Zyklus der Nebelreiche
Band 20
Roman-Reihe von
Renate Steinbach Otto-Stabel-Str.2 67059 Ludwigshafen Alle Rechte vorb...
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Zyklus der Nebelreiche
Band 20
Roman-Reihe von
Renate Steinbach Otto-Stabel-Str.2 67059 Ludwigshafen Alle Rechte vorbehalten © 1986 - 1998
V
ogan legte den Hobel beiseite. Fast zärtlich strich er über das glatte Holz unter seinen Händen. Lächelnd sah er auf, weil seine Frau Sylva zu ihm in die Werkstatt kam und ihm frisch gebrühten Kräutertee brachte. "Du arbeitest zu viel," tadelte sie liebevoll. "Dazu habe ich auch allen Grund," erwiderte er mit bedeutsamem Blick auf ihren noch schwach gewölbten Leib. Doch er unterbrach sein Tun und setzte sich zu ihr, gemeinsam mit ihr das einfache Mahl einehmend. Sie besaßen nicht viel, aber sie litten auch keinen Mangel. Als der vierjährige Maybaran sein Spielzeug weglegte und auf den Schoß des Vaters kletterte, da fühlte sich Vogan sogar sehr reich. Er wollte alles tun, damit seine Kinder glücklich aufwachsen konnten. Unwillkürlich dachte er an seine eigenen Eltern, die ihm niemals auch nur eine Spur von Liebe gönnten. In ihren Augen war er ungeschickt, tölpelhaft und dumm; zu keinem Werk tauglich und, ganz im Gegensatz zur jüngeren Schwester, immer so etwas wie Ballast. Vogan wurde auf Amarra geboren, dem großen Inselreich des Than, der als mächtigster Mann der Reiche nicht nur über die Priesterschaft, sondern auch über die Könige herrschte. In der kleinen Siedlung, in der er aufwuchs, besaß er keine Freunde. Es herrschte gewaltige Aufregung an dem Tag, an dem der Than durch die Siedlung ging. Vogan wagte nicht,
sich bei denen einzureihen, die ihn begrüßten. Er arbeitete weiter an dem mühseligen Werk, Fleinfäden zu reinigen. Vielleicht wollte der Mann dem Than gefallen, der ihm dann mit seinem Gürtel über den Rücken hieb und seine durchaus schlechte Arbeit laut tadelte. Für Vogan bedeutete es die Stunde größter Demütigung, als der mächtigste Mann der Reiche ihn dann ansah. Er wußte nicht so recht, wie ihm danach geschah. Die Priester nahmen ihn mit zum Tempelbereich und wenige Tage später auf einen prachtvollen weißen Segler. Der Than selbst befand sich mit an Bord, aber natürlich achtete er nicht auf den fünfzehnjährigen Knaben, der alles tat, um ihm auszuweichen. Sie segelten sehr weit, fast bis nach Sion. In einer winzigen Hafenstadt kam ein Mann an Bord, der einen zweijährigen Knaben mit sich trug. Vogans Aufgabe bestand darin, für diesen Knaben zu sorgen. Zärtlich fuhr er Maybaran durchs Haar. Der eigene Sohn war ein fröhlicher und auch fügsamer Knabe. Dieses Kind dort, Harkym, war ein verwöhnter, aufdringlicher Bursche, der ständige Aufmerksamkeit verlangte und immer seinen Willen durchsetzen wollte. Fremde Menschen duldete er nicht um sich, doch erstaunlicherweise schloß er sich Vogan sofort an; eine Tatsache, die seinen Vater Tibra für Vogan einnahm. Tibra blieb in Nodher und Harkym wurde Vogan für einige Wochen anvertraut. Als der Knabe dann auch andere Menschen um sich duldete, brachte man Vogan zu seinen Eltern zurück. Er glaubte sich vergessen. Doch eines Tages kam Tibra in die Siedlung. Dieser Mann war Pala des Than, galt als sein Freund und damit auf Amarra auch als ein Mann der Macht. Tibra erhöhte Vogan vor seinen Eltern. Als der Knabe ihn bat, mit ihm gehen zu dürfen, willigte er sogar ein und nahm ihn mit nach Nodher.
Tibra lebte damals in einem großen Gasthaus, das zum Schwarzen Tempel gehörte. Er selbst war allerdings alles andere als ein Priester, wenngleich er niemals übel von den Göttern sprach. Tibra hatte sich der Magie verschrieben und mit dieser Macht Amarra so manchen Dienst erwiesen. Gerrys, der Falla des dunklen Gottes Raaki, betrachtete ihn als Freund, hielt ihn gern im Tempel. Vogan tat alles, um diesem Mann zu gefallen. Er spielte unermüdlich mit Harkym, duldete dessen Tyrannei und hoffte, Tibra werde ihn bei sich behalten. Der Magier finanzierte seine Ausbildung. Anfangs schien er wirklich zu keinem Handwerk tauglich, doch endlich nahm ihn ein geduldiger Tischler als Schüler an und jetzt entfalteten sich auch die Talente des Jünglings. So arbeitete er tagsüber und widmete sich abends dem kleinen Harkym. Wie wenig ihn Tibra als Diener verstand, begriff er erst später. Der Magier vermählte sich mit der Schwester des Königs, wurde geadelt und zum Pecha von Minas erhoben. Vogan fürchtete die neue Umgebung, doch sehr viel änderte sich nicht für ihn. Tibra bestand darauf, daß er seine Lehre beendete und richtete ihm danach die Tischlerwerkstatt hier ein. Vogan arbeitete für seinen Lebensunterhalt. Die Möbel, die er herstellte, fanden auch ohne Protektion des Fürsten ihre Abnehmer. Er war stolz darauf, daß er Tibra nicht mehr brauchte. Anfangs besuchte er seinen Wohltäter manches Mal in dessen Palast, aber seit er sich vermählte und seine eigene Familie besaß, fand er dazu nur noch selten die Zeit. "Willst du nicht für heute aufhören?" unterbrach Sylva seine Gedanken. "Die Nebel sinken schon." "Au ja, spiel mit mir," bat Maybaran, der wußte, daß er den Vater nicht stören durfte, solange er arbeitete.
Vogan trug ihn in den angrenzenden Wohnraum, wo er auf die kleinen Wünsche des Sohnes einging und mit ihm spielte, bis er ermüdete. Inzwischen hüllten die Nebel das Land ein. Die Menschen jener Zeit kannten weder Gestirne noch Niederschlag. Es war der Nebel, der bei Tag hoch oben wehte und des Nachts das Land einhüllte, alle nötige Feuchtigkeit mit sich bringend. Sylva hatte eine Kerze entzündet. Sie kuschelte sich an ihren Gemahl, erzählte von ihrem Tag, den sie im Haus der Eltern verbrachte. "Tut es dir nicht manches Mal leid, daß du Amarra verlassen hast? Möchtest du deine Eltern nicht auch einmal besuchen?" "Das ist unmöglich." Er küßte ihre Stirn, ehe er fortfuhr: "Nur Priester und zur Priesterschaft bestimmte Menschen dürfen Amarra betreten. Ich hätte dieses Land ohnehin verlassen müssen. Ich wollte nie ein Priester sein." "Irgendwie ist das grausam." "Das sieht nur so aus. Wenn man anders denkt als alle Menschen, die um einen sind, wird man einsam. Da ist es besser, in einem anderen Land zu leben. Amarra sorgt schon dafür, daß man einen guten Start bekommt. Heute ist Nodher meine Heimat und ich wollte nirgendwo anders leben." "Auch nicht im Palast des Pecha?" Die Frage klang ein wenig bang. Sylva fürchtete die Macht des Fürsten, von dem man sagte, daß er auch ein Freund des Königs sei.
"Ich ziehe unseren Palast hier vor," versprach Vogan zärtlich. "Für andere mag es eine ärmliche Holzhütte sein. Für dich und mich, da ist es viel mehr, nicht wahr?" "Der Pecha würde dich jetzt auslachen," vermutete sie fröhlich. "Bestimmt nicht." Vogan wußte es besser. "Sein Haus beim Tempel früher war auch nicht viel anders und ihm gefiel es immer. Er hat oft selbst die Speise zubereitet. Einmal haben wir zusammen ein Regal gebaut. Und ein Bett. Es war eine gute Zeit, Sylva." "Trotz des kleinen Tyrannen, der dich immer gequält hat?" spöttelte sie liebevoll. "Harkym war immer liebenswert, fröhlich und sanft - wenn man tat, was er wollte." Vogan lachte leise auf. "Er konnte einen schon zur Verzweiflung treiben mit seinen Ansprüchen. Da ist unser Maybaran ganz anders. Aber weißt du, wenn Tibra ihn rief, dann gehorchte er immer sofort. Seinem Vater gegenüber war er nachgiebig und fügsam. Die beiden haben sich sehr geliebt." "Der Fürst ist doch gar nicht sein richtiger Vater." "Er fand ihn als neugeborene Waise und hat ihn, im Einklang mit dem Gesetz, als eigenen Sohn anerkannt," stimmte Vogan zu. "Er ist immer sein Sohn gewesen, auch später, als der Fürst eigene Kinder hatte. Ich mochte Harkym auch. Ich hätte ihm ein besseres Leben gegönnt." "Im Dorf erzählt nach ihm suchen."
man,
daß
reisende Priester überall
"Ich habe davon gehört," gab Vogan düster zu. "Es ist dem Than nicht mehr genug, ihn ausgestoßen zu wissen."
"Irgendwie macht es mir Angst, wenn ich daran denke, was einem geschehen kann, wenn man einem Mann der Macht widerspricht." "Seymas, der Than, ist nicht nur ein Mann der Macht. Er ist der stärkste inkarnierte Geist. Niemand darf sich ihm widersetzen," belehrte Vogan die Gemahlin, ohne zu spüren, daß er jetzt fast selbst wie ein Priester sprach. "Harkym war dumm und unvorsichtig." Sylva nickte, diese Ansicht teilend. Überall in den Reichen kannte man diese Geschichte. Vor fast fünf Jahren hielt der siebzehnjährige Priesterschüler Harkym dem mächtigsten Mann der Reiche vor, Unrecht zu tun, als dieser einen Chela verurteilte. Er unterwarf sich dem Than auch auf Aufforderung hin nicht, floh mit Tibras Hilfe von Amarra. Seither lebte er unstet. Es war ihm verboten, irgendwo länger als drei Tage zu verweilen. Sollte er einen Tempel betreten, fand er den Tod. Und niemand durfte ihn leiten und ihm somit ein Voranschreiten auf seinem priesterlichen Weg ermöglichen. Der Than erwartete seine Unterwerfung. Dann wollte er ihm die höchste erreichte Ebene der Götter sperren. Harkym hatte den dritten Grad erreicht, kannte Saake, die seltsame, ungeschlechtliche Gottheit der Weisheit. Er war nicht bereit, zu verlieren, was er gewann. Aber jetzt ging das Gerücht, daß er einen Lebenden Kristall besaß. Vogan sah in die rußende Kerzenflamme. Es gab in den Reichen noch ein anderes Licht, klarer, reiner und freundlicher. In Moras, dem Königreich der Sümpfe, dessen Grenze nicht weit entfernt begann, wuchsen auf dem Grund mancher Sumpflöcher erstaunliche Kristalle. Sie erinnerten an trübes Quarz, blieben wertlos. Doch Amarra erwarb diese Steine. Ausgewählte Priesterinnen des Lichts vermochten es, auf eine nur ihnen bekannte Weise Licht in diesen Kristallen zu erwecken. Man nannte sie Flammende Kristalle. Amarra verkaufte sie für viele Solare. In diesen Kristallen gründete der Reichtum des Priesterstaates.
Selten nur geschah es, daß ein solcher Kristall hell aufflammte und dann kein Licht mehr gab. Man wußte von dreizehn dieser Steine, die alle dem Than gehörten, die er verdienten Menschen lieh, wenn es ihm gefiel. Man konnte den eigenen Geist in ihnen zentrieren und dann willentlich ihr Licht beeinflussen - es hell erstrahlen oder sanft schimmern lassen. Jene Kristalle wurden lebend genannt. Vor fast zwanzig Jahren wurde der kleine Harkym nach Wyla entführt, wo man ihn dem alten Kult der Göttin opfern wollte. Sein Vater Tibra suchte ihn, begleitet von Nodhers jetzigem König, aber auch vom Than und vielen hohen Eingeweihten. Um den Knaben zu befreien, mußten die Frauen dort getäuscht werden. In Wyla lag alle Macht in Frauenhänden; Männer galten nicht sehr viel. Innerhalb des Kultes galten sie gar nichts. Lebende Kristalle schufen eine Illusion aus farbigem Licht, das den Frauen wie die gestalt gewordene Göttin erschien. Der vorige Than, Nymardos, besaß eine faustgroße Doppelpyramide, deren Licht gewaltig wirken konnte. Seymas befahl ihm damals, seinen Lebenden Kristall in den dortigen Weiher zu werfen, dessen Wasser danach gespenstisch aufleuchtete. Inzwischen wußte Amarra, daß Harkym jenen Kristall erbeutete und für sich behielt. Dies galt als Raub und anmaßender Hochmut. Jetzt genügte es dem Than nicht mehr, Harkym unstet verbannt zu wissen. Jetzt ließ er ihn suchen, um ihm den Stein zu nehmen und ihn gewaltsam zu unterjochen. Vogan war nicht der einzige, der hoffte, Harkym könne nicht gefunden werden. Da waren mehr, die dem jungen Mann die Freiheit wünschten. Doch die guten Wünsche waren die einzige Hilfe, die er erhielt.
V
ogans Haus lag am Rand des Dorfes. Das sanfte Kerzenlicht aus dem Fenster verlor sich fast sofort in den
dichten Nebeln der Nacht. Die junge Frau, die sich draußen mühsam den Weg ertastete, wußte noch nicht, wie nahe sie einer menschlichen Siedlung kam. Sie fürchtete die Dunkelheit und die Geräusche der Nacht. Aber sie konnte nicht mehr weiter. Sie ertastete einen großen Holzklotz, ließ sich mühsam darauf nieder. Irgendwo schrie ein Vogel. Angstvoll zog sie den Kopf ein, für einige Zeit den Atem anhaltend. Ein kleiner Nager raschelte im Gras. Ihre Augen füllten sich mit Tränen der Angst. Der Nebel hatte längst ihre Kleidung völlig durchnäßt. Sie fror ein wenig, obwohl die Zeit der kalten Nebel noch nicht ganz gekommen war. Sie tastete nach ihrem Bündel, um ihm eine Decke zu entnehmen. Plötzlich schrie sie angstvoll auf, weil eine Schlange über ihre Hand kroch. Sie konnte im Nebel nicht sehen, daß dies nur eine harmlose, kleine Natter war. Sie sprang auf. Der Holzklotz stürzte, sie fiel über ihn und dann spürte sie einen entsetzlichen Schmerz im Unterleib, ehe sie das Bewußtsein verlor.
S
ylva war in Vogans Armen eingeschlafen. Er saß noch da, fast unbeweglich, ihre Nähe genießend.
"Was war das?" Sylva erwachte durch einen entfernten Schrei. erhob sich schon, entzündete eine starke Fackel.
Vogan
"Warte hier," verlangte er, ehe er das Haus verließ. Gleich darauf rief er seine Frau dann doch zu sich. Sylva nahm eine zweite Fackel. Entsetzt starrte sie auf die Frau am Boden.
"Das ist ja fast noch ein Kind," murmelte sie. "Wir müssen sie ins Haus bringen, Vogan." "Dieses Kind bekommt ein Kind," stellte er fest. "Ich fürchte, sie ist ohne Bewußtsein." Gemeinsam brachten sie die Fremde in ihr kleines Haus, betteten sie auf ihr eigenes Lager. Sylva tastete den gewölbten Körper ab. "Alles in Ordnung mit dem Baby?" wollte Vogan wissen. "Ich denke schon. Aber ich fürchte, sie braucht einen Arzt. Du mußt sie zum Heiler bringen." "Ich könnte ihn nicht bezahlen," wehrte Vogan ab. Es gab im Dorf einen Heiler. Der Mann lebte erst seit kurzem hier, schien sein Handwerk auch zu verstehen. Doch er verlangte seinen Lohn, immer. Vogan durchsuchte das Bündel der Fremden. Sie besaß nichts von Wert. Die Fremde stöhnte. Doch trotz aller Bemühungen gelang es Sylva und Vogan nicht, ihre Ohnmacht zu enden. In der Nacht gab es nicht viele Möglichkeiten, überhaupt etwas zu tun. Sie mußten warten, bis sich die Nebel hoben. Abwechselnd hielten sie Wache am Krankenlager, bis sich dann endlich der Morgen zeigte. "Lauf zum Schmid," bat Vogan dann seine Frau. "Er soll mir seinen Wagen leihen. Ich bringe das Mädchen zum Palast." "Ein Arzt dort ist doch bestimmt viel teurer," warf sie ein. "Das schon. Aber ich werde den Pecha um Hilfe bitten. Er wird mich nicht abweisen. Bitte, beeile dich. Ich fürchte, sie wird sonst sterben."
Wenig später dann lenkte er den Wagen auf dem Weg, der zum Haus des Pecha führte. Vogan benutzte die Peitsche. Nur so konnte er sicher sein, in weniger als zwei Stunden sein Ziel zu erreichen.
E
igentlich war Minas eine ärmliche Gegend in Nodher. Hier gab es keine großen Städte, keinen wirklich fruchtbaren Boden und demnach auch keinen reichen Handel. Trotzdem blieb der Palast des Pecha ein beeindruckender Bau. Zweigeschossig aus weißem Stein mit flachem Dach errichtet wirkte er wie das Heim eines Königs. Hinter dem Haus erstreckte sich ein fischreicher See weit ins Land. Vor dem breiten Eingang lag ein Garten, umsäumt von hüfthoher Mauer; groß genug, um auch noch Stallungen und Gesindehäuser zu beherbergen. Obwohl sich diese Mauer von allen Seiten leicht übersteigen ließ, zeigte sich nur das Tor zum Garten bewacht. Die Männer hielten Vogan auf, wollten ihn nicht passieren lassen. Er kannte keinen von ihnen. Zu lange blieb er diesem Haus fern. Daß eine kranke Frau hinten im Wagen lag, interessierte die Soldaten nicht. Seine Worte stießen auf taube Ohren. Schon wollte er den Wagen wenden, um irgendwo die Mauer zu übersteigen und nach jemandem zu suchen, den er kannte, als er seinen Namen hörte. "Vogan? Bist du das wirklich?" Das Mädchen, das da nahte, mochte im Alter der kranken Fremden sein, aber es hatte zweifellos mehr Glück im Leben. Antaya kannte keine Entbehrung. Sie sah ihrer Mutter Aniela, der Schwester des Herrschers, sehr ähnlich; besaß dieselben sanften Züge und das gleiche dunkle Haar. "Herrin, ich brauche Hilfe," rief ihr Vogan zu.
Antaya lachte fröhlich. Auf ihren Wink hin gaben die Wachen den Weg frei. Sie lief leichtfüßig neben dem Wagen her, bis Vogan ihn vor dem Eingang zum Haus zum Stehen brachte. Neugierig schaute Antaya auf den Wagen, erschrak beim Anblick seiner Last. Sie verlangte keine Erklärung. Ehe Vogan auch nur ein Wort zu sagen vermochte, hatte sie schon nach Bediensteten gerufen, denen sie befahl, die Kranke ins Haus zu bringen und nach dem Arzt zu senden. "Das ist aber nicht Sylva, oder?" wollte sie dann wissen. "Nein, Herrin. Wir fanden sie in der Nacht vor dem Haus. Ich dachte, hier wird man ihr helfen." "Es gibt doch einen Heiler in deinem Dorf," wunderte sie sich. "Ich arbeite an einem Schrank." Vogan senkte etwas schuldbewußt den Kopf. "Ehe er nicht fertig ist, habe ich keine Solare." "Wenn Vater dich so reden hört, wird er zornig," drohte Antaya schalkhaft. "Jetzt geh nur zu ihm. Ich kümmere mich um deinen Pflegling." Vogan sah ihr nach. Sie wirkte ungestüm auf ihn, sehr selbstbewußt und etwas zu laut. Er erinnerte sich gut daran, wie sie schon als kleines Mädchen mit ihren Brüdern Harkym und Uhray ritt und focht. Nun, Harkym befand sich nicht mehr in Minas und auch Uhray hatte das Haus des Vaters verlassen, um selbst ein Priester zu werden. Er war ein Jahr jünger als Antaya. Vogan hoffte, noch Gelegenheit zu haben, die anderen Kinder des Fürsten zu begrüßen. Naphara, fünfzehn Jahre alt, liebte den Vater sehr. Sie wollte Magierin werden und das nicht nur, um ihm zu schmeicheln. Und dann gab es noch Krystan, dreizehn Jahre alt. Von ihm wußte Vogan nicht viel. Er richtete sich mehr an der Mutter
aus, die, wie man sagte, die wirkliche Herrscherin in Minas war. Es gab noch einen Menschen hier, den Vogan unbedingt sehen wollte. Bakaar war Priester. Er besaß die fünfte Weihe, war Raakis Kraft begegnet. Amarra befahl ihn an die Seite des Magiers, um für diesen bei Bedarf eine telepathische Brücke zum Inselreich zu errichten. In diesem Rapport war jeder Gedankenaustausch möglich. Bakaar, wie Tibra fast sechzig Jahre alt, folgte dem Magier nur ungern aus dem Tempel nach Minas. Doch inzwischen lebte er sehr gern hier. Er galt als Gefährte des Pecha. Sein Wort besaß Gewalt in Minas. Freudig begrüßte er Vogan. Sie kamen ja beide aus Amarra, das sie fast gleichzeitig verließen. Viele Erinnerungen verbanden sie. Für Vogan war dieser Mann ein wirklicher Freund. Auch Sylva mochte ihn. Bakaar kam oft zu Besuch, verweilte als Gast. Er führte Vogan in einen Gastraum, ließ ihn bewirten und hörte sich seine Geschichte an. "Du hättest Sylva und den Kleinen mitbringen sollen," tadelte er dann. "Ein paar Tage hier würden deiner Familie gut tun. So wirst du wohl nicht bleiben wollen." "Ich möchte vor dem Abend zurück sein," gab Vogan zu. "Das wird Tibra nicht gefallen." "Ich muß ja auch den Wagen zurück bringen. Der Pecha wird mich doch gehen lassen?" "Jetzt bist du so scheu wie als Jüngling," lachte Bakaar fröhlich auf. "Komm, ich bringe dich zu ihm, ehe dich der Mut ganz verläßt." So ganz falsch lag er nicht mit seiner Einschätzung. Vogan fühlte sich nicht wohl in den weiten, hellen Gängen, durch die
er geführt wurde. Und wie vor zwanzig Jahren, so wußte er auch jetzt nicht, wie er dem Magier begegnen sollte. Bakaar schob ihn durch eine mit reichen Schnitzereien verzierte Tür, folgte ihm aber nicht. Vogan befand sich in einem großen Raum, dessen muskovit-verglaste Fenster weit geöffnet blieben. Er hatte nun aber keinen Blick für die stoffverkleideten Wände und die dichten Teppiche am Boden. Er sah nur Tibra an, der bisher in einer Schrift las und sich nun erhob. Vogan überkreuzte die Arme vor der Brust. "Wehe, wenn du niederkniest," drohte der Pecha gemütlich. "Ich habe dich viel zu lange nicht gesehen. Komm, erzähle mir von deiner Familie." Er zog Vogan neben sich auf die Bank, überspielte jede Fremdheit, duldete keine Scheu. Als er vernahm, daß sich Antaya der Fremden annahm, war ers zufrieden und wollte nur noch von Maybaran und Sylva hören und dem Alltag seines einstigen Pfleglings. Das Mittagsmahl mußte Vogan dann mit der fürstlichen Familie einnehmen und er war froh, daß auch Bakaar dabei war. Antaya erzählte von dem Mädchen, das er brachte. "Sie ist wieder bei Bewußtsein, aber sehr schwach," berichtete sie. "Ich weiß bisher nur, daß sie Kalita heißt und aus Salis kommt. Es ist ein weiter Weg von Salis bis nach Minas. Sie scheint ihn zu Fuß gegangen zu sein und das in ihrem Zustand." "Das Kind ist gesund?" "Das wissen wir noch nicht. Der Arzt versucht, die Wehen aufzuhalten. Er meint, es wäre noch zu früh. Ich habe sie im Seitenflügel unterbringen lassen. Es ist immer jemand bei ihr. Aber es sieht nicht gut aus."
"Dann hätte der Heiler im Dorf wohl nicht viel machen können?" "Das kommt darauf an, wie gut er ist," schränkte Antaya ein. Sie lachte Vogan frech an. "Aber es wäre bestimmt sehr teuer geworden." Vogan senkte den Kopf. Er spürte Tibras Blick auf sich, was ihm ein gewisses Unbehagen verursachte. "Hast du Probleme, Junge?" wollte der Magier wissen. "Nein, Herr, keine," beeilte sich Vogan zu versichern. "Es geht uns allen gut." "Aber nicht gut genug, um bei Bedarf helfen zu können," verstand Tibra da. "Das werden wir ändern." "Ihr habt schon zuviel für mich getan," wehrte Vogan beschämt ab. "Du bekommst nichts geschenkt," versprach der Magier grinsend. "Du mußtest dir immer alles verdienen. Und auch jetzt verschaffe ich dir nur ein wenig Kredit, auf den du jederzeit zurück greifen darfst." "Das will ich nicht." "Ich weiß schon, daß du alles allein schaffen willst. Aber denke dir, es sei Sylva gewesen, die Hilfe braucht. Man hat nicht immer die Zeit, um weit zu gehen." "Ist es denn entehrend, wenn man sich etwas schenken läßt?" wollte Krystan da kauend wissen. "Ein Geschenk von Freunden kann nie entehrend sein," erwiderte der Vater nachdenklich. "Es abzulehnen könnte man vielleicht als Hochmut auslegen."
Nach diesen Worten sprach Vogan nicht mehr dagegen. Er ließ es zu, daß Tibra ihn am Mittag in sein Dorf begleitete und in seinem Haus verweilte. Für die Leute dort war dies ein Ereignis. Der Fürst von Minas suchte einen der ihren auf. Er kam nicht, um das Dorf zu inspizieren oder als Herr zu richten. Er zeigte nur, daß der Tischler und seine Familie ihm etwas bedeutete. Sylva reagierte auf diesen Besuch mehr als nur verschüchtert. Aber Maybaran fand es herrlich, mit diesem Mann über die Wiesen zu laufen, seinen Geschichten zu lauschen und dann auf seinen Schultern den Rückweg zu beginnen. Der Kleine lachte fröhlich, plapperte ohne Unterlaß und wurde nicht müde, dem fremden Mann sein Spielzeug zu zeigen. Schließlich hatte er Hunger. Sylva fühlte eine für sie jetzt normale Übelkeit. Sie legte sich etwas nieder, schlief inzwischen. Und Vogan arbeitete in der Werkstatt. "Was meinst du, Kleiner?" meinte Tibra, der sich umsah. "Ob ich das noch kann?" Er setzte Maybaran auf den Tisch, griff nach Schalen und Krügen und begann, das Abendmahl zu bereiten. Viele gute Erinnerungen kamen in ihm auf, als er Getreide quetschte, Wurzeln schabte und Kräuter schnitt. Maybaran schien tausend Hände zu haben und jede einzelne einzusetzen, dieses Werk zu stören. Sylva, inzwischen erwacht, sah mit Erstaunen das fröhliche Einvernehmen zwischen dem Fürsten und ihrem Sohn. Ihr erschien es unbegreiflich, mit welcher Geduld und Sanftmut Tibra den Kleinen abwehrte, ohne ihn wirklich aufzuhalten. Sie lächelte. Vogans Erzählungen erschienen nun in einem ganz anderen Licht. Ihre Furcht vor der Macht des Magiers schwand.
Tibra blieb lange im Haus seines Zöglings. Als er Vogan verließ, wußte der genauso wie seine Familie, daß der Fürst von nun an manches Mal ins Dorf kommen würde. Tibra plante nicht, Vogan den Leuten im Ort zu entfremden, indem er zu viel Nähe demonstrierte. Aber ab und zu wollte er nun doch kommen, vor allem wegen Maybaran, der sich schon jetzt darauf freute.
Z
um ersten Mal in ihrem jungen Leben fand sich Kalita auf einem wirklich weichen und bequemen Lager inmitten eines kleinen Zimmers, das zwar nur spärlich eingerichtet war, das aber mehr Reichtum aufwies als alle Räume, die sie jemals gesehen hatte. Durch das Muskovit im Fenster schimmerte hell das Tageslicht. Der junge Mann im Raum hatte sich als Arztgehilfe vorgestellt und ihr Ruhe empfohlen. Nun trat ein Mädchen mit knabenhaft schlankem Körper ein. Der Mann verneigte sich tief, ehe er hinaus ging. Kalita sah angstvoll auf die Fremde, deren vornehme Gewandung sie weit über andere Menschen erhob. "Ich bin Antaya," stellte die sich freundlich vor, während sie wie selbstverständlich am Rand des Lagers Platz nahm. "Weißt du, was geschehen ist?" Kalita schüttelte scheu den Kopf. "Ein Freund der Familie fand dich ohne Bewußtsein vor seinem Haus und brachte dich zu uns. Du solltest in deinem Zustand nicht mehr reisen, Kalita." "Ihr wißt meinen Namen?" "Du hast ihn am Morgen genannt und auch gesagt, daß du aus Salis kommst. Schau nicht so furchtsam. Es geschieht dir nichts Übles." "Wo bin ich hier, Herrin?"
"In Minas." Antaya griff nach einer Sajik-Beere, schob sie in den Mund und erzählte kauend weiter. "Das Haus gehört dem Pecha. Er ist mein Vater." Besürzt sah sie, wie Kalita da in heftiges Weinen ausbrach und sich nicht beruhigen lassen wollte. "Ist das so weit ab von deinem Weg? Nun beruhige dich doch." Aber Kalita reagierte nicht. Antaya rief den Arzt, der der Kranken einen beruhigenden Kräutertrunk einflößte. Langsam entspannte sich Kalita wieder. Sie atmete ruhiger. Ihr glasiger Blick bewies, daß sie unter dem Einfluß der Droge stand. Leise wollte Antaya gehen. "Bitte, bleibt bei mir," flüsterte Kalita da wie unter Anstrengung. "Ich fürchte mich." Antaya nahm ihre Hand in die ihren. Sie erschrak ein wenig ob der Kälte, die sie verspürte. "Du mußt keine Angst haben," versprach Antaya. "Wir tun alles, um dir zu helfen und wenn du den Weg verfehlt hast, werden wir dich, wenn du wieder gesund bist, nach Hause bringen. Jetzt mußt du dich schonen." Sie legte die Hand auf den gewölbten Bauch des Gastes. "Wegen dem da," fügte sie hinzu. "Gibt es jemanden, den wir benachrichtigen sollen, Kalita? Jemand, der jetzt in Sorge um dich ist?" "Da ist niemand," wehrte die junge Frau verbittert ab. "Ich bin ganz allein." Sie weinte wieder, aber jetzt waren es Tränen des Schmerzes und der Einsamkeit, gegen die kein Kraut helfen konnte. Antaya blieb bei ihr, bis sie endlich eingeschlafen war.
A
m andern Morgen kam Antaya mit lauter Fröhlichkeit wieder in die Krankenstube. Eine Dienerin brachte Kalita das Frühmahl und Antaya bestand darauf, daß sie
alles aufaß. "Du mußt wieder zu Kräften kommen," behauptete sie. Sie setzte sich zu Kalita und fuhr dann, plötzlich sehr ernst, fort: "Du hast gesagt, du bist ganz allein. Aber das stimmt nicht. Du hast bald ein Baby. Hast du in Salis gewohnt?" "Ja, Herrin, aber nicht lange. Ich stamme aus Moras. Dort bin ich aufgewachsen." Antaya schaute sie voll Bedauern an. "Dumme Sitten gibt es dort," sagte sie aber nur. "Das stimmt." Kalita setzte sich mühsam etwas auf und ließ es dankbar geschehen, daß ihr Antaya rasch ein Kissen hinter den Rücken steckte. "Meine Mutter stammt aus Wyla. Ich weiß nicht genau, wie sie nach Moras kam. Aber es war wohl die große Liebe. So hat sie Moras' Sitten eben ertragen." Antaya drückte Kalita bedauernd die Hand. Das mußte schlimm gewesen sein für deren Mutter. In Wyla herrschten die Frauen. Ehen gab es nur selten. Jeder Mann hatte jeder Frau zu dienen, vor allem natürlich seiner Mutter und seinen Schwestern. In Moras aber lag alle Macht bei den Männern. Eine des Nachts allein reisende Frau hatte sich jedem Mann zu fügen, dem sie begegnete. Bei Tage allerdings lebte sie geachtet und frei. Der Vater erzählte oft davon und er tat es auf eine Art, welche die Sitten beider Reiche zu achten schien. "War deine Mutter nie glücklich?" wollte sie wissen. "Doch, solange ich klein war, war alles sehr schön. Aber als ich meine erste Blutung hatte, wurde alles anders. Vater machte mich zur Frau. Das ist in Moras üblich, Herrin."
"Ich weiß," gab Antaya finster zu, der solches Handeln undenkbar erschien. Der Vater bedeutete für sie nie eine Gefahr. Sie konnte ihm alles anvertrauen, an seiner Brust schlafen, sein sanftes Streicheln immer als eine Liebkosung jenseits jeder Begehrlichkeit genießen. Seine Zärtlichkeit war immer nur Wärme, niemals Gefahr. Kalita mußte Schreckliches erlitten haben. "Meine Mutter hat ihm das nie verziehen," erzählte das Mädchen weiter. "Es gab jetzt oft Streit. Und dann kam ein Kristallfischer zu uns. Das sind Leute, die in den Sümpfen tauchen, um die Kristalle zu bergen, in die Amarra Licht binden kann. Er bot viel Geld für mich und Vater wollte, daß ich mich ihm anvermähle." "Du bist verheiratet?" Kalita schüttelte heftig den Kopf. "Ich hatte Angst vor ihm. Er war furchtbar alt, bestimmt über dreissig Jahre. Da hat Mutter ein Bündel gepackt und ist mit mir heimlich geflohen. Sie hat mich zu Verwandten nach Wyla gebracht." "Und ging zu diesem Mann zurück?" Antaya erschauderte. Das war ihr wirklich unverständlich. "Wyla muß dir sehr gefallen haben." Kalita entging nicht der sehnsuchtsvolle Klang in der Stimme Antayas. Sie wußte nicht, wie sehr sich diese wünschte, in jenem Waldreich zu leben und dort die Gewalt der Göttin zu finden. "Es war schrecklich," wehrte Kalita ab. "Es ist nicht normal, wie man dort lebt. Die Frauen jagen und kämpfen, sie kümmern sich um alles. Männer gibt es kaum und wenn, dann sind sie verschüchtert und ängstlich."
Antaya legte den Kopf etwas schief. So ganz konnte das nicht stimmen, dazu wußte sie zu viel über das Waldreich. Was Kalita beschrieb, das traf bestenfalls auf die wenigen Siedlungen zu, in denen der eigentlich verbotene Kult der Göttin noch lebte. "Du bist nicht geblieben," verstand sie. "Ich habe nie zu diesen Frauen gehört," gab Kalita zu. "Ich fühlte mich dort auch immer fremd und ich war froh, als ein Reisender mich mit nach Nodher nahm. Ich habe dann in Salis gelebt und dort in einer Herberge gearbeitet." Ihre Stimme erstarb. Antaya verstand, daß nun der unangenehme Teil der Geschichte folgen mußte und Kalita darüber nicht reden wollte. Doch sie besaß nicht das nötige Feingefühl, um keine Fragen zu stellen. Ihre Neugier war viel zu groß. "Wir sind beide gleich alt," meinte sie harmlos. "Aber du hast viel mehr erlebt als ich. Der Vater deines Kindes, war er Gast in der Herberge? Wolltest du zu ihm?" Kalita weinte wieder. "Er war Gast," gab sie schluchzend zu. "Aber ich weiß nicht, wo er ist." "Er weiß nichts von dem Kind?" "Nein, Herrin, er weiß nichts. Ich möchte nach Hause gehen." "Zurück nach Moras?" zweifelte Antaya. "Mit einem Kind wirst du dort kaum willkommen sein."
"Ich darf es doch ohnehin nicht behalten," weinte Kalita da auf. Sie war froh, weil Antaya ihren eigenen Stand vergaß und sie wie eine Freundin in die Arme schloß. Es tat gut, in all dem Leid ein wenig festgehalten zu werden. "Wer sollte dir das Baby nehmen?" redete Antaya beruhigend auf sie ein. "Es ist doch dein Kind." "Aber ich kann den Namen des Vaters nicht nennen," schluchzte Kalita. "Ich will nicht, daß das Baby in einen Tempel kommt." Antaya hielt sie etwas fester. Jetzt schwieg sie aus Betroffenheit. Es erschien ihr unfaßbar, daß dieses Mädchen sich mit einem Mann einließ, dessen Namen sie nicht kannte. Das Gesetz verlangte aber, daß nach der Geburt die Namen von Mutter und Vater verzeichnet wurden. Niemand mißbilligte eine unvermählte Mutter. Doch eine Frau, die ihrem Kind das Geburtsrecht des Vaternamens vorenthielt, galt als schändlich. Sie besaß kein Recht auf Mutterschaft. Man nahm ihr das Kind, das meist den Tempeln überantwortet wurde, wo es als Helfer aufwuchs. "Helft mir doch, Herrin. Bitte, helft mir," weinte Kalita verzweifelt. "Ich weiß gar nicht, was man da machen kann," bedauerte Antaya. "Ich rede mit meinem Vater, Kalita. Er weiß immer einen Ausweg." Kalita erschrak. Sie klammerte sich jetzt förmlich an Antaya, bat verzweifelt, diesem mächtigen Mann nicht begegnen zu müssen. Antaya gelang es nicht, sie zu beruhigen. So rief sie erneut nach dem Arzt, der Kalita wiederum einen beruhigenden Trunk gab.
T
ibra staunte sehr, als Antaya sein privates Arbeitszimmer betrat. Jeder in diesem großen Haus wußte, daß dieser Raum nicht betreten werden durfte. Hier befanden sich seine magischen Schriften und Utensilien. Hier arbeitete er an seinem inneren Weg. Antaya sah ihn nur bittend an. Da schalt er nicht mit ihr, sondern führte sie ohne Worte in einen anderen Raum. "Ich habe mein kleines Mädchen bisher nur ein einziges Mal so verwirrt gesehen," sagte er zärtlich, sich eng neben sie setzend und den Arm um ihre Seite legend. "Damals hat dir ein frecher Kerl einen Kuß geraubt. Du hast dich nicht einmal getraut, mir seinen Namen zu nennen, aus lauter Angst, ich könnte ihn erdolchen." "Das hättest du bestimmt auch getan," behauptete Antaya. Sie küßte ihn auf den Mund. "Ich liebe dich, Vater. Hast du etwas Zeit für mich?" "Ich bin doch hier. Sage mir, was dich beschäftigt." "Es ist Kalita. Sie stammt aus Moras. Ihr eigener Vater hat sie vergewaltigt." Sie schmiegte sich enger an ihn. "Wie kann ein Mann so etwas tun, Vater?" "Wie soll ich dir das beantworten, Töchterchen? In Moras sind die Sitten sehr alt und sehr anders als in Nodher." "Aber er hat ihr weh getan." "Er wollte sie zur Frau machen. Ein Vater möchte, daß das für seine Tochter eine sehr angenehme Erinnerung bleibt und deshalb will er das keinem Fremden überlassen." Antaya rückte etwas ab und starrte ihn an. "Du findest das gut?"
"Nein, mein Kleines. Ich denke, die Väter in Moras berauben ihre Töchter um die wertvolle Erfahrung der Hingabe aus Liebe. Aber wenn es weder Hingabe noch Liebe ist, dann ist es schmerzhaft und diesen Schmerz wollen sie ihren Töchtern ersparen." In zärtlicher Geste streichelte er ihre Wange. "Ich möchte auch immer jeden Schmerz von dir fernhalten, Antaya. Aber das wird wohl nicht gehen. Nur sollst du immer wissen, daß ich für dich da bin." "Um jeden Mann zu erdolchen, der mir weh tut?" schmunzelte die Tochter. "Du wolltest sogar Nodhers Erben Andraag angreifen." "Der Prinz hat dich immerhin geküßt," erwiderte Tibra heiter. "Ich habe ihn geküßt," widersprach Antaya. "Er ist nett." "Und vermählt." "Ach, Vater." Jetzt errötete sie etwas. "Kalita ist so alt wie ich und sie bekommt schon ein Baby. Sie wollte zurück nach Moras." "Zu Fuß? Von Salis über Minas nach Moras? Der Weg stimmt schon, aber ohne Pferd oder Wagen und völlig mittellos ist er kaum zu schaffen. Ist sie so verzweifelt?" Antaya nickte. "Ich glaube, sie kann nirgendwo hingehen, Vater. Ihr Dienstherr hat sie fortgejagt, als sie ihre Schwangerschaft nicht mehr länger verbergen konnte. Und sie weiß nicht, wer der Vater ist." "Das ist freilich übel - falls es stimmt."
"Bezweifelst du es?" "Ich kenne das Mädchen nicht. Es gibt schon Frauen, die jeden Mann zu sich lassen und nicht einmal nach seinem Namen fragen. Aber im allgemeinen lassen sie sich dafür bezahlen. Und sie kennen ihre fruchtbaren Tage ebenso wie Möglichkeiten, unerwünschte Kinder nicht zu bekommen." "So eine Frau ist sie nicht," wehrte Antaya voll Überzeugung ab. "Er war Gast in der Herberge, in der sie arbeitete. Vielleicht hatte er einen falschen Namen genannt." "Oder es gibt einen Grund, seinen Namen zu verschweigen," ergänzte der Vater. "Wenn sie das Kind nicht haben will, wird es in einem Tempel versorgt, wenn sie schweigt. Hast du schon einmal daran gedacht?" "Sie ist sehr unglücklich, Vater. Ich glaube nicht, daß sie berechnend ist. Ich möchte ihr so gerne helfen." "Das ehrt dich, Töchterchen. Und du hilfst ihr doch auch. Du sorgst dafür, daß sie alles bekommt, was sie braucht und daß die Geburt so leicht als möglich wird." "Das genügt aber nicht," behauptete Antaya. "Kalita will nicht, daß ihr Kind einem Tempel übergeben wird." "Dann muß sie den Vater nennen." "Aber wenn sie ihn doch gar nicht kennt." Antaya sprang auf. "Es muß doch einen Ausweg geben." "Soll ich mit ihr reden?" bot Tibra an, der die Unruhe seiner Tochter gern besiegen wollte. "Das geht auch nicht." Antaya setzte sich wieder zu ihm. "Du bist Pecha, Vater. Manche Leute haben einfach Angst vor dir. Sie würde tausend Tode sterben, wenn sie dir
begegnen müßte." "Na, ich hoffe doch, daß ich nicht so schrecklich bin und du ein wenig übertreibst," schmunzelte er. "Wie war das damals, als du Harkym gefunden hast?" suchte sie weiter nach einem Ausweg. "Er ist ein Tempelkind. Er braucht keinen Vater." "Er hat einen," murrte Tibra, um dann freundlicher fortzufahren: "Tempelkinder werden in Trance gezeugt, damit ein Geist ohne karmische Bindung inkarnieren kann. Da ist weder von Mutter noch Vater ein Name nötig. Aber Tempelkinder gehören in einen Tempel und außerdem wußte ich nicht, daß er so gezeugt wurde." "Du hast ihn einfach zu deinem Sohn gemacht," bestätigte Antaya. "Du hast einfach behauptet, daß er dein Kind sei und das Gesetz war damit zufrieden. Wenn ich jemanden finde, der dasselbe von Kalitas Kind sagt, darf sie es dann behalten?" "Gewiß," gab der Vater zu. "Aber denkst du dabei auch an das Kind? Es bekommt einen Namen, aber damit noch lange keinen Vater." "Aber es hätte eine Mutter und das ist bestimmt viel besser, als wenn man mißachtet in einem Tempel aufwächst." "Bei meinem nächsten Besuch im Schwarzen Tempel nehme ich dich mit," drohte er da scherzhaft. "Dann wirst du sehen, daß dort niemand mißachtet wird. Ich wollte Harkym auch nicht den Tempel ersparen. Ich hatte mich in den kleinen Kerl verliebt." "Für ihn war es bestimmt das beste, das ihm je geschehen ist," schmeichelte Antaya rasch. "Ich vermisse ihn oft."
Tibra zog sie an sich, drückte sie fest. Er liebte alle seine Kinder und es war auch Uhray nicht mehr im Haus. Aber den wußte er nicht nur in Sicherheit, sondern auch in einem erfüllten Leben. Mit Harkym war dies anders. Er befand sich auf einer sinnlosen, schon Jahre währenden Flucht. Auch er vermißte ihn.
K
alita lag reglos auf ihrem Lager. Sie fühlte sich ausgeliefert und allein. Ein wenig hoffte sie, Antaya käme wieder. Das Mädchen erwies sich als sehr freundlich. Es ging etwas von ihr aus, das Kalita großes Vertrauen einflößte. Aber das war verständlich, denn so ganz fremd erschien ihr Antaya niemals. Sie konnte und durfte ihr nur nicht die ganze Wahrheit sagen. Kalita log nicht. Sie kam wirklich aus Salis. Und sie arbeitete dort in einer Herberge. Der Sohn des Hauses schmeichelte ihr, umwarb sie. Daß er ihr das Kind verübelte, konnte Kalita durchaus verstehen. Alles, was sie Antaya berichtete, entsprach der Wahrheit. Mit einer Ausnahme: sie kannte den Namen des Vaters, dessen Kind sie in sich trug. Er kam nach Wyla, wo sie unter den Hohepriesterinnen des alten Kultes mehr geduldet denn geliebt lebte. Er behauptete, er sei der Auserwählte; einer jener Männer, die man aufzog, um der Göttin Töchter zu zeugen. Nornyco, die Führerin der Frauen dort, redete mit ihm, behandelte ihn sogar wie einen richtigen Menschen. Das hatte es zuvor nie gegeben. Und dann bat sie den Fremden, Kalita nach Nodher oder Moras zu bringen. Sie wollte dieses schwache Mädchen aus der Siedlung wissen, aber nicht einem ungewissen Schicksal überlassen. Kalita seufzte. Die Erinnerung schmerzte. Jener Mann trug den Namen Harkym. Er bedrohte sie nicht, sondern erwies sich als fürsorglich und aufmerksam. Er sagte, er könne ihr nichts tun, da er eine wundervolle Mutter und zwei
prächtige Schwestern besäße, die ihn lehrten, eine Frau hoch zu achten. Sie verlor ihre Furcht vor ihm. Daß er ruhelos wandern und nirgendwo länger als drei Tage bleiben durfte, empfand sie zunächst nicht als Bedrohung. Ganz im Gegenteil fand sie so Gelegenheit, viel von der Welt zu sehen und alles, was er ihr zeigte, war faszinierend und schön. Zur Lichtgleiche nach den kalten Nebeln kamen sie nach Salis. Jetzt wußte Kalita, daß sie empfing. Sie bat ihn inständig, endlich einen Platz zu finden, wo sie bleiben konnten. Noch immer glaubte sie, daß es erträglich sein müßte für einen Priester, eine Weihe zu verlieren. Er gewann doch die Freiheit dadurch. Aber Harkym gab nicht nach. Sie weinten beide, als sie sich trennten. Von seinem Kind wußte er nichts und er sollte es auch nicht erfahren. Kalita wollte nicht in das Haus seines Vaters kommen, sondern wirklich nach Moras gehen. Und jetzt konnte sie es nicht wagen, von Harkym zu reden. Vermutlich würde ihr auch niemand Glauben schenken. Die fürstliche Familie mußte doch dann annehmen, sie lüge, um einen Vorteil zu erlangen. Harkym befand sich ja nicht hier; kam vor über einem Jahr zum letzten Mal in seines Vaters Haus. Die Vorstellung, ihr Kind an einen Tempel zu verlieren, ängstigte sie. Harkym sprach nicht viel von den Tempeln. Aber sie wußte, daß Amarra ihn verbannte. Es konnte nicht gut sein für ihr Kind, als Sohn eines Rebellen wider den mächtigsten Mann der Reiche in einem Tempel zu sein. Es gab nur eine Lösung in ihren Augen. Sie mußte fort. Sie mußte es irgendwie schaffen, bis nach Moras zu ihrem eigenen Vater zu gelangen. Ihn interessierten die Tempel nicht und eigentlich auch nicht das Recht. Mühsam erhob sich Kalita. Die Droge umnebelte ihr Denken, ließ auch keine Schmerzen ins Bewußtsein. Sie spürte es nicht. Daß die Fruchtblase platzte, bewies nur das austre-
tende Fruchtwasser. Kalita brach auf dem Gang zusammen, röchelte noch etwas und verlor dann das Bewußtsein.
B
eim nächsten Frühmahl erfuhr die fürstliche Familie von Antaya, daß Kalita entbunden hatte. Naphara wollte von der Schwester alles ganz genau wissen, während Krystan die Aufregung nicht ganz verstand und die Fremde auch nicht für so wichtig hielt. "Bist du denn dabei gewesen?" erkundigte sich Aniela etwas unruhig. "Ich wollte schon, Mutter," gab Antaya zu. "Aber Kalita war ganz leblos, ohne Bewußtsein. Und der Arzt sagte, er müsse schneiden und daß das keine natürliche Geburt sei. Ich habe gespürt, daß er mich loshaben wollte." "Ein kluger Mann," grinste Tibra. "Du verstehst das nicht, Vater," wehrte Antaya ab. "Das sind Frauensachen. Ich war nicht dabei und es ging auch sehr lange. Jetzt muß man abwarten, ob sie es überhaupt überlebt." "Und das Kind?" "Ich zeige es dir, Naphara. Es ist ganz winzig." "Aber gesund?" "Nicht so richtig," schränkte Antaya etwas betrübt ein. "Es behält die Nahrung nicht bei sich, weint immerzu. Der Arzt sagt, es hätte noch nicht geboren werden dürfen. Ich hoffe nur, man kümmert sich richtig um die beiden." "Das wirst du überprüfen müssen," schlug die Mutter vor. "Diese Kalita, irgendwie bist du für sie verantwortlich, Kind.
Also achte auch darauf, man deine Befehle befolgt." Dankbar sah Antaya die Eltern an, die nicht die Absicht hatten, sich einzumischen oder ihr hier genaue Vorschriften zu machen. Man traute ihr zu, die richtigen Entscheidungen zu treffen und sie wollte alles tun, um die beiden ihr anvertrauten Menschen gut zu versorgen.
D
ie kühle Jahreszeit verlangte am Abend schon nach einem wärmenden Feuer. Tibra genoß es, am offenen Kamin zu sitzen, in die prasselnden Flammen zu schauen und dabei seine Gemahlin im Arm zu halten. Aniela fand ohnehin viel zu selten die Zeit zur Muße. Sie regierte Minas, das ihr mehr als genug Arbeit machte. Sie erzählte von ihrem Wirken, doch nur soviel, wie Tibra unbedingt wissen mußte. Er interessierte sich nicht für Politik. Daß er einst sich darum bemühte, zum Pecha erhoben zu werden, das tat er allein für sie. Die Schwester des Herrschers konnte sich ein Leben fernab von Macht einfach nicht vorstellen, zumindest damals. Schließlich unterbrach sie sich. "Antaya ist wohl doch überfordert," vermutete sie dann. "Sie wirkt übermüdet; als müsse sie selbst für Mutter und Kind sorgen." "Das versucht sie ja auch," stellte Tibra fest. "Nur wäre es mir lieber, sie hätte diese Kalita und das Kind im Seitenflügel gelassen und nicht so nahe zu unseren Wohnräumen verlegt. Das dauernde Weinen des Kleinen stört doch empfindlich." Aniela lehnte den Kopf gegen seine Schulter, sah ihn liebevoll an. "Erinnerst du dich, wie es war, als unsere Kinder klein waren?"
"Sag bloß, die haben auch so viel geweint?" "Du bist doch beim kleinsten Mukser immer sofort zu ihnen gelaufen." Aniela lächelte. Manches Mal stritten sie damals, weil ihr Gemahl ihrer Ansicht nach seine Fürsorge übertrieb. "Du hast sie nie weinen lassen." "Dich hoffentlich auch nicht." Er näherte sein Gesicht dem ihren, küßte sie lange und betrachtete danach still ihr geliebtes Antlitz. "Krystan möchte nach den kalten Nebeln mit dir nach Thara reisen," entdeckte sie endlich. "Es wäre mir lieb, wenn du das nicht erlauben wolltest." Tibra hatte vor einiger Zeit davon gesprochen, daß er diese Reise plante. Im Jahr dreihunderteinundzwanzig der neuen Zeit, also vor vierundzwanzig Jahren, reiste er einmal nach Thara, um dort einen Freund zu befreien, dem man versklavte. Die Sklaven Tharas galten zweifellos als die besten in den Reichen, hielt man sie doch von Kindheit an in einem emotionslosen Zustand, der sie mehr zu funktionierenden Maschinen als zu Menschen machte. Ihn widerte dies an. Aber er fand zwei Sklaven, deren Geist zu erwachen schien. Er blieb auf Thara, bildete die beiden zu Sklavenhändlern aus und im Laufe der Zeit erschuf er sich so ein Imperium, dessen Einnahmen jene von Minas inzwischen sogar übertrafen. Er hoffte immer, daß jene Sklaven, die durch die Hände seiner Händler gingen, geistig ein wenig erwachen könnten. Irgendwann mußte sich dann ganz Thara hierdurch verändern. Trotzdem war es ein Geschäft und ab und zu mußte er danach schauen. "Die Reise könnte dem Jungen gefallen," erwiderte er langsam. "Du behütest ihn zu sehr, Liebste. Krystan hat ja
kaum Gelegenheit, die Grenzen seiner Kraft und seines Geistes zu erkunden." "Das heißt also, daß ich vergeblich bitte," verstand sie seufzend. Aber sie lächelte dabei. Natürlich wollte sie alle ihre Kinder umsorgt und geborgen wissen, fernab jeder Gefahr und immer wohl behütet. Und trotzdem irrte Harkym ausgestoßen durch das Land, lebte Uhray weit entfernt auf Amarra und träumte Antaya von einem Leben in Wyla. Sie wußte, daß sie die Kinder nicht halten konnte. Sie würden ihren eigenen Weg gehen und nichts konnte besser sein, als wenn Tibra ihnen bei den ersten Schritten half. "Ich liebe dich," flüsterte Tibra nahe an ihrem Ohr. Aniela schlang die Arme um seinen Hals. Sie schmusten wie ein jung verliebtes Paar, bis sie sich aufsetzte und fast zornig nach dem Weinpokal griff. "Kann nicht endlich jemand dieses Baby verstummen lassen," schimpfte sie. Tibra küßte sie neckisch auf die Augen, ehe er sich erhob. "Ich sehe mir den Kleinen einmal an," versprach er. "Womöglich ist er wirklich krank und dann sollte man ihn so schnell als möglich zu den Priesterärzten im Tempel bringen." Aniela hatte keine Einwände. Sie sprachen schon mehrfach darüber. Es war Antaya, die das stets ablehnte. Die Tochter suchte noch nach einem Weg, dem Kind den Tempel zu ersparen.
D
er Säugling befand sich in einer kleinen Kammer am Ende des Ganges. Man hielt ihn von der Mutter getrennt, die ihn nicht sehen wollte und die auch viel zu schwach war, um ihn zu nähren. Die Frau, die für ihn sorgen mußte, schlief auf ihrem Lager. Tibras Flammender Kristall erhellte den Raum. Den Kleinen fand er in einem winzigen Bettchen, in ein wärmendes Tuch gehüllt. Sein Weinen kam nicht kraftvoll, mehr wie quiekende Laute. Wie sehr er sich dabei anstrengte, bewies das gerötete Gesicht. Für einen Moment dachte der Magier an seine eigenen Kinder in diesem jungen Alter, doch keines von ihnen war so klein und dünn. Vorsichtig hob er den Jungen hoch, nahm ihn in die Arme. Er weinte lauter. Etwas grob stieß er der Frau den Fuß in die Seite. Sie erwachte aufschreiend, zog die Decke vor sich und versuchte, zu knien. "Besorge etwas warme Milch," befahl er mürrisch. Er würde sich später um sie kümmern. Seiner Ansicht nach taugte sie nicht viel, da sie schlief, während das Baby weinte und daran änderte sich auch nichts beim Gedanken daran, daß das schon tagelang so ging. "Antaya möchte, daß du Tharan heißen sollst." Leise und begütigend redete er auf das schreiende Bündel Mensch in seinen Armen ein. "Das wird Gerrys entscheiden, aber für den Moment könnte man es ja dabei belassen.
Nun sei endlich still, Kleiner. So schrecklich ist das Leben gar nicht. Weshalb wehrst du dich denn so dagegen?" Der Kleine schrie weiter. Da öffnete Tibra seine Tunika vor der Brust, wickelte Tharan, wie er ihn nun nannte, aus der Decke und legte sich den nackten Körper an seine nackte Haut. Das Baby schluckte, spuckte. Aber es schrie nicht mehr. Die Wärme, die es hier verspürte, schien sehr beruhigend zu sein. Die Kinderfrau starrte ihren Herrn an. Daß er ein Magier war, wußte man in ganz Minas, auch wenn man es vorzog, nicht daran zu denken. Und es mußte Magie sein, das dieses Kind endlich zum Verstummen brachte. Ängstlich und zitternd stellte sie die Schale Milch ab, froh darüber, daß er sie mit einem Kopfnicken wieder entließ. Tibra fütterte Tharan, gab es aber sehr schnell wieder auf, weil er sah, wie der Kleine die Nahrung nicht behalten wollte. Etwas nachdenklich streichelte er den kleinen Körper. "Magst du keine Milch, Tharan?" murmelte er dabei. "Du hast leider nicht sehr viel Auswahl. Weißt du, Harkym hat auch immer alles ausgespuckt, was ihm nicht schmeckte und geschrien, wenn er es essen sollte." Lächelnd dachte er daran, wie er mit seiner damaligen Gefährtin Erynia in der Nähe des Ortes Leris Harkyms Mutter in den Wehen fand und wie sie den Säugling nach deren Tod bei sich behielten. Damals besaßen sie auch keine Milch. Bei diesem Gedanken erhob sich Tibra, verließ die Kammer und ging durch die weiten Gänge seines Hauses zum großen Küchenraum. Zu dieser späten Stunde wurde hier nicht mehr gearbeitet. Nur Jimmad weilte noch hier. Er arbeitete schon, damals ein Knabe, als Küchenhelfer hier, als Tibra Minas erhielt. Seither war er der Leibkoch des
Fürsten, der, was die Speise betraf, einen ganz anderen Geschmack hatte als die Fürstin und deren Kinder. Der Mann verneigte sich tief. "Habt ihr Wünsche, Herr?" "Ich nicht," wehrte Tibra heiter ab, "aber mein kleiner Freund hier ist am Verhungern." "Maddig-Milch?" "Die mag er nicht, Jimmad. Weißt du, wie man Getreide ausschleimt?" Diese Frage war überflüssig. Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als Jimmad bereits begann, den Befehl zu befolgen. Wenig später beobachteten die beiden ungleichen Männer gespannt den Säugling und sie empfanden es gleichermaßen als großes Erfolgserlebnis, als der Kleine den Schleim fast gierig aufnahm und auch behielt.
Aniela ruhte schon, als Tibra ihr gemeinsames Schlafgemach betrat. Er legte sich zu ihr. Im Halbschlaf drehte sie sich zu ihm, um sich an ihn zu kuscheln. Dann erstarrte sie fast, setzte sich hastig auf. Der Gemahl hatte ein Tuch über den Flammenden Kristall gelegt, doch es ließ genug Licht hindurch, um Sehen zu können. Belustigt lächelte er sie an, doch sie starrte nur auf den nackten Säugling in seinem Arm. "Es ist nur für diese Nacht," versprach Tibra. "Er schläft gerade so friedlich und ich bin froh, wenn ich kein Weinen in meinen Träumen hören muß." Aniela bettete sich wieder nieder, legte den Arm um seine Seite.
"Nur für diese Nacht?" vergewisserte sie sich. "Versprochen, Liebste." Sie schwiegen einige Zeit, ehe er wieder das Wort ergriff. "Weißt du noch, wie wir hier ankamen?" "Aber ja." Sie gähnte. "Ich habe mich gewundert, weil es zwei Schlafräume, aber keine Kinderzimmer gab. Der zweite Schlafraum war dann immer für die Kinder da, solange sie klein waren." Sie hob ruckartig den Kopf. "Nein, Tibra, nein! Du solltest nicht einmal daran denken." "Es war eine gute Zeit, Aniela. Ich denke gern an sie zurück." Sie sagte nichts mehr, legte sich nieder. Unzählige Gedanken schossen ihr durch den Kopf, ehe sie endlich einschlief. In dieser Nacht erwachte sie, weil der Säugling leise weinte. Doch Tibra reagierte schon, erhob sich leise. Sie wußte, daß er den Kleinen fütterte und reinigte und sie wußte auch, daß er darin keine Last und Störung sah. Einen zärtlicheren, hingebungsvolleren Vater als ihren Gemahl konnte sie sich nicht vorstellen. Er war es gewesen, der sich immer um die Kinder kümmerte, von Anfang an. Sie herrschte als Fürstin, auch wenn es in den Nebelreichen nicht üblich war, daß eine Frau das Amt versah. Und er widmete sich der Familie und sorgte dafür, daß sie eine Gemeinschaft bildeten.
K
alita schreckte aus unruhigen Träumen hoch. Das Weinen hatte geendet. Kein Geräusch drang zu ihr. Für sie konnte das nur eines bedeuten: ihr Kind mußte gestorben sein. Sie weinte nicht. Sie hatte den Säugling nicht einmal gesehen und bisher immer nur die Schande gefürchtet, die Mutter eines Kindes zu sein, das keinen Vater hatte. Plötzlich war alles ganz einfach, lösten sich alle Probleme. Sie mußte
nicht mehr nach Moras und sich dort ihrem Vater und einem von ihm bestimmten Gemahl ausliefern. Sie konnte zurück nach Salis. Ohne Baby war sie in der Herberge wieder willkommen, sie wußte es. Sie würde arbeiten und auch Reue zeigen. Ganz sicher fand sie Verzeihen. Sie fühlte sich noch sehr geschwächt. Aber jetzt hatte sie wieder eine Zukunft. Die Hoffnung stärkte sie. Kalita verließ ihr Lager. Man war freundlich zu ihr gewesen in diesem Haus. Es fiel ihr nicht leicht, nun alles einzupacken, was ihr irgendwie brauchbar erschien. Sie wollte niemanden berauben, vor allem Antaya nicht. Aber wenn sie diese Dinge verkaufte, konnte sie einen Wagen finden, der sie nach Salis brachte. Leise und unbemerkt verließ sie ihren Gastraum, schlich durch die Gänge und schlüpfte endlich durch eine Seitentür ins Freie. Bei den Stallungen verbarg sie sich, bis der Morgen nahte. Und dann verließ sie Minas, um endlich ein Leben zu suchen, das ihr allein gehören sollte.
A
niela wirkte überrascht, als Tibra am Morgen nach einer Kinderfrau schickte. Mißtrauisch sah sie ihn an, doch er übergab den Säugling wirklich dieser Frau. Tharan weinte. Mit mürrischer Stimme gab Tibra Anweisungen, wie der Kleine zu versorgen sei. Er fuhr die Frau an, weil sie seiner Ansicht nach das Kind zu nachlässig hielt. Aber er schickte sie weg. Beim gemeinsamen Frühmahl fiel ihnen Antayas verweintes Gesicht auf. Die Tochter berichtete, daß Kalita in der Nacht geflohen sei und einiges gestohlen habe. Für sie verhielt sich die junge Mutter völlig unverständlich, zumal das Kind doch in dieser Nacht zum ersten Mal durchschlief und damit wohl außer Gefahr sei. "Wir bringen Tharan nachher zum Tempel," entschied Tibra. "Kalita laß einfach gehen. Sie wird keine Reichtümer gestohlen haben."
"Nein, das nicht," gab Antaya zu. "Nur einen Achat-Pokal und... Wie hast du den Kleinen genannt?" "Du hast ihm diesen Namen gegeben," grinste der Vater. "Wir werden sehen, ob Gerrys damit einverstanden ist." "Was hat denn der wunderte sich Naphara.
Falla
mit
dem Baby zu tun?"
"Es ist ein Junge. Wenn es ein Mädchen wäre, würde in allem die Falla Salina entscheiden. Nun schaut nicht so entgeistert," bat er. "Man wird schon gut für den Kleinen sorgen." Das Wimmern des Säuglings drang bis zu ihnen. "Er ist bestimmt krank," vermutete Antaya. "Er ist nur hilflos," wehrte Tibra ab, "und ziemlich allein. Vielleicht spürt er, daß ihn niemand wirklich haben will." "Können wir ihn nicht behalten?" bettelte Naphara da. "Ein Kind ist keine Feldkatze, die man am Wegrand findet," tadelte die Mutter. "Man kann es nicht behalten wollen wie einen Gegenstand." "Aber man kann es so weggeben," schimpfte Antaya leise und enttäuscht. "Ihr seid doof," hielt Krystan da den Schwestern vor. "Wenn ihr ein Baby wollt, bekommt es doch selbst. Was geht uns der fremde Balg an?" "Harkym war auch mal fremd!" fuhr ihn Antaya an.
"Damals hatte Vater keine eigenen Kinder!" "Das stimmt nicht." Antaya war zu jedem Streit bereit. "Shannar gehört nur nicht zu uns." Tibra warf Aniela einen raschen Blick zu. Es lohnte sich seiner Meinung nach nicht, in den Streit einzugreifen. Für die Kinder war Shannar wirklich ein Fremder. Sie kannten diesen Sohn ihres Vaters nicht einmal. Shannar war schon ein Jüngling, als Harkym geboren wurde. Seine Mutter Dimira nahm ihn mit sich, als sie Tibra verließ. Er hatte ihn weit über zehn Jahre nicht gesehen, als er von ihm hörte. Damals kehrte der Herrscher als Erbe des Reiches aus Amarra zurück. Ilkonys beobachtete Shannar bei der Tötung seines Dienstherrn. Aus Angst vor Strafe versuchte der Jüngling, den Prinzen zu erdolchen. Inzwischen war er ein Mann, fast vierzig Jahre alt, versklavt im Königreich Thara. Er gehörte wirklich nicht zu ihnen und war sogar ein Fremder für Tibra. "Aber Harkym tut es, wie?" Krystan wurde nun wirklich böse. "Und wenn es nach dir geht, auch dieser Tharan. Warum müssen Fremde immer wichtiger sein als wir?" "Genug!" rief Aniela da mit scharfer Stimme. "Ich will mit dir reden, Krystan. Sofort." Sie wartete keine Reaktion ab, sondern verließ sofort den Raum. Die Kinder hatten unwillkürlich die Köpfe eingezogen. Wenn die Mutter so herrisch sprach, war sie wirklich zornig und dann gab man besser kein Widerwort. Krystan folgte ihr in das Arbeitszimmer. Sogar hier war das leise Weinen des Säuglings zu hören. "Mutter, ich..."
"Schweig," fuhr sie ihn wütend an. "Wie kannst du deinem Vater vorwerfen, daß irgend jemand auf der Welt für ihn wichtiger sei als seine Kinder? War er nicht immer für dich da? Hattest du jemals Anlaß, eifersüchtig zu sein auf Harkym? Als du krank warst, hat er dich auf seinen Armen herumgetragen - stundenlang, weil du immerzu geweint hast. Nächte hindurch saß er an deinem Bett. Er hat dich reiten und fechten gelehrt. Er brachte dir das Schwimmen bei. Und hat er nicht immer Zeit für dich? Wie kannst du es wagen, ihn so zu verletzen?" "Das wollte ich doch gar nicht," wehrte der Knabe schwach ab. "Ich will keine Ausflüchte hören," schimpfte sie weiter. "Weißt du überhaupt, was dein Vater durchmacht? Harkym wird in allen Reichen gesucht, gejagt wie ein Tier. Und du distanzierst dich von deinem Bruder?" "Ich mag ihn doch, Mutter. Aber Tharan..." "Tharan ist genauso hilflos, wie es Harkym war," fuhr sie ihn an. "Wenn dieser Säugling deinem Vater helfen kann, seinen Schmerz zu ertragen, wirst du nicht dagegen reden. Du verlierst nichts dadurch. Hast du mich verstanden? Du wirst diese Entscheidung deinem Vater überlassen. Und ich will, daß du dich bei ihm entschuldigst. Sofort!" Krystan verstand diesen zornigen Ausbruch nicht. Er fühlte sich auch nicht schuldig, aber er gab keine Widerworte und war froh, weil die Mutter ihn deshalb sehr schnell wieder gehen ließ.
T
ibra grinste. Krystan wirkte, als sei er geprügelt worden, wie er da mit hängenden Schultern vor ihm stand und nach Worten suchte.
"Hat sie sehr geschimpft?" erkundigte er sich sanft. "Und wie." Krystan atmete auf. Der Vater schien nicht böse zu sein. "Sie denkt, daß ich Harkym nicht leiden kann." "Das ist Unsinn." Tibra fuhr ihm kurz durchs Haar. "Niemand denkt das. Sie beruhigt sich schon wieder, Junge. Begleitest du mich zum Tempel? Dann sieht sie, daß wir einander verstehen." "Du willst zum Tempel?" "Natürlich. Das sagte ich doch." "Aber..." Krystan unterbrach sich selbst. "Sag mal, kann es sein, daß Mutter gar nicht auf mich, sondern auf sich selbst wütend ist?" "Was meinst du?" Krystan ließ sich in einen Sessel fallen. Jetzt wirkte er sehr vergnügt. "Sie hat dir bestimmt verboten, Tharan zu behalten," behauptete er. Tibra setzte sich langsam auf die Armlehne zu ihm. "Nicht direkt verboten," schränkte er ein. Er erzählte, wie er am Abend das Kind zu sich nahm und wie es zwischen ihm und Aniela die Nacht verbrachte. "Begeistert war sie natürlich nicht davon. Aber ich habe ihr versprochen, daß das nur für diese eine Nacht gilt." Krystan griff nach seiner Hand, legte die Wange hinein. "Mutter denkt, Tharan könnte dir Harkym ersetzen," gab er zu. "Ich glaube das aber nicht, Vater. Du würdest ihn um
seiner Selbst willen lieben. Wie jeden von uns. Sie sagt, es sei allein deine Entscheidung." "Hey, ich hatte nie die Absicht, den Kleinen zu behalten," versicherte Tibra dem Sohn. "Deine Schwestern haben da einen Gedanken aufgebracht, der grundlos ist. Und du hast einfach zu heftig reagiert." "Du bist mir nicht böse, nicht wahr?" "Ich liebe dich, Krystan. Wie wäre es, wenn du dich jetzt mit deinen Schwestern versöhnst und ich deine Mutter beruhige?" Der Vorschlag gefiel dem Jungen. Während er zu Naphara und Antaya eilte, suchte Tibra die Gemahlin auf.
A
niela war wirklich unruhig. Sie wußte, daß sie Krystan Unrecht tat. Das gefiel ihr nicht. Sie würde mit ihm reden und versuchen, es ihm zu erklären. Aber das mußte warten. Ihre Arbeit, die Termine gingen vor. Und dann ließ sie alle Menschen im Empfangssaal warten, was sie noch nie zuvor tat. Sie ließ sich Tharan bringen. Der Kleine weinte jetzt nicht mehr. Er schlief, als man ihr das Kind in die Arme legte. Ein warmes Tuch hüllte den kleinen Körper ein. Aniela trat durch das große Fenster ins Freie, ging langsam zum Ufer des Sees, wo sie sich auf eine Bank setzte. Nachdenklich betrachtete sie das Kind. Sie dachte an die Zeit, als sie Antaya unter dem Herzen trug. Niemand wußte zunächst von ihrer Schwangerschaft. Sie wagte es nicht, mit ihren Eltern darüber zu reden, da diese Tibra nicht mochten. Einzig der Bruder stand zu dem Magier. Aber es hätte nichts geschehen können, das sie bewegen würde, ihr Baby im Stich zu lassen. Sie verstand Kalita nicht. Diese junge Frau überließ ihr neugeborenes Kind fremden Menschen und einem ungewissen Schicksal.
Was immer sie erlitt, in Anielas Augen konnte sie nicht entschuldigt werden. Antaya sagte, der Vater sei unbekannt. Aber jetzt hatte der Kleine auch keine Mutter. Warum kämpfte Kalita nicht um ihn? Sie wollte ihn ja nicht einmal sehen. Ob der Vater des Kindes eine grausame Erinnerung darstellte? Aniela dachte nicht weiter darüber nach. Tharan brauchte Menschen, die für ihn sorgten. Tempel kümmerten sich nicht um Waisen, wohl aber um Kinder, deren das Recht auf den Namen der Eltern beschnitten wurde. Raaki, der dunkle Gott des Todes, besaß einen prachtvollen, hellen Tempel, der, sofern man ein Pferd nicht schonte, in einem Tag erreicht werden konnte. Tibra lebte einst dort. Er besaß Freunde in diesem Bereich. Tharan würde dort zwischen anderen Kindern aufwachsen, ein Handwerk erlernen und seine Arbeitskraft in den Dienst des Tempels stellen. Eigentlich hatte alles seine Richtigkeit. Sie lächelte ihren Gemahl an, der sich eben wortlos neben sie setzte, den Arm um ihre Schultern legte und sie etwas an sich zog. Sie saßen oft hier am See, früher. Und oft hielt Aniela dann eines ihrer Kinder im Arm. "Habe ich Harkym je spüren lassen, daß ich nicht seine Mutter bin?" erkundigte sie sich leise. "Ich meine, er wußte es immer. Er war fast acht Jahre alt, als er anfing, mich Mutter zu nennen. Ich bin nur nicht sicher, ob ich nicht doch manches Mal unsere eigenen Kinder ihm vorgezogen habe." "Sollte ich mir dieselbe Frage stellen?" erwiderte er nachdenklich. "Ich glaube nicht, daß wir uns etwas vorwerfen müssen, Aniela." "Der Kleine hier, wir könnten seine Großeltern sein, Tibra. Ich frage mich, ob wir uns ein so kleines Kind noch einmal antun sollen. Und ob wir es ihm antun dürfen, bei uns zu sein."
Tibra streichelte zärtlich das kleine Gesicht des Kindes. "Wie kommst du nur auf solche Gedanken?" wunderte er sich. "Du mußt kein Mitleid mit ihm haben. Er wird im Tempel gut versorgt." "Wird er dort auch geliebt?" Sie lehnte den Kopf gegen seine Schulter. "Es sieht ja nicht so aus, als wenn unsere Kinder uns so bald zu Großeltern machen wollten. Harkym hat gewiß andere Sorgen. Uhray denkt nur an eine Weihe. Antaya möchte nach Wyla und alles andere als sich vermählen. Und Naphara und Krystan sind zu jung." "Du willst Tharan als dein eigenes Kind anerkennen?" vergewisserte sich Tibra, dem der Gedanke gefiel, noch ehe er ihn zu Ende dachte. "Ich weiß nur nicht, was Ilkonys dazu sagen wird," gab sie zu. "Als Herrscher gefällt es ihm wohl kaum, der Oheim eines Kindes zu sein, von dem wir so richtig gar nichts wissen." "Du wirst ihm einen Brief schreiben und einen Boten zu ihm senden." "Und wenn er es erlaubt, bleibt Tharan bei uns?" Tibra lachte leise auf. "Ich habe ihn nie um Erlaubnis gefragt, wenn unsere Familie Zuwachs bekam," grinste er. "Wir informieren ihn natürlich. Er wird sich freuen, wenn er liest, daß du glücklich bist." "Und Andraag?" "Keine Ahnung. Sein Erbe ist mir nicht vertraut. Aber wenn wir den Kleinen anerkannt haben, kann er es auch nicht
mehr ändern. Und es ist weit von Minas zur Burg. Andraag muß Tharan nie begegnen." "Was werden die Kinder dazu sagen?" "Die stehen alle drei am Fenster," wußte Tibra, sacht lächelnd, "beobachten uns ununterbrochen und warten darauf, daß wir uns endlich küssen. Dann wissen sie, daß sie jetzt einen kleinen Bruder haben." "Dann küsse mich doch, Tibra." Er brachte sein Gesicht ganz nahe zu ihrem. "Wann habe ich dir zuletzt gesagt, daß ich dich liebe?" "Gestern." "So lange ist das her? Das ist unverzeihlich, Aniela. Ich sollte es dich jede Stunde wissen lassen." Tharan erwachte, eingeklemmt zwischen die beiden großen Menschen, die sich so nahe waren. Er spürte Wärme und er war es sehr zufrieden.
A
ntaya und Naphara zeigten sich mehr als nur erfreut über den Familienzuwachs. Krystan nahm es mit etwas Mißtrauen hin. Er fürchtete, daß sich nun alles nur noch um Tharan drehen würde. Erleichtert erkannte er seinen Irrtum. Daß die Mutter auch weiterhin ihre Zeit mehr Minas als diesem kleinen Menschen widmen würde, daran gab es nie einen Zweifel. Aber auch der Vater beschäftigte sich nicht ununterbrochen mit Tharan, wenngleich er selbst für ihn sorgte und ihn viel auf dem Arm mit sich trug. Trotzdem fand der Magier die Zeit, mit dem Sohn zu reiten oder auf den See zu rudern. Ihre Gespräche wurden nicht weniger und vor allem nicht flacher.
Naphara, die begann, sich magisches Wissen anzueignen, erhielt weiterhin Unterweisung und Antaya, deren Sinn mehr der Kampfkunst galt, focht mit dem Vater und mit dem Bruder. Eigentlich hatte sich so gar nichts verändert. Krystan fand, daß das ein gutes Zeichen war. Die meiste Zeit verbrachte er ohnehin mit seinen Lehrern und vor allem seinen Kameraden. Es gab keinen Grund, mürrisch zu sein. Aniela und Tibra hatten Tharan als ihr eigenes Kind anerkannt und so in den Büchern verzeichnen lassen. Dem Gesetz genügte dieser Anspruch. Sie waren jetzt für den Kleinen in vollem Umfang verantwortlich. Sollte Kalita jemals wieder auftauchen, so hatte sie keinerlei Recht an dem Kind. Aniela schrieb einen langen und ausführlichen Brief an ihren Bruder, siegelte ihn ab und übergab ihn einem beritteten Boten. Nur auf ihr Drängen hin verfaßte auch Tibra einige Zeilen. Der Bote würde einige Tage unterwegs sein. Aniela wußte, daß bis zu seiner Rückkehr eine gewisse Unruhe in ihr herrschen würde. Tibra nahm es gelassener. Sie verletzten kein Recht. Ilkonys würde eine formelle Verwandtschaft mit diesem fremden Kind ebenso hinnehmen, wie er Harkym stets als Verwandten betrachtete. Überdies waren sie wirkliche Freunde, die füreinander einstanden. Anders mochte es wirklich mit Nodhers Erben sein, der noch nicht einmal zwei Jahre an der Seite des Vaters herrschte. Ehe er aus Amarra kam, weilte er einige Wochen unerkannt in Nodher, streifte mit Harkym durch das Land. Damals beobachtete er den Prinzen Changanar und dessen Bruder Maggelan, wie sie eine Frau des Volkes sich durch Macht gefügig machten. Andraag griff ein, befreite sie. Maggelan gab ihm dafür zwanzig Peitschenhiebe. Eine Narbe auf seiner
Wange würde stets daran erinnern. Beide Prinzen verurteilte Nodhers Erbe zur Leibeigenschaft, zumal sie versuchten, ihn danach zu töten. Sein Leben verdankte er Harkym, der ihn befreite. Der Abschied zwischen den beiden Männern fiel sehr frostig aus. Andraag fand nicht sofort den Mut, sich gegen seinen Vater zu stellen und verlängerte dadurch Harkyms Kerkeraufenthalt. Ilkonys lastete Andraag das Schicksal seiner Söhne immer an. Er ließ seinen Erben spüren, wie wenig er ihm zugetan blieb. Vor einem halben Jahr erhob sich dann der Stamm der Tarden gegen Nodher. Als Pecha mußte Tibra mit ins Heerlager, wo er sah, wie fremd sich Vater und Sohn blieben. Andraag versuchte alles, den Tarden zu helfen. Doch Ilkonys verbündete sich mit den Pechas gegen ihn. Tibra erinnerte sich an den Schrecken, den er empfand, als Andraag ihn heimlich in sein Zelt holen ließ und ihm die Degenspitze an die Brust legte. Nodhers Erbe erlaubte kein Widerwort. In dieser Stunde vermählte er sich mit Alphena, einer Tardin aus dem Geschlecht der Mikeeta. Er verbot Tibra, darüber zu reden. Er wollte, daß der Vater mit den gefangenen Tarden auch die Gemahlin seines Erben hinrichtete und dies wäre geschehen, wenn Tibra geschwiegen hätte. Doch er schwieg nicht. Ilkonys reagierte bestürzt, erkannte seine falsche Haltung und söhnte sich mit Andraag aus. Nodhers Erbe entließ daraufhin die Prinzen aus der Leibeigenschaft. Er verbannte Prinz Changanar nach Thara und ließ Maggelan zurück in die Burg kommen. Im Erinnern rieb sich Tibra nachdenklich das Kinn. Andraag gab ihm einen kraftvollen Hieb für seinen Ungehorsam, bedrängte ihn aber nicht weiter.
Er kannte Nodhers Erben wirklich nicht und konnte nicht abschätzen, ob diesem Tharan gefiel. Nun, wenn dem nicht so sein sollte, wollte er den Knaben einfach der Burg fern und aus dem Gedächnis des Prinzen halten. Etwas wirklich Übles konnte hierdurch nicht geschehen.
B
urg Nodher erhob sich als uneinnehmbarer, trutziger Bau auf einem bewaldeten Hügel. Dicke Mauern und gewaltige Wehrtürme verhießen Schutz. So düster die Burg wirken mochte, im Innern erwies sie sich als hell und freundlich. Die Mauern umschlossen nicht nur die eigentliche Burg, auch den Burghof mit seinem Brunnen, die Stallungen, ein paar wenige Häuser und einen hübschen Garten mit Weiher und kleinem Rundtempel. Es ließ sich gut hier leben. Die königliche Familie lebte nicht unbedingt eng zusammen. Jeder ging seiner eigenen Neigung und seiner eigenen Arbeit nach. Nur die ersten Tagesstunden führten sie immer zum gemeinsamen Frühmahl zusammen, bei dem kaum einmal ein Gast geduldet wurde. Maggelan, noch keine achtzehn Jahre alt, hatte sich etwas verspätet. Mit hochrotem Gesicht trat er ein. Pünktlichkeit galt viel in dieser Stunde. Mit entschuldigendem Blick verneigte er sich sehr tief in Richtung Andraag. Nodhers Erbe hatte ihm die Peitsche nie verziehen. Er überwachte ihn sehr genau, verlangte ein Höchstmaß an Arbeit, duldete keine Fehler und tadelte ihn laut und öffentlich bei jedem Versäumnis. "Nicht schimpfen," bettelte die zehnjährige Zaphe. Da lächelte Andraag und schwieg. Die kleine Schwester war der erste Mensch, dessen Vertrauen er in Nodher gewann.
Ihr gegenüber verhielt er sich stets nachsichtig und freundlich. Ihr Bruder Orest, vier Jahre älter als sie, hatte ein mehr gespaltenes Verhältnis zu ihm. Andraag war auch sein Herr, viel mehr als sein Bruder. Er konnte sich nicht über ihn beklagen, aber irgendwie verübelte er ihm die Strenge, mit der er Maggelan begegnete. Jiddan, Pala des Königs und damit dessen Vertrauter, Freund und Ratgeber, gehörte nicht zur Familie. Trotzdem nahm er stets am Frühmahl mit teil. Er erhob sich, drückte Maggelan stumm auf einen Stuhl. Andraag schätzte ihn, vielleicht, weil sie beide aus Amarra kamen. Einst leitete Jiddan den Herrscher zur vierten Ebene. Er selbst war Raakis Mann, besaß die fünfte Weihe. Manches Mal verließ er auf Wochen die Burg, um dann in einem Tempel allein seiner Priesterschaft zu leben. Auch Königin Cynara kam aus Amarra. Auf dem Weg nach Wyla rastete sie einst in der Burg, wo sie Ilkonys begegnete. Damals brachte sie ihr Tempelkind Changanar mit. Lange Jahre hindurch hielt Ilkonys es für möglich, daß Changanar sein Erbe sei, den er in Trance auf Amarra zeugte, wie es der Sitte entsprach. Prinz Willar, etwas jünger als sein Bruder Ilkonys, tadelte Maggelan mit leiser Stimme für sein Säumen; verstummte jedoch sofort, als er Andraags Blick auf sich spürte. Nodhers Erben fühlte er sich in allem unterlegen. Ihm hätte Changanar als Herrscher durchaus gefallen. Alphena saß still am Tisch. Dieses Leben war ihr noch immer fremd. Sie wuchs in einer kleinen Bergsiedlung auf, liebte das Reiten und den Gebrauch der Waffen. Als Andraags Gemahlin war sie eine Frau der Macht. Doch als sie sich ihm in jener Nacht im Heerlager anvermählte, da war nie geplant, dieser Ehe Bestand zu geben. Sie sollte am andern Morgen sterben. Eine Scheidung war von ihrer Seite aus nicht möglich, da sie ihm den Liebeseid schwören mußte und damit
auf dieses Recht verzichtete. Er hingegen könnte die Ehe jederzeit auflösen. Andraag tat es nicht, wohl wissend, daß dies einen erneuten Tardenaufstand provozieren mußte. Sie zuckte ein wenig zusammen, als sie kurz seine Hand auf der ihren spürte. Er lächelte sie an. Alphena konnte sich nicht beschweren. Andraag behandelte sie sehr höflich, ließ ihr alle Freiheiten, rührte sie niemals an und half ihr in allem auf eine sehr unaufdringliche, umsichtige Weise. Trotzdem, das wußte sie, war sie seine Gefangene und eine Geisel des Friedens. Er bestimmte ihre Rechte und Pflichten, ihre Bediensteten und ihren Umgang und sie mußte es geschehen lassen. "Ich hörte, du hast aufsatteln lassen, um nachher auszureiten," sagte er in leichtem Plauderton. "Mit eurer Erlaubnis, Herr, möchte ich zum Waldreiher reiten." "Die brauchst du nicht." Andraags Lächeln vertiefte sich. "Aber es nicht gut, wenn nur drei Gardisten um dich sind. Ich habe mir erlaubt, dein Gefolge etwas zu vergrößern." Alphena schwieg. Etwas verkrampft begann sie, Speise zu sich zu nehmen. Er wollte sie vermutlich nur beschützt wissen. Aber sie fühlte sich überwacht, wenn zu viele seiner Leute um sie waren. "Willst du nicht erzählen, welche Botschaft Aniela sandte," warf nun Cynara, an Ilkonys gewandt, ein. Sie mochte Alphena und wollte sie etwas aus dem Mittelpunkt ziehen. Der Herrscher hatte am späten Abend noch den Boten empfangen und die Nachricht der Schwester erhalten. Er verlas den Brief der Schwester nicht, der in weiten Passagen sehr persönlich gehalten war und noch weniger das Schreiben Tibras, das sich ausschließlich an ihn richtete.
Aber er erzählte von Tharan. "Und sie wissen gar nichts Kindes?" vergewisserte sich Cynara.
über
die
Eltern
des
Ilkonys schüttelte den Kopf. Er hatte alles erzählt, was er wußte und er zweifelte nicht an der Aufrichtigkeit der Schwester. "Der Magier hätte dich zuerst fragen müssen," warf Willar etwas unwillig ein. Ilkonys lachte leise. Willar mochte Tibra nicht, obwohl er ihm sein Leben verdankte. Der Bruder sprach nicht offen gegen ihn, aber er stichelte doch hin und wieder. "Ist Tharan jetzt ein Prinz?" wollte Zaphe wissen. "Irgendwie schon," behauptete Orest. "Und er ist mit uns verwandt." "Du sagst," hakte Cynara nach, "Aniela hat es so gewollt und nicht Tibra ihr Einverständnis verlangt?" "Verlangt?" Andraag grinste Alphena an. "Aniela ist seine Frau, nicht seine Dienerin. Ihr scheint alle wenig begeistert zu sein. Weshalb dieses Unbehagen?" "Nun, Tharan ist ein Fremdling," erklärte Ilkonys. "Du hast einen Vetter in ihm erhalten. Und du weißt nicht, woher er kommt." "Aber ich weiß, wo er ist und wer auf ihn achtet." Andraag nahm es gelassen. "Der Kleine hat Glück gehabt. Die Götter meinen es wohl gut mit ihm." Cynara betrachtete ihn voll Mißtrauen. Er hatte ihren Sohn Changanar verbannt. Von ihm erwartete sie keine Freundlich-
keit. "Dann lasse ich die beiden also wissen, daß wir uns mit ihnen über den Knaben freuen," entschied Ilkonys. Zaphe grübelte noch über diese Worte nach. Ein Baby war etwas, über das man sich freute und das alle Menschen ein wenig glücklicher machte. Alphena war nie wirklich glücklich. Sie sah die Tardin an. "Warum bekommst du eigentlich kein Baby?" wollte sie arglos wissen. Alphena preßte die Lippen zusammen und hoffte inständig, Andraag werde ihre jetzige Furcht nicht spüren. Was Zaphe so harmlos ansprach, das war ja ihre tägliche Angst. Irgendwann würde Andraag kommen und sein Recht als Gemahl fordern. Sie durfte es ihm dann nicht verweigern. Es war erstaunlich genug, daß er sie bisher nicht bedrängte. Schmunzelnd betrachtete er sie von der Seite und sie hatte das Gefühl, als sei sie jetzt wieder wie damals im Heerlager halb nackt und würde von ihm wie vor einem Kauf taxiert. "Das hat keine Eile," meinte er schließlich zu Zaphe. "Warum nicht? Magst du keine Kinder, Andraag?" Das Mädchen gab sich mit dieser Antwort nicht zufrieden. "Ich könnte doch dann mit ihm spielen." "Schweig," verlangte Cynara erschrocken von der Tochter. "Ich versteh's halt nicht," redete Zaphe weiter. "Orest sagt, wenn man sich küßt, dann gibt es ein Baby. Andraag, warum...?" Nodhers Erbe legte einen Finger vor seinen Mund und da schwieg sie verwirrt.
"Weißt du denn noch nicht, herkommen?" wollte er wissen.
wo die kleinen Kinder
"Nicht so richtig," gab Zaphe zu und jetzt wirkte sie ärgerlich. "Soll ich es dir erklären?" "Untersteht euch, Herr," fuhr ihn Cynara an. Andraag grinste. Er erwartete von der Gemahlin des Herrschers nicht diese Anrede, aber sie zeigte ihm so stets, daß sie zu Changanar hielt. "Da wirst du wohl deine Mutter fragen müssen," riet er Zaphe heiter, wohl wissend, daß Cynara den Fragen der Tochter nun nicht mehr entkommen konnte. Es war Ilkonys, der dann das Wort ergriff und den weiteren Verlauf der Gespräche bestimmte. Ihm lag viel daran, Cynara keine Gelegenheit zu geben, Andraag zu kränken und er hoffte immer noch, daß auch sie sich eines Tages mit seinem Erben aussöhnen würde.
A
lphena gab dem Schecken die Zügel frei. Sie liebte dieses Pferd, das sie sich nach ihrer Ankunft auf der Burg selbst auswählen durfte. Eigentlich war er das erste große und wertvolle Geschenk, das sie von Andraag erhielt. Das Tier kam aus Sarai. Nirgendwo wurden die Pferde feuriger gezüchtet als in jenem Reich. Jetzt fühlte sie sich wohl und trotz der zehn bewaffneten Männer hinter ihr auf eine seltsame Weise auch frei. Den Degen am Waffengurt trug sie nicht zur Zierde; sie wußte durchaus, ihn zu gebrauchen.
In der Burg trug sie keine Waffen. Andraag wollte es nicht. Er hatte wohl nicht vergessen, daß sie versuchte, ihn zu töten. Aber hier draußen, da gab es keine Beschränkung. Sie wußte es. Ihrem Gemahl gefiel es nicht, daß sie sich so wenig mit gleichaltrigen Frauen umgab. Sie hatte natürlich ihre Dienerinnen. Doch auf Gefährtinnen verzichtete sie. Zu groß war noch die Sehnsucht nach den Freundinnen von früher. Er hatte versprochen, sie dürfe sie nachholen. Aber Zissy, die sie sehr liebte, fand einen neuen Gefährten und wollte die Berge nicht verlassen. Da verzichtete Alphena zunächst auf weitere Anstrengungen in diese Richtung, um sich selbst Enttäuschungen zu ersparen. Der Weiher im Wald ruhte still. Er wurde fast völlig von lichtem Forst eingeschlossen. Das hohe Schilfgras stand jetzt, so spät im Jahr, dürr und zerbrechlich. Die kleine Wiese, die sich leicht abschüssig dem Ufer näherte, wies nun keine Blüten mehr auf. Alphena glitt aus dem Sattel, ließ den Schecken grasen. Sie schlenderte zum Ufer, sah, daß die Männer ihr folgten und empfand Zorn. "Zurück mit euch," fuhr sie auf. "Ich will keinen von euch sehen." "Wir haben Befehl, in eurer Nähe zu bleiben, Herrin," wehrte deren Führer ab. "Und jetzt habt ihr Befehl, euch zu entfernen." Alphena sah ihn herrisch an. "Zurück mit euch allen oder ich weiß euch zu zwingen." Dabei zog sie den Degen, hielt ihn drohend und kampfbereit. Die Männer legten rasch die Rechte vor die Brust, neigten den Kopf. Was immer Andraag befahl, er würde es niemals verzeihen, wenn sie mit seiner Gemahlin
kämpften, anstatt sie zu beschützen. Schweigsam zogen sie sich zum Waldrand zurück, wo sie den Weg bewachen und die Wiese überblicken konnten. Alphena setzte sich am Ufer ins Gras; den Degen ließ sie achtlos beiseite liegen. Ihr Finger kräuselte die Wasseroberfläche. Sie kam oft hierher, um auf ein paar Stunden allein zu sein. Sie erstarrte förmlich, als sie ein leises, krampfhaftes Husten hörte, das nicht enden wollte. Dann war es still. Alphena sah über die Wiese. Die Soldaten schienen nichts gehört zu haben. Sie lauschte. Vermutlich hatte der Wind sie genarrt und eine Erinnerung bewirkt an die Zeit, als sie sich mit ihrem Stamm gegen Nodher erhob. Ihr Bruder Maruba, gut fünfzehn Jähre älter als sie, führte die Tarden an. Er besaß einen Freund, der damals zu ihnen kam. Maruba sagte, er heiße Zorynas und sei Priester. Auf alle Fälle besaß er Macht, denn es gelang ihm, eine alte Legende und ihren Fluch neu zu beleben. Damit hätten sie Nodher trotzen können, wäre nicht der Magier Tibra auf Nodhers Seite. Tibra besiegte den Fluch, wandte ihn gegen die Tarden. Sie wurden gefangen und in einer kleinen Pferdekoppel im Hauptlager festgehalten. Zorynas gehörte zu ihnen. Er hustete fast ohne Unterlaß, spuckte oft Blut dabei, befand sich dem Tode nahe. Alphena wagte die Flucht. Sie kam nicht weit und als man sie zurück ins Lager brachte, war Zorynas verschwunden. Auch ihm, der sich nicht einmal mehr auf den Beinen halten konnte, gelang die Flucht. Andraag ließ ihn nicht einmal verfolgen. Wieder vernahm sie das Husten, leiser nun und mühsam unterdrückt. Alphena erhob sich langsam. Das konnte kein Irrtum, keine Sinnestäuschung sein. Sie näherte sich am Rand des Wasser dichtem Gebüsch, dessen dornige Zweige keine Blätter mehr trugen, wohl aber übersät von kleinen schwarzen Beeren eine dunkle Mauer bildeten. Sie
konnte es nicht wagen, dort einzudringen. Dabei fürchtete sie weniger um ihr kostbares Gewand. Doch die Soldaten mußten sie im Blick behalten. Sie würden rasch gelaufen kommen, wenn sie in den Forst ging. Alphena lauschte. Sie tat, als nasche sie von den Beeren, deren bitterer Geschmack bestenfalls die Vögel erfreute. "Zorynas?" Leise und fragend nannte sie den Namen. Sie bemerkte ein Geräusch, tastete nach dem Waffengurt und ärgerte sich, weil der Degen entfernt am Ufer lag. "Wendet euch ab, Herrin, ich bitte euch." Leise gesprochen kamen die Worte, doch so fest, daß kein kranker Mann sie sprechen konnte. "Wenn eure Leute uns sehen, sind wir verloren." "Ist Zorynas hier?" "Er ist es, Herrin, und er ist zu schwach, um fliehen zu können." "Du bist sein Freund?" "Er ist der meine. Mir bleibt nur noch, ihm die Erfüllung seiner letzten Wünsche zu ermöglichen. Ich weiß durchaus, daß ihr ihm nicht gewogen seid. Um eures Bruders willen, entdeckt ihn trotzdem nicht." Sie mochte Zorynas wirklich nicht. Ein wenig fürchtete sie seine Macht, vor allem stieß sie seine Hilflosigkeit ab und da er nichts tat, um den Menschen vertraut zu werden, wirkte er auch sehr abweisend. Alphena versuchte, die Zweige auseinander zu biegen, doch ihr Gegenüber zog sich etwas zurück und so unterließ sie den Versuch, ihn sehen zu können.
"Zorynas braucht einen Arzt," überlegte sie. "Ich lasse ihn zur Burg bringen." "Tut das nicht," kam rasch und drängend die Antwort. "Ihm bleibt nicht mehr viel Zeit und er hat einen anderen Weg." "Nicht mehr viel Zeit? Ich dachte schon vor einem halben Jahr, daß er den neuen Morgen nicht mehr sieht. Er braucht Hilfe." "Niemand kann jetzt mehr für ihn tun, als ich," kam die selbstbewußte Antwort. "Sagt mir euren Namen," verlangte Alphena, etwas nachdenklich, und, da der Fremde keine Furcht empfand, unbewußt die Anrede wechselnd. "Hat Andraag nicht erzählt, weshalb er Zorynas nicht verfolgte?" kam die belustigte Antwort. "Ihr solltet meinen Namen kennen." "Harkym? Ihr ward es, der Zorynas aus dem Lager befreite und Andraags Pferd gestohlen hat." "Ein gutes Tier, das ich leider unter Preis verkaufen mußte. Wenn ihr eure Männer ruft, wird es einen Kampf geben. Euer Gemahl wird zürnen, wenn ich angegriffen werde." "Er ist Priester und Amarra befahl jedem Priester, euch zu stellen," fuhr ihn Alphena an, dämpfte aber sofort wieder ihre Stimme: "Andraag kann euch nicht helfen." "Ich erwarte nichts von ihm," kam die etwas harte Antwort. Alphena zupfte ein paar Beeren, ließ sie unbemerkt fallen. Sie überlegte. Andraag sprach eigentlich nie von Harkym,
aber er hatte ihr erzählt, daß dieser Mann sein Leben rettete und ihm zürnte, da er ihn danach nicht sofort aus dem Kerker befreite. Er würde sich gern mit ihm aussöhnen, das wußte sie. "Kann ich euch helfen?" erkundigte sie sich endlich. "Es ist weit bis zur nächsten Siedlung. Ich höre keine Pferde. Wie wollt ihr dorthin gelangen?" "Wir suchen keine Siedlung, Herrin. Bitte entfernt euch endlich. Ich trage Zorynas, wohin er will. Verhindert ihr nur unsere Entdeckung." Das leise krampfhafte Husten ertönte wieder. Alphena war, als sei Eile geboten. Sie wandte sich etwas um. Mit leise schnalzendem Laut rief sie den Schecken herbei. Das Tier kam langsam, zupfte nun selbst von den Beeren, die ihm wohl zusagten. "Was tut ihr?" wunderte sich Harkym. "Ich lasse den Schecken hier," erwiderte sie ganz ruhig. "Wenn ich über die Wiese gegangen bin und drüben in den Wald gehe, nützt die kurze Zeit, die euch bleibt. Die Soldaten werden euch nicht sofort verfolgen, da sie auf mich achten müssen." "Das wird Andraag nicht gefallen." "Ich weiß." Alphena seufzte. Danach würde er sie wohl nicht mehr allein reiten lassen und etwas mehr wie eine Gefangene behandeln. "Es lohnt nicht, sich für andere zu opfen," murmelte Harkym, dessen eigenes verfemtes Leben ja nur Ergebnis solcher Opfer war.
"Das sagt ihr mir?" Jetzt klang ihre Stimme bitter. "Ich habe mich für meinen Stamm geopfert, so, wie ihr euch für meinen Gemahl zu opfern bereit gewesen seid. Er ist kein Tyrann, Harkym. Sein Zorn ist zu ertragen." "Ein Tyrann wohl nicht." Harkym verstand. "Eher ein Narr. Wenn er euch bedrängt, laßt ihn wissen, daß ihr mir geholfen habt. Das wird ihn an manches erinnern und milde stimmen. Ihr könnt auch sagen, daß ich euch gezwungen habe." "Mich gezwungen?" Alphena unterdrückte ein Lachen. "Ich füge mich Andraags Wünschen, aber ansonsten lasse ich mich von niemandem zu etwas zwingen. Denkt daran, daß euer Vorsprung nur gering sein wird. Ich hoffe, die Götter beschützen euch." "Das tun sie," kam überraschend ernst die Antwort. "Mögen sie euren Weg beschirmen." Alphena steichelte sacht die Nüstern ihres Schecken, preßte abschiednehmend das Gesicht gegen seinen Kopf. Dann ging sie ein wenig an den Büschen entlang, wandte den Schritt danach dem Wasser zu, ging quer über die Wiese und näherte sich dem entfernten Waldrand. Oben am Weg renkten die Männer die Köpfe. Sie wollten sie nicht aus den Augen verlieren. Alphena ging bis zum Ufer. Sie unterdrückte das Verlangen, sich nach ihrem Pferd umzuwenden. Entschlossen trat sie ins Unterholz, wo sie dann rasch tiefer in den Wald eindrang. Die Soldaten riefen nach ihr. Sie kamen zu Fuß und zu Pferde und sie näherten sich rasch. Alphena hatte Harkym und Zorynas geholfen, doch sie wollte mehr tun und ihnen einen sicheren Vorsprung verschaffen. So ging sie weiter. Der morastige Untergrund gab nach. Sie verlor einen Schuh. Das kalte Wasser erschreckte sie. Aber es brachte sie auch auf einen neuen Gedanken. Die Männer waren schon fast heran.
Sie tat, als ginge sie spazieren, als strauchle sie. Mit angehaltenem Atem fiel sie in den Weiher. Die dichte Kleidung behinderte die Tardin, die ohnehin keine gute Schwimmerin war. Hektik entstand. Männer sprangen ins Wasser. Sie taten alles, um die Gemahlin ihres Herrn sicher an Land zu bringen. Jemand legte ihr eine rauhe Satteldecke über die Schultern. "Der Schecke ist weg," rief einer der Soldaten. "Wen kümmert's?" fauchte Alphena wie zornerfüllt. "Ich friere. Ich will zur Burg." Sie ließ sich eines der Pferde geben, ritt sofort an. Die Soldaten hatten keine Wahl - sie mußten ihr folgen und durften sich nicht um den Schecken kümmern. Den Verlust des Tieres würden sie Andraag erklären müssen. Aber es würde ungleich schwieriger sein, Alphenas Aussehen zu entschuldigen.
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ie hoffte wirklich, sie könne unbemerkt in ihre Gemächer gelangen und sich wenigstens umkleiden, ehe Andraag nach ihr sandte. Doch Nodhers Erbe ging über den Burghof, als sie durch das weit geöffnete Tor einritt. Er sprach mit Jerrard, dem Adjudanten des Vaters. Als er Alphena sah, brachte er den Mann mit einem herrischen Wink zum Schweigen. Andraag hob sie vom Pferd. Sie zitterte in der Kühle des Tages und unter der Kälte der noch nassen Kleidung. Alphena hielt fest die Satteldecke an ihren Leib gepreßt, wehrte aber nicht ab, als er ihr wortlos das rauhe Tuch abnahm und ihr seinen dichten Umhang umlegte. Die Soldaten knieten schuldbewußt nieder.
"Bitte verzeiht den Männern, Herr," stammelte Alphena, deren Zittern nicht endete. Andraag ignorierte ihre Worte. Er musterte sie lächelnd. "Ich dachte eigentlich, du hast dich verändert," meinte er. "Aber unter der Maske einer Königin findet sich immer noch das barfüßige, waffenlose, zerrissene und verschmutzte Tardenmädchen." Sie errötete und sie ärgerte sich darüber. Daß sie nun niederknien wollte, sollte eine stumme Anklage gegen seine Herrschaft sein. Aber Andraag winkte schon eilig herbei gelaufende Dienerinnen näher, schob ihnen Alphena entgegen und wartete, bis seine Gemahlin in die Burg geführt wurde. Dann erst sah er die Soldaten an, deren Führer sich sofort niederwarf und erklärte: "Eure Gemahlin spazierte am Ufer, als sie strauchelte, Gebieter. Wir haben sofort..." Andraag trat einen Schritt zurück, was den Mann verstummen ließ. "Einkerkern," befahl er knapp einem in der Nähe stehenden Offizier, der die zehn Männer entwaffnen und abführen ließ. Man hatte Ilkonys unterrichtet. Der Herrscher eilte in den Burghof, fürchtend, Andraag könne zu hart reagieren. Er hörte eben, wie sein Erbe nach seiner Garde und Reittieren verlangte. "Es war ein Mißgeschick," mahnte Ilkonys. "Du beschämst Alphena, wenn du zu großes Aufheben davon machst." "Ich reite aus," grinste Andraag. "Begleitest du mich?"
"Du wirst warten müssen, bis ich umgekleidet bin." "Ich habe keine Eile, Vater." Ilkonys sah erleichtert, daß der Sohn keineswegs erzürnt reagierte. So ging er zurück in die Burg, um sich für den Ritt einzukleiden. Er freute sich sogar darauf, mit dem Erben einige Stunden fernab jeder Pflicht zu verbringen.
D
as heiße Bad wärmte Alphenas durchfrorenen Körper und als ihr eine Bedienstete dann heißen Wein zu trinken gab, verlor alle Kälte ihre Wirkung. Man mahnte sie zur Ruhe, doch Alphena wollte nicht schlafen. Jeden Moment konnte Andraag kommen und eine Erklärung fordern. Er sollte sie nicht in ihrem Schlafgemach finden. Cynara und ihre Freundin Talima weilten bei Alphena. Beide Frauen mochten Andraag nicht, weiteten das aber nicht auf dessen Gemahlin aus. Talima, vermählt mit Cynaras Bruder Mercur, vermißte ihren Gemahl. Mercur war Raakis Priester. Als Changanar noch hoffte, der Erbe des Reiches zu sein, wählte er Mercur zum Leiter und eine begonnene Leitung konnte nicht mehr unterbrochen werden. So mußte Mercur mit Changanar gehen, als dieser nach Thara verbannt wurde. Alphena trug jetzt eine lange, weiche Tunika. Sie ruhte in einem der hohen Sessel. Cynara breitete eine wertvolle Decke über sie. "Wie konnte das nur geschehen?" Ihre Stimme klang tadelnd. "Konntest du nicht etwas besser auf dich acht geben." "Weshalb machst du ihr Vorwürfe?" wunderte sich Talima. "Wir wollen froh sein, daß nichts Übles geschah."
"Andraag wird den Kopf der Soldaten fordern, die ihr Werk so schlecht verrichten," befürchtete Cynara. Alphena erschrak. Daran hatte sie nicht gedacht und das hatte sie auch nicht gewollt. "Ich werde ihn um Milde bitten," versprach sie schuldbewußt. "Milde?" Talima konnte ihre Bitterkeit nicht verbergen. "Er ist nicht gütig. Es macht ihm Freude, wenn er andere quälen kann." "Das ist nicht wahr!" Alphena war von ihren eigenen Worten überzeugt. "Dich quält er doch auch, Kind," mahnte Cynara sanft. "Du bist nicht glücklich hier. Ich spüre, daß du ihn fürchtest." Alphena schwieg beschämt. Nur wenige Menschen wußten, wie ihre Ehe entstand - jene, die damals Zeuge waren. Auf Andraags Wunsch hin wurde weder Cynara noch sonst ein Mensch je eingeweiht. So konnte auch niemand wissen, woher ihre Furcht rührte. Sie stellte sich schlafend und war froh, als Cynara und Talima leise den Raum verließen. Dann erst, nun allein, weinte sie stille Tränen.
E
s wunderte Ilkonys nicht, daß sein Erbe zum Waldweiher ritt. Nur die heitere Art, mit der Andraag plaudernd neben ihm ritt, die verstand er nicht. Wo der Weg in die Wiese mündete, zügelte Andraag sein Pferd. Seiner Garde befahl er, zu warten. Langsam ging er dann dem Weiher zu. "Was suchst du?" erkundigte sich Ilkonys erstaunt. "Die Wahrheit," grinste Andraag. "Alphena ist nicht der Mensch, der so einfach sein Gleichgewicht verliert und ins kalte Wasser stürzt. Ich bin mit ihr in den tardischen Bergen geklettert. Sie weiß sich zu bewegen. Da, schau." Er deutete auf den Degen, der nahe des Ufers im Gras lag; hob ihn auf. "Und was vermutest du jetzt, Sohn?" "Daß sie wohl einen Grund hatte, ihn zu ziehen." Andraag ging weiter. "Der Schecke hat ihr viel bedeutet," redete er weiter, sich genau umsehend. "Sie liebte das Pferd wirklich. Aber im Burghof hat sie ihn nicht einmal erwähnt." Er fand die Stelle, wo das Tier durch das Gebüsch drang, folgte der Spur. "Hier haben Menschen gelagert," begriff Ilkonys, eine kalte Feuerstelle betrachtend. "Ganz gewiß war es jemand, der weiß, wie er sich im Freien vor den Nebeln schützen kann."
"Du würdest auf ähnliche Weise die Zweige eines Busches binden, um eine trockene Höhle zu schaffen," ahnte Andraag. "Nun, ich bin oft gereist," gab Ilkonys zu, "und diese kleinen Tricks helfen sehr. Willst du der Spur folgen?" "Hätte das Sinn?" "Vermutlich nicht. Wer immer den Schecken jetzt hat, er besitzt einige Stunden Vorsprung. Die Art des Lagers läßt mich vermuten, daß er weiß, was er tut. Er wird einen befestigten Weg gefunden haben, wo sich jede Spur ohnehin verliert. Eine direkte Verfolgung wird weniger nützen als eine große Suche unserer Leute." Andraag nickte nachgebend. Der Vater schätzte die Sache gewiß richtig ein. Er ging zurück zur Wiese, beobachtete nun mehr das Ufer und suchte die Stelle, wo Alphena gefallen war. Schließlich fand er den Schuh der Gemahlin, halb im Morast vergraben und mit schmutzigem Wasser gefüllt. "Sie ist geflohen," begriff Andraag nachdenklich. Sie gingen noch etwas weiter. Zerwühlter Untergrund zeigte ihnen, wo die Tardin ins Wasser stürzte. Kräftiges Buschwerk wuchs bis in den Weiher. "Genug Halt für jeden, der strauchelt," ahnte Ilkonys. Andraag lachte leise. "Du sagst es, Vater. Ich bin gespannt, was Alphena erzählen wird. Ganz sicher nicht die Wahrheit." "Und dann?" "Dann werde ich sie auspeitschen," grinste Andraag, den Rückweg beginnend.
Ilkonys starrte ihm nach, beeilte sich dann, an seine Seite zu kommen. "Andraag, das kannst du nicht tun!" "Es war ein Scherz, Vater." Nodhers Erbe lachte heiter. "Sie leidet genug. Ich werde nicht dulden, daß man ihr weh tut." "Das klingt ja fast, als würde sie dir etwas bedeuten," staunte Ilkonys. "Sie ist meine Gemahlin," sagte Andraag, als sei dies eine Antwort. "Ich habe sie mit eigener Hand auf den Richtblock gelegt und dem Henker überlassen. Wie sollte ich ihr da verübeln, daß sie mir mißtraut oder mich belügt? Ich will nur nicht zehn Männer hinrichten aus falscher Anklage heraus." Sie ritten zurück. Die Nebel sanken, als sie das Burgtor erreichten. Zu Ilkonys Erstaunen blieb Andraag bei ihm, nahm mit ihm gemeinsam das Abendmahl ein und schien viel Zeit zu haben.
A
lphena ruhte noch immer im Sessel. Sie war in einen unruhigen Schlummer gefallen. Eine Zofe brachte etwas Nahrung, trug sie unangerührt wieder hinaus. Es war etwas schwierig, sich mit dem beladenen Tablett formgerecht vor Nodhers Erben zu verneigen, der eben nahte. "Sie schläft, Herr." Er nickte nur, ging an ihr vorbei und betrat das Gemach seiner Gemahlin. Sie wirkte seltsam hilflos auf ihn, wie sie da zusammen gekauert im Sessel schlief. Die Decke war zu Boden gefallen. Andraag hob sie auf, legte sie über Alphena, ehe er zum Kamin trat und das Feuer schürte. Dort blieb er
stehen, nachdenklich sinnend. Alphenas Weg und der des Schecken führten auseinander. Der verlorene Schuh und der Degen, all dies ergab ein seltsames Bild. Sie wirkte hilflos und unsicher. Aber als er sie mit dem Tardenmädchen verglich, das sie ja war, da tat er es nicht nur deshalb, denn er vergaß nicht, daß Alphena zu kämpfen verstand und einen ungebrochenen Willen besaß. Sie hätte niemals nur wegen durchnäßter Kleidung auf den Schecken verzichtet. Er wüßte zu gern, warum sie das Pferd nicht hielt. Aber er wollte keine Lügen hören und ihre Furcht nicht spüren. So legte er leise den Degen auf den Tisch, stellte des Schuh daneben und ging dann hinaus. Bei ihrem Erwachen mußte Alphena daran sehen, daß er beim Weiher war. Vielleicht kam sie dann zu ihm und erzählte die Wahrheit.
A
lphena erwachte, nachdem das Feuer erlosch und die Kühle von der Decke nicht mehr ferngehalten wurde. Ein kleiner Flammender Kristall erhellte den Raum. Erschreckt sah sie die Gaben auf dem Tisch, gehetzt sah sich um. Doch niemand weilte bei ihr. Andraag war hier gewesen, während sie schlief. Er weckte sie nicht auf, bestand auf keinem Bericht. Verwirrt hierüber ging sie zu Bett, doch jetzt mied sie der Schlaf noch lange Stunden.
B
eim Frühmahl bemühte sich die königliche Familie, nicht über das Geschehen des vergangenen Tages zu reden. Alphena verhielt sich sehr schweigsam. Daß Andraag sie immer wieder forschend von der Seite her betrachtete, ließ sie Übles befürchten. "Jiddan," wandte sich Nodhers Erbe nach einem solchen Blick an den Freund des Vaters, "streicht für heute alle Termine, mich betreffend."
"Keine Arbeit, Gebieter?" vergewisserte sich Jiddan erfreut, der ohnehin der Ansicht war, der Prinz lebe zu wenig seiner eigenen Neigung. "Ich ziehe es vor, den Tag mit meiner Gemahlin zu verbringen." Alphena erschrak. In ihren Ohren klang das drohend und gefährlich. Ilkonys betrachtete forschend den Sohn, aber der schien sehr heiter zu sein und auf vergnügte Stunden zu hoffen. Cynara wollte dem Mädchen helfen, deshalb ergriff sie das Wort. "Sie ist noch sehr Alphena sollte ruhen."
erschöpft vom gestrigen Tag, Herr.
Andraag grinste die Tardin an. "Müde?" erkundigte er sich belustigt. "Nein, Herr," gab sie mit leiser Stimme zu. "Ich werde tun, was ihr sagt." "Es wird dir gefallen," versprach er, plötzlich sehr ernst. "Wir beginnen damit, dir eine eigene Garde zu wählen." Irritiert hob sie den Blick. "Nicht mal Mutter hat eine eigene Garde," staunte Orest. "Deine Mutter reitet auch nicht stundenlang allein durch die Wälder," antwortete ihm Andraag gelassen. "Alphena tut es und sie sollte dabei von Männern ihres Vertrauens umgeben sein." Er sah die Tardin lächelnd an. "Vielleicht finden wir auch ein paar Kriegerinnen, die dir gefallen. Malla und Sagier sind schon lange in der Armee."
Alphena senkte den Blick. Er wußte anscheinend über jeden ihrer Schritte Bescheid. Bisher dachte sie, er habe nicht bemerkt, wie sie mit diesen weiblichen Soldaten so manches Mal übend die Klinge kreuzte. "Ihr seid sehr gütig, Herr," sagte sie langsam, aber sie schaute Cynara dabei an, die ihm dieses Attribut ja absprach. Andraag lachte nur. Er ließ später in einem kleinen Empfangsraum eine ganze Reihe von Männern und Frauen antreten, hielt sich aber bei Alphenas Wahl völlig zurück und überließ ihr jegliche Entscheidung. Danach führte er sie in die Stallungen. "Du solltest dir ein neues Pferd auswählen," schlug er vor. "Der Schimmel dort, gefällt er dir? Oder hier, der Rappe, ist er nicht prächtig?" Da war eine rote Stute, halb wild noch, von feurigem Wesen. Alphena hatte nur Augen für dieses Tier, obgleich sie sich bemühte, seine Vorschläge zu betrachten. Andraag lachte und gab Befehl, daß die Stute künftig allein seine Gemahlin tragen solle. "Soll man aufsatteln?" zusammen ausgeritten."
bot
er
ihr an. "Wir sind nie
"Ihr wollt zum Weiher," verstand Alphena. "Ich werde euch auch hier jede Frage beantworten, Herr." "Wir reiten," entschied er vergnügt. Wenig später ritten sie nebeneinander aus dem Burghof, begleitet von seiner Garde. Alphenas Leute waren noch nicht zum Dienst bereit; sie mußten sich erst in ihr neues Amt einführen lassen.
Andraag suchte nicht den Weg zum Waldweiher. Er ritt durch die Siedlung der Weber und lachte fröhlich, weil Alphena befremdet auf den begrüßenden Jubel der Leute reagierte. Sie galoppierten über abgeerntete Felder. Als die Pferde ermüdeten, gingen sie ein Stück zu Fuß und führten die Tiere am Zügel. Andraag plauderte. Er erzählte ihr, wie gut Maruba sein Amt als Pecha von Lekkar versah. Er sprach von den Feldfrüchten, die man hier erntete und schilderte ein wenig den Alltags der Menschen, die hier in verstreuten Gehöften lebten. Für kurze Zeit vergaß Alphena ihr Mißtrauen. Sie taute förmlich auf, wollte sehen, wie die Menschen hier lebten. "Du wirst den Leuten einen schönen Schrecken einjagen," vermutete Andraag fröhlich. Aber er lenkte den Schritt zu dem Haus, das wenig entfernt stand. Die Bewohner sahen den hohen Besuch kommen, traten ins Freie und knieten fast ehrfürchtig nieder. Der Mann mochte fünfzig Jahre alt sein, die Frau deutlich mehr als zehn Jahre jünger. Zwei Kinder, sieben und zwölf Jahre alt, klammerten sich an sie. Eine junge Frau, sicherlich Tochter der beiden, wagte es nicht, aufzusehen. "Fürchtet nichts," bat Alphena, die ihre Neugier schon bereute, "es bedroht euch niemand." Sie war dessen aber selbst nicht sicher, denn Andraag betrachtete die junge Frau mit unverhohlener Neugier. Trotzdem folgte er ihr, als sie das Haus betrat. Die Gardisten erlaubten den Eignern keine Begleitung. Das Haus wies einen einzigen Raum auf. Eine Ecke beherbergte die Feuerstelle, eine andere die Schlafstätten. Ein roh gezimmerter Tisch in der Mitte und ein einfacher Schrank, mehr gab es hier nicht. Alphena fühlte sich wie ein
Eindringling. Sie schämte sich sogar ein wenig. Aber Andraag überspielte es. Er öffnete den Schrank, zeigte ihr die wenigen Vorräte, blickte in Töpfe und Schüsseln. Mit dem Dolch schnitt er ein Stück vom frisch gebackenen Brot, reichte es ihr. "Iß," lud er sie ein, "solchen Geschmack findest du nicht in der Burg." "Wir berauben die Leute," stellte sie leise fest, aber sie nahm und aß, um ihn nicht zu erzürnen. "Sie hungern nicht," versprach Andraag. "Die Ernte war gut in diesem Jahr. Aber Reichtum gibt es hier sicher nicht. Hast du genug gesehen?" Sie nickte. "Willst du mit den Leuten reden?" "Nein, Herr, ich möchte gehen. Ich spüre, daß sie uns fürchten." Sie ging rasch zur Tür. Erstaunt sah sie von dort aus, wie Andraag einige Solare seinem Beutel entnahm und auf dem Tisch hinterließ, ehe er ihr folgte. Alphena wollte nur noch fort und ihre Scham überwinden. Sie ging mit raschem Schritt. Andraag nickte Odyn zu. Der Teju würde die Pferde bringen. "Warum habt ihr meine Neugier erlaubt, Herr? Ihr wußtet doch, daß diese Menschen uns fürchten." "Du wolltest das Haus sehen," meinte er leichthin. "Du bist die Herrin, Alphena. Und sie sind gut belohnt für das bißchen Furcht." "Sie konnten euch für die großzügige Gabe nicht einmal danken."
"Floryn hätte nichts von mir angenommen." Alphena stockte der Schritt. "Ihr kennt diese Leute, Herr?" "Nur die Namen," wehrte er heiter ab. Er wartete, bis sie wieder neben ihm ging. "Er stammt aus Moras. Seine Frau heißt Cyprina. Ihr Vater ist Raakis Falla Gerrys." "Die Tochter gefiel euch," murmelte sie etwas verstört. "Ich war nur neugierig auf sie." Andraag schmunzelte. "Ich habe sie bisher nicht gesehen und leider hielt sie ihren Kopf gesenkt. Aber sie scheint ein hübsches Mädchen zu sein." Er lachte, weil Alphena etwas errötete. "Sie ist meine Schwester," behauptete er dann vergnügt. Wieder blieb sie stehen. Andraag ging weiter, sah sich nicht einmal um. Alphena schaute den Weg zurück. Das verstand sie nicht. Wie konnte Nodhers Erbe so etwas sagen? Sie beeilte sich, zu ihm zu kommen. Aber sie schwieg und stellte keine Fragen. Wenn einem König eine Frau des Volkes gefiel, konnte er sie sich gefügig machen. Sie hatte das Ilkonys einfach bisher nicht zugetraut. "Der Herrscher hat euch davon erzählt?" fragte sie dann doch, als ihr die Stille unerträglich wurde. "Er liebt Gerrys, seit er ein Knabe war und übertrug diese Liebe auf dessen Tochter," erwiderte Andraag gelassen. "Cyprina könnte heute Nodhers Königin sein. Aber sie fühlte sich mehr zu Willar hingezogen, der schon damals zu feige war, sich gegen seinen Bruder zu stellen. Mein Vater hielt es für Liebe und Cyprina ergab sich seiner Macht. Und dann floh sie vor ihm durch ganz Moras, wo sie Floryn begegnete, der das Kind anerkannte."
"Ihr sagt, Willar sei feige. Aber er muß seinem Bruder doch Gehorsam erweisen." "Er benimmt sich wie ein Diener," meinte Andraag etwas geringschätzig. "Vater wollte ihn zum Freund, nicht zum Vasallen." "Willar verhält sich stets untadelig," erwiderte sie etwas nachdenklich. "Ich wußte nicht, daß ihr ihn verachtet." "Er benimmt sich völlig korrekt," gab Andraag zu. "Aber nichts von dem, was er sagt oder tut, entspricht seinem Wesen. Also ist er unaufrichtig." "So wie ich," begriff Alphena. Andraag blieb stehen, faßte sie bei den Schultern und sah sie an. Da sie sich etwas verkrampfte, ließ er sie rasch wieder los. "Du bist nur unsicher," stellte er lächelnd richtig. "Ich habe dich in ein Leben gezwungen, das dir nicht entspricht und auf das du nicht vorbereitet warst. Es ist mein Versagen, wenn du dich noch immer wie eine Gefangene fühlst, Alphena." "Aber das bin ich," murmelte sie verbittert. "Ich bin nicht eure Gefangene, Herr, wohl aber eine Gefangene der Politik." "Es ist nicht von Dauer." Zum ersten Mal versprach er ihr jetzt die Freiheit. "In einem Jahr oder zwei, da werden die Tarden nicht mehr rebellieren, wenn ich unsere Ehe beende. Nur jetzt wäre es dafür entschieden zu früh. Nütze die Zeit," riet er freundlich. "Du lernst die Schrift und findest mehr Wissen, als dir in den Bergen je möglich gewesen wäre. Ich wollte dich in allem beschützt und sicher wissen und habe nicht bedacht, daß meine Männer dir vielleicht wie eine Bedrohung erscheinen. Mit deiner eigenen Garde wirst du dich freier fühlen."
Er winkte Odyn zu, der sich beeilte, ihnen die Pferde zu bringen. Sie ritten zurück. Alphena verhielt sich schweigsam. Sie mußte das Gehörte überdenken und einordnen. Sie wußte nicht, ob sie ihm glauben durfte. Vielleicht spielte er mit ihr, sie so bestrafend für ihr Verhalten am Weiher. Sie wollte die Wahrheit wissen. "Seid ihr jetzt aufrichtig, Herr?" überwand sie sich, zu fragen. "Ihr habt nicht von meinem Schecken gesprochen und nicht nach meinem Degen gefragt." "Willst du darüber reden?" "Das muß ich wohl, Herr." Andraag trieb sein Pferd nahe zu ihrem. "Das mußt du nicht," versprach er. "Die Soldaten, die bei dir waren, sind eingekerkert. Ich überlasse es dir, ein Urteil zu sprechen." Sie schaute ihn an, spürte, daß er es aufrichtig meinte. Da lächelte sie und gab ihm damit die erste wirklich freundliche Geste, seit sie sich kannten. "Ich seid sehr freundlich, Herr. Ich danke euch." Sie ritten einige Zeit schweigend. Schließlich erkundigte sie sich: "Ist es noch weit zur Burg, Herr? Ich habe Hunger," fügte sie etwas unsicher hinzu. Sie waren seit Stunden unterwegs. Der Tag hatte längst seinen Höhepunkt überschritten. "Die Siedlung der Weber liegt nicht fern," meinte Andraag, Odyn ein Zeichen gebend. "Eine Herberge gehört dazu." Sein Teju hatte schon verstanden, schickte zwei Männer voraus. Als sie die Siedlung erreichten, fanden sie in der
Herberge bereits ein Mahl bereitet. Andere Gästen hatten die Gardisten vertrieben. Der Wirt wirkte ängstlich und war froh, als Andraag ihn zu gehen hieß. Alphena saß Andraag an dem langen Tisch gegenüber. Die Gardisten hielten Abstand, blieben aber im Raum und nahmen selbst ein Mahl ein. Gebratene Wurzelknollen und gekochtes Gemüse verbreiteten einen angenehmen Duft. "Darf ich euch etwas fragen?" bat Alphena, die mit Freude aß. "Natürlich." "Ihr habt mich nur wegen Harkym beachtet, dem Mann, der euch einmal das Leben rettete. Ist er euer Freund?" "Als Kinder waren wir Freunde," schränkte Andraag offen ein. "Er kam immer zur Zeit der heißen Lichtwende mit seinem Vater Tibra nach Amarra. Dann verbrachten wir einige Tage zusammen. Dann, als er zwölf Jahre alt war, kam er nicht mehr. Ich sah ihn fünf Jahre später noch einmal, als er sich gegen den Than stellte und von Amarra floh. Ehe ich nach Nodher kam, reiste ich unerkannt durch dieses Land, das mir so fremd war. Da traf ich ihn wieder und wir blieben zusammen. Warum fragst du nach ihm?" "Er stand euch bei gegen den Prinzen Changanar?" "Etwas mehr hat er schon getan. Changanar und Maggelan hatten mich gefangen, bis aufs Blut ausgepeitscht und mitgeschleppt. Ich war am Ende, konnte nicht mehr gehen. Changanar nahm den Degen, um mich zu töten. Da überwältigte Harkym aus dem Hinterhalt heraus Maggelan, hielt ihn als Geisel und verschaffte mir so die Zeit, nach Amarra zu entkommen."
"Er war eingekerkert und ihr habt ihn nicht befreit," murmelte Alphena, fürchtend, er könne ihr diesen Vorwurf übel vergelten. Aber Andraag lächelte nur. "Ich kam als Erbe in das Reich und ich hatte natürlich einiges wider die Prinzen. Vater verübelte mir meinen Zorn und er besitzt alle Macht. Ich hatte nicht den Mut, mich gegen ihn zu stellen; jedenfalls nicht sofort. Es vergingen acht volle Tage, ehe ich Harkym aus dem Kerker befreite. Und dann war ich noch töricht genug, ihn völlig mittellos gehen zu lassen." "Ihr nennt euch töricht?" "Damals habe ich einen Fehler gemacht, Alphena," gab er ernst zu. "Als du aus dem Lager geflohen bist, erneut gefangen wurdest und gegen Plinas mit dem Säbel kämpftest, da war das nur eine fröhliche Abwechslung für uns Sieger. Du hast dabei einen kleinen Stein verloren und dieser Stein gehörte Harkym. Ich wußte, daß unter den Gefangenen jemand war, der ihm viel bedeutet. Da nahm ich an, du seist es. Ich habe mich darüber gefreut, weil ich dachte, daß er eine mutige, starke Gefährtin hat." "Deshalb habt ihr gelacht, als ich gestand, daß der Stein Zorynas gehört. Und Zorynas war ja schon mit eurem Pferd geflohen." "Ganz allein wohl nicht." Andraag lächelte. "Der Mann war fast tot. Ich nehme an, Harkym hat ihn aus dem Lager befreit." "Amarra verlangt von jedem Priester, ihn zu fangen und auszuliefern. Würdet ihr das tun, Herr?"
Andraag schob seine Schale zurück. "Ich bin Priester und Amarra zu Gehorsam verpflichtet," sagte er langsam. "Ich hoffe, Harkym nicht zu begegnen." Er lächelte etwas gequält. "Damals auf mein Pferd zu verzichten, das fiel mir leicht. Ich verzichte auch gern auf den Schecken, wenn du mir sagst, daß alles seine Richtigkeit hat." "Das hat es," versprach Alphena nachdrücklich. Sie aß zu Ende, ehe sie sich entschloß, offen zu sein. "Ich möchte darüber reden, Herr." "Worüber?" "Über den Waldweiher. Ihr seid dorthin geritten. Aber ich fürchte, ihr mißdeutet die Spuren." "Das mag sein," zog er in Erwägung. "Ich habe es nicht gelernt, solche Spuren zu deuten. Vermutlich erheitert es dich, meine Rückschlüsse zu hören." Sie sah ihn fragend an und da erzählte er: "Du hattest Anlaß, zur Waffe zu greifen. Aber es gab keinen Kampf. Also nehme ich an, daß du die Soldaten zwingen mußtest, etwas Abstand zu halten." Alphena nickte bestätigend. "Du hast Reisende im Wald hinter den Schwarzbeeren getroffen. Sie haben dich vermutlich erschreckt oder bedrängt, jedenfalls bist du geflohen; quer über die Wiese, wieder in den Wald. Aber du hast die Soldaten nicht gerufen. Und dann bist du ins Wasser gesprungen." "Gesprungen? Nicht gefallen?" "Gesprungen," beharrte er. "Und das wiederum verwirrt mich. Wie gesagt: ich verlange keine Erklärung." "Aber ihr verdient sie," mußte Alphena zugeben.
Und dann berichtete sie, wie sie das Husten hörte und mit Harkym sprach und wie sie ihm die Flucht auf ihrem Schecken ermöglichte. Angstvoll sah sie Andraag dann an, auf seine Reaktion wartend. "Ich habe deinen Mut schon im Heerlager bewundert," sagte er langsam. "Aber dein Sprung ins kalte Wasser war tollkühn." Er lächelte. "Dein Leben ist nicht bedeutungslos, Alphena. Riskiere es bitte nicht, wo du, selbstbewußt befehlend, dasselbe Ergebnis erzielen kannst. Die Männer hätten dir gehorchen und den Schecken laufen lassen müssen." "Aber dann hättet ihr alles gewußt." "Jetzt weiß ich es auch." Andraag lachte leise auf. "Du hast nichts gewonnen dadurch." Alphena war anderer Ansicht. Sie sagte es nicht, aber sie dachte daran, daß der heutige Tag eine direkte Folge des Geschehens war und sie wohl niemals so offen mit ihm gesprochen hätte, gäbe es ihren Sprung ins Wasser nicht. In der Burg ließ er sie dann allein. Sie hörte noch, wie er Befehl gab, die Männer aus dem Kerker zu entlassen. Eigentlich hatte sich nichts geändert. Alles ging seinen gewohnten Gang. Alphena wußte nicht, daß sie Andraag jetzt etwas freier begegnete. Manches Mal plauderte sie jetzt beim Frühmahl, erzählte von ihrem Tun und Lernen. Ab und zu lächelte sie dann. Wenn er sie, was selten vorkam, berührte, kurz ihre Hand oder ihren Arm erfaßte, dann spannte sie sich nicht mehr furchtsam an. Ihre Vorbehalte schwanden, obwohl oder eher weil er sich verhielt wie zuvor.
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igentlich war es unmöglich, ungesehen in das Haus des Pecha von Minas einzudringen. Doch Harkym kannte hier jeden Stein und jeden Winkel. Er ließ den Schecken zurück, kam über den See gerudert. Die Dunkelheit der Nacht gab ihm Deckung. Zorynas' Körper stellte keine Last dar. Es war erschreckend, wie wenig dieser Mann noch wog. Harkym nahm seinen Dolch, hebelte das muskovit-verglaste Fenster aus dem Rahmen. Geräuschlos drang er ein, bettete Zorynas nieder. Dann befestigte er das Fenster erneut, verhängte es mit dem ersten Tuch, das er fand. Dann erst ließ er das Licht seines Lebenden Kristalles aufleuchten. Zorynas hustete schwach. Harkym war sofort bei ihm, schob ihm ein getrocknetes Kraut zwischen die Lippen. Hier wußte er sich sicher. Niemand durfte diesen Raum betreten. Dies war des Vaters magisches Refugium. Er selbst sah den Raum zum ersten Mal von innen, aber er besaß kein Interesse an Magie. So achtete er nicht auf die Schriften und Utensilien, die er beiseite räumte. Es gab kein Lager hier, nur einen breiten Tisch. Harkym bettete Zorynas auf die Platte, suchte und fand eine Decke, die er über den Priester breitete. "Wir sind da?" keuchte Zorynas. "Wie ich es dir versprach," bestätigte Harkym. "Du wolltest dem Pala des Than begegnen und wirst ihn sehen." "Es eilt," hauchte der Kranke.
Harkym nickte nur. Er wußte es. Zu lange schon zögerte er das Sterben dieses Mannes hinaus, übertrug er ihm immer wieder von der eigenen Lebenskraft. "Ich hole ihn." Harkym ließ den Kristall zurück. Zorynas' Blick besaß längst keine Klarheit mehr. Doch gerade deshalb mußte Licht wichtig sein, um jeden Schrecken zu bannen, den diffuse Schatten sonst erwecken könnten. Der junge Mann bewegte sich sicher in seines Vaters Haus. Zu dieser späten Stunde wachte kaum jemand. Im Schlafraum der Eltern schimmerte sacht Licht durch das Tuch, das den Kristall verdeckte. Für einen Moment schaute Harkym in bewegter Zärtlichkeit auf Aniela und Tibra. Verwundert sah er den Säugling zwischen ihnen. Der Kleine schlief friedlich. Tibra besaß schon immer einen tiefen Schlaf. Er reagierte nicht einmal sofort, als Harkym ihm die Hand auf den Mund legte. Und als er erwachte, konnte er wegen dem Säugling keine heftige Gegenwehr gegen den Eindringling unternehmen. Dann erkannte er Harkym, entspannte sich. Der Sohn zog die Hand zurück, bedeutete ihm, still zu sein. Tibra erhob sich lautlos. Im Hinausgehen ergriff er eine Tunika, die er sich im Gang überstreifte. Er wollte Harkym umarmen, ihn freudig begrüßen. Doch der Sohn wich einen Schritt zurück. "Komm mit mir," bat Harkym mit leiser Stimme. Er führte den Vater zu Zorynas, schloß die Tür. "Er wollte dich unbedingt sehen," erklärte er dann. "Der Mann ist ohne Bewußtsein," stellte Tibra sofort fest. "Hier kann er nicht bleiben. Wir bringen ihn in einen Gastraum."
Harkym zögerte merklich. "Wo ist Bakaar?" wollte er wissen. "Er schläft." Tibra verstand. "Bakaar ist zwar Priester, aber nicht gehalten, sich gegen dich zu stellen, Junge. Seymas hat ihn ausdrücklich davon ausgenommen. Und andere Priester sind nicht im Haus. Hier droht dir keine Gefahr." "Im Moment ist nur Zorynas wichtig," versprach Harkym, den schwachen Gefährten aufnehmend. "Geh voraus." Er bettete den Kranken dann auf ein weiches Lager. Harkym wirkte auf den Vater sehr fremd und sehr fern. "Soll ich einen Arzt holen?" bot der Magier an. "Der kann nichts mehr tun," widersprach Harkym. "Nimm seine Hand, Vater. Seine Krankheit ist nicht übertragbar; du gefährdest dich nicht durch die Berührung. Und er stirbt. Er stirbt schon lange, aber jetzt ist es nicht mehr aufzuhalten. Er wollte dich sehen. Du erinnerst dich an ihn?" Tibra nickte nur. Der bewußtlose Mann, dessen Hand er nun hielt, erinnerte in nichts an den Jüngling, der er einst furchtsam auf Amarra sah. Damals war Zorynas ein Chela, von seinem Leiter wegen eines kleinen Vergehens in den Büßerhügel befohlen. Die Dunkelheit der tiefen Erdhöhlen dort ängstigte den jungen Mann, der die Buße verweigerte. Sein priesterlicher Weg mußte damit zu Ende sein. Tibra hatte in Begleitung des Than diesen Ort besucht, war selbst drei Tage in einer solchen Höhle gewesen, die für ihn keinen Schrecken besaß. Er brachte einen kleinen schwarzen Stein aus der Erde mit.
Damals sprach Zorynas nicht mit ihm, aber er kniete vor ihm und sah ihn um Hilfe heischend an. Und Tibra sprach mit ihm, schilderte die Höhlen als einen beschirmenden Ort der Geborgenheit. 'Die Götter sind mit dir', versprach er damals, nicht ahnend, daß dieser priesterliche Gruß aus dem Mund des Pala des Than ein Versprechen und einen Segen darstellten. Seymas tobte vor Zorn. Aber Zorynas fand dadurch den Mut, in die Höhle zu gehen. Tibra mißbrauchte den Stein als magische Brücke und schuf dem Jüngling hierdurch ein wenig schimmerndes Licht in der ihn ängstigenden Dunkelheit. Später gab Tibra den Stein an Harkym, jetzt nicht mehr als magisches Utensil, sondern als geistige Übung. Der Sohn sollte ergründen, weshalb ein Stein von Wichtigkeit sein konnte. Irgendwann mußte Harkym Zorynas getroffen und ihm den Stein gegeben haben, der dann bei Alphena gefunden wurde und sich jetzt wieder in Tibras Besitz befand. "Ich rufe ihn jetzt ins Bewußtsein, Vater," unterbrach Harkym seine Gedanken. "Bedenke bitte, daß er nicht den Magier und nicht den Pecha sucht. Er will dem Pala des Than begegnen und sich in dir mit Amarra aussöhnen. Es ist kein Verrat an Seymas, wenn du ihm vergibst und ihn segnest." Tibra hob irritiert den Blick. Der Sohn sprach so endgültig, kühl und doch von unterschweligem Schmerz erfüllt, daß ihn fror. Harkym achtete nicht auf ihn. Er richtete sich auf Zorynas aus. Obwohl er einen Schritt entfernt stand, schien er den Geist des Bewußtlosen doch zu erreichen. Zorynas atmete jetzt etwas heftiger. Seine geschlossenen Augenlider flackerten. Er bewegte sich ein wenig, legte die Finger fester um Tibras Hand. Der Griff blieb erschreckend kraftlos. Aber er öffnete die Augen. Harkym nickte Tibra zu, rief das Licht seines Kristalles ein wenig zurück, um blendende Helligkeit zu vermeiden. Zorynas erkannte den Magier.
"Ohne euch wäre ich kein Priester," rang er sich mühsam Worte ab. "Ihr habt mir zum Licht verholfen." Er hustete etwas. "Ich bin kein Verräter, Herr. Verzeiht mir." Tibra hatte keine Ahnung, wovon dieser Mann sprach. Er meinte gewiß nicht sein Wirken beim Tardenaufstand. Zorynas starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen und keuchendem Atem an, wartete auf ein Wort, auf ein Urteil. Tibra hielt seine Hand jetzt mit beiden Händen umfaßt. Zorynas hustete krampfhaft, würgte Schleim und Blut aus. Mit einem Mal war es Tibra egal, was dieser Mann womöglich wider Amarra tat. Er dachte nur noch daran, wie der Sohn um ihn fürchtete und ihn wichtig nannte. In einer dankbaren Geste küßte er die weißen, kalten Finger des Sterbenden. "Die Götter sind mit dir, Sohn," wiederholte er den Gruß von einst, "und werden deinen Weg beschirmen." Er nannte ihn Sohn, sprach dabei als machtvoller Priester und wirklich als Pala des Than. Zorynas entspannte sich. Sein Blick fraß sich in Tibras Augen fest. Er versuchte noch ein Lächeln. Dann erschlaffte sein Körper und das Licht seiner Augen erlosch. Nach langer Zeit der Stille wandte Tibra den Kopf. Der Sohn stand noch unbeweglich, doch unaufhörlich rannen ihm Tränen über die Wangen. Schmerzerfüllt zuckten seine Mundwinkel. So hatte ihn Tibra nie gesehen. Er wollte ihn in die Arme schließen, trösten, beruhigen. Aber Harkym schüttelte den Kopf. "Laß mich bitte mit ihm allein," flehte er mit vibrierender Stimme. Tibra ging zur Tür. Er fühlte sich ohnmächtig, weil er nun kein Wort des Trostes kannte.
Harkym kniete schon bei Zorynas, weinte jetzt haltlos an der Brust des Toten. Da ließ er den Sohn allein.
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ibra fand keinen Schlaf mehr in dieser Nacht, suchte ihn auch nicht. Er setzte sich im Wohnraum an den Kamin, wo er ein Feuer entzündete. Stundenlang sah er in die Flammen. Feuer war seine Magie, seine Kraft, sein geistiger Zufluchtsort. Als Priester hätte er jetzt wohl eine geistige Übung vollzogen und versucht, die Ebene der höchsten für ihn erreichbaren Gottheit zu finden, um darin aufzugehen. Als Magier öffnete er sich der Kraft des Feuers. Harkym befand sich seit fünf Jahren auf der Flucht vor Amarras Rache. Oft sah er ihn nicht in dieser Zeit, doch immer wieder kam der Sohn für drei Tage zu ihm. Nie zeigte er sich mutlos oder verzweifelt. Fünf Jahre stetiger Wanderschaft bedeuteten einen ständigen Abschied. Doch Zorynas zu verlieren, das rief in Harkym einen Schmerz hervor, der ihn zu überschwemmen drohte. Tibra erhob sich. Er füllte einen wuchtigen Achat-Pokal mit Wein, gab etwas Tratta, den scharfen Schnaps der Reiche, hinzu und trug ihn zu Harkym. Der Sohn hatte das Fenster geöffnet. Die kühle Morgenluft erfüllte den Raum. Harkym hob nur kurz den Blick, achtete dann nicht weiter auf den Vater. Mit fast ruhigen Bewegungen beendete er sein Werk. Er hatte Zorynas Leib in weißes Tuch eingenäht, wie es der Sitte entsprach. Tibra hielt ihm den Pokal entgegen, doch Harkym reagierte nicht einmal auf diese Geste. "Kannst du mir einen Wagen geben?" erkundigte er sich. Tibra stellte den Pokal beiseite. Harkyms Stimme klang irgendwie tonlos, doch viel zu beherrscht.
"Es ist nicht gut, den Schmerz zu unterdrücken," mahnte er besorgt. "Einen Freund zu verlieren, das ist schlimm. Du mußt jetzt nicht stark sein, Söhnchen." Harkym trat zum Fenster. Er konnte hier auf den Garten vor dem Haupttor sehen, in dessen Mitte ein halbhoher Mesa-Strauch wuchs. "Die strengen Sitten Amarras haben Zorynas nie gefallen," erzählte er mit leiser Stimme. "Er hat oft dagegen aufbegehrt und den unbedingten Gehorsam in Frage gestellt. Und er litt, weil er deshalb das Land verlassen mußte." Tibra trat hinter ihn, legte ihm bedauernd die Hand auf den Unterarm. "Ich dachte, er lebe auf Khyon im Tempel der Kraft." "Dorthin mußte er gehen," bestätigte Harkym. "Er begegnete Antares, empfing die Weihe der Lichtgöttin. Als Priester der höchsten Ebene durfte er seinen Platz selbst bestimmen und er zog es vor, nicht weiter in einem Tempel zu bleiben." Er legte die Rechte auf des Vaters Hand. "Aber er wollte dort begraben sein, wo er nicht leben konnte und er hat mein Wort, daß das geschieht." Tibra zuckte zusammen, zog erschrocken die Hand zurück. "Du willst ihn in einen Tempel bringen?" entfuhr es ihm. "Das darfst du nicht, Junge. Man wird dich überwältigen und nach Amarra schaffen." "Man wird es versuchen," bestätigte Harkym mit kühler Stimme. "Aber dann würden sie auch das Leichentuch öffnen und Zorynas in der Gewandung des Lichts sehen, ihm dann das Grab zugestehen, das er verdient hat."
"Ich lasse es nicht zu," sagte Tibra da und es klang wie ein Schwur. "Du kannst mich nicht hindern, Dada. Du kannst mir nur helfen." Er gab dem Vater wieder die Anrede, die er als kleiner Junge benutzte. Jetzt wandte er sich ihm auch zu. Und als Tibra ihn in die Arme schloß, wehrte er nicht mehr ab. Er ließ sich festhalten und er verbot sich die Tränen auch nicht weiter. Harkym weinte um den verlorenen Freund.
T
ibra lenkte den Wagen querfeldein. Es war nicht ganz einfach gewesen, der Familie zu erklären, daß er für drei, vier Tage zum schwarzen Tempel wollte. Bakaar zeigte sich gekränkt, da der Magier seine Begleitung ablehnte. Harkym weigerte sich, die Mutter und die Geschwister zu begrüßen. Er trug Zorynas' Leichnam heimlich aus dem Haus, wartete in sicherer Deckung. Wortlos hob er seine traurige Last dann auf den leichten Wagen, band den Schecken hinten fest und kletterte neben den Vater auf den Kutschbock. Sie kamen gut voran. Tibra bat den Sohn mehrmals, ihm die Sache zu überlassen. Er versprach ihm, Zorynas' letzten Wunsch zu erfüllen. Doch Harkym bestand darauf, dabei zu sein. Sie mußten übernachten. Tibra hatte alles dabei, um halbwegs trocken und warm die Nacht zu überstehen. Er kümmerte sich um das Lager, entfachte ein Feuer, bereitete Nahrung zu. Das Schweigen des Sohnes respektierte er still als einen Teil von dessen Trauer. Tibra hatte die Zweige immergrüner Büsche zusammen gebunden und zur Halbhöhle geformt; das Innere mit Lederplanen ausgekleidet und warme Decken ausgebreitet. Harkym legte sich neben ihn. Tibra hoffte nicht einmal auf Nähe, doch
Harkym legte sich eng an seine Seite, bettete den Kopf in seine Armbeuge und wandte ihm das Gesicht zu. "Ich danke dir, Dada. Es ist leichter, weil du bei mir bist. Verstehst du, daß ich es tun muß?" "Ich verstehe, daß ein Mann sein Wort einlösen will," gab Tibra zu. "Zorynas hat dir viel bedeutet." "Er ist der einzige, der sich Amarra nicht rückhaltlos unterordnete," erwiderte Harkym bewegt. "Ich traf ihn in Khyon, nahe des Tempels der Kraft. Ich saß in einer Herberge beim Mahl. Ich hatte Sehnsucht nach zu Hause und spielte mit dem Stein, den du mir gegeben hast. Zorynas setzte sich zu mir. Wir kamen ins Gespräch. Er wunderte sich, weil der Stein mir so wichtig war. Da habe ich ihm erzählt, daß er aus dem Büßerhügel stammt. Er wurde sehr aufmerksam, fragte weiter. Ich erfuhr erst später, daß dieser Stein, der Hügel und du - daß wir dadurch verbunden waren. Du hast ihm den Segen der Götter gegeben, damals, als er in die Dunkelheit der Höhle mußte, und jetzt, als die Dunkelheit des Sterbens zu ihm trat. Ich danke dir sehr, Dada." "Willst du mir sagen, weshalb es ihm wichtig war, vor Amarra nicht als Verräter zu gelten?" erkundigte sich Tibra sehr leise. "Er hat mich geleitet." Der Magier lauschte diesen Worten nach, Harkym dabei unwillkürlich fester haltend. Als der Sohn sich gegen Seymas stellte, erging der Befehl, ihn in keinem Tempel zu leiten. Sein priesterlicher Weg war damit zu Ende. Harkym sollte niemals mehr als die dritte Ebene sehen dürfen. Zorynas hielt sich nicht daran. Harkym war also Minosante, dem Gott der Kraft, doch noch begegnet. Obgleich Tibra als Magier die Bedeutsamkeit dieses Geschehens nur unvollkommen zu verstehen vermochte, fühlte er doch eine tiefe Freude in
sich und eine bewegende Dankbarkeit gegenüber dem Mann, der Harkym zu größerer geistiger Freiheit verhalf.
A
ls Tibra erwachte, hatte Harkym schon das Feuer entzündet und ein kleines Frühmahl bereitet. Er wirkte jetzt stärker, gefaßter, zielsicherer. Er redete jetzt auch mehr. Während sie sich dem Schwarzen Tempel näherten, schilderte Harkym, wie er zu dem Schecken kam und vernahm mit Erstaunen aus dem Mund des Vaters, wie die Ehe zwischen Alphena und Andraag entstand. Ausführlich ließ er sich schildern, was im Heerlager alles geschah, nachdem er Zorynas befreite. Und er lächelte sogar ein wenig, als er verstand, daß Andraag dort wirklich sein Erbe antrat. Tibra hielt den Wagen an. Vor ihnen erhob sich der mächtige Tempelbau. Sie befanden sich schon einige Zeit auf dessen Gebiet. "Ich bitte dich, Söhnchen, bringe dich nicht in Gefahr. Ich werde deinem Freund den letzten Wunsch erfüllen." "Den vorletzten," erwiderte Harkym bedeutsam, erklärte diese Worte aber nicht. Er sprang zu Boden, band den Schecken los. "Gerrys wird dir nicht helfen," warnte er. "Er ist Falla," entschuldigte Tibra den Freund. "Er würde viel zu viele Fragen stellen." Harkym trat zurück. Tibra lenkte den Wagen weiter dem Tempel zu, hoffend, Nymardos zu finden. Noch lag ein ganzes Stück Weg vor ihm, als ein Reiter nahte und bei ihm das Tier zügelte. Der Mann verneigte sich tief im Sattel. Tibra kannte Lycaron. Die Falla hier war seine Zwillingsschwester. "Ihr habt eine traurige Fracht," stellte der Priester Minosantes fest. "Ist es ein Freund, Pala?"
"Ja, ein Freund," versicherte Tibra mit ernster Stimme. "Ein Diener des Lichts sucht seine letzte Ruhestätte." Lycaron musterte ihn zweifelnd. Wer die sechste und höchste Weihe besaß, starb nicht unerkannt und einsam, zumindest nicht, wenn er sich nahe eines Tempels befand. Er könnte noch in seiner letzten Stunde auf geistigem Weg Hilfe und Beistand rufen. Lycaron glitt aus dem Sattel. Ehe Tibra ihn hindern konnte, war er schon auf dem Wagen. Er öffnete das Leichentuch nicht. Das war aber auch nicht nötig, denn am Fußende war ein Stück des letzten Gewandes des Toten so eingenäht, daß es an der Naht durchschimmerte. Betroffen sah Lycaron den weißen Stoff, aus dem die Tunika der Lichtpriester gefertigt wurde. "Ich bitte um Verzeihung, Pala," sagte er verunsichert. "Ich werde den Falla rufen." Er sprang schon zu Boden, als ihn Tibras abwehrende Worte aufhielten. Lycaron richtete den Blick auf ihn. "Ein Priester des Lichts erhält den Stein Antares' mit ins Grab," verstand er Tibras unausgesprochenen Wunsch. "Ich werde euch einen Opal bringen, Herr. Wenn ihr bei dem Molbaum hinter dem Hügel dort warten wollt..." Er beendete den Satz nicht, wich Tibras Blick jetzt aus. "Ich bin euch sehr dankbar," versprach der Magier, ehe er den Wagen in die angegebene Richtung lenkte. Lycaron ritt davon. Als er zum Molbaum kam, hatte Tibra an dessen Fuß bereits eine Grube ausgehoben. Er brachte nicht nur den kleinen Buntopal, sondern auch grüne Zweige und duftende Kräuter, um damit das Grab auszukleiden. Aber er legte alles auf den Erdhügel, gab nichts davon ins Grab.
Der Opal lag nun auf der Brust des Toten. Lycaron überkreuzte die Arme, kniete vor Tibra nieder und sah ihn an. "Vergebung, Herr," sagte er mit fester Stimme, "doch dies ist wohl weder mein noch euer Werk. In den nächsten Stunden wird kein Priester hierher kommen; keiner, der zum Tempel gehört." Tibra verstand. Lycaron ahnte, daß dies alles für Harkym geschah. Er war verpflichtet, Harkym an Amarra auszuliefern. Deshalb sprach er nicht von ihm, jedenfalls nicht in direkten Worten. Er war vier Jahre älter als der Sohn. Als Kinder spielten Lycaron und Harkym zusammen. Ob sich Lycaron dessen noch entsann? Oder ob er bedauerte, daß Uhray hier keine Aufnahme fand? "Mögen die Götter mit euch sein," grüßte Tibra bewegt. Er wußte, daß sich Lycaron nahe am Verrat befand und daß ihm dies wirklich nicht leicht fiel. "Mögen sie mir vergeben," erwiderte der Priester gefaßt, ehe er sich erhob und in den Sattel schwang. Rasch ritt er davon. Tibra ging zum Wagen, saß auf und wartete. Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis Harkym angeritten kam. Er hatte den Vater nicht aus den Augen gelassen. Wortlos kleidete der Sohn das Grab mit den Zweigen und Kräutern aus. Er schob dem Leichnam den Opal zwischen die Lippen, bettete ihn in die Grube. "Ich wünsche dir eine gute Reise, Freund," grüßte er ein letztes Mal. "Möge das Licht, das dich nun umgibt, dich in allen künftigen Leben erhellen."
Harkym häufte die Erde über das Zweige darüber. Dann strich er sich den Schmutz von der Kleidung und Vater, der sofort das Pferd antrieb. lange so nahe beim Tempel zu bleiben.
Grab, legte die letzten in fast lässiger Geste setzte sich neben den Es war klug, nicht zu
"Wer war der Priester?" wollte Harkym wissen. "Du hast Lycaron nicht erkannt? Er ist Minosantes Mann; seit über zwei Jahren auf dem Weg zu Raaki." "Lycaron?" Harkym lächelte. "Wie sollte ich ihn nach den vielen Jahren noch erkennen können? Ich habe nicht erwartet, daß ausgerechnet der Bruder der Falla mir helfen wird." "Hüte dich vor Bitterkeit," bat Tibra. "Ich bin nicht verbittert," versicherte Harkym. "Ich bin nur immer wieder erstaunt, auf welchen Wegen die Götter mir Hilfe zuteil werden lassen. Auch Alphena stand mir bei. Ich möchte es ihr gern vergelten." "Vielleicht ergibt sich irgendwann die Gelegenheit. Kommst du jetzt mit nach Hause und begrüßt die Familie?" "Du sagst, Bakaar wird nicht gegen mich sein?" "Ich sagte nur, daß er dich Amarra nicht ausliefern wird," schränkte Tibra ein. "Natürlich ist auch er bestürzt, weil du einen Lebenden Kristall nicht Seymas übermittelst. Als Befehl erging, dich nun überall zu suchen, war ich gewillt, Bakaar aus meiner Nähe zu entlassen." "Damit hätte Seymas die Rapportbrücke zu dir verloren," verstand Harkym.
Er wußte, daß Bakaar mit Thyrian, dem heimlichen König Amarras und vertrautesten Freund des Than, in Rapport stand. Diese zwingende geistige Verbindung erlaubte stets ein gegenseitiges Rufen und Austauschen von Gedanken. Wenn Bakaar Minas verließ, konnte Amarra den Magier nicht mehr erreichen. "Deshalb ist Bakaar ausdrücklich von diesem Befehl ausgenommen," bestätigte Tibra die Gedanken des Sohnes. "Es ist nicht einfach, Seymas und mich zugleich zu lieben, wie?" meinte Harkym, auf seltsame Art sehr heiter. "Deine Freundschaft zum Than rettete mir bisher das Leben. Du hast keinen Grund, dich deshalb unwohl zu fühlen, Dada." "Ich frage mich nur, wie lange du dich verbergen kannst, jetzt, wo du aktiv gesucht wirst." "So lange ich es will," versprach Harkym. "Sie suchen mich immerhin schon lange. Ich wußte gar nicht, daß es so viele Priester in Sion und Nodher gibt." "Du warst in Sion?" "Nachdem ich Zorynas befreite, war dies der sicherste Weg. Ich konnte ja nicht wissen, ob Andraag den Dieb seines Pferdes suchen läßt." "Ich glaube, er wünscht sich nichts mehr, als sich endlich mit dir auszusöhnen, Sohn. Aber auch er ist Priester. Du darfst ihm nicht begegnen." "Magst du ihn?" "Er ist mir fremd. Aber ich freue mich, daß Ilkonys ihn endlich als Erben akzeptierte und die beiden sich gut verstehen."
T
ibra wollte in einer Siedlung übernachten, doch Harkym zog es vor, den Menschen fern zu bleiben. So errichteten sie ihr Lager auf einer Wiese, wo ein kleiner Bach sich schlängelte. Es war sehr kühl geworden. Sie saßen ganz nahe beim Feuer, hielten die Wärme durch dicke Decken ab. "Erzählst du mir von dem Säugling, der bei dir schlief?" bat Harkym, erst jetzt von dem Kleinen sprechend. "Das ist dein Bruder Tharan," erwiderte Tibra lächelnd. Zärtlich ergriff er die Hand des Sohnes, während er ihm schilderte, wie der kleine Tharan geboren wurde und weshalb er ihn dann behielt. Harkym stellte ein paar Fragen nach der Mutter, sah dann aber ein, daß ihm diese Fragen wohl nur Antaya beantworten konnte. "Für dich kommt das etwas überraschend," gab Tibra zu. "Versuche doch, dich mit uns zu freuen, Junge." "Die Mutter sagte, der Vater wisse nichts von dem Kind. Du kannst Schwierigkeiten bekommen, wenn er es doch noch erfährt und den Knaben für sich fordert." "Kalita sagte, sie kennt ihn nicht einmal. Sie wird ihm kaum begegnen und wenn..." "Wie, sagtest du, ist ihr Name?" unterbrach ihn Harkym rasch. "Kalita, so sagte sie zumindest. Angeblich stammt sie aus Moras." Harkym schob einen Ast ins Feuer, stocherte in der Glut. Er schien sehr nachdenklich zu sein. "Tharan ist völlig gesund?" wollte er überlegend wissen.
"Er wurde etwas zu früh geboren und seltsamerweise verträgt er keine Milch. Aber ansonsten ist alles in Ordnung mit ihm. Ich hoffe so sehr, daß du ihn lieben wirst und dich nicht so ablehnend wie Krystan verhältst." "Ich werde ihn lieben," versprach Harkym da, ohne den Blick aus dem Feuer zu lenken. Er schmunzelte. "Schließlich ist er mein Bruder," fügte er an.
A
niela hatte Gäste, von denen sie Berichte aus Minas empfing. Ihre Arbeit hatte für sie immer Vorrang. Da ihr Gemahl, aus welchen Gründen auch immer, zum Schwarzen Tempel ritt, hatte sie ein kleines Bettchen in ihr Arbeitszimmer stellen lassen und hielt Tharan in ihrer Nähe. Unwillig sah sie auf, als die Tür jetzt geöffnet wurde. Sie haßte Störungen bei der Arbeit. Dann sah sie Harkym, der lächelnd im Türrahmen stand und sie anschaute. "Laßt uns allein," befahl sie den Gästen. Sie achtete nicht weiter auf die Leute. Harkym, den sie so lange nicht sah, endlich einmal wieder umarmen zu dürfen, das war ihr jetzt wichtiger als ganz Minas. "Du hast dich sehr verändert, Mutter," stellte er fest, sie zärtlich auf die Wange küssend. "Ich wollte dich nicht stören, dir nur zeigen, daß ich da bin." "Die Arbeit kann warten," behauptete sie und schlug damit wirklich neue Töne an. "Wie geht es dir, Junge? Tibra ist zum Tempel. Er..." "Wir waren zusammen dort," unterbrach er sie. "Ich wollte nicht, daß ihr das wißt. Laß es dir erklären." Mit wenigen Worten schilderte er Zorynas' Sterben und daß er ihn in aller Stille begraben wollte. Dabei trat er zu dem kleinen Bett, hob Tharan heraus. Der Säugling erwachte,
schaute ihn mit großen Augen an, steckte sich dann einen Finger in den Mund und lutschte zufrieden daran. Aniela sprach von dem Kind; von ihrem Wunsch, es zu behalten. Harkym lächelte. Sie liebte den Knaben wirklich, er spürte es. "Ich habe nicht viel Zeit," erklärte er. "Darf ich Tharan ein wenig bei mir behalten?" Aniela hatte nichts dagegen. Sie wußte ja, daß er nur drei Tage verweilen durfte. Vielleicht beeindruckte es Krystan, wenn er sah, wie der große Bruder sich dem Kleinen zuwandte. Harkym verließ das Haus. Nahe der niederen Mauer sah er Antaya, die wie ein Mann mit dem Säbel umging. Sie übte den Waffengang mit Ylmir, einem befreudeten Jüngling. Als sie Harkym sah, verabschiedete sie sich rasch von ihm. Übermütig schloß sie den älteren Bruder in die Arme. Sie lachte und freute sich, weil er Tharan trug und ihn nicht ablehnte. "Seine Mutter hat ihn einfach allein gelassen," meinte sie bedauernd. "Aniela ist seine Mutter," wehrte Harkym nachdrücklich ab. "Aber erzähle mir von der Frau, die ihn gebar." "Du machst ja feine Unterschiede." Antaya lachte. Sie setzte sich auf die Mauer, zog Harkym neben sich. Dann berichtete sie das wenige, das sie von Kalita wußte und das diese erzählte. Harkym hörte schweigsam zu, dabei versonnen das Gesicht des Säuglings streichelnd.
Nachdem die Schwester endete, griff er unter sein Wams. Auf offener Handfläche hielt er Antaya einen Schmuckanhänger entgegen, der zwischen dünnen Muskovitstücken ein gepreßte Blüte zeigte. "Was ist das?" staunte sie. "Ein Geschenk? Für mich?" "Nimm es," schlug er vor. Antaya ergriff den Anhänger, betrachtete die Blüte voll Neugier. "Willst du immer noch nach Wyla?" "Mehr denn je, Harkym. Aber Mutter wird es wohl nie erlauben." "Doch, das wird sie." Es klang wie ein Versprechen. "Wenn du dann zu den Hohepriesterinnen der Göttin kommst, gib ihrer Führerin diesen Anhänger. Sie heißt Nornyco und sie wird dich willkommen heißen." "Du bist dort gewesen?" Antaya konnte es kaum fassen. "Erzähle mir davon, bitte." Harkym gab ihr gern nach. Er schilderte ihr jene Siedlung in Wyla, in der starke Kriegerinnen einen alten, eigentlich verbotenen und meist auch vergessenen Kult lebten. In der alten Zeit, als die Göttin in Wyla noch verehrt wurde, lebten alle Frauen so. Jetzt waren es nur wenige, die diesen Glauben vertraten. Männer fanden bei ihnen keinen Raum, mit Ausnahme des Auserwählten, den sie als Samenspender des Lebens hielten; ein Schicksal, das einst Harkym zugedacht war.
K
rystan kehrte von einem Ausflug mit dem Ruderboot zurück, vertäute es am Ufer. Er wollte zurück ins Haus des Vaters, aber da sah er Harkym im nahe stehenden Pavillion und eilte zu ihm. Auch er freute sich, den Bruder zu sehen.
"Sie haben dir Tharan schon gezeigt," stellte er mit etwas düsterem Blick auf den Kleinen fest. Harkym zog ihn neben sich auf die Bank und drückte ihm, trotz seiner schwachen Abwehr, den Säugling in die Arme. "Du denkst, daß er nicht zu uns gehört," stellte er dabei fest. "Du hast natürlich recht, Krystan. Tharan ist ein Fremder." "Unsere Eltern und auch die Schwestern, die tun so, als sei er wirklich Teil unserer Familie." "Unserer? Bin nicht auch ich ein Fremder, Krystan?" "Du doch nicht, Harkym." "Wo ist der Unterschied zwischen Tharan und mir? Das sagst du doch nur, weil ich vor dir da war." "Du bist mein Bruder. Ich habe nie anders an dich gedacht, Harkym. Ich, ich mag dich." "Ich liebe dich auch," versicherte Harkym lächelnd, ihm den Arm um die Schultern legend. "Weißt du, für mich war es ein großes Glück, daß Vater mich nach meiner Geburt nicht einem Tempel übergab." "War es das wirklich?" Krystan zweifelte. "Man würde dich heute nicht suchen und du hättest dem Than nie widersprochen. Ich habe Angst um dich, Harkym." "Das brauchst du nicht," versprach der Bruder. "Bei allem, was mir geschah, wußte ich immer, daß es Menschen gibt, die zu mir stehen. Das gab mir die Kraft, durchzuhalten. Ich möchte, daß auch Tharan solche Menschen hat. Er braucht einen großen Bruder wie dich, der zu ihm steht."
"Nicht einmal seine Mutter wollte ihn haben," murrte Krystan. "Kalita war verzweifelt. Laste es ihr nicht an." Harkym sprach sehr leise, jedes Wort abwägend. "Sie hat nicht viel Gutes erlebt, Krystan. In Moras hat ihr eigener Vater sie vergewaltigt und in Wyla wurde sie von den dort so starken Frauen nur verachtet. Der einzige Mann, den sie liebte, konnte ihr kein Heim bieten." Krystan erstarrte förmlich, das Kind jetzt etwas verkrampfter haltend. "Für Kalita war es unerträglich, immer auf Wanderschaft zu sein. Als sie wußte, daß sie empfing, hat sie sich von mir getrennt. Sie wollte für ihr Kind einen Platz suchen und sie dachte wohl, daß ihr das in Salis gelingen würde. Ich hatte keine Ahnung davon." Krystan wandte langsam den Kopf. Er sah die Augen des Bruders feucht schimmern. "Wissen es Vater und Mutter?" "Ich habe es nur dir gesagt. Es sollte unser Geheimnis sein, Krystan. Sie werden Tharan um seiner Selbst willen lieben. Ich möchte nicht, daß sie mich in ihm sehen. Ich bitte dich, Bruder: gib meinem Sohn eine Chance." "Bist du denn ganz sicher, daß es dein Sohn ist?" fragte Krystan, aber die Antwort war ihm schon nicht mehr so wichtig. "Ich habe keinen Zweifel. Du bist eigentlich sein Oheim." "Nein," widersprach Krystan heftig und entschlossen, "ich bin sein Bruder." Tharan weinte ein wenig. "Ich glaube, er hat Hunger. Weißt du, wie man ein Baby füttert?" "Wir rufen eine Kinderfrau."
"Ich will es selbst tun," entschied Krystan, sich erhebend. "Ich verrate dein Geheimnis nicht, Harkym. Und ich werde Tharan ein guter Bruder sein." Sie gingen ins Haus. Naphara und Antaya gesellten sich später dazu. Sie alle umsorgten den Säugling, als wären nur sie für ihn verantwortlich. Etwas erstaunt fand Tibra gegen Abend Krystan in dessen Zimmer. Der Sohn lag am Boden auf dem Bauch, halb über Tharan geneigt. Er erzählte dem Baby, wie er ihm später ein Pony schenken und ihn das Reiten lehren wollte.
D
en Abend verbrachte Harkym mit den Eltern. Sie saßen gemeinsam vor dem Kaminfeuer. Über ein Jahr war er fern geblieben. Nun gab es viel zu erzählen von allem, was er erlebte und was hier zu Hause geschah. Das Gespräch kam auch auf Antaya. Aniela beklagte sich ein wenig, weil die Tochter immer noch nach Wyla wollte. "Als sie ein kleines Mädchen war, habe ich darüber gelacht," gab sie zu. "Ich dachte, der törichte Wunsch vergeht." "Ist er denn töricht, Mutter?" "Wehe dir, wenn du sie darin bestärkst," Aniela scherzhaft. "Wyla ist kein guter Ort."
drohte
"Für eine Frau ist es ein phantastisches Land," widersprach sogar Tibra. Harkym schürte das Feuer, setzte sich danach aber nicht mehr zu ihnen, sondern kniete vor Aniela nieder und ergriff ihre Hände.
"Antaya wurde in Wyla gezeugt," sagte er bedeutsam. "Ihr beide habt es mir erzählt. Es war eure erste Begegnung." Tibra rutschte näher zu Aniela, hielt sie umschlungen. Er liebte diese Frau. Aber damals war sie noch nicht einmal eine Freundin. Aniela lächelte. "Wir haben dich gesucht, Harkym. Und in Wyla muß jeder Mann zu einer Frau gehören und ihr dienen. Als wir Erynia fanden, bezweifelte sie offen unsere Ehrlichkeit. Ich hatte gar keine andere Wahl, als deinen Vater zu mir zu lassen. Man hätte uns getötet, wäre unsere Täuschung entdeckt worden." Tibra küßte ihre Wange, ehe er zugab: "Ich kam mir wie ein Schurke vor." "Du hattest Angst um euer aller Leben, Mutter." "Es war kein Opfer," wehrte sie lächelnd ab. "Tibra gefiel mir sehr. Ich wollte, daß er mich beachtet." "Aber du hast gezögert," erinnerte er sich. "Natürlich," gab sie zu. "Ich wußte um meine fruchtbaren Tage. Ich habe damals eine Entscheidung getroffen. Und immerhin war ich doch dort, um dem Königreich der Frauen einen kleinen Jungen zu entreißen." Harkym küßte ihre Hände. "Du warst doch auch bereit, diesen kleinen Jungen gegen ein kleines Mädchen einzutauschen," behauptete er. "Ein Mädchen, das in dieser Nacht gezeugt wurde." Tibra sah ihn erstaunt an und Aniela entzog ihm die Hände.
"Ach," wehrte sie ab, "man hat viele seltsame Gedanken, wenn man in Gefahr ist. Ich würde Antaya niemals in Gefahr bringen." "Wyla ist keine Gefahr für sie, Mutter. Aber sie gehört nach Wyla. Es ruft nach ihr. Und sie weiß, daß sie diesem Ruf folgen muß. Laß sie gehen. Die Göttin verlangt nach ihrer Tochter." "Du redest Unsinn," schimpfte sie unwirsch. Lächelnd lehnte sich Harkym gegen die Beine des Vaters. Er sagte nichts mehr, denn er wußte, daß die Mutter nicht wirklich in Zorn geriet. Sie würde diese Worte bedenken und Antaya gehen lassen.
B
akaar wußte noch gar nicht, daß sich Harkym in Minas befand. Er hatte den vergangenen Tag bei Vogan verbracht, kam erst spät zurück. Als er nun zum Frühmahl den Speisesaal betrat und Harkym sah, wich jede Fröhlichkeit aus seinem Antlitz. Er mochte Tibra, mit dem er seit vielen Jahren lebte. Er gehorchte dabei einem Befehl Amarras, aber er empfand dies immer als Freude. Er hatte auch Harkym geliebt. Er sah den Jungen aufwachsen, ritt mit ihm, beantwortete unzählige seiner Fragen. Und er war unglaublich stolz, als Harkym als Priester nach Minas kam. Harkym stand unter Leitung, suchte die vierte Ebene, als er sich auf Amarra gegen den Than stellte. Damals fühlte Bakaar eine tiefe Enttäuschung und einen wehen Schmerz. Er wich Harkym aus, wenn er danach im Haus seines Vaters weilte. Ein Priester, der sich gegen den Than erhob, konnte nicht auf seine Freundschaft hoffen. Aber Harkym war es nicht genug mit dieser Rebellion. Er brachte auch noch einen Lebenden Kristall in seinen Besitz.
Jetzt war er nicht mehr nur verbannt, jetzt wurde er gejagt und gesucht. Bakaar hatte ihn nicht zu stellen, aber er wollte ihn auch nicht sehen. "Du mußt nicht gehen," hielt ihn Harkym auf. "Ich habe dir nichts zu sagen," erwiderte Bakaar mit abweisender Stimme. "Ich weiß." Harkym aß gelassen weiter. "Aber ich habe dem Than etwas zu sagen und ich möchte, daß du meine Botschaft übermittelst." Damit hatte Bakaar nicht gerechnet. Er blieb nun doch, aß mit ihnen. Er wartete, doch Harkym schien noch nicht gewillt, seine Botschaft zu nennen. Tibra beschlich ein ungutes Gefühl. "Was hast du vor?" drängte er den Sohn zu einer Erklärung. "Ich werde nach Amarra gehen," kam die einfache Antwort. "Du willst dich dem Than unterwerfen?" vergewisserte sich Antaya, ein wenig enttäuscht, weil der Trotz des Bruders ihr bisher sehr imponierte. Harkym sah die Geschwister, die Eltern an. Er wirkte sehr überlegt und ganz ruhig. "Ich habe es Zorynas versprochen. Am Ende meines Weges werde ich jeden Widerstand aufgeben und seine Hilfe dadurch nachträglich rechtfertigen." "Das kostet dich eine Weihe," murmelte Bakaar, der nun doch Sorge empfand.
"Ich bezweifle, daß Seymas damit jetzt noch zufrieden ist," gab Harkym zu. "Er verübelt mir den Kristall und die vielen Jahre des Widerstandes." "Er ist damit zufrieden," versprach Tibra, der den Freund genau kannte. "Er wollte dir nie ernstlich schaden, Harkym. Er wird eine Sperre in deinen Geist weben, die dich daran hindern wird, Minosantes Ebene wieder zu erreichen. Mehr verlangt er nicht." "Minosante?" Bakaar staunte. Er dachte bisher, Harkym habe nur Saake gefunden. Von einem Mehr wußte er nichts. "Das hättest du schon vor fünf Jahren haben können," entfuhr es Aniela. "All die Jahre des unsteten Lebens hättest du dir dann erspart. Jetzt willst du Seymas doch als Herrn anerkennen?" Harkym sah nur Bakaar an. "Schließe den Rapport," bat er. "Sie sollen aufhören, mich zu suchen und zu jagen. Ich will in Freiheit kommen." "Es wird unmöglich sein, alle Priester sofort zu erreichen, die jetzt nach dir suchen," wandte Bakaar unruhig ein. "Es genügt, wenn Burg Nodher informiert wird." "Du willst zur Burg?" forschte Tibra. "Ich muß den Schecken zurück bringen," lächelte Harkym. "Womöglich verzeiht Andraag diesen Verlust seiner Gemahlin nicht." "Ich komme mit dir."
"Nein, Vater, das wirst du nicht tun. Diesen Weg gehe ich allein" "Wann gehst du?" erkundigte sich Naphara traurig. "Es kommt auf ein paar Tage nicht an," versprach er tröstend. "Wir haben noch viel Zeit füreinander." Er ritt nun viel mit den Geschwistern aus, besuchte Vogan, begrüßte alle Menschen, die er aus seiner Jugend kannte. Bakaar hatte den Rapport geschlossen und die Botschaft übermittelt; von Amarra längst erfahren, daß man Harkym erwartete. Er müßte sich über den Entschluß des Jungen zur Unterwerfung eigentlich freuen. Aber Bakaar fürchtete um Harkym, ohne genau zu wissen, weshalb.
D
rei Tage später waren Harkym und der Schecke einfach verschwunden. Er mußte schon seit Stunden unterwegs sein, als sie alle begriffen, daß er die Reise begann. Aniela weinte. "Er hat sich Antaya bekümmert.
nicht
einmal
verabschiedet,"
klagte
"Er hat in den letzten Tagen nichts anderes getan." Aniela ahnte Unheil. "Ich fürchte, er kommt nicht wieder." "Ich reite ihm nach," beschloß Tibra. "Er will allein gehen," hielt ihn die Gemahlin zurück. "Das müssen wir respektieren. Aber es wäre gut, wenn du da bist, sobald der Than mit ihm fertig ist. Er wird dann einen Menschen brauchen." Krystan hielt Tharan im Arm. Er bewahrte das Geheimnis des Bruders, um den er sich sehr sorgte.
"Harkym sagte einmal," entsann er sich, "eine Weihe zu verlieren, das sei wie geblendet zu werden. Er wird sich unterwerfen. Aber er läßt sich bestimmt nicht verstümmeln." Tibra hatte das Gefühl, als überzöge ein kalter Schauer seinen Rücken. Ihn fröstelte förmlich bei diesen Worten. Krystan ahnte nicht die Konsequenz dieses Gedankens. Denn wenn Harkym sich nicht rückhaltlos auslieferte, mußte Seymas ihn töten. "Ich werde bei ihm sein," schwor er. "Du willst nach Amarra?" vergewisserte sich Bakaar. Da Tibra nickte, zog er sich zurück. Es gehörte zu seinen Aufgaben, solche Reisepläne zu melden. Der Pala des Than mußte auf Amarra immer gebührend begrüßt werden. Überdies nahte die Zeit der kalten Nebel. Die kalte Lichtwende stand bevor. Reisen waren jetzt gefährlich und konnten nicht wünschenswert sein. "Ein Segler hat einige Priester nach Sarai gebracht," verkündete er Tibra später. "Das Schiff wartet auf dich in Nurs. Die Reise an Bord wird etwas bequemer und vor allem auch wärmer sein." Tibra zögerte. Wenn er in Nurs an Bord ging, mußte Moras umschifft werden. Die Route kostete ihn viele Tage. Er wollte unbedingt vor Harkym in Amarra sein. Bakaar lächelte gequält. Seine Botschaft war noch nicht zu Ende. "Unser Gebieter wünscht, daß du dieses Schiff nimmst," entdeckte er bedauernd. Tibra fluchte. Aber er wehrte nicht ab. Es würde ihm nicht viel bedeuten, Seymas' Wunsch zu ignorieren und er konnte auch sicher sein, daß daraus kein Zerwürfnis entstand. Doch jetzt war es wichtiger denn je, daß sie gut zueinander
standen. Für Harkym mochte dies hilfreich sein. So verließ er Minas, um nach Nurs zu reiten und von dort aus an Bord eines weißen Seglers nach Amarra zu gelangen.
H
arkym wich auf seinem Ritt zwar den Menschen aus, scheute sich aber nicht, die kalten Nächte in einer Herberge zu verbringen. Neugierige Blicke nahm er gleichmütig hin. Er war durchaus fähig, einen Priester auch dann zu erkennen, wenn dieser nicht die Gewandung seines inneren Weges trug. Solchen Menschen wich er aus. Ansonsten erweckte der Schecke bedeutend mehr Aufmerksamkeit als sein Reiter. Das feurige Tier mußte einfach auffallen. Harkym hatte es nicht eilig. Seine jahrelange Flucht endete nun, aber wie Krystan es ahnte, war er nicht bereit, sich auszuliefern. Er würde keine geistige Begrenzung hinnehmen und er wußte, daß Seymas ihn nicht verschonen durfte. Er hatte zu viel verloren, um noch ans Leben geklammert zu sein. Zorynas' Sterben kostete ihn viel. Diesen Mann traf er manches Mal. Wenn er ihn leitete, wußte sich Harkym sicher. Aber sie waren nicht wirklich Freunde, nicht einmal gute Gefährten. Seine Krankheit mit zu ertragen, sein Sterben hinauszuzögern und ihm wieder von der eigenen Kraft abzugeben, all dies bewirkte in Harkym eine seltsame Fügsamkeit in sein Schicksal. Er wollte nicht mehr kämpfen, nicht mehr aufbegehren. Er wollte es nur noch zu Ende bringen. Der Gedanke an Kalita erfüllte ihn mit Betrübnis. Sie hatte ihn so gebeten, sich zu unterwerfen, damit sie zusammen irgendwo bleiben konnten. Daß sie empfing, hatte er nicht einmal geahnt. Doch für Tharan war gesorgt. Sein Sohn würde in einer Familie aufwachsen, die ihm nie das Gefühl gab, allein zu sein. Tharan mußte alles Gute empfangen, das auch er empfing.
Er dachte an Lycaron und wunderte sich, weil der ihn nicht verriet. Und er dachte an Alphena. Wenigstens ihr mußte er nichts schuldig bleiben. Sie sollte den Schecken erhalten. Das war wenig genug. Der Vater wollte ihn begleiten. Betrübt dachte Harkym daran, daß er sich nichts mehr wünschte als jetzt dessen Nähe. Aber Tibra sollte nicht Zeuge sein, wie Seymas ihn vernichtete. Das wollte er ihm ersparen. Dieser letzte Gang war leichter, wenn niemand dabei war, dessen Schmerz er spüren mußte. Harkym erreichte den Waldweiher. Hier sattelte er den Schecken ab. Der alte Lagerplatz war schnell wieder hergerichtet. Er besaß alles, um sich gegen Kälte und Feuchtigkeit zu schützen. Natürlich könnte er einfach zur Burg reiten. Er war sicher, daß ihn dort niemand bedrohte. Aber er wußte nicht, was Alphena über den Verbleib des Schecken erzählte. Womöglich entlarvte sein Auftauchen eine Lüge. Das wollte er ihr nicht antun. Die Art, wie sie am Weiher lagerte, ließ ihn hoffen, daß sie öfter hierher kam. Harkym beschloß, ein paar Tage darauf zu warten. Sollte er sich irren, wollte er den Schecken ganz nahe bei der Burg laufen lassen. Das Tier mußte seinen Stall finden. Amarra konnte warten. Amarra mußte dann eben warten, bis er zu Fuß zum Riatha gelangte, um sich dort einzuschiffen.
A
lphena erschrak, als sie den Schecken grasend am Ufer des Weihers sah. Sie sprang aus dem Sattel, befahl ihren Leuten, am Weg zu warten und rannte über die Wiese. Das Pferd kannte sie noch, ließ sich jede Berührung und Liebkosung gern gefallen. Der Sattel lag bei den Schwarzbeerensträuchern. Alphena verstand das Zeichen. Sie sah sich um. Aber das war ihre Garde. Die Leute gehorchten ihrem Wort, warteten oben und versuchten nicht einmal, sich in ihrer Nähe zu halten. Ihre Hand lag am Knauf des Degens, als sie dann den Mann betrachtete, der gelassen neben einer kleinen Feuerstelle lagerte. Irgendwie hatte sie sich Harkym anders vorgestellt. Er ähnelte Tibra nicht, sah nicht einmal anziehend aus. Das wuschelige, ungezähmte Haar gab ihm ein etwas verwildertes Aussehen; die langen Wimpern unter den buschigen Brauen verbargen seinen Blick. Er wirkte sehr trotzig, da seine Unterlippe immer ein wenig vorgeschoben blieb. Harkym erhob sich auf die Knie, überkreuzte die Arme vor der Brust, senkte aber nicht den Kopf. "Ich danke für den Schecken, Herrin," sagte er mit fester Stimme. "Ich hoffe, Andraag verzieh euch den Verlust." "Er hat ihn mir ersetzt," erwiderte sie in einer Art, die ihm die freche Rede vorhielt. "Nodhers Erbe ist euer Gebieter. Ihr solltet respektvoller von ihm reden."
"Ich sollte vor allem mit ihm reden," meinte Harkym leichthin. "Das würde ihn freuen." Sie gab jede innere Abwehr auf. "Ihr kommt mit mir zur Burg?" "Ich nehme an, dort ist es etwas wärmer als hier," scherzte er. Alphena lachte leise auf. Er schien nett zu sein. Sie setzte sich auf ein abgestorbenes Wurzelstück. "Was ist das?" fragte geschnitteten Bratspieß.
sie
mit
Blick
auf
den
Harkym grinste, reichte ihr das Holz. Es roch verführerisch. "Eßt nur," lud er sie ein. "Das ist gegrillter Pilz." Er schob ihr einige abgeschabte, schlanke Wurzeln zu und bereits erbrochene Nüsse. Alphena staunte. Die kalten Nebel galten als die Zeit, in der ein Überleben im Freien nicht möglich war. Dieser Mann schien noch nicht einmal Mangel zu leiden. Als er ihr aufmunternd zunickte, aß sie. Harkym lagerte sich wieder bequem nieder. Alphena wollte zuerst aufbegehren, doch sie saß an seinem Feuer, aß seine Speisen und trank den von ihm bereiteten Rindentee. Es wäre unpassend, wollte sie Unterwerfung erwarten. Vermutlich lag Andraag auch viel mehr an ihm wie an ihr und er würde es ihr übelnehmen, wenn sie ihn bedrängte. "Ich mißachte euch nicht, Herrin," versprach er, ihre Gedanken verstehend. "Wenn ihr euch wie eine Königin benehmt, werde ich mich wie ein Vasall verhalten." "Ich bin keine Königin," gab sie fast heiter zu. "Andraag hat eine schlechte Wahl getroffen. Ich versuche aber, ihn
nicht zu enttäuschen." "Mit Erfolg?" Alphena starrte ihn an. Dieser Bursche war mehr als nur frech. Aber dann lachte sie fröhlich. Es tat gut, mit jemandem zu reden, der in ihr nicht nur Andraags Gemahlin sah und deshalb keinen falschen Respekt erwies. "Ich weiß es nicht," gab sie offen zu. Unversehens erzählte sie aus ihrem Alltag, sprach sie von ihrem Lernen, Reiten, aber auch ihrem Fühlen und Hoffen. Dann verstummte sie. Ungewollt hatte sie ihre erste Begegnung mit Andraag geschildert, in der er sie noch für Harkyms Gefährtin hielt. Harkym lächelte nur. Da sprach sie weiter. Sie teilte ihr ganzes Leben mit diesem fremden jungen Mann, der sie nur schweigend ansah und ihr zuhörte. Schließlich schwieg sie verwirrt. Harkym erhob sich, erstickte das Feuer und half ihr auf. "Darf ich den Schecken reiten?" bat er. "Natürlich." Alphena wich jetzt seinem Blick aus. "Andraag wird mir diese Offenheit sehr verübeln." "Wie wollt ihr das wissen? Habt ihr je versucht, vor ihm offen zu sein?" Er packte sein Bündel zusammen. Alphena half ihm dabei. Als sie auf die Wiese traten, schaute ihre Garde vom Waldrand her betreten beiseite. Sie hatten ihre Herrin lachen gehört und sahen sie nun an der Seite eines fremden Mannes, mit dem sie die letzte Stunde verbrachte.
I
n der Burg erkundigte sie sich nach Andraag. Als sie hörte, daß er bei Ilkonys weilte, wirkte sie unsicher. Sie
führte Harkym in einen hellen Gastraum, ließ Feuer entfachen und Dienerschaft rufen. Als sie gehen wollte, ergriff er ihre Hand. "Ihr stört ihn nie bei der Arbeit?" wollte er wissen. "Das würde ich nicht wagen. Ich lasse ihn wissen, daß ihr hier auf ihn wartet." Ein Page trat ein. Hastig löste sie ihre Hand aus der seinen. Harkym lächelte nur und ließ sie gehen. Als Andraag zu ihm kam, hatte er gebadet, gegessen und war neu eingekleidet. Harkym erhob sich. "Hinaus!" fuhr Andraag den Pagen an, der eben Wein nachschenkte. Der Jüngling flüchtete förmlich vor ihm. Harkym wunderte sich noch darüber. Eben überkreuzte er die Arme, um Nodhers Erben gebührend zu begrüßen, da hieb ihm dieser die Faust ins Gesicht. Harkym wurde einige Schritte zurück geschleudert, stürzte über einen Stuhl. "Unterwirf dich," verlangte Andraag gebieterisch. Er war so zornig, daß Harkym es vorzog, rasch zu gehorchen. Dann lag er längs ausgestreckt, mit ausgebreiteten Armen, das Gesicht nach unten vor Andraag und ließ sich dessen wütenden Blick gefallen. Andraag kippte den Inhalt eines Bechers förmlich in sich hinein. Dann wurde er ruhiger. Er setzte sich in einen Sessel, direkt vor Harkym. "Entschuldige," meinte Nodhers Erbe leichthin. Harkym hob vorsichtig den Kopf, zog die Arme an. Seine Lippe blutete. Er wischte sie mit dem Handrücken ab, blieb aber liegen.
"Werde ich jetzt schon wieder eingekerkert?" fragte er. Sie sahen sich an. Es war Andraag, der zuerst lächelte und die innere Abwehr aufgab. "Steh schon auf," bat er, jetzt viel freundlicher. Harkym erhob sich auf die Knie. Er nahm das Tuch, das Andraag ihm reichte, und wischte damit das Blut ab. "Es tut mir leid, Harkym, aber ich kann dir nicht erlauben, meiner Gemahlin zu nahen. Alphena hatte mir nicht gesagt, daß sie dich kennt." "Tut sie das denn?" "Setz dich zu mir. Ich muß dir einiges erzählen." Andraag wartete, bis Harkym in einem Sessel saß. Er ging davon aus, daß zwischen dem Freund seiner Kindheit und seiner Gemahlin ein tiefes Einverständnis herrschte. Man hatte ihm von ihrem Treffen im Wald berichtet und auch von der zärtlichen Geste, mit der sie sich in diesem Raum verabschiedeten. Sie befanden sich ja auch beide während des Aufstandes in den tardischen Bergen. Er nahm an, daß sie sich dort schon kannten und einander gefielen. Er suchte förmlich nach den richtigen Worten, um Harkym zu erklären, daß er jetzt Abstand halten müsse und daß dieses Warten nicht lange dauern mußte. Er wollte noch auf dieser Ehe bestehen, um die Tarden ruhig zu halten. Und er erwartete, solange sie dauerte, die Wahrung des Scheins. Harkym hörte ihm wie ergeben zu, blickte voll Ernst und wirkte fast zerknirscht. Sein Mundwinkel zuckte. Andraag hielt es für Schmerz, doch es war nur ein unterdrücktes Lachen. "Du wirst morgen die Burg verlassen," entschied Andraag. "Man ließ uns wissen, daß du auf dem Weg nach Amarra bist. Ist das richtig?"
"Das ist es, Gebieter," beeilte sich Harkym mit der Antwort. "Du wirst alles erhalten, was du brauchst. Mein Segler wird auf dich am Riatha warten und dich nach Amarra bringen. Aber ich will, daß du nicht wieder hierher kommst." "Ich denke, das kann ich euch versprechen, Herr." Harkym sah an ihm vorbei. "Ist es mir erlaubt, mich von Alphena zu verabschieden? Es wäre wichtig für mich." Andraags Faust krallte sich vor Harkyms Brust in dessen Tunika, noch ehe er ausgesprochen hatte. "Fordere mich nicht heraus," drohte der Prinz. "Du wirst sie nicht mehr sehen und nicht nach ihr fragen. Zu gegebener Zeit löse ich die Ehe und sende sie dir nach Minas. Mehr kann ich nicht für sie tun. Das muß dir genügen." Er erhob sich. "Du wirst dieses Zimmer nicht verlassen," befahl er noch, ehe er ging.
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aggelan atmete auf. Er hatte schon befürchtet, Harkym würde mit am Frühmahl teilnehmen und er wollte dem Mann nicht begegnen, der tagelang sein Leben bedrohte, um Andraag Zeit zur Flucht zu geben. Alphena sah verstört den mühsam beherrschten Zorn ihres Gemahls. Es war ihm wohl unmöglich, sich mit Harkym auszusöhnen. Sie bedauerte dies, aber sie wagte nicht, darüber zu reden. Andraag mißdeutete ihr verunsichertes Schweigen, glaubte, sie vermisse den Geliebten. "Wenn du dich von Harkym verabschieden willst," sagte er endlich, "dann geh in den Burghof. Er wird gleich reiten." Verwirrt sah sie ihn an. Das klang nicht wie eine freundliche Einladung, aber auch nicht wie eine Drohung. Vielleicht würde Harkym ihr alles erklären.
Fragend sah sie zu Ilkonys und als er es mit einem Kopfnicken erlaubte, verließ sie den Raum. "Du hast dir immer gewünscht, Harkym zu sehen," wandte sich der Herrscher an den Sohn. "Und nun, da es geschah, scheinst du nicht zufrieden zu sein. Was gab es?" "Nichts von Bedeutung," murrte Andraag, die Rechte zur Faust ballend. "Mag sein, daß er sich nicht versöhnlich zeigte," überlegte Ilkonys. "Aber bedenke, daß es eine schwierige Zeit für ihn ist. Er wird sich dem Than unterwerfen und mindestens eine Weihe verlieren. Es ist hart, so gedemütigt zu werden. Und wenn ihm seine Priesterschaft auch nur halb so viel bedeutet, wie ich vermute, dann ist es eigentlich unerträglich. Kann dich das nicht nachsichtig stimmen?" Andraag schob seinen Teller zurück. Er zögerte. Bisher hatte er nicht über Harkyms Gefühle nachgedacht. Es ging ihm nur um Alphena, der er weh tun mußte. Die Situation mußte auch für Harkym schmerzhaft sein. Er wollte ihn etwas freundlicher verabschieden, als er ihn begrüßte.
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arkym wollte eben aufsitzen, als Alphena den Burghof betrat. Erfreut hielt er inne. Mehr als dreissig Menschen befanden sich hier. Es konnte keine Mißverständnisse geben. Nach übertrieben tiefer Verneigung trat er zu ihr. "Eure Lippe!" Alphena staunte. "Er hat euch geschlagen?" "Andraag ist eifersüchtig." Harkym lächelte. "Er weiß noch nicht, daß er euch liebt, Herrin. Ihr habt mir von eurem gemeinsamen Ausritt erzählt und wie sehr euch dieser Tag
gefiel. Wenn ihr wollt, daß sich das wiederholt, müßt ihr ihn bitten." "Was meint ihr?" "Ich meine, daß Andraag annimmt, er sei euch zuwider, weil er diese Ehe verlangte. Er respektiert euch. Er wird euch auch niemals bedrängen. Aber er ist bestimmt glücklich, wenn ihr zu ihm kommt." "Ihr geht zu weit, Harkym, und vergeßt euren Stand." Andraag betrat soeben den Burghof. Harkym lächelte. "Ich habe nichts zu verlieren, Herrin," meinte er leichthin. Ehe sie recht begriff, was geschah, hatte er schon die Hände an ihr Gesicht gelegt und näherte seine Lippen den ihren. Alphena stieß ihn zurück, versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. "Es ist besser, ihr reitet jetzt," fuhr sie ihn an. Ein paar Soldaten im Burghof zogen die Säbel. Andraag hob die Hand, hielt sie so auf. Harkym verneigte sich leicht in seine Richtung, lief dann aber zu seinem Pferd und beeilte sich, den Burghof zu verlassen. Alphenas Atem ging heftig. Andraag trat zu ihr, sah ihren wütenden Blick. "Verzeiht, Herr," sagte sie in verbindlichem Ton, "es liegt mir fern, eure Freunde zu kränken." "Meine Freunde?" vergewisserte er sich, seinen Irrtum ahnend.
"Gewiß," bestätige Alphena. "Doch dieser Mensch ist ein widerlicher Kerl, der keine Freundlichkeit verdient. Ich dachte, ihr freut euch, ihn zu sehen. Bitte verzeiht, daß ich ihn zur Burg brachte." Sie verneigte sich leicht, ging dann zurück in die Burg. Andraag grinste. Ihr Zorn war nicht gespielt. Er lachte leise auf. Harkym hatte den Hieb sicher nicht verdient, den er ihm gab. Es beruhigte ihn ungemein, jetzt zu wissen, daß Alphena an seiner Seite wenigstens nicht um eine verlorene Liebe litt.
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lphena versuchte immer noch, die über dreissig Buchstaben des Alphabets zu erlernen. Für sie war es sehr mühselig, sich mit der Schrift anzufreunden, doch sie hatte sich diesen Unterricht gewünscht und mühte sich redlich. An diesem Tag gelang es ihr nicht, sich zu konzentrieren. Schließlich entließ sie den Lehrer aus ihrer Nähe. Harkyms Worte gingen ihr nicht aus dem Kopf. Er nannte Andraag eifersüchtig. Das erschien ihr unwahrscheinlich. Für ihn war sie ein unscheinbares Tardenmädchen, das er kaum beachtete. Aber eines sah Harkym durchaus richtig: der Tag des gemeinsamen Ausritts mit Andraag hatte ihr wirklich sehr gefallen und sie wünschte sich, er habe manches Mal etwas mehr Zeit für sie. Aber er wich ihr ja aus; vermied es geradezu, mit ihr zusammen zu sein. Harkym sagte, sie müsse Andraag um seine Gesellschaft bitten. Aber dazu konnte sie sich nicht überwinden. Ein paar Tage vergingen. Alphena übte im Garten mit Malla den Degengang. Die Kriegerin schenkte ihr nichts. Andraag kam, auf dem Weg zum kleinen Rundtempel, nahe an ihnen vorbei. Alphena strengte sich an. Vor ihm wollte sie keinesfalls von Malla besiegt sein. Sie trieb die Frau zurück. Das Erdloch, das ein kleiner Nager grub, übersah sie. Ihr
Fuß knickte ein. Alphena stürzte, fiel längs ins nebelnasse Gras. Andraag lachte. Mit einem Wink schickte er Malla weg, die sich nach tiefer Verneigung hastig entfernte. Dann ging er vor Alphena in die Hocke. Sie lag noch, das Kinn auf die Hand gestützt, zu ihm aufsehend. Wenn sie sich jetzt erhob, würde er gewiß über ihr jetzt sehr verschmutztes, helles Gewand spotten. "Vor euch werde ich wohl immer das schmutzige Tardenmädchen sein," seufzte sie. "Es tut mir leid, Herr." "Warum?" Er schmunzelte, half ihr auf. "Das schmutzige Tardenmädchen gefällt mir viel besser als all die vornehm wirkenden Damen bei Hofe." Sie errötete wider Willen, was er aber nicht sah, da er schon seinen Weg wieder aufnahm. Alphena dachte an Harkym, daran, daß sie Andraag bitten müsse. "Warum, Herr," hielt sie ihn etwas unsicher zurück, "wendet ihr euch dann immer ab von mir?" Er blieb stehen. Daß ihr an seiner Gesellschaft lag, verwunderte ihn etwas. "Möchtest du etwa mit mir fechten?" erkundigte er sich amüsiert. Alphena faßte den Degen fester. Sie nickte tapfer. Auch stumpfe Übungswaffen konnten verletzen. Sie wollte sich Mühe geben, ihn nicht wirklich zu bedrohen. Er ließ sich einen Übungsdegen geben und wartete. Alphena wagte den Angriff. Er parrierte mühelos. "Du kannst mehr," behauptete kurzen Zeit schon alles verlernt?"
er.
"Hast du in der
Er neckte und lockte sie, spielte mit ihr, wich jedem Angriff geschickt aus und lachte dabei. Alphena wurde wütend, hieb härter zu. Sie trieb ihn zurück, verhinderte seinen Ausfall. Andraag besaß wirklich nicht ihre Übung und ihr Geschick. Auf Amarra gab es keinen Unterricht im Kampf. Er lernte erst hier die Handhabung des Degens. Sie aber beherrschte eine Waffe schon in ihrer Kindheit. Als sie ihn entwaffnete, hatte sie ihn wirklich außer Atem gebracht. Andraag breitete die Arme aus, er ergab sich. "Bitte verzeiht." Das hatte sie nicht gewollt. "Es sehen zu viele Leute zu." "Dann hoffe ich, daß du ihnen imponierst," erwiderte er fröhlich. "Ich sollte wohl mehr mit dir üben. Der Fechtmeister läßt mich zu leicht glauben, ich sei schon ein fähiger Kämpfer." Alphena warf den Übungsdegen achtlos beiseite. "Das würde mich freuen," gestand sie nach kurzer Überwindung. "Verzeiht, ich muß mich umkleiden." Sie floh fast aus seiner Nähe, als sie nun in die Burg eilte. Andraag sah ihr nach. Er überlegte dabei, ob sie diese Worte ernst meinte und ob es sie wirklich freuen könnte, wenn er sich ihr etwas mehr zuwandte.
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aggelan bewunderte Alphena. In seinen Augen war sie nicht nur die schönste Frau der Welt - in jugendlicher Verliebtheit verkannte er ein wenig die Tatsachen - er fühlte sich ihr auch sehr verbunden. Sie fürchtete Andraag, wie er es tat. Der Jüngling spürte durchaus, daß diese Ehe nicht auf Liebe basierte, sondern Ergebnis von Macht sein mußte. Er hatte den scheuen Blick bemerkt, den Alphena
beim Frühmahl ihrem Gemahl zuwarf und auch das vermeindlich herablassende Lächeln von Nodhers Erben gesehen. Maggelan nahm an, daß sie sich ihm stets nur aus Furcht hingab. Ein wenig erinnerte sie ihn in ihrer Unsicherheit an die Bürgerin, die er auf Changanars Befehl hin fast selbst vergewaltigte; damals, als er plötzlich Andraags Dolch an seinem Hals spürte. Er sah später, wie sie einen der Wehrtürme betrat. Sicher ging sie ganz hinauf. Der Ausblick von da oben war überwältigend. Aber bis in ihre Heimat, bis zu den tardischen Bergen konnte sie natürlich nicht sehen. Maggelan bedauerte sie. Er wollte ihr sagen, daß sie nicht allein in der Burg litt, daß er zu ihr stand, daß er ihr Freund war. Er folgte ihr, nicht bedenkend, wie genau Andraag ihn überwachen ließ. Alphena stand wirklich oben auf dem Wehrturm; ihren Umhang eng um den Leib gezogen. Der kühle Wind wirkte kälter, als sie es eigentlich erwartete. Doch der weite Blick über die Wälder gefiel ihr sehr. Ein wenig wollte sie die Kälte ertragen und diesen Ausblick genießen. Als Maggelan durch die Luke herauf kam, lächelte sie ihm zu. Sie wußte um den Zorn, den Anraag wider den jungen Prinzen empfand und sie kannte auch den Grund. Sie wollte nicht zu freundlich, aber auch nicht unhöflich erscheinen. Doch Maggelan fühlte sich ermutigt. "Ihr seid nicht allein, Herrin," versprach er, ganz nahe zu ihr tretend. "Ich wünschte, ich könnte euch helfen." Er faßte nach ihren Schultern. Alphena streifte rasch seine Hände ab. "Ich brauche deine Hilfe nicht, Maggelan," versicherte sie. "Es ist besser, wenn du jetzt gehst."
"Niemand sieht uns." Er folgte ihr bis zu den Zinnen, gegen die sie dann mit dem Rücken stand. "Ich liebe euch. Ich habe noch nie eine Frau geliebt." Er griff wieder nach ihr, versuchte, ihre Brüste zu ertasten. Alphena stieß ihn zurück. Doch er sah darin keine Gegenwehr, sondern nur ein schamhaftes Zieren. Maggelan schloß sie in die Arme. Sie drehte den Kopf beiseite und so küßte er ihren Hals. Alphena stemmte sich gegen ihn, doch er war viel kräftiger als sie. Zum ersten Mal fürchtete sie nun wirkliche Gewalt. Sie spürte seine Hand an ihrem Schoß, schloß angewidert die Augen. Er preßte sie gegen die Zinnen. Seine Hand fuhr nach oben, ertastete ihr Gesicht, versuchte, es zu drehen. Alphena wehrte sich noch, aber dann hielt sie plötzlich still. "Ich liebe dich," flüsterte Maggelan heiser. "Du gehörst mir." Er glaubte sich am Ziel. Mit beiden Händen hielt er zärtlich ihr Gesicht, als ihn ein fürchterlicher Schmerz durchzuckte. Andraag hatte ihm von hinten die Faust in die Nieren gerammt, riß ihn jetzt herum und schlug in rascher Folge immer wieder auf ihn ein. Maggelan hatte keine Chance der Gegenwehr. Er versuchte, Kopf und Gesicht mit den Händen zu decken. Wimmernd kroch er am Boden immer weiter zurück. Andraag riß ihn hoch, bereit, ihn über die Zinnen zu stoßen. "Nein!" Alphena schrie es. Die Prügel gönnte sie dem Burschen, nicht aber den Tod. Sie warf sich an Andraags Seite auf die Knie, umklammerte seinen Ellbogen. Verzweifelte Tränen standen in ihren Augen.
"Tut das nicht, Herr, bitte. Er ist doch noch ein Kind." Andraag ließ Maggelan einfach fallen. Der Jüngling stürzte zu Boden, kroch auf allen Vieren zur Luke. Er floh. Die Treppen fiel er mehr hinab, als daß er sie ging. Er wollte nur fort, weit fort. Aber unten stand Odyn und wartete. Da kauerte er sich, angstvoll zitternd, an die Wand und erwartete sein Schicksal. Andraag hob Alphena auf. Sie zitterte, weinte hilflos und zugleich erleichtert. Er faßte zögernd nach ihren Schultern. Für Alphena war er jetzt Schutz und Halt. Sie lehnte sich gegen ihn. Als er die Arme um sie schloß, weinte sie an seiner Brust. Ihr Schluchzen verebbte aber rasch. Es war ja nicht wirklich etwas geschehen. Andraag löste sich von ihr. "Ich bedauere, daß du das erleben mußtest," versicherte er, nur um sie besorgt und nicht mehr von Zorn erfüllt. "Was soll ich nur tun, Alphena? Wenn ich dich beständig mit meinen Leuten umgebe, fühlst du dich eingeengt. Und wenn ich es dir überlasse, wer auf dich achtet, wirst du wirklich bedroht." "Maggelan hat mich weit weniger erschreckt als euer Zorn," gestand sie leise. Sie wagte es nicht, ihn jetzt anzusehen; richtete den Blick über die Hügel hinab. "Ihr habt auch Harkym geschlagen." "Das kann man nicht vergleichen." Er trat neben sie, schaute ebenfalls ins Land. "Harkym hat dich nicht bedroht. Ich dachte, er liebt dich." "Maggelan denkt auch, daß er das tut. Wollt ihr jeden töten, der mir nahen will?" "Jeden, der dir Schmerz zufügt."
Alphena schwieg. Das war ein Versprechen, das er sehr bewußt gab. Er wollte sie beschützen. "Warum?" forschte sie dann doch. "Darf es niemand wagen, euren Besitz anzutasten?" Betroffen sah er sie an, doch sie starrte weiter ins Land. "Gib mir ein paar Tage Zeit, um die Armeen zu sammeln," bat er da in plötzlichem Entschluß. "Ich werde Maruba eine deutliche Warnung zukommen lassen. Dann löse ich unsere Ehe und gebe dich frei." Alphena preßte die Lippen zusammen. Diese Nachricht müßte sie erfreuen. Sie mußte gewiß nicht zurück in die kleine Siedlung in den Bergen. Selbst wenn er sie mittellos gehen ließ, würde sie im Pecha-Landsitz des Bruders allen Überfluß finden. Das Leben, das sie hier führte, gefiel ihr. Doch sie konnte auch leicht darauf verzichten. "Es ist kalt," unterbrach Andraag ihre Gedanken. "Wir gehen hinunter." Er schob sie zur Luke, half ihr hinab, ging auf den steilen Treppen dann hinter ihr. Er hielt ihre Hand dabei, um ihr sicheren Tritt zu ermöglichen. Unten ließ er sie los. Maggelan bedeckte den Hinterkopf mit den Unterarmen in Erwartung weiterer Hiebe. Andraag wartete. Alphena stand da und betrachtete den Jüngling. Schließlich hob sie den Blick und sah ihren Gemahl an. "Unsere Verbindung sollte Frieden schaffen, Herr. Wenn ich euch etwas bedeute, dann verzeiht ihr ihm."
Sie schob sich an Andraag vorbei, rannte über den Burghof, hastete durch die Gänge und schloß sich in ihren Gemächern ein.
I
hre Gedanken überschlugen sich. Andraag ließ sie gehen. Er löste die Ehe, die sie an seine Seite zwang. Und sie war nicht glücklich darüber. Sie dachte daran, wie er für ihren Stamm eintrat; wie er kein Wort darüber verlor, als sie ihn aus der Felswand stürzte; wie er sie sanft und umsichtig in ihr neues Leben einführte. Alphena entsann sich, wie er sie als Gefangene in eine Pferdetränke werfen ließ. Jetzt, im Nachhinein, schmunzelte sie selbst darüber. Sie mußte wirklich furchtbar ausgesehen haben. Und sie wußte es zu schätzen, daß er sich in all den Wochen, die sie hier lebte, nicht ein einziges Mal bedrängte. Harkym sagte, er respektiere sie. Sie begriff die Wahrheit dieser Worte und fühlte sich darin sehr geachtet und geborgen. Es pochte an der Tür, leise, aber unaufhörlich. Sie wollte niemanden sehen, doch sie fühlte sich sehr gestört. Ärgerlich riß sie die Tür auf. Arktur, ein enger Gefährte Andraags, verneigte sich tief. "Verzeiht die Störung, Herrin," bat er. "Euer Gemahl läßt euch wissen, daß Prinz Maggelan von nun an keiner Beschränkung mehr unterworfen ist." "Keiner?" Alphena wußte, daß der Jüngling eigentlich nur unter Begrenzungen lebte. "Ihr irrt euch nicht?" Arktur versicherte glaubwürdig, daß es Maggelan auch verziehen sei, vor Jahren Nodhers Erben ausgepeitscht zu haben. Er verneigte sich nochmals und ging. Alphena staunte. Sie hatte Andraag doch nur gebeten, dem Jüngling seine Tat auf dem Turm zu verzeihen. Dann lächelte sie verstehend.
Sie knüpfte daran die Bedeutung, die sie für ihn hatte. Indem er Maggelan alles verzieh, hob er sie weit über das Maß an Bedeutung hinaus, das sie sich erhoffte. Entschlossen verließ sie ihre Räume. Vor seinem Arbeitszimmer standen Wachen. Bei ihrem Nahen traten die Männer sofort beiseite. Einer öffnete die Tür, noch ehe sie es sich anders überlegen und wieder gehen konnte. Jetzt mußte sie eintreten. Andraag sah erstaunt auf. Alphena kam niemals hierher. Und sie störte. Das begriff sie sofort, denn er war umgeben von Offizieren. Die Männer verneigten sich tief vor ihr. "Wir machen eine Pause," befahl er aufstehend. Die Offiziere verließen den Raum. "Hat Arktur dich nicht angetroffen?" wollte er dann wissen. "Herr, ich..." Sie unterbrach sich. "Muß ich euch meinen Herrn nennen?" Andraag kam um den Tisch herum. "Das mußt du nicht." Sie kam sich töricht vor; wußte nun nicht, was sie sagen konnte, was sie sagen sollte. Andraag faßte nach ihren Händen, zog sie an seine Lippen. "Wirst du es noch ein wenig mit mir aushalten?" wollte er mit leiser Stimme wissen. "Mit euch? Oder weiterhin nur in demselben Haus? Ich möchte, daß wir Freunde werden. Aber dazu müßtet ihr ein wenig mehr Zeit für mich haben, Herr." "Herr?" Er lächelte. "Du hast keinen Herrn, Alphena. Die Herrin bist du. Du mußt nur lernen, deine Wünsche zu
äußern." "Das darf ich?" "Ich warte schon lange darauf," versprach er. Er hielt ihre Hände noch vor seiner Brust. Alphena sah ihn lange an. Sie wußte, daß er alles für sie tun wollte und sie wußte jetzt auch, daß sie ihm viel bedeutete. "Würdet ihr mich dann bitte küssen," bat sie. Jetzt fürchtete sie wirklich, er könne sie auslachen oder, wie so oft schon, nur erheitert betrachten. Aber Andraag neigte sich ihr zu. Es war ein verhaltener, sehr zärtlicher Kuß, frei von Leidenschaft, aber erfüllt von Hingabe. Alphena schmiegte sich an ihn. Daß er jetzt nicht mehr verlangte, sondern nur gewährte, worum sie bat, das verlieh ihr Würde und gab ihr die Sicherheit, sich richtig entschieden zu haben.
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s war Thyrian, der Tibra in Amarras Hafen begrüßte. Er brachte dem Freund die Gewandung, die er in diesem Land tragen durfte und auch tragen mußte. Der Magier mochte die lila Farbe der zweiten Ebene nicht, doch er streifte sich die Tunika über. Einst lockte ihn Seymas zur dritten Weihe; eine Weihe, die für Tibra längst keine Gültigkeit mehr besaß und die er nie wirklich auslebte. Als er Harkym zur Flucht aus Amarra verhalf, mußte auch er offiziell getadelt werden. Seymas behauptete, er habe ihm die dritte Weihe gesperrt. Damit stand ihm die hellgrüne Farbe nicht mehr zu. Anders als die Priesterschaft trug Tibra als Pala des Than einen bodenlangen Umhang aus einem seltsam metallisch schimmernden Tuch, das ansonsten nur den Fallas zustand. "Harkym ist noch nicht hier?" vergewisserte sich der Magier. "Es gefällt mir nicht, daß er überhaupt kommen will," gab Thyrian offen zu, während sie den gewundenen Pfad zum Tempel hinauf schritten. "Seymas ist darüber natürlich hoch erfreut. Er wartet immerhin seit fast fünf Jahren darauf. Du bist ganz sicher, daß sich Harkym wirklich unterwerfen wird?" "Wäre ich dann hier?" brummte der Magier.
Es tat gut, die erste Stunde nach der Ankunft mit Thyrian zu verbringen. Dieser Freund mochte den Sohn und er scheute sich nicht vor wirklicher Offenheit. Der Magier erzählte, was Krystan befürchtete und wie richtig ihm dieser Gedanke erschien. "Es wäre klug, diese Möglichkeit vor Seymas nicht zu erwähnen," mahnte Thyrian besorgt. "Wenn er denken muß, daß Harkym sich ihm auch hier noch widersetzt, wird er ihm keine Gelegenheit einer Begegnung geben; ihn aber trotzdem nicht schonen." Tibra nickte verstehend, doch seine Sorge wuchs. Wenn schon Thyrian so unruhig dieser Begegnung entgegen sah, dann barg sie wirkliche Gefahr für Harkym. Er dachte zurück. Damals, als sich Harkym widersetzte und mit seiner Hilfe floh, da hinderte Seymas es nicht. Um ihrer Freundschaft willen duldete er die Flucht des Jünglings und aus eben diesem Grund verfolgte er ihn nicht wirklich. Hätte er ihn aktiv gesucht, müßte Harkym ihm längst unterlegen sein. Diese Suche begann erst nach der heißen Lichtwende, als Seymas von dem Lebenden Kristall erfuhr. Den durfte er einem Rebellen nicht überlassen. Zu rasch sprach sich so etwas in den Reichen herum. Der Aufstieg endete; hier verbreiterte sich der Pfad und führte durch einen weiten, parkähnlichen Garten zwischen vereinzelt stehenden flachen Häusern direkt zum Tempel. Thyrian sah kurz zurück. Weit draußen auf dem Meer sah er in den sinkenden Nebeln ein Segel. Er ging etwas rascher, sprach nicht darüber. Er fürchtete nicht nur um Harkym, sondern auch um Tibra. Ein ernsthaftes Zerwürfnis zwischen den Freunden konnte dem Magier sehr schaden.
A
marras Tempel zeigte sich als größter und weitester Bau der Nebelreiche. Auch er, wie jeder Haupttempel, wies sechs Stockwerke auf, zeigte sich aus weißem Stein gefügt. Jedes Stockwerk trug eine einzige Halle, geweiht ihrer jeweiligen Gottheit. Ein Säulengang führte bis hinauf aufs Dach. Tibra sah unwillkürlich nach oben. Der Tempel selbst interessierte ihn wirklich nicht, aber der Rundblick von dessen Dach aus, der rechtfertigte den weiten Aufstieg allemal. Dafür war nun wirklich keine Zeit. Jeder Tempel wies ebenerdig neben der heiligen Halle Tabalkes, des Gottes des Schweigens, ein paar wenige Wohnräume auf, in denen die Fallas lebten. Auf Amarra gab es keine Fallas, hier regierte allein der Than. Er wie auch Thyrian wohnten im Tempel. Tibra besaß ein großes Gasthaus in unmittelbarer Nähe. Da Thyrian den Schritt nicht dorthin, sondern direkt zum Tempel lenkte, wußte Tibra, daß er erwartet wurde. Seymas freute sich sehr, ihn zu sehen. Für einen Moment entschwand jedes ungute Gefühl und alle Sorge. Der mächtigste Mann der Reiche lachte, begrüßte Tibra in vertrauter Art und zeigte deutlich, wie sehr er dem Magier zugetan blieb. Er hatte auftischen lassen, gedachte, mit den Freunden zusammen das Abendmahl einzunehmen. Tibra grinste. Er hatte auf dem Schiff schon Hunger, doch er rechnete mit dieser Einladung und freute sich, weil er nun wirklich nicht nur aus Höflichkeit annahm. Seymas plauderte. Er war, verglichen mit Tibra, noch recht jung, gerade mitte der vierzig. Der Magier kannte ihn, seit er ein Jüngling war. Doch Freunde wurden sie erst, als alle Macht schon Seymas gehörte. Der Than erzählte in heiterem Ton von Menschen, die Tibra kannte und den kleinen Erlebnissen, die diese hatten.
"Wenn du etwas über Uhray wissen willst," meinte er dann mit leisem Lachen, "wirst du Thyrian fragen müssen." Tibra warf ihm einen mißmutigen Blick zu, lächelte dann aber doch. Uhray befand sich nun deutlich mehr als ein halbes Jahr auf Amarra. Er kam, um Priester zu werden, obgleich er dieses Ziel nur deshalb anstrebte, um Harkym dadurch näher zu kommen. Seymas lag nichts daran, Harkyms Trotz durch einen Gefährten auf dessen Wanderschaft zu verstärken. Er verweigerte Uhray diesen Pfad. Das war einer der wenigen Momente, in denen sich Thyrian vor einem Zeugen gegen den Than stellte. Thyrian setzte Uhrays Aufnahme durch, bestimmte ihm sogar einen Leiter. Und Seymas gab ihm nach, auf die bei ihm stets durchtragende fröhliche Weise. Nun lächelte auch Thyrian ein wenig. Uhray befand sich mit seinem Leiter, einem gleichaltrigen jungen Priester, einige Tagesreisen entfernt. Die beiden stromerten durch Amarra, kannten keine Pflicht und keinen Alltag. Tibras Sohn empfand noch immer jeden Tag als faszinierend und bereichernd. Amarra ließ sich in nichts mit Nodher vergleichen. Warme Meeresströmungen umgaben diese gewaltige Insel und sorgten für eine stete warme Zeit. Hier wuchs alles etwas größer, fruchtbarer, stärker als anderswo. Es fehlten die großen Städte, der ernsthafte Handel. Nicht einmal Pferde gab es hier. Amarra glich einem großen Garten, keinem Königreich. Uhray fühlte sich nicht als Fremdling, eher als Gast. Tibra wunderte sich nicht, wie genau Thyrian ihm den Alltag des Sohnes zu schildern vermochte. Es gab zwar keinen Rapport zwischen dem Priester Dionas, der Uhray leitete, und dem Pala des Than, doch Thyrian schien immer über alles informiert zu sein, das ihn interessierte.
Der Sohn veränderte sich hier, wie Tibra verstand. Auf Minas zeigte sich Uhray von eher ernstem Gemüt, stets lernbereit und willig, das Wirken eines Fürsten zu verstehen und hilfreich zu unterstützen. Wie Thyrian sagte, lebte er jetzt ausgelassen und fröhlich. Auf unbeteiligte Zuschauer wirkten Uhray und Dionas nicht wie Chela und Leiter, sondern wie zwei übermütige Jünglinge, welche die letzten Tage vor der Pflicht genossen. "Das klingt nicht," gab Tibra etwas nachdenklich zu, "als wenn Uhray sich mit Ernst den Göttern nahte." "Wer hat dir gesagt, daß das eine ernste Sache sei?" lachte Seymas. "Wenn dieser Dionas meint, Uhray käme mit einem fröhlichen Lachen auf den Lippen Tabalke näher, wird es schon seine Richtigkeit haben. Man mischt sich nicht in fremde Leitung ein." Tibra grunzte einen unverständlichen Laut. Die letzte Bemerkung des Freundes gab schon Anlaß zu mancher Meinungsverschiedenheit zwischen ihnen. Ein Chela hatte seinem Lehrer durch Leibdienst für die empfangene Lehre zu danken und war ihm völlig ausgeliefert. Er besaß so wenig Rechte wie ein Sklave. Und niemand überprüfte, ob der Lehrer sich korrekt verhielt. Tibra gefiel das nicht. Thyrian warf ihm einen beruhigenden Blick zu. Er achtete auf Uhray und er wußte, wie wenig Dionas das Leben seines Chelas erschwerte. Seymas ließ abräumen. Thyrian goß Wein in edle Pokale aus geschliffenem Achat. Tibra ließ sich gern damit verwöhnen. Der Wein hier wuchs schwer und süß, nicht so herb wie in Nodher und auch nicht so mild wie in Sion. Er umschmeichelte alle Sinne und verwöhnte den Gaumen. Seymas lehnte entspannt in einem hohen Sessel. Thyrian reichte ihm einen Pokal, trat dann zum geöffneten Fenster und sah in die Nebel der Nacht.
"Warum bist du hier?" wandte sich der Than an Tibra. "Das weißt du ganz genau," brummte Tibra, nun unwirsch. "Ich werde nicht fern sein, wenn du meinen Jungen knechtest." "Du übertreibst." Seymas grinste. "Natürlich wird er gedemütigt und schwer an der gesperrten Weihe tragen. Aber mehr geschieht ihm nicht." "Ist das nicht genug?" fuhr ihn Tibra wütend an. Seymas lachte. Der Zorn des Freundes war verständlich, aber seiner Ansicht nach auch dumm und töricht. "Nein," meinte er leichthin, "eigentlich ist es nicht genug. Harkym hat mir fünf Jahre widerstanden und jetzt beleidigt er mich auch noch durch einen Lebenden Kristall, den er nicht haben darf. Aber er ist dein Sohn, Tibra. Also geschieht ihm nichts weiter." "Du meinst also, ich sollte dir dankbar sein?" murrte der Magier. "Du? Nein! Harkym hat Grund dazu." Seymas lächelte vergnügt. "Ich werde ihn in Dienst nehmen und ihm Gelegenheit geben, zu beweisen, wie ernst er seine Unterwerfung meint. Ist er mir wirklich treu, löse ich die Sperre in seinem Geist wieder und sorge selbst dafür, daß er jede Leitung erhält, die er tragen kann." "Ich habe ein ungutes Gefühl," murmelte Tibra da nur. Er wußte ja, daß Seymas nie etwas anderes plante und eigentlich wußte dies auch Harkym. "Der Junge meinte, eine Weihe zu verlieren, das sei vergleichbar mit der der Folter, geblendet zu sein."
"Das ist es wohl," gab Seymas gelassen zu. "Es ist nur nicht so endgültig. Wenn man ein so unstetes Leben, wie Harkym es führte, fünf Jahre lang erträgt, ist man stark. Er besitzt die Kraft, das zu tragen." Thyrian wandte sich langsam um. "Niemand ist stark genug, um alles allein zu tragen," sagte er leise. "Es ist gut, daß Tibra hier ist." "Bist du da ganz sicher?" Seymas zweifelte. "Ich fürchte eher, das ermutigt Harkym zu weiterem Widerstand. Und den werde ich jetzt, wo er hier ist, nicht mehr dulden." "Er ist hier?" rief Tibra aufspringend. "Ich will zu ihm." Seymas blieb gelassen. Er schüttelte nur den Kopf und meinte: "Du wirst ihn bestimmt nicht vor mir sehen, Tibra. Aber wenn du willst, kannst du dabei sein, wenn ich ihm begegne." Thyrian musterte den Freund überrascht. Tibra warf ihm einen fragenden Blick zu. Doch dieses Mal kannte auch er die Pläne des Than nicht. "Ich gehe kein Risiko ein und gebe Harkym nicht die geringste Chance, sich noch einmal zu widersetzen," erklärte Seymas grinsend. "Wenn sich die Nebel heben, wird er zu mir gebracht." "Hierher?" "Nein, Tibra. Ich empfange deinen Sohn ganz offiziell in der großen Halle und ich hoffe, die Anwesenheit von zweihundert Bürgern Amarras ermahnt ihn zu korrektem Verhalten. Vor so vielen Zeugen wird er es nicht wagen, auch nur ein falsches Wort zu sagen."
Tibra setzte sich wieder. Damit hatte er nicht gerechnet, doch er mußte zugeben, daß der Plan durchaus gelingen konnte. Harkym würde schon auf dem Weg zur Halle begreifen, um was es ging. "Er kennt die Regeln eines offiziellen Empfanges nicht," murmelte er überlegend. "Er wird unterwiesen," versprach Seymas leichthin. "Man wird ihm jeden vorgeschriebenen Schritt und jede erwartete Geste nennen. Willst du wirklich dabei sein?" Er lachte. "Du siehst meine Macht nicht gern in ihrem Wirken." "Ich werde es schon ertragen," murrte der Magier. "Du weißt, daß du nicht eingreifen darfst," warnte der Than. "Aber du wirst sehen, daß ich deinen Jungen nicht unnötig demütige und die Kränkung so rasch ende, wie es möglich ist." "Du hast mich nicht einmal gefragt, weshalb er aufgibt und was er erlebte." "Das werde ich auch nicht tun," versprach Seymas voll Zuneigung. "Alles, was ich wissen will, werde ich erfahren, wenn ich seinen Geist berühre. Du mußt mir nichts entdecken. Er vertraut dir und das soll auch so bleiben." Der Ruf zum mitternächtlichen Ritual des dunklen Gottes ertönte. Tibra verabschiedete sich. Während solcher Stunden blieb er nicht gern im Tempel, da die Schwingung, die hierbei wirksam wurde, ihm nicht unbedingt gefiel. Thyrian begleitete ihn ein kurzes Stück auf dem Weg zu seinem Haus. "Die Schwingung wird in der kommenden Nacht viel stärker sein," spöttelte er.
Tibra grinste. Daran gab es keinen Zweifel, denn dies war dann die heiligste Nacht der Reiche; die Nacht der kalten Lichtwende, die längste Nacht, die Menschen kannten.
A
ndraags Segler gewährte Harkym einen unerwarteten Luxus. Er fand Dienerschaft, glühende Kohlebecken, welche die Kälte vertrieben, warme Kleidung und reichlich Speise und Trank. Um nach Amarra zu gelangen, mußte das Schiff das Meer überqueren. Man segelte ansonsten eigentlich nur in Küstennähe. Wenn der Horizont im Meer verschwand und für eine kurze Zeit ringsum nur Wasser sichtbar blieb, entstand auf einem Schiff immer Spannung. Doch wenig später konnte man Amarra mehr erahnen denn erkennen, wußte die Richtung wieder und nahte dem Ziel. Es dauerte nicht lange, bis die eisige Kälte des Tages nachließ. Die warmen Meeresströmungen umspülten den Segler. Die Luft schmeichelte jetzt der Haut. Harkym legte das dicke Wams ab. Er hörte die Seeleute lachen und die aufgeregten Rufe der Dienerschaft an Bord. Eine Reise nach Amarra, vor allem zur Zeit der kalten Nebel, war ein Erlebnis nur durch diesen Augenblick, in dem die Kälte der Wärme wich. Der Segler ankerte im Haupthafen. Entfernt sah man den Tempel, den die sinkenden Nebel schon berührten. Niemand ging an Land. Zum einen durfte dieses Reich nur von Priestern und zur Priesterschaft bestimmten Menschen betreten werden, zum andern war es auch diesen nicht erlaubt, ohne Begrüßung ihr Schiff zu verlassen. Kinder kamen gelaufen. Sie wohnten nahe des Strandes. Jedes fremde Schiff begrüßten sie fröhlich und voll Neugier. Mehr als andere Menschen auf Amarra erfuhren sie über die Reiche, denn sie kamen an Bord, brachten Wein
und frische Früchte und lauschten Männer, die sich ihnen gern widmeten.
den Geschichten der
Harkym stand an der Reeling, sah aufs Land und wartete. Es bestand kein Zweifel daran, daß man genau wußte, weshalb dieses Schiff kam. Niemand holte ihn ab. Er verstand, daß er zu warten hatte. Es konnte Tage dauern, bis der Than ihn empfing. Es war nicht mehr wichtig. Harkym suchte seine Kabine auf, legte sich nieder. Eine gewisse Leere in ihm übertönte jedes Gefühl. Er empfand weder Trauer noch Schmerz. Immer wußte er, daß er eines Tages nach Amarra kommen würde und dem Than noch einmal begegnen. Als er ihm vor fünf Jahren vorhielt, Unrecht zu tun und sich ihm wiedersetzte, verlor er sein Leben. Alles danach gehörte nicht mehr wirklich ihm. Immer unterwegs besaß er keine Gelegenheit mehr, Menschen tiefer zu begegnen. Er konnte sich auch nicht in Dienst begeben. Er mußte ja weiter. Er hatte gelernt, mit Mangel umzugehen. Er lernte es, auch unter den widrigsten Umständen zu überleben. Alles nahm er in Kauf, um sich die geistige Freiheit zu erhalten. Er wollte auch jetzt nicht auf sie verzichten. Er würde es nicht ertragen, wenn eine geistige Sperre ihn hinderte, göttliche Ebenen zu erreichen und dort jener Kraft zu begegnen, die ihn ausfüllte. Es war nur einfach so, daß er ein Mehr nicht mehr erreichen konnte. Alles, was jetzt noch kam, war größere Dauer, aber nicht mehr größere Tiefe. Und auf die Dauer konnte er verzichten, sie war zu schmerzlich und unerfüllt. Er würde Seymas begegnen, sich ihm unterwerfen und zugleich doch seinen Geist abgeschirmt halten. Harkym zweifelte nicht an der Kraft des Than, der zu Recht als der stärkste inkarnierte Geist galt. Sein Amt währte, bis ein Stärkerer erkannt wurde. Und er besaß die Macht, auch in
einen abgeschirmten Geist zu dringen. Dies bedeutete eine wirkliche Folter. Harkym hoffte, selbst stark genug zu sein, um dieses Eindringen abzuwehren. Seymas war dann gezwungen, geistige Gewalt anzuwenden und er würde ihn dabei töten. Harkym wußte es und er nahm es bewußt hin.
F
rüh am Morgen, dichte Nebelschwaden überzogen noch das Land, kamen zwei Priester an Bord. Sie trugen die weiße Gewandung des Lichtes, ließen sich Harkyms Kabine zeigen und traten ohne Zeichen dort ein. Der junge Mann schlief nicht mehr. Er hatte sie erwartet, grüßte mit überkreuzten Armen durch ein Neigen des Kopfes. Die Männer stellten sich ihm nicht vor. Wortlos übergaben sie ihm die hellgrüne Tunika der dritten Ebene. Harkym nahm sie gleichmütig entgegen. Irgendwie befriedigte es ihn, daß Amarra sein Leben nicht kannte. Niemand wußte hier, daß er dieser Farbe entwachsen war. Ruhig kleidete er sich um. Er band sein Haar sehr fest. "Gib uns den Kristall, Sohn," verlangte einer der Priester. Harkym deutete zur Truhe. Der Mann öffnete sie, entnahm ihr den Lebenden Kristall, den er sehr genau betrachtete. "Ich habe meinen Geist aus dem Kristall gelöst," erklärte Harkym gelassen. "Er ist rein und kann einem anderen dienen." Der Priester erwiderte nichts, deutete zur Tür. Sie ließen Harkym den Vortritt. Er ging an Land, richtete den Schritt zum gewundenen Pfad. Zehn Jahre war es her, seit er sich hier befand. Nichts schien sich verändert zu haben. Nur einige Bäume zeugten von der vergangenen Zeit, die inzwischen an Höhe gewannen.
Die Priester nahmen ihn in ihre Mitte. Einige Zeit gingen sie schweigend. Dann sprach der eine von ihnen. Er schilderte Harkym ausführlich die Beschaffenheit der Empfangshalle und das von ihm erwartete Verhalten. Der junge Mann verhielt den Schritt. Der Tempel lag vor ihnen, doch er sah nur zum Haus des Vater. Der Priester ergriff seinen Ellbogen. "Wenn du dich weigerst, weiß Amarra, dich zu zwingen," warnte er. Harkym schüttelte seine Hand ab. Jetzt lächelte er sogar etwas. An dieser Stelle war es gewesen, als der Than vor zehn Jahren zu ihm kam und ihn bedrängte, weil er sich eben entschloß, Magier zu werden. Schon damals weigerte er sich, seinen Geist von diesem mächtigen Mann berühren zu lassen. Es hatte sich wirklich nichts verändert in all der Zeit. Eine weitere Ermahnung war nicht nötig. Harkym ging schon weiter. Das zweiflügelige Tor der Empfangshalle stand offen. Man wartete auf ihn. Er hörte die Stimmen vieler Menschen. Dann verstummten sie und Harkym wußte, daß der Than die Halle durch den kleinen Eingang zum Tempel hin betrat. Die beiden Priester des Lichts blieben dicht hinter Harkym, gerade so, als wollten sie eine mögliche Flucht schon im Ansatz verhindern.
H
arkym stand im Eingang. Die Halle, von zwei Säulenreihen getragen, wirkte düster und bedrohlich. Am andern Ende befand sich, durch drei Stufen erhöht, der Thron des Than, auf dem die weiße Gestalt Seymas' ruhte. Unzählige Menschen standen rechts und links des Weges, den er nun zu gehen hatte, und sie alle waren ihm feindlich gesinnt.
Harkym trat einen Schritt nach vorn. Jemand schloß die Tore hinter ihm. Die beiden Lichtpriester traten beiseite. Jetzt war er allein. Er erkannte Thyrian, der schräg hinter Seymas stand. Und er sah den Vater, ganz nahe beim Thron. Das gefiel ihm nicht. Er wollte nicht, daß der Vater in dieser Stunde dabei war. Aber das ließ sich jetzt nicht mehr ändern. Tödliche Stille herrschte, als Harkym ganz langsam, Schritt um Schritt, nach vorn ging. Wie befohlen hielt er die Arme vor der Brust überkreuzt und den Blick nun auch gesenkt. Nahe des Thrones ging er dann auf die Knie. Harkym wartete. Er wußte, daß sein augenscheinliches Zögern Seymas nicht gefallen konnte. Er genoß diesen Gedanken. Aber dann unterwarf er sich, legte sich längs vor Seymas auf den Boden, breitete die Arme aus, das Gesicht nach unten. Nachdenklich sah Seymas auf die am Boden liegende Gestalt hinunter. Er tastete nach dessen Geist. Seine wasserhellen Augen verdunkelten, als er die Abschirmung spürte. Dann sprach er. Er sprach von Macht und Recht und der Pflicht des Gehorsams gegenüber größerer Weisheit, die er nun mit einer höheren Weihe gleich stellte. Seymas benutzte viele Worte, redete getragen und gelassen zugleich. Er wollte Harkym Zeit gewähren. Dann schwieg er und der Geist des jungen Mannes war noch immer abgeschirmt. Thyrian warf einem seiner Leute einen kurzen Blick zu. Salvan verstand, schob sich in Tibras Nähe und blieb dicht neben ihm. Der Magier mußte auf alle Fälle an unbedachtem Eingreifen gehindert werden. Seymas erhob sich, ging langsam die Stufen hinab und blieb dicht vor Harkym stehen. "Richte dich auf."
Das klang noch sehr freundlich. Harkym erhob sich auf die Knie, hielt weiterhin den Blick gesenkt. "Sieh mich an." Tibra verkrampfte sich etwas. Priester schufen geistige Verbindungen und Begegnungen am leichtesten über die Augen. Der Sohn sollte nun eine Weihe verlieren. Unwillkürlich grinste er. Seymas mußte jetzt erfahren, daß Harkym Minosante begegnete. Der Kniende hob wie gehorsam den Kopf, nicht aber den Blick. Seymas atmete tief durch. "Ein Priester," erklärte er sehr gefaßt, "der sich Amarra widersetzt, widersetzt sich den Göttern und ist nicht würdig, ihnen zu begegnen." Plötzlich hob er die Stimme und herrschte Harkym gebieterisch an: "Sieh mir in die Augen." Harkym hob ganz langsam den Blick. Mit ausdruckslosem Gesicht sah er dann Seymas an. Er schien nicht einmal zu atmen. Seinen Geist hielt er abgeschirmt. Der Than spürte die Sperre, auf die er traf und wußte jetzt, daß dieser Priester ihm weiterhin trotzte und sich nicht wirklich ergab. "Ich will dich nicht töten," mahnte er. Harkym schwieg. Er hatte diesem Mann nichts zu sagen. Er würde sterben, aber er würde nicht unterliegen. Irgendwie empfand er dies als sehr beruhigenden Gedanken. Seymas richtete sich jetzt sehr bewußt auf ihn aus. Die Sperre, die dieser junge Priester wob, mochte stark sein. Doch sie ließ sich überwinden. Das nahm er an, bis er begriff, daß Macht allein nicht genügte. Er würde Gewalt anwenden müssen, eine geistige Gewalt, die ihm sehr widerstrebte.
"Ergib dich." Das war kein Befehl, sondern eine Bitte. Die Menschen wurden aufmerksam, begriffen, daß etwas bedeutsames geschah. Tibra spannte sich an. Hätte nicht Salvan nach seinem Arm gegriffen, wäre er wohl nach vorn getreten. So verharrte er, um Seymas nicht zu erzürnen und Harkym nicht noch mehr zu gefährden. Seymas schloß kurz die Augen. Dann bohrte sich sein Blick förmlich in den Harkyms. Es war wie das Ringen zweier unkörperlicher Kräfte. Harkym wehrte sich. Es ging um sein Leben. Er wußte, er verlor es, wenn Seymas seinen Geist mit Gewalt umschloß. Er erwartete nicht, daß es so lange gehen, der Kampf so mühsam sein würde. Und plötzlich wußte er, daß er gewinnen konnte. Er hielt die Arme noch gekreuzt, als er sich langsam erhob. Ihre Blicke lösten sich nicht voneinander, aber sprachloses Erstaunen zeichnete sich in den weichen Zügen des Than. Ganz langsam zog Seymas die Gewalt zurück. Jetzt schaute er Harkym nur noch an, der ganz langsam einen Schritt zurück trat. "Ich komme zur Lichtgleiche wieder," versprach Tibras Sohn, dessen Stimme ebenso verwirrt wie nachdenklich klang, "um mich Amarra mit weit geöffnetem Geist auszuliefern." Rückwärts ging er weiter, angespannt auf eine Reaktion des Than wartend. Doch der stand reglos, ließ es geschehen. Mit ausdruckslosem Gesicht ließ ihn Harkym nicht aus den Augen. Als er das Tor fast erreichte, verneigte er sich. Thyrian gab den Leuten dort ein Zeichen. Sie öffneten das Tor. Harkym trat rückwärts gehend ins Freie.
Er lebte noch. Er hörte das Lied der Vögel, fernes Kinderlachen, Rascheln im Blätterwald. Er roch den betörenden Duft des Blütenmeeres. Er fühlte den Wind in seinem Gesicht. All dies hatte er schon aufgegeben. Und doch lebte er noch. Entschlossen wandte er sich um. Nodhers Segler mußte noch im Hafen liegen und sich eben für die Heimreise rüsten. Er wollte ihn unbedingt noch erreichen. Nur fort von hier! Ein anderer Gedanke fand jetzt keinen Raum. Harkym rannte nicht, aber er ging mit weit ausholenden Schritten, immer wieder lauschend, ob Verfolger nahten. Er sah die Küste, das Meer. Als er Nodhers Segel erkannte, atmete er auf. Es würde ihm gelingen, Amarra noch einmal zu verlassen. Ein prächtiger Tagfalter kreuzte seinen Weg. Harkym lächelte. Er hatte den Blick für die Schönheiten des Lebens noch nicht verloren und er wollte sie alle jetzt viel bewußter beachten.
S
eymas ließ das Tor geöffnet, die Menschen mit einer Handbewegung entlassend. Er selbst setzte sich wieder auf den Thron, stützte das Kinn auf die Hand und dachte nach. Thyrian ließ keinen Blick von ihm. Da der Freund ihn weder beachtete noch weitere Befehle gab, ging er zu Tibra. "Was geschieht hier?" forschte der Magier sofort. Er sprach leise. Noch befanden sich zu viele Menschen im Raum, als daß er sich ungezwungen verhalten wollte. "Ich weiß es nicht," gab Thyrian zu. "Beeile dich, Tibra. Dein Sohn eilt gewiß zum Hafen. Du solltest mit ihm gehen." Unsicher sah der Magier zum Than. "Du bist sein Pala," mahnte Thyrian. "Geleite Harkym. Ich bin nicht sicher, ob man ihn gehen läßt."
Tibra verstand. Er verließ die Halle, eilte zum Pfad. Zu vieles konnte jetzt möglich sein. Die Priesterschaft mochte Harkym aufhalten, stellen, vielleicht sogar überwältigen. Seymas mochte sein Grübeln beenden und üble Befehle erteilen. Vielleicht geschah auch gar nichts. Aber dann galt immer noch die Sitte, daß kein Gast ungeleitet zum Hafen ging, der wiederkommen durfte. Allein gingen nur die Verstoßenen, Geächteten, Unwürdigen. Harkym hatte den Hafen fast erreicht, als Tibra ihn einholte. Er blieb stehen, sah den Vater an. Dann lächelte er wehmütig.
"Dein Freund braucht dich jetzt." "Mein Sohn nicht?" "Ich liebe dich, Dada," sagte Harkym aber nur, ehe er weiter ging. Tibra sah ihm verwirrt nach. Er zweifelte nicht daran, daß auch Seymas ihn liebte. Aber dies war sein Sohn, den er viel zu selten sah, von dem er viel zu wenig wußte und der jetzt zum Landungssteg ging, um wieder aus seinem Leben zu verschwinden. Das wollte er nicht zulassen. Harkym sagte, er käme zur Lichtgleiche wieder. Tibra spürte, daß diese Entscheidung etwas Entgültiges besaß. Die wenigen Wochen bis dahin wollte er mit Harkym verbringen und versuchen, noch einmal seine ganze Nähe zu erringen. Er folgte ihm.
A
uf Nodhers Segler galt Harkym als Gast, trotzdem auch als Fremdling. Tibra hingegen befremdete nur durch die ungewohnte Gewandung. Er war Pecha und als Fürst ein Herr. So behandelte man ihn auch. Harkym wurde nicht weiter beachtet, aber er störte sich nicht daran. Er stand im Heck und schaute auf die sich entfernende Küste. Aber noch ehe die warme Meeresströmung durchquert wurde, ging er in seine Kabine und kleidete sich um. Tibra kam später zu ihm. Er brachte heißen Wein mit. "Die Kälte da draußen raubt einem fast den Atem," behauptete er, sich auf den Rand des Lagers setzend, auf dem der Sohn ruhte. "Hier, trink. Das wird dir gut tun." Harkym nahm den Becher, stellte ihn aber auf den Tisch. Ein Page brachte ihr Mittagsmahl, entfernte sich sofort wieder.
Harkym füllte sich eine flache Schüssel, legte sich dann wieder zurück und aß in dieser recht unbequemen Haltung. "Warum bist du hier, Dada?" "Möchtest du allein sein?" bot Tibra sofort an. "Das meine ich nicht," hielt ihn der Sohn zurück, da er schon gehen wollte. "Warum bist du nach Amarra gekommen? Ich wollte diesen Weg allein gehen." "Ich war in Sorge," gab Tibra zu. "Ich fürchtete das, was Seymas tun könnte, wenn du dich nicht unterwirfst." "Ich habe mich unterworfen." "Wirklich? Du bist vor ihm gelegen. Aber du hast ihn nicht als Herrn anerkannt." Harkym lächelte schweigend. "Sage mir endlich, was geschah," drängte der Vater. "Ich habe etwas Aufschub gewonnen," meinte Harkym gleichmütig. "Bis zur Lichtgleiche gehört mein Leben mir." "Das ist kein Gewinn," brummte Tibra mißmutig. "Du weißt doch, daß Seymas dir nicht schaden will. Dein Geist könnte bis dorthin schon wieder frei sein, wenn du ihn nur anerkennen wolltest." "Ich will ihn nicht anerkennen," entfuhr es Harkym mit scharfer Stimme. Ruhiger fuhr er fort: "Dein Freund wollte mich töten, Vater. Vor fünf Jahren wollte er Ogsaman töten, einen Chela, dessen einziges Versagen darin bestand, eine Überforderung durch seinen Leiter geduldet zu haben. Er war im Unrecht." "Davon bist du noch immer überzeugt?" Tibra warf dem Sohn einen hilflosen Blick zu. Sie sprachen schon zu oft darüber. "Ich wage es nicht, die Regeln der Priesterschaft
zu beurteilen, Junge. Aber ich weiß, daß Seymas alle Macht gehört und daß ein Mann, der die Verantwortung für die Einheit der Reiche tragen muß, auch Gehorsam erwarten darf. Diesen Gehorsam bist du ihm schuldig. Ein Schwur verpflichtet dich dazu." "Bist du hier, um mich zur Umkehr zu bewegen?" Harkym schien belustigt zu sein. "Zur Lichtgleiche kehre ich zurück, nicht eher." "Um dich zu unterwerfen?" "Um mich völlig auszuliefern," bestätigte Harkym. Tibra spürte, daß noch etwas ungesagt blieb. Harkym wollte jedoch nicht mehr reden. Er legte sich mit geschlossenen Augen nieder. Er schlief nicht. Er schien zu grübeln und selbst nicht zu verstehen, was geschah. Da ließ der Vater ihn allein.
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ibra schlief sehr unruhig. Der Segler ankerte an Nodhers Küste, unterhalb der Steilklippe, die den Tempel der Weisheit trug. Mehrmals erwachte der Magier, lauschte. Es herrschte völlige Stille. Trotzdem erhob er sich irgendwann, legte sich zwei Decken über die Schultern und trat hinaus. Harkym stand beim Hauptmast, nahe eines Kohlebeckens, das die Kälte aber gewiß nicht von ihm abhalten konnte. Der Vater eilte zu ihm. "Was tust du hier draußen?" fuhr er den Sohn an. "Es ist viel zu kalt, um zu wachen." Harkym sah ihn irritiert an. "Komm mit nach drinnen." Er zog Harkym mit sich. Der junge Mann schien wirklich völlig durchfroren zu sein. Er wärmte seine klammen Finger mit dem eigenen Atem. Irgendwer achtete immer auf den
Pecha. Als Tibra nach heißem Wein verlangte, wurde sein Wunsch rasch erfüllt. "Trink," verlangte Tibra in befehlendem Tonfall. Harkym roch Tratta und Kräuter. Der Trank durchwärmte ihn. "Es ist Antares' Stunde," sagte er endlich, sich langsam setzend. "Und es ist Lichtwende." Tibra sah ihn fragend an. "Du weißt doch, Vater, daß immer in dieser Nacht nach dem Ritual sich alle Fallas der Reiche im Geist vereinen." "Sie suchen, ob sie einen Stärkeren als Seymas finden," wußte Tibra durchaus. Er grinste. "Ich sage dir, als Nymardos noch als Than herrschte, da war diese Nacht für Gerrys, seinen Freund, immer eine große Belastung. Er hoffte und fürchtete zugleich, die Suche könne erfolgreich sein." Tibra lachte leise. "Als es dann geschah, hat er es gar nicht mitbekommen." Harkym kannte diese Geschichte. Die Fallas erkannten Thyrian als den stärksten Geist, da Seymas sich abgeschirmt hielt. Für einige Zeit betrachtete man Thyrian an den neuen Than. Aber er wußte um den Irrtum und verlangte eine neue Suche, bei der Seymas erkannt werden konnte. "Ich habe versucht, die Kraft zu erspüren, die bei einer solchen Suche entsteht," gestand Harkym, den Becher leerend. "Du bist töricht," tadelte Tibra grinsend, "wenn du versuchst, geistige Kräfte auf deine menschliche Ebene zu ziehen." "Das tut ihr Magier Harkym scherzhaft.
doch andauernd," behauptete
"Aber mit magischen Kräften." Tibra setzte sich zu ihm. "Du bist kein Magier. Du bist Priester und gehst mit anderen Kräften um." "Das ist richtig, Dada." Harkym legte ihm den Arm um die Seite. "Ich fange an, mich darüber zu freuen." "Das ist reichlich spät," behauptete der Vater vergnügt. "Ich hoffe, es ist nicht zu spät," erwiderte Harkym da sehr ernst. "Ich hatte ja nie wirklich Gelegenheit, meine Priesterschaft auszuleben." "Das wird sich ändern," versprach Tibra, den der Kummer des Sohnes seltsam berührte. "Nach der Lichtgleiche wird es sich ändern. Seymas nimmt dich in Dienst, Harkym. Und sobald er sich deiner Treue sicher ist, wirst du alle Leitung erfahren, die du brauchst." Harkym umarmte ihn, sagte aber nichts dazu. Er bedauerte, die Kraft nicht erspürt zu haben und zugleich empfand es als beruhigend, daß sich solche Kraft wirklich nicht auf die menschliche Ebene ziehen ließ.
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ie verließen Nodhers Segler im Mündungsgebiet des Riatha. Nachdem Harkym erklärte, daß er keineswegs die Burg betreten würde, was er Andraag ja versprach, zog auch Tibra den Seeweg vor. Die kalten Nebel erschwerten jede Reise und ein Ritt um diese Jahreszeit war alles andere als angenehm. Ein Handelsschiff brachte sie bis nach Nurs, von wo aus Minas in wenigen Tagen erreicht werden konnte. Der Landweg vom Riatha aus hätte viel länger gedauert. Die Geschwister begrüßten Harkym, als sei er von den Toten auferstanden. Vor allem Krystan zeigte eine übermütige Freude. Heimlich gestand er dem Bruder:
"Ich habe dein Geheimnis nicht verraten. Aber wenn dir etwas geschehen wäre, ich glaube, dann hätte ich gesagt, wer Tharan ist." Harkym umarmte ihn lächelnd. Für die Eltern wäre dies ein wirklicher Trost gewesen, das wußte er. Bakaar hatte Tibra gleich bei ihrer Ankunft um ein vertrauliches Gespräch gebeten. Seither zeigte sich der Magier eher mürrisch und zog sich auch von der Familie zurück. Er wich vor allem Harkym aus, was Aniela sehr beunruhigte. Beim gemeinsamen Mahl sprach sie Tibra darauf an, erhielt aber nur eine ausweichende Antwort. Harkym lächelte. "Es ist schon gut, Mutter," meinte er gelassen. "Vater ist irritiert, weil die Fallas einen stärkeren Geist als Seymas erkannten. Er muß sich erst an den Gedanken gewöhnen, nicht mehr lange Pala des Than zu sein." Bakaar entfiel der Becher. Tibra starrte ihn sprachlos an. Die Geschwister redeten jetzt alle durcheinander. Jeder wollte wissen, wer künftig die Nebelreiche beherrschte. Aniela wurde energisch. Sie stellte damit immerhin wieder etwas Ruhe her. "Woher weißt du davon?" wollte Tibra endlich von Harkym wissen. "Ich war nicht einmal sicher, bis ich eben deine und Bakaars Reaktion gesehen habe," gab Harkym lächelnd zu. An die Geschwister gewandt, erklärte er: "Die Fallas finden bei ihrer Suche nur reinen Geist. Es ist Amarras Aufgabe, den Menschen zu finden, in dem dieser Geist inkarnierte. Es ist Zeit bis zur Lichtgleiche. Nymardos wurde damals drei Tage vor der Lichtgleiche gefunden und Seymas eigentlich erst an diesem Tag erkannt. Wer es ist, das wird man also wohl kaum sofort erfahren können."
"Und niemand weiß jetzt, wer der neue Than ist?" vergewisserte sich Naphara aufgeregt. "Nicht einmal er selbst?" "Nicht einmal er," bestätigte Harkym, gelassen seinen Teller erneut füllend. "Nymardos wurde an Stärke von Thyrian und Seymas überflügelt. Jetzt sind es vielleicht noch mehr Menschen, die Seymas übertreffen." "Du hast es geahnt," vermutete Tibra. "Das will ich nicht leugnen. Ich habe versprochen, mich zur Lichtgleiche Amarra völlig auszuliefern. Und ich habe gehofft, daß dann ein anderer Mann regieren wird." "Ein völlig Fremder wird dich aber nicht schonen," befürchtete Aniela. "Seymas liebt immerhin deinen Vater. Der andere kennt ihn nicht einmal." "Ich suche keine Schonung, Mutter. Für mich daß ich mich nicht einem Mann unterwerfen Unrecht ich immer noch als solches erkenne." Bakaar zu. "Ich sollte vor dir nicht so reden. nicht hin."
ist es genug, muß, dessen Er lächelte Höre einfach
I
n Minas wie überall in den Reichen gab es kein Gesprächsthema, das die Menschen jetzt mehr interessierte als die Frage, wer auf Amarra herrschen würde. Ihre Antwort war für die Fallas und für die Herrscher von existenzieller Bedeutung, denn der Than herrschte gerade über sie. Sie mußten sich zur Lichtgleiche auf Amarra einfinden und sich dort vor ihm unterwerfen, seine Befehle empfangen und nach seinem Willen regieren. Doch bis dahin war noch Zeit. Jetzt herrschten die kalten Nebel. Es gab keinen Handel, keine Reisenden und damit kaum Neuigkeiten. Das Leben schien langsamer abzulaufen.
Harkym hielt sich in diesen Tagen viel in seinem Zimmer auf. Der relativ kleine Raum gehörte ihm schon als Kind und hatte sich in all den Jahren kaum verändert, da er ja immer nur auf drei Tage hier wohnen durfte. Auch er dachte über Seymas' Nachfolger nach. Niemals konnte ein stärkerer Geist wider dessen Willen von einem Schwächeren berührt werden. Daß Seymas ihn nicht zu bezwingen imstande war, erstaunte sie beide über die Maßen. Harkym wußte jetzt, er war stärker als er. Aber jeden weiteren Gedanken versagte er sich. Seymas mußte seinen Nachfolger suchen und dies konnte er nur auf geistigem Weg tun. Harkym spürte immer wieder ein tastendes Nahen. Dann zog er sich zurück, schirmte sich ab. Seymas würde woanders suchen und dort auch finden.
D
och die kalten Nebel neigten sich ihrem Ende zu. Die Tage erwärmten ganz langsam. Aber die Knospen schwollen rasch an und erste Blüten wagten sich ins Licht. Und das Suchen endete nicht. Harkym nahm das Boot, ruderte weit auf den See hinaus und ließ sich dort treiben. Wieder spürte er das tastende Nahen und dieses Mal zog er sich nicht ganz zurück. Es konnte kein wirkliches Erkennen geben, jedenfalls keines im Leib. Nur eine Ahnung von Wissen erreichte ihn und darin der dringende Ruf nach Amarra. Harkym erschauderte und schirmte sich ab. Damit hatte er nicht gerechnet. Er hatte es nicht einmal gewagt, daran auch nur zu denken. Und doch suchte Amarra nach ihm. Seymas suchte nicht den Sohn des Freundes, nicht den Rebellen, den er in die Knie zwingen wollte. Er suchte den Geist, der von nun an herrschen mußte.
Plötzlich empfand er Zorn; einen Zorn, den er sich fünf Jahre lang nicht erlaubte. Doch diese fünf Jahre bildeten sein Leben. Und er verlor sie, weil Amarra es so wollte. Er irrte ruhelos umher, durfte nirgendwo bleiben, keinen Tempel betreten, nicht einmal geleitet sein. Er verlor Kalita und in ihr seinen Sohn. Er hungerte, dürstete, fror, fühlte sich einsam. Die Tage mit Kalita, die Wanderschaft mit Andraag und die drei kurzen Begegnungen mit Zorynas waren alles, das ihn den Menschen näher brachte. Und all dies, weil er etwas ein Unrecht nannte, das von nun an nach seinem Willen überall als Unrecht gelten mußte. Nach seinem Willen! Er lauschte diesem Gedanken nach, doch er hielt ihn nicht fest. Nie empfand er den Verlust seiner Jugend als so bedrückend wie jetzt, da er die Überflüssigkeit und Sinnlosigkeit dieses Verlustes begriff. Nach dem Willen Amarras empfing er nicht einmal Leitung. Er sollte Minosante nicht begegnen dürfen, den er damals suchte. Zorynas nahm ihn auch nie wirklich als Chela an. Er nannte ihm immer nur eine Richtung, in die sein geistiges Bemühen zielen mußte und wenn Harkym erkannte, daß seine Zeit kam, half er ihm beim letzten Schritt auf eine neue Ebene. Bis jetzt wußte kein Mensch, daß er der Lichtgöttin Antares begegnete. Seymas hatte gewiß verstanden, daß seine Suche endete und er den neuen Than erreichte. Aber er konnte nicht wissen, wer kommen würde und, über ihn hinwegschreitend, sein Amt übernehmen. Er gönnte ihm diese Unsicherheit und wollte sie ihm so lange als möglich bewahren. Ihn fröstelte. Er weilte seit Stunden auf dem See. Bitter lachte er auf. Nein, er wollte jetzt nicht seine Gesundheit riskieren. Harkym ruderte zurück. Starkes Feuer im Kamin und heißer Wein im Becher vertrieben alle Gedanken an Kälte aus seinen Gliedern. An diesem Abend trank er. Harkym leerte vier Krüge Wein, vergeblich hoffend, den wehen Schmerz in sich hierdurch zu
besiegen. Als Tibra in der Nacht zu ihm kam, fand er den Sohn weinend auf dessen Lager. "Bei allen Göttern," entfuhr es ihm, "was ist mit dir, Söhnchen." Er setzte sich zu ihm, faßte nach seinen Schultern. Harkym warf sich herum, flüchtete förmlich in seine Arme. Tibra sah die leeren Weinkrüge, den erschlafften Tratta-Schlauch. Er begriff, daß der Sohn trank. Aber er verstand nicht, weshalb. "Ich habe es Andraag verübelt, weil er mir acht Tage meines Lebens stahl," gestand Harkym ohne weitere Aufforderung. "Aber Amarra stahl mir meine Jugend. Es war alles sinnlos, Dada." "Nichts war sinnlos," widersprach Tibra heftig. "Der Wein umnebelt deine Sinne. Der Mann, der du heute bist, wurde aus den vergangenen Jahren geformt. Höre auf, dich selbst zu bemitleiden." Harkym schien alles andere als getröstet. Tibra wußte nicht einmal, ob seine Worte dessen Bewußtsein erreichten. "Wenn du dich wirklich rückhaltlos unterwirfst, Junge, dann wird der neue Than dir womöglich nicht einmal eine Weihe sperren." Harkym sah ihn mit glasigem Blick an. "Ein Mann der Macht versucht meist, sich anfangs großmütig zu zeigen." Harkym rückte etwas von ihm ab. Er versuchte, klar zu sehen und klar zu denken. beides gelang ihm nicht. Doch die Worte des Vaters hatte er verstanden. Es dauerte nur einen Moment, bis er sie auch begriff. Und dann lachte er. Es war kein heiteres, fröhliches, lebenslustiges Lachen; eher eine andere Form des Weinens. Und doch verlor darin jedes Gefühl von Schmerz und Verlust und Sinnlosigkeit an Gewicht. Tibra schälte den Sohn aus der Kleidung, drückte ihn aufs Lager und deckte ihn zu.
"Du wirst jetzt schlafen," befahl er, während er nochmals das Feuer schürte. Er blieb die Kerze aus. Harkym nannte bittend seinen Namen. Da setzte er sich auf den Rand des Lagers. Liebevoll streichelte er das Gesicht des Sohnes. "Dada." Harkym hatte Schwierigkeiten damit, die Worte zu formen. "Dada, was wäre aus mir geworden, wenn ich mich nicht um Ogsaman gekümmert hätte?" "Keine Ahnung, Söhnchen." Tibra küßte ihm die Stirn. "Vielleicht würdest du jetzt volltrunken auf deinem Lager liegen." Er grinste. "Womöglich wärest du in einem Tempel auf der Suche nach Rakkis Kraft. Oder du lebtest noch auf Amarra in der kleinen Siedlung Karnac, würdest für Ehrastan den Verwalter spielen und am Abend deine Gemahlin Eika in die Arme schließen." Harkym lächelte. Damals, mit siebzehn Jahren, erschien ihm Eika als das begehrenswerteste Mädchen aller Reiche. Er umfaßte des Vaters Rechte. "Ich glaube, all diese haupt nicht," gab er zu.
Möglichkeiten
gefallen
mir über-
"Na, von der ersten Möglichkeit bist du aber nicht sehr weit entfernt," stellte der Magier trocken fest. "Dada, ich muß dir etwas sagen..." Der Vater wußte noch nichts von dem, was er auf dem See begriff. Er wollte ihm davon erzählen; ihm sagen, daß er keine Zukunft fürchten wollte. "Du mußt vor allem schlafen."
Er hörte diese Worte schon nicht mehr. Tibra fuhr ihm zärtlich durchs dichte Haar. Leise verließ er den Raum. Der Sohn würde am kommenden Tag entscheiden müssen, ob die fürchterlichen Kopfschmerzen, die er dann empfand, die umnebelte Wirklichkeit des Rausches aufwogen.
H
arkym hatte keine Kopfschmerzen. Er erwachte früh, mit klarem Geist und reichlich Durst, den er mit drei Bechern kalten Wassers stillte. Argwöhnisch betrachtete er die leeren Weinkrüge. Aber es gab keine Gedächnislücke. Er schmunzelte beim Gedanken an die möglichen Formen der Gegenwart, welche der Vater äußerte. Harkym öffnete das Fenster, schloß es jedoch sofort wieder, weil die Kühle des Morgens ihm nicht gefiel. Er erschrak, denn er verspürte wieder dieses suchende Nahen. Wütend begriff er, daß er keine Ruhe fand. Amarra mußte wissen, wer als Herr kam. Er konnte sich abschirmen, dem Suchen verschließen, aber er konnte es nicht verhindern und nicht enden, solange er sich verbarg. Und er empfand es als äußerst lästig. "Ich weiß, wer ich bin." Harkym wußte nicht, ob er bewußte Gedanken formte und aussandte, oder ob er ärgerliche Worte sprach. "Laß mich in Ruhe. Ich liefere mich zur Lichtgleiche aus, nicht eher." Er hielt inne, begriff, daß er sich zu Erkennen gab. Sehr bewußt übermittelte er dann seinen Willen. "Ich will Uhray sehen und ein Ende jeder Beschränkung meiner Person. Niemand darf erfahren, wer ich bin, bis ich mich selbst zu erkennen gebe." Die forschenden Blicke des Vaters beim Frühmahl quittierte er mit einem Augenzwinkern. Der Magier freute sich, ihn so stark, selbstbewußt und fernab jeder Verzweiflung zu sehen. Da Harkym nun endlich unbesorgt in die Zukunft sah, gab es auch für ihn keinen unruhigen Gedanken mehr darüber.
"Ich reite zum Tempel," erklärte der Sohn, nachdem er sich sättigte. "Ich denke, ich werde ein paar Tage dort verweilen." "Das darfst du nicht," entfuhr es Bakaar, der zwar die Rebellion des Jungen verurteilte, ihn ansonsten jedoch liebte. "Man würde dich töten. Hast du vergessen, daß dir jeder Tempel verboten ist?" "Ich denke, das gilt nicht mehr," behauptete Harkym mit gewissem Sarkasmus. "Da ich mich ausliefern werde, wäre es doch ein Verlust für Amarra, mich in Nodher zu vernichten." "Ich komme mit dir," entschied Tibra impulsiv. "Du willst mich vor Gerrys und Nymardos beschützen," ahnte der Sohn. "Ich freue mich, wenn du dabei bist. Kommt noch jemand mit?" Bakaar wollte sich einen Besuch im Tempel nicht nehmen lassen. Aber den Geschwistern war es viel zu kalt für einen weiten Ritt und Aniela hatte ohnehin keinen Sinn für Priesterschaft, so wenig wie für Magie.
M
an hatte sie durch einen fremden Priester im Tempelbereich begrüßt. Bakaar trennte sich von ihnen. Er hatte Freunde hier, bei denen er wohnen wollte. Tibra und Harkym erhielten ein gemeinsames Gasthaus zugewiesen. Harkym sah sich darin nicht einmal um. Er lehnte im Türrahmen und sah unverwandt zum hohen Tempelbau. "Es wird kalt, Söhnchen," mahnte Tibra, der eben ein Feuer im Kamin entzündete. Er zog ihn ins Haus. "Du wirst auf keinen Fall den Tempel selbst betreten," bestimmte er. "Dazu brauchst du die Erlaubnis des Falla." Harkym hörte überhaupt nicht zu. "Kannst du dir vorstellen, daß ich noch nie an einem Ritual des Lichts teilgenommen habe?" "Ich kann mir bei euch Priestern so ziemlich alles vorstellen," brummte der Magier. "Hast du etwa gehofft, es hier zu erleben?" "Nein." Jetzt lächelte Harkym doch. "Ich wollte eigentlich nur wissen, ob man mich umbringt, wenn ich mich einem Tempel nahe." Tibra fuhr herum. "Du warst dir dessen nicht sicher?" vergewisserte er sich.
Es war mehr als Schrecken, was er empfand. Dies war das blanke Entsetzen. Der Sohn spielte mit seinem eigenen Leben. "Ich konnte nicht sicher sein," gab Harkym beruhigend zu. "Aber es ist wohl jede Beschränkung aufgehoben worden. Vermutlich dürfte ich jetzt sogar wieder um Leitung bitten." "Das kommt schon noch," tröstete der Vater. "Es gefällt mir nicht, wenn du so verbittert redest." "Sei nicht so unerträglich besorgt um mich. Geh in den Tempel und begrüße deine Freunde. Sie warten sicher auf dich." Tibra zögerte. Der Sohn schien nicht in der Verfassung zu sein, in der er ihn allein lassen wollte. Er blieb noch eine Stunde bei ihm, bis Harkym sehr ruhig und gefaßt erschien. Dann ging er zum Tempel hinüber.
G
errys hatte sich nicht verändert. Genau wie Nymardos überschritt er die siebzig, aber äußerlich wirkte er wie vor Jahren. Schmächtig und auffallend bleich war er schon immer gewesen und das dünne, ins weiße übergehende Haar besaß schon in seiner Jugend diese Farbe. Nymardos wirkte noch immer sehr kräftig. Seine Blick besaß dieselbe Tiefe wie in seiner Jugend. Nur die Wangen zeigten sich etwas eingefallen und seine Bewegungen sehr verlangsamt. Sie freuten sich beide, Tibra zu sehen und begrüßten ihn mit viel Herzlichkeit. Etwas unsicher erkundigten sie sich nach Uhray. Gerrys verbot ihm die Leitung in seinem Tempel und Nymardos wies ihn ab. Sie wußten, daß Tibra ihn danach nach Amarra brachte, aber nicht, was dann geschah. Es verwunderte sie beide, daß Thyrian dem Jüngling das Verweilen und die Leitung auf dem Pfad zur Weihe ermöglichte.
"Amarra hat sich sehr verändert," murmelte Gerrys. Tibra grinste. "Noch nicht," meinte er gelassen. "Thyrian hat schon immer seinen eigenen Willen gehabt und auch verwirklicht. Aber jetzt wird es sich verändern. Wißt ihr schon, wer nach Seymas herrschen wird?" "Es gibt keine Nachricht darüber." Nymardos schien sehr besorgt. "Seymas hat nur kurz meinen Geist berührt und mich wissen lassen, daß sein Nachfolger bis zur Lichtgleiche sicher gefunden sei. Ich hatte den Eindruck, als sei er sehr verstört." "Die Erkenntnis, daß die eigene Macht endet, dürfte immer verwirren," mutmaßte Tibra. "Ich weiß, daß du dich damals darüber gefreut hast. Du wolltest bei Gerrys leben. Seymas hat wohl nie über die Zeit nach seiner Herrschaft nachgedacht. Ich werde mich jedenfalls freuen, wenn er nach Minas kommt." Nymardos warf ihm einen dankbaren Blick zu. Für ihn war Seymas wie ein Sohn, den er liebte und um dessen Zukunft er nun sorgte. "Warum hast du Harkym mitgebracht?" wollte Gerrys wissen. "Auch ein neuer Than rechtfertigt nicht seine Rebellion." "Und warum hast du ihn als Gast begrüßen und nicht erdolchen lassen?" antwortete Tibra in derselben leicht aggressiven Art. "Er war auf Amarra und hat sich unterworfen. Es gibt keine Beschränkung mehr für deinen Jungen," suchte Nymardos nach einem vermittelnden Wort.
Tibra dachte an den sehnsuchtsvollen Tonfall des Sohnes, als dieser vom Ritual des Lichtes sprach. Er hakte nach. "Keine Beschränkung bedeutet eine Anerkennung seiner Priesterschaft, nicht wahr? Darf Harkym dann an den Ritualen teilnehmen?" "Nicht in meinem Tempel," brauste Gerrys überraschend kraftvoll auf. "Solange ich Falla bin, nimmt er an keinem Ritual teil." "Es gibt keine Beschränkung mehr," mahnte Nymardos. "Trotzdem beherrsche ich diesen Tempel und entscheide, wer ihn betreten darf," beharrte Gerrys. Tibra lenkte rasch ein. Immerhin hatte Harkym nicht um diese Erlaubnis gebeten, rechnete wohl auch nicht damit. Gerrys war nicht einmal bereit, den jungen Mann zu empfangen.
H
arkym verweilte nicht in ihrem Gasthaus. Er besuchte Rhagan, einen Tempelhelfer, den er aus seiner Kindheit kannte. Später streifte er durch den weiten Park, erfreute sich an den erwachenden Spuren des Lebens, welche ein Ende der Kühle versprachen. Jeder Vogel, jedes Insekt und jede Blüte bereicherten seinen Sinn. Dick aufgeschwollene Knospen beachtete er ebenso wie zartes, junges Grün. Tibra wurde unruhig, weil er den Sohn nach seiner Rückkehr aus dem Tempel nicht antraf. Der Abend nahte. Er wollte ihn finden, ehe es dunkelte. Aufatmend sah er ihn entfernt stehen. "Solange du kein priesterliches Gewand trägst, wirst du hier auffallen," grinste er, obwohl auch er noch warme
Reisekleidung trug. Tibra kleidete sich nur auf Amarra in eine priesterliche Tunika. Ansonsten verzichtete er gern darauf, wie ein Priester auszusehen. Harkym mußte das anders empfinden. "Ich besitze kein Gewand, das mir entspricht," erwiderte der Sohn wie beiläufig. "Ich fürchte, ich kann Gerrys um keine rote Tunika für dich bitten," mußte der Magier da zugeben. Er schilderte den Verlauf seines Gespräches mit dem Falla. Harkym lächelte nur. Rot war die Farbe der vierten Ebene; von den Priestern Minosantes getragen. Ihm stand die weiße Farbe zu. Er mußte es dem Vater irgendwann berichten. "Schau dort." Tibra unterbrach seine Gedanken und lenkte sie zu jungen Molbäumen. Zwischen den glatten Stämmen zeigte sich das gewaltige Netz einer Radspinne, in dessen Fäden winzige Nebeltröpfchen gleich schimmernden Kristallen hingen. Er wollte näher gehen, doch Harkym hielt ihn zurück. Der Sohn deutete nach oben. "Sei vorsichtig," mahnte er. "Die Aaya lauert und nimmt es übel, wenn du ihr Netz berührst." Jetzt entdeckte auch Tibra das Tier. Die Aaya-Spinne saß in einer kleinen Astgabel. Nur unvollkommen wurde ihr handflächengroßer, hellblauer Körper von den noch kleinen Blättern des Baumes gedeckt. "Erinnerst du dich daran, wie wir bei Karnac so ein Netz sahen?" Tibra hielt nun sicheren Abstand. "Du hast dabei den Than mit der Aaya verglichen und behauptet, er webe
ein Netz, um die Reiche zu verbinden - so, wie diese Spinne hier die Bäume verbindet." "Ich habe dann schnell gelernt, daß kleinere Tiere wie ich dem Netz besser fernbleiben, wenn sie nicht tödlich verwundet werden wollen," behauptete Harkym. Die Aaya galt nach der Onik-Viper zu Recht als das giftigste Tier der Reiche; sie konnte mühelos auch einen Menschen töten. "Und in den tardischen Bergen habe ich dir gesagt, daß ich die Aaya gezähmt habe. Soll ich sie holen." Er streckte schon die Hand aus, die ihm Tibra aber hastig nach unten zog. Harkym schmunzelte. Der Vater ließ seine Hand jetzt nicht mehr los, schob ihn auf den Weg. Sie gingen zum Gasthaus zurück. "Die Aaya saß auf meiner Hand," erzählte Harkym dabei. "Wir haben uns angesehen, sie und ich. So eine große Spinne ist ein wunderschönes Tier, wenn man sie aus der Nähe betrachtet. Sie fühlt sich gut an, Vater. Ihre dichte Behaarung gleicht einem weichen Fell und ihre Augen schimmern wie polierter Blutstein." "Deine Stimme klingt so schwärmerisch, als wenn du an ein schönes Mädchen denkst," grinste Tibra. "Mit der richtigen Blickweise sind alle Dinge auf ihre eigene Art sehr schön," behauptete der Sohn. "Was tun wir heute noch?" "Zunächst einmal essen." Harkym war einverstanden. Zu Tibras Erstaunen schlug er danach vor, Erynia zu besuchen. Die einstige Gefährtin des Vaters galt in seinen ersten beiden Lebensjahren als seine Mutter. Sie war Gerrys' Schwester, wuchs aber getrennt von ihm in Wyla auf. Seit vielen
Jahren lebte sie nahe des Tempels. Fast zehn Jahre älter als Tibra war sie immer noch eine schöne Frau. Selten nur sah sie den einstigen Gefährten. Harkym jedoch nach all den Jahren zu begegnen, das bedeutete ihr unglaublich viel. Sie versuchte, jetzt, nach zwanzig Jahren, zu erklären, weshalb sie einst zuließ, daß er den Hohepriesterinnen des verbotenen Kultes übergeben wurde. Doch Harkym wollte dies gar nicht wissen. Er schloß sie in die Arme und ließ sie fühlen, wie wenig sie sich Vorwürfe machen mußte.
E
in Priester lud Tibra am Morgen zum gemeinsamen Frühmahl mit Gerrys in den Tempel. Harkym hatte das Haus schon verlassen. Tibra sah den Sohn, wie er mit einer Priesterin sprach. Er schien sich an die Orte und Menschen seiner Kindheit zu erinnern und sie alle aufsuchen zu wollen. Der Magier beschloß, ihm viel Raum zu geben und nicht beständig und besorgt seine Nähe zu suchen. Nach der rituellen Stunde der Kraft verließ Lycaron den Tempel, um sein eigenes Haus aufzusuchen. Er hielt inne, als Harkym ihm den Weg vertrat. Er lächelte, während er grüßend das Haupt neigte. "Salina hat mir schon gesagt, daß du wieder ein Priester bist, der Amarra dient," meinte er leichthin. "Also bist du auch willkommen, zumindest mir. Willst du mit mir essen?" Harkym nahm mit großer Freude die Einladung an. Ein Priesterschüler bediente sie, bis Lycaron ihn entließ. "Du bist sehr schweigsam," stellte er fest. "Ich kann mich kaum in Gegenwart eines Priesterschülers darüber wundern," erwiderte Harkym amüsiert, "daß ein Priesterschüler von einem Priesterschüler bedient wird, an-
statt seinem Leiter Leibdienst zu erweisen." Lycaron stellte den eben erhobenen Becher wieder zurück, legte den Kopf ein wenig schief und musterte Harkym aufmerksam. "Kannst du diesen bedeutsamen Satz wiederholen?" forschte er. Dann lachten sie beide. "Du hast also vernommen, daß ich unter Leitung stehe," verstand Lycaron. "Ich bin trotzdem der Bruder der Falla und irgendwann wollte Lorynir meinen Dienst nicht mehr." "Lorynir ist Raakis Priester und dein Lehrer?" "Du erinnerst dich also auch an ihn. Ja, er ist stark geworden und gefestigt auf Raakis Ebene." Er aß weiter. "Ich hoffe, du hattest nicht den Wunsch, daß ich dich zu Minosante führe. Das wäre jetzt nicht möglich." "Ich bin hier nur als Gast geduldet und nicht als Priester willkommen," wehrte Harkym gelassen ab. "Sei ohne Sorge, ich bleibe nicht lange." "Das ist bedauerlich," gab Lycaron zu. Nach kurzer Pause fügte er hinzu: "Beides." "Es hat alles seine Richtigkeit," versprach Harkym, der langsam wirklich diese Überzeugung gewann. "Ich habe dir zu danken, Lycaron." "Sprich lieber nicht davon," bat der Priester rasch. "Niemand weiß es und so sollte es auch bleiben. Der Falla würde es mir nicht vergeben." "Amarra wird es dir vergeben," versprach Harkym da sehr ernsthaft. "Amarra wird es dir eines Tages auch danken."
Lycaron lächelte. "Salina versprach, mich mitzunehmen, wenn sie zur Lichtgleiche nach Amarra reist. Ich bin mehr als nur neugierig auf dieses Land. Man sagt, daß es dort keine kalten Nebel gibt. Erzählst du mir davon?" Er wollte nichts über Seymas hören. Den Than kannte er. Er war fünf Jahre alt, als seine Mutter starb. Er und auch Salina sollten nun deren Schwester gehören, wie es Brauch war in Wyla, ihrer Heimat. Aber Salina liebte den Bruder und wollte ihn der hartherzigen Tante nicht ausliefern. Sie wußten nicht, wohin, doch sie irrten durch das Waldreich, einen Platz für sich suchend. Dort fand sie Seymas. Er nahm sie mit zum Schwarzen Tempel, übergab sie der Fürsorge Rhagans, der sie wie eigene Kinder hielt. Harkym schilderte dem jungen Priester das Leben auf Amarra. Sie plauderten lange. Erst als die Stunde des Friedens nahte, in welcher die Göttin Liara verehrt wurde, verabschiedete sich Lycaron, um an diesem Ritual teilzunehmen. Gegen Abend kam er zu Harkym in dessen Haus. "Du hast einige Bemerkungen über Raaki gemacht, die ich gern näher erörten möchte," gab er zu. "Reden wir darüber?" Harkym stimmte erfreut zu. Er hatte gehofft, daß Lycaron zu ihm kam, zog es aber vor, mit ihm in dessen Haus zu gehen. Das Gespräch mochte lange dauern und er wollte nicht durch den Vater darin unterbrochen werden.
D
ie nächtlichen Nebel hüllten bereits das Land ein, als Lycaron nicht mehr ruhig und gelassen sprach, sondern sehr erregt Harkyms Ansichten abwies.
"Du bist nicht einmal Minosante begegnet," hielt er ihm vor. "Wie kannst du dir einbilden, die Kraft Raakis zu beurteilen?" "Kraft läßt sich nicht beurteilen," wehrte Harkym lächelnd ab. "Aber sie läßt sich schauen und erfahren. Du hast Angst, Lycaron. Deshalb kann Lorynir dir nicht helfen. Raaki ist der dunkle Gott des Todes. Seine Kraft bedeutet Tod. Aber er ist auch die andere Seite des Lichts. Licht und Dunkelheit gehören zusammen." "Das weiß ich doch alles," rief Lycaron aufspringend. "Ich sage es mir selbst immer wieder und wieder. Ich muß mir absterben, um in seiner Kraft zu leben. Ich werde es lernen." "Was willst du lernen? Zu sterben?" "Mein Ich aufzugeben," fuhr ihn Lycaron an. "Du willst eine Folter erdulden." Harkym trat nahe zu ihm. "Du willst dich opfern. Das läßt sich ertragen, Lycaron. Ein paar Jahre später wirst du üben, dieses Opfer zu bejahen. Aber es ist falsch! Du hast die Wahl zwischen Selbstaufopferung, die sicher sehr edel und tapfer ist, und Hingabe, in der dich eine Liebesflut wegschwemmt." "Bei allen Göttern, wenn Lorynir dies hören würde." Lycaron erschrak. "Man mischt sich nicht in fremde Leitung ein." "Das habe ich wahrlich schon zu oft gehört," fuhr ihn Harkym da zornig an, seine Unterarme ergreifend. "Du bist der Chela! Du entscheidest über dein Ziel und deinen Weg und jeden einzelnen Schritt dabei. Es ist dein Leben! Und es ist dein Geist!" Betroffen sah Lycaron ihn an. Er hatte diesen Zorn nicht erwartet; vor allem aber nicht die Wucht dieser Worte, die ihn völlig erschütterten.
"Beweise es mir," bat er impulsiv, aber doch etwas furchtsam. "Beweise mir, daß es möglich ist, sich Raaki hinzugeben." "Dann folge mir in seine Halle," verlangte Harkym, sehr freundlich jetzt und tief erleichtert. "Der Tempel ist dir verboten." "Es war auch verboten, Zorynas auf Tempelland zu begraben." "Der Falla wird..." "Der Falla ist jetzt nicht wichtig," Harkym nachdrücklich. "Du bist es."
unterbrach
ihn
Lycaron schloß die Augen, kämpfte einen stillen, inneren Kampf. Dann nickte er Harkym zu und war bereit, sich diesem verfemten Priester anzuvertrauen.
R
aakis heilige Halle befand sich im zweitobersten Stockwerk des Tempels. Es war ein weiter Weg bis dorthin. Die beiden Männer kamen etwas außer Atem so weit oben an. Harkym schloß das breite Tor. Lycaron befand sich oft hier. Schon die erste Weihe berechtigte jeden Priester zur Teilnahme an allen Ritualen. Der Falla entschied, wer wo zugelassen blieb. Lycaron durfte an allen Ritualen teilnehmen; ein Privileg, das er nicht zuletzt seiner Schwester verdankte. Jetzt wirkte er scheu und verunsichert. Es herrschte völlige Stille. Lycaron schaute mißtrauisch auf das aus Granaten gebildeten Pentagramm, das in den Boden eingelassen war. Harkym betrachtete mehr die Flammenden Kristalle in der Decke, welche ein Spiegelbild dieses Symbols bildeten.
"Komm." Harkym führte Lycaron, der sich dann aber doch weigerte, den Fünfstern zu betreten. "Du wirst Raaki hier nicht begegnen." Diese Zusicherung besaß stärkende Kraft. Im Moment hielt Lycaron alles für möglich. Harkym lächelte ihn an. "Du mußt direkt an meiner Seite bleiben," verlangte er. Sicherheitshalber ergriff er Lycarons Handgelenk. Ein kleiner, nur angedeuteter Schritt trennte ihn jetzt noch vom exakten Mittelpunkt der Halle und damit auch des Pentragrmmes. Harkym lächelte. Er schaute Lycaron an, sah dann zu den Flammenden Kristallen auf und trat beiseite. In diesem Augenblick verwandelte sich der Schein der Lichtkristalle. Obgleich ihr Licht in den Reichen stets statisch blieb, flammte es nun auf, traf auf die Granaten am Boden und bildete augenblicklich einen undurchdringlichen Vorhang aus dunkelrotem Licht. Lycaron erstarrte. Er wäre geflohen, doch Harkym hielt ihn fest. So sank er auf die Knie. Er vermochte nicht, dieses Licht mit den Augen zu durchdringen. Er erlebte kein Wunder. Zum Höhepunkt des dunklen Rituals trat Gerrys oft hierher und dann entstand dieses Licht als sichtbares Zeichen der Wirksamkeit des dunklen Gottes. Nur wenige vermochten es, den dunkelroten Schein in dieser Stärke zu rufen. Gerrys gehörte dazu, Nymardos, zweifellos auch der Than. Doch immer ging ein Ritual voraus, in dem die versammelte Priesterschaft die Schwingungen der Kraft verstärkten. Lycaron fühlte sich nicht bedroht, sondern unendlich geborgen. Von Harkym ging viel Sicherheit aus, doch vor allem war es dieses Licht, das ihn beschirmte und die ganze Welt von ihm abhielt. Er entspannte sich, schaute gebannt und hoffte,
dies werde ewig währen. Harkym betrachtete ihn schon einige Zeit. Jetzt wußte er, daß Lycaron alle Furcht verlor. Lorynir konnte ihm mühelos beim letzten Schritt auf Raakis Ebene beistehen. Er wußte aber noch etwas anderes, etwas, das ihm noch wichtiger war. Er würde nicht länger auf die Kraft verzichten, die in den Tempeln spürbar wurde. Und er würde sich Amarra nicht opfern, sondern hingeben. Alles, was er Lycaron sagte, galt auch ihm selbst. Es war sein Leben. Er entschied über Weg und Ziel und jeden einzelnen Schritt. Von nun an wollte er nichts mehr erdulden, nichts mehr geschehen lassen. So, wie Lycaron jetzt Raaki bejahte, so bejahte er sein eigenes Sein. Lycaron hob den Blick, sah zu ihm auf. Dankbar zog er die Hand, die sein Gelenk umklammerte, an seine Lippen. Da trat Harkym einen kleinen Schritt zurück.
D
ie sechs Gottheiten der Nebelreiche hatten alle ihre feste Stunde, in welcher man sie in den Tempeln verehrte. Täglich wurden fünf Rituale abgehalten. Raaki, der dunkle Gott des Todes, und Antares, die Göttin des Lichts, wechselten sich ab zur mitternächtlichen Zeit. Eine Stunde vor Tageswende begann Raakis Ritual. In der Folgenden Nacht verehrte man Antares genau zur Mitternacht. Dies war die Nacht des Lichts. Gerrys ging den Säulengang hinauf, der den Tempel mehrmals umrundete, ehe er oben zur Halle des Lichts führte. Es war noch etwas zu früh, um die Priesterschaft zu rufen und so hatte er es nicht eilig. Vor Raakis Halle blieb er stehen. Es war ungewöhnlich, daß das Tor außerhalb der rituellen Stunde geschlossen wurde.
Die Hallen waren nicht verboten. Sie mußten zur Pflege betreten werden. Mancher Priester hielt sich gern zur Erbauung darin auf. Wenn eine Weihe vollzogen wurde, zog man sich gern in die entsprechende heilige Halle zurück. Dann schloß man auch die Tür als Zeichen für alle, nun nicht zu stören. Aber solches Handeln wurde angekündet; zumindest die Fallas wußten hierüber Bescheid. Gerrys öffnete einen Türflügel. Dann erstarrte er fast, denn er sah dieses Licht, das kein Auge durchdringen konnte. Gleich darauf erlosch der Lichtvorhang. Der Falla sah Harkym und er sah Lycaron, kniend die Hand des anderen küssend. Er trug das schwarze Gewand seines Amtes, zu dem eine kurze, fünfstriemige Peitsche gehörte. Sie war ein rituelles Werkzeug, keine Waffe und vor allem kein Folterinstrument. Trotzdem griff er in unwillkürlicher Geste danach, als der Zorn in ihm aufflammte. Lycaron hatte sich schon erhoben und sah jetzt betroffen den Zorn seines Herrn. Harkym hielt noch immer sein Handgelenk, führte ihn nun quer durch die Halle zur Tür. "Der Magier weiß die Tempel zu achten," sagte Gerrys mit zornbebender Stimme, "der Sohn des Magier kennt keinerlei Respekt. Verlasse den Tempel. Wenn du ihn noch einmal betrittst, töte ich dich." Harkym ging um ihn herum, schob Lycaron zur Tür. Lauernd achtete er genau auf Gerrys' Hand. Er hielt es durchaus für möglich, daß der Falla die Peitsche benutzen wollte. "Hinaus!" rief Gerrys unbeherrscht. Jetzt zuckte wirklich seine Hand hoch. Doch für einen Hieb war es zu spät. Harkym hatte die Halle schon verlassen, ging mit Lycaron den Gang hinaunter. Der Falla starrte ihm nach. Er empfand die langsamen Schritte der jungen Männer als provozierend und beleidigend. In dieser Nacht gab er die
Leitung des Rituals in andere Hände, da er zu erregt blieb, um sich jetzt auf Antares einzustimmen.
S
chweigend erreichten die jungen Männer Lycarons Haus. Harkym hatte längst die Hand von dem Priester genommen. "Du solltest jetzt Lorynir aufwecken und um seine Hilfe bitten," mahnte Harkym sacht. "Jetzt?" "Es ist die beste Zeit dafür." Harkym lächelte. "Du hast etwas erlebt, erspürt, das dir vertraut und freundlich erschien. Gib dich Raaki hin, Lycaron. Danach wirst du immer dann davon ergriffen sein, wenn du dich willentlich auf seine Ebene im Geist begibst. Jetzt hast du keine Furcht. Also nutze die Stunde." Lycaron zögerte. Die alte Furcht dämmerte schon wieder herauf. "Und wenn ich dich bitte, Harkym?" Tibras Sohn erkundigte sich, wo Lorynir wohnte und führte Lycaron dann durch den Park zu dessen Haus. Laut pochte er dort gegen die Tür. Es dauerte etwas, bis unwillige Rufe ertönten. Lorynir wohnte nicht allein. Er teilte dieses Haus mit drei weiteren Priestern, die sich alle gestört fühlten. Entsprechend übellaunig öffnete Lorynir endlich die Tür. Harkym trat beiseite, verschwand fast im Nebel. Der Priester sah nur seinen Chela, der jetzt vor ihm niederkniete. "Ich bin bereit, Raaki zu begegnen," versicherte Lycaron mit fester Stimme.
Lorynir hob ihn auf. "Hast du getrunken?" murrte er. "Es ist mitten in der Nacht." Er wollte sich schon abwenden, hielt dann aber inne. "Raakis Stunde," stellte er fest. "Bist du dir denn sicher?" Lycaron wollte erneut knien, doch jetzt hielt ihn Loryxnir an den Schultern fest. Forschend betrachtete er seinen Schüler. Dann zog er ihn zu einer kurzen, freudigen Umarmung an sich. "Hier sind wir nicht ungestört," mußte er zugeben. "Warte, ich ziehe mir etwas über. Wir gehen in dein Haus. Ich freue mich für dich, Bruder." Er gab ihm schon nicht mehr die Anrede des Schülers, nahm seine Weihe vorweg. Gleich darauf ging er mit Lycaron davon. Der Priester sah sich um, doch von Harkym war nichts zu sehen. Er wußte nicht einmal, ob der Sohn des Magiers so lange im Nebel wartete.
N
och ehe sich die Nebel hoben, kam Nymardos ins Tibras Haus. Er suchte jetzt aber nicht den Freund, sondern dessen Sohn. Harkym schlief. Nymardos beugte sich über ihn, wollte ihn bei den nackten Schultern fassen und hart dem Schlaf entreißen. Aber da schnellten Harkyms Hände vor, umklammerten seine Handgelenke. Nymardos war gezwungen, in der gebeugten Haltung zu verharren. "Wie konntest du es wagen, dich so über die Gesetze des Tempels hinweg zu setzen?" fuhr er Harkym an, einsehend, daß seine körperliche Kraft nicht mehr genügte, um sich aus diesem Griff zu befreien. Harkym wußte sich überlegen, körperlich wie geistig. Er genoß dieses Gefühl, zeigte aber nur die körperliche Kraft, indem er sich gelassen reckte, ohne Nymardos dabei frei zu geben. "Wie geht es Lycaron?" überging er den Vorwurf. "Er wird sich nach der Stunde des Schweigens vor dem Falla zu verantworten haben," fauchte Nymardos. Harkym spannte sich an. Er setzte sich ruckartig auf, stieß dabei Nymardos zurück. Tibra, vom Lärm geweckt, betrat eben die Kammer. Er sah den Freund taumeln, straucheln. Nymardos wäre gestürzt, wenn nicht ein Stuhl ihn behinderte, in den er dann mehr fiel als er sich setzte. Harkym war schon bei ihm. Drohend funkelten seine dunklen Augen vor Nymardos' Gesicht.
"Hütet euch, alter Mann," drohte der junge Priester leise, aber mit sehr gefährlichem Unterton. "Ihr und der Falla, hütet euch davor, Lycaron jetzt zu verwirren und sein Erleben auch nur in Ansätzen in Frage zu stellen." Tibra legte dem Sohn mahnend die Hand auf die Schulter. Da richtete sich Harkym auf. "Ich hoffe, du hast gut geschlafen, Dada," grüßte er den Vater mit sanftem Lächeln, ehe er nach seiner Kleidung griff und die Kammer verließ. Fassungslos sah Nymardos zur Tür. Sein Atem ging noch etwas heftig; die Erregung wirkte noch nach. Tibra setzte sich zu ihm. "Du wirst mir einiges Magier vorsichtig fest.
erklären
müssen,"
stellte
der
Harkym befand sich im Wohnraum, wo er das Feuer entzündete und begann, sich den Bart zu schaben. Durch die nicht ganz geschlossene Tür vernahm er jeden Vorwurf wider sich. "Harkym war in dieser Nacht im Tempel," gab Nymardos zu. "Ich schätze, der Platz ist für einen Priester nicht unbedingt verkehrt," erwiderte Tibra gleichmütig. "Er wird kaum ein Ritual gestört haben." "Das wäre das kleinere Übel," gab Nymardos zu. "Gerrys überraschte ihn und Lycaron ins Raakis Halle. Dein Sohn scheute sich nicht, mit magischen Lichtspielen Minosantes Priester zu beeindrucken. Er verhöhnte Raaki, indem er die Granaten funkeln ließ. Gerrys ist außer sich vor Zorn. Er wird Harkym töten, wenn er den Tempel noch einmal betritt."
"Ich rede mit Harkym," versprach Tibra. "Er bleibt dem Tempel fern. Und du, Freund, solltest eigentlich die Weisheit besitzen, die davor warnt, sich in deinem Alter mit einem so jungen Burschen anzulegen." Er grinste. "Bei einer Prügelei würde Harkym immer gewinnen." "Ich wollte mich nicht mit ihm schlagen." Jetzt lächelte auch Nymardos. "Aber Gerrys kann recht unbeherrscht sein. Deinem Jungen sollte hier nichts Übles geschehen. Er sollte überhaupt nicht hier sein." "Er ist Priester, Nymardos." "Er hat sich Amarra fünf Jahre lang widersetzt. Seymas ist viel zu nachsichtig, wenn er ihn ohne Buße gehen läßt. Man könnte ihm das als Schwäche auslegen." "Seine Macht endet," erinnerte ihn Tibra, leicht erheitert. "Ich bezweifle, daß sein Handeln jetzt noch so wichtig ist. Geht es wieder? Ich bringe dich in den Tempel." Er kleidete sich rasch an, verlangte von Harkym, im Haus auf ihn zu warten und führte den Freund dann zum Tempel, wo dessen eigene Gemächer lagen. Tibra blieb lange fern. Harkym wartete gelassen. Der Vater würde sicher auch mit Gerrys reden und wohl zugegen sein, wenn man Lycaron befragte. Ihn amüsierte der Vorwurf magischen Handelns. Der Vater wußte, daß er sich nie mit Magie beschäftigte. Es war an der Zeit, ihm die ganze Wahrheit zu entdecken. Als Tibra dann kam, ließ er ihn nicht einmal zu Wort kommen. Er hatte wirklich mit Gerrys gesprochen, aber Lycaron nicht gesehen. Es gab einen heftigen Streit zwischen Salina und dem Falla. Sie stand zu ihrem Bruder. Harkym begriff, daß noch niemand wußte, wohin Lorynir in dieser Nacht seinen Chela führte. Sein einziges Versagen bestand
darin, gegen den Willen des Falla Harkym im Tempel geduldet zu haben. Nicht Lycaron entweihte die Halle, Harkym tat es durch magisches Handeln. Hierüber stritten Salina und Gerrys und es zeichnete sich ein echtes Zerwürfnis dabei ab. "Ich verstehe deine Sehnsucht nach den Tempeln," erklärte Tibra aufgebracht. "Aber ich kann es nicht billigen, daß du dich einem Falla widersetzt. Wir reiten nach Hause, Junge, heute noch. Ich will keine Erklärung von dir. Wir reden einfach nicht mehr darüber, weder über die vergangene Nacht noch über die Tempel noch über deine Priesterschaft noch über Magie. Akzeptierst du das?" Die letzten Worte klangen nicht wie eine Frage, sondern wie eine Forderung. Harkym erhob sich, begann, das Bündel zu packen. Wenig später ritten sie aus dem Tempel. Tibra befürchtete, den Sohn gekränkt zu haben. Etwas versöhnlicher schilderte er das Gespräch mit seinen Freunden, denen er nicht entdeckte, wie wenig sich Harkym mit Amarra aussöhnte. Sollten sie das erfahren, würden sie sich heftiger gegen Harkym stellen. "Du sollst nicht besorgt um mich sein," unterbrach ihn der Sohn. "Ich bin nicht beleidigt und ich bin nicht gekränkt. Außerdem wolltest du nicht mehr darüber reden." "Das will ich wirklich nicht," gab Tibra zu. "Wenn wir die Pferde jagen, können wir bis zum Abend zu Hause sein. Würde dir das gefallen?" Er nahm die Zügel fester. Harkym lächelte. Und dann ritten sie so schnell, wie es Tiere eben vermochten.
D
as Land erwärmte rasch. Harkym verbrachte alle Zeit mit den Eltern und Geschwistern. Sehr viel sprach er mit Antaya, deren Ungeduld stetig wuchs. Dann kam der
Abschied. Sie hatte ihr Bündel gepackt. Aniela weinte, aber sie hielt die Tochter nicht länger auf. Harkym und Tibra ritten ein Stück des Weges mit ihr. Sie verabschiedete sich in übermütiger Vorfreude, um nun endlich ihr Sein in Wyla zu leben. Die Menschen bestellten die Felder. Das geschäftige Treiben, das überall sichtbar wurde, zeigte sich von Gesang und Fröhlichkeit begleitet. Harkym ritt gern hinaus, um zu schauen und diese Lebensfreude zu fühlen. Die Zeit verging viel zu schnell. Alles, was er sah und erlebte, fühlte, hörte, schaute - all dies bedeutete ihm die Spur seiner verlorenen Jugend. Diese Menschen und seine Familie, sie alle hatten einen Alltag, wie er ihn nie haben durfte. Und auch jetzt blieb er nur unbeteiligter Zuschauer; ein Gast, der wieder nicht verweilen durfte. Die Reise nach Amarra stand bevor.
T
ibra wartete schon vor dem Haus, wo er das Gepäck überprüfte. Bakaar befand sich bei ihm. Er freute sich darauf, seine Heimat Amarra sehen zu dürfen. Harkym weilte noch bei Aniela, von der er sich allein und ohne Eile verabschieden wollte. Er kniete bei ihr, hielt ihre Hände und legte den Kopf in ihren Schoß. "Uhray ging fort," sagte sie leise, "und ich konnte ihn nicht halten. Er war so freudig dabei. Und auch Antaya ging voll Freude. Wie kann ich dich gehen lassen, wenn Furcht dich beherrscht?" Harkym küßte ihre Finger, richtete sich dann auf und umarmte sie. "Ich fürchte nichts, Mutter."
"Dein Vater ist sehr besorgt," gab sie zu. "Er sagt, daß Amarras Entscheidung über dich sehr ungewiß sei. Vielleicht ist der neue Than ein harter Mann." "Er ist gewiß nicht so übermütig, verspielt und heiter wie Seymas," lächelte Harkym. "Was wird er dir nur antun?" überlegte sie betrübt. Harkym nahm ihr Gesicht in beide Hände, sah sie liebevoll an. Er küßte ihren Mund und spürte ihre aufrichtige Sorge, als sie ihn da heftig an sich zog und hielt, als wolle sie ihn niemals gehen lassen. "Ich bin nicht Amarras Gefangener," entdeckte er mit zärtlicher Stimme. "Ich bin Amarras Geist." Sie verstand ihn nicht. Er wußte es, weil sie ihre Tränen nicht mehr verhindern konnte. "Mutter, ich gehe in mein Land, das ich so regieren werde, wie Minas' Fürstin es mich lehrte." Ihr stockte der Atem. Wie erstarrt lag sie in seinen Armen. "Ich liebe dich, Mutter. Und ich danke für alles, was du mir getan hast." Jetzt hob sie den Blick, wollte etwas abrücken. Doch er hielt sie noch immer fest. Aniela sah ihn zweifelnd an. Der aufdringliche, kleine Kerl, den sie nur Tibra zuliebe als ihren Sohn anerkannte, sollte der mächtigste Mann der Reiche sein? "Du willst mich trösten," befürchtete sie. "Das will ich," stimmte Harkym zu. "Aber du brauchst bald keinen Trost mehr. Die Mutter des Than wird in allen Reichen hoch geachtet sein." "Wer weiß es?"
"Außer dir nur Seymas." Harkym lächelte. "Vater hat mir verboten, über Priesterschaft auch nur zu reden. Er wird es auf Amarra erfahren. Aber dich kann ich nicht verlassen, ehe du dich über mein Leben freust." "Tust du das denn?" Aniela fuhr ihm durchs wuschelige Haar. "Darf ich dich überhaupt noch duzen?" Der Gedankensprung verwirrte Harkym etwas. Aniela wartete tatsächlich auf eine Antwort. Da lachte er und sie verlor darin alle Sorge und Vorsicht. Es war ein sehr herzlicher Abschied, als sie sich endlich trennten.
U
hray lief lachend eine abschüssige Wiese hinunter. Er hatte Dionas im Scherz ein paar Nüsse weggenommen und ließ sich jetzt von ihm verfolgen. Dionas wollte ihm die Beute wieder abjagen. Ihr fröhliches, lautes Treiben erregte durchaus Aufmerksamkeit. Ein paar flache Häuser befanden sich in der Nähe, deren Bewohner ihre Arbeit unterbrachen, um ihnen zuzusehen. "Die beiden sind vor drei Tagen gekommen," erklärte der San, der Vorsteher der kleinen Siedlung, dem fremden Priester des Lichts, der sich nach ihnen erkundigte. "Sie benehmen sich nicht wie Chela und Leiter, sondern wie zwei übermütige Kinder, die nur spielen wollen." "Viele Wege führen zu den Göttern," behauptete Salvan lächelnd. "Die Fröhlichkeit ist sicher der angenehmste davon." Dionas hatte Uhray fast eingeholt, hechtete ihn nun an und riß ihn von den Beinen. Sie kullerten den Hang hinab. Lachend blieben sie liegen. Uhray hielt noch eine Nuß, die ihm Dionas nun im scherzhaften Ringkampf entwand. Er lag halb auf Uhray, den er mit dem Rücken auf den Boden preßte.
"Gib zu, daß ich stärker bin," verlangte er triumpfierend. Uhrays Blick weitete sich erschrocken. Dionas lockerte den Griff. Er sah nun selbst des Saum des weißen Gewandes und wußte sich beobachtet. Hastig richtete er sich auf, zog seinen Chela auf die Knie und hielt dessen Schulter fest. "Du wirst beim Tempel erwartet, Dionas." Salvan schmunzelte. Kein tadelndes Wort und keine abwertende Geste erlaubte sich der Lichtpriester in Gegenwart der Zeugen. Dionas atmete unmerklich auf. Er kannte diesen Mann, der in Thyrians Diensten stand. Als er noch beim Tempel lebte und selbst auf diesen Dienst hoffte, sah er ihn einige Male. Sie sprachen bisher nicht miteinander. Uhray sah den Mann mit unverhohlener Neugier an. Er senkte den Blick erst, als Dionas ihn sacht anstieß. Salvan lachte leise und ließ sie allein. Dionas sah ihm kurz nach. Die Leute der Siedlung umringten Salvan schon, begierig, Neuigkeiten vom Tempel zu hören. Man beachtete sie nicht weiter. Da setzte sich Dionas mit angezogenen Beinen neben Uhray. "Du kannst einen Priester des Lichts nicht so anstarren," tadelte er grinsend. "Salvan dient Thyrian. Sein Wort gilt viel." "Dann sollte ich mich jetzt wohl besser wie ein richtiger Priesterschüler benehmen," zog Uhray in Erwägung. "Wenn wir schon zum Tempel müssen, müssen wir das dann etwas in Salvans Begleitung?" "Alles andere wäre sehr unhöflich," gab Dionas zu, der noch nicht wußte, ob ihm dieser Gedanke gefiel. "Und warum ruft man dich?"
"Hey," rief Dionas, immer gewünscht, dem jetzt wieder an mich sollte ich mich da nicht
schon wieder heiter, "ich habe mir Pala des Than zu dienen. Wenn er sich erinnert und das endlich duldet, freuen?"
"Du schon," murrte Uhray. "Und was wird aus mir?" "Ein Chela ist verpflichtet, in der Nähe seines Lehrers zu sein." Diona grinste. "Du kommst mit mir." "Ja, Herr," brummte Uhray mißmutig. Dionas lachte fröhlich. Sie waren beide gleich jung, keine achtzehn Jahre alt. Uhray kam vor einem Jahr nach Amarra, auf Leitung hoffend. Er nahm an, er müsse Priester sein, damit Harkym ihm erlaubte, sein unstetes Leben zu teilen. Dionas besaß die vierte Weihe. Er lebte erst kurz beim Tempel. Sie beiden Jünglinge fanden Gefallen aneinander. Da Seymas Uhray eigentlich gar nicht geleitet wissen wollte, mußten sie jenen Bereich verlassen. Uhray kannte inzwischen alle Sitten und Gebräuche auf Amarra. Er wußte, daß ein Chela seinem Leiter durch Leibdienst die empfangene Lehre dankte, ihn als Herrn titulierte und auch so behandelte. Es galt nie zwischen ihnen. Manches Mal, wenn sie in Siedlungen weilten, fanden sie Vergnügen daran, sich formvollendet zu benehmen. Meist scherzten und lachten sie lieber miteinander. Im Tempelbereich aber mußte man alle Regeln genau einhalten. Und eigentlich verlangte auch die Nähe eines Lichtpriesters gesittetes Benehmen. Uhray wußte dies und deshalb nannte er den Gefährten jetzt seinen Herrn. "Wie lange werden wir unterwegs sein?" wollte er wissen. "Ein paar Tage bestimmt," erwiderte Dionas sofort. "Sei nicht so mißmutig, Uhray. Du wirst immerhin deinen Vater
sehen." "Meinst du, er kommt?" forschte Uhray, sofort aufgeregt und voll Vorfreude. "Das muß er. Amarra bekommt einen neuen Herrn. Er war bisher Pala des Than und muß diesen Titel abgeben und sich unterwerfen. Wir werden sicher vor der Lichtgleiche beim Tempel sein." "Deshalb ruft dich Thyrian." Uhray verstand. "Seymas wollte meine Leitung nicht. Aber ein neuer Than fragt sicher nicht nach mir. Was wird wohl aus Thyrian?" "Für ihn ändert sich nichts," wußte Dionas. "Er verwaltet Amarra für den Than und das tut er auch weiterhin. Jemand muß sich doch um alles kümmern. Unser neuer Gebieter hat vielleicht bisher Nispen gepflanzt oder Seile gedreht. Er muß erst lernen, wie man ein Land regiert." "Er wird sich kaum belehren lassen," grinste Uhray. "Das muß er auch nicht." Dionas wurde sehr ernst. "Er ist der stärkste inkarnierte Geist. Er kann in jeden Menschen dringen und alles, was er wissen will, seinem Gegenüber entnehmen. Ich möchte ihn sehen dürfen, Uhray. Aber ich fürchte mich auch davor." Die plötzliche Scheu des Gefährten befremdete Uhray, den Macht an sich nicht schreckte. Er wußte noch nicht, daß er, noch ehe sie den Tempel erreichten, ganz ähnlich empfinden würde.
S
ie wanderten mit Salvan und Uhray verhielt sich völlig korrekt wie ein Diener. Er trug Dionas' Bündel, sorgte für Nahrung, schlug am Abend das Lager auf. Wenn sie gingen, folgte er ihnen mit einigen Schritten Abstand. Salvan
ließ alles geschehen. Erst am dritten Tag sprach er Dionas darauf an. "Fürchtest du nicht, deinen Gefährten zu kränken, wenn du ihn jetzt wie einen gewöhnlichen Chela behandelst?" wollte er wissen. "Ich fürchte, euch zu kränken, wenn ich es nicht tue," gestand Dionas mit entwaffnender Offenheit. Salvan schmunzelte. "Du bist sein Leiter," sagte er aber. "Du entscheidest über all seine Rechte und Pflichten." "Wir sind jetzt seit einem Jahr zusammen," erzählte der Jüngling nun. "Wir wurden Freunde in dieser Zeit und hatten viel Spaß miteinander." "Und das ist alles?" "Natürlich nicht, Salvan. Uhray naht sich den Göttern. Er beherrscht alle Übungen, die ich ihn lehrte. Seit kurzem bin ich davon überzeugt, daß er Tabalke begegnen kann." "Aber?" erkundigte sich Salvan sacht. "Aber ich bin nicht davon überzeugt, daß ich die Fähigkeit besitze, ihm zu helfen," gab Dionas beschämt zu. "Ich hatte noch nie zuvor einen Chela. Er weiß das auch." Forschend sah er seinen Begleiter an, doch Salvan verhielt sich sehr gleichmütig. Im Allgemeinen sagte man einem Priesterschüler nicht, wie erfahren sein Lehrer in der Leitung war. "Wenn Uhray sich auf Tabalkes Ebene verliert und ich ihn nicht halten kann, ist er verloren. Ich habe nicht den Mut, ihn in diese Gefahr zu bringen."
"Du hast nicht einmal den Mut, einen Freund wie einen Freund zu behandeln," tadelte Salvan da behutsam. "Er vertraut dir sein Leben an und die Gesundheit seines Geistes. Er vertraut dir, Dionas. Du bist für ihn verantwortlich. Nichts und niemand darf dir wichtiger sein als er. Vor allem nicht die Ansicht eines zufälligen Reisegefährten." Er lächelte Dionas zu und nickte befriedigt, als der Jüngling seinen Schritt verlangsamte, sich neben Uhray begab und nun sein Bündel selbst trug. Als er die beiden Burschen hinter sich bald darauf fröhlich lachen hörte, schmunzelte er nur. Der Rest der Reise würde sicherlich vergnüglicher ausfallen.
H
ierin täuschte er sich nicht. Uhray verlor bald alle Scheu auch vor ihm. Manchmal sprachen sie nun zu dritt über die Priesterschaft. Uhray lernte viel, vor allem über sich selbt. Er begriff, wie nahe er Tabalke schon kam und er verstand, daß nicht mehr brüderliche Liebe zu Harkym ihn antrieb, sondern er sich wirklich nach größerer geistige Freiheit sehnte. Er selbst brachte die Rede auf den letzten notwendigen Schritt. Uhray wußte um Dionas' Sorge und hielt sie für eine völlig natürliche Sache. Und da Salvan ihm vertraut und zuverlässig erschien, er überdies als Priester des Lichts die höchste Ebene sah und deshalb einen starken Geist besitzen mußte, bat er ihn, Dionas beizustehen. Salvan staunte. "Ehe Dionas mich als Chela annahm," erklärte Uhray gelassen, "da sagte er mir, daß eine Weihe auch Gefahren birgt und daß er zu dieser Stunde einen stärkeren Priester um Beistand bitten müsse. Ich war einverstanden, Herr. Wenn ihr auf uns achtet, werde ich keine Furcht empfinden."
In dieser Nacht begegnete Uhray der Gottheit des Schweigens. Salvan mußte nicht eingreifen. Dionas verstand es, den Geist seines Chela zu führen und zu halten. Als sich beiden Jünglinge später umarmten, gab es nichts mehr Trennendes zwischen ihnen.
W
enige Tage vor der Lichtgleiche erreichten sie den Tempelbereich. Uhray vermochte nicht, den Blick von all dem Fremden zu wenden. Der Tempel war größer und prachtvoller als der Schwarze Tempel, den er sah. Und der parkähnliche Garten, der ihn umschloß, beherbergte ein gewaltiges Blütenmeer. Die vielen Menschen allerdings erlaubten kein Bild des Friedens. Alles wirkte geschäftig, fast hektisch. Die meisten der Fallas und Herrscher waren bereits auf Amarra eingetroffen. Die Gasthäuser hier zeigten sich überfüllt. Salvan nahm die beiden jungen Männer mit in sein eigenes Haus, wo sie verweilen sollten, bis wieder Ruhe einkehrte. Ihre ausgelassene Heiterkeit tat ihm gut. Noch immer wußte man nicht, wer nach Seymas herrschen würde und diese Unsicherheit belastete zumindest all jene, deren Leben direkt vom Than beeinflußt wurde. Thyrian organisierte alles, was nötig war. Salvan erhielt viel Arbeit in dieser Zeit. Von Seymas konnte er keine Hilfe erwarten. Der Than zog sich von den Menschen zurück, widmete sich kaum den Gästen und nahm nur selten an einem Ritual teil. Thyrian vermißte die Heiterkeit an ihm, die ihm in den vergangenen Jahres so oft unangebracht erschien. Seymas fragte oft nach Tibra, schien nur auf ihn zu warten. "Du wußtest immer, daß deine Herrschaft enden wird," mahnte er den Freund. "Als man mich für den Than hielt und Nymardos mir dies schonend beibrachte, war er sehr erfreut, weil sein Amt endete. Einem anderen die Last der
Verantwortung zu übergeben, empfand er als große Erleichterung. Aber du bist besorgt, nicht wahr?" "Wo ist Tibra?" wollte Seymas statt einer Antwort wissen. "Noch an Nodhers Küste. Er wird erst morgen abend eintreffen." Thyrian betrachtete ihn besorgt. "Harkym ist bei ihm. Ich hoffe, du überläßt jegliches Urteil über den Jungen deinem Nachfolger. Tibra wird es dir nicht verzeihen, wenn du seinem Sohn auch jetzt noch schaden willst." "Ich werde ihn nicht demütigen," versprach Seymas aufsehend. "Ist Uhray eingetroffen?" "Vor wenigen Stunden. Aber deine Einsicht, seine Leitung betreffend, kommt zu spät. Uhray ist Tabalkes Priester." "Du bist, wie immer, über alles informiert." Seymas lächelte. "Es ist gut, Amarra in deinen Händen zu wissen." "Ich würde es vorziehen, meine Arbeit auch zu beenden," gab Thyrian zu, wohl wissend, daß dies unmöglich blieb. "Es wird mir schwer fallen, einen Herrn zu akzeptieren. Für mich ist es ein schlechter Tausch, denn ich verliere die Nähe eines Freundes." "Wir verlieren beide dasselbe," erwiderte Seymas, ihn kurz umarmend. "Ich werde dich vermissen, Thyrian." "Wohin wirst du gehen?" "Das entscheidet unser Gebieter." Seymas leerte einen Becher Wein. "Auf alle Fälle trennen sich unsere Wege. Ich habe nicht gedacht, daß es so schnell geschieht. Manches verändert sich in solchen Tagen." "Ich hoffe, deine Stimmung bessert sich, wenn Tibra erst hier ist," meinte Thyrian da. "Wirst du ihn im Hafen begrü-
ßen?" "Ich habe keinen der Gäste begrüßt." "Alle anderen sind nicht deine Freunde," mahnte Thyrian. "Ich kann es nicht tun. Ich werde hier gebraucht." "Sende Uhray," schlug Seymas ebenso wie seine Söhne freuen."
vor.
"Das wird Tibra
Der Gedanke gefiel Thyrian. Das mußte zumindest Tibra aufmuntern, der vermutlich ebenso besorgt an Amarras neuen Herrn dachte wie Seymas.
T
hyrian hatte Tibra einen kleinen Segler gesandt. Es war durchaus üblich, den Pala des Than abzuholen. Harkym weigerte sich, mit Nodhers Herrscher auf einem Schiff zu reisen. So begrüßte der Magier das Zugeständnis des Freundes. Als Amarras Küste in Sicht kam, kleideten sie sich um. Harkym besaß noch die Tunika, die er zur kalten Lichtwende erhielt und auch Tibra hatte Amarra ja in priesterlicher Gewandung verlassen. Amarras Hafen war zu klein, um jetzt all die Schiffe aufzunehmen, die gekommen waren. Einige kreuzten weit draußen, andere ankerten irgendwo in Küstennähe. Hinter ihnen zeigten sich noch weitere Segel. Sie würden also relativ schnell an Land gehen müssen, damit ihr Schiff weiteren Neuankömmlingen Platz machen konnte. "Dort ist Uhray," entdeckte Harkym den Bruder. Sie hatten beide nicht erwartet, Uhray in der hellblauen Tunika der ersten Ebene zu sehen. Er kam ihnen auf dem Landungssteg entgegen, überkreuzte dann gar die Arme. Tibra gab ihm nicht die geringste Chance zu einer formvollendeten Begrüßung. Er schloß den Jüngling fest in die Arme, ihn schon mit unzähligen Fragen nach seinem Ergehen bestürmend. Harkym stand lächelnd, aber zunächst unbeachtet dabei. Uhray hatte so viel zu erzählen. Sie gingen gemeinsam den gewundenen, blütengesäumten Pfad hinauf und er redete ohne Unterlaß. Der Vater und der
Bruder hatten ihn in die Mitte genommen. Sein jugendlicher Überschwang erheiterte sie beide. Er berichtete von seiner Weihe: "Und dann war plötzlich alles ganz leicht und ganz klar und ganz einfach. Ich hatte überhaupt keine Schwierigkeiten. Dionas hat mich einfach großartig vorbereitet. Vater, ich weiß gar nicht, wie ich dir erklären soll, was dabei geschieht. Ich meine, das ist etwas, für das es einfach keine Worte gibt. Es ist..." Harkym drückte kurz seine Hand. "Vater ist bis zu Saake gegangen," erinnerte er den Bruder. "Ich glaube nicht, daß du es erklären mußt." "Das habe ich vergessen," gab Uhray zu. "Dann versteht ihr alle meine Freude. Ich bin wirklich glücklich. Dionas sagt, wenn der ganze Trubel hier vorbei ist, dann gibt es auch noch eine feierliche Bestätigung meiner Weihe. Dann wird jeder wissen, daß ich ein Priester bin." "Man sieht es dir jetzt schon an," meinte Tibra heiter, auf die Gewandung des Sohnes deutend. "Ich habe so gehofft, euch zu sehen," gestand Uhray. "Aber ich dachte, daß das sicher warten muß. Und dann sagte Salvan, daß ich euch im Hafen abholen darf. Ihr seid sehr spät dran, wißt ihr das?" Harkym warf dem Bruder einen belustigten Seitenblick zu. Er wäre gern noch später gekommen. Doch das Risiko, widrige Winde könnten die Überfahrt verhindern, war zu groß. Er würde nun noch zwei Tage hier warten müssen. Am Morgen der Lichtgleiche, also am Morgen danach, wurde der neue Than in sein Amt eingeführt. Sie näherten sich dem Tempel. Harkym sah den hohen Bau hinauf.
"Da darfst du nicht rein," erklärte Uhray hastig. "Der Than bestimmt, wer bei einem Ritual dabei sein darf. Ich darf's auch nicht. Ich glaube, das ist jetzt nur für die Fallas und die Könige und vielleicht für die Lichtpriester. Unser König ist auch schon da. Ich habe auch Andraag gesehen, konnte aber nicht zu ihm. Man muß jetzt aufpassen, wo man hingeht. Du bleibst am besten in deinem Haus, Harkym." "Sein Haus?" hakte Tibra sofort nach. "Ja, er hat ein eigenes kleines Gasthaus. Dort drüben steht es." "Kommt nicht in Frage." Tibra fürchtete, Seymas wollte ihn von Harkym trennen, um in letzter Stunde noch seinen Sieg zu erringen. "Harkym bleibt bei mir." "Das geht nicht," wehrte Uhray ab. "Wenn man bestimmt, daß..." "Dein Eifer ehrt dich," unterbrach ihn Harkym mit ruhiger Stimme. "Aber Vater ist immer noch Pala des Than und sein Wille geht vor allen Entscheidungen, die irgendwelche Verwalter hier treffen." "Das habe ich nicht bedacht. Ich fürchte, ich bin einfach zu aufgeregt. Bloß gut, daß man mir keine wichtigen Aufgaben überträgt." Harkym blieb stehen, stieß ihn freundschaftlich vor die Brust. Doch er sagte nichts dazu. Uhray erhielt das Privileg, als erster den künftigen Than auf Amarra zu begrüßen. Dies konnte man durchaus als wichtige Aufgabe ansehen.
T
ibras Haus war groß genug, um mehrere Menschen aufzunehmen. Harkym erhielt seine eigene Kammer; jenen Raum, den er schon als Kind bewohnte, wenn er mit
seinem Vater nach Amarra kam. Zwei Priester unterer Grade brachten reichlich Speise, Tee und Wein. Sie entfernten sich, als sie Uhray sahen, denn sie nahmen an, er habe dem Pala des Than Leibdienst zu leisten. Niemand störte sich daran, vor allem Uhray nicht. Für ihn war dies die willkommene Gelegenheit, weiter ohne Lauscher in aller Offenheit und voll Begeisterung von seinem neuen Leben zu berichten. Irgendwann bremste ihn Harkym etwas aus. "Vater möchte vielleicht zum Tempel gehen," meinte er. Tibra wehrte ab. Es bedeutete ihm viel, mit seinen beiden erwachsenen Söhnen zu plaudern. Und er nahm an, Seymas habe viel zu tun und würde gewiß einen Boten senden, wenn er Zeit für ihn hatte. Spät in der Nacht wurde Uhray unruhig. Da war noch etwas, das er unbedingt klären mußte. Etwas zaghaft ergriff er Harkyms Hand. "Ich muß dir etwas sagen, Bruder. Versprich mir, daß du nicht böse bist. Es wird dich enttäuschen." Harkym sah ihn fragend an. Schuldbewußt fuhr Uhray fort: "Du bist immer mein großes Vorbild gewesen. Denke bitte nicht, daß ich dich nicht mehr liebe. Ich wollte Priester werden, damit ich mit dir gehen kann und wir uns nicht mehr trennen müssen." "Was weiter?" "Tabalke bedeutet mir jetzt etwas," gab Uhray zerknirscht zu. "Ich bin ja noch ganz am Anfang. Ich finde hier viel Hilfe, Harkym. Ich möchte einmal an einem großen Ritual im Tempel teilnehmen. Ich hoffe darauf, daß ich hier Arbeit und Auskommen finde. Und - da sind auch Menschen,
die ich mag." "Du willst auf Amarra bleiben?" vergewisserte sich Tibra, etwas überrascht. Uhray nickte langsam. Er suchte förmlich nach Worten, ehe er erklärte: "Der Than bestimmt, wer beim Tempel leben darf. Das macht er natürlich nicht selbst. Aber dafür gibt es auserwählte Priester, die auf alles achten. Thyrian will Dionas in seinen Dienst nehmen. Ich wäre schon froh, wenn ich in einer Siedlung leben dürfte, die nicht zu weit entfernt liegt. Dann könnte ich Dionas besuchen - oder er mich. Aber ich muß natürlich dorthin gehen, wohin man mich schickt." Er wandte sich wieder an Harkym. "Sie haben gesagt, daß du dich unterwerfen wirst. Vielleicht kannst du ja auch bleiben. Habe ich dich jetzt sehr enttäuscht?" "Aber nein," versicherte Harkym voll Zuneigung. "Du hast mich gesucht und die Götter gefunden. Jetzt bist du auf dem richtigen Weg." Das Lob erfreute den Jüngling, der sofort alle trüben Gedanken von sich schob und wieder fröhlich, aufgeregt und begeistert von allem berichtete, was jetzt beim Tempel geschah; welche Gäste ankamen, wie man diese Menschen der Macht behandelte und bewirtete und was ein neugieriger Beobachter wie er dabei so alles erfuhr. Uhray verweilte sehr lange, doch er blieb trotz Einladung nicht im Haus des Vaters. Er wollte in Salvans Nähe, hoffend, daß er sich als nützlich erweisen würde in diesen Tagen. Allein mit Tibra suchte Harkym das vertraute Gespräch. Er wollte dem Vater endlich sein Geheimnis entdecken. Doch der Magier zog sich zurück. Zu viele Gedanken bewegten
ihn. Er zog die Einsamkeit vor, wies Harkym so ab und grübelte dann noch lange vor sich hin.
E
igentlich wollte Tibra mit Thyrian reden, als er früh am Morgen zum Tempel ging, doch der Freund befand sich nicht in seinen Räumen. Für Thyrian gab es viel zu tun. Er hatte immer und überall präsent zu sein und letztlich oblag ja auch ihm die Organisation aller Belange, die nun Wichtigkeit besaßen. Etwas verblüfft sah er, daß Thyrian seine Habe bereits packte. Er konnte diese Gemächer innerhalb einer Stunde räumen. Erst jetzt wurde dem Magier bewußt, wie groß sich die Veränderung auf Amarra wirklich gestaltete. Thyrian blieb der Sitte entsprechend Pala des Than, doch bedeutete dieser Titel dann nur noch den Posten eines Verwalters. Er hatte keine Privilegien mehr und es stand ihm auch nicht mehr zu, innerhalb des Tempels zu wohnen. Alle anderen Menschen hier bangten um ihr Werk. Der neue Than konnte mit einer einzigen Geste alles umgestalten, sie alle aus seinem Dienst entlassen und neue Gehilfen fordern. Ein neuer Mann brachte immer auch neue Ansichten, neue Forderungen, neue Gewohnheiten. Dem sah man mit Unbehagen entgegen. Abseits des Tempels, im Landesinneren und an den entfernteren Küsten änderte sich wohl nichts. Da gab es ja auch kaum Berührungspunkte. Nach kurzem Zögern begab sich Tibra zu Seymas' Räumen. Rhyanor, einer seiner Leute, vertrat ihm jedoch den Weg und ließ ihn nicht vor. Verlegen bat der Mann um Verständnis. Er hatte seine Anweisungen, an die er sich halten mußte. Tibra bedrängte ihn nicht.
Eigentlich wollte er nun zurück zu Harkym, doch auf dem Weg sah er Gerrys und so zog er es vor, seine Freunde zu begrüßen. Gerrys wirkte bedrückt und Nymardos sehr beunruhigt. "Seymas empfängt mich nicht," gab er zu, Tibras forschendem Blick dabei ausweichend. "Es ist auch ungewöhnlich, immer noch den Namen des neuen Than nicht zu wissen. Ich fürchte, Seymas sucht ihn noch und er hat nicht mehr viel Zeit." "Du meinst das nicht wirklich?" hoffte Tibra. "Ich weiß es nicht," gab Nymardos zu. "So eine Suche gestaltet sich schwierig. Er kann ja nur im Geist forschen. Stell dir vor, da sei ein ganzes Meer von Kerzenflammen und dazwischen leuchtet irgendwo ein Kristall. Diesem Licht muß er sich annähern. Und er kann diesen Geist nicht wirklich berühren, auch nicht, wenn er ihn findet. Er muß warten, bis er von dem stärkeren Geist berührt wird. Und dann kann er nach Amarra rufen." "Er kann diesen Geist also finden," rekapitulierte der Magier etwas verblüfft, "belauern, warten, eigentlich belästigen - solange, bis der sich öffnet." Nymardos nickte. Für einen Magier beschrieb Tibra die Angelegenheit recht plastisch. "Dann wollen wir nur hoffen, daß dieser Geist sich nicht gerade in Sion oder Thara befindet. Wenn er sich erst jetzt öffnet, kann er kaum in zwei Tagen hier sein." "Und wir alle warten, bis er kommt," bestätigte Gerrys. Tibra weilte oft viele Tage auf Amarra. Aber ein langes Warten würde ihm gewiß nicht gefallen, zumal die Stimmung eher angespannt und damit auch belastend blieb.
A
ls Tibra sein Haus spät am Tag wieder aufsuchte, fand er Harkym in einem Sessel. Der Sohn studierte alte Tempelschriften, die man dem Magier auf Amarra stets zur Verfügung stellte. Solches Schriftwerk stellte eine Kostbarkeit dar. Hier war das Wissen der Zeiten, der alten wie der neuen Zeit, verzeichnet; nicht nur priesterliches, sondern auch weltliches und durchaus auch magisches Wissen. Tibra nahm dem Sohn das Pergament aus der Hand. "Gerrys bezichtigt dich zwar der Magie," tadelte er liebevoll, "aber Schriften der Maleeb-Schule solltest du nun wirklich nicht studieren." Harkym lächelte. Er wußte, wie sehr der Vater dieser magischen Richtung verfeindet lebte und wie wenig er deren Zermonien, zu denen auch Menschenopfer gehörten, akzeptierte. "Maleeb war immerhin ein kluger Mann," meinte Harkym leichthin. "Mag sein - seine Jünger jedenfalls sind Narren." Tibra legte die Schrift in eine Truhe. "Ich wollte dich gar nicht so lange allein lassen. Aber ich wurde aufgehalten. Selten finde ich so viele Menschen, die ich schätze, an einem Ort. Ich habe mit Gerrys, Nymardos, Ilkonys, Lyandros und vielen anderen geredet. Sie sind alle sehr unruhig." "Du warst nicht im Tempel?" "Zuerst schon, Söhnchen. Aber Thyrian findet ohnehin keine Ruhe und Seymas ließ mich nicht vor. Ich denke, wir beide sollten uns etwas unterhalten." "Das versuche ich schon seit Tagen," erinnerte ihn Harkym etwas belustigt.
"Ich will über Seymas mit dir reden," gab Tibra zu, sich nahe zu ihm setzend. "Er ist mein Freund, das weißt du. Ich könnte ihn vielleicht bitten, dich noch vor der Lichtgleiche zu empfangen. Ich möchte, daß deine Sache von ihm beendet wird." "Das wolltest du bisher nicht." "Wir wissen doch nicht, wer nach ihm herrscht, Sohn. Die Leute draußen sind mehr als nur besorgt. Ich dachte, es wird sich nichts ändern. Aber alles ändert sich. Der neue Than hat doch keinen Grund, nachsichtig zu sein oder dich zu schonen. Und Seymas hat keinen Grund mehr, hart und unnachgiebig zu sein. Erlaube mir, mit ihm zu reden. Vielleicht kann ich ihn dazu bewegen, deine Weihen nicht anzutasten." "Ich liefere mich Amarra aus, aber gewiß nicht Seymas," erwiderte Harkym mit harter Stimme. "Seymas ist Amarra." "Nur bis übermorgen." "Und das befriedigt dich?" Tibra wurde ärgerlich. "Ein neuer Than bedeutet nicht die Rechtfertigung deiner Ansichten." Harkym griff nach seiner Hand. Der Vater sollte jetzt erfahren, daß genau dies geschah. Doch da öffnete sich die Tür und Lycaron trat ein. Irritiert ließ Harkym Tibras Hand los. Lycaron trug das schwarze Gewand der fünften Ebene. Er verneigte sich tief vor Tibra als dem Pala des Than, sah dabei aber unverwandt zu Harkym. "Ich fürchte, ich störe," begriff er.
"Keineswegs," versicherte Tibra eilig, dem Gast einen Becher füllend. "Euer Kommen hat eine kleine Meinungsverschiedenheit verhindert. Setzt euch zu uns. Ich sehe, ihr habt Raaki gefunden." "Das wußtet ihr nicht, Pala?" entfuhr es Lycaron verblüfft. Harkym lehnte sich still lächelnd zurück und da begriff er, daß Tibras Sohn nichts berichtete und damit auch nichts berichtigte, was man ihm vorhielt. "Mein Leben war nie so erfüllt." "Das ist ganz sicher für Salina eine große Freude," vermutete Tibra. "Die Falla findet in ihrem Bruder jetzt wohl einen noch besseren Helfer." "Sie freut sich," gab Lycaron zu. "Für den Falla ist es eher ein Ärgernis." "Gerrys hat nichts davon erwähnt. Ihr irrt euch sicher." "Hattest du Schwierigkeiten?" wollte Harkym nachdenklich wissen. "Nun ja, der Falla wollte zuerst meine Weihe nicht anerkennen," gab Lycaron heiter zu. "Salina hat sich sehr für Lorynir und mich verwendet. Sie kann recht stur sein." Lange betrachtete er Harkym, ehe er fortfuhr: "Ich hatte keine Gelegenheit, dir zu danken." "Ich habe nichts für dich getan." "Oh doch, das hast du. Du hast mir gezeigt, daß Raaki nicht zu fürchten ist." Tibra spannte sich an. Er ahnte, daß in jener Nacht im schwarzen Tempel wohl doch etwas mehr geschah als nur eine magische Lichtspielerei. Und er war nicht sicher, ob dies geschehen durfte.
"Ein Priester sollte sich nicht unbedingt von einem Feind Amarras belehren lassen." Lycaron und Tibra sprangen auf. Sie saßen beide mit dem Rücken zur Tür und hatten den Lauscher nicht eintreten sehen. Harkym rührte sich nicht. Er beachtete Thyrian nicht einmal, als der gleich nach Lycaron das Haus betrat. Den Vorwurf nahm er allerdings nicht hin, sondern wies ihn von sich: "Ich bin nicht Amarras Feind." "Das wird Amarra entscheiden," erwiderte Thyrian ernst und sie alle wußten, daß er damit den neuen Than meinte. Thyrian betrachtete Harkym abwartend. Er war Pala des Than und ihm stand respektvolle Begrüßung zu. Lycaron kniete schon mit überkreuzten Armen. Harkym stellte seinen Becher auf den Tisch. Er erhob sich nicht, er rutschte einfach nach vorn und begab sich auf die Knie, danach die Arme kreuzend. Aber Thyrian war es zufrieden. Er reichte Tibra beide Hände, drückte sie etwas zu lange. "Ich bedauere, daß ich bisher keine Möglichkeit fand, zu dir zu kommen," gab er zu. "Ich habe derzeit nicht viel Freiraum." Den jungen Männern gab er einen Wink, damit sie sich erheben und wieder Platz nehmen konnten. "Ich hörte, du warst im Tempel." "Nur kurz." Tibra grinste. "Ich war dort nicht sehr willkommen." "Das geht nicht gegen dich," versicherte Thyrian rasch. Er wandte sich an Lycaron: "Deine Schwester bat darum, dir einen Platz in der Halle zu ermöglichen, damit du Zeuge bist, wenn unser neuer Gebieter sein Amt übernimmt."
"Heißt das, daß alles wie geplant abläuft?" forschte Tibra rasch. "Seymas geht davon aus." Lycaron zeigte sich sichtlich bewegt. "Es wäre eine große Ehre, wenn dies möglich sein könnte, Herr." "Ich werde sehen, was ich tun kann." Er sah zu Harkym. "Du wirst dieses Haus nicht verlassen, bis man nach dir verlangt. Das kann einige Tage dauern." Harkym nickte nur, während er sich gelassen zurück lehnte. Thyrian bat Tibra, ihn zu begleiten. Harkym grinste. Wenn er nichts unternahm, würde der Vater erst in der Halle erfahren, auf wen ganz Amarra wartete. Kühl, fast gleichgültig sagte er da: "Ich sollte womöglich andere Gewandung erhalten." "Das denke ich auch," stand Tibra dem Sohn sofort bei. "Er braucht eine andere Tunika, Thyrian. Eine rote." Mit dieser Farbe kleideten sich die Priester Minosantes. Lycaron sah erstaunt auf. "Eine schwarze," berichtigte er, denn nur ein Priester Raakis konnte seiner Ansicht nach alle Furcht vor dem dunklen Gott auch in anderen bezwingen. Thyrian hatte sich schon erhoben. Irritiert sah er zuerst zu Tibra, dann auf Lycaron und endlich zu Harkym. Der lächelte, sacht den Kopf schüttelnd. "Eine weiße," meinte er wie nebenbei.
Sie starrten ihn an, alle drei. Geraume Zeit verging, ehe Thyrian sich leicht über Harkym neigte und verlangte: "Öffne mir deinen Geist." Harkym sah ihn ungerührt an, hielt seinen Geist aber abgeschirmt. Thyrian richtete sich auf, schaute fragend zu Tibra. Der verstand immer noch nicht. Er wußte nur, daß ihm vieles aus dem Leben seines Sohnes entging und daß er ihn verlor, wenn er die jetzt deutlich sichtbare innere Fremdheit nicht überwand. "Laßt uns bitte allein." Er sah keinen der Männer an, als er sie bat, sein Haus zu verlassen. Lycaron ging schon gehorsam zur Tür. Thyrian zögerte. Er verstand, daß Harkym eben behauptete, die höchste Weihe erhalten zu haben und daß Tibra dies erst in diesem Moment erfuhr. Für den Freund mußte dies eine große Enttäuschung sein, war es ihm doch verwehrt, sich mit dem Sohn zu freuen, als dies geschah. "Ich versuche, morgen zum Frühmahl bei dir zu sein," versicherte er Tibra, ehe er ging. Der Magier schloß die Tür mit eigener Hand, lehnte sich mit dem Rücken gegen sie und starrte unverwandt auf den Sohn. Harkym erwiderte seinen Blick, dabei abwartend lächelnd. "Hast du mir gar nichts zu sagen, Junge?" "Nichts, solange du wie ein Richter bei der Tür stehst und mich be- oder verurteilen, aber nicht wirklich anhören willst." Tibra kam langsam neben sich zog.
zu ihm, ließ es zu, daß der Sohn ihn
"Du bist wirklich nicht Minosantes Mann?" "Ich bin natürlich auch Priester der Kraft," wehrte Harkym lächelnd ab. Es war gut, jetzt endlich reden zu dürfen. "Seine Ebene habe ich schon vor über drei Jahren gesehen. Danach fand ich zu Raaki." "Und zu Antares?" "Ich habe es dir in den tardischen Bergen gesagt, Vater, daß dort mein Schicksal entschieden wird. Ich mußte Zorynas finden können, um diesen Weg zu gehen." "Du sagtest dort auch, daß du dich Amarra unterwerfen wirst, sobald noch eine Sache getan sei." "Sie ist getan." Harkym ergriff seine Hände, zog sie an seine Lippen. "Ich war nie bereit, die Freiheit meines Geistes Seymas' Machtansprüchen zu opfern. Ich wollte seine Grenze finden. Alles, was ich Amarra zur kalten Lichtwende gewährte, das war die Ausübung der Macht, in der ich getötet werden kann." "Seymas hat dich aber verschont," erinnerte Tibra langsam. "Er wollte mich töten, Dada. Als er begriff, daß er mich nicht besiegen kann, war er bereit, mich zu töten. Wir fochten einen geistigen Ringkampf und als ich endlich verstand, daß er mich nicht überwinden kann, weil ich stärker bin als er, da erhob ich mich und ging fort. Das ist alles." "Das ist alles?" Tibra starrte ihn an. Er begriff immer noch nicht das volle Ausmaß dessen, das er hörte. Er mußte sich erneut die Stunde vergegenwärtigen, in der sich Harkym anscheinend Seymas unterwarf. Er bedachte, was Gerrys dem Sohn vorhielt und verstand, daß in Raakis Halle keine
Magie geschah, sondern die Kraft des dunklen Gottes sichtbar wurde. Überzeugt wurde er erst durch den Gedanken an die gleichgültige Art, mit der Harkym eine weiße Tunika verlangte. Der Sohn hielt, als Jüngling noch, dem Than vor, Unrecht zu tun und wurde dafür fünf Jahre lang wie ein Ausgestoßener behandelt. Tibra dachte an den Abend in Minas, als Harkym sich betrank und verzweifelt um seine verlorene Jugend weinte. Da wußte er gewiß schon, daß er Seymas überflügelte. Plötzlich holte Tibra aus und versetzte dem Sohn eine schallende Ohrfeige. Noch ehe Harkym reagieren konnte, packte der Vater schon seine Oberarme und schüttelte ihn im Zorn. Dann riß er ihn an sich, schloß ihn in die Arme und barg dessen Kopf an der eigenen Brust. "Weißt du überhaupt, was du Aniela damit antust?" "Mutter ist mächtig stolz," versprach Harkym, sich mühsam vom Vater lösend. "Sie denkt voll Erheiterung daran, daß sich ihr Bruder mir unterwerfen muß." "Du hast es ihr gesagt?" "Aber natürlich, Dada. Ich konnte sie doch nicht in Ungewißheit lassen." Er rieb sich die Wange. "Das war wohl das erste Mal, daß du die Hand gegen eines deiner Kinder erhoben hast." "Ich wollte dich nicht schlagen," murrte Tibra ärgerlich. "Was tust du nur, Harkym? Hast du kein Vertrauen mehr zu mir? Weshalb läßt du mich in Ungewißheit? Weißt du nicht, daß ich Angst um dich habe?" "Ich liebe dich, Dada."
"Und deshalb schließt du mich aus deinem Leben aus?" "Als wir nach der Lichtwende Amarra verließen, konnte ich es dir nicht sagen." Harkym lehnte sich nachdenklich zurück. "Ich wußte, daß ich Seymas überflügelte. Aber das konnte so mancher getan haben. Ich mußte nicht der einzige sein, verstehst du das? Später habe ich oft versucht, mit dir zu reden. Aber Amarra war kein Thema für dich. Du bist mir ausgewichen." "Das klingt, als habe dich diese Erkenntnis belastet und als sei ich dir nicht die Hilfe gewesen, die du brauchtest." "Nein, Dada, so ist es nicht. Ich hatte ein wenig Zeit, um zu erleben, was mir fünf Jahre lang verboten war Familie, Liebe, Wärme, ein Heim, Sorglosigkeit, Spiel, Fülle und Überfluß. Ich habe mich immer danach gesehnt." "Du bist jedenfalls nicht glücklich," stellte Tibra besorgt fest. "Aber du solltest es sein, Harkym, denn jetzt ist jede Verfolgung zu Ende. Du hast nun einen Platz und darin alles, was du begehrst." "Es ist nicht das, was ich mir für mein Leben gewünscht habe," gab Harkym zu. Dann lächelte er wehmütig. "Ich werde es ertragen, bis mich ein Stärkerer erlöst." Tibra ergriff seinen Becher. Er leerte ihn eine Spur zu rasch, wollte nachschenken. Da nahm ihm Harkym den Krug aus der Hand. "Seymas weiß es?" "Ganz gewiß. Wie er auch weiß, daß er mich nicht entdecken darf." "Du wirst mit ihm reden müssen, Söhnchen. Wenn du willst, begleite ich dich."
"Ich habe diesem Mann nichts zu sagen," entfuhr es Harkym. "Ich habe auch nicht erwartet, daß ihr euch aussöhnt," mahnte Tibra nachdrücklich. "Aber er wird dich einiges lehren, dir vieles erklären müssen, nehme ich an." Harkym schmunzelte. "Es ist alles gut, Dada. Man muß eine Aaya nicht lehren, ihr Netz zu spinnen." Nun verglich er sich selbst mit dem hellblauen Tier, dessen Gift die Menschen ängstigte und von dem er einst behauptete, es gezähmt zu haben. Sie redeten sehr lange miteinander. Tibra mußte feststellen, daß er erschreckend wenig aus dem Alltag des Than wußte und somit nicht imstande war, seinen Sohn auf die kommende Zeit vorzubereiten. Er weilte oft hier, doch immer unterbrach Seymas dann alles Tun, widmete sich nur dem Freund und stromerte meist sogar mit ihm durch das Land. Also brachte er die Rede auf Thyrian, wie tröstend anfügend, daß der ohnehin Amarra bisher regierte und ihm sicher bei allem helfen könne. Aber Harkym weigerte sich, jetzt über Seymas oder Thyrian zu reden. Auch Amarra an sich interessierte ihn an diesem Tag nicht. Er tat aber alles, um sein bisheriges Leben nun ganz mit dem Vater zu teilen und ihm alles zu öffnen, das ihn formte und das ihm wichtig war.
D
ie Nebel hoben sich eben erst. Tibra lag schon lange wach. Nicht das geschäftige Treiben draußen störte seinen Schlaf. Ihn bewegten zu viele Gedanken. Harkym erschien ihm viel zu ernsthaft, fast verkrampft. Der Sohn weigerte sich förmlich, in die Zukunft zu denken. Womöglich erschien sie ihm so wenig erstrebenswert wie seine Vergangenheit. Er wußte einfach nicht, wie er ihm helfen konnte. Er dachte über sein eigenes Leben nach. Als Sohn eines Landmannes geboren, erlernte er das Handwerk des Tuchmachers. In Dimira fand er früh eine geliebte Gefährtin, die ihm Shannar gebar, als er selbst in Uhrays Alter war. Frau und Kind verlor er. Einige Jahre hindurch suchte er nach ihnen. Magie bedeutete ihm innere Erfüllung, niemals Handwerk. Seine Magie war nicht zu kaufen. So erarbeitete er sich stets, was er benötigte. Auch er erlebte Zeiten der Verfolgung, die darin gipfelten, durch König Aristons Leute auf dem Marktplatz von Salis zu Tode gepeitscht zu werden. Er errichtete ein Imperium durch Sklavenhandel auf Thara und wurde ein vermögender Mann. Später ernannte man ihn zum Pecha von Minas. Er erhielt Macht. Tibra vertrat durchaus die Ansicht, ein bewegtes Leben zu leben. Aber was immer ihm widerfuhr, er ertrug nichts so duldsam wie Harkym und ließ etwas so ruhig geschehen. Als ihn ein Führer der Maleeb-Schule mit einem vergifteten Dolch verletzte und er durch die Wunde erblindete, kannte auch er Verzweiflung.
Aber er erlaubte sie sich nicht lange, sondern beschloß, damit zu leben. Blind durchwanderte er einen großen Teil Amarras, um Seymas zu suchen. In jener Zeit wurzelte ihre Freundschaft. Damals glaubte er nicht mehr an eine lebenswerte Zukunft für sich. Aber er war Magier und hatte gelernt, Kraft zu rufen, zu lenken und zu beherrschen. Dies konnte immer nur in der Gegenwart geschehen. Tibra richtete sich immer nur auf das Heute aus. Harkym schien jetzt auf eine Zeit zu warten, in der ein anderer, ein Nachfolger sein Amt übernahm. Das konnte nicht richtig sein. Noch nicht einmal der morgige Tag, an dem er sein Amt übernahm, besaß Bedeutung, jedenfalls dann nicht, wenn er im Hinblick darauf den heutigen Tag versäumte. Diesem Gedanken lauschte er noch nach, als er Geräusche im Wohnraum vernahm und sich erhob. Harkym stand am geöffneten Fenster und sah hinaus. Er war bereits eingekleidet, schien schon einige Zeit wach zu sein. "Kannst du auch nicht schlafen?" erkundigte Tibra besorgt. Er trat neben den Sohn und sah mit ihm hinaus. Nie zuvor schaute er auf so viel Hektik im Tempelbereich. "Wann wird Thyrian kommen?" "Willst du endlich mit ihm reden?" hoffte der Magier erfreut. "Er wollte zum Frühmahl hier sein." Harkym schloß das Fenster, da zu viele Blicke sie trafen. "Ich hoffe, es wird bald serviert."
"Du hast Hunger?" vergewisserte sich der Vater mißtrauisch. Der Sohn stieß ihn freundschaftlich vor die Brust, als er zustimmend nickte und erklärte: "Du hast gestern vor dem Frühmahl das Haus verlassen und bist erst spät gekommen. Man bedient den Pala des Than, aber nicht einen Gefangenen Amarras." "Soll das heißen, daß du gestern...?" Harkym grinste. "Das glaube ich einfach nicht. Vor dem Haus sind mindestens vier Leute, die nur darauf warten, daß ich irgend einen Wunsch äußere." "Sie achten aber nur auf dich." Tibra riß die Tür auf. Sofort kamen zwei jüngere Priester gelaufen, um nach seinen Wünschen zu fragen. Fast herrisch verlangte er ein reichhaltiges Frühmahl. Harkym stand hinter der Tür und flüsterte: "Laß frischen Nispen bringen." Also ergänzte der Vater seine Wunschliste. "Und Honig. Und Kuna-Beeren. Und Sajik." Die beiden Priester starrten den Pala des Than völlig entgeistert an, da seine Liste immer länger wurde. Harkym ging in den Nebenraum, als dann drei Männer aus den Küchenhäusern heranschafften, was der Vater verlangte. Er kam zurück, nachdem sie gingen. "Das sieht gut aus," stellte er mit kurzem Blick auf den überladenen Tisch fest. Er griff nach Nispen. Der einzig wirklich süße Same der Reiche schmeckte nur frisch so köstlich; während der Lagerung flachte sein Geschmack schnell ab. Tibra drückte ihn in einen Sessel.
"Iß, Junge," verlangte er. "Denke daran: das alles gehört dir." Harkym brauchte keine Einladung. Er griff schon zu. Tibra aß mit ihm, erstaunt sehend, wie der Sohn den heißen Tee mit Honig süßte. Honig war kostbar und selten. Man gab ihn über Körnerbrei. "Das habe ich Sarai gesehen," erklärte Harkym. "Es verfeinert den Geschmack und läßt sogar Tee sättigend wirken." Er wirkte mit einem Mal sehr heiter, schien wie verändert. Das war kein normales Mal, das er zu sich nahm, sondern eine Auswahl an Luxus. Harkym schien es zu gefallen. Die verführerisch duftenden winzigen Kuna-Beeren legte er sich einzeln fast andächtig auf die Zunge. Die saftigen SajikBeeren warf er etwas in die Höhe, ehe er sie mit dem Mund auffing. Nebenbei griff er nach Körnern und Nüssen, Gemüsescheiben und frischen Blättern. "Die Küche auf Amarra sagt dir also zu, wie ich sehe," grinste Tibra. "Ist das nicht ein guter Anfang?" "Es fehlt der Nußbrei, wie ihn Jimmad zubereitet," stellte Harkym trocken fest. "Nun ja, Jimmad ist kein Priester; den kann ich dir nicht senden. Ein Schreiber soll das Rezept notieren, damit du es deinen Leuten zukommen lassen kannst." Harkym lachte leise. So wichtig war das nicht. Tibra sah ihn liebevoll an. Wenn der Sohn endlich ein wenig scherzte und die Angelegenheit von einer heiteren Seite betrachtete, dann wollte er zufrieden sein. Als Thyrian das Haus betrat, waren sie noch lange nicht gesättigt. Er legte das Bündel, das er mitbrachte, achtlos beiseite.
Harkym warf dem Vater einen mahnenden Blick zu, ehe er niederkniete. "Ich komme wohl zu spät," stellte Thyrian mit Blick auf den Tisch fest. "Es ist genug für uns alle da," behauptete Tibra. "Iß mit uns." Thyrian nickte Harkym zu, dem so erlaubt war, sich wieder zu setzen. Ansonsten aber achtete er nur auf Tibra, dem er ein wenig von dem erzählte, was jetzt so alles geschah. Harkym tat, als ginge ihn das alles nichts an. Er aß schon nicht mehr; er naschte nur noch von all den Leckereien und er schien es zu genießen. "Was hast du mitgebracht?" wollte Tibra im Gedenken an das Bündel wissen. "Eine Tunika für Harkym. Sie hat die richtige Farbe." Thyrian lächelte den jungen Mann an. "Sie ist weiß. Lege sie beiseite, bis dein Gebieter dich ruft, damit du ihm würdig begegnen kannst." "Ganz, wie es der Sitte entspricht," spöttelte Harkym, sich heißen Tee nachgießend. "Genau so," erwiderte Thyrian ernsthaft. "Du hast gute Chance, diese Begegnung zu überleben, da der neue Than nichts wider dich haben kann. Wenn du ihn in falschem Trotz erzürnst, wird dir niemand helfen können. Er kennt ja nur die Sitten und wird an deren Einhaltung die Menschen beurteilen." "Kennt er sie denn?" erkundigte sich Harkym belustigt, plötzlich bereit, sich an dem Gespräch zu beteiligen. "Wer hat ihn denn gelehrt, was auf Amarra richtig ist?"
"Noch niemand, fürchte ich." Thyrian wirkte nicht sehr glücklich. "Seymas sagt, er sei hier. Ich hoffe noch, daß er schnell gefunden wird. Er muß ja zumindest wissen, wie der morgige Tag sich gestaltet." "Er ist hier?" Harkym warf dem Vater einen erheiterten Blick zu. "Dann ist er zu bedauern. Es muß ihm ja Angst werden beim Gedanken daran, hier zu leben. Amarra erwartet keinen Herrn, sondern einen Tyrannen. Zumindest wird der Eindruck erweckt. Die Kinder sind eingesperrt. Man hört kein Lachen. Niemand singt und nirgendwo erklingt Musik. Nodher hat Andraag freudiger begrüßt als Amarra seinen Herrn." "Amarra kennt seinen Herrn noch nicht. Alles Unbekannte verunsichert die Menschen." "Gewiß," gab Harkym zu, "und doch gibt es einen Unterschied zwischen freudiger Hoffnung und furchtsamer Erwartung." "Du meinst also, es sei meine Aufgabe, für eine festliche Stimmung zu sorgen?" forschte Thyrian, der nun weder herablassend noch abweisend reagierte. "Wie lange braucht ihr dafür?" "Zwei Stunden etwa - ich habe gute Leute." Thyrian lächelte. "Dein Vorschlag ist nicht übel." Tibra griff nach etwas Nispen. "Es sind wohl die kleinen Freuden, die größere Einsichten ermöglichen," behauptete er, daran denkend, wie dieses üppige Mahl den Sohn innerlich auftaute. "Es würde mir gefallen, wenn Harkym nicht weiter unter Arrest stünde."
"Es geschieht zu seinem Schutz, " lehnte Thyrian aber ab. "Die Herrscher und Fallas empfinden ihn nach wie vor als Rebellen. Man hat schon die Aufhebung aller Beschränkungen nicht gern zur Kenntnis genommen." "Ich habe nicht die Absicht, dieses Haus heute zu verlassen," versprach Harkym gelassen. "Du wirst tun, was man von dir verlangt." Thyrian erhob sich. "Die Arbeit wartet," erklärte er entschuldigend den kurzen Besuch. Tibra stieß Harkym mit dem Fuß an. Er fürchtete, der Sohn wolle sich auch jetzt nicht entdecken. Aber Harkym griff wie gleichgültig nach der Schale mit den letzten Kuna-Beeren, zerquetschte eine davon zwischen Zunge und Gaumen und schien ganz dem Genuß hingegeben. "Diese Tunika," meinte er dann, sich zurück lehnend, "hat sicherlich die richtige Farbe. Aber es ist der falsche Stoff." Etwas verwundert sah Thyrian ihn an, das eigene Gewand befühlend. "Ich trage dasselbe Tuch, Harkym." Fragend sah Tibra auf den Sohn und als der nicht abwehrte, erklärte er grinsend: "Der Junge denkt mehr an den feinen Stoff, den man hier aus dem Gespinst einer Nachtmotte webt." "Die Kleidung für einen Falla," schmunzelte Thyrian, der nicht verstand. "Es sind noch nicht einmal deine Weihen akzeptiert, Harkym, und womöglich wirst du mindestens eine davon auch wieder verlieren. Ehe man dir einen Tempel übergibt, wirst du dich sehr verändern müssen."
"Es eilt nicht," gab sich Harkym zufrieden. Thyrian wandte sich zum Gehen. "Es hat Zeit - bis morgen früh." Thyrian zuckte zusammen, als habe man ihn geschlagen. Er sah nur Tibra an, der nachdrücklich nickte und somit jeden Irrtum ausschloß. Dann erst richtete er sich auf Harkym aus. Der blieb ihm keinen Beweis schuldig, denn für einen kurzen, für den Vater nicht spürbaren Augenblick, überflutete er den geöffneten Geist des Pala des Than mit seiner eigenen Kraft. Thyrian taumelte ein wenig. Zwischen ihm und Harkym befand sich der mit den Speiseresten beladene Tisch. Hinter ihm stand ein wuchtiger Sessel. Er hatte keinen Raum, weder, um zu knien und noch weniger, um sich nun der Sitte gemäß zu unterwerfen. Er mußte um Tibra herumgehen, tat dies nun auch und huldigte dann Amarras neuem Herrn. Harkym rührte sich nicht. Für Tibra war es unerträglich, den Freund in dieser demütigen Haltung zu sehen. Er wartete, doch voll Unruhe. Der Sohn schien den ersten Augenblick seiner Macht zu genießen. Schließlich ertrug er es nicht mehr. "Du hast dies vor zehn Jahren schon einmal ertragen, Thyrian. Es wird nicht schlimmer sein als damals." Harkym schmunzelte. Tibra nahm dies als Zeichen des gegebenen Einverständnisses. Er hob Thyrian auf die Knie, wo der mit überkreuzten Armen verharrte. Keiner von ihnen hatte es vergessen, auch Harkym nicht. Vor zehn Jahren entschloß er sich, Magier zu werden. Seymas reagierte voll Zorn, wies den Knaben aus Amarra. Und der zog sich nicht auf eine der Gastinseln zurück, sondern lenkte den Katamaran aufs Meer, bereit, Nodher auf direktem Weg zu erreichen. Das mußte unmöglich sein. Vor allem aber kam Sturm auf und riß das kleine Gefährt des Kindes immer weiter hinaus aufs offene Meer. Harkym
wußte nicht, wie viele Tage er dort einsam, dürstend und verzweifelt verharrte. Aber er wußte, daß Thyrian und der Vater mit einigen Gefährten einen Segler nahmen und ihn suchten. Er verdankten ihnen sein Leben. Erst später erfuhr er, wie zornig der Than daraufhin reagierte. Er verübelte ihnen nicht die Rettung des Knaben, wohl aber, daß sie dabei seine ausdrücklichen Befehle mißachteten und ihr eigenes Leben gefährdeten. Seymas entzog ihnen beiden seine Freundschaft. Für Tibra mochte dies ein geringer Verlust sein, da er ohnehin entfernt auf Minas lebte. Aber Thyrian konnte seiner Nähe nicht entkommen. Ein ganzes Jahr hindurch lebte er fast wie ein Sklave des Than, mißachtet, gedemütigt und überlastet. Deutliche Worte des Magiers endeten dies nach einem Jahr und ermöglichten eine Versöhnung. "Du hast zu arbeiten, Thyrian," erinnerte Harkym. "Gegen Abend besprechen wir den morgigen Tag." Thyrian erhob sich wortlos, ging rückwärts zur Tür und entfernte sich dann. Nach weniger als einer Stunde hörte man die ersten Musikanten vor dem Tempel und dann verwandelte sich nach und nach der ganze Bereich in einen Festplatz.
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ibra ließ abräumen. Danach erst wusch er sich Haut und Haar, schabte den Bart und kleidete er sich ein. Er verzichtete dabei auf Bedienung, da er spürte, wie wenig der Sohn jetzt Menschen im Haus haben wollte. Harkym stand am Fenster. Er empfand es als befriedigend, zu sehen, wie rasch seine Vorstellungen umgesetzt wurden. "Du solltest froh sein, einen Mann wie Thyrian in deiner Nähe zu haben," brummte Tibra.
Harkym wandte sich um, sah ihn an. "Er war immer der heimliche König Amarras," wußte er. "Das wird sich nicht ändern, auch wenn ich gewiß mehr Rechenschaft fordere, als Seymas es je tat. Seine Unterwerfung stört dich." "Natürlich tut sie das. Du solltest ihn nicht demütigen, Sohn. Dieser Mann hat sich immer für dich eingesetzt und sich auch, wenn nötig, dabei gegen Seymas gestellt." "Er liebt dich, Dada. Vielleicht ist er der beste Freund, den du je hattest; und dies, obwohl er anfangs nur auf Befehl von Seymas freundlich zu dir war." "Du meinst also, er hat nie dich gemeint in seinem Tun, sondern stets nur mich?" Harkym nickte. "Das mag zutreffen auf die Zeit, als wir dich in Wyla dem Kult der Göttin entrissen. Als du mir später fortgelaufen bist, als kleiner Kerl von fünf Jahren, da hat er sich bestimmt anfangs nur mir zuliebe um dich gekümmert. Erinnerst du dich noch daran?" "Nicht an alle Einzelheiten," gab Harkym zu, der nun zum Tisch kam und sich setzte. "Ich weiß aber noch, daß wir in einem Bett geschlafen haben und er mich lehrte, wie man sich richtig vor dem Than unterwirft." "Sonst weißt du nichts mehr?" "Nur wenig." Harkym überlegte. Da gab es schon noch einige Bilder der Erinnerung. Er mußte sie sich nur erst ins Bewußtsein rufen. "Wir haben zusammen gespielt. Wir besuchten zusammen eine Siedlung, in der es viele Kinder gab. Und wir fanden einen Hügel, auf dem unglaubliche viele Kuna-Beeren im Gras wuchsen. Ich dachte, daß du mich nicht liebst und wollte deshalb bei ihm bleiben." "Du wolltest dich sonst keinem Menschen anvertrauen."
"Nun, er wollte mich ja auch nicht behalten und brachte mich zurück zu dir." Harkym lächelte. "Soweit ich mich entsinne, war ich schon damals sehr anstrengend. Und Thyrian mag keine Kinder." "Dich mochte er," schränkte der Vater ein. "Er wollte dich behalten; eine der vielen Gegebenheiten, bei denen er sich Seymas widersetzte. Er hatte schon das Haus gewählt, in dem er dann leben wollte, denn mit dir zusammen durfte er im Tempel nicht bleiben. Er hat dich nicht verraten, Harkym, damals nicht und auch später niemals. Du sagtest, daß du bei ihm bleiben willst und unter keinen Umständen mehr in meiner Nähe leben. Sehr spät erst hat er dann deinen Geist berührt und verstanden, daß ein so kleiner Junge sein eigenes enttäuschtes Gefühl nicht immer einordnen kann. Er erkannte, daß du dich nach mir sehnst und deshalb brachte er dich zu mir. Es fiel ihm sehr schwer. Glaubst du mir das?" "Aber sicher. Nur wird mich das heute nicht mehr beeinflussen." "Du meinst, das zählt nicht mehr?" "So ist es, Dada. Du kannst es sicher nicht verstehen, doch für mich zählen nur die letzten fünf Jahre meines Lebens." "Und davon ist nichts von Wert für dich übrig," verstand Tibra bekümmert. "Davon ist vieles übrig, auch viel Gutes," widersprach Harkym sehr überlegt. "Aber nichts davon verpflichtet mich einzelnen Menschen. Dir bin ich verpflichtet, Vater. Doch was deine Freunde betrifft, so bitte mich nicht für sie. Gerrys erhebt die rituelle Peitsche wider mich; Ilkonys verurteilt mich zur tödlichen Folter; Seymas raubt mir meine Jugend." Tibra erhob sich, Entsetzen spürend, langsam bei diesen Worten. "Andraag schlug mich, Nymardos bezichtigt
mich der Magie, Bakaar sieht einen Verbrecher in mir." Er ergriff des Vaters Hand und zog ihn neben sich. "Ist es nicht grotesk, daß ich plötzlich Herr sein soll über all diese und jeden anderen Menschen?" "Macht es dir Angst, Junge?" "Das weiß ich noch nicht." "Du weißt nicht, was du fühlst? Es wäre mir lieber, du würdest im Zorn alles niedermähen - meinetwegen auch mich und meine Freunde. Oder voll Begeisterung deine Gäste da draußen begrüßen. Oder wenigstens neugierig dein Land besehen. Wir könnten aufs Tempeldach steigen, Harkym. Der Rundblick dort ist überwältigend." "Du vergißt, daß ich unter Arrest stehe." Tibra packte ärgerlich seine Arme. "Das ist dein Land, Sohn. Niemand wird dir hier sagen, was du zu tun und zu lassen hast. Aber du mußt nehmen, was dir gehört. Laß es nicht einfach geschehen." "Es gehört mir nicht, noch nicht," erwiderte Harkxm da unwirsch. "Dies alles gehört noch einem Mann, den ich aus tiefstem Sein heraus verachte und der mir büßen wird für das, was er mir nahm." "Was hast du mit Seymas vor?" "Ein Than ist unantastbar und niemand darf es wagen, seine Entscheidungen auch nur zu hinterfragen. Was er als Than tat, entzieht sich somit auch meiner Beurteilung." Harkym lächelte auf eine hintergründige Art. "Jeder kleinste Fehler, der ihm ab morgen unterläuft, wird aber Konsequenzen haben. Er wird bald wünschen, mir nie begegnet zu sein."
"Wenn ich dich so reden höre, wünsche ich mir das auch," entfuhr es Tibra da ungewollt. "Du erlaubst sicher, daß ich morgen nicht dabei bin." Das war keine Frage, sondern die Ankündigung einer Flucht. Tibra ertrug es nicht, um die Freunde zu bangen und er ertrug es auch nicht, den Sohn so reden zu hören. Er wollte zur Tür. Mit einem einzigen Satz war Harkym bei ihm, hielt ihn im Haus. "Eine vortreffliche Idee," fuhr er den Vater an. "Nur, daß nicht du es sein wirst, der fern bleibt, sondern ich." Überraschend kraftvoll drückte er den Vater in einen Sessel und dann ging er durch die Tür, noch ehe Tibra auch nur reagieren konnte.
D
er ganze nähere Tempelbereich, fast bis hinab zur Küste und weit ins Land hinein, glich einem sehr gepflegten Park. Inseln der schönsten Blüten, edel gewachsene Bäume, dichtes Gras bestimmten das Bild. Die Häuser bildeten keine Siedlung, sondern lagen verstreut. Jetzt fanden sich hier auch unglaubliche viele gastliche Inseln. Kleine Tische oder auch dichte Decken, beladen mit Obst und Saftkrügen, luden zum Verweilen ein. Musikanten spielten auf - weit verstreut, damit ihre Melodien sich nicht gegenseitig störten. Eine Gruppe kleiner Kinder spielte mit einem großen Ball. Tibra sah sie, sah die vielen Menschen. Nur den Sohn konnte er nicht erblicken und auch die Männer, die eigentlich nur auf seine Befehle warteten, hatten nicht auf Harkyms Weg geachtet. Ungewohnt herrisch ließ er nach Thyrian schicken. Er empfing verwirrte Blicke, die aber in großes Erstaunen umschlugen, als der Pala des Than ungewöhnlich schnell zu ihm eilte.
Tibra berichtete dem Freund mit halblauter Stimme, was geschah. Zwei Priester nahten. Thyrian verbot sich jede Störung. Da hielt man Abstand von ihnen. "Du mußt ihn suchen lassen," drängte Tibra. "Wieviele Leute bekommst du dazu zusammen? Nun tue doch endlich etwas." "Welche Tunika trägt er?" "Wie? Das ist doch jetzt nicht wichtig. Er ist noch als Saakes Priester gekleidet." "Gut, damit fällt er nicht weiter auf." "Gut? Was ist gut daran? Man muß..." Thyrian ergriff ihn beim Unterarm, zog ihn mit sich und tat, als habe er viel Zeit für ein vertrautes Gespräch und einen kleinen Spaziergang. "Beruhige dich, Tibra," bat er. "Was erwartest du denn? Soll ich hundert Männer rufen, damit sie ihren Herrn festsetzen?" Er lachte ganz leise auf. "Oder soll ich einen Rebellen suchen lassen, den man dann auch so behandeln wird. Ich kann natürlich auch - gegen seinen Willen - laut verkünden, wer er ist. Dann übersieht ihn gewiß keiner mehr." "Dann suche ich ihn eben allein," brummte der Magier. "Ich habe ihn verletzt. Ich muß mit ihm reden." "Worüber?" Thyrian blieb ganz ruhig. "Über die Menschen, über die er nun Macht hat oder über sein neues Leben, das er nicht einordnen kann? Du hilfst ihm nicht, Tibra. Du bedrängst ihn." "Ich wünschte, ich könnte ihm helfen."
"Dann gib deine Ansprüche auf," verlangte Thyrian leise. "Harkym ist bisher immer allein gewesen und hat seinen Weg auch allein gefunden. Ich denke, das Wissen um deine Liebe gab ihm Kraft, das durchzustehen. Also sorge dafür, daß er an ihr nie zweifeln muß. Alles andere wird er ohne Beistand schaffen." "Er läuft weg," murmelte Tibra unsicher, der diese Reaktion nicht begriff. "Als man mir sagte, ich sei der neue Than," erinnerte sich Thyrian nachdenklich, "da stand Nymardos hinter mir und gab mir das Gefühl, daß alles seine Richtigkeit hat und er mir bei allem helfen wird. Als Seymas es erfuhr, war ich bei ihm und da lachte er und sagte, dies sei sein größtes Schelmenstück. Als dein Sohn es begriff, wo war er da?" "In einem Ruderboot weit draußen auf dem See." "Nicht unbedingt ein Ort der Geborgenheit und menschlicher Nähe," konstatierte Thyrian trocken. "Was war dann?" "Er betrank sich und weinte um sein verlorenes Leben." Tibra fühlte sich seltsamerweise schuldig bei diesen Worten. "Ich wußte nichts von dem, was wirklich in ihm vorging. Ich erfuhr es erst gestern abend. Thyrian, wir können ihn doch jetzt nicht gehen lassen." "Wir können ihn nicht hindern, wenn er das wirklich will," stellte der Freund richtig. Tibra verstand nicht, wie der Freund jetzt so viel Ruhe ausstrahlen konnte. Und doch ging diese Ruhe auf ihn über. Sie tat ihm gut. Seine Sorge verebbte und auch die Selbstvorwürfe ließen nach.
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arkym floh nicht. Er ging gelassen durch den Garten, gerade so, als gehöre er zu den Gästen Amarras. Niemand beachtete ihn. Er rastete an einem der Lagerplätze, trank ein wenig Sajik-Saft und nahm sich eine Handvoll der fleischigen Beeren mit auf den Weg. Er ging zum Hafen, aber er versuchte nicht, dort einen Segler zu finden. Jetzt, um die Mittagszeit würde kein Schiff Amarra verlassen. Niemand segelte in der Nacht und man brauchte einen ganzen Tag, um nach Nodher zu gelangen. Darüber hinaus gab es für keinen der Schiffseigner einen Grund, ihn überzusetzen. Er trug nicht einmal einen Beutel mit sich. Harkym schlenderte den Sandstrand entlang. Er empfand keinen Zorn. Die Worte des Vaters wußte er durchaus richtig zu deuten. Wo der Sand fruchtbarer Erde wich, standen Häuser. Vor diesen, nahe der Brandung, sah Harkym einen Mann, der zornig auf einen Knaben einredete. Er näherte sich nicht aus Neugier; sein Weg führte einfach an den beiden vorbei, die er nicht einmal beachtete. "Du bringst ihn zurück, sofort," verlangte der Mann, während er dem Knaben eine Ohrfeige gab. "Du bekommst die Prügel deines Lebens, wenn du versagst." Der Junge hatte Tränen in den Augen, die Hände hilflos halb erhoben. Doch er gehorchte. Er streifte die braune Tunika ab, watete ins Meer und begann, zu schwimmen. Erst jetzt blieb Harkym stehen. Er sah weit draußen ein kleines Lugger-
segel. Der Knabe hatte wohl den Katamaran nicht weit genug aufs Land gezogen und der Mann bangte um den Verlust. Harkym sah sich nach ihm um, doch der schien schon zufrieden zu sein, da er zu seinem Haus ging. Der Knabe schwamm mit viel zu hastigen Bewegungen. Das konnte kein wirklich guter Schwimmer sein. Er würde sein Ziel kaum erreichen können. Er vermochte es nicht einmal, die Richtung zu halten und gegen die Strömung anzukommen. Weiter unten lagen drei Katamarane auf dem Sand. Harkym ging hin, schob einen ins Wasser. Er brauchte einen Moment, bis er mit der Führleine wieder vertraut war. Diese Art von Boot benutzte man in anderen Reichen nicht. Es lag zehn Jahre zurück, daß er einen Katamaran lenkte. Dann aber gehorchte das kleine Segel seinem Willen. Er sah zurück. Einige Leute standen nun am Strand, den frechen Dieb beobachtend. Sie waren jetzt nicht wichtig. Harkym lenkte sein Gefährt zu dem schwimmenden Knaben, der schon recht erschöpft wirkte. Der Junge wehrte ab. Er wollte nicht zu dem fremden Mann ins Kanu; er wollte es allein schaffen. "Na gut," rief ihm Harkym zu, "dann halte dich am Ausleger fest. Ich kenne dein Ziel." Der Junge wehrte sich noch etwas, doch die Weite des Meeres ängstigte ihn mehr und mehr. Schließlich klammerte er sich an den Ausleger. Furchtsam sah er zu Harkym auf, der ihm beruhigend zulächelte und so tat, als würde er die Tränen des Knaben nicht bemerken. Nahe des führerlosen Bootes löste sich der Knabe von seinem Begleiter. Das letzte Stückchen schwamm er selbst. Als er dann im Kanu stand und die Führleine ergriff, lächelte er unsicher. Harkym zog an der Führleine, hielt sein Segel hart vor dem Wind. Er würde lange vor dem Knaben wieder an Land sein.
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ibra gab Thyrians Willen, wenn auch nur ungern, nach. Es konnte nur unklug sein, nach Harkym suchen zu lassen. Dessen Wille war jetzt schon Gesetz und mußte geschehen. "Ich habe dich zu lange aufgehalten," entschuldigte sich der Magier. "Gegen wir zurück." "Wir sind doch fast da." Thyrian lächelte auf seine unaufdringlich stille Art. "Wenn jemand Amarra verlassen will, geht er zum Hafen. Das tut er wohl auch dann, wenn er nur mit diesem Gedanken spielt." Der Landungssteg war schon zu sehen, auch der Wald aus kahlen Masten. "Heute geht kein Segler. Also müssen wir nur entscheiden, ob er in Richtung der Gastinseln oder in Richtung der Steilklippe ging. Aber wir können uns natürlich auch vorsichtig erkundigen." Tibra grinste erfreut. Thyrian hatte nie die Absicht, alles geschehen zu lassen. Er handelte, unbemerkt und unaufdringlich. Es war gut, diesen Mann in Harkyms Nähe zu wissen. "Die Gastinseln sind vom Gefolge der Herrscher überfüllt," vermutete er, "und demzufolge auch zu viele aufmerksame Priester dort am Strand. Er nahm sicher den anderen Weg." Thyrian nickte zustimmend. Er ergriff Tibras Unterarm, um ihn am raschen Gehen zu hindern. Sie gingen fast gemächlich weiter. Erst, als Thyrian die aufgeregten Leute am Strand bemerkte, beeilte auch er sich etwas. Harkyms Gefährt schrammte auf den Strand. Ruhig löste er das Segel, ehe er den Katamaran weiter auf den Sand zog. Einer der Männer bezichtigte ihn des Diebstahls. Ein anderer griff vermittelnd ein, da er beobachtete, was geschah.
Die Palas waren fast heran und nun galt ihnen alle Aufmerksamkeit. Harkym sah kurz zum Vater. Dann ging er einfach weiter am Strand entlang und sah nicht mehr zurück. Schließlich lenkte er den Schritt landeinwärts. Hier wuchs Sandgras, eine Schilfart, die über Manneshöhe erreichen konnte. Sie bildete keinen Wald, sondern stand in Gruppen, gleich den Ähren auf den abgeernteten Feldern Sions. Hier lagerte er sich nieder. Es dauerte nicht lange, bis Tibra zu ihm kam. "Verzeihst du mir?" bat er, unschlüssig stehend. "Bei allen Göttern, Junge, ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich schlage dich und rede Dinge, die ich nie denken möchte. Ich liebe dich, Harkym. Du mußt doch wissen, daß sich das nie ändern wird." "Ich weiß es, Dada, und ich habe nie daran gezweifelt." Harkym lächelte voll Freundlichkeit. "Setz dich zu mir." Dieser Aufforderung kam Tibra nur zu gern nach. Harkym lehnte sich gegen ihn, ließ es geschehen, daß der Vater sein Gesicht umfaßte und ihn küßte. "Wo ist Thyrian?" wollte er wissen, nachdem er sich bequemer lagerte und den Kopf in des Vaters Schoß bettete. "Er wartet. Ich bat ihn um Hilfe. Ich wollte, daß er dich suchen läßt. Aber er sagt, das sei deine Entscheidung und wenn du gehen willst, wird dich niemand aufhalten." "Warum auch? Mein Amt ist geistiger Natur; ich kann es überall vollbringen. Rufe ihn." Tibra zögerte kurz. Es würde ihm schwer fallen, die Unterwerfung des Freundes reglos mit anzusehen. Doch er rief nach Thyrian, der rasch kam, die Arme überkreuzte und an Harkyms Seite niederkniete. Harkym betrachtete ihn ohne Scheu
und auch Thyrian wich seinem Blick nicht aus. "Es wäre hilfreich, wenn ihr Rapport mit mir schließen wolltet, Gebieter," erklärte Thyrian mit fester Stimme. "Solange ihr mir euren Willen mitteilt, werde ich stets alles tun, ihn zu verwirklichen." Er spürte Harkyms Zustimmung, warf Tibra einen bittenden Blick zu und richtete sich dann sofort wieder auf seinen Herrn aus. Der Magier verstand und verhielt sich ruhig. Erstaunlich schnell wurde die geistige Verbindung geschaffen, die es beiden Männern erlaubte, sich gegenseitig in einem zwingenden geistigen Ruf zu erreichen. Thyrian würde es nicht wagen, ohne wirkliche Dringlichkeit diese Brücke zu benutzen. "Ist für Lycaron Raum in der Halle?" wollte Harkym wissen. Tibra spannte sich an, was der Sohn lächelnd registrierte. "Schon gut, Dada," sagte er deshalb, "ich werde es durchstehen. Ich will, daß Lycaron dabei ist und auch Uhray muß einen Platz bekommen." "Es wird geschehen," versprach Thyrian, sichtlich erleichtert. "Wo sollen sie stehen?" Er erklärte dann, daß es eine deutliche Rangordnung gab zu dieser Stunde. Je höher das Ansehen, desto näher des Thrones weilten die Gäste. Thyrian schilderte die Amtsübernahme, die vorsah, daß Harkym durch das Tor zum Garten hin die Halle betrat, Seymas dann seinen Thron verließ und ihm entgegen ging. "Seymas wird sich vor euch unterwerfen, Gebieter, und ihr müßt über ihn hinweg zu eurem Thron gehen." "Das wird mir ein besonderes Vergnügen sein," versicherte Harkym grimmig. "Wie geht es weiter?"
"Seymas erhebt sich und verläßt ohne einen Blick zurück die Halle. Er begibt sich an einen Ort eures Willens." "Gut! Dann soll es der Ort sein, der am weitesten von Amarra entfernt liegt." Tibra zuckte zusammen, denn dies traf eigentlich nur auf die Insel der Läuterung zu - einem üblen Eiland, das von allen Reichen als Strafkolonie benutzt wurde. "Der Tempel des Friedens auf Thara wird ihm nicht gefallen," meinte Thyrian gleichmütig. Harkym lächelte, weil diese beiden Männer ihn sehr unterschiedlich einschätzten. Der Vater wußte wohl eher, was ihm gefallen konnte; Thyrian hingegen achtete auf das, was möglich war. "Es soll ihm nicht gefallen," stimmte er darum zu. "Er soll nur dort bleiben und es nicht wagen, diesen Bereich zu verlassen. Wenn er die Halle verlassen hat, wird dann eine Rede von mir erwartet?" "Gewiß, Gebieter." Harkym schob die trotziges Aussehen vielen Menschen zu schen der Macht. Er
Unterlippe etwas vor, was ihm ein sehr verlieh. Er war es nicht gewohnt, vor reden; vor allem nicht vor lauter Mensah Thyrian an.
"Ich werde deine Hilfe brauchen." "Ich habe eine solche Rede vorbereitet," versprach der gelassen. "Wenn ihr gewillt seid, sie zuvor zu lesen, mag das hilfreich sein." "Dein Leben wird sehr unangenehm, wenn du es auf den Knien verbringen willst," sagte Harkym da unvermit-
telt. "Lagere dich bequem, Thyrian. Erzähle mir ausführlich vom morgigen und den kommenden Tagen." Während Thyrian dieser Aufforderung nachkam, tastete Harkym nach der Hand des Vaters, die er mit festem Druck hielt. Er lauschte, unterbrach Thyrian ab und zu mit kurzen Zwischenfragen. Viel später gingen sie zurück. Bei den Katamaranen am Strand blieb Tibra kurz stehen. "Der Junge im wollte er wissen.
Meer,
er
war ein Chela, nicht wahr?"
Harkym schüttelte lächelnd den Kopf. "Ich bleibe nicht hier, um mich laufend in fremde Leitung einzumischen, Dada," erwiderte er im Weitergehen. "Der Knabe wurde von seinem eigenen Vater aufs Meer gezwungen. Ich wurde von meinem Vater von da draußen gerettet." Er schaute Thyrian an. "Und einem Freund," fügte er hinzu. Zurück in des Vaters Haus wollte er dann allein sein. Er gewährte damit Tibra und Thyrian die Möglichkeit, sich von Seymas zu verabschieden und er erwartete auch mit deutlichen Worten, daß sie zu ihm gingen. Tibra grinste. Seymas hatte so keine Gelegenheit, sich abzuweisen.
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hyanor rief sogar Männer herbei, die ihm helfen sollten, den unerwünschten Besuch von Seymas fernzuhalten. Aber Thyrian fuhr ihn herrisch an, verwies ihn in seine Schranken und drang dann bei dem Freund ein. Seymas hörte den Lärm, wollte eben zur Tür. Jetzt stand er ihnen gegenüber, Rhyanor mit einem Wink das Gehen befehlend. Der Priester schloß die Tür.
"Schön, daß ihr endlich kommt," grüßte er. "Genau das wolltest du doch nicht," entfuhr es Tibra verblüfft. "Nicht, solange Harkym sich nicht entdeckte," bestätigte Seymas gelassen, während sie Platz nahmen. "Ich sollte nicht fragen, wie er es aufnimmt. Aber da er mir jeden geistigen Kontakt verweigert, erzählt ihr mir hoffentlich ein wenig." Thyrian warf Tibra einen warnenden Blick zu, doch der Magier ignorierte dies. Wenn Harkym diesen Besuch wollte, dann wußte er auch, daß sein Vater dem Freund in der gewohnten Weise begegnen wollte. Er schilderte Seymas also die vergangenen Wochen und auch jenes, das er über die letzten fünf Jahre im Leben seines Sohnes wußte. Nur von dessen verzweifeltem Weinen, da sprach er nicht. "Es wird sich wohl manches hier verändern," schloß Seymas aus dem Gehörten. Er öffnete eine Truhe, entnahm ihr Gewänder. "Hier, Tibra, du solltest morgen wieder die grüne Farbe tragen. Offiziell habe ich dir ja eine Weihe gesperrt, weil du Harkym zur Flucht verholfen hast. Dieses Handeln ist jetzt gerechtfertigt." "Ich hätte ihm wohl nicht helfen sollen," brummte der Magier. "Vieles wäre dann einfacher gewesen." "Das kannst du nicht wissen," wehrte Seymas ganz ruhig ab. "Vielleicht brauchte er den ganzen Druck, um darin so weit zu erstarken." Er nahm dies alles sehr gleichmütig auf. Auch die Nachricht, künftig in Thara zu leben, mißfiel ihm nicht wirklich. Er hatte wahrhaft Schlimmeres befürchtet. Nachdem er sein eigenes Urteil empfing, ließ er die Freunde bewirten und nutzte diesen letzten gemeinsamen Abend, um die Stunden noch einmal heiter und frei von jedem unguten Gedanken
zu gestalten.
T
hyrian kam früh am Morgen. Er weckte zuerst Tibra, ließ sich von diesem überzeugen, daß Harkym gewiß keine Dienerschaft wollte. Seine Begleitung brachte alles, was sie nun benötigten. Er schickte die Männer fort. Tibra beendete den Schlaf des Sohnes. Er glaubte, er müsse dessen Aufregung dämpfen. Doch Harkym schien viel Zeit zu haben, ließ sich nicht drängen, genoß den kleinen Imbiß, den er vorfand. "Sie können nicht ohne mich anfangen," erinnerte er den Vater, der langsam zur Eile drängte. Er ließ sich einkleiden. Das feine Tuch umschmeichelte den Körper, streichelte die Haut. Der blendend weiße Stoff war durchzogen von glitzend-silbernen Fäden, die eine symbolhafte Stickerei bildeten. Die Gewandung des Than mochte nur eine Kleinigkeit sein; für ihn war sie das erste Versprechen auf eine lebenswerte Zukunft. Daß der Vater wieder wie früher die hellgrüne Tunika trug, gefiel ihm. Harkym griff nach einem Band, um es in sein Haar zu winden. Dann hielt er inne und lachte leise. Jahrelange Gewohnheit ließ sich nicht in einer Stunde ablegen. Aber nun war er ein Mann der Macht und hatte das Recht, sein Haar offen zu tragen. Er würde sich daran wohl leicht gewöhnen. Thyrian und Tibra verließen ihn. Harkym trat zum Fenster seiner Kammer. Von hier aus konnte er das weit geöffnete Tor der Halle sehen. Er wartete, bis es geschlossen wurde. Er wußte, daß nun Seymas die Halle betrat und sich die Menschen zum ersten Mal nicht vor ihm neigten. Er würde eine Rede halten, die Weisheit der Götter loben und Harkym als den derzeit stärksten inkarnierten Geist benennen.
Harkym verließ das Haus. Unzählige Menschen warteten im Garten. Sie knieten beim Anblick seiner Tunika nieder. Er wartete vor dem Tor, das bald darauf geöffnet wurde. Harkym trat ein. Hinter ihm schloß jemand das Tor. Er achtete nicht darauf. Ganz vorn stand Seymas. Sie trugen beide dasselbe Gewand. Aber Seymas würde es spätestens im Hafen ablegen und er trug es, solange die Macht ihm gehörte. Langsam ging Harkym nach vorn. Bei jedem Abschnitt, den er durchquerte, schritt Seymas eine der Stufen hinab. Die Menschen knieten nieder, wenn Harkym auf ihre Höhe kam. So verharrten sie. Er achtete nicht auf sie. Hinter dem Thron sah er Thyrian, was ihn auf seltsame Art stärkte. Dann war er weit vorn. Drei Schritte trennten ihn noch von Seymas. Sie sahen sich an, reglos und unbewegt. Seymas hielt seinen Geist weit geöffnet, aber Harkym tastete nicht nach ihm. Er wartete. Da überkreuzte Seymas die Arme vor der Brust, kniete nieder und unterwarf sich seinem Nachfolger. Für Harkym war dies der Augenblick seines Triumpfes, seines Sieges. Er mußte über Seymas hinweg. Das konnte mit zwei raschen Schritten geschehen. Doch er hatte es nicht eilig damit, genoß für einen weiteren Moment dieses Erleben. Dann, kurz bevor es peinlich wurde, ging er weiter. Er trat Seymas zwischen die Schulterblätter, ins Rückgrat; machte kleine, sehr bewußte Schritte. Und er ging weiter, wie es die Sitte verlangte. Er sah den kleinen Tisch neben dem Thron. Dort lagen jetzt alle Lebenden Kristalle, viele Siegel und manches andere Schutzzeichen Amarras. Nur er konnte diese Gaben verleihen. Er sah auch die faustgroße Doppelpyramide, wegen der Seymas ihn jagen ließ. Er würde sie behalten, denn nun stand sie ihm zu.
Als er sich umwandte und niedersetzte, hatte Seymas das Tor schon erreicht, wo er ins Freie trat. Er würde sich sofort zum Hafen begeben und das dort wartende Schiff benutzen, um nach Thara zu gelangen. Thyrian hatte alles arrangiert. Die Menschen in der Halle erhoben sich wieder. Jetzt lauschten sie seinen Worten. Harkym hielt seine Antrittsrede. Manches Mal stockte er kurz, doch fand er rasch wieder die passenden Worte. Thyrian gab ihm die Themen vor und er nutzte diese Hilfe, ohne sich sklavisch an sie zu halten. Es war noch nicht ausgestanden. Fast die Hälfte der Gäste mußte ihm persönlich vorgestellt werfen. Thyrian nannte die Namen und der so Angesprochene trat nach vorn und unterwarf sich. Harkym ließ es einfach geschehen, verwandte Grußformeln und Floskeln. Doch mehr war jetzt nicht erwartet. Endlich öffnete sich das Tor. Die Menschen strömten ins Freie, wo nun wirklich gefeiert werden sollte. Nachdem sich niemand mehr in dem weiten Raum befand, legte Thyrian kurz die Hand auf Harkyms Schulter. Wie tröstend sagte er: "Alles Folgende wird weniger anstrengend, Gebieter." "Das bezweifle ich." Harkym atmete tief durch. "Ich muß alle Herrscher, jede und jeden Falla einzeln empfangen, mir deren Berichte anhören und beurteilen. Und ich habe nicht die Absicht, dies unvorbereitet zu tun. Es gibt also viel Arbeit, denn ehe ich jemanden anhöre, will ich zuvor alles wissen, was es Gutes und Übles zu berichten gibt." "Dann ist es nicht in drei Tagen getan." "Sicher nicht," gab Harkym zu, sich erhebend. "Die Leitung der Rituale übernehmen bis dahin die Fallas der Reiche."
Thyrian wich einen Schritt zurück. "Das wird von euch erwartet," entfuhr es ihm entgeistert. "Ich habe noch nie ein Ritual geleitet und bisher noch nicht einmal an allen Ritualen teilgenommen," erwiderte Harkym kühl. "Also wird dies warten. Weshalb war Uhray nicht in der Halle?" "Du hast ihn sicher in der Menge übersehen," vermutete Tibra. Harkym schüttelte den Kopf, doch er sagte nichts weiter dazu. Man erwartete ihn draußen.
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ür Dionas war es das wertvollste Geschenk, das er je erhielt, als Uhray ihm seinen Platz in der Halle überließ. Mit vor Begeisterung leichtenden Augen erzählte er dem Freund, was in der Halle geschah. Sie lagerten auf einer Decke. Dionas redete ohne Unterlaß und Uhray, der noch immer nicht wußte, daß sein eigener Bruder die Macht übernahm, lauschte. Die Freude des Freundes gefiel ihm. Sie hofften nur, daß der unerlaubte Tausch nicht bemerkt wurde. Harkym aß ein wenig. Niemand kam ungerufen zum Than; dies galt als festes Gesetz. Man hielt Abstand zu ihm, senkte sogar die Stimme, wenn er in der Nähe vorbei kam. Nur Dionas und Uhray achteten nicht auf ihre Umwelt. Erst, als Dionas den Saum des weißen Gewandes sah und somit wußte, wer nahe bei ihm stand, verstummte er, sich hastig unterwerfend. Uhray sah auf. Und dann sprang er auf die Beine und rannte einfach davon. Tibra folgte ihm. Alle anderen, die den Jüngling, der seinen Herrn nicht ehrte, fassen wollten, hielt Thyrian rasch zurück. Harkym lächelte. Er trat einen knappen Schritt auf Dionas zu, erlaubte ihm so, sich auf die Knie zu erheben.
"Du hast Uhray gut geleitet," lobte Harkym. "Thyrian, ich will, daß sich für diesen Priester ein Werk im Tempel findet." Thyrian neigte zustimmend das Haupt. Harkyms erste Amtshandlung bestand darin, einen übermütigen Jüngling in Dienst zu nehmen. Irgendwie gefiel ihm das.
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ibra hatte Uhray eingeholt, hielt ihn jetzt an den Armen fest und zwang ihn so, seine sinnlose Flucht zu beenden. "Warum läufst du denn weg, Junge?" "Das war Harkym, Vater," rief Uhray aus, als sei damit alles gesagt. "Das war dein Bruder." "Schon, aber er wird böse sein. Ich habe ihm doch gesagt, daß ich nicht bei ihm bleiben will. Und wir haben auch gar nicht auf ihn geachtet. Was wird er mit Dionas tun? Ich muß zu ihm." "Beruhige dich erst einmal." Tibra schmunzelte. "Harkym wollte, daß du in der Halle bist. Das hätte dir diese Überraschung erspart." "Er hat an mich gedacht?" Wie wenig der Bruder ihn vergaß, erlebte er, als Tibra ihn zurück zum Tempel führte. Harkym lagerte bei Dionas und hörte ihm zu, wie er vom vergangenen Jahr berichtete und den gemeinsamen Erlebnissen, die ihn mit Uhray verbanden. Etwas scheu kniete Uhray bei ihnen nieder, aber es dauerte nicht lange, bis auch er offen und freudig redete.
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arkym ließ sich wirklich viel Zeit. Einige Stunden hindurch beriet er sich stets mit Thyrian, ehe er dann einen der Herrscher zum Einzelgespräch empfing. Auf diese Weise war täglich nur ein Empfang möglich. Doch das Warten belastete niemand. Amarra verstand es, seine Gäste zu verwöhnen und aufs Angenehmste zu unterhalten. Die Regel wurde durchbrochen, als am dritten Tag Nodhers Herrscher zu empfangen war. Harkym bestand darauf, dies allein zu tun und er verlangte, zuerst Andraag zu sehen. Dies entsprach nicht der Sitte. Ein Erbe der Macht begleitete bestenfalls seinen Vater; es stand ihm nicht zu, allein und vor allem nicht vor diesem empfangen zu werden. Andraag fühlte sich alles andere als wohl, als er allein durch die Halle schritt und sich dann nahe des Thrones unterwarf. Harkym betrachtete ihn lange und schweigend. "Amarra grüßt Nodhers Erben," sprach er dann den formellen Gruß, der es Andraag erlaubte, sich auf die Knie zu erheben. "Wie geht es Alphena?" Andraag dachte an seinen Verdacht, an den Hieb, den er Harkym gab und das Verbot, wieder zur Burg zu kommen. "Ich bedauere zutiefst, was geschehen ist, Gebieter." Harkym schwieg. Die Stille wurde unerträglich und da beantwortete Andraag die Frage. Er war nicht sicher, ob es dem Than gefallen konnte, wenn er nun hörte, wie nahe er seiner Gemahlin kam und wie sehr er sie liebte. Aber Harkym lächelte nur. Er ging nicht weiter auf das Thema ein. "Krystan wünscht sich sehr, von dir in Dienst genommen zu werden," erklärte er, jeden befehlenden Unterton vermeidend. "Ich bitte dich, die Berechtigung dieses Wunsches wohlwollend zu prüfen. Er soll nicht protegiert sein, aber seine Chance erhalten."
"Ich werde euren Bruder..." "Nein, Andraag," unterbrach ihn Harkym rasch, "daß er mein Bruder ist, hat hierbei keine Bedeutung." "Ihr wollt keine besonderen Vorrechte für ihn, Herr?" "Keine, die du nicht selbst und aus freiem Willen gewähren wirst, weil du mit seinem Dienst zufrieden bist. Jetzt rufe deinen Vater." Andraag erhob sich, wollte schon gehorchen. Dann hielt er inne. Es kostete ihn Überwindung, nun den Blick frei zu heben. "Ihr habt euer Leben für mich gewagt, Herr, als Changanar mich bedrohte. Und ich habe es euch schlecht gedankt. Ich habe mir lange gewünscht, diesen Fehler berichtigen zu können." "Du hast ihn berichtigt," versprach Harkym lächelnd, "als du mir erlaubtest, dir den Gefangenen Zorynas zu entführen. Es steht nichts mehr zwischen uns." Nodhers Erbe vernahm erleichtert diese Worte. Harkym als seinen Gebieter zu finden, verwirrte ihn immer noch. Doch es war vor allem der Mann, mit dem er sich aussöhnen wollte.
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ls Harkym Gerrys empfing und dessen Tempelbericht forderte, wirkte er völlig unnahbar.
"Du bist Raakis erster Falla, Gerrys." Harkym warf Thyrian einen warnenden Blick zu. "Du solltest es vermögen, zwischen der Kraft des dunklen Gottes und magischen Lichtspielen wohl zu unterscheiden. Deinen Tempel leitest du gut, solange nichts geschieht, das den Alltag dort durchbricht." Er erhob sich. "Dein Amt gehört mir, Gerrys, und ich fordere es zurück, wann immer es mir gefällt. Du
magst in Raakis Tempel leben, aber du wirst dort nicht mehr herrschen." Thyrian stieß einen leisen unwilligen Laut aus, trat nach vorn. "Ich fordere das Amt zurück," beharrte Harkym. "Gebieter," mahnte Thyrian erschrocken, "die Falla habt ihr gelobt." "Salina leitet den Tempel mit Weisheit," bestätigte Harkym ungerührt. "Zur rituellen Stunde des dunklen Gottes leite ich das Ritual und berufe Raakis neuen Falla." Er verließ die Halle durch die kleine Seitentür, die in seine Gemächer führte. Während Gerrys erschüttert ins Freie ging, folgte Thyrian seinem Herrn. "Ich schätze deinen Dienst," empfing ihn Harkym gelassen, "doch ich gestatte es dir nicht, mich vor Zeugen auch nur in Ansätzen zu kritisieren." "Ich war verwirrt," gab Thyrian zu. "Als wir diesen Empfang vorbereiteten, deutete nichts auf eine solche Entscheidung hin." "Und jetzt fühlst du dich übergangen." Harkym verstand und lächelte. "Ich wollte Gerrys ursprünglich durchaus in seinem Amt bestätigen." "Sein Bericht war gut. Was mißfiel euch?" "Nichts." Harkym nahm den gefüllten Pokal, den Thyrian ihm reichte. "Es gibt jetzt nur einfach einen besseren Mann. Ein Falla muß den Mut und das Recht haben, seine eigenen Ansichten zu vertreten und das zu tun, was ihm als richtig erscheint. Zu viel Gehorsam kann auch Feigheit sein."
"Und doch ist jede Kritik verboten," murmelte Thyrian, sich abwendend. "Nur vor Zeugen." Harkym füllte einen zweiten AchatPokal, reichte ihn Thyrian. "Ich brauche in vielem deinen Rat und deinen Beistand. Öffne den Rapport, wenn dir etwas mißfällt. Wenn du mich unbemerkt ermahnst, werde ich deinen Rat immer bedenken." Thyrian verstand diese Worte nicht als Zugeständnis, sondern als Zurechtweisung. Hastig leerte er den Pokal, verneigte sich und eilte aus dem Raum. Er würde einige Zeit benötigen, ehe er sich an seinen neuen Herrn gewöhnte. Zu Raakis Stunde leitete Harkym das Ritual. Als es seinen Höhepunkt erreichte, trat er in die exakte Mitte des Pentagramms. Hell flammte der Vorhang aus rotem Licht auf. Spürbar wehte Kraft im Raum. Harkym trat beiseite. Das Licht erlosch. Und dann sprach er: "Lycaron, Raaki verlangt nach dir. Komm, und folge dem Ruf deines Gottes." Mit diesen formellen Worte begann die Berufung eines Falla in sein Amt. Lycaron faßte deren Inhalt nicht; auch nicht, als er vor Harkym kniete und dessen Hände küßte. Erst viel später, als seine Schwester Salina ihn überglücklich umarmte, empfand auch er nichts als Freude.
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ie Nebel hoben sich. Weit entfernt gewann ein kleiner, weißer Segler wieder an Fahrt, um sich seinem Ziel, der Küste Tharas, zu nähern. Seymas stand im Bug, nun in die normale Tunika der Lichtpriester gekleidet. Er lachte, als er die großen Fische sah, die, immer wieder aus dem Wasser schnellend, das Schiff ein Stück des Wegs begleiteten.
Er freute sich auf eine Zukunft fern jeder Pflicht. Er war der Than gewesen. Man konnte ihn nicht in Dienst nehmen. Er würde zwar im Tempelbereich bleiben müssen, doch konnte der nicht in einem Tag durchwandert werden. Dort gab es gewiß viel zu entdecken. Seymas freute sich auf neue Menschen, neue Eindrücke und vor allem auf seine neue Freiheit. Auf Amarra war Harkym zum ersten Mal auf das Dach des Tempels gestiegen. Er nahm alles in sich auf, das sein Auge sah. Dies war sein Land. Weit unten sah er winzig klein die Menschen. Dies war sein Volk. Warmer Wind, vom Meer her, zerrte an seiner Kleidung und verfing sich in seinem Haar. Harkym lächelte still. Der Wind sprach von Weite und Freiheit. Er hatte auch dies gefunden.