K L E I N E
B I B L I O T H E K
D E S
W I S S E N S
LUX-LESEBOGEN N ATUR-
UND
K U LI U H K UN D L I C H E
RICHAR...
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K L E I N E
B I B L I O T H E K
D E S
W I S S E N S
LUX-LESEBOGEN N ATUR-
UND
K U LI U H K UN D L I C H E
RICHARD
HE F T E
kATZ
H Y A Z I N T H - ARARA ZUM
GEDÄCHTNIS
VERLAG
EINES
GETREUEN
SEBASTIAN
VOGELS
LUX
M U R N A U • M Ü N C 11 E N • I N N S B R U C K • B A S E L
Schrei in der Nacht il/ines Nachts bin ich an dem Laden vorbeigegangen, der vielerlei Tiere anbietet: Papageien, Affen, Goldfische, Kanarienvögel, Hunde und was sonst an Tieren die schwankende Zuneigung des Menschen zur einträglichen Ware macht. Es ist ein bunter Laden, den ich bei Tag gern besuche. Nachts aber gehe ich ihm aus dem Wege, weil er nur mit weitmaschigen Drahtgittern abgeschlossen ist, so daß die Straßenbeleuchtung ihn durchhellt und die Tiere keinen Schlaf in ihm finden. Sie winseln und gackern und kreischen den Protest der verstörten Kreatur. Bisweilen schrillt der müde Triller eines sinnverwirrten Singvogels auf, oder ein Hahn kräht die elektrische Straßenlampe an, als sei sie die Sonne. Es gibt kein Gesetz, das den Schlaf der Tiere schützt — schließlich haben auch viele Stadtmenschen unruhige Nächte. Wie auch immer: Nachts ist es ein gespenstischer Laden, und ich meide ihn. An einem der Abende aber mußte ich stehenbleiben, als ich den Schrei hörte. Es war ein häßlich krächzender Schrei, doch er schrie mir geradewegs ins Herz. Denn es war der Schrei einer Hyazinth-Arara. Ich würde ihn unter allen herauskennen. So brennend vor unverdientem Leid schreit nur sie. Ein Auto, das es gleichfalls eilig hatte, hupte mir in den Rücken; Menschen, die gleich mir die Mitternachts-Fähre nach der Gouverneurs-Insel erreichen mußten — denn sie ist die letzte, und wer sie versäumt, mag zusehen, wo er bis fünf Uhr morgens bleibt —, liefen hurtig an mir vorbei; ich aber lief nicht mit ihnen, sondern ich drückte mich ans Ladengitter und lockte: „Arara — Arara — Lord!" Der Schrei schwieg wie erstaunt, und ein Murmeln kam wie das einer spinnenden Katze, nur lauter. Eine Hyazinth-Arara, dachte ich wehmütig, ach ja, eine HyazinthArara . .. t Ich lockte, und sie gurrte, und beinahe hätte ich die letzte Fähre versäumt, weil eine Hyazinth-Arara geschrien hatte. „Morgen!" versprach ich ihr, als ich endlich lossprang, und hörte sie hinter mir herschreien. Am nächsten Tag besuchte ich sie. Der Laden hatte kaum die Gitter hochgezogen, als ich auch schon vor ihrem Käfig stand. Es war ein guter Kubikmeter von Käfig, aber doch zu eng für einen Vogel von dieser Größe und Spannweite. 2
Kümmerlich hockte die Hyazinth-Arara auf ihrer Stange, den riesigen Krummschnabel ins stumpf bläuliche Nackengefieder gesenkt, und holte am trüben Morgen den Schlaf nach, aus dem die Straßenlampe sie nachts geblendet hatte. Ihre Schwanzfedern waren geknickt und mit weißlichem Kot beschmutzt, die Flügel hingen matt. Sie sei, sagte der Händler, erst tags zuvor mit dem Dampfer gekommen und noch reissschwach. Araras pflanzen sich nur in Freiheit fort. Also hatte diese vom Amazonasgebiet bis Rio de Janeiro eine Seefahrt von mehreren tausend Kilometern in einer Transportkiste überstanden, die kaum genügend Luft und gewiß keinen Trost zu ihr gelassen hatte. Nun war sie erschöpft und verstört, wie einst die Neger, die, kaum ausgebootet, auf den Sklavenmarkt kamen. Fern lagen Heimat und Wald . . . Vom freien Flug kam sie in diesen Käfig; von riesigem Schlafbaum auf diese kahle Stange, die der große schwarze Fuß unsicher umspannt; von schüttendem Regen täglichen Tropengewitters zum blechernen Trinknapf; von Trauben fetter Palmnüsse zur Handvoll Maiskörner, die ein gleichgültiger Bursche eben in ihren Käfig streut. Ja, tief ist dieses Tier gesunken; tiefer noch als einst die Sklaven, von denen so manche schon in ihrer Heimat Sklaven gewesen waren. Müßte ein Mensch den Weg dieser Hyazinth-Arara gehen: Sein Körper hielte ihm kaum stand und sein Charakter gewiß nicht. „Arara!" locke ich. Doch sie ist zu müde, mich zu beachten. Soweit sie kann, hat sie sich an die Wand gedrückt. Nun, ich sehe sie wenigstens, und das ist schon etwas. Denn Hyazinth-Araras sind sehr seltene Vögel. So selten in der Tat, daß ich während sieben Jahren hier in Rio de Janeiro nur drei zu Gesicht bekommen habe: Der dritte ist dieser hier. Kobaltblau und frisches Orange: Nur diese beiden Farben hat ein Hyazinth-Arara. Schnabel und Füße sind schwarz und die großen gewölbten Augen so dunkelbraun, daß sie schwarz wirken wie schwarze Kirschen, die eigentlich auch nicht schwarz sind. Und Schwarz ist keine Farbe, sondern die Abwesenheit aller Farben. Nicht durch seine Farbe wirkt das Auge der Hyazinth-Arara, sondern durch seinen Ausdruck, der sehr abwechselnd ist: Er kann melancholisch sein und zärtlich und heiter bis zum Übermut. Nicht Buntheit macht die Hyazinth-Arara zur Königin des großen Papageicnvolkes, sondern Größe und Güte. Keine der etwa sechshundert Papageien-Arten, die vier Erdteile bewohnen — nur Europa meiden diese Vögel —, kann sich an Körper- wie Seelengröße mit der Hyazinth-Arara messen. 3
Freilich, in keiner der Eigenschaften, derentwegen Menschen Papageien halten, steht die Hyazinth-Arara an der Spitze. Der gelehrigste Sprecher im Papageienvolk ist der graue, rotschwänzige Jako aus Westafrika, der angenehmste Stubenpapagei ist der Wellensittich Inneraustraliens; am widerstandsfähigsten sind die Loros der Philippinen, die in englischen Parks frei überwintern; es gibt merkwürdig aussehende Papageien — wie den rotbäckigen Arara-Kakadu von Neu-Guinea, der eine großartige Helmzier grünlich-schwarz schillernder Federn aus dem Nacken spreizt, oder den Fächerpapagei vom Amazonas, der, erregt, eine breite Halskrause von Karminrot und Blau sträubt und dabei die Backen aufplustert wie einst mein Lateinprofessor, wenn ich — heu, me miserum! — Gerundium mit Gerundivum verwechselte. Wie gesagt, es gibt buntere, abenteuerlichere, gelehrigere und widerstandsfähigere Papageien als eine Hyazinth-Arara. Ich weiß nicht, ob es schönere gibt; darin bin ich voreingenommen. Aber ich weiß gewiß, daß es keine besseren gibt. Ich blicke den großen dunklen Vogel an, das Urwaldtier, dem der Schlaf die letzte — nun auch schon gestörte — Zuflucht gewährt, in. der vorgeatmeten Luft, den engen Gittern, vor den gespenstisch fremden Gesichtern, die ihn bestarren, dem Zumessen von Speise und Trank, der engherzigen und überflüssigen Trennung von den anderen Gattungen und Arten seiner Mittiere. Wie konnte ich erwarten, daß diese verschüchterte Hyazinth-Arara mir traute, obschon ich ihr so gern etwas Liebes gesagt hätte? Doch wie fände mein Menschenhirn Zugang in ihr Vogelherz? Vielleicht nach Tagen; vielleicht nach Monaten; vielleicht überhaupt nicht.
„Zweieinhalb Contos . . ." Ich frage den Tierhändler, was sie kostet. „Zweieinhalb Contos", sagt er. Und „Beeilen Sie sich!" fügt er hinzu, wie er mich zusammenschrecken sieht — denn zweieinhalb Contos sind einhundertfünfzig USA-Dollar, über sechshundert Mark. — „Aber zweieinhalb Contos?. ..", zögere ich, „Geld ist knapp heute." „Und sind Araras vielleicht häufig?" gibt er zurück. „Wissen Sie, was jetzt allein der Transport kostet? Und die Verkaufslizenz für einheimische Vögel?" — Auch damit hat er recht. Um die einheimischen Tiere zu schützen, macht die brasilianische Regierung ihren Verkauf von einer Genehmigung abhängig, die sie sich gut bezahlen läßt. So haben beide etwas davon: die Tiere, die, weil 4
Arara sind gewandte Turner
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sie teurer sind, weniger verkauft und deshalb auch weniger gefangen werden, und der Staat, der die Gebühren kassiert. Ein Naturschutz mit gesundem Menschenverstand. Das einfache Verbot, einheimische Tiere zu fangen, ließe sich im Urwald doch nicht überwachen. „Ich will es mir überlegen", zaudere ich. Er zuckt die Achseln. — Mag er! Wo findet er bald einen andern, der in diesem verwahrlosten Tier die Auslese des Ararageschlechts erkennt? Einen, der genug Phantasie hat, diesen verschreckten trüben Vogel zwischen den goldgelben Trauben einer Königsakazie kobaltblaue Flügel spreizen zu sehen? Der dieses vor Müdigkeit schwankende Tier vor Lebensfreude tanzen sieht? Also nicke ich dem Alten zu: „Ich will es mir überlegen."
Zu Hause überlege ich es mir also. Wozu? Zaudern soll man nicht. Also werde ich Lord kaufen, nicht zuletzt damit er „Selma" Gesellschaft leisten kann. Selma ist eine blau-gelbe Arara, die ich schon lange besitze, ein schönes und anhängliches Tier, nur etwas zänkisch. Sie behandelt mich wie eine Mutter, die ihr Kind von Herzen liebt, ihm aber nicht in die Nähe kommen kann, ohne es zu puffen und an ihm herumzuzupfen. Ablenkung würde ihr gut tun, dachte ich. Als ich Lord gekauft und bezahlt hatte, bat ich, ihn mir reisefertig zu machen. Ich hatte an einen Transportkäfig gedacht, doch als ich ihn abholte, sah ich, daß der Tierhändler eine Zuckerkiste für ausreichend gehalten hatte. Eine recht kleine Zuckerkiste noch dazu; ich konnte sie unterm Arm tragen. Ich hätte nicht gedacht, daß sich eine Hyazinth-Arara darin unterbringen ließe. Wirklich, diese Arara hatte keinen Grund, sich mit Menschen zu befreunden. Sie war so niedergeschlagen, daß ich zweifelte, ob ich sie würde durchbringen können. Manche Papageien sterben an Heimweh. Hängenden Kopfes, doch ohne einen Versuch zu machen, sich mit ihrem gefährlichen Krummschnabel zu wehren, ließ sie sich von mir daheim auf den Ständer bringen. Da sie zu schwach war, auch nur die Holzstange zu umklammern, stellte ich sie auf den sandbestreuten Untersatz, wo sie sich mit Füßen und Flügeln schwankend im Gleichgewicht hielt. Futter beachtete sie so wenig wie Wasser. Ich wußte, daß es sich empfiehlt, Araras gleich beim Empfang eine Freundlichkeit zu erweisen. Sie haben ein gutes Gedächtnis. So 6
hatte ich der blau-gelben Selma schon am ersten Abend die Fußfessel abgenommen, mit der sie im Tierladen angekettet gewesen war — einen Eisenring, der sie quälte, weil er zu eng war und den Lauf wundrieb. Von jenem ersten Abend an hatte sie mir ihr Herz geschenkt. Bei Lord aber war es anders. Da ich ihn in möglichster Freiheit lassen wollte, mußte ich ihm wohl oder übel einen Flügel stutzen. Ich sah den Schnabel der Arara, der wie ein Türkensäbel und außerordentlich stark war, und hielt es für geraten, den Flügel zu stutzen, solange Erschöpfung sie wehrlos machte. So habe ich ihr als erstes eine Unfreundlichkeit angetan; ich will nicht sagen eine Verstümmelung, denn Federn erneuern sich alljährlich; nicht einmal einen Schmerz, denn sachgemäßes Flügelstutzen darf einem Vogel so wenig weh tun wie uns ein Haarschnitt; aber doch einen Eingriff, den sie als feindlich empfinden mußte. Sie hob die gelbe Haut von ihren dunkelbraunen vorgewölbten Augen und sah mich hilflos traurig an. Doch was war zu tun? Kürzte ich den Flügel nicht, entfloh sie gewiß am nächsten Morgen und mußte fern der Heimat und deren Palmnüssen zugrunde gehen. In einem Käfig aber wollte ich sie nicht sehen. Nicht, weil sie in ihm gelitten, sondern weil sie sich an ihn gewöhnt hätte. Als ich der Hyazinth-Arara einen Flügel gestutzt hatte, stellte ich sie mit ihrem Ständer in die Küche, wo schon Selma auf dem Fensterbrett saß und Papagei Tommy, der Blaustirn-Amazonas, aus einer Ecke hinterm Eisschrank gackernd gegen die Störung protestierte. Wenn Tommy sich entrüstet, stellt er sich an wie ein balzender Auerhahn. Balzt er wirklich, so gurrt er dabei. Ärgert er sich aber, spreizt er zwar auch seine Schwanz- und Schwungfedern mit all ihren roten Augen und blauen Säumen, stößt aber dabei ein kehliges Gackern aus. Tommy ärgerte sich also, während Selma sich nur wunderte. Die nachtdunkle Pupille in ihrer schwefelgelben Iris zog sich so rasch zusammen und erweiterte sich wieder, wie das nur erstaunte Araras fertigbringen. Lord aber sank in sich zusammen und schwankte nun, da ihr ein Flügel gestutzt war, schief auf Flügelspitzen und einknickenden Beinen. Ich' drehte das Licht ab und hätte mich nicht gewundert, wenn ich sie am nächsten Morgen tot auf dem Rücken gefunden hätte. — Ich dachte an die zweieinhalb Contos. So ist der Mensch . . .
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Die Feinschmecker Am nächsten Morgen fand ich sie schon rüstiger. Sie hielt die Holzstange mit einem Fuß umklammert, während sie mit dem andern ein Maiskorn zum Schnabel führte, ein einzelnes Maiskorn, das sie genießerisch beknabberte, während sie die Banane und die Sonnenblumen-Kerne, die ich ihr abends in den Futternapf getan hatte, unberührt ließ. Nur die Maiskörner suchte sie heraus und verzehrte sie langsam, indem sie die gelbe Schale und das weiße Innere zwischen den scharfen Schnabelrändern zerrieb. Vermutlich hatte sie, seit sie gefangen worden war, nichts anderes als Maiskörner bekommen und selbst die so spärlich, daß Hunger sie gelehrt hatte, das Letzte aus ihnen herauszuholen. Sonst sind Araras launenhaft beim Fressen und verschwenderisch dazu. Wenn sie einige Male das gleiche Futter bekommen, verschmähen sie es. Heute schwelgen sie in Erdnüssen, morgen werfen sie die Nüsse mit dem Napf unmutig auf den Boden; einmal gieren sie nach einem Apfel, ein andermal picken sie ihm nur die Kerne aus. Selbst an der Grundlage des Papageienfutters, Mais und Sonnenblumenkernen, überessen sie sich und verschmähen es dann wochenlang. Obschon Körnerfresser, halten sie sich manchmal nur an Obst. Oder an Käse. Oder an Butterbrot. Oder an Zwieback. Tommy hatte eine Zeitlang an Fischgräten Geschmack gewonnen und suchte den Mülleimer nach ihnen ab. Damals verschmähte er Orangen, die ihm sonst das Liebste sind. Arara Selma ist eine besondere Feinschmeckerin. Sie lehnt jedes Futter ab, das nicht tadellos frisch und genauso ist, wie sie es sich wünscht. Sie wirft ihr Morgenfutter fort, wenn es in kalte statt in warme Milch getaucht ist. Vom Käse schält sie die Rinde verschwenderisch dick ab. Nur eine Vorliebe hat sie im Laufe all der Jahre beibehalten, die sie mit mir teilt: Zwetschgenknödel. Stehen Zwetschgenknödel auf dem Mittagstisch, läuft sie schnurstracks auf die Schüssel zu und ist nicht mehr von ihr zu vertreiben. Arara Selma hat, seit sie bei mir ist, ihren Platz am Mittagstisch. Sie sitzt auf einer Stuhllehne, die sie mit vielen eingebissenen Kerben markiert hat, und sieht mir beim Essen zu. Kommt ein Gericht, das ihr schmeckt, turnt sie auf den Tisch hinunter (wobei sie sich, wie alle Papageien, auch auf den Schnabel stützt) und nimmt, was ihr schmeckt, um es auf ihrer Stuhllehne zu verzehren. Das macht sie zierlich und ohne mehr zu beschmutzen als dabei unvermeidlich ist. Nicht alle Menschen essen so sauber. Nur wenn es Zwetschgenknödel gibt, verliert sie ihre Anmut. 8
Dann setzt sie sich vor die Schüssel wie vor einen Trog und schmatzt sich in den Kropf, was hineingeht. Zwischendurch stößt sie kleine beglückte Schreie aus und drückt, um Raum für mehr zu schaffen, mit heftigem Kopfnicken den Kropfinhalt zusammen. So habe ich sie schon eineinhalb Zwetschgenknödel verdrücken sehen, und ihr Hals war nachher dick aufgetrieben. Ihre Vorliebe widerspricht jenen Naturforschern, die lehren, daß Tiere sich, im Gegensatz zum Menschen, „naturgemäß" ernähren. Der Instinkt der Tiere, meinen sie, bevorzuge die Nahrung, die ihnen die Natur bestimmt hat. Für die natürliche Nahrung der Araras werden „besonders steinharte Palmnüsse gehalten, die sie mit den gewaltigen Schnäbeln zertrümmern." Nun, ich habe die Probe aufs Exempel gemacht und Selma Palmnüsse und Zwetschgenknödel nebeneinander vorgelegt. Sie hat sich über die Zwetschgenknödel hergemacht, ohne die steinharten Palmnüsse auch nur eines Blickes zu würdigen. Welcher Instinkt treibt Selma zu den Zwetschgenknödeln meiner heimatlichen Küche? Weshalb strebt sie ihnen, die doch auf keinem Baum ihrer heimatlichen Wälder wachsen, so leidenschaftlich entgegen? Die landläufige Annahme einer „natürlichen" Nahrung übersieht, glaube ich, daß sie nicht nur vom Körperbau des Tieres — seinem Freßorgan, seiner Darmlänge und anderem mehr — sowie von seiner Lebensweise als Tag- oder Nacht-, als Baum- oder Erdtier abhängt: sondern einfach auch vom Vorhandensein der Nahrungsmittel. Die Pferde auf Grönland fressen Fische, und sie bekommen ihnen; viele Fische gedeihen mit „Ameiseneiern", deren sie natürlicherweise nie habhaft werden, besser als mit der Nahrung, die ihnen die Natur vorsetzt; Rehe und Hirsche bevorzugen Roßkastanien; ich kannte eine Ziege, die nichts lieber fraß als ägyptische Zigaretten; die Beispiele ließen sich beliebig vermehren, daß der „natürliche Instinkt" der Tiere sich des öfteren als einfaches Begnügen mit den vorhandenen Möglichkeiten erweist, und daß diese nicht immer die günstigsten sind. Wie weit war Lord, als er zu mir kam, von allem verwöhnten Leben entfernt! Da nagte er bescheiden an einem Maiskorn, das er zwischen den Krallenspitzen seiner schlanken schwarzen Zehen festhielt... Alle Papageien benutzen ihren Fuß als Hand, und das vor allem sst ihre Eigentümlichkeit, vom sperlingskleinen Wellensittich an bis zum größten und gütigsten Papagei auf der entgegengesetzten Seite der Erdkugel: der Hyazinth-Arara. Wer die affenartige Be9
hendigkeit beobachtet, mit der eine Arara ihre handartig zupakkenden Füße benutzt, wird sie als das Merkmal würdigen, das die in Größe, Lebensweise und Charakter so sehr verschiedenen Papageienarten in die gleiche Familie einordnet. Es dauerte Wochen, bis Lord sich auch an andere Nahrung gewöhnte, und auch dann nahm er sie nur als gelegentlichen Leckerbissen an. Paranüsse, Erdnüsse, Sonnenblumenkerne, Brot, Käse Knochen, Obst hat er nur nebenbei gegessen. Das rechte Essen war für ihn Mais. Er hat ihn nie verschmäht und nie verschwendet. Mais war für ihn wie Brot für uns Kinder. Fiel uns ein Brot auf die Erde, hielt uns die Großmutter an, es zu küssen, nachdem wir es aufgehoben hatten. Wie uns das Brot, war ihm der Mais heilig. Ich habe in meinem Leben manches teure Essen genossen, aber meinen Respekt vor Brot habe ich so wenig verloren, wie Lord den seinen vor Mais. Mich hatte es die Großmutter gelehrt, ihn Not und Fremde. Was mir immer wie ein Wunder erschien, war, daß Not und Fremde seinen Charakter unbeschädigt gelassen hatten. Sie hatten ihn weder unterwürfig gemacht noch frech, sie hatten seine reine Seele nicht getrübt. Unbefangen, herzensgut, fröhlich und bescheiden fügte er sich in sein Schicksal. Sein Leib mochte erschöpft, sein Gefieder zerknittert sein: Unbeschädigt war sein Charakter dem Pferch der engen Kiste entstiegen. Die Güte der Hyazinth-Arara gab sich indessen nicht mit einem Male oder auch nur offen kund. Im verstörten Tier war sie zunächst nur als vorhanden zu vermuten, im Fehlen jeglicher Feindseligkeit, die nach so viel mißhandelnder Entbehrung zu erwarten gewesen wäre. Gewöhnen sich Araras an einen Menschen, können sie ihn von Herzen lieben. Es sind Fälle verbürgt, in denen sie ihm in den Tod gefolgt sind, indem sie sich verhungern ließen. Andere freilich verweigern ihre Zuneigung unabänderlich. Ihre Freundschaft läßt sich weder erschleichen noch erzwingen. Lord war eine von den Anschmiegsamen. Niemals, nicht einmal in der Zeit des ersten Entsetzens, hat dieses gütige Wesen von seiner Waffe Gebrauch gemacht, dem schweren scharfen Schnabel. Nie, so lange ich Lord um mich hatte, hat er mich mit ihm verletzt oder auch nur bedroht. Hielt er mir seinen mächtigen Krummschnabel hin, bedeutete es die gutmütige Einladung, daß ich ihn daran aufheben sollte wie an einem Henkel. Der starke, kugelig gewölbte Schnabel ist eine wahrhaft abenteuerliche Erscheinung. Das Eigenartigste an diesem Schnabel ergibt sich aber erst bei aufmerksamer Beobachtung: daß nämlich sein 10
Manni Hesse
Digital unterschrieben von Manni Hesse DN: cn=Manni Hesse, c=DE Datum: 2007.01.11 17:51:55 +01'00'
Oberschnabel nicht wie bei anderen Vögeln — oder wie unser eigener Oberkiefer — mit dem Schädel starr verwachsen, sondern gelenkig verbunden ist, so daß er auch für sich gehoben werden kann. Mein Blaustirn-Amazonas Tommy macht von diesem Vorzug, den Oberschnabel zu heben, Gebrauch, um zu gähnen, wobei er_ mit stillgehaltenem Kopf Ober- und Unterschnabel gleichzeitig öffnet, was mich immer wieder erheitert, ohne daß ich anzugeben wüßte, warum. Selma und Lord benutzen hingegen die Gelenkpfanne ihres Oberschnabels nur ausnahmsweise, so daß es schwer hielte, sie eben daran als Papageien zu erkennen. Auch müßte man schon sehr vertraut mit ihnen sein, um feststellen zu können, daß ihr Oberschnabel innen Rillen hat, die Nüssen und Körnern festen Halt geben. Eine Hyazinth-Arara hat den stärksten Schnabel aller fünfhundertachtzig Papageienarten. Eine ihrer gebräuchlichsten zoologischen Benennungen ist deshalb „Anodorhynchos hyacinthicum", wobei sich das schwer aussprechbare „Anodorhynchos" aus dem griechischen „anodos" — „unmöglich" und „rhynchos" — „Schnabel" zusammensetzt, so daß es einen Schnabel geradezu unmöglicher Form bezeichnet. Aber dieser Schnabel ist kein Zeichen der Bösartigkeit. Wer sich mit Araras beschäftigt, weiß, daß die ihnen oft zugeschriebene „Bosheit" meist nur Ausdruck ihrer Nervosität ist, und er verargt sie ihnen nicht, weil er sich vorstellen kann, wie viele instinktive Hemmungen ein scheuer Urwaldvogel überwinden muß, um in vertrauten Umgang mit Menschen zu kommen. Sind doch in freier Natur Menschen die einzigen gefährlichen Feinde der Araras, und deren immer wieder aufzuckender Schreck vor ihnen ist nur allzu berechtigt. Wen sonst als Menschen hätte eine freilebende Arara zu fürchten? Kein Vogel ihrer heimischen Wälder wagt, sie anzugreifen, und wie könnte ein nächtlich räuberndes Opossum oder gar ein Jaguar den schwanken Ästen ihrer Schlafbäume zu nahe kommen? Der Mensch freilich —. Weshalb verfolgt er die schönen, klugen Papageien? Zunächst aus Abwehr, weil sie ihm Obst und Mais wegfressen. So rückt er ihnen zu Leibe. „Kühne Waghälse", so berichtet Brehm, „lassen sich an den Felswänden, in welchen südamerikanische Arten brüten, hinab und ziehen die Jungen mit Haken aus den Nesthöhlen; Sonntagsschützen und zünftige Jäger versuchen sie zu beschleichen, während sie fressen. Die Jungen werden, wenn die Nistbäume unbesteigbar sind, durch Fällen der Stämme gewonnen, es werden Netze, Leimruten und dergleichen gestellt." Zugegeben, die Papageien schaden. Zugegeben, daß sie in Felder 11
Das Knacken der Erdnüsse ist für diesen Schnabel ein Kindi
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einfallen und fressen, was der Landmann mit Mühe gepflanzt hat; zugegeben, daß sie noch mehr verschleudern als sie fressen, denn Papageien sind geborene Verschwender; zugegeben, daß der erzürnte Landmann sich wehrt. Selbst über Gebühr wehrt — auch das zugegeben. Aber es ist leider nicht alles. Noch öfter werden die Vögel ihrer schönen Federn wegen gejagt. Dabei nützt ihnen, wie Brehm es ausdrückt, „weder List noch Wehrhaftigkeit. Sie müssen der einen oder der anderen der unzähligen Listen des Menschen schließlich doch erliegen."
Lord in der neuen Heimat Lords gute dunkle Augen spähten munter in die neue Umwelt. Sie war, wie er bald erkennen mußte, recht eng, doch immerhin bequemer als Zuckerkiste oder Käfig; es ließ sich, merkte er, in ihr leben. Konnte Lord auch nicht weit fliegen, so konnte er wenigstens weit sehen, denn mein Haus steht auf einer Klippe und überblickt ein großes Stück von Insel und Bai; seitlich rahmen den Blick schöne alte Mangobäume ein. Fern hinter den Bergen, dort, wo die Flugzeuge hinzielen, die über mein Haus brausen, liegen Bahia, Recife, Belem, Manaus, das ungeheure Amazonastal, das der HyazinthArara Heimat war . . . Auch die nähere Umgebung fand sie erträglich. Da war die Küche mit dem Schlaf Ständer; da war der Garten, zwar nur ein paar tausend Quadratmeter, doch immerhin mit Bäumen und Sträuchern, mit Ästen zum Knabbern und Kieseln zum Spielen; und da war — vor allem — der Mensch, der sie aus der Kiste befreit hatte! In den ersten Tagen bei mir aß Lord fast unablässig. Mit genießerischer Langsamkeit knabberte er die Maiskörner auf, die er nun auskömmlich vor sich hatte. Die zureichende Nahrung kräftigte ihn, und seine von der Enge steifen Glieder regten sich. Am vierten Tag rief mich ein heftiges Rauschen in den Garten: Lord war es, der seine breiten Flügel schlug. Als er mich sah, streckte er mir den Kopf zu und ließ sich mit geschlossenen Augen zutraulich kraulen. Von Anfang an hatte er mir vertraut. Ich brauchte ihm nur die Hand hinzuhalten — ein Finger war seinen großen Füßen zu dünn —, und schon stieg er auf und kletterte mir über den Arm auf die Schulter. Anfangs stieg er noch auf den Kopf hinauf, aber er hat eingesehen, daß es zu rutschig für ihn und zu kratzig für mich war. 13
Sonst strebte Lord immer auf den höchsten Punkt des Ständers, der Küchenleiter, des Hausdachs; auf den höchsten Ast des höchsten Baums im Garten, einer weitschattenden Wildfeige, deren dunkelgrünen Wipfel sein blaues Gefieder gleich einem Saphirknopf abschloß. Ihn von dort herunterzuholen, machte keine Schwierigkeiten. Er brauchte mich nur zu sehen, so kletterte er auch schon der Stange entgegen, die ich ihm zum Absitzen hinhielt. Später habe ich dem Baum die niedrigen Äste gekappt, damit Lord nicht allein herunterklettern konnte. Zu schnell wurde er des Baumes überdrüssig und spürte mich auf. Gleich wo ich war: er suchte mich. Systematisch. Im Obstgarten und im Blumengarten, auf der Terrasse und in der Loggia. Wußte er mich schließlich im Haus, hielt ihn nicht Tür noch Fenster auf. An den Kletterpflanzen, die das Haus umranken, zog er sich mit dem Schnabel hoch und stemmte mit den kräftigen Beinen nach, wobei er sich weder von den Stacheln der Bougainvilleas zurückhalten ließ noch vom ätzenden Milchsaft, den die Allamanda aus den abgebrochenen Stielchen ihrer Blätter und gelben Trichterblüten absondert. Hatte die Hyazinth-Arara derart das Fensterbrett meines Studios erreicht oder, bei geschlossenem Fenster, wenigstens einen Fensterladen, brach sie in ein krächzendes Triumphgeschrei aus. Ihr Trieb zu mir war unwiderstehlich. Und unwiderstehlich war sie selbst, wenn sie, mutwillig, mit beiden Füßen zugleich, vom Fensterbrett auf den Schreibtisch sprang. „Siehst du nicht, daß ich arbeite?" fragte ich dann wohl vorwurfsvoll. Sie gluckte, als wollte sie beteuern: „Ich werde gar nicht stören", und kletterte auch schon auf die Schulter, um ihren großen Kopf zärtlich an meiner Wange zu reiben. Dabei schnurrte sie wie eine Katze. Gleich einer Katze schien sie auch die Fähigkeit zu haben, ihre spitzen Krummkrallen einzuziehen. Ich weiß, daß ihr das anatomisch unmöglich war! Aber es schien doch so, als ob sie es fertigbrächte, denn ich spürte nur die weichen Ballen, welche die Zehen der Papageien — gleich den Fingern der Menschen — bis unters letzte Glied unterpolstern.
Sie ? — Er ? — ich weiß nicht recht Es wird Zeit, die Hyazinth-Arara, die vorher als leidende Gefangene beschrieben wurde, so vorzustellen, wie sie erholt und sauber aussah, wohlgenährt, nach viel Flügelspreiten in Sonne und 14
Regen und — vor allem — nach dem ersten Federwechsel außerhalb des Käfigs, nach einem halben Jahre etwa unseres Zusammenseins. Sie? — Er? — Ich weiß nicht recht. Als Arara war sie weiblichen Geschlechts, so wie man ja „die" Krähe auch dann sagt, wenn man eine männliche Krähe meint; hingegen wäre sie nach ihrem Namen „Lord" männlich zu nennen. Zu dieser grammatikalisdien Schwierigkeit, der ich bisher nicht ohne Mühe ausgewichen bin, kommt die tatsächliche: daß Arara-Männchen und -Weibchen gleich aussehen. Das Geschlecht einer gefangenen Arara läßt sich nur schwer bestimmen. Bei einem freilebenden Weibchen bestünde immerhin die Möglichkeit, es beim Eierlegen zu überraschen; sie brüten zu sehen, hülfe wenig, da das Paar sich dabei abwechselt. Da nun aber Araras sehr scheue und listige Vögel sind und das Weibchen nur zwei Eier jährlich legt, kenne ich keinen Fall solcher Geschlechtsbestimmung. In Gefangenschaft pflanzen sich Araras auch dann nicht fort, wenn man ihnen verhältnismäßige Freiheit läßt. Hyazinth-Araras sollen in Löchern steiler Felsufer nisten; genau aber weiß man das nicht. Der Schweizer Tierforscher Goeldi, der sein Leben in Brasilien, dem papageienreichsten Land der Erde, zugebracht und die Tiere aufs genaueste beobachtet hat, bedauert, er habe „über Nest und Eier der Hyazinth-Araras keine Nachrichten, die Vertrauen verdienten." Er empfiehlt, sie von Indianern einzuholen. Das ist bisher noch nicht geschehen; und geschähe es auch, würde es nicht viel nützen, denn der Maßstab, den diese schlichten Naturkinder an Wahrheit und Lüge anlegen, stimmt mit dem unsern nicht überein. Hingegen ist der Nestbau der blau-gelben Araras bekannt, deren Art meine Selma angehört. Daran sind sie selbst schuld, weil sie ihr Nest nicht groß genug machen, ihr Schwanz sieht heraus: „An dem weißen Stamm einer Palme", berichtet ein Beobachter, „wird ein glänzender Schweif von himmelblauen Federn sichtbar; er verrät die gelbe Arara, die dort beschäftigt ist, ein Spechtloch mit ihrem starken Schnabel zum Nest zu erweitern, aus dem jedoch der halbmeterlange Schmuck auch beim Brüten heraushängt." Heutzutage läßt sich das kaum mehr beobachten. Je weiter nämlich der Mensch vordringt, in um so entlegenere Wälder ziehen sich die Araras zurück. Doch bleiben wir bei Lord! Ein herrlich kobaltblau glänzender Vogel; orangegelbe Hautsäume um Schnabel und Augen setzen die 15
einzigen Farbkontraste. Der massive schwärzliche Krummschnabel nimmt mehr als die Hälfte des Kopfes ein. Doch was ist damit schon beschrieben? Kann man mit Worten malen? Selbst Brehm begnügt sich mit einem unanschaulichen „Größe und eigentümliche Schönheit würdigen die Hyazinth-Arara." Wahrlich, wer Lord so dasitzen sah, mußte ihn als ein Meisterstück der Schöpfung bewundern! Sogar die Buben der Nachbarschaft hatten Respekt vor ihm. Mit Tommy halten sie kameradschaftliche Zwiesprache: Er ruft sie „Molequez" („Lausbuben"), und sie antworten ihm je nach Laune mit „Louro!" („Blondkopf!" — denn er hat gelbe Backen) oder mit einem etwas minder Harmlosen. Die wichtigtuerische „Selma" suchen sie mit einem „Arara feia!" („Häßliche Arara!") oder „Arara boba!" („Blöde Arara!") zu demütigen — eine Absicht, die an Seimas Selbstbewußtsein scheitert, denn je mehr sie schmähen, um so eitler rauscht sie mit dem türkisblauen und dottergelben Atlas ihres Gefieders. Lord aber habe ich die Buben nie anders nennen gehört als „Arara", und das in einem Ton 'achtungsvollen Staunens, den "die Bengel sonst nicht anwenden.
Ein Tier-Porträt Welch ein bewundernswertes Bild war es auch, den großen Vogel mit ausgebreiteten dunkelblauen Flügeln auf dem höchsten Gipfel des Gartens oder — ein noch lebhafterer Kontrast — auf dem ziegelroten Dachfirst zu sehen! Mit dem Wipfelast schwang er sich wie ein Kind auf der Schaukel, und auf dem Dach plusterte er sich auf, als wolle er jede einzelne Feder in der Sonne schimmern oder vom Regen waschen lassen. Denn wenn es etwas gab, was er noch lieber hatte als die warme Morgensonne, dann war es der schüttende tropische Gewitterregen, der ihm aufs Gefieder prasselte, als seien die Tropfen erbsenhart. Dann bog und streckte er sich, schrie laut auf vor Freude und sträubte 'Flügel und Schwanz steil hoch ins köstliche Naß. Doch auch das ist noch kein Porträt. Stellen wir ihn exakt vor, in Zentimetern. Es hat mich so viel Mühe gekostet, meine Hyazinth-Arara zu messen — außerdem hat sie mir dabei einen Zollstock zerknackt — daß ich die Ziffern festhalten möchte, die ich ihr schließlich mit einem metallenen Meßband abgewonnen habe. Also: Gesamtlänge ein Meter zwei; Flügel — der ungestutzte, versteht sich — dreiundvierzig Zentimeter; Schwanz — er bestand aus zwölf 16
Ein Arara-Pärchen 17
nach der Mitte hin stufenförmig sich verlängernden, besonders schönen Federn, die er sich geschmeichelt abzählen ließ und dann noch, wie um selber nachzuzählen, einzeln knisternd durch den Schnabel zog — siebenundfünfzig Zentimeter (mehr als die Hälfte der Gesamtlänge also); Schnabel — es war bei dieser Gelegenheit, daß er den Zollstock zerbiß — achteinhalb Zentimeter. Seine Daunen- und die Wurzeln seiner Außenfedern waren grau, die Körperhaut von einem seltsamen Schwefelgelb, wie ich es sonst bei keinem Vogel gesehen habe. Wo sie um Augen und Schnabel zutage trat, war sie hell orangefarben, wachsartig anzufühlen und sehr dehnbar. Genaueres Zusehen ergab, daß sich das herrlich glitzernde Dunkelblau seines Gefieders aus vielerlei blauen, violetten, grauen und schwarzen Tönungen zusammensetzte. Tatsächlich war keine seiner Federn einfarbig kobaltblau; bei manchen war die Unterfläche grau, die meisten waren schwärzlich umrandet, einige Schwungfedern glänzten blauschwarz wie Damaszenerklingen. Sein Auge war verhältnismäßig groß, stark gewölbt und so dunkel, daß es schwarz wirkte. Meist drückte es Munterkeit und Zärtlichkeit aus. Nie habe ich es zornig funkeln sehen mit ärgerlich verengter Pupille wie das helle Auge Seimas, wenn man bei Tisch ein Gericht von ihr fernhält, weil Petersilie drin ist. Petersilie soll für Papageien giftig sein. Ich weiß nicht, ob das wahr ist, und der Eifer, mit dem Selma gerade solchen Gerichten zustrebt, läßt darauf schließen, daß sie selbst es für Aberglauben hält. Ich will aber doch nicht riskieren, sie den Gegenbeweis führen zu lassen. Ist sie aus diesem oder einem anderen Grunde unmutig, blickt sie mich aus verengter Pupille an wie eine ärgerliche Person aus zusammengekniffenen Augen. Nie tat das Lord. Er ärgerte sich nicht. Er freute sich meist über sich und andere. Es kam vor, daß er erschrak. Manchmal sah man ihm an, daß er litt; ärgerlich aber oder zornig wurde er nie. Er war wie ein Tier vor dem Sündenfall. Es war nichts Böses an ihm. Das ist schwer zu schildern. Vielleicht verdeutlicht es ein kleines Beispiel: Lord liebte Metall, vermutlich, weil es seinem Schnabel gediegenen Widerstand leistete. Meine Werkzeuge hatte ich vor ihm in acht zu nehmen. Arbeitete ich mit ihnen, hüpfte er aufmerksam um mich herum, und mein „Wo ist die Zange?" und „Wer hat den Bohrer?" war dem Negerdiener schon so zur Gewohnheit geworden, daß er, ohne erst zu antworten, in der Ecke unter der Küchentreppe nachsah, wohin Lord seine Beute zu verschleppen pflegte. 18
Lag nichts Gewichtigeres in Reichweite seines Schnabels, nahm er wenigstens einen Nagel. Er war dabei so schnell, daß der Kistennagel, den ich eben bereit gelegt hatte, verschwand, während ich nach dem Hammer griff. Wohin? Lord sah mich mit einem Auge an, das vor Freude strahlte. Vor Freude, wiederhole ich, nicht vor Schuldbewußtsein. Mit beiden Füßen zugleich, wie ein Kind, das über die Schnur springt, hüpfte er um die Hausecke dem Treppenwinkel zu, seinem Versteck, dem er trotz aller Enttäuschungen so treu blieb wie mir. „Lord!" mahnte ich. Gehorsam drehte er sich um, um mir zu zeigen, daß er nichts im Schnabel habe. Jedenfalls nichts, was zu sehen war. Ich öffnete den Schnabel, was er geduldig geschehen ließ, und fand darin den Kistennagel, den er wie ein Degenschlucker untergebracht hatte; er reichte ihm bis in den Schlund. „Lord!" mahnte ich ärgerlich, denn der Nagel war krumm. Im Augenblick, da er ihn versteckte, hatte er es auch zuwege gebracht, ihn zu verbiegen. So außerordentlich stark war der Schnabel; Paranüsse, die sich dem Nußknacker nur widerwillig öffnen und die selbst Selma erst im Schnabel herumdreht, um die richtige Stelle zum Aufknacken zu finden, biß er spielend auf. Hatte ich ihm den Nagel abgenommen, blickte er mich mit freundlich schief gelegtem Kopfe an. Gefällig, nicht schuldbewußt. Das Bewußtsein einer Schuld war seiner reinen Seele fremd. „Das sollst du nicht!" mahnte ich. Das war zwecklos. Er pirschte sich schon an die Zange heran. „Das ist nicht recht!" begründete ich. Gänzlich zwecklos! Selbst wenn er meine Worte verstanden hätte, wäre ihm der Sinn fremd geblieben.
Lebensängste Von Tag zu Tag machte sich Lord mit der neuen Umgebung vertrauter. Bald entwickelte er einen ausgesprochenen Eigentumssinn, er kannte die Grenze des kleinen Grundstücks; überschritt sie ein Fremder, schrie er auf. Fremdes erschreckte ihn tief, ob Mensch oder Tier oder auch nur ein Klang — das Aufbrummen eines Flugzeugpropellers etwa oder der rasselnde Schrei eines „Martinsfischers", der in Brasilien unseren Eisvogel vertritt. Alle Papageien sind nervös, und zwar eigenartigerweise um so nervöser, je größer sie sind. Man sollte meinen, daß die Großen 19
sich weniger zu fürchten hätten als die Kleinen; tatsächlich fürchten sie sich mehr. Ein zarter Wellensittich ist gegen Fremde zutraulicher als ein Papagei durchschnittlicher Größe, während dieser wiederum minder schreckhaft ist als eine große Arara. Mein etwa taubengroßer Tommy läßt sich von keinem Hund einschüchtern. Mit der Hündin „Drolly" spielt er gern und zwickt sie bisweilen so schmerzhaft — vorzugsweise ins Ohr —, daß sie jaulend ausrückt. Dafür versucht Drolly, ihm mit der Pfote den Schwanz an den Boden zu drücken und ihn, so angenagelt, zappeln zu lassen. Wird Drolly von einem fremden Hund besucht, scheucht Tommy ihn, und sei er noch so groß, zornig gesträubten Gefieders aus seiner Nähe. Die blau-gelbe Selma ist schon vorsichtiger. Gegen Drolly hält sie gebührend Abstand. Gelegentlich wirft sie ihr einen Hühnerknochen oder einen Bissen Käse vom Tisch hinunter — „kleine Geschenke erhalten die Freundschaft". Nagt Selma einen Hühnerknochen ab, sitzt Drolly sabbernd unter ihr und wedelt beflissen. Begegnen sie aber einander auf dem Boden, schlägt Selma einen respektvollen Bogen um die starke schwarze Hündin. Lord schließlich,- der an die zwanzig Zentimeter länger und erheblich stärker war als Selma — zu schweigen davon, daß sein Schnabel doppelt so groß war wie der ihre — hatte vor Drolly richtig Angst. Das erkannte die Hündin bald und mißbrauchte es. Während sie vor dem kleinen Tommy Respekt hatte und sich mit Selma immerhin vertrug, scheuchte sie den um so viel stärkeren Lord blaffend in die Flucht, und so gern er in der Erde grub: Vor ihr flatterte er eilends dem nächsten Baum zu. Angesichts fremder Hunde aber verlor Lord vor Angst die Besinnung. Mit schneidender Schärfe schrie er dann um Hilfe. Kam ich herbeigelaufen, weil ich ihn schon in den Krallen einer wilden Katze oder eines „Gamba" (einer auf Vogelblut gierigen Opossum-Art) fürchtete, fand ich meist nur den lächerlichen Spitz „Toto", den Kinderhund von nebenan, vor, oder Lord starrte entsetzt auf eine weidende Kuh jenseits der Straße. Einmal fürchtete ich schon, er stürbe vor Angst — denn bei Araras kommt das tatsächlich vor! — weil ein Zicklein an dem Baum knabberte, auf dem er saß. Jämmerlich verschreckt ließ er die Flügel hängen, und seine Brust hob sich keuchend. Gegen Lords Angst war auch dann nichts zu machen, wenn sie sinnlos war. Sie entsprach, denke ich, seiner Güte. Denn Güte macht wehrlos. 20
Hat er sich doch selbst vor den Schmetterlingen gefürchtet, die beim Fliegen knistern. Und gerade diese, die bläulich graue Ageronia feronia und die dunkelblaue, hellgebänderte Ageronia arete, sind die häufigsten Tagfalter meines Gartens. So war denn auch gegen sein Angstgeschrei nichts zu machen. Fürchtete er sich, schrie er eben. Sein Notschrei war so durchdringend, daß er sich mit keiner europäischen Tierstimme vergleichen läßt. Es war ein scharfer, ein krächzender, ein heftig anschwellender Schrei, wie das Kreischen jäh angezogener Autobremsen, nur daß er zu beseelt, zu verzweifelt klang, um den Vergleich mit einem mechanischen Geräusch zuzulassen. Sein Schrei war — ohne Übertreibung — auf einen Kilometer im Umkreis zu hören. Vielleicht weiter. Überschreien doch, nach Alexander von Humboldt, selbst kleinere Araras das Brausen der Bergströme, die in den Anden von Fels zu Fels stürzen. Es war ein Schrei, der selbst hierzulande auffiel, und das will etwas heißen, denn nebst melodischen Singvögeln besitzt Brasilien auch die lautesten gefiederten Schreihälse. Da gibt es einen weißen Starmatz mit grünlichem Kopf, den das Volk „Ferreiro" — „Schmied" — nennt: Dessen Schrei dröhnt, wie wenn man Eisen auf dem Amboß hämmert. Eine Fabel erzählt, bei einem Schreiwettkampf der Tiere habe der „Ferreiro" sogar den brüllenden, knurrenden, jaulenden Jaguar in die Flucht geschlagen. Da gibt es ferner den Kuckuck Brasiliens, den dreisten „Bentevi", der freilich nicht „Kuckuck" ruft, sondern eben „Bentevi" — „Ich sah dich gut!" — doch das mit vielfacher Kuckuckskraft. Brasilien besitzt vier Familien von Schreivögeln mit mehr als fünfhundert Arten; doch ich habe noch keinen gehört, der sich mit Lord hätte messen können, wenn das Pferd des Gemüsehändlers um die Ecke bog. Selbst Papageien, die richtig grell zu schreien verstehen — und was verstünden die klugen Papageien nicht! — habe ich nur einmal lauter als Lord schreien gehört. Das waren rosafarbene Kakadus auf der Insel Timor, die schrien, als ich eben einschlafen wollte. Aber es war ein Baum voll von ihnen. Mit seinem Schreien erzielte Lord ein ähnliches Ergebnis wie ein verzärtelter Bub, mit dem ich einst in die Schule ging. Wenn wir ihn plagten, schrie er so jämmerlich und kreischend, daß im Handumdrehen der Professor da war. Schließlich hatten wir mehr Angst vor ihm als er vor uns. Obschon es Lords Güte fernlag, die Macht seines Schreis erpresserisch zu mißbrauchen, konnte es ihm doch nicht entgehen, daß es kein geeigneteres Mittel gab, mich heranzuholen. Was sonst sollte 21
ich tun? Eine Nachbarin hatte sich schon beschwert. Es war meine Arara — also hatte ich die Verantwortung! Nun schrie Lord nie bei Nacht, während die Hähne dieser Nachbarin in tiefer Finsternis krähten. Da alle Hähne aus Europa stammen, richten sie sich nach der dortigen Uhr, die der hiesigen — je nach west- oder osteuropäischer Zeit — um drei bis fünf Stunden vorausgeht. Krähen sie, dämmert dort der Morgen, während es hier äußerstenfalls drei Uhr nachts ist. Gegen Hähne ist aber nichts zu machen. Doch gedenke ich der Hähne nur nebenbei, nur vergleichsweise und, versteht sich, auch deshalb, weil sie sich selbst so eindringlich (wenn auch gänzlich sinnlos) in Erinnerung bringen. Ihr Krähen ist so unabwendbar wie ein Erdbeben. Nur, leider, um vieles häufiger! Papageien hingegen sind beeinflußbar und schreien anständigerweise um so weniger, je mehr sie sich mit Menschen befreunden. Das regelmäßige Morgen- und Abendgeschrei ihres Freilebens ist ihnen abzugewöhnen. Nach einigen Monaten schrie Lord nur noch, wenn er Angst hatte oder wenn er sich nach mir sehnte, und dann hätte ich nicht das Herz gehabt, ihn zu strafen. Strafen? Wofür? Sagte ich nicht schon, daß er die personifizierte Unschuld war? Wie könnte man? Ärgerte mich Lord — ach nein, er hat mich nie geärgert! — vielmehr: ärgerte ich mich über ihn, sah mich sein dunkles Kullerauge ratlos an. Schrie ich zornig auf ihn ein, etwa weil er das Wasserrohr durchgebissen, hatte, daß eine fröhliche Fontäne aufsprang, während ich unfroh daran dachte, was Bleirohr und Löten kosten, ließ er entsetzt die Flügel sinken oder fiel gar, wie tot vor Schreck, auf den Rücken. Mit der Zeit kam mein Haushalt dahin, die Zerstörungen, die Lords Schnabel anrichtete, als „durch höhere Gewalt verursacht" zu betrachten. „Es ist die Zuckerdose zerbrochen", meldete der Diener. Oder: „Es ist wieder ein Fensterladen entzwei", seufzte ich selbst. Es war, als sagten wir, „es donnert". So hat Lord mir mein Schreien abgewöhnt, nicht ich ihm das seine. Und das war recht so, denn seines war sinnvoller: Angst oder Sehnsucht. Er schrie um Hilfe oder um Zärtlichkeit. Während mein Geschrei gar nichts half, weil es Ausgaben galt, die bereits unvermeidbar waren. Wie hätte er mein Geschrei deuten können? Für ihn war es ein Genuß, das Rohr durchzubeißen und sich im hervorsprudelnden Wasser wie in einem Gewitterregen zu baden. Warum nur schrie 22
der liebe Mensch so? Tat ihm etwas weh? Ach, der liebe, liebe Mensch! Mitleid mit mir und Angst um mich warfen Lord auf den Rücken. Doch wie rasch lebte er wieder auf, wenn er mich beruhigt sah. Wie versuchte er dann, tänzelnd und gurrend, mich völlig- aufzuheitern! Er war nicht wie Tommy, der Blaustirn-Amazonas, der sich, zankt man ihn aus, in angriffigem Gegenzorn sträubt und einen damit zu weiterem Schelten reizt; er war auch nicht wie Drolly, die Hündin, die sich, zurechtgewiesen, beleidigt in ihre Kiste verkriecht. Widerspruch — nichts lag Lord ferner. Er konnte nicht einmal beleidigt t u n . . . Ach ja, Lord! So empfindsam er war, so wenig übelnehmerisch war er, der gute blaue Lord. Lord schrie nicht nur. Er gurrte vor Zärtlichkeit, er gluckste vor Zufriedenheit, ja, er sprach sogar. Nicht viel allerdings und auch bei weitem nicht so deutlich wie Tommy, dessen „Gelo!" — „Eis!" — das Eis-Auto zum Stehen brachte, daß die Bremsen kreischten. Nein, Lord sprach dunkler. Die Menschensprache machte ihm große Mühe. Doch seine Liebe zu einem Menschen spornte ihn zu immer neuen Anstrengungen an. Er verrenkte sich förmlich den Schnabel, um mich „Ricardo" zu rufen, und er brachte es schließlich fertig, indem er seine schnarrende Stimme auf den beiden „R" ausruhen ließ. Gelang es ihm, in mein Arbeitszimmer einzudringen, stellte er sich mit einem förmlich jubelnden „Arara boa!" — „Gute Arara!" — vor, dem er ein heiter verlegenes Kichern folgen ließ. Ich höre ihn noch sein strahlendes „Arrrarrra boa!" trompeten und bereue jedesmal, daß ich ihn dessenungeachtet wieder an die Luft gesetzt habe. Seine großen schwarzen Füße klammerten sich dabei so eindringlich an mir fest, sein Auge flehte so deutlich, daß er bei mir bleiben wolle, auf meiner Schulter, der linken, wo er mich gar nicht stören würde! Nur, daß er der Füllfeder, die sich in meiner Hand bewegte, mit seinen guten dunklen Kulleraugen folgen dürfte. Wie gern hätte er sie zerbissen! Mag sein, weil sie glänzte, wahrscheinlicher, weil sein schlichtes Gemüt annahm, daß sie mich von ihm ablenkte. Leider ist ihm das auch immer wieder gelungen. Er knickte Füllfederhalter wie Blumenstengel. Deshalb sah ich ihn nicht gern im Arbeitszimmer, obschon er mich beim Schreiben nicht störte, sondern wirklich eine „gute Arara" war, wie er mit dunkler, liebevoller Stimme nicht müde wurde zu versichern. Zugegeben, daß eine menschenähnliche Zunge die Menschensprache erleichtert, so läßt sich das Sprechvermögen der Papageien doch nicht allein mit ihr begründen. Schwarz, fleischig, am Ende klöppeiförmig verdickt, sehr 23
beweglich und wie geladen mit Gefühl, ist die Zunge das dritte charakteristische Merkmal, das — nach Greiffüßen und Krummschnabel — allen Angehörigen des weit- und vielverzweigten Papageienvolks gemeinsam ist. Menschenähnlidi, sagten wir, erleichtert sie ihm die Menschensprache.
Der Tagesablauf Kam ich gegen fünf Uhr morgens in die Küdie, wo Lord die Nacht verbracht hatte, fand ich ihn noch in Schlafstellung. Er war gewiß wach — denn Papageien haben ein empfindliches Gehör, und mein Aufstehen mußte ihn durch zwei Wände hindurch geweckt haben —, aber sein feines Ohr hatte ihn auch darüber beruhigt, daß es der Schritt seines Freundes war. Er hob nicht den rückwärts gewandten Kopf, der mit dem Schnabel im Nackengefieder ruhte, oder öffnete auch nur die Augen. Als Zeichen vollkommenen Vertrauens ließ er nur ein freundliches Knurren hören. Papageien schlafen, bis es richtig hell ist, in den Tropen mit ihren gleichmäßigen Tageslängen also bis etwa sechs Uhr morgens. In der Dämmerung sehen Papageien schlecht. Selbst einen begehrten Bissen nehmen sie nur an, wenn es hell ist. Elektrisches Licht macht sie augenblicklich taglebendig; man muß vermeiden, die nervösen Vögel damit aus dem Schlaf zu schrecken. Lord also knurrte mir liebevoll sein Erkennen zu, während Tommy, ärgerlich über die Störung, mit dem Gefieder prasselte, und Seimas nackte weiße Backen, die von Reihen winziger schwarzer Federchen schraffiert sind, rot anliefen; erregte sie sich, stieg ihr das Blut sichtbar zu Kopf. Die Hündin draußen begrüßte mich schon so springmunter, wie es einem Tier zukommt, dem Tag wie Nacht gilt, weil es seine Umwelt mehr mit der Nase als mit den Augen erkennt. Die Papageiengesellschaft aber erwachte erst richtig, wenn der Negerdiener Manoel nach sechs Uhr das Frühstück servierte. Lord, der es sich auf meiner Schulter bequem gemacht hatte, interessierte sich vor allem für den Kaffeelöffel, den ich bald da- bald dorthin in Sicherheit bringen mußte. Lords Schnabel ist so unwiderstehlich wie eine hydraulische Presse. Als Erinnerungsstücke bewahre ich zwei starke Suppenlöffel auf, die er zu engen Tüten gedreht und ihnen dabei einen Holzkern eingearbeitet hat. Jeder meiner Besucher muß diese Schnabelarbeit bewundern, und je erschrockener er das tut, um so wehmütiger wird mir ums Herz.
24
Ihre starken Greifklauen benutzt d
25
ie Arara wie eine Hand.
Tommy gähnt gelangweilt — er hat mir nie verziehen, daß ich zu Selma auch noch Lord ins Haus genommen habe. Selma hat den Deckel der Zuckerdose hochgehoben und flattert, heftig errötend, vor dem Knall seines Auffallens davon. Wenigstens hat sie jetzt eine Technik entwickelt, dabei nicht in die Marmelade zu treten. Da der Deckel sie nicht verfolgt, kehrt sie, großartig mit den Federn rauschend, zurück, äugt in die Dose und bedient sich, ohne je zu irren, mit dem größten Stück. Lord blickt indessen mit einem zärtlichen Auge mich und mit einem gierigen noch immer meinen Kaffeelöffel an. Es gehört Übung dazu, bei alledem Zeitung zu lesen.
Am späten Vormittag bringe ich Selma auf den Orangenbaum am Zaun. Von dort kann sie sich mit den Leuten auf der Gasse unterhalten. Eingebildet, wie sie ist, bezieht sie alle Gespräche der Vorübergehenden auf sich. Auch die Rufe der Fischer weit draußen in der Bai gelten, glaubt sie, nur ihr. Auf all dies dankt sie mit herablassenden Äußerungen menschlichen Tonfalls, die, wenn auch unverständlich, so klingen wie: „Es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut." Leider hat Selma ihren Orangenbaum schon so kahl gewütet, daß ich sie werde umsiedeln müssen. Der starke und geschickte Papageienschnabel braucht ständig Betätigung. Selbst den Kleinen im Gehege muß ich immer wieder frische Äste zum Knabbern bringen, damit sie nicht Sitzstangen und Näpfe zernagen. Obwohl so ein Schnabel aus elfenbeinhartem Hörn besteht, ist er doch ein lebendes, wachsendes Organ, das, vermute ich, ständig abgenutzt werden muß, um in Form zu bleiben. Deshalb beißen und nagen Papageien so gern an harten Gegenständen herum. Es ist weder Zerstörungssucht noch „eine Unart, die man ihnen abgewöhnen muß", sondern der Schnabel wächst ihnen nach wie uns die Nägel, und wenn sie ihn nicht durch stetes Beißen, Knabbern und Wetzen kürzen, würde er ihnen über den Kopf wachsen. Auch der außerordentlich starke und dabei, dank seiner Innenriefen und -kerben feinmechanische Schnabel einer Hyazinth-Arara muß in stetiger und kräftiger Bewegung gehalten werden. Er begnügt sich nicht mit Kieselsteinen und Ästen; er strebt nach Höherem: nach Fensterläden, Löffeln, Waschbecken, Balkongittern. Und die sind, leider, teurer als Kieselsteine. Lords Freundschaft hat mich viel Geld gekostet. Klempner und Maurer, Füllfederfabrikanten und 26
Glaser, Tischler, Eisenhändler, Tapezierer, sogar Dachdecker hatten allen Grund, meiner Hyazinth-Arara dankbar zu sein. Vor allem Klempner und Tischler! Denke ich an den Regenguß, der eines Nachts durch die Zimmerdecke drang, weil Lord allmählich siebzehn Dachziegel zerpulvert hatte, oder wenn ich mich erinnere, wie der Streckstuhl unter mir zusammenfiel, weil er ihm die Schrauben herausgedreht hatte — oder an die lotosähnliche Form, in die er den stählernen Propeller meines Ventilators gezogen hat — oder — doch lassen wir das! Nach der Arbeit schwamm ich in die Bai hinaus, und Lord kletterte im großen Feigenbaum hoch und krächzte mir angstvoll nach, wenn er mich weit draußen sah, „Komm zurück!" übersetzte ich es mir. „Das ist doch Wasser!" Erde — ja, Erde ist verläßlich, in Erde nistet sein Geschlecht. Luft — ja, Luft durchfliegt er hoch mit brausendem Flügelschlag. Aber Wasser! Wasser ist gefährlich. Araras haben Angst vor Wasser. Lord ahnte wohl, warum . . . Nach dem Mittagessen schlafe ich und schlief er. Siesta in den Tropen ist eine Notwendigkeit. Wer hier zwischen elf Uhr vormittags — der Stunde des brasilianischen Mittagessens — und zwei oder drei Uhr nachmittags zu Besuch kommt, macht sich sehr unbeliebt. Da Araras im Freileben diese heiße Tageszeit in Schattenbäumen verdösen, bedarf es keiner besonderen Dressur, sie zur Siestazeit ruhig zu halten. Konnte ich nicht schlafen und störte ihn, blinzelte mich sein halbgeöffnetes Auge mit sanftem Vorwurf an. Der Siesta folgten die zehn Minuten, die ausschließlich ihm gehörten und die er sich unter keinen Umständen nehmen ließ. Sie waren ein Gewohnheitsrecht, das er sich erarbeitet hatte, und er bemühte sich. emsig, sie • zu einer Viertelstunde auszudehnen. Sogar Dolly respektierte sie, obschon sie sonst eine Vorliebe dafür hat, zu unerwünschter Zeit aufzutreten. Ich hatte, auf dem Sofa liegend, zu versuchen, ihn zu haschen, wenn er unter heftigem Flügelschlagen mit beiden Füßen zugleich auf mich sprang. Ein läppisches Spiel und durchaus unwürdig eines älteren Mannes. Dennoch gefiel es mir — es sei gestanden — besser als Bridge. Nicht nur, weil es eine Art Leibesübung war — denn Araras sind trotz ihrer Größe behend, und auf zehn Male, die mich Lord ungestraft überhüpfen konnte, kam kaum eines, bei dem ich ihn zu fassen bekam —, sondern vor allem, weil es ihm so viel Spaß machte. Lord verstand nämlich Spaß, und diese Fähigkeit ist unter Tieren seltener als unter Menschen. Von allen Seiten beschlich er mich, um einen günstigen Augenblick zum Sprung abzu27
passen, dorthin, wo meine Hände gerade nicht waren •— auf Stirn oder Bauch oder Knie (Fuß galt nicht) — und er gluckste vor Freude, wenn ihm ein Trick gelang. Seine Intelligenz bewies er damit, daß er Finten anwandte, etwa von rechts oben heranhüpfte, um, bereitete ich mich dort zum Zugreifen vor, flink zu wenden und auf meine linke Hüfte zu flattern. Darin erwies er sich gescheiter als manch anderes Tier, ein Hund beispielsweise, der um zu beißen, geradlinig angreift. Freilich, Lord biß nicht; er kratzte nicht einmal. Doch erwies das Spiel, wie gefährlich er gewesen wäre, hätte seine Güte nicht seine Intelligenz und Schnabelschärfe überwogen. Nach dem Spiel war Lord nur mit Mühe wieder auf den Feigenbaum zu bringen. Er ließ seine Füße schlaff und zog, seitlich umfallend, die Beine ins Gefieder. Ich habe keine Beine, drückte sein Gehaben aus, ich kann nicht auf die Hand steigen. "Wies ich Lord an Hand der Tatsachen seine Beine nach, tat er überrascht, ohne sie doch zu betätigen. Sie seien, wollte er ausdrücken, lediglich Anhängsel ohne Bedeutung. Also mußte ich ihn, rücklings wie er lag, in der Schale beider Hände aufheben und in eine Astgabel des Feigenbaums betten. Erst wenn ich hernach die Leiter fortgezogen hatte, krabbelte er sich hoch und bekrächzte meine Lieblosigkeit. Fuhr ich in die Stadt, brachte ich ihn, statt in den Baum, ins Küchenfenster, wo er sich, mit einem Fuß den Riegel umklammernd, herabhängen ließ, den Kopf schlaff am Halse baumelnd, ein Bild der Trostlosigkeit.
Ein geheimnisvoller Vogel Zum erstenmal ist die Hyazinth-Arara 1790 von Latham beschrieben worden, und das erste lebende Exemplar ist gar erst 1867 nach Europa gekommen und ein Stolz des Londoner Zoos geworden. Doch selbst heute, da die meisten zoologischen Gärten eine Hyazinth-Arara besitzen, habe ich ihre besondere Güte noch von keinem Beobachter so gewürdigt gefunden, wie sie es verdient. Das hat sich seit Brehm kaum geändert, der vornehmlich von ihrer Schönheit, und seit Finsch, der auch „von der enormen Kraft" beeindruckt war, „welche die Arara in ihren Kinnladen besitzt". Nicht einmal den Namen kann man sich recht erklären. Ist diese Arara ihrer Schönheit wegen nach dem Jüngling Hyazinthus benannt worden, dem Liebling Apolls, den der eifersüchtige Windgott beim Diskuswerfen tötete? — Oder soll ihr Name ans Blau 28
der Blume erinnern, die dem Blute des schönen Jünglings entsproß, der Hyazinthe, deren Wildform tatsächlich so blau ist wie eine Hyazinth-Arara? — Oder hat man, wegen der orangefarbenen Gesichtssäume, an den Edelstein Hyazinth zu denken, den Kristall, der so rein ist wie das Gemüt einer Hyazinth-Arara? Ich weiß es nicht. Zur Entschuldigung, daß' ich auf so viele Fragen die Antwort schuldig bleiben muß, diene, daß die Hyazinth-Arara selbst in ihrem Heimatland noch ein geheimnisvoller Vogel geblieben ist. Auch die frühen Geschichtsschreiber Brasiliens haben kaum einmal von ihm berichtet. Für die Hyazinth-Arara ist das Interesse so gering, daß man im „Papageienland" Brasilien vom größten und besten aller Papageien noch nicht einmal weiß, wo und wie er sein Nest baut.
Während Lord noch mißmutig schnarrend — denn er hörte nicht auf, sich nach mir zu sehnen — im Feigenbaum herumkletterte, langweilte ich mich in der Stadt, und Lord langweilte sich — es sei denn, daß er sich vor einem Zicklein entsetzte. Als ich endlich wieder daheim war, war sein Glück überschwenglich. Ich redete ihm freundlich zu und übersiedelte ihn auf seinen Ständer in der Küche, wo er seinen Abendtrunk nahm und sich sogleich zur Schlafstellung aufplusterte. Kam ich nachher, um dem Eisschrank noch etwas zu entnehmen, schnurrte er freundlich. Und so schnurrte er beim zweitenmal. Vom dritten an begann er zu knurren — und das mit Recht! Draußen funkelte aus tiefer Schwärze das Kreuz des Südens über der nächtlichen Bai. .. Gute Nacht, Lord! sagte ich. Er knurrte wieder. Gute Nacht! sagte ich noch einmal, da schwieg er.
Rückblickend sei gesagt: Lord führte ein glückliches Leben. Schade nur, daß es ein so kurzes Leben war. Im allgemeinen erreichen Araras ein hohes Alter. Ist es auch, leider, eine unbewiesene und wahrscheinlich unrichtige Behauptung, daß sie mehrhundertjährig werden, so ist doch eine Arara bekannt, die in derselben Familie vierundvierzig Jahre gelebt hat, wenn sie auch in den letzten Jahren so hinfällig war, daß sie nur noch gekochten Mais vertrug. Höhere Altersangaben über „Papageien" 29
dürften sich übrigens zumeist auf den afrikanischen Graupapagei oder Jako beziehen, den Sprachbegabung und Anspruchslosigkeit besonders empfehlen. Über Hyazinth-Araras fehlen jedoch zuverlässige Altersangaben. Immerhin hätte einer, der, wie ich, hoch in den Fünfzigern war, erwarten dürfen, daß seine Hyazinth-Arara ihn überleben würde. Daß sie das nicht tat, hat mir sehr weh getan, und es bekümmert mich noch jetzt, da ich es, zwei Jahre nach ihrem Tode, über mich bringe, ihr diesen Nachruf zu schreiben. Ja, indem ich mich nun unabwendbar dem Ende ihres Lebens und meines Berichtes nähere, betrübt es mich sehr, mir die Umstände ihres Todes in genaue Erinnerung zu rufen.
Ins Meer gestürzt. . . Auf der Gouverneursinsel saß ich, Jahre später, an meinem Schreibtisch. Es war ein föhniger Septembermorgen, der Himmel rauchig von Waldbränden, die Sonne eine düsterrote Scheibe. Lord hatte mich schon besucht, frohgemut und zutraulich wie sonst. Und wie sonst hatte ich ihn nach einiger Zeit wieder in den Garten getragen. Ich hatte ihn auf den Goiaba-Baum gesetzt, eine Myrtenart, die birnenförmige, würzige Früchte trägt. Sie reifen erst Monate später, und der Baum hat nichts mit Lords Ende zu tun. Nur um dessen Schilderung hinauszuschieben, beschreibe ich den GoiabaBaum. So weh tut es mir, mich jenes Augenblicks zu erinnern, in dem der Diener Manoel ohne zu klopfen in mein Studio einbrach. Das Wasser lief von seinen langen Negerbeinen, sein schwarzes Gesicht war grünlich vor Schrecken. In seiner Hand, die er, so weit er konnte, von sich streckte, hielt er mir etwas entgegen, was kopfab baumelte, etwas, was ich zunächst für ein nasses totes Huhn hielt. Doch es war Lord! — Ach Gott, es war Lord! In fahlen Flecken schimmerte seine Haut durchs dunkle Gefieder, dem die Nässe die Farbe genommen hatte; kläglich dünn streckte sich der lange Hals; die großen guten Augen starrten gebrochen. Während ich ihm die schlaffen Flügel zur künstlichen Atmung bewegte, liefen mir die Tränen über die Wangen, und ich sprach zu ihm, wie ich nie zu seinen Lebzeiten zu ihm gesprochen hatte. Denn erst, wenn wir ein geliebtes Wesen verloren, unwiederbringlich verloren haben: erst dann wissen wir, wie sehr wir es geliebt haben. 30
Ihm hat die künstliche Atmung nicht mehr geholfen. Wasser floß aus seinem Schnabel. Aber er war nicht ertrunken! Manoel hatte die Hyazinth-Arara vom Baum abfliegen, über den Strand flattern und ins Meer stürzen sehen. Und er hatte sie gleich nacheilend geborgen, während sie noch mit ausgebreiteten Flügeln auf der Oberfläche des Wassers schwamm. Der Sehreck mußte sie getötet haben. Araras sind sehr empfindsam. Vielleicht haben Lebensfreude und Jugend sie zum Fluge gespornt; wenn auch mit untauglichen Flügeln; mit einem Flügel, den ich — bitterer Vorwurf! — ihr gekürzt hatte. So ist sie in strahlender Freude in den Tod gestürzt. Es war, als hätte sie sich ihm in die Arme geworfen . . . Ich habe Lord im Garten begraben, unter einer Pflanze, die mir besonders wert ist, weil ich mich lange um sie bemüht habe: eine weiße Bougainvillea.
Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Bilder: Bavaria-Bilderdienst und Ullstein-Bilderdienst. (Die in diesem Heft abgebildeten Papageien sind Ararauna, sehr nahe Verwandte der Hyazinth-Arara) L u x - L e s e b o g e n 4 0 3 (Naturkunde) H e f t p r e i s 3 0 P f g . Natur- und kulturkundliche Hefte — Bestellungen (vierteljährl. 6 Hefte DM 1,80) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt — Alle früher erschienenen Lux-Lesebogen sind in jeder guten Buchhandlung vorrätig — Druck: Hieronymus Mühlberger, Augsburg — Verlag: Sebastian Lux, Murnau vor München — Herausgeber: Antonius Lux.
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Verlag Sebastian Lux • Murnau vor München Postfach 68
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Eine Universalbibliothek des Wissens, 15 Bände mit 360 ausgewählten, nach Wissensgebieten geordneten Lux-Lesebogen. Dauerhafter Einband in farbfroher Luxusplastik 1 Länder u. Völker 4 Sternenweltu. Erde 7-8 Weltgeschichte 14 Dichter u. Denker .'Forscheru.Erfinder 5Amerika 9-12Naturgeschichte 15Kunstu.Musik 3 Welt d. Technik 6 Nordpol - Südpol 13 Kultur u. Bildung Jedes Lux-Lesebogen-Buch kostet nur DM 9,50. Preis des Gesamtwerkes mit 15 Bänden (Umfang etwa 11500 Seiten, Tausende von Abbildungen) DM 128,—. Ratenbezug gegen 12 Monatsraten VERLAG S E B A S T I A N LUX • 811 M U R N A U , P O S T F A C H 68