E. RICHARD CHURCHILL
IM MOOR DER HÖLLENHUNDE
Seit ihrer Begegnung mit dem alten Mann im Moor spürt Jennifer, daß Gef...
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E. RICHARD CHURCHILL
IM MOOR DER HÖLLENHUNDE
Seit ihrer Begegnung mit dem alten Mann im Moor spürt Jennifer, daß Gefahr auf sie lauert: Die Krähe, die sie verfolgt, die Münzen des Alten, die sich in verdorrte Blätter verwandeln, und besonders die unheimliche Geschichte über das Liebespaar, das vor vielen Jahren im Moor verschwunden ist – das alles macht Jennifer angst. Und als nachts unter ihrem Fenster die Kutsche wartet, mit der damals das Liebespaar in den Tod floh, weiß Jennifer, daß ein böser Fluch Erfüllung sucht…
© 1990 by E. Richard Churchill Unter dem Originaltitel: „Dartmoor Danger“ Übersetzung: Ingrid Gross © Deutsche Erstausgabe in der Reihe HAPPY DENISE Band 27 (2), 1991 by CORA VERLAG GmbH, Berlin
1. KAPITEL „Ich hatte echt keine Ahnung, daß es hier so aussieht!“ Jennifer Harris stand am Fenster und sah hinaus auf das weite Land. Das war also Dartmoor. „Was hattest du denn erwartet?“ fragte ihre Mutter amüsiert und blickte von dem Koffer hoch, den sie gerade auspackte. „Genau kann ich dir das nicht sagen.“ Jennifer warf den Kopf zurück. Sie hatte ihr lockiges rotes Haar zu einem französischen Zopf geflochten, der jetzt in ihrem Nacken leicht hin und her tanzte. „Eben Nebel. Land, das karg und furchteinflößend ist. Ein Ort, an dem Mörder ihre Opfer begraben. Du weißt schon, wie in den alten EdgarWallaceFilmen.“ Nelda Harris lächelte ihre fünfzehn Jahre alte Tochter an. „Nein, Jenny, das wußte ich nicht. Jedenfalls nicht, bevor du mich gerade aufgeklärt hast.“ „Mom!“ Jennifer drehte sich zu ihr um. „Jetzt benimmst du dich wieder wie eine Geschichtsdozentin.“ „Warum auch nicht? Schließlich bin ich eine.“ Mrs. Harris holte eine Bluse aus dem Koffer. „Zum Glück bist du keine Englischlehrerin. Sonst würde ich nie mehr ein Wort sagen, vor lauter Angst, einen grammatischen Fehler zu machen.“ „Den Tag möchte ich erleben“, seufzte Mrs. Harris und hängte die Bluse auf einen Bügel. Jennifer sah wieder zum Fenster hinaus. „Ich kann kaum glauben, wie schön das Moor ist. Natürlich ist die Gegend hier anders als bei uns in Salisbury.“ Sie suchte nach dem richtigen Wort. „Wild. Ja, das trifft es. Die Moore sind von einer wilden Schönheit.“ „Und diese Schönheit birgt auch Gefahren.“ Jennifer ging zu ihrer Mutter und schlang ihr die Arme um die Taille. „Ich werde aufpassen, wenn ich zum Zeichnen rausgehe, Mom. Vertrau mir. Ich bin kein Kind mehr.“ „Natürlich nicht. Aber selbst erfahrene Wanderer können stürzen, in ein Sommergewitter geraten, sich verlaufen, ja, sogar im Moor verschwinden.“ „Du machst dir zu viele Sorgen, Mom.“ „Dafür sind Mütter schließlich da. Im Ernst, Jenny. Wir werden zwei Wochen hier sein, in denen ich für mein Buch Nachforschungen anstelle. Da hast du mehr als genug Zeit, ein Dutzend alter Ruinen und Hinterlassenschatten alter Moorlandbewohner zu zeichnen. Und ebenfalls genug Zeit, unvorsichtig zu werden und dich zu verletzen oder zu verirren. Paß immer gut auf.“ „Das werde ich, Mom. Und du weißt das auch.“ „Na, hoffentlich. Jetzt mach mit beim Auspacken. Danach muß ich noch einige Telefongespräche führen, um Termine mit den hiesigen Experten abzumachen.“ Jennifer ging schnell zu ihren Koffern, die neben dem zweiten Bett im Zimmer standen. Sie hob den größeren Koffer ohne Mühe auf das Bett. „Während du telefonierst, gehe ich raus und mach ein paar Skizzen.“ Nelda Harris runzelte die Stirn. „Wag dich nicht zu weit hinaus, Jenny. Schließlich sind wir erst seit einer halben Stunde hier in Tor View.“ „Ich möchte so schnell wie möglich anfangen. Schließlich haben wir nur zwei Wochen.“ Ein paar Minuten später hatte Jennifer ausgepackt und die alte Ledertasche in der Hand, in der sie ihr Zeichenmaterial aufbewahrte. „Ich werde mal sehen, ob ich die prähistorischen Steinkreise finde, die auf der Karte östlich vom Berg Easdon Tor eingezeichnet sind. Die liegen höchstens zwei Kilometer entfernt.“ „Jennifer…“ Mrs. Harris sah auf die Uhr. „Es ist jetzt fünf nach zwei. Mach dich
um spätestens halb fünf wieder auf den Heimweg. Um sechs gibt’s Abendessen,
und du möchtest doch sicher vorher noch duschen und dich umziehen.“
„Klar, Mom.“ Jennifer hatte schon die Hand auf der Klinke. Sie drehte sich noch
mal um und lächelte ihre Mutter an. „Und mach dir keine Sorgen. Ich werd schon
auf mich aufpassen.“
Während Jennifer die Treppe des großen Gasthauses hinunterlief, verschwand ihr
Lächeln. Die Scheidung vor zwei Jahren hatte ihre Mutter schwer getroffen. Es
war zwar zu verstehen, daß sie sich davor fürchtete, sie könnte ihre Tochter
ebenfalls verlieren. Aber zuviel Fürsorge konnte erdrückend sein.
„Hallo, da bin ich wieder“, begrüßte Jennifer Mrs. Williams. Sie führte mit ihrem
Mann den historischen Moorgasthof „Tor View“, der vor hundert Jahren einmal
ein riesiges Gutshaus gewesen war. „Ich will nach ein paar Steinkreisen suchen,
die östlich von Easdon Tor liegen. Wissen Sie, wie ich am besten dorthin
komme?“
„Ach, die Feensteine.“ Mrs. Williams nickte. „Mein Mann und ich haben schon oft
dort gepicknickt. Hast du eine Karte?“
Jennifer hielt ihre Übersichtskarte von Dartmoor hoch.
„Gut, dann kannst du dich nicht verirren. Halte dich nach Osten, so wirst du die
Steine kaum verfehlen.“
„Okay, das schaffe ich schon. Bis später.“
„Paß gut auf dich auf.“
„Das werde ich.“
Draußen blieb Jennifer erst einmal stehen und genoß die Juniwärme. Nach ein
paar Sekunden merkte sie, daß sie nicht allein auf dem großen Hof war.
Sie drehte sich um und sah einen sehr gut aussehenden Jungen, der mit einem
Buch in einem Gartenstuhl saß. Anstatt zu lesen, starrte er in ihre Richtung.
„Hallo.“ Jennifer lächelte.
„Hallo.“ Das klang nicht sehr freundlich.
„Ich bin Jennifer Harris, oder einfach Jenny.“
„Robert Coleman.“ Er sah ihr nicht in die Augen.
Okay, Robert Coleman, dachte Jennifer. Hast du noch nie ein Mädchen in Shorts
gesehen?
„Ich bin gerade angekommen. Wie lange bist du schon hier?“
„Eine Ewigkeit.“ Zum ersten Mal blickte er sie direkt an.
Seine Augen waren dunkelblau wie der Sommerhimmel abends, seine dichten
Haare hellblond, stufig geschnitten und schulterlang. Er sieht wirklich nett aus,
dachte Jennifer. Warum lächelt er nicht mal?
„Oh. Und wie lang ist eine Ewigkeit? Na, ist ja auch egal. Ich mache jetzt eine
Wanderung. Bis später.“
„Vielleicht.“ Erst jetzt bemerkte Jennifer den älteren Mann, der ein Stück entfernt
saß. Er hielt ebenfalls ein Buch in der Hand. Es war ein altes Exemplar mit
brüchigem Ledereinband. Er sah nicht hoch, sondern fuhr fort zu lesen.
Jennifer schüttelte den Kopf. Wie konnte man an einem so schönen Tag hier
rumsitzen und lesen? Entschlossen machte sie sich auf in Richtung Osten.
Ein paar Sekunden später dachte sie nicht mehr an den miesepetrigen Robert
Coleman. Statt dessen konzentrierte sie sich darauf, einem schmalen Pfad zu
folgen, den Schafe seit Generationen durch das Moor getrampelt hatten. Er
führte in die Richtung der alten Steine, die sie zeichnen wollte.
„Also, die Spitze des Berges muß immer zu meiner Rechten liegen. Dann müßte
ich früher oder später hinkommen“, überlegte sie laut. „Und wenn nicht…“ Sie
zuckte mit den Achseln. „Dann habe ich einen schönen Spaziergang gemacht.“
Während Jennifer weiter dem Pfad folgte, der kaum breit genug war, um beide
Füße nebeneinander zu setzen, betrachtete sie die Landschaft ringsum. Die vorherrschende Farbe war grün, nicht grau, wie sie es sich vorgestellt hatte. Überall bedeckte Gestrüpp den Boden. Was sie vom Auto aus für Gras gehalten hatte, war in Wirklichkeit eine Decke aus niedrigen, holzigen Pflanzen. Jennifer wußte nicht viel über die Freßgewohnheiten von Schafen, aber es schien ihr offensichtlich, daß kein Tier, es sei denn, es war nahe am Verhungern, sich an diesen Pflanzen vergreifen würde. Ein paarmal sah sie auf der Karte nach und versuchte, die Orientierung zu finden. Dann, als sie fast schon die Hoffnung aufgegeben hatte, waren die Steinkreise plötzlich in Sicht. Zuerst war sie enttäuscht. Nichts Magisches lag in der Luft. Es waren nur ein paar ovale Steine. Wie die Hinkelsteine von Obelix, dachte sie und mußte lachen. Einige der Steine waren riesig, andere kleiner. Einige waren verwittert, andere wie neu. Und alle waren kreisförmig angeordnet. Okay, Mädchen, dafür bist du hergekommen, dachte Jennifer und trat in einen der Steinkreise. Sie versuchte sich vorzustellen, wie das Leben damals gewesen sein mochte, als die alten Kelten die Steine aufgestellt hatten, damit ihre Druiden darin magische Riten abhalten konnten. Ein paar Minuten später hatte sie einen guten Platz gefunden, von dem aus sie zeichnen konnte. Während ihr Bleistift über das Papier glitt, dachte sie an die Ereignisse des vergangenen Frühjahrs. „Gute Nachrichten. Mein Verleger ist an einem Buch über keltische Siedlungen in Südengland interessiert.“ „Toll!“ Jennifer freute sich für ihre Mutter, obwohl sie deren Leidenschaft für alte Geschichte nicht teilte. „Ich werde Ende Juni für zwei Wochen nach Dartmoor fahren. Willst du mitkommen?“ „Klar.“ Jennifer hatte ihre Mutter schon öfter auf Reisen begleitet, bei denen sie historische Daten gesammelt hatte. „Mir ist da nämlich eine Idee gekommen. Wie wär’s, wenn du ein paar der alten Ruinen für mich zeichnen würdest? Vielleicht könnten wir einige der Zeichnungen in meinem Buch veröffentlichen.“ „Echt?“ Für Jennifer wurde ein Traum wahr. Das Angebot kam so überraschend, daß sie ein paar Minuten brauchte, um die Neuigkeit zu verdauen. Ihre Zeichnungen in einem Buch – und das, obwohl sie erst sechzehn war! Jäh wurde sie aus ihren schönen Träumen gerissen. „Weiß dein Verleger, wie alt ich bin?“ fragte sie ängstlich. „Man weiß, daß du meine Tochter bist. Also wird man kaum eine reife Frau von Vierzig erwarten.“ Ihre Mutter lachte. Jennifer stimmte ein. Nelda Harris war siebenunddreißig Jahre alt, wurde aber meistens jünger geschätzt. Plötzlich fiel ein Schatten auf Jennifers Zeichenblock. Sie sah auf. Eine einsame Wolke trieb über den strahlenden Sommerhimmel. Sie legte den Stift zur Seite und spreizte die Finger. Dann machte sie ein paar Übungen, um ihren angespannten Nacken und die Schultern zu lockern. Die Stimmung ringsum hatte sich geändert. Etwas Bedrohliches schien in der Luft zu liegen. Doch was? Jennifer lauschte angestrengt, aber sie hörte nichts, was beunruhigend war. Langsam sah sie sich um. Sie war allein. Was war bloß? Sie konzentrierte sich auf das Moorland und blickte dann hoch zur Spitze des Berges. Lag es an der plötzlichen Stille? Kein Laut war mehr zu hören. Ja, das war die Antwort. Jennifer griff wieder zum Zeichenblock.
Die Haare sträubten sich ihr im Nacken. Kleine Schweißperlen traten auf ihre Stirn. Die Sonne schien auf einmal unerträglich heiß. Jennifer bekämpfte das Verlangen, aufzuspringen und hinter sich zu schauen. Statt dessen wandte sie den Kopf langsam, als suchte sie nach einem Punkt, von dem aus man eine bessere Sicht auf die alten Steine hatte. Nichts. Kein Mensch, nicht einmal ein Tier. Jennifer war ganz allein. Als sie sich wieder dem Steinkreis zuwandte, holte sie erschrocken Luft. Eine große schwarze Krähe saß auf der Spitze des höchsten Steins und betrachtete sie mit zur Seite geneigtem Kopf. „Hallo, du. Hast mich ganz schön erschreckt.“ Die Krähe rührte sich nicht. „Wo bist du denn hergekommen?“ Jennifer betrachtete den Himmel. Weit und breit war kein anderer Vogel in Sicht. „Okay, wenn du da sitzen willst, ich hab nichts dagegen.“ Einen Moment hielt sie ein Gefühl zurück, das sie sich selbst nicht erklären konnte. Dann aber fuhr sie mit dem Bleistift in schnellen Strichen über das Papier. In weniger als einer Minute entstand in der Ecke des Blatts der Umriß der Krähe. „Hier, schau mal, Mr. Krähe.“ Jennifer hielt das Blatt hoch. „Jetzt bist du für alle Zeit verewigt.“ Als der Vogel nicht reagierte, achtete Jennifer nicht mehr auf ihn und fuhr mit ihrer Arbeit fort. Jedesmal, wenn sie von ihrem Block aufsah, entdeckte sie, daß die Krähe sie intensiv und, wie es schien, feindselig anstarrte. Schließlich legte Jennifer den Stift aus der Hand und streckte wieder die Finger. Sorgfältig verglich sie ihre Zeichnung mit dem Originalschauplatz. Sie hatte nichts ausgelassen. Die Krähe hockte weiter da und fixierte sie mit starren, gelben Augen. „Gut, das war’s dann wohl für heute.“ Jennifer packte schnell ihre Malsachen in die abgenutzte Ledertasche. „Auf Wiedersehen.“ Sie sah hoch und stellte fest, daß sie nur mit den Steinen sprach. Die Krähe war weg. „Na, wo steckst du?“ Sie stand auf und musterte ihre Umgebung. Die Krähe war so lautlos verschwunden, wie sie gekommen war. Jennifer machte die Tasche zu und überlegte. Wie lange hatte sie gebraucht, um Stifte und Block einzupacken? Nicht mehr als fünfzehn Sekunden. Sie hatte den Flügelschlag der Krähe nicht gehört, als sie weggeflogen war. Aber sie hatte sie auch nicht kommen hören. Vielleicht war sie zu sehr in ihre Arbeit vertieft gewesen. Das erklärte jedoch noch lange nicht, wie der große Vogel praktisch vor ihren Augen verschwinden konnte. Die Krähe schien es nie gegeben zu haben. Wäre da nicht eine Sache. Jennifer hatte sie gezeichnet. Wieder fühlte sie dieses unangenehme Prickeln im Nacken. Diesmal machte sie keinen Versuch, ihre Angst zu verbergen. Sie fuhr herum und blickte hinter sich. Nichts. Nur die absolute Stille der Moore. Ohne daß sie sich dessen bewußt war, preßte sie die Maltasche eng an sich. Sie wurde zum Schutzschild zwischen ihr und dem Unbekannten, das sie bedrohte. Jennifer drehte sich noch einmal ganz im Kreis um. Sie war allein. „Fang doch nicht an zu spinnen“, schalt sie sich laut. „Wahrscheinlich geht dir nur diese Ruhe auf die Nerven.“ Ohne weiter darüber nachzudenken, machte sie sich auf den Rückweg nach Tor View. Und zwar viel schneller, als sie hergekommen war. Nach ein paar Metern kam es ihr vor, als würden Blicke ihren Rücken durchbohren. Jemand oder etwas folgte ihr! Sie hatte Angst, zurückzublicken, und konnte gleichzeitig den Gedanken nicht
ertragen, nicht zu wissen, was hinter ihr war. Sie drehte sich abrupt um.
Niemand war da. Hinter ihr erstreckte sich nur die endlose Weite des Moores im
grellen Sonnenlicht.
Jennifer schüttelte den Kopf, ihre schweißnassen Hände umklammerten die
Ledertasche und preßten sie eng an sich. Rasch ging sie weiter in Richtung Tor
View. Sie mußte ihre ganze Willenskraft aufbringen, um nicht zu laufen. Die Luft
schien plötzlich drückend heiß. Jennifers Herz hämmerte, und ihr Atem ging in
kurzen Stößen. Ihr Mund war ganz trocken. Immer noch hatte sie das
schreckliche Gefühl, verfolgt zu werden.
Als endlich hinter einer Wegbiegung der alte Gasthof in Sicht kam, hätte Jennifer
am liebsten vor Erleichterung einen Luftsprung gemacht.
Sie zwang sich, langsamer zu gehen und die Tasche locker am Griff zu packen.
Als sie den Garten erreicht hatte, ging ihr Atem fast wieder normal.
„Na, war’s schön?“ Robert Coleman saß immer noch in dem Gartenstuhl. Er
musterte sie intensiv.
„Ja. Ich hab ein paar Druidensteine gezeichnet.“ Die Worte kamen atemlos
hervor, obwohl Jennifer sich bemühte, ruhig zu sein.
Robert nickte langsam. Er sah ihr geradewegs in die Augen. „Das Moor kann sehr
furchteinflößend sein. Sogar im hellen Sonnenlicht“, sagte er leise.
Jennifer schluckte nervös. Robert wußte Bescheid! Er spürte ihre Angst. Aber was
wußte er? Los, sag was, ermahnte sie sich. Sie konnte schließlich nicht ewig wie
angewurzelt dort stehenbleiben.
„Es ist anders als andere Landschaften“, murmelte sie. „Und sehr still.“
Robert lächelte. „Ja, das stimmt.“
Jennifer wußte nicht, ob sein Lächeln freundlich gemeint war oder ob er sich über
sie lustig machte. Doch im Moment war ihr das auch völlig egal.
„Ich geh jetzt duschen. Also, bis dann.“
Robert Coleman antwortete nicht. Er hatte sich umgedreht und blickte hinaus
aufs Moor.
Jennifer öffnete die Tür und ging auf die Treppe zu, obwohl sie am liebsten
gerannt wäre. Plötzlich schienen die zwei Wochen Zeichenurlaub jeden Reiz für
sie verloren zu haben.
Eine Gänsehaut überlief sie. Ihre Hand, die auf dem alten Geländer lag, zitterte
leicht.
2. KAPITEL Als Jennifer und ihre Mutter den Speisesaal betraten, blieben sie in der Tür
stehen. Vier der fünf Tische waren bereits besetzt.
„Ich habe für Sie bei Dr. Coleman und seinem Sohn gedeckt“, begrüßte Mrs.
Williams sie lächelnd. „Für die Kinder ist das sicher netter, als wenn sie nur mit
älteren Herrschaften am Tisch sitzen müßten.“
Jennifer unterdrückte den Wunsch, darauf etwas Entsprechendes zu entgegnen.
Kinder! Von wegen!
Mrs. Williams stellte die beiden Familien einander vor. „Mrs. Harris und Jennifer,
Dr. Coleman und sein Sohn Robert. Sie haben sicher viel gemeinsam, da Sie
beide an der Universität lehren.“
Dr. Coleman hatte sich bei der Vorstellung höflich halb von seinem Stuhl
erhoben. Robert blieb sitzen und nickte Mrs. Harris zu. Jennifer erkannte in Dr.
Coleman den älteren Herrn, der auch im Garten gelesen hatte.
„Es ist schon erstaunlich, wie viel Mrs. Williams über ihre Gäste weiß“, begann
Roberts Vater die Unterhaltung. Er deutete auf die anderen im Speisesaal. „Sie
kennt nicht nur jeden Gast beim Namen, sondern weiß auch etwas über die
Familie, den Beruf, die Hobbys, und das alles schon ein paar Stunden, nachdem
sie ihn zum ersten Mal begrüßt hat.“
„Eine talentierte Dame. Steckt überall die Nase rein“, bemerkte Robert ätzend.
„Sind Sie schon lange hier?“ Mrs. Harris tat so, als hätte sie Roberts boshaften
Kommentar nicht gehört.
„Anderthalb Wochen“, erwiderte Dr. Coleman.
„Viel zu lange“, seufzte sein Sohn und verdrehte die Augen.
„Mrs. Williams erwähnte, daß Sie auch an der Universität arbeiten?“ fragte Mrs.
Harris Roberts Vater.
„Ich unterrichte englische Literatur an der Universität von Oxford.“
„Und ich Geschichte an der Uni von Salisbury.“
Ein paar Minuten lang fachsimpelten die beiden miteinander.
„Was hast du außer Lesen sonst noch hier so gemacht?“ fragte Jennifer Robert.
Er zuckte mit den Achseln. „Ich bin ein bißchen durch die Gegend gewandert.
Aber das wird auch schnell öde.“ Seine dunkelblauen Augen sahen düster aus.
„Warst du schon in Mortenhampstead?“
„Zweimal. Das Kaff ist nicht gerade der Nabel der Welt.“ Er fuhr sich gelangweilt
mit der Hand durch seine hellblonde Mähne.
Mrs. Williams Ankunft mit frisch gebackenen Brötchen und knackigem Salat
ersparte es Jennifer, auf Roberts negative Bemerkungen antworten zu müssen.
Da stimmt was nicht, dachte sie, während sie auf ihr noch warmes Brötchen
Butter strich. Robert war offensichtlich kreuzunglücklich. Und was für einen
Grund hatte dazu jemand, der so toll aussah und obendrein noch Köpfchen
hatte? Das überstieg Jennifers Fassungsvermögen. War er ihr wichtig genug, um
zu versuchen, es herauszufinden? Das wußte sie in diesem Moment selber nicht.
Als das Hauptgericht serviert wurde, entdeckte sie, daß sie einen Bärenhunger
hatte.
„Das muß wohl an meiner Wanderung liegen“, entschuldigte sie sich, wobei sie
nach einem zweiten Brötchen griff.
„Oder an der reinen, frischen Luft“, sagte Dr. Coleman lächelnd. „Ich hab auch
festgestellt, daß sich mein Appetit hier sehr verbessert hat.“
Jennifer sah, daß sich Roberts Gesichtsausdruck einen kurzen Moment lang bei
den Worten seines Vaters änderte. Bevor sie herausfinden konnte, worin die
Veränderung bestand, blickte er wieder so gelangweilt wie immer.
Okay, mach dich nur zu, sagte Jennifer im Geiste zu ihrem mürrischen Tischpartner. Wirst dich wundern, mir ist es piepegal, fügte sie noch hinzu. „Ein Glas Wein zum Essen?“ Mrs. Williams stellte eine Flasche gekühlten Weißwein auf den Tisch. „Danke, gern.“ Mrs. Harris hob ihr Glas hoch. „Darf ich?“ Dr. Coleman goß ihr ein. Eine Sekunde lang bewegte er die Flasche in Richtung seines eigenen Glases. Dann flog ein Schatten über sein Gesicht. Er schien sich auf etwas zu besinnen und stellte die Flasche auf den Tisch. Jennifer sah gerade rechtzeitig hoch, um mitzubekommen, wie Vater und Sohn einen schnellen Blick wechselten. Dann sagte Dr. Coleman etwas zu ihrer Mutter, und Robert konzentrierte sich wieder auf sein Essen. Hatte Robert auch ein Glas Wein gewollt, und sein Vater hatte es ihm verwehrt? Oder lag etwas anderes hinter dem schnellen Blickwechsel der beiden? Obwohl Jennifer sich vorgenommen hatte, Robert links liegenzulassen, ertappte sie sich dabei, wie sie ihn studierte. Als er merkte, daß sie ihn ansah, runzelte er unter seinen blonden Locken leicht die Stirn. Dann versuchte er seine Reaktion dadurch zu verbergen, daß er wieder auf seinen Teller sah. Während des Essens lenkte Nelda Harris das Gespräch immer wieder auf Oxford. Bald erzählte Dr. Coleman ihnen Anekdoten aus seinem Berufsalltag. Jennifer stellte überrascht fest, daß ihr die Geschichten des Professors gefielen. Er besaß Sinn für Humor und eine Portion Selbstironie. In einer Gesprächspause fragte Jennifer: „Hast du ihnen schon erzählt, daß wir hier sind, weil du Nachforschungen für dein neues Buch anstellen willst, Mom?“ „Neues Buch?“ griff Dr. Coleman Jennifers Bemerkung auf. „Ja. Meine Mutter hat schon zwei Bücher über die Ureinwohner von Großbritannien veröffentlicht.“ Sogar Robert zeigte jetzt einen Funken Interesse. Während ihre Mutter kurz auf ihre Arbeit einging, wandte sich Jennifers Aufmerksamkeit wieder Robert zu. Er hörte echt interessiert zu. Nein, er ist kein verzogener Bengel, dachte Jennifer. Er langweilt sich nur entsetzlich hier in Tor View. Und etwas bedrückt ihn. Das wußte sie jetzt sicher. Vielleicht war er im Grunde gar kein so übler Kerl. Nachdem Robert sich nun auch hin und wieder am Gespräch beteiligte, wurde die Stimmung am Tisch lockerer. Jennifer gratulierte sich selbst nicht nur, weil es ihr gelungen war, ihn in die Runde einzubeziehen, sondern auch, weil sie herausgefunden hatte, daß seine mürrische Laune eine Reaktion auf diesen Ort war und nichts mit ihr persönlich zu tun hatte. Die vier saßen noch bei einer Tasse Kaffee, als der Speisesaal sich schon langsam leerte. Es war schon fast halb neun, als Mrs. Harris Robert ansprach. „Robert, würdest du bitte Jennifer dabei helfen, ihr Fahrrad vom Gepäckträger unseres Autos zu holen? Das haben wir nämlich total vergessen. Morgen fahren wir nach Okehampton zu einem Gespräch mit einem dortigen Historiker. Da möchte ich nicht das Fahrrad noch auf dem Autodach haben.“ „Klar. Mach ich.“ Robert stieß bereits seinen Stuhl zurück. „Vielen Dank, Mom.“ Jennifers Stimme klang spöttisch. Nelda Harris ging nicht darauf ein. Sie sagte statt dessen: „Dr. Coleman und ich scheinen nur zwei Gesprächsthemen zu kennen, nämlich Geschichte und Unterrichten. Das muß doch sowieso für euch beide langweilig sein. Außerdem sparen wir morgen Zeit, wenn ihr das Fahrrad heute schon runterholt.“ „Bitte nennen Sie mich Jason. Dr. Coleman bin ich in Oxford. Jetzt habe ich Urlaub.“
Jennifer stand auf und war überrascht, daß Roberts dunkelblaue Augen vergnügt funkelten. Anscheinend amüsierte es ihn, daß sein Vater und ihre Mutter so wild darauf waren, ihr Gespräch allein fortzusetzen. Jennifer spürte ebenfalls, daß er über ihre Reaktion auf den Vorschlag ihrer Mutter innerlich lachte. „Ich kann das Rad genauso gut allein runterholen“, stieß Jennifer verärgert hervor, als sie auf den Hof traten und zürn Parkplatz gingen. „Schließlich hab ich’s auch allein draufgetan.“ „Aber deine Mutter hat mich ausdrücklich darum gebeten. Sie wäre sicher böse mit mir, wenn ich es nicht machen würde.“ Robert lachte. Statt zu antworten, führte Jennifer ihn zum Wagen. Sie löste die vordere Klammer und Robert die hintere. Robert war ungefähr einsachtzig und größer als Jennifer. Mühelos hob er das Rad vom Auto herunter. „Raleigh, aha“, sagte er, als er die Marke des Rads sah. „So eins hab ich auch wieder zu Hause.“ Sie schoben es auf den Hof, wo Robert es an ein Geländer lehnte. „Auftrag erfüllt.“ „Danke.“ Es war tatsächlich eine Hilfe gewesen, besser, als das Rad allein herunterwuchten zu müssen. „Tut mir leid, daß Mom dich dafür eingespannt hat. Sie hat eine Begabung für solche Dinge.“ „Haben das nicht alle Eltern?“ Einen Moment lang huschte ein trauriger Ausdruck über sein Gesicht. Dann hellte sich seine Miene wieder auf. „Komm, gehen wir rüber zur alten Scheune. Da stehen ein paar Räder, die die Gäste benutzen dürfen. Gucken wir mal, ob was Ordentliches dabei ist.“ „Willst du damit etwa andeuten, daß du seit anderthalb Wochen hier herumhockst und noch nicht nachgesehen hast? Ich meine, wenn du schon keine Lust mehr hattest spazierenzugehen, wäre das doch eine Möglichkeit gewesen.“ Robert zuckte mit den Schultern. „Ich hab viel gelesen. Mich auf die Uni nächstes Jahr vorbereitet. Außerdem“, er hielt kurz inne, „war bis heute niemand da, der mit mir gefahren wäre. Das heißt, wenn du überhaupt Lust hast, mich zu begleiten.“ Er wartete gespannt auf ihre Reaktion. „Klar“, erwiderte Jennifer sofort. „Es macht viel mehr Spaß, wenn man zu zweit ist.“ „Super.“ Roberts Stimme klang jetzt regelrecht begeistert. Gerade, als sie in die offene Scheune hineingehen wollten, ließ ein Geräusch, das vom Moor herüberkam, Jennifer erstarren. „Was war das?“ Sie lauschte angestrengt. Da war es wieder. Es schien von weit her zu kommen und klang klagend. Irgendwie schien es weder von einem Menschen noch von einem Tier zu stammen. „Hunde“, sagte Robert und starrte auf das weit sich hinstreckende Land. „Bist du sicher?“ Einen Moment lang schien es Jennifer, als wolle er nicht antworten. Doch dann sagte er mit leiser Stimme: „Nein, sicher bin ich nicht. Aber ich nehme es an. Vor drei Tagen habe ich bei Sonnenuntergang drei riesige schwarze Hunde gesehen. Das könnten dieselben sein.“ Das Geräusch kam wieder. Diesmal war es näher. Ja, dachte Jennifer, es könnten Hunde sein. „Komm, schauen wir nach den Fahrrädern.“ Robert drehte sich schnell um und ging in die Scheune. Obwohl es draußen noch hell war, herrschte drinnen Dämmerlicht. Jennifer blieb stehen, bis sich ihre Augen daran gewöhnt hatten. „Da sind sie.“ Robert ging zu zwei Rädern, die gegen die Wand lehnten.
„Raleighs.“ Er schob eins davon in besseres Licht. „Ich glaube, da neben der Tür ist ein Lichtschalter.“ Jennifer fand den Schalter und war enttäuscht über das magere Resultat, das die nackte Birne lieferte, die von der Decke herabbaumelte. Aber Robert schien zufrieden zu sein. Draußen heulten die Hunde – wenn es Hundewaren – ihre Klage wieder über das Moor. Jennifer überlief es eiskalt. Unwillkürlich verschränkte sie die Arme vor der Brust, als wolle sie sich schützen. „Ist nicht gerade das neueste Modell. Aber wenn ich es saubermache und ein wenig öle, wird es gehen. Ich mach mich gleich morgen an die Arbeit. Den Sitz muß ich auch noch für meine Größe entsprechend einstellen. Dann können wir bald eine Tour machen. Wie lange bist du noch hier?“ Robert war sichtlich begeistert. „Zwei Wochen.“ Jennifer entspannte sich ein wenig, als sie sah, daß er sich freute. Sie begann sich mehr und mehr für ihn zu interessieren. Er sah nicht nur toll aus, er hatte auch Charme und war wirklich nett, wie sie feststellte. Sie mußte herausfinden, was ihn bedrückte. „Prima! Sag mal, stimmt es wirklich, daß ein paar deiner Zeichnungen in dem neuen Buch deiner Mutter veröffentlicht werden sollen?“ „Klar. Hast du gedacht, Mom redet Unsinn?“ „Nein.“ Robert hob abwehrend die Hand. „Ich wollte damit nur sagen, daß ich das supertoll finde.“ „Ich bin auch sehr stolz darauf“, gab Jennifer zu. „Um auf den Punkt zu kommen, wir könnten mit den Rädern zu den alten Ruinen fahren, die du zeichnen willst. Das heißt, wenn du überhaupt Lust dazu hast.“ Er wandte sich halb ab. „Hört sich gut an.“ Warum ist er nur so unsicher? fragte sich Jennifer. Er hat doch gar keinen Grund dazu. Ein Junge wie er sollte eigentlich vor Selbstbewußtsein strotzen. Robert lehnte das Rad wieder gegen die Wand. Sie gingen zur Tür und machten das Licht aus. „Komm, wir steigen noch kurz auf den kleinen Hügel dort hinten“, schlug er vor. „Von dort aus hat man eine phantastische Sicht.“ Jennifer folgte ihm. Obwohl die untergehende Sonne lange Schatten warf, lag ein Gefühl von Frieden und Ruhe in der Luft. „Bevor deine Mutter heute ankam, war Dad bei weitem der jüngste Gast hier. Und mich haben die alten Damen und Herren behandelt, als wäre ich erst fünf Jahre alt.“ Etwas von der alten Bitterkeit hatte sich wieder in Roberts Stimme geschlichen. „Ich bin froh, daß ihr gekommen seid. Heute abend hat Dad zum ersten Mal wieder Interesse daran gezeigt, sich mit jemandem zu unterhalten. Das gleiche gilt auch für mich“, fuhr er fort, ohne Jennifer dabei anzusehen. Ein paar Meter gingen sie schweigend weiter. Dann fragte er: „Was macht denn dein Vater?“ Da war sie wieder. Die Frage, die Jennifer zu fürchten gelernt hatte. „Er ist Architekt.“ Meistens beließ sie es dabei. Heute abend jedoch schien diese unvollständige Antwort nicht zu genügen. „Dad hat sich vor zwei Jahren scheiden lassen. Es hat meine Mutter hart getroffen.“ „Tut mir leid“, sagte Robert ehrlich. Jennifer hätte nichts weiter zu erklären brauchen. Aber irgend etwas an Robert veranlaßte sie, weiterzureden. Vielleicht lag es auch am Einfluß der Moorlandschaft. „Er hat kurz nach der Scheidung eine sehr schöne Frau geheiratet. Sie war damals zweiundzwanzig. Ich glaube, sie ist wohl so was wie
eine Stiefmutter von mir. Kannst du dir das vorstellen? Ich hab eine Stiefmutter, die nur ein paar Jahre älter ist als ich.“ Jennifer wußte, daß sich ihr eigener Schmerz in diesen Worten widerspiegelte. Aber jetzt war es zu spät, sich darüber Gedanken zu machen. „Jedenfalls hast du noch beide Eltern. Mehr oder weniger.“ Robert starrte in die untergehende Sonne. „Vor drei Jahren ist meine Mutter bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Ein Betrunkener ist auf der falschen Straßenseite gefahren. Sie war auf dem Weg nach Stratford, um mich abzuholen. Ich hatte dort an einem Radrennen teilgenommen. Das Leben ist komisch. Das darauffolgende Jahr habe ich damit verbracht, mir Vorwürfe zu machen. Wäre ich nicht dieses Rennen gefahren… Jeder versicherte mir, es sei nicht meine Schuld gewesen. Im Grunde wußte ich das auch. Aber ich mußte irgend jemanden dafür verantwortlich machen.“ Jetzt war es an Jennifer, ehrlich zu sagen, wie leid ihr das tat. „Es kommt noch schlimmer. Als ich endlich mir selbst gegenüber zugeben konnte, daß ich meine Mutter nicht getötet hatte, brach Dad zusammen. Erst der Tod meiner Mutter, dann meine Depressionen, es war zuviel für ihn geworden. Er begann zu trinken. Ironie des Schicksals. Der Alkohol war schuld daran, daß meine Mutter starb, und jetzt tötet er langsam meinen Vater.“ Jennifer fiel Dr. Colemans Gesichtsausdruck wieder ein, als er die Weinflasche in der Hand gehalten hatte. „Deshalb sind wir hier. Ich hatte schon einen Job für den Sommer. Statt dessen darf ich jetzt Babysitter für meinen Vater spielen. Er ist klug genug, um englische Literatur an einer Eliteuni zu unterrichten. Aber zu blöd, um die Finger von der Flasche zu lassen. Und wenn er das nicht schafft, verliert er seinen Job.“ Robert lachte bitter. „In Oxford ist man bei den Professoren zwar an einige Schrullen gewöhnt. Aber die Toleranz geht nicht so weit, einen Literaturprofessor zu akzeptieren, der so betrunken zur Vorlesung kommt, daß er sein Pult nicht mehr findet. Letzte Woche habe ich hier meinen siebzehnten Geburtstag gefeiert. Eine tolle Fete. Mrs. Williams hatte einen Schokoladenkuchen gebacken, und die alten Leutchen haben ,Happy Birthday’ gesungen. Dabei wollte ich in diesem Sommer genug Geld verdienen, um den Führerschein machen zu können.“ Roberts Probleme erklärten mehr als genug, warum er so mürrisch und verbittert war. „Der Blick von hier ist wirklich toll.“ Jennifer wußte nicht, was sie über Roberts Vater sagen sollte, und wich aus. Wieder zerriß das klagende Heulen die Stille der Nacht. Jennifer starrte angestrengt in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, konnte aber nichts erkennen. „Wieso hast du vorhin zu mir gesagt, das Moor kann sehr furchteinflößend sein?“ Sie drehte sich zu ihm um. „Weil es das ist. Jedenfalls für mich.“ Robert hielt kurz inne. „Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, ohne mich total zum Narren zu machen. Vielleicht kommt das Ganze auch nur daher, weil ich immer in der Stadt gewohnt hab. Aber die paar Mal, die ich draußen im Moor war, hatte ich das Gefühl, jemand beobachtet mich. Obwohl ich total allein war.“ „Was? Bei mir war es heute genau dasselbe. Ich wäre am liebsten weggelaufen. Statt dessen bin ich stehengeblieben und habe mich umgesehen. Ich war allein. Dann bin ich weitergegangen, immer schneller und immer schneller. Bis ich fast gelaufen bin.“ „Genau! Und ich hab geglaubt, das wäre nur mir passiert.“ Er hörte sich merkwürdigerweise sehr zufrieden an. „Hat dein Vater denn nicht dasselbe Gefühl gehabt?“
„Um die Wahrheit zu sagen, Dad fühlt in letzter Zeit nur noch eins. Nämlich grenzenloses Selbstmitleid, weil er sich nicht mehr vor der bösen Welt in einer Whiskyflasche verkriechen kann.“ Diesmal lag keine Bitterkeit in seiner Stimme. Er hatte lediglich eine Tatsache ausgesprochen. Wieder klang das Heulen der Hunde über das Moor. Wenn es wirklich Hunde waren. Robert sah auf seine Uhr. „Es ist spät. Wir gehen besser zurück. Bestimmt haben Dad und deine Mutter sich für diesen Abend genug über ihren Beruf unterhalten.“ „Ich bin froh, daß dein Vater hier ist. Wetten, daß sie früher oder später mit ihm über ihr neues Buch diskutieren wird?“ „Das wird ihm guttun. Seit dem Tag, an dem der Rektor ihn wegen des Trinkens verwarnt hat, habe ich ihn nicht mehr so aufgeschlossen gesehen wie heute abend. Dad ist damals aus dem Büro gestürmt, hat sich hinters Steuer geschmissen und ist losgebraust. Zwei Häuserblocks weiter hat ihn ein Polizist gestoppt, weil er eine rote Ampel nicht beachtet hatte. Mann, da hat Dad vielleicht getobt.“ Überraschenderweise war Roberts Lachen freundlich. Jennifer spürte, daß er seinen Vater sehr liebte und innerlich ganz zerrissen war vor Kummer. Vor dem Eingang des Gasthofs trennten Robert und Jennifer sich. „Wir wohnen im Anbau“, erklärte Robert. „Also, dann bis morgen.“ „Okay. Danke, daß du mein Fahrrad vom Auto geholt hast.“ „Und ich danke dir, daß du meinen Problemen zugehört hast.“ Er sah ihr tief in die Augen. Jennifer spürte, wie sie rot wurde. Zum Glück war es dunkel, und er konnte es nicht sehen. „Das nächste Mal werde ich bessere Laune mitbringen“, fügte er leise hinzu, bevor er ging. Jennifer winkte ihm zum Abschied kurz zu und lief glücklich die breite Treppe hinauf. Oben erwartete ihre Mutter Jennifer schon mit vielen Plänen für den nächsten tag. „Wir werden zu Dr. Graves fahren. Während ich mit ihm spreche, könntest du vielleicht das alte Schloß zeichnen.“ „Prima!“ rief Jennifer vom Badezimmer aus. Sie wusch sich, putzte die Zähne und zog ein übergroßes TShirt mit MickeyMausFiguren drauf an. Es diente als Nachthemd. „Willst du meine Zeichnung sehen?“ fragte sie ihre Mutter. „Aber sicher.“ Jennifer öffnete die Ledertasche und holte den Block heraus. Sie schlug die erste Seite um und wartete auf die Reaktion. „Kind, die ist ja phantastisch!“ lobte Nelda Harris. „Genauso hab ich sie mir vorgestellt. Exakt bis ins kleinste Detail. Denkst du auch daran, aufzuschreiben, welche Orte du gezeichnet hast?“ „Schon geschehen, Mom.“ Jennifer betrachtete die Zeichnung und fühlte sich mit einem Mal unsicher. Etwas stimmte nicht. Aber was? „Machen wir Schluß für heute“, meinte ihre Mutter, „Hast du dich gut mit Robert unterhalten? Jason ist ein faszinierender Mann.“ Jennifer überlegte kurz, ob sie ihr von Dr. Colemans Alkoholproblem erzählen sollte, und entschied sich dagegen. Das würde doch nichts bringen. Lange, nachdem sie das Licht ausgemacht hatte, lag Jennifer wach und ließ den Nachmittag und den Abend noch einmal Revue passieren. Draußen schien der Mond. Sein silbernes Licht drang durch das große Fenster ins Zimmer. Sie schloß die Augen und zwang sich, einzuschlafen. Doch schon einen Moment später fiel ihr ein, was sie irritiert hatte, und sie war wieder hellwach. Sie setzte
sich im Bett auf und betrachtete nachdenklich ihre Zeichensachen auf dem Tisch. Nein! Das konnte nicht sein. Sie hatte es wahrscheinlich nur übersehen. Jennifer warf die Decke zurück und stand auf. Schnell lief sie durchs Zimmer und schlug mit zitternder Hand den Zeichenblock auf. Sie brauchte keine Lampe. Der Mond spendete genug Licht, um ihre schlimmsten Ängste zu bestätigen. Die Zeichnung von den Steinkreisen war okay. Sie war so gut, wie ihre Mutter gesagt hatte. Es war etwas anderes, das ihr keine Ruhe gelassen hatte und ihr gerade erst mit lähmender Gewißheit klargeworden war. Die Skizze von der Krähe war verschwunden! Sie hatte sie auf dasselbe Blatt wie die Steinkreise gezeichnet. Mit zitternden Händen hielt Jennifer den Block in besseres Licht. Nichts. Kein einziger Bleistiftstrich war mehr in der Ecke des Blattes zu sehen, wo sie gewesen war. Jennifers Herz begann wie wild zu klopfen. Hektisch blätterte sie den Block durch. Die übrigen Seiten waren wie erwartet leer und weiß. Sie trat ans Fenster und starrte blicklos über das vom Mond erhellte Moor. Verlor sie den Verstand? Hatte sie sich die Krähe nur eingebildet? Irgendwie gedacht, sie hätte sie gezeichnet, ohne es wirklich zu tun? Nein, das war unmöglich. Sie erinnerte sich genau daran, wie sie den großen Vögel gezeichnet, sich mit ihm unterhalten und gedacht hatte, wie wunderbar er sich in seiner reglosen Art als Modell eignete. Sie hatte die Zeichnung mehrmals betrachtet und war stolz darauf gewesen, wie gut sie die Krähe getroffen hatte. Jennifer legte den Block langsam zurück. Sie sah zum Bett ihrer Mutter, die friedlich schlief. Sollte sie sie wecken? Nein, lieber nicht. Was sollte sie ihr auch sagen? Daß sie befürchtete, den Verstand zu verlieren? Jennifer kroch zurück auf ihr Bett, hüllte sich in die Decke und blieb lange Zeit reglos sitzen. Sie hatte die Krähe gezeichnet, das war sicher. Aber wo war das Bild geblieben? Schließlich legte sie sich hin. Morgen würde sie das Blatt gründlich nach Spuren von Radiergummi untersuchen. Dieser Gedanke beruhigte sie ein wenig. Obwohl sie innerlich genau wußte, daß sie keine Spuren finden würde. Die Zeichnung hatte sich buchstäblich in Luft aufgelöst. Jennifer bekam eine Gänsehaut. Sie verkroch sich unter der Decke, schloß die Augen und wartete auf den Schlaf, der lange nicht kommen wollte.
3. KAPITEL „Es ist erst zehn nach eins“, sagte Jennifer, nach einem Blick auf die Uhr. „Wir
haben noch massenhaft Zeit.“
„Das ist auch gut so“, erwiderte ihre Mutter. „Ich lasse mich nicht gern hetzen.“
Sie standen an einer roten Ampel. Jennifer sah aus dem Autofenster.
„Okehampton ist nicht gerade groß“, meinte sie und fragte sich im stillen, ob die
Ampeln in diesem Nest jemals auf Grün umspringen würden.
„Nein, aber größer als Mortenhampstead.“ Endlich Grün. Mrs. Harris gab Gas.
„Was sagte Robert doch gestern abend? Mortenhampstead sei nicht der Nabel
der Welt?“ Nelda Harris blickte zu ihrer Tochter.
Jennifer lächelte. „Na, Okehampton ist es auch nicht gerade.“
„Ich nehme an, du und Robert, ihr habt euch gut verstanden?“ fragte Mrs. Harris
betont gleichgültig und sah Jennifer dabei nicht an.
„Er ist ganz okay.“ Jennifer starrte auf die Straße. „Wieso fragst du?“
Statt zu antworten, steuerte Mrs. Harris einen Parkplatz an.
„Wir haben noch Zeit, eine Kleinigkeit zu essen“, sagte sie, nachdem sie
ausgestiegen waren und das Parkticket bezahlt hatten. „Wie wär’s mit dem
kleinen Restaurant dort drüben? Später kannst du die Schloßruinen zeichnen,
während ich meine Besprechung mit Dr. Graves habe. Ich hole dich danach im
Schloß ab.“
„Okay.“
Nach dem Essen holte Jennifer ihre Zeichentasche aus dem Auto.
„Ich bin um spätestens fünf Uhr wieder da“, versprach ihre Mutter. „Wenn du
dann noch arbeitest, komme ich rauf. Ansonsten treffen wir uns hier auf dem
Parkplatz.“
„Du brauchst dich nicht zu beeilen.“ Jennifer blickte zu den Schloßruinen hoch,
die auf einer steilen Anhöhe lagen. „Da oben finde ich jede Menge interessanter
Motive.“
Nachdem Jennifer die Eintrittskarte gekauft hatte, erforschte sie die Überreste
des einst so stolzen Gebäudes.
Eine schmale, hohe Wand, die rechts und links durch Trümmer von den
angrenzenden Wänden getrennt war, erregte ihre Aufmerksamkeit. Fasziniert
vergaß Jennifer alles um sich herum und begann, das eindrucksvolle Gebilde, das
sie an einen mahnenden Finger erinnerte, auf das Papier zu bannen.
Die Zeit flog nur so dahin. Erst als Jennifer innehielt, um ihre Hand zu lockern,
entdeckte sie die Krähen. Zwei von ihnen saßen hoch auf der Wand hinter ihr.
Beide betrachteten sie mit geneigtem Kopf aus gelben, starren Augen.
Jäh kam die Angst der vergangenen Nacht zurück und schnürte ihr fast die Kehle
zu. Ihre Finger wurden taub. Der Bleistift fiel ihr aus der Hand. Statt ihn
aufzuheben, starrte Jennifer auf die reglosen Vögel mit dem nachtschwarzen
Gefieder.
Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis der eine die Flügel ausbreitete und
davonflog. Der andere folgte ihm. Jennifer holte tief Luft und hob den Bleistift
auf. Sie hatte am Morgen das Zeichenblatt, auf dem sie die Krähe in dem
Steinkreis gemalt hatte, gründlich nach Radiergummispuren untersucht und
natürlich nichts gefunden. Kurz hatte sie überlegt, ob sie ihrer Mutter davon
erzählen sollte. Aber wie sollte sie ihr das erklären?
Und jetzt waren wieder Krähen da. Sie schienen sie zu verfolgen. Jennifer sah
sich um. Erst als sie sicher war, daß die Vögel nicht wiederkehrten, fuhr sie mit
dem Zeichnen fort. Bald war sie wieder ganz in ihre Arbeit vertieft.
„Nett.“
Jennifer zuckte zusammen.
„Ich wollte dich nicht erschrecken.“ Der große, weißhaarige Mann, der ihr über
die Schulter sah, war mindestens dreißig Jahre älter als ihre Mutter.
„Vielen Dank.“ Automatisch, wie jedesmal, wenn sie das Zeichnen unterbrach,
streckte Jennifer die Finger.
„Kennst du die Geschichte von Francis und Mariotta?“
Jennifer runzelte die Stirn. „Nein, ich glaube nicht.“
„Traurig, traurig.“ Der Alte schüttelte den Kopf. Seine langes, weißes Haar wehte
im Wind. „Ein Liebespaar. Hübsche Kinder, alle beide. Aber ihre Familienclans
waren seit Urzeiten verfeindet bis aufs Blut.“
„Ach ja?“ Jede Gegend hat ihre RomeoundJuliaGeschichte, dachte sie im
stillen. Hier sind’s also Francis und Mariotta, na schön. Ungeduldig wartete sie
darauf, daß der Alte endlich ging, damit sie weiterzeichnen konnte.
„Eines Nachts beschlossen sie durchzubrennen. Ihre Kutsche raste durch die
Nacht. Da brach ein Rad. Sie flohen zu Fuß durchs Moor. Der Mond schien hell.
Am Himmel kreisten die Krähen, und die Hunde heulten.“
Jennifer erschauderte unwillkürlich. Obwohl die Sonne warm schien, fröstelte sie.
Der Alte blickte sie durchdringend an. „Man sagt, daß manche Menschen in
bestimmten Nächten die Kutsche über das Land fahren hören.“ Er kicherte.
„Wie ging’s denn mit ihnen weiter?“ fragte Jennifer.
„Sie verirrten sich und verschwanden spurlos im Moor. Der Junge, Francis, ist
hier in diesem Schloß aufgewachsen. Sein Vater war Sir Walt of Drummond.“ Der
alte Mann spie die letzten Worte förmlich hervor.
Jennifer bekam Angst. War der vielleicht nicht ganz richtig im Kopf?
Er musterte sie scharf mit dunklen Augen, in denen ein wildes Feuer glühte.
Plötzlich jedoch änderte sich sein Gesichtsausdruck. Er lächelte, und seine
Stimme klang wieder normal. „Könntest du einem alten Mann einen Gefallen tun?
Ich habe so viele Münzen in meiner Tasche. Würdest du mir wohl einige in einen
Geldschein umtauschen?“
Jennifer war völlig verwirrt über die neue Wendung des Gesprächs. Um den
merkwürdigen Alten loszuwerden, tat sie ihm den Gefallen und tauschte einen
Schein gegen zehn Münzen um.
„Danke schön.“ Mit diesen Worten wandte der Mann sich um und ging.
Jennifer schüttelte den Kopf. Sie steckte die Münzen in ihr Portemonnaie und
wandte sich wieder ihrem Zeichenblock zu.
Nachdem sie die Wand fertig gezeichnet hatte, suchte sie sich andere Motive.
Wohin sie auch ging, die beiden Krähen folgten ihr. Sobald sie sich irgendwo
setzte, ließen sie sich ebenfalls nieder und beobachteten sie.
„Hoffentlich gefällt euch meine Arbeit“, sagte Jennifer nach dem dritten
Ortswechsel zu ihnen und achtete nicht weiter auf sie.
Als sie gerade ihre vierte und letzte Zeichnung beginnen wollte, flog plötzlich
eine der Krähen haarscharf an ihrem Gesicht vorbei. Jennifer schrie erschrocken
auf und hob die Hand, um sich zu schützen. Aber die Krähe war schon weg und
ließ sich gerade auf einem Mauerrest nieder. Die andere Krähe gesellte sich zu
ihr.
„Also, was wollt ihr von mir?“ fragte Jennifer herausfordernd, obwohl ihr gar
nicht danach zumute war.
Die beiden schwarzen Vögel starrten sie reglos an.
„Soll ich euch zeichnen? Okay, das könnt ihr haben.“ Mit schnellen Strichen
zeichnete sie die Umrisse der Krähen in die rechte obere Ecke der dritten
Zeichnung. Als sie fertig war, hielt sie das Blatt hoch und zeigte es ihnen. „Na,
zufrieden?“
Erst jetzt fiel Jennifer auf, daß ein älteres Paar sie schon eine ganze Weile neugierig beobachtete. Die Frau schüttelte den Kopf. Jennifer wurde rot und beugte sich wieder über den Zeichenblock. Als sie aufsah, war das Paar verschwunden. Wahrscheinlich erzählen sie jetzt überall herum, daß in den Schloßruinen eine Verrückte sitzt, die sich mit den Krähen unterhält, dachte sie. Zum Glück kannte sie die Leute nicht. Auch die Krähen waren plötzlich weg. Jennifer fragte sich einen Moment, ob sie wirklich gezeichnet werden wollten und ob ihnen die Zeichnung vielleicht nicht gefallen hatte. Jetzt hör aber auf! schalt sie sich sofort. Sie zwang sich, sich wieder auf ihre Arbeit zu konzentrieren, und hatte die letzte Zeichnung ein paar Minuten später fertig. Erleichtert packte sie ihre Sachen zusammen. Sie verließ gerade das Gelände, als ihre Mutter kam. Mrs. Harris erzählte begeistert von ihrem Besuch bei Dr. Graves. Jennifer war zufrieden damit, zuzuhören, während sie durch Okehampton und dann auf die Landstraße fuhren. Zweimal sah Jennifer ein Krähenpaar, das dem Auto zu folgen schien. Energisch rief sie sich zur Ordnung. Das war doch Unsinn. Hier auf dem Land gab es jede Menge Krähen. Die hier konnten unmöglich immer dieselben sein. Die Krähen verschwanden und tauchten nach ein paar Kilometern wieder auf. Immer waren es nur zwei. Plötzlich waren sie wieder weg. Jennifer verrenkte sich den Hals und spähte hinauf zum Himmel. Das Auto schien die Krähen weit hinter sich gelassen zu haben. Erst als ihre Mutter langsamer fuhr, um auf die A 382 nach Mortenhampstead einzubiegen, sah Jennifer die Krähen wieder. Diesmal hockten sie auf einem Weidezaun am Straßenrand. Es schien, als hätten sie auf das Auto gewartet. Kaum war der Wagen in langsamem Tempo auf die andere Fahrbahn eingebogen, schwangen die Krähen sich in die Luft. „Da sind sie schon wieder“, seufzte Jennifer. „Wer?“ „Das Krähenpaar. Kurz hinter Okehampton habe ich sie zum ersten Mal gesehen.“ „Das können unmöglich dieselben Vögel sein. Wie willst du überhaupt eine Krähe von der anderen unterscheiden? Außerdem könnten sie gar nicht so schnell fliegen, wie das Auto fährt.“ „Sicher, du hast wohl recht.“ Jennifer drehte sich um, verlor aber die Vögel aus den Augen, als die Straße eine scharfe Biegung machte. Egal, was ihre Mutter auch sagte, egal, was der gesunde Menschenverstand davon hielt, Jennifer wußte instinktiv, daß die beiden Krähen, die sie gerade gesehen hatte, dieselben waren, die sie im Schloß gezeichnet hatte. Am liebsten hätte sie den Zeichenblock hervorgeholt, um nachzusehen, ob die Zeichnung der beiden Krähen noch da war. Und was, wenn nicht? Sie wollte diesen Gedanken gar nicht erst zu Ende denken. Es geschah, kurz nachdem sie die kleine Stadt Mortenhampstead hinter sich gelassen hatten. Plötzlich schoß eine Krähe haarscharf an Jennifers offenem Fenster vorbei. Jennifer schrie erschrocken auf. „Um Himmels willen, was ist los?“ Mrs. Harris hatte unwillkürlich das Steuer herumgerissen. Der Wagen streifte kurz die Grasnabe am Straßenrand. „Krähen“, erwiderte Jennifer mit zitternder Stimme. „Ich habe sie nicht gesehen“, sagte Mrs. Harris gereizt. „Tut mir leid, Mom. Eine ist direkt an meinem Autofenster vorbeigeflogen. Ich dachte schon, sie wollte den Wagen rammen.“ Ihre Mutter erwiderte nichts. Ein paar Kilometer herrschte Schweigen. Dann
sagte Jennifer. „Da drüben ist die Abzweigung nach Tor View.“ Sie musterte den
Himmel, während sie sprach.
Ihre Mutter blinkte nach links und fuhr langsamer. Plötzlich trat sie voll auf die
Bremse. Jennifer wurde nach vorn geschleudert. Zum Glück war sie angeschnallt.
Das Krähenpaar schien Selbstmord begehen zu wollen. Sie flogen direkt auf das
Auto zu, machten eine Kurve und schossen davon. Zum Glück war kaum Verkehr,
sonst hätte das plötzliche Bremsen üble Folgen haben können.
Nelda Harris sagte nichts. Erst kurz vor Tor View brach sie das Schweigen. „Es
können nicht dieselben Krähen wie in Okehampton gewesen sein, Jennifer. Das
ist unmöglich.“
„Wenn du es sagst.“ Jennifer suchte weiter den Himmel nach den zwei schwarzen
Vögeln ab und war erleichtert, als sie nicht wieder auftauchten.
Jennifer war ein bißchen enttäuscht, daß Robert nicht mit einem Buch im Garten
saß. Aber erfreut stellte sie fest, daß jetzt das Fahrrad aus der Scheune
blankgeputzt neben ihrem eigenen an der Wand lehnte.
Oben im Zimmer fragte sie ihre Mutter. „Möchtest du mal sehen, was ich
gezeichnet hab?“
„Ja, gern. Da habe ich auf der ganzen Rückfahrt nur von mir erzählt und dir gar
keine Chance gegeben zu berichten, wie du den Nachmittag verbracht hast.“
„Da gibt’s auch nicht viel zu erzählen. Ich habe gezeichnet. Oh, und so ein
komischer alter Herr hat mir etwas von einem unglücklichen Liebespaar aus
längst vergangener Zeit erzählt. Der war ziemlich merkwürdig. Ich war froh, als
er wieder ging.“
Mrs. Harris studierte bewundernd das erste Blatt auf dem Zeichenblock.
„Jennifer, du hast wirklich Talent“, lobte sie ihre Tochter.
„Danke.“ Jennifer schlug sie das Blatt um. Wieder war ihre Mutter begeistert.
Plötzlich wurde Jennifer nervös. Jetzt kam die Zeichnung mit den Krähen an die
Reihe. Was, wenn nun die rechte obere Ecke des Blatts leer war? Mit zitternder
Hand blätterte sie weiter. Die beiden Krähen sahen sie an. Sie hätte am liebsten
vor Erleichterung geheult.
„Nette Vögel“, sagte ihre Mutter leicht ironisch.
„Sie sind mir überallhin gefolgt. Da dachte ich, sie wollten von mir gezeichnet
werden. Als ich ihnen das Bild gezeigt habe, sind sie weggeflogen.“
Jennifer merkte, daß ihre Mutter sie scharf musterte, aber jetzt war es zu spät.
Hätte ich doch bloß meinen blöden Mund gehalten, dachte sie.
„Die Zeichnungen sind großartig. Sicher können wir einige in meinem Buch
veröffentlichen“, sagte ihre Mutter.
„Das hoffe ich auch.“ Jennifer drehte das letzte Blatt um und sah durch das
Fenster hinaus aufs Moor.
„Wunderbar. Und die Krähen auf der Mauer verleihen dem Bild Lebendigkeit und
Wärme.“
„Welche Krähen?“ Jennifer blickte erstaunt auf das Blatt.
„Diese hier.“ Ihre Mutter deutete auf das Vogelpaar, das auf den Ruinen saß.
„Oh“, sagte Jennifer mit schwacher Stimme.
Ihre Mutter warf ihr einen prüfenden Blick zu, aber sie ging nicht weiter auf
Jennifers merkwürdige Reaktion ein. Statt dessen sagte sie: „Es ist gerade noch
Zeit, vor dem Abendessen zu duschen. Ich werde mich beeilen.“
„Danke. Das ist nett.“ Jennifer setzte sich mit dem Zeichenblock in der Hand auf
das Bett. Sie hörte nicht einmal, wie ihre Mutter die Badezimmertür schloß, so
vertieft war sie darin, die Zeichnung zu studieren.
Ungläubig schüttelte sie immer wieder den Kopf. Aber es half nichts. Die Krähen
waren da, obwohl sie sie nicht auf dieses Blatt gemalt hatte. Sie hatte die Vögel
nur in eine kleine Ecke eines anderen Blattes gemalt. Ängstlich blätterte sie zurück. Die Skizze war noch da. Die Krähen starrten sie genauso reglos an, wie sie es im Schloß wirklich getan hatten. Sie blätterte zum letzten Bild zurück. Auch da hatte sich nichts geändert. Die Krähen hockten auf der verfallenen Mauer der alten Schloßruine. Wer spielte dieses Spielchen mit ihr? Wollte jemand, daß sie den Verstand verlor? Jennifer zwang sich aufzustehen und den Zeichenblock in die Ledertasche zu packen. Dabei fiel ihr Blick auf ihr Portemonnaie. Sie holte es heraus, um nachzusehen, wieviel Geld sie noch hatte. Komisch, die Geldbörse fühlte sich ganz leicht an. Das konnte doch nicht sein. Der Alte hatte ihr zehn Münzen gegeben, und sie hatte noch anderes Kleingeld gehabt. Jennifer runzelte die Stirn und schüttete den Inhalt der Börse auf dem Bett aus. Zwei, drei Münzen rollten heraus. Ein paar getrocknete Blätter flatterten hinterher. Reglos blieb sie neben dem Bett stehen und ging noch einmal den Nachmittag durch. Sie hatte ihr Portemonnaie, während sie auf dem Schloß war, kein einziges Mal aus der Hand gegeben. Unmöglich konnte jemand die Münzen gegen Blätter umgetauscht haben. Langsam zählte sie das trockene Laub. Es waren zehn Blätter. Der Alte hatte ihr zehn Münzen gegeben. Zehn Münzen, zehn trockene Blätter… Jennifer hatte die Blätter gerade in den kleinen Papierkorb geworfen, der neben dem Bett stand, als ihre Mutter aus dem Badezimmer kam. „Die Dusche ist frei!“ rief sie fröhlich. „Beeil dich, sonst kommen wir zu spät zum Abendessen.“ Jennifer war der Appetit gründlich vergangen.
4. KAPITEL „Hast du Lust auf einen kurzen Spaziergang?“ fragte Robert über den Tisch
hinweg.
„Klar.“ Jennifer hielt es sowieso kaum noch im Speisesaal aus. Sie wollte sich
bewegen, wollte raus. Alles war besser, als hier zu sitzen und so zu tun, als wäre
alles in Ordnung.
„Kommt ihr mit?“ Robert warf einen Blick auf Nelda Harris und seinen Vater.
„Ich nicht“, lehnte Jennifers Mutter ab. „Ich trinke lieber noch eine schöne Tasse
Tee.“
„Ich auch“, schloß sich Roberts Vater ihr an.
„Gut, bleiben wir zwei.“ Robert stand auf.
Ein paar Minuten später gingen sie zur Westseite von Easdon Tor. Sie hatten das
nicht abgesprochen. Der schöne Aussichtspunkt schien sie magisch anzuziehen.
Während sie die sanfte Anhöhe hochgingen, blieb Jennifer immer wieder stehen
und betrachtete die Landschaft.
„Auf eine ganz eigentümlich wilde Art ist sie sehr schön“, sagte sie schließlich.
„Ja, ich weiß.“ Robert, der schon weiter vorgegangen war, kam zurück und stellte
sich neben Jennifer. „Aber wenn du eine Woche lang nichts anderes getan hast,
als Landschaften zu bewundern, beginnt eine plötzlich wie die andere
auszusehen.“
„Kann ich mir vorstellen. Muß schrecklich sein, der einzige in Tor View gewesen
zu sein, der unter Vierzig ist.“
„Ich bin jedenfalls sehr froh, daß du da bist.“ Er strich sich eine Locke aus der
Stirn.
Einen kurzen Moment fragte Jennifer sich, ob hinter seinen Worten mehr steckte,
als nur die Freude darüber, einen Gleichaltrigen in Tor View gefunden zu haben.
Bevor sie es herausfinden konnte, hatte Robert sich umgedreht und ging weiter
den Hügel hoch. Jennifer folgte ihm. Eins war sicher, sie waren schon gute
Freunde geworden. Und mehr? Nun, das würde sich mit der Zeit herausstellen.
Ein paar Minuten später waren sie oben angekommen. Jennifer sah nach Westen,
wo die sinkende Sonne noch am Himmel stand. Sie genoß den Blick über die
wilde Landschaft und drehte sich langsam, bis Tor View wieder in Sicht kam.
„Das ist phantastisch.“ Sie flüsterte, aus Angst, den Zauber des Augenblicks zu
zerstören. Dann wandte sie sich nach Osten und sah hinauf zur Spitze des Bergs
Tor.
„Die Steinkreise, die ich gezeichnet habe, müssen direkt auf der anderen Seite
des Berges liegen.“
„Ungefähr eine Viertelmeile entfernt.“
Jennifer sah ihn fragend an.
„Woher ich das so genau weiß? Ich hatte doch nichts anderes zu tun, als zu lesen
oder spazierenzugehen.“ Robert hielt inne und fügte leise hinzu: „Und darauf
aufzupassen, daß mein Vater nüchtern bleibt.“
Jennifer nickte und schwor sich im stillen, daß sie in Zukunft alles vermeiden
würde, was Robert an seine unglückliche Lage erinnern könnte.
Ein paar Minuten blieben sie still ganz nah beieinander stehen. Doch sie
berührten sich nicht. Jeder war in eigene Gedanken versunken. Schließlich brach
Robert das Schweigen.
„Willst du es mir nicht erzählen?“ Seine Stimme klang sanft.
„Was?“ Jennifer sah ihn an.
„Das, was dich schon den ganzen Abend bedrückt.“
„Hat man’s gemerkt?“
„Ich schon.“ Jennifer holte tief Luft. Dann erzählte sie ihm, angefangen von der verschwundenen Zeichnung, alles, was passiert war, und achtete dabei genau darauf, wie Robert auf ihre Worte reagierte. Er runzelte manchmal leicht die Stirn, machte aber keinen Versuch, Jennifers Geschichte zu unterbrechen. „Ich bin sicher, daß der Alte mir zehn Münzen gegeben hat“, schloß sie schließlich. „Und alles, was ich nachher im Portemonnaie hatte, waren zehn vertrocknete Blätter.“ Ein paar Sekunden lang schwiegen beide. Hoffentlich glaubt er nicht, ich sei total übergeschnappt, dachte Jennifer ängstlich, als Robert nichts sagte. „Du hast ja schon ‘ne Menge mitgemacht, seitdem du hier angekommen bist, das kann man wohl sagen.“ Robert lächelte und schüttelte verwundert den Kopf. Dann schwieg er wieder. Jennifer betrachtete sein gutaussehendes Gesicht und sah, daß er in Gedanken verloren war. „Du glaubst mir nicht“, sagte sie schließlich. „Das ist es nicht.“ Ersuchte nach den richtigen Worten. „Ich glaube, daß du jedes Wort, was du gesagt hast, auch wirklich ernst meinst. Aber es scheint alles so total unmöglich zu sein.“ Jennifer reagierte einen Moment lang sauer. Aber dann war das Gefühl vorbei. Wie konnte sie es Robert übelnehmen, wenn sogar ihre eigene Mutter sich weigerte zu glauben, daß ein Krähenpaar kilometerweit dem Auto gefolgt war? Sie hatte ja selbst keine Erklärung für die unglaublichen Ereignisse. „Ich weiß“, flüsterte sie so leise, daß er sie kaum verstand. „Ich bin dir nicht böse, wenn du denkst, ich sei reif für die Klapsmühle.“ „Das habe ich nicht gesagt!“ erwiderte Robert heftig. „Ich bin nur gewohnt, bei allem nach einer logischen Erklärung zu suchen. Und jetzt haben wir es plötzlich mit Dingen zu tun, die jeder Logik spotten.“ Er lachte, um seinen Worten die Schärfe zu nehmen. Jennifer hatte sowieso nur eins gehört: Robert hatte „wir“ gesagt. Das war alles, was für sie zählte. Jetzt stand sie der unbekannten Gefahr nicht mehr allein gegenüber. „Es wird schnell dunkel. Wir machen uns besser auf den Heimweg“, schlug Robert vor. „Okay.“ Jennifer verließ den schönen Aussichtspunkt zwar ungern, aber auch sie sah, daß die Schatten schnell länger wurden. Auf dem Weg nach unten trat sie unglücklich auf einen Stein und wäre umgeknickt, wenn Robert sie nicht rechtzeitig festgehalten hätte. „Langsam“, sagte er. Einen Moment zog er sie eng an sich. Jennifer blickte in seine blauen Augen, und ihr Herz klopfte wie wild. Dann ließ er sie wieder los, hielt jedoch länger als notwendig ihren Arm fest, damit sie in der Dämmerung nicht wieder stolperte. Während Jennifer neben ihm die Anhöhe hinunterging, dachte sie an das prickelnde, warme Gefühl, das sie gespürt hatte, als er sie in seinen Armen gehalten hatte. Und sie war froh, daß sie ihre Ängste und Zweifel jemandem anvertraut hatte. Sie redeten auf dem Heimweg wenig. Jennifer spürte, daß Robert sich mit ihren Problemen beschäftigte. Problemen, die jetzt auch seine waren. Sie hoffte es zumindest. „Hallo, ihr zwei.“ Nelda Harris sah vom Kartenspiel hoch, als Jennifer und Robert den Aufenthaltsraum des Gasthofs betraten. Jennifer sah sich kurz um. An zwei Tischen wurde Bridge gespielt. Ein weiterer Gast, dessen Namen sie vergessen hatte, saß in einem Sessel und las.
„War euer Spaziergang nett?“ Roberts Vater betrachtete die beiden. In seinen Augen lag ein vergnügtes Zwinkern. „Wir sind auf die Anhöhe gegangen“, erwiderte Jennifer kurz. „Mr. und Mrs. Hightower, das sind meine Tochter Jennifer und ihr Freund Robert“, stellte Mrs. Harris die beiden dem älteren Paar vor, das mit am Tisch saß. „Robert ist mein Sohn“, fügte Dr. Coleman hinzu und stach den Herzkönig des anderen Mannes mit einem As. Die Hightowers nickten kurz und runzelten dann beide verärgert die Stirn über den verlorenen Trumpf. „Wir setzen uns noch etwas in den Garten“, sagte Robert. „Nett, Sie kennengelernt zu haben.“ „In Ordnung.“ Jason Coleman und Nelda Harris tauschten amüsiert einen raschen Blick. Sie schienen sich diebisch zu freuen, daß ihre Gegenspieler solche Probleme hatten. Als sie draußen außer Hörweite waren, sagte Jennifer kichernd: „Du hättest ihnen erzählen können, daß wir auf dem Weg nach Las Vegas sind, um zu heiraten. Die hätten nicht reagiert.“ „Da hast du recht.“ Robert zog einen zweiten Stuhl heran, und sie setzten sich. „Das ist prima“, fuhr er fort. „Endlich interessiert mein Vater sich wieder für etwas. Deine Mutter ist gut für ihn.“ „Und er ist gut für sie. Ich rede schon lange auf sie ein, sie soll ausgehen und interessante Männer treffen.“ Jennifer schüttelte den Kopf. „Du hast ja keine Ahnung, wie hart eine Scheidung eine Frau treffen kann. Besonders, wenn der Ehemann keine zwei Minuten später eine hübschere Frau heiratet, die jung genug ist, um seine Tochter zu sein.“ „Sicher fast so hart, wie die Ehefrau und Mutter seines Kindes zu verlieren“, erwiderte Robert. „Tut mir leid. Ich hab mal wieder nicht nachgedacht.“ Jennifer legte ihm leicht die Hand auf den Arm. „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Freuen wir uns lieber darüber, daß die beiden so gern zusammen sind.“ Robert schwieg einen Moment. Dann fuhr er fort: „Genauso gern, wie ich mit dir zusammen bin.“ Was sollte Jennifer darauf sagen, ohne albern zu klingen? „Danke.“ Sie spürte sofort, daß etwas fehlte. „Und danke, daß du dir meine Probleme angehört hast.“ „Keine Ursache.“ Nach einer kurzen Pause fuhr er fröhlicher fort: „Also, was hältst du davon, wenn wir morgen eine Radtour machen? Wir könnten dem Weg“, er deutete auf einen schmalen Weg, der am Gasthof yorbeiführte, „fünf bis sechs Kilometer folgen. Da soll es zwei gut erhaltene Übereste von Siedlungen der Ureinwohner geben.“ „Warst du schon dort?“ „Nein, aber sie sind auf der Karte verzeichnet. Außerdem habe ich Mrs. Williams heute morgen danach gefragt. Sie sagte, die Ruinen wären ideal zum Zeichnen.“ Jennifer fühlte, wie sich eine glückliche Wärme in ihr ausbreitete. Robert hatte sich bereits nach geeigneten Orten erkundigt. Das zeigte, daß ihm wirklich etwas an ihr lag! „Der Weg führt zwar bergauf, ist aber nicht zu schlecht. Jedenfalls hat Mrs. Williams das behauptet.“ Er lachte kurz. „Natürlich ist jede Strecke mit dem Auto leichter zu bewältigen als mit dem Rad. Aber auf der Karte sind keine steilen Hänge verzeichnet, und wir können uns ja Zeit lassen.“ „Das hört sich phantastisch an!“ Jennifer war begeistert. Sie würde nicht nur neue Zeichnungen machen, sondern auch mit Robert zusammen sein. Und die
Vorstellung gefiel ihr mehr, als sie es bisher für möglich gehalten hätte. „Mrs. Williams kann uns ein Picknick einpacken. Dann können wir so lange bleiben, wie wir wollen.“ Drinnen wurden Stühle gerückt. Das Kartenspiel war anscheinend zu Ende. Jennifer warf einen Blick durchs Fenster. „Ihren Gesichtern nach zu urteilen, haben dein Vater und meine Mutter gewonnen. Mr. und Mrs. Hightower sehen jedenfalls ziemlich mißmutig aus.“ „Dann gehen wir jetzt wohl besser wieder rein.“ Robert stand auf. Jennifer nahm seine ausgestreckte Hand und ließ sich von ihm hochziehen. „Ich hab dein Rad überprüft“, sagte er. „Es ist tipptopp in Ordnung.“ „Danke. Und noch mal danke, daß du mir da draußen auf dem Berg zugehört hast.“ Robert nickte. Sein Gesicht war in der Dämmerung kaum zu erkennen. „Darüber reden wir noch. Nachdem wir beide mehr Zeit hatten, darüber nachzudenken.“ „Ja.“ Jennifer war plötzlich merkwürdig angespannt. „Also dann bis morgen.“ Robert zögerte. „Gute Nacht.“ Jennifer machte einen Schritt, drehte sich noch einmal um und sah ihn an. Robert zog sie in seine Arme und küßte sie leicht auf die Lippen. Hinter ihnen wurde eine Tür geöffnet. Erschrocken fuhren sie auseinander. Robert ließ sie los. „Gute Nacht“, flüsterte er. „Gute Nacht.“ Jennifer wandte sich um und lief ins Haus. Die Leuchtziffern der Uhr auf ihrem Nachttisch zeigten Viertel nach zwölf, als Jennifer aus dem Schlaf hochfuhr. Eine paar Sekunden lag sie reglos da und versuchte sich zu erinnern, ob sie von Robert geträumt hatte. Aber es gelang ihr nicht. Ein weit entferntes Geräusch, das von draußen hereindrang, erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie setzte sich auf und lauschte angestrengt. Da war es wieder. Es klang dumpf und dröhnend. Einen Moment lang konnte sie nicht sagen, was es war. Dann wußte sie es. Hufschläge von galoppierenden Pferden. Sie wurden von einem Rumpeln begleitet. Wie die Räder einer Kutsche, die in voller Fahrt über das Moor jagte. Was machte eine Pferdekutsche mitten in der Nacht im Moor? Jennifer glitt aus dem Bett. Leise, um ihre Mutter nicht zu wecken, trat sie ans Fenster und sah hinaus. Der Mond schien hell über das Land. Die wenigen Bäume und der nahe Weidezaun warfen lange Schatten. Das Geräusch wurde immer lauter. Die Kutsche mußte sich in rasender Fahrt befinden. Jetzt klang es ganz nah. Jennifer spähte angestrengt hinaus. Jeden Moment mußte sie in Sicht kommen. Jetzt! Die galoppierenden Pferde schienen direkt unter ihrem Fenster zu sein. Sie hörte ihren schnaubenden Atem, während sie die schwere Kutsche zogen. Aber zu sehen war nichts! So sehr Jennifer sich auch anstrengte, sie konnte keinen Blick auf die geheimnisvolle Kutsche erhaschen. Das Gefährt schien unsichtbar zu sein. Die Geräusche wurden langsam leiser, bis sie plötzlich ganz verstummten. Draußen im Moor heulte ein Hund. Einen Moment später fielen ein zweiter und ein dritter ein. Ein Krähenschwarm verdeckte wie eine pechschwarze Wolke den Mond. Jennifer fror auf einmal entsetzlich. Langsam, mit weichen Knien, ging sie zurück ins Bett. Ihr Mund war wie ausgetrocknet, und ihre Hände waren eiskalt. Die Hunde setzten ihr klagendes Heulen fort. Irgendwie hatte das etwas mit den Geräuschen zu tun, die sie vorher gehört hatte, das wußte Jennifer instinktiv. Aber wieso hatte sie die Kutsche nicht gesehen, die praktisch unter ihrem Fenster vorbeigefahren war? Alte Kutschen konnten die Touristen in dieser Gegend
mieten, um nostalgische Ausflüge zu machen, das hatte Jennifer gehört. Aber mitten in der Nacht? In so rasender Fahrt? Wo wollte sie hin? Und wo kam sie her? Wieder heulten die Hunde. Die Hunde, die Krähen am Himmel, die Kutsche… Wo war da der Zusammenhang? Jennifer fiel plötzlich der merkwürdige Alte in der Schloßruine wieder ein. Er hatte etwas erzählt von einem unglücklichen Liebespaar, das fliehen wollte und dabei im Moor umgekommen war. „Am Himmel kreisten die Krähen, und die Hunde heulten“, hatte er gesagt. Und außerdem hatte er behauptet, daß manche Menschen die Kutsche der Unglücklichen in bestimmten Nächten hören könnten. Warum passierte das gerade ihr? Jennifer unterdrückte das Verlangen, sich vor Furcht die Decke über den Kopf zu ziehen. War ihre Phantasie so überreizt, daß sie sich das alles einbildete, nur weil ein verrückter Alter ihr wirres Zeug erzählt hatte? Sie mußte mehr über die alte Sage erfahren. Wie hatten die beiden Liebenden noch geheißen? John und Maria? Nein, jetzt fiel es ihr wieder ein: Francis und Mariotta. Draußen war inzwischen Stille eingekehrt. Totenstille. Jennifer kroch tiefer unter die Decke. Sie war auf einmal schrecklich erschöpft. Die Augen fielen ihr zu. Morgen, morgen würde sie sich erkundigen… Ein paar Minuten später war sie eingeschlafen.
5. KAPITEL „Hast du jemals so einen schönen Tag erlebt?“ Jennifer atmete tief die frische Morgenluft der Moorlandschaft ein. „Hoffentlich bewölkt es sich später nicht.“ Robert hörte auf, in seinem Rucksack zu wühlen, und warf einen besorgten Blick auf den Himmel. „Kann ich dir helfen?“ Jennifer kniete sich neben ihn. „Nein, alles klar. Überprüfe lieber zur Sicherheit noch mal die Reifen.“ „Okay.“ Jennifer ging zu den Fahrrädern. „Die sind in Ordnung“, stellte sie fest. „Prima. Die Luftpumpe funktioniert auch. Nichts ist blöder, als irgendwo in der Landschaft feststellen zu müssen, daß die Pumpe kaputt ist.“ „Bist du immer so vorsichtig?“ fragte Jennifer scherzend. Doch ihre grünen Augen blickten nachdenklich. „Ich versuche es zumindest. Ich hasse es, mir von unvorhersehbaren Sachen den Tag verderben zu lassen. In der Scheune habe ich noch einen Schraubenzieher und Kreuzschlüssel gefunden. Zusammen mit den Werkzeugen in deinem Notfallkasten müßten wir jetzt für jede kleinere Panne gerüstet sein.“ „Großartig.“ Jennifer betrachtete Robert und dachte, wie gut er aussah in den kurzen Radfahrerhosen und dem bunten Trikot. Zum Schutz gegen die Sonne trug er eine weiße Sportmütze, die leicht schief auf seinem blonden Haar saß und ihm etwas Freches verlieh. Jennifer zweifelte keinen Augenblick daran, daß dieser Junge, für den der Sommer so unglücklich begonnen hatte, mit fast allem fertig werden würde, was sich ihm in den Weg stellen sollte. Sie hatte morgens lange überlegt, was sie anziehen sollte. Schließlich hatte sie sich ein Tuch in ihre langen, roten Haare gebunden und sich für weiße Shorts, einen breiten Ledergürtel, der ihre schmale Taille betonte, und ein weißes TShirt entschieden. Dazu trug sie weiße Söckchen und feste Schuhe. Siehst nicht schlecht aus, Mädchen, hatte sie nach einem letzten Blick in den Spiegel gedacht. „Hör mal.“ Robert wischte sich die Hände an einem Lappen ab. „Mrs. Williams packt gerade unser Picknick ein. Ich will noch ein paar Plastikflaschen mit Wasser füllen. Kommst du mit?“ „In einer Minute.“ Jennifer zögerte, dann entschied sie sich, die Wahrheit zu sagen. „Ich möchte nachsehen, ob auf der hinteren Seite des Hauses Huf oder Radspuren sind. Gestern nacht hab ich nämlich eine Kutsche vorbeifahren hören. Als ich hinausschaute, konnte ich nichts sehen.“ Roberts Gesicht verdüsterte sich leicht. Dann sagte er: „Geh nur. Wir treffen uns in ein paar Minuten hier.“ Fünf Minuten später hatte Jennifer Gewißheit über das, was sie bereits geahnt hatte. Es gab auf dem staubigen, trockenen Boden keinerlei Hufspuren oder Spuren von Kutschenrädern. Gerade, als sie wieder vor das Haus gehen wollte, erhaschte sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Blitzschnell fuhr sie herum. Was immer der schwarze Schatten auch gewesen sein mochte, er hatte entweder nur in ihrer Phantasie existiert, oder er war verschwunden. Konnte es ein großer, schwarzer Hund gewesen sein? Jennifer hatte keine Ahnung. Mit schnellen Schritten ging sie zu den Rädern zurück und widerstand der Versuchung, über die Schulter zu schauen. Sie hatte das Gefühl, als ob sich glühende Blicke in ihren Rücken bohrten, und mußte an sich halten, um nicht zu rennen. „Da bist du ja. Bist gerade lange genug weggeblieben, um mich alles allein einpacken zu lassen.“ Roberts Tonfall war gutgelaunt und freundlich. Er machte den letzten Riemen am Rucksack fest.
„Eigentlich verstaue ich das Zeug lieber in Satteltaschen. Aber da Mrs. Williams
keine hat, muß es so gehen.“
Jennifer überprüfte noch einmal, ob ihre Zeichentasche auch richtig fest auf dem
Gepäckträger eingeklemmt war. „Hast du an die Werkzeugtasche gedacht?“
„Ja.“
„Dann kann’s ja losgehen.“ Jennifer bekam kurz ein schlechtes Gewissen, als
Robert sich den schweren Rucksack überstreifte. „Der sieht aber unbequem aus.“
„Er stört meine Balance. Wie schon gesagt, Satteltaschen sind mir lieber.“ Robert
bewegte die Schultern, um das Gewicht besser zu verteilen. „Aber wir fahren ja
nicht so weit. Hast du deine Huf und Räderspuren gefunden?“
Jennifer schüttelte den Kopf. „Ich hatte es auch nicht erwartet.“
Als Robert sie scharf musterte, fügte sie hinzu: „Wahrscheinlich hab ich alles nur
geträumt.“
Sie fuhren los. Nach ein paar Minuten fragte Robert betont gleichgültig: „Was
hältst du davon, daß deine Mutter und mein Vater zusammen nach Tavistock
gefahren sind?“
„Ich find’s super.“ Jennifer hoffte, daß Robert ebenso dachte.
„Ich auch. Endlich zeigt Dad wieder Interesse am Leben. Zu einem Treffen mit
einem alten Historiker zu fahren, ist doch besser, als den ganzen Tag im Garten
zu sitzen und ein Buch zu lesen. Und sich Gedanken darüber zu machen, ob man
den Tag ohne einen Drink übersteht.“
„Ich bin genauso glücklich, daß meine Mutter Gesellschaft hat. Sonst hätte ich
ein schlechtes Gewissen, einfach mit dir eine Radtour zu machen, während sie
alleine fahren muß.“
„Eltern haben manchmal eine merkwürdige Art, mit Problemen fertig zu werden.“
Robert beschleunigte das Tempo ein wenig. Jennifer hielt mit.
„Dad hat es versucht, indem er sich mit Alkohol betäubte“, überlegte Robert.
„Damit hätte er sich beinahe kaputtgemacht. Aber er wollte es so. Von dem, was
ich von deiner Mutter gehört habe, hat sie sich in ihre Arbeit vergraben.“
Jennifer wollte schon protestieren. Aber dann dachte sie an die Jahre nach der
Scheidung. Robert hatte recht.
„Stimmt. Und das Komische daran ist, daß ich es erst jetzt gemerkt habe. Dir ist
es schon nach ein paar Tagen klargeworden. Ich habe mit ihr zusammengelebt
und nichts gesehen.“
„Wenn einem ein Problem zu nah ist, erkennt man es oft nicht.“
Seine Antwort wirkte auf Jennifer wie ein Stichwort. Bevor sie sich recht klar war,
was sie da sagte, waren die Worte schon heraus. „Robert, hältst du mich für ein
Mädchen, das sich Dinge einbildet?“
„Dinge wie die Krähen auf deinen Bildern?“ Obwohl Robert lächelte, sah er sie
scharf an. „Und die getrockneten Blätter in deinem Portemonnaie?“
„Wie die Krähen und die Blätter.“ Jennifer zögerte. „Und andere Dinge.“
Sie fuhren ein paar Meter schweigend nebeneinander her.
„Meinst du damit eine Kutsche, die durch die Nacht fährt?“ Seine Stimme war
ernst.
„Ja.“ Sie schwieg.
„Was würdest du von mir denken, wenn ich dir sagen würde, daß diese Dinge mir
Angst machen?“ begann Jennifer wieder. Sie hielt fast den Atem an. Seine
Antwort war schrecklich wichtig für sie.
„Ich hab dir schon gesagt, daß das Moor furchteinflößend sein kann. Ich hätte nie
gedacht, daß ich es einmal zugeben würde. Aber von einem Spaziergang bin ich
fast zitternd zurückgekommen. Und das kam nicht von der Anstrengung, dem
Weg zu folgen.“ Robert schüttelte den Kopf und lachte bitter. „Ich war panisch
vor Angst.“ „Was ist geschehen?“ Jennifer sah ihn aufmerksam an. „Ich hatte das Gefühl, jedes Mal, wenn ich den Kopf drehte, wäre da ein Tier. Es war dunkel. Ich nahm an, daß es ein riesiger Hund war. Oder mehr als einer. Am merkwürdigsten war, ich habe ihn nie gesehen. Immer, wenn ich mich umwandte, war er weg. Schaute ich wieder nach vorn, schien er direkt hinter mir zu sein. Ich konnte fast seinen Atem an meinen Beinen spüren. Sicher habe ich mir alles nur eingebildet, und der Hund war nur ein Schatten. Aber als ich wieder in Tor View war, zitterten mir die Knie.“ „Ich weiß, was du meinst.“ Jennifer fühlte sich plötzlich viel besser. „Ich habe denselben Hund oder so etwas Ähnliches heute morgen erlebt, als ich zu dir und den Rädern zurückkam. Ich mußte mich zwingen, nicht dauernd über die Schulter zurückzusehen und ruhig zu gehen, statt zu rennen.“ Jetzt war Robert an der Reihe, sie intensiv zu mustern, um festzustellen, ob Jennifer keinen Witz machte. Der ernste Blick in ihren Augen verriet ihm jedoch, daß sie sich nicht über sein Geständnis lustig machen wollte. „So.“ Robert schwieg einen Moment. „Und welchen Schluß können wir daraus ziehen? Sind wir zwei so eingefleischte Großstädter, daß wir Angst bekommen, wenn uns Gebäude, Autos und Lärm fehlen?“ „Das glaube ich nicht.“ Jennifer überlegte, wie sie es am besten ausdrücken sollte. „Aber eins weiß ich sicher. Wir haben beide dieselben Gefühle, dieselben Ängste zu verschiedenen Zeiten gehabt. Also muß da draußen etwas Unheimliches vorgehen.“ Sie deutete auf das Moor. „Willst du zurückfahren und heute lieber nicht zeichnen?“ „Auf keinen Fall!“ sagte Jennifer entschlossen. „Ich bin hergekommen, um zu zeichnen. Das ist meine erste echte Chance, für meine Arbeit Geld zu bekommen. Außerdem, wie sollte ich das meiner Mutter erklären? Ich stell’s mir richtig vor: wie wir im hellen Sonnenlicht radgefahren sind und uns gegenseitig Schrecken eingejagt haben mit Geschichten über Hunde und Schatten, die nicht existieren.“ Robert lachte. „Ich kann mir auch gut vorstellen, wie mein Vater auf eine solche Story reagieren würde.“ Obwohl Jennifers Gedanken um unerklärliche Dinge kreisten, die so plötzlich ein Bestandteil ihres Lebens geworden waren, war sie sich doch der Landschaft um sie herum bewußt. Und des Jungen, der neben ihr fuhr. Sie merkte, daß er sie das Tempo bestimmen ließ. Zwar ging es bergan, doch die Strecke war nicht sehr schwierig. Jennifer war eine gute Radfahrerin, auch wenn sie kein Profi wie Robert war, der schon Rennen gefahren hatte. Früher, als sie es für möglich gehalten hätte, sagte Robert: „Dort drüben ist ein Gatter im Weidezaun. Da müssen wir durch. Danach steigen wir besser ab und gehen die restliche Strecke zu Fuß. Die Ruinen der Siedlung liegen nur ein paar Meter weiter.“ Der Weg hinter dem Gatter war nicht mehr geteert, aber gut genug, um ihn befahren zu können. Dann wurde das Gelände jedoch zu holprig. „Lassen wir die Räder hier zurück.“ Robert deutete auf drei Bäume, die nah beieinanderstanden. „Müssen wir die Räder abschließen?“ „Glaub ich nicht. Nicht hier draußen. Wie viele Autos haben wir schon getroffen?“ Jennifer nickte. Robert hatte recht. „Es scheint, als seien wir die einzigen Menschen weit und breit.“ Hand in Hand gingen sie zu den Ruinen einer alten Keltensiedlung. Viel zu schnell waren sie bei den Steinresten angelangt.
„Ich hoffe, das Motiv ist gut genug für deine Zeichnungen?“
„Es ist einfach super.“ Jennifer sah sich bereits nach einem geeigneten Standort
um.
„Kümmere dich nicht um mich.“ Robert streifte den Rucksack ab und lehnte ihn
gegen einen großen Stein. „Ich hab mir ein Buch mitgebracht. Während du
zeichnest, werde ich was über Computer lesen.“
„In Ordnung.“ Jennifer hörte kaum noch hin. Sie brannte darauf, endlich
anfangen zu können.
Eine Zeichnung folgte der anderen. Ihr Bleistift flog nur so über das Papier. Als
sie endlich aufhörte, um ihre verkrampften Finger zu strecken, konnte sie kaum
glauben, daß bereits zwei Stunden vergangen waren.
Sie blickte zu Robert und merkte, daß er nicht mehr las, sondern sie ansah.
„Fertig? Ich dachte schon, ich müßte dich mit Gewalt loseisen, wenn du noch
länger so weitergemacht hättest.“
„Tut mir leid. Ich vergesse alles, wenn ich einmal in meine Arbeit vertieft bin.“
Jennifer schaute auf ihre Uhr und stellte erstaunt fest, daß es schon Mittag war.
„Ich bin halb verhungert.“ Geschmeidig stand Robert auf. „Wollen wir etwas
essen? Das heißt, wenn du dich losreißen kannst.“
„Ich bin fertig. Bei dem Tempo, in dem ich neue Zeichnungen mache, brauche ich
jetzt sowieso mal ein ganz anderes Motiv.“ Sie klappte den Zeichenblock zu und
ging zu Robert. „Ich gerate beim Zeichnen immer total in Ekstase und ertappe
mich dabei, daß ich eine Landschaft bereits aus sechs verschiedenen
Perspektiven gezeichnet habe und doch noch nach der siebten suche.“
„Darf ich mal gucken?“
„Klar.“ Jennifer hielt ihm den Block hin. „Ich packe inzwischen das Picknick aus.“
Ein paar Minuten später legte Robert den Block aus der Hand und nahm das
Schinkenbaguette, das Jennifer ihm hinhielt. Sie hob fragend die Augenbrauen.
„Die Zeichnungen sind toll! Das meine ich ernst. Du bist wirklich begabt, Jenny.“
Er umarmte sie und küßte sie sanft.
Jennifer wurde knallrot.
Die nächste halbe Stunde verging wie im Flug. Das Picknick, das erst viel zu
reichlich für zwei zu sein schien, verschwand ebenso wie der halbe Inhalt der
Wasserflaschen. „Jedenfalls“, sagte Robert, als er das Einwickelpapier wieder im
Rucksack verstaute, „ist das Ding jetzt leichter. Wollen wir uns auf den Rückweg
machen?“
„Ja, das sollten wir.“ Jennifer sah sich um und genoß die stille Schönheit der
Landschaft. „Es ist hier so friedlich. Und ruhig.“
„Im Moment noch. Aber wenn diese Wolken dort sich entladen, wird die
Heimfahrt ziemlich unangenehm.“
Jennifer blickte zum Himmel und merkte zum ersten Mal, daß ein Gewitter
drohte.
„Alle Reiseführer warnen Wanderer davor, daß hier in der Gegend das Wetter
schnell umschlagen kann. Das gilt wohl auch für Radfahrer.“
„Stimmt.“ Jennifer stand schnell auf. „Es war ein sehr schöner Ausflug.“
Zwei Minuten später sah alles ganz anders aus.
„Vier platte Reifen!“
Robert runzelte die Stirn. „Ich bin bereit, mein letztes Geld zu wetten, daß wir
nicht über Dornen gefahren sind.“ Er betrachtete die kurze, ungeteerte Strecke
vom Standort der Räder bis zum Weg. „Da gibt es nichts, was Löcher in die
Reifen machen könnte.“
„Also müssen wir flicken.“ Jennifer war froh, daß sie nicht allein war.
Statt zu antworten, fuhr Robert mit der Hand leicht über sein Vorderrad.
Langsam drehte er es an den Speichen.
„Nichts.“ Sein Gesicht verdüsterte sich. Er griff nach der Luftpumpe.
Während er mit zornigen Bewegungen den Reifen aufpumpte, beobachtete
Jennifer das Spiel seiner Muskeln unter dem engen Trikot. Sie fragte sich, wie
viele Stunden Bodybuilding man wohl brauchte, um eine solche Kraft zu
entwickeln.
Als der Reifen aufgepumpt war, hielt er ihn nah an sein Ohr und drehte es.
„Ich schwöre dir, da ist kein Loch drin“, sagte er schließlich.
„Dann hat wohl jemand die Luft rausgelassen?“
„Möglich. Aber warum hat er dann die Ventilverschlüsse wieder draufgetan? Das
ergibt doch keinen Sinn.“
Zum ersten Mal seit heute morgen hatte Jennifer wieder das Gefühl, als ob sie
jemand beobachtete. Ohne etwas zu Robert zu sagen, drehte sie sich einmal
langsam im Kreis. Nichts war zu sehen.
In Rekordzeit hatte Robert sein Hinterrad aufgepumpt.
„Komm, ich mache meins selber.“ Jennifer griff nach der Pumpe.
„Ist schon okay. Ich bin einmal in Fahrt.“ Er grinste sie an und strich sich eine
Locke aus der Stirn. „Außerdem versuche ich, der perfekte Gentleman zu sein.“
„Danke.“ Wieder sah Jennifer sich um. Nichts.
Sie hielt das Rad fest, während Robert pumpte. Alle paar Sekunden durchstreifte
ihr Blick die Landschaft. Die Luft wurde drückender. Es schien wirklich bald ein
Gewitter zu geben.
„So, das wär’s.“ Keuchend richtete Robert sich auf. Sein blondes Haar war feucht
geworden. Er drückte das Rad mit Daumen und Zeigefinger zusammen. Es gab
nur ein wenig nach. Dann machte er den gleichen Test bei seinem eigenen Rad.
„Alles okay.“ Er befestigte die Luftpumpe wieder an Jennifers Fahrrad.
„Fertig?“
„Fertig.“ Jennifer schob ihr Rad von den Bäumen zu dem kleinen Weg hinter dem
Gatter im Weidezaun. Sie warf einen schnellen Blick über die Schulter, überzeugt
davon, daß jemand oder etwas nah genug hinter ihr war, um es sehen zu
können. Nichts. Nur die weite Moorlandschaft.
Erst als sie das Gatter hinter sich gelassen hatten, fragte Robert leise: „Du siehst
dich andauernd um. Spürst du es auch?“
„Du fragst mich, ob ich es auch spüre? Hast du denn auch das Gefühl, als würde
uns jemand beobachten?“
Robert nickte. „Seit wir die vier platten Reifen entdeckt haben. Ich war zu sehr
damit beschäftigt, sie wieder aufzupumpen, um mich umzusehen. Außerdem
wußte ich, daß du für uns beide Wache halten würdest.“ Sein Lachen klang
gezwungen und ohne Humor.
„Ob wohl jemand die Luft aus den Reifen gelassen hat?“
Robert zuckte mit den Achseln.
„Aber warum? Ein dummer Streich, vielleicht?“
„Vermutlich. Zum Glück haben der oder die Täter die Luftpumpe übersehen.“
„Und wer hat uns beobachtet?“ Jennifer fiel auf, daß sie härter in die Pedale trat
als auf dem Hinweg. Ein leichter Wind war aufgekommen und hatte die plötzliche
Schwüle wieder vertrieben. Obwohl die Sonne schien, fror Jennifer auf einmal.
„Angenommen, nur mal angenommen, daß das, was uns beobachtet, kein
Mensch ist. Nennen wir es einmal ein Wesen aus dem Jenseits.“ Robert wechselte
den Gang, während er sprach.
„Ein Geist?“
„Vielleicht. Hier im Moor gehen Dinge vor, die man mit dem normalen
Menschenverstand nicht mehr erklären kann.“
Jennifer wußte jetzt, warum Robert die Reifen so schnell aufgepumpt hatte. Er
wollte weg von diesem unheimlichen Ort. „Was will dieses Wesen ausgerechnet
von uns?“ fragte sie verzweifelt.
„Das weiß ich auch nicht. Dad kennt alle möglichen Sagen und Legenden aus
dem Moorgebiet. Vielleicht frage ich ihn mal danach.“ Robert warf einen Blick
über die Schulter.
Jennifer zitterte. Es wurde immer kälter. Obwohl die Wolken noch in einiger
Entfernung waren, fiel die Temperatur schnell.
„Hast du immer noch das Gefühl, beobachtet zu werden?“
„Ich glaube nicht. Wie ist es denn mit dir?“
Robert zuckte gelassen mit den Schultern. „Dann sieh dich mal um. Wir haben
nämlich seit ein paar Metern Gesellschaft.“ Er nickte mit dem Kopf in Richtung
Moor.
Jennifer wandte sich um. Sie erschrak so sehr, daß sie den Lenker einen Moment
herumriß.
„Nicht so stürmisch, Baby!“ Robert fuhr auf den Grasstreifen neben dem Weg,
um einen Zusammenstoß zu vermeiden.
„Tut mir leid.“ Jennifer hatte ihr Rad wieder unter Kontrolle, und Robert kam
zurück auf die Straße.
„Wie lange läuft dieser riesige schwarze Hund schon hinter uns her?“
„Als ich ihn das erste Mal sah, waren wir ein paar Meter hinter dem Gatter. Ich
hab ihn seitdem beobachtet. Auch, als wir den Hügel hinunter mehr Fahrt
gemacht haben, blieb er bei uns. Er läuft über Steine und durch Gestrüpp, als
wäre es ein englischer Rasen.“
Jennifer blickte wieder zu dem Hund. Jetzt fuhren sie eine Anhöhe hinauf. Das
riesige Tier paßte sich ihrem Tempo an. Jennifer mußte einen Gang
hinunterschalten, um nicht aus dem Rhythmus zu kommen.
„Was kann der von uns wollen?“ Sie mußte sich zwingen, ruhig zu bleiben.
„Vielleicht will er herausfinden, wo wir wohnen.“ Robert schaltete ebenfalls
zurück.
„Was ist das wohl für eine Rasse?“ Jennifer musterte den Hund genau.
„Keine Ahnung. Es ist kein Neufundländer. Dafür ist sein Fell zu kurz. Ich tippe
auf eine Mischung.“
Jennifer hörte im Geiste wieder die Hunde im Moor heulen, nachdem die
unsichtbare Kutsche an ihrem Fenster vorbeigefahren war. Sie schaltete noch
einen Gang hinunter und trat härter in die Pedale.
„Mach das nicht.“
„Was?“
„Versuche nicht, ihn abhängen zu wollen. Jedenfalls nicht, solange wir den Hügel
hochfahren. Er hat auch auf freier Strecke mitgehalten, als wir viel schneller
fuhren. Du kannst ihn jetzt unmöglich abschütteln.“
„Ich nicht. Aber du könntest es.“
„Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ist sowieso egal. Wir sind zusammen. Und der
Hund bedroht uns nicht.“
Jennifer unterdrückte den Wunsch zu fragen, was sie überhaupt tun konnten,
falls der Hund sie angriff. Statt dessen sagte sie: „Könntest du ihn auf gerader
Strecke oder den Berg runter abhängen?“
„Ich könnte es zumindest versuchen. Aber wir wollen ihm doch nicht zeigen, daß
wir Angst haben.“
„Das weiß er schon.“ Der Gipfel der Anhöhe war weniger als hundert Meter
entfernt.
„Mag sein. Von der Anhöhe bis nach Tor View geht der Weg langsam nach unten.
Wir werden unser Tempo nach und nach beschleunigen, aber ohne zu zeigen,
daß wir versuchen, abzuhauen. Schauen wir mal, was dann passiert.“
„Gut.“ Jennifer kam es so vor, als läge die Spitze der Anhöhe kilometerweit
entfernt.
„Wenn es nur ein Hund von einem Bauernhof in der Gegend ist, werden wir ihn
abhängen.“
Jennifer fragte nicht, welche Bedeutung es haben würde, wenn der Hund mit
ihnen mithielt. Sie war nicht sicher, ob sie es wissen wollte.
Sie erreichten die Spitze und mußten beide zur Seite fahren, um einem
entgegenkommenden Auto auszuweichen. Dann zog Robert in schnellem Tempo
an ihr vorbei. Jennifer bezweifelte nicht, daß er schneller und längere Strecken
fahren konnte, als sie es jemals schaffen würde.
Der Weg führte sanft bergab. Tor View kam in Sicht. Jennifer schaltete hoch und
trat härter in die Pedale. Robert hielt mühelos mit ihr mit.
Eine Minute später sagte er: „Fahr langsamer. Wir sind ganz allein. Es sei denn,
du willst einen neuen Rekord aufstellen.“
Zum ersten Mal, seit ihnen das Auto begegnet war, hielt Jennifer wieder nach
dem Hund Ausschau. Er war weg.
„Er ist mit uns über den Hügel gelaufen. Dann war er auf einmal fort.“ Robert
fuhr um sie herum. „Fahr so nah wie möglich in meinem Windschatten. Wir
werden Tor View in Spitzenzeit erreichen.“
Jennifer fühlte sich fast wieder so gut wie vor der Entdeckung der platten Reifen.
Sie genoß den Wind in ihren Haaren und spürte einen Moment lang ein Gefühl
von Freiheit und Abenteuer.
Schließlich verlangsamten sie ihre Fahrt und fuhren den letzten halben Kilometer
in gemäßigtem Tempo.
Als sie ihre Fahrräder abstellten, sagte Robert: „Ich hab Dad versprochen, heute
nachmittag ein paar Briefe zu schreiben. Dazu werde ich mich in den Garten
setzen.“
Jennifer erkannte, daß das eine Einladung war, sich zu ihm zu gesellen. „Ich geh
schnell duschen, dann komme ich auch. Während du schreibst, kann ich ein paar
Zeichnungen von Tor View machen.“
„Prima Idee.“ Er reichte ihr die Tasche mit den Zeichensachen.
Erst als Jennifer unter der Dusche stand, fiel ihr auf, daß diesmal keine Krähe
gekommen war. Lag das an Roberts Anwesenheit?
Gerade, als dieser Gedanke sie aufzumuntern begann, fiel ihr etwas anderes ein.
Ihr wurde fast schlecht. Hatte der schwarze Hund den Platz der Krähen
eingenommen?
Jennifer drehte sofort das Wasser ab und trat aus der Dusche. Flüchtig trocknete
sie sich ab. Mit noch feuchter Haut lief sie zum Zeichenblock.
Ihr Herz hämmerte wie wild. Langsam und ängstlich schlug sie den Block bei den
Zeichnungen auf, die sie morgens gemacht hatte.
Sie studierte jedes Blatt sorgfältig. Keine Krähen. Und auch keine riesigen,
schwarzen Hunde unbekannter Rasse.
Erst nachdem sie die letzte Seite geprüft hatte, begann ihr Herz wieder
langsamer zu klopfen. Sie schlug den Block zu. Da fiel ihr noch etwas anderes
ein.
Würde heute abend eine Krähe oder ein Hund in ihren Zeichnungen auftauchen?
Oder vielleicht morgen früh?
Jennifer wickelte das Badetuch fester um sich, um die Kälte abzuwehren, die sie
mit einem Mal überfallen hatte. Sie schaute zum Fenster hinaus. Die Wolken
waren nähergerückt, aber die Sonne schien noch hell.
Sie zog sich schnell an. Plötzlich hatte sie schreckliche Angst, allein im Zimmer
zu bleiben.
Sie nahm den Zeichenblock und zwei Bleistifte und raste aus der Tür. Du
benimmst dich wie ein Baby, schalt sie sich. Aber sie konnte die Furcht nicht
abschütteln.
Als sie die Treppe hinunterlief, erkannte Jennifer, daß es nicht das Zimmer,
sondern die Furcht vor dem Unbekannten war, die sie so in Panik versetzte.
Diese Einsicht half ihr jedoch nicht viel. Sie wollte nur Gesellschaft. Notfalls hätte
jeder genügt. Aber ihr Herz sehnte sich nach Robert.
6. KAPITEL „Das Abendessen war vorzüglich“, lobte Jason Coleman.
„Viel besser als das sogenannte Essen, das wir in Travistock vorgesetzt
bekommen haben“, sagte Nelda Harris mit einem ironischen Lächeln.
„Das war keine Nahrungsaufnahme, sondern das reinste Abenteuer.“
Jennifer und Robert stimmten in das Gelächter ein, das Dr. Colemans Bemerkung
folgte.
„Ich sollte mich korrigieren“, sagte Mrs. Harris. „An das Essen selbst kann ich
mich nicht mehr erinnern, nur noch daran, daß es nach nichts schmeckte. Es
waren die Kinder, die mir den Appetit verdorben haben.“
„Wahre Horden“, fügte Dr. Coleman hinzu. „Wir sind mitten in eine
Touristenschar geraten. Und jedes Paar schien mindestens sechs Kinder zu
haben, alle unter zehn Jahren. Und alle schrien und kreischten.“
„Als wir mit dem Essen fertig waren, haben wir euch um euren ruhigen Tag im
Moor beneidet“, schloß Mrs. Harris.
Robert und Jennifer wechselten einen schnellen Blick. Ein ruhiger Tag! Von
wegen!
Die Unterhaltung wandte sich Jennifers Zeichnungen und Mrs. Harris’ Recherchen
für ihr neues Buch zu. Mrs. Williams brachte frischen Tee und Kaffee, und die vier
plauderten munter weiter.
Schließlich sagte Jennifer zu Dr. Coleman: „Robert hat erwähnt, daß Sie viel über
das Moor und seine Legenden gelesen haben.“
„Das stimmt. Historisch betrachtet ist es eine faszinierende Landschaft. Die alten
Kelten zum Beispiel pflegten…“
Jennifer unterbrach ihn, bevor er ihr eine geschichtliche Vorlesung halten konnte.
„Gibt es denn keine Sagen hier aus der Gegend?“
„Du meinst von Tor View?“
„Oder den Nachbarorten.“ Sie hoffte, daß ihre Neugier nicht zu auffällig war.
„Nun, da gibt es eine Geschichte, die besonders dir und Robert gefallen könnte.
Leider hat sie kein HappyEnd. Sie handelt von einem Liebespaar: Francis und
Mariotta.“
Jennifer rutschte vor Aufregung auf die Stuhlkante. Diese Namen hatte der
komische Alte in Okehampton erwähnt!
„Die beiden stammten aus alten englischen Clans. Ihre Familien waren schon seit
Menschengedenken verfeindet. Mariotta war die einzige Tochter von Sir Kevin of
Kincurd. Ein schönes Mädchen mit langen, roten Locken, so wie du, Jennifer.
Francis war der Sohn von Sir Walt of Drummond, dessen Clan im Schloß von
Okehampton lebte, das jetzt eine Ruine ist.“
„Ich hab dort gezeichnet“, flüsterte Jennifer.
„Also, die beiden jungen Leute trafen sich eines Tages ganz zufällig bei einem
Spaziergang im Moor. Sie fanden sich sympathisch, trafen sich heimlich immer
öfter, und es kam, wie es bei solchen Geschichten kommen muß. Sie verliebten
sich ineinander.“
„Da sie wußten, daß ihre Familien niemals in eine Heirat einwilligen würden,
beschlossen sie zu fliehen“, sagte Jennifer.
„Ja. Insofern gleicht die Geschichte unzähligen anderen ähnlicher Art. Aber es
gab da eine Besonderheit. Es waren dunkle, rauhe Zeiten damals. Sir Kevin und
Sir Walt, die Väter der beiden, beschäftigten sich mit schwarzer Magie. Das Volk
munkelte, daß Sir Kevin schwarze Höllenhunde herbeizaubern konnte und Sir
Walt eine Krähenschar befehligte, die seine Feinde zerfetzen sollte.“
Jennifer schluckte. Auf das Wort „Krähen“ reagierte sie im Moment allergisch.
„Also, die beiden Liebenden flohen mit der Kutsche in einer Nacht, als der Mond hell schien. Aber ein Rad brach, und sie mußten zu Fuß durch das Moor.“ „Am Himmel kreisten die Krähen, und die Hunde heulten.“ Jennifer war vor Aufregung ganz heiser. „Du hast eine lebhafte Phantasie, Jennifer“, schmunzelte Dr. Coleman. „Aber so ähnlich wird es gewesen sein. Jedenfalls hatten die Väter von der Flucht ihrer Kinder erfahren. Es hieß, daß Sir Kevin die Hunde auf Francis hetzen wollte, um seine Tochter zurückzubekommen. Sir Walt war ebenfalls nicht untätig. Er hatte seine Krähenschar hinter Mariotta hergeschickt. Was wirklich passiert ist, weiß niemand. Die beiden jungen Leute wurden nie mehr gesehen. Die Väter jedoch mußten für ihre bösen Taten büßen. Natürlich sind das alles nur Sagen und Legenden. Aber man erzählt sich, daß die Väter dazu verurteilt wurden, auf ewige Zeiten mit ihren Hunden und Krähen durch das Moor zu ziehen, immer auf der Suche nach ihren Kindern. Es sollen sogar schon junge Männer und Frauen von riesigen Hunden oder Krähen angegriffen worden sein. Dabei haben es die Hunde auf die Jungen abgesehen, die Krähen auf die Mädchen. Doch sie haben noch nie gleichzeitig angegriffen. Immer war es nur eine Gruppe von beiden. Warum, weiß man nicht. Ich halte diese Geschichten nur für dumme Zufälle. Aber der Volksmund hat sie sofort mit der alten Sage in Verbindung gebracht. Die Leute hier sind zum Teil noch sehr abergläubisch.“ Dr. Coleman griff nach seiner Reife. „Gibt es denn kein Mittel gegen die Hunde und die Krähen? So wie Knoblauch und Kruzifixe bei Vampiren?“ fragte Jennifer. Ihre Mutter musterte sie erstaunt. „Natürlich. Zumindest bei den Hunden ist etwas bekannt. Man muß sich mit gekreuzten Armen und Beinen ganz flach auf den Boden legen. Dann lassen sie einen in Ruhe. Hab ich dir mit der Geschichte etwa Angst gemacht, Jennifer?“ Sie senkte verlegen den Blick. „Nein, es interessiert mich nur.“ Trotz der Wärme, die im Speisesaal herrschte, fröstelte sie plötzlich. Robert war ganz verstummt. „Ach so, eins hab ich noch vergessen. Sir Kevin, der Vater von Mariotta, liebte es, Leuten einen Streich zu spielen. Er bezahlte Essen und Trinken immer mit glänzenden Goldmünzen. Die Wirtsleute freuten sich, doch später hatten die armen Kerle nur Blätter in ihrem Geldsack. Es soll nur eins seiner vielen Zauberkunststücke gewesen sein. Das Volk hier hat wirklich viel Phantasie.“ Dr. Coleman schüttelte lächelnd den Kopf. Man merkte, daß er es genoß, diese alten Geschichten zu erzählen. Nelda Harris sah auf die Uhr. „Also, ich weiß nicht, wie es mit dem Rest von euch ist, aber ich bin ziemlich müde.“ Sie schob ihren Stuhl zurück. Die anderen standen ebenfalls auf. „Was haben Sie für morgen geplant?“ fragte Robert Jennifers Mutter. „Wir fahren noch einmal nach Travistock. Der Gelehrte, bei dem wir heute morgen waren, hat uns mehrere Tips für andere Informationsquellen gegeben.“ Jennifer freute sich über das „wir“. Anscheinend waren ihre Mutter und Dr. Coleman wirklich gern zusammen. „Und was macht ihr?“ Dr. Coleman sah von Jennifer hinüber zu Robert. Jennifer antwortete für sie beide: „Wir fahren mit den Rädern zu der alten Brücke Postbridge. Ich möchte die alten Grabstätten und Siedlungsruinen dort zeichnen.“ „Wenn noch Zeit bleibt, wollen wir die Gegend hinter der Postbridge auch noch erkunden“, ergänzte Robert. „Seid vorsichtig“, meinte sein Vater besorgt. „Nicht jeder Autofahrer achtet genügend auf Radfahrer.“ „Das machen wir, Dad.“ Wieder wechselten Jennifer und Robert einen kurzen Blick. Wenn die Eltern nur
wüßten!
Später auf dem Zimmer setzte Jennifer sich auf das Bett und blätterte ihre
Zeichnungen durch, während ihre Mutter in ihre Notizen vertieft war. Die Sage
von Francis und Mariotta ging ihr nicht aus dem Sinn. Konnte es wirklich sein,
daß sie und Robert Opfer eines uralten Fluchs waren? Sie schüttelte den Kopf.
Nein, das mit den Krähen und Hunden mußte Zufall sein. Sie glaubte nicht an
Spuk und Geister. Es mußte eine andere Erklärung geben. Und die Krähen, die
auf ihren Zeichnungen aufgetaucht waren? Wollte jemand oder etwas sie
warnen? Ihr Angst machen, damit sie nicht mehr ins Moor hinausging? Was
würde sie heute wohl auf ihren Zeichnungen finden?
Sie blätterte eine nach der anderen durch und atmete erleichtert auf. Nichts.
Keine schwarzen Hunde, keine Krähen. Gerade als sie den Block schließen wollte,
fiel ihr etwas an der letzten Zeichnung auf. Ja, etwas war falsch an den Schatten.
Sie zeigten, daß die Sonne im Westen stand und nicht direkt über ihr, wie es der
Fall gewesen war. Wie hatte sie einen solchen Fehler machen können?
Jennifer ging in Gedanken noch einmal alles durch. Nein, so etwas wäre ihr
bestimmt nicht passiert.
Als sie wieder auf die Zeichnung schaute, überlief es sie eiskalt. Der Schatten
war weg.
Ängstlich sah sie die anderen Zeichnungen durch. Auf jeder war ein Schatten zu
sehen, den sie bestimmt nicht hineingezeichnet hatte. Als sie genauer
hinschaute, schien es sogar so, als würden die Schatten sich leicht bewegen.
Wer spielte so mit ihr? Und was wollte er von ihr? Ihr wurde fast schlecht vor
Furcht. Sie legte den Block zur Seite, sagte ihrer Mutter gute Nacht und legte
sich ins Bett.
Mit geschlossenen Augen ging sie noch einmal die Ereignisse des Tages durch.
Und sie erinnerte sich genau an jedes Wort, das Roberts Vater, meist scherzhaft,
über das Schicksal von Francis und Mariotta und ihren bösen Vätern erzählt
hatte.
In der Ferne heulte ein Hund. Jennifer schrak aus dem Schlaf hoch. Obwohl sie
eigentlich im Bett bleiben wollte, trieb etwas sie ans Fenster.
Das Heulen schien in der Stille der Nacht noch widerzuhallen. Jennifer spähte aus
dem Fenster.
Wieder klagte der Hund. Es klang nicht bedrohlich, sondern unendlich traurig.
Jennifer fühlte gegen ihren Willen Mitleid. Diesmal schien das Geräusch näher zu
sein. Für ein paar Sekunden jagte ein Schatten über die mondbeschienene Fläche
direkt unter ihrem Fenster. Der Schatten eines riesigen Hundes.
Das Heulen erklang erneut. Diesmal ganz nah bei Tor View. Jennifer wartete. Als
es ihr nicht gelang, noch einmal einen Blick von dem Schatten zu erhaschen,
kroch sie wieder ins Bett.
Der Hund heulte in Abständen immer wieder. Jedesmal klang es weiter entfernt.
War es nur Einbildung, oder wollte das große Tier ihr mitteilen, daß es genau
wußte, wo sie war, und wollte sie fortlocken von Tor View… fortlocken von
Robert?
7. KAPITEL Es war schon fast zehn Uhr, als Robert und Jennifer am nächsten Morgen die alte
Brücke sahen.
„Komm, wir fahren hiervon der Straße runter. Ich möchte ein paar Fotos von der
Brücke machen“, schlug Robert vor.
„Prima. Und ich mach eine Zeichnung davon.“
„Warum nur eine? Das Ding sieht doch phantastisch aus.“
„Weil Postbridge keine richtig alte Brücke ist.“ Jennifer lenkte ihr Rad zu einem
kleinen Weg, der zu dem Strom hinunterführte, den die Brücke überspannte.
„Mom hat mir erzählt, daß die Historiker die Brücke jahrelang für keltischen
Ursprungs hielten. Dann fand man heraus, daß sie erst im Mittelalter erbaut
worden war.“
„Erst? Dann kann sie ja erst etwas mehr als tausend Jahre auf dem Buckel
haben.“ Robert hob amüsiert eine Augenbraue. „Ist ja fast brandneu.“
„Na, warte!“ Jennifer drohte ihm mit dem Zeigefinger. Wie hatte sie Robert nur
jemals für mürrisch und verschlossen halten können? „Ich mach jetzt jedenfalls
schnell eine Zeichnung. Dann möchte ich mir die alten Siedlungsruinen und
Grabstätten anschauen, die auf der Karte verzeichnet sind.“
„Hört sich gut an. Ich mache inzwischen ein paar Photos. Dann suchen wir einen
Platz, wo wir die Räder abstellen können, und gehen zu Fuß dorthin.“
Die nächste halbe Stunde verging wie im Flug. Jennifer machte nicht eine,
sondern zwei Zeichnungen von der Postbridge. Einmal sah sie auf, als Robert
gerade auf den Auslöser drückte. Sie lächelte. Er photographierte nicht die alte
Brücke, sondern sie, Jennifer.
Soviel lag ihm also an ihr. Obwohl sie nicht erwartet hatte, in Dartmoor einen
Freund zu finden, gefiel es ihr, daß die Beziehung zwischen ihr und Robert immer
enger zu werden schien.
Als sie fertig war, fuhren sie die Räder zu dem Fußweg, der zu den alten
Siedlungsruinen führte.
„Sollen wir die Räder dort hinstellen?“ Robert deutete auf eine Steinwand.
„Obwohl hier ‘ne Menge Leute rumlaufen, glaube ich nicht, daß sie geklaut
werden.“
„Wenn doch, wird’s ein langer Heimweg nach Tor View.“
„Was sind schon zehn Kilometer?“ zog Robert sie auf.
Jennifer stöhnte. „Zehn Kilometer zuviel. Das ist alles.“
„Ich nehme den Rucksack mit, denn ich hab das dumpfe Gefühl, daß wir Hunger
kriegen werden, bevor du fertig bist.“
„Laß mich eine Wasserflasche tragen.“ Jennifer streckte die Hand aus, während
Robert die Flaschen vom Gepäckträger losmachte.
„Bitte schön.“ Er reichte sie ihr und griff nach der Luftpumpe. „Ich nehm die
besser mit. Für den Fall, daß ein paar Idioten wieder auf dumme Gedanken
kommen.“
Jennifer fröstelte auf einmal. Sie erinnerte sich an das Gefühl, beobachtet zu
werden, das sie gestern überfallen hatte. Robert und sie hatten weder darüber
noch über die Sage von Francis und Mariotta gesprochen. Es schien, als wollten
sie beide in stiller Übereinkunft alles ungeschehen machen, indem sie einfach so
taten, als gäbe es die unerklärlichen Ereignisse nicht.
„Das ist ja ein richtiger Massenauflauf hier.“ Robert deutete auf Dutzende von
Familien und Pärchen, die alle dem Fußweg folgten.
„Liegt wohl daran, daß Ferien sind.“
„Ich hatte keine Ahnung, daß sich so viele Leute für alte Ruinen interessieren.
Okay, bei einem griechischen Tempel oder einem alten Schloß in Schottland kann
ich es mir ja noch vorstellen, aber das hier sind doch nur noch ein paar
Steinreste.“ Robert schüttelte den Kopf.
„Wollen wir nur hoffen, daß die Leute auch gern etwas über die alten Kelten
lesen. Sonst wird Moms Buch ein Ladenhüter, und kein Mensch sieht meine
Zeichnungen.“
„Keine Sorge. Ich werde auf jeden Fall eins kaufen.“
„Wie wär’s, wenn ich dir ein Exemplar schenke?“
„Mit Widmung?“ Er grinste.
„Klar doch.“ Sie lächelte zurück.
Jeder in seine eigenen Gedanken versunken, gingen sie die nächsten fünfzig
Meter nebeneinander her, bis die Ruinen der alten Siedlung ins Blickfeld kamen.
Einen Moment betrachteten sie sie schweigend.
„Ich werde mich erst mal dorthin setzen.“ Jennifer deutete auf einen Baum rechts
von ihnen. „Später werde ich noch ein bißchen herumwandern und mir andere
Blickwinkel suchen.“
„Okay. Ich mach’s mir im Schatten bequem und werde ein bißchen lesen. Heute
lerne ich alles über Atome.“
„Da bleibe ich lieber bei meinen Zeichnungen.“
„Das kann ich dir nicht verdenken. Ich habe heute auch nicht viel Lust dazu.“
Robert legte die Luftpumpe und seine Wasserflasche in den Schatten und streifte
den Rucksack ab.
Jennifer schlug den Zeichenblock auf. Als Robert sich hinsetzte, sah sie bereits
den Umriß der ersten Zeichnung im Kopf.
Während Jennifers Hand, die den Bleistift hielt, wie von selbst über das Papier
glitt, war sie sich der anderen Menschen bewußt, die in den Ruinen
herumspazierten. Kindern wie Erwachsenen schienen die alten Steinüberreste
gleich gut zu gefallen.
Sie beendete die erste Skizze und drehte das Blatt um. Hoffentlich war ihre
Arbeit gut genug, um vor dem Verleger ihrer Mutter zu bestehen. Sie wünschte
es sich schließlich.
Als etwas sie leicht an der Schulter berührte, fuhr sie überrascht zusammen.
„He! Tut mir leid! Ich wollte dich nicht erschrecken.“ Robert zog die Hand weg.
„Uff.“ Jennifer atmete tief ein und hielt die Luft lange genug an, um ihr wie
rasend klopfendes Herz zu beruhigen. „Ich war total in meine Zeichnungen
versunken. Entschuldige bitte.“
„Nächstes Mal pfeife ich vorher oder sage was. Ich hab dir beim Zeichnen über
die Schulter geschaut, und ehe ich mich versah, lag meine Hand auf deiner
Schulter. Du bist eben unwiderstehlich.“ Robert lächelte, und Jennifer fühlte, wie
sie rot wurde.
„Wieviel Uhr ist es?“ lenkte sie ab.
„Zeit zum Mittagessen. Der Hunger trieb mich von meinem schattigen Plätzchen
fort an deine Seite.“
„Wie romantisch.“ Jennifer lachte und betrachtete ihre letzte Zeichnung. Die
konnte sie auch nachher noch fertigmachen. Robert half ihr hoch. Als seine Hand
ihren Arm berührte, überlief sie eine angenehme Gänsehaut.
Hand in Hand gingen sie zu dem Picknickkorb, den er bereits ausgepackt hatte.
Jennifer fühlte sich in seiner Nähe so wohl wie noch nie in ihrem Leben.
Während Robert mit gutem Appetit in das letzte Brötchen mit Speck und Ei biß,
überlegte Jennifer, ob sie ihm von den geheimnisvollen Schatten erzählen sollte,
die sie letzte Nacht auf ihren Zeichnungen entdeckt hatte. Die Tatsache, daß sie
ihm voll und ganz vertraute, machte die Entscheidung leicht.
„Gestern abend, nachdem Mom und ich auf unser Zimmer gegangen sind, habe
ich mir die Zeichnungen von gestern noch einmal ganz genau angesehen.“
Robert hörte auf zu kauen und blickte sie erwartungsvoll an.
„Keine Krähen, keine Hunde.“
Er aß weiter, wandte aber keinen Moment den Blick von ihrem Gesicht ab.
„Aber es waren plötzlich Schatten da, die ich nicht gezeichnet hatte. Sie standen
völlig falsch zur Sonne. Daran habe ich es erkannt.“
„In diesem Zeichenblock?“ Er deutete auf den Block neben ihr.
Jennifer nickte. „Als ich mir die Skizzen wieder anschaute, schienen die Schatten
sich zu bewegen. Oder zu verändern. Jedenfalls waren sie nicht mehr so wie noch
ein paar Minuten zuvor.“
„Darf ich mal gucken?“ Er streckte die Hand aus.
„Nein.“ Jennifer lachte und reichte ihm den Zeichenblock. Robert aß den Rest des
Brötchens, wischte sich die Hände an einer Serviette ab und nahm den Block
entgegen.
Sie musterte sein Gesicht, während er die Zeichnungen von gestern
durchblätterte. Schließlich hob er den Kopf und sah sie an.
„Das mußt du mir schon zeigen, Jenny. Ich kann sie nicht entdecken. Aber ich
bin auch kein Künstler.“
Jennifer setzte sich neben ihn. Während er langsam die Seiten umschlug,
studierte sie jede Skizze sorgfältig. Sie merkte erst gar nicht, daß sie dabei den
Atem anhielt. Schließlich atmete sie tief aus.
„Keine Schatten?“
Sie schüttelte langsam den Kopf. „Sie sind weg.“
„Hast du dir die Skizzen heute morgen angesehen?“
„Nein. Ich wollte nicht.“ Ein schrecklicher Gedanke kam ihr. „Aber du glaubst mir
doch, Robert?“ Aufgeregt faßte sie nach seinem Arm. Die Vorstellung, daß Robert
an ihr zweifelte, konnte sie nicht ertragen.
„Natürlich.“ Sanft löste er ihren Griff. „Zwei Tage zuvor hätte ich noch meine
Zweifel gehabt. Tut mir leid“, fügte er hinzu, als er ihr bestürztes Gesicht sah.
„Aber jetzt nicht mehr, nachdem der große schwarze Hund sich praktisch vor
meinen Augen in Luft aufgelöst hat.“
„Was passiert mit uns? Glaubst du an die Geschichte, die dein Vater gestern
erzählt hat?“ fragte Jennifer verzweifelt.
„Warum fragst du nicht sie?“ Robert deutete auf einen großen Stein, der
ungefähr zwölf Meter von ihnen entfernt stand.
Jennifer drehte sich um und hielt den Atem an. Auf seiner Spitze hockte eine
große Krähe.
„Wie… wie lange sitzt die schon da?“ Nur mit Mühe gelang es ihr, ihre Stimme
unter Kontrolle zu halten.
„Auf dem Stein? Zehn Minuten vielleicht. Aber wenn du meinst, wie lange sie dich
schon bei der Arbeit beobachtet, würde ich sagen, mindestens seit einer Stunde.
Sie hat von Zeit zu Zeit den Standort gewechselt, um einen besseren Blick auf
dich zu bekommen.“
„Warum hast du mir nichts gesagt?“
„Du wärst doch nur nervös geworden, und dabei warst du so in deine Arbeit
vertieft. Außerdem habe ich auf die Krähe aufgepaßt. Sie hatte dich im Visier und
ich euch beide.“ Er legte ihr zärtlich den Arm um die Schulter und küßte ihr Haar.
„Obwohl ich lieber nur dich allein beobachtet hätte.“
„Danke.“ Jennifer war trotz seiner zärtlichen Worte zum Heulen zumute.
„Warum machen wir nicht hier Schluß und gehen rüber zu den alten Grabstätten?
Wer weiß, vielleicht begleitet der Vogel uns.“
„Was ist, wenn er das tatsächlich macht?“ Jennifer löste sich aus seiner Umarmung und knüllte das leere Butterbrotpapier zu einem festen Ball zusammen. „Dann kommt er halt mit, und sonst soll er’s eben bleiben lassen.“ Robert schmiß das Papier zu den halbleeren Wasserflaschen in seinen Rucksack. „Komm.“ Er half Jennifer hoch. „Nimm deinen Zeichenblock.“ Hand in Hand gingen sie den Weg entlang zu den Grabstätten. Sie waren sich der Krähe bewußt, aber erwähnten sie nicht. „Ich hab sie fotografiert“, sagte Robert in leichtem Tonfall, als wäre es gar nicht wichtig. „Ich werde den Film heute vollknipsen und ihn dann morgen zum Entwickeln bringen. Wenn wir die Bilder bekommen, werden wir ja sehen, ob das Vieh Fotos genauso verändern kann wie Zeichnungen.“ Zum ersten Mal merkte Jennifer, daß sich eine zweite Krähe zu der ersten gesellt hatte, und erstarrte. Robert drückte fest ihre Hand. „Hör mal. Laß dich von diesen Dingen nicht beeindrucken. Die Sage von Francis und Mariotta und der magische Zwist zwischen ihren Vätern ist nur ein Märchen. Das gibt es in Wirklichkeit so wenig wie Schneewittchen und die sieben Zwerge. Laß dir von ein paar Vögeln nicht diesen schönen Tag kaputtmachen. Ich werde schon ein Auge auf die Biester halten.“ „Lieb von dir. Aber ich verstehe das Ganze nicht.“ „Ich auch nicht. Trotzdem brauchen wir uns keine Angst einjagen zu lassen. Oder in Panik zu verfallen. Ich gebe zu, mir sträubte sich das Haar im Nacken, als ich die Krähe fotografierte, und sie drehte sich um und starrte mich durchdringend an.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich hätte mir den Film ,Die Vögel’ von Hitchcock doch besser nicht angucken sollen.“ Jennifer ließ seine Hand los und legte den Arm um seine Taille. Er machte das gleiche. Eng umschlungen gingen sie weiter. Ich mag ihn, weil er mir nie was vormacht, dachte sie. Wenn er Angst hatte, gab er es auch offen zu. Statt daß es ihn in ihren Augen herabsetze, mochte sie ihn dadurch nur noch lieber. „Da ist das erste.“ Robert deutete mit der Luftpumpe auf das Hügelgrab. „Ich frag mich, wer wohl unter diesem Steinhaufen begraben liegt?“ „Keine Ahnung. Aber sicher jemand Wichtiges. Schließlich hat man sich die Mühe gemacht, all die schweren Steine auf seinem Grab aufzuschichten.“ „Okay. Mach dich an die Arbeit. Wir wollen ja nicht den ganzen Nachmittag hier verbringen.“ „Sklaventreiber.“ Jennifer streckte ihm kurz die Zunge raus. Dann musterte sie die Gegend, um einen geeigneten Blickwinkel zu finden. Sie begann mit der ersten Skizze. Nur hin und wieder warf sie einen Blick auf die Krähen. Beide saßen auf einem Stein und beobachteten sie. „Keine Angst, ich bin ja bei dir“, tröstete Robert sie. „Danke.“ Konzentriere dich nur auf deine Arbeit, ermahnte Jennifer sich. Eine leise innere Stimme sagte ihr, daß es ihr nicht gelingen würde, für den Rest des Nachmittags die Krähen zu vergessen. Doch bald war sie voll und ganz in ihre Zeichnungen versunken. Immer wenn sie aufsah und den Kopf drehte, sah sie Robert ganz in ihrer Nähe sitzen. Sein Buch war aufgeschlagen, aber Jennifer wußte, daß er die meiste Zeit damit verbrachte, auf sie aufzupassen. Der Gedanke erfüllte sie mit zärtlicher Wärme. Sie war fast mit dem Zeichnen fertig, als sie urplötzlich einen Schlag auf den Hinterkopf bekam. Der Bleistift fiel ihr aus der Hand. „Runter, Jenny! Auf den Boden!“ Roberts Stimme klang in der Stille des frühen Nachmittags unnatürlich laut.
Sie ließ sich fallen und spürte noch den Windstoß des Flügelschlags dicht an
ihrem Gesicht vorbeizischen. Die Krähe, die wieder auf sie herabstoßen wollte,
hielt abrupt inne, drehte sich um und flog davon. Weit entfernt bellte ein Hund.
„Bist du okay?“ Robert half ihr hoch und musterte sie besorgt.
„Was ist passiert? Ja, ich bin okay. Etwas hat mich auf den Hinterkopf
geschlagen.“ Jennifer tastete nach der Stelle, an der sich bereits eine Beule
bildete.
„Es war eine Krähe. Ich weiß nicht, ob sie dich mit dem Schnabel, den Krallen
oder den Flügeln erwischt hat. Es ging alles so schnell. Auf einmal waren beide in
der Luft. Die erste hat dich getroffen. Ich hab geschrien, und du hast dich
rechtzeitig fallen lassen, um der zweiten zu entgehen.“
„Wo sind sie jetzt?“ Jennifer sah voller Angst zum Himmel.
„Da drüben. Auf der Baumspitze.“
Jennifer blickte in die Richtung, in die Robert zeigte. „Ich sehe sie. Warum haben
sie das getan?“
„Keine Ahnung. Wieviel Zeit brauchst du noch?“
„Höchstens fünf Minuten.“
„Dann mach die Skizze fertig. Ich bleib hier bei dir stehen, damit du nicht die
halbe Zeit über die Schulter gucken mußt.“ Er versuchte zu lächeln, was ihm
nicht ganz gelang.
„Lieb von dir. Ich werde mich ganz schrecklich beeilen.“
„Nein. Nimm dir soviel Zeit, wie du brauchst. Sie werden dich nicht angreifen,
solange ich neben dir stehe.“
Mit gewaltiger Anstrengung gelang es Jennifer, sich wieder auf ihre Arbeit zu
konzentrieren. Obwohl es sie in den Fingern juckte, so hastig wie möglich zu
zeichnen, arbeitete sie in normalem Tempo. Schließlich beschützte Robert sie.
„Fertig.“ Sie schlug den Block mit einem Knall zu und legte ihn mit den Bleistifen
in ihre Ledermappe.
„Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie froh ich bin.“ An Roberts gestreßtem
Tonfall erkannte Jennifer, daß die Lage ernst war. Sehr ernst.
„Schau.“ Er deutete auf den Baum.
Jennifer unterdrückte einen Schrei. Dann zählte sie die Krähen. Einmal, und zur
Sicherheit noch einmal. „Dreizehn?“ flüsterte sie ungläubig.
„Hab ich auch rausgekriegt. Und ich habe sie mindestens tausendmal gezählt.“
Sie brauchten keine weiteren Worte zu wechseln. Einmütig gingen sie zu der
Stelle, wo der Rucksack und die Luftpumpe lagen.
„Bloß keine Hektik. Wir schaffen das schon“, stieß Robert zwischen
zusammengepreßten Zähnen hervor.
Jennifer nickte bloß und schluckte. Es war ihr jetzt erst aufgefallen, daß Robert
ein paar Steine in seiner linken Hand hielt.
Er bemerkte ihren Blick und sagte ruhig: „Wenn ich mich sehr anstrenge, kann
ich vielleicht ihre Flügel treffen.“
„Ich nehme den Rucksack.“ Jennifer hob ihn auf.
„Gut. Gib mir die Luftpumpe. Ich nehme sie, bis ich eine freie Hand brauche.“
Sie verließen die alten Grabstätten schneller, als sie hergekommen waren, und
warfen immer wieder einen Blick über die Schulter.
Obwohl noch andere Menschen auf dem Gelände waren, fühlte Jennifer sich total
von ihnen isoliert. Es schien, als würden Robert und sie sich in einer fremden
Welt befinden, die völlig getrennt von der Wirklichkeit war.
„Sie kommen!“ Roberts Stimme klang entschlossen. „Stell dich hinter mich.“
Jennifer wollte protestieren, wollte ihm sagen, daß sie auf sich selbst aufpassen
konnte. Trotzdem gehorchte sie und stellte sich ein Stück entfernt hinter ihn, um
seinen Wurfarm nicht zu behindern. Als er die Luftpumpe fallen ließ, hob sie sie
automatisch auf. Als Waffe war sie zwar kaum geeignet, aber doch besser als gar
nichts.
Zwei Krähen führten den Angriff. Als sie auf zwanzig Meter herangekommen
waren, warf Robert in kurzen Abständen zwei Steine nach ihnen. Er traf zwar
nicht, aber die Vögel machten kehrt. Die anderen elf folgten ihnen.
„Gehen wir weiter“, sagte Robert leise. „Wenn du ein paar gute Steine siehst,
heb sie auf.“
Fast liefen sie den Weg entlang, der zu den alten Siedlungsruinen und von dort
zu den Fahrrädern führte.
Zweimal noch griffen die Krähen an. Jedes Mal stellte Jennifer sich hinter Robert,
der Steine auf die Vögel warf. Erstaunlicherweise machten die Krähen sofort
kehrt. Sie schienen Robert nicht angreifen zu wollen.
Schließlich hatte er keine Steine mehr. Die Krähen formierten sich erneut. Da sah
Jennifer in kurzer Entfernung eine Touristengruppe den Weg hinaufkommen.
„Los, komm, das ist unsere Chance!“ sagte Jennifer aufgeregt und zog Robert am
Arm.
Er folgte ihr sofort. Sie mischten sich in die Menschenmenge und gingen mit
ihnen. Nach ein paar Minuten musterte Jennifer den Himmel.
„Sie sind weg“, sagte sie verwundert.
Robert ging langsamer. Schließlich lösten sie sich aus der Gruppe und blieben
stehen.
„Einfach so.“ Jennifer konnte es gar nicht fassen. Keine einzige Krähe weit und
breit. „Wo sind sie hin?“
„Das interessiert mich jetzt herzlich wenig. Hauptsache, sie benutzen uns nicht
mehr als Zielscheibe.“
Automatisch machten sie kehrt und gingen wieder zu dem Pfad, der zu den
Fahrrädern führte. Noch ein paarmal sahen sie sich um. Die Krähen blieben
verschwunden.
Jennifer und Robert verstauten die Wasserflaschen und Jennifers Ledertasche auf
den Gepäckträgern.
„Dreizehn Krähen. Dreizehn. Die Unglückszahl“, sagte Robert.
„Die Zahl des Teufels. Die Zahl der schwarzen Magie.“ Jennifer fühlte sich besser,
jetzt, wo sie ausgesprochen hatten, was ihr im Kopf herumgegangen war, seit sie
die Krähen zum erstenmal gezählt hatte.
„Ein Zufall?“ Robert schob sein Rad ein Stück den Weg entlang.
„Oder eine Warnung.“
„Eine Warnung wovor?“ Er zog nachdenklich die Stirn in Falten. Seine Augen
waren so dunkel, daß sie fast violett erschienen.
„Weiß ich doch nicht!“ erwiderte Jennifer heftig. „Aber etwas Schreckliches wird
passieren. Das fühle ich. Und wir stecken mittendrin.“
Robert lehnte das Rad an einen Zaun und nahm sie in die Arme. Als er sie an sich
zog, merkte Jennifer, wie ihre Angst nachließ.
„Hör mal“, sagte er leise. „Wir brauchen nicht mehr ins Moor zu gehen. Wir
können statt dessen die Dörfer ringsum erkunden oder mal mit unseren Eltern in
die nächste größere Stadt fahren. Du hast doch schon genug Zeichnungen
gemacht.“
Jennifer schüttelte langsam den Kopf. „Danke für das Angebot. Aber wenn wir
das machen, haben sie gewonnen.“
„Wer? Wer hat was gewonnen?“
„Ich kann’s dir nicht erklären. Aber ich fühle, daß es etwas mit der alten Sage zu
tun haben muß. Schließlich sind den Gerüchten nach schon andere junge Leute
im Moor von Hunden und Krähen bedroht worden. Jemand oder etwas versucht,
uns Angst zu machen. Und das lasse ich mir nicht gefallen.“ Ihre grünen Augen
blitzten. „Entweder ist etwas dran an der Geschichte, dann will ich wissen, was.
Oder es ist alles nur Legende, dann kann uns ja nichts passieren.“
Robert lächelte. „Tapferes Mädchen, ich muß zugeben, daß dieser jemand oder
etwas seinen Job sehr gut gemacht hat. Ich habe Angst.“ Er schüttelte den Kopf.
„Nein, im Moment bin ich nur sehr verwirrt. Durcheinander. Frustiert. Nenn es,
wie du willst. Angst haben werde ich später.“ Er zog sie wieder an sich.
Obwohl Jennifer am liebsten ewig in seinen Armen geblieben wäre, warnte sie
eine innere Stimme, daß sie sich besser auf den Weg machen sollten. Es konnte
noch eine Menge passieren auf dem Weg zwischen Postbridge und Tor View.
Sie stiegen auf die Räder und fuhren in Richtung Tor View.
Es war Jennifer, die als erste die beiden riesigen schwarzen Hunde entdeckte.
„Robert!“ rief sie. „Schau mal nach rechts,“
Robert wandte den Kopf, blickte wieder auf die Straße und schaute noch einmal
hin.
„Möchtest du schneller fahren?“
„Klar.“
Ein paar Sekunden später hatten sie in den nächsthöheren Gang geschaltet.
Jedesmal, wenn Jennifer sich umsah, waren die Hunde neben ihnen. Ihr Lauf
schien mühelos. Die muskelbepackten Beine arbeiteten wie kraftvolle Maschinen.
Die beiden fuhren immer schneller. Jennifer war außer sich vor Angst.
„Hör auf!“ rief Robert schließlich. Er trat langsamer in die Pedale, während er
sprach. „Wir können sie nicht abschütteln. Es hat keinen Zweck, sich bis zur
Erschöpfung zu verausgaben.“
Jennifer folgte seinem Beispiel. Sie wußte, daß Robert noch viel mehr draufhatte.
Er hatte diesen Vorschlag nur gemacht aus Sorge, sie könne sich überanstrengen
Tor View war nur noch wenige Kilometer entfernt, als sich plötzlich der Himmel
verdunkelte.
„Nebel.“ Robert deutete nach links, in Richtung Norden.
Jennifer wandte den Kopf und erschrak. Sie war so sehr auf die Hunde fixiert
gewesen, daß sie nicht auf das Wetter geachtet hatte. Eine dichte Nebelbank
näherte sich von Norden.
Wenn der Nebel die Straße erreichen würde, müßten sie absteigen und anhalten.
Sonst liefen sie Gefahr, von einem Auto oder Motorrad überfahren zu werden,
das sie nicht rechtzeitig sehen konnte, um ihnen auszuweichen.
Ohne zu fragen, beschleunigte Robert das Tempo ein wenig. Jennifer hielt mit.
Die nächsten Meter blickte sie abwechselnd zu den Hunden und der Nebelwand.
Die Hunde liefen immer noch neben ihnen her, ohne einen Funken Müdigkeit zu
zeigen. Der Nebel näherte sich nur langsam. Jennifer atmete ein wenig auf.
Robert mußte ebenfalls gemerkt haben, daß der Nebel sie wahrscheinlich nicht
erreichen würde, während sie noch auf der Straße waren. Er fuhr wieder
langsamer. Jennifer war ihm dankbar. Sie war eine gute Radfahrerin, aber das
Abenteuer mit den Krähen und die Tatsache, daß sie eine lange Strecke schneller
als gewohnt gefahren war, hatten an ihren Kräften gezehrt.
Tor View war jetzt in Sicht. Sie waren fast an der Stelle, wo der Weg dorthin von
der Landstraße abzweigte.
Jennifer sah noch einmal zu den Hunden. Sie waren verschwunden.
„Robert, die Hunde sind weg.“
„Ich weiß.“
„Aber wohin?“
„Ich hab keine Ahnung.“
Dann waren sie auf dem Weg, der direkt zum Gasthof führte. „Ich möchte jedenfalls nie in meinem Leben vom Nebel im Moor überrascht werden.“ Sein Tonfall war ernst. „Leute haben sich schon in einer solchen Waschküche verirrt und sind umgekommen.“ Beide schwiegen, bis sie die Räder an die Wand des Hofzauns von Tor View lehnten. Während Jennifer ihre Ledertasche vom Gepäckträger des Fahrrads nahm, sagte sie: „Robert, ich fürchte, wir werden erfahren, ob in dieser Gegend Legenden Wirklichkeit werden können. Jemand hat uns auserwählt. Man wird uns nicht in Ruhe lassen.“
8. KAPITEL Jennifer verbrachte die nächste Stunde damit, ihre Zeichnungen mit Fixativ zu besprühen, damit sie nicht verschmierten, bevor sie damit nach Salisbury zurückfuhren. Obwohl sie sich davor fürchtete, ging sie die Skizzen vom Vortag noch einmal alle durch. Die Schatten waren weg. Als sie gerade fertig war, kam ihre Mutter ins Zimmer. „Hallo, Jenny“, sagte sie mit roten Wangen und glänzenden Augen. „Hattest du einen schönen Tag?“ „Ich hab ein paar gute Zeichnungen von der alten Siedlung und den Hügelgräbern gemacht. Willst du sie dir ansehen?“ „Natürlich.“ Sie studierten gemeinsam Jennifers Arbeit. Schließlich lobte Mrs. Harris: „Sie sind großartig! Und das sage ich nicht nur, weil ich deine Mutter bin, obwohl das naheliegen würde. Ich bin ganz sicher, daß wir einige im Buch verwenden können. Wahrscheinlich mehr, als ich je zu hoffen wagte.“ Sie umarmte ihre Tochter. „Wie war’s bei deinen Nachforschungen?“ Jennifer packte die Blätter ein, damit sie beim nächsten Ausflug nur einen frischen Zeichenblock und ihre Bleistifte mitnehmen mußte. „Es hätte nicht besser laufen können.“ Ihre Augen strahlten vor Begeisterung. „Und Jason ist eine so große Hilfe. Es ist kaum zu glauben. Er hat sogar während meiner Gespräche mit den Experten Notizen für mich gemacht.“ „Ich freu mich so für dich, Mom. Dr. Coleman scheint ein sehr netter Mann zu sein.“ Aber lange nicht so nett wie sein Sohn, fügte sie in Gedanken hinzu. „Fein, daß du ihn magst. Er mag dich auch.“ Mrs. Harris zog die Stirn in Falten. „Hattet ihr, Robert und du, irgendwelchen Ärger?“ „Ärger?“ „Ja. Du sitzt hier oben und verpestest das ganze Zimmer mit Fixativ, während er unten auf dem Hof hockt und ein Buch über die Moore liest.“ „Ich mußte das unbedingt machen, und er wollte ein Buch über die Orte lesen, zu denen wir noch fahren wollen.“ Das war nicht ganz ehrlich, aber auch keine richtige Lüge. „Außerdem war ich gerade auf dem Weg nach unten, um zu sehen, was er rausgefunden hat.“ „Gut. Ich dusche rasch. Dann gehe ich bis zum Abendessen meine Notizen durch.“ „Also, bis später.“ Jennifer ging aus dem Zimmer. Sie freute sich, daß ihre Mutter jemanden gefunden hatte, in dessen Gesellschaft sie sich wohl fühlte. Ob dieses Gefühl den Aufenthalt in Tor View überdauern würde, konnte sie nicht vorhersagen. Genauso wenig, wie sie wissen konnte, ob ihre immer enger werdende Freundschaft mit Robert auch nach den Ferien noch bestehen würde. Das würde sich erst mit der Zeit herausstellen. Wenn ihr überhaupt noch soviel Zeit blieb. Dieser Gedanke kam ihr unwillkürlich, und eine Gänsehaut überlief sie. Robert sah überrascht auf, als Jennifer aus dem Haus kam. „Ich dachte schon, du wolltest den ganzen Nachmittag damit verbringen, deine Zeichnungen mit Fixativ zu besprühen.“ „Hast du in dem Buch etwas Interessantes gefunden?“ „Ja. Alles über das Schicksal von Francis und Mariotta. Das meiste hat Dad uns ja schon erzählt. Interessant ist nur, daß es mehrere Zeugen dafür gibt, wie im Laufe der Jahre immer wieder junge Leute im Moor von Hunden oder Krähen angegriffen worden sind. Dabei stimmte eins in allen Fällen überein. Die Jungen
und Mädchen hatten sich mit Vorliebe an alten historischen Stätten aufgehalten, wie den Steinkreisen oder der Ruine von Okehampton. An Orten, wo du wegen deiner Zeichnungen hingegangen bist. Das bestätigt irgendwie die Vermutung, daß der Fluch immer noch wirkt. Hier in der Gegend ist man ganz fest der Meinung, daß Sir Kevin und Sir Walt, die bösen Väter von Francis und Mariotta, immer noch das Moor auf der Suche nach ihren Kindern durchstreifen. Von Zeit zu Zeit glauben sie, sie in anderen jungen Menschen wiedergefunden zu haben. Dann geht ihr Kampf von vorne los. Es heißt, wenn die Väter einmal aufeinandertreffen und einer von ihnen Mitleid mit den jungen Leuten zeigen würde, würde der Fluch aufgehoben.“ Robert schloß das Buch mit einem Knall und sah Jennifer an. „Und jetzt haben sie uns ausgesucht?“ Jennifer schüttelte den Kopf. „Ich kann das nicht glauben. Vielleicht war alles doch nur ein dummer Zufall. Jedenfalls lasse ich mir dadurch weder die Ferien verderben noch die Chance, die alten Ruinen zu zeichnen. Wie steht’s mit dir?“ Unbewußt fuhr sie mit den Fingerspitzen über seinen Handrücken. „Du hast recht. Hast du Lust, nach dem Abendessen einen Spaziergang zu machen?“ fragte er. „Wohin?“ „Zu einem kleinen Dorf mit Namen North Bovey. In einem von Dads Reiseführern steht, daß es eins der schönsten historischen Dörfer in England sei. Es liegt nur ein paar Kilometer östlich von hier.“ „Prima Idee. Aber ich will vor Einbruch der Dunkelheit zurück sein.“ Die Vorstellung, von der Nacht in den Mooren oder selbst auf der Straße überrascht zu werden, behagte Jennifer gar nicht. Nicht nach dem, was heute passiert war. „Keine Sorge. Ich hab uns zwei Wanderstäbe gemacht. Mr. Williams hat eine gut ausgerüstete Werkstatt in der Scheune. Er hat mir erlaubt, alte Stiele von Mistgabeln dafür zu nehmen.“ Robert griff neben seinen Stuhl und hob die Stöcke auf. Sie stammten ganz offensichtlich von Mistgabeln. Er hatte am oberen Ende ein Loch durch das Holz gebohrt und einen Lederstreifen hindurchgezogen, der jetzt eine Schlinge bildete. „Steck die Hand durch die Schlinge. Dann kannst du den Stock beim Gehen nicht verlieren. Ich hoffe, ich habe deinen auf die richtige Länge abgehackt.“ „Die sehen phantastisch aus. Ich werde mich sicherer fühlen, wenn wir die dabeihaben.“ „Das war auch mein Gedanke.“ Keiner von beiden erwähnte die Tatsache, daß Robert ihnen zwei Waffen gemacht hatte. Wieso auch? Das war doch sonnenklar. „Wollt ihr wirklich nicht mitkommen? Es ist nicht weit.“ Robert sah von Mrs. Harris zu seinem Vater. „Nein. Aber danke für das Angebot. Nelda und ich sind von unseren neuen Freunden zu einem Kartenspiel aufgefordert worden. Man will Revanche.“ Jason Coleman lächelte breit. „Manche Leute lernen’s nie. Aber wenn wir sie gleich zum zweitenmal mit fliegenden Fahnen untergehen lassen, werden sie’s wohl merken.“ „Okay. Dann machen wir uns mal auf den Weg.“ Robert sah auf die Uhr. „Der Hin und Rückweg wird, schätze ich, wohl jeweils eine Dreiviertelstunde dauern. Ein halbe Stunde brauchen wir, um uns das Dorf mal anzugucken. Also müßten wir in etwas mehr als zwei Stunden wieder hier sein.“ „Amüsiert euch gut. Wir werden uns schon keine Sorgen machen, wenn es doch länger dauert. Jason will morgen nach Chagford fahren. Ihr seid herzlich eingeladen, mitzukommen“, sagte Jennifers Mutter.
Robert und Jennifer wechselten einen raschen Blick. „Nein, danke“, sagte
Jennifer. „Ich möchte noch ein paar Zeichnungen von Tor View machen. Nicht für
das Buch. Zum eigenen Vergnügen.“
„Und ich wollte eigentlich noch ein bißchen lernen“, fügte Robert hinzu.
„Aber wir fahren gern am Nachmittag mit euch nach Grimspound. Das heißt,
wenn ihr das immer noch geplant habt“, meinte Jennifer.
„Sehr schön. Jetzt macht ihr euch besser auf den Weg, wenn ihr vor Einbruch der
Dunkelheit zurück sein wollt“, sagte Mrs. Harris und lächelte.
Ein paar Minuten später wanderten die beiden mit den soliden Stöcken in
Richtung Osten und North Bovey.
„Deine Mutter kann gut mit Worten umgehen“, meinte Robert.
„Was meinst du damit?“
„Nun, sie hat uns versichert, daß sie sich keine Sorgen machen wird, wenn wir
später als geplant zurückkommen. Das heißt doch, durch die Blume gesagt, daß
sie mir vertraut. Jedenfalls habe ich es so aufgefaßt.“
„Das war richtig. Mom mag dich. Sie hat es mir noch kurz vor dem Abendessen
gesagt. Und sie ist dabei, sich in deinen Vater zu verlieben. So unverkrampft wie
jetzt habe ich sie seit Jahren nicht mehr erlebt.“
„Deine Mutter ist eine tolle Frau. Ist dir eigentlich aufgefallen, daß heute kein
Wein auf dem Tisch stand? Ich hab Dad nicht danach gefragt, aber ich bin sicher,
daß er mit ihr über sein Problem gesprochen hat.“
„Stimmt! Ich hab gar nicht weiter drüber nachgedacht. Natürlich, deswegen hat
sie keinen Wein zum Essen getrunken.“ Typisch Mom, dachte Jennifer liebevoll.
„Was ist eigentlich dieses Grimspound, wo wir morgen mit den Eltern hinfahren?“
wollte Robert wissen.
„Eine alte Siedlung aus der Bronzezeit. Ich freu mich darauf, dort zu zeichnen.
Mom sagt, der Ort sei historisch von großer Bedeutung.“ Jennifer blickte schnell
zum Himmel. Die Sonne stand im Westen noch beruhigend hoch.
Jeder in seine eigenen Gedanken verloren, gingen sie ein paar Minuten
schweigend weiter. Jennifer sprach als erste. Sie stellte die Frage, die sie schon
beschäftigte, seit Robert den Spaziergang vorgeschlagen hatte.
„Woher kommt dein plötzliches Verlangen, North Bovey zu besichtigen?“
„Im Führer steht, daß es ein wunderschönes Dorf ist. Da gibt es zum Beispiel ein
Steinkreuz, das aus den Steinen einer alten Brücke erbaut wurde. Ich dachte,
das wäre ganz interessant.“
„Vielleicht sollte ich es zeichnen.“
„Wenn du willst. Dann fahren wir mit den Rädern eben noch mal hin.“
„Und das ist der einzige Grund, warum wir hier durch die Landschaft spazieren?“
Jennifer überschlug wieder die Zeit und erkannte, daß sie auf keinen Fall vor
Anbruch der Dämmerung wieder in Tor View sein würden.
„Vielleicht auch, weil wir so das herausfordern, was immer sich dort draußen
verbirgt. Wenn die Sage von den Liebenden und ihren bösen Vätern stimmt,
dann wollen wir uns nicht so einfach davon einschüchtern lassen.“ Robert warf
ihr einen nachdenklichen Blick zu. „Machst du dir Gedanken? Wir brauchen es
nicht zu tun.“
Gedanken? Das beschrieb wohl kaum die Gefühle, die Jennifer in den letzten
Tagen gehabt hatte. „Könnte schon sein, daß ich ein bißchen Angst bekomme“,
gab sie mit flüchtigem Lächeln zu und ging schneller.
„Ich auch. Ich hab ‘nen ziemlichen Bammel. Aber wir kommen nicht weiter, wenn
wir nur darüber nachgrübeln und uns auf Schritt und Tritt fürchten. Wir müssen
uns der Bedrohung stellen.“
„Dazu hab ich nicht besonders große Lust.“ Jennifer versuchte, ganz locker zu
klingen, und war nicht sicher, ob es ihr gelungen war.
„Ich weiß. Aber es hat mich echt fertiggemacht, dich so in Panik zu sehen wie
heute nachmittag, als die Krähen dich angegriffen haben. Und die einzige
Lösung, die mir einfiel, um aus dem Schlamassel rauszukommen, war die, den
Spuk herauszufordern. Ihm zu zeigen, daß wir keine Angst haben.“
„Selbst, wenn wir welche haben?“
„Gerade dann. Wie zum Beispiel jetzt.“
„Glaubst du, daß die was helfen?“ Jennifer hielt ihren Stock hoch.
„Kaum. Sie sind eigentlich dazu gedacht, uns selbst ein wenig zu beruhigen.“
Robert schwieg ein paar Sekunden. „Und dem Wesen, was immer es auch ist, zu
zeigen, daß wir uns zu schützen wissen.“
Obwohl Jennifer aufmerksam die Landschaft ringsherum musterte, sah sie keine
schwarzen Hunde und keine Krähen. Mehrmals warf sie einen Blick über die
Schulter zurück. Die schmale Straße war leer. Hin und wieder kam ein Auto und
überholte die beiden. Sonst war alles ruhig.
„Da ist es.“ Robert zeigte mit seinem Wanderstock auf ein Dorf.
„Sind wir so schnell gegangen?“ fragte Jennifer überrascht.
„Ja. Ich hab dich das Tempo bestimmen lassen. Du scheinst es eilig zu haben.“
Robert strich sich das Haar aus der Stirn.
„Es ist wunderschön. Schau dir all die Fachwerkhäuser an. Sie sind phantastisch.“
Die halbe Stunde, die sie zur Dorfbesichtung eingeplant hatten, verging wie im
Flug. Viel zu früh sah Robert auf die Uhr und meinte: „Zeit, daß wir uns auf den
Heimweg machen.“
„Können wir nicht noch ein paar Minuten bleiben? Sich mal das Häuschen dort.
Wie ein richtiges Hexenhäuschen. Komm, wir gehen noch die Straße hoch“, bat
Jennifer.
„Okay. Wenn du den letzten Kilometer im Dunkeln zurücklegen willst.“ Robert
lachte.
Jennifer blickte zur Sonne und war überrascht, wie tief sie schon gesunken war.
„Du hast einen schrecklichen Sinn für Humor, weißt du das?“
„Weiß ich“, erwiderte er grinsend.
Ohne zu zögern, machten sie kehrt und gingen die Straße entlang in Richtung
Tor View.
Allmählich wurde Jennifer ruhiger. Robert hatte recht. Sie mußten zeigen, daß sie
nicht vorhatten, sich einschüchtern zu lassen. Dann plötzlich kam die Angst mit
voller Macht zurück. „Robert“, flüsterte sie heiser. „Schau mal nach rechts.“ Er
drehte den Kopf, ohne seine Schritte zu verlangsamen. „Ist ja toll!“ Die drei
Hunde waren riesengroß. Ihre Augen schienen im Zwielicht des Abendhimmels zu
glühen.
„Es hat keinen Zweck zu rennen.“ Robert hielt Jennifer am Arm zurück. „Sie
haben auch mit den Rädern mitgehalten. Zu Fuß können wir sie unmöglich
abschütteln.“
Jennifer packte ihren Wanderstock fester. Plötzlich schien der dicke Stab aus
hartem Holz so nutzlos wie ein Zahnstocher zu sein.
„Bilde ich mir das nur ein, oder glühen ihre Augen wirklich rot?“ fragte Robert.
„Vielleicht kommt das daher, weil sie in die sinkende Sonne schauen.
Wahrscheinlich ist es eine Reflektion. So wie bei Katzenaugen, wenn sie in der
Nacht von Autoscheinwerfern getroffen werden.“
„Hunde haben keine reflektierenden Augen. Ich kann’s jetzt nicht mehr
erkennen, aber ich schwöre, daß ihre Augen für ein paar Sekunden blutrot
geleuchtet haben.“
„Schau mal, da ist ein Mann bei ihnen. Sie machen nur einen Abendspaziergang.“
Die Erleichterung war so groß, daß Jennifer weiche Knie bekam.
„Zähl die Hunde“, flüsterte Robert.
„Jetzt sind’s vier. Einer muß bei seinem Herrchen gewesen sein.“
„Warum haben wir den Mann nicht schon früher bemerkt? Urplötzlich waren er
und der Hund da. Woher?“
Roberts Logik vertrieb Jennifers Erleichterung sofort wieder. Sie blickte von
Robert zu dem Mann und hielt den Atem an.
Jetzt waren zwei schwarze Hunde bei dem Mann. Die drei anderen liefen voraus.
Obwohl die Hunde Jennifer und Robert bemerkten, schenkten sie ihnen keine
Beachtung. Sie schienen darauf zu warten, daß der Mann ihnen einen Befehl gab.
Der Mann jedoch ging gleichgültig mit großen Schritten durch das Gestrüpp.
Als Jennifer ihn genauer ansah, kam er ihr irgendwie bekannt vor. Die dichte
Mähne aus schlohweißem Haar, die gekrümmte Nase… Sie konnte sich nicht
erinnern.
„Ich hab das Gefühl, als hätte ich ihn schon irgendwo gesehen“, flüsterte sie
Robert zu. „Kann es sein, daß er auch in Tor View wohnt?“
„Nein, den kenne ich nicht.“ Seine Worte erstickten ihre Hoffnung im Keim.
Als Jennifer das nächste Mal zu dem Mann und seinen Hunden hinschaute, wurde
ihr fast schlecht. Sie brachte kein Wort heraus und deutete nur stumm mit ihrer
freien Hand in seine Richtung.
„Jetzt sind es fünf Hunde.“ In seiner Stimme lagen Verwunderung und
wachsende Furcht.
Zum ersten Mal ging der Mann langsamer. Er drehte sich zu den beiden hin und
hob grüßend seinen Wanderstab. Bevor die beiden antworten konnten, wandte er
sich ab und ging in entgegengesetzter Richtung nach Norden. Die Hunde folgten
ihm.
„Uff.“ Robert atmete erleichtert aus. „Ich war noch nie so froh, Tor View zu
sehen“, war alles, was er sagte.
Jennifer blickte auf den alten Gasthof und stellte erstaunt fest, daß sie fast zu
Hause waren. Als sie sich umdrehte, waren der alte Mann und die Hunde
verschwunden.
Gerade als sie sich wieder sicher zu fühlen begann, ertönte vom Norden her
hämisches Gelächter, gefolgt vom Heulen der Hunde.
Jennifer zitterte und packte ihren Wanderstab fester. Als Robert ihr den Arm um
die Schultern legte, preßte sie sich eng an seinen Körper.
„Er lacht uns aus.“
„Stimmt. Als er mit seinem Stock winkte, hat er sich über unsere Stöcke lustig
gemacht.“
Mit seinem Stock… Etwas an diesen Worten kam Jennifer merkwürdig vor. Als es
ihr einfiel, wäre sie fast umgekippt.
„Er hatte keinen Stock. Jedenfalls nicht am Anfang. Ich erinnere mich genau
daran, daß seine Hände leer waren.“
Robert zog sie noch enger an sich, während sie auf die willkommenen Lichter von
Tor View zugingen.
„Du hast recht“, sagte er mehr nachdenklich als ängstlich.
„Was machen wir jetzt?“
„Wir fragen Mrs. Williams, ob sie uns noch eine Kanne Tee macht, dann setzen
wir uns zu den Eltern und tun so, als ob wir uns für Bridge interessieren.“
„Und morgen?“
„Morgen ist morgen. Du sollst nur eins wissen, Jenny.“ Robert hielt inne.
„Was?“ Sie versuchte, seinen Gesichtsausdruck zu erkennen, doch er hielt sie zu
eng an sich gepreßt.
„Ich werde dich nie im Stich lassen. Ich werde dich so gut beschützen, wie ich kann.“ Er neigte seinen Kopf und küßte sie. „Ich werde dich auch nicht im Stich lassen“, flüsterte Jenny, als sie wieder zu Atem kam. „Gemeinsam werden wir es schon schaffen.“ Während sie weiter auf Tor View zugingen, dachte Jennifer: Ist das Liebe? Dieses warme Gefühl, das sich gar nicht mit Worten beschreiben läßt? Habe ich mich tatsächlich in Robert verliebt? Ihre Gedanken wurden unterbrochen, als sie sich dem Hof vor dem Gasthaus näherten. „Wir lassen die Stöcke lieber hier draußen bei den Rädern“, schlug Robert vor. „Ich hab nämlich das dumpfe Gefühl, daß Mrs. Williams die Dinger nicht gern im Haus haben würde.“ Jennifer reichte ihm ihren Stock. Mrs. Williams war ihr im Moment piepegal. Ihre Gedanken beschäftigten sich nur mit dem gutaussehenden, entschlossenen Jungen an ihrer Seite.
9. KAPITEL „Die benehmen sich wie zwei verliebte Kids, nicht wie eine seriöse Autorin und
ein Professor, die wissenschaftliche Nachforschungen betreiben wollen.“ Jennifer
winkte dem davonfahrenden Auto hinterher.
„Wer sagt denn, daß sie heute Nachforschungen anstellen werden?“ Robert stand
auf dem Hof neben ihr.
Jennifer versuchte sich daran zu erinnern, was ihre Mutter gesagt hatte. „Keiner“,
gab sie zu. „Ich hatte es nur angenommen.“
„Sie wollen heute morgen Chagford besichtigen. Und sich miteinander
amüsieren.“
„Na ja, ich werde ein paar Zeichnungen vom Haus machen.“ Jennifer bemerkte,
wie Robert zu den Rädern ging. „Was hast du geplant?“ fragte sie. Das Auto war
jetzt außer Sicht.
Statt zu antworten, musterte Robert etwas, das auf dem Boden lag.
„Was ist das?“ Jennifer trat zu ihm.
Er hielt ein Stückchen Holz hoch. Ein paar Sekunden wußte Jennifer nicht, was
das sollte. Dann erkannte sie es und fröstelte.
„Ist das einer von unseren Stöcken?“ flüsterte sie ängstlich.
„Was davon übrig ist.“ Robert scharrte mit einem längeren Stück die kleineren
auf dem Boden zusammen.
„Hat ihn jemand zerbrochen?“
Robert deutete nur stumm auf die einzelnen Holzstücke. Sie waren über und über
mit kleinen Löchern bedeckt und an den Enden regelrecht zerfetzt.
Als Jennifer ein Licht aufging, schluckte sie. „Hunde.“
„Ja. Hunde haben unsere Stöcke so zugerichtet. Wenn man bedenkt, wie hart das
Holz war, müssen sie kräftige Zähne haben und groß und stark sein.“
Jennifer kniete sich hin und untersuchte das Holz. Es war Eschenholz. Kein Hund
auf der ganzen Welt konnte dieses harte Holz so zurichten. Und doch war es
geschehen.
Der Gedanke traf sie wie ein Schlag in den Magen. Kein Hund auf der ganzen
Welt… Aber die Höllenhunde aus dem Moor…
Nach dem Mittagessen fuhren Jennifer und Robert mit den Eltern zu den
Siedlungsüberresten von Grimspound.
„Was ist das überhaupt für ein Ort?“ fragte Robert, als sein Vater auf die
Schnellstraße einbog. „Ich weiß, daß es eine alte Siedlung ist. Aber wir haben
schon eine besichtigt, und so toll war die nicht.“
„Grimspound ist von einer Steinmauer umgeben. Die Steine sind ohne Mörtel
aufeinandergeschichtet worden und haben die Jahrhunderte überdauert. Eine fast
einzigartige Sache“, erklärte Nelda Harris. „Die Mauer umschließt ein ziemlich
großes Stück Land. Man hat mir gesagt, es soll sehr eindrucksvoll sein.“
„Das wär’s, wenn ich so eine Masse Steine, egal wie weit, schleppen müßte“,
meinte Robert trocken.
„Kann ich mir vorstellen, mein Sohn“, mischte sich Jason Coleman zum ersten
Mal in das Gespräch ein.
Jennifer hörte den anderen zu und sagte hin und wieder auch etwas. Aber sie war
in der Hauptsache damit beschäftigt, den Himmel und die Landschaft zu mustern.
Keine Krähen, und auch keine Hunde. In der einladend grünen Moorlandschaft
neben der Straße konnte sie überhaupt kein Zeichen von Leben entdecken.
„Der TwoMoorsWeg müßte da vorne die Straße kreuzen.“ Mrs. Harris runzelte
die Stirn und mühte sich mit dem Plan ab. „Das heißt, wenn ich die Karte richtig
gelesen habe. Wir müssen dort von der Straße runter. Ein paar Kilometer südlich
von da können wir dann parken und den restlichen Weg zu Fuß gehen.“ Seufzend
faltete sie die Karte zusammen.
„Der Weg zu der Siedlung ist aber doch hoffentlich gekennzeichnet? Ich hab
keine Lust, stundenlang in der Wildnis herumzuirren.“ Robert zwinkerte Jennifer
kurz zu.
„Falls nicht, werden wir dich als Fährtensucher vorausschicken“, gab sein Vater
zurück. „Wenn du den Ort findest, kannst du zu uns zurückkommen. Sonst
brauchst du dir die Mühe gar nicht erst zu machen.“
Jennifer stimmte in das allgemeine Lachen ein. Es war sonnenklar, daß Robert
den trockenen Humor von seinem Vater geerbt hatte.
„Das da vorn könnte er sein. TwoMoorsWeg.“ Robert deutete auf einen
Einschnitt in der grünen Moorlandschaft, der rechts ein Stück vor ihnen zu sehen
war.
„Okay, alle Mann aufgepaßt. Achtet auf irgendwelche Wegweiser, Rauchzeichen
oder Buschtrommeln.“ Jason Coleman war in Hochform.
Einen Moment später meinte Jennifer: „Ich glaube, der Weg hat vor ungefähr
hundert Metern die Straße überquert.“
„Gut. Wollen wir dir’s mal glauben. Bei der nächsten Gelegenheit werde ich
parken. Dann geht’s zu Fuß weiter. Kann man Grimspound von der Straße aus
sehen?“ fragte er Mrs. Harris.
„Glaube ich nicht. Die Landschaft ist zu hügelig.“
Ein paar Minuten später hatte Dr. Coleman den Wagen geparkt. „Ende der Fahrt“,
verkündete er gutgelaunt. „Wenn der Weg, der da in östlicher Richtung durchs
Moor verläuft, uns nicht nach Grimspound bringt, müssen wir uns einen anderen
suchen.“
„Ich nehme besser die Karte mit. Für alle Fälle.“ Mrs. Harris steckte den
Übersichtsplan von Dartmoor und Umgebung in ihre Handtasche.
„Gib mir den Fotoapparat, Robert“, sagte Jason Coleman. „Ich will die restlichen
Bilder verknipsen. Vielleicht bringe ich den Film heute abend noch zum
Entwickeln nach Mortonhampstead.“
Es war nicht schwer, dem Pfad zu folgen. Der Aufstieg war sanft und der Tag klar
und wunderschön.
Nach ein paar Minuten rief Robert: „Ich seh da was, das sieht aus wie eine sich
windende Steinmauer.“
„Das müßte Grimspound sein“, erwiderte Mrs. Harris.
„Bitte einen Tusch.“ Jason Coleman schwenkte die Arme. „Trotz unseres
unfähigen Führers haben wir das Fort erreicht.“
„Dein Vater ist aber heute gut drauf“, flüsterte Jennifer Robert zu.
„Kannst du wohl sagen.“ Er nickte und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: „Das
liegt an deiner Mutter. Seit Mom gestorben ist, habe ich ihn nicht so aufgekratzt
erlebt.“
Der Tag, der mit den zerfetzten Wanderstöcken so schrecklich angefangen hatte,
schien doch noch schön zu werden.
Jason Coleman blieb stehen, um ein Foto zu machen. Jennifer und Robert gingen
voraus. Alle paar Schritte warf Jennifer einen Blick auf den Gipfel des Hookney
Tor Berges, der links von ihnen lag.
„Willst du da rauf?“ Auch Robert hatte den Berg gemustert.
„Weit ist es nicht. Und sieht auch nicht schwierig aus.“
„Wir sind schon an ein paar kleinen Pfaden vorbeigekommen, die hinaufführen.
Schau mal, da ist wieder einer.“
„Ob die von den vielen Leute stammen, die da rauf klettern?“
„Keine Ahnung. Ich halte das eher für Tierpfade. Vielleicht von Moorponys oder
von Schafen, obwohl ich heute keine gesehen habe.“ „Komm, wir machen’s. Dann gehen wir wieder zu den Eltern, und ich fange mit meiner Arbeit an.“ Jennifer rief ihrer Mutter zu: „Ist es okay, wenn ich die Zeichentasche bei dir lasse? Robert und ich wollen auf den Hookney Tor.“ „Willst wohl einen Packesel aus deiner armen Mutter machen.“ Roberts Vater lächelte, um zu zeigen, daß er nur scherzte. „Natürlich nicht“, gab Robert zurück. „Wir hatten angenommen, daß du als Gentleman ihr anbieten würdest, die Sachen zu tragen.“ Nach einem weiteren scherzhaften Wortwechsel ließ Jennifer die Tasche bei ihrer Mutter und ging mit Robert im Schlepptau einen schmalen Pfad entlang, der zum Gipfel führte. Obwohl sie den Pfad bald verlassen und sich einen Weg durch das Gestrüpp bahnen mußten, brauchten Jennifer und Robert weniger als zehn Minuten, um einen ersten Aussichtspunkt zu erreichen. Von dort aus winkten sie ihren Eltern zu, die sich jedoch gerade mit der Steinmauer beschäftigten und sie nicht bemerkten. „Komm, wir steigen ganz hinauf.“ Diesmal ging Robert voran. „Ein toller Platz. Und ein wunderschöner Tag.“ Jennifer sah sich um. „Nicht ein Wölkchen am Himmel. Wer hat eigentlich das Gerücht in die Welt gesetzt, daß es hier immer regnet?“ „Ich nicht.“ Jennifer hatte ihre Ängste vergessen oder zumindest verdrängt. Sie genoß den schönen Tag und Roberts Gesellschaft. Wieder fragte sie sich, ob sie ernsthaft dabei war, sich in ihn zu verliegen. Mehr krabbelnd und rutschend als richtig kletternd erreichten sie den höchsten Punkt des Berges. Von hier aus konnte man in alle Richtungen sehen. „Na, war’s der Mühe wert?“ „Auf jeden Fall“, erwiderte Jennifer. „Was für ein wundervoller Blick auf Grimspound.“ „Stimmt. Doch ich frag mich immer noch, wie es wohl gewesen sein muß, all die Steine für die riesenlange Mauer hierherzuschleppen.“ „Ich glaube, die Menschen haben die Mühe auf sich genommen, um einen Schutzwall zu haben.“ „Dafür ist sie nicht hoch genug. Vielleicht sollte sie eine Einzäunung für die Herden sein.“ Jennifer winkte den beiden kleinen Figuren bei der Mauer zu. Diesmal hatten die Eltern es gesehen und winkten zurück. „Wir machen uns wohl besser an den Abstieg.“ „Hast recht.“ Jennifer sah sich ein letztes Mal um. „Es ist so herrlich hier. Und so ruhig.“ Robert ging voran. Als er Jennifer die Hand reichte, nahm sie sie gern. Sie ließ es zu, daß er sie kurz an sich zog und auf die Lippen küßte. Für einen Moment vergaß sie die Welt ringsum. Dann machten sie sich weiter an den Abstieg. „Komm, wir gehen Richtung Osten diesen Gebirgskamm entlang. Vielleicht können wir von dort aus den Tierpfaden folgen.“ Gerade als sie die Richtung einschlagen wollten, senkte sich ein feiner Dunstschleier herab. „Wo kommt der denn her?“ Robert klang mehr verwundert als besorgt. „Ich hätte schwören können, daß der Himmel noch vor ein paar Minuten ganz klar war.“ „Stimmt.“ Zum ersten Mal, seit sie Tor View verlassen hatten, spürte Jennifer wieder den unsichtbaren Blick auf sich ruhen. „Beeilen wir uns.“
„Ganz meine Meinung. Das einzige, was wir nämlich nicht brauchen können, ist,
hier oben von Regen überrascht zu werden. Oder schlimmer noch, von Nebel.“
Mit jedem Schritt, den sie gingen, verdichtete sich der Dunst. In weniger als
einer Minute waren sie von einem Nebel umgeben, der von Sekunde zu Sekunde
dicker wurde.
„Ich kann’s nicht glauben. Komm, Jenny, nimm meine Hand.“
Erst als sie die Wärme seiner Finger spürte, merkte Jennifer, daß ihre Hände
plötzlich eiskalt geworden waren.
„He, du frierst ja richtig!“
„Tut mir leid.“ Die Kälte kam nicht von dem Nebel. Jennifers Herz schlug wie
rasend. Das Atmen fiel ihr auf einmal schwer. Etwas in ihr warnte sie, daß in dem
Nebel ein namenloser Terror auf sie wartete.
„Hör mal, ich weiß nicht, wo das hergekommen ist. Aber das wird ziemlich haarig
werden. Solange wir uns rechts halten können, werden wir die Siedlung
bestimmt erreichen. Oder zumindest einen Pfad dorthin finden.“ Robert wollte
zuversichtlich klingen und versagte total. Der Nebel war jetzt so dicht, daß sie
nicht mehr die Hand vor Augen sehen konnten. Sie klammerten sich aneinander,
um sich nicht zu verlieren.
Jennifer stieß mit dem Fuß gegen einen Felsbrocken und wäre beinahe der Länge
nach hingeschlagen.
„Vorsicht.“ Robert fing sie gerade noch rechtzeitig auf.
Ein paar Minuten später mußte er zugeben: „Ich hab total die Orientierung
verloren. Wir werden ganz langsam den Berg hinabsteigen. Der Nebel kann sich
nicht ewig halten. Ich frag mich immer noch, wie der so plötzlich entstehen
konnte.“
Jennifer schwieg. Sie wußte es. Was sie nicht genau sagen konnte, war, ob das
den Höhepunkt ihrer Konfrontation mit dem geheimnisvollen Spuk darstellte oder
ob es wieder nur ein Vorgeplänkel zu noch größerem Schrecken war. Wieder
stolperte sie. Doch Robert hielt sie fest.
„Wir müssen aus dem Nebel raus!“ Jennifer merkte selbst, wie panisch ihre
Stimme klang.
„Wir schaffen es. Mach dir keine Sorgen. Ich bin bei dir. Zusammen kann uns
nichts passieren. Wenn’s zu schlimm wird, setzen wir uns einfach hin und warten,
bis der Nebel sich verzogen hat.“
„Und was ist mit meiner Mutter? Und deinem Vater? Wenn sie jetzt versuchen,
ohne uns zum Auto zurückzugehen?“
„Du glaubst doch nicht im Ernst, daß die uns hier zurücklassen würden? Sie
werden ebenfalls warten, bis es aufklart.“
„Du hast recht.“ Natürlich würde Mom sie nie im Stich lassen. Jennifer konnte vor
lauter Angst schon nicht mehr klar denken.
„He!“ Robert zog sie an sich. „Ich weiß, was dir im Kopf herumgeht. Mir geht’s
genauso. Nebel entsteht nicht einfach so aus dem Nichts. Nicht einmal im Moor.
Aber das einzige, wovor wir Angst haben müssen, ist, uns die Beine zu brechen.
Oder aus Panik etwas Dummes zu tun. Und das werden wir nicht. An diesem
Berg gibt es keine Klippen oder Schluchten. Mach nur jeden Schritt sorgfältig,
damit du nicht stolperst. Ich werde dasselbe tun. Wir sind nicht in Gefahr.“
In diesem Moment ertönte ein langgezogenes Heulen zu ihrer Rechten.
Robert verstärkte den Griff um ihre Hand. Schweigend tasteten sie sich langsam
durch den dichten Nebel.
Jennifer verlor jedes Zeitgefühl. Sie kam sich vor wie in einem dunklen Raum.
Obwohl es nichts half, streckte sie instinktiv ihre freie Hand aus und tastete in
den Nebel vor sich. Sie konzentrierte sich nur noch darauf, vorsichtig einen
Schritt nach dem anderen zu machen und sich an Roberts Hand zu klammern.
Wenn sie sich im Nebel verlieren würden, würde sie unter dem Druck ihrer
ungeheuren Angst zusammenbrechen.
Jetzt heulten zwei oder sogar drei Hunde. Ihre Stimmen klangen näher als
vorher.
„Ob die nach uns suchen?“
„Bestimmt nicht“, sagte Robert zuversichtlich. „Wahrscheinlich liegt da rechts
irgendwo ein Bauernhof, und die Hunde heulen wegen des Nebels.“
„Natürlich.“ Jennifer wußte, daß er das nur sagte, um sie zu beruhigen. Sie liebte
ihn deswegen noch mehr.
Langsam ging es weiter. Jennifer hielt immer noch die Hand ausgestreckt. Sie
versuchte, die Schritte zu zählen, und gab auf, als sie das dritte Mal den Faden
verlor.
„Laß uns etwas mehr links gehen. Ich glaube, wir sind zu weit abgekommen.“
Als sie sich langsam drehten, fühlte Jennifer, wie etwas ihre Fingerspitzen
streifte. Sie stieß einen Laut aus, der zwischen einem Schrei und einem
ängstlichen Stöhnen lag.
„Was ist los?“ Robert blieb abrupt stehen.
„Etwas hat meine Hand berührt.“
Robert streckte tastend seine freie Hand aus. „Ich fühle nichts.“
Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, ertönte irgendwo links von den beiden
der krächzende Schrei einer Krähe.
„Es war ein Krähenflügel“, flüsterte Jennifer.
„Das hat uns gerade noch gefehlt. Eine Krähe, die den Blindenhund spielen will.“
Jennifer lachte, aber es klang nicht überzeugend.
„Komm, gehen wir weiter. Wir haben ja nicht den Mount Everest bestiegen. Das
Tal mit der Siedlung kann nicht mehr weit unter uns liegen.“
Jennifer ging so schnell, wie sie es unter den Umständen wagte, und versuchte
den Schock zu vergessen, den die Berührung mit dem Krähenflügel in ihr
ausgelöst hatte.
Keine Panik, diese Worte hielt sie sich immer wieder im stillen vor. Vertrau auf
Robert. Denk an die schönen Dinge im Leben. Laß die Angst nicht Oberhand
gewinnen.
„Schau, Jenny. Der Nebel löst sich auf!“ sagte Robert triumphierend.
Jennifer sah, daß sie wieder den Boden unter ihren Füßen erkennen konnte.
Sekunden später wurde ein Stück des Wegs vor ihnen sichtbar.
„Kannst du das glauben!“
Sie wagte ihrem Glück nicht zu trauen. Der Nebel war in weniger als einer Minute
völlig verschwunden.
Hand in Hand rannten sie weiter nach unten. Bald kam die alte Steinmauer in
Sicht.
Jennifer sah sich kurz um. Es gab kein Zeichen mehr von dem dichten Nebel, der
ihr solche Angst eingejagt hatte. Der Tag war so strahlend schön, wie er auf der
Spitze des Hockney Tor gewesen war.
„Das Hundebeilen kam von rechts.“ Der Gedanke beschäftigte Jennifer schon
länger.
„Vielleicht liegt da eine Farm.“
„Die Krähe wollte uns nach links locken.“
„Zumindest klang es so. In der dichten Nebelsuppe war es mir fast unmöglich,
die Richtungen genau zu bestimmen. Und was willst du damit sagen?“ Robert
drehte sich um und sah sie an.
„Ich weiß es auch nicht. Wenn wir den Krähen gefolgt wären, hätten wir uns
vielleicht noch weiter im Nebel verirrt. Wenn uns nun jemand helfen wollte…“
„Hör auf, darüber nachzugrübeln. Es ergibt alles keinen Sinn.“
Sicher hatte Robert recht. Eigentlich weigerte sich Jennifer, die Sage von dem
Liebespaar, ihren Vätern und dem geheimnisvollen Fluch, der seit jener Zeit auf
der Moorgegend lastete, zu glauben. Aber die Ereignisse der letzten Tage hatten
sie nachdenklich gemacht.
„Habt ihr euch endlich entschlossen, zu uns zurückzukommen?“ empfing Jason
Coleman sie.
„Tut uns leid, daß es so lange gedauert hat“, sagte Robert. „Aber als der Nebel
kam, wurde es sehr schwierig für uns, den Weg zu finden.“
„Welcher Nebel?“ Nelda Harris sah sie verwundert an.
„Der, der sich so plötzlich herabgesenkt hat. Wir haben uns fast darin verirrt.“
Jennifer fragte sich, was mit ihrer Mutter los war.
„Da war kein Nebel.“ Dr. Coleman studierte die Gesichter der beiden, um
festzustellen, ob sie ihn auf den Arm nehmen wollten.
„Vielleicht ist er nicht ganz bis unten gekommen. Aber wir steckten in einer
Nebelwand, die so dicht war, daß wir unsere Füße nicht mehr sehen konnten“,
erklärte Robert fest.
„Jenny, Robert.“ Mrs. Harris zog die Stirn in Falten. „Dawar kein Nebel. Der Tag
war die ganze Zeit so klar wie jetzt. Kein Wölkchen am Himmel.“
„Moment mal.“ Jennifer merkte selbst, daß ihre Stimme scharf klang, aber es war
nicht zu verhindern. „Wollt ihr uns weismachen, daß ihr den Nebel nicht bemerkt
habt, in dem Robert und ich herumgestolpert sind? Wenn Robert mich nicht
festgehalten hätte, wäre ich ein paarmal ganz empfindlich gestürzt.“
Die beiden Erwachsenen wechselten einen besorgten Blick. Schließlich sagte
Jason Coleman: „Wir haben ganz deutlich gesehen, wie ihr euch auf den Rückweg
gemacht habt. Gut, Jennifer ist ein paarmal gestolpert. Ich dachte, das sei ein
kleiner Trick, um Händchen zu halten.“ Er lächelte kurz.
„Wir steckten in einem dichten Nebel.“ Jennifer kam sich wie ein Idiot vor. Oder
besser, wie ein Kind, das bei einer Lüge ertappt worden ist und nicht mit der
Wahrheit rausrücken konnte oder wollte.
„Da war kein Nebel, nicht mal ein Dunstschleier, nichts.“ Nelda Harris
beobachtete ihre Tochter genau.
Jennifer fühlte, daß sie nahe daran war auszuflippen. „Habt ihr die Hunde heulen
gehört?“ Sie mußte einfach Klarheit bekommen.
Nelda Harris schüttelte den Kopf. „Hast du was gehört?“ fragte sie Dr. Coleman.
„Ich kann mich nicht erinnern. Ich war gerade dabei, die letzten Bilder auf dem
Film zu verknipsen. Vielleicht habe ich auf so etwas nicht geachtet.“
„Warum fahren wir nicht nach Hause?“ schlug Jennifers Mutter vor. „Wir können
für Jennifers Zeichnungen ein anderes Mal wiederkommen. Ich glaube nicht, daß
sie jetzt in der Stimmung dazu ist.“
„Um die Wahrheit zu sagen, bin ich es auch nicht.“
Jennifer brauchte nur einen Moment, um ihre Sachen zusammenzupacken.
Nachdem sie noch einmal einen langen nachdenklichen Blick auf die Spitze des
Hockney Tor geworfen hatten, folgten sie und Robert den Eltern zum Wagen.
„So wie ihr da oben rumgestolpert seid, braucht ihr dringend zwei kräftige
Wanderstöcke“, rief Jason Coleman ihnen über die Schulter zu.
Jennifer und Robert tauschten einen schnellen Blick.
„Prima Idee, Dad.“
Die beiden schwiegen, bis das Auto in Sicht kam.
Sie stiegen ein, und Dr. Coleman fuhr los.
Die Heimfahrt fand in fast völligem Schweigen statt. Jeder war in eigene
Gedanken versunken. Jennifer warf einen Blick aus dem Fenster und hätte fast aufgeschrien, als sie die beiden schwarzen Hunde sah, die in der Moorlandschaft neben der Straße mühelos mit dem Auto Schritt hielten. Sie wollte schon die Erwachsenen darauf aufmerksam machen, als Robert ihre Hand fest drückte. Sie sah zu ihm hin. Er schüttelte leicht den Kopf. Als Jennifer das nächste Mal aus dem Fenster schaute, waren die Hunde verschwunden.
10. KAPITEL „So, wie deine Mutter und mein Vater loslegen, werden sie bald die inoffiziellen Bridgemeister von Tor View“, sagte Robert zu Jennifer. Die beiden hatten nach dem Abendessen einen kleinen Spaziergang gemacht und betrachteten die Moorlandschaft von dem kleinen Hügel aus, auf dem sie standen. „Vielleicht sollten wir besser zurückgehen“, fügte er noch hinzu. Er betrachtete den Stand der Sonne am westlichen Himmel. „Du hast recht. Aber es ist so friedlich hier. Ich liebe es, über das Moor zu schauen.“ „Sogar nach dem, was heute passiert ist?“ Robert wandte sich ihr zu und nahm ihre Hand. Jennifer drückte seine Hand. „Sogar nach dem.“ Robert küßte sie und ließ sich sehr viel Zeit damit. „Du bedeutest mir sehr viel, Jenny“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Du mir auch“, erwiderte sie und fuhr ihm zärtlich durch das Haar. Händchenhaltend machten sie sich schließlich langsam auf den Heimweg nach Tor View. „Hast du dich schon einmal gefragt, warum diese Dinge gerade uns passieren?“ Roberts Stimme paßte sich der Stille der Moorlandschaft an. „Inzwischen glaube ich an die Sage der unglücklichen Liebenden, die dein Vater erzählt hat. Dadurch, daß wir alle diese historischen Stätten aufgesucht haben, haben wir vielleicht die alten Geister geweckt, und die uralte Geschichte wiederholt sich. Die sich bekämpfenden Väter hetzen ihre Geschöpfe auf das Kind ihres Rivalen. Krähen für Mariotta – dreizehn Krähen haben versucht, mich anzugreifen. Schwarze Höllenhunde für Francis. Zum Glück hat es da bisher nur Warnungen gegeben. Schließlich sollen diese Dinge schon vorher jungen Leuten in der Gegend passiert sein. So unglaublich das klingt, es ist die einzige Erklärung, die ich habe. Und es würde auch die Sache mit den trockenen Blättern erklären, die ich statt der Münzen im Portemonnaie hatte. Erinnerst du dich? Dein Vater erzählte, daß Sir Kevin, der Vater von Mariotta, den Leuten gern diesen Streich spielte. Vielleicht war der alte Mann eine Reinkarnation von Sir Kevin. Er hat mir auch zum ersten Mal von der alten Sage erzählt.“ Robert nickte. „Ich bin zu demselben Schluß gekommen.“ Er wollte noch etwas sagen, als ein lautes Heulen den friedlichen Abend zerriß. Die beiden fuhren zusammen und drehten sich in Richtung der sinkenden Sonne um. „Oh nein“, stöhnte Jennifer verzweifelt. Sie klammerte sich an Roberts Hand. „Es sind drei, vier, fünf von ihnen.“ Robert zählte die riesigen schwarzen Hunde, die parallel zu ihnen etwa hundert Meter entfernt über das Moor liefen. „Was die wohl jagen?“ Robert legte den Arm um Jennifer. Während er noch sprach, änderten die Hunde die Richtung und rasten auf Jennifer und Robert zu. Ihre Mäuler standen offen. Die weißen Raubtierzähne blitzten. „Ihre Augen leuchten rot.“ Jennifer brachte die Worte kaum hervor. Sie war wie gelähmt vor Schock. „Wenn unsere Theorie stimmt, haben die es nur auf mich abgesehen. Lauf weg, so schnell du kannst.“ Robert schüttelte sie heftig. Seine Worte brachten sie zur Besinnung. „Ich laß dich nicht im Stich. Niemals!“ stieß sie hervor und sah sich hektisch um. Kein Baum war in Sicht, nichts, was sie als Waffe benutzen oder wo sie sich verstecken konnten. „Nun lauf schon. Ich kann dich jetzt nicht brauchen.“ Robert hatte sich auf die Knie fallen lassen und versuchte hastig, einen Stein als Waffe in der losen Erde
zu finden.
Die Hunde waren nur noch ein paar Meter entfernt. Jennifer hörte ihr Knurren
und sah den Schaum vor ihren Mäulern.
Das durfte nicht wahr sein! Während sie ebenfalls nach einem Stein suchte, fiel
ihr etwas ein. Mit voller Wucht warf sie sich auf Robert, der die Balance verlor.
„Bleib ganz flach liegen!“ schrie sie, rollte sich neben ihn und preßte ihr Gesicht
auf die noch sonnenwarme Erde.
„Was?“
„Tu, was ich sage! Kreuz deine Arme und Beine!“
Die Hunde waren jetzt ganz nah. Robert stellte keine Fragen mehr und
gehorchte.
Jennifer fühlte die Hitze, die von den riesigen Körpern ausging, als die Hunde
über sie sprangen. Sie kniff vor Entsetzen die Augen zusammen und blieb
regungslos liegen. Wie lange, konnte sie hinterher nicht mehr sagen. Es war
Robert, der sich als erster aufrecht hinsetzte.
„Sie sind weg“, war alles, was er sagte.
Jennifer kam ebenfalls hoch und rang nach Luft. Lange, qualvolle Sekunden war
sie unfähig, etwas zu sagen. Sie konzentrierte sich voll darauf, die kühle
Abendluft in großen Zügen einzuatmen. Sie fühlte, daß ihre Wangen naß waren.
Ich hab ja geweint, dachte sie verwundert. Sie sah zu Robert hin. Einen endlosen
Moment blickten sie sich in die Augen. Dann sanken sie sich erschöpft in die
Arme und hielten sich ganz fest.
Keiner von ihnen sprach. Jennifers Herz klopfte immer noch wie wild. Sie fühlte,
daß Robert am ganzen Leib genauso zitterte wie sie. Wir haben es geschafft,
dachte sie. Zusammen haben wir es geschafft. Ob das nun das Ende des Spuks
bedeutete? Ein Instinkt ließ sie daran zweifeln.
Schließlich lösten sie sich voneinander.
„Es hat geklappt“, sagte Robert heiser. „Danke, Jenny. Ohne dich… wer weiß,
was geschehen wäre. Ich hatte total vergessen, was mein Vater erzählt hatte.
Ich dachte nur noch daran, genug Steine zu finden, um uns zu verteidigen.
Komm, gehen wir zurück.“ Er stand auf und zog sie auf die Füße.
„Ob sie uns getötet hätten?“
„Ich weiß es nicht. Hab auch keine Lust, es auszuprobieren.“
„Und wenn sie jetzt gar nicht wirklich existiert haben? Wenn wir sie uns nur
eingebildet haben?“
„Die waren echt. Ich habe ihr Keuchen gehört. Und gespürt, wie die Erde auf
meinen Rücken flog, als sie über uns sprangen.“
„Und ich habe die Hitze ihrer Körper gefühlt.“
„Warum hast du dann gefragt?“
„Weil ich hoffte, du würdest mich vom Gegenteil überzeugen.“
Tor View war nur noch ein paar Meter entfernt. Der Schrecken verblaßte
allmählich.
„Wir haben bisher alles überstanden, was sie uns in den Weg gelegt haben.“
Robert verstärkte den Griff seines Arms um Jennifers Schulter.
„Morgen will ich nach Grimspound, um zu zeichnen.“
„Bist du sicher?“ Er blieb stehen und drehte Jennifer zu sich hin.
„Ich muß es tun. Eine innere Stimme sagt es mir.“
„Warum?“
„Weil dort etwas Entscheidendes passieren wird. Ich fühle es. Wir müssen ihnen
nur zeigen, daß wir nicht aufgeben.“
„Du hast ganz schön Mumm“, sagte Robert bewundernd.
Jennifer holte tief Luft. „Ich fahre mit dem Rad…“
„Du meinst wohl, wir fahren mit dem Rad“, unterbrach Robert sie.
Sie nickte. „Unsere Eltern lassen wir aus dem Spiel. Was immer auch geschieht,
es betrifft nur dich und mich. Die Eltern haben weder den Nebel gesehen noch
die Hunde gehört. Die alten Geister wollen nichts von ihnen, nur von uns.“
Als Robert sie in seine Arme zog, schien es das Natürlichste von der Welt zu sein.
Sie küßten sich immer wieder, lange und zärtlich. Wer konnte schon sagen, ob
sie den morgigen Abend noch erleben würden…
Als Robert und Jennifer am nächsten Morgen nach Grimspound kamen, waren sie
nicht die ersten Besucher. Drei Mädchen hatten ein Tischtuch auf einen großen
Stein gelegt und machten ein Frühstückspicknick.
Sie winkten ihnen zu.
„Schöner Tag heute“, rief Robert.
„Stimmt.“ Eine von ihnen, eine hübsche Blondine, antwortete für die Gruppe.
Als Jennifer und Robert zu der Stelle gingen, von wo aus Jennifer zeichnen
wollte, merkte sie, daß die Blonde Robert mit unverhohlenem Interesse
musterte.
„Das Mädchen scheint sich für uns zu interessieren“, bemerkte Robert.
„Ich glaube nicht, daß ihre heißen Gedanken mir gelten“, erwiderte Jennifer
trocken.
„Oh.“ Robert drehte sich um und sah der Blondine einen Moment lang in die
Augen. Als er sich umwandte, stellte er fest, daß Jennifer ihn mit hochgezogenen
Augenbrauen betrachtete.
Eine Sekunde lang sprach niemand von ihnen. Dann wurde Robert zu Jennifers
völliger Überraschung rot.
Als er linkisch versuchte, seine Verlegenheit zu verbergen, mußte sie lachen. Ein
paar Sekunden später stimmte er ein.
„Die werden sich wundern, was hier so komisch ist“, stieß er schließlich hervor.
„Ich wette eher, daß die Blonde nach einem Weg sucht, mich loszuwerden, damit
sie dich für sich allein haben kann.“ Jennifer packte ihre Zeichentasche aus. „Ich
warne dich, wenn die Hexe auch nur versucht, dich anzumachen, kriegt sie’s mit
mir zu tun.“
„Du würdest um mich kämpfen?“ Robert grinste anzüglich.
„Aber sicher doch.“ Es war für Jennifer schwer, entschlossen zu klingen und
gleichzeitig das Lachen zu unterdrücken.
Die nächsten Stunden füllte Jennifer Blatt nach Blatt auf ihrem Zeichenblock.
Robert las und beobachtete dann, wie die drei Mädchen aufbrachen. Die Blondine
winkte ihm zu. Als sie weg waren, zog er sein TShirt aus und legte sich in die
Sonne.
„Wenn du das früher gemacht hättest, wären die nie gegangen.“ Jennifer sah
nicht von ihrer Zeichnung hoch.
„Ich weiß. Deshalb habe ich gewartet. Ich wollte die Hühner nicht zu sehr in
Aufregung versetzen.“
„Angeber!“ Jennifer erlaubte sich ein kleines Lächeln. Was immer auch passieren
mochte, eins stand fest. Sie würde Robert Coleman nie vergessen.
Sie hatten gerade ihr Picknick ausgepackt, als der Wanderer kam. Robert sah ihn
zuerst und nickte ihm grüßend zu.
Jennifer musterte den alten Mann mit dem weißen Haar. Sie hatte ihn schon
einmal gesehen. Aber wo…?
Schweigend beobachteten sie, wie er mit schnellen Schritten herankam.
„Guten Tag.“ Seine Stimme war kraftvoll und fröhlich.
„Hallo“, grüßte Robert. „Sind Sie über den TwoMoorsWeg gekommen?“
Der Mann nickte, aber er antwortete nicht. Er starrte Jennifer an. Seine Augen
waren hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen. Etwas ging zwischen ihnen beiden vor. Jennifer konnte nicht sagen, was. Es schien, als hätten sie sich schon einmal getroffen. Als würden sie sich sehr gut kennen. „Warm heute“, sagte er schließlich und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Könnte ich wohl einen Schluck Wasser bekommen?“ „Bitte, nehmen Sie meine Wasserflasche“, bot Robert an. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich lieber aus dieser trinken.“ Er deutete auf die Flasche, die neben Jennifer lag. Plötzlich ging Jennifer ein Licht auf. Das war der Mann, der sie in Okehampton beim Zeichnen gestört hatte. Er hatte ihr zum ersten Mal die Sage von Francis und Mariotta erzählt. Robert wollte schon protestieren, doch Jennifer hielt dem Mann bereits ihre Wasserflasche hin. Er lächelte sie wissend an, machte drei Schritte auf sie zu und nahm die Flasche entgegen. Dann trank er wie ein Verdurstender. „Danke, mein Kind.“ Es lag eine leise Spur von Spott in seiner Stimme. „Jetzt werde ich mich wohl besser auf den Weg machen.“ „Einen Moment noch.“ Jennifer stand auf und hoffte, daß ihre Beine sie tragen würden. Mit zitternden Fingern pflückte sie zehn Blätter von einem nahestehenden Strauch. Der Mann sah sie gespannt an. Die Luft schien plötzlich elektrisch geladen zu sein. Robert spürte, daß er sich jetzt auf keinen Fall einmischen durfte. „Hier.“ Sie hielt ihm die Blätter hin. „Erinnern Sie sich noch an unsere Begegnung in Okehampton? Ich hab inzwischen von Ihren Zauberkunststückchen gehört. Sie schulden mir noch einen Geldschein.“ Einen Moment lang schien die Zeit stillzustehen. Der Mann nahm die Sonnenbrille ab. Sein glühender Blick bohrte sich in ihre Augen. Doch Jennifer hielt stand. Schweißperlen traten ihr auf die Stirn, doch sie wandte die Augen nicht ab. Schließlich senkte er den Blick und studierte die Blätter. Mit der rechten Hand griff er in seine Tasche. Die alte Goldmünze glitzerte in der Sonne, als er sie Jennifer zuwarf. Jennifer fing sie auf und ließ sie gleich wieder fallen. Das Geldstück war glühend heiß gewesen. Es hatte ihre Hand verbrannt. Der Mann lächelte und wartete. Auf einmal war sie so wütend wie noch nie in ihrem Leben und fürchtete sich kein bißchen mehr. Sie nahm die Wasserflasche, goß das restliche Wasser auf Geldstück und warf ihm die leere Flasche vor die Füße. Dampf stieg von der glühenden Münze auf. Herausfordernd sah Jennifer den Mann mit blitzenden grünen Augen an. Dann bückte sie sich und hob die Münze auf. Sie war kalt, als sie sie berührte. Die Blasen an ihrer verbrannten Hand waren plötzlich verschwunden. „Danke, Sir Kevin“, sagte Jennifer eisig und wartete innerlich zitternd darauf, welche Herausforderung jetzt kommen würde. Egal, was es auch war, sie würde nicht klein beigeben. Er würde sie nicht auf die Knie zwingen können. Doch der Blick des Mannes wurde nachdenklich, sein Lächeln war plötzlich nicht mehr spöttisch, sondern fast zärtlich. Er setzte die Sonnenbrille wieder auf, nickte Jennifer zu und ging mit entschlossenen Schritten fort. „Wow!“ Robert atmete tief aus und strich sich das schweißnasse Haar aus der Stirn. „Weißt du, wer das war?“ Jennifer blickte immer noch der in der Ferne kleiner werdenden Gestalt des Mannes nach. „Ja.“
„Und wo wir ihn noch gesehen haben?“
Robert schüttelte den Kopf.
„Als wir von North Bovey zurückgekommen sind. Er war der Mann mit den
Hunden.“
„Natürlich. Sir Kevin konnte der Sage nach schwarze Hunde heraufbeschwören.“
„Er sieht in mir eine Verkörperung seiner Töchter Mariotta. Ob wir es wollen oder
nicht, wir müssen uns eingestehen, daß der alte Fluch nicht nur eine Legende ist.
Wir beide erleben es gerade am eigenen Leib.“ Jennifer zitterte.
Robert nahm sie in die Arme und streichelte sie zärtlich. „Bisher haben wir alles
überstanden. Wir dürfen uns nur nicht einschüchtern lassen und müssen
zusammenhalten.“
„Du hast recht“, seufzte Jennifer. „Jedenfalls ist mir die Lust, in Grimspound zu
bleiben, gründlich vergangen. Laß uns nach Tor View zurückfahren. Am
Nachmittag wollen unsere Eltern nach Buckfast. Dort werde ich die Schloßruinen
von Hembury zeichnen.“
Die beiden packten ihre Sachen zusammen und machten sich auf den Heimweg.
Am Himmel über ihnen zog eine einsame Krähe ihre Kreise. Draußen im Moor
heulte ein Hund…
„Seid ihr sicher, daß ihr nicht mit uns zur Abtei von Buckfast kommen wollt?“
fragte Nelda Harris ein letztes Mal, als sie den kleinen Parkplatz verließen.
Jennifer warf Robert einen fragenden Blick zu. Er schüttelte den Kopf.
„Wir sind sicher, Mom. Ich werde ein paar Zeichnungen von Schloß Hembury
machen, dann kann ich es von meiner Liste streichen.“
„Gut. Wir werden in etwa anderthalb Stunden zurück sein.“
„Komm, laß mich das tragen.“ Robert griff nach Jennifers Zeichentasche.
Nach ein paar Minuten hatten sie die Ruine erreicht, von der nur noch ein paar
klägliche Mauern standen.
„Ist das alles?“ fragte Robert enttäuscht und las das Schild zum zweitenmal.
„Anscheinend ja. Hier steht’s: ‚Schloßruine von Hembury, erbaut am…’“
Jennifer hörte ihm nicht weiter zu. Sie suchte bereits nach einem geeigneten
Platz zum Zeichnen.
„Du, ich seh mich mal ein bißchen da hinten um“, sagte Robert.
„Okay.“ Jennifer saß bereits und hatte den Zeichenblock auf dem Schoß.
Sekunden später war sie voll und ganz in ihre Arbeit vertieft.
Die erste Krähe ließ sich auf einem Zweig über ihrem Kopf nieder und
betrachtete sie mit starrem Blick.
Die zweite erschien eine halbe Minute später. Jennifer arbeitete weiter. Sie
merkte nichts.
Mit lautlosem Flügelschlag flogen die dritte und die vierte heran.
Jennifer fröstelte plötzlich. Sie blickte über die Schulter, konnte jedoch nichts
entdecken.
Vier weitere Krähen ließen sich in dem Baum über ihrem Kopf nieder, ohne das
geringste Geräusch zu machen.
Als alle dreizehn Krähen versammelt waren, hoben sie sich wie auf einen
unsichtbaren Befehl gleichzeitig in die Luft. Jetzt erst bemerkte Jennifer sie. Ein
Schrei erstickte in ihrer Kehle.
Sie kreisten kurz über ihr und stießen plötzlich auf sie herab.
Instinktiv ließ sie den Zeichenblock fallen und hob schützend die Hände über den
Kopf.
Die angreifenden Krähen waren überall um sie herum. Scharfe Schnäbel zerrten
an ihren Armen. Krallen rissen an ihrem Haar.
Mehr aus Angst als vor Schmerz schrie Jennifer auf: „Hilf mir, Robert. Hilfe!“
Ihre Schreie hallten durch die Stille des Nachmittags, während die Vögel sie wie
ein gefiederter Umhang bedeckten.
Die Wucht des Angriffs ließ Jennifer auf die Knie sinken. Sie versuchte, die
Krähen abzuschütteln, und wußte gleichzeitig, daß sie auf keinen Fall ihren Kopf
und ihr Gesicht ungeschützt lassen durfte.
Aus weiter Ferne hörte sie Robert rufen: „Ich komme, Jenny.“
Jennifer war am Ende ihrer Kraft. Panik überfiel sie. Robert würde nicht mehr
rechtzeitig kommen. Die Vögel würden ihr die Augen auskratzen, ihr Gesicht
zerfleischen… Sie töten!
Plötzlich wurde sie mit ungeheurer Wucht zur Seite geschleudert. Den einen
Moment hatte sie sich noch mitten in dem wütenden Krähenschwarm befunden,
im nächsten fand sie sich auf dem Bauch liegend ein Stück davon entfernt.
Das tiefe Knurren des riesigen Hundes sagte ihr, wer sie zur Seite geschleudert
hatte. Das krachende Zuschnappen seines mächtigen Kiefers übertönte sogar das
Gekreisch der Krähen.
Ich will nicht sterben, schrie sie stumm, das Gesicht in das feuchte Gras
gedrückt. Ich will nicht von Robert getrennt werden!
Verzweifelt richtete sie sich auf und blickte durch ihre verschränkten Arme
hindurch, mit denen sie immer noch ihr Gesicht schützen wollte.
Wolken von schwarzen Federn bedeckten den Boden. Andere flatterten in der
milden Luft des Nachmittags. Von den dreizehn Krähen griffen nur noch neun an.
Die anderen lagen zerfetzt am Boden. Die, die noch fliegen konnten, kämpften
mit dem großen Hund.
Als etwas sie von hinten berührte, schlug Jennifer wie wild um sich.
„He! Vorsicht. Ich bin’s.“ Robert hielt ihre Arme fest.
„Oh!“ Jennifer holte tief Luft und versuchte zu verstehen, was sich da vor ihren
Augen abspielte. Sie konnte es kaum glauben.
Die Krähen versuchten immer wieder, die Augen des Hundes zu treffen. Er
kämpfte tapfer, aber seine Bewegungen erlahmten.
Da erschien plötzlich wie aus dem Nichts ein zweiter Hund. Mit frischer Kraft
stürzte er sich auf die Krähen.
Anstatt sich in Sicherheit zu bringen, kämpften die Vögel bis zum Ende. Als der
letzte tot war, suchten die Hunde den Boden ab. Dann blickten sie zu Jennifer
und rannten davon.
Robert packte stumm Jennifers Zeichensachen ein. Er fragte nicht einmal, ob sie
fertig war. Dann legte er den Arm um ihre Schulter und führte das immer noch
zitternde Mädchen langsam von dem Ort des Grauens fort.
„Meinst du, es ist vorbei?“ fragte er schließlich.
„Ja. Erinnerst du dich? Wenn einer der Väter Mitleid mit den Liebenden zeigt und
den Kampf mit seinem Rivalen aufgibt, bedeutet das das Ende des Fluchs.“
„Sicher hat deine Tapferkeit heute morgen in Grimspound Sir Kevin beeindruckt“,
sagte Robert langsam. „Und er hat beschlossen, uns zu helfen, statt uns zu
vernichten.“
„Ich weiß es nicht“, erwiderte Jennifer müde. „Ich spüre nur eins, es ist vorbei.“
Am Abend gingen Jennifer und Robert Hand in Hand durch die geheimnisvolle
Moorlandschaft, die jetzt allen Schrecken verloren hatte. Sie betrachteten die
untergehende Sonne.
„Hätten die Väter doch schon früher Mitleid gezeigt“, sagte Jennifer. „Wir werden
nie erfahren, was aus Mariotta und Francis wirklich geworden ist.“
„Vielleicht ist ihnen die Flucht gelungen, sie haben sich irgendwo unter anderem
Namen niedergelassen und waren glücklich bis an ihr Ende. Übrigens, mein Vater
spricht schon davon, nach Salisbury zu fahren, wenn wir wieder zu Hause sind.
Es scheint dort eine Buchhandlung zu geben, die er unbedingt besuchen will. Und
eine attraktive Frau, die gerade ein Buch schreibt.“
„Ich weiß. Mom hat es mir erzählt.“
„Ich werde wohl mitkommen müssen, damit er sich nicht verfährt.“
„Nur deshalb?“ zog sie ihn auf.
„Klar.“ Robert lachte, nahm sie in die Arme und küßte sie lange und zärtlich.
Draußen im Moor heulte wehmütig ein Hund. Ein zweiter fiel ein. Jennifer und
Robert kümmerten sich nicht darum. Die Gefahr war vorbei.
ENDE