Gilmore Girls Heimliche Liebschaften Band 7 Erscheinungsdatum: 2005 Seiten: 139 ISBN: 3802534816 Amazon-Verkaufsr.: 2311...
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Gilmore Girls Heimliche Liebschaften Band 7 Erscheinungsdatum: 2005 Seiten: 139 ISBN: 3802534816 Amazon-Verkaufsr.: 2311 Durchsch. Kundenbew.: 3/5 Scanner: crazy2001 K-leser: klr CCC C C C CCC
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2004
Dieses E-Book ist Freeware und somit nicht für den Verkauf bestimmt.
In Stars Hollow ist die Hölle los. Na ja, nicht ganz. Aber immerhin findet das Festival der Lebenden Bilder statt. Wie schon vor sieben Jahren möchte Lorelai Gilmore das Renoir-Mädchen geben, dumm nur, dass sie dieses Jahr in der Besetzung nicht vorgesehen ist. Zum Glück hat Rory eine fantastische Idee, wie sie ihrer Mom zu Ruhm und Ehre verhelfen kann. Doch eigentlich findet das Großereignis gar nicht in der festlich geschmückten Stadthalle statt, sondern bei Sookie zu Hause. Endlich ist es nämlich so weit: Sookies Baby hat sich entschlossen, das Licht der Welt zu erblicken. Auch sonst geht es bei den Gilmore Girls wieder drunter und drüber, denn es gibt viel Wirbel um Rorys entfesselte journalistische Fähigkeiten bei der Yale Daily News. Aber auch bei Richard und Emily ist einiges los. Emily macht eine Entdeckung, und der Haussegen im elitären Haus der Großeltern hängt erst einmal eine Zeit lang schief.
Thea Silva
Gilmore Girls
Heimliche Liebschaften
Roman
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Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Der Roman »Gilmore Girls – Heimliche Liebschaften«
von Thea Silva entstand auf der Basis der gleichnamigen Fernsehserie
von Amy Sherman-Palladino, produziert von Warner Bros,
ausgestrahlt bei Vox.
© 2005 des VOX-Titel-Logos mit freundlicher Genehmigung
Copyright © 2005 Warner Bros. Entertainment Inc.
GILMORE GIRLS and all related
characters and elements are trademarks of and
©Warner Bros. Entertainment Inc.
WB SHIELD: TM ©Warner Bros.
(s05)
VGSC 3605
© der deutschsprachigen Ausgabe:
Egmont vgs Verlagsgesellschaft mbH, Köln 2005
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Eva Neisser
Produktion: Sandra Pennewitz
Senderlogo: © Vox 2005’
Titelfoto: © 2005 Warner Bros.
Satz: Hans Winkens, Wegberg
Printed in Germany
ISBN 3-8025-3481-6
Ab 01.01.2007:
ISBN 978-3-8025-3481-2
Besuchen Sie unsere Homepage: www.vgs.de
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Das Wort »Kultur« ist ein äußerst dehnbarer Begriff, jeder definiert ihn auf seine Weise und setzt sich anders mit ihm auseinander. Für die einen hat Kultur etwas mit Altehrwürdigkeit zu tun, mit der Kunst des Mittelalters etwa oder mit klassischer Musik und klassischem Ballett. Für andere ist »Kultur« etwas Modernes, das sich zum Beispiel in zeitgenössischer Literatur äußert, in Romanen, in denen ältere Männer wenigstens in ihrer Vorstellung noch einmal allen Leidenschaften frönen, denen sie in ihrem Leben begegnet sind, oder in dröhnender Musik, wie Lane sie produziert. Für Dritte wiederum ist »Kultur« nur ein gesellschaftliches Ereignis, zu dem man sich begibt, um sich sehen zu lassen. Die Inhalte sind in diesem Fall weniger wichtig. Es kann sich genauso gut um ein Shakespeare-Stück handeln wie um ein Footballspiel Yale gegen Harvard. Wichtig ist eigentlich nur, was man dazu anzieht. Für meine Großmutter Emily jedenfalls. Von fast allem bekam ich in diesen Herbstwochen in Stars Hollow etwas ab. Woran das gelegen hat? Vielleicht daran, dass ich, Rory Gilmore, seit diesem Jahr Studentin in Yale bin und mich sozusagen beruflich mit Kultur befasse? Mag sein. Vielleicht lag es aber auch daran, dass sich unser kleines Stars Hollow, als dessen einzige Attraktion ich bislang meine Mom Lorelai Gilmore betrachtet hatte, plötzlich als Nabel der Welt entpuppte. Wow! Okay, okay, ganz so spektakulär war es natürlich nicht. Aber dass es ausgesprochen laut begann, das kann ich wirklich beschwören. Es war Samstagmorgen, als ich mit einem Sack voller schmutziger Wäsche nach Hause kam. Der Vorgarten bebte leise, und das herabgefallene Laub
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auf der Wiese schien sich mit dem kontinuierlichen Wummern tiefer Bassklänge rhythmisch zu heben und zu senken – ganz entgegen seinen natürlichen Gewohnheiten. Lane!, schoss es mir durch den Kopf. Mom hatte meiner Freundin Lane erlaubt, die Proben ihrer Rock-Band in unserer Garage stattfinden zu lassen, da ihre traditionsbewussten koreanischen Eltern niemals zugelassen hätten, dass ihre Tochter etwas derart Untraditionelles tat wie Schlagzeug spielen. Andererseits gehört es meines Wissens zu den traditionellen koreanischen Riten, Kontakt mit den Verstorbenen zu halten. Und so wie Lane jetzt auf dem Schlagzeug herumdrosch – damit konnte sie Tote aufwecken. Meine Mom Lorelai Gilmore saß am Küchentisch. So gut wie sie aussah, hätte sie sich ohne weiteres auf der Stelle zu einem Fotoshooting für eins dieser teuren Hochglanzmagazine begeben können. Dabei hatte sie ihr ganz normales Samstagvormittag-Outfit an. Eine Trainingshose, ein knappes T-Shirt mit langen Ärmeln und darüber eins mit kurzen. So ist es nun mal. Wenn man so attraktiv ist wie meine Mom, sieht man wahrscheinlich selbst in Müllsäcken noch gut aus. Ich hingegen habe manchmal sogar in meinen schönsten Klamotten das Gefühl, in einer Wertstoffsammlung nicht weiter aufzufallen… Moni hatte augenscheinlich alles andere vor, als zu einem Fototermin zu gehen. Vor ihr lagen die Samstagszeitung und eine große Schere. Offenbar schnitt sie gerade etwas aus. Anzeigen oder so. Sobald ich die Küche betrat, schlug sie die Zeitung eilig zu. »Oh, hallo… Morgen!«, sagte Moni und grinste verlegen. Es ist nicht allzu lange her, dass ich noch diejenige war, die sich von Zeit zu Zeit von ihrer Mutter ertappt fühlte. Zu irgendeinem magischen Zeitpunkt aber müssen wir einen Teil unserer Rollen getauscht haben.
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Nicht, dass Moni nicht meine Mom geblieben wäre. Aber gleichzeitig ist sie meine Freundin, und wir begegnen uns gleichberechtigt auf ein und derselben Augenhöhe. Auch wenn Mom tatsächlich fast einen Kopf größer ist als ich. »Hi, Mom«, antwortete ich, während die zur Garage angrenzenden Wände im Takt von Lanes Schlagzeug zu atmen schienen. »Würdest du es komisch finden, wenn ich wieder mal Gutscheine sammeln würde?«, erkundigte sich Mom mit einem Tonfall, als käme ihr diese Frage rein zufällig in den Sinn. Mein Blick fiel auf die Zeitung, die Schere und einige Schnipsel, die über die Tischdecke verstreut lagen. Aha. Mom unternahm den Versuch, eine vorbildliche Hausfrau zu sein. Eine Hausfrau, die sich Gedanken darüber macht, mit welchem Waschmittel die Wäsche ihrer Familie noch weißer wird. Eine Hausfrau, die Gutscheine ausschneidet, sammelt und einlöst, um die Haushaltskasse zu schonen. Und eine Hausfrau, deren ganzer Stolz ihre vorbildlich gepflegten und einwandfrei funktionierenden Haushaltsgeräte sind. Mom weiß, wie sehr ich Gutscheine sammeln hasse. Es ist für mich der Inbegriff der Spießigkeit. Und Spießigkeit passt einfach nicht zu Moni. Genauso wenig wie es zu ihr passt, eine Hausfrau zu sein. »Was heißt hier >wieder mal«, fragte ich skeptisch. Hatte ich da etwas nicht mitbekommen? »Ich meine natürlich >jemals<«, verbesserte sich Mom schnell und schob das bereits angeschnittene Blatt der Zeitung demonstrativ von sich. »Ich habe mich nur versprochen. Und ich werde es auch nicht tun. Gutscheine sammeln, meine ich. Niemals.« Im gleichen Moment schien sie mit ihren Gedanken schon wieder ganz woanders zu sein. Und zwar bei den Unmengen schmutziger Wäsche, die ich aus meinem Wäschesack hervorzog.
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»Hey! Wie kommt es, dass sich deine schmutzige Wäsche so extrem vermehrt hat, seitdem du in Yale bist?«, fragte sie verdutzt. Ich hatte das starke Gefühl, dass Mom von dem Gutschein-Thema ablenken wollte. »Das kommt daher, dass ich jetzt ein dreckiges Yale-Luder bin«, antwortete ich. Wobei mir vollkommen klar war, dass diese Antwort ebenso glaubwürdig war wie Monis Versprechen, keine Gutscheine zu sammeln. Denn so gut kenne ich Mom: Was sie sich in den Kopf gesetzt hat, zieht sie durch. Koste es, was es wolle. Ich stapelte meine Wäsche auf meinen Armen, um nach nebenan zu gehen, wo unsere Waschmaschine steht. Vorsichtshalber nahm ich die Zeitung mit den halb ausgeschnittenen Gutscheinen an mich. »Hey!«, rief Mom empört. »Ich habe doch gesagt, ich sammle sie nicht!« Ich zuckte die Schultern. »Okay, dann gibt’s ja auch kein Problem.« »Ich dachte nur, wegen der Feigencreme-Kekse«, murmelte Mom. Das also war des Rätsels Lösung! Mom und ich, wir essen gern, und um an Feigencreme-Kekse zu kommen, war Mom offensichtlich sogar gewillt, sich in die Niederungen des Spießertums zu begeben. Jeder hat eben seine dunkle Seite. Begleitet von dröhnenden Gitarrenakkorden ging ich zur Waschmaschine. Seit dem letzten Sommer hat Lane ein Problem: Dave, ihr Freund und der Gitarrist der Band, war zum Studium nach Kalifornien gegangen. Jetzt suchte die Band verzweifelt einen neuen Gitarristen. Seit Wochen kreuzten in unserer Garage hoffnungsvolle Talente auf- um gleich nach dem Vorspielen von Lane abserviert zu werden. Was ich zumindest im Fall des aktuell spielenden Meisters voll und ganz verstehen konnte. Die Akkorde, die er seiner Gitarre entlockte, ließen einem die Haare zu
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Berge stehen. Ach, was sage ich! Sie ließen mir das Blut in den Adern gefrieren, sodass über kurz oder lang der Herzschlag versagen musste. Schluss, Aus, Ende – Exitus durch schlechte Musik. Wie viele Jahre Knast wohl daraufstanden? Mit schmerzverzerrtem Gesicht stopfte ich meine Wäsche in die Waschmaschine. Ich kratzte den letzten Rest aus einer alten Schachtel Waschmittel, füllte ihn in die Maschine und schaltete sie ein. Keine Reaktion. In der Antike ist es angeblich mal jemandem gelungen, durch sein Spiel auf seiner Leier so etwas Totes wie Steine zum Weinen zu bringen. Der Klangkünstler in der Garage hatte es offenbar geschafft, selbst einem toten Gegenstand wie einer Waschmaschine das letzte Fünkchen Leben auszutreiben. »Mom, die Waschmaschine ist kaputt«, klagte ich, als ich zurück in die Küche kam. »Ich weiß«, sagte Mom und strahlte mich an. »Aber du bist doch nicht nur gekommen, um Wäsche zu waschen. Du bist doch vor allem gekommen, um deine Mami zu sehen, nicht wahr?« Dabei kniff sie mich sanft in die Wange. Es stimmt schon, Mom und ich, wir haben uns beide noch nicht ganz daran gewöhnt, jetzt nicht mehr ständig zusammen zu sein. Diesmal war es allerdings wirklich so, dass ich vor allem wegen der Wäsche nach Hause gekommen war. Aber ob ich ihr das sagen sollte? Die Stille, die sich mit einem Mal im Haus ausbreitete, verhinderte meine Antwort. Mom und ich sahen uns an. Im gleichen Moment kam Lane herein. »Hallo, Lane«, begrüßte ich sie. »Na, wie läuft’s mit dem neuen Gitarristen?« Keine Antwort. Wie eine Schlafwandlerin ging Lane an mir vorbei und hielt zielstrebig auf das Spülbecken zu. Dort drehte sie den Wasserhahn auf und steckte den Kopf darunter. Wenige Sekunden später drehte
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sie das Wasser wieder ab. Sie richtete sich auf, drehte sich um und verließ – klatschnass und triefend – die Küche. Die Asiaten sind ja bekannt für ihre Disziplin und Selbstbeherrschung. Doch auch ihre zuweilen unbeweglichen Mienen können Bände sprechen. Wie gerade in Lanes Fall. Mom und mir zumindest war in diesem Moment völlig klar, dass die Stelle eines Gitarristen in Lanes Band weiterhin zu besetzen war… Während ich eine kleine Weile später mit meiner Freundin Lane – als sie wieder ansprechbar war – einen kleinen Stadtbummel unternahm, stattete Mom ihrer Freundin Sookie einen Besuch ab. Schon während der letzten Wochen hatte Sookies Bauch, in dem ihr Sohn Davey heranreifte, beträchtliche Ausmaße angenommen. Jetzt aber, nachdem das Baby schon vor einer Woche hätte kommen sollen, hatte Sookie einen Umfang entwickelt, der alles bisher Gekannte in den Schatten stellte. Als ich Sookie die Tür öffnen sah und ihr von der anderen Straßenseite aus kurz zuwinkte, durchzuckte mich für einen Moment die Frage, wie meine Mom wohl kurz vor meiner Geburt ausgesehen haben mochte. Ob sie auch so kugelig gewesen war wie Sookie? Dann aber fiel mir ein, dass Mom nicht nur grundsätzlich eine schlankere Figur hatte als Sookie, sondern dass sie auch etwa zwanzig Jahre vor ihrer Freundin schwanger geworden war. Im zarten Alter von sechzehn nämlich. Und dass sie damit, was die Figur betrifft, gegenüber anderen Frauen wahrscheinlich im Vorteil gewesen war. Dass der Rest, nämlich sich als junge Mutter gegen die Eltern durchzusetzen und die kleine Rory-Maus ohne Vater aufzuziehen, alles anders als einfach gewesen sein muss, wurde mir in diesem Moment allerdings ebenfalls klar. Und ich nahm mir vor, mich von nun an
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gelegentlich bei ihr zu bedanken, dass sie so tolle Arbeit geleistet hatte. Mom und ich trafen uns erst am späten Nachmittag wieder. Taylor Doose, der alle möglichen wichtigen Ämter in unserer Stadt innehat, hatte überraschend eine Bürgerversammlung einberufen. Mom und ich können nicht behaupten, dass Taylor zu unseren Favoriten in Stars Hollow gehört. Das Beste an ihm sind eigentlich die vielen leckeren Eissorten, die er in seiner Konditorei verkauft. Seine Kleinlichkeit aber, mit der er sämtliche ihm übertragenen Aufgaben in der Stadt ausübt, ist die reine Pest. Speziell für Mom, der er bei der Renovierung des Dragon Fly, das sie in der nächsten Zukunft mit Sookie als Hotel betreiben möchte, mehr als einen Stein in den Weg gelegt hatte. Ich saß bereits auf einem Klappstuhl und wartete auf die Eröffnung der Sitzung. Rund um mich herum schwirrten Fragen, die sich mit dem Anlass der »Notfallsitzung«, wie die Versammlung genannt wurde, beschäftigten. Mit einer gewissen Regelmäßigkeit schwirrten dabei die Wörter »meine Freundin« durch den Raum. Sie stammten von Kirk, der offenbar zum ersten Mal in seinem verklemmten Leben eine Freundin gefunden hatte – noch dazu eine nette, wie mir schien – und die Neuigkeit stolz wie ein Gockel in den Raum krähen musste. Endlich tauchte Mom auf. Sie setzte sich auf den Stuhl neben mich, den ich für sie frei gehalten hatte. Ein kleines merkwürdiges Plastikkästchen, das an ihrer Jeanstasche klemmte, erregte meine Aufmerksamkeit. »Was ist das?«, fragte ich und deutete auf das Plastikkästchen. »Das ist ein Baby-Pieper«, erklärte Mom im selbstverständlichsten Ton der Welt. »Ein Baby-Pieper? Was machst du mit einem BabyPieper?«, wollte ich wissen. »Ich bin jetzt eine Art Hebamme«, erklärte Mom, und es war einer der wenigen Moment, in denen nun
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doch ein wenig Unsicherheit in ihrem Lächeln zu erkennen war. Wenn meine Freundin Lane vor Staunen die Augen aufreißt, hat man das Gefühl, sie werden handtellergroß. Ich fürchte allerdings, dass ich ihren Dimensionen in diesem Augenblick schon ziemlich nahe kam. Mom als Hebamme! Und Schweine können fliegen! »Was… wie…«, stammelte ich nur. »Ja, Sookie hat es sich genau überlegt«, begann Mom jetzt. »Sie will ihr Baby zu Hause bekommen. Sie sagt, in Europa geschehe das gar nicht so selten, und auch früher sei es gang und gäbe gewesen, die Kinder im Wohnzimmer zu bekommen. Sie sagt, sie finde das alles viel natürlicher, viel entspannter und gemütlicher…« Ich kenne meine Mom seit 18 Jahren. Und auch wenn sie jetzt wieder versuchte, eine gewisse Begeisterung in ihre Stimme zu legen – war mir völlig klar, dass eine Hausgeburt alles andere als ihr Ding war. Und zumindest in unserem Wohnzimmer wurden keine Kinder geboren, da wurde ferngesehen. »Und du sollst dabei sein?«, platzte ich dazwischen. Alle vorgegaukelte Begeisterung war plötzlich aus Monis Gesicht verschwunden. Sie nickte. »Ja, ich soll dabei sein«, sagte sie, ohne weiter eine Miene zu verziehen. »Und mit diesem Pieper«, fuhr sie fort und deutete auf das Ding an ihrer Hosentasche, »werden sie mich holen, wenn es soweit ist. Willst du mal hören?« Sie drückte auf einen Knopf, und eine Melodie von Scott Joplin erklang, das Hauptmotiv aus dem Film »Der Clou«. »Wow!«, rief ich. »Eine Hausgeburt zur Filmmusik von >Der Clou<.« Mehr wollte ich dazu nicht sagen. Denn ich mag Sookie. Und wer weiß? Vielleicht gibt es ja auch einen Zusammenhang zwischen Kinderkriegen und Essen kochen. Ich meine, wer sein Essen selbst
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kocht, wie Sookie, bekommt vielleicht auch lieber seine Kinder zu Hause. Und wer sein Essen irgendwo kauft, beim Pizzaservice zum Beispiel oder im ChinaImbiss, wie Mom, der geht zum Kinderkriegen eher ins Krankenhaus. Könnte doch sein, oder? Jetzt betrat jedenfalls Taylor die Bühne und stellte sich hinter das Rednerpult. Er klopfte dreimal mit dem Holzhammer auf sein Pult und bat um Ruhe. »Liebe Mitbürger«, eröffnete er seine Ansprache feierlich. Ich musste kurz die Augen schließen. Einfach, um mich besser beherrschen zu können und nicht laut loszulachen. Taylor war sich der Würde seine Amtes voll bewusst. Und in umso drastischerem Kontrast zu dieser Würde seines Amtes stand seine uncoole Erscheinung. Taylor hat eine Vorliebe für schreckliche Strickjacken. Ich weiß nicht, wo er diese Dinger überhaupt auftrieb, aber eine war scheußlicher als die andere. An diesem Tag trug er ein beigefarbenes Exemplar, das sackartig von seinen Schultern herabhing und dessen Taschen ebenfalls noch mal wie kleinere Säcke – vielleicht eine Art Reservesäcke? – über den Saum der Jacke herabbeutelten. Sein graumelierter Bart wirkte sozusagen als Tüpfelchen auf dem i. Selbstzufriedene Behaglichkeit und das gute Gewissen – oder zumindest die innere Überzeugung, alles richtig zu machen – , das war es, was Taylor auch an diesem Nachmittag wieder ausstrahlte. Links neben Taylor, der neben vielem anderen auch Kulturbeauftragter der Stadt ist, saß Miss Patty auf der Bühne. Rechts von ihm saß eine Frau, die meines Wissens nicht aus Stars Hollow stammte. Sie trug ein Kleid in der Art, wie es Margret Thatcher zu ihrer Amtszeit als Britische Premierministerin in den 80er Jahren getragen hatte: mit großen geometrischen Mustern und insgesamt einfach schrecklich. Sie musterte das Publikum mit
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durchdringenden Blicken. Ausgerechnet an mir blieb sie mehrere Sekunden lang hängen. »Was will die von mir?«, flüsterte ich Mom zu. »Keine Ahnung. Vielleicht steht sie auf dich?«, gab Moni zurück. Ich frage mich, ob Frauen, die ihre Kinder zu Hause zur Welt bringen, ihren halbwegs erwachsenen Töchtern gegenüber auch solche Sprüche bringen. »Wie ihr ja sicher wisst«, holte Taylor jetzt zum Grund der Einberufung der Sitzung aus, »findet jedes Jahr in Connecticut das Festival der Lebenden Bilder statt. Bekannte Kunstwerke werden auf einer Bühne von Menschen in entsprechenden Kostümen dargestellt, und jeweils eine Stadt hat das Vergnügen, dieses Fest mit ihren Bürgern auszurichten. Stars Hollow hat diese Aufgabe bereits vor sieben Jahren einmal mit großem Erfolg übernommen«, stellte er mit unüberhörbarem Stolz in der Stimme fest. Ich schubste Moni mit dem Ellbogen ein wenig an. »Erinnerst du dich?«, flüsterte ich. »Ich war damals ein kleiner chinesischer Akrobat und du warst…« »Ich war das Renoir-Mädchen«, sagte Moni und ihr Blick nahm etwas unbestreitbar Verträumtes an. »In diesem Jahr fiel die Wahl auf Woodbury als Austragungsort«, fuhr Taylor fort. »Aber wegen des plötzlichen Herbsthochwassers und der damit verbundenen Überschwemmung musste die Stadt das Festival leider absagen. Ich war so frei«, sagte Taylor und machte eine gewichtige Kunstpause, »stattdessen Stars Hollow vorzuschlagen!« Noch bevor Taylor sich Beifall heischend im Publikum umsehen konnte, brach Applaus aus. Die Begeisterung, mit der die Einwohner von Stars Hollow der Herausforderung entgegenblickten, war umwerfend. Auch Miss Patty hielt es nicht länger auf ihrem Stuhl. Sie erhob sich und klatschte frenetisch in die Hände. Ihr Busen wogte wie ein Hochseedampfer im
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Sturm. Kaum zu glauben, dass sie als ehemalige Tänzerin irgendwann einmal eine grazile Figur gehabt haben muss. »Bravo, Taylor! Da hast du endlich mal etwas richtig gemacht.« Taylor sah sie ziemlich baff an, und Miss Patty setzte sich schnell wieder hin. »Wie viel Zeit haben wir denn bis zum Festival?«, fragte eine Stimme aus dem Publikum, sobald sich der Lautstärkepegel wieder etwas gesenkt hatte. Taylor räusperte sich. Offenbar war dies der wunde Punkt der Angelegenheit. »Wir haben genau eine Woche«, antwortete er. »Eine Woche? Aber ist das denn realistisch? Kann man das überhaupt schaffen? So ein Festival bedeutet doch eine Menge Vorbereitung«, schallten die Stimmen durch den Raum. »Ich denke schon, dass wir es schaffen können«, sagte Taylor. »Außerdem«, fügte er ein wenig zerknirscht hinzu, »außerdem habe ich schon zugesagt.« Es war, als wäre die gesamte Versammlung gleichzeitig von einer Woge erfasst worden. Jedenfalls schienen alle auf ihren Stühlen ein Stück nach hinten gedrückt zu werden. »Ich möchte euch nun eine Schlüsselfigur für diese Unternehmung vorstellen«, fuhr Taylor schnell fort. »Miss Otis, die Leiterin der Kunstakademie von Connecticut.« Die Margret-Thatcher-Kopie erhob sich von ihrem Platz und stellte sich hinter das Rednerpult. Sie holte tief Luft. »Ihr Enthusiasmus«, begann sie mit bebender Stimme und wohlgesetzten Worten, »schockiert mich.« Damit endete ihre Rede auch schon wieder. Sie schenkte dem Publikum noch einen bedeutungsvollen Blick, dann setzte sie sich. Moni und ich sahen uns an. »Ist das nun gut oder schlecht?«, fragte Mom.
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Ich bin es mittlerweile gewöhnt, den oftmals verworrenen Gedankengängen meiner Professoren zu folgen. Miss Otis’ knappe Stellungnahme ließ mich allerdings reichlich ratlos zurück. »Keine Ahnung«, antwortete ich. »Ich bin überzeugt«, fuhr Taylor nun fort, »dass wir das schönste Festival auf die Beine stellen werden, das Connecticut je erlebt hat – oder Woodbury zumindest«, warf er mit einer gewissen Häme ein. An dem Gerücht, dass zwischen ihm und diesem Hank, der offenbar in Woodbury die Ämter ausübte, die Taylor in Stars Hollow innehatte, eine mehr als leichte Konkurrenz herrschte, war wohl etwas Wahres dran. »Bitte tragt euch in die Listen für die Darsteller ein. Miss Otis und ich werden die Auswahl treffen und euch eure Rollen bekannt geben«, schloss er dann die Sitzung. Noch bevor Mom und ich uns erheben konnten, kam unsere Nachbarin Babette auf uns zugeschossen. Sie hat ein Faible fürs Romantische und Dekorative, in Form von je nach Jahreszeit wechselndem Schmuckwerk – was sich sogar bis in ihren Garten erstreckt. »Lorelai«, sagte sie. »Du musst unbedingt wieder das Mädchen auf diesem Renoir-Gemälde darstellen. Wie hieß das Bild noch gleich? >Tanz in Beaujivah oder so ähnlich. Egal. Du warst jedenfalls hinreißend.« Man kann eigentlich nicht sagen, dass Monis Geschmack dem von Babette unbedingt ähnelt. Jetzt aber sah man ihr an, dass sie in diesem Fall mit Babette vollkommen übereinstimmte. »Ich soll wieder das Renoir-Mädchen sein?«, wiederholte sie, und ihre Augen blitzten vor Freude. »Ich glaube, dazu würde ich mich glatt breitschlagen lassen.«
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Es gibt Menschen, die können Massen begeistern. In der Regel verfugen diese Leute über ein starkes Charisma. Sie sind mitreißend und überzeugend. Dass ausgerechnet Taylor Doose zu dieser Sorte gehörte – das hätte ich bis zu diesem Augenblick nicht geglaubt. Tatsächlich war es aber so, dass ganz Stars Hollow wie von einer Epidemie ergriffen war. Überall in der Stadt wurde nur noch von den hebenden Bildern gesprochen. Überall in der Stadt? Okay, vielleicht nicht ganz. Lane zum Beispiel schien das Festival sozusagen an der Basstrommel vorbeizugehen – um es nicht drastischer auszudrücken. Die Suche nach einem neuen Gitarristen beschäftigte sie einfach zu sehr. Und auch Luke, in dessen Cafe Mom und ich eine Kleinigkeit aßen, hatte vollkommen andere Sorgen: Seine Scheidung von Nicole kam nicht recht vom Fleck. Wobei es im Moment weniger Nicoles Anwalt war, der die Scherereien bereitete, sondern Lukes. Ich weiß nicht, was hinter Moms Stirn vor sich ging, als Luke uns davon erzählte. Überhaupt weiß ich nicht genau, was Mom von Luke eigentlich hält. Oder besser gesagt: wie sie zu ihm steht. Eine Weile lang hatte ich geglaubt, dass Luke und sie so etwas wie das perfekte Paar sein könnten. Und ich war mir nicht sicher, ob Moni das ganz im Geheimen nicht auch dachte. Selbst wenn Luke einer der größten Muffler ist, die man sich vorstellen kann. Im Grunde seines Herzens ist er aber sehr okay. Ich weiß, das klingt nicht besonders aufregend. Aber vielleicht kann man auf diese Qualität ja mehr bauen als auf manches andere, was einem sonst an Männern auf Anhieb ins Auge sticht.
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Also: Bis auf Luke und Lane war sozusagen ganz Stars Hollow damit beschäftigt, sich auf das Festival vorzubereiten. Aber auch ich hielt mich aus der Sache heraus. Als Studentin in Yale hat man schließlich anderes zu tun, als Verkleiden zu spielen. Auch wenn es sich um die Darstellung noch so historischer Bilder handelte. Sobald die Listen aushingen, auf denen die Darsteller und ihre Rollen festgelegt waren, ging auch Mom zum Bürgersaal. Überall herrschte große Aufregung. Die Kulissen und weiteres Ausstattungsmaterial waren bereits aus Woodbury angeliefert worden und mussten ausgeladen werden. Taylor lief mit seinem berüchtigten Klemmbrett wie ein aufgescheuchtes Huhn hin und her, machte sich hier Notizen, strich da etwas aus und war jetzt schon so nervös, dass man fürchtete, er könne sich einen Herzinfarkt zuziehen. Während Mom auf der Suche nach ihrem Namen noch die Augen über die Listen gleiten ließ, erklang neben ihr ein Freudenschrei. Er stammte von Kirk. »Ja!«, rief er aus. »Ich bin dabei!« Dabei stieß er seine Faust wie der Gewinner eines 100-Meter-Laufs in die Luft. Blitzschnell lenkte Mom ihren Blick auf die Stelle der Liste, an die Kirk seinen Finger gelegt hatte. Dort stand: »Leonardo da Vinci – Das letzte Abendmahl«. »Ich bin Jesus!«, jubelte Kirk. »Kaum zu glauben! Ich bin der Messias!« Seine Stimme überschlug sich fast vor Begeisterung. »Wo sind meine Kollegen?«, fuhr er fort. »Simon! Jakobus, Sohn des Alphäus! Das wird unser Abend!«, rief er ein paar anderen jungen Männern zu, und sie gaben sich die Fünf, wie nach einem erfolgreichen Footballspiel. Ich persönlich weiß nicht, wann ich Kirk jemals in so ausgelassener Stimmung gesehen hatte. Und vor allem nicht, dass er jemals in seinem Leben irgendwo ein Anführer gewesen wäre. Mit einem Mal aber schien
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diese Rolle wie maßgeschneidert für ihn. Ob es der Heilige Geist war, der ihn beflügelte? Keine Ahnung. Jedenfalls wuchs Kirk urplötzlich über sich selbst hinaus. »Kommt!«, rief er. »Das muss gefeiert werden! Gehen wir zu Shakey’sl« Damit zog der neue Messias mit einem knappen Dutzend junger Männer davon. Mom sah ihnen grinsend hinterher. Mit etwas Fantasie konnte der Besuch in der Kneipe schon die erste Probe für das Lebende Bild werden. Zwar kein Abendmahl in langen Gewändern und bei Wein und Brot – aber ein lustiges Mittagessen bei Hamburger und Pommes. Warum auch nicht? »Lorelai, sieh mal hier«, riss die Stimme von Miss Patty Mom aus ihren Gedanken. »Ich habe hier ein Foto von dem neuen Bild in diesem Jahr. Ist es nicht wunderschön? Es heißt ‘Porträt einer jungen Dame, genannt Anthäa’.« Mom betrachtete das Bild. »Wow!«, machte sie. »Das ist ja Rory!« »Genau. Das haben wir uns auch gedacht«, bestätigte Miss Patty. »Dieses Bild gleicht deiner Tochter, als hätte Rory selbst Modell gestanden.« Im gleichen Augenblick dämmerte Mom, warum sich Taylor Doose zusammen mit Miss Otis neulich so lang vor dem Fenster von Lukes Cafe herumgedrückt hatte, während wir zusammen drinnen saßen und aßen. Ich hatte mein Essen kaum herunterbekommen, weil Taylor und diese Miss Otis mir immer neue Anweisungen gaben, wie ich meinen Kopf halten und den Hals drehen sollte. Schrecklich! »Am besten, du sagst Rory gleich, dass wir sie für diese Rolle vorgesehen haben«, fuhr Miss Patty fort. »Ich… ich glaube, daraus wird nichts«, wendete Mom vorsichtig ein. »Wenn ich sie richtig verstanden habe, will sich Rory in diesem Jahr höchstens hinter den Kulissen an dem Festival beteiligen. Sie sagt, das ganze Drum und Dran, das Schminken und so weiter,
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wird ihr einfach zu viel, so kurz vor den Prüfungen in Yale…« Miss Pattys Gesicht, das eben noch wie ein Vollmond gestrahlt hatte, wurde urplötzlich ernst. »Aber Anthäa… ich meine Rory ist diesem Bild wie aus dem Gesicht geschnitten.« »Stimmt«, sagte Mom, und ich bin mir sicher, dass sie den Stolz in ihrer Stimme kaum unterdrücken konnte. Immerhin war diese Anthäa nicht ganz unattraktiv. Und auch wenn Mom in vielem wirklich anders ist als die meisten Mütter – sobald es darum geht, ihr Kind hübsch oder klug oder sonst irgendwie toll zu finden, ist sie genau wie die anderen. »Sie ist sozusagen diese Anthäa. Ich werde mal mit Rory reden. Vielleicht lässt sie sich ja doch breitschlagen.« »Sehr gut«, sagte Patty, und der Vollmond knipste sein Licht wieder an. »So habe ich es erwartet.« »Ach, übrigens«, knüpfte Mom schnell an, bevor Miss Patty wieder abziehen konnte. Wie gesagt – Mom ist immer stolz auf ihre Tochter. Aber sie hat auch für sich ihre kleinen Eitelkeiten und Vorlieben. »Ich bin ein bisschen verwirrt. Ich kann meinen Namen auf der Liste nicht finden. Ich habe doch schon vor sieben Jahren das Renoir-Mädchen dargestellt, aber anscheinend hat Taylor…« »Ach, Herrje!«, rief Miss Patty eine Spur zu theatralisch aus. »Ich muss ja dringend telefonieren!« Es war völlig klar, dass sie eine heikle Angelegenheit heraufziehen sah. Und auch wenn Miss Pattys Körperumfang beträchtlich ist: Sobald sie Probleme auf sich zukommen sieht oder sich einfach nur mal auf irgendetwas festlegen soll – besonders wenn sie damit eine andere Position als Taylor beziehen müsste – , legt sie die Behändigkeit eines Wiesels an den Tag, um sich aus der Sache herauszuwinden. Glücklicherweise stand Taylor in Moms unmittelbarer Nähe.
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»Taylor«, wandte Moni sich nun an ihn. »Da ist wohl ein Fehler unterlaufen. Ich stehe nicht als RenoirMädchen auf der Liste.« Taylor machte einen wichtigen Haken auf das Papier auf seinem Klemmbrett. Dann sah er Mom mit einer Mischung aus Bedauern und Nachsicht an. »Ehrlich gesagt, ist es kein Fehler«, begann er. »Sie kümmern sich ja um die Kostüme.« »Aber ich bin dem Renoir-Mädchen wie aus dem Gesicht geschnitten«, entgegnete Mom verblüfft. »Ich könnte die Zwillingsschwester sein. Und vor sieben Jahren habe ich doch auch schon…« »Vor sieben Jahren haben sie als Renoir-Mädchen auf der Bühne gestanden und gezuckt«, fiel Taylor ihr ins Wort. »Wirklich, Lorelai, Ihre Ähnlichkeit in Ehren. Aber wenn mir ein Hank aus Woodbury auf die Finger sieht und nur betet, dass wir die Sache nicht hinkriegen, werde ich sicher niemand auf die Bühne stellen, der unter unkontrollierbaren Muskelkrämpfen leidet.« Mom musste kurz schlucken. Dass Taylor Breitseiten austeilen kann, ist in ganz Stars Hollow nur zu gut bekannt. Aber sie kommen doch immer im unerwarteten Moment. »Das ist überhaupt nicht wahr. Ich habe nicht gezuckt«, stieß Mom fassungslos aus. »Ich habe die ganze Zeit stocksteif auf der Bühne gestanden und…« »Sie haben gezuckt wie ein Zitteraal«, schnitt Taylor ihr jetzt wieder das Wort ab. »Es stimmt, du hast gezuckt«, pflichtete Miss Patty, die urplötzlich wohl doch nicht mehr telefonieren musste, von der Seite bei. »Und zwar ordentlich.« »Tja«, machte Taylor und fuhr fort, sich wichtige Notizen auf seinem Klemmbrett zu machen. »Tut mir Leid, Lorelai. Aber es ist Ihr eigener Fehler. Sie haben es sich selbst vermasselt.« Damit drehte er sich um und ging seiner wichtigen Wege.
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Ich hatte mich schon gewundert, wie es kam, dass Mom mich mitten in der Woche in Yale besuchte. Als Vorwand brachte sie ein Paket Waschpulver mit. Weil ich ja am vergangenen Wochenende in Stars Hollow nicht hatte waschen können und dies nun in der Waschküche des Colleges nachholen musste. Eigentlich fand ich es unangebracht, dass Mom und ich uns wie zwei passionierte Hausfrauen im Waschkeller herumdrückten, Wäsche in die Maschinen luden, Wäsche in den Trockner packten und Wäsche zusammenfalteten. Und vor allem passte es mir nicht, dass Mom dieses Waschpulver mitgebracht hatte, das sie ganz offensichtlich gegen heimlich gesammelte Coupons eingetauscht hatte. Es war das letzte billige Mistzeug, und ich war schon drauf und dran, wegen dieser Gutschein-Sammelei ein ernstes Wort mit Mom zu reden. Gleichzeitig hatte ich aber den Eindruck, dass Mom im Moment andere Sorgen bedrückten als billige Waschmittel und Einkaufsgutscheine. »Es ist wegen des Festivals der Lebenden Bilder«, rückte sie endlich mit der Sprache heraus, nachdem ich ein wenig nachgebohrt hatte. »Ich meine, ich weiß ja, dass ich als erwachsene Frau mit solchen Rückschlägen anders umgehen sollte. Aber vielleicht bin ich im Grunde meines Herzens doch noch das kleine Mädchen, das gern Verkleiden spielt.« Und dann erzählte sie mir alles, von Taylor mit dem Klemmbrett, von Miss Patty, die trotz ihrer massiven Figur ein Rohr im Wind zu sein schien, und von der Lüge mit dem Zitteraal. Es war eine Verleumdung, ganz klar. Ich selbst hatte vor sieben Jahren als kleiner chinesischer Akrobat gesehen, dass Mom nicht gezittert hatte. Nicht wie ein Zitteraal (Igitt!) und auch nicht wie sonst irgendwas. Und das sagte ich ihr auch. »Apropos kleiner chinesischer Akrobat«, versuchte Mom sich selbst und mich wohl auf andere Gedanken zu bringen. »Für dich haben sie eine Traumrolle
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ausgesucht. Das >Porträt einer jungen Dame, genannt Anthäa<.« Überrascht drehte ich mich um. Beinahe hätte ich das Waschpulver fallen gelassen. »Aber ich… ich habe mich doch gar nicht als Teilnehmerin eingetragen«, antwortete ich. »Ich habe diese Zwischenprüfungen, und ich wollte eigentlich nur hinter den Kulissen helfen.« Mom zuckte die Schultern. »Du bist dieser Anthäa wie aus dem Gesicht geschnitten.« Im ersten Moment wäre mir danach gewesen, eine flammende Rede vom Stapel zu lassen. Darüber, was für ein Idiot dieser Taylor ist und wie kleinbürgerlich ich es fand, dass er immer wieder versuchte, Mom dafür zu bestrafen, dass sie anders ist als er – oder sogar anders als die meisten Leute in Stars Hollow. Ich hätte die ganze Waschküche des Colleges zusammenschreien können – und die liegt immerhin im äußerst stabil gebauten Gewölbekeller des Hauptgebäudes. Aber das hätte ja nur noch mehr Scherereien bereitet, vor allem mit der Versicherung. Gleichzeitig aber durchzuckte mich eine Idee. Wenn ich die Sache richtig einschätzte, musste das Porträt der Anthäa, dessen Foto mir Mom mitgebracht hatte, zur Zeit der Renaissance entstanden sein – eine Zeit, in der nicht nur die verschiedenen Künste blühten, sondern auch allerlei Intrigen und Ranküne. Wenn ich schon äußerlich die Anthäa spielen sollte – vielleicht konnte ich mich ja dann auch ein wenig den Verhaltensweisen ihrer Zeit anpassen? Entschlossen faltete ich ein Handtuch zusammen, das ich eben aus dem Trockner genommen und für einen Augenblick reglos in den Händen gehalten hatte. »Mach dir keine Sorgen, Mom«, sagte ich. »Wenn ich die Anthäa darstellen soll, dann wirst du das Renoir-Mädchen. Verlass dich drauf.«
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Im selben Moment begannen Monis Augen zu blitzen. »Hey!«, machte sie. »Genießt du etwa Macht und Einfluss?« Ich schob Mom das Foto der Anthäa zu. »Scheint es dir ratsam, einer Person wie dieser jungen Dame zu widersprechen? Speziell wenn das Kostüm erst geändert und angepasst ist?« Mom grinste. »Aha. Anthäa und das RenoirMädchen wird es also nur im Doppelpack geben. Man nennt das auch Erpressung.« Ich nahm die gleiche aufrechte und etwas herrische Haltung der Anthäa auf dem Bild ein. »Muss man gleich von Erpressung reden, wenn man über Konsequenzen spricht?« Mom betrachtete das Bild des offenbar reichen Mädchens, das daran gewöhnt war, Wünsche erfüllt zu bekommen und ansonsten per Befehl dafür zu sorgen, und ihre Augen funkelten vor Vorfreude. Soweit war die Sache eigentlich klar. Wir mussten nur ein bisschen abwarten, bis wir den Coup landen konnten. Das heißt: Bis mein Anthäa-Kostüm fertig war und ich Taylor die Pistole auf die Brust setzen konnte. Das meine ich natürlich nicht wörtlich. Erstens bin ich kein Killer-Typ, zweitens gab es zur Zeit der Renaissance noch keine Pistolen. Mom jedenfalls konnte der nächsten Zukunft ganz beruhigt entgegenblicken. Im Gegensatz zu ihrer Freundin Sookie, die von Tag zu Tag runder wurde. Das Baby war nun schon fast vierzehn Tage überfällig. Sookies Schwager Beau, der von Sookies Mann Jackson gerufen worden war, um sich nach der Geburt des Kindes um die praktischen Dinge rund um das Haus zu kümmern, wurde von Tag zu Tag ungenießbarer. So oft es ging, rechnete er den zukünftigen Eltern vor, wie viel Verdienstausfall ihn diese verzögerte Geburt kosten würde. Was sicher alles andere als das war, was eine überfällige
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werdende Mutter in einer solchen Phase gebrauchen konnte. Mom beschloss, ihrer Freundin einen Besuch abzustatten, um sich selbst ein Bild von der Situation zu machen schließlich war ihre Anwesenheit bei der Geburt ja fest eingeplant – und um Sookie ein wenig zu beruhigen und aufzumuntern. Sookie lag im Wohnzimmer auf dem Sofa. Ihr Bauch blähte sich wie ein Ballon. Jackson umsorgte sie rührend, während Beau wieder einmal telefonisch seinen Rückflug umbuchte, nicht ohne Sookie und Jackson wissen zu lassen, wie viel ihn auch das nun wieder kostete. »Hallo, meine Liebe«, begrüßte Moni gut gelaunt ihre Freundin. Dann fiel ihr auf, dass Sookie so merkwürdig auf der Seite lag. »Ist alles in Ordnung?«, erkundigte sie sich. Sookie lächelte. »Ja, ja, alles klar«, antwortete sie. »Aber ich soll auf der Seite liegen. Das erleichtert die Geburt, sagt Bruce.« »Bruce?«, wiederholte Mom. Mom ist alles andere als eine Männerfeindin, aber die Vorstellung, dass ihre Freundin so kurz vor ihrer Niederkunft von einem Haufen Kerle versorgt wurde, war ihr wohl doch etwas unheimlich. »Wer ist Bruce?« »Guten Tag!«, dröhnte in diesem Moment eine Stimme aus dem hinteren Teil des Wohnzimmers. Mom fuhr herum. Ein großes Wesen, dessen Geschlecht nicht auf den ersten Blick erkennbar war, hatte sich im Durchgang zur Küche aufgebaut. »Lorelai, das ist Bruce, unsere Hebamme«, stellte Jackson die neue Perle des Hauses vor. »Bruce, das ist Lorelai, meine Freundin«, ergänzte Sookie ein wenig schüchtern. Mom erhob sich und streckte Bruce die Hand entgegen. Hinter dem deutlichen Flaum, der die Wangen der Hebamme bedeckte, zeichnete sich ein
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Gesicht ab, das irgendwann einmal weiblich gewesen sein musste. »Guten Tag, Miss… äh… Mrs…«, stammelte Mom. »Bruce«, bellte die Hebamme. »Sagen Sie Bruce zu mir. Es ist zwar mein Nachname, aber alle nennen mich so.« »Ach so, ja, gut«, antwortete Moni. Sie ist normalerweise nicht auf den Mund gefallen. Aber manchmal gibt es eben Situationen im Leben, die selbst meine Moni noch nicht erlebt hat. Bevor Moni weiter in die Verlegenheit kam, etwas sagen zu müssen, hob Bruce witternd den Kopf und blähte die Nüstern. »Hier ist eine neue Energie im Haus«, stellte sie fest. Sie sah Mom streng an. »Eine hausgeburtenfeindliche Energie. Und die war vorhin noch nicht da. Sie sind das!«, brach es plötzlich aus ihr heraus, und sie deutete mit dem Finger auf Mom. »Sie haben etwas gegen Hausgeburten.« Moni prallte zurück. »Ich… ich soll etwas gegen Hausgeburten haben?«, wiederholte sie. »Aber nein, nein, ich habe überhaupt nichts gegen Hausgeburten«, beeilte sie sich zu versichern. »Ganz bestimmt nicht. Wenn ich könnte, dann würde ich überhaupt nichts anderes…« Sie stockte, denn auf einmal fand sie, dass es wohl besser war, den Satz nicht zu Ende zu sprechen. Manchmal verhaspelt man sich eben etwas, denn wenn es etwas gibt, was für Mom in ihrem ganzen Leben nicht mehr in Frage kommen wird, dann sind es schätzungsweise Geburten, egal, ob zu Hause oder sonst wo… »Keine Angst, Bruce«, warf Sookie besorgt ein. »Ich habe keine Angst«, warf Bruce mit bellendem Bass dazwischen. »Ganz bestimmt nicht!« »Lorelai ist für Hausgeburten, voll und ganz«, versicherte Sookie schnell weiter.
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Bruce sah Mom prüfend an. »Sie werden bei der Geburt dabei sein?«, fragte sie. »Oh… oh, ja«, beeilte sich Mom zu versichern. »Und ich freue mich schon sehr darauf. Wirklich.« Zugegeben, Moni ist nicht immer eine gute Lügnerin. »Ich habe hier diesen wunderbaren Baby-Pieper«, wollte sie fortfahren, indem sie auf das kleine Plastikkästchen an ihrer Jeanstasche deutete, aber Bruce schnitt ihr das Wort ab. »Na gut«, knurrte Bruce. Es klang etwa so einladend wie die Warnung eines Kettenhundes, wenn ein Fremder sich daran macht, sein Territorium zu betreten. »Aber dann lassen Sie Ihre negative Einstellung zu Hause!« »Ich bin die leibhaftige Positivität!«, rief Mom aus, während Bruce sich mit der Leichtfüßigkeit einer Sumo-Kämpferin wieder auf den Weg in das Schlafzimmer im oberen Stockwerk machte. »Bestimmt, ehrlich, ich bin total positiv!« Irgendwie aber blieb der Eindruck im Raum, dass Monis Beteuerungen an Bruces breitem Rücken abprallten wie die Dünung einer sanften Sommerbrise an den mächtigsten Kaimauern der Ostküste. Kurze Zeit später erhielt Sookie von Bruce die Weisung, sich ein wenig zu bewegen und einen Spaziergang zu machen. Mom war sofort bereit, sie zu begleiten. Abgesehen davon, dass sie ohne ihre Freundin in Sookies Haus nichts zu suchen gehabt hätte, war sie wohl heilfroh, der etwas gefährlich anmutenden Hebamme entkommen zu können. Es war schon erstaunlich, dass Bruce tatsächlich Menschen zum Leben verhalf! Ihrem Auftreten nach hätte sie durchaus einen gegenteiligen Beruf ausüben können. Sookie und Mom bogen um die Ecke zum zentralen Platz unserer Stadt. »Hey, guck mal da drüben«, sagte Sookie und deutete hinüber zum Bürgersaal. »Die bauen ja schon auf.«
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Auf der Straße vor dem Bürgersaal stand ein Lastwagen. Durch die offen stehenden Ladetüren waren in seinem Inneren Stuhlreihen und Bauteile für eine Bühne zu erkennen. Zwischen den Möbelpackern, die die Teile abluden und zu einem Festsaal unter freiem Himmel zusammenschraubten, liefen die Vor-OrtOrganisatoren des Festivals, Taylor und Miss Patty herum, sowie Kirk in einem langen Gewand und mit Perücke. Er nahm seine Rolle als Jesus beim letzten Abendmahl offenbar so ernst, dass er darüber nicht nur intensiv in der Bibel »recherchiert« hatte, wie er sagte, sondern sich auch mit seiner Ernährung und mit seinem Tagesablauf, so weit es ging, an sein Vorbild anlehnte. Es war nur eine Frage der Zeit, wann er versuchen würde, über das Wasser zu wandeln. Plötzlich gellte ein erschreckter Schrei über den Platz. Er stammte aus Taylors Kehle. »Wie bitte?«, rief der Kulturbeauftragte und großartigste Organisator von Stars Hollow. »Uns fehlt die eine Hälfte des Tisches für >Das letzte Abendmahl Das ist eine Katastrophe. Eine regelrechte Katastrophe!« Miss Patty blätterte aufgeregt in den kleinen Zetteln, auf denen sie sich in den letzten Tagen alles notiert hatte, was das Festival der Lebenden Bilder auch nur im Entferntesten betraf. »Da steckt doch dieser Hank aus Woodbury dahinter«, fuhr Taylor fort. »Er will uns alles vermasseln. Er will uns vernichten. Er weiß, worum es geht – um alles oder nichts. Und darum schickt er uns nur den halben Tisch…« Es klang ganz so, als ginge es um eine Entscheidung auf Leben und Tod. Miss Patty schüttelte den Kopf, was bei ihr zwangsläufig auch immer ein Wogen ihres mächtigen Busens bewirkte. »Nein, nein, Taylor, an Hank liegt es nicht«, versuchte sie den obersten Organisator zu beschwichtigen. »Ich habe gerade noch mit ihm
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telefoniert. Er sagt, sie haben alles geschickt, was sie hatten.« »Aaah!«, stieß Taylor aus. Es klang fast nach einer tödlichen Verletzung. »Dann ist alles aus. Alles!«, klagte er. Mom und Sookie waren inzwischen dazugekommen. »Aber Taylor«, sagte Mom. Sie kann nun mal keinen Menschen leiden sehen. Selbst wenn es Taylor ist. »So schlimm ist das doch nicht«, versuchte sie ihn zu trösten. »Wir nehmen einfach einen alten Couchtisch. Ich glaube, ich habe noch einen in der Garage…« »Oder einen Tapeziertisch«, fiel Sookie ein. »Okay, gut, dann wird das letzte Abendmahl ein bisschen wackelig. Aber die Apostel können doch ein bisschen aufpassen, damit sie mit ihren Knien nicht gegen die Streben kommen und…« Sookie verstummte. Taylor sah sie strafend an. »Seit wann hat das letzte Abendmahl an einem Tapeziertisch stattgefunden?«, fragte er in einem Ton, der der Heiligen Inquisition angemessen gewesen wäre. »Ich… äh, ich kann nicht so lange stehen«, meinte Sookie leise zu Mom. »Lass uns weitergehen.« »Es ist alles aus! Alles!«, rief Taylor wieder und machte zwei dicke Striche durch seine Liste auf dem Klemmbrett. »Es wird kein Festival geben.« »Es hat nicht sollen sein!«, fiel auch Miss Patty in die Klage ein, und diesmal bebte ihr Busen vor Ergriffenheit. »Glaubst du, dass sie es wirklich tun werden?«, sagte Sookie zu Mom, während sie sich eilig davon machten. »Das Festival platzen lassen, meine ich.« Mom zuckte die Schultern. Sie warf einen kurzen Blick zurück. Gerade erklomm Kirk die Ladefläche des Lasters.
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In seinem langen Gewand und mit der wallenden Perücke sah er tatsächlich aus, wie soeben der Bibel entsprungen. Er hob die Hände zum Himmel. »Aufgeben?«, klang seine Stimme über den Platz. »Verliert das Ziel denn seinen Wert, weil euch die Straße dorthin zu staubig und der Weg zu lang erscheint?« Er klang tatsächlich wie der Prediger in der Wüste, und sogleich bildete sich eine Menge, die ihre Köpfe zu Kirk erhob und an seinen Lippen zu hängen schien. »Ich weiß nicht, ob sie das Festival platzen lassen«, nahm Mom Sookies Frage noch einmal auf. Sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Es heißt, der Heilige Geist weht, wo er will. Und auch in unserer Zeit geschehen manchmal noch Zeichen und Wunder.« Damit winkte sie Luke kurz zu, der mit verschränkten Armen und seiner ewig falsch herum aufgesetzten Baseballkappe vor seinem Cafe stand und den Volksauflauf um Kirk herum in seiner Rolle als Jesus betrachtete.
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Ich weiß nicht, ob es daher kam, dass Kirk in die Rolle des Sohnes des Herrn geschlüpft war, oder ob einfach alle noch mal in Ruhe nachgedacht haben. Jedenfalls geschahen Zeichen und Wunder, und das Festival der Lebenden Bilder wurde nicht abgeblasen. Möglicherweise lag es auch einfach daran, dass sich Luke doch noch bereit erklärte, das fehlende Stück des Abendmahl-Tischs in der erforderlichen Perspektive des Bildes nachzubauen – nachdem er vorher Stein und Bein geschworen hatte, dass er genau dies nicht tun würde. Ich sage ja, Luke ist ein Muffler. Aber tief in seiner Brust eine Seele von Mensch. Kirk jedenfalls ging gänzlich in seiner Rolle als Jesus auf. Vielleicht sogar ein bisschen zu sehr. Von Tag zu Tag wurde sein Blick verklärter. Gleichzeitig aber entwickelte er eine wachsende Animosität gegenüber dem Darsteller des Judas – dabei hatte der arme Troubadour, der den Verräter mimen sollte, wirklich alles andere im Sinn, als Kirk in die Pfanne zu hauen. Aber es war unverkennbar, dass sich die Stimmung unter den zwölf Jüngern und dem vermeintlichen Jesus allmählich aufheizte. Wenige Tage später war alles so weit fertig. Auch die Kostüme, waren komplett eingetroffen, einschließlich meines Kostüms für die Darstellung der Anthäa. Ich gebe zu, ich sah dem Tag der Anprobe mit einem ziemlichen Groll entgegen. Auch wenn ich wusste, dass ich gegenüber Taylor die besseren Karten hatte – es ist schon ein merkwürdiges Gefühl, wenn man für seine eigene Mutter eine Sache deichseln muss; wenn man sie sozusagen vor jemand anderem in Schutz nimmt. Okay, mag sein, dass dies ein Zeichen des Erwachsenwerdens ist. Aber es ist noch nicht so lange her, dass ich meine Mom nicht nur
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für wunderschön und für die tollste Mom der Welt gehalten habe – das tue ich immer noch – , sondern auch für allmächtig. Gegenüber allem und jedem und erst recht gegenüber solchen Typen wie Taylor. Und schließlich und endlich hatte ich bei dem Festival ja eigentlich gar nicht mitmachen wollen. Als ich nun das Gewand der Anthäa trug, ging eine seltsame Verwandlung mit mir vor. Ich sah nicht nur so aus wie Anthäa, ich war Anthäa. Und zwar mit allen Konsequenzen. Wie von Zauberhand fühlte ich mich plötzlich reich, mächtig und souverän. Im vollen Bewusstsein meiner Macht legte ich Taylor klipp und klar dar, dass Mom das Renoir-Mädchen geben würde. Punktum. Und falls er damit nicht einverstanden sei, solle er sich jemand anderes suchen, der die Anthäa darstellte – falls er bis Samstag ein Mädchen fände, dem das Kleid passte. Ich hörte selbst den unerbittlichen Klang meiner Stimme. Zugegeben, ein leichtes Herzklopfen spürte ich zu Anfang schon. Schließlich war Taylor, als Inhaber der schönsten Konditorei von Stars Hollow und Hersteller der wunderbarsten Eisspezialitäten, zumindest in meiner Kindheit eine echte Respektsperson für mich gewesen. Aber auch er schien dem Zauber meines Outfits zu erliegen. Er betrachtete mich geradezu ehrfürchtig. Und so wie meine Stimme einen gebieterischen Klang angenommen hatte, der keinen Widerspruch duldete, schien auch Taylor sich keine andere Meinung oder gar einen eigenen Willen mehr anzumaßen. Plötzlich war ich für ihn nicht mehr die kleine Rory Gilmore, die Tochter einer chaotischen Mutter, die nichts so machte, wie Taylor es für richtig hielt. Sondern ich war eine Tochter aus einflussreichem Hause, und der einfache Bürger Taylor musste dankbar sein, wenn er mir den Staub von den Schuhen wischen konnte.
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Okay, okay, ich will nicht übertreiben. Lassen wir den ganzen Renaissance-Kram weg. Aber kurz und gut: Taylor zog den Kürzeren, und Mom und ich bekamen, was wir wollten: ihre Rolle als RenoirMädchen. Und damit war für uns die Sache geritzt. Kurz bevor ich an diesem Tag von Yale nach Stars Hollow gefahren war, hatte Lane bei mir angerufen. Sie wollte wissen, wann ich Zeit hätte, mir einen neuen Gitarristen anzuhören, der bereits einmal bei ihnen vorgespielt hatte. Offenbar gab es in der Band unterschiedliche Auffassungen über die Eignung des Kandidaten, und Lane wollte ein objektives Urteil einholen. Wir verabredeten, dass ich gleich nach der Kostümprobe in der Garage vorbeikommen würde, und so geschah es. Bisher hatte mich von den Gitarristen, die bei Lanes Band vorgespielt hatten, ja niemand überzeugen können. Und Lane war es genauso gegangen. Umso erstaunter war ich, als ich jetzt die Autotür öffnete und mir auf der Stelle astreiner Rock aus unserer Garage entgegentönte. Die Gitarre war deutlich herauszuhören, und nach all den fruchtlosen Versuchen der letzten Wochen klang das wie eine Offenbarung. »Hey, Rory!«, rief eine Stimme. Es war Babette, unsere Nachbarin. Sie bemühte sich immer um einen jugendlichen Eindruck, trotzdem ging mir heute wieder einmal auf, dass sie wirklich gut und gern als eine Dame »mittleren Alters« bezeichnet werden konnte. Darüber täuschten auch ihre blondierten Haare nicht hinweg. »Lanes Band hat einen neuen Gitarristen!«, rief sie mir durch den Vorgarten hindurch zu. »Also, ich muss schon sagen…« Sie wiegte den Kopf – anerkennend und genießerisch. »Ich war vorhin mal kurz drüben.« Dies einzuwerfen wäre kaum nötig gewesen; Babette ist die personifizierte Neugierde. Klar, dass sie längst einen Blick in die Garage geworfen hatte. »Wie heißt
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der Junge noch? Ach ja, Gil. Also, dieser Gil, der ist wie… wie ein langhaariger Kuchen«, stellte sie fest. Was sie ganz klar als Kompliment gemeint hatte. »Sorry, bin in Eile«, setzte sie dann hinzu und machte sich eilig aus dem Staub. Auf dem kurzen Weg vom Auto zur Garage stellte ich mir zwei Fragen gleichzeitig. Erstens, was ein langhaariger Kuchen sein mochte, und zweitens, was eine gesetzte Dame wie Babette an dem Gitarristen einer Teenager-Band finden konnte. Bevor mir darauf Antworten einfielen, war ich auch schon bei der Garage… und wäre fast umgekippt. Zwischen Lane am Schlagzeug und Zack und Brian stand ein langhaariger, blonder Rentner in unserer Garage und rockte, was das Zeug hielt. Gil! Er war mindestens 35 und schien direkt einer Oldie-Show aus dem Fernsehen entsprungen zu sein. Gils Frisur und sein Outfit waren topaktuell – gewesen. In den 80er Jahren jedenfalls. Zwischen Lane, Zack und Brian, die etwa halb so alt waren wie er, hatte er etwas geradezu Vorsintflutliches. Oder auch etwas Fossilienhaftes – wenn er sich nicht so schnell bewegt hätte. Aber er ging in seiner Musik voll auf, sein ganzer Körper bewegte sich im Rhythmus. Er schüttelte den Kopf, wie man das von den Bands der 70er Jahre kennt. Und von Zeit zu Zeit sprang er sogar mit beiden Beinen gleichzeitig in die Höhe. Aber ich muss sagen: Er spielte einfach klasse. Ehrlich. »Ey, Leute«, sagte Gil, als das Stück zu Ende war. »Das kam echt gut. Also, ich würde gern mit euch weitermachen. Ihr könnt es euch ja noch überlegen«, sagte er. In diesem Moment piepste sein Handy. Eine SMS. Zack und Brian verdrehten genervt die Augen, Lane lächelte tapfer. Offenbar war es nicht die erste SMS während dieser Probe. »Oh, Mann, tut mir Leid, ich muss echt weg«, meinte Gil, sobald er die Nachricht gelesen hatte.
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»Immer dasselbe im Laden. Ohne mich läuft es einfach nicht.« In Windeseile stöpselte er seine Gitarre vom Verstärker und verstaute sie in ihrem Koffer. »Also dann«, sagte er, schon halb im Hinausgehen, »ruft mich an, sobald ihr euch entschlossen habt.« Damit war er verschwunden. Lane sah mich erwartungsvoll an. Irgendwie herrschte gespannte Stille in der Garage. »Er… er spielt echt gut«, sagte ich, um das peinliche Schweigen zu durchbrechen. »Ich meine, nicht nur im Vergleich zu den anderen, die ich bisher gehört habe…« »Er hatte ja auch lange genug Zeit, um zu üben«, warf Zack sarkastisch ein. »Stimmt. Das halbe letzte Jahrhundert«, ergänzte Brian. »Sie finden, er ist zu alt«, erklärte Lane seufzend und mit einer Kopfbewegung zu Zack und Brian. »Aber ich finde, er macht einfach gute Musik…« »Wenn nicht gerade sein Handy klingelt und er sich um seine Imbiss-Bude kümmern muss«, fiel Brian ihr nun ins Wort. »Allerdings«, stimmte Zack zu und zog den Stecker aus seinem Bass. »Mittlerweile wissen ja selbst wir schon, wo im Kühlraum der Schinken liegt und wo neues Ketchup zu finden ist.« Die Stimmungslage war ziemlich eindeutig. Lane war für Gil, die beiden anderen waren gegen ihn. Und irgendwie, musste ich mir eingestehen, hatten beide Seiten Recht. Gil war ein guter Gitarrist – aber für Lanes Band eindeutig zu alt. Ich suchte fieberhaft nach etwas möglichst Neutralem, das ich sagen konnte. Etwas, das weder der einen Seite noch der anderen Recht gab. Einfach um Zeit zu schinden. Denn ich hatte das Gefühl, dass mit der Frage, ob Gil der neue Gitarrist würde, auch die Frage entschieden würde, ob die Band überhaupt
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weiter bestehen konnte. Und da wollte ich mich lieber nicht einmischen. »Babette gefällt er sehr gut«, sagte ich schließlich. Sofort erkannte ich an drei Paar weit aufgerissenen Augen, wobei die von Lane wieder einmal die größten waren, dass ich nichts Blöderes hätte sagen können. Und ich wusste genau: Ein solcher Patzer wäre einer wirklich souveränen Frau wie Anthäa nie passiert! Es war in der Nacht von Freitag auf Samstag. Stars Hollow schlief seinem großen Tag entgegen. Und auch ich hatte mich in meinem Bett tief eingemummelt und schlief den Schlaf der Gerechten – oder besser gesagt: der Yale-Studentin, die den Großteil ihrer Tage mit Büffeln verbringt und am Wochenende hundemüde ist. Es muss gegen ein Uhr gewesen sein, als ich plötzlich Schritte auf dem Flur vor meinem Zimmer hörte. Ich fuhr zusammen. Im gleichen Augenblick öffnete sich die Tür. Eine Gestalt huschte herein. »Schlaf weiter, Liebling«, flüsterte Moni. »Ich brauche nur deine Baby-Box.« »Meine… meine Baby-Box?«, antwortete ich verstört. »Ja«, sagte Mom leise. »Sookie ist unten. Sie lässt dich übrigens fragen, was dich damals bewogen hat, aus deiner Mammi herauszukriechen. Der kleine Davey scheint nämlich partout nicht Bürger dieser Erde werden zu wollen.« Gleichzeitig hörte ich im Erdgeschoss plumpe Stampflaute. Dazu immer wieder Fluchen und Schimpfen. Sookie versuchte wohl mit allen Mitteln – mit Herumspringen und weiß ich was –, die Geburt herbeizuführen. Bevor ich noch etwas sagen konnte, war Mom schon wieder aus meinem Zimmer verschwunden, einschließlich meiner Baby-Box.
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»Sieh mal hier«, hörte ich sie unten zu Sookie sagen. »In dieser Schachtel habe ich ein paar Dinge aufgehoben, die mich an Rorys Geburt erinnern.« »Geburt, Geburt!«, rief Sookie entnervt. »Ich höre immer nur Geburt. Aber Davey will ja nicht geboren werden.« »Diese Zeitschrift hier habe ich in der Nacht vor der Geburt gelesen«, fuhr Mom fort, ohne sich irritieren zu lassen. Sie klang völlig ruhig, dabei fröhlich und optimistisch. »Ich habe mir damals überlegt, wen ich schärfer finde: Andrew McCarthy oder Emilio Estevez.« »Die sind doch beide ziemlich heiß«, warf Sookie ein. Und hüpfte offenbar wieder zweimal hin und her. Trotzdem konnte ihre Antwort vielleicht schon ein erster Hinweis darauf sein, dass Moms Taktik anschlagen könnte. Dass sie sich überhaupt mit etwas anderem befasste als damit, dass Davey nicht kommen wollte. »Und guck mal hier«, fuhr Mom fort. »Das ist Rorys erster Strampler. Ich habe ihn selbst gemacht.« »Aus einem T-Shirt mit Heavy-Metal- Aufdruck?«, fragte Sookie. »Ehrlich, Lorelai, was haben Babys denn mit Heavy Metal zu tun?« Mom lachte. »Mir hat es gefallen. Und irgendwie fand ich es einen lustigen Gegensatz, Babys und Heavy-Metal. Weißt du, wenn sie erst einmal da sind, die Babys, so rosig und klein. Und wie sie duften… Sie haben einen ganz typischen Baby-Geruch…« Ich kann mich nicht erinnern, wann Mom je zuvor so begeistert von meiner Geburt erzählt hatte. Ehrlich gesagt, muss diese Phase ihres Lebens ja alles andere als einfach für sie gewesen sein. Aber ich spürte, wie ihre Worte ausgesprochen beruhigend wirkten. Vielleicht war es ja das, was werdende Mütter vor allem brauchten. Nicht nur zupackende Hebammen, sondern gute Freundinnen, die mit freundlichen
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Worten auf sie einredeten und ihnen die Angst vor dem Neuen nahmen. Mom erzählte weiter. Von ihrer Spannung, ob ich ein Mädchen oder ein Junge werden würde. Was für ein unglaubliches Gefühl es gewesen sei, als sie mich das erste Mal im Arm hielt und den Schlag meines winzigen Herzens spürte. Und wie stolz und glücklich sie gewesen sei. Ich hätte ihr gern weiter zugehört. Aber umspült von lieblichen Vorstellungen rund um rosige kleine Kinder, begann ich wieder schläfrig zu werden. Kein Wunder, es war ja mitten in der Nacht. Auch Sookie, die eben noch wie ein Gummiball durchs Wohnzimmer gehüpft war, hatte sich wohl nach und nach beruhigt. Jedenfalls wurden ihre nervösen Einwürfe immer seltener. Und so wunderbar ich es auch fand, meine Mutter von Augenblicken ihres Lebens erzählen zu hören, die direkt mit mir zu tun hatten, die sie mir gegenüber aber noch nie in dieser Weise erwähnt hatte – irgendwann dämmerte ich weg, während unten im Wohnzimmer Mom und Sookie leise miteinander sprachen und lachten. Ich habe schon einige Fest- und Konzertsäle von innen gesehen. Und ich muss sagen: Das, was den Bürgern von Stars Hollow an diesem Abend als mobiler Veranstaltungsort für das Festival der Lebenden Bilder zur Verfügung stand, war schon recht eindrucksvoll. Ich hatte Gelegenheit, einen kurzen Blick hineinzuwerfen, bevor ich hinter die Bühne musste, um mich als Anthäa schminken zu lassen: Ein schwerer Vorhang aus rotem Samt, hinter dem sich die Bühne befand, wurde von zwei vergoldeten Säulen umrahmt. Geschickt angebrachte Lampen leuchteten das Ganze so aus, dass man das Gefühl hatte, sich in einem der ersten Veranstaltungssäle des Landes zu befinden. Alles wirkte sehr feierlich.
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Auch Taylor, als wichtigster Mann des Abends – zumindest meinte er das –, hatte sich der feierlichen Umgebung angepasst. Anstatt seiner ewigen Strickjacken trug er an diesem Abend einen dunklen Anzug und eine Fliege. Während er die Sitzreihen abschritt, um sich ein Bild von der Zuschauermenge zu machen, blieb er einen Augenblick stehen. In der ersten Reihe, genau vor der Mitte der Bühne, saß Hank aus Woodbury, Taylors Konkurrent – zumindest meinte er das. Er sah ihn kurz irritiert an, dann drehte er sich eilig um und lief hinter die Bühne. Hier herrschte ziemliche Hektik. »Noch fünf Minuten, bis sich der Vorhang hebt!«, rief Miss Patty und lief mit wogendem Busen zwischen den Schminktischen umher. »Noch fünf Minuten.« »Ist hier noch frei?«, fragte Troubadour und wollte sich auf den freien Platz neben Kirk setzen, um sich als Judas zu Ende schminken zu lassen. »Nein«, antwortete Kirk entschieden. Er klang fast ein bisschen gefährlich – dabei war sein Outfit als Jesus, immerhin dem Verkünder der Botschaft der Nächstenliebe, fast schon komplett. »Hier ist nicht frei, Judas! Such dir einen anderen Platz, vielleicht neben einem deiner Freunde? Zum Beispiel dem Hohepriester Kaiphas!« Ich hatte den Eindruck, es war höchste Zeit, dass das Festival über die Bühne ging. Sonst würde unter den Darstellern des Abendmahls noch ein handfester Streit ausbrechen. In diesem ohnehin schon unübersichtlichen Durcheinander wuselten zu allem Überfluss auch noch die kleinen, chinesischen Akrobaten durch die Gegend. »Hey, ihr Süßen«, sprach ich sie an. Mich überkam fast ein bisschen Rührung, als ich mir vorstellte, dass ich vor sieben Jahren genauso ausgesehen hatte. Wobei mir mein edles Anthäa-Kostüm, das ich bereits trug, natürlich auch sehr gut gefiel. »Wusstet ihr schon, dass ich auch mal ein kleiner Akrobat war?«
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Die süßen kleinen Akrobaten sahen mich einen Augenblick lang an. Dann streckten sie mir die Zunge heraus. »Du stinkst!«, rief einer von ihnen. Und schon liefen sie weiter, um sich woanders respektlos zu benehmen. In diesem Moment kam Moni zu mir. Da das Renoir-Bild am Ende des Programms stand, gehörte sie zu den wenigen, die noch nicht umgezogen waren. Sie hielt ein Frettchen aus Plastik in der Hand, das zum Kostüm der Anthäa gehörte. »Wie?«, hörte man in diesem Moment Taylors Stimme. »Das Jugendstilmädchen verwischt sich die Schminke? Das wird ja immer schöner!« »Beruhige dich, Taylor!«, fiel ihm Miss Patty von der Seite ins Wort. »Es läuft alles nach Plan. Rauch eine Zigarette, wenn du nervös bist.« »Aber… aber ich rauche doch gar nicht«, antwortete Taylor verdattert. »Dann fang eben an«, meinte Miss Patty und verschwand wieder zwischen den Schminktischen. »Taylor«, sagte Moni. Sie hob das Plastikfrettchen in die Höhe und hielt es Taylor vors Gesicht. »Ihr Cousin ist extra hinter die Bühne gekommen, um Ihnen toi, toi, toi zu sagen und über die Schulter zu spucken. So macht man es doch beim Theater, nicht wahr?« »Lorelais«, fauchte Taylor. »Ich bin jetzt wirklich nicht zu Scherzen aufgelegt. Da draußen sitzt Hank aus Woodbury und will mich fertig machen. Und wenn ich daran denke, dass Sie nachher als Renoir-Mädchen wieder unter unkontrollierbarem Muskelzucken leiden könnten…« »Wir haben alles im Griff, Taylor«, unterbrach ihn Mom schnell. »Das will ich hoffen«, antwortete Taylor und fuhr sich mit zwei Fingern unter den Kragen, um ihn zu
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weiten. »Das will ich wirklich hoffen.« Damit zog er ab. »Heute macht er sich aber ganz schön in die Hose.« Miss Patty stand urplötzlich wieder vor Mom und mir. »Ich bin froh, wenn es gleich losgeht. Apropos losgehen«, schweifte sie ab. »Wie geht es denn eigentlich Sookie?« Mom zuckte die Schultern. »Sie hat die Nase von der Warterei allmählich voll. Aber bis gestern Abend war es noch nicht so weit.« »Na, alles zu seiner Zeit«, meinte Miss Patty. »Bringen wir erst einmal diesen Abend hinter uns.« Als wenn sie irgendetwas mit Sookies Entbindung zu tun gehabt hätte! Jedenfalls zog sie wieder ab, weil irgendwer ihren Namen rief. »Ich schlüpfe jetzt auch in meine Rolle«, meinte Mom, während sie mir das Plastikfrettchen über die Schulter legte. »Denk dran, schön starr bleiben.« »Keine unkontrollierten Muskelkrämpfe«, bestätigte ich. Dann hörte ich, wie Miss Patty das Signal gab, den Vorhang zu heben. Der große Abend begann. Soweit ich es von meinem Platz aus mitbekam, war Taylors Nervosität in diesem Moment wie weggeblasen. »Ladies und Gentlemen«, begann er seine Eröffnungsrede. »Ich bin Taylor Doose!« Applaus – für diese wichtigste Bekanntmachung des Abends! Ein Hoch auf Taylor Doose! »Ich heiße Sie zum dreiundvierzigsten, jährlich in Connecticut stattfindenden Festival der Lebenden Bilder sehr herzlich willkommen«, fuhr Taylor fort. Und dann folgte eine Unverschämtheit nach der anderen gegen Woodbury, den ursprünglichen Ort der Austragung – verdeckt unter wohl formulierten Worten, die Stars Hollow und speziell Taylor Doose als Retter der Menschheit im Allgemeinen und der Kultur im Besonderen erscheinen ließen.
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Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie Taylor an seinem Rednerpult immer weiter auftrumpfte, während Hank aus Woodbury sozusagen zu seinen Füßen saß und diese Schmach über sich ergehen lassen musste. Und am liebsten hätte ich mir meinen Anthäa-Fummel vom Leib gerissen – wenn ich damit allein Taylor die Tour vermasselt hätte und nicht gleichzeitig auch so vielen Helfern dieses Festivals. Stattdessen begann Taylor nun, meinen Auftritt, das Bildnis der Anthäa, anzukündigen. Er gab eine kurze Einführung in das Werk des Girolamo Parmigiano. Dann war es an mir, im Licht der Scheinwerfer und umrahmt von einem goldenen Rahmen, zwei Minuten lang bei klassischer Musik als Anthäa zu posieren. Zwei endlos lange Minuten, in denen ich mich nicht entscheiden konnte, ob ich mir unkontrollierbare Muskelkrämpfe herbeisehnen sollte oder nicht, um Taylor wenigstens wieder ein bisschen von seinem hohen Ross herunterzuholen. Während ich also die Anthäa gab, brach hinter der Bühne unter der Besetzung des letzten Abendmahls ein Tumult aus. Eigentlich war es wohl nur darum gegangen, dass Kirk seinen Wagen in der Feuerwehrzufahrt geparkt hatte. Troubadour hatte dann Miss Patty, die händeringend nach dem Falschparker gesucht hatte, den Tipp gegeben, dass es sich um das Auto des Messias handelte. Daraufhin hatte der Darsteller des Jesus nicht länger gezögert, dem vermeintlichen Judas ans Leder zu gehen. Sobald der Vorhang fiel und mein Auftritt als Anthäa beendet war, scheuchte Miss Patty Jesus und seine Jünger auf die Bühne – um den Ausbruch einer Massenschlägerei zu vermeiden. »Schluss jetzt!«, rief sie den Aposteln zu, während Taylor das neue Bild ankündigte. »Schiebt eure Arsche Richtung Bühne. Und wenn ihr zwei nicht augenblicklich die Klappe haltet«, drohte sie Jesus und Judas, oder besser gesagt Kirk und Troubadour, »dann
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stopf ich euch die Pappbrötchen vom Tisch ins Maul. So wahr mir Gott helfe!« Das Festival der Lebenden Bilder war nun im vollen Gange. Alles ging Schlag auf Schlag. Nach dem Abendmahl folgte eine Statue aus dem Park von Versaille und auch das Jugendstilmädchen, das sich seine Schminke übrigens nicht verwischt hatte, bekam, neben vielen anderen, seinen Auftritt. Mittlerweile hatte hinter der Bühne auch Moni ihr Kostüm als Renoir-Mädchen angezogen. Da der untere Teil des Bildes, also der Rock des Mädchens und die Beine des Tänzers, als Gemälde im Rahmen angebracht waren, hatte Mom nur ihr Oberteil wechseln, einen Hut aufziehen und sich schminken müssen. Ihre Jeans hatte sie anbehalten. Mit allem, was sich darin und daran befand… Ich hatte den Eindruck, dass alles reibungslos klappte, immerhin hatte Mom ja schon Erfahrung mit dieser Sache, auch wenn ihr Auftritt sieben Jahre zurücklag. Doch sobald ich neben ihr stand, merkte ich, wie nervös sie war. »Alles in Ordnung?«, wollte ich von ihr wissen. Mom nickte tapfer. »Natürlich. Alles in Ordnung. Klar. Oh, Gott!«, brach es dann mit einem Mal aus ihr heraus. »Ich bin so schrecklich aufgeregt! Mir ist ganz heiß. Sicher verläuft die Schminke. Und mein Herz. Das klopft wie verrückt. Sicher springt es mir gleich aus der Brust.« Ich kenne meine Mom, und ich weiß, wann sie aufgeregt ist. Wirklich. Und in diesem Augenblick war sie es. Sie flatterte, sie flog, sie rang nach Atem. »Mom!«, rief ich. »Wovor hast du denn Angst? Du hast diese Rolle doch schon mal gespielt. Du wirst einen super Auftritt haben. Alle sind schon ganz gespannt…« »Das ist es ja eben!«, rief Mom aus. »Alle sind gespannt, ob ich wieder zucken werde. Wie vor sieben Jahren.«
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»Aber Mom, du hast nicht gezuckt!«, widersprach ich. »Du weißt, dass Taylor das nur gesagt hat, um dich zu verunsichern. Er wollte nicht, dass du diese Rolle, die dir wie auf den Leib geschneidert ist, spielst und…« »Taylor hatte Recht«, platzte Mom heraus. »Ich habe damals gezuckt. Es stimmt.« »Aber… aber…«, stammelte ich. »Ich wollte ihm den Triumph nicht gönnen«, fuhr Moni fort. »Aber wenn ich ehrlich bin…ja, es war so! Ich habe ganz schrecklich gezuckt. Wie ein Zitteraal.« Meine Moni ein Zitteraal! Unvorstellbar! Selbst wenn sie sich wirklich kurz bewegt haben sollte… Ich atmete tief durch. »Also gut, Mom. Dann hast du eben gezuckt. Aber das war vor sieben Jahren. In der Zwischenzeit hast du dich verändert. Du wirst nicht zucken, Mom. Du wirst das wunderbarste RenoirMädchen sein, das jemals in Beaujival getanzt hat. Und das starrste und unbeweglichste natürlich…« »Nein, nein, nein!«, rief Mom. »Ich kann überhaupt nicht mehr starr sein. Ich leide unter unkontrollierbaren Muskelzuckungen. Ich bin überhaupt völlig unkontrolliert, und ich werde zucken, dass mein Tanzpartner aus dem Bilderrahmen fliegt…« »Mom!«, schrie ich sie nun fast an. »Hör auf damit!« Mom sah auf. Mir fiel auf, dass sie unter ihrer Schminken leichenblass war. »Mom, du wirst es schaffen!«, sagte ich leise und eindringlich. »Ich weiß, dass du es schaffen wirst. Du wirst geschlagene zwei Minuten als im Tanz erstarrtes Renoir-Mädchen auf der Bühne stehen und dich nicht rühren. Und was immer auch passiert: Denk an England! Und denk daran, dass ich dich lieb habe.« »Aber ich…«, versuchte Mom noch einen Einwand. »Er ist unvergessen, und er hat viele Stile geprägt«, drang in diesem Moment Taylors Stimme vom Rednerpult an unsere Ohren. »Sie ahnen es
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schon, von wem die Rede ist und richtig: Ich spreche von Pierre-Auguste Renoir. Bewundern Sie zusammen mit mir sein berühmtes Bild >Tanz in Beaujiva<« »Auf die Bühne, Lorelai! Auf die Bühne!«, zischte Miss Patty, während vor dem Vorhang bereits die Musik einsetzte, die den Auftritt von Moni und ihrem Tanzpartner Terence begleiten sollte. Moni sah mich an. »England!«, flüsterte sie entschlossen. »England, England!« Dann lief sie auf die Bühne und nahm ihre Position ein. Während sich der Vorhang hob, gelang es mir, in den Zuschauerraum zu schlüpfen. Der rote Samt gab ein wunderschönes Bild frei. Ein Meisterwerk des Impressionismus. Die ausgelassene Stimmung eines französischen Sommernachmittags. Den »Tanz in Beaujival«. Anerkennendes Murmeln erhob sich im Publikum. Anthäa, das Abendmahl und die kleinen, chinesischen Akrobaten hin oder her und ebenso all die vielen anderen Bilder, die dargestellt worden waren – dieses Bild hier war eindeutig der Höhepunkt des Abends. Und Moni – meine Mom! – war der Mittelpunkt des Bildes. Ich war so stolz auf sie! »Halt durch!«, flüsterte ich vor mich hin. »Lorelai Gilmore, halt durch!« Und dazu drückte ich mit aller Macht meine Daumen. In diesem Moment erklang eine Melodie. Nicht die Klaviermusik, die den »Tanz in Beaujival« begleitete – sondern das Fiepen und Piepsen eines elektronischen Geräts. Einer Mikrowelle vielleicht, eines Handys, oder eines… Baby-Piepers, der eine elektronische Version von »Der Clou« spielte. Sookie! Der Baby-Pieper! Ma hatte ihn an ihrer Jeanstasche klemmen und vergessen, ihn zum »Tanz in Beaujival« abzunehmen.
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»Was ist das?«, fragte Miss Patty, die urplötzlich neben mir aufgetaucht war. »Um Himmels willen, was ist das?« »Das ist Sookies Baby!«, antwortete ich. »Es kommt! Halt durch!«, beschwor ich Mom dann wieder, und vielleicht spürte sie es ja, auch wenn sie es nicht hören konnte. »Lass dich nicht verwirren. Halt durch! Sookie wird es auch!« Und gleichzeitig spielte immer wieder der elektronische »Clou« in die Klaviermusik hinein. Es war wie ein Wunder: Während das Publikum unruhig auf den Stühlen hin und her rutschte, zuckte Mom auch nicht mit einer Wimper. Sie war komplett erstarrt. Sie war nicht mehr die Darstellerin des Bildes von Renoir, sie war das Bild. Miss Patty sah auf ihre Uhr. »Durchhalten«, flüsterte sie. »Durchhalten nur noch zehn Sekunden.« Ich drückte meine Daumen, bis sie knackten. »Schluss, aus, Vorhang!«, flüsterte Miss Patty schließlich die erlösenden Worte in ihr Kopf-Mikrofon. Und der Vorhang senkte sich über Beaujival, der Klaviermusik und dem elektronischen »Clou«. Ich weiß nicht mehr genau, was Taylor in seinen Schlussworten salbaderte. Ich nehme an, es war ein Lobgesang auf Stars Hollow, seine Bürger und natürlich auf ihn selbst, Taylor Doose. Mom jedenfalls kam hinter der Bühne hervorgeschossen. »Es geht los!«, rief sie mir zu. »Und du hast nicht gezuckt!«, antwortete ich. Und dann liefen Mom und ich, das Mädchen von Beaujival und die edel gewandete Anthäa, in unseren Kostümen zu dem Ort, wo das eigentliche Ereignis des Abends stattfand: Zu Sookies Haus. Zur Geburt ihres Sohnes Davey!
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Ich habe mal gehört, wie jemand gesagt hat: »Wenn ein Kind geboren wird, ist das fast so, als würde die Welt völlig neu erschaffen.« Entsprechend wartete ich darauf, dass es nun sozusagen Peng! machen würde und alles anders werden würde. Stars Hollow zum Beispiel, unsere verschlafene kleine Stadt, in der nun, nach dem Festival der Lebenden Bilder, bis Weihnachten keine einschneidenden Ereignisse mehr zu erwarten waren. Aber Davey hin oder her – es blieb alles beim Alten. Und so fanden Mom und ich uns auch am nächsten Freitagabend wie immer zum Essen bei meinen Großeltern Richard und Emily wieder. Wie üblich hatte meine Großmutter Emily den Tisch äußerst stilvoll gedeckt. Oder vielmehr: decken lassen. Von ihrem Hausmädchen, das sie unlängst gewechselt hatte. Auch das war nichts Neues. In der Mitte des Tischs prangte ein riesiger Blumenstrauß. Und das Silberbesteck funkelte mit den Kristallgläsern um die Wette. »Wie war es denn eigentlich in Atlantic City?«, fragte ich, nachdem der zweite Gang aufgetragen worden war. Es ist nicht leicht, bei Tisch ein Thema zu finden, das unverfänglich ist. Ein Thema also, bei dem Mom und Grandma sich nicht in die Haare bekommen können. Eigentlich ist das fast ein Ding der Unmöglichkeit! Der Ausflug, den Grandpa und sein neuer Kompagnon Jason Stiles für ihre Klienten organisiert hatten, schien mir so ein Thema zu sein. Auch wenn ich wusste, dass meine Großmutter der Sache skeptisch gegenübergestanden hatte. Aber immerhin war es nichts, worüber sie sich mit Moni in die Wolle bekommen hatte. Im Gegenteil. Mom hatte sogar einen Anflug von Mitleid gespürt, als Emily ihr ihre
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Enttäuschung darüber anvertraut hatte, dass der Zusammenschluss mit Jason Stiles nicht als stilvolle Cocktail-Party begangen wurde und alle Vorbereitungen meiner Grandma umsonst gewesen waren. »Atlantic City?«, wiederholte meine Großmutter und ihrem Tonfall nach klang es so, als spräche sie mindestens von Sodom und Gomorra. »Atlantic City war ein voller Erfolg«, sagte mein Großvater bestimmt. »Aha«, machte Mom. Dann wandte sie sich an Grandma: »Und was meinst du?« Meine Großmutter warf ihrem Mann einen bedeutungsvollen Blick zu. »Ich bin lieber still.« Das sagte eigentlich alles. Allerdings machte meine Großmutter ihre Ankündigung nicht wahr. Im Gegenteil. »Es war furchtbar«, holte sie aus. »Schrecklich grell, schrecklich laut, schrecklich schmutzig. Ich war froh, als ich wieder zu Hause war.« »Vielleicht entsprach es nicht ganz dem Stil, den unsere Klienten bislang von uns gewohnt waren«, gab mein Großvater zu. »Aber alles in allem waren unsere Kunden doch sehr zufrieden.« »Ich würde eher sagen, dass sie zu betrunken waren, um nicht zufrieden zu sein«, entgegnete Grandma. »Das war ja gewissermaßen auch der Sinn der Übung«, warf Mom grinsend ein. »Digger hat übrigens mitgezecht«, überging meine Großmutter den Einwurf. »Ich habe es immer schon gewusst, er hat einfach kein Niveau«, stellte sie fest. »Wenn ich nur an diese Souvenirs denke, die er verteilt hat.« Emily wandte die Augen zum Himmel. »Ach, die Souvenirs!«, rief Großvater und erhob sich kurz vom Tisch. »Eine wunderbare Idee. Zugegeben, etwas anders als die Geschenke, die wir
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sonst verteilt haben… Hier, ich habe für jeden von euch auch eins.« Damit drückte er Mom und mir jeweils eine Schachtel in die Hand, deren Deckel den Aufdruck »Gilmore & Stiles« trug. Mom und ich öffneten schnell unsere Schachteln. In ihnen befand sich ein kleines Roulette aus Plastik. Allem Anschein nach ziemlich günstig hergestellt und – vorsichtig ausgedrückt – eher ein bisschen hässlich. Aber vielleicht ein ganz netter Zeitvertreib und passend für Chefschreibtische. Wenn man mal davon absieht, dass ein Glücksspiel vielleicht nicht gerade das passende Symbol für das ist, was man sich unter einer zuverlässigen Zusammenarbeit zwischen Geschäftspartnern vorstellt. Mom allerdings gefielen die Dinger offenbar ganz gut. Sie stieß vor Begeisterung einen kleinen Schrei aus. »Ach, die sind ja süß!«, quietschte sie. Dann ließ sie das Roulette kreisen und warf die Minikugel hinein. Meine Großmutter sandte ihr strafende Blicke. »Ich frage mich nur, was Digger als Nächstes vorschlägt«, sagte sie. »Emily, bitte!«, warf mein Großvater etwas gequält ein. »Nun nenne ihn doch nicht immer Digger. Du weißt, dass er es nicht gern hört.« »Ich habe ihn auch noch nie so angesprochen«, antwortete Grandma indigniert. Moni warf mir ein paar viel sagende Blicke zu. Es bereitete ihr sichtlich Vergnügen, dass meine Großeltern in Jason Stiles ein so ergiebiges Gesprächsthema gefunden hatten. Das verringerte die Chance, dass Moni zu sehr in den Mittelpunkt ihres Interesses und damit fast immer auch ihrer Kritik rückte. Und auch wenn Mom Jason Stiles, genannt Digger, als Jungen aus dem Feriencamp in nicht allzu guter Erinnerung hatte – die Tatsache, dass er ihr in letzter Zeit öfter Blumen schickte und ihre Mutter eine
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erklärte Abneigung gegen ihn hatte, fand sie wohl doch ganz prickelnd. »Bitte«, sagte Emily Gilmore nun mit ihrer ganzen Würde als Gattin des Senior-Chefs, »können wir nicht über etwas anderes sprechen? Ich finde, am Familientisch muss das Geschäft einmal außen vor bleiben.« Ehrlich gesagt, ich habe nie zuvor erlebt, dass meine Großmutter sich nicht gern über das Geschäft unterhalten hätte, im Familienkreis, unter Geschäftsfreunden und notfalls auch auf Beerdigungen. Grandma braucht nämlich eine Menge Geld, und dass die Geschäfte gut gehen, ist für sie von existenzieller Bedeutung. »Also gut«, meinte Moni. Sie schien ihr den Gefallen tun zu wollen. »Habt ihr schon die Artikel von Rory in der Zeitschrift von Yale gelesen?« Grandma Emily setzte sich ein wenig aufrechter hin. »Aber natürlich. Wir kennen sie alle«, sagte sie mit Nachdruck. Man muss dazu natürlich wissen, dass mein Großvater Richard als junger Mann ebenfalls in Yale studiert hat. Was mir den Unterhalt als Studentin ebendort einbringt – aus lauter Rührung darüber, dass seine Enkelin zumindest räumlich in die Fußstapfen ihres Großvaters tritt – und Mom und mir jeden Freitag ein Abendessen bei Emily und Richard. Als Dank dafür, dass sie mein Studium finanzieren. Jedenfalls erhält Grandpa als ehemaliger Yale-Student noch regelmäßig die Yak Daily News. Daher waren meine Großeltern im Bilde. »Ich habe alle deine Artikel gelesen, und sie gefallen mir ausnehmend gut«, erklärte jetzt auch mein Großvater. »Die Redaktion kann froh sein, dass sie dich hat. Nicht mehr lange, dann wirst du Chefredakteurin.« »Ach«, machte ich und musste ein Seufzen unterdrücken. »So besonders sind die Artikel nicht.
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Und um ehrlich zu sein: Ich bin noch nicht mal ständiges Mitglied der Redaktion. Die Artikel, die bisher erschienen sind, waren nur Probeartikel. Man muss für jedes Ressort einen Artikel schreiben, um sich zu qualifizieren«, erklärte ich. »Und ich hoffe, ich schaffe es.« »Ich bin sicher, dass du es schaffen wirst«, antwortete Grandpa. »Deine Artikel sprühen vor Unterhaltsamkeit… Da war doch dieser Bericht über das Lacrosse-Spiel…« Richard legte die Stirn in Falten. Er schien angestrengt darüber nachzudenken, was in dem Artikel gestanden hatte. »Oh, ja, tatsächlich«, pflichtete Mom ihm bei. Ihre Augen blitzten – ich ahnte schon, was jetzt kam. »Mindestens zwei Zeilen lang hatte ich den Eindruck, dass dich das Spiel wirklich interessierte.« Man muss solche Frotzeleien von Mom wegstecken können. Aber ich hatte ja ohnehin nicht vor, Sportjournalistin zu werden. Kultur ist eher mein Ding. »Also, mir hat dein Beitrag über die Pflege des Stadtparks ausgesprochen gut gefallen«, mischte sich jetzt auch Grandma wieder ins Gespräch. »Mit solchen Berichten bringt man den Leuten bei, dass die Liebe zum Detail sehr wichtig ist im Leben.« »Worüber auch immer du schreiben wirst«, sagte mein Großvater jetzt wieder. »Wir sind sehr stolz auf dich und natürlich werden wir all deine Artikel sammeln.« »Oh, danke«, hauchte ich glücklich und hatte Mühe, nicht rot zu werden. Emily und Richard können nervig sein und manchmal auch schwierig. Es gibt aber auch Momente, da sind sie einfach nett und liebenswert. Ich gebe zu, ich lese gern Zeitung. Dies ist eine Eigenschaft, die ich definitiv von meinem Großvater Richard geerbt habe. Seitdem ich aber Probeartikel für die Yak Daily News schrieb, sah ich dem Erscheinen
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der morgendlichen Presse mit noch mehr Spannung entgegen. Sobald ich am Montagmorgen wieder in Yale war, schlug ich die frische Zeitung auf und ließ meine Augen die Seiten durchscannen. »Ich finde das ungeheuerlich«, schimpfte meine Mitbewohnerin Paris, die neben mir stand. »Probeartikel! Um sich zu beweisen! Entweder man ist ein guter Journalist, oder man ist es nicht.« Paris ist eigentlich immer aufgebracht und laut. Bis zu einem gewissen Grad habe ich mich damit abgefunden. Es gibt aber Situationen, in denen sie mir nach wie vor peinlich ist. Wie auch in diesem Moment. Wir standen nämlich – jawohl! – mitten im Redaktionsraum der Yale Daily News. Und während Paris durch die Gegend blökte, wie ungeheuerlich sie die Anforderungen der Redaktion an neue Bewerber fand, aß sie in aller Seelenruhe die Bagels, die den Mitarbeitern der Zeitung zur Verfügung gestellt wurden, und trank deren Kaffee. »Es ist nun mal Tradition«, versuchte ich sie zu beruhigen. »Unseren Vorgängern ist es genauso ergangen. Und ehrlich gesagt: Irgendwie stellt es doch auch eine gewisse Qualität der Artikel sicher. Meinst du nicht?« Paris warf den Kopf in den Nacken. »Ich halte es für die reine Schikane. Meiner Meinung nach drucken sie jeden Mist. Und wenn der Zeilenabstand stimmt, nehmen sie auch Kassenzettel.« Ich blätterte um, auf die nächste Seite der Zeitung. »Was suchst du denn eigentlich?«, wollte Paris von mir wissen. »Meine Kritik…«, brachte ich etwas zögernd hervor. »Ich habe eine Kritik über das Kammerkonzert geschrieben, das neulich in der Spargue Hall stattgefunden hat. Eigentlich hätte sie längst erschienen sein müssen…«
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»Guck mal genau hin«, riet mir Paris in ihrer unwiderstehlichen Art. »Ich sag doch: Die drucken wirklich alles!« »Morgen. Hallo, Leute! Morgen!«, hörte ich in diesem Moment eine Stimme. Ich sah auf. Es war Doyle, der studentische Chefredakteur der Zeitung. Doyle ist gut und gern einen Kopf kleiner als ich. Ich habe mal gehört, dass kleine Männer leicht unter Minderwertigkeitskomplexen leiden – bei Doyle ist davon allerdings nichts zu spüren. Er fühlt sich mindestens so wichtig wie der Chefredakteur der New York Times. Einen entsprechenden Wirbel veranstaltet er, wenn er die Redaktion betritt. »Hi, Doyle!«, antwortete ich, bevor Doyle von jemand anderem angequatscht werden konnte. »Kann ich dich einen Augenblick sprechen?« »Hi… äh… ach ja, Rory!« Doyle tut gerne so, als erinnere er sich nicht an die Namen derer, die er für »kleine Lichter« hält. »Was gib’s?«, fragte er und setzte sich weltmännisch auf die Ecke eines Schreibtischs. Ich beschloss, den Stier bei den Hörnern zu packen. Auch wenn Doyle – wenn man es als Bild betrachten will – eher ein Kälbchen war. »Ich wollte dich fragen, ob du Probleme mit meiner Kritik hast.« »Probleme mit deiner Kritik?«, entgegnete Doyle. »Hilf mir schnell… worum ging es dabei noch mal?« »Um die Kammermusik in der Spargue Hall…« »Ach, das…« Doyle riss plötzlich den Mund zu einem riesigen Gähnen auf. »Siehst du«, sagte er danach. »Da ist es wieder.« »Wie… was?«, fragte ich. Ich verstand nicht recht. »Hast du meine Kritik nicht rechtzeitig bekommen? Oder gab es keinen Platz mehr im Layout?« Doyle schüttelte den Kopf. Er gähnte noch einmal. Demonstrativ. Dann kratzte er sich umständlich am Hals. »Nein, nein, der Artikel war pünktlich da. Und
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Platz war auch. Aber um ehrlich zu sein…«, Doyle gähnte schon wieder,»… ich fand ihn todlangweilig.« »Nun ja«, antwortete ich. »Ein KammermusikKonzert ist nun mal kein Rockfestival. Es ist ganz natürlich, dass es bei solchen Veranstaltungen etwas ruhiger zugeht…« Doyle schüttelte den Kopf. »Das meine ich nicht. Der Artikel… der Artikel war einfach langweilig geschrieben.« Seine Worte durchzuckten mich wie ein Blitz. Nicht, dass mir in meinem Leben bisher immer gleich alles auf Anhieb gelungen wäre. Aber selbst wenn mal etwas nicht so gut gelaufen war – eine derart knallharte Kritik wie diese hatte ich mir noch nie eingeheimst. Ich musste schlucken. »Mach dir nichts draus«, sagte Doyle und versetzte mir einen freundschaftlichen Hieb gegen den Oberarm. »Beim nächsten Mal wird’s besser.« Damit erhob er sich von seiner Schreibtischkante und ließ mich einfach stehen. Paris kam auf mich zugestürmt. »Und?«, wollte sie wissen. Ich konnte mich nicht erinnern, von Paris jemals solches Mitgefühl gesehen zu haben. In diesem Moment rührte mich diese völlig neue Qualität, die sie nun ausgerechnet mir gegenüber an den Tag legte. Hatte ich sie vielleicht falsch eingeschätzt? »Er ist nicht drin«, sagte ich tonlos. »Sie haben ihn nicht gedruckt.« Sofort riss Paris das Zeitungsexemplar, das ich vor mir auf einem Schreibtisch abgelegt hatte, an sich. Wie eine Wilde blätterte sie die Seiten der Reihe nach durch. Auf der letzten hielt sie inne. »Ha!«, stieß sie aus. »Da ist er. Mein Artikel! Ich bin drin! Gott sei Dank!« Damit drehte sie sich um und steuerte auf den Teller mit den Redaktions-Bagels zu,
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um sich nach diesem Triumph erst einmal zu belohnen. Ich gebe zu, ich hatte an Doyles Worten ordentlich zu knabbern. Und was macht Rory Gilmore, wenn sie an etwas zu knabbern hat? Sie fährt zu ihrer Mammi, um sich auszuweinen. Nein, klar, so war es natürlich nicht. Aber wahr ist, dass ich nach Stars Hollow fuhr. Und dass ich die Sache gern mit meinen beiden besten Freundinnen besprochen hätte: mit Lane und mit Lorelai, meiner Mom. Aber wie es im Leben so geht – richtig Zeit für mich hatten beide nicht. Lane dachte gerade darüber nach, in welche Phase ihre Beziehung zu Dave mittlerweile getreten sei. Zugegeben, es ist nicht leicht, eine Freundschaft über dreitausend Meilen hinweg aufrecht zu erhalten und daher konnte ich es bestens verstehen, dass sie einen Telefonanruf, den sie mit Dave für eine bestimmte Uhrzeit ausgemacht hatte, auf keinen Fall verpassen wollte…Aber zwischen »bestens verstehen« und »trotzdem schade finden« muss ja nicht unbedingt ein Widerspruch bestehen, oder? Mom hatte keine Zeit, weil sie, als ich ankam, gerade auf dem Sprung war. Sie wollte zu Sookie, um mit ihr und Michel den Fortgang der Arbeiten am Dragon Fly zu besprechen. Wobei sich schon abzeichnete, dass diese Besprechung nicht ganz einfach werden würde. Denn Bruce, die sympathische Hebamme, verweigerte Michel strikt den Zutritt zum Haus. Wegen Ansteckungsgefahr. Michel hatte vor fünf Tagen etwa einmal kurz geniest, weil er Staub in die Nase bekommen hatte, oder was weiß ich. Jedenfalls musste er auf der Veranda bleiben, während seine Geschäftpartnerinnen im Wohnzimmer sitzen durften. Ich fuhr also wieder zurück nach Yale und versuchte mich nicht unterkriegen zu lassen. Ich meine, sich nicht unterkriegen zu lassen, das ist doch
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das A und O des Journalismus. Man muss schließlich an den Dingen dranbleiben, auch wenn es noch so unbequem ist. Ich beschloss, meine Taktik zu ändern: Anstatt meinen Artikel spät abends nach den Hausaufgaben zu schreiben, wollte ich es beim nächsten Mal umgekehrt machen. Erst den Artikel und danach – von mir aus spät abends – die Hausaufgaben. Und vorher würde ich dann einfach noch eine ganze Kanne Kaffee trinken, dann müsste es doch klappen, überlegte ich. Vor meinem geistigen Auge sah ich meinen Namen schon in einer der nächsten Nummern unter einer Kritik prangen, für die mir meine Redaktionskollegen auf die Schulter klopfen würden. Ihre Anerkennung war mir sicher, vorbei waren die Tage der Schmach! Einige Tage später legte ich Doyle einen neuen Artikel vor. Er begann sofort zu lesen. Ich weiß nicht, ob meine Augen so groß wurden wie die von Lane. Aber wahrscheinlich starrte ich wie das sprichwörtliche Kaninchen auf die Schlange, oder besser gesagt auf meine Zeilen. Okay, noch besser gesagt auf die Zeilen, die Doyle in einem fort durchstrich, bis von meinem Artikel nichts weiter übrig blieb als der Titel der Aufführung und das Datum. Ich musste heftig schlucken. »Aber was… was mache ich denn falsch?«, wollte ich wissen. Der Chefredakteur atmete tief durch. »Hör zu, Rory, ich merke, dass du dir mit deinem Artikel Mühe gegeben hast«, begann er, und zumindest klang er nicht mehr ganz so herablassend wie bei seinem letzten Verriss. »Du hast gut recherchiert und auch stilistisch ist alles einwandfrei. Aber…«, er machte eine längere Pause, »aber deine Kritik liest sich einfach langweilig. Sei spontaner!«, riet er mir. »Du hast doch eine Meinung, nicht wahr? Mach sie deutlich! Auch wenn sie vielleicht nicht ganz schmeichelhaft ist. Aber dafür sind wir Journalisten doch da! Dass wir unseren Lesern sagen, wie die Dinge sind. Also, schreib, was
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du meinst. Sag, was du denkst! Hab den Mut zur Aufrichtigkeit.« Einen Augenblick lang hatte ich das Gefühl, auf Zwergengröße zusammenschrumpfen zu müssen. Doch dann machte ich mir klar, dass Doyle gerade »wir Journalisten« gesagt hatte. »Hab ich denn noch einen Versuch?«, fragte ich zaghaft. »Klar«, meinte Doyle und wandte sich schon wieder einer anderen Sache zu. »Bleib dran. Irgendwann kriegst du es raus.« Ich wandte mich um und ging Richtung Tür. Mein Herz klopfte – vor Schrecken über Doyles Streichorgie und gleichzeitig vor Freude darüber, dass er mir offenbar noch eine Chance gab, als seine Stimme mich innehalten ließ. »Aber, Rory«, sagte er, als ich das Zimmer fast schon verlassen hatte. »Der nächste Versuch muss ein Erfolg werden.« Ich weiß nicht, wie lange ein Mensch mit erhöhtem Pulsschlag durchhalten kann. Ich hielt jedenfalls eine ganze Weile lang durch. Genauer gesagt, bis zu meinem nächsten Pressetermin. Einer Aufführung von Tschaikowskys »Nussknacker« im Universitätstheater von Yale. Eigentlich ist Ballett nicht unbedingt das, wofür Lorelai Gilmore sich in erster Linie interessiert. Umso netter fand ich es, dass sie mich an diesem Abend begleitete. Mom hatte mitbekommen, dass mir die Sache mit meinen missglückten Artikeln auf der Seele lag. Und sie wollte mir zeigen, dass sie zu mir hielt. Gespannte Erwartung lag in der Luft, als Mom und ich in den bereits beträchtlich gefüllten Saal traten. Die Aufführung des »Nussknackers« war mit ziemlichem Aufwand angekündigt worden. »Wow!«, staunte Mom und sah sich bewundernd um. »Wie edel! Die Uni muss eine Menge Kohle haben.«
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»Könnte sein«, gab ich zu. Im Stillen dachte ich mir, dass die Summe, die mein Großvater Richard für mein Studium hinlegte, tatsächlich nicht unbeträchtlich war. »Das wird bestimmt ein toller Abend«, freute sich Mom. »Und wir haben tatsächlich reservierte Plätze? Ganz offiziell?« Ich nickte. »Wenigstens etwas. Irgendeinen Vorteil muss es ja haben, wenn meine Artikel schon nicht veröffentlicht werden.« »Ach, komm!« Mom versetzte mir mit ihrem Ellbogen einen Stoß in die Rippen. »Was war denn mit deinem Artikel über den Stadtpark?« »Stimmt«, gab ich zu. »Sicher werde ich später mal eine gefragte Journalistin. Eine gefragte Journalistin für Stadtpark-Artikel.« »Hey!«, machte Mom. »Ich glaube, dir fehlt eine Portion Schokolade. Die hebt das Selbstvertrauen.« »Richtig. Schokolade«, stimmte ich zu. »Und Talent.« »Psst!«, machte Mom. »Kein Wort mehr!« Wir gingen zu unseren Plätzen. »Ich komme mir ja richtig wichtig vor«, meine Mom, während sie das »Presse«-Schild vom Sitz nahm und in ihr Programmheft steckte. Ein bitteres Grinsen legte sich auf meine Lippen, das Mom zum Glück nicht sehen konnte, weil der Saal nun dunkel wurde. Wichtig – so wäre ich mir auch gern vorgekommen. Stattdessen hatte ich das Gefühl, dass mein Herz immer enger wurde. War das etwa eine Schlinge, die sich da zuzog? Eine Schlinge, die sich um mein Dasein und meinen Traum als Journalistin gelegt hatte? Ich atmete tief durch. »Schreib, was du meinst. Sag, was du denkst!«, rief ich mir Doyles Worte ins Gedächtnis. Und während die ersten Töne zur Ouvertüre des »Nussknackers« erklangen, klappte ich
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meinen Notizblock auf und versetzte mich in die Rolle der kritischen Journalistin. Noch am selben Abend, gleich nachdem Mom zurück nach Stars Hollow gefahren war, schrieb ich meinen Artikel. Ganz ohne Kaffee und ohne die berühmte Schere im Kopf, die so vieles aussondert, bevor es überhaupt zu Papier gebracht wird. Meine Finger flogen nur so über die Tastatur meines Computers. Die Sätze flössen einfach so dahin. Ich schrieb und sagte, was ich dachte. Okay, es waren auch Dinge dabei, die Mom gesagt hatte. Mom hatte ein paar besonders hübsche Formulierungen verwendet, die ich in meinen Artikel aufnahm. Zugegeben, im richtigen Journalistenleben ist so etwas natürlich tabu. Aber da Mom selbst nicht schreibt und sie eben nun mal meine Mom ist, drückte ich mir gegenüber mal ein Auge zu – und nahm mir vor, mich ausdrücklich bei ihr zu bedanken, sobald der Artikel erschienen war. Wenn er denn erscheinen würde. Es war, als hätte sich eine Schleuse geöffnet. So schnell hatte ich noch keinen Artikel zu Papier gebracht. Es konnte keine Rede sein von langen Recherchen oder dreimaligem Umschreiben. Sobald der Drucker den Text ausspuckte, überflog ich ihn noch einmal und war zufrieden. Gemeinsam mit Moms Anregungen und meinem eigenen Vokabular hatte ich das Gefühl, dass es mir endlich gelungen war, dem Artikel die nötige Würze zu verleihen und damit das herzustellen, was diese Aufführung des »Nussknackers« verdient hatte: einen ordentlichen Verriss. Es war das erste Mal gewesen, dass ich ein Nilpferd im Spitzenkleid gesehen hatte. Das erste Mal, dass ein Tänzer unter dem Gewicht seiner Partnerin schier zusammenbrach. Und das erste Mal, dass ich eine Ballerina gesehen hatte, die offenbar keine Freunde hatte – sonst hätte sie jemand auf die
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Fettrolle aufmerksam machen müssen, die unter ihrem BH hervorquoll. Über all dies informierte ich meine Leser auf das Genaueste. Und schließlich ging ich mit dem guten Gefühl ins Bett, für diesen Artikel wirklich alles gegeben zu haben.
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Ich weiß nicht, ob Moni mein Glücksbringer für diesen Abend war oder ob mich einfach unser kleiner Gedankenaustausch über die Darbietung so beflügelt hatte – aber als Doyle am nächsten Tag in der Redaktion meinen Artikel las, wurde sein Grinsen von Zeile zu Zeile breiter. >»Der letzte Vorhang ist viel zu spät gefallen«<, zitierte er meinen Schlusssatz mit deutlicher Anerkennung in der Stimme. »Stan«, rief er dann den Layouter zu sich. »Das geht in den Satz!« Und damit war ich drin! Ich will ja nicht behaupten, dass das Glück ungerecht verteilt ist. Aber manchmal kommt es mir schon so vor, als würden sich Lorelai und Rory Gilmore damit sozusagen abwechseln. Manchmal scheint es mir, als sei das Ganze wie eine Waage. Moni und ich sitzen in den beiden Waagschalen. Sobald eine von uns mal ein bisschen Glück hat und sich die Waagschale auf ihrer Seite senkt, verschwindet in der anderen Schale unweigerlich ein bisschen was oder, um es prosaisch auszudrücken, macht sich das Glück vom Acker. Meine Waagschale hatte sich also gerade mit meinem gelungenen Artikel ein wenig gesenkt, als Moni an einem der nächsten Tage Lukes Cafe betrat. Es ist schwer zu sagen, was Mom und Luke genau verbindet. Eine Weile lang habe ich gedacht, es sei ihr Dasein als Single. Klar, dass sich die Leute zusammentun, die allein sind. Aber wenn das allein der Grund wäre, dann müsste es noch ganz andere Kombinationen in Stars Hollow geben. Und irgendeine Frau müsste auch für Taylor abfallen. Das ist nicht der
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Fall. Darum musste hinter der Sympathie zwischen Mom und Luke noch etwas anderes stecken. Ich will gar nicht behaupten, dass sie jemals verliebt ineinander gewesen wären. Aber vielleicht waren sie so etwas wie Geschwister im Geiste. Beide sind irgendwie anders als die durchschnittliche Bevölkerung unserer Stadt. Einfach unkonventioneller. Und beide stehen deswegen vielleicht nicht gerade am Rande der Gesellschaft, aber sie werden doch von vielen kritisch beäugt. Ich glaube, das ist es, was die beiden miteinander verbindet. Und das ist auch der Grund, weshalb Mom Luke als einen ihrer engsten Vertrauten betrachtete, spätestens seitdem er und Nicole sich nach ihrer spontanen Eheschließung ebenso spontan wieder getrennt hatten. Na ja, mag sein, dass so ein kleines bisschen Verliebtheit zumindest von Moms Seite aus doch noch mitschwang. Aber nur ein winziges bisschen, ehrlich! Wie Mom mir später erzählte, ging sie an diesem Vormittag mit Michel durch die Stadt. Sie kamen gerade vom Dragon Fly, wo die Umbauarbeiten ständig voranschritten, als Mom Hunger bekam und sie versuchte, Michel zu Lukes Cafe zu lotsen. Umsonst, versteht sich, denn Michel, als Franzose, hat seine ganz eigenen Essgewohnheiten. Er bog also kurz vor der Eingangstür ab, und Mom betrat allein den Laden. Sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, wäre sie fast zurückgeprallt. Am Tresen saß eine weibliche Person. Sie saß zwar mit ihrem Rücken zur Tür, aber auch ohne dass Mom ihr Gesicht sehen konnte, war sie sofort im Bilde, um wen es sich handelte: um Nicole, Lukes frisch gebackene und gleich wieder in Trennung lebende Ehefrau. Lorelais erster Impuls war, auf dem Absatz kehrtzumachen – aber dazu war es schon zu spät. Als
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spürte Nicole Moms Blicke in ihrem Rücken, drehte sie sich kurz um, während sie sich eine der Pommes von ihrem Teller in den Mund schob. Mom reagierte sofort – was blieb ihr auch anderes übrig. »Hey, Nicole!«, rief sie aus und ging auf sie zu. »Das ist aber eine Überraschung!« »Hallo, Lorelai«, antwortete Nicole. Aus ihrer Stimme klang ruhige Gelassenheit. Keine Spur von Nervosität. Im Gegenteil: freundliche Souveränität! Sicher eine der Voraussetzungen für ihren Job als Anwältin. »Schön, dich zu sehen.« »W-weiß Luke schon, dass du hier bist?«, fragte Mom. Sie hatte Mühe, nicht zu stottern. »Ja, er ist gerade hinten«, antwortete Nicole mit einer knappen Bewegung ihres Kopfes zur Küche des Cafes. Im gleichen Augenblick rutschte ihr eine Strähne ihrer blonden Haare in die Stirn, die sie rasch wieder beiseite strich. »Willst du etwas von ihm?« Zugegeben, die Frage war etwas zweideutig formuliert. Auch wenn es sicher ohne Absicht geschehen war… Für Mom allerdings war die Frage ganz eindeutig. »Oh, nein, nein«, beeilte sie sich zu sagen und wedelte abwehrend mit den Händen. »Ich will überhaupt nichts von ihm. Ich wollte nur etwas essen. Wie… wie geht’s dir? Geht’s dir gut?« Nicole lächelte. »Ja, danke«, antwortete sie mit ihrer ihr eigenen ruhigen, sanften Stimme. »Es geht mir sehr gut.« Sie schob sich noch eine Pommes in den Mund. »Ich… äh… ich habe neulich ein paar von deinen Kollegen hier getroffen«, fuhr Mom fort. Sie suchte dringend nach einem Gesprächsthema, das sich nicht um Luke drehte. Alles andere, aber nicht Luke! »Sie hatten irgendwas mit Luke zu bereden, und ich war zufällig hier.« Lorelai merkte selbst, dass sie nervös klang. »Sie sagten, sie mögen dich sehr…«
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»Das will ich hoffen«, sagte Nicole und lächelte. »Schließlich sind sie ja Partner in meiner Kanzlei.« »Ja, ja, klar«, stimmte Mom zu. Nicole reckte den Kopf, um einen Blick auf das kleine Fenster zu werfen, durch das die Speisen aus der Küche zum Tresen gereicht wurden. »Sollen wir Luke mal Bescheid sagen, dass du da bist?« »Oh, ach nein, nicht nötig«, antwortete Lorelai etwas zu hastig. Irgendwie war ihr überhaupt nicht danach, mit Luke und mit Nicole gleichzeitig einen kleinen Schwatz zu halten. Luke allein hätte ihr vollauf gereicht. »Ich merke gerade, ich habe ja eigentlich gar keinen Hunger. Ja, wenn ich genau darüber nachdenke – eigentlich habe ich ja schon gegessen«, fuhr sie fort. »Vorhin.« Sie schlug sich mit der Hand an die Stirn. »Wie kann man nur so zerstreut sein! Also, es war sehr schön, dich zu sehen«, verabschiedete sie sich von Nicole. »Wirklich sehr schön.« »Hat mich auch gefreut«, antwortete Nicole. »Also, bis dann mal wieder«, meinte Mom etwas linkisch, während sie sich der Tür näherte. Und sobald sie die Klinke zu fassen kriegte, machte sie, dass sie hinauskam. Ich gebe zu, seitdem ich in Yale studiere, sind für mich einige Dinge, die in Stars Hollow passieren, sehr weit entfernt. Nicht, dass ich mich nicht mehr dafür interessieren würde, aber mein Alltag am College ist eben das, was mein Leben zur Zeit bestimmt. Besonders an diesem Tag war ich mit Leib und Seele in Yale. Meine Kritik des »Nussknackers« hatte an diesem Morgen in der Yale Daily News gestanden, und ich war gespannt auf die Reaktionen meiner Leserinnen und Leser. Entsprechend schwer fiel es mir, mich auf Lane zu konzentrieren, die mich an diesem Nachmittag auf dem Handy anrief, als ich gerade auf dem Weg von
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der Bibliothek zu meiner Wohneinheit war. Sie war ganz aufgeregt und berichtete, dass sie gerade am Telefon einen fürchterlichen Streit mit Dave gehabt hatte. »Hat das etwas mit Gil zu tun, dem neuen Gitarristen?«, wollte ich wissen. »Nein, nein«, antwortete Lane. »Ich habe ihm zwar gesagt, dass er bei uns mitmachen kann, aber ich bin mir noch nicht sicher, ob es dabei bleiben wird. Von seiner Seite aus.« »Worum ging es denn dann?«, hakte ich nach. »Es ging um einen Krug«, antwortete Lane zu meinem Erstaunen. Und dann kam eine lange, wirre Geschichte, in der es um Lane, Dave, einen Krug und Lanes Mutter ging. Anscheinend hatte Mrs Kim versucht, die Beziehung ihrer Tochter in trockene Tücher zu bringen, um wenigstens einen Teil der Tradition zu erfüllen und Lane, wenn schon nicht an einen Koreaner, dann doch zumindest an den ersten Freund zu verheiraten, den Lane jemals hatte. Lane hatte Dave aus diesem Grund einen Krug schicken sollen, von dem Lane wusste, dass er ihr »Hochzeitskrug« war, und damit hatte Mrs Kim Dave indirekt sozusagen einen Heiratsantrag gemacht. Lane war völlig aufgelöst, denn anstatt den Krug an Dave zu schicken – was ich an ihrer Stelle auch nicht so ohne weiteres getan hätte, selbst wenn ich ihn noch so sehr liebte – , hatte sie mit ihm am Telefon wieder einmal den Zustand ihrer Beziehung erörtern wollen; wie sehr sie sich mochten und auch zusammen sein wollten, ohne dass daraus eine Verpflichtung für sie beide erwuchs. Und irgendwie muss dieses Gespräch schrecklich schief gelaufen sein. Ich suchte gerade nach den passenden Worten, um Tane zu beruhigen. Schließlich möchte man in solch delikaten Angelegenheiten der Freundin ja die richtigen Tipps geben. Mit einem Mal aber blieb ich wie angewurzelt stehen. Ich hatte meine Wohneinheit
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gerade erreicht und wollte den Schlüssel aus der Tasche ziehen und aufschließen, als mir ein Schild an der Tür ins Auge sprang, auf dem dick und fett zu lesen war: »Krepier! Blöde Kuh!« »Wow!«, machte ich. Was Besseres fiel mir darauf nicht ein, auch wenn das vielleicht ein bisschen zu sehr nach Begeisterung klang. »Was ist?«, fragte Lane am anderen Ende der Leitung. »Da… da hat jemand ein Schild an unserer Tür angebracht. Mit der Aufschrift… der Aufschrift: >Krepier! Blöde Kuh!<«, stammelte ich atemlos. Lane schwieg einen Augenblick indigniert. »So etwas Spannendes passiert auf unserem AdventistenCollege natürlich nie«, ließ sie mich wissen. In diesem Moment wurde die Tür von innen aufgerissen. Paris erschien wie ein Racheengel im Türrahmen. »Wir müssen herausbekommen, wer das geschrieben hat«, zeterte sie drauflos. »Komm gleich rein, wir halten Kriegsrat.« Damit packte sie mich am Arm und zerrte mich nach drinnen. »Lane?«, konnte ich gerade noch ins Telefon rufen. »Ich ruf dich wieder an. Wir haben eine wichtige Besprechung. Und das mit dem Krug tut mir echt Leid. Ich…« Ich weiß nicht genau, wie es kam. Aber Paris schmiss die Tür zu, und die Leitung war unterbrochen. Im Wohnzimmer unserer Wohneinheit, das dank der großzügigen Spende meiner Großmutter Emily äußerst geschmackvoll eingerichtet war – für eine Dame mittleren Alters wenigstens – , saßen schon unsere beiden anderen Mitbewohnerinnen Janet und Tanna auf dem Sofa. Irgendjemand musste den Fernseher ausgeschaltet haben, und vorerst traute sich Tanna, die einerseits schüchtern, andererseits fernsehsüchtig ist, noch nicht, ihn wieder einzuschalten.
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»Ich… ich glaube, ich war hier, als es passiert ist«, eröffnete Tanna zerknirscht das Gespräch. Sie ist wirklich unglaublich schüchtern und voller Minderwertigkeitskomplexe. Aber sobald sich eine Gelegenheit ergibt, die Schuld für irgendwas zu übernehmen, steht Tanna in der ersten Reihe – hier ist sie überhaupt nicht schüchtern. Doch vielleicht ist das ja auch ein Teil ihres Komplexes. »Und du hast nichts gehört?«, fragte Janet nach. Tanna schüttelte den Kopf. »Nein.« »Deine Antennen funktionieren ja echt super«, giftete Paris. Ich setzte mich in den großen Sessel neben Tanna. »Aufeinander herumzuhacken ist das Letzte, was wir jetzt tun sollten«, sagte ich. »Spiel jetzt bloß nicht den Friedensengel«, fuhr Paris auf. »Wir lassen die Waffen sprechen, bevor der nächste Schlag erfolgt.« »Wie?«, machte Tanna. Sie guckte wie ein ängstliches Kaninchen. »Wollen die etwa noch mal zuschlagen?« »Wir werden jedenfalls nicht abwarten, bis es so weit ist«, gab Paris zurück. Sie hatte sich mit ihrem Klemmbrett unter dem Arm vor uns aufgebaut. Gerade trug sie Jeans und einen bunten Pullover, aber ich konnte sie mir auch bestens in einem engen, grauen Kostüm mit Betonfrisur und Perlenkette vorstellen, wie unsere Außenministerin, die auch auf alles und jeden gerne schießen möchte, sobald sie sich bedroht fühlt. Und wenn es nur mit Kanonen auf Spatzen ist. Paris teilte Zettel aus. »Jede von uns listet jetzt die Personen auf, die sie sich zum Feind gemacht hat.« »Meinst du nicht, das Ganze war einfach nur ein Scherz?«, wandte Janet jetzt ein. »Vielleicht sollte man es nicht so hoch hängen.« Sie kann, wenn es darauf ankommt, ebenso ätzend sein wie Paris. In diesem Moment aber fand ich sie ganz vernünftig.
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»Über Scherze kann man lachen«, belehrte uns Paris. »Hier aber ist nichts zum Lachen. Also, schreibt! Ich habe meine Liste schon fertig gestellt und den Kreis der Feinde von sechsundzwanzig auf fünf eingegrenzt.« Wir anderen drei sahen auf. »Fünf Feinde? Allein in Yale?«, hakte Janet nach. »Nur in diesem Haus«, antwortete Paris gelassen. »Aber dieses Problem ist schon gelöst. Ich habe meine Leute darauf angesetzt«, fuhr sie fort wie eine große Strategin. »Sie werden sie fünf Tage und Nächte observieren. Von dieser Seite droht uns keine Gefahr mehr. Was ist mit euch? Rory, Janet, Tanna?« »Ich… ich habe immer nur ferngesehen«, beteuerte Tanna, und es klang fast, als bereute sie in diesem Moment die mangelnde Spannung in ihrem Leben ein wenig. »Dabei kann man mit niemandem Streit anfangen. Es sei denn, um die Fernbedienung.« Janet biss auf ihrem Stift herum. »Eine Mitspielerin aus der Volleyball-Mannschaft könnte sauer auf mich sein«, überlegte sie. »Ich habe mit ihrem Freund geknutscht.« »Halte sie im Auge!«, befahl Paris. »Und was ist mit dir?«, wandte sich Janet nun an mich. »Hast du Streit mit jemandem?« Bevor ich antworten konnte, blökte Paris im Brustton der Überzeugung dazwischen: »Rory und Streit mit jemandem haben? Das ist völlig ausgeschlossen! Eher können Schweine fliegen.« Sie machte eine kurze Pause und sah in die Runde. »Ich denke, wir können die Versammlung an dieser Stelle beenden. Es sind wohl keine Fragen mehr offen. Fürs Protokoll: Janet und Paris verhalten sich mit sofortiger Wirkung gemäß der erhöhten Sicherheitsstufe. Die Sitzung endete um 17:23 Uhr.« Sie brabbelte noch ein bisschen vor sich hin, während sie eifrig auf ihrem Klemmbrett herumkritzelte.
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Sobald sich Paris und Janet in ihre Zimmer zurückgezogen hatten, schaltete Tanna den Fernseher wieder ein. Etwas Seichtes zur Beruhigung, wie sie mir eilfertig erklärte. So seicht das Programm auch wirklich war, es gelang mir trotzdem nicht, mich darauf zu konzentrieren. Die ganze Zeit über musste ich darüber nachdenken, ob Schweine unter ganz bestimmten Bedingungen nicht vielleicht doch fliegen konnten… Es gibt immer wieder Dinge im Leben, die man nicht geplant hat. Oder zumindest hat man sie nicht so geplant, wie sie sich dann entwickeln. Irgendwie ahnte ich schon, dass ich diese Erfahrung in allernächster Zeit würde machen müssen. Vorher aber war Mom diejenige, die zu spüren bekam, wie die Dinge aus dem Ruder laufen können. Es war bereits Abend, als sie Lukes Cafe betrat. Das Mittagessen, das unvorhergesehen gestrichen worden war, weil sie sich durch Nicoles Anwesenheit überrumpelt gefühlt hatte, hatte Mom durch ein paar Reste aus dem China-Imbiss überbrücken können, die sie noch im Kühlschrank gefunden hatte. Jetzt aber hing ihr der Magen bis zu den sprichwörtlichen Knien. Sie hatte brüllenden Hunger. »Hi, Luke«, begrüßte Lorelai ihren Kumpel mit der ewig falsch herum aufgesetzten Baseballkappe. »Hi, Lorelai«, antwortete Luke. »Da bist du ja wieder.« »Du hast mitbekommen, dass ich heute Mittag schon mal hier war?«, fragte Mom nach. »Ja, klar. Nicole hat es mir erzählt.« Auf ganz unerwartete Weise zuckte Mom bei der Erwähnung von Nicoles Namen ein wenig zusammen. »Ja, stimmt. Aber irgendwie hatte ich plötzlich doch keinen Hunger«, meinte sie ausweichend. »Was gibt’s Neues?« Sie hatte sich plötzlich zum Angriff
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entschlossen, der ja bekanntermaßen die beste Verteidigung ist. »Neues?«, antwortete Luke. »Ich habe neue Kaffeebecher.« »Aha«, machte Mom. »Sehr interessant. Und sonst?« Luke zuckte die Schultern. »Neue Filter habe ich auch.« »So, so.« Lorelai sah Luke aufmunternd an. Aber er schien nichts zu bemerken. »Nicole war doch hier«, half sie ihm dann auf die Sprünge. Ich gehe nach wie vor davon aus, dass sich Moni nie ernsthaft eine Beziehung mit Luke gewünscht hat. Aber dass er ihr jetzt noch nicht mal das Vertrauen bewies, ihr von Nicole zu erzählen, das kränkte sie. »Ja. Und?« Luke nahm einen Lappen und wischte damit gleichgültig über den Tresen. Moni lachte auf. »Willst du etwa sagen, dass es keine Neuigkeit ist, wenn Nicole plötzlich wieder in deinem Laden sitzt?« Luke sah sie an. »Du hast sie doch selbst gesehen. Also ist es für dich nichts Neues.« »Okay«, sagte Moni, der im Moment der Sinn nicht nach logischen Erörterungen stand. »Nichts Neues also. Geht es jetzt denn wieder voran, mit der Scheidung meine ich?« Luke nahm ein Glas aus dem Regal hinter sich und begann es zu polieren. »Wir lassen uns nicht scheiden. Wir sind wieder zusammen. Die Scheidung haben wir auf Eis gelegt.« »Wie bitte?« Lorelai hörte sehr gut, dass sie eine Spur zu laut war. »Kann man denn eine Scheidung überhaupt auf Eis legen?« »Ich denke schon«, sagte Luke achselzuckend. »Wir tun es jedenfalls.«
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Jetzt war Mom wirklich ein bisschen beleidigt. Wenn man schon zusammen Casablanca geguckt hat, darf man dann nicht erwarten, ein bisschen mehr ins Vertrauen gezogen zu werden? Über die Entwicklung der Dinge, die ja wahrscheinlich nicht erst seit gestern eingetreten waren. »Und?«, fragte sie nach. »Wann zieht sie bei dir ein?« »Gar nicht«, antwortete Luke kühl. »Wir leben erst einmal so weiter. So, als wären wir nicht verheiratet.« »Wie bitte?«, stieß Mom aus. »Ihr seid aber Mann und Frau. Für den Staat jedenfalls. Ihr zahlt gemeinsam Steuern. Oder werdet ihr getrennt veranschlagt?« »Lorelai, ich weiß nicht, worauf du hinauswillst«, antwortete Luke. »Jeder darf doch so leben, wie er will. Und was die Steuern angeht – die sind das Letzte, was mich in dieser Angelegenheit interessiert.« »Also, ich finde das ganz schön komisch«, ließ Mom jetzt ihre Meinung vom Stapel. »Und ich bin eine Durchschnittsbürgerin. Das heißt, dass alle anderen Durchschnittsbürger es auch seltsam finden würden…« »Aber das muss Nicole und mich doch überhaupt nicht interessieren«, fiel ihr Luke ins Wort. »Ah«, meinte Mom und ihre Augen funkelten. Allerdings weniger vor Heiterkeit. Sondern vor Ärger. Erstens hätte Luke sie einweihen können, besser gesagt: müssen! Und zweitens war sie keine Freundin von Halbherzigkeiten. Was sie macht, macht sie ganz. Mit Herzblut und mit Temperament. Halbe Dinge haben keinen Platz in ihrem Leben. Und darum wurde sie jetzt auch so richtig sauer! »Ich hoffe nur, du rechnest nicht mit einem Hochzeitsgeschenk – wenn du dich endlich dazu bekennst, doch verheiratet zu sein«, schimpfte sie jetzt los. Luke sah sie an. »Sag mal, was ist eigentlich los? Magst du Nicole nicht?«
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»Ich mag Nicole gern«, antwortete Mom. »Aber ich glaube, sie mag mich nicht.« »Unsinn«, antwortete Luke. »Sie findet dich nett. Jetzt sieh es doch ein«, machte er einen neuen Versuch, Mom seine Entscheidung zu erklären. »Nicole und ich, wir haben uns eigentlich gern. Und wenn wir es einfach noch mal miteinander versuchen, sparen wir uns eine Menge Stress.« Dies war wohl das Stichwort, das das Fass zum Überlaufen brachte. »Ach so!«, fuhr Mom auf. »Ihr erspart euch Stress! Jetzt kommen wir der Sache schon näher. Erhältst du etwa all deine Freundschaften nur deswegen aufrecht, um dir keinen Stress zu machen? Lässt du deswegen deine engsten Vertrauten im Unklaren, weil es dir zu stressig ist, sie zu informieren? Oder sind wir vielleicht nur deswegen Freunde, weil es dir zu stressig ist, mir zu sagen, dass du genug von mir hast?« Luke sah sie aus seinen braunen Augen lange an. »Was willst du essen, Lorelai?« »Gar nichts«, antwortete Mom. »Essen ist Stress.« »Aber du hast doch heute Mittag schon nichts gegessen«, gab Luke zu bedenken. »Macht nichts«, erwiderte Mom patzig. »Ich habe schon wieder keinen Hunger.« Damit ging sie Richtung Tür. Luke sah ihr nach wie ein geprügelter Hund. »Und deine neuen Kaffeebecher«, holte Lorelai zu einem letzten Rundumschlag aus, »finde ich total blöd. Die alten waren viel schöner!« Damit ging sie hinaus und schlug die Tür hinter sich zu. Soweit Mom mir später berichtete, dämmerte ihr wohl auf dem Heimweg, dass sich die Sache etwas verselbstständigt hatte. Und als sie ihren leeren Kühlschrank nach irgendetwas Essbarem absuchte – und natürlich nichts fand –, war ihr endgültig klar, dass sie übertrieben hatte.
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Im Gegensatz zu Mom hätte ich an diesem Abend durchaus die Gelegenheit gehabt, meinen Magen zu füllen. In der Kantine war jedenfalls ein opulentes Abendessen aufgefahren worden, und mit Heißhunger reihte ich mich in die Schlange der Essensausgabe ein. Der Vorfall mit dem Schild an unserer Tür trat angesichts der wichtigen Entscheidungen, die nun für das Menü zu treffen waren, gedanklich erst einmal in den Hintergrund. Ich bediente mich gerade noch am Salatbüfett, als Ned, ein Typ, den ich nur flüchtig aus einem Seminar kannte, nah an mich herantrat. »Jemand hat sich nach dir erkundigt«, raunte er mir zu, während er sich ebenfalls mit Salat bediente. Unsere Begegnung sollte wohl unauffällig aussehen. »Was?«, fragte ich. »Wer denn?« »Psst!«, machte Ned und sah sich scheu um. Er erinnerte mich an den Schlapphut-Agenten aus der Sesamstraße, der immer Zahlen verkaufen will. »Es ist vermutlich besser, wenn du nicht gefunden wirst.« Damit nahm er sein Tablett auf und verschwand rasch an einen Tisch an der gegenüberliegenden Seite des Raums. Ich konnte mir auf diese mysteriöse Begegnung keinen Reim machen. Und ich sagte mir, dass es sich möglicherweise um einen albernen Scherz handelte. Oder um einen Feldversuch zum Thema »Wie verarsche ich meine Kommilitonen?«. Ich wollte mir nun ebenfalls einen Platz für das Abendessen suchen und balancierte gerade mein Tablett vor mir her, als sich schon wieder jemand an mich wandte. »Hey?«, sprach mich ein Mädchen an, das ich überhaupt nicht kannte. »Du bist doch die mit der Kritik, oder? Also, du hast ja wirklich Mut! Aber trotzdem: Wenn du einen Haufen Tüll hinter dir rascheln hörst, dann nimm die Beine in die Hand und lauf weg, so schnell du kannst. Okay?«
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Ich glaube, dies war der Moment, in dem mir klar wurde, was die Stunde geschlagen hatte. Und dass jetzt ich diejenige war, für die eine Sache aus dem Ruder zu laufen begann. Und zwar ziemlich. Ich suchte mir einen Platz, und noch während ich mich setzte, fiel mir im Seitengang des Speisesaals eine Gruppe von drei Leuten auf. Ein Mädchen, das mir entfernt bekannt vorkam, sah immer wieder zu mir herüber. Auf einmal sah ich, wie sie aufstand und auf mich zusteuerte. Und als ich ihren eigentümlichen Gang sah, ging mir auf einmal auf, mit wem ich es in wenigen Augenblicken zu tun bekommen würde: mit dem Nilpferd im Ballettdress. Dem Bulldozer in Tüll! »Rory Gilmore!«, keifte mich die glücklose Künstlerin an. »Weißt du, wer ich bin?« Es wäre eine alberne Lüge gewesen, Nein zu sagen. Ein beherztes Ja brachte ich allerdings auch nicht über die Lippen. Das war aber auch gar nicht nötig, denn die Ballerina half mir bereits mit ein paar Zitaten aus meinem Artikel auf die Sprünge: »Ich habe die Grazie eines versoffenen Hafenarbeiters. Im Spitzentanz besitze ich die Anmut eines Schweins auf Stelzen. Meine Sprünge landen punktgenau einen halben Meter neben ihrem eigentlichen Ziel…« Zum Glück konnte ich der Litanei ein Ende setzen. »Du heißt Sandra, nicht wahr?«, versuchte ich es mit einem kleinen Lächeln. »Nett, dass du dich erinnerst!«, fauchte Sandra. »Du blöde Kuh!« »Ah… ahm… ist das Schild vielleicht von dir?«, nahm ich nach den Regeln der Bühnenkunst das Stichwort auf. »Du hättest noch ganz andere Sachen verdient!«, fuhr Sandra jetzt auf. »Deine Kritik war das Letzte! Sie war hämisch und gemein.«
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»Hör zu, Sandra, sollen wir nicht woanders hingehen, um darüber zu reden?«, schlug ich vor. Aber Sandra war schon in voller Fahrt. »Ich wette, du hast noch nie auf irgendeiner Bühne gestanden! Du weißt überhaupt nicht, wie das ist, wie viel Überwindung es einen kostet… und alles nur, um sich am Ende von fiesen kleinen Schreiberlingen fertig machen zu lassen.« »Ich… ich habe nur meinen Job gemacht und versucht, den Lesern der Yak Daily News etwas zu bieten. Eine lebhafte, wirklichkeitsgetreue Beschreibung eines verpatzten Abends«, versuchte ich mich zu verteidigen. »Und immerhin habe ich bis zum Schluss der Aufführung durchgehalten. Im Gegensatz zu vielen anderen…« Sandras Augen schössen wütende Pfeile auf mich ab. »Wenn man nichts vom Ballett versteht, sollte man auch nicht darüber schreiben. Was maßt du dir eigentlich an?« Es war klar, dass Sandra sich auf diese Weise immer weiter in ihren Zorn hineinsteigern würde. Ich musste mir schnell etwas einfallen lassen. »Hör mal«, versuchte ich es daher auf die ruhige Tour. »Selbst wenn ich in meiner Kritik etwas übertrieben habe, wen kümmert das schon? Es gibt doch kaum Leute, die sich für Ballett interessieren. Morgen kräht kein Hahn mehr danach, wie ihr auf der Bühne herumgehopst seid.« Mit dem »Herumhopsen« hatte ich der Sache eigentlich nur ihre Schärfe nehmen wollen. Aber offenbar fühlte sich die Künstlerin weiterhin nicht richtig gewürdigt. »Herumgehopst? Was glaubst du eigentlich, mit wem du es zu tun hast? Ich trainiere jeden Tag drei Stunden lang, und zwar sieben Tage die Woche! Ich habe zwei Sommerkurse am Miami-Ballett gemacht und stehe auf der Liste für ein Stipendium! Jeder, der vom Fach ist, wird diese Kritik lesen. Und wenn es mit
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dem Stipendium jetzt nicht mehr klappt, dann weiß ich, wer mir meine Karriere versaut hat. Blöde Kuh! Du dämliche Ätz-Tussi! Ich hasse dich! Und ich hoffe, ich werde dich in meinem Leben nie mehr Wiedersehen! Krepier doch!« Damit wandte sie sich um und rauschte davon. Ratlos stocherte ich mit der Gabel in meinem Abendessen herum. Ob es um Kaffeebecher geht oder um BallettKritiken – manchmal können die Dinge wirklich ganz schön aus dem Ruder laufen.
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Normalerweise kann ich nicht behaupten, den Freitagabend bei meinen Großeltern so richtig herbeizusehnen. In dieser Woche lagen die Dinge etwas anders. Zunächst einmal ist natürlich jeder Freitagabend der Start ins Wochenende – und das ist ja schon mal gut. An diesem Freitagabend aber freute ich mich besonders darauf, meine Mom Lorelai wiederzusehen. Ich hatte die Kritik der Ballettaufführung dabei und wollte sie Mom zeigen. Schließlich war ja auch sie Augenzeugin der grandiosen Vorstellung gewesen. Woran es genau lag, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls kam ich ein ganzes Stück später aus Yale weg, als ich gedacht hatte. Mom musste längst schon bei meinen Großeltern sein, und das tat mir Leid. Ich lasse sie dort nicht gern allein. Zu oft hatten sich Lorelai und Emily schon in die Haare bekommen. Es war gut, wenn mein Großvater und ich im Zweifelsfall das Gespräch einfach auf ein anderes Thema lenken konnten. Als Lorelai an diesem Abend das Haus von Richard und Emily betrat, war aber nicht nur ich noch nicht da, auch von Richard fehlte jede Spur. Und meine Großmutter sah aus, als hätte sie gerade in eine Zitrone gebissen. »Hi, Moni«, sagte Lorelai. »Du siehst gestresst aus. Stimmt was nicht?« Emily bemühte sich um Haltung. Es war aber klar, dass sie innerlich vor Zorn bebte. »Dein Vater!«, sagte sie. Und aus ihrem Mund klang es ein bisschen so, als hätte Mom auch hier schon wieder einen entscheidenden Fehler begangen, indem sie sich Richard als ihren Vater ausgesucht
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hatte. »Seit Stunden hält er sich in seinem Arbeitszimmer auf. Mit Jason Stiles. Sie machen irgendetwas mit dem Computer.« In diesem Moment öffnete sich die Tür zu Grandpas Arbeitszimmer. Er trat heraus, auf seinem Arm sein Laptop. »Das ist ja fabelhaft!«, rief er seinem Kompagnon zu, der hinter ihm aus dem Arbeitszimmer kam. »Ich laufe durch das Haus und bin trotzdem im Internet. Ganz ohne Kabel!« »Sehen Sie?«, pflichtete ihm Jason Stiles bei. »Auf diese Weise können Sie sogar im Wohnzimmer sitzen und surfen.« Emilys ohnehin schon saures Gesicht sank im pHWert weiter nach unten. »Ich weiß wirklich nicht, wozu man ein Internet überhaupt braucht«, meinte sie. »Ah, Lorelai«, sagte Grandpa, ohne auf den Einwand von Emily einzugehen. Anscheinend hatte er Mom erst in diesem Moment bemerkt. »Da bist du ja schon! Darf ich dir vorstellen: mein Kompagnon Jason Stiles. Jason, das ist meine Tochter Lorelai…« »Richard! Die beiden kennen sich seit Jahren! Aus dem Jugendcamp!«, warf Emily eisig ein. »Bevor du dich mit dem Internet beschäftigst, solltest du deine Gedanken im Hier und Jetzt etwas besser beisammenhaben.« »Sehen Sie mal, Jason«, fuhr Richard, von der Kritik seiner Frau ungerührt, fort und wanderte weiter mit seinem Laptop durch die Gegend. »Hier wird der Empfang nun doch etwas schlechter. Vielleicht sollte ich es mal draußen probieren?« Er steuerte die Terrassentür an und trat auf die Veranda hinaus. »Ah ja, jetzt geht es wieder…«, tönte seine Stimme begeistert von draußen. Emily verdrehte die Augen. »Das dauert ja wohl noch etwas. Ich werde der Köchin sagen, dass sie das Essen warm stellen soll.« Damit verschwand sie in der Küche und ließ Jason und Moni allein.
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Die beiden standen sich gegenüber. Mom trug eins ihrer knackigsten Kleider. Ärmellos und eng, ein bisschen wie ein klassisches China-Kleid. Nur nicht so streng, sondern deutlich offenherziger. Ich furchte, mit meinen Wollstoff-Röcken und meinen Strickjacken werde ich an den Sexappeal meiner Mutter wohl niemals heranreichen. »Und?«, wandte sich Lorelai an Jason. »Wie geht’s?« »Danke, gut«, antwortete Richards Kompagnon. »Und dir?« »Bestens«, erwiderte Mom gut gelaunt. »Sag mal«, begann Jason jetzt. »Hast du in der letzten Zeit vielleicht öfter mal Blumen bekommen?« »Blumen?«, wiederholte Mom und ihre Augen blitzten. »Doch ja, ich erinnere mich. Da waren Blumen.« »Und hast du gesehen, dass die beiliegenden Karten mit >Jason< unterschrieben waren?«, forschte Jason nach. »Natürlich«, antwortete Mom. »Jason. Wie Jason Priestley.« Jason Stiles lächelte säuerlich. »Hättest du etwas dagegen, wenn ich mich heute Abend von Emily zum Essen einladen lassen würde?« Mom zog die Augenbrauen in die Höhe. Konnte es sein, dass Jason seinen Stand in diesem Haus so falsch einschätzte? Emily hatte ihn für sich zu ihrem Feind erklärt – wovon Lorelai durchaus profitierte. Auf diese Weise war sie zumindest für den Moment aus Emilys Schusslinie. Lorelai wusste, dass Emily es niemals über sich bringen würde, einen Mann, der einen Ausflug nach Atlantic City für seine Kunden organisiert und sich auch noch gemeinsam mit ihnen betrinkt, zum Abendessen einzuladen. Darauf konnte sich jeder, der
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das Haus Gilmore und seine Herrscherin kannte, verlassen. In gewisser Weise war es schade. Denn wenn Jason doch aus irgendeinem Grund zum Essen geblieben wäre, hätte es ein wirklich unterhaltsamer Abend werden können. Für die übrigen Anwesenden zumindest. Moni schüttelte den Kopf. »Vergiss es. Sie wird dich nicht einladen.« In diesem Moment zuckte ein Ausdruck über Jasons Gesicht, den Moni noch nie bei ihm gesehen hatte – nicht damals im Feriencamp und auch nicht neulich, als sie ihn in seinem Büro aufsuchte, um ihm die Hölle heiß zu machen wegen des geplatzten Catering-Auftrags. Durch den Ausflug nach Atlantic City war ihr und Sookie ein Batzen Geld durch die Lappen gegangen. In Jasons Blick lag eine Mischung aus Ehrgeiz und Schalk, und für den Bruchteil einer Sekunde musste Lorelai sich eingestehen, dass sie diesen Blick gar nicht so unsympathisch fand. »Du meinst, ich werde nicht eingeladen?«, wiederholte Jason. »Na, das werden wir ja sehen.« Womit Jason und Lorelai – ganz ohne dass Moni es darauf abgesehen gehabt hätte – wohl eine Art Wette geschlossen hatten. Doch davon ahnte ich natürlich überhaupt nichts, als ich endlich das Haus meiner Großeltern betrat. Mom stellte Jason und mich einander vor. »Hallo, Scooper«, sagte ich und drückte ihm die Hand. »Digger!«, warf Mom ein. »Jason«, sagte Jason rasch. »Ach so, ja ‘tschuldigung«, verbesserte ich meinen Fauxpas schnell. Aber ob »Baggerer« oder »Angraber« – das ist ja eigentlich auch egal, oder? »Jason?«, rief mein Großvater in diesem Moment von der Terrasse ins Haus. »Ich habe wohl die falsche Taste gedrückt. Jetzt ist alles dunkel.«
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»Ich komme!«, rief Jason zurück. Dann eilte er hilfsbereit zu seinem Kompagnon. Mom und ich hatten einen Augenblick für uns. »Und? Wie sieht es aus?«, wollte Lorelai wissen. Ich hob ratlos die Schultern. »Um ehrlich zu sein: etwas gemischt.« Ich hielt den Zeitungsausschnitt mit meinem Artikel zum »Nussknacker« schon in der Hand. »Meine Kritik ist erschienen. Und daraufhin wäre ich gestern Abend fast das Opfer einer Amok laufenden Ballerina geworden.« »Aber du hast überlebt? War’s sehr knapp?«, erkundigte sich Mom belustigt. »Es war wirklich alles andere als komisch«, berichtete ich zerknirscht. »Diese Frau hat mich vor allen Leuten angemacht.« »Ungeheuerlich!«, warf Mom ein. »Darf man Kritiker überhaupt kritisieren?« »Ich habe die Kritik hier«, sagte ich und drückte Mom den Zeitungsausschnitt in die Hand. »Mein Chefredakteur war begeistert. Aber mittlerweile frage ich mich, ob ich nicht doch zu weit gegangen bin. Du hast die Aufführung doch auch gesehen.« »Oh, ja, ich habe sie gesehen«, pflichtete Mom mir bei. »Leider.« Sie faltete den Artikel auseinander und begann zu lesen. »Oh, Gott!«, stieß sie plötzlich aus. »Mit der Grazie eines versoffenen Hafenarbeiters«, zitierte sie. »War es denn wirklich so schlimm?« »Du hast es doch selbst gesehen«, verteidigte ich mich. »Ja, stimmt«, meinte Mom. »Ha!«, rief sie dann. »Steht da tatsächlich, dass eine Fettrolle unter ihrem BH vorquillt? Und… Schweine auf Stelzen… Grazie eines Nilpferds…« »Aber das hast du alles selbst gesagt!«, erinnerte ich Lorelai.
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»Ja, ja, mag schon sein«, gab sie jetzt zu. »Aber wenn man es so schwarz auf weiß liest…« »Was soll ich jetzt tun?«, wollte ich von Mom wissen. In diesem Moment kam Grandma zurück ins Wohnzimmer. »Hallo, Rory, meine Liebe, da bist du ja. Schön, dass du gekommen bist. Hattest du eine anstrengende Woche in Yale?«, begrüßte sie mich. Dann schien sie mit ihren Gedanken aber schon wieder ganz woanders zu sein. »Richard, das Essen wird kalt!«, rief sie nach draußen, Richtung Terrasse. »Bitte, komm jetzt herein und schließ die Tür.« »Ich komme, ich komme!«, antwortete mein Großvater und kam zurück ins Wohnzimmer – gefolgt von Jason. Ich gebe zu, durch die offene Tür war es wirklich etwas frisch im Wohnzimmer geworden. Aber so zu Eis gefrieren, wie es meine Großmutter in diesem Moment tat, musste man eigentlich doch noch nicht. »Ah, Jason. Sie sind noch da?«, fragte sie mit der Herzlichkeit eines Gefrierschranks. »Aber ja, Mrs Gilmore. Ich würde doch niemals gehen, ohne mich zu verabschieden«, antwortete Jason. »Gut, Jason. Dann also auf Wiedersehen«, antwortete Grandma. »Richard«, wandte sie sich an ihren Mann. »Dann wollen wir jetzt essen.« »Ich will sie nicht länger aufhalten«, stimmte Jason zu. »Auf mich wartet auch noch ein Cheeseburger.« »Ein Cheeseburger!«, entfuhr es meinem Großvater. Eigentlich ist Grandpa nicht so schnell aus der Fassung zu bringen. Es sei denn, es handelt sich um schlechtes Essen und billige Weine. »Aber Jason, ein Cheeseburger ist doch kein vernünftiges Essen!« Er warf Emily bedeutsame Blicke zu. In knapp vierzig
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Jahren Ehe waren sie ein eingespieltes Team, und eigentlich war Emily in der Lage, aus Nuancen des Gesichtsausdrucks meines Großvaters abzuleiten, was das Gebot der Stunde war. Und das war in diesem Fall eine Einladung seines Kompagnons an den Familientisch. Aber heute stellte sich Grandma stur. »Warum denn nicht?«, entgegnete sie. »Ein Cheeseburger kann sehr gut sein! Wenn das Fleisch schmackhaft gewürzt und das Brot frisch ist.« Richard blieb geradezu die Luft weg. »Aber Emily! Seit wann bist du für Cheeseburger? Du kennst jedes Feinschmeckerlokal der Stadt, aber dass du jemals in einem Schnellimbiss einen Cheeseburger…« »Ich habe da so einen speziellen Stand«, fiel Jason ein. »Ich glaube, ich bin vier- bis fünfmal die Woche dort und pfeife mir Cheeseburger und Pommes rein.« »Emily, wir können auf keinen Fall zulassen, dass dieser arme Junggeselle sich fortlaufend von Fastfood ernährt!«, machte Richard seinen Wunsch deutlicher. »Warum denn nicht?«, gab Emily zurück und setzte ihr charmantestes Lächeln auf. »Wenn es ihm schmeckt. Nicht wahr, Jason?« »Bitte, machen Sie sich keine Umstände«, antwortete Jason mit genügsamem Tonfall. »Es macht mir wirklich nichts aus, vier- bis fünfmal die Woche das Gleiche zu essen…« »Aber das…«, warf Richard ein. »Emily!«, sagte er mit noch mehr Nachdruck in der Stimme. »Ich bin mir nicht sicher, ob das Essen reichen wird«, erklärte Grandma ihrem Mann unverhohlen. Moni und ich saßen auf dem Sofa und sahen der Darbietung gebannt zu. Mom hatte die Hände zu Fäusten geballt und sah so aus, als ob sie drauf und dran wäre, Jason anzufeuern. Auch wenn sie damit ihre Quasi-Wette verlieren würde.
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»Emily!«, sagte Richard nun mit bebender Stimme. »Mein Geschäftspartner«, begann er und betonte dabei jedes einzelne Wort klar und deutlich. »Mein Geschäftspartner geht jetzt aus unserem Haus, wo gleich der Tisch für das Abendessen gedeckt wird, und isst draußen, an einer Straßenbude einen Cheeseburger.« Dies war der Moment, da Grandma einsehen musste, dass sie verloren hatte – sofern sie die nächsten Jahre in halbwegs gutem Einvernehmen mit meinem Großvater verbringen wollte. Sie kniff die Augen ein wenig zusammen und senkte den Kopf. Als sie wieder aufsah, lag das strahlendste Lächeln auf ihrem Gesicht, das man sich nur vorstellen konnte. »Jason«, säuselte sie und war ganz Gattin eines einflussreichen, kultivierten Geschäftsmannes. »Dürfen wir Sie zum Abendessen einladen?« Jason rückte kurz an seiner Krawatte, als müsse er sich eilig ihres korrekten Sitzes vergewissern. »Mrs Gilmore«, antwortete er, und nun war es seine Stimme, die vor vermeintlicher Bewegung zitterte. »Niemals käme ich darauf, Ihre Einladung abzulehnen.« »Schön«, antwortete Emily, und ich hätte wetten können, dass zumindest für diesen Augenblick ihre Zunge Schlangenhaft gespalten war. »Dann werde ich in der Küche Bescheid sagen.« Damit verließ sie erhobenen Hauptes das Wohnzimmer. »Cheeseburger!«, sagte mein Großvater noch einmal fassungslos. Kurz und gut: Jason Stiles aß also mit uns zu Abend. Das Gespräch bewegte sich bevorzugt auf der Smalltalk-Ebene. Jason versuchte Grandma zu schmeicheln, indem er sie nach Restaurants befragte, die sich für ein Geschäftsessen eigneten. Den mikroskopisch großen Bonus, den er bei Emily damit gewann, verspielte er aber sofort wieder, als er sich nach einem Lokal mit einer etwas romantischeren
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Atmosphäre erkundigte. Woraufhin Emily kritisch nachfragte, warum denn ein Restaurant für ein Geschäftsessen gleichzeitig romantisch sein müsse. Zugegeben, so ganz leuchtete mir diese Verknüpfung auch nicht ein. Aber bevor ich genauer darüber nachdenken konnte, waren wir schon wieder bei einem anderen Thema. »In welchem Camp habt ihr euch damals noch mal kennen gelernt?«, wollte Grandpa Richard wissen. Mom schüttelte kurz den Kopf. »Keine Ahnung. Es hatte einen ganz komischen Namen. Ich weiß nur noch, dass es dort Kanus gab.« Sie warf Jason einen viel sagenden Blick zu. Offenbar ein Hinweis darauf, dass er die Geschichte, wie er das Kanu zum Kentern gebracht hatte und Mom daraufhin unfreiwillig baden gegangen war – mit einem weißen T-Shirt und ohne BH – jetzt nicht zum Besten geben sollte. »Komische Namen hatten diese Camps ja eigentlich alle«, meinte Jason und grinste Mom an. Etwa so, als müsse er gelegentlich mal eine Streicheleinheit dafür bekommen, dass er jetzt so brav gehorchte. Mom zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht mehr. Aber ich bin ja sowieso, noch bevor es zu Ende war, rausgeflogen«, meinte sie. »Hey, du bist aus einem Ferienlager geflogen?«, fragte ich nach. Ich entdecke immer wieder unbekannte Seiten an meiner Mutter. »Sie hat die Pferde freigelassen«, warf Grandma ein. »Sie fand, sie würden nicht richtig gehalten. Richard, wie hoch war doch gleich der Schaden, den die Versicherung regulieren musste?« »Ich müsste in den Akten nachsehen, Emily«, antwortete mein Großvater abwesend. »Also, ich fand es jedenfalls super dort«, riss Jason das Gespräch jetzt wieder an sich und sah mich an. Nichts gegen charmante Plauderer, aber ich fragte mich, ob Jason nicht als Alleinunterhalter auch einen
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guten Job machen würde. »Ich habe dort viele Freunde gefunden. Und deinen Vater habe ich auch kennen gelernt.« Das war natürlich eine Sache, die mich wieder etwas mehr interessierte. »Oh. Dad? Wirklich?« »Aber ja«, antwortete Jason. »Wir hatten zusammen ein Zimmer. Ein toller Sportler!«, meinte er anerkennend. »Und immer absolut fair.« »Um ehrlich zu sein«, fiel ihm Mom ins Wort, und in ihren Augen lag das charakteristische Funkeln, das Eingeweihten ankündigt, dass sie gleich einen kleinen Hammer loslässt. »Christopher hat dich gehasst. Erinnerst du dich nicht daran, wie er dir den Kopf in die Kloschüssel getaucht hast, weil du ihn beim Talentwettbewerb immer wieder unterbrochen hast?« Über Jasons Gesicht flog der Hauch einer Röte. »Was? Christopher soll mich…?« »Aber ja«, meinte Moni leichtfertig. »Daraufhin hast du erst gekotzt wie ein Reiher und nachher wolltest du dich abholen lassen.« Jason richtete sich kerzengerade auf. Er war plötzlich alles andere als der souveräne junge Kompagnon. Er war der Junge aus dem Camp, der von seinen Kumpels ordentlich eins auf die Nuss bekommen hatte. Wegen Großmäuligkeit. »Das… das hatte ich vollkommen verdrängt«, gab er zu. Auf Moms Gesicht lag ein zufriedenes Grinsen. »Wie gut, dass ich dir auf die Sprünge helfen konnte.« Es war eigenartig. Ich hatte eigentlich nicht das Gefühl, dass Moni Jason direkt unsympathisch fand. Aber sie ließ auch keine Gelegenheit aus, seine Erinnerung oder auch seine übrigen Wahrnehmungen unkorrigiert stehen zu lassen. Und dadurch sahen die Dinge für Jason nicht immer so lässig aus, wie er sie gern dargestellt hätte. Alles in allem beschloss ich, meine Antennen ein bisschen weiter auszufahren und meinen Radar auf
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Fein-Tuning zu stellen. Um sicher zu gehen, dass nicht ein paar ganz feine Schwingungen, die möglicherweise an diesem Abend die Atmosphäre zum ersten Mal durchdrangen, an mir vorbeischwirrten. Obwohl ich es lieber vermieden hätte, kam im Verlauf des weiteren Abends das Gespräch auch noch auf meinen Artikel in der Yak Daily News. Meine Großeltern hatten ihn schon gelesen. »Ich wollte es dir vorhin schon sagen«, sagte Emily und beugte sich mir herzlich zu. »Es war eine wunderbare Kritik! Wirklich hervorragend.« »Tja… äh… ich weiß nicht«, antwortete ich unsicher. »Vielleicht war ich doch etwas hart.« »Also, diese arme Solistin«, schaltete sich nun auch Grandpa ein und konnte ein Lachen kaum unterdrücken, »die hast du ja geradezu geschlachtet.« Seine Schultern zuckten. Am liebsten hätte er wohl laut losgewiehert. »Das war eigentlich gar nicht meine Absicht«, beteuerte ich zerknirscht. »Ich wollte unseren Lesern nur nichts vormachen. Ich wollte ehrlich sein.« »Nun, meine Liebe, du hast sie ganz ehrlich aufgeschlitzt!«, fuhr Richard im Jargon eines Metzgers fort. Nicht ohne Amüsement. »Nach allen Regeln der Kunst. Und dann hast du ihr die Gedärme herausgerissen.« »Und der Stift war dein Messer«, fügte Emily begeistert hinzu. »Spitz und scharf.« Ich fühlte, wie mein Magen einen Salto schlug. Was für eine dunkle Seite meiner Großeltern trat denn da zu Tage? Klang so der Triumph der eigenen Großeltern gegenüber der Niederlage eines fremden Mädchens? War doch etwas daran, dass der Mensch den Menschen ein Wolf ist? »Und die Sache mit dem Nilpferd und dem Schwein auf Stelzen«, fuhr Grandpa fort. Er konnte sich gar nicht mehr einkriegen – ich war allerdings ganz froh,
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dass es jetzt wieder etwas weniger blutrünstig zuging. Eher schon kindisch, möchte ich sagen. Trotzdem hatte Richard sichtlich Spaß. »Nein, wirklich! Einfach herrlich.« »Sie müssen diesen Artikel unbedingt lesen«, ließ sich jetzt sogar Emily zu Vertraulichkeiten gegenüber Jason hinreißen. »Er ist wirklich einmalig.« Dabei lächelte sie mich selig an. Wie die Löwin, der noch das Blut der Beute unter den Krallen gerinnt, ihre würdigen Nachkommen. Sofern Löwinnen lächeln können. »Ich würde mich freuen, wenn Sie mir eine Kopie davon machen«, antwortete Jason höflich. »Klingt ganz so, als hättest du einen überzeugenden Stil, Rory.« Ich warf Mom einen hilflosen Blick zu. Natürlich hatte ich mit Jason nichts zu schaffen – aber eine Art Schlächterin meiner Kommilitonen zu sein, gehörte nicht unbedingt zu den ersten Eindrücken, die ich bei einem fremden Menschen hinterlassen wollte. »Wahr ist natürlich auch, dass es ohne die Entwicklung des Menschen zum aufrechten Gang niemals ein so schlechtes Ballett hätte geben können«, zitierte meine Großmutter mich weiter. »Köstlich!«, schwärmte sie und schob sich genussvoll einen Löffel Dessert in dem Mund. »Seien wir doch mal ehrlich, Rory«, meinte Grandpa. Er schlug jetzt ganz den Ton des erfahrenen Geschäftsmannes an, eben jemand, der gern auf den Kern der Dinge kommt. »Wahrscheinlich hast du der Ballerina mit deiner Kritik den größten Gefallen ihres Lebens getan. Jetzt kann sie die Tanzerei bleiben lassen und in aller Ruhe etwas Vernünftiges tun. Wirtschaft studieren, zum Beispiel.« Und er hob sein Glas auf diesen Dienst, den ich damit der ganzen Menschheit erwiesen hatte.
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So ist es nun mal: Richard und Emily sind eben doch typische Großeltern. Während anderer Leute Enkel die reinsten unbegabten Nichtsnutze sind, ist Rory Gilmore ein engelgleiches Allroundtalent. Schön wär’s! In meinem tiefsten Innern hatte ich schon auf der Fahrt nach Stars Hollow einen bestimmten Schritt erwogen. Und das Gespräch bei meinen Großeltern, das mich als eine ihre Beute zerfleischende Hyäne hatte erscheinen lassen – wenn auch eine journalistisch durchaus begabte Hyäne –, hatte den Entschluss reifen lassen. Es gab nur eine Möglichkeit. Als ich am Montagmorgen nach Yale zurückkam, suchte ich ohne Umschweife die Redaktion der College-Zeitung auf. Hier war schon alles bei der Arbeit. Sogar Doyle, der sonst immer als Letzter kam, war schon da. Mit Schlips und Kragen. Er gab wieder einmal den Chefredakteur eines der wichtigsten Presseorgane unseres Landes. Lässig saß er auf der Ecke eines Schreibtischs und blätterte irgendetwas durch. »Doyle«, sprach ich ihn an. »Ich muss mit dir reden.« Doyle blickte auf. »Worüber?« »Über das Ballett. Ich möchte noch eine Kritik darüber schreiben.« Doyle sah mich überrascht an. Er zog eine Augenbraue in die Höhe. »Noch eine Kritik? Wir haben noch nie etwas zweimal rezensiert.« »Mag sein, aber diesmal wäre es wichtig«, antwortete ich. »Mir sind da noch ein paar Sachen eingefallen, die ich vergessen hatte. Und die die Leute unbedingt noch wissen sollten.« »Zum Beispiel?«, fragte Doyle. »Zum Beispiel… ach, eigentlich fast alles«, versuchte ich mich herauszureden. »Ich hatte ja gar keine Ahnung vom Ballett. Aber jetzt habe ich mich über das Wochenende noch richtig informiert. Und ich
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sehe ein paar Sachen in einem vollkommen anderen Licht.« Doyle sah mich abwartend an. »Ich… ich kann die Eintrittskarte auch gern selbst bezahlen, wenn es daran scheitern sollte«, haspelte ich weiter. »Das soll nicht das Problem sein.« »Das ist auch nicht das Problem«, antwortete der Chefredakteur und klappte die Mappe zu, in deren Inhalt er gerade geblättert hatte. »Aber das Stück wird nicht mehr gespielt.« »Wie? Es… es sollte doch die nächsten vierzehn Tage…« »Es ist abgesetzt worden, nach deiner Kritik«, sagte Doyle. »Oh.« Das musste ich erst einmal verdauen. »Aber ich muss es auch nicht unbedingt noch mal sehen«, fing ich mich dann. »Ich nehme einfach die alte Kritik und ergänze sie etwas. Oder noch besser: Was hältst du von einem Beitrag über die Ballerina? Ein Artikel allein über sie. Über ihren harten Alltag, ihre Trainingsstunden. Oder über ihre Sommerkurse in Miami.« »Im Zoo von Miami?«, fragte Doyle grinsend, während wir allmählich zu seinem Schreibtisch wanderten. »Ich meine, als Nilpferd…« Ich hatte den Verdacht, dass Doyle mich in diesem Moment nicht ganz ernst nahm. Dass er mich absichtlich auf Granit beißen ließ. Oder, um es anders auszudrücken, dass er mich durchschaut hatte. »Rory, jetzt reden wir mal Klartext«, begann er. Er setzte sich und knipste seine Schreibtischlampe an, obwohl es ein heller Morgen war. Trotzdem war es gut. Es erzeugte eine richtige Arbeitsatmosphäre. Ich setzte mich Doyle gegenüber an die andere Seite des Schreibtischs und sah ihn aufmerksam an. »Dein Artikel über den >Nussknacker< war sehr gut«, begann er. »Er war handwerklich brillant. Okay,
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vielleicht war er nicht ganz schmeichelhaft für das Ensemble. Aber es ist auch nicht deine Aufgabe, jemandem zu schmeicheln. Für eine Zeitung ist es wichtig, dass über das gesprochen wird, was in ihr steht. Und dieses Ziel hast du erreicht.« »Ja«, gab ich zu. »Aber auf Kosten anderer.« »Nein, Rory, so ist es nicht«, sagte Doyle. »Es ist egal, welche Arbeit man macht. Es sollte für alle und immer das Ziel sein, gute Arbeit zu leisten. Wenn wir Qualität nicht zu unserem obersten Ziel machen, dann leben wir alle irgendwann nur noch in der Mittelmäßigkeit. Auch wenn du nicht gerade zimperlich mit den Tänzern umgegangen bist«, fuhr er fort und lächelte jetzt versöhnlich. »Eigentlich können sie dir dankbar sein. Denn mit deiner unverhohlenen Kritik hast du ihnen die Chance gegeben, an sich zu arbeiten und sich zu verbessern.« »Im Nachhinein hätte ich es aber trotzdem lieber etwas feinfühliger gemacht«, wandte ich ein. »Einer richtigen Journalistin wäre so etwas wohl nicht passiert.« Jetzt wurde Doyles Lächeln breit. »Wir sind hier nicht in der Kuschel-Therapie«, sagte er. »Und was deine Professionalität betrifft: Du bist eine richtige Journalistin. Du schreibst für die Yak Daily News. Als Journalistin muss man manchmal unbequeme Wahrheiten verkünden – und vielleicht macht man sich auch Feinde. Wenn du das nicht aushältst, solltest du aufhören.« »Aufhören?«, fuhr ich auf. »Auf keinen Fall! Ich will weitermachen. Unbedingt… Ich…« »Gut«, fiel mir Doyle ins Wort. Er griff hinter sich, in eines der Ablagefächer, in denen er neue Themen sammelte. Er überreichte mir das Programm einer kleinen Musikgruppe. Eine Gitarre, zwei Leute und
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Musik aus den 60ern. »Hier«, sagte er und grinste mich verschwörerisch an. »Mach sie fertig.« Eigentlich hatte ich am Wochenende in Stars Hollow ja nur mit Mom über meinen Artikel reden wollen. Aber wie bereits bekannt, waren wir nicht so recht dazu gekommen. Jedenfalls nicht unter vier Augen. Dass auch Mom nicht dazu gekommen war, etwas mit mir zu besprechen, ging mir erst auf, als ich am Montagabend auf dem Weg in den Konzertsaal war. Mein Handy klingelte, bevor ich es hatte ausstellen können. Aber da die Aufführung noch nicht begann, nahm ich das Gespräch an. Es war Mom. Sie erzählte irgendwas davon, dass sie jetzt schon wieder nichts zu essen zu Hause hatte und dass Luke daran Schuld sei. »Seit wann ist Luke für dein Essen zuständig?«, wollte ich wissen. »Er ist nicht zuständig für mein Essen«, antwortete Mom. »Aber er ist zuständig dafür, dass ich jetzt nicht mehr in sein Cafe gehen kann.« »Weswegen?« »Wegen der Kaffeebecher und wegen Nicole.« Und dann berichtete sie mir von ihrem Streit und davon, dass sie sich selbst wohl auch etwas blöd benommen hatte. »Und was willst du jetzt tun?«, fragte ich. Es wurde allmählich dunkel im Saal. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis zwei Leute, eine Gitarre und Musik aus den 60ern ihren Auftritt hatten. »Ich will ihm klar machen, dass keine Mauer zwischen uns stehen darf, wenn Nicole jetzt wieder zu seinem Leben gehört«, antwortete Mom. »Und dass alles, was in seinem Leben passiert, auch mich etwas angeht. Immerhin sind wir befreundet.« Den letzten Satz sagte sie mit Nachdruck.
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»Aha«, sagte ich. »Dann hast du Luke sicher auch schon von Jason erzählt?« »Von Jason? Nein… äh… wieso?« »Na, die Spannung zwischen euch war doch fast schon mit Händen zu greifen«, versuchte ich einfach mal einen Vorstoß. Lorelai stutzte. »Sie war greifbar?«, wiederholte sie ungläubig, und es klang fast schon wie ein Zugeständnis. »Für alle?« »Nur für mich«, beruhigte ich sie. »Grandma und Gran dpa spüren so etwas nicht.« Moni seufzte unterdrückt. »Rory«, sagte sie dann. »Wäre das wirklich so verrückt?« »Was?« »Wenn wir mal miteinander ausgehen würden?« Ich stellte mich blöd. »Wer? Wir drei?« »Nein«, stöhnte Mom leicht ungeduldig. »Ich und… Jason.« »Hm«, machte ich. »Keine Ahnung. Vielleicht. Vielleicht auch nicht.« »Okay«, seufzte Mom. »Noch ist nichts entschieden.« »Hey, falls es dich noch interessiert«, wechselte ich dann das Thema. »Es gab keinen weiteren Krach mehr mit der Ballerina. Wir werden vermutlich keine engen Freundinnen, aber so ist es nun mal im Leben.« »Richtig«, stimmte Mom mir zu. »Und manchmal muss man eben tun, was getan werden muss.« Aus irgendeinem Grund durchzuckte mich bei diesen Worten die Erinnerung daran, was Doyle mir aufgetragen hatte. »Mach sie fertig!« Allerdings war ich nicht bereit, mich nur dem Willen meines Redakteurs zu beugen. Ich wollte mir ein unvoreingenommenes, objektives Bild dieser Veranstaltung machen.
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In diesem Moment gingen die Lichter aus. »Ich muss Schluss machen«, flüsterte ich Mom zu und schaltete mein Handy aus. »Michael row the boat ashore – Hallelujah!«, erklang es mit Inbrunst und zu Gitarrenklängen, während sich der Vorhang zum Kunstgenuss dieses Abends hob. Und während ich mir noch einmal meinen guten Vorsatz ins Gedächtnis rief, niemanden mehr fertig zu machen um meines journalistischen Triumphes willen, krallten sich meine Finger unter den Schmerzen, die die Musik meinen Ohren und meinem kulturellen Verständnis zufügte, krampfhaft zusammen.
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Ich erwähnte ja schon, dass das Wort »Kultur« ein äußerst dehnbarer Begriff ist, und während ich von nun an wohl immer häufiger die Gelegenheit haben würde, über die Art von »Kultur« zu schreiben, die auf einer Bühne stattfand, begannen meine Großeltern dem für sie wichtigsten kulturellen Ereignis des Jahres entgegenzufiebern: dem traditionellen HerbstFootballspiel zwischen den Universitäten Yale und Harvard. Ich weiß nicht, ob Grandpa sich vorgenommen hatte, bis dahin wieder ein bisschen Atmosphäre seines alten Colleges zu schnuppern, um am entscheidenden Tag auch so richtig bei der Sache zu sein. Jedenfalls überraschte er mich eines Abends mit der Ankündigung, dass er mich am nächsten Tag zum Mittagessen besuchen wollte. Jetzt saßen wir im Speisesaal, zusammen mit Paris, die uns auf dem Weg dorthin vor die Füße gelaufen war und die ich liebend gern abgewimmelt hätte – was mir aber nicht gelungen war. Weil Paris eine unnachahmliche Art hat, drauflos zuquatschen und sich in den Vordergrund zu spielen. Was gerade zwangsläufig dazu führte, dass Grandpa sie einlud, mit uns zu essen. Mit unseren Menütabletts und den Ketchup- und Senfbehältern aus Plastik auf den Tischen, ging es im Speisesaal von Yale weitaus weniger edel zu als im Esszimmer meiner Großeltern. Mein Großvater Richard schien sich hier aber fast wohler zu fühlen. Er taute richtig auf und erzählte jede Menge Geschichten aus seiner Studentenzeit. Die – ehrlich gesagt – auch nicht spektakulärer waren als die Dinge, die aktuell in Yale passierten. Aber ihm kam es wohl so vor.
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»Es war eine herrliche Zeit«, beendete Richard gerade mit gerührtem Lächeln einen Bericht darüber, wie er und zwei Mitbewohner seiner Wohneinheit gemeinsam den vierten Mann jede Nacht aus dem Fenster geworfen hatten. Umhüllt von zwei Matratzen wohlgemerkt, sodass er keinen körperlichen Schaden nahm. Trotzdem, ehrlich gesagt fand ich die Sache nur halb so lustig wie er. Wenn überhaupt. Paris aber schien vollkommen hingerissen zu sein. »Das ist eine wunderbare Geschichte, Richard«, hauchte sie. »Wirklich. Und ich möchte Ihnen sehr herzlich dafür danken, dass Sie sich die Zeit nehmen, uns aus Ihrer Studentenzeit zu erzählen, und dass Sie mich auch noch zum Essen einladen.« Ich ließ meinen Blick über den Tisch wandern, denn ich war auf der Suche, ob es irgendwo Servietten gab. Nicht, dass ich meinen Großvater nicht nett fand. Aber ich hätte Paris für ihr anbiederndes Gesülze zu gern das Maul gestopft. Grandpa Richard winkte ab. »Es ist mir ein Vergnügen, Paris. Wann hat ein älterer Herr wie ich schon die Gelegenheit, mit zwei hübschen jungen Damen zu essen? Und zwei so klugen noch dazu?« »Ach, Richard, Sie sind ein Charmeur«, säuselte Paris. Ich hätte ihr am liebsten den Kopf in den Salatteller gedrückt. Ich möchte ja nicht für prüde gehalten werden, aber die Art, wie meine Studienkollegin meinen Großvater anflirtete, fand ich doch etwas heftig. »Geht ihr denn zu dem großen Spiel?«, wollte Grandpa jetzt wissen. »Aber selbstverständlich!«, antwortete Paris wie aus der Pistole geschossen. »Ich habe mir schon vor einem Monat eine Karte gekauft.« »Na, dann sehen wir uns ja alle wieder«, meinte Richard zufrieden. »Emily und ich, wir kaufen gleich immer eine ganze Reihe Karten. Auch für dich, Rory.« »Danke«, antwortete ich etwas gepresst.
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»Richard?«, sagte in diesem Moment eine Männerstimme neben uns. Mein Großvater sah auf. »Asher!«, rief er dann, und sein Gesicht leuchtete. »Asher Flemming!« Während die beiden Männer voreinander standen und sich gegenseitig auf den Rücken klopften, rang Paris sichtbar nach Atem. »Dein Großvater kennt Asher Flemming?«, stieß sie leise aus. »Ich meine, ich wusste ja, dass Flemming ehemaliger Yale-Student ist und dass er hier ab und zu Kurse gibt. Aber dein Großvater… und dieser berühmte Schriftsteller…« Ehrlich gesagt, ich fand es ganz gut, dass Paris mal ein bisschen Ehrfurcht empfand. Okay, es war ja nicht vor mir selbst. Aber immerhin vor dem Freund des Mannes, der mein Großvater ist. Mich persönlich reißen Flemmings Werke nicht vom Hocker. Wie gesagt, ich will nicht als prüde gelten. Aber sie sind – wie soll man sagen? – eher eine Art Bettlektüre. Und irgendwie war ich schon bei seinem letzten Roman das Gefühl nicht losgeworden, dass Flemming all das aufschrieb, was er so rasend gern noch mal erleben würde. Und wozu die Damen seines Alters einfach keine Lust mehr hatten – um es mal so feinsinnig auszudrücken. »Ob ich für die Zeitung ein Interview mit ihm machen kann?«, überlegte Paris laut. »Und wenn ich das Interview mit ihm machen will? Immerhin ist Richard mein Großvater«, gab ich zu bedenken. Auf Paris’ Stirn erschien eine Zornesfalte. »Schon gut«, lenkte ich schnell ein. »So sehr ist mir in Wirklichkeit gar nicht danach.« In diesem Moment wandte sich Grandpa an uns: »Mädchen, ich möchte euch meinen Studienkollegen vorstellen. Den berühmten Asher Flemming.«
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Der Autor begrüßte uns. »Mr Flemming, ich… ich habe Sie neulich in dieser neuen Talkshow gesehen«, plapperte Paris gleich los. »Sie waren sehr gut.« Ein Urteil aus berufenem Munde!, schoss es mir durch den Kopf. Ob es einen anerkannten Schriftsteller interessierte, wie eine College-Studentin aus dem ersten Semester ihn fand? »Danke«, antwortete Ascher aber zu meinem Erstaunen. »Sehr nett von Ihnen.« Sein Gesicht zeigte eine Mischung aus Lächeln und Grinsen. »Doch, wirklich«, fuhr Paris fort. »Sie wirkten sogar halbwegs interessiert, als der Talkmaster Ihnen diese Fragen stellte, die ich, ehrlich gesagt, albern und dümmlich fand. Ich meine, ein Autor wie Sie muss sich doch nicht gefallen lassen, dass…« Rhabarber, Rhabarber, Rhabarber. Paris schwallte vor sich hin, und ich fragte mich, ob es irgendwo einen Knopf gab, mit dem man ihr Gelaber abstellen könnte. Andererseits hatte ich nun Gelegenheit, mir diesen Mr Flemming etwas genauer anzusehen. Klar, ich kannte ihn aus dem Fernsehen, und Fotos von ihm waren in sämtlichen Bücherjournalen zu sehen. Dafür, dass er das Alter meines Großvaters haben musste, wirkte er fast jugendlich. Er trug eine dunkle Jeans, ein Hemd mit offenem Kragen – mein Großvater hatte natürlich wieder eine Fliege angelegt und ein Einstecktuch in der Brusttasche – und hatte, während Paris plapperte, lässig eine Hand in die Hosentasche gesteckt. Ich gebe zu, er hatte eine gewisse Ausstrahlung. Die Ausstrahlung eines reifen Mannes, der das Leben kennt; der es genießt, und für den die Kleinigkeiten des Alltags keine Rolle spielen. Eben ein Mann, der im Laufe der Zeit gelernt hatte, worum es wirklich ging: um ordentliche Weine und guten Sex! Ich schaltete mich wieder zu, als Paris diesen berühmten Autor ziemlich unverfroren um einen
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Interview-Termin angeramscht hatte. Am besten gleich am nächsten Tag. Mr Flemming lächelte verbindlich. »Ich muss meine Termine noch koordinieren«, antwortete er etwas ausweichend. »Natürlich, natürlich«, pflichtete Paris schnell bei. »Schließlich haben Sie ja Lehrveranstaltungen… Ich meine, Sie müssen Ihre Rechnungen ja auch zahlen können, nicht wahr?« Wenn sie sich nur hören könnte, was für dummes Zeug sie schwätzte. Ein Autor mit solchen Auflagenzahlen! »Richard, wollen wir nächste Woche mal miteinander essen gehen?«, fragte Mr Flemming, während er sich von meinem Großvater verabschiedete. »Sehr gern, Asher, sehr gern«, antwortete Grandpa. Flemming nickte uns noch zu, dann ging er davon. »Ach, Mr Flemming!«, schrie ihm Paris in diesem Moment durch den ganzen Speisesaal nach. Dazu winkte sie heftig. »Ich wollte noch sagen: Ich bin Ihr Fan!« Wie heißt es noch? Seine Familie kann man sich nicht aussuchen. Seine Studienkollegen aber auch nicht! Als Tochter ist man ja sensibel, man bekommt Dinge mit, die andere nicht mitbekommen. Je öfter ich mir das Abendessen am vergangenen Freitag bei meinen Großeltern ins Gedächtnis rief, umso klarer wurde mir, dass schon zu diesem Zeitpunkt bestimmte Schwingungen in der Luft gelegen hatten. Schwingungen zwischen Mom und Jason Stiles. Ich kannte Jason überhaupt nicht. Umso mehr interessierte es mich, etwas über ihn zu erfahren. Es war nicht leicht, in dieser Hinsicht etwas aus Mom herauszubekommen. Alles, was mir bis jetzt klar war,
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war die Tatsache, dass Jason so etwas wie eine bewegte Jugend gehabt haben musste. Denn einen Spitznamen wie »Digger« erhielt man wohl nur aufgrund spezieller Verdienste und Vorlieben. Ich fand eigentlich nicht, dass dies ein Hinderungsgrund für Mom sein müsste, sich mit ihm zu treffen. Schließlich ist Mom auch nicht gerade das, was man ein unbeschriebenes Blatt nennt. Gott sei Dank, übrigens! Ich erinnere nur an die Probleme, die Lane mit ihrer zugeknöpften Mutter hat. Trotzdem schien Mom irgendwie zu zögern. Dabei gab Jason sich offenbar alle Mühe. Er schickte Mom ständig etwas mit der Post, keine Briefbomben, sondern Blumen und Schokolade. Und er rief laufend an und bezirzte sie, doch endlich einmal mit ihm auszugehen. Auch an diesem Tag blinkte wieder das Kontrolllämpchen des Anrufbeantworters, als Mom nach Hause kam. Sie drückte auf die Taste zum Abhören der Nachrichten. »Lorelai Gilmore«, hörte sie Jasons Stimme. »Hier ist Jason Stiles. Ich weiß, dass ich mich unwürdig verhalte. Jeder andere vernünftig denkende Mann an meiner Stelle hätte längst eingesehen, dass diese Sache wohl aussichtslos ist. Dass dich Blumen, Konfekt und ungezählte Anrufe völlig kalt lassen. Er hätte verstanden, sich seinen Stolz bewahrt und die Sache einfach abgehakt. Aber ich will trotzdem einen neuen Versuch wagen. Also, Lorelai Gilmore, Tochter von Richard und Emily, Mutter von Rory und die schönste Frau der westlichen Hemisphäre – würdest du am Samstagabend mit Jason Stiles essen gehen? Du würdest einen armseligen Wurm zutiefst glücklich machen. Bitte ruf mich an.« Klick. Der Anruf war beendet. Lorelai musste grinsen. Jason war charmant, ganz ohne Frage. Trotzdem seufzte sie kurz auf. Dann nahm sie das Telefon und rief Jason an.
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»Jason Stiles?«, meldete er sich am anderen Ende der Leitung. »Hallo, Jason. Hier ist Lorelai«, antwortete Mom. »Soll das ein Witz sein?«, fragte Jason. »Nein«, entgegnete Lorelai. »Warum?« »Weil ich mit diesem Anruf nie gerechnet hätte«, sagte Jason, und irgendwas in seiner Stimme löste einen angenehmen Schauer in Lorelai aus. »Hör zu, Jason«, sagte sie, während sie zum Sofa ging. Sie setzte sich und lehnte sich zurück. Eigentlich hatte sie keine Lust auf das, was sie gleich sagen würde. Andererseits sah sie keine Alternative. »Bevor du weiterredest«, schaltete Jason sich aber schnell wieder ein, »lass mich dir eins sagen: Ich habe einen Tisch im angesagtesten China-Restaurant unserer Stadt reserviert.« Angefixt! Moni spürte es sofort. Chinesisches Essen ist etwas, wofür sie und ich beinahe alles tun. Aber eben auch nur beinahe! Trotzdem war sie neugierig. »Wie hast du das geschafft?«, wollte sie wissen. »Beziehungen«, antwortete Jason cool. »Schmiergelder an ein Dutzend Leute, und ich musste mit dem Sous-Chef ins Bett gehen.« Moni kicherte. »Dir scheint echt etwas daran zu liegen…« »Also, um es kurz zu machen«, fuhr Jason fort. »Am Samstagabend um 20.30 Uhr. Ich hol dich ab. Und zieh das Kleine Schwarze an.« Lorelai biss sich auf die Lippen. Wie gern hätte sie einfach zugesagt. »Ich muss zugeben, ich bin wirklich versucht«, sagte sie, und selbst in diesem Moment schwankte sie noch in ihrem Entschluss. »Aber es ist nun mal so, wie es ist«, fuhr sie dann rasch fort. »Du bist der Partner meines Vaters und das Hassobjekt meiner Mutter. Das… das ist mir einfach alles zu nah…«
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»Bin ich dir widerlich?«, fragte Jason. »Oder hast du mir die Sache mit dem Kanu noch immer nicht verziehen?« Lorelai schloss die Augen. Jason hatte eine unglaubliche Art, gleichzeitig Gefühlvolles und Ironisches zu sagen. Damit musste sie erst einmal klarkommen. Auch wenn sie sich eingestehen musste, dass ihr beides ziemlich gut gefiel. »Weder das eine noch das andere«, antwortete sie. »Auch wenn ich beide Fragen lieber ganz einfach mit Ja beantworten würde.« Ich weiß nicht, wann Mom das letzte Mal einem Mann gegenüber ein solches Zugeständnis gemacht hatte. Als sie es sagte, muss ihr selbst klar gewesen sein, dass dies durchaus ein Zeichen war. »Okay«, sagte Jason, und das Seufzen in seiner Stimme war nur einen Moment lang zu hören. »Da ich den Tisch nicht mehr abbestellen kann, werde ich allein hingehen und essen. Ich kann dir ja dann berichten, ob an dem Wirbel, der um den Laden gemacht wird, wirklich etwas dran ist.« Lorelai musste kurz schlucken. Auch wenn alles so gelaufen war, wie sie es gewollt hatte. »Es tut mir Leid, Jason.« »Kein Problem«, sagte Jason. »Aber ich wette, du siehst toll aus im kleinen Schwarzen.« Lorelai kicherte geschmeichelt. »Stimmt«, meinte sie. »Also, mach’s gut, Lorelai«, verabschiedete sich Jason. »Du auch, Jason«, antwortete Mom. Dann legte sie auf und betrachtete noch eine Weile lang nachdenklich das Telefon. Es ist nicht so, dass die Wochenenden, die Mom und ich gemeinsam verbringen, das Heißeste sind, was man sich vorstellen kann. Für den kommenden Sonntag hatten wir uns zum Beispiel vorgenommen,
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einfach nur zu relaxen. Wir wollten zu Hause einen Wellness-Tag verbringen, uns mittags etwas vom Chinesen bringen lassen und nachmittags bei einem schönen Video-Klassiker ein paar Stücke Schokoladenkuchen verdrücken. Schließlich standen für mich bald die Winterprüfungen ins Haus, und dann sollte ich keine Minute mehr haben, in der ich an Wellness, Schokokuchen und Video auch nur denken konnten. Vor den Sonntag hatten die Götter natürlich zuerst einmal den Freitagabend gesetzt, und der fand – wie üblich – bei meinen Großeltern, bei Richard und Emily, statt. Ich gebe zu, der Braten war köstlich. Und eigentlich war die Atmosphäre auch ganz locker. Längst nicht mehr so angespannt, wie sie früher gewesen war. Wie sie noch bis vor kurzem gewesen war, um es genauer zu sagen. Oder, um es ganz genau zu sagen, so angespannt, wie sie gewesen war, bevor Jason Stiles am Horizont aufgetaucht war. Irgendwie machte ihn mir das sympathisch. Nicht, dass ich ernsthaft darunter gelitten hätte, dass der Haussegen bei den Gilmores immer latent schief hing. Aber irgendwie entspannter war es so schon. Richard und Emily schwatzten irgendetwas vor sich hin. Über riesige leuchtende Rentiere, die die Nachbarn zu Weihnachten auf ihr Hausdach stellen wollten. Und über Lichterketten, die sie aber nur einschalten dürften, wenn sie nicht gleichzeitig auch das Rentier beleuchteten. Weil nämlich sonst der Rat der Eigentümer auf den Plan gerufen werden müsste… und so weiter und so fort. Moni sah mich ratlos an. Ich zog ein ergebenes Gesicht und legte mir noch eine Scheibe Braten auf den Teller. Fleisch beruhigt ja die angriffslustigsten Gemüter. Sagen jedenfalls erfahrene Safari-Jäger.
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Mom nahm keinen Braten, und entsprechend schien ihr jetzt das Geschwätz über die Nachbarn auf die Nerven zu fallen. »Sagt mal«, platzte sie in die angeregte Unterhaltung meiner Großeltern. »Habt ihr euch eigentlich selbst schon mal zugehört? Ist euch das die Luft zum Atmen wert, euch immer über die Nachbarn zu ärgern?« Emily und Richard sahen sich einen Moment lang an. Ich kenne ihren geheimen Code nicht, aber er besteht aus in die Höhe gezogenen Augenbrauen, herabgezogenen Mundwinkeln und vielleicht auch noch geheimnisvollem Augenblinzeln oder was weiß ich. Jedenfalls verständigten sie sich sofort darauf, dass hier erstens Haltung bewahrt werden müsse – man lässt sich nicht so einfach von diesem Gör von Tochter zur Ordnung rufen – und dass zweitens möglichst elegant das Thema zu wechseln sei – damit das Gör von Tochter nicht weiter in Versuchung kam, dummes Zeug zu reden. »Ich werde mich nächsten Samstag um diese Angelegenheit kümmern«, versprach mein Großvater Richard seiner Frau. »Apropos Samstag«, schwenkte er dann um. »Nun, Rory, wir treffen uns also morgen pünktlich um neun Uhr.« Ich hatte geahnt, dass es so kommen würde. Dabei bin ich wirklich keine Frühaufsteherin. Und schon gar nicht an einem Samstagmorgen. Aber ich nickte brav. »In Ordnung. Gern. Ich freue mich schon.« Mom sah auf. »Morgen um neun? Was um Himmels willen ist denn morgen um neun?« Auch sie lässt sich nicht gern um diese Zeit wachklingeln. Meine Großmutter sah sie mit einer gewissen Herablassung an. »Na, das Spiel«, antwortete sie.
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»Das Spiel? Was für ein Spiel?«, fragte Mom verwirrt. »Das Spiel des Jahres«, erklärte Grandpa mit Nachdruck. »Harvard gegen Yale.« »Harvard gegen Yale«, wiederholte Mom nachdenklich. »Du meinst Football?« »Ob ich Football meine?« Mein Großvater riss hilflos seine Arme in die Höhe. »Natürlich meine ich Football! Was denkst du denn? Minigolf?« Zugegeben, Mom und ich sind keine großen Sportskanonen. Und bis zu meinem ersten Semester in Yale hatte ich auch nicht so richtig gewusst, dass es dieses große Herbst-Footballspiel gab, geschweige denn, worum es dabei ging. Eigentlich sollte man ja denken, dass sich die Konkurrenz zwischen Universitäten vor allem auf wissenschaftlichem Gebiet abspielt. Im Fall von Harvard und Yale hatte man sich aber auf ein völlig anderes Terrain geeinigt, nämlich auf den Sport. Ich weiß nicht, ob es sich dabei um ein klammheimliches Eingeständnis handelte, nach dem Motto: Was man nicht im Kopf hat, hat man in den Beinen… Klar war aber auch, dass ich ausgerechnet diese Frage den Wettstreitern unmöglich stellen konnte. »Also, es ist ein Footballspiel«, nahm Richard den Faden wieder auf. »Und ganz Yale und alle, die sich dem College verbunden fühlen, werden dabei sein.« »Oh«, machte Mom. »Cool.« Sie zögerte, und dann setzte sie zu einer der größten Überraschungen an, die sie ihrer Familie je bereitet hatte. Oder mir zumindest. Denn ich schätze, die Tatsache, dass es mich gibt, war wahrscheinlich die allergrößte Überraschung, die Mom ihren Eltern hatte bereiten können. »Kann ich mit?« Emily sah Mom an, als wäre ihre Tochter nicht mehr ganz bei Trost. »Du willst mit? Zu einem Footballspiel?«
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»Klar«, antwortete Mom strahlend. »Warum denn nicht? Auf diese Weise habe ich ein bisschen länger etwas von Rory. Bevor sie sich zum Lernen hinter ihrem Schreibtisch verbarrikadiert und niemanden mehr an sich heranlässt. Außerdem ist Yale Rorys Uni. Und ich bin immerhin ihre Mutter. Also habe ich mit Yale auch etwas zu tun.« Mom trug ihre Argumente wirklich engagiert vor. Aber ich muss sagen, auch ich war von ihrer plötzlichen Begeisterung für den Sport etwas überrumpelt. Meine Großeltern tauschten ein paar unsichere Blicke. »Haben wir noch eine Karte?«, wollte Grandma von Grandpa wissen. »Wir… wir werden jemanden ausladen müssen«, antwortete Richard nachdenklich. Dann erhob er sich vom Tisch. »Ich werde Cecil anrufen. Sicher hat er eine Möglichkeit, sich anderweitig noch eine Karte zu besorgen.« »Gut«, sagte Emily und erhob sich ebenfalls. »Ich werde seine Frau anrufen und ihr die Dinge aus Frauensicht erklären.« Damit verließen beide das Wohnzimmer. »Weißt du eigentlich, was du da gerade getan hast?«, fragte ich Mom. »Nichts. Wieso? Ich will zu einem Footballspiel mitkommen.« »Aber du hasst Football«, erinnerte ich sie. Mom nickte. »Stimmt. Aber du doch auch.« Ich zuckte die Schultern. »Ich habe kaum eine andere Wahl. Es macht einen schlechten Eindruck, wenn man in Yale studiert und sich beim Spiel nicht blicken lässt.« Mom winkte nur ab. »Ich werde es schon überleben. Ich meine, die Stunde… oder wie lange dauert ein Footballspiel? Eineinhalb vielleicht?«
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Ich weiß genau, dass ich nichts gesagt habe. Aber so wie Emily und Richard ein eingespieltes Team sind, sind Mom und ich es wohl auch. Jedenfalls ging ihr urplötzlich auf, dass sie für das berühmte HerbstFootballspiel von Harvard gegen Yale gut und gern den ganzen Samstag einkalkulieren konnte. »Oh, nein!«, meinte Mom und biss sich auf die Lippen. »Emily!«, rief Richard im Wohnzimmer nebenan seiner Frau zu. »Es ist alles geregelt. Ich habe mit Cecil gesprochen.« »Das Gleiche wollte ich dir auch gerade sagen, Richard«, antwortete Emily. »Ich habe mit Cecils Frau gesprochen.« »Zu spät!«, stellte ich fest und sah in Monis erschrockenes Gesicht. Jedenfalls konnten wir uns jetzt alle auf einen fabelhaften Familienausflug auf dem Footballplatz freuen! Das hatten wir uns schon lange gewünscht. Vor allem Moni und ich!
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Es war zwischen Tau und Tag, als Mom und ich in Lukes Cafe saßen. Ich fror trotz meines Rollkragenpullis, den ich sozusagen bis zu den Ohren hochgezogen hatte. Samstagmorgen gegen acht im Cafe zu sitzen und dazu noch zu frieren, weil es Herbst ist und weil man notorisch unausgeschlafen ist – ich finde, es ist ganz schön viel, was Yale seinen Studenten abverlangt. Mom hatte ihren Kopf auf die Tischplatte gelegt. Ihre dunklen Haare umwallten sie. »Football«, jammerte sie. »Ich hasse Football.« »Ich weiß«, antwortete ich und sah mich nach Luke um. Mom und ich waren es eigentlich gewöhnt, dass es bei Luke schnell ging. Okay, vielleicht dafür nicht immer ganz freundlich. Manchmal war Lukes Ton etwas rüde. Zumindest gewesen. Seit kurzem hatte sich das geändert. Luke war die Freundlichkeit in Person, entspannt und lustig. Im ersten Moment hatten Mom und ich uns diese Wesensänderung dadurch erklärt, dass Nicole wieder aufgetaucht war. Der wahre Grund war aber ein ganz anderer: Luke hatte sich – endlich – eine Aushilfe zugelegt. Brennon hieß der junge Mann, der ihm jetzt zur Hand ging. Und während Luke immer noch sozusagen im siebten Himmel schwebte – falls man das bei einer derart unromantischen Angelegenheit so ausdrücken darf –, waren Lukes Kunden alles andere als begeistert. Brennon war wirklich nicht das, was man sich unter einer perfekten Service-Kraft vorstellte. Er war kaum in der Lage, die Bestellung richtig aufzunehmen, geschweige denn, sie auch noch richtig an die Küche weiterzuleiten. Dazu hatte er eine irgendwie schmuddelige Art.
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Das war zumindest der Eindruck, den ich persönlich von Brennon hatte und der sich auf eine Erfahrung in meiner früheren Jugend gründete. Brennon und ich kannten uns von der Junior-HighSchool. Oder besser gesagt: Ich kannte ihn. Er erinnerte sich nicht mehr an mich, wie ich feststellen musste. Allerdings ist keine Erinnerung ja manchmal besser als eine schlechte. Und die Erinnerung, die ich an Brennon hatte, war alles andere als angenehm. Es geschah im Biologie-Kurs. Wir mussten Frösche sezieren. Bei dem Gedanken daran könnte mir heute noch schlecht werden. Da lagen diese Viecher also vor uns auf dem Rücken, tot und kalt, und zeigten uns ihre fahlen, hässlichen Bäuche. Der ganze Raum stank nach Formalin. Es war einfach widerlich. Ich war froh, als die Stunde um war. Ich glaube, ich bin eigentlich frei von den meisten Zwängen. In diesem Moment aber hätte ich einen regelrechten Waschzwang entwickeln können. Ich wusch mir stundenlang die Hände, so sehr ekelte ich mich. Nicht so Brennon. Auch er hatte seinen Frosch seziert. Er hatte sich sogar ganz besonders hervorgetan und die verschiedenen Einzelteile dieses Frosches – Lunge, Magen, Hirn – mit seinem Sezierbesteck in die Höhe gehalten und allen anderen gezeigt. Ich schwöre, ich habe ihn anschließend keinen Augenblick am Waschbecken beim Händewaschen gesehen! Und eine Viertelstunde später hat er mit seinen Froschfingern sein Pausenbrot gegessen. Igitt! Genau dieser Brennon also arbeitete jetzt in Lukes Cafe. Moni drehte ihren Kopf auf der Tischplatte zur Seite. »Kaffee?«, murmelte sie wie kurz vor der Ohnmacht. »Gibt es hier Kaffee?«
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»Keine Bange. Froschi ist schon unterwegs«, konnte ich sie beruhigen, weil in diesem Moment Brennon hinter dem Tresen hervorkam. Moni zog die Oberlippe seitlich in die Höhe. »Ich hasse den Kerl«, sagte sie leise. Eigentlich war das gegen die Abmachung. Denn ausgerechnet Mom hatte dafür plädiert, ihm eine Chance zu geben. »Er hat mir neulich ein Chili-Bohnen-Omelett mitten auf den Schoß serviert«, erklärte sie dann aber ihre plötzlich Abneigung. »Guten Morgen, Chicas!«, begrüßte Brennon uns überschwänglich. »Was darf es denn sein?« »Kaffee!«, erklärte Mom mit Nachdruck. Sie war jetzt wirklich kurz vor dem Koma und eigentlich daran gewöhnt, dass ihr immer gleich eine Tasse Kaffee serviert wurde, sobald sie Lukes Cafe betrat. Kaffee, eines der Lebenselixiere der Lorelai Gilmore, neben chinesischem Essen natürlich. In diesem Moment wurde die Tür aufgestoßen. Lane kam herein. Sie trug eine Schachtel im Arm und knallte sie auf den Tisch. »Brennon!«, fauchte sie. »Immer dasselbe! Das hier sind Donuts. Und keine Bagels.« Brennon wischte sich ein wenig verlegen die Hände an seinem T-Shirt ab. Dem T-Shirt wohlgemerkt, das er schon seit einer Woche trug. »Wo ist dein Problem?«, erwiderte er. »Die haben doch beide Löcher.« »Brennon?«, erklang in diesem Moment hinter uns Kirks Stimme. »Hättest du bitte eine Serviette für mich?« Brennon drehte sich herum. »Bitteschön.« Einen Augenblick herrschte Stille. »Hättest du bitte eine Serviette für mich, damit ich meine Serviette anfassen kann?«, fragte Kirk dann mit deutlich angewiderter Stimme.
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Mom und ich drehten uns um. Aus Brennons schmuddeliger Gesäßtasche fledderten einige Papierservietten heraus. Offenbar hatte er Kirk aus genau dieser Quelle bedient. »Jetzt reicht’s!« Mom war plötzlich hellwach. Sie stand auf und ging zum Tresen, hinter dem in diesem Moment Luke erschien. »Luke«, sagte sie. »Das Leuchten in deinen Augen ist verschwunden.« »Wie bitte?« »Ja«, sagte Mom und wiederholte: »Das Leuchten in deinen Augen ist verschwunden, und ich fürchte, ich kenne den Grund: Brennon!« »Also, Lorelai, da musst du dich aber sehr täuschen«, antwortete Luke. »Ich weiß überhaupt nicht, was ich ohne Brennon täte. Er ist mir eine große Hilfe, und er…«Weiter kam er nicht. Mom lehnte sich vornüber und eröffnete Luke ein paar Wahrheiten über seine neue Hilfskraft. Was sie genau sagte, weiß ich nicht, denn erstens war ich mit Lane am Tisch sitzen geblieben, und zweitens waren ihre Worte ja für Luke bestimmt und nicht für den ganzen Laden. Ich hörte nur wieder, als Luke eindringlich zu Mom sagte: »Du musst ihm eine Chance geben, Lorelai Brennon«, rief er daraufhin seine Kraft zu sich, die gerade mit Lanes Schachtel Donuts in der Küche verschwunden war. Brennon steckte den Kopf aus der Tür. »Was ist?« »Schenk Miss Gilmore doch bitte einen ordentlichen heißen Kaffee ein«, sagte Luke, während er eine seiner größten Kaffeebecher vor Lorelai auf den Tresen stellte. Woraufhin Brennon eine Kanne von der Warmhalteplatte nahm und Mom einschenkte. Tee. Football allein ist schon schlimm. Football an einem Samstagmorgen ist noch schlimmer. Und das
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Schlimmste ist Football an einem Samstagmorgen ohne Frühstück im Bauch. Mom und ich kauerten gerade an einem Mauervorsprung, um uns gegen den kalten Wind zu schützen und ein paar karge Sonnenstrahlen zu erhaschen, als eine begeisterte Stimme an unsere Ohren drang. Sie gehörte meiner Großmutter Emily. »Hallo, Kinder!«, rief sie gut gelaunt. »Na, das klappt ja prächtig«, meinte Grandpa Richard und rieb sich vor Vorfreude die Hände. »Ich hatte schon Befürchtungen, dass wir uns nicht finden könnten.« Sie wirkten beide aufgekratzt wie Teenager. Ich weiß, das ist ein altmodisches Wort. Aber in diesem Moment passte es einfach, vor allem zu ihrem Outfit. Sie hatten sich beide das angezogen, was sie für ein Footballspiel für angesagt hielten. Und zumindest wird das in den 80er-Jahren ja auch der Fall gewesen sein. Oder in den 70ern. Grandma trug ein Sweatshirt mit einem großen Emblem der Universität Yale. Dazu einen Button mit der Aufschrift: »Zur Hölle mit Harvard!« Ihren Kopf zierte eine Sonnenkappe mit überdimensionalem Schirm, auf dem ein nicht zu übersehendes »Y« prangte. Über dem Arm trug sie noch eine Jacke, von der man mit Sicherheit annehmen konnte, dass sie ebenfalls irgendeinen Aufdruck von Yale aufwies. Da ich meine Großmutter sonst nur in ihren erlesenen Kleidern kannte, wirkte ihr Outfit auf mich wie eine Verkleidung. Auch wenn die edle Jeans und ihre weißen Turnschuhe, die sie sportlicherweise angelegt hatte, wahrscheinlich etwa das halbe durchschnittliche Jahreseinkommen eines Angestellten gekostet hatten. Richard sah nicht wesentlich unkomischer aus. Er trug eine Baseballkappe mit der Aufschrift »Yale« und zu seiner Baseballjacke – selbstredend mit einem Y auf der Brust – einen langen blau-weißen Schal, der
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aussah, als hätte ihn meine Großmutter gestrickt, als Richard noch studierte. Es heißt ja, man soll sich »kein X für ein U vormachen« lassen. Und dass sich die sportlichen Ambitionen meiner Großeltern vor allem im Bereich der Zuschauerplätze bewegten, darüber konnten selbst die zahlreichen Ypsilons nicht hinwegtäuschen. »Lorelais«, stieß Grandma aus, sobald sie Mom in Augenschein genommen hatte. »Wie siehst du denn aus?« Um ehrlich zu sein – meine Großmutter hatte an diesem Tag keinen Grund, sich allzu weit aus dem Fenster zu lehnen, bei ihrem Outfit. Und außerdem: Mom hatte weder ein knallenges Kleid an noch eines, das ihren knackigen Po vielleicht weniger bedeckte, als Ladies wie meine Großmutter dies für anständig hielten. Dennoch war Emily unzufrieden. »Du trägst ja Karmesin!« Mom sah an sich herab. Sie trug Jeans, ein rotes T-Shirt und eine Weste. Stimmt, das T-Shirt war rot. »Das geht auf keinen Fall«, stellte Grandma fest. »Rot ist die Farbe von Harvard.« Damit hängte sie blitzschnell Mom ihre Jacke über, die sie noch in der Hand gehalten hatte, und legte ihr ihren Schal um. »Sonst können wir uns mit dir nicht blicken lassen«, stellte sie fest. Mom war viel zu müde, um zu protestieren. Sie warf mir nur einen kurzen, wehleidigen Blick zu, weil ich einen weißen Pullover trug und damit vor Emilys strengen Blicken bestehen konnte. Und dieser Pullover aus dem Kleiderschrank von Mom stammte. Dann zogen wir los. Das heißt, wir wären losgezogen. Denn jetzt zog mein Großvater plötzlich einen Flachmann aus der Tasche. Nicht dass meine Großeltern abstinent lebten. Aber dass Richard mit Schnaps in der Tasche herumläuft, das wunderte mich nun doch.
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»Es gibt eine Reihe von Ritualen und Aktionen, an denen wir Gilmores teilnehmen werden, bevor um ein Uhr das Spiel beginnt«, erklärte er. »Wie bitte?«, entfuhr es Mom. »Um ein Uhr? Und warum treffen wir uns dann schon um neun?« »Um alle diese Rituale und Aktionen mitzumachen«, antwortete Grandpa. Er teilte an jeden einen kleinen Schnapsbecher aus und schenkte ein. Mir allerdings aus einem Extra-Flachmann. Einem extra schwach alkoholischem. »Als Erstes stoßen wir an. Auf den erfolgreichen Verlauf des Tages. Prost.« Wir hoben unsere Becher und kippten das Zeug hinunter. Mom und ich auf nüchternen Magen, wohlgemerkt. Es schüttelte uns geradezu. Auch mich. Obwohl ich ja die abgeschwächte Variante hatte. »Und jetzt gehen wir zu Dan«, sagte Richard. »Dan war das erste Maskottchen von Yale«, erklärte Grandma, und ihre Stimme hatte einen ungewohnt herzlichen Klang. Vielleicht sollte sie öfter mal morgens einen Schnaps trinken? Mir war gleich klar, dass es für Moni und mich in diesem Augenblick ganz günstig war, etwas benebelte Sinne zu haben. Der Besuch bei einem Maskottchen – schön und gut. Der Besuch bei einem ausgestopften Maskottchen, und zwar einem weißen Bullterrier in einer Glasvitrine, gehörte jedoch eindeutig in ein Universum, das es eigentlich nur parallel zu dem von Mom und mir geben konnte. Nachdem Grandma an Dans Schrein ein paar warme Worte verloren hatten, stießen wir gleich noch einmal an. Auf Dan und auf Yale. »Na ja«, meinte Mom und betrachtete nachdenklich ihren Schnapsbecher. »Vielleicht ist Football ja doch gar nicht so schlecht.« Und dann stießen wir wieder an. Und zwar darauf, dass sich nun endlich Grandpas Traum erfüllte und er diesen schönen Tag gemeinsam mit seiner Enkelin begehen konnte. Das fand ich süß und richtig rührend,
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ehrlich. Trotzdem war ich froh, dass es mir gelang, den Inhalt meines Bechers weit gehend ins nächste Gebüsch zu kippen, nachdem ich die beiden letzten Male nur noch kurz genippt hatte. Mom machte es mir nach. Kaum hatte Grandpa seinen Schnaps hinuntergeschluckt, wurden seine Augen plötzlich groß. Bei Männern seines Alters denkt man ja immer als Erstes an eine Herzattacke. Dann aber merkte ich, dass von irgendwoher Musik erklang und Grandma begeistert im Takt zu wippen begann. »Bulldog, Bulldog, Bow-wow-wow! E-li Yale!«, sang Richard jetzt aus voller Kehle. Und dann stürzte er zu einem Haufen Studenten, die im Hof herumstanden und ebenfalls dieses Meisterwerk der Gegenwartsmusik zu Gehör brachten. Nach zwei Strophen kam Richard zurück. »Darauf trinken wir noch einen«, meinte er und bediente sich wieder aus seinem Flachmann. »Dann gibt es bis zum Mittagessen aber nichts mehr«, sagte Emily mit nachsichtigem Lächeln. Ich war echt verblüfft. Wer meine Großmutter kennt, der weiß, wie streng und humorlos sie normalerweise ist. Die Vorfreude auf das Footballspiel aber schien alle sonst üblichen Regeln außer Kraft zu setzen. »Apropos Essen«, meinte Moni, die ja genau wie ich noch kein Frühstück abbekommen hatte. »Wo wollen wir denn essen?« »Na, auf dem Parkplatz natürlich«, antwortete mein Großvater. »Auf dem Parkplatz?« Moni blieb wie angewurzelt stehen. Grandpa ging unterdessen weiter. »Tu nicht so schockiert, Lorelai. Du hast doch sonst noch ganz andere Dinge drauf. Und das Picknick auf dem Parkplatz – das gehört nun mal zu Yale.«
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Mom sah mich groß an. »Habe ich das richtig verstanden? Essen auf dem Parkplatz? Hotdog und Bier und so was?« »Ich denke schon«, antwortete ich etwas hilflos. Auf Moms Gesicht erschien ein Strahlen. »Hey«, sagte sie. »Ich glaube fast, ich mag Football.« Damit hefteten wir uns meinen Großeltern wieder an die Fersen. Eine Überraschung war das Essen auf dem Parkplatz auf jeden Fall. Vor jedem parkenden Auto standen ein Grill und mehrere Kästen Bier. Es stank nach Grillkohle, verbrannten Steaks und Salaten in Plastikgefäßen, die wahrscheinlich schon am Abend zuvor zubereitet worden waren. Als Mobiliar dienten hässliche Campingmöbel der Discounter aus der vergangenen Saison. Nicht so bei meinen Großeltern Richard und Emily Gilmore. Auf einer angemessenen Parzelle parkte ein eigens gemietetes Wohnmobil. Über das Dach hinweg war ein Zeltsegel gezogen worden. Darunter stand nun ein Koch mit hoher Kochmütze vor einem mobilen Profiherd. Daneben war ein Esstisch aufgebaut worden, der auch den im Haus Gilmore üblichen Blumenschmuck nicht vermissen ließ, sowie eine kleine Cocktailbar. Das neue Hausmädchen war gerade dabei, die letzten Vorbereitungen zu treffen. »Wow!«, machte Mom begeistert. »Tatsächlich! Essen zwischen Autos! Ich glaube, ich steh’ auf Football!« Wir saßen eine Weile zusammen und sahen dem Treiben auf dem Parkplatz zu. Grandpa Richard stieß noch ein paar Mal allein mit sich auf irgendwelche Sachen an. Bis Grandma ankündigte, er möge das bleiben lassen, weil sie jetzt Bloody Mary herstellen wollte. Dann entführte mich mein Großvater kurz zu einem Klub älterer Herren, die in der Nähe standen. Es
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waren Richards Studienkollegen, und er wollte mich ihnen vorstellen. Ich kann es ja nicht mit Gewissheit sagen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass Emily diesen Augenblick dazu nutzte, um sich bei Mom zu erkundigen, wie es bei mir und Jungs aussah. Ich kann davon ausgehen, dass Mom nichts Erbauendes zu berichten hatte. Nicht weil sie es nicht gewusst hätte. Sondern weil es nichts Erbauendes gab. Wahrscheinlich erkundigte sich Emily anschließend bei Mom nach derselben Sache noch einmal. Diesmal allerdings Moni betreffend. Und wie immer die Dinge zu diesem Zeitpunkt um Jason standen – ich bin sicher, dass sie zumindest behauptet hat, dass es nichts Erbauendes zu berichten gebe. Irgendwann verabschiedeten Grandpa und ich uns wieder von seinen Kumpels. Wir gingen zurück, und während er doch wieder von irgendwelchen Freunden aufgehalten wurde, ging ich ein paar Schritte voraus. Da kam mir Paris entgegen. Sie hielt ihren Fotoapparat in der Hand. »Hi, Rory, ich habe dich schon gesucht«, sagte sie. »Kannst du schnell zwei Fotos von mir machen? Eins für gewonnen und eins für verloren. Dann habe ich eine Erinnerung an das Spiel.« »Warum wartest du nicht einfach, bis das Spiel zu Ende ist?«, schlug ich vor. Paris schüttelte den Kopf. »Ich langweile mich jetzt schon zu Tode. Und ich will endlich gehen.« Damit zog sie ein »Gewonnen«-Gesicht und ein »Verloren«-Gesicht, und ich drückte je einmal ab. In diesem Moment kam mein Großvater dazu. Er strahlte. »Oh, Paris! Wie schön, dich wiederzusehen! Willst du einen Happen mit uns essen?« »Vielen Dank, Richard«, antwortete Paris eilig. »Ich wollte Rory nur bitten, rasch zwei Fotos von mir zu machen. Ich muss leider weg.« »Schade«, warf mein Großvater ein.
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»Aber vielen Dank noch mal, dass Sie mich Asher Flemming vorgestellt haben«, fuhr Paris fort. »Hast du dein Interview schon gekriegt?«, erkundigte sich Richard. Ich merkte ihm an, dass seine Zunge schon ein wenig schwerer wurde. Paris schüttelte den Kopf. »Leider noch nicht. Aber ich arbeite natürlich dran.« »Hoffentlich wehrt er sich nicht zu lange«, meinte mein Großvater im Tonfall des alten Charmeurs. »Er würde es bereuen.« Paris grinste. Ein Grinsen, das ich gut bei ihr kenne. Sie setzt es immer dann auf, wenn sie etwas erreicht hat und sich nicht mehr allzu große Mühe geben muss. »Danke, Richard. Ich muss jetzt gehen«, sagte sie dann. »Also, bis demnächst mal wieder.« Damit winkte sie kurz und zog ab. Als wir zurück zur Gilmore-Parzelle kamen, stand die Bloody Mary für Grandpa schon bereit. Wir setzten uns, und Richard nahm einen ordentlichen Schluck. »Richard, Emily. Hallo.« Wir sahen auf. Vor unserem Tisch stand eine Dame. Sie mochte etwa im Alter meiner Großeltern sein, hatte sich aber bestens gehalten. Ihre blonden Haare, die sie offen trug, und ihre sportliche Figur ließen sie sogar ein Stück jünger wirken. Vor allem aber, und das machte sie mir und Moni eigentlich sympathisch, war sie ganz normal angezogen. Weder Turnschuhe noch Baseballkappe noch irgendwelche Ypsilons, die sie irgendwo auf der Kleidung trug. Sondern – ja, man muss es einfach sagen – mit Stil und Geschmack. Mein Großvater hatte noch seine Bloody Mary an den Lippen. Emily war daher diejenige, die als Erste antwortete. »Oh, Pennilyn.« Im gleichen Ton wie sonst zu Hause. Also nicht besonders herzlich.
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»Na, so eine Überraschung!«, rief Richard jetzt aus. »Wir haben uns ja Ewigkeiten nicht gesehen!« »Wie geht es euch?«, fragte Pennilyn. »Danke, bestens«, antwortete Emily wieder mit einer Stimme wie aus dem Gefrierfach. »Und euch?« »Auch gut. Danke«, war die Antwort. Ich glaube, ich kenne so etwas sonst nur aus dem Fernsehen. Wenn zwei Rivalinnen sich begegnen und keine von beiden sich die Blöße geben will, die andere offen anzufeinden. Wobei ich den Eindruck hatte, dass die Feindseligkeiten im vorliegenden Fall etwas einseitig verteilt waren und etwa zu hundert Prozent bei Emily lagen. Mittlerweile drehte sich das Gespräch ums Geschäft. Das natürlich sehr gut lief. Auf beiden Seiten. Punkt. »Das sind unsere Tochter Lorelai und unsere Enkelin Rory«, versuchte Richard das Gespräch in etwas privatere Sphären zu lenken. »Wir machen hier gerade eine kleine Familienfeier«, setzte Emily hinzu. Womit klar war, dass niemand anderes auf einen Drink eingeladen werden würde. »Ah, verstehe. Ich muss auch schon wieder weiter. Aber wir müssen uns mal wieder sehen«, sagte Pennilyn. Sie klang jetzt eigentlich sehr nett. »Jo; das müssen wir unbedingt«, bestätigte meine Großmutter wieder in dem Tonfall, in dem sie zwei Zungenspitzen zu haben schien. Wie bei Schlangen so üblich. »Ruft ihr an?«, fragte Pennilyn. »Aber gern«, antwortete Emily. »Also dann… auf Wiedersehen«, sagte Pennilyn und warf Richard einen verunsicherten Blick zu. »Auf Wiedersehen, Pennilyn«, antwortete mein Großvater.
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»Auf Wiedersehen«, sagte auch Emily, etwa so, wie man einen Staubsaugervertreter verabschiedet, den man zum Teufel schicken möchte. Pennylin drehte sich gerade um, als Mom plötzlich aufsprang. Sie hatte die ganze Zeit das Gesicht so merkwürdig verzogen. Als ob sie angestrengt nachgedacht hätte. Jetzt schien sie die Lösung ihres Problems gefunden zu haben. »Pennilyn?«, fragte sie. »Pennilyn Lott? Die Collegefreundin von meinem Dad?« Pennilyns Gesicht hellte sich auf. »Ja, genau die. Pennilyn Lott.« Sie lächelte Moni an, nicht ohne wieder einen unsicheren Blick zu meinen Großeltern zu werfen. Diesmal zu Emily. »Dann wären Sie ja fast meine Mom geworden!«, platzte Lorelai heraus. »Ich meine, Dad war doch bis über beide Ohren in Sie verliebt.« »Oh, war er das?«, fragte Pennilyn nach und wurde ein wenig rot. Bisher habe ich mir unter dem Begriff »Salzsäule« nicht allzu viel vorstellen können. Jetzt weiß ich, so ein Ding muss ungefähr aussehen wie Emily in diesem Moment. Richard sah unterdessen konzentriert zum Zeltdach. Als wenn dort irgendetwas nicht stimmen würde. »Also, eins muss ich Sie unbedingt fragen«, sprudelte es aus Mom heraus. »Hätte ich von Ihnen als Kind ein Pferd bekommen?« »Ein… ein Pferd?«, wiederholte Pennilyn verblüfft. »Ich… äh… nun ja… ich weiß nicht… und es ist ja auch gar nicht dazu…« Bevor sie »gekommen« sagen konnte, schaltete sich Grandma wieder ein. »Ich rufe dich an, Pennilyn«, sagte sie. »Ah, ja…«, sagte Pennilyn. »Also, auf Wiedersehen.« Damit ging sie davon.
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Emily wandte sich an Moni. »Lorelai, hast du eigentlich wirklich nur Stroh im Kopf?« »Was? Wieso denn?«, fragte Moni. »Ich wollte nur ein nettes Gespräch führen. Du hast sie so…« »… so abfahren lassen, ganz genau«, ergänzte Grandma. »Wir reden nämlich eigentlich nicht mit Pennilyn. Wir unterhalten uns nicht mit ihr, wir scherzen nicht mit ihr, und wir verbinden auch nichts mit ihr, wenn wir uns mal zufällig begegnen. Kurz und gut: Eigentlich existiert sie gar nicht für uns. Wir sehen uns einmal im Jahr und sagen >Hallo< und >Auf Wiedersehens Das ist alles.« »Aber…« Eigentlich hätte jetzt noch ein »Warum denn?« aus Monis Mund kommen müssen. Aber sie weiß, dass manche Diskussionen mit meinen Großeltern einfach nichts bringen. Vor allem, wenn die Argumente seitens meiner Großmutter mit einer solchen Bestimmtheit vorgetragen werden. Moni setzte sich daher einfach nur wieder neben mich. Sie warf mir einen viel sagenden Blick zu und seufzte. Essen beruhigt die Gemüter, und so war es wirklich günstig, dass der Koch allmählich fertig wurde. Für ein Essen bei den Gilmores ging es heute wirklich rustikal zu. Kein Wunder, auf einem Parkplatz! Es gab Steaks, Pommes, Ketchup und Salat. Die Steaks trugen ein Brandzeichen. »Y« – für Yale. Ich fragte mich, ob Moni und ich nicht Gefahr liefen, genau so ein Brandzeichen auch noch auf den Hintern verpasst zu bekommen. Meine Großeltern schienen richtig in ihrem Element zu sein. Besonders Richard. Er hatte einen gesegneten Appetit und spülte auch kräftig nach. Mit den verschiedensten Flüssigkeiten. Mit Bloody Mary und mit seinem Zeug aus dem Flachmann. Der Zwischenfall mit Pennilyn schien vollkommen vergessen zu sein. Für meine Großeltern wenigstens.
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»Uff! Ich glaube, ich habe eine ganze Kuh gegessen«, sagte mein Großvater schließlich und legte zufrieden sein Besteck auf dem Teller zusammen. »Es war köstlich.« »Hat es dir auch geschmeckt, Rory?«, wollte Grandma von mir wissen. Sie hat wirklich zwei Gesichter. Auf der einen Seite konnte sie mit einem Oberfeldwebel mithalten, auf der anderen Seite war sie dann wieder eine ganz normale Großmutter, die sich freut, wenn es ihrer Enkelin schmeckt. »Es war super«, sagte ich und schob meinen Teller ein wenig von mir. »Jetzt bin ich pappsatt.« Dann bemerkte ich einen Tumult, ein kleines Stück von unserer Parzelle entfernt. »Was ist denn da los?« Grandma drehte sich um. Dann stieß sie einen spitzen Schrei aus. »Richard! Richard! Da ist Dan!« »Dan? Da müssen wir hin!«, rief Grandpa ebenso begeistert. »Emily, vergiss nicht den Hundekuchen!« Dan, das Maskottchen, drehte seine Ehrenrunde. Es besuchte alle alten Herren und sämtliche Grills, an denen ein Stück Fleisch heruntergefallen sein konnte. Voller Begeisterung stürzten meine Großeltern ihm entgegen. Es war schon beachtlich, wie viel Freude sie so einem blöden Köter entgegenbringen konnten. Und wie viel Gleichgültigkeit einer alten Collegefreundin. »Der liebe Dan, der gute Dan«, jubelte Emily und wedelte mit dem Hundekuchen vor Dans platter Nase hin und her. »Sieh mal, was Tante Emily hier für dich hat!« Erst jetzt bemerkte ich, dass der Hundekuchen die Form eines Ypsilons hatte. Wahrscheinlich würden mich diese Ypsilons noch im Traum verfolgen! Dan nahm den Hundekuchen in seine sabberige Schnauze und begann ihn zu kauen, während tausend Hände an ihm herumstreichelten. Auch Moni war in die Knie gegangen, um ihn zu kraulen. »Hau rein, Dan«, riet sie ihm. »Ich habe in deine Zukunft unterm Glasschrein gesehen. Sieht nicht besonders rosig aus.«
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»Rory? Hey, Rory?«, hörte ich in diesem Moment eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich herum. Sie gehörte… Marty. Ja, genau, ganz richtig: Marty. Der Junge, den ich nackt und schlafend auf dem Flur gefunden hatte. Und dem ich meinen Bademantel geliehen hatte, nachdem er aufgewacht war. Ich hatte Marty seitdem mehrfach im Speisesaal gesehen. Und jetzt ist wohl der Moment gekommen, in dem ich zugeben muss, dass ich ihn auch sonst noch öfter gesehen habe. Nicht nur in den Seminaren oder sonst wo am College. Sondern auch in meinen Träumen und Vorstellungen. Irgendwas „war hängen geblieben… »Marty?«, fragte ich überrascht, und unwillkürlich begann mein Herz einen schnelleren Rhythmus zu schlagen. »Hast du… hast du Dan schon gesehen?« Irgendwas musste ich doch sagen, oder? Marty nickte. »Klar, der ist doch eine der Hauptpersonen heute.« Er kam ein paar Schritte näher. Ich glaube, ich teile mit meiner Mom fast alles im Leben. Vorlieben und Abneigungen. Und oft genug auch Freud und Leid. In diesem Moment freute ich mich unbändig, Marty vor mir zu sehen. Nicht nur in meiner Vorstellung, sondern leibhaftig. Und ich hatte das Gefühl, ihn gleich Mom zeigen zu müssen. »Hey«, sagte ich. »Komm. Ich stelle dich meiner Mutter vor.« Meine Mom ist wirklich eine unkonventionelle Moni. Trotzdem hat sie ein paar typische Züge, die wohl alle Mütter besitzen. Dazu gehört, dass sie manchmal Dinge mitkriegt, die sie so schnell eigentlich nicht mitbekommen soll. Dass sie mir also einfach zuvorkommt. Aber okay, ich hatte die Sache mit Jason wohl auch ein bisschen früher geschnallt als sie selbst.
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Bevor ich sie ansprechen konnte, stand sie schon auf. »Du willst mir jemanden vorstellen?«, fragte sie. »Ja, Mom, das ist Marty«, machte ich die beiden miteinander bekannt. »Marty, das ist meine Mutter, Lorelai Gilmore.« Mom streckte ihre Hand aus. »Ah ja. Sie sind der Nackte. Stimmt’s?« Marty guckte ein bisschen überrascht. »Wenn Sie es so nennen wollen«, sagte er hilflos. »Oh, Marty«, warf ich schnell ein. »Ich habe aber auch ein paar Geschichten von dir erzählt, in denen du nicht nackt warst.« »Das freut mich zu hören«, antwortete Marty. Zu meiner großen Erleichterung klang er nicht sauer. Eher belustigt. »Nackt? Wer ist hier nackt?«, tönte jetzt Richards Stimme an unsere Ohren. Mittlerweile merkte man ihm an, dass er ein paar Drinks intus hatte. Richard und Emily kamen zu uns. Dan war offenbar weitergezogen. »Grandma, Grandpa, das ist Marty. Er wohnt im selben Haus wie ich«, stellte ich meinen Studienkollegen vor. »Marty, das sind Mr und Mrs Gilmore.« Meine Großmutter war die Liebenswürdigkeit selbst. »Es ist mir eine große Freude, Marty.« Vielleicht hoffte sie, wenigstens irgendwann mal ihre Enkelin verheiraten zu können, wenn es ihr bei ihrer Tochter schon nicht gelungen war. »Wieso sind Sie denn der Nackte?«, dröhnte Richard jetzt gut gelaunt weiter. »Sie sind doch ganz anständig angezogen.« Wenn mein Großvater lustig sein will, wird er manchmal ein bisschen eigenartig. »Ich hatte mal eine Begegnung mit einem Bierfass«, gab Marty zu. »Auf einer Party. Und irgendwann habe ich mich ausgezogen und im Flur geschlafen.«
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Meine Großmutter war entsetzt. »Du meine Güte! Haben Sie sich nicht erkältet?« »Sie haben nackt im Flur geschlafen?«, wiederholte Richard. »Aber das ist doch noch gar nichts, junger Mann«, nahm er dann Anlauf zu einer Geschichte aus seiner Studentenzeit. »Ich war hier im zweiten Semester einen ganzen Monat lang nackt…« »Oh«, schaltete Moni sich ein. »Die Abteilung: >Wahrheiten über meinen Vater, die ich nie hatte „wissen wollen<…« »Ein paar Studienkollegen und ich«, fuhr Richard unbeirrt fort, »wir haben gegen die strengen Kleiderregeln protestiert. Wir trugen weiterhin Krawatten, wie es vorgeschrieben war. Aber für den Rest – für den Rest nahmen wir uns unsere Freiheiten, im wahrsten Sinne des Wortes.« Grandpa lachte aus tiefstem Herzen. Moni und ich wussten nicht, wohin wir gucken sollten. »Sie glauben ja gar nicht, wie beliebt wir plötzlich bei den Damen waren«, dröhnte mein Großvater weiter. »Weißt du, Richard«, säuselte Emily ihrem Gatten zu. »Das ist genau die Unterhaltung, die ich schon immer mit meiner Enkeltochter und ihrem Freund führen wollte.« »Jedenfalls, mein Lieber«, fuhr Richard ungerührt fort, »eine Nacht nackt auf dem Flur zu verbringen, das reicht nicht aus, um sich den Titel >der Nackte< zu verdienen. Aber wissen Sie, zu meiner Zeit haben wir ja noch ganz andere Dinger gedreht…« »Marty«, schaltete sich meine Großmutter mit einer Stimme wie eine Steinfräse in das Gespräch ein. »Hätten Sie vielleicht Lust mit uns zu essen?« Wir hatten gerade gegessen. Und nicht gerade wenig. Aber anscheinend sah Emily keine andere Möglichkeit, das Thema zu wechseln. Und zwar endgültig.
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»Oh, vielen Dank, Mrs Gilmore«, antwortete Marty. »Ich wollte eigentlich nur Rory fragen, ob sie Lust hat, zu uns zu kommen. Wir sind da drüben auf der Wiese. Ein paar Kumpels und ich…« Er zeigte auf einen Punkt in mittlerer Entfernung. »Wir machen eine kleine Party.« Plötzlich sahen mich alle an. Moni, Grandpa und Grandma. Wahrscheinlich so wie vor siebzehn Jahren, als ich meine ersten Schritte machen sollte. Aufmunternd einerseits und andererseits mit so einer merkwürdigen Sorge. Dass ich nicht falle und mir wehtue oder so. »Oh«, sagte ich. »Das ist nett, Marty. Aber eigentlich…« Ich sah in die Gesichter meiner Familie. Sorge, Unsicherheit und Zweifel schienen sich darin abzuzeichnen. Zumindest für mich. »Ich glaube, ich kann nicht«, beendete ich meinen Satz. Auch wenn es mich noch so viel Überwindung kostete. Ich konnte die Enttäuschung an Martys Gesicht ablesen. Und auch für ihn tat es mir Leid. Ich dachte an diesen peinlichen Moment damals im Flur. Und jetzt hatte ich auch noch seine Einladung ausgeschlagen! »Aber warum denn nicht? Natürlich kannst du!« Es war mein Großvater Richard, der so herausplatzte. »Geh zu deinen Freunden. Geh zu den jungen Leuten«, ermunterte er mich. »Aber… aber was ist denn mit meinem Platz auf der Tribüne?«, wandte ich ein. »Ihr habt doch so teure Karten gekauft.« »Oh, das sehen wir dann«, wischte Richard meine Bedenken beiseite. »Wir haben noch so viel Zeit bis zum Anpfiff! Und Jugend gehört zur Jugend!« Ich sah Emily, Richard und Mom der Reihe nach an. »Wirklich? Meint ihr?«
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»Klar doch«, meinte Mom. »Aber ja«, sagte jetzt auch Emily. Sie griff hinter sich und drückte uns eine Schachtel mit irgendetwas zu essen in die Hand. »Hier, nehmt das mit. Und viel Vergnügen!« Ich drückte die Schachtel an mich, und Marty und ich gingen. Nach ein paar Schritten drehte ich mich noch einmal um. Die Sorge, der Zweifel und die Unsicherheit waren aus den Gesichtern meiner Familie verschwunden. Und jetzt erst wurde mir klar, worin diese Sorge überhaupt bestanden hatte: In der Angst, ich würde mich nicht trauen, diesen Schritt zu tun.
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9
Meine Mom ist als Mutter gut zu ertragen. Ich glaube, das habe ich schon mehrfach deutlich gemacht. Mehr noch: Sie ist die coolste Mom, die man sich vorstellen kann. Und wir sind das, wovon viele Mütter und Töchter nur träumen können, nämlich Freundinnen. Das ist wirklich superklasse! Trotzdem kann ich mir schon jetzt gut vorstellen, dass es Dinge geben wird, in denen meine Mom immer eine typische Mutter bleiben wird, egal wie alt ich werde. Irgendwas bleibt eben zurück vom Brutpflegeinstinkt. Dasselbe gilt auch für Emily. Lorelai bekam es an diesem Tag am eigenen Leib zu spüren. »Wir gehen jetzt auf die Toilette«, sagte meine Großmutter irgendwann zu Mom. Und zwar in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Ich… ich muss aber gar nicht«, antwortete Lorelai verdattert. Emily sah sie mit mütterlicher Nachsicht an. »Ein bisschen geht immer«, stellte sie fest. »Und je kürzer die Zeit bis zum Anpfiff wird, umso länger wird die Schlange vor der Toilette werden.« Es gibt bestimmte Dinge, über die es sich einfach nicht zu diskutieren lohnt. Das muss Lorelai sich auch gedacht haben. Sie seufzte, dann folgte sie ihrer Mutter zu den Waschräumen. Tatsächlich war die Schlange vor den Toiletten schon jetzt ziemlich lang. Es dauerte eine ganze Weile, bis Lorelai an der Reihe war. Anschließend verließ sie den Waschraum wieder, um draußen auf ihre Mutter zu warten. Die Schlange reichte nun bis kurz vor den Erfrischungswagen. Dort holte sich Lorelai einen Kaffee und sah sich um. Eigentlich fand sie es hier wirklich gar nicht so
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schlecht. Es war etwas los, es war gute Stimmung. Was wollte man mehr? Vielleicht dass man nicht in aller Herrgottsfrühe dafür hätte aufstehen müssen… Eine karierte Jacke, die Lorelai irgendwie bekannt vorkam, ging an ihr vorüber. Einen Augenblick später drehte sich die Trägerin der Jacke nach Lorelai um, und Lorelai erkannte sie wieder: Es war Pennilyn. »Ach«, sagte sie mit einem verlegenen Lachen und deutete auf die Schlange. »Immer dasselbe. Man muss ein bisschen Zeit mitbringen.« Lorelai lächelte. »Ja, das muss man wohl, leider. Wie das nun mal so ist…« Gespräche vor Toiletten haben einen ganz eigenartigen Charakter. Man hat auf die Schnelle wirklich nichts, worüber man miteinander reden könnte. Man ist einfach nur peinlich berührt. Um ehrlich zu sein: Ich glaube, das ist ein Zeichen von Kulturverlust. Wer jemals in Italien war, der weiß, dass die römischen Latrinen nicht in einzelne Kabinen unterteilt waren, sondern dass das Verrichten der persönlichen Geschäfte durchaus im Kreise anderer vollzogen wurde. Unter Gleichgesinnten, sozusagen. Wie man aus antiken Quellen weiß, entwickelten sich diese Orte dadurch zu einer Art von Foren. Unter den Anwesenden wurden wichtige Fragen debattiert und sicher auch manche politische Entscheidung getroffen. Warum auch nicht? Man hatte ja sonst nichts zu tun. Oder wenigstens nichts, was den Kopf betraf. Nur das andere Ende. Aber vielleicht schweife ich doch etwas zu sehr ab… »Ich… ich habe gehört, dass Sie ein Hotel eröffnen wollen«, sagte Pennilyn etwas unvermittelt – was Mom eigentlich hätte erstaunen müssen. Wenn meine Großeltern keinen Kontakt mit ihr hatten, woher wusste sie dann davon? Andererseits – die Ehemaligen von Yale sind eine verschworene
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Gemeinschaft. Wahrscheinlich hatte sie es über drei Ecken hinweg mitbekommen. »Ja, das stimmt«, bestätigte Mom. »Ich möchte mit einer Freundin zusammen ein Hotel eröffnen. Es ist nur ein Versuch, aber…« »Die ganze Welt ist ein Versuch«, fiel Pennilyn freundlich ein. »Nur wer etwas versucht, kann auch etwas erreichen.« »Ah, Pennilyn«, erklang in diesem Moment die Stimme meiner Großmutter. Lorelai hatte das Gefühl, dass sie einen Moment lang im Türrahmen stehen geblieben war und möglicherweise ein paar Wortfetzen mitbekommen hatte. »Wir laufen uns heute ja ständig über den Weg«, bemerkte sie in einem Tonfall, der deutlich machte, dass sie einmal schon mehr als genug gefunden hatte. »Ja. Ja, du hast Recht«, antwortete Pennilyn unsicher. »Ich finde das ganz reizend«, sagte Emily liebenswürdig. Ich bin sicher, man wird irgendwann eine Schlangenart nach ihr benennen. Die Vipera Gilmoria oder so ähnlich. In diesem Moment machte die KloSchlange ein paar Schritte nach vorn. »Oh«, sagte meine Grandma. »Nicht, dass sich jemand vor dich drängelt.« Was eine unmissverständliche Aufforderung an Pennilyn war, gefälligst weiterzugehen. »Auf Wiedersehen also. Und genieß das Spiel.« Dann versetzte sie Mom einen saftigen Hieb mit dem Ellbogen, damit auch sie sich in Trab setzte. Auf der Gilmore’schen Parzelle war Richard gerade dabei, neue Bloody Marys zu mixen. »Emily!«, rief er seiner Frau schon von weitem zu. »Wie viel Tabasco kommt da noch mal hinein? Ich erinnere mich nur noch an die Wodka-Menge…« Emily nahm ihm die Tabasco-Flasche aus der Hand. »Ich mache das schon, Richard«, sagte sie und
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trat an die kleine Bar heran. »Sofern du mich bitte mal dorthin lässt, wo du stehet.« Sie wollte ihren Mann ein Stück zur Seite schieben. Richard aber hielt dem Druck stand und erhöhte ihn sogar ein wenig. »Ich will aber hier bleiben«, flirtete er säuselnd, »gefährlich nah an meiner Frau.« Emily lächelte süß-säuerlich. In diesem Moment setzte ein paar Meter entfernt ein Chor aus jungen Männerkehlen ein. Und gleich war mein Großvater nicht mehr zu halten. Er lief zu ihnen hinüber und mischte sich in die Reihen. Mom sah ihm nach. »Morgen wird er Kopfschmerzen haben«, sagte sie leise vor sich hin. Unterdessen hatte Emily plötzlich Zank mit dem Serviermädchen begonnen. Sie scheuchte sie durch die Gegend, schickte sie neuen Sellerie für die Bloody Mary holen, monierte im selben Moment, dass auf dem Teller unter den Keksen kein Zierdeckchen lag, verlangte, dass dies augenblicklich in Ordnung gebracht wurde, und fragte gleich darauf wieder nach dem Sellerie. Ihre lockere Stimmung war schlagartig verschwunden. Als wenn ihr plötzlich etwas klar geworden wäre. »Mom? Kann ich dir helfen?«, fragte Lorelai. »Dafür habe ich dich nicht eingeladen!«, zischte Emily. »Ist irgendwas?« »Nein, alles in Ordnung«, antwortete Grandma gefährlich ruhig. In diesem Augenblick kam Richard zurück zur Parzelle. Ihm folgten etwa hundert Studenten. Nun ja, nicht gerade hundert, aber ein Dutzend waren es schon. »Das sind die besten Bloody Marys, die ich je getrunken habe«, verkündete er seinen jungen Freunden. »Emily«, wandte er sich dann an seine seit
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Jahren Angetraute. »Wir sollten diesen jungen Sängern eine kleine Erfrischung servieren.« Grandma sah nicht einmal auf. »Bedaure«, sagte sie nur und hantierte irgendetwas vor sich hin. »Wir haben keinen Sellerie mehr.« »Was? Keinen Sellerie? Na, dann trinken wir die Bloody Mary eben ohne den Sellerie«, antwortete Grandpa vergnügt. »Den brauchen wir sowieso nicht. Was, Männer?«, fügte er mit einem Augenzwinkern an. Dies schien eine Art Stichwort zu sein, auf das Emily offenbar nur gewartet hatte. Oder war es der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte? »Woher hat Pennilyn Lott von Lorelais Plänen für das Hotel erfahren?«, fragte sie. Sie sah dabei in eine andere Richtung. Als käme ihr diese Frage nur ganz en passant. Ihre Stimme aber hatte die Strenge eines Großinquisitors. »Ah… äh… wie bitte?«, fragte mein Großvater. Jetzt sah Grandma ihn an. »Sie weiß, dass Lorelai ein Hotel aufmacht. Woher? Ich habe es ihr sicher nicht erzählt«, fuhr sie fort. »Und Lorelai aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht. Und dass Rory und Pennilyn sich zum Kaffee treffen, glaube ich ebenfalls nicht.« »Ah… äh… öh«, machte mein Großvater. Ich schätze, in diesem Moment bedauerte er, dass er ein paar Bloody Marys zu viel getrunken hatte. Seine Reaktion war wirklich nicht die beste. »Wir treffen diese Frau einmal im Jahr bei diesem Spiel«, spann Grandma den Faden weiter. »Wir sagen guten Tag, wir fragen, wie es ihr geht. Wenn Stephen nicht dabei ist, erkundigen wir uns nach ihm. Und das war es dann. Woher weiß sie von Lorelais Hotel?«, wiederholte sie ihre Frage mit dem Nachdruck eines Vorschlaghammers.
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»Tja, also… ahm«, machte Richard und räusperte sich umständlich. »Ich habe es ihr gesagt.« Während der ganzen Zeit waren Richards junge Freunde anwesend. Dass aus der Bloody Mary, zu der Richard sie einladen wollte, nichts mehr werden würde, war ihnen wohl schon klar. Anscheinend aber hatten sie den Eindruck, dass sie hier etwas fürs Leben lernen konnten. Jedenfalls verfolgten sie den kleinen ehelichen Disput mit aller Aufmerksamkeit. Solange jedenfalls, bis Moni ihnen etwas zuzischte: »Das reicht jetzt. Wiedersehen, Jungs!« Damit zogen sie ab wie ein Rudel junger Welpen. Emily gab sich Mühe, ihre Miene nicht erstarren zu lassen. »Wann?«, forschte sie nach. »Etwa vor einem halben Jahr«, antwortete Richard. Er wirkte jetzt schlagartig wieder vollkommen nüchtern. »Wir haben zusammen gegessen.« »Wo?«, fragte Grandma. »In einem Restaurant.« »Das denke ich mir. In welchem Restaurant?« Es war absolut klar, dass sie den Dingen restlos auf den Grund gehen wollte. »Du kennst es nicht«, antwortete Grandpa. »Ich will es trotzdem wissen«, antwortete Grandma. »Im Adele’s.« »Stimmt«, sagte Emily. »Das kenne ich nicht. War es nett?« Richard, der eigentlich nicht gerade klein ist, schrumpfte von Moment zu Moment weiter in sich zusammen. Zeit zum Antworten blieb ihm aber nicht. »Bestimmt war es nett«, fuhr Grandma fort. »Wenn man sich so lange nicht gesehen hat, hat man sich eine Menge zu erzählen. Wessen Idee war es?«, hakte sie dann wieder nach. Richards Schultern schienen allmählich den Boden zu berühren. »Ich kann es dir nicht sagen…Wir treffen
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uns regelmäßig zum Essen«, gab er dann plötzlich zu. »Einmal im Jahr. Es ist eine Art Tradition.« Jetzt glitten auch Emilys Züge abwärts. »Einmal im Jahr?«, fragte sie. »Seit wann?« »Nun«, begann Richard etwas zögerlich. »Schon sehr lange. Eigentlich… eigentlich seitdem wir verheiratet sind.« »Das heißt… das heißt, du belügst mich seit neununddreißig Jahren?«, stellte meine Großmutter ungläubig fest. »Also belügen, so würde ich das nicht ausdrücken«, versuchte Grandpa abzuwiegeln. »Es ist ja immerhin nur ein Essen. Und Stephen weiß auch nichts davon«, schob er hinterher, als könne er damit irgendetwas gut machen. »Richard«, sagte meine Großmutter in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Du solltest dir etwas die Füße vertreten!« Mein Großvater guckte wie ein Hund, den man bei Regen vor die Tür jagt. »Du hast Recht, Emily. Ich werde vor dem Spiel wiederkommen.« Damit zog er ab. Lorelai, die während der Szene etwas abseits am Tisch gesessen hatte, kam zu ihrer Mutter. »Moni«, sagte sie. »Ich weiß, das war nicht richtig, was Dad gemacht hat. Aber er hat es bestimmt nicht getan, um dich zu verletzen.« »Dann hätte er neununddreißig Jahre lang etwas anderes tun müssen, als mit dieser Frau essen zu gehen«, erwiderte Emily. Sie schien tatsächlich tief verletzt zu sein, nicht nur in ihrer Eitelkeit. »Mom, es war doch nur ein Essen!«, unterstrich Lorelai. »Nichts weiter.« »Ein Essen mit Pennilyn Lott«, ergänzte meine Großmutter. »Die Frau, mit der du dich heute unbedingt unterhalten musstest. Obwohl ich dich gebeten hatte, es nicht zu tun.«
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Lorelai fuhr zurück. Wurde hier gerade ein Spieß umgedreht? Oder mindestens gewendet? »Moment mal! Nicht ich habe mich heimlich mit Pennilyn getroffen, sondern Dad!« »Wenn du nicht unbedingt mit ihr hättest reden müssen, hätte ich von der ganzen Sache nie erfahren«, schimpfte Emily jetzt los. »Du und deine Dickköpfigkeit! Unglaublich, welche Schwierigkeiten du mir damit schon bereitet hast.« »Aber, Mom, ich…« Lorelai war fassungslos. Sie hatte ihre Mutter beruhigen wollen, und jetzt sollte sie Schuld sein? Schuld daran, dass ihr Vater seit neununddreißig Jahren mit seiner Jugendliebe Essen ging? »Mom, ich habe wirklich gar nicht gedacht, dass…«, versuchte Lorelai einen Einwand. »Das ist es ja«, schnitt Emily ihr das Wort ab. »Du solltest dir öfter mal Gedanken über die Konsequenzen deines unverantwortlichen Handelns machen.« Lorelai kniff die Augen ein wenig zusammen. »Was willst du eigentlich damit sagen?«, entgegnete sie. »Wäre es dir wirklich lieber gewesen, wenn du nie davon erfahren hättest? Wenn die Sache einfach unter dem Teppich geblieben wäre?« »Dann wäre jetzt jedenfalls alles bestens«, bestätigte Emily. »Ich wüsste von nichts, und Richard und ich könnten uns in aller Ruhe auf das Spiel freuen.« Allmählich ging jetzt meiner Mom der Hut hoch, wie man so schön sagt. »Aha. Dann wäre es dir vielleicht auch lieber, wenn ich nicht mitgekommen wäre?« »Du warst jedenfalls nicht vorgesehen«, bestätigte Emily. »Dein Vater, Rory und ich, wir wollten alleine gehen. Aber du wolltest ja um jeden Preis zum Football, und jetzt siehst du, was das für Folgen hat.«
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Meine Mom ist eine gefühlvolle Frau. Das heißt, Logik ist nicht alles in ihrem Leben. Dass die Vorwürfe meiner Großmutter aber nicht nur ungerecht, sondern auch einfach absolut unlogisch waren – das nervte sie unglaublich. »Schön«, sagte sie. »Die neununddreißig Jahre, in denen Dad einmal jährlich mit Pennilyn Lott gegessen hat, lassen sich nicht rückgängig machen. Dass ich mir aber das Spiel Harvard gegen Yale ansehe, das lässt sich noch verhindern!« Damit schwang sie sich ihre Tasche über die Schulter und stapfte davon. Sie hatte ein klares Ziel. Nicht die Toiletten und nicht den Kaffeewagen. Sondern den kleinen Innenhof des Colleges, in dem Dan, das erste Maskottchen von Yale, in seiner Glasvitrine stand. Lorelai hatte das Gefühl, in diesem Moment ein bisschen Beistand gebrauchen zu können. Und wenn er nur in einem toten Hund bestand. Sie zückte ihr Handy und tippte eine Nummer ein. »Jason Stiles?«, meldete sich eine Stimme am anderen Ende der Leitung. »Ist der Tisch im China-Restaurant noch reserviert?«, fragte Mom. »Hey«, machte Jason. »Dürfte ich mal wissen, wieso… ach, nein, lassen wir das lieber. Ja, der Tisch ist noch reserviert.« »Okay«, antwortete Lorelai. »Dann bin ich um acht Uhr da.« »Okay«, sagte auch Jason. Und an seinem Tonfall war deutlich zu hören, dass er grinste. Wie der Abend verlaufen ist, hat Mom mir später nur kurz erzählt. Sie sagte, das Restaurant sei wirklich abgefahren gewesen, mit allerlei Promis und Ladies an der Garderobe, die aussahen, als hätte man sie aus asiatischen Edelbordellen extra eingeflogen. Sie hatte Jason den Gefallen getan und ihr enges schwarzes
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Kleid angezogen. Allerdings gefiel sie selbst sich auch nicht schlecht darin. Jason und sie wurden in ein separates Zimmer geführt, das eigens für sie reserviert war. Mom sah sich um. Es war ihr etwas zu intim für ein erstes Date. Eigentlich wollte sie nur in den Hauptraum wechseln. Dort war aber kein Tisch mehr frei. Darum schlug Jason vor, besser gleich zu gehen. Mom seufzte unterdrückt. Warum mussten Dates nur immer eine Ansammlung von Missverständnissen sein? Eigentlich wollten sie daraufhin nach Hause fahren. Jeder zu sich, versteht sich. Und Mom schwor auch Stein und Bein, dass sie keinen Hunger hatte. »Fahr da raus! Fahr da raus!«, rief sie aber plötzlich, als die Ausfahrt aus dem Highway, die Mom meinte, schon ziemlich nah war. »Ist dir schlecht?«, rief Jason panisch und lenkte seinen Mercedes in halsbrecherischer Weise auf die Ausfahrtsspur. »Nein, ich habe Hunger«, gab Mom nun doch zerknirscht zu. »Gott sei Dank!«, stieß Jason aus. »Ich auch.« Mom lotste Jason zu einem mexikanischen Drive-in und bestellte etwa zwei Tüten voll Essen. Jason wollte nichts. Weil ihm mexikanisches Essen nicht schmeckt. Daraufhin lehnte auch Mom es ab, allein im Auto zu essen, und sie fuhren wieder weiter. Ich weiß nicht, was an diesem Abend bei der Nahrungssuche dieser beiden Zivilisationsmenschen im Einzelnen noch so gelaufen ist. Trotz aller Hindernisse habe ich aber doch den Eindruck gewonnen, dass sie Spaß miteinander hatten. Auch wenn die ganze Geschichte etwas kompliziert klang. Aber meistens sind ja die komplizierten Leute auch die interessantesten, nicht wahr? Ich meine, wer verbindet schon ein erstes Date mit einem Einkaufsbummel im Supermarkt?
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Es war schon ziemlich spät am Abend, als ich Mom auf dem Handy anrief. »Hallo, Moni. Was machst du?«, wollte ich von ihr wissen. Ich konnte geradezu hören, wie sie grinste. »Jason und ich sitzen im eleganten Abend-Outfit im SchnellImbiss vor dem West-Hill-Einkaufszentrum und trinken Flachmann-Schnaps aus Pappbechern.« »Willst du noch eine Frühlingsrolle?«, hörte ich Jason im Hintergrund flüstern, während mir durch den Kopf schoss, dass ich gar nicht mitbekommen hatte, wie Moni meinem Großvater den Flachmann entfuhrt hatte. »Ja«, flüsterte Mom zu Jason zurück. »Bitte mit extrascharfem Senf.« »Der Kellner wird sofort bei Ihnen sein«, antwortete Jason. Dann ging er offenbar weg. Das war eine gute Gelegenheit, Mom die Frage zu stellen, die mir seit Stunden auf den Nägeln brannte. Denn natürlich hatte man kein Genie sein müssen, um dahinter zu kommen, wie Mom diesen Abend verbringen würde – nachdem sie sich mit ihrer Mutter so heftig in die Wolle bekommen hatte. Natürlich mit Emilys Erzfeind, mit Jason Stiles! »Und? Wie war es?« . Mom kicherte. »Es ist noch…« »Unanständig?«, forschte ich nach. »Wohl kaum. Auf einem Supermarktparkplatz«, antwortete Mom. Ich überlegte, ob das eine neue Leidenschaft der Gilmore Girls werden könnte. Auf Parkplätzen zwischen Autos zu essen. »Und sonst?«, forschte ich weiter. »Sehr verwirrend«, gab Mom zu. »Er hat mir meine Lieblingschips besorgt.« Dabei hatte sie einen ganz eigenartigen Tonfall. Als ginge ihr irgendetwas wirklich unter die Haut.
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»Wie geht es denn den lieben Großeltern?«, wollte sie dann von mir wissen. »Zwischen denen herrscht Funkstille«, antwortete ich. »Und wie war das Spiel?« »Keine Ahnung. Ich hab gelesen.« »Ach, Rory, es tut mir Leid, dass ich abgehauen bin«, meinte Mom ein bisschen jämmerlich. »Ich habe dich allein gelassen.« »Kein Problem«, antwortete ich. »Du musst mir nur erzählen, wie er war.« Mom musste ein Kichern unterdrücken. »Ich… ich glaube, ich finde ihn gut.« »Denk an seinen Spitznamen >Digger<«, warnte ich sie, »und daran, dass du es mit jeder Einzelnen seiner zahlreichen Liebschaften tun wirst, wenn du mit ihm schläfst.« Komisch. Sind das eigentlich nicht die Dinge, die normalerweise eine Mutter ihrer Tochter sagt? Mom schwieg einen kurzen Augenblick. Ich bin sicher, dass sie wieder grinste. »Danke für die Warnung«, sagte sie dann. »Ich rufe dich morgen an«, versprach sie. »Okay. Bis dahin«, antwortete ich. Dann legte ich auf. Ich kaufte mir an dem goldverzierten, nostalgischen Wagen, in dessen Nähe ich während des Telefonierens gestanden hatte, einen Coffee-to-go und schlenderte allmählich in die Richtung des Hauses, in dem meine Wohneinheit liegt. Die verschiedenen Innenhöfe des Colleges waren in eine eigenartige Atmosphäre getaucht. Die altertümlichen Laternen leuchteten sanft vor sich hin, und überall feierten die Bewohner von Yale den Sieg ihrer Mannschaft. Auch ich hatte mich eigentlich wieder Marty und seinen Freunden anschließen wollen, hatte sie aber im Getümmel nach dem Spiel nicht mehr finden können.
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Das Beste war also nun, nach Hause zu gehen. Und vielleicht noch ein bisschen fernzusehen, mit Tanna und wahrscheinlich auch mit Paris. Sie hatte den Footballplatz ja schon mittags verlassen. Ich bog um eine Häuserecke in einen Innenhof, der noch ein bisschen schwächer beleuchtet war als die übrigen. Im gleichen Moment prallte ich zurück. In einer Ecke stand ein Paar, das heftig knutschte. Ich drückte mich in den Schatten der Hauswand, konnte meine Neugier aber nicht beherrschen und schob vorsichtig den Kopf wieder ein wenig vor. Ein leichter Wind bewegte die Laterne, und ein schwacher Lichtschein fiel auf das Paar. Ein Mädchen mit blonden Haaren. Paris! Gleich darauf bewegte sich die Laterne noch einmal und erleuchtete für den Bruchteil einer Sekunde Paris’ Partner. Ein Jackett an gediegener Qualität. Offener Hemdkragen, dunkle Jeans. Ein leicht zurückweichender Haaransatz über einem Gesicht, das Erfahrung ausdrückte. Erfahrung damit, worauf es im Leben ankommt: ordentliche Weine und guter Sex. Asher Flemming! Ich traute meinen Augen kaum und zog mich eilig zurück in die Richtung, aus der ich gekommen war. Das Interview mit dem Star-Autor – Paris’ sehnlichster Wunsch. Hatte er sich in den wenigen Stunden seit dem Mittag nun erfüllt? War dies der Schlusspunkt einer intensiven Unterhaltung? Oder vielmehr der Auftakt zu einer Reihe intimer Gespräche? Vielleicht sogar ihr Preis? Ich hatte in dem Moment keine Lust, weiter über diese Frage nachzudenken. Aber ich nahm mir fest vor, demnächst mal einen Artikel für die Yak Daily News zu schreiben. Darüber, wie dehnbar der Begriff »Kultur« ist und was er bedeuten kann. Für die einen Klassisches, wie Malerei, Kunst und Theater. Für die anderen Rockmusik, Footballspiele und Essen auf Parkplätzen.
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Und für wieder andere die Muse eines alternden Schriftstellers zu werden. Und auch wenn ich nicht überheblich klingen will – aber dass dieser Artikel eine meiner journalistischen Meisterleistungen werden müsste, dessen war ich mir jetzt schon sicher!
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