Alice Walton
Hochzeitsreise in die Hölle Irrlicht Band 404
Auf einmal wurde sie von den beiden Männern gepackt. Sie ...
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Alice Walton
Hochzeitsreise in die Hölle Irrlicht Band 404
Auf einmal wurde sie von den beiden Männern gepackt. Sie wollte um Hilfe schreien, aber eine kräftige Hand hielt ihr den Mund zu. Sie wehrte sich mit Armen und Beinen, aber die Araber waren stärker. Sie wurde in einen dunklen Flur gezerrt und eine enge, steile Treppe hinaufgestoßen. Blitzschnell hatte ihr einer der Männer ein Tuch um die Augen gebunden. Sie stolperte, wurde aber aufgefangen. Ein kühler Wind umwehte sie plötzlich. Wahrscheinlich hatte sie am Ende der Treppe eine Dachterrasse erreicht. Was hatten die Männer mit ihr vor? Wohin würde die Männer sie bringen? Sie hörte das Öffnen der Tür. Man schob sie vorwärts und löste ihre Augenbinde. Es war so finster in dem Raum, daß sie ohnehin nichts sehen konnte. Ihr Fuß stieß an eine Matratze, auf die sie erschöpft niedersank. Hinter ihr schloß sich die Tür. Das ist nun meine Hochzeitsreise…
Linda Moorton las den Brief aus den USA zum zweiten Mal. Da teilte ihr die New Yorker Kanzlei Down & Mitchel mit, daß ihre Mutter Betty Wallis gestorben sei, und sie empfand so gut wie nichts dabei. Wochenlang hatte sie geweint, nachdem die Mutter sie und ihren Vater verlassen hatte, um einen reichen Amerikaner zu heiraten. Aber eines Tages hatte sie die Erinnerung an die schöne blonde Frau aus ihrem Gedächtnis gelöscht. Ein einziger Brief war noch gekommen, der wenig überzeugende Begründungen und Entschuldigungen enthielt. Sie hatte sich noch enger ihrem Vater angeschlossen, und er hatte alles getan, um ihr über den Verlust hinwegzuhelfen, obgleich er selbst sehr darunter litt. John Moorton ließ mehrere Möglichkeiten, sich wieder zu verheiraten, ungenutzt verstreichen, nicht nur aus Liebe zu seiner Tochter, sondern weil eine unheilbare Krankheit an ihm zehrte. Kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag war er gestorben und ließ eine verzweifelte Linda zurück. Immer wieder war sie versucht, ihrer Mutter zu schreiben, gab es aber jedesmal auf. Was würde diese Frau ihrem ungeliebten Kind antworten? Zuviel Zeit war inzwischen vergangen. Die Entfremdung konnte nicht mehr überbrückt werden. Trotz der vielen jungen Menschen um sie herum fühlte sie sich während ihres Biochemie-Studiums oft sehr einsam. Ihr fehlte die Geborgenheit einer Familie. Es gab niemanden mehr, der sie liebte, niemanden, den sie hätte lieben können. Verbissen steuerte sie auf ihr Examen zu und bestand es recht gut. Aber an einen Arbeitsplatz war nicht zu denken. In dieser Situation war nun dieser Brief gekommen, der nun ihr ganzes Leben gründlichst ändern sollte. Sie war Alleinerbin der reichen Witwe Betty L. Wallis. Von den krisensicher angelegten Wertpapieren würde sie gut leben können. Am
meisten faszinierte sie an dem Erbe aber die Tatsache, daß sie Herrin eines Schlosses in Zentralfrankreich war. »Mon Desir« hieß das Anwesen am Loir, einem kleinen Nebenfluß der Loire. Das bedeutete Wunsch oder Begierde. Der frühere Besitzer mußte sich damit einen langersehnten Traum erfüllt haben. Der Gedanke, dem unwirtlichen Klima in Südschottland zu entfliehen und im milden Frankreich ein angenehmes Leben zu führen, gab ihr ungeheuren Auftrieb. Wenn alle Formalitäten, die der Tod ihrer Mutter mit sich brachte, erledigt waren, würde sie sich auf den Weg machen, um ihr neues Heim in Besitz zu nehmen. Vielleicht würde sie hier in Schottland alle Brücken hinter sich abbrechen; denn was hielt sie hier noch? Schwierigkeiten würde es allerdings mit der Verständigung in Frankreich geben. Von ihren Schulkenntnissen war nicht viel übriggeblieben. Sie würde sofort Unterricht nehmen müssen. Endlich war es soweit. Das Abenteuer begann schon in Folkstone, wo sie mit ihrem roten Austin in den Zug hineinfuhr, der sie unter dem Ärmelkanal hindurch nach Calais bringen sollte. Voller Sorge malte sie sich aus, was geschehen würde, wenn die Fluten des »Channel« auf sie einstürzen würden. Aber das Vertrauen in die moderne Technik trug den Sieg davon. Energisch schob sie den Alptraum beiseite. Aber die Beklemmung blieb wie eine Ahnung von den schlimmen Dingen, die sich noch ereignen würden… Als sie nach fünfunddreißig Minuten das Festland unter sich spürte, wich die Beklommenheit. Trotz ihrer Neugier auf weitere Abenteuer entschloß sie sich, auf der Autobahn an Paris vorbeizufahren. Zu gern hätte sie die pulsierende Weltstadt kennengelernt. Aber der Drang, ihre neue Heimat zu sehen, trieb sie vorwärts. Gegen Abend hielt sie an einem kleinen Hotel und nahm sich ein Zimmer. Als man sie fragte, ob sie auch ein Abendessen
wünsche, wollte sie zuerst dankend ablehnen, weil sie bisher zu sparsamer Lebensführung gezwungen gewesen war. Nun aber erinnerte sie sich an ihre neuen Möglichkeiten und stellte sich ein gutes Menü zusammen. Während sie das vorzügliche Essen und den ausgezeichneten Rotwein genoß, wurde ihr bewußt, daß erst jetzt für sie das wirkliche Leben begonnen hatte. »Schmeckt Ihnen der Beaujolais?« fragte ein Mann um die Vierzig vom Nebentisch her auf Französisch. Sie lächelte hilflos und nickte, obgleich sie sich nicht sicher war, ob er nach ihrer Zufriedenheit mit dem Wein oder dem Essen gefragt hatte. »Die Dame ist Engländerin«, erklärte der Wirt, der ihre Unsicherheit bemerkt hatte. »Oh, pardon«, erwiderte der Mann und wiederholte seine Frage auf Englisch. Sie nickte begeistert und griff zu der Flasche, um sich ein weiteres Glas der roten Köstlichkeit einzuschenken. Der Herr hatte sich hastig erhoben. »Bitte, darf ich das machen?« fragte er eifrig. »Bitte sehr!« Er goß ihr Glas voll. »Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle? Mein Name ist Roger Latout.« »Angenehm. Ich heiße Linda Moorton.« »Aus welchem Teil von Großbritannien kommen Sie, wenn ich fragen darf?« »Aus Schottland, westlich von Edinburgh.« »Oh, Edinburgh! Eine schöne Stadt.« Sie nickte. »Es gibt schöne Bauten. Aber ich finde die Stadt ein bißchen düster. Vielleicht, weil ich sie fast immer bei Regen gesehen habe.«
»Ja, das Klima dort ist nicht gerade angenehm. Sie werden sich deshalb bestimmt in Frankreich wohlfühlen. Wohin fahren Sie, Madam?« Linda war es nicht lieb, sich von dem Fremden ausfragen zu lassen. Ihr Reiseziel ging niemanden etwas an. Aber das zwingende Lächeln dieses Mannes machte ihr eine abweisende Bemerkung unmöglich. »Ich will nach Seiches am Loir.« »Eine sehr schöne Gegend«, lobte er. »Machen Sie dort Urlaub?« »Nun, ja, ich…« »Haben Sie Verwandte dort?« »Nein. Ich kenne dort niemanden.« »Dann haben Sie sicher eine gute Adresse, nicht wahr? Ein Hotel oder eine Pension?« Sie fühlte sich in die Enge getrieben. »Es ist eher privat«, wich sie aus. »Wie interessant. Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich mich ein bißchen zu Ihnen setze? Ich habe mich am Knöchel verletzt und kann nicht so lange stehen.« Sie wollte erwidern, er könne sich ja wieder an seinen eigenen Tisch setzen. Aber schon hatte er nach seinem Glas gegriffen und ihr gegenüber Platz genommen. Verlegen trank sie ihr Glas leer, das er sofort wieder füllte. »Ich darf doch?« fragte er überflüssigerweise. Sie resignierte. Eine leichte Müdigkeit hatte sie ergriffen. Das war kein Wunder nach so vielen Stunden am Steuer. Zu spät merkte sie, daß der Wein ihren Willen zu lähmen begann. »Erzählen Sie mehr von Ihren Plänen«, drängte er. Sie nahm noch ein paar kräftige Züge aus ihrem Glas und fühlte, wie sich ihre Zunge gegen ihren Willen löste. Nach wenigen Minuten hatte sie alles ausgeplaudert: daß sie ein Schloß mit dem Namen Mon Desir geerbt hatte und dort
vorläufig zu leben gedächte, und daß ihre verstorbene Mutter sie großzügig versorgt hatte. »Ist ein Schloß für Sie allein nicht ein bißchen zu groß?« fragte er erstaunt. »Nun ja, zuerst sicher. Aber ich weiß ja noch gar nicht, wie es aussieht.« Er zog eine Visitenkarte aus der Westentasche. »Hier ist meine Adresse, Miss Moorton. Ich bin Makler. Wenn Sie sich zum Verkauf entschließen sollten…« Sie griff nach der Karte und steckte sie in ihre Umhängetasche. »Danke. Aber ich glaube nicht…« »Man kann nie wissen«, erwiderte er lächelnd. Sie wollte sich erheben, fühlte aber auf einmal eine Zentnerlast in ihren Beinen und sank auf den Stuhl zurück. Er hatte zum Glück nichts bemerkt, denn er drehte sich gerade nach dem Wirt um. »Die Rechnung bitte.« Er schien es auf einmal sehr eilig zu haben. Am liebsten hätte sie ihn um Unterstützung beim Aufstehen und Hinausgehen gebeten. Aber ihr Stolz verbot ihr, sich eine Blöße zu geben. Ungeduldig wartete sie, bis er bezahlt hatte und sich erhob. »Ich wünsche Ihnen eine angenehme Nacht und schöne Träume, Miss Moorton«, sagte er galant. Sie blickte ihm überrascht nach und bemerkte, wie er in einer Nische verschwand, die man durch die Glastür im Flur erkennen konnte. Darin befand sich ein Telefon.
*
Linda wußte nicht mehr, wie sie in ihr Zimmer gelangt war. Es mußte sie eine ungeheure Energie gekostet haben,
einigermaßen aufrecht den Speisesaal zu verlassen, sich die Treppe in den ersten Stock hinaufzuziehen und das Schlüsselloch ihrer Zimmertür zu finden. In ihren Schläfen pochte das Blut. Noch nie hatte sie soviel Alkohol auf einmal getrunken, fast eine ganze Flasche Rotwein! Wenn sie die Augen schloß, drehte sich ihr Bett diagonal im Zimmer. Dieser Mann, dachte sie. Warum hatte er sie so ausgefragt? Mit wem hatte er telefoniert? Mit einem Komplizen etwa, der ihr auf ihrem Weg an die Loire auflauern und sie ausrauben würde? Oder war sie mit ihrer neuen Wohlhabenheit ein mögliches Entführungsopfer? Schaurige Bilder von gefesselten Frauen in dunklen Kellern tauchten vor ihr auf. War sie durch ihren Besitz erpreßbar geworden? Unsinn, schalt sie sich. Meine Phantasie geht mit mir durch. Dieser Mann war einfach neugierig. Vielleicht waren die Franzosen so, – ganz anders als die Briten, die sich nie aufdrängten… Sie wälzte sich aus dem Bett und versuchte, ein paar Schritte zu gehen. Aber die Beine versagten ihr den Dienst. Es half alles nichts. Sie mußte auf allen vieren zur Tür kriechen, um abzuschließen. Dann wäre sie wenigstens für diese Nacht in Sicherheit. Endlich lag sie wieder im Bett und fühlte angenehm die bleierne Müdigkeit. Eine große Welle spülte ihre Ängste hinweg und entführte sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Sie erwachte spät am Morgen und fühlte sich völlig zerschlagen. Aber eine Tablette vertrieb bald ihre Benommenheit. Voller Schrecken erinnerte sie sich daran, daß sie um diese Zeit bereits unterwegs nach Süden sein wollte. Sie frühstückte in Eile und bezahlte die Rechnung.
»Monsieur Latout läßt Sie grüßen«, sagte der Wirt. »Er ist schon früh abgereist.« »Danke«, erwiderte sie und wunderte sich, warum es der Makler so eilig gehabt hatte. Am Abend schien sein Interesse an ihr so groß gewesen zu sein. Das Telefongespräch fiel ihr ein. Stand das in einem Zusammenhang mit ihrer Person? Wieder griff die unerklärliche Angst nach ihr. Sie würde auf der Hut sein müssen. Keinesfalls aber würde sie noch einmal einem wildfremden Menschen ein solches Vertrauen entgegenbringen. Am frühen Nachmittag hatte sie Seiches erreicht. Von dort aus fand sie ihr Schloß mit Hilfe des Lageplans, den sie in den Unterlagen ihrer Mutter gefunden hatte. Das unscharfe Foto war ihr ebenfalls von Nutzen gewesen. Anhand dieser Aufnahme hatte man ihr den letzten Teil des Weges erklären können. Da stand es nun vor ihr, umgeben von hohen Bäumen, die in einen Laubwald übergingen. Aus der Ferne sah es wie ein Märchenschloß aus, ihr »Mon Desir«. Erst als sie näher kam, bemerkte sie die baulichen Schäden. An diesem Gebäude war offensichtlich jahrzehntelang nichts getan worden. Sie parkte vor dem Portal, das durch einen Portikus aus sechs Säulen eine gewisse Erhabenheit ausstrahlte. Bei näherem Hinsehen verlor sich dieser Eindruck allerdings. Von den Säulen blätterte der Verputz ab. Von oben war Gestein herabgerieselt. Die große, zweiflügelige Tür hing etwas schief in den Angeln, die aus dem Mauerwerk herauszubrechen drohten. Sie kramte das Schlüsselbund aus ihrer Tasche und probierte einen großen Schlüssel nach dem anderen. Schließlich hatte sie den richtigen gefunden und schloß auf. Quietschend und ächzend gab die Tür nach.
Etwas flog an ihrem Kopf vorbei und ließ sie zusammenfahren. Eine Fledermaus etwa? Sie würde als erstes nach den Fenstern sehen müssen. Vielleicht stand eins offen oder war beschädigt. Als sie sich von ihrem Schrecken erholt hatte, betrat sie die große Halle, von der aus zwei Treppen nach oben führten. Es roch feucht und muffig. Ob es hier überhaupt eine Heizung gab? Trotz der sommerlichen Wärme fröstelte sie. Bis tief ins Innere spürte sie die Leere und fühlte sich grenzenlos einsam. Warum war sie hergekommen? Was hatte sie sich von diesem Haus versprochen, mit dem sich ein Mensch, der sicher lange tot war, einen sehnlichen Wunsch erfüllt hatte? Auf einmal erschien ihr ihre kleine Wohnung bei Edinburgh wie das Paradies: voller Geborgenheit… Sie drückte den Lichtschalter in der Halle. Nichts geschah. Wahrscheinlich hatte man den Hauptschalter abgestellt. Wo mochte er sein? Ehe es dunkel wurde, mußte sie ihn unbedingt finden. Sie wandte sich nach rechts und folgte dem Gang, der in eine große Küche führte. Dort würde man die gesamte Belegschaft des Schlosses verpflegen können. Sie lachte bitter auf. Den Traum, sich vielleicht Mieter hier hereinzunehmen, kam ihr bei dem Zustand des Gebäudes absurd vor. Der Blick in die geräumigen Zimmer der unteren Etage versöhnte sie ein bißchen. Das Mobiliar war mit Tüchern abgedeckt und erwies sich als durchaus brauchbar. Sie hatte befürchtet, ein leeres Gebäude vorzufinden. Nachdem sie die Decken in einigen Zimmern entfernt hatte, sah es schon viel wohnlicher aus. Im ersten Stock fand sie sechs Schlafräume und zwei Badezimmer. Als sie einen Wasserhahn betätigte, geschah
nichts. Mein Gott, dachte sie verzweifelt. Kein Strom, kein Wasser! Auf jedem Zeltplatz wäre ich besser aufgehoben… Sie ging zu ihrem Wagen, um die Taschenlampe zu holen, die sie zum Glück immer mit sich führte. Wenn sie im Keller die Haupthähne finden würde, ließe es sich hier vielleicht vorläufig aushalten. Nachdem sie die Lampe am gewohnten Platz gefunden hatte, ging sie zum Haus zurück. Auf einmal blieb sie überrascht stehen. Die milde Nachmittagssonne gab dem gelblichen Mauerwerk einen fast goldenen Glanz, ein Anblick, der einen verzaubern konnte. Die Schäden der Zeit schienen wie ausgelöscht. Ein sanftes Plätschern veranlaßte sie, sich umzudrehen. Erst jetzt bemerkte sie die Böschung. Dort mußte der Fluß vorbeiführen. Sie ging auf das dichte Buschwerk zu und blickte auf das erstaunlich klare Wasser des Loir, der sich murmelnd durch die Wiesen schlängelte. Ich kann mich wenigstens waschen, dachte sie erleichtert. Die Taschenlampe in ihrer Hand fiel ihr ein. Natürlich würde sie zuerst nach den Haupthähnen suchen, ehe sie ein Bad im Fluß nehmen würde. Hinter sich hörte sie Motorengeräusch und drehte sich um. Gab es noch jemanden, der diese einsame Gegend aufsuchte? Ein grauer Renault hielt neben ihrem Austin. Ein junger Mann stieg aus und winkte zu ihr herüber. Sie schätzte ihn auf dreißig Jahre. Das Lächeln in seinem schmalen Gesicht wirkte sehr anziehend auf sie. Eine schwarze Locke hing ihm verwegen in die Stirn. Als er auf sie zukam, schob er sie mit lockerer Bewegung nach hinten. »Guten Tag«, begann er auf Französisch. Sie erwiderte seinen Gruß. Aber als er sie etwas zu fragen begann, fehlten ihr die passenden Antworten.
»Ach, Sie sind Engländerin?« fragte er, nun auf Englisch, nach einem Blick auf ihr Nummernschild. »Ja. Ich komme aus Schottland.« »Ein langer Weg, äh, der sich lohnen muß.« Fragend sah er sie an. Angesichts dieses sympathischen Mannes ließ sie ihre guten Vorsätze fallen und erzählte ihm, warum sie hier sei. Er war begeistert. »Ihnen gehört also dieses herrliche Anwesen? Mein Gott, wie ich Sie beneide! Ich schwärme für Schlösser dieser Art. Sie haben so etwas Romantisches. Und der Name ›Mon Desir‹…« »Romantik ist ja ganz schön«, erwiderte sie mit einem etwas säuerlichen Lächeln. »Aber wenn man darunter Verfall und Verwesung versteht…« »Nun übertreiben Sie aber«, protestierte er mit einem prüfenden Blick auf das Mauerwerk. »Hier ist nichts, was man nicht reparieren könnte. Nach einer Renovierung würde dieses Gebäude nicht wiederzuerkennen sein. Wenn ich mir vorstelle…« Sein Blick wurde schwärmerisch. »Es könnte das Paradies werden.« »Verstehen Sie denn etwas von Restauration?« Er nickte. »Ich bin Architekt.« »Wohnen Sie hier in der Nähe?« »Nun, wie man’s nimmt. In Laval. Das ist in der Bretagne, falls Sie wissen, wo das ist.« »Ich habe die Frankreichkarte ziemlich gründlich studiert und kenne mich daher etwas aus. Aber was führt Sie hierher, Monsieur…?« »Oh, verzeihen Sie! Ich habe vergessen, mich vorzustellen. Ich heiße Michel Portier.« »Und ich bin Linda Moorton.« »Sehr angenehm, Ihre Bekanntschaft zu machen. Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«
Sie hatte ihre Frage bereits vergessen und nickte eifrig. »Es gibt hier weder Strom noch Wasser. Wenn ich die Haupthähne nicht finde…« »Kommen Sie! Ich sehe, Sie haben eine Taschenlampe. Suchen wir doch einfach im Keller.« Ihre Freude über die unerwartete Hilfe war so groß, daß sie jede Vorsicht vergaß. Nie wieder hatte sie sich einem wildfremden Menschen anvertrauen wollen. Nun bat sie diesen Unbekannten in ihr Haus. Wenn er nun dort über sie herfiel? Niemand würde ihre Hilferufe hören… »Kommen Sie! Geben Sie mir Ihre Lampe.« Sie zögerte einige Augenblicke. Sollte sie das einzige Mittel zur Verteidigung aus der Hand geben? Sie blickte unschlüssig in seine dunklen braunen Augen, die sie ungewollt in ihren Bann zogen. Dieser Mann war wirklich unwiderstehlich. Eigentlich sollte mich das warnen…
*
Michel Portier fand den elektrischen Zähler und die Wasseruhr im Keller. Aber die Hoffnung, daß die Energie nach dem Einschalten fließen würde, erwies sich als trügerisch. »Die haben Strom und Wasser abgestellt«, erklärte er. »Wahrscheinlich sind die Rechnungen nicht mehr bezahlt worden.« »Das ist möglich. Der Mann meiner Mutter scheint das Schloß nur gekauft zu haben, um es dann sich selbst zu überlassen.« »Ein Jammer. Was hätte er aus diesem Besitz machen können, Miss Moorton.« »Ja. Aber er war so weit weg…«
»Aber nun sind Sie ja da und werden alles in die Hand nehmen.« »Da bin ich mir nicht so sicher. Das beste wäre, alles zu verkaufen.« Er schlug entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen. »Auf gar keinen Fall dürfen Sie das tun. So ein herrlicher Besitz! Es sei denn, Sie hätten kein Geld für die Renovierungsarbeiten.« Sie betrachtete einen morschen Balken. Dadurch entging ihr der lauernde Ausdruck in seinen ebenmäßigen Zügen. »Das sollte nicht das Problem sein, denke ich.« Er wirkte erleichtert. »Was denn dann?« »Die viele Arbeit, der Schmutz.« »Überlassen Sie das ruhig mir.« Sie blickte ihn überrascht an. »Ihnen? Heißt das, Sie wollen von mir einen Auftrag erhalten?« »Ja«, erwiderte er forsch. »Ich verstehe mein Fach.« »Woher soll ich das wissen?« »Sie können Erkundigungen über mich einziehen. Hier ist die Adresse von meinem Büro.« Sie nahm die Visitenkarte, die er ihr reichte, in Empfang und dachte an eine ähnliche Situation am vergangenen Abend. Roger Latout hatte ihr Mißtrauen erweckt. Warum verließ sie jetzt ihr gesundes Mißtrauen? Sie steckte die Karte in ihre Jackentasche. »Ich werde es mir überlegen, Monsieur Portier.« »Gut. Darf ich mir trotzdem das ganze Gebäude ansehen?« Sie wollte ihn auf ein anderes Mal vertrösten, hörte sich aber sagen: »Bitte sehr. Verschaffen Sie sich einen Eindruck.« »Danke. Den brauche ich. Wie soll ich Ihnen sonst sagen, was für Kosten auf Sie zukommen?« »Sie sind sich Ihrer Sache wohl sehr sicher?« fragte sie mit prüfendem Blick.
Er lachte wie ein kleiner Junge. »Ziemlich sicher, Miss Moorton.« Ihr Widerstand schmolz dahin. Diesen Mann hatte ihr das Schicksal gebracht. Warum sträubte sie sich noch dagegen, ihm zu vertrauen? Er würde ihr ein Paradies schaffen. Mon Desir würde der erste erfüllte Traum ihres Lebens werden. Eine gute Stunde lang sah sich Michel Portier in dem Gebäude um und machte sich ausführliche Notizen. Trotzdem sah sie sich durch diese Vorarbeit noch nicht verpflichtet, ihm den Auftrag zu erteilen. Bei einem solchen Vorhaben mußte man verschiedene Meinungen einholen. Aber als er sich mit einem langen Handkuß von ihr verabschiedete, wußte sie, daß es kein Zurück mehr gab. Das Schloß und Michel Portier hatten sie in ihren Bann gezogen und verzaubert. »Ich hinterlasse beim Bürgeramt eine Nachricht, daß man Ihnen wieder Strom und Wasser liefern soll«, versprach er. »Vielen Dank. Kommen Sie gut nach Hause.« »Danke. Es sind nur achtzig Kilometer. Ich höre von Ihnen, nicht wahr?« »Ja. In jedem Fall. Vielen Dank für alles.« Sie sah ihm nach, wie er in seinem unscheinbaren grauen Wagen die Auffahrt hinunterfuhr und dann ihren Blicken entschwand. Wieder fiel ihr ein, daß sie ihn nach dem Grund für seinen Besuch hätte fragen sollen. Kopfschüttelnd ging sie ins Haus. Was war nur in sie gefahren? Warum fühlte sie sich zu diesem Mann so hingezogen, daß sie alle Vorsicht vergaß? Weshalb fühlte sie sich auf einmal so grenzenlos allein, daß sie bereute, ihn nicht zum Bleiben aufgefordert zu haben. Es gab genug Zimmer in diesem Haus…
Ich glaube, ich habe mich verliebt. Zum ersten Mal im Leben habe ich mich richtig verliebt. Was soll nur daraus werden? Wenn er nun verheiratet war? Sie dachte nach. Einen Ring hatte sie an keiner seiner Hände gesehen. Das mußte allerdings nichts bedeuten. Männer, die darauf aus waren, sich Frauen gefügig zu machen, zeigten keine Eheringe. Was sind das für Gedanken? fragte sie sich. Warum denke ich gleich das Schlechteste von fremden Männern? Warum sollte er mich bewußt täuschen? Natürlich will er den Auftrag bekommen. Aber spielt nicht auch menschliches Interesse mit? Er hat mich angesehen, als ob er genauso empfände wie ich. Aber was weiß ich von französischen Männern?
*
Linda hatte sich im ersten Stock ein kleines Schlafzimmer ausgesucht, dessen Bett ihr einigermaßen bequem und sauber vorkam. Mit dem festen Willen, etwas Schönes in ihrer ersten Nacht zu träumen, war sie eingeschlafen. Aber schon bald hatten sich Angst und Schrecken in ihre Traumwelt gedrängt. Sie blickte über den Ärmelkanal zu den Kreidefelsen von Dover hinüber. Dort stand ihr Vater auf den weißen Klippen und versuchte, sich ihr verständlich zu machen. Verzweifelt rief sie seinen Namen. Plötzlich kam sein Gesicht immer näher. Lautlos formten seine blassen Lippen die Worte: »Tu’s nicht, Linda. Flieh, solange es noch Zeit ist.« Wovor soll ich fliehen? fragte sie sich im Traum. Was bedeutet diese Warnung? Plötzlich erschien ihre Mutter auf dem Felsen. Auch sie warnte ihre Tochter mit toten Lippen vor kommendem Unheil. Plötzlich drängte sich ein Gesicht
zwischen ihre Eltern. Michel lächelte zu ihr herüber. Aber sein Lächeln war seltsam starr. Nichts Freundliches lag in seinen Zügen. Auch er wollte etwas sagen. Aber seine schönen Augen blickten kalt und drohend. Allmählich verwandelte sich sein Gesicht in eine häßliche Fratze, die sie tückisch angrinste. Schreiend wachte sie auf. Das erste Dämmerlicht fiel durch die stumpf gewordenen Scheiben auf ihr Bett. Sie stand auf und ging ans Fenster. Es ließ sich nur schwer öffnen. Aber die frische, würzige Morgenluft, die hereinströmte, klärte ihre Sinne. Was sind das nur für Träume, dachte sie erschrocken. Jahrelang habe ich nicht von Mama und Papa geträumt. Was wollen sie mir sagen? Entspringt alles nur meiner strapazierten Phantasie? Oder sind es Vorahnungen? Gibt es ein drohendes Unheil, das ich jetzt noch abwenden könnte? Warum habe ich so schlecht von Michel geträumt? Er war doch so nett und hilfsbereit. Sollte mich mein Gefühl so täuschen? Die Erinnerung an die gräßliche Fratze wurde augenblicklich durch sein schönes Gesicht verdrängt. Konnten solche Augen lügen? Eine warme Welle durchflutete sie. Sie kehrte zum Bett zurück und schlüpfte wieder hinein. Mit einem glücklichen Lächeln auf dem Gesicht schlief sie wieder ein. Dieses Mal erwachte sie bei vollem Sonnenschein. Erfrischt stand sie auf und nahm ein kühles Bad im Fluß. Danach fühlte sie sich noch besser. Alles würde gut werden. Wenn sie Strom und Wasser hatte, würde sie es hier ganz gut aushalten können. Nach und nach würde Michel das Schloß renovieren und ihr ein angenehmes Zuhause schaffen. Schon wieder Michel, dachte sie mit einem tiefen Seufzer. Warum geht er mir nicht aus dem Sinn? Ich muß einen kühlen Kopf behalten.
Sie ging in die Küche hinunter und bereitete sich ein bescheidenes Frühstück. Ihre Vorräte gingen zu Ende. Am besten fuhr sie in den Ort, um Nachschub zu besorgen. Wenn sie sich doch wenigstens einen Kaffee machen könnte! In dem Moment hörte sie Motorengeräusche. Ihr Herz begann, heftig zu klopfen. Michel? Kam er, um sich ihre feste Zusage zu holen? Aber es war nicht der Mann, den sie herbeisehnte. Aus einem Lieferwagen stiegen zwei Männer und näherten sich dem Haus. Sie ging zur Tür und öffnete neugierig. »Stadtwerke«, erklärte der ältere der beiden und fügte hinzu: »Wasser und Elektrizität.« Der hilflose Ausdruck auf ihrem Gesicht machte einem verstehenden Lächeln Platz. »Sehr nett. Kommen Sie rein.« Binnen weniger Minuten konnte sie wieder über Wasser und Strom verfügen. Sie fühlte sich vom Mittelalter in die Neuzeit versetzt. Der Kaffee, den sie sich sofort aufgoß, schien der beste zu sein, den sie jemals getrunken hatte. Danach begann sie in bester Stimmung, die Räume zu reinigen, die sie für sich ausersehen hatte. Sie würde es sich dort gemütlich machen, bis die Renovierung beendet war. Die Arbeit half ihr über die Wartezeit hinweg. Zwar hatte sie ihm versprochen, von sich hören zu lassen. Aber wenn er schlau war, würde er nicht darauf warten, sondern sich selbst die ersehnte Antwort holen. Plötzlich stand er mit seinem strahlendsten Lächeln vor ihr. Sie hatte ihn nicht kommen hören, weil sie auf der Rückseite des Hauses tätig war. Verlegen strich sie sich ein paar Strähnen aus der Stirn und legte die unkleidsame Schürze ab. »Ich konnte es nicht abwarten«, begann er entschuldigend. »Und da Sie ja noch kein Telefon haben…« »Nein. Darum muß ich mich schnellstens kümmern. Wie soll ich Sie sonst erreichen?«
»Ich habe die halbe Nacht an einem Kostenvoranschlag gearbeitet, Miss Moorton.« »Und was ist das Ergebnis?« Er nannte eine schwindelerregende Summe und fügte hinzu: »Sie können ja noch andere Architekten fragen.« Sie wollte ihm antworten, daß sie genau das tun würde. Statt dessen seufzte sie nur und zuckte die Achseln. »Pfuscherei nützt Ihnen nichts«, fuhr er eifrig fort. »Gutes Material und gute Arbeitskräfte haben ihren Preis. Es soll doch alles erstklassig werden, nicht wahr?« Sie nickte. »Ich glaube, Sie haben recht.« »Heißt das, ich bekomme den Auftrag?« »Ja. Ich vertraue auf Ihre Kompetenz.« Er nahm sie spontan in die Arme. »Vielen Dank«, flüsterte er an ihrem Ohr. Die intensive körperliche Berührung ließ sie erschauern. Ihr Puls jagte. Wenn er jetzt ihr Herz klopfen hören würde, wüßte er, wie es um sie stand. »Danke«, flüsterte er noch einmal, ohne sie loszulassen. Und dann lagen plötzlich seine heißen Lippen auf ihrem zitternden Mund, zuerst sanft und zärtlich, dann immer ungestümer fordernd. Endlich gab er sie frei. Der Triumph in seinen dunklen Augen war nicht zu übersehen. Sie kam sich schwach und hilflos vor. Er hatte sie überrumpelt. Wie konnte sie sich jetzt noch gegen ihn wehren? Aber wollte sie sich überhaupt noch wehren? Wollte sie sich nicht viel lieber diesem einmaligen Gefühl hingeben, das ihren Körper und ihre Seele beherrschte? Dieses Gefühl, von dem sie mit absoluter Sicherheit wußte, daß es Liebe war? Wirkliche Liebe, zum ersten Mal in ihrem Leben. Er griff nach ihrem Arm. »Komm, Linda. Ich zeige und erkläre dir alles. Fangen wir hier unten an.«
Vor ihrem geistigen Auge entwarf er ein Bild absoluter Vollkommenheit. Seine Worte berauschten sie. Bereitwillig ließ sie sich von seiner Begeisterung mitreißen und malte sich ihr neues Zuhause in den herrlichsten Farben aus. Um ihm den täglichen Weg nach Laval zu ersparen, gestattete sie ihm, im Schloß zu übernachten. Zwei Nächte lang respektierte er ihre scheue Zurückhaltung. In der dritten Nacht aber gab sie seinem sanften und zärtlichen Drängen nach und wurde seine Geliebte. Von nun an sprach er immer von »unserem Schloß«, als sei es ganz selbstverständlich, daß er hier mit ihr leben würde. Eine Zeitlang konnte sie ihn noch hinhalten. Dann aber wurde in ihr der Wunsch so mächtig, für immer zu ihm zu gehören, daß sie in seine Werbung einwilligte. Wenn das Schloß fertig sein würde, wollte sie in aller Form seine Frau werden. Die Arbeiten gingen gut voran. Vor ihren erstaunten Blicken verwandelte sich das ungepflegte Gebäude zu ihrem Traumschloß. Verzückt standen sie eines Abends Arm in Arm vor dem Portal und lobten die Früchte ihrer gemeinsamen Arbeit. »Mon Desir«, sagte er verträumt. »Mein ganzes Leben habe ich davon geträumt, ein Schloß zu besitzen.« Sie wollte ihn darauf aufmerksam machen, daß dieses Haus nicht ihm, sondern ihr gehörte. Aber aus Angst, die zauberhafte Stimmung zu verderben, schwieg sie. Er küßte sie innig. »Und du bist es, die mir endlich diesen Wunsch erfüllt. Du weißt gar nicht, wie dankbar ich dir dafür bin.« »Als mein zukünftiger Mann hast du teil an meinem Besitz. Dieses Schloß ist unser Schloß. Der schönste Ort für unsere Liebe.« »Bald ist es fertig.«
»Ja. Dann werden wir Mann und Frau. Übrigens, wann stellst du mich endlich deiner Familie vor?« Er wich ihrem forschenden Blick aus. »Laß mir und ihnen noch ein bißchen Zeit. Sie sind Ausländern gegenüber ein bißchen verschlossen, ja, sogar ablehnend. Ich muß sie erst davon überzeugen, wie unrecht sie haben.« »Das kannst du am besten, wenn du mich bei Ihnen einführst, Michel.« »Es ist besser, ich bereite den Boden erst vor.« »Warum hast du das nicht schon längst getan?« »Das habe ich doch«, erwiderte er ungeduldig. »Aber es braucht eben seine Zeit.« Ein Schatten war auf ihr Gemüt gefallen. Wenn er mich wirklich liebt, kann ihm seine Familie doch gleichgültig sein, dachte sie gekränkt. Aber ihre Liebe war so groß, daß sie ihm diese Schwäche sofort verzieh. Ihr vollkommenes Glück konnte erst ein anonymer Brief trüben, den sie eines Morgens im Briefkasten fand. »Liebe Linda«, schrieb, der Schrift nach zu urteilen, eine Frau. »Mein Name tut nichts zur Sache. Aber wenn Sie meinen Rat hören wollen, dann lassen Sie die Finger von Michel. Ich kenne ihn besser als Sie. Er fliegt auf jede attraktive Frau und verspricht ihr den Himmel auf Erden. Ich möchte Sie vor einer großen Enttäuschung bewahren. Hören Sie auf mich.« Der Brief war in schlechtem Englisch verfaßt, aber annähernd verständlich. Am liebsten wäre sie mit diesem Schandbrief zu Michel gegangen, um aus seinem Mund zu hören, wie gemein und verlogen das Ganze war. Aber ihr Zartgefühl hielt sie davon ab. Hier wollte eine Frau, die vielleicht von ihm enttäuscht worden war, ihr Mütchen kühlen und das Glück ihrer Konkurrentin zerstören. Es geschah so viel Böses aus Neid und Eifersucht.
Erst als ein zweiter Brief kam, merkte sie, wie tief der Stachel doch saß. Die Schreiberin behauptete, Michel habe eine andere Frau, die er wegen Lindas Erbe verlassen habe. Das Schloß sei ihm das wichtigste im Leben. Dafür opfere er jede Liebe. »Er liebt nicht Sie, sondern Ihr Schloß«, war das Ende des Schreibens. Wieder schwieg Linda und fraß den Kummer und ihre Zweifel in sich hinein. Keinesfalls durfte sie dulden, daß ihre Gefühle Michel gegenüber unter dem häßlichen Verdacht litten.
*
Trotz der vielen Arbeit durch die Renovierung hatte Linda Zeit gefunden, ihre Französischkenntnisse zu verbessern. Das Lehrbuch mit den Sprachkassetten hatte ihr die Grundlagen der Grammatik und einen ersten Wortschatz vermittelt. Die Aussprache machte ihr allerdings noch Schwierigkeiten. Deshalb bat sie Michel, sie streng zu korrigieren. Die Begegnung mit seiner Familie sah sie nun optimistischer entgegen. Zumindest hoffte sie, den größten Teil der Unterhaltung verstehen zu können. Als Michel dann endlich eine Zusammenkunft arrangiert hatte, nicht ohne ständiges Drängen von Linda, wurde sie allerdings herbe enttäuscht. Man nahm nicht die geringste Rücksicht auf ihre Sprachschwierigkeiten, wechselte sogar untereinander ins Bretonische über, so daß sie sich immer wieder ausgeschlossen fühlte. Michels Mutter war eine zierliche Dame mit einem feinen schmalen Gesicht, das von denselben großen dunklen Augen beherrscht wurde wie die ihres Sohnes, in die sie sich so heftig
verliebt hatte. Mit dünner Stimme stellte sie ihrer zukünftigen Schwiegertochter unbequeme Fragen. Michel kam Linda zwar meistens zu Hilfe, aber sie fühlte sich bedrängt und examiniert. »Ihr wollt also vorerst nicht kirchlich heiraten?« »Nein, Mutter. Linda gehört der anglikanischen Kirche an. Ich möchte sie nicht zwingen, sich unserem katholischen Glauben unterzuordnen.« »Eine Frau hat sich immer dem Mann unterzuordnen«, erwiderte Madame Portier streng. »Aber Maman«, protestierte Michel. »Wir haben schließlich den Code Napoleon. Dieses Gesetz garantiert den Frauen ihre Freiheit und Gleichberechtigung.« »In einer guten Ehe sollte sich die Frau trotzdem den Wünschen ihres Mannes fügen«, beharrte sie. Michel griff nach Lindas Hand. »Wir sind uns in allen entscheidenden Fragen einig, nicht wahr, Liebling? Von Unterordnen kann gar keine Rede sein.« »Und ihr wollt tatsächlich in diesem riesigen Haus zu zweit leben?« fragte seine Schwester, ein blasses Geschöpf, das nichts von der einstigen Schönheit ihrer Mutter mitbekommen hatte. Die Züge der Zweiunddreißigjährigen wirkten verkniffen. Um ihre schmalen Lippen kräuselten sich Falten, die auf Enttäuschungen schließen ließen. Sie lebte noch immer bei ihrer Mutter und wartete vermutlich auf den Mann ihrer Träume. »Wir werden nicht allein bleiben«, erwiderte Michel. »Die sechs Schlafräume in der ersten Etage waren so groß, daß wir dort Bäder einbauen konnten. Wir werden Gäste aufnehmen.« »Das macht viel Arbeit«, gab Madame Portier zu bedenken. »Gäste bringen Geld. Davon bezahlen wir Hilfskräfte. Eine Köchin, ein Zimmermädchen…« Seine Mutter seufzte. »Hoffentlich verrechnet ihr euch da nicht. Wenn das Schloß am Meer läge…«
»Auch der Loir hat seine Reize. Von dort aus kann man die schönsten Touren zu den Schlössern der Loire und der Cher machen. Es gibt auch einen Golfplatz in der Nähe.« »Es wird schon gutgehen«, mischte sich Linda zuversichtlich ein. »Wir werden Anzeigen aufgeben und überall Werbung machen. Meine Landsleute würden sicher begeistert sein von einem Aufenthalt bei uns: ein heiteres, strahlendes Schloß. Kein düsteres Gemäuer wie in meiner Heimat Schottland.« Ihre Worte zeigten Wirkung. Sie war stolz auf sich, daß sie so schwierige Sätze formuliert hatte. Trotzdem entging es ihr nicht, daß Madame Portiers Augen von Zeit zu Zeit mitleidsvoll auf ihr ruhten. Yvonne wirkte fahrig. Sie schien etwas auf dem Herzen zu haben, konnte es aber nicht loswerden. Beim Abschied nahm sie Linda beiseite, um ihr offenbar etwas anzuvertrauen. Aber dazu kam es nicht. Michel hatte sie beobachtet und trat dazwischen. »Geheimnisse unter Frauen?« fragte er heiter. Aber in seiner Stimme klang Besorgnis mit. Yvonne zuckte die Achseln und wandte sich ab. War sie die Schreiberin der beiden Briefe gewesen? Wollte sie Linda vor einer Verbindung mit ihrem Bruder warnen? Aber warum? Aus Eifersucht, Neid oder Frustration? »Komm«, drängte Michel. »Es wird schon Abend. Lebt wohl, ihr beiden, und macht euch unseretwegen keine Sorgen.« Auf der Rückfahrt war Michel sehr schweigsam. Auf ein paar freundliche Bemerkungen Lindas antwortete er einsilbig. »Schade, daß ich deinen Vater nicht mehr kennengelernt habe«, sagte sie schließlich. »Die Ehe war wohl sehr glücklich? Ich meine, wegen der Äußerungen deiner Mutter.« »Mein Vater war ein Despot. Maman hat sich ihm voll untergeordnet. Deshalb ihr Gerede von…« »Wie gut, daß du nicht so bist«, sagte sie schnell. »Warte es ab«, scherzte er.
Sie lachte. Was sollte ihr denn in der Ehe mit ihm geschehen? Der Besitz gehörte ihr. Von seinen gelegentlichen Aufträgen konnte er nicht leben, geschweige denn eine Familie ernähren. Ihr Einkommen gab ihr Sicherheit und ihm auch. Das würde er nicht so leicht vergessen… Trotzdem beschlich sie ein leichtes Unbehagen. Was hatte Yvonne ihr anvertrauen wollen?
*
Der Hochzeitstermin rückte näher. »Wir sollten mal ernsthaft über unsere Hochzeitsreise sprechen«, schlug Michel eines Abends vor. »Können wir uns das denn leisten?« fragte sie erstaunt. »Ich meine, nicht finanziell, sondern wegen der Renovierungsarbeiten. Wir können die Arbeiter doch nicht im Haus allein lassen.« »Das habe ich alles bedacht. Bis dahin sind die wichtigsten Arbeiten abgeschlossen. Das zweite Obergeschoß kann noch warten.« »Es wäre vielleicht ganz gut, wenn wir hier einmal herauskämen«, stimmte sie zu. »Ja, für uns beide – nach dem vielen Schmutz…« »Hast du an etwas Bestimmtes gedacht, Michel?« Er nickte eifrig. »Ich habe einen ganz großen Wunsch, Liebling. Ein Urlaub in Algerien…« »Das kann doch nicht dein Ernst sein«, unterbrach sie ihn. »Dort tobt der Bürgerkrieg. Touristen sind besonders gefährdet, überhaupt jeder Ausländer.«
Er griff nach ihrer Hand und streichelte sie sanft. »Mein liebes Kind, du darfst nicht jedes Propagandageschrei glauben. Das Militär und die aufständischen Islamisten…« »Begehen schreckliche Massaker. Alle beide.« »Aber nur in ländlichen Gegenden. Wenn sich die religiösen Fanatiker in einem Dorf versteckt haben, wird das Dorf hinterher bestraft. Und die Islamisten rächen sich wiederum an den Sympathisanten der Regierung.« »Siehst du. Wie leicht kann man da zwischen die Fronten geraten.« »Aber doch nicht in Algier. Wir bleiben in der Hauptstadt des Landes bei alten Freunden.« »Du hast Freunde in Algier? Auf welcher Seite?« »Ganz normale Menschen. Sie sind unserer Familie zu großem Dank verpflichtet. Mein Vater hat damals in den Befreiungskriegen vielen von ihnen das Leben gerettet, und zwar unter Einsatz seines eigenen Lebens. Wenn er damals seinen französischen Kameraden in die Hände geraten wäre…« »Und nun fühlen sie sich euch zu ewigem Dank verpflichtet, nicht wahr?« »So ist es, Linda. Schon seit Jahren drängen Sie mich, zu ihnen zu kommen, um durch ihre Gastfreundschaft ein bißchen wiedergutzumachen. Jetzt wäre die beste Gelegenheit dazu.« »Ich weiß nicht«, erwiderte Linda unsicher. »Das gefällt mir nicht. Meine Hochzeitsreise soll keine Reise in den Tod werden.« »Aber Liebling«, sagte er erschrocken. »Wer denkt denn an so etwas? Bei meinen Freunden sind wir absolut sicher. Sie haben Verbindungen zu den höchsten Kreisen. Wenn du willst, werden sie uns bestimmt Leibwächter zur Verfügung stellen.« »Wie du meinst. Aber überzeugen kannst du mich nicht.«
»Bitte, Liebes«, schmeichelte er. »Tu mir den Gefallen. Wir werden dort eine herrliche Zeit haben: ein Urlaub wie ›Gott in Frankreich‹. Das versichere ich dir.« Ungewollt mußte sie lachen. »Da bliebe ich doch lieber gleich* in Frankreich.« »Denk drüber nach, bitte. Du würdest mir einen Herzenswunsch erfüllen.« »Einen so großen Wunsch wie unser Schloß?« »Nicht ganz so groß. Aber auch sehr wichtig.« Sie seufzte. »Ich werde es mir überlegen.« Er hatte Linda überrumpelt. Hatte er sie bereits überzeugt? Wie kam es nur, daß sie ihm keine Bitte abschlagen konnte? Welche Macht übte er über sie aus? Natürlich würde sie nachgeben, obgleich sie eine innere Stimme vor einem solchen Abenteuer warnte. In der Nacht suchten sie noch einmal böse Träume heim. Sie stand in glühender Sonne auf einem Marktplatz, umgeben von Hunderten verschleierten Frauen, die etwas Unverständliches murmelten. Plötzlich drängten sie sich immer enger um sie zusammen und drückten ihr fast den Brustkorb ein. Verzweifelt rang sie nach Luft und versuchte zu schreien. Aber die Stimme erstickte in ihrem Hals. Auf einmal teilte sich die Menge und ließ einen Gang frei, durch den Michel langsam auf sie zuschritt. Flehend streckte sie die Arme nach ihm aus. Aber er kam ihr nicht zu Hilfe. Wenige Meter blieb er vor ihr stehen und musterte sie höhnisch. Dann drehte er sich mit einem Lachen, das sein schönes Gesicht häßlich verzerrte, um und ging ungerührt von dannen. Hinter ihm schloß sich die Menge wieder, zwängte Linda ein und zog sie mit sich fort. Schreiend wachte sie auf. Seine Hand griff nach ihr. »Was hast du, mein Liebes?« fragte er erschrocken. »Ich habe so schrecklich geträumt.«
»Doch hoffentlich nicht von mir?« »Doch, von dir. Und von Algerien.« Er nahm sie fest in die Arme. »Vergiß es. Niemand wird dir etwas tun. Ich bin doch bei dir.« Normalerweise hätten seine Worte sie getröstet. Aber da er gerade in ihrem Traum nicht bei ihr gewesen war, sondern sich abgewandt hatte, blieb sie skeptisch. Diese schlimmen Phantasien mußten doch eine Ursache haben. So etwas dachte man sich doch nicht einfach aus, noch dazu von einem Menschen, den man so sehr liebt. »Ich will nicht nach Algerien«, sagte sie fest. »Aber Liebes!« flehte er. »Tu mir das nicht an. Ich habe uns schon angemeldet. Alle freuen sich auf uns. Vor allem auf dich, meine bezaubernde Frau.« Wieder wurde sie unsicher. Konnte sie jetzt wirklich noch zurück? Sie war noch nie im Leben feige gewesen. Warum sollte sie es jetzt sein? Ihr Widerstand schmolz dahin. Aber erst, als er sie leidenschaftlich in die Arme nahm und sie mit seiner Zärtlichkeit überhäufte, gab sie endgültig nach.
*
An einem herrlichen Morgen Ende August gaben sie sich im Bürgermeisteramt von Seiches das Jawort. Linda trug ein cremefarbenes Kostüm. Bewundernde Blicke folgten ihr und dem attraktiven Bräutigam im hellgrauen Seidenanzug. Sie strahlte vor Glück. Die Schatten der letzten Tage waren verflogen. Sonnenschein hatte sich auch in ihrem Herzen ausgebreitet. Voller Zuversicht blickte sie in die Zukunft. Im Eßsaal des Schlosses hatte man ein kaltes Büffet aufgebaut, das großen Anklang fand. Alle wichtigen
Persönlichkeiten der Umgebung hatten sich eingefunden. Ein solches Ereignis hatte lange nicht stattgefunden. Michels Familie dagegen war nur spärlich vertreten. Einige Verwandte hatten abgesagt. Michels Schwester Yvonne trug die gewohnte Leidensmiene zur Schau und war äußerst einsilbig. Sie schien dem jungen Paar das offensichtliche Glück nicht zu gönnen. Um so gesprächiger war Michels Kusine Martine. Sie warf dem jungen Ehemann bewundernde Blicke zu und seufzte: »Was seid ihr zu beneiden. Wie hast du das eigentlich angestellt, liebe Linda, dir einen so attraktiven Mann zu angeln?« Linda hätte gern geantwortet, daß sie ja schließlich auch kein häßliches Entlein sei. Aber auf Französisch konnte sie das nicht ausdrücken. »Du glaubst gar nicht, wie umschwärmt er immer war«, fuhr Martine fort. »Schon als Junge. Wenn ich mit ihm im Garten spielte, mußte ich immer aufpassen, daß er mir nicht von den anderen Mädchen weggeschnappt wurde. Und als er größer wurde, setzten sie alles dran, ihn zu verführen.« »Und er blieb immer passiv?« wollte Linda wissen. Martine lachte schallend. »Michel passiv? Das glaubst du doch wohl selbst nicht. Er ist der geborene Liebhaber. Zärtlich, aufmerksam…« »Du hast also deine Erfahrungen damit?« Martine lächelte geheimnisvoll und schwieg. »Nun ja«, sagte Linda und rang nach Worten. »Ich erwarte nicht, daß ein Mann in seinem Alter unerfahren ist.« »O nein! Wirklich nicht!« Wieder dieser wissende Blick und das versonnene Lächeln. Linda fühlte, daß diese Frau es darauf anlegte, sie herauszufordern, und zog es vor, von nun an zu schweigen. Das aber ließ Martine nicht zu.
»Ein stolzer Besitz«, lobte sie. »Kein Wunder, daß Michel sofort verliebt war. Ich meine, in das Schloß.« Das war deutlich. Am besten, sie antwortete nicht auf eine solche Beleidigung. »Er hat schon immer von einem Schloß geträumt. Dafür hätte er seine Seele verkauft.« »Hast du mir diese Briefe geschrieben?« fragte Linda leise und blickte scheu zu Michel hinüber, der sich köstlich zu unterhalten schien. »Was denn für Briefe?« fragte Martine mit ehrlichem Erstaunen. »Häßliche Anschuldigungen.« »Was für Anschuldigungen?« »Daß Michel es mit den Frauen nicht ehrlich meint.« Martinas Augen verengten sich. »Das hat jemand behauptet?« »Ja. Wohl um mich abzuschrecken.« »Aber es ist ihm nicht gelungen, wie ich sehe.« »So ist es, Martine. Und ich werde aller Welt das Gegenteil beweisen.« Ein spöttisches Lächeln war die Antwort. »Na, dann viel Glück, meine Liebe.« Martine hatte sich abgewandt und sah nun zu Michel hinüber. Ihre Blicke trafen sich. In seinen Augen blitzte ein Funke. Als sie ihn weiter unverwandt ansah, breitete sich ein seltsames Lächeln in seinem Gesicht aus. Nein, dachte sie. Seltsam ist nicht der richtige Ausdruck. Es ist das Lächeln eines geheimen Einverständnisses…
*
Der Flughafen von Algier war streng bewacht. Auch in den Straßen der Hauptstadt war das Militär massiv präsent. Das gab Linda ein gewisses Gefühl der Sicherheit. »Fahren wir jetzt gleich zu deinen Freunden?« fragte sie ihren Mann im Taxi. »Nein. Wir wohnen im Hotel. Meine Freunde leben zu beengt, um uns aufnehmen zu können.« Das konnte Linda nur recht sein. Sie würde den Komfort genießen und hatte die Möglichkeit, sich jederzeit zurückzuziehen. Das »Imperial« lag sehr zentral. Von dort aus konnte man sogar zu Fuß in die Souks, die Altstadt von Algier, gehen. »Heute abend machen wir einen Bummel«, versprach er. »Aber erst einmal ruhen wir uns ein paar Stunden aus.« Sie genossen ein vorzügliches Abendessen im Hotel und machten sich dann auf den Weg. Durch die engen Gassen der Altstadt schoben sich lachende und schwatzende Menschen. Aus den Lautsprechern der Geschäfte erklangen orientalische Weisen. Dazwischen priesen die Händler lautstark ihre Waren an. Viele begehrliche Blicke folgten Linda, die mit ihrer hellen Haut, den blonden Haaren und den tiefblauen Augen sofort auffiel. Sie drängte sich eng an ihren Mann und erwiderte die Aufforderungen zum Kauf mit einem scheuen Lächeln. »Soll ich dir ein schönes Schmuckstück kaufen?« fragte Michel, als sie die Straße mit den Juweliergeschäften passierten. »O nein, Liebling. Vielen Dank. Ich habe so viel Schmuck von meiner Mutter geerbt, daß ich mich ein Leben lang damit behängen kann. Eins von den hübschen Seidentüchern wäre mir lieber.« »Gut. Dann ein Seidentuch. Dort hinten ist ein größerer Stand. Such dir eins aus.«
Sie hatte sich von ihm gelöst. Zwei Männer drängten sich zwischen sie und ihren Begleiter. Erschrocken sah sie sich nach ihm um. Er war von mehreren Menschen abgedrängt worden. Auf einmal wurde sie von den beiden Männern gepackt. Sie wollte um Hilfe schreien, aber eine kräftige Hand hielt ihr den Mund zu. Sie wehrte sich mit Armen und Beinen, aber die beiden Araber waren stärker. Was ist mit Michel? dachte sie verzweifelt. Hat er denn nichts bemerkt? Oder halten sie auch ihn in Schach? Sie wurde in einen dunklen Flur gezerrt und eine enge, steile Treppe hinaufgestoßen. Blitzschnell hatte ihr einer der Männer ein Tuch um die Augen gebunden. Sie stolperte, wurde aber aufgefangen. Ein kühler Wind umwehte sie plötzlich. Wahrscheinlich hatten sie am Ende der Treppe eine Dachterrasse erreicht. Von Filmen, die im Orient spielten, wußte sie, wie verzwickt die Bauweise in solchen Altstädten war. Man konnte von Haus zu Haus und von Hof zu Hof gelangen, wenn man sich auskannte. Für sie würde dieses hier ein Labyrinth bedeuten, das sie nie ergründen würde, selbst wenn man ihr die Binde von den Augen entfernen würde. Was hatten die Männer mit ihr vor? Wohin würde man sie bringen? Würde Michel Unterstützung bei seiner Suche nach ihr finden? Er hatte doch einflußreiche Freunde, wie er sagte. War auf die algerische Polizei Verlaß? Sie hörte das Öffnen einer Tür. Man schob sie vorwärts und löste die Augenbinde. Es war so finster in dem kleinen Raum, daß sie ohnehin nichts sehen konnte. Ihr Fuß stieß an eine Matratze, auf die sie erschöpft niedersank. Hinter ihr schloß sich die Tür. Das ist nun meine Hochzeitsreise, dachte sie bitter. Warum habe ich nicht auf meine Vorahnungen gehört? Was haben diese Leute mit mir vor? Wollen sie mich als Geisel für eine
Erpressung benutzen? Vermuten sie in mir eine ausländische Feindin, gar eine Spionin? Würde man sie mißhandeln oder gar töten? Kein Laut drang an ihr Ohr. Dieser Ort mußte weit genug von den betriebsamen Gassen der Souks entfernt sein. Oder aber die Wände waren gut isoliert, das kleine Fenster vergittert. Mein Gott, wie lange würde es dauern, bis sie in diesem Loch erstickt war? Sie wartete, daß irgend etwas geschehen möge. Die Minuten krochen dahin und erschienen ihr wie Stunden. Schließlich schlief sie vor Erschöpfung ein. Sie erwachte von einem Geräusch an der Tür. Ein Schlüssel drehte sich im Schloß. Im Türrahmen wurde eine dunkle Gestalt sichtbar. Es roch nach Pfefferminztee. Ehe sich die Tür wieder schloß, hatte sie in dem spärlichen Licht, das vom Flur hereindrang, eine Schüssel und einen Becher erkannt. Sie tastete nach dem Löffel und füllte ihn mit einer Art Brei. Da sie Hunger hatte, war es ihr gleichgültig, wonach die Speise schmeckte. Der Tee war süß und stark. Obgleich sie ihn nicht mochte, übte er eine positive Wirkung auf ihr Allgemeinbefinden aus. Auf einmal drangen Stimmen durch die Wand. Eine Frau sprach aufgeregt in einer ihr unverständlichen Sprache. Ein Mann antwortete barsch. Die Frau begann zu jammern. Dann hörte man klatschende Geräusche, ein heftiges Aufschluchzen und leises Wimmern. Danach war es still. Es ist also eine Frau in meiner Nähe, dachte Linda voll neuer Hoffnung. Aber wie sollte sie von ihr Hilfe erwarten? Diese Frau hatte offensichtlich nichts zu sagen. Sie wurde selbst unterdrückt und konnte sich nicht wehren. In den ersten Tagen ihrer Gefangenschaft hatte Linda noch ein gewisses Zeitgefühl. Das ging aber bald verloren. Endlos krochen die Stunden dahin. Ihr Kopf schmerzte von dem
permanenten Sauerstoffmangel. Sie fühlte sich schwach und elend. Worauf warteten ihre Entführer? Forderten sie ein Lösegeld für ihre Freiheit? Hatte es sich herumgesprochen, daß sie wohlhabend war? Bargeld war nicht in großen Mengen vorhanden. Sie müßte schon das Schloß verkaufen, um eine große Summe zusammenzutreiben, aber dazu mußte man erst einmal ihre Einwilligung einholen. Michel konnte nicht über ihren Besitz verfügen. Nichts geschah. Warum suchte man nicht nach ihr? Konnte in diesem Staat ein Mensch so einfach verschwinden? Noch dazu ein Ausländer? Konnte es da nicht diplomatische Verwicklungen geben? Sie lächelte traurig. Würde man eine Engländerin vermissen, die in Frankreich lebt, die keine Verwandtschaft mehr in ihrer Heimat hat? Niemanden, der sich um sie sorgte? Aber was war mit Michel? Hatte man ihn vielleicht auch entführt und hielt ihn an einem anderen Ort gefangen? Heftige Sehnsucht ergriff sie. Wenn er jetzt bei ihr wäre, würde sie viel zuversichtlicher sein. Sie würden einander Trost und Stütze bedeuten. Die Benommenheit in ihrem Kopf nahm zu. Sie schlief ein. Im Halbschlaf hörte sie Geräusche aus einem Raum nebenan. Es wurden Möbel gerückt. Eine Frauenstimme murmelte etwas Unverständliches. Erschrocken fuhr sie hoch. Ein Lufthauch hatte sie gestreift. Eine Gestalt näherte sich ihrem Lager und beugte sich zu ihr hinunter. »Linda«, flüsterte eine Frauenstimme. »Ja. Wer bist du?« »Komm! Komm schnell! Zieh das hier an.« Die Frau reichte ihr ein langes weites Gewand, das ihre schlanke Gestalt großzügig umhüllte. Erst jetzt wurde Linda
bewußt, daß die Frau französisch gesprochen hatte, mit einem fremden Akzent. Im schwachen Schein des Mondes erkannte sie die Terrasse, die sie von der steilen Treppe aus erreicht hatte. Dort zog die Frau sie jetzt hinunter. »Binde das Tuch vor«, sagte ihre Retterin. »So wie ich.« Linda blickte in ein paar dunkle Augen, die als einziges in dem offenbar noch sehr jungen Gesicht zu erkennen waren, und verhüllte sich ebenfalls. Sie erreichten die Gasse, in der Linda entführt worden war. Die Läden waren geschlossen. Keine Menschenseele war zu sehen. Linda atmete tief und befreit auf. Was für ein Geschenk! Endlich wieder kühle Abendluft atmen zu können! »Wer bist du?« fragte sie leise. »Frag nicht. Wir müssen schnell fliehen. Sie wollten mich zwingen.« »Zu was wollen sie dich zwingen?« »Heirat. Keine Liebe. Ich muß weg.« Linda verstand sofort. Wie oft hatte sie gehört, daß man im Orient noch immer Mädchen gegen ihren Willen verheiratete. Nur Männer hatten das Sagen. Frauen mußten bedingungslos gehorchen. »Du kommst mit mir nach Frankreich«, bestimmte Linda. »Dort leben Frauen in Freiheit.« »Ja. Komm. Hier geht es weiter.« Sie hatten eine Verzweigung erreicht. Niemals hätte sich Linda hier alleine zurechtgefunden, geschweige denn aus dem Labyrinth herausgefunden. Hinter sich hörte sie hastige Schritte. Die junge Frau zog sie in einen Eingang und drückte ihr warnend einen Finger auf den Mund. Die Schritte gingen vorbei. Gerade wollte Linda erleichtert aufatmen, als die Schritte zurückkehrten. Zwei Männer
verständigten sich halblaut. Die junge Frau drängte sich noch tiefer in den Eingang. Auf einmal stieß der eine Mann eine Art Triumphgeheul aus. Er stürzte auf sie zu und packte sie an den Schultern, während der andere die junge Frau aus dem Eingang hervorzerrte und wüste Beschimpfungen ausstieß. »Erste Gasse links«, zischte ihre Retterin, ehe sie brutal weggeschleppt wurde. Der andere Mann hatte sich einen Augenblick ablenken lassen. Diese Gelegenheit benutzte Linda zur Flucht. Sie stieß ihren Verfolger so heftig in den Unterleib, daß er stöhnend zusammensackte und minutenlang handlungsunfähig blieb. Die Gasse zur Linken erwies sich tatsächlich als Rettung. Sie führte zum Hof einer Moschee, in deren Säulenvorhalle Linda Schutz fand. Voller Sorge dachte sie an ihre Retterin. Was würden die brutalen Männer mit ihr anstellen? Wie teuer würde sie ihren mißglückten Ausflug in die Freiheit bezahlen müssen?
*
Linda war erschöpft an einer Säule zu Boden gesunken und in dieser unbequemen Stellung eingeschlafen. Erschrocken fuhr sie hoch, als sie über sich ein seltsames Geheul vernahm. Erst allmählich wurde ihr klar, was das bedeutete. Sie hatte Schutz bei einer Moschee gesucht und wurde nun durch den Gebetsruf des Muezzin geweckt. Also mußte es noch sehr früh sein. Aus Angst vor neugierigen Gläubigen eilte sie in die nächste Gasse und fand den großzügigen Eingang eines Teppichhändlers. Sie verkroch sich hinter einem riesigen Werbeschild und war nach kurzer Zeit wieder eingeschlafen. Aber mit geschärften Sinnen
nahm sie im Halbschlaf Geräusche um sich herum wahr. Hier und da öffneten sich Fenster, Türen wurden geöffnet und zugeschlagen, Scherengitter rasselnd hochgezogen. Es war die Stunde der Händler. Die Käufer kamen normalerweise später. Kundschaft würde man sicher schon an den Lebensmittel- und Fleischständen antreffen. Sie folgte ihrer Nase, die orientalische Gewürze wahrgenommen hatte. Dort also befanden sich die Stände mit Eßbarem. In ihrer exotischen Kleidung mischte sie sich ungeniert unter die einheimischen Frauen, die mit dem Gemüsehändler feilschten. Allmählich erwachte der Basar zu seinem gewohnten Leben. Abgeschreckt durch die Schreckensmeldungen über Morde an Ausländern, ließ sich kaum noch ein Tourist hier sehen. Aber es mußte noch europäische Diplomaten und Kaufleute geben, die sich hier unerschrocken bewegten. Wenn sie Glück hatte, würde sie jemanden finden, der ihr hier heraushalf und sie in Sicherheit brachte. Sie war eine Zeitlang ziellos durch die Gassen gebummelt, als ihr ein großer schlanker Mann auffiel, den sie unschwer als Engländer erkennen konnte. Schüchtern ging sie auf ihn zu und wollte ihm mit gesenktem Blick ansprechen, als er sie mit einer unwirschen Bewegung zu verscheuchen suchte. Jetzt erst wurde ihr bewußt, wie seltsam sie in dieser Kleidung wirken mußte. Sicher hielt er sie für eine Bettlerin. »Bitte, Sir«, begann sie. »Hören Sie mich an. Ich bin Engländerin.« »Und was machen Sie hier – in dieser Kleidung?« »Ich bin entführt worden und konnte mich befreien. Jetzt finde ich hier nicht wieder heraus und brauche Hilfe.« »Warum wenden Sie sich nicht an die Polizei?« »Man hat mir meine Papiere abgenommen. Ich habe auch kein Geld mehr. Meine Koffer sind im Hotel Imperial.«
»Na, wenigstens etwas. Kommen Sie hier weg. Die Leute werden schon aufmerksam. Ich zeige Ihnen den Weg hinaus.« »Vielen Dank. Ich bin völlig hilflos.« »Wir sollten nicht englisch sprechen. Nicht solange wir in diesem Stadtteil sind.« Sie schwieg gehorsam und folgte ihm durch die Gassen. Schließlich erreichten sie ein Tor, das Linda wiedererkannte. Dort hatte sie mit Michel die Altstadt betreten. Wie lange war das her? Er betrachtete sie von oben bis unten. »Wollen Sie jetzt nicht Ihre Maskierung ablegen?« Sie sah an sich herunter. »Da haben Sie recht. Nun brauche ich das vielleicht nicht mehr.« Sie löste das Tuch, das ihr Gesicht zum größten Teil bedeckt hatte, und schälte sich aus dem weiten Umhang. Erstaunt musterte er sie. »Donnerwetter! Was in einer solchen Schale alles stecken kann!« Sie lachte, obgleich ihr gar nicht zum Lachen zumute war. Sein plötzlich erwachtes Interesse tat ihr gut. »Ich heiße George Mabel«, stellte er sich vor. »Und Sie?« »Linda Portier.« »Oh, ein französischer Name.« »Ja. Ich habe einen Franzosen geheiratet.« Sein Interesse schien zu schwinden. »Ich hoffe, Sie kommen nun allein zurecht. Ich muß mich leider um meine Geschäfte kümmern. Hier ist die Karte von meinem Hotel. Falls Sie Hilfe brauchen…« »Ich habe kein Geld zum Telefonieren.« »Oh, daran habe ich nicht gedacht.« Er kramte in seinem Geldtäschchen. »Hier, nehmen Sie. Das wird Ihnen erst einmal weiterhelfen.« »Vielen Dank. Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.«
»Keine Ursache. Sehen Sie zu, daß Sie Ihren Mann wiederfinden. Alles Gute.« Er reichte ihr die Hand und wendete sich wieder der Altstadt zu, wo ihn anscheinend dringende Geschäfte erwarteten. Sie sah ihm traurig nach. Diese kurze Begegnung hatte ihr neuen Mut gegeben. Aber nun fühlte sie sich wieder verlassen. Allein in einer feindlichen Stadt, ohne Papiere… Sie fand ohne Schwierigkeiten den Weg ins Hotel zurück. Voller Hoffnung wandte sie sich an den Empfangschef, der ein bißchen Englisch und Französisch sprach. »Madame Portier? Sie sind Madame Portier?« fragte er mißtrauisch. »Ja. Mein Paß muß noch bei Ihnen liegen. Man hat ihn mir bei der Ankunft abgenommen.« »Das ist bei uns so üblich. Wann war das denn?« »Welches Datum haben wir heute?« »Den zwanzigsten September.« »Dann war es vor zwei Wochen. Ja, genau. Am fünften.« Der Portier blätterte in seinem Buch. Sein Finger fuhr über die Zeilen. »Ja. Hier steht es: M. und Madame Portier.« »Na also«, sagte sie erleichtert. »Aber Monsieur ist längst abgereist.« »Das ist doch nicht möglich!« »Doch, Madame. Hier steht es: Am siebten September: Monsieur und Madame Portier.« »Madame Portier? So steht es hier? Das ist ja nicht zu fassen! Und der Paß von dieser Madame Portier?« »Der war in Ordnung. Sonst hätten die Behörden sie nicht ausreisen lassen.« Linda war der Verzweiflung nahe. »So hören Sie doch! Das war nicht Madame Portier. Madame Portier bin ich.«
Der Mann musterte sie streng. »Also, wenn Sie mir hier Schwierigkeiten machen wollen, bei uns läuft alles korrekt. Da könnte ja jeder kommen und behaupten…« »Aber es ist so. Es handelt sich offensichtlich um einen Betrug. Ich bin in der Altstadt entführt worden.« »Dann rufen Sie schnellstens die Polizei.« Er griff zum Hörer. »Oder erzählen Sie jemand anders diese verrückte Geschichte.« Im ersten Augenblick hatte Linda gedacht, es sei keine schlechte Idee, die Polizei zu rufen. Aber auf einmal wurde ihr bewußt, in welch mißlicher Lage sie sich befand. Würde man ihr glauben? Oder würde man sie für eine Betrügerin halten? Was konnte sie ohne Paß beweisen? Wenn sie erst einmal in den Fängen der Polizei war, konnte ihr wer weiß was blühen. Schauergeschichten über Verhörmethoden in diktatorischen Regimen fielen ihr ein. Die Verhältnisse in orientalischen Gefängnissen spotteten jeder Beschreibung. Dazu kam die unbekannte Mentalität orientalischer Männer. Sie wäre noch nicht einmal in der Lage gewesen, die Polizisten zu bestechen. Auch die Scheckkarten hatten die Entführer ihr abgenommen. Und ohne Scheckkarte war man im Ausland kein Mensch… Sie wandte sich zum Gehen. »Warten Sie!« rief der Portier. Auf einmal hatte sie es sehr eilig. »Geben Sie sich keine Mühe. Ich rufe meinen Mann in Frankreich an und kläre alles auf. Vielen Dank.« Jetzt war das Mißtrauen des Mannes voll erwacht. »Halt! Stehen bleiben!« brüllte er. Jemand, der nicht mit der Polizei reden wollte, mußte etwas zu verbergen haben. Sie stürzte durch den Eingang nach draußen. Hinter ihr schrille eine Trillerpfeife. Offensichtlich rief der Portier Unterstützung herbei.
Es war gerade ein Bus angekommen. Die Reisenden stiegen aus und gingen auf den Hoteleingang zu. Linda duckte sich, huschte zwischen ihnen durch und mischte sich unter die Fußgänger. Hastig warf sie sich den weiten Umhang über die Schultern und versteckte ihr Gesicht hinter dem Seidentuch. Als sie sich umdrehte, sah sie den Portier auf den Stufen stehen. Er blickte sich suchend um.
*
Linda hätte sich am liebsten mit einem Taxi zu George Mabels Hotel bringen lassen, um dort in der Hotelhalle auf ihn zu warten. Aber sie hatte Angst, irgendwo aufzufallen. Außerdem wollte sie sich ihrem Retter nicht aufdrängen. Er hatte ihre Begegnung zuerst als eine Belästigung empfunden. Allmählich hatte er seine Skepsis überwunden. Aber im Grunde genommen hatte er ihr deutlich zu verstehen gegeben, daß ihn ihr Fall eigentlich nichts anging. Das war natürlich Sache ihres Ehemannes. Wenn sie nur Zeit gehabt hätte, ihm ihre Geschichte zu erzählen. Aber er hatte sich ziemlich kühl verabschiedet. Wahrscheinlich hoffte er, sie würde von der Visitenkarte des Hotels keinen Gebrauch machen. Aber sie war dringend auf Hilfe angewiesen. Wenn er sie zur britischen Botschaft begleiten würde, sähe alles gleich ganz anders aus. Einem nachweislichen britischen Staatsangehörigen würde man mehr Respekt entgegenbringen als einer Frau, die keine Papiere hatte und eine abenteuerliche Geschichte erzählte. Gegen Mittag rief sie im Hotel »Esplanade« an und fragte nach George Mabel. Er war sofort am Apparat.
»Oh, Madame Portier! Ich habe mir schon Sorgen um Sie gemacht. Nach unserem Abschied bekam ich ein schlechtes Gewissen, daß ich Sie so sich selbst überlassen habe.« »Das habe ich gut verstehen können«, erwiderte sie bewegt. »Es tut mir richtig gut, mit Ihnen reden zu können.« »Was hat denn Ihr Besuch im ›Imperial‹ ergeben?« »Oh, das war eine schreckliche Situation. Ich wurde verdächtigt, eine Betrügerin zu sein. Man sagte mir, Monsieur und Madame seien schon vor zwei Wochen abgereist. Stellen Sie sich vor! Da hat sich eine andere Frau als Madame Portier ausgegeben.« »Na, da muß sich Ihr Mann aber schnell getröstet haben.« Ihr stiegen die Tränen ins Gesicht. »Ich verstehe das alles nicht. Statt daß er sich die größten Sorgen um mich macht, gibt er eine andere als seine Frau aus.« »Und Ihre Koffer?« »Die haben sie mitgenommen. Natürlich auch meinen Paß. Den müssen sie geschickt gefälscht haben.« »Wissen Sie was? Ich glaube, das war alles ein abgekartetes Spiel.« »Unmöglich!« entfuhr es Linda. »Mein Mann war der zärtlichste Mensch der Welt.« »Das scheint aber vorbei zu sein. Sehen Sie die Situation doch mal nüchtern. Wissen Sie was? Ich hole Sie mit einem Taxi ab, und wir besprechen alles hier bei mir. Dann können Sie sich auch ein bißchen frisch machen. Ich denke, Sie haben lange kein Bad genommen.« Sie seufzte. »Nein. Das ist eine Ewigkeit her. In meinem Gefängnis bekam ich nur eine Schale Wasser zum Waschen hingestellt.« »Wo sind Sie jetzt?« »Immer noch in der Nähe meines Hotels.« »Warten Sie dort auf mich.«
»Ja. Vielen Dank.« Linda wartete in einem Hauseingang in der Nähe des Hotels. Von dort aus hatte sie die Auffahrt zum Hotel im Blickfeld. Immer wieder fuhren Taxis vor. Aber aus keinem stieg George Mabel aus. Je länger sie wartete, um so unbehaglicher fühlte sie sich. Gierige Männerblicke tasteten ihren schlanken Körper ab, bewunderten ihre lockigen blonden Haare und ihre weiße Haut. Gerade wollte sie sich wieder das orientalische Gewand überziehen, das sie abgelegt hatte, als sie sich vor dem Portier sicher fühlte. Da hielt ein Taxi am Straßenrand. Aber niemand stieg aus. Sie wollte die Straße überqueren, um zu sehen, ob George darin saß. Aber ein nicht abreißender Strom von Autos verhinderte jedes Durchkommen. Mehrere Busse versperrten ihr den Blick auf ihren möglichen Retter. Als sie endlich wieder freie Sicht hatte und die Ampel Grün zeigte, war das Taxi verschwunden. Linda gab die Hoffnung noch nicht auf. Vielleicht hatte George gar nicht in dem Taxi gesessen und nach ihr Ausschau gehalten? Wahrscheinlich war er noch unterwegs, um sie zu treffen. Ein Taxi glitt heran und hielt vor ihr am Straßenrand. Auf dem Beifahrersitz saß ein großer Mann. Endlich, dachte sie erleichtert und ging auf den Wagen zu. Aber zu ihrer großen Enttäuschung stieg ein Unbekannter aus. »Wo wollen Sie hin?« fragte der Fahrer. Linda wollte sich schon wieder abwenden. Sie mußte doch auf George warten. Aber als sie auf die Uhr schaute, stellte sie fest, daß sie bereits eine Stunde wartete. Es mußte etwas dazwischengekommen sein. Warum sollte sie noch länger unnütz warten? »Na, was ist nun?« fragte der Taxifahrer ungeduldig.
Sie fühlte sich schmutzig, einsam und völlig ausgelaugt. Der Gedanke an ein Bad und eine gepflegte Umgebung hatte etwas ungemein Verlockendes. Aber wenn nun George inzwischen doch noch kam? Gerade wollte sie dem Mann den Namen des Hotels sagen, als sie es sich doch anders überlegte. Sie konnte ihn nicht einfach dort überfallen, so, wie sie im Augenblick aussah. Bei der Rezeption würde man sie sicher ausfragen und abweisen. Sie würde George in Verlegenheit bringen und sich möglicherweise verdächtig machen. Ihr Erlebnis mit dem Portier ihres Hotels war ihr noch in schrecklicher Erinnerung. »Zur britischen Botschaft, bitte«, sagte sie und stieg ein. »Keine britische Botschaft mehr«, erwiderte der Fahrer. »Was? Wieso denn?« »Geschlossen. Alle Engländer weg. Angst.« Sie verstand sofort, was diese wenigen französischen Brocken bedeuteten. Die Europäer hatten ihr Botschaftspersonal abberufen, als die Jagd der Terroristen auf Ausländer begann. Sie fürchteten um das Leben ihrer Angestellten und mußten sie schützen. »Nur noch Konsulat«, erklärte der Mann mürrisch. Sie stieß ein Dankesgebet zum Himmel. »Dann bitte zum britischen Konsulat.« Der Fahrer ordnete sich in den laufenden Verkehr ein und setzte sie nach einer Irrfahrt durch graue Häuserblocks vor einem offiziell aussehenden Gebäude ab. Sie bezahlte und betrat das Haus. Das britische Konsulat bestand aus zwei Zimmern. Das eine war leer. In dem anderen saß ein dunkelhäutiger Mann an einem alten Schreibtisch. »Sie wünschen?« fragte er barsch.
Er hörte sich mit abweisender Miene den ersten Teil ihres Berichtes an und unterbrach sie dann mit einem ungeduldigen Blick auf die Uhr. »Hören Sie. Mit solchen Geschichten kommen hier Dutzende von Leuten an. Sie wollen Geld und einen Paß. Wo kämen wir hin, wenn wir jeder Abenteurerin helfen würden?« »Abenteurerin? Ich muß doch sehr bitten. Ich bin britische Staatsbürgerin und befinde mich in einer Notlage.« »Kann jemand Ihre Identität bezeugen?« »Nein. Mein Mann ist ohne mich abgereist.« »Aha.« Sie wollte ihn empört fragen, was dieses »Aha« bedeuten sollte. Aber sie hielt es für klüger, ihn nicht zu verärgern. »Und in Ihrer Heimat? Gibt es dort jemanden?« »Ich habe allein gelebt. Sicher, Nachbarn…« »Allein? Ich denke, Sie sind verheiratet.« »Natürlich. Aber vor meiner Heirat.« »Und wo leben Sie jetzt?« »Bei Seiches, in Frankreich.« »Und dann kommen Sie zu uns? Für Sie ist das französische Konsulat zuständig.« »Aber ich bin doch englische Staatsbürgerin«, sagte sie verzweifelt. »Trotzdem kann ich nichts für Sie tun. Ich habe noch nicht mal ein Faxgerät. Dies hier ist nur ein Provisorium, und ich bin auch nur eine vorläufige Vertretung. Wie soll ich überprüfen, ob Ihre Angaben stimmen? Tut mir leid. Gehen Sie zur französischen Botschaft. Sie ist auch in diesem Haus.«
*
Sie irrte durch mehrere Flure. Die Männer, die ihr begegneten, musterten sie neugierig. Sie waren ausnahmslos dunkelhäutig. Auch in der französischen Botschaft entdeckte sie kein europäisches Gesicht. Wieder nur Nordafrikaner, dachte sie enttäuscht; Männer, von denen bekannt war, daß sie keinen Respekt vor Frauen hatten. Linda trug einem kleinen dicken Mann mit Sonnenbrille ihren Fall vor. Er ließ sie wenigstens ausreden. Dann aber begann er ein strenges Verhör. »Was hat Sie nach Algier geführt?« »Mein Mann und ich waren auf Hochzeitsreise. Wir wollten Urlaub machen.« »Kein Fremder macht in Algerien Urlaub. Wer will schon deswegen sein Leben riskieren?« »Das habe ich ihm auch gesagt. Aber er sagte, seine Freunde würden ihn beschützen.« »Nur ihn also. Nicht Sie.« »Doch, doch, natürlich. Er meinte das jedenfalls.« »Das hat man ja nun gesehen«, stellte er sarkastisch fest. »Falls Ihre Angaben stimmen.« »Bitte, glauben Sie mir…« »Was sind das für Freunde?« fragte er mißtrauisch. »Das weiß ich nicht. Es sollen Freunde seines verstorbenen Vaters sein, aus dem Algerienkrieg.« »Franzosen?« »Nein, Algerier. Er soll ihnen damals geholfen haben.« »Das klingt alles sehr verdächtig, Madame.« »Verdächtig? Wieso?« »Wir haben Bürgerkrieg. Man kann niemandem mehr trauen. Jeder gegen jeden. Frühere Freunde sind jetzt Feinde.« »Das ist schlimm.« »Wenn es sich um Terroristen handelte…«
»Das glaube ich nicht. Mein Mann interessiert sich nicht für Politik.« »Aber vielleicht wollten diese sogenannten Freunde etwas Bestimmtes von ihm.« Sie zuckte hilflos die Achseln. »Das weiß ich wirklich nicht. Aber werden Sie mir helfen?« »Sie sind also Engländerin. Warum gehen Sie nicht zu Ihrer Botschaft?« »Dort hat man mich abgewiesen, weil ich in Frankreich wohne und mit einem Franzosen verheiratet bin.« »Sagen Sie mir die Personalien Ihres Mannes, ebenso die Ihren und die genaue Anschrift.« Sie kam der Aufforderung mit einer gewissen Erleichterung nach. Endlich war er zur Sache gekommen. Er hatte die Daten in einen Computer eingegeben und setzte ein Faxgerät in Betrieb. Eifrig tippte er ein. »Das braucht seine Zeit.« Sie wartete geduldig. Endlich war sie an der richtigen Stelle. Wenn er ihre Angaben in Frankreich überprüfen ließ, würde sie einen besseren Stand bei ihm haben. Sie studierte die Bilder und Plakate an den Wänden und freute sich, wie viel Französisch sie inzwischen verstehen konnte. Das Gespräch hatte sie zwar überfordert, und sie hatte mehrmals um Wiederholung oder nähere Erklärungen gebeten, aber im großen und ganzen hatte sie sich ganz gut gehalten. Nach einer Ewigkeit, wie ihr schien, rasselte das Faxgerät. Der Angestellte las das Schreiben und warf ihr einen vernichtenden Blick zu. »Sie behaupten, Madame Portier zu sein?« »Ja, natürlich.« »Monsieur Portier ist mit Madame Portier seit zwei Wochen wieder zu Hause.« »Wer behauptet das?«
»Die Polizei in Seiches hat das überprüft.« »Das ist ein riesiger Betrug«, begehrte Linda auf. »Ich bin Linda Portier. Wer gibt sich da für mich aus?« Der Mann schüttelte den Kopf. »Sie sehen, wie unglaubwürdig Ihre Geschichte ist. Sie kam mir gleich seltsam vor.« »Aber sie ist wahr! Ich verlange, daß dieser Fall aufgeklärt wird.« »Nichts haben Sie zu verlangen. Ich werde die Polizei rufen. Die soll sehen, wie sie mit Betrügerinnen wie Ihnen fertig wird.« Linda geriet in Panik. Nur das nicht! Die Polizisten würden ihr erst recht nicht glauben. Außerdem hätte sie sich mit denen wohl kaum verständigen können. Sie hatte nämlich gehört, daß der einfache Polizist nur die Landessprache beherrschte. Sie stand auf, während er zum Telefonhörer griff und eine Nummer wählte. Hastig verließ sie das Zimmer. Im Flur hörte sie ihn fluchen, weil die Leitung blockiert war. Das war ihre Rettung. Er konnte also weder die Polizei rufen noch der Wache am Eingang Bescheid sagen, daß man sie aufhalten sollte. Betont lässig ging sie an dem Wachmann vorbei und grüßte freundlich. Erst als sie außer Sichtweite war, begann sie zu laufen. Beim nächsten Häuserblock stieß sie auf ein freies Taxi, das sich gerade in Bewegung setzen wollte. Auf ihr heftiges Winken hin hielt der Fahrer an und musterte sie mißtrauisch. »Bitte zum Hotel Esplanade.« Er zögerte, und sie konnte sich vorstellen warum. Ihr äußeres Erscheinungsbild paßte nicht zu der feinen Adresse. Ihr Sommerkleid war zerknautscht, die langen Haare waren strähnig und sie trug keine Handtasche. »Das kostet aber was.« Er nannte den Preis.
Sie griff in ihre Jackentasche und prüfte ihre Barschaft. Dafür würde es gerade noch reichen. »Das scheint mir zwar zu teuer, aber so viel habe ich noch.« Er öffnete die Beifahrertür und ließ sie einsteigen. Mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung lehnte sie sich in den Sitz zurück. Das »Esplanade« wirkte noch luxuriöser als das »Imperial«. Auf den breiten Marmorstufen zögert sie. Ein Blick durch die großen Glastüren hatte genügt, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Die Tür wurde von innen bewacht. Dort stand ein livrierter Portier. In ihrem Aufzug würde sie nicht an ihm vorbeikommen. Allein schon das orientalische Gewand, das sie über dem Arm trug, würde sie verdächtig machen. Aber sie konnte sich nicht dazu entschließen, es wegzuwerfen. Wer weiß, wozu es ihr noch einmal nützlich sein konnte… Nach längerem Suchen fand sie eine Telefonzelle und rief im Hotel an. Zu ihrer größten Enttäuschung wurde ihr mitgeteilt, daß Mister Mabel nicht auf seinem Zimmer sei. Sie brach in Tränen aus. Was sollte nun werden? Sie hatte keine Bleibe, und das verbliebene Geld würde kaum noch für eine Mahlzeit reichen. Voller Sehnsucht dachte sie an ihr Schloß, das unerreichbar geworden war. Dort genoß jetzt ihr Mann mit einer anderen Frau sein Leben, noch dazu auf ihre Kosten. Sie hatte ihm Vollmacht über eines ihrer Konten gegeben. Warum hatte sie alle Warnungen in den Wind geschlagen? Man hatte ihr deutlich genug zu verstehen gegeben, daß er nur auf ihr Schloß und auf ihr Geld aus war. Wie konnte sie vor Liebe so blind sein? Ein Mann klopfte ungeduldig an die Tür. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und verließ die Telefonzelle mit einem entschuldigenden Lächeln.
*
Als es zu dämmern begann, wagte sie sich näher an den Hoteleingang heran. Keinesfalls durfte sie George Mabel verpassen, wenn er endlich auftauchte. Er war ihre letzte Rettung. Bei einbrechender Dunkelheit entstieg er endlich einem Taxi. Ihr Herz klopfte wild. Vorsichtig bewegte sie sich auf ihn zu. »Mister Mabel!« rief sie halblaut. Erst jetzt erkannte er sie. »Linda! Was machen Sie hier?« »Ich warte auf Sie. Schon seit Stunden.« »Das tut mir leid. Wir müssen uns verfehlt haben. Ich war an Ihrem Hotel.« »Ja. Ich glaube, ich habe Ihr Taxi gesehen. Aber ich konnte die Straße nicht überqueren. Es war zuviel Verkehr.« »So ein Pech! Der Fahrer weigerte sich, noch länger zu halten. Er stand im absoluten Halteverbot und wurde schon strafend von einem Polizisten angesehen. Was machen wir jetzt? Ich glaube kaum, daß ich Sie hier unbemerkt am Portier und der Rezeption vorbeimogeln kann.« »Gibt es keinen Hintereingang?« »Doch. Für das Personal. Ich werde ihn für Sie aufschließen. Nehmen Sie den Dienstbotenlift und fahren Sie in den sechsten Stock. Zimmer sechshundertzehn.« Sie gelangte unbemerkt ins Hotel. Den neugierigen Blick eines Zimmermädchens beantwortete sie mit einem gewinnenden Lächeln. Unangefochten erreichte sie ihr Ziel. Das Zimmer war sehr geräumig und mit erlesenem Geschmack ausgestattet. Außer einem riesigen Doppelbett gab es noch eine behagliche Sitzecke mit einer Schlafcouch. Sie kam sich vor wie im Paradies.
»Nehmen Sie erst mal ein Bad«, schlug George vor. »Ich bestelle Ihnen was zu essen, und dann erzählen Sie mir in Ruhe alles, was Sie bedrückt.« Linda badete ausführlich und trocknete die Haare mit dem Fön. »Darf ich Ihren Kamm benutzen?« fragte sie durch den Türschlitz. »Selbstverständlich. Auch meinen Bademantel. Bleiben Sie noch einen Moment im Bad und verhalten sich ruhig. Der Zimmerkellner kommt gerade.« Sie hörte Stimmen und wartete geduldig, bis die Tür wieder geschlossen wurde. »Ich fühle mich wie neu geboren«, stellte sie glücklich fest. »Ich bitte nur, meinen Aufzug zu entschuldigen.« »Kein Grund. Sie sehen bezaubernd aus. Kommen Sie. Lassen Sie das Essen nicht kalt werden.« Sie setzte sich an den reich gedeckten Tisch und genoß das vorzügliche Mahl ebenso wie den guten Rotwein, der ihrem blassen Gesicht bald Farbe gab. Er bedrängte sie nicht mit Fragen, sondern ließ ihr Zeit. Mit einem zufriedenen Seufzer legte sie schließlich das Besteck aus der Hand. »So etwas Gutes habe ich lange nicht gegessen. Haben Sie vielen Dank. Aber jetzt sollen Sie endlich wissen, wen Sie so großzügig bewirten.« Mit wachsendem Interesse und großer Anteilnahme lauschte er ihrem Bericht: Wie sie Michel kennengelernt hatte, die Warnungen, die Hochzeit, dann die Hochzeitsreise mit dem unseligen Ende… »Haben Sie ihn nie gefragt, was ihn gerade an dem Tag zu Ihrem Schloß geführt hat? Das war doch wohl genau nach Plan. Dieser Mann, der Sie unterwegs in dem Hotel ausgefragt hat, könnte er damit etwas zu tun haben?« Sie dachte nach. »Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen. Er sagte, er sei Makler.«
»Sicher hat er Michel angerufen. Er wird gesagt haben: ›Die ist genau richtig für dich.‹« »Mein Gott, wenn das wahr wäre! Dann gäbe alles einen Sinn. Er ist immer meiner Frage ausgewichen und hat unsere Begegnung stets als glücklichen Zufall bezeichnet.« »Es wird höchste Zeit, daß Sie hier wegkommen und zu Hause für Ordnung sorgen. Wir müssen für Sie einen falschen Paß besorgen. Außerdem brauchen Sie Wäsche und Kleidung zum Wechseln. Unten im Hotel ist eine Boutique. Ich werde das Nötigste kaufen. Warten Sie hier und lassen Sie niemanden herein. Ich hänge das Schild ›Bitte nicht stören‹ draußen vor die Tür.« Eine halbe Stunde später kam George zurück. Sie war begeistert von seinem guten Geschmack. Er hatte sogar an Kamm, Lippenstift, Hautcreme und Zahnbürste gedacht. »Wie soll ich das jemals wieder gutmachen?« fragte sie gerührt. »Man sieht, daß Sie verheiratet sind.« Er lachte. »Das war einmal. Seit drei Jahren bin ich geschieden.« »Oh, das tut mir leid.« »Mir aber nicht. Und ich hoffe, daß auch Sie diesen Betrüger bald los sind.« Sie nickte traurig. »Ich werde aufhören müssen, ihn zu lieben.« »Einen Menschen, der einem so etwas antut, kann man nicht mehr lieben. Kommen Sie, trinken Sie noch ein Glas Wein, um die trübe Stimmung zu vertreiben. Ach, morgen müssen wir ein Paßbild von Ihnen machen lassen. Aber jetzt schlage ich vor, daß Sie erst mal die neuen Sachen anprobieren.« Linda erhob sich und verschwand im Badezimmer. Wenige Minuten später erschien sie mit einem strahlenden Lächeln. Er stieß einen bewundernden Pfiff aus.
»Sie sind ein völlig neuer Mensch geworden«, stellte er erstaunt fest. »Und dieser Lippenstift paßt genau zu Ihrem zarten Teint. Einfach perfekt!« Sie errötete leicht. »Das habe ich nur Ihnen zu verdanken. Jetzt kann ich mich wieder in der Stadt sehen lassen.« »Aber nie mehr ohne meine Begleitung«, warnte er. »Nein. Das traue ich mich jetzt auch nicht mehr.« »Dann bin ich ja beruhigt. Ach, da fällt mir ein, daß Sie noch eine Handtasche brauchen. Ich gehe noch einmal nach unten. Rühren Sie sich nicht vom Fleck.« Schon nach kurzer Zeit kam er mit einer zierlichen weißen Schultertasche zurück. »Und da Sie sicher kaum noch Geld haben, stecke ich gleich ein paar Scheine hinein.« »Vielen Dank. Das beruhigt sehr. Ich hoffe, daß ich Ihnen bald alles zurückgeben kann.« Er griff nach ihrer Hand und drückte einen Kuß darauf. »Das ist doch nicht der Rede wert. Für eine Frau wie Sie würde ich alles tun.« Seine Worte erfüllten sie mit Dankbarkeit und Wärme. Wenn sie diesen Mann eher kennengelernt hätte, wäre ihr Leben anders verlaufen. Sie seufzte. Er ließ ihre Hand los und sah ihr tief in die Augen. »Was für ein Jammer, daß wir uns unter solch widrigen Verhältnissen kennenlernen mußten.« »Ja. Aber diese Begegnung war für mich wirklich ein glücklicher Zufall.« »Es ist spät geworden. Sie werden müde sein.« Seine Stimme klang auf einmal rauh. »Wir sollten die Frage des Schlafens klären.« »Wenn ich darf, würde ich gern auf der Couch schlafen«, sagte sie schnell. »Das kommt nicht in Frage. Sie schlafen im Bett.«
Linda protestierte so lange, bis er nachgab und aus dem Schrank ein Kopfkissen und eine Decke holte. Als er im Badezimmer verschwunden war, zog sie das Kleid aus und verkroch sich unter der Decke. Wenig später kam er zurück. Sein seidener Schlafanzug raschelte. Er beugte sich über sie und drückte einen sanften Kuß auf ihre Stirn. Sie hätte am liebsten die Arme um ihn geschlungen und ihn zu sich herabgezogen. Aber ihr natürlicher Anstand und ihre Wohlerzogenheit verbaten ihr eine so spontane Reaktion, die zu etwas führen würde, was sie nicht wollte; jedenfalls jetzt noch nicht. Er fühlte, wie sie sich versteifte, und trat zurück. »Es wird nichts geschehen, was du nicht willst«, versprach er. Sie horchte auf seine Atemzüge und kuschelte sich tiefer in die Decke. Wenig später war auch sie eingeschlafen.
*
Linda erwachte erfrischt und ausgeruht am Morgen. George war schon angezogen. »Gut geschlafen?« fragte er fröhlich. »Wunderbar«, erwiderte sie glücklich. »So gut wie seit Wochen nicht.« »Das Badezimmer ist frei. Ich bestelle schon mal das Frühstück. Kaffee oder Tee?« »Tee, bitte.« Sie machte sich sorgfältig zurecht und erschien gutgelaunt am Frühstückstisch. Nachdem sie sich für die kommenden Unternehmungen gestärkt hatten, verließen sie getrennt das Hotel, um sich an der nächsten Straßenecke wieder zu treffen. In einem Fotoatelier
ließen sie Paßbilder machen. Zwei davon behielt George, die beiden anderen steckte Linda in die Tasche. »Es ist besser, wir gehen nicht gleich ins Hotel zurück. Die Zimmer werden jetzt gemacht. Danach kannst du wieder unbemerkt dort bleiben. Ich habe noch geschäftliche Dinge zu erledigen und werde mich dann um einen Paß für dich kümmern. Du kannst dir die Zeit mit meiner Reiselektüre vertreiben.« Sie betraten ein Straßencafe und bestellten frischen Orangensaft. Der Wirt grüßte von der Theke her freundlich herüber. »Der Mann hat mir schon manchen Gefallen getan. Ich werde ihn wegen des Passes befragen.« »Ist er auch wirklich vertrauenswürdig?« »Ganz sicher«, erwiderte er mit Überzeugung. »Er hat seine Hände in allerlei Geschäften…« »Bitte, sei vorsichtig, George.« »Keine Sorge. Entschuldige mich einen Augenblick.« Er stand auf und ging zur Theke. Eine Weile sprach er leise mit dem Mann, der schließlich zum Telefonhörer griff und kurz darauf mit einem kurzen Nicken auflegte. Er schrieb etwas auf einen Zettel, den er George zusteckte. George kehrte an den Tisch zurück. »Es geht alles in Ordnung. Er hat mir einen Treffpunkt in der Altstadt genannt. Dort würde ich gut bedient.« Sie betrachtete ihn besorgt. »Sei vorsichtig. Ich habe schreckliche Angst, daß etwas schiefgeht.« Er legte ihr liebevoll die Hand auf den Arm. »Mach dir keine Sorgen. Der Mann ist zuverlässig.« Schon bald sollte sie merken, wie begründet ihre Sorgen und Ängste waren…
Nach einer Stunde kehrten sie ins Hotel zurück. Das Bett war gemacht. Also war von den Zimmermädchen nichts mehr zu befürchten. »Häng trotzdem das Schild vor die Tür und schließ ab. Man kann ja nie wissen…« Sie versprach es und gab ihm zum Abschied einen Kuß auf die Wange. »Vielen Dank für alles.« »Gern geschehen«, erwiderte er fröhlich. Aber sie hörte einen beunruhigten Ton heraus. Anscheinend machte er sich genau solche Sorgen wie sie. Linda versuchte, sich durch einen spannenden Roman abzulenken. Aber sie mußte immer wieder an den Mann denken, der sich ihretwegen in Gefahr brachte. Ihr wurde bewußt, wie sehr sie ihn ins Herz geschlossen hatte. Hinter ihm verblaßte Michels Bild immer mehr. Es würde ihr nicht schwerfallen, die Liebe zu ihm erkalten zu lassen. Wer mochte die Frau sein, die ihre Identität angenommen hatte? Blitzartig kam ihr die Erinnerung an das Gespräch mit seiner Kusine und an die Blicke, die sie sich zugeworfen hatten. Aus ihnen sprach nicht nur geheimes Einverständnis, sondern auch Intimität. Das wurde ihr erst jetzt klar. Dazu paßten die Briefe und die mitleidigen Blicke seiner Mutter. Und was hatte seine Schwester Yvonne ihr anvertrauen wollen? Heftiger Zorn stieg in ihr auf bei dem Gedanken, daß diese Frau jetzt möglicherweise ihre Stelle einnahm. Während sie hier verzweifelt um ihre Identität kämpfte, genossen die beiden in ihrem Haus ein unbeschwertes Leben. Wieder dachte sie an George. Ihre Unruhe wuchs. Wenn er doch bald zurückkäme und sie von ihren Ängsten befreite! Aber daran war noch lange nicht zu denken. George mußte eine Reihe wichtiger Geschäfte abwickeln und konnte sich erst am späten Nachmittag zu der vereinbarten Stelle begeben. Da
sich der Sommer dem Ende zuneigte, setzte die Dämmerung schon früh ein. In den engen Gassen der Souks dunkelte es bereits. Der Treffpunkt war eine obskure Bar, in der sich finstere Gestalten aufhielten. An einigen Tischen wurde bei seinem Eintreten getuschelt. Er setzte sich an einen leeren Tisch und bestellte eine Tasse Kaffee. Der Wirt brachte das heiße bittere Getränk und flüsterte: »Zweitausend Francs.« »Ich zahle erst, wenn ich den Paß habe.« »Erst das Geld. Das ist unsere Bedingung.« Widerwillig zog er die Geldscheine aus der Jackentasche und steckte sie dem Wirt zu. Der winkte zwei Männern an einem Tisch in der Ecke des Lokals. Sie standen auf und kamen auf George zu. »Alles in Ordnung. Kommen Sie mit«, sagte einer der beiden. »Es ist nicht weit.« »Können wir das Ganze nicht hier besprechen?« fragte George. Die beiden kamen ihm unheimlich vor. »Nein, ausgeschlossen. Kommen Sie.« Die Männer führten ihn durch winklige Gassen in einen dunklen Hauseingang. »Hier die Treppe rauf. Wir sind gleich da.« George wurde es immer unbehaglicher zumute. Er dachte an Lindas schreckliches Erlebnis in einem solchen Haus. Aber er konnte nicht mehr zurück. Die Männer schoben ihn in einen Gang zu einer zweiten Treppe, die in einen neuen Gang führte. Dort öffneten sie eine Tür und stießen ihn hinein. »Was soll das?« versuchte er zu protestieren. »Ich biete Ihnen ein gutes Geschäft.« Die Männer lachten häßlich. »Kein Geschäft. Geld her!« »Das Geld hat der Wirt.«
»Wir wollen mehr Geld.« »Ich habe nicht mehr dabei.« Ein Faustschlag streckte ihn zu Boden. Er stieß mit dem Kopf an eine Kante und wurde bewußtlos. In seinem letzten klaren Augenblick dachte er an Linda, die nun vergeblich auf ihn warten würde. Als sein Bewußtsein zurückkehrte, schien es Nacht zu sein. Durch ein kleines vergittertes Fenster drang schwaches Mondlicht herein. Er tastete nach seinem Kopf und spürte Nässe an der Hand. Wahrscheinlich blutete er stark. Als er sich aufzurichten versuchte, stöhnte er auf. Ein rasender Schmerz durchzuckte seinen Schädel. Erschöpft sank er auf den Boden zurück. Die Tür wurde geöffnet. »Hier kann er nicht bleiben«, sagte eine Frauenstimme bestimmt. George verstand so viel von der Landessprache, daß er dem Wortwechsel folgen konnte. »Wo sollen wir denn mit ihm hin?« fragte ein Mann. Es schien derselbe zu sein, der ihn überfallen hatte. »Das ist mir egal. Schafft ihn auf die Straße.« Der Mann brummte etwas. Dann wandte er sich an einen zweiten. »Nun faß schon mit an!« George tat, als wenn er noch immer bewußtlos sei. Mit schlaffen Gliedern ließ er sich die Treppen hinuntertragen. Sein Zustand war ihm gleichgültig. Hauptsache war, daß er aus diesem Haus herauskam. Auf der Straße konnte er sich weiterhelfen oder um Hilfe rufen. Aber dazu sollte es nicht kommen. Die Männer ließen ihn so hart auf das Pflaster fallen, daß ihm erneut die Sinne schwanden. Wieder galt sein letzter Gedanke der Frau, mit der er sich schicksalhaft verbunden fühlte.
*
Linda hatte sich nicht allein aus dem Zimmer gewagt. Je später der Abend wurde, um so stärker ergriff sie die Sorge um George. Sie stillte den ärgsten Hunger mit etwas Obst, das man den Gästen ins Zimmer stellte. Obgleich sie krampfhaft versuchte, wach zu bleiben, übermannte sie die Müdigkeit. Sie holte Decke und Kopfkissen aus dem Schrank und legte sich angezogen auf die Couch. Sogleich wurde sie von wilden Träumen heimgesucht. Zwei Männer zerrten sie aus dem Zimmer, stießen sie die Treppe hinunter und warfen sie in den Laderaum eines Kleinlasters. Dort lag sie gefesselt mit verbundenen Augen. Niemand hörte ihre Schreie. Dann plötzlich öffnete sich der Laderaum. Eine Kippvorrichtung setzte sich in Bewegung, hob sie an und warf sie einen Abhang hinunter. Der Sturz schien endlos. Gleich bin ich tot, dachte sie. Es kann sich nur noch um Sekunden handeln. Schreiend wachte sie auf und sah nach der Uhr. Es war schon zwei Uhr. George mußte etwas zugestoßen sein. Sonst wäre er längst zurückgekommen. Und das ist alles meine Schuld, dachte sie verzweifelt. Ich hätte ihn niemals allein gehen lassen dürfen. Aber wie hätte sie ihm helfen sollen, wo sie doch selbst nur eine schwache Frau war? Schreckliche Zeitungsberichte von grausamen Massakern an Zivilisten fielen ihr ein. Vor allem hatte man es auf Ausländer abgesehen, die als Störenfriede auf dem Weg zu einem Gottesstaat angesehen wurden. Sie weinte sich in den Schlaf. Dieses Mal erschien ihr Michel im Traum. Er erklärte ihr lachend, daß er sie nie geliebt habe. Nun würde er ihr das Schloß wegnehmen und sie fortjagen,
falls sie nach Frankreich zurückkehren sollte. Er habe sie für tot erklären lassen… Während er weiter lachte, wurde ein Sarg an ihr vorbeigetragen. Er war offen. Voller Entsetzen erkannte sie sich selbst darin als Tote. »Nein! Nein!« schrie sie und erwachte von ihren eigenen Schreien. Den Rest der Nacht verbrachte sie im Halbschlaf. Um acht Uhr stand sie auf und ging ins Badezimmer. Sie verspürte schrecklichen Durst, traute sich aber nicht, ihn durch Leitungswasser zu stillen. Sie war eindringlich davor gewarnt worden, Wasser zu trinken, das nicht abgekocht war. Wenn sie doch in die Hotelbar hinuntergehen und sich ein Getränk bestellen könnte! Aber sie hatte George versprochen, das Zimmer nicht zu verlassen. Als sie die Zimmermädchen auf dem Flur hörte, erschrak sie heftig. Noch immer hing das Schild mit der Bitte, nicht gestört zu werden, vor der Tür. Nun schon den zweiten Tag. Das mußte doch auffallen. Um nichts zu riskieren, beschloß sie, das Zimmer doch zu verlassen, nur so lange, bis die Mädchen damit fertig waren. Sie schloß auf und öffnete die Tür einen Spaltbreit. Vorsichtig lugte sie hinaus. Neben ihrer Tür stand ein Wagen mit Bettwäsche und Handtüchern. Von den beiden Zimmermädchen war nichts zu sehen. Man hörte sie laut redend im Nachbarzimmer. Linda wandte sich zur anderen Seite, nachdem sie das Schild entfernt und die Tür von außen abgeschlossen hatte, ohne bemerkt zu werden. Sie mied den Fahrstuhl und erreichte die Treppe. Die Bar war noch geschlossen, und in den Frühstücksraum traute sie sich nicht. Dort würde man ihr ein Frühstück anbieten und sie nach ihrer Zimmernummer fragen.
Sie suchte Zuflucht in der Damentoilette und schloß sich in einer Kabine ein. Aber auch dort konnte sie nicht länger bleiben, denn eine Putzfrau begann mit der Reinigung und klopfte schließlich ungeduldig an ihre Tür. Verlegen öffnete sie und huschte hinaus. Ihr fiel der Eingang für das Personal ein. Er war, wie üblich, von innen verschlossen. Sie schloß auf und ging hinaus. Erleichtert atmete sie die frische Morgenluft ein. Eine Zeitlang trieb sie sich in der Nähe des Hotels herum. Da sie aber wieder von gierigen Männerblicken belästigt wurde, beschloß sie, auf demselben Weg ins Hotel zurückzukehren. Aber sie fand die Tür verschlossen. Der Portier hatte seinen Platz verlassen. Hoffentlich blieb er lange genug weg, daß sie sich durch den Haupteingang hineinschleichen konnte. An der Rezeption war der Bedienstete in die Zeitung vertieft. Als sie die günstige Gelegenheit nutzen wollte, blickte er plötzlich auf. »Moment mal!« rief er. »Sind Sie hier Gast?« »Ich, äh, nein«, stammelte sie. »Wo wollen Sie denn hin?« »Ich möchte zu Mister Mabel, Zimmer sechshundertzehn. Wir sind verabredet.« »So geht das nicht. Ich werde Sie anmelden. Wir müssen unsere Sicherheitsbestimmungen einhalten.« Er griff zum Telefonhörer und wählte. »Mister Mabel ist nicht da«, stellte er nach einer Weile fest. Als er aufgelegt hatte, klingelte der Apparat. Er nahm ab und lauschte gespannt. Linda wollte sich davonstehlen, wurde aber barsch zurückgerufen. »Mister Mabels Bett ist unberührt, sagt mir gerade das Zimmermädchen. Bis heute morgen soll das Schild vor der Tür gehangen haben, schon seit gestern. Das ist verdächtig, finden Sie nicht?«
»Ich, ich weiß nicht.« »Es könnte ihm etwas zugestoßen sein. Und nun kommen Sie, um ihn angeblich aufzusuchen. Zeigen Sie doch bitte mal Ihren Ausweis.« »Ich habe ihn nicht bei mir.« »Sie laufen im Ausland ohne Ausweis herum?« »Mein Paß ist mir gestohlen worden.« »Soso. Haben Sie das der Polizei gemeldet?« »Ich, äh, ja…« »Das werden wir ja gleich haben.« Er wählte eine Nummer. Linda wurde von Panik ergriffen. Nur keine Polizei! Dann bin ich unbekannten Mächten ausgeliefert und verpasse außerdem Georges Rückkehr. Ehe der Mann reagieren konnte, war sie auf der Straße. Sie konnte ein zufällig vorbeifahrendes Taxi in seiner langsamen Fahrt stoppen und sprang hinein. »Fahren Sie schnell. Um die nächste Ecke.« Durch das Rückfenster erblickte sie den jungen Mann von der Rezeption. Er war auf die Straße gestürzt und sah sich suchend um. Er hielt eine Hand über das Auge, weil ihn die Sonne stark blendete. Gerade bog das Taxi um die Ecke. Gegen die blendende Sonne konnte der junge Mann das Nummernschild unmöglich erkannt haben. Erleichtert atmete sie auf. »Wo soll’s denn hingehen?« fragte der Fahrer. »Zum Flughafen«, sagte sie schnell. Wenn sie ihn gebeten hätte, einfach nur ziellos durch die Gegend zu fahren, um Zeit zu gewinnen, wäre er mißtrauisch geworden. »Sie wollen fliegen?« »Ja. Nach Lyon.« »Es gibt nur noch wenige Franzosen hier. Sie sind wohl im diplomatischen Dienst?« »Ganz recht«, erwiderte sie schnell, um die lästige Fragerei abzublocken.
Er hielt am Straßenrand und betrachtete sie aufmerksam. »Dann sind Sie für unsere Regierung eine sehr wichtige Person, nicht wahr?« »Ja, mag sein. Aber fahren Sie doch bitte endlich weiter.« Er schüttelte mit einem verschlagenen Lächeln den Kopf. »Ich habe es mir anders überlegt. Wir fahren nicht zum Flughafen. Eine so günstige Gelegenheit gibt es selten. Sie werden mir von großem Nutzen sein.« »Was haben Sie vor?« fragte sie erschrocken. »Die Regierung kämpft gegen uns. Sie tötet unsere frommen Kämpfer oder läßt sie in Lagern und Gefängnissen verschwinden. Sie, meine Dame, eignen sich gut als Pfand. Als Geisel sozusagen. Im Austausch mit Ihnen werden viele meiner Kameraden die Freiheit wiedererlangen.« Linda blickte ihn flehend an. »Bitte, lassen Sie mich aussteigen. Mein Mann wird sich um mich sorgen.« Der Mann gab Gas. »Ihr Mann kann warten. Unsere heilige Sache ist wichtiger…« »Wo bringen Sie mich hin?« »Raus aus Algier. Zu meinen Leuten.« Sie schwieg. Jetzt war also das eingetreten, was sie Michel zu bedenken gegeben hatte: Sie hatte gefürchtet, in diesem Bürgerkrieg zwischen die Fronten zu geraten. Sie konnte nur noch auf ein Wunder hoffen. Die Fahrt schien nicht enden zu wollen. Mühsam arbeitete sich das Taxi die steile Straße in das Atlasgebirge empor. Linda wußte nicht, was sie mehr fürchten sollte: daß man sie hier in einer der Höhlen versteckte oder in einem Wüstendorf der Sahara, die sich südlich des Atlas in endloser Weite ausdehnte. Plötzlich bog der Wagen in einen Seitenweg ein, der sich durch steile Felsen schlängelte. Linda wurde auf dem holprigen Pfad völlig durchgeschüttelt. Dem Fahrer schien es
großen Spaß zu machen, mit überhöhter Geschwindigkeit über Steine und durch tiefe Schlaglöcher zu donnern. Linda spürte schmerzhaft ihr Rückgrat. Sie hatten ein Hochplateau erreicht, auf dem verstreut ein paar Hütten standen. War dieses das Lager der Rebellen? Auf einmal tauchten von allen Seiten bärtige Gestalten auf, die Maschinengewehre geschultert hatten. Sie kamen nicht aus den Hütten, sondern krochen aus der Erde hervor. Sie hatte von den versteckten Höhlenwohnungen in Algerien und Tunesien gehört. In Tunesien waren sie eine Touristenattraktion. Hier dienten sie offenbar als Unterschlupf für die Terroristen. »Aussteigen!« befahl der Taxifahrer. Sie öffnete die Beifahrertür und stemmte sich vom Sitz hoch. Ihr taten alle Knochen weh. Mühsam richtete sie den gekrümmten Rücken auf. Die Männer umringten sie neugierig. Scheu blickte sie sich um und musterte die finsteren Mienen, aus denen Feindseligkeit sprach. Aber dann veränderten sich hier und da die Züge der Männer. Etwas wie Gier schlich sich hinein. Auf einmal redeten sie alle heftig durcheinander. Obgleich Linda nichts verstehen konnte, erriet sie, was die Leute fragten: »Wen bringst du denn da zu uns?« – »Donnerwetter! Was für eine Beute!« – »Was machen wir mit ihr?« Der Fahrer genoß das Lob seiner Kameraden und erklärte seine Absichten, die Linda bereits kannte. Eine große Diskussion setzte ein, die zu keinem Ergebnis zu führen schien. Lindas Angst wuchs. Als Frau allein unter dieser Horde wilder Männer fühlte sie sich der Gewalt ausgeliefert. Wenn sie nun wie die wilden Tiere über sie herfielen?
Während die Gruppe unschlüssig herumstand, packte ein junger Mann plötzlich ihren Arm und zerrte sie mit sich fort. Er schien eine Art Vormachtstellung zu haben, denn die anderen griffen nicht ein, als er sie vor sich herschob. An einer Felsöffnung machte er halt und forderte sie auf, hinunterzugucken. Sie blickte in einen ungefähr fünf Meter tiefen Vorraum, von dem aus mehrere Öffnungen abgingen, die anscheinend in weitere Räumlichkeiten führten. Der Mann machte eine Bewegung, als wolle er sie in den Schacht hinunterstoßen. Aber statt dessen preßte er sie an sich. Er roch ungewaschen. Sein Atem stieß beißenden Knoblauchgestank aus. Ihr wurde fast übel. Ohne die Umklammerung zu lösen, führte er sie bergab zum Eingang der Höhlenwohnung, der durch einen Gesteinsbrocken gesichert war. Inwendig befand sich ein Scharnier, durch das sich das Felsstück drehen ließ. Sie befanden sich in dem Innenhof, in den sie von oben hineingeschaut hatte. Jetzt konnte sie die Eingänge zu den rundherum abgehenden Räumen näher betrachten. Es gab keine Türen. Dicke Teppiche schützten die Öffnungen vor winterlicher Kälte. Sie blickte durch einen geöffneten Vorhang in einen Raum, in dem sich ein Herd, ein Tisch mit Hausrat und ein breites Lager befanden, das aus einer Matratze oder Strohsäcken zu bestehen schien. Der Mann schob sie in den Raum, zog den Wandteppich vor die Öffnung und warf sie auf das Lager. Obgleich sie sich diesem Mann ausgeliefert fühlte, gab sie sich nicht geschlagen. Als er sich auf sie warf, machte sie sich so steif, daß er nichts erreichen konnte. Trotz ihrer Angst, er könne ihr die Kehle zudrücken, um sein Ziel zu erreichen, schrie sie gellend um Hilfe.
Er hielt ihr den Mund zu. Sein Gesicht verzerrte sich vor Wut. Er zischte etwas Unverständliches. Plötzlich wurde er zurückgerissen. Ein großer Mann hatte sich über ihn gebeugt und versetzte ihm einen Faustschlag. Stöhnend sackte der junge Mann zusammen. »Entschuldigen Sie«, sagte der Ältere in ungeschicktem Französisch. »Mein Sohn hat die Beherrschung verloren.« Er half ihr auf die Beine und führte sie in den Vorhof. »Es wird nicht wieder vorkommen.« Linda beruhigte dieses Versprechen zwar, aber sie war sich nicht sicher, ob er sie auf die Dauer schützen konnte. Vielleicht vor seinem Sohn. Aber vor den anderen Männern, die offensichtlich nach der einzigen Frau hier im Lager gierten und nur auf die passende Gelegenheit warteten? In dem Moment trat eine alte Frau aus einem anderen Raum. Also war sie doch nicht das einzige weibliche Wesen hier. »Meine Mutter«, stellte er vor. Die Frau blickte ihn fragend an. Er gab ihr eine kurze Erklärung, die sie zu beschämen schien. Wahrscheinlich hatte er ihr von dem Fehlverhalten ihres Enkels berichtet. Sie legte schützend einen Arm um Lindas Schulter und führte sie in ein Zimmer, das relativ behaglich eingerichtet war. Die kahlen Felswände waren mit bunten Teppichen behängt. Auf dem schmalen Bett lag eine saubere gestickte Decke. Auf einem kleinen Gaskocher summte ein Kessel. Sie bedeutete Linda, sich auf dem Bett niederzulassen, goß kochendes Wasser in zwei Becher und reichte ihrem Gast einen, während sie sich daneben auf dem Bett niederließ. Der Pfefferminztee war heiß und stark. Er duftete köstlich und übte sofort eine belebende Wirkung auf sie aus. Dankbar blickte sie ihre Gastgeberin an. Die Alte schlürfte genüßlich ihren Tee und ergriff dabei Lindas Hand. Ihr Blick bat um Entschuldigung.
Zwei Männer trugen eine Matratze herein und ließen sie an der einzigen freien Wand nieder. Aus den Gesten der Frau entnahm Linda, daß sie dort schlafen sollte. Sie lächelte dankbar. Hier bei diesem einzigen weiblichen Wesen fühlte sie sich schon fast geborgen.
*
Der Abend kam hier schneller als an der Küste. Die Berge warfen tiefe Schatten auf den Innenhof, in dem die alte Frau jetzt ein großes Mahl zubereitete. Hungrige Männer umstanden sie. Schließlich nahm jeder einen Teller in Empfang und ließ sich damit auf dem Boden nieder. Linda kam der exotische Geschmack des Gerichtes ein bißchen seltsam vor. Aber sie war so hungrig, daß sie ihren Teller eifrig leerte und sich sogar noch etwas nachgeben ließ. Die alte Frau schien zufrieden zu sein und nickte ihr zu. Nach dem Essen stimmten die Männer einen fremdartigen Gesang an, der Linda wenig harmonisch vorkam, sie aber seltsam faszinierte. Sie schaute in die wilden Gesichter, auf denen sich eine gewisse Andacht spiegelte. Ob diese Kämpfer wirklich wußten, wofür sie jeden Tag aufs neue ihr Leben aufs Spiel setzten? »Religionen und Ideologien sind die größte Geißel der Menschheit«, hatte ihr Vater ihr einmal erklärt. »Sie machen die Menschen fanatisch und überheblich. Daraus entsteht das größte Unheil.« Endlich erhoben sich die Männer. Einige blieben in der Höhlenwohnung in verschiedenen Räumen. Andere verließen sie durch die Felsentür. Bald senkte sich Stille über die Siedlung.
Linda erwachte von schrillen Pfiffen, heiser gebrüllten Befehlen und plötzlichen Maschinengewehrsalven. Sie blickte erschrocken zu der alten Frau hinüber, die eine Kerze entzündet hatte und mit etwas hinter ihrem Bett hantierte. Im schwachen Lichtschein erkannte sie ein Maschinengewehr. Jetzt bin ich tatsächlich mitten im Krieg, dachte sie voller Verzweiflung. Die Regierungstruppen werden das Lager umzingeln und uns ausräuchern. Sie blickte vorsichtig durch die Türöffnung und sah die Männer, die sich im Innenhof versammelt hatten. Ihre Maschinengewehre waren nach oben gerichtet. Aber als von dort die ersten Salven in den Hof krachten, zogen sie sich in die Räume zurück und schossen von den Eingängen aus nach oben. Plötzlich erschütterten gewaltige Detonationen den Boden. Felsgestein zerstob in alle Richtungen. Es war, als würde der Berg gesprengt. Jetzt war es still. Linda kroch wieder unter ihrer Matratze hervor, unter der sie Schutz gesucht hatte. Die Angreifer hatten anscheinend Handgranaten abgefeuert. Aus einigen der Räume hörte sie Stöhnen und Schreie. Wie durch ein Wunder war ihre Behausung verschont geblieben. Einige der Männer mußten den Verstand verloren haben. Sie lehnten Leitern an die Innenwand, kletterten hoch und verschossen ihre ganze Munition, ehe sie samt der Leiter in den Hof gestürzt oder erschossen wurden. Linda packte das Grausen. Sie sah nur Verletzte und Tote. Neben dem Eingang hörte sie einen Mann stöhnen. Aber sie traute sich nicht, ihm zu helfen. Diese Männer töteten selbst gnadenlos… Plötzlich teilte sich der Vorhang. Im schwachen Kerzenschimmer erkannte sie den jungen Mann, der ihr beinahe Gewalt angetan hätte, und den Taxifahrer. Sie packten Linda und zerrten sie in den Hof. Eine Taschenlampe blendete
sie. Die Männer brüllten etwas nach oben, wahrscheinlich eine Botschaft für die Angreifer. Sie spürte einen Gewehrkolben im Rücken. Jetzt wurde ihr klar, was die beiden vorhatten. Sie wollten ihre Geisel als lebendes Schutzschild benutzen. Jetzt wurde die Taschenlampe nach oben gerichtet. Sie erkannte einige Männer, die sich über den Felsrand beugten und hinunterstarrten. Ein Befehl wurde gebrüllt. Hoffentlich hieß er: »Nicht schießen!« Hinter sich hörte sie die Stimme der alten Frau, die ihrem Enkel etwas zuflüsterte. Er sprang zur Seite und ging in Deckung. Sie drehte sich um und sah in das ratlose Gesicht des Fahrers. Er gab sie frei. Das Gewehr sank zu Boden. Jetzt begriff sie, was sich zugetragen hatte: Die alte Frau hatte ihrerseits dem Taxifahrer ihr Gewehr in den Rücken gedrückt und damit die Situation geändert. Linda floh unter ihre Matratze. Aber als alles still blieb, wagte sie sich wieder an die Öffnung. Der Hof war in gleißendes Licht getaucht. An den Wänden wurden Strickleitern heruntergelassen. Schwerbewaffnete Soldaten stürmten den Hof.
*
Der Vorhang teilte sich. Ein Offizier sah sich suchend in dem kleinen Raum um. »Madame?« fragte er. »Sind Sie verletzt?« Er sprach fast akzentfrei französisch. Linda kroch unter der Matratze hervor.
»Danke. Ich bin in Ordnung. Die Frau hat mir das Leben gerettet. Bitte tun Sie ihr nichts.« »Wir haben alles gesehen. Es wird ihr nichts geschehen. Sie hat uns ihr Gewehr übergeben. Es war das einzige, in dem sich noch Munition befand.« »Und ihr Sohn hat mich vor einer Vergewaltigung bewahrt. Lebt er noch?« »Er ist verletzt. Trotzdem müssen wir ihn zur Rechenschaft ziehen. Er ist der Anführer der Rebellen. Kommen Sie jetzt hier weg. Das ist kein Ort für Frauen.« Sie folgte ihm in den Hof. Überall lagen Leichen herum. Die Verwundeten hatte man schon fortgetragen. Die alte Frau hockte schluchzend auf dem Boden. Sie wiegte ihren Oberkörper hin und her. Linda strich ihr sanft über das gesenkte Haupt. »Danke«, sagte sie leise. Die Frau blickte auf. Tränen schimmerten in ihren alten Augen. Sie drückte Lindas Hand und murmelte etwas Unverständliches. »Sie wünscht Ihnen viel Glück«, erklärte der Offizier. »Kommen Sie. Ich bringe Sie nach Algier zurück.« Sie verließ den Ort des Schreckens und nahm neben ihm im Jeep Platz. »Erzählen Sie mir jetzt alles«, bat er, nachdem er den Motor angelassen hatte. Geduldig hörte er ihr zu, während sie ihr ganzes Abenteuer berichtete. »Was müssen Sie durchgemacht haben«, stellte er fest, nachdem sie geendet hatte. »Sie glauben mir also?« »Warum sollte ich Ihnen nicht glauben?« fragte er erstaunt. »Was hätten Sie für eine Veranlassung sich so eine verrückte Geschichte auszudenken?« »Niemand hat mir geglaubt«, erwiderte sie bitter. »Nur Mister Mabel.«
»Wer ist Mister Mabel?« »Der Mann, der mir geholfen hat. Er ist verschwunden. Ich mache mir große Sorgen um ihn.« Der Offizier überlegte. »Ein Engländer ist in der Altstadt von Algier zusammengeschlagen worden.« »Oh, wie geht es ihm?« »Das weiß ich nicht. Sie mögen ihn wohl sehr?« Linda lächelte. »Zuerst war ich ihm nur dankbar. Aber ich glaube, jetzt fühle ich mehr für ihn.« Er seufzte. »Der Mann kann sich glücklich preisen. Eine Frau wie Sie…« Er blickte sie bewundernd von der Seite an. »Eine Frau wie Sie hätte mir eher begegnen sollen. Jetzt bin ich verheiratet und habe drei Kinder.« »Wie schön für Sie! Dafür lohnt es sich zu leben und zu kämpfen.« »Ja. Ich kämpfe für meine Familie und für mein Land. Diese Irren aber…« »War dieses Massaker heute nacht nötig?« fragte sie. »Man hört sonst immer nur von Massakern der fanatischen Islamisten.« »Dieses war kein Massaker. Das war eine Strafaktion. Diese Männer haben vor drei Tagen ein Dorf überfallen und zweiundsechzig Menschen umgebracht. Sie haben alten Männern, Frauen und Kindern die Kehlen durchschnitten.« Linda schlug die Hände vors Gesicht. »Wie entsetzlich.« »Das hätte Ihnen auch passieren können. Deshalb mußten wir dieses Rattennest ausräuchern.« »Ich verstehe nicht, warum sie die Leitern hochgeklettert sind, in den sicheren Tod.« »Sie glauben, wenn sie für Allah sterben, kommen sie direkt ins Paradies.« »So ein Wahnsinn!«
»Sehen Sie. Und darum müssen wir ihnen das Handwerk legen.« Bis Algier schwiegen sie. Jeder ging seinen Gedanken nach. »Wo soll ich Sie hinbringen?« fragte er schließlich. »Ich weiß nicht. Ein Hotelzimmer kann ich mir nicht erlauben. Trotzdem würde ich gern zum Esplanade fahren, um mich nach Mister Mabel zu erkundigen.« »Ich bringe Sie hin. Und dann sehen wir weiter.« Eine halbe Stunde später hielten sie vor dem Hotel. »Bitte, kommen Sie mit hinein. Für den Portier bin ich eine verdächtige Person.« Er lachte. »Ich werde dafür sorgen, daß man Ihnen ab jetzt Glauben schenkt.« Sie gingen auf die Rezeption zu. Der junge Mann erkannte Linda sofort wieder. »Diese Frau da«, begann er mit schriller Stimme. »Beruhigen Sie sich«, ermahnte ihn der Offizier. »Madame ist eine ehrenwerte Person und steht unter unserem Schutz. Hat sich Mister George Mabel inzwischen gemeldet?« »Ja. Gott sei Dank. Sie haben ihn in ein Krankenhaus gebracht.« »Wie geht es ihm?« fragte Linda besorgt. »Er ist auf dem Weg der Besserung. Übrigens hat er nach Ihnen gefragt, Madame.« Linda lächelte glücklich. »Es wird doch noch alles gut werden.« Voller Dankbarkeit blickte sie zu dem jungen Offizier auf. »Wie soll ich Ihnen nur danken?« »Vergessen Sie’s«, erwiderte er lächelnd. »Ich muß Sie ja leider auch vergessen.« »Ich werde Sie nie vergessen«, versprach sie. »Ohne Sie wäre ich nicht dieser Hölle entronnen.«
»Wir werden Ihnen bei der Ausreise behilflich sein.« Er griff nach einer Visitenkarte des Hotels und schrieb etwas auf die Rückseite. Dann reichte er ihr das Kärtchen. »Hier können Sie mich erreichen. Ich werde Ihnen immer weiterhelfen. Und nun müssen wir noch klären, wo Sie für den Rest der Nacht bleiben.« »Dürfte ich vielleicht in Mister Mabels Zimmer auf der Couch schlafen?« fragte sie den Angestellten mit leichter Verlegenheit. »Den Schlüssel zu seinem Zimmer habe ich noch.« »Da müßte ich die Direktion fragen«, wich der junge Mann aus. »Machen Sie sich nicht lächerlich«, spottete der Offizier. »Der Direktor schläft längst und würde sehr ungnädig sein, wenn man ihn wegen einer solchen Lappalie weckte. Außerdem ist dies ein Notfall.« »Also gut.« Der Offizier reichte Linda die Hand. »Ruhen Sie sich aus. Ihnen stehen noch allerlei Aufregungen bevor.« Sie lächelte ihn herzlich an. »Auch Sie haben Ihre Ruhe verdient. Grüßen Sie Ihre Frau von mir.« »Danke. Und alles Gute.« Sie sah ihm nach, bis er durch die Eingangstür verschwunden war, und wandte sich dann dem Lift zu. Georges Zimmer war noch so, wie sie beide es verlassen hatten. Sie schloß ab und legte sich auf die Couch. Nach wenigen Minuten schlief sie tief und traumlos. Am späten Vormittag erwachte sie von einem heftigen Klopfen an der Tür. Jetzt kommen sie, dachte sie erschrocken. Sie holen mich… Aber dann wurde ihr bewußt, daß der Spuk vorbei war, daß sich alles wenden würde.
Sie sprang auf und lief zur Tür. Trotz der beruhigenden Gedanken spürte sie noch insgeheim Angst. Mit zitternden Händen schloß sie auf und öffnete die Tür einen Spaltbreit. Vor ihr stand George. Er trug einen Verband um den Kopf. Sie öffnete die Tür weit. »George!« rief sie, vom Glück überwältigt. Wenige Augenblicke später lagen sie sich in den Armen.
*
Das Taxi kämpfte sich durch den morgendlichen Berufsverkehr. Nach einer halben Stunde hatten Linda und George die Stadt hinter sich gelassen und näherten sich dem Flughafen. George griff nach Lindas Hand. »Bald hast du alles hinter dir, Liebling.« Linda seufzte. »Ja. Gott sei Dank! Hoffentlich gehr alles gut.« »Was soll jetzt noch schiefgehen?« fragte er sanft. »Offizier Leseur hat uns doch versprochen, daß er sich persönlich um deinen Fall kümmert.« Sie blickte ihn hoffnungsvoll an. »Du hast recht. Ich mache mir viel zu viele Sorgen.« Wie berechtigt diese Sorgen waren, sollten sie schon bald erfahren. Die Flugscheine waren in Ordnung. Aber bei der Paßkontrolle ließen sich die Beamten auf keine Diskussion ein. Der Hinweis auf den hohen Offizier Leseur machte nicht den geringsten Eindruck. »Er hat uns doch versprochen, vor unserem Abflug hier zu sein«, klagte Linda.
George versuchte, sie zu beruhigen. »Wir haben noch eine gute Stunde Zeit. Sicher trifft er jeden Augenblick ein.« Aber je länger sie warteten, um so unruhiger wurde auch er. Sie holte das Kärtchen aus ihrer Tasche. »Wir sollten in anrufen.« George nahm es in Empfang und ging auf eine Telefonzelle zu. Aber trotz mehrerer Versuche bekam er keine Verbindung. Ratlos sahen sie einander an. »Er wird unterwegs sein«, tröstete er sie. Der Flug nach London wurde aufgerufen. Verzweifelt sah sich Linda um. »Was machen wir nun, George? Du kannst doch nicht meinetwegen den Flug verpassen.« Er betrachtete sie liebevoll. »Das ist in diesem Fall unwichtig. Ich werde dich doch jetzt nicht im Stich lassen.« »Ich danke dir«, erwiderte sie leise mit Tränen in den Augen. »Laß es uns noch einmal versuchen«, schlug er vor. Dieses Mal hatte er Glück. Eine Männerstimme meldete sich am Apparat. Die Auskunft war niederschmetternd. Leseur war bei einem überraschenden nächtlichen Einsatz angeschossen worden. Kein Wunder, daß sie vergeblich auf ihn warteten. Linda konnte kaum die Tränen zurückhalten. »Er hat mir das Leben gerettet. Und nun hat es ihn selbst getroffen. Wenn ich doch mehr erfahren könnte!« Ihr Blick fiel auf das Telefonbuch. »Vielleicht kann ich seine Frau erreichen.« Sie blätterte die Seiten durch und fand unter »Leseur« eine Nummer. Mit zitternden Fingern wählte sie. Eine Frau meldete sich. Linda stellte sich vor und fragte nach Monsieur Leseurs Befinden.
»Oh«, antwortete die Frau mit tränenerstickter Stimme auf Englisch. »Er hat mir von Ihnen erzählt. Und vorhin, als er aus der Bewußtlosigkeit erwachte, hat er von Ihnen gesprochen. ›Sorg dafür, daß Madame Portier ausreisen kann‹, hat er gesagt. Ich habe seinen Adjutanten angerufen. Der wird für alles sorgen.« Linda konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. »Wie geht es ihm? Kommt er durch?« »Ja, Madame. Die Ärzte haben es mir versprochen.« »Grüßen Sie ihn ganz herzlich von mir. Und danken Sie ihm, daß er selbst jetzt noch an meine Probleme denkt. Auch Ihnen vielen herzlichen Dank, Madame Leseur. Gott segne Sie und Ihre Familie.« »Danke«, erwiderte Frau Leseur gerührt. »Ihnen ebenfalls alles Gute und Allahs Segen.« Die Boing 747 nach London war startklar. Plötzlich dröhnte aus dem Lautsprecher eine Ansage. »Mister Mabel und Madame Portier bitte zur Kontrolle.« George und Linda stürzten zum angegebenen Schalter. Der Beamte schwenkte ein Blatt mit einem Dienstsiegel. »Ausreisegenehmigung von höchster militärischer Stelle«, verkündete er bedeutungsvoll. Mit voller unorientalischer Geschwindigkeit wurden sie durchgeschleust. Sie hatten kaum ihre Plätze eingenommen und sich angeschnallt, als das Flugzeug auf die Startbahn rollte und sich in die Lüfte erhob. Linda griff nach Georges Hand. »Es kommt mir wie ein Wunder vor.« »Mir auch. Die erste Hürde haben wir genommen. Hoffentlich bleibt uns das Glück weiter hold.« Aber je mehr sie sich London näherten, um so größer wurde Lindas Unruhe. In London erwartete sie keine Protektion.
Niemand würde sich für eine Schottin einsetzen, die ihr Land verlassen hatte, um ausgerechnet einen Franzosen zu heiraten. Ihre Sorgen erwiesen sich wieder einmal als berechtigt. »Mrs. Portier?« fragte der Beamte mit kühler Höflichkeit. »Dieses Dokument genügt nicht, um Ihnen die Einreise zu ermöglichen.« »Ich bürge für Mrs. Portier«, schaltete sich George ein. Er berichtete mit wenigen Worten, was Linda in Algerien zugestoßen war. Der Beamte hörte interessiert, aber ungläubig zu. Schließlich zog er einen Kollegen zu Rate und zuckte dann bedauernd die Schultern. Die Vorstellung, im Flughafen Heathrow herumlungern zu müssen, ohne den Boden ihres Heimatlandes betreten zu dürfen, erfüllte Linda mit Verzweiflung. »Könnten Sie meine Angaben nicht überprüfen?« bat sie demütig. »In Aberlady kann man Ihnen sicher Auskunft geben…« »Und wer sollte das ein?« Sie zuckte hilflos die Schultern. »Das Standesamt vielleicht – oder die Polizei…« »Da muten Sie uns allerlei zu, Madam.« »Bitte, Sir«, mischte sich George ein. »Es handelt sich hier um einen Notfall. Da müßte es doch die Möglichkeit geben, unkonventionell…« »Wir haben unsere Vorschriften, Sir.« »Sind wir Engländer nicht wegen unserer Großzügigkeit in der ganzen Welt bekannt?« fragte George mit gewinnendem Lächeln. Die steife Haltung des Beamten lockerte sich. Auf einmal erschien es ihm erstrebenswert, diesem Ruf gerecht zu werden. Er führte einige Telefongespräche und reichte Linda ein Formular, auf dem sie ihre Personalien eintragen sollte. Sie
leistete eine eidesstattliche Erklärung, daß die Angaben stimmten, und wurde endlich in Gnaden entlassen. George mußte seine Londoner Adresse angeben und für seinen Gast bürgen. Zwei Stunden später betraten sie seine elegante Wohnung im Londoner Westend. Bewundernd sah sich Linda um. »Ich kann es noch gar nicht fassen, wieder in einer normalen Umgebung zu sein.« Er nahm sie in die Arme. »Daran wirst du dich schnell gewöhnen, liebste Linda.« Sie schmiegte sich an ihn. Endlich fühlte sie sich geborgen. Nun konnte alles gut werden. Aber bis auch das Letzte ausgestanden war, würde noch einige Zeit vergehen. Sie brauchte einen neuen Beweis ihrer Identität. Den konnte sie nur in Aberlady erbringen. Dort mußte sie einen neuen Paß beantragen. Erst dann konnte sie sich nach Frankreich wagen und mit Michel abrechnen. Was hieß: abrechnen? Sie würde das Konto sperren, über das er verfügen konnte, würde ihn aus dem Haus jagen und die Scheidung einreichen. George dagegen war ganz anderer Ansicht. »So milde darf er nicht davonkommen«, bestimmte er. »Mir genügt es, wenn ich ihn los bin, George.« Er betrachtete sie kopfschüttelnd. »Du bist viel zu gut für diese Welt. Machst du dir gar nicht klar, was für ein grauenvolles Schicksal er dir zugedacht hatte? Ewige Gefangenschaft…« »Das kann ich mir nicht vorstellen.« »Aber es ist logisch. Gefangenschaft oder Tod. Er konnte nicht riskieren, daß du jemals wieder auftauchst und alte Ansprüche geltend machst.« Sie senkte den Kopf. »Ich dachte, er liebte mich wirklich, von ganzem Herzen.«
»Dann hätte er niemals eine solche Schurkerei begangen. Es fehlte noch, daß du ihn verteidigst.« Sie schüttelte den Kopf. »Das kann ich nun nicht mehr. Aber vielleicht war alles nur ein großes Mißverständnis. Möglicherweise war er selbst in Gefahr, als ich entführt wurde, und hat sich nur mit Hilfe dieser Frau aus dem Land mogeln können.« »Ich sehe«, erwiderte er bitter, »daß du immer noch nach Entschuldigungen suchst.« Schuldbewußt blickte sie ihn an. »Du hast recht, George. Ich will es immer noch nicht wahrhaben…« »Liebst du ihn etwa noch?« »Nein«, erwiderte sie energisch. Aber in ihrem Inneren spürte sie einen tiefen Riß. Er griff nach ihrer Hand. »Ich liebe dich, Linda.« »Ich dich auch, George«, erwiderte sie ehrlich, während der Schmerz in ihrer Brust nachließ. »Aber du denkst ständig an ihn.« »Nicht ständig. Nur, wenn ich mir die nächsten Schritte überlege. Keinesfalls denke ich an ihn in der Weise, die du mir unterstellen möchtest.« »Dann bin ich ja beruhigt, Liebling. Aber dein Blick schweift immer wieder zum Telefon. Man könnte meinen, du wolltest ihn anrufen.« Linda versuchte, diese Absicht abzustreiten. Aber sie mußte zugeben, daß diese Unterstellung berechtigt war. »Es würde mich natürlich interessieren, wie er auf meine Stimme reagiert.« »Auch mich würde es reizen, ihn anzurufen. Ich würde mit Grabesstimme fragen: ›Was haben Sie mit Ihrer Frau gemacht, Monsieur Portier?‹ Aber wir dürfen ihn nicht warnen. Ich habe mir nämlich eine bessere Überraschung für ihn und seine angebliche Frau ausgedacht.«
Linda stand Arm in Arm mit George vor ihrem geliebten Schloß, dessen fertig renovierte Fassade jetzt von Außenscheinwerfern sanft angestrahlt wurde. »Was für ein herrlicher Besitz!« staunte er. »Ja. Mon Desir ist noch schöner, als ich es in Erinnerung habe. Weißt du, was ich mir jetzt wünsche?« Er sah in ihre leuchtenden Augen, wollte sich aber nicht zu weit vorwagen. »Errätst du es nicht, George?« Er zögerte. »Ich traue mich noch nicht, es auszusprechen, Liebling.« »Dann werde ich es dir sagen: Hier möchte ich mit dir glücklich sein.« »Ich auch«, erwiderte er zärtlich. »Aber zuerst müssen wir…« Sie nickte. »Komm! Hier unten sind sie nicht. Wahrscheinlich haben sie sich das beste Gästezimmer im ersten Stock ausgesucht.« Sie führte ihn zur Rückseite des Gebäudes und wies auf ein erleuchtetes Fenster im ersten Obergeschoß. »Hab’ ich’s mir doch gedacht! Das beste Zimmer. – Im Schuppen steht eine Leiter. Damit kommen wir bis zum Balkon. Sei leise!« Er holte die Leiter und lehnte sie an die Mauer. »Sei vorsichtig«, mahnte er. Sie stieg zum Balkon hinauf und beobachtete mit fassungslosem Staunen die beiden Menschen, die in dem riesigen Doppelbett saßen und sich eifrig aus einer Champagnerflasche auf dem Nachttisch bedienten. »Ist das Leben nicht herrlich, Martine?« jubelte Michel und prostete seiner Kusine zu. »Wir haben es geschafft.« Martine lächelte ihm verliebt zu. »Ja. Linda steht nicht mehr zwischen uns.«
Er lachte. »Linda war doch nur ein Mittel zum Zweck.« Wieder lachte er in einer Weise, die Linda fast das Herz zerschnitt. »Wir werden nie wieder etwas von ihr hören.« Martines Miene drückte Zweifel aus. »Bist du da wirklich so sicher?« »Auf meine Freunde ist Verlaß. Sie werden meine liebe Frau lange in Verwahrung behalten. Wenn sie dann mürbe ist, verfrachten sie das gute Mädchen in die Wüste und verheiraten es mit einem Berber. Sie wird glücklich sein, endlich das Tageslicht wiederzusehen.« »Und wenn es ihr doch gelingt zu fliehen?« Er lächelte überlegen. »Aus der Wüste? Niemals. Man wird sie gut bewachen.« »Ich weiß nicht«, erwiderte Martine nachdenklich. »Irgendwie tut sie mir leid.« »Dummerchen«, sagte er zärtlich. »Mach dir darüber keine Gedanken. Nur unser Glück zählt. Der Traum meines Lebens hat sich erfüllt. Mon Desir gehört mir.« »Noch nicht, mein Lieber«, gab sie zu bedenken. »Uns steht noch einiges bevor. Stell dir vor, sie zweifeln daran, daß ich wirklich Madame Portier bin?« »Die Perücke steht dir ausgezeichnet, ma cherie. Damit siehst du ihr wirklich erstaunlich ähnlich. Selbst bei der Paßkontrolle hat niemand etwas bemerkt.« Er prostete ihr zu. Lachend tranken sie die Gläser leer. Michel beugte sich über seine Geliebte und küßte sie leidenschaftlich. »Mach das Licht aus«, bat sie nach einer Weile. »Warum?« fragte er übermütig. »Bitte, cheri.« Er knipste die Nachttischlampe aus.
Linda trat näher an die offene Balkontür und lauschte. Dann wandte sie sich verstört ab. Sie konnte die Lustseufzer nicht länger ertragen. Schließlich wurde es still im Zimmer. »Wie sieht es aus?« fragte George von unten. »Ich glaube, sie schlafen.« »Dann fang mit dem Programm an.« Linda holte eine furchterregende Maske mit einem eingebauten Megaphon aus der Tasche, stülpte sie über und begann schauerlich zu heulen. »Michel! Michel!« klagte sie. Die Nachttischlampe wurde angeknipst. »Mach das Licht aus, Michel«, zischte Martine. »Ich habe Angst.« »Michel! Michel!« jammerte Linda weiter. Ihre verstellte Stimme hallte gespenstisch durch die nächtliche Stille. Das Mondlicht schien ihr über die Schultern und warf seinen schwachen Schein durch die Balkontür in das Zimmer. Plötzlich stand Michel vor ihr. Sie wußte nicht, ob er sie erkennen konnte. Vielleicht ahnte er, wer sie war. »Was soll das?« fragte er atemlos. »Da siehst du’s!« kreischte Martine. »Mach die Balkontür zu. Ich habe Angst. Es ist der böse Fluch…« »Unsinn!« herrschte er sie an. »Ich bringe das schon in Ordnung.« »Der Geist! Siehst du ihn nicht? Er kommt ins Zimmer und vernichtet uns.« »Niemand kommt ins Zimmer. Nimm dich zusammen.« »Hörst du’s nicht? Die Stimme aus dem Jenseits?« Linda hatte wieder angefangen zu heulen. Obgleich ihr Michels Nähe Furcht einflößte, wich sie nicht zurück. Er näherte sich ihr vorsichtig und streckte die Arme nach ihr aus.
»Komm zurück!« flehte Martine. »Sie holen uns. Wir sind verdammt. Die Hölle holt uns und wir müssen für unsere Vergehen büßen.« »Halt endlich den Mund!« brüllte er ins Zimmer. Aber seine Kusine war mit einem irren Schrei aus dem Bett gesprungen und aus dem Zimmer gestürmt. »Wer bist du? Was willst du von mir?« fragte Michel und versuchte, seiner Stimme Festigkeit zu verleihen. »Die Hölle wartet auf dich«, flüsterte Linda. Er wollte sie an den Schultern packen. Aber sie hatte sich blitzschnell über das Balkongitter geschwungen und die Leiter erreicht. Aber ehe sie nach unten flüchten konnte, hatte er das Oberteil ergriffen und die Leiter abgestoßen. Linda versuchte, sich zu halten. Aber der Stoß war so heftig, daß sie die Balance verlor und hinunterstürzte. Ihr Schrei gellte durch die Nacht. Sie fand sich in Georges Armen wieder, der ihren Sturz abgefangen und gemildert hatte. Das einzige, was sie spürte, war ein Kratzen und Brennen auf der Haut, das von den Stacheln der Büsche an der Hauswand herrührte. Ein Motor sprang an und heulte auf. Reifen quietschten. Plötzlich gab es einen ohrenbetäubenden Knall. Danach herrschte gespenstische Stille. »Martine«, sagte Linda erschrocken. »Wir müssen nach ihr sehen.« »Bleib hier!« befahl George. »Ich mache das.« »Bitte, sei vorsichtig.« Er lief um die Ecke des Gebäudes. Linda folgte ihm zögernd. Obgleich diese Frau ihr so viel Böses angetan hatte, empfand sie Mitleid mit ihr. Eine Explosion erschütterte plötzlich die nächtliche Stille. Linda schluchzte auf. Sie hatte sich zum Eingang vorgewagt
und erblickte Michel, der wie ein Irrer die Treppe hinunterraste. »Martine! Martine!« brüllte er. Auf den glatten Marmorstufen rutschte er aus und stürzte. Sein Körper schlug so heftig auf, daß man das Krachen von Knochen zu hören glaubte. Sie wollte ihm zu Hilfe eilen, zögerte aber aus Angst, er könne ihr immer noch etwas zuleide tun. George kam mit ernster Miene zurück. »Da ist nichts mehr zu machen. Sie ist frontal gegen einen Baum geknallt. Ich glaube, sie war schon vor der Explosion tot.« Sie blickten auf das Feuer, das eine Weile hell loderte und dann langsam erlosch. Michels Stöhnen riß Linda aus ihrer Erstarrung. Voll widerstrebender Gefühle blickte sie auf ihren Mann hinunter. »Vergiß nicht, daß er dich eben töten wollte«, ermahnte George sie. »Wir werden einen Krankenwagen rufen. Komm mit ins Haus. In dein Haus, Linda.«
*
Linda hatte ein halbes Jahr verstreichen lassen, ehe sie sich von George zu einem Besuch in »Mon Desir« überreden ließ. Die schrecklichen Erlebnisse jener Nacht, in der Martine tödlich verunglückt war, wollten nicht aus ihrem Gedächtnis weichen. »Du mußt ganz neu anfangen, Liebste«, mahnte George. »Jetzt kommst du als meine Frau dorthin. Wir werden die Erinnerung auslöschen und glücklich sein. Laß uns die zwei Monate genießen. Du weißt, wie schwierig es für mich war, mich so lange beruflich freizumachen.«
Sie lächelte ihn herzlich an. »Dafür danke ich dir auch sehr.« Sie standen eng umschlungen vor dem stattlichen Bau, der ihnen zum Schicksal geworden war. »Wir werden hier bald sehr glücklich sein, George.« Er drückte sie noch enger an sich. »Ja, Liebling. Ganz gewiß.« Von fern ertönte Motorengeräusch. Ein Taxi hielt knirschend auf dem Kies. Erstaunt blickten sie sich um. Eine junge Frau in orientalischer Kleidung stieg aus und kam zögernd auf sie zu. Obgleich sie damals verschleiert gewesen war, erkannte Linda sie sofort wieder. Die großen dunklen Augen hatten sich für immer ihrem Gedächtnis eingeprägt. »Linda?« fragte die Frau schüchtern. »Ich heiße Nouara.« Linda breitete die Arme aus und drückte ihre Retterin an sich. »Hast du nun doch fliehen können, Nouara?« Die junge Frau nickte. »Meine Brüder im Gefängnis. Ich bin frei. Kann ich bei dir arbeiten?« »Natürlich!« rief Linda begeistert. »Eine Hilfe kann ich gut gebrauchen.« Sie zeigte auf ihren Leib, der sich sanft wölbte, und dachte voll Dankbarkeit und Glück an das Kind, das sie unter dem Herzen trug.