Warwick Collins
Herren
Roman
Aus dem Englischen von Thomas Mohr
Deutscher Taschenbuch Verlag
Ungekürzte Ausgabe J...
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Warwick Collins
Herren
Roman
Aus dem Englischen von Thomas Mohr
Deutscher Taschenbuch Verlag
Ungekürzte Ausgabe Juni 2004 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München www.dtv.de © 1997 Warwick Collins Titel der englischen Originalausgabe: ›Gents‹ (Marion Boyars Publishers, London 1997 © 2000 der deutschsprachigen Ausgabe: Verlag Antje Kunstmann GmbH Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen Umschlaggestaltung unter Verwendung einer Zeichnung (aus CS VI, Darmstadt 1996) von Alexander Roob (© VG Bild-Kunst, Bonn 2003) Druck und Bindung: Druckerei C. H. Beck, Nördlingen Printed in Germany • ISBN 3-423-20713-2
Gents/Herren. Hier, in der Toilette einer Londoner UBahnstation, sind sie unter sich und anonym. Und das Personal, das diesen Platz sauber hältr wen kümmert das schon. Reynolds, Jason und Ez, drei Schwarze aus Jamaica, putzen den »Whiteys« hinterher und beobachten sie, die Herren in den grauen Anzügen aus den umliegenden Büros, die sich mit einem Augenzwinkern verabreden und dann zu zweit, manchmal auch zu dritt, in einer Kabine verschwinden. Um sie unter Kontrolle zu halten, haben die Putzmänner so ihre eigenen Methoden. Doch was tun, als Mrs. Steerhouse vom Amt erst von ihnen fordert, daß sie den »Sumpf trocken legen«, dann aber, als die »Ordnung« hergestellt ist und die Einnahmen um 40 Prozent zurückgehen, die Bedürfnisanstalt wegen Unrentabilität schließen lassen will? Ein echtes Kultbuch über Toleranz in unserer multikulturellen Gesellschaft. »Die ›Herren‹-Toilette in der Londoner City, in der Warwick Collins seinen Beobachtungsposten errichtet hat, entpuppt sich rasch als differenzierter Ort, an dem sich trefflich ein kleines Lehrstück in Szene setzen lässt.« Frankfurter Allgemeine Zeitung »Indem er den Mikrokosmos eines Männerpissoirs beobachtet, sieht Collins, was menschliches Zusammenleben bedeutet.« Neue Zürcher Zeitung
»Eine Erzählung von höchster Präzision. So kurz, dass man sie sofort ein zweites Mal lesen kann – ja muss!« Die Zeit Warwick Collins, 1948 im südafrikanischen Johannesburg geboren, lebt in Lymington, Hampshire. Nach einem Biologiestudium fing er 1988 an zu schreiben. Inzwischen hat er mehrere Romane veröffentlicht, darunter ›The Rationalist‹ (verfilmt unter dem Titel ›Il Postino‹), und zuletzt ›Fuckwoman‹ (dt. 2002).
Für Marion Boyars
1
An Charing Cross schossen die beiden U-Bahn-Züge wie Stichflammen aneinander vorbei. Im Fenster, zwischen einer jungen Frau und einer älteren Dame, sah Ez Murphy sein dunkles Gesicht, auf dessen breiten Wangenknochen weiße Lichtflecke glänzten. Die Züge rasten ratternd durch den engen Tunnel. Als sich ihre Wege kreuzten, ließ das grelle Lichtgewitter Ez’ fahles Spiegelbild, das sich nur verschwommen von der feuchtschimmernden Dunkelheit des Tunnels abhob, mit einem Mal deutlich hervortreten. Die Gesichter der beiden Frauen verblaßten, gingen unter im brandenden Licht. Er war Anfang vierzig, gut gekleidet, untersetzt, breitschultrig. Im Fenster hob sein Spiegelbild die Hände und rückte seine Krawatte zurecht, ein scharfer Kontrast zu seinem wachsweißen Kragen. Kaum war wieder Ruhe eingekehrt, tauchten auch die Gesichter der Frauen erneut auf, zwei weiße Blumen. Als ein paar Stationen weiter schließlich die Bremsen kreischten, kam der Zug bereitwillig zum Stehen. Polternd gingen die Türen auf. Ez trat auf den düsteren Bahnsteig und bewegte sich in Richtung AUSGANG. Die Bahnhofsuhr zeigte zweiundzwanzig Minuten nach acht. Er fuhr mit der Rolltreppe nach oben, schob seinen Fahrschein in den Automaten und blieb in der Halle stehen. Plötzlich sehnte er sich nach Tageslicht. Er stieg eine graugeflieste Treppe hinauf und trat auf die Straße. Die Londoner Sonne blendete ihn; am Himmel kreiste ein Taubenschwarm. Abgaswolken hingen über der Stadt.
Er näherte sich einem schmiedeeisernen Treppengeländer, an dem ein Schild mit der Aufschrift HERREN hing, strich seine Krawatte glatt und stieg die Treppe hinunter. Unten angekommen, fand er sich vor einem Drehkreuz wieder. Er blickte sich hilfesuchend um, doch niemand war zu sehen. Achselzuckend kramte er in seiner Hosentasche nach Kleingeld und steckte ein Zehn-Pence-Stück in den Schlitz. Dann ging er durch das Drehkreuz, blieb stehen und schaute sich um. Weiße Kacheln mit grünem Muster bedeckten die Wände. Die Fußböden waren blitzblank. Hin und wieder rauschte leise eine Wasserspülung. Rechts vom Eingang, in einer Nische in der rohverputzten, weißgetünchten Gipswand, entdeckte er eine grüngestrichene Tür mit dem Schriftzug AUFSICHT. Ez zupfte seinen Kragen zurecht und klopfte an. Nach einer Weile ging die Tür auf. Der Mann, der vor ihm stand, war dünn wie eine Bohnenstange. Die Kleider hingen schlaff an seinem hageren Körper. Wie viele Jamaikaner von der Südseite der Insel war er fast so weiß wie ein Albino. Er stand in der Tür und musterte Ez von oben bis unten. »Mr. Murphy?« »Ja.« »Josiah Reynolds.« Er zögerte einen Augenblick, und Ez hatte den Eindruck, daß er angestrengt nachdachte. »Immer rein in die gute Stube.« Reynolds trat beiseite. Ez kam in ein kleines, aufgeräumtes Büro mit einem Holztisch und mehreren Klappstühlen. An der Wand stand ein Aktenschrank mit einem Regal voller Aktenschuber darauf. Der einzige Wandschmuck war ein weißer, über und über mit fettgedruckten schwarzen Ziffern bedeckter Kalender ohne Bilder. Der Raum vermittelte den Eindruck absoluter Kargheit. Reynolds nahm ein Klemmbrett von seinem Schreibtisch und zog einen Kuli aus seiner
Brusttasche. »Murphy«, las er laut. »Ezekiel Stanislaus.« Ez nickte. Reynolds lächelte anerkennend und deutete auf einen der Holzstühle. »Setz dich.« Reynolds trat ein paar Schritte zurück und lehnte sich gegen die Tischkante. Seine schmalen Handgelenke ragten dürr aus den Manschetten. Er hob sein Klemmbrett und blätterte in seinen Notizen. »Du warst vier Jahre als Toilettenmann in Lambeth. Und davor in Jamaika.« Ez nickte. »Woher kommst du?« »Brixton.« »In Jamaika, mein ich«, sagte Reynolds. Ez beobachtete das Auf und Ab des Adamsapfels an Reynolds dürrem Hals und versuchte Reynolds’ Alter zu schätzen. »West Kingston. Greenwich Farm. Kennen Sie das?« Auf dem Gesicht seines Gegenübers machte sich ein schmales Lächeln breit. »Und ob«, sagte Reynolds. »Mandys in der George Street. Das Friday Cafe. Einmalig.« Er schob sich an der Tischkante entlang. »Aunt Mimmy’s Laden. Wie hieß er damals noch, Sideways? Und heute?« »Cornstocks«, sagte Ez. »Cornstocks?« »Aber da gehen fast nur noch Rastas hin.« Ez verstummte und setzte dann hinzu: »Haben Sie mal da gelebt?« »Lang, lang ist’s her.« Ez war begeistert. Er sagte: »Bacon Juice.« »Bacon Juice.« Plötzlich lachte Reynolds. Rings um seine Augenwinkel erschienen Fältchen. »Und die Kiffer an der Ecke?« »Noch da.« Reynolds lächelte. Dann wurde seine Miene wieder ernst. »Du weißt, was hier zu tun ist?« Ez zuckte die Achseln.
Reynolds sagte: »Klos schrubben, Böden wischen, die Drehkreuze warten, den Geldwechsler bedienen und ‘n Auge auf die Kiddies haben. Für Ordnung sorgen.« »Für Ordnung sorgen?« fragte Ez. »Manchmal. Manchmal gehts in den Kabinen drunter und drüber.« Ez nickte, auch wenn er sich nicht sicher war, ob er verstanden hatte. Reynolds kratzte sich flüchtig die Wange, eine ratlose Geste. »Bist du religiös?« fragte Reynolds. »Wenn ich fragen darf.« »Adventist, wenn überhaupt.« Reynolds kicherte. »Also ja.« »Könnte man sagen.« »Wie war’s denn in Lambeth?« fragte Reynolds. »So lala.« »Komische Gegend. In der Siedlung ist die Hölle los. Hier kannst du ne ruhigere Kugel schieben.« Ez gab keine Antwort. Nach einer Weile fragte Reynolds: »Kennst du Jason schon?« »Nein.« Reynolds nickte, ging zur Tür, öffnete sie und rief hinaus. »Jason!« Reynolds kam zurück und lehnte sich wieder gegen den Tisch. Er lächelte und verfiel dann erneut in Patois. »Er ist weniger wie ‘n Köter – eher wie ne Katze. Du rufst, und er kommt, wenn’s ihm paßt.« »Arbeitet er auch hier?« »Er schlägt die Zeit tot«, sagte Reynolds. »Wie du und ich das Wasser ab.« Ez verfolgte das Auf und Ab von Reynolds’ Adamsapfel. Reynolds mußte schlucken, bevor er leise über seinen Witz kicherte.
Kurz darauf erschien eine mittelgroße Gestalt in der Tür, schlank, mit großen Augen und Rasta-Dreadlocks. Reynolds sagte: »Jason.« Er deutete auf Ez. »Darf ich vorstellen.« Ez stand auf. »Ez Murphy.« Jason schien zu zögern. Dann trat er näher und schüttelte Ez zurückhaltend, vorsichtig beinahe, die Hand. Jasons rechtes Auge war fast starr, das linke flink und beweglich. Es dauerte eine Zeitlang, bis man dahinterkam, mit welchem Auge er einen ansah. In Kingston nannte man so etwas Chamäleonblick. Reynolds wandte sich an Jason. »Kümmer dich um ihn«, wies er ihn an. »Er gehört jetzt zu uns.« Jason nickte kurz und fragte Ez: »Bist du aus Kingston?« »Greenwich.« Jason nickte. »Voll fett.« »Fett heißt gut«, übersetzte Reynolds. Ez nickte. »Fat Lion Stevens?« fragte Jason. »Ist nicht mehr.« Jason lächelte. »Schade.« »Zeig ihm, wie alles geht, Jason«, sagte Reynolds. »Wir haben schließlich nicht ‘n ganzen Tag Zeit.« Jason drehte sich um und ging davon. Ez sah Reynolds an; der nickte einmal und wandte sich dann seinem Schreibtisch zu. Ez folgte Jason zu den Urinalen hinaus, ins flackernde, pulsierende Licht.
2
Jason zog einen Schlüssel aus der Tasche, schloß eine Spindtür auf und gab Ez einen grünen Kittel. »Paßt der?« Ez streifte ihn sich über. »Glaub schon.« Jason nahm einen Mop aus dem Schrank. »Der ist für dich.« Ez umfaßte den Holzstiel des Mops. Jason holte einen großen Blecheimer mit schwerem Henkel hervor und reichte ihn Ez. Dann zeigte er auf einen Wasserhahn an der Wand mit einem wuchtigen Emailbecken darunter. »Haupthahn.« Jason deutete auf eine Reihe von Eimern an der Rückseite des Umkleideraums, in denen mit einer grünen Flüssigkeit gefüllte Plastikbehälter standen. »Reiniger. Drei Teelöffel pro Eimer.« »Ist gut.« Jason deutete auf eine Anzahl Kartons mit antiseptischen Duftsteinen für die Latrinen. »Nachschub.« Ez nickte. »Und? Alles klar?« Ez lächelte. »Wie Kloßbrühe.« Ez ging zum Hahn, ließ den Eimer vollaufen, gab etwas Reiniger hinein und tauchte den Mop ins Wasser. Dann machte er sich ans Werk und ließ den Mop über die Bodenfliesen gleiten. Jason lächelte kurz, setzte seinen Kopfhörer auf und griff ebenfalls zum Mop. Eine gute halbe Stunde wischte Ez den Boden, während Jason sich anderswo zu schaffen machte. Ez hörte nur das leise Scheppern von Jasons Musik. Er schwang mit weit ausholenden Bewegungen den Mop und arbeitete sich systematisch zu Reynolds’ Bürotür vor. Als er fertig war,
nahm er einen Schwammwischer und trocknete damit den Boden. Dann und wann kam ein Kunde die Treppe herunter und ging durch das klappernde Drehkreuz zu den Urinalen. Ez gewöhnte sich rasch an die stillen, gekachelten Räume, an die Schritte der Männer, die an die Urinale herantraten, stehenblieben und die Toilette dann durch das Drehkreuz wieder verließen. Nach einer Weile erinnerte ihn der ungleichmäßige Kundenstrom an die Unbeständigkeit fließenden Wassers. Ez arbeitete sich langsam zu den Kabinen vor, die gegenüber vom Eingang aufgereiht standen, siebzehn an der Zahl, mit Holztüren und massiven Mahagonirahmen. Als er einmal durchgewischt hatte, machte er parallel zu den Kabinen weiter, bis zur angrenzenden Wand. Hin und wieder betrat ein Kunde hinter ihm eine Kabine und schob den Riegel vor. Oder Ez hörte eine Tür knallen, wenn jemand aus einer Kabine kam, und gleich darauf das Einrasten des Mechanismus, wenn er durch das Drehkreuz trat. Am späten Vormittag, kurz vor der Mittagspause, hielt er inne, blinzelte und streckte sich. Aus einer nahe gelegenen Kabine kam ein Mann. Mittleres Alter, City-Anzug, fortschreitender Haarausfall. Der Mann trat durch das Drehkreuz und stieg die Treppe hoch. Er schien sie wie in Trance hinaufzuschweben, auf das graue Licht des Ausgangs zu. Ez stellte den Mop weg und ging zu der Kabine. Er machte die Tür auf, um sich die Kabine von innen anzusehen. Doch noch bevor er sie betreten konnte, kam auch schon ein zweiter Mann heraus und hastete an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. In seiner anfänglichen Verwirrung glaubte Ez zunächst an einen kuriosen Zaubertrick – zwei Kaninchen aus ein und demselben Hut. Oder an ein Déjà-vu-Erlebnis. Er versuchte sich ein Bild von dem zweiten Mann zu machen:
weißes Gesicht mit blondem Haar und nahezu farblosen Lidern, grauer City-Anzug, wie ihn auch der erste getragen hatte, und ruhiger, fast nachdenklicher Gesichtsausdruck. Obwohl er jünger und hellhäutiger wirkte als der erste Mann, war es durchaus möglich, daß sie aus demselben Büro, derselben Firma kamen. Ez sah ihm nach, wie er durch das Drehkreuz ging und die Treppe hinaufstieg. Er horchte, bis die leisen Tritte seiner lederbesohlten Schuhe verklangen und er im trüben Tageslicht verschwand. Er schaute zu Jason, der ein paar Meter entfernt auf seinen Mop gestützt stand und Ez zweideutige Blicke zuwarf. Jason lächelte, wandte sich kopfschüttelnd ab und wischte weiter. Die gedämpfte Musik aus Jasons Kopfhörer klang wie ein Insekt, das immer wieder gegen eine Fensterscheibe flattert.
3
Nachmittags saßen Ez, Reynolds und Jason in Reynolds’ Büro und tranken Tee. »Wie war dein erster Tag?« fragte Reynolds. »Ganz gut.« Jason saß auf seinem Stuhl und knabberte an einem Keks. »Mir ist was Komisches passiert«, sagte Ez. Reynolds nippte an seinem Tee. »Was denn?« »Ich will in ne Kabine – na ja. Es war grad jemand rausgekommen, drum dachte ich, sie ist jetzt frei. Ich mach die Tür auf… da kommt noch einer raus.« Reynolds blickte ihn prüfend an, als würde er sich Sorgen um Ez’ Geisteszustand machen. Nach einer Weile fragte Reynolds: »Und?« Ez zuckte die Achseln. »Ich kapier das nicht. Zwei Mann in einer Kabine.« Reynolds nippte an seinem Tee und knabberte an seinem Keks. »Was kapierst du nicht?« »Der eine sitzt aufm Klo, der andere wartet. Wieso wartet er nicht draußen?« Ez sah Reynolds an. Allmählich ging ihm ein Licht auf. Reynolds betrachtete ihn. In Ez’ Gesicht arbeitete es angestrengt. »Ihr meint…«, begann Ez. Ez’ Naivität war Jason offenbar noch peinlicher als das Gesprächsthema. Er wandte kopfschüttelnd den Blick. »Wußtest du das etwa nicht?« fragte Reynolds schließlich. »Was?« »Die gehen hier aus und ein«, sagte Jason. »Wer?« fragte Ez.
»Aus und ein«, wiederholte Reynolds. »Die Reptilien.« Ez blickte von einem zum anderen. »Zwei Männer…? In einer…?« »Manchmal auch drei.« »Nein.« »Einmal sogar fünf«, sagte Jason. »Fünf?« Ez traute seinen Ohren nicht. Jason nickte. »Fünf Mann hoch.« Sie verstummten. Ez nippte an seinem Tee und dachte nach. Die beiden anderen schwiegen. Nach einer Weile fragte Ez: »Und was tut ihr dagegen?« Reynolds zuckte die Achseln. »Zusehen, daß es nicht überhand nimmt.« Jason rutschte auf seinem Stuhl hin und her und nickte. »Genau.« »Und warum machen die das?« fragte Ez. »Was geht uns das an«, sagte Reynolds. Der Singsang des Patois schlich sich in seine Stimme. »Das ist ihr Problem, wir kümmern uns nur um die Klos.« »Und warum hier?« fragte Ez. »Und nicht woanders?« »Wo denn?« »Auf der Straße vielleicht?« gab Jason zu bedenken. Reynolds und Jason lachten leise. »Oder aufm Bürgersteig?« setzte Jason hinzu. Ez wartete geduldig, bis sich ihre Heiterkeit gelegt hatte. »Die können eben nicht anders«, erklärte Reynolds. »Die scharwenzeln in einer Tour hier rum und versuchen jemand aufzureißen.« »Und was macht ihr dagegen?« »Da kann man wenig gegen machen. Wenn sie zu lang hier rumlungern, bitten wir sie höflich zu verschwinden.« »Manchmal kommt noch einer«, sagte Jason. »Und sie gehen in ne Kabine. Zu zweit.« »Wie?«
»Wenn man grad nicht hinguckt. Erst geht einer. Wartet kurz. Und dann der andere. Ganz schön clever, die Typen. Aber wenn man erst mal weiß, daß sie drin sind, kann man ihnen ordentlich Feuer unterm Hintern machen. Erst klopfst du an. Und wenn nix passiert, schiebst du nen dicken Stock unter der Tür durch und klapperst damit rum.« »Nen dicken Stock?« Reynolds stand auf, ging quer durch den Raum und nahm einen überdimensionalen hölzernen Spazierstock, der an der Wand lehnte. »Damit haust du ihnen gegen die Knöchel.« »Und machst ihnen die Hölle heiß, Mann«, sagte Jason und schüttelte laut lachend den Kopf. »Mal klappt’s«, sagte Reynolds. »Mal nicht.« Ez schluckte. »Und dann?« »Wartest du einfach, bis sie rauskommen.« Ez versuchte gar nicht erst, seine Bestürzung zu verbergen, sondern ließ seinen Gefühlen freien Lauf, obwohl er wußte, daß sie ihn beobachteten. Er blickte von einem zum anderen. Reynolds sah ihn scharf an. Jason wandte sich kopfschüttelnd ab. Als Ez abends seinen Kittel auszog und den Mop im Schrank verstaute, fragte Reynolds: »Zufrieden mit dem ersten Tag?« »Doch.« »Bleibst du dabei?« »Glaub schon.« Jason machte sich durch die Seitentür davon. »Tschüs, Leute.« Reynolds zog sich Schal und Mantel an. »Dann bis morgen.« Ez nickte und folgte Reynolds in die winterliche Dämmerung hinaus. Er hörte, wie Reynolds die schwere Tür mit mehreren Schlüsseln hinter sich verschloß. Dann ging er zur U-Bahn, vorbei an den grauen und blauen Neonlichtern der Geschäfte.
4
Martha stellte Ez einen Teller Makrelen mit Mais hin. Dann setzte sie sich, stützte die Ellbogen auf den Tisch, das Kinn in die Hände, und sah Ez beim Essen zu. Nach ein paar Bissen fragte Ez: »Ißt du nix?« »Hab schon gegessen.« Ez nickte. Er hob den Kopf und sah, daß Martha ihn aufmerksam beobachtete. »Und? Wie wars?« fragte Martha. »Geht so.« »Und die andern?« »Mr. Reynolds macht die Aufsicht. Und Jason ist der zweite Toilettenmann.« »Kommst du klar?« fragte Martha. Zwischen zwei Bissen antwortete Ez: »Sehr gut sogar.« Er hielt inne. »Wo ist Stevie?« »Unterwegs.« »Doch nicht schon wieder mit dieser Bande?« »Glaub nicht«, sagte Martha. »Hat er wenigstens gesagt.« »Mit diesen Bürschchen aus West Kingston. Von der Buckle Street. Northampton-Siedlung. Richtig miese Typen. Lungern dauernd auf der Straße rum. Krumme Hunde.« Er schob sich mit dem Messer ein Stück Makrele auf die Gabel. »Vielleicht geh ich nachher noch mal nach Stevie gucken.« Martha legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm. Ez betrachtete ihre Finger, ihre hellen Nägel. Ihre schönen glatten Hände hatten ihm immer schon gefallen. »Ich weiß, wo er ist«, sagte Martha. »Wo denn?« »Beim Friseur.« Sie zögerte. »Biziou’s.«
»Zum Haareschneiden?« Martha lächelte. »Nein. Zum Lernen.« »Lernen?« »Ja. Lernen. Er hat nen neuen Job, genau wie du.« Ez’ Gabel hing reglos in der Luft. »Stevie?« Martha nickte. »Ist doch ‘n anständiger Beruf.« »Und mit Fußballspielen hat er aufgehört?« fragte Ez. »Ez.« Martha streichelte ihm mit den Fingerspitzen über den Arm. »Stevie ist zwar ‘n guter Fußballspieler, aber so gut nun auch wieder nicht. Man kann eben nicht alles haben.« »Ohne Fleiß kein Preis«, sagte Ez. Mit einem Anflug von Bedauern sah er, wie sie ihre Hand zurückzog, dann widmete er sich wieder seinem Essen. Martha schien aufstehen zu wollen. »Er ist gut«, versuchte Ez sie zu besänftigen. »Wenn er nur wollte. Könnte der Beste sein in seinem Jugendclub. Der wird es noch weit bringen. Wer weiß, vielleicht spielt er ja eines Tages sogar für nen Verein, vielleicht sogar für Arsenal.« »Ach, Ez, warum soll Stevie schaffen, was du nicht geschafft hast?« »Das ist doch was ganz anderes«, sagte Ez. »Ich hatte Frau und Kind, Verpflichtungen. Er nicht. Er könnte. Wenn er wollte.« »Tagaus, tagein trainieren, für den Ehrgeiz seines Vaters.« Als er aufgegessen hatte, fragte Martha: »Willst du noch was?« Ez schüttelte den Kopf. »Dann mach ich jetzt Kaffee.« Sie stand auf und ging zum Herd. Er starrte gedankenverloren auf den Tisch. Nach einer Weile schob er den Teller weg. Er hatte eigentlich über seine Arbeit sprechen wollen, seine Bestürzung, seine Zweifel. »Wie war’s bei dir?« rief er. Sie arbeitete halbtags als Bürokraft im Sozialamt Lambeth. Sie konnten das Geld gut gebrauchen. »Geht so.«
Er sah Marthas Rücken durch die offene Küchentür; sie spülte Teller, während sie darauf wartete, daß der Kessel kochte. Ihre Kopfhaltung verriet ihm, daß sie nachdachte. Sonst war sie nicht so verschlossen. Er wußte, daß die Sache mit Stevie auch ihr zu schaffen machte.
5
Ez hängte Hut und Mantel auf und zog seinen grünen Kittel an. In einer Ecke unterhielt Reynolds sich mit Jason und zeichnete mit den Händen einen Gegenstand in die Luft. Jason nickte Ez an Reynolds vorbei zur Begrüßung zu. Vereinzelte Kunden traten an die Urinale. Hin und wieder knallte eine Kabinentür. Ez nahm einen Eimer, eine harte kleine Bürste und eine Handvoll Duftsteine. In einen zweiten Eimer hatte er eine große Zange gelegt. Ez ging von Becken zu Becken, holte die alten, urinverschmierten Steine mit der Zange heraus und ließ sie vorsichtig in den Eimer fallen. Dann schrubbte er das Urinal mit der kleinen harten Bürste. Wenn er damit fertig war, legte er einen neuen Duftstein hinein. Ein großer, leicht gebeugter Mann ächzte leise unter der Last einer riesigen Einkaufstüte. Er stand da wie ein Fragezeichen. Ez mußte um ihn herumgehen. Beim nächsten Urinal wiederholte Ez den Vorgang. Er holte den alten Duftstein heraus und begann das Emailbecken zu schrubben. »Neu hier?« fragte der Mann fröhlich. Ez hörte auf zu schrubben und griff nach einem Duftstein. »Seit kurzem.« »Man lernt nie aus, was?« sagt der Mann freundlich. Ez nickte. Der Mann trat hustend von einem Bein aufs andere, machte sich die Hose zu und ergriff die schwere Papiertüte. Ez sah ihm nach, wie er durch das Drehkreuz verschwand. Dann ging er wieder an die Arbeit.
In der Pause erkundigte Reynolds sich bei Ez: »Hast du Familie?« Ez, Reynolds und Jason saßen am Tisch. Ihre Teetassen dampften. »Frau und Kind.« »Wie alt?« Ez pustete in seinen Tee. »Siebzehn.« Reynolds nickte. Er trank einen Schluck Tee, stellte die Tasse auf den Tisch zurück, gab noch einen Löffel Zucker hinein, setzte sie wieder an die Lippen und trank einen zweiten Schluck. »Ich hab zwei«, sagte Reynolds. »Ach ja?« »Beide erwachsen.« Ez nickte. Reynolds deutete mit einer knappen Kopfbewegung zu Jason und zwinkerte Ez zu. Jason saß vornübergebeugt und stützte die Ellbogen auf die Knie. Er schien in Gedanken versunken. Ez wandte sich an Jason. »Jason? Auch verheiratet?« Jason schwieg. Reynolds fuhr dazwischen. »Jason hat zwei.« »Zwei Kinder?« »Zwei Frauen«, bemerkte Reynolds kichernd. Ez blickte zu Jason. Der nippte, wortkarg wie immer, an seinem Tee. »Die erste hat er in Kingston sitzenlassen«, sagte Reynolds. »Dann hat er hier rübergemacht. Die zweite geheiratet. Und die erste aus Kingston nachkommen lassen. Darum ist er Rasta geworden.« »Rasta?« »Rastas dürfen mehrere Frauen haben.« Dieser Trick schien Reynolds ungeheuer zu amüsieren. »Tja, unser guter alter Jason«, frotzelte Reynolds. »Der weiß, wie der Hase läuft.« Jason lächelte verwirrt. Sie schwiegen, und Ez nippte an seinem Tee.
Nachmittags putzte Ez den unteren Teil einer gekachelten Wand gleich neben den Urinalen. Er balancierte auf einem Knie. Ringsum kamen und gingen Männer, eine endlose Parade von Hosenbeinen und Schuhen. Nach einer Weile richtete er sich auf und stützte die Hände in den Rücken, weil ihm, wie so oft, das Kreuz weh tat. Er bewegte den Oberkörper langsam hin und her. Dann machte er, auf einer kleinen Gummimatte kniend, weiter und schrubbte die Bodenfliesen vor der Wand mit der Scheuerbürste. Von seinem Platz aus konnte er unter den Seitenwänden der Kabinen hindurchsehen. Eine Tür fiel ins Schloß, und in der Kabine neben ihm erschien ein Paar Schuhe. Ez schrubbte weiter. Kunden gingen ein und aus, Türen klappten auf und zu. Als Ez erneut hinschaute, standen sich in der Kabine neben ihm zwei Paar Schuhe gegenüber. Kurz darauf drehte sich eines der beiden Paare um. Ez hob den Blick. Jason war weit weg. Reynolds saß in seinem Büro. Ez stand auf und ging zu Jason hinüber, der den Boden wischte und den Mop in langen, gleichmäßigen Zügen über die Fliesen gleiten ließ. Trotz des Lärms – Wasser rauschte, hin und wieder knallte eine Tür – konnte Ez das Echo in seinen Schläfen deutlich hören. Er tippte Jason auf die Schulter. Jason zog sich die Stöpsel aus den Ohren. »Was ‘n los?« »Zwei in der ersten Kabine«, antwortete Ez. Jason nickte, als hätte ihm jemand die Uhrzeit mitgeteilt, zog sich die Handschuhe aus und legte sie auf den Beckenrand. Er ging zu Reynolds’ Büro und klopfte leise an. Er wartete, bis Reynolds ihn hereingerufen hatte, und machte dann die Tür hinter sich zu. Ez blickte zu der Kabine. In der jähen Stille schien sie, ganz leicht nur, zu vibrieren, wie eine Waschmaschine, in der die Kleidungsstücke immer wieder hin und her geworfen
wurden. Dann schließlich schaltete sie sich mit einem leisen Seufzer ab. Ez blickte zu Reynolds’ Büro und versuchte mitzuhören, worüber Jason und Reynolds sich unterhielten. Sekunden später kam Jason mit dem schweren Spazierstock wieder heraus. Ez folgte ihm. Jason nahm den Stock in die linke und hieb mit der flachen rechten Hand zweimal kräftig gegen die Kabinenwand. Er wartete ein paar Sekunden, bis es wieder ruhig war. Dann schlug er ein drittes Mal dagegen. Kein Laut durchbrach die Stille rings um die Kabine. Nach einer Weile reichte Jason Ez den Stock. Jason kniete sich hin, preßte die Wange auf den Fußboden und streckte die Hand nach dem Spazierstock aus. Ez gab ihn ihm. Jason peilte die Positionen der Fußpaare in der Kabine und stieß den Stock dann zielgenau unter der Wand hindurch. Ez stand daneben, während Jason auf den Bodenfliesen kniete, sich mit einem Arm abstützte, den Stock wie ein Gewehrschütze anlegte und damit gegen die Knöchel der beiden Männer in der Kabine schlug. »Na los«, sagte Jason leise, fast zu sich selbst. »Na los, raus da.« Nach einer Weile stand Jason auf und winkte Ez, ein Stück zurückzutreten. Die Tür sprang auf. Ein Mann stürzte heraus und eilte vornübergebeugt, als stemme er sich gegen einen imaginären Wind, auf das Drehkreuz zu. Er war kräftig wie ein Bulle und hatte angeklatschtes Haar. Mit nahezu tierischer Kraft drückte er die Sperre herunter, sprang, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf und verschwand im blaßgelben Licht. Jason zwinkerte Ez zu. Ohne Vorwarnung folgte ein zweiter Mann, dünner als der erste, mit den Händen in den Taschen seiner Lederjacke, und ging zügig durch das Drehkreuz. Zurück blieb nur der Duft teuren Parfüms. Ez drehte sich wieder zu Jason um.
»Wenn man diesen Reptilien erst mal gezeigt hat, wo’s langgeht«, sagte Jason, »schwirren sie ab wie ‘n Zitteraal.« Ez brachte vor lauter Verwunderung kein Wort heraus. Er nickte bloß.
Als die drei in der Pause ihre Sandwiches aßen, wandte Reynolds sich zwischen zwei Bissen an Jason. »Heut schon den Stock benutzt?« »Einmal. Prompt kommen zwei Reptilien raus und schwimmen flußab.« »Wieso nennt ihr sie eigentlich Reptilien?« fragte Ez neugierig. Reynolds aß und dachte nach. »Sie sind eiskalt, Mann. Sagen kein Ton, wenn man sie anquatscht. Und man wird sie nicht mehr los, wie Kletten.« Er hielt inne und trank einen Schluck Tee. »Frag Jason. Er ist der Experte.« Jason lächelte vor sich hin und aß weiter. Nach einer Weile sagte er: »Hier in der Gegend gibt’s jede Menge Typen, die sitzen den ganzen Tag im Büro, telefonieren, scheuchen ihre Sekretärin, heuern, feuern, schreiben Rechnungen und scheffeln Kohle wie verrückt. Dann, urplötzlich, legen sie ‘n Hörer auf, marschieren zur Tür raus, kommen hier runter.« Er deutete mit dem Kopf zu den Kabinen. »Und treffen sich da drin.« Als er seine Moralpredigt beendet hatte, machte Jason eine Pause. Dann biß er in sein Sandwich und setzte fröhlich hinzu: »Von morgens bis abends, Mann. Jeden Tag.« Ez sah ihn an, schüttelte den Kopf und widmete sich wieder seinem Sandwich. Martha hatte es mit Banane und Sardinen belegt, Ez’ Lieblingsmischung. Ein Gedanke, der ihm angesichts des Gesprächsthemas mit einem Mal mehr als unpassend erschien. »Du kommst auch noch dahinter«, sagte Reynolds gelassen. »Du kommst auch noch dahinter.«
6
Nach ein paar Wochen begann Ez die Stille zu genießen. Wenn nicht gerade Türen knallten oder unterdrücktes Stöhnen durch die Räume hallte, erlebte er die Stille als eine Art Fluidum, das man förmlich mit Händen greifen konnte. Allmählich hatte er auch die Spielregeln an seinem neuen Arbeitsplatz durchschaut und kannte den Rhythmus der Schritte, den Takt der Türen, die verschlungenen Wege von und zu den Urinalen und Kabinen. Manche Männer kamen die Treppe wie Schlafwandler herabgeschwebt. Die meisten wollten nur eins – sich erleichtern und dann so schnell wie möglich wieder an die Arbeit. In der unterirdischen Kammer schien die Zeit außer Kraft gesetzt. Niemand suchte Blickkontakt, aus Angst, er könnte mißverstanden werden. Ez lernte, einem Kunden nur dann in die Augen zu schauen, wenn der ihn direkt ansprach. Er bemerkte die unsichtbare Mauer, welche die Männer stets umgab, und das schmale Geviert, innerhalb dessen sie sich bewegten. Jeder schien in seiner eigenen kleinen Welt zu leben. Bisweilen nahm jemand seine Aufmerksamkeit gefangen wie ein Sänger im Scheinwerferlicht, auch wenn er ihn nur indirekt, mittels Hör-, Geruchs- und Tastsinn, überwachte. Wenn Ez einen Kunden kommen hörte, erkannte er dessen Absichten schon am Klang seiner zögernden oder zielstrebigen Schritte, am Rascheln seiner Kleider, dem leisen Quietschen von Gummisohlen, dem Klappern eines Lederabsatzes, der vor der Schuhspitze aufsetzte, dem Knarren und Knallen einer Kabinentür.
Neue Kunden nahm er lediglich als flüchtige Schatten, Geisterbilder am äußersten Rande seines Blickfelds wahr und konnte am Klang ihrer Schritte feststellen, in welchem Teil der Toilette sie sich befanden. In der Nähe der glänzenden Urinalwände klang alles hell und klar. In den Ecken eher hohl. Und neben der rohverputzten Betonwand vor Reynolds’ Büro matt und dumpf. Er wurde zu einem wahren Meister in der Kunst, die Herkunft von Geräuschen zu bestimmen, und entwickelte ein nahezu untrügliches Gespür. So konnte er allein am Geräusch erkennen, die Tür welcher Kabine geöffnet oder geschlossen wurde. Die siebzehn Kabinen waren wie eine Tonleiter. Jede hatte ihre eigene Frequenz. Die Spülung in Kabine drei klang anders als die in Kabine elf. Manchmal konnte er sogar Gewicht und Körperbau eines Kabinenbenutzers bestimmen, und das nur anhand der kaum hörbaren Laute, die aus dem engen Raum nach außen drangen, dem Klicken einer Gürtelschnalle, dem Herabgleiten der Hosen, dem Seufzer der Erleichterung. Nicht nur waren seine Sinne geschärft – ähnlich wie bei Blinden, denen man nachsagt, ihre übrigen Sinne seien feiner ausgeprägt –, sondern er hatte auch gelernt, Strukturen auf Anhieb zu erkennen. Die Besucher waren fahle Geister, die seine Phantasie bevölkerten. Neben dem Geruch von Urin und Exkrementen, von chloriertem Wasser, Bohnerwachs und Scheuerpulver, Desinfektionsmitteln und Reinigern hingen die schwachen Ausdünstungen der anderen, mit denen sie ihr Reich gezwungenermaßen teilten, in der Luft, der Gestank von Angst und Unterdrückung. Reynolds, Jason und er bewohnten eine eigene Republik. Untereinander verfielen sie immer öfter in Patois. Jedoch nicht etwa, um sich besser verständigen zu können, sondern um die anderen auszuschließen. Durch besondere Betonung konnten sie den Sinn des Gesprochenen so verändern, daß andere sie nicht verstanden. In der
Herrentoilette schien die Zeit stillzustehen. Zwischen Dienstbeginn und Feierabend bewegten sich die drei in einem nahezu hermetisch abgeschlossenen Raum. Erst wenn er zu Martha nach Hause kam, kehrte sein Zeitgefühl zurück, die jähe Erkenntnis, einen Körper zu besitzen. Essensdüfte und der Schimmer von Marthas Haut überwältigten ihn. Eine neue Welt schien sich ihm aufzutun.
7
Eines abends sagte Martha: »Weißt du, was ich heut gesehen hab?« Ez und Martha saßen am Tisch. Sie hatten gerade gegessen. »Nein. Was?« »Moulson, der Metzger. Importiert jetzt jamaikanische Spezialitäten. Die Nachfrage in dieser Gegend ist angeblich ziemlich groß.« »Was hat er denn?« fragte Ez. »Ziegenfleisch. Fette Ringeltauben. Sassafreet-Lizard. Magst du fritierte Eidechse?« Ez schüttelte den Kopf und rieb sich den Bauch. »Bleib mir bloß weg mit Reptilien.« Über Marthas Gesicht huschte ein Anflug von Besorgnis. »Du Armer«, sagte sie. »Die Verdauung?« »Sodbrennen.« »Ich hol dir nachher ‘n paar Tabletten.«
8
Der Mann trug einen langen Pferdeschwanz. Sein weißes, teigiges Gesicht wirkte seltsam unfertig. Er schien unter immensem Druck zu stehen. »Arbeiten Sie hier?« fragte er. Ez nickte. Der Mann stand an den Urinalen. Er sah sich um, die Decke entlang. Sein Profil wirkte scharf wie die Schneide einer Axt. »Nicht gerade toll, was?« Ez zuckte die Achseln. »Hier zu arbeiten, meine ich«, sagte der Mann. Ez legte die Gummimatte auf den Boden, kniete sich darauf und begann die Fliesen von links nach rechts zu schrubben. »Ekelhaft«, sagte der Mann halblaut. Und setzte dann, fast beiläufig, hinzu: »Ekelhaft, was die auf so einem Klo alles treiben.« Ez fragte sich, was der Mann im Schilde führte. Der sah sich alles an, als wollte er den Laden kaufen. Seine Stimme klang eigenartig, wie eine verkratzte Schallplatte. »Wissen Sie, was ich machen würde?« Ez gab keine Antwort. Der Mann wollte vermutlich ohnehin nicht hören, was er zu sagen hatte. »Den Wichsern die Eier abschneiden«, sagte der Mann. »Und sie ihnen ins Maul stopfen.« Ez hielt einen Augenblick inne und schrubbte dann weiter. »Sie hören das doch auch, oder?« fragte der Mann. Ez hörte, wie eine Kabinentür erst einmal, dann ein zweites Mal ins Schloß fiel. Seine Gehirn stellte die seltsamsten Assoziationen her, ähnlich wie Minus mal Minus Plus ergibt. Er lauschte der Stille im Innern der Kabine, dem Knistern der aufgeladenen Atmosphäre. Der Mann hatte sein Geschäft verrichtet und machte sich die Hose zu. Auch er lauschte. Ez wandte sich wieder der Kabine zu. Er hörte eine Reihe sonderbarer kleiner
Schläge, als wollte sich jemand aus einem Sarg befreien; das Geräusch war abstoßend und anziehend zugleich. Der Mann hörte es auch. Er senkte die Stimme und flüsterte: »Wollen Sie nicht was dagegen unternehmen?« Ez schrubbte weiter und wartete darauf, daß der Mann wieder ging. Er mußte Reynolds und Jason alarmieren, wollte aber unter allen Umständen vermeiden, daß der Mann mitbekam, was dann passierte. Der Tonfall des Mannes veränderte sich. Er schien eine unsichtbare Last zu tragen. Plötzlich sagte er mit ruhiger Stimme: »Du verfickter kleiner Arsch.« Ez ließ die Bürste langsam über die Fliesen gleiten. Ihm fiel keine passende Antwort ein. Der Mann stand unter einem inneren Zwang, den Ez bestenfalls erahnen konnte. »Du könntest den Arschfickern da drin die Eier polieren. Wenn du nur wolltest.« Ez bekam einen trockenen Mund. Trotzdem schrubbte er weiter den Boden und tat, als hätte er nichts gehört. Der Mann griff in seine Tasche und zog mit einer raschen, fließenden Bewegung einen Gegenstand daraus hervor. Ez hörte es leise klicken und spürte gleich darauf eine kalte Klinge im Nacken. »Ja, du«, sagte der Mann. Ez hörte auf zu schrubben. Er suchte nach Worten. Der Mann und er lauschten den Geräuschen aus der Kabine, als wären sie Komplizen. Die Stille umhüllte sie wie dichter Nebel. Ez fragte sich, wohin Jason verschwunden war. Eben noch hatte er dort drüben den Boden gewischt, jetzt schien er wie vom Erdboden verschluckt. »Du bist auch nicht besser als die«, flüsterte der Mann. »Im Gegenteil. Schlimmer.« Ez hörte, wie ganz leise eine Tür geschlossen wurde, gefolgt von kaum vernehmbaren Schritten. Aus den Augenwinkeln sah er Reynolds’ Schuhe und dahinter Jasons Sneakers. Reynolds ging neben dem Mann in Stellung, eine hohe Luftsäule. Der Mann stand stumm über Ez gebeugt und hielt ihm vorsichtig
das Messer in den Nacken. »Besser, Sie gehen«, schlug Reynolds vor. Der Mann erstarrte. Ez hatte den Eindruck, daß er Reynolds’ Gegenwart zu erfassen, ihre Umrisse zu erkunden versuchte, als würde er Reynolds nur nach und nach wahrnehmen. Der Mann sagte mit ruhiger Stimme, eine gezielte Provokation: »Noch son Scheißnigger?« Reynolds rührte sich nicht vom Fleck. Ez wartete darauf, daß er irgend etwas unternahm. »Besser, Sie gehen jetzt«, wiederholte Reynolds. Ez spürte, wie sich die Klinge in seinem Nacken langsam hin und her bewegte, als könnte der Mann sich nicht entscheiden, ob er Ez’ Halsmuskeln durchtrennen sollte. Plötzlich nickte der Mann leicht mit dem Kopf, als habe er einen Entschluß gefaßt, klappte das Messer zusammen und ging gelassen auf das Drehkreuz zu. Er umfaßte den Stahlholm und drückte ihn herunter. Dann lief er, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf ins wartende Licht.
»Alles klar?« fragte Reynolds nach kurzem Schweigen. Ez stand leise keuchend auf. In seinen Gedärmen rumorte es. »Glaub schon.« »Gut, daß Jason dich gesehen hat«, sagte Reynolds freundlich. »Und sofort zu mir gekommen ist.« Jason stand stumm lächelnd neben ihm. Ez betrat eine Kabine, machte die Tür hinter sich zu und ließ die Hosen herunter. Als es aus ihm herausschoß, war das wie eine Befreiung von all seinen dunklen Ängsten. Er saß auf der Brille und dachte nach, über den Mann mit der blassen Haut, der das Messer fest umklammert und ihm die Klinge in den Nacken gepreßt hatte, als wollte er eine Auster öffnen. Er entließ seinen lähmenden Schrecken in die Schüssel.
»Angst ist das beste Abführmittel«, meinte Reynolds hinterher. »Da bleibt kein Auge trocken.« »Und wenn er nun wiederkommt, mit seinem Messer?« fragte Ez. »Na wenn schon«, sagte Reynolds achselzuckend. »Angst haben bringt nix. Irgendwann müssen wir alle dran glauben.« »Ich weiß nicht«, sagte Ez. »Du kommst auch noch dahinter«, sagte Reynolds wohlwollend. »Nicht die Reptilien sind gefährlich. Sondern die Reptilienhasser. Höchste Zeit, daß sich hier was ändert.«
9
Tags darauf wischte Ez den Fußboden der Herrentoilette und arbeitete sich vom Eingang peu à peu zu den Kabinen vor. Er beobachtete, wie die grauen Schmutzwasserspuren, die der Mop auf den grünen Fliesen hinterließ, langsam verblaßten, bis der dünne Film schließlich getrocknet war. Ein paar Meter weiter unterhielt Reynolds sich angeregt mit Jason. Reynolds kehrte ihm den Rücken zu und stützte sich mit beiden Händen auf ein Waschbecken. Jason stand daneben. Die beiden sprachen in kaum verständlichen Kürzeln miteinander. Ihre sonderbare Körperhaltung verriet Ez, daß sie ein wichtiges Thema erörterten. Von Zeit zu Zeit warf Jason unauffällig einen Blick über die Schulter, in einen Spiegel auf halber Höhe der Toilette. Es dauerte ein paar Sekunden, bis Ez begriffen hatte, daß Jason heimlich das Spiegelbild eines Mannes am anderen Ende des Raums im Auge behielt. Ez wischte weiter, ließ den Mop mit weit ausholenden Bewegungen über den Boden gleiten und musterte den Mann in Designerjeans und Turnschuhen. Er trug einen Haarknoten und machte einen gepflegten, umsichtigen Eindruck. Während er sich scheinbar ruhig und gelassen die Hände wusch, wandte er den Blick keine Sekunde von dem Spiegel über dem Becken. Er starrte gebannt hinein, wie in ein Zimmer oder in tiefes Wasser. Ez bemerkte, daß Reynolds und Jason leise Patois sprachen. Da er etwas näher bei ihnen stand als der Mann, konnte er sie trotz des gelegentlichen Rauschens einer Wasserspülung deutlich verstehen. »Was macht er jetzt?« fragte Reynolds. »Dastehen«, sagte Jason. »Lage peilen.«
»Wo guckt er hin?« »Kabine acht.« »Schon mal gesehen?« Jason nickte. »Vor ner Weile.« »Was macht er jetzt?« »Nen langen Hals. Will zu den zwei Typen in die acht.« »Zwei? Sicher?« »Ziemlich.« Jason verstummte und dachte nach. »Schiebt nen Mordsdruck, der Typ. Wird schon ganz grün untern Kiemen.« Reynolds blickte zur Decke. Er schob den Unterkiefer vor, während er einen Entschluß zu fassen schien. Ez sah, wie das Licht den Kieferknochen entlangglitt, wo sich der Muskel spannte. Reynolds ergriff die Initiative. Er hielt einen Moment inne und riß sich zusammen, dann plötzlich platzte der Knoten. Er drehte sich um und ging eilig durch den langen, schmalen Raum. Jason folgte seinem Beispiel und hielt sich seitlich hinter ihm. Ez’ Blick wanderte zu dem Mann zurück, der noch nicht ahnte, daß sich etwas verändert, daß sich das Gleichgewicht der Kräfte mit einem Schlag zu seinen Ungunsten verschoben hatte. Reynolds und Jason marschierten Seite an Seite durch den Raum. Ez schaute ihnen nach. Der Mann hatte sich völlig auf den Spiegel konzentriert und sah Reynolds und Jason erst jetzt kommen. Wie von der Tarantel gestochen schrak er auf, stürzte zur Tür von Kabine Nummer acht und klopfte dreimal an. Dann stürmte er auf die Drehkreuze zu und wollte sich davonmachen. Kurz vor der Schranke holte Jason ihn ein und versetzte ihm einen kräftigen Stoß. Der Mann geriet ins Straucheln und schlug hin. Mit einem Mal hatte Ez den Eindruck, daß nicht nur hektische Betriebsamkeit, sondern auch kakophonischer Lärm,
wie aus tausend Lautsprechern, den Raum erfüllte. Reynolds brüllte. »Raus hier!« Jason stand neben ihm und rief: »Ich kenn dich!« Der Mann erholte sich erstaunlich schnell und stand mit verblüffender Gewandtheit auf. Dann, ganz so, als sei er nur versehentlich ausgerutscht und hingefallen, setzte er sich wieder in Bewegung. Ohne seine beiden Verfolger eines Blickes zu würdigen, hob er betont lässig die Hand und schwankte zum Ausgang. Er kämpfte gegen das Drehkreuz an wie ein Schwimmer gegen den Strom. Reynolds war vor Kabine acht in Stellung gegangen. Ein zweiter Mann, groß und dünn, kam herausgestürzt. Reynolds rammte ihn mit der Schulter und trat ihm in die Ferse. Der Mann klatschte auf die Fliesen, wo er, wie ein Käfer auf dem Rücken, stumm zappelnd liegenblieb. Währenddessen stemmte Jason die Tür auf und zerrte einen jungen Mann im T-Shirt aus der Kabine, den das grelle Licht zu blenden schien. Ez hatte den Eindruck, daß Reynolds und Jason bewußt die Ruhe störten, um sämtliche Kabinenbenutzer ihre Wut und Empörung spüren zu lassen. Reynolds schrie: »Wir holen die Polizei!« Jason stand neben ihm und brüllte: »Wir haben eure Namen und Adressen!« Während die beiden Männer überstürzt das Weite suchten, rief Reynolds ihnen nach: »Ich schreib euren Familien!« Der Satz hallte die leeren Stufen hinauf. Als er das Drehkreuz passiert hatte, rückte der Ältere seine Krawatte zurecht, um sich wenigstens den Anschein von Würde zu geben, und stieg die Treppe hoch. Hinter ihm scharrte der Jüngere ungeduldig mit den Füßen. Da er sich sicher wähnte, blieb er trotzig in Sichtweite des Drehkreuzes. Jason ging auf ihn zu. Der junge Mann tat, als habe er ihn nicht gesehen, drehte sich um und rannte mit beschwingten Schritten die Treppe hinauf, als müsse er einen dringenden Termin wahrnehmen. Die weißen Turnschuhe mit den schwarzen
Sohlen verschwanden, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf ins wartende Licht – weiß, schwarz, weiß, schwarz.
10
Reynolds wandte sich zu Jason um. Ez fiel auf, daß die beiden jeden Blickkontakt vermieden. Jason schien in Gedanken versunken. »Teestunde«, verkündete Reynolds. Ez blickte durch das leere Drehkreuz. Mit einem Mal schien es in der Herrentoilette eiskalt geworden zu sein, als hätte der jähe Gewaltausbruch sie zutiefst traumatisiert. Reynolds sah, daß Ez zögerte, und sagte: »Komm! Damit hier endlich wieder Ruhe einkehrt.« Von oben fiel Licht in das Büro. Der Kessel pfiff und zitterte, als er zu kochen anfing. Jason schaltete ihn aus und goß das heiße Wasser in die Kanne. Draußen knallte eine Kabinentür. Jason sagte: »Die andern haun jetzt auch ab.« Eine zweite Tür knallte. Als es wieder still war, nahm Jason das Tablett mit Milch und Zucker, trug es zu Reynolds’ Schreibtisch und verteilte Tassen und Untertassen. Reynolds schenkte steif drei Tassen ein, reichte Jason eine, Ez die andere. Ez’ Herzklopfen hatte sich gelegt, und er hatte auch keinen trockenen Hals mehr. »Ihr seid ganz schön brutal, ihr beiden«, meinte er. Reynolds gab zwei Löffel Zucker in seinen Tee und rührte um. Sie schwiegen eine Weile. Jason holte sich einen Stuhl und schüttete Milch in seinen Tee. »Brutaler als nötig«, setzte Ez hinzu. Reynolds trank ein paar Schlucke heißen Tee. Er machte ein gleichgültiges Gesicht. »Wir haben Anweisung vom Amt, sie vor die Tür zu setzen. Wir tun nur unsere Pflicht.«
»Und wieso ausgerechnet heute?« fragte Ez. »Weil du gestern mit ‘‘nem Messer bedroht worden bist«, antwortete Reynolds. »Aber nicht von ‘nem Reptil.« »Ist doch Jacke wie Hose«, sagte Reynolds. »Wir schmeißen die Typen raus. Und dann ist Ruhe im Karton.« »Die lernen ziemlich schnell«, ergänzte Jason. »Und wenn’s einer weiß, wissen’s die andern auch.« Ez dachte nach. Reynolds wirkte gelöst, Jason entspannt wie immer. »Und wenn sie nachher draußen warten«, gab Ez zu bedenken, »und euch überfallen?« Reynolds hörte auf, in seinem Tee zu rühren. Er legte den Löffel weg und pustete sacht in die Tasse. »Denkste, die wollen erkannt werden? Denkste, die gehen zur Polizei? Die können von Glück sagen, wenn wir sie nicht hochnehmen lassen.« Jason nickte. »Sonst kommen wir noch in Verruf«, fuhr Reynolds fort. »Vor drei Jahren haben sie uns zwei Bullen geschickt, die haben sich von morgens bis abends in ner Kabine verkrochen und dauernd obendrüber gelinst. Und die kommen wieder, wenn wir nicht ab und an hart durchgreifen.« In der Herrentoilette war wieder alles ruhig. Hin und wieder hörte Ez die leisen Schritte eines Kunden, der über die Fliesen zu den Urinalen ging. Erstaunlich, wie schnell sich die Kabinen nach dem Tumult geleert hatten, als ob eine ganze Population ihre ökologische Nische panikartig verlassen hätte. Er versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, wie viele Türen geschlossen, wie viele Kabinen besetzt gewesen waren, als Reynolds die Offensive gestartet hatte. Fast alle. Zum zweiten Mal an diesem Tag kam Ez der Gedanke, daß Reynolds und Jason nur Theater spielten, und die stummen Männer hinter den Kabinentüren waren ihr Publikum.
»Immer feste druff«, meinte Jason und setzte hinzu: »So haben alle was davon.« Ez nickte, eher aus Gewohnheit als vor Begeisterung.
11
Martha hatte sich Möbel aus einheimischen jamaikanischen Hölzern gewünscht – Zeder, Sterkulie, Balata-, Zypern- und Ebenholz. Sie und Ez hatten sich aus dem schweren dunklen Holz des Guajakbaums, der jamaikanischen Nationalpflanze, eine Vase machen lassen. Das Holz war so schwer, daß es im Wasser versank. Aus Mandeville hatte sich Martha große Zedernschränke liefern lassen, die ihrem Vater gehört hatten. Ez liebte den Duft des Zedernholzes, der ihm ein Gefühl der Behaglichkeit veschaffte. Das Holz war hellrot gemasert, feuriger und lebendiger als Mahagoni. Martha lag von ihm abgewandt. Ihre Atemgeräusche verrieten ihm, daß sie noch wach war. Nach einer Weile fragte Martha: »Woran denkst du?« »Whitey.« Martha drehte sich auf den Rücken und sah an die Decke. Ez war, als schwebten sie gemeinsam in der Dunkelheit, durch ihre Gedanken aneinandergefesselt. »Wieso Whitey?« »Whitey steht morgens auf, frühstückt, gibt seiner Frau nen Abschiedskuß und tätschelt seinen Kindern den Kopf. Dann geht er aufs Männerklo, verschwindet mit ‘nem andern Mann in ner Kabine und läßt die Hose runter.« Die Dunkelheit ringsum schien sich zu verdichten, ihn buchstäblich verschlingen zu wollen. »Was?« fragte Martha leicht amüsiert. »Mit ‘nem andern Mann?« »Ich kann ihre Füße unter der Kabine durch sehen. Mal zeigen sie in dieselbe Richtung. Mal kniet der eine vorm andern. Und so weiter.« Martha zögerte. »Soll das ‘n Witz sein?«
»Nein«, sagte Ez. »So geht das von morgens bis abends.« Er spürte, wie sie im Dunkeln hin und her überlegte. »Und was macht ihr dagegen?« »Mr. Reynolds und Jason führen Krieg. Gegen die Flut von Perversen. Und setzen sie andauernd vor die Tür.« »Hilfst du ihnen dabei?« »Manchmal.« Martha schwieg eine Zeitlang. Dann fragte sie leise: »Macht dir deine Arbeit keinen Spaß?« »Das Komische ist, nach ner Weile hat man sich dran gewöhnt. So isses nun mal.« Martha drehte sich auf seine Seite. Er spürte das gleichmäßige Beben des Bettes, die Bewegung ihrer breiten Hüften. Er rückte näher an ihren warmen Körper. Nachdem Martha ihn eine Weile mit verdutzter Miene betrachtet hatte, entspannte sie sich. »Jeder ist anders«, meinte sie. »Die einen sind so, die andern so. Und manche sind eben schwul.« Ez hatte keine Lust zu streiten. Irgend etwas zog ihn hinab, in die Dunkelheit, die Stille, nach Jamaika. Doch sein Hang zur Genauigkeit ließ ihm keine Ruhe. Er hörte seine Stimme wie aus weiter Ferne. »Ich glaub, die sind gar nicht schwul. Schwule brauchen sich nicht auf öffentlichen Toiletten rumtreiben. Die gehen woandershin. Die Männer, die zu uns kommen, haben Familie und sind einsam.« »Familie?« »Mr. Reynolds hat mir erzählt, wie er einen ins Büro hat gehen sehen. Notar, Anwalt, irgend so was in der Art. Dann hat er denselben Mann mit Frau und Kindern im Auto gesehen.« Martha schloß die Augen, um sich zu konzentrieren, und machte sie dann wieder auf. »Was es nicht alles gibt.«
Ez sah den Widerschein des Lichts auf ihren Wangenknochen, den matten Glanz auf ihren Lidern. Ihre Augen waren noch immer offen, obwohl er ihren Gesichtsausdruck im Dunkeln nicht erkennen konnte. Tags darauf, in der Mittagspause, saßen Ez, Reynolds und Jason im Büro und aßen ihre Sandwiches. »Preisfrage«, sagte Reynolds. Er schluckte einen Bissen hinunter und sprach weiter. »Wovor haben die Reptilien am meisten Angst?« »Wovor?« fragte Ez. Reynolds zeigte auf eine Kamera, die an einem Trageriemen an der Wand hing. »Erkannt zu werden.« »Sie haben sie fotografiert?« Reynolds schüttelte den Kopf. »Nur damit gedroht.« »Aber kein Foto gemacht.« »Ist ja noch nicht mal ‘n Film in der Kamera.« »Wieso nicht?« »Zu gefährlich. Wer weiß, wenn son Reptil denkt, du hast ihn geknipst, wird er vielleicht sauer und probiert, dir die Kamera wegzunehmen. Ich hab bloß ‘n bißchen damit gewedelt, sie mir vors Gesicht gehalten und so getan als ob.« Er biß in sein Sandwich. »Psychologie.« Die drei aßen schweigend weiter. »Wißt ihr was?« fragte Jason schließlich. Während er nachdachte, mahlte sein Unterkiefer. »Heut morgen seh ich zufällig, wie zwei Typen in Nummer drei verschwinden. Ich schnapp mir den Spazierstock. Leg mich auf ‘n Boden und hau ihnen damit gegen die Knöchel. Nix tut sich.« »Reptilien«, sagte Reynolds mitfühlend. Jason kaute gedankenverloren vor sich hin. »Hat alles kein Zweck. Also steck ich ‘n Kopf unter der Tür durch, guck hoch und seh zwei fette weiße Backen.« »Red kein Quatsch, Mann.« »Ich guck hoch, ziel mit dem Spazierstock genau zwischen die Backen. Und stoß zu.« Jason machte eine anschauliche
Aufwärtsbewegung mit seiner freien Hand. »Du bist ‘n schlechter Lügner, Jason«, meinte Reynolds und setzte kurz darauf hinzu: »Und dann?« Jason stieß kichernd einen schrillen Lustschrei aus. Reynolds prustete vor Lachen. »Du bist ein erbärmlicher Lügner, weißt du das?« »Von wegen«, widersprach Jason. »Du bist der größte Lügner, der mir je untergekommen ist«, sagte Reynolds mit unverhohlener Bewunderung. »Das ist die nackte Wahrheit.« »Wers glaubt.« »Die nackte Wahrheit.« »Wer’s glaubt, wird selig.« »Dann schnupper doch am Stock.« Reynolds brach in schallendes Gelächter aus. »Soweit kommt’s noch. Du schäbiger Lügner.« Er wandte sich an Ez und fragte: »Willst du mal am Stock schnuppern?« »Ich bin am essen.« Alle drei lachten leise. Reynolds wechselte das Thema. »Heut kommt Mrs. Steerhouse.« »Steerhouse?« fragte Ez. »Vom Amt. Routinebesuch. Die ist in Ordnung. Kommt einmal im Monat zur Kontrolle.« Sie vertilgten ihre Brote und wischten die Krümel vom Tisch. Später reinigte Ez die Klosetts, schrubbte die Schüsseln erst mit einer harten Bürste und betätigte dann die Spülung. Als er aus einer Kabine kam, sah er eine blonde, fröhliche Frau Anfang vierzig, die ihm vom Drehkreuz her zuwinkte. Er stellte Mop und Eimer weg, ging zum Drehkreuz und schaltete den Mechanismus per Knopfdruck ab. Dann trat er beiseite, damit Mrs. Steerhouse ihre ausladenden Hüften hindurchzwängen konnte. »Danke«, sagte Mrs. Steerhouse. Ez nickte, ging voran und klopfte an Reynolds’ Tür. Die Tür wurde geöffnet, und da stand Reynolds, groß wie ein Baum.
»Mrs. Steerhouse«, sagte Reynolds. »Kommen Sie rein.« »Tag, Mr. Reynolds.« Die Tür fiel ins Schloß. Ez ging weiter von Kabine zu Kabine und schrubbte die Klosetts. Nach gut zwanzig Minuten öffnete sich die Tür seines Vorgesetzten wieder, und Reynolds streckte den Kopf hindurch. »Ez«, rief er. »Komm rein.«
Mrs. Steerhouse und Jason saßen, jeder mit einer Tasse Tee, am Tisch in Reynolds’ Büro. Reynolds stellte Ez übertrieben förmlich vor. »Mrs. Steerhouse, Ezekiel Murphy.« Ez beugte sich über den Tisch und schüttelte der fröhlich lächelnden Mrs. Steerhouse die Hand. »Mr. Murphy.« Reynolds reichte Ez eine Tasse Tee. »Danke«, sagte Ez. Reynolds nahm sich einen Stuhl, bedeutete Ez, Platz zu nehmen, und tat es ihm dann nach. »Mrs. Steerhouse meint, wir haben ‘n Problem.« Ez sah sie an. Sie hatte porzellanblaue Augen und ein geradezu gnadenlos fröhliches Gesicht. Doch hinter der freundlichen Fassade verbarg sich eine gewisse Wachsamkeit. »Ich wiederhole am besten, was ich eben schon gesagt habe«, sagte sie. »Ich habe Anweisung vom Ordnungsamt, neuerlichen Beschwerden auf den Grund zu gehen, denen zufolge auf dieser Herrentoilette regelmäßig unzüchtige Handlungen vorgenommen werden.« Ez stutzte bei den ungewohnten Formulierungen. Reynolds übersetzte. »Zu viele Reptilien.« Ez nickte zögernd und wandte sich wieder Mrs. Steerhouse zu. Die fuhr fort: »Es gibt in dieser Angelegenheit bereits seit Jahren immer wieder Beschwerden. Der Volksmund nennt Örtlichkeiten wie diese auch ›Klappe‹.« Sie räusperte sich. ›»Klappe‹?« fragte Ez.
»Das hat nichts mit der derzeitigen Geschäftsführung zu tun. Diese Lokalität steht schon seit ich denken kann in keinem guten Ruf. Nur zeigt sich das Amt in letzter Zeit etwas aufgeschlossener für die gelegentlichen Beschwerden der normalen, will sagen, regulären Kunden. Ein oder zwei Kunden sind belästigt worden. Ein älterer Herr hat zu Protokoll gegeben, er habe einen Akt mit ansehen müssen, den er lieber nicht mit angesehen hätte.« Reynolds nickte. »Schrecklich.« »Wie Sie wissen, ist eine öffentliche Bedürfnisanstalt laut Gesetz eine öffentliche Einrichtung. Demnach sind sexuelle Handlungen zwischen Männern in diesen Räumlichkeiten per se illegal und somit strafbar.« »Selbstverständlich, Mrs. Steerhouse.« »In Anbetracht der Umstände hat man mich beauftragt, enstprechende Ermittlungen in die Wege zu leiten und einen Bericht vorzulegen.« Betretenes Schweigen machte sich breit. »Und wenn der Bericht…«, begann Reynolds. »Negativ ausfällt?« fragte Mrs. Steerhouse. Die Antwort kam so schnell, als sei sie einstudiert. »Könnte sich das Amt gezwungen sehen, Maßnahmen zu ergreifen – Maßnahmen, die schlimmstenfalls die Schließung dieser Lokalität zur Folge hätten.« Das Wort »Lokalität« schien Jason zu belustigen. »Lokalität«, sagte er leise vor sich, bis Reynolds ihn mit einem strengen Blick zum Schweigen brachte. »Wie die Dinge liegen«, fuhr Mrs. Steerhouse fort, »kann ich leider nicht umhin, Ihnen hiermit eine offizielle Verwarnung auszusprechen. Sollte es Ihnen nicht gelingen, den beanstandeten Aktivitäten binnen drei Monaten einen Riegel vorzuschieben, könnte es sein, daß diese Örtlichkeit geschlossen wird. Was selbstredend zur Folge hätte, daß Sie Ihren Arbeitsplatz verlieren, so leid es mir tut.« Pulsierendes Schweigen erfüllte den Raum. Nach einer Weile sagte
Reynolds: »Wir geben uns die größte Mühe, damit hier alles seinen geregelten Gang geht. Sollen wir etwa groß reinemachen oder was?« »Wie meinen Sie das?« fragte Mrs. Steerhouse. »Ich meine«, antwortete Reynolds, »sollen wir vielleicht mit in die Kabinen gehen? Oder wie sollen wir dafür sorgen, daß nix passiert?« Mrs. Steerhouse wirkte nervös. Ein Hauch von Rosa färbte ihre Wangen. »Daß es in einer rege frequentierten Großstadtlatrine wie dieser hin und wieder zu Zwischenfällen kommt, Mr. Reynolds, versteht sich von selbst. Trotzdem sind wir uns doch einig, daß sich der Ruf dieser Einrichtung über kurz oder lang bessern muß.« Ez starrte in das Licht, das von oben auf den Tisch herunterstach. »Durchaus«, sagte Reynolds. »Gut.« Mrs. Steerhouse stellte freundlich lächelnd ihre Tasse auf den Tisch. »Der Tee ist übrigens ausgezeichnet.« Sie stand auf. »Na, dann will ich mal wieder.« Zu Reynolds und Jason sagte sie: »Hat mich gefreut, Sie wiederzusehen.« Und zu Ez: »Ich hoffe, Sie leben sich an Ihrem neuen Arbeitsplatz gut ein.« Ez nickte. Mrs. Steerhouse nahm ihre Handtasche. Sie wollte gerade gehen, als Jason sagte: »Mrs. Steerhouse.« Mrs. Steerhouse drehte sich noch einmal um. »Ja, Jason?« Jason holte den Spazierstock hinter dem Rücken hervor. »Wir haben uns über den Stock hier unterhalten. Er hat son merkwürdigen Geruch an sich, echt komisch.« »Einen komischen Geruch«, sagte Mrs. Steerhouse. »Ach wirklich?« Jason hielt Mrs. Steerhouse die Spitze des Spazierstocks unter die Nase. »Ich weiß echt nicht, wo dran er mich erinnert.« Als Jason Mrs. Steerhouse an dem Spazierstock schnuppern ließ,
kreuzten sich einen Moment lang ihre Blicke. »Ein bißchen streng, was immer es auch ist«, sagte Mrs. Steerhouse. Sie trat lächelnd einen Schritt zurück, machte die Tür auf und sagte fröhlich: »Wiedersehen, die Herren.« Die drei warteten, bis ihre Schritte verklungen waren. Dann bog Reynolds sich vor Lachen. »Mann, Jason, du bist echt schlimm. N schlimmer Finger. Du bringst mich noch ins Grab.« Jason verzog keine Miene, während Reynolds und Ez sich allmählich beruhigten. Reynolds machte ein ernstes Gesicht. »Und wie gehts jetzt weiter, Leute?« Er sah die beiden anderen fragend an, doch weder Ez noch Jason wußten eine Antwort.
12
Lautes Geschirrgeklapper hallte durch Ez’ Wohnung. Steve saß Ez schweigend gegenüber und schaufelte gedankenverloren sein Saltfishcurry mit Ortaniques in sich hinein. Er war ein paar Zentimeter größer als Ez, schlanker und bewegte sich mit der Eleganz eines Sportlers. Manchmal verzog er den Mund zu einem schiefen Grinsen. »Und? Wie gefällt dir deine neue Arbeit?« fragte Ez beiläufig. Steve wirkte abwesend, fast mürrisch. »Geht so.« »Trainierst du jetzt nicht mehr im Club?« »Keine Zeit.« Martha machte eine winzige Handbewegung, ein Zeichen der Nervosität oder des Unbehagens. Ez wußte, daß sie es nicht ausstehen konnte, wenn er und Steve sich in die Haare gerieten. Ihre Augen flehten um Erbarmen. Ez sah von Steve zu ihr und wieder zurück. »Und wieso ausgerechnet Friseur?« Steve zuckte die Achseln. »Ist auch Arbeit.« »Es gibt anständigere Berufe.« »Friseur ist ein anständiger Beruf«, meinte Martha. Ez beachtete sie nicht. »Bist du vielleicht hinter weißen Mädchen her?« Steve sah entnervt auf. Er schaute erst Martha an, dann wieder auf seinen Teller. Ez ingorierte ihren Blickwechsel und sagte: »Wieviel verdienst du?« »Vierundachtzig Pfund Grundlohn die Woche«, antwortete Steve. Ez schwieg. »Plus um die hundertdreißig Pfund an Trinkgeld.« »Hundertdreißig Pfund!«
Ez kochte vor Wut. Obwohl er ihm am Tisch gegenübersaß, schien sein Sohn in einer anderen, eigenen Welt zu leben. Steve ließ sich nicht einschüchtern und erwiderte den Blick. »Da kann er uns finanziell doch ‘n bißchen unter die Arme greifen«, sagte Martha. »Hundertdreißig Pfund?« »Der Junge hat Talent«, flehte Martha. »Er hat Zukunft. Er hat doch erst vorn paar Wochen damit angefangen.« Steves Blick wanderte erneut zu Martha, dann zurück zu Ez. »Soll ich ausziehen?« Ez aß schweigend weiter. Martha traute sich nicht, etwas zu sagen, und stocherte in Saltfish und Reis. Nachmittags veränderte sich die Beschaffenheit des Lichts in der Herrentoilette. Es wurde dick und undurchdringlich, wie Nebel oder Dunst. Manchmal schien es die Atmosphäre förmlich auszusaugen. Ez wischte den Boden und betrachtete die lange Reihe von Urinalen. Kunden kamen und gingen. Zwei Männer trockneten sich unter den Heißlufttrocknern die Hände. Ein dritter stand an einem Urinal und machte sich die Hose zu. Alles schien friedlich. Als Ez zur Mittagspause ins Büro kam, saß Reynolds mit düsterer Miene da und aß sein Sandwich. Am anderen Ende des Tisches stippte Jason ein Stück Roggenbrot in die Reste seines vegetarischen Ital-Menüs, kaute nachdenklich darauf herum und spülte es mit einem Schluck Tee hinunter. Beide – Reynolds und Jason – legten eine geradezu fanatische Konzentration an den Tag. »Wie viele Reptilien müssen wir eigentlich noch vor die Tür setzen, damit die vom Amt zufrieden sind?« fragte Reynolds. »Zu viele«, meinte Jason mit vollem Mund. Die drei waren mit den Geräuschen in der Toilette wohlvertraut – dem zögernden Mechanismus des Drehkreuzes, wenn ein Besucher hereinkam, den Schritten zu den Urinalen, bis er vor der
gekachelten Wand stehenblieb, den Schritten zurück zum Ausgang und schließlich dem jähen, entschlossenen Klappern des Drehkreuzes, wenn er wieder ging. Ein so gleichmäßiger Rhythmus, daß sie ihn kaum noch wahrnahmen. Kabinentüren klappten auf und zu. Obwohl Reynolds und Jasons Gewaltausbruch erst ein paar Tage zurücklag, hatte Ez den Eindruck, daß die Population längst in ihre alte Nische zurückgekehrt war. »Also, ich seh das so«, sagte Jason. »Bis jetzt haben wir mit den Reptilien in so ner Art ökologischem Gleichgewicht zusammengelebt. Der Laden hier ist wie ‘n Sumpf. Wenn man ein Reptil vor die Tür setzt, steht sofort das nächste auf der Matte.« Ez blickte von einem zum anderen. Die Ernsthaftigkeit ihres Gesprächs amüsierte ihn. Reynolds und Jason aßen weiter und dachten über Gott und die Welt nach. »Was denkste, hä?« erkundigte Reynolds sich nach einer Weile bei Jason. Jason schwieg. »Was ‘n los?« wiederholte Reynolds. »Nix.« »Es ist doch wirklich zum Kotzen mit dir«, sagte Reynolds nachdrücklich. »Manchmal bist du ein echter Kotzbrocken.« Jason trank einen Schluck Tee und rülpste leise. »Wie wär’s, wenn wir den Sumpf trockenlegen?« Reynolds verschluckte sich fast. Da er Jason für einen begnadeten Strategen hielt, lächelte er Ez verstohlen zu. Ez schien etwas sagen zu wollen, doch Reynolds hob einen Finger an die Lippen und ermahnte ihn zum Schweigen. »So wie ich das seh«, sagte Jason, »mögen die Reptilien keine Zuschauer.« Sie starrten ihn an. »Und wenn. Und wenn wir nun so tun, als ob wir sie beobachten würden?«
Reynolds kniff argwöhnisch die Augen zusammen. »Wie ‘n das?« »Wir hängen ‘n Schild auf.« »Und was soll da draufstehen?« »Irgendwas Offizielles. ›Überwachungskabine‹ oder so.« »Wozu ‘n das?« Reynolds schwante, was Jason vorhatte. »Du willst doch nicht etwa die Polizei einschalten?« »Quatsch, Polizei.« »Und wer soll sie dann überwachen?« »Keiner. Wir hängen bloß ‘n Schild auf.« »Was denn für ‘n Schild?« fragte Raynolds. »Hab ich doch grad gesagt«, antwortete Jason. »Und wo?« »An ner Kabine.« »An ner Kabine?« fragte Reynolds. »Und an welcher?« »Ist doch egal.« Einen Moment lang herrschte Schweigen, und Reynolds dachte nach. »Und woher kriegen wir das Schild?« »Harry«, sagte Jason. »Drüben in Chiswick.« »Big Harry?« Jason nickte. »Gar nicht so dumm«, meinte Reynolds. »Gar nicht so dumm.« Am nächsten Sonntag zogen Ez und Martha ihre besten Kleider an und gingen zum Gottesdienst in die Second Adventist Church. Die Männer trugen einen dunklen Anzug, die Frauen Hut. Fast alle trugen Schwarz, nur hier und da war Weiß zu sehen. Ihr Pfarrer Hosanna Davies predigte von der Kanzel herab. Einige seiner Vorfahren stammten angeblich aus Wales. Seine Baßstimme hallte durch das Kirchenschiff. »Wenn ich an einem Obststand einen Apfel stehle, einen
winzigen Apfel nur, was habe ich dann getan?« fragte Pfarrer Davies die Gemeinde. »Ich habe die Grenze zum Bösen überschritten, und habe ich diese Grenze erst einmal überschritten, was hindert mich dann noch, den nächsten Schritt zu tun? Was hindert mich, so frage ich euch, noch tiefer in die Finsternis vorzudringen? Haben wir das Licht erst einmal hinter uns gelassen, bleibt uns nur das Dunkel der ewigen Finsternis. Wenn ich einen Apfel gestohlen habe, was unterscheidet mich dann noch von gemeinen Verbrechern, die ihren Lebensunterhalt mit Diebstählen bestreiten, oder von Straßenräubern und Mördern? Eigentlich nichts.« »Amen«, sagte die Gemeinde. »Haben wir erst einmal den dunklen Fluß zum Schatten des Bösen überquert, so sind wir verirrte Schäfchen. Daher lasset uns tugendhaft bleiben und dem Bösen widerstehen. Denn hat sich das Böse eurer erst einmal bemächtigt, ist der Weg zurück zur Herde schmal und steinig, und ihr werdet nur mit Mühe heimwärts finden.« »Gelobt sei der Herr«, sagte die Gemeinde. »Lasset uns denen helfen, die da den breiten Weg beschritten und dem Bösen sich anheimgegeben haben. Wenn ihr die Hand zum Bunde reicht, so hütet euch vor falschen Versprechungen und prüfet alles, was von euch verlangt wird. Denn schon so mancher ist in die Fänge des Bösen geraten, nur weil er gleichgültig war gegen das Treiben seiner Nächsten.« Nach der Predigt legte Ez einen Fünf-Pfund-Schein in den Klingelbeutel und reichte ihn an seinen Sitznachbarn weiter. Als Ez und Martha Arm in Arm aus der Kirche kamen, stand Pfarrer Davis vor dem Klinkerbau. »Wie geht’s, Ez?« »Gut, Herr Pfarrer, gut.« »Und Ihnen, Martha?« »Kann nicht klagen.« »Meine Frau dankt Ihnen schön für den Blumenschmuck.«
»Keine Ursache«, sagte Martha. Pfarrer Davis beugte sich freundschaftlich und verschwörerisch zu Ez. »Mir ist aufgefallen, daß Sie fünf Pfund in den Klingelbeutel gelegt haben. Sind Sie wieder in Lohn und Brot?« Ez nickte. »Hab nen neuen Job.« »Gelobt sei der Herr. Sie Glückspilz. Heutzutage sitzen ja so viele Menschen auf der Straße.« »Verflixte Arbeitslosigkeit.« »So haben wir alle unsere Last zu tragen«, sagte Pfarrer Davis. »Hüte dich vor der Schlange, die zu deinen Füßen lauert.« Ez deutete auf sein Auge. »Ich hab ‘n Auge auf die Reptilien.« »So ist’s recht.« Pfarrer Davis nickte weise. »Dann auf Wiedersehen!« Ez und Martha gingen weiter. Das nächste Paar näherte sich dem Geistlichen.
Beim Mittagessen fragte Ez: »Wo ist eigentlich Stevie?« »Mit Freunden unterwegs«, antwortete Martha. »Wer weiß, mit wem der Junge sich wieder rumtreibt.« »Also wirklich«, sagte Martha. »Seine Freunde wird er sich ja wohl noch selbst aussuchen dürfen.« Sie lächelte und aß weiter. »Was macht die Arbeit? Zufrieden?« »Geht so. Mr. Reynolds und Jason wollen den Sumpf trockenlegen.« »Den Sumpf trockenlegen?« »Die Reptilien verscheuchen.« »Was denn für Reptilien?« »Die Perversen.« Martha aß wortlos weiter.
»Und du hilfst ihnen dabei?« Ez stocherte eine Weile gedankenverloren in seinem Essen. »Die beiden…« Ez schüttelte den Kopf. »Die brauchen keine Hilfe. Immer nur Unfug im Kopf.« Er kicherte in sich hinein. »Dieser Jason.« Als sie sich abends im Schlafzimmer auszogen, streifte Martha ihr Nachthemd über und schlang Ez von hinten die Arme um die Brust. »Danke, daß du soviel Verständnis für Stevie aufbringst.« Ez lächelte, obwohl ihn zwiespältige Gedanken quälten. Er drehte sich um und nahm Martha in die Arme. Sie sah ihn verliebt an und kicherte über seine jähe, ungeahnte Leidenschaft. »Was is’n heute mit dir los?« Engumschlungen fielen sie ins Bett. Hinterher stieß Martha einen tiefen, zufriedenen Seufzer aus. Ez lächelte sie glücklich an. Sie stieg von ihm herunter und legte sich neben ihn, so daß ihr Gesicht an seiner Wange ruhte und sie sein Profil betrachten konnte. »Woran denkst du?« fragte Martha. Ez ließ den Blick durchs Zimmer schweifen, vom Kleiderschrank, den er gezimmert hatte, zur Mahagonikommode, die sie aus Marthas Elternhaus in Mandeville hatten kommen lassen. Ihr Vater war als leitender Angestellter bei einem Rechtsanwalt tätig gewesen. Manchmal fragte sich Ez, ob er ihrer überhaupt würdig war. »An die Arbeit.« Martha legte die Hand an seine Wange und streichelte sie. »Wieso?« fragte sie. »Weißt du, was mich an den Reptilien am meisten schockiert?« Sie zögerte. »Nein. Was?« »Nicht, was sie machen.« »Sondern?« Er suchte nach Worten. »Wie.« »Wie meinst ‘n das?«
»Es gibt kein Vorher«, sagte Ez, »kein Geflirte und kein Garnix, sondern es geht schnurstracks zur Sache. Von jetzt auf gleich. Und kein Nachher. Kaum sind sie fertig, sind sie auch schon weg, wie aus der Pistole geschossen. Sprechen kein einziges Wort. Und sehen sich wahrscheinlich nie wieder.« »Das schockiert dich?« Ez blickte in die Dunkelheit. »Und wie ist das mit Männern und Prostituierten?« fragte Martha. »Rein, raus. Und tschüs! Schockiert dich das etwa auch?« Er wollte ihr widersprechen, ihr sagen, daß Männer zuweilen durchaus um Prostituierte warben – wenn auch auf sonderbare und oberflächliche Art und Weise. Er wollte ihr sagen, daß Männer aus den verschiedensten Gründen zu einer Prostituierten gingen, sei es um sich auszusprechen, sei es weil sie einfach nur in den Arm genommen werden wollten. Vor allem aber wollte er ihr sagen, daß sie sich die Herrentoilette gar nicht vorstellen konnte, die wollüstige Atmosphäre, den seltsamen Geruch nach Exkrementen und unerbittlichem Metall. »Willst du mir keine Antwort geben?« fragte Martha. Statt dessen sagte er: »Du hast mal wieder recht.« Es erstaunte ihn, als wie tröstlich er dieses Eingeständnis empfand, wie den Kniefall vor einem Gott. Endlich konnte er ruhig und zufrieden schlafen.
13
Am nächsten Morgen stand Ez in der Tür einer Kabine und schaute hinein. Jason hockte drinnen und zeigte mit dem Finger. »Guck mal hier.« Jason deutete auf ein kleines Loch, das jemand in die Trennwand gebohrt hatte. Ez zwängte sich durch die Tür, damit er besser sehen konnte. Die Öffnung befand sich knapp einen Meter über dem Boden, hatte einen Durchmesser von etwa fünf Zentimetern und war fast kreisrund. »Guck.« Jason steckte den Finger durch das Loch und wackelte damit. »Guckloch?« fragte Ez. »Nee, Mann. Ich zeigs dir.« Jason tat, als machte er sich die Hose auf und preßte seinen Unterleib gegen das Loch. »Das ist für was anderes, Mann.« Ez wandte sich ab und versuchte sein Gelächter zu unterdrücken. Jason stemmte seinen Unterleib gegen das Loch und rollte mit den Augen. »Das Reptil auf der andern Seite fährt total drauf ab, Mann.« Reynolds hatte sich um ein paar Minuten verspätet. Er stand am Drehkreuz und winkte Ez, der sich immer noch vor Lachen bog. Ez ging zu ihm, drückte auf einen roten Knopf an der Innenseite des Drehkreuzes und ließ ihn durch. Reynolds hielt eine blaue Plastiktüte in der rechten Hand. Er schaute Jason in der Kabine an und schüttelte den Kopf. Leicht betreten räumte Jason die Stellung. Reynolds schloß seine Bürotür auf. »Kommt mal her, ich muß euch was zeigen.«
Ez und Jason folgten Reynolds ins Büro. Reynolds zog seinen Mantel aus und hängte ihn auf. Dann griff er in die Plastiktüte und förderte ein kleines, graviertes Schild mit schwarzer Schrift auf weißem Grund zutage. Ez und Jason lasen ÜBERWACHUNGSKABINE. PRIVAT. Reynolds griff ein zweites Mal in die Tragetasche, holte eine Videokamera samt Wandhalterung daraus hervor und legte beides auf den Tisch. »Was hast’n dafür gelöhnt?« fragte Jason. »Drei Pfund. Kaputte Überwachungskamera. Total im Eimer. Hab ich aus ‘nem Second-hand-Laden in der Balls Pond Road.« Reynolds nahm die Kamera und richtete sie auf Jason. »Und?« »Wahnsinn«, sagte Jason. »Wir bringen sie am besten gleich an.« Reynolds legte die Videokamera wieder auf den Tisch und holte einen Schraubenzieher und eine Packung Schrauben aus seiner Tragetasche. »Zum Aufhängen.« Sie betrachteten die Gegenstände auf dem Tisch. Nach einer Weile sagte Reynolds: »Ich muß die Wochenabrechnung für Mrs. Steerhouse fertigmachen.« Jason nickte. Reynolds setzte sich an seinen Schreibtisch und begann mit dem Taschenrechner Zahlen zu addieren. Die Unterredung war beendet. Jason nahm die Videokamera samt Halterung auf den Arm. Ez schnappte sich Schraubenzieher und Schrauben. Sie gingen hinaus und machten die Tür hinter sich zu. Reynolds schien ihr Verschwinden kaum zu bemerken.
Mit Ez’ Hilfe schraubte Jason das Schild an die Tür von Kabine fünf. Ez reichte ihm Schraube für Schraube. Als er fertig war, trat Jason einen Schritt zurück und bewunderte das kleine, ebenso dezent wie offiziös wirkende Schild.
Jason schloß den Vorratsschrank am anderen Ende der Toilette auf. Sie holten eine große Aluminiumtrittleiter daraus hervor und brachten sie unter dem Hauptträger in Stellung. Jason stieg die Leiter hinauf und schlug mit dem Schraubenzieher gegen den Träger. Ein hohles, metallisches Klingeln war zu hören. Nach kurzer Beratung beschlossen sie, Reynolds nicht zu stören. Jason wollte sich gerade auf den Weg machen, um Stahlbohrer zu kaufen, als er noch einmal zur Decke blickte. An dem Träger gleich neben Reynolds’ Tür hing ein schweres Holzbrett, das früher einmal als Rückwand eines Sicherungskastens gedient hatte. Später war der Sicherungskasten in Reynolds’ Büro verlegt worden. Nachdem sie die Leiter unter das Brett gestellt hatten, stieg Jason ein zweites Mal hinauf. Mit einer Hand stützte er sich an der Decke ab und stemmte zugleich die Kamerahalterung gegen das Brett. Mit der anderen Hand schraubte er sie an das Holz. Die insgesamt acht Schrauben zu befestigen dauerte fast zehn Minuten. Er justierte die Videokamera, zog die letzten beiden Schrauben an und richtete das Objektiv aus. Die Kamera hing gut einen Meter über der Oberkante der Kabinen. Jason stieg die Leiter wieder hinunter und klopfte an Reynolds’ Tür. Kurz darauf legte Reynolds seine Abrechnung beiseite und kam heraus, um Jasons Werk in Augenschein zu nehmen. Vor dem Schild an der Kabinentür blieb er stehen und prüfte die Ausrichtung der Kamera. »Meinste, das ist legal?« gab Jason zu bedenken. »Ne Überwachungskamera über die Kabinen zu hängen?« »Wieso, man sieht doch bloß die Köpfe«, sagte Reynolds. »Wenn sich jemand hinsetzt, sieht man nix.« »Diskret genug?« fragte Jason. Reynolds nickte. »Glaub schon.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Höchste Zeit, den Sumpf aufzumachen.«
Reynolds verschwand wieder in seinem Büro, um seine Abrechnung fertigzustellen. Ez nahm den leeren Münzsammelbehälter von Reynolds’ Schreibtisch, ging zum Drehkreuz und schloß die stählerne Seitentür auf. Er schob den Behälter hinein und verschloß die Tür wieder. Dann aktivierte er mit dem zweiten Schlüssel an seinem Bund den Münzeinwurf.
14
Ez schrubbte den Boden in einer Ecke der Toilette. Er rutschte auf den Knien rückwärts und hielt die Bürste mit beiden Händen fest umklammert. Jason hatte ihm beigebracht, wie er sich hinknien mußte, wenn er seinen Rücken schonen wollte. Er hatte Ez gezeigt, wie man die Bürste beidhändig führte, den Rumpf mitdrehte und den Körper als Angelpunkt benutzte, damit die Kraft sich möglichst gleichmäßig auf Arme und Handgelenke übertrug. Nach einer Weile richtete Ez sich auf, schob die Gummimatte, die er sich untergelegt hatte, damit sein Kittel nicht schmutzig wurde, ein Stück zurück, und bearbeitete den Boden dann weiter mit der Bürste. Er vergaß die Zeit. Zwar gingen immer wieder Männer an ihm vorbei, doch ließ er sich davon nicht beirren. In der anderen Ecke setzte Jason sich seinen Kopfhörer auf, ergriff einen langstieligen Mop und begann den Boden zu wischen. Für ihn schien es nur die Musik zu geben. Er bewegte sich im Takt und setzte hin und wieder mit lockerem Hüftschwung eine Synkope. Aus dem Kopfhörer drangen leise Zisch- und Kratzgeräusche. Als der Verkehrslärm einen Augenblick verstummte, glaubte Ez den fröhlichen Refrain von Marleys »Africa Unite!« erkennen zu können, ein anderes Mal den schleppenderen, dumpfen Beat von »Iron Lion Zion«.
Ez sah den Mann zuerst. Er war klein und gedrungen, und ein sorgsam gestutzter Bart umrahmte seinen Mund. Er trat an eines der Waschbecken gegenüber den Kabinen und wusch sich die Hände. Ez blickte sich um. Jason wischte ein paar
Meter weiter den Boden. Er ließ den Mop immer wieder in einer großen Acht über die Fliesen gleiten und drehte den Oberkörper mit, so daß er Ez zumeist den Rücken zukehrte, wenn er nicht gerade im Rhythmus der Musik in seinem Kopfhörer zuckte. Ez ging zur Wand, wusch umständlich die Bürste aus und wartete auf eine Gelegenheit, sich bemerkbar zu machen. Jason tanzte leise zu den Klängen der Musik. Aus den Augenwinkeln sah Ez, wie Jason mit einem kaum merklichen Nicken auf den Mann deutete. Jasons Scharfsicht entlockte Ez ein Lächeln. Er reinigte die Bodenbürste von Flusen und Fusseln und spülte sie mit heißem Wasser aus. Dampf stieg ihm ins Gesicht. Er roch die Reste von konzentriertem Ammoniak und Desinfektionsmitteln. Durch die Dunstwolke blickte er ein zweites Mal zu dem Mann hinüber. Der drehte den Wasserhahn zu und hielt verträumt, fast wie in Trance, die Hände unter den Heißlufttrockner. Beim Hinausgehen wandte er sich noch einmal um und steuerte auf die Kabinen zu, als wollte er eine davon betreten. Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen, direkt vor dem Schild mit der Aufschrift: ÜBERWACHUNGSKABINE. PRIVAT. Der Mann schien innerlich zu erstarren. Sein Blick schnellte durch den Raum, als suche er nach potentiellen Angreifern, und blieb an der neu installierten Videokamera hängen. Da bemerkte er Ez und Jason. Einen Augenblick lang wirkten die drei wie Tiere auf einer Lichtung, die einander eben erst gewittert haben. Der Mann machte auf dem Absatz kehrt und verschwand durch das Drehkreuz.
In der Mittagspause aßen Ez, Reynolds und Jason ihre Sandwiches. Neben ihren Brotbüchsen standen dampfende Teetassen.
Reynolds nahm sich ein frisches Sandwich und biß hinein. »Und? Was gibt’s Neues, Jason?« Jason nippte an seinem Tee. »Vorhin war ‘n Reptil da«, sagte er schließlich. »Und hat die neue Ausstattung bewundert.« »Und?« fragte Reynolds. »Er hat sich umgeguckt.« »Und dann?« »Ist er wie von der Tarantel gestochen abgehauen«, antwortete Jason mit vollem Mund. »Ich habs euch doch gesagt«, sagte Reynolds. »Die Reptilien ziehen den Schwanz ein.« Schon jetzt herrschte draußen weniger Betrieb, schienen die Kabinentüren seltener zu knallen als sonst. Normalerweise klappten die Türen öfter auf und zu, wenn die drei zur Mittagspause im Büro verschwanden, als hätten die Benutzer nur auf diesen Moment gewartet, um endlich in die Kabine ihrer Wahl umziehen zu können. Heute war es in der Herrentoilette erstaunlich still. Nachdem sie eine Weile geschwiegen hatten, sagte Ez: »Martha, meine Frau, läßt fragen, ob ihr nicht mal zu uns zum Essen kommen wollt.« »Zum Essen?« fragte Reynolds. »Irgendwann demnächst.« »Nett von deiner Frau«, sagte Reynolds freundlich. »Ist Jason auch eingeladen?« »Ihr beide, mit Frauen.« »Was meinst du, Jason?« sagte Reynolds. »Welche von den beiden bringst du mit?« Jason wirkte gleichgültig. »Du bist echt ‘n schlimmer Finger, Jason«, sagte Reynolds. Und zu Ez: »Da hast du Jason aber in ne verzwickte Lage gebracht.« »Du kannst mitbringen, wen du willst, Jason«, sagte Ez. Reynolds schüttelte sich vor Lachen. Jason schien verwirrt. »Was ist los, Jason? Hast du jetzt drei Frauen?« Jason ließ sich nicht provozieren. Nach einer Weile sagte Ez: »Martha schlägt nächsten Donnerstag vor.« Reynolds holte einen
kleinen Terminkalender aus der Tasche und blätterte darin. »Ist mir recht.« »Jason?« fragte Ez. »Mir auch.« »Und wen bringst du mit?« »Entweder die eine«, sagte Jason, »oder die andere.« »Du bist echt schlimm, Jason«, meinte Reynolds. »N schlimmer Finger. So was wie dich hab ich noch nicht erlebt.« Die Stille in den Kabinen hielt auch nachmittags noch an. Um fünf kam Reynolds aus seinem Büro, sah erst auf die Uhr an seinem Handgelenk, dann auf die an der Wand, und ging zum Drehkreuz. Er zog das Eisengitter zu, holte das schwere Vorhängeschloß aus der Tasche und verriegelte damit das Gitter. Reynolds ging zum Drehkreuz zurück, zog einen zweiten Schlüssel aus der Tasche, schloß eine kleine Stahltür auf, öffnete sie und holte den Münzsammelbehälter heraus. Er machte die Stahltür wieder zu, verschloß sie und brachte den Münzsammelbehälter in sein Büro. Im Büro öffnete Reynolds den Wandsafe, stellte den Sammelbehälter hinein, machte den Tresor wieder zu und drehte am Kombinationsschloß. Als Reynolds aus dem Büro kam und die Tür abschloß, erwarteten Ez und Jason ihn bereits. Reynolds schloß die Seitentür auf, folgte den beiden nach draußen und verriegelte die Tür hinter sich. Die drei stiegen die Treppe zur Straße hinauf. Oben angekommen, sagte Reynolds: »Wieder ein Tag vorbei.« »Bis dann«, verabschiedete sich Ez. Sie gingen ihrer Wege und verschwanden in der Dämmerung.
15
Es klingelte. Ez ging durch den Flur zur Wohnungstür und machte auf. Draußen stand Reynolds, im marineblauen Anzug, mit seiner Frau. »Immer rein in die gute Stube.« »Meine Frau Emily«, sagte Reynolds. Sie war fast genauso groß wie Reynolds, doch während Reynolds reserviert wie ein Bestattungsunternehmer wirkte, hatte sie etwas Nervöses, Aufgewecktes. Sie trug weiße Handschuhe zum Schutz gegen die Novemberkälte. Ez schüttelte ihr lächelnd die Hand und führte die beiden ins Wohnzimmer. »Kommen Sie durch. Martha ist in der Küche.« Reynolds sah sich um und betrachtete die Möbel, die Rattanstühle und die Sitzgruppe aus schwerem Tropenholz. »Hübsche Wohnung.« Sie setzten sich aufs Sofa. Martha kam herein und streifte ihre Topfhandschuhe ab. Reynolds stand auf und schüttelte ihr die Hand. Ez machte sie miteinander bekannt. »Martha. Mr. Reynolds. Seine Frau Emily.« »Ich hab schon viel von Ihnen gehört«, sagte Martha. Es klingelte. Ez entschuldigte sich. Vor der Tür stand Jason in einem grünrotgoldenen Kaftan, flankiert von seinen beiden Frauen. Er erinnerte Ez mehr denn je an einen äthiopischen Fürsten. »Jason.« Ez umarmte ihn flüchtig und wandte sich dann den beiden Frauen zu. Jason stellte sie vor. »Meryl…« Ez schüttelte einer hochgewachsenen jungen Schwarzen die Hand, deren Lächeln wie eine Blume erblühte. »Aus Kingston?«
»Trench Town«, antwortete Meryl. »Latouke«, sagte Jason. Ez schüttelte einer gutaussehenden, weißblau gekleideten Frau mit kupferfarbener Haut die Hand. »Schöner Name. Woher kommen Sie?« »Guinea-Bissau.« Ez blickte Jason an. Er hatte immer angenommen, daß Jason jamaikanische, wenn nicht sogar Rasta-Frauen bevorzugte, dabei reichte sein Geschmack allem Anschein nach viel weiter. Er zwinkerte Jason zu und bat sie herein. Als ersten Gang gab es Peppered Shrimps mit Mango, gefolgt von Jerk Pork mit Callaloo. Sie hatten tatsächlich alle sieben an dem kleinen Eßtisch Platz gefunden. Auch der Beistelltisch war mit Speisen beladen. Sie saßen noch beim ersten Gang, als Martha auf eine übervolle Servierschüssel deutete und fragte: »Möchten Sie noch was, Latouke?« Latouke lehnte freundlich ab. »Kommen Sie«, sagte Ez. »Sie müssen essen. Emily?« Emily hielt ihm lächelnd ihren Teller hin. Ez legte ihr auf, bis sie ihn zurückzog. »Genug? Jason?« Jason nickte. Während Martha, die ihm am nächsten saß, die Gastgeberin spielte und ihm Maniok auf den Teller tat, fragte sie so beiläufig wie möglich: »Was ist das eigentlich mit diesen Reptilien auf der Arbeit?« Am Tisch wurde es schlagartig still. Ez hatte den Eindruck, als sei ihnen mit einem Mal die Luft zum Atmen genommen worden. »Reptilien?« fragte Reynolds ebenso beiläufig zurück. Er hob den Kopf und blickte Martha unverhohlen an. Obwohl Reynolds keine Miene verzog, spürte Ez sofort, daß er mit seiner Frau normalerweise nicht über dieses Thema sprach. Ez blickte zu Jason, doch der gab sich abweisend, verschlossen. Als Martha ihm aufgelegt hatte, bedankte Jason sich mit einem Nicken und stellte den vollen Teller wieder vor sich hin.
»Bei euch«, sagte Martha. »Auf der Arbeit. Die Perversen.« Als Ez die verwirrten Gesichter und aufmerksamen Blicke der anderen Frauen bemerkte, legte er die Hand sacht auf Marthas Handgelenk. »Martha…« »Ich will das jetzt wissen«, sagte Martha. »Wir sind schließlich alle erwachsene Menschen hier am Tisch.« »Was hast du ihr denn erzählt, Mann?« erkundigte Reynolds sich, nur halb im Scherz, bei Ez. Ez beschloß, reinen Tisch zu machen. »Na, von den Leuten, die so zu uns kommen.« Ez sah, wie Reynolds einen Entschluß faßte, eine ebenso klare Entscheidung fällte wie damals, als der Mann Ez mit dem Messer bedroht hatte. Reynolds Mund wurde zu einem schmalen Strich. Er wandte sich an seine Frau. »Hab ich dir noch nie davon erzählt?« Emily schüttelte den Kopf und wandte sich an Martha. »Ich bin ganz Ohr.« »Sie haben ihr nix davon gesagt?« fragte Martha. Reynolds lächelte, statt ihr eine Antwort zu geben. Die Atmosphäre hatte sich etwas gelockert; die anfängliche Bestürzung hatte sich gelegt. »Nicht daß ich wüßte«, antwortete Reynolds. »Aber klären Sie uns doch auf.« Ez nahm die Hand von Marthas Handgelenk. »Wo ihr arbeitet«, sagte Martha, »gehen den ganzen Tag Perverse aus und ein.« Reynolds hatte seinen Humor wiedergefunden. »Das sagt eigentlich alles.« Martha ließ nicht locker. »Und treibens in den Kabinen mit andern Männern.« Emily hatte aufgehört zu essen. Zwischen zwei Bissen erklärte Reynolds: »Wir haben alle Hände voll damit zu tun, die Reptilien in Schach zu halten. Anweisung von oben. Der Laden isn bekannter Treffpunkt. Hat seit jeher ‘n schlechten Ruf. Wir sollen den Stall ausmisten.«
Latouke atmete aus, als habe man sie aus einem Dornröschenschlaf gerissen. »Das ist ja furchtbar. Und was macht ihr jetzt?« »Jason hat die Sache in die Hand genommen«, sagte Reynolds. »Er kann die Reptilien nicht ausstehen.« Jason hatte bislang schweigend dagesessen und gegessen. Nun erwachte er aus seiner scheinbaren Lethargie. »Es geht nicht um die Reptilien. Sondern um Whitey.« »Whitey?« fragte Martha. Alle schwiegen, und Reynolds sah Ez an. In Reynolds’ Miene spiegelte sich Belustigung, aber auch ein Anflug von Verlegenheit. »Whitey ist kalt«, sagte Jason. »Innerlich eiskalt.« Er faßte seine düsteren Gedanken mühsam in Worte. »Kälter als jedes Reptil. Kennt keine Gefühle. Kommt nur zu uns, um es mit andern Reptilien zu treiben. Will keine Frau, keine Familie, will vielleicht nicht mal den andern Mann. Kommt. Und haut dann wieder ab.« Martha blickte in die Runde. »Ist das Ihr Ernst, Jason?« fragte sie. »Und ob.« »Kommen denn keine Schwarzen zu euch?« »Ab und zu. Aber Schwarze sind die Ausnahme.« »Aber«, sagte Martha, »jeder Mensch ist anders. Das hat doch nix mit der Hautfarbe zu tun.« »Und ob Whitey anders ist«, bekräftigte Jason. »Ganz anders. Unter der Haut.« »Jason«, sagte Reynolds. »Bist du ‘n Black Panther, oder was?« Martha sah Ez an, doch der zuckte nur mit den Schultern und sagte: »Es geht ihm eben sehr nahe.« »Offensichtlich«, meinte Martha. Nach einer Weile fragte Ez: »Und was haltet ihr von der Manndeckung bei Arsenal?« Auf das unbeabsichtigte Wortspiel hin brachen alle in schallendes Gelächter aus. Ez
freute sich, daß er zu ihrer Erheiterung beigetragen hatte, und lachte mit. Die Spannung ließ allmählich nach. Das betretene Schweigen nach Jasons Rede ließ ihm auch tags darauf bei der Arbeit keine Ruhe. Je weiter die Stimmen und das Geschirrgeklapper in den Hintergrund traten, desto besser konnte er sich an das Gespräch mit Jason erinnern.
16
Reynolds steckte den Kopf aus dem Büro und sagte: »Mrs. Steerhouse hat eben angerufen. Sie kommt nachher vorbei. Halb elf. Läßt du sie rein?« Ez nickte. Er ging von Kabine zu Kabine, schrubbte die Klosettschüsseln mit der Bürste und füllte Toilettenpapier nach. Abgesehen von dem einen oder anderen Kunden waren die Kabinen leer. Als er mit den Toilettenschüsseln fertig war, putzte und polierte er die Stahlhebel der Wasserkästen. Etwa eine halbe Stunde später sah er, daß Mrs. Steerhouse am Drehkreuz stand und sich bemerkbar zu machen versuchte. Er winkte sie zur Seitentür. Mrs. Steerhouse verschwand vom Drehkreuz. Ez entriegelte die Seitentür von innen. »Morgen, Mrs. Steerhouse.« »Morgen, Mr. Murphy.« Mrs. Steerhouse trug eine Strickjacke zum Schutz gegen die Kälte. Er roch einen Hauch von Parfüm. Ez klopfte an Reynolds’ Tür. Reynolds machte auf, mit einem Taschenrechner in der Hand. Seine Stimme klang schmeichlerisch, fast schmierig. »Kommen Sie rein, Mrs. Steerhouse. Ein Täßchen Tee?« »Da sag ich nicht nein.« »Haben Sie Ihre Unterlagen parat?« »Ich glaube schon«, sagte Mrs. Steerhouse. »Und Sie?« »Ich denke doch.« Die Tür ging zu. Ez schrubbte die restlichen Toiletten.
Ein paar Minuten später stand Reynolds erneut in der Tür und winkte Ez und Jason zu sich. Ez warf seinen Scheuerlappen in den Eimer, zog sich die Gummihandschuhe aus und stellte den Eimer an die Wand. Er ging ins Büro, gefolgt von Jason, der völlig in sich versunken schien. Mrs. Steerhouse saß am Tisch. Reynolds wirkte nicht annähernd so freundlich wie sonst. Er bedeutete Ez und Jason, sich zu setzen. Als die beiden Platz genommen hatten, sagte Reynolds: »Mrs. Steerhouse hat uns etwas mitzuteilen.« Mrs. Steerhouse wandte sich an Ez und Jason. »Mr. Reynolds und ich sind die Zahlen durchgegangen. Offen gestanden bin ich hier, weil der Umsatzerlös aus dem Betrieb der Drehkreuze in den vergangenen vier Wochen erheblich zurückgegangen ist. Genauer gesagt, um fast vierzig Prozent.« Sie sahen sie gespannt an. »Ich bin natürlich verpflichtet, die ordnungsgemäße Abrechnung der Einnahmen zu überprüfen, aber die Beträge stimmen bis auf den letzten Penny überein. Mr. Reynolds konnte die Richtigkeit seiner Angaben zweifelsfrei belegen.« Sie zögerte. »Meine Herren, was ist Ihrer Ansicht nach der Grund für diesen jähen Umsatzrückgang?« Ez und Jason sahen erst sich, dann Reynolds hilfesuchend an, doch der nickte nur. Ez räusperte sich. »Weniger Reptilien, nehm ich an.« »Wie bitte, Mr. Murphy?« fragte Mrs. Steerhouse mit scharfer Stimme. »Reptilien?« Ez sah ein zweites Mal zu Reynolds. Der nickte. »Klappengänger«, sagte Ez. Einen Moment lang herrschte Schweigen. Dann erkundigte sich Mrs. Steerhouse: »Klappengänger?« Sie blickte Reynolds fragend an. »Mrs. Steerhouse«, sagte Reynolds. »Ez will damit sagen, daß Sie selbst uns angewiesen haben, die Anzahl der Klappengänger zu reduzieren.«
»Ja…« »Wir haben nur unsere Pflicht getan.« Mrs. Steerhouse gab keine Antwort. Sie schluckte und dachte über Reynolds’ Worte nach. »Soll das etwa heißen, daß vierzig Prozent der Nutzer dieser Örtlichkeit Klappengänger waren?« »So ungefähr«, antwortete Reynolds. »Mehr oder weniger«, setzte Jason hinzu. Mrs. Steerhouse blickte von Reynolds zu Jason. »Du liebe Güte.« »Der Laden hier ist dafür berühmt«, sagte Reynolds. »Immer schon. Die Klappengänger kommen aus der ganzen Stadt.« Mrs. Steerhouse holte tief Luft. »Aber das ist ja entsetzlich.« Sie dachte einen Augenblick nach. »Wenn der Umsatz nämlich noch ein oder zwei Monate auf diesem Niveau stagniert, bin ich auf Anweisung meiner Vorgesetzten gezwungen, die Anzahl der Mitarbeiter dieser Lokalität von drei auf zwei zu reduzieren. Sprich, wir werden einen von Ihnen entlassen müssen.« Eine Zeitlang herrschte Schweigen. Dann sagte Reynolds: »Mrs. Steerhouse. Wir haben uns genau an Ihre Anweisungen gehalten. Wir haben uns alle Mühe gegeben, die Reptilien, äh, Klappengänger zu vertreiben. Und als Dank dafür wollen Sie jetzt einen von uns auf die Straße setzen?« »Mr. Reynolds, bitte haben Sie Verständnis dafür, daß auch ich nur meine Anweisungen…« Jason, der bislang weitgehend geschwiegen hatte, beugte sich vor. »Mrs. Steerhouse…« Mrs. Steerhouse hielt mitten im Satz inne. »Ja?« »Die da oben müssen sich schon entscheiden.« »Wie meinen Sie das?« »Entweder Reptilien und viel Geld oder keine Reptilien und wenig Geld.«
»So kann man das natürlich auch betrachten. Aber die da oben, wie Sie sich auszudrücken belieben, sehen die Angelegenheit vermutlich etwas anders.« »Wenn wir den Sumpf wieder für Reptilien aufmachen sollen, kein Problem«, sagte Jason. »Das müssen Sie wissen.« »Tja, meine Herren, ich glaube, wir haben alles ausführlich erörtert. Ich werde meinen Vorgesetzten im Amt Bericht erstatten.« Sie zögerte. »Einstweilen haben Sie herzlichen Dank für den Tee.« Mrs. Steerhouse erhob sich. Auch die anderen standen auf. Reynolds hielt ihr die Tür auf und begleitete sie zum Drehkreuz. »Wiedersehen, Mr. Reynolds.« Reynolds sah ihr nach, bis sie die Treppe hinauf verschwunden war. Dann ging er ins Büro zurück und machte die Tür hinter sich zu. Er schien angestrengt nachzudenken. Es herrschte bedrückendes Schweigen. »Hab ich was Falsches gesagt?« fragte Jason schließlich. Reynolds schüttelte den Kopf. »Nein. Bloß die Wahrheit.« Reynolds setzte sich und blickte Jason über den Schreibtisch hinweg an. »Hast du gehört, was sie gesagt hat?« »Und ob.« Reynolds schien körperlich geschrumpft. Zugleich hatte eine nervöse Unruhe von ihm Besitz ergriffen. Er stand auf und ging durchs Zimmer. Unter dem Oberlicht blieb er stehen und sah in den grauen Nachmittag hinauf. Nach einer Weile sagte er: »Wer zuletzt kommt, geht zuerst. Wenn wir Pech haben, fliegt Ez schon nach acht Wochen wieder raus.« Ez nickte. Er hatte einen trockenen Hals und erschrak über seinen Zorn. Er starrte auf Reynolds’ Rücken. Plötzlich platzte Jason heraus: »Nee, ich geh zuerst.« Reynolds drehte sich zu Jason um. »Erstens«, sagte Jason, »wars meine Idee, den Sumpf trockenzulegen.«
»Aber wir waren uns doch einig.« Ez nickte. »Zweitens«, fuhr Jason fort, »mach ich diesen Job jetzt schon fünf, sechs Jahre. Ich hab ‘n bißchen was auf der hohen Kante, für ‘n Rückflug nach Jamaika.« »Ist das dein Ernst?« fragte Reynolds. »Ich hab die beiden Frauen arbeiten geschickt. Meryl ist Empfangssekretärin, Latouke Apothekerin. Wir haben alle drei was gespart, und jetzt gehts zurück nach Kingston.« »Und die beiden sind einverstanden?« fragte Reynolds. »Die tun, was ich ihnen sage. Wir eröffnen ‘n kleines Geschäft, Gemischtwarenladen. Das Kapital haben wir zusammen. Hier hält uns nix mehr.« Reynolds setzte sich und sah Jason an. »Bist du sicher?« Jason nickte. »Du wirst mir fehlen, Mann«, meinte Reynolds. »Du bist ‘n schlimmer Finger. So was wie dich gibts nicht noch mal.« »Ich kann dir sagen«, fuhr Jason fort. »Ich hab endgültig die Schnauze voll von Whitey. Egal wo ich hinkomm, Whitey ist schon da. Erst kommt Mrs. Steerhouse an und sagt, wenn wir die Reptilien nicht rauschmeißen, macht sie den Laden dicht; dann schmeißen wir die Reptilien raus, und jetzt setzt sie einen von uns vor die Tür.« Sie bemerkten den hohen Singsang, den festen Rhythmus der Überzeugung in seiner Stimme. Jason schwieg einen Augenblick. »Ich steig aus. Und Ez behält seinen Job. Jetzt oder nie.« »Mann, Jason…« »Ich will mit meinesgleichen zusammenleben.« Reynolds starrte ihn lange an. Dann seufzte er resigniert. »Du wirst uns fehlen, Mann.« »Vielleicht kommt ihr ja mal nach Kingston.« Reynolds nickte, doch seine Enttäuschung war ihm deutlich anzusehen. »Wann haust du ab?« »In zwei, drei Wochen, nehm ich an.« »Du hast’s aber ganz schön eilig.«
»Mein Entschluß steht fest.« »Seit wann?« fragte Reynolds. »Was?« »Seit wann steht dein Entschluß fest?« Jason überlegte. »Seit Ez’ Party, würd ich sagen.« Reynolds nickte, wie zur traurigen Bestätigung eines langgehegten Verdachts, und blickte Ez hilfesuchend an. Der spürte die ersten Anzeichen des Erdbebens, des allmählichen Zusammenbruchs von Reynolds’ Welt.
17
Als Ez ein kleiner Junge gewesen war, hatte ihm Fat Lion Stevens, ein alter Obeah-Mann aus Greenwich Farm, beigebracht, wie man im Halbschlaf, allein mit Hilfe des Atemrhythmus, seine Gedanken kontrollierte. Wie man zwischen Wachen und Träumen pendelte, hin und her schaukelte wie ein Vogel auf einem dünnen Ast – »Der Vogel sitzt immer aufrecht und fällt nie hinunter« –, bis der Geist den Körper verließ. Manchmal, wenn er nachts im Bett lag und an die Decke starrte, hatte Ez Visionen. Martha schlief mit dem Rücken zu ihm und schnarchte friedlich vor sich hin. Er sog den Duft der Zedernholzkommoden in seine Lungen. Mit halbgeschlossenen Lidern stellte er sich vor, wie er sich mit dem Schraubenschlüssel an den Urinalen zu schaffen machte, die Abflußrohre überprüfte und nach undichten Stellen suchte. Daran erkenne man im Traum den eigenen Geist, hatte der Obeah-Mann gesagt, an der Vertrautheit seiner Handlungen. Wie ein Hund tat er zunächst etwas Vertrautes, bevor er er sich auf Wanderschaft begab. Im Traum beobachtete Ez, wie ein junger Mann mit leichten, fast lautlosen Schritten in einer der Kabinen verschwand. Er zog mit dem Schraubenschlüssel ein Ventil nach, drehte sich um und sah gerade noch, wie ein zweiter Mann dieselbe Kabine betrat. Leise fiel die Tür ins Schloß. Dann hörte er nichts mehr. Die beklemmende Stille, die über die Tür schwappte und wie ein Dunst über den Fußboden kroch, wurde ihm schier unerträglich. Er legte den Schraubenschlüssel weg, stand auf, ging zu Reynolds’ Büro und klopfte an. Als keine
Antwort kam, trat er ein. Reynolds war nirgends zu sehen. Ez nahm den Fotoapparat vom Haken an der Wand, wandte sich zur Tür und verließ das Büro mit der Kamera in der Hand. Er klopfte an die Tür der Kabine und trat zurück. Nichts regte sich, kein Laut war zu hören. Er sah sich in der leeren Herrentoilette um. Da plötzlich flog die Tür auf, und der erste Mann hielt gemächlich auf das Drehkreuz zu. Kurz darauf kam der zweite Mann heraus und schlenderte seelenruhig zum Ausgang. Ez lief ihnen mit der Kamera hinterher. Die beiden schienen ihn gar nicht zu bemerken. Er folgte ihnen durch das Drehkreuz und die Treppe hinauf. Oben angekommen, ging der eine Mann nach links, der andere nach rechts. Einen Moment lang glaubte Ez, die Spur der beiden verloren zu haben. An einer Bushaltestelle stand Ez dem zweiten Mann auf einmal Auge in Auge gegenüber. Er hatte eine Frau im Arm. Sie umklammerte den Griff eines schwarzen viktorianischen Kinderwagens von der Größe eines Sargs. Sie schaukelte ihn langsam auf und ab. »Das hat aber lange gedauert«, sagte sie leise zu dem Mann. Ez trat auf die beiden zu und blieb stehen. Der Blick der Frau fiel erst auf seine Kamera, dann auf Ez’ Gesicht. Der Mann betrachtete ihn mit einer seltsamen Mischung aus Gleichmut und Nervosität. Ez sah von einem zum anderen. Die Frau wirkte mit einem Mal besorgt. Ez wurde verlegen und verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. »Können wir Ihnen irgendwie helfen?« fragte die Frau. Ez schüttelte den Kopf und brachte kein Wort heraus. Ohne ihn aus den Augen zu lassen schob die Frau den Kinderwagen vor und zurück. Ez verspürte den unwiderstehlichen Drang, einen Blick hineinzuwerfen. Er sah Reynolds’ Gesicht. Reynolds lag auf dem Rücken und schlief
tief und fest. Seine Wangenknochen waren weiß; er wirkte ruhig und gefaßt. »Bestimmt nicht?« fragte die Frau. Ez schaute erst den Mann an, dann wieder sie. Er schüttelte erneut den Kopf, trat einen Schritt zurück und machte auf dem Absatz kehrt. Beim Davongehen hörte er die Frau mit einer Stimme, in der sich Verwirrung und Besorgnis paarten, fragen: »Wer war denn das?« Ez stieg die Treppe zur Herrentoilette hinunter. Vor dem Drehkreuz blieb er stehen und lehnte sich, vor Aufregung keuchend, an die Wand. Im Schlafzimmer holte Ez tief Luft und schlug die Augen auf. Im Dunkeln wandte er den Kopf. Als er Martha friedlich schlafen sah, starrte er wieder an die Decke.
18
Ein paar Tage später wischten Ez und Jason den Fußboden und arbeiteten sich gemeinsam, im Abstand von anderthalb Metern, von einer Ecke der Toilette zur nächsten vor. Jason hatte seinen Kopfhörer auf. Als sie an den Kabinen vorbeikamen, hörte Ez zunächst ein Seufzen, dann leises Rascheln und schließlich dumpfes Klatschen, wie von einem Wäschetrockner. Da Jason gegen seine Umwelt taub war, hatte er es nicht gehört. Ez deutete auf die erste Kabine. Jason nickte und nahm den Kopfhörer vorsichtig ab. Die Kabine schien leicht zu beben. Ez klopfte an die Tür, während Jason mit dem Handballen dreimal gegen die Außenwand der Kabine hämmerte. Dröhnende Stille hallte durch den Raum. Plötzlich ging die Kabinentür auf, und ein schlaksiger junger Mann um die Zwanzig kam heraus und verschwand eilig durch das Drehkreuz, bevor Ez oder Jason reagieren konnten. Jason warf Ez einen halbwegs amüsierten Blick zu. In der verlassenen Kabine war es still. Vorsichtig, als würde er sich an ein gefährliches Tier heranpirschen, streckte Jason die Hand nach der Tür. Als seine Finger das Holz berührten, stieß er sie auf. Die Angeln quietschten, und Jason trat einen Schritt zurück, falls ihre verängstigte Beute einen kopflosen Fluchtversuch unternehmen wollte. Die Tür flog auf und krachte mit einem lauten Knall gegen die Innenwand der Kabine. Ein eleganter, hochgewachsener Schwarzer mit Lederjacke kam heraus. Statt den Blickkontakt zu scheuen betrachtete er
die beiden mit kühler Herablassung. Nachdem er sie von oben bis unten gemustert hatte, ging er mit hoch erhobenem Kopf zum Drehkreuz. Ez und Jason sahen ihm nach. Ez hatte den Eindruck, daß Jason einfach nicht anders konnte. Er mußte handeln, ob er wollte oder nicht. Er holte den Mann rasch ein und verwickelte ihn in ein Gespräch. »Was hastn da drin gemacht, Brother?« Der Mann gab keine Antwort. »Vor Whitey auf die Knie gegangen?« Der Mann ging unbeirrt weiter. Jason ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen und redete weiter. »Streckst wohl gern dein Niggerarsch hin? Und hältst Whitey die Stange?« Ez rührte sich nicht vom Fleck. Die beiden waren stehengeblieben und standen nun Schulter an Schulter, wie alte Bekannte. »Musikfan, hä? Was spielstn für ‘n Instrument? Oboe?« Der Mann drehte sich langsam, mit majestätischer Gelassenheit, zu Jason um. »Wieso?« fragte er. »Was juckts dich?« Jasons Lächeln war eigentlich gar keins, eher ein leises Kräuseln auf ruhiger Wasseroberfläche. »Willst du vielleicht auch mal?« schlug der Mann vor. »Das sagen alle Tunten«, sagte Jason. »Meinste, damit kannste mich provozieren?« Jason kräuselte die Lippen erneut zu einem Lächeln. Seine Leutseligkeit wirkte angestrengt, bemüht. Zunächst schien es, als wollte er dem Mann die Hand schütteln und die Sache auf sich beruhen lassen. Doch dann plötzlich versetzte er ihm einen kräftigen Hieb in den Magen. Obwohl er über fünf Meter entfernt stand, konnte Ez die Wucht des Schlages förmlich spüren. Der Mann sank langsam auf die Knie. Die Schmerzen trübten ihm den Blick. Trotzdem ließ er Jason keine Sekunde aus den Augen. Er kämpfte gegen die Schmerzen und gewann seine Fassung nach und nach
zurück. Er lag auf den Knien und sah voll Verachtung zu Jason hoch. »Das macht dir wohl Spaß?« meinte er nach einer Weile. Ein haßerfülltes Zucken huschte über Jasons Gesicht. Vermutlich wußte er, daß er in einem Spiel, dessen Regeln dieser Mann diktierte, zwangsläufig den kürzeren ziehen würde. Er machte wortlos kehrt und ging davon, ohne Ez eines Blickes zu würdigen. Ez sah zu dem Mann, der seitlich vor dem Drehkreuz kniete. Der Mann starrte ins Leere und flüsterte halblaut vor sich hin, als würde er beten. Am anderen Ende der Toilette setzte Jason, scheinbar gleichgültig, den Kopfhörer auf. Dann nahm er seinen Mop und ließ ihn mit weit ausholenden Bewegungen über den Boden gleiten. Der Mann stand langsam auf. Nachdem er einmal tief Luft geholt hatte, drehte er sich um und verschwand durch das Drehkreuz. Seine Schritte verhallten auf der Treppe. Ez blieb zurück und schaute die leeren Stufen hinauf.
Als Ez später seinen Mop wegstellte, brütete Jason noch immer vor sich hin. Auch in der Teepause sprach er kein Wort, obwohl Reynolds ihn immer wieder aufzumuntern versuchte. Nach Dienstschluß hängte Jason schweigend seinen grünen Kittel in den Schrank, zog seinen Mantel an und schlang sich einen Schal um den Hals. Ez sah ihn an. »Denkst du nach?« Jason nickte. »Ja. Über den Nigger vorhin.« »Und was denkst du?« »Daß das Zusammenleben mit Whitey ihn total versaut hat.« »Vielleicht will er’s ja so«, sagte Ez.
Jason warf ihm einen kalten, flackernden Blick zu. In diesem Augenblick wurde den beiden klar, daß zwischen ihnen eine Kluft bestand, die sich nicht überbrücken ließ. »Vielleicht«, sagte Jason. Reynolds kam aus seinem Büro, schloß ab und öffnete die Seitentür. Die drei marschierten hinaus. Reynolds zog die Tür zu, schob den schweren Schlüssel ins Schloß und verriegelte sie hinter sich. Dann verschwanden sie wie Geister in der Dämmerung und gingen im trüben Licht der winterlichen Straßenlaternen ihrer Wege.
19
Eine schwere Tristar landete mit quietschenden, qualmenden Reifen in Heathrow. Ez wandte sich vom Fenster der Abflughalle ab. Jason wirkte erstaunlich ernst, abwesend. Seine Dreadlocks hatte er mit den äthiopischen Nationalfarben Rot, Grün und Gold auf dem Kopf zusammengebunden. Ez verabschiedete sich mit einer flüchtigen Umarmung von Meryl und Latouke. Reynolds starrte mit ausdruckloser Miene vor sich hin. Sechs Jahre lang hatte er mit Jason zusammengearbeitet, Tag für Tag. Jetzt standen Emily und er da wie ein trauriges Elternpaar bei der Abreise seines Sohnes. »Wo zieht ihr denn hin?« wollte Ez von Jason wissen. »Bull Bay«, antwortete Jason. »Östlich von Kingston?« »Bei Morant.« Ez nickte. »In der Nähe von den Cane River Falls«, sagte Jason. »Ziemlich abgelegen«, meinte Ez. »Bergdörfer.« »Gute Rasta-Kommune.« Ez lächelte. »Na dann.« Martha umarmte Meryl und Latouke. Sie sahen Jason und den beiden Frauen nach, wie sie ihre Rollkoffer hinter sich her zogen. Abends im Bett fragte Martha: »Bist du traurig, daß Jason weg ist?« Ez nickte. Martha zitierte Jason. »›Alle Weißen sind Reptilien.‹ Denkst du das auch?« »Wie kommstn da drauf?« »Vielleicht hat er Probleme.«
»Jason ist eben ehrlich«, beharrte Ez. »Er nimmt kein Blatt vorn Mund.« »Hitler war auch ehrlich.« »Wenn er so denkt, ist es vielleicht ganz gut, daß er nach Jamaika zurückgeht.« »Und die Mädchen?« fragte Martha. »Sie hatten beide nen guten Job. Und jetzt sollen sie in ner Rasta-Kommune leben.« »Das müssen sie selber wissen.« »In ‘nem Laden arbeiten? Ziegen hüten? Süßkartoffeln ernten?« »In San Antonio oder Morant Bay finden sie bestimmt nen Nebenjob, und das sind höchstens fünf oder zehn Meilen.« »Meinst du, das erlaubt er ihnen?« »Wieso denn nicht?« »Vielleicht hat Jason Angst, daß sie ihn verlassen«, sagte Martha. »Vielleicht sperrt er sie ein.« Ez lächelte. »Weißt du, warum Jason so viel Erfolg bei Frauen hat?« »Nein. Warum?« »Er hat keine Angst. Die eine geht, die andere kommt.« Martha drehte sich um und legte sich auf ihre Seite. »Die eine kommt, die andere geht«, sagte sie. Er lachte über ihre Unnachgiebigkeit. Doch er wollte ihr etwas sagen, das auch er nur langsam gelernt hatte, bei ihrer gemeinsamen Arbeit. Es war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. »Jason ist auf seine Art genauso gläubig wie wir, wenn nicht noch mehr.« »Seine Frauen auch?« »Du verstehst das nicht. Bei den Rastas sind Frauen kein Privatbesitz. Neid und Eifersucht sind verpönt.« Martha gab keine Antwort. Ez wollte es ihr erklären. Er wollte ihr sagen, daß sich Jasons Neidlosigkeit einem religiösen Gebot verdankte und nicht einem Charakterfehler. Ebenso wie seine Vorliebe für das bäuerliche Leben nichts mit Anpassung an widrige Umstände zu tun hatte, sondern dem Rasta-Ideal der
Askese entsprach. Vor allem aber mußte er ihr klarmachen, daß der Verzicht auf materielle Besitztümer in Jasons neuem Leben kein Problem war, sondern seine Strategie gegen die menschliche Habgier. »Du unterstützt Jason«, sagte Martha im Halbschlaf. Sie hatte recht. Ez fragte sich nach dem Grund. Er überlegte, was Jesus wohl vorziehen würde – die Ablehnung materieller Güter oder deren systematische Anhäufung? Aber wie sollte man dieses Dilemma einer höheren Tochter aus Mandeville verständlich machen, deren Vater als leitender Verwaltungsangestellter in der Rechtsabteilung einer Bauxitabbaugesellschaft tätig gewesen war? Angespornt von Marthas Skepsis, suchte Ez nach einer Antwort. Er bewunderte Jason nicht nur, weil er ein Dread war, sondern weil er etwas verkörperte, das Ez verstand und bejahte. Jason war eine Personifikation der afrikanischen Seele. Seine Philosophie verlangte, daß er seinen Mitmenschen half und Gutes tat. Sie verbot den Alkoholgenuß. Sie empfahl Askese und Selbstdisziplin. Das Rauchen des Ganja-Krauts galt als religiöse Erfahrung, ähnlich wie das Trinken des Meßweins beim christlichen Abendmahl. Die Dreads glichen den alten Propheten, die durch die Wüste wanderten und denen nur die Bibel heilig war. Sie waren wie die Gnostiker, die Sufis oder andere Gottgeweihte. »One world«, sagte Jason immer und hob die Hand zum Gruß, als wollte er den Segen spenden. »Smooth runnings«, rief er einem zum Abschied nach. Während Martha im Dunkeln leise atmete, fiel Ez ein, wie Jason in der Mittagspause einmal neben ihm am Tisch in Reynolds’ Büro gesessen hatte. Obwohl er sich die Backen vollstopfte wie ein Tier, aß er mit Anstand und Würde. Er hatte Jasons scharf geschnittenes äthiopisches Profil betrachtet, die Rundungen von Stirn und Nase, den Schwung der Augenbrauen, wie die äußeren Merkmale einer fragilen inneren Schönheit. Das Licht
umgab ihn mit einem diffusen Glorienschein. Nie würde Ez vergessen, was er damals empfunden hatte – daß er in Jason einem zwar unvollkommenen, aber doch heiligen Menschen begegnet war.
20
Seit Jason nicht mehr da war, trieb Reynolds ziellos durch den Tag. Er hatte merklich abgenommen. Sein Gesicht wirkte grauer, sein Haar weißer. Die Knöchel an seinen Handgelenken traten hervor. Beim Teetrinken saß er vornübergebeugt und mit gespreizten Knien auf seinem Stuhl und starrte Löcher in die Luft. Der Teebecher baumelte von seinen Fingern. Seine Handgelenke bildeten einen rechten Winkel. Reynolds blätterte in seiner Sun und sagte: »Die Welt ist voll von Sex und Gewalt. Sachen gibts, die gibts gar nicht.« Ez blickte auf, nickte düster und widmete sich wieder seinem Mirror. »Mrs. Steerhouse hat angerufen«, sagte Reynolds nach einer Weile. »Sie kommt heut nachmittag vorbei.« »Was hat sie gesagt?« »Nix.« Die beiden kehrten zu ihrer Zeitungslektüre zurück. »Weißt du noch, Jason mit dem Stock?« fragte Reynolds. »Ich kapier das nicht, Mrs. Steerhouse, was ist das bloß für ‘n komischer Geruch?« Sie kicherten. Ez hatte das Gefühl, daß Reynolds Jasons Singsang imitierte. »Mrs. Steerhouse schnuppert am Stock. Und er guckt ihr in die Augen. Tief. Ganz tief.« »Typisch Jason.« Sie widmeten sich wieder ihren Zeitungen und nippten an ihrem Tee.
Als Ez nachmittags mit Gummihandschuhen seine Scheuerlappen auswusch, rief plötzlich jemand seinen Namen. Im Spiegel über dem Becken sah er, daß Mrs. Steerhouse am Drehkreuz stand und ihm ein Zeichen machte. Sie trug einen schwarzen Regenmantel und hatte einen Schirm bei sich. In ihrer Fröhlichkeit wirkte sie mehr denn je wie die Hausmutter eines Altenheims, streng und gütig zugleich. Ez winkte er ihr, zur Seitentür zu kommen. Er schob den Riegel zurück, und Mrs. Steerhouse trat ein. Er half ihr aus dem Mantel und hängte ihn an die Wand. »Ist Mr. Reynolds da?« Ez nickte. Als er an Reynolds’ Tür klopfte, spürte er den Atem von Mrs. Steerhouse unangenehm im Nacken. Kurz darauf stand Reynolds in der Tür. »Mrs. Steerhouse.« »Mr. Reynolds. Scheußliches Wetter.« Ihre Gegenwart schien Reynolds buchstäblich aus seiner Apathie zu reißen. Er bat sie herein. Ez wollte wieder an die Arbeit, doch Mrs. Steerhouse sagte: »Setzen Sie sich zu uns, Mr. Murphy. Was wir zu besprechen haben, geht Sie beide etwas an.« Ez folgte ihr in Reynolds’ Büro. Mrs. Steerhouse nahm Platz. Reynolds und Ez setzten sich ihr gegenüber. »Ich fürchte«, sagte Mrs. Steerhouse, »ich habe schlechte Neuigkeiten.« Sie zögerte. »Unseren Zahlen zufolge ist der Umsatz dieser Lokalität um weitere zehn Prozent gesunken. Das heißt, wir machen – trotz Personalabbaus – Verluste.« Sie blickte von einem zum anderen. »Sie wissen sicher, daß wir in schwierigen Zeiten leben. Das Amt muß sparen, wo es nur kann. In Anbetracht dessen hat am Mittwoch eine Sitzung zu ebendiesem Thema stattgefunden. Der Sozialausschuß hat beschlossen, diese Lokalität heute in vier Wochen zu schließen.« Sie hielt inne, als müsse sie ihre Gedanken ordnen, und fuhr dann fort. »Das ist bestimmt ein schwerer Schock für Sie, und ich muß
gestehen, daß derlei keineswegs zu meinen angenehmsten Aufgaben zählt.« Reynolds atmete laut aus. »Mr. Reynolds«, setzte Mrs. Steerhouse hinzu, »Sie erhalten eine vertragsgemäße Abfindung in Höhe von drei Monatslöhnen. Der Ausschuß hat mich gebeten, Ihnen für Ihre Dienste zu danken und Ihnen alles Gute zu wünschen.« Reynolds beugte sich vor und stützte den Kopf in die Hände. Mrs. Steerhouse schluckte. »Tja.« Nach einer Weile sagte sie: »Ich darf Ihnen mein aufrichtiges Mitgefühl aussprechen.« Reynolds rührte sich nicht. »Na, dann will ich mal wieder.« Anders als sonst begleitete Reynolds sie diesmal nicht zur Tür. Schließlich hob er den Kopf. »Mrs. Steerhouse?« Mrs. Steerhouse drehte sich in der Tür noch einmal um. »Ja?« »Ich muß davon leben.« »Ich weiß, Mr. Reynolds.« »Was wird denn jetzt aus dem Laden?« fragte Reynolds. »Nun ja, er wird vermutlich geschlossen und dann mit Brettern vernagelt.« »Das ist alles?« Mrs. Steerhouse nickte. »Eine andere Toilette, die wir vor ein paar Jahren schließen mußten, hat das Amt an einen Blumenverkäufer vermietet, der dort ein kleines Geschäft eröffnet hat.« »Vermietet?« fragte Reynolds. »Ja, zu äußerst günstigen Konditionen.« »Günstig?« Reynolds schien ihrem Gedankengang geradezu verbissen zu folgen. Mrs. Steerhouse schluckte. »Tausend, höchstens zweitausend Pfund im Jahr.« »Zweitausend im Jahr«, wiederholte Reynolds leise. Mrs. Steerhouse sah ihn an. »Sonst noch was, Mr. Reynolds?« »Nein.«
»Na dann. Es tut mir leid, daß ich Ihnen so traurige Kunde bringen mußte. Ende nächsten Monats erhalten Sie dann Ihren letzten Lohn und die Abfindung.« Reynolds stand auf. Mrs. Steerhouse schüttelte beiden die Hand. Reynolds wollte sie zur Tür bringen, doch Mrs. Steerhouse sagte: »Vielen Dank, aber ich finde schon allein raus.« Sie warteten, bis ihre Schritte verhallt waren. Dann sank Reynolds wieder auf seinen Stuhl. Draußen in der Toilette war es still. Hin und wieder hörten sie das leise Rauschen der Wasserkästen, doch selbst dieser Laut wirkte wie ausgehöhlt. Reynolds’ Gesicht schien noch hagerer als sonst. Ez mußte an seinen Traum mit dem Kinderwagen denken. »Ich geh saubermachen«, sagte Ez nach einer Weile. Reynolds nickte, ohne ihn anzusehen. Nachmittags, beim Tee, fragte Ez: »Warum haben Sie sich nach der Miete erkundigt?« »Nur so«, sagte Reynolds. »Ich dachte, wir könnten den Laden vielleicht übernehmen.« »Übernehmen?« Reynolds zuckte die Achseln. »Eigentlich Quatsch. Wo wir doch jetzt schon nicht davon leben können.« »Ich koch mir noch ne Tasse Tee«, sagte Ez nach einer Weile. »Wollen Sie auch eine?« »Lieber gleich zwei«, antwortete Reynolds.
Während Ez darauf wartete, daß das Wasser kochte, trommelte er mit den Fingern auf das metallene Abtropfgestell. Er reichte Reynolds seine Tasse und setzte sich. Ez pustete in seinen Tee. »Was halten Sie eigentlich wirklich von den Reptilien?« fragte er nach einer Weile. Reynolds schrak aus seinen Gedanken. »Wieso fragst du?« Ez zuckte die Achseln. »Nur so.«
»Nein, wieso?« »Ich hab nachgedacht. Früher, bevor wir den Sumpf trockengelegt und die Reptilien rausgeschmissen haben, konnten wir zu dritt davon leben.« »Was willstn damit sagen?« Es dauerte einen Moment, bis Reynolds begriffen hatte, worauf Ez hinauswollte. Aus seiner Miene sprach Entsetzen. »Na und? Sollen wir vielleicht ‘n Schild aufhängen, ›Reptilien willkommen‹?« »Das hab ich nicht gesagt.« »Sondern?« »Daß wir noch mal in Ruhe drüber nachdenken sollten, jetzt, wo wir das Amt nicht mehr am Hals haben.« »Und wie sollen wir den Laden nennen?« beharrte Reynolds. »Die Reptilienfarm?« »Passen Sie auf«, sagte Ez. »Früher, da hatten wir hier vor allem Normale und nur ab und zu mal ‘n paar Reptilien. Und, mal ehrlich, was interessieren mich Reptilien? Die kümmern sich um ihren Kram und ich mich um meinen.« »Das heißt?« »Wir brauchen sie ja nicht direkt ködern. Bloß tolerieren.« »Tolerieren«, wiederholte Reynolds. Ez nippte an seinem Tee. »Du bist echt ‘n schlimmer Finger, Mann«, meinte Reynolds. »Schlimmer als Jason.« »Wir machen einfach alles wieder so wie früher. Was juckts mich?« Reynolds starrte ihn an und stippte einen Keks in seinen Tee. »Und wo nehmen wir die zweitausend Pfund Miete her?« »Wie wärs mit Ihrer Abfindung?« Reynolds biß in seinen Keks. Ihm quollen fast die Augen aus dem Kopf.
»Zum Beispiel«, sagte Ez. »Jason isn Waisenknabe gegen dich«, sagte Reynolds. »Nicht zu fassen.«
21
Ohne den Blick von den Fernsehnachrichten zu wenden fragte Martha: »Wie war die Arbeit?« »Ich hab ne gute Nachricht und ne schlechte.« »Zuerst die schlechte«, sagte Martha. »Sie machen die Toilette dicht. In vier Wochen.« Martha zog sich zögernd in die Sofaecke zurück. »Und die gute?« »Das Amt hat unser Angebot angenommen. Wir mieten den Laden für achthundert Pfund im Jahr.« »Und wer soll das bezahlen?« »Mr. Reynolds und ich. Fifty-fifty. Wir übernehmen den Laden.« Martha sah Ez an, als käme er von einem anderen Stern. »Und das soll funktionieren?« »Wir werden sehen. Was bleibt uns anderes übrig?« »Und wo wollt ihr das Geld hernehmen?« »Das Amt hat uns zwei Monate Aufschub bewilligt. Wir haben zwei Monate Zeit.« Martha schluckte und atmete dann leise aus. »Zum Glück hat wenigstens unser Sohn nen guten Job«, meinte sie. »Das kannst du laut sagen«, bekräftigte Ez.
22
Ez schraubte das Schild mit der Aufschrift ÜBERWACHUNGSKABINE. PRIVAT ab, steckte sich die vier kleinen Kupferschrauben in die Tasche und holte die Aluminiumleiter aus dem Schrank. Er kletterte bis zur obersten Sprosse und rückte der Wandhalterung am Deckenträger mit dem Schraubenzieher zu Leibe. Die Schrauben steckten tief in dem Eichenbrett, so daß er den Griff mit beiden Hände umfassen mußte. Reynolds kam aus dem Büro und blieb am Fuß der Leiter stehen. »Sei vorsichtig.« Nachdem sie erst einmal gelöst waren, ließen sich die Schrauben ohne weiteres herausdrehen. Ez reichte Reynolds die Kamera samt Halterung; der hielt die Leiter fest, während Ez herunterstieg. Reynolds zog ein nagelneues Schild mit der Aufschrift NEUE BEWIRTSCHAFTUNG aus der Tasche. Das Schild erschien den beiden wie ein Talisman. Ez befestigte es mit den Schrauben des alten Schilds an Reynolds’ Bürotür. Als sie fertig waren, traten Reynolds und Ez einen Schritt zurück und betrachteten die saubere, menschenleere Herrentoilette. Reynolds nickte. »Und jetzt zurück an die Arbeit.« Den Vormittag verbrachte Ez damit, den Boden zu wischen, die Urinale zu schrubben und die Duftsteine auszutauschen. Reynolds kam in regelmäßigen Abständen aus seinem Büro. Er wirkte noch gedankenverlorener als sonst. Am späten Vormittag bemerkte Ez, wie Reynolds sich an dem kaputten Papierhandtuchspender zu schaffen machte. Früher hatte er
sich nie für technische Dinge interessiert. Dafür waren Ez und Jason zuständig gewesen. Sein Reich war das Büro, er führte die Aufsicht, bestellte neuen Reiniger, Duftsteine, Toilettenpapier, Desinfektionsmittel, zählte die Einnahmen, machte die Abrechnung. Jetzt stand Reynolds mit ungläubigem Staunen vor dem Papierhandtuchspender, als eröffne sich ihm ein neues Universum.
Ez wischte den Boden. Hin und wieder ging jemand an ihm vorbei. Die Geräusche klangen hohl. Es herrschte eine seltsam ruhige Atmosphäre, als ob die Zeit stillstünde. Reynolds und er wagten kaum, ein Wort zu wechseln; sie arbeiteten in einem Vakuum. Am Sonntag in der Kirche predigte Pfarrer Davies trotz einer schweren Erkältung. »Und so frage ich euch: ›Wer soll sich um seines Bruders Sünden sorgen?‹ Denn hat Christus nicht gesagt: ›Bevor du den Splitter aus dem Auge deines Bruders ziehst, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge‹? Der wahre Christ sorgt sich zuerst um sein eigenes Leben, bevor er sich um die Sünden anderer sorgt.« »Amen!« rief Ez. So viel Übereifer weckte Marthas Argwohn; sie blickte ihn von der Seite an. Ez bedachte sie mit einem flüchtigen Lächeln. »Doch zitieren wir etwas ausführlicher aus der Heiligen Schrift, Matthäus 7, wo es heißt: ›Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet. Denn mit welcherlei Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden. Was siehest du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem Auge? Oder wie
darfst du sagen zu deinem Bruder: Halt, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen – und siehe, ein Balken ist in deinem Auge? Du Heuchler, zieh am ersten den Balken aus deinem Auge; darnach siehe zu, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehest!‹« »Amen!« wiederholte Ez. Er mochte die ungeschminkte Offenheit, die unverblümten Wahrheiten des Evangeliums. Martha warf ihm erneut einen argwöhnischen Blick zu.
Ez zog Gummihandschuhe an, um die Siebe unter den Urinalen zu reinigen. Er drehte den Haupthahn an der Wand zu, schraubte die Siebe ab und kippte den fauligen gelblichen Inhalt in einen schweren Eimer. Der Gestank trieb ihm die Tränen in die Augen. Er mußte das Gesicht abwenden. Ein oder zwei Mal wurde ihm fast übel. Als er fertig war, schraubte er die leeren Siebe wieder fest und stellte das saubere Wasser an. So ging es von Wand zu Wand, den ganzen Vormittag. Erst drehte er den Haupthahn zu, dann schraubte er die Siebe ab und leerte ihren Inhalt in den Eimer. Er nahm die Duftsteine heraus, damit er auch den Ablauf scheuern konnte, und legte sie danach wieder hinein. Als er die Siebe an der dritten Wand wieder anschraubte, hob Ez den Kopf und sah einen Mann, der sich die Hände wusch und im Spiegel unauffällig die Kabinentüren inspizierte. Er trug Turnschuhe und einen grauen Jogginganzug. Sein Gesicht war blaß. Ez betrachtete seine selbstversunkene, konzentrierte Miene. Als der Mann ihm einen fragenden Blick zuwarf, wandte er sich ab. Der Mann interessierte sich jedoch nicht weiter für die Kabinen, sondern wusch sich lediglich gründlich die Hände; er seifte sie ein und rieb sie sich unter dem Wasserstrahl.
Zwischen Drehkreuz und Urinalen herrschte ein reges Hin und Her. Ez machte sich wieder an die Arbeit, scheuerte die Abläufe und legte Duftsteine hinein. Als er ein zweites Mal aufblickte, war der Mann verschwunden.
23
In den nächsten Tagen stellte Reynolds sich mehrmals unter das aluminiumgerahmte Oberlicht, durch das ein wenig Tageslicht ins Büro fiel, und starrte zu den Füßen der Passanten hinauf. Der Laden gegenüber hatte ein blaues Neonschild. So stand Reynolds minutenlang da, mit hinter dem Rücken verschränkten Händen, und wippte auf den Zehenspitzen. Ez fragte sich, worüber er wohl nachdachte. In der Mittagspause aßen Ez und Reynolds ihre Sandwiches. »Nicht viel los«, meinte Reynolds. »Warten Sie’s ab.« »Weißt du, was mir Sorgen macht?« »Nee, was denn?« Reynolds biß in sein Sandwich. »Ich seh gar keine Reptilien.« Ez nickte. »Vielleicht gehen die jetzt woanders hin«, gab Ez zu bedenken. »Meinst du?« Ez zuckte die Achseln. Reynolds trank einen Schluck Tee. »Hast du denn welche gesehen?« fragte Reynolds. »Ein oder zwei vielleicht.« »Reptilien?« »Sind hier rumscharwenzelt«, sagte Ez. »Und haben sich den Laden angekuckt.« »Meinst du, die kommen wieder?« »Keine Ahnung. Vielleicht wollten sie sich nur mal umsehen.« Reynolds zuckte die Achseln und aß sein Sandwich, ohne aufzublicken. Als Reynolds nach Feierabend die Tür hinter sich abschloß, erwartete Ez ihn oben an der Treppe. »Die erste Woche«, sagte
Reynolds. Sie tauschten einen Händedruck. Reynolds verschwand in Richtung Bushaltestelle. Ez ging über die Straße zur U-Bahn. Er stieg die Treppe hinunter ins Innere der Station. Am Fuß der Treppe stand ein Straßenmusiker, ein alter Mann in einem abgewetzten Anzug, der schon bessere Tage gesehen hatte, und spielte Klarinette. Ez hatte noch nie eine Münze in seine Tüte geworfen, da es ihm anmaßend erschien, einem Mann von solchem Format Geld zu geben. Heute abend jedoch griff er in seine Tasche und warf eine Pfundmünze in die kleine Papiertüte auf dem Boden. Der alte Mann hob den Kopf und warf ihm einen stechenden Blick zu, wie um herauszufinden, woher dieser jähe Sinneswandel rührte. Schuldbewußt stieg Ez in seinen Zug. Ein paar Tage später schleppten zwei Männer in braunen Kitteln ein großes Paket die Treppe herunter und lehnten es neben dem Drehkreuz vorsichtig an die Wand. Der ältere der beiden versuchte Ez auf sich aufmerksam zu machen. »Mr. Reynolds?« »Da drin«, sagte Ez. Er ging zu Reynolds’ Tür, klopfte an und trat ein. »Haben Sie was bestellt?« fragte Ez. Reynolds stand auf und folgte Ez zum Drehkreuz hinaus. »Mr. Reynolds?« Der Mann hielt ihm den Lieferschein hin und glitt mit dem Finger eine Spalte entlang. »Bitte hier unterschreiben.« Reynolds warf einen Blick auf das Paket an der Wand. Es war wuchtig und massiv. Er nickte und unterzeichnete den Lieferschein. »Sollen wir Ihnen bei der Montage helfen?« fragte der Mann. Reynolds schüttelte den Kopf.
Ez sah den beiden Männern nach, bis sie die Treppe hinauf verschwunden waren. Dann fragte er: »Meinen Sie nicht, Sie hätten das mit Ihrem Partner absprechen sollen?« »Überraschung«, sagte Reynolds. Sie schafften das geheimnisvolle Paket durch das Drehkreuz und lehnten es im Büro an die Wand. Es wog an die zwanzig Kilo. Nachdem sie es abgestellt hatten, riß Reynolds die Plastikverpackung ab. Ez las DUREX und darunter, in kleineren Lettern, KONDOME. Ez hätte am liebsten laut gelacht. Er wollte Reynolds dasselbe sagen, was Reynolds zu ihm gesagt hatte: »Du bist echt ‘n schlimmer Finger.« »Und wieviel passen da rein?« »Vierhundert Päckchen à drei Stück.« Ez schüttelte den Kopf. »Über tausend«, sagte Reynolds stolz. »Sicher ist sicher.«
Ez und Reynolds standen vor dem Tisch in Reynolds’ Büro und inspizierten den Münzsammelbehälter aus dem Drehkreuz. »Ende der zweiten Woche«, verkündete Reynolds feierlich. Er stülpte den Münzbehälter um, und eine Silberflut von Zehn-Pence-Stücken ergoß sich über den Tisch. »Wieviel isses?« fragte Ez. »Laut Zähler fünfhundertvierundneunzig Pfund und zwanzig Pence«, sagte Reynolds. Ez verzog den Mund zögernd zu einem schiefen Lächeln. »Na also, geht doch«, sagte Reynolds. »Wir schaffen das schon.«
24
Auf dem Heimweg ging Ez in der Obsthandlung Headley and Son vorbei. Drei Kunden standen vor ihm in der Schlange. Als er an die Reihe kam, verlangte er zwei Pfund Mangos. Mrs. Headley, eine gutaussehende Mulattin, wog sie sorgfältig ab. Obwohl sich ihre Gespräche im allgemeinen auf Belanglosigkeiten beschränkten, wechselten Ez und sie gelegentlich verstohlene Blicke. Nachdem sie die Früchte abgewogen hatte, nahm sie zwei weitere Mangos und balancierte sie einen Moment lang, eindeutig zweideutig, in der offenen Hand. Ohne Ez aus den Augen zu lassen, schob sie das Obst in die Tüte. »Mit den besten Empfehlungen des Hauses.«
»Danke«, sagte Ez. Er spürte, wie ihm die Röte den Hals hinauf und ins Gesicht stieg. Er ging noch ein Stück die Straße entlang, überquerte dann die Fahrbahn und bog an der zweiten Ecke rechts in die Letter Lane. Dann nahm er die Whitegate Road und gelangte so in eine kleine Seitenstraße mit einem guten Dutzend Läden. Über einem der Geschäfte hing ein Schild mit der Aufschrift: BIZIOU’S FRISEURSALON. Ez blieb stehen und sah hinein. Mehrere Frauen ließen sich die Haare schneiden. Die intime, feminine Atmosphäre des Salons erinnerte ihn kurioserweise an das Gemälde eines Harems, das er in seiner Jugend gesehen hatte. Überall Frauen, sie saßen unter Trockenhauben, rekelten sich auf Chaiselongues und blätterten in Zeitschriften. Mit einem
Anflug von Entsetzen erkannte er einen der Friseure, der sich unbekümmert zwischen den Frauen tummelte, als Steve. Unwillkürlich fasziniert, zögerte Ez, sah erst weg und blickte dann ein zweites Mal durchs Fenster. Steve schnitt einer Blondine um die Vierzig die Haare und führte die Schere mit sicherer Hand. Er stand leicht vorgebeugt und konzentrierte sich voll und ganz auf seine Arbeit. Plötzlich stakste einer der anderen Friseure, der die Kundin neben Steve bediente, hüftenschwingend zum Wandregal, holte sich eine neue Schere und stakste wie in Trance zurück. Ez sah nach links und rechts und ging dann weiter. Am Ende der Fußgängerzone überquerte er mit seiner Tragetasche die Fahrbahn. In der Diele half Martha ihm aus dem Mantel. Als sie ihn aufgehängt hatte, reichte Ez ihr die Papiertüte. »Drei Pfund Mangos, wie bestellt.« »Ich wollte aber nur zwei.« »Tut mir leid. Hab ich dann wohl vergessen.« »Wo hast du nur wieder deinen Kopf«, sagte Martha und nahm die Tüte an sich. »Kommt Steve zum Abendessen?« »Nein. Heut morgen hat er gesagt, er geht mit Freunden weg.« »Und was sind das für Freunde?« Martha zuckte gleichmütig die Achseln. »Na, Freunde eben. Er ist doch wohl alt genug, sich seine Freunde selber auszusuchen.« Ez nickte. »Wie war die Arbeit?« fragte Martha. »Gut. Ich glaub, wir machen langsam Fortschritte. Diese Woche waren fünfhundertvierundneunzig Pfund im Drehkreuz.« Martha lächelte, ein zögerndes, warmherziges Lächeln, das sich langsam in ihrem ganzen Gesicht ausbreitete. Sie schlang die Arme um ihn. »Mein kluger Mann.« Als Martha ihn losließ, hob Ez lächelnd die Augenbrauen.
Später, im Bett, machte Martha die Nachttischlampe aus. Sie drehte sich zu Ez um und betrachtete ihn im schwachen Schein der Straßenlaternen. »Wieso hast du nach Stevie gefragt?« »Auf dem Heimweg bin ich beim Friseur vorbeigegangen. Und hab mir Stevies Kollegen angekuckt. Einer von denen stolziert durch den Laden wie ne Frau.« Martha starrte ihn an. »Meinst du, Stevie hat schlechten Umgang?« »Vielleicht«, sagte Ez. Martha zögerte. »Oder meinst du, Stevie ist…?« Ez gab keine Antwort. Martha verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. »Spielt das ne Rolle?« fragte sie mit sanfter Stimme. In Ez’ Gesicht arbeitete es angestrengt. »Du bist seine Mutter«, sagte er schließlich. »Was meinst du?« »Ich vertraue Stevie.« »Und wieso machst du dir keine Sorgen?« fragte Ez. »Weil«, sagte Martha, »Stevie genauso ist wie du – ein gütiger Mensch. Was du anfaßt, liebst du. Du liebst mich, du liebst deinen Sohn, du liebst diese Wohnung, du liebst deine Arbeit.« Sie hielt inne. »Also. Was solls?« Ez schwieg. Nach einer Weile sagte Martha: »Du liebst sogar die Reptilien.« »Also wirklich«, protestierte Ez. »Jetzt übertreibst du aber.« »Ach ja?« Ez drehte sich zu ihr. »Frau, du sprichst mit gespaltener Zunge.« »Manchmal hab ich das Gefühl, du liebst sogar meine gespaltene Zunge.« Sie sahen sich an. Schließlich sagte Ez: »Und wann machst du fritierte Eidechse, Frau?« »Wozu?« »Zur Feier des Tages«, sagte Ez. »Zum Beispiel.«