Atlan ‐ Die Abenteuer der SOL Nr. 549 All‐Mohandot
Im Reich der Giganten von Kurt Mahr
Aufruhr in der Nicke...
12 downloads
347 Views
806KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Atlan ‐ Die Abenteuer der SOL Nr. 549 All‐Mohandot
Im Reich der Giganten von Kurt Mahr
Aufruhr in der Nickelfestung
Seit Dezember des Jahres 3586, als die SOL unter dem Kommando der Solgeborenen auf große Fahrt ging und mit unbekanntem Ziel in den Tiefen des Sternenmeeres verschwand, sind mehr als zweihundert Jahre vergangen, und niemand hat in der Zwischenzeit etwas vom Verbleib des Generationenschiffs gehört. Schließlich ist es jedoch soweit – und ein Mann kommt wieder in Kontakt mit dem verschollenen Schiff. Dieser Mann ist Atlan. Die Kosmokraten entlassen ihn, damit er sich um die SOL kümmert und sie einer neuen Bestimmung zuführt. Jetzt schreibt man an Bord des Schiffes den Anfang des Jahres 3792, und der Arkonide hat trotz seines relativ kurzen Wirkens auf der SOL bereits den Anstoß zu entscheidenden positiven Veränderungen im Leben der Solaner gegeben – ganz davon abgesehen, daß er gleich nach seinem Erscheinen die SOL vor der Vernichtung rettete. Atlan, der sich gegenwärtig mit der abgekoppelten SZ‐2 in Flatterfeld aufhält, ist bestrebt, der unbekannten Macht, die die Ysteronen zu ihren verheerenden Nickelraubzügen verleitet, Einhalt zu gebieten. Zusammen mit Chart Deccon tritt Atlan gegen diese Macht an, die er »Hidden‐X« nennt. Sein Wissen verhilft dem Arkoniden dazu, sich durchzusetzen und zu überleben IM REICH DER GIGANTEN …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan, Breckcrown Hayes und Bjo Breiskoll ‐ Drei Guerillas im Ysterioon. Chart Deccon, Lyta Kunduran und Hage Nockemann ‐ Drei Solaner auf dem Weg zur Tabuzone. Sanny und Argan U ‐ Zwei Gefangene befreien sich. Girgeltjoff, Tolgetnur und Barlod‐Traug‐Tul ‐ Ysteronische Freunde der Solaner.
1. Hage Nockemann hatte es sich in seinem Versteck bequem gemacht, so gut es eben ging. Er saß in einer Schlinge, die innen an Barlod‐ Traug‐Tuls wallendem Gewand befestigt war. Er hing etwa in halber Höhe des zwanzig Meter hohen Ysteronen‐Körpers – dort, wo die vier stämmigen Säulenbeine aus dem Leib wuchsen. In die Falten des Gewands hatte er eine Öffnung geschnitten, so daß er die Umgebung im Auge behalten konnte. Der Translator hing ihm um den Hals, und den Lautsprecher hatte er griffbereit neben sich liegen. Wenn er zur Seite blickte, sah er im Halbdunkel auf der anderen Seite des mächtigen Körpers Lyta Kundurans schlanke Beine in der Luft baumeln. Der Anblick setzte seine Phantasie in Bewegung und machte es ihm leichter, die Minuten der Untätigkeit zu ertragen. Lytas Körper war hinter einem der vier Beine verborgen. Sie saß in einer ähnlichen Schlinge wie Hage. Von der Seite her dröhnte Girgeltjoffs Stimme. »Wir sind die Bringer uralter Sagen, die Erzähler wundersamer Märchen. Wir haben gehört, daß in dieser Zelle schon seit langem keine Märchen mehr erzählt werden und sind gekommen, um euch mit unseren Geschichten zu erfreuen. Wollt ihr sie hören?« Hage Nockemann spähte durch den Schlitz hinauf. Sie befanden sich auf einem weiten, freien Platz auf der vierten Ebene der Zelle. »Khadsch« nannten die Ysteronen solche Plätze. Die Menge, die sich eingefunden hatte, um den beiden Märchenerzählern zu lauschen,
zählte nach vielen Dutzenden: zwanzig Meter hohe Riesen, die einen Kreis um Girgeltjoff und Barlod‐Traug‐Tul bildeten und mit zustimmendem Brummen zu verstehen gaben, daß sie in der Tat ihre Geschichten zu hören wünschten. »Gut, so sei es denn«, dröhnte Girgeltjoff. »Ihr wißt aber auch, daß jeder Dienst seines Lohnes wert ist. Es ist nicht viel, was wir verlangen. Wir sind arme, zellenlose Wanderer. Gebt uns, was von euren Mahlzeiten übriggeblieben ist, und schon sind wir zufrieden.« Abermals erhob sich zustimmendes Gebrumm. »Ihr werdet Geschichten zu hören und Gesichte zu sehen bekommen, die euer ganzes Leben lang bei euch bleiben«, verkündete Girgeltjoff. »Hört denn meine erste Sage. Sie spielt in einer fernen Welt unter Wesen, die nicht wie wir sind, sondern kleiner, und sich auf zwei Beinen bewegen. In dieser Welt herrschte einst ein mächtiger König, Artufan genannt. Er hatte einen weisen Ratgeber namens Lancelo‐Tur‐Begh, und das Land, das er regierte, hieß Camelot …« Hage studierte die Reaktion der Zuhörer. Die Ysteronen besaßen ein ausgeprägtes Mienenspiel, das er in den vergangenen Tagen, während der unaufhörlichen Hetzjagd durch die Tiefen des Ysterioons, zu deuten gelernt hatte. Er sah, daß Girgeltjoffs Erzählung Anklang fand. Die uralte Artur‐Sage mußte sich freilich manche Vergewaltigung gefallen lassen. Girgeltjoff hatte die Geschichte erst während der letzten Dunkelperiode gehört, und sein Gedächtnis war nicht das beste – ganz abgesehen davon, daß die Erzählung seiner Vorstellungswelt so fremd war wie der Katze das Wasser. Als er endete, belohnten ihn die Ysteronen mit gehörigem Applaus. Sie warfen die im Vergleich zu ihrer Körpergröße kümmerlichen Arme in die Höhe und gaben trillernde Laute von sich. Aber auch in anderer Hinsicht wurde Girgeltjoff Lohn. Viele der Zuhörer entfernten sich und kehrten kurz darauf mit Händen voll Proviant zurück, den der Erzähler der Camelot‐Sage in den weiten Taschen seines Gewands verstaute.
»Euch allen sei Dank«, sagte er. »Hört jetzt eine Geschichte, die euch mein Freund und Begleiter erzählen wird. Sie ist noch wundersamer als die meine; denn mein Freund ist ein großer Zauberer, der es versteht, zu sprechen, ohne den Mund dabei zu bewegen. Es wird euch vorkommen, als vernähmt ihr das Märchen aus seinem Leib.« Inzwischen hatte Hage Nockemann den Translator angeschaltet und den Lautsprecher aufgenommen. Diesen letzteren hielt er so, daß sich das Mikrophon unmittelbar vor der Ausgangsöffnung des Translators befand. Er begann langsam und bedächtig und sah durch den Schlitz in Barlod‐Traug‐Tuls Gewand, wie seinen Zuhörern vor Staunen die Münder offen standen, als sie die seltsame Geschichte hörten, deren Worte unmittelbar aus dem Bauch des Erzählers zu kommen schienen. Hage erwärmte sich für seine Story. »Und Gretl‐Too‐Hurth sprach zu Hansl‐Giq‐Traul: ›Damit wir den Weg nach Hause wiederfinden, sollten wir eine Spur hinterlassen.‹ Hansl‐Giq‐Traul hielt das für eine gute Idee, und während sie weiter in den Wald eindrangen, ließen sie Brocken von Albumino‐3‐ Gamma‐Stearotin auf den Boden fallen, damit es ihnen leichter fiele, zu sehen, woher sie gekommen waren. Als aber das Tagewerk vollendet war und sie nach Hause zurückkehren wollten, da hatten die Vögel und die Tiere des Waldes die Brocken aufgefressen. Und nicht nur das: die Tiere waren durch die Aufnahme von Albumino‐ 3‐Gamma‐Stearotin groß und kräftig geworden und wollten Gretl‐ Too‐Hurth und Hansl‐Giq‐Traul den Weg verlegen.« Er machte eine Pause und spähte durch den Schlitz hinaus in die Menge. Den Translator hatte er gewohnheitsgemäß abgeschaltet. »Wo bleibt Deccon mit seiner Projektion?« knurrte er ungeduldig. »Mach dir keine Sorge«, drang Lytas Stimme hinter dem Bein des Ysteronen hervor. »Du hast ihn durch deine eigenwillige Interpretation wahrscheinlich durcheinandergebracht.« Im selben Augenblick erschienen über den Köpfen der Menge,
mitten in der Luft, zwei menschliche Gestalten: ein junger Mann und eine junge Frau. In Wirklichkeit waren es Aufnahmen von Sternfeuer und Federspiel, die hier als die Hauptfiguren des Märchens herhalten mußten. Chart Deccons Holograph war keine Wundermaschine; sie konnte nur Bilder produzieren, die in ihr gespeichert waren. Aber die Zuhörer waren begeistert. Ähnliches hatten sie noch nie erlebt. Sternfeuer und Federspiel schritten nebeneinander her durch die Luft und verkörperten Hansl‐Giq‐Traul und Gretl‐Too‐Hurth. Schrilles Getriller erfüllte die Luft. Die holographische Projektion erlosch. Hage Nockemann schaltete den Translator wieder ein und schickte sich an, seine Erzählung fortzusetzen. Da sah er den Roboter. * Es war einer von der Sorte, die wiet ein Ei aussah – glatt, rund und ein wenig langgestreckt. Er schwebte aus einer der Straßenmündungen zur linken Hand, hoch über den Köpfen der Menge. Hage wußte nicht, was den Robot der Roxharen angelockt hatte; aber es war ihm klar, daß Barlod‐Traug‐Tul seine Rolle als Bauchredner nicht weiterspielen konnte. Das Ei würde die Streuimpulse des Translators und des Verstärkers orten und sich einen Reim darauf machen. Hage trat dem Ysteronen mit Wucht gegen das Bein. Barlod‐ Traug‐Tul hatte den Robot inzwischen ebenfalls bemerkt. Er verstand, was der Tritt zu bedeuten hatte, und setzte mit seiner normalen Stimme die Erzählung fort. Die Menge deutete den Vorgang so, daß der Erzähler des Bauchredens müde sei, und belohnte ihn mit hektischem Applaus.
Während der Ysterone sich mühte, seine Erinnerung an die nur einmal gehörte Geschichte auf Trab zu bringen und eine Version des alten Märchens von Hansel und Gretel zum Besten, gab, ließ Hage Nockemann den Roboter nicht aus dem Auge. Das Maschinenwesen schien Verdacht geschöpft zu haben. Es kreiste über den Häuptern der beiden Märchenerzähler, und immer mehr Zuhörer sahen besorgten Blickes in die Höhe. Vor kurzem erst war es zum ersten Mal geschehen, daß Roxharen und ihre Roboter sich außerhalb der Tabuzone hatten sehen lassen. Die Ysteronen wußten nicht, was sie von den seltsamen Erscheinungen zu halten hatten; aber es schien ein unheimliches Fluidum von ihnen auszugehen, dem Ahnungen drohender Gefahr anhafteten. Als Barlod‐Traug‐Tul seine abenteuerliche Erzählung beendete, erklang nur dünner Beifall. Zu sehr hatte der schweigsame Robot die Menge verängstigt. Da ergriff Girgeltjoff unerwarteterweise die Initiative. Er legte den Kopf in den Nacken und brüllte zu der Maschine hinauf: »Was schwirrst du da herum und machst mir die Zuhörer Kopfscheu? Weißt du nicht, daß Not herrscht und das Volk Geschichten aus ferner Zeit zu hören verlangt, damit es nicht immerfort an die düsteren Gefahren des Alltags zu denken braucht? Scher dich fort und hör auf, uns Angst einzujagen!« Das Unglaubliche geschah. Der eiförmige Robot schwenkte ab und glitt über die Köpfe der Menge hinweg auf dieselbe Straßenmündung zu, aus der er hervorgekommen war. Jetzt erst begannen die Zuhörer, voller Begeisterung zu applaudieren. Die beiden Märchenerzähler wurden mit Geschenken überhäuft. * Als sie sich vom Khadsch zwei Straßenzüge weit entfernt hatten, stießen sie auf eine Rampe, die zur nächsttieferen Ebene der großen
Kugelzelle hinabführte. Die beiden »Märchenerzähler« schritten dicht nebeneinander her, und die Solaner – Chart Decconunter Girgeltjoffs, Lyta Kunduran und Hage Nockemann unter Barlod‐ Traug‐Tuls Kutte versteckt – verständigten sich miteinander durch die Schlitze, die sie in die Gewänder ihrer Träger geschnitten hatten. Das Ysterioon bestand aus riesigen Kugeln, insgesamt siebenundzwanzig, die zu einem Würfel angeordnet waren. Sie bildeten ein dreidimensionales Gitter und waren durch sogenannte Kanäle miteinander verbunden. Die Kugeln, aus reinem Nickel bestehend, hatten einen Durchmesser von 150 Kilometern und waren in zahlreiche Decks unterteilt. Eine Ausnahme bildete die Zentralkugel, in der sich der Sitz des Hidden‐X befand. Ihr Durchmesser betrug 200 Kilometer, und über ihre innere Gliederung war bisher nur wenig bekannt. Der letzte Vortrag der beiden Märchenerzähler hatte in einer Kugel stattgefunden, die eine der acht Ecken des Würfels bildete. Chart Deccons Ziel war die Zentralkugel. Er rechnete damit, daß es Atlan inzwischen gelungen war, in das Ysterioon zurückzukehren. Der Arkonide würde danach trachten, die beiden Gefangenen zju befreien, die sich irgendwo in der Nähe der gewaltigen Nickelstatue in der mittleren Kugel befanden. Dort, rechnete Deccon sich aus, hatte er die größte Chance, auf Atlan zu stoßen. Der Weg war weit. Wenn sie diese Kugelzelle hinter sich gelassen hatten, mußten sie weitere zwei Kugeln durchqueren, bevor sie an einen Kanal gelangten, der direkt zur Zentralkugel führte. Die Kanäle waren vom Austritt aus einer Kugelzelle bis zur Mündung in die Nachbarkugel einhundert Kilometer lang. Zu Fuß hätten sie für diese Strecke fast einen Monat gebraucht; denn wenn auch die beiden Ysteronen kräftig ausschritten, so mußten sie doch mehrmals am Tag anhalten, um sich durch Märchenerzählen neuen Proviant zu beschaffen. Chart Deccons erstes Anliegen war daher, auf dem schnellsten Weg zur nächsten Hauptverkehrsader zu gelangen und sich dort eine Mitfahrmöglichkeit zu beschaffen.
Sie hatten Glück. Je weiter Barlod‐Traug‐Tul und Girgeltjoff die Rampe hinabschritten, desto lauter und deutlicher wurde das tosende Rauschen dichten Verkehrs. Sie gelangten schließlich auf einen schmalen Gehsteig, der am Rand einer breiten Straße einherführte. Gleiterfahrzeuge aller Arten Typen bewegten sich über mehrere funkgesteuerte Fahrbahnen. Hunderte von Gleitern bewegten sich in beiden Richtungen, auf das Zentrum und die Peripherie der Kugelzelle zu. Der Verkehr war völlig automatisiert. Die große Mehrheit der Fahrzeuge waren Transporter mit ausgedehnten Ladeplattformen, auf denen sich quaderförmig Behälter stapelten, manche so groß wie ein terranisches Wohnhaus. Nur hin und wieder sah man einen Gleiter, der für den Transport von Personen gedacht war. Fußgängerverkehr gab es auf der Straßenebene nicht. Aber das automatische Sicherheitssystem rechnete trotzdem mit dem unwahrscheinlichen Fall, daß sich ein Ysterone auf die Transportstraße verirrte, und diese Vorsicht wußten die Solaner für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. »Ich habe eine Kette von halb beladenen Transportern in Sicht«, drang es unter Girgeltjoffs bunter Kutte hervor. »Fertigmachen zum Aufsteigen.« Girgeltjoff schwenkte plötzlich zur Seite und trat auf die äußerste Fahrbahn. Triebwerke heulten auf, als das automatische Funksystem Bremsvorgänge einleitete. Der Verkehr auf den auswärts führenden Fahrbahnen kam binnen weniger Sekunden zum Stillstand. Girgeltjoff stand unmittelbar vor dem vordersten der halb beladenen Transporter. Ohne Umstände schwang er sich auf die große Ladepritsche und lehnte sich gegen einen der Transportbehälter. Inzwischen war auch Barlod‐Traug‐Tul auf die Fahrbahn hinausgeeilt. Er kletterte auf die Pritsche des zweiten Fahrzeugs. Das Funkleitsystem registrierte, daß sich kein fremdes Objekt mehr auf der Fahrbahn befand, und setzte den Verkehr wieder in
Gang. Hage Nockemann, der kräftig durcheinandergerüttelt worden war, als Barlod‐Traug‐Tul mit wenig Geschick auf die Ladeplattform des Transporters kletterte, machte es sich in seiner Hängeschlinge so bequem wie möglich und starrte durch den Schlitz hinaus. Das Fahrzeug bewegte sich mit beachtlicher Geschwindigkeit. Binnen einer halben Stunde erreichte es die Peripherie der Kugelzelle und drang in den Kanal ein, der zur Nachbarkugel führte. Hage wußte, wie es weiterging. Sie hatten die Taktik oft genug abgesprochen. Im Innern des Kanals geriet der Verkehr des öfteren ins Stocken; das wußten sie von den beiden Ysteronen. Bei einer dieser Stockungen würde Girgeltjoff von seinem Transporter klettern und Barlod‐Traug‐Tul das Signal geben, ihm zu folgen. Dann würden sie eines der Verstecke aufsuchen, deren es in den Zwischendecks des Kanals eine ganze Reihe gab, und sich ein paar Stunden Ruhe gönnen. * »Hansl‐Giq‐Traul und Gretl‐Too‐Hurth!« Chart Deccon schüttelte den Kopf und gab ein glucksendes Lachen von sich, während er einen Bissen ysteronischer Nahrung in den Mund schob. Er war in den vergangenen Tagen und Wochen ein anderer geworden, nahm Hage Nockemann zur Kenntnis. Das massige, aufgedunsene Gesicht wirkte nicht mehr so bitter ernst. Die Verbissenheit war verschwunden. Er war nicht mehr der Tyrann, der aus eigener Machtvollkommenheit Befehle erteilte und als selbstverständlich erwartete, daß sie schleunigst ausgeführt wurden. Er war – Hage, suchte nach einem Wort – »menschlich« geworden. »Man muß den Zuhörern die Geschichte mundgerecht machen«, knurrte Hage. »Mit solchen Namen können die Ysteronen etwas anfangen, und Atlan wird trotzdem wissen, wovon die Rede ist,
wenn er von den beiden Märchenerzählern hört.« Im Vergleich mit dem hünenhafen Deccon war Hage Nockemann ein Zwerg, knapp 1,70 Meter groß, mit langen, grauen Haaren. Hage war 95 Jahre alt, wirkte jedoch älter, da er auf sein Äußeres keinen Wert legte. Er trug einen ebenfalls grauen Schnauzbart und hatte die Angewohnheit, an seinem Bart zu zwiebeln, wenn er nachdenklich war. Hage Nockemann war Wissenschaftler, ein Fachmann der ersten Klasse auf mehreren Wissensgebieten. Er galt außerdem als Einzelgänger, eines jener Genies, deren Leben sich allein um die Wissenschaft dreht und die ansonsten von der Welt nichts wissen wollen. »Falls Atlan jemals in die Lage kommt, mit einem Ysteronen zu sprechen, der unsere Geschichten gehört hat«, gab Lyta Kunduran zu bedenken. Lyta, bei weitem das jüngste Mitglied der Gruppe, war von asketischer Schlankheit. Das blasse, klassisch geschnittene Gesicht wurde von zwei großen, grauen Augen beherrscht. Im Alter von 29 Jahren schon der Kaste der Magniden angehörend, galt Lyta als eine Frau, deren gesamte Aufmerksamkeit sich auf ihre Karriere konzentrierte. Sie war kühl im Umgang mit ihren Mitmenschen. Ein Gerücht wollte wissen, sie habe ein Faible für Chart Deccon. »Wir tun, was wir können«, brummte Deccon. »Wenn wir unsere Spur noch deutlicher machen, finden die Roxharen sie als erste, und dann sind wir geliefert.« »Der Roboter, der uns vorhin in die Quere kam, war auch nicht gerade der Speck auf dem Brot.« Niemand wußte, woher Hage Nockemann die altertümlichen Ausdrücke bezog, mit denen er um sich zu werfen pflegte. »Ich dachte schon, er hätte uns am Skalp.« Deccon schüttelte den Kopf. »Girgeltjoffs Geistesgegenwart hat uns zumindest vor einer peinlichen Befragung gewarnt. Im übrigen glaube ich, daß Hidden‐X keine Ahnung hat, wo wir stecken. Er schickt die Roxharen und ihre Roboter aufs Geratewohl auf die
Suche. Ich habe im Gegenteil den Eindruck, daß Hidden‐X von Tag zu Tag verwirrter wird, als wäre eine geheimnisvolle Kraft am Wirken, die ihm langsam, aber sicher das Wasser abgräbt.« »So geheimnisvoll braucht sie gar nicht zu sein«, antwortete Hage. »Argan U und Sanny sind in der Zentralkuppel. Ich nehme an, sie halten die Dinge dort in Bewegung.« Er sah sich um. Sein Blick fiel auf Lyta. »Apropos Bewegung«, grinste er. »Es wäre ausgesprochen erfrischend, wenn wir hier auch ein bißchen Aktion zu sehen bekämen.« »Womit gemeint ist?« fragte Lyta mißtrauisch. »Nun, wir könnten uns ein wenig zurückziehen, du und ich. Ich weiß eine Menge Geschichten über Karnickel und Meerschweinchen und wie die das machen …« Lyta wußte weder, was ein Meerschweinchen noch was ein Karnickel war. Aber eine gewisse Lüsternheit in Hages Blick ließ sich nicht mißdeuten. Sie hob protestierend die Arme und unterbrach ihn lachend: »Bleib mir mit deinen Geschichten vom Leib, du alter Ziegenbock! Geh lieber und erzähl den Ysteronen die nächsten Märchen.« Diesen Rat nahm Hage wortlos entgegen. Lytas Zurückweisung wurmte ihn nicht; aber er fragte sich, woher sie das Wort Ziegenbock kannte. Sie befanden sich in einem stillgelegten Maschinenraum zwischen dem 14. und 15. Deck des Kanals. Die mächtigen Aggregate, die früher dazu gedient haben mochten, den Kanal zu belüften oder die Funkleitstrecken zu bedienen, lagen still und zeigten deutliche Spuren des Zerfalls – ersetzt durch andere, modernere Anlagen. Von den Leuchtplatten in der Decke war nur noch ein Drittel in Betrieb. Die Leuchtkraft war zu Beginn der Dunkelperiode automatisch herabgeschaltet worden. Barlod‐Traug‐ Tul und Girgeltjoff waren zyklopenhafte Schatten im Hintergrund der weiten, hohen Halle. Sie hatten sich von den Solanern zurückgezogen, nachdem diese ihren Anteil an dem heute
eingesammelten Vorrat an Speisen und Getränken erhalten hatten. Hage Nockemann hockte sich auf den Boden und sah zu den beiden Giganten auf. Ihre bunten Gewänder, die sie sich erst vor kurzem geschneidert hatten, um die Rolle der Märchenerzähler glaubhaft spielen zu können, schimmerten matt im Widerscheinen der defekten Beleuchtung. Hage zog den Translator näher zum Mund und sagte: »Also, Jungs, hört gut zu. Hier ist eure Lektion für morgen …« 2. Er hatte damit gerechnet. Die ersten zwei Stunden nach dem Eindringen in das Ysterioon waren kritisch. Hidden‐X kannte den Ort, an dem sie die Nickelfestung betreten hatten, und konzentrierte seine Robotreserven im Umkreis. Atlan lag hinter der Mündung eines schmalen Seitengangs und blickte die hohe Straße hinab, die auf beiden Seiten von ysteronischen Wohnzellen mit fünfundzwanzig Meter hohen Türen gesäumt wurde. Die Ysteronen wußten wohl, was die Stunde geschlagen hatte. Sie waren entweder geflohen oder hatten sich in ihre Wohnungen zurückgezogen. Zwei roxharische Roboter kamen die Straße entlanggeglitten. Sie bewegten sich in fünf Metern Höhe. Das Licht der Deckenbeleuchtung funkelte auf ausgefahrenen Waffenarmen. Er blickte über die Straße hinweg und verständigte sich mit Bjo Breiskoll und Breckcrown Hayes, die drüben in der Fortsetzung des Seitengangs kauerten, durch ein kurzes Nicken. Die Lage ließ ihnen keine andere Wahl. Mit seinen letzten Aktionen hatte Hidden‐X bewiesen, daß die Zeit des hinhaltenden Geplänkels vorüber war. Seit zwei Tagen wurde scharf geschossen. Atlan wußte, daß die beiden Roboter ihn töten würden, sobald sie ihn vors Visier bekamen.
Es knackte in dem stecknadelkopfgroßen Empfänger, den er im linken Ohr trug. Er hörte die Stimme eines solanischen Kampfroboters. »Zwanzig Meter von unserem Standort – ein Antigravschacht, der mindestens fünf Ebenen weit in die Tiefe führt.« »In Betrieb?« fragte der Arkonide. Mikrophon und Sender waren zu einem flachen Plättchen verarbeitet, das er sich in der Nähe des Kehlkopfs auf die Haut geklebt hatte. Er brauchte die Worte nicht laut auszusprechen. Die Schwingung der Stimmbänder teilte sich schallfrei der empfindlichen Membrane mit. »In Betrieb und regelmäßig benützt«, lautete die Antwort. Atlan wußte, daß Bjo und Breckcrown den Wortwechsel mitverfolgten. »Also gut. Von diesem Schacht lassen wir die Finger«, sagte er. »Wir schlagen einen weiten Bogen um ihn, verstanden? Hidden‐X kann sich ausrechnen, wohin wir uns wenden, falls es uns gelingt, seine Roboter zu überwältigen.« »Wohin dann?« erkundigte sich Breckcrown Hayesʹ knurrende Stimme. »Dorthin zurück, wo wir herkamen. Etwa die Hälfte des Weges. Dann müssen wir irgendwohin abzweigen. Mit diesem Manöver rechnet der Gegner nicht. Achtung!« Die roxharischen Roboter waren dreißig Meter entfernt. Sie näherten sich dem Ort, an dem die beiden solanischen Kampfmaschinen in Deckung gegangen waren. »Feuer«, sagte Atlan mit ruhiger Stimme. Zwei gleißende Energiestrahlen stachen fauchend und knallend durch die Stille der verlassenen Straße. Die beiden roxharischen Maschinen explodierten zu gleicher Zeit. Glühendes Metall schoß in meteoritengleichen Brocken durch die Luft. Der Donner der Detonation rollte die Straße auf und ab. Schwerer, blauschwarzer Qualm erfüllte die Szene und verdeckte die Sicht. »Rückzug!« befahl Atlan.
Die beiden Kampfroboter kamen aus ihrem Versteck hervor. Einer von ihnen übernahm die Spitze. Atlan, Bjo und Breckcrown fielen hinter ihm in Trab. Der zweite Robot deckte den Rückzug. Während sie dahinjagten, überdachte der Arkonide die Lage. Es war erst ein paar Stunden her, seit sie die Space‐Jet, von der Solzelle‐ 2 kommend, auf der Außenhülle dieser Kugel gelandet und sich Zutritt ins Innere verschafft hatten. Die Landung war Hidden‐X nicht entgangen. Sie hatten die Worte seiner Mentalstimme gehört, mit denen er ihnen den baldigen Untergang androhte. Der Sektor, in den sie eingedrungen waren, wurde von roxharischen Robotern kontrolliert. Der Erfolg ihrer Mission hing davon ab, wie rasch es ihnen gelang, eine weit entfernte Ebene außerhalb des robotischen Sperrgürtels zu erreichen. Der Robot, der vor ihm herschritt, trug außer, seiner Standardausrüstung die Bestandteile eines Miniaturtransmitters in einem tornisterähnlichen Gefäß auf dem Rücken. Im Notfall konnten sie sich blitzschnell von jedem beliebigen Ort aus in die Space‐Jet zurückziehen und an anderem Ort einen neuen Vorstoß unternehmen. Ein solches Manöver wollte Atlan jedoch nach Möglichkeit verhindern. Der Zeitverlust war zu groß. Als sie die Hälfte der Distanz bis zur Stelle des Einstiegs zurückgelegt hatten, bogen sie in eine Seitenstraße ab. Etwa um diese Zeit, rechnete der Arkonide, mußten die Roboter, die an den Schachtausgängen warteten, erkannt haben, daß der Gegner einen anderen Weg eingeschlagen hatte. Die Jagd würde bald von neuem beginnen. Die Gegend, die sie durchquerten, lag dicht unter der polaren Peripherie der Kugelzelle. Sie schien unbewohnt. Atlan ließ den voranschreitenden Robot ein paar Portale öffnen, die in ysteronische Wohneinheiten führten. Die Wohnungen waren leer. Im Schein der matten Beleuchtung Wirkten die Räume düster und drohend – Kerkerzellen, ihrer Gefangenen beraubt. Atlan war besorgt. Hatte Hidden‐X die Gegend räumen lassen, weil er notfalls eine ganze
Kugelebene zerstören würde, nur um die Eindringlinge auszuschalten? Die Befürchtung hielt näherem Hinsehen nicht stand. Die Wohnungen wiesen deutliche Spuren der Vernachlässigung auf. Die Bewohner dieser Gegend waren schon vor langer Zeit ausgezogen, falls sie überhaupt je bewohnt gewesen war. Breckcrown Hayes und Bjo Breiskoll beteiligten sich an der Durchsuchung der Wohnzellen. Es war Bjo, der die entscheidende Entdeckung machte. Atlan hörte seine aufgeregte Stimme im Empfänger. »Seht euch das an!« rief er. »Das hat uns der Himmel geschickt.« * »Ein nicht besonders gnädig gesinnter Himmel«, sagte Atlan mißmutig, während er in den finsteren Schacht hinabspähte. Die Schachtmündung befand sich in einem kahlen Raum im Hintergrund einer der verlassenen Wohneinheiten. Sie hatte einen Durchmesser von acht Metern, bot einem Ysteronen also bequem Platz. Bjo hatte zunächst geglaubt, es handle sich um einen Antigravschacht, und erst nach seinem begeisterten Aufschrei festgestellt, daß das künstliche Schwerefeld nicht mehr existierte. Deutlicher noch: es hatte wahrscheinlich nie eines gegeben. Atlans Lampe enthüllte die oberschenkeldicken Holme einer breiten Leiter, die sich an der Schachtwand entlang in die Tiefe zog. Ein Bild entstand in seinem Bewußtsein. Seit drei Jahrtausenden existierte das Ysterioon in dem von Hidden‐X diktierten Frieden. Davor hatte es Auseinandersetzungen mit benachbarten Sternenvölkern gegeben. Diese Informationen hatte er von FerserʹIt und BonelovʹVert, den beiden gefangenen Roxharen. Irgendwann vor mehr als dreitausend Jahren mußte das Ysterioon eine vor Waffen starrende Kampfstation gewesen sein. In der Polkuppel hatte es
Geschütze gegeben. Die Geschützbedienungen waren in diesen Quartieren untergebracht worden. Jeder halbwegs umsichtige Taktiker mußte damit rechnen, daß es dem Gegner gelingen könne, die Geschützkuppel außer Betrieb zu setzen oder zu vernichten. Wie. sollten die Mannschaften entkommen, wenn die Energieversorgung ausfiel? Der Schacht war eine Art Notausgang gewesen. Im Gefahrenfall waren die Geschützbesatzungen über die Leiter geflüchtet. Man konnte sich leicht vorstellen, daß in dreitausend Jahren der Ruhe das Vorhandensein des Notausstiegs in Vergessenheit geraten war. Er bot den drei Eindringlingen und ihren Kampfrobotern die ideale Möglichkeit, in tiefere Ebenen der Kugelzelle hinab vorzudringen und den Einschließungsring der roxharischen Roboter unbemerkt zu durchstoßen. Aber war er wirklich so ideal? »Die Rungen sind anderthalb Meter voneinander entfernt«, brummte Breckcrown Hayes. »Ich nehme an, das ist bequeme ysteronische Schrittweite. Aber was fangen wir damit an?« »Es läßt sich machen«, antwortete Atlan. »Die beiden Roboter gehen voran. Im schlimmsten Fall aktivieren sie ihre Gravogeräte und projizieren ein Antigravkissen, auf dem wir nach unten gleiten. Ein solches Manöver macht uns ortungstechnisch verwundbar, deswegen heben wir es für den äußersten Notfall auf. Inzwischen, meine Freunde, habt ihr Gelegenheit, zu zeigen, was in euren Muskeln steckt.« * Es war eine Tortur. Die Holme waren zu weit voneinander entfernt, als daß ausgestreckte Arme sie gleichzeitig hätten erreichen können. Der Abstieg entwickelte sich zur halsbrecherischen Einholm‐ Gymnastik. Fußfassen auf einer Runge – Beine und Körper weit
nach außen schwingen – hinabrutschen zur nächsten Runge. Nach fünfhundert Metern waren sie so erschöpft, daß sie eine längere Ruhepause einlegen mußten. Bisher hatten sie keinen einzigen Ausstieg zu Gesicht bekommen. Die Lampen, die von ihren Gürteln baumelten, rissen einen zwanzig Meter langen Abschnitt des Schachtes aus der Dunkelheit und erzeugten gespenstisch huschende Schatten. Die Schachtmündung hoch über ihnen war längst in der Finsternis verschwunden. Atlan zweifelte an der Weisheit des Entschlusses, die Kampfmonturen, die sie an Bord der Space‐Jet getragen hatten, in einem Versteck auf der obersten Ebene der Kugelzelle zurückzulassen. Die Monturen waren im Innern des Ysterioons von zweifelhaftem Nutzen. Sobald eines der komplexen Geräte in Betrieb genommen wurde, mußten die Ortungsmechanismen der roxharischen Roboter darauf ansprechen. Aber wer hatte mit einer solchen Entwicklung rechnen können? Mit Hilfe der Gravo‐ Projektoren hätten sie den Schacht in kürzester Zeit hinter sich gelassen. »Denk das nicht!« sagte Bjo Breiskoll plötzlich. »Hör auf, in meinen Gedanken zu schnüffeln«, knurrte Breckcrown Hayes in gespieltem Zorn. »Was denkt er?« wollte Atlan wissen. »Er denkt an einen Schacht, der fünfzig Kilometer lang ist und nur einen Ausgang hat – ganz unten.« Der Arkonide seufzte. »Er ist nicht der erste. Glücklicherweise spricht die Logik dagegen. Kein Ysterone klettert fünfzig Kilometer weit.« »Aber verdammt viel weiter als ein Solaner«, konterte Breckcrown. Eine Stunde später brachen sie wieder auf. Wie zuvor kletterten die beiden Roboter voran. Auch sie verzichteten auf die Zuhilfenahme von technischen Hilfsmitteln und bewegten sich allein mit Hilfe der Körpermechanik. Sie waren geschickter im
Umgang mit der unförmigen Leiter als die drei Solaner; aber ihre Bewegungen verursachten einen höllischen Lärm. Atlan, Bjo und Breckcrown fiel der zweite Wegabschnitt merkwürdigerweise leichter als der erste. Offenbar wurde die Mühe des Kletterns durch Gewöhnung geringer. Diesmal legten sie in einem Zug knapp einen Kilometer zurück, bevor sie von neuem rasten mußten. Sie hockten auf drei verschiedenen Rungen übereinander und pumpten die Lungen voller Luft. Die Roboter befanden sich irgendwo unter ihnen in der Dunkelheit. Sie bedurften der Ruhe nicht. Sie hatten angehalten, damit sich die menschlichen Ohren von der Tortur des metallenen Lärms erholen konnten. Eine Zeitlang war nur hastiges Keuchen zu hören, bis die malträtierten Körper ihren Nachholbedarf an Sauerstoff befriedigt hatten. »Schallschwingungen, stärker werdend«, meldete sich plötzlich einer der Roboter. Wenige Sekunden später hörte es auch Atlan: ein dumpfes, vibrierendes Rumoren, das aus weiter Ferne kam und langsam an Intensität zunahm. »Bjo?« »Nichts. Keine Mentaltätigkeit. Entweder Maschinengeräusch oder Ysteronen.« Die parapsychischen Mechanismen des ysteronischen Bewußtseins gehorchten anderen Prinzipien als die des menschlichen. Bjo Breiskoll, der Telepath, hatte die Mentalstrahlung der Ysteronen spöttisch Psi‐UKW genannt. Ihre Reichweite war mit der Sichtweite identisch. Ein Ysterone, der sich hinter dem optischen Horizont befand, konnte auf mentalem Weg nicht geortet werden. »Lichter aus!« sagte Atlan. Die Augen der Solaner brauchten Zeit, sich an das plötzliche Dunkel zu gewöhnen. Die Roboter kannten keine solche Schwierigkeit. Halbleitersensoren brauchten nur Mikrosekunden, um sich von einer Lichtquelle auf die andere umzustellen. Binnen
weniger Nanosekunden nach der Erfassung der neuen Quelle lagen dem positronischen Bewußtsein des Roboters die gewünschten Informationen vor. Der bei weitem langsamste Schritt des komplexen Prozesses war die Informationsausgabe per akustischen Code. »Licht unter uns. Geringe Intensität. Abstand achtzig Meter.« Atlan klammerte sich an den Holm und richtete sich ächzend auf. Beine und Arme schmerzten. Aber achtzig Meter – das ließ sich noch schaffen. »Vorwärts«, knurrte er. »Und kein Licht mehr!« * Der Lärm wurde lauter. Ihr mühselig langsamer Abstieg konnte der Grund dafür nicht sein. Der Lärm näherte sich. Er bestand aus Hunderten dröhnender Ysteronenstimmen, die wild durcheinanderschrien. Die schwache Lichtquelle, die der Robot identifiziert hatte, markierte das Ende des Schachtes. Ein schmaler, aber hoher Spalt führte in eine kahle Halle, unter deren Decke eine einzige Leuchtplatte glomm. Die Halle schien keinen zweiten Ausgang zu haben. Aber auf irgendeinem Weg mußte der Lärm hierher gelangen. Die beiden Roboter suchten die Wand ab, die der Schachtmündung gegenüber lag und entdeckten unter einer dichten Kruste von grünen und schwarzen Nickelsalzen zwei Stellen, an denen die Geräusche mit besonderer Intensität zu hören waren. Die Kruste wurde beseitigt, und die Umrisse einer Tür kamen zum Vorschein. An dieser allerdings hatten dreitausend Jahre der Vernachlässigung ganze Arbeit geleistet. Der Riegelmechanismus ließ sich nicht mehr aktivieren. Atlan trat an die Wand und lauschte. Der Lärm war so nahe, als tummelten sich die Ysteronen auf der anderen Seite der Tür.
»Desintegratoren«, befahl er den Robotern. »Schneidet eine Öffnung, die gerade groß genug ist, um jeden von uns passieren zu lassen.« Er kannte das Risiko, das er mit diesem Entschluß einging. Die Entladung der schweren Desintegratorwaffen konnte mühelos geortet werden. Aber dort draußen herrschte Chaos, ein Auflauf, eine Revolution – wer mochte es wissen. Die roxharischen Roboter würden damit beschäftigt sein, die wild gewordenen Ysteronen zu überwachen. Es gab nur diese eine Chance. Er mußte sie nutzen. Zwei aufgebauschte Mündungen begannen zu röhren. Armdicke, grünliche Strahlen spielten gegen die verkrustete Wand. Verdampftes Metall wallte auf. Beißender Gestank stach in der Nase. Der Lärm wurde ruckartig lauter, als die Waffen verstummten. Aber noch immer schüttelte Bjo den Kopf. Atlan spähte durch die niedrige Öffnung und blickte in eine verlassene ysteronische Wohnung. Er kletterte durch das Loch und sah sich um. Die Anordnung der Räume war ungewöhnlich, die Wohneinheit wesentlich größer als andere, die sie bisher zu sehen bekommen hatten. Die einzelnen Kammern befanden sich auf unterschiedlichen Niveaus, einen Meter hohe Stufen führten nach oben oder nach unten. Sie gelangten an eine Rampe, die in sanfter Krümmung abwärts führte. Sie endete vor einem Portal von dreißig Metern Höhe. Die Roboter untersuchten das Tor und hatten keine Mühe, den Öffnungsmechanismus zu betätigen. Zwei riesige, metallene Flügel schwangen zur Seite. Wüstes, donnerndes Tosen brach über die drei Solaner herein wie die Brandung eines sturmgepeitschten Ozeans. Bjo Breiskoll stöhnte vor Schmerz, als die Ausstrahlung außer Rand und Band geratener Bewußtseine sich über ihm entlud. Fassungslos vor Staunen starrten sie hinaus auf einen weiten, hohen Platz – jene Art von Versammlungsstätten, die die Ysteronen »Khadseh« nannten. Die Szene, die sich ihren Augen bot, spottete
jeder Beschreibung. * Ein Meer von riesigen Ysteronen‐Gestalten – schreiend, tanzend, stampfend, singend, gestikulierend. Die mächtige Halle zitterte. Der Lärm war von solch unvorstellbarer Intensität, daß menschliche Ohren ihn nur als Ganzes empfinden konnten, als eine geballte Ladung akustischer Energie. Durch das Portal waren Atlan und seine Begleiter auf eine Art Steg geraten, der fünfzehn Meter über dem Boden des Khadsch an der Wand entlangführte. Wäre er um vier oder fünf Meter höher gewesen, die kühne Expedition hätte wahrscheinlich hier ein Ende gefunden. Drüben, auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes schwebten über den Köpfen der dichtgedrängten Menge ein halbes Dutzend roxharischer Roboter. Atlan sah sie zwischen den tanzenden, stampfenden Gestalten hindurch. Sie bewegten sich mit geringer Geschwindigkeit und waren offenbar beauftragt, den Tumult zu überwachen. Die Körper der Ysteronen bildeten einen Schutzwall, der die fünf Eindringlinge vor der augenblickliehen Entdeckung bewahrte. Atlan winkte den Gefährten. Akustische Verständigung war in diesem Inferno unmöglich. Sie wandten sich nach links. Der Steg führte an mehreren Portalen von stattlicher Größe vorbei. Atlan blickte über die Schulter. Das Tor, durch das sie gekommen waren, hatte sich selbsttätig geschlossen. Der Steg senkte sich schließlich abwärts. Als sie ein Niveau von vier Metern über dem Boden des Platzes erreicht hatten, hielt Atlan an. Vor sich sah er einen Wald von zuckenden, tanzenden Säulenbeinen, manche davon so nah, daß er sie hätte berühren können, wenn er bis an den vorderen Rand des Steges trat. Die roxharischen Roboter waren aus dieser Perspektive nicht mehr zu
sehen. Solange sie sich nicht die Mühe machten, auf diese Seite des Khadsch herüberzuwechseln, waren er und seine Begleiter vor Entdeckung sicher. Sie kauerten an der Wand, am rückwärtigen Rand des Steges. Der Steg selbst mündete in dreißig Metern Entfernung auf die Ebene des Platzes; aber vorläufig wagte sich niemand dort hinunter. Die rasenden Ysteronen achteten nicht darauf, was ihnen zwischen die Beine kam. Die zwergenhaften Solaner wären in Sekundenschnelle zertrampelt worden. Der Lärm ließ allmählich nach – oder lag es nur daran, daß die Ohren sich angepaßt hatten? Nach längerem Hinsehen erschien das tobende, tosende Durcheinander auf der weiten Fläche des Khadsch mit einemmal nicht mehr so chaotisch wie auf den ersten Blick. Atlans Hoffnung, die Ysteronen hätten sich zu einer Revolte gegen Hidden‐X erhoben, wurde jedoch enttäuscht. Es war offenbar, daß die Ysteronen sich hier zusammengefunden hatten, um ein Fest zu feiern. Er erinnerte sich an das, was er von Girgeltjoff und dem alten Traug‐Tul‐Traug erfahren hatte. Ein Tumult diesen Ausmaßes konnte nur einen einzigen Anlaß haben. Ein eigenartiger Geruch zog über die Weite des Platzes. Er rührte von ysteronischen Leckerbissen her, die irgendwo in der Mitte des Khadsch aufgefahren worden waren, um die Singenden und Tanzenden zu laben. Krüge wurden durch die Luft geschwungen und entleerten ihren Inhalt in heisere Kehlen. Nein, es war keine Täuschung: der Lärm wurde geringer, das delirische Tanzen und Stampfen langsamer. Die Ysteronen waren in die eigentliche Phase des Feierns eingetreten. Atlan beobachtete eine schwankende Riesengestalt, die sich aus der Menge löste und in einer Straßenmündung am Fuß des Steges verschwand. Das Gesicht war zu einer merkwürdigen Grimasse verzogen, und die Augen blickten starr geradeaus, als hätten sie Mühe, den Fokus zu finden – der erste, der des Tanzen und Trinkens zuviel getan hatte und sich in seine Behausung zurückzog.
Im Lauf der nächsten Stunde änderte sich der Platz zusehends. Bjo Breiskoll hatte Gelegenheit, die Gedanken der Ysteronen zu studieren. Es gab nichts darüber zu sagen. Ihre zunehmend umnebelten Bewußtseine waren von einer einzigen Idee beherrscht: dem Metall. Als die Menge dünner wurde, kroch Breckcrown Hayes ein Stück weit den Steg hinauf. Minuten später kehrte er zurück und meldete, die Roboter hätten sich verzogen. Die Gefahr war fürs erste gebannt. Sie konnten daran denken, sich einen Ruheplatz zu suchen. Die Anstrengung des Tages war gewaltig gewesen. Sie brauchten vier oder fünf Stunden Schlaf, um wieder zu Kräften zu kommen. Atlan starrte auf den Platz hinaus, auf dem jetzt nur noch vereinzelte Ysteronen hin und her torkelten. Sie schenkten den fünf Zuschauern keinerlei Beachtung. Nach der nächsten Dunkelperiode, wenn sie wieder zu sich kamen, würde der Katzenjammer beginnen. Der, den der übermäßige Konsum an Getränken auslöste – und jener, der von der Scham über die begangene Untat herrührte. Inder Mitte des Khadsch, umgeben von den hohen Gestellen, auf denen Speisen und Getränke dargeboten worden waren, lag ein mächtiger Berg silbrig schimmernder, glänzender Nickelbrocken. Der Berg war nur ein Symbol für den erfolgreich beendeten Metallraubzug. Die eigentliche Ausbeute, Billionen von Tonnen, die die Ysteronen aus den Kernen zerstörter Planeten gewonnen hatten, war spurlos verschwunden. Wohin – das wußte nur Hidden‐X. Wie viele blühende Welten hatten diesmal der sinnlosen Nickelsucht wieder zum Opfer fallen müssen? Wieviel Milliarden intelligenter Wesen waren spurlos verschwunden – an einen Ort, den wiederum nur der geistige Faktor kannte? Plötzlich sah Atlan sein nächstes Ziel klar vor sich. Es war wichtiger als alles andere – von größerer Bedeutung als die Befreiung Sannys und Argan Us, als das Zusammentreffen mit Chart Deccon. Finsteren Blickes starrte er in den mächtigen Tunnel, dessen Eingang auf der anderen Seite des Khadsch lag. Von dort
waren die gekommen, die sich am Raubzug beteiligt hatten. Ihnen hatte dieses chaotische Fest gegolten. Nie mehr wieder, schwor sich der Arkonide. * Der Schlaf entzog sich ihm, obwohl er sich am ganzen Körper zerschlagen fühlte. Morgen würde er nichts mehr davon spüren. Bis dahin hatte der Zeilaktivator seine Pflicht getan. Aber wie stand es mit Bjo Breiskoll und Breckcrown Hayes? Da kein Roboter mehr nach ihnen Ausschau hielt und die letzten betrunkenen Ysteronen den Khadsch geräumt hatten, verzichteten sie auf die langwierige Suche nach einem geeigneten Quartier und kehrten dorthin zurück, woher sie gekommen waren. Die große Wohneinheit, in deren Hintergrund der Fluchtschacht mündete, bot mehr als genug Raum. Sie waren die geschwungene Rampe hinaufgeklettert und hatten es sich in der ersten Kammer bequem gemacht. Es war finster. Die Dunkelperiode hatte begonnen. In der Nähe hörte Atlan die ruhigen Atemzüge der Gefährten. Sie hatten den Schlaf gefunden. Von den beiden Robotern wachte einer oben am Ausgang des Schachtes und der andere unten am Fuß der Rampe. Atlan starrte mit offenen Augen in die Dunkelheit und ließ den Gedanken freien Lauf. Wer hatte ihn hierher geführt? Die Kosmokraten, der Zufall? Welche Macht im Hintergrund hatte die SOL von der Galaxis der Chailiden an den Rand der Sternenballung All‐Mohandot gebracht, wo sie in einem vorgeschobenen Sternhaufen die Trümmer zerstörter Welten fanden? Damit hatte alles seinen Anfang genommen. Ohne zu wissen, was ihn im Innern der Zwerggalaxis erwartete, hatte er augenblicklich verstanden, daß hier eine Aufgabe auf ihn wartete. Eine Aufgabe ähnlich jener, deren er sich auf Chail entledigt hatte: dem Treiben zerstörerischer Mächte
Einhalt zu gebieten und in der Weite des Universums eine Friedenszelle zu schaffen. Als er sich damals, vor vielen Monaten, plötzlich an Bord der SOL wiederfand, hatte er unter dem Eindruck gestanden, es gebe für ihn nur einen Auftrag: den Raumsektor Varnhagher‐Ghynnst zu finden und dort eine geheimnisvolle Fracht zu übernehmen. Seitdem war ihm offenbar geworden, daß seine Aufgabe einen weitaus größeren Umfang besaß, Dutzende, vielleicht Hunderte von Aspekten, die er allmählich zu erkennen lernen mußte. In All‐Mohandot war er auf die übertrieben friedliebenden Pluuh gestoßen und auf das Riesenvolk der Ysteronen. Die Ysteronen entpuppten sich als die Zerstörer jener Welten, die die SOL im Sternhaufen Bumerang gefunden hatte. Die Giganten lösten mit Hilfe einer hochentwickelten Technologie Planeten mit metallenen Kernen auf und raubten das im Kern enthaltene Nickel. Daß sie bei diesem Prozeß blühende Zivilisationen zerstörten, Milliarden von intelligenten Lebewesen ihrer Heimat beraubten und spurlos verschwinden ließen, schien sie nicht zu berühren. Sie erschienen dem vom Schock paralysierten menschlichen Verstand tierische Barbaren, begabt mit unmenschlicher Skrupellosigkeit. Die Pluuh hatten nicht viel gegen die Nickelräuber unternommen; ihre Friedensliebe verbot das. Sie hatten den Raumsektor, in dem sich die Heimat der Ysteronen befand, mit einem Sperrgürtel umgeben, der weitere Raubzüge verhindern sollte. Aber der Gürtel war löchrig. Der erste Eindruck erwies sich schließlich als falsch. Die Ysteronen waren im Grunde genommen gutmütige Geschöpfe. Sie waren einer fremden Macht in die Klauen gefallen, die sie von ihrer Heimatwelt entfernte, in dem aus Nickel konstruierten Kugel‐Oktogon des, Ysterioons unterbrachte und sie auf Raubzüge schickte, die die von Natur aus zahmen Giganten aus eigenem Antrieb nie unternommen hätten. Die Macht im Hintergrund hatte Atlan Hidden‐X genannt. Er M?ußte nicht, wer sie verkörperte. Aber er hatte inzwischen
erfahren, wer ihre unmittelbaren Diener waren: diejenigen, die die Tabuzone in der Zentralkugel des Ysterioons bewachten und dafür sorgten, daß die Ysteronen taten, was von ihnen verlangt wurde. Roxharen – dieselben, die auf Chail im Auftrag des geistigen Faktors eine primitive, prätechnologische Zivilisation aufgezwungen hatten. Erst als er diesen Zusammenhang erkannte, war er vollends sicher gewesen, daß er im Sinn der Kosmokraten hier einen Auftrag zu erfüllen hatte. Denn was er Hidden‐X nannte, war für die Roxharen des Ysterioons nichts anderes als der geistige Faktor. Was hatte ihn hierher geführt? Der Zufall oder die Kosmokraten? Die Antwort lag auf der Hand. Er war hier, um Hidden‐X an der Ausübung weiterer Greueltaten zu hindern. Er würde einen Schlag führen, der die feindliche Macht im Hintergrund in Verwirrung stürzen mußte. Und wenn die Verwirrung ihren Höhepunkt erreichte, dann war es an der Zeit, Hidden‐X selbst zu vertreiben und die Ysteronen von seinem tyrannischen Joch zu befreien. Er würde Hidden‐X dort treffen, wo es am meisten schmerzte. Aber er mußte vorsichtig sein. Die Mittel, die ihm zur Verfügung standen, waren lächerlich gering im Vergleich mit der Macht, die der Tyrann besaß. Er mußte eine Taktik entwickeln, die ihn davor bewahrte, von den Streitkräften des geistigen Faktors erdrückt zu werden. Bevor der Schlaf ihm die Lider schloß, kam ihm noch ein letzter Gedanke. Er brauchte die Hilfe der Ysteronen. Nicht aller; sie würden sich für ein solches Unternehmen nicht bereit finden. Eine Handvoll Ysteronen genügte jedoch. Wenn er über die richtigen Kenntnisse verfügte, vielleicht sogar ein einziger … 3. Es hatte damit angefangen, daß Sanny sagte: »Wozu glaubst du, brauchen die Roxharen Gefängniszellen?«
Sanny war eine Molaatin, ein zierliches Geschöpf von 47 Zentimetern Körpergröße. Ihre natürliche Kleidung bestand aus einem dichten, kurzhaarigen Pelz, der in hellem Grün schimmerte. Dazu trug sie einen dünnen Fellumhang, der mit einer Spange über der linken Schulter zusammengehalten wurde. Die kreisrunden Augen besaßen Pupillen, die in saphirnem Blau leuchteten. Die Decke des kugelförmigen Schädels war völlig kahl und hatte die Eigenschaft, im Schein der Deckenbeleuchtung zu glänzen. »Um ihre Gefangenen darin aufzubewahren, wozu sonst?« hatte Argan U geantwortet, ein wenig verwundert über die Einfältigkeit der Frage. Argan U, der Puschyde, war Sanny an Größe um das Dreifache überlegen und dennoch in den Augen der Solaner noch immer ein Zwerg von knapp anderthalb Metern Höhe. Er wirkte wie ein kleiner Bär. Anstelle eines Pelzes trug er ein natürliches Gewand aus orangenfarbenen Schuppen. Seine Augen waren groß und sahen gewöhnlich mit einem Blick trauriger Nachdenklichkeit in die Welt. Aber das täuschte. Argan U war in Wirklichkeit ein munteres Kerlchen. Er hatte seine Laufbahn an Bord der SOL als Extra begonnen. Sanny sah zur Decke empor. »Was für Gefangene?« fragte sie. »Andere Roxharen?« Mit einemmal begriff Argan U, worauf sie hinauswollte. Er sah sich um. Der kahle, würfelförmige Raum war die dritte Unterkunft, die die Roxharen oder ihre Roboter ihnen im Lauf ebenso vieler Tage zugewiesen hatten. Sie befanden sich im Innern des Sockels, auf dem sich die fünfzig Meter hohe, aus reinem Nikkel gefertigte Statue eines Ysteronen erhob. Roxharen und Roboter hatten sie eingefangen und eingesperrt, nachdem es ihnen gelungen war, Teile einer komplexen Steuer‐ und Kontrollanlage zu zerstören. Die Decke des Raumes, den sie ihre Zelle nannten, war dreieinhalb Meter hoch. Einen Ysteronen hätte hier niemand einsperren können. Wen sonst gab es hier? Aufsässige Roxharen, die von ihren
Artgenossen eingekerkert wurden? Kaum anzunehmen. Die Spitzmäuligen standen samt und sonders unter dem bannenden Einfluß, der vom Innern der Statue ausging. Sie kannten keinen Ungehorsam. Sanny hatte begonnen, die schwere, metallene Tür zu inspizieren. Dicht über dem Boden war eine Klappe angebracht, durch die den beiden Gefangenen in unregelmäßigen Abständen Nahrung gereicht wurde. Der Proviant stammte offenbar aus den Vorräten der Roxharen. Er war nahrhaft, aber von wenig beeindruckendem Geschmack. Argan U litt darunter. Man hatte ihm nach dem Strahler auch den Translator und schließlich das Destilliergerät abgenommen, mit dessen Hilfe er aus geeigneten organischen Substanzen eine zuckrige Flüssigkeit erzeugte, die ihm als Zusatznahrung diente. Die Roxharen hatten sein Argument, er müsse ohne den Destillator sterben, nicht ernst genommen. Was man ihnen kaum verübeln konnte. Schließlich waren Blaster und Translator darin verborgen gewesen, und die Spitzmäuler waren verständlicherweise begierig, zu verhindern, daß weitere, bisher unerkannte Inhalte gegen sie eingesetzt wurden. »Ganz klar«, sagte Sanny mit heller, heiterer Stimme. »Sie haben den Einschnitt künstlich zu altern versucht. Aber ganz ist es nicht gelungen. Sieh her.« Argan U beugte sich nach vorne und sah entlang der Kanten des Schlitzes, der durch die Klappe verdeckt wurde, Spuren frischer Bearbeitung. Winzige Stellen glitzernden, metallischen Nickels waren in eine graue Schicht aus Nickeloxyd eingebettet. »Gut. Die Klappe wurde also erst vor kurzer Zeit hier angebracht«, sagte er. »Du hast recht. Dieser Raum war nicht als Gefängniszelle vorgesehen. Aber was hilft uns das?« »Denk nach«, forderte Sanny ihn auf. »Wozu hat er sonst gedient?« »Woher soll ich das wissen?« »Wir sind zweimal umquartiert worden«, erinnerte ihn Sanny.
»Warum? Weil sie Zeit brauchten, diesen Raum herzurichten. Das Anbringen der Klappe kann nicht so lange gedauert haben. Es muß etwas Wichtigeres geben …« Sie deutete zu der halbtoten Leuchtplatte in der Decke hinauf. »Das ist auch kein Zufall. Sie wollen verhindern, daß wir uns hier umsehen.« Ihr Blick fiel auf die Wand, die der Tür gegenüberlag. »Dort muß es sein«, sagte sie. * Das war vor ein paar Stunden gewesen. Seitdem hatten sie sich mit der Wand beschäftigt. Zwischendurch war die Klappe geöffnet worden, und die Greifklaue eines Roboters hatte zwei Näpfe mit Speisen und Getränken abgesetzt. Sanny und Argan U, durch frühere Erfahrung gewitzt, stürzten sich mit Eifer auf die Nahrung. Sie tranken metallisch schmeckendes Wasser und bezwangen ihren Widerwillen gegen den üblen Geruch des Nährbreis. Ihre Disziplin wurde belohnt. Sie hatten auch das letzte Quant Nährkraft zu sich genommen; die Näpfe waren leer, als sie plötzlich zu dampfen begannen und sich binnen weniger Sekunden in Schwaden grauen Nebels verwandelten, der durch den schmalen Spalt unter der Tür abzog. Die Spitzmäuligen verschwendeten weder Mühe noch Zeit auf das Abräumen von Geschirr. Die Gefäße zerstörten sich nach einer gewissen Zeit von selbst – mitsamt Inhalt, falls der Empfänger nicht rasch genug zugegriffen hatte. Sie kehrten zur Mauer zurück, sobald sich der Dunst verzogen hatte. Die Mahlzeiten folgten in unregelmäßigen Abständen aufeinander; aber Argan U schätzte, daß mindestens vier bis fünf Stunden vergehen würden, bevor ihnen die nächsten Näpfe gereicht wurden. Aus irgendeinem Grund erschien ihm das wichtig. Sanny machte eine merkwürdige Bewegung mit dem Arm, als wolle sie sich auf dem Rücken kratzen. Als die zierliche Hand wieder zum
Vorschein kam, hielt sie zwischen den Fingern ein winziges Gerät. Die blauen Augen leuchteten fröhlich. »Sie haben mir den Gürtel und sämtliche Beutel abgenommen«, sagte sie. »Aber ein paar wichtige Dinge habe ich rechtzeitig in Sicherheit bringen können.« Argan U sah voller Spannung zu, wie sie mit dem kleinen Gegenstand über die Wand fuhr. Er hörte ein leises Piepsen. Sanny hielt mitten in der Bewegung inne und wandte sich um. »Hier ist er«, sagte sie. »Hier ist was?« »Der Umriß einer Tür oder eines Durchgangs. Nimm mich auf die Schulter!« Der Puschyde gehorchte. Sanny war eine geringe Last, aber er wußte nicht, was sie tat. Sein Verständnis technischer Vorgänge war begrenzt. Nach kurzer Zeit hörte er das Piepsen von neuem. »Jetzt nur noch den richtigen Code finden«, hörte er Sanny sagen. »Allzu kompliziert wird er nicht sein.« Wenige Minuten später ertönte hinter der Wand ein rumpelndes, summendes Rumoren. Sanny sprang von Argan Us Schulter. »Fertig«, strahlte sie und verbarg das winzige Gerät wieder unter ihrem Pelz. »Danke«, sagte Argan U. »Du wurdest allmählich schwer.« »Das meine ich nicht. Das Problem ist gelöst.« »Welches Problem?« »Tritt gegen die Wand – neiiiin, nicht mit soviel Kraft!« Die Warnung kam zu spät. Der Puschyde hatte mit voller Wucht zugetreten. Die Wand barst unter seinem Tritt wie eine dünne Glasscheibe. Eine finstere Öffnung entstand. Argan U wurde vom eigenen Schwung mitgerissen und schoß durch das Loch. Er stürzte auf einen harten, kalten Boden, der sonderbarerweise nicht aus Metall bestand. Brummend raffte er sich auf und sah sich um, soweit es die schwache Beleuchtung erlaubte. Er sah einen niedrigen, schmalen Stollen, der sich nach wenigen Schritten in abgrundtiefer Finsternis verlor. Der Boden war mit Trümmern der
papierdünnen Wand bedeckt. Er sah noch mehr: eine Nut, die an der rechten Wand des Stollens, unmittelbar vor der Mündung, von der Decke bis zum Boden lief. Und auf der gegenüberliegenden Seite die Kante einer Gleittür. Da ging ihm endlich ein Licht auf. Die Zelle, in die sie von den roxharischen Robotern gesteckt worden waren, hatte ursprünglich als Zugang zu diesem Stollen gedient. Die Tür war geschlossen und über sie eine dünne Schicht Gußmaterial gezogen worden. Sannys winziges Gerät hatte nicht nur die Tür gefunden, sondern auf wunderbare Weise auch den Öffnungsmechanismus in Gang gesetzt. Was danach blieb, war die . Gußschicht, der Argan U auf solch dramatische Art und Weise zu Leibe gerückt war. Er schüttelte sich, um den Staub zu entfernen, der sich auf den Schuppen abgesetzt hatte. Dann sah er Sanny fragend an. »Sollen wirʹs wagen?« »Ich glaube, es bleibt uns keine andere Wahl«, antwortete die Molaatin. »Dann machen wir uns am besten sofort auf den Weg. Sie werden den Ausbruch frühestens dann entdecken, wenn sie uns die nächste Mahlzeit bringen.« * Die Finsternis erschwerte das Vorwärtskommen. Argan U wußte nicht, welche von ihren Gerätschaften Sanny vor dem Zugriff der Roxharen hatte retten können; aber eine Lampe gehörte offenbar nicht dazu. Sie tasteten sich Schritt um Schritt vorwärts. Die Molaatin glaubte, am Klang der Geräusche erkennen zu können, daß der Stollen allmählich seinen Querschnitt veränderte. Aber Argan U glaubte erst daran, als er plötzlich mit dem Kopf gegen die Decke stieß. Er streckte beide Arme aus und stellte fest, daß er beide Wände ohne Mühe erreichen konnte. Die Decke senkte sich weiter,
so daß er schließlich dazu übergehen mußte, sich auf allen vieren zu bewegen, und die Wände näherten sich einander, bis ihr Abstand auf einen halben Meter geschrumpft war. Er fühlte, wie er es allmählich mit der Platzangst zu tun bekam. Sanny jedoch verstand es, selbst der bedrohlichsten Entwicklung eine angenehme Seite abzugewinnen. »Weißt du, was das heißt?« fragte sie fröhlich. »Nein«, antwortete er wahrheitsgemäß. »Die Roboter können uns nicht mehr verfolgen. Der Stollen ist zu eng für sie.« Das verlieh ihm neuen Mut. So rasch er konnte, kroch er hinter der Molaatin her, deren Zwergengestalt durch den verringerten Querschnitt des Stollens nicht im geringsten in ihrer Bewegungsfreiheit gehindert wurde. Ab und zu ertasteten sie Stellen, an denen Seitengänge abzweigten; aber Sanny bestand darauf, daß sie dem geraden Weg folgten – wobei nicht unmittelbar ersichtlich war, wie sie in der Finsternis gerade von krumm unterscheiden konnte. Inzwischen zerbrach Argan U sich über ein anderes Problem den Kopf. Die riesige Statue und der Sockel, auf dem sie stand, waren aus reinem Nikkel gefertigt. Im Innern des Sockels war das silberfarbene Metall ebenfalls überall anzutreffen. Wände, Böden, Decken, Türen – alles bestand aus Nickel. Warum war dieser Stollen anders beschaffen? Warum fühlte er unter den Händen eine harte, kalte, aber offenbar synthetische Substanz? Er teilte Sanny seine Beobachtung mit; aber die kleine Molaatin reagierte nicht darauf. Sie hatte im selben Augenblick einen fernen Lichtschimmer entdeckt. Sie beschleunigte ihre Schritte, und Argan U hatte nun noch mehr Mühe, ihr auf den Fersen zu bleiben. Der Stollen mündete auf einen hell erleuchteten Korridor. Falls der Puschyde auf Erlösung aus seiner unbequemen Haltung erwartet hatte, so sah er sich enttäuscht. Der Korridor und der Stollen waren von identischem Querschnitt. Von der gegenüberliegenden Wand
des Korridors stießen mehrere Gänge weiter ins Innere des Sockels vor. Sieben Gangmündungen lagen in gleichmäßigen Abständen von jeweils vier Metern nebeneinander. Sanny sog die Luft ein. »Riechst du das?« fragte sie. Argan U hatte den eigenartigen Geruch schon vor geraumer Zeit wahrgenommen. Er erinnerte an technischen Abfall. Müll vermischt mit Säuren. Ähnlich roch es in den Aufbereitungsanlagen der SOL, wo Abfallprodukte regeneriert wurden. Bevor er antworten konnte, hatte Sanny sich jedoch schon wieder in Bewegung gesetzt. Sie schritt nach rechts in den Korridor hinein und blieb vor der ersten Gangmündung stehen. Argan U folgte ihr. Auf dem Boden des Ganges, unmittelbar an der Mündung, gab es einen kleinen, dünnen Metallstreifen, der von einer Wand bis zur anderen lief. Er versuchte, ihn aufzuheben; aber der Streifen war nahtgerecht in eine flache Nut eingepaßt und ließ sich nicht bewegen. Weit im Hintergrund herrschte flackerndes, buntes Halbdunkel. Eine Vielzahl summender und knisternder Geräusche war zu hören. »Eine Schaltanlage«, sagte Sanny. »Deswegen bestehen die Gänge hier aus synthetischem Material. Nickel ist ferromagnetisch. Wenn die Anlage mit magnetischen Schaltvorgängen arbeitet, könnte es zu Interferenzen kommen.« Argan U war überrascht. Er dachte, sie hätte seine Bemerkung nicht gehört. Dann fiel sein Blick auf eine kleine Ansammlung undefinierbarer Substanz, die ein paar Meter weit im Innern des Ganges auf dem Boden lag. Er kroch hinzu und spürte, wie der eigenartige Geruch intensiver wurde. Sein Widerwille erwachte. Er hielt an. Sanny kam hinzu. »Wie sieht das aus?« fragte er. »Wie … Kot«, antwortete sie. Sie kletterte über ihn hinweg und machte sich daran, den unappetitlichen Fund näher zu inspizieren. Er bewunderte die klinische Sachlichkeit, mit der sie zu Werke ging. Sie sah auf und
erklärte: »Synthetisches Material. Mit Säuren durchsetzt und auf irgendeine Art und Weise gekaut oder zerfasert …« Man hörte ihr die Ratlosigkeit an. »Ich frage mich …« Ein Geräusch unterbrach sie. Ein eigentümliches, rhythmisches Kratzen kam aus der Tiefe des Ganges. Argan U blickte an Sanny vorbei. Der Umriß eines seltsamen Geschöpfs zeichnete sich gegen das bunte Flackern des Hintergrunds ab. Es bestand aus einem flachgedrückten, elliptischen Körper und einer Unzahl fadendünner, langer und vielfach gegliederter Extremitäten. Diese waren es, die das kratzende Geräusch verursachten. Das Geschöpf stützte sich mit seinen Fadenbeinen auf dem Boden, an den Wänden und an der Decke des Ganges ab und bewegte sich dabei vorwärts. Dem Puschyden stockte das Blut. Von der fremden Kreatur ging eine Aura durchdringender Bösartigkeit aus. Sie war feindselig. Sie näherte sich, um die beiden Eindringlinge zu töten. »Uh«, sagte Sanny mit matter Stimme, »ich glaube, es ist besser, wir hauen ab!« 4. Als die Beleuchtung heller wurde, brachen Chart Deccon und seine Begleiter auf. Die Rollen der Träger hatten gewechselt. Lyta Kunduran und Hage Nockemann schlüpften unter Girgeltjoffs Kutte, während Chart Deccon sich unter Barlod‐Traug‐Tuls wallendem Gewand versteckte. So hünenhaft die Ysteronen auch gebaut waren, das Schleppen der Solaner bereitete ihnen Schwierigkeiten – besonders, wenn sich der Tag lange dahinzog. Da Deccon rund 40 Kilogramm weniger wog als Hage und Lyta zusammen (unter Voraussetzung einer Schwerkraft von 0,8 Gravos, wie sie im Ysterioon herrschte), fiel demjenigen, der sich mit dem High Sideryt abzuschleppten hatte, die leichtere Aufgabe zu. Durch gewundene Gänge und über eine Serie von Rampen
gelangten sie auf eine der höheren Verkehrsebenen. Es war wichtig, hatte Chart Deccon entschieden, bei Fahrten durch die Kanäle die Ebene zu wechseln. Verfolger wurden dadurch irregeführt. Sie warteten auf einen Stau wie am vergangenen Tag und schwangen sich auf die Ladeplattform zweier hintereinander fahrender Transporter. Deccons Plan zielte darauf ab, auf dem schnellsten Weg eine möglichst große Distanz zurückzulegen. Es drängte ihn, in die Nähe der Zentralkugel zu gelangen, wo er Atlan vermutete. Girgeltjoff hatte sich gegen einen umfangreichen Transportbehälter gelehnt. Hage Nockemann hing bequem in seiner Schlinge und beobachtete durch den Riß im Gewand des Ysteronen die Umwelt. Es gab nicht viel zu sehen. Der rollende Verkehr bot stets dasselbe Bild. Daß die Straße den Kanal verlassen hatte und in die nächste Kugelzelle eingedrungen war, merkte er daran, daß jenseits der äußersten Fahrbahnen plötzlich Abzweigungen auftauchten. Die beiden Transporter, auf denen Girgeltjoff und Barlod‐Traug‐Tul standen, bewegten sich weiterhin nahe der Straßenmitte. Chart Deccon hatte eine gute Wahl getroffen. Erst wenn die Fahrzeuge auf die Außenbänder zusteuerten, war zu erwarten, daß die Fahrt bald ihr Ende finden würde. Hage hatte Zeit, seinen Gedanken nachzuhängen. Damit es ihm nicht zu langweilig würde, sah er ab und zu nach links hinüber, wo Lyta es sich in ihrer Schlinge bequem gemacht hatte. Sie bemerkte seine Blicke und erwiderte sie mit Augen, die wie blaßgraues Eis schimmerten. Hage grinste dazu. Also gut, sie mochte ihn nicht. Wenn sie nicht, dann eben eine andere. Irgendwann würden sie einen Weg aus diesem Schlamassel finden und zu normalen Verhältnissen zurückkehren. Hage fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Dann würde er ein Feuerwerk loslassen! Es gab viele Frauen an Bord der SOL, die ein wissenschaftliches Genie als Liebhaber zu schätzen wußten. Man sagte von Hage Nockemann, daß er nur seine Arbeit kenne, nur seiner Forschung lebe. Die das sagten, waren
Männer, und sie hatten unrecht. Die Frauen auf der anderen Seite, die es besser wußten, hielten den Mund. Zurück zur Sache, ermahnte er sich. Wie lange war es her, daß die Korvette SEARCHER an einer der Kugelzellen des Ysterioons gelandet worden war? Er wußte es nicht mehr. Die SEARCHER war von dem letzten überlebenden Duplikat des High Sideryt als Robotschiff ausgestattet und auf Fahrt geschickt worden. Hage, Lyta und Chart Deccon hatten sich vor dem Start an Bord geschlichen. Es war ihnen jedoch nicht gelungen, die robotische Besatzung an der Ausführung ihres Auftrags zu hindern. Die drei Solaner waren unmittelbar nach der Landung der SEARCHER gefangengenommen worden. Von Roxharen – Artgenossen jener Gesellen, mit denen man auf Chail zu tun gehabt hatte. Die Gefangenschaft hatte nicht lange gedauert. Man hatte die drei Solaner in ein ausbruchsicheres Behältnis in der Nähe der Tabuzone, im Innern der Zentralkugel, gesteckt. Kurze Zeit später, hatte Girgeltjoff sie befreit. Von Girgeltjoff wußten sie, wie es Atlan, Palo Bow, Brooklyn und der Solzelle‐2 in der Zwischenzeit ergangen war. Es war ihnen gelungen, in der Weite des Ysterioons unterzutauchen und den Nachstellungen der Roxharen und ihrer Roboter zu entgehen. Barlod‐Traug‐Tul war unter dramatischen Umständen zu ihnen gestoßen. Und jetzt waren sie auf dem Weg zurück dorthin, wo es ihnen um ein Haar an den Kragen gegangen wäre: zur Zentralkugel, zur Tabuzone – zu jener von Energiegattern umgebenen Riesenstatue, über die Girgeltjoff ihnen mit ehrfürchtigen Worten berichtet hatte. Wie groß war die Chance, daß sie ihr Ziel unangefochten erreichten? Hätte man Hage Nockemann diese Frage in jenem Augenblick gestellt, da sie sich auf der Flucht befanden, kurz nachdem Girgeltjoff sie aus ihrer Zelle befreit hatte, so wäre seine Antwort gewesen: null. Inzwischen aber hatte er Zeit gehabt, Eindrücke auf sich einwirken zu lassen, und sein analytischer Verstand hatte ein neues Bild der Lage entwickelt.
Aus Girgeltjoffs und Barlod‐Traug‐Tuls Schilderungen ging hervor, daß im Ysterioon schon seit langer Zeit Ruhe und Ordnung herrschte. Hidden‐X hatte seine Untertanen völlig in der Gewalt. Es gab, von ganz vereinzelten Fällen wie etwa dem des alten Erzählers Traug‐Tul‐Traug, dem Girgeltjoff auf Break‐2 begegnet war, abgesehen, keine Aufsässigkeit. Chart Deccon, Lyta Kunduran und er selbst waren Eindringlinge, waren Guerillas im Einflußbereich einer Organisation, die sich an Ruhe und Frieden gewöhnt hatte und mit keiner Störung rechnete. Aus allem, was bisher beobachtet worden war, ging eindeutig hervor, daß Hidden‐X keine Möglichkeit besaß, die atemberaubende Weite des Ysterioons mit all ihren Kugelzellen, Ebenen, Straßen, Wohnblöcken, Plätzen, Rampen und Schächten direkt zu beobachten, geschweige denn zu kontrollieren. Die Herrschaft des Hidden‐X war eine indirekte. So wie die elektromagnetische Kraft sich des Photons bedient, um ihre Wirkung zu übermitteln, so verwendete Hidden‐X die Roxharen und ihre Roboter, um seine Macht auszuüben. Sie waren nicht nur seine Befehlsübermittler, sie waren gleichzeitig seine Augen und Ohren. Selbst draußen im Raum schien Hidden‐X mehr auf die zellenförmigen Fahrzeuge der Roxharen und ihre Sensoren angewiesen zu sein als auf Wahrnehmungsmechanismen, mit denen es direkt in Verbindung stand. Aus dieser Sicht betrachtet, war Chart Deccons Vorhaben keineswegs so hoffnungslos, wie man im ersten Augenblick hätte annehmen mögen. Der vordringliche Gefahrenpunkt war ausgeschaltet worden. Die drei Solaner waren aus dem Blickfeld der ysteronischen Öffentlichkeit verschwunden. Es war Hage Nockemanns Idee gewesen, Girgeltjoff und Barlod‐Traug‐Tul mit langen, wallenden Gewändern auszustatten, so daß sie sich darunter verstecken konnten – und er bildete sich zu Recht etwas darauf ein. Ein zweites Problem war damit ebenfalls gelöst worden. Girgeltjoff, der einst aus eigenem Antrieb zu den Pluuh übergelaufen war, galt unter seinen Artgenossen als Geächteter und
war daher bekannt wie ein bunter Hund. In der Maske des Märchenerzählers erkannte ihn niemand mehr. Für Hidden‐X war er ebenso von der Bildfläche verschwunden wie die drei Gefangenen von der Korvette SEARCHER. So etwas wie Begeisterung erwachte in Hage Nockemanns Bewußtsein. Er war in ein Abenteuer verwickelt und genoß es um so mehr, je tiefer er sich hineinverstrickte. Es war ihm wie durch eine Erleuchtung mit einemmal aufgegangen, daß es Dinge außerhalb der Wissenschaft gab, die ebenso interessant waren wie diese. * Die beiden Transporter hatten mehr als die Hälfte der Kugelzelle hinter sich gelassen, als sie sich plötzlich seitwärts wandten und auf die äußeren Fahrbahnen zustrebten. Sie hielten auf eine der Abzweigrampen zu. Ein weiterer Stollen nahm die Transporter auf und führte sie etliche Ebenen weiter in die Tiefe. Ein weites Feld öffnete sich plötzlich. Niedrige Mauern teilten es in Quadrate und Rechtecke von unterschiedlicher Größe. Innerhalb einiger der geometrischen Figuren erhoben sich massige Gebilde, von denen Hage nicht wußte, ob er sie für Gebäude oder Maschinen halten solle. Sie hatten die Form abgestumpfter Pyramiden mit steil aufragenden Flanken. Die beiden Gleiter setzten mühelos über die niedrigen Abgrenzungen hinweg und kamen am Fuß einer der Pyramiden zur Ruhe. Hage sah Barlod‐Traug‐Tul von der Ladeplattform seines Fahrzeugs steigen. Im selben Augenblick setzte sich auch Girgeltjoff in Bewegung. Im Innern des Quadrats, aus dem die Pyramide sich erhob, befanden sich etliche Ysteronen – beschäftigt mit Dingen, deren Zweck Hage nicht zu erkennen vermochte. Sie hatten den beiden Transportern keine Beachtung geschenkt. Jetzt aber, als ihre beiden Artgenossen von den Fahrzeugen herabstiegen und sich in
Richtung des Stollens bewegten, durch den sie gekommen waren, sahen sie auf. Hage Nockemanns Neugierde war unbefriedigt. So gut er konnte, spähte er durch seinen Sehschlitz nach hinten. Die Gleiter hatten ihre Ladeplattformen schräg zur Seite geneigt, so daß. die Transportbehälter ins Rutschen gerieten. Unmittelbar neben den Fahrzeugen war im Boden eine langgestreckte Öffnung entstanden. Sie nahm die stürzenden Behälter auf und schloß sich selbsttätig. Was immer sich in den Transportbehältnissen befinden mochte, es wurde jetzt durch eine weitgehend automatisierte Anlage der Maschine zugeführt, in deren pyramidenförmigem Innern Verarbeitungsprozesse abliefen, die aus dem empfangenen Material ein anderes machten. Hage hatte nicht einmal eine vage Vorstellung, wie die Ökonomie des Ysterioons funktionierte. Aber es war hier offenbar eine umfangreiche und vielbeschäftigte Verarbeitungs‐ und Fertigungsindustrie am Werk, die produzierte, was in der komplexen Nickelwelt der Ysteronen gebraucht wurde. Die Frage nach der Herkunft der Rohstoffe war spekulativ. Drei der im Innern des Quadrats beschäftigten Ysteronen hatten sich inzwischen in Bewegung gesetzt und kamen hinter Barlod‐ Traug‐Tul und Girgeltjoff her. Diese blieben stehen, als sie erkannten, daß man sie ohne Befragung nicht würde entkommen lassen. Hage musterte die Näherkommenden. Er glaubte, den Ausdruck des Staunens und der Überraschung im Gesicht des vordersten Ysteronen zu erkennen, als dieser sich vor Girgeltjoff aufbaute. »Sieh da, mein Freund Girgeltjoff!« rief er verwundert und ein wenig spöttisch. »Was hast du im Reich der Maschinen zu suchen?« Hage spürte Girgeltjoffs Erregung. Er hatte den anderen ebenfalls erkannt. Aber er verstand es, sich zu beherrschen. »Girgeltjoff?« fragte er. »Ich kenne einen Girgeltjoff, den sie den Nichtswisser und Ausgestoßenen nennen. Wir sind ihm auf unseren Reisen begegnet. Wenn du mich für ihn hältst, irrst du dich.«
»Oh, wirklich?« spottete der andere. »Und wer behauptest du zu sein?« »Höre, mein Freund«, erwiderte Girgeltjoff standhaft und mit tadelndem Unterton, »es gehört sich nicht, daß du meine Worte anzweifelst. Wir sind ehrliche Märchenerzähler, die Brüder Irydiman – er der ältere, ich der jüngere.« »Es ist wahr, Verjangat«, fiel einer der beiden anderen Ysteronen ein. »Ich habe von den Märchenerzählern gehört, als ich jüngst oben war. Sie ziehen kreuz und quer durchs Ysterioon und unterhalten das Volk mit ihren Geschichten.« »Ein jeder kann sich ein buntes Gewand umhängen und behaupten, er sei ein Erzähler«, knurrte derjenige, der Verjangat genannt wurde. »Oh, nein«, protestierte Girgeltjoff. »Die bunte Kutte ist das Gewand der Gilde der Märchenerzähler. Nur wer der Gilde angehört, darf es tragen.« Verjangat wurde unsicher, wie Hage Nockemann trotz des ungünstigen Blickwinkels erkannte. »Wohin wollt ihr?« fragte er. »Wenn du uns den Weg zum nächsten Khadsch weisen wolltest, wären wir dir dankbar«, sagte Girgeltjoff. »Man wartet dort auf uns. Aber wenn du willst, erzählen wir dir als Dank für deine Güte eine unserer Geschichten.« Verjangat winkte ab. »Ich habe keine Zeit, mir Geschichten anzuhören. Geht dorthin, nach links. Steigt vorsichtig über die Mauern und hütet euch, sie zu beschädigen. An der fernen Wand findet ihr den Beginn einer Rampe, die zwei Ebenen weit nach oben führt. Sie mündet unmittelbar auf den Khadsch.« »Deine Hilfsbereitschaft ist überwältigend, mein mißtrauischer Freund«, sagte Girgeltjoff salbungsvoll. »Ich hoffe, du findest Gelegenheit, einer unserer Erzählstunden beizuwohnen.« Er wandte sich ab und schritt davon, Barlod‐Traug‐Tul an seiner Seite. Nach geraumer Zeit warf Hage einen vorsichtigen Blick
zurück. Zwei Ysteronen waren inzwischen zu ihrer Beschäftigung zurückgekehrt. Nur Verjangat stand noch da und starrte hinter den beiden Märchenerzählern her. Als die Entfernung groß genug war, legte Hage den Kopf in den Nacken und rief über den Translator nach oben: »Wer ist dieser Kerl?« »Verjangat«, antwortete Girgeltjoff mit unterdrückter Stimme. »Er war einst mein Freund.« »Bist du sicher, er hat sich täuschen lassen?« »Nein.« Hage Nockemann musterte durch den Schlitz die kleiner werdende Gestalt des mißtrauischen Ysteronen. Plötzlich hatte er das Gefühl, daß ihr Weg von nun an nicht mehr so glatt sein werde wie bisher. * Unterwegs auf der Rampe machten sie halt. Barlod‐Traug‐Tul und Girgeltjoff drängten sich aneinander, so daß die Solaner sich durch die Schlitze in den Gewändern miteinander verständigen konnten. »Das sieht übel aus«, sagte Chart Deccon. »Wenn der Kerl uns die Roboter auf den Hals hetzt, haben wir ausgespielt.« Er kramte in seiner Montur und brachte einen Thermostrahler zum Vorschein. Chart hatte, bevor sie die SEARCHER verließen, alle möglichen Gegenstände an sich gebracht. Die meisten davon waren ihm von den Roxharen sofort wieder abgenommen worden; aber einige hatte er so gut versteckt, daß sie nicht gefunden wurden. »Nimm das«, sagte er zu Hage. »Bevor die Roboter uns zu fassen kriegen, veranstalten wir ein Feuerwerk, daß ihnen Hören und Sehen vergeht.« »Was kriege ich?« fragte Lyta Kunduran. »Für dich habe ich nichts mehr, Bit.« Bit war Lytas Spitzname, eine
Anspielung auf ihre umfassenden Kenntnisse sämtlicher gebräuchlichen Computersysteme. »Du machst die Beobachterin. Wenn es losgeht, brauchen wir jemand, der die Augen offenhält.« Anderthalb Stunden, nachdem sie die Welt der Maschinen verlassen hatten, erreichten sie die obere Mündung der Rampe. Verjangat hatte sie richtig beraten. Sie befanden sich am Rand eines weit ausgedehnten, hohen Platzes. Ringsum in den metallenen Wänden lagen die Wohnungen der Bevorzugten, einige davon über Stege zu erreichen. Es herrschte nur wenig Verkehr; aber die bunt gekleideten Gestalten der beiden Märchenerzähler erregten sofortiges Aufsehen. Die Ysteronen kamen herbei, um die merkwürdig gekleideten Wanderer anzustaunen. Es war sogar einer darunter, der von den Erzählern schon gehört hatte – ein Zeichen dafür, daß es auch im Innern des Ysterioons so etwas wie Nachrichtenübermittlung gab. Die Neuigkeit verbreitete sich wie ein Lauffeuer, zumal Girgeltjoff und Barlod‐Traug‐Tul mit nicht eben bescheidenen Worten zu verstehen gaben, Geschichten wie die ihren hätte man in dieser Kugelzelle noch nie gehört. Es dauerte nicht lange, und die Ysteronen drängten sich von allen Seiten her auf den Platz. Sie bildeten einen weiten Kreis um die beiden Erzähler und forderten diese durch trillernde Zurufe auf, mit ihrem Werk zu beginnen. Aber die beiden Buntgekleideten ließen sich Zeit. Sie waren an einen gewissen Umfang ihrer Zuhörerschaft gewöhnt. Erst als der Khadsch sich zur Hälfte gefüllt hatte, stellte sich Girgeltjoff in Positur und begann: »Höret denn unsere erste Geschichte. Sie beginnt in einem fernen Land, in dem Wesen leben, die sich von uns unterscheiden. In diesem Land war einmal ein König, der war weithin dadurch bekannt, daß er eine rote Kappe trug. Eines Tages, auf der Reise, brach sein Gefährt zusammen, und der König wäre eines vorzeitigen Todes gestorben, wenn nicht eine Jungfrau des Weges gekommen wäre, die ihm aus den Trümmern seines Wagens half. Aus lauter Dankbarkeit schenkte er ihr die rote Kappe, und seitdem
nannte man die junge Frau nur noch ›das Rotkäppchen‹. Sie lebte auf dem Land bei ihrer Mutter, aber sie hatte auch noch eine Großmutter, deren Heim im tiefen Wald stand …« * Die dröhnenden Worte der Rezitation rauschten über Hage Nockemann hinweg und weckten in seinem Bewußtsein eine Frage. Wie kam es, daß Barlod‐Traug‐Tul und Girgeltoff bei ihren Artgenossen so großen Anklang fanden? Gab es in diesem Volk ein seit langem ungestilltes Bedürfnis, Märchen und Sagen zu hören – und seien sie durch das Unverständnis des Erzählers auch noch so verzerrt? Boten diese Darbietungen den Ysteronen die Möglichkeit, sich für ein oder zwei Stunden dem tristen Alltag zu entziehen? Strömten sie deswegen überall dort zusammen, wo die beiden Buntgekleideten auftraten? Es war mehr als das, entschied er. Worte wie »König«, »auf dem Land« und »im tiefen Wald« hätte es in der Sprache der Ysteronen eigentlich nicht mehr geben dürfen, denn es fehlten in ihrer Umwelt die Dinge, die sie bezeichneten. Auf irgendeine geheimnisvolle Weise aber waren die Begriffe erhalten worden. Und wenn der Märchenerzähler sie vortrug, dann erinnerte er seine Zuhörer an die Welt, auf der sie einst gelebt hatten. Auf der Welt, von der sie durch die Machenschaften des Hidden‐X vertrieben worden waren, hatte es Land und Städte, Wälder und vielleicht sogar Könige gegeben. Die Geschichten, die sie hörten, waren wie ein Raunen aus ferner Vergangenheit, das in ihrer Seele Saiten zum Klingen brachte, die schon seit langem keinen Ton mehr von sich gegeben hatten. Girgeltjoff hatte seine Rotkäppchen‐Geschichte beendet und begeisterten Applaus dafür geerntet. Daraufhin begann Barlod‐ Traug‐Tul, eine alte Sage vorzutragen. Er erwärmte sich für seine Geschichte, und das Echo seiner mächtigen Stimme hallte von den
Wänden des Khadsch wider: »… und als das Blut des Drachen verströmt war, da begann unser Held, sich den Körper damit zu bestreichen. Er tauchte die Hände in die flüssige Masse und strich sie sich auf die Haut. Nur ganz hinten – dort, wo seine vier Beine aus dem Leib wuchsen – kam der Held Seyrefrid mit den Händen nicht hin, und dort blieb eine winzige Stelle, die nie mit Drachenblut in Berührung kam. Das Blut erstarrte alsbald und bildete einen Panzer. Seyrefrid war von nun an unverwundbar, bis auf die kleine Stelle dicht über den vier Beinen …« »Sie kommen!« zischte Lyta. Hage schrak auf. Durch den Sehschlitz blickte er in die Höhe und sah fünf roxharische Roboter, die aus der Mündung einer Straße hervorglitten und auf die Menge zuhielten. Unwillkürlich griff er nach dem Strahler, den Chart Deccon ihm gegeben hatte. Die Maschinenwesen bewegten sich in breiter Front. Sie waren nicht gekommen, um zu überwachen und zu beobachten. Sie waren auf einen bestimmten Zweck programmiert. Sie schossen auf das Zentrum des Khadsch zu und bildeten über den Häuptern der beiden Märchenerzähler einen Kreis. Die Menge wurde unruhig. Die vordersten unter den Zuhörern drängten zurück, als fürchteten sie die Nähe der Buntgekleideten. Niemand achtete mehr auf Barlod‐Traug‐Tuls Worte. Jedermann starrte zu den Robotern hinauf und erwartete voller Sorge deren nächstes Manöver. Barlod‐Traug‐Tul ergriff die Initiative. Er erinnerte sich des Erfolgs, den Girgeltjoff bei einer ähnlichen Gelegenheit erzielt hatte. Er legte den Kopf in den Nacken und donnerte die Roboter an: »Schert euch davon, ihr Störenfriede! Seht ihr nicht, daß ihr mir …« Weiter kam er nicht. Ein drohendes Summen erfüllte plötzlich die Weite des Platzes. Dutzende von gellenden, schrillen Schmerzensschreien waren zu hören. Die Menge wandte sich panikartig zur Flucht. Barlod‐Traug‐Tul und Girgeltjoff dagegen,
die beiden Märchenerzähler, standen wie festgenagelt an ihren Plätzen. Hage hatte ein kurzes, elektrisierendes Kribbeln gespürt, als das drohende Summen ertönte. Aber Girgeltjoff mußte es weitaus ärger getroffen haben. Ein Zittern ging durch den riesigen Leib des Ysteronen, ein ächzendes Stöhnen drang aus seinem Mund. Der mächtige Körper neigte sich zur Seite. »Paß auf, Lyta!« schrie Hage voller Verzweiflung. Er hatte keine Zeit mehr, durch den Sehschlitz zu blicken. Er löste sich aus der Schlinge und griff nach dem rauhen Stoff des bunten Gewands. An den Falten entlang hangelte er sich seitwärts. Sein einziges Verlangen war, den sechzig Tonnen Haut, Knochen und Fleisch zu entgehen, die auf ihn zu stürzen und ihn zu zerquetschen drohten. Der Khadsch erzitterte, als die beiden Riesengestalten zu Boden krachten. Hage erhielt einen heftigen Schlag gegen die Seite, wurde davongeschleudert und verfing sich in dem faltenreichen Material des bunten Gewands. Er spannte die Muskeln, um den Aufprall zu mildern, der jetzt unweigerlich kommen mußte … Aber nichts geschah. Das Dröhnen des Bodens verstummte. Aus der Ferne waren noch einige Schreie zu hören. Dann wurde es still bis auf das Rascheln der farbenfrohen Kutte, die sich, dem Gesetz der Schwerkraft folgend, in neue Falten legte. * »Lyta!« wisperte er. »Hier«, kam die Antwort. »Gott sei Dank! Bist du in Ordnung, Bit?« »Bis auf ein paar Schrammen – ja.« »Halt still!« trug Hage ihr auf. »Ich gehe nachsehen.« Er kroch davon. Irgendwo über ihm befanden sich die fünf roxharischen Roboter. Er mußte sich vorsichtig bewegen, damit sie
ihn nicht bemerkten. Er kam zwischen zwei Falten hervor und sah ein ysteronisches Säulenbein vor sich. Er schob sich an der rauhen Haut des Beines entlang in Richtung der Füße. Er sah den unteren Saum der Kutte vor sich, wandte sich auf den Rücken und robbte in dieser unbequemen Haltung weiter, bis sein Kopf unter dem Gewand hervor zum Vorschein kam. Links neben sich hatte er die gewaltige Masse des bewußtlosen Ysteronen. Rechts drüben sah er einen meterlangen Fuß in die Höhe ragen. Er gehörte Barlod‐Traug‐Tul, der offenbar im selben Augenblick gestürzt war wie Girgeltjoff. Welche Energieform hatten die Roboter eingesetzt, die Ysteronen wie Bäume fällte, den Solanern aber nichts anzuhaben vermochte? Girgeltjoff hatte von seinen Erlebnissen in der Nähe der Tabuzone berichtet. Das mußte es sein: dieselbe Strahlung, die von der großen Nickelstatue ausging! Hage blickte in die Höhe. Die fünf Roboter zogen kreisend ihre Bahn. Sie machten keine Anstalten, die Bewußtlosen aus der Nähe zu untersuchen. Hage griff nach dem Blaster, den er, als Girgeltjoff zu stürzen begann, blitzschnell in den Gürtel geschoben hatte. Inmitten des Durcheinanders aus Gewändern und reglosen Riesenkörpern würden es die Roboter schwer haben, ihn ausfindig zu machen. Er konnte sie einen nach dem andern abschießen, ohne ein nennenswertes Risiko einzugehen. Er legte sich in Positur und richtete den Lauf der Waffe in die Höhe. Der Umriß eines Roboters schob sich in die flimmernde Leuchtfläche des Visiers. Jetzt nur noch ein leichter Druck auf den Auslöser, und … Er ließ den Arm sinken. Mit eiskalter Faust packte ihn der Schreck im Nacken. Welche Dummheit hätte er um ein Haar begangen! Warum waren die Roboter hier? Weil Verjangat von seiner verdächtigen Begegnung mit seinem früheren Freund Girgeltjoff berichtet hatte? Gewiß doch. Aber was lag den Roxharen an Girgeltjoff, falls sie nicht vermuteten, der Ysterone stehe auf
irgendeine Weise mit den drei entflohenen Gefangenen von der SEARCHER im Bund? Feuerte er nur einen einzigen Schuß ab, dann hatten sie den Beweis, nach dem sie suchten. Die fünf Roboter dort oben würde er ohne Mühe unschädlich machen können. Aber irgendwo im Hintergrund wartete eine Reserve, die darauf programmiert war, sofort einzugreifen, falls sich in der Nähe der beiden bewußtlosen Ysteronen etwas Verdächtiges ereignete. Aufatmend schob er den Blaster wieder in den Gürtel zurück. Dieser Gefahr war er um ein Haar entgangen! Er sah sich um, so gut es ging. Der weite Platz war leer. Die Ysteronen hatten die Streuwirkung der Schüsse zu spüren bekommen, die Girgeltjoff und Barlod‐Traug‐Tul gefällt hatten, und waren geflohen. Er hörte ein Rascheln und wandte den Blick. Barlod‐Traug‐Tuls Gewand war in Bewegung geraten. Chart Deccons gerötetes Gesicht schob sich unter dem Saum hervor. Hage machte die Gebärde des Schweigens, dann deutete er nach oben. Deccon nickte zum Zeichen, daß er verstanden hatte. Von jetzt an blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu warten. 5. Atlan schrak aus sachtem Schlummer, als er die Stimme des Roboters hörte. »Draußen rumort jemand herum. Wahrscheinlich ein betrunkener Ysterone.« Der Arkonide stemmte sich in die Höhe. Die Müdigkeit war weggewischt. Augenblicklich erinnerte er sich an den letzten Gedanken, der ihn vor dem Einschlafen bewegt hatte. Vielleicht bot sich ihm hier eine Möglichkeit. »Ich komme«, sagte er knapp. Er eilte die Rampe hinab. Durch das Portal, das auf den Steg hinausführte, kamen rumpelnde Geräusche, vermischt mit den
lallender Äußerungen einer ysteronischen Stimme. Der Betrunkene versuchte, das Tor zu öffnen. Atlan befahl dem Roboter, bereitzustehen. Als das Gerumpel einen Augenblick lang verstummte, gab er ein Zeichen. Der Robot betätigte den Öffnungsmechanismus. Das Portal fuhr auf. »End … endlich«, lallte es aus Atlans Translator. »Ein Pla … latz zum Schla … hafen. Muß glei … leich …« Auf unsicheren Beinen wankte eine riesige Gestalt durch das offene Tor. Der Arkonide war von allem Anfang an überzeugt gewesen, daß die Natur nicht ihren glücklichsten Zug getan hatte, als sie die zum Aufrechtgehen bestimmten Ysteronen mit vier Beinen ausstattete. Jetzt sah er mit eigenen Augen, wie sich die Gehwerkzeuge des Trunkenen gegenseitig behinderten. Er geriet ins Stolpern und wäre gestürzt – bei Ysteronen ein nicht ungefährlicher Unfall – wenn er sich nicht in unmittelbarer Nähe einer Wand befunden hätte, die ihn stützte. Er machte es sich in lehnender Haltung so bequem wie möglich und wäre ohne weiteres eingeschlafen, wenn nicht Atlan ihn angesprochen hätte. Der Translator war auf maximale Ausgabeleistung getrimmt und produzierte Laute mit der Intensität einer kräftigen ysteronischen Stimme. »Wer bist du?« Der Ysterone stemmte sich eine halbe Armlänge von der Wand ab und sah mit stieren Augen um sich. »Bistu … bistu …«, echote er verständnislos. »Hier unten!« rief der Arkonide ihm zu. »Sieh auf den Boden!« »Boden …« Der kugelförmige Schädel schob sich über den angewinkelten Stützarm hinweg und neigte sich so, daß die großen Augen den Boden des Raumes erfaßten. Der Ysterone gab einen glucksenden Schreckenslaut von sich. »Wer … wer seid ihr? Geschöpfe wie euch habe ich noch nie … niemals gesehen!«
»Wir sind Wanderer, Fremde in dieser Welt«, sagte Atlan. »Wir sind auf der Suche nach Freunden. Du sollst unser erster Freund sein.« Die Aufregung, die mit der unerwarteten nächtlichen Begegnung verbunden war, wirkte offenbar ernüchternd auf den Ysteronen. »Ich soll euer Freund sein?« Er gab einen schnarrenden Laut der Belustigung von sich. »Ihr seid Wanderer? Ich selbst bin ein Wanderer! Willst du meinen Namen hören? Tolgetnur, der Wanderer. Ich war bei dem Fest dort unten. Eine schöne Feier! Sie haben viel Metall gebracht. Aber ich habe zuviel getrunken. Ich weiß nicht mehr, wo ich hergekommen bin. Ich habe den Weg verloren – genau wie Hansl‐Giq‐Traul und Gretl‐Too‐Hurth. Ich hätte auch Albumino‐3‐Gamma‐Stearotin ausstreuen sollen.« Mit der freien Hand machte er eine wegwerfende Geste. »Wäre wahrscheinlich nutzlos gewesen. Die Tiere des Waldes hätten es aufgefressen!« Atlan wußte nicht, wovon er sprach. Aber ein Wort nahm seine Aufmerksamkeit gefangen: Wanderer. »Deine Wohnung liegt nicht in dieser Kugelzelle?« fragte er. »Nein, weit weg«, antwortete Tolgetnur. »Ich weiß nicht, ob ich überhaupt noch eine Wohnung habe. Jemand anders wird dort eingezogen sein. Es ist schon lange her, seit ich das letzte Mal zu Hause war.« Besser hätte ich es nicht treffen können, fuhr es Atlan durch den Sinn. Ein Ysterone, der wandernd durch die Weiten des Ysterioons zog. Er kannte die Schlupfwinkel, die Seitenpfade, die Orte, an denen Fahrzeuge beschafft werden konnten. »Willst du unser Freund sein?« fragte er von neuem. »Ich will«, antwortete Tolgetnur. »Aber ich bin ein viel besserer Freund, wenn ich ausgeschlafen habe.« »Schlaf ruhig«, sagte der Arkonide lächelnd. »Es wird dich hier niemand stören.« Er gab dem Roboter Anweisungen, den Ysteronen auf jeden Fall
hier festzuhalten. Wer mochte wissen: vielleicht hatte er alles, was in dieser Nacht gesprochen worden war, längst vergessen, wenn er wieder zu sich kam? Tolgetnur war inzwischen eingeschlafen. Atlan stieg die Rampe hinauf und machte es sich an seiner Schlafstelle bequem. Bjo Breiskoll und Breckcrown Hayes waren trotz des Lärms nicht aufgewacht. Das sprach für die Nachwirkungen, die die Strapazen des vergangenen Tages hinterlassen hatten. Die Aufregung hielt ihn wach. Das Schicksal hatte ihm Tolgetnur über den Weg geführt. Er ging in Gedanken noch einmal durch den Wortlaut des kurzen Gesprächs. Plötzlich richtete er sich, wie von der Feder geschnellt, zu sitzender Haltung auf. Hansl? Gretl? Ausgestreutes Stearotin … Die Stunden zogen sich dahin. Schließlich überkam ihn trotz des Tumults, der in seinem Bewußtsein herrschte, ein flacher Schlaf, aus dem er sofort wieder aufschreckte, als er Bjo und Breckcrown sich regen hörte. Sein erster Gedanke galt dem Ysteronen. Er rief den Robot, der drunten am Portal Wache hielt. »Er wacht soeben auf«, erhielt er zur Antwort. »Laß ihn nicht entkommen! Wir sind in ein paar Minuten unten.« Mit knappen Worten informierte er Bjo Breiskoll und Breckcrown Hayes über die erstaunlichen Ereignisse der vergangenen Nacht. Er vergaß auch nicht, Hansl‐Giq‐Traul und Gretl‐Too‐Hurth zu erwähnen, aber damit erzielte er bei den beiden keine Reaktion. »Ist das wichtig?« erkundigte sich Bjo mißtrauisch. »Es hört sich an wie ein altes terranisches Märchen«, sagte Atlan. »Und woher sollte ein Ysterone terranische Märchen kennen?« »Eine Spur vielleicht?« meinte Breckcrown. »Chart Deccon treibt sich irgendwo im Innern des Ysterioons umher.« »Deccon kennt keine Märchen«, winkte Bjo ab. »Er nicht, aber Hage Nockemann«, verteidigte Breckcrown seinen Standpunkt. »Frag den alten Kauz, was du willst. Wenn es mehr als eintausend Jahre zurückliegt, weiß er darüber Bescheid!« Sie stiegen die Rampe hinab. Tolgetnur hatte die Folgen des
Rausches überwunden. Er erinnerte sich an die Unterhaltung mit Atlan, war jedoch überrascht, zwei weitere »Zwerge« zu sehen. Er gab sich freundlich und machte keinen Hehl daraus, daß es ihn freute, auf die Fremden gestoßen zu sein. Atlan ging sofort auf den Kern der Sache zu. »Du sprachst von Hans‐Giq‐Traul und Gretl‐Too‐Hurth«, sagte er. »Wo hast du von ihnen gehört?« »In einer anderen Kugelzelle«, antwortete Tolgetnur bereitwillig. »Ich war zufällig auf einem Khadsch, als dort zwei buntgekleidete Ysteronen auftraten, die eine Reihe fremdartiger, aber interessanter Geschichten erzählten.« »Kennst du noch eine Geschichte außer der von Hansl‐Giq‐Traul?« »Noch eine«, bekannte Tolgetnur. »Von einem König namens Artufan, der über ein Land namens Camelot herrschte und einen weisen Ratgeber mit dem Namen Lancelo‐Tur‐Begh hatte.« Bjo und Breckcrown sahen den Arkoniden fragend an. Atlan nickte zustimmend. »Die terranische Sage von König Artur«, sagte er. Tolgetnur wußte nicht mehr über die beiden Märchenerzähler, als daß sie außergewöhnlich bunte Kleidung trugen und weitergezogen waren, nachdem sie ihre Geschichte vorgetragen hatten, beladen mit Geschenken, die ihnen die Zuhörer brachten. »Hast du keine Wesen wie uns in ihrer Nähe gesehen?« wollte Atlan wissen. »Wie euch?« Die Frage schien Tolgetnur zu überraschen. »Nein. Gibt es noch mehr von euerer Art im Ysterioon?« »Etliche«, antwortete Atlan. »Woher kommt ihr? Was wollt ihr hier?« »Unsere Heimat ist ähnlich wie die eure«, sagte der Arkonide: »Ein großes, metallenes Gebilde, das im Raum schwebt. Sein Name ist SOL. Wir sind gekommen, um unsere Freunde, die Ysteronen, von einer bösartigen Macht zu befreien, die sie seit Jahrtausenden versklavt.«
Tolgetnur wurde ernst. »Das sind große Worte, Fremder. Ich weiß nichts von einer bösartigen Macht und komme mir nicht wie ein Sklave vor. Du hast gesagt, ich soll dein Freund sein. Aber du wirst mir erklären müssen, was du meinst, bevor ich auf deinen Vorschlag eingehen kann.« Atlan hatte mit dieser Reaktion gerechnet. Die langen durchwachten Stunden waren nicht umsonst gewesen. Er hatte sich seine Antwort zurechtlegen können. »Du hast gestern an einem Fest teilgenommen?« begann er. »Ja«, gestand Tolgetnur. »Wieviel Feste dieser Art hast du schon mitgemacht?« »Noch zwei weitere.« »Du weißt, warum diese Feste gefeiert werden«, fuhr Atlan mit harter Stimme fort. »Ihr begrüßt die Metallsucher, die mit reicher Beute von ihrem Unternehmen heimgekehrt sind. Worin bestand ihr Unternehmen? Es bestand darin, Planeten zu zerstören, blühende Welten zu vernichten, Milliarden intelligenter Wesen verschwinden zu lassen, nur damit eine möglichst große Menge des kostbaren Metalls geborgen werden konnte …« Tolgetnurs Gesicht verzerrte sich. Die Augen traten ihm aus den Höhlen. Er riß die Arme in die Höhe und machte eine verzweifelte Geste. Ein ächzendes Stöhnen drang über seine Lippen, und dann ein Schrei: »Nein!« Aber der Arkonide fuhr unerbittlich fort: »Doch! Untat über Untat haben die Ysteronen verübt. Zahllose Welten sind ihnen zum Opfer gefallen. Und noch mehr werden vernichtet werden, falls diesem unheilvollen Treiben nicht Einhalt geboten werden kann. Du hast gestern gefeiert. Es war nicht das erste Mal. Du weißt, was danach kommt. Der Jammer, die Scham, die Verzweiflung …« »Nicht weiter!« schrie Tolgetnur. »Bei allen Göttern! Nicht weiter!
Hör auf!« »Ich höre auf, wenn du alles gehört hast«, donnerte Atlans Stimme aus dem Translator. »Dann findet ihr euch jammernd und wehklagend zusammen und entscheidet, daß etwas getan werden muß, eure Schandtat vor anderen Völkern des Universums zu verbergen. Ihr faßt den Entschluß, Tantrik in dem Raumsektor zu stationieren, in dem ihr gewütet habt. Die Tantrik sind automatische Raumstationen, die die Annäherung eines jeden Fremden registrieren und melden. Wenn ein paar Wochen oder Monate vergangen sind, ohne daß die Tantrik sich rührten, dann glaubt ihr, eure Barbarei sei von niemand entdeckt worden. Ihr beruhigt euch allmählich. Die Scham weicht, und kurz darauf brecht ihr zur nächsten Metallsuche auf!« Tolgetnur schrie nicht mehr. Er hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und lehnte kraftlos an der Wand. Die Farbe seiner Haut war ein fahles Grau. Bjo Breiskoll warf dem Arkoniden einen warnenden Blick zu. Er sah, was im Bewußtsein des Ysteronen vor sich ging, und sein Blick bedeutete: Sei vorsichtig, oder du treibst ihn in den Wahnsinn. Atlan ließ eine Minute verstreichen. »Aber wir wissen, daß diese Geschehnisse nicht die Schuld der Ysteronen sind«, begann er schließlich, mit weitaus sanfterer Stimme, von neuem. »Die Ysteronen sind friedliebende Wesen, die aus eigenem Antrieb keinem anderen Volk Schaden zufügen würden. Was treibt sie also zu diesen Schandtaten? Eben jene bösartige Macht, von der ich zuvor sprach. Sie hat die Ysteronen in der Gewalt. Sie diktiert ihnen, was sie zu tun haben. Vor vielen Jahrtausenden vertrieb sie sie von ihrer Heimatwelt und brachte sie in diesem künstlichen Gebilde aus Metall unter, das ihr das Ysterioon nennt. Diese Macht, und sonst niemand, ist für die Schandtaten verantwortlich, die von den Ysteronen begangen wurden. Die fremde Macht hat ihren Sitz in der zentralen Kugelzelle, im Innern der Tabuzone. Wir sind gekommen, um sie zu
vertreiben. Um Frieden in diesem Teil des Universums zu schaffen. Um die Ysteronen zu befreien, so daß sie den Weg zurück zu ihrer Heimatwelt finden können.« Er schwieg. Eine Zeitlang war in der geräumigen Halle nichts weiter zu hören als das schwere Atmen des Ysteronen. Tolgetnurs Hände sanken langsam herab. Er sah ein paar Sekunden lang starr vor sich hin. Dann senkte sich sein Blick und begegnete dem des Arkoniden. »Das war bittere Medizin, mein Freund«, sagte er mit dumpfer Stimme. »Aber ich nehme an, es blieb dir nichts anderes übrig, als sie mir zu schlucken zu geben. Du sprichst die Wahrheit, die jeder Ysterone auf dem Grund seines Herzens kennt. Er verbannt sie aus seinem Bewußtsein, weil er sonst vor Scham nicht mehr leben könnte. Wenn du uns Freiheit versprichst, dann will ich auf deiner Seite sein. Wenn du meiner Hilfe bedarfst, so sage es. Ich kenne mich im Ysterioon besser aus als die meisten meines Volkes. Was ich tun kann, um bei der Beseitigung der fremden Macht zu helfen, das will ich gerne beisteuern.« Atlan nickte ihm zu. »Ich danke dir«, sagte er. »Mit deiner Hilfe werden wir zustande bringen, weswegen wir hierhergekommen sind. Unser Plan steht fest. Ich will ihn dir erklären, und dann sollst du uns sagen, wie wir die Dinge beschaffen können, die wir brauchen.« * Der Schacht fand sich im rückwärtigen Teil der komplexen Wohnanlage, genau wie Tolgetnur vorausgesagt hatte. Er lag nicht mehr als zwanzig Meter von der Schachtmündung entfernt, aus der sie vor der letzten Dunkelperiode hervorgekommen waren. Tolgetnur erklärte, ausgedehnte Wohnbereiche wie dieser seien den obersten unter den Bevorzugten vorbehalten. Sie standen durch
Schächte und Rampen mit allen möglichen Abteilungen der Maschinenwelt in Verbindung, die der durchschnittliche Ysterone niemals zu sehen bekam. Der Schacht führte in einen Fahrzeugpark. Es war eine riesige, mehrere Quadratkilometer große Anlage, in der stationäre Roboter damit beschäftigt waren, Hunderte von Transport‐ und Personenfahrzeugen zu warten, zu reparieren oder, falls eine Reparatur nicht mehr möglich war, zu Rohmaterial zu verarbeiten. Es gab nicht mehr als eine Handvoll Ysteronen, die in diesem Abschnitt der Maschinenwelt arbeiteten. Es war leicht, ihnen auszuweichen. Tolgetnur bewies schon während der ersten halben Stunde, daß er sein Geschäft verstand. Sein erstes Ziel war eine turmhohe Wartungsanlage, vor der Dutzend von wartungsbedürftigen Fahrzeugen in fünf parallelen Kolonnen aufgereiht standen. Dementsprechend besaß die Anlage in ihrer Basis fünf Eingänge, die die Gleiter einen nach dem anderen aufnahmen. Nach erfolgter Wartung wurden sie auf der anderen Seite des Turmes wieder ausgespien und glitten selbsttätig auf eine Art Parkplatz, von dem sie nach Bedarf abgerufen werden konnten. Eine der fünf Reihen bestand ausschließlich aus Personenfahrzeugen. Sie besaßen einen ovalen, wannenförmigen Unterbau, über dem sich eine hohe, transparente Kuppel wölbte. Im Innern des Fahrzeugs waren, je nach Größe, vier bis acht schrägstehende, pritschenähnliche Gebilde angebracht, die den Fahrgästen als Lehnen dienten. Die beiden Roboter sowie Bjo und Breckcrown standen Wache, während Atlan und Tolgetnur in eines der Fahrzeuge kletterten. Der Arkonide hatte Tolgetnur erklärt, worum es ihm ging, worauf der Ysterone ihm versicherte, es werde dabei keine Schwierigkeiten geben. An der Stirnseite der Fahrzeugkuppel befand sich die Kapsel mit den Kontrollelementen. Tolgetnur löste die Verkleidung – ein langwieriger Prozeß, weil die Kapsel in einer Höhe angebracht war, die der Ysterone mit den kurzen Armen nur dann erreichen konnte,
wenn er sich gefährlich weit vornüber beugte. Inzwischen ruckte das Fahrzeug mehrmals vorwärts und näherte sich einem der fünf Tore, die zu den Wartungskammern im Innern des Turmes führten. Während er arbeitete, berichtete Tolgetnur davon, daß er ähnliche Tricks schon des öfteren angewendet habe. »Wenn ich von einer Kugelzelle in die nächste gelangen will«, sagte er, »ist es mitunter umständlich, eine Fahrstraße zu suchen und ein geeignetes Fahrzeug anzuhalten. Es ist viel leichter, wenn ich meinen eigenen Gleiter habe. Ich präpariere ihn so, daß er die Steuersignale des Funknetzes zwar wahrnimmt, ihnen aber nicht zu gehorchen braucht. Das gibt mir Bewegungsfreiheit.« Er hatte das Aggregat der Kontrollelemente inzwischen freigelegt und wartete. Atlan war es nicht besonders wohl zumute, als die Torklappe in der Basis des Turmes sich vor ihnen öffnete und das Fahrzeug in die finstere Wartungskammer glitt. Düsteres, rotes Licht glomm auf, nachdem das Tor sich wieder geschlossen hatte. Der Wartungsrobot »sah« im Infrarotteil des Spektrums. Gespenstische, tentakelgleiche Gebilde fuhren aus den Wänden und betasteten den Gleiter von allen Seiten. Eine Kakophonie von blökenden und plärrenden Summtönen erscholl, als die Sensoren begannen, die Zentraleinheit auf akustischem Weg über ihre Meßergebnisse zu informieren. Der Prozeß wirkte ein wenig altmodisch. Ohne Zweifel war hier die Technologie am Werk, die die Ysteronen selbst entwickelt hatten. Hidden‐X war es nicht der Mühe wert erschienen, seine weitaus fortgeschrittenere Technik auch den Fahrzeugwartungsstationen zur Verfügung zu stellen. Der Gleiter zitterte und rüttelte, als das Triebwerk überholt und das Energiereservoir gefüllt wurde. Eine der Tentakeln glitt über den Bugsektor der transparenten Kuppel und machte sich von außen am Aggregat der Kontrollelemente zu schaffen. Der Prüfprozeß war offenbar nicht in der Lage, zu erkennen, daß die Verkleidung der Kapsel entfernt worden war. Das gehörte nicht zu seinen Funktionen. Kaum hatte der Greifarm sich zurückgezogen, da
machte sich Tolgetnur wieder an die Arbeit. Mit geschickten Fingern änderte er die Konfiguration der Kontrollelemente. Er arbeitete fieberhaft, denn was er tat, würde den Gleiter daran hindern, sich selbsttätig wieder in Bewegung zu setzen, sobald die Wartung abgeschlossen war. Er nahm den letzten Handgriff vor; dann warf er sich in eine der beiden vorderen Pritschen und aktivierte den Steuermechanismus, der nur für Notfälle gedacht war. Als das äußere Tor sich öffnete, setzte er das Fahrzeug in Bewegung. Es folgte dem Funkleitstrahl hinaus ins Parkgelände, und niemand, der ʹdas Manöver beobachtete, hätte sagen können, ob sich der Gleiter unter automatischer oder manueller Steuerung bewegte. Die erste Phase der Vorbereitungen war damit abgeschlossen. Das Fahrzeug würde zur Verfügung stehen, wenn es gebraucht wurde. Atlans zweites Anliegen war, eine Fertigungsanlage zu finden, in der Güter einer gewissen Beschaffenheit erzeugt wurden. Er hatte nichts Bestimmtes im Sinn und ließ die Wahl so weit offen wie möglich, weil er schließlich doch mit dem würde vorliebnehmen müssen, was die Maschinenwelt zu bieten hatte. Tolgetnur wußte auch hier Rat .Die Fertigungskomplexe lagen eine Ebene tiefer. Auch sie waren vollautomatisch, und niemand störte die Eindringlinge, während sie den Ausstoß der Fabriken, wie Tolgetnur sie nannte, fachmännisch inspizierten. Der Arkonide entschied sich schließlich für eine Produktions‐ Straße, die Einzelteile von Einrichtungsgegenständen herstellte: Tischplatten, Sesselrahmen und dergleichen. Das verwendete Material war eine Plastiksubstanz von mittelmäßiger Brennbarkeit. Atlan bearbeitete eines der Fertigstücke mit dem Nadelstrahl seines Blasters und beobachtete, wie es mit kräftig schwelender Flamme verbrannte. Er würde das Feuerwerk nicht bekommen, das er sich gewünscht hatte. Aber eine starke Qualmwolke erfüllte wahrscheinlich denselben Zweck. Tolgetnur führte sie dorthin, wo der Ausstoß in würfelförmige Behälter verpackt und auf Transportfahrzeuge geladen wurde. Die
Fahrzeuge besaßen eine charakteristische gelbe Markierung, an der sie leicht zu erkennen waren. Die Verschlüsse der Behälter waren primitiv. Sie ließen sich im Handumdrehen öffnen. Die Inspektion war beendet. »Dieser Fahrweg führt nach oben?« fragte Atlan und wies auf einen Stollen, durch den die gelb markierten Transporter sich einer nach dem andern entfernte. »Zwei Ebenen weit«, antwortete der Ysterone. »Dort mündet er auf die große Fahrstraße.« Ein zufriedenes Lächeln huschte über die Züge des Arkoniden. »Das ist dieselbe Ebene, auf der sich der Khadsch befindet, nicht wahr?« Und nachdem Tolgetnur bejaht hatte, fuhr er fort: »Gibt es in der Nähe Zufahrtswege, die von Personenfahrzeugen benützt werden?« »Ich bin nicht sicher«, antwortete der Ysterone. »So gut kenne ich diese Gegend nicht. Aber wenn hier die Straßen ebenso angelegt sind wie in meiner Kugelzelle, dann gibt es ein paar Zweigwege, die in diesen Stollen münden, bevor er die große Fahrstraße erreicht. Der eine oder andere befördert wahrscheinlich Personengleiter. In der Nähe des Khadsch wohnen die Bevorzugten. Sie sind es in der Hauptsache, die solche Fahrzeuge bnützen.« »Wie weit ist die große Fahrstraße vom Khadsch entfernt?« wollte Atlan wissen. »Nur ein paar Wohnblöcke weit. Es gibt mehrere Durchgänge, die von der Straße zum Khadsch führen. Gestern, nach dem Fest, wollte ich ein Fahrzeug anhalten und zur nächsten Kugelzelle fahren.« Er zog eine Grimasse. »Aber dann packte mich der Trinkteufel, und ich konnte meinen Plan nicht mehr ausführen.« Atlan lächelte freundlich zu ihm hinauf. »Dank sei dem Trinkteufel«, sagte er. »Ohne ihn wären wir nicht mit dir zusammengetroffen.« Vor ihnen lag die Mündung des Stollens. Von draußen kam das stetige Brausen und Dröhnen des Verkehrs. Von der Nische aus, in
die sie sich zurückgezogen hatten, konnten sie den endlosen Strom der Fahrzeuge sehen. Sie waren zu dritt: Atlan, Breckcrown Hayes und einer der beiden Kampfroboter. Bjo Breiskoll, Tolgetnur und der zweite Robot waren zur Ebene der Wartungsanlage zurückgekehrt. Ihre Aufgabe war, den manipulierten Gleiter herbeizubringen, sobald sie das vereinbarte Signal erhielten. Atlan spähte in den Hintergrund des Stollens. Die Fahrbahn hatte eine Breite von fünfzehn Metern und war, soweit er erkennen konnte, mit zwei funkgesteuerten Fahrspuren ausgestattet. Der Verkehr war einbahnig – von den unteren Ebenen hinaus zur großen Fahrstraße. Seit sie sich hier versteckt hatten, waren mehr als ein Dutzend Gleiter vorbeigekommen, in der Hauptsache solche mit gelben Markierungen. Sie hatten zwei Personenfahrzeuge gesehen; aber bis jetzt hatte sich die richtige Konstellation noch nicht ergeben. Breckcrown Hayes stieß ihm den Arm in die Seite und nickte mit steinernem Gesicht in Richtung eines Fahrwegs, der wenige Meter aufwärts von der Seite her in den Stollen mündete. Aus der Mündung schob sich die hohe, transparente Kuppel eines Personengleiters. Das Fahrzeug zögerte kurz, während der Autopilot auf die Funkleitung des Stollens umschaltete. Dann glitt es auf die rechte der beiden Fahrbahnen und bewegte sich mit mäßiger Geschwindigkeit weiter: Atlan sah die Gestalten vierer Ysteronen, die sich bequem gegen ihre Pritschen lehnten. Angestrengt spähte er an dem Gleiter vorbei nach hinten – dorthin, wo sich der Stollen aus der tiefergelegenen Ebene heraufwand. Er sah die Umrisse eines Transporters. Die Markierung konnte er nicht erkennen. Wie groß war seine Chance, daß es sich um eines jener Fahrzeuge handelte, die brennbare Plastikteile transportierten? Egal! Er konnte nicht länger warten. Das Risiko mußte eingegangen werden. Der Robot gehorchte seinem Wink. Als der Personengleiter an der Nische vorbeischwebte, eröffnete er das Feuer. Giftgrüne Desintegratorstrahlen spielten gegen das Chassis des Fahrzeugs.
Das Triebwerk gab einen schrillen, kreischenden Laut von sich. Der Gleiter neigte sich nach vorne und prallte auf den Boden. Grauer Nebel drang unter der gläsernen Kuppel hervor. Die vier Ysteronen waren einen Augenblick lang starr vor Schreck. Dann flogen die Luken auf. So rasch es ihnen die Unbeholfenheit ihrer riesigen Körper erlaubte, kletterten die Giganten aus dem havarierten Fahrzeug und brachen beim Anblick des Roboters in laute Entsetzensrufe aus. Atlan und Breckcrown zwängten sich aus der Nische hervor. Schreiend und gestikulierend feuerten sie ihre Blaster ab. Die grellen Energiestrahlen schossen fauchend und knatternd zur Decke hinauf. Das Metall begann zu glühen und Blasen zu werfen. Geschmolzenes Nickel tropfte in dicken Klumpen herab und prallte zischend auf die Fahrbahn. Die Ysteronen wandten sich zur Flucht. Ihre gellenden Schreie brachen sich an den glatten Wänden des engen Stollens. So schnell sie die Beine trugen, eilten sie in Richtung der großen Fahrstraße. Der Transporter kam heran. Atlan erkannte die gelben Markierungen und atmete auf. Der Personengleiter hatte sich beim Absturz zur Seite gewandt und blockierte einen Teil der linken Fahrbahn. Das Funkleitsystem registrierte die Störung und brachte den Transporter zum Halten. »An die Arbeit!« rief Atlan. Er sprang auf die Lastplattform. Das Fahrzeug beförderte zwanzig Behälter mit Plastikteilen. Es kostete ihn nur Sekunden, die erste Verschalung zu lösen. Knallend entlud sich der Blaster. Qualm stieg auf; Flammen leckten an dem brennbaren Material. Der Arkonide eilte weiter. Der nächste Behälter, dieselbe Prozedur. Aus den Augenwinkeln sah er Breckcrown Hayes und den Roboter am Werk. Schwerer, fetter Rauch erfüllte den Stollen, biß in der Nase und schmerzte in den Lungen. Atlan spürte, wie sich das Fahrzeug ruckend in Bewegung setzte. Das Funkleitsystem hatte die Lage analysiert. Der Transporter war kräftig genug, den havarierten Personengleiter beiseite zu schieben, so daß er freie Bahn bekam. Ein
lautes Knirschen drang durch den Qualm, als die Aufbauten der beiden Fahrzeuge einander berührten. Atlan bekam keine Luft mehr. Die Brust drohte ihm zu zerspringen. Im schwarzen Dunst sah er Breckcrown und den Roboter sich bewegen. »Abspringen«, krächzte er. Der Transporter hatte Fahrt aufgenommen. Die Beseitigung des Hindernisses war rascher gelungen, als der Arkonide erwartet hatte. Er prallte hart zu Boden, rollte über die Schulter ab und spürte das Heck des Fahrzeugs an sich vorbeigleiten. Er kam wieder in die Höhe. Die Lungen brannten. Bunte Kreise tanzten ihm vor den Augen. Er tastete sich an der Wand entlang und spürte, wie die Luft atembarer wurde, je mehr er sich der großen Fahrstraße näherte. An der Mündung des Stollens hielt er inne und versorgte den leergepumpten Körper mit Sauerstoff. Hinter ihm kam Breckcrown Hayes aus dem dichten Qualm getaumelt. Der Roboter machte den Abschluß. Ihm hatte der Rauch nichts anhaben können. Inzwischen hatte der qualmende, brennende Transporter die äußere Fahrbahn erreicht. Noch bedeutete er kein ernsthaftes Verkehrshindernis. Er begann, die Weite der großen Fahrstraße mit dichtem Rauch zu füllen. Aber das Funkleitsystem operierte nicht auf optischer Basis. Es würden noch ein paar Minuten vergehen, bevor das Feuer den Autopiloten erfaßte und die Kommunikation mit der Funkkontrolle lahmlegte. Bis dahin hinterließ das Fahrzeug eine deutliche Spur. Allein darauf kam es Atlan an. Sie rannten den schmalen Gehsteig am Rand der Straße entlang, bis sie einen der abzweigenden Gänge erreichten, von denen Tolgetnur gesprochen hatte. Weit vor sich hörten sie das zeternde Geschrei der vier Ysteronen, die in ihrer Panik nichts Eiligeres im Sinn gehabt hatten, als auf dem schnellsten Weg zum Khadsch vorzustoßen, wo sie von ihrem Unglück berichten konnten. Auch das ging nach Plan. Die roxharischen Roboter würden auf den Lärm aufmerksam werden. Hidden‐X hatte sie beauftragt, die
positronischen Ohren zu spitzen; denn noch immer waren die fremden Eindringlinge nicht gefaßt, die es gewagt hatten, ihr Raumfahrzeug auf der Außenhaut einer Kugelzelle zu landen und ins Ysterioon einzudringen. Vier Minuten später standen sie an der Mündung des Ganges. Vor ihnen lag die weite Fläche des Khadsch. Ysteronen kamen aus Straßen und Wohnungen gerannt und bildeten einen dichten Ring um ihre vier lamentierenden Artgenossen. Der Eingang des großen Tunnels, durch den die Nickelsucher zurückgekehrt waren, lag nicht mehr als achtzig Meter entfernt. Atlan beobachtete die Entwicklung der Lage. Als er sich sicher wähnte, gab er den Begleitern ein Zeichen. Sie preschten über die freie Fläche. Niemand bemerkte sie. Die Ysteronen waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Der düstere Tunnel nahm sie auf. Es gab hier keine Beleuchtung; aber weit im Hintergrund schimmerte ein matter Lichtfleck. Atlan schätzte die Entfernung auf vierhundert Meter. Dort lag sein Ziel. Von jetzt hing alles davon ab, wie die roxharischen Roboter reagierten. 6. Argan U war noch nie in seinem Leben so schnell rückwärts gekrochen. Sanny blieb vor ihm, als wäre es allein in ihre Macht gegeben, ihn vor dem herannahenden Ungeheuer zu schützen. Er robbte, so rasch es ging, und schürfte sich durch das zähe Material der Montur hindurch die Knie auf. Die Hände berührten den schmalen Metallstreifen, der quer über den Boden des Ganges lag. Argan U wandte sich seitwärts, als er sich aus der Mündung hinaus in den Korridor schob. Endlich hatte er wieder Raum, sich vorwärts zu bewegen. Sanny sprang zur Seite. Sie hatte ein winziges Gerät in der Hand,
eines jener Utensilien, die sie aus ihren Beuteln hatte retten können, bevor die Roxharen sie ihr abnahmen. Fasziniert musterte Argan U das fremdartige Geschöpf mit den fadendünnen, spinnenähnlichen Beinen. Geschickt und doch ohne Eile kam es den Gang entlanggekrochen, ein unheimlicher Gegner mit einem glatten, völlig ungegliederten Körper. Sanny hob das kleine Gerät. Es mußte eine Waffe sein. Sie zielte. Da hielt die Spinne plötzlich an. Fürchtete sie die Waffe? Argan U sah die Enden dreier dünner Beine den Metallstreifen betasten. Es hatte mit diesem offenbar eine besondere Bewandtnis. Die Spinne machte sich mehrere Sekunden lang daran zu schaffen. Argan U erkannte, daß die Fadenbeine an einer Vielzahl von Gelenken mit Verdickungen ausgestattet waren. Es kam ihm der Gedanke, daß es sich dabei um Wahrnehmungsorgane handeln mochte. Zum ersten Mal sah er jetzt, da der flache, ellipsoide Körper vom. Licht des Korridors beleuchtet wurde, daß die Körperhülle metallisch schimmerte. Was war das? Kein natürliches Geschöpf, sondern ein – Roboter? Sanny hatte die Waffe sinken lassen. Die Spinne setzte sich plötzlich wieder in Bewegung. Aber sie kam nicht hinter den Eindringlingen her; sie wich in den Gang zurück, als hätte die Inspektion des Metallstreifens sie belehrt, daß hier draußen nichts für sie zu holen war. Argan U atmete auf. Das unheimliche Fremdwesen verschwand im bunten Flimmern des Hintergrunds. Sanny trat vor und musterte den glitzernden Streifen. Sie fuhr mit der Hand darüber, als erwarte sie, eine Reaktion zu spüren, die von dem Metall ausging. »Seltsam«, murmelte sie. »Die Leiste stellt offenbar eine Grenzmarkierung da, die er nicht überschreiten darf.« »Er?« echote der Puschyde. »Er, der Spinnenrobot. Du hast gesehen, daß er ganz aus Metall besteht, nicht wahr?« Argan U machte das Zeichen der Zustimmung. Sanny, in tiefes
Nachdenken versunken, schüttelte den Kopf, gestikulierte mit den Händen und murmelte Worte in der Sprache der Molaaten, die Argan U nicht verstand. Sanny war nicht nur Paramathematikerin, die es mit jedem Computer an Rechengeschwindigkeit und Genauigkeit aufnahm. Sie besaß außerdem eine hochentwickelte Fähigkeit, logische Zusammenhänge anhand selbst der geringfügigsten Symptome zu erkennen. Nach zwei Minuten schien sie zu einem Schluß gekommen zu sein. »Argan U«, sagte sie. »Wenn du eine sehr, sehr wichtige Anlage zu bauen hättest – eine, die auf keinen Fall versagen oder ausfallen darf – dann würdest du sie redundant bauen, nicht wahr? Nicht nur eine, sondern mehrere; damit, wenn eine ausfällt, eine andere ihre Aufgabe übernehmen kann.« »Ja«, antwortete Argan U, »das würde ich tun.« »Jedermann tut es so«, bestätigte Sanny. »Aber siebenfache Redundanz ist eine ungeheure Menge Aufwand. Diese Anlage muß wirklich wichtig sein!« »Siebenfach?« echote Argan U. Sanny wies auf die sieben Gangmündungen. »Wenn wir diese Gänge untersuchten, wette ich, würden wir siebenmal dasselbe finden.« Sie war mit ihrem Diskurs noch längst nicht zu Ende. »Es muß natürlich dafür gesorgt werden, daß die Anlagen einander nicht beeinflussen können, sonst wäre die Redundanz nichts mehr wert. Andererseits muß ständig für Wartung gesorgt werden. Für die Wartung komplizierten Geräts entwickelt man üblicherweise Spezialroboter, die eigens an ihre Aufgabe angepaßt sind. Wie verhindert man aber, daß die redundanten Roboter einander in die Quere kommen?« Bevor Argan U antworten konnte, fuhr sie fort: »Indem man ihnen Grenzen vorschreibt. Jeder Roboter darf nur innerhalb seines Bereichstätig sein. Deswegen programmiert man ihn so, daß er auf Metallstreifen reagiert, die in den Boden eingelassen sind. Ein Metallstreifen bedeutet die Grenze seines Bereichs, die er nicht
überschreiten darf. Es kann jedoch passieren, daß ein Metallstreifen defekt oder gar entfernt wird. Es muß also noch eine Methode geben, mit der der Einsatzbereich eines Roboters markiert wird.« Sie lächelte völlig unerwartet. »Ich bekenne, daß ich in diesem Augenblick großen Respekt vor dem technischen Verstand des Hidden‐X empfinde. Er hat sich einen Instinkteffekt aus der Tierwelt geborgt, um die Roboter am Verlassen ihrer Bereiche zu hindern.« Sanny machte eine kurze Pause, und Argan U nutzte die Gelegenheit, endlich selbst zu Wort zu kommen. »Bis zu der siebenfachen Redundanz und den Metallstreifen bin ich dir noch gefolgt«, klagte er. »Aber jetzt hast du mich endgültig verloren.« »Ich weiß nicht, welche Tiere es auf der Welt gibt, von der du kommst«, antwortete Sanny. »In unserer Heimat gibt es … gab es Geschöpfe, die nicht in Gruppen oder Herden, sondern allein lebten. Jedes Geschöpf beansprucht ein gewisses Gebiet für sich und markiert es durch Fäzes.« »Fäzes?« wiederholte Argan U verständnislos. »Kot und Urin«, klärte Sanny ihn auf. »Du hast den Abfallhaufen dort gesehen …« »Langsam!« fiel der Puschyde ihr ins Wort. »Wir sprechen von einem Roboter.« »Und was ist seine Aufgabe? Geräte zu warten. Er entfernt verbrauchtes Material und ersetzt es durch neues. Wie entfernt er das verbrauchte Material? Er frißt es auf. Oh, ich sage dir, das ist ein geschickter Zug, der Nachahmung verdient! Der Konstrukteur der Spinnenroboter hat ihnen einen tierischen Instinkt eingepflanzt und sich auf diese Weise die Mühe einer komplizierten Programmierung erspart.« Argan U war noch immer nicht überzeugt. »Selbst wenn es so wäre«, sagte er. »Was nützt uns das?« »Viel!« Sannys Gesicht strahlte vor Begeisterung. »Welche Anlage, glaubst du, wäre dem Hidden‐X wichtig genug, daß sie in
siebenfacher Redundanz gebaut wird?« »Das weiß ich nicht.« »Du wüßtest es, wenn du dir ein paar Sekunden Zeit zum Nachdenken nähmst«, tadelte Sanny. »Hidden‐X riegelt sich gegen seine Umgebung ab. Er ist darauf bedacht, daß nur der zu ihm gelangt, den er gerufen hat.« Auf einmal fing Argan U an zu begreifen. »Das Energie‐Gatter!« stieß er überrascht hervor. »Du meinst, von dieser Anlage aus wird das Energie‐Gatter kontrolliert?« Sanny machte mit Nachdruck die Geste der Zustimmung. »Und ob ich das meine«, fügte sie hinzu. »Und jetzt wissen wir, was wir zu tun haben.« * Argan U war noch längst nicht klar, was als nächstes getan werden müsse; aber Sanny brachte es ihm rasch bei. Als erstes untersuchte sie den Metallstreifen am Eingang des Stollens von neuem, und diesmal erzielte sie das gewünschte Resultat. Argan U hatte selbst schon festgestellt, daß der Streifen in eine flache Nut eingepaßt war. Sanny mit ihren winzigen, empfindlichen Fingern gelang es, ihn aus der Einpassung herauszuheben. »Wir können die Grenzen also verändern«, sagte sie befriedigt. »Mehr brauchen wir vorerst nicht zu wissen.« Sie drückte den Streifen in die Nut zurück und richtete sich auf. Sie spähte in den halbdunklen Gang hinein und erklärte: »Du bist zu laʹngsam dort drinnen. Du bleibst hier und wartest auf mich.« »Was hast du vor?« fragte Argan U besorgt. »Ich beseitige ein paar Grenzen und schiebe Unrathaufen hin und her«, lächelte Sanny. »Ich bin geschwind genug und kann den Robotern ausweichen.«
Argan U erinnerte sich an die kleine Waffe, die sie vorhin in der Hand gehabt hatte, und beruhigte sich ein wenig. »Im Notfall kannst du dich wehren«, sagte er. Sie sah überrascht auf, fuhr mit der Hand über den grünen Pelz und brachte das kleine Instrument zum Vorschein. »Damit, glaubst du? Es ist keine Waffe. Es ist ein Impulsgeber. Meine einzige Hoffnung ist, daß ich die positronische Steuerung des Roboters damit durcheinanderbringen kann.« Argan Us Besorgnis erwachte von neuem; aber bevor er etwas unternehmen konnte, war Sanny in der Tiefe des Ganges verschwunden. Er spähte ängstlich hinter ihr drein. Das bunte Leuchten im Hintergrund ließ keine Einzelheiten erkennen. Er sah Sannys Silhouette und hielt voller Sorge nach dem Spinnenrobot Ausschau. Aber der schien irgendwo in einem abgelegenen Teil der Anlage beschäftigt zu sein und ließ sich nicht sehen. Argan U fragte sich, ob die maschinelle Intelligenz der spinnenförmigen Wesen weit genug ausgebildet sei, um die Entwicklung von Verhaltensmustern zu ermöglichen. In einem solchen Fall wäre es denkbar, daß die Wachsamkeit der Spinnenroboter nur gering war. Die Enge der Stollen hinderte alle Außenseiter mit einem Körperumfang größer als Argan Us, sich der Anlage zu nähern. Wenn Sannys Theorie richtig war, dann hatten die Roboter keine Schwierigkeiten, ihre Bereiche gegeneinander abzugrenzen. Sie lebten also in Frieden, und der Herr aller Dinge mochte wissen, wie lange schon. Es konnte sein, daß sie sich an die Ruhe gewöhnt hatten. Plötzlich war Sanny verschwunden. Er sah ihren Umriß nicht mehr. Im Hintergrund des Ganges rührte sich noch immer nichts. Argan U überlegte, ob er ihr folgen solle. Er rang noch mit sich, als die Molaatin mit einemmal wieder auftauchte. Sie bewegte sich schnell und schwang zwei dünne Metallstreifen in der Hand. Argan U atmete auf, als er das fröhliche Leuchten ihrer runden Augen bemerkte. Sie hatte Erfolg gehabt, daran gab es keinen Zweifel.
»Zwei Grenzen neutralisiert«, sagte sie und warf die beiden Streifen zu Boden. »Und die Unrat‐Markierungen so verschoben, daß sich kein Robot da drinnen mehr auskennen wird.« Sie ließ sich vor der Mündung des Ganges zu Boden fallen und drehte sich so, daß sie alles sehen konnte, was sich im Hintergrund tat. »Es ist eine ungeheuerlich komplexe Anlage«, fuhr sie fort. »Nicht groß, aber bestückt mit einer Technik, von der wir keine Ahnung haben. Der Gang führt zwischen zwei Reihen von Aggregaten hinein, die wir uns ansehen müssen, wenn wir uns vor den Robotern nicht mehr zu fürchten brauchen. Kurz vor den Aggregaten zweigen Seitengänge nach rechts und links ab. Sie führen in die Bereiche anderer Roboter, in andere Abteilungen, in denen sich dieselben Geräte befinden. Ich hielt mich nach links. Der Seitengang war knapp drei Meter lang. Ungefähr in der Mitte, ein paar Zentimeter voneinander entfernt, waren die beiden Streifen in den Boden eingelassen. Unmittelbar hinter den Streifen lagen die beiden Abfallhaufen, mit denen die Roboter ihr Territorium .markierten. Ich schob sie beide auf fremdes Gebiet …« Sie hielt inne und betrachtete ihre Hände, als fürchte sie, es könne ein Teil des Unrats daran hängengeblieben sein. Dann wollte sie fortfahren; aber sie kam nicht mehr dazu. Argan U hatte im Hintergrund des Ganges eine schattenhafte Bewegung wahrgenommen. »Vorsicht, er kommt!« flüsterte er. * Der Spinnenrobot bewegte sich so behutsam, daß das raschelnde, knisternde Geräusch, das seine vielgelenkigen Beine erzeugten, kaum zu hören war. Er schien eine Gefahr zu wittern. Trotz des ungewissen Lichts sah Argan U, daß er ein vorderes Beinpaar nicht
als Gehwerkzeuge benützte, sondern sie gerade vor sich hingestreckt hielt, als seien sie Fühler. Etwa dort, wo nach Argan Us Schätzung die beiden Seitengänge abzweigten, von denen Sanny berichtet hatte, hielt der Robot an. Die beiden ausgestreckten Beine krümmten sich und schienen links in der Wand des Ganges zu verschwinden. »Alle guten Geister!« hauchte Sanny. »Er riecht den fremden Abfall!« Der Robot zögerte eine Sekunde. Dann geriet plötzlich Bewegung in ihn. Ein Ruck fuhr durch die fadendünnen Beine und durch den flachgedrückten Körper. Ein raschelndes Knistern war zu hören, und das fremdartige Geschöpf verschwand wie vom Katapult geschnellt in dem abzweigenden Gang. Sanny richtete sich auf. »Komm, das müssen wir sehen«, forderte sie Argan U auf. Er kroch hinter ihr her durch den engen Gang. Von irgendwoher kamen merkwürdige Geräusche: das Knistern, das die Beine des Spinnenroboters verursachten, vermischt mit knurrenden, schabenden Lauten und dumpfen Knallen, als prallten zwei Hohlkörper mit großer Wucht aufeinander. Sie erreichten die Mündung des Seitengangs. Das Licht war trübe; Einzelheiten ließen sich nicht erkennen. Aber Argan U sah die Umrisse zweier Robotkörper, die in einen erbitterten Kampf verwickelt waren. Dünne Beine pfiffen wie Peitschenstränge durch die Luft, verwickelten sich ineinander und versuchten, sich gegenseitig aus den Gelenken zu reißen. Flachgedrückte, ellipsoide Körper prallten gegeneinander. Aufgewühlter Unrat flog umher. Einer der beiden Körper klappte plötzlich auf. Aus der vorderen Hälfte des Ellipsoids wurden zwei mit scharfen Beißwerkzeugen besetzte Kiefer. Die Falle schnappte zu. Ein häßliches, kreischendes Geräusch wie von zerreißendem Metall erfüllte die Luft. Vier Beine des gegnerischen Robots fielen zu Boden, über den mittleren Gelenken gekappt.
Der Kampf wurde ohne Erbarmen geführt. Jeder der beiden Roboter hatte den Kot des andern auf einem Terrain gefunden, das er für das seine hielt. Hier kämpften nicht Maschinenwesen, sondern zwei animalische Instinkte, die von einem genialen Konstrukteur in metallenen Körpern angesiedelt worden waren. Der verletzte Robot wich zurück; der andere setzte hinter ihm her. Aber das Manöver war nur eine Finte des Verletzten. Als der Verfolger allzu eifrig nachdrängte, fuhr er plötzlich und unerwartet auf ihn los. Er gebrauchte dieselbe Taktik, die ihn vier seiner Beine gekostet hatte. Aber er war erfolgreicher. Er kappte fünf Gehwerkzeuge des Gegners unmittelbar unterhalb der Stelle, an der sie aus dem Körper drangen. Das Arsenal der beiden Kämpfer war umfangreich. Dünne, haarscharf gezielte Strahlen ätzender Säure schossen aus den weit geöffneten Metallmäulern. Übelriechender Dampf erhob sich von den blasenwerfenden Oberflächen der Robotkörper. Mit scharfen Zähnen bewehrte Kiefer öffneten sich und klappten mit knirschenden Geräusch wieder zusammen. Die Bewegungen wurden allmählich langsamer. Ein Körper neigte sich nach vorne, weil ihm die Beine fehlten, auf die er sich stützen konnte. Der andere sah die Schwäche des Gegners und schlug mit peitschengleichen Extremitäten zu. Der Angegriffene verlor seinen letzten Halt und stürzte zu Boden. Wie ein sterbendes Insekt zappelte er mit den verstümmelten Gliedmaßen; aber er war nicht mehr imstande, sich aufzurichten. Der Sieger wandte sich ab. Auch er war schwer angeschlagen. Seine Bewegungen wirkten unsicher, tapsend. Die metallene Oberfläche des Körpers kochte unter dem Einfluß der Säure, mit der der Feind ihn Übergossen hatte. Nur ein Drittel der Beine war noch unbeschädigt. Das metallene Maul stand weit offen; er konnte es nicht mehr schließen. Bevor er die Mündung des Seitengangs erreichte, ereilte auch ihn das Schicksal. Die Glieder knickten ein; der Körper prallte mit dumpfem Knall zu Boden. Noch ein paar
letzte, zuckende Regungen – dann war es mit ihm zu Ende. Argan U rührte sich nicht. Zu unwirklich war die Szene gewesen, die sich vor seinen Augen abgespielt hatte. Er musterte den Robot, der nicht weiter als einen Meter entfernt zu Boden gestürzt war, und rechnete jeden Augenblick damit, daß er sich wieder erhöbe und zum Angriff vorging. Sannys Stimme riß ihn aus den Gedanken. »Zwei sind erledigt«, sagte sie. »Fünf bleiben noch.« 7. Hage Nockemann erschien es, als sei eine Ewigkeit vergangen, als die Roxharen‐Roboter endlich den Rückzug antraten. Er schob sich einen halben Meter weiter unter Girgeltjoffs Gewand hervor und spähte in die Höhe. Nein, sie zogen sich nicht alle zurück, nur vier. Einer blieb. Er schraubte sich bis dicht unter die hohe Decke des Khadsch hinauf und zog dort in gemächlichem Tempo weite Kreise. Das bedeutete, daß Hidden‐X noch nicht aufgegeben hatte. Der Platz blieb leer. Kein Ysterone ließ sich mehr sehen. Zu furchterregend war das Erlebnis gewesen, als die Roboter das Feuer auf die beiden Märchenerzähler eröffneten – mit derselben Strahlung, die auch die Nickelstatue in der Tabuzone versandte. Ein Roboter war als Aufpasser zurückgeblieben. Den drei Solanern blieb keine andere Wahl, als in ihren Verstecken zu warten. Lyta Kunduran hatte es in der heißen, stickigen Luft unter dem schweren Gewebe der bunten Kutte nicht mehr gehalten. Sie kam herbeigekrochen und schmiegte sich neben Hage. Hage gab ihr mit beredten Gesten zu verstehen, daß sie sich ruhig verhalten müsse. »Was wird jetzt?« fragte sie flüsternd. »Sie haben Girgeltjoff und Barlod‐Traug‐Tul im Verdacht«, antwortete er. »Ich nehme an, daß sie abgeholt und zur Tabuzone gebracht werden sollen.« »Wenn sie nicht vorher aufwachen und sich aus dem Staub
machen.« Hage deutete in die Höhe. »Da oben ist noch einer, der das verhindern wird.« »Dann sollten wenigstens wir …« »Meinst du, uns sieht er nicht?« Von drüben, unter Barlod‐Traug‐ Tuls buntem Gewand hervor, meldete sich Chart Deccon. Er hatte sich auf den Ellbogen halb in die Höhe gestemmt und fingerte mit einer Hand an dem Kästchen, das er um den Hals trug. »Wenn du recht hast, Hage«, zischte er, »dann hätte uns nichts Besseres passieren können.« »Freie Fahrt zur Tabuzone?« antwortete Hage mißtrauisch. »Ich nehme an, sie werden unsere beiden Freunde auf Herz und Nieren prüfen, bevor sie sie abtransportieren. Dabei finden sie uns.« »Sie werden nichts prüfen!« grinste der High Sideryt. »Wir werden sie überzeugen, daß jede Prüfung sinnlos ist.« Hage wußte nicht auf Anhieb, was er damit meinte. Er wollte sich erkundigen. Aber in diesem Augenblick waren Geräusche zu hören, die * aus einer der Seitenstraßen kamen. Schwere Triebwerke summten. Hage richtete sich auf, bis er über Girgeltjoffs schlaff zur Seite hängenden Fuß hinwegblicken konnte. Er sah zwei Transportroboter aus einer Straßenmündung auf den Platz gleiten. Sie wurden flankiert von insgesamt zehn eiförmigen Wachrobotern. Das Kontingent hielt auf die Mitte des Khadsch zu. Die zwei Transporter hatten den Auftrag, Girgeltjoff und Barlod‐Traug‐Tul abzuholen, daran gab es keinen Zweifel. »Haltet euch bereit!« stieß Chart Deccon hastig hervor. »Auf meinen Wink verkriecht ihr euch in die Schlingen.« * Hage hatte sich unter das Gewand des Ysteronen zurückgezogen. Die Schlinge, die ihm als Sitzplatz diente, war nur einen
ausgestreckten Arm weit entfernt. Er robbte vorsichtig auf sie zu, um die Falten der Kutte nicht in verdächtige Bewegung zu bringen. Auf der anderen Seite des reglosen Körpers bewegte sich Lyta Kunduran. Er schob sich vorwärts, bis er den Sehschlitz erreichte. Sein Blickwinkel war ungünstig; aber er sah einen der beiden Transportroboter, der sich mit langen, flexiblen Greifarmen mühte, Barlod‐Traug‐Tul in halbwegs aufrechte Position zu manövrieren und auf seine Lastpritsche zu laden. Im selben Augenblick spürte er, wie auch Girgeltjoffs Körper sich zu bewegen begann. Die Wachroboter sah er nicht. Sie schwebten irgendwo hoch über der Szene. Ein Greifarm schlang sich wie ein Gürtel um Girgeltjoffs vier Beine, ein weiterer packte den Giganten unter den Armen. Hage griff nach seiner Schlinge. Er mußte verhindern, daß sie unter der Körpermasse des Ysteronen begraben wurde. Girgeltjoff schwebte ein paar Meter weit durch die Luft und kam auf die Pritsche zu liegen. Ein Motor begann zu summen. Die Pritsche richtete sich auf, so daß der Ysterone, wenn er zu sich kam, sich in annähernd aufrechter Position befand. Die Greifarme hielten ihn fest und sorgten dafür, daß er nicht abrutschte. Hage setzte sich in die Schlinge. Auf der anderen Seite des bewußtlosen Körpers gab Lyta ihm durch einen Wink zu verstehen, daß auch sie das Manöver unbeschadet überstanden hatte. Hage sah hinaus. In zehn Metern Entfernung schwebte der zweite Transportrobot, der sich Barlod‐Traug‐Tul aufgeladen hatte. Er hielt nach den Wachrobotern Ausschau. Sie schwebten unter der Decke des Khadsch, wie er nicht anders erwartet hatte. Die beiden Transporter verhielten reglos. Vier Wachroboter lösten sich aus der kreisenden Formation und stießen herab. Hage spürte, wie sein Magen sich verkrampfte. Hidden‐X und die Roxharen hatten Verdacht geschöpft. Sie ahnten, daß die beiden Märchenerzähler nicht das waren, wofür sie sich ausgaben. Und sie konnten sich
ausrechnen, daß die weiten, wallenden Gewänder der Ysteronen ausreichend Schutz für drei Wesen von zwergenhafter Statur boten, die vor kurzem aus roxharischer Gefangenschaft entkommen und seitdem nirgendwo mehr gesehen worden waren. Er selbst wenigstens, Hage Nockemann, hätte so gedacht. Bevor er die bewußtlosen Ysteronen abtransportieren ließe, hätte er ihre Kutten untersuchen lassen. Es sah so aus, als verfolge Hidden‐X ähnliche Ideen. Plötzlich geriet unerwartete Bewegung in das Bild. Die vier Roboter stoben auseinander wie Enten, unter die ein Schrotschuß gefahren war. Hage beugte sich nach vorne, um ein weiteres Blickfeld zu haben. Die restlichen Wachroboter unter der Decke hatten inzwischen ebenfalls ihre Position verlassen. Es bildete sich eine weit auseinandergezogene Formation, die mit hoher Geschwindigkeit auf die Schmalseite des weiten Platzes zuglitt. Hage traute seinen Augen nicht. Dort, auf der ebenen, deckungsfreien Fläche bewegten sich drei menschliche Gestalten. Sie trugen die lindgrüne Kombination der SOL‐Besatzung. Sie rannten, was die Beine hergaben. Ihr Ziel war eine der Straßenmündungen. Es sah einen Augenblick lang so aus, als müßten die Roboter ihnen zuvorkommen. Aber die Flüchtenden hatten ihre Reserven noch nicht verausgabt. Sie legten ein weiteres an Geschwindigkeit zu. Ihr Vorsprung war beträchtlich. Zwanzig Meter vor den heranbrausenden Robotern verschwanden sie in dem dreißig Meter hohen Straßenstollen. Die Verfolger setzten hinter ihnen her. Ein paar Sekunden noch war das helle Summen der Triebwerke zu hören; dann wurde es still. Gänzlich unerwartet setzten sich die beiden Transporter plötzlich in Bewegung. Sie glitten über den Khadsch hinweg und tauchten in einer leeren Straße unter. Bei erster Gelegenheit zweigten sie in einen Stollen ab, der schräg in die Tiefe führte und auf eine der großen Fahrstraßen mündete. Ohne Schwierigkeiten fädelten sie sich in den Verkehrsfluß ein.
Hage empfand Erleichterung. Die Gefahr war vorübergegangen. Elf Wachroboter jagten drei Phantomgestalten, die sie eigentlich unter den bunten Kutten der beiden Märchenerzähler zu finden erwartet hatten. Die Transporter waren auf dem Weg zur Zentralkugel. Was mehr konnte er sich wünschen? Ihre mühsame Wanderung von einer Ebene zur anderen, von einer Kugelzelle zur nächsten hatte ein Ende gefunden. Hidden‐X selbst lieferte ihnen die Transportmittel, die sie auf dem raschesten Weg ans Ziel bringen würden. Ein gelungener Coup, dachte er und schmunzelte dabei. Das alles hatten sie Chart Deccon und seinem Holographen zu verdanken. Die Projektion der drei Phantomgestalten hatte die Roboter abgelenkt und eine Untersuchung der bewußtlosen Ysteronen verhindert. Hage Nockemann erinnerte sich an eine Zeit, da er für den High Sideryt nur Widerwillen und Verachtung empfunden hatte. Sie lag noch nicht weit zurück. Merkwürdig, wie rasch sich eine Einstellung ändern konnte, die man jahrelang mit sich herumgetragen hatte. An Chart Deccon gab es nichts mehr auszusetzen. Aus dem tyrannischen Bruder ohne Wertigkeit war ein Mitstreiter geworden, auf den man sich verlassen konnte. 8. Die ersten Roboter erschienen nach wenigen Minuten. Sie bewegten sich mit hoher Geschwindigkeit durch den finsteren Tunnel – offenbar in dringendem Auftrag unterwegs. Sie kamen aus der Zone der Helligkeit, die den Hintergrund bildete. Den beiden Menschen und dem solanischen Kampfroboter, die sich in einer Nische verkrochen hatten, schenkten sie keine Beachtung. Atlan zählte vierzig, dann ließ der Strom allmählich nach. Vierzig Roboter hatte Hidden‐X aus der großen Transmitterstation abgezogen, um die fremden Eindringlinge zu jagen, von denen er
glauben mußte, sie hätten einen ysteronischen Personengleiter zu Bruch geschossen und seien dann mit einem qualmenden Transporter entkommen. Er versuchte, sich das Durcheinander auszumalen, das auf der raucherfüllten großen Fahrstraße herrschte. Wie lange würde es dauern, bis die roxharischen Roboter erkannten, daß sie auf eine Finte hereingefallen waren? Er trat aus der Nische hervor. Der Augenblick der Entscheidung war gekommen. Von jetzt an gab es kein Zurück mehr. Sein Plan beruhte darauf, daß die Mehrzahl der Roboter aus der Transmitterstation abgezogen worden waren. Mit fünf, vielleicht sogar zehn würden sie zur Not fertig werden. Wenn er sich getäuscht hatte, rannten sie in ihr Verderben. Sie hatten den Tunnel zur Hälfte durchquert, bevor sie von den herannahenden Maschinenwesen gezwungen worden waren, in Deckung zu gehen. Der Beginn der hell erleuchteten Zone lag noch zweihundert Meter entfernt. Auf sein Signal hin setzte der Kampfrobot sich in Bewegung. Er hatte den Gravo‐Projektor eingeschaltet und glitt schwerelos durch die Luft. Wen kümmerte es jetzt noch, daß das künstliche Schwerefeld von jedem Orter in zwanzig Kilometern Umkreis erfaßt werden würde? Von jetzt an zählten nur noch die Minuten und Sekunden. Atlan und Breckcrown rannten hinter der Maschine her. Zweihundert Meter – eine endlose Entfernung für den, der es eilig hat. Im Laufen sah Atlan sich um; aber hinter ihm war es finster. Wenn die roxharischen Roboter zurückkehrten, würde er sie nicht bemerken. Die Zone der Helligkeit kam unerträglich langsam näher. Er sah mächtige Aggegate, die wie Türme zur fünfzig Meter hohen Decke einer riesigen Halle aufragten. Die Türme waren zu beiden Seiten einer breiten Straße angeordnet, und die Straße mündete in eine torbogenförmige Öffnung weit im Hintergrund, die geradewegs ins Nichts zu führen schien, in die Schwärze des Sternenleeren, intergalaktischen Raumes. Die Kapazität des menschlichen Verstands reichte nicht aus, zu
erfassen, wieviel Leid sich durch jenen Torbogen über die Völker der Galaxis All‐Mohandot ergossen hatte. Der Riesentransmitter beförderte nicht nur die Expeditionen der Metallsucher und ihr Gerät, er holte auch die Trillionen Tonnen von Nikkel herbei, die aus der Zerstörung zahlloser Planeten gewonnen wurden, und schaffte sie an einen Ort, den nur Hidden‐X kannte. Die mächtige Anlage arbeitete nach den Prinzipien einer fremden, weit fortgeschrittenen Technik. Kein Transmitter terranischer Fertigung hätte zuwege gebracht, was dieses Konglomerat gigantischer Aggregate leistete. Es wäre von großer Bedeutung gewesen, die Grundlagen der fremden Technologie zu erforschen und zu verstehen. Aber dazu blieb keine Zeit. Den Eingang zur Halle bildete ein dreißig Meter hohes, fünfzig Meter breites Rechteck. Durch dieses Tor waren am vergangenen Tag die zurückkehrenden Nickelsucher gekommen, mit denen Tolgetnur auf dem Khadsch gefeiert hatte. Grimm übermannte den Arkoniden. Er würde dafür sorgen, daß es keinen Anlaß zu solchen Feiern mehr gab. Hinter der Kampfmaschine her eilte er durch die riesige Öffnung. Jetzt erst sah er die Halle in ihrer ganzen unglaublichen Ausdehnung, und für einen Augenblick verließen ihn Entschlossenheit und Zuversicht, die er bisher empfunden hatte. Wie konnten drei Zwerge hoffen, eine solch gigantische Anlage zu zerstören? Hinter einem der massiven Türme tauchte ein roxharischer Wachroboter auf. * Die Kampfmaschine reagierte blitzschnell. Ein armdicker, gleißender Energiestrahl schoß knallend dem Wachrobot entgegen. Der Donner der Explosion rumpelte durch die Weite der Halle. Der weißglühende Strahl wanderte seitwärts und erfaßte die Aufbauten
eines turmähnlichen Aggregats. Metallene Konstruktionen sanken in sich zusammen und stürzten krachend zu Boden. Faustgroße, gelbglühende Tropfen von Schmelzgut rannen an der Wandung der Maschine herab und erfüllten die Luft mit Qualm. Ein zweiter Robot tauchte auf. Breckcrown Hayes ließ ihm keine Zeit, sich in das Geschehen einzumischen. Sein Schuß traf das eiförmige Maschinenwesen, als es an der konisch geformten Spitze eines Turmaggregats vorbeiglitt. Die Explosion riß den Konus aus seiner Verankerung. Er .stürzte herab und detonierte, bevor er den Boden erreichte. Atlan hatte sich den Maschinentürmen auf der linken Seite der Halle zugewandt. Er machte sich keine Hoffnung, daß es ihm gelingen könne, auch nur einen der Kolosse in Grund und Boden zu schmelzen. Sein kleiner Blaster brachte nicht genügend Leistung auf. Er war gezwungen, sich auf die wesentlichen Dinge zu konzentrieren. Er erkannte an den Aufbauten der Türme Dinge, die er für Kontrollmechanismen hielt. Auf diese konzentrierte er seine Aufmerksamkeit. Der Erfolg war beachtlich. Sein erster Schuß löste im Innern des Turmes eine Explosion aus. Die metallene Verkleidung beulte sich nach außen und riß auf. Mit donnerndem Krach spie die Öffnung einen Strom glühender Trümmerstücke von sich. Der Turm neigte sich nach vorne. Atlan fürchtete, er werde stürzen; aber die Struktur stabilisierte sich, als die Wucht der Detonation verebbte. Er eilte weiter. Dem nächsten Aggregateturm wurde das gleiche Schicksal zuteil. Es zeigten sich nur wenige Wachroboter. Sie schienen durch die Vorgänge in der Halle verstört. Vielleicht war die Verbindung zu ihrem Befehlszentrum abgerissen. Auf jeden Fall waren sie keine ernst zu nehmenden Gegner. Sie reagierten zu langsam. Selbst der träge handelnde Mensch hatte keine Schwierigkeiten, sie unschädlich zu machen. Inzwischen war der Kampfroboter weiter ins Innere der Halle geglitten. Mit Blaster und Desintegrator
zugleich feuernd, schuf er ein glühendes, dampfendes, berstendes Chaos. Breckcrown Hayes hatte sich Atlans Taktik zu eigen gemacht: er schoß auf die Kontrollmechanismen. Qualm und wabernde Glut erfüllten die mächtige Halle. Die Hitze wurde unerträglich. Sekundärexplosionen setzten das Werk der Zerstörung fort. Aggregate barsten auseinander, nachdem sie nur wenige Minuten der Höllenglut ausgesetzt waren. Keuchend hetzte der Arkonide von einem Aggregat zum nächsten. Seine Bewegungen waren automatisch, seine Schüsse so unfehlbar, als stünden sie unter der Kontrolle einer positronischen Zielautomatik. Er selbst hatte sich in eine Maschine verwandelt, ein Werkzeug der Vernichtung. Sein logischer Verstand hatte sich zurückgezogen. Er handelte unter dem Einfluß des Instinkts. Bis der Extrasinn zu ihm sprach. »Noch ein paar Schritte weiter, du Narr, und du schaffst den Weg zum Ausgang nicht mehr!« Atlan sah auf. Aus tränenden Augen starrte er in ein glühendes, flammendes, qualmendes Chaos. Breckcrown Hayesʹ breitschultrige Gestalt hüpfte durch den feurigen Dunst wie ein tanzender Derwisch. Ein eiserner Reif hatte sich Atlan um die Brust gelegt und hinderte ihn am Atmen. Die Erkenntnis der tödlichen Gefahr traf ihn mit der Wucht eines psychischen Schocks. Die Zerstörung, die sie angerichtet hatten, verwandelte sich in eine gigantische Falle, die sie verschlingen würde, wenn sie sich nicht schleunigst zurückzogen. »Aufhören!« stieß er mit krächzender Stimme hervor. Breckcrown mußte ihn gehört haben. Aber der athletisch gebaute Solaner fuhr fort, durch den Qualm zu tanzen, und sein Blaster spie Feuer gegen die Aufbauten der Maschinenkolosse. Der Rausch der Zerstörung hatte ihn gepackt. Er war nicht mehr ansprechbar. Atlan bekam Breckcrown an der Schulter zu fassen und wirbelte ihn herum. »Hinaus!« schrie er und deutete mit ausgestrecktem Arm in
Richtung des Ausgangs. Es war nicht klar, ob Breckcrown Hayes auf seinen Befehl gehört hätte. Aber in diesem Augenblick glitt der Kampfrobot aus den flammenden Dunstwolken und griff mit stählernen Klauen zu. Breckcrown blieb nichts anderes übrig, als sich zu fügen. Atlan stürmte voran durch den erstickenden Qualm. Er hatte den Überblick verloren. Er wußte nicht mehr, wie weit der Ausgang entfernt war. Rings um ihn barsten glühende Aggregate mit donnerndem Krach. Bruchstücke pfiffen wie Geschosse durch die Luft. Der Boden zitterte. Er brauchte Bjo Breiskoll kein zusätzliches Signal zu geben. Das Dröhnen der Explosionen mußte in der ganzen Kugelzelle zu spüren sein. Bjo würde wissen, was er zu tun hatte. Eine Wand tauchte auf. Der Durchgang! Vor ihm lag die Finsternis des Tunnels, der vierhundert Meter weiter auf den Khadsch mündete. Die infernalische Hitze hatte im Innern der Halle einen Hochdruckwirbel erzeugt. Der Tunnel wirkte als Schlot. Rauschend und fauchend Schossen Qualm und überhitzte Luftmassen durch die weite Rundung davon. Ein Orkan schob die Fliehenden vor sich her. Aus dem Dunst tauchte ein roxharischer Roboter auf, der erste der Zurückkehrenden. Die Zerstörungen in der Transmitterhalle hatten Hidden‐X dazu bewegt, die Suche nach den verschwundenen Eindringlingen abbrechen zu lassen. Die Erhaltung der Anlage, mit der er seine unersättliche Gier nach Nickel zu stillen trachtete, war ihm wichtiger als alles andere. Atlan, noch immer mehr Automat als denkendes Wesen, schoß sofort. Der Robot explodierte und verwandelte sich in einen Schauer glühender Trümmerstücke, die der Sturm mit sich fegte. Der Khadsch tauchte vor ihnen auf. Kein Ysterone war zu sehen. Beißender Qualm trieb in wirbelnden Schwaden über die weite Fläche. Durch den Tunnel dröhnten in unaufhörlicher Folge Explosionen, die donnernden Geräusche des Chaos, das Hidden‐Xʹ kostbare Maschinen verschlang. Der Kampf robot mit seinem
untrüglichen Orientierungssinn übernahm die Führung. Breckcrown hatte die Trance der Vernichtungswut längst abgeschüttelt und bedurfte der Führung nicht mehr. Der Weg führte in einen schmalen, hohen Stollen, der sich rampenartig aufwärts schraubte. Hier endlich wurde die Luft besser. Das eiserne Band, das dem Arkoniden den Brustkorb einschnürte, lockerte sich. Er hörte das dumpfe Brausen des Verkehrs. Der Stollen mündete auf die nächsthöhere Ebene der großen Fahrstraße. Der Straßenabschnitt, auf dem sie den Transporter gekapert und in Brand gesetzt hatten, lag gute vierzig Meter unter ihnen. Eine Bucht tat sich vor ihnen auf – eine Fläche, die sich wie ein Kreissegment an die äußerste Fahrbahn anschloß und dem Abstellen wartungsbedürftiger Fahrzeuge diente. Jenseits des Segments floß der Verkehr in stetem Strom, unbeeindruckt van den Erschütterungen, die von den Explosionen in der Transmitterhalle ausgingen und die Struktur der Kugelzelle zum Vibrieren brachten. Ein Personenfahrzeug mit hohem, gläsernem Aufbau glitt von der äußeren Fahrbahn heran und hielt am Rand der Bucht. Ein Luk klappte auf. Atlan erkannte Tolgetnurs hochaufragende Gestalt. Auf dem Boden des Fahrzeugs kauerten Bjo Breiskoll und der zweite Kampfroboter, der in seinem Rückentornister die Bestandteile des Miniaturtransmitters trug. Atlan schwang sich über die Bordkante, ließ sich fallen und blieb lang ausgestreckt liegen. Die gequälten Lungen pumpten mit schmerzender Vehemenz. Er hörte Breckcrown Hayes und den Robot an Bord kommen. Das Luk schloß sich. Der Gleiter nahm Fahrt auf und reihte sich in den Verkehr ein. * Der Schmerz verebbte. Der Verstand erhielt Gelegenheit, sich von
neuem auf das Wesentliche zu konzentrieren. Im Hintergrund seines Bewußtseins schwelte in düsterer Glut das Feuer des Triumphs. Die Transmitterstation war zerstört! Niemals wieder würde Hidden‐X ysteronische Sklaven aussenden, blühende Welten zu zerstören und ihren Kernen ungeheure Mengen des silbern schimmernden Metalls zu rauben. Ein entscheidender Sieg war errungen. Aber noch mußte er an sich halten. Noch war es nicht an der Zeit, sich der Begeisterung hinzugeben. Die Vernichtung des Transmitters war ein wichtiger Schritt gewesen. Weitere galt es noch zu tun. Noch herrschte Hidden‐X über das Ysterioon und seine Bewohner. Noch war seine finstere Macht nicht gebrochen. Seine Gedanken eilten voraus. Der Gleiter näherte sich der Grenze der Kugelzelle. Der Verkehr fächerte aus und verteilte sich auf Hunderte verschiedener Ebenen, die durch den dreißig Kilometer weiten Verbindungskanal zur Zentralkugel führten. Tolgetnur hielt den Gleiter unbeirrt auf einer der inneren Fahrbahnen und paßte seine Geschwindigkeit der der anderen Fahrzeuge an. Er hatte die Möglichkeit, entgegen den Anweisungen des Funknetzes zu beschleunigen, zu bremsen, die Fahrthöhe oder die Fahrbahn zu wechseln. Aber bislang war kein solches Manöver erforderlich gewesen. Es gab keinen Hinweis darauf, daß das Fahrzeug verfolgt wurde. Hidden‐X war damit beschäftigt, seine Transmitterstation zu retten; und wenn es das Schicksal gut mit ihm meinte, dann vermutete er die Eindringlinge noch in deren unmittelbarer Nähe. Die Struktur des Verkehrs begann, sich zu ändern. Auf den Gegenfahrbahnen wurden immer häufiger roxharische Transportroboter sichtbar, die mit großer Geschwindigkeit dahineilten und offenbar den Auftrag hatten, bei der Rettung der Transmitteranlage zu helfen – in Allans Augen ein hoffnungsloses Unterfangen. Der Untergang der Station war nicht mehr aufzuhalten. Die Energien, die dort freigesetzt worden waren, spotteten jeder Bemühung, sie wieder zu bändigen. Der Verkehr, der in Richtung der Zentralkugel floß, wurde
dünner. Immer mehr Fahrzeuge wichen auf buchtartige Halteflächen aus, die sich jenseits der äußersten Fahrbahn erstreckten. Es ließ sich nicht erkennen, ob es sich dabei um eine Vorsichtsmaßnahme handelte, die Hidden‐X aufgrund der jüngsten Ereignisse getroffen hatte, oder um eine Routine, die schon immer geübt wurde. Immer weniger Fahrzeuge bewegten sich in der Nähe des Gleiters, dessen Steuer Tolgetnur mit Sachverstand und stoischer Ruhe handhabte. Je spärlicher der Verkehr wurde, desto größer war die Gefahr der Entdeckung. Jetzt kam die Zeit, da sie mehr denn je auf die Wahrnehmungen des Telepathen Bjo Breiskoll angewiesen waren. Je näher sie der Zentralkugel kamen, desto deutlicher empfand Bjo die mentalen Signale, mit der Hidden‐X auf die ihm Untertanen Roxharen einwirkte. Er hatte sie um sich geschart. Sie befanden sich in ihren Quartieren im Innern der Zentralkugel, in unmittelbarer Nähe der Tabuzone. Bjo verstand die Einzelheiten der mentalen Sendungen nicht; aber er erkannte deutlich, daß Hidden‐X die Lage für bedrohlich hielt. Die ersten Stollen, die von der Fahrbahn abzweigten, tauchten entlang den Seiten der Verkehrsstraße auf. Sie hatten den Kanal hinter sich gelassen und die Grenze der Zentralkugel überschritten. Irgendwo vor ihnen, knapp einhundert Kilometer entfernt, lag die Tabuzone. In der Nähe waren nur noch vereinzelte Fahrzeuge zu sehen. Atlan fühlte ein unangenehmes Kribbeln im Nacken: das Anzeichen drohender Gefahr. Wie weit würde Hidden‐X sie noch vordringen lassen? Bjo Breiskoll schrak plötzlich in die Höhe. Die Augen des Katzers weiteten sich in ungläubigem Staunen. »Impulse!« stieß er hervor. »Menschliche Bewußtseine. Das sind … Chart Deccon … Lyta Kunduran … und noch einer …« Atlan sah ihn auffordernd an. Er brauchte nichts zu sagen. Bjo wußte, worauf es ankam. Der Telepath schloß die Augen. Kurze Zeit später begann er mit stockender Stimme: »Entfernung … wahrscheinlich ein paar Kilometer … annähernd
selbe Ebene … ich glaube, wir kommen ihnen langsam näher … sie sind guten Mutes … haben Hidden‐X übertölpelt … auf dem Weg zur Tabuzone. Der dritte … das ist Hage Nockemann, der verschrobene Wissenschaftler.« Atlan kletterte auf die Pritsche, an der Tolgetnur lehnte. »Schneller«, drängte er. »Irgendwo vor uns ist ein Fahrzeug, das wir einholen müssen.« Der Ysterone gehorchte. Vorsichtig vergrößerte er die Geschwindigkeit des Fahrzeugs. Nach wenigen Minuten kam ein roxharischer Transportroboter in Sicht. Auf seiner Lastpritsche ruhte, von Greifarmen gefesselt, die Gestalt eines Ysteronen. Der Gleiter schloß auf. Der Ysterone hatte die Augen geöffnet und blickte starr, wie benommen, vor sich hin. Er machte den Eindruck eines Wesens, das soeben aus tiefem Schlaf erwacht war. »Mein Gott, das ist Girgeltjoff!« stieß Atlan hervor. 9. Das Luk fuhr auf. Die beiden Kampfroboter schwangen sich über den Bordrand, schossen am Bug des Gleiters vorbei nach vorne und näherten sich dem Transportroboter. Atlan hörte eine mechanische Stimme im Empfänger: »Es sind zwei Transporter. Sie bewegen sich in geringem Abstand. Auch der vordere hat einen Ysteronen geladen.« »Bringt sie beide zum Stillstand«, entschied der Arkonide. Desintegratorstrahlen brachen aus den Waffenarmen der beiden Kampfmaschinen. Sie konzentrierten sich auf den vorderen der beiden Transporter. Der hintere würde von selbst zum Stillstand kommen, sobald sein Vordermann abstürzte. Metalldampf strömte aus dem Chassis des getroffenen Roboters. Er geriet ins Schlingern. Die Ladeplattform, auf der die Pritsche ruhte, schrappte kreischend und heulend über die Oberfläche der Fahrbahn. Ein Triebwerk
unternahm mit hysterischem Geheul einen letzten Versuch, die Maschine wieder in die Höhe zu bringen. Aber die beiden Kampfroboter hatten ganze Arbeit geleistet. Der vordere Transporter prallte endgültig zu Boden, rutschte kreiselnd noch ein paar Dutzend Meter weit dahin und kam zum Stillstand. Die zweite Maschine hielt ebenfalls an und setzte ab. Die solanischen Roboter kannten ihre Aufgabe. Sie beherrschten die Sprache der Ysteronen und sprachen den verblüfften Giganten beruhigend zu, während sie die Greifarme durchtrennten, mit denen sie an die Pritschen gefesselt waren. Barlod‐Traug‐Tul und Girgeltjoff folgten ihren Anweisungen und bewegten sich, immer noch halb benommen, auf den großen Personengleiter zu. Beide waren in lange, wallende Kutten gekleidet, bunte Gewänder, wie Atlan sie bei den Ysteronen noch nie beobachtet hatte. Er warf einen raschen Blick zur Seite und sah den Ausdruck ratlosen Staunens auf Bjo Breiskolls Gesicht. Da meldete sich unter Girgeltjoffs farbenfrohem Gewand hervor eine meckernde Stimme und erklärte auf Interkosmo: »Bei allen guten Geistern des Weins: das sind Atlan … und Bjo … und … und …« Die beiden Ysteronen kamen an Bord, hinter ihnen die Kampfroboter. Tolgetnur schloß das Luk und nahm Fahrt auf. Er kurvte um die stillgelegten Transporter herum und kehrte auf die innere Fahrbahn zurück. Ohne daß jemand ihn darauf hinzuweisen brauchte, wußte er, worum es ging. Der Gleiter mochte bisher unentdeckt geblieben sein. Aber die Stillegung der beiden Transporter, die Entführung der Ysteronen würden Hidden‐X und seine Streitkräfte auf den Plan rufen. Mit Höchstgeschwindigkeit schoß das Fahrzeug vorwärts. Der Rand der Tabuzone lag noch vierzig Kilometer entfernt – wenige Minuten für einen schnellen Gleiter. Girgeltjoffs Gewand geriet in Bewegung. Ein Paar dürrer Beine, in lindgrünen Overalls steckend, kam unter dem Saum zum Vorschein.
Jemand gab einen ächzenden Laut von sich, und eine Sekunde später wurde die Kutte zurückgeschlagen. Wache Augen, eingebettet in ein faltiges Gesicht, sahen sich verwundert um. Hände fuhren empor und begannen, einen gewichtigen Schnauzbart zu zwirbeln. »Da bratʹ mir doch einer einen Storch«, murmelte Hage Nockemann fassungslos. * Atlan und Chart Deccon begrüßten einander mit Handschlag. »Ich weiß, es gibt viel zu sagen«, lächelte der Arkonide. »Aber jetzt ist nicht die Zeit dazu. Ich weiß nicht, ob unser Zusammentreffen unter einem glücklichen oder einen unheilvollen Stern steht. Wir sind auf dem Weg, Sanny und Argan U zu befreien, aber es steht zu befürchten, daß Hidden‐X uns erwartet.« Als hätte er damit ein Stichwort gegeben, meldete sich Breckcrown Hayes: »Roxharische Roboter voraus!« Atlan schwang sich an der Pritsche in die Höhe, bis er über die Bordkante blicken konnte. Einen halben Kilometer vorab mündete die Fahrstraße auf einen weiten Platz, dessen Ausmaße sich von hier nur schwer abschätzen ließen. Jenseits der Mündung flimmerten die energetischen Felder des Gatters, das die große Nickelstatue, den Sitz des Hidden‐X, umgab. Sie hatten das Ziel fast erreicht. Ein Schwarm von zirka dreißig eiförmigen Robotern kam ihnen entgegen. Dem Tyrannen standen nicht mehr viel Abwehrkräfte zur Verfügung. Den größten Teil seiner Streitmacht hatte er ausgesandt, die Transmitteranlage zu retten. »Abwehrkonfiguration«, sagte Atlan mit verhaltener Stimme. »Tolgetnur, du weißt, wie du sie uns vom Leib halten kannst.« Das Luk klappte auf. Die beiden Kampfroboter glitten hinaus.
Tolgetnur packte das Steuer und riß den Gleiter in eine scharfe Kurve. Die roxharischen Maschinen hatten im selben Augenblick das Feuer eröffnet. Tolgetnurs Manöver brachte sie um den Treffer, den sie sonst unweigerlich erzielt hätten. Die Kampfroboter schossen zur Seite hin davon. Grüne Desintegratorstrahlen stachen quer über die weite Fläche der Straße. Zwei roxharische Maschinen zerpufften zu grauen Wolken aus Metalldampf. Der Gleiter schoß in wildem Zickzack über die leere Fahrbahn. Das Ende der Straße blieb hinter ihm zurück. Vor ihm lag die weite Halle der Tabuzone, beherrscht von der riesigen, aus Nickel aufgeführten Statue eines Ysteronen, die sich auf einem zehn Meter hohen Sockel erhob. Rings um die Basis leuchtete das energetische Gatter. Das Feuer der Kampf roboter hatte Verwirrung unter die Angreifer gebracht. Vier weitere fielen dem konzentrierten Desintegratorfeuer zum Opfer. Der Gleiter krängte um 45 Grad, als Tolgetnur ihn in eine scharfe Kurve riß und an der Wand der riesigen Halle entlangstreichen ließ. »Absetzen!« befahl Atlan. »Dort – die Straßenmündung. Wir benützen sie als Deckung.« Tolgetnur reagierte blitzschnell. Krachend setzte er das Fahrzeug zu Boden. Die Solaner sprangen durch das offene Luk. Die Ysteronen setzten hinter ihnen drein. Die Mündung der matt erleuchteten Straße war nur wenige Meter entfernt. Fauchend und knallend züngelten armdicke Energiestrahlen hinter den Fliehenden her; aber die Verwirrung unter den feindlichen Streitkräften zeitigte ihre Wirkung. Die Schüsse waren schlecht gezielt und erzeugten keinen Schaden. Die solanischen Kampfroboter schossen drei weitere Gegner kampfunfähig. »Roboter zurück!« schrie Atlan, nachdem er sich hinter der Kante der Straßenmündung in Deckung geworfen hatte. Sie gehorchten seinem Befehl; aber noch im Rückzug vernichteten sie zwei weitere roxharische Maschinen. Trotzdem, das gestand Atlan sich ein, war die Lage aussichtslos. Er wußte nicht, wohin
diese Straße führte. Er hatte keine Hoffnung, das Energiegatter niederbrechen zu können. Hidden‐X war auf der Hut; er wußte, woher ihm die größte Gefahr drohte. In Kürze würde es hier von roxharischen Maschinen wimmeln – sobald er die Einsatztruppen von der explodierenden Transmitterstation abgezogen hatte. Er machte sich Vorwürfe. Er hatte sich planlos in dieses Abenteuer gestürzt – und fünf Unschuldige mit sich gerissen. Acht, wenn er die Ysteronen mitzählte. Er hatte sich von Emotionen lenken lassen anstatt von der Logik. Hidden‐X war schwer angeschlagen, hatte er gemeint; und jetzt erfuhr er am eigenen Leib, daß selbst ein angeschlagener Hidden‐X ihm noch um ein paar Größenordnungen überlegen war. Eine Idee materialisierte in seinem Bewußtsein. Er mußte denen, die durch seine Schuld in diese Lage geraten waren, das Entkommen ermöglichen. Die roxharischen Roboter, jetzt kaum noch zwanzig, sahen von einer Verfolgung des gefährlichen Gegners ab. Sie schwebten draußen auf dem Platz und behielten die Straßenmündung im Auge. Atlan winkte eine der beiden Kampfmaschinen zu sich. »Ich fordere das ultimate Opfer«, sagte er hart. »Ich gehorche«, antwortete der Robot. »Wir ziehen uns zurück. Du hältst die Straßenmündung, so lange es geht. Im entscheidenden Augenblick löst du die Detonation aus. Sie hat dafür zu sorgen, daß die Straße an dieser Stelle zusammenbricht. Es darf uns niemand folgen können.« »Ich verstehe«, sagte der Robot und wandte sich ab. Die Umstehenden hatten Atlans Worte gehört, auch die Ysteronen, denen sie der Translator übersetzte. Sie wußten, daß der Arkonide eine lebenswichtige Entscheidung getroffen hatte. Sie wollten Fragen stellen. Aber es gab keine Gelegenheit mehr. Eine neue Entwicklung hatte begonnen. *
Der Boden zitterte wie unter dem Einfluß eines Erdbebens. Ein dumpfes Grollen erhob sich aus dem Innern der Statue. Das Energiegatter flackerte. Der metallene Sockel des riesigen Standbilds schien für den Bruchteil einer Sekunde von innen heraus zu leuchten. Risse sprangen durch die schimmernden Wände. Die Basis riß auf, und durch die Öffnungen strahlte gelbe Glut. Qualm schoß aus den Rissen hervor. Die roxharischen Roboter waren wie eine Schar aufgescheuchter Vögel davongestoben, als sich das Getöse erhob, und versuchten, sich im Hintergrund der Halle wieder zu sammeln. Zwei winzige Gestalten bewegten sich durch den Qualm. Atlan fuhr in die Höhe. Sein Plan war für den Augenblick vergessen. Er trat aus der Straßenmündung hervor und hob winkend die Arme. Die beiden Zwerge eilten auf ihn zu: ein kleiner Bär mit einem Fell, das aus orangenfarbenen Schuppen bestand, und eine noch viel kleinere, possierliche Gestalt mit kahlem Schädel und grünem Pelz. Er beugte sich vornüber. Sanny sprang ihm in die ausgebreiteten Arme. »Wir haben die Steueranlage für das Gatter ausgeschaltet!« stieß sie atemlos hervor. »Sieben Spinnenroboter mußten wir dafür …« Atlan tippte ihr mit dem Finger auf den Mund. »Keine Zeit dafür«, sagte er sanft. »Erzähl mirʹs später.« Er blickte auf den Platz hinaus. Im Hintergrund war Argan U dabei, seinen Freund Girgeltjoff mit schnatternder Stimme zu begrüßen. Die roxharischen Roboter hatten sich vom Schock erholt. Sie formierten sich und rückten gegen die Straßenmündung vor. Aus den Rissen, die in der Basis der Statue entstanden waren, leuchtete noch immer helle Glut. Das Standbild war unbeschädigt. Es erhob sich in schimmernder Majestät auf einem Sockel, dessen maschinelle Funktion von Sanny und Argan U lahmgelegt worden waren. Das Energiegatter war endgültig zusammengebrochen. Binnen weniger Sekunden hatte sich die Lage von Grund auf
gewandelt. Er war nicht mehr der hoffnungslos Unterlegene. Hidden‐X hatte seine Transmitterstation und die technischen Wunderwerke in der Basis seiner Statue verloren. Seine Streitkräfte waren durch die Weiten des Ysterioons verstreut. Er war verwundbar wie noch nie zuvor. Jetzt aufzugeben wäre Torheit gewesen. Er war seinen Gefühlen gefolgt anstatt seiner Logik. Er hatte sich und die Gefährten in eine Lage manövriert, aus der es keinen Ausweg mehr zu geben schien. Aber das Schicksal war ihm gnädig gewesen. Es hatte ihm einen Zufall in den Weg geführt, der die Situation auf den Kopf stellte. »Wir ziehen uns zurück!« rief er mit lauter Stimme. »Beeilt euch.« Es bedurfte keiner weiteren Aufforderung. Bjo hatte Sanny, Breckcrown den kleinen Puschyden auf den Arm genommen. Sie stoben davon. Die drei Ysteronen folgten ihnen gemessenen Schrittes. Zurück blieben die beiden Kampfroboter. »Dich brauche ich noch«, sagte Atlan zu dem, der die Bestandteile des Transmitters in seinem Tornister trug. Dann wandte er sich an den anderen. »Es bleibt bei dem, was wir abgemacht haben.« Die Maschine wandte sich wortlos um und blickte den Angreifern entgegen. * Hundert Meter einwärts beschrieb die Straße eine Krümmung. Dort hielten sie an. Die Gegend war verlassen. In der Nähe der Tabuzone wohnte kein Ysterone. Die Quartiere der Roxharen lagen auf anderen Ebenen. Atlan wies den Roboter an, den Transmitter zusammenzubauen. Während der wenigen Minuten, die diese Aufgabe beanspruchte, erteilte er hastig Anweisungen. »Der Transmitter bringt euch an Bord der Space‐Jet«, erklärte er, »wo immer sie sich auch gegenwärtig befindet.« Er hob den Blick und musterte die Ysteronen.
»Euch bleibt nichts anderes übrig, als hier irgendwo einen Unterschlupf zu finden …« »Mach dir um uns keine Sorge«, unterbrach ihn Tolgetnur. »Die Kugelzelle, aus der Girgeltjoff stammt, ist auch meine Heimat. Wir kehren dorthin zurück, und Barlod‐Traug‐Tul mag uns begleiten.« »Sie mögen mich dort nicht haben«, sagte Girgeltjoff. »Ich bin ein Ausgestoßener.« Jenseits der Krümmung hörte man das fauchende, knallende Abwehrfeuer des solanischen Kampfroboters. Tolgetnur machte die Geste der Verneinung. »Man hat sich inzwischen eines Besseren besonnen«, erklärte Tolgetnur. »Niemand hat das Recht, dich deiner Taten wegen zu verachten. Du hast früher als alle anderen erkannt, welch verderbliche Macht über die Ysteronen herrscht. Die Bewohner unserer Zelle haben das eingesehen. Man wird dich mit offenen Armen empfangen.« »Wie gelangt ihr dorthin zurück?« fragte Atlan. »Wir haben den Gleiter draußen in der Halle. Wenn es gelänge, die roxharischen Roboter ein paar Minuten lang abzulenken …« Der Arkonide nickte. »Wir wollen es versuchen«, sagte er. Der Transmitter stand. Das Feuer jenseits der Straßenkrümmung war heftiger geworden. Knisternd sprang das schimmernde Torbogenfeld in die Höhe. Breckcrown Hayes ging als erster. Zwei Sekunden lang herrschte atemlose Spannung. Wenn die Space‐Jet vernichtet war, würde Breckcrown zurückgeschleudert werden. Aber das Transmitterfeld blieb stabil. Lyta Kunduran und Hage Nockemann schritten nacheinander hindurch. Danach kamen Sanny und Argan U an die Reihe. Bjo Breiskoll machte den Abschluß. Atlan wandte sich an Chart Deccon, nachdem er den Robot beauftragt hatte, den Transmitter auseinanderzunehmen und zu verpacken. »Bleiben, wenn alles gesagt und getan ist, nur noch wir zwei.« Deccon nickte lächelnd.
»Ich hatte es nicht anders erwartet. Hidden‐X registrierte die Aktivität des Transmitters und nimmt an, wir haben uns davongemacht. Seine Aufmerksamkeit wird abgelenkt. Er ist schwer angeschlagen. Wenn es jemals eine Chance gab, den entscheidenden Schlag gegen ihn zu führen, dann …« Der krachende Donner einer schweren Explosion rollte durch die Straße. Heiße, qualmerfüllte Luft stob wie eine Windsbraut den engen Straßenstollen entlang. Atlan senkte den Blick. Der Kamfprobot hatte sich weisungsgemäß geopfert. Der Straßeneingang war verschlossen. Sie hatten ein paar zusätzliche Minuten gewonnen. Inzwischen war in seinem Bewußtsein ein Plan entstanden, wie er den drei Ysteronen zur Flucht verhelfen könne. Sie kehrten langsam zum Eingang der Straße zurück. Der Kampfrobot hatte ganze Arbeit geleistet. Die Explosion hatte die stützenden Wände auseinandergedrückt, und die Decke war herabgesunken. Stahlblau verfärbte Nikkelmassen bildeten einen schier undurchdringlichen Verhau, in dem es nur noch winzige Öffnungen gab, durch die nicht einmal Sanny hätte schlüpfen können. Atlan spähte hinaus. Der weite Platz, aus dessen Mitte sich die riesige Statue erhob, lag verlassen. Die roxharischen Roboter hatten sich zurückgezogen – entweder, weil sie versuchen wollten, die Spur der Verfolger an anderer Stelle aufzunehmen, oder weil sie von Hidden‐X zurückgerufen worden waren, nachdem dieser den Start der Space‐Jet registriert hatte. Der Gleiter stand noch da, wo Tolgetnur ihn gelandet hatte. Er wandte sich an den überlebenden Kampfroboter. »Du wirst dafür sorgen, daß unsere drei Freunde ungehindert das Fahrzeug erreichen, und ihnen die Flucht ermöglichen. Dieser Auftrag hat Priorität über das Gebot der Selbsterhaltung.« »Verstanden«, anwortete die Maschine. Sie traten zurück. Der Robot winkelte seine Waffenarme an. Zwei giftgrüne Energiebündel leckten gegen die herabgestürzten
Trümmermassen und verwandelten sie in metallische Dämpfe. Eine schmale, hohe Öffnung entstand, durch die die Ysteronen auf den leeren Platz hinauseilten. Girgeltjoff wandte sich noch einmal um und rief Atlan zu: »Ich sehe dich wieder, mein Freund!« Dann verschwand er in der Dampfwolke. Der Kampfroboter glitt hinter ihm her. Atlan und Chart Deccon sahen, daß die Ysteronen ihr Fahrzeug unangefochten erreichten. Augenblicke später hob es vom Boden ab und schoß auf die große Fahrstraße hinaus. Der Robot begleitete es. Ein paar Sekunden vergingen, bevor die ersten roxharischen Wachroboter auftauchten. Sie nahmen die Verfolgung auf. Eine halbe Minute später dröhnte aus der Mündung der Fahrstraße der Donner einer Explosion. Atlan spürte, wie der Boden zitterte. Tolgetnur, Barlod‐Traug‐Tul und Girgeltjoff waren frei! Das allein schien das Opfer wert. Der zweite, solanische Kampfrobot hatte sich geopfert. Er hatte sich durch Energiestau selbst zur Detonation gebracht. Dadurch war zusätzlich die im Reservoir des Miniaturtransmitters gespeicherte Energie freigesetzt worden. Atlan war sicher, daß keiner der Verfolger die Explosion überstanden hatte. Er wandte sich an Chart Deccon. »Schau nicht so gelangweilt drein, mein Freund«, grinste er. »Wir haben eine Menge zu tun.« ENDE Atlans Vorstoß in das Ysterioon hat zur Befreiung all seiner Gefährten und Verbündeten geführt. Nur der Arkonide und Chart Deccon, der High Sideryt der SOL, bleiben in unmittelbarer Nähe der Tabuzone zurück. Die beiden Männer wollen die Entscheidung erzwingen im Kampf mit HIDDEN‐X…
HIDDEN‐X – unter diesem Titel erscheint auch Atlan‐Band 550. Der Roman wurde von Peter Griese geschrieben.