GÜNTER KOCH
Geheimaktion „Bird Dog"
D E UT S C H E R
MI LIT ÄR VER LAG
Nach Tatsachen gestaltet
1.-70. Tausend Di...
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GÜNTER KOCH
Geheimaktion „Bird Dog"
D E UT S C H E R
MI LIT ÄR VER LAG
Nach Tatsachen gestaltet
1.-70. Tausend Die Tatsachenreihe erscheint monatlich Deutscher Militärverlag • Berlin 1969 Lizenz-Nr. 5 Umschlag: Karl Fischer Lektor: Rolf Dieter Burgdorff Vorauskorrektor: Hans Kaulbars Hersteller: Lydia Herkt Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden
Feliks Lewandowski schlenderte gemächlich vom Potsdamer Platz aus in Richtung Sportpalast. Er ließ den Schwärm der Schwarzhändler hinter sich, die vom frühen Morgen bis lange nach Mitternacht die Gegend zwischen dem „Haus Vaterland" und dem Restaurant „Esplanade" bevölkerten. Der Singsang halblaut gemurmelter Angebote verebbte. Schokolade und Bohnenkaffee, Einweckringe, Haarnadeln, Antiquitäten, Damenstrümpfe und Zigaretten, Silberbestecke und garantiert unbelichtete Filme - es gab kaum etwas, das nicht feilgeboten wurde. Dieser Montagvormittag unterschied sich mit diesem Bild nicht von anderen Tagen. Feliks Lewandowski liebte solche Spaziergänge vor den Stunden im Büro oder vor Tagungen und Beratungen, wenn er über langweiligen Übersetzungen saß oder als Dolmetscher der amerikanischen Militärregierung tätig war. Man hätte den untersetzten, breitschultrigen Mann im saloppen Anzug, den hellen Trenchcoat über dem Arm, allerdings eher für einen Sportlehrer halten können. Durch die kurzgeschnittenen Haare erinnerte sein Kopf an einen Rugbyspieler. Auf der breiten Stirn des Mannes perlten Schweißtröpfchen, denn der ungewöhnlich milde Frühling des Jahres 1948 hatte die Temperaturen an diesem 19. April schon gegen elf Uhr auf über zwanzig Grad klettern lassen. Die ungewohnte Hitze machte Lewandowski zu schaffen. Und eigentlich verrieten nur
die Schweißperlen über den Augenbrauen, daß er die Fünfzig bereits überschritten hatte. Als Feliks Lewandowski einen Moment stehenblieb, sah er neben sich immer noch den sommersprossigen Burschen, der ihn eben erst mehrmals vergebens angesprochen hatte. Lewandowski mußte über so viel Beharrlichkeit lächeln. Der Junge wertete das als Entgegenkommen. „Haben Sie sich's doch überlegt?" fragte er. „Mein Angebot gilt nach wie vor, Sir. Vier Pfund Brotmarken, blank auf die Hand." Da der Mann ihn nur anschaute, fügte der Junge in fürchterlicher Aussprache hinzu: : „Ahrju Ami? - Tuju spiek inglisch? Oder parlewu franzä?" Dem Mann gefiel der Bursche immer besser. „Wie heißt du?" erkundigte sich Lewandowski. „Ach, Sie sind bloß Deutscher. Und ich dachte, ich hätte 'nen fetten Fisch an der Angel. Und wie ich heiße, ist doch egal. Meinetwegen nennen Sie mich Atze." „Wieviel Geld verlangst du für deine Brotmarken?" „G e l d", dehnte Atze das Wort. „Sie haben wohl noch nichts von Zigarettenwährung gehört? Es sei denn. Sie haben Dollar." „Bedaure, nein", log Lewandowski. Im selben Moment tat es ihm fast leid. Doch er konnte sich nicht dazu entschließen, das traurige Gewerbe des Jungen auch noch zu unterstützen, dessen Mutter oder sonstwer ihn mit Lebensmittelkartenabschnitten auf den schwarzen Markt schickte, um dafür Zigaretten einzutauschen, während der Junge und seine Geschwister vielleicht hungerten. Lewandowski langte in die Tasche und reichte ihm einen Riegel Kaugummi.
„Kostenpunkt?" fragte Atze und besah sich die Aufschrift. „Nichts", erklärte Lewandowski. „Das ist umsonst." Der Junge blickte ihn an wie eine Geistererscheinung. Umsonst - das war ein absolutes Fremdwort in seinem bisherigen Sprachschatz gewesen. Sekunden später hatte er sich mit der neuen Lage vertraut gemacht. „Dann besten Dank auch, Mister", sagte er. „Wenn wieder mal was ist, mich können Sie jeden Tag hier treffen." Augenblicke später war er in der Menschenmenge verschwunden. Auf der Brücke am Landwehrkanal drängten sich die Angler und hofften auf eine zusätzliche Mahlzeit. Lewandowski ging in den Kleistpark, gerade als Major Kox das Gelände verlassen wollte. Der Offizier - Mitarbeiter der Presseabteilung beim Kommandanten des amerikanischen Sektors in Berlin stoppte seinen knallroten Packard und kurbelte die Windschutzscheibe herunter. „Hallo, Feliks", rief er, „how do you do? Hast du gestern vergessen, deine Uhr wegen dieser verdammten mitteleuropäischen Sommerzeit eine Stunde vorzustellen? Roberts fragte schon nach dir." Lewandowski ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Plötzlich haben es alle eilig", sagte er. Ein energisches Hupkonzert unterbrach den Wortwechsel. Beinahe lautlos war ein chromblitzender Straßenkreuzer herangerollt. Die Kotflügel links und rechts zierten Standarten mit dem Sternenbanner. Kox jagte seinen Wagen mit aufheulendem Motor vorwärts. Gleich darauf glitt der Cadillac vorüber. Lewandowski erkannte einen Mann mit dem Gesicht eines Asketen und
auffallend hervorspringender Nase: General Lucius D.. Clay, fünfzigjährig, seit dem Jahre 1947 Militärgouverneur der USA in Deutschland. Im Kleistpark lag das Gebäude des Alliierten Kontrollrats. Captain Roberts war nicht in seinem Zimmer. Lewandowski hinterließ bei der Sekretärin eine Nachricht und setzte sich auf eine schattige Bank im Park. Er genoß die Ruhe und Abgeschiedenheit dieses idyllischen Fleckchens inmitten der Großstadt, abseits vom Lärm der Straßen. Feliks Lewandowski war gebürtiger Pole. Er hatte Philologie studiert, besaß den Dienstrang eines Rittmeisters der polnischen Armee, emigrierte im Herbst 1939 nach London, meldete sich später freiwillig für den Einsatz als Zivilangestellter Dolmetscher bei der US-Army. Er kam mit den Invasionstruppen nach Frankreich, erlebte die Besetzung Deutschlands und übernahm im Sommer 1945 aus verschiedenen Gründen die ihm angebotene Funktion eines Dolmetschers in der amerikanischen Militärregierung. Lewandowski lauschte dem Gezwitscher der Vögel in den Kronen der alten Bäume, erfreute sich an den von anglo-amerikanischen Bomben verschont gebliebenen Königskolonnaden, die Teile des Kleistparks begrenzten. Gedankenverloren beobachtete er die Ablösung der Ehrenwache vor dem Portal des ehemaligen Berliner Kammergerichts, auf dessen Dach nun das Sternenbanner, der Union Jack, die Trikolore und das rote Banner mit Hammer und Sichel wehten. Die Gedanken des Mannes auf der Bank waren zwiespältig. Er fühlte sich wohl in diesem stillen Park, doch zugleich mißtraute er dieser Ruhe, die ihm trügerisch erschien, wie das anscheinend einmütige
Nebeneinander der vier Staatsfahnen dort oben auf dem Dach. Bei unzähligen Gelegenheiten war er in den letzten zwei Jahren Zeuge von Meinungsverschiedenheiten zwischen den Vereinigten Staaten und Frankreich oder Großbritannien, meist jedoch zwischen den Westmächten und den Vertretern der Sowjetunion geworden. Unterschiedliche Auffassungen im Hinblick auf die Entnazifizierung, auf die Zerschlagung der Konzerne und Monopole, auf die Zulassung neuer Parteien und andere Detailfragen des Potsdamer Abkommens ergaben sich seiner Meinung nach zwangsläufig. Deshalb hatte er den Kontroversen, die er zu übersetzen gehabt hatte, keine sonderliche Bedeutung beigemessen. Doch seit der Geheimberatung der USA, Frankreichs und Großbritanniens vom 23. Februar bis 6. März in London, zu der auch Delegationen der Beneluxstaaten eingeladen worden waren, hatte sich die Lage spürbar zugespitzt. Es ging bei diesen Beratungen -so geheim wurden sie nun wieder nicht gehalten, als daß nicht alle wichtigen Themen publik wurden -zunächst um den Anschluß der französischen Zone an die Bizone, sodann um die Einbeziehung aller drei Westzonen Deutschlands in den Marshallplan, um die Rolle der Westzonenwirtschaft innerhalb der westeuropäischen Wirtschaft und schließlich um die Vorbereitungen zur Bildung eines Separatstaates in den westlichen Besatzungszonen. Lewandowski hielt sich für unpolitisch. Aus nationalem Empfinden war er Antifaschist, ohne sich jedoch einer Partei zugehörig zu fühlen. Unter dem Eindruck des gemeinsam errungenen Sieges war er davon überzeugt gewesen, daß die Meinungsverschiedenheiten zwischen den
Mächten der Antihitlerkoalition, an deren Seite er -wenn auch als Zivilangestellter - für diesen Sieg mitgekämpft hatte, bald beigelegt sein würden. Die Ereignisse dieses Frühjahres 1948 deuteten allerdings nicht darauf hin. Im Gegenteil. Der Dolmetscher erinnerte sich noch gut an die kühle Reaktion im Hauptquartier der Militärregierung auf die jüngste Protestnote der Sowjetregierung. Die UdSSR hatte darin den Westmächten das Bestreben vorgeworfen, die Westzonen Deutschlands der gemeinsamen Viermächtekontrolle zu entziehen mit dem Ziel, einen Westblock zu schaffen, der den anderen Staaten Europas gegenübergestellt werden sollte, „was zur politischen Spaltung Europas sowie zur Bildung von zwei Lagern europäischer Staaten führen würde". Die Verantwortung für die Spaltung Europas und Deutschlands - so hieß es in der Note weiter -, für die Sprengung des Potsdamer Abkommens und für den Bruch der Vereinbarung über den Alliierten Kontrollrat entfalle voll und ganz auf die Regierungen der USA, Großbritanniens und Frankreichs, die schon seit langem Separatmaßnahmen hinter dem Rücken des Kontrollrats durchgeführt hätten. Solche kompakten Kontroversen ließen sich nicht mehr als „Meinungsverschiedenheiten" einordnen. Deshalb betrachtete Lewandowski die anscheinende Eintracht der vier Fahnen auf dem Dach mit einiger Besorgnis. Nicht zuletzt ging es um seinen Job; natürlich. Im Grunde hatte es schon seit Wochen kaum noch Arbeit für ihn gegeben, seit am 20. März die Kontrollratssitzung abgebrochen werden mußte, weil sich die Vertreter der Westmächte geweigert hatten, der sowjetischen Delegation über die
Londoner Separatverhandlungen zu berichten. Marschall W. D. Sokolowski, der sowjetische Oberbefehlshaber in Deutschland, hatte in seiner Protesterklärung festgestellt, daß die Westmächte auf der Londoner Sechsmächtekonferenz Fragen erörtert hätten, die nur durch Beschluß der vier Besatzungsmächte entschieden werden konnten. Durch das Verhalten der westlichen Vertreter hörte der Alliierte Kontrollrat als oberstes Machtorgan der Viermächteverwaltung in Deutschland faktisch auf zu bestehen. General Clay, der turnusmäßig den Vorsitz führte, ließ die nächsten Wochen verstreichen, ohne die Delegationen der vier Mächte für die fälligen ordentlichen Sitzungen des Kontrollrats einzuladen. Der nächste Termin - ging es Lewandowski durch den Kopf wäre morgen, der 20. April. Möglicherweise hatte Roberts ihn deshalb zu sich bestellt. Eine Ordonnanz enthob Lewandowski weiterer Überlegungen. Captain Cliff Roberts, Sohn der Firma „RobertsKüchenmaschinen" in Detroit, dreißig Jahre alt, in seiner Studentenzeit in Havard einer der berühmtesten Baseballspieler der Universität, hatte als Verbindungsoffizier des Stabes von General Clay zur USStadtkommandantur unter Oberst Howley mehr Einfluß, als sein Rang vermuten ließ. Captain Roberts besaß Kenntnis von nahezu allen internen Verfügungen und war vom General schon wiederholt mit verschiedensten Sondermissionen betraut worden. Die Männer begrüßten sich freundschaftlich. Seit der Christmasparty im Klub des Stabes der US-Army in Dahlem, bei der Lewandowski seine junge Frau vorgestellt hatte, war der Amerikaner wiederholt Gast in
der Uhlandstraße gewesen, wo Johanna Lewandowski ein Fotoatelier besaß. Roberts schleppte zahlreiche amerikanische Offiziere mitsamt ihren Familien vor Johannas Kameras, sorgte dafür, daß die aparte Frau, die dem Alter nach Lewandowskis Tochter hätte sein können, in jeder Weise verwöhnt wurde, und rechnete sich inzwischen gewissermaßen mit zur Familie. Roberts verlor keine unnötigen Worte. „Gut, daß du kommst", sagte er. „Nimm doch Platz. Zigarette?" Lewandowski bediente sich, während der Captain weitersprach. „Der Stab hat dich für eine Sonderaufgabe abkommandiert. Du fliegst morgen früh mit der planmäßigen Kuriermaschine, die um sieben Uhr dreißig in Tempelhof startet. In Frankfurt wirst du abgeholt." Und in verbindlicherem Ton fügte er hinzu: „Entschuldige, wenn das alles ein bißchen kurzfristig erscheint, aber ich habe erst vor zwei Stunden davon erfahren." Hier sprach Captain Roberts nur die halbe Wahrheit aus. Tatsächlich war Lewandowski erst am Morgen für den Auftrag benannt worden. Doch Roberts selbst hatte den Vorschlag unterbreitet, diesen erfahrenen Mann anstelle einer Dolmetscherin, die plötzlich erkrankt war, einzusetzen. Das verschwieg der Amerikaner. Feliks Lewandowski war überrascht. „Was soll ich denn in Frankfurt?" erkundigte er sich. Captain Roberts zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung." „Und wie lange wird dieser Sondereinsatz dauern? Worum handelt es sich überhaupt?" drängte Lewandowski weiter. „Tut mir leid, Feliks", antwortete der Offizier, „da bin
sogar ich überfragt. Alle Einzelheiten erfährst du in Frankfurt. Dienstauftrag und Sonderscheck befinden sich in diesem Umschlag. Im übrigen bin ich beauftragt, dich darauf aufmerksam zu machen, daß der gesamte Einsatz strengster Geheimhaltung unterliegt. Das betrifft auch die Information" - an dieser Stelle legte Captain Roberts eine Pause ein - „deiner Frau. Ich kann nur so viel sagen: Es ist ein ehrenvoller Auftrag, auf den du stolz sein kannst." Lewandowski lächelte und nickte. „Okay, Cliff, was sein muß, muß eben sein. Sei so freundlich, und sieh ab und zu nach Jeanette, wenn die Reise wider Erwarten doch länger als zwei, drei Tage dauern sollte." Er nannte seine Frau nicht Johanna, sondern sagte Jeanette oder Jeanne zu ihr. „Werde ich tun, Feliks", versicherte Roberts. Am Dienstag, dem 20. April 1948, geschah in Berlin unter anderem folgendes: In den frühen Morgenstunden entdeckte eine Polizei-streife in der Nähe der Waldburg in Hirschgarten im Stadtbezirk Köpenick eine männliche Leiche. Ein gewisser Gerhard K., von Beruf Laborant, der mit einem Mädchen spazierenging, war von einem noch unbekannten Täter erschossen worden ... Das geschah etwa zur gleichen Zeit, als Feliks Lewandowski den US-Militärflughafen Tempelhof erreichte, um nach Frankfurt am Main zu fliegen ... Zu dieser Stunde weilte der amerikanische Militärgouverneur General Clay - statt in der Potsdamer Straße die fällige ordentliche Sitzung des Alliierten Kontrollrats einzuberufen - in der britischen Hauptstadt, um an der Fortsetzung der separaten Londoner Verhandlungen über die Zukunft Deutschlands teilzunehmen ...
Im britischen Sektor wurden auf Abschnitt V der blauen Männer-Seifenkarte zehn Rasierklingen aufgerufen, in Köpenick - im sowjetischen Sektor -Grütze und Maisgrieß auf die Nährmittelmarken der dritten Dekade, während im amerikanischen Sektor auf Abschnitt 15/II der grünen Männer-Seifenkarte zwei Schachteln Streichhölzer freigegeben wurden ... In Zehlendorf wurde eine Millionenschiebung aufgedeckt, an der mehrere Angehörige der US-Besatzungsmacht in Westberlin beteiligt waren. Die amerikanische Kriminalpolizei beschlagnahmte Schwarzmarktware im Werte von über sechs Millionen Mark gerechnet nach Schwarzmarktpreisen -, darunter allein fünftausendachthundert Pfund Kaffee, sechstausendsechshundert Pfund Kakao und viertausend Pfund Schokolade ... Das und vieles mehr geschah am 20. April 1948. Im Verwaltungsgebäude des Zweigbetriebes des ScheringKonzerns im Berliner Stadtteil Adlershof herrschte an diesem Vormittag Aufregung unter den Mitarbeitern. Sie liefen umher, standen laut debattierend in Gruppen zusammen, rannten weiter, um die letzte Neuigkeit sofort in der Nachbarabteilung zu verbreiten. Im Vorzimmer von Heinz Lamprecht drängten sich die Abteilungsleiter. Sie tauschten die Gerüchte aus und starrten auf die Tür, hinter der seit nahezu einer Viertelstunde der stellvertretende Werkleiter mit Genossen der Volkspolizei sprach. Endlich bat Lamprecht die Wartenden zu sich. In seinem hageren Gesicht zeichneten sich rote Flecken ab, wie stets, wenn er besonders erregt war. „Doktor Harnack", begann der Stellvertreter des Werkleiters ohne jede
Einleitung, „hat sich als Verräter entlarvt. Sie alle wissen, daß er gestern nicht zur Arbeit erschienen war. Das konnte plausible Gründe haben. Das Fehlen wichtiger Unterlagen, vor allem das unerklärliche Verschwinden kostbarer Rohstoffe aus dem von ihm geleiteten Ph-Bereich veranlaßten die Werkleitung jedoch, die Volkspolizei zu verständigen. Inzwischen ist erwiesen", hier deutete Lamprecht auf zwei Uniformierte und einen Mann in Zivil, „daß die Wohnung Doktor Härnacks in Baumschulenweg bis auf Kleinigkeiten völlig geräumt wurde. Er hat das Wochenende genutzt, um sich mit seiner Familie nach dem Westen abzusetzen. Klarer formuliert: Er ist von seinen Auftraggebern in der Konzernleitung zurückgerufen worden." In den Kreis der Zuhörer kam Bewegung. Fragen wurden laut. Lamprecht übertönte das Gemurmel. „Sie haben richtig verstanden: Ich sagte zurückgerufen. Wie erinnerlich, bot Doktor Harnack unserem Betrieb im August neunzehnhundertfünfundvierzig seine Dienste an. Er trat als ausgezeichneter Fachmann in Erscheinung, machte sich vor allem um die Entwicklung wirksamer Penicillinpräparate verdient. Er wurde in die Gewerkschaftsleitung gewählt und galt als überzeugter Vertreter der fortschrittlichen Intelligenz. So jedenfalls ist er auch mir vorgestellt worden, als ich im vergangenen Jahr nach meiner Rückkehr aus sowjetischer Gefangenschaft hier als stellvertretender Werkleiter eingesetzt wurde. Leider müssen wir heute annehmen, daß diese fortschrittliche Gesinnung nur vorgetäuscht war, daß Doktor Harnack von Anfang an im Auftrag des Schering-Konzerns in die in Ostberlin gelegene Filiale des Betriebes eingeschleust wurde mit
dem Ziel, dank seiner Vertrauensstellung die Konzernleitung ständig zu informieren und zu gegebener Zeit das Ergebnis jahrelanger Arbeit zunichte zu machen." Lamprechts Stimme war laut geworden. Sie bebte vor unterdrücktem Zorn. Er wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und redete weiter. Jedem der vor Lamprecht sitzenden Abteilungsleiter war klar, was diese Flucht des Doktor Harnack für ihre Arbeit bedeutete. Sie waren mit der Produktion von Antiruhrmitteln, Penicillinpräparaten und anderen Medikamenten zur Infektionsbekämpfung für Wochen, ja vielleicht für Monate zurückgeworfen worden. Jeder von ihnen wußte, daß diese Erzeugnisse dringend für den dritten Nachkriegssommer benötigt wurden, um allen Gefahren des Ausbruchs von Epidemien rechtzeitig vorzubeugen. Diese Zusammenhänge meinte auch Heinz Lamprecht, als er sagte: „Ganz offensichtlich ist es kein Zufall, daß Harnack von seinen Auftraggebern ausgerechnet jetzt zurückgeholt wurde. Katastrophale Folgen wurden nicht nur vorausgesehen, sondern sogar beabsichtigt! Und mehr noch. Die skrupellosen Hintermänner des Doktor Harnack schrecken bei der Verfolgung ihrer Ziele selbst vor einer Bluttat nicht zurück. Das beweist der Tod von Gerhard Kramer, der in Hirschgarten erschossen aufgefunden wurde. Gerhard Kramer war Laborant bei Doktor Harnack! Allem Anschein nach sollte er als unbequemer Zeuge oder aus wer weiß sonst welchen Gründen aus dem Wege geräumt werden ..." Zum erstenmal mischte sich der Mann in Zivil ein. „Das sind bisher nur reine Vermutungen", gab er zu bedenken. „Solange es dafür keine Beweise gibt, können wir keine
Zusammenhänge zwischen der Ermordung von Kramer und dem Verschwinden von Doktor Harnack herstellen ..." Lamprecht warf einen unzufriedenen Blick zu dem Kriminalisten hinüber, beherrschte sich dann und meinte: „Gut. Selbstverständlich will ich den Untersuchungen nicht vorgreifen. Fest steht jedoch, daß das alles für unseren Betrieb und für die Bevölkerung, die unsere Erzeugnisse braucht, ein schwerer Schlag ist. Vervielfachte Anstrengungen sind erforderlich, um die ärgsten Schwierigkeiten abzuwenden." Die S-Bahn hatte Verspätung und war überfüllt. August Lewin schob sich mit Mühe in ein Abteil, in dem es nach kaltem Rauch schlechten Tabaks und säuerlich nach Schweiß roch. Frauen und Kinder sowie ältere Männer standen dichtgedrängt beieinander. Die meisten von ihnen hatten Netze und Taschen, Militärrucksäcke und Körbe bei sich. Sie gehörten zu dem Strom von Berlinern, die Tag für Tag dem Häusermeer entflohen, getrieben von der Hoffnung, in den Dörfern der Mark oder im Spreewald irgendwelche „Sachwerte" gegen Nahrungsmittel zu tauschen. Der schwere Mann mit der blauen Schiffermütze, der den Sechzig nahe schien, doch erst knapp fünfzig war, betrachtete nachdenklich die Reihe der Sitzenden. Mancher, der hier schweigend hockte und vor sich hin starrte, wäre dringend in den Betrieben gebraucht worden oder bei der Straßenbahn oder bei der Enttrümmerung. Überall fehlten Arbeitskräfte. Ohne Menschen gab es keine neuen Maschinen, konnte die Produktion nicht steigen; aber nur dadurch war es möglich, die allgemeine Not zu lindern und zu beseitigen. „Erst mehr arbeiten - dann mehr essen", diese
von der geeinten Arbeiterpartei im Osten Deutschlands herausgegebene Losung war unbequem, hart und stieß oftmals noch auf Unverständnis, aber sie entsprach der Wahrheit, wies den einzig möglichen Weg zur Überwindung des Chaos: Arbeit. Mit Hamsterfahrten, mit privater Jagd nach ein bißchen persönlichem Reichtum ließ sich das Problem nicht lösen - aber wie lange würde es noch dauern, bis sie alle, die hier mit ihm fuhren, das begriffen, wirklich verstehen und auch danach handeln würden? Eine Woche? Einen Monat? Bei manchem bestimmt ein Jahr und länger. Doch eines Tages würde sich diese Erkenntnis allgemein durchsetzen, dessen war sich August Lewin sicher. Eine junge Frau mit einem Mädchen auf dem Arm schaute hoch, erkannte im selben Moment die Prothese des Mannes und mißverstand seine Blicke. „Bitte setzen Sie sich doch", sagte sie und wollte sich erheben. „Ich habe erst jetzt gesehen, daß Sie..." „Behalten Sie ruhig Platz", dankte August Lewin, „es geht schon noch. In Wilhelmsruh steige ich aus." Nicht nur er verließ auf dieser Station im Nordosten der Stadt den Zug. Doch während Lewin dem Ausgang zustrebte, rannten die meisten Leute über den Bahnsteig und stürmten den Dampfzug, den „Heidekrautexpreß", wie die Berliner spöttisch sagen, der sie hinaus nach Wandlitz und Groß-Schönebeck bringen sollte. Die große Uhr rechts vom Eingang des Bahnhofs mahnte Lewin zur Eile. Bei bestem Willen war das kaum noch zu schaffen. Aber wie das so ist. Erst hatte ihn der Anruf von Heinz Lamprecht aufgehalten. Was er da von dem jungen Genossen aus Adlershof gehört hatte, das trieb dem Alten noch jetzt Flüche auf die Lippen, die an seine
Zeit als Heizer auf dem Kreuzer „Regensburg" vor dem Kieler Matrosenaufstand erinnerten. Dann war aus Köpenick die Nachricht eingetroffen, daß die erste Berliner Streichholzfabrik in wenigen Tagen die Produktion aufnehmen könnte. Na also. Wieder ein Erfolg. Gleich darauf kam der Hilferuf vom Stadtschulrat: Die mit der Herstellung von achthundert neuen Thermophoren beauftragten Firmen in Westdeutschland hätten den vereinbarten Liefertermin nicht eingehalten, so daß eine reibungslose Durchführung der Berliner Schulspeisung immer noch nicht möglich sei. Ob er helfen könne? So war es zu spät geworden. Und ein Wagen stand natürlich nicht zur Verfügung. Also legte August Lewin noch einen Schritt zu. Er zog das Bein mit der Prothese nach, dennoch hatte sein Gang etwas Stürmisches, Ungestümes. Und keiner der Passanten, die ihm begegneten, vermutete in dem schwitzend und innerlich fluchend dahineilenden Mann, der noch immer aussah wie ein abgemusterter Matrose, einen der maßgebenden Mitarbeiter der Wirtschaftsabteilung des Magistrats von Groß-Berlin. Die kleine Feierstunde hatte schon begonnen. Lewin nickte den Männern und Frauen in den dunklen Arbeitsanzügen zu, die sich in der Werkhalle versammelt hatten. Sein Freund Otschkin, ein sowjetischer Major und Verbindungsoffizier beim Magistrat, hatte sein Versprechen erfüllt und war ebenfalls gekommen. Die Männer begrüßten sich mit einem herzlichen Händedruck. Inzwischen gab der Werkleiter das Zeichen anzufangen. Die Maschinen wurden eingeschaltet. Ohrenbetäubender Lärm ließ die Wände erzittern und
machte jedes weitere Gespräch unmöglich. Rhythmisches Stampfen von Metall. In mehreren Arbeitsgängen preßten gewaltige Kräfte Kochtöpfe. Das Metall war ehemaliges Kriegsmaterial. Nach diesem feierlichen Auftakt verstummten die Maschinen. Der erste Topf wurde einer älteren Frau überreicht - als Auszeichnung. Die Arbeiterin ordnete verlegen das Tuch, das ihr Haar wie ein Turban umschloß. „Neue Töpfe haben wir nun", rief sie lachend. „Jetzt fehlt bloß noch mehr zum Braten oder Kochen." „Das werden wir auch noch schaffen", antwortete Lewin zuversichtlich. „Gemeinsam mit den Bauern." Unzufriedenes Gemurmel wurde laut. „Aber erst, wenn auch im letzten Kuhstall ein Teppich liegt", tönte eine scharfe Stimme. „Weshalb denn so gehässig?" beschwichtigte Lewin. „Das hilft doch auch nicht weiter. Natürlich ist die Not noch groß. Trotzdem haben wir doch allen Grund, optimistisch zu sein, unseren eigenen Kräften zu vertrauen. Jetzt hat eine weitere Abteilung eures Werkes die Produktion aufgenommen. Ihr stellt Töpfe her. Ein bescheidener Anfang. Gewiß. Aber ein Anfang, an den mancher hier in der Runde nicht geglaubt hatte, als wir begannen, Maschinenteile aus den Trümmern zu buddeln. Ich bin sicher: Eines Tages werden wir hier wieder Kessel bauen, riesige Dinger, und Turbinen für Kraftwerke - und diese Töpfe werden dann zu klein sein für unsere Mahlzeiten..." In Lewin brach das Temperament des roten Matrosen durch, des kommunistischen Agitators in der Volksmarinedivision. Er verschwieg auch die Schwierigkeiten nicht. Er erwähnte den Verrat von Doktor
Harnack, die Zurückhaltung vertraglich gebundener Lieferungen für Ostdeutschland durch westdeutsche Firmen, sprach von zunehmenden Auseinandersetzungen innerhalb des Magistrats. „Dank eurer Arbeit, dank unserer gemeinsamen Anstrengungen stellen sich bei uns die ersten Erfolge ein. Die antifaschistisch-demokratische Ordnung festigt sich. Das geht einigen Leuten in Deutschland und auch hier in Berlin gegen den Strich. Die Geäster beginnen sich mehr und mehr zu scheiden. Doch diesmal werden wir alle aufpassen. Die deutsche Arbeiterklasse wird die Lehren von neunzehnhundertachtzehn beherzigen." Auf dem Rückweg in die Stadt nahm der sowjetische Verbindungsoffizier den deutschen Genossen ein Stück in seinem Jeep mit. Der Major gähnte verstohlen. „Du solltest mehr schlafen, Wassja", mahnte Lewin. Otschkin strich nachdenklich über sein Bärtchen. „Das ist leicht gesagt, Bruder. Aber seit Tagen bin ich kaum aus den Stiefeln gekommen. Ich war in Thüringen. Die Grenzkreise melden die Zunahme illegaler Grenzübertritte verbrecherischer Elemente aus den Westzonen. Sie kommen teilweise mit gefälschten Papieren und sind mit Waffen ausgerüstet. Bewaffnete Überfälle häufen sich. Es wird versucht, Betriebseinrichtungen zu verschieben, wobei Gewährsleute in den deutschen Verwaltungen unserer Besatzungszone ordentliche Begleitpapiere ausstellen. Eine schöne Schweinerei. Stell dir vor, August: In Blankenburg im Kreis Schleiz zum Beispiel ist das Sägewerk Vogel von seinem Besitzer und Helfern über Nacht restlos abgebaut und in die amerikanische Zone verschoben worden. Das geschah von einem Tag zum anderen. Und keiner merkte davon etwas."
Otschkin bot eine Zigarette an und biß heftig auf das Pappmundstück. „Das sind so die Sachen, Brüderchen, die mich um den Schlaf bringen. Manches erscheint noch geheimnisvoll und undurchsichtig. Alle Mosaiksteine zusammen ergeben jedoch das Bild einer heranreifenden Entscheidung." Geheimnisvoll und undurchsichtig waren auch die Umstände der Weiterreise von Feliks Lewandowski nach seiner Ankunft in Frankfurt am Main. An der Maschine nahm ihn ein Mann in Zivil in Empfang, warf einen kurzen Blick auf seine Dienstpapiere und führte ihn zu einem Jeep der US-Army, in dem ein Uniformierter hockte. Lewandowski kletterte mißmutig auf den unbequemen Sitz und fragte seinen Begleiter, wohin die Reise eigentlich gehen solle. Er bekam keine Antwort. Der Wagen durchfuhr schnell die Außenbezirke der Mainmetropole, holperte - dichte Staubwolken hinter sich aufwirbelnd - über nur provisorisch befestigte Straßen in Richtung Bad Homburg. Vor einer Villa am Rande des Kurparks des einst mondänen Badeortes stoppte der Jeep. Lewandowski sprang heraus. Er wollte sich die Beine ein bißchen vertreten, doch der Zivilist bat ihn, beim Auto zu bleiben. Allerdings klang diese Bitte eher wie ein Befehl. Im nächsten Augenblick rollte ein mittelgroßer Omnibus mit dem Kennzeichen der US-Army vor das Gebäude. Der Bus, dessen Fenster undurchsichtig waren, wirkte bedrohlich. Vorn neben dem Fahrer saß ein amerikanischer Militärpolizist mit umgehängter Maschinenpistole. In den folgenden Minuten erlebte Feliks Lewandowski eine Szene, die der Regisseur eines Kriminalfilms nicht mysteriöser hätte arrangieren können. Aus der Villa kam eine Gruppe Männer. Kaum einer von
ihnen war jünger als vierzig Jahre. Sie trugen geringes Gepäck bei sich, Diplomatenaktentaschen, kleine Reisekoffer. Für die Verhältnisse des Frühjahrs 1948 waren die Männer auffallend elegant und solide gekleidet. Sie gingen hintereinander gemessenen Schrittes durch den Vorgarten, überquerten die Straße und stiegen in den Bus. Ihre Gesichter wirkten verschlossen und ernst. Unauffällig - aber doch nicht zu übersehen - schirmten einige amerikanische Militärpolizisten den Vorgang ab. Den Männern folgte eine zweite Gruppe, in der sich auch Frauen befanden. Während der ganzen Zeit fiel kein Wort. Lewandowski überlegte noch verwundert, was die Sache wohl zu bedeuten habe, als der Zivilist im Jeep ihn mit einer Geste aufforderte, ebenfalls in dem Omnibus Platz zu nehmen. Die Männer der ersten Gruppe saßen hinten, ihr Gepäck auf den Knien, und starrten mit unbewegten Mienen schweigend ins Leere. Lewandowski setzte sich weiter nach vorn zu den Personen der zweiten Gruppe, die halblaut miteinander flüsterten. Sie sprachen Deutsch, und die Unterhaltung drehte sich - wie der Dolmetscher erlauschte - um den Zweck und das Ziel dieser geheimnisvollen Reise, auf die die Teilnehmer ebensowenig vorbereitet worden waren wie er. Im Eingang tauchten kurz Maschinenpistole, Stahlhelm und das Gesicht eines baumlangen Amerikaners auf, dann knallte die Tür zu, und jeder drinnen hörte, daß sie von außen verschlossen wurde. Der Omnibus ruckte an. Nun kam auch in die hinten sitzenden Herren Bewegung. Sie redeten leise und aufgeregt miteinander und suchten die Fenster nach einem Spalt ab, um nach draußen zu sehen. Vergeblich. Die Milchglasscheiben versperrten
die Sicht nach allen Seiten. Das gefilterte Licht schuf eine beklemmende Atmosphäre und ließ die Gesichter der Passagiere gespensterhaft bleich erscheinen. Lewandowski verlor bald jede Orientierung. In den Kurven wurden sie abwechselnd hin und her geworfen, wiederholt bremste der Fahrer scharf. Bei dieser Blindfahrt ging das Gefühl für Zeit und Raum verloren. Mitunter schien es, als bewegten sie sich im Kreise. Ging die Fahrt zurück nach Frankfurt? Oder fuhren sie nach Norden? Befanden sie sich überhaupt noch in der Stadt oder schon auf der Landstraße? Lewandowski hätte diese Fragen nicht mit Sicherheit beantworten können. Was die Zusammensetzung dieser seltsamen Reisegruppe betraf, so kam er zu dem Schluß, daß es sich möglicherweise um prominente Nazis aus Industrie und Verwaltung handeln könnte, die man zu einer Spezialvernehmung brachte. Erst später sollte er erfahren, daß zu diesen Männern Senator Doktor Dudek, Chef der Finanzverwaltung der Stadt Hamburg; Ministerialrat Doktor Bussmann von der deutschen Verwaltung der französischen Zone, Finanzfachmann Doktor Hielscher aus München, Präsident Windlinger von der Landeszentralbank Baden und Vertreter der deutschen Länderregierungen der drei westlichen Besatzungszonen gehörten. Nach mehrstündiger Fahrt stoppte der Bus. Der lange Militärpolizist befahl den Insassen auszusteigen. Feliks Lewandowski wollte erst einmal die kommenden Ereignisse abwarten. Eine solche defensive Taktik hatte sich schon oft, seit er im Jahre 1944 seinen Vertrag mit der US-Army unterschrieben hatte, als nützlich erwiesen. Die Männer sahen sich die Gegend an. Sie entdeckten
das bekannte Denkmal des Herkules von Wilhelmshöhe, das weithin sichtbar in den Himmel ragte. Das Gehölz in der Nähe — mutmaßten sie — könnte der Habichtswald sein. Demnach befanden sie sich in der Nähe von Kassel. Die Vermutung wurde zur Gewißheit. Sie waren in einem amerikanischen Fliegercamp angelangt: im ehemaligen Nazifliegerhorst Rothwesten nordwestlich der hessischen Regierungsbezirkshauptstadt an der Fulda. Die Umgebung machte einen wenig einladenden Eindruck. Das Gelände begrenzten zweifache Stacheldrahtverhaue. Überall sahen die Ankömmlinge patrouillierende Militärpolizisten. Die Zivilisten wurden in einen Kasernenbau eingewiesen, der noch einmal mit einem hohen Stacheldrahtzaun von der Außenwelt abgeschirmt war. „Da hätten sie uns ja gleich in ein Zuchthaus einsperren können", raunte einer der Herren im dunklen Anzug seinem Nebenmann zu. Der tat, als habe er nichts verstanden. Der amerikanische Campkommandant Lieutnant-Colonel Stoker, ein runder, beweglicher Mann in mittleren Jahren, der an den Chef eines Bekleidungshauses erinnerte, ignorierte die angespannte Stimmung seiner ungewöhnlichen Gäste. Lächelnd erläuterte er die Örtlichkeiten, entschuldigte sich für den geringen Komfort der Zimmer, die, mit je einem Feldbett, Spind, Tisch und Stuhl ausgerüstet, eher an Einzelzellen erinnerten, und erwähnte dann verheißungsvoll, daß sie als Zivilisten die Ehre haben würden, an der Verpflegung der US-Army teilzunehmen. Tatsächlich stimmte diese Ankündigung die Zuhörer versöhnlicher. Mit dem gleichen, harmlos lächelnden Gesicht, wiederholt
gedankenverloren über das schmale Bärtchen streichend, das seine Oberlippe zierte, verpflichtete der Offizier die Anwesenden ehrenwörtlich, über den Inhalt und den Ort der bevorstehenden Verhandlungen mit den Vertretern der Westmächte nichts an die Außenwelt dringen zu lassen. Dann eröffnete er ihnen, daß sie ab sofort unter Postzensur stünden, zunächst jedoch weder schreiben noch telefonieren dürften, auf Antrag täglich bis zu einer Stunde unter Bewachung ausgehen könnten und sich ansonsten streng an die Vorschriften zu halten hätten. Immer noch freundlich, beendete Stoker seinen Auftritt. „Ich hoffe, Gentlemen, daß wir gemeinsam hier im Camp eine gute Zeit haben werden." Eine halbe Stunde später meldete sich Feliks Lewandowski im Büro des Campkommandanten. Stoker war ausgezeichnet informiert. „Ihre Ankunft wurde mir vom Stab Howleys avisiert. Ich möchte Sie knapp mit Ihren Aufgaben vertraut machen. Was hier in den nächsten Tagen und vielleicht Wochen stattfindet, ist ein Konklave mit unseren westlichen Verbündeten, zu dem deutsche Sachverständige herangezogen werden, die Sie ja bereits kennenlernten. Unser Konklave befaßt sich nun nicht mit der Wahl eines Papstes oder einer anderen Person, sondern soll letzte Klarheit über die künftige Währung in Deutschland bringen. Ihnen gegenüber brauche ich nicht zu betonen, daß das ein Thema von hochpolitischer Bedeutung ist. Daher die strengen Vorschriften zu unbedingter Geheimhaltung." Der Offizier hielt Lewandowski ein Päckchen Camel hin, bot auch Feuer an und wartete ein paar Augenblicke. „Für die Dauer des Währungskonklaves", sprach Stoker dann weiter, „sind Ihnen die Aufgaben eines
Chefdolmetschers zugedacht. Sie werden bei allen wichtigen Verhandlungen zugegen sein und die Arbeit der Dolmetscherinnen überwachen. Bei Unterredungen in kleinem und in kleinstem Kreis und bei der Formulierung wichtiger Dokumente fungieren Sie als persönlicher Chefdolmetscher von Doktor Tenenbaum. Mister Tenenbaum ist Berater von General Clay in Währungsfragen und leitet die amerikanische Vertretung hier im Camp. Nun - zufrieden?" Feliks Lewandowski blieb reserviert. Ihm gefiel dieser Sonderjob aus verschiedenen Gründen nicht. Die ganze Art und Weise der Organisation, die Lebensumstände im Camp, die seiner Ansicht nach bis zur Lächerlichkeit übertriebene Geheimnistuerei entsprachen nicht seinem Geschmack. Beratungen zwischen Alliierten und Deutschen gehörten schon lange zu den Alltäglichkeiten. Weshalb dieser Aufwand? Es sei denn, es war grundsätzlich etwas faul an diesem „Konklave". Das machte die Sache dann aber erst recht nicht sympathischer. Die Westdeutschen hatten sich kaum eingerichtet, da wurden sie auch schon zur ersten Besprechung zusammengerufen. Die Sitzung dauerte viele Stunden. Auf selten der Westmächte präsidierten Doktor Tenenbaum, der Engländer Mister Cook und für die Franzosen Monsieur Lefort als Vertreter der Banque de France. Allgemeiner Wortführer der Westmächte und faktischer Leiter des Währungskonklaves - das wurde vom ersten Tage an deutlich - war jedoch Tenenbaum. Dieser smarte junge Mann von erst etwa dreißig Jahren aus dem Stab von General Clay hatte im Washingtoner Schatzamt schnell Karriere gemacht. Bei dieser Eröffnungssitzung am Nachmittag des 20.
April 1948 weihte Tenenbaum die Finanzleute aus den Westzonen in die Geheimaktion „Bird Dog" ein. Dieser Deckname verbarg den Plan des State Department zur Sicherung der Vorherrschaft der USA in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands durch die Organisierung einer separaten Währungsreform. Die Durchführung dieses bis in alle Einzelheiten vorbereiteten geheimen Unternehmens sollte zum gegebenen Zeitpunkt ein entscheidender Schritt zur Spaltung Deutschlands sein, eine Stärkung der antifaschistisch-demokratischen Kräfte in den Westzonen verhindern und das gewaltige Wirtschaftspotential des Ruhrgebiets den Interessen des internationalen Rüstungskapitals unterordnen. Das Programm für „Bird Dog" stammte aus der Feder amerikanischer Spezialisten. Es war eine Weiterentwicklung der Gedanken, wie sie bereits im Jahre 1946 im Auftrag von General Clay dessen damaliger Finanzberater Mister Dodgc sowie die USWirtschaftsfachleute Doktor Goldsmith und Doktor Colm ausgearbeitet hatten. „Gentlemen", verkündete Tenenbaum mit leicht näselnder Stimme, „wir halten in unserem gemeinsamen Interesse den Zeitpunkt für gekommen, die Aktion ,Bird Dog' mit Ihrer Hilfe in die Tat umzusetzen. Auf offiziellen Konferenzen, wie bei den Zusammenkünften der Außenminister im November und Dezember vorigen Jahres in London und auch noch Anfang März im Alliierten Kontrollrat", erläuterte Doktor Tenenbaum sachlich und anscheinend unbeteiligt, „hatten wir einen Plan vorgelegt, den ich hier mal als Variante A bezeichnen möchte. Er sah eine Währungsreform für ganz Deutschland vor. Wie Sie wissen, konnte keine
Viermächteverständigung erzielt werden. Unter anderem verlangten die Russen, die neuen Banknoten zu gleichen Teilen auf Druckstöcken in Berlin und in Leipzig zu drucken..." Tenenbaum setzte stillschweigend bei seinen Zuhörern die Kenntnis voraus, daß diese Behauptung nur ein Vorwand der Amerikaner gewesen war, um die Verhandlungen über eine gesamtdeutsche Währungsreform zu verzögern und schließlich scheitern zu lassen. Ebenso erwähnte er nicht daß die Vertreter der USA in der Finanzkommission beim Alliierten Kontrollrat alle sowjetischen Vorschläge für eine alliierte Kontrolle des Gelddrucks abgelehnt hatten. Doktor Tenenbaum ignorierte bewußt die korrekte Haltung der Sowjetregierung, die sich auch bei den Problemen der Währungsreform an die Grundsätze des Potsdamer Abkommens hielt. „... ich denke, das neue Geld, ich meine, die neue ,Deutsche Mark', ist schon im Herbst neunzehnhundertsiebenundvierzig, also noch vor der Londoner Außenministerkonferenz, in den USA gedruckt worden ...", rief Doktor Pfleiderer dazwischen, dessen Bank mit dem Unternehmen des Nazibankiers Pferdmenges eng liiert war. Er sprach damit ein Gerücht aus, das in informierten Kreisen als offenes Geheimnis galt. Die anderen Finanzexperten, die diese vorlaute Äußerung dennoch für einen Fauxpas hielten, distanzierten sich von ihrem Landsmann mit mißbilligenden Blicken. Doch Tenenbaum ließ sich keine Gefühlsregung anmerken. „Eben", kommentierte er trocken. „Schon aus diesem Grund und aus weiteren Gründen hätten wir die Forderung der Sowjets niemals akzeptiert. Ich möchte
Ihre vertrauensvolle Offenheit", an dieser Stelle blickte der Finanzbeauftragte von General Clay zu Doktor Pfleiderer, „ebenfalls mit einer klaren Sprache beantworten, die bestimmend für den Ton dieser vertraulichen Verhandlungen sein soll: Die Finanzen in Deutschland - das bestreitet niemand - sind heillos zerrüttet. Im Augenblick der Kapitulation belief sich die im Umlauf befindliche Geldmenge - die im Jahre neunzehnhundertdreiunddreißig etwa fünfeinhalb Milliarden Mark betragen hatte - auf fast siebzig Milliarden Mark. Eine rigorose Geldreform ist der einzig mögliche Weg aus der gegenwärtigen inflationsähnlichen Situation. Ursprünglich glaubten oder besser hofften wir auf die Chance, eine Währungsreform nach unseren Vorstellungen einheitlich in allen vier Besatzungszonen durchzusetzen. Da das aus verschiedenen Gründen nicht möglich ist, sind wir bestrebt, unsere jetzigen Positionen, auch hier im westlichen Teil Deutschlands, zu sichern und zu festigen. Bekanntlich wurde im Dezember vergangenen Jahres Rumänien als Volksrepublik proklamiert, und vor wenigen Wochen ging in der Tschechoslowakei die Macht an eine kommunistische Regierung über. Auch mit diesen Ereignissen müssen wir rechnen. Ich darf Sie daran erinnern, daß durch das entschlossene Eingreifen der Besatzungsmacht in Hessen und in anderen westdeutschen Ländern sogenannte Volksentscheide über die Enteignung der großen Industrie- und Bankunternehmen und für eine Bodenreform verhindert wurden. Zweifellos gab es bei diesen Bestrebungen Einflüsse, die auf ähnliche Aktionen in der sowjetischen Besatzungszone zurückzuführen sind. In dieser Lage halten
wir eine Geldreform in Deutschland für dringend notwendig. Sie ist die Voraussetzung der Einbeziehung Deutschlands in die Marshallplanhilfe. Ohne Währungsreform vermag die Wirtschaft Deutschlands nicht zu gesunden, und ohne Deutschland - bei allem Respekt für Ihre Nationen, Mister Cook und Mister Lefort - wäre der Wiederaufbau Westeuropas höchst unvollständig. Das Wirtschaftspotential des Ruhrgebietes beispielsweise sollte nicht länger brachliegen, sondern im gemeinsamen Interesse genutzt werden." Doktor Tenenbaum legte eine Pause ein und fügte dann mit leicht angehobener Stimme hinzu: „Schließlich dreht es sich hier nicht nur um wirtschaftliche, sondern auch um politische sowie um militärische Aspekte ..." Man hätte im Konferenzraum eine Stecknadel zu Boden fallen hören, als Doktor Tenenbaum zum Resümee seiner Ausführungen kam. „Es liegt unter Berücksichtigung aller Umstände kaum noch im Bereich des Wahrscheinlichen, eine Währungsreform, wie wir sie uns denken, in ganz Deutschland durchzuführen, worunter dann die Einbeziehung auch der sowjetisch besetzten Zone in den Marshallplan zu verstehen wäre. Deshalb befaßt sich unser Konklave nicht mehr mit der Variante A, sondern mit der Variante B unseres in allen Einzelheiten ausgearbeiteten Plans. Diese Variante B sieht die Durchführung einer Währungsreform und die Ausgabe der neuen ,Deutschen Mark' nur in den Westzonen vor..." Beifall ließ den Redner für Augenblicke verstummen. „Ihre Aufgabe, meine Herren, ist es", endete Tenenbaum, „unseren Entwurf in die deutsche Verwaltungsform zu gießen und alle erforderlichen kom-
plizierten organisatorischen Fragen bis ins kleinste Detail festzulegen. Es liegen also Wochen angestrengter, harter gemeinsamer Arbeit vor uns ..." Feliks Lewandowski achtete auf die korrekte Wiedergabe der grundsätzlichen Äußerungen und der Dialoge. Das war für ihn eine Sache der Routine. Ansonsten langweilten ihn die endlosen Debatten, die sich manchmal die ganze Nacht durch bis morgens um sechs Uhr hinzogen. Möglicherweise lag es daran, daß ihn das Thema persönlich kaum interessierte. Er lehnte rein gefühlsmäßig das Vorgehen dieses fixen Misters Tenenbaum und seiner Partner ab, die dabei waren, mit Vertretern des besiegten Deutschlands - unter denen sich sogar ehemalige Nazis befanden - ein Komplott gegen die Sowjetunion zu schmieden, die mit den USA, Großbritannien und Frankreich der Antihitlerkoalition angehört hatte. Die deutschen Finanzexperten zeigten sich von Tag zu Tag in besserer Stimmung. Die geplante Separatwährungsreform - soviel stand bald fest -würde das Eigentum der Banken und Konzerne, die Kapitalsanlagen und Sachwerte, das gesamte Vermögen nahezu unberührt lassen. Für die Ersparnisse der Bevölkerung war eine Abwertung bis zu dreiundneunzig Prozent vorgesehen, während die Verluste der Konzernbetriebe und Banken im ungünstigsten Fall sechzehn Prozent betragen sollten. Die enormen Kriegsgewinne der Monopole blieben erhalten. Diese Grundgedanken entsprachen auch den Vorstellungen der Interessenvertreter des deutschen Monopolkapitals. Sie hatten in den knapp drei Jahren seit Kriegsende eine Vielzahl von Memoranden, Gutachten
und Plänen mit Vorschlägen für eine Währungsreform erarbeitet, wobei sie voraussetzten, die bestehenden kapitalistischen Eigentumsverhältnisse zu erhalten. Das bedeutendste westdeutsche Dokument zur Währungsreform war der sogenannte Homburger Plan. Mit seiner Ausarbeitung war vom Zweizonenwirtschaftsrat die „Sonderstelle Geld und Kredit" in Frankfurt am Main beauftragt worden. Leiter dieser Finanzverwaltung der Bizone, über deren Arbeit die Öffentlichkeit nicht informiert werden sollte, war Professor Ludwig Erhard. Bei den wochenlangen Geheimberatungen im Herbst 1947 waren Erhard und sein Stellvertreter Doktor Hielscher, neben anderen Finanzsachverständigen - unter ihnen auch Doktor Pfleiderer -, führend an der Formulierung der Grundzüge des Homburger Planes beteiligt gewesen. Das klar fixierte Ziel dieser Beratungen war die separate Währungsreform als Mittel zur Schaffung eines imperialistischen westdeutschen Separatstaates. Der Verwirklichung dieses Zieles sahen sich Doktor Hielscher aus dem bayrischen Finanzministerium, Präsident Windlinger von der Landeszentralbank Baden und die anderen treu ergebenen Mitarbeiter der Monopole jetzt sehr nahe. Sie wußten, daß die Geheimaktion „Bird Dog" nicht nur ein politischer Schachzug der Westmächte war, sondern für die westdeutschen Monopole und Banken zugleich ein Milliardengeschäft bedeutete, die Restaurierung der Macht des deutschen Kapitals ermöglichte. Durch die Marshallplanhilfe hatte der künftige westdeutsche Staat die Chance, zum bedeutendsten Partner der USA in Europa aufzurücken. Natürlich mit allen politischen und
militärischen Konsequenzen. Die Vorherrschaft des USKapitals auch auf dem westdeutschen Binnen- und Außenmarkt mußte dabei als das kleinere Übel einkalkuliert werden. Auf jeden Fall zeichnete sich in allen westdeutschen Wirtschaftszweigen ein Boom ab, wie sie ihn nicht zu erhoffen gewagt hatten. Allmählich gewöhnte sich Feliks Lewandowski an die neuen Verhältnisse, die das Konklave ihm offenbarte, an das Doppelspiel, das die Westmächte gegenüber ihrem sowjetischen Partner und zur Täuschung der Öffentlichkeit betrieben. Und es wunderte ihn schon gar nicht mehr, als er eines Morgens in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" ein Interview mit General Clay las, in dem der amerikanische Militärgouverneur in Deutschland Meldungen anderer Blätter über eine bevorstehende Separatwährungsreform für die Westzonen energisch dementierte. Lewandowski dachte oft an seine junge Frau in Berlin. Ungeduldig erwartete er das Ende seines Sonderjobs. Er konnte nicht wissen, wie sehr diese neue Situation in Deutschland, die ihn noch völlig gleichgültig ließ, auch sein Leben verändern würde. Jeanne Lewandowski in Berlin war nun schon zwei Wochen ohne Nachricht von ihrem Mann, dessen Aufenthaltsort sie nicht einmal kannte. Diese Ungewißheit bedrückte sie jedoch nicht sonderlich. Um die Wahrheit zu sagen, die junge blonde Fotografin vermißte ihren Mann kaum. Als Feliks unlustig von dem Sonderauftrag berichtet hatte, hatte sie zwar Bedauern über seinen plötzlichen Aufbruch geäußert, insgeheim jedoch durchströmte sie ein prickelndes Gefühl unbestimmter Vorfreude.
Er trug den kalten Krieg nach Berlin: Militärgouverneur Lucius D. Clay
Und unwillkürlich fiel ihr der sportlich-lässige amerikanische Captain ein, und sie dachte: Das hat Cliff gemanagt, weil er endlich einmal mit ihr allein sein will, ohne die argwöhnischen Blicke von Feliks ... Jeanne dachte, daß Captain Roberts noch am 20. April, gleich nach dem Abflug Feliks', keine Minute unnütz verstreichen lassen würde, um ihr seine Leidenschaft zu gestehen. Stunde um Stunde verging, sie wartete, doch vergeblich. Captain Roberts erschien erst am Wochenende in der Uhlandstraße. Es war schon sehr spät. Jeanne, die sich den Abend über mit Retuschierarbeiten beschäftigt hatte, schlief schon, als es vor dem Haus hartnäckig hupte. „Hallo, Baby!" rief der Amerikaner unbekümmert, als die junge Frau verschlafen aus dem Fenster schaute.
„Ich kann deine verdammte Klingel nicht finden. Wirf mir den Schlüssel herunter." Jeanne Lewandowski zögerte, Cliff schien nicht mehr ganz nüchtern. „Aber ich liege doch schon im Bett..." „Oh, wonderful", antwortete der Offizier laut, „das stört mich überhaupt nicht." Einige Zeit später saß Roberts an ihrem Bett. Während ihr bewußt wurde, daß dieses erste Alleinsein ganz anders verlaufen war, als sie gedacht hatte, fragte er plötzlich unvermittelt: „Hast du eigentlich Ahnung von Antiquitäten?" Jeanne begriff diese Frage nicht. „Wie kommst du auf Antiquitäten? Was meinst du damit?" „Das ist doch ganz einfach: wertvolle Ölgemälde, antike Möbel, Juwelen, Goldwaren, Markenporzellan, Plastiken, alte Münzen, Gobelins, frühe Druckerzeugnisse, Spieldosen und Musikinstrumente vergangener Jahrhunderte - eben Antiquitäten." Roberts war währenddessen aufgestanden und ging mit kleinen Schritten im Zimmer hin und her. „Kennst du Leute, die so etwas haben? Vielleicht im Bekanntenkreis deiner Mutter? Vor allem: Könntest du einigermaßen abschätzen, ob so ein Gegenstand antiquarischen Wert hat oder nicht?" Der Captain setzte sich wieder zu ihr und schlug einen wärmeren Ton an. „Verstehst du mich denn nicht, Darling?" „Viel verstehe ich davon nicht", antwortete Jeanne vorsichtig. „Gerade so eben für den Hausgebrauch. Aber ich kenne schon eine ganze Menge Familien, die solchen Kram in der guten Stube oder auf dem Boden aufbewahren."
Roberts nickte zufrieden. „Okay - für den Anfang nicht schlecht; als Überbrückung, bis die großen Geschäfte anrollen. Setz dich hin und schreib die Adressen von Leuten auf, die wir gleich morgen abfahren werden. Montag wirst du in verschiedenen Zeitungen Annoncen aufgeben; in den Westsektoren, aber vor allem im Osten. Ich werde dich mit einigen Experten bekannt machen, die als Mittelsmänner auftreten, die Absender von Offerten besuchen und vorverhandeln, die sich bei angekündigten Auktionen zur Vorbesichtigung anmelden. Und alle Fäden werden hier bei dir, in deinem Atelier zusammenlaufen." „Bei mir?" Jeanne war ehrlich erstaunt. „In deinem Atelier", wiederholte Roberts. „Die Nachbarschaft ist Publikumsverkehr gewöhnt, die Räumlichkeiten eignen sich gut als Zwischenlager. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Jetzt bedeutet jeder Tag bares Geld." Jeanne verstand noch immer nicht. „Und was habe ich damit zu tun?" „Du, Darling", sagte der Mann und lächelte ihr freundlich zu, „du wirst in meinem Auftrag wirksam werden, mit allen Vollmachten, weil ich dabei im Hintergrund bleiben muß. Du sollst mir helfen, den Job meines Lebens zu machen, den Grundstein zu legen für unsere gemeinsame Zukunft in den Staaten." Jeanne horchte erfreut auf. „Sind denn solche Antiquitäten so wertvoll?" vergewisserte sie sich vorsichtshalber, „wo doch jetzt jeder viel mehr hinter Lebensmitteln her ist?" Roberts lächelte nachsichtig. „Wertvoll?" sagte er gedehnt. „Neben Grund- oder anderem Sachbesitz -den
man allerdings schlecht transportieren kann -sind Antiquitäten gegenwärtig d i e Kapitalsanlage! Sie sind auf dem internationalen Markt wertbeständig; unabhängig von allen Währungsschwankungen." Zum erstenmal seit seinem überraschenden nächtlichen Besuch entwickelte Roberts so etwas wie Temperament. Die Aussicht auf das Geschäft seines Lebens hatte ihn in Hitze gebracht. Daß der Tip dazu von seinem Vater aus Detroit gekommen war, hielt Cliff Roberts für nicht erwähnenswert. „Wenn ich also richtig verstanden habe", entgegnete Jeanne und unterdrückte ein plötzlich aufkommendes Gähnen, „willst du ..." „... wollen wir ...", unterbrach Roberts. Jeanne dankte mit einem verliebten Blick und wiederholte: „... also wollen wir so schnell und soviel wie möglich von diesen Antiquitäten aufkaufen, die du dann nach Hause, nach Amerika, schickst, weil sie dort noch viel mehr wert sind." „Genau das", bestätigte Roberts. „Aber ist denn das auch erlaubt?" gab die junge Frau zu bedenken. Der Amerikaner lief] ein grunzendes Lachen hören. „Eine wunderbare Frage", spottete er. „Typisch deutsch. Bei uns in den Staaten fragt man nicht: Ist es erlaubt? sondern: Was nützt es mir? Nur so ist ein großes Busineß zu machen, Baby." „Ich habe ja nur gefragt, weil ich nicht möchte, daß du Ärger hast", verteidigte sich Jeanne. Roberts winkte ab. „Keine Sorge, das manage ich schon." Roberts warf einen Blick auf seine Armbanduhr und schickte sich zum Gehen an. „Ich kann also mit dir
rechnen, Jeanette? Ich komme morgen, das heißt, heute nachmittag, sagen wir gegen fünfzehn Uhr. Dann können wir die Einzelheiten besprechen, vor allem wie wir den Kram aus dem Ostsektor ohne Komplikationen herüberkriegen. Okay?" Zwischen Anhalter Bahnhof und Yorkstraße wurde ein Fensterplatz frei. Heinz Lamprecht hockte sich in die Nische und schlug die Zeitung auf. Seit er wieder in Berlin war, unternahm er, wenn es seine Arbeit irgendwie zuließ, einmal in der Woche diese Fahrt zu seiner Schwägerin nach Tempelhof. Er fühlte sich für die Frau und ihre Kinder verantwortlich, da sich sein Bruder noch in Gefangenschaft befand. Beim Überfliegen der Schlagzeilen erregte eine kleine Notiz Lamprechts Aufmerksamkeit: „Unbegreifliche Maßnahme - Telefon auf Befehl abmontiert. Der Telefonanschluß des Berliner Universitätsprofessors Jürgen Kuczynski, der im amerikanischen Sektor in Zehlendorf wohnt, wurde am Donnerstag ohne vorherige Ankündigung von Monteuren der Postverwaltung abmontiert. Die entsprechende Anweisung an das Fernsprechamt hatte -wie bekannt wurde - der Vertreter der amerikanischen Militärregierung im Komitee für Post- und Fernmeldewesen der Alliierten Kommandantur, Mr. Bollard, selbst erteilt. Der Grund zu dieser Maßregelung des Berliner Universitätsprofessors läßt sich nur vermuten: Prof. Jürgen Kuczynski hatte kürzlich mit einer Gruppe von Schriftstellern die Sowjetunion besucht." Lamprecht schüttelte verwundert den Kopf. Er kannte den international geachteten marxistischen Wirtschaftshistoriker, der zu den Verfolgten des
Naziregimes gehörte, von einer lebhaften Aussprache über Fragen der Planwirtschaft her. Was sich die Amerikaner da gegenüber einem Antifaschisten und erklärten Freund der Sowjetunion herausnahmen, empfand der stellvertretende Werkleiter aus Treptow als skandalös. Später wurde bekannt, daß Professor Kuczynski vor allem als Präsident der „Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion" boykottiert werden sollte. Auf dem Umsteigebahnhof Schöneberg sah sich Lamprecht dann vor eine Situation gestellt, in der er blitzschnell handeln mußte. Beim Verlassen des Zuges hörte er aus dem Lautsprecher eine Stimme, die die Fahrgäste aufforderte, sich in ausliegenden Listen einzutragen, um mit ihrer Unterschrift das Volksbegehren für eine unteilbare deutsche demokratische Republik zu unterstützen. Dieses Volksbegehren mit der Forderung nach einem Volksentscheid über die Einheit Deutschlands hatte im März 1948 der 2. Deutsche Volkskongreß beschlossen, an dem trotz Verbot und Terror der westlichen Besatzungsmächte auch zahlreiche westdeutsche Delegierte teilnahmen. Es wurde jetzt durchgeführt. „Schweinerei!" rief ein wohlgenährt aussehender Mann. „Wo ist der Bahnhofsvorsteher?" Als dieser kam, verlangte der Dicke: „Ich fordere Sie auf, dieser bolschewistischen Propaganda ein Ende zu setzen! Sonst hole ich die amerikanische Militärpolizei!" Neugierige sammelten sich an, erregte Stimmen wurden laut; Zwischenrufe. „Die Unterschriftensammlung ist in ganz Berlin erlaubt worden!" erklärte eine Mutter mit ihrem Kind auf dem Arm. Sie hatte einen Schal nach der Art
der Trümmerfrauen zu einem Turban um ihr Haar geschlungen. „Wieso mischen Sie sich überhaupt ein", fragte jemand. „Wenn ich mich im Sowjetsektor sehen lasse, werde ich verhaftet", verteidigte sich der Gutgenährte. „Bist wohl 'n Kriegsverbrecher?" lautete die schlagfertige Antwort. „Oder ein Schieber!" ergänzte ein anderer. Alles ringsum lachte. Doch der Ruf des Dicken nach amerikanischer Militärpolizei wirkte wie ein Stichwort für eine Gruppe meist jüngerer Männer, die sich plötzlich unter rücksichtslosem Gebrauch ihrer Ellenbogen einen Weg zu dem mit einer schwarzrotgoldenen Fahne geschmückten Tisch bahnten. Sie zerrten das Tuch herunter, rissen die Listen aus den Händen der völlig überraschten Helfer des Volksbegehrens - ein Mann und eine Frau -, begannen das Papier zu zerfetzen und griffen die Überrumpelten tätlich an. Einer der Schläger drehte der Frau einen Arm auf den Rücken, daß sie aufschrie vor Schmerzen. Der Mann wurde von einem fürchterlichen Fausthieb am Kopf getroffen und sank zu Boden. Dabei wurde sichtbar, daß er nur ein Bein hatte. Das alles geschah innerhalb weniger Sekunden, noch ehe die Umstehenden erfaßten, was da passierte. Mit einem Schrei des Zorns warf sich Heinz Lamprecht dem Trupp offenkundig bestellter Achtgroschenjungen entgegen. Zwei, drei weitere beherzte Männer folgten seinem Beispiel, während sich die Menge mit der Rolle passiver Zuschauer begnügte. Noch bevor der ungleiche Kampf entschieden war, schrillten Trillerpfeifen, tönten laute Kommandos. Polizisten und Angehörige der amerikanischen Mi-
litärpolizei rückten an. Die Uniformierten beherrschten den Bahnsteig. In scharfem Ton wurden alle an der Schlägerei beteiligten Personen aufgefordert, am Sachsendamm bereitgestellte Fahrzeuge zu besteigen. Die Fahrt war kurz. Im Polizeirevier wurden Heinz Lamprecht der Hosengürtel, die Schnürsenkel,
Volksbegehren für die Einheit Deutschlands: eine Einzeichnungsstelle am Übergang der Sektorengrenze
das Taschenmesser und sogar ein Nagelreiniger abgenommen. Bis lange nach Mitternacht hielt man ihn in einer Einzelzelle unter Arrest. Bei dem knappen Verhör erkundigte sich dann ein müde aussehender Polizeioffizier nach seinen Personalien, fragte nach dem Grund seines Aufenthalts im amerikanischen Sektor. Die Schilderung Lamprechts vom Überfall der nach seiner Vermutung bestellten Provokateure auf die Helfer des Volksbegehrens interessierte den Uniformierten nicht.
Gleichgültig sah er auf Lamprechts verletzte rechte Hand und auf eine Schramme über dem linken Auge. Heinz Lamprecht wurde entlassen mit der wie Hohn anmutenden Verwarnung, künftig nicht mehr an kommunistischen Aktionen zur Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im amerikanischen Sektor teilzunehmen. In der Wirtschaftsabteilung des Magistrats von GroßBerlin in der Klosterstraße gaben sich in jenen Tagen die Besucher die Klinke in die Hand. Freigabescheine, Beschwerden, Materialanforderungen. Dazu solche unerfreulichen Mitteilungen wie die Nachricht von dem Explosionsunglück im Akkumulatorenwerk in Oberschöneweide, das ein Todesopfer und fünf zum Teil schwerverletzte Arbeiter gefordert hatte. In letzter Zeit häuften sich vor allem Beschwerden aus Betrieben des sowjetischen Sektors über das Ausbleiben von Materialund Warenlieferungen aus den Westsektoren und aus den Westzonen. August Lewin hatte längst aufgehört, dabei an Zufälle zu glauben. Bei ihm liefen alle Fäden zusammen. Er ärgerte sich den ganzen Tag über tausend Mißhelligkeiten. Er mußte die Leute anhören, umdisponieren, organisieren: zwei Lastwagen aus der Magistratsreserve nach Mariendorf, Sauerstoffflaschen aus Moabit nach Treptow, damit die Schweißer dort weiterarbeiten konnten ... Nie hatte der alte Matrose daran gedacht, daß er im Herbst seines Lebens einmal solche Schlachten am Schreibtisch ausfechten müßte. Abends dröhnte ihm der Schädel, und er fiel ohne Übergang in einen bleischweren Schlaf. Viele Probleme mußte er hier im
Magistrat entscheiden. Sein direkter Vorgesetzter, Stadtrat Klingelhöfer von der SPD, wußte es meist so einzurichten, daß die unangenehmen Entscheidungen ihm überlassen blieben. Die Absicht war leicht zu durchschauen: Der Zorn der Betroffenen richtete sich gegen Lewin, den Genossen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, und Klingelhöfer konnte im Notfall seine Hände in Unschuld waschen. Dieses Doppelspiel erschwerte die ohnehin nicht leichte Arbeit ungemein. Lewin drückte auf ein Knöpfchen, seine Sekretärin meldete sich. „Bitte eine Verbindung mit dem Stadtrat", verlangte er. Augenblicke später kam der Rückruf. „Stadtrat Klingelhöfer ist nicht im Hause. Wo er ist und wann er wiederkommt, konnte seine Sekretärin nicht sagen." Verdrossen legte Lewin den Hörer auf. Das Mädchen aus dem Vorzimmer huschte herein. „Ich glaube, die Sekretärin lügt, Genosse Lewin", sagte es. „In der Kantine hörte ich zufällig, wie sie mit ihrer Freundin über eine mögliche Verlegung der Wirtschaftsabteilung des Magistrats in die Westsektoren sprach." „In die Westsektoren?" fragte Lewin. „Wieso denn?" „Das hat sie auch nicht gesagt. Jedenfalls sei der Stadtrat heute nach Schöneberg gefahren, um die Sache mit einem Offizier der amerikanischen Militärregierung zu besprechen. Deshalb wundere ich mich, daß sie jetzt so tat, als wisse sie nichts." Lewin bedankte sich für die Information und meldete sich ab. „Wenn etwas Dringendes ist, ich bin in der Chemiebude in Adlershof." Er hatte das starke Bedürfnis nach frischer Luft. Und
selbst wenn es da draußen nach Laugen, Ammoniak und allen möglichen Essenzen roch ... Er ging zum Alexanderplatz. Das half meist am besten, seinen Zorn zu besänftigen. Das wurde ja immer schöner. Der penible Herr Klingelhöfer verhandelte hinter dem Rücken des Magistrats mit den Amis. Ähnliches hatte man schon über die Stadträte Theuner und Reuter gehört, die zu einer Geheimberatung mit dem Chef der Abteilung für Zivilangelegenheiten bei der amerikanischen Militärregierung, Oberst Glaser, zusammengetroffen waren. Dabei hatten sie - wie es hieß - einen möglichen Auszug der SPD-Fraktion aus dem Stadtparlament und die Gründung einer Teilverwaltung der Westsektoren mit Stadtrat Reuter als „Regierenden Bürgermeister" erörtert. Feine Geschichten waren das. Die einheitliche Verwaltung der Stadt wurde gestört. Es war nicht schwer zu erkennen, wer die Spalter waren. Lewin schritt langsamer. Er wußte, daß er bald wieder in seinem Arbeitszimmer sein mußte. Dort war seine „Kommandohöhe", die er vor dem Einfluß der Spalter sichern mußte. Und nicht nur er... In Adlershof überzeugte sich August Lewin von der Steigerung der Produktion an Desinfektionsmitteln, die vor den zu erwartenden heißen Tagen an Schulen, Strandbäder, Bedürfnisanstalten und andere öffentliche Einrichtungen ausgegeben werden sollten, um der erhöhten Infektionsgefahr vorzubeugen. „Klappt die Versorgung mit Milch für die Kollegen mit besonders gesundheitsschädigender Arbeit?" „Mal ja, mal nein", erläuterte Heinz Lamprecht. „Das Ernährungsamt macht Schwierigkeiten." „Berufe dich auf den Befehl von Kotikow", drängte
Lewin. „Laßt euch nicht mit Redensarten abspeisen. Und was macht die Pharmazieabteilung?" Der stellvertretende Werkleiter konnte berichten, daß es gelungen war, den Platz von Doktor Harnack neu zu besetzen. Es würde aber noch dauern, die von dem Saboteur verursachten Rückstände aufzuholen. Lewin war dennoch zufrieden. „Wir lassen uns nicht kleinkriegen", versicherte er. „Das ist eine unserer Stärken." Beiläufig erzählte Heinz Lamprecht dem älteren Genossen über den Vorfall auf dem S-Bahnhof Schöneberg. August Lewin kramte seine Stummelpfeife heraus und hörte zu. Bedächtig stopfte der Alte den Pfeifenkopf mit einem undefinierbaren Kraut und schob den Beutel zu Lamprecht. „Bediene dich, mein Lieber, bester Siedlerstolz, Jahrgang siebenundvierzig." Lamprecht drehte sich mit beinahe artistischem Geschick eine Zigarette. „Deine garantiert echte Virginia'", monierte er nach ein paar Zügen, „schmeckt mir aber verdächtig nach Kirschblättern." Die Männer lachten und pafften weiter. „Kennst du die Geschichte mit Bliemeister?" fragte Lewin, als der andere seinen Bericht beendet hatte. „Bliemeister? Nie gehört." „Der ist Polizei-Sektorenassistent im amerikanischen Sektor. Von Oberst Howley wurde er angewiesen, Anordnungen des Berliner Polizeipräsidenten nicht mehr zu befolgen. Als er sich weigerte, sperrten ihn die Amis kurzerhand ein. Jetzt weigert er sich nicht mehr. Diese Sache und dein Bericht, das sind zwei Seiten einer Medaille."
„Aber warum tun wir denn nicht mehr dagegen?" fragte Lamprecht. Lewin sah ihn erstaunt an. „Du gibst mir Spaß, Junior. Eben hast du dein Abenteuer von Schöneberg erzählt und fragst nun so was. Die Volkskongreßbewegung, das Volksbegehren für Demokratie und Einheit, ist das nichts? Millionen Unterschriften. Trotz Behinderung in den Westzonen und in Westberlin. In unserer Zone bereiten wir den ersten Wirtschaftsplan vor, die Erfolge verschiedener Reformen zeigen sich, denk an die Neubauern, an die Schulen, an die Justiz ... Denn soviel ist klar: Hier wächst doch das künftige andere Deutschland." Lewin stocherte nachdenklich in dem zischenden Pfeifenkopf. „Aber die Reaktion schläft nicht. Pausenlos schürt sie das Feuer. Es beginnt zu brodeln. Sie möchte zu gern auch bei uns die Machtverhältnisse auf den Stand von vor neunzehnhundertfünfundvierzig zurückdrehen." Er stand auf. „Ich muß zurück in mein ,Bürojoch'. Du hast gefragt, was dagegen zu tun ist. Was auch geschieht, Junior, diesmal müssen wir die Macht der Werktätigen behaupten, gegen jeden Anschlag! Das ist die Hauptsache, die wir tun können." In der Militärmaschine, die ihn von Hannover aus nach Berlin zurückbrachte, dachte Feliks Lewandowski mit Groll an die fünfzig Tage hinter Stacheldraht ... Das Konklave war in diesen Junitagen beendet worden. Lewandowski hatte zum letztenmal als Chefdolmetscher an den Beratungen teilgenommen, als die Abschlußdokumente unterzeichnet wurden. Die separate Währungsreform in den Westzonen war damit beschlossen, die Geheimaktion „Bird Dog" würde sich auswirken.
Berlin kam Feliks Lewandowski auf merkwürdige Weise verändert vor. Obwohl es ihn zu seiner jungen Frau in die Uhlandstraße zog, nahm er keinen Jeep der USArmy, sondern entschloß sich, mit dem Bus zu fahren und einen Teil der Strecke zu laufen. Irgendwie empfand der Mann Unbehagen vor der ersten Begegnung mit Jeanne nach so langer Zeit.
Nach den Wochen strenger Abgeschiedenheit erschienen dem Heimkehrenden die Straßen beängstigend überfüllt. Überall sah er Gruppen aufgeregt miteinander redender Frauen und Männer. Und überall standen Leute in endlosen Schlangen. Nicht nur vor den Lebensmittelgeschäften und Bäckereien, auch vor Drogerien und Verkaufsstellen für Wirtschaftsartikel, bei Papierwarenhändlern und Juwelierläden stauten sich die Wartenden; ebenso an Tankstellen, vor den Postschaltern und in den Filialen der Sparkassen. Die Leute kauften, was sie gerade bekommen konnten. Eine bevorstehende Währungsreform war in aller Munde. Ein alter Mann schleppte mit großer Anstrengung einen Sack auf dem Rücken über die Straße. An der Bordsteinkannte stolperte er und fiel hin. Der Sack knallte auf das Pflaster und platzte auf. Während Lewandowski dem keuchenden Alten wieder auf die Beine half, sah er die verstreuten weißen Körnchen genauer an. Salz, mindestens ein Zentner, hatte den Mann zusammenbrechen lassen. Lewandowski ging weiter. Er mußte an die Begegnung mit dem Jugendlichen vor Wochen auf dem schwarzen Markt am Potsdamer Platz denken. Leute wie dieser versuchten jetzt ihr Geld möglichst sicher anzulegen.
Doch was besaßen sie schon nach diesem Krieg, und was konnten sie bekommen? Dem Dolmetscher fielen zwangsläufig seine Erlebnisse in Rothwesten ein. Die Herren der Industrie und der Banken betrachteten ihren Besitz und ihr Vermögen als gesichert, auch auf Kosten jener, die jetzt vor den Läden standen. Und so mancher Großschieber, der seine ergaunerten Waren heute noch hortete, würde vielleicht morgen seine Schwarzmarktgewinne in einem Unternehmen anlegen ... Lewandowski hielt diese Folgen einer Währungsreform für unabänderlich ... Das Atelier in der Uhlandstraße war geschlossen. „Aus familiären Gründen bis auf weiteres keine Aufnahmen" stand auf einem Schild im Fenster. Beunruhigt schloß Feliks Lewandowski die Wohnungstür auf und stieß beim nächsten Schritt mit dem Schienbein gegen eine Kiste. Er fluchte und spürte sofort den aufdringlichen Geruch amerikanischer Zigaretten. Eine Tür klappte, dann eilte ihm Jeanne auf dem Flur entgegen. „Feliks! Wo kommst du so plötzlich her? Warum hast du nicht telegrafiert?" Sie legte kurz die Arme um seinen Hals und küsste ihn flüchtig. „Du hättest doch wenigstens anrufen können, dann hätte ich etwas vorbereitet." Sie hakte ihn unter und zog ihn mit zum Wohnzimmer. „Du hast mich lange allein gelassen ..." Feliks machte seinen Arm frei. „Was ist hier eigentlich los?" Er zeigte auf die herumstehenden Kisten und Kartons. „Was hat das alles zu bedeuten?" Jeanne blieb stehen. Sie fixierte ihren Mann wie einen Fremden. Dann besann sie sich. „Sonderlich freundliche Begrüßungsworte hast du dir nicht ausgedacht, nach all
den Wochen. Hast du überhaupt eine Ahnung, was inzwischen alles passiert ist? Ein Gerücht jagt das andere. Alles redet von einer Währungsreform. Wie konnte ich das Atelier unter solchen Ungewissen Umständen offenhalten? Und du verschwindest einfach für eine Ewigkeit, gerade wo ein Mann dringend gebraucht wird. Nun tauchst du plötzlich wieder auf und hast nichts als Vorwürfe für mich. Das ist herzlos und ungerecht. Aber das ist typisch für dich. Du hast ja immer nur an dich gedacht!" Jeanne hatte diese Sätze aneinandergereiht, fast ohne dabei Luft zu holen. Lewandowski fühlte sich überwältigt von diesem Gefühlsausbruch und auch betroffen von ihren abschließenden Vorwürfen, die er für ungerechtfertigt hielt. Er wollte sie versöhnlich in die Arme nehmen, holte schon zu einer behutsamen Antwort aus, als die Frau hinzufügte: „Hätte Cliff sich nicht um mich gekümmert, mir selbstlos und wie ein echter Freund mit Rat und Tat zur Seite gestanden, ich weiß nicht, was in dieser schweren Zeit aus mir geworden wäre." Wie aufs Stichwort öffnete sich nach diesen Worten eine Tür, und ins Zimmer trat Captain Cliff Roberts. „Hallo, Feliks!" rief er um einiges zu laut, „old fellow, how do you do?" Feliks Lewandowski wich zurück und erbleichte. In der peinlichen Stille klang seine Stimme mühsam beherrscht, gemischt mit Ironie. „Das also sind deine ,familiären Gründe', Jeanne. Allmählich wird mir einiges klar." Der Dolmetscher ging hinüber in die Atelier- und Laborräume, die vollgestellt waren mit Statuen, Kaminuhren, Teppichen, Gemälden
... Lewandowski trat näher und las auf einigen der kleinen Pappschilder den Text. „Silberne Prunkjardiniere - 3900g - 10000RM"; „Flämischer Gobelin aus Brüssel 16. Jahrhundert -25 000 RM"; „Jamuth-Buchara-Teppich - 18 000 RM"; „Armlehnsessel - 17. Jahrhundert - 3000 RM"; „Ölgemälde 1580 - holl. Meister - 50 000 RM"; „Zwei silberne Prunkkandelaber mit alten Münzen -8000 g - 27 000 RM"... Feliks Lewandowski kehrte zurück in das Wohnzimmer, wo Roberts und Jeanne flüsterten und auseinandergingen, als er näher kam. Lewandowski sah die beiden finster an und sagte: „Ich erwarte eine Erklärung." Roberts ging einen Schritt auf ihn zu. „Das ist dein gutes Recht", erklärte er. „Zum ,fair play' gehören offene Worte. Hör zu, Feliks. Jeanne und ich haben die Chance genutzt, Geld, das ohnehin, wie du ja inzwischen wohl besser weißt als ich, bald verfallen würde, wertbeständig anzulegen. Das ist eigentlich schon alles." „Und woher stammt das Geld?" fragte Lewandowski. „Es handelt sich ja um Riesensummen." Roberts versuchte ein gewinnendes Lächeln. „Eigentlich bin ich dir darüber keine Rechenschaft schuldig. Damit du aber siehst, daß ich mich um dein Verständnis bemühe, ehrlich an einem cleveren Übereinkommen mit dir interessiert bin, will ich es dir ruhig sagen. Das Geld lag sozusagen auf der Straße. So kann man es nennen. Genauer ausgedrückt: Ein vertraulicher Hinweis über den voraussichtlichen Termin der Währungsreform war verschiedenen namhaften Firmen und sogar Länderregierungen in der amerikanischen Zone einiges wert. Die Münchener Stadtverwaltung beispielsweise zahlt
daraufhin die Löhne und Gehälter in diesem Monat nicht - wie üblich - in der letzten Dekade, sondern am elften Juni aus; ebenso die Bayrischen Motorenwerke, die Firma MAN in Augsburg. Ich könnte dir noch viele maßgebliche Unternehmen aufzählen, die den Auszahlungstermin für Löhne und Gehälter erheblich vorverlegt haben. Damit habe ich ihnen Millionenbeträge gerettet: Die Arbeiter und Angestellten sind bezahlt, auch schon für das, was sie nach der Währungsreform produzieren werden und was dann bereits für das wertvolle neue Geld verkauft werden kann. Wie du siehst, haben sie durch mich doppelten Nutzen. Doch ich komme ebenfalls auf meine Rechnung, und auch du kannst davon mitprofitieren, es liegt nur an dir." Am Gesicht von Feliks Lewandowski war keine Gefühlsregung zu erkennen. „Wenn du mir nun noch erklären würdest, wieso ...", sagte er. „Ach weißt du, Feliks, du wirst vielleicht lachen, aber das ist ganz einfach ...", begann der Captain, wurde aber von Jeanne unterbrochen, die sich zum erstenmal in die Auseinandersetzung der Männer einmischte. „Cliff und ich", sagte sie mit vibrierender Stimme und schluckte vor Aufregung, „Cliff und ich, wir haben uns verlobt. Wir werden heiraten, und ich gehe dann mit ihm nach Amerika." „Zunächst bist du, soviel mir bekannt ist, aber wohl immer noch meine Frau...", hielt ihr Lewandowski entgegen. „Ich nehme doch an", äußerte daraufhin Jeanne mit einem Seitenblick zu ihrem Geliebten, „daß du menschliche Größe zeigen und meinem Glück nicht im Wege stehen wirst. Du bist alt und hast dein Leben hinter dir.
Wir gehören zu einer neuen Generation mit eigenen Vorstellungen und Plänen." Die Gedanken wie auch die Worte stammten eindeutig nicht von ihr. Zorn und Erbitterung kamen in ihm auf. Unter Ausnutzung geheimer Kenntnisse als Offizier im Stab von Clay hatte sich dieser Roberts ein Vermögen zusammengegaunert, das er mit unrechtmäßig ausgestellten Begleitpapieren der Besatzungsmacht in Sicherheit bringen wollte. Und dann nahm er auch noch Jeanne ... „Was ihr hier tut", sagte Feliks Lewandowski, ohne auf die Worte seiner Frau zu reagieren, „das ist ein schwerer Verstoß gegen die Exportbestimmungen der Besatzungsmächte." Roberts winkte lässig ab. „Wenn du vernünftig bist, machst du mit und wirst an dem Geschäft beteiligt." „Ich kenne ein Beispiel aus der Zeit der Invasion in Frankreich", fügte Lewandowski unbeirrt hinzu, „da hat der Befehlshaber einen Major der US-Army an die Wand stellen lassen, weil er in Rouen eine Kathedrale ausgeplündert hatte und dabei war, die Kunstschätze nach Hause in die Staaten zu schicken." „Das ist doch ganz etwas anderes", erwiderte Roberts unwillig. „Das war Diebstahl, Raub, Plünderei. Wir aber haben alles ehrlich bezahlt. Außerdem war damals Krieg." „Irrtum, Roberts", korrigierte Lewandowski. „Du, Captain, und damals der Major, ihr handelt aus demselben Motiv: Zum Zweck der persönlichen Bereicherung habt ihr den Krieg gegen den Hitlerfaschismus zu einem privaten Raubzug degradiert. Zu Landsknechten seid ihr geworden, zu Landsknechten
ohne Moral..." Erregung hatte die Stimme von Feliks Lewandowski anschwellen lassen. Auch der Amerikaner veränderte seine Haltung. „Schluß jetzt!" schrie Roberts unbeherrscht. „Ich habe dich lange genug reden lassen und alles versucht, mich mit dir gütlich zu einigen ..." „Mach dir keine Illusionen, Captain Roberts", sagte der Dolmetscher. „Ich werde Mittel und Wege finden, deine Pläne zu durchkreuzen ... Und sicher auch Leute, die sich für deine privaten Unternehmungen interessieren werden." Mit schnellen Schritten verließ er den Raum. Draußen fiel laut eine Tür ins Schloß. „So eine verdammte Schweinerei!" August Lewin schlug wütend mit der flachen Hand auf einen Stapel Papier auf seinem Schreibtisch. Obenauf lag ein Blatt mit Informationen über den Verlauf der jüngsten Konferenz der alliierten Kommandanten. Gegen den Protest von Oberst Jelisarow hatten die drei westlichen Sektorenkommandanten die Erörterung des vom Berliner Stadtparlament beschlossenen Gesetzes über die Enteignung von Konzernbetrieben und anderen Großunternehmen von der Tagesordnung der Kommandanten-Konferenz gestrichen. „Eine gröbliche Mißachtung des Willens der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung!" Der schwere Mann stapfte erregt durch sein Arbeitszimmer. Major Otschkin schob die Mütze zurück und kaute nachdenklich auf dem Mundstück seiner Zigarette. „Weshalb regst du dich so auf, August? Von einem Ochsen kann man nun mal keine Milch erwarten und von den westlichen Alliierten, die die Interessen der Konzerne und Monopole zu
vertreten haben, keine Liebe zum Sozialismus. Das ist leider die Realität, von der wir ausgehen müssen. Denk an dein Herz, Alter, und schone deine Gesundheit. Wir werden unsere Kräfte noch brauchen." Diese Unterhaltung fand an einem Freitagmittag statt. Der Kalender zeigte den 18. Juni 1948 an. Wenige Stunden später unterbrachen die Sender in den Westzonen ihre Programme. Ein Sprecher verlas den Erlaß der drei Militärgouverneure über die separate Währungsreform in den Westzonen. Noch am selben Tag verurteilte die sowjetische Militärverwaltung in Deutschland in einem von Marschall Sokolowski unterzeichneten Aufruf an die Bevölkerung diese einseitige, gegen den Willen und die Interessen des deutschen Volkes gerichtete Maßnahme. In einem Brief an General Clay teilte Marschall Sokolowski mit, daß die nach der separaten Währungsreform entstandene Lage dazu zwinge, „sofortige und notwendige Maßnahmen zu ergreifen, um die Interessen der deutschen Bevölkerung und der Wirtschaft der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands zu schützen." Als Heinz Lamprecht am frühen Abend dieses Tages seine Wohnung in Baumschulenweg betrat, lag auf dem Küchentisch ein Zettel mit einer Nachricht, die seine Frau hinterlassen hatte: „Genösse Lewin erwartet dich dringend in der Klosterstraße, egal wie spät es ist." Er fuhr sofort los. Im Gebäude des Magistrats waren bereits mehrere Genossinnen und Genossen aus allen Stadtbezirken Berlins versammelt. August Lewin erläuterte knapp die Situation. „Ich komme eben von einer Beratung mit den Genossen des Parteivorstandes
im Liebknechthaus. In der Partei und bei allen antifaschistisch-demokratischen Kräften in der sowjetischen Besatzungszone besteht Übereinstimmung in der Auffassung, daß dieser Beschluß der Westmächte ein furchtbarer Schlag gegen das deutsche Volk ist..." Der alte Arbeiterfunktionär faltete einen Bogen auseinander. „Morgen werden unsere Zeitungen den Aufruf des Parteivorstandes der SED ,An das deutsche Volk' veröffentlichen. Ich habe euch schon einige Abschriften mitgebracht. In Absprache mit den Genossen Karl Litke und Hermann Matern von der Landesleitung Berlin bleibt ihr und weitere fortschrittliche Bürger aus der Wirtschaft vorläufig im Sondereinsatz, um durch verstärkte Kontrolle an den Sektorengrenzen Sabotageanschläge der Gegner unserer Ordnung verhindern zu helfen." Am 19. Juni 1948 null Uhr setzte die sowjetische Militärverwaltung Maßnahmen zur Kontrolle des Verkehrs zwischen Ost- und Westdeutschland in Kraft, um zu verhindern, daß die sowjetische Besatzungszone mit dem wertlosen Geld aus den Westzonen überschwemmt würde. Innerhalb von wenigen Tagen konnten über neunzig Millionen Mark des in den Westzonen für ungültig erklärten Geldes beschlagnahmt werden, das illegale Grenzgänger in die sowjetische Besatzungszone einschmuggeln wollten. Berlin blieb von der Währungsreform zunächst unberührt. Die verschiedensten Vermutungen wurden geäußert. Einerseits wurde die baldige Verkündung einer Währungsreform in der sowjetischen Besatzungszone erwartet, die auch in Berlin als Teil dieser Zone gültig sein würde; andererseits wurde behauptet, die Währung
der Westzonen würde auch auf die Westsektoren übertragen. Wieder andere Informationen besagten, daß eine „Bärenmark" als Sonderwährung für Berlin eingeführt werden sollte. Viele Besitzer von Lebensmittelgeschäften öffneten erst gar nicht, um die Bestände bis zur Bekanntgabe einer Währungsreform zu retten. Der Magistrat sah sich im Interesse einer normalen Versorgung der Einwohner genötigt, eine Warnung herauszugeben, in der jegliche Warenhortung für strafbar erklärt wurde. Ebenfalls an diesem Sonnabend im Juni landeten auf dem Militärflughafen in Tempelhof in kurzen Abständen zehn Transportmaschinen. Das gesamte Gelände war zuvor hermetisch abgeriegelt worden. Journalisten und Bildreporter, die in der Hoffnung auf irgendeinen spektakulären Exklusivbericht die Mädchen an den Schaltern ausfragten, mußten sogar die Abfertigungshalle räumen. Von schwerbewaffneten Militärpolizisten bewacht, trug ein Sonderkommando von Zivilarbeitern aus jedem Flugzeug einundsechzig Kisten, die auf Lastwagen der US-Army verladen und zum Hauptquartier der Amerikaner in Dahlem gebracht wurden. Insgesamt also sechshundertzehn Kisten mit „neuem Geld", das von den amerikanischen Besatzungstruppen illegal nach Berlin eingeschleust wurde. Das geschah zur selben Zeit, da General Clay zur Täuschung der Öffentlichkeit beteuerte, es sei nicht vorgesehen, die Währungsreform der Westzonen auf die Westsektoren von Berlin auszudehnen. Die Notenpakete der neuen westdeutschen Mark trugen USA-Stempel und die Aufschrift: „Washington, 16. November 1947". Von den Westmächten verschuldet, spitzte sich die Lage
in der sowjetischen Besatzungszone und in Berlin zu. Entschlossene Maßnahmen zur Sicherung der Wirtschaft waren notwendig. Die Sowjetunion war mit aller Konsequenz bis zuletzt für eine gesamtdeutsche Währungsreform eingetreten, so daß keinerlei Vorbereitungen für eine eigene Währungsreform getroffen waren. In den Dienststellen der Deutschen Wirtschaftskommission, bei der sowjetischen Militärverwaltung und in den Büros der Parteien wurde fieberhaft gearbeitet. Am Morgen des 23. Juni veröffentlichten die Zeitungen auf der ersten Seite den Befehl Nr. 111 über die Durchführung einer Währungsreform in der sowjetischen Besatzungszone und in Berlin. Da innerhalb weniger Tage kein neues Geld gedruckt werden konnte, wurden vorübergehend die
Vorbereitung der Währungsreform in der sowjetischen Besatzungszone: Die alten Banknoten wurden für den Umtausch mit einem Kupon überklebt
alten Geldscheine mit einem aufgeklebten Spezialkupon versehen. Die nach sozialen Grundsätzen ausgearbeitete Währungsreform richtete sich im Gegensatz zu Westdeutschland gegen die Schieber, Spekulanten und Kriegsgewinnler. Diese Währungsreform stärkte die volkseigenen und kommunalen Betriebe, deren Umlaufmittel nicht abgewertet wurden. Wenige Stunden nach Bekanntgabe der Währungsreform für die sowjetische Besatzungszone erließen die Kommandanten der Berliner Westsektoren eine Anordnung, wonach die Westmark auch in den Westsektoren eingeführt werden sollte. Mit diesen Befehlen ordneten die westlichen Sektorenkommandanten gleichzeitig Notmaßnahmen an. Sie verfügten die Schließung aller Banken und Geschäfte mit Ausnahme der Lebensmittelläden und Apotheken. Diese Nachrichten verbreiteten sich mit Windeseile in der ganzen Stadt. In den Abteilungen der Betriebe und Verwaltungen kam es zu kurzen Protestversammlungen. Die Belegschaften wählten Delegationen, die im Berliner Stadthaus die Forderung nach Respektierung des Befehls der sowjetischen Militärverwaltung in ganz Berlin überbringen sollten. Als August Lewin in den frühen Nachmittagsstunden des 26. Juni aus dem Magistratsgebäude am Spreeufer trat, bot sich ihm ein ungewohntes Bild. In der Klosterstraße bis hinunter zur Stralauer Straße standen dicht an dicht die Menschen. Viele trugen Arbeitsanzüge oder Bürokittel. An Stangen hielten sie die Namen der Firmen hoch, die sie vertraten: Josetti, Daimler-Benz, Aschinger, Berliner Gaswerke, Reichsbahnwerk Tegel, Kabelwerk Oberspree, Volksbühne Berlin, Woolworth, Stadtküche
Tempelhof und viele andere Betriebe. „Einheitliche Währung in Berlin", „Clay-Mark - Spalter-Mark", „Schluß mit den Separatisten" lauteten die Losungen auf mitgeführten Transparenten, denen man ansah, daß sie in großer Eile angefertigt worden waren. Der alte Matrose bahnte sich mühsam einen Weg. Zur Parochialstraße hin wurde das Gedränge noch stärker. Um sechzehn Uhr sollte hier eine außerordentliche Sitzung der Stadtverordneten beginnen, an der auch Lewin teilnehmen wollte. August Lewin tastete eben nach seinem Ausweis, als ein Ruck durch die Reihen ging. Die empörten Berliner hatten die Einlasskontrollen beiseite geschoben und strömten in das Stadthaus. Die Demonstranten füllten die Treppen und Gänge und verlangten in lauten Rufen, den Wirrwarr nicht auf Berlin zu übertragen, den die Einführung der Westmark in den Westzonen heraufbeschworen hatte. Mit ängstlichem Gesicht erschien der Stadtverordnetenvorsteher, ein Mann der SPD. Er erklärte, er würde die Sitzung nicht beginnen lassen, bevor nicht das Haus geräumt sei. Seine Worte gingen in Pfuirufen unter. Mit eiligen Schritten kam ein Mann zu August Lewin. Einige der Versammelten erkannten in ihm Roman Chwalek, den führenden Gewerkschaftsfunktionär Berlins, und winkten zu ihm hinüber. Der Berliner FDGB-Vorsitzende stellte sich neben den alten Matrosen. „Kollegen!" sagte er und rang nach Luft. „Wie ich eben erfahren habe, äußerten einige der CDU und der SPD angehörende Magistratsmitglieder die Absicht, die Sitzung der Stadtverordneten vom Stadthaus nach dem Schöneberger Rathaus zu verlegen, um dort - wie sie
meinten - unter dem Schutz anderer Mächte zu tagen!" Ein Sturm der Entrüstung brach los. Lewin reckte die Arme in die Luft, und der Lärm verebbte. „Arbeiter! Berliner! Ihr habt gehört, was hier im Gange ist!" tönte sein voller Baß. „Geben wir den Spaltern keinen Vorwand. Ich bitte euch, den Saal zu räumen, damit die Stadtverordnetensitzung beginnen kann. Wir Stadtverordneten der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands werden euch auf der Straße über Lautsprecher vollständig vom Ablauf der Debatte berichten."
Vor dem neuen Stadthaus: Zehntausende Werktätige verlangten energisch die Währungseinheit für ganz Berlin. Sie mußten ihren Sprechern gewaltsam Zutritt zum Stadtparlament verschaffen
Die Männer, Frauen und Jugendlichen folgten der Aufforderung. Irgendwo wurde die „Internationale" angestimmt. Der Gesang schwoll an und erfüllte bald das ganze Gebäude. So Verließen die Abordnungen den Saal und gingen hinunter zu den anderen Tausenden, die auf das Ergebnis dieser bedeutsamen Sitzung warteten. Nach zwanzig Uhr kam auf Betreiben der SPD und der CDU, gegen die Stimmen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, ein Beschlug zustande, in dem die Stadtverordnetenversammlung gemäß der Anordnung der Kommandanten der Westsektoren für die Einführung von zwei Währungen in Berlin eintrat. Damit teilten die Spalter nach Deutschland auch seine Hauptstadt. Zu dem Kommando der Arbeiterkontrolleure, das die Arbeit der Volkspolizisten am Sektorenübergang Oberbaumbrücke unterstützte, gehörte auch Heinz Lamprecht. Die Männer und Frauen waren seit mehr als vierundzwanzig Stunden auf den Beinen und übermüdet. Doch die Ergebnisse ihres Einsatzes ließ sie alle Strapazen vergessen. Über viereinhalb Millionen der ehemaligen Reichsmark hatten sie in dieser kurzen Zeit beschlagnahmt. In Koffern und Aktentaschen, unter Matratzen in Kinderwagen und auch als Gürtel um den Körper gebunden war versucht worden, die in den Westzonen bereits wertlosen Geldpakete von Kreuzberg in den Bezirk Friedrichshain hinüberzuschmuggeln. In umgekehrter Richtung ertappten die Kontrolleure Schieber beim illegalen Transport von Lebensmitteln und Sachwerten. Nach Einbruch der Dunkelheit ebbte der Strom der Passanten und der Fahrzeugverkehr ab. Lamprecht
betrachtete das Lichterspiel des Mondes auf dem Wasser der Spree und wollte sich eine Zigarette anzünden, da rollte ein Lastkraftwagen heran. Der Fahrer kurbelte die Scheibe herunter. „Halte mich nicht auf, Kumpel. Ich habe Papierrollen geladen. In der Druckerei warten sie auf mich. Morgen früh kannst du das schon bedruckt als Zeitung lesen." „Haben Sie einen Transportschein?" „Natürlich hab' ich. Was sollen diese Schikanen", protestierte der Fahrer. „Ordnungsgemäße Genehmigungen, sogar von der amerikanischen Militärregierung. Das genügt doch wohl." Heinz Lamprecht ließ sich nicht beirren. „In Ordnung. Steigen Sie bitte aus, wir wollen schnell noch die Ladung mit den Papieren vergleichen, dann können Sie weiterfahren." Der Fahrer zögerte. Seine Hand zuckte zum Anlasser. In diesem Augenblick traten zwei Volkspolizisten in den Lichtkegel der Scheinwerfer. „Gibt es Schwierigkeiten, Genösse Lamprecht?" „Alles klar soweit, ich sehe bloß noch mal nach." Er knipste eine Stablampe an und kletterte auf die Plattform. Die Volkspolizisten versuchten mit dem Fahrer zu plaudern, doch der zeigte sich nicht mehr für eine Unterhaltung aufgelegt. Schon nach kaum einer Minute kam Lamprecht zurück. „Tut uns leid", sagte er zu dem Chauffeur, „heute nacht wird man die Zeitungen auf anderem Papier drucken müssen. Dieser LKW ist bis zur Klärung der Herkunft der seltsamen Ladung beschlagnahmt. Papierrollen, das stimmte. Aber Antiquitäten waren nicht auf der Genehmigung vermerkt."
Hinter den Ballen versteckt, lagen kostbare Gemälde, Gobelins und wertvolle Porzellane, darunter -wie sich später herausstellte - unersetzbare Gegenstände aus staatlichen Kunstsammlungen, auch aus dem Märkischen Museum. Über seine Auftraggeber verweigerte der Fahrer jegliche Auskunft. Zwei Stunden nach Mitternacht tauchte aus dem Schatten die markante Figur von August Lewin auf, der sich gemeinsam mit Genossen der Landesleitung über die Situation an der Sektorengrenze informierte. „Grüß dich, Junior", sagte der Alte aufgeräumt. „Wie ich höre, habt ihr einigen Leutchen ganz schön das Geschäft vermasselt. Aber nun ab mit dir nach Hause in die Federn. Wir haben Ablösung mitgebracht. Und von morgen an ist dein Platz wieder in deiner Alchimistenküche. Da wirst du jetzt nötiger gebraucht." „Wird gemacht!" Lamprecht lachte. „Die Alchimistenküche wirst du noch reumütig zurücknehmen, August. Spätestens bei deiner nächsten Angina." In den Mittagsstunden eines der letzten Tage im Juni stießen Kinder beim Spielen im Schlesischen Busch auf einen grausigen Fund. Die Mordkommission der PolizeiInspektion Kreuzberg fand an der bezeichneten Stelle die Leiche eines Mannes. Kurz darauf wurde der Leichnam von amerikanischer Militärpolizei abgeholt. Der Tote konnte als Feliks Lewandowski, staatenloser Pole und Dolmetscher bei der amerikanischen Militärregierung in Westberlin, identifiziert werden. Eine Woche später erkundigte sich Johanna Lewandowski im Hauptquartier von General Clay nach Captain Cliff Roberts. Er hatte sich seit dem Abtransport der wertvollen Antiquitäten aus ihrem Atelier schon seit
Tagen nicht mehr sehen lassen. Frau Lewandowski erhielt die lakonische Auskunft, Captain Roberts sei auf eigenen Wunsch aus dem Dienst in der US-Army ausgeschieden und in die Staaten zurückgekehrt.