Im Bergwerk der Mutanten von Bernd Frenz
Nr. 75 Rooni hatte den Zugangsstollen kaum betreten, als ein sanftes Zittern ...
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Im Bergwerk der Mutanten von Bernd Frenz
Nr. 75 Rooni hatte den Zugangsstollen kaum betreten, als ein sanftes Zittern durchs Erdreich lief. Feine Sandschleier rieselten von der Decke herab und nebelten den Tunnel auf ganzer Länge ein. Einen Herzschlag später beugten sich die Flammen der Fackeln, die in regelmäßigen Abständen aus den Wänden ragten, unter einem unangenehm warmen Luftstrom, der aus den Tiefen des Bergwerks emporstieg wie aus dem Schlund eines schnarchenden Riesen. Obwohl sich das unterirdische Rumoren so schnell legte, wie es gekommen war, blieb der Fischfänger erschrocken stehen. »Was war das denn?« , fragte er, sich nervös mit seinen linken Händen unter den rechten Achseln kratzend. Statt einer Antwort erhielt Rooni einen Hieb zwischen die unteren Schulterblätter, der ihn haltlos vorwärts taumeln ließ.
WAS BISHER GESCHAH Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich, weite Teile Russlands und Chinas werden ausradiert, ein Leichentuch aus Staub legt sich um den Planeten … für Jahrhunderte. Als die Eiszeit endet, hat sich das Antlitz der Erde gewandelt: Mutationen bevölkern die Länder und die Menschheit ist unter dem Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den US-Piloten Matthew Drax, dessen Jet-Staffel beim Kometeneinschlag durch einen Zeitriss ins Jahr 2516 gerät. Beim Absturz wird er von seinen Kameraden getrennt und von Barbaren gerettet, die ihn als Gott »Maddrax« verehren. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula wandert er über eine dunkle, postapokalyptische Erde … Beim Wettlauf zum Kometenkrater haben Matt, Aruula und Aiko Konkurrenz: Der Weltrat (WCA), Nachfolger der US-Regierung unter Präsident Hymes und General Crow, setzt seine Ziele unerbittlich durch, indem er barbarische Völker unterstützt, die andere Zivilisationen angreifen. Crows Tochter Lynne leitet den WCA-Trupp, begleitet vom irren Professor Dr. Jacob Smythe. Die zweite Fraktion ist eine Rebellengruppe, die gegen die WCA kämpft, die Running Men. Ihr Anführer Mr. Black ist ein Klon des früheren US-Präsidenten Schwarzenegger. Matt & Co. stoßen auf den Weg nach Norden auf die Running Men, die von einer Mongolenhorde verfolgt werden - von den Ostmännern, die im Auftrag des Weltrats operieren. Gemeinsam stellt man sich der Gefahr. Die beiden Expeditionen schließen sich nicht ohne Vorbehalte zusammen, denn der Rebellenführer ist Matthew suspekt. Das ändert sich, als Black ihm das Leben rettet. Während einer Schiffspassage hat Matt Kontakt zu den Hydriten, einer ihm bekannten Untersee-Rasse. Er bittet sie, Unterstützung aus der Londoner Bunkerzivilisation anzufordern. Quart'ol, ein Hydrit, der vor einiger Zeit Matthew als »Seelenträger« benutzte und ihm seitdem verbunden ist, kontaktiert dessen Kameraden Dave McKenzie und den Neo-Barbaren Rulf an in London. Während die beiden sich auf den Weg machen, landen Matt, Aruula, Aiko, Mr. Black und Miss Hardy an Russlands Küste … die inzwischen auch die WCA-Expedition erreicht hat. Die Gruppe um Lynne Crow und Jacob Smythe, in der sich interner Widerstand regt, fährt auf dem Fluss Lena dem Kratersee entgegen. Matt & Co. erfahren unterdessen, wie sich die Ostmänner von den ursprünglichen Mogoolen abspalteten - und warum es noch keiner Expedition gelungen ist, zum Kratersee durchzubrechen: Sirenen, die einen Lockruf modulieren können, wurden bisher jedem zum Verhängnis - bis Aiko mit einem Funkgerät eine Frequenz aussenden kann, welche die mörderischen Mutationen fern hält …
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* Angesichts des abschüssigen Bodens versuchte er instinktiv, dem drohenden Sturz durch einen Ausfallschritt entgegenzuwirken, aber die eisernen Fesseln, die sich zwischen seinen Fußgelenken spannten, raubten ihm die nötige Bewegungsfreiheit. Ein Zweihänder wäre in dieser Situation wohl unweigerlich lang hingeschlagen, doch indem er verzweifelt mit allen vier Armen in der Luft herum ruderte, konnte der Rriba'low im letzten Moment die Balance wahren. Der Freude über den wiedergewonnenen Halt folgte jedoch augenblicklich ein Gefühl ohnmächtiger Wut, die ihn jede Vorsicht vergessen ließ. Die Fleckenzeichnung auf Roonis Schultern verdunkelte sich, während er zu seinem Bewacher herum wirbelte. Alle vier Hände zum Angriff erhoben, sah er auf Klatko hinab, den er um gut drei Hauptlängen überragte. Kleinwuchs war ein typisches Merkmal für das Volk der Narod'kratow, das sich schon seit Generationen durch die Erde wühlte, um nach Erzen, Mineralien und anderen verborgenen Schätzen zu suchen. Was diesem als mürrisch verschrienen Volk an Größe fehlte, trat jedoch an anderen Stellen ihrer gedrungenen Körper umso deutlicher zu Tage. Auch bei Klatko fügten sich knotige Muskelpakete nahtlos zu einer klobigen Gestalt zusammen, die mangelnde Reichweite durch pure Kraft auszugleichen vermochte. Schwere Kleidung aus Leder, Fell und Eisenschnallen verstärkte das grobschlächtige Aussehen. Weit ausladende Schulterstücke schützten vor herabfallendem Gestein, während sein dunkelbraunes Haar zu dicken Zöpfen verknotet war, damit es möglichst wenig von dem allgegenwär4
tigen Steinstaub aufnahm. Zwei der Strähnen, die über Klatkos Brustkorb pendelten, flankierten einen ebenso geflochtenen Bartstrang. Klein, zäh und kräftig wie er war, schien der Kleinwüchsige von Natur aus dazu bestimmt, sich mit bloßer Muskelkraft Geltung zu verschaffen. Entsprechend wenig beeindruckt zeigte er sich von der Drohgebärde seines Gefangenen. Weder trat er zurück, um den Abstand zwischen ihnen zu vergrößern, noch sprang er vor, um die eigenen Fäuste in Reichweite zu bringen. Der Narod'kratow hob lediglich einen Holzschaft an, aus dem ein halblanges Eisenrohr hervorwuchs. Roonis Bewegungen erstarrten augenblicklich. Das Holzstück hatte er bereits schmerzhaft im Rücken gespürt, doch die dunkle Rohröffnung, in die er nun blickte, war der weitaus gefährlichere Teil der fremdartigen Waffe. Feuer und Blei konnten aus ihr mit solcher Heftigkeit hervorbrechen, dass es einen Mann wie vom Blitz getroffen niederstreckte. Klatko selbst hatte die tödliche Wirkung an einem ausgewachsenen Goozka demonstriert, der anschließend auf dem Bratenrost gelandet war. Ein höhnisches Grinsen spaltete die wulstigen Lippen des Narod'kratow, als er Roonis Zögern bemerkte. »Vorwärts, Sklave!« , befahl er. »Du wirst an der Talsohle gebraucht.« Im Schein der blakenden Flammen wirkte Klatko plötzlich wie ein Dämon der Unterwelt. Ein Eindruck, der durch zwei lange Hauer verstärkt wurde, die aus seinem Unterkiefer hervor ragten vermutlich das Relikt einer Zeit, in der sich sein Volk noch mit Klauen und Zähnen durchs Erdreich gewühlt hatte. Aber auch sonst widersprach er völlig dem Schönheitsideal der Rriba'low.
Roonis Volk, das die Sonne, den Wind und die See liebte, gebar zumeist hoch gewachsene, hagere Stammeskinder, die lieber unter freiem Himmel schliefen, als sich in engen Höhlen herumzudrücken. Fellkleidung war ihnen fremd. Sie trugen nur weit geschnittene, wadenlange Hosen, die durch einen gewebten Gürtel gehalten wurden; dazu vielleicht noch eine ärmellose Weste, die vor den sengenden Strahlen der Sonne schützte. Zu viel Stoff war bei den Rriba'low verpönt, denn auf ihren Schultern, den Handrücken und nackten Füßen zeichneten sich dunkle Flecken ab, deren Form und Färbung über die Attraktivität auf das andere Geschlecht entschied. »Na, was ist?« , störte Klatko seine Gedanken. »Muss ich erst nachhelfen?« Die freie Hand des Narod'kratow wanderte drohend zu der aufgerollten Lederpeitsche an seinem Gürtel. Einen Moment lang öffneten und schlossen sich Roonis f eingliedrigen Hände in hilflosem Zorn, dann entspannte er seinen Körper. Was brachte es schon, Klatko niederzuschlagen? Widerstand war zwecklos. Nicht nur wegen der unzähligen Narod'kratow, die draußen in den Erzmühlen und Schmieden arbeiteten, sondern vor allem, weil ihn sein eigenes Volk verstoßen hatte. Selbst wenn eine Flucht gelang, gab es niemanden, an den sich Rooni wenden konnte. In seinem Dorf hielten ihn alle für einen Mörder! * In einer beinahe lässigen Bewegung klopfte sich Rooni den Staub von der Weste. Hier, unter Tage, erfüllte das Kleidungsstück keinen Zweck mehr,
trotzdem zog er es sorgfältig zurecht, bevor er dem Stollen in die Tiefe folgte. Das Klirren der Fußfesseln begleitete ihn auf dem Weg zur ersten Abbiegung. Von dort an wurde die Decke stetig niedriger, bis nur noch ein Narod'kratow aufrecht gehen konnte. Rooni musste seinen Oberkörper weit vorbeugen, um nicht mit dem Kopf gegen eine vorspringende Felskante zu stoßen. Früher, als die Bergmänner ihr Gestein noch alleine abgebaut hatten, mussten wohl alle Decken so niedrig gewesen sein. Erst nachdem sie Arbeitssklaven in den Minen einsetzen durften, waren die Stollen erweitert worden. Ein Gefühl der Beklemmung legte sich um Roonis Hals, schwer und drückend wie ein nasses Tuch. Daran gewohnt, die Weite des Horizonts zu genießen, bereitete ihm die allgemeine Enge mehr als nur Unbehagen. Angelockt von dem hellem Schein am Tunnelende, beschleunigte er sein Tempo. Der Ursprung der Lichtquellen war noch nicht ausmachen. Ein deutliches Zeichen, dass sich der Gang zu etwas Größerem erweiterte. Als die zurückweichenden Felsen endlich den Blick auf eine unterirdische Felskuppel freigaben, seufzte Rooni erleichtert auf. Sobald er jedoch auf einige hölzerne Bohlen hinausgetreten war, stockte sein Atem wieder, denn hinter der gezimmerten Plattform klaffte ein gähnender Abgrund. Nicht mal durch ein Geländer geschützt, ging es dort in schier unendliche Tiefen hinab. Über das Ausmaß der Erdbewegungen, die zur Erzgewinnung nötig waren, hatte sich der Fischfänger zuvor keine Gedanken gemacht, deshalb dauerte es einen Moment, bis er die gewal5
tige Dimension des Bergwerks richtig erfasste. Der Hauptschacht, von dem alle weiteren Stollen abzweigten, fiel ringförmig in die Tiefe ab. Die gegenüberliegende Seite war mindestens einen Steinwurf weit entfernt und der Boden trotz tiefer liegendem Fackelschein mit bloßem Auge nicht auszumachen. Rooni selbst stand auf einer Art umlaufenden Korridor, der in schräg abfallender Spirale bis auf die Bergsohle hinab führte. Über diesen Steg gelangte man auch zu den abzweigenden Stollen, in denen der Abbau stattfand. Gehorsam wandte sich der Fischfänger nach links. Die Bohlen, die unter seinen Füßen knarrten, sahen selbst im trüben Fackelschein rissig und abgewetzt aus. Dort, wo sie hell schimmerten, waren geborstene Bretter durch neue ersetzt worden, aber die anderen mochten hier schon seit mehreren Generationen liegen, nur getragen von stabilen Streben, die fest im Fels verankert waren. Ungleichmäßiges Klirren schallte als vielfach gebrochenes Echo von den Wölbungen des Hauptschachtes wider. Es dauerte eine Weile, bis Rooni hinter dem Missklang Spitzhacken erkannte, die in den Nebenstollen geschwungen wurden. Überall arbeitete man ohne Unterlass. Auf dem Marsch in die Tiefe kamen ihm schon bald Männer und Frauen entgegen, die mit Abraum beladene Handkarren vor sich her schoben. Abgekämpft, verschwitzt und dreckig sahen sie aus, egal ob sie dem grotesk anmutenden Volk der Mastr'ducha angehörten oder vierarmige Rriba'low waren. Selbst einige Woiin'metcha mussten hier unten schuften. Mochte die Macht im See wissen, was diese verschlossenen Wesen angestellt hatten, um bei ihrer eige6
nen Sippe in Ungnade zu fallen. Unter anderen Umständen hätte Rooni lediglich ein verächtliches Schnauben für die Sklaven übrig gehabt, denn die meisten von ihnen hatten ihr Schicksal zweifellos verdient. Nur wer aus der Art geschlagen war oder ein schweres Verbrechen begangen hatte, wurde von den Völkern am See hierher verfrachtet. Nun aber, da eine Kette zwischen seinen eigenen Füßen rasselte, fühlte er sich ihnen verbunden. Ob er wollte oder nicht, die Sklaverei machte ihn zu einem der ihren. Vergeblich versuchte Rooni auszumachen, ob es sich bei den Gefangenen um Gedankenleser, Brandteufel oder Mörder handelte. Nach außen hin waren ihre Verfehlungen natürlich nicht zu erkennen. Eigentlich gab es nur eins, was sie alle miteinander vereinte. Der mitleiderregende Anblick, den sie boten. »Ich bin unschuldig« , begehrte der Fischfänger auf, ohne recht zu wissen, was ihn gerade jetzt dazu trieb. »Ulani war schon tot, als ich an Bord kam.« »Wen interessiert das?« Klatkos Worte trafen ihn schlimmer als ein Peitschenhieb. Zum ersten Mal, seit der Dorfrat das Urteil gesprochen hatte, spürte Rooni mit absoluter Gewissheit, dass er dem Bergwerk nie mehr entrinnen würde. Zumindest nicht lebend. Dafür würden schon alleine die Narod'kratow sorgen, die in regelmäßigen Abständen auf Posten standen. Nur die wenigsten von ihnen waren noch mit Kurzschwert oder Dolch bewaffnet. Fast alle hielten ein Feuerrohr in Händen, das Zeichen ihrer neuen Macht, das sie selbst den gefürchteten Woiin'metcha ebenbürtig machte. Niemand am See vermochte zu sagen, wo-
her diese furchterregenden Waffen oder das plötzliche Wissen, wie sie anzufertigen waren, eigentlich stammte. Irgendwann waren die ersten Bergleute damit aufgetaucht. Einfach so, von einem Tag auf den anderen. Es gab keine Erklärung für diesen Wandel, nur Gerüchte über einen silberhäutigen Steindämon, der die magischen Rohre angeblich gegen die Seelen der Narod'kratow eintauschte. Na ja. Die üblichen Geschichten halt, die man sich am abendlichen Lagerfeuer erzählte, wenn man wusste, dass die Kinder heimlich den Gesprächen der Erwachsenen lauschten. »Rooni! Bist du es wirklich?« Ein verschmutzter Rriba'low, der aus einem Erzstollen trat, blieb abrupt vor dem Neuankömmling stehen. Obwohl der Abraumkorb auf seinem Rücken tief in die Schultern schnitt, entleerte er ihn nicht in den bereitstehenden Karren, sondern starrte den Fischfänger in einer Mischung aus Wiedersehensfreude und purem Schrecken an, bevor er fragte: »Haben sie dich etwa auch entführt?« Verblüfft fasste Rooni den Sklaven näher ins Auge. Die Angehörigen seines Volkes ähnelten einander so stark, das Außenstehende oft Schwierigkeiten hatten, sie richtig auseinander zu halten. Selbst untereinander erkannten sich die Rriba'low manchmal nur an ihren feinen Körperzeichnungen. Es dauerte einen Moment, bevor Rooni unter der schweißdurchsetzten Schmutzschicht seines Gegenüber ein bekanntes Muster ausmachen konnte, aber dann hellten sich seine Züge schlagartig auf. Vor ihm stand weder eine aus der Art geschlagene Missgeburt, noch ein verurteilter Mörder, sondern … »Therk« , freute er sich. »Was machst du denn hier? Wir haben alle
gedacht, die heilige Macht im See hätte dich zu sich berufen!« Einen widersinnigen Moment lang glaubte Rooni wirklich, er könnte dem verschollenen Stammesbruder einige Grüße für die Liebste mit auf den Weg geben, dabei war nur allzu offensichtlich, dass Therk ebenso in diesem unterirdischen Moloch gefangen war wie alle anderen. Erst als sich ein feuchter Glanz in die Augen des Sklaven schlich, wurde Rooni dessen Lage richtig bewusst. »Die Narod'kratow haben mich überfallen und hierher verschleppt« , berichtete Therk gehetzt. »Und ich bin nicht der Einzige, den sie unrechtmäßig gefangen halt -« Das scharfe Sirren einer dreischwänzigen Peitsche schnitt dem Fischfänger das Wort ab. Therk versteifte sich, noch ehe das Leder in seine Haut biss. Lautlos steckte er den Hieb ein, ohne die Mine zu verziehen. Die Striemen auf seinen Armen zeigten, dass er solch grobe Behandlung gewohnt war. Rooni schrie dagegen auf, als der dreifache Schmerz über seinen Rücken flammte. »Hört auf zu quatschen!« , verlangte Klatko, bevor er ein zweites Mal auf ihn einschlug. »Du bist sowieso zu spät dran.« Die beiden Rriba'low verständigten sich mit einem kurzen Kopfnicken darauf, ihr Gespräch bei anderer Gelegenheit fortzusetzen. Während Therk seinen Korb entleerte, setzte Rooni den Weg in die Tiefe fort. In seinem Kopf jagten die Gedanken so schnell umher, dass er nicht einmal bemerkte, wie es mit jeder Schachtumrundung wärmer wurde. Die schaurigen Gerüchte, dass einige Bergwerkstämme auch Unschuldige in ihren Minen verschwinden ließen, besaßen also einen 7
wahren Kern! Vielleicht war das die Chance, auf er gewartet hatte! Falls ihm die Flucht gelang, brauchte er nur Therks Familie aufsuchen und von dem Schicksal ihres verlorenen Sohnes berichten. Danach würden sie ihm sicher aus Dankbarkeit weiterhelfen. Wie schändlich, das Unglück eines Stammesbruders so eigensüchtig nutzen zu wollen, wies Rooni sich selbst zurecht, ohne das innere Jubilieren gänzlich unterdrücken zu können. Einige Gedankensprünge lang erschien ihm die eigene Lage nicht mehr ganz so aussichtslos. Allerdings nur, bis er auf einen Schubkarren aufmerksam wurde, der nicht Abraum geladen hatte, sondern eine bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte Leiche. Bei der Macht im See, was mochte da geschehen sein? Beißender Geruch von verbranntem Fleisch erfüllte die Luft. Viel zu stark, als dass er nur von dem verkohlten Gesicht stammen konnte. Geschmolzene Gewänder, wie sie für die Kriegerkaste der Woiin'metcha typisch waren, klebten an dem toten Körper. Aus den Schultergelenken ragten zwei kurze, blutleere Stümpfe hervor, doch von den abgerissenen Armen fehlte jede Spur. Die beiden Rriba'low, die unter lautem Ächzen die sterblichen Überreste empor schoben, sahen mitleidig zu Rooni hinüber. Ob es verstoßene Gedankenleser waren, die über sein bevorstehendes Schicksal genau Bescheid wussten? Ein eisiges Frösteln brachte die Knie des Fischfängers zum Zittern. Zum ersten Mal in seinem Leben wünschte er sich, die Fähigkeiten eines aus der Art Geschlagenen zu besitzen. Dann könnte er in Klatkos Gedanken lesen, ob seine Zukunft vielleicht noch 8
Schlimmeres bereit hielt als die schwere Arbeit in einem beengten Stollen. Der Boden unter Roonis Füßen geriet ins Schwanken, bis ein Peitschenhieb den Schwächeanfall auf brutale Weise beendete. Statt ihn zu brechen, fachten die brennenden Striemen seinen Überlebenswillen aber nur zu alter Stärke an. Reiß dich zusammen, mahnte er sich im Stillen. Du musst nur diesen Tag überstehen und eine Möglichkeit zur Flucht finden. Danach wird alles gut. Derart angespornt, ging es sicheren Fußes weiter. Von nun an hielt der Fischfänger kein einziges Mal mehr inne, auch nicht, als die lichtlosen Abschnitte zwischen den Fackeln größer wurden. Je tiefer es ging, desto weniger Gänge zweigten ab, bis der umlaufende Steg - nach fünf weiteren Runden endlich in einem Geröllhaufen endete. Klatko nahm eine Fackel aus der Wandhalterung und wies ihn an, über einige glatt geformte Felsplatten hinab zu klettern. Ein Hagel unsichtbarer Eissplitter bohrte sich in Roonis Nacken, als er die Bergsohle erreichte. Eigentlich hätte er froh sein müssen, wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren; stattdessen wirkte die Umgebung auf ihn seltsam bedrohlich. Der spärliche Fackelschein verdrängte die Dunkelheit zwar nur bruchstückhaft, trotzdem wurde ihm schnell klar, dass der hiesige Abraum nicht aus natürlichem Felsen bestand. Immer wieder stachen rechteckig beschlagene Formationen hervor, aus denen verbogene Eisenstangen ragten. Es schien, als ob einige Mauern zusammengestürzt wären. Doch wer sollte hier unten Bauwerke errichtet haben? Und vor allem, warum?
»Diese Höhle ist älter als unsere beiden Völker« , zeigte sich Klatko überraschend redselig. »Ja, sogar älter als die Machtim See.« Rooni stockte beinahe der Atem. Was der Narod'kratow da verkündete, war reine Blasphemie! Jeder wusste, dass die Macht im See schon seit Anbeginn der Zeit existierte. Etwas anderes zu behaupten, hieß gegen die höhere Ordnung zu verstoßen. Klatko zeigte jedoch keinerlei Anzeichen von Furcht, als er hinzufügte: »Als mein Stamm vor vielen Sommern bis hier unten vorstieß, konnte sich zuerst niemand erklären, um was für einen Fund es sich dabei handelte. Erst Boris wusste eine Antwort. Er sagt, dass es eine Stadt ist, die früher auf der Oberfläche stand.« Die Stimme des Bergmannes zitterte plötzlich vor Erregung. »Kannst du dir das vorstellen, Sklave? Alles, was hier in Trümmern liegt, befand sich einmal dort oben.« Sein Feuerrohr wies den Rundschacht empor, der gut sechzig Bootslängen weit aufragte. Ein überwältigender Anblick. Beeindruckend und beängstigend zugleich. Zum Glück erwartete der Narod'kratow keine Antwort auf seine Frage. Roonis Kehle war wie zugeschnürt. Schweigend umrundete er einige Trümmerstücke und trat in ein bizarres Steinlabyrinth, in dem ihm Klatko den Weg weisen musste. Hier gab es keine rund in den Fels geschlagenen Formen mehr, sondern nur glatte Wände, die oft im spitzen Winkel zueinander verliefen. Besonders haltbar wirkten diese Konstruktionen nicht gerade, aber da Klatko voraus ging, schien der Weg passierbar zu sein. Was blieb, war die Furcht, dass die schweren Steinmassen jeden Augen-
blick zusammenbrechen und sie unter sich begraben könnten. Das Gewicht von sechzig Bootslängen Gestein lastete plötzlich schwer auf Roonis Schultern, ja drohte gar, ihn in die Knie zu zwingen. Luft zu holen fiel nicht mehr leicht. Keuchend ging es Schritt für Schritt weiter. Nur keine Schwäche anmerken lassen, schwor sich der Fischfänger, obwohl er unübersehbar zitterte. An der Temperatur lag es nicht, denn er schwitzte gleichzeitig aus allen Poren. Hier unten war es spürbar wärmer als in den höheren Lagen. Selbst die Pfützen, in die er trat, verschafften ihm keine Abkühlung. Schmatzend quoll das Wasser zwischen seinen Zehen hervor und ließ ihn bis zu den Knöcheln versinken. Ob es aus einer unterirdischen Quelle stammte oder es sich nur um ordinäres Schwitzwasser handelte, konnte er nicht beurteilen. Einige Schritte später wurde es wieder trockener. Zahlreiche Feuerschalen vertrieben die Dunkelheit. Sie leuchteten ein eckiges Gewölbe aus, das von übereinander geschobenen Platten und verbogenen Eisenkonstruktionen beherrscht wurde. »Noch einer?« , dröhnte es verzerrt zwischen zwei Schuttbergen hervor. »Wurde nicht schon genug Unheil angerichtet?« Rooni zuckte angesichts der kratzigen Stimme zusammen. Kein bekanntes Lebewesen vermochte derart seltsame Laute auszustoßen. Schaudernd sah er in die Richtung, aus der die Worte gekommen waren. Kantenlose Konturen formten dort einen lichtlosen Fleck, der sich deutlich von der ihn umgebenden Dunkelheit abhob. Wenige Augenblicke später trat 9
ein abstoßendes Geschöpf aus dem Schatten hervor. Obwohl es aufrecht ging und über zwei Arme und zwei Beine verfügte, ähnelte es nicht im Entferntesten einem der Völker, die rund um den Sees siedelten. Die Bewegungen des Fremden besaßen etwas Unbeholfenes, Schwerfälliges, ohne deshalb lächerlich zu wirken. Selbst die durchsichtige Eiskugel, der seinen kahlen Schädel umgab, reizte nicht zum Lachen. Noch während Rooni darüber rätselte, wie man unter diesem durchsichtigen aber kompakten Gebilde atmen konnte, ließ er seinen Blick tiefer wandern. Vom Hals an abwärts steckte der Fremde in einem faltigen, silbernen Kokon, der sogar Fußzehen und Finger umschloss. Nur ein roter Streifen, der um seinen Brustkorb lief, durchbrach die Eintönigkeit der … ja, was? Haut? Kleidung? Der intensive Farbton ließ zuerst an Blut denken, doch ein verschlungenes Symbol, das darauf prangte, machte deutlich, dass es sich nicht um eine Verletzung, sondern um ein Stammeszeichen handelte. Obwohl Rooni dem Fremden nie zuvor begegnet war, wusste er sofort, wer da vor ihm stand. Der silberhäutige Steindämon! * Bisher hatte Rooni den Silbernen stets für eine Legende gehalten, doch nun, da er ihm Auge in Auge gegenüber stand, ließ sich dessen Existenz nicht mehr leugnen. Ein Netz feiner Schweißperlen erschien auf seiner Stirn, als er an den unglücklichen Woiin'metcha dachte, der mit dem 10
Schubkarren nach oben geschafft worden war. Blühte ihm nun das gleiche Schicksal? Zerfetzte der Dämon vielleicht jeden Tag Sklaven, um seine niederen Triebe zu befriedigen? Dabei machte er nicht mal einen bedrohlichen Eindruck. Im Gegenteil. Die Miene, die sich unter der Eishaube abzeichnete, wirkte eher bedrückt. »Was ist hier unten passiert?« Klatkos Frage, die das Schweigen auf unangenehme Weise durchbrach, galt einem anderen Narod'kratow, der neben den Dämon getreten war. Auf den ersten Blick unterschied sich der Bergmann von Klatko nur durch sein feuerrotes Haar, doch bei näherem Hinsehen schälten sich wesentlich feinere Gesichtszüge hervor, die auf eine völlig andere Blutlinie hindeuteten. »Es war genau so, wie Boris vorausgesagt hat.« Der Rotschopf deutete mit dem Daumen auf den Steindämon, der tatsächlich einen Namen zu besitzen schien. »Der Sklave ist tot. Ich habe ihn nach oben schaffen lassen.« »Gut gemacht« , lobte Klatko. »Hier ist ein Neuer, der kann gleich übernehmen.« Rotschopf runzelte die Stirn, sagte aber kein Wort. Aus Boris platzte es hingegen heraus: »Was soll das? Wie viele Männer wollt ihr noch sinnlos …« »Deine Bedenken interessieren hier niemanden« , unterbrach Klatko herrisch. Und um jeden weiteren Widerstand gleich im Keim zu ersticken, deutete er mit seinem Feuerrohr auf Boris, bevor er hinzufügte: »Du magst für uns wertvoll sein, aber keinesfalls unersetzlich. Vergiss das besser nicht.« Der Silberne, der eben noch so bedrohlich gewirkt hatte, sackte müde in sich zusammen. Schweigend wartete
er, bis Klatko gegangen war, um danach auf den verbliebenen Wächter einzureden. »Kannst du ihn nicht umstimmen, Kaila?« , fragte er beinahe flehentlich. Der Narod'kratow schüttelte den Kopf. »Ich mag nicht derselben Meinung wie Klatko sein, doch er ist und bleibt mein Häuptling. Was er befiehlt, wird getan.« Roonis Blick pendelte eine Weile zwischen den beiden ungleichen Gestalten hin und her, bevor er seine Hände in die Seiten stemmte und durch ein Räuspern auf sich aufmerksam machte. »Kann mir mal einer sagen, um was es hier eigentlich geht?« , forderte er eine Spur zu forsch. Kaila langte sofort nach der dreischwänzigen Peitsche, doch der Silberne hielt ihn mit einer schnellen Geste zurück. Seine Meinung besaß also durchaus Gewicht. »Knalleier« , erklärte Boris in der ihm eigenen, verzerrten Stimmlage. »Sie müssen fortgeräumt werden, um eine weitere Ladung Eisenschrott zugänglich zumachen.« Seine Worte drangen nicht einfach unter der Eiskuppel hervor, sondern ertönten aus einem runden Knopf, der in einem metallisch glänzenden Kragen ruhte. Bei genauerer Beobachtung ließ sich feststellen, dass es eine gewisse Verzögerung zwischen seinen Lippenbewegungen und der Stimme gab. Was auch immer das bedeuten mochte. »Knalleier?« , wiederholte Rooni verständnislos. »Von welchem Vogel stammen die denn?« »Von gar keinem.« Boris schüttelte vehement den Kopf, um seine Aussage zu unterstreichen. »Sie wurden einst von Menschen gefertigt, und sie …« , er vollführte eine hilflose Bewegung
mit den Händen, »… fliegen auseinander, wenn man nicht aufpasst. Das ist sehr gefährlich.« »Aha.« Rooni war nun sicher, dass es sich bei Boris um einen Dämon handeln musste. Anders war dessen wirres Gestammel kaum zu erklären. Sein Stirnrunzeln blieb den anderen natürlich nicht verborgen. »Genauer kann es mein UniversalTranslator leider nicht ausdrücken« , bat Boris um Nachsicht. »Deinem Volk fehlen viele Worte, die dazu nötig wären. In meiner Sprache heißen die Knalleier Handgranaten. Sie wurden mit einem Pulver gefüllt, das beim Auseinanderbersten zu gefährlichen Verletzungen führt.« Universal-Translator? Rooni sah sich überrascht nach allen Seiten um, konnte aber keine weitere Person entdecken. Boris lachte scheppernd. »Mein Übersetzer sitzt hier drinnen« , erklärte er, indem er auf das mit feinem Drahtgeflecht überzogene Rundstück deutete. So kleinwüchsig konnte kein sprachbegabter Narod'kratow sein, dass er dort hinein passte, aber was machte das schon? Dämonen wie Boris gab man besser Recht, ohne viele Fragen zu stellen. Von unzähligen Ängsten gequält, ließ sich Rooni durch ein von Schuttbergen, Feuchtigkeit und Schatten geprägtes Areal führen, das durch die Ausführungen des Silbermannes nicht gerade lauschiger wurde. »Das sind die Ruinen eines kriegerischen Dorfes« , erklärte Boris nebulös. Anscheinend fehlten ihm wieder die richtigen Worte. »Als der große Himmelsstein die Erde erschütterte, entstand unter den Fundamenten ein großer Riss, der alle Häuser verschlun11
gen hat. Viele Gebirge rund um den See sind ebenfalls erst durch den Einschlag entstanden.« Großer Himmelsstein? Einschlag? Das Gerede wurde ja immer verrückter. Gemeinsam stiegen sie einen Durchbruch hinab. Über graue Steinplatten ging es in einen Hohlraum, in dem unzählige Kisten durcheinander lagen. Einige waren geborsten, sodass ihr Inhalt über dem Boden verstreut lag. Weiter hinten, fast außerhalb des Fackelscheins zeichneten sich klobige Konturen ab. Rooni konnte dem schattenhaften Gewirr keinen Nutzen zuordnen, doch das meiste davon bestand offensichtlich aus Eisen. Ein wahrer Schatz, der sich in kürzester Zeit zu Schwertern, Pflügen oder anderen nützlichen Dingen einschmelzen ließ. Das also war das Geheimnis dieser Mine, die als ertragreichste am ganzen See galt. »Um da hinten heran zu kommen, müssen erst die Knalleier aus dem Weg geräumt werden.« Boris deutete auf einige Objekte in der Größe einer Kinderfaust, die tatsächlich einem Ei ähnlich sahen. »Normalerweise ist die bloße Berührung ungefährlich, aber durch die lange Lagerzeit sind einige Eier schlecht geworden. Du musst sie vorsichtig aufsammeln und in der Grube dort drüben ablegen. Danach kann nichts mehr viel passieren.« Rooni nickte. Klang doch eigentlich ganz einfach. Zumindest besser, als eine Felswand mit der Spitzhacke zu bearbeiten. Wäre nicht die dunkle Lache zu seinen Füßen gewesen, er hätte vor Freude glatt in die Hände geklatscht. Dem tiefroten Glanz nach zu urteilen, handelte es sich um das Blut des zerfetzten Woiin'metcha. Obwohl die geheimnisvollen Schwertkrieger als Meister der 12
Körperbeherrschung galten, musste er irgendetwas falsch gemacht haben. »In Ordnung, das werde ich schon hinbekommen.« Was sollte Rooni auch anderes sagen? Ein Blick auf Kailas Feuerrohr zeigte deutlich, dass ihm nichts weiter übrig blieb, als die Anweisungen auszuführen. Da war es schon besser, gleich in Optimismus zu machen. Als Boris und der Narod'kratow das Gewölbe verließen, lief trotzdem ein Zittern durch seine Knie. Die Wirkung dieser Handgranaten musste schon sehr verheerend sein, wenn seine Wächter plötzlich das Weite suchten. Unsicher trat Rooni einen Schritt vor und versuchte sich in dem Chaos aus geborstenen Kisten und Trümmerstücken zurecht zu finden. Als er das nächstliegende Knallei erblickte, verkrampfte er erst einen Moment, gab sich dann aber einen Ruck und beugte sich vor. Ein hartnäckiger Schweißfilm, der selbst durch Abwischen an der Hose nicht zu entfernen war, überzog seine Handflächen. Die raue Wabenoberfläche kratzte unangenehm über seine tastenden Fingerspitzen, trotzdem griff er vorsichtig zu und hob das Ei in die Höhe. Jeden Muskel angespannt, wartete Rooni darauf, dass etwas Schreckliches passierte, doch zu seiner Verwunderung blieb alles ruhig. Für eine Frucht war das Knallei eindeutig zu schwer, und tierisches Leben schien es auch nicht zu beherbergen. Öde und tot lag es in der Hand. Von Gefahr keine Spur. Schulterzuckend nahm Rooni drei weitere Eier auf und schaffte sie zu der natürlichen Grube, die ihm Boris gezeigt hatte. Dort lagen bereits Dutzende von ihnen, säuberlich aneinander gereiht, wie es dem Ordnungssinn der
Woiin'metcha entsprach. So schlimm konnte die Aufgabe also nicht sein. Bereits etwas gelöster, ging Rooni zurück, um die nächsten aufzuklauben. Mit seinen vier Händen kam er schnell voran, sodass sich der Raum zusehendes leerte. Mit jedem Durchgang arbeitete sich der Fischfänger näher an die klobigen Eisengebilde heran, die wie leere Insektenpanzer wirkten. Rooni entdeckte einige Räder, ähnlich denen, wie sie an Schub- und Lastkarren verwendet wurden. Die verbogene Gestelle, die sich daran anschlossen, waren für sehr große Gegenstände ausgelegt worden. Für Baumstämme vielleicht, oder ganze Boote? Er würde Boris fragen, wenn alles aufgeräumt war. Nachdem Rooni die offen herumliegenden Eier sicher verstaut hatte, rückte er einige Kisten zur Seite, um auch der verborgenen habhaft zu werden. Sein Rücken schmerzte von der gebückten Tätigkeit, doch er kam gut voran, und das machte ihn froh. Wenn er alles zur Zufriedenheit erledigte, konnte er vielleicht das Wohlwollen seiner Wächter gewinnen. Das mochte für eine spätere Flucht nützlich sein. Die meisten Kisten beinhalteten vor Rost starrende Eisengebilde, die den Feuerrohren der Narod'kratow ähnelten, aber viel feiner gearbeitet waren. Rooni stapelte alle noch halbwegs intakten Behälter an einer Wand auf. Bei der Gelegenheit stieß er auf zwei weitere Knalleier. »Bin gleich fertig« , kündigte er lauthals an. Er hatte die Worte kaum über die Lippen gebracht, als ein weiteres Wabenmuster sichtbar wurde. Es klemmte in einer Steinspalte und war nur von einem flachen Blickwinkel aus zu sehen.
»Mast- und Ruderbruch« , fluchte er leise, damit niemand von seiner Unachtsamkeit erfuhr. Mit Hilfe einer Fackel stellte er sicher, dass keine weiteren Eier in dem Spalt lagen. Danach griff er mit der letzten freien Hand zu, um das widerspenstige Biest an sich zu bringen. Er musste ein wenig Kraft aufwenden, um es aus der steinernen Umklammerung zu lösen, aber nach kurzem Zerren ruckte das Ei knackend in die Höhe. Ein eisiger Schauer jagte Roonis Nacken hinab, als er sah, wie sich ein kleiner Splint von dem Ei löste und mit leisem Klirren in der Spalte verschwand. Einen Lidschlag später folgte ein fingerdicker Hebel, der schwungvoll wie ein zurückschnellender Ast in die Dunkelheit davon flog. Was war das denn ? Roonis Muskeln krampften sich zusammen. Sein Herz schlug plötzlich bis zum Hals. Zwei Mal, drei Mal. Ohne das etwas passierte! Glück gehabt. Durch einen schnellen Seitenblick stellte er sicher, dass die Bewacher nichts von seinem Missgeschick bemerkt hatten. Hastig eilte er auf die Grube zu, um sich der verräterischen Fracht zu entledigen. Hoffentlich gab es keine Peitschenhiebe, weil eines der Eier beschädigt war. Rooni kam nur drei Schritte weit. Danach gab es einen riesigen Donnerhall, der das Gewölbe zum Beben brachte. Rooni bekam kaum mit, was eigentlich los war. Er sah nur einen gleißenden Blitz und fühlte sich plötzlich schwerelos. Das er mit dem Rücken auf den Boden knallte, ging völlig an ihm vorbei. Glühend heiße Wellen peitschten durch seinen Körper, während er seltsam unbeteiligt wahrnahm, wie einer 13
seiner linken Arme drei Schritte entfernt aufschlug. Die Hand umklammerte noch den Griff der Fackel, die durch den Luftzug erloschen war. Rauchige Schwaden stiegen in die Höhe und erfüllten die Luft. Rooni versuchte sich aufzurichten, doch dazu fehlte ihm bereits die nötige Kraft. In pulsierenden Strömen floss das Leben aus ihm heraus. Seine Bauchdecke schien geöffnet zu sein, denn er spürte förmlich, wie sich sein Innerstes nach außen kehrte. Er hätte gerne geschrien vor Schmerz, aber dort, wo einst die Stimmbänder saßen, klaffte nun ein faustgroßes Loch. Röchelnd bekam er mit, wie Boris und Kaila durch den Niedergang eilten. »Verdammter Mist« , fluchte der Silberhäutige. »Dabei hatte er es beinahe geschafft.« Der Narod'kratow nahm die Angelegenheit wesentlich leichter. »Unser Häuptling wird zufrieden sein« , frohlockte Kaila. »Der Weg zum Schrottberg ist frei.« »So einfach ist das nicht« , dämpfte Boris seine Hochstimmung. »Unter dem Eisen befinden sich noch gefährliche Knallpfeile, die ich erst mal stumpf machen muss.« Traurig kniete er nieder und blickt auf Rooni herab. Seine Stimme klang plötzlich undeutlich, als ob beide durch einen Wasserfall voneinander getrennt wären. Trotzdem konnte der Fischfänger verstehen, wie Boris sagte: »Wärst du doch nur früher gestorben, armer Rriba'low. Jetzt wird alles nur noch schlimmer.« Rooni hätte gerne gewusst, was das bedeuten sollte, aber für Erklärungen war es längst zu spät. Sein Blickfeld verengte sich immer weiter, bis eine Dunkelheit folgte, die kein geschlossenes Augenlid auslösen konnte. Alles 14
Denken und Fühlen erlosch auf einen Schlag. Danach gab es nur noch ein großes Nichts. Denn Rooni war tot. * Nördlich des Kratersees, Dezember 2518. Matt und seine Freunde atmeten erleichtert auf. Endlich, nach Tagen voller Entbehrung und unsäglicher Strapazen, neigte sich ihr Ritt über den Bergpass dem Ende entgegen. Der Ultraschallsender, dessen Dauersignal sie unbeschadet durch das Gebiet der Sirenen gebracht hatte, war bereits verstummt. Steile Höhenunterschiede waren nichts für die wolfsähnlichen Raubtiere, deren Revier zu allen Seiten von natürlichen Barrieren begrenzt wurde. Die Küste im Norden, der Lauf des Kolyma im Osten, dazu Gebirgszüge im Westen und Süden - vor diesen gefräßigen Viechern dürften sie endgültig Ruhe haben. Doch was mochte als Nächstes kommen? Hier, so nah bei der Einschlagstelle des Kometen? Am Kratersee! Matthew wischte sich den Schweiß von der Stirn und knöpfte die Felljacke auf, die ihn in den vergangenen Tagen vor der kalten Höhenluft geschützt hatte. Trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit herrschte diesseits des Gebirges ein mildes Klima. Je tiefer sie kamen, desto wärmer wurde es. Nach kurzem Zögern legte er die Jacke gänzlich ab. Zusammengerollt verschwand sie im übrigen Gepäck. Seine Pilotenkombination reichte völlig aus. Die anderen der Gruppe - Aiko, Mr. Black und Honeybutt Hardy - hielten es
ganz ähnlich. Seine Gefährtin Aruula trug sogar neben Stiefeln, Lendenschurz und Schwert nur noch das Bikinioberteil, das sie einst von Naoki erhalten hatte. Lediglich die Yakks, auf denen sie rit ten, mussten ihr dichtes Fell anbehalten, aber das schien die genügsamen Tiere nicht zu stören. Unermüdlich trotteten sie weiter den abschüssigen Pfad hinab. »Der Kratersee muss durch heiße Quellen gespeist werden« , sagte Aiko in die Stille hinein. »Anders kann ich mir die ansteigenden Temperaturen nicht erklären.« »Klingt nach einem schönen warmen Bad« , seufzte Honeybutt, die auf demselben Yakk hinter ihm saß. »Das wäre jetzt genau das Richtige. Klamotten runter und sich den Schweiß und Dreck vom Körper schrubben.« Aiko kratzte sich interessiert am Kinn. »Du - nackt? Kein übler Gedanke.« Honeybutts wütendes Quietschen erfolgte für ihn ebenso erwartet wie der Schlag mit der Faust, der sich spielerisch in seine Rippen bohrte. Aiko quittierte die sanfte Attacke mit einem übertriebenen Aufschrei. »Key, keine Frechheiten?« , verlangte die dunkelhäutige Schönheit von ihm. »Falls Aruula oder ich dich beim Spannen erwischen, gibt es eine Abreibung, dass dir Hören und Sehen vergeht!« Mit dieser Art von Schulterschluss war sie bei der Barbarin aber an der falschen Adresse. »Baden?« , fragte Aruula missmutig. »Das ist doch schädlich für die Haut.« Honeybutt lachte unbeschwert auf, ohne zu ahnen, wie ernst es ihre Freundin meinte. Danach ging es eine Weile schwei-
gend weiter, bis der Höhenzug endgültig hinter ihnen lag. In den anderen drei Himmelsrichtungen dehnte sich eine karge, von kahlen Felskuppen geprägte Landschaft aus. Um zu der riesigen Seenplatte zu gelangen, die sie bereits aus höherer Lage bewundert hatten, brauchten sie nur der eingeschlagenen Richtung zu folgen. Andererseits mussten sie dringend ihre Vorräte auffrischen. Da traf es sich gut, dass westlich von ihnen knapp zwei Dutzend Rauchsäulen in den Himmel stiegen. Dort musste eine Ansiedlung liegen. »Was ist uns wichtiger?« , fragte Aruula in die Runde. »Baden …« , sie sprach das Wort betont abfällig aus, »… oder …« , ihre Stimme erhielt plötzlich einen schnurrenden Unterton, »… ein saftiger Braten, der bereits an einem Spieß brutzelt?« »Am See kann man sicher Fische fangen« , wandte Honeybutt ein. »Das dauert doch viel zu lange« , maulte die Barbarin zurück. »Die Bewohner des Dorfes könnten unfreundlich gesinnt sein« , gab Matt zu bedenken. Seine Gefährtin funkelte ihn wütend an. »Feigling!« Ehe es zu einem schlimmeren Austausch von Unfreundlichkeiten kommen konnte, warfen die Yakks ihre Köpfe in die Höhe und blieben schnaufend stehen. Ein grobkörniger Sandstreifen, dessen intensiver Ton an die Farbe überreifer Brabeelen erinnerte, versperrte ihnen den Weg. Unruhig stampften alle drei Tiere mit den Hufen auf. Sie schienen etwas zu wittern, obwohl an den roten Kieseln nichts Ungewöhnliches zu erkennen war. Nicht mal in einer Wärmebildaufnahme, wie Aiko nach der Aktivierung seines Thermo-Modus bestätigte. 15
Da sich der Instinkt der Tiere schon häufiger bewährt hatte, wollten sie das Gebiet trotzdem umrunden. Doch ehe es zu der Richtungsänderung kam, fasste sich Aruula plötzlich mit leisem Keuchen an die Schläfen. Es mussten rasende Kopfschmerzen sein, die durch ihren Kopf schossen. Sie brachte nicht einmal die Kraft auf, ein paar erklärende Worte abzugeben. Während Matt seiner zusammengekrümmten Gefährtin vom Yakk half, entdeckte Honeybutt eine kurze Sonnenreflexion inmitten des Schotters. »Da liegt was vergraben!« , rief sie aufgeregt. »Vielleicht ein Gegenstand, auf den Aruula reagiert.« Der Barbarin schien es inzwischen wieder besser zu gehen. »Mein Lauschsinn« , sagte sie mit verzerrtem Gesicht. »Ich habe etwas gespürt. Es war wie ein Schlag mit der Faust.« Außer Honeybutt hörten ihr alle zu. Niemand achtete darauf, wie die Rebellin nach der Ursache für die Reflektion suchte. Die roten Kiesel knirschten unter ihren schweren Stiefeln, als sie auf den Streifen hinaus trat. Ein weiteres Aufblitzen wies ihr den Weg. Beherzt griff sie zu - und zuckte gleich darauf überrascht zurück. »Verdammt, was ist denn …?« Ungläubig starrte sie auf die blutenden Fingerkuppen. Sie hatte in etwas Scharfes gefasst und sich dabei mehrfach geschnitten. Nicht besonders tief, trotzdem quoll ein roter Strom aus den Wunden und tropfte hinab. Statt zu versickern, wurden die Blutperlen von den Kieseln regelrecht aufgesogen. Die benetzten Oberflächen glätteten sich in wenigen Sekunden. Ihr Volumen wuchs auf das Dreifache an, gleichzeitig brachen fein behaarte Beinpaare aus der vermeintlich toten Materie hervor. 16
Ehe Honeybutt begriff, was eigentlich vor sich ging, geriet der Boden unter ihren Füßen in Bewegung. Knapp ein Dutzend roter Käfer krabbelte den linken Stiefel empor. Scharfe Hornklingen an den Hinterleibern reflektierten das Sonnenlicht wie geschliffene Diamanten. Blitzschnell schnitten sie damit durch den grauen Drillich ihrer Kombination und natürlich auch in die darunter liegende Haut. Honeybutt riss das verletzte Bein fluchend in die Höhe, nicht nur von hauchdünnen Wunden gepeinigt, sondern auch durch die gierigen Blutkäfer, die unter ihre Hose schlüpften, um sich an dem austretenden Lebenssaft zu laben. Wütend schlug die junge Frau nach den winzigen Peinigern. Der Versuch, sie mit einer energischen Bewegung abzustreifen, schlug jedoch fehl. Die Biester hatten sich regelrecht festgebissen. Und der blutige Regen, den Honeybutt mit jeder Handbewegung zu Boden sandte, erweckte noch weitere Käfer aus dem Trockenschlaf. Schaudernd erkannte sie, dass es um sie herum regelrecht zu brodeln begann. Die blutende Hand zur Faust geballt, trat Honeybutt den Rückzug an. Zum Glück waren es nur wenige Schritte bis zum rettenden Grünstreifen, doch die bereits erwachte Mini-Armada folgte ihr auf dem Fuße. Aiko, der die Attacke bemerkt hatte, nahm seine Freundin hilfsbereit in Empfang. Fieberhaft suchte er nach den kleinen Plagegeistern, die Honeybutts Schienbein in ein blutiges Schlachtfeld verwandelten. Mit sicherem Blick nahm er den ersten Käfer aufs Korn und zerquetschte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. Das dumpfe Knacken des Chitinpanzers wirkte auf die anderen wie ein Si-
gnal. Sofort ließen sie von Honeybutt ab und sprangen auf Aiko über. Eigentlich keine schlechte Taktik, nur nicht bei einem Cyborg, dessen Arme aus widerstandsfähigem Plysterox bestanden. Hier scheiterten die Schnittattacken an der stahlharten Kunststoffmischung, die unter seiner dünnen Hautschicht verborgen war. »Pech gehabt!« , triumphierte Aiko, bevor er mit schnellen, zielsicheren Schlägen ein halbes Dutzend Käfer erledigte, die wie vollgesogenen Stechinsekten unter seiner Handfläche zerplatzten. Die übrigen Biester setzten sich durch flinke Sprünge in Richtung der Yakks ab. Im Schutz des zotteligen Fells konnten sie ihrer blutigen Bestimmung ungestört nachgehen. Von plötzlichem Schmerz gepeinigt, wollten die drei Reittiere blindlings davonrennen, doch die anderen Mitglieder der Gruppe nahmen sie sofort an die Kandare. Auch wenn es den Yakks schwer fiel, sie mussten stehen bleiben. Wenn sie blutend über den Kiesstreifen hinweg galoppierten, war ihr Schicksal besiegelt. Eine Handvoll Blutkäfer verursachte noch keine tödlichen Verletzungen, doch wenn sie erst mal zu Tausenden auftraten, konnte ihnen niemand mehr entrinnen. Aiko zog seinen Armbrust-Blaster vom Rücken, um wenigstens die zweite Angriffswelle zu verdampfen, doch es war schon zu spät. Mit schnellen Sprüngen bemächtigten sie sich der zotteligen Opfer. »Wir müssen die Käfer aus dem Fell holen« , verlangte Matt, doch das war leichter gesagt als getan. Die sonst so gutmütigen Yakks vollführten unter den Schnittattacken die ersten Bocksprünge und begannen nach hinten auszukeilen. Noch ließen sie sich wieder
beruhigen, doch wenn sie erst mal vor Schmerz durchdrehten, gab es kein Halten mehr. Als schon alles verloren schien, nahte plötzlich unerwartet Hilfe. Aus dem Boden schnellte ein langer, rosafarbener Strang hervor, der durch ein befallenes Yakkfeil streifte. Die Blutkäfer blieben daran haften und wurden mit lauten Knall abgerissen. Es war ein gespenstischer Vorgang, zumal niemand erkennen konnte, wer der Besitzer der umher schnellenden Zunge war. Erst Aikos Rezeptionsverstärker, die seine biologischen Sehnerven unterstützten, vermochten das Rätsel zu lösen: Im Thermo-Modus entdeckte er ein langgezogenes, reptilienhaftes Wesen, das zielsicher einen Blutkäfer nach dem anderen schnappte und in sein breit gezogenes Maul beförderte. »Da vorne sitzt er - genau 3,57 Meter von Matts linker Schuhspitze entfernt.« Obwohl Aiko direkt auf die Stelle zeigte, sahen die anderen nicht mehr als einen braunen Findling, der halb im Gras versunken war. Erst als auch der letzte Blutkäfer sein schmatzendes Ende gefunden hatte, begann der obere Teil des Steins zu pulsieren. Innerhalb weniger Sekunden durchlief die Kuppe das gesamte Farbspektrum, bis schließlich ein grün gemustertes Tier mit aufgestelltem Halskranz sichtbar wurde, das einem Gecko nicht unähnlich sah. Ein dumpfes Glucksen ausstoßend, stellte es sich auf die Hinterbeine und sah beifallheischend zu den Menschen auf. Ein putziger Anblick, der die meisten zum Lachen brachte. Nur Aruula fasste erneut an ihre Schläfen. Diesmal schien der Schmerz jedoch erträglicher zu sein. »Der Griff in meinen Kopf vorhin« , 17
sagte sie, »das war dieses Tier. Ich glaube, es wollte uns vor den Käfern warnen.« Ob das stimmte, ließ sich nicht mehr feststellen, denn der Farbwandler wirbelte auf den Hinterbeinen herum und hetzte durchs Gras davon. Nur einige schwankende Halme ließen ahnen, welche Richtung er einschlug, doch zwei, drei schnelle Haken genügten, um seine Position endgültig zu verwischen. Perfekt seiner Umgebung angepasst, war er für normale Augen praktisch unsichtbar. Aikos Wärmebildaufnahmen ließen sich dagegen nicht so leicht austricksen. »Er schaut noch mal zu uns herüber« , kommentierte der Cyborg. »Jetzt rennt er weiter und verschwindet in der Senke dort drüben.« »Offensichtlich eine Mutation, die sich den hiesigen Bedingungen perfekt angepasst hat« , sagte Matt Drax. »Schon zu meiner Zeit gab es Tiere, die ihre Hautpigmente nach Belieben ausdehnen und verkleinern konnten. Auf diese Weise passten sie sich jedem beliebigen Untergrund an. Viele Tintenfische waren dazu fähig, und an Land gab es die Chamäleons.« »Ich glaube eher, dass Wudan seine schützende Hand über uns hält« , warf Aruula ein. »Das Tier war sein Bote. Er wacht unsichtbar über uns auf unserem gefährlichen Weg.« Um eine unnötige Diskussion zu vermeiden, beließ es die Gruppe bei einem bestätigenden Nicken. Matt war schon vor langer Zeit dazu übergegangen, Aruulas Glauben zu respektieren, und auch Aiko, Honeybutt und Mr. Black hatten gelernt, dass die Barbarin eine eigene Sicht der Dinge besaß. »Etwas Gutes hat diese Begegnung jedenfalls« , fasste Black zusammen. »Wir wissen jetzt, dass uns nicht alle 18
Kreaturen dieser Gegend feindlich gegenüber stehen.« »Das macht tatsächlich Mut« , stimmte Matthew zu. »Vielleicht sollten wir der nächsten Siedlung wirklich einen Anstandsbesuch abstatten.« Mit knurrendem Magen starrten sie zu den Rauchsäulen hinüber, die weiter ungerührt in den Himmel stiegen. Dort drüben mochte sie angenehme Gastfreundschaft erwarten, aber auch Gefahr, Kampf und Abenteuer. Sie würden es bald erfahren. * Im Dorf der Narod'kratow, zwei Stunden später. Dichte Rauchschwaden aus Schmieden und Eisenschmelzen hingen wie schwere Gewitterwolken über den gedrungenen Steinhütten, die vielfach in das natürliche Felsmassiv eingepasst waren. Hier auf dem Marktplatz der Bergleute ging es immer geschäftig zu. Jeden Tag schlurften unzählige Füße über den festgestampften Boden - gefleckte, oder mit hornigem Panzer überzogene, aber auch in festes Schuhwerk gekleidete. Abordnungen aller Völker trafen hier zusammen, um Fisch, Früchte, Stoffe oder Handwerkskunst gegen harten Stahl einzutauschen. Von persönlichen Auseinandersetzungen abgesehen, lebten die Stämme rund um den See in friedlicher Eintracht. Dafür sorgte schon die gestrenge Macht im See, aber auch eine Vielzahl von Abmachungen und Verträgen, die Narod'kratow, Woiin'metcha, Rriba'low und Mastr'ducha miteinander geschlossen hatten. So unterschiedlich die vier Stämme auch sein mochten, hier auf dem Marktplatz begegneten sie sich mit Respekt und gegenseitiger Ach-
tung. Normalerweise jedenfalls. An diesem Tag gab es dagegen Streit. Sehr großen sogar. Dabei hatte zuerst alles ganz friedlich begonnen, sodass der stetige Geräuschpegel, der von Hammer und Amboss ausging, noch ausreichte, um die ersten Wortgefechte zu übertönen. Doch bereits kurze Zeit später begann die Stimmung so sehr zu kippen, dass selbst emsige Schmiede in der Arbeit inne hielten. Wenn sie dann einen Blick auf den Marktplatz warfen, bot sich ihnen ein seltsames Bild. Es war ausgerechnet eine Gruppe Rriba'low, die den Marktfrieden störte. Zwei Hände in die Hüften gestemmt, die anderen beiden drohend geballt, rotteten sie sich vor einem rothaarigen Bergmann zusammen, der sie mit steinernem Gesichtsausdruck musterte. Jakirda, eine junge Fischfängerin, die um ihren Liebsten bangte, setzte sich an die Spitze der aufgebrachten Menge. »Gebt endlich Rooni frei!« , forderte sie aufgebracht. »Unser Dorfrat hat ihn schuldlos erklärt. Die Narod'kratow haben kein Recht, ihn weiter gefangen zu halten.« Kaila, der sich diese Forderung bereits zum wiederholten Mal anhören musste, verspürte wenig Lust, gegen die achtköpfige Gruppe anzuschreien. Wütend schlug er mit dem Lauf seines Feuerrohrs in die linke Handfläche. Eine Respekt einflößende Geste, die ihre Wirkung nicht verfehlte. Sobald der Tumult etwas abgeebbt war, setzte Rooni zu einer Erwiderung an, die allerdings nichts Neues brachte. »So einfach geht das nicht« , erklärte er mit sonorer Stimme. »Wer uns als Sklave übergeben wird, verliert auf immer alle Lebensrechte. So wurde es un-
ter den Völkern des Sees beschlossen, und so soll es auch für alle Zeit bleiben.« Keine sonderlich befriedigende Antwort, das wusste er selbst. Aber was sollte er machen? Er musste Zeit gewinnen, bis sein Häuptling kam. Nur Klatko durfte entscheiden, ob sie Roonis Tod eingestanden oder leugneten. Jakirda, die längst spürte, dass etwas faul war, wollte sich nicht mehr mit solch schalen Floskeln abspeisen lassen. Ihre Schulterflecken verdunkelten sich vor Wut, während sie so weit vortrat, dass der Narod'kratow nach ihr hätte greifen können. Sie wusste, dass sie damit eine natürliche Distanz unterschritt und Aggressionsbereitschaft signalisierte, aber das war ihr herzlich Recht. Sie wollte ja ihren Gegenüber unter Druck setzen, um endlich eine ehrliche Antwort zu erhalten. »Sag mal, hörst du mir eigentlich zu, du dämlicher Zwerg?« Ihre Stimme klang schneidend wie ein Fischmesser. »Ich habe dir doch bereits erklärt, das ein anderer Nebenbuhler den Mord gestanden hat. Rooni wurde zu Unrecht verstoßen. Ihr müsst ihn wieder freigeben.« Fern, einer der Dorf ältesten, der eigentlich ihre Abordnung anführte, packte Jakirda am unteren linken Arm, damit sie sich mäßigte. Einen Narod'kratow zu beleidigen war keine gute Taktik, um die Verhandlungen zu einem erfolgreichen Ende zu bringen. Nach außen reagierte Kaila nicht auf die Anspielungen bezüglich seiner Körpergröße, doch ein Zucken seiner zusammengewachsenen Augenbrauen ließ ahnen, dass es auch in ihm zu brodeln begann. Wären da nicht die auswärtigen Händler gewesen, die den Streit längst aufmerksam verfolgten, er 19
hätte die vorlaute Fischfängerin bereits zu Räson gebracht. Missmutig registrierte er, dass einige Rriba'low aus anderen Fischerdörfern näher kamen, um zu sehen, was da vor sich ging. Zwei hornhäutige Mastr'ducha schlossen sich den Neugierigen an. Nur die Woiin'metcha, die es nach gutem Material für ihre Schwerter verlangte, blieben wie immer unter sich. In ihre weiten Umhänge gehüllt, saßen sie auf dem Boden und meditierten lieber gemeinsam, statt sich um die Aufregung der anderer Stämme zu kümmern. Mit funkelndem Blick wandte sich Kaila wieder der aufgebrachten Fischfängerin zu, die herausfordernd auf ihn herab starrte. Angst vor der Peitsche oder dem Feuerrohr schien Jakirda nicht zu kennen. Eigentlich nötigte ihm das einen gewissen Respekt ab, doch Schwäche war das Letzte, was er zeigen durfte. »Eure Nachlässigkeit ist nicht unser Problem« , sagte er, sichtlich um einen verletzenden Ton bemüht. »Aber gut. Wenn es einen anderen Mörder gibt, der bestraft werden soll, können wir ihn sicher gegen unseren Sklaven eintauschen.« Natürlich hatte Kaila längst gesehen, dass niemand von den Rriba'low Fesseln trug. Die Chance, dass er sein Angebot sofort einlösen musste, war entsprechend gering. Jakirdas Schultern sackten plötzlich herab. Grenzenlose Verblüffung zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, während sie unbewusst einen Schritt zurück trat und so die alte Distanz wieder herstellte. »Den echten Mörder?« , stammelte sie überrascht. »Aber … der ist tot. Er hat sich nach seinem Geständnis im See ertränkt!« 20
Kaila unterdrückte ein Schmunzeln, das über seine Lippen zu huschen drohte. Na, prima. Das lief ja besser als erwartet. »Tut mir wirklich Leid« , entschuldigte er sich eine Spur zu höflich, um es ernst zu meinen. »Dann muss erst der Minenrat zusammentreten, um eine Entscheidung zu fällen. Ihr könnt solange gerne in einer der Schänken warten. Sicher wird es noch vor Einbruch der Dämmerung zu einer Entscheidung kommen.« »Wir sollen bis zum Abend darauf warten, dass ihr einen Unschuldigen freigebt?« Jakirdas Wangen röteten sich in gerechter Empörung. Ihre Wut, die gerade noch verraucht schien, kehrte in der Zeitspanne eines Wimpernschlags zurück. »Was soll das?!« , schrie sie unbeherrscht. »Soll Rooni noch einen Stollen durch den Berg treiben? Gebt ihn sofort frei, oder wir holen ihn selbst aus der Mine!« Statt zu antworten, ließ Kaila sie in den Lauf des Feuerrohrs blicken. Stille breitete sich über den Marktplatz aus. Sämtliche Schmiede hatten ihre Arbeit eingestellt. Nur noch das Knarren der windgetriebenen Erzmühlen erfüllte die Luft. »Ein Einbruch in die Mine wäre ein feindlicher Akt« , stellte Kaila nach einer bewusst langen Pause fest. »Das würde uns berechtigen, eure ganze Gruppe zu versklaven.« Jakirdas Halsflecken wölbten sich so stark nach außen, dass es aussah, als ob sie gleich von der Haut springen würden. Die innere Anspannung war ihr deutlich anzumerken, doch von Angst fehlte jede Spur. Die übrigen Rriba'low zeigten sich weitaus weniger todesmutig. Ängstlich flüsternd versuchten sie Jakirda zu beruhigen. Derart des Rückhalts beraubt,
wurde die junge Frau unsicher, doch ihr Stolz ließ offensichtlich nicht zu, vor aller Welt nachzugeben. »Was soll die ganze Aufregung?« , zerstreute eine ungeduldige Stimme die angestaute Spannung. Kaila sah sich erleichtert zu seinem Häuptling um, und auch Jakirda schien froh, dass sie ihr Gesicht wahren konnte. Atemlos brachte sie ihr Anliegen erneut vor, doch die Hoffnung, den Liebsten bald in die Arme schließen zu können, wurde jäh zerstört. »Rooni ist bereits seit drei Tagen tot« , schleuderte Klatko ihr die Wahrheit brutal ins Gesicht. »Er wurde von herabstürzenden Steinen erschlagen. Da war nichts mehr zu machen, darum haben wir seinen Leichnam der Macht im See übergeben.« Die falschen Todesumstände gingen Klatko leicht und überzeugend über die Lippen, doch die aufbrausende Fischfängerin glaubte ihm nicht. Wenn auch aus falschen Gründen. »Das ist gelogen« , schluchzte sie. »Rooni lebt bestimmt noch. Ihr wollt ihn bloß nicht wieder herausgeben.« Das Wechselbad der Gefühle, das Jakirda in den vergangenen Tagen durchlebt hatte, zeigte nun seine Auswirkungen. Nicht nur, dass zwei ihrer Verehrer unter dramatischen Umständen ums Leben gekommen waren, nein, man hatte auch noch Rooni, der ihr von allen am liebsten gewesen war, in die Minen verbannt. Und nun, da sich seine Unschuld herausgestellt hatte, sollte sie auch ihn nie wieder sehen? Das war zu viel für Jakirda. Wut und Enttäuschung brachen sich hemmungslos Bahn. Mit einen schrillen Aufschrei wollte sie auf Klatko losgehen, doch ehe sie auch nur einen Schritt weit kam, wickelten sich drei Peitschenschnüre
um ihre Fußgelenke und brachten sie zu Fall. Immer noch vom schmerzlichen Verlust übermannt, blieb sie wimmernd liegen. Doch damit war die Angelegenheit nicht ausgestanden. Plötzlich stand der ganze Marktplatz voller Narod'kratow. Ein Angriff auf ihren Häuptling konnten die Bergmänner nicht dulden, darum rückten sie drohend auf die Rriba'low zu. Fern, der Ratsälteste, hob beschwichtigend die Hände. »Nur die Ruhe« , bat er. »Jakirda steht unter Schock. Das muss man doch berücksichtigen.« Sein zu dünnen Strängen geflochtenes Haar ließ die mit Schweißperlen übersäte Kopfhaut durchschimmern, während er weiter auf Klatko einredete. Plötzlich war Roonis Schicksal vergessen. Nun ging es nur noch darum, nicht selbst in der Sklaverei zu landen. Der herrschsüchtige Klatko fand diese unterwürfige Haltung sehr ergötzlich. »Angesichts dieser Umständen will ich noch mal Gnade vor Recht ergehen lassen« , tat er großmütig, bevor er wesentlich gehässiger fortfuhr: »Allerdings muss die Kleine dringend Demut lernen. Wir sollten sie einige Zeit bei uns behalten. Keine Angst, natürlich nicht in der Mine. Sie ist ja keine Sklavin. Nein, ich werde sie in meine persönliche Obhut nehmen.« So breitbeinig, wie er sich dabei vor Jakirda aufbaute, ließ er keinen Zweifel daran, dass ihr dabei noch ein weitaus schlimmeres Schicksal blühte. »Ihr habt keine Recht, ein Kind unseres Volkes gefangen zu nehmen« , begehrte Fern entsprechend auf. »Wenn sie bestraft werden soll, dann nur durch unseren Dorfrat!« Angesichts der näher rückenden Bergleute endete sein Protest wesentlich leiser, als er be21
gonnen hatte. Die erdrückende Übermacht schüchterte ihn und die übrigen Rriba'low sichtlich ein. »Ich wüsste nicht, was mich von diesem Vorhaben abhalten sollte« , prahlte Klatko siegessicher, obwohl ihm klar sein musste, dass ein solcher Affront zum Bruch des friedlichen Miteinanders führte. Ganz auf die Feuerrohre seines Stammes vertrauend, wollte er es augenscheinlich auf eine Machtprobe mit den anderen Völkern ankommen lassen. Bevor er jedoch einen verhängnisvollen Befehl geben konnte, der sich später nicht mehr rückgängig machen ließ, kam im hinteren Teil des Dorfes Unruhe auf. Ängstliche Warnungen wurde von Mund zu Mund weitergetragen. Erst leise, dann immer deutlicher. »Da kommen Fremde ins Dorf!« , gellte es von allen Seiten. »Furchterregende Kreaturen, mit drei Köpfen und haarigen Leibern, wie sie noch keiner gesehen hat.« Die Feuerrohre, die eben noch auf die Rriba'low gerichtet waren, suchten sofort ihr neues Ziel. Anfangs glaubten einige noch an einen schlechten Scherz, denn rund um den See gab es keine Fremden, nur die bekannten Völker, die in Frieden miteinander lebten. Doch die drei Kolosse, die kurz darauf zwischen den Hütten hervor traten, belehrten die Skeptiker eines Besseren. Selbst der unerschütterliche Klatko fasste sein Feuerrohr fester. Was da mit wiegenden Schritten näher kam, erinnerte ihn fatal an Boris, dem er die Feuerrohre verdankte. Ein begieriges Glitzern trat in seine Augen. Da die Macht im See nur ihre Gläubigen schützte, glaubte er, alles Fremde 22
bedenkenlos in seine Gewalt bringen zu dürfen. Wenn er es richtig anstellte, konnte er seinen Einfluss noch weiter als bisher ausdehnen. Die Waffe in seiner Rechten fest umklammert, ging er den Besuchern entgegen. Jakirda, die neben ihm im Staub lag, hatte er längst vergessen. * Je näher sie dem Dorf kamen, desto mehr ähnelte es einem Vulkan, der kurz vor dem Ausbruch stand. Dichte Rauchschleier waberten über den Dächern, bevor sie sich langsam verflüchtigten. Der Geruch von Schweiß und heißem Stahl schwebte in der Luft. Hier wurde Erz verhüttet und verarbeitet, das war schon von weitem zu riechen. Eingebettet in eine karge Felslandschaft, wirkten die Hütten, Schmieden und Kohlenmeiler nicht sonderlich einladend auf Matt, doch für die Siedlung sprach auf jeden Fall, dass sie weder über Schutzzäune noch Wachtürme verfügte. Streit mit Nachbarn oder Reisenden schien den Bewohner fremd zu sein. Stattdessen trieben sie regen Handel, das ließ in der Regel auf große Gastfreundschaft hoffen. Driller und Lasergewehre in Griffweite, passierten sie die ersten Hütten, primitive Bauten aus übereinander geschichteten Natursteinen, deren Außenwände mit Lehm verschmiert waren. Grassoden wuchsen auf den Dächern, und statt Türen gab es nur geflochtene Vorhänge aus dünnen Weiden. Vom Rücken der Yakks aus wirkte alles etwas kleiner als gewöhnlich, was auch auf die Körpergröße der ersten Bewohner zutraf. Verwachsene, knotige Gestalten, die klobige Stiefel, Fell-
hosen und Lederjacken trugen, liefen ihnen über den Weg. Trotz des bizarren Äußeren war ihre Abstammung eindeutig humanoid, was sich bei einigen anderen Gestalten, die eine Schmiede später auftauchten, schon eher anzweifeln ließ. Matt gingen fast die Augen über, als er zwei aufrecht gehende Kreaturen mit platten Gesichtern entdeckte, deren Mäuler wahre Raubtiergebisse besaßen. Ihre Haut bestand aus einer dicken, mit reptilenhaften Ausbuchtungen besetzten Hornschicht, die jede Art von Kleidung überflüssig machte. Trotzdem trugen beide einen leichten Waffenrock aus übereinander läppenden Lederstücken, der durch ebensolche Schienbein- und Unterarmschützer ergänzt wurde. Was den Piloten aus der Vergangenheit aber am meisten irritierte, war ihre von tiefen Furchen überzogene Kopfform, die ihn fatal an ein Filmmonster aus seiner Zeit erinnerte. Die Nähe zu dem niedergegangenen Kometen zeigte deutliche Spuren. Die Mutationsrate musste hier, direkt am Kratersee, noch um ein Vielfaches höher sein als in Europa oder Amerika. Aber das hatte ihre Gruppe auch nicht anders erwartet. Während seiner Wanderungen durch das neue barbarische Zeitalter war Matthew Drax schon vielen Wesen begegnet, die in seine Augen wunderlich oder gar abstoßend aussahen, doch er hatte im Laufe der Zeit gelernt, eine unbekannte Spezies nicht nach ihrem Äußeren zu beurteilen. Ein politisch korrektes Verhalten, das den Bewohnern dieses Dorfes leider völlig abging. Überall, wo ihnen Gnome und Monster entgegen traten, brach sofort fürchterliches Geschrei aus. Glatte, ebenmäßig geformte Gesichter, wie Matt und
seine Freunde sie zur Schau trugen, schien niemand am Kratersee gewohnt zu sein. Viele Mutanten wichen deshalb furchtsam zurück, andere spuckten angewidert aus. »Werft mal einen Blick in den Spiegel« , beschied ihnen Aiko, doch natürlich konnte niemand den Cyborg, der nach außen wie ein normaler Asiate aussah, verstehen. Wie furchtbar ihr Anblick wirken musste, zeigte sich spätestens, als sie einigen vierarmigen Humanoiden begegneten, die sich umgehend übergaben und danach das Weite suchten. Auch wenn diese Reaktion nicht ganz ohne Komik war, fühlte sich Matthew doch gedemütigt. So muss sich Frankensteins Monster gefühlt haben, als die Dörfler mit Fackeln und Mistforken auftauchten, ging es ihm durch Kopf, während er hoch erhobenen Hauptes weiter ritt. Als sie den Marktplatz erreichten, beruhigte sich die Lage etwas. Da bisher noch niemand zu Schaden gekommen war, schien vielen Mutanten langsam zu dämmern, dass die Neuankömmlinge harmlos sein könnten. Was Matt nachdenklich stimmte, waren die primitiven Hinterlader, die er in den Händen einiger Gnome entdeckte. Gegen einen vereinten Beschuss von allen Seiten konnten sie auch mit Drillern und Blastern nicht bestehen. Das Klicken eines Sicherungsknopfes hallte plötzlich unnatürlich laut in seinen Gehörgängen. Als er sich nach links drehte, konnte er sehen, dass Mr. Black sein Lasergewehr über den Sattelknauf gelegt hatte. »Nicht so hastig« , mahnte er den Rebellen. »Die haben nur Angst vor uns.« »Ob man aus Angst oder Hass er23
schossen wird, macht letztlich keinen Unterschied« , gab Black zu bedenken, blieb aber sonst völlig ruhig. Überhastete Aktionen waren auch nicht von ihm zu erwarten. Der Rebellenführer hatte schon bei anderen Gelegenheiten Nervenstärke bewiesen. Matt zügelte sein Yakk und gab den anderen ein Zeichen, es ihm gleich zu tun. Die Dorfbewohner, die einen großen Kreis gebildet hatten, starrten sie von allen Seiten erwartungsvoll an. Die nächsten Sekunden entschieden darüber, wie es weiter ging. Deshalb breitete Matt die Arme deutlich sichtbar zur Seite aus, um allen zu zeigen, dass er unbewaffnet war. In einer geschmeidigen Bewegung schwang er ein Bein über den Kopf des Yakks und ließ sich aus dem Sattel gleiten. Aruula blieb sitzen, um seinen Abgang zu decken. Matts Sohlen hatten kaum den harten Boden berührt, als ein erstauntes Raunen durch die wartende Menge ging. Aufgeregtes Tuscheln hob an, gleichzeitig wurde immer wieder auf ihn und das Yakk gedeutet. Täuschte er sich, oder war die Feindseligkeit aus einigen Mienen gewichen? »Steigt aus dem Sattel« , empfahl er seinen Freunden. »Ich glaube, sie dachten, die Yakks und wir wären miteinander verwachsen.« »Woher haben Sie denn diese absurde Idee, Mr. Drax?« Black schien nicht sonderlich davon begeistert, seine überlegene Position aufzugeben. »Haben Sie neuerdings einen Kursus in Mutantenpsychologie belegt?« »Nein.« Matt war keineswegs zum Lachen zumute. »Aber den Indianern Mittelamerikas soll es genauso ergangen sein, als sie die ersten Spanier auf Pferden gesehen haben.« Sein Blick 24
blieb fest auf die mit Repetierhebeln ausgerüsteten Hinterlader gerichtet. »Behaupten zumindest die spanischen Geschichtsschreiber.« Seine rechte Hand schwebte die ganze Zeit über der Beintasche mit dem Driller. Eine verdächtige Bewegung der Gnome würde genügen, um ihn einen Warnschuss abfeuern zu lassen. Zum Glück erwies sich das als unnötig. Nachdem auch die anderen Reiter abgestiegen waren, entspannte sich die Situation. Die versammelten Mutanten schienen nun davon überzeugt, dass sie es mit Reisenden zu tun hatten, die ihnen halbwegs ähnlich waren. Einige Vierhänder wollten schon neugierig näher treten, wurden aber durch einen keifenden Gnom, der wütend mit seinem Hinterlader herumfuchtelte, daran gehindert. Der Giftzwerg stand offensichtlich ganz oben in der Hierarchie, denn er marschierte mit stolzgeschwellter Brust näher und baute sich breitbeinig vor Mr. Black auf, den er, ob seiner Statur, wohl für den Anführer hielt. Prompt prasselte ein unablässiger Wortschwall auf den blonden Rebellen nieder, mit dem dieser aber ebenso wenig anzufangen wusste wie der Rest der Gruppe. Die örtliche Mutantensprache ähnelte weder dem Englischen, noch dem Idiom der Euree-Barbaren, das Aruula perfekt beherrschte. Vom Klangbild her erinnerten die Worte eher ans Russische, wenn auch anders als bei den Mogoolen. »Immer mit der Ruhe, Tovarisch« , versuchte er den Häuptling zu beruhigen, der zwischendurch immer wieder auf seine Brust schlug und »Klatko« brüllte. Man brauchte kein Linguist sein, um zu verstehen, dass das sein Name war.
Matthew stellte sich und die anderen auf die gleiche Weise vor, aber damit erschöpfte sich die Kommunikation bereits wieder. Selbst Aruulas mentale Fähigkeiten halfen in dieser Situation nicht weiter. Also blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als sich mit Händen und Füßen zu verständigen. Die Masse der Mutanten schien sich inzwischen an den fremden Anblick gewöhnt zu haben, doch Klatko und einige ihm treu ergebene Flintenträger sahen immer wieder begehrlich auf die Waffen in Blacks und Aikos Händen. Offensichtlich rangen sie mit der Entscheidung, ob sie ein Feuergefecht wagen konnten oder nicht. Matt öffnete daraufhin seine Beintasche und ließ den Griff des Drillers deutlich sichtbar hervor lugen. Wie gut es war, ihre Wehrhaftigkeit so deutlich zu demonstrieren, zeigte sich kurze Zeit später, als Klatko einen rothaarigen Gefolgsmann unter großem Palaver fortschickte. Wenige Minuten darauf kehrte der Gnom mit einem hochgewachsenen Mann zurück, der in einem hermetisch verschlossenen Schutzanzug steckte. Das erschreckend bleiche, haarlose Gesicht, das sich unter dem runden Plexiglashelm abzeichnete, konnte noch nicht viel Sonne abbekommen haben. »Ein Techno!« , entfuhr es Matthew unwillkürlich. Er hatte schon öfters mit Menschen zu tun gehabt, die seit Generationen im Bunker lebten, und deshalb unter Immunschwäche litten. Ein winziger Riss im Anzug des Mannes genügte bereits, um ihn mit einfachen Schnupfenviren zu infizieren, die ihm innerhalb weniger Stunden den Tod bringen würden. Ein Raunen ging durch die Reihen der Mutanten, als der Techno auf den Marktplatz trat.
Aus einer englischen Community stammte der Mann mit den markanten Gesichtszügen sicherlich nicht. Dagegen sprach zumindest das Emblem auf rotem Grund, dass er über seiner Brust trug: Hammer und Sichel. Auch wenn das sowjetische Imperium zum Zeitpunkt des Kometeneinschlags schon längst zerfallen war, konnte man wohl davon ausgehen, dass eine russische Bunkerzivilisation das Symbol in Geschichtsbüchern aufgestöbert und ihm so zu neuen Ehren verhelfen hatte. »Verstehen Sie meine Sprache?« , fragte Matt auf Englisch. Der Techno nickte, doch statt zu antworten, hantierte er an einigen Drehknöpfen in seinem Metallkragen herum. Nachdem er alles fertig justiert hatte, drang eine scheppernde Computerstimme aus dem runden Außenlautsprecher. »Mein Name ist Boris Lewkov« , stellte er sich recht förmlich vor. »Ich verstehe Sie klar und deutlich, denn mein Universal-Translator hat die wichtigsten Sprachen der Alten Welt gespeichert. Zudem ist er lernfähig, sodass er fremde Sprachen, wie die der hiesigen Lebensformen, innerhalb kurzer Zeit entschlüsseln kann. Auf diese Weise vermag ich auch mit Klatko und den anderen Narod'kratow zu kommunizieren.« »Narod'kratow?« , echote Aruula. Boris bedachte sie mit einem freundlichen Blick. »Man könnte es grob mit ,Maulwurfsvolk' übersetzen« , erklärte er. »Sie betreiben Bergbau, daher der Name.« »Ein nützliches Gerät« , ergriff Matthew das Wort und fügte in Gedanken hinzu: Warum haben die Londoner Technos so was nicht entwickelt? Wir hätten uns viele Probleme ersparen können. Laut fuhr er fort: »Dann kön25
nen sie den Gno … äh, Narod'kratow ja sagen, dass wir in friedlicher Absicht kommen und niemanden schaden wollen. Ich bin Commander Matthew Drax von der einstigen U.S. Air Force. Meine Begleiter heißen …« Matts Redefluss versiegte abrupt, als er sah, wie Klatko die Flinte auf den Techno richtete. Was hatte das jetzt wieder zu bedeuten? »Ich fürchte, Sie missverstehen unsere Lage, Commander« , erklärte Boris, von dessen Stirn feine Schweißtropfen perlten. Ein sichtbares Zeichen, wie ernst er die Drohung des Mutanten nahm. »Ich bin ein Gefangener der Narod'kratow. Und da man Sie für Angehörige meines Volkes hält, sollen Sie durch die Bedrohung meines Lebens erpresst werden.« Klatko, dem das Gespräch offensichtlich zu lange dauerte, stieß ein wütendes Schnauben auf und schlug mit dem Flintenlauf auf den gläsernen Helm. Ein hohles Geräusch erklang, doch zum Glück trug die Hülle keinen Schaden davon. Boris biss sich auf die Lippen, um nicht laut aufzuschreien. Seinem angespannten Gesicht war deutlich anzusehen, wie sehr er eine Beschädigung seines luftdichten Anzugs fürchtete. Der lautstarke Wortschwall, mit dem ihn Klatko bedachte, ließ aber keine Zeit für lange Panikattacken. Boris begann umgehend zu übersetzen. Diesmal war deutlich zu hören, wie er unter dem Helm Russisch sprach und die englische Sprachausgabe mit einiger Verzögerung erfolgte. »Der Häuptling fordert, dass Sie alle Waffen ablegen und sich ohne Widerstand gefangen nehmen lassen« , erklärte er, den Blick beschämt zu Boden gesenkt. »Völlig inakzeptabel!« Mr. Blacks Antwort war kurz und prägnant wie im26
mer. Seine nächste Handlung ließ auch nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig. In einer fließenden Bewegung legte er sein Lasergewehr auf Klatko an und krümmte den Zeigefinger. Ein dünner, gleißender Strahl fauchte in gerader Linie hervor. Zuerst sah es so aus, als ob er Klatko zwischen die Augen treffen würde, doch in Wirklichkeit streifte er nur einen der herunter hängenden Zöpfe. Ein kurzes Knistern später fiel die geflochtene Haarpracht zu Boden. »Sag dem Giftzwerg, dass ihm mein nächster Schuss den Schädel spaltet« , verlangte Mr. Black mit ruhiger Stimme. »Und er kann sicher sein, das ich selbst dann noch treffe, wenn mich seine Leute schon durchlöchert haben.« Der Techno justierte seinen Translator neu und gab Blacks Worte an Klatko weiter, der immer noch, völlig blutleer im Gesicht, auf den verschmorten Rest seines Zopfes starrte. Mit einer derart unnachgiebigen Reaktion, wie sie der Running Man an den Tag legte, hatte er wohl nicht gerechnet. Verwirrt wies Klatko alle Flintenträger an, nur noch auf Mr. Black zu zielen, aber das änderte nichts an der Pattsituation. Der Rebellenführer besaß Nerven wie Drahtseile. Sein Gewehrlauf folgte Klatko bei jeder Bewegung. Es bedurfte nur eines kurzen Nervenzuckens, um das Leben des Narod'kratow auszulöschen. Außerdem zogen nun auch Matt und Honeybutt ihre Driller hervor, während Aruula den Bihänder aus der Rückenhalterung springen ließ. Die Masse der Mutanten verzog sich aus der Schusszone. Zurück blieben nur ein Dutzend Bergleute und die Menschen. Klatko hatte seine Stimme inzwi-
schen wiedergefunden. Unablässig brüllte er auf Boris ein, der mit dem Übersetzen der Flüche und Verwünschungen gar nicht mehr nachkam. Doch plötzlich hielt der Häuptling mitten im Gebrüll inne und sah entsetzt in den Himmel. Einige seiner Vasallen, die dem Blick folgten, ließen umgehend ihre Waffen sinken und warfen sich auf die Knie. Matthew hielt das zunächst für einen Trick zur Ablenkung, aber als große Teile der unbeteiligten Mutanten ähnlich reagierten, sah er doch nach, was sich über ihnen abspielte. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend registrierte er drei schwarzweiß gefärbte Rochen von ungeheurer Spannweite, die fast bewegungslos über der Menge schwebten. Auf dem ersten Blick ähnelten sie alten Kinderdrachen, die bei scharfem Wind an der Schnur tanzten, doch der friedliche Anschein täuschte. Das mussten die gefürchteten Todesrochen sein, die schon den Hydriten zugesetzt hatten. Sie trugen kleine grüne Kristallsplitter in ihren Köpfen und einen langen, mit spitzen Dornen gespickten Schwanz. Seine Befürchtung, dass die Tiere in den Sturzflug übergehen könnten, bewahrheitete sich zum Glück nicht. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund beschränkten sich die Rochen ganz und gar auf die Rolle des Beobachters. »Die Macht im See« , übersetzte Boris das entsetzte Geschrei der umstehenden Mutanten. »Sie zürnt, weil es Streit zwischen den Völkern gibt.« Besonders Klatko schien die Anwesenheit der Rochen zu fürchten. Aufgeregt winkte er einige Getreue heran, die ihn mit ihren Körpern schützten sollten. Danach packte er Boris am Anzug und trat mit ihm den Rückzug an.
»Helfen Sie mir, bitte!« , rief der Russe zum Abschied auf Englisch. »Wo kann ich Sie finden?« , wollte Matt wissen. »Ich schicke Ihnen einen Mann meines Vertrauens.« Weiter kam der Techno nicht, da er bereits in den dunkel gähnenden Eingang eines Stollens gestoßen wurde. Klatko und seine Getreuen folgten ihm auf dem Fuß, und auch die übrigen Narod'kratow flüchteten in die Sicherheit ihrer Hütten, Schmieden und Minen. Ehe Matt und seine Freunde sich versahen, blieben sie alleine auf dem Marktplatz zurück. * (Warum die Störung, Thu'sil'moori? Ich hoffe, es ist wichtig.) (Unsere Diener melden Unruhe unter den Modellen, Grao'lun'kaan. Einige BioOrganisationen der dritten Spezies versuchen die anderen zu dominieren.) (Wo ist das Problem? Die Diener sollen sie neutralisieren!) (Die Höhlenspezies ist schwer zu lokalisieren. Außerdem wäre es interessant zu sehen, wie die Modelle ihre Probleme selbst lösen.) (Ein neues Experiment? Da steckt doch mehr dahinter, Thu'sil'moori! Ich spüre deine Aufregung!) (Das ist wahr, Grao'lun'kaan! Die Diener haben fünf Primärrassenvertreter lokalisiert, die es irgendwie geschafft haben, den oberen Sicherheitsgürtel zu durchdringen. Das ist noch niemandem zuvor gelungen.) (Sie haben die Hochfrequenzmodelle überwunden? Dann sind sie gefährlich?) (Bisher verhalten sie sich ruhig.) (Trotzdem. Jeder Einfluss von außen könnte unsere Ergebnisse verfälschen. Neutralisieren.) (Aber wäre es nicht interessant, die Reaktion unserer Mo27
delle auf die fremden Einflüsse zu studieren? Es sind nur fünf. Ideal für eine kontrollierte Feldstudie.) (Da ist doch noch etwas, Thu'sil'moori. Du bist erregt. Ich spüre es genau.) (Einem Mächtigen kann man nichts verbergen. Ich fürchte, unseren Dienern ist bei der Analyse ein Fehler unterlaufen, doch wenn nicht, wäre es eine Sensation.) (Was ist es? Heraus damit.) (Zwei der Primärrassenvertreter weisen keine Spuren der Synapsenblockade auf.) (Das ist unmöglich!) (Die Diener haben es mehrfach überprüft. Immer mit demselben Ergebnis.) (Wie kann das angehen? Wenn ihre Vorfahren die letzten fünfhundert Sonnenumdrehungen auf dem Zielplaneten verbracht haben, müssen Spuren der Blockade in ihrem genetischen Code zu finden sein. Sogar bei den isolierten Unterirdischen sind eindeutige Spuren festzustellen.) (Vielleicht stammen sie von dem Trabanten, der den Zielplaneten umkreist?) (Unwahrscheinlich.) (Und jetzt? Wollen wir weiter beobachten? Ich finde ihr Auftauchen faszinierend. Sie könnten einiges in Bewegung setzen und unsere Modelle auf eine Weise prüfen, die vorher nicht möglich war.) (Du verstehst es wirklich gut, deine Wünsche vorzubringen, Thu'sil'moori. Genehmigt. Fahre fort, wie du es für richtig hältst. Aber melde mir umgehend, wenn etwas Ungewöhnliches geschieht. Wir sind unserem Ziel bereits sehr nahe. Wir müssen vorsichtig sein.) (Ich werde die Diener umgehend instruieren.) (Gut. Ist noch etwas ?) (Ja, Grao'lun'kaan, noch eine Frage. Werden wir es dem sol melden?) … Schweigen … (Nein, noch nicht. Erst wenn wir uns sicher sind.) * Matt fühlte sich wie von einem Röntgenapparat durchleuchtet. Unter seiner Kopfhaut begann es zu 28
prickeln, als würde jemand mit unsichtbaren Händen in seinem Verstand herumwühlen und das Innerste nach Außen kehren. Die Lippen zu einem dünnen Strich gepresst, sah er zu den Rochen auf, die weiterhin provozierend langsam am Himmel kreisten. Ihre Anwesenheit lastete wie eine körperlich spürbare Drohung auf dem Dorf der Narod'kratow. Mochten die aufsteigenden Rauchschleier einer Eisengießerei sie auch für Sekunden verbergen, gleich darauf brachen sie wieder aus dem Dunst hervor und setzten zu einer neuen Runde an. Aiko, der diese unangenehme Wahrnehmung teilte, stand in tiefer Konzentration versunken. Für die anderen unsichtbar, führte der Cyborg einen Routinecheck seiner kybernetischen Speichererweiterungen durch. Nach einigen Sekunden der Stille schüttelte er jedoch den Kopf. »Ich kann keinen elektronisch messbaren Scan feststellen« , beruhigte er, fügte dann aber hinzu: »Mein biologisches Nervensystem sagt mir allerdings, dass wir genau beobachtet werden.« »Vielleicht verfügen die Biester über telepathische Fähigkeiten« , mutmaßte Matthew. »Aruula?« Die schüttelte den Kopf. »Nichts. Aber vielleicht schirmen sie sich auch ab.« »Ja, vielleicht« , gestand Aiko ein. »Oder es sind nur ein paar dumpfe Quallen, die Langeweile haben.« Als hätten die Rochen seine Worten gehört, scherten sie plötzlich aus der bisherigen Kreisbahn aus und flogen in Richtung Süden davon. Matt fühlte sich umgehend besser. Das Prickeln auf seiner Haut flaute im gleichen Maße ab, wie das Gefühl des Beobachtet-Werdens schwand. Aber das mochte natür-
lich alles auf Einbildung beruhen. »Wie geht's jetzt weiter?« , stellte Honeybutt Hardy die Frage, die insgeheim alle beschäftigte. »Sollten wir nicht besser verschwinden, bevor es sich Klatko und seine Männer anders überlegen?« , schlug Aruula das Naheliegendste vor. Matt zog ein unentschlossenes Gesicht. »Ich würde gern mehr über den Techno herausfinden. Er könnte zu einem nützlichen Verbündeten werden.« »Willst du diesen Lewkov aus der Gefangenschaft befreien?« , fragte Aiko geradeheraus. Matt nickte. »Wenn es möglich ist, ja. Er hat um Hilfe gebeten, und ich möchte ihn ungern im Stich lassen.« »Außerdem kann er sicher mit zahlreichen Informationen über den Kratersee aufwarten« , ergänzte Mr. Black. Kampfeslustig hob er den Lauf des Lasergewehres an. »Ich bin jedenfalls dabei.« Ehe sie weitere Pläne schmieden konnten, erforderte eine Mutantengruppe ihre Aufmerksamkeit. Die Vierhänder, die sich nur zögernd näherten, wurden von einer jungen Frau angeführt, die nicht mehr als eine wadenlange Hose mit dazu passender roter Schärpe trug. Ihr blanker Busen, der von einem Meer aus dunklen Hautflecken bedeckt wurde, hob und senkte sich in schnellem Takt. Sie war sehr aufgeregt. Sicher kostete es ihren ganzen Mut, den furchterregenden Fremden entgegen zu treten. Doch auf ihrem schmalen Gesicht, das künstlich in die Länge gezogen wirkte, spiegelte sich auch Hoffnung wider. Wieder wandte sich Matt zu seiner Gefährtin um. »Aruula? Kannst du etwas erlauschen?« Doch erneut schüttelte die telepathisch begabte Barbarin den Kopf. Auf
ihrer Stirn bildeten sich angestrengte Falten. »Tut mit Leid, Maddrax. Diese Wesen … denken ganz anders als wir. Es ist wie eine Nebelwand, die ich nicht durchdringen kann. Vielleicht, wenn ich mehr Zeit hätte …« »Ich schätze mal, sie bewundert uns, weil wir den Narod'kratow Paroli geboten haben« , vermutete Honeybutt, und wahrscheinlich traf sie damit ins Schwarze. Die Frau, die sich gestenreich als Jakirda vom Volk der Rriba'low vorstellte, bedeutete ihnen, sie zu einer Hütte zu begleiten, in der sie ungestört essen und reden könnten. Sich erst einmal vom Marktplatz zu entfernen, schien eine gute Idee, deshalb willigten Matt und seine Freunde ein. Gespannt folgten sie den gefleckten Mutanten zu einer Art Schänke, in der sich vor allem auswärtige Händler aufzuhalten schienen. Die Feuerstelle war verwaist. Von den Narod'kratow, die sie normalerweise bewirtschafteten, fehlte jede Spur. Wahrscheinlich trauten sie sich erst wieder hervor, wenn sich der Abzug der Rochen herumgesprochen hatte. Zeit genug, um die Töpfe zu plündern und mehr über die hiesige Lage zu erfahren. Ein tiefer gehendes Gespräch zwischen Mensch und Mutanten - wobei jede Seite wohl ihre eigene Sicht der Rollenverteilung hatte - erwies sich leider als nahezu unmöglich. Zu verschieden waren sie in Sprache, Gestik und Denkweise. Es schien so, dass ein Verwandter von Jakirda in der Mine gefangen saß. Die Sorge um diesen Rooni schien sie sehr mitzunehmen, denn sie brach während der aufgeregten Schilderung immer wieder in Tränen aus. Ein älterer Mutant namens Fern spendete ihr väterlichen Trost. Dank 29
seines grauen Haares war er der einzige Mann, den Matt sicher identifizieren konnte. Die übrigen Rriba'low ähnelten einander wie ein Ei dem anderen. Umso erstaunlicher, wie vehement sie sich untereinander abgrenzten. Ein weiterer Vierhänder, der zuvor bei den humanoiden Reptilien gesessen hatte - Matt wusste inzwischen, dass deren Volk Mastr'ducha hieß - wurde sofort angefeindet, als er neugierig dazu stoßen wollte. Mit traurigem Blick in Aruulas Richtung zog er sich wieder zurück. »Was hatte das denn zu bedeuten?« Matt konnte sich auf den Vorfall keinen Reim machen, aber ihm war nicht entgangen, dass Aruula dem Außenseiter ein wissendes Nicken geschenkt hatte. »Er kann lauschen, so wie ich« , antwortete die Barbarin gedämpft, als würde sie fremde Ohren fürchten. »Sein eigenes Volk hat ihn wegen seiner Gabe verstoßen. Bei den Mastr'ducha wird er dagegen geschätzt. Das ist sein Glück.« »Warum? Weil er sonst alleine leben müsste?« »Nein.« Aruulas Stimme nahm plötzlich einen düsteren Klang an. »Er hat mir einen Gedanken gesandt, den ich erlauschen sollte. Da waren Rriba'low in einer Mine. Sie trugen Ketten an den Füßen und wurden ausgepeitscht.« »Gefangene der Bergmänner?« »Ja« , stieß sie gepresst hervor. »Aber das ist nicht alles. Ihr eigenes Volk hat sie versklaven lassen! Nur weil sie lauschen konnten.« Ruckartig wirbelte Aruula herum. Ihr langes blauschwarzes Haar fächerte schwungvoll über die linke Schulter. Ein feuchter Film brachte ihre Pupillen zum Glänzen. »Verstehst du Maddrax? Nur 30
weil sie lauschen können! Wäre ich eine Rriba'low, müsste ich ebenfalls in Sklaverei leben, von meinem eigenen Volk geächtet!« Der Pilot fasste sie sanft am Oberarm und zog sie zu sich heran. Die Barbarin ließ es geschehen, denn in diesem Moment brauchte sie seine Nähe. Obwohl Aruula manchmal hart und unnachgiebig sein konnte, besaß sie doch einen weichen, mitfühlenden Kern, dem das Schicksal anderer Wesen nahe ging. Insbesondere, wenn es dem eigenen so sehr ähnelte. Als Kind war sie von Barbaren aus ihrem eigenen Volk geraubt worden und hatte viele Jahre als einzige Telepathin des Stammes gelebt - bis sie sich Maddrax anschloss. Matt streichelte über ihren nackten Rücken, während er wieder zu den aufgeregt diskutierenden Rriba'low sah. Die eben noch so freundlich und hilfsbedürftig wirkenden Mutanten erschienen ihm plötzlich in einem ganz anderen Licht. Eigentlich waren sie kein Stück besser als die Narod'kratow, über die sie so sehr zeterten. Plötzlich wurde ihm schmerzhaft klar, wie wenig er über die hiesigen Kulturen wusste. Die Mutanten am Kratersee folgten offensichtlich ganz eigenen Regeln. Ein Grund mehr, Boris Lewkov aus ihrer Gewalt zu befreien. Sie mussten zusammenhalten, auch wenn sie sich kaum kannten. Der Techno war einer der ihren. Ein Mensch. Das genügte. Ein erschrockenes Murmeln riss Matthew aus seinen philosophischen Betrachtungen. Den Blicken der Rriba'low folgend, entdeckte er einen Narod'kratow, der über die Schwelle trat. Es war der Rothaarige, der Boris aus der Mine geholt hatte. Seinen Hin-
terlader stellte der Gnom demonstrativ an der Wand ab, bevor er unbewaffnet näher kam. Die Rriba'low zischten ihm einige Bemerkungen zu, die nicht sonderlich freundlich klangen, aber davon ließ sich Kaila - dass er so hieß, war aus den Anfeindungen herauszuhören nicht beeindrucken. Ohne das geringste Zeichen von Angst trat er auf Matthew Drax zu und streckte ihm einen Lederfetzen entgegen, den er zuvor in seiner Faust verborgen hatte. Als Matt den Lumpen auseinander faltete, entdeckte er einige mit Holzkohle geschriebene Buchstaben, die er nach eingehender Betrachtung als FOLLOW HIM entzifferte. Folge ihm. Zwei krakelige, aber eindeutig englische Wörter. Eine Sprache, die nur ein Mensch beherrschen konnte. Boris Lewkov. Matt reichte die Botschaft an die anderen weiter, um sie in die Situation einzuweihen. Kaila verließ bereits wieder das Gebäude, ohne sich noch einmal umzudrehen oder die Reaktion der Menschen abzuwarten. Entweder war es ihm egal, ob Matt ihm folgte, oder er war sich seiner Sache absolut sicher. »Ich gehe ihm nach« , entschied der Pilot. »Diese Gelegenheit kommt vielleicht nie wieder.« »Das könnte auch eine Falle sein« , warnte Mr. Black. »Vielleicht hat der Techno die Worte unter Zwang geschrieben. Besser, ich komme mit.« Matt überlegte kurz. »Okay« , sagte er dann und wandte sich an Aiko Tsuyoshi. »Bleib du bei Aruula und Honeybutt. Und wenn wir in einer Stunde nicht zurück sind, versucht rauszukriegen, was mit uns passiert ist. Aber seid vorsichtig!« Der Cyborg nickte, und auch die bei-
den Frauen stimmten stumm zu. Sekunden später waren Matt und Mr. Black schon auf dem Weg nach draußen. * Die Gassen und Plätze zwischen den Steinhütten wirkten immer noch wie leergefegt. Trotzdem schien Kaila darum bemüht, einen möglichst großen Abstand zwischen sich und seinen menschlichen Begleitern zu halten. Er fürchtete wohl, als Verräter abgestempelt zu werden, wenn man ihn an der Seite von Matt und Mr. Black sah. Erst im Türrahmen eines langen Steingebäudes angelangt, winkte er sie hektisch näher. Die Männer behielten normales Schritttempo bei. Plötzlich loszulaufen und dabei noch verstohlene Blicke in alle Richtungen zu werfen wäre nun wirklich der Gipfel der Auffälligkeit gewesen. »In seinem antiseptischen Anzug ist Lewkov hochgradig gefährdet« , machte sich Matt schon mal Gedanken über die Zeit nach einer geglückten Flucht. »Glauben Sie, es gibt eine Möglichkeit, ihn mit dem WCA-Serum zu versorgen?« »Aber wir haben kein …« Erst nach einigen Sekunden wurde Black klar, was Matthew meinte. »Sie denken an eine erneute synthetische Herstellung aus meinem Blut … oder aus Ihrem« , sagte er. Als Klon Präsident Schwarzeneggers war sein Immunsystem auf dem Stand von 2017, und das von Commander Drax war sogar um weitere fünf Jahre jünger. Aus Blacks Blut hatte der Weltrat in Washington vor dreißig Jahren ein Serum entwickelt, um die in fünf Jahrhunderten gewachsene Immunschwäche zu besiegen. Die 31
europäischen und russischen Bunkerzivilisation hatten diese Chance nie erhalten. »Sicher … aber das würde ein umfangreiches Labor erfordern« , überlegte Mr. Black laut. »Dann müssen wir eben warten, bis wir auf eine russische Community stoßen« , sagte Matt. »Immerhin ist es ein verlockendes Angebot für Lewkov, und Grund genug, sich uns anzuschließen.« »Was im Übrigen für jede einzelne Bunkergemeinschaft auf diesem Kontinent gilt.« Der Running Man grinste nicht gerade unbescheiden. »Vielleicht sollten wir einen schwunghaften Serumhandel auf ziehen« , scherzte er ungewöhnlich vergnügt. »Die Communitys würden uns das Zeug aus den Händen reißen.« »Und den Weltrat seiner Vormachtstellung berauben« , spann Matt den Gedanken weiter. Gemeinsam traten sie ins Dunkel der Hütte ein - und verstummten abrupt, als sie sahen, dass Kaila sie nicht zu Boris, sondern zu einer Leiche geführt hatte. Berge von Eisenbarren, die auf ihre Weiterverarbeitung in den Schmieden warteten, stapelten sich zu beiden Seiten. Mit unbewegten Mienen umrundeten sie die Hindernisse, bis sie an eine Bahre gelangten, auf der eine verweste Gestalt in silberner Kleidung lag. Der gläserne Helm war noch intakt, doch über dem rechten Schlüsselbein, mitten durch den roten Streifen mit dem Emblem der Sowjetunion lief ein hässlicher Riss durch den Anzug. Er war notdürftig geflickt worden, aber das hatte nichts mehr genutzt. Der Techno, der darin steckte, war qualvoll gestorben. Dem Zustand des Leichnams nach musste der Tod schon vor Monaten eingetreten sein. Das Gesicht war schwarz angelaufen und von Maden zerfressen. 32
Nur der halbwegs dichte Einschluss schützte vor dem Gestank, der im Inneren herrschen musste. Bei dem Mann handelte es sich offensichtlich um einen Kameraden von Lewkov, der den Widrigkeiten des Außeneinsatzes zum Opfer gefallen war. Mochte der Gott aller Bergwerke wissen, warum seine Leiche nicht längst zu Grabe getragen worden war. Kaila deutete auf die Drehknöpfe im Helmkragen. Lautes Knistern drang aus dem Lautsprecher, als er den Universal-Translator aktivierte. Matt beugte sich zu dem Kragen hinab, um sich selbst ein Bild zu machen. Es dauerte eine Weile, bis er das System in seinen Grundzügen begriffen hatte. Doch um zu kommunizieren, mussten sie an das Innenmikrofon gelangen. Matthew stellten sich die Nackenhärchen auf, als ihm die Konsequenz bewusst wurde. Sie hatten keine Wahl. Süßlicher Verwesungsgestank entwich, als die Helmverschlüsse aufschnappten. Beide Männer unterdrückten den aufsteigenden Ekel, einfach weil sie es mussten. Das Mikro klemmte in einer Halterung, aus der es sich zuerst nicht lösen wollte. Als sie es schließlich mit Gewalt hervor zerrten, nahm das verweste Gesicht einigen Schaden. Unschön, aber nicht zu ändern. Der Zweck heiligte in diesem Fall die Mittel. »Das Scheißding muss doch irgendwie funktionieren« , fluchte Matt herzhaft, während er versuchte, einen geeigneten Übersetzungsmodus zu etablieren. Dazu musste er den russischen Ausgangswortschatz durch den englischen ersetzten. Beide waren, genauso wie Deutsch, Spanisch und Französisch, auf einem Datenkristall gespeichert, der stoß- und druckfest im Me-
tallkragen steckte. Die auf den Expeditionen neu entdeckten Sprachen, die ja auf einer Mischung der alten basierten, wurden automatisch auf das gleiche Medium gespeichert, linguistisch analysiert und durch einen neuronalen Prozessor nutzbar gemacht. Blieb nur zu hoffen, dass der Techno bereits zu Lebzeiten einen ansehnlichen Wortschatz gesammelt hatte, sonst waren sie genauso schlau wie vorher. »So, jetzt müsste es klappen« , verkündete Matt zufrieden. Mit einigen Sekunden Verzögerung reagierten die Membranen des Außenlautsprechers. Digital formulierte Worte ertönten. Sie waren klar und deutlich zu verstehen, ließen sich aber keiner ihnen bekannten Sprache zuordnen. Kaila spitzte hingegen die Ohren, als ob er verstanden hätte. Seine prompte Antwort wurde nach kurzer Zeit tatsächlich genauso ins Englische übertragen. »Ja! Es klappt. Es klappt! Es klappt!« , ertönte es immer wieder. Zum Glück war die Wiederholung kein Computerfehler, sondern eine Folge von Kailas schlichtem Gemüt. Das Sprachproblem war damit vorerst gelöst. Die Verbindung funktionierte in beide Richtungen. Matt und Mr. Black konnten endlich erfahren, was los war, und Kaila erteilte auch bereitwillig Auskunft. In knappen Sätzen berichtete er, dass sich die Lage in der Mine schon seit längerer Zeit zuspitzte. »Seit uns Boris die Feuerrohre gebaut hat, will Häuptling Klatko immer größere und mächtigere Waffen« , sprudelte es regelrecht aus ihm hervor, als wäre ein innerer Damm gebrochen. »Er sagt nicht, wofür er sie braucht,
doch wir fürchten schon lange, dass er gegen die Diener aufbegehren will, die uns strafen, wenn die Macht im See ihren Kindern zürnt.« Kaila legte beide Hände nebeneinander und vollführte schwingende Bewegungen wie bei einem Schattenspiel. Damit symbolisierte er, dass es sich bei den Dienern um die Todesrochen handelte. »Immer mehr Stammesmitglieder bekommen es mit der Angst zu tun« , fuhr Kaila fort. »Sie fürchten, dass Klatko die Götter mit seinem Machtstreben gegen uns aufbringt. Aber niemand wagt ihm zu widersprechen. Er ist der Stärkste von uns, das hat er in vielen Kämpfen bewiesen.« »Wenn du nicht zu rebellieren wagst, wie willst du dann das Schlimmste verhindern?« Mr. Blacks Stimme besaß eine verächtliche Tönung, die zum Glück nicht vom Lautsprecher interpretiert wurde. Die Jahre im Untergrundkampf hatten ihm jedes Verständnis dafür genommen, wie jemand an einem zum Despoten mutierten Herrscher festhalten konnte. Ob es sich nun um den Weltrat oder einen Stamm von Zwergen handelte, Worte wie Treue und blinder Gehorsam waren ihm ein Gräuel. »Boris muss verschwinden« , lautete dagegen Kailas Lösung. »Ohne neue Waffen bleibt dem Häuptling gar nichts anderes übrig, als seine Pläne zurückzustellen. Ich habe Boris auch schon angeboten, ihn heimlich in die Freiheit zu bringen.« Kaila machte eine bedeutungsvolle Pause, damit jedem klar wurde, wie hoch sein eigenes Risiko bei der Sache war. »Aber er will noch nicht gehen. Boris sagt, er muss erst eine Knallrakete stumpf machen. Und dazu braucht er eure Hilfe.« Mr. Black ließ ein höhnisches 33
Schnaufen hören. »Soll das ein Witz sein? Das stinkt ja geradezu nach einer Falle!« Kaila reagierte mit einiger Verzögerung. Erst als die Übersetzung aus dem Lautsprecher klang, zogen sich seine buschigen Augenbrauen zusammen. »Du sollst gar nicht mitkommen, blonder Teufel« , reagierte er verärgert. »Boris hat nach dem Commander verlangt.« Er deutete auf Matt. »Außerdem wäre es nicht gut, wenn du zu lange aus dem Dorf verschwindest. Klatko hält dich für den Anführer eurer Gruppe.« Black wurde es nun zu bunt. Ohne weitere Umschweife legte er auf den Narod'kratow an, doch Matt drückte den Lauf des Lasergewehrs zur Seite. »Schon gut, ich komme mit« , verkündete er seinen Entschluss. »Aber wenn ich in zwei Stunden nicht zurück bin, kommen meine teuflischen Freunde und holen uns mit Gewalt heraus. Und ich bin sicher, keiner der Narod'kratow möchte, dass ihm das Gleiche geschieht wie diesen Eisenbarren.« Matt zeigte auf zwei Dutzend grauer Klötze, die sich fünf Meter entfernt zu einem rechteckigen Turm aufstapelten. Mr. Black verstand sofort. Grinsend legte er an und feuerte, von links nach rechts schwenkend, einen lang anhaltenden Laserstrahl ab. Knisternd wurde die Energie von den oberen Barren absorbiert. Innerhalb von Sekunden begannen sie von innen heraus zu leuchten. Erst goldgelb, dann feurig orange, bis sie sich unter der Hitze verflüssigten und in die Tiefe tropften. Schlagartig schnellte die Raumtemperatur in die Höhe. Eine heiße Woge wallte kreisförmig durch die Hütte und trieb allen drei Männern den Schweiß auf die Stirn. 34
Kaila zeigte sich von der Demonstration gebührend beeindruckt, schien aber eher erfreut als verängstigt zu sein. Matt hoffte, dass das ein Zeichen seines reinen Gewissens war. * Aiko tigerte unruhig in der Schänke auf und ab. Er war ein Mann der Tat, der lieber agierte als beobachtete. Die untätige Zeit des Wartens - inzwischen gut zwanzig Minuten - zerrte an seinen Nerven. Immer wieder sah er ungeduldig zur Tür hinaus, doch weder von Matthew Drax noch von Mr. Black war ein blondes Haar zu erblicken. Öde und leer lagen die Gassen in der Nachmittagssonne. Wie in einer verlassenen Geisterstadt, in der nur der Wind für Bewegung sorgte. Nicht ein Narod'kratow ließ sich draußen blicken. Lediglich die stetig rauchenden Schornsteine belegten, dass die Hütten noch bewohnt waren. Entnervt fasste Aiko seinen Armbruster fester. In diesem Moment wünschte er sich fast, dass Klatko mit einer Streitmacht erscheinen würde, um sie herauszufordern. Dann wäre wenigstens etwas passiert. Mit kritischem Blick überprüfte er das halbrunde Magazin, das wie der Bogen einer Armbrust geformt war. Spielerisch ließ er einen der Spezialbolzen einrasten, die dem Lauf von beiden Seiten zugeführt werden konnten. Danach nahm er ihn wieder heraus und steckte ihn ins Magazin zurück. Der Vorgang dauerte nur wenige Sekunden. Jeder Handgriff saß. Inzwischen war ihm die Waffe, die er in einem Nachschubtross des Weltrats gefunden hatte, genauso vertraut wie seine alte Tak 02, die er wegen Munitionsmangels in der Taiga hatte zurücklassen müssen.
Einer weiterer Blick zur Tür. Draußen war alles ruhig. Gequält seufzte der Asiate auf. »Warum setzt du dich nicht einfach hin wie alle anderen?« , fragte Honeybutt, die sich mit Aruula eine roh gezimmerte Bank teilte. Äußerlich völlig ruhig, wurden die beiden Frauen mit der Nervenanspannung offensichtlich besser fertig als er, das musste Aiko wohl oder übel eingestehen. Ruhiger werden, mahnte er sich innerlich. Manchmal ist abwarten besser als übereilter Aktionismus. Sich diesen Grundsatz vorzubeten war nicht weiter schwer, daraus wirklich innere Ruhe zu schöpfen, schon eher. Mit einer verstohlenen Geste forderte ihn Honeybutt auf, ebenfalls Platz zu nehmen. Ihre schwarzen Wangen glänzten. Ein Zeichen, dass sie stärker als nötig durchblutet wurden. Doch Aiko konnte jetzt nicht sitzen. Auch wenn es sie enttäuschte, er musste sich bewegen. Sobald sie alleine waren, würde er ihr das erklären. Nur nicht jetzt, da er jede Sekunde mit einem Überfall - oder Schlimmeren rechnete. Ein neuer Blick nach draußen. Alles ruhig. Verdammt! Dass Aikos Unruhe nicht vor Überraschungen schützte, merkte er Sekunden später, als Aruula sich mit schmerzlichem Stöhnen an die Schläfen fasste. Der Asiate war mit drei langen Schritten bei ihr. »Was ist los?« , fragte er bestürzt, denn aus ihrem linken Nasenloch rann ein feiner Blutstrom hervor. »Mein Kopf« , keuchte Aruula. »Es war ein richtiger Schlag, genau wie heute morgen. Wudans Bote muss in der Nähe sein.« Aiko sah zu dem telepathisch veran-
lagten Rriba'low hinüber, der aber keine Anzeichen von Übelkeit zeigte. Falls der Farbwechsler wirklich im Raum war, hatte er also speziell Aruula als Ziel seines Grußes auserkoren. Mit bloßen Augen ließ sich das Tier allerdings nicht ausmachen. Erst als Aiko den Thermo-Modus anwählte, entdeckte er einen gelborangenen Fleck an der Wand. 35° Grad Körpertemperatur, meldeten seine internen Systeme. Im gleichen Moment, als er den Farbwechsler intensiv ins Auge fasste, ging ein Raunen durch die Reihen der übrigen Gäste. Sobald Aiko in die Normalsicht zurückkehrte, verstand er auch, warum. Das Tier machte, wie schon am Vormittag, durch ein intensives Pulsieren auf sich aufmerksam. Es war ein Schauspiel, das zu allgemeinen Begeisterungsstürmen führte. Selbst Jakirdas Miene verklärte sich ein wenig, als würde sie einem seltenen Naturwunder beiwohnen. »Gujacko!« , rief sie und deutete dabei auf den pulsierenden Reptilienkörper, der gerade zu Boden sprang und mit wirbelndem Schwanz durch die Tür entwischte. Einige Rriba'low begleiteten den feurigen Abgang mit spontanem Applaus. Diesen Gujackos schien nicht der Ruf eines gefährlichen Raubtieres nachzuhängen. So viel stand fest. Aiko eilte zur Tür. Draußen sah es noch genauso öde aus wie zwei Minuten zuvor. Die gleiche rauehgeschwängerte Luft, die selben niedrigen Hütten, der altbekannte graue Felsboden. Von dem Gujacko keine Spur. Erst im Thermo-Modus entdeckte er das possierliche Wesen. Ruhelos lief es auf dem Boden umher, als ob es ihn zum Mitkommen animieren wollte. 35
Aiko wechselte mehrmals von Thermoauf Normalsicht und zurück, nur um immer wieder verblüfft festzustellen, wie gut sich das Tier auch in Bewegung zu tarnen verstand. Seine Hautpigmente passten sich dem Untergrund so schnell an, dass selbst bei genauem Hinsehen nicht mehr als ein verschwommenes Huschenauszumachen war. Wer nichts von der Anwesenheit des Tieres ahnte, konnte es unmöglich entdecken. Aiko war vermutlich der einzige Mensch am Kratersee, der die Tarnung durchschaute, und gerade das schien den Farbwandler zu faszinieren. Abrupt blieb er stehen und richtete sich auf den Hinterbeinen auf. Dann lief er wieder ein Stück in Richtung Minenschächte, hielt an, sah sich um, und kehrte ungeduldig zurück. Ein Biologe hätte vermutlich eine ganze Abhandlung über dieses Verhalten schreiben können, aber für Aiko sah es so aus, als wollte ihn das Tier auffordern, ihm zu folgen. Einmal hatte es ihnen schon geholfen. Vielleicht war es keine schlechte Idee, einfach mal nachzuschauen, was da eigentlich los war. Außerdem trieb Aiko die Neugier, das gestand er sich unumwunden ein. Seine Entscheidung fiel im Bruchteil einer Sekunde. »Wartet hier auf die anderen« , bat er Aruula und Honeybutt über die Schulter hinweg. »Ich sehe mal nach, was Wudans Bote von uns will!« * Kaila führte Matt in einem unbewachten Nebenschacht. Dunkelheit umschloss sie wie eine zweite Haut, denn ab hier spendeten nur noch Fackeln, Talgkerzen oder übel riechende Tranlampen ihr trübes Licht. Während sie über verschlungene Wege 36
tiefer ins Herz des Bergwerks vordrangen, mussten sie immer wieder in Nebengänge ausweichen, um vorbei hastenden Bergleuten zu entgehen. Matthew hätte gerne gefragt, was das zu bedeuten hatte, aber ohne den Universal-Translator befand sich ihre Kommunikation wieder auf dem Nullpunkt. So blieb ihm nichts weiter übrig, als sich mit der Zeichensprache zu behelfen und auf das Beste zu hoffen. Statt tiefer in die Erde, ging es aber plötzlich eine steile Felsrutsche hinauf, durch die sie in ein System von Schächten gelangten, die der Luftzufuhr dienten. An einem der größeren Knotenpunkte blieben sie stehen. Matts Pupillen hatten sich mittlerweile gut genug auf das Zwielicht eingestellt, um sofort eine Gestalt auszumachen, die sich im Schatten der Rückwand verborgen hielt. Auf das Schlimmste gefasst, zog er seinen Driller. Doch er musste keine Drohung aussprechen, um sein Gegenüber aus der Deckung zu treiben. Boris Lewkov trat in den von einer Feuerschale erhellten Bereich. Kaila schien überrascht, dass der Techno bereits da war. Schnell und abgehackt redete er auf ihn ein, als würde ihm die Zeit unter den Nägeln brennen. Lewkov nickte nur dazu. Eine Geste, die wegen seines klobigen Plexiglashelms linkisch wirkte. »Klatko ist damit beschäftigt, die Verteidigung der Mine zu organisieren« , antwortete der Russe schließlich. »Er hat nicht mal gemerkt, dass ich verschwunden bin.« Er wiederholte die Antwort noch einmal auf Englisch, damit Matt wusste, worüber gesprochen wurde. Aus dem gleichen Grund erfuhr er auch, das Kaila von den Narod'kratow erzählt hatte, die ihnen unterwegs begegnet waren. »Klatko
verstärkt überall die Sicherheitsmaßnahmen« , schloss Boris daraus. »Der Rückweg gestaltet sich schwieriger als der Weg hierher, aber wir werden es schon schaffen.« Kurz darauf ließ Kaila die Menschen alleine, um in der Mine nach dem Rechten zu sehen. Sobald er Näheres über die Pläne seines Häuptlings wusste, wollte er zurückkehren. Matthew und Boris standen eine Weile unentschlossen da. Jeder beobachtete den anderen, wägte ab und dachte nach. Versuchte schlichtweg auszuloten, wie weit er sich seinem Gegenüber anvertrauen durfte. Für den Techno war es dabei viel schwerer, sich über Matt klar zu werden, als umgekehrt. Einen offensichtlich modernen, zivilisierten Mann zu treffen, der keinen antiseptischen Schutzanzug benötigte, war für Lewkov fast wie ein Schock. Und ein Ansatzpunkt für Matt. Um den Russen für sich zu gewinnen, bot er an, ihn mit einem Serum zu versorgen, das sein Immunsystem stärkte. Diese Ankündigung schlug bei Lewkov wie eine Bombe ein. Sein kantiges, eher ernstes Gesicht erhellte sich. Er wollte mehr über das Serum wissen, und Matt berichtete ihm von den Erfolgen des Weltrats in Washington. Dass er selbst kein Serum benötigte, weil er die mehr als fünfhundert Jahre dank einem Zeitriss übersprungen hatte, verschwieg er. Es hätte zu viele neue Fragen aufgeworfen und ihn im ungünstigsten Fall unglaubwürdig gemacht. »Aus welcher Bunkergemeinschaft stammen Sie?« , lenkte Matt das Gespräch in für ihn interessantere Bahnen. Die roten Albinoaugen des Technos leuchteten auf, als er an seine Heimat dachte. »Ich stamme aus der unterirdischen Stadt Perm« , erklärte er bereit-
willig. »Wir gehören der Russischen Liga an, einem übergreifenden Verbund, der bis zu Moskaus großen Bunkern reicht. Im Auftrag der Liga wurde auch die Kratersee-Expedition gestartet.« »Sie sind also ebenfalls freiwillig in dieses Gebiet gekommen?« , hakte Matthew nach. »Aus wissenschaftlicher Neugierde?« »Ja« , bestätigte der Techno. »Unsere Forscher beschäftigen sich schon seit Generationen mit der destruktiven Strahlung, die nach dem Einschlag von ,Christopher-Floyd' weltweit auftrat und die ungeschützten Menschen auf der Oberfläche degenerieren ließ. Erste Überland-Expeditionen fanden heraus, dass sie nirgendwo so stark war wie hier am See. In den letzten Jahrzehnten nahm sie dann stetig ab, bis sie schließlich kaum mehr messbar war - für uns das Startsignal, uns vor Ort umzusehen. Insbesondere da wir ein neues Fahrzeug entwickelt hatten, in dem wir uns relativ sicher durch das gefährliche Terrain bewegen konnten.« Matt hob die linke Augenbraue. Er dachte an die EWATs der Londoner Community. »Ein Panzer?« »Ja« , bestätigte Lewkov, »aber ziviler Natur. Schon unsere Väter sammelten Erfahrungen mit barbarischen Wertesystemen, die auf eine Kontaktaufnahme aggressiv reagieren. Viele solcher Probleme beruhen aber auf Missverständnissen, die sich durch Kommunikation vermeiden lassen. Ein Stützpfeiler unserer Arbeit war deshalb der neuronale Übersetzungscomputer, den ich maßgeblich mit entwickelt habe. Ich bin nämlich Linguist, kein Techniker, müssen Sie wissen.« Matt ersparte sich jeden Kommentar, der Boris' Redefluss gestoppt hätte. Der 37
Russe war so froh, endlich wieder mit einem intelligenten Menschen reden zu können, dass die Worte nur so aus ihm heraus flossen. Einmal warm geworden, fand Lewkov kein Ende mehr. »Anfangs lief auch alles ganz hervorragend. Wir stießen problemlos bis zum See vor und folgten dann dem Ufer in östlicher Richtung. Wir konnten die Daten gar nicht so schnell erfassen, wie sie hereinkamen. Es war eine Zeit höchster Konzentration und fruchtbarer Zusammenarbeit. Vier Personen auf so engem Raum, das kann schnell zu Spannungen führen, doch wir hatten gar keine Zeit, uns zu streiten. Immer weiter drangen wir mit dem ARET, unserem gepanzerten Fahrzeug, vor. Ein Basislager errichteten wir erst, als wir an dem Punkt mit der höchsten Reststrahlung angelangt waren. Es handelte sich um eine Festung, die aus etwa metergroßen Kristallen erbaut wurde. Spektralanalysen ergaben, dass es sich um kein irdisches Material handelt. Wir können also davon ausgehen, dass mit dem Kometen etwas auf die Erde kam, dass die bestehenden Zivilisation ganz gezielt in der Evolution zurückgeworfen hat!« Bei der Schilderung der Kristallfestung wurde Matthew hellhörig. Mit flinken Fingern langte er in seine Beintasche und zog eine topografische Aufnahme hervor, die er von seinem Ausflug auf die ISS mitgebracht hatte. Das radiologische Gegenstück hatte er zwei Hydriten überlassen, mit dem Auftrag, Dave McKenzie in der Londoner Community zu kontaktieren. Den Punkt der höchsten Reststrahlung hatte er als Treffpunkt angegeben. Konnte es sein …? Matt reichte die Folie an Boris Lewkov weiter, deutete auf einen Punkt am Seeufer und fragte: »Handelt es sich 38
vielleicht um diese Koordinaten?« »Ja, genau.« Dem Techno beschlug beinahe der Helm vor Aufregung. »Aber … das ist ja eine aktuelle Satellitenaufnahme! Phantastisch! Wie kommen Sie zu diesem Material?« Seine Augen konnten sich gar nicht daran satt sehen. Mit dem behandschuhten Zeigefinger folgte er der Küstenlinie. Dabei murmelte er vor sich hin. »Richtig, hier hatten wir unser erstes, provisorisches Lager errichtet … und dann sind wir diesen Höhenzug hier entlang … Hjmmel, in der Draufsicht sieht das alles so viel klarer aus! Was hätten wir für eine solche Karte gegeben …!« Die Begeisterung des VollblutWissenschaftlers nahm gar kein Ende. »Wir müssen unsere Forschungsergebnisse unbedingt austauschen« , bat er. »Ich bin sicher, in der Datenbank des ARET befinden sich viele Fakten, die Ihnen noch nicht bekannt sind.« »Eine Kooperation wäre mir nur Recht« , antwortete Matthew ehrlich. »Aber meinen Sie nicht, dass wir Sie erst mal aus der Gefangenschaft befreien sollten, bevor wir weitere Pläne schmieden?« Der Russe sah verdutzt auf, als verstünde er gar nicht, wovon die Rede war. Nur allmählich holte ihn die Gegenwart wieder ein. »Die Kristallfestung« , wiederholte er so heiser, dass die Worte dumpf unter seinem Helm widerhallten, bevor die englische Übersetzung aus dem Lautsprecher quäkte. »Alles schien gut zu verlaufen. Die Strahlung war in ihrer geringen Dosierung ungefährlich, und die hiesigen Mutanten erwiesen sich als überraschend friedlich. Wir nahmen Kontakt zu ihnen auf, lernten ihre Sprache und bewegten uns bald völlig frei unter ihnen. Sie schienen uns
akzeptiert zu haben. Doch dann muss es ein Missverständnis gegeben haben, das ich mir bis heute nicht erklären kann. Eines Tages fielen die Mutanten über Nikolai und Oldriska her. Ja, sie schlugen unsere Kollegen regelrecht in Stücke. Walerie und ich wurden mit Schwertern bedroht und gefangen genommen. Was sollten wir tun? Ein winziger Schnitt im Anzug hätte schon gereicht, um uns zu verseuchen.« Lewkov schlug mit der rechten Faust in die linke Handfläche. »Wir waren einfach zu vertrauensselig. Niemand ist im ARET geblieben, keiner hatte eine Waffe dabei. Wir dachten nie, dass so etwas passieren kann.« »Sie wurden hierher verschleppt und an die Narod'kratow verkauft?« Boris nickte beschämt. »Unsere gesamte Ausrüstung, die Ergebnisse von vier Wochen harter Arbeit, alles blieb zurück.« Der Verlust der Daten schien ihn wirklich stärker zu treffen als sein eigenes Schicksal. »Walerie ist der Tote, den wir in der Eisenhütte gesehen haben?« , hakte Matthew nach. »Ja. Er starb kurz nach unserer Ankunft in der Mine. Anfangs mussten wir eine Erzader abbauen, wie die anderen Sklaven. Dafür sind unsere Anzüge aber nicht ausgelegt. Walerie rutschte mit der Spitzhacke ab, das war sein Ende. Der Riss ging durch alle Lagen, da gab es nichts mehr zu flicken. Er wurde verseucht.« Lewkov schilderte den Todeskampf seines Kollegen in allen Einzelheiten. Das Gespräch mit Matt schien für ihn therapeutische Wirkung zu haben. Indem er sich alles von der Seele redete, schloss er auch selbst mit den vergangenen, aber nicht verarbeiteten Erlebnissen ab. »Zuerst hat er nur gehustet, dann
wurde er kraftlos und übergab sich. Einige Stunden später war alles vorbei. Mir wäre es genauso ergangen, wenn Klatko mich nicht zum Bergen von Schrott zur Talsohle geschickt hätte. Der ,Schrott' stellte sich als verschütteter Militärbunker heraus, dessen Räume noch erstaunlich gut erhalten sind. Und mit Bunkern kenne ich mich aus.« »Das hat Sie wohl in der Gunst des Häuptlings steigen lassen?« Matt meinte die Frage keineswegs böse. Er fasste nur zusammen, was auf der Hand lag. Boris deutete ein Nicken an. »Ich habe schnell gelernt, dass mein Überleben von dem Wert abhängt, den mir Klatko zumisst. Da ich nur begrenzt körperlich arbeiten konnte, musste ich mein Wissen zur Verfügung stellen. Nur so konnte ich den Zeitpunkt meines Todes weiter hinaus schieben.« Für einen Mann von Lewkovs Format hatte es natürlich keiner großen Anstrengung bedurft, den machthungrigen Charakter des Häuptlings zu durchschauen. Schwarzpulver zu mischen war eine Möglichkeit gewesen, um Klatkos Wohlwollen zu erlangen, der Bau von primitiven Gewehren die andere. Viele Geräte aus dem Bunker erwiesen sich bei dem Projekt »Feuerrohr« als überaus hilfreich. Doch einmal Blut geleckt, wollte der gewiefte Klatko bald immer mehr. Alte Schautafeln, auf denen die Wirkungsweise von Maschinenkanonen und Granatwerfern gezeigt wurde, regten seine Phantasie an. Besonders nachdem er miterlebt hatte, wie einige Sklaven von instabilen Handgranaten zerfetzt wurden. Solche Waffen wollte er unbedingt haben, um sich zum Herrscher des Kratersees aufzuschwingen. Doch ihre Funktionsweise blieb ihm weiterhin ein 39
Rätsel. »Klatko ließ sogar Nester ausrauben, weil die Wabenstruktur bestimmter Eier Ähnlichkeit mit den Handgranaten hatte. Können Sie sich das vorstellen, Mr. Drax?« Boris schüttelte ob dieser Dummheit den Kopf. Auf die Andeutung eines Lächelns wartete man allerdings vergeblich. Dazu war die Lage zu ernst. Insbesondere nach dem jüngsten Bunkerfund. »Ich bin auf einige BodenLuft-Raketen gestoßen, deren Sprengköpfe noch intakt sein könnten. Wenn die explodieren, finden viele Unschuldige hier unten den Tod. Deshalb muss ich sie entschärfen, bevor ich gehe. Leider habe ich von Waffentechnik nicht allzu viel Ahnung; wie gesagt, ich bin Linguist, kein Soldat.« Lewkovs Augen begannen Matthew auf unangenehme Weise zu fixieren. »Eigentlich ist das Ganze eher eine Aufgabe für einen Offizier wie sie, Commander!« * Mit federnden Schritten, den Armbruster locker in der rechten Hand, ließ Aiko die Hütten, Schmieden und Eisenschmelzen hinter sich. Der Gujacko führte ihn flink und zielsicher durch die leeren Straßen und über verlassene Plätze. Nur zwei Mal schlug er einen Haken, um einigen Narod'kratow auszuweichen. Die meisten Bergleute hielten sich weiterhin in ihren Hütten versteckt. Die wenigen, die sich ins Freie wagten, huschten meistens nur eine Tür weiter, um bei Freunden oder Verwandten Unterschlupf zu suchen. Aiko mochte sich gar nicht ausmalen, was für Strafaktionen die Rochen schon durchgeführt haben mussten, wenn ihr bloßes Auftauchen zu solch einer Panik führte. 40
Verwaschene Wärmebilder hinter dicken Felswänden, das war alles, was er von den Narod'kratow zu sehen bekam. Die meisten drückten sich an den geschlossenen Fensterläden herum, viele hatte es aber auch in die Betten getrieben. Meistens zu zweit. Nachdem sie die Gesteinsmühlen hinter sich gelassen hatten, führte der Gujacko Aiko in ansteigendes Gelände. Die Mineneingänge lagen fünf- bis achthundert Meter weiter rechts, doch der Cyborg war nicht sonderlich überrascht, als in den Felsen über ihm eine weitere Öffnung sichtbar wurde. Vermutlich ein Luft- oder Versorgungsschacht. Er würde es bald erfahren. Laut seinem inneren Chronometer hatte der stramme Marsch acht Minuten und vierunddreißig Sekunden gedauert. Also: Rezeptoren aus, Augen auf normale Sicht. Nun wurde es spannend. Der Gujacko sah sich vor dem Höhleneingang ein letztes Mal um, bevor er in den Einschnitt abtauchte. Aiko bemühte sich, die natürliche Deckung des Pfades zu nutzen, während er dem Tier in die Höhe folgte. Noch ein Dutzend Schritte vom Ziel entfernt, drangen plötzlich würgende Laute ins Freie. Verdammt, war der Gujacko in eine Falle geraten? Den Armbruster fest umklammert, beschleunigte Aiko seine Schritte. Die Geräusche verstummten. Er entsicherte den Blaster, dessen Lauf unter der Bolzenmündung vorragte. Für ein Vordringen in unbekanntes Terrain schien ihm der Energiewerfer gerade Recht. Aiko stieß ein aggressives Fauchen aus, während er in den niedrigen Tunnel preschte. Leicht vorgebeugt, den Armbruster im Anschlag, schwenkte er
von links nach rechts, um jeden möglichen Gegner ins Schussfeld zu bekommen. Zwei Sekunden später entspannte er sich wieder. Alles, was es hier drinnen zu sehen gab, war ein eisernes Gitter mit eng gesetzten Längs- und Querstreben, das die Höhle nach wenigen Metern versperrte. Dahinter lag ein regloser Narod'kratow. Sein plötzliches Schlafbedürfnis war vermutlich auf die roten Striemen zurückzuführen, die rund um seinen Hals liefen. Normalerweise wurden solche Würgemale von Seilschlingen hervorgerufen; in diesem Fall tippte Aiko aber auf eine drei Meter lange Gujacko-Zunge. Wie gut das Tier mit dem rosaroten Strang umzugehen wusste, bewies es, als es einen Schlüsselbund von der Hüfte des Bewusstlosen angelte und durch das Gitter zog. Die Intelligenz des Tieres stellte sogar einen dressierten Lupa in den Schatten. Beeindruckt nahm Aiko die Schlüssel entgegen und öffnete das Gitter. Der Gujacko richtete sich auf die Hinterbeine auf und hob witternd die Nase. Sobald der Spalt groß genug war, zischte er hindurch und verschwand in dem dahinter liegenden Gang. Verblüfft sah Aiko dem Schemen nach, der auch an der nächsten Biegung nicht anhielt. War das alles gewesen? Hatte ihn das Tier nur benutzt, weil es nicht durch die engen Gittermaschen passte und der Gebrauch eines Schlüssels seine Fähigkeiten überstieg? Ein leises Stöhnen erinnerte Aiko an den Narod'kratow am Boden, dessen Augäpfel sich hektisch unter den geschlossenen Lidern bewegten. Er stand kurz vor dem Erwachen. Aiko kniete nieder und verlängerte
die Schlafphase des Gnoms mit einem gezielten Kinnhaken. Danach fesselte er den Posten mit der eigenen Lederpeitsche und stopfte ihm ein Stück Fell in den Mund, damit er nach dem Erwachen keinen Alarm schlagen konnte. Während der ganzen Zeit ließ sich der Gujacko nicht mehr blicken. Wo steckte das eigensinnige Biest? Kopfschüttelnd zog der Cyborg eine Fackel aus der Wandhalterung und nahm die Verfolgung auf. Nach einer natürlichen Biegung führte der Stollen über in den Fels geschlagene Stufen steil in die Tiefe. Eine Weile vernahm der Cyborg nichts anderes als den Wind, der um die Felskanten pfiff. Doch es dauerte nicht lange, bis das dumpfe Stakkato der Spitzhacken hörbar wurde, die sich langsam aber stetig durch den Fels fraßen. Mit jedem weiteren Schritt wurde das Geräusch lauter, bis selbst die Stollenwände zu vibrieren schienen. Gut zwanzig Meter voraus wurde Licht am Ende des Tunnels sichtbar. Aiko ließ die Fackel zurück und tastete sich mit Hilfe des Restlichtverstärkers weiter. Kurz bevor er den Durchbruch erreichte, suchte er noch einmal erfolglos nach dem Gujacko. Danach stellte er wieder auf Normalsicht um. Seine Befürchtung, dass ihm ein Narod'kratow entgegenkommen könnte, erfüllte sich zum Glück nicht. Vorsichtig warf er einen Blick in den riesigen Schachtkomplex, der vor ihm ringförmig in die Tiefe fiel. Auf der gegenüberliegenden Seite konnte er mehrere beleuchtete Stollen ausmachen, in denen gearbeitet wurde, aber außer einem Rriba'low, der seinen Abraumkorb leerte, war niemand zu sehen. Etwas mutiger geworden, spähte 41
Aiko rechts um die Ecke. Auch dort nur gähnende Leere. Noch eine kleine Kopfwendung nach links und … Verdammt! Aiko zuckte hastig zurück. Keine sechs Meter entfernt stand ein Narod'kratow auf Posten. Zum Glück hatte er gerade in die andere Richtung gesehen. Falls man in diesem Zusammenhang von Glück reden konnte. Um sicher zu gehen, dass er keiner Täuschung erlegen war, tastete sich Aiko erneut vor. Diesmal sah er genau, was vorher nur ein flüchtiger Eindruck gewesen war: Hinter dem Posten zuckte eine schmale Reptilienzunge aus dem Nichts, die ihn blitzschnell am linken Ohrläppchen traf. Erneut sah der Narod'kratow zur Seite, um nach der Ursache zu forschen. »Hey!« , rief er aufgebracht. »Wirft hier einer mit Steinchen?« Der Gujacko nutzte die Ablenkung für eine Pigmentänderung. Sekundenlang zeichneten sich seine sandfarbenen Konturen deutlich in dem Felseinschnitt ab, den der Bergmann bewachte. Dieses Signal konnte nur bedeuten, dass Aiko folgen sollte. Aber wie den Narod'kratow überlisten? Einfach niederschlagen ging nicht. In dem geschäftigen Minenschacht fiel es sicher schnell auf, wenn ein Posten nicht an seinem Platz stand. Während Aiko noch über einen Schlachtplan nachgrübelte, übernahm der Gujacko die Initiative. Im ThermoModus ließ sich deutlich verfolgen, wie er getarnt an der Hauptschachtwand entlang krabbelte, um den Wächter erneut von hinten zu piesacken. »Jetzt hab ich aber genug!« , brauste der Bergmann auf. Mit einer Geschmeidigkeit, die seinem massigen Körper Hohn sprach, wirbelte er auf den Absätzen seiner klobigen Stiefel 42
herum und versuchte so seinen Peiniger zu entlarven. Aber die harte Zunge, die ihn im Nacken getroffen hatte, lag längst zusammengerollt im Maul des Gujackos, der nicht mehr als einen Höcker auf rauem Fels darstellte. »Das darf ja wohl nicht wahr sein!« Schnaubend stiefelte der Narod'kratow zum nächstgelegenen Seitenstollen, in der Hoffnung, dass dort jemand steckte, der sich zur Verantwortung ziehen ließ. Der anderen Seite drehte er dabei den Rücken zu, sodass Aiko aus dem Luftschacht schlüpfen und zu dem verwaisten Durchgang eilen konnte. Geschwind wollte er in die dahinter liegende Höhle abtauchen - scheiterte aber zwei Schritte später an einem verschlossenen Gitter. * Den Helmkragen des toten Technos unter dem Arm, kehrte Mr. Black in die Schenke zurück. Ein zufriedenes Lächeln umspielte seine Lippen. Dass er den Translator vom Rest des Anzugs hatte trennen können, sah er immer noch als kleinen Geniestreich an. Lässig hielt er den Kragen so in die Höhe, dass Mikrofon und Lautsprecher zu sehen waren. »Das Rätselraten hat ein Ende« , rief er triumphierend. »Ab sofort können wir uns mit den Mutanten verständigen.« Erst als die erwartete Begeisterung ausblieb, fiel ihm auf, wie unnatürlich ruhig es in der Schenke war. Rriba'low und Mastr'ducha saßen unnatürlich steif an ihren Tischen und sprachen kein Wort. Miss Aruula und Miss Hardy hockten nebeneinander auf der Bank wie Eluus auf der Stange und schwiegen ebenfalls.
Es dauerte noch eine Zehntelsekunde, bis Black auffiel, dass ihre Hände auf dem Rücken verschränkt waren. Sein Blick huschte zu ihren Fußknöcheln, um die sich - er hatte nichts anderes erwartet - feste Seile schlangen. Zwei Mitglieder seiner Gruppe gefesselt! Das konnte nur eins bedeuten: Schwierigkeiten! Den metallenen Kragen fallen lassen und das Gewehr hochreißen war eine Bewegung. Aber noch ehe er den Lauf auf etwas Feindliches richten konnte, bohrte sich schon ein doppelter Schmerz in seine Kniekehlen. Seine Beine knickten ein. Er verlor den Halt, kippte nach vorn und landete mit den Knien voran auf nacktem Felsboden. Wie tausend glühende Nadeln zuckte der Schmerz die Oberschenkel empor und setzte seinen Körper in Flammen. Ein raues Stöhnen entrang sich seiner Kehle. Tränen schossen ihm in die Augen, trotzdem versuchte er den Überblick zu behalten. Das Gewehr!, hämmerte er sich ein. Leg die Kerle um, bevor sie dich … Ein brutaler Hieb auf sein Handgelenk beendete alle Widerstandspläne. Eisschauer durchliefen seinen Arm. Eine Lähmung. Er konnte die Waffe nicht mehr halten. Das Lasergewehr polterte zu Boden. Im gleichen Moment drückte sich die klobige Mündung eines selbst geschmiedeten Hinterladers in Blacks rechtes Ohr. Auf einmal waren die Narod'kratow überall. Allein sechs umrundeten ihn, weitere fünf bedrohten die beiden Frauen und die Schankgäste. Ein Peitschenknall ertönte. Nur in die Luft geschlagen, rein um des Effekts willen. Die Dreischwänzige lässig aufrollend, baute sich Klatko vor dem
Rebellenführer auf. Ein geringschätziges Grinsen auf den Lippen, nahm er das Lasergewehr entgegen, das ihm einer seiner beflissenen Getreuen reichte. »Habt ihr wirklich geglaubt, dass meine Krieger und ich Angst vor den Rochen haben? Ha! Wir sind aus anderem Fels als diese Feiglinge hier, die sich in ihren Hütten verkriechen.« Klatko sprach übertrieben laut, damit ihn auch jeder im Raum verstand, doch für Mr. Black war nur die Übersetzung interessant, die aus dem Lautsprecherknopf ertönte. Mit grimmiger Miene verfolgte der Running Man, wie Klatkos Finger in einer beinahe zärtlichen Geste über das Lasergewehr wanderten. »Boris hat mir einmal von solchen Flinten erzählt« , erklärte er mit leuchtenden Augen. »Sie werden von Dämonen geschmiedet und sind viel mächtiger als die unseren.« Die Bedienung von Sicherungshebel und Abzug waren für den Narod'kratow kein Geheimnis. In einer schnellen Bewegung zog er den Kolben an die Schulter, blickte über Kimme und Korn und drückte ab. Ein blendend weißer Strahl jagte aus dem Lauf und ließ die nächstgelegene Mauer erbeben. Sekundenlang tobten Feuer und Rauch um die Vormacht. Erst als sich die Schwaden verzogen, wurde ein faustgroßes, in die Steine gebranntes Loch sichtbar. Klatko zeigte sich mit dem Ergebnis höchst zufrieden. »Nun bin ich den Rochen ebenbürtig« , jubelte er. »Sollen sie ruhig kommen! Ich vernichte sie mit der Kraft der Blitze, über die ich von nun an gebiete.« Das Grinsen auf seinen Lippen kühlte sich um einige Grad ab, als er den Lauf in Mr. Blacks Richtung schwenkte. »Vorher aber sollst du deine Strafe erhalten« , kündigte Klatko an. »Keine 43
Angst, ein schneller Tod wäre viel zu gütig für dich. Du sollst in der Mine schuften, bis du vor Entkräftung zusammen brichst.« Ehe der Rebellenführer etwas Zynisches erwidern konnte, ließ Klatko bereits das Gewehr herumwirbeln. Der Schaft traf Blacks Schläfe hart. Der Stoß zauberte ein grelles Blitzgewitter vor seine Augen, aber nur eine Sekunde lang. Danach gingen alle Lampen aus. * Zum Glück hatte Aiko den Schlüsselbund bei sich behalten. Angesichts der primitiven Schlösser war es nicht schwer, den richtigen Bart ausfindig zu machen und die Tür mit zwei schnellen Umdrehungen zu entriegeln. Die Angeln erwiesen sich als gut gefettet, sodass ein verräterisches Quietschen ausblieb. Mit klopfendem Herzen lehnte Aiko das Gitter wieder an und presste sich flach an die Wand. Gerade noch rechtzeitig, bevor der Posten leise fluchend zurückkehrte und nur einen flüchtigen Kontrollblick in die Höhle warf. Geschafft! Endlich fand der Cyborg die Zeit, sich in dem nach hinten breiter werdenden Raum umzusehen. Allzu viel gab es allerdings nicht zu sehen. Hauptsächlich verrostete Maschinenpistolen, Sturmgewehre und eine verrottete Panzerfaust. Nichts davon war irgendwie nutzbar. Nicht mal die alten Handgranaten, die, zu einem großen Kreis angeordnet, in der Höhlenmitte lagen. Genau für die interessierte sich aber der Gujacko, der unsichtbar an Aikos Seite in die Höhle geschlüpft war. Eilig huschte er auf die Sprengsätze zu. Die meisten waren sicher schon zu verrot44
tet, um noch zu explodieren. Aber vielleicht nicht alle. »Weg da!« , zischte Aiko und fuchtelte mit den Händen. Der Gujacko blickte nur mäßig interessiert zurück, bevor er seinen Weg fortsetzte - quer über den Granatenteppich hinweg, der unter seinen Berührungen in Bewegung geriet. Sein langgezogener Schweif pendelte aufgeregt von links nach rechts, sichtlich darum bemüht, möglichst viele der Geschosse anzustoßen. Aiko duckte sich unwillkürlich und kniff die Augen zusammen. Falls auch nur ein Zünder noch intakt war, konnte es jeden Augenblick zur Katastrophe kommen. Am liebsten hätte er den Gujacko augenblicklich erschossen. Da sah er, wie sich zwei der Sprengsätze von allein aufrichteten und auch dann noch weiter schwankten, nachdem der Rest längst zur Ruhe gekommen war. Verwundert trat Aiko näher - und erkannte seinen Irrtum. Was er für Granaten gehalten hatte, war in Wirklichkeit biologischen Ursprungs. Und äußerst lebendig. Bei genauer Betrachtung ließen sich unter den grauen Wabenhüllen embryonale Bewegungen ausmachen. Das waren Eier! Die Brut des Gujacko. Oder wohl eher die eines ganzen Rudels, denn Aiko zählte insgesamt vierzehn Stück. Die Anwesenheit des Farbwandlers wirkte auf die Brut stimulierend. Weitere Eier gerieten in Bewegung. Die ungeborehe Brut darin spürte, dass etwas Besonderes bevorstand. Leises Knacken verriet, dass die ersten Schalen Sprünge bekamen. Die Tiere schlüpften aus! Vermutlich waren sie bereits über den Termin hinaus, und es hatte nur der Berührung durch ein Elternteil bedurft, um den Vorgang zu
starten. Der Gujacko wieselte heran, stellte sich auf die Hinterbeine und blickte zu Aiko auf. Mit einem Mal verstand der Cyborg, was das Tier von ihm wollte. Er sollte helfen, die Brut vor den räuberischen Narod'kratow zu retten! Aiko unterdrückte ein Seufzen. Spiele ich eben den Eierdieb. Ich hob ja sonst nichts Besseres zu tun. Vergeblich sah er sich nach einer Decke oder einem Beutel um, in die er die zerbrechlichen Eier betten konnte. Um nicht noch mehr Zeit zu verlieren, wählte er die nächstbeste Lösung: die aufgesetzten Beintaschen seiner Hose. Die raue Oberfläche der Wabeneier fühlte sich angenehm warm, ja beinahe lebendig an. Keine starre Kalkschale, sondern hornige, pulsierende Haut, die im Licht der Fackeln durchscheinend wurde. Vorsichtig deponierte Aiko die ersten vier Eier in seiner linken Beintasche. Danach war die rechte Seite dran. Den Rest verstaute er in diversen Einzelapartments seiner ärmellosen Weste. Die beiden aufrecht tanzenden Eier, die bereits Sprünge aufwiesen, wollte Aiko obenauf legen, doch der gute Vorsatz kam zu spät. Noch ehe er sich herabbeugte, erweiterten sich die Risse so weit, dass die Schalen endgültig auseinander sprangen. Eine gelbliche Flüssigkeit quoll daraus hervor und verteilte sich auf dem Boden. Sekunden später zwängte sich das erste Neugeborene aus dem natürlichen Gefängnis und entfaltete seinen bis dato zusammengekrümmten Leib. Die breiten Pfoten senkten sich in das klebrige Eigelb und rutschten beinahe aus. Die ersten Schritte sind halt immer die schwersten. Verzückt tapste das Jungtier weiter,
den Blick auf Aiko gerichtet. Vom Kopf bis zur nadelspitz auslaufenden Schwanzspitze maß es ganze 9,27 cm, doch abgesehen von der Größe handelte es sich um eine exakte Kopie des erwachsenen Gujackos. Seine Haut war in den ersten Sekunden noch grau, passte sich aber umgehend dem schlierenhaften Boden an. Ein perfekter Schutz vor natürlichen Feinden. »Na, komm schon her« , flüsterte Aiko. »Wir haben nicht viel Zeit.« Als er seine Hand ausstreckte, um den Kleinen aufzunehmen, schoss ein rosafarbener Strang in die Höhe. Ehe er wusste, wie ihm geschah, wickelte sich die Zunge um seinen Zeigefinger. Der Mini-Gujacko schnellte empor. Im nächsten Moment später saß er auf Aikos Handrücken, nahm die Farbe menschlicher Haut an und tippelte den Arm hoch. »Hiergeblieben.« Der Cyborg wischte mit der Linken über seine Schulter und umschloss den zappelnden Lauser mit sanftem Griff. Der Triumph hielt nicht lange vor. Ein Schmerz durchzuckte seinen linken Unterschenkel. Dort war das zweite Neugeborene unters Hosenbein geflüchtet und klammerte sich rücksichtslos fest. Auf einem Bein balancierend, versuchte Aiko auch dem zweiten Störenfried Herr zu werden. Nicht dass ihm die Tiere etwas Böses gewollt hätten. Im Gegenteil, sie suchten seine Nähe. Da er das erste Lebewesen war, das sie nach dem Schlüpfen gesehen hatten, hielten sie ihn vermutlich für ihren Vater. Mit großem Fingerspitzengefühl angelte Aiko den zweiten Quälgeist unterm Hosensaum hervor und verfrachtete ihn in eine der Westentaschen. Kaum wollte er mit dem zweiten genauso verfahren, war der erste aber 45
schon wieder heraus. Seufzend gab Aiko nach und ließ die beiden Platz nehmen, wo sie wollten. Sie entschieden sich für seine Schultern, von denen sie den besten Überblick hatten. Der erwachsene Gujacko sah sich das ganze Schauspiel ungerührt an, ohne auch nur ein einziges Mal einzugreifen. Erst als seine gesamte Brut sicher verstaut war, setzte er sich in Bewegung und glitt durch das angelehnte Gitter hinaus. Aiko bereitete sich darauf vor, den Wächter wieder fluchen zu hören. Zunächst blieb alles still, aber nicht für lange. Dann brach plötzlich ein Tumult aus, der Aikos Vorstellung bei weitem sprengte. Alarmrufe gellten, Schüsse fielen. Irgendetwas musste passiert sein. Von dunklen Vorahnungen beseelt, schlich Aiko zum Gitter, um herauszufinden, was draußen vor sich ging. Was er zu sehen bekam, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren … * Dumpfe Klopfgeräusche stiegen den Hauptring empor, als sich Matthew und Boris aus dem engen Luftschacht quälten. In niedrigster Gangart robbten sie über einen schmalen Felsabsatz, der noch oberhalb der höchsten Holzplattform lag. Von hier aus hatten sie eine perfekte Aussicht auf die unter ihnen liegenden Etagen, in denen der Abbau unermüdlich mit purer Muskelkraft vorangetrieben wurde. Das ganze Ausmaß der Anlage, die gut und gerne einen Durchmesser von fünfzehn Metern hatte, nötigte Matt einigen Respekt ab. Der Plan des Technos, dem er ohnehin kritisch gegenübergestanden hatte, erschien ihm nun 46
endgültig undurchführbar. »Wie sollen wir da unbemerkt hinunter kommen?« , fragte er kopfschüttelnd. »Das hat doch alles keinen Zweck.« »Das kommt dir nur so vor, weil du die Abläufe nicht kennst« , widersprach Boris vehement. »In knapp einer Stunde ertönt das Abendhorn. Dann werden die Sklaven nach oben getrieben und mit Essen versorgt. Bis morgen früh ist das Bergwerk dann völlig verwaist. Du musst nur von hier auf die unter uns liegende Etage springen. Von dort aus kannst du gefahrlos bis zur Sohle laufen und die Entschärfung des Sprengkopfs vornehmen …« »Zum wiederholten Mal« , unterbrach Matt ihn, »ich bin Pilot und kein Feuerwerker! Was davon kann dein Translator nicht übersetzen?« Boris zog seine Unterlippe zwischen die Zähne. »Dann müssen wir den Zugang verbarrikadieren oder zum Einsturz bringen« , sagte er verzweifelt. »Ich kann doch nicht alle auf einer Bombe sitzen lassen, die ich mit freigelegt habe!« Matt konnte die Gewissensbisse durchaus nachvollziehen, suchte aber nach einer besseren Lösung. »Reicht es nicht, wenn du Klatko auf die Gefahr für sein eigenes Volk hinweist? So verrückt kann er doch nicht sein, dass er die ganze Mine aufs Spiel setzt.« Auch dieses Argument ließ der Russe nicht gelten. »Ich fürchte, Klatko hat seine letzten Skrupel längst verloren, seit er mit dem Feuer spielt. Die Macht, die er hier im Bunker findet, macht ihn blind für die Gefahr. Vermutlich wird er den Sprengsatz gegen die Götter einsetzen wollen.« »Okay, dann müssen wir eine Lösung finden« , stimmte Matt zu. »Ich werde das mit meinen Freunden bera-
ten. Bring mich zurück.« Für eine Sekunde trat ein ängstliches Flimmern in Lewkovs Augen. Er fürchtete wohl, dass ihn die Fremden einfach im Stich lassen könnten, wusste aber auch, dass er ihre Hilfe nicht erzwingen konnte. »Kaila wird dich nach draußen begleiten« , versicherte er. »Ich muss mich bei Klatko blicken lassen, bevor er noch Verdacht schöpft.« Sie wollten sich schon durch den Luftschacht zurückziehen, als unter ihnen der Lärmpegel anstieg. Zuerst hielten sie das Geschrei für eine Auseinandersetzung zwischen wütenden Arbeitern, doch eine der erbosten Stimmen war eindeutig weiblich. Und sie kam Matt verdammt bekannt vor. Eisregen schien zwischen seine Schulterblätter zu rieseln, als er erneut über den Felsrand spähte. Sekunden später wurden seine schlimmsten Befürchtungen noch übertroffen. Aus einem Zugangstunnel am oberen Korridor strömte eine bewaffnete Meute, die Aruula, Honeybutt Hardy und Mr. Black mit sich schleppten. Im Falle des Rebellenführer wortwörtlich, denn Black hatte das Bewusstsein verloren. Vier kräftige Gnome trugen ihn auf ihren Schultern. Um seinen Hals hing der Metallkragen, der früher zu Waleries Anzug gehört hatte. »Fuck!« Matt wusste nicht, ob dieses Wort im Datenspeicher des Translators existierte, letztlich war es ihm auch herzlich egal. Seine Freunde schwebten in höchster Gefahr. Dicht am Felsrand hockend, beobachtete er, wie Klatko die Gefangenen an den Rand der obersten Etage bringen ließ. Einige bange Sekunden lang befürchtete Matt, sie sollten in die Tiefe gestoßen werden. Aber dann
wurde eine Seilwinde in Gang gesetzt, an der ein aus Holz gezimmerter Förderkorb hing. Der gut drei mal drei Meter große Würfel beförderte sonst Erzbrocken, die mit dem Schubkarren .nicht zu bewältigen waren. Nun wurde er quietschend hochgezogen, um die Gefangenen aufzunehmen. Auch Kaila fand sich unter den lärmenden Narod'kratow ein. Angesichts der Übermacht an treuen Anhängern wagte er aber nicht offen aufzubegehren und schwamm lieber mit dem Strom. Wenigstens verriet er nicht, wo Matt und Boris sich aufhielten. Mittels eines Schwenkarms wurde der Förderkorb weit genug an den Steg geholt, um ein Überwechseln zu ermöglichen. Matt tastete nach dem Driller in seiner Tasche. Mitansehen zu müssen, wie seine Freundin eingepfercht wurde, zerrte an seinen Nerven. Doch angesichts der mit Hinterladern bewaffneten Mutanten würde ein unüberlegtes Eingreifen mit der Waffe zwangsläufig in die Katastrophe führen. Er musste ruhig Blut bewahren und schleunigst einen Plan ersinnen. Außerdem gab es da etwas, das ihm Mut machte. Aiko gehörte nicht zu den Gefangenen! Tot konnte der Asiate nicht sein, dann hätten sich Aruula und Honeybutt anders verhalten. So frech, wie die beiden ihren Aufpassern das Leben schwer machten, indem sie traten oder spuckten, hatten sie die feste Hoffnung, bald wieder befreit zu werden. Matt sah auf Boris hinab, der sich, flach auf den Fels gepresst, Stück für Stück weiter vorschob, um einen besseren Blick auf das Geschehen zu erlangen. Dabei übersah er, wie verwittert die Kante war, auf die er seinen Oberkörper stützte. Plötzlich gab es einen lau47
ten Knacks und er rutschte nach vorne. Er versuchte noch das Bruchstück zu greifen, doch es war zu spät. Es entglitt seinen Fingern und stürzte in die Tiefe. Mit einem lauten Knall prallte es gegen die oberste Plattform, bevor es sich in die Tiefen des Hauptschachtes verabschiedete. Plötzlich waren alle Augen nach oben gerichtet, direkt auf Matt und Boris. »Da! Der Silberne und eins der schrecklichen Monster!« , brüllte ein Narod'kratow direkt unter ihnen, wohl nur für den Fall, dass seine Stammesbrüder keine Augen im Kopf hatten. Doch Klatko hatte schon längst gesehen, was vor sich ging. »Da steckst du also, Verräter!« , zürnte er Boris. »Ergebt euch, oder unsere kleinen Furien hier müssen es büßen!« Es hätte nicht der Übersetzung durch den Translator bedurft, um Matt den Ernst der Lage klarzumachen. Ihm reichte schon das halbe Dutzend Flinten, die auf das schwebende Gefängnis gerichtet wurden. Zum Zeichen der Kapitulation hob Matt seine leeren Hände in die Höhe. Was blieb ihm anderes übrig, wenn er Aruulas Leben schützen wollte? Aiko, wo bist du? Das war sein einziger Gedanke, als er auf die Plattform hinab sprang. * »Weg da!« , forderte Therk, als er schnaufend aus dem Minenstollen trat. Der Abraumkorb lastete schwer auf seinen Schultern, entsprechend unwirsch reagierte er, als der reglos dastehende Egget seinen Weg versperrte. Schnaufend wich Therk dem Leidensgenossen aus, trat seitlich an den Schubkarren heran und kippte das klein 48
geschlagene Gestein polternd in die Ladefläche. Kaum von der Last auf seinen Schultern befreit, wollte er Egget zur Rede stellen, doch dessen in sich gekehrte Miene ließ ihn zurückschrecken. »Was ist los?« , fragte er leise, um keine Wache aufmerksam zu machen. Einen Moment lang glaubte er schon, dass sein Gegenüber nicht verstanden hätte, doch dann kehrte das Leben in Eggets Augen zurück. »Da kommen Fremde« , sagte der aus der Art Geschlagene plötzlich. »Ihre Gedanken sind völlig anders als unsere. Geradezu unverständlich. So, als ob sie eine ganz andere Art von Sprache benutzen würden.« »Unsinn!« Therks bissiger Kommentar zeugte mehr von Furcht als von einer echten Einschätzung. Das spürte er selbst, sobald er das scharfe Wort ausgesprochen hatte. Missmutig biss er auf seine Lippen, um sich keine weitere Blöße zu geben. Bevor die darauf einsetzende Stille peinlich werden konnte, drang Geschrei vom Eingangsstollen herüber. Therk wusste nicht, ob er darüber froh sein sollte. Die lärmenden Gefangenen, die aus den gegenüberliegenden Korridor hereingeführt wurden, ähnelten tatsächlich keinem anderen Volk, das am Ufer des großen Sees siedelte. Ihr Gesicht und die Hände wirkten unnatürlich glatt und weich. Richtiggehend widerlich. Das bestätigte Eggets Vorahnung. Wieder einmal. Verdammte Gedankenleser, fuhr es Therk durch den Kopf. Aus der Art geschlagen und zu nichts zu gebrauchen. Obwohl - Letzteres war schlichtweg falsch. Eggets Trancezustände erwiesen sich so oft als nützlich, dass Therk in seinen Gefühlen manchmal zwischen Furcht und Neid schwankte. Nicht nur,
dass diese Sinne vor nahenden Wächtern warnten, sie verrieten auch, ob Peitschenhiebe in der Luft lagen oder eine gemächlichere Gangart eingeschlagen werden konnte. Auch wenn es sich Therk nie offen eingestanden hätte, im Grunde seines Herzens war er längst froh, Egget an seiner Seite zu wissen. So zuverlässig und hilfsbereit wie der aus der Art Geschlagene waren nur wenige Sklaven in der Mine. Therk stand wie erstarrt hinter dem Karren. Zum Glück ging es den Wachen auf dieser und den darunter liegenden Ebenen genauso. Alle verfolgten gebannt, wie der Förderkorb hochgezogen und herangeschwenkt wurde. Die neuen Gefangenen mussten etwas Besonderes sein, so viel stand fest. Warum sonst sollte Klatko sie in den Korb verfrachten, anstatt sie über die Stiegen hinab zu treiben? Egget, der am Abgrund des Korridors auf und ab streifte, sah das genauso. »Eine der Frauen ist von meiner Art!« , stieß er aufgeregt hervor. »Ich spüre deutlich ihre Gedanken, obwohl sie völlig unverständlich sind. Da! Jetzt tauchen wortlose Bildfetzen auf. Zu kurz, um etwas daraus zu schließen, aber …« Egget versank wieder in eine Trance, die ihn seine Umgebung vergessen ließ. Therk war dieser Zustand unheimlich. Plötzlich spannte sich der Körper des Kameraden. Sein Kopf kreiselte suchend umher. »Sie sind nicht allein« , verkündete er heiser. Während auf der anderen Seite der Tumult losging, verschwand der Gedankenleser im Abbaustollen. Wenige Herzschläge später tauchte er wieder auf. Des Korbes auf seinem Rücken hatte er sich entledigt; nun ruhte die
schwere Spitzhacke in seinen Händen. In seinen schwarzen Pupillen glänzte etwas Kaltes, Unnachgiebiges, das nicht zu seinem sonst so sanftmütigen Charakter passte. Begleitet von Klatkos Geschrei, das dem Silberdämon galt, marschierte Egget den Korridor entlang. Direkt auf Laanka zu, dem Narod'kratow, der vor der Waffenhöhle auf Posten stand. »Was hast du vor?« Therks Stimme war so leise, das er sich selbst kaum verstand. Der Rriba'low ahnte längst, was sein Kamerad plante, wenn er auch nicht dessen Beweggründe verstand. Laanka würdigte den näherkommenden Sklaven nur eines müden Blicks. Sein ganzes Interesse galt den spannenden Geschehnissen auf der gegenüberliegenden Seite, in die nun auch der Silberdämon und ein weiterer Fremder verwickelt waren. Wo kamen diese Wesen so plötzlich her? Die Frage sollte für Laanka ein Geheimnis bleiben, denn als Egget in Reichweite war, ließ der Sklave unvermittelt den Stiel seiner Spitzhacke vorschnellen. Wuchtig hämmerte das Holz unter die Kinnspitze des Narod'kratow, der nur ein kurzes Schnaufen von sich gab, bevor er nach hinten kippte. Egget griff mit dem unteren Armpaar zu, um einen Aufschlag zu vermeiden, und schleppte den bewusstlosen Körper hinter die Schubkarre. »Bist du irre?!« , zischte Therk aufgebracht. »Dafür werden sie uns zu Tode peitschen!« Am liebsten wäre er mit bloßen Fäusten auf seinen Kameraden losgegangen. Diese verdammten aus der Art Geschlagenen brachten also doch nur Unheil, wie seine Eltern immer gesagt hatten. Statt in Panik auszubrechen, blieb Egget jedoch die Ruhe selbst. »In der 49
Waffenhöhle sitzt etwas, das Klatko an die Kehle möchte« , frohlockte er so leise, dass es beinahe im allgemeinen Gebrüll unterging. »Und ich habe ihm den Weg freigemacht.« Ohne eine Reaktion abzuwarten, wandte sich Egget dem Höhleneingang zu. Therk blieb ihm auf den Fersen. Zum einen, weil ihn die Neugier trieb, zum anderen, weil es sowieso egal war. Wenn die anderen Narod'kratow den bewusstlosen Posten bemerkten, war alles zu spät. Gemeinsam erreichten sie den Stolleneingang - und machten synchron einen Schritt zurück, als sie sahen, was sich da hinter dem aufschwingenden Gitter abzeichnete: eine abstoßende Gestalt mit merkwürdigen Schulterauswüchsen, die gerade aufzuplatzen schienen … * In den Knien leicht nachfedernd, landeten Matt und Boris auf dem hölzernen Korridor. Noch ehe sie sich wieder aufrichten konnten, blickten sie bereits in einen Kreis aus Flintenläufen. Matt wurde sofort rüde durchsucht. Den Driller und andere Habseligkeiten nahm man ihm ab. Klatko schenkte dem Piloten aber keine weitere Beachtung, sondern wandte seine Konzentration voll und ganz Boris zu. Seine fleischigen Lippen zogen sich zurück und entblößten die schiefen Zähne dahinter zu einem gehässigen Grinsen. »Du elender Kahlschädel hältst dich wohl für unersetzlich, was?« , fluchte er. »Aber da liegst du falsch. Jetzt habe ich nämlich, was ich brauche, um der Macht im See zu trotzen!« Unheilvoll hallten die Worte von den Felsen wider und pflanzten sich bis in 50
die unteren Etagen fort. Seine Schergen heulten angesichts der Blasphemie auf, doch mit einer wütenden Handbewegung brachte Klatko alle zum Schweigen. Triumphierend hob er das Lasergewehr, das er Mr. Black abgenommen hatte. Diese Wunderwaffe schien ihm die Erfüllung all seiner Träume zu sein. »Sieh her« , befahl er Boris, »und fühle, was wahre Macht ist!« Bei diesen Worten feuerte er einen Energiestrahl ab. Ein gewagter Schuss aus der Hüfte doch auf diese Entfernung konnte er praktisch nicht verfehlen. Mit einem hässlichen Geräusch traf die Entladung den Helm des Technos. Das extrem widerstandsfähige Plexiglas nahm die Energie auf und begann sich nach außen zu wölben. Innerhalb von Sekunden bildeten sich zwei große, glühendheiße Blasen, die schmatzend zerplatzten. Ein Teil der flüssigen Masse spritzte nach außen, der andere verbrannte Boris' Wange und Ohr. Brüllend stolperte der Techno zurück. Es mussten höllische Schmerzen sein, die durch seine linke Gesichtshälfte zuckten, doch das Entsetzten, das sich in seinen rot glühenden Augen abzeichnete, hatte einen ganz anderen Grund. Es galt der ungefilterten Luft, die durch das Brandloch hereinströmte. Und den Bakterien, die in ihr schwebten und die für jeden anderen ungefährlich waren. Für ihn bedeuten sie den sicheren Tod. Schon mit dem ersten Atemzug, der seinem Schmerzensschrei folgte, besiegelte Boris sein Schicksal. »Was soll das?« , brach es aus Kaila heraus, der die ganze Zeit über geschwiegen hatte. »Du weißt doch, dass Boris nun sterben muss, so wie der andere Silberne.« Gewagte Worte, doch das war noch nicht alles. Herausfor-
dernd funkelte er seinen Häuptling an. »Und wenn schon« , gab sich Klatko kaltschnäuzig. »Ein Sklave, der nicht im Bergwerk arbeiten kann, besitzt keinen Wert mehr. Diese Aufrührer dagegen …« , er deutete auf Matthew und die Gefesselten im Abraumkorb, »… können uns mit ihrer Muskelkraft noch gute Dienste leisten.« Statt derart prahlerische Reden zu halten, hätte der Narod'kratow lieber auf Boris achten sollen, der inzwischen sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Mochte der Techno auch über Monate jede Demütigung geschluckt haben - nun, da es nichts mehr zu verlieren gab, brach sein unterdrückter Ärger aus ihm heraus. Einen russischen Wutschrei auf den Lippen, riss er Kaila, der nicht allzu viel Widerstand zeigte, die Flinte aus der Hand. Ehe jemand reagieren konnte, war er schon hinter Klatko gesprungen und presste ihm die Mündung an die Stirn. Das Lasergewehr wischte er mit einem harten Schlag zu Boden, danach versenkte er die Finger seiner freien Hand in Klatkos Haar. Dem harten Griff des fast doppelt so großen Mannes hatte der Narod'kratow nichts entgegenzusetzen. Keuchend rang er um Fassung. »Was soll das? Bist du verrückt? Ich bin der Häuptling!« Die Sätze sprudelten abgehackt und gehetzt aus ihm hervor. Auch wenn er es nach außen zu verbergen suchte, saß ihm doch die blanke Angst im Nacken. »Sag deiner Zwergenbande, dass sie die Flinten senken soll!« , befahl Boris dem verblüfften Häuptling. »Mach schon. Und dann kommst du mit mir!« »Was willst du?« , fragte Klatko verwirrt. »In die Freiheit? Von mir aus, du kannst gehen. Dort drüben geht es an die Oberfläche.«
»O nein« , entgegnete der Techno kalt. »Du begleitest mich zur Sohle hinab. Dort habe ich ein Geschenk, über das du dich freuen wirst. Die größte Waffe, die je ein Narod'kratow gesehen hat. Dagegen ist dieses Lasergewehr ein Kinderspielzeug.« Ehe jemand eingreifen konnte, zerrte er Klatko bereits mit sich, den abwärts führenden Korridor hinab. Einige Getreue machten Anstalten, ihrem Häuptling mit angelegter Flinte zu folgen, doch sie kamen nicht weit. Ein Feuerpilz stieg zu ihren Füßen auf, der sie umgehend zurück trieb. * Den Armbruster im Anschlag, warf Aiko einen Blick auf den niedergeschlagenen Wächter. Die Rriba'low hatten ihm geholfen, kein Zweifel, trotzdem hielt er sie lieber auf Abstand. Sicher war sicher. Die Gujackos auf seinen Schultern schienen das genauso zu sehen. Unablässig ließen sie ihre winzigen Zungen durch die Luft züngeln, als ob sie ihm den notwendigen Bewegungsspielraum verschaffen wollten, den er auf der Suche nach einer passenden Deckung brauchte. Noch ehe er hinter der Schubkarre niederknien konnte, ließ ein dumpfer Knall alle zusammenzucken. Erschrocken blickte Aiko zur gegenüberliegenden Seite. Die Angst, dass einer seiner Freunde zu Schaden gekommen sein könnte, bestätigte sich zwar nicht, doch als er das Loch im Helm des russischen Technos sah, durchlief es ihn trotzdem eiskalt. Verdammt, Klatko und seine Mannen waren absolut unberechenbar! Jede Sekunde, die ohne sein Eingreifen verstrich, mochte Matt oder die Drei im 51
Abraumkorb dem Tod einen Schritt näher bringen. Aiko zog den Kolben des Armbruster fest an die Schulter, legte den Lauf auf der Seitenwand der Schubkarre ab und zielte über Kimme und Korn - vergeblich. Bei dem Gedränge, das dort drüben herrschte, waren präzise Schüsse ein Ding der Unmöglichkeit. Er musste hinüber, näher heran. Aber wie? Den Korridor zu umrunden dauerte zu lange. Um über den Abgrund hinwegsetzen, fehlte ihm das passende Paar Flügel. Er konnte höchstens versuchen, sich hinüber zu schwingen. Hastig brachte Aiko die Peitsche des Wächters an sich und maß die Entfernung mit der Präzision seiner künstlichen Augen ab. Nein, das funktionierte auch nicht. Selbst wenn er den gegenüberliegenden Schwenkarm traf, reichte der Angelpunkt höchstens aus, um eine Etage tiefer zu landen. Das brachte ihn nicht weiter. Aiko ließ die Peitsche gerade wieder auf die Planken fallen, um es doch mit einem Präzisionsschuss zu versuchen, als er einen Schlag zwischen den Schulterblättern verspürte. Noch ehe er richtig erschrecken konnte, schrammte der Kopf des erwachsenen Gujackos an seinem Hals entlang. Das Tier hatte eine beige Färbung angenommen und sah ihn, den Kopf schief gelegt, aus dunklen Facettenaugen an. »Was soll das?« , fragte Aiko ärgerlich, als sich spitze Krallen durch seine Weste bohrten und dabei seinen Rücken zerfurchten. Natürlich antwortete der Gujacko nicht. Er handelte lieber, indem er die Zunge schnalzend nach vorne schnellen ließ. Viel höher, schneller und weiter, als Aiko es je für möglich gehalten hatte. 52
Ungläubig verfolgte er, wie der rosafarbene Strang den Schwenkarm des Abraumkorbes erreichte und mit seiner Spitze umwickelte. Straff gespannt wie ein Hochseil, überbrückte die Zunge plötzlich die Distanz. »Du willst doch wohl nicht …« , flüsterte Aiko ungläubig. Noch ehe er den Satz beenden konnte, fühlte er sich schon nach vorn gerissen. Der Gujacko zog seine Zunge tatsächlich wieder ein und zerrte ihn dabei einfach mit sich. Das Ganze passierte in Sekundenschnelle. Eben noch spannte die Weste an seinen Schultern, dann verlor Aiko auch schon den Boden unter den Füßen. Den Gesetzen der Schwerkraft nur scheinbar entkommen, schwang er über den gähnenden Schacht hinweg, gehalten durch einen dünnen, flexiblen Muskel, dessen natürliche Belastbarkeit längst überschritten sein musste. Was, wenn der Gujacko seine Kräfte überschätzt hatte? Schnell verdrängte Aiko jeden Gedanken an einen Absturz. Er konzentrierte sich lieber auf die Landung, während er hoch empor getragen wurde. Pures Adrenalin pumpte durch seine Adern, während er wie in extrem verzögerter Zeitlupe wahrnahm, dass Boris mit Klatko über den Korridor davoneilte. Auf die Verfolger einzuschwenken und abzudrücken kostete Aiko nicht einen Funken Überlegung; er reagierte einfach. Noch während der Phosphorpfeil am Felsen zerschellte, streckte er die Füße aus, um den heranrasenden Förderkorb abzufangen. Eine Sekunde später zuckte ein heißer Schlag durch seine Sohlen … *
Die Explosion löste eine allgemeine Panik aus; allein Matthew Drax erkannte darin sofort einen Phosphorbolzen aus Aikos Armbrust-Blaster. Geistesgegenwärtig schlug er den Narod'kratow zu Boden, der seinen Driller an sich genommen hatte. Wieder bewaffnet, sah der Pilot auf. Gerade noch rechtzeitig, um mitzuerleben, wie Aiko zielsicher auf dem Förderkorb landete. Obwohl er mit der Schulter gegen das Halteseil knallte, feuerte der Cyborg zwei kurze Blastersalven über die Köpfe der Narod'kratow hinweg und zog dabei ein Gesicht, das schon von weitem nach gewaltigem Ärger aussah. Die führungslos gewordene Meute zeigte sich gebührend beeindruckt, doch wie lange mochte die Schrecksekunde andauern? Atemlos sahen sich beide Parteien über die Läufe ihrer Waffen hinweg an. Matt und Aiko auf der einen, acht mit Flinten bewaffnete Bergmänner auf der anderen. Eine falsche Bewegung mochte der Funken sein, der das berühmte Pulverfass zur Explosion brachte. Wie sollten sie die Lage entschärfen, vor allem jetzt, da Boris nicht mehr übersetzen konnte? Die Zeichen standen auf Blutbad - bis Kaila das Wort ergriff! »Senkt die Waffen!« , rief er seinen Stammesbrüdern zu. »Bedenkt, dass sich unser Häuptling gegen die Macht im See wenden wollte! Wollt ihr auch noch an seiner Seite stehen, wenn die Rochen kommen, um ihn dafür zu strafen?« Matthew war völlig perplex, als er hinter sich im Förderkorb die Übersetzung der Worte aus einem Lautsprecher schnarren hörte. An Waleries Metallkragen, den Mr. Black um den Hals
trug, hatte er gar nicht mehr gedacht. Kailas Worte fielen auf fruchtbaren Boden. Gleich fünf der Flintenträger ließen die Waffe sinken. Die Verbliebenen wussten erst nicht recht, was sie tun sollten, schlossen sich dann aber der Allgemeinheit an. »Lass besser die Mine räumen« , riet Matt dem Unterführer. »Ich glaube, ich weiß, was Boris vorhat.« Kaila nickte verstehend. Mit schnellen Schritten lief er zum Abendhorn, einem großen, zweifach gedrehten Blechinstrument, das einer germanischen Lure ähnelte. Entschlossen setzte er die Lippen an das Mundstück und blies hinein. Ein dunkler, langgezogener Ton erklang, der sich durch den ganzen Schacht bis hinab in den tiefsten Winkel zog und dabei ein vielfaches Echo aus entsetzten Kehlen auslöste. Es musste ein spezielles Warnsignal sein, das wurde schnell deutlich, als auf allen Ebenen Wachen und Sklaven hervorstürmten und über den ansteigenden Korridor in die Höhe eilten. Niemand fragte, was vorgefallen war. Alle strebten nur dem Ausgang entgegen, getrieben von der Furcht, unter tonnenschwerem Gestein begraben zu werden … * Boris lauschte, bis das Abendhorn wieder verstummte. Die Evakuierung würde bald beendet sein. So wie sein Leben. »Wo ist denn nun der große Knallpfeil, den du mir versprochen hast?« , erklang es unter ihm ungeduldig. Klatko besaß schon wieder Oberwasser. Anscheinend konnte er sich nicht wirklich vorstellen, dass ihm der empfindsame Boris etwas antun würde. Oder seine Gier nach neuen Waffen 53
war tatsächlich so groß, dass er alles andere vergaß. »Wir sind gleich da« , verkündete der Techno und nahm die Mündung von Klatkos Kopf. Selbst wenn der Gnom noch floh, war es für ihn längst zu spät. »Dort vorne geht es zu dem Platz, wo die Knalleierlagen.« Gemeinsam stiegen sie den Schuttberg hinab. Klatko blieb nicht nur freiwillig an Boris' Seite, er rannte sogar neugierig voran. »Natürlich, dieses Ding hier!« , freute sich der Narod'kratow wie ein kleines Kind. »Ich habe Zeichnungen davon gesehen. Es fliegt über weite Entfernungen. Bestimmt von hier bis zur Macht im See.« »Ganz richtig« , bestätige Boris. Entschlossen trat er an den Raketenkopf und setzte die Mündung seiner primitiven Flinte genau an der Stelle an, an der sich der Aufschlagzünder befinden musste. »Und es macht eine riesige Explosion !« Noch ehe die letzte Silbe über seine Lippen gekommen war, zog er den Abzug durch. Der Schuss war das Letzte, was er hörte. Danach gab es nur noch einen kurzen Moment gleißenden Lichts und schließlich - ewige Dunkelheit. * Matthew verließ den Hauptstollen als Letzter. Er wollte gerade in den Zugangstunnel treten, als die Plattform unter ihm zu beben begann. Verdammt, zu lange gezögert! Die Erschütterung riss Matt von den Beinen. Mit ausgebreiteten Armen schlug er auf und versuchte die ganze Reibungsfläche zu nutzen, um nicht über die Kante hinweg zu rutschen. 54
Zum Glück hielten die tragenden Streben dem bebenden Fels stand. Als sich die Lage wieder beruhigt hatte, pendelte Matts linker Arm bereits über dem gähnenden Abgrund. Beim Blick in die Tiefe wurde ihm fast schlecht. Dumpfes Grollen hallte von der Sohle empor, gefolgt von lautem Gurgeln. Als der Pilot die schäumenden Massen sah, die zu ihm empor quollen, wusste er, was das bedeutete. Ein Wassereinbruch! Die Sprengung hatte eine unterirdische Quelle freigelegt! Die hochschäumenden Wassermassen entwickelten unglaubliche Kräfte. Unter lautem Krachen rissen sie nacheinander die Etagen des umlaufenden Korridors von den Wänden, als wären sie Streichholzmodelle. Matt spürte, wie die Planken unter ihm erneut zu beben begannen. Nichts wie weg hier! Mit einem Sprung kam er auf die Beine und rettete sich durch den Mineneingang auf sicheren Fels. Fackelschein wies ihm den Weg nach draußen. Die anderen waren längst fort. Matt stolperte über herabgestürztes Geröll und durch feine Sandschleier, doch er fand den Weg. Hustend trat er ins Freie. Überall in dem Bergbaudorf irrten Überlebende aus der Mine und verschreckte Schmiede umher. Die wenigsten konnten sich erklären, wodurch dieses Erdbeben ausgelöst worden war. Die meisten Narod'kratow standen unter Schock. Sie hielten das Unglück für ein Zeichen göttlichen Zorns. Dass Klatko Pläne gegen die Macht im See geschmiedet hatte, war bald überall bekannt. Erneut floh das Maulwurfsvolk in die Hütten oder umliegenden Berge. Die Sklaven blieben sich selbst über-
lassen. Viele nutzten die Chance zur Flucht. Ausgestoßene wie Egget versuchten gar nicht erst, in ihre Dörfer zurückzukehren. Wozu auch? Von dort hätte man sie nur in ein anderes Bergwerk der Narod'kratow verschleppt. Egget schloss sich einem Treck der Telepathen zu den Mastr'ducha an. Dort hofften sie ein neues Zuhause zu finden. Matthew Drax bekam von dem schicksalhaften Durcheinander, das um ihn herum tobte, nicht allzu viel mit. Seine ganze Aufmerksamkeit galt Aiko, der inmitten einiger Sandhaufen kniete und laufend faustgroße Objekte aus seinen Bein- und Westentaschen zog, die er vorsichtig im Sand drapierte. So sehr sich Matt auch bemühte, er konnte keinen Sinn in diesem Tun erkennen. Erst als Aiko ihn freundlich näher winkte, lüftete sich der Schleier des Geheimnisses. Unversehens wurden die Sandhaufen von einem seltsamen Flimmern erfasst. Obwohl nur ein Farbwechsel stattfand, sah es so aus, als würde ein Dutzend Gujackos wie aus dem Nichts materialisieren. Jeder von ihnen hatte sich zwischen Halskrause und Nacken ein Ei geklemmt, und zwar in einer Weise, die darauf schließen ließ, dass der Nachwuchs des öfteren derart transportiert wurde. Die beiden geschlüpften Jungtiere hockten noch auf Aikos Schultern. Der Abschied schien ihnen schwer zu fallen, obwohl sie der Instinkt zu den Artgenossen zog. Abwechselnd blickten sie in die Tiefe und dann wieder in sein Gesicht. Den Kopf schräg gelegt wie zur Bitte, sie doch bei sich zu behalten, ließen sie ihre dünnen Zungen nach vorne schnellen und über Aikos Ohren tanzen.
Der Asiate verzog angesichts der Liebkosung zwar das Gesicht, unterdrückte aber jegliches Missfallen. Die kleinen Tiere dankten es ihm mit einer zweiten Gehörreinigung, bis sie, wie auf ein unhörbares Kommando, gleichzeitig von ihm abließen. Gleichzeitig kippten sie vornüber, drehten sich in einer spiralförmigen Bewegung durch die Luft und landeten mit den Pfoten voraus zielsicher auf dem Rücken ihres Mutter- oder Vatertieres. Einige Sekunden lang verharrten die Gujackos noch ungetarnt auf der Stelle, dann passten sich ihre Hautpigmente dem Boden an. Selbst die Eier in den Halskrausen wurden auf diese Weise ungebetenen Blicken entzogen. Nur kleine Staubwolken zeigten Matthew, dass sich die Tiere davonmachten. Im Thermo-Modus sah Aiko noch eine Weile Richtung Süden, um ihren Weg zu verfolgen. Als er sich endlich umwandte, glaubte Matt einen feuchten Glanz auf den Pupillen seines Freundes zu sehen. »Die kleinen Racker werden mir fehlen« , gestand Aiko. Matt klopfte ihm auf die Schulter. Mehr nicht. Manchmal sagten Gesten mehr als Worte. »Hilfst du mir?« , fragte er dann, um Aiko auf andere Gedanken zu bringen. »Für Boris können wir zwar nichts mehr tun, aber wir sollten wenigstens seinem Kameraden die letzte Ehre erweisen.« Während Aruula und Honeybutt den bewusstlosen Mr. Black versorgten, bargen sie Waleries Leiche aus dem Eisenlager und schafften sie zu einem Erdhügel außerhalb des Bergwerkdorfes. Mit Spaten und Hacke schaufelten die Männer ein Grab, ohne sich an den Rochen zu stören, die zu einer weiteren 55
Beobachtungsrunde heranflogen. Erneut blieben die unheimlichen Wesen auf Distanz, und wieder zeigten sie nicht das geringste Anzeichen von Aggressivität. »Wir hätten von den russischen Technos viel über den Kratersee erfahren können« , seufzte Aiko, nachdem sie einige schwere Felsbrocken auf den Erdhügel geschichtet hatten. »Eine vertane Chance mehr …« Matt wollte ihm schon beipflichten, hielt dann aber inne und schüttelte vehement den Kopf. Aufgeregt zog er seine Satellitenkarte hervor. »Das stimmt nicht ganz« , korrigierte er, auf die Folie deutend. »Boris und Walerie haben uns ein Vermächtnis hinterlassen.« Seine Fingerkuppe berührte einen Punkt nahe des Sees. »Hier, bei der Kristallfestung. Dort steht der ARET mit ihrer kompletten Ausrüstung. Unser nächstes Ziel …« Epilog (Was soll die unerhörte Eile, Thu'sU'moori?) (Verzeih, Grao'lun'kaan. Ich wusste nicht, dass du mit Grao'leq'seel verschmolzen bist.) (Keine falschen Schlüsse. Unser Kontakt dient nur ihrer Ausbildung. Sie soll bald zur Lernenden aufsteigen.) (Selbstverständlich, Mächtiger. Verzeih, das ich nicht mehr Distanz walten ließ, doch es geht um die Primärrassenvertreter …) (Gab es eine Katastrophe? Musstest du sie neutralisieren ?)
(Im Gegenteil. Die Fünf haben die Unruhe unter den Modellen geschlichtet.) (Das ist gut. Wirklich sehr gut.) (Und sie haben einen weiteren Primärrassenvertreter neutralisiert, der sich unerkannt in unser Testgebiet eingeschlichen hatte.) (Unerkannt? Wie war das möglich? Warum haben ihn die Diener nicht aufgespürt?) (Er trug hermetische Kleidung, die seine Ortung erschwerte. Außerdem hielt er sich vermutlich die meiste Zeit subterran verborgen.) (Willst du die anderen Primärrassenvertreterweiterhin unbehelligt lassen, Thu'sil'moori?) (Ja, Grao'lun'kaan. Sie haben sich als nützlich für unser Experiment erwiesen und werden permanent von den Dienern observiert. Von ihnen geht keine Gefahr aus.) (Gut. Genehmigung erteilt. Lass ihren Aufenthaltsort aber laufend feststellen. Vielleicht können sie uns erneut nützlich sein.) (Du hast ein neues Problem ausgemacht, Grao'lun'kaan?) (Dir bleibt auch nichts verborgen, Weiser.) (Um was geht es ?) (In einer Siedlung der zweiten Spezies kündigen sich unerwünschte Anomalien an. Aber noch ist es zu früh, um dort einzugreifen …)
ENDE
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Ausblick: Mimikri von Gastautor Morst Pukallus Unterwegs unter dem Meer, durch eine Transportröhre Richtung Russland - in einem bionetischen Quallenwesen und begleitet von zwei Fischmenschen … Professor Dr. David McKenzie und der Neo-Barbar Rulfan haben zwar schon etliche bizarre Situationen erlebt, aber diese Tauchfahrt übertrifft alles. Doch es soll noch phantastischer kommen! Als die Röhre unter der Gewalt eines Seebebens birst und sie Zuflucht in einer Stadt der Hydriten finden - in der nichts mehr so ist, wie es scheint … Horst Pukallus ist vorrangig als Übersetzer tätig und wurde bereits über ein halbes Dutzend Mal mit dem Kurd-Lasswitz-Preis ausgezeichnet. Seit über 40 Jahren schreibt er SF-Romane und Kurzgeschichten und war schon bei Klassikern wie »Commander Scott« und den »Terranauten« dabei.
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