren Kopf zu behalten. „Selbstverständlich", erwiderte der Lektor. „Sie werden die ausschließlichen Rechte über Ihre Zeichnungen und Manuskripte haben. Wir werden einen Vertrag aufsetzen, der es Ihnen zusichert." Auf der Straße winkte er ein Taxi herbei, das sie zu einem jener exklusiven Restaurants fuhr, die Liv während ihrer Zeit als Model kennen gelernt hatte. Dann liegt ihnen also wirklich sehr an einer Zusammenarbeit mit mir, dachte sie verwundert, denn sonst würde diese geschäftliche Besprechung einfach im nächstbesten Pub stattfinden. Sie konnte es immer noch nicht ganz glauben. Liv bemühte sich, den Ausführungen des Lektors über Zeitpläne, Auflagen, Druck und Vertrieb zu folgen, doch es fiel ihr schwer, sich darauf zu konzentrieren. Sie war einfach überwältigt von der Aussicht, endlich finanziell unabhängig zu sein und auf eigenen Füßen zu stehen. Wenn sie, wie es der Zeitplan des Buchverlags vorsah, jedes Jahr drei Bücher veröffentlichen könnte, würde sie genug Geld haben, um sich und die Kinder zu ernähren. Und sie brauchte sich nicht jedes Mal Gedanken zu machen, wenn Ben spät nach Hause kam. Nach dem Essen brachte der Lektor sie mit dem Taxi zum Bahnhof. Es war bereits halb vier, und so kam Liv erst um sechs Uhr in Woodbridge an. Schuldbewusst dachte sie an die Kinder, die schon seit dem Morgen bei Kate waren. Kit schrie inzwischen sicher vor Hunger. Und bald würde Ben von der Arbeit kommen. Am besten holte sie die Kinder sofort ab und versuchte, noch vor ihm zu Hause zu sein. Sie hatte sich noch nicht überlegt, wie sie ihm von ihren beruflichen Plänen erzählen sollte. Früher wäre das alles unkompliziert gewesen. Sie hätte ihn einfach sofort angerufen, wäre mit den guten Neuigkeiten herausgeplatzt, und er hätte sich mit ihr gefreut. Dann hätte er sie zum Essen in ein Restaurant eingeladen, wo sie ihm alle Einzelheiten berichtet und er sich den Vertrag sorgfältig durchgelesen hätte. Doch jetzt waren sie einander merkwürdig fremd, und Liv befürchtete, dass die vermeintlich guten Nachrichten die kühle, distanzierte Atmosphäre zwischen ihnen noch verstärken würden. Liv parkte den Wagen in der Auffahrt und lief zu Kate. Als sie sich dem Haus näherte, sah sie, dass die Tür weit offen stand. Laute Stimmen
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drangen aus dem Haus. Verwundert ging sie hinein und stellte erschrocken fest, dass Ben bei Kate war und wissen wollte, wo sie, Liv, sei. „Ich habe ihr versprochen, es dir nicht zu sagen", beharrte Kate. „Wenn sie nach Hause kommt, wird sie es dir selbst erzählen." „Dann kommt sie also zurück?" Bens Stimme klang schneidend. „Natürlich tut sie das! Du glaubst doch wohl nicht, dass sie ihre Kinder allein zurücklassen würde." Ben seufzte gequält. „Ich weiß es nicht. Ich habe das Gefühl, dass ich sie gar nicht mehr kenne. Bist du sicher, dass sie nicht zu Oscar zurückgegangen ist?" Bildete sie, Liv, es sich nur ein, oder hatte seine Stimme wirklich angstvoll geklungen, als er das fragte? „Oscar?" wiederholte Kate ungläubig. „Warum, um alles in der Welt, sollte sie zu Oscar zurückwollen? Sie hasst ihn!" „Bist du dir sicher? Schließlich hat sie ihn einmal geliebt." „Ich bin mir absolut sicher. Sie hat mit dir schon genug Probleme." Kate verstummte, und Liv hörte ein lautes Krachen. „Jake, hör jetzt auf damit. Geh bitte ins Spielzimmer", sagte Kate und fuhr fort: „Nein, Ben, Liv ist nicht zu Oscar gefahren, das kann ich dir versichern, obwohl mir nicht ganz klar ist, warum es dich überhaupt interessiert. Du bist ihr gegenüber so gleichgültig ..." „Das meinst du doch wohl nicht ernst!" rief Ben. „Liv ist krank vor Sorge, weil sie glaubt, dass du die Heirat bereust. Sie hat mir von eurer ... eurer Abmachung erzählt." Entsetzt schloss Liv die Augen. O nein, Kate, bitte nicht, flehte sie stumm. Doch ihre Freundin war nicht mehr zu bremsen. „Was für eine Abmachung?" fragte Ben kühl. „Eure Scheinehe. Warum musstest du das tun, Ben? Konntest du nicht einfach so für sie da sein? Warum, um alles in der Welt, musstest du sie unbedingt heiraten?" „Auch wenn du es mir nicht glauben wirst, aber ich habe sie geheiratet, weil ich sie liebe", gestand er leise. Liv merkte, wie sie blass wurde. Auch Kate hatte es die Sprache verschlagen - allerdings nur für kurze Zeit. „Du liebst sie also? Liv glaubt, dass du eine Affäre mit deiner Sekretärin hast." „Mit Julie? Wie kommt sie denn auf die Idee?" „Weil du so gut wie nie zu Hause bist - und weil du sie nicht beachtest und lediglich als Mutter siehst, als Teil deiner neuen kleinen Familie. Liv hat mir erzählt, wie du reagiert hast, als sie abnehmen wollte. Weißt du, warum sie das getan hat? Weil sie dich liebt - und weil du sie nicht einmal wahrnimmst!" „Das ist nicht wahr", widersprach Ben leise. „Mir ist durchaus klar, was für eine wunderschöne Frau Liv ist. Ich kann kaum an etwas anderes denken. Das ist der Grund, warum ich so selten zu Hause bin - weil ich eine richtige Ehe mit ihr führen möchte und sie nicht. Sie liebt mich nicht." „Sie hat dich doch gefragt, ob du ein Baby willst..." „Aber nur, weil sie ein schlechtes Gewissen hat und der Meinung ist, sie müsste sich bei mir revanchieren. Sie will um jeden Preis unabhängig sein ... Du meine Güte, sie ist doch nicht etwa zu einem Fotoshooting gefahren?" „Nein, das bin ich nicht", sagte Liv und trat in die Küche. „Ich war bei einem Verlag, für den ich Kinderbücher schreiben und illustrieren werde - damit ich unabhängig sein kann, auch wenn du das lächerlich findest." Ben warf erst ihr, dann Kate einen Blick zu und strich sich über die Augen. „Wir müssen miteinander reden, Liv", erklärte er rau. „Der Meinung bin ich auch", stimmte Kate energisch zu. „Ihr beiden fahrt jetzt nach Hause. Ich werde auf die Kinder aufpassen - von mir aus bis morgen. Und dass ihr mir ja nicht wiederkommt, bis alles zwischen euch geklärt ist!" Ben nickte ihr zu, dann nahm er Liv nicht gerade sanft beim Arm und zog sie aus der Küche. Erst als sie zu Hause waren, ließ er sie wieder los. Er trat einen Schritt zurück und sah sie eindringlich an. „Ist es wahr?" fragte er heiser. „Dass ich bei einem Kinderbuchverlag war? Ja." „Nein. Ist es wahr, was Kate gesagt hat - dass du mich liebst?" Liv blickte ihm in die Augen - zum ersten Mal seit langer Zeit, und sie bemerkte die Sorgenfalten und die Ringe unter seinen Augen. Sie nickte. „Ja", erwiderte sie leise, „es ist wahr. Ich glaube, ich habe dich schon immer geliebt, aber es ist mir erst klar geworden, als du mich gebeten hast, deine Frau zu werden." Ben schloss die Augen und schluckte. Dann streckte er die Arme aus und zog sie an sich. „Gut", flüsterte er. „Ich hatte schon gefürchtet, du hättest mich verlassen und wärst zu Oscar zurückgegangen. Ich hatte solche Angst, dass du mich hasst." „Nein, ich hasse dich nicht", entgegnete sie, das Gesicht an seiner Brust geborgen. „Ich könnte dich niemals hassen. Ich war nur einfach verzweifelt, weil du mich nicht wahrgenommen hast. Du hast mich nie berührt, und es war dir sogar unangenehm, mir beim Stillen zuzusehen." „Ich dachte, du würdest Oscar noch immer lieben!" Er hielt sie auf Armeslänge von sich entfernt, um ihr in die Augen sehen zu können. „Es wäre nicht fair gewesen, dir meine Liebe zu gestehen, solange dein Herz noch einem anderen Mann gehörte. Ich habe dich gebeten, meine Frau zu werden, weil ich hoffte, alles würde sich eines Tages vielleicht von selbst ergeben. Stattdessen wurde es immer komplizierter. Und was das Stillen betrifft - es hat mich völlig verrückt gemacht, dich dabei zu beobachten. Es gibt nichts Erotischeres für einen Mann, als zuzusehen, wie die Frau, die er liebt, einem Kind die Brust gibt." Liv atmete tief ein und nahm ihren ganzen Mut zusammen. Sie traute sich kaum, Ben die Frage zu stellen, doch sie musste es einfach wissen. „Liebst du mich wirklich?" fragte sie mit bebender Stimme. „Ich habe dich schon immer geliebt", erwiderte Ben rau, „schon als wir uns kennen lernten. Du warst damals erst fünfzehn Jahre alt, und meine Mutter hat mir gedroht, mich zu entmannen, wenn ich mich nicht von dir fern halten würde." Liv schüttelte den Kopf. Was war mit der Frau, die ihm das Herz gebrochen hatte? „Du hast doch gesagt, du würdest dich nie wieder verlieben, denn in jedem Leben gäbe es nur eine einzige große Liebe. Hast du sie damals getroffen, als ich mit Oscar zusammengezogen bin?" „Wen?" „Die Frau, die du so geliebt hast - die dir das Herz gebrochen hat." Ben lachte traurig. „Damit habe ich dich gemeint, Liv. Damals wollte ich dir meine Liebe gestehen, aber dann hast du mir gesagt, du willst mit Oscar zusammenleben. Ich war verzweifelt und konnte dir nicht gestehen, dass ich dich liebe." Er atmete tief ein und versuchte, sich zu beruhigen. „Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es so wehtun würde", sagte er leise. „Ich habe mich ganz auf meine Arbeit konzentriert, um mich abzulenken. An anderen Frauen hatte ich kein Interesse mehr. Und dann hast du plötzlich mit den Kindern vor meiner Haustür gestanden - wie ein Überraschungspäckchen mit der Aufschrift: .Inhalt: eine Familie'." Ben schwieg eine Weile und fuhr dann fort: „Ich war dankbar und überglücklich, weil Gott mir noch eine Chance gegeben hatte. Doch du warst so traurig und verletzt, und ich wollte dich nicht überrumpeln." Wieder lachte er traurig. „Dann kam ich auf die großartige Idee, dass wir heiraten könnten. Aber in unserer Hochzeitsnacht lief einfach alles schief. Ich lag nur wenige Zentimeter von dir entfernt und wünschte mir nichts sehnlicher, als dich zu berühren. Gleichzeitig wagte ich kaum, mich zu bewegen." „Du hättest mich von oben bis unten mit der Schokoladenloti-on übergießen sollen", sagte Liv und streichelte sanft seine Wange. „Ich hätte das Neglige anziehen sollen und du diesen lächerlich knappen Tanga." Er sah ihr in die Augen, und sein Blick war zärtlich und leidenschaftlich zugleich. „Es ist nicht zu spät, stimmt's?" flüsterte Ben. Sie schüttelte den Kopf. „Nein, Ben. Es ist nicht zu spät." „Das ist gut, denn ich möchte dich berühren und dir zeigen, wie sehr ich dich liebe." Scheinbar ohne Anstrengung hob er sie hoch und trug sie die Treppe hinauf und in sein Schlafzimmer. Die Tür stand offen. Liv war insgeheim froh darüber, denn Ben schien sich von nichts und niemandem aufhalten zu lassen, und wäre die Tür geschlossen gewesen, hätte er sie womöglich eingetreten!
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Er setzte sie vorsichtig ab, trat einen Schritt zurück und betrachtete sie. „Du siehst so aus, als wolltest du zu einem Geschäftsessen gehen", stellte er fest. „Das müssen wir ändern." Schnell legte er Jackett und Schlips ab. Dann zog er ihr Blazer und Rock aus. Der seidige Stoff glitt an ihren Beinen entlang, und die Berührung ließ sie erschauern. „Arme hoch", flüsterte Ben und zog ihr Seidentop und Unterhemd über den Kopf. Er trat einen Schritt zurück und blickte sie an. „Ich fühle mich overdressed." Liv lächelte und begann, die Knöpfe an seinem Hemd zu öffnen. Ihre Hände zitterten, doch nach einer Weile hatte sie es geschafft. Ben zog sich rasch das Hemd aus, wobei einer der Manschettenknöpfe abging und durchs Zimmer sprang. „Meine Frau wird mit mir schimpfen", bemerkte Ben lächelnd. „Nein, das wird sie nicht - ich verspreche es dir!" entgegnete Liv. Sie schob die Hand unter seinen Hosenbund und ließ sie auf-und abgleiten. Ben hielt den Atem an. Er nahm ihre Hand und hielt sie mit eisernem Griff fest. „Was hast du mit mir vor?" fragte er heiser. „Das, was ich schon vor langer Zeit hätte tun sollen", erwiderte sie zärtlich. „Dich lieben." Ben ließ sie los und umfasste ihr Gesicht. Dann küsste er sie. Es war kein perfekter, geübter KUSS, sondern ein KUSS voller Leidenschaft, der KUSS eines Mannes, der sich vor Verlangen verzehrt hatte. Liv stellte sich auf die Zehenspitzen und erwiderte ihn voller Hingabe. Ben hob den Kopf. „Ich will dich", sagte er rau. „Ich brauche dich so sehr, Liv. Es hat mich fast verrückt gemacht, dir die ganze Zeit so nah zu sein, ohne dich berühren zu dürfen. Ich kann nicht länger warten." „Das brauchst du auch nicht." Sie öffnete seinen Reißver-schluss und streifte ihm die Hose ab. Schnell band er sich die Schnürsenkel auf und zog Schuhe und Hose aus. Dann hob er Liv wieder hoch. „Du bist zu weit weg", flüsterte er. Er trug sie durchs Zimmer, ließ sie vorsichtig aufs Bett sinken und legte sich neben sie. Eng umschlungen küssten sie sich. Langsam streichelte Ben ihre Hüfte. „Du bist so weich", flüsterte er. „Du fühlst dich wunderschön an." Liv ließ die Hand über seine breiten, muskulösen Schultern gleiten und spürte die Wärme seiner gebräunten Haut unter ihren Fingern. Er legte die Hand auf ihre Brust. Sie trug noch ihren Spitzen-BH. „Ich möchte dich berühren - dich berühren und ansehen können. Bisher war ich immer froh, wenn ich einen flüchtigen Blick auf dich erhäschen konnte. Dann musste ich mir ausmalen, wie du wohl aussiehst." „Ich bin die Mutter zweier Kinder, und das sieht man mir an", bemerkte Liv schüchtern. Ben küsste sie. „Ich weiß, und das macht dich für mich nur noch schöner. Bitte, Liv", bat er sie leise, aber eindringlich, „lass mich dich ansehen." Vorsichtig zog er ihr den BH und den mit Spitzen besetzten Slip aus, bis sie nackt neben ihm lag. „Du bist wunderschön", flüsterte er zärtlich. Dann neigte er den Kopf und umschloss die Spitze ihrer linken Brust mit den Lippen. Seine Leidenschaft nahm Liv den Atem. Während er ihre rechte Brust küsste, ließ er die Hand über ihren Bauch nach unten gleiten. „Ich begehre dich so, Liv", sagte er verlangend. Schnell setzte Liv sich auf und streifte ihm den knappen Slip ab. Langsam und zärtlich streichelte sie seinen muskulösen Körper. Seine Augen funkelten, und er zog sie an sich. „Du hast gesagt, dass du ein Baby willst." „Ja", erwiderte sie. „Gut, denn ich habe kein Verhütungsmittel hier." Sie lächelte. „Ich möchte dich spüren - nur dich. Ich will nicht, dass irgendetwas uns trennt." Ben legte sich auf sie und küsste sie erneut. „Ich liebe dich, Liv", gestand er rau. Und wenige Sekunden später waren sie vereint. Sie nahmen nichts mehr wahr - nur noch einander und die alles überflutende Welle ihres Verlangens, die sie mit sich riss. Liv dachte, sie würde verrückt vor Leidenschaft, und als sie den Höhepunkt erreichte, presste sie sich an Ben, und er hielt sie in seinen starken Armen geborgen. Schließlich erreichte auch er den Gipfel der Ekstase, und er bäumte sich auf und rief ihren Namen, bevor er in ihre Arme zurücksank. Erschöpft und überglücklich hielten sie einander umschlungen, und ihre Herzen schlugen im selben Takt. „Ich liebe dich", sagte Liv, und Ben zog sie enger an sich. „Langsam fange ich an, es dir zu glauben. Vielleicht sollten wir diese Übung aber vorsichtshalber noch ein paar Mal wiederholen" , antwortete er zärtlich. Sie lächelte. „Das lässt sich bestimmt einrichten. Wir haben ja auch noch eine ganze Tube Körperlotion mit Schokoladengeschmack - es sei denn, du hast sie weggeworfen." „Nein, ich habe sie noch", gab er zu und wurde rot. „Wir müssen nur aufpassen, dass wir nicht alles damit beschmieren", bemerkte sie. „Vielleicht könnten wir es nachher im Badezimmer ausprobieren?" schlug Ben vor, und sie lachte glücklich. „Das klingt gut." Auch Ben lachte. Liv legte den Kopf an seine Brust und seufzte zufrieden. „Erzähl mir von deinem Gespräch mit dem Lektor", bat er sie unvermittelt, und sie spürte seine plötzliche Anspannung. Sie stützte sich auf den Ellenbogen und sah ihn an. „Ich hatte mir neulich für Missy eine Geschichte ausgedacht und Bilder dazu gezeichnet. Kate kam zufällig dazu und riet mir, mich bei einem Kinderbuchverlag zu bewerben, und das habe ich getan." Er betrachtete sie aufmerksam. „Und dann?" Wieder lächelte sie. „Der Lektor war begeistert. Sie wollen drei Bücher pro Jahr von mir veröffentlichen, ich werde also einen Arbeitsplatz brauchen. Könnten wir einen Schreibtisch in der Küche aufstellen? Dann kann ich beim Arbeiten ein Auge auf die Kinder haben." „Natürlich. Ich bin beeindruckt - das klingt ja äußerst vielversprechend! Du hattest mir zwar gesagt, dass du Geld verdienen möchtest, aber ich habe befürchtet, dass es nur ein Vorwand war, weil du nicht mehr in meiner Nähe sein wolltest. Und ich habe so entsetzliche Dinge über die Modelbranche gehört - ich hatte furchtbare Angst um dich." „David hat mir vorgeschlagen, mich für Pornohefte fotografieren zu lassen", erwiderte Liv leise, und Ben drückte sie an sich. „Sprich nicht von ihm." Sie strich ihm gedankenverloren mit den Fingern über die Brust. „Macht es dir etwas aus, dass ich Bücher veröffentlichen werde?" fragte sie vorsichtig. „Nein, natürlich nicht. Warum sollte es?" „Ich weiß nicht - ich hatte den Eindruck, dass du es nicht gern siehst, wenn ich finanziell unabhängig bin." „Nein", beruhigte er sie. „Ich habe überhaupt nichts dagegen, dass du unabhängig bist, ich bin doch kein Macho! Im Gegenteil, ich freue mich wirklich für dich. Du hast so viele Begabungen, und ich bin sehr froh, dass du beginnst, sie zu nutzen." Zärtlich sah er sie an. „Ich bin sehr stolz auf dich, Liv, und eines Tages werden auch deine Kinder stolz auf dich sein. Du bist eine ganz außergewöhnliche Frau, und ich liebe dich." Seine Lippen fanden ihre, und mit einem glücklichen Seufzer gab sie sich seinen Liebkosungen hin. Erst einige Stunden später gingen sie zu Kate, um die Kinder abzuholen. Ausgelassen liefen sie die Straße entlang. Als Liv an Ka-tes Tür klingelte, fragte Ben sie lächelnd: „Meinst du, wir müssen ihr erzählen, was passiert ist?" Doch natürlich war es nicht nötig. Als Kate die Tür öffnete, brauchte sie nur einen kurzen Blick in ihre strahlenden Gesichter zu werfen, um Bescheid zu wissen. „Zum Glück seid ihr endlich zur Vernunft gekommen", bemerkte sie lediglich. „Die Kinder schlafen schon, ihr könnt sie gern über Nacht hier lassen und morgen abholen ..." Plötzlich verstummte sie und schnupperte. „Habt ihr zwei Schokolade genascht?" -ENDE -
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