Höllenqualen Version: v1.0
Eigentlich gehörte Constabler Terence Bull zu den Menschen, die im mer Hunger hatten und i...
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Höllenqualen Version: v1.0
Eigentlich gehörte Constabler Terence Bull zu den Menschen, die im mer Hunger hatten und immer essen konnten. Auch dann, wenn er Nachtschicht hatte, aber an diesem späten Abend wollten ihm die Fleischklopse nicht schmecken, die ihm seine Frau eingepackt hatte. Schon nach dem ersten Bissen hatte er die Frikadelle wieder zur Seite gelegt und den Fahrerplatz im Streifenwagen verlassen. Er hatte die Tür aufgestoßen, stand nun vor dem Wagen und schaute zu dem Haus hin, in dem sein Kollege Slim McGanter verschwunden war. Die Haustür stand noch weit offen, und Terence konnte in den Flur schauen, doch sein Kollege war nicht mehr zu sehen. Es war sehr still in der Umgebung. Still und kalt, Beides fand Terence als be drückend. Und wenn ihm schon das Essen nicht schmeckte, dann stand ihnen sicherlich noch einiges bevor …
Nichts in der Umgebung regte sich. Auch McGanter hörte er nicht, entdeckte aber dessen Gestalt, als er gegen das ebenfalls erleuchtete Fenster der Küche schaute, denn in der Küche wanderte Slim hin und her wie jemand, der verzweifelt etwas suchte, es aber nicht fand. Dabei war der Auftrag sehr simpel gewesen. Nur bis zum Haus der Sinclairs fahren und dort nachschauen, ob alles in Ordnung war. Wenn ja, dann die beiden älteren Herrschaften mitnehmen. Nicht mehr und nicht weniger. Aber die Sinclairs waren nicht da, zumindest nicht in den unteren Räumen. Auch McGanter konnte daran nichts ändern. Er hatte sich innen vor das Küchenfenster gestellt und die Schultern gehoben. Eine eindeutige Geste. Bull beschloß, nicht mehr länger draußen zu warten. Außerdem kroch die Kälte durch seine recht dünne Uniform. Er ging auf die Tür zu und ins Haus hinein. Sein Kollege war aus der Küche gekommen und wartete bereits auf ihn. »Pech gehabt«, sagte McGanter. »Sie sind nicht da, wie?« »Genau.« »Und jetzt?« McGanter hob die Schultern. Er war unschlüssig. Dann drehte er den Kopf und fragte: »Sollen wir oben noch mal nachschauen?« »Weiß nicht. Ich komme mir schon komisch vor, so ein Haus zu durchsuchen.« »Klar, kann ich verstehen, aber ich habe auch Spuren oder Verän derungen entdeckt, die mir nicht in den Kopf wollen. Hier hat je mand gegen einen Türpfosten und auch durch die offenstehende Tür in ein Zimmer geschossen. Die Spuren sind nicht zu übersehen,
ich habe eine Schrotladung imTeppich des Arbeitszimmers gefun den, aber es ist niemand hier.« »Auch der Wagen nicht«, sagte Terence, »der eigentlich immer draußen steht.« »Genau.« Bill kratzte über sein Kinn. »Da weiß ich auch nicht, was wir noch tun sollen, ehrlich nicht.« Er winkte hastig ab. »Ich möchte das auch nicht entscheiden.« McGanters Mund unter dem Bartstreifen verzog sich in die Breite, als er grinste. »Typisch kleiner Beamter.« »Bist du mehr?« »Nein.« »Eben«, sagte Bull und drehte sich um. »Ich setzte mich mal mit der Zentrale in Verbindung und höre, was man dort meint.« »Tu das.« McGanter ließ seinen Kollegen gehen. So leicht wollte er es sich nicht machen, deshalb nahm er auch die Treppe, um in die erste Eta ge zu gehen. Er gehörte zu den Menschen, die alles sehr gründlich machen, bevor sie von etwas abließen. Slim McGanter bewegte sich vorsichtig durch das Haus. Er schau te in alle Zimmer hinein und kam sich sehr unwohl vor. Von den Be wohnern sah er leider nichts. Das hätte ich mir auch sparen können, dachte er auf dem Weg zu rück. Seine Stirn hatte er in Falten gelegt. Unten brauchte er nicht mehr nachzusehen, da hatte sich sowieso nichts verändert. Also ging er wieder nach draußen und zog die Tür hinter sich zu. Da der Streifenwagen nicht geschlossen war, hörte er Terence Bulls Stimme. Er sprach noch mit der Zentrale, legte aber auf, als McGanter den Wagen erreichte.
»Und? Was war, Terry?« Bull verzog das Gesicht. »Im Prinzip nichts, aber es ist trotzdem et was passiert. Nur weiß ich nicht, ob das mit unserem Job hier in ei nem Zusammenhang steht.« »Laß mal hören.« »Sie haben in der Zentrale einen Anruf empfangen von einer Mrs. Wilshire.« »Ach ja, die Tante.« »Klar, das habe ich auch gedacht. Sie scheint etwas gehört zu ha ben. Ein komisches Krachen oder Splittern.« »Hat man angeblich wieder bei ihr eingebrochen?« »Das nicht. Das Krachen ist von außerhalb gekommen, wie sie aus drücklich bestätigte. Und zwar aus der Nähe des Friedhofs. Oder so gar auf dem Friedhof.« »Und weiter.« »Nicht viel. Wir sollten trotzdem mal nachschauen und an der Mauer entlangfahren. Du kennst den Weg ja.« McGanter schüttelte den Kopf. »Die von der Zentrale wollen uns wohl herumscheuchen, wie?« »Ist ja kein Umweg.« »Wie war das denn?« fragte Slim, als er an der Beifahrerseite ein stieg. »Hat die Wilshire sich nicht deutlicher ausdrücken können?« »Nein, das hat sie wohl nicht. Sie sprach nur von einem lauten Krachen und Splittern.« McGanter knallte die Tür zu. »Ich sage dir, Terry, was das war. Müllentsorger.« »Meinst du?« »Kannst du dir etwas anderes vorstellen?«
»Weiß ich nicht.« Die Männer schwiegen. Terence Bull startete den Wagen wieder und schaltete auch das Licht der Scheinwerfer ein. »Wie eine bleiche Totendecke«, sagte McGanter. »Was meinst du?« »Das Licht.« »Ach so.« Die Männer wendeten auf dem Platz. Sie fuhren an dem herrlichen Baum vorbei, dann nahmen sie den üblichen Weg, aber sie rollten nicht mehr hinein nach Lauder, sondern bogen ab in Richtung Fried hof, von wo Mrs. Wilshire angeblich die fremden Geräusche gehört hatte. »Die soll in der Nacht lieber schlafen«, sagte McGanter. »Wen meinst du?« »Die Wilshire.« Terence Bull lachte. »Typen wie die spannen nicht nur mit den Au gen, sondern auch noch mit den Ohren. Die ist Witwe – und hat sonst nichts zu tun.« »Leider. Man müßte ihr einen Mann besorgen.« »Der würde ihr schon am ersten Tag fortlaufen.« Beide Polizisten lachten, wurden aber wieder ernst, als sie in den Weg einbogen, der ein Stück parallel zur Friedhofsmauer führte und sich dann dem Ort entgegenschlängelte. McGanter sah die wieder eingepackten Fleischklopse auf der Abla ge liegen. »Du hast ja nichts gegessen.« »Richtig.« »Warum das denn nicht? Sonst kannst du doch nicht genug be kommen …«
»Ich hatte keinen Hunger.« »Das ist bei dir selten.« »Meine ich auch.« Bull nickte. »Aber ich hätte keinen Bissen run tergekriegt.« »Und warum nicht? Es muß einen Grund dafür geben, daß du jetzt keinen Hunger hast.« Bull hob die Schultern. »Es ist durchaus möglich, daß es mit mei ner Ahnung zusammenhängt.« »Wie sieht die aus?« »Ungewöhnlich.« Er nahm eine Hand vom Lenkrad und deutete auf seinen Magen. »Der ist hart wie Beton.« »Ich merke nichts.« Bull seufzte. »Sei froh, Slim, daß du nicht so sensibel bist wie ich.« »Ja, ja, man kann es auch übertreiben.« Ihr Gespräch schlief ein. Langsamer fuhren sie weiter über den un ebenen Boden hinweg, und sie beobachteten dabei den tanzenden Teppich aus Scheinwerferlicht. Die Friedhofsmauer lag rechts von ihnen, direkt an der Fahrersei te, und Bull beobachtete sie mit einem nicht sehr freundlichen Blick. McGanter sah es und mußte lachen. »Ist so ein Friedhof auch zu hart für dein sensibles Gemüt, Terry?« »Nein, im Prinzip nicht. Aber wenn ich mir vorstelle, daß ich dort mal liegen werde …« »Dann tut dir nichts mehr weh.« »Scheiße, Slim, sei doch nicht immer so schrecklich realistisch!« McGanter schüttelte den Kopf. »Muß ich aber sein, vor allen Din gen jetzt. Fahr mal langsamer.« »Soll ich kriechen?«
»Ja, denn da vorn ist etwas.« Schon am Stimmenklang seines Kollegen hatte Terence Bull er kannt, daß da etwas nicht stimmte. Er reagierte sofort und schaltete augenblicklich das Fernlicht ein, während er gleichzeitig vom Gas ging und sich praktisch an den Ort herantastete. Das grelle, blauweiße Licht zerstörte die Dunkelheit. Es wirkte so gnadenlos wie der Anblick, der sich den beiden Männern bot. »Verdammt«, flüsterte McGanter, »die alte Wilshire hat recht ge habt. Da ist wirklich was passiert.« Erst als sie noch ein paar Meter weitergerollt waren, sahen sie, was dort wirklich abgelaufen war. Jemand warmit einem Range Rover frontal gegen die Friedhofsmauer gefahren. Bulls Atem zischte durch die Lippen. »Haben die Sinclairs nicht einen solchen Wagen?« »Ja«, bestätigte sein Kollege. Terence Bull stoppte den Streifenwagen. Er hatte ihn noch etwas nach rechts gedreht, damit das Licht direkt den verunglückten Wa gen anleuchten konnte. Die beiden Männer ließen den Anblick zunächst einmal auf sich wirken und hockten wie stumme Götzen auf ihren Sitzen. Das Fahrzeug konnte nicht mehr gerettet werden. Es hatte Total schaden. An der Vorderseite war es zusammengedrückt und ähnelte einer Ziehharmonika. »Der ist voll gegen die Mauer gefahren!« flüsterte Terence Bull und schüttelte dabei den Kopf. »Verstehst du das, Slim?« »Warum fragst du?« »Weil ich die Sinclairs kenne. Die beiden sind zwar nicht mehr die Jüngsten, aber sie sind noch in Topform für ihr Alter. Außerdem glaube ich nicht, daß Horace F. Sinclair betrunken gefahren ist.
Nein, das ist nicht drin. Nicht er.« »Ich kann sie nicht einmal sehen«, flüsterte McGanter, ohne auf die Bemerkung seines Kollegen einzugehen. »Vielleicht sind sie zwischen die Sitze gerutscht.« McGanter reckte sich, nachdem Bull den Satz gesagt hatte. Er woll te in den Wagen hineinschauen, der durch das Licht des Streifenwa gens von innen ausgeleuchtet wurde. »Nichts zu sehen.« »Wo können sie dann sein?« »Wir steigen aus!« schlug McGanter vor, »und gehen näher an den Wagen heran. Wir müssen ihn sowieso untersuchen. Ist ja ein Un fall.« »Okay.« McGanter wollte noch etwas sagen. »Draußen können sie eigent lich nicht sein, weil die Türen geschlossen sind. Das ist schon ko misch.« Terence Bull sagte nichts. Er stand bereits vor dem Auto und hatte die Tür zugeschlagen. Er spürte das Kratzen im Hals. Noch ein Zei chen, daß Ärger bevorstand. McGanter flüsterte: »Es ist so still.« »Und?« »Das gefällt mir nicht.« Er hob die Schultern. »Hier ist irgend et was passiert, das nicht normal ist. Das weiß ich, Terry, das weiß ich verdammt genau. Das ist kein normaler Unfall gewesen. Hier scheint niemand zu sein. Möglicherweise sind die beiden Sinclairs verschwunden. Vielleicht waren sie sogar verletzt, sind weggekro chen und liegen jetzt irgendwo im Gras.« »Dann laß uns nachsehen.« Damit war McGanter einverstanden. Zwar zeigten die beiden Scheinwerferkegel gegen das Autowrack und strahlten auch die
Mauer an, aber es wurde nicht jedes Detail sichtbar. Zudem waren nicht alle Scheiben zerstört worden. Zumindest an der Heckscheibe und an den Seitenfenstern spielte sich das Licht. Terence Bull hatte den Vorschlag gemacht. Er ging auch als erster los. Der Schauer blieb auf seinem Rücken kleben. Er spürte sein Herz schneller schlagen. Immer wieder holte er laut Luft, und auch das Zittern in den Knien hört nicht auf. Mit der Fußspitze stieß er gegen einen Stein, stolperte, rutschte, aber er blieb auf den Beinen. Dabei fluchte er und warf einen ra schen Blick zu seinem Kollegen zurück. »Geh weiter, Terry.« »Schon gut.« McGanter hatte aus dem Wagen noch eine lichtstarke Taschenlam pe mitgenommen. Er schaltete sie jetzt ein, und der armdicke Strahl huschtewie ein zitternder Fleck über den Boden hinweg, wurde auch von der direkten Unfallstelle weggedreht und geriet so in an dere Gebiete hinein. McGanter schrie auf. Terence Bull blieb unbeweglich stehen. Beide sagten nichts mehr. Beide atmeten nur scharf. Und wahrscheinlich empfanden sie so gar das gleiche, denn sie hatten etwas Schreckliches gesehen, was ih nen bisher nicht aufgefallen war. Die beiden Körper lagen ein Stück von dem verunglückten Wagen entfernt. Es waren ein Mann und eine Frau. Beide rührten sich nicht mehr. Keine Bewegung – nichts. Bull fand als erster seine Sprache zurück. »Verdammt, das sind sie. Das sind die beiden Sinclairs, Slim. Ich glaube, sie sind tot. Ja, sie sind …«
»Laß uns hingehen.« McGanter erkannte seine Stimme selbst nicht mehr wieder, denn sie schien aus einem Mikrophon zu stammen, das tief in seinem Magen steckte. Er setzte seinen Vorsatz in die Tat um, ging auch an Bull vorbei, der McGanters Weg durch das Licht der Lampe begleitete. Horace F. Sinclair lag auf dem Boden. Da Bull näherkam, verstärke sich auch das Licht der Lampe, so daß Details zu erkennen waren. Und die waren schrecklich genug. Man konnte die Wunden einfach nicht übersehen, weil es zu viele waren. Der Killer mußte ein Messer oder einen anderen scharfen Ge genstand verwendet haben. Er hatte damit regelrecht gewütet, das Gesicht des Mannes zwar verschont, aber das Blut war bis dorthin gespritzt. Jetzt stand auch Bull neben der Leiche. Er leuchtete in das Gesicht des Toten und sah die starren Augen, die in den dunklen Nachthim mel zu glotzen schienen. Neben dem Mann lag die Frau. Ihr Gesicht war nicht zu sehen, denn sie lag auf dem Bauch. Der Killer hatte seine Waffe genommen und ihr mehrmals in den Rücken gestochen. Dort waren die Wun den deutlich zu sehen. Tiefe Furchen, die an den Rändern bereits Blutkrusten zeigten, an denen auch der Stoff klebte. Die Polizisten schwiegen. Sie lebten hier in Lauder, gehörten aber zur jüngeren Generation. Beide waren knapp über Dreißig, mit den älteren Menschen im Ort hatten sie nie viel zu tun gehabt. Man kannte, man akzeptierte sich, man sprach miteinander, besonders hatte es Horace F. Sinclair getan, dessen Sohn bei Scotland Yard ar beitete, aber beide empfanden es als furchtbar, vor den Leichen der Sinclairs zu stehen. Bull fand als erster die Sprache wieder. »Mein Gott«, ächzte er, »mein Gott!« Dann drehte er sich weg, ging einige Schritte zur Seite
und mußte sich übergeben. McGanter stand unbeweglich auf dem Fleck. Er war etwas gefaß ter als Bull, und er dachte daran, daß sich möglicherweise in Lauder ein Doppelmörder herumtrieb, der nach weiteren Opfern suchte. Der Gedanke daran ließ ihn erzittern. Bull kehrte zurück. Mit einem Taschentuch wischte er die Lippen ab. Dabei vermied er es, sich die beiden Toten genauer anzusehen. Er fragte nur: »Was machen wir jetzt?« »Wir müssen die Kollegen von der Mordkommission alarmieren.« Bulls Zittern hörte nicht auf. Der Lampenstrahl machte diese Be wegungen mit. »Das ist kein üblicher Mord, Slim. Das sind die Sin clairs gewesen.« »Ich weiß es.« »Und es wird einen Wirbel geben, den wir bisher noch nicht erlebt haben.« »Wegen John Sinclair?« »Genau.« Bull mußte sich räuspern, erst dann konnte er weitersprechen. »Glaubst du denn, daß diese Tat mit ihm in einem direkten Zusam menhang steht?« fragte er. »Das kann ich nicht beurteilen.« Bull rang nach Atem. »Wenn ja, dann wäre das schlimm. Du weißt doch selbst, um welche Dinge sich John Sinclair kümmert. Ich habe mal gehört, daß man ihn den Geisterjäger nennt. Wir können doch davon ausgehen, daß es viel leicht seine Feinde waren, die seine Eltern getötet haben.« »Darüber will ich nicht spekulieren.« Bull schwieg. Er leuchtete den Boden ab. Dabei entfernte er sich auch von den Toten und lief auf den Wagen zu. »Hier sind Spuren zu sehen«, meldete er, »aber nur die von den beiden Sinclairs, glau
be ich. Sogar die Abdrücke von Händen …« »Dann muß jemand aus dem Wagen gekrochen sein. Aber das bringt uns nicht weiter.« »Soll es das denn?« »Ich weiß nicht, Terry.« McGanter winkte ab. »Ich möchte mit dem Fall nichts zu tun haben. Ich werde jetzt zurück zum Wagen gehen und eine Meldung machen.« »Aber die Spuren sind schon seltsam.« Terence Bull blieb hartnä ckig. »Vor allen Dingen deshalb, weil ich keine fremden entdeckt habe, wenn du verstehst.« »Nein, verstehe ich nicht.« »Die der Mörder.« »Es ist zu dunkel. Wenn die Leute von der Mordkommission hier sind, werden sie schon etwas finden.« »Ja, das denke ich auch.« Bull folgteseinem Kollegen hin zum Streifenwagen. Sie nahmen darin Platz und rochen dabei ihren eige nen Schweiß. Durch den Schock war ihnen der Schweiß ausgebro chen. »Mach du es, Slim.« McGanter nickte. »Das hatte ich auch vor.« Während er die Verbindung zur Station herstellte, hatte Terence Bull plötzlich Angst, schreckliche Angst vor der Zukunft. Am liebs ten hätte er sich ein tiefes Loch gegraben und wäre darin ver schwunden. Sein Blick fiel auf die Friedhofsmauer. Dahinter lagen die Gräber der Verstorbenen. Ein kalter Schauer rann über seinen Körper, als er sich vorstellte, wie sich die Gräber plötzlich öffneten und die Lei chen als Zombies hervorkrochen. Bull schloß in dieser Welt plötzlich nichts mehr aus …
* Der Templer-Führer Abbé Bloch stand vor dem Sessel, auf dem vor kurzem noch sein Freund John Sinclair gesessen hatte. Er starrte die ses ungewöhnliche Sitzmöbel an, das jetzt leer war. Nur die Kno chen und der aus der Lehne wachsende Totenschädel waren zu se hen, aber nicht John Sinclair. Der Geisterjäger hatte den Sessel als Transportmittel benutzt. Er wollte, er mußte in die Vergangenheit reisen, begleitet vom Schwert des Königs, um dort endlich das Rätsel der Bundeslade klären zu können. Es war eines der größten Geheimnisse der Welt. Der Geis terjäger war praktisch gezwungen worden, sich darum zu küm mern. Nur hinfinden mußte er. Der Knochensessel war eine Möglichkeit. Er transportierte den Sit zenden in eine andere Welt, eine fremdeDimension oder auch in die Vergangenheit hinein. Bloch atmete seufzend aus. Dann bewegte er sich auf den Kno chensessel zu, fuhr mit der Hand über das Gebein und wunderte sich, denn die Knochen strahlten nur eine gewisse Wärme aus. Ja, sie waren noch mit dieser anderen Magie angereichert, die auch über Sinclair hergefallen war. Sie hatte ihn aufgelöst, denn so war es dem Abbé vorgekommen. Es gab Sinclair in diesem Raum und auch in dieser Zeit nicht mehr. Bloch hätte allerdings einiges darum gegeben, zu erfahren, wo er sich jetzt aufhielt. Ob es ihm gelungen war, die Chance zu nutzen oder ob er sich auf dem Weg durch die Zeiten geirrt hatte. Er zog die Hand wieder zurück. Tun konnte er für Sinclair nichts.
Höchstens beten, daß alles klappte und er seinen Freund aus Lon don irgendwann mal wiedersah. Daß sich der Fall so ausdehnen würde, damit hatte der Templer nicht gerechnet. Das hatte er auch nicht gewollt, aber der Fluch der Sinclairs klebte wie Leim an diesen Personen mit dem entsprechen den Namen, und schon einmal hätte er fast zugeschlagen. Der Abbé wußte es. Er wußte auch, daß die Sinclairs es geschafft hatten. Und diesmal? Er setzte sich an den Tisch, wo John und er ein gemeinsames Früh stück zu sich genommen hatten. Kaffee war noch vorhanden, auch Orangensaft. Der Templer entschied sich für den Saft, den er mit langsamen Schlucken zu sich nahm. Dabei schaute er auf den Sessel, ohne ihn richtig wahrzunehmen. SeineGedanken beschäftigten sich mit völlig anderen Dingen, aber auch sie konnte er nicht auf den Punkt bringen. Wenn er über sich selbst einen Vergleich anstellen sollte, dann kam er sich vor wie ein Mensch, der gegen ein gewaltiges Tor schau te, durch das er gehen mußte, um das nächste Ziel zu erreichen. Aber das Tor war verschlossen und sicherlich nur schwer zu öffnen. So mußte er davor stehenbleiben. Das Tor war sein Problem. Bei John Sinclair würde es nicht nur ein Tor sein, sondern ein gewaltiger Berg, den er aus dem Weg räumen mußte. Er hatte das Schwert des Salomo. Es war ihm von einer geheimnis vollen Totenfrau gebracht worden. Der Abbé dachte über den Grund nach, er fand ihn nicht. Es konnte eine Waffe zur Verteidigung sein, mußte es aber nicht, denn manche Waffen waren tatsächlich dazu geeignet, Türen zu öff nen oder Wege zu ebnen.
Auch den zur Bundeslade hin? Denn letztendlich lief alles auf die ses Ziel hinaus. Gern hätte der Abbé mehr über die Lade gewußt, aber er kannte keinen, bei dem er sich hätte erkundigen können. Natürlich gab es Menschen, die sich mit der Bundeslade und deren Verbleib beschäf tigt hatten, aber es gab auch ebenso viele Meinungen darüber, wo sich die Lade eventuell befand, falls sie überhaupt noch existierte. Bloch hatte sich dafür entschieden, Pater Angares zu vertrauen. Daß er damit nicht einmal so schlecht gelegen hatte, bewies leider der Mord an diesem Mann, dem die Killer dicht auf den Fersen ge wesen waren. Demnach mußte Angares mehr gewußt haben. Der Abbé konnte nur hoffen, daß er dieses Wissen auch an John Sinclair weitergegeben hatte. Der Templer leerte das Glas. In seiner Haut fühlte er sich nicht wohl. Bei ihm bestand auch die Angst davor, daß er John Sinclair womöglich in den Tod geschickt hatte. Auf der anderen Seite war der Geisterjäger nicht unerfahren. Er verstand es auch, sich zu weh ren und sich schließlich durchzuschlagen. Bloch stand auf. Obwohl die Sonne schien, war es für ihn kein gu ter Tag. Er sah ihn eher als trübe an. Auch sein Arbeitszimmer kam ihm mehr wie eine Zelle vor. Er mußte es einfach verlassen, er woll te aus dem Haus und frische Luft einatmen. Es gab innerhalb von Alet-les-Bains einige Plätze, wo er in Ruhe nachdenken konnte. Am besten wäre es gewesen, die Kathedrale der Angst zu betreten, diese schmale Schlucht, an deren Ende sich auch die Grabstätte des silbernen Skeletts befand, das einmal ein Mann namens Hector de Valois gewesen war. Die Türklinke hielt Bloch bereits fest, als er das Tuten des Telefons vernahm. Damit hatte er nicht gerechnet. Er zuckte zusammen, blieb aber in seiner Haltung und drehte zunächst den Kopf, bevor er auf
den Apparat zuging. Neben anderen Gegenständen stand er auf dem Schreibtisch. Als Bloch abnahm, meldete sich zuerst der Bruder aus der Zentrale un ter dem Dach des Hauses. »Es ist ein Gespräch aus London, Abbé.« »Gut. Wer will mich sprechen?« »Suko.« »Ja, durchstellen, bitte.« »Sofort.« In der kurzen Zeit rasten zahlreiche Gedanken durch den Kopf des Templers. Und es waren beileibe keine guten, mit denen er sich be schäftigen mußte. Für einen Moment verschwamm die Umgebung vor seinen Augen. »Abbé Bloch?« »Ja, ich bin dran, Suko.« Er hatteseine Antwort nur geflüstert. Dar über ärgerte er sich. »Ich rufe nicht grundlos an, wie du dir denken kannst. Es ist etwas Furchtbares passiert. Wir erhielten eine Nachricht aus Lauder, und ich möchte dich zuvor fragen, ob ich John bei dir erreichen kann. Ich weiß, daß er zu dir wollte.« »Er war auch hier, aber er ist nicht mehr da.« »Oh, das ist …« »Pardon, Suko, aber er mußte weg. Durch den Besitz des Schwer tes hat er auch eine Verpflichtung übernommen. Er benutzte den Knochensessel, um in die Vergangenheit zu reisen.« »Was will er denn in Avalon? Den Gral holen?« »Es ist nicht unbedingt gesagt, daß er dorthin gelangt. Jedenfalls wirst du mir sagen müssen, was geschehen ist. Vorausgesetzt, du hast dieses Vertrauen zu mir.« »Ja, das werde ich dir sagen, denn es ist etwas Furchtbares pas
siert.« Suko hatte Mühe, seine Stimme zu halten. Leise sagte er: »Johns Eltern sind ermordet worden.« »Was?« »Der Fluch der Sinclairs hat voll zugeschlagen.« Zwar hatte Bloch die beiden Antworten gehört, aber er weigerte sich plötzlich, darüber nachzudenken. Es kam alles so plötzlich. Je mand hatte ein Füllhorn des Schreckens über ihn geleert, und er wünschte sich in einen tiefen Traum hinein. Aber er blieb wach und schaute auf seine linke Hand. Die Finger zitterten. »Hast du es gehört, Abbé?« Suko schien sich bei dieser Frage mei lenweit von ihm entfernt zu haben. »Ja, das habe ich.« »Und?« »Was soll ich dazu sagen?« hauchte Bloch. »Es ist schrecklich. Es ist einfach unaussprechlich.« »Aber eine Tatsache. Du kannst dir vorstellen, wie es jetzt bei uns hier in London rundgeht. Ich werde so schnell wie möglich nach Lauder fliegen. Ob es was bringt, kann ich nicht sagen, aber Sir Ja mes ist sehr dafür. Dort müssen wir dann weitersehen.« »Sie sind also tot«, flüsterte Bloch. »Ja.« »Und man hat sie umgebracht. Kannst du mir sagen, wie das alles geschehen ist?« Suko gab einen knappen Bericht durch, der den Abbé zu der Frage veranlaßte, ob man schon einen Verdacht hatte, wer der oder die Mörder gewesen sein könnten. »Nein, wir haben keinen. Oder zumindest die Kollegen oben in Lauder nicht.« »Das Verbrechen geschah am Friedhof, hast du gesagt …«
»Richtig.« Bloch atmete tief ein. »Wäre es eventuelle möglich, daß irgendwel che Untote ihre Gräber verlassen haben, um an Johns Eltern Rache zu nehmen. Ich meine, bei seinem Beruf muß man schließlich alles in Betracht ziehen. Oder denkst du anders?« »Nein, aber ich kann dir keine Antwort geben. Ich muß erst selbst hin. Nach einer ersten Analyse, die erstellt wurde, gibt es zwar Spu ren und Hinweise, aber nicht von irgendwelchen Killern, nur von den beiden Sinclairs.« »Und wie hat man sie getötet?« »Durch Messer, Abbé. Man hat auf sie eingestochen. Mehrmals. Sowohl auf den Mann als auch auf die Frau. Es muß wirklich für die beiden sehr schlimm gewesen sein, aber es ist nun mal leider so, und wir können sie auch nicht ins Leben zurückholen.« »Nein, das nicht mehr.« »Ich wollte auch nur, daß du Bescheid weißt. Es ist ja möglich, daß John über den Sessel wieder zu dir zurückgekehrt. Und du bist sen sibelgenug, um ihm die Wahrheit so schonend wie möglich beizu bringen. Vielleicht treffe ich ihn ja auch – oder Sir James.« »Er weiß es also auch?« »Sicher.« »Und eure anderen Freunde?« »Ich habe sie noch nicht über das Schreckliche informiert und wer de es zunächst auch lassen. Es ist nicht gut, wenn sich zu viele Per sonen hineinhängen. Die Conollys und auch Jane Collins würden si cherlich nicht ruhig bleiben.« »Das denke ich auch, Suko.« »Glenda Perkins weiß es auch. Sie ist erschüttert und weint. Uns geht es allen nicht gut.«
Auch der Templer hatte eine Gänsehaut bekommen. Er konnte sich vorstellen, wie es in London aussah, und er wiederholte den Be griff, der ihm nicht aus dem Kopf ging. »Es ist der Fluch der Sin clairs …« »Da hast du recht.« »Aber es ist noch mehr, Suko, denke ich. Es ist auch das Schicksal, an dem ich mich sogar indirekt mitschuldig fühle.« »Warum das denn?« Bloch umklammerte den Hörer so fest, als wollte er ihn zerbre chen. »Weil durch meinen Anruf in London alles ins Rollen gekom men ist. Ich habe John nach Chartres geschickt, wo er den Hüter der Lade traf, der ihn, aus welchen Gründen auch immer, mit Informa tionen versorgen wollte. Hätte ich nicht so gehandelt, wären Johns Eltern möglicherweise noch am Leben.« »Nein, das glaube ich nicht, Abbé. Du hast vorhin ein gutes Wort gebraucht. Schicksal – ja, es ist Schicksal.« »Es fällt mir allerdings schwer, mich damit anzufreunden, auch wenn du recht hast.« »Jedenfalls weißt du Bescheid. Dukannst mich jederzeit über mein Handy erreichen. Notiere dir bitte die Nummer.« Der Templer holte einen Kugelschreiber und schrieb die Zahlen mit die ihm diktiert wurden. Daß seine Hand dabei zitterte und sich dieses Zittern auch auf die Zahlen übertrug, sah er anhand seiner ei genen Schrift. Suko verabschiedete sich dann verständlicherweise sehr schnell und ließ einen völlig fertigen Mann zurück, der zu nächst einmal auf dem Stuhl sitzenblieb und seinen eigenen Gedan ken nachhing. Auch das war schwer, denn er schaffte es nicht, sie in die Reihen folge zu bringen. Zuviel auf einmal strömte durch seinen Kopf und bereitete ihm Beschwerden.
Noch enger kam ihm sein Arbeitszimmer vor. Der Geruch des Kaf fees ekelte ihn plötzlich an. Der Abbé stand auf, drehte sich und ging auf die schmale Garde robe zu. An einem Haken hing sein Mantel. Von innen war er mit Kunstpelz gefüttert. Er streifte das dunkelgraue Kleidungsstück über, schaute für einen Moment auf seine Schuhe und wechselte sie nicht. Sie würden einen Gang aushalten. Dann verließ er sein Büro. Niemand fragte ihn, wohin er wollte. Im Flur an der Haustür stand ein Bruder und strich einen Fensterrahmen. Als er seinen Chef sah, ließ er den Pinsel sinken. »Du verläßt das Haus, Abbé?« »Ja, ich werde ein wenig Spazierengehen. Ich muß für mich sein. Aber ich komme zurück. Spätestens am Mittag.« »Gut.« Bloch nickte dem Mann zu, zog die Tür auf und trat hinaus ins Freie. Ja, die Sonne schien, doch im Januar hatte sie kaum Kraft. Bloch hatte ein Ziel. Nur hatte er dasfür sich behalten. Er wollte in die Kathedrale der Angst gehen, um dem silbernen Skelett des Hec tor de Valois einen Besuch abzustatten …
* Ich hatte den Kopf gesenkt und wußte nicht, was ich denken sollte, als ich neben dem Roten Ryan herging, der mich praktisch in diesem Land Aibon empfangen hatte. Gelandet war ich bei meiner Reise weder in Avalon, noch in der alttestamentarischen Zeit, wie ich es mir gewünscht hätte. Das aber sollte noch folgen, denn das Paradies der Druiden war so etwas wie
ein Zwischenstopp für mich, eine Etappe, denn das Rad der Zeit würde mich weiter zurücktransportieren, davon ging ich aus. Ich hatte es noch nicht gesehen, aber ich war froh, daß es sich in Aibon befand und dort seinen endgültigen Standort erreicht hatte, bewacht vom Roten Ryan, der es auch gegen Angriffe verteidigte, wie ich es bei den Schatten erlebt hatte. Ryan ahnte, wie mir zumute war, deshalb ließ er mich auch mit Fragen in Ruhe. Er hatte mir nur erklärt, daß wir noch ein Stück lau fen mußten, um das Rad zu erreichen. Ich vertraute ihm. Aber die Gedanken konnte ich nicht abschalten. Immer wieder versuchte ich mir vorzustellen, wie die Zeit damals, als Salomo noch lebte, wohl ausgesehen hatte. Aus Büchern wußte ich, daß er die Lade in seinen berühmten Tem pel gestellt hatte, aber dort war sie nicht mehr. Sie war irgendwann abgeholt und weggeschafft worden. Das hatte mir auch Angares in der Kathedraleberichtet. Angeblich war der Dieb ein gewisser Azari us gewesen, aber das ließ sich nicht genau feststellen. Ich hoffte nur, daß ich zu dem Zeitpunkt eintreffen würde, als die Dinge noch in der Schwebe waren. Ob ich überhaupt in der entsprechenden Zeit landen würde, stand auch noch nicht fest, aber meine Zweifel waren nicht groß, denn ich trug etwas bei mir, das man als einen Führer oder Indikator ansehen konnte, das Schwert des König Salomo. Ich traute dieser Klinge einiges zu, auch Kräfte, die mir bisher ver borgen geblieben waren, aber genaues wußte ich nicht. Dem Roten Ryan gefiel mein Schweigen nicht. »Du wirkst depri miert, John.« »Das mag sein. Ich habe auch keinen Grund, fröhlich zu sein. Ich denke nicht eben optimistisch an die Dinge, die noch auf mich zu kommen werden. Es ist sogar möglich, daß sie mein bisheriges Le
ben völlig umkrempeln können …« »Vertraust du dem Rad der Zeit nicht?« »Schon, es hat mich nie enttäuscht, und es hat auch mit meinen Gefühlen nichts zu tun. Sie sind einfach vorhanden, weil ich erstens nicht weiß, wo diese Reise endet und ich zweitens auch nicht sicher bin, ob ich das Optimale unternehme.« »Was hättest du sonst tun wollen?« Ich blieb stehen und stemmte das Schwert mit der Spitze vor mei nen Füßen in den weichen Boden. Zweifelnd schaute ich meinen Freund aus Aibon dabei an. »Das weiß ich nicht, Ryan. Ich fühle mich wie jemand, der in einem Vakuum schwebt und dabei ver zweifelt versucht, irgendwo Halt zu bekommen.« Er nickte. »Ja, das begreife ich. Das begreife ich sogar sehr gut, aber all die Dinge wollen wir jetzt einmal außeracht lassen.« Er lä chelte mir zu. »Wir sind nämlich gleich da.« Ich hob den Kopf. Meine Haltung straffte sich. Ich wirkte nicht mehr wie ein armer Sünden, das war ich auch nicht. Ich war jemand, der sich vorgenommen hatte, die Lade zu finden, wenn alles klapp te, und da mußte ich auf meine Kräfte vertrauen. Das Rad der Zeit stand frei. Nicht im Schutz eines Waldes oder verborgen in einer Höhle. Es wirkte auf mich wie ein Denkmal, das stolz darauf war, einen bestimmten Platz unter einem leicht grünlich schimmernden Himmel bekommen zu haben, und es war wirklich ein Rad und kein Symbol, das so hieß. Es war an einem kräftigen Stamm befestigt, den jemand tief in den weichen Aibonboden hineingestoßen hatte. Ein Schauer überkam mich schon, als ich es betrachtete, aber das war normal, auch wenn es sich nicht verändert hatte. Es war sehr groß, auch entsprechend hoch, aber es bestand nicht nur aus einem Rad, das wäre zu einfach gewesen. Im Innern schoben sich zwei
große Dreiecke ineinander, um die herum bestimmte Zeichen grup piert waren. Für mich waren es magische Katalysatoren, die dafür Sorge trugen, daß der Benutzer des Rads entweder in die Zukunft oder in die Vergangenheit glitt, wie ich es vorhatte. Die Zeichen strahlten zwar nicht, aber sie leuchteten trotzdem, und dieses Leuchten war nur schwach zu erkennen. Eine gewisse Ladung, eine bestimmte Energie, die physikalisch wohl nicht meß bar war, mit der ich mich aber abfinden mußte. Wer das Rad entworfen und hergestellt hatte, war mir nicht be kannt. Auch über sein Alter wußte ich nicht Bescheid. Es konnten uralte Druiden-Zauberer gewesen sein, die sich mitdem Rätsel Zeit auseinandergesetzt hatten. Möglicherweise auch fremde Besucher aus dem All, die den dama ligen Menschen auf der Erde etwas hinterlassen hatten. Ich dachte wieder an die rätselhaften Zeichen, die sich auf meinem Kreuz wiederholten. Und dieser Gedanke führte mich gleichzeitig zum Erbauer des Kreuzes, zu Hesekiel, der nach König Salomo ge lebt hatte und mit seinem Volk in die Gefangenschaft geraten war. Er hatte das Kreuz erschaffen, er hatte auch die Zeichen darauf hin terlassen, und in mir verdichtete sich wieder der Verdacht, daß schon Hesekiel von dem Rad der Zeit gewußt haben mußte. Ihm sagte man ja auch Kontakt mit Außerirdischen nach, denn seine Be schreibungen der Landschaften und Gegenstände der alten Zeit wa ren schon verblüffend gewesen – und um Jahrtausende voraus. Daran wollte ich jetzt nicht denken. Für mich war das Rad das Mit tel zum Zweck. Ich ging darauf zu, und der Rote Ryan ließ mich gehen. Das Schwert nahm ich natürlich mit. Seine Spitze schleifte dabei über und durch das dichte Gras. Es wuchs auch hier wie ein Teppich. Der Rote Ryan war mir gefolgt und war auch neben mir stehenge
blieben. »Ich kann leider nichts mehr für dich tun, John«, sagte er. »Von nun an bist du auf dich allein gestellt.« »Das weiß ich.« Er legte mir die Hand auf die Schulter. »Ich möchte dir nur sagen, daß ich dir voll und ganz vertraue. Ich bin davon überzeugt, daß du das Rätsel lösen wirst.« »Das der Bundeslade?« »Wenn es dein Ziel ist, schon.« »Das weiß ich nicht. Jedenfalls wird es noch ein harter und sehr steiniger Weg werden. Aber du kannst mich dabei unterstützen, in dem du das Rad in Bewegung setzt.« »Das hatte ich vor. Steig erst mal hinein.« Ich tat es, aber zuvor hatte ich dem Roten Ryan mein Schwert übergeben. Es war nicht so einfach, in das Rad hineinzuklettern, da sollte mich die Klinge nicht behindern. Den beiden ineinandergeschobenen Dreiecken und den sie umge benden Zeichen drehte ich den Rücken zu. Ich mußte einfach das Gefühl haben, nach vorn schauen zu können, obwohl sich bei dieser Reise physikalische Parameter veränderten und Gesetze aufgehoben wurden. Wenn man überhaupt von einer Bequemlichkeit sprechen konnte, versuchte ich sie so gut wie möglich zu erreichen. Meine Füße beka men in den Spitzen der Dreiecke einen recht guten Halt, und auch mit dem Rücken hatte ich mich abgestützt. Jetzt konnte eigentlich nichts mehr passieren. »Ist es so recht?« fragte Ryan. »Ja, es geht.« Ich mußt wegen meiner erhöhten Lage nach unten schielen, um ihn sehen zu können.
Er hielt noch das Schwert fest, als er sagte: »Das hier darfst du nicht vergessen.« Ryan reichte mir behutsam das Schwert. Ich selbst konnte es jetzt schlecht halten, denn meine Hände umklammerten das Rad an der Oberseite. So steckte mir der Rote Ryan die Klinge schräg in den Hosengür tel, wasdurchaus Sinn machte, denn so konnte ich es nicht verlieren. »Zufrieden, John?« »Ja, das bin ich.« »Gut, über alles andere weißt du Bescheid?« Und ob ich das wußte. Wurde das Rad der Zeit nach rechts ge dreht, gestattete man mir einen Blick in die Zukunft. Drehte man es aber zur anderen Seite, dann wurde die Vergangenheit lebendig. Ich hoffte, daß mir Salomos Schwert half, dort zu landen, wo ich hin wollte, eben in seiner Zeit. »Kann ich?« Ich deutete ein Nicken an, denn das Sprechen fiel mir schwer, be dingt allein durch die Vorstellung, welche Reise mir noch bevor stand. Sie brauchte zudem nicht glücklich für mich zu enden. Der Rote Ryan war noch näher an das Rad herangetreten, um es oben an einer Seite anfassen zu können. Er umfaßte es mit beiden Händen, denn nur so konnte er den nötigen Schwung für die ersten Umdrehungen geben. Ich wußte, daß ich nur die ersten Umdrehungen richtig mitbekam. Danach überkam mich dann der Eindruck, nicht mehr mit dem Rad verbunden zu sein, sondern losgelöst durch die Zeiten zu schweben. »Jetzt«, sagte Ryan. Er setzte seine ganze Kraft ein. Ich bekam zuerst den Ruck mit, dann hörte ich hinter mir das Kratzen, als hätte jemand mit einem Messer über das Material geschabt.
Mein Blickwinkel veränderte sich. Der Boden, den ich kurz zuvor noch normal gesehen hatte, hob sich plötzlich an, weil ich schon schräg lag und dabei den Himmel sehen konnte. Ich drehte mich. »Viel Glück, John Sinclair«, hörteich noch die Stimme meines Ai bonfreundes, die dann verwehte. Meine Reise ins Ungewisse setzte sich fort …
* Der Abbé hatte Alet-les-Bains verlassen und wanderte auf die Ka thedrale der Angst zu. Sie hatte den Namen bekommen, weil jeder Mensch ein unheimli ches Gefühl erhielt, der sich in den schmalen Spalt zwischen den beiden mächtigen Felswänden hineinzwängte. Der Felsen gehörte zu einem gewaltigen Massiv, das nie hell oder freundlich aussah, da konnte die Sonne noch so strahlen. Es war ein düsterer, auch ein schrecklicher Ort, an dem die meisten Menschen lieber vorbeigin gen. Der große Felsblock bestand aus dunklem Gestein. Eine erkaltete Lavamasse hatte hier ihre Spuren hinterlassen, und wer sich den Säulen näherte, die den Eingang flankierten, der konnte die dort ein gravierte Warnung einfach nicht übersehen. TERRIBILIS EST LOCUS ESTE – Dieser Ort ist gefährlich. Die Warnung war nicht zum Spaß eingraviert worden. Es war auch ein höllischer und gefährlicher Ort gewesen, aber die Templer selbst hatten ihn verändert und beinahe zu einem heiligen Ort gemacht, denn hier lag das silberne Skelett des Hector de Valois begraben. Jetzt war die Warnung verschwunden. Menschen konnten die
Schlucht betreten, aber sie hüteten sich davor, und so war es nur den Templern vergönnt, sich hin und wieder dort aufzuhalten. Der Abbé fand den Weg ebenso mühselig wie andere Menschen. Er vielleicht noch schlimmer, denn er gehörte nicht mehr zu den Jüngsten. Er mußte bergauf gehen. Auch wenn es nicht sehr steil war, hatte er doch zukämpfen, denn die Gleichmäßigkeit des An stiegs zehrte schon an seiner Kondition. Aber er machte weiter. Er ließ Alet-les-Bains hinter sich. Wenn er sich jetzt umgedreht hätte, dann hätte er von den Häusern so gut wie nichts mehr sehen können. Vielleicht ein paar Dächer oder die neuen Ferienhäuser am Südhang hoch über dem Ort. Er hielt den Kopf gesenkt, den Oberkörper nach vorn gebeugt und wirkte wie ein Mensch, der gegen Widerstände angehen mußte. Der Wind hatte die Kälte des Nordens aufsaugen können und war auch über die schroffe Kante des Felsens geweht, um in das Gesicht des einsamen Wanderers zu blasen. Er war kalt. Winterlich. Kein Ge danke an den Frühling konnte da aufkommen. Der Boden war mit einem dunklen, sehr rauhen und manchmal porösen Gestein be deckt. Nie glatt, so daß der Abbé stets darauf achten mußte, wohin er seine Füße setzte. Er ließ sich nicht stören. Und es freute ihn auch, daß er es noch schaffte. Er hatte andere Zeiten erlebt, als man ihm das Augenlicht genommen hatte und er blind gewesen war. Seit einiger Zeit konnte er wieder sehen, das verdankte er seinem Freund John Sinclair, der dafür den Dunklen Gral als Gegenleistung hatte abgeben müssen. Auf der geheimnisvollen Insel Avalon hatte er jetzt seinen Bestim mungsort gefunden. Natürlich dachte Bloch an Sukos Anruf. Der Tod der Sinclairs wollte ihm einfach nicht auf dem Sinn. Er dachte dabei auch einen
Schritt weiter und endete unwillkürlich bei John. Auch ihn konnte der Fluch der Sinclairs treffen. Der Felsen rückte näher! Gewaltig, groß, hoch und auch breit. Nach Blochs Ansicht paßte er nicht in diese Gegend. Auf ihn und auch auf andere wirkte er wie ein Fremdkörper oder wie eine steingewordene Erinnerung an ver gangene Zeiten. Allein der Anblick reichte aus, um die meisten Menschen abzuschrecken. Das fand der Abbe auch gut so, denn er und seine Templer-Freunde wußten mehr. Er war schon so oft hier gewesen, um den Eingang nicht erst groß suchen zu müssen. So näherte er sich auf dem direkten Weg und entdeckte sehr bald die Lücke im Fels. Breit war sie wirklich nicht, aber ein Mensch paßte schon hin durch, ohne sich großartig anstrengen zu müssen. Bevor sich der Abbé in den Fels hineinschob, schaute er sich um. Von Alet-les-Bains war nichts mehr zu sehen. Sein Blick glitt nur über das steinige Feld hinweg, das er endlich hinter sich gelassen hatte, das jetzt wieder menschenleer war, denn niemand aus dem Ort war ihm gefolgt, auch kein Templer. Die beiden Säulen waren da. Aber nicht gut zu erkennen, denn die Schrift gab es ebenfalls nicht mehr. Durch einen tiefen Atemzug stellte sich der Abbé auch innerlich darauf ein, die Schlucht zu betreten, und schon nach wenigen Schrit ten hielt ihn eine ungewöhnliche Dunkelheit umfangen. Es mochte auch an der Kühle liegen, die aus den Wänden strahlte und einen bestimmten Geruch abgab. Es roch nach altem Gestein, nach Staub, aber auch nach kaltem Kerzenwachs. Hoch über ihm wuchsen die beiden Felsseiten so weit zusammen, daß nur mehr ein sehr schmaler Streifen zu sehen war. Später, wo die Schlucht endete, warer dann ganz verschwunden,
um dem dort liegenden silbernen Skelett den nötigen Schutz zu bie ten vor den Unbillen des Wetters. Es war still wie in einem Grab. Und mit einer schmalen Gruft hatte dieser Durchlaß auch Ähnlichkeit. Die Gestalt des Templers ver schmolz mit der Dunkelheit, aber er holte keine Zündhölzer hervor, um die Dochte der Kerzen anzuzünden, die in den kleinen Nischen in den Wänden ihren Platz gefunden hatten. Er ging seinen Weg. Tiefer hinein in die Schlucht. Dem Ziel näher. Er spürte die Zunah me der Nervosität. Der Abbé wußte selbst nicht genau, was er sich von einem Besuch bei Hector de Valois’ silbernem Skelett erhoffte. Er hatte nur den Drang verspürt, hierher gehen zu müssen, denn auf der anderen Seite war das Skelett auch so etwas wie ein Warner vor unheimlichen und im Verborgen blühenden Vorgängen. Früher war die Kathedrale der Angst einmal verflucht gewesen, heute nicht mehr. Dafür hatten die Templer gesorgt, und auch der Abbé kam sich nicht zu fremd vor. Er hatte nur den Eindruck, immer mehr mit den hier wohnenden Schatten zu verschmelzen und selbst zu einem Teil dieser finsteren Schlucht zu werden. Seine Schritte hatte er nicht gezählt. Nur kannte sich Bloch recht gut aus. Da konnte er durchaus auf sein Gefühl »hören« und dann stoppen, wenn es ihm in den Sinn kam. So wie jetzt. Er hielt an und schaute zur Decke. Der Templer mußte sich schon sehr anstrengen, wenn er den schmalen, grauen Spalt sehen wollte, der die Lücke zwischen den beiden Felswänden gebildet hatte. Noch war sie vorhanden, aber einpaar Meter weiter würde sie sich geschlossen haben. Ein wenig bewegte er sich nach rechts, bis seine Hand über die In
nenwand streifte. Er brauchte auch nicht lange zu suchen, denn die Nische war vorhanden und ebenso die Kerze, die darin stand. Bloch ertastete sogar noch eine zweite und löste Kerzen vom Boden, wo sie festklebten. Erst dann holte er seine Zündhölzer hervor. Er rieb mit dem Kopf über die Fläche. Etwas sprühte auf, dann tanzte plötzlich die kleine Flamme und erhellte die Umgebung. Die fette Schwärze wurde zerrissen. Schattenspiele verschwanden und zogen sich stückweise in die Dunkelheit zurück. Er hatte jetzt Licht, und der erste Kerzendocht war gierig auf die Flamme. Sie züngelte an ihm hoch, tanzte ein wenig. Wieder entstanden Schat ten, die durch die Nische glitten wie tanzende Geister. Er zündete auch einen zweiten Kerzendocht an, um mehr Licht zu bekommen. Die Kerzen verteilte er auf seine Hände, schaute nach vorn und nahm seinen Weg wieder auf. Mit langsamen Schritten, um nur nicht auszurutschen und zu stol pern. Er konnte nicht auf die Flammen und damit auch nicht auf sei ne Füße schauen, dafür blickte er über die Feuerzungen hinweg nach vorn. Er würde den Sarg bald sehen können. Es war ein nicht geschlos sener Sarg, denn in ihm lag das Skelett des alten Templers de Valois, das zwar tot war, aber trotzdem lebte, denn unter gewissen Bedin gungen fing es an, sich zu bewegen. Bloch wußte nicht, ob er den richtigen Zeitpunkt gewählt hatte, aber dieses Risiko mußte er einfach eingehen, denn zuviel war mitt lerweile geschehen. Er ging Schritt für Schritt weiter. Innerlich zitterte er. Äußerlich hielt ersich ruhig, und die beiden Flammen brannten daher ruhig. Die Finsternis vor ihm wich zurück. Als wären die Flammen klei ne Hände, die nicht mehr wollten, daß die Dunkelheit blieb. Sie trie
ben sie auseinander, es entstanden hellere Lücken, und der Abbé er hielt eine bessere Sicht. Und er sah den Sarg! Nicht ganz, nur den Beginn, der in diesem Fall das Fußteil dar stellte. Doch der Sarg war offen. Er konnte in ihn hineinschauen, und das silbrige Schimmern des Skeletts machte ihn auf eine be stimmte Art und Weise froh, weil eben alles an seinem Ort lag, si cherlich auch das Siegel der Templer, denn es gehörte ebenfalls da zu. Hector de Valois trug es auf seinen geöffneten Händen. Noch konnte er den Stein nicht sehen, dafür schälten sich die Kno chen der Gebeine aus der Dunkelheit hervor. Er sah auch die Füße, deren fleischlose Zehen in die Höhe ragten, und als er weiterging, floß das Kerzenlicht wie ein unruhiges Gewässer über die gesamte Gestalt hinweg. Rechts neben dem Sarg war der Mann stehengeblieben. Er senkte den Blick, um das Siegel der Templer sehen zu können. Es war ein alter Stein, aber das war nicht wichtig. Auf dem Siegel war das Kreuz des Geisterjägers John Sinclair abgebildet, direkt über dem liegenden Halbmond mit dem Sternenkranz, dem Zeichen der Mutter Gottes. Das Siegel war sehr alt. Schon Richard Löwenherz hatte es besessen. Eigentlich gehörte es John Sinclair, der allerdings hatte aus guten Gründen darauf verzichtet. Es war zwar nicht hundertprozentigbewiesen, aber durch den Be sitz des Siegels wurde auch das »Leben« des Skeletts erhalten, das sich unter bestimmten Bedingungen aus seinem Sarg erhob. Im Moment lag es bewegungslos, und der Abbé traute sich auch nicht, die Knochen zu berühren. Er ging weiter auf das Kopfende zu und stellte dort die Kerzen auf einem Steinblock ab, wo bereits viele Kerzen ihr Licht ausgehaucht
hatten. Dann wartete er. Bloch wußte selbst nicht, worauf er lauerte. Er hatte einfach nur seinem Drang gehorcht und darauf vertraut, nichts Falsches getan zu haben, denn es war etwas in Bewegung geraten. Er selbst sah sich dabei nicht eben als unbeteiligt an, weil er Pater Angares nach Char tres zu John Sinclair geschickt hatte. Er fühlte sich wie jemand, der am Hebel des Schicksals gestanden hatte und jetzt wieder stand. Er brauchte ihn nur zu fassen und zu betätigen. Aber er tat zunächst nichts. Wieviel Zeit vergangen war, bis er endlich den Entschluß gefaßt hatte, sich zu bewegen, darum küm merte er sich nicht. Es hatte ihn schon Überwindung gekostet, sich zu bücken, um dem Skelett näher zu kommen. Das Kerzenlicht reicht ihm dabei aus. Er brauchte nicht mal einen dritten Docht zu entflammen. Der zuckende Schein floß bis zu den Hüften und den Händen des silbernen Skeletts hin, auf dem das Sie gel der Templer lag. Der Abbé hütete sich davor, es zu berühren. Zwar senkte er seinen rechten Arm, aber die Finger zielten nach dem Skelett. Auch für ihn war es schon etwas Besonderes, die Reste des ehemaligen Templer führers zu berühren, und so lauschte er dem eigenen, schon etwas keuchenden Atem. Mit zwei Fingern strich er über einen silbrigen Schulterknochen hinweg. Kalt war der nicht, denn innerhalb des Gebeins existierte eine ge wisse Wärme, die auch nicht als normal angesehen werden konnte. Es floß kein Blut darin. Es gab keine Haut, es gab keine Venen, keine Adern, einfach nur die Knochen. Die Finger des Mannes strichen weiter an der Gestalt entlang. Sie
fanden ihren Weg in Richtung Hüfte, und er wußte selbst nicht, weshalb er es tat. In diesen, ihm lang vorkommenden Augenblicken, fühlte er sich wie fremd gesteuert. Seine Augen bewegten sich ebenfalls. Sie glitten über den Knö chernen hinweg, erkundeten jedes Detail, und sein Blick blieb schließlich am Siegel der Templer hängen. Im selben Augenblick zuckte seine Hand in die Höhe, als hätte sich das Gebein erhitzt. Noch immer atemlos dachte er darüber nach, was ihm aufgefallen war. Auf dem Siegel, wo auch das Kreuz des Geister Jägers eingraviert worden war, hatte sich etwas bewegt. Oder auch nur gezuckt. Wie dem auch sein mochte, es war nicht so geblieben wie zuvor, und Bloch glaubte auch nicht, daß ihm die Nerven einen Streich gespielt hatten. Abwarten. Er durfte sich jetzt auf keinen Fall nervös machen lassen und den Überblick verlieren. Nachdem er wieder zu sich gefunden hatte, ließ er den Blick noch einmal über die silberne Gestalt laufen. Bei ihr hatte sich nichts verändert. Sie lag noch immer so da. Aber das Siegel … Er schaute wieder nach unten. Der Abbé war ein Mensch, der sich eigentlich recht gut in der Ge walt hatte. Diesmal allerdings konnte er denleisen Schrei nicht un terdrücken, als er sah, was da passiert war. Auf dem Siegel hatte sich etwas getan. Nicht bei den Halbmond umgebenden Streben. Das Kreuz war jetzt der Mittelpunkt, und auf der dunkleren Oberfläche war das Flimmern im Zentrum des Kreu zes genau zu erkennen …
* Das Rad der Zeit drehte sich. Und die Person, die sich in und an ihm befand, drehte sich zwangsläufig mit. Ich wußte nicht, ob es nach der ersten Umdrehung oder nach der zweiten geschehen war, aber die Welt um mich herum hatte sich kurzerhand aufgelöst. Sie war verschwunden. Das Rad drehte sich weiter der Vergangenheit entgegen, doch ich bekam nichts mit und spürte kaum noch einen Widerstand im Rücken. Das Phänomen der Zeit hielt mich umklammert. Ich machte mir auch nicht erst die Mühe, darüber nachzudenken. Ich nahm es hin, es blieb mir zudem nichts anderes übrig. Diese Reise war nicht mit der letzten auf dem Sessel zu verglei chen. Auch mich überkam nicht der Eindruck der Selbstauflösung, denn ich war noch fühlbar vorhanden. Nur das Drehen merkte ich nicht mehr. Möglicherweise hatte ich mich auch daran gewöhnt, so daß es nicht mehr weiter ins Gewicht fiel. Die Augen hielt ich weit offen. Schließlich wollte ich mitbekom men, was um mich herum geschah, und ich mußte auch unbedingt die Bilder sehen, die mir einen Eindruck aus der Vergangenheit ver mittelten. Ich rechnete damit, daß dabei alles passieren konnte. Nicht nur Szenen, die mich nichts angingen, würden erscheinen, sondern auch Episoden, indenen ich mich selbst sah, weil ich dort so etwas wie eine Hauptrolle spielte. Noch war alles verschwommen. Nicht grau in grau wie an einem nebligen Tag. Es gab schon Far ben zu sehen, sie allerdings waren sehr schwach ausgebildet. Zu
mindest verwaschen. Sie erschienen und verschwanden wieder ziemlich schnell, noch bevor sie sich zu einem Bild oder einer Szene hätten zusammensetzen können. Aibon gab es nicht mehr. Auch keine Geräusche. Mich umfing eine ungewöhnliche Stille, als wäre ich in irgendei nem Zeitloch verschwunden. Mir selbst gefiel sie nicht, und ich wollte mich auch ablenken. Dazu brauchte ich meinen eigenen Wil len und auch die Konzentration. Beides war mir durch die Drehung nicht genommen worden, und so konnte ich mich auf mich selbst konzentrieren. Ich spürte meine Füße. Ich spürte auch meine Hände. Sie und die Füße hatten ihre Stellungen nicht verändert und waren auch nicht verrutscht. Ich hatte den entsprechenden Halt bekom men. Dieses Wissen gab mir auch eine bestimmte Sicherheit. Aber die Umgebung veränderte sich. Wieder verschwanden die Schleier. Allerdings nur, um einer Dun kelheit Platz zu schaffen. Dunkle Nacht! Ich sah es. Wie auf einer Leinwand malte sich das Bild in meinem Sichtbereich ab. Plötzlich war ich fasziniert, denn zum erstenmal schien sich das Rad der Zeit nicht mehr zu drehen. Zumindest be kam ich die Chance, das sehen zu können, was sich düster, aber doch real vor mir abzeichnete. Bäume wuchsen über eine Mauer hinweg. Wind bewegte die kah len Zweige des nahen Gestrüpps, das sich ebenfalls an die Mauern herangepreßt hatte. Aber es passierte noch mehr, denn das Bild wanderte. Vielleicht
drehte ich mich auch wieder, denn es erschien eine neue Sequenz. Diesmal heller, ich sah Licht. Kein natürliches. Kein Sonnenlicht. Das Licht einer einsamen Lam pe, das allerdings wieder verschwand und die Szenerie vor mir er neut in die Dunkelheit tauchte. Nein, nicht ganz. Die Mauer gab es noch. Die Bäume darüber ebenfalls. Aber auch einen Klumpen, der gegen die Mauer geprallt war. Ich konnte ihn nicht genau erkennen, weil es vielleicht zu finster war, doch diesmal wanderte das Bild nicht weiter. Das Schicksal schien sich auf diese Szene eingependelt zu haben, denn in ihr bewegte sich ein Mensch. Ein Mann. Mein Vater! Mein Herz geriet aus dem Takt, denn der Schreck war mir tief in den Körper gefahren. So gut wie möglich konzentrierte ich mich auf das Gesicht meines Vaters. Anhand seines Aussehens würde ich vielleicht herausfinden können, wie weit mich das Rad der Zeit zu rück in die Vergangenheit gebracht hatte. Es konnte nicht weit ge wesen sein, denn mein Vater sah so aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Er ging von diesem dunklen Klumpen weg, den ich mittlerweile als den Range Rover meiner Eltern identifiziert hatte. Er mußte mit großer Wucht gegen die Wand gefahren worden sein. Darüber hätte ich mir Gedanken machen können, wenn mein Vater nicht gewesen wäre. Auf ihn konzentrierteich mich, denn so wie er aussah, hatte er etwas vor. Er entfernte sich von seinem Auto. Ein Ziel sah ich nicht. Es war auch fraglich, ob es überhaupt eines gab, aber mein Vater ging wei ter. Er kümmerte sich um nichts, auch nicht um die hellen Augen, die plötzlich um ihn herum waren.
Augen wie Totenlichter. Augen, die zu Schatten gehörten und für mich nur sehr schwer auszumachen waren. Etwas schimmerte. Der Reflex störte mich, so daß ich die Augen schloß. Ein Fehler möglicherweise. Als ich sie wieder öffnete, lag mein Vater am Boden. Und zwar auf dem Bauch. Und die Augenpaare zusammen mit den dazugehörigen Schatten schwebten über ihm. Aber nicht, um ihn anzuschauen, sie hatten et was anderes vor, die wollten ihn töten. JA, TÖTEN! Und das bekam ich mit. Immer wieder fuhren schattenhafte Hände nach unten und schlu gen Gegenstände wie Messer in den Körper meines Vaters hinein. Ich erlebte seine Ermordung mit, seinen schrecklichen Tod. Aus die ser Falle hatte er sich nicht befreien können. Ich schrie! Schrie ich tatsächlich, oder bildete ich mir das nur ein? Ich brüllte meine Angst hinaus. Es war niemand da, der mich hörte, denn der Tunnel der Zeit ver schluckte den Schrei. Aus meinen Augen rannen die Tränen. Ich wollte weg von diesem verdammten Rad und meinem Vater zu Hilfe eilen oder ihn zumin dest noch einmal in den Arm nehmen, aber ich hing fest. Das Rad ließ mich nicht los, es war für mich das Gefängnis, so daß ich mich einzig und allein seinen Gesetzen beugen mußte. Für mich war der Teil der Welt innerhalb der Vergangenheit zu ei nemKabinett des Grauens geworden. Es war mir nicht möglich, mei ne Gefühle zu beschreiben. Dieses Zuschauen müssen, wie ein ge liebter Mensch starb, ohne ihm helfen zu können. Wie schwere Hammerschläge wuchteten immer wieder dieselben Worte durch
meinen Kopf, die einen Satz bildeten. DER FLUCH DER SINCLAIRS! Ich erlebte ihn, ohne ihn aufhalten oder vernichten zu können. Do nata hatte mich gewarnt, ich hatte mich darauf einstellen können, was mir schwergefallen war, und ich hatte auch an die Erfüllung nicht mehr so recht glauben wollen, weil der Kelch damals an unse rer Familie vorübergegangen war. Diesmal jedoch nicht. Jetzt hatte er meinen Vater erwischt, und ich, der Sohn, war Zeuge dieser Bluttat geworden. Die Augen hatten sich etwas zurückgezogen, aber sie waren noch vorhanden. Wie kalte, unheimliche Glotzer schwebten sie in der Nä he. Totenwächter, die alles unter Kontrolle hielten. Mein Weinen war schlimm. Es war einzig und allein die Folge der echten Trauer, die ich über den Tod meines Vaters empfand. Ich wollte auch nicht an eine Halluzination glauben. So etwas hatte das Rad nicht nötig, denn ich befand mich tatsächlich auf dem Weg in die Vergangenheit. Es gab keinen Horace F. Sinclair mehr, aber es gab noch eine Mary Sinclair, meine Mutter. Was war mit ihr? Der Gedanke an sie ließ die Trauer verschwinden. Sie wurde durch den heißen Schreck abgelöst, der mich vom Kopf bis zu den Zehenspitzen durchfuhr. Gleichzeitig war mir klar, daß ich mich auch weiterhin in diesem schrecklichen Alptraum befand, dessen Beendigung nicht in meiner Kraft stand. Zwar war mein Blick durch die Tränen nicht mehr klar wie sonst, aber erkennen konnte ich schon etwas und sah deshalb, daß die Um gebung nicht so leblos oder tot war, wie sie eigentlich hätte sein müssen. Ein Geräusch hörte ich nicht, alles hatte sich wie ein
Stummfilm vor meinen Augen abgespielt, und ich mußte auch da von ausgehen, daß mich mein Vater nicht hatte sehen können, wie auch meine Mutter nicht, die es geschafft hatte, eine Autotür aufzu stoßen. Die Augen waren da. Das kalte Totenlicht beobachtete Mary Sinclair. Ich wollte sie war nen, ihr zuschreien, daß sie verschwand, und obwohl ich rief, hörte ich meine eigenen Stimme nicht. Es war alles anders geworden. Ich konnte nichts daran ändern, nur zuschauen. So sah ich auch das Schreckliche, was mein Verstand einfach nicht fassen wollte, denn es hingen einfach zu viele Gefühle daran. Meine Mutter mußte vom Wagen aus den Tod ihres Mannes mit bekommen haben. Nur reagierte sie wie ein Frau, die es nicht wahr haben wollte. Sie mußte sich erst davon überzeugen, aber sie war einfach zu schwach, auf den eigenen Füßen zu stehen. So sah ich zu, wie meine eigene Mutter über den Boden kroch. Da bei bewegte sie nickend den Kopf. Ab und zu sah ich dabei ihr Ge sicht deutlicher und las auch den Schmerz der Verzweiflung in ih ren Zügen. Sicherlich wußte sie schon, was geschehen war. Sie wollte von ihrem Mann Abschied nehmen, mit dem sie so viele Jahre zusammen gewesen war. Sie kroch wie ein großer Wurm. Oder eine Schnecke. Sehr langsam nur, doch sie kam der reglosen Gestalt meines Vaters immer näher. Für mich war es der Weg in den Tod. Hinein in ein furchtbares Ende, das ich meiner Mutter so gern erspart hätte. Ich wußte genau, daß ihr die andere Seite, wer immer sie auch sein mochte, kein Chance lassen würde, denn bei diesem Fluch oder Versprechen war es egal, wer umkam, ob Mann, Frau oder Kind. Was der eine liebte, tötete der andere!
Höllenqualen durchlebte und durchlitt ich. Ein anderer Begriff fiel mir nicht ein, den gab es auch nicht. Das Rad der Zeit drehte sich nicht weiter, als wollte es demonstrativ beweisen, wie ohnmächtig ich als Mensch doch war. Meine Mutter sah mich nicht. Ihr Mann war jetzt auch wichtiger. Wie ich mich fühlte, als sie ihn erreichte? Ich sah, wie zärtlich sie von ihrem toten Mann Abschied nahm. Ich zumindest erlebte hier die schrecklichsten Minuten meines Lebens und wußte auch, wie grausam das Schicksal sein konnte. Alles bekam ich mit, einfach al les. Auch den Tod meiner Mutter! Die schwarzen Gestalten mit den kalten Totenaugen waren wieder da. Plötzlich schwebten sie über dem Rücken meiner Mutter, die ne ben dem Toten kniete, weil sie noch immer Abschied nahm. Eine Gnade war mir gewährt worden. Ich brauchte wenigstens nicht in ihr Gesicht zu schauen, um dort ihren Schmerz zu lesen. Die Messer fuhren nach unten! Und sie trafen alle den Rücken meiner Mutter! Nein, diesmal konnte ich nicht beschreiben, was ich durchlitt. Die se verdammte Hilflosigkeit, das Höllenfeuer, das in meinen Adern brannte und das Blut abgelöst hatte, all dies war einfach nicht zu fassen. Schon allein die Vorstellung dessen, daß meine Eltern auf eine so schreckliche Art und Weise ums Leben kamen, hätte mich verrückt gemacht. Das aber war keine Einbildung, das war echt und erst vor kurzem geschehen, denn das Rad der Zeit log nicht. Zwei leblose Körper lagen beisammen. Auch im Tod wirkten sie wie vereint. Jemand in meiner Nähe wimmerte. Ich brauchte eine Weile, um herauszufinden, daß ich es war. Ein Mensch, der mit einem Rad ver eint und völlig fertig war.
Ich fühlte mich nicht nur seelisch ganz unten, auch der körperliche Zustand war nicht mehr der beste, und ich durfte gar nicht daran denken, was noch vor mir lag. Es gab noch die Augen und auch die Schatten darunter, schwärzer als die Nacht. Wer sie waren und woher sie kamen, das war mir leider unbe kannt. Vielleicht Dämonen im Kreislauf der Zeit, die darauf speziali siert waren, alles zu vernichten. Der Nebel kehrte zurück. Nein, nicht er, sondern diese graue Wand, die auch von der Zeit befehligt wurde. Umrisse wurden unscharf, bevor sie verschwam men und schließlich verschwanden. Das Rad ruckte wieder. Erst einmal, dann noch einmal. Schließlich drehte es sich. Meine Reise ging weiter. Aber ich war nicht mehr der Mensch, der sie vor kurzem noch an getreten hatte …
* Der Templer war fasziniert. Er konnte nur auf das Siegel schauen und gegen das dort abgebildete Kreuz. Das helle Flimmern war deutlich zu erkennen, doch er wußte nicht, was es bedeutete. Ein magischer Energiestrom, das mochte es sein, nur wurde er damit nicht fertig und fragte sich, was der Auslöser gewesen war. Ob er mit John Sinclair zusammenhing? Bloch überlegte, um eine Lösung zu finden.
Es war ihm nicht möglich. Irgendwo setzte sich bei ihm eine Sper re fest. Aber er dachte auch daran, daß er den Weg in die Kathedrale der Angst nicht grundlos hinter sich gebracht hatte. Er war prak tisch geholt worden. »Aber sollte das alles gewesen sein?« fragte er sich selbst und rich tete sich dabei auf. Das war zuwenig, deshalb wollte er sich noch nicht auf den Rück weg machen. Das Kreuz auf dem Siegel glühte nicht mehr. Nur das Licht der beiden Kerzen streute die Helligkeit über den offenen Sarg hinweg und gab auch dem Skelett des Hector de Valois ein besonderes Aus sehen. Durch den Wechsel von Licht und Schatten schien es ein Ei genleben bekommen zu haben. Es war auch in die leeren Augenhöh len eingedrungen und hatte sich dort verfangen, so daß es dem Be obachter vorkommen mußte, als hätte sich dort flackerndes, dünnes Wasser eingenistet. Der Abbe fühlte sich nicht wohl. Ihm war unheimlich zumute. In den letzten Jahren, wenn er der Schlucht einen Besuch abgestattet hatte, war von diesem Gefühl nie die Rede gewesen. Es war ihm hier gutgegangen. Die Kathedrale der Angst gab es im eigentlichen Sinne nicht mehr, aber jetzt wurde ihm schon anders. Etwas mußte passiert sein. Nicht hier, woanders, und der Templer hatte es auch nicht mitbekommen. Im Gegensatz zu dem silbernen Skelett. Besser dem Siegel. Das Kreuz darauf war nicht normal geblieben. Ich habe mich nicht geirrt, dachte der Abbé. Auf keinen Fall. Er umrundete den Sarg. Es gefiel ihm nicht mehr, daß er allein war. Er hätte gern einen Freund zur Seite gehabt. Dieses Alleinsein vervielfältigte seine Probleme noch. Er fühlte sich beobachtet, aber es war niemand in der Nähe.
Am Fußende blieb er stehen. Hier war es schattiger und auch wie der kühler. Dennoch war ihm warm geworden, und der Druck im Magen wollte einfach nicht weichen. Das Skelett bewegte sich nicht. Der Abbé wußte, daß es sich erhe ben und die Schlucht verlassen konnte. Das war alles möglich. Und er wollte auch nicht nach dem Sinn dieses Vorgangs fragen, der tief in der Vergangenheit begründet lag. Im Moment war alles wieder normal geworden. Bloch überlegte, wie er weiterhin vorgehen sollte. Es war wieder das Kreuz auf dem Siegel! Ein kurzes, zuckendes Glühen. Eine Warnung, ein Signal, das aber weitergegeben wurde. Plötzlich richtete sich das Skelett auf. Der Abbé hatte zwar damit rechnen müssen, aber in diesem Fall erschreckte er sich doch. Für einen Augenblick stand er bewegungs los auf der Schwelle. Kalte Finger glitten über seinen Rücken hin weg, und sein Gesicht wirkte wie eingefroren. Er hörte weder das Knacken der Knochen noch ein anderes Ge räusch. Kerzengerade stemmte die Gestalt ihren Oberkörper in die Höhe, als hätte ihm die Veränderung des Kreuzes die Kraft dazu gegeben. Es blieb in dieser Haltung und traf keine Anstalten, den Sarg zu verlassen. Dennoch passierte etwas. Aus dem offenen Maul der silbrig schimmernden Gestalt drang ein furchtbares Geräusch. Der Abbé wußte es nicht zu definieren. Es lag irgendwo zwischen Ächzen und Stöhnen. Grauenvolle Laute, die sich mischten, aber auch eine Botschaft transportierten. Angst? Er wußte es nicht.
Vielleicht auch Kummer und Trauer, denn das tiefe Stöhnen wies darauf hin. Ja, so mußte es sein, und der Abbé erlebte, daß diese Geräusche nicht alles waren, was ihn hier schockierte. Wenn er sich darauf kon zentrierte, fand er noch etwas anderes heraus. Zuerst glaubte er, sich geirrt zu haben, wenig später aber überkam ihn die Gewißheit. Im Innern fragte er sich, ob er verrückt geworden war, denn das konnte nicht sein, aber es stimmte. Dieses Stöhnen stammte von einem Menschen, den der Abbé kannte. John Sinclair! Dieser Name spukte ihm durch den Kopf. Er mußte sich damit ab finden, ob er wollte oder nicht, aber er war einfach nicht in der Lage, dies auch zu begreifen. Die Erklärung fehlte ihm völlig, aber dieses Stöhnen blieb, und es klang so verzweifelt. Das silberne Skelett des Hector de Valois litt unter schrecklichen Qualen. Nur eines war anders: nicht das Skelett verspürte die Qua len, sondern John Sinclair! Seine Angst, seine Pein übertrug sich auf diese rätselhafte Gestalt. Der Abbé war zurückgegangen, ohne es richtig zu merken. Er stand jetzt im Schatten. Die Dunkelheit war wieder über ihn gefallen und hielt ihn umfangen. Das Stöhnen blieb. Der Kopf bewegte sich nach vorn und wieder zurück. Die sitzende Gestalt fing an zu schwanken. Der Abbé rech nete schon damit, daß sie über den Sargrand hinwegkippen würde. Dazu kam es jedoch nicht. Das Skelett konnte sich wieder fangen und sank langsam wieder in die alte Lage. Das Stöhnen verflachte, wurde zu einem leisen Schluchzen, in dem eine tiefe Verzweiflung mitschwang. Auch die verging, und es wur
de wieder ruhig. Nichts passierte mehr. Es wurde wieder still, sehr still. Bloch hörte sich sogar atmen. Er konnte sich nicht mehr bewegen. Seine Gedanken wirbelten. Sinclairs Stimme – das war genau Sinclairs Stimme gewesen. Aber wo befand sich der Geisterjäger? In einem Zwischenreich. Der Sessel mußte ihn dorthin transpor tiert haben, und Bloch überlegte, wo sich dieses Reich wohl befinden könnte. Eine Antwort fand er nicht darauf. Nur war ihm schon klar, daß John Sinclairs Reise nicht eben so locker über die Bühne gelaufen war. Er steckte plötzlich in gewaltigen Schwierigkeiten, aus denen ihm wohl niemand heraushelfen konnte. Auch der Abbé nicht. Er hätte es gern getan, und er überlegte schon, ob er nicht zurückgehen und sich selbst auf den Knochenses sel setzen sollte. Nein, er ließ es bleiben. Es hätte keinen Sinn gehabt. Womöglich wurde er in dieser Zeit gebraucht und nicht in irgendeiner verfluch ten Zwischenwelt. Warum hatte John geweint? Es gab eigentlich nur einen Grund. Er beweinte den Tod seiner El tern,weil er auf irgendeinem Umweg davon erfahren haben mußte. Eine andere Alternative gab es für den Abbe nicht, auch wenn er da mit nicht glücklich werden konnte. Wie er es auch drehte und wendete. Er mußte hier zurückbleiben und warten. Vielleicht ergab sich trotzdem noch die Chance, John Sinclair zu helfen. Dem Skelett warf er einen letzten Blick des Abschieds zu. Dann drehte er sich um und machte sich auf den Rückweg. Voller Energie war er gekommen, nun aber wirkte sein Gang müde …
* Ernst – todernst waren die Gesichter von Glenda Perkins und Sir Ja mes Powell bei der Verabschiedung gewesen. Viele Worte brauchten nicht gesagt zu werden, jeder wußte, daß sich das Schicksal eine neue Variante hatte einfallen lassen, um den Fluch der Sinclairs zu erfüllen. »Er ist fast erfüllt«, hatte Sir James gesagt und dabei schwerfällig genickt. »Sie wissen, was ich damit meine, Suko?« »Natürlich, Sir. Einer ist noch übrig – John!« »Genau.« Die beiden Männer hatten danach geschwiegen. Ebenso wie Suko jetzt schwieg und aus dem Fenster der Maschine schaute, die bereits die schottische Grenze überflogen hatte und sich auf dem Flug nach Edinburgh befand, wo Suko einen Mietwagen nehmen würde, um nach Lauder zu gelangen. Er hatte einfach hingemußt. Es war seine Pflicht gewesen. Alles andere konnte er vergessen. Lauder war derOrt, in dem dieser schreckliche Doppelmord geschehen war. Immer wenn er daran dachte, überlief ihn der kalte Schauer. Es oblag Sir James Powell, die anderen zu informieren. Die Conol lys, auch Jane und Sarah Goldwyn. Es würde ihm sicherlich schwer fallen, aber Suko wußte auch, daß er seiner Aufgabe gewachsen war. Er mußte sich um andere Dinge kümmern. Daß es kein normaler Mord gewesen war, stand für ihn fest. Nicht aber für die Kollegen, die den Fall untersuchten. Telefonisch hatte er einen ersten Bericht bekommen, und er wußte, daß beide Sinclairs durch Messerstiche getötet worden waren.
Nicht durch einen gezielten, nein, die Mörder hatten mehrmals zu gestoßen, als hätten sie all ihren Haß loswerden wollen, der in ihnen steckte. Und John war verschollen. Er trieb sich irgendwo zwischen den Zeiten herum. Möglicherwei se befand er sich schon tief in der Vergangenheit und war völlig ah nungslos, auch wenn er sich um seine Eltern schon große Sorgen ge macht hatte. Wie dem auch war, Suko wollte nach Spuren suchen, und er würde auch welche finden, davon ging er aus. Es ärgerte ihn zudem, daß Sir James und John ihn nicht von Be ginn an ins Vertrauen gezogen hatten. Er hätte möglicherweise et was ändern oder verhindern können, davon ging er aus. Die beiden Leichen waren von den Kollegen aus Edinburgh unter sucht worden. Man hatte sie auch in die Stadt zur Obduktion schaf fen wollen, dagegen war von London aus Einspruch erhoben wor den. Die Sinclairs sollten in Lauder bleiben, und Suko, der mit allen Vollmachten ausgestattet war, hatte den Fall übernommen. Suko wartete ungeduldig auf die Landung. Es konnte jede Minute wichtig werden. Er fühlte sich getrieben. Endlich schaffte er es auch, sich auf die Landschaft unter ihm zu konzentrieren. Die Berge waren schneebedeckt, aber sie lagen schon weiter zu rück, denn die Maschine befand sich bereits im Landeanflug und hatte bereits einen weiten Bogen geflogen, wobei Suko an der West seite das graue Wasser des Firth of Forth schimmern sah. Suko war angeschnallt; die Maschine wurde leicht geschüttelt, als sie letzte Wolkenschleier durchschwebte. Neben ihm saß eine dun kelhaarige Frau, die die ganze Zeit über gelesen hatte. Auch jetzt war sie noch in ihr Buch vertieft und steckte es erst weg, als die Ma schine Bodenkontakt bekam.
Der Inspektor konnte als erster der Passagiere das Flugzeug ver lassen. Sofort führte ihn der Weg zur Mietwagenzentrale. Ein Wagen stand bereit. Ein kleiner BMW. Sukos Schweigen ver wunderte wohl die Lady am Schalter, aber er konnte weder lächeln noch freundlich sein. Auf dem Weg zum Wagen telefonierte er mit London, um Bericht zu erstatten, aber er wollte auch wissen, ob es irgendwelche Neuig keiten gegeben hatte. »Nein, nicht«, wurde ihm von Sir James gesagt. »Ich habe ver sucht, den Abbé zu erreichen, was mir aber nicht gelang. Er hat das Haus verlassen.« »War das Ziel bekannt?« »Nein, leider nicht.« »Okay, ich melde mich wieder«, sagte Suko und schaltete sein Handy aus. Der Wagen stand in einer abgeteilten Parkzone. Er war dunkel grau lackiert; das entsprach genau Sukos Stimmung, der seine Reise tasche auf dem Rücksitz plazierte und dann den BMW startete. Es lagen rund fünfzig Kilometer vor ihm. Keine besonders lange Strecke,und darüber war er auch froh. Außerdem war die Straße gut zu befahren und auch in den Bergen nicht besonders kurvig. Aber Suko hatte keinen Blick für die Schönheiten der Winterlandschaft. Er freute sich mehr darüber, daß die Straße trocken und frei war. Suko war nervös, das mußte er sich leider selbst eingestehen. Er wußte nicht, was ihn in Lauder erwartete, aber einen Plan hatte er sich bereits zurechtgelegt. Er wollte sich zuerst die Stelle anschauen, wo die Sinclairs gestor ben waren, sich danach mit den Kollegen in Verbindung setzen und sich anschließend im Haus umschauen.
Er fuhr schnell. Manchmal zu schnell, aber Suko gehörte zu den si cheren Fahren, denen es außerdem noch Spaß machte, hinter dem Lenkrad zu sitzen. Auf der gut ausgebauten Straße herrschte zumindest im Winter nicht viel Verkehr. Da zog es keine Touristen in die hügelige und be waldete Region, um sie zu durchwandern. Jetzt waren die Einheimischen unter sich. Nicht mal eine Stunde später sah er die ersten Häuser von Lauder, und sein Magen schien von Stacheldraht eingeschnürt zu werden. Er erinnerte sich daran, daß er oft genug hier bei Johns Eltern gewe sen war. Nicht nur als Privatmann. Es hatte schon verdammt schwierige Fälle gegeben, bei denen Johns Vater nur mit Glück über lebt hatte. Aber er hatte überlebt, und jetzt war er tot. Suko schluckte. Der Ort kam ihm plötzlich leer vor, obgleich sich nichts verändert hatte. Der Betrieb ging weiter, die Menschen rea gierten wie immer, aber trotzdem schien ein Schatten über der klei nen Stadt zu liegen. Suko bog nach rechts ab, wo auch der nicht sehr große Friedhof mit derKirche lag. Er fand auch die Straße, die Horace F. und Mary Sinclair genommen hatten, nur kam er von der anderen Seite, fuhr jetzt langsamer, da er sich auf die Mauer konzentrierte. Suko suchte die Stelle, wo der Range Rover gegengefahren war. Ja, sie war zu sehen. An einer gewissen Stelle war die Mauer beschädigt. Sie wies zwar kein Loch auf und war auch nicht eingestürzt, aber doch beschädigt. Außerdem lagen dort einige Blumensträuße, die Freunde als letzten Gruß an die Verunglückten hingelegt hatten. Suko stoppte den BMW und stieg aus. Er mußte tief Luft holen, aber auch dies konnte den Druck in seinem Innern nicht lindern. Das Wissen darum, daß hier die Eltern seines besten Freundes ge
storben waren, machte ihm schon zu schaffen. Er schaute sich die Mauer an. Es war kein besonders heller Tag. Große Wolkeninseln verdeckten meist die Sonne, aber einige auf dem Boden liegende Glassplitter waren nicht entfernt worden und schimmerten hin und wieder auf. Den Aufprall hatten die Sinclairs überlebt. Gestorben waren sie später, nachdem sie den Wagen verlassen hatten. Suko schaute sich suchend um, weil ihn genau dieser Platz interessierte. Er ließ sich Zeit. Dabei kreiste er den möglichen Tatort ein. Er ging davon aus, daß die beiden geblutet hatten, und sicherlich war das Blut auch auf dem Boden zu sehen. Deshalb suchte er nach den großen, dunklen Flecken. Einige sah er. Sie hatten das winterliche Gras gefärbt. Suko preßte hart die Lip pen zusammen, als er sich vorstellte, daß es das Blut der Sinclairs war. Sinnlos vergossen, ebenso sinnlos wie der Tod dieser Men schen. Mochte man meinen. Aber das Schicksal hatte etwas anderes vorgehabt. Und vor allen Dingen die Gegner, die Suko und John unbekannt waren. Er ging wieder auf die Friedhofsmauer zu und erklomm sie. Suko wollte alle Möglichkeiten in Betracht ziehen; vielleicht hatten leben de Leichen, die ihre Gräber verlassen hatten, die beiden Menschen grausam getötet. Vielleicht, aufgewühlte Gräber sah er jedoch nicht. Dafür die Kirche, auch die kleine Leichenhalle, in der sehr bald die Trauerfeier stattfinden würde. Suko stellte sich die berechtigte Fra ge, ob John wohl dabeisein konnte, wenn man die eigenen Eltern zu Grabe trug. Sicher war nichts. Hier war überhaupt nichts sicher, und auch Suko fühlte sich wie ein Schwimmer in einem unbekannten Gewässer.
Er sprang wieder nach unten, ging zu seinem Wagen und startete wieder durch. Der nächste Besuch galt den Kollegen, die die Toten gefunden hat ten. Zwar fühlte sich Suko nicht besser, aber doch etwas beruhigter, weil er sich den Tatort angeschaut hatte. Es mußte einfach mit sei nem Gewissen zusammenhängen. Er rollte nach Lauder hinein. Den Ort kannte er. Ein altes Städt chen mit Geschäften und Lokalen. Dies alles eingepackt in eine auto freie Zone. Seit viele Touristen Schottland als Reiseziel erkoren hat ten, mußte man den Leuten auch etwas bieten, und das war in Lau der geschehen. Die Polizeistation lag in dem älteren Teil. Vor dem Steinhaus fand Suko einen Parkplatz. Als er ausstieg, öffnetesich die Tür, und ein schmaler Mann in Uniform verließ den Bau. Er hatte ein knochiges Gesicht und dichte Augenbrauen. »Sie können hier nicht parken. Diese Seite ist für Dienstfahrzeuge reserviert.« »Das weiß ich.« Suko zeigte seinen Ausweis. »Ich denke, Sie haben mich schon erwartet.« »Sie sind der Mann vom Yard?« »Ja, Suko ist mein Name.« Der Knochige nickte. »Ich heiße Terence Bull.« »Dann sind Sie einer der beiden Männer, die die Leichen entdeckt haben.« »So ist es.« »Ist Ihr Kollege auch anwesend?« »Nein, Inspektor, der hat frei.« »Dann müssen wir uns unterhalten. Oder sind die Kollegen aus Edinburgh noch anwesend?«
»Sie sind wieder gefahren.« Suko kannte die kleine Polizeistation, aber Terence Bull hatte er hier noch nie gesehen. »Möchten Sie einen Kaffee? Ich habe ihn frisch gekocht.« »Ja, das wäre nicht schlecht.« »Nehmen Sie Platz, ich hole ihn.« Die Einrichtung war nüchtern, wie es sich eben gehörte. Auch einen Computer gab es. Auf dem alten Schreibtisch wirkte er ir gendwie deplaziert. Es roch nach Putzmitteln und kaltem Zigarren rauch. Bull brachte zwei volle Tassen. Er balancierte sie vorsichtig, weil er nichts verschütten wollte. Die beiden saßen sich gegenüber. Sie tranken, und Suko nickte. »Ja, der Kaffee ist gut.« »O danke.« »Aber Sie wissen, daß ich nicht hergekommen bin, um mit Ihnen Kaffee zu trinken.« »Natürlich, Inspektor. Außerdemsind Sie in Lauder bekannt – wie auch John Sinclair …« Er hatte den letzten Namen ausgesprochen wie eine Frage und wollte sicherlich auf diese Weise erfahren, weshalb der Sohn nicht angereist war, um seine Eltern zu sehen. »Sie müssen sich zunächst mit mir begnügen, Mr. Bull«, erklärte Suko. »John Sinclair ist leider dienstlich verhindert. Er befindet sich im Ausland.« »Ah, so ist das.« »Genau. Und deshalb bin ich mit diesem Fall betraut worden.« Bull trank noch einen Schluck. Suko ließ ihm die Zeit, die richtigen Worte zu finden, und Terence Bull lieferte ihm dann den Bericht,
der auch ins Detail ging. Wie bei einem Menschen, der sich die Wor te zuvor aufgeschrieben und dann auswendig gelernt hatte. »Und im Haus haben Sie tatsächlich die Zerstörungen entdeckt?« »Ja, wir wunderten uns auch. Mr. Sinclair muß mit einer Schrot flinte geschossen haben.« »Auf wen?« Die Frage hatte Suko mehr an sich selbst gerichtet als an seinen schottischen Kollegen, der nur die Schultern hob. »Auf wen kann er geschossen haben?« »Einbrecher, Inspektor?« »Nein, das glaube ich nicht. Und wenn, dann waren es keine nor malen.« Der Constabler runzelte die Stirn. »Wer könnte es denn dann ge wesen sein, Sir?« »Ich weiß es nicht. Aber ich möchte mir das Haus gern anschau en.« »Das können Sie. Wir haben die Schlüssel.« Bull stand auf und hol te sie aus dem Fach eines Aktenschranks hervor. Suko dachte daran, daß er hier die Aufgabe des Sohns übernahm. »Wo sind die Toten?« »Hier.« »Bei Ihnen?« fragte Suko überrascht. »Ja, in dem kleinen Anbau habenwir sie aufgebahrt. Es ging nicht anders.« »Ich werde sie mir später anschauen.« Der Inspektor räusperte sich. »Ich möchte noch einmal auf das Entdecken der Toten zurück kommen. Sie und Ihr Kollege waren ja als erste am Tatort. Haben Sie dort nichts Auffälliges bemerkt?« »Nein, das haben wir nicht, Inspektor, falls sie die oder den Täter meinen. Es gab nichts zu sehen, nicht mal fremde Fußspuren.«
»Was schließen sie daraus?« »Nichts. Es sei denn, die Killer waren so raffiniert, daß sie die Spu ren verwischt haben.« »Kann sein«, sagte Suko und schlug die Beine übereinander. »Das ist die eine Seite. Es gibt noch eine zweite, Mr. Bull. Können Sie sich erklären, wie es möglich gewesen ist, daß Horace F. Sinclair den Wa gen gegen die Friedhofsmauer gefahren hat?« »Das weiß ich auch nicht.« »Er war ein guter Fahrer. Er kannte die Straßen hier. Er kam auch im Dunkeln zurecht. Aber er fährt gegen die Mauer. Das will mir nicht in den Kopf.« »Darüber habe ich auch nachgedacht, Inspektor. Es kann sein, daß er abgelenkt worden ist, oder sehe ich das falsch?« »Nein, im Prinzip sehen Sie das schon richtig, Mr. Bull. So muß es auch gewesen sein. Nur frage ich mich, wer ihn abgelenkt haben könnte – und womit.« »Da bin ich überfragt.« »Ich ebenfalls.« »Geblendet?« »Geschossen wurde nicht auf sieoder den Wagen. Die Spezialisten haben keinerlei Hinweise entdeckt.« »Davon bin ich auch nicht ausgegangen«, sagte der Inspektor. »Horace F. Sinclair muß auf eine andere Art und Weise abgelenkt worden sein. Aber welche das war, steht in den Sternen. Da bleibt uns nur das Raten.« Er hob die Schultern. »Wir werden es vielleicht noch herausbekommen.« Suko räusperte sich. »Und jetzt möchte ich die beiden Toten sehen.« »Kommen Sie mit.« Bull erhob sich noch vor Suko. Die beiden ver ließen das Dienstzimmer und wandten sich nach links. Dort gab es
zwei Zellen, es kam aber nur selten vor, daß sie belegt waren. Lau der zählte zu den sicheren Orten. Der Anbau lag hinter einer schmalen Tür. Kaum hatte der Consta bler sie geöffnet, da spürte Suko bereits den kalten Luftzug, der ihm entgegenströmte. Für ihn war es auch die Kälte des Todes. Der Raum vor ihm lag im Halbdunkel, denn nur wenig Licht drang durch die schmalen, ziemlich hoch liegenden Fenster. Eigentlich war er eine Asservatenkammer und kein Ort, wo Tote aufgebahrt wurden, aber hier hatte man eine Ausnahme gemacht. Als Bull das Licht einschalten wollte, sagte Suko mit etwas gepreßt klingender Stimme: »Das mache ich. Lassen Sie mich bitte allein.« »Natürlich, Inspektor, entschuldigen Sie.« Suko wartete, bis sich der Constabler zurückgezogen hatte. Er selbst atmete schwer. Er wußte, daß ihm ein schlimmer Anblick ge boten werden würde, weil er auch persönlich davon betroffen war, denn er hatte Johns Eltern gemocht. Er machte Licht und war auf alles gefaßt!
* Für die lagernden Gegenstände hatte Suko keinen Blick übrig. Seine Aufmerksamkeit galt Mary und John Sinclair. Nebeneinander lagen sie auf einem breiten Tisch, vergleichbar mit starren Puppen. Suko fand es unpassend, auch unwürdig, aber er konnte den Kollegen keinen Vorwurf machen, sie hatten einen Platz finden müssen, und dieser Anbau war innen wirklich kühl genug. Er ging auf die Leichen zu. Das Blut war aus seinem Gesicht gewichen. Die Haut schimmerte wie blasses Ziegenleder. Er war innerlich verkrampft. Er spürte den
kalten Schweiß auf seinen Händen. Und der Kloß im Hals nahm an Dicke zu. Den Blick hatte er gesenkt. Hinter den Augen lag der Druck. In seinen Augen hatte sich die Feuchtigkeit ausgebreitet, aber Suko schämte sich nicht dafür, daß er weinte. Es dauerte eine Weile, bis er den Zustand überwunden hatte und sich um die Toten selbst kümmern konnte. Man hatte die beiden so hingelegt, wie sie gefunden worden wa ren. Nicht umgezogen, nicht gewaschen, so daß Suko all die schrecklichen Wunden sah, die auf den Körper hinterlassen worden waren. Ja, die oder der Mörder hatte wirklich seinen Haß an diesen bei den alten Menschen ausgelassen. Obwohl die Gesichter verschont geblieben waren, zeichneten sich auf der Haut einige rote Flecken ab. Blut, das dorthin gespritzt war. Er atmete tief durch. Ich bin befangen, dachte er. Verdammt noch mal, ich kann nicht mehr klar denken! Er trat näher heran und beugte sich vor und berührte mit den Fin gerkuppen das Gesicht des toten Horace F. Sinclair. Sie fühlte sich so schrecklich kalt und auch irgendwie anders an. Es steckte kein Le ben mehr in ihr, keine Wärme – nichts … Suko schluckte. Der Schauer auf seinem Körper wollte nicht wei chen. Dann umrundete er den Tisch am Kopfende und betrachtete Mary Sinclair. Er drehte den starren Körper etwas zur Seite, damit er sich den Rücken anschauen konnte. Dort sah er ebenfalls Wunden. Im Rücken? Sukos Mund verzerrte sich. Ein Haßstrom durchfuhr ihn, als er dieses Bild sah. Der Killer hatte sich Mary von hinten genähert und sie erstochen.
Suko hatte jetzt die Gefühle halbwegs unter Kontrolle und unter suchte die Wunden. Er kam zu dem Ergebnis, daß die beiden Men schen mit breitklingigen Waffen getötet worden sein mußten. Und das brauchten nicht unbedingt normale Messer gewesen zu sein. »Wer hat das getan?« flüsterte er erstickt. »Verdammt noch mal, wer hatte Interesse daran, den Fluch der Sinclairs zu erfüllen?« Die Frage hatte er sich gestellt, doch eine Antwort konnte er sich nicht geben. Er wußte einfach zu wenig. Alles, was er dachte, basierte nicht auf Tatsachen, sondern auf Vermutungen. Es konnte durchaus mit Johns neuer Aufgabe zu tun haben. Mit der Suche nach der Bundeslade. Da konnten irgendwo im Hinter grund Kräfte lauern, die dies unter allen Umständen zu verhindern suchten. »Es tut mir so leid«, flüsterte er den beiden Toten zu. »Verdammt, es tut mir so leid. Wenn ich könnte, ich würde alles …« Seine Stim me versagte ihm, und er drehte sich zur Seite. Es gab noch eine Chance auf einen Hinweis. Das war der Besuch im Haus der Sinclairs. Als Suko daran dachte, spürte er das Gewicht des Schlüssels doppelt so schwer. Hier hatte er nichts mehr zu su chen. Deshalb drehe er sich um und verließ die makabre Leichen kammer. Leise schloß er die Tür. Im Flur blieb er stehen. Suko mußte sich erst wiederfinden. Er kam sich plötzlich so klein und hilflos vor. In seinen Augen lag noch immer der Druck; sie brannten auch. Mit schleppenden Schritten kehrte er zurück in das Dienstzimmer. Constabler Bull schaute hoch, als Suko eintrat. Er erkannte sofort, daß dem Kollegen aus London der Abschied schwergefallen sein mußte. »Sie können sicherlich einen Whisky vertragen, Inspektor?« Suko schüttelte den Kopf. »Nein, lassen Sie mal.« Er setzte sich
wieder auf seinen Platz. »Ich möchte keinen Alkohol trinken. Ich brauche nur etwas Erholung.« »Bitte.« Suko war dabei, seine Gedanken zu sortieren. Verdammt noch mal, es mußte einen Weg geben, den er gehen mußte. Er konnte nicht einfach nach London zurückkehren und erklären, daß er nichts, aber auch gar nichts gefunden hatte. »Gibt es schon einen ersten Bericht der Kollegen aus Edinburgh?« fragte er schließlich, wobei er seine eigenen Worte mehr als Alibi empfand. »Nein, Inspektor, den gibt es noch nicht. Er soll im Laufe des Ta ges übermittelt werden.« »Dann werde ich wohl noch hier sein.« »Was haben Sie denn jetzt vor? Verzeihen Sie meine Neugierde. Vielleicht kann ich Sie dabei unterstützen.« »Danke, Constabler, aber das wird nicht nötig sein. Den Schlüssel zum Haus habe ich ja.« »Ja, schauen Sie sich dort um.« »Waren nur Sie dort?« »Mein Kollege und ich.« »Und Sie meinen, daß dort geschossen worden ist?« »Ja, Sir, das meine ich.« Suko straffte sich. »Wenn im Haus geschossen worden ist«, sagte er, »dann muß es dafür einen Grund geben, und ich glaube nicht, daß Horace F. Sinclair auf irgendwelche Einbrecher gezielt hat. Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Hier geht es einfach um an dere Dinge.« »Dazu kann ich nichts sagen, Inspektor.« »Das ist klar.« Suko runzelte die Stirn. Er sah aus wie jemand, der
über ein Problem nachdachte, dann erhob er sich mit einem Ruck und nickte dem Constabler zu. »Sollte irgend etwas geschehen oder sollte Ihnen noch etwas einfallen, was wichtig ist, dann können Sie mich im Haus der Sinclairs erreichen.« Er hatte eigentlich noch das Wort tot einfügen wollen, das jedoch bekam er nicht über die Lip pen. Suko konnte immer noch nicht fassen, daß Johns Eltern nicht mehr lebten. Es würde lange dauern, bis er dies akzeptiert hatte. Und er dachte auch daran, daß John noch nichts davon erfahren hat te. Suko wußte nicht, wer ihm die traurige Nachricht übermitteln würde. John hatte sehr an seinen Eltern gehangen, zusammen hatten sie auch viel durchgemacht, denn Johns Feinde hatten auch vor Mary und Horace nicht haltgemacht. In der Vergangenheit war es noch immer gutgegangen, hatte Gefahr von ihnen abgewendet wer den können. Nun nicht mehr. Da hatte der Fluch der Sinclairs voll zugeschlagen. Suko stieg in seinen BMW und fuhr weg.
* Leer! Ja, es war leer, und es war eine bestimmte und gleichzeitig so andereLeere, die Suko empfand, als er vor dem Haus wieder aus stieg. Er drückte die Tür leise zu. Zwischen Haus und Baum war er stehengeblieben, den Blick zur Haustür gerichtet, und das Empfin den dieser Leere wollte nicht weichen. Vor ihm lag ein totes Haus. Ein Haus, in dem einmal Menschen gelebt hatten, nun aber tot waren. Und mit ihrem Tod schien auch das Leben aus dem Haus gewichen zu sein. Es hatte sich durch die
Mauern gequält und war irgendwo versickert. Es ängstigte Suko nicht, das Haus zu betreten, es war ihm nur so anders. Wie auch die gesamte Umgebung. Seine Sinne waren noch schärfer geworden. Er nahm jeden Atemzug deutliches wahr, selbst die Geräusche unten aus dem Ort. Vom Friedhof her schickte ihm die Turmuhr einen Gruß herüber. Es wurde wieder still. Suko empfand diese Ruhe als doppelt so stark. Vor der Tür stopp te er. Um das Haus zu betreten, mußte er keine Polizeisiegel aufbre chen. Er fand auf Anhieb den richtigen Schlüssel und schloß auf. Die Tür drückte er nach innen. Er schaute zu, wie sie behäbig auf schwang. Der Blick in die große Diele war ihm nicht fremd. Warme Luft wehte ihm entgegen, aber auch sie kam ihm anders vor als sonst. Er konnte es nicht beschreiben, es war alles wie sonst, aber es war für ihn auch spürbar, daß die beiden Sinclairs ihren Wohnbe reich nicht mal für zwei Stunden verlasen hatten, sondern für im mer. Er schüttelte den Kopf über diesen Gedanken, als er das Haus be trat und die Tür wieder zudrückte. Jetzt war es ganz still. Erst als Suko über die Holzbohlen und dann über den Teppich auf die Küchentür zuging,hörte er wieder die Ge räusche. Es drängte ihn einfach in die gemütliche Wohnküche. Oft genug hatte er dort zusammen mit seinem Freund John und dessen Eltern zusammengesessen. Für Suko war dieser Besuch auch so et was wie ein Abschied für immer. In der Küche hatte sich nichts verändert. Vielleicht war es ein we nig kälter als sonst. Das konnte auch an der nicht mehr vorhande nen menschlichen Wärme liegen, die eine Mary Sinclair so ausge strahlt hatte. Suko knirschte vor Wut mit den Zähnen. Nichts würde mehr so sein wie früher, gar nichts.
Wie gern hatte er immer auf der Eckbank gesessen, wenn Mary Sinclair wieder eines ihrer berühmten Essen gekocht oder ein opu lentes Frühstück serviert hatte. Vorbei, alles war vorbei. Es war Vergangenheit, nur noch in der Erinnerung existierend. Suko durchschritt die Küche wie jemand, der etwas suchte, ohne zu wissen, was es war. Er kam sich manchmal vor wie der eigene Sohn. Der aber war ver schwunden, eingetaucht in irgendwelche Zeiten. Möglicherweise würde er dort auch vom Fluch der Sinclairs verfolgt, damit noch der letzte Name ausgelöscht wurde. Suko verließ die Küche wieder. Die große Diele hatte er schon durchwandert. Nach oben wollte er zunächst einmal nicht gehen, sondern in den Gang hinein, wo sich auch das Arbeitszimmer des Horace F. Sinclair befand. Bisher hatte Suko nur gehört, daß hier im Haus geschossen wor den war. Im Flur bekam er den Beweis dafür. Zunächst einmal war der Gewehrschrank nicht geschlossen. Suko erkannte sofort, daß mehrere Waffen fehlten, weil einige Halterungen leer waren. Nur wenige Schritte entfernt stand die Tür zum Arbeitszimmer of fen. Dort hinein hatte Sinclair geschossen und auch die Türkante erwi scht. Zumindest mit einem Teil der Ladung. Die andere Hälfte war in das Zimmer hineingefahren. Der Schrot hatte sich in den Teppich gebohrt und ihn an verschiedenen Stellen aufgerissen. Auch der Schreibtisch und die Rückwand eines Ledersessels wie sen Einschußlöcher auf. »Es ist also jemand hier gewesen«, flüsterte Suko vor sich hin. »Und er war bestimmt kein Gast. Aber wer …?« Niemand gab Suko eine Antwort, und es waren keine Spuren zu
sehen, die auf einen Täter hinwiesen. Nur die Einschüsse der Schrot ladung belegten, daß hier etwas vorgefallen war. Da die Sinclairs noch hatten fliehen können, schien Horace den Eindringling getroffen zu haben, da war sich Suko ziemlich sicher. Er durchsuchte das Arbeitszimmer. Auf dem Schreibtisch lagen noch Schriftstücke, mit denen sich der Hausherr beschäftigt hatte. Suko warf einen schnellen Blick darauf, aber von diesem Vertrags kram verstand er nichts. Neben dem Schreibtisch blieb er stehen. Das Fenster im Rücken. Er hatte kurz nach draußen geschaut und dort keine Veränderungen entdeckt. Daß man in London auf einen ersten Lagebericht wartete, wußte Suko auch. Er telefonierte nicht vom Apparat der Sinclairs aus, son dern nahm sein Handy. Die Verbindung stand bald, und er hörte die Stimme seines Chefs sehr deutlich. »Ja, Sir, hier bin ich.« »Wo sind Sie?« »Im Haus.« Mehr hatte er nicht zu sagen brauchen. Er hörte, wie sich Sir James räusperte. »Ja, Suko, ich kann begreifen, wie Ihnen zumute ist. Aber was haben Sie zuvor getan?« »Abschied genommen.« »Natürlich.« Die Stimme klang leise. »Ich kann mir denken, wie Ihnen zumute gewesen sein muß, aber wir müssen auch an unsere Arbeit denken, Inspektor. Sie haben sich bestimmt die Leichen an schauen können, und ich möchte wissen, was Ihnen aufgefallen ist und wie die beiden wirklich ums Leben kamen.« Suko erzählte es seinem Chef mit leiser Stimme, und Sir James
hörte dabei, wie er litt. Aber da mußten sie durch. Auf keinen Fall durften sie sich zu stark von irgendwelchen berechtigten Gefühlen leiten lassen, sie mußten die Realität im Blick behalten. »Also hat sich Ihr Besuch rein fachlich bisher nicht gelohnt, Suko?« »Richtig. Bisher ist noch nichts passiert.« »Rechnen Sie denn mit irgendeinem Ereignis, das uns weiterbrin gen könnte?« »Rechnen nicht, Sir. Ich kann es nur hoffen.« »Haben Sie sich entschieden, wie lange Sie in Lauder bleiben wol len?« »Zumindest bis morgen. Ich möchte auch noch mit den Kollegen aus Edinburgh sprechen, die die beiden Leichen untersucht haben. Vielleicht gibt es ja einen Hinweis.« »Das wir schwer sein«, sagte der Superintendent. »Ich kann daran nicht so recht glauben. Wer immer Johns Eltern getötet haben mag, er hat keine Spuren hinterlassen, was mich natürlich auf einen be stimmten Gedanken bringt.« »Sie meinen, daß wir es hier nicht mit Menschen zu tun gehabt ha ben?« »So sehe ich es.« »Dämonen«, murmelte Suko. Er hatte sich jetzt gedreht und schau te aus dem Fenster. »Es hört sich hier an, als könnten Sie mir nicht so recht glauben.« »Das fällt mir auch schwer, Sir.« »Dann hören ich jetzt Ihre Theorie, bitte.« »Es ist nicht mal eine Theorie, sondern mehr eine Vermutung, Sir, wenn ich ehrlich sein will. Es müssen nicht unbedingt Dämonen ge wesen sein, die beide Sinclairs umbrachten. Ich glaube eher, daß es Killer aus der Vergangenheit waren, die verhindern wollen, daß
John das Rätsel der Bundeslade löst. Und sie werden versuchen, auch den letzten Sinclair zu töten.« »Das hörte sich nicht gut an.« »Stimmt.« Suko hob die Schultern. »Aber wir wollen alles in Be tracht ziehen, auch Johns Aufgabe.« »Wie hoch schätzen Sie seine Chancen ein?« »Ich kann es nicht sagen. Ich kann nur darauf vertrauen und hof fen, daß er sich zu Wehr setzt. Er hat ja schon oft genug in Schwie rigkeiten gesteckt und ist immer wieder herausgekommen.« »Ja, Sie haben recht, Suko. Sehen wir es so: Ich soll Sie auch von Shao grüßen, die sich natürlich Sorgen um Sie macht.« »Sagen Sie ihr, daß alles okay ist.« »Und wir bleiben in Verbindung. Sie erreichen mich im Büro. Auch in der Nacht.« »Das ist gut, Sir.« Suko drückte die Antenne wieder rein und ließ den kleinen Appa rat verschwinden. Das Gespräch hatte ihm gutgetan, nun aber fiel ihm die Stille wieder besonders auf. Eine nahezu totenähnliche und gespenstische Ruhe lag zwischen den Wänden dieses Hauses. Nicht mal das Summen der Heizung war zu hören. Suko dachte über sein weiteres Vorgehen nach. Wenn er über Nacht in Lauder bleiben wollte, dann würde er seine Zeit hier verbringen. Es gab ein paar kleine Hotels und Gasthöfe, aber Suko wollte an der Quelle bleiben, obwohl ihm der Gedanke nicht gefiel, daß die Besitzer des Hauses nicht mehr lebten. Es gab hier ein Gästezimmer, das er auch kannte. Darin würde er sich einrichten. Suko gab sich auch der Hoffnung hin, daß man das Haus beobachtete. Wenn die andere Seite nicht über alles informiert war und auch John töten wollte, dann konnten sie durchaus damit
rechnen, daß er hier erschien, um von seinen Eltern Abschied zu nehmen. Für sie wäre es eine gute Möglichkeit gewesen, den Fluch der Sinclairs endgültig zu erfüllen. Suko wollte an seine Theorie trotz allem nicht glauben und winkte ab. Es waren nur Hirngespinste. Daß John überlebte und die Mörder seiner Eltern gestellt wurden, hatte Vorrang. Er ging auf die Tür zu. In der Diele brannte noch immer Licht, auch dort, wo der Waffenschrank stand. Alles war so verdammt normal, dennoch anders. Suko hatte vor, das Haus zu verlassen, um seine Reisetasche aus dem Wagen zu holen. Hätte er sich in einer Alltagssituation so nor mal bewegt wie immer, dann wäre im ein bestimmtes Geräusch viel leicht nicht aufgefallen. Aber Suko war leise gegangen und sehr gespannt. Deshalb vernahm er auch das leise Knarren oder heimliche Fau chen. Er blieb stehen, bevor er die Tür erreicht hatte. Das Geräusch war in seinem Rücken entstanden, und so etwas gefiel dem Inspek tor überhaupt nicht. Noch auf der Stelle stehend drehte er sich um. Zwangsläufig fiel sein erster Blick auf die Treppe. Suko hatte nicht alle Lampen eingeschaltet, so lag zumindest der zweite Teil der Treppe im Halbdunkel. Genau dort, über den Stufen schwebend, malte sich etwas ab. Ein mit kaltem Licht gefülltes Augenpaar. Und das glotzte Suko an!
* Er erschrak nicht mal großartig, sondern fühlte sich auf eine gewisse Art und Weise erleichtert. Endlich war es vorbei mit dieser unnatür
lichen Ruhe. Es tat sich etwas. Die andere Seite hatte sich auf ihre Art und Weise gemeldet. Suko blieb stehen, ohne auch nur den kleinen Finger zu bewegen. Er richtete seinen Blick auf diese seltsame Erscheinung und dachte darüber nach, wie diese beiden Kreise entstanden sein konnten. Ein fach so aus der Luft heraus? Das wollte er nicht glauben, denn er ging davon aus, daß dieses kreisrunde Augenpaar zu einem Körper gehörte. Möglicherweise auch zu einem noch unsichtbaren. Suko tat nichts. Warten war besser, denn man wollte etwas von ihm. Die kreisrunden und somit ungewöhnlichen Augen blieben auf den Inspektor gerichtet, als wollten sie auf den Grund seiner Seele starren. Gehörten die Augen zu den oder dem Wesen, das die beiden Sin clairs getötet hatte? Der Inspektor wünschte sich, daß es so war. Dann hätte er eine Chance erhalten, dieses Wesen in die Zange zu nehmen. Es wollte nicht, schwebte nach wie vor und zeigte nur seine Au gen. Suko wurde es schließlich zu bunt. »Okay«, sagte er, »wenn du es nicht willst, dann bin ich eben an der Reihe.« Nicht ruckartig sondern mit einer fließenden Bewegung ging er vor. Er wollte das unbekannte Augenpaar auf keinen Fall erschre cken. Er wollte es auch nicht vernichten, wobei er nicht mal wußte, wie er das anstellen sollte. Er wollte ihm nur auf den Fersen bleiben und es stellen. Deshalb ging er weiter auf dem direkten Weg zur Treppe hin. Das Augenpaar wartete noch immer.
Es ließ Suko kommen. Er war froh darüber, denn so trat die Umgebung des kalten Au genpaars deutlicher hervor. Die Holzstufen waren zu sehen, die schmalen Gummileisten auf den Kanten ebenfalls, das gedrechselte Holzgeländer natürlich auch, ebenfalls die dunkle Fahne, die unter halb des Augenpaars wehte. Hatte der Spuk eine seiner Seelen aus seinem finsteren Totenreich entlassen? War es ein Schattenkiller? War es dieser Schatten, der die Sinclairs getötet hatte? Am Fuß der breiten Treppe hielt Suko an. Er mußte wieder hoch schauen und stellte fest, daß der Schatten mit dem Augenpaar in Verbindung stand. Bei gutem Willen hatte sich so etwas wie ein Kopf gebildet. Ein schwacher Umriß zwar, aber immerhin etwas Er kennbares. Suko gab dieser fremden Gestalt noch einige Sekunden, um sich auf eine andere Art und Weise zu melden, aber es tat sich dort nichts. Der Schatten blieb still, und auch in den Augen bewegte sich nichts. Kein Zucken, kein Flimmern, das seltsame Licht blieb so starr wie das einer Taschenlampe. Suko hob das rechte Bein. Er ging weiter. Genau in diesem Augenblick reagierte das Wesen. Der Inspektor hörte auch jetzt keinen Laut, aber er sah zu,wie sich die Augen in die Höhe drückten und auch der dunkle Schattenkörper wegwehte. Er schwebte ziemlich schnell der letzten Stufe entgegen, wehte auch darüber hinweg und war verschwunden. Aufgelöst oder abgetaucht in den Flur der ersten Etage. Suko konnte sich die Möglichkeiten aussuchen, aber er war ein Mensch, der auf Nummer Sicher ging.
Diesmal nahm er zwei Stufen auf einmal, als er die Treppe hinter sich ließ. Er wollte zwar so schnell wie möglich in den oberen Flur gelangen, aber er wurde auch vorsichtig, als er vor der obersten Stu fe stand. Der Flur war düster. Die Zimmertüren rechts und links waren alle verschlossen. Nur wenig Licht sickerte unter den Türen hervor und zauberte unregelmäßige Streifen in den Flur. Sukos Blick erreichte auch das Ende des Flurs. Er stand noch an der Treppe. Die Leere hinter ihm gefiel ihm auch nicht. So ging er einen kleinen Schritt vor, drehte sich um, aber unten in der Diele hatte sich nichts verändert. Suko war beruhigter und richtete sich auf eine Auseinanderset zung ein. Daß er mit einer geweihten Silberkugel gegen einen Schat tenkörper nichts ausrichten konnte, war ihm klar. Ob die Kugel ein Auge zerstört hätte, war auch noch fraglich, deshalb zog er seine Dämonenpeitsche und ließ sie einmal über den Boden kreisen. Aus der Öffnung rutschten die drei Riemen hervor. Aus der Haut des Dämons Nyrana waren sie geschaffen worden, und Suko hatte sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, immer auf die Kraft die ser Peitsche verlassen können. Der Gang vor ihm blieb leer. Kein Schatten zeigte sich. Kein Au genpaar schwebte über dem Boden. War er tatsächlich verschwunden? So richtig glauben konnte es Sukonicht. Deshalb wollte er metho disch vorgehen und die Zimmer der Reihe nach durchsuchen. Die erste Tür stand offen. Er trat sie weiter auf. Ein Bügelraum, in dem noch Wäsche stand und das hohe Bügelbrett aufgebockt war. Auf der Fensterbank stand ein altes Radio, aber einen Schatten sah er nicht, erst recht keine Totenaugen. Er zog sich wieder zurück und widmete sich der zweiten Tür, die
gegenüber lag. Sie war nur angelehnt gewesen. Auf Sukos Fußdruck hin schwang sie nach innen. Das durch ein Fenster dringende Licht machte den Raum so hell, daß Suko alles gut erkennen konnte. Ältere Möbel standen hier. Zwei Kommoden, ein Schrank, auch zwei Sessel, deren Polster verschlissen waren. Eine Liege sah Suko ebenfalls. Dieser Raum konnte auch als Gästezimmer benutzt werden. Kein Schatten, keine Augen! Er schüttelte den Kopf, aber an Aufgabe dachte er nicht. Außer dem war dieser Raum ziemlich vollgestellt und bot zahlreiche Ver stecke. Die Luft hier gefiel ihm nicht. Sie war zu warm. Es roch auch nach altem Stoff. Die Tapete an den Wänden zeigte ein Streifenmus ter. Die Decke wirkte wie ein viereckiger, blasser Himmel. Suko hörte das Kratzen. Nur ein winziges Geräusch, aber ausgerechnet in seinem Rücken, und das konnte ihm nicht gefallen. Er warf sich aus dem Stand heraus nach vorn. Es war schon ein ar tistischer Sprung, bei dem Suko auch ein Ziel anvisiert hatte. So flog er auf die Liege an der Wand zu, die schwer unter seinem Gewicht zu leiden hatte und kurz vor dem Zusammenbruch stand. Sofort drehte sich Suko wieder um. Er nutzte dabei noch den eige nen Schwung aus. Der Schatten war da. Zwei Augen schwebten wiederum als Totenlichter über dem schwammigen Körper. Aber etwas hatte sich verändert. Der Schatten war bewaffnet. Aus seinem Zentrum hatten sich zwei Arme abgespalten. Jedenfalls glaubte Suko, daß es Arme waren, denn der rechte von ihnen mußte einfach in eine Hand auslaufen,
und die hielt einen Gegenstand fest, der auch ein Messer sein konn te. Jedenfalls sah dieses helle Dreieck so aus. Oder war es eine Scherbe? Wie auch immer, ein Instrument, um damit zu töten. Plötzlich wußte Suko, wie die beiden Sinclairs ums Leben gekommen war. Eben durch diese Waffe, und Suko sollte auf dieselbe Weise sterben. Der Schatten war schnell, verflucht schnell. Es war auch kein Ge räusch zu hören, als er auf Suko zuglitt. Dabei wurde der Arm mit der Waffe in die Höhe gerissen – und raste nach unten. Suko lag nicht mehr da, wo er aufgeprallt war. Kurz vor dem Stoß und beinahe so schnell wie sein Gegner hatte er sich von der Liege katapultiert, war auf den Boden geschlagen und mit einem Sprung wieder in die Höhe gekommen. Er lief auf die Tür zu, die weit offenstand. Es sah aus wie eine Flucht, aber es war keine. Suko hatte nur den Schatten locken wollen, was ihm auch gelun gen war. Kurz vor dem Erreichen der Türschwelle wirbelte er her um und hatte noch in der Bewegung seine Dämonenpeitsche aus dem Gürtel gezerrt. Sie war schlagbereit und setzte bei seiner Ab wehrtat wirklich alles auf eine Karte. Er hoffte stark, daß die Macht der Peitsche den Schatten in mehre re Teile zerreißen würde. Treffer. Das Wesen war förmlich in den Schlag hineingeflogen, und die drei Riemen hatten auch das Messer passiert. Sie waren nicht mal dagegengeschrammt. Suko rechnete damit, daß sich sein Feind auflösen würde. Da hatte er sich geirrt. Das Gegenteil trat ein.
Zuerst zog sich das Wesen zurück. Es tanzte dabei wirklich wie ein Schatten, aber es löste sich nicht auf. Sukos Augen wurden groß und größer, als er sah, was mit dem Schatten passierte. Es trat eine Rückbildung ein. Aus dem Schatten wurde wieder das, was er einmal im normalen Leben gewesen war. Ein Körper …
* Das Rad der Zeit drehte sich weiter, und ich drehte mich mit. Aber ich spürte es abermals nicht. Ich war noch immer vollauf mit dem beschäftigt, was ich im ersten Teil meiner Reise in die Vergangenheit zu sehen bekommen hatte. Furchtbar. Nicht zufassen. Ichhatte mitansehen müssen, wie meine Eltern umgebracht worden waren. So etwas wollte mir nicht in den Kopf, ich war durcheinander. Angst, daß es tatsächlich passiert war und die Hoffnung, daß es nur eine Halluzination gewesen war, hiel ten sich bei mir die Waage. Das Bild war längst verschwunden. Kein Friedhof mehr. Kein Blut, keine Toten. Ich glitt durch den Nebel der Zeit, denn anders konnte ich es nicht ausdrücken. Ich war nicht mehr Herr meiner Kräfte, jemand anderer hatte die Kontrolle über mich bekommen, und es würde mir auch kaum gelingen, mich davon zu befreien. Wegfliegen. Alles anders werden lassen. Nie mehr zurückkom men. All das durchwehte meinen Kopf, aber ich wußte zugleich, daß ich selbst nichts daran ändern konnte. Hinzu kam die Furcht vor dem Unbekannten. Ebenfalls die Angst,
alles falsch gemacht zu haben. Ich hätte mich um andere Dinge kümmern können, nicht eben um die Bundeslade, deren Geheimnis bisher noch kein Mensch gelöst hatte. Warum ausgerechnet ich? Je länger ich unterwegs war, um so größer wurden die Zweifel an meiner eigenen Aufgabe. Es gab ein Ziel, auch ein greifbares, denn da dachte ich an die Stadt Aksum, in der die Lade in einer kleinen Kapelle versteckt worden war und bewacht wurde. Oder nicht mehr? Vielleicht war es den Killern, die auch Angares getötet hatten, gelungen, andere Wächter ebenfalls umzubringen. Es wäre sogar ein Motiv gewesen. Aber keines, um meine Eltern zu töten. Das war einfach sinnlos gewesen. So dachte ich, und ich würde auch nie anders denken. Der Gedanke an sie und ihren Tod ließ mich einfach nicht los. Ich fühltemich sogar auf eine gewisse Art und Weise mitschuldig. Gleichzeitig war auch eine körperliche Mattheit bei mir vorhan den. In einem derartigen Zustand hätte mich sogar ein Kleinkind be siegen können. Auf der anderen Seite war es wichtig, bei Kräften zu bleiben. Mir war durchaus bewußt, daß ich sie noch brauchen würde, um mein Leben zu verteidigen. Nichts lief in der Existenz eines Menschen glatt, wenn man sich in einer Lage befand wie ich. Es hatte immer wieder mit Kampf zu tun, mit gefährlichen Auseinandersetzungen, die ich bisher noch als Sie ger hatte verlassen können. Das Rad bewegte sich noch immer. Meine Augen standen offen. Ich wollte wieder sehen, aber ich trieb durch eine nebelhafte Ge gend, in der sich die einzelnen Fahnen zu Spiralen zusammendreh ten und sehr schnell neue und abwechselnde Figuren bildeten. Wie lange noch?
Wie lange drehte sich das Rad? Würde es irgendwann stoppen oder gestoppt werden? Wer konnte dafür sorgen? Vielleicht derjenige, der in Aibon zurückgeblieben war und es auch angeworfen hatte? Nein, der Rote Ryan war kein Helfer mehr. Ich befand mich im Netz einer anderen Macht, die den Namen Schicksal verdiente und mich auf ihren Weg gedrückt hatte. Auch das neue Schwert gab mir keine neue Kraft. Gut, es befand sich in meinem Besitz, aber ob ich mit ihm umgehen konnte, mußte sich noch erst herausstellen. Ein Gefühl für Zeit gab es bei mir schon lange nicht mehr. Ich trieb nur dahin und achtete wieder darauf, ob sich neue Bilder aus der Ebene der Vergangenheit lösten. Szenen, die ich möglicherweise kannte, da brauchte ich nur an Hectorde Valois zu denken und an Richard Löwenherz, zwei Perso nen, die ich auch einmal gewesen war. Aber es gab noch eine. Salomo! Ich war einmal Salomo gewesen. Das wußte ich, und wahrschein lich hatte ich auch deshalb nur das Schwert bekommen, so wie sich das Kreuz einmal im Besitz des Richard Löwenherz befunden hatte und auch in dem des Hector de Valois. Die graue Suppe um mich herum lichtete sich. Dünnere Schwaden bildeten ein weicheres Muster, das auch schon Risse aufwies, in oder hinter denen ich trotzdem nichts erkennen konnte. Plötzlich traf mich der Schlag. Es war ein Hieb aus dem Unsichtbaren heraus. Ich hörte mich vor Überraschung selbst schreien, fiel nach vorn und spürte im nächsten Augenblick den Widerstand unter Händen und Knien.
Harte Erde! Ich war benommen. In meinem Kopf hatte sich die Watte verteilt. Sie hinderte mich daran, etwas zu denken, und ich senkte das Ge sicht dem Boden entgegen, um dort etwas erkennen zu können. Heller Fels oder helle Steine. Staub lag in der Luft. Auf einmal wurde mir bewußt, wie warm es in meiner Umgebung war. Trotz dem bekam ich eine kalte Haut, denn die Wärme paßte nicht zu der Jahreszeit, in der ich die Reise angetreten hatte. Ich war woanders. Weiter südlich … In einer wüstenhaften Umgebung möglicherweise. Nahe der Wie ge der Menschheit, wie man es auch formulierte. Afrika, auch der Orient – eine andere Zeit? Ein Schauer schüttelte mich durch, als ich daran dachte. Etwas blinkte schräg vor mir. Die Schwertklinge. Dieses Blinken gab mir ein wenig Mut. Ich fühlte mich besser und durch die Bewaffnung auch nicht mehr so »nackt«. Dann stand ich auf. Mit langsamen Bewegungen quälte ich mich förmlich in die Höhe. Den Kopf hielt ich dabei eingezogen, weil ich den Eindruck hatte, in einer Höhle zu stehen, wobei durch irgend welche Risse und Spalten die warmen Sonnenstrahlen ihren Weg fanden. Auf der einen Seite tat es mir gut, mich wieder bewegen zu kön nen. Die Steifheit war auch recht schnell verschwunden, und ich konnte normal stehen, denn über meinem Kopf schützte mich keine Höhlendecke, es war einfach ein Schatten, der mich traf. Und er wurde von einer Felswand abgegeben. Hergeflogen war ich nicht. Das Rad der Zeit hatte für diese An kunft gesorgt. Wenn ich es jetzt wieder benutzte, mußte ich es selbst in Bewegung setzen.
Ich drehte mich um. Mein Blick fiel gegen die Felswand. Sonst war da nichts. Das Rad der Zeit war weg!
* Und damit verschwand auch mein erster vorsichtiger Optimismus. Ich stand auf der Stelle, wie vom berühmten Blitzschlag getroffen. Der hochgeschossene Adrenalinstoß war rasch wieder verschwun den. Das Blut zog sich aus meinem Gesicht zurück, und in den Kni en breitete sich eine gewisse Weichheit aus. Kein Rad der Zeit mehr. Es hattesich in seinem eigenen, mögli cherweise magischen Umfeld aufgelöst. Guter Rat war teuer. Und wenn ich tatsächlich an das Schicksal glaubte, dann war wieder ein Teilsoll erfüllt worden. Ich befand mich jetzt da, wo man mich hatte hinhaben wollen. In einer anderen Zeit, in einem anderen, einem südlichen Land. Okay, damit mußte ich mich abfinden, würde ich auch, denn so et was erlebte ich nicht zum erstenmal. Natürlich hatte ich die Bilder von der Ermordung meiner Eltern nicht vergessen, aber diese neue Situation verlangte es einfach, daß ich mich um mich selbst küm merte. Zunächst um die Umgebung. Viel sehen konnte ich nicht, weil dieser warme, von der Sonne durchglühte Felsen nicht nur Schatten gab. Er nahm mir auch einen Teil der Sicht. Aber er war nicht laut, und so konnte ich mich darauf konzentrieren, was an meine Ohren drang. Geräusche und Stimmen …
Nicht aus der Nähe. Weiter entfernt und möglicherweise auch tiefer liegend. Es brachte nichts, wenn ich hier noch länger stehenblieb. Ich wollte wissen, wie es weiterging, und ich setzte mich mit sehr langsamen Schritten in Bewegung. Das Schwert ließ ich zunächst einmal schräg im Hosengurt stecken, auch wenn mich die lange Klinge beim Ge hen etwas behinderte, aber sie dauernd in der Hand zu halten, wäre schlimmer gewesen. Bereits nach wenigen Schritten hatte ich herausgefunden, wo ich mich befand. Auf einem Hügel mit flacher, großer Kuppe. Über mir lag der Himmel in einem prächtigen Blau, nur hin und wieder un terbrochen von hellen Tupfenwolken, aber vor und unter mir breite te sich eine große Stadt aus. Eine Stadt mit Mauern, mit kastenförmigen Häusern, mit kleinen Gassen und auch Toren – und von einemmächtigen Gebäude re giert, das an Höhe und Pracht alles andere überragte. Das war kein Kino-Center wie in meiner Zeit, dachte ich sarkas tisch, das war ein Tempel, und zwar ein bestimmter. »Der Tempel des Salomo«, flüsterte ich. Wenn das stimmte, dann mußte die Stadt, auf die ich von hier oben schaute, Jerusalem sein. Ja, das alte Jerusalem, und dieser Gedanke ließ mich wirklich schau dern, auch vor Ehrfurcht. Welch eine Reise! Das alte Jerusalem. Ich schauderte noch immer, und ich dachte daran, daß ich diese Stadt kannte. Allerdings in meiner Zeit, und da lagen kleine Ewigkeiten dazwischen. In meiner Kehle war es ziemlich trocken, nicht nur, weil ich auch Durst verspürte. Ich mußte mich zunächst an den Gedanken gewöh nen, mich in dieser biblischen Zeit zu befinden, und ich würde auch mit ihr und den Umständen zurechtkommen müssen.
Jerusalem zur Zeit des großen Salomo! Ich lachte auf, als ich daran dachte, daß ich das Schwert dieses Kö nigs besaß. Wenn ich in die Stadt ging, konnte es durchaus passie ren, daß ich ihm gegenüberstand. Einer Person, als die ich schon ein mal gelebt hatte. Das mußte ich erst einmal verdauen. Es kam mir auch in den Sinn, daß ich der Lade noch nie so nahe gewesen war. Denn aus der Bibel war bekannt, daß die Bundeslade im Tempel des Salomo gestanden hatte. Nur ihretwegen sollte der Tempel gebaut worden sein. Wahnsinn. Aber auch Freude. Es war seltsam, aber ich freute mich plötzlich darauf, die Stadt betreten zu können. Nur würde ich in meiner Klei dung auffallen, und ich wußte auch nicht, wie ich mich so verständi gen sollte. In jener Zeit war Hebräisch gesprochen worden. Davon konnte ich nur ein paar Worte. Egal, ich mußte das Abenteuer wagen. Und so machte ich mich auf den Weg in das von König Salomo be herrschte Jerusalem …
* Es gibt manchmal glückliche Momente im Leben, und ein solcher Moment traf mich. Vor der Stadt hatten Händler ihre Waren ausgebreitet. Warum man sie nicht eingelassen hatte, wußte ich nicht. Aber ich sah, daß viel verkauft wurde, auch Kleidung, und ich entschloß mich, mir einen langen Umhang oder ein Gewand zu besorgen, in dem ich nicht so auffiel.
Für einen Markt herrschte recht wenige Betrieb. Es war auch nicht so laut. Keine Verkäufer, die ihre Waren schreiend anpriesen, nie mand, der Kunden herbeilockte, alles ging eher verhalten über die Bühne. Es konnte auch an der Sonne liegen, die so heiß vom Him mel schien. Zwar spendete die Stadtmauer Schatten, aber die Steine hatten sich aufgeheizt und gaben nun die Hitze wieder ab. Um in die Stadt zu gelangen, mußte ich durch ein Tor. Aber erst wollte ich die Kleidung haben, denn ich fiel bereits auf. Man be dachte mich mit forschenden Blicken, sprach mich aber nicht an. Die Leute schreckten vor dem Fremden zurück, vielleicht auch wegen meiner Größe, denn ich überragte die meisten Menschen hier bei weitem. Vor dem Stand eines alten Mannes blieb ich stehen. Er verkaufte nichtnur Kleidung, sondern auch Öle, die er in Tonkrügen aufbe wahrte. Der Geruch gefiel mir, und er schien den ständig in der Luft schwebenden Staub zu binden. Der Händler hatte seinen Platz gut gewählt, denn er stand bereits im Schatten der Stadtmauer. Mißtrauisch schaute er mich an. Seine Haare waren schlohweiß. Er trug eine Kopfbedeckung, die ihn vor der Sonne schützte. Das Ge sicht war sehr faltig, der Mund klein und verzogen. »Willst du etwas kaufen, Fremder?« »Das hatte ich vor.« Auf einmal wurde ich blaß. Ich war über mich selbst erschrocken und hielt zunächst mal die Luft an. Ich wunderte mich über mich selbst. Ich war in einer fremden Sprache angesprochen worden und hatte auch in dieser Sprache geantwortet, also sprach ich hebräisch. »Ich habe Öle und Stoffe. Feines Tuch, kühlendes Linnen. Was möchtest du kaufen?« »Ich brauche ein Gewand in meiner Größe.«
»Schau sie dir an.« Er ließ mich in Ruhe auswählen. Mir ging es auch wieder besser, denn ich hatte den Schreck überwunden. Ich brauchte nur etwas zum Überstreifen, damit ich nicht auffiel. Am liebsten hätte ich mich von meinen Klamotten getrennt, denn sie waren viel zu warm. Während ich suchte, beobachtete mich der Händler. Mir fiel auf, daß er seinen Blick länger als gewöhnlich auf dem Schwert ruhen ließ und immer dann schnell wegschaute, wenn sich unsere Blicke trafen. Die Auswahl an Gewändern war wirklich groß. Ich entschied mich für das längste. Es war beige und schlicht. Als ich es überstreifte, lächelte der Händler und meinte, daß ich damit zufrieden sein würde. So recht war ich davon nicht überzeugt. Eigentlich hätte mir das Gewand bis zu den Knöcheln reichen sollen, aber bei mir endete es bereits an den Knien, doch damit konnte ich leben. Kopfbedeckungen konnte ich hier nicht kaufen. Die gab es woan ders. Allerdings tauchte ein anderes Problem auf. Ich hatte kein Geld, um zu bezahlen. Wenn ich mich recht erinnerte, zahlte man zu dieser Zeit mit Piastern, doch herzaubern konnte ich sie nicht, so hob ich die Schultern und wollte erklären, daß ich im Moment nicht flüssig war. Der Händler ließ es nicht soweit kommen. Er hob einen Arm und streckte mir die Hand entgegen. »Ich weiß, daß du keine Mittel hast, um mich bezahlen zu können, deshalb schenke ich dir die Kleidung.« So etwas war ich nicht gewohnt und fragte erstaunt: »Warum tust du das?« »Weil du gekommen bist und das Schwert trägst.« Er mußte mein Erschrecken mitbekommen haben, denn er lachte plötzlich. »Keine Angst, ich werde dich nicht verraten. Wenn du
Geld hast, wirst du zurückkommen und deine Kleidung bezahlen. Ist das ein Wort?« »Ja, ja«, stotterte ich, »und darüber freue ich mich auch. Ich werde es nicht vergessen.« Dann sagte er etwas, das ich nicht begriff. »Bring nur dem König das Schwert zurück, das er schon vermißt hat. Er wird dich sicher lich belohnen.« »Ah, das Schwert.« »Wo hast du es gefunden?« Er verbeugte sich leicht. »Verzeih mir meine Neugierde.« »Nun, ahm – ich habe …« »Es ist nicht schlimm, wenn du es mir nicht sagen willst. Sicherlich kommst du aus einem fernen Land. Ich kann dich gut verstehen. Aber der König hat seine Waffe schon sehr vermißt. Wir alle hier wissen das.« »Ich werde sie ihm geben.« Himmel,war das ein Ding! Ich schnappte nach Luft, der Händler schaute mich dabei an und warte te ab. »Ich komme wirklich von weit her. Aus dem Norden«, erklär te ich. »Ich war auf dem Wasser und muß den König natürlich fin den. Ist Salomo in seinem Tempel?« »Ja, er ist nicht auf Reisen, Fremder. Obwohl eine gewisse Unruhe herrscht.« »Ach ja? Warum?« »Es geht um den Tempelschatz.« Er beugte sich über seine Theke hinweg. »Man hört, daß er weggeschafft wird. Es ist nicht gut, wenn er länger bei uns bleibt.« »Der Schatz.« »Du kennst ihn doch!« Bohrend schaute er mich an. Ich hatte blitzschnell nachgedacht. Es gab eigentlich nur einen
Schatz. »Das ist die Lade, nicht wahr?« »Genau«, flüsterte er. Jetzt war ich froh, daß ich die Informationen des alten Paters erhal ten hatte. »Will Azarius sie stehlen?« »Du weißt viel, Fremder.« »Ja, ich habe mich umgehört.« »Geh und tu deine Pflicht. Und möge der oberste Gott dir seinen Segen geben.« »Das hoffe ich.« Der alte Händler verbeugte sich zum Abschied und drehte sich von mir weg, da er sich um einen anderen Kunden kümmern muß te, einen kleinen Mann mit Halbglatze und fettem Gesicht. Ich zog mich zurück. Voll mit Gedanken. Dabei hatte ich das Ge fühl, wie auf Eiern zu laufen. Viel hatte ich nicht erfahren, aber die wenigen Informationen mußte ich trotzdem erst verdauen. Der König vermißt also sein Schwert, weil es ihm gestohlen wor den war. Innerlich mußte ich schon lachen, denn ich kannte ja den Dieb oder die Diebin. Donata hatte mir das Schwertgebracht, und im nachhinein würde sie noch für ein gutes Entree meinerseits suchen. Sicherlich würde der König begeistert sein, wenn er mich und das Schwert sah, das ich ihm zurückbrachte. Hinzu kam, daß ich einmal König Salomo gewesen war. Ob ich darüber mit im sprechen sollte? Nein, er würde es kaum glauben, obwohl man ihm den Beinamen der Weise gegeben hatte. Ich war wieder aus dem Schatten herausgetreten und spürte die warmen Sonnenstrahlen im Nacken. Zwar fiel ich jetzt weniger auf, aber die Menschen, die, ebenso wie ich, auf das nahe Stadttor zu
drängten, schauten mich schon an, weil ich wegen meiner Größe stark auffiel. Ich schloß mich der allgemeinen Gangart an. Eilig hatte es hier wohl keiner. Auch die Wesen, die mit Waren beladene Wagen zo gen, machten einen müden Eindruck und trotteten nur dahin. An den Wirrwarr der Stimmen hatte ich mich gewöhnt. Ich geriet in den Strom der Menschen hinein, die auf das Tor zudrängten. In der Nähe hatten sich keine Händler niedergelassen, wahrscheinlich we gen der vier Soldaten, die das Tor bewachten. Sie mußten ihren Dienst schon lange schieben. Außerdem standen sie in der prallen Sonne. Bewaffnet waren sie mit Lanzen. Auf den Köpfen trugen sie so etwas wie Helme, und ihre Oberkörper waren durch wulstige Panzer aus Fell oder Leder geschützt. Den Ankommenden warfen sie schläfrige Blicke zu. Hin und wie der pickten sie den einen oder anderen heraus, sprachen mit ihm oder untersuchten ihn auch. Ich schwamm im Strom mit, war umgeben von schwitzenden und fremd riechenden Leibern. Ich kam mir lächerlich vor, als ich mich kleiner machte, weil ich keinen der Menschen überragen wollte. Ich hörte Flüche und Verwünschungen, die den Wächtern galten, wenn sie ihre Lanzen wieder querstellten, aber der Pulk, in dem ich mich befand, wurde nicht kontrolliert. So konnte ich mich zusam men mit den anderen nach Jerusalem hineinschieben und atmete erst einmal auf, als ich mich im Schatten der inneren Stadtmauer ein wenig absonderte und Luft holte. Das war geschafft! Jerusalem war auch schon in biblischer Zeit eine große Stadt gewe sen. Sie hatte im Lauf der Jahrhunderte und auch der Zeitenwende so einiges mitgemacht, war auch abgefackelt worden, doch hier be fand ich mich im alten, ursprünglichen Jerusalem. Eine für die da
maligen Verhältnisse riesigen Stadt. Ich schritt über Plätze und durch Gassen, unter Torbögen hinweg und über Straßen. Meinem Ziel kam ich näher. Der Wind hatte seinen Weg auch über die Mauern gefunden. Er blies mir warm, schon schwül entgegen und brachte Gerüche mit, die mir nicht gefallen konnten. Es roch nach Abwässern, nach Fäka lien. Einen Brunnen sah ich nicht, aber die Menschen mußten irgendwo Wasser herbekommen. Wahrscheinlich mehr im Zentrum oder in den Höfen zwischen den Häusern. Der Tempel des Salomo war nicht zu übersehen. Fast von jedem Fleck der Stadt aus überragte das mächtige Bauwerk alle anderen Häuser. Ich dachte daran, daß ich in den Tempel hinein mußte und fragte mich, ob das so einfach sein würde. Zunächst einmal suchte ich mir einen Weg, um von der Stadtmau er wegzukommen. Ich hätte dem Strom der Menschen folgen können, aber ich ent schied mich für eine staubige Gasse. Große »Fenster« gab es hier nicht, eher Luken, damit es im Innern der Häuser schattig blieb. Ich ging langsam, schaute mich immer wieder um, wurde mal von einem struppigen Straßenkater verfolgt und konnte auch in die Häuser hineinschauen, denn viele Türen standen offen. Manche Menschen erschraken, wenn sie mich sahen. Einige zogen sich sogar zurück oder flüchteten. Ich lechzte nach einem Schluck Wasser. Das aber hätte ich mir herzaubern müssen. Quergassen tauchten auf. Männer saßen dort im Schatten der Häu ser und wirkten wie stumm. Ich hörte das Getrappel von Pferden
oder Eseln. Manchmal drangen auch laute Stimmen an meine Oh ren. Das alles spielte sich weiter entfernt ab, wo auch mehr Leben herrschte. Ich hatte allmählich den Eindruck, mich, in dem Wirrwarr der Gassen verirrt zu haben. Irgendwo sahen sie auch alle gleich aus. Als ich wieder an einer dieser schmalen Kreuzungen stehenblieb, mir den Schweiß aus dem Gesicht wischte und überlegte, wie es weitergehen sollte, da schaute ich nach links und entdeckte, das am Ende dieser Gasse ein Torbogen zwei Häuser miteinander verband. Ich nahm dies als gutes Omen hin und bog nach links ab. Ich hatte keine Lust mehr, stundenlang durch Jerusalem zu wandern, ich wollte in den Tempel. Schreie schreckten mich aus meiner Lethargie. Es waren die Schreie einer Frau, und ich hatte sie in meiner unmittelbaren Nähe gehört. Sofort blieb ich stehen, drehte den Kopf nach links,wo die Hauswand weißbeige in die Höhe wuchs und ich auch die offene Tür entdeckte. Aus ihr waren die Schreie gedrungen. Weitergehen oder nicht? Ging ich weiter, würde mich mein schlechtes Gewissen quälen. Versuchte ich zu helfen, konnte ich in arge Schwierigkeiten geraten. Ich entschloß mich für die zweite Möglichkeit, denn die Schreie der Frau hatten nicht aufgehört. Bis zur Tür war es nicht weit. Kaum hatte ich das Haus betreten, da verstummten die Schreie. Ich trat von der Öffnung weg nach rechts und konnte zunächst nichts erkennen. Im Gegensatz zu drau ßen war es im Haus ziemlich finster. Allmählich bekam ich eine etwas bessere Sicht. Die Schreie waren auch nicht mehr zu hören, dafür andere Laute. Ein hilfloses Wim mern, das Flehen um Gnade und das rauhe Lachen von mindestens zwei Männerstimmen.
Ich trat tiefer in das Halbdunkel hinein. Diesmal konnte ich schnel ler gehen und wich auch einigen Möbelstücken aus. Einer niedrigen Bank, mehreren Sitzkissen, und ich sah links von mir die hellen Fle cken auf dem Boden. Das waren die Nachtlager der hier lebenden Menschen. Die Frau entdeckte ich nicht. Sie und die Männer mußten sich hinter dem Vorhang aufhalten, den ich erreichte, als ich die Schlafstätten passiert hatte. Ich zog ihn zur Seite. Der erste Blick reichte bereits, um mich erkennen zu lassen, daß ich genau richtig gekommen war. Zwei Männer hatten eine junge Frau überfallen, die sich in ihren Griffen wand. Einer hielt sie fest, der andere tastete ihren Körper ab und lachte dabei. »Du bist gut für Azarius. Du wirst ihn auf seiner Reise begleiten können …« Die Frau schüttelte den Kopf. Sprechen konnte sie nicht, weil ihr der andere Mann die Kehle zudrückte. Beide waren Soldaten. Zu mindest machten sie auf mich den Anschein, denn ähnlich gekleide te Gestalten hatte ich schon am Tor gesehen. Aber ich sah auch das Blut. Es strömte aus der Wunde eines Mannes, der am Boden lag und durch einen Lanzenhieb oder einen Stich verletzt worden war. Tot war der Mann nicht, er jammerte und lag in der Nähe eines mit wohlriechendem Wasser gefüllten Beckens, dem Vorläufer eines Pools. Die Bewohner dieses Hauses schienen wohlhabende Menschen zu sein, aber das hatte die Soldaten nicht davor abgeschreckt, sich der jungen Frau anzunehmen. Ich zog den Vorhang auf. Licht fiel durch die Öffnung in der Decke oder im Dach des Hau ses. Es bildete in der Mitte des Raumes und dort, wo sich das Becken
befand, eine viereckige, helle Insel. Auf der Oberfläche des duften den, mit Blütenblättern veredelten Wassers spielten die Reflexe. Mich hatte noch niemand bemerkt. Der Soldat, der die junge Frau von hinten umklammert hielt, hielt seinen Kopf gesenkt und flüsterte ihr etwas zu, wobei noch Speichel aus seinem Mund sprühte. Der andere drehte mir den Rücken zu. Er war dabei, ihr die Klei dung vom Körper zu zerren, hatte aber seine Schwierigkeiten, weil sich die Frau wehrte und sich immer wieder wegdrehen konnte. Das war dem Zerrer zuviel. Er holte aus, um ihr ins Gesicht zu schlagen. Sein Nacken lag frei, aber ich schlug nicht dorthin, sondern packte seine rechte Hand, bevor er noch einmal zuschlagen konnte. Plötzlich stand er starr. Dann schrie er auf, denn ich hatte sein Ge lenk gedreht. Wenn er sich nicht den Arm brechen wollte, mußte er der Bewegung folgen, was er auch tat. Dann jammerte er. Ich ließ ihn los. Der Soldat taumelte zurück. In seinem sonnenverbrannten Gesicht sah ich einen irren Ausdruck. Sicherlich war er auch überrascht, und diesen Zustand nutzte ich aus. Mit einem gezielten Handkantenschlag legte ich ihn schlafen. Er fiel auf den Steinboden und rührte sich nicht mehr. Der zweite Kerl hatte die Frau losgelassen. Ich hatte sehr schnell gehandelt, aber nicht schnell genug. Während die junge Frau auf den verletzten Mann zulief, war es dem Soldaten gelungen, seine Lanze zu greifen. Er fuhr herum. Er schrie dabei, und für einen Moment bewegte sich die Waffe nicht. Dann rannte der Kerl auf mich zu.
Er wollte mich aufspießen. Ich hörte die Frau im Hintergrund schreien, blieb eiskalt und wartete genau den richtigen Moment ab. Der Soldat hatte mit einer Reaktion von meiner Seite her nicht mehr gerechnet. Als ich zur Seite huschte, rannte er an mir vorbei. Auch die Lanzenspitze stieß ins Leere, aber der Mann selbst verlor das Gleichgewicht, denn ich hatte ihm blitzschnell ein Bein gestellt. Der Soldat stolperte und fiel auf das Gesicht. Er schrie, als er über den glatten Boden rutschte, aber er landete nicht im Pool. Kurz da vor kam er zur Ruhe. Da war ich schon bei ihm. Er richtete sich auf, wollte die Lanze dabei als Stütze benutzen, nur hatte ich etwas dagegen. Der Soldat stand noch nicht richtig, als ich ihm die Lanze entriß. Er rechnete wohl damit, daßich ihm die Spitze in die Brust rammte, aber ich war kein Killer. Der erste Schlag erwischte ihn am Kopf. Genau an der Stirn. Der Mann taumelte und bekam den glasigen Blick. Der zweite Hieb traf ihn noch wuchtiger. Da verschwand der Blick, und seine Augen wurden leer. Er faltete sich förmlich zusammen. Dicht vor dem Ba debecken blieb er verkrümmt liegen. Ich war froh, daß er nicht hin eingefallen war und das saubere Wasser nicht verschmutzte. Beide Lanzen sammelte ich ein und legte sie weit weg. Vor den Soldaten hatten wir erst einmal Ruhe. Ich drehte mich wieder um. Die junge Frau saß noch immer bei dem Verletzten. Sie hatte seine Schulterwunde mit Tüchern umwickelt und den Mann auf zwei große Kissen gebettet. Ich ging näher. Mein Gesicht zeigte ein Lächeln, und ich sah, wie die Frau zu mir hochschaute. Der Mann lag neben ihr und stöhnte leicht. Er bekam so gut wie nichts von unserer Begegnung mit.
Vor ihr blieb ich stehen und streckte ihr meine Hand entgegen. Die Frau zögerte einen Moment, dann erhob sie sich, dachte nicht mehr an ihre zerrissene Kleidung und schrie leise auf, als die Stoffetzen nach unten sanken. Mit blankem Busen stand sie vor mir. »Bitte, nicht!« flehte sie. »Schon gut«, sagte ich. Die Frau raffte ihre Kleiderfetzen wieder zusammen und verkno tete sie vor der Brust. Erst dann ging es ihr besser. Ich hatte sie beobachten können. Ihr Haar war sehr dunkel. Schwarz wie Pech, und sie trug es lang bis über die Schultern. In dem hellen, feingeschnittenen Gesicht fielen mir die großen Augen auf, die mich dankbar aber auch scheu anschauten. Die Pupillen wa ren nicht ganz so schwarz wie dasHaar. Ihre Farbe ging mehr ins Bräunliche. Die Frau war Anfang Zwanzig, zudem sehr hübsch, eine orientalische Schönheit, die sicherlich vielen Männern gefiel. »Sag mir deinen Namen, Fremder«, bat sie mich. »Ich heiße John.« Sie schüttelte den Kopf. »Ein fremder Name. So etwas kennen wir hier nicht.« »Ich bin auch nicht aus diesem Land.« Wieder wunderte ich mich, wie glatt mir die fremde Sprache über die Lippen kam. »Stammst du vom großen Fluß?« »Nein, sicherlich nicht.« Es konnte sein, daß sie den Euphrat oder den Tigris meinte, vielleicht auch den Nil, aber bestimmt nicht die Themse. »Ich komme aus dem Norden. Aus einem Land, das sehr weit entfernt liegt.« »Kenne ich es?« »Nein.« »Aber du bist ein Held.«
Das Kompliment war mir peinlich. »Ich habe Glück gehabt. Reden wir nicht mehr davon. Nenn mir lieber deinen Namen.« »Ich heiße Esther.« »Ein schöner Name.« »Ja?« Sie lächelte etwas verlegen. »Findest du?« »Bestimmt.« »Mein Vater wollte mich so nennen.« Ich deutete auf den Verletzten. »Ist das dein Vater?« »Ja.« Sie wurde traurig. »Er hat versucht, mich zu beschützen, aber die Soldaten waren so grausam. Wärst du nicht gekommen«, sie schüttelte sich, »es wäre sehr schlimm für mich geworden.« »Ja, das glaube ich auch.« »Deshalb bin ich dir so dankbar.« Sie trat auf mich zu und legte mir ihre Hände flach gegen die Brust. »Was immer du von mir möchtest, ich werde versuchen, auch dir einen Wunsch zu erfüllen und dir meine Dankbarkeit beweisen.« Sie hatte den Kopf zurückge legt und schaute mir in die Augen. Sicher, ich konnte mir vorstellen, welche Art von Dankbarkeit sie meinte. Als ich über ihr Haar streichelte, da schmiegte sie sich an mich. »Du bist eine sehr schöne Frau«, lobte ich sie. »Ich finde dich wunderbar, ich würde auch gern mit dir ein Bad nehmen, aber des halb bin ich nicht gekommen. Aber ich möchte schon, daß du mir dankbar bist.« Ohne mich loszulassen, flüsterte sie: »Sag mir bitte, was ich für dich tun soll.« »Du stammst aus dieser Stadt, Esther?« »Ja, hier bin ich geboren.« »Dann tu mir bitte einen Gefallen – wenn möglich. Führe mich zum Tempel des König Salomo …«
Esther erstarrte in meinen Armen!
* Auch Sekunden später rührte sie sich noch nicht und hielt sogar den Atem an. Ich befürchtete schon, etwas falsch gemacht zu haben, denn sie klammerte sich noch an mich. »Was ist los?« fragte ich sie. »Habe ich etwas Falsches gesagt?« Als Antwort vernahm ich zunächst nur ihr lautes Einatmen. »Nein«, sagte sie dann. »Du hast nichts Falsches gesagt. Viele wollen zum Tempel und zu den Heiligen Stätten, aber nur wenige Auser wählte gelangen dort auch hin.« »Dann gehöre ich dazu.« »Es ist so schwierig«, seufzte Esther. Sie ließ mich los und trat einen Schritt zurück. Aus einer gewissen Distanzschauten wir uns an. »Ja, es ist so schwer.« »Warum?« »Weil du fremd bist«, flüsterte sie. Ihre Augen waren dabei noch größer geworden. »Ja, du bist fremd. Und Fremde dürfen den Tem pel nicht betreten.« »Sagt das König Salomo?« »Auch. Aber es gibt Menschen, die es überwachen. Hohepriester, Soldaten.« »Wie die beiden hier?« »Ja.« »Was haben sie wirklich von dir gewollt, Esther?« Sie konnte meinem Blick nicht mehr standhalten, wahrscheinlich weil sie sich schämte, denn sie hob die Schultern und senkte gleich
zeitig den Kopf. »Sag es. Du kannst mir vertrauen.« »Das weiß ich ja«, gab sie leise zu. »Aber es ist trotzdem so schrecklich.« Ihre Hände verkrampften sich im Stoff des Kleides. »Ich bin ausgesucht worden.« Die Finger der rechten Hand legte ich unter Esthers Kinn und hob den Kopf an. »Du brauchst dich nicht zu schämen. Ich kann mir denken, was man mit dir vorhatte.« »Nein, nicht die beiden, John.« Sie hatte meinen kurzen Namen langsam ausgesprochen, um sich zunächst an das Fremde zu ge wöhnen. »Es ist nicht so.« »Wie dann?« »Die beiden sind vom Sohn des Hohenpriesters geschickt wor den.« »Wollte er dich haben?« »Ja. Er hat um mich geworben, aber ich mag ihn nicht. Er ist so finster, er ist kein guter Mensch, aber er hat Macht, denn sein Vater ist der Hohepriester.« »Wie heißt der Sohn?« »Du wirst ihn nicht kennen«, flüsterte Esther. »Sag mir trotzdem den Namen.« »Er heißt Azarius.« Plötzlich stand ich da wie angewurzelt. Damit hatte ich nicht ge rechnet. Ausgerechnet Azarius, dem nachgesagt wurde, daß er die Bundeslade außer Landes geschafft hatte. Einer der gefährlichen Männer in dieser Zeit. Ich hätte nicht damit gerechnet, daß ich indi rekt so schnell über ihn stolpern würde. Esther hatte einen veränderten Zustand bemerkt. Sie schaute mich kopfschüttelnd an. »Was ist mit dir geschehen, John?«
»Ich habe mich über den Namen gewundert.« »Das sah ich. Du hast ausgesehen, als würdest du ihn schon ken nen. Stimmt das?« Ich wiegte den Kopf. »Nein, ich kenne ihn nicht. Ich habe noch nie mit ihm gesprochen. Aber ich habe von ihm gehört, und es würde mir auch nichts ausmachen, ihn kennenzulernen.« Der Wunsch hatte Esther nicht gefallen. Sie trat zurück und preßte eine Hand gegen ihren Mund. Ich sah nur die großen Augen, in de nen die Furcht schimmerte. Als ihr Mund frei war, konnte sie wie der reden. »Wünsche dir das nicht, John. Wünsche dir keine Begeg nung mit dem Finsteren.« »Ja, das glaube ich dir. Es muß auch nicht sein, wenn ich ehrlich sein soll. Ich bin auch nicht seinetwegen in die Stadt gekommen. Ich hatte einen anderen Grund.« »Du wolltest in den Tempel, nicht?« »Ja, das war mein Wunsch.« »Aber Fremde dürfen nicht hinein.« »Ich will sogar noch mehr.« »Was denn?« »Ich möchte bis zum Allerheiligsten vordringen und dort die Lade sehen.« Esther wußte nicht mehr, was sie sagen oder wie sie reagieren soll te. Sie war völlig von der Rolle. Einen derartigen Wunsch hatte wohl noch niemand an sie herangetragen. Sie bedeckte ihr Gesicht und hielt sich dieOhren zu, aber ich dachte nicht daran, darüber zu schweigen. So wie Esther reagierte, schien sie schon mehr zu wissen. Ich gab ihr Zeit, bis sie sich wieder gefangen hatte und wir normal miteinander reden konnten. Denn sie war und blieb sehr blaß und warf ihrem Vater einen hilfesuchenden Blick zu, der aber hatte von
unserer Unterhaltung nichts mitbekommen. »Nein, das geht nicht«, sagte sie. »Nur Auserwählte dürfen in das Allerheiligste.« »Wie Salomo.« »Ja, wie der große König.« »Ich muß auch zu ihm.« Diesmal schloß Esther die Augen. Es war einfach zuviel für sie, was sie da hörte. Sie kam nicht mehr zurecht und fragte, wobei sie die Augen noch immer geschlossen hielt: »Du willst den König spre chen?« »Das hatte ich vor.« »Nein, das geht nicht. Der König ist etwas Besonderes. Er läßt sich nicht so einfach sprechen. Du wirst dich – nein, das geht auch nicht. Er ist so weit entrückt. Es gibt Stunden, wo er mit dem Volk redet, aber er hat …« »Etwas verloren«, sagte ich. »Vielleicht wurde es ihm auch gestoh len, wer weiß.« Esther war durcheinander. »Wovon hast du gesprochen? Was weißt du über Salomo?« »Viel zu wenig«, gab ich lächelnd zu. »Aber ich weiß, daß er etwas vermißt.« Esther hob die Schultern. Ich wollte es ihr zeigen. Mein Gewand war weit genug, um es zur Seite zu schlagen und leicht anheben zu können. Das tat ich jetzt, und Esther schaute starr zu. Diesmal hatte ich das Gefühl, als woll ten ihre Augen aus denHöhlen springen. Sie stand zitternd vor mir, auch der Mund war nicht geschlossen, und über ihre Haut hinweg mußte einfach ein kalter Schauer rinnen. »Du kennst das Schwert?«
Sie nickte nur. Ich ließ den Stoffteil wieder fallen. »Es ist das Schwert des Königs, Esther. Vielleicht hast du schon gehört, daß es ihm gestohlen wurde. Ich bin gekommen, um es ihm wieder zurückzubringen. Dabei sollst du mir helfen.« Sie drehte sich weg. Mit schnellen Schritten lief sie auf die Wand zu, preßte ihren Oberkörper und auch die Stirn dagegen, und ich sah, wie ihr Körper zuckte. Wahrscheinlich hatte ich von ihr wirk lich zuviel verlangt. Ich wollte sie in Ruhe lassen und kümmerte mich um die beiden bewußtlosen Soldaten. Der Reihe nach schaffte ich sie aus dem Haus und legte sie in den Staub der Gasse. Die Lanzen gab ich ihnen nicht zurück. Es war mir auch egal, ob man mich dabei beobachtete. Ich wollte reinen Tisch machen. Als ich wieder zu Esther und ihrem verletzten Vater zurückgekehrt war, stand die junge Frau da mit hängenden Armen und starrte ins Leere.Ich trat zu ihr und legte ihr meine Hän de auf die Schultern. »Verstehe mich bitte nicht falsch, Esther, ich möchte dich auf keinen Fall zwingen, mich zu begleiten. Ich wußte auch nicht, daß es so schwer ist, in den Tempel zu gelangen. Wenn du nicht möchtest, dann finde ich den Weg auch allein.« »Nein, das brauchst du nicht. Du hast das Schwert und möchtest es dem König zurückgeben.« »Ja, ihm persönlich.« »Vielleicht wird er dich empfangen, aber du kannst nicht einfach zu ihm hingehen. Außerdem willst du noch das andere sehen.« »Ja, die Bundeslade.« »Was ist das?« Mir fiel ein, daß sie den Begriff nicht kannte, deshalb sagte ich: »Das Allerheiligste.«
Diesmal erschrak Esther nicht. Sie hatte sich mit meinen Wün schen abgefunden. Aber sie stellte mir eine ungewöhnliche Frage. »Hast du denn keine Angst davor?« »Warum sollte ich?« »Aber dieses Heiligtum ist gefährlich. Es ist nicht nur gut, das wis sen wir.« »Kannst du mir das erklären?« »Ja und nein. Ich habe es nur gehört, aber nie selbst gesehen. Sie kann töten. Sie ist Beschützer und Töter. Sie ist eine Waffe, und sie hat dem Volk so manches Mal zum Sieg verholfen. Sie hat beim Durchzug durch den Jordan geholfen und bei der Eroberung Jeri chos, und sie wurde von den israelischen Stämmen mitgenommen, als die, Stadt Gibea vernichtet wurde. Sie hat eine Kraft wie sonst nichts auf der Welt, auch als sie von den Philistern geraubt wurde. Sie stellten sie in ihren Dagon-Tempel in der Stadt Asdod auf.« »Was geschah da?« Esther nagte kurz an ihrer Lippe. »Man erzählt sich, daß der Götze im Tempel umkippte. Daß sein Kopf und seine Hände abgetrennt wurden und vor dem Allerheiligsten der Israeliten lagen. Dann star ben viele Menschen in der Stadt an rätselhaften Krankheiten, und so wurde das Allerheiligste wieder fortgebracht.« »Wohin?« »Nach Ekron«, flüsterte sie. »Was geschah dort?« »Es ging so weiter. Die Menschen dort litten unter der Angst und dem Schrecken, den die Lade verbreitete. Sie wollten sie nicht ha ben, diese Lade, wie du sie genannt hast, John. Man stellte sie auf einen Wagen, der vonzwei Rindern gezogen wurde. Dann ließ man die Tiere laufen. Erst in der Stadt Beth-Schemesch kamen die Tiere wieder zur Ruhe. Dort wurde das Allerheiligste auf einen Stein ge
stellt, aber Pest und Tod gingen auch weiterhin um. Sie hat dann Unterschlupf im Haus eines Mannes gefunden, den ich nicht kenne, und sie geriet auch in Vergessenheit.« »Aber jetzt ist sie wieder da.« »Ja, sie steht im Tempel.« »Wer holte sie?« »Der Vater unseres Königs – David. Er hat sich wieder an das alte Heiligtum erinnert und sie nach Jerusalem schaffen lassen. Ein ge waltiges Heer ist aufgebrochen, um die Lade zu holen, und hier steht sie heute noch.« »David hat sie verehrt?« »Ja, und er hat sie immer wieder gesegnet und sie sogar des öfte ren umtanzt.« »Hast du sie schon einmal gesehen, Esther?« »Nein!« flüsterte sie und erschrak dabei. »Nur Auserwählte dürfen an das Heiligtum heran, seit es im Tempel steht.« »Den aber nicht David erbaut hat.« »Nein, das hat unser König getan. Und es hat sieben Jahre gedau ert, bis er fertig war. Dann wurde sie in den Tempel hineingeführt, aber es floß kein Blut mehr. So war die Lade für den König be stimmt, und sie muß wunderbar sein.« »Aber sie ist geschlossen«, sagte ich. »Und niemand kennt ihren Inhalt.« »Ich nicht.« »Der König denn?« »Ich habe ihn nicht gefragt«, sagte Esther. »Vielleicht kann man sie gar nicht öffnen. Man will nicht, daß die Menschen sehen, ob tatsächlich die Gesetzestafeln dort liegen. Das denke ich mir.«
Esther schaute mich mit ihrengroßen, dunklen Augen an. »Und du möchtest herausfinden, was sich darin befindet. Du willst alles er fahren, nicht wahr?« »Ja.« Sie schaute auf ihre Füße. Ich wußte, daß sie über die nahe Zu kunft nachdachte, und ich ließ ihr Zeit. Schließlich hob sie den Kopf wieder an und auch die Schultern. »Ich habe mich entschlossen, John. Ich werde dich zum Tempel führen, auch wenn es für mich ge fährlich werden sollte.« »Warum sollte es denn gefährlich werden für dich?« »Azarius will mich haben.« »Du kannst ihm aus dem Weg gehen.« »Nein, er ist mächtig. Er ist der Sohn eines Hohenpriesters, der zu den Vertrauten des Königs zählt. Der König ist nie allein. Du wirst viele Hindernisse überwinden müssen, aber wenn du ihm das Schwert bringst, kannst du es schaffen.« »Darauf baue ich.« Sie lächelte mir zu, holte tief Luft und sagte leise: »Warte hier auf mich, ich werde mich anders anziehen müssen.« »Gut.« Esther verschwand. Was ich in der letzten Zeit alles erfahren hatte, war wirklich phänomenal. Besser hätte es nicht laufen können für mich, denn eine Einheimische als Führerin zu haben, war wunder bar. Ich ging zu dem Verletzten. Als er mich in seiner Nähe hörte, drehte er mir den Kopf zu. Seine Augen standen offen, in seinem Gesicht zuckte es. Ich ließ mich neben ihm nieder. Beide schauten wir uns an. Der Schulterverband war rot vom Blut. Als ich darauf deutete, da sprach
mich der Mann an. »Nein, laß es. Die Wunde wird heilen, das weiß ich.« »Aber ein Arzt …« »Es sind die Öle, mein Freund«, sagte er. »Die wunderbaren Öle, die meine Tochter genommen hat.« »Ja, das war gut.« Ich sah seinen Blick prüfend auf mich gerichtet. »Ich habe alles ge hört, was zwischen euch beiden gesprochen wurde, Fremder. Ich weiß, daß du ein guter Mensch bist, aber es gibt nicht nur gute Men schen. Hüte dich vor den finsteren.« »Vor Azarius?« »Ja. Er ist böse …« »Ich weiß es, aber ich muß den König sehen, weil ich sein Schwert besitze.« »Bring es ihm zurück, Mann aus dem Norden, und er wird dir ewig dankbar sein.« »Das denke ich auch.« Leichte Tritte sorgten dafür, daß ich mich wieder aufrichtete. Esther war zurückgekehrt. Sie trug jetzt ein graues Gewand mit ei ner schmalen Kapuze, die sie schon über den Kopf gestreift hatte. Sie hatte sich unscheinbarer hergerichtet und fiel nicht so auf. »Können wir jetzt gehen?« fragte sie. »Ja. – Ich war noch kurz bei deinem Vater.« »Er wird wieder gesund werden.« »Das hat er auch gesagt.« »Möge Jahwe euch euren Segen erteilen«, rief uns der Mann noch nach, dann hatten wir den Raum verlassen. Ich war aufgeregt wie selten, denn ich wußte, daß ich an diesem Tag noch König Salomo gegenüberstehen würde …
* Die Stadt, die Menschen, der Tempel! Irgendwo bildeten sie eine Einheit,denn um das mächtige Bau werk herum herrschte ein wuseliger Betrieb. Menschen hielten sich dort auf. Es gab auch hier einen Markt. Es wurde gehandelt, ge kauft, gegessen, getrunken und geredet. In meiner Zeit hätte man diesen Ort als ein Kommunikationszen trum bezeichnet, und das stimmte auch. Denn hier wurden Nach richten ausgetauscht, hier erschienen die Reisenden aus fernen Län dern, um ihre Eindrücke preiszugeben, wobei sie Neuigkeiten los wurden und auch welche erfahren wollten. Esther und ich waren im Schatten eines schmalen Torbogens ste hengeblieben und ließen das Bild auf uns wirken. Ich bekam mit, daß Esther mich von der Seite her anschaute, aber noch nichts sagte und ihre Neugierde im Zaum hielt. Mein Blick galt dem mächtigen Tempel. Ein großartiges Bauwerk mit dicken Mauern und Säulen. Es gab verschiedene Eingänge und an den Seiten breite überdachte Laubengänge. Im Licht der Sonne hatte er einen goldenen Glanz bekommen, so daß sein Dach aussah, als wäre es tatsächlich mit dieser Farbe bemalt worden. Die Ausmaße des Tempels kannte ich nicht genau, aber er war sehr groß. Und es gab auch ein großes Eingangstor, das in das Zen trum der Macht führte. Nichts anderes war der Tempel. Ein Zentrum der Macht, denn Sa lomo hatte es verstanden, die Stämme Israels zu vereinen, und so herrschte er von hier aus über ein gewaltiges Reich. Ihm so nahe zu sein, macht mich schon nervös und ließ mich leicht
zittern. Hinzu kam, daß ich eine Zeitreise hinter mich gebracht hat te, die mich mehr als zweitausend Jahre zurückgeführt hatte. Das war schon unglaublich, aber daran wollte ich jetzt nicht denken. Selbst der Tod meiner Elternwar in den Hintergrund getreten, und damit auch meine furchtbaren Qualen. »Darf ich dich fragen, was du denkst, John?« »Ich weiß es selbst nicht, Esther. Ich bin schon beeindruckt, hier stehen zu dürfen.« »Das stimmt. Selbst ich denke noch so.« »Wie komme ich hinein?« »Du kannst zum großen Tor gehen.« »Und dann?« »Werden dich die Wächter aufhalten.« »Das hört sich nicht gut an. Was soll ich ihnen sagen?« »Versuche es mit beten.« »Bitte?« Esther nickte. »Ja, sag ihnen, daß du beten möchtest. Sie könnten dann ein Einsehen haben. Oder sage ihnen, daß du von weit her kommst und eine Nachricht für den König hast.« »Ich könnte ihnen das Schwert zeigen.« »Nein, lieber nicht.« »Wie du meinst, Esther. Wenn ich im Tempel bin, wie komme ich zum König selbst?« »Nicht leicht. Du wirst erst zu einem Hohepriester gebracht wer den. Ihn müßt du auch überzeugen.« »Dann bin ich also auf seine Gnade angewiesen.« »Das ist leider so.« Ich hob die Schultern. »Gut, das ist nicht weiter schlimm. Bin ich
erst so weit gekommen, wird es für mich noch einen anderen Weg geben.« Ich schaute auf die kleinere Esther nieder. »Aber du wirst mich wohl nicht begleiten.« »Nein, ich gehöre dort nicht hin. Außerdem habe ich Angst. Die beiden Soldaten, die Azarius schickte, werden ihm bestimmt Bericht erstattet haben. Ich werde mich verstecken müssen, denn sie werden nach mir suchen wollen.« »Tu das, Esther. Und Dank für alles.« Ich faßte nach ihren Händen und hielt sie fest. Die junge Israelin schaute zu mir hoch. »Ich darf dir danken, frem der John. Vielleicht werden wir uns einmal wiedersehen, obwohl ich nicht daran glaube.« Sie lächelte verloren, und ich sah Tränen in ih ren Augen. »Man kann nie wissen«, sagte ich. »Aber du hast schon recht, ich komme wirklich von weit her.« »Du bist auch anders als wir.« »Ja, das stimmt. Aber eines darfst du mir glauben«, sagte ich zum Abschied. »Unsere Zeit wird nie vergessen werden. Darauf kannst du dich verlassen.« »Unsere Zeit?« wiederholte sie. »Ja.« »Was meinst du damit?« »Ich kann es dir jetzt schlecht erklären, aber nimm es hin, Esther, und erinnere dich ab und zu an mich.« Ich küßte sie auf ihre zucken den Wangen. Plötzlich riß sich Esther los. Bevor ich mich versah, war sie ver schwunden. Eingetaucht in den Trubel, und sie ließ mich etwas ver wirrt zurück. Es hatte wohl so sein müssen, und es war auch besser so, wenn ich
ehrlich war. Ich drehte mich um. Vor mir sah ich das Gewimmel der Menschen. Ich hörte die Stim men, ich nahm die Gerüche wahr, aber in Wirklichkeit hatte ich nur Augen für den Tempel. Allein ging ich auf das breite Tor zu …
* Die bewaffneten Wächter standen neben dem Tor und wurden durch die Decke des außen um den Tempel herumlaufenden Lau bengangs geschützt. Ich hatte sie eine Weile beobachtet und festge stellt, daß gewisse Menschen nicht abgewiesen wurden, wenn sie mit den Aufpassern gesprochen hatten. Dann durften die Männer – und nur die Männer – den Tempel betreten und verschwanden in ei nem Halbdunkel. Ich probierte es ebenfalls. Neben mir ging ein junger Mann, der sein Haar geölt hatte. Er schaute mich ein paarmal an. Ich kam ihm wohl suspekt vor, aber er redete nicht mit mir. Dafür mit einem der Wächter, der nickte und ihn dann passieren ließ. Mich hielt man fest. Ein wenig mußte ich lächeln, weil der Mann ziemlich klein war, wenn auch von stämmiger Gestalt. Er hielt seine Lanze diagonal, und ich war gegen den Schaft gelaufen. »Was willst du im Tempel?« fragte er mich, wobei er seine Augen brauen zusammenzog. »Ich bin fremd hier, habe aber wichtige Nachrichten für den König Salomo.« »Wo kommst du her?«
»Aus dem Norden! Ich bin über das große Meer gesegelt und habe andere Länder und fremde Völker kennengelernt. Man kennt dort die Weisheiten des Königs und hat mir eine Nachricht für ihn auf den Weg gegeben.« »Was ist das?« »Ich werde sie dir nicht sagen dürfen. Nur dem König.« »Nein.!« »Es ist sehr wichtig.« Der Soldat schaute mich erst an. In meinem Gesicht rührte sich nichts. Mein Blick war auch starr auf seine Augen gerichtet, und ich spürte deutlich, wie sein Widerstand nachließ. Möglicherweise war ich ihm auch suspekt, denn ich paßte allein schon vom Äußeren her nicht in diesen allgemeinen Rahmen hinein. »Hast du dich entschieden?« »Ja, ich werde dich zu einem Hohepriester bringen.« »Das ist gut.« Der Mann wunderte sich wohl, daß ich keinen Protest einlegte, schnaufte, drehte sich um und ließ mir den Vortritt. Er selbst blieb dicht hinter mir, und ich konnte mir vorstellen, daß er mich auch mit seiner Waffe bedrohte. Als harten Hund konnte ich mich wirklich nicht bezeichnen, denn mir zitterten schon die Knie, als ich den Tempel betrat und von der Kühle umfangen wurde. Ich war in eine große Halle getreten, in der Blumen standen, ein Springbrunnen Wasser spie, wo Altäre aufgestellt waren, vor denen Männer knieten und von Schalen umgeben waren, in denen Öle all mählich verbrannten. Der Boden bestand aus mächtigen Steinen, die glatt wie Spiegel poliert waren. Säulen trugen die mächtige, hohe Decke, die wie ein
Himmel wirkte. Ich hörte die Stimmen, und auch den Gesang der Betenden und war schon beeindruckt. Gern hätte ich eine Pause eingelegt und mich näher umgeschaut, aber mein Bewacher trieb mich voran, tiefer in das Innere hinein, was auch nicht schlecht war. Meine Ge danken kreisten nicht so sehr um die Bundeslade wie um den König Salomo. Ich hoffte, ihm bald gegenüberstehen zu können. Vielleicht konnte es mir dann gelingen, den Weg zum Allerheiligsten zu fin den. Es dauerte seine Zeit, bis wir die Halle durchschritten hatten die die gesamte Breite einnehmende Treppe erreichten, die aus drei Stu fen bestand. Wir mußten sie überwinden, gingen an mächtigen Säu len vorbei und erreichten einen Bereich, der abgetrennt war. Wäch ter war hier postiert. Sie bildeten eine Menschenkette. Hinter ihnen ragte eine Mauer empor, die allerdings eine große Tür aufwies. Der Soldat sprach mit einem seiner Kollegen. Dabei deutete er hin und wieder auf mich. Ich wußte, daß es jetzt auf den neuen Wächter ankam, ob ich nun eintreten durfte oder nicht. Die beiden nickten sich schließlich zu, dann verschwand der neue Aufpasser durch die große Tür, kehrte rasch wieder zurück und nickte. Mein Begleiter trat auf mich zu. »Der Hohepriester wird dich an hören. Gnade dir Gott, wenn du gelogen hast.« »Bestimmt nicht.« »Dann geh jetzt, Fremder.« Ich näherte mich der Tür, die mir aufgehalten wurde, und dann sah ich auch, daß sich auf der Welt eigentlich nichts geändert hatte. Unverändert war der Prunk der Mächtigen. Dieser Hohepriester ließ es sich verdammt gutgehen. Man saß auf dicken Kissen. Wasser sprudelte aus den Öffnungen und Mäulern irgendwelcher Fabeltie re. Es roch nach Rosenblüten und Lavendel. In großen Schalen lagen
Obst und Brot. Wasser gab es ebenfalls genug zu trinken, und all dies stand in der Reichweite eines Mannes, der auf einem Thron aus Kissen hockte, mir trotzdem vorkam wie ein Gnom und von zwei Seitenfenstern genügend Licht bekam, so daß ich ihn gut erkennen konnte. Er trug ein violettes Gewand. Sein Kopf war fast kahl. Das Gesicht sehr schmal. Die Haut wirkte ledern und die Nase wie der krumme Schnabel eines Geiers. Er starrte mich an, als ich dicht vor ihm stehengeblieben war. Die Blicke suchten meine Gestalt ab, als wollten sie etwas Auffälliges entdecken. Er kam auch nicht mit mir zurecht, denn er wurde ner vös und rutschte auf seinem Thron hin und her. Eines stand fest: Freunde würden wir beide nicht werden. Ich nickte ihm zu und lächelte dabei. Das gefiel ihm überhaupt nicht. »Auf die Knie, Fremder! Ich will deine Demut sehen. Du befindest dich in der Nähe des Königs. Oder hast du das vergessen?« »Nein, denn zu ihm will ich.« Beinahe wäre er wegen dieser respektlosen Antwort in die Höhe geschnellt, denn so etwas schien ihm noch keiner gesagt zu haben. Er schnappte nach Luft und fauchte mich an. »Wie kannst du es wa gen, so zu reden?« Ich gab ihm die Antwort auf meine Art und Weise. Eine mit Was ser gefüllte Karaffe stand in greifbarer Nähe. Ich nahm sie an mich und trank einen Schluck, denn ich hatte einen wahnsinnigen Durst. Dem Hohepriester stand vor Schreck der Mund offen. Dann schrie er etwas, und es hörte sich an wie der Schrei eines verletzten Vogels. Er rutschte sogar von seinem Thron herunter und merkte erst jetzt, wie klein er im Vergleich zu mir war. Aber er wollte mich auch nicht angreifen. Seine Geierhand schnell
te auf eine Klingel zu. Sicherlich wollte er durch das Geräusch Hilfe alarmieren, aber ich war schneller. Ich packte ihn wie eine Katze oder einen Hasen am Nacken, riß ihn hoch und schleuderte ihn wieder zurück auf seinen komischen Thron. »So, mein Lieber, damit du siehst, wie der Hase läuft. Ich habe mich lange genug geduckt. Jetzt habe ich das Sagen.« Diese Sprache konnte er nicht verstehen, aber ich war einen Teil meines Frustes los. Er fing sich wieder, als er sich normal hingesetzt hatte. »Weißt du, wer ich bin?« keuchte er. »Ja, ein kleines Arschloch, das sich hier aufspielt!« »Ich verstehe dich nicht und …« »Das ist auch nicht nötig, du Wurm. Ich will nur, daß du mich zu König Salomo bringst. Nicht mehr und nicht weniger.« Den ersten Teil mußte er begriffen haben, sonst hätte er mich nicht so angeglotzt. Sein Mund klaffte wieder auf, als wollte er etwas sa gen, doch ihm fehlten die Worte. »Hast du mich verstanden?« Er hatte wohl. Er gab auch eine Antwort, aber anders als ich es mir vorgestellt hatte. Plötzlich rief er einen Namen. Zweimal sogar, und ich hatte ihn auch verstanden. »Azarius …!« Auch das noch. Er war der Hohepriester, dessen Sohn die Lade an geblich aus Jerusalem weggeschafft hatte, aber Azarius hatte ihn wohl nicht gehört, denn er tauchte nicht auf. »Wenn du noch einmal nach deinem Sohn rufst, werde ich dich zusammenknoten.« Der Hohepriester schüttelte den Kopf. Ich sah auch, wie er schluckte. So etwas wie mich hatte er noch nicht erlebt. Ich mußte
wie ein Sturmwind in sein kleines Machtgefüge hineingeraten sein, und es wollte ihm auch nicht in den Kopf, daß ich dem König Salo mo einen Besuch abstatten wollte. »Ich muß zum König«, wiederholte ich. Der Gnom schüttelte den Kopf. Als meine Hand vorzuckte und er damit rechnete, daß ich ihn packte, fing er an zu bibbern. »Es geht nicht. Der König ist …« »Er ist doch hier – oder?« fragte ich drohend. »Ja.« »Dann gehen wir gemeinsam zu ihm. Sollte er jemals erfahren, daß du dich geweigert hast, wird er dich einen Kopf kürzer machen, du kleiner Buntspecht.« Der Hohepriester wand sich wie einWurm. »Salomo ist nicht hier«, keuchte er und duckte sich. »Er hat den Tempel verlassen, aber er wird zurückkehren.« »Wann?« »Heute noch.« »Stimmt das auch?« Ich beugte mich drohend über ihn. »Ja, ja!« versicherte er. »Ja, er ist weg …« »Wann erwartest du ihn zurück?« Ich ärgerte mich, denn damit hatte ich nicht gerechnet. Ich sah meine Felle davonschwimmen. »Noch heute.« Der Gnom schwitzte. Er stöhnte, als er Luft holte. »Er wird noch heute zurückkehren. Es sind viele Menschen auf dem Platz vor dem Tempel. Sie alle werden ihn sehen und ihm huldigen wollen. Er wird dann in den Tempel getragen werden …« »Wohin?« »Er will beten.« »An eurem Allerheiligsten?«
Der Hohepriester erschrak. »Ja, denn es ist heute ein sehr wichti ger Tag für ihn.« »Warum?« Der Hohepriester hatte seine Sicherheit teilweise wiedererlangt. »Man wird es heute aus dem Tempel tragen. Es beginnt die Prozes sion, und ich weiß, daß Salomo direkt hinter der Lade hergehen wird. Es ist heute ein heiliger Tag.« »Das Timkat-Fest?« fragte ich. Er schaute mich an wie jemand, der nichts verstanden hatte. Den Begriff kannte er wohl nicht. Mir aber war klar, daß ich zu einersehr wichtigen und wohl auch entscheidenden Zeit im alten Jerusalem eingetroffen war. Ich wußte auch, daß Salomo die Lade aus dem Tempel hatte entfernen lassen. War heute der entscheidende Tag dieser Reise? Ich wollte den Gnom vor mir fragen, aber es kam mir etwas da zwischen. Trompeten- oder Posaunenstöße! So laut, daß ihre Echo selbst durch die dicken Mauern des Tem pels hallte und wir es deutlich hören konnten. Der Hohepriester vor mir erschrak zutiefst. Er wurde plötzlich hektisch und fummelte an seiner Kleidung herum. »Ich muß ihn empfangen«, sagte er noch und kroch von seinem Polsterthron herab. Bevor er noch weglaufen konnte, zerrte ich ihn zurück. »Bleib im mer bei mir«, sagte ich. »Wenn ihn jemand empfängt, dann bin ich dabei, verstehst du?« Die lockere Sprache war er nicht gewohnt, aber mein Griff war deutlich genug. Ich hatte eine Hand um seinen dünnen Arm ge krallt, der sich anfühlte wie einen Speiche, und ich drückte auch nicht eben sanft zu.
Die Trompetenklänge blieben. Sie waren sogar noch lauter gewor den, denn der König mit seinem Gefolge näherte sich dem Tempel. Ich schob den Hohepriester auf den Eingang zu, der für mich jetzt einenAusgang bildete. Von den draußen stehenden Aufpassern fürchtete ich mich mit dieser Geisel nicht. Dann öffnete ich die Tür. Vor unseren Blicken lag die Halle. Wir standen noch günstig, denn keine Säule nahm uns den Blick. Es hatte sich einiges verändert. Die Bürger der Stadt sah ich nicht mehr. Sie hatten sich aus dem Tempel zurückziehen müssen. Dafür waren die Soldaten geblieben. Sie bil deten ein Spalier – eine Gasse, durch die der König mit seinem Ge folge ziehen konnte. Auf dem Platz vor dem Tempel war das gleiche geschehen. Das große Tor stand weit offen; ich schaute in die Schneise hinein, durch die der König kommen würde. Noch einmal brüllten die Trompeten los und schickten ihre schmetternde Musik in die Halle hinein. Dann traten die Musiker, die dem Zug vorangingen, nach links und rechts zur Seite, damit der König freie Bahn hatte. Ich sah ihn bereits, aber ich konnte ihn nicht so gut erkennen. Je denfalls saß er auf einem Podest, das von mehreren Soldaten oder Sklaven getragen wurde. Als Sitzplatz diente ein Thron. Die Gestalt darauf wirkte klein, obwohl das auch wegen der Entfernung täu schen konnte. Der König ließ sich Zeit. Immer wieder hielten die Träger an, da mit sich Salomo seinen Untertanen zeigen konnte. Er schüttelte Hän de, die sich ihm entgegenreckten, er genoß die Hochrufe, und ich bekam mit, daß er beliebt war. Stark und weise. Den Wissenschaften und selbst der Magie aufge schlossen. Als ich daran dachte, kam mir wieder zu Bewußtsein,
was ich hier eigentlich erlebte, und plötzlich überkam mich die Ner vosität. Ich war aus der Zukunft gekommen, um den zu treffen, der ich einmal gewesen war. Neben mir keuchte der Hohepriester. Auch er litt. Nur anders als ich, und ich ließ ihn auch nicht los. Wir warteten. Die Träger hatten sich nach einem kurzen Stopp wieder in Bewe gung gesetzt. Sie gingen langsam, aber im Gleichschritt; der Thron mit dem König schaukelte kaum. Sie gingen jetzt direkt auf den Tempel zu, ohne eine Pause einzule gen. Eine Gruppe Soldaten bewegte sich vor dem König her. Sicher lich auch hinter ihm, und an den Seiten sah ich ebenfalls die Männer mit den Lanzen. »Ich muß zu ihm!« keuchte der Hohepriester. »Ich muß ihn begrü ßen.« »Ja, ich auch, mein Freund.« Er wollte sich losreißen, aber er hatte keine Chance. Ob wir von den Tempel-Soldaten gesehen worden waren, wußte ich nicht. Je denfalls richteten sie ihre Aufmerksamkeit auf ihren König, der nun den Bereich des Eingangstores erreicht hatte und in den Tempel ge tragen wurde. Ich hielt für einen Moment den Atem an. Dann schien er zu ver schwinden, weil er aus der Helligkeit in das Halbdämmer getreten war, aber die Träger schafften ihn weiter. Wenn sie die Richtung nicht änderten, würden sie geradewegs auf uns zukommen. Ich war wütend, nervös und gespannt. Ich wollte mich auch nicht mehr um den Hohepriester kümmern. Ich ließ ihn los, was er zu nächst nicht begriff. Dann aber rannte er weg, und ich hörte seine Stimme schrillen, als er seinem König entgegenlief. Er rannte auf den Pulk der Soldaten zu, mit flatternden Armen, und seine dünne
Stimme überschlug sich dabei. Ich blieb stehen. Ruhig zog ich mir das Gewand über den Kopf und ließ es zu Boden gleiten. Es war mir egal, ob ich dabei beobach tet wurde oder nicht. Für mich war wichtig, daß der König Salomo seine eigene Waffe sah. Die Soldaten wußten nicht, wie siesich verhalten sollten. Einerseits hatten sie den König abzuschirmen und zu schützen, andererseits mußten sie auch einem Hohepriester einen gewissen Respekt zollen. Als die den kreischenden Gnom auf sich zukommen sahen, traten sie etwas zur Seite, um ihm Platz zu schaffen. Vor dem Podest warf sich der Hohepriester auf die Knie. Er ver beugte sich einige Male, dann richtete er sich auf, blieb aber noch knien und flehte seinen König an. Salomo saß ruhig da. Mit einer heftigen Handbewegung hatte er seine Umgebung zum Schweigen gebracht. Er lauschte den Worten seines Hohepriesters, und er wiederum deutete des öfteren über sei ne Schulter zurück auf mich. Der König verließ seinen Thron. Er reckte sich und interessierte sich zum erstenmal für mich. Da rann auch über meinen Körper ein Schauer. Ich war mir der Be deutung dieses Augenblicks bewußt, als wir beide zum erstenmal Blickkontakt hatten. Noch war die Entfernung zu groß, als daß jeder von uns Einzelhei ten hätte erkennen können. Ich wußte auchnicht, was ich anstelle des Königs getan hätte. Vielleicht hielt er mich für einen Spinner und würde seinen Soldaten befehlen, mich einzulochen. Dem wollte ich natürlich entgehen. Ich hoffte darauf, daß der König gute Augen hatte, legte die rechte Hand auf den Griff und zog das Schwert hervor. Salomo zuckte zusammen.
Für einen Moment wirkte er wie verglast, dann kam Bewegung in ihn. Er bewegte sich auf den vorderen Rand seines Podestes zu, ließ sich nicht herabhelfen, sondern sprang nach unten und kam federnd auf. Durch Handbewegungen machte er den Soldaten klar, daß sie nichts unternehmen sollen. In der Tempelhalle wurde es still. Sehr still. Etwas aber war zu hören. Die Schritte des Königs, der langsam auf den zukam, der er einmal gewesen war, und ich stand in diesem Moment wirklich vor einem historischen Augenblick … ENDE des dritten Teils
Die Templer-Säule von Jason Dark Ich konnte es immer noch nicht fassen. Ich hatte den Eindruck, nicht mehr ich selbst zu sein. Ich erlebte ein Wunder, einen Traum, der sich noch neutral präsentierte, der sich erst später entwickeln wür de, wobei ich mich fragte, zu welcher Seite hin. Ich befand mich im alten Jerusalem zu König Salomos Zeiten, und vor mir stand dieser weise Herrscher! Ich, als Sohn des Lichts war einmal Salomo gewe sen. Jetzt stand ich vor ihm. Unfaßbar!