Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Karl Heinz Berger Getünchte Gräber
Kriminalroman
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Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Karl Heinz Berger Getünchte Gräber
Kriminalroman
In der gemeinsamen Vergangenheit zweier ehemaliger Freunde, des Lehrers Fritz Krüger und des Schauspielers Paul Schulte, die sich nach zwanzig Jahren während eines Kuraufenthalts wiedertreffen, liegt genug Zündstoff, der eine Gewalttat auslösen könnte. Die Frau Schultes und einstige Freundin Krügers nämlich, derentwegen sie sich seinerzeit entzweiten, kommt auch in den Kurort und weckt in Krüger mehr als nur Erinnerungen. Und so richtet sich natürlich gegen ihn der Verdacht zuerst, als der andere tot aufgefunden wird. Oberleutnant Herbst macht kein Hehl daraus, wie fragwürdig die Position des Lehrers ist, so daß dieser, um sich von dem Verdacht zu befreien, auf eigene Faust Ermittlungen unternimmt. Dabei wird immer lebendiger, was er als längst vergangen abgetan und überwunden glaubte. Aber es ist vor allem Eifersucht, die ihn auf die Spur des Täters bringt.
Karl Heinz Berger
Getünchte Gräber
Verlag Das Neue Berlin
Die Geschichte ist erfunden. Ähnlichkeiten mit Personen und tatsächlichen Begebenheiten wären zufällig.
2. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1980 (1977) Lizenz-Nr.: 409-160/156/80 • LSV 7004 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden 622 316 2 DDR 2,– M
1. Wie er so dastand zwischen den Koffern, hätte ich ihn fast nicht erkannt, so sehr hatte er sich verändert. Er lebte in meiner Erinnerung als ein Mann, dem vom Bier Gesicht und Bauch aufgeschwemmt waren, als einer, der um drei Uhr nachts sagte: Jetzt geht es erst richtig los, Leute – und der dann auch wahr machte, was er mit „richtig losgehen“ meinte, ganz gleich, ob wir bei mir oder bei ihm zu Hause saßen oder in irgendeiner Kneipe. Und doch war ich sofort an diesem Mann interessiert und nicht an den drei anderen, die wie er in der Halle des Sanatoriums „Sonnenblick“ herumstanden, alle Erwartung und ein bißchen Furcht um Mund und Augen und von Krankheit gezeichnet. Vielleicht waren es seine großen Ohren, in denen noch immer – jetzt graue – Haarbüschel wucherten, die in mir die erste Spur von Erinnerung weckten. Mag auch sein, mein Blick war auf seine Hände gefallen, auf ausdrucksvolle, schmale Hände, die damals in groteskem Widerspruch zu der massigen Statur gestanden hatten, jetzt aber ins Erscheinungsbild paßten. Ich ging auf ihn zu, auf den dürren Mann mit der 6
schlaff gewordenen Gesichtshaut, die deutlich verriet, daß sie einmal mehr Fleisch und Fett umspannt hatte, ging auf ihn zu nach einer Sekunde des Zögerns, in der mir ein Wust von Emotionen die Beine schwer machte. „Paul“, sagte ich, und er sah mich aus grauen Augen an, verzog den Mund unter einem melancholisch hängenden Schnurrbart – auch er war neu für mich und wie eigens dazu angeklebt, mich zu verwirren – zu einem freundlichen Grinsen. „Fritz?“ fragte er, und noch einmal: „Fritz!“ Das Grinsen wucherte an seiner Nase empor, löste sich in ein Lächeln auf, und eine Röte der Verlegenheit machte die stumpfgelbe Haut ansehnlicher. „Du hast dich aber verändert, Mann!“ Es war die Stimme, die mich ganz sicher machte: Vor mir stand Paul Schulte. Ich weiß nicht mehr, ob ich ihm die Hand gegeben habe. Jedenfalls gingen wir gemeinsam die Treppe hinauf, nachdem ihm die Frau an der Pforte die Station genannt und ihn angewiesen hatte, sich bei der Schwester zu melden. Wie selbstverständlich trug ich einen seiner beiden Koffer – gelbes Schweinsleder mit den Initialen P. S. –, als ob zwischen uns nicht zwanzig Jahre und einiges mehr stünden. Auf dem ersten Treppenabsatz blieb er plötzlich stehen, preßte schwer atmend die Rechte gegen die Brust und sagte: „Scheiße!“ Ich sah aufmerksam zu – obwohl ich dergleichen schon oft beobachtet hatte –, wie er in der Jackettasche kramte, dann das Fläschchen in der Hand hielt und hastig, aber dennoch kundig die Kappe abschraubte. Er tröpfelte die Flüssigkeit nicht nach ärztlicher Vorschrift auf den Handrücken zwischen Daumen und Zeigefinger, um von dort die winzige Lache aufzulecken; er riß den Mund weit auf, wie ein Trinker, der einem Schluck entgegenfiebert, und saugte das Nitroglyzerinpräparat in sich hinein. Meine Verwunderung nahm er nicht wahr. 7
Nachdem er das Fläschchen abgesetzt hatte, stützte er sich mit den Unterarmen auf das Treppengeländer, hielt den Kopf gesenkt, konzentriert, als würde er Musik hören, und ich wußte sofort: Jetzt hat er das Gefühl, als ob ihm der Kopf anschwillt und die Trommelfelle platzen. Gleichzeitig registrierte ich, wie er ruhiger, tiefer atmete. Und dann, nach vielleicht zwanzig Sekunden, sah er mich mit den Augen eines Tauchers an, der zu lange unter Wasser gewesen ist. „So geht das“, sagte er, wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn, reckte sich, als wollte er mir zeigen, daß nun alles vorüber wäre. Ich nahm ihm den anderen Koffer auch noch ab. Er ging, wie man einem Gepäckträger folgt, hinter mir her zum Schwesternzimmer, wo die stets lächelnde Oberschwester Erna hinterm Schreibtisch thronte, ein denkbar schlechtes Aushängeschild für ein Sanatorium, das sich etwas darauf zugute hielt, seinen Patienten jährlich Tausende Kilo Fett von den leidenden Leibern zu holen. Sie sagte: „Wen haben wir denn da?“ und wußte doch, wer da neu eingetroffen war, denn sie schickte sogleich hinterher: „Sie sind wohl Herr Schulte.“ „Jawohl, Schulte“, sagte Paul, anscheinend immer noch benommen von der Wirkung der Medizin, und er ließ sich, ohne zu fragen, auf den Stuhl neben der Waage sacken. Oberschwester Erna erhob sich sofort, ging um den Schreibtisch herum, und man sah nun erst recht, wie wuchtig sie war. „Schon was genommen?“ fragte sie. Paul Schulte nickte. „Wollen Sie sich hinlegen?“ Paul schüttelte verneinend den Kopf, der noch ohne Halt schien. Die Oberschwester ging wieder hinter ihren Schreibtisch, füllte ein Formular aus, machte Paul Schulte mit 8
den wichtigsten Bestimmungen der Hausordnung bekannt: halb sieben Wecken, halb neun bis neun Frühstück, zwölf bis eins Mittagessen, bis drei Bettruhe und so weiter; Rauchen, Lärmen – auch mit Radios – Trinken selbstverständlich verboten. Paul Schulte aber gab nicht mit einem Lidschlag zu erkennen, daß er aufnahm, was ihm als Dekalog der hiesigen Balneologie vorgetragen wurde, so daß sie schließlich ungeduldig fragte: „Kapiert?“ „Kapiert“, sagte Paul Schulte. Er sah sie aus wäßrigen Augen an, wie ein alter Mann. „Und Sie, Herr Krüger“, sagte Schwester Erna fast fröhlich, als vertraue sie mir eine besonders angenehme Aufgabe an, „führen bitte unseren neuen Patienten auf das Zimmer zwohundertzwanzig.“ Sie schickte Paul Schulte einen ermunternden Blick zu, und der erhob sich wie auf einen Befehl hin. Zimmer zweihundertzwanzig: Das war ein Einzelzimmer. Ich nahm Schwester Ernas Anweisung mit Neid und Unbehagen auf. Schließlich hatte ich selber darauf spekuliert, einmal eines der beiden Einzelzimmer der Station beziehen zu können, schon um Wandreys Anglergesprächen, seinen abendlichen Lyrikvorlesungen und seinem Schnarchen zu entrinnen. Es tröstete mich wenig, als mir Schwester Erna zuflüsterte, er sei ein armes Luder und man könne ihm nicht zumuten, mit einem anderen Patienten in einem Zimmer zu schlafen. Paul Schulte war schon gegangen und hatte mir wieder die Koffer überlassen. Verdrossen trottete ich hinter ihm her, überholte ihn dann, klinkte die Tür zu seinem Zimmer auf, ließ ihn vorausgehen und trat nach ihm ein. Wie damals! ging es mir durch den Kopf, als ich die Koffer absetzte. Genau wie damals! Paul Schulte läßt sich bedienen. Ich vergaß in diesem Moment, daß er jetzt nur noch ein kranker Mann war, so sehr empörte sich alles in mir gegen die Selbstverständlichkeit, mit der er die 9
Welt noch immer als etwas nahm, das geschaffen war, ihm zu Diensten zu sein. Er setzte sich auf das Bett, noch im Mantel, den Hut in den Nacken geschoben, schickte Blicke durchs Zimmer, die spärliche Einrichtung registrierend, und fragte: „Bad oder Dusche?“ Ich antwortete eilfertig wie der Hausdiener in einem Hotel: „Dusche, gleich nebenan.“ Fast hätte ich hinzugesetzt: Ist der Herr zufrieden? Mein Unbehagen drohte in Wut umzuschlagen, für den Bruchteil einer Sekunde überkam mich die Versuchung, an Barbara zu denken. Ich riß mich aber rechtzeitig aus der Erinnerung zurück. Das nicht, sagte ich mir, jetzt nicht auch noch das. Ich entschuldigte mich: Ich müsse zur Massage. Als ich dann auf dem Stuhl hockte, die Tatzen des Masseurs in meine Nackenmuskeln verkrallt, hatte ich erneut meine liebe Not, die Gedanken von Barbara abzulenken; ich redete mir ein: Laß die Tote ruhen – Requiescat in pacem. Und doch hätte ich gern erfahren, was aus ihr geworden war, nachdem Paul sie … Ich schüttelte mich wie nach einem kalten Wasserguß, und Herr Säuerlich, der Masseur, hielt erschrocken inne. „Hab’ ich Ihnen weh getan?“ fragte er. Ich sagte: „Nein“ und fing ein banales Gespräch an, schimpfte darüber, daß es schon den dritten Tag regnete, in dieser Jahreszeit, da doch eigentlich – wollte man den Einheimischen von Bad Wiedehopfen glauben – alles tief verschneit sein müßte, redete nur, um mich von Barbara und allem, was mit ihr zusammenhing, abzulenken. Aber ich kam doch nicht von ihr los, ich hatte sie zum Greifen nah vor mir: das Gesicht mit den hohen Backenknochen, die geschlitzten, schräggestellten Augen, die grün schimmerten, wenn man ganz dicht herankam, die aber auf einige Schritt Distanz grau waren wie Katzenaugen bei trübem Wetter, die kurze Nase, deren Spitze gerade so viel nach oben zeigte, um noch reizvoll und nicht albern zu wirken, der große Mund. Alles war mir 10
fest im Gedächtnis verankert, so als hätte ich Barbara noch vor wenigen Tagen oder Wochen gesehen und nicht vor zwanzig Jahren zum letzten Mal. Ich hätte das Gesicht zeichnen können, auch den Rest von ihr. Die erstaunlich breiten Schultern, die kleinen Brüste, die schmale Taille über ausladenden Hüften, die damals schon gehörig mit Wadenmuskeln bepackten Beine – Frucht des Ballettrainings seit früher Kindheit. Aber ich wollte das Bild nicht zeichnen, wollte es nur von mir wegschieben und schaffte es doch nicht. Seltsam: Paul Schulte, den ich nach all den Jahren nun wiedergesehen hatte, beschäftigte mich kaum. Es war, als sei er nur der Katalysator, um mich wieder an Barbara zu erinnern. Es hatte Jahre gedauert, bis ich nicht mehr an sie dachte, auch noch Jahre meiner Ehe mit Marianne. Und jetzt war sie wieder da. Ich glaubte sogar, das Parfüm zu riechen, das sie bevorzugte und sich von ihren Eltern aus Westberlin schenken ließ – „rêve d’or“. Zum Mittagessen hatte Paul Schulte an unserem Sechsertisch Platz genommen. Er führte bereits eifrige Reden, als ich den weitläufigen Speisesaal betrat. Das hatte er schon immer gekonnt: die Leute sofort in ein Gespräch zu verwickeln. Nur seine Stimme war nicht mehr von der Fülle, die wir alle damals so sehr bewunderten. Der Stimme wegen hatte er auch mitten im Semester um seine Exmatrikulation gebeten, um sich dann an der Schauspielschule zu bewerben. Sie klang jetzt rauh, wie abgenutzt, und müde, war lädiert wie der ganze Mann. Dennoch schien die Lust am Reden sich über alle Hinderlichkeiten hinwegzusetzen. Er dozierte über seinen Herzinfarkt, der so schwer gewesen sei – „Vorderwandinfarkt!“ flocht er ein –, daß die Ärzte für sein Aufkommen keinen Pfifferling gegeben hätten. Es folgte eine ausführliche Beschreibung der Willenskräfte, die er, Paul Schulte, mobilisiert hatte, um wieder auf die Beine zu kommen. „Glauben Sie mir, meine Herren“, sagte er, 11
„die Ärzte sind Trottel, durch die Bank, und wer sich ihnen mit Haut und Haaren anvertraut, hat selber schuld. Ich habe es erfahren, dieses ‚Hilf dir selbst, so hilft dir Gott‘.“ Er sprach, als hätte er eine Versammlung von Kerngesunden vor sich, denen man mit einem Exkurs über eine unbekannte Krankheit das Gruseln beibringen konnte, und nicht vier Männer, die allesamt ihre schlechten Erfahrungen mit verkalkten Koronargefäßen gemacht hatten: den stämmigen Busfahrer Maier aus einer anhaltischen Kleinstadt, den Dr. med. Hammer aus Berlin, einen Mann mit fröhlichem Mopsgesicht, in dem sich selten Nachdenken oder ein Gefühl spiegelten, den dicken Buchhalter Neumann von einer LPG in Mecklenburg, den Berufslyriker Wandrey, der mit seinem langen Haar, den großen, klarblickenden Blauaugen und dem elegischen Dauerlächeln um den Mund auch so aussah, wie man sich einen vorstellt, der Gedichte macht. Unter dieser Gesellschaft von Maladen hätte ich, der ich nur unter einer undifferenzierten Art von Angina pectoris litt (wahrscheinlich auf Nervosität zurückzuführen), nicht mit meinen Erfahrungen aufzutrumpfen gewagt. Aber Paul Schulte war eben von anderem Kaliber. Er mußte sich mitteilen, und dabei so, daß ihm und nur ihm allein die Szene gehörte. Zu seinem Glück erwiesen sich die vier Männer noch als höflich. Sie nahmen den Sermon über einen Herzinfarkt nebst Anleitung, ihn zu überwinden, schweigend hin. Nur Wandrey fragte: „Na und, hat er Ihnen geholfen, der liebe Gott?“ Und er ließ Blicke mit impertinenter Langsamkeit über Paul Schultes graues, faltiges Gesicht wandern. Die Serviererin enthob Paul vorerst einer Antwort, indem sie, freundlich wie immer, Teller vor uns stellte, aber dennoch nicht verhindern konnte, daß über dem falschen Hasen ein allgemeines Aufseufzen um den Tisch lief, das 12
so oder so ähnlich von allen Seiten des Speisesaals zu hören war. „Ja, dann wollen wir uns mal den Bauch so richtig nach Männerart vollschlagen“, sagte Neumann, der am meisten unter der kargen Kost litt. „Da hat wieder einmal der Bäcker über den Fleischer gesiegt.“ „Salz soll bei den Naturvölkern auch heute noch ein wertvolles Tauschmittel sein.“ „Und im Mittelalter hat man wegen Pfeffer sogar Kreuzzüge geführt.“ Das war ein Spiel, das die vier Männer, die ich vor vierzehn Tagen kennengelernt hatte, bei jeder Mahlzeit trieben und stets mit neuen Varianten ausschmückten. Paul Schulte indessen war nicht gesonnen, sich das Gespräch aus der Hand nehmen zu lassen. „Ob Gott mir geholfen hat?“ rief er. „Sehen Sie mich doch an!“ Aber niemand am Tisch sah ihn an. Alle waren damit beschäftigt, die dünne Hackbratenscheibe, drei Kartoffelstücke und eine Handvoll Kohl wie eine ausgewachsene Mahlzeit zu behandeln. Es kam nämlich darauf an, soviel Zeit wie möglich mit dem Essen zu verbringen, um dem Magen die Illusion zu bereiten, bis zur Sättigung gespeist worden zu sein. Dazu gehörte auch, nach dem Fletcher-System zu kauen und zwischen den einzelnen Bissen eine neutrale Unterhaltung zu pflegen. Paul Schulte nahm die Nichtbeachtung dessen, was er kundzutun hatte, als Beleidigung, verfiel, bockig wie ein Kind, dem die Erwachsenen partout nicht zuhören wollen, in Schweigen, aß eilig, wie ich es von ihm kannte, und stand vom Tisch auf, kaum daß er den letzten Bissen im Mund hatte. „Mahlzeit, die Herren“, sagte er, „ich bin für ein Uhr zum Arzt bestellt.“ An mich gewandt, setzte er hinzu: „Wir sehen uns wohl noch am Nachmittag.“ 13
Selbst am Gang war zu erkennen, daß dieser Auftritt so gar nicht zu seiner Zufriedenheit verlaufen war. „Der nimmt aber das Maul voll“, sagte Maier, der Busfahrer. „Ich hatte mal einen Fahrgast …“ Siegfried Maier hatte in seinem Berufsleben viele Fahrgäste gehabt, und immer, wenn es eine Situation zu kommentieren galt, mußte einer von ihnen als Exempel herhalten.
2. Wir sahen uns an diesem Nachmittag nicht. Paul Schulte war gleich nach dem Essen an einen Tropf mit KalziumMagnesium-Asparaginat gehängt worden, weil der Arzt nach der ersten Untersuchung bei ihm einen äußerst jämmerlichen Gesundheitszustand konstatiert hatte. Also machte ich mich nach der Mittagsruhe allein auf den halbstündigen Spaziergang zum „Roten Haus“, trank dort eine Tasse Kaffee, und es gelang mir, eine Viertelstunde lang nicht an Paul Schulte und die Vergangenheit zu denken. Dann jedoch war ich wieder in alles verstrickt, was mit ihm zusammenhing. Ich dachte an das Jahr neunzehnhundertfünfzig, als er aus Westfalen in den Berliner Ostsektor übergesiedelt war, „um die Niederungen der Wissenschaft zu durchwaten“, wie er sich, einen damals beliebten Slogan in sein Gegenteil verkehrend, ausdrückte. Warum er in die, vom Westen so sehr als Land der Unfreiheit und des Mangels verschrieene DDR kam, hatte er mir nie zu meiner Zufriedenheit erklären können. Einmal ließ er durchblicken, er habe „wegen politischer Betätigung“ einen Zusammenstoß mit der britischen Besatzungsmacht hinter sich gebracht, ohne zu erläutern, welcher Art diese „politische Betätigung“ gewesen war. Dann wieder erklärte er, „da drüben“ komme man auf keinen grünen Zweig, wenn 14
man nicht über viel Geld oder Beziehungen verfüge, und beides habe er nicht. Einer dritten Version zufolge war es simpel „die Lust am Abenteuer“, die ihn getrieben hatte, das Land des Räucherschinkens, des Steinhägers und der vollen Kirchen hinter sich zu lassen. Er hatte in Münster das Studium der Theaterwissenschaften begonnen und setzte es in Berlin fort, mit all dem Unernst und der Unlust, mit der die meisten Adepten dieser Schmalspurwissenschaft dem Vorlesungsbetrieb folgten. Sein Geld verdiente er, indem er Schlagertexte für einen Westberliner Schnulzier verfaßte, und weil die Beschäftigung in Westmark entlohnt wurde – damals nannte man diese Währung noch, wenigstens offiziell, „Spaltermark“ –, war er uns allen in pekuniären Belangen weit überlegen. So konnte er hin und wieder den Gönner spielen und manchen Abend sozusagen aus der Westentasche bestreiten. Das imponierte nicht nur Barbara, damals gerade achtzehn und Tanzelevin, der man allgemein eine Karriere als Ballerina voraussagte. Auch ich ließ mich von der generösen und stets heiter-lauten Art Paul Schultes einnehmen, wenn ich auch seine immer wieder durchbrechende Arroganz, mit der er andere für sich einspannte, zeitweise zum Kotzen fand. Zwanzig Jahre, dachte ich, als ich mir die Tasse zum zweiten Mal vollgoß, oder waren es nicht doch einundzwanzig Jahre, seit wir uns zum letzten Mal gesehen hatten? Oder nur neunzehn? Ich war mit meinen fünfundvierzig Jahren bereits in dem Stadium, in dem man sich mit Mühe von einem Datum zum anderen hangelt. Also, neunundvierzig hatte ich zu studieren angefangen, fünfzig Barbara kennengelernt und im selben Jahr noch, einige Monate später, Paul Schulte. Im Januar dreiundfünfzig, als man mir den Blinddarm herausnahm, wohnte Barbara schon nicht mehr bei mir. Das wußte ich genau, weil ich mich deutlich des beschissenen Gefühls erinnerte, als ich aus dem Hospital in meine leere Bude, 15
dieses schwer heizbare Atelier, zurückgekommen war, schlapp und trostbedürftig, und niemanden vorfand, der mir mit Zuspruch auf die Beine hätte helfen können. Einen Monat zuvor hatte sie ihren Koffer gepackt – es muß die Woche vor Weihnachten gewesen sein – und den Gipsabguß der Plastik „Ausruhende Tänzerin“, zu der sie Modell gestanden hatte, in ein Tuch geschlagen. Also Dezember zweiundfünfzig. Und jetzt war Dezember zweiundsiebzig. Genau zwanzig Jahre. Zufrieden mit meinen Rechenoperationen, lehnte ich mich zurück und schickte ihnen noch, gleichsam beschwörend, den Gedanken hinterher: Und zwei Jahre später habe ich Marianne kennengelernt, bei der Geburtstagsparty von Wilfred, kurz nach dem Staatsexamen geheiratet. Siebenundfünfzig ist Susanne geboren … Ich wäre lieber mit meinen Erinnerungen allein geblieben, als Wandreys Gesellschaft zu ertragen. Den nämlich sah ich, als ich hochblickte, quer durchs Lokal segeln. Es machte in der Tat den Eindruck, als segelte er, weil er die Füße beim Gehen kaum hob. Er kam zielstrebig auf den Tisch zu, an dem ich saß, und in seinem Kielwasser (um im Bild zu bleiben) kreuzte oder vielmehr stampfte der dicke Dr. Hammer. Wandrey mußte mir angesehen haben, daß ich lieber allein geblieben wäre, denn er fragte: „Wir stören wohl?“, ließ sich aber dennoch mit Selbstverständlichkeit und stöhnend von der Anstrengung des Wegs auf den Stuhl zu meiner Linken nieder, während er mit einladender Gebärde Dr. Hammer auf einen der beiden noch freien Plätze dirigierte. Ohne Überleitung legte er dann los: Mein Freund, die Großschnauze, mache die Pferde scheu, hänge am Tropf, schimpfe, tobe, er müsse ’raus aus dem Puff. „Wieso: mein Freund?“ fragte ich, und ich wußte nicht, warum mir diese Bezeichnung nicht recht behagte. 16
Wandrey wischte meinen Einwurf mit einer knappen Geste beiseite. Schultes Frau erwarte ihn im Hotel „Stadtmitte“. Seine Frau? Ich setzte die Tasse ab. Doch nicht Barbara! Hatten sie geheiratet, und wenn ja: War Paul Schulte der Mann, über eine so lange Zeit verheiratet zu bleiben? Ich zog am Rollkragen meines Pullovers, der mir plötzlich zu eng schien. „Dabei muß er sich ganz schön in acht nehmen mit dem Aufregen.“ Dr. Hammers Stimme wurde gewichtig, wie immer, wenn er etwas aus den Geheimfächern der Medizin zum besten gab. „Ich habe mit Flegel gesprochen. Herzaneurysma!“ Dr. Flegel war der Oberarzt des Sanatoriums. Was „Herzaneurysma“ war, wußte ich nicht. Dr. Hammer schien das auch gar nicht vorauszusetzen, denn er erläuterte: „Stellen Sie sich einen Ballon vor, und eine Stelle an diesem Ballon ist so dünn, daß sie sich unter dem Innendruck nach außen beult. Wenn man den Druck nun erhöht … Klar?“ Das war mir klar. Aber sollte wirklich Barbara Schultes Frau sein? „Geht es Ihnen nicht gut?“ fragte Wandrey. „Am besten: nicht bewegen, tief durchatmen. Wird schon vorübergehen.“ Und schon fuhr er fort: Richtiggehend widerborstig habe sich mein Freund aufgeführt und den Stationsarzt Klein angebrüllt, man solle ihn sofort von dem Scheißtropf losmachen. Es hielt mich nicht mehr auf dem Stuhl, nicht mehr im „Roten Haus“, ich mußte zum Sanatorium, mußte Paul Schulte fragen. Ich stand auf, entschuldigte mich knapp – „Ich brauche Luft“ – und ging auf den Ausgang zu. Im Rücken, als ich mich zwischen den Tischen mit kuchenessenden Damen und trinkenden Männern hindurchwand, spürte ich Wandreys und Hammers Blicke voller Besorgnis. Das Sanatorium war wie ausgestorben, auf Treppen 17
und Gängen begegnete ich niemandem – alles absolvierte die vorgeschriebenen Spazierkilometer, trank Brunnenwasser oder saß in einer der Dutzend Kneipen des Ortes bei Bier, Schnaps, Kaffee oder Tartar. Nur ein einsamer, schmächtiger Mann mühte sich im Korridor der ersten Etage, sein Pensum auf dem Ergometer abzuschwitzen. Der Schlüssel zum Zimmer zweihundertzwanzig steckte im Schloß. Das Zimmer war leer, das Bett nicht wieder gemacht worden und das Gestell mit der leeren Tropfflasche hatte man noch nicht weggeräumt. Paul Schulte war ausgeflogen. Vielleicht ins Hotel „Stadtmitte“, zu seiner Frau? Etwas hielt mich noch im Zimmer, hinderte mich daran, sofort ins Hotel zu gehen. Ich fragte mich: Warum eigentlich willst du hinter ihm herlaufen? Und wußte doch: Ich würde es tun. Das Hotel „Stadtmitte“ führte seinen Namen aus zweierlei Gründen zu Unrecht: Es gab keine Stadt, in deren Mitte es hätte liegen können, nur einen Ort von vielleicht fünftausend Einwohnern, der wegen zweier mineralhaltiger Quellen zum „Bad“ und „Kurort“ befördert worden war, und es lag ziemlich peripher, jetzt jedenfalls, da nach Norden noch ein Dutzend Sanatorien entstanden waren. Das Gebäude war häßlich und alt, brüchig dazu, ein Umstand, der es als einzige Herberge am Ort vor der Nutzung durch die Sozialversicherung bewahrt hatte. So stieg denn hier ab, wer von den Angehörigen der Kurgäste die Zeit der Trennung nicht aushielt und sie durch kürzere oder längere Besuche abzukürzen trachtete. Dementsprechend gab es außer einer größeren, der Allgemeinheit zugänglichen Restauration einen kleineren Nebenraum, über dessen Tür ein Schild verkündete: Nur für Hotelgäste. Diesen Raum betrat ich und sah sie sofort. Sie rührte in ihrer Kaffeetasse. Auf den ersten Blick war sie mir 18
vertraut. Ich dachte: Wie sich doch nichts ändert am Wesen eines Menschen, am wenigsten die Art, wie er unbewußte Bewegungen ausführt. Als sie in die Richtung sah, in der ich stand, steif und wahrscheinlich mit ziemlich törichtem Gesicht, nickte sie mir zu, als hätten wir uns gestern erst voneinander verabschiedet, und mit der Linken – auch das kannte ich – vollführte sie einen Fingertanz. Paul schien also schon von mir gesprochen zu haben. Nur schwer bekam ich die Beine vom Boden los, und als ich dann doch vorwärts ging, tat ich es mit durchgedrückten Knien. Paul Schulte, der mit dem Rücken zu mir saß, drehte sich nach mir um. „Er kommt ja schon“, hörte ich ihn sagen, während ich im Gehen unverwandt Barbara anstarrte, ihr breitflächiges Gesicht mit den schräggestellten Augen, dem großen, zyklamfarbenen Mund. Da stand ich ihr nun gegenüber. Sie streckte mir quer über den Tisch die Linke entgegen, den Handteller nach oben gekehrt, und zog sich an meiner Hand hoch, beugte sich vor und gab mir einen Kuß auf die Wange. Ich dachte: Auch das hat sie sich nicht abgewöhnt, die Leute zur Begrüßung zu küssen! Als sie sich wieder auf ihren Stuhl hatte fallen lassen und mich aus grünen Augen eher prüfend denn freundlich ansah, fiel es mir auf: Sie war alt geworden. Aber nicht das störte mich – schließlich gingen zwanzig Jahre nicht ohne Spuren an einem vorüber, und wenn ich an meine Halbglatze denke und an die Tränensäcke, habe ich, bei Gott, keinen Grund, mir über das Altern anderer das Maul zu zerreißen. Daß sie jedoch mit Vehemenz ihr Altern zu kaschieren suchte, ließ mich erschrecken. Vor mir saß eine Frau, die wie dreißig aussehen wollte und dadurch älter wirkte als ihre vierzig. Die falschen überlangen Wimpern, der um einige Grade zu dunkle Lidschatten, der am Augenrand durch einen dicken schwar19
zen Strich begrenzt wurde, der angesteckte glanzlos braune Zopf, den sie sich nach vorn über die Schultern geworfen hatte, die Starre, die das a la pastos aufgetragene Make-up ihren Zügen verlieh, so daß man befürchten mußte, bei der geringsten Veränderung der Mimik könnten sich Risse im Firnis bilden, ließen mich an Hoffmanns Olympia denken. Ich erwartete, sie würde abgehackt wie ein Uhrwerk schnarren, wenn sie den Mund auftäte. Aber ihre Stimme klang voll, ein wenig tiefer als früher, und sie half mir dann auch, den Schock, den mir das erste genauere Ansehen bereitet hatte, zu überwinden. „Schön, dich zu sehen“, sagte Barbara. Ich glaubte mich wieder in der Atelierwohnung, Schönstraße siebenunddreißig, unterm Dach. Ich schloß die Augen, hörte nicht auf das, was sie sagte, nur auf den Klang der Stimme. Eigentlich, erinnerte ich mich, hatte sie zwei Stimmen, eine ruhige, schöne, weittragende, eine herzliche Stimme und eine affektierte, die sie mit Sicherheit benutzte, wenn sie etwas vortrug, von dem sie meinte, es sei wichtig, oder wenn sie log. Ich badete mich in dem Klang, der auf mich einströmte, hörte nur einzelne Wörter heraus: „So lange nicht … kaum verändert …, ausgerechnet hier …“ Erst als mir Paul Schultes Ellbogen in die Rippen fuhr und sein „Du träumst wohl!“ jäh den Faden der Sentimentalität abschnitt, riß ich die Augen auf. „Du freust dich wohl gar nicht?“ Barbara sah mich mit hochgezogenen Brauen an. Ich fühlte, wie mir das Blut zu Kopf stieg, als wäre ich bei etwas Unrechtem ertappt worden. „Ihr habt also doch geheiratet“, sagte ich ohne Übergang und fast gegen meinen Willen. „Sie mich.“ Paul Schulte hielt eine Zigarre zwischen den Lippen und blinzelte durch den Rauch zu Barbara 20
hinüber, und in den beiden Wörtern lag der Stolz des Mannes, der einmal begehrenswert war, wie der Groll darüber, daß man ihn an die Kette gelegt hatte. „Aber du hast es doch nicht bereut, Dicker? Oder?“ Es klang grotesk, wenn sie den abgeklapperten Mann, der da mit hängenden Schultern und faltiger Haut neben mir saß und an seiner Zigarre nuckelte, noch immer „Dicker“ nannte. „Und im übrigen: Ich suche mir meine Männer immer aus, nicht wahr?“ Das galt mir, und ich wußte sofort, worauf sie anspielte: Sie hatte auch mich „ausgesucht“, damals auf dem Medizinerball, nachdem sie ein wild beklatschtes Bolero-Solo getanzt hatte. Sie war auf mich zugegangen, hatte gesagt: „Sie gefallen mir“, und zwei Stunden später saß sie auf meinem wackligen Bett in dem kalten Atelier. Ich sagte: „Da kann ich nicht widersprechen.“ Aber ich konnte auch nicht die Bemerkung zurückhalten: „Und du wirfst deine Männer weg, wie du willst.“ Sie lachte fast lautlos, mit weitoffenem Mund. „Denkst du noch immer daran?“ „Ich bin verheiratet“, antwortete ich verärgert. „Meine Älteste wird demnächst fünfzehn.“ „Und Schulmeister, nehme ich an.“ Barbaras Stimme war ohne Spott. „Lehrer für Deutsch, Englisch, Kunsterziehung“, sagte ich nüchterner, als ich wollte. „How wonderful!“ Barbara zog wieder die Brauen hoch. „Siehst du, Dicker, so was Solides ist aus dir nie geworden.“ Das klang noch liebenswürdig neckend. Dann aber brach plötzlich aus ihr eine Fontäne von Ressentiments, und Paul Schulte ließ den Platzregen von Vorwürfen über sich ergehen, ganz ohne Widerspruch, wie etwas, das man gewohnt ist und von dem man weiß: Es wird vorübergehen, ohne Schaden anzurichten. Ich hörte Wörter wie „Versager“, „Kleinkunstmacher“, „Provinz-Heini“. Das Ganze kann nicht länger als zwei, drei 21
Minuten gedauert haben, während ich reglos am Tisch saß und zum Fenster hinausstierte. Zu meiner Erleichterung trat die Serviererin an den Tisch. Jetzt könnte ich einen großen Korn vertragen, am liebsten hätte ich sto Gramm bestellt und es auch getan, wenn das nicht ein Kurort gewesen wäre, in dem man unter dem Gebot absoluter Alkoholabstinenz stand. „Mir auch einen“, sagte Barbara, „und für meinen Mann eine Selters mit Geschmack.“ Sie sah mich forschend an, vielleicht auch ein bißchen belustigt. „Nicht wahr, da bist du ganz schön erschrocken.“ Sie lachte affektiert, und ich dachte: Jetzt bringt sie etwas heraus, das sie für wichtig hält, oder sie lügt. Aber nichts dergleichen folgte. Vielmehr streckte sie einen Arm über den Tisch und faßte Paul Schulte an die Nase, sagte: „Entschuldige“, und Paul Schulte grinste verlegen, so als ob ihm beim besten Willen nichts einfiele, was einer Entschuldigung bedürfe. Er knurrte: „Schon gut.“ Ich kam nicht umhin, mir Gedanken darüber zu machen, warum sein Verhalten Barbara gegenüber in einem mir unerklärlichen Widerspruch zu seinem sonstigen Auftreten stand, das ich von früher her kannte und das er noch einige Stunden zuvor im Speisesaal und anscheinend auch dem Stationsarzt gegenüber ausgestellt hatte. Jetzt bemerkte ich keine Selbstsicherheit, kein „Hoppla, hier bin ich!“, nur stumme Ergebung in eine Rolle und anscheinend viel Eifer, diese Rolle zu Barbaras Zufriedenheit auszufüllen. „Deutsch und Englisch also“, sagte Barbara unvermittelt und zog ihre Hand von Paul Schulte ab. „Und Kunsterziehung“, ergänzte ich mit Eifer, als ob etwas daran gelegen wäre. „Natürlich. Hast du nicht schon damals mit Farben hantiert?“ Damit war für sie das Thema erledigt. „Und eine halbreife Tochter hast du auch?“ 22
„Und noch zwei Töchter und einen Sohn. Felix. Der ist gerade drei geworden.“ Der Stolz, mit dem ich sonst diese Auskunft über meinen Kindersegen gab, wollte mir angesichts der staunenden Augen Barbaras nicht so recht glücken. „Also vier“, stellte sie fest. Ich wußte nicht, ob das anerkennend gemeint war. „Und wir haben es nicht mal zu einem gebracht, vor lauter Kunst.“ Ihre Stimme schien sich wieder dem Punkt zu nähern, an dem sie vor wenigen Minuten in die bösartige Tirade ausgebrochen war. Aber sie sagte nur: „Sei nicht traurig, Dicker. Das war auch eine Art Leben.“ Sie sagte es, als spräche sie von etwas längst und endgültig Vergangenem. „Schließlich haben wir auch unsere schönen Tage gehabt. Oder nicht?“ Paul Schulte nickte, als habe er sich damit abgefunden, daß die schönen Tage hinter ihm lagen. Mir gefiel nicht, wie sie mit ihm umging und wie er es einfach hinnahm. Ich dachte: Vielleicht hatte die Krankheit alle Kraft aus ihm gesogen – und was ich am Mittagstisch erlebt hatte, war nur noch eine Pflichtübung gewesen, weil er nicht von der Gewohnheit loskam, das Wort zu führen. Er tat mir leid, und ich wollte ihm etwas Aufmunterndes sagen, aber mir fiel nichts anderes ein als ein Wirtinnenvers, den wir einmal in der Morgendämmerung nach durchzechter Nacht gemeinsam fabriziert hatten: „Frau Wirtin blickte mild versonnen auf all die Zeit, die ihr verronnen …“ Er sprang nicht an, erinnerte sich wahrscheinlich nicht mehr der Situation, in der das Kunstwerk entstanden war. Er sagte nur: „Ja, so geht das“ und sah auf die Uhr. Statt seiner ergänzte Barbara:
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„Im Geist sah sie die Schwänze der Esel, die sie je genoß, wand daraus Trauerkränze. Ja, Fritz, das sind Bildungserlebnisse, die man nicht vergißt“, sagte sie, als sie merkte, daß mir unbehaglich wurde. „Wenn ich daran denke: Achtzehn, neunzehn war ich, aus sozusagen gutem Hause, mit Abitur, und hatte das Wort Onanie noch nicht gehört … Und dann kamt ihr, erst du mit deinen schwindsüchtigen Idealen vom neuen, vom ganz anderen Leben, die wir miteinander teilten wie unsere Lebensmittelzuteilung, dann Paul, der Mann, der die Welt kannte und genau darüber im Bilde war, wie man sie aus den Angeln hebt. Mein Gott, wenn ich damals gewußt hätte, was ich heute weiß!“ Sie sah Paul und mich abwechselnd an, hatte dabei ganz leicht die Nase gerümpft. So mustert man Pferde oder Exoten, dachte ich, und darüber befiel mich jäh der Zorn. Ich stand auf, so plötzlich, daß mein Stuhl hintenüberkippte und auf den Boden polterte, nahm der Kellnerin, die in diesem Moment erschien, ein Glas vom Tablett, stürzte die scharfe Flüssigkeit mit einer Drehung des Handgelenks hinunter, hob den Stuhl auf und sagte: „Paul, bezahl für mich mit.“ Dann ging ich aus dem Raum, ohne Barbara noch einmal anzusehen.
3. Auf der Straße schalt ich mich einen Narren, weil ich mich zu solcher Unbeherrschtheit hatte hinreißen lassen, blieb aber zugleich nicht ohne Befriedigung darüber, Barbara gezeigt zu haben, daß ich kein Paul Schulte war. In meiner Erregung bemerkte ich erst jetzt, daß 24
die Temperatur gesunken war und erste große Schneeflocken durch die Luft tanzten. Ich blieb stehen, kehrte das Gesicht zum Himmel, fühlte mit Befriedigung, wie die leichten Kristalle auf der Haut zergingen, und wurde ruhiger. Mir war, als fiele mit jedem Schritt, den ich mich von den beiden entfernte, ein Stück von der Last ab, die mich seit dem Morgen bedrückte. Denn eine Belastung war es doch, so unvermutet in die Vergangenheit zurückgerissen zu werden, auch wenn ich es mir nicht hatte eingestehen wollen. Vergangenheit, sagte ich mir, ist nur angenehm, wenn man sich in sie zurückträumt; steht sie plötzlich direkt vor einem, kann sie zum Alptraum werden. Nun war ich von dem Alp befreit, glaubte ich. Ich ging schneller in Richtung des Sanatoriums, das mir mit seinen erleuchteten Fenstern in der rasch einfallenden Dämmerung wie ein Zuhause vorkam, selbst mit der Eintönigkeit seiner linoleumbelegten Korridore und Zimmer und der Ideenlosigkeit, mit der man die Aufenthaltsräume für die Dauerskater und die strickenden Rheumatikerinnen (Stricken gehörte für sie zum therapeutischen Programm) eingerichtet hatte. Als ich die Treppe zum Vestibül nahm, beschloß ich, die knappe Stunde, die mir bis zum Abendessen blieb, mit einem Brief an Marianne auszufüllen, kam indes nicht dazu, den Kugelschreiber auch nur anzusetzen, da mein Zimmergenosse Wandrey schlechter Laune war, weil er keinen sinnvollen Reim auf „Rotorfe“ fand. Ich versuchte, sein seelisches Tief aufzufüllen, hatte aber nur den Erfolg zu verzeichnen, daß er auf seine seltsame Art übermütig wurde: Er spann sich wieder einmal in den Traum, wie schön es sein würde, wenn sein Sohn David groß genug wäre, eine Angel zu halten und gemeinsam mit ihm auf Stipp zu gehen. So scheiterte denn mein Vorhaben an der Ungunst der Umstände, und als es auf sechs zuging, wetteten wir, 25
wie es uns seit einer Woche zur Gewohnheit geworden war, ob heute der Quark auf der Abendbrotplatte links oder rechts von den zwei Scheiben Diätwurst läge. Er tippte auf links, gewann, und ich hatte fünfzig Pfennig zu zahlen. Paul Schulte trat erst gegen halb sieben heftig schnaufend, wie nach einem eilig zurückgelegten Weg, an den Tisch, als wir schon das uns Zugeteilte verspeist hatten und uns am Stockrosentee gütlich taten. Mißmutig hielt er sich eine der beiden Wurstscheiben unter die Nase, schnupperte, kostete, verzog das Gesicht, stocherte im nüchternen Quark herum und ließ die Gabel mit einer wenig freundlichen Bemerkung fallen. Da schien er also wieder auferstanden, der alte Paul Schulte: souverän, gänzlich unbekümmert um Gewohnheiten und stets auf dem Sprung, nach dem eigenen Gusto zu leben. Hätte ich ihn nicht am Nachmittag ganz anders erlebt, mir wäre die Unsicherheit, mit der er seine Rolle darbot, kaum aufgefallen, die fahrige Bewegung zum Beispiel nicht, mit der er sich wie ein todmüder Mensch über die Augen strich, und nicht der Anflug von ängstlicher Spannung, die unter der scheinbar lapidaren Bemerkung lag, die er an mich richtete, als die anderen mit dem üblichen „Mahlzeit!“ vom Tisch gegangen waren: „Mußtest du denn unser Beisammensein so auffliegen lassen? Was hat dir Barbara getan?“ Ich sagte: „Nichts“ und war überzeugt, mich ginge die Sache nichts mehr an. „Aber ich habe keine Lust, meine Existenz aus heiterem Himmel in Frage stellen zu lassen.“ „Aber das wollte sie doch nicht.“ Das klang fast beschwörend. „Du weißt doch, wie sie ist.“ „Ich weiß es nicht mehr.“ Ich gab mich überlegen. „Ich bin inzwischen auch zwanzig Jahre älter geworden, habe mein Leben gelebt, nicht eures. Und da schert es mich wenig, ob sie sich freundlich an unsere 26
gemeinsame Vergangenheit erinnert oder nicht.“ Ich hörte mir beim Reden zu, fand, ich sei in guter Form und nur auf diese Art könne man redlicherweise und ohne Gesichtsverlust dem unvermuteten Anprall von Sentiments begegnen. „Ich kenne eure Probleme nicht, ihr nicht meine. Ich glaube, ich will sie auch gar nicht kennenlernen, nach allem …“ Ich hielt die Stimme in der Schwebe. Paul Schulte zuckte die Achseln. „Wenn du meinst.“ Und nach einigen Sekunden des Schweigens, während er an den Haaren seines linken Ohrs zupfte, sagte er, nun echte Aufsässigkeit in der Stimme: „Mann, Fritz, du bist so verdammt selbstsicher. Dir ist wohl nie im Leben etwas danebengeraten?“ „Nicht mehr, seit Barbara damals mit dir – oder du mit ihr – davongegangen ist. Seitdem ist bei mir alles nach Plan verlaufen. Gott sei Dank.“ „Du bist ein Glückspilz, Fritz.“ Paul Schulte stützte sich an der Tischkante hoch, als wöge er noch zwei Zentner. „Ich meine nur, du kannst von Glück reden, daß dir nicht mehr im Leben danebengegangen ist als eine – na, sagen wir – Jugendliebe.“ Er strich sich den Schnurrbart und stakte davon, noch ehe ich etwas entgegnen konnte. Ich ging zum Rapport bei der Nachtschwester, einer stillen Schwarzhaarigen mit dem passenden Namen Maria. Dieser Abendbericht war eine der peinlich genau zu beachtenden Pflichten des Patienten, bei dem er anzugeben hatte, wie viele Kilometer von ihm am Tag zurückgelegt worden waren. Ich sagte ihr eine Phantasieroute an und überlegte noch, ob ich einem Kinobesuch dem Brief an Marianne den Vorzug geben sollte, als ich von der Pforte her meinen Namen rufen hörte. Ich wurde am Telefon verlangt. Das wird Marianne sein, dachte ich. Plötzliche Telefonanrufe erzeugen in mir stets ein flaues Gefühl. Stand es schlechter um Felix? Beim letz27
ten Telefonat hatte Marianne berichtet, daß er fiebere. Ich lief zu der Kabine hinüber. „Hallo“, sagte ich ein wenig verzagt und hörte zu meiner Erleichterung Barbaras Stimme. „Hast du Lust, mir die Zeit zu vertreiben?“ Ich atmete tief. „Ach, du bist es.“ „Hattest du jemand anderes erwartet?“ „Nein, eigentlich … Oder vielleicht doch …“ Ich wartete darauf, daß sie etwas sagte. Doch sie schwieg. „Hast du denn überhaupt Lust?“ Das war eine mehr als dumme Frage, und prompt erhielt ich auch die Quittung: Würde sie sonst anrufen? Und überhaupt sei ich ein Stiesel, einfach so davonzugehen, nur weil einer eine Meinung hatte, die mir nicht paßte. Ich ließ die Tirade an meinem Ohr vorüberrauschen und überlegte: Soll ich oder soll ich nicht ihrer Einladung Folge leisten? Dabei sah ich auf die Uhr, es war Viertel vor sieben. In drei Stunden war „Einschluß“, wie Wandrey den Termin nannte, zu dem wir im Haus zu sein hatten. Und ich dachte an den Brief, den ich schreiben wollte, und an das miese Wetter, sagte dann aber doch zu, als Barbara eine Pause machte.
4. Sie stand unter dem gläsernen Vordach des Hotels „Stadtmitte“, von zwei trüben Wandleuchten auf das vorteilhafteste in Szene gesetzt: in einem enganliegenden schwarzen Pelzjäckchen von Hüftlänge, aus dessen Ausschnitt ein weißes Jabot quoll, in grünen Hosen mit weitem Schlag; die hohen Sohlen ließen sie größer erscheinen, als sie war. Sie kam mir entgegen wie auf Stelzen, und das verlieh ihr eine hilflose Grazie. Wortlos 28
führte sie mich zu einem dunkelroten Fiat, der am Bordstein geparkt war. Noch ehe ich eine Frage stellen oder „guten Abend“ sagen konnte, machte sie sich am Schloß der linken Tür zu schaffen und drückte mir dann den gegenüberliegenden Schlag auf. „Ich dachte, wir fahren ein bißchen durch die Gegend“, sagte sie, während sie die Kothurne gegen ein Paar normale Schuhe austauschte und mich von unten her ansah. Ich war verwirrt, fühlte mich überrumpelt, wie ich so dasaß, mit angezogenen Knien und auf die schneeverklebte Scheibe vor mir starrte. „In zehn Minuten sind wir in der Kreisstadt, da kenne ich ein gutes Restaurant, wirklich ganz exquisit.“ Ich wollte ihr erklären, daß es den Kurgästen verboten sei, sich über die Ortsgrenze von Bad Wiedehopfen zu begeben, und daß ich um Viertel vor zehn wieder im Sanatorium sein müsse. Sie kam meinem Einwand zuvor, versprach, mich rechtzeitig vor meinem „Knast“ abzusetzen, streifte sich löchrige Autofahrerhandschuhe über und hantierte am Armaturenbrett und an der Gangschaltung. Sie war mit offensichtlichem Vergnügen am Werk, blickte, ehe sie anfuhr, mehrere Male zu mir hinüber, als wollte sie sagen: Schau nur, das ist meine Welt, hier fühle ich mich zu Hause. Laut sagte sie: „Du hast wohl kein Auto?“, und in der Frage lag schon die impertinente Gewißheit, ich würde verneinen. Sie wartete meine Antwort denn auch nicht ab, ergänzte vielmehr in einem Atem: „Paul will von Autos nicht mehr viel wissen, seit er krank ist. Nach Wiedehopfen wollte er die Eisenbahn benutzen. Ich mußte ihm lange zureden, ehe er sich von mir hierherfahren ließ. Er hat sich seit dem Infarkt überhaupt verändert, im Wesen, meine ich. Er ist müde geworden und vor Müdigkeit nachsichtiger, aber auch unbeweglicher, ist neuen Vorstellungen überhaupt nicht mehr zugänglich. Das forsche Gebaren manchmal ist nur Tünche, nichts als Tünche.“ 29
Damit fuhr sie los, fuhr zügig und sicher, nicht zu schnell und überließ es mir, darüber nachzudenken, was Paul Schultes Weigerung, sich von ihr nach Wiedehopfen fahren zu lassen, mit der von Barbara behaupteten Wesensänderung zu tun haben könnte. War er schon deshalb in ihren Augen ein Versager, ein Trottel, ein Sonderling? „Weißt du, irgendwie gehört das zum Leben, irgendwie“, sagte sie, ohne einen Blick von der Straße zu wenden, die hinter den schwenkenden Scheibenwischern wie ein weißes Band unter den Scheinwerfern lag, „daß man mobil ist.“ „Irgendwie schon“, erwiderte ich, „aber Mobilität beschränkt sich nicht darauf, so schnell wie möglich von einem Ort zum anderen zu kommen.“ Ich weiß nicht, warum ich mich vor ihrer Feststellung in die Aggressivität rettete. Vielleicht hing das mit meiner Abneigung gegenüber den Leuten zusammen, die ihr Selbstbewußtsein durch vier Räder unterm Arsch aufmöbeln. „Es gibt auch eine Mobilität des Geistes, die hat mit Ortsveränderung nichts zu tun. Kant, heißt es, ist nie aus Königsberg ’rausgekommen.“ „Damals gab es ja auch noch keine Autos.“ Die Antwort entwaffnete mich. Ich verkniff mir das Lachen, schaute statt dessen, fast versöhnt, zu, wie Barbara, weit in den Sitz zurückgelehnt und das Steuerrad nur lose haltend, die Strecke zur Kreisstadt meisterte, als wäre sie ihr bekannt wie der Weg von ihrer Wohnung zum Lebensmittelgeschäft. In zehn Minuten, wie versprochen, hielt der Wagen vor der hellbeleuchteten Fassade eines Restaurants, das sich durch Neonschrift schlicht als „Zum Letzten Ausspann“ auswies und in mir sofort Reminiszenzen an Rollwagen und Postkutschen hochspülte. „Darf ich dich zu einem Abendessen einladen?“ fragte sie, als sie mit neuerlichem Schuhwechsel beschäftigt war. „Natürlich nur, wenn dein Gewissen das zuläßt.“ 30
Mein Gewissen war nicht im Spiel; einer, der sich zwei Wochen treu an die karge Gesundheitskost des Sanatoriums gehalten hat, wird in so einem Fall nicht vom Gewissen gesteuert. Das Lokal verbarg hinter seiner schlichten Fassade gediegenen, auf antik gequälten Komfort. „So etwas einzurichten ist ganz schön teuer. Für die Petroleumampel da muß man tief in die Tasche greifen. Und das Bord mit dem Delfter Porzellan – mein Gott, wo findet man noch ein halbes Dutzend Teller aus derselben Serie.“ Barbara redete wie eine professionelle Antiquitätenhändlerin und hatte dabei den gierigen Ausdruck in den Augen, der von Damen der höheren Einkommensklasse Besitz ergreift, wenn sie etwas entdecken, das ihre Hellerau-Wohnzimmer ein bißchen weniger fade aussehen lassen könnte. Mir stand nicht der Sinn nach Konversation über die Schönheit alter Klamotten, die ich in den Pausen im Lehrerzimmer schon oft genug über mich habe ergehen lassen müssen. Aber Barbara sah sich noch immer interessiert um. „Sieh mal das Schränkchen“, sagte sie und wies auf ein zerbrechlich aussehendes Stück Möbel, das neben der Theke an der Wand stand, offensichtlich zu keinem anderen Zweck, als ein paar Zinnteller und Krüge auszustellen. „Das Ding ist Imitation, nicht einmal gute.“ „Du mit deinem sicheren Blick solltest dich bei Christies anstellen lassen.“ Mir war es zu dumm, mitten im Lokal herumzustehen und die Einrichtung zu begaffen. „Offensichtlich verstehst du nichts davon“, sagte sie und ließ mich merken, daß ihr mein spöttischer Ton ganz und gar nicht gefiel. Wir setzten uns, von einem Kellner dirigiert, in eine Nische, die durch ein schmiedeeisernes Gitter vom Nachbarabteil getrennt war, bestellten – Barbara ein Menü mit drei Gängen, ich ein halbes Brathähnchen (mein Wachtraum seit Tagen), dazu eine Flasche Portugieser 31
von der Unstrut – und saßen schweigend. Auch Barbara, schien mir, war befangen, obwohl doch die Einladung von ihr ausgegangen war. Hatte sie eine Art Versöhnungsessen im Sinn gehabt und fand nun nicht den Einstieg in das Gespräch? Ich sah keine Veranlassung, als erster das Wort zu nehmen, also wartete ich, lächelte, wenn sich unsere Blicke trafen, hüstelte ein paarmal, machte überhaupt den Eindruck eines Freiers, der nicht weiß, wie er seine Absichten deutlich machen soll. Schließlich, beim dritten Löffel Suppe, sagte sie unvermittelt: „Damit du keinen falschen Eindruck bekommst – ich liebe meinen Mann noch immer und trotz allem.“ Und sie schickte einen schnellen, von den langen falschen Wimpern sicherlich erheblich behinderten Blick zu mir hinüber, beteuerte, als sie mein erstauntes Gesicht sah: „Wirklich, Fritz.“ Das klang affektiert, hörte sich an wie „Würklech, Frütz“. Den Tonfall kannte ich, er machte mich hellhörig und ließ mich an eine Szene denken: Es ist kalt in dem Atelier, in dem wir beide hausen, der alte gußeiserne Ofen schafft es nicht, in dem großen Raum eine auch nur einigermaßen erträgliche Temperatur zu verbreiten. Also liegen wir am hellen Mittag auf der improvisierten Couch eng beieinander, ich skandiere im „Oberon“ herum, weil ich ein völlig nutzloses Referat über „Die freie Behandlung der Stanze durch Christoph Martin Wieland“ vorzubereiten habe. Barbara schläft. Als sie wach wird, sehe ich, vom Buch aufblickend, Tränen in ihren Augen. „Wenn ich nur wüßte, was Paul jetzt macht“, sagt sie, vom Schlaf noch benommen, und die Tränen rinnen ihr über die Wangen. Erschrocken rücke ich ein Stück von ihr ab, fasse sie an den Schultern, frage: „Was ist denn in dich gefahren?“ oder ähnlich Konfuses. Doch sie bleibt stumm, minutenlang, während die Tränen versiegen. Schließlich sagt sie: „Ach, das war nur ein dummer Traum.“ Drei Tage später finde ich beim Nachhause32
kommen einen Zettel auf den Kleiderhaken gespießt: „Bin zu Paul gezogen, für immer. Sei mir bitte, bitte nicht böse.“ So einfach war das für sie. Ich fuhr mir mit der Hand über die Augen. „Was ist mit dir?“ fragte Barbara. Sie hatte inzwischen wohl ihre Rede fortgesetzt und sah mich forschend an. „Ach, das war nur ein dummer Traum.“ Die Wörter kamen mir gegen meinen Willen in den Mund, und ich lächelte verlegen. „Sprich weiter, ich höre zu.“ Doch trotz meiner Versicherung begaben sich meine Gedanken wieder auf Wanderschaft, diesmal nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft. Ich spürte einen leichten Druck in der Magengrube, als ich dachte: Sie wird doch nicht nach all den Jahren eine Rückkehr einleiten wollen? Und wenn: Was könnte sie dazu bewegen? Stellte sie denn nicht in Rechnung, daß ich verheiratet war? Hastig trank ich einen Schluck vom Portugieser, nickte freundlich und zerstreut zu ihr hinüber. Sie löffelte ihre Suppe, tupfte sich mit der Serviette den Mund ab und hinterließ einen zyklamroten Fleck auf dem Tuch. Den halbvollen Teller schob sie von sich. „Also, du solltest keinen falschen Eindruck von unserem Verhältnis haben, wegen heute nachmittag“, sagte sie. „Wir bellen uns nämlich manchmal so an, Paul und ich.“ „Hast du mich aus dem Bau gelockt und mich hierher entführt, um mir das zu sagen?“ Anscheinend erwiesen sich meine Befürchtungen als Hirngespinste. Je deutlicher mir das wurde, desto lockerer fühlte ich mich. Der Druck vom Magen wich, gerade rechtzeitig: Das halbe Hähnchen wurde gebracht. „Nicht nur deshalb. Als ich heute nachmittag von Paul erfuhr, du bist auch in diesem Nest, ist mir allerlei ein33
gefallen, ich war plötzlich zwanzig Jahre jünger, war wieder die Tanzelevin Barbara Küttner, hatte wieder den Kopf voller Illusionen und im Ohr Pauls Gerede von Karriere, die wir beide, er und ich, machen würden, er als Schauspieler, ich als Ballerina. Du warst ein Trauerkloß, verglichen mit Paul, weißt du das? Mit Solidität, mit ständigem Pochen darauf, man dürfe nicht auffallen, nicht mehr zu scheinen versuchen, als man ist, es komme allein auf die Leistung an und darauf, was einer wirklich aus sich macht pipapo – damit kann man kein Mädchen halten. Mich jedenfalls konntest du damit nicht halten.“ Ich protestierte gelassen, eine Keule vom Hähnchen in der Hand, erklärte, soviel ich wüßte, sei ich trotz allem ein fideles Haus gewesen und keinem Spaß und keinem Glas aus dem Weg gegangen. Sie winkte ab, sagte: „Du warst schon auf dem besten Weg, einer von den Scheißintellektuellen zu werden, die einem das Leben aus dem Hut erklären können, die Marx zitieren und den heiligen Paulus, möglichst in einem Atem, eine Prise Freud drangeben, auch ein Körnchen Sartre – der war damals gerade in Mode. Klar, so was imponiert anfangs einem jungen Ding.“ Sie war jetzt über ihrem Steak, zerdrückte die Kräuterbutter auf der kroß gebratenen Oberfläche. „Aber nicht allzulange. Ich weiß, du hast es nicht gemerkt, wie du mir nach spätestens einem Jahr auf die Nerven gegangen bist mit deinen Exkursen.“ Ich legte das Hähnchenbein demonstrativ auf den Teller, aber sie gönnte meiner angedeuteten Empörung keinen Blick. „Ich kann mir vorstellen, daß du hinter mir her geflucht hast, als ich weggegangen bin: diese treulose Ziege! Ziege war doch damals dein Lieblingswort.“ „Und ist es auch geblieben für bestimmte Frauen. Und außerdem habe ich dir nachgeweint.“ 34
„Meinetwegen auch nachgeweint, Tränen in dem guten Gefühl, daß dir bitteres Unrecht zugefügt worden sei. Vielleicht habe ich dir sogar unrecht getan. Aber du hast mich nie so genommen, wie ich war und sein wollte. Immer sollte ich etwas tun, was du wolltest. Lesen vor allen Dingen, irgendein Buch. Immer sollte ich lesen, lesen …“ „Ohne Bücher geht der Mensch vor die Hunde.“ Das war die Überzeugung, mit der ich aufgewachsen war und die sich im Lauf der Jahre zu einem Credo verfestigt hatte. „Ich ziehe ein. Gespräch allemal einem Buch vor, allemal – meine Bücher sind die Menschen.“ Sie hatte so etwas wie das Sendungsbewußtsein eines Sektenpredigers in der Stimme, der seine Absurditäten mit Emphase aufzumöbeln versucht, und sie warf mir, in dem Bewußtsein, einen Merksatz geprägt zu haben, einen langen Blick zu. Ich konnte mich nicht enthalten zu erwidern: „Dafür, daß du von Büchern nichts hältst, hast du aber immer bravourös mitgeredet, wenn über sie gesprochen wurde. Erinnerst du dich noch, als der ‚Faustus‘ von Thomas Mann bei uns erste Furore machte? Da hast du …“ „Du warst ein Schulmeister und bist einer geblieben. Ein richtiger Scheißintellektueller.“ Sie rammte die Gabel in das Steak und führte das Messer mit solcher Vehemenz, daß Pommes frites über den Tellerrand rutschten. Sie fing sich aber sofort wieder, und als sie den Bissen zum Mund führte und mein betroffenes Gesicht sah, entschuldigte sie sich sogar, wenn auch halbherzig: Man habe sich eben nicht immer in der Gewalt, zumal nicht in Situationen, in denen sich die Vergangenheit in den Vordergrund dränge. Ich merkte: Sie wollte um jeden Preis Mißstimmung vermeiden, und das war mir nur recht. Also wechselte ich das Thema, sprach davon, daß ich erfahren hätte, wie krank Paul Schulte sei, deutete 35
auch an, was ich durch Dr. Hammer erfahren hatte, verzichtete aber auf den recht groben Vergleich mit dem Luftballon und seiner zu dünnen Stelle, weil er möglicherweise Gefühle verletzen konnte, lenkte vielmehr vom Körperlichen ab auf das mir unverfänglicher erscheinende Seelische. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie er sich verändert hat.“ Es kam mir vor, als habe sie auf das Stichwort gewartet, um sich einiges vom Herzen zu reden. „Jahrelang konnte ihn nichts von den Beinen holen, keine Enttäuschung, kein Mißerfolg, kein Rückschlag. Er fühlte sich sauwohl in seiner Mittelmäßigkeit. Seine Träume, sich einmal an den hauptstädtischen Bühnen auszutoben, haben sich nicht erfüllt; aber er tat so, als sei er der herausragende Schauspieler. Er hielt sich für den Mittelpunkt der Mimerei im ganzen Land, auch wenn er an Klitschen der Kategorie C spielte – bis zur Kategorie B hat er es übrigens nur gebracht. Wie oft habe ich von ihm die abgedroschene Wahrheit gehört, es sei besser in der Provinz Cäsar zu sein als in Rom der Zweite.“ Barbara hatte das Besteck niedergelegt, das Essen anscheinend vergessen. „Das war der alte Paul Schulte: Wo der war, da war die Welt. Als ich einmal über Weihnachten wegen eines Gallenanfalls ins Krankenhaus mußte und ihn trösten wollte, weil es mir leid tat, daß er den Heiligen Abend allein verbringen sollte, hat er mir gesagt: ‚Weihnachten ist schön, wo ich bin!‘ Und er fand auch immer genügend Leute, die er mit seinem unverschämten Selbstbewußtsein einwickeln konnte – oder ‚faszinieren‘, wie er sich ausdrückte.“ Barbara redete sich in eine Art Rage, die so gar nicht zu dem „Ich liebe meinen Mann noch immer“ passen wollte und die mich in Verlegenheit brachte, wie ich mich überhaupt unwohl und gehemmt fühle, wenn ein Ehepartner den anderen durch Sottisen zu charakterisieren versucht. Dann höre ich meistens weg, verstehe 36
dadurch nur die Hälfte (und auch die nur ungefähr), so daß ich hinterher nie recht weiß, wie weit mein Partner in seinen Ausfällen gegangen ist, und also ein schlechter Zeuge bin, wenn es einmal zum Schwur kommen sollte. Diesmal aber blieb ich trotz des unguten Gefühls, das einen befällt, wenn über jemanden geredet wird, der eigene Argumente und Ansichten nicht zusteuern kann, aufmerksam. Vielleicht, weil ich eine späte Genugtuung – eine allzu späte – darin fand, den Mann von der Frau gezeichnet zu sehen, die mich um seinetwillen verlassen hatte, auch wenn ich von derselben Frau zehn Minuten zuvor in ähnlich rüder Weise traktiert worden war. Über Barbaras Bericht vergaß ich. Zeit und Umstände, so eindringlich machte sie mir klar, als welch eine Misere sie ihr Leben mit Paul Schulte empfand. Man hatte sich gegenseitig immer nur per Vorstellungskraft einiges Gewicht beigemessen, hatte nie zu den erstrebten Höhen gelangen können. Paul müßte seine Energie und sein schauspielerisches Talent stets daransetzen, über die Widrigkeiten eines Mimenlebens in Provinzstädten hinwegzukommen, und Barbara (man hatte ihr einmal Talent bescheinigt, und von Paul Schulte war ihr eine glänzende Karriere in Aussicht gestellt worden) war so auf ihn eingestellt, daß auch ihr nichts blieb als die kleinen Bühnen mit vielleicht zwei Ballettabenden im Jahr und die Lückenbüßertänze in zusammengeschusterten Opernaufführungen neben Statistenverpflichtungen oder Minirollen im Schauspiel. „Mit dreiunddreißig war bei mir Sense, nach einer Meniskusoperation“, sagte sie, und der Jargon paßte haargenau in die brüchige Stimmung, die sie mit ihrem Exkurs in die Vergangenheit vermittelte. „Ich bin dann auf Ansagerin und Rezitatorin umgestiegen. Tingeleien mit Modenschauen vor der kleinstädtischen Damenwelt: ‚Und dieses jugendlich-fesche Modell, meine Damen, aus Mischgarn mit Kunstseide aus dem Werk Roter 37
Dingsda …‘ Hin und wieder, wenn mal eine Tournee einen von diesen unmöglichen Showsternen durch die Stadt führte, bot ich die gefühlvoll-heitere Conférence: ‚Liebe, das wissen wir alle, ist ein seltsames Gefühl in der Herz- und Magengrube, von dem schon der Dichter gesungen hat: Im wunderschönen Monat Mai blablabla‘; dann auch mal Gedichtaufsagen, Zimmering und Kuba zum Tag der Republik oder bei Jugendweihen, auf bunten Betriebsabenden oder DFD-Nachmittagen Strahl und Stengel. Einmal hat mir einer vom Fernsehen, den es zum Urlaub in unsere schöne Mittelgebirgsgegend verschlagen hatte, Hoffnungen gemacht: Er sagte, ich wäre eigentlich ein Typ, den er sich als eine von den stehenden Figuren im Kinderprogramm vorstellen könnte. Aber dann hat er sich nicht mehr gemeldet, der Mann vom Fernsehen …“ Ich wußte nicht, ob ich lachen oder heulen sollte. Barbara, mit welker Geste, schüttelte das alles buchstäblich aus dem Ärmel, so als hätte sie es schon oft von sich gegeben, vor sich, vor Paul Schulte, vor anderen. Plötzlich straffte sie den Oberkörper, trank einen großen Schluck Wein und eröffnete mir dann unvermittelt: „Daß wir zwei Jahre im Westen waren, weißt du doch?“ Ich wußte es nicht, hob entsprechend hilflos die Achseln, legte wohl auch, Überraschung andeutend, die Stirn in Falten, ohne die Offenbarung als sonderlich überraschend zu empfinden, weil sie in das Bild von zwei Menschen paßte, die, auf allzu konfuser Suche nach Selbstverständnis und Erfüllung, auch Hindus geworden wären, hätte solch ein Schritt ihnen Aussicht auf beruflichen Erfolg und „künstlerische Erfüllung“ geboten. Ja, sechsundfünfzig seien sie nach drüben gegangen, ins Sauerland, in Paul Schultes Heimat, und dort in dieselbe – nein, in eine noch schlimmere Klemme geraten: Keine Arbeit nach anfänglichem Engagement an einer Wanderbühne („Mit Striese sind wir da auf die Dörfer 38
gegangen, in Kinosälen, auf Tanzdielen haben wir gemimt, ich mußte auch schminken, kassieren, Kostüme nähen …“), bis Paul, um sie beide einigermaßen anständig am Leben zu erhalten, Hilfsarbeit bei einem Anstreicher angenommen hatte. „Neunundfünfzig sind wir dann wieder hergekommen, und unsere Karriere war nun so richtig im Eimer.“ Diese Episode trug sie in einem Ton vor, der sehr deutlich machte: Aber wozu erzähle ich dir das, du Pfahlbürger, der du dich nie in ein gewagtes Unternehmen eingelassen hast, du verstehst es ja doch nicht. Und dieser Ton kränkte mich, weil ich mir einiges darauf zugute hielt, mich nie zum Splitterrichter aufgeworfen zu haben, und weil ich es erst recht nicht in dieser verqueren Situation und zu dieser allzu vorgerückten Stunde versuchen würde. Der Gedanke an die Zeit ließ mich auf die Uhr sehen, doch kein heiliger Kurschreck durchzuckte mich, als ich bemerkte, daß der kleine Zeiger schon die Zehn passiert hatte. Gelassen rief ich nach dem Kellner und zahlte, während Barbara noch an ihrem Eis löffelte. Als wir dann wieder im Auto saßen, in dem schönen roten Wagen mit fellbezogenen Sitzen, konnte ich mir die Bemerkung nicht verkneifen: „Dafür, daß euch die Karriere in den Eimer gerutscht ist, seid ihr aber ganz gut dran. Ich könnte mir nicht mal einen Trabant leisten, bei meinem Gehalt und meiner fröhlichen Kinderschar.“ „Ach so“, sagte sie ohne Verlegenheit, „das ist uns zugefallen, sozusagen eine Annehmlichkeit, die wir uns von unserem Nebenverdienst leisten können. Wenn man findig ist, kann man sich ein ganz gutes Leben einrichten.“ Sie sah mich amüsiert an. „Natürlich liegt das Geld nicht auf der Straße, aber doch fast, sozusagen an der Straße.“ Inzwischen wechselte Barbara abermals die Schuhe, 39
fuhr an, rangierte den Wagen aus der Parklücke, und erst als wir uns auf der Chaussee nach Wiedehopfen befanden, nahm sie das Gespräch wieder auf, vielmehr: Sie steigerte sich, geradeausblickend, als richte sie ihre Worte nicht mehr an mich, sondern an die Bäume am Straßenrand, die für Sekundenbruchteile vom Scheinwerferlicht erfaßt wurden, in einen Monolog, der von Paul Schultes Wesensveränderung seit seiner Krankheit handelte, vom rapiden Abbau seines Selbstbewußtseins, der so weit ging, daß er sich nichts mehr zutraute, sie bei den kleinsten Aktionen und geringsten Entscheidungen um Rat fragte und die Welt nur noch durch ihre Augen sah. Das sagte sie so, als ob sie gerührt sei von der unvermuteten Wandlung und bedrückt zugleich. Eine solche Haltung, erläuterte sie, das habe sie neulich irgendwo gelesen, sei gar nicht so abnorm, sei vielmehr fast die Regel. Denn wer sich einmal so nah dem Tod befunden, unter das Leben gewissermaßen schon den Bilanzstrich gezogen habe und nur noch in Erwartung eines Rückfalls in den lebensbedrohenden Zustand existiere, der könne nicht mehr so sein wie zuvor. „Paul hängt an mir wie das sprichwörtliche Kind am Schürzenbändel der Mutter“, sagte sie, dämpfte aber diesen rührenden, abgegriffenen Vergleich dadurch, daß sie sofort sachlich feststellte: „Kein Wunder in seinem Zustand. Dieses Aneurysma – weißt du, was das bedeutet? Stell dir mal einen Luftballon vor …“ Mit dem Geschick der Ärzte, dachte ich, während sie die Luftballon-Parabel ausspann, Laien einen pathologischen Zustand zu erklären, scheint es nicht weit her zu sein. Ich nickte, war ein bißchen belustigt, trotz des todernsten Gegenstands und nickte auch noch – jetzt allerdings völlig ohne Bezug zu dem Gesagten –, als sie, das erste Mal seit dem Start mich von der Seite ansehend, fragte: „Sag selbst, muß man so einen Mann nicht lieben?“, wobei der Akzent eindeutig auf dem „muß“ lag. 40
Wahrscheinlich hatte sie eine Antwort in der Richtung erwartet, daß von einer Verpflichtung nicht die Rede sein könne, da jeder schließlich sein eigenes Leben zu führen habe; doch meine Gedanken waren schon zu sehr damit beschäftigt, wie ich dem Sanatoriums-Zerberus entgegentreten sollte, der mich an der Pforte erwarten würde, als daß ich die unausgesprochene Frage hätte registrieren können. So beließ ich es, abgelenkt, bei der Zustimmung: „Natürlich muß man.“ Um halb elf hielt der rote Fiat am Fuß des Hügels, auf dem das Haus „Sonnenblick“ lag. Ich wollte mich mit ein paar belanglosen Freundlichkeiten verabschieden, denn die Stunden mit Barbara waren zwar eine recht merkwürdige, keinesfalls jedoch eine unangenehme Unterbrechung des Kurtrotts gewesen. Doch Barbaras Haltung, sie saß entspannt und wie wartend hinter dem Steuerrad, ließ mir das Valet nicht über die Lippen kommen. So verharrten wir eine Minute schweigend, bis sie meine Hand nahm und ich – nicht im geringsten erschrocken und nicht einmal verwundert – mich zu ihr hinüberbeugte und sie küßte. Sie nimmt noch immer dieses „rêve d’or“, dachte ich, ehe ich mich dem Gefühl hinzugeben versuchte, alles sei wieder so wie vor zwanzig Jahren, in der schwer heizbaren Atelierwohnung in der Schönstraße 37, vier Treppen. Es war fast elf Uhr, als ich die Glocke an der Pforte betätigte und der mehr erschrocken als strafend dreinblickenden Schwester Maria erklärte, ich hätte einen alten Bekannten wiedergetroffen und sei in endloses Erzählen geraten. Wandrey schlief schon, als ich das Zimmer betrat, und schnarchte.
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5. Am Morgen mußte ich eine Mahnung von Oberarzt Dr. Flegel, einem noch erstaunlich jungen Mann mit stets akkurat in Wellen gelegtem Haar, über mich ergehen lassen, in dem viel von gefährdetem Kurerfolg die Rede war, wenn man sich nicht an die wohldurchdachten Regeln halte, und von Maßnahmen, die gegen „Wiederholungstäter“ ergriffen würden. Doch hatte ich den Eindruck, er sah mir den Schritt vom Weg nach, weil er am Schluß der Unterredung fragte, ob denn wenigstens das über Gebühr lange Gespräch mit meinem Bekannten beflügelnd auf mich gewirkt habe. Paul Schulte war beim Frühstück außergewöhnlich freundlich und aufgeräumt, nichts erinnerte mehr an den großsprecherischen Mann vom Vortag, der geglaubt hatte, sich mit einigem Theaterdonner einführen zu müssen. Auch beim Mittagstisch prahlte er nicht mehr mit seiner Krankheit, hörte interessiert auf die Gespräche der anderen, nickte auch dann und wann mitfühlend. Er wurde nicht ungeduldig, als Maier von seinen nicht gerade aufregenden Erlebnissen erzählte, die sich zwischen Betriebsbahnhof und Endstation seiner Buslinie ereignet hatten. Und als der mopsgesichtige Dr. Hammer ihn ins Gespräch zog, gab er bereitwillig, fast schüchtern Antwort auf gezielte Fragen, die Symptome seines Leidens betreffend. Mein Gewissen war Paul Schulte gegenüber natürlicherweise stark belastet, seit ich von Barbara einen viel zu langen Abschied genommen hatte, und kein Versuch, mich damit zu rechtfertigen, daß das, was ich getan hatte, eine Art Rache war, wollte fruchten. Wenn überhaupt, dann eine zu späte Rache: Das nur konnte ich mir als Antwort geben. Der Gedanke an Vergeltung funktionierte nicht, weil kein Sinn in ihm lag, genausowenig übrigens wie eine Vorstellung von Verliebtsein in Barba42
ra (besser: von Wiederverliebtsein in sie) in mir Platz gewann. Es schien mir jetzt, als schlössen die Wiederbegegnung und das Wiedererkennen endgültig das Kapitel „Barbara“, und der Gedanke erfüllte mich mit einer gewissen Befriedigung. So, dachte ich, mag vielleicht einem zumute sein, der Jahrzehnte sein Elternhaus und die Spielplätze seiner Kindheit nicht mehr besuchen konnte und dem alle hochgeputschte Nostalgie flötengeht, wenn er eines Tages doch die Gelegenheit bekommt, alles noch einmal in Augenschein zu nehmen und enttäuscht und leer, gleichzeitig aber befreit davongeht. Denn was außer einer Befreiung hatte ich gewonnen durch das Beisammensein in dem schönen roten Fiat? Wäre das alles nicht um einen geringeren Preis zu haben gewesen, einfach durch eine größere Anstrengung des Hirns? Und hatte ich mich denn wirklich befreit? Zu den Gewissensbissen trat Peinlichkeit, als mich Wandrey, der die Mittagsruhe wieder einmal dazu benutzte, seine Meinung über die Welt im allgemeinen und das Kurleben im besonderen vorzutragen, mit der Eröffnung überraschte, mit meiner Sexualmoral könne es nicht allzuweit her sein. Zwar lächelte er dabei auf die liebenswürdigste Art, um der Beleidigung, die in seinen Worten steckte, die Schärfe zu nehmen, doch war ich sofort alarmiert und wollte wissen, woher er seine Weisheit beziehe. „Man hat Augen im Kopf“, sagte er, und sein Lächeln wurde zum Grinsen. „Eine schöne Frau, mit der ich Sie gestern abend gesehen habe.“ Er saß auf der Bettkante und schlenkerte mit den Beinen. Ich spürte, wie ihn der Klatsch bis in die Fingerspitzen mit Behagen ausfüllte, und hätte ihm am liebsten den Mund mit einer groben Bemerkung gestopft. Aber ich war wie paralysiert, brachte vorerst kein Wort über die Lippen, auch nicht, als Wandrey, Weitherzigkeit ausstellend, hinzufügte: „Aber was geht das mich an. Ich hoffe nur, Sie hatten 43
einen angenehmen Abend.“ Jetzt erst raffte ich mich zu einer Antwort auf, die aber so ungeschickt ausfiel, daß ich sie brennend gern zurückgenommen hätte. Ich sagte: „Das war doch Schultes Frau. Die kenne ich schon lange.“ Wandrey nickte wie einer, der etwas bestätigt bekommt, was er vermutet hat. „Ja, die alten Freundinnen …“ Er wiegte den Kopf, lächelte wieder liebenswürdig. „Darf man fragen, wohin die Reise gegangen ist, vom Hotel aus? Hammer meinte, Sie beide sähen nicht so aus, als wollten Sie Blümchen pflücken gehen.“ Meine Gehemmtheit verwandelte sich in Empörung. Jäh setzte ich mich im Bett auf und schrie: „Das geht Sie nichts an!“ Doch er war nicht aus der Ruhe zu bringen, fühlte sich überlegen, und es machte ihm offensichtlich Spaß, mich außer Fassung zu sehen. Seine Worte standen in deutlichem Widerspruch zu der mokanten Art, in der er sie vortrug. „Ich will mich um Gottes willen nicht in Ihr Privates mischen. Wollte Ihnen nur mitteilen, ich hätte Sie gesehen, gestern abend.“ Und dann fragte er noch: „Haben Sie Trouble gehabt, als Sie so spät ins Sanatorium gekommen sind?“ Entschlossen, dieses Spiel nicht weiter mitzumachen, legte ich mich wieder hin und drehte mich zur Wand. Den Nachmittag vertrieb ich mir, indem ich ziellos über die schneebedeckten Straßen wanderte. Was ich nicht vertreiben konnte, waren die Überlegungen und Vorwürfe wegen des vergangenen Abends. Ich konnte ihn nicht als Episode abtun, sosehr ich mich auch mühte, und der Gedanke, ich hätte mit ihm etwas zum Abschluß gebracht, ein für allemal, funktionierte desto weniger, je länger ich darüber nachdachte. Im Gegenteil: Ich ertappte mich sogar dabei, daß ich mir die Situation im Auto ausmalte und Überlegungen anstellte, ob nicht alles einen neuen Anfang bedeuten könnte. 44
Verstört kehrte ich ins Sanatorium zurück; nichts hatte sich geklärt, alles war verworren. Zum Abendbrot erschien Paul Schulte mit einem Päckchen unterm Arm, gab es mir und sagte: „Für deine Kinder. Es sind doch vier, drei Mädchen und ein Junge?“ Überrascht nickte ich Zustimmung, auch auf die Frage, ob er sich recht erinnere: Meine Älteste sei doch fünfzehn? Ich wußte keine Antwort als „Danke“ und legte das kleine Paket geniert unter den Stuhl, wobei mir Wandrey eher süffisant als wirklich amüsiert zusah. Auf meinem Zimmer packte ich die Geschenke für meine Kinder aus, mit der Unbeholfenheit Kinderloser ausgesuchte Kleinigkeiten, auf denen jeweils das Wappen des Kurortes prangte. Wandrey, der hereinkam und eine abfällige Bemerkung über den Tinnef machte, fuhr ich mit einer Heftigkeit an, die in keinem Verhältnis zu der harmlosen Bemerkung stand. Verschreckt zog er sich zurück und überließ mich der Rührung. So, als Kinderfreund, kannte ich Paul Schulte wirklich nicht, und ich hatte ihn mir in dieser Rolle auch nicht vorstellen können. Dennoch wehrte ich mich dagegen, diesen Zug an ihm nach dem Rezept Barbaras einer durch Krankheit völlig veränderten Gemüts- und Bewußtseinslage zuzuschreiben. Überhaupt fiel mir in diesem Moment auf, wie brüchig ihre Hilfskonstruktion war, die sie so sehr in den Vordergrund gestellt hatte, und wie gerade durch die Betonung deutlich wurde, daß sie Paul Schulte, wie er jetzt war, trotz der Beteuerung, man müsse ihn einfach lieben, im Grund ihres Herzens nicht akzeptierte, ihn vielleicht sogar verabscheute. Dem überspannt selbstbewußten Mann, der sein Gewicht merkwürdigerweise aus der Erfolglosigkeit gezogen, der sich für den Nabel der Welt gehalten hatte und der doch nicht mehr gewesen war als ein lärmender und in seiner 45
Impertinenz lächerlicher Popanz, hatte ihre Liebe gegolten, an ihn war sie gewöhnt. Mit seinem jetzigen Verhalten konnte sie nichts anfangen, es lag nicht auf ihrer Wellenlänge, und so machte sie die Krankheit verantwortlich für die Veränderung. Das war eine Methode, mit der sich Paul Schulte bequem auf Distanz halten ließ. Zunächst merkte ich nicht, wie mich solche Überlegung in eine Sackgasse trieb, aus der es für mich kein Entrinnen gab. Ich war plötzlich auf eine Weise mit mir selbst konfrontiert, die es mir schwer, wenn nicht unmöglich machte, den Montagabend vor mir zu rechtfertigen. Es drängte sich mir die Frage auf: Sollte ich mit Paul Schulte über das Vorgefallene sprechen, sollte ich Barbara noch einmal zu treffen versuchen, und sei es nur, um mir Klarheit darüber zu verschaffen, ob ich mich mit meinen Überlegungen auf dem richtigen Gleis bewegte oder ob mir mein schlechtes und immer schlechter werdendes Gewissen ein Hirngespinst vorgaukelte? Ich verließ das Zimmer, wollte Paul aufsuchen, bereit, es zu einem entscheidenden Gespräch kommen zu lassen. Doch seine Tür war verschlossen, er hatte, wie ich bei der Nachtschwester erfuhr, das Haus zu einem Abendspaziergang verlassen. Gern wäre ich Wandrey aus dem Weg gegangen, als er mit Dr. Hammer aus dem Aufenthaltsraum trat, aber Wandrey ging auf mich zu, als hätte es vor ein paar Stunden nicht eine peinliche Auseinandersetzung zwischen uns gegeben. „Kommen Sie mit?“ fragte er, während er sich den Mantel zuknöpfte, und leiser, mit komischer Vertraulichkeit, fuhr er fort: „In der Kreisstadt gibt es ein Orgelkonzert. Hammer hat das ausfindig gemacht, und wir gedenken, die Kurgesetze zu brechen, indem wir uns ohne Erlaubnis über den Ortsrand von Wiedehopfen hinaus begeben.“ 46
Den Abend mit diesen Männern zu verbringen, hatte ich keine Lust; am liebsten hätte ich Wandrey ohne ein Wort stehenlassen. Doch anerzogene Höflichkeit und vielleicht auch die Furcht, den Dichter zu verprellen, ließ mich irgendeine nichtssagende Ablehnung finden. „Aber die Kirche ist geheizt“, versuchte nun auch Dr. Hammer mich zu überreden, „und der Organist der Martins-Gemeinde ist gut. Ich habe ihn schon zweimal gehört. Und um acht ist Schluß, so daß wir bequem mit dem Bus zurückkommen.“ Fast hätte ich geantwortet: Lassen Sie mich in Frieden, ich habe andere Probleme als eine geheizte Kirche und einen guten Organisten. Doch ich sagte: „Vielleicht das nächste Mal.“ Wandrey zuckte die Schultern, murmelte noch etwas von einmaliger Gelegenheit, den öden Kurbetrieb aufzulockern, und ging mit Dr. Hammer davon. Ich stand noch eine Weile unschlüssig in der Eingangshalle, ehe ich den Mantel vom Haken nahm und das Haus verließ. Vielleicht traf ich Barbara, vielleicht auch sie und Paul Schulte gemeinsam. Ich gierte nach einer Aussprache, wie ein verschwitzter Mensch nach einem Bad. Ich stapfte durch den Schnee zum Hotel hinunter: Barbara war nicht auf ihrem Zimmer, nicht in der Gaststube. Der Zapfer, der gleichzeitig als Portier fungierte, sagte, Frau Schulte sei mit dem Auto weggefahren. Um Zeit zum Überlegen zu gewinnen, setzte ich mich hinter ein Glas Bier, trank lustlos, noch immer mit der Vorstellung beschäftigt, wie ich mich von der auf fatale Weise wieder gegenwärtig gewordenen Vergangenheit befreien könnte. Ein zweites, ein drittes Bier, einen Korn dazu: Ich fand zu keiner Lösung. Mit dumpfem Kopf und schweren Armen hockte ich am Tisch, unfähig, mich zu irgendeiner Tat zu entschließen, und sei es auch nur, aufzustehen und das Lokal zu verlassen. 47
Mit der Zeit mischten sich in meine Spekulationen über Paul Schulte und Barbara auch Gedanken an Marianne: Konnte ich ihr überhaupt verhehlen, was mir in diesem Kurort, weit weg vom Schuß, begegnet war? „Laß dir die Kurschatten nicht zu nahe auf den Leib rücken!“ hatte sie mir auf dem Bahnhof gesagt, und mir war, bis ich Barbara traf, lächerlich erschienen, was sich auf den Promenaden und in den Kneipen von Wiedehopfen abspielte, dieses krampfhafte Suchen und Sichanbieten von Männlein und Weiblein, dieses ungenierte Flanieren, Radschlagen, Animieren, Lachen, Saufen, das obszöne Geturtel, das Schenkelstreicheln, Busenanfassen – und jeder mit einem verschieden breiten Ehering am Finger. Wie hatte ich mich bisher abends im Bett in Sicherheit und Selbstgefälligkeit gerekelt, gelesen, bis die Müdigkeit mir die Zeilen ineinanderfließen ließ. Selbst beim Einschlafen, wenn Wandrey noch nicht zurückgekommen war und ich wußte, daß er „auf Raub“ ausging, wie er das nannte, gemeinsam mit dem mopsgesichtigen Dr. Hammer, der einmal bei Tisch verkündet hatte, Kurerei und Hurerei gehörten zusammen, denn anders sei totale Entspannung – Voraussetzung jeglichen Badeerfolgs – nicht möglich, war das Gefühl, ich sei in mir sicher wie in Abrahams Schoß, noch nicht gewichen, hatte sich vielmehr verdichtet und geholfen, angenehme und beruhigende Träume heraufzuführen. Und nun hatte ich meinen Kurschatten, hatte ihn auf viel fatalere, intensivere Art als alle die lieben Mitkurer, die nichts wollten als für ein paar Wochen unbeschwert von Beruf und Familie die Zeit zu verbringen. An meinem Schatten haftete Vergangenheit, er war nicht harmlos. Er würde mir bleiben, auch wenn ich mit Paul Schulte reinen Tisch machte, mit dem so ganz anders gewordenen Paul Schulte. Oder übertrieb ich? Spielte mir die Selbstgefälligkeit einen Streich, indem ich, was ich – im Guten wie im 48
Schlechten – getan hatte, nicht mit der normalen Elle messen wollte? Ich brütete weiter vor mich hin, trank ein viertes und ein fünftes Glas Bier, den zweiten Korn und machte es mir in meinem Schuldbewußtsein bequem, in der Vorstellung, daß ich der Abschaum wäre von allem, was in diesem Bad herumlief, Bäder nahm, Brunnen trank, Alkoholisches trotz Verbots in sich hineingoß, Ehe brach, die Sünde der Gedankenlosigkeit auf sich lud. Gegen halb neun war ich ziemlich betrunken und so verbiestert, daß ich eine Frau, die sich zu mir an den Tisch gesetzt hatte und mich in ein Gespräch (natürlich über Krankheit) verwickeln wollte, mit der Bemerkung zum Schweigen brachte, ich hätte genug mit meinen eigenen Leiden zu tun. Danach erhob ich mich, zahlte und trat vors Hotel. In diesem Zustand wäre mir ein Gespräch mit Barbara oder mit Paul Schulte oder mit beiden von keinem Nutzen mehr gewesen. Aber gerade jetzt, nach über zweistündigem Warten, fuhr der rote Fiat vor, und noch ehe sich in meinem benebelten Hirn ein Gedanke formen konnte, hielt der Wagen. Zuerst wurde der rechte hintere Türschlag geöffnet, und Wandrey stieg aus. Ich traute meinen Augen nicht, blinzelte, schüttelte heftig den Kopf, wie um ein Traumbild zu verjagen – Wandrey blieb. Hinter ihm zwängte sich Dr. Hammer ins Freie. Dann stand plötzlich auch Paul Schulte vor mir. „Guten Abend, Fritz.“ „Guten Abend“, erwiderte ich mechanisch und sah fragend in die Runde, der sich nun auch Barbara zugesellte (wahrscheinlich hatte sie wieder mit dem Wechseln ihrer Schuhe zu tun). „Da staunen Sie, wie?“ Wandrey strahlte übers ganze Gesicht, als hätte er mir eine Weihnachtsüberraschung bereitet. Und zu Barbara gewandt, sagte er: „Vielen Dank, gnädige Frau.“ Er sagte wirklich „gnädige Frau“ und machte eine Verbeugung, daß seine Haare flogen. 49
„Gern geschehen.“ Barbara versuchte, sich liebenswürdig zu geben, doch das Lächeln stand ihr wie gefroren um den Mund. Vielleicht war sie müde, vielleicht auch ließen nur die trüben Leuchten zu beiden Seiten des Hotelportals ihr Gesicht starr erscheinen. Jedenfalls teilte sie nicht die forsche Fröhlichkeit Wandreys und das Behagen Dr. Hammers, der sich auch bedankte und anmerkte, wieviel unbequemer die Rückfahrt mit dem Bus geworden wäre. „Dürfen wir Sie und Ihren Gemahl zu einem Drink einladen?“ Wandrey war ganz Mann von Welt, verbeugte sich schon wieder und ergriff Barbaras Hand. „Es bleibt uns ja noch einige Zeit bis zum Einschluß.“ „Ein andermal gern“, sagte Barbara. „Oder hast du noch Lust?“ fragte sie ihren Mann. Der hatte offensichtlich auch keine Lust, erklärte, er wolle noch für eine halbe Stunde mit seiner Frau etwas besprechen. „Ich verstehe.“ Wandreys Getue machte mich wütend. „Gute Nacht. Und nochmals: vielen Dank!“ Verabschiedungen gingen hin und her. Vergebens versuchte ich, als ich Barbara die Hand gab, etwas wie Vertraulichkeit oder nur Sympathie aus dem Druck herauszuspüren. Kühl und fest lag ihre Hand in der meinen. Den Weg zum Sanatorium, der stetig bergauf führte, nahm Wandrey beschwingt, und er, der sonst Mühe hatte, den Atem für den Aufstieg richtig einzuteilen, plauderte die ganze Zeit über. Vom Konzert, von Teleman und Pergolesi, von der Architektur der Martins-Kirche, die er, wie ein professioneller Cicerone, „ein Kleinod der Gotik“ nannte, von Frau Schulte … Dr. Hammer blieb schon bald ein Stück hinter uns zurück, doch Wandrey in seiner Emphase achtete nicht darauf, zwang mich sogar, als ich auf den Arzt warten wollte, mit ihm Schritt zu halten, indem er mich am Arm faßte. Haarklein, als sei das Zusammentreffen ein bewegendes Ereignis, be50
richtete er mir, wie sie die Schultes in der Kirche getroffen haben und wie er auf den Einfall gekommen sei, Barbara zu bitten, sie in ihrem Wagen mitzunehmen. Benommen vom Alkohol, konnte ich nichts anderes denken als: So ein Kuraufenthalt verblödet doch völlig. „Eine reizende Frau“, sagte Wandrey, als er doch stehenbleiben mußte und rasselnd Atem holte. „Stimmt’s, Doktor?“ wandte er sich an Hammer, der zu uns aufschloß und dankbar die Gelegenheit wahrnahm, eine Pause einlegen zu können. Er lehnte gegen einen Baum, sah Wandrey ziemlich verständnislos an. „Ich habe Krüger von unserer Begegnung mit den Schultes erzählt.“ „Ach so.“ Der Arzt schien noch zu sehr mit seinem Luftproblem beschäftigt zu sein, um sich auf ein Gespräch konzentrieren zu können. So plauderte denn Wandrey im Alleingang weiter, pries den Organisten, nachdem er Barbara zur Genüge mit seinen faden Elogen bedacht hatte, nannte ihn einen Könner. („Ich weiß, was ich sage!“) Als wir die letzten zweihundert Meter des Aufstiegs angingen, kam er noch einmal auf Barbara zurück und berichtete, Klatschsucht in der Stimme, daß sie sich nach dem Konzert mindestens eine Viertelstunde mit dem Organisten unterhalten habe. „Und was weiter?“ Mir dröhnte der Kopf, ich sehnte mich nach meinem Bett, jedenfalls war ich gänzlich uninteressiert an Kurtratsch. „Ich dachte nur, das sollten Sie wissen“, sagte Wandrey maliziös. „Daß Ihre liebe Freundin schon Bekanntschaften gemacht hat in Wiedehopfen.“ „Was soll der Quatsch?“ Obwohl ich in der Dunkelheit sein Gesicht nicht sah, konnte ich mir den Ausdruck vorstellen: hochgezogene Brauen, um den Mund ein kleines Lächeln. „Man hat doch Augen im Kopf.“ Er stieß den Atem 51
durch die Nase. „Schulte schien jedenfalls nicht erfreut, als sie sich so intensiv dem Organisten widmete. Und dann stand auch noch so ein junger Mann mit langen blonden Haaren dabei.“ Hört das denn nicht bald auf! dachte ich, als wir vorm Haus die Schuhe auf einem Rost abtraten. Es hörte nicht auf. Wir betraten die Vorhalle, und noch immer quatschte Wandrey. „Da spinnt sich was an“, sagte er, „dafür habe ich einen Blick.“ Und auf der Treppe machte er einen letzten Versuch, mich für Barbaras Bekanntschaften zu interessieren: „Der Organist ist ja wohl zu alt für sie, aber der junge Mann …“ Leck mich am Arsch, dachte ich und nahm zwei Stufen auf einmal.
6. Der Alkohol verhalf mir zu einem tiefen und ruhigen Schlaf, die Gymnastik im Turnsaal vertrieb mir die letzten Nebelschwaden aus dem Hirn. Paul Schulte begrüßte mich herzlich am Frühstückstisch. Verlegen, weil noch immer vom schlechten Gewissen geplagt, sprach ich davon, wie nett ich es gefunden hätte, daß er an meine Kinder gedacht habe. Im Grunde war ich froh, daß er nach einer Viertelstunde verkündete, er müsse sich sputen, wenn er zur rechten Zeit im Badehaus sein wolle. „Volles Programm heute“, sagte er, während er den Nylonbeutel nahm, der vom Badelaken gebauscht war. Vor mir lag an diesem Morgen nur die Massage. Gegen zehn hatte ich sie hinter mich gebracht und blätterte danach lustlos in der Zeitung herum, und beim Überfliegen eines Artikels über die Chancen der Regierung Brandt – Scheel, sich gegen die entspannungsfeindlichen Aktivitäten der Reaktion aus Bayern durchzusetzen, faß52
te ich plötzlich den Entschluß, Barbara aufzusuchen. Ein letztes Gespräch, sagte ich mir, damit ich wieder Ruhe finde. Ich wartete im Lokal, nachdem man mir gesagt hatte, Frau Schulte werde bald herunterkommen, da sie gewünscht habe, man solle ihr die Garage aufschließen. Als der Mann, der an diesem Morgen hinterm Tresen stand, mir das mitteilte, sprang mich die Prüderie von Kleinstadtportiers, die es für eine ihrer wichtigsten Aufgaben ansehen, über die Moral ihrer Gäste zu wachen und also „Besuch auf dem Zimmer“ abzuwehren, geradezu an. Meine Geduld wurde nicht allzusehr strapaziert: Eine Viertelstunde später kam sie die Treppe herunter, angezogen wie am Montagabend. Und doch sah sie anders aus, wenn ich mir auch nicht zu erklären wußte: warum anders, wie anders? Vielleicht, daß ihre Augen tiefer grün waren, vielleicht, daß die Art, wie sie sich bewegte und sprach, gelöster wirkte. „Na, so in Gedanken?“ begrüßte sie mich, und obwohl es ihre andere Stimme war, die affektierte, jederzeit bereite, Lügen und seelische Posen zu verbreiten, klangen mir die Worte angenehm. Sie setzte sich mir gegenüber, die Tasche auf dem Schoß; sie hatte schon die löchrigen Autofahrerhandschuhe übergestreift, und vom rechten Daumen baumelte der Zündschlüssel nebst einem fünfmarkstückgroßen Anhänger, die Silhouette des Fudschijama in Silber getrieben. Jetzt, dachte ich, mußt du das Gespräch auf den Montagabend bringen, jetzt mußt du sie wissen lassen, was die Begegnung in dir in Unordnung gebracht hat. Aber ich fand, obwohl ich mich auf das Treffen vorbereitet hatte, nicht sofort zum Thema. Also redete ich zunächst davon, wie angetan Wandrey von ihr gewesen sei. Dieses Kompliment schien sie jedoch eher zu stören, als sei es ihr unangenehm, an das Zusammentreffen erinnert zu werden. 53
„Bist du hierhergekommen, um mir das zu sagen?“ fragte sie. Dabei sah sie mich an wie einen Fremden, sah durch mich hindurch, als gäbe es etwas Wichtiges in meinem Rücken zu begutachten. „Natürlich nicht.“ Ich atmete tief durch. „Kannst du dir nicht denken, warum ich gekommen bin?“ Barbara holte ihren Blick zurück, indem sie ein paarmal blinzelte. Gleichzeitig legte sich ein Grinsen um ihren Mund, kein abschätziges, eher ein nachdenkliches, so wie man einen Kumpan angrinst, der bei einem gewagten Unternehmen auf halber Strecke schlappgemacht hat und den man trotz des Aufgebens gut versteht. „Kalte Füße bekommen, wie?“ Die Frage war sachlich gestellt, aber die Unbekümmertheit im Ton verschlug mir die Sprache und machte mich gleichzeitig wütend auf mich selbst. Doch kam ich nicht dazu, mich wegen des Versuchs, dem Beisammensein eine Wendung ins Gewichtigere zu geben, einen Esel zu schimpfen. Ich konnte noch denken: Ja, wenn das so ist …, da hatte ich schon wieder ihre Stimme im Ohr, und je länger Barbara sprach, desto gelöster wurde sie. Die neutrale Sachlichkeit wich allmählich einer Stimmung, die sich mit Amüsiertheit am besten umschreiben läßt, und in dieser Art ließ sie mich wissen, was sie davon hielt, daß ich wie ein verliebter Pennäler an einem Kneipentisch saß, unfähig, mich mit mir und meinem Erlebnis zu arrangieren. In mir wuchs das Gefühl, mich unsäglich komisch benommen zu haben, vor zwei Tagen und vor zwei Minuten. „Bleib gelassen, Fritz“, sagte sie, „so etwas kann jedem zustoßen. Nicht wahr, der Gewissenwurm nagt in dir. Das habe ich immer an dir geschätzt, daß du so eine altmodische Einrichtung wie ein Gewissen unterhältst. Du denkst an deine Frau, an Paul. Ich denke auch an Paul, ob du mir das abnimmst oder nicht. Aber ich denke realer. Ich habe nie viel davon gehalten, Sentimenta54
lität zu verspritzen, wo Sachlichkeit am Platz ist. Sicherlich, unser Montagabend straft mich da Lügen, den Abschluß von dem Abend meine ich. Doch nicht deshalb, weil mein Paul dadurch Schaden genommen hätte, sondern weil ich mich töricht aufgeführt habe. Paul hat an anderem zu knabbern, an Lebenswichtigem. Ich Ziege habe für eine halbe Stunde geglaubt, ich könnte zurückholen, was mir vor entsetzlich langer Zeit mal etwas bedeutet hat. Als ob ich darauf angewiesen wäre …“ Sie wiegte den Kopf hin und her, verdrehte die Augen zur Decke und sah in der Tat so aus, als könne sie partout nicht mehr begreifen, was in sie gefahren war. Dann sah sie mich wieder an, eine Art Mitleid im Blick, das man vielleicht für ein hoffnungslos im Spinnennetz verstricktes Insekt aufbringt. „Jetzt haben wir den Schaden“, fuhr sie fort, „das heißt, du hast den Schaden. Du sitzt am hellichten Tag herum wie ein Säufer, der sich geschworen hat, keinen Tropfen Schnaps mehr über die Lippen zu lassen, und doch schon wieder mitten im Rausch ist. Wenn es dich beruhigt: Du bist mir nicht im mindesten verpflichtet, und was Paul angeht, den solltest du besser kennen. Dem ist es noch nie sauer geworden, etwas ’runterzuschlucken, was ihm nicht schmeckt. Das sage ich für den Fall, daß du es nicht erträgst, mit dem Makel des Ehebruchs ’rumzulaufen. Erzähl ihm, wenn du willst, was am Montag zwischen uns gewesen ist. Paul ist auch jetzt noch großzügig, so großzügig wie du übrigens nie gewesen bist. Du hast schon immer andere nötig gehabt, als Krücken, an denen du dich fortbewegen konntest; Menschen, die an dem mitschleppten, was du an Idealen oder an Sünden auf dich geladen hattest. Du konntest nie etwas allein mit dir ausmachen, Gutes nicht und Böses nicht.“ Da saß ich und hörte mir an, was diese Frau über mich dachte und mit erstaunlicher Eloquenz von sich gab, und fand nicht Kraft noch Mut, eine Meinung gegen 55
das Gerede zu stellen oder wenigstens davonzugehen. Ich spürte, wie mir allmählich der Atem knapp und wie mein linker Arm schwer und taub wurde, ehe sich, vom Bizeps ausgehend, ein leichter Schmerz bis in die Fingerspitzen zog. Mein Gesichtsausdruck muß entsprechend gewesen sein, denn Barbara hörte unvermittelt auf zu reden. Sie sah mich eine Sekunde lang aufmerksam an, wie einer, der Erfahrung im Umgang mit Menschen hat, dem seelische Anstrengungen die Koronargefäße verengen. „Ich wollte dich nur beruhigen“, sagte sie mit einem Anflug von Freundlichkeit in der Stimme. „Also dann: Bleib gelassen! Die Geschichte hat nichts weiter auf sich.“ Ehe ich etwas erwidern konnte, saß ich allein am Tisch. Erleichterung wollte sich nicht einstellen, Erleichterung, wie ich sie in jungen Jahren manchmal dankbar gespürt hatte, wenn eine Poussage glimpflich, ohne Tränen und Vorwürfe zu Ende gegangen war, auch nicht Traurigkeit von der Art, die ein ernsthaftes Adieu anrichtet. Ich war nur müde, trotz der frühen Stunde und seltsam stumpf. Das einzige, was mir einfiel, als ich wieder auf der Straße stand, war: Du bist alt geworden, Krüger. Am Zeitungskiosk kaufte ich mir ein Heftchen mit Rätseln, im Büro der Kurverwaltung eine Eintrittskarte für den Auftritt eines renommierten hauptstädtischen Sängers und einer Dame aus der Provinz, die am Abend Lieder von Schubert im Kurtheater darbieten wollten. „Da haben Sie aber Glück gehabt, junger Mann“, sagte die Frau, die mir das Billett aushändigte. „Eigentlich ist das Konzert ja schon ausverkauft. Aber die Karte ist zurückgegeben worden. Zwei Mark, junger Mann.“ Daß die Veranstaltung großen Zulauf finden würde, hatte ich in der vergangenen Woche schon von Wandrey erfahren; daß die Frau mich mit „junger Mann“ anrede56
te, tat mir wohl. Ich händigte ihr mit den Münzen ein Lächeln aus. Danach mußte ich doch wieder etwas trinken, und ich trank die zwei doppelten Korn ohne Skrupel gegenüber der Kurordnung. Fröhlicher wurde ich davon nicht. Nach dem Abendessen machte ich mich auf den Weg zum Kurtheater, ging vorüber am Badehaus mit der schwelgerischen Jugendstilfassade, hatte aber keinen Blick für die abenteuerlich gekrümmten Fluchtlinien des Gebäudes. Auch dem Theater, erbaut im germanisch-klassizistischen Stil und mit dem für einen Musentempel so ganz unsinnigen Spruch geschmückt, daß nur in einem gesunden Körper ein gesunder Geist hausen könne, schenkte ich nicht, wie sonst, die ihm gebührende Verachtung. Ich war von einer Lethargie befallen, die auch einem kurzen, aber tiefen und traumlosen Nachmittagsschlaf nicht gewichen war. Aber der Gedanke daran, den Abend im Sanatorium zu verbringen, womöglich wieder mit Lesen, wäre mir zuwider gewesen. Vielleicht konnte mich der Liedervortrag auf andere Gedanken und in eine zuträglichere Gemütsverfassung bringen. Das Foyer war gestopft voll von erwartungsgeladenem Publikum wie sonst nur an Abenden, an denen einheimische Folklore geboten wurde. Fünf Minuten später saß ich, eingebaut zwischen zwei älteren Frauen, auf einem Klappsessel in der ersten Reihe des Seitenrangs, ziemlich dicht über mir die intarsiengeschmückte Decke, und las im Programmheft, das Jahr achtzehnhundertdreiundzwanzig sei für Schubert ein schweres und bedeutungsvolles zugleich gewesen, und Thomas Mann habe „Des Baches Wiegenlied“ als eines der „holden Heimwehlieder“ bezeichnet, von denen eine mächtige Todesfaszination ausgehe und so weiter. Neben den weitschweifigen Erläuterungen eines bemühten Musikwissenschaftlers war dankenswerterweise auch die Folge der Lieder, die zum Vortrag kommen sollten, abge57
druckt, und ich erfuhr, daß für den ersten Teil des Abends eine Auslese aus der „Schönen Müllerin“ versprochen wurde, dargeboten von dem hauptstädtischen Sänger, und daß nach der Pause die Sängerin ein paar Zugstücke von Schubert zum besten geben werde: „Das Heideröslein“, „Das Echo“, „Die Forelle“, das „Ave Maria“ und so weiter. Die Hoffnung, Musikanhören könnte mir wieder auf die Beine helfen, schmolz wie der sprichwörtliche Schnee an der Sonne. Ich fühlte mich eingeengt, die Decke, so nah über dem Kopf, brachte mir einen Anflug von Klaustrophobie. Ich hatte Mühe, den Wunsch zu unterdrücken, das Theater auf der Stelle zu verlassen. Ein Spaziergang kam mir jetzt weitaus verlockender vor, als anderthalb Stunden gepflegter Melancholie aus Sängermund. Doch ich unterdrückte den Wunsch, blickte über die Balustrade ins Parkett hinunter, sah Wandrey neben Doktor Hammer sitzen und voller Eifer auf diesen einreden (wahrscheinlich versuchte er dem Mediziner klarzumachen, wie mies die Texte sind, die Schubert vertont hat), sah überhaupt eine Menge gesprächiger Leute, bemerkte schließlich am Rand einer Reihe im Mittelteil des Saals Barbara. Sie trug eine weiße Stola, die sie aus der Zuschauerschar heraushob. Der Platz zu ihrer Linken war unbesetzt, und ich beneidete Paul Schulte darum, daß er sich offensichtlich vorm Konzertbesuch hatte drücken können. Oder wurde er noch erwartet? Barbara sah einige Male auf die Armbanduhr, mit ziemlicher Ungeduld, wie mir schien, und sie blickte auch mehrmals nach den Türen. Erst erschien der Pianist, wurde mit mäßig herzlichem Klatschen empfangen, verbeugte sich, setzte sich an den Flügel. Dann kam der Sänger, ein kleiner Dicker, nach Art dieser Männer betont forsch auf die Bühne, verneigte sich tief auf der Höhe des Souffleurkastens, badete sich eine Weile im weitaus stärkeren, vom Vor58
ausruhm entfachten Applaus, ehe er am Flügel die Liedersängerstartpose einnahm. Er sang beeindruckend, spürte mit weicher, klarer Stimme den Melodien nach. Mir wurde, ich wußte nicht wieso, nach und nach heiß und kalt beim Vortrag. Ziehen in der Herzgegend setzte ein, der Plafond schien sich noch tiefer herabzusenken. „Des Baches Wiegenlied“, die letzte Piece vor der Pause, schien kein Ende nehmen zu wollen. Ich schloß die Augen und hörte die Stimme des Sängers schließlich nur noch wie durch watteverstopfte Ohren. Als die Ovationen losbrachen, stolperte ich über Damenbeine zum Ausgang und war erst wieder, schweißnaß, im Foyer bei vollem Bewußtsein meiner selbst. Was hatte mich nur so aus dem Gleichgewicht gebracht? Die schlechte Luft auf dem Balkon? Die unvermutete Begegnung per Kunst mit einem Liebenden, dem die Liebste untreu wird? Identifizierte ich mich mit dem unverschämten Jägerburschen aus dem Opus 25? Je länger ich mir eines Zustands wegen, den ich gut genug kannte, um über ihn nicht in Bestürzung zu geraten, unsinnige Fragen stellte, desto wütender wurde ich auf mich, und mit der steigenden Wut stellte sich allmählich ein verhältnismäßiges Wohlbefinden wieder her. Ich ging vors Portal, wo sich die Raucher trotz der Kälte zu sammeln begannen. Hier sah ich auch Barbara wieder, die ihre Stola eng um sich gezogen hatte. Sie stand, als warte sie auf jemanden, und zuckte zusammen, als ich von hinten an sie herantrat und fragte, ob Paul Schulte noch kommen wollte. „Ach, du bist es“, sagte sie. Im vom Schnee schwach reflektierten Licht einiger Kandelaber konnte ich ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen, aber an ihrer Stimme merkte ich: Sie war nicht gerade entzückt, daß ich sie ansprach. „Nein, Paul hört sich so etwas nicht an. Der glaubt, er kann auch das besser.“ Die Ironie gelang ihr nicht. „Ich warte auf niemanden.“ Und doch hatte sie, 59
während sie mir antwortete, die Straße nicht aus den Augen gelassen. Ich registrierte das, ging aber nicht weiter darauf ein. Schließlich, was interessierte mich Barbaras Tun und Lassen, nach allem. Also erklärte ich, ich wolle mir den Mantel holen, ein Spaziergang täte mir jetzt besser als noch eine Dreiviertelstunde Kunstgenuß. Sie hörte kaum mehr auf meine Worte, nickte nur mechanisch und gab mir die Hand, als ich mich verabschiedete und zur Garderobe ging. Paul Schulte traf ich auf der Brücke, die vor dem Badehaus über das Flüßchen Wiede führt. Er stand, ohne Hut, am Geländer und starrte in das schnell fließende Wasser, die Hände in den Manteltaschen. Eine Sekunde lang war ich mir nicht schlüssig, ob ich ihn ansprechen sollte. Dann ging ich doch auf ihn zu. „Ist das Konzert schon zu Ende?“ fragte er, ohne einen Blick vom schwarz strömenden Wasser zu lassen. „Oder hast du auch die Nase voll von solchem Gesinge? Hast du Barbara gesehen?“ Erst jetzt wandte er sich mir zu, dabei lachte er wie ein Schurke aus einem Shakespeare-Stück. „Keine Lust mehr“, antwortete ich unsicher. „Komm, geh einen mit mir trinken. Ich lade dich ein. Die Nacht ist kühl, Horatio.“ Er schien wirklich eine Rolle abzuziehen, vollführte eine sehr komplizierte Handbewegung, die wohl eine höfische Ehrenbezeigung parodieren sollte. Ob er schon etwas getrunken hatte? „Eigentlich wollte ich ein Stück spazierengehen“, sagte ich. „Die Luft da drin ist mir nicht bekommen. Und dann das Programm. Du verstehst …“ „Ich verstehe.“ Er legte mir eine Hand auf die Schulter und dirigierte mich auf die Promenade, die durch den Kurpark führte. Der Kontakt war mir unheimlich, auch fast zuwider, und ich versuchte ihn mit einem 60
plötzlichen Sidestep zu unterbrechen. Vergebens. Als Paul Schulte das spürte, verstärkte er den Druck der Hand. „Bleib, Fritz“, sagte er, „du wirst doch wohl vor deinem alten Freund Paul nicht davonlaufen wollen? Ist schon seltsam, wenn man einander nach so vielen Jahren wiedersieht, als hätte es irgend jemand programmiert.“ Er hat sicherlich schon etwas getrunken, dachte ich und fürchtete, er könnte eine längliche Arie aus der Vergangenheit anstimmen; aber ich hatte mich getäuscht. Paul Schulte setzte die begonnene Betrachtung nicht fort, schwieg vielmehr, während wir die Promenade hinunter auf das Denkmal irgendeines verdienten Arztes zugingen. Plötzlich sagte er: „Ich mache es hoffentlich nicht mehr lange.“ Meine unwillkürliche Protestbewegung gegen die so ganz überraschende Feststellung beschwichtigte er mit einem „Sei nicht so zimperlich, Fritz“, und ehe ich noch recht Gelegenheit fand, mich über so eine lächerliche Formulierung zu wundern, setzte er schon an, mir die Symptome seiner Krankheit umständlich zu schildern. Er tat das hastig, als ob er nicht viel Zeit hatte und fürchtete, mit seinen Beschreibungen nicht mehr zu einem Ende zu kommen. Dabei sprach er leise, fast flüsternd, so daß ich Mühe hatte, ihn zu verstehen. Er zählte alle Begleiterscheinungen seiner Schwächeanfälle auf, sprach von den unerträglichen Schmerzen in der Brust, die ihn mehrmals am Tag erschütterten; auch von der Angst, gegen die er sich nicht wehren konnte, nicht durch dämpfende Medikamente und erst recht nicht, indem man sich selber Mut machte. „Wenn dann so ein Anfall vorüber ist, bin ich immer wieder ein bißchen enttäuscht, daß er nicht das Ende gebracht hat.“ Er verhielt seinen ohnehin langsamen Schritt und wandte mir das Gesicht zu. Es war in der Dunkelheit wie ein gestaltloser heller Fleck. „Verstehst 61
du das, Fritz, daß es einem leid tun kann, noch am Leben zu sein, weil man weiß, weiterleben bedeutet nichts, als auf den nächsten Anfall zu warten?“ Was sollte ich darauf entgegnen? „Verstehst du das?“ fragte er dringlicher, als sei meine Antwort für ihn von Bedeutung, ehe er die Hand resignierend von meiner Schulter nahm und sagte: „Wie solltest du.“ Der Gang durch den Abend mit Paul Schulte begann anstrengend und mir lästig zu werden. Trotz des Mitgefühls merkte ich, wie sich allmählich Unmut in mir ausbreitete und das dümmste aller Argumente weckte: Er hat doch nichts davon, wenn er mich mit seinen Molesten vollquatscht, das hilft ihm doch nicht. „Kannst du es nicht einmal damit versuchen“, unterbrach ich ihn, „weniger an deine Krankheit zu denken? Barbara meint …“ „Daß ich mich sehr verändert habe. Ich weiß.“ Das klang bitter. „Bitte verschon mich mit dem Geseire, das kann ich schon in allen Tonarten singen. Und überhaupt: Mir wäre es lieb, wenn du dich ein bißchen mehr zurückhalten könntest, bei Barbara, du weißt, was ich meine.“ Mich durchfuhr ein ziemlicher Schreck. Für einen Moment war ich entschlossen, alles, was ihn anging und mich seit Tagen bedrückte, zur Sprache zu bringen, mitten auf der dunklen, schneebedeckten Promenade, und wäre nicht der junge Mann auf uns zugetreten, der uns um Feuer für seine Zigarette bat, hätte ich vielleicht ein Geständnis abgelegt. Vielleicht wäre mir wohler gewesen, und sicherlich hätte eine offene Aussprache viel geklärt. Aber es kam ein junger Mann und bat um Feuer für seine Zigarette, und die nur Sekunden währende Ablenkung bewirkte, daß meine Bereitschaft zum Taktieren wieder wach wurde, und ich fragte vorsichtig: „Findest du, ich bin Barbara zu nahe getreten?“ 62
„Ob ich das finde oder nicht“, Paul Schultes Stimme klang sachlich, so als wäre er wirklich unbeteiligt, „tut nichts zur Sache. Ich gebe dir nur den Rat: Laß die Finger von ihr. Sei froh, daß ich sie dir damals, vor einer Ewigkeit, ausgespannt habe. Vielleicht wäre sie mit dir ein anderer Mensch geworden, aber wahrscheinlicher ist, du hättest dich geändert, wenn die Chose nicht über kurz oder lang auseinandergebrochen wäre.“ Ich wollte ihm antworten, wollte die Selbstverständlichkeit an den Mann bringen, in einer Ehe müsse jeder der beiden Partner sich ändern, sich dem anderen anpassen, und es komme nicht darauf an, einem des anderen Persönlichkeit überzustülpen, hielt mich aber dann doch zurück, wohl in der instinktiven Erkenntnis, daß man so die Meinung eines Menschen, dem der Tod und trotz gegenteiliger Behauptung die Furcht vorm Tod im Nacken saß, nicht kontern könne. Zudem enthob er mich bald der Antwort, indem er fortfuhr: „Ich liebe Barbara, habe sie immer geliebt, auch wenn es früher vielleicht so ausgesehen hat, als schmückte ich mich nur mit ihr – mit mir schmücken konnte man sich nie.“ Er hielt inne, als erwartete er Widerspruch von mir, aber ich schwieg. Meine Gedanken kreisten um die Frage, warum er gerade jetzt mit mir darüber sprach. War Barbara mir zuvorgekommen und hatte ihm am Nachmittag von unserem Montagabend erzählt? Oder wollte er mir mit dem Geständnis seiner Liebe nur zu verstehen geben, ich sollte gar nicht erst versuchen, mich Barbara zu nähern? Oder war er einfach vom Mitteilungsbedürfnis des schwerkranken Menschen getrieben, der sich noch einmal über einen wichtigen Moment seines Lebens Klarheit verschaffen wollte? Ich fand zu keinem Schluß, dachte aber auch nicht mehr daran, mein Verhältnis zu Paul Schulte durch ein Geständnis zu komplizieren. Inzwischen hatten wir den Punkt der Promenade er63
reicht, von dem der Weg zum Sanatorium abzweigte. Paul Schulte verhielt den Schritt und bat mich noch einmal: „Komm, geh mit mir einen trinken. Wenn ich daran denke, was ich früher in mich hineingießen konnte …“ Bei einer Geste, die wohl die Erinnerung unterstreichen sollte, geriet er aus dem Gleichgewicht, und ich mußte ihn vorm Fall bewahren. „Sei kein Frosch, Fritz. Ich habe noch keine Lust, in den Knast zurückzugehen. Im ‚Esplanade‘ drüben ist heut abend Tanz. Wir können uns noch mindestens eine Stunde hinsetzen bis zum Einschluß. Und wenn wir etwas länger bleiben: Du hast ja Übung darin, die Schwester an der Pforte zu bezirzen.“ Da war sie wieder, die Anspielung auf meinen Abend mit Barbara, diesmal unverstellt, unverschämt, und diesmal durchfuhr mich kein Schreck. Ich wurde ärgerlich, und meine Lust, Paul Schulte Paroli zu bieten, nahm zu. Ein bißchen zu forsch sagte ich: „Ich habe eben den vollkommenen Charme gepachtet. Und übrigens hat mich das Schubert-Gesinge doch durstig gemacht.“ Im „Esplanade“ schlug uns fröhliches Kurleben entgegen, mit Bumsmusik, Qualm, Gesang und Bierdunst. Man saß eng gedrängt, und manch eine, die tags das Rheuma plagte, und mancher, dem auf den Spaziergängen das Nitrangin-Fläschchen ein ständiger Begleiter war, zeigte sich von der vitalen Seite. Rheumatiker tanzten mit Kurzatmigen, Sklerotiker bekämpften die fortschreitende Gefäßverkalkung mit Zigarettendunst, Geplagte aller Sorten schwemmten ihre Leiden mit Bier hinweg. Mit Mühe fanden wir zwei unbesetzte Stühle an einem Tisch nahe der Kapelle, an dem drei Männer schreiend, um die Musik zu übertönen, einander Jagdgeschichten erzählten. Zum ersten Mal an diesem Abend konnte ich Paul Schultes Gesicht studieren. Ich erschrak, so grau und 64
feucht war seine Haut, so tief gruben sich die Furchen in Stirn und Wangen, so hoffnungslos stumpf war der Ausdruck seiner Augen. Er hielt den Kopf, offensichtlich ohne ein Wort zu verstehen, den drei Männern an unserem Tisch zugewandt, und wenn der Saxophonist, der sich hinter seinem Rücken produzierte, besonders laut tiefe Töne aus seinem Instrument holte, blinzelte er, als schaute er in zu helles Licht. Die Hände zwischen die Oberschenkel geschoben, die Schultern nach vorn gezogen, bot er ein erbarmenswürdiges Bild. Ich lächelte ihm zu, als er einmal für eine Sekunde in meine Richtung sah, konnte aber keine Reaktion von seiner Miene ablesen. Ohne Lidschlag erwiderte er meinen Blick. Nach einigen Minuten erstarb der Kapellenradau, das tanzende Volk verlief sich schwitzend an die Tische. Paul Schulte reckte sich, atmete tief, wie nach einer überstandenen Herzattacke, und lächelte nun seinerseits unsicher zu mir herüber, ehe er einen großen Schluck aus einem unaufgefordert servierten Bierglas nahm. Ich konnte gerade noch denken: Aber er darf doch nichts mehr trinken!, als er auch schon sagte: „Sieh mich nicht so strafend an. Einem Mann, dem Alkohol sein Leben lang ein Bedürfnis gewesen ist, wird es doch wohl noch erlaubt sein, den Mund mit Bier auszuspülen.“ Er sprach so laut, daß unsere Tischnachbarn zu ihm hinüberblickten und das freundlich-verlegene Lächeln von Leuten zeigten, die ohne Zutun in Privates hineingezogen werden, und dieses Lächeln machte ebenso verlegener Zustimmung Platz, als Paul Schulte sich nach einem weiteren Schluck, mit dem er das Glas leerte, direkt an sie wandte und ihnen erklärte, er hasse es, wenn sich jemand zur Amme über einen anderen aufwerfe. „Oder wie stehen die Herren dazu?“ Die Herren nickten natürlich, und das ermunterte Paul Schulte, einen Lobpreis auf den freien Mann hin65
terherzuschicken und den vorübereilenden Kellner am Jackett zu halten und eine Flasche Sekt zu ordern. Sein Gesicht strafte seine plötzlich ausgebrochene Lebhaftigkeit Lügen: Es blieb schweißnaß, grau, von Falten durchzogen, und in den Augen saß noch stumpf die Hoffnungslosigkeit. Indessen schwadronierte er drauflos, versuchte wichtig und witzig zu sein, trank, als der Sekt gebracht worden war, ein Glas auf einen Zug aus, ließ die Leute am Tisch wissen, er sei Schauspieler, auch, daß es ihm nicht gut gehe, machte sich wieder an den Sekt, trank, als stünde er vorm Verdursten, und bot so allen die Karikatur auf einen animierten Menschen. Meine Anwesenheit schien er vergessen zu haben, widmete sich ganz den drei Jägern und merkte nicht, daß er störte. Ich versuchte, sein Interesse wieder auf mich zu lenken, mischte meine Meinung in seinen Monolog, und als er sich mitten in einer banalen Geschichte tummelte, in der ein Zahnarzt zum Zahnarzt muß, sagte ich: „Paul, ich glaube, es ist Zeit, daß wir uns auf die Socken machen.“ Das war offensichtlich das unrechte Wort zur unrechten Zeit. Paul Schulte brach mitten im Satz ab, sah mich verwirrt an, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Dann entließ er alles aus sich, was er offensichtlich schon seit Tagen mit sich herumschleppte, all das Unbehagen, all seinen Zorn und all seine Angst. Erst sprach er in normaler Lautstärke, steigerte sich aber schon nach dem ersten Satz ins Schreien, unbekümmert um die Männer am Tisch, die vergebens versuchten, Paul Schultes Ausfälle zu ignorieren. „Ich gehe, wann es mir paßt“, sagte er, „und ich gehe auch nur mit dem, der mir paßt. Du behandelst mich wie einen toten Hund. Aber ich lebe noch, und solange ich lebe, werde ich verhindern, daß du noch einmal die Hand auf diese Hure legst. Denk nur nicht, du bist der einzige, dem sie das schenkt, was sie für ihre Gunst hält. Und also bist du 66
auch nicht der einzige, dem ich auf die Pfoten schlagen werde, solange ich es noch kann. Die andern kaufe ich mir auch noch, darauf kannst du Gift nehmen.“ Dann wurde er unvermittelt weinerlich, stellte sein Mitleid mit sich selbst genauso bedenkenlos zur Schau, wie er seinem Groll freien Lauf gelassen hatte. „Warum kann sie denn nicht warten, bis ich krepiert bin“, sagte er leiser und unter krampfhaftem Schlucken, „warum kann sie denn nicht warten? Es dauert doch nicht mehr lange.“ Er schlug die Hände vors Gesicht, saß zitternd da. Die Männer am Tisch wandten sich demonstrativ ab, und einer von ihnen, ein Schmalbrüstiger, der eher wie ein Gesundheitsapostel und Behördenangestellter denn wie ein Nachfahr Nimrods aussah, sagte so laut, daß ich es hören konnte, man solle eben nur soviel trinken, wie man vertragen könne, ohne den Zwang zu spüren, dreckige Wäsche in der Öffentlichkeit zu waschen. An anderen Tischen wurden Hälse gereckt, um den Herd des Krawalls auszumachen. Doch da die Kapelle wieder einsetzte, die Uraltschnulze „Wir beide sind nicht Romeo und Julia“ intonierte und niemand gesonnen war, eines lästigen Zwischenfalls wegen die karge Zeit bis zum erzwungenen Aufbruch zu verplempern, erstarb das Interesse an dem aus der Rolle gefallenen Mann schnell. Ich stand auf. Jetzt brauchte ich vor allem frische Luft, drängte mich zum Hofausgang durch das Gewühl der Tanzenden und stand endlich in der wohltuenden Kälte. Ich mußte wieder einen klaren Kopf bekommen, mußte versuchen, Paul Schulte um jeden Preis aus der Kneipe herauszubringen, weg vom Alkohol. Einen Augenblick lang dachte ich daran, das Sanatorium anzurufen, damit man einen Arzt und ein Auto schickte. Aber dann scheute ich mich doch vor dem Schritt, da er auch für mich Unannehmlichkeiten bringen würde – und noch einmal Scherereien konnte ich mir nicht leisten. Bei allem schalt ich 67
mich einen Dummkopf, weil ich es überhaupt hatte dazu kommen lassen, das Tanzlokal aufzusuchen. Ich hätte doch merken müssen, in welch desperatem Zustand er war. Wie lange ich mit Überlegungen und Selbstvorwürfen zugebracht habe, weiß ich nicht mehr. Als ich in den Saal zurückkehrte, war der Stuhl, auf dem Paul Schulte gesessen hatte, leer. Der Schmalbrüstige berichtete, mein Freund („Ihr seltsamer Freund“, sagte er) habe, kurz nachdem ich den Raum verlassen hätte, bezahlt und sei gegangen. „Der muß seinen Katzenjammer ausschlafen“, schickte er noch tröstend hinterher, „morgen sieht die Welt für ihn wieder anders aus.“ Ich nickte, verabschiedete mich, suchte meinen Mantel am Haken und ging. Auf der Straße war kein Mensch zu sehen. Er wird zum Sanatorium gegangen sein, überlegte ich. Oder zu Barbara ins Hotel? Plötzlich packte mich wieder der Ärger wie vor einer halben Stunde, als Paul Schulte mich mit seinen Anspielungen aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Sollte er doch gegangen sein, wohin er wollte! Nach diesem Auftritt hatte ich nichts mehr mit ihm zu schaffen. Auch wenn er morgen käme, sich zu entschuldigen: Für den Rest des Kuraufenthalts würde ich ihn meiden, ihn und seine Frau. Mit weit ausholenden Schritten ging ich den Weg hinan, der zum Sanatorium führte. Ich überholte Paul Schulte nicht.
7. So hatte ich mir das nicht vorgestellt, den Mann nicht und nicht die Umstände unserer Begegnung, unter denen selbst das Konsultationszimmer fast alles von seiner medizinischen Steifheit verlor. Der Mann war vielleicht 68
fünfunddreißig Jahre alt, jedenfalls jünger als ich, und von doch schon eher barocken Formen. Die fleischige Nase saß ihm ein wenig quer im Gesicht, das helle blonde Haar war sehr kurz geschnitten, wohl um der breiten Stirn, den weit ausladenden Backenknochen und dem mächtigen Kinn nicht noch durch eine imposante Frisur zusätzliches Gewicht zu verleihen. Als er aufstand und, den Bauch vorgeschoben, meine Hand mit überkräftigem Druck umschloß, hatte ich den Eindruck, vor einer schwer überschaubaren Masse Mensch zu stehen, und dabei bin ich durchaus nicht klein oder schmächtig. „Oberleutnant Herbst von der Morduntersuchungskommission“, sagte er, „und das ist der Genosse Leutnant Lenz.“ Fehlt nur noch ein Oberst Winter und ein Hauptmann Sommer, dachte ich trotz des Steins im Magen, ehe ich zum Stuhl neben dem Schreibtisch blickte, auf dem sonst die Patienten zu sitzen pflegten, und einen jüngeren, schmächtigen Mann mit flinken Augen und knochigen Händen wahrnahm, die einen Kugelschreiber hielten und mir wie auf dem Sprung zu sein schienen, jedes meiner Worte auf den Schreibblock zu bannen, der auf der Tischkante lag. Herbst dirigierte mich mit einer Handbewegung auf einen zweiten Stuhl, der direkt vor dem Schreibtisch plaziert war. Da war ich nun, zum ersten Mal in meinem Leben, in einer sehr ernsten Angelegenheit mit der Polizei konfrontiert und gewärtig, mich sogleich finsteren Vermutungen und strengen Fragen ausgesetzt zu sehen. Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß alles, was Sie hier aussagen, gegen Sie verwendet werden kann – diese Formel kannte ich aus Filmen. Doch sie blieb aus. Statt dessen musterte mich der Oberleutnant – er hatte wieder hinter dem Schreibtisch, also mir gegenüber, Platz genommen – aus wassergrauen Augen, nicht freundlich, auch nicht unfreundlich, nicht aufmunternd, nicht ein69
mal besonders interessiert, wie es mir vorkam. So also, dachte ich, ist es, wenn man mit der Staatsmacht zusammenstößt, und mir kamen die Augen von Zöllnern in den Sinn, die einen, kam man von einem Auslandstrip zurück, teilnahmslos ansahen und die aufs Haar zu der Stimme paßten, mit der sie einen nach Einkäufen und Geschenken fragten. Die unangenehme Reminiszenz aber schwand, löste sich unter einem Lächeln des Offiziers auf, das die Mundwinkel merkwürdigerweise nach unten zog, und auch die Gespanntheit und der Widerwille, die in mir immer bei der Erinnerung an Zöllner aufkommen, wichen, als ich ihn sagen hörte: „Ich kenne das auch, das blöde Gefühl, wenn man zu einer Sache befragt wird, die einem sowieso an die Nieren geht.“ Er sprach das Idiom der Gegend, das die Konsonanten aufweicht und die Vokale verdumpft, und das gab ihm fast den Status eines Privatmannes. Dann wurde er sachlich, fragte das Übliche zu meiner Person, obwohl ich den Eindruck hatte, er kenne sich schon gut in meinen Daten aus und wolle das alles nur der Form halber wissen und dem mitschreibenden Kollegen etwas zu tun geben. Als ich in meinen Auskünften zum Beruf kam, den ich mit „Lehrer“ angab, ergänzte er meine allzu dürre Charakterisierung: „Lehrer für Deutsch, Englisch, Kunsterziehung, wenn ich recht unterrichtet bin.“ Ich nickte. Hatte er sich bei der Verwaltung des Sanatoriums erkundigt? Mir fiel nicht ein, ob ich dort derlei Angaben überhaupt hatte machen müssen. „Nun erzählen Sie einmal“, begann er, sich im Stuhl zurücklehnend, „wie Sie mit Herrn Schulte zusammengetroffen sind – oder wieder zusammengetroffen sind, muß man wohl korrekt sagen.“ Und ich erzählte. Die Worte gingen mir leicht von der Zunge, leichter, als ich während des stundenlangen Wartens auf diese Vernehmung befürchtet hatte, so daß 70
ich mich wunderte, woher mir solche Beredsamkeit zuwuchs, trotz des Schocks, den die Nachricht vom Tod Paul Schultes in mir ausgelöst hatte. Ich bildete regelrechte Sätze, ließ mir Details nicht entgehen, freute mich an dieser und jener Formulierung, die mir gelungen vorkam („Paul Schulte“, sagte ich zum Beispiel, „war für mich so etwas wie die Auferstehung eines Ich, das ich für immer begraben glaubte“), benahm mich also ungewollt wie einer, der unversehens in die Lage gerät, in einer brisanten Angelegenheit wichtig genommen zu werden. Und Herbst förderte den Fluß meiner Auskünfte durch ermunterndes Mienenspiel, wie ein Erzieher, dem daran liegt, daß sein Zögling eine Prüfung besteht. Nur als ich dann zu Ende gekommen war, kam es mir so vor, als schwände die wohlwollende Ermunterung aus seinem Gesicht und mache einer Betrübnis Platz, wie wir sie schon aus Kinder- und Schultagen kennen, wenn man mit uns unzufrieden ist, weil wir wieder einmal trotz größten Entgegenkommens von seiten der Autoritäten patzen, alles schöne Einverständnis in Unordnung bringen. „Sie haben sich also von Herrn Schulte gestern abend gegen einundzwanzig Uhr verabschiedet“, nahm Herbst den Schluß meiner Darstellung ziemlich ungenau auf. „Ich habe mich eben nicht von ihm verabschiedet“, wandte ich ein, „denn als ich wieder in den Saal kam …“ Herbst winkte ab, sah fragend zu seinem Protokollanten hinüber, und als der nickte, fuhr er fort: „Sie waren mit Schulte im ‚Esplanade‘, und er ist dort ziemlich betrunken geworden, an Bier und Sekt. Stimmt das?“ „Ja, sehr betrunken, so schien es mir jedenfalls. Sicherlich hatte er vorher schon getrunken. Ich bin, als er nicht mehr im Saal war, sofort ins Sanatorium zurückgegangen. Ich meine, was hätte ich tun sollen?“ Die Sätze gerieten mir jetzt längst nicht mehr so brillant. Ich setzte, da der Oberleutnant das Wort nicht nahm, son71
dern mich weiterhin sorgenvoll ansah, meine Erklärung fort: „Wir hatten doch Streit, nicht wahr? Vielmehr: Er hatte mich beschimpft, und ich war wütend oder doch aufgebracht. Wenn einer einem solche Sachen an den Kopf wirft …“ „Welche Sachen?“ fragte Herbst. Alle Gutmütigkeit war nun aus seinem Gesicht gewischt. Es war nicht sonderlich warm im Zimmer, und doch traten mir, das spürte ich voll Verwunderung, Schweißtropfen auf die Stirn. Mir war eingefallen, daß ich bisher Barbara nicht mit einem Wort erwähnt hatte, so als sei sie nicht auch die ganze Zeit über in Wiedehopfen gewesen und als hätte ich nicht … Wenn Freud mit seiner Lehre von der Verdrängung als einer Zensurfunktion, unangemessene Ereignisse, quälende Situationen, nicht gern erinnerte Personen ins Unterbewußtsein zu verbannen, jemals recht gehabt hat, dann in diesem Fall. Nun begannen mir auch die Handflächen feucht zu werden, und meine Blicke wanderten immer häufiger zwischen Herbst und dem Leutnant hin und her. „Ich habe da noch etwas vergessen“, sagte ich und registrierte, daß meine Stimme ziemlich kläglich klang. „Vielleicht etwas ganz Nebensächliches.“ „Na also“, sagte Leutnant Lenz mit grimmer Befriedigung, was ihm einen verweisenden Blick seines Vorgesetzten eintrug, der mich mit einladender Handbewegung und nun wieder lächelnd entspanntem Gesicht zum Fortfahren ermunterte und sagte: „Ich bin ganz Ohr.“ „Also, da ist noch Frau Schulte – Barbara“, begann ich und kam mir vor wie ein Schwimmer, der einen Kopfsprung in eiskaltes, unbekanntes Gewässer wagt. Noch nie seit Kindertagen ist mir ein Geständnis schwerer gefallen als dieses, abgelegt vor einer neutralen Instanz, die vor allem an den nackten Tatsachen meiner Beziehungen zu Barbara Schulte interessiert war: Wie72
derbegegnung mit einer verheirateten Frau nach zwanzig Jahren: Aufnahme intimer Beziehungen, womöglich unter dem Aspekt, Vergeltung zu üben für eine damals als Unrecht empfundene Behandlung (letzteres aber nicht unbedingt wichtig für die Rekonstruktion eines Vorgangs, als dessen Resultat ein Toter zu verbuchen ist); Ehemann erhält Kenntnis vom Verhältnis, stellt Liebhaber zur Rede, beschimpft ihn, bedroht ihn und so weiter. Vergebens bemühte ich mich, Gefühle, Zweifel, Bedenken, die ich in meine Darstellung flocht, zu ihrem Tenor zu machen. Herbst blieb bei seinem Lächeln, nickte nur einige Male, doch nie so, daß ich den Eindruck gewinnen konnte, er nähme Anteil an meinem Erlebten, und Lenz schrieb, ohne aufzuschauen. Später, als ich Marianne dasselbe erzählte, in vertrauter Umgebung und bei einer Kanne Kaffee, war ich gelöster, zufriedener, mir alles von der Seele reden zu können, trotz der Tränen meiner Frau und dem gelegentlich eingeworfenen „O du Schuft!“. Aber da lag ja auch schon alles hinter mir, und ich saß mit einer Frau zusammen, die eigentlich mehr an der Affäre litt als ich, und nicht mit einem Rechercheur, dessen einzige Aufgabe eben die Recherche ist. Hier, am Freitagnachmittag um halb vier im Konsultationszimmer des Chefarztes eines ziemlich modern eingerichteten Kursanatoriums, wollte man nur den nackten Vorgang kennenlernen, und je länger ich dazu beitrug, die Tatsachen durch meine Aussage zu klären, desto bedrohlicher kam mir zum Bewußtsein, daß ich es eigentlich war, dem nach Motiv und Möglichkeit der Tod Paul Schultes am ehesten anzulasten wäre, wie es in der Sprache der Polizei und der Gerichte wohl heißt. Der Oberleutnant sah mich schweigend an, nachdem ich meine Aussage beendet hatte, so als warte er noch auf Zusätze. Schließlich fragte er: „Ist das alles?“ 73
Ich nickte. Die Kehle war mir trocken geworden, nicht nur vom Reden, und – so seltsam das klingt – ich schämte mich vor den beiden Männern, die doch, weiß Gott, Dringlicheres zu tun hatten, als wegen einer erotischen Begebenheit über mich den Stab zu brechen. Ich genierte mich so sehr, daß die Angst, man könne mich mit Paul Schultes Tod in Verbindung bringen, vorübergehend zugedeckt wurde. Erst als Herbst wieder zu reden begann, erinnerte ich mich plötzlich und mit Schrecken an meine prekäre Situation. „Fassen wir einmal zusammen“, sagte er, scheinbar unbeteiligt, „was unsere Unterhaltung ergeben hat – nachdem Sie, Herr Krüger, sich dazu bequemt haben, auch noch den Hintergrund Ihrer jüngsten Beziehung zu den Schultes aufzuhellen!“ Er stand auf, ging mit schweren Schritten, die die Spritzen, Glasschälchen und Medikamentenflaschen im weiß emaillierten Instrumentenschrank klirren ließen, im Zimmer umher, die Hände auf dem Rücken zusammengelegt, den massigen Kopf mit dem kurzgeschnittenen Haar nach vorn geschoben. Sein Resümee ließ für mich nur einen Schluß zu: Der Lehrer Fritz Krüger hat den Schauspieler Paul Schulte nach einem Streit getötet, weil dieser in Erfahrung gebracht hatte, daß ein intimes Verhältnis zwischen Krüger und Barbara Schulte bestand. Herbst vermied zwar, diesen Schluß auszusprechen, aber er setzte die Worte, gruppierte die Tatsachen so, daß man zu keiner anderen Antwort finden konnte. „Was halten Sie von dieser Geschichte?“ fragte er, nachdem er zum Ende gekommen war und wieder hinter dem Schreibtisch Platz genommen hatte. „Nichts!“ sagte ich erregt. „Gar nichts! Sie wollen einen Schuldigen haben, so schnell wie möglich.“ Ich hatte nur noch Angst, nicht beweisen zu können, daß ich mit Paul Schultes Tod nicht in Zusammenhang zu bringen sei. „Man kennt das doch: Ein Kriminalist muß schnel74
len Erfolg haben, wegen seines Renommees und so …“ In diesem Augenblick muß ich das Bild eines ziemlich lädierten Menschen geboten haben, hin und her geworfen zwischen Furcht und Bedauern, solchen Unsinn verzapft zu haben, kaum daß ich die absurde Vermutung ausgesprochen hatte. Zu meinem Erstaunen blieb Herbst gelassen, legte sogar dem Leutnant, der mich wohl spontan verweisen wollte, beruhigend die Hand auf den Arm. Er sagte: „Ich will nicht wissen, woher Sie Ihre Weisheit über Kriminalisten haben. Aber versetzen Sie sich einmal in meine Lage. Also: Ihnen wird morgens gemeldet, in Bad Wiedehopfen ist ein Toter gefunden worden, offensichtlich durch fremde Einwirkung gestorben. Mord nennt man das landläufig, Mord oder Totschlag. Sie machen sich von der Bezirksstadt auf den Weg, nachdem Sie veranlaßt haben, daß bei der Meldebehörde seines Heimatkreises Auskünfte über ihn eingeholt werden. Sie sprechen mit dem ABV, in dessen Bereich die Tat geschehen ist, und erfahren: Am Morgen des sechsten Dezember neunzehnhundertzweiundsiebzig entdecken zwei Zimmerleute, als sie kurz vor sieben Uhr ihre Arbeit antreten wollen, die Leiche eines etwa fünfzigjährigen Mannes auf einer Baustelle in Bad Wiedehopfen. Inzwischen nimmt der Gerichtsmediziner Untersuchungen vor, bestätigt die Diagnose eines einheimischen Arztes, der die Leiche als erster untersucht hat, daß der Mann vor einundzwanzig Uhr gestorben sein muß, weil er von einer Schicht Neuschnee bedeckt war und der Schneefall erst um diese Zeit einsetzte. Nachdem man die Leiche ins Gerichtsmedizinische Institut transportiert hat, machen Sie sich daran, die Umstände des Todes festzustellen. Der ABV hat gut vorgearbeitet, hat erfahren, daß der tote Paul Schulte Kurpatient im Sanatorium ‚Sonnenblick‘ war, daß auch seine Frau sich am Ort aufhält. Ferner weiß er bereits: Schulte ist zum letzten Mal gesehen 75
worden, als er im ‚Esplanade‘ eine Flasche Sekt trank. Als langjähriger Polizist eines Kurortes hat er nämlich sofort die Gaststätten abgeklappert und erfährt vom Leiter des ‚Esplanade‘, der betreffende Mann sei am Abend zuvor mit einem Gast, offensichtlich einem Bekannten, in Streit geraten, habe danach das Lokal in Rage verlassen, und sein Begleiter sei ihm vielleicht fünf Minuten später gefolgt. So, all das steht bereits fest, wenn Sie in Bad Wiedehopfen eintreffen. Fest steht auch, daß man Schulte im Sanatorium bis zum Morgen nicht vermißte, weil er sich, wie vorgeschrieben, gegen neunzehn Uhr zurückgemeldet, den Tagesrapport bei der diensttuenden Schwester abgeliefert und seine Medikamente für die Nacht in Empfang genommen hat und weil er zudem ein Einzelzimmer bewohnte. Was würden Sie als nächstes unternehmen?“ Die Frage war ernsthaft an mich gestellt, war keine rhetorische Floskel. Offenbar, dachte ich, ist er einer von den didaktisch vorgehenden Bullen (ich konnte das diskriminierende Wort nicht aus meinen Gedanken drängen, so sehr brachte mich die Penetranz dieses Mannes auf), einer von denen, die einen zwingen, an dem Netz mitzuknüpfen, in dem man gefangen werden soll. Das kam mir besonders hinterhältig vor. „Lassen Sie mich in Frieden mit Ihrer Geschichte!“ schrie ich. „Schließlich bin ich kein Bulle!“ Herbst ignorierte die Beleidigung, runzelte nur für einen Augenblick die Stirn und sah mich dann wieder sanft an, als hätte ich ihm nicht vors Schienbein getreten. Diese unvermutete Reaktion ließ meine Wut in sich zusammenfallen, und ich sagte: „Entschuldigen Sie, aber Sie können einen mit dieser sanften Tour bis aufs Blut reizen.“ „Für einen Lehrer haben Sie ein seltsames Vokabular“, stellte er dann doch noch fest, und ich verbiß mir die Antwort, daß ich den Terminus technicus von meinen Schülern aufgeschnappt hätte. 76
Er aber wiederholte ohne Übergang: „Was würden Sie als nächstes unternehmen?“ Mir kam das Spiel noch immer abgeschmackt vor. Ich hatte mich aber, schien mir, durch meine wenig qualifizierte Äußerung so sehr in die Ecke manövriert, daß ich froh sein konnte, wenn man mit mir überhaupt noch halbwegs freundlich umging, und so gab ich zur Antwort: „Wahrscheinlich würde ich die Frau des Toten aufsuchen.“ „Cherchez la femme!“ rief Herbst, lachte mit weitoffenem Mund und zeigte dabei zwei Reihen erstaunlich kleiner und auffallend weißer Zähne. „Aber Sie haben natürlich recht: Wir sind gleich zu Frau Schulte gegangen.“ Er machte wieder eine Pause, wohl um mir Gelegenheit zu geben, Neugier zu entwickeln, und ehe er fortfuhr mit dem Privatissimum über das Vorgehen eines Kriminalisten, wandte er sich an seinen Untergebenen mit der Bitte, er möge doch versuchen, in diesem „Tempel der Gesundheit“ eine Tasse Kaffee aufzutreiben. „Rauchen ist in diesen heiligen Hallen wohl so etwas wie ein Verbrechen“, sagte er noch und strich über die Brusttasche seines Jacketts, aus der die stumpfen Enden zweier Brasil-Zigarren hervorsahen. Als Lenz die Tür hinter sich geschlossen hatte, rekelte er sich in dem hölzernen Schreibtischsessel des Chefarztes und fragte ohne Übergang: „Wann haben Sie eigentlich vom Tod Schultes erfahren?“ Und um nur ja nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, er schenke meiner Auskunft Glauben, schickte er schnell hinterher: „Angenommen natürlich, Sie wußten gestern abend nicht schon davon.“ „Beim Frühstück. Wandrey hat es mir erzählt– das ist der Mann, mit dem ich das Zimmer teile.“ „Und wann haben Sie davon erfahren, daß sich die Polizei um den Tod Paul Schultes kümmert?“ „Als ich vom Badehaus zurückkam. Schwester Maria sagte es mir. Das war gegen zwölf, kurz vorm Mittages77
sen. Sie sagte, zwei von der Kriminalpolizei hätten sich im Zimmer des Chefarztes –, Entschuldigung – eingenistet.“ Mir wurde wieder mulmig, weil ich zu wissen glaubte, welche Frage auf mich zukommen würde. Wahrscheinlich: Hat es Sie denn nicht beunruhigt, daß man sie fast vier Stunden lang nicht zur Vernehmung rief, nachdem man Ihnen mitgeteilt hatte, Sie sollten das Haus nicht verlassen und sich zu einem Gespräch bereit halten? Natürlich hatte mich das beunruhigt. Ich saß auf meinem Zimmer, versuchte zu lesen und lauschte doch auf jeden Schritt im Korridor. Wandrey hatte ich nach dem Mittagessen nicht mehr gesehen. Und es war doch Zeit der Bettruhe! Es hielt mich nicht im Raum, ans Schlafen war überhaupt nicht zu denken. Ich ging durch die menschenleeren Gänge, am Schwesternzimmer vorbei, das nicht besetzt war, wie ich durch die offenstehende Tür feststellte, ging die Treppe hinunter in den Tagesraum, in dem sich die ärmliche Bibliothek des Sanatoriums befand, sah zur Pförtnerloge hinüber, bemerkte, daß sich dort ein Mann in Polizeiuniform aufhielt, der mir schon einige Male beim Spaziergang durch den Ort radelnd begegnet war. Ich las in den ausliegenden Zeitungen von neuen Produktionserfolgen, überflog die Ansetzungen der Fußballoberligaspiele für das kommende Wochenende. Und immer ging mir der Gedanke im Kopf herum: Die lassen dich warten, lassen dich im eigenen Saft schmoren, damit du schön weich wirst, ein richtig bequem zu verschlingender Fraß … Wenn ich heute an den Tag zurückdenke, so mit ziemlich gemischten Gefühlen. Manches habe ich vergessen, Kleinigkeiten, zum Beispiel, ob ich an dem Tag Appetit gehabt habe oder ob mir die Nachricht vom Morgen so auf den Magen geschlagen war, daß ich trotz des permanenten Hungers das Sanatoriumsessen verschmäht hatte, oder ob Wandreys Miene am Mittags78
tisch wirklich so abweisend gewesen ist, wie ich mich zu erinnern glaube. Beim Frühstück jedenfalls, als man mir von Paul Schultes Tod erzählte, dessen erinnere ich mich gut, war er mir gegenüber noch freundlich gewesen, hatte davon gesprochen, daß der Tod eines so schwer Kranken nicht verwunderlich sei, zumal dann nicht, wenn er sich keine Schonung auferlegt, keine Vorsicht walten lasse. Ich erinnere mich auch noch daran, wie schwer es mir gefallen ist, den Tod Paul Schultes richtig einzuordnen. Benommen saß ich vor dem Malzkaffee und versuchte, mich mit dem Gedanken zu beruhigen: Hättest du ihn hier nicht zufällig wiedergetroffen und wäre er – früher oder später – gestorben, du hättest wahrscheinlich nie davon erfahren. Aber die Überlegung funktionierte nicht, ich war ihm wiederbegegnet, er hatte, beladen für mich mit Vergangenem, mein Dasein in drei Tagen stark beeinflußt, ich war kurz vor seinem Tod mit ihm zusammen gewesen, und das nicht nur zu einem unverbindlichen Gespräch. Ich dachte daran, nicht zum Kohlensäurebad zu gehen, machte mich dann aber doch auf den Weg ins Badehaus, und die immer redselige Frau, die mir das sprudelnde Wasser in die Kupferwanne einließ, wußte bereits zu erzählen, daß ein Mann ermordet aufgefunden und die „Kripo“ schon dabei sei, nach dem Täter zu suchen. Ich lag im lauwarmen Wasser und hatte nicht wie sonst meinen Spaß an der Beobachtung, wie sich die Kohlensäurebläschen auf der Haut und im Haar festsetzten, und eine erste Ahnung stieg in mir auf, was auf mich zukommen würde, wenn sich die Nachricht vom Polizeieinsatz nicht als Geschwätz einer alten Frau herausstellen sollte. Jetzt saß ich also, Stunden später, durch Warten und selbstauferlegte seelische Anstrengung mürbe wie ein Kaninchen im Essig, in diesem zweckentfremdeten Untersuchungszimmer und harrte der Frage, ob ich denn nicht beunruhigt gewesen sei, weil man mich nicht frü79
her zur Vernehmung gerufen hatte. Doch mangelnde Erfahrung mit Polizisten und deren Art zu denken hatte mich auf den Holzweg geführt. Statt der von mir vermuteten Auskunft wollte Herbst etwas wissen, auf das ich nicht vorbereitet war. „Der Weg zum Badehaus“, fragte er, „führt der nicht am Hotel ‚Stadtmitte‘ vorüber?“ Hotel „Stadtmitte“ und Barbara Schulte, das waren, in dem Augenblick, da die Frage gestellt war, für mich wieder zwei Seiten ein und derselben Sache, und ohne nachzudenken, sagte ich deshalb: „Wenn Sie das meinen: Ich war heute noch nicht bei Frau Schulte.“ Herbst nickte, ein Lehrer, zufrieden über die mitgehende Intelligenz seines Schülers, Die Flügel seiner quergestellten Nase blähten sich vor Vergnügen. „Und warum nicht?“ Ja, warum nicht? Die natürlichste Sache der Welt wäre gewesen, wenn ich, sofort nachdem ich von Paul Schultes Tod erfahren hatte, Barbara aufgesucht hätte. Aber ich hatte das nicht getan, hatte es nicht einmal als dringlich empfunden. Zwar hatte ich für einen Moment erwogen, es zu tun, doch diese Idee sogleich abgewehrt wie etwas äußerst Lästiges und bis zur Stunde nicht mehr einen Gedanken daran verschwendet, einen Kondolenzbesuch zu machen. Da mir keine formulierbare Erklärung für mein Versäumnis einfiel, zuckte ich die Achseln. „Könnte es sein“, Herbst setzte die Worte langsam und umständlich, wie um bei mir nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, er ziehe einen voreiligen Schluß, „daß Sie nicht den Mut aufbrachten, mit der Witwe Ihres Opfers … Nein, lassen Sie es mich anders formulieren: War Ihnen der Besuch bei Frau Schulte aus irgendeinem Grund unangenehm?“ Noch immer unfähig, exakt zu antworten, erwiderte ich mit einem gänzlich deplazierten „Jawohl“. 80
„Und Ihre Unlust hängt wohl mit Ihrem – sagen wir einmal – Erlebnis mit Frau Schulte zusammen?“ „Ich glaube, ja.“ Allmählich fand ich den rechten Gebrauch der Sprache wieder. „Vielleicht war es feige von mir, daß ich auf dem Weg zum Badehaus …“ Lenz kam ins Zimmer zurück, ein Tablett mit einer Kanne und drei Tassen in den Händen. Sofort ließ Herbst sich ablenken, trat dem ungeschickt balancierenden Leutnant entgegen und nahm ihm die Last ab. Die nächste Minute verging, indem Tassen gefüllt, am schwarzen Gebräu geschnuppert („Riecht wie echt“, stellte Oberleutnant Herbst verwundert fest) und erste Schlucke geschlürft wurden. Es war wie bei meinem Onkel Carl, nur daß das Gläschen Kognak fehlte, das bei Onkel Carl nie fehlt. Mitten in das Idyll hinein sagte Herbst, während er die Tasse auf den Schreibtisch setzte: „Übrigens haben Sie gut daran getan, nicht bei Frau Schulte vorzusprechen. Lesen Sie mal vor, Genosse Lenz, was die Dame heute früh bei ihrer Befragung zu Protokoll gegeben hat.“ Und der Genosse Lenz las: „ ‚Wenn sich bewahrheiten sollte, daß mein Mann durch die Einwirkung eines anderen gestorben ist, so hege ich keinen Augenblick Zweifel daran, daß Herr Fritz Krüger für die Tat in Frage kommt. Als Grund vermute ich die oben dargelegten intimen Beziehungen, die Herr Krüger und ich aufgenommen haben und von denen ich meinen Mann am Morgen seines Todestages in Kenntnis setzte. Ich nehme an, daß es zwischen den beiden Männern zum Streit gekommen ist, da mein Mann davon gesprochen hat, er werde Herrn Krüger zur Rede stellen und ihm die verdammten Hammelbeine langziehen. So hat er sich wörtlich ausgedrückt.‘ – Ende des Zitats.“ „Wie finden Sie das?“ Oberleutnant Herbst blickte angestrengt in seine Tas81
se, als seien in dem schwärzlichen Sud Entdeckungen zu machen, und sah dann mich an, als von mir keine Antwort kam. Alles schien sich an diesem Nachmittag gegen mich zu kehren, und das lähmte mich nicht nur im Denken, vielmehr auch in den Bewegungen: Kopf, Beine und Arme waren wie nicht mehr meinem Willen unterworfen. Ich versuchte, mir ins Gedächtnis zurückzurufen, was mich am Morgen bewogen hatte, am Hotel „Stadtmitte“ vorüberzugehen. Es gelang mir nicht so recht, ich konnte nur dieses unbestimmte Gefühl reproduzieren, zusammengesetzt aus der Müdigkeit nach dem Kohlensäurebad und der widrigen Vorstellung, Barbara womöglich weinen zu sehen. Seltsamerweise fühlte ich mich jetzt, da man ihre Aussage vorgelesen hatte, gerechtfertigt, gerechtfertigt und empört. Wie konnte sie nur … „Eine große Eroberung oder Wiedereroberung scheinen Sie ja nicht gemacht zu haben.“ Mit mehr Energie, als nötig war, schob Oberleutnant Herbst den Stuhl zurück, so andeutend, die Kaffeepause und also die Gemütlichkeit sei zu Ende. Er stand auf, stellte sich nah vor mich hin und sah aus beträchtlicher Höhe auf mich hinunter. „Wen würden Sie“, fragte er, „nach allem der Tat für verdächtig halten?“ Er war sozusagen in seine amtliche Stimme geschlüpft, und die war fast frei von dialektischer Färbung, klang monoton, emotionslos, überlegen. „Fassen wir noch einmal zusammen.“ Ich hob abwehrend die Hände, und Oberleutnant Herbst hatte ein Einsehen und erließ mir eine Repetition. Dennoch wurde sein Ton nicht persönlicher, als er mir mitteilte, daß genügend Verdachtsmomente gegen mich zusammengekommen seien, um eine Inhaftierung zu rechtfertigen (dazu nickte Leutnant Lenz gewichtig). Die Untersuchung aber sei noch nicht abgeschlossen, so daß sich möglicherweise neue Erkenntnisse ergäben und so weiter. Ich erklärte mir das damit, daß man ei82
nem Burschen wie mir – Lehrer und natürlich unbescholten, dumm und sentimental genug, sich in eine Affäre zu verstricken, deren Konsequenzen er nicht absehen konnte – ein solches Verbrechen denn doch nicht recht zutraute; an dem Urteil hatte offenbar auch Barbaras Denunziation nichts ändern können. Ich blieb also auf freiem Fuß, wie man so treffend sagt, hatte mich aber weiter zur Verfügung der Polizei zu halten, was unter anderem hieß, ich durfte den Ort nicht verlassen (das war mir aber schon durch den Sanatoriumserlaß verboten) und mußte, wenn ich aus dem Haus ging, an der Pforte melden, wo ich zu finden sei. Ehe ich gehen konnte, schrieb Leutnant Lenz mit zwei Fingern, aber erstaunlich schnell ein Protokoll meiner Vernehmung in die Maschine der Chefarztsekretärin. Ich las es durch, fand auf beachtlich präzise, wenn auch mein Deutschlehrerempfinden manchmal verletzende Formulierungen gebracht, was ich im Laufe von fast einer Stunde vielwortig ausgesagt hatte, unterschrieb und verabschiedete mich mit einer steifen Verbeugung. „Und wenn Ihnen noch etwas zur Sache einfallen sollte“, sagte Oberleutnant Herbst, jetzt wieder freundlich im Idiom der Landschaft sprechend, „melden Sie sich beim ABV. Der hat sein Büro in der Breitscheidstraße, gleich neben dem Kino. Da ist immer einer von uns zu finden. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Abend.“ Das letzte war ohne Spott gesagt.
8. Ich ging sofort in mein Zimmer, legte mich, gegen alle Anordnung und gute Sitte, in Kleidern und Schuhen aufs Bett und schlief ein, ohne auch nur noch einen Gedanken an die Erlebnisse seit dem vorangegangenen Abend 83
zu setzen, schlief fast zwei Stunden lang und traumlos. Das ist eine Besonderheit meines seelischen Habitus, daß ich, werden die nervlichen Belastungen zu schwer, in den Schlaf flüchte, eine Besonderheit übrigens, die mir schon in manch prekärer Lage geholfen hat. Ich wurde wach, als Wandrey den Raum betrat und das Licht anknipste, konnte mich aber nicht zurechtfinden in meiner Umgebung, bis mein Zimmergenosse mich ansprach. Er schien bei bester Laune zu sein, redete in dem betont forsch anteilnehmenden Ton, in den viele fallen, wenn sie glauben, jemandem, der angeschlagen worden ist, wieder auf die Beine helfen zu müssen. Anscheinend hatte die Tatsache, daß ich noch nicht verhaftet worden war, genügt, um die abweisende Haltung, die ich noch am Mittagstisch empfunden hatte, zum Schmelzen zu bringen. Und dann war natürlich auch Neugier im Spiel (die Gesprächseröffnung mit „Na, wie war’s?“ signalisierte das sofort), doch ich stellte mich, auch als ich meine Sinne wieder beieinander hatte, maulfaul, gab ungenügend Auskunft, hielt meine Antworten so allgemein wie möglich. Aber das dämpfte des Dichters Appetit auf Information nicht, so mußte ich ziemlich grob werden, um mir Ruhe und die Möglichkeit, das Zimmer verlassen zu können, zu erkämpfen. „Man hat mir nichts nachweisen können“, sagte ich nach Fernsehganovenmanier, schwang die Beine vom Bett, nahm meinen Mantel aus dem Schrank und ging stracks zur Tür hinaus. Beim Abgang sah ich noch ein ungläubiges Lächeln angesichts von soviel Abgebrühtheit auf Wandreys Gesicht erblühen. Ich hatte durchaus keine Lust, den Abend mit aufmunternden Reden aus Poetenmund und selbstgestrickten Mutmaßungen zu verplempern. Der Speisesaal lag schon im Dunkeln; ich war nicht sonderlich betrübt, das frugale Souper versäumt zu haben. Der Weisung des Oberleutnants folgend, meldete 84
ich an der Pforte, ich hätte einen Spaziergang in den Ort vor, was die diensttuende Schwester, offensichtlich instruiert, mit gewichtiger Miene zur Kenntnis nahm und auf einen Zettel notierte. Auf der Terrasse vorm Haus atmete ich tief durch, kehrte das Gesicht zum Himmel, sog die kalte Abendluft in die Lungen und sah zum ersten Mal, seit ich in Wiedehopfen angekommen war, blitzende Sterne und dazu einen fast vollen Mond, der die Wälder rings bläulich aus den heller glänzenden Wiesen hervortreten ließ. Entgegen ärztlicher Kuranweisung, alle Wege im schnellstmöglichen Tempo zurückzulegen, schlenderte ich bergab, aufs Zentrum des Ortes zu. Ich fühlte mich auf schwer erklärbare Art vom Druck dieses Tages befreit, und erst als ich vorm Hotel den roten Fiat Barbaras sah, drängte sich mir all das Ungelöste, Belastende wieder auf. Einen Atemzug lang erwog ich, Barbara sofort aufzusuchen und sie wegen ihrer Aussage vor der Kriminalpolizei zur Rede zu stellen (ihr zu dem Verlust ihres Mannes zu kondolieren, kam mir in diesem Augenblick nicht in den Sinn, so sehr beschäftigte mich die Frage nach den Gründen, aus denen sie mich mit solch schwerem Verdacht belastet hatte), verwarf dann aber den Gedanken. Zu stark war mein Drang, für ein paar Stunden alles zu vergessen; ich fühlte mich wie ein Schüler, der am Tag vor einem schwierigen Examen noch einmal alles Bedrückende hinter sich lassen will. Ich verspeiste an einem Stand ein Paar Wiener, um meinen jäh aufgekommenen Hunger zu stillen, und beschloß, ins Kino zu gehen, wo an diesem Abend ein sowjetischer Film vorgeführt wurde und ich also ohne anzustehen eine Einlaßkarte bekam. Es gelang mir tatsächlich, über den Konflikten, die Planerfüllung und darüber versäumtes Eheleben (oder umgekehrt, ich weiß es nicht mehr so genau) mit sich brachten, für anderthalb dunkle Stunden meine Probleme zu vergessen. Dafür waren sie am nächsten Morgen desto bedrän85
gender wieder da. Sie ließen mich während der Frühgymnastik nicht los, nicht während der Viertelstunde beim Masseur, und sie verfolgten mich sogar bei der Schinderei auf dem Ergometer, der ich mich an diesem Tag zwischen zehn und halb elf, Atemgerät vor Mund und Nase, zu unterziehen hatte. Während ich schwitzend die immer schwerer zu bewältigenden Pedale trat, um zu erweisen, wie hoch Puls und Blutdruck ohne Einschränkung meines Wohlbefindens zu treiben wären, formulierte ich an Fragen, mit denen ich Barbara gegenübertreten wollte. Dann lag ich, ausgepumpt, für zehn Minuten auf einer Pritsche, auf daß Atmung und Herzschlag sich beruhigten, und noch immer hatte ich den Einstieg zu einem Gespräch nicht gefunden, war mir nicht einmal darüber schlüssig, welchen Ton ich anschlagen sollte. Vielleicht, dachte ich, tut es ihr leid, daß sie mich unbedacht belastet hat. Sollte ich mich also als der Beleidigte geben oder als einer, der eine zeitweise Verwirrung des Urteils großmütig nachsieht? Schließlich entschied ich mich für die begütigende Geste, die mir als Lehrer, Geliebter aus vergangener Zeit und neuerdings wieder Komplize für einen Abend am ehesten anzustehen schien. „Ich verstehe ja“, wollte ich vielleicht sagen, „den Schock, den dir Pauls Tod versetzt hat“ – oder allenfalls: „Nimm es mir nicht übel, aber ich verstehe dich nicht ganz.“ Aber ich kam nicht dazu, meine Rolle abzuziehen. Sie saß mir gegenüber in dem spärlich mit billigen Möbeln ausgestatteten Hotelzimmer (Übernachtungspreis zwölf Mark fünfzig), war ganz unzugänglich, und ihr Gesichtsausdruck ließ mich befürchten, sie sei überhaupt nicht gesonnen, mich anzuhören. Ohne Make-up und ohne die falschen Wimpern, die sie wohl aus Pietät nicht angeklebt hatte, sah sie so blaß und so bloß aus, daß ich erschrak. Selten habe ich einen Menschen mehr verändert gesehen als sie an diesem Vormittag: Mit ihrer 86
kosmetischen Maske schien alles Selbstbewußtsein von ihr abgefallen zu sein und mit ihr aller Reiz, sie wirkte nur noch verschlossen, fast trotzig. „Was willst du hier?“ fragte sie, und schon am Klang ihrer Stimme war zu erkennen, daß sie es nicht zu einem Gespräch, wie ich es mir vorgestellt hatte, kommen lassen wollte. Sie trug noch den Morgenmantel, ein Dederonprodukt mit großen bunten Blumen, der die Blässe ihrer Haut unterstrich. „Willst du mir dein Beileid aussprechen, nach allem, was geschehen ist?“ „Barbara, wie kommst du nur darauf …“, mehr bekam ich fürs erste nicht über die Lippen. Ich weiß nicht mehr, ob mir das Erstaunen oder die Empörung die Sprache verschlug. War es denn wirklich denkbar, daß diese Frau über die erste Erregung hinaus ihren absurden Verdacht aufrechterhielt? Ich hatte mich bisher stets meiner Menschenkenntnis gerühmt, war mir immer sicher gewesen, schon von Berufs wegen Zugang zur Psyche anderer zu haben. Hier aber verließ mich meine Sicherheit. Eine ungefähre, verworrene Geste war alles, was ich ihr entgegenhalten konnte. Aus Barbara aber brach ein Redestrom, auf dem alles trieb, was sich an Argumenten und Animositäten gegen mich zusammentragen ließ. Sie sprach hastig, wie aufgezogen und so, als habe sie es darauf angelegt, mich gar nicht erst zu Wort kommen zu lassen. „Eifersucht“ und „Rachsucht“, um diese Begriffe ließ sie alles kreisen, und nichts war entlegen oder absurd genug, um ihr zur Anklage gegen mich zu dienen. Vergangenheit wurde mobilisiert, um zu beweisen, ich sei immer schon ein nachtragender Mensch gewesen, und törichte Hoffnung auf eine Wiederaufnahme dauernder Beziehung zu ihr wurde behauptet. „Und dann bist du überhaupt ein Schwächling“, sagte sie, „einer von denen, die es nicht aushalten, mit einer Schuld auf dem Seelchen herumzulaufen. Paul, der war für dich eine ständige Mahnung an 87
einen Fehltritt, die du nicht ertragen konntest, und also mußte Paul weg. Ich kenne dich, Fritz Krüger, und ich habe dir schon vorgestern gesagt, was ich von dir halte. Ich habe Paul geliebt, auch das habe ich dich wissen lassen, und es war mein Unglück, daß ich noch einmal auf dich getroffen bin. Ja, mein Unglück“, wiederholte sie, „und Pauls Unglück dazu. Hätte ich geahnt, wohin das führt, meine Gedankenlosigkeit, meine Sentimentalität, ich hätte einen großen Bogen um dich gemacht.“ Während sie weiter und weiter redete, ohne dabei die Stimme über normale Lautstärke zu erheben, eher in einer Art Litaneiton, und ich es vorübergehend aufgegeben hatte, selber zu Wort zu kommen, erholte ich mich allmählich von meinem entsetzten Erstaunen über so viel Unterstellung, und ich begann mir Gedanken darüber zu machen, was Barbara in eine solche Rage getrieben haben könnte. Der Tod Paul Schultes? Der konnte so überraschend doch nicht für sie gekommen sein, und sie hatte sich zu seinen Lebzeiten schon auf ihn einstellen können und auch eingestellt, wie sie mir mehrmals bewiesen hatte. „Warum kann sie denn nicht warten? Es dauert doch nicht mehr lange.“ Paul Schultes Worte kamen mir wieder in den Sinn, seine Verzweiflung darüber, daß er schon zu Lebzeiten wie ein toter Hund behandelt wurde, auch von mir. Und indem ich seine tiefe Niedergeschlagenheit mit dem Wortschwall konfrontierte, der an mein Ohr schlug und den ich nur noch mechanisch registrierte, wurde ich ruhiger. Dann hörte ich genauer darauf, wie die Anklagen und Klagen vorgetragen wurden. Und da glaubte ich, falsche Töne zu hören, theatralische. Man geht eben nicht unbeeinflußt zwei Jahrzehnte lang mit Schauspielern um, beobachtet nicht ungestraft über einen langen Zeitraum, wie Gefühle und Ansichten wirkungsvoll durch Worte ersetzt werden können, und versucht sich am Ende gar selbst in dieser Kunst. Frau Macbeth beweint vorm Kriegsvolk den hin88
gemeuchelten König, Königin Anna wehrt sich gegen die Annäherungsversuche des gattenmordenden Gloster … Ich versuchte, die literarischen Reminiszenzen wegzuwischen. Von solchem Gewicht war Paul Schulte nicht gewesen, solches Format ging Barbara ab. Ich war kein potentieller Rächer, nur ein ziemlich hilfloser Mensch vor einer Mauer von Feindseligkeit. Denn sie haßte mich in diesen Minuten, das spürte ich, haßte mich gleichsam durch die Rolle hindurch, die sie abzog. Warum nur? Dann wurde Barbara stiller, so als hätte sie über ihrem großen Monolog alle Kraft gelassen. Ihre Arme hingen schlaff zu beiden Seiten des Sessels herab, und nur die Finger führten noch unkontrollierte Bewegungen aus. „Wenn ich daran denke, daß vielleicht alles anders gekommen wäre, wenn ich nicht im Theater gesessen hätte … wäre ich doch mit dir gegangen, als du zur Pause aufgebrochen bist!“ Sie schüttelte den Kopf in Resignation. „Die Vorstellung ist entsetzlich. Ich sitze ahnungslos im Konzert, und du … Warum mußtest du das tun?“ fragte sie leise, fast tonlos. „Was tun?“ Mir würgte etwas in der Kehle, hinderte mich, Speichel zu schlucken, ich spürte, wie vom Bauch her kalte Wut in mir aufstieg. Ich mühte mich redlich, nicht aufzuspringen, sie an den Schultern zu packen und zu schütteln, vielleicht sogar, sie zu ohrfeigen. „Was tun?“ schrie ich. Sie sah mich an, vier, fünf Sekunden lang, und mir fiel auf, was ich längst vergessen hatte: Ihre echten Wimpern waren blond, fast farblos, und sie gaben ihr für einen Moment das naiv-hilflose Aussehen eines jungen Mädchens. Doch der nächste Lidschlag verdrängte die Impression. Kühl sah sie mir in die Augen, als sie sagte: „Wie ich annehme, hat die Polizei dir klargemacht, um was es geht. Der Kommissar …“ „Oberleutnant!“ unterbrach ich sie grimmig. „Wir sind hier nicht in einer Fernsehschnulze.“ 89
„Jedenfalls wird dir der Mann von der Kripo klargemacht haben, wie es steht.“ Sie war nicht aus dem Konzept zu bringen. „Man hat ja allerlei herausbekommen, ich meine, was den Abend angeht, Pauls letzten Abend, an dem ihr beide zusammen wart, in der Kneipe.“ „Wie du siehst, laufe ich noch frei herum. Wundert dich das nicht? Nach allem, was du von mir denkst. Wenn es nach dir ginge, säße ich jetzt wahrscheinlich wohlverwahrt in einer Zelle.“ „Es geht aber nicht nach mir.“ Lag wirklich so etwas wie Bedauern in ihrer Stimme? Aber sie zerstreute den Eindruck sofort, indem sie fortfuhr: „Gott sei Dank geht es nicht nach mir. Ich weiß nicht, ob ich gerecht urteilen könnte, nach all dem Schmerz, der mir angetan wurde.“ Wahrscheinlich spürte sie, daß sie mit der letzten Bemerkung doch zu weit gegangen war, und ergänzte deshalb sachlich und ein bißchen bittend: „Du verstehst mich doch?“ Aber ich verstand sie nun überhaupt nicht mehr, der Bogen war überspannt. Ich sprang vom Stuhl auf und stellte mich vor sie hin, in Drohgebärde, und war mir doch bewußt, wie komisch ich mich ausnehmen mußte. „Paul hat mir einiges davon erzählt, wie groß dein Schmerz sein würde, wenn er sterben sollte“, sagte ich leise. „Er wußte, was zwischen uns vorgefallen ist, und er wußte auch, daß ich nicht der einzige war, an den du deine Gunst ausgeteilt hast.“ „Ich habe es ihm gesagt, er hat darauf gedrängt, wollte unbedingt die Wahrheit erfahren, wie es zwischen dir und mir steht.“ Die Haltung, in der ich mich vor ihr aufgebaut hatte, schien doch Eindruck auf sie zu machen. Sie zog die Schultern hoch, hatte die Hände in Brusthöhe gehoben und sah mich von unten herauf eher verwundert denn ängstlich an. „So war er, immer wollte er alles wissen, auch wenn 90
er sich an den Fingern abzählen konnte, daß es ihm nicht bekam, wenn er es schließlich wußte.“ „Hast du ihm auch von dem anderen erzählt?“ Ich pokerte. Paul Schulte hatte gesagt: Die anderen kaufe ich mir auch noch. Und ich zog die anscheinend existierende Schar von Verehrern auf einen zusammen. So ließ sich besser argumentieren. Was nützte mir schließlich ein verschwimmender Plural, ohnehin vielleicht nur den Vermutungen eines eifersüchtigen Ehemanns entsprungen? „Von welchem anderen?“ Barbaras Gesicht spiegelte Erstaunen. „Paul hat es mir gesagt: Dem anderen werde ich auch noch auf die Finger klopfen!“ behauptete ich. „Das soll Paul gesagt haben? Das glaube ich nicht. Das hast du dir ausgedacht.“ Die Sicherheit in ihrer Stimme machte mich stutzig. Warum sollte Paul Schulte so etwas nicht gesagt haben? Tatsache war, daß er es nicht gesagt hatte. Aber warum sollte er es nicht gesagt haben können? Barbaras Einwurf ließ womöglich auf ein absolut reines Gewissen schließen. Aber sie hatte nicht gesagt: Da lügt Paul – oder: Da irrt er sich – oder: Ich glaube nicht, daß Paul so etwas behauptet hat … Nur dieses eine: Das soll Paul gesagt haben? Ich hatte das Gefühl, meine Ohren würden rot, so jäh stieg mir das Blut zu Kopf. Ich spürte, daß ich möglicherweise einen Ansatzpunkt gefunden hatte, eine vom Zufall mir zugespielte Handhabe, von der aus einiges zu erklären wäre. Aber ich wußte nichts damit anzufangen. Fieberhaft suchte ich nach einer Redewendung, die das Gespräch auf der nun eingeschlagenen Bahn halten konnte, verkrampfte mich aber von einer Sekunde auf die andere, so daß kein Gedanke mehr in meinem Hirn Halt fand. Und Barbara sah mich herausfordernd an. Abrupt wandte ich ihr den Rücken zu, sah mein Bild 91
in dem leicht verzerrenden Spiegel über dem Waschbecken und erschrak: So angestrengt und verbissen hatte ich mich noch nie gesehen. Ich schloß die Augen, um dem fremden Gesicht vor mir zu entgehen. Wenn der Ausdruck, den ich da wahrgenommen hatte, ein Bild meines Innern war, wollte ich lieber alle Verdächtigung, alle Vermutung von mir weisen. Mein Lebtag hatte ich nicht mit Groll und Vorbehalt anderen gegenüber existieren wollen, weil mir das zu anstrengend vorgekommen war und weil ich fürchtete, es würde mir selber schaden, dem, was man „die Seele“ nennt. Erschrocken reagierte ich sofort. „Sicherlich habe ich mich getäuscht“, sagte ich, Barbara noch immer den Rücken zukehrend, „oder ich habe Paul falsch verstanden.“ „So etwas versteht man nicht falsch.“ Obwohl ich ihr Gesicht nicht sah, teilte sich mir alles Mißtrauen mit, auch die deutliche Spur von Unsicherheit, die nun in ihren Worten lag. Ich hatte keine Lust mehr, das Spiel weiterzutreiben. Schließlich war ich kein Kriminalist, und schließlich wußte ich, daß ich mit Pauls Tod nichts zu tun hatte. Sollten Berufene herausfinden, was es mit der Affäre auf sich hatte; heutzutage, sagte ich mir, kommt es nicht mehr vor, daß der Falsche wegen eines Verbrechens büßen muß, nicht bei diesem Polizeiapparat. „Verzeih“, sagte ich und wandte mich um, „ich habe dich an der Nase herumgeführt. Paul hat nichts von dem anderen, er hat etwas von den anderen gesagt, denen er auf die Finger klopfen wolle. Wenn es dich beruhigt …“ Barbara lachte nach einer Sekunde ungläubigen Staunens, lachte befreit und bitter zugleich. „Wenn ich nicht annehmen müßte, daß du Paul auf dem Gewissen hast, dann …“ Ich erfuhr nicht, was „dann“ wäre. Sie schnitt sich selbst mit einer brüsken Geste das Wort ab. „Was Pauls Behauptung angeht, ich hätte ihn mit ande92
ren Männern betrogen, so wirst du wohl einsehen, daß es die blanke, ungezielte Eifersucht war, die aus ihm gesprochen hat. Alternde Männer sind nun mal so: Sie reagieren beunruhigt auf jeden, der in ihre Nähe kommt.“ So schnell schießt man nur, wenn man Gefahr wittert, dachte ich automatisch. Doch anstatt zu reagieren, schüttelte ich mich, wollte den Gedanken loswerden, ich könnte jetzt und hier ein Stück auf dem Weg zur Wahrheit weiterkommen. Ich fragte mich, warum ich Barbara überhaupt aufgesucht hatte, und stellte fest, daß ich fast vergessen hatte: Ich wollte Barbara Schultes schlechte, ihre falsche Meinung von mir korrigieren. Und nun hätte ich viel darum gegeben, wäre mir der Schritt nie eingefallen, jedenfalls nicht mehr, nachdem ich durch Herbst mit ihrer Aussage konfrontiert worden war. „Ich weiß nicht, warum du den Trick an mir versucht hast“, hörte ich Barbara in meine Überlegungen hinein sagen, „wahrscheinlich liegt dir daran, einen anderen Schuldigen in dieses Theater einzuführen, nachdem die Polizei sagt, daß Paul durch fremde Einwirkung gestorben ist. Vielleicht gibt es tatsächlich einen anderen, irgendeinen zufälligen Passanten, mit dem Paul in Streit geriet. Sobald Paul zuviel getrunken hatte, wurde er immer eigensinnig und krakeelig. Wenn du etwas zu deiner Entlastung tun willst, such den Irgendjemand. Ich würde mich freuen, sollte es dir gelingen. Aber versuche bitte nicht, mir ein Bein zu stellen.“ Das sagte sie leicht amüsiert. „Du vergißt“, entgegnete ich, „es gibt hier noch andere, die man nicht nur als zufällige Passanten, wie du das nennst, bezeichnen kann.“ Mir waren ganz plötzlich Wandreys Anmerkungen zum Orgelkonzert von vorgestern abend eingefallen, die ich in meiner Trunkenheit als Wichtigtuerei empfunden 93
hatte. Jetzt waren sie wieder da, wahrscheinlich hervorgelockt durch Barbaras Selbstsicherheit. „Und die wären?“ Barbara hatte noch nichts von ihrer Sicherheit verloren. „Der Organist der Martins-Gemeinde zum Beispiel“, sagte ich. „Mach dich nicht lächerlich.“ Sie versuchte die Gleichgültige zu spielen, trat, um ihre Unbefangenheit zu demonstrieren, vor den Spiegel und fing an, ein bräunliches Make-up aufzutragen. „Ich kenne keinen Organisten.“ „Ihr seid aber gesehen worden, du und Paul, wie ihr euch mit ihm unterhalten habt, und bei euch stand noch ein anderer Mann mit langen Haaren. Das dürftest du eigentlich noch nicht vergessen haben.“ Sie wandte sich langsam vom Spiegel weg, und ich sah in ein Gesicht, dessen Stirn schon die Farbe von Sommerfrische zeigte, während es von den Brauen abwärts bleich war, vielleicht bleicher als zuvor. „Du kombinierst dir da allerlei zusammen, nur um deinen Hals zu retten“, sagte sie. „Mach nur so weiter. Nur belästige mich nicht mehr.“ Trotz der deutlichen Aufforderung, sie zu verlassen, zögerte ich, aus dem Zimmer zu gehen; ich glaubte, mich mit einer effektvollen Redewendung verabschieden zu müssen, doch mir fiel keine ein. Barbara blickte mich erwartend und mit einiger Ungeduld an. „Gibt es noch etwas zu bereden?“ fragte sie. Dabei sah sie mich wie einen Fremden an, von dem man nicht so recht weiß, zu welchem Zweck er einen aufgesucht hat. Mir lag die Antwort auf der Zunge: Ich wüßte schon einiges, was noch zu bereden wäre. Doch ich ließ sie nicht laut werden, machte vielmehr auf dem Absatz kehrt und ging ohne Gruß. Draußen fragte ich mich benommen: Hatte ich eine Niederlage erlitten oder mich 94
halbwegs achtbar aus der Affäre gezogen? Auf halbem Weg zum Sanatorium entschied ich mich dafür, daß ich mich ganz gut gehalten hätte.
9. Bad Wiedehopfen liegt in einem nach Süden und Norden offenen Talkessel, von dem Flüßchen Wiede und der neben ihm geführten Chaussee durchzogen, von nadelbewaldeten Höhen gerahmt, und da wegen der Reinhaltung der Quellen Landwirtschaft in der näheren Umgebung des Orts nicht gestattet ist, findet der Kurgast genügend Auslauf in ozonreicher Luft und verhältnismäßiger Stille. Wenn dem Wanderer dazu noch nach Einsamkeit der Sinn steht, muß er allerdings die Mühe eines weiteren Fußmarsches auf sich nehmen, die Höhen hinauf zu einer Gratwanderung, die ihn nur zweimal zu Tal führt, eben im Norden und im Süden. „Der große Ringweg“ wird diese Tour genannt, zum Unterschied vom „Inneren Ring“, der am Fuß der Hügel rund um den Ort führt. Es gehört gewissermaßen zum Komment der Gäste, wenigstens der rüstigeren unter ihnen, einmal während ihres Aufenthalts den ganzen „Großen Ringweg“ an einem Tag abzuwandern, welches Unternehmen bei forschem Ausschreiten ungefähr fünf Stunden in Anspruch nimmt. Nach dieser Wanderung war mir jetzt zumute, nun da ich Barbara im Sinn des Wortes hinter mir gelassen hatte. Ich mußte mit mir allein, mußte für den Nachmittag ohne Menschen sein. Vielleicht, sagte ich mir, kommst du auf diese Weise auch über dein Verhältnis zum toten Paul Schulte ins reine. Denn das war mir, während ich am Mittagstisch die Nudelsuppe löffelte, klargeworden: Seit anderthalb Tagen hatte ich seinen Tod fast ausschließlich unter dem Blickwinkel gesehen, 95
was er mir an Unannehmlichkeiten einbringen und wie ich mich dagegen wehren könnte. Ich brauchte Ruhe, Muße zum Reflektieren – schließlich ging der Mann mich etwas an, über seinen Tod hinaus. Die Vorstellung, einen langen Nachmittag ganz für mich allein zu haben, setzte sich in mir so fest, daß ich beschloß, die obligat im Haus zu absolvierende Mittagsruhe ausfallen zu lassen, die ohnehin keine Ruhe gewesen wäre, sondern wiederum ein Gespräch mit Wandrey, der sicherlich schon auf seinem Bett lag und darauf lauerte, daß ich ins Zimmer käme und einen Schnack mit ihm hielte. Also trat ich, ohne noch einmal mein Zimmer aufzusuchen, sofort nach dem Mahl den Weg ins Freie an, selbstredend nicht, ohne mich, wie mir aufgetragen war, an der Pforte abzumelden (ich log und sagte, ich hätte ein Kohlensäurebad im Badehaus zu absolvieren). Bei klarem Himmel und mäßiger Kälte, die den Schnee unter den Füßen knirschen ließ, ging ich durch den Ort, der um die Mittagszeit wohltuend ruhig war. Links vom Theater bog ich in die Seitenstraße ein, die in ziemlich jäher Steigung hinauf zum „Großen Ringweg“ führt, vorbei an Privathäusern, die als Schlafstellen für Kurgäste dienen und um der Attraktivität willen vielversprechende Namen an der Front zeigen („Haus Elvira“, „Haus Rheingold“, „Haus Immergrün“, „Englisches Haus“ usw.), ging auch vorüber an einer bescheidenen Gedenkstätte für Goethe, der hier, so heißt es, seinerzeit auf dem Weg nach Karlsbad drei Tage Aufenthalt genommen und ein Gedicht auf einen schönen Brunnen verfaßt hatte. In der Höhe des modernen Hotels, das mehr illustren Gästen vorbehalten war, hörte ich neben mir ein Auto halten, und als ich, vom Schnarren der Handbremse aufmerksam geworden, zur Seite blickte, erkannte ich das Gesicht des Oberleutnants Herbst. Er sah mich aus dem heruntergekurbelten Fenster freundlich an. 96
„Das Bad ist wohl schon beendet?“ fragte er, und ich konnte mir aussuchen, ob ich die Bemerkung als ertappter Lügner oder mit Humor quittieren wollte. Ich versuchte es mit einer Art Humor, erklärte, die Kohlensäure sei wegen allzu heftiger Kälte ausgeflockt und die Badeanstalt daraufhin geschlossen worden; so könnte ich die freie Zeit zu einem Gang durch die Natur nutzen. Er nickte, sagte: „So ist das also“, stieß die Wagentür auf und stieg aus. Er reckte sich wie nach stundenlangem Sitzen in dem Gefährt, schnaufte, und wieder kam ich mir kleiner vor, als ich war, gegenüber der kompakten Masse Polizist. „Fahren Sie zum ABV zurück“, rief er Lenz zu, der am Steuer saß. „Ich vertrete mir ein bißchen die Beine.“ Und zu mir gewandt: „Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich mich Ihnen anschließe. Oder?“ Was sollte ich schon dagegen haben können, wenn einer von der Kriminalpolizei sich mir anschloß, zu dem ich fatalerweise in engen Kontakt geraten war und bei dem ich seit einer Minute einer Lüge wegen in der Kreide stand. Mit Wehmut verabschiedete ich meine Vorstellung von einem einsamen langen Weg über die Höhen und den Erkenntnissen, die mir möglicherweise beim Wandern zugewachsen wären. Eher mechanisch, als um mir die Begleitung vom Leib zu halten, gab ich zu bedenken: „Ich warne Sie. Unter vier Stunden gedenke ich heute nicht aufzugeben.“ Doch das konnte Herbsts offensichtlicher guter Laune keinen Abbruch tun. Zwar blickte er ein bißchen bekümmert auf seine braunen Halbschuhe, sagte aber dann: „Meine Frau versucht schon immer und meistens vergebens, mich zu Bewegung im Gelände zu motivieren.“ Er klopfte sich auf den Bauch, der seine braune Nylonkutte beträchtlich ausbeulte, steckte die Hände in die schräg aufgesetzten Taschen und bot so ein Bild frischer, freudiger Entschlossenheit. 97
„Wo geht’s lang?“ fragte er. Der Weg bergauf gestaltete sich nicht nur beschwerlich, weil bald der Atem knapper wurde; hinter den letzten Häusern betrug die Steigung stellenweise fast dreißig Grad, und das brachte auf dem Schneeboden Probleme der Standfestigkeit, die ich wegen meiner gerippten Sohlen und überhaupt wegen meines Trainings im Bergauf- und Bergabgehen besser bewältigte als mein Begleiter. Der mußte seine Schritte vorsichtiger setzen, kam auch dann und wann ins Rutschen und machte überhaupt eine weniger gute Figur. Doch das verdroß ihn nicht, er stapfte brav neben mir her wie einer, der es sich beweisen will, daß er auch solchen Widrigkeiten trotzen kann, und wenn sich unsere Blicke begegneten, lächelte er, ein wenig krampfhaft zwar, wie mir schien, doch nicht verkrampft. An ein zusammenhängendes Gespräch war unter solchen Umständen natürlich nicht zu denken, und mit Genugtuung stellte ich fest, wie wenig es einen wie Herbst, der aufs Frage-und-Antwort-Spiel programmiert war wie unsereiner aufs Lehrgespräch, befriedigen konnte, stumm neben jemandem herzugehen, von dem er doch sicherlich noch einiges zu erfahren hoffte. Die Überlegung beflügelte meine Schritte, und als er mich nach zehn Minuten zum ersten Mal bat, ein bißchen weniger forsch auszuschreiten, stehenblieb und sich, die Hände in die Nierengegend gestützt, leicht ächzend nach hinten beugte, konnte ich mir die Bemerkung nicht verkneifen, daß ich doch wohl um einiges älter sei als er und auch weniger gesund. „Wahrscheinlich ist das so“, sagte er nur und setzte gleichmütig den Weg fort. Nach einer weiteren Viertelstunde hatten wir den „Großen Ringweg“ erreicht und konnten, von kleineren Steigungen und mäßig abschüssigen Stellen abgesehen, auf einigermaßen festem Schneeboden zügig ausschreiten. Herbst hatte anscheinend vor, mich auf meinem 98
ganzen Weg zu begleiten, jedenfalls gab er mit keinem Wort, keiner Geste zu erkennen, daß er von meiner Seite weichen wolle, und so blieb mir nichts, als mich auf seine Gesellschaft einzustellen. Das gelang um so leichter, als er sich als angenehmer Kompagnon herausstellte, als einer, der nicht andauernd Meinungen produziert und in einem fort auf Dinge am Wegrand hinweist, die ihm bemerkenswert erscheinen. Und was mich am meisten befriedigte: Er versuchte nicht, unser Gespräch – besser sollte ich wohl sagen: die Vernehmung – fortzusetzen. Wenn er etwas äußerte, dann galt das allenfalls der Spur eines Tieres, die quer über den Weg lief, oder einem Büschel Vogelbeeren, das den ersten Ansturm des Winters überstanden hatte. So gingen wir denn dahin wie zwei Kurgäste, die aus gesundheitlichen Erwägungen das Wandern betreiben. Ein tieferer Einschnitt, der in ein kleines, von einem Bach durchflossenes Nebental führte, zeigte an, daß wir den Annaberg hinter uns gebracht hatten und uns auf den leichten Anstieg zum nächsten Hügel, dem Mohrenhaupt, gefaßt machen mußten. Als wir den Bach überquerten, sahen wir linker Hand eine leerstehende, allmählich zerbröckelnde Villa, die mir schon zehn Tage zuvor wegen ihrer bizarren Häßlichkeit aufgefallen war: ein zinnenbewehrtes zweistöckiges Bauwerk aus der Blütezeit imitativer Architektur mit einem doppelt so hohen Luginsland, der einem den Blick freilich nur bis zum nächsten Waldrand eröffnen konnte und also seine Funktion verfehlte. Das Sehenswerte an diesem Gebäude war eine Tanne von einiger Stärke, die auf der Plattform des Turms Wurzeln geschlagen hatte und dermaßen schräg in den Himmel hinein wuchs, daß man befürchten mußte, sie könnte sich aus ihrem schmalen Bett lösen und hinunterstürzen. Herbst blieb stehen, schüttelte den Kopf ob all der Merkwürdigkeit, die sich ihm bot. „Wie der kleine Mo99
ritz aus der Kaiserzeit sich das Mittelalter vorgestellt hat“, sagte er. „Da bleibt kein Auge trocken. Die Kraft, eigene Vorstellungen zu entwickeln, geht flöten, es blüht die Fingerfertigkeit, mit der man Baustile kopiert.“ Die Bemerkung machte den Kunsterzieher in mir wach, der ein bevorzugtes Thema in der Unfähigkeit moderner Architektur und Innenarchitektur hatte, zu einem eigenen, den Geist der Zeit ausdrückenden Stil zu finden. Ich setzte also an, einen kleinen Vortrag vom Stapel zu lassen, zunächst vorsichtig, damit ich nicht in den Geruch käme, ein Schulmeister zu sein. Ich sprach vom Verlust der künstlerischen Mitte, der in spätbürgerlicher Zeit eingesetzt habe und vom Sozialismus noch längst nicht überwunden sei und der sich darin manifestiere, daß man zumal in der Wohnkultur das Taumeln zwischen Funktionalismus und vordergründiger Befriedigung des Schönheitssinns beobachten könne, letzteres aber – leider – fast ausschließlich dem vom Kommerzdenken und verquerer Volkstumsideologie beherrschten Kunstgewerbe ausgeliefert sei. Herbst hörte mir zu, den Kopf beträchtlich zur Seite geneigt, Aufmerksamkeit und Skeptizismus zugleich ausstrahlend. Sei es nun, daß ich vom Gegenstand meiner schon oft so oder so ähnlich gemachten Ausführungen mitgerissen oder daß ich froh war, endlich in der Lage zu sein, diesem Mann, der mir so heftig zugesetzt hatte, beweisen zu können: Auch ich bin auf irgendeinem Gebiet sachverständig – jedenfalls packte mich der Eifer, und ehe ich mich versah, war ich bei Rossetti und Morris gelandet und ihrem Versuch, auch privates Leben und Kunst wieder auf einen Nenner zu bringen, indem sie proklamierten, eines müsse aus dem anderen hervorgehen und eines müsse demzufolge das andere entscheidend beeinflussen. „Sehr interessant“, sagte er, mitten hinein in meine Vermutung, warum in Deutschland der Jugendstil und ihm nachfolgend das Bauhaus in seinen verschiedenen 100
Richtungen und Disziplinen nicht zu jener Universalität gefunden hätten, die seinerzeit von den beiden Engländern proklamiert worden war. „Aber wollen wir nicht weitergehen? Mir wird kalt an den Füßen.“ Von einer Sekunde zur anderen schlug meine Stimmung um, da ich mich so roh aus vorgetragenen Gedankengängen gerissen sah. Er ist eben doch nur ein Polizist, dachte ich, während wir den leichten Anstieg zum Mohrenhaupt unter die Füße nahmen. Mir war die Lust vergangen, an seiner Seite zu gehen, und nun fiel mir auch sein Schnaufen unangenehm auf, sein Gesichtsausdruck erschien mir einfältig, ja stumpf und selbstgefällig. Wieso hatte ich mir denn auch nur eine Minute lang einbilden können, dieser Oberleutnant begleite mich aus Sympathie oder auch nur aus Freude am Spaziergang? Der Mann war im Dienst! Und da galt für ihn wenig, was einer für ein Mensch war und wo seine Interessen und Vorzüge lagen. Einen Halbidioten nannte ich mich, weil ich meine Perlen vor die Säue geworfen hatte, und was noch schlimmer war: Ich argwöhnte, dieser Polizeimensch könnte annehmen, ich hätte die Abschweifung ins Reich der Kunsttheorie nur unternommen, um mich bei ihm einzukratzen und ihn abzulenken. Vor Verlegenheit und Unbehagen wurde mir das Rückgrat stocksteif. Mehrere Male warf ich einen prüfenden Blick zu Herbst hinüber, sah aber nichts als ein selbstzufriedenes Gesicht, in dessen barocken Zügen sich wohl die Anstrengung des Trips eingenistet hatte, aber keinerlei Anzeichen von Triumph über einen dummen Kerl, der sich einbildete, einen gestandenen Kriminalisten mit Gewäsch über Morris und Bauhaus von seiner Fährte abbringen zu können. Verbiestert wie ich war, schrieb ich das aufs Konto von Verstellungskunst, die sich durch langes Training vervollkommnet hat. Dort, wo der Mohrenkopf seinen höchsten Punkt erreicht und sich ein Blick auf die Landschaft außerhalb 101
des umhegten Kurbezirks mit Äckern und Weiden und zwei Dörfern am Horizont auftut, liegt ein Restaurant mit dem für Uneingeweihte verblüffenden Namen „Zur Mohrenalm“, das müd’ gewordenen Wanderern Rast bietet. Da mir die Lust am Spaziergang verleidet war, schlug ich vor einzukehren. „Ich wollte gerade denselben Vorschlag machen“, sagte Herbst. „Ein Täßchen Kognak würde jetzt guttun.“ Er lachte über den eigenen Witz, und ich gab mir nicht einmal die Mühe, in sein Lachen einzustimmen, ging vielmehr stumm voraus in den Gastraum, wo der Mohrenwirt, wie er sich gern nennen ließ, einsam an der Theke lehnte und uns mit „Einen schönen guten Tag, die Herren“ begrüßte. Es war erst halb drei, und die ersten Kurgäste würden sich frühestens in einer Stunde einstellen, wenn der Ort aus seinem vorgeschriebenen Mittagsschlaf erwacht war und die Kaffee- und Bierdurstigen sich den Berg hinauf gemüht haben würden. Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ sich Herbst an einem Tisch am Fenster nieder und bestellte: „Zwei Kännchen Kaffee und zwei Kognak.“ „Zwei Kännchen Kaffee und einen Kognak“, korrigierte ich, obwohl mir jetzt etwas Alkoholisches willkommen gewesen wäre. Aber die Blöße wollte ich mir nicht geben, daß ich, ein Kurpatient, im Beisein eines Polizisten Schnaps trank. „Sie nehmen es aber sehr genau“, sagte Herbst und biß die Spitze einer Brasil ab, die er sich aus der Brusttasche gefingert hatte. „Sie müssen wissen, Herr Oberleutnant …“ „Sagen Sie bitte Herr Herbst zu mir“, unterbrach er meine Erklärung, die wahrscheinlich lang und kompliziert geworden wäre (denn ich wußte selber noch nicht, was er hätte wissen müssen), „oder Genosse Oberleutnant. So halten wir es nämlich. Mir ist es eigentlich egal. Nur wenn jemand dabeisein sollte … Sie verstehen?“ 102
Ich verstand, nahm aber meine Rede nicht mehr auf. Herbst schien das nicht zu stören, er sog an seiner Zigarre, die nicht recht anbrennen wollte, goß den doppelten Kognak, Marke „Vom alten Brennmeister“, mit einemmal in sich hinein. „Übrigens“, sagte er, nachdem er sich leicht geschüttelt hatte, „das war sehr interessant, was Sie da vorhin erzählt haben, über privates Leben und Kunst und darüber, daß es sehr schwer ist, beides in Übereinstimmung zu bringen.“ Er lehnte sich so weit zurück, wie die steile Stuhllehne es zuließ. „Sehr lehrreich für einen wie mich, der nicht viel dazu kommt, sich mit Kunst zu beschäftigen. In meiner Freizeit sammle ich Flaschenschiffe, versuche auch selber, welche herzustellen. Das ist eigentlich alles, außer Lesen natürlich.“ Heiliger Bimbam! dachte ich. Das sieht ihm ähnlich. Und dann kalte Füße kriegen, wenn einer etwas erzählt, was über sein Hobby hinausgeht. Ich sagte aber nur: „Seltsame Beschäftigung für einen Binnenländer. Aber schließlich kam Ringelnatz auch aus Wurzen.“ Die letztere Bemerkung schien er nicht verstanden zu haben oder nicht beachten zu wollen. Er sagte: „Finde ich nicht. Eine harmlose Abwechslung muß der Mensch doch haben, besonders wenn er sich von Berufs wegen täglich mit den unangenehmen Seiten des Lebens zu beschäftigen hat.“ Jetzt, ging es mir durch den Kopf, hat er endlich einen bequemen Übergang zu dem gefunden, weswegen ich überhaupt mit ihm zu tun habe. Aber er blieb auf dem einmal eingeschlagenen Weg, stellte Überlegungen dazu an, wie tief es doch im Menschen wurzele, das Gefühl, sich mit Schönem, Kunstvollem zu umgeben. „Nicht unbedingt mit Segelschiffen in Flaschen“, sagte er mit einem leisen, verlegenen Lachen, „überhaupt mit Kunst.“ Und dann zählte er, als müsse er mir einen Begriff davon geben, was sich Menschen an Kunstgegenständen in die Wohnungen schleppen, vom Ölbild bis zu 103
alten Uhren und Teppichen, die handels- und landesüblichen antiquarischen Preziosen auf. „Vor allem echt muß das Zeug sein, und je älter so eine Klamotte ist, desto höher steht der Besitzer im Ansehen.“ Zu dieser Bemerkung nickte er wie irgendein Wichtigtuer, der einem die Welt aus ihrem Grund erklären kann. „Sie als Kunsterzieher kennen sich wohl in der Materie viel besser aus. Haben Sie eine Erklärung für die hirnlose Sammlerleidenschaft von altem Zeug? Am Ende sammeln Sie sogar selber?“ Ich dachte an unsere längst zu eng gewordene Zweizweihalbezimmerwohnung und an Mariannes Manie, alle alten Puppen zusammenzutragen, deren sie habhaft werden konnte, so daß unser Wohnzimmer einer Puppenklinik glich, und machte ein betroffenes Gesicht, sagte etwas Abfälliges über die Mode, Gerümpel anzuhäufen, wenn es nur das gehörige Alter hat, anstatt sich ernsthaft um Verständnis zeitgenössischer Kunst zu bemühen, und schloß, dann doch wieder in Fahrt kommend, indem ich einen Bogen zu der scheußlichen Villa, die wir zuvor gesehen hatten, schlug, mit der These, daß wir per saldo in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts auch unter sozialistischen Verhältnissen noch keinen Schritt über die barbarische Banausenhaftigkeit von Anno dazumal hinausgekommen seien. Ich hoffte, damit wäre das Thema abgetan. Doch Herbst schien keine Lust zu verspüren, den einmal ins Gespräch gebrachten Stoff aufzugeben, überführte ihn aber, seinem Metier entsprechend, ins Kriminalistische und verbreitete sich über „den grauen Kunstmarkt“, der der Polizei viel Ärger schaffte. „Nicht nur in kapitalistischen Ländern“, dozierte er, „sind Antiquitäten zur Ware geworden, deren Preis sich durch Angebot und Nachfrage regelt. Und da das Angebot nicht wie bei anderen Waren durch Neuproduktion wächst, es sei denn durch Fälschung, steigt der Preis ins 104
ungemessene. Einige meiner Kollegen könnten Ihnen ein Lied davon singen, wie die Sucht nach alter Kunst genutzt wird, die Preise in die Höhe zu treiben, und wie dieser Markt sich immer wieder ins Kriminelle ausweitet. Einer, der für etwas Extraordinäres jeden geforderten Preis bezahlt, fragt meist nicht danach, woher das seltene Stück kommt, ob es gestohlen oder einem unerfahrenen Vorbesitzer für eine lächerliche Summe buchstäblich abgegaunert worden ist.“ Er legte eine kleine Pause ein und sah mich ernst an, als sei das, was er nun zum besten geben wollte, etwas äußerst Betrübliches, über das man im Interesse der Staatsräson eigentlich nicht sprechen sollte. „Es scheint viel zuviel ungebundenes Geld in unserem Land zu geben. Der Klempner, der Zahnarzt, der Nationalpreisträger: sie brauchen den Barockengel, die Ikone zur Aufwertung oder zur Bestätigung ihrer Persönlichkeit.“ Was Herbst da verkaufte, während er seinen zweiten Kognak „Vom alten Brennmeister“ trank und aufgeregt an seiner Zigarre paffte, waren olle Kamellen. Jeder einigermaßen Interessierte wußte, welche Blüten dieser Boom in Antiquitäten trieb. Man brauchte ja nur die Zeitungen aufzuschlagen, und in den Kleinanzeigen sprang einem das Angebot an Krempel entgegen, für den viel Geld gefordert wurde: „Phonograph mit Walze“ und „Original Ölgem. Prof. Pinsel, dat. 1890“ – beides natürlich „zu Liebh.-Pr.“. Und was die kriminelle Seite der Beschaffung von Antiquitäten anging: Für deren Popularisierung sorgten alle Kanäle des Fernsehens mit Nachrichten und Filmen, in denen der betreffende Ganove sich fast stets den Umstand zunutze machte, daß ein Kunstwerk in einer Kirche oder in einem Schloß ungenügend gesichert war. Kriminalisten sind Langweiler, dachte ich, die jede Erscheinung des Lebens unterm Aspekt möglicher krimineller Abartigkeit sehen, während Herbst mit Beispie105
len aus der Kunstdiebstahlpraxis aufwartete, in die er immer wieder die Klage flocht, daß es ein Jammer sei, wenn beim Käufer die Moral versagte, war er erst einmal vor das Objekt seines Begehrens gestellt. Und ich nahm keinen Anstoß daran, daß mein Urteil sich nur auf die flüchtige Kenntnis des einen Mannes aus dieser Branche gründete. Gott ja, der Genosse Oberleutnant wollte mir vielleicht mit ein paar Beispielen von Kunstdiebstahl beweisen, er sei nicht nur auf seine Flaschenschiffe beschränkt und auch zu Hause in der Welt von Plastiken, Gemälden und Münzensammlungen. Mehr ergeben als wirklich interessiert, hörte ich ihm zu. Wahrscheinlich hatte er das ganze Gerede nur angefangen, um nicht mit der Tür ins Haus zu fallen, also um nicht sofort von Paul Schultes Tod und der Rolle, die ich dabei gespielt haben könnte, zu sprechen. Wozu sonst hätte er sich mir angeschlossen? „Und wie wollen Sie dem zu Leibe gehen?“ fragte ich, als Herbst einmal Luft holte, nur um ihn von der Aufzählung weiterer „Fälle“ abzubringen und endlich auf das Thema zu kommen, dem wir unsere Bekanntschaft verdankten. „Haben Sie – ich meine: Hat die Polizei Mittel, den Menschen ihren Enthusiasmus für alten Kram auszutreiben? Oder wollen Sie eine Verkaufspflicht an staatliche Kontore für alle Gegenstände einführen, die älter sind als fünfzig Jahre, alte Hüte ausgenommen?“ Ich war ziemlich stolz auf meine Rempelei und hätte mir jetzt am liebsten doch einen Schnaps bestellt. Herbst sah mir in die Augen, weniger erstaunt oder imponiert, eher mit Nachsicht im Blick. Er ließ sich aus seiner aufrechten Haltung nach vorn fallen, stützte beide Ellenbogen auf den Tisch, fuhr sich mit einer Hand durch das kurzgeschnittene Haar, ohne den Blick von mir zu lösen. „Sie sind ein seltsamer Mensch, Herr Krüger“, sagte 106
er. „Ich weiß, Sie fühlten sich von mir vor den Kopf gestoßen, vorhin, an der imitierten Burg. Aber ich hatte wirklich kalte Füße. Und jetzt sind Sie bockig, denken sicherlich, ich will Ihnen, mit all dem, was ich da erzähle, imponieren, will Ihnen zeigen, daß ich auch etwas von Kunst verstehe, wenn auch auf meine, in Ihren Augen verquere Art. Und da kommen Sie dann mit Ihrem – na, sagen wir – Unmut heraus.“ Das paßte mir gar nicht, wie Herbst da in mir herumstöberte, als lägen meine Gedanken wie antiquarische Bücher in einer Krabbelkiste, zugänglich für jedermann. „Vielleicht haben Sie recht, vielleicht hätte ich Ihnen das alles nicht vortragen sollen, in der Stimmung, in der Sie sind oder in die ich Sie gebracht habe. Ich habe Ihnen einen neuen Aspekt zeigen wollen, aber Sie warten sowieso nur darauf, daß ich von Paul Schultes Tod anfange und von der Rolle, die Sie dabei gespielt haben könnten. Oder nicht?“ Ich nickte, ärgerte mich aber augenblicklich, daß ich seine Gedankenleserei auch noch bestätigt hatte, und versuchte den ehrenvollen Rückzug, indem ich sagte: „Das war nun wirklich nicht schwer zu erraten. Wozu sonst haben Sie sich mir angeschlossen?“ Es machte den Eindruck, als könne er nur schwer den Blick von mir wenden. Er sah dann aber doch in seine Tasse, und während er in dem kalt gewordenen Kaffee rührte, stellte er fest: „Es ist nicht leicht in unserem Beruf, normalen Kontakt mit Menschen zu schließen. Das ist kein Wunder. Also“, er reckte sich wieder, legte die Hände akkurat nebeneinander, „im Fall des Todes von Paul Schulte sind wir noch nicht viel weitergekommen.“ Ich hakte sofort ein. „Noch nicht viel weiter. Aber doch ein Stückchen?“ „Ja“, bestätigte er. Ich merkte ihm an, wie schwer es ihm fiel, mir genauere Auskunft zu geben. „In bezug auf Schultes Tod noch nicht“, sagte er dann. „Aber sein Vorleben kennen wir.“ 107
„Vorleben? Das hört sich nach Straftaten an.“ „Wirklich? Nun, den Eindruck wollte ich nicht erwecken. Schulte war ein ehrenwerter Mann, seine Frau ist eine ehrenwerte Frau …“ Ich kam mir vor wie ein Statist in Shakespeares „Cäsar“, dem der Darsteller des Marc Antonius die Grabrede vordeklamiert: Denn Brutus ist ein ehrenwerter Mann. „Soweit man das Gewerbe, das sie betrieben, als ehrenwert bezeichnen kann.“ „Die Schauspielerei?“ Wie kam dieser Mann zu dem Vorurteil gegen ein ehrsames Handwerk? „Nicht die Schauspielerei.“ Damit war für Herbst das Thema beendet, und als ich, Erklärung herausfordernd, schwieg, sagte er nur noch: „Ich kann Ihnen keine Details mitteilen. Das alles gehört möglicherweise zum Fall Schulte.“ Dann fragte er unvermittelt: „Sind Sie schon bei Frau Schulte gewesen?“ „Heute vormittag. Es war ein unersprießliches Rendezvous.“ „Wundert Sie das?“ Er richtete seine große, schiefgestellte Nase herausfordernd auf mich. „Sie haben doch wohl nicht erwartet, daß sie Ihnen um den Hals fällt.“ „Sie ist noch immer fest davon überzeugt, ich hätte ihren Mann umgebracht.“ Ich wartete, ich lauerte, ob er nicht widersprechen, ob er nicht Barbaras Meinung als absurd einstufen würde; ich wartete vergebens: Herbst saß stumm, und ich mußte weiterreden, wollte ich nicht riskieren, daß eine Pause im Gespräch eintrat. Und daran konnte mir auf keinen Fall gelegen sein, nun die Rede einmal auf das für mich wichtige Thema gekommen war. Also packte ich, wie man so sagt, den Stier bei den Hörnern. „Finden Sie, ich bin fähig“, fragte ich, „einen Menschen umzubringen?“ „Fähig …“ Herbst zog ein Gesicht, als hätte ich ihm zu108
gemutet, die sprichwörtlich gewordene Quadratur des Kreises zu lösen. „Man sollte einem Polizisten nicht mit solchen Fragen kommen. Ganz abgesehen davon, daß ich gehalten bin, mit einem Verdächtigen nicht meine Meinung zu der Tat, deren er verdächtig ist, zu erörtern – davon einmal abgesehen, hat mich meine Berufserfahrung gelehrt, daß man sich eigentlich nie auf den Eindruck verlassen kann, ob ein Verdächtigter ‚fähig‘ wäre oder nicht, eine Straftat zu begehen.“ Das war eindeutig, und mir blieb die Wahl, mich verunsichert zu fühlen, weil man mich sozusagen von Amts wegen in der Kategorie der potentiell Verdächtigen, in die ich eingestuft worden war, beließ, oder mich in Stolz darüber zu ergehen, daß man mir die Potenz bescheinigte, meine Probleme auch mit Gewalt zu lösen, wenn es darauf ankam. Beides war nicht nach meinem Gusto, und ich entgegnete auch entsprechend kühl, ich versuchte es mit Fassung zu tragen, daß man mir noch immer die Ehre antue, mich für einen Mörder oder einen Totschläger zu halten, und daß ich mir des Vertrauens vollauf bewußt wäre, noch nicht in Handschellen abgeführt worden zu sein. „Aber ehe Sie“, fuhr ich fort, „weiter einem Phantom nachjagen, sollten Sie sich auf Realitäten konzentrieren.“ „Und die wären?“ „Daß die Schultes außer mir auch andere Bekannte in Wiedehopfen haben. Frau Schulte jedenfalls hat gar nicht fröhlich reagiert, als sie von mir erfuhr, daß ich davon wußte.“ Er schien nicht überrascht, sehr zu meinem Ärger. Konnte man den Mann denn mit nichts aus der Reserve locken? „Da gibt es einen jüngeren Mann mit langen Haaren. Wandrey hat mir von ihm erzählt.“ „Jüngere Männer mit langen Haaren soll es heutzutage viele geben.“ 109
„Aber anscheinend doch nur einen, mit dem die Schultes in Wiedehopfen verkehrt haben.“ „Stimmt.“ Er nickte. Ich hatte Mühe, meine Enttäuschung zu verbergen. „Das wissen Sie also schon? Auch daß die beiden am Dienstagabend gemeinsam mit ihm bei einem Orgelkonzert in der Martins-Kirche der Kreisstadt waren und anscheinend mit dem Organisten dieser Kirche bekannt sind?“ Herbst starrte mir ins Gesicht, doch hatte ich nicht den Eindruck, er sähe mich an. Plötzlich hatte er es eilig. „Ich muß mich wieder meinen Aufgaben widmen.“ Er rief nach dem Wirt, wir bezahlten und traten vor die Tür der „Mohrenalm“. „Hoffentlich wird alle Aufregung bald vorbei sein.“ Er gab mir zum Abschied die Hand, und ehe er mir den Rücken zuwandte, um den Weg ins Tal hinabzugehen, sagte er noch: „Ich empfehle Ihnen, sich uns gegenüber weniger störrisch zu zeigen. Und noch eins: Machen Sie keine Alleingänge. Amateurdetektive sind die Pest. Sollten Sie etwas Neues erfahren – oder wenn Ihnen noch etwas Wichtiges einfällt oder auffällt –, wenden Sie sich an uns. Wenn Sie etwas wissen wollen, fragen Sie mich.“ Er tippte mit einem Zeigefinger an einen nicht vorhandenen Hutrand. Ich sah ihm hinterher, wie er mit unsicheren Schritten den steilen Weg in den Ort hinabtrottete. Mein Vergnügen an der Wanderung über den „Großen Ringweg“ war zum Teufel, und bei der nächsten Abzweigung eines Weges zu Tal verließ ich die Route. Auf meinem Zimmer traf ich Wandrey dichtend, und die Gesellschaft des Poeten kam mir vor wie eine freundliche Oase inmitten einer Wüste von Mißverständnissen, Verdächtigungen und Gehässigkeiten. Mit Wonne hörte ich mir ein soeben entstandenes Sonett über die Vergänglichkeit von Ruhm angesichts des Fortschritts auf allen 110
Gebieten des Lebens an und war dankbar, nicht mit Fragen zum Fall Paul Schulte behelligt zu werden. Des Dichters schweifender Geist schien sich über dieses Alltagsereignis bereits hinauskatapultiert zu haben. Meine Erleichterung war so groß, daß ich Wandrey zusagte, mit ihm, Hammer und Neumann nach dem Abendessen eine von den langweiligen und besonders durch die nörgelnde Art des Arztes schwer zu ertragenden Zehntelpfennigskatrunden zu bestreiten. Beim Zubettgehen war ich zufrieden, nach drei Stunden sechsundneunzig Pfennig gewonnen zu haben.
10. „Ich habe mich gestern wohl ein bißchen danebenbenommen.“ Barbara stand vor ihrem roten Fiat, in voller Bemalung und heute in einem apfelgrünen Hosenanzug; sie strahlte mir mit entblößten Zähnen entgegen, während sie einen Schritt auf mich zu tat. Da ich keine Anstalten machte, den Abstand zwischen uns zu verkürzen, vielmehr eher so ausgesehen haben mußte, als wollte ich auf dem Absatz kehrtmachen und ins Sanatorium zurücklaufen, kam sie ganz nahe, legte mir eine Hand in löchrigem Handschuh auf den Unterarm, als wollte sie Abbitte tun. Verlegen sah ich mich nach Wandrey um, der – genau wie ich mit einem Beutel voller Badeutensilien ausgerüstet – noch auf der Freitreppe stand und mich angrinste. „Ich gehe schon voraus!“ rief er fröhlich. „Machen Sie es gut, machen Sie es aber nicht zu lange.“ Barbara fand die abgelatschte Floskel offenbar witzig, jedenfalls lachte sie. Sie schien überhaupt in der Laune zu sein, die Welt von ihrer heiteren Seite zu nehmen. Ihr Gesicht glänzte vor Wohlwollen, als sie mir ihr 111
schönstes Theaterlachen schenkte, nachdem sie es Wandrey lange genug zugedacht hatte. Mir blieb nichts übrig, als auf ihr Spiel einzugehen, wollte ich nicht direkt vor dem Sanatorium und vor dem Poeten Aufsehen riskieren. Also sagte ich, das Kohlensäurebad warte auf mich, und wenn ich keinen Krach mit den medizinischen Autoritäten bekommen wolle, müsse ich mich beeilen. „Du bist mir noch immer böse.“ Schmollend streckte Barbara die Unterlippe vor, doch so, daß ich merken mußte, sie sei nicht in Wirklichkeit betroffen, vielmehr eigentlich fröhlich und bereit, ihre Fröhlichkeit mir zu teilen. Sie machte eine einladende Geste zu ihrem Auto hin, sagte: „Komm, ich fahre dich ’runter.“ Mir stand so früh am Morgen nicht der Sinn nach einem Wortwechsel, andererseits war mir der Einstieg ausgerechnet in dieses Auto äußerst fatal. „Komm“, wiederholte sie, da sie meinen Widerwillen bemerkte. Dann saß ich in dem Wagen. Aus dem Radio dudelte es: Ich mach ein glückliches Mädchen aus dir, jeden Tag, jede Nacht …, die Luft war mit „rêve d’or“ geschwängert. Barbara zog sich die Fahrschuhe an und lächelte mir dabei liebenswürdig von unten her zu. Ich saß beengt und mit angewinkelten Beinen und fragte mich, was wohl bei ihr den Stimmungsumschwung herbeigeführt haben könnte, kam aber zu keinem Schluß. „Ich möchte mich bei dir entschuldigen“, sagte sie, eine Hand auf dem Lenkrad, die andere am Zündschlüssel, von dem die Silberplakette mit dem fünfmarkstückgroßen Fudschijama herabhing. „Jetzt sehe ich das alles natürlich ganz anders. Ich war dumm und aufgebracht, verstehst du das?“ „Wieso ‚jetzt‘ und wieso ‚natürlich‘?“ Ich fand keinen Zugang zum Sinn ihrer Rede. „Weißt du es denn noch nicht?“ Als ich mit halboffenem Mund den Kopf schüttelte, verkündete sie mit ihrer 112
exaltierten Stimme: „Die Untersuchung über Pauls Tod ist eingestellt worden.“ Sie ließ mir genügend Zeit, den Mund zuzuklappen und eine halbe Wendung des Oberkörpers in ihre Richtung zu vollziehen. Hätte man mir eröffnet, ich sei nach siebzehn Jahren Schuldienst endlich zum Direktor befördert, ich hätte nicht törichter dreinschauen können. „Sag das bitte noch einmal“, forderte ich sie mit belegter Stimme auf. „Es ist so. Oberleutnant Herbst hat es mir mitgeteilt. Aber ich sehe, es überrascht dich wirklich.“ „Wann mitgeteilt?“ Mir wurde die Zunge pelzig, und ich schluckte heftig. „Heute in aller Herrgottsfrühe. Ich war noch bei der Toilette.“ Sie drehte den Zündschlüssel, der Motor sprang an, und der Wagen setzte sich langsam in Bewegung. „Ich dachte, er würde dich auch benachrichtigen. Das Gerichtsmedizinische Institut ist wohl zu dem Schluß gekommen, daß der arme Paul ohne fremde Einwirkung gestürzt ist – unter Alkoholeinfluß, wie das amtlich heißt. Und an den Folgen des Sturzes ist er dann gestorben. So einfach ist das alles.“ So einfach war das also: Jemand betrank sich, stürzte, starb, und die Polizei griff sich vorsichtshalber erst einmal einen, der ein Interesse am Tod dieses Jemand gehabt haben konnte, ohne vorher exakt zu klären, ob ein anderer überhaupt die Hand im Spiel hatte. Bullen, dachte ich, typisch für Bullen. Eine Welle unsinniger Wut überflutete mich, auf Herbst, auf mich, auf Barbara, die gelassen in sanften Schwüngen bergab fuhr, auf das Auto, das dezent schnurrte, auf die ganze Situation, in der ich steckte. „Du sagst ja gar nichts dazu.“ Barbara blickte mich an, und in ihrem Blick lag Besorgnis. „Ich bin überwältigt“, brachte ich heraus, „besonders davon, daß ich per Zufall von allem erfahre.“ 113
„Mach dir nichts draus“, tröstete sie mich, und für einen Moment sah es danach aus, als wollte sie den philosophischen Satz dadurch unterstreichen, daß sie mir eine Hand aufs Knie legte. „Und du, bist du jetzt nicht mehr davon überzeugt, ich hätte Paul heimtückisch um die Ecke gebracht?“ „Wie sollte ich?“ Das war leichthin gesagt, fast ein bißchen fröhlich. Jedenfalls klang Erleichterung durch. „Jetzt, wo sich alles aufgeklärt hat. Wenn ich ehrlich sein soll: So ganz habe ich ja nie daran geglaubt, daß du … Der arme Paul. Wenn ich daran denke, wie er da gelegen haben muß. So ganz allein, im Schnee …“ Mir wurde übel. „Halt an“, sagte ich, „ehe ich dir den Wagen vollkotze.“ „Aber Fritz!“ Ein entsetztes Auge auf mich gerichtet (es ist ja wohl das Schrecklichste, was einem Autofahrer passieren kann, daß ihm jemand sein Statussymbol beschmutzt), ließ sie das Gefährt sanft, aber bestimmt ans Trottoir gleiten. Ich stieß die Tür auf, war jedoch unfähig, die Beine zu bewegen. So beschränkte ich mich darauf, die Nase in die frische Luft zu halten und ein paarmal zu schlucken. Ich spürte, wie der Druck im Magen allmählich nachließ und der Schweißausbruch zum Stillstand kam. „Entschuldige“, sagte ich nach einer Weile, „manchmal schlägt mir Freude auf den Magen.“ Barbara zeigte sich besorgt, wollte mit mir den Rest des Weges zum Badehaus gehen, gab sich überhaupt solidarisch. „Wir sind schon arme Schweine, mit uns treiben sie es, wie sie wollen, auf uns nimmt keiner Rücksicht, komm, ich mach’ dir den Hemdkragen auf, das hilft.“ Sie stieg aus und ging vorn um den Wagen herum. „Ich helfe dir ’raus.“ Ihre Unterstützung war mehr symbolisch, und dann stand ich neben ihr auf dem Gehweg, entschuldigte mich noch einmal, und sie entgegnete, es sei gut und es sei ja auch gar nichts passiert. 114
„Wieso hat dir Herbst nichts davon gesagt?“ fragte sie dann. „Hast du ihn nicht mehr gesehen?“ Ich erklärte ihr, ich sei gestern mit ihm gewandert. Ich war so verdrossen, daß ich keine Lust hatte, Einzelheiten mitzuteilen. Doch Barbara ließ nicht locker, wollte wissen, ob wir denn den ganzen Weg über geschwiegen hätten, und erging sich zwischendrein noch einmal in Schmähungen des Übermuts der Ämter, der so weit reiche, einen Mann erst zu verdächtigen und ihn dann nicht zu informieren, wenn der Verdacht in sich zusammengebrochen sei. „Wovon hat er denn gesprochen?“ wollte sie wissen. „Hauptsächlich von der Baukunst und vom Antiquitätenhandel, überhaupt belangloses Zeug.“ Sie blieb einen Moment stehen. „Wovon hat er gesprochen?“ Sie war bemüht, nicht zuviel Interesse an den Tag zu legen, das erkannte ich sofort. „Das darf doch wohl nicht wahr sein. Spricht von Baukunst und Antiquitäten …“ „Wir sind da an einer alten, scheußlichen Villa vorbeigekommen.“ Nun gab ich ihr doch in Umrissen und eilig das Gespräch wieder, in der Hoffnung, ich würde sie los und könnte mich auf den Weg zum Badehaus machen. „Und was wollte er mit dem Stuß erreichen? Polizisten wollen doch immer was erreichen.“ „Wahrscheinlich wollte er angeben, mir vorführen, daß er auch etwas von der Sache versteht.“ „Bist du da sicher?“ Sie sah mich so eindringlich an, daß ich wirklich unsicher wurde, senkte dann aber den Blick, wohl weil sie befürchtete, ich könnte mich wegen ihres geschärften Interesses an einer solchen Kleinigkeit wundern. „Ach, ist ja auch egal. Was gehen uns die Meinungen der Polizei über Architektur und all das an. Sehen wir uns noch einmal?“ Sie bemühte sich um Sachlichkeit mit einem Trend zum Liebenswürdigen. „Dieser 115
Herbst hat mich gebeten, noch übers Wochenende hierzubleiben, ‚bis die Leiche freigegeben ist‘, sagt er. Scheußlich, dieser Jargon.“ „Vielleicht …“ Ich verbarg meine Unlust anscheinend schlecht, denn sie drängte, appellierte an mich, kein Frosch zu sein, meinte, nach all den Seltsamkeiten und Widrigkeiten (hier senkte sie die Stimme zu mehr betroffenem Flüstern, schob einen langen, Versonnenheit ausstellenden Lidschlag ein) wären wir es uns schuldig, eine Stunde in Abgeklärtheit zu verbringen, zumal es wahrscheinlich doch das letzte Mal sei, daß wir uns sähen und so weiter. Jedenfalls sah ich mich genötigt, eine Einladung auszusprechen, und so schlug ich vor: „Wie wäre es denn heute abend, halb sieben, im Hotel?“ Doch der Termin paßte ihr nicht; da sei sie schon verabredet. „Treffen wir uns morgen zum Mittagessen, um eins im Hotel“, sagte sie, und um endlich auf den Weg zu kommen, willigte ich ein, wenn auch nur halbherzig. Denn am Sonntag um zwei Uhr spielte „Medizin Wiedehopfen“ gegen den Tabellenführer der Kreisklasse, und ich war mit Wandrey schon so gut wie verabredet. Ich hoffte, es würde ein kurzes Rendezvous werden. Dann lag ich in der Kupferwanne und versuchte, mich wieder ganz dem Prickeln der platzenden Kohlensäurebläschen hinzugeben. Es gelang mir nicht recht. Die Frage, warum Herbst mich nicht über den neuesten Stand in Sachen Paul Schulte unterrichtet hatte, drängte sich mir wieder auf. Ich fand keine Antwort. Später saß ich mit Wandrey beim Erholungsbier und hörte wieder einmal, was der Dichter an Meinungen über die Welt produzierte. Ich muß an dem Tag ein besonders schlechter Zuhörer gewesen sein, denn bald wurde er sichtbar mißmutig, sagte etwas von „Impertinenz der Unaufmerksamkeit“, und ich entschuldigte mich: Mir ginge allerlei im Kopf herum. 116
„Immer noch die Schulte-Story?“ fragte er anteilnehmend, und ich merkte, wie die Klatschsucht wieder in ihm Blasen zu treiben begann. „Hat Sie die Polizei noch immer in der Mangel?“ Ich gab eine temperierte Antwort, die ihn befriedigen und mir ein langatmiges Gespräch ersparen konnte. „Man hat sich wohl darauf geeinigt, die Sache in der Schwebe zu halten.“ Er machte eine bedenkliche Miene. „Ob das wohl gut für Sie ist?“ sagte er zweifelnd. „Bei den engen Beziehungen zu Madame Schulte.“ Ich unterdrückte eine grobe Antwort, leerte mein Glas und rief nach dem Kellner. „Nun seien Sie mal nicht so pomadig.“ Wandrey sah richtiggehend erschrocken drein bei der Aussicht, er könnte in dieser Angelegenheit nichts Konkretes erfahren. In seiner Verzweiflung versuchte er es auf die kumpelhafte Tour. „Hand aufs Herz“, sagte er, „bei dem Schubert-Abend haben Sie sich doch auch mit ihr nach der Pause verdrückt. Jedenfalls habe ich Sie nicht mehr gesehen und auch Frau Schulte nicht. Sie saß vorher ganz in meiner Nähe.“ Das war nun wirklich eine Neuigkeit. Ich vergaß darüber, dem Kellner ein Trinkgeld zu geben. „Wen haben Sie nach der Pause nicht mehr gesehen?“ Ich war einigermaßen verwirrt. „Na, Sie nicht und sie nicht.“ Er lachte, als habe er einen Witz gemacht. Überhaupt war seine gute Laune nicht mehr aufzuhalten. „Und auf so was macht man sich natürlich seinen Vers. Nehmen wir mal an, Sie wären mit ihr auf und davon, und der Gatte hätte Sie bei verschwiegenem Stelldichein überrascht, und dann …“ Er machte eine ungefähre Geste zwischen Halsabschneiden und Niederschlagen. „Sie sind sicher, daß Frau Schulte nach der Pause nicht mehr im Theater war? Mir hat sie erzählt, sie hätte den Liederabend bis zum Schluß ausgehalten.“ 117
„Fragen Sie Hammer.“ Wandrey war beleidigt, weil ich seine Darstellung anzweifelte. „Zu dem habe ich gesagt: Wenn die Leidenschaft am Werk ist, geht die Kunst baden. Fragen Sie ihn nur.“ „Quatsch“, sagte ich, „mir war übel. Draußen habe ich dann Paul Schulte getroffen, allein, und bin mit ihm ins ‚Esplanade‘ gegangen. Deswegen hat mir die Kripo ja den Kram an den Hals gehängt. Es hat nämlich Krach gegeben zwischen uns. Aber das wissen Sie doch alles.“ „Jedenfalls waren Sie beide nicht mehr im Theater“, beharrte Wandrey, bockig wie ein Kind, dem man eine Geschichte nicht glauben will. „Fragen Sie Hammer.“ Mir war nichts daran gelegen, Hammer zu fragen. Ich hörte wieder Barbaras weinerlich-apathische Stimme: Ich sitze ahnungslos im Konzert, und du … Wandrey, ganz vergnatzt, ließ das Thema nicht fallen. Er benahm sich, als hätte ich seine Ehre angetastet, indem ich seiner Nachricht keinen Glauben schenkte oder sie nicht für wert hielt, mit einer gehörigen Portion Ernst aufgenommen zu werden. Seine Stimme quoll geradezu über vor Wichtigkeit, als er fortfuhr: „Übrigens können Sie Ihre Madame ganz einfach testen. Fragen Sie, ob sie sich daran erinnert, was beim ‚Echo‘ passiert ist. So etwas ist nämlich einmalig, das vergißt man nicht.“ Und als ich ihn verständnislos ansah, setzte er mir gestenreich, als müsse er das Geschehen auch noch pantomimisch verdeutlichen, auseinander, daß die Dame, die den zweiten Teil des Abends bestritten hatte, beim „Echo“ von einem Hustenreiz befallen worden sei („Wahrscheinlich infolge falscher Atemtechnik“, fügte Wandrey geringschätzig hinzu), der nicht so bald gestoppt werden konnte und sie nach einer Minute zu neuem Beginn gezwungen habe. „Dabei hatte sie mindestens ihre fünfzig auf dem Buckel und das Ding wahrscheinlich schon Hunderte Male heruntergeleiert. Na, mein Lieber, wie finden Sie das?“ 118
„Erstaunlich.“ Mehr fiel mir nicht ein, da ich mit meinen Gedanken schon wieder unterwegs war. Ich fühlte mich unsicher und in meiner Würde gekränkt, weil alles Geschehen, in dessen Mittelpunkt ich bisher gestanden hatte, an mir vorbeizulaufen schien, als wäre ich nie beteiligt gewesen. Aber ich hatte ja Neues erfahren: Das „Echo“ hatte nicht geklappt, und Barbara mußte das wissen, wenn sie bis zum Schluß der Vorstellung im Theater gewesen war. Jetzt hatte ich wieder Anschluß. „Ich habe noch einen Weg vor“, sagte ich, als ich schon dabei war, meinen Mantel anzuziehen. „Viel Vergnügen!“ rief Wandrey hinter mir her. „Und vor allem: viel Glück!“ Ich traf Barbara auf dem Weg zum Hotel „Stadtmitte“, als sie die Post verließ. Sie schien mir nicht mehr so liebenswürdig und selbstsicher wie noch zwei Stunden zuvor, eher hastig und wie gehetzt. Als ich vorschlug: „Ich begleite dich ein Stück“, antwortete sie mit einer Geste, die weniger Einladung als Ergebenheit in einem Umstand ausdrückte, den sie nicht ändern konnte. Da sie beinahe wortlos neben mir herging, mußte ich die fünf Minuten Weg mit Unterhaltung ausfüllen, und es kam mir vor, als gelänge mir das recht gut. Jetzt war ich es, der sich erfreut zeigte, daß die Affäre Paul Schulte ihren Abschluß gefunden hatte, ohne daß einer von uns beiden zu Schaden gekommen war. Ich plauderte mich überhaupt quer durch das, was wir in den letzten Tagen miteinander erlebt hatten, ohne natürlich den Montagabend zu erwähnen, sagte auch, daß es mir leid tue, trotz allem, wenn wir uns wahrscheinlich morgen nach dem Mittagessen zum letzten Mal und für immer voneinander verabschieden müßten. Dabei wunderte ich mich, wie leicht mir dieser Nonsens von der Zunge ging. Und dann stellte ich die Frage, auf die es mir ankam, stellte sie, nachdem ich 119
mich gebührend vorsichtig an den Schubert-Abend herangequatscht hatte. „Wie war es denn eigentlich noch in dem Konzert am Donnerstag?“ Sie blieb sofort stehen, mitten auf dem ziemlich steil bergab führenden Kirchberg (was mir bei dem glatten Boden fast zu einem Sturz verholfen hätte, als ich es ihr gleichzutun versuchte), und sah mich an, den Mund leicht geöffnet, viel Unverständnis im Blick. „Wie kommst du denn jetzt darauf?“ fragte sie. „Wandrey“, sagte ich, nun in einiger Verlegenheit, weil sie sich so betroffen zeigte, „der Mann, mit dem ich auf einem Zimmer wohne, erklärt mir seit dem LiederAbend unentwegt, ich hätte etwas versäumt, weil ich zur Pause gegangen bin. Statt mit Paul zu saufen und Gott weiß was mit ihm anzustellen, meint er, wäre es besser gewesen, mir die junge Sopranistin anzuhören. Der denkt nämlich insgeheim noch immer, ich hätte etwas mit Pauls Tod zu tun.“ Mit einem zögernden Schritt setzte Barbara sich wieder in Bewegung. Sie hielt den Kopf gesenkt, blickte auf den Weg und überließ es mir, weiterhin Worte zu finden. Und ich tat so, als hielte ich von Wandreys Meinung wenig, lachte kurz auf, während ich davon sprach, daß sich dieser Poet immer und überall ein Urteil anmaße, sagte: „Ich kann mir nicht vorstellen, daß eine junge Sängerin, die gerade erst dem Konservatorium entflogen ist, so bestechend sein soll, zumal bei einem so schwierigen Lied wie dem ‚Echo‘. Das soll sie hinreißend vorgetragen haben.“ Es kribbelte mir in den Fingerspitzen, nachdem ich das herausgebracht hatte, und trotz der Kälte stand mir der Schweiß auf der Stirn. Gleichzeitig kam ich mir schäbig vor, eine so plumpe Falle zu stellen. Dennoch machte ich weiter, hielt sogar, für den Fall, daß sie aufsehen sollte, ein geringschätziges Lächeln um den 120
Mund bereit, das demonstrieren sollte, wie wenig ich auf Wandreys Meinung gab. Aber Barbara blickte weiterhin nach unten, nahm das Gespräch nicht an, und ich mußte, wohl oder übel, den Faden weiterspinnen. Ich redete davon, daß ich mich ohrfeigen könnte, das Konzert schon zur Pause verlassen zu haben, schon weil ich Wandrey jetzt nicht in die Parade fahren könnte, der mir mit seiner Schwärmerei für die junge Sängerin und die Manier, wie sie das „Echo“ vorgetragen habe, den Nerv töte. „Und du tötest mir den Nerv“, unterbrach Barbara mich plötzlich. Wir waren an der Ecke angekommen, von der aus man das Hotel schon sehen konnte. Wieder blieb sie stehen. Sie sah mich fast feindlich an. „Ob dein Herr Wandrey recht hat oder nicht, interessiert mich einen feuchten Kehricht. Und diese junge Sängerin hat eben ihr Programm ’runtergesungen, brav, wie man sich eben so einer Aufgabe entledigt. Aber ich habe wirklich an anderes zu denken, und du solltest mich nicht mit solchem Mumpitz vollquatschen.“ Ich war erschrocken über die rüde Ausdrucksweise; gleichzeitig hatte ich ein Gefühl, als trüge ich Marmorstiefel und Handschuhe aus Blei, und war froh, als Barbara mir hastig die Hand drückte und erklärte, sie sei in Eile. „Bis morgen mittag“, sagte sie. „Vielleicht fahren wir noch einmal in das nette Restaurant.“ Benommen sah ich ihr nach, wie sie mit energischen Schritten das letzte Stück zum Hotel zurücklegte, ohne sich noch einmal nach mir umzudrehen. Ein paar tiefe Atemzüge befreiten mich aus der Starre, doch der Kopf war mir leer, als ich in Richtung Hotel blickte. Ich konnte nicht einmal denken: Sie hat sich verraten – sie ist gar nicht bis zum Ende der Vorstellung im Theater geblieben! Nur allmählich gewann ich die Fähigkeit zurück, das soeben Erlebte zu reflektieren, und indem ich wieder Herr meiner Gedanken wur121
de, stürzte auf mich eine Flut von einander widersprechenden Überlegungen ein. Warum hatte Barbara in dem Punkt die Unwahrheit gesagt, da doch kein Grund zum Lügen bestand, wenn Paul Schulte wirklich ohne fremde Einwirkung gestorben war? Oder war diese Version, die Herbst in die Welt gesetzt hatte, nur ein Trick, um den Schuldigen sicher zu machen und ihn desto leichter überführen zu können? Warum aber hatte er mir inzwischen nicht dasselbe mitgeteilt? Bezog er mich nicht mehr in den Kreis der Verdächtigen ein? Oder wollte er mich unsicher machen, auf daß ich mich durch eine unüberlegte Reaktion verriete? Wie aber nun, wenn er Barbara im Verdacht hatte, ihren Mann getötet zu haben? Ich drehte mich mit meinen Überlegungen im Kreis. Jedenfalls hatte sie gelogen, als sie behauptete, sie habe dem Liederabend bis zum Schluß beigewohnt. Langsam ging ich die Straße hinunter, am Hoteleingang vorüber und auf das Flüßchen Wiede zu. Ein neuer Aspekt, den ich bisher nicht genügend bedacht hatte, tat sich mir auf: Wie hatte ich mich Barbara gegenüber zu verhalten, wenn sich herausstellen sollte, daß sie am Tod ihres Mannes Schuld trug? (Das Wort „Mord“ wagte ich nicht in meine Gedanken einzubeziehen.) Die erste Reaktion war: diese Ziege! Doch sie verflüchtigte sich, und an ihre Stelle traten Denkübungen wie: Kennst du denn überhaupt ihre Motive? Und: Wäre Paul Schulte ohnehin nicht bald gestorben? Erschrocken versuchte ich, solche Überlegungen abzuwehren und wieder dem simplen Umstand zu seinem Recht zu verhelfen, der allem zugrunde lag: Ein Mord ist ein Mord, und da hat einer zunächst nicht nach Erklärungen zu fragen. So kam ich denn einigermaßen in die Balance, und mit der eher wehleidigen als ernstgemeinten Feststellung, daß für einen Mann wie mich, der an einer Angina pectoris litt, solche Aufregungen und psychischen 122
Wechselbäder nicht gerade als Therapie zu empfehlen seien, machte ich mich auf den Weg in die Breitscheidstraße. Der ABV, ein älterer Mann mit einem faltendurchzogenen, hageren Gesicht und einer Glatze, empfing mich, indem er hinter seinem Schreibtisch sitzen blieb. „Bitte nehmen Sie Platz“, sagte er. „Sie sind Herr Krüger, nicht wahr?“ Er wies mich auf einen Besucherstuhl, ruhig, als habe er meinen Besuch erwartet. Ich blieb stehen, sagte ohne weitere Erklärung: „Ich muß Oberleutnant Herbst sprechen, unbedingt. Ich sollte mich hier melden, wenn …“ „Der Genosse Oberleutnant Herbst ist nicht hier“, unterbrach er mich. Er sah nur kurz von seiner Schreibarbeit auf. „Soll ich ihm etwas ausrichten?“ „Und wann kommt er zurück?“ wollte ich wissen, begriff aber, als ich das unwirsche Kopfrücken des Polizisten sah, sofort, daß ich einen Fauxpas begangen hatte, indem ich mich so ganz zivil in einer sehr amtlichen Sache äußerte. So versuchte ich denn, mein falsches Verhalten zu korrigieren, und fügte hinzu: „Es hängt nämlich mit der Sache – mit dem Fall Paul Schulte zusammen.“ „Das kann ich mir denken“, sagte er und wies noch einmal auf den Besucherstuhl, so daß ich mich dann doch setzte. „Also: Was haben Sie auf dem Herzen?“ Und als ich einen Moment zögerte, fügte er noch hinzu: „Der Genosse Oberleutnant hat mich angewiesen, Ihre Aussage, falls sie noch eine zu machen hätten, zu Protokoll zu nehmen.“ Dabei drückte er das Kreuz durch und stemmte sich mit steifen Armen gegen die Tischkante. „Also, was gibt es?“ Zuerst verhalten, weil ich noch immer das Gefühl hatte, an die falsche Adresse geraten zu sein, dann jedoch fließender, berichtete ich, was ich von Wandrey über Barbara erfahren hatte, und der Polizist notierte, be123
müht und kommentarlos. Als ich zu Ende gekommen war, fragte er mit amtlicher Stimme: „Ist das alles?“ „Jawohl, Genosse Abschnittsbevollmächtigter!“ antwortete ich, angesichts von soviel Amtlichkeit ins militärische Idiom geratend, und erhob mich vom Stuhl, nachdem er mir für die Mitteilung gedankt und mir versichert hatte, er werde sofort „dem Genossen Oberleutnant Meldung erstatten“, wenn der die Dienststelle wieder „anlaufe“. „Und Sie bleiben im Sanatorium“, wies er mich an, als ich die Türklinke schon in der Hand hielt. „Vielleicht braucht der Genosse Oberleutnant Sie heute noch.“ Ich sagte noch einmal: „Jawohl!“ Auf der Straße stand ich dann noch einen Augenblick und dachte darüber nach, was mich so verkrampfen ließ, wenn ich einen Behördenraum betrat. Ich kam aber zu keinem Schluß.
11. Entgegen der Weisung des ABV, das Sanatorium nicht zu verlassen, ging ich nach der Mittagsruhe doch wieder aus dem Haus, diesmal sogar ohne an der Pforte Zweck und Ziel meines Weggangs bekanntzugeben. Geschlafen hatte ich ohnehin nicht, obwohl Wandrey mich ausnahmsweise nicht mit Fragen und Theorien belästigt hatte. Das müßige Spiel der Vermutungen war es gewesen, das die Gedanken in Trab gehalten hatte; jenes unspezifische und unqualifizierte Denken, das man in der freundlichen Umschreibung „grübeln“ nennt, hatte jedenfalls zur Folge, daß ich – egal, ob ich mich damit bei Herbst unbeliebt machte – Licht in die Angelegenheit bringen mußte. Schließlich war nicht ich es, der sich in eine Sache, die ihn nichts anging, hineingedrängt hatte; ich war in sie hineingezogen worden und würde in ihr 124
bleiben, wenn es mir nicht gelang, mich selbst herauszubringen. Ich hatte die Nase voll von Verdächtigungen, halben Auskünften, Vermutungen und ganzen Lügen, und das Gefühl, von nun an als Einzelgänger in eigenem Auftrag zu handeln, machte mich verwegen wie einen Jungen, der auf eigene Faust eine Höhle erforscht, und wie ein Junge verschwendete ich auch nicht die Spur einer Überlegung daran, ob ich mit meinem Solo die Sache erschweren könnte oder mir dabei gar Gefahr drohte. Ich glaube, ich pfiff sogar ein Lied („Auf, in den Kampf, Torero“ oder was man als entschlossener Mensch so zu pfeifen pflegt), als ich in den frostklaren Samstagnachmittag hinaustrat. Wie gesagt: Ich wollte Klarheit und war entschlossen, als erstes Barbara mit ihrer Lüge zu konfrontieren. Entsprechend formulierte ich schon an Fragen und Sätzen auf dem Weg zu Tal. Im Hotel bekam ich die Auskunft, Frau Schulte sei vor einer Stunde aus dem Haus gegangen und habe nicht hinterlassen, wann sie zurückkomme. Das enttäuschte mich, doch blieb ich entschlossen, Posten zu beziehen, und wenn ich Stunden warten müßte. Ich setzte mich an einen Tisch im Séparée für Hotelgäste, von dem aus ich den Eingang und den Tresen beobachten konnte, und da ich mir vorgenommen hatte, einen völlig klaren Kopf zu behalten, verlangte ich Tee. Nach einer Stunde, als ich mir das vierte Glas Tee bringen ließ, sah mich die Kellnerin mit einem Blick an, in dem sich Zweifel und Mitleid mischten; ich lächelte freundlich, so als sei meine Manie, die Zeit mit Teetrinken totzuschlagen, die normalste Sache in einer Umwelt, die sich auf Bier und Schnaps kapriziert hatte. Zugleich aber überlegte ich, was ich bestellen sollte, wenn ich noch eine Stunde warten müßte. Ein Mann von fünfzig, mit großen, versteiften Händen, setzte sich zu mir und begann, während er Eier mit Schinken aß, über seinen Rheumatismus zu klagen. 125
Eine dicke Frau gesellte sich dazu und gab dem Mann Ratschläge, wie er sich gelenkig halten könnte – die übliche Kurunterhaltung. Ich mischte mich sowenig wie möglich in das Gespräch, behielt Tür und Tresen im Auge und kam mir noch immer vor wie einer, der Wichtiges zu tun hat. Eine weitere halbe Stunde verging, in mir stiegen erste Zweifel auf, ob es noch sinnvoll war zu warten. Trotzdem bestellte ich noch etwas, diesmal ein Glas Apfelsaft, weil mir der Tee bereits die Geschmacksnerven ramponiert hatte. Jetzt war es der Rheumatiker – er würzte die fette Mahlzeit mit dem dritten oder vierten Glas Bier –, der mich mitleidig ansah. Dann ging alles sehr schnell. Ich sah Barbara das Lokal betreten, zur Theke gehen, den Schlüssel in Empfang nehmen, und noch ehe ich der Bedienung ein Zeichen machen konnte, daß ich bezahlen wollte, war Barbara schon durch die Tür zu den Gästezimmern verschwunden. Es dauerte noch mindestens drei Minuten, bis ich mein Geld los wurde. Als ich am Tresen dem Zapfer und Schlüsselbewahrer mitteilen wollte, ich ginge jetzt zu Frau Schulte hinauf, hörte ich neben mir eine Stimme. „Ich bin mit Frau Schulte verabredet.“ „Ist recht, Herr Stallmeister“, sagte der Zapfer. „Sie ist gerade ins Haus gekommen.“ In meiner Verwirrung, daß soeben ein anderer das ausgesprochen hatte, was ich sagen wollte, bekam ich nicht sofort die Worte zusammen. Ich sah mir den Mann an, empfing einen flüchtigen Eindruck von ihm: glattes, blondes, auch die Ohren bedeckendes Haar, ziemlich eng beieinanderstehende Augen, unter einer schmalen, geraden Nase ein fast farbloser Schnurrbart. Er trug eine von den großen Brillen, die das Gesicht kleiner erscheinen lassen, war ungefähr einen Kopf kürzer als ich, auch dünner, schmächtig fast. Ich schätzte ihn auf höchstens Mitte Dreißig. „Ach, geben Sie mir noch eine Schachtel ‚Duett‘ “, sag126
te der Mann, und während er bezahlte, hatte ich Muße, noch einen zweiten Blick auf ihn zu werfen. Diesmal fiel mir auf, daß er über einem schwarzen Anzug keinen Mantel trug und unterm Kinn eine weiße Fliege auf weißem Hemd. Er hatte schmale, lange Finger, machte überhaupt einen sensiblen Eindruck, so daß ich unwillkürlich assoziierte: Künstler. Dann ging er durch die Tür zu den Gästezimmern, hastig, aber zielbewußt. War das der Mann, vom dem Wandrey gesprochen hatte? „Sie kennen wohl den Herrn“, sagte ich zu dem Zapfer, der mich fragend ansah. „Natürlich werde ich Herrn Stallmeister kennen“, entgegnete er, mehr abweisend als auskunftsbereit. Ich ließ mich nicht abschrecken, fragte vielmehr in einem Ton, der mein Interesse nicht allzu deutlich machen sollte: „Der Herr ist wohl Künstler?“ „Wieso?“ Dann verzog sich das Gesicht des Zapfers zu einem verstehenden Grinsen. „Ach, Sie meinen, wegen der Fliege und so. Ja, Herr Stallmeister gehört zum Kurorchester. Erster Geiger.“ Das sagte er mit soviel Stolz, als sei schon die Bekanntschaft mit dem Herrn ehrenvoll. Doch sein Metier brach sich sofort wieder Bahn. „Was darf es denn sein?“ fragte er. Aus Verlegenheit kaufte ich auch eine Schachtel Zigaretten, und noch während mir das Wechselgeld auf die Hand gezählt wurde, überlegte ich, wie ich mich weiter verhalten sollte. Eine Sekunde lang bewegte ich den Gedanken, Barbara sofort aufzusuchen und so zu tun, als wüßte ich nicht, daß sie bereits einen Gast hatte. Doch dann fiel ich zurück in meine Rolle als Beobachter. Dieser Herr Stallmeister war offenbar auch für den Mann hinterm Tresen kein Unbekannter im Zusammenhang mit Barbara. Hätte er ihn sonst so selbstverständlich passieren lassen? Wenn ich erfahren wollte, was die bei127
den zusammenführte, durfte nicht bekannt werden, daß ich von ihrem Treffen wußte. Die letzten Tage mit ihrem Hin und Her hatten mich zu einem mißtrauischen Kerl gemacht, der nur noch das glaubte, was er mit eigenen Augen und Ohren erfuhr. Ich dachte auch nicht daran, Herbst von meiner Beobachtung in Kenntnis zu setzen, so sehr bewegte mich die Frage, was Barbara mit diesem Herrn Stallmeister zu tun hatte. Und dann merkte ich: Der Gedanke, sie könnte mit ihm ein intimes Verhältnis haben, kränkte mich, verwirrte mich jedenfalls, obwohl ich doch schon von Paul Schulte wußte, daß Barbara es mit der Treue nicht genau nahm, und mir als allerletztem ein Gefühl der Eifersucht anstand, zumal nach den Kapriolen, die Barbara geschlagen hatte. Während ich mir verdrossen den Mantel anzog, überlegte ich, wie ich weiterhin verfahren wollte. Ich mußte den Mann im Auge behalten, soviel war mir klar. Also nahm ich Posten auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Neben einem Zeitungskiosk stellte ich mich so hin, daß ich den Hoteleingang voll im Blickfeld hatte, und schickte mich an, mit all der zähen Geduld auszuharren, die Verdrossenheit eingeben kann. Indes wurde ich nicht auf eine allzu harte Probe gestellt: Nach kaum fünf Minuten stand Herr Stallmeister vorm Hotelportal und blickte aufmerksam nach links und rechts, ehe er die Fahrbahn mit schnellen Schritten überquerte und eilends an mir vorüberging. Soweit hatte mich schon das Jagdfieber gepackt, daß ich ihm folgte, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, ob es nicht besser sei, jetzt Barbara aufzusuchen. Ich brauchte nicht weit zu gehen: Stallmeister betrat die Trinkhalle der Quelle „Franz II“, in der im Winter und überhaupt bei ungünstigem Wetter das Kurorchester seine Konzerte veranstaltete. Ich sah durch eins der großen Fenster, wie er sich anderen Männern in Schwarz und zwei oder drei Frauen zugesellte, die nach 128
und nach ein geräumiges Podium besetzten und begannen, ihre Instrumente zu stimmen. Um das Podium waren im Halbkreis Stühle aufgestellt und harrten eines Auditoriums. Unentschlossen lungerte ich eine Zeitlang vor dem Fenster, beobachtete, wie der Kapellmeister an das Pult trat, ein stattlicher Künstler mit Vollbart, und nach einigen Worten den Stab hob. Die ersten Takte eines Orchesterstücks, das ich als Ouvertüre zu „Dichter und Bauer“ identifizierte, drangen gedämpft nach draußen. Ich verließ meinen Posten, sah am Tor zur Halle ein Plakat: „Großes Adventskonzert. Am Samstag, dem, 8. Dezember, 19 Uhr, musiziert das Kurorchester unter der Leitung von Bodo Kollin“ und so weiter. In einer Stunde, dachte ich, während ich unwillkürlich auf meine Armbanduhr blickte, man probt also noch einmal. Jetzt hätte ich Zeit gehabt, mit Barbara zu sprechen, eine knappe Stunde. Denn die Adventsmusik wollte ich mir anhören, vielmehr: Den Geiger wollte ich mir ansehen, gründlich. Ich weiß nicht mehr (vielleicht wußte ich es damals auch nicht), warum ich dann doch in die dem Hotel entgegengesetzte Richtung ging, auf das kleine Rathaus zu, vor dem schon eine hohe Fichte stand, mit elektrischen Kerzen besteckt. Hatte mich plötzlich der Mut verlassen? War mein Eifer, Licht in die düstere Affäre zu bringen, von einer Sekunde auf die andere zu Gleichgültigkeit geronnen? Ich habe die Beobachtung gemacht, daß mich oft dann Passivität und Denkfaulheit überkommen, wenn eine Entwicklung bis zu einem Punkt gediehen ist, an dem die Spannung schwer erträglich wird und der nächste Schritt in eine bestimmte Richtung sie auflösen muß. Dann packt mich das Gefühl, die neue, unbekannte Qualität, die sich einstellen würde, nicht verkraften zu können, und die Erhaltung des gespannten Zustands erscheint mir erträglicher als das Herbeiführen eines neuen, der mich mit ganz anderen Momenten 129
konfrontieren könnte. Vielleicht war es diese Inkonsequenz, die mich meine Schritte in die entgegengesetzte Richtung gehen ließ, vielleicht aber hatte ich auch Angst vor der eigenen Courage bekommen, nun da der „Fall Paul Schulte“ durch das Hinzutreten einer neuen Person Ausmaße annahm, die zu übersehen ich mir nicht mehr zutraute (das heißt, wenn es noch einen „Fall Paul Schulte“ gab und nicht nur eine Fügung von unglücklichen. Umständen, die zum Tod dieses schwerkranken Mannes geführt hatten; aber letzteres erschien mir immer unglaubwürdiger und von Herbst in die Welt gesetzt, zu irgendeinem Zweck, den ich nicht durchschaute). War es denn unter solchen Voraussetzungen nicht vernünftiger, von aller eigenen Aktivität abzusehen und alles denen zu überlassen, die so etwas von Berufs wegen angeht? Noch einmal, als ich vor dem hohen, hell leuchtenden Weihnachtsbaum stand, überfiel mich der Trotz, der mich ein paar Stunden zuvor aus dem Sanatorium getrieben hatte, mit dem festen Entschluß gewappnet, selber Licht in die Sache zu bringen, da andere es nicht taten, und ich dachte an die Befriedigung, die ich spüren mußte, wenn ich vor Barbara stünde, nun nicht mehr nur ausgestattet mit dem Wissen, daß sie gelogen hatte, sondern auch präpariert, die Frage zu stellen, wer denn der Herr Stallmeister sei und wie ihr Verhältnis zu ihm. Aber bezeichnenderweise schlug dieser Auftrieb von vorgestellter Genugtuung, kaum daß er sich in mir ausgebreitet hatte, um in ein Gefühl der Angst vor dem, was mich als Antwort aus Barbaras Mund erwartete. Fürchtete ich den Schock, den mir die Gewißheit versetzen würde, daß sie so knapp nach dem Tod ihres Mannes schon wieder eine Männerbekanntschaft angeknüpft hatte? Oder fürchtete ich mehr die Enthüllung, daß es diesen Mann in ihrem Leben schon seit längerem gab? Aber in das Adventskonzert wollte ich gehen, unbe130
dingt, wollte den Primarius des Kurorchesters beobachten. Dann würde ich weitersehen. So schob ich mein Problem vor mir her, ein komisch geratener Hamlet, der sich aufgerufen fühlt, die Welt in Ordnung zu bringen, und dabei andauernd über seine eigenen Skrupel stolpert. Ich betrachtete die Auslagen der Rathausbuchhandlung, war schon entschlossen, mir eine Briefsammlung aus der Achtundvierziger Revolution zu kaufen, trat dann aber doch, die Türklinke bereits in der Hand, von der Absicht zurück und machte mich auf den Weg zum Sanatorium, wo ich, als erster am Tisch und also unbehelligt, in Eile das Abendbrot verzehrte (der Quark lag heute wieder links von der Wurstscheibe) und mich danach zum Tagesrapport meldete (acht Kilometer, gab ich an, ohne rot zu werden). Eine knappe halbe Stunde später war ich schon wieder auf dem Weg zu Tal. Meine Eile wurde belohnt: Ich war unter den ersten, die man in die Trinkhalle einließ, und fand einen entsprechend guten Platz in der vordersten Stuhlreihe. Da saß ich nun, wartend und erwartend, vorm leeren Podium und hatte Muße, mir die Notenständer und Stühle zu betrachten. Pünktlich auf die Minute fand der Einzug der Gladiatoren statt, Herr Stallmeister ging als erster auf seinen Platz. Sofort sprang Antipathie mich an, die sich auf das ganze Orchester übertrug und die das Konzert über nicht wich. Mir kam es vor, als wäre nicht allzuviel Staat zu machen mit dieser Gruppe von Musikern, sogar die Anzüge erschienen mir schäbig. Der Kapellmeister mit der stattlichen Künstlerfigur und den obligat fliegenden Haaren erging sich in übertriebene Bewegungen, um diesen Musikautomaten in Schwung zu bringen und zu halten. Allmählich aber sah ich die gut zwei Dutzend blasender, streichender, zupfender, paukender Individuen nicht mehr; ich hatte nur noch Augen für den Mann links neben dem Dirigentenrücken, dessen ängst131
lich am Taktstock orientiertes Rucken und Wiegen auf mich marionettenhaft wirkte. Sein Gesicht erinnerte mich an das eines Schülers, der seine Lektion nicht gelernt hat und nun Blut und Wasser schwitzt bei dem Gedanken, er könnte vor versammelter Klasse abgefragt werden. Mein Gott, dachte ich, als er in einer Pause grimmassierend und schulternrückend dasaß, das Instrument aufs rechte Knie gestützt, so ein Beruf macht eine Karikatur aus einem Menschen, ganz abgesehen davon, daß er geisttötend sein muß, vier verschieden dicken Saiten Töne zu entlocken. Ich fand alles scheußlich, die „Dichter und Bauer“Ouvertüre ohnehin, auch die „Aufforderung zum Tanz“, die Musik aus „Orpheus in der Unterwelt“, das ganze Repertoire gehobener Unterhaltung aus Urgroßvaters Zeit. Nach jeder Nummer fragte ich mich, ob es denn nicht endlich zu Ende wäre, das „Große Adventskonzert“. Als es dann schließlich soweit war, als freundlicher Applaus trotz allem von den Händen sprang und der Dirigent seinem Ersten Geiger, Theatererschöpfung und Theaterlächeln ausstellend, die Hand gedrückt hatte, behielt ich den Herrn Stallmeister im Blick, sah ihn wie seine Kollegen hinter einem Verschlag an der Rückseite des Podiums verschwinden und als ersten wieder auftauchen, ohne Geigenkasten. Er hatte es eilig, wie er sich durch die Zuschauer drängte, die sich noch nicht verlaufen hatten, und ich hatte Mühe, ihm zu folgen, ihn nicht zu verlieren. Mag sein, diese Parodie auf ein Konzert hatte mir die verlorengegangene Entschlossenheit wiedergegeben und natürlich Neugier geweckt: Was hatte Barbara mit so einem Provinzmusiker zu tun? Ich wunderte mich, daß Stallmeister, anstatt den Weg zum Hotel „Stadtmitte“ einzuschlagen, den kleinen Busbahnhof am Flüßchen ansteuerte und dort einen Omnibus bestieg, der in die Kreisstadt fuhr. Ich zögerte nur 132
eine Sekunde, ehe ich ihm folgte, die letzten Bedenken – auch die wegen einer erneuten Verwarnung durch den Oberarzt – zurückdrängend. Vorsichtshalber löste ich ein Billett bis zur Endstation. Zwei Reihen hinter Stallmeister nahm ich Platz in dem Augenblick, da der nur mäßig besetzte Bus abfuhr. Ich war gar nicht aufgeregt, fragte mich vielmehr, ob in dem, was ich unternahm, viel Sinn steckte. Vielleicht verfolgte ich einen Mann, der nach Hause fuhr oder zu seinem abendlichen Bier, jedenfalls einen Mann, der mich auch dann nichts anging, wenn er Barbaras Freund oder Geliebter war. Aber die Lust an der Recherche hatte mich gepackt, endlich; ich hatte den entscheidenden Schritt getan, meine Bedenken und meine Zaghaftigkeit abgestreift. Das befriedigte mich über die Maßen. Wohin es mich brachte, würde sich erweisen. Mitten in diese Überlegungen hinein hielt der Bus am Stadtrand von Wiedehopfen. Stallmeister schnellte von seinem Sitz hoch, war mit zwei, drei Schritten bei der sich zischend öffnenden Tür neben dem Fahrerstand, und noch ehe ich mich so recht auf die neue Situation eingestellt hatte, war er bereits die Stufen zur Straße hinuntergesprungen, mir aus dem Blickfeld. Ich stürzte hinterher, wurde aber durch einsteigende Passagiere behindert und konnte nur noch zusehen, wie er in ein Auto stieg, in einen roten Fiat, der auf dem hell erleuchteten Parkplatz stand, unter einem großen weißen Schild mit der Aufschrift: „In Bad Wiedehopfen suchen Werktätige Erholung und Gesundheit. – Bitte lassen Sie Ihr Kraftfahrzeug am Stadtrand stehen.“ Ich hätte schwören können, es war Barbaras Wagen – aber vielleicht gab es hier noch einen roten Fiat, so ganz per Zufall. Ich war ziemlich konfus und unentschlossen, ob ich aussteigen sollte oder nicht, jetzt, da ich „meinen“ Mann ohnehin verloren hatte. Die Zusteigenden drängten mich mürrisch ins Wageninnere zurück, der Bus fuhr ab und 133
schaukelte auf der Chaussee, die zur Kreisstadt führte. Durchs Fenster beobachtete ich, wie auch der Fiat anrollte. Eine Weile fuhr er hinter dem Bus her; nach einer Kurve überholte er ihn. Ich sah die Hecklichter immer kleiner werden und dann in der nächsten Kurve verschwinden. So geht es Amateurdetektiven, dachte ich und mußte lachen und konnte das Lachen nicht stoppen, trotz des ernst blickenden Mannes, der neben mir stand und mich sicherlich für einen Flegel hielt, der sich über ihn lustig machte. Aber konnte ich ihm denn erklären, daß mir gar nicht so fröhlich zumute war?
12. Die Fahrt durch die Nacht zur nächsten Station schien kein Ende zu nehmen. Als der Bus hielt, stieg ich aus. Ich sah mich um und stellte fest: Ich befand mich am Rand der Kreisstadt. Vielleicht hundert Schritt entfernt leuchtete eine Neonschrift von einer Hausfassade herab: „Zum Letzten Ausspann“. So war ich denn wieder da, wo am Montagabend alles seinen Anfang genommen hatte. Unentschlossen blieb ich stehen, überlegte, ob ich auf den Bus retour warten sollte, entschied mich aber dann doch, die Gaststätte zu betreten. Vielleicht konnte man von dort nach einem Taxi telefonieren. Das Lokal war natürlich brechend voll, wie die Frau an der Garderobe es mir angekündigt hatte; an einem Samstagabend war das kein Wunder. Trotzdem entdeckte ich Barbara sofort, nachdem ich mich an das trübe Licht gewöhnt hatte. Sie saß am selben Tisch, an dem sie mit mir gesessen hatte, und sie schien mich nicht zu sehen. Mit einigen Schritten legte ich den Weg zur Bar zurück und setzte mich auf einen Hocker, den Rücken ihr 134
zugekehrt und außerdem noch durch einen schmiedeeisernen Raumteiler vor Sicht geschützt. Da Bier nicht ausgeschenkt wurde, bestellte ich einen Ginfizz. Das penetrant säuerlich-süße Zeug ließ mir die Zunge pelzig werden, und ich verlangte eine Selters zum Nachspülen. Der Zufall hatte mir wieder auf die Spur verholfen. Aber wo war der Herr Stallmeister? Vorsichtig wandte ich den Kopf in die Richtung, in der Barbara saß, und durchs Gewirr kunstvoll geschmiedeter Eisenstäbe sah ich, daß sie an einem Tisch mit zwei älteren Frauen und einem alten Herrn Platz genommen hatte und mit ihnen offensichtlich in eines der üblichen belanglosen Wirtshausgespräche verstrickt war. Ich hätte an ihren Tisch treten können: Guten Abend, was für ein Zufall, dich hier zu treffen, und so weiter. Bestimmt würde eine Plauderei zustande kommen, in deren Verlauf ich ihr – freundlich oder grob – unter die Nase reiben konnte, daß ich wisse, sie habe mich belogen. Aber hatte ich in einem miesen „Adventskonzert“ gesessen, war ich hinter einem Mann hergelaufen, mit ihm in einen Bus gestiegen und bis in den „Letzten Ausspann“ gelangt, nur um den kleinen Triumph auszukosten, sie blaß werden zu sehen? Nein, das Gespräch mit Barbara hätte ich bequemer haben können, am Nachmittag. Jetzt, da die Karre in diese Richtung gefahren war, wollte ich mehr; nach all der Anstrengung wollte ich wissen, wie es um die ganze Angelegenheit bestellt war. Ich hatte Zeit, ich würde sitzen bleiben und abwarten, was sich noch tat. Eine wohlige, selbstgefällige Ruhe überkam mich, und ich verschwendete nicht mehr den Fetzen eines Gedankens an das Donnerwetter, das es geben mochte, wenn ich an diesem Abend wieder einmal den „Einschluß“ verpaßte. Nur hätte ich gar zu gern gewußt, ob es Barbaras Auto war, das Herr Stallmeister benutzt hatte, und für einen Moment dachte ich daran, auf dem Parkplatz vor dem 135
Lokal nachzusehen, ob der rote Fiat dort zu finden war. Doch ich zügelte meine Neugier. Ich wollte nicht Gefahr laufen, von ihr entdeckt zu werden. Ich allein würde bestimmen, ob und wann ich mit ihr ein Gespräch begann. Zu lange hatte ich mich im Nachtrab befunden, um nicht dieses eine Mal, da mir ein Vorteil zugefallen war, auszunutzen. Der Keeper hinter der Bar sah mich so intensiv fragend an, daß ich nicht umhinkonnte, noch etwas zu bestellen, diesmal aber einen Gin mit Tonic; die ChininBitterkeit hob sich wohltuend ab gegen die vermanschte Süße des Fizz. Als ich den zweiten Schluck genommen hatte, spürte ich, wie mich jemand am Ellbogen berührte. „Nett, dich zu treffen. Übrigens zum dritten Mal heute, darauf müßtest du eigentlich einen ausgeben.“ Barbaras Gesicht war mit meinem fast auf einer Höhe, ich blickte ihr geradewegs in die Augen, als ich den Kopf wandte. „Daß man doch immer an die Stätte seiner Missetat zurückkehrt.“ Ich lachte nicht über diesen Versuch zu einem Witz, mußte im Gegenteil eine ziemlich betroffene Miene gemacht haben, denn Barbara fragte mich mit ihrer sanftesten Stimme, als ich sprachlos vom Barhocker rutschte, ob ich Kummer hinunterzuspülen hätte. Solche Vermutung wies ich mit einem vielleicht zu forschen „Wie kommst du denn darauf?“ zurück. „Ich hatte das langweilige Nest Wiedehopfen einfach satt, wollte mal wieder etwas anderes vor die Augen kriegen.“ Danach hatte ich mich wieder soweit in der Gewalt, daß ich sie fragen konnte: „Darf ich dir etwas zu trinken bestellen?“ „Ein Glas Sekt. Aber ich fürchte, ich habe nicht allzuviel Zeit. Gestern traf ich nämlich zufällig einen alten Kollegen vom Theater, einen Musiker. Der ist vor Jahren von uns weggegangen. Jetzt spielt er im Kurorchester von Wiedehopfen. Wir haben uns hier zu einem Plausch 136
verabredet. Man hat sich ja so viel zu erzählen nach all der Zeit.“ Angespannt lauschte ich darauf, ob sich ihre Art zu sprechen veränderte. Aber nichts von der Manieriertheit, die bei ihr eine Lüge signalisierte, klang mit. Sie plazierte sich auf den Barhocker und lächelte mich an, ganz gelöst. „Einen Musiker …“ Ich versuchte mich in gedämpftem Erstaunen, das komisch wirken sollte. „Kann man sich denn mit solchen Leuten überhaupt unterhalten? Ich habe immer gehört, die spucken nur verschieden hohe Töne aus, wenn sie den Mund aufmachen. Einen rechten Sinn soll das nicht ergeben.“ „Du bist arrogant“, sagte sie, aber nicht verweisend, eher fröhlich eine Tatsache feststellend. Sie nippte am Sekt und krauste die Nase. „Der erste Schluck versetzt mir immer wieder einen kleinen Schock, als wenn man eine Leitung anfaßt, die unter Strom steht. Geht dir das auch so?“ „Nein, ich trinke keinen Sekt.“ So wie ich, dachte ich, muß sich der vielzitierte Gerber fühlen, wenn ihm die Felle wegschwimmen. Vor ein paar Minuten noch hatte ich, hochgemut der Dinge harrend, die da kommen sollten, an der Bar gehockt. Jetzt war ich entdeckt, ertappt, hatte Barbaras munteres Gewäsch im Ohr und kaum noch Aussicht, irgendwem auf irgendwelche Schliche zu kommen – wenn es Schliche gab. Groll stieg in mir auf und machte mich für eine Sekunde unkontrolliert bissig. „Dein Musiker scheint ja eine großartige Karriere gemacht zu haben. Mitglied in einem Kurorchester zu werden, das gelingt nicht jedem.“ So scharf hatte ich mich nicht ins Zeug legen wollen, und ich erschrak über die eigenen Worte. Ich starrte ins Glas, um Barbara nicht ansehen zu müssen, da ich fürchtete, sie zu einer wütenden Entgegnung provoziert zu haben. 137
Doch sie blieb gelassen, kindlich heiter, sagte nur: „ ‚Dein Musiker‘ – wie das klingt.“ Sie trank wieder vom Sekt. „Und übrigens kannst du mich heute nicht ärgern. Dazu ist meine Laune viel zu stabil.“ Drei Tage nach dem Tod deines Mannes, wollte ich hinzufügen, sagte aber dann nur: „Wie schön für dich, daß du so schnell über deinen schweren Verlust hinweggekommen bist. Das gelingt auch nicht jedem.“ „Laß das!“ Ihre Stimme war scharf und abweisend, kehrte sich aber sogleich wieder ins Sachliche. „Du weißt, ich habe lange Zeit gehabt, mich auf Pauls Tod vorzubereiten. Daß er auf so tragische Weise eingetreten ist … Bitte, reden wir von etwas anderem. Wir haben uns schon genug angegiftet.“ „Schön, wenn du willst.“ Ich stützte die Arme steif gegen die Kante der Bar, lehnte mich auf dem Hocker zurück, so weit es ging. Mein Kopf war leer, nur noch ein bißchen Bosheit rumorte in ihm, Zeichen meiner Hilflosigkeit, und die wollte hinaus. „Wie wäre es denn noch einmal mit …“ Mit Schubert, hatte ich sagen wollen, verbiß mir aber die Sottise und fragte statt dessen: „… mit einem Glas Sekt?“ Das Spielchen kotzte mich an. Was hatte ich davon, mich vor dieser Frau als den Wissenden aufzuspielen? Ich wünschte, ich wäre nicht in den Bus gestiegen, säße jetzt nicht hier, müßte nicht mein Unwohlsein mit mühsam ironischen Bemerkungen abreagieren. Sie hatte einen alten Freund wiedergetroffen, meinetwegen auch zufällig, und der war vielleicht sogar mit ihrem Auto gefahren. Was ging mich das an, was ging mich überhaupt Barbara an, jetzt noch? Die Polizei hatte die Akte geschlossen, da mußte ich nicht unbedingt weiterstöbern, nur weil ich sie bei einer Lüge ertappt hatte, nur weil ein Mann aufgetaucht war, der, wie ich fand, schlecht fiedelte. Zudem: Die Sache mit dem Schubert-Abend hatte ich der Polizei mitgeteilt. Sollte die zusehen, was damit anzufangen war. 138
Fast zu abrupt kehrte ich mein Gesicht Barbara zu, versuchte ein bißchen Liebenswürdigkeit in meine Mundwinkel zu bringen, sagte: „Eigentlich müßte ich mich jetzt auf die Socken machen. Aber das ist sowieso eine verkorkste Kur. Sollen sie mich doch wie einen ungezogenen Jungen nach Hause schicken. Ich weine diesem Nest und dieser Kur keine Träne nach. Prost, Barbara, auf morgen, wenn wir uns das letzte Mal sehen.“ Ich hob mein Glas. „Du machst mich richtig traurig“, sagte sie. Dabei hatte sie einen Schmelz in der Kehle, den sie sonst sicherlich für Vortragsabende reservierte, wenn sie vielleicht „Deutsche Liebesdichtung aus drei Jahrhunderten“ vortrug. „Weißt du, manchmal denke ich, es war doch eine schöne Zeit mit uns, damals in deiner Bude …“ Ihre Stimme driftete ab, ich starrte auf eine Gemäldereproduktion, die über der Bar hing, auf eins der schönen, kühlen Pariser Straßenbilder Utrillos, das sich in dieser auf antik gequälten Umgebung reichlich seltsam ausnahm. Ich wünschte, ich wäre bei Marianne und den Kindern, könnte am Montag in die Schule gehen, Deutschstunde in der Elf b halten: Die analytische Methode im Dramenschaffen Lessings. Oder wenn ich doch wenigstens in meinem Sanatoriumsbett liegen könnte! Ich hätte nichts gegen eine nochmalige Kunstlesung von Wandrey. Ich wurde aus meinen Sehnsüchten gerissen. Barbara sagte mit lauter Stimme: „He, Fritz! Das ist Herr Stallmeister, von dem ich dir erzählt habe.“ Und zu Stallmeister: „Das ist Herr Krüger, ein Freund von ganz früher.“ Da sah ich ihn denn nun wieder, den Geiger vom Kurorchester, und er kam mir noch kleiner, noch schmächtiger vor als am Nachmittag. Ich deutete eine Verbeugung an, und er sagte ernst und so, als spreche er nicht nur eine Höflichkeitsfloskel aus: „Angenehm.“ Er 139
erkannte mich wahrscheinlich nicht wieder. Wie sollte er auch, nach dem einmaligen Zusammentreffen im Hotel. Zudem habe ich kein Gesicht, an das man sich erinnert; das war mir schon als Schüler lieb. Die nächsten Minuten gehörten ganz Barbara. Nachdem Stallmeister sich zu ihrer Linken gesetzt hatte, redete sie zunächst auf ihn ein und erklärte ihm, nachdem er sich einen Juice bestellt hatte, mit Verve und mit komischem Nachdruck, wie schön es sei, ihn nach all den Jahren wiedergetroffen zu haben. Dann lehnte sie sich nach rechts, zu mir hinüber, und erzählte mir, was für herrliche Stunden sie und Stallmeister damals („Ach, das ist so lange her, das ist schon gar nicht mehr wahr!“) miteinander verbracht hätten, und vergaß nicht hinzuzufügen, daß Paul Schulte immer mit von der Partie gewesen sei. Es folgte eine Kaskade von Erinnerungen – die üblichen Theateranekdötchen, die ihre kümmerliche Pointe darin haben, daß einer seinen Auftritt verpaßt oder seinen Text vergessen hat, daß einem Sänger in einer Stretta der Bart abfällt oder daß einem („… mitten in dem großen Monolog, stell dir vor!“) die Hose platzt. Besonders die Abstecher über Land, das Auftreten in Kulturhäusern, Vereinssälen, Werkskantinen waren eine sprudelnde Quelle von Erinnerungen, da hagelte es nur so von komischen Mißgeschicken, lustigen Zwischenfällen, Begegnungen mit Menschen, die, des Theaters ungewohnt, seltsame Reaktionen auf die ihnen vorgestellte Scheinwelt zeigten. Barbara redete wie aufgezogen, und sie redete laut. Stallmeister schwieg meistens, bestätigte nur dann und wann, wenn er aufgefordert wurde, ihre Erzählung. Mir wurde unheimlich vor so viel Gesprächigkeit, und ich malte mir aus, wie es wäre, mit ihr liiert zu sein und täglich in den Genuß solcher Plaudereien zu kommen. Aber ich kannte sie ja auch anders, sachlich bis zur Härte, berechnend, theatralisch und verlogen, für eine Stunde dann unter Umständen wieder zärt140
lich und liebevoll, wahrscheinlich überwältigt von der eigenen Sentimentalität gegenüber der Vergangenheit: So hatte sie sich mir in den letzten Tagen vorgeführt. Und nun diese Schau: die bedenkenlos heitere Frau mit dem Hang, sich in nichtssagenden Sätzen zu verlieren. Unter all den Attitüden war ihr Wesen für mich nicht mehr erkennbar. Die Tanzelevin Barbara, die ich geliebt hatte, entdeckte ich nicht mehr; die Frau Barbara Schulte, die sie geworden war, schien mir nichts zu sein als eine Kollektion von Rollen, mit denen sie ihr Dasein bestritt, je nachdem, wie die Situation es erforderte. Nur wenn ich mich vorbeugte oder zurücklehnte, konnte ich Stallmeisters Gesicht sehen, im Profil, und jedesmal, wenn ich es sah, hatte ich den Eindruck, das Geplapper sei ihm lästig. Einmal beobachtete ich, wie er Barbara einen Blick zuwarf, in dem sich Ungeduld und Gelangweiltsein mischten. Mir machte er den Eindruck, als sei er von dem Gedanken beherrscht, er habe Wichtigeres zu tun, als herumzusitzen und banale Vergangenheit zu bewältigen. Barbara schien sich denn auch plötzlich darauf zu besinnen, daß für mich, für einen, der „nicht vom Bau“ war, ihr Kramen in Erinnerungen nicht die reine Freude war. So unterbrach sie sich mitten in einem Bericht über einen zerstreuten Requisiteur und sagte: „Aber das alles muß dir sehr auf die Nerven gehen“, und als ich nicht widersprach, wandte sie sich mit mokanter Betulichkeit an Stallmeister: „Herr Krüger ist nämlich Seriöseres gewohnt. Er geht mit ernsthaften Büchern und überhaupt mit wirklicher Kunst um, als Lehrer nämlich. Er bringt der hoffnungsvollen Jugend den rechten Umgang mit dem Schönen bei.“ Dabei lehnte sie sich lachend weit zurück, und ich konnte beobachten, daß Stallmeister befremdet die Augenbrauen hob. Nun, da ich ins Spiel gebracht worden war, mußte ich einen Beitrag zum Gespräch liefern, und ich tat das in 141
der uns anerzogenen bescheidenen Weise, die wir hervorkramen, wenn wir Fremden gegenüber unsere behauptete Wichtigkeit und allzu große Ernsthaftigkeit zu unterlaufen versuchen. „Man tut, was man kann“, sagte ich. „Der eine macht Musik, ein anderer tanzt, ein dritter findet Lebenserfüllung im Umgang mit Büchern. Es gibt keinen Grund, das eine gegen das andere abzuwägen.“ Mir war nicht wohl bei dem Schmus, den ich da verzapfte, hatte aber auch kein allzu schlechtes Gewissen nach all dem small talk, der in den letzten zwanzig Minuten über mich ausgegossen worden war. „Bescheidenheit ist eben doch eine Zier für einen Mann“, hörte ich Barbara kommentieren. Und Stallmeister gab jetzt auch seinen Beitrag zu dem nun scheinbar ernster werdenden Gespräch. „Ach, wissen Sie, Bücher …“, sagte er und wedelte mit seiner schmalen Geigerhand durch die Luft. „Ich ziehe ein Gespräch allemal einem Buch vor – meine Bücher sind die Menschen. Wenn ich mir so vorstelle, ich hätte die Wahl …“ Was sich Stallmeister vorstellte, bekam ich nicht mehr recht mit. In meinem Hirn klickte es, ich sah unwillkürlich zu dem Tisch, an dem Barbara und ich am Montagabend saßen. Lesen macht dumm, Junge, sagte mal jemand zu mir, als ich wieder einmal über einem Buch die Welt vergessen hatte. Diese Weisheit mag stimmen oder nicht, sie zieht aber nicht in Betracht, daß Lesen auch schult, das Sprachbewußtsein nämlich und auch das Gedächtnis für merkwürdige Formulierungen. Jedenfalls hat sich bei mir im Lauf der Jahre des Umgangs mit Büchern ein fast fotografisches Gedächtnis dafür ausgebildet. Und in diesem Augenblick signalisierte es: Montag abend … Barbara … Ich ziehe ein Gespräch allemal einem Buch vor, meine Bücher sind die Menschen. Ich spürte einen übel schmeckenden Saft die Speiseröhre hochsteigen, hatte meine liebe Not damit, die 142
Glieder nicht zucken zu lassen, und krampfte, als könnte ich so Halt gewinnen, die rechte Hand um das Glas vor mir. Dann wurde ich irritiert durch einen kaum zu dämmenden Drang, in lautes Lachen auszubrechen, der aber so plötzlich wieder verging, wie er mich gepackt hatte. Zwar hegte ich von vornherein den Verdacht, daß Barbaras Behauptung, Stallmeister erst jetzt, nach langen Jahren, wiedergetroffen zu haben, erlogen war. Die Selbstverständlichkeit, mit der er zu ihr ins Hotelzimmer gegangen war, sein Umsteigen in den roten Fiat deuteten darauf hin, daß die beiden nicht miteinander umgingen wie Leute, die sich zufällig wiedergefunden haben, nach Jahren. Jetzt hatte mir eine Floskel, ein bemerkenswert dummer Satz, der nichtsdestoweniger auf beträchtliche Vertrautheit schließen ließ, bestätigt, daß Barbara erneut die Unwahrheit gesagt hatte, daß sie mich schon wieder aufs falsche Gleis hatte schieben wollen. Meine Überlegungen, es lohne nicht, sich weiterhin mit den Kapriolen dieser Dame herumzuschlagen, gerieten ins Wanken. Sollte ich mich auf diese Weise aus dem Feld schlagen lassen, ohne Gegenwehr? Mir wurde unerträglich heiß, ich kramte nach einem Taschentuch, mir den plötzlich austretenden Schweiß von Stirn und Nacken zu wischen. „Ist dir nicht gut?“ fragte Barbara. Mit einer Geste der Besorgnis legte sie mir wieder einmal eine Hand auf den Arm, und ich hatte Mühe, sie nicht mit einer jähen Bewegung abzuschütteln. „Hier drin ist ja auch eine fürchterliche Luft, und du mit deiner Krankheit …“ „Ja, die Luft“, sagte ich. „Ich glaube, die Luft hier im Raum bekommt mir nicht.“ Eine Lüge gegen die andere: Es war schon zum Kotzen. Ich sah auf meine Uhr, tat erstaunt. „Gleich neun, ich bekomme Ärger im Sanatorium, wenn ich um zehn nicht da bin.“ „Ich weiß“, sagte Barbara und erinnerte mich mit ei143
nem sprechenden Blick an den Abend, da ich schon einmal zu spät ins Sanatorium zurückgekehrt war. „In fünf Minuten fährt ein Bus nach Wiedehopfen.“ Auch Stallmeister sah auf die Uhr. Dann blickte er mich an, unverkennbar den Wunsch in den Augen, mich so bald wie möglich loszuwerden. „Mit dem schaffen Sie es bequem bis dahin.“ Und wie um mein Übelbefinden noch zu vertiefen, spielte er, während er das sagte, mit einem Autoschlüssel, an dem, fünfmarkstückgroß, die Silhouette des Fudschijama baumelte. Unwillkürlich schloß ich die Augen. „Oder soll ich dir ein Taxi bestellen?“ hörte ich Barbara fragen. Ich schlug die Augen wieder auf, sah ihre besorgte Miene: Augen groß, Mundwinkel nach unten gezogen, Stirn in Falten gelegt. Ich hatte das Gefühl, auf der Stelle gehen zu müssen. „Laß nur“, sagte ich, „draußen wird mir besser.“ „Sei uns nicht bös, wir bleiben noch ein Weilchen. Wir haben uns viel zu erzählen nach all der Zeit.“ Sie lächelte mich an wie den Großvater der Familie, den man vor der Zeit ins Bett schickt, weil er stört. „Sonst würde ich dich ja mitnehmen. Bleibt es bei morgen mittag?“ Ich nickte. „Ein Uhr im Hotel“, sagte ich, bezahlte und stieg vom Hocker. „Komm gut nach Hause.“ Barbara nahm meine Hand und blickte mir noch einmal sorgenvoll in die Pupille. „Auf Wiedersehen.“ Ich deutete eine Verbeugung gegen Stallmeister an und beobachtete Erleichterung in seinem Gesicht. „Vielleicht sehen wir uns noch einmal, wenn Barbara abgereist ist.“ „Das würde mich freuen.“ Er gab sich nicht die geringste Mühe, seine Aversion zu verbergen. An der Garderobe holte ich tief Luft. Als ich den Mantel anzog, fühlte ich mich ziemlich zittrig. Mein Groll 144
war nicht verflogen, wuchs im Gegenteil bei der Vorstellung, daß die beiden jetzt an der Bar saßen, vielleicht einander angrinsend, weil sie mich so geschickt aus der Szene gebracht hatten. Vielleicht aber saß Stallmeister mürrisch da und warf Barbara vor, daß es doch wohl nicht nötig sei, sich ausgerechnet mit einem Trottel wie Krüger zu treffen, und ich hörte Barbara antworten: Was willst du, Lieber, ich habe ihn nicht hierherbestellt, er ist plötzlich ’reingeschneit und hat mich sicherlich gesehen – hätte ich da warten sollen, bis er an meinen Tisch kommt? Die Abendluft schlug mir kalt entgegen und fraß weg, was mir noch den Kopf vernebelte. Ich glaubte jetzt ganz klar zu sehen: Dieses Pärchen (denn daß die beiden ein Pärchen waren, stand nun für mich fest) hat jedes Interesse daran gehabt, Paul Schulte aus dem Weg zu räumen. Der Gedanke, daß die beiden sich aus der Affäre ziehen könnten, nachdem ihnen der Coup gelungen war, schien mir unerträglich. Daß die Untersuchung zum Tod Paul Schultes eingestellt war, hatte keinen Platz mehr in meinen Überlegungen. Ich war besessen von der Vorstellung, Herbst zu beweisen, daß er die Flinte zu früh ins Korn geworfen hatte. Ich jedenfalls würde den beiden nicht mehr von den Fersen gehen; gleich am nächsten Morgen wollte ich die Recherchen wiederaufnehmen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stellte ich mich nahe dem Haltezeichen in den Schutz eines Hauseingangs und wartete auf den Bus. Nach einiger mit ziellosen Grübeleien verbrachten Zeit trat ich unter eine Straßenlaterne und sah auf die Uhr. Schon zehn Minuten waren vergangen. Entweder Stallmeister wußte nicht, wann der Bus fuhr, und er hatte sich irgendeine Zeit einfallen lassen, um mich so bald wie möglich loszuwerden, oder die Kiste hatte Verspätung. Da der Fahrplan in dem Kasten am Mast von irgendeinem freundlichen 145
Zeitgenossen herausgerissen worden war, zog ich mich fluchend wieder in den Hauseingang zurück. Kaum stand ich an der alten Stelle, geschützt gegen den unangenehm kalten Wind, wurde die Tür vom „Letzten Ausspann“ geöffnet, und heraus trat Stallmeister, ohne Mantel, und sah zu mir hinüber, offensichtlich ohne mich zu entdecken, dann die Straße hinauf und hinunter, ehe er ins Lokal zurückging. Eine knappe Minute später kam er abermals aus der Tür, jetzt im Mantel, und Barbara folgte ihm. Man blieb noch einige Zeit beieinander stehen, ehe man sich nach einem flüchtigen Kuß (so küssen sich nur Eheleute, dachte ich bitter) verabschiedete. Barbara ging nach links zum Parkplatz; Stallmeister wartete noch, bis der Fiat vorfuhr, grüßte mit erhobener Hand und ging dann stadteinwärts. Das Auto fuhr in Richtung Bad Wiedehopfen. Die ganze Zeit hielt ich mich an die Mauer des Hauseingangs gepreßt. Als Stallmeister sich in Bewegung setzte, trat ich aus meinem Versteck und folgte ihm. Den Fahrdamm überquerte ich erst, als er nach rechts in eine Seitenstraße einbog. Einen letzten, wehmütigen Blick sandte ich dabei dem Bus nach, der jetzt rumpelnd vorm „Letzten Ausspann“ vorfuhr, orientierte mich aber sofort wieder nach vorn, wo in vielleicht hundert Meter Entfernung Stallmeister zügig ausschritt, ohne sich umzusehen, ein grauer Schemen, der deutlicher aus dem Nachtdunkel hervortrat, wenn er in den Bereich einer Straßenlaterne kam. Ich durfte die Entfernung zwischen ihm und mir nicht größer werden lassen, wollte ich nicht riskieren, ihn aus den Augen zu verlieren, also legte ich auf dem schneeglatten Untergrund einen kurzen Zwischenspurt ein, als er nach ungefähr zehn Minuten wieder nach rechts um eine Ecke bog. Sicherlich hatte ich einige Meter ihm gegenüber gewonnen, doch es nützte mir nichts. Denn die. kurze, spärlich beleuchtete Gasse, in der ich mich nun 146
befand, war menschenleer. Zu beiden Seiten standen vielleicht vier zwei- oder dreistöckige Häuser, und vor mir, die Straße versperrend, ragte eine aus dieser Perspektive sich erstaunlich wuchtig ausnehmende Kirche mit einem schmalen Dachreiter statt eines Turms in den fahlgrauen Sternenlosen Himmel. Auf der linken Straßenseite parkte ein Auto, ein Wolga, soweit ich erkennen konnte. Da sich nach einer Weile noch immer nichts regte, ging ich auf die Kirche zu. Stallmeister mußte in einem dieser Häuser verschwunden sein. Aber in welchem? Ich sah an den Fassaden hoch, deren Fläche nur hier und dort von einem erleuchteten Fenster durchbrochen wurde, und gelangte schließlich an ein übermannshohes Gitter, das in voller Straßenbreite den Kirchhof von der Gasse trennte. Mit Hilfe eines Streichholzes gelang es mir, das Plakat zu entziffern, das in einem Schaukasten am Gitter hing: „Die Martins-Gemeinde lädt ein …“ Gottesdienst, Konfirmandenunterricht, Zusammenkünfte des Kirchenchors, Seniorenkränzchen, ein Orgelkonzert. Ich stand noch eine Weile in der Gasse herum, vor der Martins-Kirche, und wußte nicht, was ich tun sollte. Mir blieb nichts, als den Weg zurück zu finden, und wenn ich Glück hatte, fuhr noch ein Bus nach Wiedehopfen.
13. Ich hatte insofern Glück, als ich mich verlief und auf den Bahnhof stieß, wo ein einsames Taxi stand. Eine Viertelstunde später passierten wir das Schild, das den Autofahrern empfahl, ihr Kraftfahrzeug an der Grenze von Bad Wiedehopfen zu parken. Es war kurz vor zehn und also noch Zeit, mit einigem Anstand vorm Sanatorium 147
„Sonnenblick“ aufzukreuzen. Doch als der Taxifahrer fragte, wo er mich absetzen solle, antwortete ich: „In der Breitscheidstraße, neben dem Kino.“ Der Mann nickte – „Geht in Ordnung, Chef“ – und bog von der Hauptstraße ab. Im Parterre des Hauses, wo die Büroräume des ABV lagen, brannte noch Licht. Auf mein Klingeln öffnete der ABV, grüßte, fragte aber nichts, ging mir wortlos voran, klopfte an eine Tür und öffnete sie, als „Herein!“ gerufen wurde. Herbst saß hemdsärmlig in dem kleinen, überheizten, von Zigarrenrauch durchzogenen Zimmer an einem Tisch und schaute mir über den Rand seiner Lesebrille entgegen. „Ah, der Herr Krüger“, sagte er in einem Ton, als habe er mich erwartet. „Und noch so spät. Wo brennt es denn?“ Als wir allein waren und ich an der anderen Seite des Tisches auf einem wackligen Sessel Platz genommen hatte, wartete er darauf, daß ich etwas sagte. Er hielt eine große Kaffeetasse mit beiden Händen, sah mich, ein ermunterndes Lächeln um die schiefe Nase, an. Ein Gespräch anzufangen fiel mir nicht leicht, obwohl ich mir doch unterwegs zurechtgelegt hatte, womit ich beginnen wollte: Ich habe jetzt den Beweis dafür, daß der Mann mit den langen Haaren mit Frau Schulte gut bekannt, wenn nicht eng befreundet ist; wie wäre es, wenn Sie sich mal um den kümmerten, und so weiter. Aber die Worte wollten mir nicht so recht von der Zunge, als ich vor dem selbstsicheren Kriminalisten saß; wieder kamen mich Skrupel an, ob denn, was ich mitzuteilen hatte, wirklich von Belang war. So räusperte ich mich denn zunächst, bat um Entschuldigung dafür, daß ich so spät noch störte. Eigentlich, erklärte ich noch, müßte ich schon im Sanatorium sein. „Dann machen Sie es doch kurz“, sagte Herbst sachlich, „sonst wird es noch später.“ 148
„Um es kurz zu machen: Ich war heute abend noch einmal mit Frau Schulte zusammen.“ Herbst nickte. Ich teilte ihm nichts Neues mit. „Und heute morgen“, ergänzte er, „und heute nachmittag haben Sie im Hotel anscheinend auf sie gewartet. Ich frage mich: Wann kommen Sie eigentlich dazu, Ihr Kurprogramm zu absolvieren?“ „Ich werde also beobachtet!“ Mir war sehr unwohl bei dem Gedanken. Es soll ja Typen geben, die fühlen sich geborgen, wenn das Auge des Gesetzes auf ihnen ruht. Ich gehöre nicht zu dieser Sorte Menschen. „So würde ich das nicht nennen“, sagte Herbst und ließ Zigarrenrauch aus Mund und Nase strömen. „Nennen wir es so: Sie tauchen immer da auf, wo Sie gesehen werden müssen.“ „Soll das heißen …“ „Das soll heißen, was es heißt!“ Mit einer Geste, die überdeutlich machte, er habe keine Lust, sich auf meine Frage einzulassen, unterstrich er die lapidare Feststellung. „Zum Glück haben Sie bisher nicht hinderlich im Weg herumgestanden, kann ich nur sagen.“ „Zu wessen Glück? Und in wessen Weg? Und warum hinderlich?“ Die Art, mit mir wie mit einem Unmündigen umzugehen, blies meine Bedenken weg. „Ich mag es gar nicht, wenn man in Andeutungen spricht.“ Herbst ging nicht auf die Attacke ein. Er fragte statt dessen: „Was treibt Sie eigentlich immer wieder in Frau Schultes Nähe? Auch jetzt noch? Sie haben doch sicherlich von der neuen Wendung in der Sache erfahren?“ „Aber nicht von Ihnen.“ „Das ist wahr.“ Herbst saugte nachdenklich an seiner Zigarre. „Vielleicht hätte ich es Ihnen sagen sollen. Aber, was soll’s: Sie haben davon erfahren. Und trotzdem treibt es Sie immer wieder zu Frau Schulte.“ „Können Sie sich vorstellen“, ich sprach langsam, ein 149
Wort vom anderen deutlich absetzend, weil ich mir davon versprach, daß es meine Rede um so nachhaltiger machte, „daß es jemand alarmiert, wenn er plötzlich erfährt, daß an einer bestimmten, an einer äußerst wichtigen Stelle offensichtlich die Unwahrheit gesagt worden ist?“ „Das kann ich mir vorstellen“, sagte Herbst und nickte dazu. „Übrigens, vielen Dank für die Nachricht. Wir haben nachgeforscht: Das mit der indisponierten Sängerin stimmt.“ Er ließ einige Sekunden schweigend verstreichen, doch nicht so, daß ich mich aufgerufen fühlte, die Lücke im Gespräch zu füllen. Dann fuhr er fort, meine Formulierung parodierend: „Können Sie sich vorstellen, daß eine Frau ein Rendezvous hat und nicht will, daß davon etwas bekannt wird, zumal dann nicht, wenn sich in der fraglichen Zeit etwas ereignet hat, das angetan ist, sie in einen schlimmen Verdacht zu bringen?“ „Dann glauben Sie also, was ich in Erfahrung gebracht habe, ist ohne Belang?“ „Mit Glauben kommen wir nicht weiter, wir müssen wissen, und zum Wissen gehört auch in der Kriminalistik, daß man alle Zufälligkeiten, die die Wahrheit trüben könnten, ausschaltet.“ Er trug die Klippschulweisheit mit einigem Charme vor, fand ich. „Wir mußten also prüfen, ob diese Einzelheit ins allgemeine Bild paßt.“ „Paßt sie?“ Ich war jetzt, fast gegen meinen Willen, auf die Antwort gespannt. Herbst grinste. „So fragt man Leute aus“, sagte er, und dann, wieder ernst werdend: „Es ist schon eine gute Regel, mit laufenden Ermittlungen nicht auf den Markt zu gehen.“ Er blickte auf die Uhr wie jemand, dessen Zeit bemessen ist. „Aber überm Plaudern scheinen Sie vergessen zu haben, was Sie zu dieser – na, sagen wir – für einen Kurgast ungewöhnlichen Zeit zu mir geführt hat. Sie wollten mir doch sicherlich nicht nur mitteilen, daß Sie heute noch einmal mit Frau Schulte zusammengetroffen sind.“ 150
Und dann hörte er mir mit der gesammelten Aufmerksamkeit des Profis zu, der durch lange Übung Wichtiges von Nebensächlichem zu unterscheiden weiß, aber auch mit einer Miene, der nicht abzulesen war, ob er meine Mitteilung für bemerkenswert hielt. Nur als ich Stallmeisters Urteil übers Lesen zum besten gab, lächelte er, doch wohl mehr über den Nachdruck, mit der ich die seltsame Weisheit vortrug. „Ich glaube nicht“, schloß ich, „daß Frau Schulte diesen Stallmeister zufällig und nach langer Zeit wiedergetroffen hat. Alles deutet auf Intimität, und das sagt viel.“ Wider Willen war ich gegen Schluß doch noch ins Engagement geraten, und ich versuchte, als mir das bewußt wurde, meine Anteilnahme dadurch zu kaschieren, daß ich wie nebenbei hinzufügte: „Aber vielleicht klärt sich alles als ganz harmlos auf.“ „So ist das also.“ Herbst nickte versonnen. „Da haben Sie herausgefunden, daß Frau Schulte einen Freund, womöglich einen Geliebten in diesem Kurort hat, mit dem sie die Meinung übers Lesen und vielleicht auch ihr Auto teilt. Sehr aufschlußreich.“ Und dann: „Sind Sie eigentlich eifersüchtig? Ich meine, kränkt Sie, was Sie da herausgefunden haben?“ „Wollen Sie damit sagen, ich spinne aus Eifersucht?“ Empörung blähte mir die Brust, verhinderte, daß ich sofort die rechten Worte fand. „Aber nein.“ Herbst stand auf, paffte noch ein paarmal an der Brasil, ehe er den Stummel bedächtig im Aschbecher ausdrückte. „Ich will nur sagen, Sie sehen alles unter einem Aspekt, der eine objektive Betrachtung der Wirklichkeit schwer macht. Lassen Sie mich offen sein: Sie hatten Schulte gegenüber ein schlechtes Gewissen, nehme ich an. Sie sind seiner Frau gram, weil Sie denken, daß Sie Ihnen zu einem schlechten Gewissen verholfen hat, indem sie es darauf anlegte, Sie, den Mann, der fest im Leben steht, der seine Prinzipien hochachtet, in eine Falle zu locken – 151
in die Sie dann ja auch geraten sind. Sie verabscheuen dennoch einen Herrn Stallmeister, weil Frau Schulte ihn Ihnen vorgezogen hat und vorzieht.“ Ich wollte protestieren, wollte ‚Unterstellungen, nichts als absurde Unterstellungen!‘ rufen; aber Herbst machte eine Handbewegung, die mich schweigen ließ. „Lassen Sie mich ausreden, bitte. Nachher haben Sie das Sagen, wenn Sie noch etwas zu sagen haben. Also: Ich meine, Sie leben unter dem Zwang, sich vor sich selbst rechtfertigen zu müssen, also werden Sie scharfsinnig, entdecken Lügen, Widersprüche, Ungereimtheiten. Sie schleppen zusätzlich Ihre Vergangenheit in die Affäre der Gegenwart hinüber, fangen an zu kombinieren, setzen sich ein Bild zusammen, das Ihnen als Entschuldigung vor sich selber dienen kann, etwa von der Art, daß Sie Schulte als das Opfer einer perfiden Liebesaffäre ansehen. Denn was zählt schon Ihre Poussage mit Frau Schulte, wenn so ein Fall auf dem Tapet liegt.“ Ich konnte nicht länger ruhig sitzen bleiben, stand dann aber ziemlich ratlos in dem kleinen Raum herum, wußte nicht, wohin ich mich wenden sollte. Herbst lehnte reglos mit dem Rücken am Kachelofen, ungeachtet der Hitze, die von diesem ausging. Er sah mich herausfordernd, geradezu unverschämt an. „Erinnern Sie sich an unser erstes Gespräch?“ fragte er. „Erinnern Sie sich daran, wie Sie erst einmal kein Wort über Frau Schulte verloren haben, kein Wort vor allem über das Zusammensein am Montagabend?“ „Das war mir völlig aus dem Gedächtnis gekommen“, warf ich ein. „Oder nehmen Sie meinetwegen an, ich hatte Angst, dieser Umstand könnte mich belasten. Es sah ja auch im Anfang danach aus, als sei ich der einzige, der ein Interesse an Paul Schultes Tod hätte.“ „So einfach sollten Sie es sich nicht machen, um Ihretwillen nicht. Ich bin kein Fachmann für Psychologie, aber ich gehe seit fünfzehn Jahren mit Menschen um, 152
mit Menschen, die sich in Ausnahmesituationen befinden. Aus dieser Praxis lernt man viel, mehr als aus Lehrbüchern. Und ich habe gelernt, daß es unter geistig normalen Menschen kein unmotiviertes Verhalten gibt, keine Aktion oder Reaktion, die aus heiterem Himmel kommt. Nun geht mich Ihre Geschichte nichts an oder nur insofern, als sie in die Ereignisse um Schultes Tod hineinreicht, und natürlich insofern, als Sie sich immer wieder in Dinge einmischen, die Sie nicht betreffen, obwohl ich Sie gebeten habe, sich ’rauszuhalten, und obwohl Sie von Frau Schulte erfuhren, daß wir die Ermittlungen eingestellt haben.“ „Aber das ist doch der Fehler!“ rief ich. „Es liegt doch klar auf der Hand …“ „… daß Sie ein starkes Interesse daran haben, Frau Schulte und ihren Freund – oder Liebhaber – verurteilt zu sehen. Und genau das Interesse fürchtete ich, als ich Sie bat, nichts auf eigene Faust zu unternehmen. Herr Krüger, es gibt auf der ganzen Welt keine Neutralität – die ist eine Konstruktion von realitätsfernen oder von gefährlichen Leuten. Ich bin stets parteilich gewesen, für das Recht, meinetwegen für das Recht der Leute, in Frieden und unbehelligt von Gesetzesbrechern leben zu können. Ohne diese Parteilichkeit könnte ich meinen Beruf an den Nagel hängen. Aber man muß sich trotzdem, wenn man auf den Grund einer Sache kommen will, um Objektivität bemühen.“ Herbst war es nun doch zu warm geworden am Ofen. Er trat zwei Schritt zur Mitte des Zimmers vor, stützte die Hände auf den Tisch, streckte den massigen Kopf vor und hatte eine Haltung eingenommen, die zu seinem Dozieren paßte. „Und dazu gehört Freiheit von Vorurteilen, dazu gehört auch, daß man nicht persönlich interessiert ist, also von vornherein gegen jemanden oder gegen etwas Partei ergreift. Und weil Sie so stark persönlich engagiert waren, sage ich, sind Sie der denkbar schlech153
teste Rechercheur im Fall des Todes von Paul Schulte, ganz abgesehen davon, daß die Art, wie Sie zu Werk gegangen sind, dilettantisch war. Bei passender Gelegenheit werde ich Ihnen die Wege zeigen, an denen Sie vorbeigelaufen sind, auch vorbeilaufen mußten. Jetzt geht das nicht.“ „Meine Art mag dilettantisch gewesen sein“, sagte ich, „aber meine Anteilnahme ist doch erklärlich, auch über das Bestreben hinaus, mich von dem Verdacht reinzuwaschen. Schließlich war Schulte ein alter Freund, dessen Tod mich nicht kaltlassen konnte.“ Herbst sah mich nachdenklich an. „Glauben Sie das wirklich?“ fragte er. „Ich jedenfalls habe allzuviel Freundschaft für ihn bei Ihnen nicht bemerkt, schon bei unserem ersten Zusammentreffen nicht. Eher noch immer wachen Groll nach all den Jahren, als ob Sie ihm etwas nachtrügen. Haben Sie einmal darüber nachgedacht, ob der Montagabend mit seiner Frau nicht eine Art Rache war, untergründig natürlich? Aber wie gesagt: Diese Geschichte geht mich nichts an. Mit der müssen Sie selber fertig werden. Nur sollten Sie wirklich mit ihr fertig werden, schon damit Sie nicht weiterhin einem Phantom nachjagen, einem Mord aus Liebe und Leidenschaft oder ähnlichem.“ Er sah wieder auf seine Uhr, und ich warf automatisch einen Blick auf meine. Es war halb elf, und ehe ich auf seine Vermutungen eingehen konnte, klingelte das Telefon, und das gab mir Gelegenheit, Herbst zu beobachten, wie er eine ganze Weile konzentriert zuhörte. Schließlich sagte er: „Ich bin spätestens in einer halben Stunde bei Ihnen, Genosse Lenz.“ Und nach einer weiteren Pause gesammelten Zuhörens: „Hier ist alles wie erwartet gelaufen.“ Und dann noch: „Ja, der hat sich gemeldet.“ Ehe ich noch Mutmaßungen darüber anstellen konnte, ob ich mit „der“ gemeint war, der sich „gemeldet“ hatte, hatte er aufgelegt. 154
„Schade, daß wir unser Gespräch nicht fortsetzen können.“ Herbst sammelte einige Papiere vom Schreibtisch in eine Aktentasche. „Sie hätten mir sicherlich auch einiges zu sagen. Aber vielleicht haben wir noch Gelegenheit.“ „Ja, wirklich schade“, sagte ich. Ich war doch ein bißchen nachdenklich geworden über seine Vorhaltungen und Vermutungen, weniger über die Theorien, die er da ausgebreitet hatte, als über seine Art, mich und die Triebfedern meiner Aktivitäten zu charakterisieren – versuchte aber, das nicht zu zeigen. Und so setzte ich hinzu: „Unter Umständen könnte ich von Ihnen doch etwas lernen, wenigstens was den Unterschied von … oder vielmehr: was die Vereinbarkeit von Parteilichkeit und Objektivität angeht.“ „Unter allen Umständen, mein lieber Herr Krüger.“ Herbst zog seine Jacke an, wand sich dann umständlich einen langen grünen Wollschal um den Hals, ehe er sich in seine Kutte zwängte. „Übrigens“, sagte er, während er sich nach seinem Hut umsah, „wissen Sie, wie der heilige Martin im Mittelalter dargestellt wurde? Sie sind doch so eine Art Kunsthistoriker.“ „Der heilige Martin?“ Ich sah Herbst verständnislos an. „Zu Pferde, lieber Herr Krüger, zu Pferde!“ beantwortete er selbst die Frage. „Und wie er dabei ist, seinen Umhang mit dem Schwert zu teilen: eine Hälfte für sich, die andere Hälfte für einen nackten, frierenden Mann, der auf der Erde kauert.“ Er schob mich mit freundlichem Nachdruck aus dem Zimmer, löschte das Licht. Und auf dem Weg zum Auto erklärte er mir noch, daß die Gestalt des Bettlers nach der Legende Jesus gewesen sei, der, um den Heiligen zu prüfen, diese Rolle angenommen habe. „Finden Sie nicht auch, daß in der Geschichte viel Lebensweisheit steckt?“ fragte er dann, als er den Wagenschlag aufschloß. „Es 155
kommt nicht darauf an, alles wegzugeben und dadurch selber elend zu werden, man muß teilen, das ist es.“ Er setzte sich unter leisem Stöhnen hinter das Steuerrad. „Das habe ich – ohne die Schlußfolgerung natürlich, die habe ich mir selber einfallen lassen – vom Pfarrer der Martins-Gemeinde erfahren. Sie wissen seit heute abend ja auch, wo diese Kirche zu finden ist. Gute Nacht, Herr Krüger, hoffentlich bekommen Sie nicht wieder Ärger. Und wenn Sie einen Entschuldigungszettel brauchen sollten: Ich stehe zu Diensten.“ Er schlug die Autotür zu, startete und ließ den Motor warm laufen. Ich machte mich auf den Weg ins Sanatorium, noch immer über den heiligen Martin nachdenkend. Selbstverständlich gab es Ärger an der Pforte, denn nicht Schwester Maria, die sanftäugige, öffnete mir, sondern eine ältere, resolute Frau, die immer am Wochenende den Nachtdienst versah. Die musterte mich streng, ehe sie den Eingang freigab, ließ mich meinen Namen nennen und erklärte, dies werde noch ein Nachspiel haben, am Montag, wenn der Herr Oberarzt wieder da sei. Mich ließ das düstere Orakel kalt, ich hatte an anderes zu denken. Und dann: Der Montag lag für mich in weiter Ferne, wie für einen schlechtpräparierten Schüler, der weiß, daß er an dem Tag eine Klassenarbeit machen muß. Obwohl ich sehr müde war nach den Strapazen und Aufregungen des Tages, konnte ich nicht einschlafen. Ich lag noch lange wach, horchte auf das Schnarchen Wandreys, das immer einsetzte, wenn er sich in eine neue Lage brachte, und das erstarb, sobald er sich an sie gewöhnt hatte. Ich bewegte Herbsts Worte in meinem Kopf. Als ich dann doch entschlummerte, sah ich im Traum einen steinernen Mann auf einem steinernen Pferd. Der Mann hatte einen lebendigen Kopf, den von Herbst, auf seinen steinernen Schultern und sagte: „Man 156
muß teilen, das ist es.“ Und: „Sie sollten mit Ihrer Sache fertig werden, schon damit Sie nicht weiter einem Phantom nachjagen.“
14. Sonntags gab es immer ein Ei zum Frühstück, mehr bewilligte der Sanatoriumsdirektor wegen des hohen Cholesteringehalts dieses Hühnerprodukts nicht, und es gab eine Tasse Kaffee, „echten Bohnenkaffee“, wie meine Mutter gesagt haben würde, auch zwei Scheiben Weißbrot statt des viel gesünderen Vollkornbrots, so daß man sich fast wie am heimatlichen Tisch fühlen konnte. Sonntag morgen war denn auch die Stimmung der Tischgenossen entsprechend hoch, aller dieser Lukullitäten wegen und auch, weil ein Tag vor einem lag, der so völlig unbeschwert war von Gymnastik, Massagen, Kneippschen Anwendungen, Bädern, Ergometertraining und was das Badeleben sonst noch an Spezialitäten bereithält. Sogar die Mittagsruhe war an dem Tag nicht vorgeschrieben. Dr. Hammer und Maier hatten Erlaubnis zu einem Ausflug in ein Heimatmuseum, das zwei Bahnstationen entfernt lag, beim Stationsarzt erwirkt und freuten sich wie losgelassene Internatszöglinge auf das Abenteuer; Neumann ging am Vormittag zum Bus, seine Frau abzuholen, die wie jeden Sonntag mit einer Tasche voll Selbstgebackenem und Geselchtem anreiste; Wandrey wollte wieder in die Kreisstadt, wo der Organist auch sonntags, nach dem Gottesdienst, eine halbe Stunde lang auf seinem Instrument zu improvisieren pflegte. Am Nachmittag war für ihn dann Fußball dran, nach Angeln und Dichten die drittmächtigste Leidenschaft des Poeten. Nur ich, obwohl ich in gewisser Hinsicht auch ein Programm hatte, wünschte, der Sonntag 157
wäre schon vorbei. Am Montag hätte ich dann wieder Ruhe, wenn Barbara Schulte abgereist und mit ihr all das Bedrückende und Beunruhigende aus der Welt, aus meiner Welt, geschwunden wäre, das mir die vergangene Woche so sehr verleidet hatte. Die Aussicht, am Mittag mir ihr zu speisen, machte mich gar nicht froh. Worüber sollte ich mich denn jetzt noch mit ihr unterhalten? Als ich gegen sieben Uhr wach geworden war, geweckt von Wandreys elektrischem Rasierapparat, hatte ich nur für ein paar Sekunden das Gefühl, in einen freundlichen Sonntag starten zu können. Dann war mein Gedächtnis in Funktion geraten, und seitdem beschäftigte ich mich unausgesetzt mit Sätzen und Satzfetzen aus den Gesprächen mit Barbara und mit Herbst. Wandrey, der meine verkorkste Stimmung sofort mitbekommen hatte, versuchte mich aufzuheitern, zum Beispiel mit der Aussicht auf das Ei zum Frühstück oder auf das Fußballspiel am Nachmittag. Erfreulicherweise zügelte er noch seine Neugier auf all das ihm Unbekannte, das sich seit Samstag mittag zugetragen hatte. Vielleicht spürte er, daß ich mit mir nicht im reinen war, und bewies Takt und Diskretion, vorübergehend. Denn in einem konnte ich sicher sein: Mir würde später nicht erspart bleiben, jede Begebenheit, deren Zeuge ich geworden war, vor ihm auszubreiten. Ich saß noch am Tisch, als die anderen schon zu ihren Unternehmungen aufgebrochen waren, unschlüssig, ob ich noch einmal ins Bett gehen sollte, um den spärlichen Nachtschlaf aufzubessern, oder ob ich versuchen sollte, auf einem Spaziergang meine Lebensgeister aufzufrischen. Ich entschied mich fürs letztere, weil ich befürchtete, nicht einschlafen zu können und dann liegend desto schutzloser dem müßigen und quälenden Spiel wirrer Gedanken ausgesetzt zu sein. Auf dem Weg in den Ort kam mir der Einfall, der mir augenblicklich Erleichterung verschaffte: Ich würde im Hotel eine Nachricht 158
hinterlassen, daß ich abgehalten sei, die Verabredung zum Mittagessen wahrzunehmen. Es war erst halb neun, und ich konnte, redete ich mir ein, das Rendezvous aufsagen, ohne Barbara in Verlegenheit zu bringen. Vielleicht glaubte sie mir sogar, wenn ich ihr mitteilen ließ, meine Frau hätte telegrafiert, sie käme zu Besuch, heute, mit dem Eilzug. Und wenn sie es nicht glaubte, war es mir auch egal. Ich fühlte nicht die leiseste Scham bei dem Gedanken, so sehr wünschte ich mir, mit Barbara nicht mehr zusammentreffen zu müssen. Doch als ich die Gaststube des Hotels „Stadtmitte“ betrat, sah sie mir von einem Tisch neben dem Tresen aus erstaunt entgegen. Ich konnte ein Lächeln der Entmutigung nicht zurückhalten. Es schien seit Montag mein Los zu sein, diese Frau zu treffen, gewollt oder zufällig. „Hallo!“ sagte ich und unternahm einen Versuch, mein resigniertes Mienenspiel in ein Grinsen der Überraschung umzuwandeln, wußte allerdings nicht, ob mir das gelang. „Nimm Platz.“ Barbara saß vor einem opulenten Frühstück: Eier im Glas, Schinken, Käse, Kaffee; sie machte einen rundum zufriedenen Eindruck, sah trotz ihres Makeup mit tiefen Lidschatten frisch aus wie nach einem langen, tiefen Schlaf und lud mich ein, an ihrem Mahl teilzunehmen. Ich sagte, ich hätte bereits gefrühstückt, und bestellte mir einen Kaffee. Es begann das übliche Hin und Her: „Schon so früh auf?“ und „Schöner Tag – schön, aber kalt“ und „Laß es dir schmecken“ und so weiter. Beide waren wir bemüht, den vergangenen Tag nicht ins Gespräch zu bringen. Barbara fragte nur: „Bist du noch rechtzeitig ins Sanatorium gekommen?“ Und ich sagte: „Nicht ganz zur Zeit. Und du: Warst du noch lange mit Herrn Stallmeister zusammen?“ Und sie antwortete: „Ach, wir haben noch mindestens zwei Stunden beieinandergesessen. So viel gab es zu erzählen.“ Ich zwang mich, die Lüge, die mir 159
nun ganz und gar nutzlos schien, zu überhören, wenn mir auch wieder das Blut aufwallte. Weg, nur weg aus dieser Geschichte, dachte ich und lauerte auf eine Gelegenheit, meine Absage anbringen zu können. Aber Barbara plauderte, ließ auch hin und wieder ernstere Töne in ihren Monolog einfließen, sprach davon, daß sie jetzt einsamer sei als je zuvor in ihrem Leben. („So krank Paul auch war und so fest ich auch damit rechnen mußte, daß er bald von mir gehen würde, so hart trifft es mich, daß er jetzt plötzlich nicht mehr da ist.“) Doch es überwog eine heiter-oberflächliche Ausgeglichenheit. Und ihr gesunder Appetit beherrschte die Szene, es war eine Freude, ihr beim Essen zuzusehen. „Übrigens …“ Sie kaute noch, dann schluckte sie. „Wärst du mir sehr böse, wenn ich unsere Verabredung zum Essen heute mittag absagte?“ Noch ehe ich etwas erwidern konnte, sprach sie weiter: „Es ist wegen der … na, die Leiche ist noch im Gerichtsmedizinischen Institut. Ich muß mich um die Leiche kümmern.“ Ich hoffte, die Erleichterung, die mich durchflutete, wäre nicht zu bemerken. „Wenn es denn sein muß“, sagte ich. „Ach ja, es wäre schon schön. Wenn ich nämlich noch heute vormittag in die Bezirksstadt fahre, zu diesem Institut, dann könnte ich …“ Ich war nicht mehr bei der Sache, nahm nur noch Bruchstücke von dem auf, was sie sagte: „Wenn wir uns denn doch noch einmal treffen sollten …“ und „Hoffentlich ist die Tankstelle am Ortsausgang geöffnet, ich reiche nämlich nicht mit dem Benzin …“ Ich lächelte, trank Kaffee und dachte nicht einmal darüber nach, ob sie sich sofort, nachdem ich gegangen war, ins Auto setzen würde, um sich mit Stallmeister zu treffen. Ich wurde erst wieder aufmerksam, als der vehemente Redeschwall verebbte und plötzlich ganz versiegte. Die Stille störte mich. Ich sah Barbara an. 160
Sie blickte mit weitgeöffneten Augen ohne Lidschlag an mir vorbei und zur Tür des Lokals. Ich wandte mich um. Da stand Herbst, halblinks hinter ihm Lenz, in der Tür. Es wirkte feierlich, ein bißchen unheilbringend auch, wie sich die beiden Männer gemessen auf unseren Tisch zu bewegten, Herbst vornweg, die Hände in den Taschen der braunen Kutte. Als der Oberleutnant nahe genug gekommen war, sah ich, daß er unausgeschlafen wirkte: Die Augen waren rot gerändert, ein Vlies von Bartstoppeln, erstaunlicherweise wesentlich dunkler als das Kopfhaar, verschattete die untere Gesichtshälfte. Er mied meinen Blick, sah über meinen Kopf hinweg. „Herr Krüger“, sagte er, „setzen Sie sich bitte an einen anderen Tisch.“ Ich erkannte seine Stimme nicht wieder, sie klang mühsam sachlich, gepreßt, als habe er nicht ordentlich Atem geholt. „Bitte, setzen Sie sich an einen anderen Tisch“, wiederholte er, als ich nicht sofort begriff, was er von mir wollte, und sitzen blieb. Also doch! Das war das einzige, was mir einfiel. Ich stand auf, ungeschickt, so daß ich fast das Tischtuch heruntergerissen hätte, und ging mit schweren Schritten auf einen Tisch im Hintergrund der Gaststube zu. Was in den nächsten Minuten geschah, kam mir nur verschwommen zum Bewußtsein. Ich fühlte mich wie unter Narkose, unfähig, einen Gedanken zu fassen, geschweige denn, das ganze Geschehen zu durchdenken. Also doch! ging es mir immer wieder durch den Kopf. Also doch! Ich setzte mich, muß wohl auch, wie es sich schickt, die beiden Männer, die schon saßen, gefragt haben, ob noch ein Platz frei sei. Als ich den Kopf in die Richtung wandte, aus der ich gekommen war, sah ich, wie Barbara sich erhob und, von Lenz begleitet, an der Theke vorüber die Treppe hinauf zu den Zimmern ging. Herbst saß allein am Tisch, in der Hand ein Stück Papier. 161
„Den Kaffee müssen Sie bei mir bezahlen, hier bedient meine Kollegin“, hörte ich einen Kellner sagen. Ich kramte lange in den Jackentaschen, noch immer wie in Trance, ehe ich einen Zehnmarkschein fand. Ich gab ihn dem Kellner, steckte automatisch das Wechselgeld ein. Nur sehr langsam wurde mir der Kopf klarer, ich sah mich um und war seltsamerweise erleichtert, daß an den anderen Tischen anscheinend nichts von dem bemerkt worden war, was hier geschah. Dann betrat Barbara wieder den Raum. Lenz ging hinter ihr, trug einen Koffer. Herbst stand auf, ging als erster in den Windfang. Das letzte, das ich von Barbara wahrnahm, als sie sich, vielleicht um mich mit den Blicken zu suchen, noch einmal umwandte, war ein unbestimmter Eindruck: ein apfelgrüner Hosenanzug, ein Gesicht, das mir sehr weiß vorkam, das Kastanienbraun des Haars. Ich bestellte mir einen doppelten Korn. Noch immer konnte ich das Erlebte nicht durchdenken, mag sein, ich wollte es auch nicht. Lange hielt ich den Blick starr auf die Tür gerichtet, hinter der die beiden Kriminalisten und die Frau verschwunden waren. Ich war froh, als mich einer der Männer am Tisch in ein Gespräch zog und mir umständlich und seines Werts bewußt erklärte, er sei Lehrer für Musik und Sport, jetzt aber durch sein Herzleiden verständlicherweise in seiner Profession behindert, jedenfalls was den Sport angehe, und ich hütete mich, mich als Kollege vorzustellen. Als er mich direkt fragte, womit ich mein Brot verdiene, sprach ich allgemein von „Verwaltung“, was er wiederum zum Anlaß nahm, seine Wohnungsmisere vor mir auszubreiten. So verging etwa eine halbe Stunde, während der ich nicht an Barbara zu denken brauchte. Als ich aber dann wieder auf der Straße stand, fiel mich das Nachdenken über sie und darüber, warum man sie verhaftet hatte, doppelt heftig an. 162
Mir war zum Heulen elend, jetzt, da festzustehen schien, daß Paul Schulte doch nicht durch einen Unglücksfall ums Leben gekommen und Barbara an seinem Tod zumindest mitschuldig war. Eigentlich hätte ich befriedigt sein sollen, schließlich hatte mich meine Ahnung nicht getrogen. Aber ich war eben doch ein sentimentaler, entschlußloser Mensch, einer von denen, die agil sind, solange die Wirklichkeit sich nur verschwommen abzeichnet und Möglichkeiten zu Vermutungen und Ausweichmanövern offenläßt, und die am liebsten davonlaufen, wenn Klarheit geschaffen ist und es gilt, Konsequenzen aus eindeutigen Umständen zu ziehen. In dem Maß, wie meine Stimmung sank, ins Bodenlose, wie mir vorkam, stieg meine Aversion gegen Herbst. In ihm und nur in ihm suchte ich den Grund für mein Bedrücktsein, in seinen Praktiken. Verbittert dachte ich an den vergangenen Abend zurück, an seine Gardinenpredigt über mein angeblich vorurteilbeladenes Engagement in Sachen Paul Schulte und meinen Dilettantismus. Dabei hatte er doch schon gewußt, daß Barbara und ihr Stallmeister Paul Schulte auf dem Gewissen hatten. Am meisten kränkte mich meine Bereitschaft, mir all den Stuß zu Herzen zu nehmen. Er hatte mich an der Nase herumgeführt, schon von dem Moment an, da er die falsche Behauptung vom Unfalltod Paul Schultes in die Welt setzte. Überhaupt: Der Trick kam mir schäbig vor, vor allem Barbara gegenüber, für die ich zwar keine Sympathie mehr zu empfinden glaubte, die aber wie jeder Mensch ein Recht auf faire Behandlung hatte. Die Tatmenschen, die Realisten, die geradewegs auf ihr Ziel losgingen, ohne viel nach den Mitteln zu fragen, ich mochte sie an diesem Morgen weniger denn je. Das Bild vom Jäger setzte sich in meinem Kopf fest, der das Wild in eine Falle lockt. Ich ging durch die Straßen, schnell und ohne Blick für Menschen, Bäume, Häuser, nur erfüllt von dem unbe163
wußten Drang, den Tumult in mir zu unterdrücken und endlich zu klarem Denken zurückzufinden. Ich lief bis zum Bahnhof und zurück, mußte mindestens dreimal das Badehaus umrundet haben, stand dann wohl schon eine Viertelstunde vorm Schaufenster einer Sportartikelhandlung, ohne die ausgelegte Ware überhaupt zu sehen. An der Pforte des Sanatoriums traf ich Wandrey. Der stand schon im Mantel da und schickte mir einen maßlos vorwurfsvollen Blick und die Frage entgegen, ob ich denn vor lauter Barbara Schulte alles vergessen hätte, Mittagessen und Verabredung. Mir war nicht danach zumute, Erklärungen abzugeben. Mit dürren Worten ließ ich ihn wissen, ich fühlte mich nicht wohl und mir stünde nicht der Sinn nach Fußballplatz. „Sie können mich nicht auch noch enttäuschen“, sagte er, und an seiner Stimme merkte ich, daß es ihm ernst war. „Wieso auch?“ Ich war nicht wirklich interessiert zu erfahren, was ihm zusätzlich die Laune verdorben hatte. „Na ja, der Organist – nichts war mit Konzert. Ist einfach nicht erschienen. Auch nicht zum Gottesdienst. Die Gemeinde mußte a capella singen.“ Wichtigkeit! dachte ich und betrachtete ein wenig belustigt Wandreys Kummermiene. Der Poet wollte indes seinen Redestrom nicht zum Versiegen bringen, kam von der ausgefallenen Orgeldarbietung wieder auf meine Unlust, den Fußballplatz aufzusuchen, zurück. Frische Luft und Abwechslung, konstatierte er, das seien die probatesten Mittel, sich aus psychischer oder physischer Klemme zu befreien, das kenne er aus seinem Umgang mit sich selber, und es gäbe in der Hinsicht nichts Wirkungsvolleres, als beim Spiel zweier Kickermannschaften zuzusehen. Und während er mich buchstäblich auf den Weg zum Stadion schob, malte er mir in gewaltigem Redestrom den Fußballkosmos aus, 164
die Sinnfälligkeit besonders dieses Mannschaftsspiels, das in sich ein Abbild des Lebens sei mit seinem Teamwork, dem Wettbewerbsdenken, den überschaubaren Regeln und der vorgeschriebenen Fairneß. Selbst für den Zuschauenden halte es beträchtliche Funktionen bereit, indem es Gelegenheit böte, die Welt im Spiel und aufs Spiel reduziert aufzunehmen (und Spiel, erklärte er, sei lebenswichtig für die Bewältigung von Realität, da es am Modellfall die Wirklichkeit erproben lasse), ganz zu schweigen vom therapeutischen Effekt, der in der Delegierung und im Abbau von Aggressionen bestehe. Unter solchen und ähnlichen munteren Reden, die ich anfangs nur mit sehr eingeschränktem Interesse, dann aber doch mit einigem Amüsement hinnahm, erreichten wir den Spielplatz der Fußballmänner. Was sich dort allerdings fünfundvierzig Minuten lang auf dem verschneiten Rasen zur Besichtigung darbot, hatte wenig mit dem von Wandrey zum „Modellfall für das Leben“ hochgespielten Mannschaftssport zu tun. Da gab es nur einen sozusagen ehernen Willen zu gewinnen (die einheimischen Zuschauer schrien denn auch zur Anfeuerung ihrer Matadoren andauernd „Eisern, Medizin!“), gepaart mit mangelnder Geschicklichkeit im Umgang mit dem Ball, wenigem Verständnis für die Spieler der eigenen Partei und zu Feindschaft gesteigerter Aversion gegenüber denen der anderen. Ohne erkennbaren Plan als den, den Ball um jeden Preis ins Tor des Gegners zu treten, fuchtelten zwanzig Männer auf dem Feld herum, rannten, gaben sich schreiend gegenseitig Ratschläge, die niemand befolgte, rutschten aus, schwitzten trotz der Kälte und haderten regelmäßig mit dem Schiedsrichter, wenn sie sich durch sein Eingreifen benachteiligt glaubten (und sie fühlten sich fast immer benachteiligt). Ich jedenfalls spürte nichts von der zuvor herausgestrichenen therapeutischen Wirkung dieser Sportart, da ich meine Aggressionen weder delegieren noch abbauen konnte. 165
Als ich gegen Ende der ersten Halbzeit Oberleutnant Herbst unter den Zuschauern stehen sah, massig, die Hände in den Taschen, alles in allem das Bild eines Mannes, der sich nach getaner Arbeit einer wohlverdienten Abwechslung hingibt, besserte sich meine Stimmung erst recht nicht. Er schien mich schon ausgemacht zu haben, denn als ich zu ihm hinüberblickte, hob er grüßend eine Hand und schlenderte dann betont langsam auf mich zu, nach Art passionierter Fußballanhänger den Blick nicht vom Spielfeld lösend. Ich hatte Zeit, mir die Haltung zurechtzulegen, in der ich ihn empfangen wollte; ich entschied mich, es mit sachlicher Distanz zu versuchen. Statt zu grüßen, sagte er nur: „Scheißspiel!“, als er sich zwischen Wandrey und mich schob, und der Dichter stimmte ihm generell zu, machte jedoch die Einschränkung, daß Fußball gar nicht so schlecht gespielt werden könne, um ihm das Zuschauen zu vergraulen. Das trug ihm einen verwunderten Seitenblick von Herbst ein, der wohl nicht damit gerechnet hatte, in dem Schöngeist einen solch rüden Fanatiker zu finden. Die Minuten bis zur Pause stand er schweigend zwischen uns, nur einmal, als der Center der einheimischen Mannschaft die lederne Kugel zu lange und zu eigensinnig vor sich her trieb, schrie er: „Gib doch ab, du Pflaume!“ Natürlich befolgte der junge Mann den Ratschlag nicht, und er verlor denn auch prompt den Ball an einen gegen ihn anrennenden Spieler. Ich stellte fest, daß Herbst sich in der Zwischenzeit rasiert hatte. Das machte mir seine Anwesenheit nicht angenehmer. Unbehaglich rückte ich den Hals im Rollkragen hin und her und hatte kaum noch Augen für das, was sich zwischen den beiden Toren abspielte. Dann gingen die Kicker mit pendelnden Armen und gesenkten Köpfen vom Platz, um sich für die zweite Halbzeit zu erfrischen. Herbst fragte mich: „Haben Sie 166
Lust auf einen kleinen Spaziergang?“ Und zu Wandrey, der neugierig den Kopf vorstreckte, sagte er: „Herr Krüger und ich, wir haben etwas zu bereden. Dauert nicht lange.“ Wandrey nickte verstehend und sah mich aus geweiteten Augen an, in denen ein bißchen Skandalsucht waberte. Ich zuckte die Achseln.
15. Als wir die Traversen hochstiegen, um aus dem Menschengewimmel an den Spielfeldrand zu gelangen, sagte Herbst: „Sie machen ein Gesicht, als wären Sie nicht erfreut, mich zu sehen.“ Ich schwieg, und er fuhr fort: „Das macht aber nichts. Ich wollte nur nicht wegfahren, ohne noch einmal mit Ihnen gesprochen zu haben. Von Mensch zu Mensch sozusagen.“ Er schickte der abgedroschenen Formulierung einen kleinen Lacher hinterher, als müsse er sich für sie entschuldigen. „Haben Sie mir etwa noch ein paar von Ihren Lebensweisheiten anzubieten?“ „Vielleicht.“ Herbst blieb trotzdem gelassen. „Vielleicht auch nicht. Es ist nicht meine Absicht, Sie zu belehren, war es auch nie. Ich möchte nur nicht, daß Sie einen Groll auf mich behalten.“ „Ich habe keinen Groll auf Sie“, sagte ich so beiläufig, wie es mir möglich war. Herbst sah mich zweifelnd von der Seite an. „Um so besser“, meinte er. Nach zwei Dutzend schweigend zurückgelegten Schritten fragte er mich: „Interessiert es Sie nicht mehr, was sich in der vergangenen Woche wirklich abgespielt hat? Schließlich waren Sie doch bis 167
über die Ohren in der Sache und haben sich auf Ihre Weise bemüht, hinter die Geheimnisse zu kommen.“ „Geheimnisse!“ Ich stieß die Luft hörbar durch die Nase. „Das einzige Geheimnis, das für mich geblieben ist, heißt: Was hat Sie bewogen, die falsche Nachricht in die Welt zu setzen, daß Paul Schulte ‚ohne fremdes Zutun‘ zu Tode gekommen sei? Ich habe nämlich mal einen Roman gelesen, in dem ein Kriminalist, als er nicht weiterkam …“ Er hob in gespieltem Schreck abwehrend beide Hände. „Verschonen Sie mich mit Kriminalisten, die in Romanen herumgeistern! Sie glauben gar nicht, was unsereiner zu tun hat, um den Bürgern die Romanflausen aus dem Kopf zu treiben.“ „Trotzdem!“ beharrte ich, durch seinen Widerspruch gereizt. Ich spürte ein Kribbeln in der Nase, Vorbote einer kleinen Streitlust, die sich anschickte, von mir Besitz zu ergreifen. „In dem Roman ging es darum, daß eine Frau verschwunden war und der recherchierende Kriminalist einem Verdächtigen irgendeinen Knopf unter die Nase hielt und behauptete, der stamme vom Kleid der Verschwundenen und sei in seiner Wohnung gefunden worden. Nur um den Mann zum Geständnis zu bringen. Wie finden Sie das?“ „Alter Trick“, stellte Herbst fest, offensichtlich vergnügt darüber, daß ich aus der Reserve trat, „uralter Trick. Führt außerdem zu nichts. Denn welcher Verbrecher …“ „Ich meine das anders.“ Meine Beharrlichkeit verwunderte mich selber. Er sollte nicht an dem Punkt vorbeireden, auf den es mir ankam. „Hat ein Kriminalist das Recht, mit solchen Tricks, wie Sie das nennen, zu arbeiten?“ „Ehe Sie moralisch werden und nach dem Recht des Kriminalisten fragen, sollten Sie sich klarzumachen versuchen, welche Pflicht er hat.“ Das Vergnügliche war aus 168
seiner Stimme gewichen. Er blieb stehen und beantwortete, das Gesicht mir zugewandt, die Frage selbst. „Ich habe gestern schon versucht, Ihnen zu verdeutlichen, daß wir auch und vielleicht vor allem dazu in der Welt sind, den Bürgern ein friedliches Leben zu garantieren. Dazu gehört, Verbrechen aufzuklären, Verbrecher ihrer Strafe zuzuführen und so Sicherheit zu garantieren. Ist das klar?“ „Also doch wieder: Belehrung. Aber wie ist das mit den Tricks? Sind Sie berechtigt, Tricks anzuwenden?“ Herbst antwortete mit einer Gegenfrage: „Der Verdächtige in Ihrem Roman, hatte er mit dem Verschwinden der Frau etwas zu tun oder nicht? Wurde der Trick am Richtigen angewandt oder aufs Geratewohl?“ „Daran erinnere ich mich nicht mehr. Mir ist nur dieses Problem in Erinnerung geblieben.“ Mir kam es vor, als ob er die Nase rümpfe. „Ist denn das für die Entscheidung in dieser Frage wichtig?“ fragte ich. „Entschuldigen Sie, aber Sie sind ein schlimmerer Traumtänzer, als ich mir das habe vorstellen können.“ Wir setzten den Spaziergang fort, der uns jetzt am Zwieselbach entlangführte, einem Zuflüßchen der Wiede. Beide Hände auf dem Rücken zusammengelegt und im Kurtrott voranschreitend, machte Herbst den Eindruck eines Patienten, der bei mäßig schneller Bewegung in frischer Luft die angegriffene Gesundheit wiederherzustellen sucht. „Nehmen wir an, Sie haben einen Fall aufzuklären.“ Obwohl die Worte an mich adressiert waren, sprach er mich nicht direkt an. „Zum Beispiel: Ein Mann wird tot aufgefunden, ein sehr kranker Mann, der in ständiger Lebensgefahr geschwebt hat. Eine übermäßige Aufregung kann ihm den Tod bringen, ein Sturz, ein Schlag, der ihn umwirft, alles, was seinen Blutdruck in die Höhe treibt. Dieser Mann nun hält sich in einem Kurort auf, und an einem der ersten Tage …“ 169
„Geschenkt!“ rief ich dazwischen. „Den Fall brauchen Sie mir nicht umständlich vorzustellen.“ „Gehen wir von der Praxis aus. Und was läge momentan näher, für Sie und für mich, als der Tod Paul Schultes?“ „Für mich bleibt auch momentan wichtig, ob der Kriminalist berechtigt war, eine Behauptung in die Welt zu setzen, die – wie sich später herausstellt – offensichtlich nicht den Tatsachen entsprach und nur dazu diente, irgendeine Person in Sicherheit zu wiegen.“ „Schulte war ein sehr kranker Mann“, wiederholte er. „Die Gerichtsmedizin bringt vieles zuwege, eigentlich fast alles. Aber sie kann nicht mit letzter Sicherheit entscheiden, ob zum Beispiel ein Mann, der an einem schweren Herzdefekt litt und auch daran gestorben ist, ohne daß sich Anzeichen äußerer Gewalt finden, durch fremde Einwirkung oder durch einen selbstverschuldeten Unfall ums Leben gekommen ist.“ „Aber warum denn diese Untersuchungen, warum die Vernehmungen, und warum die Verhaftung von Frau Schulte?“ Herbst legte mir beschwichtigend eine Hand auf die Schulter. „Eins nach dem anderen. Unsere Pflicht war es zunächst, auszuschließen, daß Schultes Tod absichtlich herbeigeführt wurde. Bei der Nachforschung zur Person ergaben sich zwei auffällige Momente: Schulte war mit seiner Frau in den Kuraufenthalt gekommen, und Schulte und Frau hatten einen Freund aus früheren Jahren wiedergetroffen, einen Freund, der in die persönlichsten Angelegenheiten der Familie verstrickt war. Die Komplikationen, die mit dem zweiten Umstand verbunden waren, kennen Sie ja zur Genüge. Daß Sie als möglicher Verursacher von Schultes Tod nicht in Frage kamen, war mir bei unserem ersten Zusammentreffen fast schon klargeworden.“ „Vielen Dank, das schmeichelt mir.“ Ich machte im 170
Gehen eine Verbeugung, die ironisch sein sollte, aber nur ungeschickt ausfiel. „Ich weiß nicht, ob es in jedem Fall schmeichelhaft ist, wenn sich jemand so anstellt wie Sie bei Ihrer Vernehmung. Ich meine das Verschweigen Ihrer Beziehung zu Frau Schulte, auch Ihre Ausfälle gegen die Polizei. Aber darum geht es nicht. Sie fragten, ob ich berechtigt gewesen sei, Frau Schulte mitzuteilen, das Gerichtsmedizinische Institut habe festgestellt, ihr Mann sei ohne fremdes Zutun zu Tode gekommen. Die Wahrheit ist: Das Institut konnte nicht entscheiden, ob bei diesem Todesfall ein anderer seine Hand im Spiel gehabt hatte.“ „Aber das ist mehr als eine Nuance.“ „Da gebe ich Ihnen recht. Ich habe eigenmächtig, wenn Sie so wollen, oder auch – wieder in Ihrem Begriff – unmoralisch gehandelt, als ich Frau Schulte wissen ließ, die Untersuchung sei eingestellt. Aber ich glaube, ich habe damit klug und auch richtig gehandelt. Denn wenn ich überhaupt eine Chance hatte, Licht in eine womöglich düstere Geschichte zu bringen, dann mußte ich sie das glauben machen. Mir war nämlich am Donnerstagabend bei der routinemäßigen Überprüfung zur Person vom Wohnsitz der Schultes eine Auskunft zugekommen, die mich zum Nachdenken veranlaßte.“ Wir hatten ein Brückchen über den Bach erreicht, in dessen Schutz sich eine Entenfamilie tummelte. Vom Stadion wurden Anfeuerungsrufe der Zuschauer herübergeweht: Offensichtlich hatte das Match wieder angefangen. Herbst beugte sich über das Geländer, die Unterarme aufgestützt und wegen seiner Länge die Beine weit nach hinten ausgestellt, sah den Enten zu und bemerkte mit ziemlicher Verwunderung: „Daß die nicht frieren!“ „Sie erinnern sich doch an unseren Spaziergang zur Negerhütte, vorgestern“, sagte er plötzlich und sah mich von unten herauf an. 171
„Zur ‚Mohrenalm‘ “, korrigierte ich, unsicher, was er mit dieser Erwähnung bezweckte. „Richtig. Da hatten wir doch ein Gespräch, das Sie wohl verwundert, vielleicht auch verärgert hat, über Antiquitäten, den schwunghaften Handel, der mit ihnen getrieben wird und so weiter. Eigentlich haben Sie damit angefangen, indem Sie über Architektur sprachen. Und von dort zu den Altertümern war für mich nur ein kurzer Weg. Ich steckte nämlich an dem Tag bis über die Ohren in der Materie, besser: Ich war mit dem kriminalistischen Aspekt des Antiquitätenhandels sehr dringlich befaßt.“ „Das ist mir nicht entgangen.“ „Es war auch meine Absicht, daß Ihnen das nicht entgehen sollte. Eigentlich war ich drauf und dran, Sie direkt zu fragen, ob Sie mit den Schultes über Antiquitäten gesprochen hatten, wenn auch nur nebenher.“ „Warum denn ausgerechnet über Antiquitäten?“ Ich sah nicht, wohinaus er wollte. „Aber Sie waren an dem Tag übler Laune.“ Er richtete sich auf, warf noch einen letzten Blick auf die Wasservögel, ehe wir weitergingen. „Wie gewöhnlich, kann ich jetzt, bei unserem vierten Zusammentreffen, schon sagen. Sie steckten voller Ungeduld, waren aggressiv aus Angst, ich könnte Ihnen eine Falle stellen, auch arrogant, weil Sie glaubten, ich versuchte Sie mit dem Gespräch über Altertümer vom Wesentlichen abzulenken, vom Verdacht nämlich, den ich nach Ihrer Ansicht noch immer gegen Sie hegte. Also ließ ich es bleiben. Ihre Auskunft war ohnehin nur als Bestätigung eines Tatbestands gedacht, über den ich schon informiert war.“ „Welchen Tatbestands?“ fragte ich. Ich hatte den Verdacht, Herbst erhöhe vorsätzlich die Spannung durch brockenweise Preisgabe seiner Geschichte. „Daß die Schultes seit Jahren emsig Antiquitäten aufkauften und einen florierenden Handel mit dem Zeug 172
betrieben.“ Herbst sah mich an, ob die Eröffnung auch einen gehörigen Eindruck auf mich gemacht hatte, und er schien nicht zufrieden zu sein mit meiner Reaktion, einem mehr gemurmelten „Soso“. Denn er fragte: „Das wundert Sie wohl gar nicht?“ „Schließlich haben Sie mich ja fast mit der Nase daraufgestoßen, daß die Schultes noch ein anderes Gewerbe – oder wie man das nennt – betrieben. Und dann: Von irgendwoher mußte das Geld doch kommen, um einen gehobenen Lebensstandard zu finanzieren. Das Auto zum Beispiel …“ „Gut beobachtet“, lobte er, und er klopfte mir auf den Rücken. „Sie haben in der Tat das, was sie an den kleinen Theatern nicht verdienen konnten, doppelt – ach, was sage ich –, vier- und fünffach hereingeholt. Wobei das Theater übrigens die Basis für das Geschäft abgab, dank der begrüßenswerten Einrichtung, daß die Bühne, wenn die Leute nicht zu ihr kommen können, zu den Leuten kommt. Ich meine ‚ Abstecher‘, wenn Ihnen das Wort etwas sagt, Vorstellungen in …“ „Kulturhäusern, Vereinssälen, Werkskantinen“, ergänzte ich. „Die Erinnerung hat sich bei Frau Schulte und Herrn Stallmeister tief eingegraben.“ „Das glaube ich gern. Also: Man machte bei diesen Abstechern die Runde, stöberte in alten Bauernhäusern und in Scheunen, inspizierte Gerümpel in Kellern und auf Dachböden, kaufte, was an altem Krempel zu kaufen war, für Pfennige sozusagen, kaufte das Übliche, mit dem sich die Leute heutzutage die Wohnungen vollstopfen, vom Wandteller mit Sinnspruch aus Urgroßmutters Zeiten bis zum Dreschflegel fürs Wochenendhaus und zum Karrenrad als Untersatz für die Blumen – wir haben schon darüber gesprochen. Auch Sperrigeres wurde mitgenommen, Schränke zum Beispiel, Butterfässer, schöne Kummets – was weiß ich. Für alles fand sich ein Abnehmer, nachdem der Kram gehörig aufgeputzt war. 173
Dann und wann und gar nicht so selten – und hier fängt die Geschichte an, kriminell zu werden – gaunerte man unbedarften Leuten auf den Dörfern und in den Kleinstädten wirkliche Kunst für ein Butterbrot ab: Hinterglasbilder, Stiche, alte Waffen, Votivtafeln … Und alles, Gerümpel und Kunst, wurde mit einem horrenden Gewinn an den Mann gebracht. Die Art von Handel halte ich für die abgeschmackteste, weil sie meist mit Betrug verbunden ist und kein einigermaßen objektives Preisgefüge kennt. Die Schultes haben ein Vermögen verdient. Genau wird sich wohl nicht mehr feststellen lassen, was alles durch ihre Hände gegangen ist; aber das ist jetzt auch mehr Angelegenheit der Steuerbehörde, die natürlich noch ihre Rechnung präsentieren wird. Nur einmal wären sie fast aufgeflogen bei dem schmutzigen Geschäft: Im Kofferraum eines Bundesbürgers entdeckte man an der Grenze unter Werkzeug und Gepäck ein barockes Reisealtärchen aus Privatbesitz. Und die Spur führte zu den Schultes und – na, zu wem wohl?“ „Zu Stallmeister?“ Mir war plötzlich einiges klarer, ich ahnte zum Beispiel auch, warum mich Herbst am vergangenen Abend so unvermittelt nach dem heiligen Martin in der bildenden Kunst des Mittelalters gefragt hatte. „Ich sage ja: Ein guter Beobachter sind Sie, jetzt, da Sie nicht mehr sentimental an die Sache herangehen, und wenn man Sie auf die richtige Spur setzt.“ Er rieb in komisch übertriebener Freude die Handflächen gegeneinander. „Zu Stallmeister, ja, den hat es erwischt. Den Schultes konnte man nicht nachweisen, daß sie mit von der Partie gewesen waren. Stallmeister wurde verurteilt: zwei Jahre. In diesem Frühjahr ist er vorzeitig entlassen worden, hat sich noch ein paar Monate in seinem früheren Wohnort aufgehalten und als Kellner gearbeitet, da er seine Anstellung beim Theater verloren hatte. Im übrigen scheint er von den Schultes unterstützt worden zu sein. Die hatten wohl auch allen Grund, ihren Kumpan 174
nicht im Stich zu lassen. Und im August übernahm er die Stelle im Kurorchester. Das alles erfuhr ich am Donnerstagabend.“ „Und Stallmeister“, wollte ich wissen, „hat er nicht … ich meine, ob er nicht …“ „Ein Verhältnis mit Frau Schulte gehabt hat?“ Herbst ließ einen gespielten Seufzer der Ungeduld hören. „Sie sind schwer von Ihren Vorurteilen abzubringen. Sicherlich hat er ein Verhältnis mit ihr gehabt – Sie selbst sind ja in der Erforschung dieser Seite der Sache recht gut vorangekommen. Aber so etwas soll vorkommen, so etwas soll bei Frau Schulte häufig vorgekommen sein. Machen Sie sich nichts draus.“ Wieder klopfte er mir auf die Schulter, diesmal anscheinend, um mich zu trösten. „Aber das war nicht das wichtigste in seinen Beziehungen zu den Schultes. Da ging es hauptsächlich ums Geschäft, und Geschäft witterte ich auch, als ich von den Verbindungen der Schultes zu Stallmeister erfuhr und wußte, daß die drei seit einigen Tagen an einem Ort beisammen waren. Wo Aas ist, da sammeln sich die Adler, heißt es schon in der Bibel. Die Adler waren mir bekannt. Aber wo war das Aas?“ Er machte wieder eine Kunstpause, wohl der Spannung wegen, und ich konnte nicht anders, als ihm erzählerisches Talent zu bescheinigen, wurde aber gleichzeitig ungeduldig. „Könnten Sie Ihren Bericht nicht ein bißchen raffen?“ fragte ich. „Das Fußballspiel!“ „Scheißspiel.“ Er schüttelte sich leicht, wohl beim Gedanken an das Gekicke. Dann fuhr er fort: „Also gut. Den Freitagvormittag brachte ich damit zu, mich über Stallmeister zu erkundigen, bei seinen Kollegen, bei seiner Wirtin, unauffällig natürlich. Aber was ich erfahren wollte, erfuhr ich nicht – nichts über Antiquitätenhandel. Gleichzeitig, aber ohne sonderliche Hoffnung auf Erfolg, hatte ich die Kreispolizeibehörde gebeten, eine Liste der Fälle von Kunstdiebstählen in der letzten Zeit 175
zusammenzustellen. Auf dem Gebiet gab es nur ein Ereignis: das Verschwinden einer Holzskulptur aus dem Anfang des sechzehnten Jahrhunderts.“ „Den heiligen Martin zu Pferde“, ergänzte ich, „wie er seinen Mantel mit dem Schwert teilt.“ Anscheinend hatte ich ihn schon zu sehr mit Proben meines Scharfsinns verwöhnt, er lobte mich nicht mehr wegen meiner Schlüssigkeit, sagte nur: „So ist es. Dabei handelte es sich um ein äußerst wertvolles Stück aus der Schule des Veit Stoß. Es ist eine Schande, daß derlei Kostbarkeiten oft noch ungesichert oder ungenügend gesichert in Kirchen herumstehen, zum Mitnehmen einladen. Aber das nur nebenbei. Die Figur war allerdings schon vor zwei Monaten aus der Martins-Kirche in der Kreisstadt verschwunden und trotz eifriger Nachforschungen nirgendwo auf dem grauen Kunstmarkt aufgetaucht, so daß angenommen werden konnte, sie hätte direkt einen Abnehmer gefunden oder sie wäre sogar im Auftrag eines dieser seltsamen Kunstliebhaber gestohlen worden, die mit ihrer Besitzgier das Geschäft in Schwung bringen und halten. Trotzdem interessierte ich mich für den heiligen Martin. Ich hatte eine Theorie: Stallmeister war der Mann der Schultes in Wiedehopfen, der hatte den Coup ausgeführt, und die Schultes hatten vor, den Kuraufenthalt für den Abtransport des Diebesguts zu nutzen. Wenn dem so war, dann mußte durch Paul Schultes Tod der Plan in Unordnung geraten sein, und deshalb entschloß ich mich, Frau Schulte mitzuteilen, die Untersuchungen zum Tod ihres Mannes seien eingestellt. Ich brauchte Ruhe, wenn ich die Chance nutzen wollte, über einen eventuellen Kunstraub an den Todesfall Schulte heranzukommen. Verstehen Sie jetzt, warum ich so gehandelt habe?“ „Geschenkt“, sagte ich, und ich fühlte mich bei dem Gedanken daran, wie vehement ich Herbsts Entscheidung moralisch belastet hatte, gar nicht mehr so wohl. 176
Herbst nickte befriedigt. „Und es trat auch Ruhe ein. Der Plan wurde wiederaufgenommen. Ich hatte nämlich mit meinen Überlegungen ins Schwarze getroffen. Nur in einem Punkt befand ich mich im Irrtum: Schulte war diesmal nicht mit im Geschäft; das war eine Sache zwischen seiner Frau und Stallmeister.“ Ich dachte an Paul Schulte, an seine Hinfälligkeit, an die von Barbara immer wieder erwähnte Charakteränderung. In dem Zustand, in dem er sich befand, gab man sich wohl mit dergleichen nicht mehr ab. Zu meiner Verwunderung hörte ich Herbst meinen Gedanken äußern. „Bei seinem Gesundheitszustand hatte er sicherlich andere Sorgen. Aber er wußte davon, und das hat seinen Tod herbeigeführt.“ An dieser Stelle schien mir die erneut eintretende Pause erklärlich. Herbsts Geschichte hatte ihre Klimax erreicht. Da war ein Atemholen angebracht. „Sie haben ihn also …“, fragte ich vorsichtig und scheute mich, den Satz zu vollenden. „Nicht mit Vorbedacht.“ Herbst blieb sachlich. „Wer wird denn auch einen Todeskandidaten aus dem Weg räumen wollen? Nein, Schulte ist durch eine Verkettung von Zufällen ums Leben gekommen. Stallmeister hatte nicht nur einen Auftraggeber, von Barbara Schulte besorgt – einen Zahnarzt von der Küste –, er hatte auch einen Mitarbeiter: den Organisten der Martins-Kirche. Der hatte diese Stellung schon zwanzig Jahre inne und war über das Städtchen hinaus bekannt als Meister auf seinem Instrument.“ Er sah mich gutgelaunt und blinzelnd von der Seite an. „Wissen Sie überhaupt, wer mich auf die Spur dieses Organisten geführt hat?“ „Natürlich ich“, sagte ich so gleichgültig, wie es mir möglich war, und für einen Moment hatte ich sogar Spaß daran, wie er, den Mund leicht geöffnet, stehenblieb, alle Anzeichen maßlosen Erstaunens um die 177
schiefe Nase. Aber in Wirklichkeit war mir gar nicht so leichtfertig fröhlich zumute, wie ich mich gab. Natürlich: der Organist! Seit Dienstag wußte ich davon, daß die Schultes und Stallmeister mit ihm zusammengetroffen waren, und nichts hatte ich aus dieser Kenntnis gemacht, nichts. Ein Glück nur, daß ich ihn zufällig Herbst gegenüber erwähnt hatte. „Er hat übrigens heute morgen nicht gespielt.“ „Wie meinen Sie das?“ Herbsts Verblüffung legte sich sofort. „Ach so, konnte er ja auch nicht.“ „Sehr zum Ärger Wandreys.“ „Lassen Sie mich mit dem zufrieden.“ „Immerhin verdanken Sie ihm eigentlich die Information über den Organisten.“ „Ich halte mich lieber an Sie. Von Ihnen hatte ich also Wind bekommen über diesen Organisten in der Martins-Kirche. Nun war eine direkte Brücke von den Schultes zu der Kirche geschlagen, in der der Diebstahl begangen worden war. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Von unserer kleinen Wanderung bin ich schnurstracks in die Kreisstadt gefahren und habe da ’rumgeschnüffelt. Ein ehrenwerter Mann, ein angesehener Mann – so hieß es überall. Gestern hat er ausgesagt, er habe sich zu seinem nicht gerade reichlich bemessenen Organistengehalt etwas hinzuverdienen wollen. Man erlebt eben Überraschungen. Und eine Überraschung erlebte auch Stallmeister mit ihm: Der alte Knabe hatte Blut geleckt und wollte mehr von der Beute, als ausgemacht war. Und er konnte die Forderung stellen, weil er im Besitz der Skulptur war. Sie war im Heizungskeller des Pfarrhauses versteckt, schon um einige Zeit ins Land gehen und den Tumult um den Diebstahl abflauen zu lassen. Als Stallmeister sie am Mittwochabend in Frau Schultes Auto abtransportieren wollte, verlangte er statt des ausgehandelten Anteils von zweitausend Mark fünftausend.“ 178
„Am Mittwochabend?“ „Frau Schulte saß im Theater. Stallmeister sollte bis zum Beginn der Vorstellung mit ihrem Wagen die Figur aus der Kreisstadt geholt haben und dann zu ihr stoßen. Wenn alles glatt verlaufen wäre, hätte sie sich noch am selben Abend in das Auto gesetzt und wäre abgefahren, den heiligen Martin im Kofferraum.“ Die Landschaft rings, die verschneiten Fichtenwälder, der Bach zur Linken, vor uns das Städtchen mit dem Kirchturm und dem Rathaus, all das, was ich in den hinter mir liegenden drei Wochen als eine Art Zuhause anzusehen gelernt hatte, wurde für mich irreal über Herbsts Bericht. Auch ich selbst fühlte mich nicht mehr sehr wirklich, eher wie das Ich in einem Traum, dem Seltsames zugestoßen ist und dem nun, kurz vorm Wachwerden, dämmert, daß die Wirklichkeit ganz anders aussieht als das, was es erlebt hat. Mir wurde klar, daß ich auf Irrwegen gegangen war und die Tatsachen, die jetzt so nahe lagen und so deutlich auszumachen waren, nicht aufgenommen hatte. Hier erklärte mir jemand, der wach gewesen war – die ganze Zeit über – und der sich ohne Vorurteil und persönliches Interesse der Sache angenommen hatte, die Realität. Die war allerdings bis zur Plattheit nüchtern, wurde von Gewinnstreben bestimmt, nicht von Gefühlen wie Liebe, Rivalität, Haß. Ich, so stellte sich mir meine Position dar, war der einzige, der Federn gelassen hatte, weil er von falschen Voraussetzungen ausgegangen war. Und das wollte mich an den Rand des Selbstmitleids treiben. Doch Herbsts Stimme riß mich aus der Verstrickung meiner Gedanken. „Hören Sie mir überhaupt noch zu?“ Ich blieb stehen, sah mich, nun wieder wach, um, und die Welt gewann wieder Farbe und Form. „Entschuldigung.“ Mir war es peinlich, mitten in einer Geschichte, die mich doch sehr anging, ausgeschert zu sein. „Mir ist einiges durch den Kopf gegangen.“ 179
„Grämen Sie sich nicht“, sagte er fast tröstend. „Jede Sache hat nicht nur einen Aspekt. Sie haben sie unter Ihrem gesehen, ich unter meinem. Der einzige Unterschied liegt darin, daß meiner für die Aufklärung der Umstände, die zu Schultes Tod geführt haben, wichtiger und richtiger war. Wenn Sie diese Erklärung akzeptieren, wird es Ihnen leichter fallen, das bittere Ende meiner Geschichte anzuhören. Es ist nicht mehr viel zu berichten.“ „Sie sind freundlich.“ „So etwas höre ich selten, aber gern.“ Das Lächeln um seine schiefe Nase war herzlich. „Aber verlieren wir uns nicht in Komplimenten. Ich bin selber viel zu stolz auf meine Arbeit, als daß ich Ihnen nicht alles zur Kenntnis geben möchte. Jetzt liegen Geständnisse vor, jetzt kann ich über alles sprechen. Also: Stallmeister erscheint nicht zum Liederabend, Frau Schulte wird nervös. Sie verläßt das Theater nach der Pause, geht ins Hotel, wo sie ihn zu treffen hofft, und er kommt wenig später auch dorthin. Übrigens vielen Dank für den Hinweis, daß Frau Schulte das Theater zur Pause verlassen hat. Er hat uns geholfen, uns zu erklären, was sich hinterher abgespielt hat. Nämlich daß Schulte, nachdem er aus dem ‚Esplanade‘ kam und in seiner Trunkenheit nicht ins Sanatorium, sondern ins Hotel ging, die beiden beieinander angetroffen hat. Die Auseinandersetzung muß ziemlich heftig gewesen sein. Sie ging an diesem Abend auch ins Persönliche; denn sosehr Schulte auch an die Eskapaden seiner Frau gewöhnt war, brachte es ihn doch auf, daß sie ihn gleich mit zwei Männern auf einmal betrog, während er hilflos war in seiner Krankheit.“ Als er wahrnahm, daß ich rot wurde über der sachlichen, aber mich desto betroffener machenden Bemerkung, lenkte er ein. „Ich wollte nur feststellen, daß auch Ihr Verhalten an diesem Abend eine Rolle gespielt hat. Aber hauptsächlich ging es ums Geschäft, das an der 180
unverschämten Forderung des Organisten zu scheitern drohte. Schulte erklärte, er sei von vornherein gegen das Unternehmen gewesen und die beiden sollten auch die Finger davonlassen, jetzt, da es gefährlich geworden sei. Stallmeister aber wollte nichts von dem Vorschlag wissen. Er hat Schulden, hohe Schulden sogar. Der Gewinn, den der heilige Martin ihm bescheren würde, hätte ihn mit einem Schlag aus der Klemme gebracht. So drang er darauf, die Angelegenheit zu Ende zu führen und den habgierigen Kompagnon zur Räson zu bringen. Da drehte Schulte durch in seinem Suff. Er drohte, wenn Stallmeister nicht ihn und seine Frau aus der kriminellen Sache herauslasse, werde er anonym die Polizei über die Umstände des Diebstahls und wo die Figur zu finden sei unterrichten. Dann verließ er das Hotel.“ „Hat ihn denn niemand dabei beobachtet, auch nicht der Portier?“ „Anscheinend nicht. Der Mann, der in dieser Woche abends am Tresen stand, war wohl vollauf mit Bierzapfen beschäftigt. Und er konnte auch nicht sagen, ob Stallmeister an dem Abend das Hotel betreten oder verlassen hatte. Aber wir wissen jetzt, daß Frau Schulte und Stallmeister Paul Schulte hinterhergelaufen sind, ihn zwei Straßen weiter, vor der Baustelle, eingeholt und ihn umzustimmen versucht haben. Stallmeister sagte aus, daß Schulte mit erhobenen Fäusten auf ihn einstürmte und ihm nichts anderes übriggeblieben sei, als ihn mit einem Stoß gegen die Brust von sich abzuwehren. Der Stoß habe Schulte straucheln und fallen lassen, alle Bemühungen, ihn wieder auf die Beine zu bringen, seien vergebens gewesen. Schulte war tot.“ Das Lärmen der Zuschauer wurde deutlicher; wir hatten einen Bogen ausgeschritten und befanden uns wieder kurz vor dem Stadion. Ich sagte nichts, obwohl ich merkte, Herbst erwartete eine Reaktion von mir. Aber was hätte ich schon sagen können? Vielleicht: So ist das 181
also gewesen. – Die Wahrheit über Paul Schultes Tod, so banal sie war, bedrückte mich und verschloß mir den Mund. „So ist das gewesen“, sagte Herbst statt meiner. „Und das ist nur ans Licht gekommen, weil wir uns auf den Kunstraub konzentriert haben. Wir haben Stallmeister beobachtet, wie er am Freitagabend ins Pfarrhaus ging, wo der Organist einwohnte, und wie er nach einer halben Stunde das Haus wieder verließ. Wie wir jetzt wissen, hat der Organist auf seiner Forderung bestanden. Frau Schulte hat dann gestern morgen mit dem Abnehmer telefoniert.“ „Ich traf sie vor der Post“, flocht ich ein. „Vielleicht hat sie ihn von dort aus angerufen.“ Herbst schien an diesem Detail eines schon aufgeklärten Verbrechens nicht sonderlich interessiert. „Jedenfalls hat sich der Kunde mit der Erhöhung des Preises einverstanden erklärt. Und am Abend ist Stallmeister nach einem Kurkonzert in Frau Schultes Wagen gestiegen und hat die Figur bei dem Organisten abgeholt. Danach traf er sich mit Frau Schulte im ‚Letzten Ausspann‘.“ „Ich war ja dabei“, sagte ich, mehr feststellend als stolz darauf, Zeuge einer außerordentlichen Begebenheit gewesen zu sein. Herbst antwortete mit einem Lächeln der Resignation, aus dem ich las: Sie waren immer dabei – und immer im Weg. Er sagte: „Der Genosse Lenz saß in dem Lokal, während Kollegen aus der Kreisstadt die Übergabe der Plastik und das Verstauen im Kofferraum des Autos beobachteten. Er hat mir von Ihrem Treff mit Frau Schulte und Stallmeister telefonisch berichtet, als ich es schon von Ihnen wußte.“ „Und Sie saßen hier in Wiedehopfen.“ „Und wartete darauf, daß Frau Schulte ins Hotel zurückkommen würde, den heiligen Martin im Koffer182
raum. In der Kreisstadt wäre ich nicht von allzu großem Nutzen gewesen. Stellen Sie sich vor …“ Der Lärm aus dem Stadion steigerte sich zu lautem Geschrei, die einheimische Mannschaft hatte wohl den Ball ins gegnerische Tor getrieben. „Stellen Sie sich vor, was geschehen wäre, wenn Sie oder Frau Schulte mich im ‚Letzten Ausspann‘ entdeckt hätten! Nein, es war schon besser, daß ich in Wiedehopfen geblieben bin.“ „Und warum hat Stallmeister noch einmal das Pfarrhaus aufgesucht? Ich bin ihm doch dahin gefolgt.“ „Er hat nicht das Pfarrhaus aufgesucht, er ist nach Hause gegangen. Er wohnte zur Untermiete im Haus neben der Kirche. Ob er sich per Zufall dort einquartiert hat oder ob er von vornherein die Nähe des Kunstwerks gesucht hat, wissen wir noch nicht.“ „Aha“, sagte ich resignierend. „Das alles konnten Sie nicht ahnen.“ Wieder schien mir, als wollte Herbst mich trösten. Doch dann fügte er hinzu: „Zum Glück haben Sie niemanden ernsthaft behindert mit Ihrer freibeuterischen Unternehmung. Stallmeister konnte verhaftet werden, als er sein Zimmer betrat. Es hat übrigens bis zum Morgen gedauert, ehe er seine Schuld am Tod Schultes gestanden hat.“ Und wie zur Bestätigung, daß das ein Stück harter Arbeit gekostet hatte, gähnte Herbst. Wir standen wieder am Eingang zum Stadion, die Leute strömten nach draußen, das Spiel war aus. Ich sah Wandrey zielstrebig auf uns zukommen. „Eins zu null für ‚Medizin‘!“ verkündete er stolz, als habe er das Tor geschossen. „Trotzdem war es ein Scheißspiel“, sagte Herbst. „Wie können Sie das behaupten, wo Sie doch nur ein paar Minuten von dem Spiel gesehen haben?“ Wandrey war so empört, daß seine Stimme fast ins Falsett kippte. „Einer, der etwas davon versteht, merkt das auf Anhieb.“ 183