IM ANGESICHT
DES TODES
Das Geheimnis der Reinkarnation
Werke von His Divine Grace A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupa...
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IM ANGESICHT
DES TODES
Das Geheimnis der Reinkarnation
Werke von His Divine Grace A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupada Bhagavad-gitā wie sie ist Srimad-Bhāgavatam, Canto 1-10 (12 Bānde) Sri Caitanya-caritāmrta (11 Bände) Krsna — Die Quelle aller Freude (2 Bände) Bewußte Freude Die Lehren Sri Caitanyas Die Lehren Königin Kuntis Die Lehren Sri Kapilas Die Schönheit des Selbst Der Nektar der Hingabe Der Nektar der Unterweisung Sri Isopanisad Jenseits von Raum und Zeit Leben kommt von Leben Vollkommene Fragen, vollkommene Antworten Im Angesicht des Todes Bhakti-yoga
IM ANGESICHT
DES TODES
Das Geheimnis der Reinkarnation Auf dem Weg zu Krsna Die Vollkommenheit des Yoga
His Divine Grace A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupāda Gründer-ācārya der Internationalen Gesellschaft für Krischna-Bewußtsein
On the Way to Krsna • A Second Chance • The Perfection of Yoga (German
TITELBILD: Ajāmila, der ein Leben der Wollust gefūhrt hat und zu einem Banditen wurde, liegt auf dem Totenbett. Plötzlich sieht er, wie in einem Traum, drei furchterregende Gestalten auf sich zukommen. Sie legen seine Seele in Fesseln, um sie aus dem sterblichen Körper zu zerren. In Todesangst ruft Ajāmila nach seinem jūngsten Sohn: „Nārāyana!" Kaum hat er diesen Namen gerufen, erscheinen vier leuchtende Gestalten, die den Schergen des Todes Einhalt gebieten. Interessierte Leser können sich an eine unserer Infostellen wenden: ISKCON, Taunusstraße 40 D-51105 Köln, Tel. 0221 /8303778 Krishna-Tempel, Bergstrasse 54 CH-8030 Zürich, Tel.: 01/2623388 Center for Vedic Studies, Rosenackerstraße 26 A-1170 Wien, Tel.: 0222/455830
Digitalisiert für Unglaublichkeiten.com /.info /.org im Heuert (Juli) 2006
© 1992 The Bhaktivedanta Book Trust International Alle Rechte vorbehalten ISBN91-7149-040-X
INHALT Einleitung
vii
Auf dem Weg zu Krsna 1. KAPITEL: Die Suche nach Glück
3
2. KAPITEL: Wie man den Spiegel des Geistes reinigt 3. KAPITEL: Göttliche Sicht
11
24
4. KAPITEL: Die Narren und die Weisen 5. KAPITEL: Die Kraft des Wunsches
38 50
Im Angesicht des Todes 1 Ajamilas Erfahrung in Todesnähe 1. KAPITEL: Aller Laster Anfang
66
2. KAPITEL: Imitation der Wirklichkeit 3. KAPITEL: Die letzte Stunde
72
79
4. KAPITEL: Frei von Geburt und Tod
83
2 Der Zwist der Visnudūtas und der Yamadūtas 5. KAPITEL: Rettung in höchster Not
88
6. KAPITEL: Die Bewohner der spirituellen Welt 7. KAPITEL: Berechtigte Fragen
95
8. KAPITEL: Was ist Religion?
103
9. KAPITEL: Bestrafung
91
108
10. KAPITEL: Vorherbestimmung und Unabhängigkeit 11. KAPITEL: Der feinstoffliche Körper
122
12. KAPITEL: Die Fessel sexueller Lust
133
116
13. KAPITEL: Ajāmilas lasterhaftes Leben 14. KAPITEL: Betrüger und Betrogene 15. KAPITEL: Buße
144
152
157
16. KAPITEL: Erwecken der Gottesliebe
168
3 Ajāmilas Reue 17. KAPITEL: Die Stunde der Wahrheit
192
18. KAPITEL: Ein Pilger auf dem Weg zu Gott
203
4 Yamarājas Unterweisungen 19. KAPITEL: Das Ende aller Zweifel
214
20. KAPITEL: Wer ist der Höchste Herr? 21. KAPITEL: Vertrauliches Wissen
220
225
22. KAPITEL: Die Herrlichkeit des heiligen Namens
239
Die Vollkommenheit des Yoga 1. KAPITEL: Unzeitgemäßer Yoga
244
2. KAPITEL: Yoga als Arbeit in Hingabe
249
3. KAPITEL: Yoga als Meditation über Krsna
252
4. KAPITEL: Yoga als Mittel der Selbstkontrolle 5. KAPITEL: Yoga als Befreiung von Dualität
257 271
6. KAPITEL: Das Schicksal des gescheiterten Yogi 7. KAPITEL: Yoga als Verbindung mit Krsna 8. KAPITEL: Die Vollkommenheit des Yoga ANHANG Autor Glossar
295 297
Anleitung zur Aussprache des Sanskrit Das Chanten des Hare-Krsna-Mantra
304 305
283 289
275
Einleitung Als der lasterhafte Ajāmila bewußtlos auf seinem Totenbett lag, sah er in der feinstofflichen Dimension mit Entsetzen drei schreckliche menschenähnliche Kreaturen auf sich zukommen, die ihn aus seinem sterbenden Körper zerren und zur Bestrafung ins Reich Yamarājas, des Herrn des Todes, bringen wollten. überraschenderweise jedoch entging Ajāmila diesem furchtbaren Schicksal. Wie ihm das gelang, können Sie auf den Seiten des vorliegenden Buches, Im Angesicht des Todes, lesen. Obwohl die Ajāmila-Geschichte schon Tausende von Jahren alt ist, besitzt ihre Thematik eine zeitlose Aktualität. Auch heute noch berichten Menschen von ähnlichen Sterbeerlebnissen und bestätigen damit den uralten Glauben der Menschheit an ein Weiterleben nach dem Tode. In den Jahren 1980/81 führte das Gallup-Meinungsforschungsinstitut in den USA eine umfangreiche statistische Erhebung zum Themenkreis des Todes durch, die 1983 unter dem Titel Begegnungen mit der Unsterblichkeit auch in Deutsch veröffentlicht wurde. Das Ergebnis dieser Umfrage war verblüffend: 67 Prozent aller Befragten sagten, sie seien von einem Leben nach dem Tode überzeugt, und immerhin 15 Prozent bestätigten, selbst eine Art Erfahrung in Todesnähe gemacht zu haben. Auf die Bitte, ihre Erfahrung in Todesnähe näher zu beschreiben, berichteten neun Prozent von außerkörperlichen Erfahrungen, und acht Prozent erinnerten sich sogar, daß „ein oder mehrere eigentümliche Wesen während der Todeserfahrung gegenwärtig" waren. Es ist seit langem bekannt, daß Herzinfarktpatienten, Unfallopfer und im Kampf verwundete Soldaten immer wieder von Sterbeerlebnissen berichten. Mittlerweile haben auch verschiedene angesehene Ärzte, wie Dr. Raymond Moody und Dr. Michael Sabom, solche Er-
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Im Angesicht des Todes
fahrungen in Todesnähe systematisch untersucht und darüber Fachbücher veröffentlicht, die weltweit große Beachtung fanden. Viele ihrer Patienten, die als klinisch tot galten, schilderten nach ihrer Wiederbelebung, daß sie aus einer außerkörperlichen Perspektive ihre eigene Operation mitansehen konnten. Sie waren im nachhinein in der Lage, viele Details ihrer Wiederbelebung, ja sogar die Gespräche der Ärzte wiederzugeben, obwohl ihr Körper die ganze Zeit bewußtlos auf dem Operationstisch gelegen hatte. Der amerikanische Kardiologe Dr. Michael Sabom zum Beispiel kommt in seinem Buch Erinnerungen an den Tod - eine medizinische Untersuchung (dt. 1987) zum Schluß, daß sich im Moment des Todes das eigentliche Wesen des Menschen vom sterblichen Körper löst. Er fragt: „Handelt es sich bei dem Verstand, der sich vom physischen Gehirn abspaltet, möglicherweise um die Seele, die, einigen Religionen zufolge, nach dem endgültigen Tod weiterexistiert?" Dieser Frage der Medizin sind verschiedene Zweige der modernen Psychologie nachgegangen. Auf diesem Gebiet lassen sich eindrucksvolle Hinweise darauf finden, daß der Mensch in seinem bewußten Kern nicht nur den Tod überlebt, sondern auch bereits vor der Geburt des gegenwärtigen Körpers existiert hat. Heute kennt die Psychologie unter anderem die Methode der Reinkarnationstherapie, in der Menschen über Hypnose in frühere Leben zurūckversetzt werden. In Hypnose beschreiben die Rückgeführten nachprüfbare Details ihrer früheren Leben und sprechen manchmal andere Sprachen, ja sogar tote Sprachen. In den letzten Jahrzehnten wurden Tausende von Berichten über Erfahrungen in Todesnähe und über Erinnerungen an frühere Leben gesammelt und veröffentlicht. Die zahlreichen Übereinstimmungen der einzelnen Schilderungen haben zu der Überzeugung geführt, daß dem menschlichen Sterben in der Tat gewisse einheitliche Naturgesetze zugrunde liegen, die unabhängig von Religion, Kultur oder Weltanschauung bei jedem Menschen ähnlich wirken. Doch es ist nichts Neues, daß sich die Menschen mit dem Thema der Reinkarnation befassen. Die ältesten Hochkulturen der Welt (insbesondere die indische) wie auch die ältesten Religionen der Welt (Hinduismus, Buddhismus, Urchristentum) legen ein konkretes Zeugnis für die Reinkarnation ab.
Einleitung
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Die Schriften der altindischen Hochkultur, die Veden, offenbaren das „Geheimnis der Reinkarnation" aus einer für die heutige Zeit ungewohnten Perspektive: Das Ziel der Veden ist - im Gegensatz zur modernen Esoterik - nicht die Erforschung früherer Leben. Es geht nicht um den Blick zurück, sondern um den Blick nach vorn, um die Auseinandersetzung mit unserer Bestimmung im nächsten Leben. Die Veden erklären, daß wir nicht der Körper sind, sondern die unsterbliche Seele, die dem Körper Bewußtsein und Leben verleiht. Beim Tod verlāßt die Seele den Körper und geht gemäß ihrem Bewußtsein in andere Lebensformen ein. Die Seele wandert so lange im Kreislauf von Geburt und Tod, bis sie Befreiung erlangt und in das Reich Gottes zurückkehrt. Im Wissen um diese Befreiung liegt das eigentliche Geheimnis der Reinkarnation. Im Licht der vedischen Schriften finden die Erkenntnisse der modernen Thanatologie (Sterbeforschung) und die Glaubensinhalte verschiedenster Religionen eine willkommene Synthese. Seit gut zwanzig Jahren sind die bedeutendsten vedischen Schriften, die Bhagavad-gitā und das Srimad-Bhāgavatam, nun auch dem Westen in authentischer und vollständiger Übersetzung zugänglich, die wir dem großen Sanskritgelehrten, Mönch und spirituellen Meister His Divine Grace A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupāda verdanken. Srila Prabhupāda (1896-1977), der Gründer der Internationalen Gesellschaft für Krsna-Bewußtsein, hat mit seinen Veröffentlichungen maßgeblich dazu beigetragen, daß sich heute immer mehr Menschen der ursprünglichen Botschaft der Veden bewußt werden. Im vorliegenden Buch erklärt er - gestützt auf die Ajāmila-Geschichte des Srimad-Bhāgavatam - die tiefere Bedeutung der Reinkarnation sowie der damit verbundenen Gesetzmāßigkeiten und praktischen Konsequenzen. Die Ajāmila-Geschichte wurde vor Tausenden von Jahren von Sukadeva Gosvāmi, einem großen spirituellen Meister, seinem Schüler, König Pariksit, erzāhlt und spāter im Sechsten Canto des Sanskritklassikers Srimad-Bhāgavatam aufgezeichnet. Ajāmilas Todeserfahrung war für König Pariksit selbst von existentiellem Interesse: Auf dem Höhepunkt seiner Macht hatte er plötzlich erfahren, daß er nur noch sieben Tage zu leben habe. König Pariksits Reaktion war vorbildlich. Er entsagte, ohne zu zögern, seinem Königreich und sei-
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Im Angesicht des Todes
ner Familie und begab sich an das Ufer des Ganges, um sich auf den Tod vorzubereiten. Dort versammelten sich alle großen Weisen der damaligen Zeit - unter ihnen auch Sukadeva Gosvāmi, der auserkoren wurde, auf die Fragen des Königs zu antworten. Pariksits erste Frage lautete: „Was ist die Pflicht eines Menschen, dessen Tod unmittelbar bevorsteht?" Aus dieser Frage entwickelte sich ein siebentägiges Gespräch, in dessen Verlauf Sukadeva Gosvāmi auch die Geschichte von Ajāmilas Todeserfahrung erzāhlte. Das vorliegende Buch besteht aus der Übersetzung des SrimadBhāgavatam-Textes, aus Stellen der Erläuterungen und aus Auszügen von Vorlesungen, die Srila Prabhupāda im Winter 1970/71 in Indien gab. Die Ajāmila-Erzählung wird von zwei Vortragsreihen Srila Prabhupādas eingebettet: Auf dem Weg zu Krsna führt den Leser Schritt für Schritt in das spirituelle Gedankengut Indiens ein, während Die Vollkommenheit des Yoga die im Hauptteil aufgegriffenen Themen, vor allem yoga und Meditation, vertieft und in den Kontext unserer modernen Zeit stellt. Die Ajāmila-Geschichte ist aufrüttelnd, aber auch hoffnungsspendend. Die schicksalhafte philosophische Auseinandersetzung, die über Ajāmilas Leben und Tod entschied, wird zweifellos das Interesse all derer finden, die gewillt sind, sich mit den tiefsten Fragen des menschlichen Daseins zu beschäftigen. Die Herausgeber
AUF DEM WEG ZU KRSNA
1. KAPITEL
Die Suche nach Glück Wir alle suchen nach Glück, aber wir wissen nicht, was wirkliches Glück ist. Obwohl so viel über Glück geredet wird, sehen wir nur sehr wenige glückliche Menschen; denn nicht viele wissen, daß die Ebene wirklichen Glücks jenseits vergänglicher Dinge liegt. Es ist dieses wirkliche Glück, das Sri Krsna Arjuna in der Bhagavad-gitā beschreibt. Glück wird für gewöhnlich durch die Sinne erfahren. Ein Stein zum Beispiel besitzt keine Sinne und erfährt weder Glück noch Leid. Entwickeltes Bewußtsein kann Glück und Leid intensiver erfahren als unentwickeltes Bewußtsein. Bäume haben zwar Bewußtsein, aber es ist nicht entfaltet. Sie mögen für eine lange Zeit vielerlei Witterungsbedingungen ausgesetzt sein, doch sie nehmen dies nicht als Leid wahr. Ein Mensch könnte es nicht ertragen, auch nur drei Tage wie ein Baum dazustehen. Mit anderen Worten, jedes Lebewesen empfindet Glück und Leid gemäß dem Entwicklungsstand seines Bewußtseins. Das Glück, das wir in der materiellen Welt erfahren, ist nicht wirkliches Glück. Wenn man einen Baum fragen könnte: „Bist du glücklich?", gäbe er wahrscheinlich zur Antwort: „Ja, es geht mir gut. Ich stehe hier das ganze Jahr und genieße Wind und Schnee." Für einen Baum mag das vielleicht angenehm sein, aber aus der Sicht des Menschen stellt es ein sehr niedriges Niveau des Genusses dar. Es gibt verschiedene Arten und Entwicklungsstufen von Lebewesen, deren Glücksvorstellung und -empfinden sich entsprechend voneinander unterscheiden. Selbst wenn ein Tier mitansieht, wie ein anderes Tier gerade geschlachtet wird, kaut es einfach weiter sein Gras, denn es versteht nicht, daß es vielleicht als nächstes an der 3
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Auf dem Weg zu Krsna
Reihe ist. Es hālt sich für glücklich, doch im nächsten Moment kann es bereits geschlachtet werden. Somit gibt es verschiedene Stufen des Glücks. Was aber ist das höchste Glück? Sri Krsna sagt zu Arjuna: sukham ātyantikam yat tad buddhi-grāhyam atindriyam vetti yatra na caivāyam sthitas calati tattvatah „In diesem freudigen Zustand erfāhrt man grenzenloses transzendentales Glück, das durch transzendentale Sinne empfunden wird. So verankert, weicht man niemals von der Wahrheit ab." (Bg. 6.21) Buddhi bedeutet Intelligenz; um wirkliches Glück zu genießen, muß man intelligent sein. Tiere haben keine höhere Intelligenz und können daher das Leben nicht so genießen wie die Menschen. Aber ein toter Mensch kann nicht mehr genießen, obgleich die Hände, die Nase, die Augen, die anderen Sinnesorgane und sämtliche Körperteile noch vorhanden sind. Warum nicht? Die genießende Energie, der spirituelle Funke, hat den Körper verlassen, und daher besitzt der Körper keine Kraft mehr. Mit ein wenig Intelligenz kann man verstehen, daß nicht der Körper Glück empfand, sondern der kleine spirituelle Funke, der in ihm weilte. Man mag denken, daß man mit den körperlichen Sinnesorganen genießt, doch in Wirklichkeit ist es der spirituelle Funke, der genießt. Dieser Funke ist potentiell immer voller Freude, aber diese Freude tritt nicht immer offen zutage, da der spirituelle Funke von der sterblichen Hülle bedeckt ist. Auch wenn wir uns dessen nicht bewußt sind, ist der Körper nicht imstande, ohne die Gegenwart des spirituellen Funkens Freude zu erfahren. Bietet man einem Mann den Leichnam einer schönen Frau an - wird er ihn wohl zur Frau nehmen? Nein, er wird es nicht tun, denn der spirituelle Funke hat den Körper verlassen. Als dieser Funke im Körper weilte, erfuhr er in ihm Genuß und erhielt ihn auch am Leben. Sobald er fortgeht, zerfāllt der Körper. Daraus lāßt sich schließen: Wenn die Seele, der spirituelle Funke, genießt, muß sie auch Sinne haben - wie könnte sie ansonsten Genuß erfahren? Nach Aussage der Veden ist die Seele, obgleich sie nur atomare Ausmaße besitzt, die wirklich genießende Kraft. Es ist
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unmöglich, die Größe der Seele zu messen, aber das heißt nicht, daß sie keine Ausmaße besitzt. Ein Gegenstand mag nicht größer als ein Punkt sein und scheinbar weder Länge noch Breite haben, doch unter dem Mikroskop sehen wir, daß er sehr wohl Lānge und Breite hat. Ebenso besitzt die Seele ihre Ausmaße, wir können sie nur nicht wahrnehmen. Wenn wir uns einen Anzug oder ein Kleid kaufen, ist dieses Kleidungsstück so angefertigt, daß es zu unserer Körperform paßt. Auf ähnliche Weise entsteht auch der materielle Körper, um die Seele aufzunehmen; da der materielle Körper Form besitzt, muß auch der spirituelle Funke Form besitzen. Die Schlußfolgerung lautet, daß der spirituelle Funke nicht unpersönlich ist; er ist die eigentliche Person. Da Gott eine Person ist, ist der spirituelle Funke als Gottes winziger Bestandteil auch eine Person. Wenn der Vater Persönlichkeit und Individualität besitzt, besitzt der Sohn sie ebenfalls; und wenn der Sohn sie besitzt, lāßt sich schließen, daß auch der Vater sie besitzt. Wie können wir also als Söhne Gottes für uns Persönlichkeit und Individualität beanspruchen und sie gleichzeitig unserem Vater, dem Höchsten Herrn, absprechen? Atindriyam bedeutet, daß wir die materiellen Sinne transzendieren müssen, bevor wir wirkliches Glück erfahren können. Ramante yogino 'nante satyānanda-cid ātmani: Auch die yogis, die nach einem spirituellen Leben streben, erfahren Freude, indem sie sich auf die Überseele im Innern konzentrieren. Wenn es im spirituellen Leben keine Freude und keinen Genuß gäbe, warum sollte man sich dann solche Mühe machen, seine Sinne zu beherrschen? Was für ein Glück kosten die yogis, wenn sie solche Unannehmlichkeiten auf sich nehmen? Ihr Glück ist ananta - endlos. Wie ist das möglich? Da die spirituelle Seele und der Höchste Herr ewig sind, ist auch ihr Liebesaustausch ewig. Wer wirklich intelligent ist, wird sich von den flüchtigen Sinnenfreuden des materiellen Körpers zurückhalten und seine Freude nur im spirituellen Leben suchen. Ein spirituelles Leben in der Gemeinschaft des Höchsten Herrn nennt man rāsa-lilā. Krsnas rāsa-lilā mit den Kuhhirtenmādchen in Vrndāvana ist keine gewöhnliche Liebesbeziehung, wie sie zwischen materiellen Körpern besteht, sondern ein Austausch von Gefühlen, der mit spirituellen Körpern stattfindet. Man muß eine gewisse Intelligenz aufbringen, um dies zu begreifen, denn ein Tor, der wirkliches Glück
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Auf dem Weg zu Krsna
nicht kennt, sucht in der materiellen Welt nach Glück. In Indien gibt es die Geschichte eines Mannes, der nicht wußte, was Zuckerrohr ist. Man sagte ihm, es schmecke beim Kauen sehr süß. „Wie sieht es denn aus?" fragte er. „Es sieht aus wie ein Bambusrohr", antwortete ihm jemand. So begann der Dummkopf, alle möglichen Bambusrohre zu kauen. Aber wie kann er auf diese Weise die Süße des Zuckerrohrs erfahren? Auch wir wollen Glück und Freude finden, aber wir suchen danach, indem wir den materiellen Körper „kauen"; aus diesem Grund gibt es kein Glück und keine Freude. Auch wenn hin und wieder ein unbedeutendes Gefühl der Freude auftreten mag, ist das noch keine wirkliche Freude, da dieses Gefühl vergänglich ist. Es gleicht einem Wetterleuchten, das am Himmel erscheint, aber nur der Widerschein entfernter Blitze ist. Weil man nicht wirklich weiß, was Glück ist, entfernt man sich vom eigentlichen Glück. Der Vorgang des Krsna-Bewußtseins ist der Weg zu wirklichem Glück. Durch Krsna-Bewußtsein entwickeln wir allmählich unsere wirkliche Intelligenz und genießen auf natürliche Weise spirituelles Glück, je mehr wir spirituellen Fortschritt machen. Im selben Maße, wie wir spirituelles Glück genießen, geben wir materielles Glück auf. Wenn wir unser Verständnis der Absoluten Wahrheit vertiefen, lösen wir uns ganz natürlich vom falschen Glück. Und was ist die Folge, wenn wir zur Stufe des Krsna-Bewußtseins erhoben werden? yath labdhvā cāparam lābham manyate nādhikam tatah yasmin sthito na duhkhena gurunāpi vicālyate „Wenn man diese Stufe erreicht hat, ist man überzeugt, daß es keinen größeren Gewinn gibt. In einer solchen Stellung gerät man niemals ins Wanken, nicht einmal inmitten der größten Schwierigkeiten." (Bg. 6.22) Auf dieser Stufe erscheinen uns andere Errungenschaften bedeutungslos. In der materiellen Welt bemühen wir uns, viele materielle Dinge zu erreichen - wie etwa Reichtümer, Frauen, Ruhm, Schönheit und Wissen. Wenn wir aber im Krsna-Bewußtsein verankert sind, denken wir: „Es gibt nichts Besseres." Krsna-Bewußt-
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sein hat solche Macht, daß wir vor der größten Gefahr bewahrt werden, wenn wir nur ein wenig davon gekostet haben. Wenn wir den Geschmack des Krsna-Bewußtseins kosten, betrachten wir andere sogenannte Genüsse und Errungenschaften als fade und abgeschmackt. Und wenn wir im Krsna-Bewußtsein fest verankert sind, kann uns nicht einmal die größte Gefahr beunruhigen. Das Leben birgt viele Gefahren in sich, denn die materielle Welt ist ein gefährlicher Ort, aber wir neigen dazu, vor dieser Tatsache unsere Augen zu verschließen. Töricht wie wir sind, versuchen wir, diesen Gefahren mit materiellen Mitteln zu begegnen. In unserem Leben mag es zahlreiche gefährliche Augenblicke geben, doch wenn wir uns im KrsnaBewußtsein üben und uns darauf vorbereiten, nach Hause, zu Gott, zurückzukehren, werden wir uns darüber keine Sorgen machen. „Gefahren kommen und gehen - das macht mir nichts aus", wird dann unsere Haltung sein. Es ist sehr schwierig, eine solche Einstellung zu entwickeln, solange man sich auf der materialistischen Ebene befindet und sich mit dem physischen Körper identifiziert, der aus vergänglichen Elementen besteht. Doch je mehr man im KrsnaBewußtsein fortschreitet, desto freier wird man von körperlicher Identifikation und materieller Verstrickung. Im Srimad-Bhāgavatam wird die materielle Welt mit einem großen Ozean verglichen. Im materiellen Universum befinden sich Abermillionen von Planeten, die im Raum schweben. Wir können uns kaum vorstellen, wie viele Atlantische und Pazifische Ozeane es gibt. In der Tat wird das gesamte materielle Universum mit einem großen Ozean des Elends verglichen, einem Ozean von Geburt und Tod. Um diesen gewaltigen Ozean der Unwissenheit zu überqueren, ist ein seetüchtiges Boot vonnöten, und dieses sichere Boot sind Krsnas Lotosfüße. Wir sollten sogleich an Bord gehen und nicht zögern, weil wir glauben, Krsnas Füße seien zu klein. Das ganze Universum ruht auf Seinen Beinen! Für jemanden, der bei Seinen Füßen Zuflucht sucht, ist das materielle Universum nicht bedeutsamer als die Wasserlache im Hufabdruck eines Kalbes. Solch eine kleine Pfütze zu überqueren ist bestimmt nicht schwierig. ta vidyad duhkha-sarhyoga viyoga yoga-samjnitam
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Auf dem Weg zu Krsna
„Dies ist in der Tat wirkliche Freiheit von allen Leiden, die aus der Berührung mit der Materie entstehen." (Bg. 6.23) Wir sind unserer ungezügelten Sinne wegen in die materielle Welt verstrickt. Das Ziel des yoga-Vorgangs ist es, die Sinne zu beherrschen. Wenn uns dies irgendwie gelingt, können wir echtem, spirituellem Glück entgegensehen und unser Leben zum Erfolg führen. sa niscayena yoktavyo yogo 'nirvinna-cetasā sankalpa-prabhavān kāmāms tyaktvā sarvān asesatah manasaivendriya-grāmam viniyamya samantatah sanaih sanair uparamed buddhyā dhrti-grhitayā ātma-samstham manah krtvā na kincid api cintayet yato yato niscalati manas cancalam asthiram tatas tato niyamyaitad ātmany eva vasam nayet „Man sollte yoga mit Entschlossenheit und Glauben praktizieren und nicht vom Pfad abweichen. Man sollte alle materiellen Wünsche, die aus gedanklicher Spekulation entstehen, ohne Ausnahme aufgeben und so alle Sinne von allen Seiten durch den Geist beherrschen. Allmählich, Schritt für Schritt, sollte man mit Hilfe der Intelligenz, gestützt von voller Überzeugung, in Trance versinken. So sollte der Geist allein auf das Selbst gerichtet werden und an nichts anderes denken. Wohin auch immer der Geist aufgrund seiner launischen und unsteten Natur wandert, man muß ihn auf jeden Fall zurückziehen und wieder unter die Herrschaft des Selbst bringen." (Bg. 6.24-26) Der Geist ist immer ruhelos. Er wandert bald dahin, bald dorthin. Durch die Praxis des yoga wird es uns möglich, den Geist buchstāblich zum Krsna-Bewußtsein hinzuziehen. Unser Geist schweift vom Krsna-Bewußtsein zu unzähligen weltlichen Dingen ab, wie er es
Die Suche nach Glück
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seit unvordenklichen Zeiten, Leben für Leben, gewöhnt ist. Aus diesem Grund mag es am Anfang sehr schwierig sein, seinen Geist auf das Krsna-Bewußtsein zu konzentrieren, aber diese Schwierigkeiten können alle überwunden werden. Weil der Geist aufgewühlt und nicht auf Krsna gerichtet ist, wandert er von einem Gedanken zum anderen. Wenn wir einer Beschäftigung nachgehen, können ohne ersichtlichen Grund in unserem Geist unvermittelt Erinnerungen an Geschehnisse auftauchen, die sich vor zehn, zwanzig, dreißig oder vierzig Jahren zugetragen haben. Diese Gedanken kommen aus unserem Unterbewußtsein; und da sie ständig auftreten, ist unser Geist immer in Erregung. Wenn man einen See oder Teich aufwühlt, kommt aller Schlamm vom Grund zur Oberflāche. Wenn auf ähnliche Weise der Geist aufgewühlt ist, steigen aus dem Unterbewußtsein viele Gedanken empor, die dort die Jahre über gespeichert wurden. Sobald wir den Teich jedoch in Ruhe lassen, wird sich der Schlamm am Grund absetzen. Der yoga-Vorgang ist das Mittel, den Geist zu beruhigen und alle Gedanken zur Ruhe kommen zu lassen. Aus diesem Grund muß man zahlreiche Regeln und Vorschriften befolgen, um den Geist nicht in Erregung geraten zu lassen. Wenn wir den Regeln und Vorschriften folgen, werden wir den Geist allmählich unter Kontrolle bekommen. Es gibt viele Gebote und Verbote, die man beherzigen muß, wenn man ernsthaft bemüht ist, seinen Geist zu schulen. Denn wie soll der Geist beherrscht werden, wenn man launenhaft handelt? Ist der Geist so weit geschult, daß er nur noch an Krsna denkt, wird er Frieden finden und sehr ausgeglichen werden. prasānta-manasam hy enam yoginam sukham uttamam upaiti sānta-rajasam brahma-bhūtam akalmasam „Der yogi, dessen Geist auf Mich gerichtet ist, erreicht wahrlich die höchste Vollkommenheit transzendentalen Glücks. Er befindet sich jenseits der Erscheinungsweise der Leidenschaft und erkennt seine qualitative Gleichheit mit dem Höchsten. So ist er von allen Reaktionen auf vergangene Taten befreit." (Bg. 6.27) Der Geist denkt sich ständig Wege aus, glücklich zu werden. Wir
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denken immer: „Hier werde ich Glück finden, dort werde ich Glück finden." Auf diese Weise trāgt uns der Geist überallhin, was einer Kutschenfahrt mit ungezügelten Pferden gleicht. Wir besitzen keine Gewalt darüber, wohin wir uns bewegen, sondern können nur mit Schrecken dasitzen und hilflos zuschauen. Die wilden Pferde des Geistes werden nur dann allmählich gebändigt, wenn der Geist im Vorgang des Krsna-Bewußtseins beschäftigt wird - vor allem im Chanten von Hare Krsna, Hare Krsna, Krsna Krsna, Hare Hare / Hare Rāma, Hare Rāma, Rāma Rāma, Hare Hare. Wir müssen uns in jedem Augenblick unseres Lebens Krsnas Dienst widmen, um den ruhelosen und aufgewühlten Geist davon abzuhalten, uns von einer Sache zur anderen zu schleifen, auf der vergeblichen Suche nach Glück in der vergänglichen materiellen Welt. yunjann evam sadātmānam yogi vigata-kalmasah sukhena brahma-samsparsam atyantam sukham asnute „Auf diese Weise wird der selbstbeherrschte yogi, der ununterbrochen in den Vorgang des yoga vertieft ist, von aller materiellen Verunreinigung frei und erreicht die höchste Stufe vollkommenen Glücks im transzendentalen, liebevollen Dienst des Herrn." (Bg. 6.28) Krsna ist der Beschützer all derer, die Ihm hingegeben sind. Wenn man sich in Schwierigkeiten befindet, wird man von seinem Beschützer gerettet. Wie es in der Bhagavad-gitā heißt, ist Krsna der wahre Freund aller Lebewesen; und es ist an uns, unsere Freundschaft mit Ihm wiederzuerwecken. Der Vorgang des Krsna-Bewußtseins ermöglicht es uns, diese Freundschaft wiederzuerwecken und das leidenschaftliche Begehren nach weltlichen Dingen aufzugeben. Dieses leidenschaftliche Begehren ist es, was uns getrennt hält von Krsna. Sri Krsna weilt in uns und wartet darauf, daß wir uns Ihm zuwenden; wir aber sind zu sehr damit beschāftigt, begierig die Früchte vom Baum der materiellen Wünsche zu essen. Wir müssen den leidenschaftlichen Trieb, diese Früchte zu genießen, überwinden und uns verankern in unserer wirklichen Identität als Brahman als reine spirituelle Seele.
2. KAPITEL
Wie man den Spiegel des Geistes reinigt Hare Krsna, Hare Krsna, Krsna Krsna, Hare Hare / Hare Rāma, Hare Rāma, Rāma Rāma, Hare Hare. Diese transzendentale Klangschwingung wird uns helfen, den Spiegel unseres Geistes von Staub zu befreien. Gegenwärtig ist der Spiegel unseres Geistes von materiellem Staub völlig bedeckt - wie die Second Avenue [in New York], die aufgrund des dichten Verkehrs überall von einer Staub- und Rußschicht bedeckt wird. Weil wir materielle Tätigkeiten ausgeführt haben, hat sich eine große Menge Staub auf dem ursprünglich sauberen Spiegel unseres Geistes angesammelt, und wir sind deshalb außerstande, die Welt in in der richtigen Perspektive zu sehen. Diese transzendentale Klangschwingung wird den Staub wegfegen und es uns ermöglichen, unsere wirkliche, wesensgemäße Stellung klar zu erkennen. Sobald wir verstehen: „Ich bin nicht der Körper; ich bin spirituelle Seele, und mein Wesensmerkmal ist Bewußtsein", werden wir wahres Glück erfahren. Wenn unser Bewußtsein durch den Vorgang des Chantens von Hare Krsna gereinigt wird, verschwinden all unsere materiellen Leiden. In der materiellen Welt lodert stets ein Feuer, das jeder zu löschen sucht; aber wir können dieses Feuer der Leiden der materiellen Natur nur löschen, wenn wir in unserem reinen Bewußtsein, in unserem spirituellen Leben, gefestigt sind. Einer der Gründe für Sri Krsnas Erscheinen in der materiellen Welt ist Sein Wunsch, alle Lebewesen aus dem Feuer des materiellen Daseins zu retten, indem Er festlegt, was dharma ist: yadā yadā hi dharmasya glānir bhavati bhārata 11
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Auf dem Weg zu Krsna abhyutthanam adharmasya tadātmānam srjāmy aham paritrānāya sādhūnām vināsāya ca duskrtām dharma-sarhsthāpanārthāya sambhavāmi yuge yuge
„Wann und wo auch immer das religiöse Leben verfāllt, o Nachkomme Bharatas, und Irreligiosität überhandnimmt, zu der Zeit erscheine Ich. Um die Frommen zu erretten und die Gottlosen zu vernichten und um die Prinzipien der Religion wiedereinzuführen, erscheine Ich Zeitalter um Zeitalter." (Bg. 4.7-8) In diesem Vers wird das Wort dharma verwendet. Dieses Wort wird unterschiedlich übersetzt. Manchmal wird es mit „Glaube" übersetzt, doch den vedischen Schriften zufolge ist dharma nicht ein Glaube. Ein Glaube kann sich ändern, aber dharma ist unveränderlich. Man kann nichts daran ändern, daß Wasser flüssig ist. Wenn es nicht mehr flüssig ist - wenn es zum Beispiel fest wird -, befindet es sich nicht mehr in seinem wesensgemäßen Zustand. Es nimmt aufgrund äußerer Einflüsse einen anderen Aggregatszustand an. Unser dharma, unsere wesensgemäße Stellung, ist es, daß wir Bestandteile des Höchsten sind; aus diesem Grund müssen wir unser Bewußtsein mit dem Höchsten verbinden und es Ihm unterordnen. Durch die Berührung mit der materiellen Welt wird der transzendentale Dienst für das Höchste Ganze fehlgeleitet. Dienst gehört zu unserem Wesen: Jeder ist Diener, niemand ist Herr. Ein jeder dient jemand anderem. Obwohl der Präsident die oberste Staatsgewalt innehat, dient er dennoch dem Staat, und sind seine Dienste nicht mehr erforderlich, setzt der Staat ihn ab. Von sich zu denken: „Hier bin ich Herr, hier bestimme ich", wird māyā, Illusion, genannt. Unter dem Einfluß dieses materiellen Bewußtseins wird unser Dienst fehlgeleitet und nimmt verschiedenste Formen an. Wenn wir von diesen weltlichen Vorstellungen frei geworden sind, das heißt, wenn der Spiegel des Geistes vom Staub gereinigt ist, können wir uns selbst in unserer eigentlichen Position als ewige Diener Krsnas erkennen. Man sollte nicht glauben, daß Dienst in der materiellen Welt das
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gleiche sei wie Dienst in der spirituellen Welt. „Was, nach der Befreiung werde ich immer noch ein Diener sein?" mögen wir mit Schaudern denken, denn wir haben erfahren, daß es nicht sehr angenehm ist, in der materiellen Welt ein Diener zu sein. Aber transzendentaler Dienst ist anders. In der spirituellen Welt besteht kein Unterschied zwischen dem Diener und dem Meister. Wāhrend hier in der materiellen Welt freilich Unterschiede existieren, ist in der absoluten Welt alles eins. In der Bhagavad-gitā zum Beispiel nimmt Krsna als der Wagenlenker Arjunas die Position eines Dieners ein. In seiner wesensgemäßen Stellung ist Arjuna Krsnas Diener, aber an Krsnas Verhalten sehen wir, daß der Herr zuweilen der Diener des Dieners wird. Folglich sollten wir uns davor hüten, materialistische Vorstellungen auf das spirituelle Reich zu übertragen. Was auch immer wir im materiellen Leben erfahren, ist nur eine verzerrte Widerspiegelung von Dingen des spirituellen Lebens. Wenn unsere wesensgemäße Stellung, unser dharma, durch materielle Verunreinigung bedeckt wird, erscheint der Herr persönlich als eine Inkarnation oder entsendet einige Seiner vertrauten Diener. Jesus Christus nannte sich Sohn Gottes und ist somit ein Stellvertreter des Höchsten. Auch Mohammed gab sich als Diener des Höchsten Herrn zu erkennen. Wann immer wir von unserer wesensgemäßen Stellung abweichen, erscheint der Höchste Herr entweder selbst oder sendet Seinen Bevollmächtigten, um uns auf diese Weise über die wirkliche Stellung des Lebewesens zu belehren. Man sollte als nicht fälschlich denken, dharma sei ein geschaffener Glaube. In seinem eigentlichen Sinne kann dharma überhaupt nicht vom Lebewesen getrennt werden. Dharma gehört zum Lebewesen wie Süße zum Zucker, Salzigkeit zum Salz und Festigkeit zum Stein. Der mit dem Lebewesen untrennbar verbundene dharma ist es, zu dienen, und wie wir leicht sehen können, besitzt jedes Lebewesen die Neigung, sich selbst oder anderen zu dienen. Wie man Krsna dient und sich aus dem materialistischen Dienst befreit, wie man Krsna-Bewußtsein erlangt und frei werden kann von weltlichen Bezeichnungen: das alles wird von Sri Krsna auf wissenschaftliche Weise in der Bhagavad-gitā gelehrt. Das Wort sādhu, das im obigen Vers zitiert wurde (paritrānāya sā-
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dhünām), bezieht sich auf einen Heiligen oder gottgefälligen Menschen. Ein sādhu ist sehr duldsam und gütig zu jedem; er ist allen Lebewesen ein Freund und niemandem ein Feind, und er ist immer friedvoll. Es gibt sechsundzwanzig grundlegende Eigenschaften, die ein Heiliger haben sollte; dennoch lautet diesbezüglich Sri Krsnas Urteil in der Bhagavad-gitā wie folgt: api cet su-durācāro bhajate mām ananya-bhāk sādhur eva sa mantavyah samyag vyavasito hi sah „Wer sich im hingebungsvollen Dienst betätigt, muß als Heiliger angesehen werden, selbst wenn er die abscheulichsten Handlungen begeht; denn er strebt mit Entschlossenheit das richtige Ziel an." (Bg. 9.30) Was auf der weltlichen Ebene für den einen Moral ist, ist für den anderen Unmoral, und was Unmoral für den einen ist, ist Moral für den anderen. Nach Ansicht der Hindus ist Weintrinken unmoralisch, wāhrend es in der westlichen Welt nicht als unmoralisch, sondern als etwas ganz Normales gilt. Moralische Wertvorstellungen sind also abhängig von Zeit, Ort, Umstānden, sozialer Stellung und so weiter. Doch in jeder Gesellschaft lāßt sich irgendeine Vorstellung von Moral und Unmoral finden. Selbst wenn man unmoralische Handlungen begeht, muß man, wie Krsna in diesem Vers erklärt, als sādhu oder Heiliger angesehen werden, solange man fest im Krsna-Bewußtsein verankert ist. Mit anderen Worten, obwohl man seines früheren Umgangs wegen einige unmoralische Angewohnheiten haben mag, sind diese nicht als wichtig anzusehen, wenn man sich völlig im Krsna-Bewußtsein beschäftigt. Auf jeden Fall wird jemand, der Krsna-Bewußtsein entwickelt, allmählich geläutert und zum sādhu werden. Sowie man in der Ausübung des Krsna-Bewußtseins Fortschritte macht, lassen die schlechten Gewohnheiten nach, und man erlangt heilige Vollkommenheit. In diesem Zusammenhang gibt es die Geschichte eines Diebes, der eine Pilgerreise zu einer heiligen Stadt antrat. Unterwegs machten er und die anderen Pilger halt, um in einer Herberge zu nächtigen. Da er ein Kleptomane war, begann er Plāne zu schmieden, wie
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er das Gepäck der anderen Pilger entwenden könne. Aber er dachte: „Ich bin auf einer Pilgerreise, und es geziemt sich nicht, dieses Gepäck zu stehlen. Ich werde es also nicht tun." Trotzdem konnte er aus Gewohnheit seine Finger nicht von dem Gepäck lassen. Er nahm eine Tasche nach der anderen und stellte sie woanders hin. Die ganze Nacht verbrachte er damit, die Taschen auszutauschen, doch sein schlechtes Gewissen plagte ihn, so daß er nichts aus ihnen herausnahm. Am Morgen, als die anderen Pilger aufwachten, hielten sie Ausschau nach ihren Taschen und konnten sie nicht finden. Es entbrannte ein lauter Streit, bis sie schließlich, einer nach dem anderen, ihre Taschen an verschiedenen Orten wiederfanden. Nachdem alle Taschen wieder aufgetaucht waren, erklärte der Dieb: „Meine Herren, ich bin ein Dieb und stehle gewöhnlich bei Nacht. Ich wollte etwas aus euren Taschen entwenden, aber ich dachte mir, daß ich nichts nehmen dürfe, da ich auf Pilgerreise bin. Deswegen vertauschte ich die Taschen. Bitte verzeiht mir!" Das ist das Kennzeichen einer schlechten Angewohnheit. Obgleich er keinen Diebstahl mehr begehen wollte, erlag er seiner Gewohnheit manchmal dennoch. Wer sich aber entschlossen hat, seine unmoralischen Gewohnheiten aufzugeben und im Krsna-Bewußtsein Fortschritt zu machen, ist nach Krsnas Worten als ein sādhu zu betrachten, selbst wenn er aufgrund seiner früheren Angewohnheit oder umständehalber rückfällig wird. Im nächsten Vers sagt Sri Krsna: ksipram bhavati dharmātmā sasvac-chāntim nigacchati kaunteya pratijānihi na me bhaktah pranasyati „Sehr bald wird er rechtschaffen und erlangt beständigen Frieden. O Sohn Kuntis, verkünde kühn, daß Mein Geweihter niemals vergeht!" (Bg. 9.31) Wer sich dem Krsna-Bewußtsein weiht, wird, wie Sri Krsna hier verspricht, schon bald das Wesen eines Heiligen entwickeln. Wenn man den Stecker eines Ventilators aus der Steckdose zieht, dreht sich der Propeller immer noch weiter, obwohl die Stromverbindung unterbrochen ist. Aller Erwartung nach wird er aber bald zum Stillstand kommen. Wenn wir einmal bei Krsnas Lotosfüßen Zuflucht
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suchen, schalten wir unsere karmischen Handlungen ab; obwohl sich diese Handlungen zwar noch fortsetzen mögen, werden sie rasch nachlassen. Tatsache ist, daß jeder, der sich dem Krsna-Bewußtsein zuwendet, sich nicht unabhängig darum bemühen muß, ein guter Mensch zu werden. Alle guten Eigenschaften werden sich von selbst entwickeln. Im Srimad-Bhāgavatam heißt es, daß jemand, der Krsna-Bewußtsein erlangt, gleichzeitig alle guten Eigenschaften erlangt. Hat andererseits jemand viele gute Eigenschaften, aber kein Gottesbewußtsein, sind seine Vorzüge als nutzlos anzusehen, denn nichts wird ihn daran hindern, etwas Unerwünschtes zu tun. Wer ohne Krsna-Bewußtsein ist, wird mit Sicherheit in der materiellen Welt Unheil anrichten. janma karma ca me divyam evam yo vetti tattvatah tyaktvā deham punar janma naiti mām eti so 'rjuna „Wer die transzendentale Natur Meines Erscheinens und Meiner Taten kennt, wird nach dem Verlassen des Körpers nicht wieder in der materiellen Welt geboren, sondern gelangt in Mein ewiges Reich, o Arjuna." (Bg. 4.9) Hier wird die Mission, derentwegen Krsna erscheint, nāher erklärt. Mit Seiner Mission sind immer auch Taten verbunden. Einige Philosophen natürlich glauben nicht, daß Gott als eine Inkarnation erscheint. „Warum sollte Sich Gott in diese verkommene Welt begeben?" sagen sie. Doch die Bhagavad-gitā belehrt uns eines Besseren. Wir sollten uns stets bewußt sein, daß die Bhagavad-gitā eine heilige Schrift ist. Was immer in der Bhagavad-gitā gesprochen wird, müssen wir akzeptieren. Warum sollten wir sie sonst überhaupt lesen? In der Gitā erklärt Krsna, daß Er als Inkarnation erscheint und eine Mission hat; im Verlaufe dieser Mission vollbringt Er wunderbare Taten. Auf dem Schlachtfeld von Kuruksetra zum Beispiel lenkt Krsna Arjunas Wagen und vollbringt dabei viele Taten. So wie im Kriegsfall eine Person oder Nation für eine andere Person oder Nation Partei ergreift, ergreift Sri Krsna auf dem Schlachtfeld von Kuruksetra Partei für Arjuna und steht auf seiner Seite. Eigentlich ist Krsna niemandem gegenüber parteiisch, aber äußerlich scheint es so, als sei Er
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voreingenommen. Diese Voreingenommenheit darf jedoch nicht im herkömmlichen, weltlichen Sinn aufgefaßt werden. In diesem Vers weist Krsna des weiteren darauf hin, daß Sein Herniedersteigen in die materielle Welt von transzendentaler Natur ist. Das Wort divyam bedeutet „transzendental". Seine Taten sind in jeder Hinsicht außergewöhnlich. Noch heute kann man in Indien sehen, daß Ende August Menschen aller Glaubensrichtungen Krsnas Geburtstag feiern, so wie in der westlichen Welt zu Weihnachten der Geburtstag von Jesus Christus gefeiert wird. Krsnas Geburtstag wird Janmāstami genannt. Auch im zitierten Vers verwendet Sri Krsna das Wort janma und meint damit „Meine Geburt". Wer geboren wird, vollbringt auch Taten. Krsnas Geburt und Krsnas Taten sind allerdings transzendental, das heißt, sie sind nicht wie gewöhnliche Geburten und Taten. Man mag fragen, wie es kommt, daß Seine Taten transzendental sind. Er wird geboren, hat einen Vater namens Vasudeva, eine Mutter namens Devaki und eine Familie und nimmt mit Arjuna an einer Schlacht teil - was soll daran transzendental sein? Krsna sagt: evam yo vetti tattvatah. Wir müssen Seine Geburt und Seine Taten in Wahrheit kennen. Wenn man Krsnas Geburt und Seine Taten in Wahrheit kennt, wird man nach dem Verlassen des materiellen Körpers nicht wiedergeboren, sondern gelangt direkt zu Krsna: tyaktvā deham punar janma naiti mām eti so 'rjuna. Dies bedeutet, daß man eine befreite Seele wird. Man geht zur spirituellen Welt und erreicht seine wesensgemäße Stellung voller Glückseligkeit, Wissen und Ewigkeit. Das alles erlangt man, wenn man das transzendentale Wesen der Geburt und der Taten Krsnas wahrhaft versteht. Nachdem man den Körper verlassen hat, muß man normalerweise einen anderen Körper annehmen. Die Lebewesen wandern durch verschiedene Leben, indem sie entsprechend ihrer Handlungsweise ihr äußeres Gewand von Körper zu Körper wechseln das nennt man Seelenwanderung. Gegenwärtig halten wir den materiellen Körper für unseren wirklichen Körper, aber er ist lediglich ein Gewand. Unser eigentlicher Körper ist der spirituelle Körper. Der materielle Körper ist äußerlich und nebensāchlich, verglichen mit dem echten, spirituellen Körper. Wenn der materielle Körper alt und gebrechlich ist oder durch einen Unfall unbrauchbar wird,
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legen wir ihn ab - wie einen schmutzigen oder zerschlissenen Anzug - und nehmen einen anderen materiellen Körper an. vāsārhsi jirnāni yathā vihāya navāni grhnāti naro 'parāni tathā sarirāni vihāya jirnāny anyāni samyāti navāni dehi „Wie ein Mensch alte Kleider ablegt und neue anzieht, so gibt die Seele alt und unbrauchbar gewordene Körper auf und nimmt neue materielle Körper an." (Bg. 2.22) Anfänglich hat der Körper die Größe einer Erbse. Hierauf wāchst er zur Größe eines Säuglings, eines Kindes, eines Jugendlichen, eines Erwachsenen und eines Greises heran; ist der Körper schließlich zu nichts mehr zu gebrauchen, wechselt das Lebewesen in einen anderen Körper über. Der Körper ist daher ständig im Wandel begriffen, und der Tod ist nur der letzte Wandel des gegenwärtigen Körpers. dehino 'smin yathā dehe kaumāram yauvanam jarā tathā dehāntara-prāptir dhiras tatra na muhyati „So wie die verkörperte Seele im gegenwärtigen Leben verschiedene Körperformen durchlāuft - von der Kindheit zur Jugend und dann zum Alter -, geht die Seele nach dem Tode in einen anderen Körper ein. Ein besonnener Mensch wird durch einen solchen Wechsel nicht verwirrt." (Bg. 2.13) Der Körper verändert sich, doch sein Bewohner bleibt derselbe. Obwohl das Kind zum Erwachsenen heranwāchst, bleibt das Lebewesen im Körper unverändert. Das Selbst, das als Kind gegenwärtig war, ist jetzt nicht etwa fortgegangen. Medizinische Erkenntnisse bestätigen, daß sich der physische Körper jeden Moment wandelt. So wie die Lebewesen von diesem konstanten Wandel nicht verwirrt werden, gerāt ein erleuchteter Mensch nicht in Verwirrung, wenn der Körper im Augenblick des Todes seinen letzten Wandel erfāhrt. Wer jedoch die Dinge nicht im richtigen Licht sieht, klagt. Im materiellen Dasein wechseln wir andauernd unseren Körper; das
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ist unsere Krankheit. Es ist aber nicht so, daß wir immer zu einem menschlichen Körper überwechseln. Entsprechend unserer Handlungsweise können wir in einen Tierkörper oder in den Körper eines Halbgotts eingehen. Dem Padma Purāna zufolge gibt es 8 400 000 Lebensformen, und nach dem Tode ist es möglich, in jeder von ihnen geboren zu werden. Krsna verspricht jedoch, daß derjenige, der Seine Geburt und Seine Taten wahrhaft versteht, aus dem Kreislauf der Seelenwanderung befreit wird. Wie kann man Krsnas Geburt und Seine Taten in Wahrheit verstehen? Die Antwort darauf finden wir im Achtzehnten Kapitel der Bhagavad-gitā: bhaktyā mām abhijānāti yāvān yas cāsmi tattvatah tato mām tattvato jnātvā visate tad-anantaram „Nur durch hingebungsvollen Dienst kann man Mich so, wie Ich bin, als die Höchste Persönlichkeit Gottes, erkennen. Und wenn man sich durch solche Hingabe vollkommen über Mich bewußt ist, kann man in das Königreich Gottes eingehen." (Bg. 18.55) Hier wird wieder das Wort tattvatah, „in Wahrheit", verwendet. Man kann die Wissenschaft von Krsna in Wahrheit verstehen, wenn man Sein Geweihter wird. Wer kein Gottgeweihter ist und nicht nach Krsna-Bewußtsein strebt, ist außerstande, zu diesem Verstāndnis zu gelangen. Zu Beginn des Vierten Kapitels sagt Krsna zu Arjuna (Bg. 4.3), daß Er ihn in die uralte Wissenschaft des yoga einweiht, weil Arjuna „Mein Geweihter und Mein Freund" ist. Für jemanden, der die Bhagavad-gitā nur auf akademische Weise studiert, bleibt die Wissenschaft von Krsna ein Geheimnis. Die Bhagavad-gitā ist nicht ein Buch, das man einfach im Buchladen kauft, um es dann durch bloße Gelehrsamkeit zu verstehen. Arjuna war kein großer Gelehrter und auch kein Vedāntist, Philosoph, brāhmana oder Asket; er war vielmehr Familienvater und ksatriya (Krieger). Aber dennoch hat Krsna ihn auserkoren, die Bhagavad-gitā zu vernehmen und die erste Autorität in der Schülernachfolge zu sein. Warum? „Weil du Mein Geweihter bist." Um die Bhagavad-gitā und Krsna richtig zu
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verstehen, muß man Krsna-bewußt werden - das ist die Qualifikation. Und was ist Krsna-Bewußtsein? Krsna-Bewußtsein bedeutet, den Spiegel des Geistes von allem Staub zu reinigen, und zwar durch das Chanten von Hare Krsna, Hare Krsna, Krsna Krsna, Hare Hare / Hare Rāma, Hare Rāma, Rāma Rāma, Hare Hare. Wenn wir diesen mantra chanten und aus der Bhagavad-gitā hören, erlangen wir allmählich Krsna-Bewußtsein. Isvarah sarva-bhütānām: Krsna ist immer in unserem Herzen gegenwärtig. Die individuelle Seele und die Überseele sitzen gemeinsam auf dem Baum des Körpers. Die individuelle Seele (jiva) ißt von den Früchten des Baumes, während die Überseele (paramātmā) als Zeuge zuschaut. Wenn die individuelle Seele den Vorgang des hingebungsvollen Dienstes beginnt und allmählich ihr Krsna-Bewußtsein entwickelt, hilft ihr die Überseele, die im Innern weilt, all die Unreinheiten vom Spiegel des Geistes zu entfernen. Krsna ist allen heiligen Menschen ein Freund, und der Versuch, Krsna-bewußt zu werden, ist eine heilige Bemühung. Durch Hören und Chanten - sravanam kirtanam - kann man die Wissenschaft von Krsna und dadurch auch Krsna verstehen. Wer auf diese Weise Krsna erkennt, gelangt im Moment des Todes augenblicklich in Sein Reich, die spirituelle Welt. Die spirituelle Welt wird in der Bhagavad-gitā wie folgt beschrieben: na tad bhāsayate sūryo na sasānko na pāvakah yad gatvā na nivartante tad dhāma paramam mama „Dieses Mein höchstes Reich wird weder von der Sonne noch vom Mond, noch von Feuer oder Elektrizität erleuchtet. Diejenigen, die es erreichen, kehren nie wieder in die materielle Welt zurück." (Bg. 15.6) Die materielle Welt ist immer dunkel; daher benötigen wir Sonne, Mond und Elektrizität. Die Veden mahnen uns eindringlich, nicht in dieser Dunkelheit zu bleiben, sondern uns zur Welt des Lichts zu begeben, zur spirituellen Welt. Der Begriff „Dunkelheit" hat zweierlei Bedeutung: er bedeutet „ohne Licht", aber auch „Unwissenheit".
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Der Höchste Herr besitzt mannigfache Energien. Er braucht nicht in die materielle Welt zu kommen, um irgendwelche Tätigkeiten auszuführen. In den Veden heißt es, daß der Höchste Herr nicht verpflichtet ist, etwas zu tun. Sri Krsna sagt in der Bhagavad-gitā in diesem Zusammenhang: na me pārthāsti kartavyam trisu lokesu kincana nānavāptam avāptavyam varta eva ca karmani „O Sohn Prthās, in allen drei Planetensystemen gibt es keine Arbeit, die Mir vorgeschrieben ist. Weder mangelt es Mir an etwas, noch muß Ich irgend etwas erreichen - und dennoch beschäftige Ich Mich mit der Erfüllung der vorgeschriebenen Pflichten." (Bg. 3.22) Wir sollten also nicht glauben, daß Krsna es nötig habe, in die materielle Welt herabzusteigen und Beschäftigungen nachzugehen. Niemand kommt Krsna gleich oder ist größer als Er; von Natur aus besitzt Er alles Wissen. Er muß Sich nicht Entsagung auferlegen, um Sich Wissen anzueignen. Er muß niemals Wissen empfangen oder erlangen, denn Er ist zu jeder Zeit und unter allen Umstānden voller Wissen. Er spricht die Bhagavad-gitā zu Arjuna, aber Er selbst wurde nie in der Bhagavad-gitā unterwiesen. Wer erkennt, daß dies Krsnas Stellung ist, muß nicht mehr in die materielle Welt, in den Kreislauf von Geburt und Tod, zurückkehren. Wenn wir unter dem Einfluß der Illusion stehen, verbringen wir unser Leben mit dem Versuch, uns an die materielle Welt anzupassen, doch das ist nicht der Sinn des menschlichen Lebens. Menschliches Leben ist dazu bestimmt, die Wissenschaft von Krsna zu verstehen. Unsere materiellen Bedürfnisse sind: das Problem des Essens, des Schlafens, der Fortpflanzung, der Verteidigung und der Befriedigung unserer Sinne. Diese Bedürfnisse haben Mensch und Tier gemein. Die Tiere sind eifrig bemüht, diese Probleme lösen. Wenn nun auch wir uns nur mit der Lösung dieser Probleme abgeben, muß man sich zu Recht fragen: Worin unterscheiden wir uns von den Tieren? Der Mensch hat eine besondere Qualifikation, die es ihm erlaubt, transzendentales Krsna-Bewußtsein zu entwickeln. Wenn er
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aber davon keinen Gebrauch macht, fāllt er in die Kategorie von Tieren. Der Fehler der modernen Zivilisation besteht darin, daß sie zu großen Nachdruck auf die Lösung dieser Überlebensprobleme legt. Als spirituelle Lebewesen wäre es unsere Pflicht, uns von der Verwicklung in Geburt und Tod zu befreien. Deshalb sollten wir uns davor hüten, die einzigartige Gelegenheit des menschlichen Lebens verstreichen zu lassen. Sri Krsna kommt persönlich, um die Bhagavad-gitā zu sprechen und uns zu helfen, gottesbewußt zu werden. Er stellt uns die gesamte materielle Schöpfung zur Verfügung, damit wir Gottesbewußtsein kultivieren. Wenn wir aber die Chance, die uns das Geschenk des menschlichen Lebens bietet, nicht nutzen, um Krsna-Bewußtsein zu entwickeln, werden wir diese seltene Gelegenheit verpassen. Die Kultivierung von Krsna-Bewußtsein ist sehr einfach: sravanarh kirtanam - Hören und Chanten. Wir müssen nur aufmerksam hören, und Erleuchtung ist uns gewiß. Krsna wird uns zweifellos helfen, denn Er befindet sich in uns. Wir müssen uns nur bemühen und uns ein wenig Zeit nehmen. Niemand braucht uns zu fragen, ob wir Fortschritte machen. Wir werden es automatisch wissen, genauso wie ein Hungriger weiß, daß er durch eine volle Mahlzeit gesättigt wurde. Der Vorgang des Krsna-Bewußtseins, das heißt der Selbstverwirklichung, ist eigentlich nicht sehr schwierig. Krsna lehrte ihn Arjuna in der Bhagavad-gitā; und wenn wir die Bhagavad-gitā so wie Arjuna verstehen, können wir ohne Probleme auf die Stufe der Vollkommenheit gelangen. Wenn wir allerdings die Bhagavad-gitā nach unserer eigenen, weltlich-akademischen Denkweise interpretieren, verderben wir alles. Wie erwähnt, ist das Chanten von Hare Krsna eine Methode, um alle Verunreinigungen, welche aus der Berührung mit der Materie entstehen, vom Spiegel des Geistes zu entfernen. Wir bedürfen keiner äußeren Hilfe, um unser Krsna-Bewußtsein wiederzubeleben, denn Krsna-Bewußtsein schlummert im Selbst. Ja, es ist die natürliche Eigenschaft des Selbst. Wir müssen es nur durch das Chanten erwecken. Krsna-Bewußtsein ist eine ewige Tatsache: Es ist weder eine Doktrin noch ein Glaubenssystem, das von irgendeiner Organisation aufgestellt wurde; es findet sich in allen Lebewesen,
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ob Mensch oder Tier. Als Sri Caitanya Mahāprabhu vor rund fünfhundert Jahren durch die Dschungel Südindiens wanderte, chantete Er Hare Krsna, und alle wilden Tiere - die Tiger, die Elefanten und die Rehe - schlossen sich Ihm an und tanzten zu den heiligen Namen. Natürlich spielt hierbei die Reinheit des Chantens die entscheidende Rolle. Wenn wir im Chanten Fortschritte machen, werden wir mit Sicherheit gereinigt werden.
3. KAPITEL
Göttliche Sicht Krsna lehrt uns, wie wir in unserem praktischen Leben Krsna-Bewußtsein entwickeln können. Wir brauchen nicht aufzuhören, unsere Pflicht zu erfüllen und tätig zu sein. Im Gegenteil, wir müssen Tätigkeiten ausführen, aber im Krsna-Bewußtsein. Jeder Mensch hat einen Beruf, doch mit welchem Bewußtsein geht er ihm nach? Jeder glaubt: „Ich muß einen Beruf haben, um meine Familie zu unterhalten." Es gibt kaum jemanden, der nicht in dem Bewußtsein lebt, daß er Gesellschaft, Regierung oder Familie zufriedenstellen muß. Um eine Tätigkeit gut auszuüben, muß man das richtige Bewußtsein haben. Jemand, dessen Bewußtsein aufgewühlt ist und der sich wie ein Verrückter verhālt, ist nicht in der Lage, irgendeiner Pflicht nachzugehen. Wir sollten unsere Pflichten richtig erfüllen, und zwar in dem Bewußtsein, Krsna zufriedenzustellen. Wir brauchen unsere Beschäftigung nicht zu āndern, sollten uns aber darüber bewußt sein, für wen wir arbeiten. Wir müssen all unsere vorgeschriebenen Tätigkeiten ausführen, doch sollten wir uns nicht von kāma, materiellem Verlangen, davontragen lassen. Das Sanskritwort kāma wird in der Bedeutung von Lust, Verlangen oder Sinnenbefriedigung gebraucht. Sri Krsna unterweist uns, nicht für die Befriedigung von kāma, unserer eigenen Lust, zu arbeiten. Die ganze Lehre der Bhagavad-gitā beruht auf diesem Prinzip. Arjuna handelte zu seiner eigenen Zufriedenstellung, als er dem Kampf mit seinen Verwandten aus dem Wege gehen wollte. Krsnas Worte jedoch überzeugten ihn, seine Pflicht zur Zufriedenstellung des Höchsten zu erfüllen. Materiell gesehen mag es sehr fromm erscheinen, daß Arjuna seinen Anspruch auf das Königreich aufgab und sich weigerte, seine Angehörigen zu töten; aber Krsna billigte dies nicht, weil das Motiv von Arjunas Entscheidung darauf be24
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ruhte, seine eigenen Sinne zufriedenzustellen. Ebenso wie Arjuna brauchen auch wir nicht unseren Beruf oder unsere Beschäftigung zu āndern; was verändert werden muß, ist das Bewußtsein. Um das Bewußtsein zu verändern, ist jedoch Wissen erforderlich. Dieses Wissen ist die Erkenntnis: „Ich bin ein Bestandteil Krsnas, ein Bestandteil der höheren Energie Krsnas." Das ist wahres Wissen. Relatives Wissen lehrt uns zum Beispiel, eine Maschine zu reparieren, doch wirkliches Wissen besteht darin, unsere Stellung als Teil Krsnas zu erkennen. Da wir ein Teil sind, ist unsere Freude partiell und hāngt vom Ganzen ab. Meine Hand beispielsweise kann Freude erfahren, wenn sie mit meinem Körper verbunden ist und ihm dient. Es bereitet ihr keine Freude, dem Körper eines anderen zu dienen. Da wir Bestandteile Krsnas sind, liegt unsere Freude darin, Ihm zu dienen. „Ich kann nicht glücklich sein, wenn ich dir diene", denkt jeder. „Ich bin nur glücklich, wenn ich mir selbst diene." Kaum einer aber weiß, wer das Selbst ist: Dieses Selbst ist Krsna. mamaivāmso jiva-loke jiva-bhūtah sanātanah manah-sasthānindriyāni prakrti-sthāni karsati „Die Lebewesen in der bedingten Welt sind Meine ewigen fragmentarischen Teile. Aufgrund ihres bedingten Lebens kämpfen sie sehr schwer mit den sechs Sinnen, zu denen auch der Geist gehört." (Bg. 15.7) Aufgrund der Berührung mit der Materie sind die Lebewesen (jivas) gegenwärtig vom Ganzen abgetrennt. Daher müssen wir danach streben, uns durch das Krsna-Bewußtsein, das latent in uns weilt, wieder mit dem Ganzen zu verbinden. Künstlich versuchen wir, Krsna zu vergessen und unabhängig von Ihm zu leben, aber das ist nicht möglich. Sobald wir unabhängig von Krsna leben wollen, werden wir den Gesetzen der materiellen Natur unterworfen. Wenn man glaubt, man sei von Krsna unabhängig, gerāt man in die Abhängigkeit Seiner illusionierenden Energie, genauso wie man in die Hände der Polizei fāllt, wenn man sich von der Regierung und ihren Gesetzen unabhängig wähnt. Jeder versucht, unabhängig zu
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werden, und das wird māyā oder Illusion genannt. Unabhängigkeit kann man weder auf individueller noch auf kommunaler, sozialer, nationaler oder globaler Ebene jemals erreichen. Erst wenn wir uns unserer Abhängigkeit bewußt werden, besitzen wir echtes Wissen. Das ist die Friedensformel. Heute setzen sich viele Menschen für den Weltfrieden ein, aber sie wissen nicht, wie man diese Friedensformel anwendet. So gibt es trotz jahrelanger Friedensbemühungen der Vereinten Nationen immer noch Krieg. yac cāpi sarva-bhūtānām bijam tad aham arjuna na tad asti vinā yat syān mayā bhūtam carācaram „Des weiteren, o Arjuna, bin Ich der ursprüngliche Same aller Schöpfungen. Es gibt kein Geschöpf - ob beweglich oder unbeweglich -, das ohne Mich existieren kann." (Bg. 10.39) Krsna ist der Besitzer von allem, und deshalb ist Er auch der letztliche Nutznießer und Empfänger der Ergebnisse all unserer Handlungen. Wir halten uns vielleicht für die Besitzer der Früchte unserer Arbeit, aber das ist eine falsche Vorstellung. Wir müssen zur Einsicht gelangen, daß alle Früchte unseres Handelns letztlich Krsna gehören. In einem Büro mögen Hunderte von Menschen arbeiten, doch sie alle wissen, daß der ganze Geschäftsprofit dem Besitzer gehört. Sobald ein Bankangestellter glaubt: „Ich habe so viel Geld. Es gehört mir, ich will es mit nach Hause nehmen", gerāt er in Schwierigkeiten. Wenn wir meinen, all den Reichtum, den wir angesammelt haben, für unsere eigene Sinnenbefriedigung verwenden zu können, handeln wir aus kāma, Lust. Wenn wir hingegen verstehen, daß alles, was wir haben, Krsna gehört, sind wir befreit. In beiden Fāllen haben wir das gleiche Geld in den Händen, doch sobald wir uns für den Besitzer halten, stehen wir unter dem Einfluß māyās. Wer sich völlig bewußt ist, daß alles Krsna gehört, ist wahrhaft weise. isāvāsyam idam sarvam yat kinca jagatyām jagat
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tena tyaktena bhunjitha mā grdhah kasya svid dhanam „Alles Belebte und Unbelebte im Universum steht unter der Kontrolle des Herrn und ist Sein Eigentum. Darum sollte man sich nur die Dinge nehmen, die einem als Anteil zugedacht sind, und man darf nicht andere Dinge nehmen, weiß man wohl, wem sie gehören." (Sri Isopanisad, Mantra 1) Dieses isāvāsya-Bewußtsein - alles gehört Krsna - muß nicht nur auf individueller, sondern auch auf nationaler und globaler Ebene wiedererweckt werden. Dann wird es Frieden geben. Wir lieben es, den Menschenfreund und Altruisten zu spielen, und bemühen uns um ein freundschaftliches Verhältnis zu unseren Landsleuten, unserer Familie und allen Völkern der Erde. Dieses Verhalten beruht aber auf einer falschen Auffassung. Der wahre Freund ist Krsna; wenn wir daher unserer Familie, unserem Land oder der Welt etwas Gutes tun wollen, müssen wir unsere Arbeit Ihm weihen. Ist uns am Wohl unserer Familie gelegen, dann werden wir versuchen, die Familienmitglieder Krsna-bewußt zu machen. So viele Menschen bemühen sich um das Wohl ihrer Familie, aber leider ohne Erfolg. Denn sie erkennen nicht das wirkliche Problem. Wie das Bhāgavatam sagt, sollte man nicht versuchen, Vater, Mutter oder Lehrer zu werden, wenn man nicht imstande ist, seine Kinder vor dem tödlichen Griff der materiellen Natur zu bewahren. Der Vater muß im Wissen über Krsna verankert sein und den festen Vorsatz haben, die ihm anvertrauten Kinder aus dem Kreislauf von Geburt und Tod zu retten. Er sollte entschlossen sein, seine Kinder so zu erziehen, daß sie nicht lānger dem qualvollen Kreislauf von Geburt und Tod unterworfen sind. Um dazu imstande zu sein, muß er selbst im Krsna-Bewußtsein gereift sein. Dann kann er nicht nur seinen Kindern, sondern auch seiner Gesellschaft und seinem Land helfen. Wie soll er aber andere aus den Banden der Unwissenheit befreien, wenn er selbst in ihnen gefangen ist? Bevor man andere befreien kann, muß man sich selbst befreien. Eigentlich ist niemand frei, denn jeder steht unter dem Bann der materiellen Natur. Jemand aber, der sich Krsna ergibt, kann von māyā nicht berührt werden; von allen Menschen ist nur er frei. Im Sonnenlicht gibt es keine Dunkelheit, doch künstliches Licht
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kann flackern und verlöschen. Krsna gleicht dem Sonnenlicht. Wo Er gegenwärtig ist, kann es keine Dunkelheit und Unwissenheit geben. Weise Menschen, mahātmās, verstehen dies. aham sarvasya prabhavo mattah sarvam pravartate iti matvā bhajante mām budhā bhāva-samanvitāh „Ich bin der Ursprung aller spirituellen und materiellen Welten. Alles geht von Mir aus. Die Weisen, die dies vollkommen verstanden haben, beschäftigen sich in Meinem hingebungsvollen Dienst und verehren Mich von ganzem Herzen." (Bg. 10.8) In diesem Vers wird das Wort budha gebraucht, das sich auf einen weisen oder gebildeten Menschen bezieht. Was ist sein Wesensmerkmal? Er weiß, daß Krsna der Ursprung von allem ist, die Quelle aller Emanationen, und daß alles, was er sieht, nur eine Emanation Krsnas ist. In der materiellen Welt spielt das Geschlechtsleben die wichtigste Rolle. Sexuelle Anziehung findet sich in allen Lebensformen, und man mag sich fragen, woher sie kommt. Der Weise versteht, daß diese Neigung in Krsna existiert und daß sie sich in Seiner Beziehung zu den Mädchen von Vraja offenbart. Alles, was sich in der materiellen Welt manifestiert, kann man in Vollkommenheit in Krsna finden. Der Unterschied liegt darin, daß in der materiellen Welt alles in einer verzerrten Form auftritt. In Krsna existieren diese Neigungen und Manifestationen in reinem Bewußtsein, in der spirituellen Dimension. Wer das vollkommen versteht, wird ein reiner Geweihter Krsnas. mahātmānas tu mām pārtha daivim prakrtim āsritāh bhajanty ananya-manaso jnātvā bhūtādim avyayam satatam kirtayanto mām yatantas ca drdha-vratāh namasyantas ca mām bhaktyā nitya-yuktā upāsate
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„O Sohn Prthās, die großen Seelen, die nicht verblendet sind, stehen unter dem Schutz der göttlichen Natur. Sie sind vollständig im hingebungsvollen Dienst beschäftigt, da sie Mich als die Höchste Persönlichkeit Gottes kennen, die ursprünglich und unerschöpflich ist. Ohne Unterlaß preisen sie Meine Herrlichkeit, bemühen sich mit großer Entschlossenheit und verneigen sich vor Mir. So verehren Mich die großen Seelen unaufhörlich mit Hingabe." (Bg. 9.13-14) Wer ist eine große Seele, ein mahātmā? - Ein mahātmā ist jemand, der unter dem Einfluß der höheren Energie steht. Gegenwärtig befinden wir uns unter dem Einfluß von Krsnas niederer Energie. Als Lebewesen nehmen wir eine Zwischenstellung ein: wir können uns einer der beiden Energien zuwenden. Krsna ist völlig unabhängig; und weil wir ein Bestandteil von Ihm sind, besitzen auch wir die Eigenschaft der Unabhängigkeit. Aus diesem Grund haben wir die Wahl, unter welcher Energie wir handeln wollen. Da wir aber kein Wissen von der höheren Energie haben, müssen wir in der niederen Natur bleiben. In einigen Philosophien wird behauptet, daß es keine andere Natur gebe als die, die wir gegenwärtig erfahren, und daß die einzige Lösung sei, sie zu negieren und in die Leere einzugehen. Freilich erreichen wir nie einen Zustand der Leere, denn wir sind Lebewesen. Unsere Existenz hört nicht auf, nur weil wir den Körper wechseln. Bevor wir dem Einfluß der materiellen Natur entkommen können, müssen wir verstehen, wohin wir eigentlich gehören und was unsere Bestimmung ist. Ansonsten werden wir nämlich sagen: „Wir wissen nicht, was höher und was niedriger ist. Wir kennen nichts anderes als diese Welt; also laßt uns für immer hier bleiben." Die Bhagavad-gita gibt uns jedoch Auskunft über die höhere Energie, die höhere Natur. Krsnas Worte gelten für alle Ewigkeit, sie wandeln sich nie. Es spielt keine Rolle, was unsere derzeitige Beschäftigung ist oder was Arjunas Beschäftigung war - wir müssen nur unser Bewußtsein verändern. Gegenwärtig werden wir vom Bewußtsein der Eigennützigkeit gelenkt, aber wir wissen nicht, was wirklich in unserem eigenen Interesse ist, in unserem Selbst-Interesse. Eigentlich geht es uns nicht um unser Selbst-Interesse, sondern um das Interesse un-
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serer Sinne. Was immer wir tun, dient dazu, unsere Sinne zu befriedigen. Dieses Bewußtsein ist es, das gewandelt werden muß. Wir müssen es durch unser wirkliches Selbst-Interesse ersetzen: KrsnaBewußtsein. Wie geschieht das? Wie soll es uns gelingen, jeden Augenblick unseres Lebens Krsna-bewußt zu sein? Eigentlich macht es uns Krsna sehr leicht: raso 'ham apsu kaunteya prabhāsmi sasi-sūryayoh pranavah sarva-vedesu sabdah khe paurusam nrsu „O Sohn Kuntis, Ich bin der Geschmack des Wassers, das Licht der Sonne und des Mondes und die Silbe om in den vedischen mantras; Ich bin der Klang im Äther und die Fähigkeit im Menschen." (Bg.7.8) In diesem Vers beschreibt Sri Krsna, wie wir in allen Lebenslagen vollkommen Krsna-bewußt sein können. Alle Lebewesen müssen Wasser trinken. Der Geschmack des Wassers ist so köstlich, daß Wasser unseren Durst am besten zu stillen scheint. Keine Industrie ist in der Lage, den reinen Geschmack des Wassers herzustellen. Wann immer wir Wasser trinken, können wir uns an Krsna oder Gott erinnern. Wir alle müssen unser ganzes Leben lang täglich Wasser trinken. Wie können wir daher Gott vergessen? Auch das Leuchten des Lichts ist Krsna. Die ursprüngliche Ausstrahlung im spirituellen Himmel, das brahmajyoti, geht von Krsnas Körper aus. Der materielle Himmel ist bedeckt, ja das eigentliche Wesen des materiellen Universums ist Dunkelheit, wie wir sie in der Nacht erfahren. Das Universum wird künstlich durch die Sonne, den Mond und Elektrizität erleuchtet. Woher kommt dieses Licht? Die Sonne erhālt ihr Licht vom brahmajyoti, der hellen Ausstrahlung der spirituellen Welt. In der spirituellen Welt werden Sonne, Mond und Elektrizität nicht benötigt, denn dort wird alles vom brahmajyoti erleuchtet. Wann immer wir auf Erden also das Licht der Sonne sehen, können wir uns an Krsna erinnern. Wenn wir die vedischen mantras chanten, die mit om beginnen, können wir uns ebenfalls an Krsna erinnern. Wie Hare Krsna ist
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om eine Anrufung Gottes, und om ist auch Krsna. Sabdah bedeutet Klang; wann immer wir einen Klang hören, sollten wir uns bewußt sein, daß er die Schwingung des ursprünglichen Klanges ist, des rein spirituellen Klanges om oder Hare Krsna. Jeder Klang, den wir in der materiellen Welt vernehmen, ist nur ein Widerhall dieses spirituellen Urklanges om. Sobald wir Klang hören, sobald wir Wasser trinken, sobald wir Licht sehen, werden wir an Gott erinnert. Darin besteht der Vorgang des Krsna-Bewußtseins. Wenn wir auf diese Weise vierundzwanzig Stunden am Tag an Krsna denken, ist Krsna bei uns. Natürlich begleitet Krsna uns immer; doch sobald wir uns an Ihn erinnern, wird Seine Gegenwart zu einer fühlbaren Tatsache. Es gibt neun verschiedene Vorgānge, um mit Gott in Verbindung zu treten, und der erste ist sravanam, Hören. Beim Lesen der Bhagavad-gitā hören wir die Worte Sri Krsnas, was bedeutet, daß wir tatsāchlich mit Krsna, mit Gott, Gemeinschaft haben. (Wir müssen uns immer vor Augen halten, daß wir Gott meinen, wenn wir von Krsna sprechen.) Je mehr wir mit Gott Gemeinschaft haben und Krsnas Worte und Krsnas Namen hören, desto weniger werden wir von der materiellen Natur verunreinigt. Wer versteht, daß Krsna Klang, Licht, Wasser und so vieles mehr ist, kann Krsna unmöglich ignorieren. Wenn wir uns auf diese Weise an Krsna erinnern, verbleiben wir immer in Seiner Gemeinschaft. Krsnas Gemeinschaft wirkt wie das Sonnenlicht. Wo die Sonne hinscheint, absorbiert sie alle Unreinheiten, und ihre ultravioletten Strahlen beugen Krankheit vor. In der westlichen Medizin wird daher das Sonnenlicht zur Heilung von vielerlei Krankheiten empfohlen, und nach den Veden sollte ein Kranker die Sonne verehren, um gesund zu werden. Auf ähnliche Weise werden all unsere Krankheiten geheilt, wenn wir mit Krsna im Krsna-Bewußtsein Gemeinschaft haben. Durch das Chanten von Hare Krsna können wir mit Krsna Zusammensein, wir können Ihn im Wasser, in der Sonne und im Mond sehen, Ihn im Klang hören und im Wasser kosten. Leider haben wir in unserer gegenwärtigen Lage Krsna vergessen. Jetzt aber müssen wir unser spirituelles Leben wiedererwecken, indem wir uns an Ihn erinnern. Dieser Vorgang von sravanam kirtanam - Hören und Chanten -
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wird auch von Sri Caitanya Mahāprabhu empfohlen. Als Caitanya mit Rāmānanda Rāya sprach, einem großen Geweihten und Freund des Herrn, fragte ihn der Herr nach den Methoden der Selbstverwirklichung. Rāmānanda schlug varnāsrama-dharma, sannyāsa, Entsagung von Arbeit und viele andere Methoden vor, doch Sri Caitanya sagte: „Nein, das alles ist nicht gut genug." Auf diese Weise lehnte Sri Caitanya jeden Vorschlag Rāmānanda Rāyas ab und bat ihn, einen Weg aufzuzeigen, der für die spirituelle Entwicklung besser sei. Schließlich zitierte Rāmānanda Rāya einen vedischen Aphorismus, der empfiehlt, daß man von allen unnötigen Bemühungen ablassen solle, Gott durch gedankliche Spekulation zu erkennen, denn so könne man nicht zur endgültigen Wahrheit vordringen. Die Wissenschaftler zum Beispiel stellen über entfernte Sterne und Planeten Vermutungen an, aber ohne wirkliches Wissen sind sie niemals in der Lage, zu wahren Erkenntnissen zu gelangen. Man kann sein ganzes Leben lang spekulieren und niemals zu einem Schluß kommen. Besonders sinnlos ist es, über Gott zu spekulieren. Daher empfiehlt das Srimad-Bhāgavatam, alle Arten der Spekulation aufzugeben und statt dessen demütig zu werden, indem man erkennt, daß man nur ein unbedeutendes Geschöpf und diese Erde nichts anderes als ein winziger Punkt im riesigen Universum ist. New York City mag zwar groß erscheinen, aber wenn man sich bewußt macht, daß die Erde nur ein winziger Planet ist, daß auf der Erde die Vereinigten Staaten nur ein kleiner Fleck sind, daß in den Vereinigten Staaten New York City nur ein kleiner Fleck ist und daß in New York das Individuum nur eines unter Millionen ist, dann kann man begreifen, daß man letztlich nicht so wichtig ist. Angesichts unserer Bedeutungslosigkeit gegenüber Gott und dem Universum sollten wir nicht künstlich hochmütig, sondern demütig sein. Wir sollten uns sehr davor hüten, der Froschphilosophie zum Opfer zu fallen. Es gab einmal einen Frosch in einem Brunnen. Als ein Freund ihm vom Atlantischen Ozean berichtete, fragte der Frosch: „Was hat es denn mit diesem Atlantischen Ozean auf sich?" „Er ist ein riesengroßes Gewässer", erwiderte sein Freund. „Wie groß? Ist er doppelt so groß wie dieser Brunnen?" „O nein, viel, viel
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größer", antwortete sein Freund. „Wieviel größer? Etwa zehnmal so groß?" Und so fuhr der Frosch mit seinen Berechnungen fort. Wie soll er aber jemals die unermeßlichen Weiten des gewaltigen Ozeans erfassen können? Die Fähigkeiten, die Erfahrungen und das Spekulationsvermögen des Menschen sind immer begrenzt. Daher kann der Mensch nur solche Froschphilosophien hervorbringen. Das SrimadBhāgavatam empfiehlt, die Methode der Spekulation aufzugeben, da man nur seine Zeit vergeudet, wenn man den Höchsten auf diese Weise erkennen möchte. Was sollen wir tun, nachdem wir mit unseren Spekulationen aufgehört haben? Das Bhāgavatam rät uns, demütig zu werden und die Botschaft Gottes in einer ergebenen Haltung zu hören. Diese Botschaft kann in der Bhagavad-gitā und in anderen vedischen Schriften gefunden werden, aber auch in der Bibel und im Koran - in jeder echten heiligen Schrift; man kann sie auch von einer verwirklichten Seele vernehmen. Der entscheidende Punkt ist, daß man nicht spekulieren, sondern einfach die Botschaft Gottes hören sollte. Was bewirkt solches Hören? Wenn man den transzendentalen Worten Gottes Gehör schenkt, läßt Sich der Herr, der nie durch irgendeine Macht oder Gewalt erobert werden kann, durch Liebe erobern, unabhängig davon, wer oder was man ist: ob reich oder arm, Amerikaner, Europäer oder Inder, brāhmana, sudra oder sonst etwas. Arjuna war Krsnas Freund; aber obwohl Krsna die Höchste Persönlichkeit Gottes ist, wurde Er Arjunas Wagenlenker, ein einfacher Diener. Arjuna liebte Krsna, und Krsna erwiderte auf diese Weise seine Liebe. Als Kind nahm Krsna im Spiel die Schuhe Seines Vaters Nanda Mahārāja und setzte sie auf Sein Haupt. Es gibt Leute, die sich sehr bemühen, mit Gott eins zu werden, doch eigentlich können wir mehr erlangen als das: wir können Gottes Vater werden. Obwohl Gott natürlich der Vater aller Geschöpfe ist und selbst keinen Vater hat, nimmt Er Seinen liebenden Geweihten als Vater an. Krsna willigt ein, Sich von Seinem Geweihten aus Liebe erobern zu lassen. Um dies zu erreichen, muß man nur mit aller Aufmerksamkeit die Botschaft des Herrn hören. Im Siebten Kapitel der Bhagavad-gitā erwāhnt Sri Krsna weitere
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Möglichkeiten, die es uns erlauben, Ihn in jeder Lebenssituation wahrzunehmen: punyo gandhah prthivyām ca tejas cāsmi vibhāvasau jivanam sarva-bhūtesu tapas cāsmi tapasvisu „Ich bin der ursprüngliche Duft der Erde, und Ich bin die Hitze im Feuer. Ich bin das Leben in allem Lebendigen, und Ich bin die Entsagung der Asketen."(Bg. 7.9) Punyo gandhah heißt soviel wie „Düfte". Nur Krsna vermag Düfte und Aromen zu schaffen. Heute werden verschiedene Düfte und Parfüms synthetisch hergestellt, doch sie sind nie so gut wie die, die ursprünglich in der Natur vorkommen. Wenn wir einen guten, natürlichen Duft riechen oder wenn wir die Schönheiten der Natur erblicken, können wir uns erinnern: „Hier ist Gott; hier ist Krsna." Wenn wir etwas Außergewöhnliches, Mächtiges oder Wunderbares sehen, können wir denken: „Das ist Krsna." Wann immer wir in einem Baum, einer Pflanze, einem Tier oder einem Menschen ein Lebenssymptom sehen, sollten wir verstehen, daß dieses Leben ein Teil Krsnas ist, denn sobald der spirituelle Funke, der ein Bestandteil des Herrn ist, den Körper verlāßt, zerfāllt dieser. bijam mām sarva-bhūtānām viddhi pārtha sanātanam buddhir buddhimatām asmi tejas tejasvinām aham „O Sohn Prthās, wisse, daß Ich der ursprüngliche Same alles Existierenden, die Intelligenz der Intelligenten und die Macht aller Māchtigen bin." (Bg. 7.10) Hier wird erneut darauf hingewiesen, daß Krsna das Leben von allem ist, was lebt. Somit können wir Gott auf Schritt und Tritt wahrnehmen. Viele Menschen fragen: „Kannst du mir Gott zeigen?" - Ja, natürlich; denn Gott kann auf vielerlei Weise wahrgenommen werden. Doch wie soll man Gott jemandem zeigen, der seine Augen verschließt und sagt: „Ich will Gott nicht sehen."
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Das Wort bijam im obigen Vers bedeutet Same, und dieser Same wird als ewig (sanatanam) bezeichnet. Was ist der Ursprung eines Baumes? Es ist der Same, und dieser Same ist letztlich ewig. Der Same des Daseins ruht in jedem Lebewesen. Der menschliche Körper zum Beispiel entwickelt sich im Mutterleib, kommt als Sāugling auf die Welt und wāchst vom Kind zum Erwachsenen heran; er durchlāuft viele Veränderungen, doch der Same des inneren Seins bleibt. Daher ist er sanatanam. Wāhrend wir unmerklich unseren Körper jeden Augenblick, jede Sekunde wechseln, wandelt sich der bijam, der Same oder spirituelle Funke, nicht. Krsna erklärt, daß Er dieser ewige Same in allen Daseinsformen ist. Da Er auch die Intelligenz eines intelligenten Menschen ist, kann man ohne Krsnas Gnade nicht außergewöhnlich intelligent werden. Jeder bemüht sich, klüger als die anderen zu sein, doch ohne Krsnas Gnade ist das nicht möglich. Wann immer wir also einem besonders intelligenten Menschen begegnen, sollten wir verstehen: „Diese Intelligenz ist Krsna." Ebenso ist Krsna der Einfluß eines einflußreichen Menschen. balam balavatām cāham kāma-rāga-vivarjitam dharmāviruddho bhūtesu kāmo 'smi bharatarsabha „Ich bin die Stārke der Starken, frei von Leidenschaft und Verlangen, und Ich bin das Geschlechtsleben, das nicht im Widerspruch zu den religiösen Prinzipien steht, o Herr der Bhāratas." (Bg. 7.11) Der Elefant und der Gorilla sind sehr starke Tiere, aber auch sie bekommen ihre Stärke von Krsna. Der Mensch kann solche Stārke nicht aufgrund eigener Bemühung erlangen; doch wenn Krsna einem Menschen Seine Gunst schenkt, kann dieser tausendmal stārker werden als ein Elefant. Der große Krieger Bhima, der in der Schlacht von Kuruksetra kämpfte, soll die Stārke von zehntausend Elefanten besessen haben. Man sollte auch in Begierde oder Lust (kāma), die nicht den religiösen Prinzipien widerspricht, Krsna sehen. Was ist mit „Lust" gemeint? Lust bedeutet im allgemeinen Geschlechtsleben, aber hier bezieht sich kāma nur auf Geschlechtsleben, das nicht gegen die religiösen Prinzipien verstößt, das heißt
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auf Geschlechtsverkehr zur Zeugung guter Kinder. Wenn jemand gute, Krsna-bewußte Kinder zeugen kann, darf er Tausende Male Geschlechtsverkehr haben; aber wenn er nur imstande ist, Kinder in die Welt zu setzen, die im Bewußtsein von Katzen und Hunden aufgezogen werden, ist sein Geschlechtsleben als irreligiös anzusehen. In religiösen und zivilisierten Gesellschaften ist die Ehe als Zeichen dafür gedacht, daß ein Ehepaar geschlechtlich verkehren darf, um gute Kinder zu zeugen. Aus diesem Grund gilt Geschlechtsverkehr in der Ehe als religiös, wāhrend er außerhalb der Ehe als irreligiös gilt. Eigentlich gibt es keinen Unterschied zwischen einem sannyāsi im Zölibat und einem grhastha (Haushälter), vorausgesetzt, daß sein Geschlechtsleben auf religiösen Grundsātzen beruht. ye caiva sāttvikā bhāvā rājasās tāmasās ca ye matta eveti tān viddhi na tv aham tesu te mayi „Wisse, daß alle Daseinsstufen - ob die der Tugend, Leidenschaft oder Unwissenheit - eine Manifestation Meiner Energie sind. In gewissem Sinne bin Ich alles, doch Ich bin unabhängig. Ich stehe nicht unter dem Einfluß der Erscheinungsweisen der materiellen Natur im Gegenteil, sie befinden sich in Mir." (Bg. 7.12) Man könnte Krsna fragen: „Du sagst, Du seist Klang, Wasser, Licht, Duft, der Same von allem, Stārke und kāma, Lust. Heißt das, daß Du nur in der Erscheinungsweise der Tugend existierst?" In der materiellen Welt gibt es die Erscheinungsweisen der Tugend, der Leidenschaft und der Unwissenheit. Bisher hat Krsna Sich als das Gute dargestellt, beispielsweise als ehelichen Geschlechtsverkehr im Einklang mit den religiösen Prinzipien. Ist Krsna aber in den anderen Erscheinungsweisen nicht gegenwärtig? Als Antwort darauf sagt Krsna, daß alles, was in der materiellen Welt zu sehen ist, auf das Zusammenspiel der drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur zurückzuführen ist. Was immer wir sehen, ist eine Kombination von Tugend, Leidenschaft und Unwissenheit, und diese drei Zustānde werden ausnahmslos „von Mir erzeugt". Weil Krsna sie erzeugt, befinden sie sich in Ihm, aber Er befindet Sich nicht in
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ihnen; denn Krsna ist transzendental und steht jenseits der drei Erscheinungsweisen. Schlechte und böse Dinge entstehen aus Unwissenheit, aber wenn sie von Krsna angewandt werden, sind sie in gewisser Hinsicht auch Krsna. Ein Beispiel mag dies veranschaulichen: Ein Elektrotechniker erzeugt im Kraftwerk Strom. Bei uns zu Hause erfahren wir diesen Strom als Kālte im Kühlschrank und als Hitze im Elektroherd, doch im Kraftwerk ist der Strom weder heiß noch kalt. Die Wirkungsweisen der materiellen Energie mögen für die Lebewesen verschieden sein, doch für Krsna sind sie es nicht. Deshalb scheint Krsna manchmal nach den Prinzipien der Leidenschaft und Unwissenheit zu handeln. Für Krsna aber existiert nichts außer Krsna, genauso wie für den Elektrotechniker der Strom nur Elektrizität ist und nichts anderes; er unterscheidet nicht zwischen „kalter" und „heißer" Elektrizität. Alles wird von Krsna hervorgebracht. Dies wird vom Vedāntasutra bestätigt: athāto brahma-jijnāsā, janmādy asya yatah. „Alles geht von der Höchsten Absoluten Wahrheit aus." Was das Lebewesen für gut oder böse hālt, gilt nur für das bedingte Lebewesen. Da Krsna jedoch nicht bedingt ist, existiert für Ihn weder gut noch böse. Während wir aufgrund unserer Bedingtheit unter Dualitäten zu leiden haben, ist für Ihn alles vollkommen.
4. KAPITEL
Die Narren und die Weisen Krsna offenbart Sich uns, aber wir fühlen uns nicht zu Ihm hingezogen. Wie kommt das? Den Grund hierfür nennt Krsna selbst: daivi hy esā guna-mayi mama māyā duratyayā mām eva ye prapadyante māyām etām taranti te „Diese Meine göttliche Energie, die aus den drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur besteht, ist sehr schwer zu überwinden. Aber wer sich Mir ergibt, kann sie sehr leicht hinter sich lassen." (Bg. 7.14) Die materielle Welt wird von den drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur durchdrungen. Alle Lebewesen werden von diesen Erscheinungsweisen beeinflußt: Werden sie vorwiegend von der Erscheinungsweise der Tugend beeinflußt, nennt man sie brāhmanas; werden sie von der Erscheinungsweise der Leidenschaft beeinflußt, nennt man sie ksatriyas; werden sie von den Erscheinungsweisen der Leidenschaft und Unwissenheit beeinflußt, nennt man sie vaisyas, und werden sie von Unwissenheit beeinflußt, nennt man sie sudras. Diese Ordnung wird nicht nach Geburt oder sozialem Status künstlich auferlegt, sondern steht im Einklang mit den gunas, den Erscheinungsweisen der Natur, in denen man handelt. cātur-varnyam mayā srstam guna-karma-vibhāgasah 38
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tasya kartaram api mam viddhy akartāram avyayam „In Entsprechung zu den drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur und der Arbeit, die mit ihnen verbunden ist, wurden die vier Einteilungen der menschlichen Gesellschaft von Mir geschaffen. Und obwohl Ich der Schöpfer dieses Systems bin, solltest du wissen, daß Ich dennoch der Nichthandelnde bin, denn Ich bin unwandelbar." (Bg. 4.13) Dieses System hat nichts mit dem entarteten Kastensystem in Indien zu tun, denn Sri Krsna betont: guna-karma-vibhāgasah. Die Menschen werden nach der Erscheinungsweise (guna), in der sie handeln, klassifiziert, und dies trifft auf alle Menschen im Universum zu. Wir müssen uns bewußt sein, daß alles, was Krsna sagt, nicht begrenzt, sondern universal gültig ist. Er bezeichnet Sich als Vater aller Lebewesen; sogar die Wasserlebewesen, die Bāume, die Pflanzen, die Würmer, die Vögel, die Bienen und die anderen Tiere gelten als Seine Kinder. Sri Krsna weist darauf hin, daß das gesamte Universum durch das Zusammenspiel der drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur in Illusion gehalten wird und daß wir unter dem Bann dieser Illusion stehen. Aus diesem Grund können wir nicht verstehen, was Gott ist. Was ist das Wesen dieser Illusion, und wie kann man sie überwinden? Auch dies wird in der Bhagavad-gitā erklärt: daivi hy esā guna-mayi mama māyā duratyayā mām eva ye prapadyante māyām etām taranti te „Diese Meine göttliche Energie, die aus den drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur besteht, ist sehr schwer zu überwinden. Aber wer sich Mir ergibt, kann sie sehr leicht hinter sich lassen." (Bg. 7.14) Niemand kann sich durch gedankliche Spekulation aus der Verstrickung der drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur lösen. Die drei gunas haben große Macht und sind schwer zu überwinden.
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Merken wir es nicht, wie wir uns im Griff der materiellen Natur befinden? Das Wort guna (Erscheinungsweise) bedeutet auch „Seil". Wenn jemand von drei starken Seilen gefesselt wird, ist er zweifellos der Freiheit beraubt. Uns fesseln an Händen und Füßen die starken Seile der Tugend, Leidenschaft und Unwissenheit. Sollen wir deshalb alle Hoffnung aufgeben? Nein, denn hier verspricht Sri Krsna, daß jeder, der sich Ihm ergibt, sogleich frei wird. Wenn man auf die eine oder andere Weise Krsna-bewußt wird, erlangt man Befreiung. Wir alle haben eine Beziehung zu Krsna, da wir Seine Söhne sind. Ein Sohn mag mit seinem Vater eine Auseinandersetzung haben, aber er kann die Beziehung nicht abbrechen. Wenn man ihn im Laufe seines Lebens fragen wird, wer er sei, muß er antworten: „Ich bin der Sohn von soundso." Diese Beziehung kann nicht abreißen. Wir alle sind Söhne Gottes und haben eine ewige Beziehung zu Ihm, doch wir haben sie vergessen. Krsna ist der Mächtigste, der Berühmteste, der Reichste, der Schönste und der Allwissende, und Er ist voller Entsagung. Wir sind die Freunde einer solch großen Persönlichkeit, doch wir haben es vergessen. Wenn der Sohn eines reichen Mannes seinen Vater vergißt, sein Zuhause verlāßt und nicht mehr ganz bei Sinnen ist, muß er unter Umstānden auf der Straße schlafen oder Geld für sein tägliches Brot erbetteln; aber das alles ist nur die Folge seines Vergessens. Wenn nun jemand kommt und ihm mitteilt, daß er nur deshalb leidet, weil er das Heim seines Vaters verließ, und daß sein Vater, ein reicher Mann und Eigentümer gewaltiger Besitztümer, seine Heimkehr ersehnt, erweist sich diese Person als wahrer Wohltäter. In der materiellen Welt erfahren wir ständig drei Arten von Leiden: Leiden, die von Körper und Geist, von anderen Lebewesen oder von Naturkatastrophen herrühren. Im Bann der Illusion, der drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur, wollen wir diese Leiden nicht wahrhaben. Doch wir sollten uns immer bewußt sein, daß wir in der materiellen Welt viele Leiden ertragen müssen. Wer ein genügend entwickeltes Bewußtsein besitzt und intelligent ist, fragt nach der Ursache seines Leidens. „Ich will kein Leid. Warum leide ich dann?" Wenn diese Frage in uns auftaucht, besteht die Gelegenheit, Krsna-bewußt zu werden. Sobald wir uns Krsna ergeben, heißt Er uns herzlich willkommen.
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Es ist so, als käme ein verlorenes Kind zu seinem Vater zurück und sagte: „Mein lieber Vater, aus einem Mißverständnis heraus verließ ich deinen Schutz und habe gelitten. Nun kehre ich zu dir zurück." Der Vater umarmt seinen Sohn und erwidert voller Güte: „Mein lieber Junge, komm zu mir! Ich sehnte mich so nach dir all die Tage, die du fort warst, und jetzt bin ich überglücklich, daß du zurückgekommen bist." In der gleichen Lage befinden wir uns: Wir müssen uns Krsna ergeben, und das ist nicht sehr schwierig. Fāllt es dem Sohn schwer, sich dem Vater zu fügen? Es ist ganz natürlich, und der Vater wartet stets darauf, seinen Sohn zu empfangen. Wie könnte er beleidigt sein und ihn zurückweisen? Wenn wir uns vor unserem Höchsten Vater verneigen und Seine Füße berühren, ist das nicht zu unserem Schaden; es ist auch nicht schwierig. Vielmehr ist es glorreich für uns. Warum sollten wir es nicht tun? Indem wir uns Krsna ergeben, gelangen wir augenblicklich unter Seinen Schutz und werden von allen Leiden befreit. Dies wird von sämtlichen Schriften bestätigt. Am Ende der Bhagavad-gitā sagt Sri Krsna: sarva-dharmān parityajya mām ekam saranam vraja aham tvām sarva-pāpebhyo moksayisyāmi mā sucah „Gib alle Arten von Religion auf und ergib dich einfach Mir! Ich werde dich von allen sündhaften Reaktionen befreien. Fürchte dich nicht!" (Bg. 18.66) Wenn wir uns Gott zu Füßen werfen, beschützt Er uns. Von da an brauchen wir nichts mehr zu befürchten. Solange die Kinder unter der Obhut der Eltern stehen, haben sie keine Angst, weil sie wissen, daß die Eltern ihnen Schutz gewāhren. Mām eva ye prapadyante: Krsna verspricht, daß diejenigen, die sich Ihm ergeben, keinen Grund zur Furcht haben. Warum gehorchen aber die Menschen Krsna nicht, wenn es so einfach ist, sich Ihm hinzugeben? Statt dessen stellen viele sogar die Existenz Gottes an sich in Frage und behaupten, daß Natur und Wissenschaft alles seien und daß es keinen Gott gebe. Der sogenannte wissenschaftliche Fortschritt der Zivilisation bedeutet nur, daß die Menschheit immer verrückter wird. Ihre Krankheit wird
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nicht geheilt, sondern noch verschlimmert. Die Menschen kümmern sich nicht um Gott, sondern lassen sich auf die materielle Natur ein, deren Aufgabe es ist, uns Tritte in Form der dreifachen Leiden zu geben. Diese Tritte versetzt sie uns ständig, vierundzwanzig Stunden am Tag. Doch wir haben uns so sehr daran gewöhnt, getreten zu werden, daß wir uns damit abgefunden haben und es für normal halten. Wir sind zwar auf unsere Bildung sehr stolz, sagen aber zur materiellen Natur: „Vielen Dank für die Tritte. Bitte, mach weiter so!" So irregeführt, glauben wir sogar, daß wir die materielle Natur bezwungen hātten. Aber wie soll das möglich sein? Die Natur fügt uns immer noch die Leiden der Geburt, des Alters, der Krankheit und des Todes zu. Hat irgend jemand diese Probleme gelöst? Welchen Fortschritt haben wir wirklich gemacht, was Wissen und Zivilisation angeht? Obwohl wir uns unter den strengen Gesetzen der materiellen Natur befinden, denken wir immer noch, wir hātten sie uns Untertan gemacht. Das nennt man māyā. Es mag schwierig sein, sich dem Vater unseres materiellen Körpers unterzuordnen, denn sein Wissen und seine Macht sind begrenzt. Krsna kann man aber nicht mit einem gewöhnlichen Vater vergleichen. Er ist unbegrenzt und verfügt über vollkommenes Wissen, vollkommene Macht, vollkommenen Reichtum, vollkommene Schönheit, vollkommenen Ruhm und vollkommene Entsagung. Sollten wir uns nicht glücklich schātzen, daß wir zu solch einem Vater gehen und uns Seines Eigentums erfreuen können? Aber niemand scheint sich darum zu kümmern, und jeder propagiert heutzutage, es gebe keinen Gott. Warum suchen die Menschen nicht nach Gott? Die Antwort gibt der nächste Vers der Bhagavad-gitā: na mām duskrtino mūdhāh prapadyante narādhamāh māyayāpahrta-jnānā āsuram bhāvam āsritāh „Jene gottlosen Menschen, die abgestumpft und dumm sind, die die Niedrigsten der Menschheit sind, deren Wissen der Illusion anheimgefallen ist und die das atheistische Wesen von Dāmonen haben, ergeben sich Mir nicht." (Bg. 7.15)
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Das sind die Kategorien, denen die Narren zuzuordnen sind. Ein duskrti handelt stets gegen die Anweisungen der Schriften. Die moderne Zivilisation hat kein anderes Ziel, als die Gebote der Schriften zu übertreten. Ein frommer Mensch hingegen zeichnet sich dadurch aus, daß er dies nicht tut. Es muß einen Maßstab geben, um zwischen duskrti, einem Übeltäter, und sukrti, einem tugendhaften Menschen, zu unterscheiden. Jedes zivilisierte Land besitzt religiöse Schriften. Ob sie nun christlich, hinduistisch, islamisch oder buddhistisch sind, ist nicht so wichtig. Ausschlaggebend ist, daß es ein maßgebendes Buch gibt, eine heilige Schrift. Wer ihren Geboten nicht folgt, gilt als Gesetzloser. Im obigen Vers werden folgende Kategorien von duskrtis aufgezāhlt: müdha bezieht sich auf einen erstrangigen Dummkopf, narādhama auf denjenigen, der auf einer niedrigen Stufe des menschlichen Daseins steht, māyayāpahrta-jnāna auf denjenigen, dessen Wissen der Illusion (māyā) anheimgefallen ist, und āsuram bhāvam āsritāh auf einen ausgesprochenen Atheisten. Obwohl es keine Nachteile mit sich bringt, sich dem Vater zu ergeben, tun die Menschen, die diesen Kategorien angehören, es nie. Infolgedessen werden sie unentwegt von den Beauftragten des Vaters bestraft. Sie müssen geschlagen, mit dem Stock geprügelt und kräftig getreten werden sie müssen leiden. Wie ein Vater seinen ungehorsamen Sohn maßregeln muß, so muß auch die materielle Natur uns gewisse Strafen auferlegen. Gleichzeitig jedoch nährt uns die Natur, indem sie uns mit Nahrungsmitteln und den anderen Lebensnotwendigkeiten versorgt. Beides findet gleichzeitig statt, da wir die Kinder des wohlhabendsten Vaters sind. Krsna ist gütig, auch wenn wir uns Ihm nicht ergeben. Wir werden vom Vater bestens versorgt, aber dennoch begeht ein duskrti unrechtmäßige Taten. Man ist dumm, wenn man auf weitere Bestrafungen besteht, und man befindet sich auf einer niedrigen Stufe des menschlichen Daseins, wenn man die menschliche Lebensform nicht gebraucht, um Krsna zu verstehen. Wenn jemand sein Leben nicht dazu benutzt, die Beziehung zu seinem wirklichen Vater wiederzuerwecken, hat er als Mensch versagt. Tiere essen und schlafen, verteidigen und paaren sich und sterben. Sie machen keinen Gebrauch von höherem Bewußtsein, da dies
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in den niederen Lebensformen nicht möglich ist. Wenn ein Mensch den Beschäftigungen der Tiere nachgeht und seine Fähigkeit, das Bewußtsein zu erheben, nicht wahrnimmt, fāllt er von der Stufe des menschlichen Daseins herab und schafft die Voraussetzung für eine Geburt als Tier im nächsten Leben. Durch Krsnas Gnade haben wir einen menschlichen Körper mit hochentwickelter Intelligenz bekommen: Warum sollte Er uns aber nochmals solch eine Möglichkeit geben, wenn wir sie uns nicht zunutze machen? Wir müssen uns im klaren sein, daß der menschliche Körper das Ergebnis einer Jahrmillionen langen Evolution ist und daß sich uns im menschlichen Dasein die Gelegenheit bietet, dem Kreislauf von Geburt und Tod zu entrinnen, der uns durch acht Millionen Lebensarten führt. Diese Möglichkeit bekommen wir durch Krsnas Gnade. Sind wir nicht die niedrigsten unter den Menschen, wenn wir sie nicht wahrnehmen? Man mag zwar einen Hochschulabschluß von irgendeiner Universitāt erhalten, aber dieses weltliche Wissen steht unter dem Bann der illusionierenden Energie. Wer wirklich intelligent ist, wird seine Intelligenz einsetzen, um zu verstehen, wer er ist, wer Gott ist, was die materielle Natur ist, warum er in der materiellen Natur leidet und was das Heilmittel für dieses Leid ist. Wir können unsere Intelligenz gebrauchen, um ein Auto, ein Radio oder einen Fernseher für unsere Sinnenbefriedigung herzustellen, doch das hat mit Wissen nichts zu tun. Es ist vielmehr vergeudete Intelligenz. Der Mensch hat die Intelligenz bekommen, um die Probleme des Lebens zu verstehen; aber leider wird die Intelligenz heute mißbraucht. Die Leute halten es für einen Fortschritt an Wissen, wenn sie Autos herstellen und fahren können. Die Menschen gelangten allerdings auch von einem Ort zum anderen, bevor es das Auto gab. Nur der Komfort und die technischen Möglichkeiten haben zugenommen, doch diese bringen wiederum zusätzliche Probleme mit sich, wie etwa Luftverschmutzung und verstopfte Straßen. Das ist māyā: wir versuchen Neuerungen zu entwickeln, aber diese schaffen ihrerseits viele neue Probleme. Anstatt unsere Energie mit der Entwicklung unzähliger Neuerungen und moderner Annehmlichkeiten zu verschwenden, sollten wir unsere Intelligenz sinnvoll einsetzen, um zu verstehen, wer und was
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wir sind. Wir wollen nicht leiden; daher sollten wir herausfinden, warum uns Leid aufgezwungen wird. Mit unserem sogenannten Wissen waren wir nur in der Herstellung von Atombomben erfolgreich - das heißt in der Beschleunigung des Vernichtungsprozesses. Wir sind stolz, da wir dies für einen Fortschritt an Wissen halten; aber wirklicher Fortschritt würde bedeuten, etwas herzustellen, was den Tod aufzuhalten vermag. Obwohl der Tod bereits in der materiellen Natur existiert, wollen wir ihn noch beschleunigen, indem wir uns eifrig bemühen, alle Menschen auf einen Schlag töten zu können. Dies nennt man māyayāpahrta-jnāna, Wissen, das der Illusion zum Opfer gefallen ist. Die asuras - die Dāmonen und erklärten Atheisten - fordern Gott offen heraus. Aber wenn es unseren Höchsten Vater nicht gäbe, würden wir das Licht der Welt nicht erblicken. Wie kommen wir also dazu, Ihn in Frage zu stellen? In den Veden heißt es, daß es zwei Klassen von Menschen gibt: die devas und die asuras, die Halbgötter und die Dāmonen. Die Geweihten des Höchsten Herrn werden devas genannt, weil sie ein göttliches Wesen haben, wohingegen man diejenigen, die der Autorität des Höchsten trotzen, asuras oder Dāmonen nennt. Diese zwei Klassen findet man immer in der menschlichen Gesellschaft. So wie es vier Arten gottloser Menschen gibt, die sich Krsna nie ergeben, gibt es vier Arten vom Glück begünstigter Menschen, die Ihn verehren; diese werden im nächsten Vers beschrieben: catur-vidhā bhajante mām janāh sukrtino 'rjuna ārto jijnāsur arthārthi jnāni ca bharatarsabha „O Bester unter den Bhāratas [Arjuna], vier Arten frommer Menschen beginnen Mir in Hingabe zu dienen - der Notleidende, derjenige, der Reichtum begehrt, der Neugierige und derjenige, der nach Wissen vom Absoluten strebt." (Bg. 7.16) Die materielle Welt ist voller Elend, und Fromme wie Gottlose sind ihm gleichermaßen ausgesetzt. Die Kālte des Winters behandelt jeden gleich und kümmert sich nicht darum, ob einer fromm oder
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gottlos, reich oder arm ist. Der Unterschied zwischen dem Frommen und dem Gottlosen besteht jedoch darin, daß der Fromme an Gott denkt, wenn er in Not gerāt. Häufig kommt es vor, daß ein Mensch, der leidet, in die Kirche geht und betet: „O mein Herr, ich bin in Not. Bitte, hilf mir!" Obwohl ein solcher Mensch um materielle Hilfe bittet, ist er immer noch als fromm anzusehen, weil er sich in seiner Not an Gott gewandt hat. Dasselbe gilt für einen Armen, der in die Kirche geht und betet: „Mein lieber Herr, bitte gib mir Geld!" Die Neugierigen sind für gewöhnlich intelligent und wollen den Dingen auf den Grund gehen. „Was ist Gott?" fragen sie und betreiben dann wissenschaftliche Forschungen, um es herauszufinden. Auch sie gelten als fromm, da ihre Nachforschungen das richtige Ziel verfolgen. Der Mensch, der nach Wissen strebt, wird jnāni genannt: jemand, der seine wesensgemäße Stellung erkannt hat. Ein jnāni mag eine unpersönliche Vorstellung von Gott haben; aber weil er beim Höchsten, der Absoluten Wahrheit, Zuflucht sucht, ist auch er als fromm anzusehen. Diese vier Arten von Menschen bezeichnet man als sukrtl oder fromm, weil sie sich alle Gott zuwenden. tesām jnāni nitya-yukta eka-bhaktir visisyate priyo hi jnānino 'tyartham aham sa ca mama priyah „Von diesen ist derjenige, der im vollen Wissen verankert ist und sich immer im reinen hingebungsvollen Dienst beschäftigt, der beste. Denn Ich bin ihm sehr lieb, und er ist Mir lieb." (Bg. 7.17) Wer versucht, auf philosophische Weise das Wesen Gottes zu ergründen, und sich bemüht, Krsna-bewußt zu werden (visisyate), ist von den vier Arten von Menschen, die sich Gott nāhern, am weitesten fortgeschritten. Krsna betont, daß ein solcher Mensch Ihm sehr lieb ist, weil er kein anderes Anliegen hat, als Gott zu verstehen. Diejenigen, die zu den anderen drei Arten gehören, sind niedriger einzustufen. Niemand braucht zu Gott zu beten, um Ihn um etwas zu bitten. Wer das macht, ist töricht, denn er weiß nicht, daß der allwissende Gott in seinem Herzen weilt und Sich sehr wohl bewußt ist, wann er leidet oder Geld braucht. Der Weise erkennt dies und
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betet nicht um Linderung materieller Leiden. Vielmehr betet er, um Gott zu verherrlichen und anderen zu bezeugen, wie groß Gott ist; er betet nicht für seine eigenen Anliegen, für Brot, Kleidung und Unterkunft. Wenn der reine Gottgeweihte leidet, sagt er: „Lieber Herr, dies ist Deine Güte. Du hast mich nur ins Leid gestürzt, um mich zu berichtigen. Ich sollte in weit größeres Leid gestürzt werden, doch in Deiner Barmherzigkeit hast Du mein Leiden auf ein Mindestmaß verringert." Das ist die Sichtweise eines reinen Gottgeweihten, der sich durch nichts beirren lāßt. Wer sich im Krsna-Bewußtsein befindet, kümmert sich weder um weltliches Leid noch um Schmach oder Ruhm, weil er über all diesem steht. Er weiß genau, daß Kummer, Ehre und Schmach sich nur auf den Körper beziehen, daß er aber nicht der Körper ist. Sokrates zum Beispiel, der an die Unsterblichkeit der Seele glaubte, wurde zum Tode verurteilt, und auf die Frage, wie er beerdigt werden wolle, erwiderte er: „Erst einmal müßt ihr mich zu fassen kriegen." Wer also weiß, daß er nicht der Körper ist, verliert nie seine innere Ruhe, denn ihm ist klar, daß die Seele nicht gefangen, gefoltert, getötet oder begraben werden kann. Wer mit der Wissenschaft von Krsna vertraut ist, ist sich vollkommen bewußt, daß er nicht der Körper ist, sondern ein Bestandteil Krsnas, daß seine einzig wirkliche Beziehung die mit Krsna ist und daß er sich irgendwie von den drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur fernhalten muß, obwohl er sich in einem materiellen Körper befindet. Ihm geht es nicht um die Erscheinungsweisen der Tugend, Leidenschaft oder Unwissenheit, sondern um Krsna. Wer das versteht, ist ein jnāni, ein weiser Mensch, und er ist Krsna sehr lieb. Ein Notleidender kann Gott wieder vergessen, sobald er zu Wohlstand gelangt; aber ein jnāni, der die wirkliche Stellung Gottes kennt, wird Ihn niemals vergessen. Es gibt eine Gruppe von jnānis, die Unpersönlichkeitsanhänger, die behaupten, daß man sich eine Form Gottes ausdenken müsse, da es zu schwierig sei, das Unpersönliche zu verehren. Sie sind nicht wirkliche jnānis, sondern Narren. Niemand kann sich eine Form Gottes ausdenken, da Gott unermeßlich groß ist. Man kann sich vielleicht irgendeine Form einbilden, aber das ist bloße Spekulation und hat nichts mit der wirklichen Gestalt Gottes zu tun. Die
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einen denken sich irgendeine Form Gottes aus, und die anderen verneinen sie. Diejenigen, die sich eine Form ausdenken, werden manchmal zu Bilderstürmern. Wāhrend der Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Moslems in Indien brachen einige Hindus in die Moscheen ein und zerstörten die Heiligtümer; die Moslems vergalten Gleiches mit Gleichem. Und so glaubten sie: „Wir haben den Hindu-Gott getötet", wāhrend die Hindus glaubten: „Wir haben den Moslem-Gott getötet." Zur Zeit von Gandhis Widerstandsbewegung gingen viele Inder auf die Straße, demolierten die Briefkāsten und dachten, sie würden den Postdienst der Regierung lahmlegen. Leute mit einer solchen Mentalität sind keine jnānis. Die Religionskriege zwischen Hindus und Moslems, Christen und Nicht-Christen wurden alle auf der Grundlage von Unwissenheit geführt. Wer Wissen besitzt, weiß, daß Gott einer ist: Er ist nicht Moslem, Hindu oder Christ. In unserer Vorstellung schaffen wir uns verschiedenste Bilder von Gott, aber das sind alles nur Einbildungen. Der Weise versteht die transzendentale Natur Gottes. Jemand, der weiß, daß Gott von den materiellen Erscheinungsweisen nie berührt wird, kennt Gott wahrhaftig. Gott ist immer bei uns - in unserem Herzen. Auch wenn wir den Körper verlassen, begleitet uns Gott; und wenn wir einen anderen Körper annehmen, folgt Er uns dorthin, um zu sehen, was wir tun. Wann werden wir uns Ihm zuwenden? Er wartet immerfort. Sobald wir uns Gott zuwenden, sagt Er: „Mein lieber Sohn, komm! Sa ca mama priyah - du bist Mir ewig lieb. Nun wendest du dein Angesicht Mir wieder zu, und Ich bin sehr froh." Der Weise, der jnāni, versteht die Wissenschaft von Gott in Wahrheit. Wer nur zur Einsicht gelangt: „Gott ist gut", befindet sich auf einer Vorstufe; weiter fortgeschritten ist, wer wirklich erkennt, wie groß und gut Gott ist. Dieses Wissen ist im Srimad-Bhāgavatam und in der Bhagavad-gitā zu finden. Wer tatsāchlich an Gott interessiert ist, sollte die Wissenschaft von Gott, die Bhagavad-gitā, studieren. idam tu te guhyatamam pravaksyāmy anasūyave jnānam vijnāna-sahitam yaj jnātvā moksyase 'subhāt
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„Die Höchste Persönlichkeit Gottes sprach: Mein lieber Arjuna, weil du Mich niemals beneidest, werde Ich dir dieses vertraulichste Wissen und dessen Verwirklichung offenbaren. Wenn du es verstehst, wirst du von den Leiden des materiellen Daseins befreit." (Bg. 9.1) Das Wissen über Gott, das in der Bhagavad-gitā vermittelt wird, ist sehr subtil und vertraulich. Es ist voller jnāna, metaphysischer Weisheit, und vijnāna, wissenschaftlicher Einsicht; und es ist ebenso voller Geheimnisse. Damit wir dieses Wissen verstehen können, muß es von Gott persönlich oder von Seinem echten Stellvertreter vermittelt werden. Daher sagt Sri Krsna, daß Er Sich immer dann inkarniert, wenn die Wissenschaft von Gott falsch verstanden wird. Wissen ist keine Gefühlssache. Hingabe ist eine Wissenschaft, sie ist nicht sentimental. Srila Rūpa Gosvāmi sagt: „Eine Zurschaustellung von Spiritualität ohne Berücksichtigung des vedischen Wissens ist für die Gesellschaft lediglich eine Störung." Den Nektar der Hingabe muß man mit Vernunft, Wissen und Beweisen kosten und ihn dann an andere weitergeben. Man sollte nicht glauben, daß Krsna-Bewußtsein sentimentale Schwärmerei sei. Das Singen und Tanzen ist völlig wissenschaftlich. Im Krsna-Bewußtsein verbinden sich Wissenschaft und liebevoller Austausch. Krsna ist dem Weisen sehr lieb, und der Weise ist Krsna sehr lieb. Krsna wird unsere Liebe tausendfach erwidern. Welches Vermögen haben wir begrenzte Geschöpfe, Krsna zu lieben? Krsnas Liebe jedoch ist unfaßbar und unbegrenzt.
5. KAPITEL
Die Kraft des Wunsches udārāh sarva evaite jnāni tv ātmaiva me matam āsthitah sa hi yuktātmā mam evānuttamām gatim „All diese Geweihten sind zweifellos edle Seelen, doch derjenige, der im Wissen über Mich verankert ist, ist Mir so lieb wie Mein eigenes Selbst. Weil er in Meinem transzendentalen Dienst tätig ist, ist es ihm sicher, daß er Mich, das höchste und vollkommenste Ziel, erreicht." (Bg. 7.18) Hier sagt Krsna, daß alle Menschen, die zu Ihm kommen, ob aus Leid, Geldnot oder Neugierde, Ihm willkommen sind; aber von ihnen ist Ihm der Weise am liebsten. Die anderen sind Ihm willkommen, weil sie im Laufe der Zeit, wenn sie auf dem Pfad zu Gott fortschreiten, auf dieselbe Stufe wie der Weise gelangen können. Im allgemeinen jedoch kommt es anders: Wenn jemand des Geldes wegen in die Kirche geht und der erhoffte Profit ausbleibt, zieht er den Schluß, daß es unsinnig sei, sich an Gott zu wenden, und bricht die Verbindung mit der Kirche ab. Nähert man sich Gott mit Hintergedanken, so besteht diese Gefahr. Berichten zufolge gingen beispielsweise wāhrend des Zweiten Weltkriegs viele Frauen deutscher Soldaten in die Kirche und beteten um die sichere Heimkehr ihrer Ehemänner; als sie jedoch erfuhren, daß diese im Kampf gefallen waren, wurden sie zu Atheisten. Auf diese Weise möchten wir Gott zu unserem Befehlsempfänger machen; und wenn Er unsere Befehle nicht ausführt, behaupten wir, es gebe Ihn nicht. Das ist die Folge von Gebeten mit materiellen Motiven. 50
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In diesem Zusammenhang gibt es die Geschichte eines fünfjährigen Jungen namens Dhruva, der ein Königssohn war. Im Laufe der Zeit wurde sein Vater, der König, seiner Mutter überdrüssig und setzte sie als Königin ab. Hierauf heiratete er eine andere Frau und machte sie zur Königin. So bekam Dhruva eine Stiefmutter. Doch diese war sehr neidisch auf ihn; und eines Tages, als Dhruva auf dem Schoß seines Vaters saß, schmähte sie ihn: „Du darfst nicht auf dem Schoße deines Vaters sitzen, weil du nicht von mir geboren wurdest." Als sie Dhruva vom Schoß seines Vaters zerrte, wurde der Junge sehr zornig. Er war der Sohn eines ksatriya, und ksatriyas sind bekannt für ihr aufbrausendes Wesen. Dhruva faßte das Verhalten der Stiefmutter als eine große Demütigung auf und ging zu seiner Mutter, die abgesetzt worden war. „Liebe Mutter", sagte er, „meine Stiefmutter hat mich beleidigt! Sie hat mich vom Schoß meines Vaters heruntergezogen." „Lieber Sohn", erwiderte die Mutter, „was kann ich tun? Ich bin hilflos dein Vater kümmert sich nicht mehr um mich." „Wie kann ich jetzt Rache üben?" fragte der Knabe. „Mein lieber Junge, alleine bist du hilflos. Nur wenn dir Gott hilft, kannst du dich rächen." „Wo ist denn Gott?" fragte Dhruva begeistert. „Ich weiß nur, daß viele Weise, die Gott sehen wollen, in den Dschungel und in die Wālder gehen", antwortete seine Mutter. „Sie unterziehen sich schweren Entsagungen und Bußen, um Gott dort zu finden." Auf der Stelle ging Dhruva in den Wald und wollte von den Tigern und Elefanten wissen: „Bist du Gott? Bist du etwa Gott?" So befragte er alle Tiere. Da Sri Krsna Dhruvas Wißbegierde sah, schickte Er Nārada Muni, damit er der Sache nachgehe. Nārada begab sich rasch in den Wald und fand dort Dhruva. „Mein lieber Junge", sagte Nārada, „du gehörst einer Königsfamilie an. Du bist nicht imstande, all diese Entsagungen und Bußen zu erdulden. Bitte, kehre nach Hause zurück! Deine Mutter und dein Vater sehnen sich sehr nach dir." „Bitte versuche mich nicht auf diese Weise von meinem Ziel abzubringen", erwiderte der Knabe. „Wenn du etwas über Gott weißt oder mir verraten kannst, wie ich Gott finden kann, sage es mir bitte. Andernfalls gehe fort und störe mich nicht!" Als Nārada sah, wie entschlossen Dhruva war, weihte er ihn als
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Auf dem Weg zu Krsna
Schüler ein und gab ihm den mantra: om namo bhagavate vāsudevāya. Als Dhruva diesen mantra chantete, erreichte er die Vollkommenheit, und Gott erschien vor ihm: „Mein lieber Dhruva, was wünschst du? Du kannst von Mir haben, was immer du möchtest." „Mein lieber Herr", erwiderte der Junge, „ich nahm schwere Entsagungen auf mich, nur um das Königreich und das Land meines Vaters zu erlangen, doch jetzt darf ich Dich sehen! Wie habe ich das verdient? Selbst den großen Weisen und Heiligen ist es nicht möglich, Dich zu sehen. Ich habe mein Heim verlassen, um lediglich nach Glasscherben und Abfall zu suchen; statt dessen aber fand ich den kostbarsten Diamanten. Nun bin ich zufrieden und brauche Dich um nichts mehr zu bitten." Wer sich also aus Armut oder Leid mit der gleichen Unerschütterlichkeit wie Dhruva Gott zuwendet und fest entschlossen ist, Gott zu sehen und Seine Segnungen zu empfangen, wird nichts Materielles mehr begehren, sobald er tatsāchlich Gott von Angesicht zu Angesicht erblickt. Er erkennt die Torheit materiellen Besitzstrebens und wendet sich von der Illusion ab und der Wirklichkeit zu. Wenn man wie Dhruva Mahārāja im Krsna-Bewußtsein verankert ist, wird man völlig zufrieden und begehrt nichts mehr. Der jnāni, der Weise, hat erkannt, daß materielle Dinge von unbeständigem Wesen sind. Er weiß, daß materielles Gewinnstreben aus drei Gründen problematisch ist: Man will Profit aus seiner Arbeit ziehen und für seinen Reichtum Bewunderung und Ruhm ernten. Der Weise ist sich immer darüber im klaren, daß all dies sich nur auf den Körper bezieht und vergeht, wenn der Körper vergeht. Wenn der Körper stirbt, ist man nicht mehr ein reicher Mann, sondern eine spirituelle Seele, und man muß seiner Handlungsweise gemäß in einen anderen Körper eingehen. Die Gitā sagt, daß ein besonnener Mensch dadurch nicht verwirrt wird, denn er sieht alles im richtigen Licht. Warum sollte er sich dann um materiellen Wohlstand bemühen? Seine Einstellung lautet: „Ich habe eine ewige Verbindung mit Krsna, dem Höchsten Herrn. Nun will ich diese Beziehung so sehr vertiefen, daß Krsna mich zurück in Sein Königreich holt." Die Schöpfung bietet uns alles, was erforderlich ist, um unsere Beziehung zu Krsna wiederzuerwecken und zu Ihm zurückzukehren.
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Das sollte unsere Lebensaufgabe sein. Gott sorgt für alles, was wir brauchen: Land, Getreide, Früchte, Milch, Unterkunft und Kleidung. Wir müssen nur ein friedfertiges Leben führen und Krsna-Bewußtsein kultivieren. Das sollten wir zum Ziel unseres Lebens machen. Gott gewāhrt uns Nahrung, Unterkunft, Schutz und Geschlechtsleben. Wir sollten damit zufrieden sein und nicht immer mehr begehren. Die beste Zivilisation ist die, die der Maxime folgt: „Einfach leben und erhaben denken." Es ist nicht möglich, Essen oder Geschlechtsverkehr in einer Fabrik herzustellen. Das und alles, was wir sonst noch brauchen, wird von Gott zur Verfügung gestellt. Unsere Aufgabe ist es, diese Dinge zu nutzen und gottesbewußt zu werden. Obwohl Gott uns alle Möglichkeiten gab, in Frieden auf Erden zu leben, Krsna-Bewußtsein zu kultivieren und schließlich zu Ihm zurückzukehren, sind wir im gegenwärtigen Zeitalter unglückselig. Die Lebenszeit der Menschen ist kurz, und unzählige Menschen haben nichts zu essen, kein Obdach und kein Eheleben oder können sich nicht gegen die Unbilden der Natur verteidigen. Das ist auf den Einfluß des Kali-Zeitalters zurückzuführen. Angesichts der furchtbaren Situation in diesem Zeitalter betonte Sri Caitanya Mahāprabhu die absolute Notwendigkeit, ein spirituelles Leben zu führen. Und wie können wir das tun? Sri Caitanya Mahāprabhu gibt uns die Formel: harer nāma harer nāma harer nāmaiva kevalam kalau nāsty eva nāsty eva nāsty eva gatir anyathā „Chante immer Hare Krsna!" Ob du in einer Fabrik oder in der Hölle bist, in einer Hütte oder einem Wolkenkratzer - das spielt keine Rolle. Chante immer: Hare Krsna, Hare Krsna, Krsna Krsna, Hare Hare / Hare Rāma, Hare Rāma, Rāma Rāma, Hare Hare. Es kostet nichts; kein Glaube, keine Kaste, keine Hautfarbe stellen ein Hindernis dar: jeder kann es tun. Chante nur und höre! Wer auf die eine oder andere Weise mit dem Krsna-Bewußtsein in Berührung kommt und diesem Vorgang unter der Führung eines echten Lehrers folgt, wird mit Gewißheit zu Gott zurückkehren.
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Auf dem Weg zu Krsna bahūnām janmanām ante jnānavān mām prapadyate vāsudevah sarvam iti sa mahātmā su-durlabhah
„Wer nach vielen Geburten und Toden tatsächlich im Wissen verankert ist, ergibt sich Mir, da er weiß, daß Ich die Ursache aller Ursachen und daß Ich alles bin. Solch eine große Seele ist sehr selten." (Bg. 7.19) Der Versuch, die Wissenschaft von Gott durch philosophische Nachforschungen zu erkennen, zieht sich über viele Geburten hinweg. Gotteserkenntnis ist sehr einfach und gleichzeitig sehr schwierig. Menschen, die Krsnas Wort als Wahrheit akzeptieren, haben es einfach; aber wer durch Forschung und Wissenserwerb zur Erkenntnis gelangen möchte, ist nach Beendigung seiner langwierigen Forschungsarbeit gezwungen, sich seinen eigenen Glauben zu schaffen. Dieser Vorgang dauert viele Geburten. Es gibt verschiedene Arten von Transzendentalisten (tattvavit), die die Absolute Wahrheit kennen. Als die Absolute Wahrheit bezeichnen die Transzendentalisten das, was frei von Dualität ist. In der Absoluten Wahrheit gibt es keine Dualität, alles befindet sich auf der gleichen Ebene. Wer das wahrhaft versteht, wird tattvavit genannt. Krsna erklärt, daß die Absolute Wahrheit in drei Aspekten erkannt wird: Brahman (die unpersönliche Brahman-Ausstrahlung), Paramātmā (die lokalisierte Überseele) und Bhagavān, die Höchste Persönlichkeit Gottes. Somit gibt es drei Blickwinkel, aus denen man die Absolute Wahrheit betrachten kann. Wenn man einen Berg aus einer großen Entfernung betrachtet, nimmt man ihn aus einem bestimmten Blickwinkel wahr; wenn man näherkommt, erkennt man die Bäume des Berges und ihr Laubwerk, und wenn man auf den Berg steigt, findet man eine große Vielfalt von Bäumen, Pflanzen und Tieren vor. Obgleich das Ziel dasselbe ist, haben die Weisen aufgrund verschiedener Blickwinkel auch verschiedene Vorstellungen von der Absoluten Wahrheit. Ein weiteres Beispiel ist das der Sonnenstrahlen, der Sonne und des Sonnengottes. Wer sich in den Sonnenstrahlen befindet, kann nicht behaupten, er sei bereits auf der Sonne. Doch in der besten Position, die Sonne zu kennen,
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ist derjenige, der sich direkt in der Sonne befindet. Die Sonnenstrahlen kann man mit der alldurchdringenden brahmajyoti;-Ausstrahlung vergleichen, die örtlich manifestierte Sonne mit der lokalisierten Überseele und den Sonnengott, der in der Sonne residiert, mit der Persönlichkeit Gottes. So wie wir auf der Erde eine große Vielfalt von Lebewesen vorfinden, gibt es in der Sonne, wie aus den vedischen Schriften hervorgeht, ebenfalls eine Vielzahl von Lebewesen; ihre Körper sind allerdings aus Feuer gemacht, so wie die unsrigen aus Erde. In der materiellen Natur unterscheidet man fünf grobstoffliche Elemente: Erde, Wasser, Feuer, Luft und Raum. Auf verschiedenen Planeten findet man unterschiedliche Atmosphären vor, da jeweils eines dieser fünf Elemente vorherrscht. Die Lebewesen auf verschiedenen Planeten besitzen Körper, die jeweils aus dem dort vorherrschenden Element bestehen. Wir sollten nicht denken, daß alle Planeten dieselben Lebensbedingungen aufweisen; sie gleichen sich jedoch darin, daß sie in der einen oder anderen Form aus diesen fünf Elementen bestehen. Auf einigen Planeten überwiegt Erde, auf anderen Feuer, Wasser, Luft oder Raum. Aus diesem Grund sollten wir nicht glauben, daß es auf einem Planeten kein Leben gebe, nur weil er nicht vorwiegend aus Erde besteht oder seine Atmosphäre nicht der auf unserem Planeten entspricht. Aus den vedischen Schriften erfahren wir, daß es unzählige Planeten gibt, die von Lebewesen verschiedener Körperformen bewohnt werden. So wie wir uns durch materielle Bemühungen qualifizieren können, zu verschiedenen materiellen Planeten zu gelangen, können wir aufgrund von Qualifikation den spirituellen Planeten erreichen, auf dem der Höchste Herr residiert. yānti deva-vratā devān pitrn yānti pitr-vratāh bhütāni yānti bhūtejyā yānti mad-yājino 'pi mām „Wer die Halbgötter verehrt, wird unter den Halbgöttern geboren; wer die Vorfahren verehrt, geht zu den Vorfahren; wer die Geister und Gespenster verehrt, wird unter solchen Wesen geboren, und wer Mich verehrt, wird mit Mir leben." (Bg. 9.25)
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Wer versucht, auf die höheren Planeten zu gelangen, kann sie erreichen, und wer versucht, auf Goloka Vrndāvana, den Planeten Krsnas, zu gelangen, kann auch ihn erreichen, und zwar durch den Vorgang des Krsna-Bewußtseins. Bevor wir ein Land, zum Beispiel Indien, besuchen, erkundigen wir uns darüber, denn wenn wir die Beschreibung eines Ortes hören, stellt das unsere erste Erfahrung dar. Wenn wir also etwas über den höchsten Planeten, auf dem Gott lebt, erfahren wollen, müssen wir hören. Es ist nicht möglich, einfach ein Experiment zu machen und dorthin zu gehen. Die vedische Literatur aber bietet uns viele Beschreibungen des höchsten Planeten. In der Brahma-samhitā heißt es beispielsweise: cintāmani-prakara-sadmasu kalpa-vrksalaksāvrtesu surabhir abhipālayantam laksmi-sahasra-sata-sambhrama-sevyamānam govindam ādi-purusam tarn aham bhajāmi „Ich verehre Govinda, den ursprünglichen Herrn und ersten Schöpfer, der in einem Reich, das aus spirituellen Edelsteinen besteht, umgeben von Millionen von Wunschbäumen, Kühe hütet, die alle Wünsche erfüllen. Ihm dienen mit großer Liebe und Ehrerbietung Hunderttausende von laksmis und gopis." Es gibt noch viele andere detaillierte Beschreibungen, insbesondere in der Brahma-samhitā. Die Transzendentalisten werden nach dem Aspekt der Absoluten Wahrheit eingestuft, auf den sie sich konzentrieren. Die Unpersönlichkeitsanhänger, die ihre Gedanken auf das Brahman richten, werden brahmavādis genannt. Jemand, der die Absolute Wahrheit zu erkennen sucht, verwirklicht im allgemeinen zuerst das brahmajyoti. Diejenigen, die über den Paramātmā (Überseele), die im Herzen lokalisierte Form des Herrn, meditieren, werden paramātmāvādis genannt. Der Höchste Herr weilt durch Seine vollständige Erweiterung im Herzen eines jeden, und Seine Gestalt kann durch Meditation und Konzentration wahrgenommen werden. Er befindet Sich nicht nur im Herzen aller Lebewesen, sondern auch in jedem Atom der Schöpfung. Diese Paramātmā-Erkenntnis ist die zweite Stufe. Die dritte und höchste Stufe ist die Erkenntnis Bhagavāns,
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der Höchsten Persönlichkeit Gottes. Weil es drei Hauptstufen der Erkenntnis gibt, gelangt man nicht innerhalb eines einzigen Lebens zur Höchsten Absoluten Wahrheit. Bahünām janmanām ante. Wenn man allerdings vom Glück begünstigt ist, kann man das höchste Ziel in einer Sekunde erreichen. Doch für gewöhnlich braucht man viele, viele Jahre und viele, viele Geburten, um Gott zu erkennen. aham sarvasya prabhavo mattah sarvam pravartate iti matvā bhajante mām budhā bhāva-samanvitāh „Ich bin der Ursprung aller spirituellen und materiellen Welten. Alles geht von Mir aus. Die Weisen, die dies vollkommen verstanden haben, beschäftigen sich in Meinem hingebungsvollen Dienst und verehren Mich von ganzem Herzen." (Bg. 10.8) Auch das Vedānta-sütra bestätigt, daß die Absolute Wahrheit derjenige ist, von dem alles kommt. Wenn wir davon überzeugt sind, daß Krsna die Quelle von allem ist, und Ihn verehren, überwinden wir unser weltliches Dasein innerhalb einer Sekunde. Wer jedoch keinen Glauben hat und sagt: „Ich will aber mit eigenen Augen sehen, wer Gott ist", muß von Stufe zu Stufe gehen, indem er erst die unpersönliche Brahman-Ausstrahlung verwirklicht und dann den Paramātmā, den lokalisierten Aspekt, bis er schließlich auf die höchste Stufe gelangt, wo er die Höchste Persönlichkeit Gottes erkennt. Man sollte sich aber bewußt sein, daß dieser Weg zeitraubender ist. Wenn man nach vielen Jahren des Forschens die Absolute Wahrheit erkennt, kommt man zu dem Schluß: vāsudevah sarvam iti. „Vāsudeva ist alles, was es gibt." Vāsudeva ist ein Name Krsnas, der bedeutet: derjenige, der überall lebt. Angesichts der Erkenntnis, daß Vāsudeva die Wurzel von allem ist, ergibt man sich Ihm (mām prapadyate). Diese Hingabe ist das endgültige Ziel; entweder gibt man sich sogleich hin oder erst nach vielen Leben der philosophischen Bemühung. In beiden Fällen muß man sich ergeben und erkennen: „Gott ist groß, und ich bin Ihm untergeordnet." Da der Weise dies versteht, ergibt er sich augenblicklich und wartet nicht erst darauf, unzählige Male wiedergeboren zu werden.
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Ihm ist bewußt, daß der Höchste Herr dieses Wissen aus Seiner grenzenlosen Barmherzigkeit mit den bedingten Seelen offenbart. Wir alle sind bedingte Seelen, die die dreifachen Leiden der materiellen Welt zu erdulden haben. Jetzt bietet uns der Höchste Herr die Gelegenheit, diesen Leiden durch den Vorgang der Hingabe zu entfliehen. Wenn der Herr, die Höchste Persönlichkeit, das endgültige Ziel ist und man sich Ihm ergeben muß, stellt sich die Frage, warum es auf der Welt so viele verschiedene Arten der Verehrung gibt. Diese Frage wird im nächsten Vers beantwortet: kāmais tais tair hrta-jnānāh prapadyante 'nya-devatāh tam tam niyamam āsthāya prakrtyā niyatāh svayā „Diejenigen, deren Intelligenz von materiellen Wünschen gestohlen ist, ergeben sich Halbgöttern und folgen, jeder seiner eigenen Natur entsprechend, bestimmten Regeln und Vorschriften der Verehrung." (Bg. 7.20) Es gibt auf der Welt viele verschiedene Arten von Menschen, die alle unter dem Einfluß verschiedener Erscheinungsweisen der materiellen Natur handeln. Im allgemeinen streben die Menschen nicht nach Befreiung. Wenn sie sich für Spiritualität interessieren, dann nur, weil sie sich aus geistigen Kräften irgendwelche Gewinne erhoffen. In Indien ist es nichts Ungewöhnliches, daß jemand zu einem svāmi geht und ihn bittet: „Svāmlji, könntest du mir nicht etwas Medizin geben? Ich bin krank." Er denkt, weil der Arzt zu teuer ist, wende er sich besser an einen svāmi, der Wunder wirken kann. In Indien besuchen manche svāmis auch die Hāuser der Leute und predigen: „Wenn du mir eine Unze Gold gibst, mache ich dir daraus einhundert Unzen Gold." Und die Leute denken dann: „Ich habe fünf Unzen Gold; ich werde sie ihm geben und fünfhundert Unzen dafür bekommen." Mit diesem Trick sammelt der svāmi alles Gold im Dorf ein und verschwindet. Das ist unsere Krankheit: Wenn wir zu einem svāmi, in einen Tempel oder in eine Kirche gehen, ist unser Herz voller materieller Wünsche. Wir wollen aus dem spirituellen
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Leben materiellen Gewinn ziehen, und deswegen praktizieren wir yoga, um uns bei guter Gesundheit zu halten. Gesund werden können wir jedoch auch durch regelmäßige Übungen und eine geregelte Diät. Warum aber praktizieren wir dennoch yoga? Der Grund ist: kāmais tais tair hrta-jnānāh. Wir haben den materiellen Wunsch, uns fit zu halten, um das Leben zu genießen. Deshalb gehen wir in die Kirche und machen Gott zu unserem Befehlsempfänger. Aus materiellen Motiven verehren die Menschen vielerlei Halbgötter. Sie haben keine Ahnung, wie sie sich vom Materiellen befreien können, und sie wollen aus der materiellen Welt den größtmöglichen Nutzen ziehen. In den vedischen Schriften finden wir viele Empfehlungen: Wenn man zum Beispiel eine Krankheit heilen möchte, verehrt man die Sonne; wenn ein Mādchen einen guten Ehemann wünscht, verehrt es Siva; wenn man nach Gelehrtheit strebt, verehrt man die Göttin Sarasvati, und wenn man schön werden möchte, verehrt man wieder einen anderen Halbgott. Oft gewinnen daher die Menschen in der westlichen Welt den Eindruck, die Hindus seien polytheistisch. Aber eigentlich gilt diese Anbetung nicht Gott, sondern den Halbgöttern. Wir sollten nicht glauben, daß die Halbgötter Gott seien. Es gibt nur einen Gott, doch es gibt viele Halbgötter, die Lebewesen sind wie wir. Die Halbgötter unterscheiden sich freilich von uns durch ihre beträchtliche Macht. Könige, Präsidenten und Diktatoren sind Menschen wie wir, aber sie sind außerordentlich mächtig. Um ihre Gunst zu erlangen und uns ihre Macht zunutze zu machen, verehren wir sie auf die eine oder andere Weise. Die Bhagavad-gitā allerdings verurteilt die Verehrung der Halbgötter. Der oben zitierte Vers stellt klar, daß Menschen aus kāma oder weltlicher Lust die Halbgötter anbeten. Das materielle Leben basiert nur auf Lust: Wir wollen die materielle Welt genießen, und wir lieben sie, weil wir unsere Sinne befriedigen möchten. Diese Lust ist eine verzerrte Widerspiegelung unserer Liebe zu Gott. Unserem ursprünglichen Wesen nach sind wir dazu geschaffen, Gott zu lieben; da wir aber Gott vergessen haben, lieben wir Materie. Wir richten unsere Liebe entweder auf Materie oder auf Gott. Diese Neigung zu lieben können wir niemals aufgeben. Wir sehen oft, daß jemand, der keine Kinder hat, eine
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Katze oder einen Hund liebt. Warum? - Weil jeder etwas lieben will und muß. Deshalb schenken die Menschen unter dem Einfluß der Illusion Katzen und Hunden ihr Vertrauen und ihre Liebe. Die Liebe gibt es immer, sie wird aber in der materiellen Welt zur Lust verzerrt. Wenn diese Lust unbefriedigt bleibt, werden wir zornig; wenn wir zornig werden, verfallen wir der Illusion, und wenn wir der Illusion verfallen sind, sind wir verloren. Diesen Ablauf müssen wir umkehren und Lust zu Liebe wandeln. Lieben wir Gott, so lieben wir alles. Lieben wir Gott hingegen nicht, können wir nichts lieben. Wir mögen es für Liebe halten, aber es ist lediglich eine idealisierte Form von Lust. Diejenigen, die zu Hunden der Lust geworden sind, haben - so heißt es - allen Verstand verloren: kāmais tais tair hrtajnānāh. In den Schriften finden sich viele Regeln und Vorschriften für die Verehrung der Halbgötter. Warum aber empfiehlt die vedische Literatur diese Art von Verehrung? - Weil die Notwendigkeit dazu besteht. Auch durch Lust motivierte Menschen suchen nach der Möglichkeit, etwas zu lieben. Da die Halbgötter als die Bevollmächtigten des Höchsten Herrn anerkannt sind, kann man durch ihre Verehrung allmählich auch sein Krsna-Bewußtsein entwickeln. Darin besteht der Sinn der Halbgottverehrung. Aber welche Hoffnung besteht für jemanden, der durch und durch atheistisch ist und ungehorsam und rebellisch gegenüber jedweder Autorität? Mit anderen Worten, die Verehrung der Halbgötter ist ein guter Anfang, um Gehorsam gegenüber einer höherstehenden Persönlichkeit zu erlernen. Wenn wir uns jedoch unmittelbar der Verehrung des Höchsten Herrn zuwenden, besteht für uns keine Notwendigkeit, die Halbgötter zu verehren. Wer den Höchsten Herrn direkt verehrt, hat großen Respekt vor den Halbgöttern; er braucht sie jedoch nicht zu verehren, weil er weiß, daß er die höchste Autorität über den Halbgöttern verehrt, die Höchste Persönlichkeit Gottes. Ein Gottgeweihter ist ohnehin immer respektvoll; er achtet selbst eine Ameise, ganz zu schweigen von den Halbgöttern. Er ist sich bewußt, daß alle Lebewesen Bestandteile des Höchsten Herrn sind und nur verschiedene Rollen spielen. Aufgrund ihrer Beziehung zum Höchsten Herrn muß man allen
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Lebewesen Achtung entgegenbringen. Deshalb spricht ein Gottgeweihter andere mit „Prabhu" an, was „mein lieber Herr, mein lieber Meister" bedeutet. Ergebenheit ist eine Qualität, die einen Geweihten des Herrn auszeichnet. Gottgeweihte sind gütig und gehorsam und haben alle guten Eigenschaften. Wenn man ein Gottgeweihter wird, entfalten sich automatisch alle guten Eigenschaften. Von Natur aus ist das Lebewesen vollkommen, doch weil es von Lust verunreinigt wird, entwickelt es schlechte Eigenschaften. Wie ein Bestandteil des Goldes auch Gold ist, so ist jeder Bestandteil des Vollkommenen ebenfalls vollkommen. om pūrnam adah pūrnam idam pūrnāt pūrnam udacyate pūrnasya pūrnam ādāya pūrnam evāvasisyate „Der Herr, die Persönlichkeit Gottes, ist vollkommen und vollständig. Weil Er vollkommen ist, sind all Seine Emanationen, wie diese Erscheinungswelt, als ein vollständiges Ganzes vollkommen ausgestattet. Alles, was das vollständige Ganze hervorbringt, ist ebenfalls in sich vollständig. Da Er das vollständige Ganze ist, bleibt Er, obgleich unzählige vollständige Einheiten von Ihm ausgehen, vollständig und unvermindert." (Sri Isopanisad, Anrufung) Aufgrund materieller Verunreinigung kommt das vollkommene Lebewesen zu Fall, doch der Vorgang des Krsna-Bewußtseins wird es wieder zur Vollkommenheit führen. Dadurch wird man wirklich glücklich und geht nach dem Verlassen des materiellen Körpers in das spirituelle Königreich ein, wo man ewiges Leben, Glückseligkeit und vollkommenes Wissen erlangt.
IM ANGESICHT DES TODES
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AjAMILAS ERFAHRUNG IN TODESNÄHE
1. KAPITEL
Aller Laster Anfang Sukadeva Gosvāmi sprach zu König Pariksit: In Kānyakubja [dem heutigen Kanauj, einer Stadt in Indien] lebte einst ein brāhmana namens Ajāmila. Dieser heiratete eine Dienstmagd, die eine Prostituierte war, und verlor wegen des Umgangs mit dieser niedrigen Frau alle seine brahmanischen Eigenschaften. Ajāmila fügte anderen Leid zu, indem er sie gefangennahm, im Glücksspiel betrog oder schlichtweg ausraubte. So verdiente er seinen Lebensunterhalt und ernährte Frau und Kinder. (Srimad-Bhāgavatam 6.1.21-22) Fatale Folgen Ajāmila war der Sohn eines brāhmana und folgte strikt den regulierenden Prinzipien - kein Essen von Fleisch, kein unzulässiges Geschlechtsleben, keine Berauschung und kein Glücksspiel. Dennoch verliebte er sich in eine Prostituierte und verlor dadurch all seine guten Eigenschaften. Sobald jemand die regulierenden Prinzipien aufgibt, begeht er vielerlei sündhafte Handlungen. Die regulierenden Prinzipien dienen dazu, uns auf der Ebene des menschlichen Lebens zu halten. Wenn wir sie jedoch aufgeben, verfallen wir dem Leben der Illusion (māyā). Wenn wir im spirituellen Leben vorankommen wollen, müssen wir den regulierenden Prinzipien folgen und unsere Fehler aus den vorangegangenen Leben und dem jetzigen Leben berichtigen. Nur wer von allen sündhaften Reaktionen frei ist und fromme Tätigkeiten verrichtet, ist in der Lage, Gott vollkommen zu verstehen. Menschen, die ein sündhaftes Leben führen und übermäßig großen Wert auf körperliches Wohlergehen, gesellschaftliches Ansehen und auf weltliche Freundschaften und Familienbeziehungen legen, können keine spirituelle Selbstverwirklichung erreichen.
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Unzulässiger Umgang mit Frauen hat zur Folge, daß man alle brahmanischen Eigenschaften verliert. Ajāmila gab alle regulierenden Prinzipien auf, weil er mit einer Prostituierten zusammen war. Er wurde ein Betrüger und Dieb. Aber wer unehrenhaft handelt, wird bestraft. Er kann vielleicht dem Gesetz des Königs oder des Staates entkommen, doch nie dem Gesetz Gottes. Der Materialist denkt: „Ich betrüge Gott und brauche vor keiner Schandtat zurückzuschrecken, wenn es um meine Sinnenfreuden geht." Aber die sāstras (Schriften) sagen aus, daß sich solche Menschen letztlich um ihr eigenes Glück betrügen, denn sie werden wiederum einen materiellen Körper annehmen und entsprechend leiden müssen. Von jemandem, der in einer brāhmana-Familie geboren wurde, wird erwartet, daß er wahrheitsliebend und selbstbeherrscht ist, vollkommen mit dem Wissen über spirituelles Leben und dessen praktischer Anwendung vertraut ist und fest an die Aussagen der sāstras glaubt. Wer den sāstras nicht folgt, erniedrigt sich. Die großen Weisen und rsis auf der ganzen Welt haben uns ihre Unterweisungen hinterlassen, und ihre Worte sind in den sāstras aufgezeichnet. Doch Schurken und Dummköpfe legen die Schriften falsch aus und führen die Menschen in die Irre. So wird gegenwärtig die Bhagavad-gitā auf unterschiedlichste Art und Weise interpretiert, und das unschuldige Volk akzeptiert diese Interpretationen als autorisiertes Wissen. Ein Kommentator behauptet beispielsweise, das Schlachtfeld von Kuruksetra beziehe sich auf den materiellen Körper und die fünf Pāndava-Brüder seien in Wirklichkeit die fünf Sinne des materiellen Körpers. Das aber ist kein korrektes Verständnis. Wie kann jemand die Bhagavad-gitā erklären, wenn er sie nicht versteht? Solch ein Versuch ist unsinnig. Um die echte Wissenschaft von Gott zu verstehen, muß man sich an einen echten spirituellen Meister wenden und die Bhagavadgitā von ihm hören. Wir müssen den großen Persönlichkeiten, den vorangegangenen ācāryas (spirituellen Meistern), folgen. Das wird zu unserem Vorteil sein. Wir sollten nicht spekulieren und unsere eigenen Behauptungen aufstellen, sondern die Anweisungen akzeptieren, die von den großen ācāryas gegeben werden. Darin besteht das vedische System. Man muß einen echten spirituellen Mei-
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ster aufsuchen und ihm in ergebener Haltung Fragen stellen. Die Absolute Wahrheit wird in den Schriften erklärt, die ihrerseits von einem spirituellen Meister oder einem Heiligen erläutert werden müssen. Was immer der echte, selbstverwirklichte spirituelle Meister sagt, muß man sich zu Herzen nehmen. Eigene Interpretationen haben in den sāstras nichts zu suchen. Im Snmad-Bhāgavatam heißt es, daß Krsna den Govardhana-Hügel emporhob, geradeso wie ein Kind einen Pilz hochhebt. Er tat dies mühelos, aber die Leute glauben es nicht. Diejenigen, die dem Bhāgavatam keinen Glauben schenken, interpretieren eine indirekte Bedeutung hinein. Die Bedeutung ist unmißverständlich klar, aber trotzdem ziehen diese Schurken ihre eigenen Schlüsse. Warum sollte man etwas in die Schriften hineininterpretieren, wo sie doch eine klare Sprache sprechen? Vermeintliche Gelehrte und Theologen haben den Sinn der vedischen Schriften durch ihre Interpretationen gewaltsam entstellt. Kein echter ācārya würde jemals die sāstras nach seiner eigenen Laune auslegen, doch viele moderne Gelehrte und führende Persönlichkeiten tun dies heute, und daher geraten die Menschen in die abscheulichsten Bedingungen des materiellen Daseins. Diese Schurken sollten im Interesse der Menschheit entlarvt werden. Deshalb stellen wir die Bhagavad-gitā wie sie ist vor. Der Niedergang der modernen Gesellschaft Das Snmad-Bhāgavatam beschreibt, daß sich der brāhmana Ajāmila in eine Prostituierte verliebte und dadurch seine brahmanischen Eigenschaften verlor. Als dies geschah, war er ein junger Mann von etwa zwanzig Jahren. Aufgrund seiner unzulässigen Beziehung zu einer Prostituierten war Ajāmila gezwungen, vom Betteln, Leihen, Stehlen und vom Glücksspiel zu leben. Hieraus geht hervor, wie tief jemand fallen kann, wenn er sich mit einer Prostituierten einlāßt. Unzulässiger Geschlechtsverkehr ist nur möglich mit lasterhaften Frauen, nicht mit keuschen. Je mehr die Gesellschaft Prostitution und unzulässiges Geschlechtsleben erlaubt, desto mehr gibt sie Betrügern, Dieben, Trunkenbolden und Spielern Auftrieb. Aus diesem Grund weisen wir die Schüler in
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unserer Bewegung für Krsna-Bewußtsein als erstes an, unzulässiges Geschlechtsleben zu vermeiden, denn dies ist der Anfang eines abscheulichen Lebenswandels, der Fleischessen, Glücksspiel und Berauschung nach sich zieht. Enthaltung ist natürlich nicht einfach, aber durchaus möglich, wenn man sich völlig Krsna ergibt, da ein Krsna-bewußter Mensch immer mehr den Geschmack an abscheulichen Angewohnheiten verliert. Wāhrend Ajāmila zu seiner Zeit eine Ausnahme war, gibt es im gegenwärtigen Zeitalter Millionen von Ajāmilas. Eine Gesellschaft, die erlaubt, daß unzulässiges Geschlechtsleben zunimmt, ist dem Untergang geweiht, denn es wird in ihr von Gaunern, Dieben, Betrügern und dergleichen wimmeln. Wenn wir die Weltlage tatsāchlich verbessern wollen, müssen wir uns dem Krsna-Bewußtsein zuwenden, denn dadurch erweisen wir der menschlichen Gesellschaft in materieller und spiritueller Hinsicht den besten Dienst. Wir mögen die verschiedensten abscheulichen Eigenschaften entwickelt haben, aber einfach durch den Vorgang des bhakti-yoga (hingebungsvoller Dienst) können wir sie alle ablegen. Wir haben uns zahlreiche schlechte Gewohnheiten (anarthas) angeeignet, allen voran Fleischessen, Berauschung, unzulässiges Geschlechtsleben und Glücksspiel, aber durch die Prinzipien des bhakti-yoga, wie sie in der Bhagavad-gitā und im SrimadBhāgavatam enthalten sind, können wir uns von ihnen lossagen. Da kaum jemand die vedischen Schriften kennt, beachtet auch niemand ihre Anweisungen. Die Menschen ziehen es vor, die verschiedensten Bücher von allen möglichen Schurken zu lesen, was jedoch nur zur Zerstörung ihres Krsna-Bewußtseins führt. Man mag sich zwar einreden, man könne durch irgendeine künstliche, mystische Meditation unerwünschte Gewohnheiten aufgeben und erlöst werden, aber das ist eine Illusion. Obwohl es einmal eine Zeit gab, wo es tatsāchlich möglich war, durch astānga-yoga, das achtstufige yoga-System, Befreiung zu erlangen, ist gegenwärtig kaum jemand mehr imstande, diesem Vorgang zu folgen. Mit anderen Worten, eine Imitation dieses yoga-Systems wird uns nichts nützen. Um den gefallenen Menschen des Kali-Zeitalters zu helfen, er-
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schien die Höchste Persönlichkeit Gottes vor fünfhundert Jahren als Sri Caitanya Mahāprabhu. Er wußte, daß die Menschen in diesem Zeitalter nicht einmal fähig sein würden, den regulierenden Prinzipien zu folgen, geschweige denn astāriga-yoga zu praktizieren. Deshalb gab Er uns den mahā-mantra - Hare Krsna, Hare Krsna, Krsna Krsna, Hare Hare / Hare Rāma, Hare Rāma, Rāma Rāma, Hare Hare -, so daß wir allmählich zur höchsten Stufe des spirituellen Lebens erhoben werden können. Andere Vorgänge der Läuterung oder des Opfers sind heute nicht mehr möglich, weil die meisten Menschen zu gefallen sind. Doch jeder kann den Vorgang des Chantens von Hare Krsna aufnehmen. Im Brhan-nāradlya Purāna (3.8.126) heißt es: harer nāma harer nāma harer nāmaiva kevalam kalau nāsty eva nāsty eva nāsty eva gatir anyathā „Der einzige Weg, um im gegenwärtigen Zeitalter der Streitsucht und Heuchelei Befreiung zu erlangen, ist das Chanten der heiligen Namen des Herrn. Es gibt keinen anderen Weg. Es gibt keinen anderen Weg. Es gibt keinen anderen Weg." Das Chanten der heiligen Namen des Herrn ist immer wirksam, aber es ist besonders wirksam im Zeitalter des Kali. Die praktische Wirksamkeit des Chantens wird Sukadeva Gosvāmi nun anhand der Geschichte von Ajāmila erklären, der aus den Händen Yamarājas, des universalen Richters, befreit wurde, weil er den heiligen Namen Nārāyanas gechantet hatte. Die Gefahren des unzulässigen Geschlechtslebens Um den vollen Nutzen aus dem Chanten des heiligen Namens des Herrn zu ziehen, muß man ohne Vergehen chanten. Dazu ist ein gewisses Maß an Entsagung erforderlich. Als erstes sollte man unzulässiges Geschlechtsleben vermeiden. Da geschlechtliche Betätigung ein körperliches Bedürfnis ist, wird sie von den sāstras zu einem gewissen Grad erlaubt: Man darf friedlich mit seiner Frau zusammen-
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leben und Geschlechtsverkehr haben, um Kinder zu zeugen; ansonsten gibt es keinen Grund, sich sexuell zu betätigen. Wer nicht die Verantwortung für eine Familie übernehmen will, sondern Junggeselle bleibt und unerlaubt seine sexuellen Verlangen befriedigt, gilt als verantwortungslos und wird unter den Konsequenzen leiden müssen. Allerdings kann jemand, dem das Familienleben als eine zu große Verantwortung erscheint, auch darauf verzichten und sich damit viele Schwierigkeiten ersparen. Familiäre Verpflichtungen bringen große Verantwortung mit sich. Wer daher glaubt, diese nicht tragen zu können, sollte ein brahmacāri, ein Student im Zölibat, bleiben. Wenn man die Wissenschaft des brahmacarya unter der Aufsicht eines spirituellen Meisters praktiziert, wird man automatisch von fünfundsiebzig Prozent der materiellen Verstrickung befreit. Heutzutage möchte sich jedoch niemand der Entsagung des brahmacarya unterziehen. Jeder möchte unverheiratet bleiben und gleichzeitig Geschlechtsverkehr haben; so verlieren die Menschen ihren guten Charakter. Eine Frau, die nichts anderes als eine Dirne ist, zu versorgen, um mit ihr unzulässigen Geschlechtsverkehr zu haben und uneheliche Kinder zu zeugen ist sündhaft. Eine Gesellschaft, in der solche unerwünschten Kinder (varna-sankara) geboren werden, geht zugrunde. Ajāmila fühlte sich zu einer Prostituierten hingezogen und zeugte mit ihr zehn Kinder. Er wurde so unmoralisch, daß er zu keinem ehrlichen Gewerbe mehr fähig war, und sah sich gezwungen, für den Unterhalt seiner großen Familie zu betteln, zu borgen und zu stehlen. Sobald man sich auf unzulässiges Geschlechtsleben einlāßt, folgen Berauschung und Glücksspiel von selbst. Um die hohen Ausgaben bestreiten zu können, wird man zu Betrug und Diebstahl greifen müssen. So war auch bei Ajāmila die unstatthafte Beziehung zu einer Dirne aller Laster Anfang. Deshalb ist in der Praxis des Krsna-Bewußtseins jede Form unzulässigen Geschlechtslebens untersagt. Gottgeweihte müssen entweder heiraten oder im Zölibat leben. Diese Regel ist sehr wirkungsvoll und hilft, eine hohe Stufe der Reinheit zu bewahren.
2. KAPITEL
Imitation der Wirklichkeit Sukadeva Gosvāmi fuhr fort: Mein lieber König, so vergingen achtundachtzig Jahre von Ajāmilas Leben. Wāhrend dieser Zeit beging er viele abscheuliche, sündhafte Handlungen, um die Prostituierte und seine zehn Söhne zu unterhalten. Der jüngste Sohn war ein kleines Kind namens Nārāyana, das seinem Vater und seiner Mutter natürlicherweise sehr lieb war. (Srimad-Bhāgavatam 6.1.23-24) Elterliche Zuneigung Ajāmilas Sündhaftigkeit zeigt sich darin, daß er noch mit achtundachtzig Jahren ein kleines Kind hatte. In der vedischen Kultur war es Brauch, mit fünfzig Jahren sein Heim zu verlassen. Man sollte nicht zu Hause bleiben und fortfahren, Kinder zu zeugen. Geschlechtsverkehr ist fünfundzwanzig Jahre lang - zwischen dem fünfundzwanzigsten und fünfzigsten Lebensjahr - erlaubt. Danach sollte man das Geschlechtsleben aufgeben und sein Heim als vānaprastha verlassen, um später auf die richtige Weise sannyāsa anzunehmen. Weil Ajāmila jedoch mit einer Prostituierten Umgang hatte, verlor er all seine brahmanischen Eigenschaften und war selbst in seinem sogenannten Familienleben der Sünde verfallen. Ajāmila war ein junger Mann von zwanzig Jahren, als er der Prostituierten begegnete. Im Laufe der Zeit wurden ihnen zehn Kinder geboren. Im Alter von fast neunzig Jahren nahte seine Todesstunde. Da zu dieser Zeit die meisten seiner Kinder bereits erwachsen waren, wurde Nārāyana als das jüngste Kind natürlich der Liebling der Eltern, und Ajāmila hing sehr an ihm. 72
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Das Lächeln eines Kindes wirkt auf den Vater, die Mutter und die Verwandten sofort anziehend. Die Eltern haben große Freude daran, wenn das Kind seine ersten Sprechversuche macht. Bestünde diese Anziehung nicht, wäre es nicht möglich, ein Kind mit Zuneigung großzuziehen. Elterliche Zuneigung ist selbst unter Tieren natürlich. In Kanpura kam einmal eine Äffin mit ihrem Jungen in die Nähe des Zimmers, in dem wir uns aufhielten. Auf einmal schlüpfte das Affenjunge durch das Fenstergitter, worauf die Mutter völlig aus der Fassung geriet und vor Angst fast verrückt wurde. Als wir das Äffchen wieder durch das Gitter schoben, umarmte die Mutter ihr Junges sogleich und nahm es mit sich fort. In der menschlichen Gesellschaft wird die Zuneigung zwischen Mutter und Kind sehr hoch gepriesen, aber wie wir sehen, gibt es diese Beziehung auch unter den Tieren. Menschliche Mutterliebe ist also nichts Außergewöhnliches; sie beruht auf dem Gesetz der materiellen Natur. Wāren Mutter und Kind nicht in Zuneigung verbunden, könnte das Kind nicht aufwachsen. Elterliche Zuneigung ist natürlich und notwendig, aber sie erhebt uns nicht auf die spirituelle Ebene. Der Charakter Ajāmilas war verabscheuenswert, doch selbst ein Wüstling wie er war sehr liebevoll gegenüber seinem jüngsten Kind. Obgleich Ajāmila fast neunzig Jahre alt war, fand er immer noch Gefallen an den Spielen seines Kindes, genauso wie Mahārāja Nanda und Mutter Yasodā sich über Krsnas Kindheitsspiele freuten. Spirituelle Liebe und Vielfalt Elterliche Liebe in der materiellen Welt ist eine verzerrte Widerspiegelung der elterlichen Liebe in der spirituellen Welt, wo man sie in ihrer reinen, ursprünglichen Form findet. Alles hat seinen Ursprung in der transzendentalen Wirklichkeit. Im Vedānta-sütra (1.1.2.) heißt es: janmādy asya yatah. „Die Höchste Absolute Wahrheit ist das, wovon alles ausgeht." Wenn die Zuneigung zwischen einem Kind und seinen Eltern nicht in der Absoluten Wahrheit existierte, gäbe es sie auch nicht in der materiellen Welt. Da die Absolute Wahrheit die Quelle von allem ist, ist die ganze
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Vielfalt, die wir hier in der materiellen Welt sehen, nichts anderes als eine Widerspiegelung der Vielfalt in der spirituellen Welt. Wie könnte es in unserer Welt Vielfalt geben, wenn die Absolute Wahrheit nicht voller Vielfalt wäre? Nein, die Absolute Wahrheit ist weder unpersönlich (nirākāra) noch ohne Vielfalt (nirvisesa). Es gibt jedoch Menschen, Māyāvādis genannt, die aufgrund der unvollkommenen Vielfalt der materiellen Welt so enttāuscht und frustriert sind, daß sie sich die spirituelle Welt unpersönlich und ohne Vielfalt vorstellen. Diese Unpersönlichkeitsanhänger erkennen, daß sie Brahman, spirituelle Energie, sind, aber sie wissen nicht, daß es im brahmajyoti, der spirituellen Welt, unzählige Planeten gibt. Sie denken, das brahmajyoti an sich sei schon alles. Die Unpersönlichkeitsanhänger haben kein Wissen über die Vaikuntha-Planeten und kehren daher - aufgrund ihres unvollkommenen Wissens - wieder zu den materiellen Planeten zurück. Im Srimad-Bhāgavatam (10.2.32) heißt es: ye
'nye 'ravindāksa vimukta-māninas tvayy asta-bhāvād avisuddha-buddhayah āruhya-krcchrena param padam tatah patanty adho 'nādrta yusmad ahghrayah
„Obwohl die Unpersönlichkeitsanhänger nahezu befreit sind, ist ihre Intelligenz noch nicht gereinigt, weil sie die Lotosfüße Krsnas außer acht lassen. So müssen sie wieder in die materielle Welt hinunterfallen, obwohl sie sich harte Entsagungen auferlegt haben, um auf die Ebene des Brahman zu gelangen." Spirituelle Form und spirituelle Handlungen Die Unpersönlichkeitsphilosophen sind nicht fähig, zwischen Handlungen in der materiellen Welt und ähnlichen Handlungen in der spirituellen Welt zu unterscheiden. Ebensowenig vermögen sie zwischen materieller Form und der Form Gottes zu unterscheiden. Sie sind überzeugt, daß das unpersönliche brahmajyoti, der spirituelle Glanz, der vom Körper des Herrn ausstrahlt, die Höchste Absolute Wahrheit sei. Fälschlicherweise behaupten die Māyāvādis, daß Gott
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bei Seinem Erscheinen einen materiellen Körper annehme, genauso wie wir in der materiellen Welt einen materiellen Körper angenommen haben. Diese Art des Denkens beruht auf der Unpersönlichkeitslehre, der Māyāvāda-Philosophie. Gott hat eine Form, aber keine materielle Form wie wir. Seine Form ist sac-cid-ānanda-vigraha, eine spirituelle Form, erfüllt von Ewigkeit, Glückseligkeit und Wissen. Jeder, der die transzendentale Natur von Krsnas Form versteht, erreicht die Vollkommenheit. Dies bestätigt Krsna in der Bhagavad-gita (4.9): janma karma ca me divyam evam yo vetti tattvatah tyaktvā deham punar janma naiti mām eti so 'rjuna „Wenn Ich in der materiellen Welt erscheine, nehme Ich keinen materiellen Körper an. Meine Geburt und Meine Taten sind völlig spirituell. Jeder, der dies vollkommen versteht, erlangt Befreiung." Krsna spielte vor Mutter Yasodā auf vollkommene Weise die Rolle eines Kindes. Manchmal, wenn sie Ihm keine Butter gab, zerbrach Er alle Krüge - als ob Er Butter bräuchte! So kann Sich Gott wie ein gewöhnlicher Mensch verhalten, aber Er bleibt dennoch die Höchste Persönlichkeit Gottes. Unpersönlichkeitsanhänger können Gott nicht verstehen, denn sie sehen Ihn als einen gewöhnlichen Menschen an. Das ist Schurkerei, wie Krsna in der Bhagavad-gitā (9.11) erklārt: avajānanti mām mūdhāh. „Nur Schurken betrachten Mich als einen gewöhnlichen Menschen." Die Māyāvādis sagen: „Krsna ist ein Menschenkind. Wie kann Er Gott sein?" Selbst Brahma und Indra waren verwirrt und dachten: „Wie kann dieser Knabe der Höchste Herr sein? Ich will Ihn auf die Probe stellen." Manchmal erklärt eine vermeintliche Inkarnation Gottes: „Ich bin Gott." Wenn jemand dies behauptet, sollte man prüfen, ob er wirklich Gott ist oder nicht. Die Māyāvādis erheben den Anspruch: „Ich bin Gott. Ich bin Krsna. Ich bin Rāma." Heutzutage gibt es so viele „Krsnas" und „Rāmas", doch niemand stellt sich ihren Behauptungen entgegen: „Wenn du Rāma bist, zeige deine höchste Macht!
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Rāma baute eine Brücke über den Indischen Ozean. Was hast du getan? Im Alter von sieben Jahren hob Krsna den Govardhana-Hügel empor. Und was hast du getan?" Wenn diese Schurken mit Krsnas Spielen konfrontiert werden, entgegnen sie: „Das ist doch alles erfunden, das ist alles Legende." So kommt es, daß gewöhnliche Menschen als Rāma oder Krsna anerkannt werden. Solcher Unsinn ist heute an der Tagesordnung, und sowohl diejenigen, die behaupten, Gott zu sein, als auch diejenigen, die sie als Gott anerkennen, werden dafür büßen müssen. Jeder kann behaupten, Gott zu sein, und jeder Narr kann es glauben; aber einem falschen Gott zu dienen wird niemandem nützen. Einst dachte Brahma, daß Krsna möglicherweise auch ein solcher falscher Gott sein könnte. Er sah, wie im indischen Vrndavana ein Junge, der außergewöhnliche Taten vollbrachte, für den Höchsten Herrn gehalten wurde. So entschied sich Brahma, Krsna auf die Probe zu stellen, indem er Ihm alle Kühe und Spielkameraden stahl und sie versteckte. Als Brahma nach einem Jahr nach Vrndavana zurückkehrte und dort immer noch die gleichen Kälber und Jungen vorfand, erkannte er, daß Krsna Sich durch Seine unbegrenzten Fāhigkeiten in all diese Kühe und Spielkameraden erweitert hatte. Selbst den Müttern der Jungen war es verborgen geblieben, daß ihre Söhne Erweiterungen Krsnas waren; gleichzeitig konnten sie sich aber nicht erklären, warum ihre Liebe zu ihren Söhnen mit jedem Abend, wo diese von den Feldern zurückkehrten, mehr und mehr anwuchs. Schließlich ergab sich Brahma dem Herrn, Sri Krsna, und verfaßte erlesene Gebete zu Seiner Verherrlichung. Auf ähnliche Weise geriet Indra in Verwirrung, als Krsna zu Seinem Vater, Nanda Mahārāja, sagte: „Es ist nicht notwendig, Indra Opfer darzubringen, da er dem Befehl des Höchsten Herrn untersteht." Krsna sagte zu Nanda Mahārāja nicht: „Ich bin der Höchste Herr", sondern: „Indra untersteht dem Befehl des Höchsten Herrn; deshalb ist es seine Pflicht, dich mit Wasser zu versorgen, und es besteht kein Grund, diesen yajna [Opfer] auszuführen." Als das Opfer abgebrochen wurde, geriet Indra in großen Zorn und versuchte, die Einwohner Vrndavanas zu bestrafen, indem er sieben Tage lang wolkenbruchartige Regenfālle schickte. Vrndavana
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war nahe daran, in den Fluten zu versinken - so stark war der Regen. Aber Krsna, ein Kind von sieben Jahren, hob unverzüglich den Govardhana-Hügel empor und lud alle Einwohner Vrndāvanas ein, zusammen mit ihren Tieren unter dem Hügel Zuflucht zu suchen. Nur um die Einwohner Vrndāvanas zu beschützen, hielt Krsna den Hügel für sieben Tage und Nāchte empor, ohne Nahrung zu Sich zu nehmen oder Sich auszuruhen. So erkannte Indra, daß Krsna die Höchste Persönlichkeit Gottes ist. Auf diese Weise warnt uns das Srimad-Bhāgavatam vor der Macht māyās, der äußeren Manifestation von Krsnas Energie, die selbst große Persönlichkeiten wie Brahma und Indra verwirren kann, ganz zu schweigen von uns. Gott erscheint manchmal als Gott und manchmal als Mensch, aber die niederträchtigen Unpersönlichkeitsanhänger tun Seine Spiele als Legende oder Mythologie ab. Sie glauben entweder gar nicht an die sāstras oder interpretieren sie auf ihre eigene Weise, indem sie ardhakukkuti-nyāya anwenden, die „Halbe-Hennen-Logik". Einst hatte ein Mann ein Huhn, das jeden Tag ein goldenes Ei legte. In seiner Dummheit dachte der Mann: „Dieses Huhn ist sehr lukrativ, aber es zu füttern kostet mich viel Geld. Ich schneide ihm besser den Kopf ab und spare mir die Ausgaben für das Futter. Dann werde ich die Eier ohne jede Kosten bekommen." Mit der gleichen Haltung treten die Unpersönlichkeitsanhänger an die sāstras heran: „Dieser Teil gefāllt uns nicht - er ist unbequem. Lassen wir ihn weg!" Wenn Krsna sagt: „Man sollte Mich überall sehen", ist das den Māyāvādis sehr genehm, aber wenn Er sagt: „Gib alles auf und ergib dich Mir", haben sie Einwānde. Sie akzeptieren, was ihnen paßt, und weisen zurück, was ihnen widerstrebt. Die ācāryas hingegen verdrehen die sāstras nicht. Als Krsna die Bhagavad-gitā offenbarte, sprach Arjuna: „Ich akzeptiere alles, was Du gesagt hast." Definition der Absoluten Wahrheit Das Vedānta-sūtra, das als höchste Autorität aller vedischen Schriften anerkannt wird, erklärt: janmādy asya yatah. „Die Absolute Wahrheit ist die ursprüngliche Quelle von allem." (Vedānta-sūtra 1.1.2.) Janma
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bedeutet „Geburt". Daran gibt es nichts zu deuteln - der Sinn ist klar. Alles in der materiellen Welt kommt von der Absoluten Wahrheit, genauso wie unser Körper aus dem Schoß der Mutter kommt. janmādy asya yatah: „Alles, von der Geburt bis zur Vernichtung, ist eine Emanation der Absoluten Wahrheit." Die Absolute Wahrheit ist das, von dem alles ausgeht, in dem alles ruht und von dem alles erhalten wird. Was sind die Merkmale der ursprünglichen Quelle? Im SrimadBhāgavatam (1.1.1.) heißt es: janmādy asya yato 'nvayād itaratas cārthesv abhijnah svarāt. Der Ursprung von allem muß sich direkt und indirekt über alles vollkommen bewußt sein. Er ist die höchste Seele und weiß alles, denn Er ist vollkommen. Auch wir sind Seele spirituelle Funken. Sobald ein solcher spiritueller Funke im Schoß einer Frau Zuflucht sucht, entwickelt er einen Körper. Der spirituelle Funke ist folglich die Quelle des Körpers und all seiner Mechanismen. Obwohl der Körper durch unsere Energie erzeugt wird, wissen wir nicht, wie unsere Venen oder unsere Knochen erschaffen werden. Die Tatsache, daß wir dies nicht wissen, beweist, daß wir nicht Gott sind. Krsna aber weiß alles, und Allwissenheit ist die Eigenschaft der Absoluten Wahrheit. Krsna bestätigt dies in der Bhagavad-gitā (7.26): „Ich weiß alles, was in der Vergangenheit geschah, was in der Gegenwart geschieht und was in der Zukunft geschehen wird." Wir erkennen die Absolute Wahrheit, wenn wir von einem spirituellen Meister Wissen empfangen. Krsnas Wissen hingegen ist von vornherein vollkommen, denn Er ist völlig unabhängig (svarāt) und braucht von niemandem etwas zu lernen. Einige Schurken mögen versuchen, selbst Gott zu werden, indem sie Wissen von einem Māyāvādi annehmen; aber Krsna ist Gott, ohne Wissen von irgend jemandem annehmen zu müssen. Das ist Gott!
3. KAPITEL
Die letzte Stunde Sukadeva Gosvāmi fuhr fort: Der greise Ajāmila hing sehr an seinem Kind, weil er von dessen unbeholfenen Worten und Bewegungen bezaubert war. Ständig kümmerte er sich um das Kind und freute sich über seine Spiele. Wenn Ajāmila kaute und aß, forderte er das Kind auf, dasselbe zu tun, und wenn er trank, hieß er das Kind, ebenfalls zu trinken. So sorgte er sich ständig um das Kind und rief seinen Namen, Nārāyana. Dabei vergaß er ganz, daß seine Zeit nun abgelaufen war und ihm der Tod bevorstand. Als für den törichten Ajāmila die Stunde des Todes kam, dachte er ausschließlich an seinen Sohn Nārāyana. (Srimad-Bhāgavatam 6.1.25-27) Der Name eines Kindes Hieraus geht deutlich hervor, daß das Kind Nārāyana so jung war, daß es noch nicht einmal richtig sprechen und gehen konnte. Weil der alte Mann so sehr an dem Kind hing, erfreute er sich an dessen Spielen. Da der Name des Kindes Nārāyana war, chantete er unablässig den heiligen Namen Nārāyanas. Eigentlich meinte Ajāmila seinen kleinen Sohn und nicht den ursprünglichen Nārāyana; aber der Name Nārāyanas ist so mächtig, daß Ajāmila allein durch das Aussprechen des Namens seines Sohnes geläutert wurde. Srila Rūpa Gosvāmi erklärt, daß jemand, der sich auf irgendeine Weise zum heiligen Namen Krsnas hingezogen fühlt (tasmāt kenāpy upāyena manah krsne nivesayet), sich auf dem Pfad der Befreiung befindet. In Indien geben Eltern noch heute ihren Kindern Namen Gottes, wie Krsna, Govinda oder Nārāyana. Somit chanten die Eltern die Namen Krsna, Govinda oder Nārāyana und bekommen die Möglichkeit, geläutert zu werden. 79
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Zum Zeitpunkt des Todes rief Ajāmila den Namen Nārāyanas, womit er sein jüngstes Kind meinte. In seiner Jugend hatte Ajāmila, als Sohn eines brahmana, Nārāyana verehrt, wie dies im Hause eines jeden brahmana üblich ist. Obwohl der lasterhafte Ajāmila eigentlich nach seinem Sohn rief, konnte er seinen Geist auf den heiligen Namen Nārāyanas richten und sich an den Nārāyana erinnern, den er in seiner Jugend gläubig verehrt hatte. Im Zweiten Canto des Srimad-Bhāgavatam (2.1.6.) wird erklärt, wie wichtig es ist, sich im Augenblick des Todes an Nārāyana zu erinnern: etāvān sārikhya-yogābhyām svadharma-parinisthayā janma-lābhah parah pumsām ante nārāyana-smrtih „Die höchste Vollkommenheit im Leben, die man durch die Aneignung vollständigen Wissens über Materie und Seele, durch die Entwicklung mystischer Kräfte oder durch die richtige Ausübung der vorgeschriebenen Pflichten erreichen kann, besteht darin, sich am Ende des Lebens an Nārāyana, die Höchste Persönlichkeit Gottes, zu erinnern." Im Angesicht des Todes rief Ajāmila bewußt oder unbewußt den Namen Nārāyanas und erlangte so alle Vollkommenheit. Der Tod - die entscheidende Prüfung im Leben Wie bereits erwähnt, ist der Bewußtseinszustand zum Zeitpunkt des Todes äußerst wichtig. Aber wenn wir selbstgefällig werden und denken: „Jeder muß mal sterben - was soll's?", dann verbauen wir uns den Fortschritt auf dem spirituellen Pfad. So wie die Luft Düfte mit sich trāgt, trāgt uns der Geist in unser nächstes Leben. Wenn wir das Bewußtsein eines Vaisnavas, eines reinen Geweihten Krsnas, kultiviert haben, werden wir unverzüglich nach Vaikuntha erhoben. Wenn wir jedoch das Bewußtsein eines gewöhnlichen karmi, eines materiell motivierten Arbeiters, entwickelt haben, werden wir in der materiellen Welt bleiben müssen, um die Folgen dieser Geisteshaltung zu erleiden.
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Wenn zum Beispiel ein Geschäftsmann bis zu seinem Tode nichts anderes als Geschäfte macht, wird er natürlich nur an Geschäfte denken. Ein Geschäftsmann aus Kalkutta machte sich zum Zeitpunkt des Todes Sorgen um das Management seiner Mühle. Vielleicht wurde er als Ratte in seiner Mühle wiedergeboren. Das ist nicht ausgeschlossen. Im Moment des Todes wird uns das, woran wir gerade denken, zu unserem nächsten Körper tragen. Krsna ist sehr gütig und stellt uns gemäß unserem Bewußtsein im Moment des Todes einen entsprechenden Körper zur Verfügung. „Nun gut, du denkst wie eine Ratte? Werde eine Ratte!" „Du denkst wie ein Tiger? Werde ein Tiger!" „Du denkst wie Mein Geweihter? Komm zu Mir!" Durch das Chanten von Hare Krsna können wir unsere Gedanken so ausrichten, daß wir ständig an Krsna denken. Krsna erklärt in der Bhagavad-gitā (6.47): yoginām api sarvesām mad-gatenāntar-ātmanā. „Der beste yogi ist der, der in seinem Herzen immer an Mich denkt." Die Bewegung für Krsna-Bewußtsein ist besonders dafür gedacht, den Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft zu helfen, diesen Zustand vollkommenen Krsna-Bewußtseins zu erreichen. Dann wird man sich am Ende seines Lebens einzig und allein an Krsna erinnern. Was immer wir während unseres Lebens tun, wird unser Bewußtsein im Moment des Todes bestimmen. Das ist nur natürlich. Wahre Intelligenz bedeutet, sich richtig auf den Tod vorzubereiten. Wer aber glaubt, er könne für immer zu Hause bleiben und die Gemeinschaft seiner Frau und seiner Kinder genießen, ist ein Dummkopf. In Illusion denkt man vielleicht: „Mein Bankkonto, mein schönes Haus und meine Familie werden mich beschützen." Aber diese Dinge können niemanden beschützen. Das Srimad-Bhāgavatam (2.1.4.) stellt fest: dehāpatya-kalatrādisv ātma-sainyesv asatsv api tesām pramatto nidhanam pasyann api na pasyati „Wer verrückt ist, glaubt: ,Mein starker Körper, meine erwachsenen Kinder, meine liebe Frau und mein Bankguthaben werden mich retten.'"
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In der materiellen Welt mühen wir uns ab wie Soldaten, die auf einem Schlachtfeld kämpfen. Unsere Soldaten sind unsere Kinder, unsere Frau, unser Bankkonto, unsere Landsleute und so fort. Das Srimad-Bhāgavatam warnt uns, bei solchen fehlbaren Soldaten Zuflucht zu suchen. Obwohl jemand sieht, daß sein Vater und Großvater, die einst gelebt haben, nun tot sind, sieht er nicht ein, daß jeder, auch er selbst, eines Tages sterben wird. Wie kann er dann seinen Sohn beschützen? Oder wie kann sein Sohn ihn beschützen? Diese Fragen tauchen für den Materialisten nicht auf, da er nur in seine tierischen Neigungen - Essen, Schlafen, Paarung und Verteidigung - vertieft ist.
4. KAPITEL
Frei von Geburt und Tod Sukadeva Gosvāmi fuhr fort: Ajāmila sah sodann drei furchterregende Gestalten mit verunstaltetem Körper, grimmig, mit verzerrtem Gesicht und mit Haaren, die aufrecht von ihrem Körper abstanden. Mit Seilen in ihren Händen waren sie gekommen, um ihn zum Reich Yamarajas zu schaffen. Als Ajāmila sie sah, war er aufs äußerste entsetzt. Sofort rief er sein Kind, das in der Nāhe spielte, laut beim Namen, weil er sehr an ihm hing. So chantete er mit Trānen in den Augen den heiligen Namen Nārāyanas. (Srimad-Bhāgavatam 6.1.28-29) Todesangst und Lebenswille In der Todesstunde sind die Menschen sehr bestrebt, sich zu retten besonders jene, die gesündigt haben. Natürlich kann die Seele selbst nicht dem Tod anheimfallen (na hanyate hanyamāne sarire); dennoch bereitet es große Schmerzen, den gegenwärtigen Körper zu verlassen und in einen anderen einzugehen. Zum Zeitpunkt des Todes kann das Lebewesen nicht mehr im Körper bleiben, da die Schmerzen zu unerträglich sind. Manchmal begeht jemand sogar Selbstmord, weil ihm das Leben zu qualvoll wird. Aber Selbstmord ist eine Sünde, für die man durch die Gesetze des karma bestraft wird. Als Ajāmila im Sterben lag, erblickte er drei grimmige, furchterregende Gestalten mit Seilen in den Händen, mit wildem Haupthaar und Körperhaaren wie Borsten. Die Gehilfen Yamarajas, die Yamadütas, wollten Ajāmila aus seinem Körper zerren und ihn vor Yamarajas Gerichtshof bringen. Manchmal schreit ein Sterbender vor 83
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Im Angesicht des Todes
Angst, wenn er die Yamadūtas sieht; und auch Ajāmila wurde von Angst und Furcht ergriffen. Glücklicherweise chantete Ajāmila den heiligen Namen Nārāyanas, obwohl er dabei eigentlich an seinen Sohn dachte. Daraufhin erschienen sogleich die Gesandten Nārāyanas, die Visnudūtas. Weil Ajāmila sich so sehr vor den Seilen Yamarājas fürchtete, rief er mit tränenerfüllten Augen den Namen des Herrn. In Wirklichkeit jedoch beabsichtigte er nicht, den heiligen Namen Nārāyanas zu chanten, sondern wollte seinen Sohn rufen. Das Erscheinen und Fortgehen Krsnas und Seiner Geweihten Man könnte die Frage stellen: „Sowohl Gottgeweihte als auch Nichtgottgeweihte müssen sterben. Worin liegt der Unterschied?" Folgendes Beispiel macht den Unterschied deutlich: Die Katzenmutter trägt ihre Jungen im Maul, und wenn sie eine Ratte fängt, trägt sie auch diese im Maul. Wāhrend sich die Kätzchen sicher und behaglich fühlen, verspürt die Ratte im selben Maul den Rachen des Todes. Wenn ein Gottgeweihter stirbt, wird er zum spirituellen Reich, nach Vaikuntha, geführt, wohingegen ein gewöhnlicher, sündiger Mensch von den Yamadūtas, den Gesetzeshütern des Yamarāja, in die höllischen Regionen hinabgezerrt wird. Dies schien auch Ajāmilas Schicksal zu sein. In der Bhagavad-gitā (4.9) sagt Krsna: janma karma ca me divyam. „Mein Erscheinen und Mein Fortgehen sind spirituell, transzendental; sie sind nicht etwas Gewöhnliches." Und warum erscheint Krsna in unserer Welt? Das erklärt Er einen Vers zuvor (Bg. 4.8): paritrānāya sādhūnām vināsāya ca duskrtām dharma-samsthāpanārthāya sambhavāmi yuge yuge „Um die Frommen zu erretten und die Gottlosen zu vernichten und um die Prinzipien der Religion wiedereinzuführen, erscheine Ich Zeitalter nach Zeitalter." Gottes einziges Bestreben ist es, die gläubigen Gottgeweihten zu beschützen und die Dāmonen zu töten. Deshalb sehen wir Visnu
Ajamilas Erfahrung in Todesnähe
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immer mit Seinen Waffen abgebildet. Er trägt eine Keule und ein cakra (Feuerrad), um Seine Geweihten zu beschützen, sowie eine Lotosblume und eine Muschel, um sie zu segnen. Von transzendentaler Natur sind auch das Erscheinen und Verscheiden der Geweihten Krsnas, die in die materielle Welt entsandt werden, um die Herrlichkeiten des Herrn zu predigen. Gemäß den Prinzipien des Vaisnavatums sind das Erscheinen und Verscheiden solcher Vaisnavas oder Geweihten Visnus (Krsnas) allglückverheißend. Deshalb findet an beiden Jahrestagen ihnen zu Ehren ein Fest statt. Nicht einmal für gewöhnliche Lebewesen gibt es Geburt oder Tod, also erst recht nicht für Krsna und Seine Geweihten. Manchmal behaupten Atheisten, Gott sei tot. Sie wissen nicht, daß nicht einmal das kleinste Lebewesen stirbt. Wie kann daher Gott tot sein? Atheisten werden in der Bhagavad-gitā als mūdhās, törichte Schurken, bezeichnet. Sie haben kein Wissen, geben sich aber als gebildete Menschen aus und verkünden Dinge, die weder für sie noch für die Allgemeinheit gut sind. An Krsna zu denken führt zur Befreiung Weil Ajāmila im Augenblick des Todes irgendwie seine Gedanken auf Nārāyana (Krsna) richtete, wurde er sofort ein Anwärter auf Befreiung, obwohl er sein ganzes Leben lang gesündigt hatte. Man kann in jeder beliebigen Form an Krsna denken: Die gopis (Kuhhirtenmädchen), Krsnas Freundinnen, waren aus scheinbar lustvollem Verlangen ganz in Gedanken an Krsna versunken. Sisupāla dachte im Zorn an Krsna, und Kamsa dachte ununterbrochen an Krsna, weil er sich vor Ihm fürchtete. Obgleich Kamsa und Sisupāla Dāmonen waren, wurde ihnen von Krsna persönlich Befreiung gewāhrt, weil sie ihr ganzes Leben lang und auch im Moment des Todes an die Höchste Persönlichkeit Gottes gedacht hatten. Natürlich ist es das beste, wenn man positiv an Krsna denkt. Bhakti, hingebungsvoller Dienst, bedeutet, positiv an Krsna zu denken. Sisupāla und Kamsa waren keine Gottgeweihten, da sich das Wort Gottgeweihter nur auf jemanden bezieht, der Krsna wohlgesinnt ist. Doch selbst wenn man auf entgegengesetzte Weise an
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Im Angesicht des Todes
Krsna denkt, wird dies von Ihm akzeptiert. Krsna ist so gütig, daß jeder, der ständig an Ihn denkt, sogar ein Feind, der größte yogi wird und Befreiung erlangt. Aus diesem Grund erreichten selbst Krsnas Feinde wie Kamsa und Sisupāla dasselbe Ergebnis wie yogis und Asketen. In der unpersönlichen Brahman-Ausstrahlung (brahmajyoti) finden wir nicht nur die größten Gelehrten (jnānis), die sich bemühten, in das Brahman einzugehen, sondern auch diejenigen, die immer feindselig an Krsna dachten. Sie gehen ebenfalls in diese spirituelle Ausstrahlung ein. Das Ziel, das die jnānis erreichen, wird auch von Krsnas Feinden erreicht. Dies ist jedoch nicht sehr erstrebenswert. Ein Lebewesen kann für einige Zeit als kleines, leuchtendes spirituelles Teilchen in der Brahman-Ausstrahlung (brahmajyoti) verweilen. So wie es im Sonnenschein viele molekulare Teilchen gibt, können auch die Lebewesen als kleine Teilchen der spirituellen Ausstrahlung im brahmajyoti leben. Doch es ist ihnen bestimmt, wieder in die materielle Schöpfung herabzufallen. Von Natur aus wünscht sich das Lebewesen eine Vielfalt von Sinnenfreuden, aber in der unpersönlichen Existenz gibt es keine Vielfalt des Genusses. Sobald die Lebewesen genießen wollen, müssen sie deshalb wieder in die materielle Welt zurückkehren. Mit anderen Worten, wenn man in die Brahman-Ausstrahlung eingeht, ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, wieder zu Fall zu kommen. Die Geweihten Krsnas streben nicht nach Befreiung, denn ihr einziges Interesse ist es, in Krsnas hingebungsvollem Dienst beschäftigt zu sein, ob in der materiellen Welt oder in der spirituellen Welt. Trotzdem erlangen sie durch Krsnas Gnade Befreiung und werden zum Planeten Goloka Vrndavana erhoben, der Residenz Krsnas, wo die materiellen Leiden der Geburt, des Todes, der Krankheit und des Alters nicht existieren. Somit unterscheidet sich die Position der Gottgeweihten von der der Unpersönlichkeitsanhänger und jnānis. Die Position des Gottgeweihten ist sehr erhaben: Auch er erreicht die Brahman-Ausstrahlung, durchquert sie aber, denn er fühlt sich nicht zu ihr hingezogen. Er fühlt sich nur zu den Vaikuntha-Planeten hingezogen, besonders zu Goloka Vrndavana, wo Krsna, die Höchste Persönlichkeit Gottes, ewig mit Seinen Gefährten lebt.
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DER ZWIST DER VISNUDUTAS UND DER YAMADUTAS
5. KAPITEL
Rettung in höchster Not Sukadeva Gosvāmi fuhr fort: Mein lieber König, als die Sendboten Visnus, die Visnudutas, aus dem Mund des sterbenden Ajāmila den heiligen Namen ihres Herrn und Meisters vernahmen, begaben sie sich sogleich zu ihm. Ajāmila hatte in seiner schrecklichen Todesangst zweifellos ohne Vergehen gechantet. Die Beauftragten Yamarājas wollten gerade Ajāmilas Seele seinem Herzen entreißen, doch die Visnudutas geboten ihnen mit schallender Stimme Einhalt. (Srimad-Bhāgavatam 6.1.30-31) Die Abgesandten des Herrn Die Yamadūtas, die Helfer Yamarājas, des Herrn des Todes, waren gekommen, um Ajāmila wegzuschleppen. Ajāmila rief nach seinem jüngsten Sohn, Nārāyana: „Nārāyana, komm zu mir! Ich sterbe!" Als Krsna hörte, wie Ajāmila im Angesicht des Todes den Namen Nārāyana rief, entsandte Er in Seiner großen Güte sogleich Seine Helfer, die Visnudutas, um ihn zu beschützen. Srila Visvanātha Cakravarti Thākura bemerkt hierzu, daß die Visnudutas kamen, ohne in Betracht zu ziehen, warum Ajāmila den heiligen Namen ihres Herrn, Nārāyana, gechantet hatte. Wāhrend Ajāmila den Namen Nārāyanas rief, dachte er eigentlich an seinen Sohn. Doch weil die Visnudutas Ajāmila den heiligen Namen des Herrn ausrufen hörten, eilten sie unverzüglich zu seinem Schutz herbei. Das Chanten des heiligen Namens ist eigentlich zur Verherrlichung des Herrn bestimmt. Ajāmila beabsichtigte nicht, den Herrn zu verherrlichen, sondern rief den heiligen Namen von Nārāyana 88
Der Zwist der Visnudutas und der Yamadutas
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nur, weil er übermäßig an seinem Sohn hing. Doch weil er in seiner Jugend das Glück gehabt hatte, Nārāyana hingebungsvollen Dienst darzubringen, chantete er den heiligen Namen mit aller Hingabe und ohne Vergehen. Daher reichte sein Chanten aus, ihn von allen Sünden zu lāutern und ihm den Schutz der Visnudutas zu sichern. Der Name Nārāyana birgt die volle Kraft der Höchsten Persönlichkeit Gottes, Nārāyana (Krsna), in sich. Das ist das Geheimnis des nāma-sankirtana, des Chantens der Namen Gottes. Durch dieses Chanten von Krsnas heiligem Namen treten wir in unmittelbare Verbindung mit Krsna, denn der Name des Herrn ist nicht materiell, sondern spirituell und absolut. Somit gibt es keinen Unterschied zwischen Krsna und Seinem Namen. Das Schicksal der Seele Als die Visnudutas eintrafen, sprachen sie zu den Yamadutas mit Strenge und Bestimmtheit: „Was tut ihr da? Haltet ein! Ihr könnt diesen Mann nicht zu Yamarāja bringen!" Ein Vaisnava - jemand, der sich den Lotosfüßen Sri Visnus ergeben hat - wird immer von den Beauftragten Visnus beschützt. Weil Ajāmila den heiligen Namen Nārāyanas gechantet hatte, erschienen die Visnudutas nicht nur sofort am Ort des Geschehens, sondern gaben den Yamadutas zugleich auch den Befehl, ihn nicht anzurühren. Mit lauter Stimme drohten die Visnudutas, die Yamadutas zu bestrafen, wenn sie noch weiter versuchten, Ajāmilas Seele seinem Herzen zu entreißen. Die Beauftragten Yamarājas haben die Rechtsgewalt über alle sündigen Lebewesen, doch Visnus Gesandte sind in der Lage, jeden zu bestrafen, selbst Yamarāja, wenn er einem Vaisnava Unrecht tut. Moderne Wissenschaftler wissen nicht, wie sie die Seele mit ihren materiellen Instrumenten im Körper finden sollen, aber hier erklärt das Srimad-Bhāgavatam eindeutig, daß sich die Seele im Herzen (hrdaya) befindet, denn die Yamadutas versuchten, Ajāmilas Seele aus dem Herzen herauszuziehen. Das Herz ist Teil der mechanischen Einrichtung des Körpers, wie der Herr in der Bhagavad-gitā (18.61) beschreibt:
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Im Angesicht des Todes isvarah sarva-bhūtānām hrd-dese 'rjuna tisthati bhrāmayan sarva-bhūtāni yantrārūdhāni māyayā
„Der Höchste Herr weilt im Herzen eines jeden, o Arjuna, und lenkt die Wege aller Lebewesen, die sich gleichsam auf einer Maschine befinden, die aus materieller Energie besteht." Yantra bedeutet „Maschine", wie zum Beispiel ein Auto. Der Fahrer der Maschine des materiellen Körpers ist die individuelle Seele, die auch dessen Lenker und Eigentümer ist; doch der höchste Lenker und Eigentümer ist die Höchste Persönlichkeit Gottes in Ihrer Form als Überseele. So wie unser jetziger Körper entsprechend unserer Handlungsweise im letzten Leben durch die Kraft māyās geschaffen wurde, erschafft māyā entsprechend unserer Handlungsweise im gegenwärtigen Leben einen neuen Körper für das nächste Leben. Zur gegebenen Zeit wird über den nächsten Körper entschieden, worauf die individuelle Seele und die Überseele in diese vorherbestimmte physische Maschine eingehen. Das ist der Vorgang der Seelenwanderung. Wenn die sündhafte Seele zum nächsten Körper wandert, wird sie von Yamarājas Helfern ergriffen und in eine bestimmte Art höllischen Lebens versetzt, damit sie sich an die Lebensbedingungen im nächsten Körper gewöhnt.
6. KAPITEL
Die Bewohner der spirituellen Welt Sukadeva Gosvāmi fuhr fort: Als die Beauftragten Yamarajas, des Sohnes des Sonnengottes, so aufgehalten wurden, antworteten sie: „Wer seid ihr, o Herren, daß ihr die Kühnheit besitzt, euch Yamarajas Urteil zu widersetzen? Wessen Diener seid ihr? Woher kommt ihr? Warum verbietet ihr uns, den Körper Ajāmilas anzurühren? Seid ihr Halbgötter von den himmlischen Planeten, seid ihr untergeordnete Halbgötter, oder seid ihr die besten der Gottgeweihten? Eure Augen gleichen den Blütenblättern der Lotosblume. Gekleidet in gelbe Seidengewänder, geschmückt mit Lotosgirlanden, eindrucksvollen Helmen und Ohrringen, seht ihr blühend und jugendlich aus. Ihr habt vier lange Arme, und ihr tragt Schwert, Bogen und Köcher voller Pfeile sowie Keule, Muschelhorn, Feuerrad und Lotosblume. Euer Glanz hat die Dunkelheit mit außergewöhnlicher Leuchtkraft vertrieben. Sagt an, warum behindert ihr uns?" (Srimad-Bhāgavatam 6.1.32-36) Göttliches Eingreifen Die Sünden, welche Ajāmila begangen hatte, unterstellten ihn der Rechtsgewalt Yamarajas, des höchsten Richters, der dazu ernannt ist, über die Sünden der Lebewesen zu urteilen. Als Yamarajas Beauftragten verboten wurde, Ajāmila anzurühren, waren sie überrascht, denn in keiner der drei Welten waren sie jemals zuvor an der Ausführung ihrer Pflichten gehindert worden. Die Visnudūtas kamen von Vaikuntha und waren mit ihren vier
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Im Angesicht des Todes
Armen von ungewöhnlicher Erscheinung. Die Diener Yamarajas empfingen sie augenblicklich mit Respekt. Sie wußten nicht im geringsten, von welchem Planeten die Visnudūtas gekommen waren, und vermuteten daher einfach: „Ihr müßt von einem sehr erhabenen Planeten gekommen sein. Warum aber mischt ihr euch in unsere Angelegenheiten ein? Wir sind Yamadūtas, und es ist unsere Pflicht, jeden Sünder gefangenzunehmen. Ajāmila hat sein ganzes Leben lang viele Untaten begangen. Nun, am Ende seines Lebens, sind wir befugt, ihn vor Yamarāja zu bringen, den Sohn des Sonnengottes Vivasvān. Warum behindert ihr uns also?" Das entscheidende Wort, siddha-sattamāh, befindet sich in Vers 32 und bedeutet „der beste der Vollkommenen". In der Bhagavad-gitā (7.3) heißt es: manusyānām sahasresu kascid yatati siddhaye. Unter vielen Millionen von Menschen gibt es vielleicht einen, der versucht, siddha (vollkommen) zu werden oder, mit anderen Worten, selbstverwirklicht. Ein selbstverwirklichter Mensch weiß, daß er nicht der Körper ist, sondern eine spirituelle Seele (aham brahmāsmi). Gegenwärtig ist sich nahezu niemand dieser Tatsache bewußt; wer sie jedoch versteht, hat die Vollkommenheit erreicht und wird daher siddha genannt. Wenn man erkennt, daß man ein Bestandteil der Höchsten Seele ist, und Ihr daher mit Hingabe dient, wird man ein siddha-sattama. Dann ist man geeignet, in Vaikuntha oder Krsnaloka zu leben. Das Wort siddha-sattama bezieht sich also auf einen reinen Geweihten des Herrn. Da die Yamadūtas die Diener Yamarajas sind, der ebenfalls ein siddha-sattama ist, wußten sie, daß ein siddha-sattama über den Halbgöttern und den untergeordneten Halbgöttern steht, ja über allen Lebewesen der materiellen Welt. Die Yamadūtas fragten deshalb, warum die Visnudütas sie davon abhielten, die Anweisungen einer so erhabenen Seele wie Yamarāja auszuführen. Zu beachten ist, daß Ajāmila noch nicht tot war, denn die Yamadütas wurden aufgehalten, bevor sie die Seele seinem Herzen entreißen konnten. Ajāmila stand erst an der Schwelle des Todes, als die Auseinandersetzung zwischen den Yamadūtas und den Visnudütas stattfand. Diese Auseinandersetzung sollte entscheiden, wer die Seele Ajāmilas beanspruchen durfte.
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Spirituelle Schönheit Die Visnudutas sahen genauso aus wie Sri Visnu. Die Yamadutas hatten sie nie zuvor gesehen, weil sie sich immer in einer Umgebung aufhalten, wo ausschließlich sündhaft gehandelt wird. Deshalb waren sie erstaunt über die Gegenwart dieser wunderschönen Wesen und sagten: „Von euren Körpermerkmalen her seht ihr aus wie sehr erhabene Persönlichkeiten, und ihr habt solch himmlische Kraft, daß ihr mit eurer Ausstrahlung die Dunkelheit der materiellen Welt vertreibt. Warum wollt ihr uns also von der Erfüllung unserer Pflicht abhalten?" Wie sich herausstellen wird, hielten die Yamadutas, die Beauftragten Yamarājas, Ajāmila fälschlicherweise für sündhaft. Sie wußten nicht, daß er, der sein ganzes Leben lang gesündigt hatte, nun durch das ständige Chanten des heiligen Namens Nārāyana geläutert worden war. Die Ausstrahlung der Visnudutas ist darauf zurückzuführen, daß sie Bewohner der spirituellen Welt sind, wo alles und jeder aus sich selbst heraus leuchtet. Sri Krsna erwähnt dies in der Bhagavad-gitā (15.6): na tad bhāsayate süryo na sasānko na pāvakah. „Mein Reich wird weder von der Sonne noch vom Mond, noch von Feuer oder Elektrizitāt erleuchtet." Die Yamadutas wußten nicht, woher die Visnudutas gekommen waren, aber sie erkannten, daß die Visnudutas keine gewöhnlichen Wesen waren, da von ihnen ein leuchtender Glanz ausging, sie vier Arme hatten und ihre Schönheit alles übertraf. In diesen Versen werden die Kleidung und die Körpermerkmale der Bewohner Vaikunthas detailliert beschrieben. Die Bewohner Vaikunthas, die mit Girlanden und gelben Seidengewändern geschmückt sind, haben vier Arme und halten ein Feuerrad, eine Blume, eine Keule und ein Muschelhorn in den Händen. Sie gleichen in jeder Hinsicht Sri Visnu - mit nur einem sehr auffallenden Unterschied: Das Kaustubha-Juwel, das der Herr auf Seiner Brust trāgt, fehlt bei ihnen. Die Bewohner Vaikunthas haben dieselben Körpermerkmale wie Nārāyana, weil sie die Befreiung der sārüpya erlangt haben; aber trotzdem handeln sie als Seine Diener. Alle Einwohner Vaikunthas sind sich vollkommen bewußt, daß ihr Meister Nārāyana, Krsna, ist und daß sie Seine Diener sind. Sie alle sind selbst-
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Im Angesicht des Todes
verwirklicht und nitya-mukta, ewig befreit. Obwohl es denkbar wäre, daß sie sich als Nārāyana ausgeben, tun sie das nie; sie bleiben immer Krsna-bewußt und dienen treu dem Herrn. Das ist die Stimmung, die auf Vaikunthaloka herrscht. Wenn wir durch die Bewegung für Krsna-Bewußtsein lernen, Sri Krsna treu zu dienen, werden auch wir immer in Vaikunthaloka verweilen und nichts mit der materiellen Welt zu tun haben. Jenseits der materiellen Welt Im bedingten Zustand weiß man nichts von der spirituellen Welt. Die spirituelle Welt aber existiert, wie dies Sri Krsna in der Bhagavadgitā (8.20) erklärt: paras tasmāt tu bhāvo 'nyo. „Neben der niederen Natur gibt es eine andere, höhere Natur." Die niedere, materielle Natur besteht aus Millionen und Abermillionen von Universen, die in einer Ecke des spirituellen Himmels zusammengedrängt sind. Wir können nicht einmal den Raum ermessen, den dieses eine Universum mit seinen unzähligen Planeten einnimmt. Aber es gibt Millionen und Abermillionen von Universen in der gesamten materiellen Schöpfung, die ihrerseits nur ein Viertel des Daseins ausmacht. Mit anderen Worten, die gesamte materielle Welt existiert in nur einem Viertel von Krsnas Energie, wāhrend die anderen drei Viertel den spirituellen Himmel bilden. Unglückselige Menschen glauben, daß die Erde bereits alles sei, doch das ist Froschphilosophie. Ein Frosch in einem Brunnen kann nicht verstehen, was jenseits seines Brunnens liegt, und mißt alles aus der Brunnenperspektive. Wenn ihm vom Ozean erzāhlt wird, kann er ihn sich nicht vorstellen. āhnlich bilden sich Leute mit einer solchen Froschmentalität ein: „Gott ist soundso", „Gottes Königreich ist soundso", oder „Ich bin Gott", oder „Es gibt keinen Gott." Das aber sind alles nur törichte Vorstellungen.
7. KAPITEL
Berechtigte Fragen Sukadeva Gosvāmi fuhr fort: Als die Diener Vāsudevas so von den Boten Yamarajas angesprochen wurden, lächelten sie und sprachen die folgenden Worte, mit Stimmen so tief wie der Hall donnernder Wolken: „Wenn ihr tatsāchlich Yamarajas Diener seid, müßt ihr uns erklären, was religiöse Grundsātze sind und worin die Merkmale der Irreligiosität bestehen. Wie findet die Bestrafung statt? Welchen Menschen wird sie zuteil? Sind alle zu bestrafen, die fruchtbringenden Tätigkeiten nachgehen, oder nur einige von ihnen?" (Srimad-Bhāgavatam 6.1.37-39) Was die Vertreter der Religion wissen sollten Die Yamadūtas hielten den Visnudütas entgegen: „Ihr seid so erhaben, daß es euch nicht geziemt, euch in unsere Angelegenheiten einzumischen." Die Yamadūtas waren überrascht, daß sich die Visnudütas, die so große Seelen waren, der Herrschaft Yamarajas in den Weg stellten; und auch die Visnudūtas waren sehr erstaunt, daß die Yamadūtas die Grundsātze der Religion nicht kannten, obwohl sie für sich in Anspruch nahmen, die Diener Yamarajas zu sein, des höchsten Richters religiöser Prinzipien. Deshalb lächelten die Visnudütas und dachten: „Was ist das für ein Unsinn, den sie da reden? Wenn sie wirklich Yamarajas Diener sind, sollten sie wissen, daß Ajāmila kein geeigneter Kandidat für sie ist." Die Visnudütas sprachen sodann mit strenger Stimme: „Ihr behauptet, die Bevollmächtigten Dharmarājas [Yamarāja] zu sein, des obersten Herrn über den Tod und des Erhalters der Religion, und ihr beschuldigt uns, euch bei der Arbeit zu stören, die er euch anvertraut hat. Würdet ihr uns daher bitte erklären, was dharma (Religion) 95
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Im Angesicht des Todes
und was adharma (Irreligiosität) ist? Wenn ihr tatsāchlich Yamarājas Bevollmächtigte seid, solltet ihr diese Fragen beantworten können." Die Frage, die die Visnudūtas den Yamadūtas stellten, ist von größter Wichtigkeit. Ein Diener muß die Anweisungen seines Meisters kennen. Yamarājas Diener behaupteten, dessen Anweisungen auszuführen, weshalb die Visnudütas sie klugerweise baten, die religiösen und irreligiösen Prinzipien zu erklären. Ein Vaisnava kennt diese Prinzipien genau, denn er ist mit den Unterweisungen der Höchsten Persönlichkeit Gottes wohlvertraut. Der Höchste Herr sagt: sarva-dharmān parityajya mām ekam saranam vraja. „Gib alle Arten von Religion auf und ergib dich einfach Mir!" Sich der Höchsten Persönlichkeit Gottes zu ergeben ist somit das eigentliche Grundprinzip der Religion. Alle Menschen, die sich nicht Krsna, sondern den Verlockungen der materiellen Natur ergeben, sind gottlos, ungeachtet ihrer weltlichen Position. Da sie die Grundsātze der Religion ignorieren, ergeben sie sich Krsna nicht. Deshalb gelten sie als sündhafte Schurken, als die Niedrigsten unter den Menschen und als Narren, die allen Wissens beraubt sind. Krsna erklärt in der Bhagavad-gitā (7.15): na mām duskrtino mūdhāh prapadyante narādhamāh māyayāpahrta-jnānā āsuram bhāvam āsritāh „Jene gottlosen Menschen, die abgestumpft und dumm sind, die die Niedrigsten der Menschheit sind, deren Wissen der Illusion anheimgefallen ist und die das atheistische Wesen von Dāmonen haben, ergeben sich Mir nicht." Die Fragen der Visnudūtas waren durchaus angebracht. Wer jemanden vertritt, muß sich über dessen Mission völlig bewußt sein. Die Gottgeweihten der Bewegung für Krsna-Bewußtsein müssen daher die Mission Krsnas und Sri Caitanyas wie auch die Philosophie des Krsna-Bewußtseins genau kennen; sonst werden die Leute sie für dumm halten. Sri Caitanya Mahāprabhu lehrt: yei krsna-tattva-vettā, sei 'guru' haya. „Man muß Krsna kennen - dann kann man guru werden."
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Nicht jeder kann ein guru werden. Die Visnudutas forderten die Yamadūtas also heraus: „Wenn ihr wirklich die Bevollmächtigten Dharmarājas seid, müßt ihr erklären, was Religion und was Irreligiosität ist." Das sollte das Kriterium sein, um zu bestimmen, wer tatsāchlich ein Vertreter der Religion ist. Nicht jeder sollte als Geistlicher oder guru akzeptiert werden. Weil Unwissenheit um sich greift, nimmt die Zahl derer immer mehr zu, die sich selbst Gott nennen und im Namen von dharma törichte Ansichten verbreiten. Jemand, der sagt: „Ich bin Gott", oder „Durch mystischen yoga wurde ich Gott", sollte zur Rede gestellt werden. In Amerika behauptete ein Mann: „Ich bin Gott, jeder ist Gott", und sammelte auf diese Weise Schüler um sich. Eines Tages bekam er Zahnschmerzen, und ich fragte ihn: „Was für ein Gott bist denn du, daß du so sehr unter Zahnschmerzen leidest?" Nur ein Verrückter oder ein Betrüger maßt sich an, Gott zu sein. Wem gebührt Strafe? Wer die Macht hat, andere zu bestrafen, sollte nicht jeden bestrafen. Es gibt zahllose Lebewesen, von denen sich die meisten in der spirituellen Welt befinden und nitya-mukta, ewig befreit, sind. über diese befreiten Lebewesen braucht nicht gerichtet zu werden. Nur ein kleiner Teil der Lebewesen, ein Viertel vielleicht, befindet sich in der materiellen Welt, wobei die meisten - 8 000 000 der 8 400 000 Lebensformen - auf einer niedrigeren Stufe stehen als die Menschen. Weil sie sich unter den Gesetzen der Natur automatisch fortentwickeln, machen sie sich nicht strafbar. Die Menschen mit ihrem hochentwickelten Bewußtsein jedoch sind für ihre Taten verantwortlich; trotzdem gebührt nicht allen Strafe. Menschen, die sehr fromm sind, müssen nicht bestraft werden, sondern nur die Sünder. Deshalb wollten die Visnudutas insbesondere wissen, nach welchen Gesichtspunkten Yamarāja festlegt, wer bestraft werden soll und wer nicht. Wie soll man über jemanden richten? Auf welchem Grundsatz beruht Autorität? So lauteten die Fragen der Visnudutas. Die Yamadūtas fühlten sich im Recht, weil sie den Anweisungen Yamarājas folgten, der unfehlbar ist. Ein Richter, der die Bestrafung von Gesetzesbrechern anordnet, ist kein Krimineller, sondern viel-
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mehr ein Vertreter der Regierung. Ebenso ist Yamarāja, der für die höllischen Regionen zuständig ist und nur mit sündhaften Menschen zu tun hat, ein reiner Stellvertreter Krsnas und führt lediglich die Anweisungen seines Meisters aus. Von einem Polizisten wird erwartet, daß er die Gesetze kennt und weiß, wen er wegen Gesetzesübertretung verhaften muß. Wenn er wahllos jeden verhaftet, ist er selbst ein Krimineller. Gesetzestreue Bürger darf er nicht in Haft nehmen. Genauso dürfen die Yamadūtas nicht jeden beliebigen Menschen vor Yamarājas Gerichtshof bringen, sondern nur die Nichtgottgeweihten, damit sie für ihre Sünden bestraft werden. Yamarāja hat die Yamadūtas eindringlich davor gewarnt, sich den Vaisnavas zu nähern. Weil Ajāmila jedoch ein sehr sündiges Leben geführt hatte, konnten die Yamadūtas nicht verstehen, warum er nicht als Verbrecher angesehen und vor Yamarāja gebracht werden sollte. Gottgeweihte und Dämonen In der materiellen Welt gibt es zwei Gruppen von Menschen: die Diener Gottes, die auch devas oder suras genannt werden, und die Diener māyās (Illusion), die auch asuras genannt werden. In der spirituellen Welt jedoch gibt es nur eine Gruppe, denn dort ist jeder ein Diener Gottes. Deshalb wird die spirituelle Welt als absolut bezeichnet. In der spirituellen Welt gibt es keinerlei Meinungsverschiedenheiten, denn Krsna, Gott, ist der Mittelpunkt, und jeder dient Ihm aus Liebe, nicht als bezahlter Diener. Ein bezahlter Diener wird im Verhältnis zu seinem Entgelt Dienst verrichten; den Dienern in Vaikuntha jedoch geht es nicht um Bezahlung. Sie alle sind befreit und so reich wie die Höchste Persönlichkeit Gottes, aber sie sehen sich dennoch immer als Diener. In der materiellen Welt dienen die Menschen aus Notwendigkeit, wāhrend in der spirituellen Welt jeder aus Liebe dient. Nichts ist dort „notwendig", denn alles ist in sich vollkommen. Die Brahma-samhitā beschreibt, daß es in der spirituellen Welt kalpa-vrksas, Wunschbäume, gibt, von denen man jeden Wunsch erfüllt bekommt. In der materiellen Welt wird jeder zum Dienst gezwungen. Wenn man keinen Dienst leistet, verhungert man. Selbst ein König muß
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arbeiten, ganz zu schweigen von einem armen Mann. Unter der Leitung des Höchsten Herrn macht die materielle Energie aus jedem einen tanzenden Hund. Der Meister befiehlt: „Tanz!", und der Hund tanzt, denn er weiß, daß er andernfalls verhungern müßte. Jeder - ob in der materiellen oder in der spirituellen Welt - ist ein Diener. Aber hier in der materiellen Welt stehen die Menschen unter dem falschen Eindruck, sie seien die Herren. Das Oberhaupt der Familie glaubt: „Ich bin der Herr meiner Frau und meiner Kinder." In Wirklichkeit jedoch dient er den Familienmitgliedern. Das Staatsoberhaupt denkt: „Ich bin König", oder „Ich bin Präsident", aber eigentlich ist er ein Diener der Bürger. Seine Position ist die eines Dieners, und wenn sein Dienst nicht die Erwartungen der Bürger erfüllt, wird er abgesetzt oder nicht wiedergewählt. In der materiellen Welt versucht jeder, in seinem Bereich Herr und Meister zu sein. Daher gibt es auf allen Ebenen Konkurrenzkämpfe - zwischen selbsternannten „Göttern", zwischen Staatsoberhäuptern und selbst zwischen Freunden und Familienmitgliedern. Doch jeder geht aus diesem illusorischen Konkurrenzkampf als Verlierer hervor. Mahatma Gandhi wurde respektvoll als „Vater Indiens" bezeichnet, aber trotz allem war er nur ein Diener, und er wurde sogar ermordet, weil jemand mit seinem Dienst nicht zufrieden war. Auch Präsident Kennedy war ein sehr beliebter Präsident. Doch jemand sah einige Māngel in seinem Dienst und ermordete ihn. Niemand in dieser Welt ist wirklich der Herr. Jeder ist entweder ein Diener māyās (Illusion) oder ein Diener Gottes. Die Gesetze der Regierung muß jeder befolgen. Von Illusion verblendet, denkt der Verbrecher jedoch: „Ich akzeptiere die Gesetze der Regierung nicht." Aber wenn er verhaftet wird, ist er gezwungen, die Gesetze im Gefängnis zu befolgen. Er hat keine andere Wahl. Genauso sind wir alle Diener Gottes, aber die dämonischen Menschen (asuras) kümmern sich nicht um Gott und Seine Gesetze. Diese Schurken glauben, es gebe keinen Gott, jeder sei Gott oder sie selbst seien Gott. Doch solche „Götter" müssen ebenfalls die Gesetze Gottes in Form von Geburt, Tod, Krankheit und Alter befolgen. Nur Menschen, die völlig unter dem Bann der Illusion stehen, weigern sich, Gott zu dienen. Anstatt Gott freiwillig Dienst darzubringen, sind sie Sklaven māyās, der illusionierenden Energie Gottes.
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Wer von Geistern besessen ist, redet nur dummes Zeug, und ebenso redet ein Mensch, der von māyā besessen und von den Illusionen der materiellen Natur verblendet ist, nur groben Unsinn, welcher in der Behauptung gipfelt, er sei Gott. Zwischen den beiden Gruppen von Menschen - der göttlichen (devas) und der dämonischen (asuras) - herrscht ein nie endender Kampf. Die asuras rebellieren ständig gegen Gott, wohingegen die devas Ihm immer ergeben sind. Aus der Geschichte von Prahlāda Mahārāja geht hervor, daß es selbst unter Familienmitgliedern devas und asuras geben kann. Prahlāda Mahārājas Vater, Hiranyakasipu, war ein asura, wāhrend Prahlāda Mahārāja ein deva war. Normalerweise hat ein Vater sein Kind gern; aber weil Hiranyakasipu ein Dāmon war, wurde er zum Feind seines eigenen Sohnes. Das ist das Wesen von Dāmonen. Wie selbst ein Tiger Zuneigung für seine Jungen verspürt, so empfand anfänglich auch Hiranyakasipu Zuneigung für Prahlāda Mahārāja, der ein fünfjähriger Junge von gutem Betragen und reizender Erscheinung war. Eines Tages fragte Hiranyakasipu seinen Sohn: „Mein lieber Junge, sag mir: Was ist das Beste, das du in der Schule gelernt hast?" „Man sollte alles aufopfern, um Gott zu erkennen", antwortete Prahlāda Mahārāja. „Die menschliche Lebensform bietet uns die beste Möglichkeit, spirituellen Fortschritt zu machen, und wir müssen sie nutzen, um Gott zu erkennen." Da wandte sich Hiranyakasipu wutentbrannt an die Lehrer seines Sohnes: „Warum habt ihr dem Jungen all diesen Unsinn beigebracht?" „O Herr, diese Dinge haben nicht wir dem Jungen beigebracht", entgegneten sie voller Angst. „Er ist von Natur aus Gott zugeneigt! Wir sind unschuldig. Sobald sich die Gelegenheit bietet, predigt er vor seinen Klassenkameraden über Gottesbewußtsein." Wenn kein Lehrer anwesend war, stieg Prahlāda Mahārāja sofort auf eine Bank und wandte sich an seine Freunde: „Meine lieben Jungen, dieses Leben ist nicht für Sinnenbefriedigung bestimmt, sondern für Gotteserkenntnis. Vergeßt das nicht!" Diese Predigermission haben auch wir auf uns genommen, weil den Menschen im allgemeinen nur an sofortiger Sinnenbefriedigung gelegen ist, wodurch sie sich selbst schaden. Im Srimad-Bhagavatam
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(5.5.4) sagt Rsabhadeva: nūnam pramattah kurute vikarma yad indriyapritaya āprnoti. „Nur um der Befriedigung ihrer Sinne willen begehen die Menschen zahllose sündhafte Handlungen. Sie verhalten sich wie Verrückte." Ein Verrückter weiß nicht, was er tut. Materialistische Menschen sind derart von ihrem Streben nach Sinnenbefriedigung besessen, daß sie ihren Verstand verloren haben und alle möglichen Sünden begehen. Rsabhadeva betont, daß die materialistische Lebensweise sehr riskant ist. Den Menschen, die dem Sinnengenuß frönen, gibt Krsna entsprechende Möglichkeiten, indem Er sie zwingt, immer wieder in der materiellen Welt geboren zu werden. Ein Affe zum Beispiel hat ausgezeichnete Möglichkeiten zu sexuellem Genuß. In gewisser Hinsicht führt ein Affe sogar ein Leben der Entsagung: Er lebt nackt im Wald und frißt nur Früchte. Doch seine Natur ist es, daß er mindestens drei Dutzend Äffinnen für seinen sexuellen Genuß braucht. Sogenannte Asketen, die die Kleidung eines sādhu tragen, heimlich aber unerlaubten Geschlechtsverkehr mit Frauen haben, sind nichts anderes als Affen. Solch ein Verhalten ist dämonisch. Dämonen (asuras) glauben nicht an Gott und handeln nach ihren eigenen Launen. In der Bhagavad-gitā (7.15) beschreibt Krsna sie wie folgt: na mām duskrtino mūdhāh prapadyante narādhamāh māyayāpahrta-jhānā āsuram bhāvam āsritāh „Jene gottlosen Menschen, die abgestumpft und dumm sind, die die Niedrigsten der Menschheit sind, deren Wissen der Illusion anheimgefallen ist und die das atheistische Wesen von Dāmonen haben, ergeben sich Mir nicht." Hier stellt Krsna eindeutig fest: āsurarh bhāvam āsritāh. Weil die Dāmonen bei atheistischer Philosophie Zuflucht gesucht haben, sind sie trotz ihres Fortschritts in Bildung, Wissenschaft und Politik die Niedrigsten der Menschheit. Jemand mag einwenden: „Wie kann man einen vornehmen Atheisten mit Universitätstitel Dāmon nennen? Er ist doch derart gebildet und kompetent." Das Urteil der sāstras jedoch lautet, daß sein Wissen - trotz all seiner Gelehrtheit -
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in Wirklichkeit māyā anheimgefallen ist, da er atheistisch eingestellt ist. Die Anweisungen der Schriften mögen nicht sehr angenehm sein; aber nichtsdestoweniger sind sie maßgebend, und wir müssen die Wahrheit predigen. Mit den Problemen des Lebens können wir nicht Versteck spielen. Wir müssen unsere wirkliche Lage erkennen und verstehen, was Religion und was Irreligiosität ist. Religion bedeutet, nach den Anordnungen Gottes zu handeln, und Irreligiosität bedeutet, ihnen zuwider zu handeln.
8. KAPITEL
Was ist Religion? Die Yamadutas antworteten: „Was in den Veden vorgeschrieben wird, ist dharma [Religion], und das Gegenteil davon ist Irreligiosität. Die Veden sind direkt die Höchste Persönlichkeit Gottes, Nārāyana, und sie sind selbstgeboren. So haben wir es von Yamarāja vernommen." (Srimad-Bhāgavatam 6.1.40) Hören von der richtigen Quelle Die vedischen Grundsātze werden als autoritativ anerkannt, weil sie von Krsna ausgehen. Daher besitzen die Veden die Autorität der Höchsten Persönlichkeit Gottes, ebenso wie Gesetzbücher die Autorität der Regierung besitzen. Wenn es darum geht, zu bestimmen, was Religion und was Irreligiosität ist, sind Meinungen und Mutmaßungen fehl am Platz. In diesem Zusammenhang zu sagen: „Ich glaube dies", „Ich denke das", ist unsinnig. Wir müssen Gott durch den Vorgang des susruma verstehen, das heißt durch Hören von einem bevollmächtigten Stellvertreter Gottes. In der Bhagavad-gitā (4.1) sagt Krsna: imam vivasvate yogam proktavān aham avyayam vivasvān manave prāha manur iksvākave bravit „Ich unterwies Vivasvān, den Sonnengott, in dieser unvergänglichen Wissenschaft des yoga; Vivasvān unterwies Manu, den Vater der Menschheit, und Manu seinerseits unterwies Iksvāku." Nur wenn man von einer echten Autorität, dem spirituellen Meister, hört, kann man die Veden verstehen. 103
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Die Yamadūtas forderten die Visnudutas also auf, sie nicht an der Ausübung ihrer Pflichten zu hindern, handelten sie doch auf Anweisung Yamarājas, einer echten Autorität. Yamarāja ist einer der zwölf mahājanas, der großen Autoritäten, die in spirituellen und materiellen Angelegenheiten maßgebend sind. Er ist ein Vaisnava, aber seine undankbare Aufgabe besteht darin, all die Seelen zu bestrafen, die sündhaft handeln. Genauso wie der Polizeichef ein verantwortungsvoller, treuer Diener der Regierung ist, ist Yamarāja der ergebene Diener Nārāyanas, Krsnas. Seine Aufgabe ist es, Sünder zu bestrafen. Wenn schon in einer gewöhnlichen Regierung ein oberster Richter erforderlich ist, warum nicht auch in der Regierung Gottes? Im Srimad-Bhāgavatam werden zwölf mahājanas erwähnt: Brahma, Nārada Muni, Siva, die vier Kumāras, Kapila (der Sohn Devahütis), Svayambhuva Manu, Prahlāda Mahārāja, Bhismadeva, Janaka Mahārāja, Sukadeva Gosvāmi, Bali Mahārāja und Yamarāja. Diese Autoritāten wissen genau, wer Gott ist, und können uns den Weg zu Ihm weisen. Deshalb empfehlen uns die sāstras, ihnen zu folgen. Die Wichtigkeit des spirituellen Meisters Ohne den mahājanas nachzufolgen, ist es nicht möglich, Gott zu verstehen, denn der Pfad der Religion kann nicht durch Spekulation erkannt werden. Die religiösen Prinzipien werden von der Höchsten Persönlichkeit Gottes festgelegt (dharmam tu sāksād bhagavatpranitam). Wirkliche Religion bedeutet daher, sich an die Worte des Höchsten Herrn und Seiner Stellvertreter zu halten. In der Bhagavad-gitā (18.66) sagt Krsna: mām ekam saranam vraja. „Ergib dich einfach Mir!" Das ist wahre Religion. Alles andere ist Irreligiosität. Von Menschen geschaffene Religion ist nicht Religion, sondern Betrug. Heutzutage ist es Mode geworden, daß jeder seine eigene Religion erfindet, ohne sich auf die Autoritäten zu stützen. Dharma (Religion) jedoch bedeutet: die von Gott dem Menschen gegebenen Gesetze. Die mahājanas folgen strikt dem Pfad des dharma, und wir müssen ihrem Beispiel folgen. Andernfalls können wir nicht verstehen, was Religion ist oder wer Gott ist. überall in der materiellen Welt herrscht Verwirrung, wenn es um Religion geht. Daher heißt es in der Mundaka Upanisad (1.2.12), man
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solle einen guru aufsuchen: tad vijnānārtham sa gurum evābhigacchet. „Wenn jemand die transzendentale Wissenschaft erlernen möchte, muß er sich an einen guru wenden." Es gibt keine Ausnahmen. Man kann nicht sagen: „Ich werde die transzendentale Wissenschaft erlernen, ohne mich an einen spirituellen Meister zu wenden." Nein, das ist nicht möglich. Die Vaisnava-Prinzipien schreiben vor: ādau gurv-āsrayam. „Um spirituelles Wissen zu erlangen, muß man als erstes bei einem echten guru Zuflucht suchen." Drei Grundsätze sind zu beachten, wenn man bei einem guru Zuflucht sucht: tad viddhi pranipātena pariprasnena sevayā. Wir müssen uns dem spirituellen Meister ergeben, ihm Fragen stellen und ihm dienen. Dann wird es uns möglich sein, echtes spirituelles Wissen zu verstehen. Als sich Sanātana Gosvāmi an Sri Caitanya wandte, um Sein Schüler zu werden, ergab er sich Ihm mit den folgenden Worten: „Mein lieber Herr, als ich Minister war, nannten mich die Menschen immer einen gebildeten Mann - und so hielt ich mich für gebildet und intelligent. Tatsāchlich aber bin ich weder gebildet noch intelligent, denn ich weiß nicht, wer ich bin. So weit hat mich meine Bildung gebracht. Ich weiß alles, nur nicht, wer ich bin und wie ich den leidvollen materiellen Lebensbedingungen entkommen kann." Wie wir sehen, versagt auch das moderne Bildungswesen in diesem Punkt. Die Professoren sprechen über alles mögliche, aber wenn wir einen von ihnen fragen, wer er ist, weiß er keine Antwort. Die Universitäten verleihen unzählige Hochschulabschlüsse, und die Absolventen denken: „Ich bin ein Doktor, ein großer Gelehrter." Sobald wir aber diesen Doktor bitten zu erklären, wer er sei und worin das Ziel des Lebens bestehe, wird er nur körperliche Designationen und Äußerlichkeiten anführen: „Ich bin Amerikaner, ich bin ein Mann, usw." Er kennt nichts anderes als die Identifikation mit seinem Körper, aber er ist nicht der Körper. Folglich ist er ein erstklassiger Dummkopf. Mit körperlichen Beziehungen identifizierte sich anfänglich auch Arjuna: „Krsna, wie soll ich noch kämpfen können? Auf der anderen Seite stehen meine Vettern, meine Brüder, meine Onkel, meine Neffen und Schwāger. Wenn ich sie töte, werden ihre Frauen zu Witwen. Sie werden ihre Sittsamkeit verlieren, und so werden unerwünschte Kinder zur Welt kommen." Arjuna war sehr gebildet, aber
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dennoch geriet er in Verwirrung. „Mein lieber Krsna", sprach er, „ich weiß nicht mehr weiter. Ich bin ein ksatriya, und meine Pflicht ist der Kampf; doch ich weiche von dieser Pflicht ab, da ich verwirrt bin und keinen Ausweg mehr sehe. Ich weiß, Du kannst mir erklären, was ich tun soll; deshalb wende ich mich an Dich als Dein ergebener Schüler. Bitte unterweise mich!" (Bhagavad-gitā 2.7) Die vedischen Schriften lehren uns als allererstes, daß der guru kein Spielzeug ist. Man sollte nicht denken: „Ich muß einen guru haben, weil es Mode ist. Aber es ist nicht nötig, seinen Anweisungen zu folgen." Ein solcher guru ist ebenso nutzlos wie sein Schüler. Das Annehmen eines guru ist eine sehr ernste Angelegenheit. Man muß aufrichtig suchen und herausfinden, wer ein echter spiritueller Meister ist, der die Probleme des Lebens zu lösen vermag. Nur wenn man den ernsthaften Wunsch hat, aus dem sengenden Feuer des materiellen Daseins herauszukommen, sollte man sich an einen spirituellen Meister wenden. Im Srimad-Bhāgavatam (11.3.21) heißt es: tasmād gurum prapadyeta jijnāsuh sreya uttamam sabde pare ca nisnātam brahmany upasamāsrayam Wer in seinem Leben die höchste Segnung erlangen möchte, muß sich einem guru ergeben. Der guru muß in den vedischen Schriften wohlbewandert sein und ihre Schlußfolgerungen kennen. Er muß aber nicht nur mit den Schriften vertraut sein, sondern auch in seinem Leben dem Pfad der vedischen Prinzipien folgen, ohne im geringsten davon abzuweichen. Er muß alle Verlangen nach Reichtum, Frauen und Ansehen hinter sich gelassen haben. Er muß fest im spirituellen Leben verankert und völlig der Höchsten Persönlichkeit Gottes, Krsna, ergeben sein. Solch eine Persönlichkeit sollte man ausfindig machen und als spirituellen Meister annehmen. Yamarājas Diener hatten also genau richtig geantwortet. Sie hatten keine neue Definition von Religion und Irreligiosität erfunden, sondern wiederholten nur, was sie von ihrem spirituellen Meister, Yamarāja, gehört hatten. Mahajano yena gatah sa panthāh. „Man sollte
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einem mahajana, einer bevollmächtigten Persönlichkeit, folgen." Da Yamaraja einer der zwölf Bevollmächtigten ist, antworteten seine Diener, die Yamadutas, zu Recht: susruma. „Wir haben es von unserem Meister, Yamaraja, gehört."
9. KAPITEL
Bestrafung Die Yamadūtas fuhren fort: „Nārāyana, die höchste Ursache aller Ursachen, befindet Sich in Seinem Reich in der spirituellen Welt, aber dennoch lenkt Er die gesamte kosmische Manifestation durch die drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur - Tugend, Leidenschaft und Unwissenheit. Auf diese Weise erhalten alle Lebewesen verschiedene Eigenschaften, verschiedene Namen [wie brāhmana, ksatriya und vaisya], verschiedene Pflichten gemäß dem varnāsrama-Gesellschaftssystem und verschiedene Körperformen. Nārāyana ist also die Ursache der gesamten kosmischen Manifestation. Die Sonne, das Feuer, der Himmel, die Luft, die Halbgötter, der Mond, der Abend, der Tag, die Nacht, die Himmelsrichtungen, das Wasser, das Land und die Überseele selbst sind die Zeugen der Handlungen aller Lebewesen. Bestraft werden all diejenigen, über die diese zahlreichen Zeugen aussagen, sie seien von ihren vorgeschriebenen Pflichten abgewichen. Jeder, der fruchtbringenden Tätigkeiten nachgeht, verdient es, für seine sündhaften Taten bestraft zu werden. O Bewohner Vaikunthas, ihr seid frei von Sünde, aber diejenigen, die sich in der materiellen Welt befinden, sind karmis [materiell motivierte Arbeiter], ob sie nun fromm oder gottlos handeln. Beide Handlungsweisen stehen ihnen offen, denn sie sind durch die drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur verunreinigt und müssen dementsprechend handeln. Wer einen materiellen Körper angenommen hat, kann nicht inaktiv bleiben, und sündhafte Taten sind unvermeidlich für jeden, der unter dem Einfluß der drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur handelt. Deshalb gebührt allen Lebewesen innerhalb der materiellen 108
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Welt Bestrafung. Man muß also gemäß dem Ausmaß der religiösen und irreligiösen Handlungen, die man im gegenwärtigen Leben begeht, im nächsten Leben entsprechende karma-Reaktionen genießen oder erleiden." (Srimad-Bhāgavatam 6.1.41-45) Die Ursache hinter allen Handlungen In der Svetāsvatara Upanisad (6.8) heißt es: na tasya kāryam karanam ca vidyate na tat-samas cābhyadhikas ca drsyate parāsya saktir vividhaiva srūyate svābhāviki jnāna-bala-kriyā ca Nārāyana, die Höchste Persönlichkeit Gottes, ist allmächtig und hat vielfältige Energien. Er weilt in Seinem Reich und vermag gleichzeitig ohne Anstrengung die gesamte kosmische Manifestation zu beaufsichtigen und durch das Zusammenspiel der drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur (Tugend, Leidenschaft und Unwissenheit) zu lenken. Durch dieses Zusammenspiel kommen in vollkommenem Ablauf die verschiedenen Formen, Körper, Handlungen und Veränderungen zustande. Der Herr ist vollkommen, und deshalb funktioniert alles so, als ob Er es unmittelbar überwachen würde und persönlich daran teilnähme. Atheistische Menschen jedoch sind von den drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur bedeckt und können nicht sehen, daß Nārāyana die höchste Ursache hinter allen Handlungen ist. Krsna bestätigt dies in der Bhagavad-gita (7.13): tribhir guna-mayair bhāvair ebhih sarvam idam jagat mohitam nābhijānāti mām ebhyah param avyayam „Getäuscht von den drei Erscheinungsweisen, kennt die gesamte Welt Mich nicht, der Ich über den drei Erscheinungsweisen stehe und unerschöpflich bin."
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Im Angesicht des Todes Die Notwendigkeit des Arbeitens
Es gibt drei Energien des Höchsten Herrn: die innere Energie (parāsakti), die marginale Energie und die äußere Energie. Die Lebewesen gehören zur marginalen Energie, weil sie entweder unter dem Einfluß der inneren Energie oder der äußeren Energie des Herrn stehen können. Von Natur aus gehören sie der parā-sakti an, doch sobald sie unter den Einfluß der materiellen Energie geraten, werden sie als ksetra-jna-sakti, „Kenner des materiellen Feldes", bezeichnet. Mit anderen Worten, die unmittelbare, innere Energie Gottes ist spirituell (parā), und die Lebewesen sind von derselben Natur (parā); aber aufgrund ihres Kontaktes mit der materiellen Energie (ksetra) halten sie den materiellen Körper für das Selbst und sind gezwungen, mit den fünf Sinnen zu handeln. Die Yamadūtas sagen, daß jeder, der einen materiellen Körper hat, arbeiten muß. Dies trifft sowohl auf die Ameise als auch auf den Elefanten zu. Die Ameise braucht für ihre Ernährung nur einen Krümel Zucker, wohingegen der Elefant täglich dreihundert Kilo Futter braucht - doch beide müssen dafür etwas tun. Ignoranten behaupten, daß die Vaisnavas nicht arbeiten; aber die Vaisnavas arbeiten für Krsna vierundzwanzig Stunden am Tag. Sie sind keine müßigen Nichtstuer. Solange wir in der materiellen Welt leben, müssen wir arbeiten, doch wir arbeiten für Krsna. Das ist nicht Arbeit im Sinne von karma, sondern dharma, angewandte Religion. Wenn jemand nicht für Krsna tätig ist, ist seine Arbeit adharma, irreligiöse Sinnenbefriedigung. Varnāsrama-dharma Das wahre Lebensziel besteht darin, Krsna zufriedenzustellen, und varnāsrama-dharma ist das Gesellschaftssystem, das auf diesem Ideal beruht. Das varnāsrama-System teilt die Gesellschaft in vier spirituelle Lebensstufen (āsramas) und vier soziale Klassen (varnas) ein. Die spirituellen Lebensstufen bestehen aus den brahmacāris (Studenten im Zölibat), den grhasthas (Haushälter, die nach spirituellen Prinzipien leben), den vānaprasthas (Menschen, die in Zurückgezogenheit leben) und den sannyāsis (Menschen, die in Entsagung
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leben). Die vier sozialen Klassen sind die brāhmanas (Intellektuelle), die ksatriyas (Krieger und Regierende), die vaisyas (Bauern und Geschäftsleute) und die sūdras (Arbeiter). Ohne die Grundsātze des varnāsrama-dharma befindet sich die Gesellschaft der Menschen fast auf der Stufe der Tiere. Tatsāchlich beginnt menschliche Zivilisation erst dann, wenn die Menschen die Einteilung der Gesellschaft in die vier sozialen und spirituellen Klassen akzeptieren, und zwar auf der Grundlage von Eigenschaft und Arbeit. Wie Krsna in der Bhagavad-gitā (4.13) sagt: cātur-varnyam mayā srstam guna-karma-vibhāgasah. „Ich habe die vier sozialen Einteilungen gemäß Eigenschaft und Arbeit geschaffen." In der materiellen Welt stehen wir unter dem Einfluß einer bestimmten Kombination der drei Erscheinungsweisen der Natur. Dementsprechend bildet sich unser Charakter und unser Verhalten, die als Kriterium dafür dienen, welcher gesellschaftlichen Einteilung wir angehören. Heutzutage sagen die Menschen, es solle kein Klassensystem mehr geben, aber wie können sie die naturgegebene Unterteilung der Gesellschaftsklassen ignorieren? Es muß eine Klasse von brāhmanas, intelligenten Menschen, geben, die geeignet sind, den Menschen das vedische Wissen zu vermitteln. Es muß eine Klasse von ksatriyas geben, die Führung und Schutz bieten. Es muß eine Klasse von vaisyas, Händlern und Bauern, geben, die dem Handel und den landwirtschaftlichen Aufgaben, wie beispielsweise dem Schutz der Kühe, nachgehen. Schließlich muß es eine Klasse von sūdras geben, die den anderen Klassen dient. Jeder Mensch gehört entsprechend seiner Natur (guna) einer dieser vier Klassen an. Die Vollkommenheit der Arbeit Die Vollkommenheit unserer Arbeit besteht darin, Visnu (Krsna) zufriedenzustellen - unabhängig davon, welchem varna und āsrama wir angehören. Dies betont der Herr in der Bhagavad-gitā (3.9): yajnārthāt karmano 'nyatra loko 'yam karma-bandhanah tad-artham karma kaunteya mukta-sangah samācara
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„Man muß seine Arbeit Visnu als Opfer darbringen, denn sonst wird man durch sie an die materielle Welt gebunden. O Arjuna, erfülle daher deine vorgeschriebenen Pflichten zu Seiner Zufriedenstellung; auf diese Weise wirst du immer frei von Bindung bleiben." Das ist die Quintessenz des menschlichen Lebens. Da wir arbeiten müssen, sollten wir für Krsna arbeiten. Das wird uns vor allen sündhaften Reaktionen bewahren. Wenn wir indes für unsere eigene Sinnenbefriedigung arbeiten, werden wir uns Leben für Leben in sündhafte Handlungen und ihre Folgen verstricken. Niemand kann den Fesseln wiederholter Geburten und Tode entrinnen, solange er nach Sinnenbefriedigung strebt. Caitanya Mahāprabhu sagt: jivera 'svaRūpa' haya — krsnera 'nityadāsa' (Caitanya-caritamrta, Madhya-lilā 20.108). „Die wesensgemäße Stellung des Lebewesens ist es, ewig ein Diener Krsnas zu sein." Wenn jemand diese Stellung einnimmt, ist er gerettet - andernfalls nicht. Wie nun handelt jemand, der seine Stellung als ewiger Diener Krsnas einnimmt? Prahlāda Mahārāja erklärt im Srimad-Bhāgavatam (7.5.23): sravanam kirtanam visnoh smaranam pāda-sevanam arcanam vandanam dāsyam sakhyam ātma-nivedanam „über den heiligen Namen, die Form, die Eigenschaften, die Attribute und die Spiele Sri Visnus zu hören und zu chanten und sich an sie zu erinnern, den Lotosfüßen des Herrn zu dienen, dem Herrn Verehrung und Gebete darzubringen, Sein Diener zu werden, den Herrn als besten Freund zu sehen und Ihm alles hinzugeben - dies sind die neun Vorgānge reinen hingebungsvollen Dienstes." Um diese Vorgānge ernsthaft zu befolgen, muß man sich an die regulierenden Prinzipien des spirituellen Lebens halten: kein Essen von Fleisch, kein unzulässiges Geschlechtsleben, keine Berauschung und kein Glücksspiel. Dann wird man die Anweisung annehmen können, den Hare-Krsna-mahā-mantra zu chanten und dem Herrn
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immer auf eine der genannten neun Arten zu dienen. Wenn wir diese Anweisung beherzigen, wird unser Leben in spiritueller und materieller Hinsicht erfolgreich sein. Ansonsten müssen wir uns damit begnügen, unsere Sinne zu befriedigen und sündhaften Betätigungen nachzugehen. So werden wir wie Hunde und Schweine zu leiden haben und dem Kreislauf von Geburt, Alter, Krankheit und Tod unterworfen sein. Unwissenheit: die Ursache von Leid Wir halten den Körper für unser Selbst und denken: „Ich bin dieser Körper." In Wirklichkeit jedoch sind wir nicht der Körper, sondern der Besitzer des Körpers, genauso wie wir nicht unsere Wohnung sind, sondern der Mieter oder Besitzer der Wohnung. Die Seele wird dehi genannt, „jemand, der einen Körper besitzt". Wenn wir unseren Körper betrachten, sagen wir: „Das ist meine Hand, das ist mein Bein", und nicht: „Ich bin diese Hand, ich bin dieses Bein." Aber die Illusion, daß wir der Körper sind, bleibt bestehen. Der Körper ist nur ein Fortbewegungsmittel für die Seele. Manchmal wird ein neues Auto in einem Unfall zu Schrott gefahren, und der Fahrer wird vom Gefühl des Verlustes überwältigt - er vergißt ganz, daß er nicht das Auto ist. Das ist die Auswirkung des falschen Egos (ahankāra), das heißt des falschen Besitzanspruches. Weil wir von Unwissenheit bedeckt sind, haben wir vergessen, welchen Körper wir im vergangenen Leben besaßen. Selbst im gegenwärtigen Leben können wir uns nicht mehr erinnern, daß wir einst ein Baby auf dem Schoße unserer Mutter waren. Wir haben schon so viele Dinge erlebt, doch wir können uns nicht mehr an sie alle erinnern. Wie sollen wir also in der Lage sein, uns an frühere Leben zu erinnern, wenn wir nicht einmal wissen, was alles im jetzigen Leben geschehen ist? Man begeht sündhafte Handlungen, weil man sich nicht dessen bewußt ist, welche Tätigkeiten des vergangenen Lebens zum jetzigen materiell bedingten Körper geführt haben, der den dreifachen Leiden unterworfen ist: Leiden, die vom eigenen Körper und Geist hervorgerufen werden, Leiden, die von anderen Lebewesen verursacht werden, und Leiden, die durch Naturkatastrophen entstehen.
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Im Angesicht des Todes
Dies bestätigt auch Rsabhadeva im Srimad-Bhāgavatam (5.5.4): nūnam pramattah kurute vikarma yad indriya-prutaya āprnoti. „Ein Mensch, der verrückt nach Sinnenbefriedigung ist, zögert nicht zu sündigen." Na sādhu manye. „Das ist nicht gut." Yata ātmano 'yam asann api klesada āsa dehah. „Aufgrund sündhafter Handlungen bekommt man einen weiteren Körper, in dem man leiden muß, genauso wie man im gegenwärtigen Körper aufgrund vergangener sündhafter Tätigkeiten leiden muß." Menschen ohne vedisches Wissen handeln in Unwissenheit und verstehen nicht, was sie in der Vergangenheit getan haben, was sie in der Gegenwart tun und was sie in der Zukunft zu erleiden haben. Sie befinden sich in völliger Dunkelheit. Deshalb lautet die vedische Unterweisung: tamasi mā. „Bleibe nicht in der Dunkelheit!" Jyotir gama. „Versuche, zum Licht zu gelangen!" Dieses Licht ist das vedische Wissen. Um es zu verstehen, muß man sich zur Erscheinungsweise der Tugend erheben und diese transzendieren, indem man dem spirituellen Meister und dem Höchsten Herrn in Hingabe dient. Der Weg zum Wissen Die Svetāsvatara Upanisad (6.23) beschreibt, wie Dienst für den Herrn und den spirituellen Meister zu vedischem Wissen führt: yasya deve parā bhaktir yathā deve tathā gurau tasyaite kathitā hy arthāh prakāsante mahātmanah „Den großen Seelen, die festen Glauben an den Herrn und den spirituellen Meister haben, wird die Bedeutung des vedischen Wissens von selbst enthüllt." Die Veden betonen: tad-vijnānārtham sa gurum evābhigacchet. Um ein Geweihter des Herrn zu werden, muß man einen spirituellen Meister aufsuchen, der vollständiges Wissen über die Veden hat, und sich von ihm anleiten lassen. Dann wird einem das Wissen der Veden offenbart, und man braucht nicht mehr in der Dunkelheit der materiellen Natur zu bleiben.
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Das Lebewesen erhālt seinen Körper entsprechend seiner Verbindung mit den drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur - Tugend, Leidenschaft und Unwissenheit. Das Beispiel für einen Menschen in der Erscheinungsweise der Tugend ist ein qualifizierter brāhmana. Solch ein brāhmana kennt Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, weil er das vedische Wissen zu Rate zieht und durch die Augen der Schriften sieht (sāstra-caksuh). Er ist sich seines vorangegangenen Lebens bewußt und weiß, warum er sich im gegenwārtigen Körper befindet und wie er aus den Fāngen māyās befreit werden kann, um nicht mehr einen materiellen Körper annehmen zu müssen. Dies alles wird möglich, wenn man sich in der Erscheinungsweise der Tugend befindet. Im allgemeinen jedoch sind die Lebewesen in der materiellen Welt in den Erscheinungsweisen der Leidenschaft und Unwissenheit gefangen. In der Erscheinungsweise der Unwissenheit kennt man weder sein vergangenes noch sein nächstes Leben; man ist nur am jetzigen Körper interessiert. Ein Mensch, der sich in Unwissenheit befindet und nur an seinen gegenwärtigen Körper denkt, ist wie ein Tier - trotz seines menschlichen Körpers. Denn das unwissende Tier glaubt, das höchste Ziel im Leben sei das unmittelbare Glücksgefühl des Fressens und Paarens. Ein Mensch muß dazu erzogen werden, sich über diese Ebene zu erheben, damit er aus seinem letzten Leben lernen kann und erkennt, wie es ihm möglich ist, in der Zukunft ein besseres Leben zu führen. Es gibt sogar ein Buch namens Bhrgu-samhitā, das anhand astrologischer Berechnungen Auskunft über vergangene, gegenwärtige und zukünftige Leben gibt. Man muß irgendwie über seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufgeklārt werden. Wer nur an seinem gegenwärtigen Körper interessiert ist und versucht, mit seinen Sinnen bis zum Äußersten zu genießen, befindet sich in der Erscheinungsweise der Unwissenheit, und seine Zukunft ist sehr, sehr düster. Völlig unwissende Menschen erwartet in der Tat immer eine düstere Zukunft. Besonders im gegenwärtigen Zeitalter ist die menschliche Gesellschaft durch die Erscheinungsweise der Unwissenheit bedeckt. Jeder glaubt daher, sein gegenwärtiger Körper sei das ein und alles, und denkt weder an die Vergangenheit noch an die Zukunft.
10. KAPITEL
Vorherbestimmung und Unabhängigkeit Die Yamadutas fuhren fort: „O beste der Halbgötter, Leben tritt in drei verschiedenen Formen auf, die auf die Verunreinigung durch die drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur zurückzuführen sind. Die Lebewesen haben demnach verschiedene Eigenschaften: friedvoll, rastlos oder dumm, glücklich, unglücklich oder mittelmäßig, und religiös, irreligiös oder halbreligiös. Daraus lāßt sich ableiten, daß diese drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur im nächsten Leben in ähnlicher Weise wirken werden. So wie der jetzige Frühling auf das Wesen von vergangenen und zukünftigen Frühlingen hinweist, gibt das Glück und Leid des gegenwärtigen Lebens Aufschluß über die religiösen und irreligiösen Handlungen des vergangenen und zukünftigen Lebens. Der allmächtige Yamarāja kommt Brahma gleich, denn wāhrend er sich in seinem Reich befindet und wie der Paramātmā im Herzen eines jeden weilt, beobachtet er im Geiste die früheren Handlungen eines Lebewesens und erkennt auf diese Weise, wie das Lebewesen in zukünftigen Leben handeln wird. So wie sich ein Schlafender mit seinem Traumkörper und dessen Handlungen identifiziert, identifiziert man sich auch mit dem gegenwärtigen Körper, den man aufgrund früherer religiöser und irreligiöser Handlungen erhalten hat, und ist nicht imstande, sich seiner vergangenen und zukünftigen Leben bewußt zu sein." (Srimad-Bhāgavatam 6.1.46-49) 116
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Befreiung vom karma vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Leben Hier erklären die Yamadutas, wie die Aktionen und Reaktionen der drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur im gegenwärtigen Leben sichtbar werden. So sind zum Beispiel einige Menschen sehr glücklich, einige leiden, und einige erfahren eine Mischung von Glück und Leid. Dies ist das Ergebnis der früheren Verbindung mit den Erscheinungsweisen der materiellen Natur - Tugend, Leidenschaft und Unwissenheit. Angesichts dieser verschiedenen Zustānde im gegenwärtigen Leben können wir annehmen, daß die Lebewesen auch in ihrem nächsten Leben - je nach ihrer Verbindung mit den drei Erscheinungsweisen - Glück, Leid oder eine Mischung von beiden erfahren werden. Deshalb tut man am besten daran, sich von diesen drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur zu lösen und von ihrem verunreinigenden Einfluß stets unberührt zu bleiben. Dies ist nur möglich, wenn man sich vollständig dem hingebungsvollen Dienst des Herrn widmet, wie Krsna in der Bhagavad-gitā (14.26) bestätigt: mām ca yo 'vyabhicārena bhakti-yogena sevate sa gunān samatityaitān brahma-bhüyāya kalpate „Wer sich völlig im hingebungsvollen Dienst beschäftigt und unter keinen Umstānden abweicht, transzendiert sogleich die Erscheinungsweisen der materiellen Natur und erreicht so die Ebene des Brahman." Mit anderen Worten, solange man nicht vollständig im Dienst des Herrn vertieft ist, wird man von den drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur verunreinigt und muß daher Leid oder eine Mischung von Glück und Leid erfahren, je nach der Schwere der sündhaften Handlungen. Der Wechsel der Körper Der Höchste Herr hat Yamarāja dazu ernannt, über die gerechte Be-
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strafung der sündhaften Menschen zu befinden. Jedem wird zum Zeitpunkt des Todes gemäß seiner Handlungsweise ein bestimmter Körper an einem bestimmten Ort zugeteilt. Dies erklārt Sri Kapila im Srimad-Bhāgavatam (3.31.1): karmanā daiva-netrena jantur dehopapattaye striyāh pravista udaram pumso retah-kanāsrayah „Unter der Aufsicht des Höchsten Herrn und entsprechend seiner früheren Handlungen muß das Lebewesen, die Seele, durch den männlichen Samen in die Gebärmutter einer Frau eingehen, um einen bestimmten Körper anzunehmen." Jeden Tag, ja jeden Augenblick wechseln wir unseren Körper. Dies wird „Wachstum" genannt, aber eigentlich ist es ein Wechseln des Körpers. Wachsen bedeutet, den alten Körper aufzugeben und einen neuen anzunehmen. Im Laufe der Jahre sind wir vom Kind zum Jugendlichen und zum Erwachsenen herangewachsen. Das bedeutet, daß wir unseren Körper gewechselt haben. Und wenn der Körper unbewohnbar wird, müssen wir ihn aufgeben und einen neuen annehmen, ebenso wie wir unsere Kleidung aufgeben müssen, wenn sie alt und abgetragen ist. Dieser Wechsel findet unter der Aufsicht höherer Autoritäten statt (daiva-netrena). Seinen religiösen und irreligiösen Handlungen gemāß wird man gezwungen, einen bestimmten Körper in bestimmten Lebensumstānden anzunehmen und zu leiden. Unsere Leiden werden in drei Gruppen unterteilt: ādhibhautika, ādhyātmika und adhidaivika. Adhyātmika-Leiden werden von unserem eigenen Körper und Geist verursacht, ādhibhautika-Leiden von anderen Lebewesen, und ādhidaivika-Leiden werden uns von höheren Mächten, den devas, auferlegt und stehen völlig außerhalb unserer Kontrolle - wie zum Beispiel Erdbeben, Dürren, Überschwemmungen und Hungersnöte. Gegen solche Katastrophen sind wir machtlos. Ebenso müssen wir den Körper annehmen, den uns nach dem Tod höhere Autoritäten zuweisen. Wir können nicht sagen: „O nein, mein Herr, ich möchte diesen Körper nicht."
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Winzige Unabhängigkeit Da wir in unzähligen materiellen Körpern geboren wurden und starben, haben wir vergessen, daß wir Bestandteile Gottes sind, eine vertrauliche Beziehung zu Ihm haben und auf irgendeine Weise in die materielle Welt gefallen sind. Die genaue Ursache dieses Vergessens kann man nur sehr schwer ausmachen. Obgleich wir Krsna seit unvordenklichen Zeiten vergessen haben, ist Er so barmherzig, daß Er persönlich kommt, um uns an unsere spirituelle Identität und unser Einssein mit Ihm als Seine Teile zu erinnern; Er lehrt uns, was wir vergessen haben. Wenn Er fortgeht, hinterläßt Er die Schriften - insbesondere die Bhagavad-gitā, in der Er uns auffordert: sarva-dharmān parityajya mām ekam saranam vraja. „Gib all deinen Unsinn auf und ergib dich Mir! Ich werde dich beschützen." (Bhagavadgitā 18.66) Krsna, der Vater aller Lebewesen, ist nicht glücklich darüber, daß die zahllosen Seelen in der materiellen Welt so erbärmlich wie Schweine leben. Deshalb entsendet Er Seine Bevollmächtigten. Im Falle von Jesus Christus sandte Krsna Seinen Sohn. Jesus bezeichnete sich als Sohn Gottes. Zwar ist jeder ein Sohn Gottes, aber dieser Sohn war Gott besonders lieb, und er wurde zu einem bestimmten Ort entsandt, um die bedingten Seelen nach Hause, zu Gott, zurückzurufen. Was kann Krsna oder Sein Diener jedoch tun, wenn die bedingten Seelen unbedingt in der materiellen Welt bleiben wollen? Sie erlauben uns, mit unseren materialistischen Tätigkeiten fortzufahren, denn die Grundvoraussetzung für die Befreiung aus dem materiellen Gefängnis ist, daß wir uns diese Befreiung wünschen. Wenn wir schließlich unserer mißlichen Lage überdrüssig sind, beten wir: „Mein lieber Herr, obwohl ich der Lust, dem Zorn und der Gier so lange gedient habe, sind sie immer noch nicht zufriedengestellt. Nun bin ich es leid, ihnen weiter zu dienen. Jetzt, mein lieber Sri Krsna, ist meine Intelligenz erwacht, und ich bin zu Dir gekommen. Bitte beschäftige mich in Deinem Dienst." Die Lebewesen gehören zur marginalen Energie des Herrn (tatastha-sakti), das heißt, sie können wählen, ob sie von Krsnas niederer, materieller Energie oder von Seiner höheren, spirituellen Energie ge-
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lenkt werden möchten. Wir als Gottgeweihte haben uns entschieden, zum Krsna-Bewußtsein zu kommen. Mit anderen Worten, wir haben eingewilligt, uns Krsna zu ergeben und uns dem Schutz Seiner inneren, spirituellen Energie anzuvertrauen. Hingabe zu Krsna beginnt mit dem Chanten des Hare-Krsna-mantra: Hare Krsna, Hare Krsna, Krsna Krsna, Hare Hare / Hare Rāma, Hare Rāma, Rāma Rāma, Hare Hare. Das Wort Hare bezieht sich auf die hingebungsvolle Energie Krsnas, Krsna bedeutet „die allanziehende Höchste Persönlichkeit Gottes" und Rāma „der Höchste Genießer". Doch viele werden sich uns nicht anschließen, da sie es ablehnen, unter die Aufsicht von Krsnas spiritueller Energie zu gelangen. Krsna mischt Sich aber nicht ein; Er sagt: „Du kannst in der materiellen Welt bleiben oder zu Mir kommen - was immer du möchtest." Wir haben eine winzige Unabhängigkeit bekommen und auch die Intelligenz, zu unterscheiden, was getan und was nicht getan werden sollte. Erwachen aus der Unwissenheit Das Ohr ist das wichtigste Organ, denn es ermöglicht uns zu lernen, was wir für unser höchstes Wohl tun sollten und was nicht. Wir müssen von einer höheren Autorität hören. In der Nacht schlafen wir friedlich, ohne uns darüber bewußt zu sein, daß jemand kommen könnte, um uns den Kopf abzuschlagen. Doch unser Gehörsinn ist selbst im Schlafzustand aktiv. Sobald jemand ruft: „Wach auf! Wach auf! Jemand will dich umbringen!", können wir gerettet werden. Auf ähnliche Weise schlafen auch wir unter dem Einfluß der materiellen Natur. Wir scheinen wach und aktiv zu sein, aber eigentlich ist es prakrti (die materielle Natur), die handelt, nicht wir. Wir sind gezwungen, entsprechend unserer Verbindung mit den Erscheinungsweisen der materiellen Natur zu handeln. Obwohl wir uns im Schlafzustand befinden, schläft unser Ohr nicht und kann uns helfen, aus der Unwissenheit zu erwachen. Wenn wir von der richtigen Person - dem spirituellen Meister - und aus den vedischen Schriften hören, können wir zu unserer ursprünglichen wesensgemäßen Stellung als ewige Diener Krsnas erwachen. Die erste Vorschrift lautet sravanam, über Krsna zu hören. Wenn wir über
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Krsna hören, wachen wir automatisch auf. Die Veden geben die Anweisung: uttisthata jāgrata prāpya varān nibodhata. „Wach auf! Erhebe dich! Erkenne die große Segnung, die du mit der menschlichen Lebensform erhalten hast. Nun nutze sie und befreie dich aus den Fāngen der Erscheinungsweisen der materiellen Natur!" In der Bhagavad-gitā (7.14) erklärt Krsna, wie man dies tun kann: daivi hy esā guna-mayi mama māyā duratyayā mām eva ye prapadyante māyām etām taranti te „Diese Meine göttliche Energie, die aus den drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur besteht, ist sehr schwer zu überwinden. Aber diejenigen, die sich Mir ergeben, können sie sehr leicht hinter sich lassen." Ergib dich Krsna und sei Krsna-bewußt! In der menschlichen Lebensform ist das unsere einzige Aufgabe.
11. KAPITEL
Der feinstoffliche Körper Die Yamadūtas fuhren fort: „Über den fünf wahrnehmenden Sinnen, den fünf Arbeitssinnen und den fünf Sinnesobjekten steht der Geist, der das sechzehnte Element ist. über dem Geist steht das siebzehnte Element, die Seele, das Lebewesen selbst, das in Zusammenarbeit mit den anderen sechzehn Elementen allein die materielle Welt genießt. Das Lebewesen erfāhrt drei verschiedenartige Situationen: glückliche, leidvolle und vermischte. Der feinstoffliche Körper ist mit sechzehn Teilen ausgestattet den fünf wissensaneignenden Sinnen, den fünf Arbeitssinnen, den fünf Objekten der Sinnenbefriedigung und dem Geist. Der feinstoffliche Körper ist ein Ergebnis der drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur. Er besteht aus unüberwindlich starken Wünschen und veranlaßt daher das Lebewesen - als Mensch, als Tier oder als Halbgott -, von einem Körper zum anderen zu wandern. Wenn das Lebewesen den Körper eines Halbgottes erhālt, ist es gewiß voller Freude; wenn es einen menschlichen Körper erhālt, ist es stets voller Klagen, und wenn es einen tierischen Körper erhālt, hat es ständig Angst. Doch im Grunde genommen leidet es in allen Lebensbedingungen. Diese unglückliche Lage nennt man samsrti, Seelenwanderung im materiellen Leben. Das törichte verkörperte Lebewesen ist unfähig, seine Sinne und seinen Geist zu beherrschen, und ist gezwungen, unter dem Einfluß der drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur zu handeln - selbst gegen seinen Willen. Es gleicht einer Seidenraupe, die mit ihrem Speichel einen Kokon spinnt und schließlich darin gefangen ist, ohne eine Möglichkeit zu entkommen. Das Lebewe122
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sen verfängt sich in dem Netz seiner eigenen fruchtbringenden Handlungen und kann keinen Weg mehr finden, um sich daraus zu befreien. So lebt es in dauernder Verwirrung und stirbt immer wieder. Kein Lebewesen kann auch nur für einen Augenblick untätig sein. Man muß gemäß seiner natürlichen Neigung handeln, die sich nach den drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur richtet, denn diese Neigung zwingt einen zu einer bestimmten Handlungsweise. Die fruchtbringenden Handlungen des Lebewesens ob fromm oder gottlos - sind die unsichtbare Ursache für die Erfüllung seiner Wünsche. Diese unsichtbare Ursache ist die Wurzel seiner verschiedenen Körper. Aufgrund seines starken Wunsches wird das Lebewesen in einer bestimmten Familie geboren und bekommt einen Körper, der dem seines Vaters oder seiner Mutter ähnelt. Die grob- und feinstofflichen Körper werden also nach seinem Wunsch geschaffen. Da das Lebewesen mit der materiellen Natur verbunden ist, befindet es sich in einer mißlichen Lage. Wenn es jedoch einen menschlichen Körper erhālt und lernt, mit dem Höchsten Herrn oder Seinem Geweihten in Verbindung zu treten, kann diese mißliche Lage überwunden werden." (Srimad-Bhāgavatam 6.1.50-55) Der Kampf ums Dasein Diese Verse beschreiben, wie das Lebewesen durch die Wechselwirkung der Erscheinungsweisen der materiellen Natur in einen materiellen Körper verstrickt wird. Jeder arbeitet mit seinen Händen, seinen Beinen und seinen Sinnen, um irgendein selbsterdachtes Ziel zu erreichen. Auf diese Weise versucht das Lebewesen, die fünf Sinnesobjekte zu genießen, nämlich Form, Klang, Geschmack, Geruch und Berührung. Es weiß nicht, daß das eigentliche Ziel des Lebens darin besteht, den Höchsten Herrn zufriedenzustellen. Weil es dem Herrn nicht gehorcht, wird es materiellen Lebensbedingungen ausgesetzt und versucht, seine Lage nach eigenem Gutdünken zu verbessern, ohne sich um die Anordnungen der Höchsten Persönlichkeit Gottes zu kümmern. Trotzdem ist der Höchste Herr so gütig, daß Er persönlich kommt und die verwirrten Lebewesen lehrt,
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gehorsam zu handeln und auf diese Weise allmählich nach Hause, zu Gott, zurückzukehren, wo sie ein ewiges, friedliches Leben voll Glückseligkeit und Wissen erwartet. In der materiellen Welt besitzt das Lebewesen einen Körper, der eine hochkomplizierte Verbindung materieller Elemente ist. In diesem Körper kämpft es auf sich selbst gestellt, wie in Vers 50 durch die Worte ekas tu angedeutet wird. Wenn man im Meer ums überleben kämpft, muß man allein schwimmen. Auch wenn sich viele andere Menschen und Wassertiere im Meer befinden, ist man doch auf sich allein gestellt, und niemand kann einem helfen. Deshalb weist dieser Vers darauf hin, daß das siebzehnte Element, die Seele, allein handeln muß. Obgleich wir versuchen, um uns herum Gesellschaft, Freundschaft und Liebe aufzubauen, kann uns letztlich niemand helfen außer Krsna, dem Höchsten Herrn. Deshalb sollte es unser einziges Anliegen sein, Krsna zu erfreuen - uns Ihm zu ergeben und Seine Gnade zu erlangen. Dies ist auch Krsnas Wille, wie Er in der Bhagavad-gitā (18.66) verkündet: sarva-dharmān parityajya mām ekam saranam vraja. „Gib einfach alle Arten selbsterdachter Religion auf und ergib dich Mir!" Es gibt viele Bemühungen um Einheit unter den Menschen und den Nationen, doch all diese Bemühungen sind zum Scheitern verurteilt, da die Menschen von den materiellen Umstānden verwirrt sind. Jeder muß allein mit den zahlreichen Elementen der materiellen Natur kämpfen. Deshalb empfiehlt Krsna, daß wir uns Ihm ergeben. Das ist unsere einzige Hoffnung, denn nur Er kann uns helfen, aus dem Ozean der Unwissenheit befreit zu werden. Sri Caitanya Mahāprabhu betet: ayi nanda-tanuja kinkaram patitam mām visame bhavāmbudhau krpayā tava pāda-pankajasthita-dhūli-sadrsam vicintaya „O Krsna, geliebter Sohn Nanda Mahārājas, ich bin Dein ewiger Diener, aber irgendwie bin ich in den Ozean der Unwissenheit gefallen. Obwohl ich mich sehr abmühe, sehe ich keine Möglichkeit, wie ich mich selbst retten könnte. Bitte ziehe mich gütigerweise her-
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aus und gewāhre mir einen Platz als eines der Staubkörnchen an Deinen Lotosfüßen. Das wäre meine Rettung." In einem der Lieder von Srila Bhaktivinoda Thākura heißt es: anādi karama-phale, padi' bhavārnava-jale, taribare nā dekhi upaya. „Mein lieber Herr, ich kann mich nicht entsinnen, wann und wie ich in diesen Ozean der Unwissenheit gefallen bin, und jetzt kann ich keinen Weg mehr finden, mich zu retten." Wir müssen uns vor Augen halten, daß jeder für sein eigenes Leben verantwortlich ist. Wenn jemand ein reiner Geweihter Krsnas wird, erlangt er Befreiung aus dem Ozean der Unwissenheit. So wird sein Leben von Erfolg gekrönt. Freude und Schmerz Im Grunde genommen gibt es in der materiellen Welt keine Freude; alles ist Leid. Jeder versucht, durch die Befriedigung der Sinne glücklich zu werden, aber das Ergebnis ist nur Leid und Enttāuschung. Das wird māyā, Illusion, genannt. Buddha verstand das Wesen materieller Freuden. In seiner Jugend war er ein Prinz und genoß großen Reichtum und viele Sinnenfreuden, aber er gab alles auf. Er setzte sich in Meditation nieder und stellte alle Sinnestätigkeiten ein, denn diese unterwerfen uns den Schmerzen und Freuden der materiellen Welt. Er gab sein Königreich auf, nur um uns zu lehren, daß uns sinnliche Tätigkeiten nicht helfen können, Erlösung zu erlangen. Erlösung bedeutet, sich vom Glück und Leid dieser Welt zu befreien. Der Buddhismus beschäftigt sich größtenteils mit der leidvollen Natur des Körpers. Durch das Zusammenspiel der drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur, die auf den materiellen Körper einwirken, erfāhrt man vielerlei Schmerzen und Freuden. Der Buddhismus lehrt, daß man von diesen Schmerzen und Freuden befreit werden kann, wenn man die Verbindung, die die materiellen Elemente in der Form des physischen Körpers eingegangen sind, auflöst. Nirvāna, das Ziel des Buddhismus, erreicht man, wenn man sich von allen materiellen Verbindungen gelöst hat; denn schließlich erfāhrt man Schmerzen und Freuden nur, weil man einen materiellen Körper hat. Die buddhistische Philosophie bietet aber keine
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Information über die Seele, den Besitzer des Körpers. Deshalb ist der Buddhismus unvollkommen. Die buddhistische Philosophie ist zwar unvollständig, aber das heißt nicht, daß Buddha nicht die vollständige Wahrheit kannte. Ein Lehrer beispielsweise, der die Magisterprüfung abgelegt hat, lehrt seine Schüler nur das ABC, wenn sie noch nicht so weit sind, die fortgeschrittenen Themen zu verstehen, die er von seiner Kompetenz her unterrichten könnte. Auf ähnliche Weise predigt jede ermächtigte Inkarnation (saktyāvesa avatāra) Gottesbewußtsein gemäß Ort, Zeit und Umstānden. Aus diesem Grund gibt es verschiedene Schulen der Religion, wie den Buddhismus und Sahkarācāryas Māyāvāda-Philosophie. Die Buddhisten und die Māyāvādis ermutigen ihre Anhänger, frei zu werden von Glück und Leid, da beides von den Tätigkeiten der Sinne verursacht wird. Kein wirklicher Philosoph fordert seine Anhänger auf, dem Verlangen der Sinne nachzugeben. Buddha will sich von allem Materiellen lösen: Um nämlich nirvāna zu erreichen, muß man als erstes die materielle Verbindung auflösen, aus der der Körper besteht. Der Körper ist eine Verbindung aus den fünf materiellen Elementen: Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther. Diese Verbindung ist die Ursache allen Leids und aller Freude. Sobald sie aufgelöst wird, haben Schmerz und Freude ein Ende. Die Philosophie Sahkarācāryas zielt darauf ab, dieser Verbindung materieller Elemente zu entrinnen und die ursprüngliche, spirituelle Stellung wiederzugewinnen. Der Leitspruch der Māyāvādis lautet: brahma satyam jagan mithyā. „Brahman, das Absolute, ist wahr, und die materielle Schöpfung ist falsch." Sahkarācārya wies die Philosophie Buddhas zurück, weil sie keine Auskunft über die spirituelle Seele gibt, sondern sich nur mit Materie und deren Auflösung beschäftigt. Das Ziel der Buddhisten ist es also, in die Leere einzugehen. Der Buddhismus und die Māyāvāda-Philosophie enthüllen nur einen Teil der Wahrheit. Sahkarācāryas Māyāvāda-Philosophie behandelt das Brahman, die spirituelle Energie, beschreibt sie aber nicht in ihrer ganzen Fülle. Die Māyāvāda-Philosophie lehrt, daß alle Tätigkeiten zum Erliegen kommen, sobald wir uns bewußt werden, daß wir Brahman sind (aham brahmāsmi). Dem ist aber nicht so,
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denn das Lebewesen ist immer aktiv. In der Meditation kann man nur scheinbar alle Sinnestätigkeiten einstellen, da die Meditation an sich immer noch eine Tätigkeit ist. Wāhrend der Māyāvādi über das Brahman meditiert, glaubt er: „Ich bin Gott geworden." In gewisser Hinsicht ist es natürlich nicht verkehrt, zu denken: „Ich bin eins mit Gott", denn als spirituelle Seelen sind wir der Eigenschaft nach tatsāchlich eins mit Gott; doch niemand kann quantitativ mit Gott eins werden. In der Bhagavad-gitā (15.7) erklärt Krsna, daß die Lebewesen „Meine Bestandteile" sind. Krsna ist völlig spirituell (sac-cid-ānanda), daher muß jedes spirituelle Teilchen ebenfalls sac-cid-ānanda sein, so wie ein goldener Ohrring der Eigenschaft nach eins mit dem Gold in der Goldmine ist. Dennoch ist der goldene Ohrring nicht die Goldmine. Die Māyāvādis machen also den Fehler zu glauben, der Teil könne dem Ganzen gleich werden. Bloß weil sie Bestandteile Gottes sind, bilden sie sich ein, sie seien Gott. Deshalb beschreibt das SrimadBhāgavatam (10.2.32) die Unpersönlichkeitsanhänger als avisuddhabuddhayah: „Ihre Intelligenz ist unrein; sie befinden sich immer noch in Unwissenheit." Die Māyāvādis sind der Ansicht, sie könnten durch Wissensvermehrung mit Gott eins werden, und sprechen sich daher gegenseitig mit „Nārāyana" an. Das ist ihr großer Fehler. Wir können nicht Nārāyana werden, denn Nārāyana ist vibhu, was „sehr groß" oder „unendlich" bedeutet, wohingegen wir anu, unendlich klein, sind. Unsere spirituelle Größe betrāgt ein Zehntausendstel einer Haarspitze. Wie kann folglich ein vernünftiger Mensch behaupten, er sei Gott geworden? Sankarācārya wollte das Bewußtsein der Menschen auf das Brahman richten und lehrte deshalb: aha brahmāsmi. „Ich bin das spirituelle Selbst, nicht der materielle Körper." Dem stimmen die Veden zu. Auf der Stufe der mukti (Befreiung) versteht man vollkommen: „Ich bin nicht der Körper, sondern reine, spirituelle Seele." Doch hier hört Selbstverwirklichung nicht auf; als nächstes muß man sich nämlich fragen: „Wenn ich eine spirituelle Seele bin, was ist dann meine ewige spirituelle Tätigkeit?" Diese ewige Tätigkeit ist hingebungsvoller Dienst für Krsna. In der Bhagavad-gitā (18.54) beschreibt Sri Krsna, wie die BrahmanVerwirklichung zum hingebungsvollen Dienst führt:
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Im Angesicht des Todes brahma-bhūtah prasannātmā na socati na kānksati samah sarvesu bhūtesu mad-bhaktim labhate parām
„Wer in der Transzendenz verankert ist, erkennt sogleich das Höchste Brahman und wird von Freude erfüllt. Für ihn gibt es weder Klagen noch Begehren. Er ist allen Lebewesen gegenüber unvoreingenommen. Auf dieser Stufe beginnt er, Mir reinen hingebungsvollen Dienst darzubringen." Viele namhafte svāmis sprechen über das Erreichen der „Brahman-Verwirklichung", ohne jedoch selbst weltliches Glück und Leid zu überwinden. Sie engagieren sich auf humanitärem Gebiet und denken: „Meine Mitbürger leiden; ich werde ein Krankenhaus eröffnen", oder „Sie sind ungebildet; ich werde eine Schule eröffnen." Warum sollte jemand, der tatsāchlich die brahma-bhūta-Ebene erreicht hat, ein bestimmtes Land für sein Vaterland halten? In Wirklichkeit gehören wir als spirituelle Seelen keinem Land an. Wir werden zwar in einem bestimmten Land geboren, doch sobald der Körper vergeht, bricht unsere Verbindung mit dem Geburtsland ab. Das Klagen dieser angeblich befreiten Menschen zeigt also, daß sie von ihrer Anhaftung an weltliches Glück und Leid noch nicht befreit sind. Offensichtlich sind sie nicht von echter Freude erfüllt, denn sonst würden sie nicht klagen. Unzählige gelehrte sannyāsis sind zu Fall gekommen und haben sich wieder weltlichen Betätigungen zugewandt, weil sie nicht wirklich das Brahman erkannt haben. Das ist auch nicht so einfach, denn der Einfluß der materiellen Erscheinungsweisen ist sehr stark. Verstrickt in fruchtbringende Tätigkeiten, gleicht das Lebewesen der Seidenraupe, die in ihrem Kokon gefangen ist. Ohne die Hilfe der Höchsten Persönlichkeit Gottes ist es sehr schwierig, sich zu befreien. Spirituelle Sinne Wirkliches Wissen erlangen wir dadurch, daß wir mit unseren Sinnen Krsna dienen. Zur Zeit sind unser Geist und unsere Sinne von körperlichen Bezeichnungen und Denkweisen in Anspruch genommen, wie: „Ich bin Amerikaner", „Ich bin Inder", oder „Ich bin
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Engländer". In diesem Bewußtsein halten wir es für unsere Pflicht, unsere Sinne im Dienst der Verwandten, der Gesellschaft, der Nation usw. einzusetzen. Doch diese Umstānde sind zeitweilig. Unserem wahren Wesen nach sind wir Brahman, reine spirituelle Seele. Solange wir uns mit einer vergänglichen Bezeichnung identifizieren, können wir kein Geweihter Krsnas werden. Wie bereits dargelegt, stellt die Brahman-Verwirklichung nicht die höchste Stufe spirituellen Wissens dar. Es gibt drei Stufen der Selbstverwirklichung: Auf der Stufe der Brahman-Verwirklichung erkennt man, daß man nicht der Körper ist, sondern eine spirituelle Seele; auf der Stufe der Paramātmā-Verwirklichung erkennt man, daß der Herr im Herzen weilt, und auf der Stufe der Bhagavān-Verwirklichung erkennt man den Herrn in Seiner persönlichen Form als Sri Krsna. über der Brahman-Verwirklichung steht die Paramātmā-Verwirklichung, bei der man Krsna als die Überseele im Herzen wahrnimmt. Während das Brahman dem Sonnenlicht gleicht, gleicht die Paramātmā-Verwirklichung dem Anblick der Sonne, die die Quelle der Sonnenstrahlen ist. Auf einer noch höheren Stufe kann man die spirituellen Planeten Vaikunthas erreichen und die Höchste Persönlichkeit Gottes von Angesicht zu Angesicht sehen. Dies ist die höchste Stufe der Selbstverwirklichung, vergleichbar mit einer persönlichen Begegnung mit dem Sonnengott. Das Sonnenlicht, die Sonne und der Sonnengott sind untrennbar eins, doch gleichzeitig verschieden. Das Sonnenlicht ist die unpersönliche Ausstrahlung der Sonne, die Sonne ist der lokalisierte Aspekt, und der Sonnengott ist der persönliche Ursprung des Sonnenlichts und der Sonne. In der Bhagavad-gitā (4.27) bestätigt Krsna, daß Er die Quelle der BrahmanAusstrahlung ist: brahmano hi pratisthaham. „Ich bin die Grundlage des unpersönlichen Brahman." Und in der Isopanisad (15) betet ein Gottgeweihter: hiranmayena pātrena satyasyāpihitam mukham tat tvam pūsann apāvrnu satya-dharmāya drstaye „O mein Herr, Erhalter allen Lebens, Dein wahres Gesicht ist hinter
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Deiner gleißenden Ausstrahlung verborgen. Bitte entferne diese Bedeckung und offenbare Dich Deinem reinen Geweihten!" Es genügt nicht, das Brahman zu erkennen. Wenn das Fieber eines Kranken sinkt, bedeutet das noch nicht, daß er geheilt ist. Er ist erst dann völlig gesund, wenn er nicht nur fieberfrei ist, sondern sich vollständig erholt hat und wieder sein normales, aktives Leben führen kann. Sonst besteht die Gefahr eines Rückfalls. Ebenso ist man noch nicht von Illusion geheilt, wenn man erkennt: „Ich bin spirituelle Seele, nicht der Körper." Nur wer sich völlig bewußt ist, daß er der ewige Diener Krsnas ist, und in diesem Verständnis handelt, ist wahrhaft selbstverwirklicht. Besondere Gnade für alle Menschen Im gegenwärtigen Zeitalter ist das Chanten des Hare-Krsna-mahamantra - Hare Krsna, Hare Krsna, Krsna Krsna, Hare Hare / Hare Rāma, Hare Rāma, Rāma Rāma, Hare Hare - für alle Menschen der beste Weg zur Selbstverwirklichung. Im Zeitalter des Kali sind die bedingten Seelen so sehr in sündhafte Handlungen verstrickt, daß es ihnen nicht möglich ist, auf systematische Weise den vedischen Vorschriften zu folgen. Das Chanten des Hare-Krsna-mahā-mantra ist das besondere Entgegenkommen Sri Caitanya Mahāprabhus, der Krsna selbst ist. Er erschien vor fünfhundert Jahren und rief die Bewegung des sankirtana (gemeinsames Chanten der heiligen Namen des Herrn) ins Leben, um die gefallenen Seelen zu erlösen. Sri Caitanya zitierte oft folgenden Vers aus dem Brhan-nāradiya Purāna (3.8.126): harer nāma harer nāma harer nāmaiva kevalam kalau nāsty eva nāsty eva nāsty eva gatir anyathā „Im gegenwärtigen Zeitalter des Kali ist der einzige Weg, Erlösung zu erlangen, das Chanten des heiligen Namens, das Chanten des heiligen Namens, das Chanten des heiligen Namens des Herrn. Es gibt keinen anderen Weg, keinen anderen Weg, keinen anderen Weg."
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Wir können die Kraft, die dem Chanten des heiligen Namens des Herrn innewohnt, an der Bewegung für Krsna-Bewußtsein feststellen. Die Mitglieder dieser Bewegung haben alle erdenklichen sündhaften Tätigkeiten aufgegeben, obwohl sie von Geburt an schlechten Angewohnheiten verfallen waren. Das ist ihr großes Glück, wie Sri Caitanya Mahāprabhu im Caitanya-caritāmrta (Madhya-lilā 19.151) erklārt: brahmānda bhramite kona bhāgyavān jiva guru-krsna-prasāde pāya bhakti-latā-bija „Das Lebewesen durchläuft verschiedene Leben und Körper und wandert im ganzen Universum von einer Situation zur anderen; wenn es aber vom Glück begünstigt ist und Krsnas Gnade empfāngt, findet es einen echten spirituellen Meister und erhālt von ihm den Samen der Kletterpflanze des hingebungsvollen Dienstes (bhakti)." Wenn das Lebewesen wirklich intelligent ist, wird es diesen Samen in sein Herz säen und bewässern. So wie man einen Samen in der Erde bewāssern muß, damit er aufgeht, muß man auch den Samen der bhakti sorgsam bewāssern, nachdem man ihn im Herzen empfangen hat. Sravanam kirtanam, das Hören und Chanten über die Herrlichkeiten Krsnas, ist das Wasser, das den Samen des hingebungsvollen Dienstes gedeihen lāßt. Durch Kultivierung des hingebungsvollen Dienstes für Krsna entkommen wir unserer leidvollen Lage in der materiellen Welt, die Krsna in der Bhagavad-gitā als duhkhālayam bezeichnet, einen Ort des Elends. Mit anderen Worten, wenn wir durch das Hören und Chanten des heiligen Namens bei Krsnas Lotosfüßen Zuflucht suchen, werden unsere Geburten und Tode in dieser unglückseligen materiellen Welt ein Ende haben. Vom feinstofflichen zum spirituellen Körper Das Srimad-Bhāgavatam beschreibt in allen Einzelheiten die Geburt des bedingten Lebewesens. Entsprechend seinem karma wird das Lebewesen in den Samen eines bestimmten Vaters versetzt. Der grobstoffliche Körper des Lebewesens entsteht durch die Vereini-
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gung von Vater und Mutter. Wenn der Same des Vaters und das Ei der Mutter während des Geschlechtsverkehrs zusammenkommen, gehen die Wesensarten von Vater und Mutter eine Verbindung ein, die vom Kind angenommen wird. Jeder Mensch hat seinen eigenen Körper; kein Körper gleicht dem anderen. Die verschiedenen Körper haben ihre Ursache im karma. Unserer früheren Handlungsweise gemäß entwickeln wir einen bestimmten feinstofflichen Körper, der aus Geist, Intelligenz und falschem Ego besteht, und auf der Grundlage des feinstofflichen Körpers erhalten wir einen bestimmten grobstofflichen Körper. Dies erklärt Sri Krsna in der Bhagavad-gitā (8.6): yam yam vāpi smaran bhāvam tyajaty ante kalevaram tam tarn evaiti kaunteya sadā tad-bhāva-bhāvitah „Was auch immer der Daseinszustand ist, an den man sich erinnert, wenn man seinen Körper verläßt, o Sohn Kuntis, diesen Zustand wird man ohne Zweifel erreichen." Der Zustand des feinstofflichen Körpers im Augenblick des Todes leitet sich von der Gesamtsumme der Handlungen wāhrend des Lebens her. Wenn ein Mensch darin unterwiesen wird, seinen feinstofflichen Körper durch die Entwicklung von Krsna-Bewußtsein zu verāndern, bildet sein feinstofflicher Körper im Augenblick des Todes einen grobstofflichen Körper, in dem er ein Geweihter Krsnas sein wird. Wenn er noch fortgeschrittener ist, braucht er gar keinen weiteren materiellen Körper mehr anzunehmen, sondern wird sogleich einen spirituellen Körper bekommen und nach Hause, zu Gott, zurückkehren. Dies ist die Vollkommenheit des menschlichen Lebens.
12. KAPITEL
Die Fessel sexueller Lust Die Yamadūtas fuhren fort: „Anfänglich studierte der brāhmana Ajāmila sämtliche vedischen Schriften. Er besaß einen vorbildlichen Charakter, ein angenehmes Betragen und gute Eigenschaften. Er befolgte strikt die vedischen Anweisungen und war sehr sanftmütig und höflich. Er beherrschte seinen Geist und seine Sinne. Darüber hinaus war er stets ehrlich, verstand es, die vedischen mantras zu chanten, und führte ein reines Leben. Ajāmila hatte vor seinem spirituellen Meister, dem Feuergott, den Gāsten und den Familienāltesten große Achtung. Er war in der Tat frei von falschem Stolz und Geltungsbedürfnis. Er war aufrichtig, allen Lebewesen wohlgesinnt und von gutem Benehmen. Er sprach niemals Unsinn und beneidete niemanden. Einmal ging Ajāmila auf Geheiß seines Vaters in den Wald, um Früchte, Blumen und zwei Arten von Gras namens samit und kusa zu sammeln. Auf dem Heimweg begegnete er einem lüsternen viertklassigen Mann (sūdra), der schamlos eine Prostituierte umarmte und küßte. Der sūdra lachte, sang und gab sich dem Genuß hin, als ob daran nichts falsch wäre. Sowohl der sūdra als auch die Prostituierte waren betrunken. Im Rausch verdrehten sich die Augen der Prostituierten, und ihre Kleidung hatte sich gelockert. Das war der Zustand, in dem Ajāmila sie erblickte. Der sūdra, dessen Arm mit Kurkuma-Puder eingerieben war, umarmte die Dirne. Als Ajāmila sie erblickte, erwachten in seinem Herzen die schlummernden lüsternen Wünsche, und er fiel, von Illusion überwältigt, in ihre Gewalt. So gut es ging, versuchte er geduldig, sich an die Anweisungen der sāstras zu erinnern, die 133
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besagen, daß man eine Frau nicht einmal anblicken sollte. Mit Hilfe dieses Wissens und seiner Intelligenz wollte er seine lüsternen Wünsche zügeln, aber die Gewalt des Liebesgottes in seinem Herzen war so stark, daß er seinen Geist nicht zu beherrschen vermochte." (Srimad-Bhāgavatam 6.1.56-62) Brahmanische Eigenschaften Die Yamadūtas, die Beauftragten Yamarājas, erklären die wirkliche Bedeutung von Frömmigkeit und Gottlosigkeit und veranschaulichen, wie ein Lebewesen in die materielle Welt verstrickt wird. Die Yamadūtas erzählen Ajāmilas Lebensgeschichte und erwähnen, daß dieser anfänglich ein großer Gelehrter der vedischen Schriften gewesen war. Er hatte ein gutes Benehmen und war sauber, ordentlich und sehr gütig zu jedermann. Er besaß tatsāchlich alle guten Eigenschaften. Mit anderen Worten, er war ein tadelloser brāhmana. Von einem brāhmana wird erwartet, daß er beispielhaft fromm ist, alle regulierenden Prinzipien befolgt und sämtliche guten Eigenschaften besitzt. Die Merkmale eines frommen Menschen werden in den obigen Versen erklärt. Allem Anschein nach war Ajāmila ein mustergültiger brahmacāri und befolgte die Regeln und Vorschriften des Zölibats; er war sehr mildherzig, wahrheitsliebend, sauber und auch rein im Herzen. Wie er trotz all dieser Vorzüge zu Fall kommen und von Yamarāja mit Bestrafung bedroht werden konnte, wird hier beschrieben. Weil Ajāmila aus einer brāhmana-Familie stammte, war er von Natur aus sruta-sampanna. Sruta bedeutet, daß Ajāmila sich durch das Hören der Veden umfassendes vedisches Wissen angeeignet hatte. In Indien wird ein brāhmana auch pandita (Gelehrter) genannt. Ein brāhmana darf kein Tor oder Halunke sein. Deshalb kann niemand ohne Kenntnis der Veden ein brāhmana sein. Es bringt keinen Gewinn, die Veden nur vom Standpunkt weltlicher Gelehrsamkeit aus zu lesen. Man muß das Wissen der Veden praktisch anwenden. Es gibt gewisse Lehnstuhl-Vedāntisten, die Zigaretten rauchen, wāhrend sie den Vedānta lesen; aber ein solches Studium ist wertlos. Wir haben viele sannyāsis gesehen, die über den Vedānta sprachen und dabei ständig rauchten. Ajāmila war anders: Er war ein
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Gelehrter des vedischen Wissens und legte ein tadelloses Verhalten an den Tag. Ein brāhmana muß die Veden unter der Aufsicht eines spirituellen Meisters studieren. Nachdem er sich dem Läuterungsvorgang des upanāyana-samskāra unterzogen hat, wird er zum dvija, zum Zweimalgeborenen. Zu diesem Zeitpunkt bekommt er die heilige Schnur, eine Art Auszeichnung, an der man erkennt, daß er offiziell einen spirituellen Meister angenommen hat. Wer nicht zweimalgeboren ist, ist nicht qualifiziert, die Veden zu verstehen. Die bloße Tatsache, daß jemand ein wenig Sanskrit versteht, bedeutet noch lange nicht, daß er sich im vedischen Wissen auskennt. Viele ausländische Gelehrte haben die Veden übersetzt, doch ihre Übersetzungen können nicht als autoritativ gelten, da ein Student der Veden dvija sein muß. Ein dvija ist wahrheitsliebend, sauber, einfach und duldsam, er vermag seinen Geist und seine Sinne zu beherrschen, er besitzt umfassendes Wissen und ist fähig, es praktisch in seinem Leben anzuwenden, und sein Glauben an Gott, Krsna, ist unerschütterlich. Ein solcher Mensch gilt als echter brāhmana und ist qualifiziert, die Veden zu studieren und zu verstehen. Ajāmila war nicht nur ein brāhmana von Geburt her, sondern war tatsāchlich auch im vedischen Wissen bewandert. In seiner Jugend studierte er alle Veden; er war silavān, „sehr freundlich", und auch sad-ācāra, das heißt, er war darauf bedacht, sich sauber zu halten und früh am Morgen aufzustehen, um den vedischen Tempelzeremonien, wie der mangala-ārati, beizuwohnen. Auch wir können sad-ācāra sein, wenn wir regelmäßig hingebungsvollen Dienst ausführen, täglich die mangala-ārati besuchen und sechzehn Runden des Hare-Krsna-mantra auf der Gebetskette chanten. Dies wird uns allmählich von materieller Verunreinigung befreien. Wenn man vom spirituellen Meister die Einweihung empfāngt, legt man das Gelübde ab, diesen spirituellen Tätigkeiten täglich nachzukommen. Selbst die sechs Gosvāmis von Vrndāvana, die befreite Seelen waren, chanteten jeden Tag viele Male den mahā-mantra und versäumten es nie, den Bildgestalten Gottes im Tempel und den Gottgeweihten ihre Ehrerbietungen zu erweisen. Raghunātha dāsa Gosvāmi zum Beispiel brachte - flach am Boden ausgestreckt - täglich viele Male seine Ehrerbietungen (dandavats) dar. Dieses Ver-
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halten zeugt davon, daß die Gosvāmis dhrta-vrata waren: Sie waren es gewohnt, Gelübde mit großer Entschlossenheit auf sich zu nehmen und zu erfüllen. Ohne uns mit fester Entschlossenheit Entsagungen und Bußen zu unterziehen, können wir uns Gott nicht nāhern. Wer ernsthaft spirituellen Fortschritt machen will, muß all diese regulierenden Prinzipien befolgen. Ajāmila besaß all diese brahmanischen Eigenschaften und kannte sämtliche erforderlichen mantras, wie zum Beispiel den Gāyatrimantra und den Hare-Krsna-mahā-mantra. Auch diente er ständig seinem guru, was die erste Qualifikation eines brāhmana ist. In der vedischen Zeit führten alle Familien der höheren Kasten morgens nach dem Bad und dem Chanten der vedischen mantras ein Feueropfert durch. Agni, das Opferfeuer, brannte immer. Sie brachten dem Feuer, dem guru und schließlich den älteren Familienmitgliedern Opfergaben dar. So erwiesen sie jeden Tag ihrem Vater, ihrer Mutter und dem spirituellen Meister Achtung. Heutzutage ist dies nicht mehr üblich, doch im vedischen Gesellschaftssystem war es die erste Pflicht des Tages. Ein Beispiel für die vedische Etikette, die āltere Generation zu ehren, ist Yudhisthira Mahārāja, der große heilige Pāndava-König. Nach der Schlacht von Kuruksetra gingen Yudhisthira und seine vier Brüder jeden Tag zu Dhrtarastra, ihrem Onkel väterlicherseits, um ihm ihre Achtung zu erweisen. Dhrtarastra hatte viele Intrigen ersonnen, um die Pandavas zu vernichten, und hatte ihnen schließlich den Krieg erklärt, was aber den Tod seiner einhundert Söhne zur Folge hatte. Selbst nach seiner Niederlage weigerte er sich, seine Neffen, die Söhne seines Bruders Pāndu, zu empfangen. Dies war eine große Beleidigung König Yudhisthiras. Eines Tages begab sich Dhrtarāstras jüngerer Bruder, Vidura, der ein großer Vaisnava war, zu Dhrtarastra und sagte: „Mein lieber Bruder, du bist schamlos. Erst erklärst du den Pandavas den Krieg, und nun, da du ein alter Mann bist, empfängst du König Yudhisthira immer noch nicht als deinen Gast, lebst aber auf seine Kosten in seinem Haus. Wie kannst du so schamlos sein, mein lieber Bruder?" Vidura sprach diese Worte, nur um Dhrtarastra zu helfen, seine Anhaftung an das Familienleben aufzugeben. Obwohl Dhrtarastra ein alter Mann war und alle
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seine Söhne tot waren, saß er immer noch ruhig zu Hause und aß köstliche Speisen. Das zeigt, wie stark Familienbande sein können. Vidura wies Dhrtarastra zurecht: „Du hustest Schleim, weil du so alt bist, und hast eine kranke Leber. Sehr bald wirst du sterben, doch immer noch sitzt du wie ein Hund auf deinem bequemen Stuhl. Hast du nicht mehr Schamgefühl als ein Hund, der immer nur darauf wartet, daß sein Meister ihm etwas zu fressen gibt?" Als Dhrtarastra Viduras harsche Worte vernahm, wurde sein hartes Herz erweicht, und er erwiderte: „Ja, mein lieber Bruder Vidura, bitte sage mir, was ich tun soll." „Komm sogleich mit mir in den Wald", riet ihm Vidura, „und versenke dich für den Rest deines Lebens einfach ins Krsna-Bewußtsein. Komm mit mir!" So verließ Dhrtarastra zusammen mit Vidura und Gāndhāri, seiner treuen Gemahlin, das Haus, ohne irgend jemanden etwas davon wissen zu lassen. Gemeinsam gingen sie in den Wald, um ihr Leben in Meditation über den Herrn zu beschließen. Als König Yudhisthira am Morgen seinen Onkeln Ehrerbietungen erweisen wollte, sah er, daß sie nicht mehr da waren. Beim Gedanken an Dhrtarāstras hohes Alter wurde er von Angst ergriffen. Doch da erschien der große Weise Nārada Muni und teilte ihm mit: „Sei unbesorgt! Dhrtarastra und seine Frau, Gāndhāri, wurden von deinem Onkel Vidura in den Wald geführt." Diese Geschichte aus dem Srimad-Bhāgavatam gewāhrt uns Einblick in den Brauch, āltere Familienmitglieder zu ehren. Nachdem die morgendlichen Pflichten erfüllt sind, muß man als nächstes dem spirituellen Meister und den älteren Angehörigen Ehrerbietungen erweisen. Auch einem Gast muß man Achtung entgegenbringen. Normalerweise wissen wir, wann ein Gast uns besuchen kommt, und können Vorbereitungen treffen. Manchmal geschieht es jedoch, daß jemand unerwartet kommt, und auch einen solchen Gast muß man mit Ehren empfangen. Bei Tisch sollte der Familienvater als letzter essen und zunächst den älteren Familienmitgliedern zu essen geben, dann seinen Kindern und den anderen Angehörigen. Bevor er sein Mahl zu sich nimmt, sollte er auf die Straße gehen und laut rufen: „Wer hungrig ist, soll bitte kommen. Ich habe noch nicht
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gegessen und lade euch ein!" Man sollte zu Hause immer etwas Essen für unerwartete Gāste aufheben. Wenn ein hungriger Gast kommt und um Speise bittet, muß man ihm nach vedischer Sitte sein eigenes Essen geben, selbst wenn für einen persönlich nichts übrigbleibt. Das ist wirklicher grhastha-āsrama. In Indien kann man sehen, daß ein Jugendlicher in der Gegenwart eines älteren Mannes nur mit dessen Erlaubnis raucht, obwohl sie Fremde sind. Ein Jugendlicher sollte selbst auf einen fremden älteren Menschen Rücksicht nehmen, um wieviel mehr also auf seinen Vater oder älteren Bruder. In der vedischen Gesellschaft wird jeder āltere Mensch geachtet und geehrt. Diese Grundsātze sind zwar nicht starr oder absolut, aber sie sind vedischer Brauch. Ajāmila wurde in seiner Jugend also dazu erzogen, dem spirituellen Meister und den älteren Menschen Respekt entgegenzubringen. Das ist eines der Merkmale von sad-ācāra; Güte ist ein weiteres. Ajāmila war zu allen Lebewesen gütig, denn ein echter brāhmana ist der Freund eines jeden, selbst einer Ameise. In diesen Zusammenhang paßt die Geschichte von Nārada Muni und dem Jäger. Als Nārada Muni einmal in der Nāhe von Prayag durch einen Wald ging, sah er dort viele halbtote Tiere liegen. Voller Mitleid mit den leidenden Kreaturen rief er aus: „Wer ist der Missetäter, der all diese Tiere erlegt und sie auf diese Weise verenden läßt?" Da erschien der barbarische Jäger Mrgāri und antwortete: „Lieber Weiser, bitte laß mich meine Arbeit machen! Wenn du hierher gekommen bist, um ein Hirschfell zu erbitten, so will ich dir gerne eins geben." „Ich bin nicht gekommen, um dich um irgend etwas zu bitten", entgegnete Nārada, „sondern um dich zu fragen, warum du diese Tiere nur halb tötest. Das ist eine große Sünde. Es wäre besser, du tötetest sie ganz." Mrgāri erwiderte: „Mein Vater brachte mir bei, die Tiere so zu töten. Ich wußte nicht, daß es sündhaft ist." Da erklärte ihm Nārada: „Ja, es ist sehr sündhaft; dafür wirst du sehr zu leiden haben." Der Jäger wurde nachdenklich und fragte: „Was soll ich tun?" „Gib diese unsinnige Beschäftigung auf!" riet ihm Nārada Muni. Doch Mrgāri protestierte: „Was soll ich dann essen?" Da versprach ihm Nārada Muni: „Ich werde dich mit Nahrung versorgen." Und
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der Jäger willigte ein: „In Ordnung, wenn du mir zu essen gibst, kann ich diese Beschäftigung aufgeben." Nārada Muni bat Mrgāri sodann, sich am Ufer des Ganges niederzusetzen und vor einer heiligen tulasi-Pflanze Hare Krsna zu chanten. Nārada Muni ging in das nahe gelegene Dorf und gab bekannt, daß sich am Ufer des Ganges ein reiner Vaisnava befinde und chante. Als die Dorfbewohner Mrgāri erblickten, der friedlich am Ufer saß und chantete, sagten sie zueinander: „Er hat seine Jägerei aufgegeben und chantet jetzt Hare Krsna." Von nun an kamen sie regelmäßig an das Ufer des Ganges, um Mrgāri zu besuchen. Einer brachte Reis, ein anderer brachte dal, und wieder ein anderer brachte Früchte. Als immer mehr Nahrung zusammenkam, wunderte sich der Jāger Mrgāri: „Warum schickt mir Nārada Muni so viel zu essen? Ich muß nur mich und meine Frau ernähren." Daher fing er an, das Essen zu verteilen. Täglich chantete er Hare Krsna und verteilte prasādam - so wurde er ein vollkommener Vaisnava. (Dieses System wurde in der Bewegung für Krsna-Bewußtsein eingeführt. In jedem Tempel chanten wir den Hare-Krsna-mahā-mantra und verteilen prasādam, Krsna geweihte Speisen.) Nach einiger Zeit rief Nārada Muni seinen Freund Pārvata Muni und sprach: „Ich habe einen sehr liebenswürdigen Schüler, der früher ein Jäger war. Laß uns hingehen und nachschauen, wie es ihm geht!" Pārvata Muni stimmte zu, und die beiden Weisen machten sich auf den Weg. Als sie sich Mrgāris Haus näherten, sahen sie Mrgāri hin- und herhüpfen. Beim Anblick Nārada Munis wollte Mrgāri ihm sogleich zu Füßen fallen, um ihm seine Ehrerbietungen zu erweisen; zuvor aber nahm er einen Zipfel seines dhoti und fegte vorsichtig die Ameisen zur Seite, die vor ihm krabbelten, um sie nicht zu zerdrücken. Er war umhergehüpft, um nicht auf die Ameisen zu treten. Dies war derselbe Mann, der noch vor kurzem alle möglichen Tiere gequält hatte; nun war er nicht einmal bereit, eine Ameise zu töten. Das ist das Wesen eines Vaisnavas. Auch Ajāmila war von gütigem Wesen, eine Eigenschaft, durch die sich brāhmanas auszeichnen. Trotz seiner vorzüglichen Erziehung war er nicht stolz. Er war frei von ahankāra, falschem Ego. Das Wort
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ahankara bedeutet soviel wie: „Ich tue dies, ich tue das, und deshalb bin ich so einzigartig." Ajāmila war frei von dieser Haltung und kannte auch keinen Neid. In unserer verkommenen Zeit ist jeder auf einen oder mehrere Menschen neidisch. Doch brāhmanas wie Ajāmila sind von dieser Neigung frei. Nur wer sich diese brahmanischen Eigenschaften und Verhaltensformen zu eigen gemacht hat, darf erwarten, aus der materiellen Gefangenschaft befreit zu werden. Die Tücken der Lust Wie wir aus dem Srimad-Bhāgavatam erfahren, verlor Ajāmila unglücklicherweise seinen brahmanischen Status. Einst ging der junge Ajāmila auf Geheiß seines Vaters im Wald Blumen und andere Dinge sammeln, die für die Verehrung der Bildgestalt Gottes erforderlich sind. Auf dem Rückweg kam Ajāmila an einem sūdra, einem Mann der untersten Gesellschaftsschicht, und einer Dirne vorbei, die hier beide lebhaft beschrieben werden. Trunkenheit gab es manchmal auch in vergangenen Zeitaltern, wenn auch nur selten. Im gegenwärtigen Zeitalter des Kali jedoch sieht man diese Sünde überall, denn auf der ganzen Welt kennen die Leute keine Scham mehr. Als vor langer Zeit Ajāmila den betrunkenen sūdra und die Dirne sah, wurde er von diesem Anblick beeinflußt, obgleich er bis dahin ein tadelloser brahmacāri gewesen war. Heutzutage ist Promiskuität fast überall verbreitet. Wir müssen uns die Situation eines brahmacāri vorstellen, der solch ein Verhalten mitansieht. Für ihn ist es sehr schwierig, standhaft zu bleiben, wenn er nicht äußerst entschlossen den regulierenden Prinzipien folgt. Wer sich jedoch dem Krsna-Bewußtsein sehr ernsthaft zuwendet, dem wird es gelingen, diesen Versuchungen der Sünde zu widerstehen. In unserer Bewegung für Krsna-Bewußtsein verbieten wir unzulässiges Geschlechtsleben, Berauschung, Fleischessen und Glücksspiel. Im Kali-yuga ist eine betrunkene, halbnackte Frau, die einen betrunkenen Mann umarmt, nichts Ungewöhnliches, besonders in den westlichen Ländern, und nach einem solchen Anblick Selbstbeherrschung zu bewahren ist sehr schwierig. Wenn wir dennoch dank Krsnas Barmherzigkeit - den regulierenden Prinzipien treu
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bleiben und den Hare-Krsna-mantra chanten, wird Krsna uns ohne Zweifel beschützen, ja Krsna verspricht, daß Sein Geweihter niemals vergeht (kaunteya pratijānihi na me bhaktah pranasyati). Deshalb sollten alle Schüler, die Krsna-Bewußtsein praktizieren, gehorsam den regulierenden Prinzipien folgen und am Chanten des heiligen Namens festhalten. Dann haben wir nichts zu befürchten. Andernfalls aber befinden wir uns in einer sehr gefährlichen Lage. Ajāmila hatte gelobt, den regulierenden Prinzipien des spirituellen Lebens zu folgen. Doch wie wir sehen, kann selbst eine hochqualifizierte Person wie Ajāmila zu Fall kommen. Das erotische Gebaren, das das schamlose Paar öffentlich zur Schau stellte, führte zu seinem Fall. Jeder weiß, daß Eheleute miteinander Geschlechtsverkehr haben, aber dies sollte in den eigenen vier Wānden geschehen. Intimer Umgang in der Öffentlichkeit ist tierisch. Ebensowenig statthaft ist Geschlechtsverkehr mit mehreren Partnern. Heute ist unzulässiger Geschlechtsverkehr auf der ganzen Welt, zumal in den westlichen Ländern, gang und gäbe. Eine junge Frau denkt sich: „Ich werde einen passenden Mann finden, ihn anlocken, Sex mit ihm haben, aber ihn nicht gleich heiraten. Erst probiere ich diesen Mann aus, dann jenen. Wenn ich einen gefunden habe, der mich glücklich macht, heirate ich ihn." Das ist die Mentalität einer Dirne. Aber auch die jungen Männer jagen vielen Geschlechtspartnern nach. Dies sind alltägliche Vorkommnisse in den westlichen Ländern, wo Jungen und Mādchen nicht im spirituellen Leben ausgebildet werden. In einer solchen Gesellschaft von Katzen und Hunden kann es keinen Frieden geben. Alle Staatsführer sprechen von Frieden und treffen sich auf Friedenskonferenzen, doch all ihre langen Besprechungen und Resolutionen führen keinen Frieden herbei. Es kann keinen Frieden geben, ohne daß die gesamte soziale Struktur reformiert wird, und dies ist nur möglich durch Krsna-Bewußtsein. Krsna-Bewußtsein wird durch gute Gemeinschaft kultiviert, so wie umgekehrt ein verkommener Charakter das Ergebnis schlechter Gemeinschaft ist. Rsabhadeva erklärt im Srimad-Bhāgavatam (5.5.2): mahat-sevām dvāram āhur vimuktes tamo-dvāram yositām sangi-sangam. „Wenn wir das Tor zur Befreiung öffnen wollen, sollten wir den
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mahātmās, den reinen Gottgeweihten, dienen. Wenn wir aber das Tor zur Hölle aufstoßen wollen, müssen wir uns mit denen zusammentun, die in Frauen vernarrt sind." Die lüsternen Menschen der heutigen, angeblich zivilisierten Gesellschaft kümmern sich nicht um Krsna-Bewußtsein. Sie sorgen sich nicht um ihre älteren Familienmitglieder. Auf der Straße, am Strand oder im Kino befriedigen sie ihre sexuellen Gelüste. Ununterbrochen verwendet die Werbung erotische Szenen, um die Aufmerksamkeit der Menschen zu erregen. So gießen materialistische Atheisten Öl in das Feuer der Lust, und die Menschen fahren zur Hölle. Ajāmila wurde durch den Anblick des unzivilisierten, sich umschlingenden Paares verdorben. Weil der sūdra und die Dirne betrunken waren, verdrehten sich ihre Augen, und die Kleider der Dirne hatten sich gelockert. Heutzutage ist es modern geworden, enthüllende Kleidung zu tragen, aber diese Gepflogenheit ist abscheulich und degradiert den Körper zum bloßen Lustobjekt. Es heißt, daß ein Körper, der mit Kurkuma eingerieben ist, die sexuelle Begierde des anderen Geschlechts vergrößert. Das Wort kāma-liptena deutet an, daß der sūdra sich Kurkuma aufgetragen hatte. Weil der sūdra und die Dirne Schurken waren, schämten sie sich nicht. Sie entblößten sich freizügig, ohne sich um die öffentliche Meinung zu kümmern. Sie lachten, sangen und umarmten sich - und der junge Ajāmila, der vorbeikam, mußte alles mit ansehen. In der modernen Zeit werden derartige erotische Szenen regelmäßig im Kino gezeigt, und man kann sich unschwer vorstellen, welchen Charakter die jungen Männer und Frauen von heute dadurch entwickeln. Beim einmaligen Anblick einer solchen Szene kam Ajāmila zu Fall, und seine spirituelle Erziehung und Ausbildung waren ruiniert. Er war wie gelāhmt und völlig verwirrt. Wenn Amor angreift, gehen alle Bildung, alle Kultur und alles Wissen verloren. Deshalb muß man sich von dieser freizügigen, lüsternen Gesellschaft fernhalten. Cānakya Pandita rät: „Meide immer den Umgang mit Menschen, die zu sehr der Sinnenbefriedigung verfallen sind. Suche vielmehr die Gemeinschaft derer, die den hingebungsvollen Tätigkeiten des spirituellen Lebens nachgehen." Aus diesem Grund werden die Knaben in den gurukula geschickt, das
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Haus des echten spirituellen Meisters, der sie vom sechsten Lebensjahr an im spirituellen Leben ausbildet. Wenn man nicht sehr gefestigt ist in Wissen, Geduld und einwandfreiem körperlichem, geistigem und intellektuellem Verhalten, fāllt es einem außerordentlich schwer, seine lüsternen Wünsche im Zaum zu halten. Selbst ein hochqualifizierter brahmana, wie er oben beschrieben wird, konnte seine lüsternen Wünsche nicht mehr beherrschen und wurde von ihnen überwältigt, nur weil er einen Mann gesehen hatte, der eine junge Frau umarmte und praktisch alles tat, was zum Geschlechtsverkehr gehört. Der starke Einfluß des materialistischen Lebens macht es äußerst schwierig, Selbstbeherrschung zu bewahren, es sei denn, man befindet sich durch hingebungsvollen Dienst unter dem besonderen Schutz der Höchsten Persönlichkeit Gottes.
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Ajamilas lasterhaftes Leben Die Yamadūtas fuhren fort: „Ebenso wie die Sonne und der Mond von einem niederen Planeten verfinstert werden, verlor der brāhmana Ajāmila all seinen Verstand. Er dachte ständig an die Prostituierte, und schon bald nahm er sie als Dienstmagd in sein Haus und gab alle regulierenden Prinzipien eines brāhmana auf. Ajāmila begann, alles Geld, das er von seinem Vater geerbt hatte, zu verschleudern, um die Prostituierte mit vielerlei materiellen Geschenken zu erfreuen, damit sie ihm wohlgesinnt blieb. Er gab alle brahmanischen Tätigkeiten auf, um sie zufriedenzustellen. Weil seine Intelligenz von ihrem lüsternen Blick durchbohrt war, verfiel Ajāmila in ihrer Gemeinschaft sündhaften Handlungen. Er gab sogar die Verbindung mit seiner wunderschönen jungen Frau auf, die aus einer angesehenen brāhmana-Familie stammte. Dieser niederträchtige Ajāmila ließ sich durch den Umgang mit der Dirne all seiner Intelligenz berauben, obwohl er in einer brāhmana-Familie geboren worden war. So beschaffte er sich auf jede erdenkliche Weise Geld, ganz gleich ob rechtmäßig oder unrechtmäßig, und gebrauchte es, um sie und ihre Kinder zu versorgen. Wāhrend seines langen Lebens überschritt er ständig die Regeln und Vorschriften der heiligen Schriften, lebte ausschweifend und aß Speisen, die von der Dirne zubereitet worden waren. Somit ist er ein großer Sünder, er ist unsauber und verbotenen Tätigkeiten verfallen. Ajāmila nahm keinerlei Bußen auf sich. Wegen seines sündhaften Lebens müssen wir ihn daher vor Yamarāja führen, der ihn bestrafen wird. Dort wird er entsprechend dem Ausmaß seiner 144
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sündhaften Handlungen bestraft und dadurch geläutert werden." (Srimad-Bhāgavatam 6.1.63-68) Dienen müssen wir ... aber wem? Wie zuvor erwähnt, war Ajāmila von Geburt an zu einem richtigen brāhmana erzogen worden und diente treu und stetig seinem spirituellen Meister, den älteren Angehörigen, wie seinem Vater, und der Höchsten Persönlichkeit Gottes. Doch aufgrund seines Umgangs mit der Prostituierten gab er seine brahmanischen Verpflichtungen auf und wurde ein Diener von Sri Krsnas illusionierender Energie, māyā. Es gibt zwei Arten von Dienern: māyās Diener und Krsnas Diener. Jedes Lebewesen ist ursprünglich ein Diener Krsnas. Das bestätigt auch Sri Caitanya: jivera 'svaRūpa haya — krsnera 'nitya dāsa'. „Die wesensgemäße Stellung eines Lebewesens ist es, ein ewiger Diener Krsnas zu sein." (Caitanya-caritamrta, Madhya-lilā 20.108) In unserer Welt will jeder Herr und Meister sein. Als Individuum und in der Gemeinschaft mit anderen versucht jeder, den Anspruch zu erheben: „Ich bin der Herr von allem, was ich überblicke." Diese Haltung ist aber widersinnig, da jeder von Natur aus ein Diener ist. Aber statt Diener Krsnas sind wir Diener unserer Sinne geworden. In beiden Fāllen sind wir Diener. Deshalb überlegen sich wirklich intelligente Menschen: „Wenn ich schon als Diener handeln muß, warum nicht als Diener Krsnas?" Nur ein Geweihter Krsnas ist vernünftig, denn er nimmt seine naturgemäße Stellung als Krsnas Diener ein. Die Verehrung Sri Krsnas oder Visnus ist das eigentliche Ziel der vedischen Zivilisation, aber die sogenannten Vedāntisten akzeptieren dies nicht. Sie weichen von diesem Ziel ab und treten für die Verehrung von Halbgöttern ein, wobei sie behaupten, es komme nicht darauf an, welchen Halbgott man verehre. Doch selbst die Dāmonen (asuras) verehren bisweilen Halbgötter. Rāvana war ein großer Geweihter Sivas, aber er war ein asura. Hiranyakasipu war ein großer Geweihter Brahmas, doch auch er war ein asura. Jeder, der kein Geweihter Sri Visnus ist, ist ein asura. So lautet das Urteil der Veden. Ajāmila war ein brāhmana, was bedeutet, daß er ein Diener Nārāyanas war, mit anderen Worten, ein Vaisnava.
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Ein Vaisnava weiß, daß Sri Krsna der höchste Besitzer und Genießer ist und daß alle anderen Seine Diener sind. So wie ein Betrieb dem Nutzen des Inhabers dient, dient alles und jeder in der materiellen und spirituellen Welt dem Genuß Krsnas. Niemand sonst ist der Genießer, ja niemand befindet sich überhaupt in der Position zu genießen. Der einzige, der genießt, ist Krsna. Wenn wir unsere Beziehung zu Krsna als Seine ewigen Diener vergessen, werden wir zu Dienern unserer Sinne, Dem Diktat unserer Sinne folgend, gelangen wir in die dunkelsten Regionen der Illusion und werden der Bestrafung durch Yamarāja ausgeliefert. Manchmal verbietet uns unser Gewissen: „Tu das nicht!", aber wir ergeben uns unserer Lust und Gier und tun es dennoch. Krsna weilt in unserem Herzen und gebietet ebenso: „Tu es nicht!", und trotzdem tun wir es. Den eigenen Sinnen zu dienen bringt nur Leid. Warum sollen wir also nicht Krsna dienen, wenn wir sowieso dienen müssen? Warum sollen wir unseren Sinnen dienen, die doch nie zufrieden sind? Wir sollten Diener Gottes werden, denn dies ist die Vollkommenheit des Lebens. Andernfalls sind wir gezwungen, Diener unserer Sinne zu werden und zu leiden. Wer ein Diener Krsnas wird, wird ein gosvami, ein Meister der Sinne. Der Titel „Gosvami" bezeichnet jemanden, der sich weigert, dem Diktat der Sinne zu folgen. Statt dessen gehorcht er dem Gebot der Höchsten Persönlichkeit Gottes, so wie Rūpa Gosvami und Sanātana Gosvami es taten. Der Titel „Gosvami" ist keine Kastenbezeichnung. Bevor Rūpa Gosvami ein gosvāmi wurde, diente er der mohammedanischen Regierung als Minister und wurde aus diesem Grund von der hinduistischen brāhmana-Gesellschaft ausgeschlossen. Doch als er den Dienst in Nawab Hussain Shahs Regierung aufgab, um der Anweisung Caitanya Mahāprabhus zu dienen, machte der Herr ihn zu einem gosvami. Alle wirklichen gosvāmis sind auch vairāgis, entsagungsvolle Menschen. Wer aber nicht in der Lage ist, ein echter vairāgi zu sein, muß ein grhastha (Haushälter) werden. Man kann sich nicht als brahmacāri oder sannyāsi ausgeben und heimlich unzulässigem Geschlechtsverkehr nachgehen. Das ist abscheulich. Wenn ein Haushālter richtig karma-yoga praktiziert, das heißt die Früchte seiner Tätigkeiten
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Krsna darbringt, kann er schließlich die Ebene vollkommener Entsagung erreichen. Er sollte nicht den Wunsch haben, die Früchte seiner Arbeit zu genießen, sondern einfach nur aus Pflichtgefühl arbeiten: „Es ist Krsnas Wunsch. Krsna wird dadurch zufriedengestellt, und deshalb muß ich es tun." Das ist die Einstellung, die ein Gottgeweihter haben sollte. Arjuna war nicht gewillt, für sein persönliches Interesse zu kämpfen, aber weil Krsna wollte, daß er kämpfte, faßte er es als seine Pflicht auf: „Es muß getan werden. Ob ich es will oder nicht, spielt keine Rolle. Da Krsna es wünscht, muß ich es tun." Das ist die Haltung eines entsagenden Geweihten des Herrn. In der Bhagavad-gitā (18.66) unterweist Sri Krsna Seinen Schüler Arjuna: „Ergib dich einfach Mir! Ich werde dich vor allen sündhaften Reaktionen beschützen." Und Arjuna akzeptiert Krsnas Unterweisungen mit den Worten: karisye vacanam tava. „Ich werde tun, was Du sagst." (Bhagavad-gita 18.73) Wenn wir Arjunas Beispiel folgen, werden wir in unmittelbarer Verbindung mit Krsna stehen und alle Schwierigkeiten im spirituellen und im materiellen Leben überwinden können. Wir hören Krsnas Unterweisungen durch die ununterbrochene Kette der Schülernachfolge (guru-paramparā). Das Annehmen dieser Unterweisungen nennt man siksā (freiwilliges Befolgen der Anordnungen des spirituellen Meisters). Die unabhängige Natur des Menschen bringt es mit sich, daß er den Anweisungen eines anderen - wie rein er auch sein mag - nicht folgen will. Erklärt man sich aber freiwillig damit einverstanden, den Anordnungen des spirituellen Meisters zu gehorchen, gehorcht man den Anordnungen Krsnas, und das Leben wird vollkommen. Im Srimad-Bhāgavatam (11.17.27) sagt Krsna: ācāryam mām vijāmyān nāvamanyeta karhicit na martya-buddhyāsūyeta sarva-deva-mayo guruh „Man sollte den ācārya als nicht von Mir verschieden betrachten und ihn niemals in irgendeiner Weise geringschätzig behandeln. Man sollte ihn nicht für einen gewöhnlichen Menschen halten und beneiden, denn er ist der Stellvertreter aller Halbgötter."
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Den spirituellen Meister für einen gewöhnlichen Menschen zu halten und ihn zu beneiden sind Gründe dafür, daß ein Gottgeweihter zu Fall kommt. Hingebungsvoller Dienst erfordert Übung und Ausbildung unter der Führung eines spirituellen Meisters. Diese Führung erfāhrt man, wenn man sich dem spirituellen Meister ergibt, ihm Fragen stellt und ihm dient. Doch das ist nicht möglich für jemanden, der den spirituellen Meister beneidet. Die Folgen des unzulässigen Geschlechtslebens Ajamila wurde als brahmana ausgebildet, verlor aber aufgrund der Gemeinschaft mit einer Prostituierten seine brahmanische Stellung. Obwohl er dadurch alle brahmanischen Pflichten vergaß, wurde er am Ende seines Lebens durch das Chanten der vier Silben des heiligen Namens Nārāyana vor der schlimmsten Gefahr bewahrt. Wie Krsna in der Bhagavad-gitā (2.40) sagt: svalpam apy asya dharmasya trāyate mahato bhayāt. „Schon der geringste hingebungsvolle Dienst kann einen vor der größten Gefahr bewahren." Hingebungsvoller Dienst, der mit dem Chanten der heiligen Namen des Herrn beginnt, ist so mächtig, daß selbst jemand, der aufgrund sexueller Verlockung von der erhabenen Stellung eines brahmana gefallen ist, aus allen Schwierigkeiten gerettet werden kann, wenn er auf irgendeine Weise den heiligen Namen des Herrn chantet. Das ist die außerordentliche Macht des heiligen Namens des Herrn. Deshalb wird in der Bhagavad-gitā empfohlen, das Chanten des heiligen Namens nicht für einen einzigen Augenblick zu vergessen: satatam kirtayanto mām yatantas ca drdha-vratāh. Es gibt so viele Gefahren in der materiellen Welt, daß man von einer hohen Position jederzeit herabfallen kann. Doch wenn man sich durch das Chanten des Hare-Krsna-mahā-mantra stets rein hālt und unerschütterlich bleibt, befindet man sich ohne Zweifel in Sicherheit. Ajamila tat dies nicht und büßte durch seinen Umgang mit der Prostituierten all seine brahmanischen Eigenschaften ein. Hier wird insbesondere geschildert, welche Auswirkungen es hat, Speisen zu sich zu nehmen, die von einer Prostituierten zubereitet wurden. Von einer unsauberen, sündigen Frau zubereitetes Essen ist überaus ansteckend. Da Ajamila solche Speisen aß, wurde auch er sündhaft.
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Wie erwähnt wird, mißbrauchte Ajāmila seine Erbschaft. Traditionsgemäß ist jeder berechtigt, den Besitz seines Vaters zu erben, und so erbte auch Ajāmila das Geld seines Vaters. Aber was machte er damit? Statt mit dem Geld Krsna zu dienen, diente er damit einer Prostituierten. So machte er sich schuldig und ruinierte sein Leben. Das alles war die Folge davon, daß er dem gefährlichen, lüsternen Blick der Dirne zum Opfer gefallen war. Eine keusche und treue Ehefrau bringt gute Söhne zur Welt, die später ihren Eltern und Vorfahren Opfergaben darbringen, um sie zu befreien, falls sie in höllische Umstānde geraten sein sollten. Das Wort putra (Sohn) bedeutet wörtlich: jemand, der seine Vorfahren aus der Hölle befreien kann. Sri Caitanya Mahāprabhu gab hierfür ein persönliches Beispiel, als Er nach Gāya ging, um Seinen Vorfahren Opfergaben darzubringen. Selbst heute noch befindet sich in Gāya ein Visnu-Tempel, wo solche Opfergaben den Lotosfüßen Sri Visnus dargebracht werden. Es ist schon vorgekommen, daß ein Vater oder eine Mutter nach dem Tod den Körper eines Geistes annehmen mußte, aber befreit wurde, nachdem in Gāya den Lotosfüßen Visnus Opfergaben dargebracht worden waren. Vaisnavas freilich bringen Visnu ständig Opfer dar, und daher werden ihre Ahnen automatisch erlöst. Wenn ein Sohn in der Familie ein Vaisnava wird, kann er vierzehn Generationen seiner Vorfahren und vierzehn Generationen seiner Nachfahren befreien. Dies wird im Srimad-Bhāgavatam bestätigt. So wie Sinnesbeherrschung der Anfang frommen Lebens ist, beginnt ein sündhaftes Leben mit unzulässigem Geschlechtsverkehr. Man sollte keinen unzulässigen Geschlechtsverkehr haben, sondern sich nur sexuell betätigen, um mit der eigenen Frau ein Kind zu zeugen. Der Sinn der Ehe ist es, Kinder zu haben, und in diesem Sinne ist sie eine religiöse Institution. Sri Krsna bestätigt dies in der Bhagavad-gita (7.11): dharmāviruddho bhūtesu kāmo 'smi. „Ich bin das Geschlechtsleben, das nicht im Widerspruch zu den religiösen Prinzipien steht." Ein Geweihter Caitanya Mahāprabhus namens Sivānanda Sena war ein Familienvater. Sivānanda Sena pflegte gemeinsam mit vielen Gottgeweihten jedes Jahr Caitanya Mahāprabhu in Puri zu besuchen; seine Frau und seine Kinder nahm er auch mit. Einmal suchte er wieder den Herrn auf, und seine Frau erwies
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Ihm ihre Ehrerbietung. Da sie zu jener Zeit gerade schwanger war, sagte Caitanya Mahāprabhu zu Sivānanda: „Gebt dem Kind, das ihr bekommen werdet, den Namen Paramānanda dāsa." Caitanya Mahāprabhu wußte wohl, daß eine Schwangerschaft die Folge von Geschlechtsverkehr ist, aber Er verurteilte den Geschlechtsverkehr in diesem Falle nicht, da die Eltern sich an die Anordnungen der Schriften gehalten hatten. Andererseits gibt es auch den Fall von Haridasa dem Jüngeren. Er war ein sannyāsi, ein Mönch im Lebensstand der Entsagung, der ein vertrauter Gefährte des Herrn war. Einmal verspürte er sexuelle Gelüste, gab ihnen aber nicht nach. Caitanya Mahāprabhu konnte dies in Seiner Eigenschaft als Paramātmā sogleich erkennen. Der Herr ersuchte hierauf Seine Gefährten, Haridasa nicht mehr zu Ihm kommen zu lassen. Doch Sarvabhauma Bhattācārya, Rāmānanda Rāya und andere enge Gefährten Caitanya Mahāprabhus setzten sich für Haridasa ein: „Haridasa der Jüngere ist Dein ewiger Diener. Er hat dieses Vergehen begangen, aber bitte verzeih ihm gütigerweise." Dennoch ließ Sich Sri Caitanya Mahāprabhu nicht erweichen und erwiderte sogleich: „Wenn ihr so sehr an Haridasa hängt, bleibt ihr besser bei ihm, und Ich werde fortgehen." Von da an wagte es niemand mehr, Caitanya Mahāprabhu für Haridasa den Jüngeren um Verzeihung zu bitten. Manchmal war Sri Caitanya Mahāprabhu härter als Stein und manchmal sanfter als eine Blume. So ist das Verhalten der Höchsten Persönlichkeit Gottes. Sivānanda war ein rechtschaffener grhastha, der die Regeln und Vorschriften des Haushālterlebens beachtete. Haridasa der Jüngere dagegen verspürte bloß in Gedanken sexuelle Wünsche; doch schon damit machte er sich schuldig, weil er sich im Lebensstand der Entsagung befand. Ein sannyāsi gibt seine Familie auf und legt das Gelübde ab, im Zölibat zu leben, aber wenn er sich wieder sexuell betätigt, begeht er eine sehr große Sünde. Ajāmila wurde also das Opfer unzulässigen Geschlechtsverkehrs mit einer Prostituierten. Auf der ganzen Welt gibt es zahlreiche Beispiele dafür, daß selbst geläuterte Menschen der Anziehung von Prostituierten zum Opfer fallen und all ihr Geld für sie ausgeben. Sexuelle Ausschweifungen mit Prostituierten sind verabscheuenswert, sie können den Charakter verderben und Menschen um ihre
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hohe Position und um all ihr Geld bringen. Daher ist unzulässiger Geschlechtsverkehr streng verboten. Man sollte sich mit seiner Ehefrau zufriedengeben, denn bereits ein kleiner Fehltritt kann verheerende Folgen haben. Ein Krsna-bewußter grhastha darf dies nie vergessen. Er sollte niemals andere Frauen begehren, sondern mit seiner Ehefrau in Frieden leben, indem er einfach den Hare-Krsnamantra chantet. Anderenfalls kann er jeden Augenblick seine guten Lebensumstānde ruinieren, wie das Beispiel von Ajāmila zeigt. In Anbetracht von Ajāmilas üblem Charakter wunderten sich die Yamadūtas, warum die Visnudutas ihnen verboten, einen derartigen Menschen Yamarāja zur Bestrafung zu bringen. Da Ajāmila für seine sündhaften Taten keine Buße auf sich genommen hatte, sollte er, so dachten die Yamadūtas, zu Yamarāja geführt werden, um geläutert zu werden. Die Bestrafung bei Yamarāja ist ein Läuterungsvorgang, der für die allergrößten Sünder bestimmt ist. Daher baten die Yamadütas die Visnudutas, sie nicht daran zu hindern, Ajāmila zu Yamarāja zu bringen.
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Betrüger und Betrogene Sukadeva Gosvāmi sprach: Mein lieber König, die Diener Sri Visnus sind stets sehr bewandert in Logik und Argumentation. Nachdem die Visnudutas die Worte der Yamadūtas vernommen hatten, antworteten sie: „Ach, wie schmerzlich ist es mitanzusehen, daß Irreligiosität eine Versammlung heimsucht, deren Aufgabe es wäre, Religion aufrechtzuerhalten! In der Tat bestrafen nun schon diejenigen, die für die Erhaltung der religiösen Prinzipien verantwortlich sind, einen sündlosen Menschen, der keine Strafe verdient. Ein König oder ein Regierungsvertreter sollte so qualifiziert sein, daß er aus Zuneigung und Liebe als Vater, Erhalter und Beschützer der Bürger handelt. Er sollte den Bürgern guten Rat und Anweisungen im Einklang mit den maßgebenden Schriften erteilen und jeden gleichermaßen gerecht behandeln. So verhālt sich Yamarāja, denn er ist der höchste Meister der Gerechtigkeit, und so verhalten sich diejenigen, die ihm nachfolgen. Wenn solche Personen jedoch korrupt und parteiisch werden, indem sie einen Unschuldigen bestrafen, müssen wir uns fragen: Bei wem werden die Bürger Zuflucht suchen in der Sorge um ihren Unterhalt und ihre Sicherheit? Die Masse der Menschen folgt dem Beispiel eines Führers und ahmt sein Verhalten nach; sie hālt für richtig, was immer der Führer für richtig hālt. Die meisten Menschen besitzen nicht genügend Wissen, um zwischen Religion und Irreligiosität zu unterscheiden. Der unschuldige, unaufgeklärte Bürger ist wie ein unwissendes Tier, das friedlich mit dem Kopf auf dem Schoß seines Meisters schlāft und vertrauensvoll an den Schutz des Meisters glaubt. Wie kann ein Führer, der wirklich ein gutes Herz hat und es verdient, 152
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daß man ihm Vertrauen schenkt, einen einfältigen Menschen bestrafen oder töten, wenn dieser sich ihm in gutem Glauben und in Freundschaft ergeben hat?" (Srimad-Bhāgavatam 6.2.1-6) Dogma oder logisches Denken Die Visnudutas - wie alle echten Diener Gottes - verstehen alles durch logisches Denken. Krsnas Anweisungen sind keine sinnlosen Dogmen. Religion lāßt häufig Dogmatismus entstehen. Doch der Autor des Sri Caitanya-caritāmrta, Srila Krsnadāsa Kavirāja, fordert uns auf, Caitanya Mahāprabhu und die Philosophie des Krsna-Bewußtseins durch logisches Denken zu verstehen. Mit anderen Worten, man soll nicht blindlings nachfolgen, nur aufgrund von Gefühlen. Wer seinen logischen Verstand nicht anwendet, kann leicht von skrupellosen Menschen in die Irre geführt werden. Es gibt beispielsweise sogenannte Missionare, die damit werben, daß ein Mensch Gott werden könne, und die Millionen von sentimentalen Anhängern anlocken. Aber wie soll es möglich sein, daß ein Mensch Gott wird? Gibt es dafür irgendwelche Beweise? Diese falschen Behauptungen entbehren jeder Logik. Man sollte also seine Intelligenz gebrauchen, um Krsna-Bewußtsein zu verstehen. Wenn wir jedoch einmal die Philosophie des Krsna-Bewußtseins akzeptiert haben und von einem echten spirituellen Meister eingeweiht worden sind, können wir nicht mit ihm streiten und ihn herausfordern. Ein solches Verhalten wäre ein Vergehen und ein Abfallen von den spirituellen Grundsātzen. Die Pflicht einer Regierung Da die Yamadutas versuchten, Ajāmila zur Bestrafung vor Yamarāja zu bringen, wurden sie von den Visnudutas beschuldigt, die religiösen Prinzipien zu verletzen. Yamarāja ist von der Höchsten Persönlichkeit Gottes beauftragt, über religiöse und irreligiöse Prinzipien zu urteilen und die Sünder zu bestrafen. Wenn jedoch völlig Unschuldige bestraft werden, gerāt die gesamte Versammlung Yamarājas in Verruf. Dieser Grundsatz trifft nicht nur auf die Versammlung Yamarājas zu, sondern auch auf die menschliche Gesellschaft. Die Erhaltung religiöser Prinzipien ist die Pflicht des Königs oder
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Im Angesicht des Todes
der Regierung. Leider haben im gegenwärtigen Zeitalter, dem Kaliyuga, die Leute ihren Verstand verloren, so daß sie zwischen dharma und adharma, Religion und Irreligiosität, nicht unterscheiden können. Die Gerichtshöfe wissen nicht, wen sie zu bestrafen haben und wen nicht. So kommt es vor, daß die Vaisnavas, die aus Mitleid mit den gefallenen Seelen auf die Straße gehen, um die Grundsātze des Krsna-Bewußtseins zu predigen, von Gerichten zu Unrecht wegen Friedensstörung bestraft werden. Obgleich sie ihr Leben dem Predigen und der Verherrlichung Gottes geweiht haben, werden sie leider aufgrund des schlechten Einflusses des Kali-yuga manchmal schikaniert. Das gegenwärtige Zeitalter, das Kali-yuga, ist ein großes übel. Die einzige Zuflucht, die uns bleibt, ist Krsna und das fortwāhrende Chanten von Hare Krsna, Hare Krsna, Krsna Krsna, Hare Hare / Hare Rāma, Hare Rāma, Rāma Rāma, Hare Hare. Die Visnudutas tadelten die Yamadūtas, weil sie die Grundsätze der Gerechtigkeit verletzt hatten. Ein derartiger Zerfall des Rechtswesens ist im Kali-yuga weit verbreitet. Das Rechtswesen muß gewährleisten, daß Gerechtigkeit geübt wird, aber falsche Zeugenaussagen und Bestechungsgelder erschweren dies. Mit Geld kann fast jeder vor Gericht ein günstiges Urteil erlangen. Wenn das Rechtswesen korrupt ist, wird das Leben sehr beschwerlich. Die Aufgabe der Regierung ist es, den Bürgern Schutz zu bieten, so wie Eltern ihren Kindern Schutz bieten. Ein kleines Kind ist völlig von seinen Eltern abhängig und glaubt fest daran: „Mein Vater und meine Mutter sind da - ich bin in Sicherheit." Wer aber beschützt das Kind, wenn die Eltern pflichtvergessen sind? Und wo finden die Bürger Schutz, wenn die Regierung korrupt ist? Die Leute folgen im allgemeinen dem, was die Spitzen der Gesellschaft vormachen. Die Regierung oder der König ist wie ein Vater für die Bürger. Ein Vater wird es niemals dulden, daß seine Kinder verletzt oder getötet werden, ja er wird sein eigenes Leben aufs Spiel setzen, um sie vor einem Missetäter zu schützen. Doch heutzutage nimmt die Kriminalität überhand. Die Regierung gibt Milliarden von Dollars aus, aber die Bürger haben keine Sicherheit in ihrem Leben. Die Regierung ist den Bürgern gegenüber verantwortlich, denn es ist ihre Aufgabe, sie zu beschützen und für sie zu sorgen. Doch in
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welcher Lage befinden sich die Bürger, wenn die Regierung unfähig oder bestechlich ist? Der König oder in der heutigen Zeit die Regierung sollte für den Schutz der Bürger eintreten und sie das richtige Lebensziel lehren. Die menschliche Lebensform ist dazu auserkoren, Selbstverwirklichung, das heißt die Verwirklichung unserer Beziehung zur Höchsten Persönlichkeit Gottes, zu erlangen. Die Pflicht der Regierung ist es deshalb, alle Bürger so zu erziehen, daß sie allmählich auf die spirituelle Ebene erhoben werden und ihre Beziehung zu Gott verwirklichen. Diesem Grundsatz folgten Könige wie Mahārāja Yudhisthira, Mahārāja Pariksit, Sri Rāmacandra, Mahārāja Ambarisa und Prahlāda Mahārāja. Leider sind die Staatsführer der heutigen Zeit für gewöhnlich verlogen und gottlos, und alle Staatsangelegenheiten haben darunter zu leiden. Im Namen der Demokratie verleiten Gauner und Diebe die unschuldige Bevölkerung dazu, sie in die wichtigsten Regierungsämter zu wählen. Dafür erbrachte man unlängst in Amerika den Beweis, woraufhin der Präsident bei den Bürgern in Ungnade fiel und abgesetzt wurde. Das ist aber nur ein Fall unter vielen. Im Kali-yuga haben die Menschen keine Zuflucht. Aufgrund der korrupten Regierungen können sie ihres Lebens und ihres Eigentums nicht sicher sein. Unter dem Schutz der Regierung sollte die breite Masse sich immer sicher fühlen dürfen. Wie bedauerlich ist es daher, wenn die Regierung selbst das Vertrauen mißbraucht und die Bürger aus politischen Gründen in Schwierigkeiten bringt! Zur Zeit der Teilung Indiens haben wir gesehen, wie Politiker plötzlich Gefühle des Hasses zwischen den Hindus und Moslems schürten, obwohl diese bislang friedlich zusammengelebt hatten. Für die Politik brachten sich hierauf Hindus und Moslems gegenseitig um: eine Gewalttätigkeit, die für das Kali-yuga typisch ist. Ein weiteres Symptom des Kali-yuga ist die abscheuliche Unsitte, Tiere zu schlachten. In diesem Zeitalter werden die Tiere zunächst wohl behütet, und sie vertrauen voll darauf, daß ihre Besitzer sie beschützen werden. Leider aber werden die Tiere, sobald sie Fett angesetzt haben, zum Schlachten gebracht. Eine solche Brutalität wird von Vaisnavas wie den Visnudutas verurteilt. Die sün-
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digen Menschen, die für solche Grausamkeiten verantwortlich sind, blicken in der Tat höllischen, leidvollsten Bestrafungen entgegen. Wer das Vertrauen eines Lebewesens, ob Mensch oder Tier, mißbraucht, wenn es guten Glaubens bei ihm Zuflucht sucht, macht sich einer großen Sünde schuldig. Da solche Betrüger heute ungestraft bis in die Regierung aufsteigen, ist die gesamte menschliche Gesellschaft schrecklich verunreinigt. Die Menschen dieses Zeitalters werden daher beschrieben als mandāh sumanda-matayo manda-bhāgyā hy upadrutāh. Als Folge solcher Sündhaftigkeit sind die Menschen degeneriert (mandāh), ihre Intelligenz ist unklar (sumanda-matayah), sie sind unglückselig (manda-bhāgyāh), und deswegen werden sie immer von zahlreichen Problemen geplagt (upadrutāh). Das ist der Zustand wāhrend ihres Lebens, und nach dem Tode werden sie zur Strafe Höllenqualen leiden. Obwohl Ajāmila nicht zu bestrafen war, bestanden die Yamadütas darauf, ihn vor Yamarāja zu bringen. Das war adharma, gegen die religiösen Prinzipien. Die Visnudütas befürchteten, daß die Führung der menschlichen Gesellschaft entarten würde, wenn man derartige irreligiöse Taten erlaubte. In der heutigen Zeit versucht die Bewegung für Krsna-Bewußtsein, in der Gesellschaft die richtigen Organisationsprinzipien zu etablieren. Aber leider unterstützen die Regierungen des Kali-yuga die Hare-Krsna-Bewegung nicht gebührend, weil sie ihren wertvollen Dienst nicht zu schātzen wissen. Die Hare-Krsna-Bewegung ist die richtige Bewegung, um die haltlose Gesellschaft zu bessern. Aus diesem Grund sollten die Regierungen und die Spitzen der Gesellschaft in aller Welt dieser Bewegung dabei helfen, den sündhaften Zustand der Menschheit zu korrigieren.
15. KAPITEL
Buße Die Visnudütas fuhren fort: „Ajāmila hat bereits für all seine sündhaften Taten gebüßt. Er büßte nicht nur für die Sünden aus einem Leben, sondern sogar für sämtliche Sünden aus Millionen von Leben, denn er chantete in einem hilflosen Zustand den heiligen Namen Nārāyanas. Obgleich sein Chanten nicht rein war, chantete er ohne Vergehen, und deshalb ist er jetzt rein und für die Befreiung geeignet. Schon früher pflegte Ajāmila beim Essen und bei anderen Gelegenheiten seinen Sohn zu rufen: ,Mein lieber Nārāyana, bitte komm zu mir!' Obwohl er eigentlich den Namen seines Sohnes rief, sprach er doch die vier Silben nā-rā-ya-na aus. Indem er den Namen Nārāyanas auf diese Weise chantete, büßte er ausreichend für die sündhaften Handlungen aus Millionen von Leben. Das Chanten von Sri Visnus heiligem Namen ist die beste Methode der Buße für einen Dieb, der Gold oder andere Wertgegenstände gestohlen hat, für einen Trunkenbold, für jemanden, der einen Freund oder Verwandten betrogen oder einen brāhmana getötet hat, und für jemanden, der mit der Frau seines guru oder eines anderen Höhergestellten Geschlechtsverkehr hatte. Es ist auch die beste Methode der Buße für diejenigen, die ihren Vater, den König oder Frauen ermordet oder Kühe geschlachtet haben, und für alle anderen sündhaften Menschen. Dadurch, daß solche sündhaften Menschen einfach nur den heiligen Namen Sri Visnus chanten, ziehen sie die Aufmerksamkeit des Höchsten Herrn auf sich, der dann Seinerseits denkt: ,Da dieser Mensch Meinen heiligen Namen gechantet hat, ist es Meine Pflicht, ihm Schutz zu gewähren.'" (Srimad-Bhāgavatam 6.2.7-10) 157
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Die Visnudütas warfen den Yamadutas vor, sie wüßten nicht, wen sie festnehmen dürften und wen nicht. Die Yamadutas nehmen regelmäßig Sünder gefangen; aber in diesem Falle wollten sie Ajāmila ergreifen, obschon er durch das Chanten von „Nārāyana!" von allen sündhaften Reaktionen befreit worden war. Die Visnudütas kritisierten die Yamadutas wie folgt: „Ihr wißt nicht, wen ihr zu bestrafen habt und wen nicht. Selbst wenn Ajāmila zahllose Sünden begangen hat, ist er nun von den Folgen dieser Sünden erlöst. Er tilgte diese Sünden vollständig, indem er den heiligen Namen Nārāyanas chantete. Warum versucht ihr jetzt, ihn gefangenzunehmen, als sei er ein Verbrecher? Obwohl er den heiligen Namen nicht mit Absicht chantete, sprach er ihn dennoch aus und ist daher nun frei von Sünde." Die Yamadutas hatten nur Ajāmilas äußere Situation in Betracht gezogen. Da er zu Lebzeiten ein großer Sünder gewesen war, sollte er vor Yamarāja gebracht werden. So dachten sie zumindest, aber sie wußten nicht, daß er von den Folgen all seiner Sünden befreit worden war. Die Visnudütas gaben ihnen daher zu verstehen, daß ihm alle Sünden erlassen seien, weil er im Moment des Todes und schon zu Lebzeiten den Namen Nārāyanas gechantet hatte. In diesem Zusammenhang zitiert Srila Visvanatha Cakravarti Thākura folgende Verse aus den Schriften: nāmno hi yāvati saktih pāpa-nirharane hareh tāvat kartum na saknoti pātakam pātaki narah „Einfach durch das Chanten des heiligen Namens Hari kann ein sündhafter Mensch die Reaktionen von mehr Sünden aufheben, als er zu begehen vermag." (Brhad-visnu Purāna) avasenāpi yan-nāmni kirtite sarva-pātakaih
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pumān vimucyate sadyah simha-trastair mrgair iva „Selbst wenn man den heiligen Namen in einer hilflosen Lage oder unbeabsichtigt chantet, verschwinden sogleich alle sündhaften Reaktionen, genauso wie das Gebrüll eines Löwen die kleinen Tiere im Wald die Flucht ergreifen lāßt." (Garuda Purāna) sakrd uccāritam yena harir ity aksara-dvayam baddha-parikaras tena moksāya gamanam prati „Wer nur einmal Gottes heiligen Namen chantet, der aus den zwei Silben ha-ri besteht, dem ist der Pfad der Befreiung gewiß." (Skanda Purāna) Dies sind einige Verse, die erklären, warum die Visnudutas die Yamadutas davon abhielten, Ajāmila vor Yamarāja zu bringen. Es gibt verschiedene Arten von Sünden, und eine davon ist Diebstahl. Diebe und Einbrecher sind sehr sündige Menschen. Eine weitere Sünde ist Trunksucht. Diejenigen, die der Berauschung und dem Stehlen verfallen sind, werden von den Visnudutas verurteilt. Zu den schlimmsten Sünden zāhlt außerdem, seinen Freunden nicht treu zu sein, einen brāhmana oder Vaisnava zu töten, seinen spirituellen Meister oder Lehrer zu mißachten und eine Frau, einen König oder eine Kuh zu töten. Aber die Visnudutas sagen, daß man trotz vieler solcher Sünden sofort von den Reaktionen frei wird, wenn man den heiligen Namen Nārāyanas ausspricht. Sridhara Svāmi sagt: „Das Chanten des heiligen Namens von Nārāyana, Hari, hob nicht nur sämtliche sündhaften Reaktionen Ajāmilas auf, sondern befähigte ihn auch, Befreiung zu erlangen. Im Augenblick des Todes wurde er daher in die spirituelle Welt geführt." Das Chanten von Krsnas heiligem Namen macht mehr Sünden wieder gut, als man begehen kann. Weil Ajāmila den heiligen Namen ohne Vergehen und ernsthaft gechantet hatte, wurde er von allen sündhaften Reaktionen befreit. Aus diesem Grund legen wir so großen Wert auf das Chanten von Hare Krsna. Seien es fromme Wer-
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ke, Entsagungen oder Opfer - alles ist im Chanten des Hare-Krsnamantra enthalten. Kein anderer Vorgang des yoga, der Buße oder der Entsagung ist nötig. Denn das Ergebnis aller anderen in den Veden vorgeschriebenen Rituale erreicht man bereits dadurch, daß man ohne Vergehen chantet. Früher schon, als Ajāmila sündhaften Betätigungen nachging, um seine Familie zu versorgen, chantete er den Namen Nārāyanas ohne Vergehen. Den heiligen Namen des Herrn nur zu chanten, um seine Sünden zu tilgen, oder im Vertrauen auf den heiligen Namen sündhafte Handlungen zu begehen, das ist ein Vergehen: nāmno balād yasya hi pāpa-buddhih. Obwohl Ajāmila sündhafte Handlungen beging, chantete er niemals den heiligen Namen Nārāyanas, um sie wiedergutzumachen; er chantete den Namen Nārāyana nur, um seinen Sohn zu rufen. Daher zeigte sein Chanten Wirkung. Da er den heiligen Namen auf diese Weise chantete, hatte er bereits alle sündhaften Reaktionen überwunden, die sich in vielen, vielen Leben angesammelt hatten. Die Schlußfolgerung lautet, daß jemand, der stets den heiligen Namen des Herrn ohne Vergehen chantet, immer rein ist. Wie diese Verse bestätigen, war Ajāmila bereits sündlos, und weil er den Namen Nārāyanas chantete, blieb er es auch. Daß er seinen Sohn rief, spielte keine Rolle, denn der Name an sich war wirksam. Törichte Menschen behaupten, man könne jeden beliebigen Namen chanten, selbst den eines Halbgottes, und das gleiche Ergebnis erhalten, als hātte man den heiligen Namen des Herrn gechantet. Das ist Māyāvāda-Philosophie. Die Māyāvādis glauben, jeder sei Gott, und behaupten: „Die Halbgötter sind Gott, ich bin Gott, und du bist Gott." Daher vertreten sie die Ansicht, man könne jeden beliebigen Namen chanten und befreit werden. In Bengalen ist es sehr populär, kāli-kirtana abzuhalten. Eine Gruppe von Leuten trifft sich und chantet „Kali! Kali! Kali!" oder die Namen unzähliger angeblicher avatāras. Ein Schurke chantete obendrein den Namen seiner Frau, und seine törichten Anhänger machten mit. So führen die Māyāvādi-Philosophen ihre Anhänger geradewegs zur Hölle. Deshalb warnte Caitanya Mahāprabhu energisch davor, den MāyāvādiPhilosophen zuzuhören, damit unser spirituelles Leben nicht zu-
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gründe gerichtet und uns der Pfad des hingebungsvollen Dienstes nicht versperrt werde. Das sollten wir uns immer vor Augen halten, wenn es darum geht, andere Namen zu chanten. Den heiligen Namen Visnus oder Krsnas sollten wir chanten - nicht den Namen von irgend jemand anderem. Die Schriften raten uns, nur den Namen der Höchsten Persönlichkeit Gottes zu chanten. Visnu hat Tausende von Namen, und in gewisser Weise sind Krsna und Visnu identisch; doch die Schriften erklären, daß das Chanten von tausend Namen Visnus das gleiche Ergebnis gewāhrt wie das einmalige Chanten von Rāmas Namen und das dreimalige Chanten von Rāmas Namen das gleiche Ergebnis wie das einmalige Chanten von Krsnas heiligem Namen. Das beste Ergebnis erhālt man also automatisch, wenn man Krsnas heiligen Namen chantet. Caitanya Mahāprabhu empfahl daher, gemäß den Anweisungen der Schriften, den Vorgang des Chantens: harer nāma harer nāma harer nāmaiva kevalam kalau nāsty eva nāsty eva nāsty eva gatir anyathā „Im gegenwärtigen Zeitalter des Streites und der Heuchelei kann man sich einzig und allein durch das Chanten der heiligen Namen des Herrn befreien. Es gibt keinen anderen Weg. Es gibt keinen anderen Weg. Es gibt keinen anderen Weg." (Brhan-nāradiya Purāna) Wenn wir den Vorgang des Chantens aufnehmen, werden wir sofort von allen sündhaften Reaktionen erlöst und beginnen so unser spirituelles Leben. Solange man nicht von einem sündhaften Leben befreit ist, kann man unmöglich ein reiner Vaisnava werden. Vergehen gegen den heiligen Namen Sogar ein Gottgeweihter kann mitunter - unbewußt oder aufgrund seines vergangenen sündhaften Verhaltens - eine sündhafte Handlung begehen. Aber solange er ernstlich Reue zeigt und denkt: „Das hātte ich nicht tun sollen; doch ich bin so lasterhaft, daß ich diese
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Sünde wieder begangen habe", wird der Höchste Herr ihm dank seiner echten Reue vergeben. Wenn er hingegen mit Absicht sündigt und erwartet, daß der Herr ihm vergebe, weil er Hare Krsna chantet, dann ist das unverzeihlich. Wenn man im Vertrauen auf den heiligen Namen sündhaften Tätigkeiten nachgeht, begeht man nāma-aparādha, ein Vergehen gegen den heiligen Namen. Von den zehn Vergehen ist das schwerwiegendste, im Vertrauen auf das Chanten zu sündigen. Durch das Chanten von Hare Krsna wird man von allen sündhaften Reaktionen befreit, doch wenn man die gleichen Sünden wieder begeht, macht man sich eines gravierenden Verbrechens schuldig. Bei einem gewöhnlichen Menschen mag solch eine sündhafte Handlung nicht so sehr ins Gewicht fallen, aber für jemanden, der Hare Krsna chantet, ist sie ein gefährliches Vergehen, genauso wie es für einen Regierungsbeamten ein großes Verbrechen ist, seine Position zu mißbrauchen und Bestechungsgelder anzunehmen. Solchen Verbrechern gebühren die schwersten Strafen. Wenn ein Polizist stiehlt, ist sein Verbrechen größer als das eines gewöhnlichen Diebes, und seine anschließende Bestrafung fāllt hārter aus. So lautet das Gesetz. Wer auf ähnliche Weise den Hare-Krsna-mantra ausnutzt, mit dem Hintergedanken: „Ich chante Hare Krsna. Selbst wenn ich einige Sünden begehe, ist mir verziehen", der wird nicht zum endgültigen Ziel des Chantens der heiligen Namen gelangen. Er gerāt in einen Teufelskreis: Er wird befreit, begeht die Sünde wieder, wird erneut befreit und begeht die Sünde wieder und immer wieder. So wird er nie erlöst. Nichtsdestoweniger sollte man fest daran glauben, daß man seine sündhaften Reaktionen aufhebt, wenn man Hare Krsna chantet. Zu denken, der heilige Name könne sündhafte Reaktionen nicht auslöschen, ist eines der zehn Vergehen gegen den heiligen Namen des Herrn. Diejenigen, die sich darin üben, den Hare-Krsna-tnahā-mantra ohne Vergehen zu chanten, sollten festes Vertrauen in die Worte der sāstras haben, die erklären, daß das Chanten von Krsnas heiligem Namen höchste Macht besitzt. „Das Chanten von Visnus heiligem Namen", sagen die Visnudutas, „ist die beste Methode der Buße für alle Arten von Sündern." Aber sehr oft hat man mit der Schwie-
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rigkeit zu kämpfen, daß man Hare Krsna chantet und dann wieder sündigt. Die Vollkommenheit des Chantens Das sorgfāltige Vermeiden aller sündhaften Tätigkeiten ist also der Schlüssel zum erfolgreichen Chanten. Durch das Chanten des HareKrsna-mahā-mantra wird man von allen Reaktionen früherer Sünden befreit. Vermeidet man es, wieder zu sündigen, wird man sehr rasch ein fortgeschrittener Gottgeweihter, dessen Geist auf Krsnas Lotosfüße gerichtet ist. Wenn wir regelmäßig ohne Vergehen Hare Krsna chanten, werden wir von allen sündhaften Reaktionen frei bleiben, und unsere Zuneigung zum Höchsten Herrn wird im hingebungsvollen Dienst wachsen. über die Macht von Krsnas heiligem Namen kam es einmal zu einer Auseinandersetzung zwischen Thākura Haridāsa und einem törichten sogenannten brāhmana. In einer Versammlung von Vaisnavas sagte Haridāsa Thākura: „Das vergehenlose Chanten der heiligen Namen des Herrn bewirkt nicht nur, daß wir auf die spirituelle Ebene (brahma-bhūtah) gelangen, sondern auch, daß unsere schlafende Liebe zu Gott erweckt wird; dadurch werden wir wie von selbst befreit." Der brāhmana protestierte: „übertreibe die Wirkung des Chantens nicht so maßlos! Man wird nur befreit, nachdem man große Entsagungen und Bußen auf sich genommen hat. Du aber sagst, man könne einfach befreit werden, wenn man Hare Krsna chantet. Sollte dem nicht so sein, werde ich dir die Nase abschneiden." „Wenn das Chanten von Hare Krsna Befreiung nicht als Begleiterscheinung mit sich bringt", erwiderte Haridāsa Thākura, „werde ich mir eigenhändig die Nase abschneiden." Alle, die dieser Auseinandersetzung beiwohnten, empörten sich sehr über das Vergehen, das der brāhmana gegen Haridāsa Thākura begangen hatte. Auf der Stelle vertrieben sie den Frevler. Wenig später bekam der brāhmana Lepra, und seine schöne Nase schwand dahin. Von diesem Vorfall wird im Sri Caitanya-caritāmrta erzāhlt. Beim Chanten des heiligen Namens gibt es drei Stufen: das Chan-
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ten mit Vergehen, das Chanten im befreiten Zustand und das Chanten in vollkommener Liebe zu Gott. Diese fortschreitenden Stufen des Chantens gleichen dem Heranreifen einer Mango. Eine unreife Mango schmeckt sauer, aber wenn die Frucht ganz reif ist, schmeckt sie sehr süß. Anfänglich mögen wir nur ungern chanten, doch wenn wir befreit werden, ist das Chanten so süß, daß wir es nicht mehr aufgeben können. Hierzu hat Srila Rūpa Gosvāmi einen schönen Vers verfaßt, der die Süße von Krsnas heiligem Namen beschreibt: tunde tāndavini ratim vitanute tundāvali-labdhaye karna-kroda-kadambini ghatayate karnārbudebhyah sprhām cetah-prārigana-sanginl vijayate sarvendriyānām krtim no jāne janitā kiyadbhir amrtaih krsneti varna-dvayi „Ich weiß nicht, wieviel Nektar die zwei Silben krs-na erzeugt haben. Wenn der heilige Name Krsnas gechantet wird, scheint er im Munde zu tanzen, und wir wünschen uns dann viele, viele Münder. Wenn dieser Name in die Öffnung unserer Ohren dringt, wünschen wir uns viele Millionen von Ohren. Und wenn der heilige Name im Hof des Herzens tanzt, bringt er die Tätigkeit des Geistes zum Stillstand, wodurch alle Sinne untätig werden." Dies sind die Merkmale von jemandem, der den befreiten Zustand des Chantens erreicht hat. Auf dieser Stufe, prema genannt, empfindet man einen großen Geschmack am Chanten von Hare Krsna, Hare Krsna, Krsna Krsna, Hare Hare / Hare Rāma, Hare Rāma, Rāma Rāma, Hare Hare. Doch diese Stufe kann man nur erreichen, wenn man den regulierenden Prinzipien folgt. Wir müssen vorsichtig sein. Auf die Heilung einer Krankheit folgt zunächst die Genesungszeit. Wenn wir uns falsch verhalten, kann die Krankheit wiederkommen. Es ist nicht so, daß wir befreit werden und dann alles tun können, was uns beliebt. Nein, wir müssen immer an den regulierenden Prinzipien des hingebungsvollen Lebens festhalten. Die Segnungen des heiligen Namens Weitere Einblicke in die Kraft des heiligen Namens gewährt uns Srila Visvanātha Cakravarti Thākura in seinem Kommentar zu Vers
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neun und zehn. Er schreibt diesen Kommentar in Form eines Dialoges, in dem besprochen wird, wie man einfach durch das Chanten der heiligen Namen des Herrn von allen sündhaften Reaktionen frei wird: „Jemand könnte sagen: ,Man kann vielleicht akzeptieren, daß das Chanten des heiligen Namens alle Reaktionen eines sündhaften Lebens abwendet. Wenn man aber bewußt sündhafte Taten begeht, und zwar nicht nur einmal, sondern viele, viele Male, vermag man sich von den Reaktionen solcher Sünden nicht einmal zu befreien, wenn man zwölf Jahre oder länger dafür büßt. Wie soll es dann möglich sein, von den Reaktionen solcher Sünden sofort befreit zu werden, wenn man nur ein einziges Mal den heiligen Namen des Herrn chantet?'" Als Antwort zitiert Srila Visvanātha Cakravarti Thākura die Verse neun und zehn dieses Kapitels: ,„Das Chanten von Sri Visnus heiligem Namen ist die beste Methode der Buße für einen Dieb, der Gold oder andere Wertgegenstānde gestohlen hat, für einen Trunkenbold, für jemanden, der einen Freund oder Verwandten betrogen oder einen brāhmana getötet hat, und für jemanden, der mit der Frau seines guru oder eines anderen Höhergestellten Geschlechtsverkehr hatte. Es ist auch die beste Methode der Buße für diejenigen, die ihren Vater, den König oder Frauen ermordet oder Kühe geschlachtet haben, und für alle anderen sündhaften Menschen. Dadurch, daß solche sündhaften Menschen einfach nur den heiligen Namen Sri Visnus chanten, ziehen sie die Aufmerksamkeit des Höchsten Herrn auf sich, der dann Seinerseits denkt: ,Da dieser Mensch Meinen heiligen Namen gechantet hat, ist es Meine Pflicht, ihm Schutz zu gewähren.' Es ist durchaus möglich, durch das Chanten des heiligen Namens für sein sündiges Leben zu büßen und alle sündhaften Reaktionen auszulöschen; doch das Chanten geht weit über gewöhnliche Buße hinaus. Eine Zeitlang mag gewöhnliche Buße vielleicht einen Sünder beschützen, aber sie reinigt sein Herz nicht völlig vom tiefverwurzelten Verlangen nach sündigen Tätigkeiten. Daher ist Buße nicht so mächtig wie das Chanten des heiligen Namens des Herrn. In den sāstras heißt es, daß der Herr jemanden, der nur einmal
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den heiligen Namen chantet und sich Seinen Lotosfüßen völlig ergibt, sofort als Seinen Schützling betrachtet und immer beschirmen möchte. Dies wird von Sridhara Svāmi bestätigt. Deshalb sandte der Herr unverzüglich Seine eigenen Diener zu Ajāmilas Schutz, als sich dieser in der großen Gefahr befand, von den Beauftragten Yamarājas abgeführt zu werden. Die Visnudütas setzten sich sogleich für Ajāmila ein, denn er war von allen sündhaften Reaktionen befreit. Ajāmila hatte seinem Sohn den Namen Nārāyana gegeben, und weil er den Jungen sehr liebte, pflegte er ihn immer wieder zu rufen. Obgleich er nach seinem Sohn rief, war der Name selbst voller Macht, da der Name Nārāyana nicht verschieden ist von Nārāyana, dem Höchsten Herrn. Als Ajāmila seinen Sohn Nārāyana nannte, wurden sämtliche Folgen seines sündigen Lebens aufgehoben, denn wāhrend er seinen Sohn rief und so den heiligen Namen Nārāyanas viele tausend Male chantete, machte er unbewußt Fortschritt im Krsna-Bewußtsein. Ein weiterer Einwand könnte lauten: ,Wie konnte Ajāmila mit einer Prostituierten zusammenleben und Wein trinken, wenn er doch ständig Nārāyanas Namen chantete?' Durch seine sündhaften Taten brachte er immer wieder Leid über sich. Daher könnte man meinen, daß Ajāmila nur befreit wurde, weil er Nārāyanas heiligen Namen im Augenblick des Todes chantete, aber nicht, weil er ihn zu Lebzeiten gechantet hatte. Dann jedoch wäre das Chanten wāhrend seines Lebens ein nāma-aparādha gewesen. Nāmno balād yasya hi pāpabuddhih: Wer weiterhin sündhaft handelt und versucht, seine Sünden durch das Chanten des heiligen Namens aufzuheben, ist ein nāma-aparādhi, ein Frevler gegen den heiligen Namen. Darauf lāßt sich erwidern, daß Ajāmila wāhrend seines Lebens ohne Vergehen chantete, weil er Nārāyanas Namen nicht rief, um seine Sünden zu tilgen. Er war so sehr in Illusion, daß er gar nicht wußte, daß er sündhaften Tätigkeiten verfallen war und daß sein Chanten des heiligen Namens Nārāyana ihn vor den Reaktionen bewahrte. Mit anderen Worten, er beging sein Leben lang keinen nāmaaparādha, und sein Chanten des heiligen Namens Nārāyana, das seinem Sohn galt, kann als rein bezeichnet werden. Dank diesem reinen Chanten erhielt Ajāmila unbewußt die Ergebnisse von bhakti, hingebungsvollem Dienst. Schon das erstmalige
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Aussprechen des heiligen Namens war in der Tat ausreichend, um alle sündhaften Reaktionen seines ganzen Lebens aufzuheben. Zur Veranschaulichung folgender Vergleich: Ein Feigenbaum trāgt nicht sogleich Früchte, sondern sie reifen erst im Laufe der Zeit heran. Auf ähnliche Weise wuchs auch Ajamilas hingebungsvoller Dienst allmählich; und dies bewahrte ihn vor sündhaften Reaktionen, obwohl er große Sünden begangen hatte. In den sāstras heißt es, daß einem die Folgen vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen sündigen Lebens nichts anhaben können, wenn man nur einmal den heiligen Namen des Herrn chantet. Wenn man zum Beispiel einer Schlange die Giftzähne zieht, bewahrt dies die zukünftigen Opfer der Schlange vor der Wirkung ihres Gifts, selbst wenn sie wiederholt zubeißt. Wenn ein Gottgeweihter den heiligen Namen nur einmal ohne Vergehen chantet, beschützt ihn das ewig. Er braucht nur abzuwarten, bis die Früchte seines Chantens im Laufe der Zeit heranreifen."
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Erwecken der Gottesliebe Die Visnudūtas fuhren fort: „Durch das Befolgen der vedischen Ritualhandlungen oder das Ausüben von Bußen werden sündhafte Menschen nicht so sehr geläutert wie dadurch, daß sie einmal den heiligen Namen Sri Haris chanten. Obgleich rituelle Buße von sündhaften Reaktionen befreien kann, erweckt sie nicht hingebungsvollen Dienst - im Gegensatz zum Chanten der Namen des Herrn, das uns an den Ruhm, die Eigenschaften, die Merkmale, die Spiele und die Attribute des Herrn erinnert. Die rituellen Zeremonien der Buße, die in den religiösen Schriften empfohlen werden, reichen nicht aus, um das Herz vollkommen zu lāutern, da nach vollzogener Buße der Geist wieder materiellen Tätigkeiten zustrebt. Aus diesem Grunde wird jemandem, der von den fruchtbringenden Reaktionen materieller Tätigkeiten befreit werden möchte, das Chanten des Hare-Krsna-mantra und die Lobpreisung des Namens, des Ruhms und der Spiele des Herrn als der vollkommene Vorgang der Buße empfohlen. Denn solches Chanten beseitigt vollständig den Schmutz im Herzen. Im Moment des Todes chantete Ajāmila hilflos und sehr laut den heiligen Namen Nārāyanas. Dieses Chanten allein erlöste ihn bereits von allen Folgen seines sündhaften Lebens. Deshalb, o Diener Yamarājas, versucht nicht, ihn zu eurem Meister zu führen, um ihn höllischen Strafen auszuliefern. Wer den heiligen Namen des Herrn chantet, wird sofort von den Folgen zahlloser Sünden befreit, selbst wenn er im Scherz, zur musikalischen Unterhaltung oder nachlässig chantet, ja sogar dann, wenn er etwas anderes damit ausdrücken will. Dies wird von allen großen Schriftgelehrten anerkannt. 168
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Wer durch einen Unglücksfall ums Leben kommt - wer zum Beispiel vom Dach eines Hauses stürzt, auf der Straße ausrutscht und sich die Knochen bricht, von einer Schlange gebissen wird, von Schmerzen und heftigem Fieber heimgesucht oder durch eine Waffe verwundet wird -, dabei aber irgendwie den heiligen Namen chantet, wird sofort davon freigesprochen, in ein höllisches Dasein fallen zu müssen, selbst wenn er ein Leben voller Sünden führte. Große Gelehrte und Weise haben nach sorgfāltiger Untersuchung festgestellt, daß man sich für schwerwiegende Sünden harte Bußen und für geringfügige Sünden leichtere Bußen auferlegen sollte. Das Chanten des Hare-Krsna-mantra jedoch beseitigt alle Folgen sündhafter Handlungen, seien sie schwer oder leicht. Obwohl man die Folgen eines sündhaften Lebens durch Entsagung, Mildtätigkeit, Gelübde und andere derartige Methoden aufheben kann, können diese frommen Tätigkeiten niemals die materiellen Wünsche im Herzen entwurzeln. Wer aber den Lotosfüßen der Persönlichkeit Gottes dient, wird augenblicklich von allen derartigen Verunreinigungen befreit. So wie ein Feuer trockenes Gras verbrennt, verbrennt der heilige Name des Herrn zweifellos alle Reaktionen sündhafter Handlungen, unabhängig davon, ob er bewußt oder unbewußt gechantet wird. Selbst wenn sich jemand der Wirksamkeit einer Medizin nicht bewußt ist, diese Medizin aber freiwillig oder gezwungenermaßen einnimmt, wird sie auch ohne sein Wissen wirken, da ihre Kraft nicht vom Verständnis des Patienten abhängig ist. Wenn man den heiligen Namen des Herrn - bewußt oder unbewußt - chantet, wird das Chanten große Wirkung zeigen, selbst wenn man seinen Wert nicht kennt." Sri Sukadeva Gosvāmi sagte des weiteren zu König Pariksit: Mein lieber König, nachdem die Sendboten Sri Visnus die Prinzipien des hingebungsvollen Dienstes mit einleuchtenden Argumenten genau erläutert hatten, befreiten sie den brāhmana Ajāmila aus den Fesseln der Yamadutas und retteten ihn vor dem drohenden Tod. Darauf begaben sich die Yamadutas zu Yamarāja und berichteten ihm alles, was sich ereignet hatte.
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Nun, wo der brāhmana Ajāmila aus den Schlingen der Diener Yamarājas befreit worden war, hatte er keine Furcht mehr. Er kam zur Besinnung und erwies den Visnudütas augenblicklich Ehrerbietungen, indem er sich vor ihren Lotosfüßen verneigte. Er war über ihre Anwesenheit äußerst erfreut, da er gesehen hatte, wie sie sein Leben aus den Händen der Diener Yamarājas gerettet hatten. Als die Visnudütas aber sahen, daß Ajāmila etwas sagen wollte, entschwanden sie plötzlich seiner Sicht. (Srimad-Bhāgavatam 6.2.11-23)
Das Chanten des heiligen Namens als beste Form der Buße Die Visnudütas weisen hier darauf hin, daß die vedischen Schriften verschiedene Methoden der Buße empfehlen, um die Reaktionen sündhafter Handlungen aufzuheben. Auch das Christentum kennt eine Methode der Buße. Wenn zum Beispiel ein Katholik eine Sünde begeht, sollte er sich gemäß seiner Glaubenslehre an einen Priester wenden und beichten: „Ich habe folgende Sünde begangen..." Der Priester gilt als ein autorisierter Stellvertreter Gottes, und wenn er als solcher dem Sünder vergibt, werden seine Sünden getilgt. Doch eine solche Buße kann einen sündhaften Menschen nicht so sehr lāutern wie das Chanten von Krsnas heiligem Namen; denn nachdem der Beichtende die Kirche verlassen hat, begeht er häufig die gleiche Sünde wieder. Mit anderen Worten, es kann keine Rede davon sein, daß man durch Buße allein geläutert wird. Dennoch werden in den Veden verschiedene Bußen denen empfohlen, die noch nicht bereit sind, den Vorgang reinen hingebungsvollen Dienstes aufzunehmen. Diese Methoden der Buße sind proportional zur Schwere der Sünde, die sie aufheben sollen. Wenn wir einen Husten oder eine Grippe haben, wird die vom Arzt verschriebene Medizin nicht so teuer sein, wie wenn wir an Tuberkulose erkranken. Ebenso fāllt prāyascitta (rituelle Zeremonien zur Buße sündhafter Handlungen) im Verhältnis zum Ausmaß der Sünde geringer oder schwerwiegender aus. Je schwerer die Sünde, desto hārter die Buße. So lauten die Vorschriften, die große Weise wie
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Parāsara Muni und Manu gegeben haben. Die Weisen haben zwanzig Arten von Schriften verfaßt, die die dharma-sāstra bilden. Diese Schriften lehren, wie man für seine Sünden büßt und zu den himmlischen Planeten erhoben wird. Es heißt zum Beispiel, daß man bei bestimmten Verbrechen geloben muß, eine gewisse Anzahl von Tagen zu fasten oder Spenden zu geben. Ein Geschäftsmann also, der durch sündhafte Tätigkeiten eine Million Dollar verdient hat, muß dementsprechend hohe Spenden geben. Es gibt viele solcher vorgeschriebenen Methoden der Buße, aber die Visnudutas sagen: „Wenngleich diese vorgeschriebenen Methoden der Buße berechtigt sind und ihren Zweck erfüllen, vermögen sie nicht das Herz zu läutern." Wie wir sehen, können Hindus, Mohammedaner und Christen - obwohl sie solche Bußriten vollziehen - nicht davon ablassen, immer wieder die gleichen Sünden zu begehen. Wer solch einem Bußritus folgt, ist wie ein unaufrichtiger Patient, der sich von einem Arzt behandeln lassen will. Der Arzt gibt ihm eine Medizin und klärt ihn auf, wie er sie einzunehmen hat, aber der törichte Patient nimmt die Medizin nach eigener Lust und Laune ein. Sein Gesundheitszustand verschlechtert sich deswegen, worauf er wieder zum Arzt geht und lamentiert: „Herr Doktor, bitte geben Sie mir mehr Medizin!" In diesem Zusammenhang erwähnt Srila Visvanātha Cakravarti Thākura ein Ereignis, das sich zutrug, als Samba, einer von Krsnas Söhnen, vor der Bestrafung durch die Kauravas gerettet wurde. Samba hatte sich in Laksmanā, die Tochter Duryodhanas, verliebt. Der Ehrenkodex der ksatriyas besagt, daß niemandem die Tochter eines ksatriya zur Frau gegeben wird, wenn er nicht zuvor seinen ritterlichen Heldenmut unter Beweis gestellt hat. Aus diesem Grund entführte Samba Laksmanā, was zur Folge hatte, daß er von den Kauravas gefangengenommen wurde. Als später Balarāma kam, um ihn zu befreien, fand eine Auseinandersetzung um Sāmbas Freilassung statt. Da der Streit nicht beigelegt werden konnte, demonstrierte Balarāma Seine Stärke, und ganz Hastināpura erbebte. Wie bei einem Erdbeben wäre es fast dem Erdboden gleichgemacht worden, hātte man sich nicht doch noch auf eine Heirat zwischen Samba und Duryodhanas Tochter geeinigt. Die Bedeutung dieses
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Ereignisses liegt darin, daß man bei Krsna und Balarāma Zuflucht suchen sollte, deren Schutz so mächtig ist, daß ihm nichts in der materiellen Welt gleichkommt. Wie schwerwiegend die Reaktionen unserer Sünden auch sein mögen, sie werden sogleich überwunden, wenn wir den Namen Hari, Krsna, Balarāma oder Nārāyana chanten. Bußriten wie Fasten und wohltätige Spenden werden daher von den Visnudütas nicht anerkannt. Sie sagen: „Solche vorgeschriebenen rituellen Zeremonien können einen Menschen nicht so wirkungsvoll läutern wie das Chanten von Gottes heiligem Namen." Zweifellos wird man von allen Verunreinigungen eines sündigen Lebens frei, wenn man bestimmte religiöse Prinzipien befolgt. Doch diese reichen letztlich nicht aus, weil der Geist so ruhelos ist, daß er wieder zu sündhaften Handlungen hingezogen wird, selbst nachdem er von der Verunreinigung sündhafter Reaktionen befreit worden ist. Die läuternde Kraft des hingebungsvollen Dienstes für Krsna, angefangen mit dem Chanten des heiligen Namens, wird im SrimadBhāgavatam (11.2.42) bestätigt: bhaktih paresānubhavo viraktir anyatra ca. „Hingebungsvoller Dienst für den Herrn ist so mächtig, daß man durch ihn sogleich von allen materiellen Wünschen befreit wird." In der materiellen Welt sind alle Wünsche sündig, denn materielle Wünsche bedeuten Sinnenbefriedigung, die immer mehr oder minder sündhafte Handlungen mit sich bringt. Aber reiner hingebungsvoller Dienst ist anyābhilāsitā-sünya, frei von materiellen Wünschen. Wer im hingebungsvollen Dienst verankert ist, hat keine materiellen Wünsche mehr und lebt daher nicht mehr in Sünde. Materielles Verlangen sollten wir völlig aufgeben. Wenn auch Entsagungen, Bußen und Spenden uns für eine gewisse Zeit von Sünden befreien mögen, werden unsere Begierden wieder erwachen, weil unser Herz noch unrein ist. Dann werden wir erneut sündigen und leiden. Der besondere Vorteil hingebungsvollen Dienstes besteht darin, daß er uns von allen materiellen Wünschen befreit. Durch Buße allein kann man sein Herz nicht reinigen. Ein Syphiliskranker geht zum Arzt, der ihm gegen ein hohes Honorar eine Spritze gibt. Ja er mag sogar geheilt werden, aber wenn er wieder unzulässigen Geschlechtsverkehr hat, steckt er sich von neuem mit
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Syphilis an. Wenn wir uns jedoch dem Krsna-Bewußtsein zuwenden, vergessen wir unzulässigen Geschlechtsverkehr. Das ist der Prüfstein für unser Krsna-Bewußtsein. Ein ernsthafter Gottgeweihter begeht niemals Sünden, weil sein Herz durch das Chanten des heiligen Namens und durch hingebungsvollen Dienst geläutert ist. Natürlich gibt es auch Pseudo-Gottgeweihte, die im Vertrauen auf das Chanten des heiligen Namens sündhafte Handlungen begehen. Sie sind große Frevler gegenüber dem heiligen Namen. Den heiligen Namen sollten wir nicht wie eine Maschine benutzen und denken, wir könnten nach Belieben Sünden begehen, weil das Chanten uns von den sündhaften Reaktionen befreien werde. Das ist das größte Vergehen gegen Krsnas heiligen Namen! Alle begangenen Sünden werden sofort ausgelöscht, wenn wir den heiligen Namen des Herrn chanten - selbst wenn es nur ein einziges Mal ist. Doch wir dürfen nicht weiter sündigen. Sri Caitanya Mahāprabhu vergab Jagāi und Mādhāi, die Trunkenbolde, Schürzenjäger, Fleischesser und Spieler waren. Diese beiden Sünder fielen vor den Lotosfüßen Sri Caitanyas und Nityānanda Prabhus nieder und flehten: „O Herren! Wir sind so sündhaft! Befreit uns gütigerweise." Sri Caitanya willigte unter der Bedingung ein, daß sie versprechen würden, keine weiteren Sünden mehr zu begehen. „Was auch immer ihr getan habt", sprach Er, „verzeihe Ich euch, aber tut es nicht wieder!" So gelobten Jagāi und Mādhāi: „Das ist das Ende unserer sündhaften Handlungen; wir werden sie nie wieder begehen." Durch die Einweihung, die wir vom spirituellen Meister empfangen, werden die Folgen unserer Sünden sogleich aufgehoben, was aber nicht bedeutet, daß wir wieder sündigen können. Krsna-Bewußtsein heißt, dem Beispiel Sri Caitanyas zu folgen. Daher weihen wir Schüler nach dem Prinzip ein, das Er im Falle von Jagāi und Mādhāi aufstellte. In unserer Gemeinschaft nehmen wir viele Menschen als ordnungsgemäß eingeweihte Schüler auf - doch nur, wenn sie geloben, die folgenden Regeln einzuhalten: kein unzulässiges Geschlechtsleben, kein Glücksspiel, keine Berauschung, kein Töten von Tieren und kein Essen von Fleisch. Diese Regeln sind nötig, denn wenn man ein spirituelles Leben beginnt und gleichzeitig fortfāhrt, sündhafte Handlungen zu begehen, wird man
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niemals spirituellen Fortschritt machen können. Unmißverständlich sagt Krsna in der Bhagavad-gitā (7.28): yesām tv anta-gatam pāpam janānām punya-karmanām te dvandva-moha-nirmuktā bhajante mām drdha-vratāh „Menschen, die in vorangegangenen Leben und im gegenwärtigen Leben fromm gehandelt haben und deren Sünden vollständig getilgt sind, sind frei von den Dualitäten der Tāuschung, und sie beschäftigen sich mit Entschlossenheit in Meinem Dienst." Wenn wir ernsthaft bestrebt sind, in das Königreich Gottes, Vaikuntha, zu gelangen, sollten wir den vier genannten regulierenden Prinzipien folgen. Man darf Geschlechtsverkehr nur haben, um in der Ehe Kinder zu zeugen. Man darf sich nicht der Berauschung hingeben; man darf kein Glücksspiel betreiben, und man darf weder Fleisch, Fisch noch Eier essen oder sonst irgend etwas, was nicht für die menschliche Ernährung bestimmt ist. Für den Menschen sind Getreide, Früchte, Gemüse, Milch und Zucker als Nahrungsmittel gedacht; solche Speisen sind sāttvika, rein und gut. Man sollte nicht die Hunde und Katzen nachahmen und sich mit dem Argument rechtfertigen, der Mensch dürfe Fleisch essen, weil die Tiere es auch tun. Sollte alles Eßbare als Nahrungsmittel dienen, warum dann nicht auch Kot? Kot ist ebenso ein Nahrungsmittel: Schweine fressen Kot. Aber Menschen sollten sich nicht wie Schweine ernähren, die allerlei Unrat fressen. Wir müssen unterscheiden! Wenn wir ein spirituelles Leben beginnen wollen, müssen wir diese vier einschränkenden Prinzipien beherzigen. Dies ist zwar mit etwas Entsagung verbunden, doch Entsagung ist der Sinn und Zweck des menschlichen Lebens. Durch Entsagung läutern wir unser Dasein, was uns befähigt, in das Königreich Gottes einzutreten; aber ohne Läuterung können wir niemals dorthin gelangen. Meditation über Krsnas Form Wenn wir den heiligen Namen Gottes chanten - Hare Krsna, Hare Krsna, Krsna Krsna, Hare Hare / Hare Rāma, Hare Rāma, Rāma
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Rāma, Hare Hare -, werden wir schließlich in der Lage sein, Krsnas Form zu sehen, Krsnas Eigenschaften zu erkennen und uns an Krsnas Spiele zu erinnern. Das ist die Wirkung des reinen Chantens des Hare-Krsna-mahā-mantra. Srila Visvanātha Cakravartl Thākura erklärt, daß dem Chanten der heiligen Namen eine ganz besondere Bedeutung innewohnt, die es von den vedischen Bußriten für schwere, noch schwerere und schwerste Sünden unterscheidet. Es gibt zwanzig verschiedene Arten religiöser Schriften, die dharma-sāstras, angefangen mit der Manu-samhitā und der Parāsara-samhitā. Doch die Visnudutas betonen: Obgleich ein Sünder von den Reaktionen seiner äußerst sündhaften Handlungen befreit wird, wenn er die religiösen Grundsātze dieser Schriften befolgt, erhebt ihn dies nicht zur Stufe des liebevollen Dienstes für den Herrn. Dagegen befreit uns selbst das einmalige Chanten der heiligen Namen des Herrn nicht nur von den Reaktionen schwerster Sünden, sondern erhebt uns auch allmählich auf die Ebene des liebevollen Dienstes für die Höchste Persönlichkeit Gottes. So dienen wir dem Herrn, indem wir uns an Seine Gestalt, Seine Eigenschaften und Seine Spiele erinnern. Srila Visvanātha Cakravartl Thākura erklärt des weiteren, daß das Chanten der heiligen Namen dies alles ermöglicht, weil der Herr allmächtig ist. Was durch das Ausführen vedischer Rituale unerreichbar bleibt, kann durch das Chanten der heiligen Namen des Herrn leicht erreicht werden. Den heiligen Namen zu chanten und in Ekstase zu tanzen ist so einfach, erhaben und wirkungsvoll, daß man ohne weiteres alle Segnungen des spirituellen Lebens erlangen kann, wenn man einfach diesem Vorgang folgt. Daher erklärt Sri Caitanya Mahāprabhu: param vijayate sri-krsna-sankirtanam. „Alle Ehre sei dem gemeinsamen Chanten von Sri Krsnas heiligem Namen!" Die sankirtana-Bewegung, die wir ins Leben gerufen haben, bietet den besten Vorgang, um die Menschen unverzüglich von allen sündhaften Reaktionen zu lāutern und auf die Ebene spirituellen Lebens zu erheben. Obgleich Ajāmila zu Fall kam, war er doch in seiner Jugend ein brahmacāri gewesen und von seinem Vater richtig erzogen worden. Er kannte den Namen, die Form und die Spiele Nārāyanas, vergaß sie aber durch seinen schlechten Umgang. Als er jedoch auf seinem
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Sterbebett den Namen Nārāyanas rief, entsann er sich wieder seiner früheren frommen Handlungen und wurde gerettet. Daß das Chanten und Hören des Namens und der Herrlichkeiten des Herrn das beste Mittel ist, um das Herz von sündhaften Neigungen zu reinigen, wird auch am Anfang des Srimad-Bhāgavatam (1.2.17) bestätigt: srnvatām sva-kathāh krsnah punya-sravana-kirtanah hrdy antah stho hy abhadrāni vidhunoti suhrt satām „Sri Krsna, die Höchste Persönlichkeit Gottes, der die Überseele im Herzen eines jeden und der wohlwollende Freund Seiner treuen Geweihten ist, entfernt den Wunsch nach materiellem Genuß aus dem Herzen des Geweihten, der Freude findet an Seinen Botschaften, welche in sich selbst tugendhaft sind, wenn sie richtig gehört und gechantet werden." Es ist die besondere Barmherzigkeit des Herrn, daß Er persönlich unser schmutziges Herz reinigt, sowie Er sieht, daß wir Seinen Namen, Seine Gestalt und Seine Spiele verherrlichen. Selbst wenn wir die Bedeutung des Namens, der Gestalt und der Spiele des Herrn nicht verstehen, werden wir geläutert, indem wir einfach über sie hören und chanten. Das Dasein zu lāutern und Befreiung zu erlangen ist der Sinn und Zweck des menschlichen Lebens. Solange man einen materiellen Körper hat, gilt man als unrein. In solch einem unreinen, materiellen Zustand kann man kein wirklich glückliches Leben führen, obgleich sich jeder danach sehnt. Daher ist Reinigung für jedermann erforderlich. Sri Rsabhadeva sagt im Srimad-Bhāgavatam (5.5.1): tapo divyam putrakā yena sattvam suddhyed yasmād brahma-saukhyam tv anantam. „Meine lieben Söhne, ihr müßt tapasya (Entsagung) auf euch nehmen, um euer Dasein zu lāutern; dann werdet ihr auf die spirituelle Ebene gelangen und nie endendes Glück genießen." Die tapasya des Chantens und Verherrlichens des Namens, der Form und der Spiele des Herrn ist ein sehr einfacher Läuterungsvorgang, durch den jeder glücklich werden kann. Deswegen müssen alle, die ein für allemal ihr Herz läutern wollen, diesen Vorgang aufnehmen.
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Denn andere Vorgānge wie karma, jnāna und yoga können das Herz nicht völlig reinigen. Māyāvādis (Unpersönlichkeitsanhänger) sind nicht fähig, den Namen, die Form und die Spiele des Herrn zu verherrlichen, denn sie glauben, Gott habe keine Form und Seine Spiele seien māyā (Illusion). Warum sollte Gott keine Form besitzen? Wir haben eine Form, weil unser Vater eine Form hat. Warum sollte also der Höchste Vater keine Form haben? In der Bhagavad-gitā (14.4) erklärt Krsna: aham bija-pradah pitā. „Ich bin der samengebende Vater aller Lebewesen." Auch die Christen glauben, daß Gott der Höchste Vater ist. Wenn die Söhne alle Form haben, wie kann dann der Vater keine Form haben? Wir können nicht von einem Vater gezeugt werden, der keine Form hat. Isvarah paramah krsnah sac-cid-ānanda-vigrahah: „Krsna ist der Höchste Herrscher und die Ursache aller Ursachen. Er besitzt eine ewige Form voller Wissen und Glückseligkeit." (Brahmasamhitā 5.1) Vigraha bedeutet „Form". Wie kann Gott formlos sein, wenn Er doch die Ursache aller Ursachen ist und der Schöpfer, der all diese Formen erschafft? Gott besitzt Form, aber nicht eine Form wie die unsere. Seine Form ist sac-cid-ānanda, doch die unsere ist genau das Gegenteil. Gottes Form ist sat, ewig existent, wāhrend die Form des Menschen asat ist, vergänglich. Gottes Form ist cit, voller Wissen, aber die unsere ist acit, voller Unwissenheit; und Seine Form ist voller ānanda, Glückseligkeit, wohingegen die unsere voller nirānanda, voller Elend, ist. Eine Form, die sich so sehr von der unsrigen unterscheidet, können wir nicht wahrnehmen; deshalb heißt es manchmal, Gott sei nirākāra, ohne Form. Gottes Form ist transzendental, das heißt, Sein Körper ist nicht materiell, sondern spirituell. Seine Form ist von einer anderen Natur als jene, an die wir gewöhnt sind. In den Veden heißt es, daß Gott sieht, aber keine Augen hat. Das bedeutet, daß Gottes Augen nicht wie die unsrigen sind - sie sind spirituell, nicht materiell. Wir sind nur in der Lage, einen Teil zu sehen, wāhrend Gott alles sehen kann, da Er Seine Augen überall hat. Die Natur Seiner Augen, Seiner Form, Seiner Hände und Beine unterscheidet sich grundsätzlich von der unseren. Im Gegensatz zu unserem Wissen ist Krsnas Wissen unbegrenzt.
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In der Bhagavad-gitā (7.26) sagt Er: „Ich kenne Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft - alles." Zuvor (Bhagavad-gitā 4.5) hat Er Arjuna erinnert: „Du und Ich haben viele Geburten angenommen. Ich erinnere Mich an sie alle, doch du hast sie vergessen." Krsnas Wissen hat also keine Grenzen. Sein Wissen, Sein Körper und Sein Glück sind völlig verschieden von unserem Wissen, unserem Körper und unserem Glück. Nur aus Unwissenheit behaupten einige Menschen, die Absolute Wahrheit sei nirākāra, formlos. Zu denken, Gott habe keine Form, ist nur Einbildung - es ist eine materielle Denkweise. Da wir eine Form haben, muß auch Gott Form besitzen, wenn auch nicht eine wie die unsere. Nur Dummköpfe glauben, Gott sei letztendlich formlos. Krsna erklärt in der Bhagavad-gitā (7.24): avyaktam vyaktim āpannam manyante mām abuddhayah. „Unintelligente Menschen denken, daß Ich zuvor unpersönlich gewesen sei und nun diese persönliche Gestalt angenommen hātte." An anderer Stelle in der Bhagavad-gitā werden diejenigen, die Gottes persönliche Gestalt verspotten, müdhās genannt, Esel. Gewiß besitzt Gott eine Form, aber sie ist völlig verschieden von der unsrigen. Dies ist die wirkliche Bedeutung von nirākāra. Genauso wie Krsnas Form nicht unserer materiellen Form entspricht, sind auch Seine Spiele nicht von materieller Natur. Jeder, der das versteht, ist sogleich befreit. Dies versichert Krsna in der Bhagavad-gitā (4.9): janma karma ca me divyam evam yo vetti tattvatah tyaktvā deham punar janma naiti mām eti so 'rjuna „Wer die transzendentale Natur Meines Erscheinens und Meiner Taten kennt, wird nach dem Verlassen des Körpers nicht wieder in der materiellen Welt geboren, sondern gelangt in Mein ewiges Reich, o Arjuna." Indem man Krsnas heiligen Namen rein chantet, kann man die Spiele des Höchsten Herrn verstehen und dadurch befreit werden. Chanten ist einfach und erhaben. Wer ohne Vergehen Hare Krsna chantet, wird sich stets an Krsnas Gestalt, Spiele, Eigenschaften und
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Gefolge erinnern; und diese Erinnerung wird ihn von allen sündhaften Reaktionen und von aller materiellen Bindung erlösen. Die Visnudütas erklären, daß in den Veden zwar viele Methoden zur Befreiung von sündhaften Reaktionen vorgeschrieben werden, daß sie aber alle nicht ausreichen, weil sie einen Menschen nicht auf die Ebene absoluter Reinheit erheben können. Diejenigen, die andere vedische Methoden der Läuterung praktizieren, wünschen sich im allgemeinen materiellen Gewinn, wie etwa Erhebung zu den himmlischen Planeten. Aber einem Gottgeweihten ist nichts an der Erhebung zu den himmlischen Planeten gelegen; ihm ist nichts an irgendeinem Planeten in der materiellen Welt gelegen, da er weiß, wie vergänglich der Nutzen davon ist, auf die himmlischen Planeten zu gelangen. Obwohl wir auf einem höheren Planeten Tausende von Jahren leben und uns eines sehr hohen Lebensstandards erfreuen können, der uns schöne Frauen, märchenhaften Reichtum und die feinsten Weine bietet, haben wir davon keinen dauernden Nutzen. Für einen Gottgeweihten ist solch ein Leben höllisch, weil er nicht ohne Krsna leben möchte. Das ist echte spirituelle Erkenntnis. Uns ist nur an Krsna und Krsnas Freude gelegen. Darin besteht wirkliches Glück. Deshalb versuchen wir, Krsna zu erfreuen. Auch Kamsa war Krsna-bewußt, da er stets an Krsna dachte, aber seine Meditation über Krsna war feindselig. Er meditierte darüber, wie er Krsna töten könne. Er dachte an Krsna, doch er sah Ihn als Feind. Wenn man an Krsna denkt, sich aber Seinem Wunsch widersetzt und Ihn nicht zufriedenstellen will, hat das gewiß nichts mit bhakti oder Hingabe zu tun. Krsna-Bewußtsein muß in einer positiven Haltung praktiziert werden. Arjuna war ein Gottgeweihter, weil er positiv zur Freude Krsnas handelte. Materiell gesehen erschienen Arjunas Taten negativ, aber was Krsna betrifft, waren sie positiv. Deshalb waren sie alle vollkommen und frei von jeglicher Sünde. Sri Krsnas transzendentale Spiele Es ist wichtig, den Unterschied zwischen Handlungen in bhakti und gewöhnlichen frommen Taten zu verstehen. Wissensaneignung und fromme Taten befinden sich auf der materiellen Ebene. Frömmigkeit führt nicht zur Befreiung. Obgleich ein frommer Mensch auf
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der Ebene der Tugend handelt, bleibt er eine bedingte Seele, die an die Reaktionen ihrer guten Taten gebunden ist. Selbst wenn man ein brāhmana wird, ein sehr frommer Mensch, heißt das noch nicht, daß man ein Gottgeweihter geworden ist. Manchmal hingegen scheint ein Gottgeweihter gegen die Regeln weltlicher Frömmigkeit zu verstoßen. Arjuna beispielsweise war ein herausragender Geweihter Sri Krsnas, aber er tötete seine Verwandten. Unwissende Menschen könnten den Vorwurf erheben: „Arjuna ist kein guter Mensch. Sieh nur, er tötete seinen Großvater, seinen Lehrer und seine Vettern, er vernichtete seine ganze Familie." Doch in der Bhagavad-gitā (4.3) sagt Krsna zu Arjuna: bhakto 'si me. „Du bist Mein geliebter Freund." Auch wenn Arjuna gemäß den Wertvorstellungen der materiellen Welt nicht als guter Mensch gelten mag, muß er als ein Gottgeweihter anerkannt werden, da er eine Seele ist, die sich dem Wunsch des Herrn ergeben hat. Arjuna tötete tatsāchlich seine eigenen Angehörigen, aber dennoch blieb er in Krsnas Augen ein enger Freund und Geweihter. Darin liegt der Unterschied zwischen einem Gottgeweihten und einem guten Menschen dieser Welt: Ein guter Mensch versucht immer, fromm zu handeln, weil er weiß, daß er sündhafte Reaktionen erleiden muß, sobald er Schlechtes tut. Doch ein Gottgeweihter, wenn auch von Natur aus ein sehr guter Mensch, kann auf Krsnas Geheiß wie ein schlechter Mensch handeln, ohne zu Fall zu kommen - er bleibt dennoch ein reiner Geweihter des Herrn und ist Ihm sehr lieb. Wie erwähnt, ist es sehr läuternd, über Krsnas Spiele zu hören, aber man muß es in der richtigen Haltung tun. Manche Leute mit einer weltlichen Sichtweise fühlen sich sehr zu Krsnas rāsa-lilā hingezogen, Seinen Spielen mit den Kuhhirtenmādchen. Sie beachten jedoch nicht, daß Krsna auch mit Dāmonen kämpft und sie tötet. Ihnen entgeht, daß die Absolute Wahrheit, Krsna, unter allen Umstānden gut ist. Krsna kann Sich gemeinsam mit Seinen Geweihten vergnügen oder Dāmonen töten - Er bleibt die Absolute Wahrheit, und Seine Spiele lāutern gleichermaßen das Herz. Im allgemeinen hören die Leute das Srimad-Bhāgavatam von berufsmäßigen Erzählern, die besonders gerne über den rāsa-lilā sprechen. „Krsna umarmt ein Mādchen", denken die Leute, „das klingt
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sehr interessant!" Zuweilen versammeln sich bis zu zehntausend Menschen, und die Erzähler machen so einen beträchtlichen Gewinn. Die Leute bekommen den Eindruck, das Srimad-Bhāgavatam bestehe nur aus dem Zehnten Canto, der den rāsa-lilā und andere Spiele Krsnas enthālt, und sind sich nicht bewußt, daß es in den anderen Cantos viele wichtige Unterweisungen gibt. Sri Krsna, das summum bonum, wird im Zehnten Canto beschrieben, wāhrend die anderen neun Cantos besonders dafür bestimmt sind, das Herz zu lāutern, damit man Krsna verstehen kann. Aus diesem Grund raten wir jedem, zunächst die ersten neun Cantos des Snmad-Bhāgavatam sorgsam zu lesen; dann erst kann man den Zehnten Canto mit dem richtigen Verständnis lesen. Wer die Beschreibungen von Krsnas rāsa-lilā hört und sie als gewöhnliche Geschichten auffaßt, ist außerstande, Krsna wahrhaft zu verstehen. Der rāsa-lila hat nichts mit Lust zu tun, vielmehr ist er ein transzendentales Spiel der Liebe zwischen Rādhā und Krsna. Caitanya Mahāprabhu erklärt, daß die Kapitel des Srimad-Bhāgavatam, die den rāsa-lilā beschreiben, nicht für gewöhnliche Menschen bestimmt sind, sondern nur für befreite Persönlichkeiten. Daher sollte man vor gewöhnlichen Menschen nicht über den rāsa-lilā sprechen. Nur fortgeschrittene Gottgeweihte, die von materieller Verunreinigung befreit sind, können versuchen, Krsnas rāsa-lilā zu verstehen. Den rāsalilā von Rādhā und Krsna darf man sich nicht als etwas Weltliches vorstellen. Obwohl gewöhnliche Zuhörer nicht um die tiefe Bedeutung von Krsnas rāsa-lilā wissen, werden sie geläutert, da sie den Erzāhlungen über Krsnas Spiele zuhören. Und sobald sie von autorisierten Quellen hören, werden sie zur transzendentalen Ebene hingebungsvollen Dienstes erhoben. Lust, das Verlangen nach Genuß, ist die Krankheit im Herzen. Indem man aber von den richtigen Quellen über Krsnas liebevollen Austausch mit den gopis hört, werden die tiefverwurzelten lüsternen Wünsche im Herzen vollständig ausgemerzt. Leider hören die meisten Menschen das Srimad-Bhāgavatam nicht von den autoritativen Quellen, sondern nur von berufsmäßigen Erzählern. Daher bleiben sie materiell krank - voller lüsterner Wünsche. Einige werden zu sahajiyās, das heißt, sie geben vor, sie selbst
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seien Krsna, Rādhārāni und deren gopi-Freundinnen, und spielen so den höchsten Genießer. Die Aufgabe des reinen Gottgeweihten ist es, Krsna zufriedenzustellen. Wenn er den Hare-Krsna-mahā-mantra chantet, wird ihm bewußt, wie man Krsna erfreut. In der materiellen Welt neigen die Lebewesen dazu, auf Abwege zu geraten. Der Geist und die Sinne fühlen sich im allgemeinen zu materiellen Wunschobjekten hingezogen. Aber wir sollten durch bhakti-yoga unseren Geist auf das Ewige richten. Ansonsten werden uns Geist und Sinne dazu zwingen, Tätigkeiten zur eigenen Sinnenbefriedigung (karma) auszuführen. Sobald jemand seine Sinne befriedigt, begeht er Sünden. Um karmische Tätigkeiten zu vermeiden, die uns schneller, als wir denken, in den Kreislauf von Geburt und Tod verstricken, müssen wir den Vorgang des Krsna-Bewußtseins aufnehmen. Die Visnudütas geben uns denselben Rat: Wenn wir von den Auswirkungen des karma befreit werden wollen, sollten wir den Höchsten Herrn vierundzwanzig Stunden am Tag verherrlichen. Das wird uns lāutern. Srila Sridhara Svāmi sagt: „Anstatt vorgeschriebene rituelle Zeremonien zu befolgen, solltest du deinen Geist einfach darin vertiefen, über den Herrn, die Höchste Persönlichkeit Gottes, zu sprechen und Ihn zu lobpreisen!" Hierin besteht der Vorgang des Krsna-Bewußtseins. Im Krsna-Bewußtsein, d. h. im hingebungsvollen Dienst, gibt es neun Vorgānge: über den transzendentalen Namen, die Form, die Eigenschaften und die Spiele des Herrn hören und chanten, sich an sie erinnern, den Lotosfüßen des Herrn dienen, Ihn mit Ehrfurcht verehren, Ihm Gebete darbringen, Sein Diener werden, Ihn als Freund betrachten und Ihm alles hingeben. Wer einen oder mehrere dieser Vorgānge des hingebungsvollen Dienstes sein Leben lang ausübt, erinnert sich im Augenblick des Todes mit Sicherheit an Krsna. Das ist die Kunst des Krsna-Bewußtseins. Da es uns nicht möglich ist, alle Tätigkeiten aufzugeben und einfach Hare Krsna zu chanten, beschäftigen wir uns unablässig im praktischen hingebungsvollen Dienst, damit unser Geist stets auf Krsna gerichtet ist. Auf diese Weise ist uns im Moment des Todes die vollständige Erlösung vom materiellen Dasein gewiß.
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Wer keine Übung im hingebungsvollen Dienst besitzt, wird im Augenblick des Todes nicht plötzlich den heiligen Namen Nārāyanas chanten können. Um wirkungsvoll zu chanten, muß man zuvor geübt haben. Aus diesem Grund empfiehlt Caitanya Mahāprabhu: kirtaniyah sadā harih. „Man sollte den heiligen Namen des Herrn ununterbrochen chanten." In unserem Zeitalter ist dies die beste Methode, sich immer an Krsna zu erinnern. Wenn wir uns immer an Krsna erinnern, ist unsere Heimkehr zu Gott garantiert, wie Er in der Bhagavad-gitā (8.8) verspricht: abhyāsa-yoga-yuktena cetasā nānya-gāminā paramam purusam divyam yāti pārthānucintayan „Wer über Mich als die Höchste Persönlichkeit Gottes meditiert, indem er seinen Geist stāndig darin übt, sich an Mich zu erinnern, und von diesem Pfad nicht abweicht, dem ist es sicher, Mich zu erreichen." Es war kein Zufall, daß Ajāmila sich an Krsna erinnerte. Schon früher in seinem Leben hatte er den Namen Nārāyanas gechantet, dann aber den Herrn aufgrund seines schlechten Umgangs vergessen. Trotzdem trat die transzendentale Wirkung seiner früheren Übung im Moment des Todes zutage, obwohl er den Namen seines jüngsten Sohnes rief und nicht beabsichtigt hatte, nach Krsna zu rufen. Vorbehaltlose Barmherzigkeit In der Bhagavad-gitā (8.6) heißt es: yam yam vāpi smaran bhāvam tyajaty ante kalevaram tam tam evaiti kaunteya sadā tad-bhāva-bhāvitah „Was auch immer der Daseinszustand ist, an den man sich erinnert,
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wenn man seinen Körper verlāßt, diesen Zustand wird man ohne Zweifel erreichen." Wer sich darin übt, den Hare-Krsna-mantra zu chanten, wird wahrscheinlich auch chanten, wenn er einen Unfall erleidet. Aber selbst wer ohne solche Übung bei einem tödlichen Unfall den heiligen Namen des Herrn chantet, wird nach dem Tode vor einem höllischen Leben bewahrt. Wenn jemand zum Beispiel von einem hohen Dach stürzt, aber irgendwie „Hare Krsna!" ruft, hört der Herr diesen Schrei. Wenn wir von einem Tiger träumen, der uns auffressen will, und dann im Schlaf Hare Krsna chanten, hört der Herr dies ebenfalls. Obwohl Ajāmila den heiligen Namen Nārāyanas nur indirekt in Form des Namens seines jüngsten Sohnes - chantete, erinnerte er sich augenblicklich an Nārāyana. Aus diesem Grund gibt man in der vedischen Gesellschaft Kindern die Namen Gottes. Das bedeutet jedoch nicht, daß das Kind dadurch Gott wird. Wenn wir einem Knaben den Namen Nārāyana geben, gilt er als Nārāyana dāsa, der Diener Nārāyanas. Auf ähnliche Weise geben wir unseren Schülern spirituelle Namen wie Visnu dāsa, Vāmana dāsa oder Krsna dāsa. Daß Ajāmila sich an Nārāyana erinnerte, als er seinen gleichnamigen Sohn rief, wird im Srimad-Bhāgavatam bestätigt, wo es heißt, daß die Klangschwingung des heiligen Namens absolute Macht besitzt. Durch das Aussprechen des heiligen Namens wird man auf der Stelle von allen sündhaften Reaktionen befreit, selbst wenn man sich über die Macht des Namens nicht bewußt ist. Man mag mit Hingabe und Ehrfurcht oder auch ohne Glauben chanten, aber in jedem Fall werden mehr sündhafte Reaktionen getilgt, als ein Sünder auf sich laden kann. Solch grenzenlose Stārke besitzt Krsnas Name! Als Caitanya Mahāprabhu in Navadvipa den Hare-Krsna-mahamantra chantete, kam es vor, daß die Leute den Herrn und Seine Gefährten nachahmten. Damals stand das Land unter mohammedanischer Herrschaft. Manchmal wandten sich die Leute daher an einen Regierungsbeamten und beklagten sich: „Die Hindus chanten ,Hare Krsna! Hare Krsna!', tanzen wie wild und wirbeln mit ihren Armen." Auf diese Weise ahmten sie den sankirtana Sri Caitanya Mahāprabhus nach. Auch in den westlichen Ländern imitieren uns
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Passanten, wenn wir auf die Straße gehen und Hare Krsna chanten. Doch selbst durch solches Nachahmen werden sie gereinigt. Der heilige Name ist so mächtig, daß man sogar einen spirituellen Gewinn hat, wenn man sich über uns lustig macht und sagt: „Warum chantet ihr Hare Krsna - so ein Unsinn!" Das Chanten von Krsnas heiligem Namen ist wie das Aufgehen der Sonne in einem verfinsterten Herzen. Das Universum ist voller Dunkelheit, und nur weil Krsna für Sonnenschein gesorgt hat, können wir sehen. Sobald die Sonne untergeht, gerāt die Welt unter den Einfluß der Dunkelheit. Ebenso ist unser Herz voll Finsternis und Unwissenheit, aber es gibt ein Licht, um die Dunkelheit zu vertreiben: Dieses Licht ist Krsna-Bewußtsein. Aufgrund von schlechten Taten sind wir in Unwissenheit, doch denen, die dem Herrn ständig mit Liebe und Zuneigung dienen, offenbart Sich Krsna im Herzen. Durch Krsnas besondere Barmherzigkeit befinden sich die Gottgeweihten immer im Licht des Krsna-Bewußtseins. Krsna kennt Absicht und Motiv eines jeden, und Seine Gnade ist besonders denen zugedacht, die Ihm aufrichtig dienen. Krsna ist jedem gleich wohlgesinnt, und daher ist Seine Barmherzigkeit grenzenlos. Seinen Geweihten ist Er jedoch besonders zugeneigt. Wenn wir bereit sind, Seine Barmherzigkeit unbegrenzt entgegenzunehmen, ist Er bereit, sie uns unbegrenzt zu geben. Weil wir aber ein neidisches Wesen haben, sind wir nicht bereit, Seine Gnade anzunehmen. In der Bhagavad-gitā (18.66) sagt Krsna: sarvadharmān parityajya mām ekam saranam vraja / aham tvam sarva-pāpebhyo moksayisyāmi: „Gib alle Arten sogenannter Religion auf und ergib dich Mir allein! Ich werde dich von allen sündhaften Reaktionen befreien." Obgleich Er uns offen Seinen Schutz anbietet, nehmen wir ihn nicht an. Das Sonnenlicht verbreitet sich gleichmäßig im ganzen Universum, aber wenn wir die Türe schließen und nicht ins Freie gehen, um die Sonnentage auszunützen, sind wir selbst schuld. Sonnen- und Mondlicht machen keine Unterschiede; es ist nicht so, daß sie nur die Hāuser der brāhmanas erhellen und die der candālas (Hundeesser) in Dunkelheit lassen. Nein, das Licht wird an alle vorbehaltlos verteilt. Ebenso ist Krsnas Barmherzigkeit jedem gleichermaßen zugänglich, doch es bleibt dem einzelnen überlassen, Gottes freigebig verteilte Gnade anzunehmen.
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Krsna schenkt Seinem Geweihten naturgemäß mehr Barmherzigkeit, da dieser fähig ist, die Barmherzigkeit durch Dienst anzunehmen. Man empfāngt die grundlose Barmherzigkeit des Herrn, indem man Ihm immer mehr dient. Wir sollten dem Herrn mit großer Begeisterung dienen, und diese Begeisterung wird kommen, sobald wir mit Glauben und Entschlossenheit Hare Krsna chanten. Jemand könnte einwenden: „Ich sehe ein, daß das Chanten des heiligen Namens läutert, wenn man daran glaubt; aber wie wirkt der heilige Name, wenn man keinen Glauben hat?" Einige Beispiele mögen dies veranschaulichen: Wenn ein unschuldiges Kind eine Flamme berührt, ob wissentlich oder unwissentlich, verbrennt es sich. Wenn ein Kind Medizin oder Gift zu sich nimmt, stellt sich die Wirkung ein, obgleich das Kind deren Wirksamkeit und Wirkungsweise nicht kennt. Genauso wirkt der Hare-Krsna-mantra, auch wenn man nicht weiß, wie und warum. Sogar unwissende niedere Geschöpfe profitieren vom heiligen Namen. Dies wird von Srila Haridāsa Thākura bestätigt: „Wenn man laut Hare Krsna chantet, hat jedes sich bewegende und sich nicht bewegende Lebewesen einen Nutzen." (Caitanya-caritāmrta, Antya-lilā 3.69) Die Wirksamkeit des Chantens von Hare Krsna wird auch anhand der Verbreitung der Hare-Krsna-Bewegung deutlich. In den Ländern, in denen sich die Hare-Krsna-Bewegung verbreitet, beginnen große Gelehrte und andere intelligente Menschen ihre Wirksamkeit zu erkennen. Zum Beispiel fühlt sich Dr. J. Stillson Judah, ein renommierter Gelehrter, sehr unserer Bewegung verbunden, da er mit eigenen Augen gesehen hat, wie sie drogensüchtige Hippies in reine Vaisnavas verwandelt, die freiwillig Diener Krsnas und der Menschheit werden. Nur wenige Jahre zuvor kannten diese Hippies den Hare-Krsna-mantra nicht, aber jetzt chanten sie ihn, werden reine Vaisnavas und geben alle sündhaften Betätigungen auf, wie unzulässiges Geschlechtsleben, Berauschung, Fleischessen und Glücksspiel. Dies ist ein praktischer Beweis für die Wirksamkeit des Hare-Krsna-mantra. Mit anderen Worten, man mag den Wert des Chantens des Hare-Krsna-mantra kennen oder nicht, doch wenn man ihn auf die eine oder andere Weise chantet, wird man augenblicklich geläutert, so wie jemand, der eine starke Medizin einnimmt, ihre Wirkung verspürt, gleichgültig, ob er sie wissentlich
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oder unwissentlich einnimmt. So lautet die richtige Schlußfolgerung der Visnudutas. Verlängerte Lebensfrist Yamarājas Diener sind so mächtig, daß sie im allgemeinen von niemandem aufgehalten werden können. Aber dieses Mal wurde ihr Unterfangen vereitelt, da sie gehindert wurden, einen Menschen zu ergreifen, den sie für sündhaft erachteten. Aus diesem Grund kehrten sie auf der Stelle zu Yamarāja zurück und erzāhlten ihm alles, was geschehen war. Sie dachten, es sei nicht normal, daß Ajāmila, der allem Anschein nach vor Yamarāja hātte gebracht werden müssen, von den Visnudutas befreit worden war. Jetzt war Ajāmila völlig Krsna-bewußt. Durch die göttliche Gemeinschaft der Visnudutas, die erhabene Vaisnavas waren, erlangte Ajāmila wieder sein volles Bewußtsein. Er hātte abgeführt werden sollen, aber seine Fesseln wurden nochmals gelöst; und nun hatte er keine Furcht mehr. Das ist Befreiung. Wenn man sich dank der Gemeinschaft mit Vaisnavas, den Geweihten des Herrn, im KrsnaBewußtsein verankert, wird man für immer frei von aller Angst. Ajāmila verlor alle Angst, da er zu seiner wesensgemäßen Stellung zurückfand. Sogleich begann er, den Visnudutas erlesene Gebete darzubringen: vānchā-kalpa-tarubhyas ca krpā-sindhubhya eva ca. „Ich bringe meine achtungsvollen Ehrerbietungen den Geweihten des Herrn dar, die wie Wunschbäume und Ozeane der Barmherzigkeit sind." Das ist das Leben eines Gottgeweihten: Er bringt anderen Gottgeweihten immer Gebete dar. Als erstes erweist er seinem spirituellen Meister seine Achtung, dann dessen spirituellem Meister und seinem Vorgänger und schließlich allen Geweihten Sri Krsnas. Vaisnavas sind ebenfalls Visnudutas, weil sie die Anordnungen Krsnas ausführen. Es liegt Sri Krsna sehr am Herzen, daß alle bedingten Seelen, die in der materiellen Welt leiden, sich Ihm ergeben und vor den materiellen Qualen des Lebens und den Höllenstrafen nach dem Tod bewahrt werden. Ein Vaisnava versucht daher, die bedingten Seelen zur Besinnung zu bringen. Diejenigen, die wie Ajāmila vom Glück begünstigt sind, werden von den Visnudutas oder den Vaisnavas gerettet und kehren so nach Hause, zu Gott, zurück.
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Gute Beispiele barmherziger Vaisnavas sind die sechs Gosvamis. Sie studierten genaustens alle möglichen Schriften, um die Prinzipien des Krsna-Bewußtseins zu etablieren. Im Bhakti-rasāmrta-sindhu (Der Nektar der Hingabe) zitiert Srila Rūpa Gosvāmi aus verschiedensten Schriften zahlreiche Verse, die die Prinzipien von bhakti stützen. Warum betrieben er und die anderen Gosvamis solch beschwerliche Forschungen? Es ist eine sehr anspruchsvolle Arbeit, die vedischen Schriften nach maßgebenden Stellen zu durchforschen und mit diesen dann die vedischen Schlußfolgerungen zu untermauern. Doch aus Mitleid mit den Menschen nahmen die sechs Gosvamis diese Mühe auf sich. Krsna-Bewußtsein zu verbreiten, wie es die sechs Gosvamis von Vrndavana getan haben, ist der beste Dienst zum Wohl der gesamten Menschheit. Es scheint noch viele andere Arten von Wohlfahrtsarbeit zu geben, aber ihr Nutzen ist nur vorübergehend. Die sechs Gosvamis von Vrndavana und andere erhabene Persönlichkeiten widmen sich der Verbreitung des Krsna-Bewußtseins, denn diese großartige Wohlfahrtsarbeit ist für alle Menschen von wirklichem Wert, da sie auf echter spiritueller Wahrheit beruht. Die Vaisnavas sind wie Wunschbāume (kalpa-vrksa), denn sie können alle spirituellen Wünsche erfüllen; und daher sind sie auch Ozeane der Barmherzigkeit (krpā-sindhu). Ajāmila vernahm das Gespräch, das die Yamadūtas und Visnudütas führten, und wurde bereits durch das bloße Hören von allen materiellen Verunreinigungen völlig befreit. Eine solch läuternde Wirkung hat es, über Krsna zu hören. Jeder, der regelmäßig aus dem Srimad-Bhāgavatam, der Bhagavad-gitā, dem Caitanya-caritāmrta, dem Bhakti-rasāmrta-sindhu oder einer anderen Vaisnava-Schrift hört, zieht daraus den gleichen Nutzen wie Ajāmila und wird von aller materiellen Verunreinigung frei. Ajāmila war den Visnudütas sehr dankbar und verneigte sich augenblicklich vor ihnen, um ihnen seine Achtung zu erweisen. Auch wir müssen feste Beziehungen mit den Dienern Sri Visnus anknüpfen. Caitanya Mahāprabhu sagte: gopi-bhartuh pada-kamalayor dāsa-dāsānudāsah. „Man sollte sich als Diener des Dieners des Dieners von Krsna betrachten." Ohne die Diener Krsnas zu ehren, kann niemand sich Krsna nāhern.
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Als Ajāmila den Visnudūtas seine Achtung erwiesen hatte, wollte er etwas sagen, um ihnen zu danken. Doch diese entschwanden sogleich seiner Sicht, weil sie es vorzogen, daß er statt dessen den Höchsten Herrn lobpreise. Da all seine sündhaften Reaktionen aufgehoben worden waren, war Ajāmila nun bereit, den Herrn zu lobpreisen. Tatsächlich kann man den Herrn nur aufrichtig lobpreisen, wenn man von allen sündhaften Handlungen frei ist. Dies bestätigt Krsna persönlich in der Bhagavad-gitā (7.28): yesām tv anta-gatam pāpam janānām punya-karmanām te dvanda-moha-nirmuktā bhajante mām drdha-vratāh „Menschen, die in vorangegangenen Leben und im gegenwārtigen Leben fromm gehandelt haben und deren Sünden vollständig getilgt sind, sind frei von der Dualität der Täuschung, und sie beschäftigen sich mit Entschlossenheit in Meinem Dienst." Die Visnudütas machten Ajāmila mit hingebungsvollem Dienst vertraut, damit er sich sogleich darauf vorbereiten konnte, nach Hause, zu Gott, zurückzukehren. Um seine Begierde, den Herrn zu lobpreisen, zu vergrößern, verließen sie ihn, damit er in ihrer Abwesenheit Trennungsschmerz empfände. In der Stimmung der Trennung ist die Verherrlichung des Herrn sehr inbrünstig.
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17. KAPITEL
Die Stunde der Wahrheit Sukadeva Gosvāmi fuhr fort: Nachdem Ajāmila die Gespräche zwischen den Yamadūtas und den Visnudūtas vernommen hatte, verstand er die religiösen Prinzipien, die innerhalb des Einflußbereiches der drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur wirken. Diese Prinzipien werden in den drei Veden beschrieben. Er verstand auch die transzendentalen Prinzipien der Religion, die jenseits des Einflußbereiches der Erscheinungsweisen der materiellen Natur stehen und bei denen es um die Beziehung zwischen dem Lebewesen und der Höchsten Persönlichkeit Gottes geht. Weiterhin vernahm Ajāmila die Verherrlichung des Namens, des Ruhms, der Eigenschaften und der Spiele der Höchsten Persönlichkeit Gottes. So wurde er ein völlig reiner Gottgeweihter. Er erinnerte sich an seine früheren sündhaften Handlungen, die er nun zutiefst bereute. Ajāmila sprach: „Wehe mir, wie sehr ich mich dadurch erniedrigte, daß ich ein Diener meiner Sinne wurde! Ich fiel von meiner Stellung als qualifizierter brāhmana und zeugte Kinder im Schoße einer Prostituierten. Wehe mir, alle Verdammnis über mich! Ich handelte so sündhaft, daß ich meine Familientradition schändete. Ich verließ sogar meine keusche und schöne junge Gemahlin, nur um Geschlechtsverkehr mit einer verkommenen Prostituierten zu haben, die es gewohnt war, Wein zu trinken. Alle Verdammnis über mich! Mein Vater und meine Mutter waren alt und hatten niemanden, der für sie sorgte. Weil ich mich nicht um sie kümmerte, lebten sie in großen Schwierigkeiten. O weh, wie ein abscheulicher Mensch niedrigster Abstammung überließ ich sie undankbar ihrem Schicksal. 192
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Jetzt ist mir klar, daß ein sündhafter Mensch wie ich als Folge solcher Handlungen in höllische Umstānde hinabgestoßen werden müßte, die für diejenigen bestimmt sind, die religiöse Prinzipien verletzt haben, und daß ich dort die schlimmsten Leiden erdulden müßte. War das, was ich sah, ein Traum, oder war es Wirklichkeit? Ich sah furchterregende Gestalten mit Stricken in den Händen, die mich gefangennehmen und hinwegschleifen wollten. Wo sind sie hingegangen? Und wohin haben sich jene vier befreiten und wunderschönen Persönlichkeiten begeben, die mich aus der Gefangenschaft retteten und mich davor bewahrten, in die höllischen Regionen hinabgezerrt zu werden? Ich bin gewiß verabscheuenswert und unglückselig, da ich in ein Meer sündhafter Tätigkeiten eingetaucht war, doch trotzdem konnte ich dank meiner früheren spirituellen Tätigkeiten jene vier erhabenen Persönlichkeiten sehen, die zu meiner Rettung kamen. Nun bin ich äußerst froh über ihren Besuch. Wie hātte ich, ein schmutziger Freier einer Prostituierten, die Gelegenheit bekommen können, in meiner Todesstunde den heiligen Namen Nārāyanas zu chanten, wenn nicht aufgrund meines früheren hingebungsvollen Dienstes? Gewiß wäre es nicht möglich gewesen." (Srimad-Bhāgavatam 6.2.24-33) Reue Nachdem Ajāmila das Gespräch zwischen den Yamadūtas und den Visnudütas vernommen hatte, war er im Krsna-Bewußtsein gefestigt. „Welches Unglück", klagte er, „daß ich so vielen sündhaften Tätigkeiten nachgegangen bin!" Dies ist die richtige Einstellung für einen Geweihten Krsnas. Wie sündhaft er auch immer in der Vergangenheit gehandelt haben mag - sobald er mit Gottgeweihten in Berührung kommt und über die transzendentalen Themen hört, die von der Höchsten Persönlichkeit Gottes handeln (bhāgavata-kathā), wird er geläutert und bedauert seine vorherige Lage. Solches Bedauern früherer Sünden ist ein Zeichen von Läuterung. Der Gottgeweihte bereut sein schlechtes Verhalten und hört damit auf. Ajāmila befand sich nun auf der Stufe des hingebungsvollen
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Dienstes, wo man von allen materiellen Hindernissen frei und völlig zufrieden ist (ahaituky apratihatā yayātmā suprasidati). Auf dieser Ebene beklagte nun Ajāmila seine vergangene materialistische Handlungsweise und pries den Namen, die Gestalt und die Spiele der Höchsten Persönlichkeit Gottes. Wer sich dem Krsna-Bewußtsein zuwendet, bemüht sich selbstverständlich, den Regeln des hingebungsvollen Dienstes zu folgen, und chantet regelmäßig den HareKrsnei-mahā-mantra: Hare Krsna, Hare Krsna, Krsna Krsna, Hare Hare / Hare Rāma, Hare Rāma, Rāma Rāma, Hare Hare. Niemand sollte aber annehmen, daß er mit seinen sündhaften Handlungen fortfahren und ihre Folgen abwenden könne, bloß weil er sich dem Krsna-Bewußtsein zugewandt habe. Wiederholt haben wir gewarnt, daß dies das größte Vergehen gegen den heiligen Namen ist. Wie Ajāmila sollte man bereuen: „Wie beklagenswert, daß ich unzählige sündhafte Handlungen begangen habe! Nun aber habe ich durch Krsnas Gnade erkannt, daß ich Unrecht tat." So empfand Ajāmila tiefe Reue, als er sich an all seine sündhaften Tätigkeiten erinnerte. Er entsann sich, daß sein Vater ihn zu einem erstklassigen brāhmana erzogen und in der Wissenschaft der Veden unterrichtet hatte und daß er eine schöne und keusche junge Frau geheiratet hatte, die unschuldig und tugendhaft war und aus einer angesehenen brāhmana-Familie stammte. „Eine solche Frau verstieß ich", klagte nun Ajāmila, „und lebte mit einer Prostituierten, einer abscheulichen Trinkerin, zusammen!" Es ist ein vedisches Gebot, daß Männer aus den oberen Klassen brāhmanas, ksatriyas und vaisyas - keine Kinder mit Frauen aus den unteren Schichten zeugen. Darum ist es in der vedischen Gesellschaft Brauch, von einem Mādchen und einem Jungen, die für eine Ehe in Betracht kommen, Horoskope zu erstellen, um zu sehen, ob die Verbindung günstig ist. Die vedische Astrologie gibt Aufschluß darüber, ob man den drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur gemäß in der brāhmana-, der ksatriya-, der vaisya- oder der sūdraKlasse geboren wurde. Ein Horoskop muß zu Rate gezogen werden, da zum Beispiel ein Junge der brāhmana-Klasse und ein Mādchen der sūdra-Klasse nicht zusammenpassen; das Eheleben wäre für beide eine Qual. Obwohl das natürlich nur eine materielle Berechnung ge-
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mäß den drei Erscheinungsweisen der Natur ist, ist sie doch für den Frieden und den Wohlstand in Familie und Gesellschaft wichtig. Wenn aber der Mann und die Frau Gottgeweihte sind, bedarf es solcher Erwāgungen nicht. Ein Gottgeweihter ist transzendental, und daher ist eine Ehe zwischen Gottgeweihten eine sehr glückliche Verbindung. Ajāmila klagte: „Da ich mich nicht beherrschen konnte, war ich zu einem abscheulichen Leben verdammt, und all meine brahmanischen Eigenschaften gingen verloren." So denkt jemand, der auf dem Wege ist, ein reiner Gottgeweihter zu werden. Wenn man durch die Barmherzigkeit des Herrn und des spirituellen Meisters auf die Ebene des hingebungsvollen Dienstes erhoben wird, bereut man als erstes seine vergangenen sündhaften Handlungen. Dies hilft einem, im spirituellen Leben voranzukommen. Die Visnudūtas hatten Ajāmila die Möglichkeit gegeben, ein reiner Gottgeweihter zu werden; und die erste Pflicht eines Gottgeweihten ist es, seine früheren sündhaften Handlungen zu bereuen: unzulässiges Geschlechtsleben, Berauschung, Fleischessen und Glücksspiel. Ein Gottgeweihter sollte nicht nur seine vergangenen schlechten Angewohnheiten aufgeben, sondern auch stets Reue über seine früheren sündhaften Handlungen empfinden. Das ist die Ebene reiner Hingabe. Offene Schulden Ajāmila bereute, daß er seine Pflichten gegenüber seiner Frau, seinem Vater und seiner Mutter vernachlässigt hatte. Es ist die Pflicht der erwachsenen Kinder, ihren alten Eltern zu Diensten zu sein. Dieser Brauch sollte in der heutigen Gesellschaft wieder eingeführt werden. Was ist ansonsten der Sinn des Familienlebens? In einem richtigen Familienleben sollte der Ehemann der Beschützer der Familie sein, die Frau sollte keusch sein, und die Kinder sollten ihrem Vater und ihrer Mutter dankbar sein. Sie sollten die Einstellung haben: „Meine Eltern haben mir so viele Dienste erwiesen. Als ich noch nicht laufen konnte, trugen sie mich. Als ich noch nicht essen konnte, fütterten sie mich. Sie gaben mir eine Erziehung. Sie haben mir das Leben geschenkt." Ein guter Sohn überlegt sich, wie er seinen
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Eltern dienen kann. Wie von einer Ehefrau erwartet wird, daß sie ihrem Mann treu ist, so sollte auch der Ehemann ihr für ihre Dienste dankbar sein und sie beschützen. Wegen seines schlechten Umgangs mit einer Prostituierten hatte Ajāmila jedoch all seine Pflichten im Stich gelassen. Nun bedauerte er dies und hielt sich für sehr gefallen. Im vedischen Gesellschaftssystem ist man sich dessen bewußt, daß man zahlreiche Verpflichtungen hat, sobald man auf die Welt kommt. Wir sind den rsis, den großen Weisen, verpflichtet, da wir unser Wissen aus ihren transzendentalen Schriften erhalten, wie dem Srimad-Bhāgavatam, das von Srila Vyāsadeva verfaßt wurde. Die Verfasser der Schriften kennen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, und wir sind aufgerufen, uns solch unschätzbares Wissen zunutze zu machen. Somit stehen wir in der Schuld der Weisen. Auch den Halbgöttern sind wir verpflichtet, denn sie regeln die Angelegenheiten des Universums und versorgen uns mit allem Notwendigen: Sonnenschein vom Sonnengott Sürya, Mondschein vom Mondgott Candra, Luft von Vāyu und so fort. Jedes Element untersteht der Kontrolle eines bestimmten Halbgottes. Wir befinden uns auch in der Schuld der gewöhnlichen Lebewesen, von denen wir einen Dienst entgegennehmen. Von der Kuh zum Beispiel nehmen wir Milch. Nach vedischem Verständnis wird die Kuh als eine unserer Mütter angesehen, weil wir ihre Milch trinken, so wie wir als Säugling die Milch unserer Mutter tranken. Das Srimad-Bhāgavatam führt sieben Mütter auf: unsere eigene Mutter, die Frau unseres Lehrers oder spirituellen Meisters, die Frau eines brāhmana, die Gemahlin des Königs, die Amme, die Kuh und die Erde. Wir sind diesen sieben Müttern sowie auch unserem Vater, unseren Brüdern, Freunden, Verwandten und Ahnen verpflichtet. Ebenso geht man eine Verpflichtung ein, wenn man Almosen annimmt. Diese Schuld muß genauso zurückerstattet werden, wie man geborgtes Geld zurückzahlen muß. Aus diesem Grund dürfen Gottgeweihte Spenden nur mit der Absicht entgegennehmen, sie in Krsnas Dienst zu verwenden. Wenn ein Gottgeweihter Spenden annimmt, nur um seinen Bauch zu füllen, ist das eine große Sünde. Brāhmanas und sannyāsis, die Almosen von anderen annehmen,
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müssen dies mit großer Vorsicht tun. In der vedischen Gesellschaft dürfen nur der brahmacāri, der sannyāsi und der brāhmana Geldspenden sammeln. Einem gewöhnlichen Haushälter ist dies nicht erlaubt. Der brahmacāri kann öffentlich Almosen sammeln, um seinem spirituellen Meister zu dienen, und ein sannyāsi kann Geld sammeln, um Gott, Krsna, zu dienen. Die Veden weisen die Menschen dazu an, den brāhmanas Spenden zu geben, weil diese wissen, wie man Spenden für Krsna verwendet. Die Almosen, die man einer würdigen Person gibt, befinden sich in der Erscheinungsweise der Tugend; Almosen, die man zu seinem eigenen Nutzen gibt, befinden sich in der Erscheinungsweise der Leidenschaft, und Almosen, die unüberlegt gegeben werden, sind der Erscheinungsweise der Unwissenheit zuzuordnen. Wenn wir beispielsweise einem Trinker Geld geben, verschwendet er es wahrscheinlich in der nächsten Kneipe. Reiche Leute mögen glauben, es spiele keine Rolle, wem man Spenden gibt, denn sie können es sich leisten, wahllos Spenden zu geben; doch die Schriften weisen darauf hin, daß man zwischen drei Arten von Wohltätigkeit unterscheiden muß. Man mag sich zurecht fragen, wie man all diesen Verpflichtungen nachkommen soll. Die Antwort lautet: nur indem man bei den Lotosfüßen Krsnas, Mukundas, Zuflucht sucht. Der Name Mukunda bedeutet „derjenige, der uns von materieller Verunreinigung befreit". Wir stehen zwar in der Schuld der Halbgötter, aber wir können bei ihnen keine Zuflucht finden. Wenn wir wirklich nach einer Zuflucht suchen, sollten wir uns an Krsna wenden, weil nur Er uns von allen Verpflichtungen entbinden kann. Krsna ist die Höchste Persönlichkeit Gottes, und sobald Er uns unsere Schuld erlāßt, müssen auch die Verwalter der einzelnen Bereiche, wie die Halbgötter, uns unsere Schuld erlassen. Ajāmila verstand, daß er sich in der Position eines Schuldners befand; da er nun aber bei den Lotosfüßen Mukundas Zuflucht gesucht hatte, waren all seine Schulden getilgt. Mit anderen Worten, Ajāmila wurde befreit, indem er einfach Zuflucht bei Nārāyana suchte, der nicht verschieden von Mukunda ist. Wenn auch wir von allen sündhaften Reaktionen befreit werden möchten, haben wir keine andere Wahl, als uns Krsna zu ergeben. Krsna empfiehlt: mām
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ekam saranam vraja. „Ergib dich einfach Mir!" Wir sollten Krsnas Rat befolgen. Besonders in diesem Zeitalter des Kali wird es ansonsten äußerst schwierig sein, all unseren Verpflichtungen nachzukommen. Bleibender Gewinn In der materiellen Welt lauert Gefahr auf Schritt und Tritt. Selbst den reinen Gottgeweihten droht die Gefahr, von der Stufe der Reinheit herunterzufallen. Im Srimad-Bhāgavatam (1.5.17) jedoch sagt Nārada Muni: tyaktvā sva-dharmam caranāmbujath harer bhajann apakvo 'tha patet tato yadi yatra kva vābhadram abhüd amusya kirn ko vārtha āpto 'bhajatām sva-dharmatah Das Wort dharma in diesem Vers bedeutet „berufliche Pflichten". Brāhmanas, ksatriyas, vaisyas und sūdras haben alle ihre bestimmten beruflichen Pflichten. Wenn wir unsere beruflichen Pflichten aufgeben, uns dem Krsna-Bewußtsein zuwenden und streng den Regeln und Vorschriften folgen, verlieren wir nichts, selbst wenn wir wegen unreifer Ausübung unseres hingebungsvollen Dienstes zu Fall kommen. Jeder Dienst, den wir dem Höchsten Herrn erweisen - mag er auch nur einen kleinen Prozentsatz unseres ganzen Lebens ausmachen -, ist für uns ein bleibender Gewinn. Wir werden ihn nie verlieren. Wer andererseits seine beruflichen Pflichten peinlich genau erfüllt, aber Krsna nicht verehrt, gewinnt letzten Endes gar nichts. Seinen beruflichen Pflichten strikt nachzukommen heißt, ein frommes Leben zu führen. Was aber geschieht, wenn man durch diese frommen Tātigkeiten zu den himmlischen Planeten erhoben wird? Krsna erklärt in der Bhagavad-gitā, daß man wieder gezwungen wird, zur Erde zurückzukehren, sobald die Früchte der frommen Handlungen erschöpft sind. Dazu kommt, daß jemand, der im gegenwärtigen Leben fromme Taten vollbringt, indem er beispielsweise Almosen gibt, wieder hierher zurückkehren muß, um die guten Ergebnisse seiner frommen Taten entgegenzunehmen und somit eine weitere Spanne
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materiellen Lebens zu durchlaufen. Darum ist es nicht klug, wenn man darauf hofft, die Früchte frommer Taten zu ernten. Leider neigen selbst in Indien die Leute mehr dazu, fromme Taten zu vollbringen, als sich dem hingebungsvollen Dienst für Krsna zu widmen. Sie hoffen, daß sie durch solche tapasya (Entsagung) nach dem Tode auf den himmlischen Planeten eine höhere Stufe des materiellen Lebens erlangen werden. Um dieses Ziel zu erreichen oder um eine Segnung schon im gegenwärtigen Leben zu erhalten, verehren sie auch die Halbgötter. Siva zum Beispiel gewāhrt seinen Geweihten sehr schnell materielle Segnungen und gibt ihnen, was immer sie begehren. Da er sehr gütig ist, wird er auch āsutosa genannt, „derjenige, der leicht zufriedenzustellen ist". Deswegen verehren ihn die Leute gerne, um materiellen Wohlstand zu erlangen. Doch Sri Krsna verurteilt diese Art der Verehrung in der Bhagavadgitā (7.20): kāmais tais tair hrta-jnānāh prapadyante 'nya-devatāh. „Menschen, deren Intelligenz von materiellen Wünschen gestohlen ist, ergeben sich den Halbgöttern." Das Srimad-Bhāgavatam erzāhlt die Geschichte von Vrkāsura, der eine schreckliche Segnung von Siva erbat. Vrkāsura bat darum, daß jeder, dessen Kopf er berührte, getötet würde. Derartige Segnungen wünschen sich nur Dāmonen. Rāvana und Hiranyakasipu erlangten ähnliche Segnungen und glaubten, daß sie durch ihre Macht den Tod bezwingen könnten. Das ist eine typisch dämonische Denkweise. Keiner dieser Dāmonen wurde jedoch durch die Segnungen der Halbgötter vor dem Tode bewahrt; schließlich wurden sie alle vom Höchsten Herrn getötet. Es ist ein Naturgesetz, daß in der materiellen Welt jeder sterben muß. Niemand, der hier geboren wird, kann ewig leben. Die materielle Welt wird Martyaloka genannt, was bedeutet, daß hier jedes Lebewesen Geburt, Tod, Alter und Krankheit unterworfen ist. Unter dem Einfluß der Illusion wollen die Menschen dies nicht wahrhaben. Sie versuchen, die materiellen Lebensumstände zu manipulieren, um ewig leben zu können. Auch die modernen Wissenschaftler streben nach Unsterblichkeit - in Nachahmung von Hiranyakasipu. Freilich sind das alles nur Dummheiten. Man braucht keine Angst vor dem Sterben zu haben, aber
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man sollte vorsichtig sein und sich fragen: „In welche Lage werde ich im nächsten Leben aufgrund meiner Handlungsweise geraten?" Ein Gottgeweihter hat keine Angst vor dem Tod; er betet einfach zu Krsna: „Ich mag sterben und immer wieder geboren werden, ganz wie Du es wünschst. Ich bitte nur darum, daß ich Dich durch Deine Barmherzigkeit niemals vergessen werde, unter welchen Bedingungen auch immer ich lebe." Ein Gottgeweihter ist nicht āngstlich, aber er sieht sich vor, nicht zu Fall zu kommen. Gleichzeitig weiß er, daß der hingebungsvolle Dienst, den er leistet, sein bleibender Gewinn ist. Die Ajāmila-Geschichte veranschaulicht dies besonders gut. Wir sollten die Regeln und Vorschriften gewissenhaft befolgen; doch selbst wenn wir zu Fall kommen, geht uns nichts verloren. Das erklärte bereits Nārada Muni. Selbst wenn sich jemand aus einer momentanen Stimmung heraus dem Krsna-Bewußtsein zuwendet und nur eine Zeitlang hingebungsvollen Dienst ausübt, dann aber wieder ins materielle Leben zurückkehrt, wird jeder Dienst, den er geleistet hat, aufgezeichnet, und eines Tages wird er gerettet werden - so wie Ajāmila gerettet wurde. Nachdem die Visnudūtas seiner Sicht entschwunden waren, fragte sich Ajāmila zunächst, ob er nur geträumt habe, daß sie gekommen waren, um ihn aus den Fesseln der Yamadūtas zu befreien. Wāhrend Ajāmila wie im Koma auf seinem Sterbebett lag, erblickte er tatsāchlich die Yamadūtas und die Visnudūtas, aber es schien ihm, als ob er nur träume. Als er erkannte, daß er wirklich vor den furchterregenden Schergen Yamarājas gerettet worden war, wollte er die Visnudūtas wiedersehen. Ihre Erscheinung war sehr strahlend gewesen: Ihre Körpermerkmale glichen genau denen Sri Visnus, sie waren wie Er geschmückt und trugen die vier Insignien Seiner Macht - Muschelhorn, Lotos, Keule und Feuerrad. Ein herrliches Leuchten ging von ihren Körpern aus, und ihre Gewänder waren von goldener Seide. Daher fragte Ajāmila: „Wo sind nun jene wunderschönen Persönlichkeiten, die mich aus der Gefangenschaft der Yamadūtas befreit haben? Mein ganzes Leben war voller Sünde. Wie konnte ich würdig sein, solch großen Persönlichkeiten zu begegnen? Vielleicht", folgerte er, „habe ich in meinem früheren Leben etwas Gutes getan
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und durfte deshalb die Visnudūtas sehen." Tatsāchlich war Ajāmila früher ein treuer Diener Nārāyanas gewesen und durfte aus diesem Grund den Visnudūtas begegnen. Seine Rettung verdankte er dem guten Umgang, mit dem er in seiner Jugend gesegnet gewesen war. Im Caitanya-caritāmrta (Madhya 22.54) heißt es: 'sādhu-sanga', 'sādhu-sanga' — sarva-sāstre kaya lava-mātra sādhu-sange sarva-siddhi haya „Das Urteil aller offenbarten Schriften lautet, daß man allen Erfolg erlangen kann, wenn man nur einen Augenblick Gemeinschaft mit einem reinen Gottgeweihten hat." In seiner Jugend war Ajāmila sehr rein gewesen und hatte Gemeinschaft mit Gottgeweihten und brāhmanas; wegen dieses frommen Lebenswandels wurde er spāter, obwohl er inzwischen vom richtigen Weg abgekommen war, dazu bewegt, seinem Sohn den Namen Nārāyana zu geben. Diesen guten Rat gab ihm sicherlich die Höchste Persönlichkeit Gottes von innen. In der Bhagavad-gitā (15.15) sagt der Herr: sarvasya cāham hrdi sannivisto mattah smrtir jnānam apohanam ca. „Ich weile im Herzen eines jeden, und von Mir kommen Erinnerung, Wissen und Vergessen." Der Herr ist so gütig, daß Er niemanden vergessen wird, der Ihm einmal gedient hat. Darum gab der Herr Ajāmila den Gedanken ein, seinen jüngsten Sohn Nārāyana zu nennen, so daß er aus Zuneigung immer „Nārāyana! Nārāyana!" rufen würde und auf diese Weise im Moment des Todes aus einer äußerst furchterregenden und gefährlichen Lage errettet würde. Das ist Krsnas Barmherzigkeit. Guru-krsna-prasāde pāya bhakti-latā-bija: „Durch die Barmherzigkeit von guru und Krsna empfāngt man den Samen des hingebungsvollen Dienstes (bhakti)." Wenn ein Gottgeweihter diesen Samen durch den Vorgang des Hörens und Chantens der heiligen Namen bewāssert, wird er vor der größten Furcht bewahrt. In unserer Bewegung für Krsna-Bewußtsein geben wir deswegen einem Gottgeweihten einen neuen Namen, der ihn an Visnu erinnert. Wenn der Gottgeweihte sich zum Zeitpunkt des Todes an seinen eigenen Namen, wie Krsna dāsa oder Govinda dāsa, erinnert, wird er vor der größten Gefahr gerettet. Daher ist die Namens-
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änderung bei der Einweihung von wesentlicher Bedeutung. Die Bewegung für Krsna-Bewußtsein ist sehr darauf bedacht, jedem eine gute Möglichkeit zu geben, sich irgendwie an Krsna zu erinnern. An Krsna können sich im Moment des Todes für gewöhnlich nur Menschen erinnern, die in einem Leben des hingebungsvollen Dienstes eine enge Beziehung zu Ihm entwickelt haben. Als Ajāmila noch ein kleiner Junge war, wurde er von seinem Vater dazu erzogen, Nārāyana treu ergeben zu sein. Bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr diente er dem Herrn zuverlässig. Dann wich Ajāmila von den Regeln des hingebungsvollen Dienstes ab und vergaß seine Beziehung zu Nārāyana, doch Nārāyana vergaß ihn nicht und erwiderte die Liebe Seines Geweihten in dessen schwerster Stunde. So wurde Ajāmila die Geistesgegenwart gegeben, sich im Augenblick des Todes an Nārāyana zu erinnern. Selbst einen geringfügigen hingebungsvollen Dienst nimmt Krsna dankbar an, wie Er in der Bhagavad-gitā (2.40) versichert: nehābhikrama-naso 'sti pratyavāyo na vidyate svalpam apy asya dharmasya trāyate mahato bhayāt „Bei dieser Bemühung gibt es weder Verlust noch Minderung, und schon ein wenig Fortschritt auf diesem Pfad kann einen vor der größten Gefahr bewahren." Selbst wenn man nur wenig hingebungsvollen Dienst ausübt, kann man vor der größten Gefahr bewahrt werden. Warum sollte man sich also nicht dem Krsna-Bewußtsein widmen? Man sollte sich immer im hingebungsvollen Dienst beschäftigen - vierundzwanzig Stunden am Tag. Dann droht keine Gefahr mehr. Wer Krsna-bewußt ist, ist furchtlos. Er weiß, daß er unter Krsnas Schutz steht.
18. KAPITEL
Ein Pilger auf dem Weg zu Gott Ajāmila fuhr fort: „Ich bin ein schamloser Betrüger, der seine brahmanische Kultur zugrunde gerichtet hat. In der Tat, ich bin die Sünde in Person! Was bin ich schon, verglichen mit dem allglückverheißenden Chanten des heiligen Namens Sri Nārāyanas? Ich bin solch ein sündhafter Mensch, doch da ich jetzt diese Gelegenheit erhalten habe, muß ich meinen Geist, mein Leben und meine Sinne völlig beherrschen und mich immer im hingebungsvollen Dienst betätigen, damit ich nicht abermals in die tiefe Finsternis und Unwissenheit des materiellen Lebens stürze. Weil man sich mit dem Körper identifiziert, ist man Wünschen nach Sinnenbefriedigung unterworfen und widmet sich deshalb verschiedensten frommen und gottlosen Tätigkeiten. Das ist es, was die materielle Bindung ausmacht. Nun aber will ich mich aus meiner materiellen Gefangenschaft lösen, die von der illusionierenden Energie der Höchsten Persönlichkeit Gottes in der Gestalt einer Frau verursacht worden ist. Ich, eine zutiefst gefallene Seele, wurde das Opfer der illusionierenden Energie und glich einem tanzenden Hund in den Händen einer Frau. Jetzt werde ich alle lüsternen Wünsche aufgeben und mich aus dieser Illusion befreien. Ich will ein barmherziger, wohlmeinender Freund aller Lebewesen werden und mich stets ins Krsna-Bewußtsein vertiefen. Einfach weil ich in der Gemeinschaft von Gottgeweihten den heiligen Namen des Herrn gechantet habe, wird mein Herz jetzt geläutert. Deshalb werde ich nicht wieder den falschen Verlockungen materieller Sinnenbefriedigung zum Opfer fallen. Nun, da ich in der Absoluten Wahrheit verankert bin, werde ich mich nicht mehr 203
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mit dem Körper identifizieren. Ich will die falschen Auffassungen von ,ich' und ,mein' aufgeben und meinen Geist auf die Lotosfüße Sri Krsnas richten." Sukadeva Gosvāmi fuhr fort: Da Ajāmila einen Augenblick lang Gemeinschaft mit Gottgeweihten, den Visnudūtas, gehabt hatte, löste er sich mit Entschlossenheit von der materiellen Lebensauffassung. Frei von aller materiellen Anhaftung, machte er sich sofort auf den Weg nach Hardwar. Dort suchte er Zuflucht in einem Visnu-Tempel, wo er sich dem Vorgang des bhakti-yoga widmete. Er meisterte seine Sinne und stellte seinen Geist vollständig in den Dienst des Herrn. Ajāmila weihte sich völlig dem hingebungsvollen Dienst, und so löste er seinen Geist von Sinnenbefriedigung und versenkte sich in Gedanken an die Gestalt des Herrn. Als seine Intelligenz und sein Geist auf die Gestalt des Herrn gerichtet waren, erblickte Ajāmila wieder vier himmlische Persönlichkeiten vor sich. Er erkannte, daß es dieselben waren, die er zuvor gesehen hatte, und verneigte sich vor ihnen, um ihnen seine Ehrerbietungen zu erweisen. Ajāmila richtete seine Blicke auf die Visnudūtas, und so gab er in Hardwar am Ufer des Ganges seinen materiellen Körper auf. Er erlangte seinen ursprünglichen spirituellen Körper wieder, einen Körper, wie er für einen Gefährten des Herrn angemessen ist. In Begleitung der Sendboten Sri Visnus bestieg Ajāmila ein goldenes Flugzeug. Durch die Lüfte schwebend, begab er sich direkt zum Reich Sri Visnus, des Gemahls der Glücksgöttin. Aufgrund seines schlechten Umgangs hatte Ajāmila jegliche brahmanische Kultur und alle religiösen Prinzipien aufgegeben. Da er zutiefst gefallen war, stahl er, trank er und beging andere abscheuliche Taten, ja er lebte sogar mit einer Dirne zusammen. Deshalb war es ihm bestimmt gewesen, von den Beauftragten Yamarājas zur Hölle gebracht zu werden. Aber durch eine bloße Andeutung des Chantens des heiligen Namens Nārāyana war er augenblicklich gerettet worden. Wer sich Freiheit von materieller Bindung wünscht, sollte deshalb den Vorgang des Chantens und der Lobpreisung des Namens, des Ruhms, der Form und der Spiele der Höchsten Persönlichkeit Gottes aufnehmen, an deren Füßen sich alle heiligen Orte
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befinden. Aus anderen Methoden, wie frommen Bußen, spekulativer Wissensaneignung und Meditation im mystischen yoga, kann man nicht den gleichen Nutzen ziehen. Denn selbst nachdem man solchen Methoden gefolgt ist, wendet man sich wieder fruchtbringenden Tätigkeiten zu, da man nicht in der Lage ist, seinen Geist zu beherrschen, der von den niederen Eigenschaften der Natur, nämlich Leidenschaft und Unwissenheit, verunreinigt ist. Weil diese sehr vertrauliche historische Erzāhlung die Kraft besitzt, alle sündhaften Reaktionen zu beseitigen, ist jemand, der sie mit Glauben und Hingabe hört oder beschreibt, nicht mehr zu höllischem Leben verdammt, unabhängig davon, ob er einen materiellen Körper hat und welche Sünden er beging. In der Tat nāhern sich die Yamadūtas einem solchen Menschen nicht einmal, um ihn zu sehen. Nach dem Verlassen seines Körpers kehrt er nach Hause, zu Gott, zurück, wo er mit großer Achtung empfangen und verehrt wird. In seiner Todesqual chantete Ajāmila den heiligen Namen des Herrn, und obgleich mit dem Chanten sein Sohn gemeint war, kehrte er nach Hause, zu Gott, zurück. Wie kann es also noch einen Zweifel geben, daß jemand, der gläubig und ohne Vergehen den heiligen Namen des Herrn chantet, zu Gott zurückkehren wird? (Srimad-Bhāgavatam 6.2.34-49) Entschlossenheit Gottes heiliger Name ist allglückverheißend. Daher kann es für jemanden, der unentwegt Hare Krsna, Hare Krsna, Krsna Krsna, Hare Hare / Hare Rāma, Hare Rāma, Rāma Rāma, Hare Hare chantet, kein Unglück geben. Allein schon durch das Chanten befindet man sich für immer in einer glückverheißenden Lebenslage. Die Gottgeweihten der Bewegung für Krsna-Bewußtsein, die den heiligen Namen verbreiten, sollten sich stets vor Augen halten, in welcher Lage sie sich befanden, bevor sie diese Bewegung kennenlernten, und in welcher Lage sie sich jetzt befinden. Sie waren einem abscheulichen Leben als Fleischesser, Trunkenbolde und Schürzenjäger verfallen und begingen alle möglichen Sünden, doch dann wurde ihnen die Gelegenheit geboten, den Hare-Krsna-mantra
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zu chanten. Deshalb sollten sie diese Gelegenheit stets zu schātzen wissen. Durch die Gnade des Herrn eröffnen wir viele Zentren, und die Mitglieder dieser Bewegung sollten sich die glücklichen Umstānde zunutze machen, um den heiligen Namen des Herrn zu chanten und der Höchsten Persönlichkeit Gottes unmittelbar zu dienen. Sie müssen sich des Unterschieds zwischen ihrem früheren und ihrem jetzigen Zustand bewußt sein und immer darauf bedacht sein, nicht wieder von der erhabenen Lebensweise des Krsna-Bewußtseins abzuweichen. Diese Entschlossenheit sollte jeder Geweihte Krsnas besitzen. Die Gottgeweihten wurden durch die Barmherzigkeit Krsnas und ihres spirituellen Meisters auf eine hohe Stufe erhoben. Wenn sie sich daran erinnern, daß dies eine großartige Gelegenheit ist, und wenn sie zu Krsna beten, daß sie nicht erneut zu Fall kommen mögen, wird ihr Leben erfolgreich sein. Da Ajāmila nun völlig Krsna-bewußt war, trug er seine Schuld ab, die er durch seine sündhaften Taten angesammelt hatte, und war fest entschlossen, weiter den heiligen Namen des Herrn, Nārāyana, zu chanten: „Wenn ich weiterhin den heiligen Namen des Herrn chante", dachte er, „werde ich stets zum größten Wohl aller Lebewesen handeln und sehr friedfertig sein." Weil Ajāmila nun von allen sündhaften Tätigkeiten geläutert war, erkannte er, daß Krsna ihm von seinem Herzen aus zu verstehen gab, daß es seine Pflicht sei, der wohlmeinende Freund aller Lebewesen zu werden. Der Freund aller Lebewesen Die Geweihten des Herrn sind sehr gütig. Zum Wohle der Allgemeinheit predigen sie Krsna-Bewußtsein und sind somit die Freunde eines jeden Lebewesens. Andere können nicht zum Wohl aller Lebewesen tätig sein. Die Politiker beispielsweise beschäftigen sich angeblich im Dienst ihrer Landsleute, aber sie sind nicht die wahren Freunde eines jeden in ihrem Land. Obgleich sie den Bedürfnissen ihrer Landsleute dienen mögen, kümmern sie sich nicht um die der Tiere. Auf diese Weise machen sie Unterschiede, wohingegen ein Gottgeweihter der Freund aller Lebewesen ist, ob Mensch, Tier, Insekt oder Pflanze. Ein Gottgeweihter würde nicht einmal eine
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Ameise töten wollen, doch ein Nichtgottgeweihter schickt gnadenlos Tiere ins Schlachthaus und behauptet im gleichen Atemzug, er wolle für alle nur das Beste. Krsna, Gott, ist der beste Freund aller Lebewesen und ist jedem gleichermaßen wohlgesinnt. Er ist nicht nur der Freund der Einwohner Vrndāvanas - der gopis, Seiner Eltern, der Kuhhirten, der Kuhhirtenjungen und der Kühe -, sondern der Freund eines jeden, weil jeder ein Bestandteil von Ihm ist. Krsna liebt daher jeden grenzenlos, und Krsnas Geweihte erben von Ihm die vortrefflichen Eigenschaften der Liebe. Deshalb sind sie wahrhaftig die Freunde eines jeden. Karmis, materiell motivierte Arbeiter, begehen aus Eigennutz sündige Taten; so töten sie unschuldige Tiere und werden auf ihren materiellen Reichtum stolz. Auch die jnānis - diejenigen, die durch Wissen über das Brahman nach Befreiung streben - sind nur an sich selbst interessiert. Doch die bhaktas, die Gottgeweihten, sorgen sich um das Wohl aller. Besonders barmherzig ist ein Gottgeweihter zu den gefallenen, bedingten Seelen. Sri Caitanya Mahāprabhu ist die Personifizierung von bhakti, liebender Hingabe zu Gott, und lehrt uns alle, wie wir Gottgeweihte werden können. Daher wird Er patita-pāvana genannt, „derjenige, der die gefallenen, bedingten Seelen erlöst". Jeder, der in Seine Fußstapfen tritt, gilt ebenfalls als patita-pāvana. Auch Ajāmila empfand nun wie ein Gottgeweihter und dachte daher: „Jetzt kann ich der Freund aller Lebewesen werden und friedfertig leben." Dieses Maß an Entschlossenheit sollten alle Krsna-bewußten Menschen aufbringen. Ein Geweihter Krsnas sollte sich aus den Fāngen māyās losreißen und darüber hinaus auch Mitleid mit all den anderen verspüren, die sich in māyās Gewalt befinden und leiden. Das ist die Vollkommenheit des Krsna-Bewußtseins. Wer nur an seiner eigenen Erlösung interessiert ist, ist im Krsna-Bewußtsein noch nicht so weit gereift wie jemand, der aus Mitleid mit anderen Krsna-Bewußtsein verbreitet. Solch ein fortgeschrittener Gottgeweihter wird niemals zu Fall kommen, denn Krsna gewāhrt ihm besonderen Schutz. Das ist die Quintessenz der Bewegung für Krsna-Bewußtsein. Jeder gleicht einem Spielzeug in den Händen der illusionierenden Energie und handelt auf ihr Geheiß. Man sollte sich dem
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Krsna-Bewußtsein anschließen, um sich selbst und andere aus dieser Knechtschaft zu befreien. Gemeinschaft mit Gottgeweihten Ajāmilas Worte verdeutlichen, wie ein Lebewesen seiner materiellen Bedingtheit zum Opfer fällt. Die Illusion beginnt damit, sich fālschlicherweise mit dem Körper zu identifizieren. Deshalb steht am Anfang der Bhagavad-gitā die spirituelle Unterweisung, daß man nicht der Körper, sondern die spirituelle Seele im Körper ist. In diesem Bewußtsein kann man nur dann immer verankert sein, wenn man seine Reinheit bewahrt, indem man den heiligen Namen Krsnas, den Hare-Krsna-mahā-mantra, chantet und in der Gemeinschaft von Gottgeweihten bleibt. Das ist das Erfolgsgeheimnis. Aus diesem Grund betonen wir, daß man den heiligen Namen des Herrn chanten und sich von den Verunreinigungen der materiellen Welt freihalten sollte, besonders von lüsternen Wünschen nach unzulässigem Geschlechtsleben, Fleischessen, Berauschung und Glücksspiel. Man sollte mit Entschlossenheit das Gelübde ablegen, diesen Prinzipien zu folgen. Das wird einen vor dem Elend des materiellen Daseins bewahren. Am wichtigsten ist es, sich erst einmal von der körperlichen Lebensauffassung zu lösen. Als Ajāmila das Gespräch zwischen den Visnudütas und den Yamadūtas mitanhörte, wurde er augenblicklich von der trügerischen körperlichen Lebensauffassung befreit. Der Beweis dafür ist, daß er danach sofort seine Frau und seine Kinder verließ und sich geradewegs nach Hardwar begab, um weiter im spirituellen Leben fortzuschreiten. Wie hier erwähnt wird, nahm er Zuflucht in einem Tempel Visnus und übte den Vorgang des hingebungsvollen Dienstes aus. Zu diesem Zweck hat unsere Bewegung für Krsna-Bewußtsein auf der ganzen Welt Tempel gegründet. Man braucht nicht nach Hardwar zu reisen. Jeder kann im nächstgelegenen Tempel Zuflucht suchen, sich im hingebungsvollen Dienst des Herrn beschäftigen und den größten Erfolg im Leben erlangen, indem er sich ins Krsna-Bewußtsein vertieft. Wenn man im Tempel die Bildgestalt Krsnas verehrt, versenkt sich der Geist ganz natürlich in Gedanken an den Herrn und Seine
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Form. Zwischen der Form des Herrn und dem Herrn selbst besteht kein Unterschied. Deshalb ist bhakti-yoga das einfachste yogaSystem. Yogis versuchen, ihre Gedanken auf die Form der Überseele, auf Visnu im Herzen, zu konzentrieren, aber das gleiche Ziel erreicht man mühelos, wenn man seinen Geist in Meditation über die Bildgestalt Gottes im Tempel vertieft. In jedem Tempel gibt es eine transzendentale Form des Herrn, und man kann mit Leichtigkeit an sie denken. Wenn man den Herrn wāhrend der zeremoniellen Verehrung (ārati) sieht, sein Geld, seine Zeit und seine Energie der Verehrung der Bildgestalt opfert und ständig an die Form der Bildgestalt denkt, wird man ein erstklassiger yogi. Das ist der beste Vorgang des yoga, wie die Höchste Persönlichkeit Gottes in der Bhagavad-gita (6.47) bestätigt: yoginām api sarvesām mad-gatenāntar-ātmanā sraddhāvān bhajate yo mām sa me yuktatamo matah „Von allen yogis ist derjenige, der großen Glauben besitzt und immer in Mir weilt, immer an Mich denkt und Mir transzendentalen liebevollen Dienst darbringt, am engsten mit Mir in yoga vereint, und er ist der höchste von allen." Der höchste yogi ist also derjenige, der seine Sinne beherrscht und sich von materiellen Tätigkeiten löst, indem er stets an die Gestalt des Herrn denkt. Zurück zu Gott Die Visnudütas, die Ajāmila gerettet hatten, erschienen wieder vor ihm, als sein Geist unerschütterlich auf die Gestalt des Herrn gerichtet war. Sie hatten Ajāmila eine Zeitlang verlassen, um ihm Gelegenheit zu geben, in der Meditation über den Herrn gefestigt zu werden. Nun, da seine Hingabe gereift war, kehrten sie zurück, um ihn zu Gott zurückzuholen. Sowie Ajāmila erkannte, daß dieselben Visnudütas wiedergekommen waren, verneigte er sich vor ihnen, um ihnen seine Ehrerbietungen zu erweisen. Ajāmila war nun bereit, nach Hause, zu Gott, zurückzukehren,
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und so gab er seinen materiellen Körper auf und nahm seinen ursprünglichen, spirituellen Körper an. Der Herr sagt in der Bhagavadgitā (4.9): janma karma ca me divyam evam yo vetti tattvatah tyaktvā deham punar janma naiti mām eti so 'rjuna „Wer die transzendentale Natur Meines Erscheinens und Meiner Taten kennt, wird nach dem Verlassen des Körpers nicht wieder in der materiellen Welt geboren, sondern gelangt in Mein ewiges Reich, o Arjuna." Die Vervollkommnung im Krsna-Bewußtsein führt dazu, daß man nach dem Verlassen seines materiellen Körpers sogleich in seinem ursprünglichen, spirituellen Körper zur spirituellen Welt gebracht wird, um ein Gefāhrte der Höchsten Persönlichkeit Gottes zu werden. Ein spirituelles Flugzeug von den spirituellen Planeten - wie jenes, das für Ajāmila eintraf - ist in der Lage, uns innerhalb einer Sekunde nach Hause, zu Gott, zurückzubringen. Die Geschwindigkeit eines solchen Flugzeugs kann man sich kaum vorstellen. Spirituelle Energie ist feiner als der Geist, und jeder hat die Erfahrung gemacht, wie schnell man in Gedanken von einem Ort zum anderen reisen kann. Man gewinnt einen Eindruck von der Schnelligkeit der spirituellen Form, wenn man sie mit der Geschwindigkeit der Gedanken vergleicht. In weniger als einem Augenblick kann ein vollkommener Gottgeweihter nach dem Verlassen seines materiellen Körpers nach Hause, zu Gott, zurückkehren. Solche Vollkommenheit kann einzig und allein ein Gottgeweihter erlangen. Man sieht oft, daß karmis, jnānis und yogis wieder Anhaftung an materielle Tätigkeiten entwickeln, selbst nachdem sie angeblich die Vollkommenheit erreicht haben. Viele sogenannte Svāmis und yogis bezeichnen materielle Tätigkeiten als inexistent und nichtig (jagan mithyā) und geben sie auf, aber nach einiger Zeit wenden sie sich doch wieder materiellen Tätigkeiten zu und eröffnen Krankenhäuser und Schulen oder vollbringen andere gute Taten
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zum Wohl der Allgemeinheit. Zuweilen beteiligen sie sich auch an der Politik, obwohl sie sich als sannyāsis, als Angehörige des Lebensstandes der Entsagung, ausgeben. All diese Tätigkeiten sind trügerische Aspekte der materiellen Welt. Wenn man tatsāchlich den Wunsch hat, aus der materiellen Welt herauszugelangen, muß man sich dem hingebungsvollen Dienst zuwenden, angefangen mit sravanam kirtanam visnoh, dem Chanten und Hören über die Herrlichkeiten des Herrn. Die Bewegung für Krsna-Bewußtsein hat dies praktisch bewiesen: Viele Jugendliche in den westlichen Ländern, die drogenabhängig waren und andere schlechte Angewohnheiten hatten, von denen sie nicht loskommen konnten, gaben nach ihrem Beitritt zur Bewegung für Krsna-Bewußtsein all diese Neigungen auf und begannen mit großer Ernsthaftigkeit, die Herrlichkeiten des Herrn zu chanten. Mit anderen Worten, dieser Vorgang ist die vollkommene Methode der Buße für Handlungen in den Erscheinungsweisen der Leidenschaft und Unwissenheit. Das Srimad-Bhāgavatam (1.2.19) bestätigt dies: tadā rajas-tamo-bhāvāh kāma-lobhādayas ca ye ceta etair anāviddham sthitam sattve prasidati Wenn man unter dem Einfluß der Erscheinungsweisen der Leidenschaft und Unwissenheit handelt, wird man zunehmend lüstern und gierig, doch wenn man dem Vorgang des Hörens und Chantens folgt, gelangt man auf die Ebene der Tugend und wird glücklich. Durch Fortschritt im hingebungsvollen Dienst werden alle Zweifel vollständig beseitigt (bhidyate hrdaya-granthis chidyante sarvasamsayāh). Auf diese Weise wird der Knoten des Wunsches nach fruchtbringenden Handlungen zerschnitten. Zur Zeit des Todes ist man mit Sicherheit verwirrt, weil die Körperfunktionen außer Kontrolle geraten. Dann kann es vorkommen, daß selbst jemand, der sich sein ganzes Leben darin übte, den heiligen Namen des Herrn zu chanten, nicht in der Lage ist, den HareKrsna-mantra deutlich zu chanten. Trotzdem empfāngt ein solcher Mensch alle Segnungen des Chantens des heiligen Namens. Warum
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sollten wir nun, da der Körper gesund ist, nicht den heiligen Namen des Herrn laut und deutlich chanten? Wenn man das tut, wird man wahrscheinlich sogar im Augenblick des Todes fähig sein, den heiligen Namen des Herrn mit Liebe und Glauben zu chanten. Die Schlußfolgerung lautet somit: Wer den heiligen Namen des Herrn unentwegt chantet, dem ist die Rückkehr nach Hause, zu Gott, garantiert.
4 YAMARĀJAS UNTERWEISUNGEN
19. KAPITEL
Das Ende aller Zweifel König Pariksit sprach: O mein Herr, o Sukadeva Gosvāmi, Yamarāja ist der Gebieter aller Lebewesen hinsichtlich ihrer religiösen und irreligiösen Handlungen, und doch wurde die Ausführung seines Befehls vereitelt. Was erwiderte er, als ihm seine Diener, die Yamadūtas, von der Niederlage berichteten, die ihnen die Visnudütas zugefügt hatten? O großer Weiser, niemals zuvor hat man irgendwo davon gehört, daß gegen eine Anweisung Yamarājas verstoßen wurde. Deshalb glaube ich, daß die Menschen daran Zweifel hegen werden, die niemand außer dir beseitigen kann. Dies ist meine feste überzeugung. Erkläre daher bitte die Gründe für diese Geschehnisse! Sri Sukadeva Gosvāmi erwiderte: Mein lieber König, nachdem die Beauftragten Yamarājas von den Sendboten Visnus aufgehalten und besiegt worden waren, begaben sie sich zu ihrem Gebieter, dem Herrscher von Samyamani-puri und Herrn der sündhaften Menschen, und berichteten ihm von diesem Vorfall. Die Yamadūtas fragten: „Lieber Herr, wie viele Herrscher gibt es in der materiellen Welt? Wie viele Ursachen sind für die Ergebnisse der Handlungen verantwortlich, die unter dem Einfluß der drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur ausgeführt werden? Wenn es im Universum viele Richter gibt, die sich über Strafe und Belohnung uneinig sind, werden sich ihre widersprüchlichen Urteile gegenseitig aufheben, und niemand wird bestraft oder belohnt werden. Denn ansonsten - wenn ihre widersprüchlichen Urteile einander nicht aufheben - muß ein jeder sowohl bestraft als auch belohnt werden. Da es viele verschiedene karmis (materiell 214
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motivierte Menschen) gibt, gibt es verschiedene Richter, um über sie Gericht zu sitzen; doch genauso, wie verschiedene Befehlshaber von Teilbereichen der Zentralgewalt eines Herrschers unterstehen, muß es einen höchsten Herrscher geben, dem alle Richter untergeordnet sind. Der höchste Richter muß einer sein, nicht viele. Wir haben gedacht, daß du dieser höchste Richter seist und daß sogar die Halbgötter deiner Gerichtsbarkeit unterlāgen. Wir waren der Auffassung, du seist der Herr und Meister aller Lebewesen, die höchste Autorität, die zwischen den frommen und unfrommen Handlungen aller Menschen unterscheidet. Doch nun sehen wir, daß die mit deiner Vollmacht verhāngte Strafe nicht länger wirksam ist, da vier wunderbare und vollkommene Persönlichkeiten sich über deinen Befehl hinweggesetzt haben. Wir waren gerade im Begriff, den höchst sündhaften Ajāmila deinen Anordnungen gemäß zu den höllischen Planeten zu bringen, als jene herrlichen Persönlichkeiten aus Siddhaloka gewaltsam die Knoten der Stricke zertrennten, mit denen wir ihn gefesselt hatten. Sobald der sündige Ajāmila den Namen Nārāyana aussprach, nahten augenblicklich diese vier wunderschönen Männer und beruhigten ihn mit den Worten: ,Fürchte dich nicht! Fürchte dich nicht!' O Herr, wir wollen etwas von dir über sie erfahren. Erkläre uns bitte, wer sie sind, wenn du denkst, wir könnten es verstehen!" Sri Sukadeva Gosvāmi sagte: Auf diese Fragen hin war Yamarāja über seine Diener sehr erfreut, weil er von ihnen den heiligen Namen Nārāyanas gehört hatte. Er erinnerte sich an die Lotosfüße des Herrn und antwortete. (Srimad-Bhāgavatam 6.3.1-11) Wer ist der Machthaber? Mahārāja Pariksit war erstaunt und fragte Sukadeva Gosvāmi: „Wie ist es irgend jemandem möglich, sich über den Befehl Yamarajas hinwegzusetzen?" Niemand kann sich einem Haftbefehl des Polizeipräsidenten widersetzen. Und Yamarāja ist der Präsident der universalen „Polizei", der im Namen der Höchsten Persönlichkeit Gottes, Krsna, handelt. Die Aufgabe Yamarajas ist es, alle kriminellen
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Lebewesen festnehmen und sie in seinem Reich, Yamaloka, bestrafen zu lassen. Sündhafte Menschen werden dorthin geschafft und verschiedenen höllischen Umstānden unterworfen. Der Fall Ajāmilas ist jedoch eine Ausnahme. Die Yamadutas waren beauftragt, ihn gefangenzunehmen und vor den Gerichtshof Yamarājas zu bringen; die Visnudütas jedoch befreiten ihn aus ihren Händen. Daß die Visnudütas gegen die Yamadutas einschritten, schien gesetzwidrig zu sein, aber so wie Sri Visnu alles tun kann, was Ihm beliebt, können auch Seine Diener sich über jede Anordnung in der materiellen Welt hinwegsetzen. Das ist die Macht des Höchsten Herrn. In der materiellen Welt besitzt niemand die Autorität oder Macht, sich den Befehlen Yamarājas zu widersetzen, aber die Visnudütas handelten unter der höheren Vollmacht des Höchsten Herrn. Als die Yamadutas nach Yamaloka zurückkehrten, gingen sie augenblicklich zu Yamarāja und fragten: „Wie ist es möglich, daß wir daran gehindert wurden, unsere Pflicht zu erfüllen? Lieber Herr, wie viele Herrscher gibt es? Bist du der alleinige Herrscher, oder gibt es noch viele andere mehr?" Unintelligente Menschen glauben, daß ein bestimmter Halbgott, wie Indra, Sürya oder Candra, der Höchste sei. Genauso könnte man aber glauben, der Polizist auf der Straße habe alle Macht im Staat. Unzählige Polizisten überwachen die Menschenmenge auf der Straße, doch nur ein Narr versteht nicht, daß sich über den einfachen Polizisten viele höhere Beamte befinden, bis hinauf zum Polizeichef, dem Gouverneur und dem Präsidenten. Da die Yamadutas Yamarāja für den höchsten Herrscher hielten, führten sie einfach seine Befehle aus, und dies war das erste Mal, daß sie davon abgehalten wurden. Srila Visvanātha Cakravarti Thākura sagt, daß die Yamadutas so enttāuscht waren, daß sie Yamarāja beinahe im Zorn fragten, ob es viele Meister außer ihm gebe. Da die Yamadutas eine Niederlage erlitten hatten und ihr Meister sie nicht hatte beschützen können, waren sie schon fast geneigt zu sagen, daß man einem solchen Meister gar nicht dienen müsse. Denn wozu sollte ein Diener einem machtlosen Meister dienen, dessen Anweisungen zu Niederlagen führen? Da den Yamadutas Einhalt geboten worden war, hegten sie Zweifel, ob Yamarāja eigentlich die Macht besäße, die Sünder zu bestrafen. Obgleich sie auf Yamarājas Geheiß versucht hatten, Ajāmila fest-
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zunehmen, war ihnen aufgrund des Befehls einer höheren Autorität kein Erfolg beschieden gewesen. Deshalb waren sie sich nicht sicher, ob es viele Autoritäten gebe oder nur eine. Wenn es viele Autoritāten gäbe, die unterschiedliche, möglicherweise widersprüchliche Urteile fällten, könnte ein Mensch zu Unrecht bestraft oder zu Unrecht belohnt werden, oder er würde weder bestraft noch belohnt. Nach unseren Erfahrungen in der materiellen Welt kann jemand, der von einem Gericht bestraft wird, bei einem anderen Gericht Berufung einlegen. Auf diese Weise kommt es zu verschiedenen Urteilen, aufgrund deren die gleiche Person entweder bestraft oder belohnt werden soll. Im Gesetz der Natur oder am Gerichtshof der Höchsten Persönlichkeit Gottes jedoch darf es nicht zu solch widersprüchlichen Urteilen kommen. Die Richter und ihre Urteile müssen vollkommen sein und frei von Widersprüchen. Im Falle Ajāmilas befand sich Yamarāja tatsāchlich in einer sehr unangenehmen Lage, denn nach alledem, was er die Yamadūtas gelehrt hatte, hatten sie zu Recht versucht, Ajāmila gefangenzunehmen; aber trotzdem wurden sie von den Visnudütas daran gehindert. Obwohl Yamarāja unter diesen Umstānden sowohl von den Visnudütas als auch von den Yamadūtas Vorwürfe gemacht wurden, ist er in seiner Rechtsprechung vollkommen, da er von der Höchsten Persönlichkeit Gottes ermächtigt ist. Daher wird er erklāren, was seine wirkliche Position ist und wie ein jeder vom höchsten Herrscher, der Persönlichkeit Gottes, gelenkt wird. In der materiellen Welt muß es Maßnahmen geben, um die Lebewesen unter Kontrolle zu halten. Die sāstras, die heiligen Schriften, sind dazu bestimmt, die zivilisierten Menschen zu führen. Von diesem Wort stammt der Begriff sisya (Schüler): derjenige, der freiwillig die Führung des spirituellen Meisters akzeptiert. Gesetzesbrecher hingegen brauchen die Führung von astra (Waffen). Die Polizei zum Beispiel benötigt daher Pistolen und Knüppel, um Dieben und Gaunern Herr zu werden. Die Yamadūtas wollten von ihrem Meister wissen, ob es verschiedene Rechtsabteilungen für die unterschiedlichen Arten von Menschen gebe. In der materiellen Welt wird man durch eine Kombination der drei Erscheinungsweisen der Natur - Tugend, Leidenschaft und Unwissenheit - verunreinigt und handelt dementspre-
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chend. Die Merkmale eines Menschen, der sich hauptsāchlich unter dem Einfluß der Erscheinungsweise der Unwissenheit befindet, sind Faulheit, übermäßiger Schlaf und Unsauberkeit. Das Hauptmerkmal eines Menschen, der unter dem Einfluß der Erscheinungsweise der Leidenschaft steht, ist ein starkes Verlangen, die materielle Natur und andere Lebewesen für seine eigene Sinnenbefriedigung auszubeuten. Und ein Mensch in der Erscheinungsweise der Tugend zeichnet sich vor allem dadurch aus, daß er die Dinge kennt, wie sie sind. Einem solchen Menschen zeigt sich alles in der richtigen Perspektive. Die Yamadutas fragten: „Die Menschen, die von den Erscheinungsweisen der Natur beeinflußt werden, unterstehen vielen Herrschern. Wer aber ist der höchste Herrscher, und wie werden seine Anordnungen ausgeführt? Soweit wir wissen, bist du der Gebieter aller." Im Staat gibt es Gerichte, die für verschiedene Bereiche zuständig sind, doch das Gesetz muß einheitlich und für jeden Bürger verbindlich sein. Die Yamadutas konnten sich nicht vorstellen, daß zwei Richter in ein und demselben Fall zwei verschiedene Urteile fāllen, und wollten deshalb wissen, wer der oberste Richter sei. Die Yamadutas waren sich sicher, daß Ajāmila ein großer Sünder war. Doch obwohl Yamarāja ihn bestrafen wollte, verziehen ihm die Visnudütas. Dies war eine verwirrende Situation, und die Yamadutas wünschten, daß Yamarāja sie kläre. Die Yamadutas hatten geglaubt, daß Yamarāja als einziger für die Rechtsprechung verantwortlich sei. Sie waren völlig überzeugt gewesen, daß sich niemand seinen Urteilen widersetzen könne, aber nun hatten zu ihrer großen überraschung die vier wunderbaren Persönlichkeiten aus Siddhaloka seinem Befehl zuwidergehandelt. Laut Srila Visvanātha Cakravarti Thākura haben die Yamadutas etwa folgendes zu Yamarāja gesagt: „Wir glauben, daß deine uneingeschränkte Herrschaftsgewalt gebrochen ist, da vier wundervolle Persönlichkeiten uns an der Erfüllung unserer Pflicht hinderten, die du uns übertragen hattest." Wie Srila Visvanātha Cakravarti Thākura ebenfalls bemerkt, wollten die Yamadutas vielleicht sogar die Visnudütas vor Yamarāja bringen. Hātte Yamarāja dann vermocht, die Visnudütas zu bestrafen, wären die Yamadutas zufrieden gewesen. Andernfalls woll-
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ten sie Selbstmord begehen. Bevor sie aber weitere Schritte unternahmen, wünschten sie, vom allwissenden Yamarāja etwas über die Visnudütas zu erfahren. Demütiges Fragen „Wir möchten von dir erfahren", sagten die Yamadūtas, „was es tatsächlich mit diesem Vorfall auf sich hat. Wenn du denkst, wir könnten es verstehen, dann klāre uns bitte auf!" Auf diese Art und Weise sollte man demütig, nicht herausfordernd, an Höhergestellte Fragen richten. Wie wir sehen, stellen Mahārāja Pariksit, Arjuna und jeder andere, der dem Vorgang der spirituellen Erleuchtung folgt, immer in demütiger Ergebenheit und in einer dienenden Haltung Fragen. Nur weil wir unseren Meister fragen, heißt das allerdings noch nicht, daß er verpflichtet ist, uns zu antworten. Zuweilen mag er uns keine Antwort geben, weil wir nicht fähig sind, sie zu verstehen. Wir können keine Forderungen stellen. Fragen, Ergebenheit und Dienst sind der Weg zu Wissen. Immer wenn Mahārāja Pariksit Sukadeva Gosvāmi fragte, sagte er sehr demütig: „Bitte beantworte diese Frage, wenn du glaubst, ich könne Deine Ausführungen verstehen." Bevor Yamarāja den Yamadūtas antwortete, erinnerte er sich zunächst an die Lotosfüße der Höchsten Persönlichkeit Gottes, Krsna. So wie der Diener seinen Herrn in ergebener Haltung fragt, ist auch der Herr nicht stolz und prahlt: „Ja, ich kann deine Frage beantworten!" Vielmehr entsinnt er sich der Lotosfüße des Herrn und betet: „Was immer Du mich sagen lāßt, werde ich zur Antwort geben." Solange der Lehrer nicht hochmütig ist und der Schüler nicht ungehorsam, überheblich oder unverschämt, ist es ihnen möglich, spirituelle Fragen und Antworten auszutauschen. Man sollte nicht in einer herausfordernden Haltung Fragen stellen, und der Befragte sollte an die Lotosfüße des Herrn denken, damit er die richtige Antwort geben kann. Yamarāja war mit seinen Dienern sehr zufrieden, weil sie in seinem Reich den heiligen Namen Nārāyanas gechantet hatten. Yamarāja hat nur mit sündigen Menschen zu tun, die schwerlich Nārāyana verstehen können. Als seine Beauftragten den Namen Nārāyanas aussprachen, war er höchst erfreut, denn auch er ist ein Vaisnava.
20. KAPITEL
Wer ist der Höchste Herr? Yamarāja sprach: „Meine lieben Diener, ihr hieltet mich für den Höchsten, doch in Wirklichkeit bin ich es nicht. über mir und über allen anderen Halbgöttern, einschließlich Indra und Candra, steht der eine höchste Meister und Herrscher. Die Teilmanifestationen Seiner Persönlichkeit sind Brahma, Visnu und Siva, die für die Schöpfung, Erhaltung und Vernichtung des Universums zuständig sind. Er ist wie die zwei Fäden, welche die Lānge und Breite eines gewobenen Tuches bilden. So wie der Führer eines Ochsenkarrens Stricke durch die Nüstern seiner Ochsen zieht, um sie zu lenken, bindet die Höchste Persönlichkeit Gottes alle Menschen mit den Stricken Seiner Worte in den Veden, welche die Namen und Tätigkeiten der unterschiedlichen Stände der menschlichen Gesellschaft [brāhmana, ksatriya, vaisya und sūdra] festsetzen. Aus Furcht verehren die Angehörigen dieser Stānde den Höchsten Herrn, indem sie Ihm ihrer jeweiligen Beschäftigung gemäß Geschenke darbringen. Ich, Yamarāja; Indra, der König des Himmels; Nirrti; Varuna, der Gott des Wassers; Candra, der Mondgott; Agni, der Feuergott; Siva; Pavana, der Gott der Luft; Brahma; Sürya, der Sonnengott; Visvāsu; die acht Vasus; die Sādhyas; die Maruts; die Rudras; die Siddhas; Marici und die anderen großen rsis, die die verschiedenen Bereiche des Universums verwalten, sowie die besten Halbgötter, angeführt von Brhaspati, und die großen Weisen, angeführt von Bhrgu, sind alle zweifellos befreit vom Einfluß der zwei niederen Erscheinungsweisen der materiellen Natur, Leidenschaft und Unwissenheit. Doch obwohl wir uns in der Erscheinungsweise der Tugend 220
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befinden, können nicht einmal wir die Tätigkeiten der Höchsten Persönlichkeit Gottes verstehen, ganz zu schweigen von anderen, die sich in Illusion befinden und Gott durch bloße Spekulation erkennen wollen. So wie die verschiedenen Glieder des Körpers die Augen nicht sehen, können die Lebewesen den Höchsten Herrn nicht sehen, der als die Überseele im Herzen eines jeden weilt. Nicht mit den Sinnen, mit dem Geist, mit der Lebensluft, mit den Gedanken im Herzen oder mit dem Klang von Worten können die Lebewesen die wahre Stellung des Höchsten Herrn ergründen." (Srimad-Bhāgavatam 6.3.12-16) Der eine höchste Herrscher Die Yamadūtas argwöhnten, daß es einen Herrscher gebe, der sogar noch über Yamarāja stehe. Um ihre Zweifel zu beseitigen, erwiderte Yamarāja auf der Stelle: „Ja, es gibt einen höchsten Herrscher, dem alles untersteht." Yamarāja ist zuständig für einige der sich bewegenden Lebewesen, nämlich für die Menschen, aber die Tiere, die sich ebenfalls bewegen, unterliegen nicht seiner Kontrolle. Nur die Menschen sind sich bewußt, was richtig und was falsch ist, und nur diejenigen unter ihnen, die sündhafte Handlungen begehen, geraten in die Gewalt Yamarajas. Obwohl Yamarāja also ein Herrscher ist, umfaßt sein Machtbereich nur einige wenige Lebewesen. Es gibt andere Halbgötter, welche die vielen anderen Bereiche beherrschen, doch über ihnen allen steht ein höchster Herrscher, Krsna. Isvarah paramah krsnah. „Der höchste Herrscher ist Krsna." Andere, die ihre eigenen Bereiche im Universum verwalten, sind unbedeutend, verglichen mit Krsna, dem höchsten Herrscher. Krsna sagt in der Bhagavad-gitā (7.7): mattah parataram nānyat kincid asti dhananjaya. „Mein lieber Dhananjaya [Arjuna], niemand steht über Mir." Deshalb zerstreute Yamarāja sofort die Zweifel seiner Helfer, der Yamadūtas, indem er bestätigte, daß es einen höchsten Herrscher über allen anderen gibt. In der materiellen Welt untersteht jeder den Naturgesetzen, ganz gleich wer er ist. Ob Mensch, Halbgott, Tier oder Pflanze, jeder ist den Naturgesetzen unterworfen. Hinter dieser naturgegebenen
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Kontrolle aber steht die Höchste Persönlichkeit Gottes. Krsna bestätigt dies in der Bhagavad-gitā (9.10): mayādhyaksena prakrtih süyate sa-carācaram. „Die materielle Natur ist unter Meiner Führung tätig und bringt alle sich bewegenden und sich nicht bewegenden Wesen hervor." Somit arbeitet die Maschinerie der Natur unter Krsnas Kontrolle. Das Ziel von varna und āsrama Im Gegensatz zu anderen Lebewesen ist der Mensch dazu bestimmt, durch die vedischen Anweisungen bezüglich varna und āsrama, den gesellschaftlichen und spirituellen Klassen, geführt zu werden. Andernfalls kann er sich der Bestrafung durch Yamarāja nicht entziehen. Von jedem Menschen wird erwartet, daß er sich auf die Stufe der brahmanas, der intelligentesten Menschen, erhebt und diese Stufe dann transzendiert, um ein Vaisnava zu werden. Das ist die Vollkommenheit des Lebens. Die brahmanas, ksatriyas, vaisyas und sūdras können sich erheben, indem sie den Herrn durch ihre jeweiligen Tātigkeiten verehren (sve sve karmany abhiratah samsiddhim labhate narah). Die Unterteilung in varna und āsrama ist nötig, um für alle die richtige Pflichterfüllung und ein friedliches Dasein sicherzustellen; gleichzeitig aber wird jeder angewiesen, den Höchsten Herrn zu verehren, der alldurchdringend ist (yena sarvam idam tatam). Wenn wir den vedischen Anordnungen folgen und den Höchsten Herrn unseren Fähigkeiten gemäß verehren, wird unser Leben vollkommen sein. Dies bestätigt das Srimad-Bhāgavatam (1.2.13): atah pumbhir dvija-srestha varnāsrama-vibhāgasah svanusthüasya dharmasya samsiddhir hari-tosanam „O Bester unter den Zweimalgeborenen, die Schlußfolgerung lautet deshalb, daß die höchste Vollkommenheit, die man erreichen kann, indem man seine vorgeschriebenen Pflichten (dharma) gemäß den Kasteneinteilungen und Lebensstufen erfüllt, darin besteht, die Persönlichkeit Gottes zufriedenzustellen."
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Das varnāsrama-Gesellschaftssystem bietet dem Menschen den idealen Vorgang, nach Hause, zu Gott, zurückzukehren, denn es ist das Ziel eines jeden varna und āsrama, den Herrn zu erfreuen. Wir können den Herrn unter der Führung eines echten spirituellen Meisters erfreuen, und dadurch wird unser Leben vollkommen. Der Höchste Herr ist verehrungswürdig, und jeder verehrt Ihn direkt oder indirekt. Wer Ihn unmittelbar verehrt, erhālt die Ergebnisse der Befreiung schnell, wohingegen sich die Befreiung eines Menschen, der Ihm indirekt dient, verzögert. Die Worte nāmabhir vāci in Vers 13 (nāmabhih - durch verschiedene Namen; vāci - der vedischen Sprache) sind sehr wichtig. Im varnasrama-Gesellschaftssystem gibt es verschiedene Namen: brāhmana, ksatriya, vaisya, sūdra, brahmacāri, grhastha, vānaprastha und sannyāsi. Die vāk, die vedischen Anweisungen, geben allen Gesellschaftsgruppen Richtlinien vor. Von jedem Menschen wird erwartet, daß er dem Höchsten Herrn seine Ehrerbietungen erweist und daß er seine Pflichten erfüllt, wie es in den Veden vorgeschrieben ist. Der Einfluß der drei Erscheinungsweisen Die Menschen wie auch die anderen Lebewesen innerhalb der kosmischen Manifestation werden von den drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur beherrscht. Für die Lebewesen, die von den niederen Erscheinungsweisen der Natur - Leidenschaft und Unwissenheit - gelenkt werden, besteht keine Möglichkeit, Gott zu erkennen. Selbst diejenigen, die sich in der Erscheinungsweise der Tugend befinden, wie die vielen in den obigen Versen beschriebenen Halbgötter und großen Weisen, sind nicht imstande, die Tätigkeiten der Höchsten Persönlichkeit Gottes zu verstehen. Wie es in der Bhagavad-gitā heißt, kann nur jemand, der sich völlig im hingebungsvollen Dienst beschäftigt und daher zu allen materiellen Erscheinungsweisen transzendental ist, den Herrn verstehen (bhaktyā mām abhijānāti). Gewöhnliche Philosophen sind niemals fähig, den Herrn zu verstehen. Der große Gottgeweihte Bhismadeva bestätigt dies in der folgenden Erklärung gegenüber Mahārāja Yudhisthira (Srimad-Bhāgavatam 1.9.16):
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„O König, niemand kann den Plan des Herrn, Sri Krsnas, kennen. Obgleich große Philosophen ausgiebig danach forschen, sind sie verwirrt." Niemand kann deshalb Gott durch spekulatives Wissen verstehen. Durch Spekulation wird man tatsāchlich nur verwirrt. Die Führung der Überseele Obwohl die verschiedenen Köperteile nicht die Fähigkeit besitzen, die Augen zu sehen, lenken die Augen die Bewegungen der verschiedenen Körperteile. Die Beine bewegen sich vorwärts, weil die Augen sehen, was sich vor ihnen befindet, und die Hand berührt, weil die Augen berührbare Dinge wahrnehmen. Ebenso handelt jedes Lebewesen nach der Anleitung der Überseele, die im Herzen weilt. Der Herr selbst versichert dies in der Bhagavad-gitā (15.15): sarvasya cāham hrdi sannivisto mattah smrtir jnānam apohanam ca. „Ich weile im Herzen eines jeden, und von Mir kommen Erinnerung, Wissen und Vergessen." An einer anderen Stelle in der Bhagavad-gitā (18.61) heißt es: isvarah sarva-bhūtānām hrd-dese 'rjuna tisthati. „Der Höchste Herr befindet Sich im Herzen als die Überseele." Ohne die Einwilligung der Überseele vermag das Lebewesen nichts zu tun. Die Überseele ist in jedem Augenblick tätig, doch das Lebewesen kann die Form und die Handlungen der Überseele nicht mit Hilfe seiner Sinne erkennen. Das Beispiel von den Augen und den Körperteilen ist sehr treffend: Wenn die Beine sehen könnten, wāren sie imstande, sich ohne die Hilfe der Augen vorwärtszubewegen; das aber ist nicht möglich. Mit anderen Worten, auch wenn man die Überseele im Herzen nicht mit den Sinnen wahrzunehmen vermag, ist Ihre Führung dennoch notwendig.
21. Kapitel
Vertrauliches Wissen Yamarāja fuhr fort: „Der Höchste Herr ist Sich selbst genügend und völlig unabhängig. Er ist der Meister eines jeden und aller Dinge, einschließlich der illusionierenden Energie. Er hat Gestalt, Eigenschaften und Merkmale, und ebenso besitzen Seine Beauftragten, die wunderschönen Visnudütas oder Vaisnavas, Körpermerkmale und transzendentale Eigenschaften, die fast den Seinen gleichen. Sie bewegen sich in dieser Welt stets in völliger Unabhängigkeit. Die Visnudütas werden sogar von den Halbgöttern verehrt und sind nur sehr selten zu sehen. Sie beschützen die Geweihten des Herrn vor Feinden, vor neidischen Menschen, ja sogar vor meiner Gerichtsbarkeit und vor den Naturgewalten. Es ist die Höchste Persönlichkeit Gottes, die das Prinzip wahrer Religion erlāßt. Obgleich die großen rsis, die die höchsten Planeten bewohnen, vollständig in der Erscheinungsweise der Tugend verankert sind, können selbst sie dieses Prinzip nicht festlegen; ebensowenig können es die Halbgötter oder die Führer von Siddhaloka, ganz zu schweigen von den asuras, den gewöhnlichen Menschen, den Vidyādharas und den Cāranas. Brahma, Bhagavān Nārada, Siva, die vier Kumāras, Kapila [der Sohn Devahütis], Svāyambhuva Manu, Prahlāda Mahārāja, Janaka Mahārāja, Großvater Bhisma, Bali Mahārāja, Sukadeva Gosvāmi und ich selbst kennen das Prinzip wahrer Religion. Meine lieben Diener, dieses transzendentale Prinzip der Religion - bhāgavatadharma, Hingabe und Liebe zum Höchsten Herrn -, ist nicht von den Erscheinungsweisen der materiellen Natur verunreinigt. Es ist sehr vertraulich und für gewöhnliche Menschen schwer zu verstehen, doch wenn man das Glück hat, es zu verstehen, wird man sofort befreit und kehrt nach Hause, zu Gott, zurück. 225
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Hingebungsvoller Dienst, der mit dem Chanten des heiligen Namens des Herrn beginnt, ist das höchste Prinzip der Religion für die menschliche Gesellschaft. Meine lieben Diener, die ihr wie meine Söhne seid, seht nur, wie glorreich das Chanten des heiligen Namens des Herrn ist! Der höchst sündhafte Ajāmila chantete nur, um seinen Sohn zu rufen, und war sich nicht bewußt, daß er den heiligen Namen des Herrn chantete. Trotzdem erinnerte er sich durch das Chanten des heiligen Namens an Nārāyana und wurde daher augenblicklich von den Stricken des Todes befreit. Folglich wird man mit Leichtigkeit von allen sündhaften Reaktionen befreit, wenn man den heiligen Namen chantet und die Eigenschaften und Taten des Herrn preist. Dies ist der einzige empfohlene Vorgang, um sich sündhafter Reaktionen zu entledigen. Selbst wenn man den heiligen Namen des Herrn nicht richtig ausspricht, wird man aus der materiellen Gefangenschaft erlöst, wenn man ohne Vergehen chantet. Ajāmila zum Beispiel war ein großer Sünder; aber wāhrend er im Sterben lag, chantete er den heiligen Namen, und obgleich er seinen Sohn rief, erlangte er völlige Befreiung, weil er sich an den Namen Nārāyanas erinnerte. Yājnavalkya, Jaimini und andere Verfasser religiöser Schriften können das vertrauliche Religionssystem der zwölf mahājanas nicht verstehen, weil sie durch die illusionierende Energie der Höchsten Persönlichkeit Gottes verwirrt sind. Der transzendentale Wert des hingebungsvollen Dienstes und des Chantens des Hare-Krsna-mantra entzieht sich ihrer Erkenntnis. Weil sie sich zu den rituellen Zeremonien hingezogen fühlen, die in den Veden besonders im Yajur Veda, Sāma Veda und Rg Veda - beschrieben werden, ist ihre Intelligenz abgestumpft. Deshalb sind sie damit beschäftigt, Zubehör für rituelle Zeremonien zusammenzutragen, die jedoch nur vergängliche Segnungen hervorbringen, wie die Erhebung nach Svargaloka um materieller Freuden willen. Sie fühlen sich nicht zur sankirtana-Bewegung hingezogen; statt dessen sind sie an Religiosität, wirtschaftlicher Entwicklung, Sinnenbefriedigung und Befreiung interessiert. In Anbetracht all dieser Gesichtspunkte entschließen sich intelligente Menschen, alle Probleme dadurch zu lösen, daß sie sich
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dem hingebungsvollen Dienst des Chantens der heiligen Namen des Herrn widmen, der im Herzen eines jeden weilt und die Quelle aller glückverheißenden Eigenschaften ist. Solche Menschen unterstehen nicht meiner Strafgewalt. Im allgemeinen begehen sie niemals sündhafte Handlungen, doch selbst wenn sie durch einen Fehler oder aufgrund von Verwirrung oder Illusion manchmal eine Sünde begehen, werden sie vor den sündhaften Reaktionen beschützt, da sie stets den Hare-Krsna-mantra chanten. Meine lieben Diener, bitte nähert euch nicht solchen Gottgeweihten, denn sie haben sich den Lotosfüßen der Höchsten Persönlichkeit Gottes völlig ergeben. Sie sind jedem gleich wohlgesinnt, und die Halbgötter und die Bewohner Siddhalokas besingen sie in ihren Erzählungen. Bitte begebt euch nicht einmal in ihre Nāhe! Sie werden immer durch die Keule der Höchsten Persönlichkeit Gottes beschützt, und deshalb sind weder Brahma noch ich, ja nicht einmal der Zeitfaktor imstande, sie zu bestrafen. Paramahamsas sind erhabene Persönlichkeiten, die keinen Geschmack an materiellem Genuß finden und den Honig der Lotosfüße des Herrn trinken. Meine lieben Diener, bringt mir nur Menschen zur Bestrafung, die dem Geschmack dieses Honigs abgeneigt sind, die nicht mit paramahamsas Gemeinschaft haben und die am Familienleben und an weltlichen Genüssen hāngen, welche den Pfad zur Hölle bilden. Meine lieben Diener, schafft mir nur jene sündhaften Menschen herbei, die ihre Zunge nicht dazu gebrauchen, den heiligen Namen und die Eigenschaften Krsnas zu preisen, deren Herz sich nie an die Lotosfüße Krsnas erinnert und deren Kopf sich nie vor Sri Krsna verneigt. Schickt mir diejenigen, die ihre Pflichten gegenüber Visnu nicht erfüllen, welche die einzigen Pflichten im menschlichen Leben sind. Bitte bringt mir all diese Narren und Halunken! (Srimad-Bhāgavatam 6.3.17-29) Die Beschützer der Gottgeweihten Yamarāja beschrieb die Höchste Persönlichkeit Gottes, den höchsten Herrscher, doch die Beauftragten Yamarajas waren sehr begierig, etwas über die Visnudūtas zu erfahren, von denen sie bei ihrer
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Begegnung mit Ajāmila besiegt worden waren. Yamarāja erklārte deshalb, daß die Visnudutas der Höchsten Persönlichkeit Gottes in ihren Körpermerkmalen, ihren transzendentalen Eigenschaften und ihrem Wesen ähneln. Die Visnudutas oder Vaisnavas sind, mit anderen Worten, fast genauso vortrefflich wie der Höchste Herr. Yamarāja enthüllte den Yamadūtas, daß die Visnudutas nicht weniger mächtig sind als Sri Visnu. Da Visnu über Yamarāja steht, stehen die Visnudutas über den Yamadūtas. Wer von den Visnudutas beschützt wird, kann folglich nicht von den Yamadūtas angetastet werden. Yamarāja beschrieb die Vorzüge der Visnudutas, weil er seine Diener dazu bewegen wollte, keine Mißgunst gegen sie zu hegen. Yamarāja erklärte, daß die Visnudutas mit großer Ehrfurcht von den Halbgöttern verehrt werden und daß sie stets darauf bedacht sind, die Geweihten des Herrn vor Feindeshänden, Naturgewalten und allen Gefahren der materiellen Welt zu bewahren. Manchmal fürchten sich die Mitglieder der Gesellschaft für Krsna-Bewußtsein vor der Gefahr eines Weltkrieges und fragen, was mit ihnen im Falle eines solchen Krieges geschehen würde. In jeder Gefahr sollten sie auf den Schutz der Visnudutas oder der Höchsten Persönlichkeit Gottes vertrauen, wie Krsna selbst in der Bhagavad-gitā (9.31) versichert: kaunteya pratijānihi na me bhaktah pranasyati. „O Sohn Kuntis, verkünde kühn, daß Mein Geweihter niemals vergeht!" Für Gottgeweihte besteht keine materielle Gefahr. Dies wird auch im Srimad-Bhāgavatam (10.14.58) bestätigt: padam padam yad vipadām na tesām. In der materiellen Welt lauern auf Schritt und Tritt Gefahren, aber sie sind nicht für die Gottgeweihten bestimmt, die sich völlig den Lotosfüßen des Herrn ergeben haben. Die reinen Geweihten Sri Visnus können sich darauf verlassen, daß der Herr sie beschützen wird. Solange sie in der materiellen Welt leben, sollten sie sich voll und ganz dem hingebungsvollen Dienst weihen, indem sie die Botschaft Sri Caitanya Mahāprabhus und Sri Krsnas predigen, nämlich das Chanten von Hare Krsna und die anderen Aspekte des Krsna-Bewußtseins. Unmittelbare Verbindung mit Krsna Von den Visnudutas aufgefordert, die Prinzipien der Religion dar-
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zulegen, entgegneten die Yamadūtas: veda-pranihito dharmah. „Die vedischen Schriften legen die Prinzipien der Religion fest." Sie wußten aber nicht, daß die vedischen Schriften auch rituelle Zeremonien enthalten, die nicht transzendentaler Natur sind, sondern zum Ziel haben, Friede und Ordnung unter materialistischen Menschen zu bewahren. Wirkliche religiöse Grundsātze sind nistraigunya, das heißt, sie stehen über den drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur; sie sind transzendental. Die Yamadūtas kannten diese transzendentalen Prinzipien der Religion nicht und waren daher überrascht, als sie daran gehindert wurden, Ajāmila gefangenzunehmen. Materialisten, die all ihren Glauben in die vedischen Rituale setzen, werden in der Bhagavad-gitā (2.42) von Krsna wie folgt beschrieben: veda-vāda-ratāh pārtha nānyad astiti vādinah. „Die angeblichen Anhānger der Veden sagen, es gebe nichts, was über die vedischen Zeremonien hinausgehe." Tatsāchlich gibt es in Indien eine Gruppe von Menschen, die die vedischen Rituale sehr schātzt, aber ihre Bedeutung nicht versteht. Diese Rituale sind dazu bestimmt, die Menschen allmählich auf die transzendentale Ebene zu erheben, auf der man Krsna erkennt (vedais ca sarvair aham eva vedyah). Diejenigen, die dieses Prinzip nicht kennen und nur an die vedischen Rituale glauben, werden veda-vāda-ratāh genannt. Das Prinzip wahrer Religion wird, wie Yamarāja erklärt, von der Höchsten Persönlichkeit Gottes erlassen. Sri Krsna formuliert dieses Prinzip in der Bhagavad-gitā (18.66): sarva-dharmān parityajya mām ekam saranam vraja. „Gib alle anderen Pflichten auf und ergib dich Mir!" Das ist der Grundsatz wahrer Religion, nach dem jeder handeln sollte. Selbst wenn man den vedischen Schriften folgt, heißt das noch nicht, daß man dieses transzendentale Prinzip kennt, denn nicht jedem ist es bekannt. Selbst den Halbgöttern auf den höheren Planetensystemen bleibt es verborgen, von den Menschen ganz zu schweigen. Wie es in diesen Versen heißt, kann man das transzendentale Prinzip der Religion nur verstehen, wenn man es direkt vom Höchsten Herrn oder von Seinem ermächtigten Stellvertreter empfāngt. In der Bhagavad-gitā bezeichnet Sri Krsna bhāgavata-dharma als das vertraulichste Prinzip der Religion (sarva-guhyatamam,guhyād guhyataram). „Weil du Mein inniger Freund bist", sprach Krsna zu Arjuna,
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„erkläre Ich dir die vertraulichste Religion." Sarva-dharmān parityajya mām ekam saranam vraja. „Gib alle anderen Pflichten auf und ergib dich Mir!" „Wenn dieser Grundsatz so selten verstanden wird", könnte man fragen, „wozu ist er dann nütze?" Als Antwort erklärt Yamarāja, daß dieser religiöse Grundsatz begreiflich wird, sobald man dem parampara-System Brahmas, Sivas, der vier Kumāras und der anderen anerkannten Autoritäten folgt. Es gibt vier Schülernachfolgen: Die erste geht von Brahma aus, die zweite von Siva, die dritte von der Glücksgöttin und die vierte von den vier Kumāras. Die Schülernachfolge Brahmas wird als Brahmā-sampradāya bezeichnet, die Sivas (Sambhu) als Rudra-sampradāya, die der Glücksgöttin Laksmiji als Sri-sampradāya und die der Kumāras als Kumāra-sampradāya. Man muß bei einer dieser vier sampradāyas Zuflucht suchen, um das vertraulichste Religionssystem verstehen zu können. Im Padma Purāna heißt es: sampradāya-vihinā ye mantras te nisphalā matāh. „Wenn jemand nicht den vier anerkannten Schülernachfolgen folgt, ist sein mantra, das heißt seine Einweihung, nutzlos." Heutzutage gibt es viele apasampradāyas, unechte sampradāyas, die keine Verbindung mit Autoritäten wie Brahma, Siva, den Kumāras oder Laksmi haben. Die Menschen werden von solchen sampradāyas irregeführt. Die sāstras sagen, daß es pure Zeitverschwendung ist, in eine solche sampradāya eingeweiht zu werden, denn dadurch wird man niemals die wirklichen Prinzipien der Religion verstehen und sich Krsna ergeben können. Echte religiöse Prinzipien sind bhāgavata-dharma, Prinzipien, die im Srimad-Bhāgavatam oder in der Bhagavad-gitā, der Vorstudie des Bhagavatam, beschrieben werden. Was sind das für Prinzipien? Das Bhagavatam (1.1.2) erklärt: dharmah projjhita-kaitavo 'tra. „Im SrimadBhāgavatam gibt es keine falsche Religion." Mit anderen Worten, alles im Bhagavatam ist unmittelbar mit der Höchsten Persönlichkeit Gottes verbunden. Weiterhin sagt das Bhagavatam (1.2.6): sa vai pumsārii paro dharmo yato bhaktir adhoksaje. „Die höchste Religion ist jene, die ihre Anhänger lehrt, den Höchsten Herrn zu lieben, der Sich jenseits der Reichweite experimentellen Wissens befindet." Solche Religion beginnt mit tan-nāma-grahana, dem Chanten des heiligen Namens des Herrn. Wenn man den heiligen Namen chantet und in
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Ekstase tanzt, sieht man allmählich die transzendentale Gestalt des Herrn, die Eigenschaften des Herrn und die Spiele des Herrn. Auf diese Weise versteht man vollständig die Stellung der Persönlichkeit Gottes. Man gelangt zu dieser Erkenntnis des Herrn jedoch nur durch die Ausübung hingebungsvollen Dienstes. Krsna erklärt in der Bhagavad-gitā (18.55): bhaktyā mām abhijānāti yāvān yas cāsmi tattvatah. „Nur durch hingebungsvollen Dienst kann man Mich so, wie Ich bin, erkennen." Wenn man das Glück hat, den Höchsten Herrn auf diese Weise zu erkennen, muß man nach dem Verlassen des materiellen Körpers nicht mehr in der materiellen Welt geboren werden (tyaktvā deham punar janma naiti). Statt dessen kehrt man nach Hause, zu Gott, zurück. Das ist die höchste Vollkommenheit. Daher sagt Krsna in der Bhagavad-gitā (8.15): mām upetya punar janma duhkhālayam asāsvatam nāpnuvanti mahātmānah samsiddhim paramām gatāh „Nachdem die großen Seelen, die hingegebenen yogis, Mich erreicht haben, kehren sie nie wieder in diese vergängliche Welt zurück, die voller Leiden ist, denn sie haben die höchste Vollkommenheit erreicht." Die Bedeutsamkeit des heiligen Namens Man braucht keine Nachforschungen über die Bedeutsamkeit des Chantens des Hare-Krsna-mantra anzustellen; die Geschichte von Ajāmila ist Beweis genug für die Macht des heiligen Namens des Herrn und die erhabene Stellung eines Menschen, der den heiligen Namen unablässig chantet. Deshalb sagte Sri Caitanya Mahāprabhu: harer nāma harer nāma harer nāmaiva kevalam kalau nāsty eva nāsty eva nāsty eva gatir anyathā
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„Im gegenwärtigen Zeitalter des Streites und der Heuchelei kann man sich einzig und allein durch das Chanten der heiligen Namen des Herrn befreien. Es gibt keinen anderen Weg. Es gibt keinen anderen Weg. Es gibt keinen anderen Weg." (Brhan-nāradiya Purāna 3.8.126) Im Zeitalter des Kali kann fast niemand all die schwierigen Zeremonien vollziehen, die notwendig sind, um Befreiung zu erlangen. Aus diesem Grund empfehlen alle sāstras und alle ācāryas, im gegenwärtigen Zeitalter einfach den heiligen Namen zu chanten. Dies wird uns zur höchsten Vollkommenheit führen. In der Zusammenkunft bei Raghunātha dāsa Gosvāmis Vater bestätigte Haridasa Thākura, daß man einfach durch das Chanten des heiligen Namens des Herrn erlöst wird, selbst wenn man nicht ganz ohne Vergehen chantet. Smārta-brāhmanas und Māyāvādis glauben nicht, daß man auf diese Weise Befreiung erreichen kann, doch die Richtigkeit von Haridasa Thākuras Worten wird durch viele Textstellen in den vedischen Schriften belegt. Im vorliegenden Abschnitt des Srimad-Bhāgavatam sagt Yamarāja zum Beispiel: „Man wird mit Leichtigkeit von allen sündhaften Reaktionen befreit, wenn man den heiligen Namen chantet und die Eigenschaften und Taten des Herrn lobpreist. Dies ist der einzige empfohlene Vorgang, um sich sündhafter Reaktionen zu entledigen." Sridhara Svāmi führt in seinem Kommentar zu diesem Vers folgendes Zitat an: sāyam prātar grnan bhaktyā duhkha-grāmād vimucyate. „Wenn man morgens und abends unentwegt und voller Hingabe den heiligen Namen des Herrn chantet, wird man von allen materiellen Leiden frei." Ein anderes Zitat bestätigt, daß man Befreiung erlangen kann, wenn man ständig, jeden Tag, mit großer Ehrfurcht den heiligen Namen des Herrn hört: anudinam idam ādarena srnvan. Ein weiteres Zitat lautet: sravanam kirtanam dhyānam harer adbhuta-karmanah janma-karma-gunānām ca tad-arthe 'khila-cestitam „Man sollte immer über die wunderbaren Taten des Herrn chanten
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und hören, man sollte über diese Taten meditieren und sich bemühen, den Herrn zu erfreuen." (Srimad-Bhāgavatam 11.3.27) Sridhara Svāmi zitiert auch aus den Purānas: pāpa-ksayas ca bhavati smaratām tam ahar-nisam. „Man kann von allen sündhaften Reaktionen befreit werden, wenn man sich einfach Tag und Nacht an die Lotosfüße des Herrn erinnert." Schließlich zitiert er aus dem vorliegenden Kapitel des Srimad-Bhāgavatam (6.3.31): tasmāt sankirtanam visnor jagan-mangalam amhasām mahatām api kauravya viddhy aikāntika-niskrtam „Das Chanten des heiligen Namens des Herrn vermag sogar die Folgen der größten Sünden aufzuheben. Daher ist das Chanten der sankirtana-Bewegung die glückverheißendste Tätigkeit im gesamten Universum." All diese Zitate beweisen, daß jemand, der ständig über den heiligen Namen des Herrn, Seinen Ruhm, Seine Gestalt und Seine Taten chantet und hört, befreit ist. In Vers 24 wird dies wunderbar erläutert: etāvatālam agha-nirharanāya pumsām. „Einfach dadurch, daß man den Namen des Herrn ausspricht, wird man von allen sündhaften Reaktionen befreit." Das Wort alam in diesem Vers weist darauf hin, daß das bloße Aussprechen des heiligen Namens genügt; es ist kein anderer Vorgang vonnöten. Selbst wenn jemand unvollkommen chantet, wird er von allen sündhaften Reaktionen befreit. Die Befreiung Ajāmilas beweist die Macht des Chantens des heiligen Namens. Als Ajāmila den heiligen Namen Nārāyanas chantete, dachte er eigentlich nicht an den Höchsten Herrn, sondern an seinen eigenen Sohn. Zudem war Ajāmila zur Zeit des Todes gewiß nicht sehr geläutert; im Gegenteil, er war weit und breit als ein großer Sünder bekannt. Darüber hinaus geraten zur Zeit des Todes die Körperfunktionen völlig durcheinander, und in einer solch unangenehmen Lage wäre es für Ajāmila bestimmt sehr schwierig gewesen, deutlich zu chanten. Trotz alledem erlangte Ajāmila Befreiung, indem er einfach den heiligen Namen des Herrn chantete.
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Was wird also erst der Lohn derer sein, die nicht so sündhaft sind wie Ajāmila? Die Schlußfolgerung lautet, daß man mit einem unerschütterlichen Gelübde den heiligen Namen des Herrn chanten sollte: Hare Krsna, Hare Krsna, Krsna Krsna, Hare Hare / Hare Rāma, Hare Rāma, Rāma Rāma, Hare Hare. Denn so wird man durch Krsnas Gnade mit Sicherheit aus den Fāngen māyās gerettet. Das Chanten des Hare-Krsna-mantra wird selbst Frevlern empfohlen, denn wenn sie weiterhin chanten, werden ihre Vergehen allmählich weniger werden. Und wenn man den Hare-Krsna-mantra rein chantet, vergrößert man seine Liebe zu Krsna. Sri Caitanya Mahāprabhu erklärt: premā pum-artho mahān. „Unser Hauptanliegen sollte es sein, unsere Zuneigung zur Höchsten Persönlichkeit Gottes zu vergrößern und Liebe zu Gott zu entwickeln." Da man durch das Chanten des heiligen Namens des Herrn leicht das höchste Ziel erreichen kann, stellt sich vielleicht die Frage, warum es in den Veden so viele rituelle Zeremonien gibt und warum sich die Leute zu ihnen hingezogen fühlen. Im vorliegenden Abschnitt des Srimad-Bhāgavatam beantwortet Yamarāja diese Frage. Leider lassen sich unintelligente Menschen durch die Pracht vedischer yajnas verblenden und sind daher begierig, solchen luxuriösen Opfern beizuwohnen. Sie möchten, daß vedische mantras gechantet und gewaltige Geldsummen ausgegeben werden. Manchmal müssen wir rituelle Zeremonien im vedischen Stil vollziehen, um solch unintelligente Leute zufriedenzustellen. Als wir 1975 in Vrndāvana einen großen Krsna-Balarāma-Tempel eröffneten, waren wir verpflichtet, brahmanas vedische Zeremonien vollziehen zu lassen, weil die Einwohner von Vrndāvana, besonders die smārta-brāhmanas, Europäer und Amerikaner nicht als echte brahmanas akzeptiert hātten. Aus diesem Grund mußten wir brahmanas beauftragen, kostspielige yajnas durchzuführen. Parallel zu den yajnas hielten die Mitglieder unserer Gesellschaft lauten sahkirtana mit mrdangas ab, wobei ich den sahkirtana für wichtiger erachtete als die vedischen Zeremonien. Die Zeremonien und der sahkirtana-yajha fanden gleichzeitig statt. Die Zeremonien waren für Menschen bestimmt, die an vedischen Ritualen interessiert sind, welche der Erhebung zu den himmlischen Planeten dienen (jadi-krta-matir madhu-puspitāyām), wohingegen der sahkirtana für reine Gottgeweihte bestimmt war, die sich
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wünschen, die Höchste Persönlichkeit Gottes zu erfreuen. Wir hātten gerne nur sankirtana abgehalten, doch dann hātten die Bewohner Vrndāvanas die Einweihungszeremonie nicht ernst genommen. Wie hier erklärt wird, sind vedische Zeremonien und Opfer zur Erhebung auf höhere Planeten für Menschen gedacht, deren Intelligenz durch die blumigen Worte der Veden getrübt ist. Besonders im gegenwärtigen Zeitalter ist sankirtana allein schon ausreichend. Wenn die Mitglieder unserer Tempelgemeinschaften in den verschiedenen Teilen der Welt einfach fortfahren, sankirtana vor der Bildgestalt Gottes, besonders vor Sri Caitanya Mahāprabhu, abzuhalten, werden sie Vollkommenheit erreichen. Es sind keine anderen Zeremonien nötig. Trotzdem sind die Verehrung der Bildgestalten und andere regulierende Prinzipien für die Reinhaltung der Gewohnheiten und der Gedanken unentbehrlich. Obgleich sankirtana zur Vervollkommnung des Lebens genügt, muß, wie Srila Jiva Gosvāmi sagt, die Verehrung der Bildgestalt im Tempel fortgesetzt werden, damit die Gottgeweihten sauber und rein bleiben. Srila Bhaktisiddhānta Sarasvati Thākura empfahl deshalb, die Verehrung der Bildgestalt und sankirtana parallel zueinander auszuführen. Diesem Grundsatz folgen wir strikt, und wir sollten an ihm festhalten. Wer wird von Yamarāja bestraft? In diesem Zusammenhang zitiert Srila Visvanātha Cakravarti Thākura den folgenden Vers aus den Gebeten Brahmas (Srimad-Bhāgavatam 10.14.29): athāpi te deva padāmbuja-dvayaprasāda-lesānugrhita eva hi jānāti tattvam bhagavan-mahimno na cānya eko 'pi ciram vicinvan Dieser Vers besagt, daß selbst jemand, der ein großer Gelehrter der vedischen sāstras ist, sich noch lange nicht der Existenz des Höchsten Herrn, Seines Namens, Seines Ruhmes und Seiner Eigenschaften bewußt sein muß, wohingegen ein anderer, der kein großer Gelehrter ist, die Stellung der Höchsten Persönlichkeit Gottes verstehen kann, wenn er durch hingebungsvollen Dienst auf die eine
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oder andere Weise ein reiner Geweihter des Herrn wird. Deshalb sagt Yamarāja in Vers 26: evam vimrsya sudhiyo bhagavati. Wer sich im liebevollen Dienst des Herrn betätigt, wird sudhiyah, intelligent im Gegensatz zu einem Gelehrten der Veden, der Krsnas Namen, Ruhm und Eigenschaften nicht versteht. Ein reiner Gottgeweihter besitzt eine klare Intelligenz; er ist wahrhaft weise und besonnen, da er sich dem Dienst des Herrn widmet - nicht zur Schau, sondern aus Liebe, mit seinen Gedanken, seinen Worten und seinem Körper. Nichtgottgeweihte mögen ihre Religiosität zur Schau stellen, aber das ist nicht sehr wirkungsvoll; denn wāhrend sie frömmlerisch den Tempel oder die Kirche besuchen, denken sie eigentlich an etwas anderes. Solche Menschen vernachlässigen ihre religiöse Pflicht und werden von Yamarāja bestraft. Doch einem Gottgeweihten, der aufgrund seiner früheren Angewohnheiten gegen seinen Willen oder aus Versehen sündhafte Handlungen begeht, wird verziehen. Das ist der Wert der sankirtana-Bewegung. In der Tat, Yamarāja warnte seine Diener: „Meine lieben Diener, von nun an müßt ihr es unterlassen, Gottgeweihte zu belästigen. Die Gottgeweihten, die sich den Lotosfüßen des Herrn ergeben haben und unentwegt Seinen heiligen Namen chanten, werden von den Halbgöttern und den Bewohnern Siddhalokas gepriesen. Sie sind so verehrenswert und erhaben, daß Sri Visnu sie persönlich mit der Keule in der Hand beschützt. Wenn ihr euch ihnen nähert, wird Er euch mit dieser Keule töten. Selbst wenn Brahma oder ich sie bestrafen wollten, würde Sri Visnu uns bestrafen, von euch ganz zu schweigen. Laßt deshalb fortan die Gottgeweihten in Ruhe!" Nach dieser Warnung erklärte Yamarāja, wer ihm vorgeführt werden solle. Besonders trāgt er den Yamadūtas auf, ihm materialistische Menschen zu bringen, die nur um des Geschlechtslebens willen am Familienleben hāngen. Wie es im Srimad-Bhāgavatam (7.9.45) heißt: yan maithunādi-grhamedhi-sukhath hi tuccham. „Die Menschen hāngen am Familienleben nur wegen sexueller Freuden, die sehr unbedeutend sind." Bei ihren materiellen Bemühungen, Geld für den Unterhalt der Familie zu verdienen, werden sie auf vielerlei Art und Weise geplagt, und ihre einzige Freude besteht darin, daß sie nach einem harten und langen Arbeitstag nachts zu Bett gehen
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und ihre sexuellen Gelüste befriedigen. Vor allem riet Yamarāja seinen Dienern, ihm diese Menschen zur Bestrafung zu bringen - und nicht die Gottgeweihten, die stets den Honig von den Lotosfüßen des Herrn kosten, allen wohlgesinnt sind und aus Mitleid mit allen Lebewesen versuchen, Krsna-Bewußtsein zu predigen. Gottgeweihte dürfen von Yamarāja nicht bestraft werden. Menschen jedoch, die nichts vom Krsna-Bewußtsein wissen, finden in ihrem materialistischen Leben mit seinen sogenannten Familienfreuden keinen Schutz. Im Srimad-Bhāgavatam (2.1.4.) heißt es: dehāpatya-kalatrādisv ātma-sainyesv asatsv api tesām pramatto nidhanam pasyann api na pasyati Materialistische Menschen glauben selbstgefällig, daß ihr Staat, ihre Gemeinde oder ihre Familie sie beschützen könnte, ohne sich bewußt zu sein, daß all diese fehlbaren Soldaten im Laufe der Zeit vernichtet werden. Man sollte also versuchen, mit Menschen Gemeinschaft zu haben, die sich vierundzwanzig Stunden am Tag im hingebungsvollen Dienst betätigen. Dann kann man den Sinn des Lebens erkennen, der darin besteht, Sri Visnu zu erfreuen. Auch der varnāsramadharma hat dieses Ziel. Im Visnu Purāna (3.8.9) heißt es: varnāsramācāravatā purusena parah pumān visnur ārādhyate panthā nānyat tat-tosa-kāranam Die menschliche Gesellschaft ist dazu bestimmt, strikt dem varnāsrama-dharma zu folgen, das die Gesellschaft in vier soziale Gruppen (brāhmana, ksatriya, vaisya und sūdrā) und vier spirituelle Gruppen (brahmacarya, grhastha, vānaprastha und sannyāsā) einteilt. Der Varnāsrama-dharma macht es den Menschen einfach, sich Sri Visnu zu nähern, der das einzige wahre Ziel der menschlichen Gesellschaft ist. Na te viduh svārtha-gatim hi visnum: Unglücklicherweise wissen
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die Menschen jedoch nicht, daß es in ihrem eigenen Interesse liegt, sich Sri Visnu zu nāhern und nach Hause, zu Gott, zurückzukehren. Durāsayā ye bahir-artha-māninah: Statt dessen sind sie von Krsnas āußerer, illusionierender Energie verwirrt. Von jedem Menschen wird erwartet, daß er Pflichten erfüllt, die ihn Sri Visnu näherbringen. Daher rāt Yamarāja den Yamadūtas, ihm nur diejenigen herbeizuschaffen, die ihre Pflichten gegenüber Visnu vergessen haben. Wer nicht den heiligen Namen Visnus oder Krsnas chantet, sich nicht vor der Bildgestalt des Herrn verneigt und sich nicht an Seine Lotosfüße erinnert, kann von Yamarāja bestraft werden. Alle avaisnavas - Menschen —, die sich nicht um Sri Visnu kümmern - unterliegen der Bestrafung durch Yamarāja.
22. Kapitel
Die Herrlichkeit des heiligen Namens [Darauf sprach Yamarāja, der sich selbst und seine Diener als Frevler ansah, folgende Worte, um den Herrn um Verzeihung zu bitten:] „O mein Herr, meine Diener haben sich gewiß eines großen Vergehens schuldig gemacht, da sie einen Vaisnava wie Ajāmila gefangennahmen. O Nārāyana, o höchste und älteste Persönlichkeit, bitte vergib uns! In unserer Unwissenheit vermochten wir nicht, Ajāmila als einen Deiner Diener zu erkennen, und haben somit sicherlich ein schweres Vergehen begangen. Mit gefalteten Händen bitten wir Dich deshalb um Vergebung. Mein Herr, da Du höchst barmherzig und stets voller guter Eigenschaften bist, vergib uns bitte! Wir erweisen Dir unsere achtungsvollen Ehrerbietungen." Sukadeva Gosvāmi fuhr fort: Mein lieber König, das Chanten des heiligen Namens des Herrn vermag selbst die Reaktionen der größten Sünden zu entwurzeln. Daher ist das Chanten der sahkirtana-Bewegung die glückverheißendste Tätigkeit im gesamten Universum. Versuche dies bitte zu verstehen, so daß andere es ernst nehmen! Wer ständig den heiligen Namen des Herrn hört und chantet und über Seine Taten hört und sie lobpreist, kann sehr leicht die Ebene reinen hingebungsvollen Dienstes erreichen und so das Herz von aller Verunreinigung befreien. Es ist nicht möglich, diese Stufe der Läuterung zu erreichen, wenn man lediglich Gelübde einhält und vedische Ritualhandlungen vollzieht. Gottgeweihte, die sich stets am Honig der Lotosfüße Sri Krsnas laben, haben nicht das geringste Interesse an materiellen Tätigkeiten, die unter dem Einfluß der drei Erscheinungsweisen der 239
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materiellen Natur ausgeführt werden und nur Leid verursachen. In der Tat wenden sich Gottgeweihte niemals von den Lotosfüßen Sri Krsnas ab, um wieder materielle Tätigkeiten aufzunehmen. Andere jedoch, die vedischen Ritualen zugetan sind, da sie den Dienst zu den Lotosfüßen des Herrn vernachlässigen und von lüsternen Wünschen getrieben sind, vollziehen manchmal solche Bußhandlungen; doch weil sie nicht vollständig geläutert werden, führen sie trotz dieser Bußen immer wieder sündhafte Tätigkeiten aus. Nachdem die Yamadūtas aus dem Mund ihres Meisters von den außerordentlichen Herrlichkeiten des Herrn und Seines Namens, Seines Ruhms und Seiner Attribute gehört hatten, waren sie von Verwunderung überwältigt. Seither fürchten sie sich vor einem Gottgeweihten, sobald sie ihn erblicken, und wagen es nicht, ihn nochmals anzusehen. Als der große Weise Agastya in den Malaya-Bergen wohnte und die Höchste Persönlichkeit Gottes verehrte, besuchte ich ihn, und er erzāhlte mir diese vertrauliche Geschichte. (Srimad-Bhāgavatam 6.3.30-35) Yamaraja betet um Vergebung Yamaraja übernahm die Verantwortung für das Vergehen, das seine Diener begangen hatten. Wenn der Diener einer Organisation einen Fehler macht, übernimmt die Organisation die Verantwortung dafür. Obgleich Yamaraja frei von Vergehen ist, versuchten seine Diener quasi mit seiner Erlaubnis, Ajāmila gefangenzunehmen, was ein schweres Vergehen war. Die nyāya-sāstra bestätigt: bhrtyāparādhe svāmino dandah. „Wenn ein Diener einen Fehler macht, haftet der Meister." Da Yamaraja diese Unterweisung ernst nahm, faltete er seine Hände und betete gemeinsam mit seinen Dienern zum Höchsten Herrn, Nārāyana, um Vergebung. Vollkommenheit Wir sollten zur Kenntnis nehmen, daß Ajāmila von allen sündhaften Reaktionen befreit wurde, obwohl er den heiligen Namen
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Nārāyanas nur unvollkommen chantete. Das Chanten des heiligen Namens ist so glückverheißend, daß es jeden vor den Reaktionen sündhafter Handlungen bewahren kann. Wie wir aber zuvor schon des öfteren erwähnt haben, sollte niemand den Schluß ziehen, daß er weiterhin sündigen könne, da er nur Hare Krsna zu chanten brauche, um die Folgen abzuwenden. Man sollte vielmehr darauf bedacht sein, frei von aller Sünde zu bleiben, und niemals auf den Gedanken kommen, durch das Chanten des Hare-Krsna-mantra sündhafte Tätigkeiten auszugleichen, denn auch das ist ein Vergehen. Wenn aufgrund unglücklicher Umstānde ein Gottgeweihter versehentlich eine sündhafte Handlung begeht, wird der Herr ihm vergeben, aber man sollte sündhafte Handlungen nicht absichtlich begehen. Es ist nicht schwierig, den heiligen Namen des Herrn zu chanten und zu hören und die Ekstase des spirituellen Lebens zu erfahren. Das Padma Purāna erklärt: nāmāparādha-yuktānām nāmāny eva haranty agham avisrānti-prayuktāni tāny evārtha-karāni ca Selbst wenn man den Hare-Krsna-mantra mit Vergehen chantet, kann man all diese Vergehen dadurch wiedergutmachen, daß man ununterbrochen und ohne Abweichung chantet. Wer sich diese Übung zu eigen macht, wird immer auf einer reinen, transzendentalen Ebene bleiben, ohne von sündhaften Reaktionen berührt zu werden. Die Pflicht eines Gottgeweihten ist es, den Hare-Krsna-mantra zu chanten. Manchmal chantet man mit Vergehen und manchmal ohne, doch wenn man diesen Vorgang ernsthaft befolgt, wird man die Vollkommenheit erlangen, die durch die vedischen Bußriten nicht erreicht werden kann. Menschen, die an vedische Ritualhandlungen angehaftet sind, aber keinen Glauben an den hingebungsvollen Dienst besitzen, und Bußen empfehlen, aber das Chanten des heiligen Namens des Herrn nicht zu schätzen wissen, sind nicht imstande, die höchste Vollkommenheit zu erreichen. Gottgeweihte, die
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Im Angesicht des Todes
sich vollständig von materiellen Genüssen gelöst haben, geben deshalb niemals das Krsna-Bewußtsein auf, um sich vedischen Ritualhandlungen zuzuwenden. Wer aufgrund materieller Wünsche an solchen Zeremonien festhält, wird immer wieder den Qualen des materiellen Daseins ausgeliefert. Seit jener Begebenheit wagen es die Yamadutas nicht mehr, sich Gottgeweihten zu nähern. Für die Yamadutas ist ein Gottgeweihter gefährlich.
DIE
VOLLKOMMENHEIT DES YOGA
1. KAPITEL
Unzeitgemäßer Yoga Es gibt viele yoga-Systeme, die im Westen populär geworden sind, insbesondere im 20. Jahrhundert, aber keines von ihnen lehrte tatsāchlich die Vollkommenheit des yoga. In der Bhagavad-gitā jedoch unterweist Sri Krsna, die Höchste Persönlichkeit Gottes, Arjuna direkt in der Vollkommenheit des yoga. Wenn wir tatsāchlich diesem vollkommenen yoga-System folgen wollen, stehen uns in der Bhagavad-gitā die autoritativen Aussagen der Höchsten Person zur Verfügung. Es ist zweifellos bemerkenswert, daß die Vollkommenheit des yoga mitten auf einem Schlachtfeld gelehrt wurde. Die Szene war die folgende: Arjuna, der mächtige Krieger, stand vor einem Bruderkrieg, und, von Mitgefühl überwältigt, fragte er sich: „Warum soll ich gegen meine Verwandten kämpfen?" Diese Unschlüssigkeit Arjunas beruhte auf Illusion, und um diese Illusion zu beseitigen, sprach Sri Krsna die Bhagavad-gitā zu ihm. Man kann sich vorstellen, in welch kurzer Zeit die Bhagavad-gitā gesprochen werden mußte. Die Soldaten hatten sich bereits auf beiden Seiten kampfbereit aufgestellt, so daß nicht mehr viel Zeit blieb - allerhöchstens eine Stunde. Wāhrend dieser einen Stunde wurde die gesamte Bhagavad-gitā gesprochen, und Sri Krsna erklärte Seinem Freund Arjuna die Vollkommenheit aller yoga-Systeme. Nachdem dieses einzigartige Gesprāch beendet war, legte Arjuna all seine Befürchtungen und Zweifel beiseite und kämpfte. Im Verlauf des Gespräches erklärte Sri Krsna auch das Meditationssystem des yoga: wie man sich hinsetzt und eine gerade Körperhaltung einnimmt, wie man die Augen halb geschlossen hālt und auf die Nasenspitze starrt, ohne in der Konzentration abzu244
Unzeitgemäßer Yoga
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schweifen - und dies alles allein an einem abgeschiedenen Ort. Als Arjuna dies hörte, antwortete er: yo 'yam yogas tvayā proktah sāmyena madhusudana etasyāham na pasyāmi cancalatvāt sthitim sthirām „O Madhusudana, das yoga-System, das Du zusammenfassend beschrieben hast, erscheint mir undurchführbar und unerträglich, denn der Geist ist ruhelos und unbeständig." (Bg. 6.33) Was Arjuna hier sagt, ist sehr wichtig. Wir müssen uns immer bewußt sein, daß wir uns in materiellen Umstānden befinden, in denen unser Geist ständiger Erregung ausgesetzt ist. Wir leben also nicht in einer sehr angenehmen Situation. Wir denken immer, daß wir durch das Verändern der äußeren Umstānde unsere innere Unruhe überwinden könnten und so einmal an einen Punkt kāmen, wo alle mentalen Probleme aufhören. Es entspricht jedoch dem Wesen der materiellen Welt, daß man nie von Sorgen und Ängsten frei sein kann. So befinden wir uns in einem Dilemma: Einerseits versuchen wir ständig, eine Lösung für unsere Probleme zu finden, aber andererseits ist das materielle Universum so eingerichtet, daß diese Lösungen nie gefunden werden. Da Arjuna kein Betrüger ist, sagt er offen und ehrlich zu Krsna, daß es für ihn nicht möglich sei, das besagte yoga-System auszuüben. Als Arjuna sich an Krsna wandte, nannte er Ihn bezeichnenderweise Madhusudana. Dieser Name weist darauf hin, daß der Herr einstmals den Dämon Madhu tötete. Es gibt zahllose Namen Gottes, da Gott oft nach Seinen Taten benannt wird; und da Er zahllose Taten vollbringt, hat Er auch zahllose Namen. Selbst wir, die wir nur Teile Gottes sind, haben seit unserer Kindheit schon zahllose Taten ausgeführt, so viele, daß wir uns gar nicht an sie alle erinnern können. Der ewige Gott ist unbegrenzt, und weil deshalb auch Seine Taten unbegrenzt sind, hat Er unbegrenzt viele Namen, von denen Krsna der Hauptname ist. Aber warum nannte Arjuna Ihn dann Madhusudana, wo er Ihn als sein Freund direkt als Krsna hātte ansprechen können? Die Antwort lautet, daß Arjuna seinen
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Die Vollkommenheit des Yoga
Geist für einen großen Dämon hielt, vergleichbar mit dem Dämon Madhu; wenn es Krsna gelänge, diesen Dämon namens Geist zu töten, könnte er, Arjuna, die Vollkommenheit des yoga erlangen. „Mein Geist ist viel stārker als dieser Dämon Madhu", sagte Arjuna. „Bitte töte ihn, denn dann wird es mir möglich sein, diesem yoga-System zu folgen." Dies weist darauf hin, daß sogar der Geist einer großen Persönlichkeit wie Arjuna immer ruhelos ist. Arjuna selbst sagt: cancalam hi manah krsna pramāthi balavad drdham tasyāham nigraham manye vāyor iva su-duskaram „Denn der Geist ist ruhelos, stürmisch, widerspenstig und sehr stark, o Krsna, und ihn zu bezwingen erscheint mir schwieriger, als den Wind zu beherrschen." (Bg. 6.34) Es ist eine Tatsache, daß der Geist uns immer einredet, hierhin und dorthin zu gehen und dieses oder jenes zu tun. Unser ganzes Leben verlāuft nach dem Diktat des Geistes. Sinn und Zweck des yoga-Systems ist es deshalb, den ruhelosen Geist zu beherrschen. Im Meditationssystem des yoga wird der Geist dadurch beherrscht, daß man ihn auf die Überseele richtet - was das eigentliche Endziel des yoga ist. Arjuna jedoch entgegnet, daß es schwieriger sei, den Geist zu beherrschen, als den Wind aufzuhalten. Kann man sich vorstellen, daß jemand versuchen wird, mit ausgestreckten Armen einen Wirbelsturm aufzuhalten? Wir dürfen nicht denken, Arjuna sei einfach nicht fähig gewesen, den Geist zu beherrschen. In Wirklichkeit hatte Arjuna solch unermeßliche Eigenschaften und Fähigkeiten, daß wir nicht einmal beginnen können, sie uns vorzustellen. Immerhin war er ein persönlicher Freund der Höchsten Persönlichkeit Gottes. Dies ist eine sehr erhabene Stellung, die niemand erreichen kann, der nicht außergewöhnliche Qualitäten aufweist. Außerdem war Arjuna berühmt als großartiger Krieger und Politiker. Er war so intelligent, daß er die Bhagavad-gitā innerhalb einer Stunde verstehen konnte, wohingegen heutzutage große Gelehrte die Bhagavad-gitā nicht einmal verstehen, wenn sie sich ein ganzes Leben lang mit ihr auseinandersetzen. Dieser Arjuna aber war der Ansicht, daß es für ihn schlicht unmöglich
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sei, den Geist zu beherrschen. Wie können wir also glauben, daß das, was für Arjuna in einem fortgeschrittenen Zeitalter unmöglich war, für uns im gegenwärtigen degenerierten Zeitalter möglich sei? Wir sollten nicht für einen Augenblick denken, daß wir uns mit Arjuna vergleichen könnten. Wir sind ihm tausendmal unterlegen. Es gibt keinen Hinweis darauf, daß Arjuna jemals das yoga-System ausgeübt hat; aber dennoch bezeichnete Krsna Arjuna lobend als den einzigen, der würdig sei, die Bhagavad-gitā von Ihm zu vernehmen. Was war Arjunas einzigartige Eigenschaft? Sri Krsna sagt: „Weil du Mein Geweihter und Mein vertrauter Freund bist." (Bg. 4.3) Trotz dieser Eigenschaft weigerte sich Arjuna, dem Meditationssystem des yoga, das Sri Krsna beschrieben hatte, zu folgen. Was bedeutet das für uns? Müssen wir verzweifeln, weil es uns nie vergönnt sein wird, den Geist zu beherrschen? Nein, er kann beherrscht werden, und der Vorgang hierzu ist Krsna-Bewußtsein. Der Geist muß immer auf Krsna gerichtet sein. Gelingt es, den Geist auf Krsna zu richten, ist die Vollkommenheit des yoga erreicht. In diesem Zusammenhang ist es interessant, sich dem SrimadBhāgavatam zuzuwenden. Dort erklärt im Zwölften Canto Sukadeva Gosvāmi, daß die Menschen im goldenen Zeitalter, dem Satya-yuga, einhunderttausend Jahre alt wurden und daß es den fortgeschrittenen Persönlichkeiten jenes Zeitalters, die über eine solche Lebensdauer verfügten, möglich war, das Meditationssystem des yoga zu befolgen. Was im Satya-yuga durch den Vorgang der Meditation, im nachfolgenden yuga, dem Tretā-yuga, durch das Abhalten großer Opferzeremonien und im nächsten yuga, dem Dvāpara-yuga, durch Tempelverehrung erreicht werden konnte, erklärte Sukadeva Gosvāmi weiter, könne in unserem Zeitalter, dem Kali-yuga, einfach durch hari-kirtana, das Chanten der Namen Gottes, Hare Krsna, erreicht werden. Aus diesen autoritativen Quellen erfahren wir also, daß das Chanten von Hare Krsna, Hare Krsna, Krsna Krsna, Hare Hare / Hare Rāma, Hare Rāma, Rāma Rāma, Hare Hare im gegenwärtigen Zeitalter die Vollkommenheit des yoga verkörpert. Heute muß man froh sein, wenn man fünfzig oder sechzig Jahre alt wird; allerhöchstens lebt ein Mensch achtzig bis hundert Jahre. Darüber hinaus ist der Mensch immer von Ängsten und Sorgen erfüllt und hat mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen, die von Krie-
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gen, Epidemien, Hungersnöten und vielen anderen Störungen herrühren. Die Menschen sind weder sonderlich intelligent, noch sind sie glücklich. Dies sind die charakteristischen Eigenschaften der Menschen, die in diesem Zeitalter des Verfalls, dem Kali-yuga, leben. Daraus geht klar hervor, daß wir heutzutage mit dem yogaMeditationssystem, das Krsna beschrieb, nie Erfolg haben werden. Das einzige, was wir erreichen können, ist eine billige Imitation dieses Systems, um unsere persönlichen Launen zu befriedigen. So zahlen die Leute viel Geld, um an Kursen für gymnastische Übungen und Atemtechniken teilzunehmen, und es macht sie glücklich zu denken, daß sie ihr Leben um ein paar Jahre verlängern oder ihr Geschlechtsleben besser genießen können. Aber wir müssen uns im klaren darüber sein, daß dies nichts mit dem ursprünglichen yogaSystem zu tun hat. Im gegenwärtigen Zeitalter kann dieses Meditationssystem nicht mehr richtig ausgeübt werden. Heute jedoch kann dieselbe Vollkommenheit, die durch dieses System zu erreichen war, durch bhakti-yoga, den erhabenen Vorgang des Krsna-Bewußtseins, erreicht werden. Große Autoritäten wie Caitanya Mahāprabhu haben daher insbesondere mantra-yoga, die Verherrlichung Sri Krsnas durch das Chanten von Hare Krsna, eingeführt, wie es in den vedischen Schriften empfohlen wird. In der Tat, die Bhagavadgitā erklärt, daß die mahātmās, die großen Seelen, ständig die Herrlichkeiten des Herrn chanten. Wenn man nach dem Maßstab der vedischen Schriften, der Bhagavad-gitā und der großen Autoritäten ein mahātmā sein will, muß man den Vorgang des Krsna-Bewußtseins und des Chantens von Hare Krsna annehmen. Wenn man sich freilich mit einer Pseudo-Meditation zufriedengibt und aufrecht im Lotossitz wie eine Art Schauspieler in Trance versinkt, ist das etwas anderes. Es muß uns allerdings bewußt sein, daß eine solche oberflächliche yoga-Show nichts mit der wahren Vollkommenheit des yoga zu tun hat. Die Krankheit des materiellen Daseins kann nicht durch eine künstliche Medizin geheilt werden; wir müssen die richtige Medizin direkt von Krsna annehmen.
2. KAPITEL
Yoga als Arbeit in Hingabe Wir mögen bereits die Namen verschiedenster Formen von yoga und verschiedenster yogis gehört haben, aber in der Bhagavad-gitā sagt Krsna, daß der wahre yogi derjenige ist, der sich „vollständig Mir" hingegeben hat. Krsna erklärt, daß zwischen Entsagung (sannyāsa) und yoga kein Unterschied besteht. yam sannyāsam iti prāhur yogam tarn viddhi pāndava na hy asannyasta-sankalpo yogf bhavati kascana „Das, was man als Entsagung bezeichnet, ist das gleiche wie yoga, der Vorgang, sich mit dem Höchsten zu verbinden; denn niemand kann ein yogi werden, solange er nicht dem Wunsch nach Sinnenbefriedigung entsagt." (Bg. 6.2) In der Bhagavad-gitā werden drei grundlegende Arten von yoga beschrieben: karma-yoga, jnāna-yoga und bhakti-yoga. Diese verschiedenen yoga-Systeme können mit den Stufen einer Treppe verglichen werden. Es gibt yogis, die auf der untersten Stufe stehen, andere, die bis zur Hälfte emporgestiegen sind, und wieder andere, die sich auf der höchsten Stufe befinden. Je nach der Stufe, auf der man steht, wird man als karma-yogi, jnāna-yogi usw. bezeichnet. In allen Fāllen ist der Dienst für den Höchsten Herrn der gleiche, nur die Stufen sind verschieden. Deshalb sagt Sri Krsna zu Arjuna, daß Entsagung (sannyāsa) und yoga dasselbe sind, da man, ohne vom Wunsch nach Sinnenbefriedigung frei zu sein, weder ein yogi noch ein sannyāsi sein kann. 249
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Es gibt yogis, die yoga für materiellen Gewinn ausüben, doch das ist nicht echter yoga. Alles muß im Dienst des Herrn verwendet werden. Alles, was wir als gewöhnliche Arbeiter, sannyasis, yogis oder als Philosophen tun, muß im Krsna-Bewußtsein verrichtet werden. Wenn wir unsere Gedanken ausschließlich auf Krsnas Dienst richten und in diesem Bewußtsein handeln, können wir echte sannyasis und yogis werden. Wenn man anfāngt, die yoga-Treppe emporzusteigen, erwartet einen praktische Arbeit. Man sollte nicht denken, daß man aufhören müsse, tätig zu sein, nur weil man sich dem yoga zuwendet. In der Bhagavad-gitā fordert Krsna Arjuna auf, ein yogi zu werden, aber Er sagt ihm niemals, daß er aufhören solle zu kämpfen - ganz im Gegenteil. Natürlich kann man sich hier fragen, wie jemand ein yogi und gleichzeitig ein Krieger sein kann. Unsere Vorstellung von yoga ist, daß man mit gekreuzten Beinen und geradem Rücken dasitzt und mit halbgeschlossenen Augen auf die Nasenspitze starrt, um sich auf diese Weise an einem abgeschiedenen Ort in Meditation zu versenken. Wie kann Krsna Arjuna auffordern, ein yogi zu werden und gleichzeitig an einem schrecklichen Bürgerkrieg teilzunehmen? Darin besteht das Geheimnis der Bhagavad-gitā: Man kann ein Krieger sein und gleichzeitig der höchste yogi und sannyāsi. Nur im Krsna-Bewußtsein ist das möglich. Man muß einfach für Krsna kämpfen, für Krsna arbeiten, für Krsna essen, für Krsna schlafen und Krsna alle Tätigkeiten weihen. Auf diese Weise wird man der höchste yogi und der höchste sannyāsi. Im Sechsten Kapitel der Bhagavad-gitā unterweist Sri Krsna Arjuna, wie man sich in der yoga-Meditation übt. Aber Arjuna weist dieses System zurück, da es ihm zu schwierig erscheint. Wie kann man dann sagen, daß Arjuna ein großer yogi sei? Obgleich Krsna sah, daß Arjuna das Meditationssystem zurückwies, bezeichnete Er Arjuna dennoch als den höchsten yogi, denn: „Du denkst immer an Mich." An Krsna zu denken ist die Essenz aller yoga-Systeme: des hatha-, karma-, jnāna- und bhakti-yoga sowie aller anderen Systeme von yoga, Opfer und Wohltätigkeit. Alle Tätigkeiten, die für spirituelle Verwirklichung empfohlen sind, gipfeln im Krsna-Bewußtsein, der ununterbrochenen Meditation über Krsna. Die wahre Vollkommenheit
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des menschlichen Lebens besteht darin, immer Krsna-bewußt zu sein und sich bei allen Tätigkeiten, die man ausführt, ständig an Krsna zu erinnern. Auf der vorbereitenden Stufe wird empfohlen, immer für Krsna zu arbeiten. Man muß sich ununterbrochen nach einer Pflicht oder Beschäftigung umschauen, denn es ist schlecht, auch nur eine Sekunde trāge zu verbringen. Wenn sich durch solche Betätigung wirklicher Fortschritt einstellt, arbeitet man unter Umstānden nicht mehr physisch, doch ist man innerlich immer aktiv, indem man ununterbrochen an Krsna denkt. Wenn man sich allerdings noch nicht auf dieser Stufe befindet, lautet der Ratschlag immer, die Sinne in Krsnas Dienst zu beschäftigen. Es gibt eine große Vielfalt von Tätigkeiten, die man in Krsnas Dienst verrichten kann, und die Internationale Gesellschaft für Krsna-Bewußtsein hat das Ziel, strebsamen Gottgeweihten in diesen Tätigkeiten behilflich zu sein. Für diejenigen, die sich im Krsna-Bewußtsein betätigen, hat der Tag nicht genügend Stunden, so sehr sind sie in Krsnas Dienst vertieft. Sowohl wāhrend des Tages als auch wāhrend der Nacht stehen immer verschiedenste Tätigkeiten an, und die Studenten des KrsnaBewußtseins führen sie voller Freude aus. Das ist die Stufe wahren Glücks: immer für Krsna beschäftigt zu sein, um Krsna-Bewußtsein auf der ganzen Welt zu verbreiten. In der materiellen Welt wird man sehr müde, wenn man ununterbrochen arbeitet, aber wenn man im Krsna-Bewußtsein arbeitet, kann man vierundzwanzig Stunden am Tag Hare Krsna chanten und sich im hingebungsvollen Dienst betätigen, ohne jemals müde zu werden. Wenn wir jedoch weltliche Klangschwingungen aussprechen, fühlen wir uns schnell erschöpft. Auf der spirituellen Ebene gibt es keine Müdigkeit, denn die spirituelle Ebene ist absolut. In der materiellen Welt arbeitet jeder für sich selbst, und der Gewinn der Arbeit wird dazu verwandt, die eigenen Sinne zu befriedigen. Doch ein echter yogi wünscht sich nicht solche Früchte. Er wünscht sich nichts anderes als Krsna, und Krsna ist bereits gegenwärtig.
3. KAPITEL
Yoga als Meditation über Krsna In Indien gibt es viele heilige Orte, wohin sich die yogis - im Einklang mit der Anweisung der Bhagavad-gitā - zurückziehen, um in Abgeschiedenheit zu meditieren. Wāhrend yoga traditionsgemäß nicht an einem öffentlichen Ort praktiziert werden kann, gilt gerade das Gegenteil für kirtana - den mantra-yoga oder yoga des Chantens des Hare-Krsna-mantra: Hare Krsna, Hare Krsna, Krsna Krsna, Hare Hare / Hare Rāma, Hare Rāma, Rāma Rāma, Hare Hare. Je mehr Menschen daran teilnehmen, desto besser. Als Sri Caitanya Mahāprabhu vor fünfhundert Jahren in Indien kirtana veranstaltete, formierte Er die einzelnen Gruppen so, daß in jeder sechzehn Gottgeweihte gemeinsam vorsangen, während ihnen Tausende von Menschen folgten und im Wechselgesang antworteten. Im gegenwärtigen Zeitalter ist es sehr praktisch und einfach, am kirtana, dem öffentlichen Chanten der Namen und Herrlichkeiten Gottes, teilzunehmen; der Meditationsvorgang des yoga hingegen ist sehr schwierig. In der Bhagavad-gitā wird insbesondere darauf hingewiesen, daß man sich an einen abgeschiedenen, heiligen Ort zurückziehen muß, um yoga-Meditation auszuüben. Mit anderen Worten, es ist erforderlich, daß man das eigene Heim verläßt. Im gegenwärtigen Zeitalter der Überbevölkerung ist es nicht immer möglich, einen abgeschiedenen Ort zu finden; aber beim bhakti-yoga ist dies auch gar nicht nötig. Im System des bhakti-yoga gibt es neun verschiedene Vorgänge: hören, chanten, sich erinnern, dienen, die Bildgestalt im Tempel verehren, beten, Anweisungen ausführen, Krsna als Freund dienen und Ihm alles hingeben. Von all diesen Vorgängen gelten sravanam 252
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und kirtanam, Hören und Chanten, als die wichtigsten. Bei einem öffentlichen kirtana chantet der Vorsänger Hare Krsna, Hare Krsna, Krsna Krsna, Hare Hare / Hare Rāma, Hare Rāma, Rāma Rāma, Hare Hare, während die anderen zuhören; nachdem der Vorsänger den mantra beendet hat, singen die anderen. Auf diese Weise wechseln Hören und Chanten einander ab. Dies kann überall problemlos durchgeführt werden: zu Hause, mit einer kleinen Gruppe von Freunden oder zusammen mit vielen Menschen auf einem großen öffentlichen Platz. Man kann zwar versuchen, in einer Großstadt oder in einem Verein yoga-Meditation auszuüben, aber man muß sich dabei im klaren sein, daß dies eine eigene Erfindung ist und nichts mit der Methode zu tun hat, die in der Bhagavad-gitā empfohlen wird. Der gesamte Vorgang des yoga ist zur Läuterung bestimmt. Und worin besteht diese Läuterung? Läuterung hat die Erkenntnis der wahren Identität des Selbst zur Folge, das heißt die Erkenntnis: „Ich bin eine reine spirituelle Seele. Ich bin nicht der materielle Körper." Aufgrund materieller Verunreinigung identifizieren wir uns mit Materie und glauben, wir seien der Körper, doch um echten yoga auszuüben, muß man erkennen, daß die ursprüngliche Identität des Selbst von Materie verschieden ist. Auch der Meditationsvorgang, bei dem man sich an einen abgeschiedenen Ort zurückziehen muß, hat das Ziel, zu dieser Erkenntnis zu gelangen. Dieses Ziel kann jedoch nur erreicht werden, wenn man den Vorgang richtig ausführt. In diesem Zusammenhang weist Sri Caitanya auf folgendes hin: harer nāma harer nāma harer nāmaiva kevalam kalau nāsty eva nāsty eva nāsty eva gatir anyathā „Im gegenwärtigen Zeitalter des Streites und der Unstimmigkeit [Kali-yuga] gibt es keinen anderen Weg zu spiritueller Erkenntnis als das Chanten der heiligen Namen. Es gibt keinen anderen Weg, es gibt keinen anderen Weg, es gibt keinen anderen Weg." Im allgemeinen herrscht die Vorstellung, zumindest im Westen, yoga bedeute Meditation über das Nichts. Die vedischen Schriften
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hingegen empfehlen nirgendwo Meditation über das Nichts; vielmehr erklären sie, daß yoga Meditation über Visnu bedeutet, was auch von der Bhagavad-gitā bestätigt wird. In vielen yoga-Zentren versammeln sich Leute, um im Lotossitz, mit hohlem Kreuz und geschlossenen Augen zu „meditieren" - gewöhnlich aber nicken dabei fünfzig Prozent von ihnen ein. Denn wenn man die Augen schließt, ohne über einen konkreten Inhalt zu meditieren, schlāft man ein, und das empfiehlt Krsna in der Bhagavad-gitā natürlich nicht. Man muß mit geradem Rücken dasitzen, und die Augen dürfen nur halb geschlossen sein, so daß man sich auf die Nasenspitze konzentrieren kann; wenn man nicht allen Unterweisungen genau folgt, wird Schlaf die Folge sein und sonst nichts. Manchmal kommt es freilich vor, daß jemand sogar wāhrend des Schlafens meditiert, aber dies ist nicht der empfohlene yoga-Vorgang. Um wach zu bleiben, empfiehlt Krsna deshalb, den Blick immer auf die Nasenspitze gerichtet zu halten. Des weiteren muß man immer ausgeglichen sein. Wenn der Geist aufgewühlt ist oder viele Dinge um uns herum geschehen, wird es nicht möglich sein, sich zu konzentrieren. In der yoga-Meditation muß man auch frei von Angst sein, denn wenn man sich dem spirituellen Leben zuwendet, sollte es keine Ursachen für Angst mehr geben. Darüber hinaus muß man auch brahmacāri sein, das heißt völlig frei von jeglicher geschlechtlicher Betätigung. Man kann nicht meditieren und gleichzeitig von sinnlichen Wünschen beeinflußt sein. Erst wenn keine solchen Wünsche mehr da sind und man das System vorschriftsgemäß befolgt, wird man in der Lage sein, den Geist zu beherrschen. Nachdem man alle für die Meditation erforderlichen Bedingungen erfüllt hat, muß man seine Gedanken auf Krsna oder Visnu richten - und nicht auf das Nichts. Deshalb weist Krsna darauf hin, daß jemand, der sich tatsāchlich in die yoga-Meditation versenkt, „immer an Mich denkt". Ein yogi muß offensichtlich viele Schwierigkeiten überwinden, um den ātmā (Körper, Geist und Seele) zu läutern. Es ist jedoch eine Tatsache, daß dasselbe Ziel im gegenwärtigen Zeitalter auf die wirksamste Weise erreicht werden kann, wenn man einfach die heiligen Namen des Herrn chantet: Hare Krsna, Hare Krsna, Krsna Krsna, Hare Hare / Hare Rāma, Hare Rāma, Rāma Rāma, Hare Hare. Dies ist möglich, weil die transzendentale Klangschwingung des Hare-
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Krsna-mantra nicht von Krsna verschieden ist. Wenn wir Seinen Namen mit Hingabe chanten, wird Krsna mit uns sein. Wie können wir dann noch unrein bleiben? Wer daher ins Krsna-Bewußtsein vertieft ist, Krsnas Namen chantet und Krsna immer dient, erhālt die Ergebnisse der höchsten Form des yoga, ohne jedoch all die Schwierigkeiten des Meditationsvorgangs auf sich nehmen zu müssen. Das ist die Schönheit des Krsna-Bewußtseins. Beim yoga ist es erforderlich, alle seine Sinne zu beherrschen; und wenn man dies geschafft hat, muß man seinen Geist so ausrichten, daß er immer an Visnu denkt. Nachdem man auf diese Weise das materielle Leben hinter sich gelassen hat, findet man Frieden. jitātmanah prasāntasya paramātmā samāhitah „Für jemanden, der den Geist bezwungen hat, ist die Überseele bereits erreicht, denn er hat Ausgeglichenheit erlangt." (Bg. 6.7) Die materielle Welt wird mit einem großen Waldbrand verglichen. Wie im Wald manchmal ein Feuer von selbst ausbricht, so tobt in der materiellen Welt immer eine Feuersbrunst, und es brechen Brände aus, obwohl wir versuchen, in Frieden zu leben. Nirgendwo in der materiellen Welt ist es möglich, in Frieden zu leben; doch wer sich auf der transzendentalen Ebene befindet - sei es durch das Meditationssystem des yoga, durch die empirisch-philosophische Methode oder durch bhakti-yoga -, kann Frieden finden. Wenngleich alle Formen des yoga das Ziel haben, den Menschen zum transzendentalen Leben zu führen, erweist sich im gegenwärtigen Zeitalter der Vorgang des Chantens als besonders wirksam. Man kann für mehrere Stunden an einem kirtana teilnehmen, ohne zu ermüden, aber es ist sehr schwierig, auch nur für wenige Minuten völlig regungslos in der Lotosstellung dazusitzen. Wenn man jedoch - über welchen Vorgang auch immer -, das Feuer des materiellen Lebens zu löschen vermag, erfāhrt man nicht nur das, was unpersönliches Nichts genannt wird; vielmehr gelangt man in das höchste Reich, wie Krsna Arjuna offenbart: yunjann evam sadatmanam yogi niyata-mānasah
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„Indem sich der mystische Transzendentalist auf diese Weise stāndig darin übt, Körper, Geist und Tätigkeiten zu beherrschen, beendet er das materielle Dasein, da sein Geist reguliert ist, und erreicht das Königreich Gottes." (Bg. 6.15) Krsnas Reich ist nicht leer. Es gleicht einem Königshof, und „Königshof" bedeutet, daß verschiedenste Aktivitäten stattfinden. Ein erfolgreicher yogi erreicht das Königreich Gottes, das von spiritueller Vielfalt erfüllt ist. Die unterschiedlichen Formen des yoga sind nichts anderes als verschiedene Vorgänge, um in dieses Reich zu gelangen. In Wirklichkeit gehören wir in dieses Reich, aber aufgrund unseres Vergessens werden wir in die materielle Welt versetzt. Genau wie ein Verrückter, der an einer Geisteskrankheit leidet, in ein Irrenhaus gebracht wird, so sind auch wir, die wir unsere spirituelle Identität vergessen haben, wie Verrückte und wurden deshalb in die materielle Welt versetzt. Die materielle Welt kann mit einer Art Irrenhaus verglichen werden; und es läßt sich nicht verheimlichen, daß hier eigentlich nichts auf sonderlich vernünftige Weise getan wird. Unsere wirkliche Aufgabe ist es, die materielle Welt zu verlassen und in das Königreich Gottes zurückzukehren. In der Bhagavad-gitā spricht Krsna über dieses Königreich und auch über Seine eigene Stellung und die der Lebewesen. Dadurch erfahren wir genau, was Gott ist und was wir sind. Die Bhagavad-gitā enthält alle notwendigen Informationen, und ein vernünftiger Mensch wird sich dieses Wissen zunutze machen.
4. KAPITEL
Yoga als Mittel der Selbstkontrolle In der Bhagavad-gitā ermutigt Krsna Arjuna immer wieder zum Kampf, da Arjuna ein Krieger ist und Kämpfen zu seinen Pflichten gehört. Obwohl Krsna im Sechsten Kapitel das System der yoga-Meditation erklärt, legt Er keinen besonderen Nachdruck darauf und ermutigt Arjuna auch nicht, diesen Pfad einzuschlagen. Krsna räumt vielmehr ein, daß dieser Meditationsvorgang sehr schwierig ist: sri-bhagavān uvāca asamsayam mahā-bāho mano durnigraham calam abhyāsena tu kaunteya vairāgyena ca grhyate „Der Höchste Herr, Sri Krsna, sprach: O starkarmiger Sohn Kuntis, es ist zweifellos sehr schwierig, den ruhelosen Geist zu zügeln, aber durch geeignete Übung und Loslösung ist es möglich." (Bg. 6.35) In diesem Vers betont Krsna, daß Übung und Entsagung die Mittel sind, um den Geist zu beherrschen. Aber was versteht man unter Entsagung? Diese Frage ist berechtigt, denn heutzutage ist es uns praktisch unmöglich, irgendwelchen Dingen zu entsagen, da wir uns so sehr an die verschiedensten materiellen Sinnenfreuden gewöhnt haben. Trotz eines ausschweifenden, sinnlichen Lebens nehmen viele Menschen an yoga-Kursen teil und hoffen auf Erfolg. Um richtig yoga zu praktizieren, müßte man zahlreichen Regeln und Vorschriften folgen, doch vielen gelingt es kaum, auch nur das das Rauchen aufzugeben. Als Krsna das System der yoga-Meditation beschrieb, wies Er darauf hin, daß man yoga nicht richtig ausüben 257
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kann, wenn man zuviel oder zuwenig ißt. Wer sich mit Fasten quält, kann ebensowenig richtigen yoga ausüben wie jemand, der mehr ißt, als er braucht. Die Ernährung sollte maßvoll sein, das heißt, man sollte nur so viel essen, wie erforderlich ist, um Körper und Seele zusammenzuhalten; nur der Gaumenfreude zuliebe sollte man also nicht essen. Wenn uns köstliche Speisen angeboten werden, begnügen wir uns meistens nicht mit einer Zubereitung, sondern sind es gewohnt, zwei, drei, vier oder noch mehr auszuprobieren, denn die Zunge gibt sich nie zufrieden. In Indien ist es jedoch nicht selten, daß man einen yogi sieht, der pro Tag nichts weiter als einen kleinen Löffel voll Reis zu sich nimmt. Ebensowenig ist es möglich, yoga-Meditation auszuüben, wenn man zu viel oder zu wenig schlāft. Krsna sagt nirgendwo, daß es so etwas wie traumlosen Schlaf gibt. Sobald wir einschlafen, werden wir träumen, selbst wenn wir uns nicht daran erinnern können. In der Gitā weist Krsna indes darauf hin, daß man nicht richtig yoga praktizieren kann, wenn man wāhrend des Schlafens zuviel träumt; deshalb sollte man nicht mehr als sechs Stunden täglich schlafen. Aber auch jemand, der unter Schlaflosigkeit leidet und nachts nicht genügend schläft, kann nicht erfolgreich yoga ausüben, da man für yoga einen funktionstüchtigen Körper braucht. Auf diese Weise beschreibt Krsna viele Bedingungen, die man für eine erfolgreiche Beherrschung des Körpers erfüllen muß. Die Vielzahl dieser Bedingungen läßt sich jedoch grundsätzlich in folgenden vier Vorschriften zusammenfassen: kein unzulässiges Geschlechtsleben, keine Berauschung, kein Essen von Fleisch und kein Glücksspiel. Dies ist das Minimum an Vorschriften, das man in jeder Form des yoga einhalten muß. Wer aber kann im gegenwärtigen Zeitalter von diesen Betätigungen Abstand nehmen? Doch genau an diesen Maßstäben müssen wir unseren Erfolg im yoga messen. yogi yunjita satatam ātmānam rahasi sthitah ekāki yata-cittātmā nirāsir aparigrahah „Ein Transzendentalist sollte seinen Körper, seinen Geist und sein Selbst immer in Beziehung zum Höchsten beschāftigen; er sollte al-
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lein an einem einsamen Ort leben und seinen Geist stets sorgfāltig beherrschen. Er sollte von Wünschen und Gefühlen der Besitzgier frei sein." (Bg. 6.10) Aus diesem Vers wird ersichtlich, daß es die Pflicht eines yogi ist, immer allein zu bleiben. Yoga-Meditation kann nicht innerhalb einer Gruppe ausgeführt werden - zumindest nicht, wenn man den Anweisungen der Bhagavad-gitā folgen will. In diesem System der Meditation ist es nur dann möglich, den Geist auf die Überseele zu richten, wenn man sich an einen abgeschiedenen Ort zurückzieht. In Indien gibt es auch heute noch viele yogis und Weise, die in völliger Einsamkeit leben; nur in seltenen Fāllen treten sie an die Öffentlichkeit, um an besonderen Festen teilzunehmen, wie zum Beispiel an der Kumba Melā, die alle zwölf Jahre in Allahabad oder an einem anderen heiligen Ort stattfindet. Dort versammeln sich diese yogis, genauso wie sich in Amerika Geschäftsleute bei einer Konferenz treffen. Es genügt jedoch nicht, in der Einsamkeit zu leben; der yogi muß auch von materiellen Wünschen frei sein und sollte nicht die Absicht hegen, durch yoga materielle Kräfte zu erlangen. Ebenso sollte er von den Menschen keine Geschenke oder Dienste entgegennehmen. Wenn der yogi seine Meditation ernst nimmt, lebt er irgendwo allein im Dschungel, in den Wäldern oder Bergen und zieht sich von der Gesellschaft völlig zurück. Er muß sich immer vor Augen halten, für wen er ein yogi geworden ist. Dann fühlt er sich auch nie allein, da er weiß, daß der Paramātmā, die Überseele, ständig bei ihm ist. Dies alles zeigt uns, daß es in der modernen Gesellschaft tatsāchlich sehr schwierig ist, diese Form der Meditation richtig auszuüben; ja die Zivilisation des gegenwärtigen Zeitalters, des Kali-yuga, macht es einem sogar unmöglich, allein zu sein und ohne Wünsche und Besitz zu leben. Im weiteren Verlauf des Gespräches mit Arjuna erwähnt Krsna verschiedene Einzelheiten, die bei der yoga-Meditation beachtet werden müssen. Wörtlich sagt Sri Krsna: sucau dese pratisthapya sthiram āsanam ātmanah nāty-ucchritam nāti-nicam cailājina-kusottaram
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Die Vollkommenheit des Yoga tatraikāgram manah krtvā yata-cittendriya-kriyah upavisyāsane yunjyād yogam ātma-visuddhaye
„Um yoga zu praktizieren, sollte man an einen einsamen Ort gehen, kusa-Gras auf den Boden legen und es mit einem Rehfell und einem weichen Tuch bedecken. Der Sitz sollte nicht zu hoch und nicht zu niedrig sein, und er sollte sich an einem heiligen Ort befinden. Der yogi sollte fest darauf sitzen und sich in den Vorgang des yoga vertiefen, um sein Herz zu lāutern, indem er seinen Geist, seine Sinne und seine Tätigkeiten beherrscht und den Geist auf einen Punkt fixiert." (Bg. 6.11-12) Im allgemeinen sitzen yogis auf einem Tiger- oder Rehfell, damit ihre Meditation nicht von irgendwelchen Kriechtieren gestört wird, denn diese Tiere meiden solche Felle. So sehen wir, daß in Gottes Schöpfung alles einen Nutzen hat. Jeder Grashalm und jedes Kraut hat seine ganz bestimmte Aufgabe und dient irgendeinem Zweck, selbst wenn wir uns dessen nicht bewußt sind. Hier erfahren wir aus der Bhagavad-gitā, daß Krsna auch für die yogis eine Vorkehrung getroffen hat, damit sie nicht von Schlangen gestört werden. Nachdem der yogi sich in der Abgeschiedenheit auf einem geeigneten Sitzplatz niedergelassen hat, beginnt er mit der Läuterung des ātmā (Körper, Geist und Seele). Der yogi sollte nicht danach trachten, mystische Kräfte zu erlangen. Obwohl yogis zuweilen tatsächlich gewisse siddhis, mystische Kräfte, entwickeln, ist dies nicht das eigentliche Ziel des yoga. Deshalb entfaltet ein echter yogi diese Kräfte nicht, sondern denkt: „Da ich durch materielle Einflüsse verunreinigt bin, muß ich mich nun lāutern." Aus diesen Beschreibungen wird schnell ersichtlich, daß die Beherrschung des Geistes und des Körpers nicht einfach ist und mehr verlangt, als in ein Geschäft zu gehen, wo man sich alles Gewünschte kaufen kann. Krsna weist allerdings darauf hin, daß einem das Befolgen dieser Regeln sehr leicht fāllt, wenn man Krsna-bewußt ist. Es bleibt jedoch eine Tatsache, daß jeder in dieser Welt vom Geschlechtstrieb motiviert ist. Doch das Geschlechtsleben muß deshalb nicht verteufelt werden. Solange wir einen materiellen Kör-
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per haben, gibt es auch sexuelle Wünsche; außerdem müssen wir essen, um den Körper am Leben zu erhalten, und schlafen, um ihm Ruhe zu gönnen. Wir können diese Tätigkeiten nicht einfach verneinen, und daher geben uns die vedischen Schriften Richtlinien, wie wir Essen, Schlafen, Fortpflanzung usw. regulieren können. Wenn es tatsāchlich unser Wunsch ist, im yoga Erfolg zu haben, dürfen wir nicht zulassen, daß die ungezügelten Sinne uns zum Genuß der Sinnesobjekte verleiten; deshalb werden Richtlinien festgelegt. Sri Krsna erklärt, daß der Geist durch Regulierung beherrscht werden kann. Lernen wir es nicht, unsere Tätigkeiten zu regulieren, wird unser Geist immer ruheloser werden. Die Tätigkeiten müssen nicht eingestellt, sondern in die richtigen Bahnen gelenkt werden, und zwar durch ständige Beschäftigung des Geistes im Krsna-Bewußtsein. Konstant in Verbindung mit Krsna tätig zu sein ist wahrer samādhi. Es stimmt nicht, daß jemand, der samādhi erreicht hat, nicht mehr ißt, arbeitet, schlāft oder an nichts mehr Freude findet. In Wirklichkeit bedeutet samādhi die Ausführung regulierter Tätigkeiten, wāhrend man völlig in Gedanken an Krsna versunken ist. asamyatātmanā yogo dusprāpa iti me matih vasyātmanā tu yatatā sakyo 'vāptum upāyatah „Für einen Menschen mit ungezügeltem Geist", fāhrt Krsna fort, „ist Selbstverwirklichung ein schwieriges Unterfangen." (Bg. 6.36) Jeder weiß, daß es sehr gefährlich ist, auf einem ungezügelten Pferd zu reiten. Es kann unverhofft in irgendeine Richtung ausbrechen, so daß dem Reiter höchstwahrscheinlich etwas zustoßen wird. Wenn der Geist ungezügelt ist, ist es tatsächlich sehr schwierig, dem yogaSystem zu folgen; insofern ist Krsna mit Arjuna einer Meinung. „Aber", fügt Krsna hinzu, „demjenigen, dessen Geist beherrscht ist und der sich mit geeigneten Mitteln bemüht, ist der Erfolg sicher. Das ist Meine Meinung." (Bg. 6.36) Was versteht man unter „sich mit geeigneten Mitteln bemühen"? Es bedeutet, daß man versuchen muß, den vier bereits erwähnten grundlegenden regulierenden Prinzipien zu folgen und bei allen Tätigkeiten ins Krsna-Bewußtsein vertieft zu sein.
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Wenn man zu Hause yoga praktizieren will, muß man sicherstellen, daß sich alle anderen Beschäftigungen im Rahmen halten. Man kann nicht täglich viele Stunden für harte Arbeit aufwenden, nur um sich den Lebensunterhalt zu verdienen. Alles muß maßvoll sein: das Arbeiten, das Essen und auch die Zufriedenstellung der Sinne. Ebenso sollte man sein Leben so gut wie möglich von Sorgen und Ängsten freihalten; denn nur so kann man in der Ausübung von yoga erfolgreich sein. Was sind die Merkmale, an denen man erkennen kann, ob jemand die Vollkommenheit im yoga erreicht hat? Krsna antwortet, daß sie derjenige erreicht hat, der seinen Geist völlig zu beherrschen vermag: yadā viniyatam cittam ātmany evāvatisthate nisprhah sarva-kāmebhyo yukta ity ucyate tadā „Wenn der yogi durch das Praktizieren von yoga die Tätigkeiten seines Geistes zügelt und sich - frei von materiellen Wünschen - auf die Ebene der Transzendenz erhebt, sagt man von ihm, er sei im yoga fest verankert." (Bg. 6.18) Wer im yoga verankert ist, wird nicht vom Diktat seines Geistes beherrscht, vielmehr beherrscht er den Geist. Das heißt jedoch nicht, daß die Tätigkeiten des Geistes verdrāngt oder abgetötet werden; denn es ist die Aufgabe des yogi, ohne Unterlaß an Krsna, Visnu, zu denken. Der yogi darf es seinem Geist nicht erlauben, davon abzuweichen. Dies mag sehr schwierig erscheinen, doch im Krsna-Bewußtsein wird es möglich. Wie kann der Geist von Krsna abschweifen, wenn man ständig im Krsna-Bewußtsein, im Dienste Krsnas, beschäftigt ist? In Krsnas Dienst wird der Geist automatisch beherrscht. Ein yogi sollte auch keine Wünsche nach materieller Sinnenbefriedigung haben. Wer Krsna-bewußt ist, wünscht sich nichts anderes als Krsna. Mit anderen Worten, es ist nicht möglich, wunschlos zu werden. Wāhrend der Wunsch nach Sinnenbefriedigung durch den Vorgang der Läuterung zu überwinden ist, muß gleichzeitig
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auch der Wunsch nach Krsna entwickelt werden. Man muß einfach das Ziel des Wunsches verändern. Es geht nicht darum, Wünsche abzutöten, denn die Seele hat immer Wünsche. Krsna-Bewußtsein ist der Vorgang, die Wünsche zu lāutern: Statt sich verschiedenste Dinge für die eigene Befriedigung zu wünschen, wünscht man sich einfach Dinge für Krsnas Dienst. Wir mögen uns zum Beispiel eine gute Mahlzeit wünschen, aber statt sie für uns selbst zuzubereiten, können wir sie für Krsna zubereiten und sie Ihm darbringen. Nicht die Handlung wird verändert, sondern das Bewußtsein. Man handelt nicht mehr in der Haltung: „Ich tue das für meine Sinne", sondern: „Ich tue das für Krsna." Es gibt viele vegetarische Zubereitungen aus Milch, Gemüse, Getreide, Früchten usw., die wir für Krsna kochen können, um sie Ihm dann mit folgendem Gebet darzubringen: „Der materielle Körper ist ein Ort der Unwissenheit, und die Sinne sind ein Netzwerk von Pfaden, die zum Tod führen. Von all diesen Sinnen ist die Zunge am ungestümsten und am schwierigsten zu beherrschen, ja es gibt nichts Schwierigeres in dieser Welt, als die Zunge zu zügeln. Deshalb hat uns Sri Krsna dieses wunderbare prasādam (spirituelle Nahrung) gegeben, damit wir lernen, die Zunge zu zügeln. Laßt uns also nun dieses prasādam zu unserer vollen Zufriedenheit einnehmen und die Herrlichkeit von Sri Sri Rādhā und Krsna besingen und in Liebe die Hilfe Sri Caitanyas und Nityānanda Prabhus anrufen!" Durch dieses Opfer kann unser karma überwunden werden, denn von allem Anfang an sind wir uns bewußt, daß wir die Speisen Krsna weihen werden. Wir sollten uns nicht wünschen, die Speisen selbst zu genießen. Krsna jedoch ist so barmherzig, daß Er uns die Speisen überlāßt, damit wir sie essen können. Auf diese Weise werden unsere Wünsche erfüllt. Wenn jemand sein ganzes Leben so gestaltet - indem er all seine Wünsche mit Krsnas Wünschen verbindet -, hat er die Vollkommenheit des yoga erreicht. Mit anderen Worten, einfach tief zu atmen und ein paar Körperübungen auszuführen ist gemäß der Bhagavad-gitā nicht yoga. Es bedarf einer vollkommenen Läuterung des Bewußtseins. Für richtigen yoga ist es sehr wichtig, daß der Geist nicht aufgewühlt ist.
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Die Vollkommenheit des Yoga yathā dipo nivāta-stho nengate sopamā smrtā yogino yata-cittasya yunjato yogam ātmanah
„So wie ein Licht an einem windstillen Ort nicht flackert, bleibt auch der Transzendentalist, dessen Geist beherrscht ist, in seiner Meditation über das transzendente Selbst immer ausgeglichen." (Bg. 6.19) Wenn sich eine Kerze an einem windstillen Ort befindet, ist ihre Flamme ruhig und flackert nicht. Der Geist ist wie die Flamme leicht beeinflußbar und reagiert schon auf den leisesten Hauch von materiellen Wünschen. Eine geringe Beeinflussung des Geistes kann bereits das gesamte Bewußtsein verändern. In Indien war es deshalb Tradition, daß ein ernsthafter yogi als brahmacāri im Zölibat lebte. Es gibt zwei Arten von brahmacāris: der eine lebt vollständig im Zölibat, und der andere ist ein grhastha-brahmacāri, das heißt, er ist verheiratet, er verkehrt mit keiner anderen Frau, und auch der Umgang mit seiner eigenen Frau ist genau geregelt. Durch Zölibat beziehungsweise eingeschränktes Geschlechtsleben kann eine Agitiertheit des Geistes vermieden werden. Und doch kann es sein, daß selbst der Geist eines Menschen, der das Gelübde des vollständigen Zölibats auf sich genommen hat, immer noch von sexuellen Wünschen erregt wird; daher ist es in Indien denjenigen, die den traditionellen yoga unter den strikten Gelübden des Zölibats ausüben, nicht einmal erlaubt, mit der eigenen Mutter, Schwester oder Tochter allein zusammenzusein. Der Geist ist so launenhaft und ungestüm, daß schon die geringste Erregung verheerende Folgen haben kann. Der yogi sollte seinen Geist so schulen, daß er in der Lage ist, ihn sogleich zurückzuholen, wenn er von der Meditation über Visnu abschweift. Dies erfordert große Übung. Der yogi muß erkannt haben, daß das wahre Glück in der Freude zu finden ist, die man durch die transzendentalen Sinne erfährt, und nicht in dem Genuß, den die materiellen Sinne bieten. Man muß weder die Sinne noch die Wünsche negieren, denn es gibt beides - Wünsche und Sinnengenuß auch in der spirituellen Sphäre. Wahres Glück ist transzendental zu materiellen, sinnlichen Erfahrungen. Wer davon nicht überzeugt ist,
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wird bestimmt wieder materiellen Einflüssen unterliegen und zu Fall kommen. Man muß sich deshalb bewußt sein, daß das Glück, das man sich von materieller Sinnenbefriedigung erhofft, nicht wirkliches Glück ist. Die echten yogis erfahren wahren Genuß. Doch worin besteht dieser Genuß? Ramante yogino 'nante: Ihr Genuß ist unbegrenzt, und dieser unbegrenzte Genuß ist wahres Glück, und solches Glück ist spirituell, nicht materiell. Das ist die eigentliche Bedeutung des Wortes Rāma, wie es im mantra Hare Rāma vorkommt. Rama bezieht sich auf den Genuß, den man durch spirituelles Leben erfāhrt. Das spirituelle Leben ist voller Freude, und Krsna ist voller Freude. Es geht nicht darum, die Freude zu verneinen, sondern sie auf richtige Weise zu erfahren. Ein Kranker kann das Leben nicht genießen; was er erfāhrt, ist falscher Genuß. Wenn er jedoch wieder gesund ist, kann er sich des Lebens freuen. Ebenso erfahren auch wir keinen wahren Genuß, solange wir in die materielle Lebensauffassung vertieft sind, sondern werden mehr und mehr in die materielle Natur verstrickt. Wenn ein Patient nicht essen darf, aber trotzdem maßlos ißt, verursacht er dadurch seinen eigenen Tod. Je mehr wir also den materiellen Genuß vergrößern, desto tiefer werden wir in die Welt verstrickt und desto schwieriger wird es, aus der materiellen Gefangenschaft auszubrechen. Alle yoga-Systeme haben das Ziel, die bedingte Seele aus dieser Gefangenschaft zu befreien und sie vom falschen Genuß materieller Dinge zum wahren Genuß des KrsnaBewußtseins zu führen. Sri Krsna sagt: yatroparamate cittam niruddham yoga-sevayā yatra caivātmanātmānam pasyann ātmani tusyati sukham ātyantikam yat tad buddhi-grāhyam atindriyam vetti yatra na caivāyam sthitas calati tattvatah yam labdhvā cāparam lābham manyate nādhikam tatah
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Die Vollkommenheit des Yoga yasmin sthito na duhkhena gurunāpi vicālyate tarn vidyād duhkha-samyogaviyogam yoga-samjnitam
„Auf der Stufe der Vollkommenheit, die man Trance oder samādhi nennt, wird der Geist durch das Praktizieren von yoga vollständig von allen materiellen gedanklichen Tätigkeiten abgehalten. Diese Vollkommenheit ist dadurch charakterisiert, daß man die Fähigkeit erlangt, durch den reinen Geist das Selbst zu sehen und im eigenen Selbst Freude und Zufriedenheit zu genießen. In diesem freudvollen Zustand erfährt man grenzenloses transzendentales Glück, das durch transzendentale Sinne empfunden wird. So verankert, weicht man niemals von der Wahrheit ab. Wenn man diese Stufe erreicht hat, ist man überzeugt, daß es keinen größeren Gewinn gibt. In einer solchen Stellung gerät man niemals, nicht einmal inmitten der größten Schwierigkeiten, ins Wanken. Dies ist in der Tat wirkliche Freiheit von allen Leiden, die aus der Berührung mit der Materie entstehen." (Bg. 6.20-23) Der eine yoga-Pfad mag schwierig sein und der andere leicht, doch in jedem Fall muß man sein Dasein lāutern, indem man erkennt, daß wahrer Genuß im Krsna-Bewußtsein zu finden ist. Dann wird man glücklich sein. yadā hi nendriyārthesu na karmasv anusajjate sarva-sankalpa-sannyāsi yogārüdhas tadocyate uddhared ātmanātmānam nātmānam avasādayet ātmaiva hy ātmano bandhur ātmaiva ripur ātmanah „Man sagt, jemand sei im yoga fortgeschritten, wenn er alle materiellen Wünsche aufgegeben hat und weder für Sinnenbefriedigung handelt noch fruchtbringenden Tätigkeiten nachgeht. Man sollte sich mit Hilfe seines Geistes befreien und nicht erniedrigen. Der
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Geist ist der Freund der bedingten Seele, aber auch ihr Feind." (Bg. 6.4-5) Wir müssen uns selbst bemühen, uns auf die spirituelle Ebene zu erheben. So gesehen bin ich mein eigener Freund oder mein eigener Feind. Wir haben die Wahl. In diesem Zusammenhang gibt es einen sehr schönen Vers von Cānakya Pāndita: „Niemand ist der Freund oder Feind eines anderen. Nur anhand des Verhaltens kann man erkennen, wer Freund und wer Feind ist." Mit anderen Worten, niemand wird als unser Feind geboren, und niemand wird als unser Freund geboren. Diese Rollen werden durch das gegenseitige Verhalten bestimmt. Wie man im Alltag zu anderen Menschen eine Beziehung hat, so hat man auch eine Beziehung zu sich selbst. Jeder kann sich selbst ein Freund oder ein Feind sein. Ich bin mein Freund, wenn ich erkenne, daß ich eine spirituelle Seele bin, die irgendwie in den Einflußbereich der materiellen Natur geraten ist, und dann versuche, so zu handeln, daß ich von der materiellen Verstrickung frei werde. Aber wenn ich diese Gelegenheit nicht nutze, selbst nachdem sie sich mir bietet, bin ich als mein größter Feind anzusehen. bandhur ātmātmanas tasya yenātmaivātmanā jitah anātmanas tu satrutve vartetātmaiva satru-vat „Für den, der den Geist bezwungen hat, ist der Geist der beste Freund; doch für den, der dies versäumt hat, bleibt der Geist der größte Feind." (Bg. 6.6) Wie ist es möglich, ein Freund seinerselbst zu werden? Dies wird hier erklärt. ātmā kann „Geist", „Körper" und „Seele" bedeuten. Wenn wir uns in der körperlichen Lebensauffassung befinden und von ātmā sprechen, meinen wir damit den Körper. Wenn wir die körperliche Lebensauffassung hinter uns lassen und uns auf die mentale Ebene erheben, bezieht sich ātmā auf den Geist. Sind wir aber auf der spirituellen Ebene verankert, bezieht sich ātmā auf die Seele. In Wirklichkeit sind wir reine spirituelle Seelen. Auf diese Weise kann das Wort ātmā - gemäß der spirituellen Entwicklung jedes einzelnen - unterschiedliche Bedeutungen haben. Das vedische Wörterbuch Nirukti erklärt, daß sich das Wort ātmā auf Körper, Geist
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und Seele beziehen kann, doch in diesem Vers der Bhagavad-gitā bedeutet ātmā „Geist". Wenn es gelingt, durch yoga den Geist zu schulen, ist er unser Freund; wird er hingegen nicht geschult, kann man unmöglich ein erfolgreiches Leben führen. Für jemanden, der vom spirituellen Leben keine Ahnung hat, ist der Geist ein Feind. Solange man sich für den Körper hālt, wird der Geist nicht für das eigene Wohl tätig sein, sondern bloß dem Interesse des physischen Körpers dienen, was einzig und allein dazu führt, daß das Lebewesen noch mehr verstrickt wird und immer tiefer in die materielle Gefangenschaft gerāt. Wenn man jedoch versteht, daß man eine spirituelle Seele jenseits des Körpers ist, kann der Geist eine befreiende Rolle spielen. Der Geist an sich hat nichts zu tun; er wartet einfach nur darauf, geschult zu werden, und am besten wird er durch Gemeinschaft geschult. Die Funktion des Geistes ist es zu wünschen, und Wünsche werden von der Gemeinschaft, in der wir uns befinden, geprägt. Deshalb müssen wir gute Gemeinschaft aufsuchen, wenn der Geist unser Freund sein soll. Die beste Gemeinschaft ist die eines sādhu, eines Krsna-bewußten Menschen, der nach spiritueller Verwirklichung strebt. Diejenigen, die an vergänglichen Dingen (asat), der Materie und dem Körper, interessiert sind, streben nur nach körperlichen Annehmlichkeiten und werden auf diese Weise von vergänglichen Dingen gefangen. Wer sich jedoch um Selbstverwirklichung bemüht, bemüht sich um etwas Beständiges (sat). Es ist deshalb nur natürlich, daß ein intelligenter Mensch die Gemeinschaft derer sucht, die auf einem der yoga-Pfade nach Selbstverwirklichung streben. Solche sādhus (selbstverwirklichte Seelen) werden in der Lage sein, uns vom Verlangen nach weltlicher Gemeinschaft zu befreien. Dies ist der große Vorteil guter Gemeinschaft. Krsna beispielsweise sprach die Bhagavadgitā zu Arjuna, um seine Anhaftung an materielle Zuneigung zu durchtrennen. Weil Arjuna an äußerlichen Bindungen hing, die ihn an der Erfüllung seiner Pflicht hinderten, durchtrennte Krsna diese Bindungen. Um etwas zu durchtrennen, braucht man ein scharfes Messer, und um den Geist von seinen Anhaftungen zu befreien, sind oft scharfe Worte erforderlich. Der sādhu, der Lehrer, zeigt kein
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Mitleid, wenn es darum geht, den Geist des Schülers mit Hilfe scharfer Worte von seinen materiellen Anhaftungen zu trennen; denn dadurch, daß er kompromißlos die Wahrheit spricht, gelingt es ihm, die Fesseln des Schülers zu durchschneiden. Zu Beginn der Bhagavad-gitā beispielsweise richtet Krsna scharfe Worte an Arjuna, indem Er ihm sagt, er sei ein großer Dummkopf, obwohl er wie ein Gelehrter zu sprechen scheine. Wenn wir tatsāchlich Loslösung von der materiellen Welt wünschen, müssen wir bereit sein, vom spirituellen Meister solch schneidende Worte entgegenzunehmen. Kompromisse und Schmeicheleien zeigen keine Wirkung, wo ein schärferer Ton vonnöten ist. An vielen Stellen der Bhagavad-gitā wird die materielle Lebensauffassung verurteilt. Wer denkt, das Land seiner Geburt sei verehrungswürdig, oder wer heilige Orte besucht, ohne den dort lebenden sādhus Beachtung zu schenken, wird mit einem Esel verglichen. Genauso wie ein Feind einem immer Schaden zufügen will, wird auch der ungeschulte Geist einen immer tiefer in die materielle Verstrickung hineinziehen. Die bedingten Seelen kämpfen hart mit dem Geist und den anderen Sinnen; da aber der Geist die Sinne lenkt, ist es von höchster Wichtigkeit, den Geist zum Freund zu machen. jitātmanah prasāntasya paramātmā samāhitah sitosna-sukha-duhkhesu tathā-mānāpamānayoh „Wer den Geist bezwungen hat, hat die Überseele bereits erreicht, denn er hat Ausgeglichenheit erlangt. Für einen solchen Menschen sind Glück und Leid, Hitze und Kālte, Ehre und Schmach alle das gleiche." (Bg. 6.7) Nur wenn wir den Geist schulen, können wir tatsāchlich Ausgeglichenheit erlangen; denn sonst wird uns der Geist immer zu unbeständigen Dingen ziehen, genau wie ein Pferd, das außer Kontrolle geraten ist, eine Kutsche auf gefährliche Abwege lenkt. Obwohl wir unvergänglich und ewig sind, haben wir irgendwie Zuneigung zu vergänglichen Dingen entwickelt. Aber der Geist kann leicht umgeschult werden, wenn man ihn einfach auf Krsna richtet. So wie
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Die Vollkommenheit des Yoga
eine Festung uneinnehmbar ist, solange sie von einem mächtigen General verteidigt wird, können keine Feinde in die Festung unseres Geistes eindringen, wenn Krsna in ihr weilt. Weltliche Bildung, weltlicher Reichtum und weltliche Macht werden uns nicht helfen, den Geist zu beherrschen. Im Gebet eines großen Gottgeweihten heißt es: „Wann werde ich fähig sein, ununterbrochen an Dich zu denken? Mein Geist schweift ständig ab; doch sobald ich ihn auf Deine Lotosfüße richte, o Krsna, wird er klar." Wenn der Geist klar ist, wird es möglich, über die Überseele zu meditieren, die im Herzen eines jeden Lebewesens neben der individuellen Seele weilt. Das yoga-System besteht darin, den Geist zu konzentrieren und ihn auf den Paramātmā, die Überseele im Herzen, zu richten. Der oben zitierte Vers der Bhagavad-gitā erklärt, daß jemand, der den Geist bezwungen und alles Verlangen nach unbeständigen Dingen überwunden hat, sich in die Meditation über den Paramātmā vertiefen kann, um so von aller Dualität und von falscher Identifikation frei zu werden.
5. KAPITEL
Yoga als Befreiung von Dualität Die materielle Welt ist eine Welt der Dualität: Heute sind wir der Hitze des Sommers unterworfen und morgen schon der Kālte des Winters; einmal sind wir glücklich und ein andermal unglücklich; einmal werden wir geehrt, und ein andermal geschmäht. In dieser Welt der Dualität ist es unmöglich, etwas getrennt von seinem Gegenteil zu verstehen. Man kann nicht verstehen, was Ehre ist, solange man nicht weiß, was Schmach ist. Ebensowenig kann man verstehen, was Leid ist, wenn man niemals Glück erfahren hat, oder verstehen, was Glück ist, wenn man niemals Leid erfahren hat. Diese Dualitäten müssen überwunden werden; aber solange man einen materiellen Körper hat, wird es auch diese Dualitäten geben. Wenn man sich von der körperlichen Lebensauffassung befreien will nicht vom Körper, sondern von der fälschlichen Identifikation mit dem Körper -, muß man lernen, diese Dualitäten zu erdulden. Im Zweiten Kapitel der Bhagavad-gitā sagt Krsna zu Arjuna, daß die Erfahrung der Dualität von Freud und Leid allein auf den Körper zurückzuführen ist. Man muß lernen, sie zu erdulden wie eine Hautkrankheit. Obwohl eine solche Krankheit starkes Jucken verursachen kann, sollte man nicht wie verrückt kratzen. Wir sollten nicht die Nerven verlieren oder von unserer Pflicht abweichen, nur weil uns Mücken stechen. Es gibt eine Unzahl von Dualitäten, die man erdulden muß, aber wenn der Geist im Krsna-Bewußtsein gefestigt ist, werden all diese Dualitäten unbedeutend erscheinen. Wie wird es möglich, solche Dualitäten zu erdulden? jnāna-vijnāna-trptātmā kütha-stho vijitendriyah 271
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Die Vollkommenheit des Yoga yukta ity ucyate yogi sama-lostrāsma-kāncanah
„Ein Mensch gilt als selbstverwirklicht und wird als yogi [Mystiker] bezeichnet, wenn er aufgrund von gelerntem und verwirklichtem Wissen völlig zufrieden ist. Ein solcher Mensch ist in der Transzendenz verankert und selbstbeherrscht. Er sieht alles - ob Kies, Steine oder Gold - als gleich an." (Bg. 6.8) Jnāna bedeutet theoretisches Wissen und vijnāna praktisches Wissen. Ein Naturwissenschaftler zum Beispiel muß sowohl die theoretischen Grundlagen als auch die praktische Anwendung seiner Wissenschaft studieren. Theoretisches Wissen allein wird nichts nützen, solange man nicht weiß, wie man es anwendet. Ebenso sollte man im yoga nicht nur theoretisches Wissen, sondern auch praktisches Wissen haben. Es hilft nichts, wenn man einfach sagt: „Ich bin nicht der Körper", und gleichzeitig auf unsinnige Weise handelt. Es gibt zahlreiche Gesellschaften, deren Mitglieder angeregt Vedānta-Philosophie diskutieren, wāhrend sie gleichzeitig rauchen, trinken und ein sinnliches Leben führen. Niemandem ist mit rein theoretischem Wissen geholfen, denn Wissen muß praktisch angewandt werden. Wer tatsāchlich versteht, daß er nicht der Körper ist, wird ernsthaft versuchen, seine körperlichen Bedürfnisse auf ein Minimum zu beschränken. Wenn man behauptet: „Ich bin nicht der Körper", aber gleichzeitig die Bedürfnisse des Körpers vermehrt, hat dieses Wissen keinen Nutzen. Ein Mensch findet nur dann Zufriedenheit, wenn er sowohl jnāna als auch vijnāna besitzt. Wer spirituelles Wissen praktisch verwirklicht hat, ist wahrhaft im yoga verankert. Es hat keinen Wert, ständig an yoga-Kursen teilzunehmen, wenn man genauso weiterlebt wie zuvor. Es muß sich praktische Verwirklichung einstellen. Und woran erkennt man diese? Der Geist wird ruhig und ausgeglichen sein und nicht mehr von der Anziehungskraft der materiellen Welt beeinflußt werden. Auf dieser Stufe der Selbstbeherrschung fühlt man sich nicht mehr zum materiellen Flimmern hingezogen, und man sieht alles - ob Kies, Steine oder Gold - als gleich an. In der materialistischen Zivilisation werden im Namen des materiellen Fortschritts zahllose Produkte erzeugt, die nur der Sinnenbefriedigung dienen; wer aber im yoga
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fortgeschritten ist, mißt solchen Produkten nicht mehr Wert bei als dem Abfall auf der Straße. Des weiteren erklärt die Bhagavad-gitā: suhrn-mitrāry-udāsmamadhyastha-dvesya-bandhusu sādhusv api ca pāpesu sama-buddhir visisyate „Als noch weiter fortgeschritten gilt derjenige, der aufrichtige Gönner, zugeneigte Wohltäter, Neutralgesinnte, Vermittler und Neider, Freunde und Feinde sowie die Frommen und die Sünder alle mit gleicher Geisteshaltung sieht." (Bg. 6.9) Es gibt verschiedene Arten von Freunden: den suhrt, der von Natur aus ein Wohltäter ist und einem immer nur das Beste wünscht; den mitra, einen gewöhnlichen Freund, und den udāsina, der neutral gesinnt ist. In der materiellen Welt tritt der eine als unser Wohltäter oder Freund auf, und ein anderer ist uns weder freundlich noch feindlich, sondern neutral gesinnt. Der eine kann als Vermittler zwischen uns und unseren Feinden dienen, was im obigen Vers als madhya-stha bezeichnet wird, und ein anderer mag uns entsprechend unseren eigenen Maßstäben fromm oder sündhaft erscheinen. Doch für jemanden, der in der Transzendenz verankert ist, hören diese Unterscheidungen wie Freund und Feind auf zu existieren. Wer wahres Wissen besitzt, sieht niemanden mehr als Feind oder Freund, denn er hat erkannt, daß in Wirklichkeit niemand „mein Feind", „mein Freund", „mein Vater" oder „meine Mutter" ist. Wir alle sind Lebewesen, die in einem Vater-, Mutter-, Kind-, Freund-, Feind-, Sünder- oder Heiligenkostüm auf einer Bühne auftreten, vergleichbar mit einem monumentalen Bühnenstück, in dem verschiedenste Personen ihre Rolle spielen. Auf der Bühne kann jemand die Rolle eines Feindes spielen, aber wenn die Schauspieler die Bühne verlassen, sind sie allesamt Freunde. Ebenso spielen wir auf der Bühne der materiellen Natur mit unserem Körper vielerlei Rollen und versehen uns gegenseitig mit vielerlei Bezeichnungen. Ich mag denken: „Dies ist mein Sohn", aber in Wirklichkeit ist es mir nicht möglich, einen Sohn zu zeugen; ich kann höchstens einen Körper zeugen. Es liegt nicht in der Macht des Menschen, ein Lebewesen
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Die Vollkommenheit des Yoga
zu zeugen. Bloß durch Geschlechtsverkehr kann kein Lebewesen gezeugt werden. Damit ein Kind entstehen kann, muß erst das Lebewesen in die Verbindung von Samen- und Eizelle hineinversetzt werden. So lautet die Aussage des Srimad-Bhāgavatam. Die verschiedenen Beziehungen zwischen Körpern sind also nur ein Rollenspiel auf einer Bühne. Wer jedoch tatsāchlich selbstverwirklicht ist und die Stufe des yoga erreicht hat, sieht diese körperlichen Unterschiede nicht mehr.
6. KAPITEL
Das Schicksal des gescheiterten Yogi Die Bhagavad-gitā lehnt die yoga-Meditation nicht etwa ab, vielmehr erkennt sie diese Form des yoga als autorisierten Vorgang an, weist aber darauf hin, daß sie im gegenwärtigen Zeitalter undurchführbar ist. Deshalb schließen Krsna und Arjuna dieses Thema des Sechsten Kapitels der Bhagavad-gitā schnell ab, und Arjuna stellt seine nächste Frage: ayatih sraddhayopeto yogāc calita-mānasah aprāpya yoga-samsiddhim kam gatim krsna gacchati „O Krsna, was ist die Bestimmung eines Transzendentalisten, der nicht erfolgreich ist, der am Anfang den Vorgang der Selbstverwirklichung mit Glauben aufnimmt, ihn später jedoch aufgrund seiner Weltzugewandtheit wieder verläßt und daher die Vollkommenheit der Mystik nicht erreicht?" (Bg. 6.37) Mit anderen Worten, Arjuna fragt nach der Bestimmung eines gescheiterten yogi, der zwar versucht, yoga auszuüben, dann aber aus irgendwelchen Gründen wieder davon abkommt und nicht den endgültigen Erfolg erlangt. Solch ein yogi läßt sich mit einem Studenten vergleichen, der kein Diplom bekommt, da er sein Studium abbricht. An einer anderen Stelle in der Gitā sagt Sri Krsna zu Arjuna, daß unter vielen Menschen nur wenige nach Vollkommenheit streben und daß unter denen, die nach Vollkommenheit streben, nur wenige die Vollkommenheit erlangen. Arjuna fragt deshalb, was aus denjenigen wird, denen kein Erfolg beschieden ist. Denn es ist sehr 275
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Die Vollkommenheit des Yoga
wohl möglich, daß selbst jemand, der Glauben besitzt und sich im yoga um Vollkommenheit bemüht, diese Vollkommenheit aufgrund von „Weltzugewandtheit" nicht erreicht. kaccin nobhaya-vibhrastas chinnābhram iva nasyati apratistho mahā-bāho vimüdho brahmanah pathi „O starkarmiger Krsna, ist ein solcher Mensch, der vom Pfad der Transzendenz abweicht, nicht sowohl des spirituellen als auch des materiellen Erfolgs beraubt, und wird er nicht wie eine zerrissene Wolke vergehen, haltlos in jeder Beziehung?" (Bg. 6.38) Sobald eine Wolke einmal vom Wind auseinandergetrieben wurde, wird sie sich nie wieder zusammenfügen. etan me samsayam krsna chettum arhasy asesatah tvad-anyah samsayasyāsya chettā na hy upapadyate „Das ist mein Zweifel, o Krsna, und ich bitte Dich, ihn völlig zu beseitigen. Außer Dir gibt es niemanden, der diesen Zweifel zerschlagen kann." (Bg. 6.39) Arjuna stellt hier die Frage nach dem weiteren Schicksal eines gescheiterten yogi, damit zukünftige Generationen nicht entmutigt werden. Mit dem Wort yogi bezieht sich Arjuna sowohl auf den hatha-yogi wie auch auf den jnāna-yogi und bhakti-yogi, denn Meditation ist nicht die einzige Form des yoga. Der Meditierende, der Philosoph und der Gottgeweihte gelten alle als yogis. Arjuna stellt daher diese Frage im Namen all derer, die sich bemühen, erfolgreiche Transzendentalisten zu werden. Sri Krsna antwortet ihm wie folgt: sri-bhagavān uvāca pārtha naiveha nāmutra vināsas tasya vidyate na hi kalyāna-krt kascid durgatim tāta gacchati
Das Schicksal des gescheiterten Yogi
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In diesem wie auch in vielen anderen Versen der Gitā wird Sri Krsna als Bhagavan bezeichnet. Dies ist einer der unzähligen Namen des Herrn. Bhagavan weist darauf hin, daß Krsna der Besitzer von sechs Vollkommenheiten ist: Er besitzt Schönheit, Reichtum, Macht, Ruhm, Wissen und Entsagung in unbegrenztem Ausmaß. Auch die Lebewesen haben an diesen Vollkommenheiten teil, wenn auch nur in sehr begrenztem Ausmaß. Jemand mag in einer Familie, in einer Stadt, in einem Land oder auf einem Planeten berühmt sein, doch niemand ist in der gesamten Schöpfung so berühmt wie Sri Krsna. Staatsführer erlangen vielleicht für einige Jahre Ruhm; Sri Krsna jedoch, der vor fünftausend Jahren erschien, wird noch heute verehrt. Wer also diese sechs Vollkommenheiten in unbegrenztem Ausmaß besitzt, ist Gott. In der Bhagavad-gitā offenbart Sich Krsna Arjuna als der Höchste Herr, der vollständiges Wissen besitzt. Krsna lehrte die Bhagavad-gitā den Sonnengott und Arjuna, doch nirgendwo wird erwähnt, daß die Bhagavad-gitā Krsna gelehrt wurde. Denn vollständiges Wissen bedeutet, daß man alles weiß, und dies ist eine Eigenschaft, die nur Gott besitzt. Da Krsna alles weiß, stellt Ihm Arjuna hier die Frage nach der Bestimmung eines gescheiterten yogi. Es wäre aussichtslos, wenn Arjuna versuchte, die Wahrheit selbst herauszufinden. Er muß die Wahrheit einfach von der vollkommenen Quelle empfangen, so wie es das System der Schülernachfolge vorsieht. Krsna ist vollkommen, und das Wissen, das von Krsna ausgeht, ist ebenfalls vollkommen. Wenn wir das vollkommene Wissen, das Arjuna erhalten hat, von ihm so empfangen, wie es zu ihm gesprochen wurde, gelangen auch wir in den Besitz von vollkommenem Wissen. Und was besagt dieses Wissen? „Die Höchste Persönlichkeit Gottes sprach: O Sohn Prthās, ein Transzendentalist, der glückbringenden Tätigkeiten nachgeht, wird weder in dieser Welt noch in der spirituellen Welt Vernichtung erleiden; wer Gutes tut, Mein Freund, wird niemals vom Bösen besiegt." (Bg. 6.40) Mit diesen Worten weist Krsna darauf hin, daß die Bemühung um Vollkommenheit im yoga allein schon höchst glückverheißend ist; und wer sich um etwas so Glückverheißendes bemüht, wird niemals erniedrigt. Arjuna stellt eine sehr wichtige und intelligente Frage, denn es ist
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Die Vollkommenheit des Yoga
nicht selten, daß jemand von der Ebene des hingebungsvollen Dienstes wieder herabfāllt. Manchmal kann ein Gottgeweihter auf der Anfängerstufe die Regeln und Vorschriften nicht einhalten. Es kann vorkommen, daß er der Berauschung oder dem Zauber schöner Frauen erliegt. Dies alles sind Hindernisse auf dem Pfad zur Vollkommenheit des yoga. Doch Sri Krsna gibt Arjuna eine ermutigende Antwort, denn Er sagt, daß jemand, der mit aufrichtiger Bemühung auch nur ein einziges Prozent an spirituellem Wissen entwickelt, nie wieder in den materiellen Strudel hineingerissen wird. Das ist die Macht einer ernsthaften Bemühung. Wir dürfen nie vergessen, daß wir schwach sind und daß die materielle Energie sehr stark ist. Spirituelles Leben aufzunehmen bedeutet mehr oder weniger, der materiellen Energie den Krieg zu erklären. Die materielle Energie versucht immer, die bedingte Seele mit allen Mitteln zu verführen; doch wenn die bedingte Seele im spirituellen Wissen Fortschritt machen will, um ihren Fāngen zu entkommen, bemüht sich māyā, die materielle Energie, noch mehr, die Ernsthaftigkeit des aufstrebenden Spiritualisten zu prüfen, und wird mit größeren Verlockungen aufwarten. In diesen Zusammenhang paßt die Geschichte von Visvamitra Muni, einem großen König und ksatriya, der seinem Königreich entsagte und sich dem Vorgang des yoga zuwandte, um spirituellen Fortschritt zu machen. Zu jener Zeit war es noch möglich, dem Vorgang der yoga-Meditation zu folgen. Visvamitra Muni versenkte sich so tief in Meditation, daß Indra, der König des Himmels, auf ihn aufmerksam wurde und dachte: „Dieser Mensch versucht, mir meine Stellung streitig zu machen." Da auch die himmlischen Planeten materiell sind, gibt es selbst dort Konkurrenzdenken - genau wie unter Geschäftsleuten, wo keiner von einem anderen übertroffen werden will. Aus Furcht, Visvamitra Muni würde ihn entthronen, sandte Indra ein himmlisches Gesellschaftsmādchen namens Menakā, damit sie ihn verführe. Menakā war von bezaubernder Schönheit, und sie war entschlossen, die Meditation des Muni zu unterbrechen. Tatsāchlich wurde er durch den Klang der Fußglöckchen auf ihre Gegenwart aufmerksam und blickte sogleich von seiner Meditation auf. Als er Menakā sah, wurde er von ihrer Schönheit überwältigt,
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und aus ihrer Verbindung ging das hübsche Mādchen Sakuntalā hervor. Bei Sakuntalās Geburt klagte Visvāmitra: „O weh, ich versuchte, spirituelles Wissen zu kultivieren, und wieder ließ ich mich verführen!" Als Menakā mit der bezaubernden Tochter vor ihn trat, wollte Visvāmitra sich entfernen. Sie tadelte ihn, und sie flehte ihn an, aber dennoch entschloß er sich letztlich, aufzubrechen und sein spirituelles Leben fortzuführen. Dieses Beispiel zeigt, daß auf dem Pfad des yoga jederzeit ein Rückschlag möglich ist. Sogar ein großer Weiser wie Visvāmitra Muni kann weltlichen Verlockungen zum Opfer fallen. Doch obwohl er zu Fall kam, entschloß er sich, den yoga-Vorgang wieder aufzunehmen, und dies sollte auch unser Entschluß sein. Krsna bekräftigt, daß solche Fehlschlāge kein Grund zur Verzweiflung sind. Ein bekanntes [englisches] Sprichwort lautet: „Mißerfolg ist die Säule des Erfolgs." Insbesondere im spirituellen Leben sollte man sich von Fehlschlāgen nicht entmutigen lassen. Krsna sagt sehr deutlich, daß man selbst bei einem Mißerfolg weder im jetzigen noch im nächsten Leben einen Verlust erleidet. Wer sich dem glückverheißenden Pfad des spirituellen Lebens zuwendet, kann durch nichts völlig vernichtet werden. Was geschieht jedoch konkret mit einem Spiritualisten, der nicht die Vollkommenheit erreicht? Wie Sri Krsna erklärt, gibt es mehrere Möglichkeiten: prāpya punya-krtām lokān usitvā sāsvatih samāh sucinām srimatām gehe yoga-bhrasto 'bhijāyate atha vā yoginām eva kule bhavati dhimatām etad dhi durlabhataram loke janma yad idrsam „Nach vielen, vielen Jahren des Genusses auf den Planeten der frommen Lebewesen wird der gescheiterte yogi in einer Familie rechtschaffener Menschen oder in einer reichen, aristokratischen Familie
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Die Vollkommenheit des Yoga
geboren. Oder er wird in einer Familie von Transzendentalisten geboren, die zweifellos große Weisheit besitzen. Wahrlich, eine solche Geburt ist sehr selten in dieser Welt." (Bg. 6.41-42) Es gibt viele Planeten im Universum, und auf den höheren Planeten genießt man größere Annehmlichkeiten und eine längere Lebensdauer als auf der Erde. Die Bewohner der höheren Planeten sind religiös und von göttlichem Wesen. Es heißt, daß sechs Monate auf der Erde einem Tag auf den höheren Planeten gleichkommen, was bedeutet, daß der gescheiterte yogi für viele, viele Jahre auf diesen Planeten leben darf. Den vedischen Schriften zufolge betrāgt die Lebensdauer auf den himmlischen Planeten zehntausend Jahre. Selbst wenn jemand auf dem Pfad des yoga scheitert, wird er auf diese höheren Planeten erhoben. Doch auch dort kann er nicht ewig bleiben. Denn sobald die Früchte oder Ergebnisse seiner frommen Tätigkeiten aufgebraucht sind, muß er wieder zur Erde zurückkehren. Ein gescheiterter yogi befindet sich aber selbst nach seiner Rückkehr auf die Erde noch in günstigen Umstānden, denn er wird in einer sehr reichen oder frommen Familie geboren werden. Wer fromme Taten vollbringt, wird gemäß dem Gesetz des karma im nächsten Leben für gewöhnlich mit einer Geburt in einer aristokratischen oder wohlhabenden Familie, mit großer Gelehrtheit oder mit Schönheit belohnt. Auf alle Fālle ist jedem, der sich ernsthaft dem spirituellen Leben zuwendet, im nächsten Leben nicht nur eine Geburt als Mensch garantiert, sondern sogar eine Geburt in einer sehr frommen oder reichen Familie. Wer in solch günstigen Umstānden geboren wird, hat dies also seinen früheren frommen Handlungen und der Gnade Gottes zu verdanken. Der Herr gibt uns diese Möglichkeiten, da Er immer bereit ist, uns alles zu geben, was wir brauchen, um zu Ihm zu kommen. Krsna will nur sehen, daß wir aufrichtig sind. Im Srimad-Bhāgavatam heißt es, daß jeder Mensch bestimmte Pflichten in seinem Leben hat, egal welcher Stellung innerhalb der Gesellschaft er angehört. Wenn nun jemand diese vorgeschriebenen Pflichten aufgibt und aus irgendwelchen Gründen sei es aufgrund von momentaner Laune, Gemeinschaft oder Verrücktheit - bei Krsna Zuflucht sucht, dann aber wegen seiner Unreife vom Pfad der Hingabe wieder abkommt, verliert er dennoch nichts. Was hingegen gewinnt jemand, der all seine Pflichten perfekt
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erfüllt, sich aber Gott nicht zuwendet? Sein Leben verstreicht in der Tat ohne Gewinn. Wer sich hingegen einmal Krsna zugewandt hat, befindet sich in einer viel besseren Situation, selbst wenn er von der Ebene des yoga wieder herabfāllt. Krsna betont des weiteren, daß von allen guten Familien, in denen man geboren werden kann - wie Familien von erfolgreichen Hāndlern, von Philosophen oder Spiritualisten -, die beste die Familie von yogis ist. Wer in einer reichen Familie geboren wird, kann leicht auf Abwege geraten, denn für gewöhnlich möchten Menschen den Reichtum, den sie bekommen, auch genießen. Aus diesem Grund werden die Söhne reicher Familien oft alkoholsüchtig oder suchen Prostituierte auf. Ebenso wird jemand, der in einer frommen Familie oder in einer Familie von brāhmanas geboren wird, häufig sehr stolz und arrogant, da er sich einbildet: „Ich bin ein brāhmana, ich bin fromm." Sowohl in reichen als auch in frommen Familien besteht die Gefahr, sich zu erniedrigen. Wer jedoch in einer Familie von yogis oder Gottgeweihten geboren wird, hat die beste Voraussetzung, wieder zur Stufe des spirituellen Lebens zu gelangen, von der er gefallen ist. Krsna sagt zu Arjuna: tatra tam buddhi-samyogam labhate paurva-dehikam yatate ca tato bhūyah samsiddhau kuru-nandana „Wenn er in einer solchen Familie geboren wird, erweckt er das göttliche Bewußtsein seines vorherigen Lebens wieder und versucht weiteren Fortschritt zu machen, um vollständigen Erfolg zu erreichen, o Sohn Kurus." (Bg. 6.43) Wenn man Eltern bekommt, die yoga oder hingebungsvollen Dienst ausüben, erinnert man sich an seine spirituellen Tātigkeiten, die man im letzten Leben verrichtet hat. Wer sich ernsthaft dem Krsna-Bewußtsein zuwendet, ist kein gewöhnlicher Mensch. Er muß sich bereits in seinem vorigen Leben mit demselben Vorgang beschäftigt haben, wie die Bhagavad-gitā bestätigt: pūrvābhyāsena tenaiva hriyate hy avaso 'pi sah
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Die Vollkommenheit des Yoga
„Dank des göttlichen Bewußtseins seines vorherigen Lebens fühlt er sich von selbst - sogar wenn er nicht danach strebt - zu den Prinzipien des yoga hingezogen." (Bg. 6.44) Niemand in der materiellen Welt kann seine Güter in ein anderes Leben mitnehmen. Man mag Millionen von Dollars auf der Bank haben, aber sobald man sich vom Körper trennen muß, muß man sich auch vom Bankkonto trennen. Das Geld bleibt auf der Bank und wird nach dem Tod des Besitzers von jemand anderem genossen. Im spirituellen Leben verhālt es sich nicht so: Selbst wenn man nur sehr geringen spirituellen Fortschritt gemacht hat, nimmt man ihn mit ins nächste Leben und fāngt dort an, wo man aufgehört hat. Wenn man sich nach dieser Unterbrechung wieder dem spirituellen Leben zuwendet, sollte man sich bemühen, den notwendigen Fortschritt zu machen, um das Ziel des yoga-Pfades zu erreichen. Man sollte nicht das Risiko auf sich nehmen, die verbleibenden Schritte auf das nächste Leben zu verschieben, sondern sich vornehmen, das Ziel schon in diesem Leben zu erreichen. Diese Entschlossenheit muß man aufbringen: „Aus irgendwelchen Gründen habe ich im vergangenen Leben meine spirituelle Schulung nicht abgeschlossen. In diesem Leben nun, wo Krsna mir eine neue Gelegenheit bietet, will ich sie, ohne abzuweichen, vollenden." Auf diese Weise wird es möglich, nach dem Verlassen des gegenwārtigen Körpers zu Krsna zurückzukehren, anstatt wieder in der materiellen Welt geboren zu werden, wo Geburt, Alter, Krankheit und Tod allgegenwärtig sind. Wer bei Krsnas Lotosfüßen Zuflucht sucht, erkennt, daß die materielle Welt nichts anderes als ein Ort der Gefahren ist; für jemanden, der spirituelles Leben praktizieren will, ist sie ungeeignet. Srila Bhaktisiddhānta Sarasvati sagte des öfteren: „Dies ist kein Ort für einen Gentleman." Sobald wir uns Krsna zuwenden und versuchen, spirituellen Fortschritt zu machen, wird Krsna, der in unserem Herzen weilt, uns Anweisungen geben. In der Gitā sagt Sri Krsna, daß Er dem, der sich an Ihn erinnern will, die Erinnerung gibt, und dem, der Ihn vergessen will, die Erlaubnis gibt, Ihn zu vergessen.
7. KAPITEL
Yoga als Verbindung mit Krsna Heute hört man sehr viel über yoga, und yoga wird auch von der Bhagavad-gitā empfohlen. Das yoga-System der Bhagavad-gitā jedoch ist insbesondere zur Läuterung bestimmt. Yoga hat drei Ziele: die Beherrschung der Sinne, die Läuterung der Handlungen und die Verbindung mit Krsna in einer gegenseitigen Beziehung. Die Absolute Wahrheit wird in drei Stufen erkannt: als das unpersönliche Brahman, als der lokalisierte Paramātmā (Überseele) und letztlich als Bhagavān, die Höchste Persönlichkeit Gottes. In Ihrem höchsten Aspekt ist die Absolute Wahrheit eine Person. Diese Höchste Person existiert jedoch gleichzeitig als alldurchdringende Überseele im Herzen aller Lebewesen und im Innern aller Atome sowie als das brahmajyoti, die Ausstrahlung spirituellen Lichts. Als Höchste Persönlichkeit Gottes besitzt Bhagavān Sri Krsna vollkommenen Reichtum, aber gleichzeitig zeichnet Ihn auch vollkommene Entsagung aus. Wer in der materiellen Welt großen Reichtum besitzt, ist meistens nicht sehr geneigt, ihn aufzugeben. Krsna jedoch ist anders: Er kann allem entsagen und bleibt dennoch vollständig in Sich selbst. Wenn wir die Bhagavad-gitā unter der Anleitung eines echten spirituellen Meisters lesen und studieren, sollten wir nicht denken, der spirituelle Meister trage seine eigenen Meinungen vor. Es ist nicht er, der spricht, denn er ist nur ein Werkzeug; wer in Wirklichkeit spricht, ist die Höchste Persönlichkeit Gottes, die Sich in ihm wie auch außerhalb von ihm befindet. Zu Beginn Seiner Ausführungen über das yoga-System im Sechsten Kapitel der Bhagavad-gitā sagt Sri Krsna: 283
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Die Vollkommenheit des Yoga anāsritah karma-phalam kāryam karma karoti yah sa sannyāsi ca yogi ca na niragnir na cākriyah
„Wer nicht an den Früchten seiner Arbeit haftet und so handelt, wie es seine Pflicht vorschreibt, befindet sich im Lebensstand der Entsagung. Er ist der wahre Mystiker, und nicht der, der kein Feuer entzündet und keine Pflicht erfüllt." (Bg. 6.1) Jeder arbeitet mit der Erwartung eines Ergebnisses, und deshalb könnte man sich fragen, was der Nutzen einer Arbeit ist, wenn man kein Ergebnis erwartet. Wer arbeitet, verlangt immer einen Gegenwert oder einen Lohn, doch hier weist Krsna darauf hin, daß man auch allein aus Pflichtgefühl arbeiten kann, ohne irgendwelche Ergebnisse zu erwarten. Wenn man auf diese Weise handelt, ist man wirklich ein sannyāsi und befindet sich im Lebensstand der Entsagung. In der vedischen Kultur gibt es vier Lebensstufen: brahmacarya, grhastha, vanaprastha und sannyāsa. Brahmacarya ist der Lebensabschnitt, in dem man als Student im spirituellen Wissen ausgebildet wird. Grhastha ist der Lebensabschnitt, in dem man als Haushālter ein Eheleben führt. Im Alter von ungefähr fünfzig Jahren kann man in den Lebensstand des vanaprastha eintreten, was bedeutet, daß man Haus und Kinder verlāßt und mit seiner Frau zu heiligen Pilgerorten reist. Letztlich trennt sich der Mann auch von der Frau und bleibt allein, um sich vollständig ins Krsna-Bewußtsein zu vertiefen. Dies wird sannyāsa, die Lebensstufe der Entsagung, genannt. Krsna weist allerdings darauf hin, daß für einen sannyāsi Entsagung nicht alles ist; er muß sich auch einer Pflicht zuwenden. Doch worin besteht die Pflicht eines sannyāsi, der dem Familienleben entsagt hat und keine materiellen Verpflichtungen mehr besitzt? Die Pflicht des sannyāsi ist von höchster Verantwortung: sie besteht darin, für Krsna zu handeln. Dies ist die einzig wahre Pflicht aller Menschen, welcher Lebensstufe sie auch immer angehören. Es gibt zwei Arten von Pflichten: die eine besteht darin, der Illusion zu dienen, und die andere, der Realität zu dienen. Wenn man der Realität dient, ist man ein echter sannyāsi, und wenn man der II-
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lusion dient, wird man von māyā getäuscht. Man muß daher erkennen, daß man immer und überall gezwungen ist zu dienen. Man hat nur die Wahl, entweder der Illusion oder der Realität zu dienen. Die wesensgemäße Stellung des Lebewesens ist es, Diener zu sein, nicht Meister. Obgleich man sich für den Meister halten mag, ist man in Wirklichkeit ein Diener. Der Familienvater kann zwar denken, er sei der Herr seiner Frau, seiner Kinder, seines Hauses und seines Geschäftes, aber das ist ein Trugschluß. In Wirklichkeit ist er der Diener seiner Frau, seiner Kinder und seines Geschäftes. Ein Präsident mag als Herr des Landes gelten, wāhrend er in Wirklichkeit der Diener des Landes ist. Wir sind immer Diener - entweder Diener der Illusion oder Diener Gottes. Wenn wir es jedoch vorziehen, ein Diener der Illusion zu bleiben, vergeuden wir unser Leben. Natürlich denkt niemand, er sei ein Diener; jeder denkt, er arbeite nur in seinem eigenen Interesse. Man mag auch tatsāchlich die Ergebnisse seiner Arbeit bekommen, doch diese Ergebnisse sind vergänglich und illusorisch, und sie zwingen einen, ein Diener der Illusion, ein Diener der Sinne, zu werden. Wenn man aber seine transzendentalen Sinne wiedererweckt und wahres Wissen erlangt, wird man ein Diener der Realität. Wer einmal die Ebene des Wissens erreicht hat, erkennt, daß er unter allen Umständen ein Diener ist. Da es nie möglich sein wird, Meister zu sein, dient man besser der Realität als der Illusion. Wenn man sich dessen bewußt wird, hat man die Stufe des wahren Wissens erreicht. Die Bezeichnung sannyāsa, Lebensstand der Entsagung, bezieht sich auf diese Stufe, denn was den sannyāsa-Stand ausmacht, ist die spirituelle Verwirklichung und nicht der soziale Status. Es ist die Pflicht eines jeden, Krsna-bewußt zu werden und Krsnas Wünschen zu dienen. Wenn man dies wirklich erkennt, wird man ein mahātmā, eine große Seele. In der Bhagavad-gitā sagt Krsna, daß jemand, der nach vielen Geburten die Stufe des wahren Wissens erreicht hat, „sich Mir ergibt". Weshalb? Vāsudevah sarvam iti. Weil ein solcher Weiser erkannt hat, daß „Vāsudeva [Krsna] alles ist". Doch dann erklärt Krsna, daß eine solche große Seele selten zu finden ist. Was ist der Grund dafür? Warum sollte ein intelligenter Mensch, der verstanden hat, daß es das höchste Ziel des Lebens ist, sich Krsna zu ergeben, zögern, dies zu tun? Warum ergibt er sich nicht sogleich?
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Die Vollkommenheit des Yoga
Was ist der Nutzen, so viele Leben zu warten? Wer dies erkennt und sich Krsna ergibt, wird ein wahrer sannyāsi. Krsna zwingt niemals jemanden, sich Ihm zu ergeben. Hingabe ist eine Frucht der Liebe, transzendentaler Liebe. Wo es Zwang gibt, gibt es keine Freiheit, und wo es keine Freiheit gibt, gibt es auch keine Liebe. Eine Mutter liebt ihr Kind nicht, weil sie dazu gezwungen ist oder eine Bezahlung oder Belohnung erwartet. Die Liebe zum Höchsten Herrn kann sich in vielen Formen offenbaren. Wir können Ihn als unseren Meister, unseren Freund, unser Kind oder unseren Gemahl lieben. Es gibt fünf grundlegende Beziehungen (rasas), die uns ewig mit Gott verbinden. Wenn wir die befreite Stufe des Wissens erreichen, werden wir erkennen, welche persönliche rasa-Beziehung wir zum Höchsten Herrn haben. Diese Stufe wird svarūpa-siddhi, wahre Selbstverwirklichung, genannt. Wir alle haben eine ewige Beziehung zum Herrn, entweder als Diener, Freund, Vater oder Mutter, Gemahlin oder Geliebte. Diese Beziehung ist ewig vorhanden, und der gesamte Vorgang der spirituellen Verwirklichung und die eigentliche Vollkommenheit des yoga bestehen darin, das Bewußtsein dieser Beziehung wiederzuerwecken. Gegenwärtig wird unsere Beziehung zum Höchsten Herrn in der materiellen Welt auf verzerrte Weise widergespiegelt. In der materiellen Welt beruht die Beziehung zwischen Meister und Diener auf Geld, Zwang oder Ausbeutung, ganz bestimmt nicht auf Liebe. Die verzerrte Widerspiegelung der Beziehung von Meister und Diener besteht nur solange, wie der Meister den Diener bezahlen kann. Sobald die Bezahlung aufhört, endet auch die Beziehung. Ebenso verhālt es sich mit weltlichen Freundschaften: Schon bei der kleinsten Auseinandersetzung bricht die Freundschaft, und der Freund wird zum Feind. Wenn es zwischen dem Sohn und den Eltern zu einer Meinungsverschiedenheit kommt, verläßt der Sohn das Zuhause, und die Beziehung wird abgebrochen. Auch in Ehen läßt sich beobachten, daß schon bei einer geringen Unstimmigkeit Mann und Frau auseinandergehen und es zur Scheidung kommt. Beziehungen in der materiellen Welt sind weder echt noch ewig. Wir müssen uns immer vor Augen halten, daß diese flüchtigen Beziehungen nichts anderes als verzerrte Widerspiegelungen unserer
Yoga als Verbindung mit Krsna
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ewigen Beziehung zur Höchsten Persönlichkeit Gottes sind. Das Spiegelbild eines Gegenstandes ist nicht echt; der Gegenstand mag zwar echt aussehen, doch wenn wir ihn anfassen wollen, stoßen wir nur auf Glas. Ebenso sind die Beziehungen als Freund, Mutter, Vater, Kind, Meister, Diener, Ehemann, Ehefrau oder Geliebte bloß Widerspiegelungen der Beziehung, die wir zu Gott haben. Wenn wir dies erkennen, besitzen wir vollkommenes Wissen, und wir werden verstehen, daß wir Diener Krsnas sind und daß uns eine ewige Beziehung der Liebe mit Ihm vereint. In dieser Beziehung der Liebe geht es nicht um Belohnung, obwohl natürlich die Belohnung nicht ausbleibt und sie viel größer ist als jeglicher Lohn, den wir in der materiellen Welt für unsere Dienste bekommen können. Die Belohnung, die Sri Krsna gibt, ist unbegrenzt. In diesem Zusammenhang gibt es die Geschichte von Bali Mahārāja, einem mächtigen König, der viele Planeten des Universums eroberte. Als Bali Mahārāja, der König der Dāmonen, auch die himmlischen Planeten unterwarf, wandten sich deren Bewohner an den Höchsten Herrn und flehten Ihn an, Er möge sie retten. Als Sri Krsna ihre Gebete hörte, nahm Er die Gestalt eines jungen Zwergbrāhmana an und begab Sich zu Bali Mahārāja. „Mein lieber König", sprach der brāhmana-Knabe, „Ich habe eine Bitte an dich. Du bist ein großer Monarch, und du bist berühmt dafür, daß du den brāhmanas immer Spenden gibst. Darf Ich dich um etwas bitten?" Bali Mahārāja antwortete: „Ich gebe Dir alles, was Du willst." „Dann gib mir einfach soviel Land, wie Ich mit drei Schritten abmessen kann", bat der Knabe. „Oh, das ist alles?" staunte der König. „Und was willst Du mit einem solch kleinen Stück Land tun?" Der kleine Knabe lächelte und sagte: „Auch wenn es klein ist, werde Ich Mich damit begnügen." Bali Mahārāja willigte ein, worauf der Zwerg-Knabe anwuchs und mit zwei Schritten das gesamte Universum durchmaß. Dann fragte Er Bali Mahārāja, wohin Er Seinen dritten Schritt setzen könne, und Bali Mahārāja, der erkannte, daß ihm der Höchste Herr eine große Gunst erwies, entgegnete: „Mein lieber Herr, ich habe nun alles verloren. Ich besitze nichts mehr außer meinem Kopf. Bitte setze gütigerweise Deinen Fuß dorthin." Der Höchste Herr, Sri Krsna, war
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durch Bali Mahārājas Haltung sehr erfreut und stellte ihm einen Wunsch frei. Aber Bali Mahārāja sprach: „Ich erwartete nie eine Belohnung von Dir. Ich wußte nur, daß Du etwas von mir wolltest, und nun habe ich Dir alles gegeben." „Aber Ich möchte dir etwas geben", erwiderte der Herr. „Ich werde immer als Bote und Diener an deinem Hof bleiben." Auf diese Weise wurde Krsna Bali Mahārājas Torwächter, und das war die Belohnung, die Er ihm gab. Wenn wir also Krsna etwas geben, werden wir es millionenfach zurückbekommen; aber wir sollten dies nicht erwarten. Der Herr ist immer bestrebt, den Dienst Seines Dieners zu erwidern. Jeder, der erkannt hat, daß Dienst für den Herrn seine wahre Pflicht ist, besitzt vollkommenes Wissen und hat die Vollkommenheit des yoga erreicht.
8. KAPITEL
Die Vollkommenheit des Yoga Auf dem Pfad zur Vollkommenheit des yoga ist es ein großer Segen, wenn man in einer Familie von yogis oder Gottgeweihten geboren wird, denn dies stellt einen besonderen Ansporn für spirituellen Fortschritt dar. prayatnād yatamānas tu yogi samsuddha-kilbisah aneka-janma-samsiddhas tato yāti parām gatim „Wenn sich der yogi ernsthaft bemüht, weiteren Fortschritt zu machen, und von allen Verunreinigungen reingewaschen wird, erlangt er nach vielen, vielen Geburten der Vorbereitung die Vollkommenheit und erreicht das höchste Ziel." (Bg. 6.45) Wenn man letztlich von allen Verunreinigungen frei geworden ist, erreicht man die höchste Vollkommenheit des yoga-Systems Krsna-Bewußtsein. In Krsna vertieft zu sein ist die Stufe der Vollkommenheit, wie Krsna persönlich bestätigt: bahünām janmanām ante jnānavān mām prapadyate vāsudevah sarvam iti sa mahātmā sudurlabhah „Wer nach vielen Geburten und Toden tatsächlich im Wissen verankert ist, ergibt sich Mir, da er weiß, daß Ich die Ursache aller Ursachen und daß Ich alles bin. Solch eine große Seele ist sehr selten." (Bg. 7.19) 289
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Mit anderen Worten, wer nach vielen Leben der frommen Betätigung von allen Verunreinigungen, die aus illusorischen Dualitäten entstehen, befreit ist, wendet sich dem transzendentalen Dienst des Herrn zu. Sri Krsna beendet Seine Ausführungen über dieses Thema wie folgt: yoginām api sarvesām mad-gatenāntarātmanā sraddhāvān bhajate yo mām sa me yuktatamo matah „Und von allen yogis ist derjenige, der großen Glauben besitzt und immer in Mir weilt, immer an Mich denkt und Mir transzendentalen liebevollen Dienst darbringt, am engsten mit Mir im yoga vereint, und er ist der höchste von allen." (Bg. 6.47) Aus diesen Worten geht hervor, daß alle Formen von yoga im bhakti-yoga, dem hingebungsvollen Dienst für Krsna, gipfeln. Alle anderen in der Bhagavad-gitā beschriebenen Formen des yoga münden in den hingebungsvollen Dienst, denn Krsna ist das Ziel aller yoga-Systeme. Von der Anfangsstufe des karma-yoga bis hin zum Ziel des bhakti-yoga erstreckt sich ein langer Weg der Selbstverwirklichung. Karma-yoga, das heißt Handeln ohne Erwartung fruchtbringender Ergebnisse, stellt den Anfang dieses Weges dar. Wenn karma-yoga an Wissen und Entsagung zunimmt, erreicht man die Stufe des jnāna-yoga, des yoga des Wissens; wenn jnāna-yoga zu Meditation über die Überseele wird, bei der man verschiedene physische Übungen ausführt und den Geist auf die Überseele richtet, wird dies astānga-yoga genannt; und wenn man die Stufe des astānga-yoga hinter sich läßt und zur Verehrung der Höchsten Persönlichkeit Gottes, Krsna, kommt, nennt man dies bhakti-yoga, die höchste Stufe. Bhakti-yoga ist das höchste Ziel, aber um bhakti-yoga genau zu verstehen, muß man auch die anderen Vorgānge verstehen. Der yogi, der kontinuierlich vorwärtsschreitet, befindet sich auf dem Pfad zu wahrem, ewigem Glück. Wenn jemand aber auf einer bestimmten Stufe stehenbleibt und keinen weiteren Fortschritt mehr macht, bezeichnet man ihn dementsprechend als karma-yogi, jnānayogi, dhyāna-yogi, rāja-yogi, hatha-yogi usw. Wer aber so sehr vom
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Glück begünstigt ist, daß er bis zur Stufe des bhakti-yoga, des KrsnaBewußtseins, gelangt, hat alle anderen yoga-Systeme hinter sich gelassen. Krsna-Bewußtsein ist das letzte Glied in der Kette des yoga, jenes Glied, das uns mit der Höchsten Person, Sri Krsna, verbindet. Ohne dieses letzte Glied ist die gesamte Kette praktisch wertlos. Wenn wir aufrichtig an der Vollkommenheit des yoga interessiert sind, sollten wir uns deshalb sogleich dem Krsna-Bewußtsein zuwenden, indem wir Hare Krsna chanten, die Bhagavad-gitā studieren und Krsna durch die Gesellschaft für Krsna-Bewußtsein Dienst darbringen. Auf diese Weise übertreffen wir alle anderen Systeme und erreichen das höchste Ziel aller Formen von yoga: Liebe zu Krsna.
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Der Autor His Divine Grace A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupāda wurde im Jahre 1896 in Kalkutta geboren, wo er im Jahre 1922 zum ersten Mal seinem spirituellen Meister, Srila Bhaktisiddhanta Sarasvati Gosvāmi, begegnete. Bhaktisiddhanta Sarasvati, ein bekannter Gelehrter und Gottgeweihter sowie der Gründer von vierundsechzig Tempeln in ganz Indien, fand Gefallen an dem gebildeten jungen Mann, und bereits bei ihrer ersten Begegnung bat er ihn, das vedische Wissen in englischer Sprache zu verbreiten. Srila Prabhupāda wurde sein Schüler, und elf Jahre später (1933) empfing er in Allahabad die formelle Einweihung. In den darauffolgenden Jahren verfaßte Srila Prabhupāda, gemäß der Anweisung seines spirituellen Meisters, viele Artikel über die Philosophie des Krsna-Bewußtseins; darüber hinaus unterstützte er Bhaktisiddhāntas Gaudiya-Matha-Bewegung in ihrer Arbeit. Im Jahre 1944 begann er ein halbmonatliches Magazin in englischer Sprache mit dem Titel „Back To Godhead" herauszugeben, das er ohne fremde Hilfe verfaßte, produzierte, finanzierte und verteilte. Dieses Magazin wird heute von Srila Prabhupādas Schülern weitergeführt und in vielen Sprachen veröffentlicht. 1950, im Alter von vierundfünfzig Jahren, zog sich Srila Prabhupāda aus dem Familienleben zurück, um seinen Studien und seiner Schreibtätigkeit mehr Zeit widmen zu können. Er begab sich nach Vrndāvana, dem berühmten heiligen Ort, an dem Krsna vor fünftausend Jahren erschienen war. Er fand im mittelalterlichen RādhāDāmodara-Tempel Unterkunft, wo er in bescheidensten Verhältnissen lebte und sich mehrere Jahre in eingehende Studien vertiefte. 1959 trat er in den Lebensstand der Entsagung (sannyāsa). Im Rādhā-Dāmodara-Tempel begann Srila Prabhupāda mit der Arbeit an seinem Lebenswerk - einer vielbändigen kommentierten Übersetzung des achtzehntausend Verse umfassenden Srimad-Bhāgavatam. Als besitzlosem sannyāsi fiel es Srila Prabhupāda sehr schwer, die notwendigen Mittel für seine Publikationen aufzutreiben. Trotzdem gelang es ihm bis 1965, mit Hilfe von Spenden den Ersten Canto des Srimad-Bhāgavatam in drei Bänden zu veröffentlichen. Im Herbst des Jahres 1965 reiste Srila Prabhupāda an Bord des Frachtdampfers Jaladuta in die Vereinigten Staaten, um die Mission seines spirituellen Meisters zu erfüllen. Als Srila Prabhupāda mit dem Schiff im Hafen von New York ankam, war er allein und so gut wie mittellos. Im Juli 1966, nach einem Jahr voller Prüfungen und Schwierigkeiten, gründete er die Internationale Gesellschaft für Krischna-Bewußtsein (ISKCON), die sich unter seiner persönlichen Führung innerhalb eines Jahrzehnts von einem kleinen Krsna-Tempel in New York zu einer weltweiten Bewegung entwickelte. Im Jahre 1968 gründete Srila Prabhupāda in Amerika die erste spirituelle Farmgemeinschaft, nach deren Vorbild in der Folge auf allen fünf Kontinenten ähnliche
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Projekte entstanden. Er führte in vielen westlichen Städten das traditionelle Rathayātrā-Wagenfest ein, und im Jahre 1972 gründete er die erste gurukula-Schule in der westlichen Welt. Auch in Indien rief Srila Prabhupāda viele Projekte ins Leben, wie zum Beispiel den eindrucksvollen Krsna-Balarāma-Tempel in Vrndāvana, das Kultur- und Kongreßzentrum mit Tempel und internationalem Gästehaus in Bombay und das ISKCON-Weltzentrum in Sridhāma Māyāpur (Westbengalen), wo der Bau einer Stadt nach vedischem Vorbild geplant ist. Neben all seinen Tätigkeiten sah Srila Prabhupāda seine Hauptaufgabe jedoch immer in der Buchveröffentlichung, und so gründete er 1972 den Bhaktivedanta Book Trust (BBT), der heute der größte Verlag für die religiöse und philosophische Literatur Indiens ist. Bis zu seinem Verscheiden am 14. November 1977 in Vrndāvana war Srila Prabhupāda, trotz seines fortgeschrittenen Alters, auf seinen Vorlesungsreisen vierzehnmal um die Welt gereist. Ungeachtet dieses straffen Zeitplans entstanden fortlaufend neue Bücher - insgesamt über 70 Bānde -, die heute in über fünfzig Sprachen übersetzt werden.
Glossar Acārya: „jemand, der durch sein eigenes Beispiel lehrt"; Titel eines echten spirituellen Meisters. Adharma: „Irreligiosität" (Gegenteil von dharma); das Nichtbefolgen der Gebote der heiligen Schriften. Ahankāra: „Falsches Ego"; feinstoffliches materielles Element, das die fälschliche Identifikation der Seele mit ihrem Körper verursacht. ānanda: spirituelle Glückseligkeit. Aparadha: „Vergehen"; das übertreten bzw. Nichtbefolgen von Vorschriften in bezug auf das Chanten der heiligen Namen, den Umgang mit Gottgeweihten usw. Arcā-vigraha: die transzendentale Bildgestalt Krsnas, die auf dem Altar verehrt wird. Arjuna: großer ksatriya und Gottgeweihter, zu dem Krsna die Bhagavad-gitā sprach. Asrama: Bezeichnung für die (vier) spirituellen Lebensstufen im varnāsrama-Gesellschaftssystem: brahmacarya (Lebensstand des zölibatären Studenten, der unter der Anleitung eines spirituellen Meisters die vedischen Schriften studiert); grhastha (Lebensstand der Ehe im Einklang mit den vedischen Regeln); vānaprastha (Zurückgezogenheit vom Familienleben); sannyāsa (Lebensstand der Entsagung). Astānga-yoga: der „achtstufige Pfad" des mystischen yoga, beginnend mit der Beherrschung der Sinne und des Geistes durch Sitz-, Atem- und Meditationsübungen, bis hin zu vollständiger Versenkung (samādhi) und zur Erkenntnis des Paramātmā. Asura: „Dämon"; (1) Feind der Halbgötter und Gottgeweihten; (2) atheistischer Mensch, der sich bewußt der Oberhoheit Gottes widersetzt. Atmā: „Selbst"; (1) das wahre Selbst, die individuelle spirituelle Seele, die im Kreislauf von Geburt und Tod durch verschiedenste Körper wandert und nach der Befreiung in die spirituelle Welt zurückkehrt. ātmā kann sich je nach Kontext auch auf das falsche Selbst beziehen: (2) Geist; (3) Körper. Avatāra: „jemand, der herabsteigt"; eine Inkarnation Gottes, die in der materiellen Welt erscheint. Balarāma: Siehe: Rāma (2). Bhagavān: „Besitzer aller Füllen"; Gott in Seinem höchsten Aspekt als transzendente Person; höchste Stufe der Gotteserkenntnis nach Brahman und Paramātmā; Name Krsnas in Seinem Aspekt als das vollkommene Behältnis aller Schönheit, aller Kraft, allen Ruhms, allen Reichtums, allen Wissens und aller Entsagung. Bhagavad-gitā: „der Gesang Gottes"; die auf dem Schlachtfeld von Kuruksetra offenbarten Lehren Krsnas, des Höchsten Herrn; die zentrale, zusammenfassende Schrift der Veden; enthālt die Essenz der vedischen Gottesoffenbarung. Bhakta: Gottgeweihter.
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Bhakti: Liebe und Hingabe zur Höchsten Persönlichkeit Gottes. Bhakti-yoga: der Vorgang der Verbindung mit der Höchsten Persönlichkeit Gottes durch hingebungsvollen Dienst, um das ursprüngliche Krsna-Bewußtsein der spirituellen Seele wiederzuerwecken; wird in den vedischen Schriften, insbesondere in der Bhagavad-gitā und im Srimad-Bhāgavatam, als die höchste Form des yoga gelehrt. Bhaktisiddhānta Sarasvati (1874-1937): der hervorragendste Gelehrte und ācārya seiner Zeit; Gründer der Gaudiya-Matha-Bewegung mit 64 Tempeln in ganz Indien; Verfasser zahlreicher Vaisnava-Schriften; spiritueller Meister von His Divine Grace A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupāda. Bhaktivinoda Thākura: (1838-1914) großer ācārya der Vaisnava-Schülernachfolge. Bildgestalt. Siehe: Arcā-vigraha. Brahma: das erste erschaffene Wesen im Universum; ist als Halbgott für die interne Schöpfung des Universums zuständig. Brahmacāri: Student im Zölibat. Siehe auch: Asrama. Brahmajyoti: die spirituelle Ausstrahlung, die von Krsnas transzendentalem Körper ausgeht; der spirituelle Himmel, in dem die Vaikuntha-Planeten schweben. Brahman: „die Transzendenz"; (1) das brahmajyoti, der unpersönliche Aspekt der Absoluten Wahrheit in Form Ihrer alldurchdringenden Ausstrahlung, erste Stufe der Erkenntnis der Absoluten Wahrheit; (2) allg. für: die Absolute Wahrheit, die spirituelle Natur. Brāhmana. Siehe: Varna. Brahma-samhitā: eine sehr alte Sanskritschrift mit Brahmas Gebeten an Govinda (Krsna). Buddha: (560-480 v. Chr.) Inkarnation Krsnas; lehrte (Selbst-)erlösung von materiellem Leid durch Versenkung und Askese, verbreitete die Philosophie der Leere und lehnte die Autorität der Veden ab, um die damals im Namen der Veden durchgeführten Tieropfer abzuschaffen. Buddhi: „Intelligenz"; eines der drei feinstofflichen Elemente. Caitanya-caritāmrta: die Beschreibung des Lebens und der Lehren Sri Caitanyas Mahāprabhus, in drei Teilen (Adi-, Madhya-, Antya-lilā); verfaßt im 16. Jh. von Krsnadāsa Kavirāja Gosvāmi. Caitanya Mahāprabhu: (1486-1534) Krsna in der Rolle eines Gottgeweihten; erschien in Navadvipa, Bengalen, um das gemeinsame Chanten des Hare-Krsna-mantra (sarikirtana) als den Vorgang der Gotteserkenntnis im Zeitalter des Kali einzuführen; löste eine spirituelle Renaissance der Krsna-bhakti in ganz Indien aus; bekämpfte die religiöse Intoleranz der moslemischen Machthaber und der hinduistischen Kastenbrahmanen; predigte bhakti als Essenz aller Religionen. Chanten: (von engl, to chant - rezitieren, singen) (1) allg.: Singen oder meditatives Beten von mantras zur Verehrung Gottes oder der Halbgötter; (2) das Chanten der heiligen Namen Gottes, insbesondere des Hare-Krsna-mantra, als der grundlegende Vorgang im bhakti-yoga; ist die empfohlene Meditationsmethode für das gegenwärtige Zeitalter, weil es nicht mit komplizierten Regeln verbunden ist und deshalb allen Menschen offensteht; stellt eine direkte Verbindung mit Gott her, da die Namen Gottes nicht von Gott verschieden sind. Es gibt zwei traditionelle Arten des Chantens von Hare Krsna: die individuelle Meditation (japa) in Form des rezitativen Betens auf einer Gebetskette (siehe auch: Japa) und
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das gemeinsame Singen (kirtana) in Form eines Wechselgesanges, meist in Begleitung von Rhythmusinstrumenten. Dämon. Siehe: Asura. Deva: (1) Halbgott; (2) Gottgeweihter; Mensch mit göttlichen Eigenschaften. Dharma: (1) religiöse Prinzipien gemäß den offenbarten Schriften; (2) wesensgemäße Pflicht und Eigenschaft der spirituellen Seele als ewiger Diener Gottes. Dharmarāja: Halbgott und Verkörperung des dharma; anderer Name für Yamarāja. Dhyāna-yoga: Vorgang der mystischen Meditation über die Überseele; die 7. Stufe im astānga-yoga. Falsches Ego. Siehe: Ahahkāra. Feinstofflicher Körper: der dem gewöhnlichen Auge unsichtbare Körper aus den drei feinstofflichen Elementen (Geist, Intelligenz und falsches Ego), der den Tod des physischen Körpers überlebt und mit der Seele in einen neuen Körper eingeht. Sitz aller Wünsche und Gefühle sowie des Gedächtnisses. Fruchtbringende Handlungen. Siehe: Karma (1). Geist: feinstoffliches materielles Element, in dem Denken, Fühlen und Wollen stattfinden; Sammelbecken aller Sinneseindrücke. Goloka: das persönliche Reich Krsnas in der spirituellen Welt. Gopis: die Kuhhirtenmādchen von Vrndāvana, die sich auf der höchsten Stufe der vollkommenen, reinen Liebe zu Krsna befinden. Govinda: (go — Kuh, Sinnesorgan, Land; vinda — Quell der Freude) „derjenige, der den Kühen, den Sinnen und dem Land Freude spendet"; ein Name Krsnas. Gosvāmi: „jemand, der seine Sinne zu beherrschen vermag"; (1) Titel eines sannyāsi; (2) die sechs Gosvāmis von Vrndāvana: die wichtigsten Nachfolger Caitanyas. Grhastha: vedischer „Haushälter"; verheirateter Mann, der den vedischen Prinzipien des Familienlebens folgt. Siehe: Asrama. Guna: „Seil, Strick"; die drei Erscheinungsweisen (Eigenschaften) der materiellen Natur, die das Bewußtsein und die Handlungsweise aller Lebewesen beeinflussen. (Siehe: sattva-, rajo- und tamo-guna) Guru: „Lehrer"; Lehrmeister in der vedischen Kultur, insbesondere der spirituelle Meister, der seinen Schüler im spirituellen Leben führt. Hare-Krsna-mantra: Siehe: Mahā-mantra. Hari: „derjenige, der alles wegnimmt"; Name der Höchsten Persönlichkeit Gottes. Haridāsa Thākura: großer Gottgeweihter und enger Gefährte Sri Caitanyas; gilt als das maßgebende Vorbild im Chanten des Hare-Krsna-mantra. Hatha-yoga: System körperlicher und atemtechnischer Übungen, um die Sinne zu beherrschen; Anfangsstufe des astānga-yoga. Indra: großer Halbgott; König der himmlischen Planeten. ISKCON: Abk. für International Society for Krishna Consciousness; gegründet 1966 in New York von His Divine Grace A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupāda. Jiva: „der Lebensfunke"; die ewige individuelle Seele, das wahre Selbst. Jnāna: „Wissen", insbesondere spirituelles Wissen. Jnāni: jemand, der sich mittels (1) philosophischer Spekulation, (2) monistischer Philosophie oder (3) jhāna-yoga bemüht, Wissen über die Absolute Wahrheit zu erlangen. Jnāna-yoga: der Pfad der spirituellen Verwirklichung durch Studium der vedischen Schriften und durch philosophische Suche nach der Wahrheit.
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Jnāna-yogi: Siehe: Jnāni (3). Kali: Form von Durgā; verkörpert den vernichtenden Aspekt der materiellen Energie. Kali-yuga: das „Zeitalter des Streites und der Heuchelei" (auch „Eisernes Zeitalter" genannt), in dem sich die Menschheit gegenwärtig befindet; begann nach vedischer Zeitrechnung vor rund 5000 Jahren. Siehe auch: Yuga. Kāma: „Lust, Begehren"; die materielle, verzerrte Widerspiegelung der ursprünglichen Liebe zu Gott. Karma: „Handlung"; (1) fruchtbringende Handlung, die eine gute oder schlechte („sündhafte") Reaktion nach sich zieht und den Handelnden an den Kreislauf von Geburt und Tod bindet; (2) Gesetz des karma: Gesetz von Aktion und Reaktion, dem alle karma-Handlungen unterstehen und das entscheidet, welchen Körper die Seele (ātmā) im nächsten Leben annimmt. Karma-yoga: Pfad der Gotteserkenntnis, auf dem man die Früchte seines Handelns Gott darbringt. Karmi: jemand, der aus materiellen Motiven fruchtbringende Handlungen ausführt und die Früchte seiner Arbeit selbst genießen möchte. Kirtana: das Chanten oder Singen der Namen Gottes. Siehe auch: Chanten (2). Krsna: Gott, „der Allanziehende"; der persönliche Name Gottes, wie Er in den Veden offenbart wird. Krsna-Bewußtsein: „Gottesbewußtsein"; das reine, ursprüngliche Bewußtsein der spirituellen Seele in ihrer wesensgemäßen Stellung als ewiger Diener Krsnas. Siehe auch: Bhakti-yoga. Kuruksetra: eine heilige Stätte ca. 60 Kilometer nördlich von Hastināpura, dem heutigen Delhi; vor 5000 Jahren fand dort die große Mahābhārata-Schlacht statt, vor deren Beginn Krsna die Bhagavad-gitā offenbarte. Lila: „transzendentales Spiel"; Tat der Höchsten Persönlichkeit Gottes. Laksmi: die „Glücksgöttin"; die ewige Gemahlin Visnus (Nārāyanas). Mahābhārata: „die Geschichte des Königreichs von Bhārata-varsa [Indien]"; mit über 110 000 Doppelversen das längste Epos der Weltliteratur; enthālt als zentrale Passage die Bhagavad-gitā. Mahā-mantra: der „große mantra", bestehend aus den Sanskritnamen Gottes; ist die persönliche Klanginkarnation Krsnas; von den Veden überliefert und von Sri Caitanya Mahāprabhu als wirkungsvollste spirituelle Klangschwingung offenbart: Hare Krsna, Hare Krsna, Krsna Krsna, Hare Hare / Hare Rāma, Hare Rāma, Rāma Rāma, Hare Hare. Mahātmā: „große Seele"; großer Gottgeweihter. Mahājana: „große Autorität"; maßgebendes Vorbild auf dem Pfad des bhakti-yoga; insgesamt zwölf. (Siehe SB. 6.3.20-21) Marigala-ārati: Morgenzeremonie im Tempel zur Verehrung Krsnas. Mantra: (mana — Geist, tra — befreien) (1) allg.: heilige Wortformel oder Gebet, das sich an einen Halbgott oder direkt an Gott richtet; (2) transzendentale Klangschwingung, um den Geist von materiellen Unreinheiten zu befreien und auf Gott zu richten. Siehe auch: Chanten. Maya: die niedere, illusionierende Energie Gottes, die die materielle Welt beherrscht und bewirkt, daß die bedingten Seelen Krsna vergessen; das Vergessen der Beziehung zu Krsna. Māyāvāda: „die Lehre, daß alles māyā (Illusion) ist"; atheistische, monistische Interpretation der vedischen Schriften; gründet auf der Vedānta-Philosophie nach
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Sankara; bezeichnet unter dem Leitsatz „alles ist eins" die Existenz eines persönlichen Gottes und die Individualität der Seele als Illusion; lehrt, Gott sei formlos und unpersönlich, weshalb das Ziel von Meditation darin bestehe, die eigene individuelle Existenz aufzulösen und mit dem Höchsten (Brahman) eins zu werden. Māyāvādi: Anhänger der Māyāvāda-Philosophie. Mukti: Befreiung von der materiellen Fessel. Nāma-aparādha: Vergehen gegen den heiligen Nameh. Nārada Muni: großer Gottgeweihter, spiritueller Meister und einer der mahājanas. Nārāyana: die Höchste Persönlichkeit Gottes; Krsna in Seiner Erweiterung auf den spirituellen Vaikuntha-Planeten. Nirvāna: „Auflösung"; (1) nach Bhagavad-gitā: Befreiung aus der materiellen Welt und Rückkehr der Seele in die spirituelle Welt; (2) nach buddhistischer Interpretation: die Auflösung des Körpers bzw. Auflösung der Seele im Nichts als Beendigung der persönlichen, individuellen Existenz. Nityānanda Prabhu: ewiger Gefährte Sri Caitanyas; Verkörperung von Gottes Barmherzigkeit. Om (Omkāra): (1) die heilige Silbe der Veden, die als Hinweis auf die Absolute Wahrheit ausgesprochen wird; (2) die unpersönliche Klangrepräsentation der Absoluten Wahrheit. Paramātmā: die „Überseele"; die in der materiellen Welt allgegenwärtige Form Gottes, die Sich im Herzen aller Lebewesen und in allen Atomen befindet; begleitet die Lebewesen als Zeuge ihrer Handlungen durch alle Lebensformen und ist somit der entscheidende Faktor für das Funktionieren des karma-Gesetzes; die zweite Stufe der Erkenntnis der Absoluten Wahrheit. Paramparā: „Schülernachfolge"; die Kette der spirituellen Meister. Pariksit: Enkel Arjunas; Weltherrscher nach Mahārāja Yudhisthiras Rücktritt; hörte wāhrend der letzten sieben Tage seines Lebens das Srimad-Bhāgavatam von Sukadeva Gosvāmi. Prabhupāda, A.C. Bhaktivedanta Swami: (1896-1977) herausragender spiritueller Meister (ācārya) der Brahmā-Madhva-Gaudiya-Vaisnava-Schülernachfolge, die bis zu Krsna zurückreicht; bedeutendster Sanskritübersetzer der Neuzeit; gründete im Jahr 1966 die International Society for Krishna Consciousness. Siehe auch: Der Autor, S. 295 Prakrti: „Energie"; (1) im Gegensatz zu Gott, dem Energieursprung; (2) parā-prakrti: die höhere, spirituelle Energie; (3) aparā-prakrti: die niedere, materielle Energie. Prasādam: „Barmherzigkeit"; vegetarische Speise, die Krsna geweiht ist. Prāyascitta: „Buße"; rituelle Sühnehandlung zur Aufhebung von Reaktionen auf Sünden, die man begangen hat. Prema: reine Liebe zu Gott; die höchste Stufe des hingebungsvollen Dienstes. Purāna: die achtzehn Ergänzungsschriften zu den Veden, mit historischen Aufzeichnungen und philosophischen Erläuterungen. Rādhārāni: Krsnas ewige Gefährtin und Haupt-gopi in Vrndāvana; Sie verkörpert die innere Freudenkraft Krsnas und ist Seine höchste Geweihte. Raghunātha dāsa Gosvāmi: (1495-1571) einer der sechs Gosvāmis von Vrndāvana. Rajo-guna: die Erscheinungsweise der Leidenschaft. Rāma: (1) Name Krsnas mit der Bedeutung „die Quelle aller Freude"; (2) Krsnas Bruder Balarāma; (3) Rāmacandra, der avatāra Krsnas als vollkommener König.
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Rāsa-lilā: Krsnas transzendentaler rāsa-Tanz mit den gopis im Wald von Vrndāvana. Rsabhadeva: Inkarnation Krsnas und heiliger König; wird im Fünften Canto des SrTmad-Bhāgavatam beschrieben. Rsi: „Weiser"; Titel der großen Weisen und Gottgeweihten der vedischen Zeit. Rūpa Gosvāmi: (1489-1564) einer der sechs Gosvāmis; großer Heiliger Indiens; einer der direkten Schüler und Nachfolger von Caitanya Mahāprabhu. Sac-cid-ānanda: „ewig, voller Wissen, voller Glückseligkeit"; Eigenschaft Krsnas und Seiner höheren Energie. Sādhu: „Heiliger", Gottgeweihter. Sahajiyā: jemand, der die Symptome großer Gottgeweihter nachahmt, ohne von materieller Verunreinigung (Lust, Streben nach Ansehen, Reichtum usw.) frei zu sein. Samsāra: „der Kreislauf von Geburt und Tod". Sanātana Gosvāmi: (1488-1588) Bruder von Rūpa Gosvāmi; einer der direkten Nachfolger und Schüler Sri Caitanyas. Sankarācārya: einflußreicher Philosoph der indischen Geistesgeschichte im 8./9. Jahrhundert; verkündete die Māyāvāda-Philosophie. Sankirtana: „gemeinsames Chanten der heiligen Namen des Herrn"; der im Kaliyuga empfohlene Vorgang der Selbstverwirklichung; wurde von Sri Caitanya Mahāprabhu eingeführt. Sannyāsi: Mönch im Lebensstand des sannyāsa (Siehe: āsrama). Sanskrit: die Sprache der Veden; die älteste Schriftsprache der Welt und Muttersprache vieler moderner Sprachen. Sārūpya: eine Form der Befreiung, bei der man eine spirituelle Gestalt annimmt, die der Gestalt Gottes gleicht. Sāstra: offenbarte, heilige Schrift. Sattva-guna: die Erscheinungsweise der Tugend. Seele. Siehe: ātmā (1); Jiva. Spirituelle Welt. Siehe: Vaikuntha. Siva: „der Glückspendende"; mächtiger Halbgott und Gottgeweihter; ist für die Zerstörung des Universums zuständig. Sridhara Svāmi: (1429-1529) großer Gottgeweihter; Verfasser des ersten autorisierten Kommentars zum Srimad-Bhāgavatam. Srimad-Bhāgavatam (auch Bhāgavata Purāna): das bedeutendste der achtzehn Purānas; der 18 000 Verse umfassende Kommentar Vyāsadevas zu seinem Vedāntasütra; beschreibt in zwölf Cantos die Taten und die Lehren der wichtigsten Gottgeweihten und Inkarnationen Gottes; der Zehnte Canto beschreibt das Erscheinen und die Taten Krsnas, der Höchsten Persönlichkeit Gottes. Sündhafte Reaktionen. Siehe: Karma (1). Sukadeva Gosvāmi: großer Weiser; Sohn Vyāsadevas; trug das Srimad-Bhāgavatam Pariksit Mahārāja vor. Svāmi: „Meister"; Titel eines sannyāsi; Siehe auch: Gosvāmi. Sūdra: Siehe: Varna. Tamo-guna: die Erscheinungsweise der Unwissenheit. Tapasya: das Aufsichnehmen von Entsagung, um ein höheres Ziel zu erreichen. Tulasi: heilige Pflanze, deren Blätter in der Verehrung Krsnas verwendet werden. Überseele. Siehe: Paramātmā.
Glossar
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Upanisaden: 108 philosophische Lehrgedichte innerhalb der vier Veden. Vaikuntha: (vai — ohne; kuntha — Angst) die spirituelle Welt, wo es keine Angst gibt. Vaisnava: ein Geweihter Krsnas oder Visnus, der Höchsten Persönlichkeit Gottes. Varna: Unterteilung der vedischen Gesellschaft entsprechend den Eigenschaften und Tätigkeiten der Menschen: brāhmanas (Lehrer und Priester, die der Gesellschaft unentgeltlich spirituelle Führung geben); ksatriyas (unter den brāhmanas tätige Verwalter und Beschützer der Gesellschaft); vaisyas (die gewerbetreibende und landwirtschaftliche Berufsklasse) und sūdras (die Berufsklasse der Arbeiter und Handwerker, die im Dienst der anderen drei varnas stehen). Varnāsrama-dharma: das vedische Gesellschaftssystem der vier sozialen und vier spirituellen Klassen. Siehe auch: Varna; Asrama. Vāsudeva: „der Sohn Vasudevas" oder „der Allgegenwärtige"; Name Krsnas oder einer Seiner Erweiterungen. Vedānta-sūtra: von Srila Vyasadeva verfaßtes theologisch-philosophisches Werk, das die Schlußfolgerungen der Veden in Aphorismen zusammenfaßt. Veden: (von veda: Wissen) (1) die vier ursprünglichen vedischen Schriften (Yajur, Rg, Atharva, Santa); (2) Sammelbegriff für die authentischen heiligen Weisheitsschriften der altindischen Hochkultur. Vergehen: Siehe: Aparādha. Visnu: „der Alldurchdringende"; vierarmige Erweiterung Krsnas zur Schöpfung und Erhaltung der materiellen Welt. Visnudütas: die Sendboten Visnus, die die Gottgeweihten beschützen; sind als spirituelle Persönlichkeiten für materielle Augen unsichtbar. Visvanātha Cakravarti Thākura: herausragender Philosoph und spiritueller Meister des 17./18. Jahrhunderts; verfaßte maßgebliche Kommentare zum SrimadBhāgavatam. Vrndāvana: (1) das Reich Sri Krsnas in der spirituellen Welt; (2) Gokula Vrndāvana: die „Stadt der fünftausend Tempel" in der Nāhe von Mathurā im Staat Uttar Pradesh (Indien), wo Krsna vor 5000 Jahren erschien. Vyasadeva: die literarische Inkarnation Gottes; legte das bis vor 5000 Jahren mündlich überlieferte vedische Wissen in Form der vier Veden nieder und verfaßte das Vedānta-sütra, das Mahābhārata und die Purānas. Yajna: Opfer. Yamarāja: auch Dharmarāja genannt; großer Gottgeweihter und einer der mahājanas; fungiert als Halbgott des Todes, vor den die sündhaften Menschen nach ihrem Tode im feinstofflichen Körper gebracht werden, und bestimmt über deren Bestrafung. Yamadūtas: die Diener Yamarājas; bringen die Seelen sündiger Menschen in der feinstofflichen Dimension nach Yamaloka, dem Reich Yamarājas. Yoga: „Verbindung"; Pfad zur Verbindung mit dem Höchsten. (Siehe auch: Bhakti-, Jnāna-, Karma- und Astānga-yoga) Yogi: Transzendentalist, der eine Verbindung mit dem Höchsten einzugehen sucht. Yudhisthira Mahārāja: heiliger König und Weltherrscher nach der Schlacht von Kuruksetra; der Bruder Arjunas. Yuga: „Zeitalter" im Leben eines Universums, die sich zyklisch wiederholen: Satyayuga, Tretā-yuga, Dvāpara-yuga und Kali-yuga.
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Das Chanten des Hare-Krsna-Mantra ••• Hare Krsna, Hare Krsna, Krsna Krsna, Hare Hare Hare Rāma, Hare Rāma, Rāma Rāma, Hare Hare. Im gegenwārtigen Zeitalter ist die mantra-Meditation, d. h. das Chanten (Beten und Singen) der heiligen Namen Gottes, der empfohlene Vorgang zur Selbstverwirklichung. Der Hare-Krsna-mahā-mantra besteht aus drei verschiedenen Namen Gottes: Krsna bedeutet der „Allanziehende", Rāma bedeutet „die Quelle aller Freude", und Hare bezieht sich auf die innere Energie des Höchsten. Die Namen Gottes sind nicht verschieden von Gott selbst. Wenn wir Gottes heiligen Namen chanten, haben wir daher mit Ihm unmittelbar Gemeinschaft und werden geläutert. Auf diese Weise kann man seine ewige Beziehung zu Krsna wiedererwecken und am Ende des Lebens zu Ihm zurückkehren. Es gibt keine starren Regeln für das Chanten des Hare-Krsna-mantra. Das Schöne an dieser mantra-Meditation ist es, daß man sie jederzeit und überall ausüben kann: zu Hause, bei der Arbeit oder unterwegs. Man kann die heiligen Namen halblaut meditativ für sich chanten (japa) oder gemeinsam mit anderen im Wechselgesang singen (kirtana). Den größten spirituellen Fortschritt kann man machen, wenn man regelmäßig chantet und sich eine bestimmte Zeit am Tag nur für das Chanten reserviert; ideal sind die frühen Morgenstunden. Dabei sollte man jeden mantra vollständig, deutlich und voller Hingabe, wie ein Gebet, aussprechen. Sobald man in Gedanken abschweift, sollte man sich wieder auf den Klang des heiligen Namens konzentrieren. Je aufmerksamer und inniger man chantet, desto mehr spirituelle Freude wird man erfahren. Auch die Konzentrationsfähigkeit und Willensstārke werden durch diese Übung immer mehr zunehmen, wodurch man innere Ruhe und Ausgeglichenheit findet. Eine japa-mala (Gebetskette) hilft einem dabei, konzentriert und regelmäßig zu chanten. Man kann sie in jedem Hare-Krsna-Tempel bestellen oder auch mit etwas Geschick selbst basteln. Die japa-Kette besteht aus 108 kleinen Holzperlen und einer größeren Perle, die Krsna symbolisiert. Beim Chanten nimmt man die erste Perle nach der Krsna-Perle zwischen den Daumen und den Mittelfinger der rechten Hand und chantet einmal den vollständigen Hare-Krsna-mantra. Auf diese Weise geht man von Perle zu Perle, bis man auf jeder der 108 Perlen den Hare-Krsna-mantra gesprochen hat. Wenn man wieder bei der Krsna-Perle angelangt ist, hat man eine Runde gechantet. Um die zweite Runde zu chanten, wechselt man auf der Kette die Richtung, ohne über die Krsna-Perle hinwegzugehen. Wenn man regelmäßig den Hare-Krsna-mantra chantet, wird man allmählich immer mehr Geschmack daran finden und von selbst die Anzahl der Runden erhöhen.
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Die zeitlose Philosophie der Bhagavad-gitā hat im Herzen der Menschen, im Osten wie im Westen, schon immer lebhaftes Interesse erweckt. Die Bhagavadgitā, der „Gesang Gottes", ist die Essenz der vedischen Weisheit und gehört zu den bedeutendsten Werken der spirituellen und philosophischen Weltliteratur. Große Denker wie Kant, Schopenhauer, Einstein und Gandhi ließen sich nachhaltig von dieser Schrift inspirieren, die die wahre Natur des Menschen, seine Bestimmung im Kosmos und seine Beziehung zu Gott offenbart. Arthur Schopenhauer: „Es ist die belehrendste und erhabenste Lektüre, die auf der Welt möglich ist."
Das Srimad-Bhāgavatam (Bhagavata Purāna) wird als die reife Frucht am Baum der Veden bezeichnet und gilt - mit seinen 18 000 Versen in vollendetem Sanskrit - als das bedeutendste der 18 Purānas. Dank Srila Prabhupādas wortgetreuer übersetzung und seinen einfühlsamen Kommentaren können wir authentische, lebendige Einblicke in die Geschichte, Religion, Kultur und Zivilisation des alten Indiens gewinnen. Das Srimad-Bhāgavatam ist die umfassendste und autoritativste Darstellung vedischen Wissens.
His Divine Grace A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupāda/ Bhagavad-gitā wie sie ist
Gesamtausgabe 12 Bānde, je Band 600-1000 Seiten und 16 Bildtafeln,
His Divine Grace A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupāda/ Srimad-Bhāgavatam
896 Seiten, 16 Bildtafeln, geb.
Bei den folgenden Adressen können Sie einen Gesamtkatalog aller Bücher, Schallplatten, CD's und Kassetten (mit Preisliste) beziehen: Vedischer Buchversand Ernst Fesl Postfach 10 48 03 D-69038 Heidelberg Schweiz. Gesellschaft für Krsna-Bewusstsein Postfach 116 CH-8030 Zürich
Das Sri Caitanya-caritāmrta von Krsnadāsa Kavirāja Gosvāmi ist die wichtigste Biographie Sri Caitanya Mahāprabhus. Vor fünfhundert Jahren verbreitete Sri Caitanya in ganz Indien das gemeinsame Chanten der heiligen Namen Gottes (sankirtana) und löste so eine Renaissance der krsna-bhakti aus. Er ist der Begründer einer gewaltigen spirituellen Bewegung, die das religiöse und philosophische Denken weit über Indiens Grenzen hinaus beeinflußt hat. Auf der ganzen Welt gewinnt Sri Caitanya als großer Heiliger und bahnbre chender religiöser und sozialer Reformator immer größeres Ansehen. His Divine Grace A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupāda/ Sri Caitanya-caritāmrta Gesamtausgabe 11 Bānde, je Band 300-900 Seiten und 16 Bildtafeln, geb.
Seit Jahrtausenden ist Krsnas Lebensgeschichte ein unversiegbarer Quell der Inspiration für das spirituelle und kulturelle Leben Indiens. Das Krsna-Buch gibt anhand von 90 Kurzgeschichten eine lebendige Beschreibung der unvergleichlichen Taten und Eigenschaften Sri Krsnas, wie sie im Zehnten Canto des Srimad-Bhāgavatam überliefert werden. Es ist eines der seltenen Bücher, in denen sich fesselnde Erzāhlkunst, malerische Poesie und höchste Philosophie auf vollkommene Weise verbinden. His Divine Grace A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupāda/ Krsna - die Quelle aller Freude 2 Bānde, je Band ca. 380 Seiten und 16 Bildtafeln, geb.
Der Nektar der Hingabe ist eine zusammenfassende Studie des Bhakti-rasāmrita-sindhu, einem Sanskritklassiker des 16. Jahrhunderts, der von Srila Rūpa Gosvāmi verfaßt wurde. Der Nektar der Hingabe beschreibt mit faszinierender Genauigkeit den Vorgang des hingebungsvollen Dienstes von seinen Anfangsstufen bis hin zur ekstatischen Gottesliebe. Dieses Buch überschreitet die Begrenztheit trockener philosophischer Spekulation und stößt das Tor zur Transzendenz auf, mit all ihren spirituellen Gefühlsregungen und Gedanken. His Divine Grace A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupāda/ Der Nektar der Hingabe 416 Seiten, 16 Bildtafeln, geb.
Im Laufe der Geschichte erschienen auf der Welt viele avatāras - göttlich inspirierte Lehrer und Inkarnationen Gottes -, doch keiner von ihnen hat jemals so großzügig spirituelle Liebe verteilt wie der Goldene Avatāra, Sri Caitanya Mahāprabhu. Dieses Buch enthālt die wichtigsten Gesprāche Sri Caitanyas mit den größten Gelehrten, Philosophen und Transzendentalisten Seiner Zeit. Die philosophische Auseinandersetzung zwischen dem Monismus Sankaras und dem Monotheismus Rāmanujas, Madhvas und Sri Caitanyas machen den Leser mit den zwei bedeutendsten spirituellen Traditionen Indiens bekannt. His Divine Grace A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupāda/ Die Lehren Sri Caitanyas 320 Seiten, 16 Bildtafeln, geb.
Die Schönheit der Selbst ist eine gelungene Auswahl von Srila Prabhupadas Interviews, Essays, Vorlesungen und Briefen - eine ausgezeichnete Einführung in die Welt des Krsna-Bewußtseins. His Divine Grace A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupāda/ Die Schönheit der Selbst 320 Seiten, 16 Bildtafeln, geb.
Königin Kunti war eine der Hauptfiguren in einem verwickelten politischen Drama, das in einem blutigen Bruderkrieg um die indische Thronfolge gipfelte. Dieses Buch enthālt ihre tiefempfundenen Gebete an Sri Krsna. His Divine Grace A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupāda/ Die Lehren Königin Kuntis
Leben kommt von Leben ist eine grundlegende Kritik an den sogenannten Errungenschaften, Theorien und Behauptungen der modernen Naturwissenschaft. His Divine Grace A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupāda/ Leben kommt von Leben 320 Seiten, 16-seitiger Bildteil, geb.
320 Seiten, 16 Bildtafeln, geb.
Die Lehren Sri Kapilas - der Sohn Devahütis ist eine Vortragsreihe über Sri Kapila, den Begründer der sānkhya-Philosophie. His Divine Grace A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupāda/ Die Lehren Sri Kapilas - der Sohn Devahütis 320 Seiten, geb.
Diese Auswahl von Vorlesungen über die Bhagavad-gita macht den Leser mit der Wissenschaft des bhakti-yoga bekannt. His Divine Grace A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupāda/ Bewußte Freude 320 Seiten, 16 Bildtafeln, geb.
Im Angesicht des Todes schildert das außergewöhnliche Sterbeerlebnis des großen Sünders Ajāmüa, der - knapp dem Tode entronnen - ein neues, spirituelles Leben beginnt. His Divine Grace A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupāda/ Im Angesicht des Todes 320 Seiten, 16 Bildtafeln, geb.
Die faszinierende Biographie von His Divine Grace A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupada und die Geschichte der ISKCON.
Dieses Buch deckt kompromißlos die Ursachen der gegenwärtigen gesellschaftlichen Probleme auf und präsentiert eine realistische Alternative.
133 Rezepte für alle Freunde der indisch-vegetarischen Küche mit einer Abhandlung über Vegetarismus und spirituelle Ernährung.
SatsvaRūpa dāsa Goswami/ Prabhupada - der Mensch, der Weise, sein Leben, sein Vermächtnis
Harikesa Swami/ Varnāsrama-Manifest der sozialen Vernunft
Adirāja dāsa/ Vedische Kochkunst 304 Seiten, 35 Bildtafeln, geb.
288 Seiten, geb.
400 Seiten, 16-seitiger Bildteil, geb.
Der Nektar der Unterweisung, eine Übersetzung von Srila Rūpa Gosvamis Sanskritklassiker Sri Upadesamrita, lehrt uns die praktischen Grundlagen des spirituellen Lebens. His Divine Grace A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupada/ Der Nektar der Unterweisung 144 Seiten, Taschenbuch
Ein fesselnder Dialog zwischen dem spirituellen Meister einer jahrtausendealten Tradition und seinem zukünftigen Schüler. His Divine Grace A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupada/ Vollkommene Fragen vollkommene Antworten 128 Seiten, Taschenbuch
Die Sri Isopanisad ist die wichtigste der 108 Upanisaden. 19 zeitlose Weisheiten für inneren Frieden und Erfüllung.
Jenseits von Raum und Zeit offenbart uns den Weg zu den spirituellen Planeten.
His Divine Grace A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupada/ Sri Isopanisad
His Divine Grace A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupada/ Jenseits von Raum und Zeit
160 Seiten, Taschenbuch
64 Seiten, Taschenbuch
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