1. Wild griff der Wind in die lappigen Blätter der riesigen Farnkräuter und schüttelte sie kräftig durch. Bis auf den W...
39 downloads
845 Views
679KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
1. Wild griff der Wind in die lappigen Blätter der riesigen Farnkräuter und schüttelte sie kräftig durch. Bis auf den Waldboden schien er sie hinunterbiegen zu wollen, damit sie sich nie wieder aufrichteten, doch das mißlang. Immer wieder schwangen
die geschmeidigen Zweige wie Peitschen hoch und trotzten der Naturgewalt. Der Wind eilte weiter und tanzte quer über den freien Platz inmitten des Farnwaldes. Er fegte Staub vom Erdboden hoch und kehrte ihn wirbelnd zwischen den großen Wohnhütten des Eingeborenendorfes hin-
4 durch zum gegenüberliegenden Dikkicht, einer hohen, tief grünen, schier undurchdringlichen Mauer unter dem eisenfarbenen Nachmittagshimmel. Staub wehte den beiden Mädchen, die am Rand der Lichtung neben einem Erdloch kauerten, in die Gesichter. Leise schimpfend rieben sie sich die Augen, blinzelten ein wenig und griffen dann wieder nach den Stökken, mit denen sie das große Stück Fleisch in der Grube hin und her bewegten. Weiße Qualmschwaden stiegen aus dem Erdofen auf, trieben mit dem Wind aufs Dickicht zu und verbreiteten einen betörenden Duft. Der Duft stieg dem Wesen, das keine zehn Schritte von den Mädchen entfernt unbemerkt im Dickicht kauerte, geradewegs in die Nase. Die Augen, die die beiden schwarzhaarigen jungen Dinger seit einiger Zeit unausgesetzt beobachteten, schlossen sich für einen Moment. Genießerisch sog die Nase den Geruch des Schweinebratens ein, ganz tief, und die Empfindung wurde zu einem Impuls, der der geduckten Gestalt eingab, noch ein Stück näher an den Rand des Kahlschlages zu kriechen, behutsam und ohne ein verräterisches Geräusch zu verursachen. Die geröteten, gierigen Augen verfolgten jede Geste der Mädchen. Sie knieten dicht neben dem Wabernden weißen Rauch und stocherten mit ihren Stöcken in der Kochgrube herum. Ihre langen schwarzen Haare hingen weit herunter, schienen sie aber bei ihrer Tätigkeit nicht zu behindern. Nur manchmal strichen sie sich mit einer flinken Handbewegung eine Strähne aus dem Gesicht. Sie trugen Röcke aus Flechtwerk, unter denen ihre schlanken, wohlgeformten Figuren sehr gut zu erkennen waren. Ihre Gesichter waren
von ebenmäßiger, ausdrucksvoller Schönheit, ihre Gesten von natürlicher Anmut geprägt. Geschickt hatten sie den großen Schweinebraten und einige Bataten in frische Blätter gewickelt und auf die heißen Steine gelegt, die vorher von einigen Männern des Stammes in die Grube gebettet worden waren. Jetzt bereiteten sie sich darauf vor, mehr Laub in das Loch zu füllen und den Ofen mit Erde abzudecken, damit der vorgeschmorte Braten garen konnte. Der stumme Beobachter hockte jetzt unter den breiten Blättern des letzten Farns, der ihn noch von der Lichtung trennte. Der Wind bog die Blätter und ließ sie raschelnd wedeln. Der heimliche Gast riskierte es, von den Mädchen entdeckt zu werden, denn hin und wieder gaben die Zweige den Blick auf seine seltsame, unheimliche Gestalt frei. Aber die Mädchen waren mit ihrem Tun viel zu sehr beschäftigt, um einen Blick in die Runde zu werfen. Sie schienen auch nichts Böses zu ahnen, nicht hier, in der geborgenen Atmosphäre ihres Pahs, des Dorfes. Dann aber, ganz unvermittelt, knackte es im Gebüsch. Die Mädchen hatten gerade damit begonnen, Laub in den Erdofen zu streuen, um ihn anschließend mit Erde versiegeln zu können. Jetzt aber hielten sie inne, fuhren herum - und sahen das furchterregende Wesen, das da mitten aus dem Farndickicht heraus auf sie zusprang. Sie schrien auf. Die Kreatur hatte einen dicht mit Federn bewachsenen, gedrungenen Leib, auf dem - scheinbar halslos ein häßlicher kleiner Kopf mit winzigen Augen saß. Mehr vermochten die Mädchen in ihrem Entsetzen nicht zu registrieren. Schnell, unheimlich schnell, war der gräßliche Fremdling über ihnen.
5 Mit einem dumpfen, grunzenden Laut fuhr er zwischen sie, stieß sie weg, duckte sich und griff mit beiden Pranken in die Grube. Die Hitze, die aus dem Erdofen aufstieg, schien ihm nichts anhaben zu können. Behend wischte er das stark duftende Laub zur Seite, packte den großen Schweinebraten und hob ihn von den heißen Steinen. Die Mädchen richteten sich vom Erdboden auf. Sie hatten anfangs angenommen, der Feind aus dem Busch habe es auf sie abgesehen. Jetzt aber, als sie sahen, wem der Überfall wirklich galt, schlug ihre Angst in Wut um. Sie rappelten sich ganz auf, griffen nach ihren Stöcken und begannen, auf den gefiederten Leib einzuprügeln. Vom Dorf drang aufgebrachtes Gebrüll herüber. Unter den reich verzierten Vorbauten der Häuser waren die Gestalten tätowierter Männer aufgetaucht. Erst hatten sie sich verblüfft umgeschaut, aber jetzt hatten sie die Ursache der Mädchenschreie entdeckt und schwangen zornig ihre Keulen, Speere und Äxte. Die Mädchen hieben auf das Wesen ein und versuchten, ihm die Beute wieder abzunehmen. Aber es wirbelte keuchend zu ihnen herum, warf sie mit zwei erstaunlich schnellen Bewegungen auseinander und hastete zwischen ihnen hindurch zu den Farnen zurück, aus denen es aufgetaucht war. Den fettigen, warmen Braten in den Pranken, verschwand es im Dikkicht. Die Mädchen wollten ihm nachjagen, aber die Rufe der heranstürmenden Männer hielten sie zurück. Es war die Aufgabe der Krieger, den Eindringling zu stellen, ihn niederzumachen und die Beute ins Dorf zurückzuholen. Eine Meute von sechs, sieben Verfolgern stürmte an den Mädchen
vorbei. Wutentbrannt riß der vorderste, ein hochgewachsener und muskulöser junger Mann, seinen Speer hoch und schleuderte ihn auf die Stelle, an der die Farnblätter hinter dem Rücken des Fleischräubers zusammengeschlagen waren. Der Speer tauchte in das Gestrüpp, doch kein Wehlaut verriet, daß die harte Steinspitze auch wirklich getroffen hatte. Der junge Krieger zückte seine Streitaxt und sprang ins Gebüsch, bereit, sich auf den Feind zu werfen und ihm den Garaus zu bereiten. Anfeuernd riefen die Mädchen und die nachrückenden Männer seinen Namen: „Torana! Torana!" Torana wußte, daß der Unheimliche nicht weit gelangt sein konnte. Dennoch konnte er ihn auch jetzt, da er ins Farnkraut eingedrungen war, nirgendwo entdecken. Torana hetzte leicht gebückt weiter und hielt dabei auch nach seinem Speer Ausschau. Er wollte die Waffe wieder vom Boden auflesen, aber der Erdboden schien sie verschluckt zu haben. Sie war ebenfalls verschwunden. Vielleicht habe ich ihn doch erwischt, dachte der Eingeborene, vielleicht hat er den Speer im Leib stekken und sich irgendwo verkrochen. Gleich habe ich ihn. Er malte sich schon aus, wie er das Monstrum durch einen kühnen Axthieb endgültig zur Strecke brachte. Aber seine Erwartungen wurden enttäuscht. Sosehr er auch im Dikkicht suchte, er stieß nicht einmal auf eine Spur des Flüchtlings. „Torana!" riefen die Stammesbrüder hinter ihm immer wieder. „Torana!" Torana hörte nicht auf sie, er hastete weiter. Er allein wollte den Ruhm genießen, das gefiederte Ungeheuer erlegt zu haben. Die bewundernden Blicke der Mädchen wollte
6 er auf sich lenken, wenn er mit der Jagdtrophäe aus dem Urwald zurückkehrte. Tiefer und tiefer drang er in das Farngestrüpp vor. Wenn nicht der starke Wind gewesen wäre, der jeden Geruch fortblies, dann hätte er sich an dem starken Duft orientieren können, der von dem Schweinebraten verströmt wurde. So aber mußte sich Torana einzig auf seinen Spürsinn und einen Zufall verlassen, der ihm den Räuber doch noch in die Hand spielte. Vertraute Laute drangen aus dem Gesträuch, das Locken des Kiwis, das eigentümliche Schlagen des HuiaVogels, das Schnattern der Ziegensittiche. Aber Torana wollte keine bekannten Geräusche hören. Er schnitt eine Grimasse und lauschte angestrengt in den Dschungel, der sich vor ihm ausdehnte. Verdächtiges Knacken und Rascheln hoffte er zu vernehmen, Laute, die fremd waren und nicht hierher gehörten. Doch auch dieses Mal wurde er enttäuscht. Das Konzert der Buschvögel schien alle anderen Geräusche zuzudecken. Alle - bis auf eins. Aus der Ferne schob sich unterschwellig jenes Grollen heran, das Torana wie alle anderen aus dem Pah nur allzu gut kannte. Drohend nahte es und schien in der Luft stehenzubleiben. Auch die heftigen, zornigen Böen vermochten es nicht fortzuschieben. Feuerspeiende Götter, dachte Torana, tötet den Feind, verschlingt ihn mit euren brennenden Rachen, begrabt ihn unter glühenden Steinen! Plötzlich stieg ihm ein feiner, jedoch ausgesprochen intensiver Geruch in die Nase. Unverkennbar war diese Mischung aus Bratenfett und schwelenden Blättern! Torana blieb stehen und sicherte nach allen Seiten. Er glaubte, den Duft rechter Hand zu lokalisieren, und wandte sich in diese Richtung.
Jetzt hatte sich die fremde Kreatur doch verraten! Torana pirschte auf einen dichten, verfilzt wirkenden Gebüschgürtel zu. Er nahm die Streitaxt in die linke Hand und löste mit der rechten die schwere Keule vom Gurt. Mit hoch erhobenen Waffen näherte er sich dem Platz, an dem er den - wahrscheinlich verletzten Gegner vermutete. Zu spät erkannte er das Verhängnis. Die Falle öffnete sich für Torana, aber das Verderben nahte nicht von dem Punkt, auf den er zusteuerte, sondern von rechts. Als er sich gerade anschickte, in das Buschwerk einzudringen, schoß etwas Langes, Spitzes auf seinen Körper zu. Er konnte nicht mehr ausweichen. Siedend heiß durchfuhr in der Schmerz, er war übermächtig und zwang ihn in die Knie. Torana sank auf die linke Seite seines Körpers. Das letzte, was er begriff, war die Tatsache, daß sein eigener Speer ihn getroffen hatte. Die Gestalt des Gefiederten erhob sich aus dem Dickicht, aber Torana sah sie schon nicht mehr. Blicklos waren seine Augen auf den Feind gerichtet. Aus dem Farnwald drangen die Rufe seiner Stammesbrüder herüber: „Torana! Torana, wo steckst du? So antworte doch!" Sie ahnten nicht, daß Torana nie wieder zu ihnen sprechen würde. * Wieder einmal - wie so oft während der letzten Tage - hatte der Seewolf die große Karte aus der Schublade seines Pults hervorgeholt und an die Seitenwand der Kapitänskammer geheftet. Nachdenklich blickte er auf die Zeichnung, die er selbst mit viel Akribie angefertigt hatte. Er hatte sich auf einem Stuhl niedergelassen,
7 und seine Finger spielten mit dem Ladestock einer Muskete. Ben Brighton, sein Erster Offizier und Bootsmann, hatte sich zwei Schritte von ihm entfernt auf den Rand der Koje gehockt. Er mußte die Beine fest gegen den Kammerboden stemmen, um nicht heruntergeworfen zu werden, denn die „Isabella VIII." stampfte und schlingerte in der unruhigen See. „Also, ich verstehe wirklich nicht, was mit dir los ist", sagte Ben ohne Umschweife. „Sonst bin ich immer der Pessimistischere von uns beiden, aber diesmal..." Hasard blickte zu ihm hinüber. „Nun hör mal gut zu. Ich habe meine guten Gründe dafür, nicht auf eine Wetterbesserung zu hoffen. Wir befinden uns jetzt in der Nähe des vierzigsten Breitenkreises, wenn mich nicht alles täuscht, und die ,Brüllenden Vierziger' dürften hier wohl kaum friedlicher als anderswo ausfallen." „Sicher. Aber wir werden trotzdem keine Stürme abreiten müssen, denn schon bald stoßen wir wieder auf Land." Ben gab sich redlich Mühe, überzeugend und zuversichtlich auszusehen, aber er brachte doch nur ein verunglücktes Grinsen zustande. Der Seewolf sah wieder zur Karte und schob seine Unterlippe ein wenig vor. Schweigen breitete sich in dem Schiffsraum aus, unterbrochen nur vom Knarren der Verbände und dem Rauschen des Seewassers an den Bordwänden. „Du hast auch deine Zweifel, gib's ruhig zu", sagte Hasard schließlich. „Wir sind jetzt sieben Tage unterwegs, und der verdammte Südwestwind hat uns immer weiter von unserem Kurs abgebracht. Nach Süden wollten wir segeln, aber wir haben es doch nicht geschafft, gegen den Wind anzukreuzen. Er hat uns nach Südosten gedrückt - hierher." Er wies mit
der Spitze des Ladestocks auf die Karte, dorthin, wo noch ein großes weißes Feld mitten in der Südsee prangte. „Hier ist kein Land, mein Lieber, nur Wasser." „Augenblick mal." Ben stand von der Koje auf. Er trat vor die Karte und glich dabei die schwankenden Schiffsbewegungen durch entsprechende Beinarbeit aus. Mit dem Zeigefinger tippte er auf den Küstenstreifen, den der Seewolf zuletzt eingezeichnet hatte. Viele komplizierte Berechnungen waren dieser Arbeit vorausgegangen, Hasard hatte es sich nicht leichtgemacht. „Willst du jetzt etwa auch bezweifeln, daß wir die Ostküste des Südlandes entdeckt haben?" fragte Ben. „Drücken wir es mal anders aus", erwiderte der Seewolf. Er begegnete wieder Bens Blick, und in seine eisblauen Augen war ein fast kampflustiger Ausdruck getreten. „Ich schließe nicht aus, daß wir möglicherweise auf einen neuen Kontinent gestoßen sind." „Du solltest stolz darauf sein." „Das bin ich auch." „Letzten Endes hatte de Larra sich also doch nicht getäuscht, so verrückt und hinterhältig er auch war." Ben sprach von dem spanischen Schiffskommandanten, dem sie auf der Südseeinsel Tutuila begegnet waren - und der Hasard junior und Batuti sehr schwer verletzt hatte und um ein Haar die „Isabella" samt ihrem Kapitän und ihrer Crew entführt hätte. „Hast du das Logbuch des Satans genau gelesen?" erkundigte sich Hasard. „Wort für Wort. Sonst hätte ich dich nicht darum gebeten." „De Larra war nicht nur ein blindwütiger Fanatiker, sondern auch ein Phantast." „Aber die Positionsangaben ..." „Die sind von erstaunlicher Präzi-
8 sion." „Obwohl er das Südland nie erreicht hat!" stieß Ben hervor. Sein Tonfall war jetzt fast leidenschaftlich. „Schön, es ist erstaunlich, wie exakt die Darstellungen de Larras ausgefallen sind", sagte der Seewolf noch einmal. „Daran will ich ja auch gar nicht rütteln. Laß dir nur eins gesagt sein: Dieses Traumland existiert nicht in der Form, wie die meisten von uns es sich vorstellen." Ben kratzte sich am Hinterkopf. Es war eine Geste der Verlegenheit und Verwunderung. „Aber du hast doch wie wir die merkwürdigen Tiere gesehen, die es nur auf diesem neuen Erdteil und sonst nirgendwo gibt. Tiere, die ihre Jungen in einem Leibbeutel tragen und gewaltige Sprünge vollführen. Pelztiere mit Schnäbeln, seltsame Bären und komische kleine Wölfe. Und dann erst die Eingeborenen mit ihren krummen Wurfhölzern! De Larras Phantasie hat zwar vor ihrer genauen Beschreibung haltmachen müssen, aber die Theorie von einem Kontinent mit heißem bis gemäßigtem Klima und einer absonderlichen Tier- und Pflanzenwelt sowie nackten Wilden trifft in allen Punkten zu." „Wir reden immer noch aneinander vorbei", sagte Hasard unbeirrt. „Paß auf!" Mit seinem Zeigestock folgte er dem Verlauf der neuen Küste und hielt dort inne, wo die Linie aufhörte und das weiße Nichts begann. „Wenn wir es fertiggebracht hätten, in Sichtweite des Ufers zu bleiben, dann bin ich sicher, daß wir das Land südlich des vierzigsten Breitengrades - vielleicht auch knapp davor - nach Westen hätten zurückweichen sehen." „Nach Westen?" fragte Ben verblüfft. „Anders ausgedrückt, ich glaube nicht daran, daß wir eine Festland-
masse vor uns haben, die sich riesengroß von hier bis über den südlichen Pol spannt." „Sondern?" „Der rätselhafte Kontinent ist kleiner als beispielsweise die Neue Welt. Vielleicht ist er noch nicht mal so groß wie Europa." Hasard zeichnete die imaginäre Küste des Erdteils weiter, so wie er sie sich vorstellte. Auf der Karte entstand die Andeutung eines Ovals, das losgelöst von allen anderen Ländern südöstlich von Kalimantan, Java und Sumatra in der Südsee schwamm. Ben sagte: „Aber - das ist ja nicht zu fassen." „Doch. Es ist eine logische, nüchterne Erklärung. Und das Ende eines Traumes." „Wie kannst du so sicher sein?" fragte Ben verwirrt. „Wir haben doch keine Beweise, daß es so ist, wie du sagst." „Ich habe die Muschelkarten der Polynesier, die etwas anderes aussagen als das Logbuch des Satans", erwiderte der Seewolf. „Und auch ich habe meine Theorie von den Dingen entwickelt - wie Don Mariano José de Larra und alle anderen Abenteurer, die bis in diese Gefilde vorgedrungen sind." Ben räusperte sich, dann sagte er: „Kann ich mal den Stock haben?" Er nahm den Ladestock aus der Hand seines Kapitäns entgegen, wies damit auf den verlorenen Punkt, an dem sie sich nach Hasards Positionsberechnungen zur Zeit befanden und schnitt eine entgeisterte Grimasse. „Keine zusammenhängende Kontinentalmasse im Süden also. Ja, wohin segeln wir dann? Hat unser Unternehmen überhaupt noch einen Sinn?" „Ich hoffe nur darauf, daß der Wind bald dreht." „Und? Segeln wir dann nach Westen?"
9 „Ja. Wenn nicht, haben wir eines schönen Tages vielleicht wieder die paradiesischen Inseln Rarotonga, Tutuila oder Tahiti vor uns", sagte Hasard mit galligem Humor. „Aber, so friedlich das Leben dort auch verläuft, ich schätze, daß keiner von uns gesteigerten Wert darauf legt, noch vor Ablauf dieses Jahres 1590 wieder dorthin zurückzukehren." „Das ist mal sicher", brummte Ben. Seine Hand hielt immer noch den Ladestock der Muskete, und die Spitze des Stocks wies nach wie vor auf die Position der „Isabella". „Herrgott noch mal, gibt es denn hier wirklich kein Land?" „Kein Festland, Ben, das habe ich dir jetzt oft genug gesagt." „Aye, Sir", murmelte der biedere, stämmige Mann - und war doch nicht vollends überzeugt. „Aber dann laß uns wenigstens eine mickrige Insel finden, in deren Bucht wir verholen können, ehe es richtig losstürmt." „Hoffentlich wird dein Wunsch erhört", sagte der Seewolf. Wenig später, als sie wieder an Deck standen, ließ ein heller Ruf aus dem Großmars Ben Brighton zu seinem Kapitän herumfahren und siegesgewiß grinsen. „Deck!" schrie Bill, der Moses, hoch über ihren Köpfen. „Land Backbord voraus! Land ho, Sir, im Osten! Es ist ein dicker, breiter Streifen!" „Drück dich gefälligst deutlicher aus, du einarmiger Kakerlak!" brüllte der Profos zum Großmars hoch. „Wie oft soll ich dir das noch sagen, du Stint? Muß ich dir das erst noch wieder beibiegen, wie man ordentlich meldet, was, wie?" „Sir!" rief Bill verzweifelt. „Ich weiß nicht, wie ich mich besser ausdrücken soll." Hasard hob den Kopf und legte die Hände als Schalltrichter an den Mund. „Unser Profos will wissen, ob es eine Insel oder Festland ist, Bill!
Nun?" „Das kann ich noch nicht erkennen! Wie es sich ausdehnt, könnte es Festland sein, aber ..." „Holla!" brüllte Ed Carberry. „Da haben wir also wieder den neuen Kontinent erreicht, Freunde! Na, Leute, was meint ihr, was gibt es diesmal für Überraschungen? Kriegen wir vielleicht fünfbeinige Schildkröten zu sehen? Oder Wasservögel mit Leopardenfell? Oder glotzäugige Wilde mit Hakenprothesen? Was, Matt Davies? Was meinst du?" „Ich finde das nicht witzig", antwortete Matt Davies, der Mann mit der Eisenhakenhand. „Kurs Osten!" befahl der Seewolf. „Wir halten auf das Land zu!" „Abfallen!" dröhnte Carberrys mächtiges Organ über Deck. „Habt ihr Schlick in den Ohren, ihr Bordratten? Unsere alte Lady soll mit dem Achtern zum Wind, ohne daß sie sich dabei die Beine bricht, kapiert? Wenn ich das schon sehe, wie lahmfüßig ihr euch ... He, Mister Bowie, ich will dich springen sehen! Und dich auch, Mister Grey! Reißen hier jetzt neue Sitten ein, oder was ist los? Zur Hölle, wo stecken die beiden Bengel? Wo, zum Teufel, haben sich die Rübenschweinchen verkrochen?" Das Kombüsenschott flog auf, und Philip und Hasard, die Söhne des Seewolfes, streckten die Köpfe hervor. „Hier, Sir! Du selbst hast uns doch zum Kombüsendienst eingeteilt, Mister Carberry!" Zum Glück gingen ihre Worte halb im Heulen des Windes unter, und der Profos wischte jede Bemerkung ohnehin durch eine herrische Geste fort. „Rollt an!" brüllte er. „Ihr werdet jetzt gebraucht, ihr Satansbraten, und ich schwöre euch, ich zieh euch die Haut in Streifen ab, wenn ihr
10 nicht spurt!" Aye, Sir!" riefen die Jungen. ,,Kurs Osten liegt an, Sir!" schrie Pete Ballie, der Rudergänger. „Gut", sagte der Seewolf, der mit Ben Brighton das Quarterdeck geentert hatte. „Dann wollen wir uns mal nach einer geeigneten Bucht umsehen." Er hatte sein Spektiv auseinandergezogen und hob es an, um das näher rückende Land in Augenschein zu nehmen. „Mein Stoßgebet ist also doch erhört worden", sagte Ben. „Und nun, ich will dir nicht widersprechen, aber - könnte es nicht doch möglich sein, daß wir erneut Festland vor uns haben?" „Ich bin nicht bereit, über diese Frage Wetten abzuschließen", sagte Hasard. Seine Miene hatte sich ein wenig verhärtet. Ben Brighton zog es vor, vorläufig zu schweigen. 2. Erschüttert standen die tätowierten Männer vor Toranas Leichnam. Sie senkten die Köpfe und stimmten einen klagenden Singsang an. Einige brachen große Farnwedel ab und breiteten sie über dem Körper des jungen Kriegers aus. Eine Zeitlang betrauerten sie auf diese Weise den jähen Tod ihres Stammesbruders, dann setzte ein Teil der Gruppe die Verfolgung des Unheimlichen fort, während zwei Männer als Wachtposten bei Torana zurückblieben und einer in den Pah zurückkehrte, um die Hiobsbotschaft zu überbringen. Wie auf ein Zeichen hin war das Konzert der Urwaldvögel verstummt. Das Pfeifen und Jaulen des Windes und das Grollen, das aus dem Bergland drang, waren jetzt überdeutlich zu hören. Sie verstärkten die Atmosphäre des Grauens und des
Todes, die sich wie eine Klaue über den Busch gesenkt hatte und ihn nicht mehr losließ. Keine hundert Schritte von Toranas Leiche entfernt, stießen die Eingeborenen im dichten Farn auf die Reste des geraubten Schweinebratens. Ein paar Knochen, anscheinend achtlos auf dem Boden verstreut, mehr war von dem in großer Hast verzehrten Mahl nicht übriggeblieben. Haßerfüllt traten die Eingeborenen nach den Knochen, als könnten sie den Gegner dadurch verletzen oder mit einem tödlichen Fluch belegen. Sie streiften suchend durch die Farne und forschten nach Spuren. Ein baumlanger, bärtiger Krieger stieß plötzlich einen zischenden Laut aus und winkte dem Mann zu, der sich nicht weit entfernt hinter ihm befand. „Warewa", sagte er. „Hier ist eine Fährte. Das muß er gewesen sein." Er beugte sich bis auf den Untergrund hinunter und tastete die Spur mit den Fingern ab. Der andere rückte näher. „Hatara", raunte er dem Bärtigen zu. „Wir werden ihn finden. Wir töten ihn und verbrennen ihn in der Erdgrube, aus der er das Schwein gestohlen hat." „Ja. Sieh doch, er hat Füße wie ein Mensch." Warewa schob sich neben seinen Stammesbruder und betrachtete in einer Mischung aus Neugierde und Abscheu die Abdrücke im weichen Boden. „Das muß das Ungeheuer sein, von dem die anderen Stämme uns berichtet haben", sagte er. „Der Groll der Götter hat ihn zu uns geschickt. Er ist ein Dämon, der immer wieder das Dorf angreifen wird, wenn wir ihn nicht durchbohren und erschlagen." „Warewa, Hatara!" riefen jetzt die anderen Krieger. „Wo seid ihr?"
11 „Hier", antwortete Hatara. „Kommt und seht euch an, was ich gefunden habe." Wenig später eilten sie weiter. Sie waren zu fünft, und jeder hatte einen Speer, eine Keule und eine Streitaxt. Jeden Augenblick rechneten sie mit einem Angriff des scheußlichen Feindes, denn weit konnte dieser nicht mehr sein. Sie schritten in enger Front durch den Farnwald und blickten sich immer wieder sichernd nach allen Seiten um. Doch die erwartete Attacke blieb aus. Erst mußten sie den erhöht liegenden Rand des Farnwaldes erreichen und auf die nur flach bewachsene Kuppe eines Hügels klettern, um sich davon zu überzeugen, daß sich der Unheimliche nicht doch etwa in Luft aufgelöst hatte. Plötzlich hatten sie ihn vor sich und sie alle fühlten sich von einem eisigen Schauer befallen. Wie nun, wenn das Wesen übernatürliche Kräfte hatte? Was geschah, wenn es jäh stehenblieb, herumfuhr und sie entdeckte? War die Kreatur etwa imstande, Feuer zu speien? Hatara stellte sich diese Frage, aber er sann nicht weiter über die mögliche Antwort nach. Geduckt lief er dem Wesen nach. Torana war einer seiner besten Freunde gewesen, und er, Hatara, wollte es jetzt sein, der den jungen Krieger rächte. Das Gelände stieg weiter an, hier und da ragten Felsbrocken aus Gras und Farnbüscheln hervor. Hatara wußte, daß bald der Platz erreicht war, von dem aus man über ein geschwungenes, bewaldetes Tal hinweg bis zu den höchsten Bergen blikken konnte - dorthin, wo nach der Vorstellung der Eingeborenen die Götter wohnten. Nicht alle Berge hatten eine richtige Spitze. Viele hatten ein „Maul", wie die Männer und Frauen des Pahs zu sagen pflegten, und daraus stieg
Rauch und manchmal auch Feuer auf. Jeden Tag konnte man es daraus grollen und donnern hören. Das war in der Mythologie der einfachen Menschen die „Sprache der Götter". Wenn irgend etwas den Zorn der Götter erregte, so begannen sie, Feuer und flüssiges Gestein zu spucken. Dann bebte die Erde, und gewaltige rotglühende Massen wälzten sich von den Bergen zu Tal. Passierte ein solcher Ausbruch, flohen die Eingeborenen aus ihren Pahs, um sich mit ihren großen Booten aufs Wasser zurückzuziehen. Sie warteten, bis das Wüten der Götter vorbei war, und kehrten erst wieder an Land zurück, wenn sich die glühenden Massen nicht weiterbewegten und erkalteten. Wenn sie viel Glück hatten, war ihr Dorf verschont geblieben. Der Boden unter Hataras Füßen war warm geworden. Das Grollen klang jetzt näher, und plötzlich war auch das Zischen da, das die Eingeborenen kannten und tunlichst mieden. Aus einem Gebüsch schien plötzlich ein Dampfstrahl aufzusteigen. Kochend heiß blies er in den graublauen Himmel hinauf, stand eine Weile wie ein Monument da und fiel dann wieder in sich zusammen. Hatara rechnete damit, daß der Gefiederte, dem er jetzt dichter auf den Fersen war, sich umdrehen würde. Aber wider Erwarten tat er es nicht. Noch hatte er die Verfolger nicht bemerkt, das Zischen und Blasen der heißen Springquelle schien ihn nicht im geringsten zu beeindrucken. Ein Dämon, dachte Hatara, er ist ein Dämon. Eine neue Hügelkuppe war erreicht, dahinter fiel das Gelände ein bißchen ab und stieg wenig später wieder an. Hatara verlor den Unheimlichen für kurze Zeit aus den Augen, als dieser über die Kuppe
12 hinweg war. Dann aber hatte auch er den höchsten Punkt der Erhebung hinter sich und lief in die Senke hinunter, die sich vor ihm öffnete. Seine Stammesbrüder folgten ihm in zehn, zwölf Schritten Entfernung. Farnbüschel und Steinquader füllten die Senke aus, dazwischen stiegen überall die zischenden Fontänen auf. Es kochte und brodelte, an einigen Stellen war ein unangenehmes Schmatzen und Blubbern zu vernehmen. Gefährlich waren die heißen Wasser- und Schlammlöcher, denn wenn man zu hart an ihren Rand trat und ausrutschte, konnte man hineinfallen und darin umkommen. Aber nicht nur deshalb galten Plätze wie dieser für die Eingeborenen normalerweise als tabu. Es gab noch einen zweiten Grund. Die Bewohner des Pahs waren fest überzeugt davon, daß in jeder Aushöhlung ein kleiner Dämon hauste. Die Götter der Berge, so hieß es in den schaurigen Geschichten der Dorfalten, hatten die Kreaturen vor langer Zeit herabgesandt, damit sie das Leben der Menschen aus der Nähe überwachten und ihnen entweder behilflich waren oder sie für ihre Taten straften. Es gab gute und böse Dämonen. Keiner von ihnen wollte in seiner Ruhe gestört werden. Es galt als todeswürdiges Vergehen, sie zu belästigen. Aber Hatara lief trotzdem weiter, bis in die Senke hinunter. Der Abstand zu dem Gefiederten schrumpfte jetzt rasch zusammen. Wollte das Monstrum etwa in ein Erdloch schlüpfen? Wie auch immer, Hatara ließ nicht von ihm ab. Einen bösen Dämon zu erschlagen war richtig, wenn dieser einen Pah überfiel und zu einer wirklichen Gefahr wurde. Und dieser hier mußte ein böser Dämon sein, denn er hatte Torana mit dessen eigenem
Speer umgebracht. Jäh wandte der Schreckliche seinen Kopf und blickte über die Schulter zu Hatara zurück. Hatara stieß einen Kriegsruf aus. Er schwang seine Axt und hob seinen Speer. Noch nie hatte er eine Fratze von derartiger Häßlichkeit gesehen. Feuerrote Augen starrten ihn an, ein Maul mit schadhaften Zähnen klaffte auf. Ein furchtbares Gebrüll drang aus diesem Maul hervor, und Hatara glaubte, nun würde ihn ein alles vernichtender Feuerstrahl treffen, aber trotzdem rannte er weiter, denn er dachte an den armen Torana und daran, auf welch gräßliche Weise sein Leben beendet worden war. Der Gefiederte, eine ungeschlachte, gebückte Gestalt mit kurzen, krummen Beinen, verschwand hinter dem aus einem der heißen Löcher aufsteigenden Dampf. Keine Feuerzunge stach Hatara entgegen. Der Dämon schien eben doch nicht alle Waffen der Verdammnis und Finsternis zu besitzen - und dieser Umstand ermutigte den bärtigen jungen Eingeborenen. Er tauchte in die Dampfwolke und sah den Furchtbaren wie eine schemenhafte Erscheinung vor sich. Wild schleuderte er seinen Speer. Hinter sich vernahm er das Kriegsgeschrei der vier anderen. Am lautesten rief Warewa, und er schien Hatara auch am nächsten zu sein. Der Unheimliche wich mit einer Behendigkeit, die Hatara ihm nicht zugetraut hatte, dem Speer aus. Haarscharf schoß die mörderische Waffe an seinem Federkleid vorbei. Das Wesen riß beide Arme hoch, und erst jetzt erkannte Hatara, daß es eine Axt und eine Keule in den Pranken hielt. Toranas Waffen! Die Axt wirbelte durch die Luft. Hatara handelte geistesgegenwärtig und ließ sich fallen. Er zog den Kopf
13 ein und preßte sich so flach wie möglich auf den heißen Untergrund. Tatsächlich huschte die Streitaxt über seinen Kopf weg. Aber dicht hinter sich hörte Hatara mit einemmal einen gurgelnden Laut. „Warewa!" stieß er entsetzt aus. „Warewa ist verletzt!" rief ein anderer Krieger. Hatara erhob sich voll blindem Zorn und Haß vom Boden und hastete weiter. Der Gefiederte hatte sich nach dem Axtwurf abgewandt und drohte jetzt im dichten weißen Dampf der heißen Quellen unterzutauchen. Hatara wollte wenigstens so weit aufholen, daß er dem Ungeheuer die Streitaxt mit sicherem Wurf in die Rückenpartie setzen konnte. Diesmal wollte er ihn nicht verfehlen. Diesmal stirbst du, dachte er wütend. Der Wind blies durch die Senke und zerfetzte die Dampfschwaden, so daß die plumpe Gestalt für kurze Zeit wieder klar zu erkennen war. Hatara zögerte aber noch, die Axt zu schleudern. Er brachte sich durch zwei, drei lange Sätze dem Wesen näher, holte aus und wollte schon den todbringenden Wurf vollführen - da hüllte ihn plötzlich wieder dichter weißer Nebel ein. Er fluchte und stürmte weiter. Die Konturen des Feindes zerflossen im Dampf. Hatara hatte Angst, daß er ihn nun ganz aus den Augen verlor, daß der Dämon in seiner Behausung verschwand - und er beschleunigte seine Schritte. Die Hitze nahm zu. Eine wabernde Woge schien Hatara gefangenzusetzen. Er wollte rasch seinen Lauf stoppen, hatte aber zuviel Schwung. Jäh wurde ihm bewußt, in welche Gefahr er sich begeben hatte. Der Gefiederte war nicht mehr zu sehen. Hatte er sich unsichtbar gemacht? Hatara stellte verzweifelt fest, daß der andere den Dampf ge-
schickt als einen Verbündeten auszunutzen verstand. Er hatte ihn, Hatara, auf meisterhafte Art an der Nase herumgeführt. Heiß und weich war der Untergrund plötzlich. Hatara wollte sich herumwerfen und weglaufen, aber dazu war es zu spät. Der Schlamm griff nach ihm. Er brach mit beiden Beinen in das Loch ein, in das er hineingestolpert war. Er schrie auf. Gierig zog ihn der kochende Schlamm in die Tiefe, und dort unten warteten die bösen Dämonen und alle Teufel der Hölle darauf, ihn zu vertilgen. „Hilfe!" schrie Hatara in panischer Angst. Seine Stammesbrüder tasteten sich durch den Nebel voran, hatten aber selbst Furcht, von dem Unheimlichen angegriffen zu werden oder in eine der Quellen zu treten. Hatara sah eine Gestalt aus dem Dampf hervorwachsen. Sie schob sich an den Rand des Schlammloches und schien sich nach ihm zu bücken. „Zieh mich heraus!" brüllte Hatara. Er war bereits bis zu den Hüften eingesunken. Die breiige, übelriechende Masse heizte seinen Körper auf. Hatara verspürte glühende Schmerzen. Er schlug mit der Streitaxt und mit der Keule um sich, daß der Schlamm aufspritzte, aber es nutzte ihm nichts, im Gegenteil, er schaukelte sich selbst nur tiefer in den kochenden Sumpf. Die Gestalt traf keine Anstalten, ihn zu retten. Keine hilfreichen Hände streckten sich dem Eingeborenen entgegen. Hatara glaubte, durch wogende rote Schleier ein knappes, befriedigtes Nicken des gefiederten Dämonenkopfes wahrzunehmen und den Anflug eines triumphierenden Grinsens zu sehen.
14 Brüllend hieb er mit der Keule nach dem Wesen, doch es zog sich rechtzeitig genug zurück und verschwand wieder in den zischenden Dämpfen. Der Zorn der Dämonen verschlang den Krieger Hatara, ehe seine Stammesbrüder ihn finden konnten. * Hart über Backbordbug gekrängt, lief die „Isabella" nach Osten. Hasard hatte anfangs auch den letzten Fetzen Zeug setzen lassen, um schnell voranzukommen, aber jetzt ließ er das Großmarssegel und das Vormarssegel wieder aufgeien, weil die Küste nur noch eine halbe Meile entfernt war und der Wind aus Südwesten sie auf Legerwall zu drücken drohte. „Abfallen!" befahl er wieder. Hatte die Galeone den Wind vorher raumschots gehabt, so lag sie jetzt mit nordöstlichem Kurs platt vor ihm und pflügte durch die aufgewühlte See am Ufer des neuentdeckten Landes entlang. Der Seewolf hatte nach einigem Beobachten durchs Spektiv festgestellt, daß die Küste nicht von Norden nach Süden verlief, sondern von Nordosten nach Südwesten. Das bedeutete, daß die „Isabella" auf ihrem neuen Kurs praktisch parallel zum Ufer segelte. Vor der steifen Brise lief sie zwar immer noch beachtlich schnelle Fahrt, doch die Gefahr, zu nah ans Ufer zu geraten und auf eine Untiefe oder gar auf den Strand zu laufen, war beseitigt. „Gary!" rief der Seewolf von der Querbalustrade des Quarterdecks zur Kuhl hinunter. „Du enterst in den Vormars auf und hältst mit Bill zusammen Ausschau nach einer Bucht!" „Aye, aye, Sir!" schrie Gary Andrews. Mit ein paar Sätzen war er bei
den Wanten des Fockmastes und hangelte in den Webeleinen nach oben. Vier Augen sahen mehr als zwei, das war eine oft bewiesene Tatsache, und sie mußten sich beeilen, um in eine schützende Bucht zu verholen. Drohend hatten sich im Südwesten schwarze Wolken über der Kimm zusammengeballt. Bald würden sie heran sein, gigantische Unglücksboten, die ein schweres Wetter ankündigten und einleiteten. Hasard setzte nach einem langen Blick auf die Küste, die jetzt wie zum Greifen nah an Steuerbord der „Isabella" lag, das Spektiv ab und wandte sich an Ben Brighton. „Ich wäre gern ganz an der Küste entlanggesegelt, um die Diskussion ein für allemal zu beenden", sagte er. „Aber das muß ich mir für später aufsparen. Wir müssen schleunigst einen Ankerplatz finden, das hat absoluten Vorrang. So bleibt dir und den anderen vorläufig also der Zweifel, ob wir Festland oder eine Insel vor uns haben." „Wie?" rief Old O'Flynn, der sich ihnen genähert hatte. „Hast du denn keine Zweifel?" Der Seewolf warf ihm einen kühlen Blick zu. „Ist dir das noch nicht aufgegangen, Donegal?" „Nein. Ich hab doch keine Ahnung von dem, was du so denkst, Sir", gab der Alte bissig zurück. „Jetzt hör aber auf", sagte Ben Brighton. „Richtig ist doch wohl, daß du neulich nicht richtig zugehört hast, als Hasard uns allen die Karte zeigte und über das Südland sprach." „Soll das heißen, daß du mich für bescheuert hältst, Mister Brighton?" „Das habe ich nicht gesagt." „Aber gedacht!" „Mister O'Flynn", erklärte Ben frostig. „Einige Leute sagen dir zwar hellseherische Fähigkeiten nach, aber in unseren Gedanken kannst du nicht lesen, das hast du eben selbst
15 zugegeben." Old O'Flynn stützte sich mit mürrischer Miene auf seine Krücke und fixierte den Bootsmann. „So? Hab ich das? Also gut, kann schon sein. Aber eins steht mal fest. Du hast auch nicht richtig aufgepaßt, alter Freund, sonst würdest du nicht dauernd von einem Festland faseln. Wie kann man bloß so verbohrt sein, Mister Brighton?" „Verbohrt? Hör mal, du glaubst doch auch, daß wir hier wieder die Küste des Südlandes vor uns haben, oder?" rief Ben erbost aus. „Unsinn", erwiderte der Alte grinsend. „Ich bin der Meinung, daß es 'ne Insel ist, 'ne ziemlich große zwar, aber eben eine Insel." Ben schien um ein paar Nuancen dunkler im Gesicht zu werden. „Wer sagt dir denn das, Donegal?" stieß er gepreßt hervor. „Hast du etwa Beweise für deine Behauptung?" „Nein. Nur hab ich keine Planke vorm Kopf." „Ich verbitte mir das ..." „Aufhören", sagte der Seewolf scharf. „Jetzt langt's mir aber. Wir kriegen uns wegen dieses verrückten Themas noch in die Wolle, aber das lasse ich nicht zu. Wer von jetzt an wieder darüber herumdebattieren will, der kriegt es mit mir zu tun. Das gilt auch für dich, Donegal." „Aye, Sir", brummelte der Alte. „Aber darf ich mal was anderes sagen?" „Wenn es etwas Vernünftiges ist bitte." „Etwas Vernünftiges? Hol's der Teufel, was ich sage, ist immer vernünftig", erklärte Old O'Flynn. „Auf was ich dich hinweisen will, ist folgendes: Sieh dir diese Landschaft mal genau an. Den verdammten Urwald lasse ich ja noch gelten. Aber hast du dir auch die Berge angeschaut?" „Ja."
„Manche haben keinen richtigen Gipfel." „Es könnten Vulkane sein." „Eben, und wir segeln geradewegs in des Teufels Küche, Sir. Oh, mir ist gar nicht wohl zumute bei dem Gedanken. Wollen wir wetten, daß wir Feuer und Steine um die Ohren gefetzt kriegen, sobald wir ..." „Ich wette nicht", unterbrach der Seewolf ihn barsch. „Und deine Schwarzmalereien sind mal wieder außerordentlich anregend. Wir suchen nur eine Bucht zum Ankern, das ist alles, und es kann uns ziemlich gleichgültig sein, ob in der nächsten Zeit ein Vulkanausbruch stattfindet oder nicht." Als hätte er es berufen, rollte in diesem Augenblick grollender Donner von den Bergen zur Küste hinunter und ließ die Männer der „Isabella" aufhorchen. Ben Brighton blickte verdutzt zu Old O'Flynn, und der Alte grinste wissend. Old Donegal wollte wieder eine seiner sarkastischen Bemerkungen von sich geben, doch er kam nicht mehr dazu. Denn jetzt meldete Gary Andrews vom Vormars: „Bucht ho! Wir haben sie Steuerbord voraus!" Hasard hob das Spektiv vors Auge und spähte hindurch. Wenig später konnte auch er den geschwungenen Einschnitt im Ufer erkennen, der sich hinter einer Landzunge, an der sie soeben vorbeisegelten, öffnete. Die Bucht hatte eine recht große Einfahrt, breit genug, um zwei Schiffe von der Größe der „Isabella" passieren zu lassen. Tiefblau glitzerte ihr Wasser im verblassenden Licht des Spätnachmittags. Die Wellen bildeten ein gleichmäßiges Muster und kräuselten sich anmutig zwischen den tief grün und dicht bewachsenen Ufern, die sich wie ein schützender Ring um die Fluten schlossen. Der schwerere Seegang des offenen Wassers rollte an der Bucht vorbei, ohne
16 Einlaß zu finden. „Fünf Strich Steuerbord!" rief der Seewolf. „Wir luven und steuern die Bucht an! Sie scheint für unsere Zwecke genau das richtige zu sein!" 3. Als die „Isabella" beigedreht in der geräumigen, fast geometrisch runden Bucht lag, stieß Bill plötzlich einen überraschten Ruf aus. „Sir!" Er hatte sich hoch aufgerichtet und beugte sich weit über die Segeltuchumrandung des Großmars. „Ich sehe Dampf und Wasserfontänen im Inneren der Insel - ich meine, an Land, Sir!" „Schon gut!" rief Hasard zu ihm hinauf. „Steigen die Fontänen aus den Vulkanen auf?" „Nein, Sir. Sie liegen tiefer. Im Hügelvorland, gar nicht weit von uns entfernt." „Wir werden schon noch sehen, was es damit auf sich hat", meinte der Seewolf. Er gab Carberry ein Zeichen, und dieser fuhr sofort auf seine gewohnt freundliche Art die Crew an: „Fallen Anker, ihr blinden Seegurken! Wird's bald, oder muß ich euch das auch vorexerzieren?" Als der Stockanker an seiner Trosse ausrauschte, wandte Old O'Flynn dem Seewolf wieder sein verkniffenes, zerknittertes Gesicht zu. „Ich schwöre dir, es sind Wilde, die da oben auf den Hügeln ein Feuer entfacht haben", sagte er. „Vielleicht braten sie einen ihrer Stammesgenossen am Spieß. Oder sie warten darauf, daß ihnen einer von uns in den Topf springt." „Donegal, nicht alle Wilden sind auch gleich Kannibalen", gab der Seewolf so beherrscht wie möglich zu bedenken. „Aber ich hab so ein verdächtiges
Zwacken in meinem Beinstumpf", sagte der Alte. „Das hat nichts Gutes zu bedeuten. Glaub mir, ich will ja nicht unken, aber meine Gefühle haben mich noch nie getrogen." „Donegal, angenommen, du hast recht, und wir müssen uns wirklich mit Eingeborenen herumschlagen, was tust du dann?" Plötzlich grinste Old O'Flynn faunisch. „Ist doch klar. Dann holze ich kräftig mit. Was denn wohl sonst? Ho, ich werde meine alte Haut so teuer wie möglich verkaufen." „Sir!" schrie Gary Andrews von seinem luftigen Posten. „Ich kann große Vögel erkennen, die die Hügel hinunterlaufen! Himmel, das sind ja Riesenbiester!" „Was denn, wie denn?" brüllte der Profos. „Etwa solche Burschen wie auf dem neuen Kontinent?" „Sie sind noch größer!" rief Gary. Hasard blickte wieder durch sein Spektiv, aber er konnte die von Gary beobachteten Tiere nicht sehen. Vom Vormars aus hatte Gary Andrews den günstigeren Blickwinkel. Hasards Aussicht war durch den Farnwald, der sich am Ufer wie eine undurchdringliche Barriere erhob, versperrt. „Ich sehe sie jetzt auch!" stieß Bill aufgeregt hervor. „Allmächtiger, können die rennen!" „Sie sind jetzt am Waldrand!" meldete Gary. „Sie sind weg", sagte der Moses. „Zwischen den Bäumen verschwunden. Ob sie wohl vor jemandem auf der Flucht sind?" „Wißt ihr was, ihr beiden?" rief Ferris Tucker zum Großmars und Vormars hoch. „Mit eurem Gebrüll lockt ihr die Wilden an wie der Honig die Fliegen!" „Stimmt", polterte der Profos nun auch wieder los. „Haltet bloß die Luke, sonst haben wir hier gleich eine Versammlung von Menschenfres-
17 sein, auch Geysir genannt. Passen sern." Der Kutscher hatte soeben die wir auf, daß wir uns an dem koKombüse verlassen, schritt über die chendheißen Wasser nicht verbrüKuhl und sagte: „Wer so spricht, der hen. Ben, du läßt jetzt die Boote abfiesollte allen anderen mit gutem Bei- ren. Ich will zumindest die nähere Umgebung unserer Bucht noch vor spiel vorangehen." Carberry fuhr zu ihm herum. „Ich Einbruch der Dunkelheit erforweiß schon, was du damit meinst, du schen." „Aye, Sir." verlauster Knochenflicker. Aber ich gebe dir den guten Rat: Behalte dei„Ich nehme zwölf Männer mit, der ne klugen Sprüche lieber für dich, Rest bleibt unter deinem Kommando sonst landest du selbst noch in der an Bord der ,Isabella'. Alles klar?" Suppe, die du für heute abend ver„Aye, aye, Sir." brochen hast." Von oben ertönte ein gedämpfter Hasard, Ben Brighton und Old Laut. Hasard legte den Kopf in den O'Flynn waren zu den anderen auf Nacken und sah Bill und Gary die Kuhl hinuntergestiegen. gleichzeitig gestikulieren. „Ehe wir voreilige Schlüsse ziehen, „Sir", zischte Gary. „Dort drüben sollten wir eins bedenken", sagte der am Ufer!" Er wies mit der ausgeSeewolf. „Bill hat Dampf und Wasser streckten Hand zum östlichen Rand gesehen, keinen Qualm. Folglich der Bucht. liegst du, Donegal, mit deiner TheoSofort lenkten die Männer ihre rie über eine Feuerstelle der Wilden Blicke zum Uferdickicht - und sie daneben. Ich selbst bin der Ansicht, entdeckten das große, grotesk wirdaß wir es mit einem Naturphäno- kende Tier, das bis ans Wasser gemen zu tun haben, und so wird sich kommen war und den Hals reckte. erst noch zeigen, ob dieses Land be- Neugierig äugte es zur Galeone. wohnt ist oder nicht." „Der Herr sei uns allen gnädig", „Dad!" rief Philip junior. „Gehen sagte Old O'Flynn. Er bekreuzigte wir an Land und suchen nach den sich sogar, was er sonst eigentlich nie Riesenvögeln? Bitte, Dad, nimm uns tat. mit!" „Also, das ist so was wie 'n schräger „Ruhe an Deck", sagte der Profos. Vogel", murmelte Carberry. Etwas „Ihr Bengel habt nur zu reden, wenn Besseres fiel ihm zu der Erscheinung ihr was gefragt werdet, verstanden?" des riesigen Vogels nicht ein. „Phantastisch", sagte der Kutscher. „Wer mich unterbricht, der verschwindet im Vorschiff", teilte Ha- Er ließ sich von Dan O'Flynn den sard seinen Söhnen und den Män- Kieker aushändigen, spähte hinnern mit. „Und nun hört mal alle her. durch und verfolgte die Bewegungen Es gibt Gegenden, in denen die soge- des rätselhaften Tieres mit geradezu nannten vulkanischen Erscheinun- wissenschaftlichem Eifer. gen zahlreich sind. Vielleicht haben Hasard behielt den eigentümlichen wir so ein Gebiet vor uns. Wir wer- Besucher ebenfalls durch das Spekden auf erloschene und noch tätige tiv im Auge. „Der Vogel mißt mindeSchlote stoßen, wenn wir das Land stens dreieinhalb Yards an Höhe", erkunden, werden heiße Quellen und stellte er fest. „Er gehört zu den vielleicht auch Schlammvulkane an- Kurzflüglern und scheint völlig treffen. Also ist Vorsicht geboten! flugunfähig zu sein." Was da so eindrucksvoll sprüht und „Wie die Strauße in Afrika?" fragte dampft, dürfte eine Springquelle Luke Morgan.
18 „Ja. Und wie die Emus auf dem neuen Kontinent", entgegnete Hasard. „Ich schätze, auch dieser Bursche hier lebt von Pflanzen und ist von Natur aus friedlich." Old O'Flynn hatte die Augen zusammengekniffen und blickte argwöhnisch zu dem unproportioniert wirkenden Vogel mit dem sehr langen Hals, dem aufgeplusterten braunen Federleib und den dicken Beinen. Täuschte er sich, oder starrte ihm das Tier tatsächlich direkt in die Augen? „Mann", brummelte er. „Friedlich soll der sein? Der wartet ja nur auf uns. Und er ist nicht allein, vergiß das nicht, Hasard. Diese Inselmonstren werden über uns herfallen und uns alle zerhacken." Der große, straußenähnliche Vogel wandte sich plötzlich ab und tauchte wieder im Dickicht unter. Er schien genug gesehen zu haben. Es raschelte noch ein wenig in den Farnen, dann war er verschwunden, und nichts zeugte mehr von seinem kurzen Auftritt. „Da haben wir's!" rief Blacky. „Er hat verstanden, was du gesagt hast, Donegal. Jetzt holt er Verstärkung, und wenn die Herde dann komplett anrückt, bist du als erster dran." Die anderen begannen zu lachen. „Ja, reißt ihr man eure dämlichen Witze", sagte der Alte giftig. „Euch wird das Lachen auch noch vergehen." Er wies zum Himmel, der sich im Heulen des Windes immer dunkler färbte. „Und ihr werdet euch noch der Worte des alten O'Flynn entsinnen und sagen: ,Oh, er hat ja so recht gehabt.' Und: ,Hätten wir man auf ihn gehört.' Das werdet ihr stammeln, wenn die Hölle ihre Tore öffnet, wenn das Wasser sich teilt und die Dämonen, Zerberusse und Wassergeister unser Schiff stürmen." „Donegal", sagte Smoky, der Decksälteste. „Du machst mich ganz zap-
pelig. Was sollen wir denn deiner Meinung nach tun?" „Nicht an Land gehen. Und so schnell wie möglich wieder abhauen. Hier geht es nicht mit rechten Dingen zu." „Donegal!" Hasards Stimme klang scharf und zurechtweisend. Der Alte drehte sich zu ihm um und musterte ihn aus schmalen Augenschlitzen. „Ich weiß, was du sagen willst, Sir", brummte er. „Daß ich meinen Mund halten soll. Schließlich bin ich ja nicht der Kapitän. In Ordnung, hast du recht. Aber du kannst mich nicht davon abhalten, euch alle zu warnen. Ich hab das untrügliche Gefühl, daß wir in eine verdammte Falle stolpern." „Möglich, daß sich deine Ahnungen bewahrheiten", sagte der Seewolf. „Aber ich werde das Ufer trotzdem auskundschaften. Ich will nämlich vor Überraschungen während der Nacht sicher sein. Ist das klar?" „Ist klar", erwiderte Old Donegal Daniel O'Flynn. „Und da auf mich keiner hören will, melde ich mich freiwillig zum Stoßtrupp, der mit den Jollen an Land pullt." „Ich bin einverstanden", sagte der Seewolf und lächelte versöhnlich. Der Kutscher hatte Ferris Tucker beiseite genommen und raunte ihm zu: „Ferris, sei mal ehrlich. Was hältst du davon, wenn wir so einen Riesenvogel an Bord der ,Isabella' holen?" Der rothaarige Riese zog eine nachdenkliche Miene. „Als Proviant, meinst du? Nun, ich finde - ja, wenn schon, dann sollten wir ein Weibchen auswählen. Was glaubst du, wie groß die Eier sind, die diese Viecher legen? Mann, ich schätze, keine deiner Pfannen ist groß genug dafür, und ein einziges Spiegelei würde eine Mahlzeit für die gesamte Crew abgeben. Aber das Fleisch des Vogels - ob
19 das auch eßbar ist?" „Du hast mich falsch verstanden, Ferris", sagte der Kutscher. „Nicht als Verpflegung, sondern als Studienobjekt würde ich das Tier mitnehmen, vielleicht bis nach England." „Bis nach England? Hast du sie nicht mehr alle? Mann, wir haben doch schon an Arwenack und Sir John genug. Und was soll man an so einem Riesenhuhn schon groß studieren?" „Ach, laß nur", sagte der Kutscher seufzend. „War nur so eine Idee von mir. Weißt du, irgendwie habe ich den Eindruck, daß die Tiere eines Tages aussterben, weil sie zu plump sind und sich gegen ihre natürlichen Feinde nicht dauerhaft zur Wehr setzen können." Er blickte zum Farnwald hinüber und grübelte darüber herum, was für eigenartige Tiere wohl noch in diesem fremden Land leben mochten. * „Wo ist Hatara?" fragte Warewa seine drei Stammesbrüder. Er war kurze Zeit besinnungslos gewesen. Jetzt richtete er sich verwirrt auf, hielt aber in der Bewegung inne, weil sein rechtes Bein heftig schmerzte. Die Streitaxt hatte ihn gestreift und eine tiefe, blutende Schramme in seinem Fleisch hinterlassen. Traurig schüttelten die anderen ihre Köpfe. Stumm wiesen sie zu dem dampfenden und brodelnden Schlammloch - und Warewa begriff. „Tot", murmelte er. „Und wir müssen auch sterben, wenn wir uns nicht zurückziehen. Wohin ist das - das Ungeheuer gelaufen?" „Wir wissen es nicht", sagte einer der Krieger. „Es ist zu Dampf geworden", meinte sein Nebenmann. „Helft mir auf", forderte Warewa
sie auf. „Wenn ihr mich stützt, kann ich bis zum Pah humpeln. Wir müssen die anderen warnen und uns in unseren Häusern verstecken. Wir dürfen das Dorf nicht mehr verlassen. Vielleicht müssen wir sogar in unsere Kriegskanus steigen und fortrudern, um der Mordlust des Dämons zu entgehen. Der Zorn der Götter scheint über uns zu schweben." Zwei Krieger nahmen neben ihm Aufstellung, griffen ihm unter die Achseln und zogen ihn vom Boden hoch. Warewas Gesicht verzerrte sich vor Schmerz. Er biß die Zähne zusammen, winkelte das rechte Bein etwas an und bewegte sich hüpfend auf dem linken voran. Ihm wurde schwindelig, und er befürchtete, wieder bewußtlos zu werden, doch nach den ersten mühsamen Schritten gewann er wieder etwas Kraft zurück. Er bezwang die aufsteigende Übelkeit und humpelte mit Hilfe seiner Stammesbrüder aus der Nähe der heißen, spuckenden Schlammund Wasserquellen. So schnell, wie es ihnen möglich war, verließen sie die Senke. Auf der Kuppe des Hügels drehten sie sich noch einmal nach der Stätte des Grauens um und hielten nach dem unheimlichen Federwesen Ausschau. Doch die Kreatur blieb verschwunden. Fast war es so, als hätte es sie niemals gegeben. Die vier Eingeborenen kehrten in den Farnwald zurück. Das dumpfe Grollen der Vulkane und das Zischen der heißen Springquellen begleitete sie auf ihrem Weg. Ihre Furcht vor dem Ungewissen wuchs. Das Wesen hockte derweil schwer atmend in einem Busch auf dem gegenüberliegenden Hang der Senke und beobachtete jede ihrer Bewegungen. Erschöpft von dem vorangegangenen Geschehen, mußte es sich wenigstens für eine Weile ausruhen. Aufatmend registrierte es, wie die
20 Eingeborenen hinter der Kuppe des Hügels verschwanden. Ein fast glückseliges Lächeln glitt über seine häßlichen Züge. Hätten sie ihn weiter verfolgt und nicht von ihm abgelassen, so wäre er unweigerlich auf der Strecke geblieben, dessen war der Unheimliche sicher. Allmählich hielten frische Energien in seinen dicklichen Körper Einzug. Er saß noch eine Zeitlang da und behielt seine Umgebung im Auge, dann aber erhob er sich mit einem Seufzer und verließ das Gebiet der heißen, pulsierenden Quellen. Er wanderte ein Stück über die sanften Hügel und wandte sich dann dem Küstendschungel zu. Stets war er darauf bedacht, Büsche und Steine als Deckung auszunutzen. Nie gab er sich eine Blöße. Die Späher der Eingeborenen, so wußte er, konnten überall sein. Jederzeit konnten sie ihn von neuem attackieren. War es nicht besser für ihn, wenn er sich in das Bergland zurückzog, aus dem er am Nachmittag in die Ebene hinuntergestiegen war? Der Schweinebraten hatte ihm vorzüglich geschmeckt, aber er wollte, bevor er in seinen Schlupfwinkel zurückkehrte, ein paar eßbare Pflanzen sammeln oder ein Tier erlegen, um sich die Nahrung auch für die nächsten Stunden zu sichern. Der Braten würde nicht allzu lange vorhalten, denn bevor er ihn aus dem Erdofen der Eingeborenen gestohlen hatte, hatte er drei Tage lang gefastet. Plötzlich sichtete er die großen Vögel. Sie strebten über einen abfallenden Hang auf den Farnwald zu, der sich wie ein Gürtel an das Ufer schmiegte und dessen Verlauf folgte. Rasch waren die Tiere zwischen den lappigen Gewächsen verschwunden, und es bestand wenig Aussicht, auch
nur eins von ihnen zu stellen. Aber der Gefiederte dachte an die Eier, die die Vögel legten, und deshalb folgte er ihrer Spur in der Hoffnung, wenigstens ein Bodennest zu finden. Konzentriert forschte er zwischen Farnbüscheln und Steinquadern und stieß nach einigem Suchen tatsächlich auf einen Brutplatz der Bodenbrüter. Hier lag nur ein Ei, aber es hatte einen Umfang von nahezu einem Yard. Kichernd beugte sich der Unheimliche über das Ei. Fast wagte er nicht, es vom Boden aufzuheben, weil er befürchtete, es zu zerbrechen. Dann aber erinnerte er sich daran, daß die Eier eine außergewöhnlich dicke, harte Schale hatten. Man brauchte einen Steinkeil, um sie zu öffnen. Sein Blick fiel auf die Keule, die er immer noch mit sich trug. Sollte er das Ei damit gleich hier zerschlagen und ausschlürfen? War das nicht ratsamer, als sich damit abzuschleppen? Doch weiter oben in den Bergen gab es natürliche Felsenbrunnen mit heißem Wasser, in denen er das Riesenei kochen konnte. Gar war es ihm lieber als roh, deshalb entschloß er sich, die Arbeit doch auf sich zu nehmen. Plötzlich duckte er sich. Er sann angestrengt darüber nach, warum die Vögel ihre Brutstätten wohl verlassen hatten. Waren sie vor ihm geflohen? Kaum, denn sie liefen nur vor den Menschen weg, wenn sie von ihnen angegriffen wurden. Was war der Grund für ihren überraschenden Aufbruch? Etwas mußte ihre Neugier erregt haben. Sie waren so schaulustig wie kaum ein anderes Tier, und gerade diese Eigenschaft wurde ihnen so oft, wenn die Eingeborenen ihnen eine Falle legten, zum Verhängnis. Der Gefiederte hob den Blick. Dunkler war es jetzt geworden, dicke
21 schwarze Wolken ballten sich über der Küste zusammen, und der Wind blies heftiger. Dennoch konnte er die kleine Bucht erkennen - und das, was darin schwamm. Er glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Unverständliche, brabbelnde Laute drangen über seine Lippen. Er blinzelte, stieß kurze, schnaufende Geräusche aus, vollführte fahrige Gesten. Etwas stieg ihm feucht und brennend in die kleinen, geröteten Augen. Er wischte sich über die Lider, schluckte heftig und versuchte, mehr Details von dem großen, dreimastigen Segelschiff zu erkennen, das da an der Ankertrosse schwoite. Vergessen war das Riesenei, vergessen auch das, was sich vor kurzem bei den heißen Quellen ereignet hatte. Keuchend lief er von dem Brutplatz zum Farnwald hinunter, dorthin, wo die Vögel eben untergetaucht waren. Er rannte so schnell, daß er stolperte und der Länge nach ins Gras schlug. 4. Im Pah, dem großen Dorf der Eingeborenen, herrschte bereits helle Aufregung, als Warewa und die drei anderen Krieger eintrafen. Die Frauen, die jungen Mädchen und die Kinder waren in den Frauenhäusern verschwunden. Im Zentrum hatte sich das Gros der Krieger um die Gestalt des alten Häuptlings zusammengeschart, und es wurde heftig palavert. Warewa sah Toranas Leichnam. Einige Männer hatten den jungen Mann zurück ins Dorf geholt und neben dem Männerhaus auf Farnmatten gebettet. Warewas Miene wurde unendlich traurig und verbittert, als sich die Gruppe der verstummenden Krieger zu ihnen umdrehte und der
Häuptling auf sie zutrat. Von nun an wurde nicht mehr gesprochen, bis Warewa das Wort ergriff. Ihm fiel die Aufgabe zu, von den Geschehnissen bei den heißen Quellen zu berichten. Langsam und stockend schilderte er, was sich zugetragen hatte. „Torana und Hatara tot", sagte der alte Häuptling. „Und du, Warewa, bist verletzt. Der Dämon wird nicht eher ruhen, bis er uns alle in den Tod und die Verzweiflung getrieben hat. Damit aber nicht genug. Heute ist der Tag des Schreckens, und ein Unheil kommt nie allein." Warewa, die beiden, die ihn stützten, und auch der vierte Krieger, der sich an der Verfolgung des Unheimlichen beteiligt hatte, blickten den Alten verwundert an. Der Häuptling fuhr fort: „Unsere Späher haben ein großes Kriegskanu gesichtet. Es ist in die runde Bucht gefahren. Weiße Männer mit bunter Kleidung befinden sich an Bord, und eben schicken sie sich an, an Land zu gehen." „Wie groß ist das Kanu?" wollte Warewa wissen. „Es ist so lang wie der Platz, auf dem wir unseren Pah gebaut haben", entgegnete der Alte. „Aber - aber das gibt es doch nicht!" stieß Warewa entsetzt hervor. Fast bedächtig nickte der Alte. „Die Späher haben sich nicht getäuscht. Erinnert ihr euch an die Erzählungen, die wir von Kriegern anderer Stämme vernommen haben? Vor Zeiten tauchte schon einmal ein so großes Boot auf, und es brachte ebenfalls weiße Männer mit Bärten, die aber sogleich wieder verschwanden." „Das waren Dämonen, keine Männer!" rief Warewas Nebenmann zur Linken. „Das Kriegskanu hat drei Bäume,
22 so groß wie Kaurifichten", erklärte der alte Mann. „Daran hängen Tücher. Zwei Häuser stehen auf dem Boot, eins vorn, eins hinten. Die Männer tragen Waffen an ihren Gurten: Messer, Äxte, Schwerter, aber keine Keulen. Keiner von uns glaubt, daß sie als Freunde erschienen sind." „Nein", stieß nun auch Warewa hervor. „Sie sind unsere Feinde. Sie wollen unseren Pah stürmen, uns fortjagen und sich unsere Frauen nehmen. Es kann nicht sein, daß Männer mit einem so großen Kriegskanu und mit so vielen Waffen friedliche Absichten haben." „Die Maoris sind nicht dumm", sagte der alte Häuptling. „Die Maoris haben sich immer gegen ihre Feinde gewehrt. So wird es auch diesmal sein. Rüsten wir zum Krieg gegen die weißen Teufel!" „Und rächen wir den Tod unserer Brüder Torana und Hatara!" rief Warewa. Die Krieger rissen ihre Streitäxte und Steinkeulen hoch. „Nieder mit den bösen Dämonen!" schrien sie. Ihre tätowierten Gesichter waren haßverzerrt, sie boten einen furchterregenden Anblick. * Der Seewolf hatte dem Bitten seiner Söhne nachgegeben. Diesmal durften sie mit in die Jollen abentern, die jetzt im Wasser der Bucht dümpelten. Sie sollten an der Erkundungsfahrt teilnehmen, denn Hasard war der Meinung, daß es lehrreich für sie sein würde, sich die Tier- und Pflanzenwelt des fremden Landes anzuschauen. Auch der Drittjüngste der „Isabella" war mit von der Partie: Bill, der Moses, befand sich bereits in der vom Seewolf übernommenen Jolle und kletterte über die Duchten, um sei-
nen Platz als Rudergast einzunehmen. Dan O'Flynn war an seiner Stelle in den Großmars aufgeentert. Bills Ablösung war längst fällig gewesen, und die Patrouillenfahrt war eine willkommene Abwechslung vom ermüdenden Ausguckposten. Dan hingegen verspürte an diesem Abend mal wieder Lust, die altvertraute Plattform zu erklimmen. Der Seewolf enterte mit den Zwillingen in die erste Jolle ab, teilte ihnen ihre Plätze zu und ließ sich selbst auf der achteren Ducht nieder. Der Rest der von ihm bestimmten Bootsbesatzung gesellte sich rasch zu ihnen: Big Old Shane, der alte O'Flynn und Al Conroy. „Wir müssen uns höllisch beeilen", sagte Hasard. „Gleich ist es stockfinster." Er drehte sich halb um und sah zur zweiten Jolle. Ferris Tucker saß als Bootsführer auf der Heckducht. Carberry und Batuti waren bereits bei ihm. Matt Davies, Will Thorne und Bob Grey hangelten in diesem Moment an der zweiten Jakobsleiter zu ihnen hinunter. „Klar bei Riemen", sagte der Seewolf zu seinen Männern. Er streckte die Hand aus, um die Jolle von der Bordwand der „Isabella" abzustoßen. „Sir", meldete sich nun jedoch wieder der alte O'Flynn zu Wort. „Ich will dir ja nicht dauernd in den Kram reden, aber - hast du nicht von zwölf Männern gesprochen, die mit dir ans Ufer übersetzen sollen?" „Richtig, Donegal. Und wir sind ja auch dreizehn Mann, oder? Paßt dir diese Zahl vielleicht nicht?" „Dreizehn kann auch eine Glückszahl sein", brummte der Alte. „Aber was ich sagen will: Du zählst diese halben Portionen hier also tatsächlich als vollwertige Besatzungsmitglieder?" Er wies auf Hasard junior und Philip junior. Bill, den Moses,
23 ließ er hingegen unbehelligt, denn der war ja inzwischen „aus den Flegeljahren heraus", wie der Alte vor kurzem selbst erklärt hatte. „Sie werden im Ernstfall schon ihren Mann stehen", sagte der Seewolf. „Nicht wahr, ihr Rübenschweinchen?" „Aye, Sir", antworteten die Zwillinge sachlich. Die Jolle hatte sich von der Bordwand gelöst und schwamm frei. Kräftig ruderten die Männer an. Hasard legte die Ruderpinne und ging auf Ostkurs. Ferris und die anderen in der zweiten Jolle folgten seinem Beispiel und schlossen sich ihm an. Carberry fluchte, weil Sir John, der karmesinrote Aracanga, gegen seinen Willen vom Steuerbordschanzkleid der „Isabella", heranflatterte und sich auf seine rechte Schulter setzte. „Hau ab, du Nebelkrähe!" wetterte er. „Ich kann dich hier jetzt nicht gebrauchen, kapiert? Hölle und Teufel, das ist ein Befehl!" Sir John wackelte ein bißchen mit dem Schwanz, nickte bedeutungsvoll und krächzte: „Anbrassen und hoch an den Wind, ihr Kakerlaken!" Dann begann er, liebevoll an des Profos' Ohrläppchen herumzuknabbern. Carberry stieß einen drohenden, grunzenden Laut aus, aber auch das nutzte nichts. Der Papagei war durch nichts zu beeindrucken. Batuti, der hinter dem Profos saß, grinste. „Ungehorsam is' so schlimm wie Meuterei, Profos", sagte er. „Sir John gehört eingesperrt und angekettet." „Vielleicht setze ich ihn auf der Insel - äh, auf dem Land aus", brummelte der Narbenmann. „Das hab ich schon seit einiger Zeit vor. Ich kann dieses dickschädlige, aufdringliche Biest nicht mehr leiden. He, du Piephahn, du gehst mir auf die Nerven,
verstanden?" Sir John nickte wieder. „Piephahn, Piephahn", echote er. Ferris Tucker lachte. „Ja, da hast du was eingefangen - damals, am Amazonas, Ed. Daß Sir John deine Sprüche so gut lernen würde, hättest du nicht gedacht, was?" Carberrys Miene war so finster, als wollte er den bunten Vogel bei lebendigem Leib verschlingen. „Wenn er genießbar wäre, dann wäre er längst beim Kutscher im Kochtopf gelandet, das schwör ich dir, Ferris. Und der Affe auch. Ich kann kein Viehzeug an Bord leiden." Der rothaarige Schiffszimmermann erwiderte nichts darauf, aber
die Männer hinter Carberrys Rükken sahen sich bedeutungsvoll an. Der Profos stieß gern die wüstesten Drohungen gegen die beiden Bordmaskottchen aus, aber unter seiner rauhen Schale verbarg sich ein gutes Herz, das wußten sie alle. Hätte irgend jemand Sir John und Arwenack wirklich etwas zuleide getan, dann hätte Carberry diesen Jemand zweifellos „unangespitzt ins Kielschwein gerammt", das stand fest. Und: War er es nicht gewesen, der zu Tränen gerührt gewesen war, als der Papagei und der Schimpanse ihnen in der Bucht von Tutuila aus der Klemme geholfen hatten, unbewußt zwar, aber sehr effektvoll?
24 Die Jollen glitten durch das gekräuselte Wasser auf das östliche Ufer der Bucht zu. Hasard und Ferris beobachteten über die Köpfe ihrer Rudergasten weg und hielten nach den Riesenvögeln und anderen Tieren Ausschau, vermochten aber keines zu entdecken. Träge bewegten sich die schweren, feuchten Blätter der Farne im Wind. Von Atemzug zu Atemzug wurde es dunkler, und die Schwärzlichen Wolken senkten sich so tief herab, daß sie die Wipfel der Urwaldbäume und Farnkräuter zu berühren schienen. Die Männer, die an Bord der „Isabella" zurückgeblieben waren, blickten ihrem Kapitän und ihren Kameraden halb neugierig, halb nachdenklich nach: Dan O'Flynn vom Großmars aus, Gary Andrews vom Vormars, den er nicht mehr verlassen hatte, Ben Brighton, der Kutscher, Smoky, Blacky, Pete Ballie, Jeff Bowie, Sam Roskill, Luke Morgan und Stenmark vom Schanzkleid der Kuhl aus. Arwenack hatte sich auf den Bugspriet gehockt. Er knabberte an einem Stück Brotfrucht und sann in seinem Affenhirn darüber nach, was die Zweibeiner wohl veranlaßt hatte, das Schiff zu verlassen. „Der Vogel läßt sich nicht wieder blicken", sagte der Seewolf. „Schade", meinte Philip junior. „Wir hätten ihn uns gern aus der Nähe angesehn." „Dazu kriegt ihr bestimmt noch Gelegenheit", sagte der alte O'Flynn mit säuerlicher Miene. „Der Unhold lauert im Dickicht und fällt über uns her, sobald wir den Fuß an Land setzen. Na, ihr macht euch die Hosen noch früh genug voll, ihr zwei." „Ich habe vorsichtshalber ein paar Flaschenbomben mitgenommen", teilte Al Conroy ihnen mit. „Man kann ja nie wissen, zu was sie gut sind."
„Ich hab mir auch ein paar Pulverpfeile in den Köcher gesteckt", erklärte Big Old Shane. „Vielleicht brauchen wir ja nicht einmal Feuerstein und Feuerstahl, um unsere Spezialwaffen anzuzünden. Möglich, daß wir ein paar nette kleine Vulkane finden, in denen wir sie entfachen können." Die anderen lachten, nur Old O'Flynn lachte nicht mit. Ihm war die ganze Sache immer noch nicht geheuer. Düstere Visionen nahmen in seinem Geist Gestalt an. Fast eine halbe Kabellänge waren die beiden Beiboote jetzt von der Galeone entfernt. Sie befanden sich ungefähr auf der Mitte zwischen Schiff und Ufer. * Hervorragend getarnt kauerten die tätowierten Gestalten im Farndickicht und ließen das Segelschiff, die Boote und die fremden Männer keinen Moment aus den Augen. Zwei Späher eilten geduckt durch den Wald und wandten sich in südliche Richtung, um den anderen, die bei den Kriegskanus warteten, Bescheid zu geben. Zwischen der gut eine Meile südlich der runden Bucht befindlichen Flußmündung und dem Ankerplatz der Galeone schob sich die Landzunge ins Meer hinaus, die die „Isabella" am späten Nachmittag gerundet hatte. Folglich war es Dan Q'Flynn und Gary Andrews unmöglich, die vier großen, bemalten und mit Schnitzereien versehenen Kriegskanus in der pflanzenüberwucherten Öffnung des Flusses zu sichten. Die beiden Späher der Maoris gönnten sich keine Pause. Schwer atmend erreichten sie ihren alten Häuptling und die Krieger, die sich bis an die Zähne bewaffnet bei den Kanus versammelt hatten. Auch
25 Warewa war mit bei der Gruppe. Er wollte nicht fehlen, wenn es den „weißen Dämonen" an den Leib ging. So gut wie irgend möglich hatte er seine Beinwunde von den Frauen des Pahs verarzten lassen. Er humpelte zwar immer noch, aber er konnte sich aus eigener Kraft aufrecht halten und war sicher, daß er, wenn er erst einmal im Kanu saß, wieder vollwertig kämpfen konnte. „Sie fahren mit ihren kleinen Kanus an Land", berichtete einer der Späher aufgeregt dem Häuptling des Stammes. „Es sind viele. Mehr, als ich Finger an beiden Händen habe, und auf dem großen Kriegskanu mit den drei Bäumen sind noch mal genauso viele." „Steigt in die Kanus", befahl der Häuptling. „Wir legen ab." Wenig später schoben sich die vier Kriegsfahrzeuge aus der Flußmündung in das offene Wasser. Schnell und kraftvoll stachen die Maoris ihre Paddel in die unruhigen Fluten. Die Kanus schwankten bedrohlich, schienen jeden Augenblick kentern zu wollen, schlugen aber wie durch ein Wunder doch nicht um. Hart unter Land arbeiteten sich die Eingeborenen um die Landzunge. Schon ihre Vorfahren waren ausgezeichnete Seefahrer gewesen, die Hunderte, ja Tausende von Meilen quer über die Wasser zurückgelegt hatten. Der Stamm führte ihre Tradition fort. Zusammen mit ihrem großen Mut ließen das Geschick und die Schnelligkeit, mit denen sie ihre Kanus voranbrachten, die Maoris zu einem gefährlichen Verband werden, der auch einem gut armierten, scheinbar überlegenen Feind zum Verderben werden konnte. * Reglos verharrte der Gefiederte dicht am Ufer der Bucht. Die Farne
schützten sein häßliches Gesicht und seine ungefüge Gestalt vor den Blikken der Männer auf dem Schiff und in den Booten. Er bemühte sich, so flach wie möglich zu atmen, und beobachtete die Fremden unausgesetzt. Er registrierte jede ihrer Bewegungen und hoffte, daß der letzte Schimmer Helligkeit noch eine Weile anhielt, damit er weitere Einzelheiten erspähen konnte. Im Farnwald war er einem der Riesenvögel begegnet, und er hatte schon Angst gehabt, das Tier würde ihn durch einen Schrei verraten. Doch dann war der Vogel davongewatschelt, ohne auch nur einen Laut auszustoßen. Der Unheimliche hatte die ganze Zeit über seine erbeutete Steinkeule bereitgehalten, denn er rechnete damit, Spähern der Maoris über den Weg zu laufen. Doch auch dies war nicht eingetreten, und so durfte er jetzt beruhigt aufatmen und konnte sich eingehend der Beobachtung des Schiffes und seiner Männer widmen. Die beiden Jollen glitten näher. Fast haargenau hielten sie auf den Platz zu, an dem der Gefiederte sich versteckt hatte. Doch ihre Besatzungen konnten ihn, den heimlichen Aufpasser, nicht bemerkt haben. Nichts an ihren Gesten ließ auch nur vermuten, daß sie auf ihn aufmerksam geworden waren. Dem Wesen fiel der große, schwarzhaarige Mann auf, der auf der achteren Ducht des ersten Bootes saß. Lange betrachtete es diesen Mann, und über seine verunstalteten Züge glitt so etwas wie ein Anflug von Bewunderung. Dann, als die Jollen ihren Weg von der Galeone zum Ufer zu etwa zwei Dritteln zurückgelegt hatten, klappte dem Unheimlichen plötzlich der Unterkiefer herunter. Sein Antlitz erstarrte zu einer Maske der Verblüffung.
26 Der Schwarzhaarige hatte etwas zu seinen Begleitern gesagt, und der Wind hatte jeden Laut sehr deutlich an die Ohren des Gefiederten getragen. „Steuerbord voraus ist ein annehmbarer Landeplatz, Männer. Dort haben unsere beiden Jollen genug Platz." Mit diesen Worten drückte er die Ruderpinne etwas weiter herum. Aber es war nicht der Inhalt seiner Sätze, die den Unheimlichen in so grenzenloses Staunen versetzten, auch nicht das, was er tat. Da war etwas anderes, gleichsam Erschütterndes: Der Gefiederte hatte jedes Wort verstanden! Er kannte die Sprache des Schwarzhaarigen - es war seine Sprache! Er wollte aufstehen, handeln doch wie gelähmt blieb er in seinem Versteck hocken. Er blickte nur noch wie in Trance auf die Beiboote der „Isabella". Zum Schiff spähte er jetzt nicht mehr, und auch die Einfahrt der Bucht hatte er nicht im Auge - zumal sie durch den Rumpf der Dreimastgaleone halb versperrt war. So bemerkte er das erste Kriegskanu der Maoris, das in der Einfahrt erschien, erst, als der eine Ausguck des Seglers einen Pfiff und einen warnenden Ruf ausstieß. 5. Dan O'Flynn hatte sich vorsorglich immer wieder nach allen Seiten umgeschaut. So war er es, der das Kriegskanu der Eingeborenen als erster sichtete. Zwar mutete das Gefährt in der düsteren, unheilschwangeren Dämmerung eher wie ein Trugbild an, doch die guten Augen eines Donegal Daniel O'Flynn konnte man nicht täuschen. Das Kanu war wirklich da, und es
hielt sehr realistisch auf die „Isabella" zu. Dan steckte zwei Finger in den Mund und stieß einen grellen Pfiff aus. Er nahm die Finger wieder aus dem Mund und schrie, während die Männer auf Deck zu ihm herumfuhren: „Eingeborenenboot! Steuerbord achteraus! Achtung, ich glaube nicht, daß das ein Empfangskomitee ist!" Ben Brighton hastete zum Niedergang, der die Kuhl mit dem Quarterdeck verband, und nahm ihn mit drei Sätzen. Vom Quarterdeck aus stürmte er aufs Achterdeck, langte bei der Heckreling an und sah sofort, daß ein zweites Kanu hinter dem dichtbewachsenen Ufer der Einfahrt aufgetaucht war. „Zwei Kanus!" meldete nun auch Dan. „In jedem sitzen zwei Dutzend Kerle!" „Alle Mann auf Gefechtsstation!" rief Ben. Smoky und Blacky hasteten auf die Back, um bei den vorderen Drehbassen der „Isabella" Aufstellung zu nehmen, die anderen blieben auf der Kuhl. Längst waren die 17pfünder geladen und ausgerannt, längst war die „Isabella" klar zum Gefecht. Die Erfahrung hatte gezeigt, daß keine Vorsichtsmaßnahme übertrieben genug sein konnte, um all jenen „Überraschungen" zu begegnen, denen man bei der Erforschung eines neuen Landes zwangsläufig ausgesetzt war. „Ein drittes Kanu!" schrie Dan. „Eben schiebt sich ein viertes in die Einfahrt. Männer, wir haben es mit hundert Kerlen zu tun! Sie haben Speere und Äxte und Keulen!" „Verdammt und zugenäht", sagte Ben erbittert. Hasard und die anderen in den Jollen hatten jedes von Dan O'Flynn gesprochene Wort klar verstanden, der Wind trug jede Meldung zu ihnen
27 herüber. Der Seewolf richtete sich von seiner Ducht auf, drehte sich um - und konnte nun das erste Kanu erkennen, das hinter dem Heck der Galeone erschien. Die „Isabella" lag quer in der Bucht, und zwar mit dem Vorschiff nach Südosten. Somit hielt sie den Eingeborenen also ihr Heck zugewandt, und der Seewolf malte sich aus, daß die Wilden das Achterdeck zu entern versuchen würden, falls sie angriffen. Es kam jedoch anders. Statt sich der Galeone zu nähern, staffelte das große Kanu wieder von ihr fort und nahm Kurs auf die Jollen. Im nächsten Augenblick waren auch die Umrisse des zweiten Eingeborenenfahrzeugs neben der „Isabella" zu erkennen - und wieder schienen die Insassen nicht das geringste Interesse an einem Entermanöver zu haben. „Sir!" rief Ferris Tucker zu seinem Kapitän hinüber. „Stoppen wir? Kehren wir zur ,Isabella' zurück?" „Ben und' die anderen brauchen unseren Beistand nicht!" rief der Seewolf zurück. „Die Wilden haben es auf uns abgesehen. Wahrscheinlich denken sie, mit uns haben sie leichteres Spiel." Das dritte und das vierte Kanu waren auf der Bildfläche erschienen, und in dichtem Verband rauschten die Kanus nun auf die Jollen zu. Hasard konnte Einzelheiten erkennen: Die Kanus waren bemalt und mit Schnitzwerk versehen, am Bug trugen sie je einen hölzernen Dämonenkopf mit scheußlichen Augen, der von einem Feder- oder Haarbüschel gekrönt war. Hasard kniff die Augen zusammen. Täuschte er sich - oder streckten die Mäuler dieser Köpfe wirklich rote Zungen heraus? Von den Achtersteven der Kriegskanus ragten Verzierungen aus ebenfalls geschnitztem Holz auf, die
wie große Dornen auf das Auge des Betrachters wirkten. Ob sie eine praktische Funktion hatten oder nur das bedrohliche Aussehen der Boote unterstreichen sollten, ließ sich auf die Entfernung und bei den schlechten Lichtverhältnissen nicht feststellen. „Pullen wir an Land", schlug Old O'Flynn vor. „Da können wir es vielleicht besser mit diesen Kerlen aufnehmen." Es war erstaunlich, wie ruhig er in diesem Moment war. Ja, er nörgelte und unkte gern, aber wenn es hart auf hart ging und er der Gefahr ins Auge blickte, war er wieder ganz der verwegene Donegal, wie Hasard und die Crew ihn kannten, ganz Draufgänger und Korsar. „Nein", sagte Hasard. „Die Eingeborenen könnten unsere Flucht falsch auslegen. Wahrscheinlich glauben sie dann erst recht, daß wir etwas gegen sie im Schilde führen." Er hob beide Hände und gab den Anrückenden Zeichen. „Vielleicht kann ich ihnen erklären, daß wir friedliche Absichten haben." Ferris hatte den Eingeborenen einen raschen Blick zugeworfen. Jetzt sah er wieder zu Hasard. „Die lassen sich auf nichts ein, Sir!" schrie er. „Sieh sie dir an!" Mittelgroß, braunhäutige Gestalten mit schwarzem, zusammengebundenem Haar und grellen Tätowierungen im Gesicht, nackte, muskulöse Oberkörper und große Fäuste an starken Armen, die die langen schwarzen Paddel wie Schwerter ins Wasser stachen - das waren die Eingeborenen. Von ihrem Äußeren ging nichts aus, was auf Verhandlungsbereitschaft schließen ließ. Trotzdem probierte es der Seewolf. „Hört mich an!" rief er den Männern zu, erst auf spanisch, dann auch auf englisch. „Wir wollen euch nicht bekämpfen! Wir sind als Freunde hier! Wir wollen euch nur einen Besuch
28 abstatten!" Rasch verringerte sich der Abstand zwischen den Parteien. Hasard erkannte, daß er das Buchtufer niemals mehr erreichen würde, ehe die Eingeborenen heran waren. Zu schnell waren diese eigenartigen Kanus, keine noch so gute Rudermannschaft an Bord einer simplen Jolle konnte es an Geschwindigkeit mit ihnen aufnehmen. Einige Wilde begannen jetzt zu schreien - und plötzlich steckten sie dem Seewolf und seinen Männern die Zungen heraus. „Hölle,Tod und Teufel",sagteShane. „Was, zum Henker, hat denn das zu bedeuten? Wollen die uns verhöhnen?" „Ich nehme an, daß es ihre Kampfansage ist", erwiderte der Seewolf. „Andere Länder, andere Sitten", sagte Bill, der Moses, und es sollte gelassen klingen. Aber das leichte Beben, das in seiner Stimme war, konnte er doch nicht ganz unterdrücken. „Mister Conroy", sagte Hasard junior. „Warum schmeißt du den Wilden keine Flaschenbomben vor den Bug?" Trocken antwortete Al: „Weil euer Vater mir keinen entsprechenden Befehl gegeben hat. Klar?" „Klar", meinte Philip junior. „Aber jetzt geht's uns an den Hals. Wetten?" „Haltet den Rand, ihr Kröten!" zischte Old O'Flynn. Der Seewolf wiederholte seinen Appell an die Eingeborenen, aber sie quittierten seinen gutgemeinten Verständigungsversuch nur mit lauterem Gebrüll. Gut die Hälfte von ihnen - das sah Hasard deutlich genug - hatte inzwischen die Paddel eingeholt und mit Speeren, Äxten und Keulen vertauscht. Sie schrien und zeigten ihre Zungen, und die Szene hätte fast grotesk sein können, wenn die Gefahr nicht so nah und offensichtlich gewesen wäre.
„Sir!" schrie Ben Brighton von der „Isabella" herüber. „Soll ich ihnen eine Siebzehnpfünder-Kugel vor die Boote setzen, damit sie zur Räson kommen?" „Nein, Ben!" „Sir, sie greifen euch an!" „Ruhe bewahren, Ben!" rief der Seewolf. Hoch aufgerichtet stand er vor der Heckducht seiner Jolle und beschrieb mit seinen Händen immer wieder die Gebärden, durch die er sich zu verständigen hoffte. Aber er wurde enttäuscht. Ein langer Speer, von einem der wildbärtigen Krieger geschleudert, surrte auf Ferris Tuckers Jolle zu. Ferris, der Profos, Batuti, Matt, Will und Bob duckten sich. Sir John flog kreischend auf und flatterte über den heranzischenden Speer weg. Knapp nur verfehlte der Speer das Boot. Als er im Wasser verschwunden war, begann der Profos auf fürchterliche Weise zu fluchen. „Sir!" rief Ferris Tucker. „Müssen wir uns das gefallen lassen? Wann schlagen wir zurück? Willst du, daß sie uns massakrieren?" „Beidrehen!" ordnete der Seewolf an. „Streich Backbord, ruder an Steuerbord!" Er legte die Ruderpinne herum, und die Jolle drehte unter den Riemenschlägen der Männer „auf dem Teller" nach Backbord. Ferris Tucker und dessen Bootsmannschaft vollführten das gleiche Manöver. Dann duckten sie sich hinterm Dollbord und warteten die nächste Aktion des Gegners ab. Hasard gab nicht auf. Er beschrieb alle Zeichen, die er während der Reise durch die Südsee von den Polynesien und Melanesiern gelernt hatte. Wenn die Tätowierten weder Englisch noch Spanisch verstanden, so begriffen sie doch vielleicht den Sinn dieser Gesten. Er hielt es für seine Pflicht, es zumindest immer wieder zu versuchen.
29 Nur noch zwanzig, zweiundzwanzig Yards trennten die Eingeborenen und die Seewölfe voneinander. Das Gebrüll der Krieger in den Kanus nahm zu, und sie hörten nicht auf, ihre Zungen herauszustecken und die widerwärtigsten Grimassen zu schneiden. Hasard kam sich bei seinen Bestrebungen allmählich lächerlich vor, aber er fuhr darin fort. Schon oft hatte er mit ähnlichen Bemühungen Erfolg gehabt, und es war sein fast heiliges Prinzip geworden, die Bewohner fremder Länder nicht eilfertig als „primitive Wilde" und Menschenfresser abzuurteilen. Er wußte, daß man seine Freundschaftskundgebungen auch als missionarischen Eifer bezeichnen und für falsch halten konnte, aber er hielt eisern an seinen selbstgesetzten Regeln fest. Das schlechte Beispiel, das viele Freibeuter, Schnapphähne und Glücksritter von dem weißen Mann lieferten, wollte er nicht bestätigen. Es gab andere Möglichkeiten, diesen Naturvölkern zu begegnen, die größtenteils noch nie einen Weißen gesehen hatten. Die Tätowierten jedoch schienen seine Absichten gründlich zu verkennen. Wieder flog ein Speer, und gleich darauf folgten weitere Speere und steinerne Streitäxte. Ein wahrer Hagel von Waffen ging auf die Jollen nieder, ehe der eigentliche Zusammenstoß zwischen den Parteien stattfand. Ein Speer blieb mit pochendem Laut im Dollbord von Hasards Jolle stecken. Shane hantierte aufgebracht mit Pfeil und Bogen herum, Al Conroy zog eine Flaschenbombe aus der Tasche, und die anderen hatten zu ihren Musketen und Tromblons gegriffen. „Nicht schießen", sagte Hasard eindringlich. „Wenn wir uns nicht zur Wehr setzen, müssen sie endlich be-
greifen, daß wir ..." Er sprach nicht weiter, sondern stöhnte auf. Ein Speer war im Boot gelandet und fuhr mit seiner Spitze quer über Hasards linken Oberschenkel. Entsetzt beobachteten die Männer und die Jungen, wie Hasards Hose mit einem ratschenden Geräusch aufklaffte, wie sich der Seewolf krümmte und mit einer Hand an der Achterducht festhielt. „Hasard, mein Gott!" stieß Shane aus. „Haltet ihn!" schrie der alte O'Flynn. Philip junior und Hasard junior richteten sich ruckartig auf und riefen: „Dad, Dad!" „Runter!" herrschte Al Conroy sie jedoch an. „Seid ihr von allen guten Geistern verlassen, ihr Wahnsinnsknaben?" Die Jolle schwankte, der Seewolf drohte ins Wasser zu stürzen. Der Speer hatte sich mit seiner harten Jadeitspitze dicht neben ihm in den Bootsboden gerammt. Keuchend griff er danach, um sich daran festzuhalten, aber die Waffe löste sich, und er drohte nun vollends das Gleichgewicht zu verlieren. Die Eingeborenen, die jetzt fast ganz heran waren, johlten triumphierend. Hasard fing sich im buchstäblich letzten Augenblick ab, taumelte zwar noch, fand die Balance aber wieder. Mit einer Verwünschung kauerte er sich ins Bootsheck und drehte sich zu den anderen um. „Es ist nur ein Kratzer", stieß er gepreßt hervor. „Davon stirbt man nicht. Ich ..." „Sir, laß mich zurückfeuern", sagte Old O'Flynn. „Gib den Befehl zum Schießen, ehe es zu spät dazu ist. Du siehst doch ein, daß sich mit diesen Kerlen nicht verhandeln läßt." „Gebt ein paar Warnschüsse über
30 ihre Köpfe ab!" befahl der Seewolf. Er rief es so laut, daß auch Ferris und die Mannschaft im zweiten Boot ihn verstehen konnten. Die Musketen und Tromblons flogen hoch. Die Zeigefinger krümmten sich um die Abzüge, die Hähne senkten sich auf die Steinschlösser - und mit einem wahren Donnerhall spuckten die Waffen ihre Ladungen aus. Grelle Feuerblitze stachen in die Dunkelheit. Die Männer hielten sich strikt an die Order und zielten über die tätowierten Häupter. Wirkungslos verloren sich die Kugeln in der Nacht. Hasard wartete darauf, daß die Eingeborenen ihre Kanus wendeten und sich zurückzogen. Wenn sie bislang noch nicht mit weißen Menschen in Berührung gekommen waren, konnten sie auch keine Feuerwaffen kennen und mußten entsprechend erschrocken über die Antwort sein, die die Männer der „Isabella" auf ihren Speer- und Äxtehagel hin gaben. Doch die Krieger ließen sich nicht zurückwerfen. Unverändert strebten sie auf die Jollen zu, wütend tauchten sie ihre Paddel ein. Ihre Kriegskanus schoben sich zwischen die Jollen, die im Vergleich winzig wirkten. Ein wüstes Handgemenge begann. 6. Warewa, der mit mehr als zwanzig anderen Maoris in dem vordersten Kriegskanu saß, hatte sein Augenmerk auf den großen schwarzhaarigen Mann gerichtet, der offenbar der Häuptling der Weißen war. Als sich das Kanu jetzt längsseits der ersten Jolle der „Isabella" schob, sprang Warewa trotz der Schmerzen, die er immer noch in seinem rechten Bein
verspürte, auf und schwang seine Streitaxt. Er stimmte ein noch gellenderes Kriegsgeheul als vorher an, und seine Stammesbrüder fielen sofort mit ein. Warewa brachte sich in eine Position, von der aus er den Schwarzhaarigen erreichen konnte. Mit einem furchtbaren Axthieb von Boot zu Boot trachtete er, den Mann zu fällen - doch dieser wich erstaunlich schnell aus, fuhr zu ihm herum und riß etwas aus seinem Gurt hervor. Der Schwarzhaarige war ebenfalls verletzt, Warewa hatte ihn wanken sehen, als der Speer in das Boot der Gegner gerast war. Doch auch er schien von einem harten Willen beseelt zu sein, er biß die Zähne zusammen und trotzte seinen Schmerzen. Sie hatten also etwas gemeinsam, wenn es auch Welten waren, die sie trennten. Durch den Schwung, den er seinem Arm verliehen hatte, kippte Warewa beinah vornüber - und fast hackte die Steinaxt in die Bordwand des Kriegskanus. Nur mit Mühe konnte der junge Krieger seine Bewegung abfangen. Ehe er sich ein Stück zurückziehen konnte, zischte etwas durch die Luft und sauste auf ihn nieder. Ihm stockte der Atem, denn er sah das Gesicht des Schwarzhaarigen dicht vor sich, ein hartes, von Wettern und Abenteuern gezeichnetes Antlitz. Warewa zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen. Etwas blitzte, etwas brannte über seinen Arm, und er ließ die Axt los. Entsetzt stellte er fest, daß ein rotes Mal quer über seinen Arm verlief. Die Waffe, die der Schwarzhaarige hielt, war lang und dünn und schien sehr scharf zu sein. Mit einem Aufschrei riß Warewa seinen Oberkörper zurück. Die Axt war ins Kanu gepoltert und für ihn in unerreichbare Ferne
31 gerückt, denn ehe er sich danach bücken und sie suchen und aufheben konnte, würde der Schwarzhaarige ihm zweifellos einen tödlichen Stich mit der dünnen Waffe zufügen. Warewa griff darum zu der schweren Steinkeule, die am Gurt seines Flachsrockes hing. Er hob sie an und traf Anstalten, einen zweiten Ausfall gegen den weißen Mann zu unternehmen. Doch der Schwarzhaarige war schneller. Er hatte sich geduckt, stieß sich jetzt ab und sprang - trotz der Schmerzen, die die Verletzung ihm bereitete - von Bord zu Bord. Sicher landete er im Kriegskanu der Maoris. Plötzlich war er mitten zwischen ihnen, tauchte vor einem Axthieb weg, den Warewas Nebenmann auf ihn niedersausen ließ, trat vor Warewa hin und führte zwei blitzschnelle Streiche. Der junge Krieger war viel zu verblüfft, um sofort reagieren zu können - und dies war sein Verhängnis. Scharf rasierte die Klinge des Gegners auch über seinen Arm weg, der die Keule hielt. Und wieder veranlaßte der stechende Schmerz Warewa, die Finger zu öffnen und seine Waffe auf den Kanuboden fallen zu lassen. In einer Mischung aus Entgeisterung und ohnmächtiger Wut blickte er auf seine blutenden Arme. Dann ging er mit bloßen Fäusten auf den Schwarzhaarigen los. Die Schmerzen peinigten ihn, ihm war zumute, als habe man Knochennadeln in seine Arme und in sein rechtes Bein gesteckt, aber dennoch gab er nicht auf. Wild hieb er auf seinen Gegner ein. Die Maoris schleuderten ihre Speere und Äxte, aber in der jetzt vollends einsetzenden Dunkelheit vermochten sie die Gestalten ihrer Feinde nicht mehr genau zu erkennen. Zudem bewegten sich die „weißen
Dämonen" mit geradezu unheimlicher Schnelligkeit und Gewandtheit. Es gelang ihnen, allen auf die Jollen einprasselnden Steinspitzen und Schneiden auszuweichen. Und dann gingen sie selbst zum Angriff über! Ein rothaariger Riese und ein häßlicher Mann mit unzähligen Narben im Gesicht, der sein wuchtiges Kinn wie einen Rammbock vorschob, machten es ihrem Anführer nach und wechselten von der zweiten Jolle in ein Kanu der Maoris über. „Arwenack!" brüllte der Narbige, daß es den Eingeborenen in den Ohren dröhnte. „Ar-we-nack!" schrien nun auch die anderen, und ihr Kampfruf übertönte das Kriegsgeheul der Wilden. Wütend droschen die Maoris mit ihren Keulen auf die anrückende Schar ein. Einem von ihnen gelang es, dem Rothaarigen auf die Schulter zu hauen, daß dieser in die Knie ging und gequält aufstöhnte. Aber plötzlich war der Narbenmann da! Er schwang einen Bootsriemen, ließ ihn niedersausen und fegte gleich drei, vier Gegner aus dem Kanu. Niemals hätten die Maoris, die ein ausgesprochen kriegerisches Volk waren, den „weißen Teufeln" so viel Mut zugetraut. Sie waren erstaunt und entsetzt darüber, mit welcher Tapferkeit die Handvoll Männer sich gegen sie zur Wehr setzte. Trotzdem zweifelte der alte Häuptling des Stammes, der sich an Bord des zweiten Kriegskanus befand, nicht daran, daß die Maoris schließlich den Sieg davontragen würden. Ihrer Übermacht waren die Weißen nicht gewachsen. Daran änderte auch die Tatsache nichts, daß sie die furchterregenden feuerspeienden Rohre hatten, mit denen sie vorher über die Köpfe der Eingeborenen geschossen hatten.
32 Arwenack, der Schimpanse, hatte seine Stirn in Falten gelegt und die breiten, wulstigen Affenlippen verwundert vorgestülpt. Sein dunkles Gesicht war ein einziger Ausdruck der Betroffenheit und Ungläubigkeit. Er hatte sogar aufgehört, auf dem Stück Brotfrucht herumzukauen. Er hockte in unveränderter Haltung auf dem Bugspriet der „Isabella" und lauschte dem wütenden Geschrei, das vom Ufer der Bucht herüberdrang. Viel zu sehen war nicht mehr, die Umrisse der Boote waren mit dem schwarzen Vorhang der Nacht verschmolzen, und nur andeutungsweise ließen sich die heftigen, ruckartigen Bewegungen der Gestalten an Bord der Jollen und Kanus verfolgen. Was war nur los? Warum zankten sich die Zweibeiner? Und wer waren die vielen bunt bemalten Exemplare, die so überraschend aufgetaucht waren und über seine, Arwenacks, Menschen hergefallen waren? Der Affe stieß einen dumpfen, klagenden Laut aus. Er begann um seine Menschen, die er sehr liebgewonnen hatte, zu bangen. Ben Brighton hatte das Achterdeck verlassen. Er warf noch einen Blick in die Dunkelheit, dann fällte er seine Entscheidung. Die Culverinen und Drehbassen der „Isabella" konnte er nicht einsetzen. Erstens ließ das die Finsternis über der Bucht nicht zu, und zweitens hätte er seinen Kapitän und die Kameraden in den Jollen dadurch unweigerlich mit in Gefahr gebracht. Jede auch noch so präzise abgefeuerte Kugel würde zweifellos nicht nur unter den Wilden aufräumen, sondern auch die Seewölfe in den Jollen verletzen. Die Handfeuerwaffen konnte Ben auch nicht verwenden, um den Be-
drängtenzuhelfen. Abgesehen von den unzureichenden Sichtverhältnissen war die Distanz zwischen der „Isabella" und den Booten viel zu groß. Und ein drittes Beiboot, mit dem man zu den Kameraden hinüberpullen konnte, gab es nicht. Doch der Seewolf und die zwölf anderen in den Jollen brauchten dringend den Beistand der restlichen Crew. Hundert zu dreizehn stand das Kräfteverhältnis, und dies bedeutete unweigerlich eine Niederlage für die Männer der „Isabella", selbst wenn sie wieder ihre Musketen, Tromblons und Pistolen abfeuerten und die von Al Conroy mitgenommenen Flaschenbomben zündeten. Auch mit den Flaschenbomben verband sich jedoch das Risiko, daß die Seewölfe in Mitleidenschaft gezogen werden konnten. Die Höllenflasche war keine Nahkampfwaffe, ihre vehemente Explosion kannte keinen Unterschied zwischen Freund und Feind. „Smoky, Blacky!" rief Ben Brighton. „Kutscher, Pete, Jeff, Sam, Luke und Stenmark - ihr schwimmt zu Hasard und den anderen hinüber! Nehmt Messer und Entermesser mit und versucht, diese verdammten Wilden zurückzuschlagen!" „Aye, Sir", sagten die Männer. Rasch entledigten sie sich ihrer Kleidung und behielten nur die Unterwäsche an. Ebenso schnell hatten sie sich der Cutlasses, Schiffshauer und Messer bemächtigt, liefen zum Steuerbordschanzkleid der Kuhl und schickten sich an, in die Tiefe zu springen. „Ben!" rief Dan O'Flynn. „Laß mich mitschwimmen!" „Ich melde mich ebenfalls freiwillig!" schrie Gary Andrews. Ben blickte zu ihnen hoch. „Nein, kommt nicht in Frage! Ihr könnt abentern, aber ich brauche euch hier
Als Leser und Sammler der SEEWÖLFE-Romane schrieb uns Herr W O , str. ,4937 Lage, Lippe, unter anderem: „Ich habe eine große Bitte an Sie. Wäre es vielleicht möglich, daß Sie mir eventuell ein paar der mir fehlenden Hefte besorgen könnten? Folgende SEE WÖLFE fehlen mir noch: 1, 3, 5, 8, 10-16, 19-25, 27, 29, 31, 33, 34, 36, 41. 44, 45, 49, 55, 71, 78, 84, 90, 119,120,128." Wir sagten bereits, daß wir innerhalb der Redaktion nur über unsere ArchivExemplare verfügen, auf die wir nicht verzichten können. Unsere Bitte an die verehrten Leser: Vielleicht kann j e mand Herrn O die gewünschten Exemplare vermitteln? Vielen Dank. An dieser Stelle auch noch einmal der Hinweis, daß Sie die SEEWÖLFE abonnieren können. Wenden Sie sich bitte an unseren Vertrieb in Rastatt, 7550 RASTATT, Pabelhaus. Und nun noch eine Bitte: Wenn Sie uns schreiben, vergessen Sie nicht, Ihre Adresse auch auf dem Brief anzugeben, da der Briefumschlag häufig bei unserer Poststelle verlorengeht. Ein interessanter Brief von Herrn A D , 5600 Wuppertal, erreichte uns. Er schreibt: „... Das Forum ist sehr vielversprechend. Die Rißzeichnung hat mir gut gefallen. Die laufende Handlung innerhalb der SEEWÖLFE-Romane finde ich sehr spannend. Gespannt kann man auch auf die geplanten VergangenheitsAbenteuer der Seewölfe sein. Da liegt noch viel Abenteuer verborgen. Hasards Söhne geben der Serie auch viel Auftrieb. Sie lassen die Abenteuer oft realistischer erscheinen, denn manch-
mal wuchs die Crew zu wahren Übermenschen heran. Die Taschenbücher sind den Autoren gut gelungen. Bontys Erlebnisse werden bis jetzt sehr realistisch geschildert, was zum Teil sicher an der Ich-Form liegt. Vor allem Fred McMason hat in dem ersten Band viel Einfühlungsvermögen bewiesen. Die Autoren kann man eigentlich nur alle loben. Roy Palmer hat sich sehr gesteigert. Nur Davis J. Harbord macht sich etwas rar. Seine Romane sind eigentlich die besten. Aber solch eine Autorenhitparade ist eigentlich ein bißchen unfair. Über die Titelbilder braucht man nicht viel zu sagen, sie sind immer gleich gut. Alles in allem ist die SEEWÖLFE-Reihe eine gute Unterhaltungs-Serie. Negativ ist höchstens die klischeehafte Zeichnung der Spanier. Sie sind meistens die Bösen, während die Engländer immer die Guten darstellen. Dieses Konzept bedürfte der Änderung. Dieses Klischee verliert aber an Bedeutung, wenn man sich die nicht vorhandene Brutalität der Serie anschaut. Die Seewölfe zeigen, daß man unterhaltsame und spannende Romane machen kann, ohne daß das Blut aus den Seiten läuft. Diesen Verzicht auf Brutalität sehe ich hauptsächlich in den Gefechtsszenen. Diese Stellen könnten sehr viel brutaler und mit mehr Gewalt geschildert sein. Daß sie es nicht sind, dazu kann man den Autoren gratulieren. .. Ich hoffe, daß beide SEEWÖLFE-Serien noch lange bestehen." Ein aufschlußreicher Brief, nicht wahr? Was meinen die SEEWÖLFE-Leser dazu? Für heute grüßt Sie sehr herzlich Ihre SEEWÖLFE-Redaktion und die SEEWÖLFE-Autoren.
36 an Bord. Wir lichten den Anker und manövrieren zu den Jollen und Kanus hinüber. Notfalls greifen wir mit Piken und Säbeln in das Geschehen ein, aber ich glaube, die Wilden suchen endgültig das Weite, wenn sie die ,Isabella' auf ihre verfluchten Kanus zuhalten sehen!" Smoky, Blacky und die anderen sechs hatten das Schanzkleid erklommen und ließen sich außenbords fallen. Jeder hatte seine ganz spezielle Art zu springen - Blacky hechtete beispielsweise kopfunter und mit vorgestreckten Armen ins Wasser, während Pete Ballie einen echten Seemannsköpfer vollführte. Smoky sprang mit den Füßen zuerst ins Naß, Jeff Bowie schien sich mit seiner Eisenhakenprothese irgendwo in der Luft festzuhalten - und der Kutscher hielt sich mit zwei Fingern sogar die Nase zu. Fast gleichzeitig landeten sie alle in den Fluten, tauchten unter und bewegten sich mit ausholenden Bewegungen unter Wasser fort. Sie klemmten sich die Entermesser zwischen die Zähne, die Messer hatten sie sich in den Hosenbund geschoben. Mit energischen Stößen brachten sie sich den kämpfenden Parteien näher. Als sie gut zehn Yards von der „Isabella" entfernt wieder auftauchten, um Luft zu schöpfen, befürchteten sie, von den feindlichen Eingeborenen entdeckt zu werden. Doch die vom Südwind getriebenen schwarzen Wolken hatten sich so dicht über der Bucht zusammengeballt, daß kein Mondschein mehr bis aufs Wasser drang. Kein Wolkenloch öffnete sich, um auch nur einen Streifen fahlen Lichtes durchzulassen. Es war stockfinster geworden, fast von einem Augenblick zum anderen. Ungesehen schwammen die acht Männer weiter. Sie tauchten erst wieder, als sie
kurz vor den beiden Jollen und den vier Kriegskanus waren, von denen wüstes Gebrüll herüberdröhnte. Rasch legten sie die letzten Yards Distanz zurück und langten bei dem ersten Kanu an, in dem der Seewolf immer noch mit Warewa, dem Maori, boxte und rang. Shane hielt sich mit einem Bootsriemen die Gegner vom Leib, die in die Jolle hinüberspringen wollten. Old O'Flynn unterstützte ihn dabei, indem er seine Krücke meisterhaft als Waffe einsetzte. Al, Bill und die Zwillinge jumpten soeben von der Jolle in das Kanu, um dem Seewolf den Rücken und die Seiten freizuhalten. Eine heulende Schar von Tätowierten empfing sie mit Keulen und Paddeln. Ferris Tucker, Carberry, Batuti, Matt Davies, Will Thorne und Bob Grey kämpften gleichfalls wie die Berserker - doch weder hier noch dort, in der zweiten Jolle, fiel auch nur ein Pistolenschuß. Hasard hatte es ihnen oft genug eingeschärft: Sie sollten, wenn es irgend möglich war, keine Eingeborenen töten, sondern höchstens Gefangene machen. Solange sie nicht in Notwehr handeln mußten, sollten sie Fairneß walten lassen, auch dann, wenn der Gegner es nicht verdient hatte. Erstaunlicherweise aber gingen die Maoris auf diese Taktik ein. Plötzlich bedienten sie sich nicht mehr der Äxte und Speere, die ihnen noch verblieben waren. Sie benutzten nur noch ihre Keulen, um deren Härte an den Köpfen und Leibern der „weißen Dämonen" auszuprobieren. Hasard hatte seinen Degen inzwischen längst weggesteckt, und seine zwölf Begleiter folgten diesem Beispiel. Statt mit den Blank waffen drangen sie mit allem, was sich als Hiebwaffe anbot, gegen die Überzahl der Feinde vor: mit Riemen, Belegnä-
37 geln, Handspaken, erbeuteten Keulen und Paddeln - und natürlich mit ihren bloßen Fäusten. Eine beispiellos wilde, erbitterte Keilerei nahm ihren Lauf. Smoky, Blacky und die sechs anderen Schwimmer schoben sich neben dem Kriegskanu hoch. Sie wollten entern, aber mit einemmal wurden die Eingeborenen ihrer doch gewahr. Ein Hagel von Paddel- und Keulenhieben ging auf die Köpfe der acht nieder. „Untertauchen!" rief Smoky. „Wir packen den verfluchten Kahn von unten und bringen ihn zum Kentern!" Gesagt, getan - sie verschwanden, bevor die tätowierten Krieger sie niederknüppeln konnten. Durch geschickte Arm- und Beinarbeit brachten sie sich unter den flachen Rumpf des Kanus, griffen danach und fingen an, mit vereinten Kräften zu rütteln und zu schaukeln. * Hasard registrierte zwar, daß die Eingeborenen jetzt nur noch mit den Steinkeulen kämpften, aber die Auseinandersetzung mit dem leicht angekratzten Gegner nahm ihn derart in Anspruch, daß er keine Zeit hatte, sich ausgiebig darüber zu wundern. Eins stand jedoch fest: Diese wilden, bemalten Männer schienen etwas von der Natur ihrer Widersacher begriffen zu haben. Und sie selbst hatten - bei aller Angriffswut, die sie an den Tag legten - nicht die nötige Gemeinheit, um die Fairneß der Seewölfe als ihre Chance auszunutzen. Wie leicht hätten sie jetzt, da Hasard und seine Männer nur noch schlugen und boxten, aber nicht mehr fochten, stachen und schossen, die Gelegenheit beim Schopf packen können! Sie hätten nur ihre Streitäxte wirbeln zu lassen brauchen,
und schon hätte es bei den Gegnern Tote und Schwerverletzte gegeben. Aber ein blutiges Gemetzel schien auch ihnen nicht im Sinn zu liegen. Hatten sie ähnliche Vorstellungen von Aufrichtigkeit und Fairneß wie der Seewolf und dessen Crew? Hasard konnte es sich kaum vorstellen. Jede weitere Überlegung wurde ausgeschaltet, denn das große Kriegskanu begann jetzt wie verrückt zu schwanken. Hasard, Al, Bill und die Zwillinge mußten sich festhalten, um nicht über Bord zu fallen. Einige Eingeborene hatten nicht aufgepaßt - sie stürzten aus dem Kanu und klatschten ins Wasser. Sofort setzte ein wütendes Geheul ein, die wilden Kerle hieben an Backbord und Steuerbord ins Wasser, um sich die lästigen Taucher vom Leib zu schaffen. Aber natürlich erreichten ihre Paddel und Keulen die acht von der „Isabella" nicht - und das Schaukeln und Schwanken nahm zu. Warewa taumelte, fing sich wieder - und warf sich mit einem Schrei auf den Seewolf. Als das Kanu querschlug und kenterte, wurden sie beide ins Wasser katapultiert. Warewa nahm den „bösen weißen Dämon mit den schwarzen Haaren" in eine Art Schwitzkasten. Hasard wand sich und wollte sich dem mörderischen Griff entziehen, aber es gelang ihm nicht. Fest ineinander verkeilt tauchten sie unter und balgten sich unter der Oberfläche des Wassers weiter. Gegenseitige Fairneß, das bedeutete noch lange nicht, daß der tätowierte Mann ihn verschonen würde, wenn er im Zweikampf die Oberhand gewann. In einem Duell, ganz gleich, mit welchen Waffen es ausgetragen wurde, mußte eine der beiden Parteien zwangsläufig das Zeitliche segnen, es sei denn, es geschah ein unerhörter Zufall.
38 Hasard drehte sich ruckartig und brachte sich in eine günstige Position. Der Krieger befand sich jetzt unter ihm, doch lockerte er seinen tödlichen Griff nicht um einen Deut. Hasards Bein schmerzte höllisch, und die Atemluft wurde ihm knapp. Er fühlte Panik in sich aufsteigen, unterdrückte sie aber mit aller Macht. Verzweifelt bäumte er sich unter dem Einfluß des Würgegriffs auf, aber auch das nutzte nichts. Nein, siegen durfte der Eingeborene nicht! In äußerster Notwehr war jeder Gegengriff legitim, und deshalb bediente sich Hasard jetzt einer Methode, die Sun Lo, der weise Mönch von Formosa, ihn seinerzeit gelehrt hatte. Warewa wußte nicht, wie ihm geschah. Plötzlich verdrehten sich seine Arme wie von selbst, und unsagbarer Schmerz fuhr durch seinen Körper. Er fühlte sich gekrümmt und glaubte, seine sämtlichen Knochen müßten ihm im Leib brechen. In jähem Entsetzen öffnete er den Mund und schluckte Wasser. Der Schwarzhaarige entglitt ihm, er konnte ihn nicht mehr daran hindern. Schwarze Wirbel tosten vor Warewas Augen, und er, hatte das schreckliche Gefühl, gierige Strudel würden nach seinem Körper greifen. Langsam drehte er sich im Wasser, sank noch ein Stück tiefer, doch dann nahm die Auftriebskraft der Fluten ihn mit zur Oberfläche. Er wurde nicht ohnmächtig, aber ihm war zumute, als habe ihn eine unheimliche Macht für alle Zeiten gelähmt. Was war das nur? Was war geschehen? Er begriff es nicht. Er schaute sich nach dem Schwarzhaarigen um, doch der schien verschwunden zu sein. Hasard war rasch aufgetaucht und hatte frische Luft geschöpft. Jetzt tauchte er wieder, um sich zwischen die im Wasser schwimmenden Wil-
den zu bringen und seine Männer im Kampf zu unterstützen. Das Handgemenge ging weiter, im Wasser wie in den Kanus und Jollen. Smoky, Blacky, der Kutscher und Pete Ballie waren aufgetaucht und mischten eifrig in der Keilerei mit. Jeff Bowie, Sam Roskill, Luke Morgan und Stenmark, der Schwede, schwammen zum nächsten Kriegskanu hinüber, um auch dieses umzuwerfen. Al Conroy, Bill, Hasard junior und Philip junior waren wie der Seewolf in den Fluten gelandet, aber Shane und Old O'Flynn standen nach wie vor zwischen den Duchten der stark schlingernden Jolle und teilten Hiebe mit Bootsriemen und Krücke aus. So viel, daß sie die Gegner von den Kameraden im Wasser unterscheiden konnten, erkannten sie in der Dunkelheit gerade noch. Von Westen näherte sich ein riesiger Schatten. Ben, Dan und Gary hatten den Anker der „Isabella" gelichtet. Gary hatte das Quarterdeck aufgesucht und ließ im Ruderhaus das Ruderrad kreisen, um die Galeone auf den Kampfplatz zuzusteuern. Ben und Dan hatten rasch das Großsegel gesetzt. Die „Isabella" schob sich auf das dritte und vierte Kanu zu, um sie mit ihrem Bug unterzupflügen. Plötzlich erkannten die Maoris, daß die Auseinandersetzung eine Wende nahm - allem Anschein nach zu ihren Ungunsten. 7. Mitten im Getümmel war etwas geschehen, was weder von Hasard noch von den anderen Männern der Jollen bemerkt worden war: Philip junior und Hasard junior hatten sich gegenseitig die Köpfe gestoßen, als sie aus dem kenternden Kanu gefal-
39 len waren. Es dröhnte mächtig in ihren jungen Schädeln, und fast schwanden ihnen die Sinne. Dies war aber noch nicht das Schlimmste. Sie hatten bei dem Zusammenprall die Handspaken verloren, mit denen sie auf die Eingeborenen eingehauen hatten, und über weitere Waffen verfügten sie nicht. Nicht einmal Messer hatten sie bei sich, die waren in der Jolle zurückgeblieben. So sahen sie sich jetzt, als sie wieder auftauchten, einer kleinen Gruppe von Maoris gegenüber, die sich sofort ihnen zuwandte. Und sie konnten sich nur mit den bloßen Fäusten verteidigen! Die Wilden schwammen auf sie zu. Erst waren es sechs oder sieben, dann aber gesellten sich im Wasser noch ein paar andere zu ihnen. Es wurden zehn, zwölf, immer mehr und kein Mann der „Isabella" war in der Nähe, um den Zwillingen Beistand zu leisten. Der Seewolf selbst kehrte seinen Söhnen gerade den Rücken zu. Er hatte es mit zwei Tätowierten aufgenommen, die Al Conroy mit ihren Keulen zusammenschlagen wollten. Blacky, Smkoy, der Kutscher und Pete Ballie hatten in diesem Moment auch alle Hände voll zu tun, denn die Zahl der Gegner aus dem gekenterten Kanu war immer noch groß. Und die anderen - Jeff, Sam, Luke, Stenmark und die Männer der zweiten Jolle - waren alle viel zu weit von Hasard junior und Philip junior entfernt. Sie konnten sie im Dunkeln nicht einmal sehen. Nur Bill, der Moses, drehte plötzlich den Kopf und sah, wie die Meute Wilder den Zwillingen nachschwamm - auf das Ostufer der Bucht zu, wohin Hasard und Philip sich offensichtlich retten wollten. Old O'Flynn und Big Old Shane konnten die Krieger auch nicht mehr aufhalten, denn sie hatten noch ge-
nug mit den Kerlen zu tun, die die Jolle umlagerten und immer wieder angriffen, um sie zu entern oder umzustoßen. Außerdem hatten die Eingeborenen in dem dritten Kriegskanu soeben wieder zu den Paddeln gegriffen und nahmen vor der drohend aus der Dunkelheit hervorwachsenden Galeone Reißaus. Sie bahnten sich einen Weg zwischen dem zweiten Kriegskanu, Ferris Tuckers Jolle und den im Wasser Kämpfenden hindurch und steuerten genau auf Old O'Flynn und Big Old Shane zu. „He, Shane!" schrie der Alte. „Die wollen uns aus dem Weg räumen und anschließend über Hasard und die anderen herfallen!" Shane blickte zu dem heranrauschenden Kanu und stieß einen tiefen, verächtlichen Laut aus. „Können vor Lachen! Die werden sich an uns die Zähne ausbeißen. Hast du nicht gesagt, du würdest deine Haut so teuer wie möglich verkaufen?" „Dabei bleib ich auch, du Stint!" „Dann pack deine verdammte Krücke weg und schnapp dir einen Riemen", brummte der graubärtige Riese. „Wir wollen versuchen, ihren Scheißkahn umzustoßen - und dazu ist deine Krücke zu kurz, kapiert?" Während der alte O'Flynn und der ehemalige Schmied von Arwenack Castle diesen einzigartigen Dialog führten, hatten die Zwillinge sich bereits um gut zwanzig Yards von der Jolle entfernt. Sie schwammen, so schnell sie konnten - so, wie ihr Vater, Siri-Tong und die Männer der „Isabella" es ihnen beigebracht hatten. Sie schwammen um ihr Leben. „Fliehen, das ist feige!" rief Philip seinem Bruder zu. „Nein! Es sind zu viele!" „Wenn wir wenigstens noch die Handspaken hätten!" „Mußtest du deine Birne denn auch gegen meinen Kopf knallen?" stieß Hasard junior prustend hervor.
40 „Das war nicht meine Schuld!" protestierte Philip junior. „War es doch!" „Hör auf", keuchte Philip, dem der Kopf immer noch gehörig brummte. „Tauchen wir lieber!" „Tauchen hat keinen Zweck", haspelte sein Bruder hervor. „Sie sind uns zu dicht auf den Hacken. Sie kreisen uns ein und kriegen uns auch unter Wasser ..." Er schluckte einen Schwall Salzwasser und spuckte ihn sofort wieder aus. Fast kam der Hustenreiz, der ihm dabei in der Kehle aufstieg, zum Durchbruch. Verzweifelt kämpfte er dagegen an. Es wäre sein Untergang gewesen, jetzt zu husten. Noch mehr Wasser wäre ihm in die Atemröhre gedrungen, er hätte zwangsläufig mit dem Schwimmen aussetzen müssen - und die Wilden hätten ihn gehabt. Gemeinsam erreichten sie den schmalen Sandstreifen, den ihr Vater kurz vorher als Landeplatz für die Jollen ausgesucht hatte. Schwer atmend krochen sie aus dem Wasser, schleppten sich an Land und hielten sofort nach einem geeigneten Versteck Ausschau. „Los, kriechen wir in dem Gebüsch unter", stieß Philip junior hervor und wies auf die dichten Blätter der Farne. „Danach sehen wir weiter. Wenn die Kerle uns schnappen und als Geiseln festhalten, können sie Dad zu allem möglichen zwingen." Sie stürzten ins Dickicht. Die Eingeborenen waren inzwischen auch so weit gelangt, daß sie Grund unter den Füßen hatten, sich im Wasser aufrichten und waten konnten. Mit grimmigen Mienen strebten sie auf das Land zu. Im feuchten Gestrüpp griff Hasard junior plötzlich nach dem Arm seines Bruders. „Hast du das gehört?" „Was?" „Da war ein Knacken ..."
„Klar, das sind unsere Verfolger. Los, laufen wir", zischte Philip. „Das Geräusch war aber links", flüsterte Hasard junior. „Die Wilden sind rechts hinter uns." „Na und?" raunte Philip. „Dann war's eben einer der Riesenvögel. Das kann uns doch jetzt egal sein. Los, nichts wie weg hier." Sie bahnten sich einen Weg durch das Uferdickicht. Sie ahnten nicht, daß der unheimliche Beobachter sein Versteck verlassen hatte und ihnen entgegenlief, daß er alles daransetzte, sie so rasch wie möglich zu erreichen. Aber dieses rätselhafte gefiederte Wesen war nicht der einzige, der den Dschungel am Rand der Bucht mit seinen Händen teilte und mit schnellen Schritten durchmaß. Wie erschreckend dicht der Farnwald bevölkert war, bemerkten die Zwillinge erst, als es für sie schon zu spät war. Vor ihnen erhoben sich dunkle, tätowierte Gestalten und verstellten ihnen den Weg - acht, neun, zehn, nein, noch viel mehr Wilde waren es, die schon seit einiger Zeit im Busch gelauert haben mußten. Erst jetzt ging es den Söhnen des Seewolfs auf, daß die Eingeborenen natürlich nicht nur von der Wasserseite her vorgedrungen waren, sondern daß sie auch an Land ihre Streitmacht bereithielten, die für alle Eventualitäten gerüstet war. Jedem der „weißen Dämonen", der sich vom Wasser an Land rettete, wären die wilden Männer entgegengetreten, furchtlos hätten sie sich mit den Fremden geschlagen. Über die beiden Kinder, die ihnen jetzt genau in die Arme liefen, konnten sie nur lachen. Sie hoben nicht einmal die Waffen, sondern öffneten nur die Hände, um die Zwillinge zu packen. Aber sie kannten die Killigrews nicht! Philip und Hasard schraken
41 zwar unwillkürlich zusammen, als sie die Front der Gegner aus dem Urwald auftauchen sahen, aber das war für sie noch lange kein Grund zur Kapitulation. „Attacke!" schrie Philip seinem Bruder zu. Sie blieben nicht stehen, wichen auch nicht aus. Sie duckten sich nur und rammten den ersten beiden Kerlen ihre zwar nach wie vor schmerzenden, aber keineswegs ramponierten Köpfe in den Leib. Die Wilden gaben ächzende, gequälte Laute von sich und ruderten mit den Armen. Sie kippten hintenüber. Die Zwillinge turnten über sie weg und nahmen es mit den nächsten Kerlen auf. Wie weggewischt war das überlegene Lächeln der Maoris. Sie stießen ärgerliche Laute aus, umzingelten die beiden widerspenstigen Kerlchen und hoben ihre Keulen, um sie auf ihre Köpfe niedersausen zu lassen. Bevor das geschah, sprang jedoch der Gefiederte aus dem Gebüsch hervor. Er schwang die steinerne Keule, die er von den Maoris erbeutet hatte, und ließ dabei die wüstesten Geräusche vernehmen. Er fürchtete selbst die Übermacht der Eingeborenen, aber etwas anderes hatte ihm einen wilden, draufgängerischen Mut verliehen, der über alle anderen Empfindungen siegte. Die Männer des Schiffes und auch die beiden Jungen hier bedienten sich derselben Sprache wie er. Sie war seine Muttersprache. Zwei, drei Maoris sanken getroffen zu Boden und blieben besinnungslos liegen. Die anderen erkannten trotz der Finsternis, mit wem sie es zu tun hatten - und traten die Flucht an. Der böse Dämon, der an diesem Nachmittag Torana und Hatara getötet hatte, würde auch sie umbringen, davon waren sie überzeugt. Er
wütete wie besessen und würde auch eine Hundertschaft von Kriegern niedermachen - so glaubten sie jedenfalls. Plötzlich waren sie wie ein Spuk im Farnwald verschwunden. Philip und Hasard wandten sich verdutzt zu dem unheimlichen Gesellen um. „Kommt", sagte er hastig. „Folgt mir. Habt keine Angst, ich tue euch nichts zuleide. Ich will euch nur helfen." „He", stieß Hasard junior verblüfft hervor. „Wer oder was bist du? Ein Vogel - oder ein Vogelmensch?" „Oder ein Geist", sagte Philip junior. Der Fremde griff nach Hasards Hand und zog den Jungen mit sich fort. Philip zögerte zunächst noch, schloß sich den beiden dann aber an, denn inzwischen waren auch die Eingeborenen, die ihnen schwimmend gefolgt waren, am Ufer angelangt. Mit einem Heidengebrüll sprangen sie ins Dickicht. Ganz unvermittelt stießen sie mit den Dschungelspähern zusammen, die Philip und Hasard hatten überwältigen wollen, und um ein Haar hätten sie sich auf die eigenen Stammesbrüder geworfen. „Der Dämon!" rief einer der Späher. „Er ist wieder da. Sein Fluch wird uns alle vernichten! Fort, nichts wie fort!" „Nein!" schrie einer der Schwimmer. „Wir sind jetzt genug Männer, um ihn töten zu können. Soll er unseren Pah denn wieder und wieder angreifen? Wir müssen ihn zur Strecke bringen und mit ihm die kleinen weißen Teufel, die mit ihm verbündet sind!" Er wandte sich hastig dem Platz im Dickicht zu, auf dem die erschrockenen Späher wiesen. „Zurück!" riefen ihm die anderen nach. „Du rennst in dein Verderben!"
42 Der Maori hatte die Stelle erreicht, an der der kurze Kampf stattgefunden hatte. Hier war der Farn niedergetrampelt, und zwischen den Blättern lagen eine Keule und eine Streitaxt, die zwei Krieger während des Handgemenges verloren hatten. Verschwunden waren die Feinde. Der Wind, der höhnisch durch den Regenwald heulte und wisperte, schien sie mitgenommen zu haben. „Hierher!" schrie der Maori. „Sie sind fort!" „Sie haben sich in Luft aufgelöst!" brüllte einer der Späher aus dem Dickicht zurück. Ihm steckte der Schreck über den Anblick des Dämons immer noch tief in den Knochen. „Nein, nein!" rief jetzt jedoch ein anderer, beherzterer Mann. „Das kann nicht sein. Die anderen, die wir mit unseren Kriegskanus angegriffen haben, haben sich ja auch nicht unsichtbar gemacht." „Sie sind verwundbar wie wir", sagte sein Begleiter zur Rechten. „Und wir können sie töten, wenn wir nur wollen!" rief ein dritter. Die Mutigen waren in der Überzahl. Sie drangen tiefer ins Gebüsch vor und nahmen die Verfolgung der drei Flüchtenden auf. Einige Zaudernde rangen sich zu dem gleichen Entschluß durch und schlossen sich der Meute an. Nur wenige Maoris blieben am Ufer der Bucht zurück. Als sie plätschernde Laute im Wasser und das Atmen eines Menschen vernahmen, drehten sie sich zur Bucht hin um. Sie sahen die Gestalt eines jungen Mannes, der sich in diesem Moment aus dem flachen Uferwasser aufrichtete. Er selbst konnte sie nicht erkennen, weil sie ausreichend getarnt zwischen den großen, dicht verwachsenen Farnen standen.
Bill wollte Philip junior und Hasard junior auf keinen Fall im Stich lassen. Und wenn es sein Leben kostete, er wollte wenigstens versuchen, sie herauszuhauen. Darum zögerte er keinen Augenblick, aus dem Wasser ans Ufer zu stürmen, in dessen Dickicht er die wilden Kerle hatte schreien hören. Was war geschehen? Hatten sie die Zwillinge etwa schon gefangengenommen? Bill preßte die Lippen fest zusammen, und bei dem Gedanken daran, was Philip und Hasard zugestoßen sein konnte, stiegen ihm fast die Tränen in die Augen. Wild entschlossen hetzte er auf das Gebüsch zu und hob den Belegnagel und das Messer, die er als Waffen aus der Jolle hatte mitnehmen können. Er prallte fast mit den Kriegern zusammen, die lautlos und ohne sich zu regen zwischen den Farnen auf ihn gelauert hatten. Im letzten Moment gewahrte er ihre bronzen wirkenden Gestalten zwischen den schwarzen Blättern, schwang den Belegnagel und versuchte, ihn dem über den Schädel zu ziehen, der ihm am nächsten stand. Bill traf, aber die Widerstandskraft des Wilden war groß. Er fiel nicht um wie ein gefällter Baum wie Bill erwartet hatte - sondern zog nur stöhnend den Kopf ein. Wankend stand er da, und Bill, der Moses der „Isabella", hatte keine Gelegenheit mehr, ihn durch einen zweiten Koffeynagelhieb zu Boden zu schicken. Ein zweiter Maori packte Bill von hinten. Bill wehrte sich nach Kräften, doch der Gegner drehte ihm beide Arme herum, so daß der Junge das Messer verlor. Den Belegnagel konnte er noch für eine Weile halten, aber als Waffe nutzte er ihm nichts mehr, da der Eingeborene ihn eisern in sei-
44 nem Klammergriff festhielt. Bill wollte ihm gerade mit Wucht gegen das Schienbein treten, da war ein dritter Krieger neben ihm und setzte ihm die Faust gegen die Schläfe. Die Welt ging mit Donnern und Tosen unter, und glutrote Schächte öffneten sich vor Bill, um ihn in eine unbekannte, düstere Sphäre hinunterzureißen. Tintenschwarze Finsternis breitete sich über allen weiteren Wahrnehmungen aus - Bill war ohnmächtig geworden. Der Maori, dem er den Belegnagel auf den Kopf gehauen hatte, hob mit verzerrter Miene seine Streitaxt. Doch der zweite, der den Jungen immer noch festhielt, stoppte ihn durch seine Worte. „Nicht. Töte ihn nicht. Wir bringen ihn als Gefangenen in den Pah, dort wird unser Häuptling entscheiden, was mit ihm geschieht." „Wir sollten ihn in ein Feuerloch werfen und auf heißen Steinen rösten", stieß der erste haßerfüllt hervor. „Wir sollten ihn zur Strafe aufessen, das ist die gerechte Vergeltung." „Der Häuptling soll entscheiden", wiederholte der andere Krieger. „Helft mir. Wir tragen ihn fort, zum Liegeplatz der Kanus, wo unsere Brüder sich nach der Schlacht wieder versammeln werden." 8. Hasards Männer hatten es geschafft und auch das zweite Kriegskanu zum Kentern gebracht. Mit schrillen Rufen landeten die Eingeborenen im Wasser der Bucht. Der Seewolf, Al Conroy, der Kutscher, Smoky, Blacky und Pete Ballie hatten mittlerweile genügend Gegner bewußtlos geschlagen, um sich dem dritten Kanu zuwenden zu können. Das Kanu schob sich längsseits
der ersten Jolle, aber es gelang den Maoris nicht, zu entern, denn Old O'Flynn und Big Old Shane droschen emsig mit den Bootsriemen auf sie ein. Ferris Tucker, Carberry, Batuti, Matt Davies, Will Thorne und Bob Grey wehrten den zornigen Angriff der Krieger des vierten Kanus ab. Die Seewölfe hielten sich erfolgreich gegen die Übermacht, aber noch war keine Entscheidung abzusehen. Der Kampf tobte hin und her. Hasard, der jetzt mit einem Schwimmzug das dritte Kanu erreicht hatte, ahnte, daß die Energien seiner Männer sich bald erschöpften. Dann drehten die Gegner, von denen immer noch schätzungsweise siebzig kampffähig waren, den Spieß garantiert um. Hasard hob die Hände und wehrte ein Paddel ab, das sich schwungvoll auf seinen Kopf senkte. Er faßte es, klammerte sich daran fest und riß seinen Besitzer mit aller Kraft zu sich ins Wasser. Der Kerl landete mit einem lauten Klatscher neben ihm und tauchte unter. Hasard trat Wasser, hielt das Paddel, von dessen Griff die Hände des Gegners jetzt abgeglitten waren, über seinem Kopf und knallte es zwei anderen Maoris, die sich zu ihm niederbeugten, gegen den Leib. Sie kippten in ihr Kanu zurück. Die anderen Kerle quittierten die Attakke des Seewolfs mit wütendem Geheul. Al, der Kutscher, Smoky, Blacky und Pete waren nun ebenfalls heran. Mit vereinten Kräften zerrten sie an der Kante der Bordwand und brachten das Kanu in eine gefährliche Schräglage. Old O'Flynn und Big Old Shane handelten reaktionsschnell. Sie stemmten ihre Bootsriemen gegen die ihnen zugewandte Bordwand des Eingeborenenfahrzeugs, lehnten sich dagegen und halfen auf diese
45 Weise mit, auch dieses Kanu umzu- worden war. kippen. Dan justierte in alle Eile das Rohr Die Wilden purzelten Hasard und der Culverine. Er nickte Ben zu, und seinen Männern im Wasser entgegen. Ben senkte die glimmende ZündMit einemmal schienen die Fluten zu schnur auf das Bodenstück. Knibrodeln. Die vielen braunhäutigen sternd fraß sich die Glut durch das Gestalten gerieten sich gegenseitig Pulver im Kanal, erreichte das ins Gehege. Sie tauchten unter, Zündkraut in der Kartusche - und schluckten Wasser, schlugen wild um mit einem armdicken Feuerstrahl sich und stießen gurgelnde Laute stob die 17pfünderkugel aus dem aus. Panik breitete sich zwischen ih- Rohr. Die Culverine rollte so blitzarnen aus. tig auf Deck zurück, als wollte sie die Hasard beschloß, dies auszunut- Brook zerfetzen, doch das Tau bremste die Lafette mit einem Ruck, und zen. Der Kerl, den er am Paddel zu sich das Rumpeln der Hartholzräder herabgezogen hatte, schoß neben setzte aus. Ein Donnergrollen, wie ihm hoch und wollte ihm die Faust auch die Vulkane des neuen Landes gegen das Kinn schmettern. Hasard es nicht besser hätten hervorbringen bemerkte ihn rechtzeitig genug, können, wälzte sich vor dem Wind blockte den Hieb mit dem linken über die Bucht. Beißender PulverArm ab und schlug selbst mit der qualm breitete sich nach allen Seiten rechten Faust zu. Er traf den Einge- aus. borenen an seiner rechten, mit vielen Pfeifend war die Kanonenkugel kunstvollen Ornamenten tätowier- über die Köpfe der Kämpfenden hinten Wange, und stieß seine erschlaf- weggeflogen. Jetzt verschwand sie fende Gestalt von sich. weit links von dem Platz, an dem Hasard mit den Jollen hatte landen Der Seewolf wandte den Kopf. Er konnte"die „Isabella" als wuch- wollen, im Dickicht. Ein Knacken tigen Schattenriß keine zehn Yards und Prasseln verkündete, daß sie den von sich entfernt erkennen. Und er Stamm eines Baumes umrasiert hatkonnte auch Ben und Dan sehen, die te. sich übers Steuerbordschanzkleid Um die Fassung der Maoris war es der Kuhl gelehnt hatten und zwei dieses Mal endgültig geschehen. Ohlange Piken bereithielten. Sie woll- nehin schon durch den geringen Erten auf ihre Art in das Getümmel folg verunsichert, den ihre Uberraeingreifen... schungsaktion ihnen bisher eingebracht hatte, stieg ihre Panik jetzt „Ben!" schrie Hasard. ins Uferlose. Sie schrien und brüllten „Sir - ich höre!" tönte es zurück. und ließen von ihren „Feuert einen 17pfünder ab! Über durcheinander Gegnern ab. Plötzlich dachten sie unsere Köpfe hinweg zum Ufer, wo nur noch an Aufgabe und Rückzug. die Kugel keinen Schaden anrichten Sie schwammen zu dem vierten Kakann!" nu hinüber, um sich an Bord zu ret„Aye, aye, Sir!" schrie Ben Brighton, und dann stand er auch schon ten und davonzupaddeln. Hasard sah einen alten, weißhaarihinter dem drittvordersten Geschütz der Steuerbordseite, packte den gen Krieger, der seinen Begleitern Luntenstock und tauchte die Zünd- immer wieder etwas zuschrie. Der schnur tief in das Kupferbecken, größte Teil der Wilden wechselte dessen Holzkohlenglut gerade erst daraufhin die Richtung und hielt auf von Dan O'Flynn frisch auf geschürt das Buchtufer zu.
46 Zweifellos war der Alte ihr Anführer, und er hatte ihnen zu verstehen gegeben, daß nicht alle in dem vierten Kriegskanu Platz haben konnten. Hätte die ganze Schar sich auch nur daran festgehalten, so wäre es gekentert oder gesunken. „Ihnen nach!" schrie Old Ó'Flynn. „Sir, willst du sie etwa abhauen lassen?" „Laßt sie reisen!" rief der Seewolf, während er in bequemer Rückenlage auf die Jolle zuschwamm. „Sie haben vorerst genug. Vielleicht haben sie heute abend auch etwas hinzugelernt." Ja, die tätowierten Männer schienen eine Gemütswandlung erfahren zu haben. In aller Hast klomm der kleinere Teil ihrer Gruppe in das vierte Kanu, der Rest stieg am östlichen Ufer aus dem Wasser und schlug sich in die Büsche. Das Kanu glitt unter flinken Paddelschlägen davon - zur Ausfahrt der Bucht, um so schnell zu verschwinden, wie es aufgetaucht war. Die drei anderen Kanus und eine stattliche Anzahl bewußtloser Krieger blieben als traurige Überbleibsel der Schlacht im Wasser der kreisrunden Bucht zurück. Einige von denen, die unter den kräftigen Hieben der Seewölfe besinnungslos geworden waren, waren noch rechtzeitig genug wieder zu sich gekommen, um zum Fluchtkanu oder an Land zu schwimmen. Die anderen hier jedoch schwebten so tief im Reich der Träume, daß sie vor Ablauf des nächsten Glases nicht wieder aufwachen würden. Hasard war bei der Jolle angelangt und hielt sich am Dollbord fest. „Wir müssen die Bewußtlosen auffischen!" rief er. „Das ist unsere Pflicht. Sie ertrinken sonst jämmerlich." „Ja, sammeln wir sie ein", sagte auch Big Old Shane grimmig. „Eini-
gen von ihnen werden wir wohl ein paar Gallonen Wasser aus der Brust pressen müssen. Kutscher, he, Kutscher?" „Hier, Shane", meldete sich Hasards Koch und Feldscher aus dem Wasser. „Ich schätze, es gibt auch für dich Arbeit", brummte Big Old Shane. „Ich glaube zwar nicht, daß diese Kerle Löcher in ihren Rüben haben, aber ein paar anständige Kratzer haben sie abgekriegt. Und wir wollen sie doch verbinden, nicht wahr, Sir?" „Ja", antwortete der Seewolf. „Wir hieven sie alle an Bord der ,Isabella' und verarzten sie dort. Für kurze Zeit werden sie unsere Gefangenen sein, aber dann bringen wir sie zu ihrem Stamm zurück." „Ist das wirklich dein Ernst?" erkundigte sich Old O'Flynn. Hasard wandte den Kopf und schaute zu ihm auf. „Natürlich, Donegal, frag doch nicht so dumm. Eine überzeugendere Tat gibt es nicht. Die Eingeborenen werden dann endlich begreifen, daß wir keine üblen Absichten haben." „Ich für meinen Teil bin der Ansicht, daß sie gar nichts begreifen", versetzte der Alte mit griesgrämiger Miene. „Aber wenn's darauf ankommt, noch mal eine deftige Prügelei abzuziehen - bitte, dann bin auch ich dabei." „Eines Tages landest du wegen Anstiftung zur Meuterei in der Vorpiek", teilte der Seewolf ihm grinsend mit. Er schaute sich um und forschte nach den Gesichtern seiner Männer. Da waren Al und der Kutscher, die jetzt auf die Jolle zustrebten, Smoky, Blacky und die anderen, die von der „Isabella" ins Wasser gesprungen waren, um ihren Kameraden zu helfen. Die Besatzung der zweiten Jolle unter Ferris Tuckers Führung schien ebenfalls vollständig zu sein.
47 Soeben fingen die Männer damit an, die bewußtlos im Wasser treibenden Eingeborenen zu bergen. Hasard ließ seinen Blick weiterschweifen. Als er die drei Bordjüngsten nirgends entdeckte, wurde er unruhig. „Wo sind Bill und die Zwillinge?" rief er. Seine Männer sahen sich entgeistert an. * Der Farnwald entwickelte ein beängstigendes Eigenleben, überall raschelte und tuschelte, knackte, grunzte und heulte es. Der Wind, der nach wie vor hartnäckig über das Land hinwegpfiff, griff in die Wipfel der Bäume und in die Blätter der Farnsträucher und schüttelte sie energisch durch. Philip junior und Hasard junior war es nicht ganz wohl in ihrer Haut. Hasard hatte die Hand des unheimlichen Vogelmenschen losgelassen. Zweifel hatten ihn und seinen Bruder befallen. Durften sie diesem mysteriösen Gesellen denn wirklich trauen? Oder führte er sie bloß in eine neue Falle? Stockdunkel war es in dem Dschungel, man konnte die Hand nicht vor Augen sehen. Der Gefiederte bewegte sich jedoch mit großer Sicherheit. Er schien sich bestens auszukennen. Immer wieder blieb er stehen, drehte sich zu ihnen um und gab ihnen durch zischende, drängende Laute zu verstehen, daß sie sich beeilen sollten. Hasard junior stolperte über eine Baumwurzel und stürzte beinah. Er keuchte, taumelte voran und prallte dem Unheimlichen, der so ausgezeichnet Englisch sprach, gegen den gefiederten Leib. „He, paß doch auf, du wirfst mich ja um", flüsterte der Fremde, von
dem sie immer noch nicht wußten, ob er nun ein richtiger Mensch war oder nicht. „Warum kehren wir nicht zur Bucht zurück?" fragte Hasard junior. „Weil sie uns auf den Fersen sind", zischelte das Wesen. „Aber ich höre sie nicht..." „Sie verstehen sich darauf, lautlos durch den Busch zu schleichen. Sie sind noch hinter uns her, verlaß dich darauf, und es wird uns einige Mühe kosten, sie abzuhängen." „Wohin bringst du uns?" wollte Hasard wissen. „In die Berge. Habt keine Angst." Philip junior stieß plötzlich einen kleinen Schrei aus, denn etwas flatterte vor seinem Gesicht herum und stieß krächzende Laute aus. Philip strauchelte, setzte sich mitten zwischen den Farnen auf den Hosenboden und schlug mit den Händen nach dem aufdringlichen, lästigen Etwas. Aber es wollte nicht weichen. Es hörte zwar auf, ihm mit den Flügeln ins Gesicht zu schlagen, setzte sich jetzt aber auf seine Schulter und hakte kleine, spitze Krallen in seinem Hemdstoff fest. Philip lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Der Gefiederte und Hasard junior waren bei ihm und beugten sich besorgt über ihn. „Was ist denn los?" raunte der Vogelmensch. „Junge, schrei doch nicht. Du lockst uns noch den gesamten Stamm der Maoris auf den Hals." „Maoris?" fragte Hasard verdutzt. „So heißen die Wilden." „Das Biest läßt mich nicht los", schimpfte Philipp junior. „Himmel, was ist das bloß - eine Fledermaus?" „Warte, ich helfe dir", sagte sein Bruder. Das „Biest" begann aber, an Philip Juniors Ohr herumzuknabbern und leise brabbelnde, zutrauliche Laute hervorzustoßen. Endlich ging dem
48 Jungen ein Licht auf. „Ich werd verrückt", sagte er. „Das ist ja - Sir John!" Er hob seine rechte Hand, legte sie dem Aracanga auf das Köpfchen und begann ihn zu streicheln. Sir John wurde vor Zufriedenheit ein wenig flacher und ein bißchen breiter, er plusterte sich auf und murmelte ein glückliches „Schockschwerenot". „Wie kommt denn der hierher?" wollte Hasard junior wissen. „Vorhin, als der Kampf begann, ist er weggeflogen", flüsterte sein Bruder. „Er muß sich wohl im Urwald versteckt haben, statt zur ,Isabella' zurückzufliegen." „Dann schick ihn doch zurück", wisperte Hasard junior. „Er kann Dad und den anderen Männern Bescheid geben, daß wir hier im Dschungel sind." „Ich glaube, so klug ist er nun doch wieder nicht." „Aber der Profos hat ihn doch gut dressiert." „Sir John", sagte Philip so eindringlich und ernst wie möglich. „Flieg zur ,Isabella'. Sag Dad, daß wir wohlauf sind. Verstehst du? Nun mach schon. Hau ab! Jesus, kapierst du denn gar nichts?" Sir John wetzte seinen Schnabel spielerisch an der Hand des Jungen und redete allerhand zusammenhangloses Zeug wie „Schrickt weg die Schoten, ihr Kakerlaken" und „Klar Schiff zum Gefecht", Dinge, die er von seinem geliebten Herrn, dem Profos, gelernt hatte. Er konnte auch auf spanisch fluchen, und das war für einen Papagei schon allerhand. Nur richtig verstehen konnte er die Sprache der Zweibeiner natürlich nicht, jedenfalls nicht ihrem Wortsinn nach, da war sein winziges Vogelhirn überfordert. Friedlich blieb er auf Philips Schulter sitzen. „Er ist zu dämlich dazu", stellte Ha-
sard junior bedrückt fest. „Mann, wer hätte das gedacht." „Der Papagei hat sich im Dschungel verirrt", raunte der Vogelmensch ihnen zu. „Sonst wäre er längst zu eurem Schiff zurückgekehrt." Plötzlich bewegte er seinen Kopf, beugte sich lauschend vor und hielt die Zwillinge mit einer Geste des Entsetzens an den Armen fest. „Da!" flüsterte er. „Da kommen sie! Wir müssen weiter, sonst sind wir verloren." Tatsächlich konnten jetzt auch die Zwillinge deutlich die Geräusche vernehmen, die aus dem Dickicht hinter ihrem Rücken drangen. Da murmelte jemand etwas Unverständliches, und ein zweiter Jemand schien ihm genauso leise zu antworten. Vielleicht nahmen die Eingeborenen an, daß sie ihre Gegner noch recht weit vor sich hatten. Deshalb erlaubten sie es sich, einen kurzen, gedämpften Wortwechsel zu führen - und verrieten den Zwillingen und dem Gefiederten ihren Standort. Philip erhob sich rasch vom Boden. Sir John blieb auf seiner Schulter sitzen und rührte sich nicht um einen Zoll vom Fleck. Der Vogelmensch übernahm wieder die Führung, und sie eilten durch den dichten, feucht riechenden Farn davon. 9. Bill erwachte aus seiner kurzen Bewußtlosigkeit. Nadelfeiner Schmerz jagte zuckend und peinigend durch seinen Kopf. Übelkeit stieg von seiner Magengegend her auf, er drohte von neuem ohnmächtig zu werden. Die wippenden Bewegungen seines Körpers verhinderten es jedoch, sie hielten seine Sinne wach. Diese Bewegungen erfolgten ohne
49 Bills Zutun. Er begriff erst, als er die Augen vorsichtig öffnete: Wie ein schlaffer Mehlsack hing er zwischen zwei tätowierten Eingeborenen, die ihn quer durch den Urwald transportierten. Der hinten gehende Mann hatte seine Hände unter seine Achseln geschoben, der vordere hielt seine Beine fest. Sie marschierten im Gleichschritt dahin. Wohin? Bill gab sich über sein weiteres Schicksal keinen Illusionen hin. Die Wilden hatten zwar in der Bucht recht fair gekämpft, aber das bedeutete noch lange nicht, daß sie ihn jetzt verschonten. Entweder benutzten sie ihn als Geisel, um den Seewolf und die Crew der „Isabella" zu erpressen, oder sie brachten ihn um. Ob sie nun wirklich Menschenfresser waren oder nicht, war dabei von nebensächlicher Bedeutung. Ich spür's ja nicht mehr, wenn sie mich kochen und vertilgen, nachdem sie mich erwürgt oder erdolcht haben, dachte er. Eine Spur von Selbstmitleid schwang in seinen düsteren Vorstellungen mit. Aber sie wurde durch die Sorge um die Zwillinge ausgelöscht. Philip und Hasard - was war mit ihnen geschehen? Er, Bill, mußte nicht nur sein Leben retten, er mußte auch den Seewolf davon unterrichten, daß die Zwillinge im Urwald verschwunden waren. In welcher Richtung ungefähr, das wußte der Moses ja, und so konnte man einen Suchtrupp bilden und nach den Verschwundenen forschen. Nur rasch mußte es geschehen, so rasch wie möglich! Vielleicht hatte er einen winzigen Vorteil, den Hauch einer Chance, Erst jetzt wurde ihm richtig bewußt, daß die Wilden ihn nicht gefesselt hatten. Wahrscheinlich hatten sie sich gedacht, daß er so schnell nicht wieder zu sich kommen würde. Und
sie hatten es ja auch noch nicht bemerkt, daß er bei vollem Bewußtsein war. Das mußte er ausnutzen. So kräftig wie Hasard, Ferris Tukker oder Shane bin ich nicht, dachte er, aber ich kann auch ganz schön kräftig zuhauen und zutreten, verlaßt euch drauf, ihr Himmelhunde. Plötzlich zog er seine Beine an den Leib. Der Vordermann dachte zwar nicht daran, ihn loszulassen, aber Bill stieß die Beine ruckartig wieder vor und rammte dem Kerl beide Füße so wuchtig in den Allerwertesten, daß dieser einen Satz nach vorn vollführte. Seine Hände glitten von Bills Fußknöcheln ab. Er stolperte mitten ins Farndickicht und verschwand vorerst darin. Bills Füße landeten auf dem weichen Waldboden. Er riß den Oberkörper nach vorn, bückte sich und zog den zweiten Eingeborenen über seinen Rücken weg. Mit einem wunderschönen, gleichsam akrobatischen Salto kugelte der Kerl über ihn weg und ließ dabei die Arme seines Gefangenen los. Er landete unsanft auf dem Rücken und brauchte zwei, drei Atemzüge Zeit, um sich wieder aufzurappeln. Bill genügten diese wenigen Augenblicke. Er wandte sich nach rechts und tauchte im Gebüsch unter. Zu sehen war die Bucht von hier aus nicht, und auch der Mond bot ihm keine Orientierungshilfe, weil er ja hinter den finsteren Wolken versteckt war. Doch Bill half sich auf andere Art. Der Wind, der in der kurzen Zeit seiner Ohnmacht kaum umgesprungen sein konnte, wehte ihm von schräg links entgegen, also von Südwesten, und das bedeutete, daß Bill jetzt nach Westen rannte zurück zur Bucht. In seinem Kopf pochten noch immer die Schmerzen, aber er scherte
50 sich den Teufel darum. Jetzt galt nur noch eins: daß er so schnell wie möglich die Bucht erreichte. Bald hörte er das Rauschen der Brandung. Kampflaute waren jedoch nicht mehr zu vernehmen, das Gefecht mit den Wilden schien vorbei zu sein. Bill strauchelte und fiel. Hart schlug er zwischen den Büschen auf. Er keuchte, erhob sich wieder und taumelte weiter. Alles durfte geschehen, nur durften die Wilden ihn nicht wieder einholen. Von diesem Gedanken angetrieben, gelangte er endlich ans Ufer der Bucht. Die „Isabella" lag leicht nach Backbord gekrängt im Wind, Ben Brighton hatte wieder den Anker fallen lassen. Eine Jolle hatte sich längsseits der Galeone geschoben, und irgend etwas oder irgend jemand schien mit Tauen an Bord gehievt zu werden. Erst etwas später sollte Bill erfahren, daß es die bewußtlosen Eingeborenen waren. Die zweite Jolle glitt auf das Ostufer der Bucht zu. Bill erkannte darin den Seewolf, Big Old Shane, Old Donegal Daniel O'Flynn, Al Conroy, Smoky, Blacky und Pete Bailie. Bill hob die Hand, winkte ihnen zu. „Sir!" rief er. „Sir, hier bin ich!" Jetzt hatten sie ihn entdeckt. Hasard richtete sich von der Achterducht auf, legte die Hände als Schalltrichter an den Mund und rief zurück: „Bill! Bist du wohlauf?" „Soweit ja, Sir..." „Wo sind die Zwillinge?" „Im Urwald verschwunden!" „Haben die Wilden sie überwältigt?" wollte der Seewolf wissen. „Ich weiß es nicht, Sir." „Aber es ist zu befürchten", sagte Hasard mit starrer, fast versteinert wirkender Miene. „Das eine schwöre ich euch, Männer: Wenn sie Philip und Hasard auch nur ein Haar ge-
krümmt haben, vergesse ich alle Rücksicht. Dann schießen wir und werfen unsere Flaschenbomben, daß den Kerlen Hören und Sehen vergeht." * Der Saum des Farnwaldes war erreicht, und die Zwillinge traten mit ihrem merkwürdigen Führer auf einen buschbewachsenen Hang, der allmählich zu der Region emporstrebte, in der Bill und Gary am Nachmittag die Fontänen und den Dampf gesichtet hatten. Hier, außerhalb des Dschungels, war es kaum heller, aber die drei gelangten jetzt rascher voran. „Lauft, so schnell eure Beine euch tragen", raunte der Gefiederte ihnen zu. „Wenn wir erst oben bei den Geysiren und Schlammkratern sind, werden die Maoris die Hetzjagd schon aufgeben." Er beschleunigte seine Schritte. Schwer atmend hastete er den Weg hinauf. Philip und Hasard hatten keine Mühe, ihm zu folgen. Sie waren nicht nur gute Schwimmer, sondern auch ausgezeichnete Läufer - was durchaus nicht bei allen Leuten der Fall war, denen im Laufe der Jahre Seebeine gewachsen waren. Viele Teerjacken und Beachcombers waren recht schlecht zu Fuß. Aber ein echter Killigrew war vielseitig und in jeder Lebenslage Meister der Situation, jawohl! Hasard junior, der genau dies dachte, war sich seiner Überheblichkeit bewußt, aber ein bißchen Arroganz brauchte er jetzt schon, um hier, in dem fremden Land voller unangenehmer Überraschungen, seine Angst zu bezwingen. Philip junior kam überhaupt nicht zum Überlegen, denn er hatte immer noch mit Sir John zu tun. Immer
52 wieder hatte er versucht, den Papagei abzuwimmeln und fortzuschikken, aber der Aracanga war ein echter Dickschädel. Tief duckte er sich auf Philips Schulter. Jetzt aber schlüpfte er rasch unter das Hemd des Jungen, denn der zunehmende „Fahrtwind" drohte ihn von der Schulter zu werfen. Zum Fliegen hatte er keine Lust. Es war ja so bequem, sich von einem Zweibeiner durph die Gegend transportieren zu lassen! Philip junior gab es auf. Er fand sich damit ab, daß er den Vogel wahrscheinlich die ganze Nacht über mit sich herumtragen mußte, zumindest so lange, bis man an Bord der „Isabella" zurückkehren konnte. Aber wann würde das sein? Schwerer, rollender Donner war jetzt zu vernehmen. Er drang aus den Bergen und lief wie der Vorbote eines drohenden Unheils bis zur Küste des Landes hinunter. Vulkanisches Gebiet. Die Zwillinge wußten, welche Ausmaße eine Naturkatastrophe annehmen konnte, sie hatten selbst schon einiges erlebt, und was sie noch nicht kannten, hatte ihr Vater ihnen auseinandergesetzt. Ein Vulkanausbruch konnte zu jeder Stunde, zu jeder Tageszeit erfolgen, die feuerspeienden Krater waren unberechenbar. Eine Eruption konnte eine ganze Insel vernichten oder eine neue entstehen lassen, es handelte sich um einen gigantischen Vorgang, der an Weltuntergang und Apokalypse denken ließ und dem der Mensch völlig machtlos gegenüberstand. Und in diese Region liefen sie jetzt? Ja, war denn das nicht ein Fehler? Wieder verspürten die Jungen heftige Zweifel an der Aufrichtigkeit ihres Führers. Lockte er sie in ein neues Unglück? Aber sie hatten keine andere Wahl,
als ihm zu folgen. Als sie sich auf dem Hang umdrehten und zum Farnwald zurückblickten, gewahrten sie die schattenhaften Gestalten, die nach und nach aus dem Busch hervorschlichen. Daran, daß es die kriegerischen Maoris waren, bestand nicht der geringste Zweifel. So blieben Philip und Hasard also dabei, das „geringere Übel" zu wählen, wie man es hätte nennen können. Sie hielten sich neben dem Gefiederten und ließen sich von ihm immer höher hinauf in das Vorland der Berge geleiten, auch auf die Gefahr hin, daß sie vom Regen in die Traufe gerieten. Weiter oben, auf der Kuppe eines flachs- und farnbewachsenen Hügels, sahen sie plötzlich ein Wesen, das sie so unheimlich anmutete wie der „Vogelmensch" selbst. Ein langer Hals reckte sich ihnen entgegen, und dunkle Augen schienen sie neugierig zu beobachten. „Das ist ein Moa", erklärte der Gefiederte keuchend. „Vor dem braucht ihr euch nicht zu fürchten. Der ist so harmlos wie ein Huhn." „Moas", sagte Hasard junior. „So heißen also die Riesenvögel. Können sie wirklich nicht fliegen?" „Sie können es nicht. Daran werden sie eines Tages zugrunde gehen. Man kann sie leicht jagen." Mißtrauisch äugte ihr Führer den Hang hinunter. Er konnte jedoch die Gestalten der Verfolger im Moment nicht sehen. Aufgeholt hatten sie ganz gewiß nicht, und so nutzte er die kurze Pause zum Verschnaufen. „Es gibt noch mehr solche flugunfähigen Vögel auf Neuseeland", fuhr er fort. ,Allerdings sind sie nicht so groß wie die Moas. Die kleinen Brüder der Moas heißen Kiwis - putzige Burschen, die im Dickicht leben. Ja, und dann gibt es noch den Kakapo, einen Eulenpapagei, der in Wurzellöchern nistet. Er kann auch nur laufen, der
53 arme Kerl." „Neuseeland", wiederholte Philip junior leise. „Ist das der Name dieses Kontinents?" „Ja, so hab ich ihn jedenfalls getauft. Aber dies ist kein Kontinent, Junge. Dies hier ist eine Insel. Fast so groß wie Merry Old England ist sie, aber der Teufel soll mich holen, wenn sie keine echte Insel ist." „So", murmelte Hasard junior. „Dann wäre das Rätsel ja gelöst. Dad hat also recht gehabt. Aber du - wer bist du?" „Ich erklär's euch später. Laßt uns erst mal weiterklettern", sagte der seltsame Mann. „Hier entlang bitte, meine Freunde, sonst tretet ihr noch in ein Schlammloch." Er griff nach Philips Arm und zog den Jungen mit sich fort. Als in der Senke, die sie wenig später durchquerten, die heißen Wasserfontänen urplötzlich aus dem Boden hochschossen und die Schlammvulkane drohend glucksten und blubberten, kicherte der Mann. „Das ist euch nicht geheuer, was?" sagte er. „Ja, auf Neuseeland ist der Teufel los. Hier ist man der Hölle näher als anderswo, glaubt es mir." Wieder lachte er. Philip und Hasard blickten sich an. Zwar sprachen sie die Frage nicht aus, aber sie stellten sie sich gleichzeitig: War der Vogelmensch etwa verrückt? 10. Erst im Morgengrauen erreichten sie die große Höhle, in der es so warm war, daß man kein Feuer anzuzünden brauchte. Der Gefiederte ließ sich ächzend auf dem Boden nieder, wies auf ein paar geflochtene Matten, die ihm gegenüber vor der senkrecht aufstrebenden Grottenwand lagen, und sagte: „Macht es euch ge-
mütlich, Kinder. Hier sind wir vor den Maoris sicher." „Das glaube ich auch", meinte Philip junior. „Wir sind ja quer über die ganze Insel gewandert." „Unsinn, nicht mal über die halbe Insel", sagte der Mann fröhlich. „Ich erklärte euch doch schon, sie ist..." „Fast so groß wie Merry Old England", sagte Hasard junior. Der Mann schlug sich mit der Hand aufs Knie und lachte. „Richtig! Ihr seid zwei helle Burschen, das hab ich gleich gemerkt. Wißt ihr denn auch, wieso die Wilden sich hier nicht herauftrauen?" Philip grinste schief. „Sie haben bestimmt Angst, daß sie sich den Hosenboden verbrennen." Der Mann kicherte. „Das auch. Aber der Grund ist ein anderer. Sie glauben, daß hier oben die Götter hausen. Sie sind verdammt abergläubisch, versteht ihr? Oh, ich hab schon genug von ihrer Sprache gelernt, und ich hab sie oft genug belauscht, wenn sie miteinander gesprochen haben. Kreuz und quer über die Insel bin ich gewandert, und ich weiß genau, wo ihre Dörfer stehen. Pahs nennen sie ihre Dörfer, wußtet ihr das?" „Nein, keine Ahnung", erwiderte Hasard junior. „Wir sind ja zum ersten Male hier." „Wer seid ihr?" Philip junior, der sich wie sein Bruder bislang nicht hingesetzt hatte, baute sich vor dem kuriosen Menschen auf und stemmte beide Fäuste in die Seiten. „Also, hör mal! Das haben wir dich auch schon gefragt, und es gehört sich ja wohl, daß du zuerst deinen Namen sagst. Und wieso siehst du so wunderlich aus? Sind dir hier Federn gewachsen - oder was ist los?" Wieder lachte der Mann. Er wollte sich ausschütten vor Heiterkeit. Dann aber, als er sah, daß die Jungen
54 eine feindselige Haltung einnahmen, erhob er sich wieder und begann, an seinem seltsamen Federkleid herumzunesteln. Plötzlich öffnete er es und legte es ab wie einen Mantel. Gleich darauf zerrte er mit den Fingern an seinem häßlichen Gesicht herum und hob eine Maske an, die er sich über sein eigentliches Antlitz gestülpt hatte. Lachend warf er sie zu dem Federmantel, den er achtlos in den hinteren Bereich der warmen Höhle geschleudert hatte. „So, jetzt kennt ihr mein Geheimnis", sagte er. „Ich habe mich getarnt, damit die Inselwilden glauben, ich sei ein Dämon oder so was Ähnliches. Wirklich, Jungs, ich bin ein richtiger Mensch. Meine Wiege stand in Bristol, jawohl, ihr dürft mir ruhig glauben. Ich bin ein waschechter Engländer - wie ihr!" Philip und Hasard und auch Sir John, der inzwischen wieder auf die Schulter von Philip junior geklettert war, betrachteten den Mann verwundert. Was da unter dem Federbusch erschienen war, war auch nicht sehr viel ansehnlicher: ein dicklicher Kerl mit krummen Beinen, ganz in Lumpen gehüllt. Richtige Schuhe besaß er nicht, er hatte sich ein paar Stoffetzen undefinierbarer Farbe um die Füße gewickelt. Sein Bart, der ihm bis auf die Brust herabhing, war grau und verfilzt, und in seinem grinsenden Mund gab es keinen einzigen weißen Zahn, nur häßliche Stummel. Sein Gesicht war schmutzig, und seine kleinen rötlichen Augen lagen in tiefen, schattigen Höhlen. Er war eher ein Wrack von Mensch als ein Mensch. „Wenn ich ehrlich sein soll", erklärte Hasard junior, „dann muß ich sagen: Eine Ehre für dein Vaterland bist du nicht gerade, Mister ..." „Ich heiße Jonny." „Jonny - und weiter?" fragte Philip
junior. „Keine Ahnung", erwiderte der Mann fröhlich. „Man nennt mich überall den Sumatra-Jonny, weil ich mal lange Zeit auf Sumatra festgesessen habe und eine Menge über das Land und seine Leute weiß. Nur hier auf Neuseeland bin ich nichts. Eine Null. Die Maoris kümmert es einen Dreck, wer der Sumatra-Jonny ist und was er wohl will. Die würden mich abschlachten und braten, wenn sie rauskriegen würden, daß ich nur ein schwaches, armseliges Menschenkind bin und kein Dämon." „Sind sie wirklich Kannibalen?" erkundigte sich Hasard junior. „Darauf kannst du Gift nehmen, mein Junge." „Sie sind also Teufel in Menschengestalt?" „Das behaupte ich nicht. Ich glaube, sie haben auch ihre guten Eigenschaften, und das mit der Menschenfresserei ist bei ihnen eher ein Kult." Sumatra-Jonny kratzte sich am Kopf und legte sein Gesicht in grüblerische Falten. „Vielleicht könnte man sogar Freundschaft mit ihnen schließen, vielleicht. Aber sie lassen ja keinen an sich ran. Heute nachmittag mußte ich vor ihnen weglaufen, weil sie mich töten wollten. Schön, ich hab ihnen einen schönen dicken Schweinebraten geklaut, aber ist das gleich ein Grund, jemanden umzubringen?" „Wohl nicht", entgegnete Philip junior. „Aber sie scheinen sehr angriffslustig zu sein. Wir haben uns ja auch schon mit ihnen herumprügeln müssen." „Wie der Kampf wohl ausgegangen ist", sagte Hasard junior. „Wir haben doch den Kanonendonner gehört", brummte der SumatraJonny. „Ho, Jungs, ich schwöre euch, daraufhin haben die Maoris schleunigst das Weite gesucht. Musketenfeuer, das können sie noch verkraf-
55 ten, aber wenn so ein Schiffsgeschütz loswummert, dann rutscht auch ihnen das Herz in die Hosentasche. Wollt ihr mir jetzt nicht verraten, wer ihr seid?" „Sofort", erwiderte Philip junior. Er hielt Sir John, der jetzt Anstalten traf, von seiner Schulter zu starten, mit der Hand fest. „Aber vorher mußt du uns einen Gefallen tun." „Für euch tue ich alles, Kameraden!" „Hast du etwas zu schreiben hier?" „Was zu schreiben?" Entgeistert blickte Jonny den Jungen an. „Hölle und Teufel, ich habe hier in der Höhle so allerhand angehäuft, zum größten Teil Zeugs, das ich den Maoris weggenommen habe. Aber was zu schreiben - nee, Mann. Ich kann ja selbst nicht mal schreiben, was soll ich dann mit..." „Ein Stück Leder und ein spitzer Stein würden uns genügen", sagte Hasard junior. Er hatte begriffen, was sein Bruder vorhatte. „Sir John will aufbrechen, und das müssen wir ausnutzen. Bestimmt kehrt er jetzt, bei Tageslicht, zu unserem Schiff zurück." * Die Maoris ließen sich nicht wieder blicken und fielen Hasards Stoßtrupp auch nicht aus irgendeinem Hinterhalt an. Sie waren wie vom Boden weggefegt. Eigentlich hätte der Seewolf darüber froh sein müssen. Dennoch gab es für ihn keinen Grund zur Heiterkeit und Zuversicht. Seine beiden Söhne waren verschwunden, und die Sorge um ihr Schicksal machte ihm seelisch schwer zu schaffen. Ein paar Spuren hatten Hasard und seine sieben Begleiter beim Heranbrechen des neuen Tages zwar entdeckt. Doch sie waren dieser Fährte gefolgt und standen jetzt in
einem schattigen Wald aus Kaurifichten, der sich oberhalb des Springquellen- und Schlammlochgebietes über ein ausgedehntes Plateau erstreckte, ohne weiterzuwissen. Die Spur verlor sich in einem Gebüsch. Shane untersuchte die Fußabdrükke noch einmal, erhob sich dann und sagte: „Drei Leute, soviel steht fest. Die kleineren Abdrücke stammen zweifellos von Philip und Hasard, aber wer ist der dritte, der bei ihnen ist?" „Ein Eingeborener", meinte Smoky. „Das ist doch klar." „Aber wieso nur einer?" fragte Pete Ballie. „Vielleicht ist er der Bewacher, der sie in ein Versteck oder Gefängnis führen soll", sagte Old O'Flynn. „Denkbar wäre es." „Aber es wäre doch logischer, sie von einer ganzen Meute bewachen zu lassen", murmelte der Seewolf. „So unbedarft und unvorsichtig, daß sie die Zwillinge der Obhut eines einzelnen Kriegers anvertrauen, sind diese Eingeborenen ganz gewiß nicht. Und Philip und Hasard hätten bestimmt versucht, einem einsamen Aufpasser ein Bein zu stellen und dann zu flüchten. Nein, das reimt sich nicht zusammen. Irgend etwas stimmt hier nicht." „Seht mal", sagte Blacky. „Da bewegt sich was!" „Sir!" rief Bill, der sich nach seiner Flucht vor den Wilden sofort dem Suchtrupp angeschlossen hatte. „Sir, das ist ein Vogel!" Hasard sagte ziemlich gereizt: „Das ist doch unerheblich. Wir haben keine Zeit, uns jetzt um die verdammte Fauna dieses Landes zu kümmern, wir ..." Er hielt aber mit dem Sprechen inne, weil er den Vogel jetzt ebenfalls entdeckt - und erkannt hatte. „Das ist ja Sir John!" sagte er über-
56 rascht. Er lief los, hastete zwischen den hohen, wuchtigen Baumstämmen hindurch und traf als erster bei dem Papagei ein. Er blieb stehen und blickte zu ihm auf, und diesmal konnte er sich eines amüsierten Lächelns nicht erwehren. Sir John hockte friedlich auf einem dicken Ast und döste. Kaum wahrnehmbar schwankte er hin und her, aber selbstverständlich fiel er nicht herunter. Er schlief so tief, als wäre dies der sicherste Platz der Welt. Das Grollen der Vulkane, das hin und wieder aufklang, schien er ebensowenig zu registrieren wie das Rumoren der übrigen Tierwelt. „Sir John!" rief der Seewolf. „Alle Mann an Deck!" Er mußte es noch zweimal wiederholen, bis der Aracanga verwirrt die Augen aufschlug und sich auf seinem Ast zu bewegen begann. „Satansbraten und Rübenschweine!" wetterte der bunte Vogel, dann aber entdeckte er den Zweibeiner unter sich und sah auch die anderen sieben Männer, die lachend hinter ihrem Kapitän hereilten. Sir John breitete die Schwingen aus, ließ sich vom Ast fallen und schwebte in einer eleganten Schleife zu Hasard hinunter. Mit einem wohligen Laut ließ er sich auf dessen rechter Schulter nieder. „Er hat was am linken Bein", sagte Big Old Shane. Hasard hatte es auch bemerkt. Er wandte den Kopf, hob die Hände und griff nach dem Papagei. Sir John zeterte zwar, als er ihm das Mitbringsel vom Bein losband, aber das Ganze ging doch ohne Schnabelhacken und Flügelschlagen ab. „Ein Stück Rohleder", sagte der Seewolf und faltete es auseinander. Jemand hatte etwas darauf gekritzelt, wahrscheinlich mit einem Stein, das dünne Stückchen gegerbter Haut
dann zusammengerollt und mit einem trockenen Grashalm an Sir Johns Fuß festgebunden. „Eine Nachricht", stieß Hasard verblüfft aus. „Von Philip und Hasard. Sicherlich sollte unser Papagei sie bis zur ,Isabella' tragen, aber unterwegs hat er vor Müdigkeit wohl eine Pause eingelegt und ist eingeschlafen." „Sir, wenn wir das dem Profos erzählen, sperrt er den Vogel für drei Tage ins Kabelgat", sagte Pete Ballie grinsend. „Oder er setzt ihn hier aus", meinte Blacky. „Angedroht hat er's ja oft genug." Der Seewolf las die kurze Nachricht vor: „Dad - wir sind auf dem Berg mit den drei Zinnen. Keine Gefahr, alles in Ordnung." Erleichtert ließ er das Stückchen Leder sinken und blickte aus dem Wald, der jetzt fast zu Ende war, zu den Gipfeln der Berge. Tatsächlich: Eine der höchsten Erhebungen war von drei Steinformationen gekrönt, die an die Zinnen einer Burg erinnerten. „Dann wollen wir mal", sagte er. „Es ist wohl besser, wenn wir unsere beiden Jüngsten abholen, damit sie beim Abstieg nicht doch noch den Eingeborenen in die Hände fallen. Los, Männer, wir haben noch ein ordentliches Stück Weg vor uns." * Der Weg war beschwerlich. Er führte zwischen dampfenden Geysiren und spuckenden Schlammvulkanen hindurch, verlief hart am Rand von Schwefelgasquellen, die abscheulich stanken, vorbei und mit starker Steigung auf das dumpfe, gefahrverkündende Grollen der Vulkane zu. Hasard schritt seinen Männern voran und legte keine Pause ein, ob-
57 wohl seine Beinwunde ihm immer noch einige Schmerzen bereitete. Er wollte den Aufenthaltsort der Zwillinge so rasch wie möglich erreichen und sie von dort fortholen. Nach seinen Berechnungen würde es ohnehin Mittag werden, ehe er bei ihnen war, aber am Spätnachmittag wollte er mit allen wieder an Bord der „Isabella" sein und die Bucht des ungastlichen Landes verlassen. Wider Erwarten hatte es keinen Sturm gegeben. Der Wind blies zwar mit unverminderter Kraft aus Südwesten, und auch die schwärzlichen Wolken trieben immer noch am Himmel dahin, aber eine Verschlechterung der Wetterlage war seit der Nacht nicht eingetreten. So wollte der Seewolf zumindest aufbrechen und damit fortfahren, die fremde Küste zu erforschen. Welchen Kurs er danach nehmen würde, war noch ungewiß. Nur eins stand fest: Er wollte sich vor diesen Ufern nicht länger als irgend nötig aufhalten. Hasard behielt die drei zinnenartigen Felsgebilde im Auge. Er suchte nach natürlichen Pfaden, aber manchmal war er gezwungen, seine Männer über Geröllhalden und durch tiefe Einschnitte des Berglandes zu führen. Es war ein abenteuerlicher Ausflug, man konnte sich an den heißen Quellen versengen oder abstürzen und sich sämtliche Knochen brechen. Als die drei Zinnen höchstens noch zwei Meilen entfernt waren, stiegen die Männer durch eine Art Hohlweg auf ein Plateau hinauf. Hier oben verharrten sie für eine Weile wie gebannt, denn der Ausblick, der sich ihnen bot, war von einzigartiger Exotik. Geysire kochten am Rand des Plateaus und spuckten in unregelmäßigen Zeitabständen ihre heißen, dampfenden Fontänen aus. Dazwischen dehnten sich Wasserlöcher
aus, natürliche Felsenbecken, die mit kristallklarer türkisfarbener Flüssigkeit gefüllt waren. Vom Plateau aus stiegen Terrassen zu den höher gelegenen Regionen auf, und auch diese waren mit Wasser gefüllt, während ihr Gestein in herrlichen Farben leuchtete, weiß und Rosarot. Hasard und seine Begleiter nahmen dieses einzigartige Schauspiel der Natur für Minuten in sich auf, dann wandten sie sich um und blickten von den Bergen zum Farnwald und zur Küste des Landes hinunter. Dort unten nahm sich überdeutlich die kreisrunde Bucht aus, die „Isabella" lag wie ein Kinderspielzeug darin. „Wunderbar, nicht wahr?" sagte Bill. „Aber, Sir, woher rühren die eigenartigen Farben dieser Felsenterrassen?" Der Seewolf ließ seinen Blick wieder über die Wasserlöcher und Gesteinsstufen wandern, deren Untergrund von schillernden Schwefelfarben geprägt zu sein schien. Er überlegte eine Weile, dann erwiderte er: „Ich stelle mir das so vor. In einem hoch gelegenen Krater sprudelt eine heiße Quelle. Das Wasser läuft über die Dutzende von Felsstufen ab, bildet weiter unten einen Bach und windet sich schließlich als kleiner Fluß bis zur See. Ich glaube, das Wasser enthalt viel Kieselsäure, die den Felsen im Laufe der Zeit mit einer weißen, rosaroten und lichtblauen Kristallschicht überzogen hat. Wenn mich nicht alles täuscht, nennt man diese Formationen Kieselsinterterrassen." Noch einmal sah er an den eigenartigen, phantastisch schillernden Terrassen empor - und plötzlich sah er seine Söhne. Sie standen ganz oben am Rand der höchsten Terrasse und winkten ihm zu. Neben ihnen tauchte eben ein untersetzter, bärtiger und zerlumpter
58 Mann auf, der ebenfalls die Hand zu einer grüßenden, aber irgendwie verlegen wirkenden Geste hob. „Männer, wir haben es geschafft", sagte der Seewolf. „Und ich nehme an, daß wir gleich eine neue, interessante Bekanntschaft schließen." * Sie mußten über die schmalen Ränder der Sinterterrassen balancieren, um bis nach oben zu gelangen. Blacky und Al Conroy rutschten bei diesem Unternehmen beinah aus und drohten in die heißen Fluten zu stürzen. Sie ruderten wild mit den Armen und vollführten noch andere groteske Bewegungen, um ja nicht in dem heißen Naß zu landen. Sie hatten Glück, fingen ihren Sturz auf und schoben sich vorsichtig weiter auf dem schlüpfrigen Sims entlang. „Stellt euch bloß nicht so zimperlich an", sagte Big Old Shane, der gleich hinter ihnen dahinpirschte. „Ein Bad könnte euch nicht schaden." „Dir auch nicht", brummte Old O'Flynn hinter seinem Rücken. „Wie ist es, Shane, springst du freiwillig, oder soll ich mit meiner Krücke nachhelfen?" „Wenn du mich stößt, hast du keine Zeit mehr, dein letztes Gebet zu sprechen", drohte der graubärtige Riese. Etwas später standen sie den Zwillingen und dem glückselig grinsenden dicklichen Menschen gegenüber, der von Philip junior als „SumatraJonny" vorgestellt wurde. Jonny schüttelte allen acht Männern die Hände, dann blickte er zu dem Papagei, der jetzt auf Smokys Schulter hockte. „Also, ich hab's ja nicht glauben wollen, daß der Vogel wirklich zu euch stößt", sagte er. „Wie hat er das bloß fertiggebracht?" „Es war mehr ein Zufall, daß wir
ihn fanden", entgegnete der Seewolf. Smoky, Shane und die anderen lachten. „Jonny hat uns das Leben gerettet", erklärte nun Hasard junior. „Wenn er nicht gewesen wäre, hätten die Maoris uns bestimmt überwältigt und in ihren Pah geschleppt." Er berichtete, was sich am Ufer der Bucht zugetragen hatte. Als er geendet hatte, legte der Seewolf dem Sumatra-Jonny die Hand auf die Schulter. „Dafür danke ich dir, Jonny", sagte er. „Und ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, in diesem fremden Land einen Engländer angetroffen zu haben." „Danke, Sir." Jonny traten vor Rührung fast die Tränen in die Augen. „Übrigens ist es eine Insel..." „Hol's der Henker", sagte Old O'Flynn. „Wenn Ben Brighton das hört, bricht er zusammen!" „Wie bist du hier gelandet, Jonny?" wollte der Seewolf jetzt von dem abgerissenen Mann wissen. Sumatra-Jonny fuhr sich mit der Hand durch den langen Bart und begann: „Das war so. Ich hab den beiden kleinen Jungs hier schon erzählt, daß ich mal 'ne ganze Zeit auf Sumatra verbracht habe. Ja, von dort wurde ich wieder aufgefischt, so ungefähr vor zwei Jahren. Ich geriet was für ein Glück, dachte ich - an Bord eines dreimastigen Engländers. Eine stattliche Galeone, Sir, das kann ich dir versichern! Sie war von Ormuz durch die Straße von Malakka und über die Sundainseln in die Südsee unterwegs. Neue Eilande wollte man entdecken und nach Bodenschätzen abforschen - so wurde mir jedenfalls versichert." „Und du schriebst dich in die Musterrolle ein?" „Ich nicht, Sir. Ich kann nicht schreiben. Der Bootsmann dieses verdammten Kahns trug mich ein, und damit hatte ich mein eigenes Ur-
60 teil gefällt. Wollt ihr wissen, was für ein Kahn das in Wirklichkeit war?" „Ein Sklavenfänger, nehme ich an", sagte Hasard. Sumatra-Jonny blickte ihn aus weit aufgerissenen Augen an. „Wie? Bist du etwa Hellseher, Sir?" „Nein, aber ich kann zwei und zwei zusammenzählen. Neuerdings holen die Sklavenjäger sich ihre lebende Fracht nicht nur aus Afrika, sondern auch aus der Südsee, nicht wahr?" „So ist es", erwiderte der Mann aus Bristol wütend. „Aber ich wollte da nicht mitmachen. Ich habe auch keine ganz reine Weste, Sir, aber mit so was, nee, mit so was wollte ich mich nicht beschmutzen. Der Mensch hat doch ein Gewissen, sagte ich mir, und damit ging ich auch zum Kapitän. Aber der ließ mich nicht mehr abmustern ..." „Er setzte dich hier aus?" „Ja, Sir. Vor anderthalb Jahren. Der Kapitän und die anderen Kerle von dem Sklavensegler dachten wohl, die Insel hier wäre unbewohnt. Aber das ist ein Irrtum. Hier leben ein paar tausend Maoris, ich kann es beschwören. Diese Insel - ich habe sie Neuseeland getauft - ist für jeden weißen Mann ein gefährliches Schlangennest, denn die Maoris verteidigen ihr Reich ohne Rücksichtnahme." „Aber sie kämpfen recht fair", gab Hasard zu bedenken. „Nicht immer. Mich haben sie heute nachmittag fast getötet, und ich war wehrlos." „Augenblick", sagte Philip junior. „Du hast ihnen aber auch mächtig Angst eingejagt, Jonny. Sie dachten, du wärst ein gefiederter Dämon!" Jonny lächelte verlegen und erzählte dem Seewolf, was es mit der Dämonen-Geschichte auf sich hatte. „Ich habe eine Idee, Jonny", sagte der Seewolf daraufhin, und plötzlich war er stockernst.
Sumatra-Jonny fuhr sich mit der Zungenspitze über die trockenen Lippen. Er blickte an sich hinunter und zupfte an seiner Lumpenkleidung herum, trat verlegen von einem Fuß auf den anderen und meinte schließlich: „Sir, ich habe deine Söhne schon danach gefragt, und sie haben mir versichert, daß es wohl was werden würde. Aber ich trete jetzt natürlich mit der - äh - ganz offiziellen Bitte vor dich, den Kapitän des stolzen Seglers ,Isabella', hin..." „Mach es nicht so spannend, Jonny", sagte Big Old Shane. „Wir wissen doch, was du fragen willst. Glaubst du denn, wir lassen einen Landsmann im Stich?" „Ruhe!" sagte der Seewolf scharf, dann, wieder zu Jonny gewandt: ,Bitte. Sprich aus, was du auf dem Herzen hast." „Würdest du mich mit auf deine Galeone nehmen, Sir?" „Als Decksmann, Jonny?" „Sicher. Ich bin ein anständiger Seemann und weiß meine Arbeit ordentlich zu verrichten, wenn auch im Moment nicht viel Staat mit mir zu machen ist." „Auf Äußerlichkeiten lege ich in diesem Fall keinen großen Wert", sagte Hasard. „Das heißt also..." „Daß du bei uns mitfahren kannst, so weit du willst." „Nur ein paar hundert Meilen weit, bis wir ein Schiff treffen, das mich mitnimmt bis zu den Sundainseln oder nach Malakka", sagte der Sumatra-Jonny eifrig. „Länger falle ich euch auch nicht zur Last!" „Wenn du willst, kannst du bis nach England mitsegeln", sagte der Seewolf, und er war immer noch sehr ernst. „Vorausgesetzt, du gibst uns keinen Anlaß zu Ärger." „Ganz gewiß nicht, Sir!" „Aber einen Gefallen mußt du mir tun."
61 „Sir?" „Dein Federkleid und die Gesichtsmaske, die ganze Tarnung mußt du mir überlassen.'" „Liebend gern", sagte Jonny lachend. „Wenn ich Neuseeland erst den Rücken kehre, brauche ich die Maskerade ja nicht mehr." „Wir werden sie vor den Augen der Eingeborenen verbrennen", erklärte Hasard. „Die Maoris werden dann glauben, daß wir den bösen Dämon vernichtet haben. Vielleicht lassen sie uns als Freunde in ihr Dorf." Jonny zuckte mit den Schultern. „Kann sein. Möglich ist es schon, aber ich würde nicht zu sehr darauf bauen, Sir, ich - nun - ich wollte dir noch was sagen. Was Wichtiges." „Nur heraus damit, Jonny", sagte Hasard aufmunternd. „Wenn du mich nun mitnimmst, dann könnte ich meine Reise auf der ,Isabella' auch bezahlen..." „Nicht, wenn du als Decksmann deinen Dienst tust. Und auch sonst würde ich von dir keinen einzigen Copper annehmen." Ein Ausdruck der Verschmitztheit trat in Jonnys knittrige Züge. „Von Geld kann auch keine Rede sein, Sir." „Egal. Was immer deine Reichtümer sind, behalte sie für dich." „Aber ein Geschäft, das kann ich dir doch vorschlagen, oder?" „Ich bin ein Korsar, kein Geschäftemacher", sagte Hasard. Jonny konnte jetzt nicht mehr an sich halten. Er mußte in die Tasche seiner zerlumpten Hose greifen - die einzige Tasche, die seine Fetzenkleidung überhaupt noch hatte - und einen Gegenstand daraus hervorziehen, den er vorher schon den Zwillingen gezeigt hatte. Philip junior und Hasard junior grinsten geradezu verschwörerisch. Auf den ersten Blick wirkte der Klumpen, den Sumatra-Jonny da jetzt in seiner klobigen Hand hielt,
wie ein Stein. Beim zweiten Hinsehen aber entpuppte er sich als ein Stück jenes gelben Edelmetalls, wegen dem sich die Menschen schon seit Generationen gegenseitig die Köpfe einschlugen. „Gold", sagte der Seewolf erstaunt. „Was?" rief Old O'Flynn. „Auf Neuseeland gibt es Gold? Wer hätte das gedacht!" „Eine ganze Ader habe ich entdeckt", stieß Sumatra-Jonny aufgeregt hervor. „Aber allein kann ich sie nicht freilegen und ausschöpfen. Sir, Mister Killigrew, wenn du teilhaben willst, heben wir diesen Schatz gemeinsam. Mein Anteil wäre - sagen wir, ein Drittel. Zwei Drittel gehören dir und deiner Crew ..." „Nein", sagte Hasard. Verdutzt starrten die Männer ihn an. Jonny glaubte, er könne seinen Ohren nicht mehr trauen. „Fifty-fifty teilen wir", sagte Hasard. „Denn dir als dem Entdecker der Goldader steht die Hälfte zu, Jonny. Ein Korsar der Königin haut keinen Landsmann übers Ohr, das ist doch Ehrensache. Also: Wir bleiben noch einen Tag länger hier als geplant und schaffen das Gold an Bord der ,Isabella'." Jonny mußte sich erst von seiner Verblüffung erholen, dann stammel-
62 te er: „Mann, Sir, du bist wirklich ein richtiger Ehrenmann!" Er räusperte sich und rief: „Es lebe der Seewolf!" Big Old Shane, Old O'Flynn, Al Conroy, Bill, Smoky, Blacky, Pete
Bailie und die Zwillinge wiederholten es, und gleich danach stimmten sie den alten Kampf- und Siegesruf der Seewölfe an. „Arwenack! Ar-we-nack!"
Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 210
Nächtlicher Überfall von Roy Palmer Es war nach Mitternacht. Die „Isabella" hatte das Kap der Landzunge kaum gerundet und steuerte mit Südkurs den spanischen Verband an, da blitzte es an der Bordwand der größten Galeone auf, und eine komplette Backbordbreitseite hagelte auf die Seewölfe zu. „Zu kurz", sagte Philip Hasard Killigrew lakonisch — und da waren die eisernen Grüße schon da. Vor dem Bug der „Isabella" stiegen rauschende Wasserfontänen hoch. Keine der 17-Pfünderkugeln traf das Ziel. Die Fontänen fielen wieder in sich zusammen, und die „Isabella" pflügte durch das aufgewühlte Wasser unbeschadet weiter auf den Verband zu. Noch war gar nichts entschieden . . .
Die seemännische Sprache von A-Z Seemannsgarn Seemeile
das „Jägerlatein" des Seemanns. Einheitsmaß für die Abstandsmessung auf der Seekarte. Die Länge einer Seemeile beträgt 1852 Meter. Man teilt einen Großkreis (siehe Koordinatensystem), der genau wie der Äquator einen Umfang von ungefähr 40 000 Kilometern hat, in 360 Grade ein und Jeden Grad in 60 Minuten. Die Länge einer Minute ist dann 40 000:(360x60) = 1.852. Der senkrechte Kartenrand zeigt dieses Maß als eine Minute eines Längenkreises (siehe auch Knoten). Sprengkörper, der im Seekrieg eingesetzt wird und Seemine unter Wasser mittels verschiedenartiger Entzündungen Schiffe des Gegners vernichten soll. Geworfen werden die Minen durch spezielle Kriegsfahrzeuge oder durch Flugzeuge, geräumt durch Minensuchboote und Räumboote. Auch U-Boote sind zum Minenlegen eingesetzt worden. Gewöhnlich versucht man Flußmündungen oder Hafeneinfahrten des Gegners sowie bestimmte Routen dorthin zu verminen, aber auch zum eigenen Schutz gegen Invasion Minensperren anzulegen. Gefahrensituation auf See, aus der die Besatzung Seenot sich selbst und das Schiff nicht mehr aus eigener Kraft befreien kann und fremde Hilfe angefordert werden muß (siehe Notsignale). Seenotrettungsstation von der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger eingerichtete und betriebene Küstenstationen mit einem Seenot-Rettungskreuzer, der bei Seenot zur Hilfeleistung ausläuft. Bezeichnung für den Berufsoffizier bei der Marine, Seeoffizier wobei sich die Ränge in allen Marinen in Admírale, Kapitäne und Leutnants aufteilen; kleine Krebsart, die sich mit ihrem kegelförmigen Seepocken Kalkgehäuse als Bewuchs an der Schiffshaut festsetzt und dort regelrechte Kolonien bildet, wenn das Unterwasserschiff nicht regelmäßig abgekratzt bzw. mit Antifoulingmitteln (siehe Bewuchs) behandelt wird. bei auflandigem Wind oder Sturm der Freiraum eiSeeraum nes Schiffes vor einer Küste, der genügt, um nicht auf Legerwall (siehe dem) zu geraten.
Seerecht Seereling
Seesack
Seeschiffahrtsstraßen
Seeschiffahrtsstraßen-Ordnung
Seeschiffer
Seeschlag
Seestiefel
die Sammlung von Gesetzen, nach denen alle Streitigkeiten in Seesachen entschieden werden. eine meist 0,65 m hohe, auf beiden Seiten von vorn nach achtern angebrachte Reling auf Seekreuzern, bestehend aus den Relingstützen, dem Handlauf und dem Durchzug aus Drahttauwerk. Vorn und achtern ¡st die Seereling zum Bug- und Heckkorb ausgebildet. aus festem, imprägniertem Segeltuch angefertigter Sack, ca. 80 cm hoch und mit zwei Tragegurten versehen, der dazu dient, Kleidung und Ausrüstung des Seemanns zu transportieren. Der Seesack ist oben verschnürbar und kann mit einem Bügelschloß abgesichert werden. Bereich, auf dem die Seeschiffahrtsstraßen-Ordnung (siehe dem) Geltung hat. Seeschiffahrtsstraßen sind die Wasserflächen zwischen der Küstenlinie bei mittlerem Hochwasser oder der seewärtigen Begrenzung der Binnenwasserstraßen und der seewärtigen Begrenzung des Küstenmeeres sowie zwischen den Ufern der im § 1 der Seeschiffahrtsstraßen-Ordnung speziell aufgeführten Teile der angrenzenden Binnenwasserstraßen. abgekürzt: SeeSchStrO, enthält alle Bestimmungen und Verordnungen für die deutschen Wasserstraßen wie Zeichen, Signale, Fahrregeln usw. Zur Zeit gilt die SeeSchStrO vom 3. Mai 1971 in der Fassung vom 7. Juli 1972. im Gegensatz zum Binnenschiffer der Führer (Kapitän) eines Fahrzeugs, das auf See eingesetzt wird, also der verantwortliche Führer eines seegehenden Schiffes. Er muß das Kapitänspatent haben. Auf Sportbooten ist er Inhaber des Führerscheins BK (Küstenfahrt) oder C bzw. Absolvent der Seefahrtsschule mit dem Sportseeschifferpatent. massives „grünes" Wasser, das im Gegensatz zum Spritzwasser über Deck rauscht und Aufbauten, Luken usw. zerschlagen kann. früher sehr hohe Stiefel, die mit Tran eingefettet waren, um wasserdicht zu sein. Heute ersetzt durch Gummistiefel - bei den Hochseefischern hüfthoch, bei Sportseglern kniehoch und mit rutschfesten Profilsohlen versehen.