Arthur Bahr Gefährliche Annäherung Roman
Eine Frau, erotisch und attraktiv, hat ihren Ehemann und den kleinen Sohn auf ...
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Arthur Bahr Gefährliche Annäherung Roman
Eine Frau, erotisch und attraktiv, hat ihren Ehemann und den kleinen Sohn auf bestialische Weise umgebracht. War es kaltblütiger Mord oder die Tat einer Geistesgestörten? Der Psychoanalytiker und Gerichtsgutachter Dr. Simon Rose soll ihre Schuldunfähigkeit nachweisen. Er lehnt den Fall wegen Befangenheit ab, denn die Mörderin entpuppt sich als seine Jugendliebe. Und er stürzt dennoch in ein dunkles Abenteuer, weil sie ihn mit allen Mitteln zurückgewinnen will. Ein Thriller von nie nachlassender Spannung und beängstigender Dramatik, der die Schleier wegreißt von den Abgründen der menschlichen Seele.
Arthur Bahr Gefährliche Annäherung Roman Originaltitel »Certifiably Insane« Aus dem Amerikanischen von Günter Seib Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München 2002 ISBN 3-426-62171-1
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Das Buch Janice Jensen ermordet ihren Mann und ihren kleinen Sohn, eine grauenvolle Tat, die einer unglücklichen Ehe ein jähes Ende setzt. Die Mörderin, geistig offenbar stark verwirrt, behauptet, die Stimme ihrer toten Mutter gehört zu haben und von dieser zur Bluttat aufgefordert worden zu sein. Die Verteidigung von Janice übernimmt Kate Newhouse, die erfolgreiche New Yorker Anwältin mit einem Faible für schwierige Fälle. Um auf Schuldunfähigkeit plädieren zu können, bittet sie, einem Wunsch ihrer Klientin folgend, ihren besten Freund Dr. Simon Rose, als Gutachter tätig zu werden. Doch der Psychoanalytiker lehnt ab. Er hat in Janice, die noch immer erstaunlich gut aussieht, seine Jugendliebe wiedererkannt und sieht sich mit einem Stück unbewältigter Vergangenheit konfrontiert. Noch in der Nervenklinik, in die Janice vorübergehend eingewiesen wird, vor allem aber nach ihrer Entlassung setzt sie alles in Bewegung, um mit Simon ein neues Leben zu beginnen. Die fixe Idee einer seelisch Kranken? Oder der teuflische Plan einer geschickten Simulantin? Als Simon sich der unheilvollen Annäherung entzieht, sinnt Janice auf Rache: Sein Hund, seine Adoptivtochter, ja sogar Karte sind vor ihr nicht mehr sicher... Nie nachlassende Spannung und menschliche Dramatik zeichnen diesen Thriller aus, der die Schleier wegreißt von den Abgründen der menschlichen Seele.
Der Autor Arthur W. Bahr, Psychologe und diplomierter Psychoanalytiker, lehrte sein Fach am Downstate Medical Center in New York. Er arbeitete in der Drogenberatung und leitete eine Institution zur Vorbeugung gegen Selbstmord. Mitte der siebziger Jahre wechselte er zur Gerichtspsychiatrie in Michigan. Nachdem er sich dem Peace Corps angeschlossen hatte, ging er mit seiner Familie nach Ecuador. Gefährliche Annäherung ist sein erster und letzter Roman; er starb noch vor der Veröffentlichung.
ARTHUR W. BAHR
Gefährliche Annäherung ROMAN
Aus dem Amerikanischen von Günter Seib
Knaur
INHALT INHALT .......................................................................................... 5 PROLOG ......................................................................................... 7 ERSTER TEIL: STUBENHOCKER ......................................................................... 9 ZWEITER TEIL: SCHULDFÄHIGKEIT ................................................................ 185 DRITTER TEIL: VERBRECHEN UND GERECHTIGKEIT ................................ 271 EPILOG....................................................................................... 391
Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Certifiably Insane« bei Simon & Schuster, New York.
Vollständige Taschenbuchausgabe 2002 Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München Copyright © 1998 by Arthur W. Bahr Copyright © 1998 der deutschsprachigen Ausgabe bei Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden. Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Umschlagabbildung: Artwork by ZERO Druck und Bindung: Nørhaven Paperback A/S Printed in Denmark ISBN 3-426-62171-1
Prolog Janice häutete jede Weinbeere sorgfältig und hielt die nackt glänzenden Fruchtkügelchen gegen das Lampenlicht. Sie warf sie hoch und schnappte danach, zerkaute sie marionettenhaft und spuckte die Kerne vor sich auf den Teppich. Sie war in Blut gebadet. Die Haare klebten ihr davon am Kopf, Blut tropfte ihr durch die blonden Härchen auf den Armen, und geronnene Blutspritzer verklebten ihr die Wimpern. Sie roch wie frischpoliertes Messing. Als die letzte Beere abgezupft war, besah sie sich den Traubenbesen kichernd aus nächster Nähe, ließ ihn auf den blutdurchtränkten Teppich fallen und starrte mit ausdruckslosen Augen ins Leere. Der März war für Janice dumm gelaufen. Sie hatte ihre Stelle verloren. Es war eben eine Männerwelt, und sie hatten es ihr wieder mal nachdrücklich gezeigt. Ihr kleiner Sean hatte Lungenwasser bekommen. Janice hatte sich um ihn kümmern müssen, obwohl ihr Mutterschaftsurlaub von Rechts wegen schon vorbei war. Sie hatte dabei auf Verständnis gehofft. Irrtum. Rausgeschmissen hatte man sie. Dennis sei immer unberechenbarer geworden, je weiter ihre Schwangerschaft fortgeschritten war, erzählte sie später den Ärzten. Er sei zuallererst Polizist gewesen, Ehemann nur nebenbei, und er habe sich folglich besser aufs Wehtun verstanden als aufs Streicheln. Er habe genau gewußt, wie man Schmerzen zufügt, ohne blaue Flecke zu hinterlassen, und sie deswegen immer nur in die Nieren geboxt. 7
Aber das alles war jetzt vorüber. Sie genoß die Stille. Die Stimmen, die ihre Welt bevölkerten, waren endlich verstummt. Kein Säuglingsgeschrei mehr. Kein Gekeife. Wohltuende Stille. Alsbald tummelten sich Polizisten in der Wohnung, machten Blitzlichtaufnahmen und bliesen schwarzen Puder auf die Möbel. Die Spurensicherer trugen durchsichtige Gummihandschuhe, und Janice mußte dabei an Anstalten denken. Sie hätte sich von jeder Stimme gestört gefühlt, die in ihr Schweigen einbrach, aber daß es ausgerechnet Polizisten sein mußten, ging ihr total gegen den Strich. Also verharrte sie in ihrem meditativen Lotussitz und mummelte die verbliebenen zerquetschten Weinbeeren, die sie in der Tasche ihrer Kittelschürze gehortet hatte. Die letzten Kerne spuckte sie sich in den Schoß. Einer der Beamten, ein junger Polizeianwärter, wollte etwas von ihr wissen, aber sie lächelte bloß. Auf den jungen Polizisten wirkte sie wie einer kindlichen Höllenphantasie entsprungen. Und sie hatte offenbar keinen Schimmer, was er in diesem Schlachtfeld von Wohnung vorgefunden hatte. Sie wußte anscheinend nicht, daß ihr Mann tot auf dem Sofa lag und ihr kleiner Sohn tot im Bettchen, während sie dahockte und mummelte, vor sich hinstarrte und Traubenkerne ausspie. Sie sei nicht ansprechbar, meldete der Streifenpolizist. »Nicht mehr von dieser beschissenen Welt«, formulierte er wörtlich. Es war ein übler Monat gewesen. Aber das alles war jetzt vorbei.
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ERSTER TEIL Stubenhocker
1 Ende März ist New York total ekelhaft. Das Wetter ist ätzend, wenn es die letzten Klumpen winterlichen Schnupfenschleims vor unsere Füße rotzt. Sofern man nicht rund um die Uhr die Erste Liga im Basketball guckt, ist es Hochsaison für Selbstmörder. In Selbstmord mache ich nicht mehr. Wurde mir zu heavy. Eigentlich bin ich Fachmann darin, Selbstmordopfer psychologisch zu obduzieren. Nichts, worüber ein ehrbarer Polizist die Nase rümpfen würde. Wenn er die Zeit hätte, bei jedem Selbstmord so zu ermitteln wie in einem Mordfall. Wobei es freilich das gleiche ist. In meiner Privatpraxis hatte ich außer Selbstmordfällen fast nichts anderes mehr gesehen. Manche hatten sich die Pulsadern aufgeschnitten, andere sich zu Tode gehungert, mit Arzneimitteln vergiftet, erschossen, waren ins Wasser gegangen oder hatten sich selbst verbrannt. Im nachhinein konnte ich den Hergang jedesmal so perfekt aufdröseln, daß die Leute allmählich schon glaubten, ich könnte ihre selbstmordgefährdeten Lieben zur Räson bringen, bevor sie sich was antaten. Da täuschten sie sich gewaltig. Das schaffte ich nicht, und folglich ließ ich es lieber ganz. Ich wandte mich vom Selbstmord ab und dem Verbrechen zu: Ab und an eine Vergewaltigung oder ein Kindesmißbrauch, aber meistens Mord. Wenn Menschen nicht sich, sondern andere umbringen, ist das für mich gewissermaßen eine Erholung. 10
Die trübe Stimmung Ende März vertreibe ich mir damit, in der Glotze endlose Rivalenkämpfe hormonüberfluteter Jungmannen zu begucken, die unbedingt einen Ball ins Loch kriegen wollen. Die Symbolik dabei ist sonnenklar. Ich ignoriere sie eben. Frühmorgens, wenn die riesenwüchsigen Balldribbler noch schlafen, hocke ich im Kugelsessel am Fenster, in meiner Fruchtblase in die Welt, schmauche ein paar Stengel erlesenes Kraut und schütte meiner besten Freundin Tupelo Honey mein Herz aus. Tupelo ist eigentlich eine Hündin, in Wahrheit aber ist sie eine Perle der Zucht, meine Psychiaterin und liebste Gesellschaft, die einzig Verbliebene vom Stamme der Sara Smile, der Urmutter aller Goldenen Retriever. Auf Goldene Retriever stand ich schon vor deren Aufstieg zum Symbol des amerikanischen Traums, als sie noch stinknormale Hunde waren. Tupelo ist mittelgroß, schreitet gespreizt daher und trägt ein enganliegendes Trikot aus bernsteingelbem Flausch. Eine Augenweide. Dagegen bin ich schon ein bißchen sperriger. Schon als Junge hochgeschossen und schlaksig, bin ich als Erwachsener so geblieben. Mein Haar wächst seit den sechziger Jahren, wie es will, und ist noch immer vorwiegend braun. An den Schläfen färbt es sich weiß, in einer schrägen Mischung von Ehrbarkeit und Geschecktheit. Der Bart, hinter dem ich mich schon seit fünfundzwanzig Jahren verstecke, ist mittlerweile mehr Salz als Pfeffer. Eines Morgens saß ich mit Haarspitzenkatarrh in meinem Erker, Tupelo auf ihrem abgewetzten Flickenteppich schräg hinter mir, justament in meinem toten Winkel. Keine Ahnung, wo sie sich das abgeguckt hatte, denn mit der Couch habe ich nie gearbeitet, auch nicht in den Zeiten, als ich noch wie ein echter Seelenklempner tat. 11
»Ich weiß nicht, wie anfangen«, redete ich Tupelo nach rückwärts an, aber ich konnte nicht bei ihr landen. Sie erhob sich, schüttelte sich von Kopf bis Schwanz und trabte zur Tür. Entweder war ihr langweilig, oder es kam jemand, und Tupelo hatte das wie immer lange vor mir gehört. Ich sah aus meinem Erker hinter ihr her. Hoffentlich keine Arbeit. Hoffentlich kein Dringlichkeitsauftrag für ein Gerichtsgutachten. Hoffentlich brauchte ich gar nicht erst aus meinem Sessel hoch. Tupelos schweifwedelnde Erwartungshaltung aber bewies, daß alle Hoffnungen müßig waren. Ich machte auf, noch bevor es klingelte, und trat vor die Haustür. Kalter Nieselregen sprühte mir ins Gesicht, perlte auf meiner Nickelbrille und nahm mir die Sicht. Aber das Geräusch war unverkennbar. Das Kate-Mobil. Also doch keine Arbeit. Kate war gekommen. Ich verzog mich wieder in meinen Erkersessel und harrte der Dinge. Bis zur Tür würde sie eine Weile brauchen, aber ich hatte früh lernen müssen, daß sie es als persönliche Beleidigung nahm, wenn man ihr helfen wollte. Kate hatte ihr K-Mobil selbst entworfen und jede Phase der Konstruktion überwacht, als hänge ihr Leben daran. Und zum Teil war es ja auch so. Ursprünglich war es ein Nissan Pathfinder gewesen, aber inzwischen war allerhand dazugekommen: Der Fahrersitz ließ sich um hundertachtzig Grad nach hinten zu einer Plattform drehen, auf der ihr Rollstuhl arretiert war. Dann schwang sie sich geschickt in ihren Rolli und drückte die Tasten einer Fernbedienung, die aussah wie die Komfortbedienung für den durchschnittlichen Stubenhocker. Nur daß Kate damit nicht den Videorecorder einschaltete, sondern sachte die Plattform 12
absenken, die Hecktüren öffnen und den Rollstuhl auf die Straße lenken konnte. Gleichfalls per Fernbedienung ließ sie dann die Plattform wieder einfahren und betätigte die Zentralverriegelung. Auch der Rolli war kein Standardmodell. Sie konnte ihn von Hand vorwärtsbewegen oder einen Motor einschalten, der wohl aus einer Harley-Davidson 950 ausgeschlachtet war. Jedenfalls kam’s mir so vor. Wenn sie herzhaft Vollgas gab, konnte sie einen qualmenden Gummikreis auf den Asphalt radieren. Lieber aber bewegte sich Kate motorlos fort. Jahrelang hatte sie beim Behindertenmarathon hervorragend abgeschnitten, und auch wenn sie jetzt keine Rennen mehr fuhr, trieb sie regelmäßig Gymnastik und hielt sich fit. Es war ihr sehr wichtig, daß sie körperlich auf Draht blieb. Sie winkte zu meinem Erkersessel hoch, und ich konnte sie im ersten Gang die Rampe zu meiner Haustür hochschnurren hören. Bei Regen war der erste angesagt. »Hast du den März nicht langsam satt?« fragte sie im Hereinrollen, kraulte dabei Tupelo und ließ sich von ihr sachte die Wange stupsen. Sie hatte wegen des Regens einen schicken roten Lackumhang mit Kapuze übergeworfen. »Nein«, antwortete ich, »aber du hast mir gefehlt.« Ich beugte mich zu ihr hinunter, nahm sie in die Arme und drückte ihr die Luft ab, bis sie ächzte. Dann ließ ich wieder los. Ich bin kein Gewaltmensch, nur ein bißchen überschwenglich. Ich stand da und sah auf sie nieder, während sie sich aus ihrem Umhang schälte. »Hast du Zeit für ein Täßchen Tee?« erkundigte sie sich mit ihrer Kleinmädchenstimme für gute Freunde. Ihr lautes Organ gebraucht sie nur im Gerichtssaal. Alles an seinem Ort. Kates Erdung ist besser als die aller anderen Leute, die ich kenne. 13
»Klar, mach’s dir gemütlich. Ich stell den Kessel auf.« Kate hatte mir den Wasserkessel gereicht. Sie rollte sich in die »Kopfwerkstatt«, wie ich mein Sprechzimmer nenne, und belächelte wie immer die Schrift auf der Tür. Hier hält Gerichtspsychiater Dr. habil. Simon Rose Sprechstunde, heißt es da. Und das obendrein auf Kathedralglas wie bei Raymond Chandler, ein deutlicher Hinweis auf meine zwiespältige Einstellung zu meinem Beruf. Kate findet den Gag zum Totlachen. »Du weißt immer noch nicht, was du werden willst, wenn du mal groß bist«, rief sie mir durch den Flur in die Küche hinterher. »Nein, aber ich weiß genau, ich stehe kurz vor dem Durchbruch«, schrie ich zurück und hörte sie lachen. Den Tee servierte ich auf einem japanischen Lacktablett, auch ein Geschenk von Kate. Ihre Art, dafür zu sorgen, daß sie sich bei mir wohl fühlt, indem sie mir alles schenkt, was ihr gefällt und darauf vertraut, daß ich Grips genug habe, es auch zu gebrauchen. Kate kann andere Menschen hervorragend steuern, eine in ihrem Beruf unerläßliche Fähigkeit, und ich bin Wachs in ihren Händen. Ich kenne sie seit fünfzehn Jahren und habe sie schon fast ebenso lange lieb. Wie immer saß Kate am liebsten beim Kamin. Sie steuerte den antiken William-Morris-Chair an, ließ sich hineinfallen, klappte den Rollstuhl zusammen und verstaute ihn auf dem Boden neben sich. Im Wechseln der Sitzgelegenheit war sie Expertin. Mühelos schwang sie sich in den Rolli und wieder heraus. Sie reichte mir ihren Umhang mit einer Handbewegung, als sage sie: Schaff mir das vom Hals! Ich drapierte ihn über den Thonet-Kleiderständer und ließ mich direkt neben ihr in dem Mies-van-der-Rohe-Liegesessel nieder, einem meiner Lieblingsplätze auf diesem Planeten. 14
»Danke schön, Simon«, sagte sie und wärmte die kalten Hände an der Tasse mit frischgebrühtem Kamillentee. Allgemein verhält es sich so, daß Kate ihre Sachen nicht trägt, sondern von ihnen getragen wird, und auch im Gesicht bekennt sie sich zu ihren achtundvierzig. Sie hatte eine ehrwürdige Gabardinehose an und einen vermutlich selbstgestrickten Rollkragenpullover mit Zopfmuster. Ich hielt mit einem klassischen T-Shirt mit LovingSpoonful-Aufdruck, einer grobgewebten Baumwollbundfaltenhose mit Weite genug für Freunde und mit BirkenstockSandalen dagegen. So saßen wir am Kamin, wie zwei Relikte aus einer anderen Epoche, und wärmten uns an der Glut. Sie war so anmutig wie immer, feine Züge, schmales Gesicht und blasser Teint. Ihr glattes braunes Haar war kurz und schlicht geschnitten. Sie hatte es hinter den Ohren festgesteckt. Eitel ist sie durchaus, aber nicht in Äußerlichkeiten. Damenmode ist ihr schnuppe, und sogar vor Gericht, wo sie ihre Heimspiele bestreitet, kommentiert kein Mensch ihre grauen Kostüme. Dort macht sie sogar den Rollstuhl vergessen. Der Name Katherine Newhouse erstrahlt unter den besten und intelligentesten eines Berufsstands, in dem allerhand Mittelmaß wuselt. Sie ist Strafverteidigerin, und ihr Fach sind Frauen, die abgrundtief drinhängen. Kate verteidigt Frauen, die ihre Zuhälter erstechen, ihre Vergewaltiger umlegen, ihre Unterdrücker plattmachen, seien es Gatten, Liebhaber oder Väter. Sie übernimmt jeden aufsehenerregenden, anspruchsvollen Fall, ohne an das Honorar zu denken. Geld hat sie mehr als genug. Sie ist eine Institution, schätzt und pflegt ihren Ruf und arbeitet hart, um sich nicht auf ihm auszuruhen. Kate rührte vorsichtig ihren Tee um, sah zu, wie die Stengel und Blüten in ihrer Tasse kreisten, und sog den 15
lieblichen Kamillenduft ein. Sie stellte die Tasse auf das Tischchen, damit sich der Tee setzte. Erst danach war sie zum ernsthaften Gespräch bereit. »Hast du in den letzten Wochen Nachrichten geguckt?« Das wußte sie doch genau. Es war März. »Ä-ä«, verneinte ich kopfschüttelnd. »Bloß Basketball, nicht mal Kurznachrichten.« So mag ich es am liebsten. Hoffentlich machte sie mir diese Stimmung nicht zuschanden, indem sie was Bedeutsames berichtete. Die leise Ironie in ihrem Blick sagte mir, daß sie was in petto hatte. »Hast du schon mal von der Jensen gehört?« »Von wem?« »Von der Jensen. Vorname Janice.« »Nein, hätte ich sollen?« »Vielleicht.« Sie schien zu überlegen und schwenkte um. »Nein, erst kommt das Wichtigste«, meinte sie und griff nach ihrem Tee. Sie blickte sinnierend in die Tasse, nahm einen Schluck und grinste mich an wie ein Honigkuchenpferd. Ich hörte die Nachtigall schon trapsen. Diesen Blick kannte ich. Sie hatte wieder eine Frau für mich aufgetan. »Nein. Da läuft nichts. Nie wieder in diesem ScheißLeben. Vergiß es!« Ordinär werde ich bloß, wenn ich Tacheles reden muß. »Simon.« Sie seufzte mit einer unendlichen Geduld, die sie gar nicht besitzt. »Wie lange ist das jetzt her?« »Das weißt du nur zu gut. Wahrscheinlich sogar auf den Tag genau.« Ich stelle die Stacheln auf, wenn jemand an meine Narben rührt. »Und deswegen nehme ich mir das Recht, dich darauf anzusprechen, frei von der Leber weg, und zwar ohne daß 16
du vor mir auf Abwehr schaltest. Schließlich bin ich es, oder?« »Ja, schon.« Jetzt seufzte ich und wußte, daß ich sie anhören würde. »Aber keine Treffen mit Unbekannt, klar?« »Klar. Ich überspringe den Teil, wo ich dir vorhalte, daß dein Witwerdasein für dich zur Identität, zur Panzerung gegen die Welt, zur Universalabwehr geworden ist. Haben wir schon x-mal abgehakt. Ich hab immer gewußt, daß du den steinigsten Weg nimmst, wenn du ihn nur findest, und daß du das kannst, hab ich nie bezweifelt. Aber inzwischen bist du fünfundvierzig. Ich hätte gedacht, daß du den Witwerstand, wenn du schon dabei bleiben willst, wenigstens auszunutzen gelernt hättest. Witwer sein ist eine Goldgrube. Die Weiber stehen auf so was. Kann in puncto Eroberungen mit Querschnittslähmung glatt mithalten. Und da kenn ich mich aus. Ich hab mehr Männer mit diesem verdammten Rollstuhl verführt als mit meiner ganzen Laszivität und verlockenden Figur. Aus irgendeinem Grund, den du mir sicher irgendwann mal erklärst, meinen die Männer, ich hätte kein sexuelles Verlangen. Sie kommen einfach nicht drauf, daß ich vielleicht genausoviel Lust darauf hab wie sie. Als wären Beine die einzige erogene Zone. Schnallen die das einfach nicht? Bin ich abgestorben, weil ich nicht mehr mit den Füßen wippen kann? Wenn’s ihnen dann aber endlich dämmert, wird der Reiz unwiderstehlich. Sie kommen nicht mehr dagegen an. Ich hab das erkannt und nutze es schamlos aus. Du aber gehst mit deiner aufreizendsten Eigenschaft um wie mit einem Keuschheitsgürtel. Alles geht dir am Arsch vorbei. So eine Verschwendung.« Ich hätte ihr sagen können, daß ich die Vorzüge des Witwerdaseins durchaus zu schätzen wisse, aber eben noch nicht gelernt hätte, etwas daraus zu machen. Ich hätte ihr sagen können, daß ich mich schon ewig nicht mehr dadurch definierte, ob ich mit einer Frau zu17
sammen war oder nicht. Alleinstehende Frauen hätten dasselbe Problem. Keinem gehe es in den Kopf, daß sie womöglich freiwillig so leben wollen. Ich hätte ihr sagen können, daß ich sie liebhabe. Ich hätte ihr sagen können, sie solle den Mund halten. Statt dessen blieb ich sitzen und starrte schweigend ins Feuer, sog den Zedernholzgeruch ein und versuchte, mir Kate auf zwei Beinen vorzustellen. »Ich sorg mich um dich, Simon. Ich hab Angst, daß du da nie mehr rausfindest, wenn nicht jetzt. Du läßt niemand an dich ran.« »Dich hab ich rangelassen.« »Ich weiß, aber mit mir ist es was anderes. Ich bin dir keine Bedrohung.« »Und Debby?« »Auch mit der ist es was anderes, und das weißt du genau. Damit kommst du mir jedesmal. Du weißt genau, was ich meine.« »Ich weiß, was du meinst, und ich muß dir eines sagen: keine Verabredungen mehr. Laß die Finger davon. Nenn denen nicht mal meinen Namen.« »Ich nenn keine Namen.« »Sehr verbunden. Und was macht Sidney?« wechselte ich das Thema. Sidney war Kates neuestes »Kuscheltier«, wie sie es nannte. Er war wohlhabend, womit sie auf gleichem Fuße standen, und das Verhältnis hielt schon länger als üblich, fast ein Jahr. Ich mochte ihn nicht, aber ich hatte noch keinen von ihren Verehrern leiden können. Kate hatte eine Begabung, sich die Falschen auszusuchen. Sie war zwar kompetent und intellektuell meist überlegen, doch in der Liebe fiel sie jedesmal fürchterlich rein. Sie suchte sich ein Opfer nach dem andern aus, einen 18
Versager nach dem andern, eine Verheißung um die andere, alles in einer vergeblichen Suche nach Nähe. Meistens bekam sie den Laufpaß. »Der ist auf und davon.« Das ging ihr glatt über die Lippen, so als tue nichts weh, aber ihr Gesicht sprach Bände: »Ich glaub, den hab ich überfordert.« Am meisten fesselt mich an Kates Gesicht ihre Oberlippe. Sie verzieht sie eigenartig, wenn sie Gefühle zeigt – Wut, Ärger, Trauer, Erregung – ich weiß nie genau, welches Gefühl dieses Lippenkräuseln auslöst, aber Hinsehen lohnt sich immer. »Bist du unglücklich oder erleichtert?« »Ich laboriere am Rand einer akuten exogenen Depression, aber das ist nichts, was nicht mit Arbeitswut und einer Kanne Tee kuriert werden könnte.« Damit entspannte sich ihre Oberlippe wieder. Sie war hart im Nehmen, schmerzgestählt. »Machst du neuen Tee?« Ich trug die Kanne in die Küche. Kate war schwierig zu trösten, aber deswegen war sie ja nicht hergekommen. Sie wollte nicht über Sidneys Abgang jammern. Sie war auch nicht hier, um mein seit Jahren erstorbenes Liebesleben zwangszubeatmen. Ich konnte das Hochleistungsinstrument des Analytikers ansetzen und es mit einer offenen Frage versuchen. Oder ihr das Geheimnis mit Schweigen entlocken. Wenn man sie anschweigt, wird den meisten so unwohl, daß sie losquasseln. Seelenklempner sind darauf geeicht, mit Schweigen umzugehen, Durchschnittsmenschen nicht. Doch Kate war kein Durchschnitt, und daher fiel mir nichts mehr ein. Ich brachte den frischgebrühten Tee herein und stellte ihn ab. Kate hantierte umständlich mit der Kanne und verkündete nach einer Weile: »Ich hab da einen ganz besonderen Fall. Ich möchte mit dir zusammenarbeiten.« 19
Kate und ich machen nichts gemeinsam. Wir haben das Thema Zusammenarbeit seit unserer ersten und einzigen Konfrontation vor Gericht oft angeschnitten, uns aber jedesmal entschieden, unser besonderes Verhältnis zueinander nicht zu riskieren, indem wir es der unerträglichen Belastung eines Mordprozesses aussetzen. Lieber gehen wir weiter spielerisch miteinander um und bieten einander Asyl. Überrascht und neugierig wollte ich wissen: »Warum gerade jetzt?« »Weil der Fall außergewöhnlich ist, und du bist es ebenfalls. Seit deiner letzten Prognose wirst du hoch gehandelt. Die Titelstory in Mother Jones hat deinem Renommee nicht gerade geschadet.« »Blödsinn«, knurrte ich. »Das ist schon fast ein Jahr her, und du weißt doch, wie viele Leser Mother Jones hat. Etwa sechzig. Eine treue Gemeinde fürwahr.« »Und die andern gucken jeden Abend in der Glotze Peter Jennings. Wie hat er dich gleich genannt. ›Privatermittler am Tatort Seele‹. Hat mir gefallen. Und deine Prognose war schlicht genial.« Da wurde ich sauer. »Ich hab’s dir schon mal gesagt, ich hab überhaupt nichts prognostiziert. Ich hatte einen Rochus und hab rumgelabert. Die Kamera hab ich überhaupt nicht bemerkt. Über den Prozeß haben sie damals nicht mal was gebracht. Aufgewärmt haben sie’s erst hinterher, in der Sauregurkenzeit im August.« »Aber du hast doch richtig gelegen, oder? Das ist doch der Knackpunkt. Psychiater sagt voraus, daß Täter dreißig Tage nach Freilassung wieder vergewaltigen wird. Täter plädiert mit Erfolg auf Schuldunfähigkeit und wird nach kurzer Intensivtherapie aus Anstalt entlassen. Bestätigt dann die Prognose des Psycho. Genau dreißig Tage später. 20
Hat Peter Jennings gesagt, und der würde bei so was nicht lügen.« »So war’s doch gar nicht. Ich hatte ’ne Stinkwut und hab mich deshalb von den Reportern vorm Gerichtsgebäude ansprechen lassen. So ein Arschloch vergewaltigt drei Frauen und behauptet, der Teufel hätte ihn dazu gezwungen. Spielt den Geschworenen was vor. Macht ihnen den Schizophrenen, den Paranoiker. Absolviert die Sechsmonatstherapie und wird auf freien Fuß gesetzt. Der einzig wirkliche schuldunfähige Vergewaltiger, der mir je untergekommen ist, hatte die eigene Mutter genotzüchtigt. Der aber war das nicht. Also hab ich vom Leder gezogen. So ist das gewesen.« »Woher hast du gewußt, daß der Täter wieder vergewaltigen würde? Hexerei?« »Nein, nur ein altehrwürdiger Lehrsatz: ›Einmal ein Sauhund, immer ein Sauhund.‹ Von Freud, anno 1933, glaub ich.« »Wie dem auch sei, mein jetziger Fall ist wie geschaffen für unsere erste Zusammenarbeit. Liegt genau auf deiner Linie. Hör mich an. Ich will von dir nur eine Aussage zur Verhandlungsfähigkeit.« Kate berichtete, wie der März für Janice Jensen verlaufen war. Offenbar hatte sie selbst das Blutbad in ihrer Wohnung veranstaltet. Da gab es keinen großen Unbekannten mit Bart und Perücke, nur eine Frau mit ihren Dämonen. »Die ist so gut wie geliefert«, sagte ich. Auf Schuldunfähigkeit lasse sich nicht mehr so gut plädieren, seit John Hinkley nach seinem Attentat auf Präsident Reagan behauptet hatte, er habe unbedingt Eindruck auf die Schauspielerin aus Taxi Driver machen müssen. Die Geschworenen hatten ihm das abgekauft, die Öffentlichkeit aber 21
nicht. Heute würde dergleichen nicht mehr so ohne weiteres laufen. Kate nickte. »Ist sie schuldunfähig?« fragte ich. Das hatte sie schon so oft abgekaspert, daß sie es wissen mußte. »Ich hab keine Ahnung. Deshalb will ich ja, daß du sie dir ansiehst.« Sie hatte wieder das ironische Glitzern im Blick. Ich sah es genau. »Verrätst du’s mir?« fragte ich. »Was?« »Das, was du mir verschweigst. Denk dran, schließlich bin ich es.« »Ja, du bist’s. Und genau deswegen will ich dich ja. Auch Janice Jensen will dich. Sie hat nach dir verlangt.« »Nach mir verlangt?« »Sie will nur dich.«
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2 Ich ließ Kate bei ihrem Kamillentee sitzen und führte Tupelo Gassi. Wir gehen zweimal täglich raus, morgens und tief in der Nacht. Unglaublich, welche Selbstüberwindung notwendig ist, sich dabei keine Uzi-Maschinenpistole umzuhängen. Und obendrein lasse ich gern mein Nobelviertel Gramercy Park hinter mir und dringe stadteinwärts in meine gefährliche frühere Heimat vor. Wir sind ohne Waffe und unangeleint unterwegs, in krasser Mißachtung von Überlebensgrundsätzen und erst recht von Leinen- und Maulkorbzwang. In einer Stadt, wo Paranoia keine Krankheit, sondern ein Evolutionsvorteil ist, gehe ich spazieren, ohne einen Gedanken daran, wer womöglich hinter mir herschleicht. Ich bin bereits dreimal überfallen worden, verschwende aber keine Zeit auf die Angst. Ich war aufgewühlt, und Tupelo konnte es riechen. »Wer ist es diesmal?« wollte sie wissen. »Die Weiber«, bekannte ich und nahm den Faden wieder auf, den ich vor Kates Besuch gesponnen hatte. Frauen stehen bei mir im Mittelpunkt, allerdings rein theoretisch. In Wirklichkeit bin ich eingefleischter Witwer und will kein Weib mehr so nah an mich ranlassen, daß es mich trifft, wenn ich sie verliere. »Werd genauer!« Herumdrucksen macht Tupelo ungeduldig. »Kate.« 23
»Weiter.« Sie nickte auffordernd. »Wenn sie sich doch bloß nicht in mein Liebesleben einmischen würde.« »Du hast keins.« Tupelo kann grob werden, wenn nötig. »Also dann in mein hypothetisches Liebesleben. Ich will selber damit klarkommen. Sie soll den Scheiß lassen.« »Und du auch.« Eins zu null für den Retriever. »Sie soll sich ganz aus meinem Liebesleben raushalten.« Ich hätte schwören mögen, daß der Hund eine Braue hob. »Hast du ihr das gesagt?« »Weiß sie doch.« »Du hast die Frage nicht beantwortet«, knurrte sie. »Ich hab ihr gesagt, sie soll nichts mehr für mich arrangieren. Du warst doch dabei. Ich such mir meine Weiber selber.« »Das will ich sehen.« »Wie?« »Mach ein Rendezvous aus!« »Mach ich ja.« »Wann?« »Bald.« »Noch mal zu den Weibern. Was bedrückt dich?« »Kate.« »Was ist mit Kate?« »Sie fuhrwerkt in meinem Liebesleben rum.« »Du wiederholst dich. Nicht sehr überzeugend. Und was ist noch mit Kate?« Ich merkte, daß Tupelo in eine bestimmte Richtung wollte, und ließ mich darauf ein. »Offen gesagt, mir graut davor, mit Kate zu arbeiten. Ich hab mir geschworen, nie 24
wieder mit ihr im selben Gerichtssaal zu stehen. Im ganzen Leben nicht.« »Also geht es doch nicht bloß um dein Liebesleben.« »Nee.« Tupelo griente, wie immer, wenn ich endlich auf der richtigen Spur war. Kate und ich sind einander vor Gericht begegnet. Ich war Sachverständiger für die Staatsanwaltschaft von New York, noch nicht trocken hinter den Ohren, produzierte pro Woche fünfzig Stellungnahmen zur Verhandlungsfähigkeit, lieferte etwa ein Dutzend eindeutig verneinende Gutachten zur Schuldfähigkeit und kümmerte mich als Therapeut um Heerscharen von Verlorenen, die bereits als schuldunfähig sicherheitsverwahrt waren. Fürsorge und Behandlung bestanden darin, daß ich Rezepte ausschrieb und den Anstaltsinsassen zu sinnlosen selbstverfaßten Anträgen auf Haftverschonung riet. Ein mieser und elender Zeitvertreib für alle Beteiligten. Berufsanfänger lassen sie nur die Verhandlungsfähigkeit begutachten. Über Schuldfähigkeit, den Eckstein jedes möglichen Plädoyers auf Schuldunfähigkeit, entscheiden die alten Hasen. Das ist das Filetstück der Gerichtspsychiatrie, die Quelle von Ruhm und Macht. Gerichtspsychiater verbreiten sich unter Eid über Dinge, die kein Mensch wissen kann. Konnte der Angeklagte zum Zeitpunkt der Straftat zwischen Recht und Unrecht unterscheiden? Woran zum Teufel soll das einer bei einem anderen erkennen? Aber sie bezahlen uns dafür, daß wir das wissen, also wissen wir’s eben. Hätte der Angeklagte dem Drang widerstehen können, seinem Vater ein Messer in den Bauch zu rammen? Sachverständig oder nicht, so eine Frage kann keiner wahrheitsgemäß beantworten. Die Verantwortung aber ist erdrückend, oder zumindest 25
empfindet man das so, denn schließlich geht es um ein Menschenleben. Ob nicht schuldig wegen Schuldunfähigkeit oder schuldig im Sinne der Anklage ist in Mordprozessen der Unterschied zwischen Leben und Tod. Das Gutachten des Gerichtspsychiaters bedeutet entweder zwanzig Jahre bis lebenslänglich oder eine sechsmonatige Stippvisite in einer Heilanstalt. Über die Verweildauer in der Anstalt entscheiden die Ärzte. Können sie die sichere Prognose stellen, daß der Patient sich und andere nicht mehr gefährden kann, ein ebenso unmögliches Unterfangen, kommt der Patient frei. Es kann also sein, daß auf Mord nur sechs Monate Sanatorium stehen. Und Ärzte können irren. Bei Schuldunfähigkeit geht es um ein Ratespiel mit vollem Risiko in einem Geschäft, bei dem eigentlich keine Fehler passieren dürfen. Jeder Irrtum zieht eine Blutspur nach sich. Eben deswegen lassen sie die Berufsanfänger bloß die Verhandlungsfähigkeit begutachten. Eine Arbeit für intelligente Schimpansen, und Fehler lassen sich ausbügeln. Das Interview zur Verhandlungsfähigkeit könnte ein Zehntkläßler durchführen. Bei so was geht es nicht um Leben und Tod, sondern nur darum, ob der Anklagte »im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte« ist und der Verhandlung folgen kann. Sachverständige oder Zehntkläßler brauchen etwa drei Minuten, um die Verhandlungsfähigkeit festzustellen. »Was wird Ihnen vorgeworfen?« – »Überfall auf ’nen Schnapsladen.« – »Was ist da gewesen?« – »Mann, gar nix. Ich war nich mal dort.« – »Was kommt jetzt?« – »Ich krieg ’nen Prozeß, und der Mann schickt mich inne Kahn.« Begreift er, was Sache ist, kann er auch der Gerichtsverhandlung folgen. 26
Gelegentlich gerät man an einen Angeklagten, der dermaßen im Wald steht, daß er keinen Schimmer hat, was ihm überhaupt vorgeworfen wird, was ein Anwalt ist, oder warum der Typ in dem erhöhten Sessel eine schwarze Kutte anhat. Er wird in die passende staatliche Anstalt eingewiesen, um abzuwarten, ob er irgendwann wieder klar wird. Die wirklich Verhandlungsunfähigen bleiben dort und werden nie vor Gericht gestellt. Sie bevölkern den Maßregelvollzug. Mitten in meiner Anfängerzeit als Gerichtspsychiater geriet ich einmal rein zufällig mit Katherine Newhouse aneinander. Ein nachhaltiges Lernerlebnis. Bevor sie Staranwältin wurde, hatte Kate Routineverfahren wie unsereins auch. Sie verteidigte eine Frau, die beschuldigt wurde, eine teure Perlenkette aus der Schmuckwarenabteilung eines großen Warenhauses gemopst zu haben. Bei Ladendiebstahl ist die Beweislage simpel. Entweder man hat vor Verlassen des Ladens gelöhnt oder nicht. Kates Mandantin hatte nicht. An meinem Auftrag, zu ihrer Verhandlungfähigkeit Stellung zu nehmen, geriet ich nach dem Alphabet. Ich befragte die Dame zweiundzwanzig Minuten lang, wobei sie mir in dieser Zeitspanne verklickerte, die Perlen harmonierten mit ihrem beigen Kostüm, Papa habe ihr den Unterhalt gestrichen und sie habe sie folglich wirklich nicht kaufen können, und ihre junge Rechtsanwältin sei brillant und werde sie schon rauspauken. Ich fand sie sowohl verhandlungsfähig als auch strafwürdig. Zu meiner Verblüffung wurde ich zur Verhandlung geladen. In so einfachen Fällen wurde meine schriftliche Stellungnahme von Staatsanwaltschaft und Verteidigung sonst kommentarlos akzeptiert. Katherine Newhouse akzeptierte nichts. Sie nahm mich ins Kreuzverhör. 27
Daß sie mich wie ein Kartoffelstäbchen fritierte, wäre die bessere Beschreibung gewesen. Sie erkundigte sich nach meiner Vertrautheit mit bestimmten Details aus der Intimsphäre ihrer Mandantin, von denen mir manche wohl nicht mal in einer dreijährigen Psychoanalyse bekannt geworden wären. Wie sie verhüte. Ob sie lesbisch sei. Ob sie eine Abtreibung gehabt habe. Ob ihre Großmutter geistesgestört gewesen sei. Ob von ihrer Sauberkeitserziehung ein besonderes Trauma zurückgeblieben sei. Zwar war nichts davon für die Verhandlungsfähigkeit der Mandantin relevant. Aber die geballte Wirkung des ständigen »Ich weiß nicht« eines unerfahrenen Gerichtspsychiaters auf hundertfünfzig Einzelfragen weckte so begründete Zweifel an meinem Sachverstand, daß die Richterin ein Zweitgutachten in Auftrag gab. Eine lehrreiche Demütigung. Ich lernte was über Prozeßvorbereitung, anwaltliches Auftreten, systemimmanente Grenzen des Arbeitsauftrags einer staatlichen Bürokratie – und über die charismatische Durchsetzungsfähigkeit von Katherine Newhouse. Im Flur vor dem Gerichtssaal, als ich ungeduldig auf den Aufzug wartete, rollte Katherine Newhouse neben mich. Ich wollte ihr die Meinung geigen, aber mir fiel nichts ein. »Trinken Sie ’ne Tasse Kaffee mit mir, Doktor. Ich werd schon nicht beißen. Ehrenwort.« Ihre Stimme war sanft und einschmeichelnd, die Kleinmädchenstimme, nicht das bedrohliche Gerichtssaalorgan. »Ehrenwort, ich hopse nicht auf ihren klappernden Knochen herum. Echt nicht. Es passiert Ihnen nichts.« »Ihren Fetzen Fleisch haben Sie sich ja schon gekrallt, Frau Anwältin.« Ich fuhr mit imaginären Klauen durch die Luft. »Lassen Sie’s mich gutmachen. Kaffee?« 28
»Kaffee tut’s nicht«, widersprach ich, bereits von ihr eingenommen. »Ein Abendessen wäre immerhin ein erster Ansatz.« Sie führte mich in eines ihrer bevorzugten Vorstadtrestaurants von der Sorte, die Salatteller, Pasta und Mineralwasser auf der Karte anbieten. Wenigstens wedelten da keine Farne. Der Besitzer war ein ehemaliger Mandant, der ihr offenbar einiges schuldete, uns schamlos umwieselte und selber für uns kochte. Nichts davon stand auf der Karte, und alles, von den antipasti über die spaghetti al pesto bis zum espresso war vorzüglich. Wir sprachen über Anwaltspraxis und Gerichtspsychiatrie und tasteten uns langsam zu Privaterem vor. Nachdem wir gegessen hatten, kam es mir vor, als kennten wir uns schon ewig, seien womöglich Geschwister. Da hätte sie die große Schwester sein müssen, wenn auch nur drei Jahre voraus. Was Weisheit und Abgeklärtheit anging, wirkte sie viel älter. Auch sie hatte das Gefühl, wir seien schon jahrelang Freunde. Sie nannte es »sich finden«. So was kommt vor. Seit damals verbringen wir mindestens zwei Abende die Woche zusammen und telefonieren unzählige Male. Wir sind einander sehr nah, seelenverwandt seit unserer ersten Begegnung. Aber noch nie hatte sie mich gebeten, zusammen mit ihr einen Fall zu bearbeiten. Seit fünfzehn Jahren tauschen wir Vertraulichkeiten aus und erörterten Fälle, ohne Namen zu nennen, doch bis zu diesem grauen Märzmorgen hatten wir die Grenze nie überschritten. Und genau das war mir nicht koscher. Wie ich Kate kannte, hatte sie bestimmt einen triftigen Grund, mit der Tradition zu brechen. Was immer der war, genannt hatte sie ihn mir nicht. 29
»Sie treibt Spielchen mit mir«, verkündete ich schließlich, nachdem ich zweiundzwanzig Häuserblocks darüber nachgedacht hatte. »Und das paßt mir nicht. Sie ist nicht offen zu mir.« Tupelo trabte neben mir, Schwanz hoch, die Schnauze geradeaus, ohne einen Piep zu machen, und daran erkannte ich, daß ich richtig lag. Nun mußte ich nur noch rauskriegen, was für ein Spiel Kate mit mir trieb. Es gehe hier um was anderes, hatte sie gesagt, um einen »außergewöhnlichen Fall«. Wie außergewöhnlich? Die Beschuldigte hatte nach mir verlangt? Warum? Hielt sie sich an mein Renommee, mußte sie mich für einen Vergewaltigungsexperten halten. Sollte sich das als das Überraschungselement im Fall Jensen erweisen? Die Teufelchen in Kates Augen sprachen dagegen. »Liegt genau auf deiner Linie«, hatte sie zu dem Fall gemeint. Was lag da wohl auf meiner Linie bei einer Frau, die ihrem Ehemann mit dem eigenen Dienstrevolver vier zusätzliche Löcher in den Kopf macht? Einen Ehemann habe ich nicht. Was lag auf meiner Linie bei einer Frau, die erst ihren Ehemann erledigt und dann ihren kleinen Sohn mit einem Messer absticht, mit dem sonst Fisch geschuppt wird? Einen Sohn habe ich nicht, und Fisch esse ich auch keinen. »Sie will nur dich«, hatte Kate gesagt. An diese Aussage traute ich mich schon gleich gar nicht ran. Tupelo und ich wandten uns heimwärts. Der Spaziergang hatte mich nicht ruhiger gemacht, aber zumindest hatte ich erkannt, was mir gegen den Strich ging. Die Sache mit der Verhandlungsfähigkeit mußte ich schon deswegen machen, um herauszufinden, was Kate da ausheckte. Hätte ich mich doch bloß nicht ohne ihre volle Beichte drauf eingelassen. Aber sie hatte mein Wort, also blieb mir 30
jetzt nur noch die Flucht nach vorn, um das Unbehagen aufzulösen, bevor es sich allzusehr breitmachte. Es war immer noch relativ früh am Vormittag. Die Bürgersteige bevölkerten sich allmählich, und so strebte ich meiner Glaskanzel und vermeintlich sicheren Zuflucht zu. Ich bog in die Sixteenth Street, wo ich wohnte, ging aber am Haus vorbei. Das mache ich öfter. Ich mag dieses Haus nicht, vielleicht weil es nicht wirklich mir gehört. Eigentümer ist Ladislaw Fritsch, mein ehemaliger Analytiker. Jahre nach meiner Lehranalyse hatte er in einem ungewöhnlichen Anfall von Aufrichtigkeit bekannt: »Psychoanalytiker ist der langweiligste Beruf auf Erden. Da hörst du ein paar Jahre lang zu und tust so, als kümmerte es dich. Ab und zu bietest du ein paar verschlungene Deutungen an, damit die Sache interessant bleibt. Die Lebensbeichten der meisten Patienten sind gräßlich langweilig. Gerade wegen dieser Langeweile sind sie ja zu dir gekommen. Sie sind in ihr Selbstbild verliebt und möchten es jemand ausmalen, den sie dafür bezahlen und so als Geisel nehmen. Bei ein paar hundert Dollar Honorar pro Sitzung machst du Penunze wie ein Straßenräuber. Mir steht’s bis Oberkante Unterlippe. Such wenigstens du dir ein Fachgebiet, wo die Post abgeht!« riet er mir in seinem Wiener Akzent. »Ich aber mach mich auf in die Prärie, wie ihr so schön sagt.« Anschließend meldete er sich zum Friedenskorps nach Ecuador, um die Leiden der Eingeborenen dort unter der schützenden Hand Amerikas zu verlängern. Letztmals angetroffen wurde er auf einem Andengipfel im Zwiegespräch mit einer Ziege. Ladislaw hat mir ein komplettes altes New Yorker Bürgerhaus überlassen. Ich habe die Wohnung im Hochparterre. Meine Kopfwerkstatt geht auf das Panorama der East 31
Sixteenth Street hinaus, ebenso das vordere Schlafzimmer quer über den Flur. Vom Flur gehen drei weitere Zimmer ab, und dann verläuft er nach hinten zur Küche. In der fühle ich mich am wohlsten. Ansonsten ist es wie bei fremden Leuten wohnen. Als ich schließlich zu meiner Haustür zurückgefunden hatte, empfing mich der Duft von frischgebrühtem Kaffee und Rührei mit Schinkenspeck, den ich nicht mag, Debby aber sehr wohl. Sie futtert ohne Hemmungen Fleisch und sieht auch danach aus. Mit ihren zwanzig kann sie überall als Dreizehn- oder Dreißigjährige durchgehen, je nachdem, wie ihre Stimmung gerade ist. Die ist derzeit selten gut, aber auch nicht mehr ganz so oft beschissen. Besonders hübsch ist sie mit ihrem schulterlangen braunen Haaren und ihren braunen Augen nicht, eher etwas übergewichtig, mit einem Gesicht wie aus Kartoffelbrei. Sie ist wohl Spätentwicklerin, doch scheint es ein wahres Wunder, daß überhaupt etwas aus ihr geworden ist. Ich wusch mir die Hände und setzte mich an den Küchentisch. Debby genießt es, mir Frühstück zu machen, wenn unser Tagesablauf das zuläßt, eine Art Liebesbeweis. Sie zieht sich nicht extra an dafür und erschien in einem zerfledderten Bademantel, der ihr vom Hals bis zu den Knöcheln reicht. Sie goß uns Kaffee ein und servierte die Eier, mit selbstgemachten Bratkartoffeln extra für mich. Den Schinkenspeck vertilgte sie. »Du hast Kate verpaßt«, bemerkte ich. »Nein, die ist eben erst gegangen. Mit ihr hatte ich mein erstes Frühstück.« Sie wurde ein bißchen rot. Es war ihr peinlich. Obwohl sie unter ihrem Übergewicht leidet, gestattet sie sich öfter ein doppeltes Frühstück und außerdem ungeheure Mengen Junkfood. 32
Debby ist allgemein depressiv und hat sich ihre Speckschicht als Schutz gegen unerwünschte Annäherung zugelegt. Sie bringt Stunden vor ihrem Komfortkabelfernseher zu und zieht sich so viele alte Filme rein wie nur möglich. Bis auf die wenigen Stunden, die sie als Teilzeitstudentin am Hunter College verbringt, richtet sie ihren ganzen Tageslauf nach diesen Sendeterminen aus. »Was hat Kate noch gesagt?« fragte ich gesprächshalber. Debby schien unkonzentrierter als sonst, innengerichteter. Sie würde den Mund schon noch aufmachen. Miteinander reden konnten wir immerhin ganz gut. »Sie hat gesagt, ich soll mir ’ne eigene Wohnung suchen. Wie immer. Sie meint, ich sollte endlich auf eigenen Füßen stehen und nicht so auf deine Kosten leben.« »Tust du doch nicht.« Ich verteidigte Debby immer und zeige nach Kates Meinung zuviel Beschützerinstinkt und Nachsicht. Meiner Meinung nach aber hat jemand, dessen Jugend so grausam beendet worden ist wie die von Debby, Anspruch auf ein bißchen nachgeschobene Kindheit, damit die Wunden mit der Zeit heilen können und sie sich zurechtfindet in der Welt. Kate sieht das aus persönlichen Gründen ganz anders und hatte wie immer kein Blatt vor den Mund genommen. »Sonst noch was?« fragte ich. »Ja, sie sagt, sie hat dich verpflichtet.« »Ist das alles?« »Nein, sie hat mir auch von dem Fall erzählt. Aber den kannte ich schon. Aus allen Nachrichtensendungen. Toter Schutzmann. Totes Baby. Saubere Arbeit.« Vielleicht erklärte das die Trauer in ihrem Gesicht. Ein toter Schutzmann. Ein totes Baby. Das war für sie schon reichlich. 33
»Ist nicht schlimm. Sie hat mich nicht runtergezogen. Hab mich schon vorher beschissen gefühlt.« Genau so sah sie auch aus. »Hast du ein bißchen Zeit, Sigmund Freud?« »Klar.« »Hol deinen Notizblock. Zeit, was mitzuschreiben.« Wir räumten den Tisch ab, und gingen in die Kopfwerkstatt. Wenn Debby reden will, beginnt immer ihr Körper das Gespräch. Sie setzte sich in den Morris-Chair, zog die Knie an und machte sich klein. Bislang war es ihr stetig besser gegangen, deshalb hatten wir auch keine Sitzungen mehr angesetzt. »Ich hatte wieder so einen Traum«, sprach sie zu ihren Knien. »Toll!« Ich wußte, daß sie meine Begeisterung nicht teilt. Ich bin ganz wild auf Träume, auf solche von anderen Leuten. Ohne könnte ich ja meine Arbeit nicht machen. Träume gestatten Psychotherapeuten seltene, ungehinderte Einblicke ins Unbewußte. Aber sie sind tückisch und heischen Respekt. Bei näherer Betrachtung erweisen sie sich als unglaublich wandlungsfähig. Die Veränderungen in Debbys Träumen betreffen nur das Ausmaß des Schreckens. Hätte ich Träume wie sie, würde ich auch nicht gern drüber reden. Ich machte es mir bequem und hoffte, daß es kein schlimmer Traum gewesen war. »Willst du ihn mir erzählen? Danach fühlst du dich doch jedesmal besser.« Sie funkelte mich an. »Kein Scheiß?« »Tut mir leid. Du fühlst dich beinahe jedesmal besser. Manchmal fällst du in ein tiefes Loch. Hast du Lust, mir von dem Traum zu erzählen?« 34
»Nein.« Erzählen war wie noch mal erleben. Warum sollte auch jemand, der bei Troste war, zu so was Lust haben? »Aber du tust es doch trotzdem?« Debby träumte in Serien, schreckliche, immer grausigere, inzwischen aber ab und zu auch mal harmlose. Die Angst in ihren Augen war freilich nicht harmlos. Es war einer von der grausigen Sorte gewesen. »Wieder der mit der Explosion. Sonst nichts. Das Aufblitzen, den Knall, und …« Sie schloß die Lider und preßte die Fäuste darauf. »Und die Fleischfetzen.« »Tut mir leid, Debra.« Seit kurzem spreche ich sie mit ihrem richtigen Vornamen an, versuchsweise. Scheint ihr zu gefallen. Der Name einer Erwachsenen, nicht der von dem Kind in dem Traum mit der Explosion. »Kann man denn da nichts machen?« wollte sie wissen. »Gibt’s nicht ein Medikament oder so was, das vergessen hilft? Was ist mit einer Lobotomie?« Sie stach sich ein imaginäres Messer in die Schläfenlappen. Ihre Lippen zitterten, aber sie wollte nicht weinen. Bloß keine Schleusen öffnen. Bei solchen Anlässen, konfrontiert mit echtem Schmerz, ist die Psychotherapie hilflos, einer der Gründe, weshalb ich sie aufgegeben habe. »Wie wär’s mit Kuscheln? Hilft immer, kein Scheiß.« Ich breitete die Arme aus, und sie kuschelte sich hinein. So blieben wir stehen, einander umklammernd, keiner von uns zum Weinen fähig, aber von der Wärme ein bißchen getröstet. Alles in allem nicht eben streng nach Freud. Doch Debby ist nicht meine Patientin. Sie ist meine Tochter.
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3 Mein Einzelkind bekam ich mit sechzehn Jahren, also voll entwickelt. Schade, daß ich von den fünfzehn Jahren davor nichts mitgekriegt habe, aber da ist nichts zu machen. In der Zeit hatte Debby andere Eltern. Wo Erinnerungen sein sollten, herrscht bei mir folglich Leere. Das Verhältnis zwischen uns aber haben wir von unserer ersten Begegnung an bewußt gestaltet. Diese Begegnung damals war beinahe unwirklich. Sie saß klein und verloren vor dem einschüchternd hohen Tisch der Richterin wie Alice im Wunderland vor der Königin. Dabei war es ein ganz normaler Gerichtssaal, nicht eben hoheitsvoll. Das junge Ding im Zeugenstand war nicht die Angeklagte, und doch war mir so zumute, als müsse sie gleich auf den Scheiterhaufen. Ihr Gesicht war verquollen wie bei einem Kind, das zuviel geweint hat, und es wirkte zugleich alt und aufgeschwemmt wie bei einer, die zuviel gesehen hat. In ihren Augen hatte ich mich freilich wiedererkannt. Ich habe schon oft von Eltern gehört, wie stolz und gut sie sich fühlen, wenn sie in die Augen ihrer Kinder blicken und sich dort wiederfinden. Ich hatte immer gemeint, das sei in erster Linie Narzißmus. Bis ich es selber sah. Und im selben Moment hatte ich auch schon die Eingebung. »Miss Hinson, bitte schildern Sie dem Gericht, was Sie am Abend des 19. Juli vorigen Jahres erlebt haben.« 36
Debby erschauerte im Zeugenstuhl und veranlaßte damit Richterin Bonner, eine freundliche Lady mit blaugetönter Frisur, ihr ein Glas Wasser anzubieten, das sie zögernd annahm. Sie brauchte beide Hände, um daraus zu trinken. Verhandelt wurde zurückhaltend, ohne Presse, sogar ohne Geschworene. Keine Seite hatte welche gewollt. In diesem Verfahren des Staates New York gegen Warren Hinson waren die Kernfragen medizinisch-juristischer Art und schwer abklärbar. Richterinnen sind in solchen Strafsachen einfühlsamer, zumindest lautet so die Fama. »Sie dürfen sich so viel Zeit nehmen, wie Sie brauchen, meine Liebe. Das ist schon in Ordnung«, tröstete Richterin Bonner. In Ordnung war freilich nichts. Die junge Frau im Zeugenstand war durch das Inferno praktisch zur Vollwaise geworden. Großeltern und Schwesterchen waren tot, und sie würde jetzt zusehen müssen, wie ihr lieber Vater in eine Klapsmühle verfrachtet wurde, und das sogar mit ihrem eigenen Zutun. Debbys Mutter war nicht greifbar. Sie hatte die Familie schon vor Jahren im Stich gelassen, als Warren so seltsam wurde. Zwar kam sie immer mal wieder und blieb eine Weile, doch dann hatte sie es erneut über und machte die Flatter. Das letzte Mal war sie unmittelbar nach der Geburt der kleinen Lisa abgehauen, so daß ihr Wohnsitz für Warrens Prozeß nicht ermittelt werden konnte. Sollte sie davon gelesen haben, hielt sie sich absichtlich raus. Falls es ihr naheging, daß sie ihre kleine Tochter verloren hatte, ließ sie das Debby nicht merken: Sie blieb unauffindbar. Debby hatte sich mit fünfzehn um den Haushalt, das Baby und ihren Vater kümmern und zugleich die Schule bewältigen müssen. Sie hatte Verständnis für den Vater und mochte ihn, und beide sorgten rührend für Lisa. Eine Fa37
milie, die trotz eines schwer gestörten Mitglieds funktionierte, bis sie dann am Ende unwiderruflich in Fetzen flog. »Äh«, räusperte sich Debby und sah dabei unbestimmt in Richtung Staatsanwalt, »wo soll ich anfangen?« »Fangen Sie doch da an, wo Sie erstmals etwas Ungewöhnliches bemerkt haben.« Debby sah kurz zu ihrem Vater auf die Anklagebank hinüber. Warren lächelte, nickte und ermunterte sie pantomimisch: Ist schon in Ordnung. Debby senkte den Kopf, faßte sich und berichtete, was sie erlebt hatte. »Ich hab ihm Wohnzimmer gesessen und ferngesehen. Dad war draußen auf der Veranda, weil es so schwül war. Er konnte das nicht ab. Beim Abendessen war er irgendwie still gewesen, stiller als sonst. Das hat an der Schwüle gelegen. Opa und Oma waren zu Besuch, weil Dad schon ’ne Weile schlecht beieinander war. Sie waren früh schlafen gegangen, und ich hatte Lisa gerade hingelegt. Sie ist das Baby. Ich meine, sie war es.« Debby schluchzte auf, schluckte krampfhaft, und ich hätte geschworen, daß sie in dem Moment drauf und dran war, aus dem Saal zu flüchten. Statt dessen holte sie tief Luft, hielt den Atem an, atmete dann langsam aus und sprach weiter. »Ich hab es klatschen hören, wie wenn jemand nach Stechmücken schlägt, bloß härter und schneller. Irgendwie hektisch, Sie verstehen schon. Ich bin nach draußen, gucken, was los ist. Da liegt Dad auf der Erde, wälzt sich krampfhaft und schlägt sich selber. Ich kriege es mit der Angst und will ihn abhalten. Aber ich hab nicht gewußt, wie. Er ist so stark.« Debby krümmte sich. »Wie er mich so stehen sieht, hört er auf. Er klopft sich ab und steht auf. Er hat mich die ganze Zeit angesehen. Er sieht mich nur so an. Mit einem unbeschreiblichen Blick. Er starrt durch mich durch, an mir vorbei. Ich frage: ›Dad38
dy, ist alles in Ordnung mit dir?‹, aber er gibt keine Antwort. Ich glaub nicht, daß er mich gehört hat. Er schnappt sich den olivgrünen Packsack und reißt die Fliegentür auf, und dann stürmt er direkt an mir vorbei die Treppe rauf. Er war wieder im Dschungel. Ich hab’s gleich gewußt. Er hatte mir ja davon erzählt. Ich hab gewußt, ich muß Lisa holen. Ich hab gewußt, jetzt macht er was Schlimmes. Aber auf halber Treppe ging’s nicht weiter. Ich war wie gelähmt. Bis ganz rauf konnte ich einfach nicht. Ich hatte totalen Schiß.« Sie stockte, umkrampfte das Glas und trank einen Schluck, als helfe das gegen den Brechreiz. Ich merkte, wie ihr das Schuldgefühl durch und durch ging. Ich kenne das selber nur zu gut. Sie meinte, sie hätte irgendwas tun müssen, wußte aber ums Verrecken nicht, was. »Es ist ganz schnell gegangen, wissen Sie, blitzschnell. Alles in allem vielleicht zehn Sekunden bis zum Knall. Ich sehe ihn den Flur lang rennen, und er hält Lisa an den Beinen gepackt. Sie ist nackt, weil ich sie immer so schlafen lasse, wenn es so heiß ist. Wie eine Lumpenpuppe hält er sie. Er schleudert sie ins Gästezimmer, wo Opa und Oma schlafen, rollt was am Boden lang hinein und hechtet die Treppe runter. Im Fallen hat er mich irgendwie umklammert. Halb unter der Haustür kommt er auf mir zu liegen. Er wollte mich decken, mich schützen, das weiß ich genau. Und dann fliegt das ganze Haus in die Luft.« Sie zuckte zusammen, wie auch jetzt noch jedesmal, wenn sie die Szene im Traum nacherlebt. »Irgendwie bin ich unter ihm vorgekrochen. Er hat sich auf den Rücken gewälzt und geschnauft. Er hatte ’nen ganz irren Blick. Ich wollte durch die Tür zur Treppe, aber die war weg. Nach oben konnte ich nicht mehr. Überall Möbeltrümmer, Stofffetzen – und ein Ärmchen. Vom Baby.« Debby zerbiß sich die Lippen. »Und dann bin ich wohl umgekippt.« 39
Der Staatsanwalt bestand nicht auf weiteren Einzelheiten. Warrens Anwalt hätte ihre Aussage bestimmt gern so stehenlassen, fühlte sich aber verpflichtet, den Strafverteidiger zu mimen. »Miss Hinson, lieben Sie Ihren Vater?« »Selbstverständlich.« »Was sollte Ihrer Meinung nach mit ihm geschehen?« »Ich möchte, daß ihm geholfen wird.« »Und was möchten Sie für sich?« »Ich könnt selber Hilfe gebrauchen.« Das war für mich der Auslöser. Ich stand bereit. »Haben Sie vor Ihrem Vater Angst?« »Nein. Ich habe Angst um ihn.« »Keine weiteren Fragen.« Dann hatten die Gutachter das Wort, darunter auch ich. In puncto Schizophrenie waren wir uns alle einig, mit nebensächlichem Geplänkel über den Typ, ob paranoid oder undifferenziert, aber das war rein akademisch. Warrens Schicksal war besiegelt. Und damit auch das von Debby und mir. Warren Hinson ist ein zwei Meter großer und hundertdreißig Kilo schwerer Kriegsversehrter. Er hat seinem Land in einem längst vergangenen Krieg gedient, über den man am besten nicht spricht, erst als Schütze Arsch und dann sechs Jahre als Kriegsgefangener. Daß es posttraumatische Belastungsstörungen gibt, war damals noch nicht bekannt, aber Warren wußte voll darüber Bescheid. Er konnte nicht mehr richtig essen, nicht mehr durchschlafen und keine richtige Arbeit leisten. Jah40
relang schaffte er es immerhin, tagsüber Lastwagen zu beladen und abends mit seiner Tochter Kabelfernsehen zu glotzen, bis er ins Bett fiel. So schlug er sich durch, bis die Anfälle einsetzten. Dann wußte er nicht mehr, wo er war. Wenn er wieder zu sich kam, lag er unterm Fenstersims in Deckung oder robbte durch die Küche, und da bekam er es mit der Angst. Die Ärzte vom Verband der Kriegsopfer und Versehrten meinten, das seien Erinnerungsblitze, und die würden mit der Zeit und mit der richtige Medikation schon verschwinden. Was aber nicht der Fall war. Doch sie wandelten sich. Die Erinnerungsblitze ergriffen immer mehr von seinem Leben Besitz, bis sie sich wie sein eigentliches Leben ausnahmen. Debby machte sich Sorgen und telefonierte mit der Versehrtenklinik. Die Ärzte meinten, sie solle drauf achten, daß er regelmäßig seine Tabletten nehme. Sie meinten, es bestehe kein Grund zur Sorge. Kunstfehler. An jenem schwülen Sommerabend rollte er die Handgranate ins Schlafzimmer seiner Eltern. Im Stadtteil Astoria von Queens auf Long Island im USBundesstaat New York. In der wirklichen Welt. Die Gefallenenmeldung ergab drei Tote und eine Überlebende. Warren verfiel in eine tiefe katatonische Starre und verharrte darin. Ein paar Monate, nachdem er seine Wohnung derart »gesäubert« hatte, wurde ich als Gutachter über seine Schuldfähigkeit bestellt. Den Gefallen, sich wie ein Monstrum aufzuführen, tat er mir nicht. Er war ein Mensch mit seinem eigenen Stolz, aber geistig verwirrt und restlos verstört. Er bekannte offen und ehrlich, wie sehr er sich schäme und was für ein Schmerz es für ihn sei. Ich mochte ihn gut leiden. 41
»Es ist nicht, daß ich durcheinander gewesen wäre und gemeint hätte, wieder da drüben zu sein. Ich war wirklich dort. Und diese Scheiße kann mir jeden verdammten Augenblick wieder passieren. Dabei hab ich gemeint, ich hätte das alles hinter mir. Ist doch schon so viele Jahre her, daß ich da drüben gewesen bin. Hab ein Buch drüber gelesen und mir ein paar Streifen mit Chuck Norris angesehen und hab geglaubt, ich werd fertig damit. Und zack«, er schnippte mit den Fingern, »bin ich wieder da drüben, nicht in der Erinnerung, sondern in echt. Passiert mir das wieder, jetzt, wo wir miteinander reden, könnte ich Ihnen den Kopf abreißen, Dr. Rose, einfach so. Ist durchaus möglich.« Das war nicht als Drohung gemeint. Warren hatte eine Heidenangst vor sich selbst. Er wußte nur zu gut, daß es für ihn zweierlei Wirklichkeiten gab und daß er ohne Vorwarnung von der einen in die andere fallen konnte. Er litt nicht an multipler Persönlichkeit, sondern war und blieb derselbe Warren. Aber Ort und Zeit verschoben sich und das ganze Drumherum, ganz besonders die Spielregeln, und er mußte sich verdammt noch mal danach richten, oder die Kugeln trafen ihn. »Ich hab’s denen doch gesagt, Dr. Rose, ich hab’s denen gesagt, Scheiße noch mal!« Er meinte die Ärzte aus der Versehrtenklinik. »Ich hab denen klipp und klar gesagt: ›Ich bin ’ne Zeitbombe.‹ Das war denen doch schnurz. Und dann bin ich eben hochgegangen.« Er zitterte und krampfte in seinem Bemühen, nicht die Beherrschung zu verlieren. Das Zittern ging über in Schluchzen, und wir saßen beieinander und waren hilflos. Ich hätte ihm gern was gesagt, was den Schmerz lindert, aber meine Kunst hat solchen Balsam noch nicht erfunden. In unserer letzten Sitzung stellte ich Warren die juristischen Routinefragen: »Als Sie Ihre Eltern und das Baby 42
töteten, konnten Sie da zwischen Recht und Unrecht unterscheiden?« Als gäbe es da eine eindeutige Grenze. »Jawohl«, sagte er, »ich hatte Befehl, den Vietkong in dieser Hütte zu vernichten. Den hab ich erfüllt. Was recht ist und was unrecht, hab ich gewußt. Wußten wir alle.« »Hätten Sie Ihren Drang zu dieser Tat beherrschen können?« Eine wahrhaft lächerliche Frage. Wer konnte so was wissen? »Natürlich hätte ich das können, hätte ich selber sterben wollen. In den Dörfern da haben wir keine Freunde.« »Eins aber paßt nicht ins Bild, Warren«, widersprach ich, um die Unlogik anzuklopfen, die auf eine Vortäuschung hindeuten konnte. Der Alptraum jedes Gerichtspsychiaters ist nämlich der Simulant, der nur so tut, als sei er zur Tatzeit geistesgestört gewesen. »Ihr Einsatz war kein voller Erfolg. Sie haben nicht alle in der Hütte erwischt. Warum haben Sie Ihre Tochter gedeckt und leben lassen?« »Ich hab mir in jedem Dorf ’nen Überlebenden gesucht, jemand, den ich retten konnte. Ich war kein Killer, auch damals nicht.« Jetzt noch die Frage mit der Tuchfühlung, die allgemeinverständliche Fassung zum Thema Unrechtsbewußtsein. »Hätten Sie das auch getan, wenn auf Tuchfühlung ein Schutzmann neben Ihnen gestanden hätte?« »Der Schutzmann war doch ich.« Die juristischen Definitionen kamen ins Trudeln. Zwar konnte er zwischen Recht und Unrecht unterscheiden, aber in einer andern Zeit. Er war zwar durchaus steuerungsfähig, jedoch an einem andern Ort. Und weil er sich im Hier und Jetzt befand und nicht im Dort und Damals, war er ein Mörder. Und glaubte man Warren, war er zudem strafrechtlich nicht schuldfähig. 43
Ich glaubte ihm. Ich war mir sicher, er brauchte Betreuung, keine Strafe. Weiter hätte ich mich nicht zu engagieren brauchen. Bei Warren Hinsons Prozeß ging es nicht um seine Freiheit. Nur darum, wo er eingesperrt werden sollte, wiederum als Gefangener des Krieges. Den Rest seines Lebens würde er entweder im Island Hospital oder in einem Staatsgefängnis irgendwo im Norden zubringen. In beiden Fällen hatte er wenig Aussicht auf Entlassung in absehbarer Zeit. Für Debra Lee Hinson aber war die Art seiner Verwahrung von großer Bedeutung. Sie wußte seit Jahren, wie krank ihr Vater war, und wollte ihn nicht als Verbrecher behandelt wissen. Debbys Gesicht verspannte sich, als die Richterin sich anschickte, Warrens Urteil zu verkünden, und sie brach in Tränen aus, als auf nicht schuldig wegen Schuldunfähigkeit erkannt worden war. Ich hätte sie gern in den Arm genommen und ihr versichert, alles werde wieder gut, doch ich wußte es besser. Es wäre eine Lüge gewesen. Ohne rechte Pflege und Therapie würde er immer mehr verfallen und eines Tages einfach aufhören zu atmen. Begleitet wurde Debby von einer Sozialarbeiterin, die ihrem tiefen Mitgefühl dadurch Ausdruck verlieh, daß sie ihrer Klientin mit zwei Fingern auf den Unterarm tippte. Ich schüttelte der Sozialarbeiterin herzlich die Hand, als hätte ich volles Verständnis für ihren schweren Beruf. Debby hielt die Hände vor das Gesicht geschlagen und sah nicht auf. »Miss Hinson? Debby? Könnte ich Sie kurz mal sprechen?« 44
Kennen müßte sie mich eigentlich. Es war ja erst zwei Tage her, daß ich für Warren als Gutachter ausgesagt hatte. Sie hob das rotverquollene Gesicht, und ich sah ihr prüfend in die Augen. Sie machte bei mir den Gegentest. Da hatte sie mich. »Warten Sie kurz auf mich?« bat ich. »Ich muß noch kurz zu Ihrem Vater.« »Weiß ich«, nickte sie. Ich verabschiedete mich in Richtung Haftzelle und hoffte, daß sie Warren noch nicht verlegt hatten. Der Gerichtsdiener vertrat mir den Weg. Die Richterin wolle mich sprechen. Das Amtszimmer von Richterin Bonner erinnerte an ein Behördenbüro, möbliert mit einem ausladenden Standardschreibtisch und zwei funktionsfähigen Armsesseln. Überhaupt nichts Bombastisches. Der Gerichtsdiener blieb unter der Tür stehen. Die Richterin wirkte ohne Talar kleiner und nicht mehr so hoheitsvoll. In einem der Armsessel saß Warren, ungefähr dreißig Pfund schwerer als bei seiner Befragung durch mich. Er kam mir so aufgeschwemmt und verlottert vor wie ein Schizophrener unter voller Medikamentendröhnung. Seine Handschellen waren an einer Kette befestigt, die sich um den Gürtel schlang und bis hinunter zu den Fußfesseln reichte. »Ich bin froh, daß Sie noch da sind, Dr. Rose. Mr. Hinson hier möchte Sie sprechen. Sofern Sie keinen Einwand haben«, erklärte die Richterin. »Kein Einwand, Euer Ehren«, erwiderte ich. Sie lächelte, nahm den Gerichtsdiener mit hinaus und ließ mich mit dem kläglichen Rest von Warren Hinson allein. »Hallo, Doc«, nuschelte er freudig, als wolle er mehr Begeisterung zeigen, sei jedoch in allen Emotionen durch die Medikamente gedämpft. »Setzen Sie sich doch, Rose. 45
Ich kann Ihnen kaum die Hand geben. Schön, Sie wiederzusehen.« Wir schafften sowohl den Händedruck als auch eine ungeschickte, halbseitige, kettenklirrende Umarmung. Er wirkte aufgedunsen, teils wegen der Psychopharmaka, teils aus Veranlagung. Im Gesicht ähnelte er seiner Tochter, der gleiche Kartoffelbrei. Ich setzte mich in den Armsessel gegenüber. Er lehnte sich vor, als wolle er mir ein Geheimnis mitteilen. Wahrscheinlich hätte er mir seine Pranke auf Schulter oder Knie gelegt, aber die Ketten hinderten beim Körperkontakt. »Mann, Sie müssen mir einen Gefallen tun«, bat er plötzlich mit klarer Stimme, ohne alles Schlafwandlerische. »Einen ganz großen Gefallen. Bei mir daheim sorgt man für die Seinen, besonders in Familiendingen. Aber in einer Sache weiß ich nicht weiter. Wie kann ein Mann einen anderen Mann um was bitten …?« Er ließ die Frage in der Luft hängen. Er schluchzte auf und wollte wie Debby das Gesicht mit den Händen bedecken. Er weinte nicht, weil er sich selbst bedauerte, sondern wegen der Tochter, die er verschont und am Leben gelassen hatte. Und allein. »Sie wissen, warum ich Sie bitte, außer weil da sonst niemand ist?« »Nein.« »Weil Sie mich nicht angeschissen haben. Sie haben mir gesagt, wie es läuft. Keinen Scheiß.« Er irrte offenbar ab in die Vergangenheit oder vielleicht in die Zukunft. Er leckte sich die trockenen, rissigen Lippen. Ich sprang ihm bei. »Was wird mit Debby?« Er schüttelte den Kopf und gurgelte: »Weiß nicht. Meine Frau können sie nicht finden, also kommt Debby ins Heim. Das ist nichts für sie.« Wieder mußte er weinen. 46
»Nein, wirklich nicht«, pflichtete ich ihm bei. »Könnten Sie sich vorstellen, mich für sie sorgen zu lassen? Ich lebe allein. Platz habe ich genug. Vielleicht ist es ganz gut für uns beide.« Er breitete seine gefesselten Arme aus, so weit es mit den Ketten ging. Er umklammerte beidhändig meine Hand, und seine Schultern zuckten. Er konnte nicht reden. Er nickte, pendelte mit dem Oberkörper und greinte, wie ein mutiertes Riesenbaby. Als ich zu Debby zurückkam, heulte sie nicht mehr, und die Sozialarbeiterin war ihrer Trösterinnenpflicht somit ledig. Die Dame saß wie eine Salzsäule neben ihr und wußte nicht, wohin blicken. Ich behauptete, sie werde im Richterzimmer gebraucht. Da stand sie auf und ging hinaus. Debby sprach als erste: »Hat er Sie gefragt?« und zog sich dabei in sich selbst zurück. »Ja. Hat er.« »Und was meinen Sie?« Jetzt krümmte sie sich schon wie eine gesottene Garnele. »Ich denke, wir sollten’s probieren.« Ein Lächeln huschte ihr übers Gesicht, um wieder den Sorgenfalten zu weichen. »Wissen Sie, ich mach auch bestimmt keinen Ärger, aber ich bin nicht vollkommen. Ich bin noch keine zwanzig«, klärte sie mich auf, als hätte ich mir das nicht schon selbst ausgerechnet. »Ich bin genausowenig vollkommen. Bloß älter. Sollen wir’s probieren?« Sie nickte zustimmend, aber ich sah noch immer Furcht in ihrem Blick. »Keine Angst, wir zwei schaffen das schon. Ich hab so was auch noch nie gemacht. Aber wir haben einander ausgesucht. Das müßte was nützen.« 47
»Warum tun Sie so was?« wollte sie wissen. »Ich bin genauso allein. Ich denke, wir können einander helfen.« Ich glaubte daran. Debby blickte skeptisch. Ich hab recht behalten. Wir helfen einander tatsächlich. Auch beweisen wir beide immer wieder, daß keiner von uns vollkommen ist. Wir haben gelernt, daß Teenager in der Regel eine Plage sind, und Väter im reiferen Alter desgleichen. Aber wir schaffen unsern Weg gemeinsam, der Vater als Hinterbliebener einer Selbstmörderin und die Tochter als Überlebende der Tat eines Schuldunfähigen.
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4 Ich kam nicht an Janice Jensen heran. Sie war restlos ausgebucht. Im Besuchskalender der Klinik waren für sie vier psychiatrische Begutachtungen terminiert, und so mußte ich mich eben hinten anstellen. Das bedeutete zum einen, daß Janice durch Tatbefragungen, Testbatterien und Tiefeninterviews von vier Haien der Forensischen Psychiatrie todsicher in eine Psychose getrieben werden würde, sollte sie beim Abschlachten von Mann und Kind noch keine gehabt haben. Zweitens bedeutete es, daß Kate auf Nummer Sicher gehen wollte. Staatsanwaltschaft und Verteidigung verpflichten in solchen Fällen normalerweise je zwei Experten. Wer aber hatte mich als Extra angeheuert? Ich ließ mich in meinem Kokon vor dem Fernseher nieder. Klassikerfilme waren Debbys Grundnahrungsmittel, doch im März überließ sie die Glotze mir. Was sie auf keinen Fall verpassen wollte, überspielte sie auf Video und sah es sich an, wenn die baumlangen Kerle vom Basketball Pause hatten. Debby wirkte auf mich irgendwie daneben, weder überdreht noch so richtig deprimiert, aber doch voller Zukunftsangst. Freilich konnte der Traum daran schuld sein. Sie hätte kein Wort darüber verloren, hätte er sie nicht gequält und geängstigt. Sie war kein Hypochonder und weinte selten. Aber auch als Kämpfernatur ging sie halt manchmal zu Boden. Just nach dem Anpfiff für das Basketballspiel zwischen Memphis State und Clemson klingelte das Telefon. Ei49
gentlich kein Problem. Möchte mich jemand sprechen, schwindelt Debby pflichtschuldigst, ihr Vater könne jetzt nicht, obwohl ich doch in Wahrheit nicht will. Ist es für sie, quatscht sie stundenlang mit einer Freundin. Sie geht nicht oft aus, unterhält aber rege Telefonbekanntschaften. Es war doch ein Problem. Debby erschien in der Tür, sah kurz auf das Spiel und sagte: »Für dich.« »Na und?« erwiderte ich leicht verärgert. Wenn es nichts Dringendes war, und dafür gab sie sich viel zu lässig, was störte sie mich dann überhaupt? »Wer ist denn dran?« »Jemma Marin.« »Kenn ich nicht.« »Stimmt. Aber ich. Oder besser, ich weiß von ihr.« »Was redest du da?« Ich hatte gerade einen Riesenwurf verpaßt, bei dem das ganze Stadion aufbrüllte. »Kate hat was angedeutet, und da hab ich gemeint, du solltest rangehen.« Ein abgekartetes Spiel. Kate hatte offenbar meine Nummer weitergegeben, obwohl ich nichts davon wissen wollte. Ich bedachte Debby mit einem Zornesblick. Sie war plötzlich ganz gebannt von den Würfen eines Basketballspielers. »Ich geh ran, aber nur unter einer Bedingung: Du läßt mich in Ruhe und sagst nicht piep.« Sie legte den Finger auf die Lippen wie eine Nonne und verzog sich. Ich drückte die Stummtaste der Fernbedienung und griff nach dem Hörer. »Dr. Rose, hier spricht Jemma Marin. Sie kennen mich nicht, und es hört sich vielleicht blöd an, aber ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten. Ich bin Reporterin für die Post. Ich habe über die Vorverhandlung von Gromsky berichtet. Ich hab gemeint, es lohnt sich vielleicht, bei Ihnen 50
mal nachzufassen, und da hab ich mir von der American Psychiatric Association Ihre Nummer geben lassen.« Von Kate hatte sie die also nicht. Womöglich war sie doch jemand anders. »Was hatten Sie bei der GromskyVerhandlung zu suchen? Da ist doch sonst keiner gewesen, nicht mal Gromsky selber.« Gromsky war ein leicht zurückgebliebener, etwas minderbemittelter achtundzwanzigjähriger Spanner, der für sein Leben gern in Schlafzimmerfenster spähte. Es war sein Lebenselixier, so oft wie möglich Pärchen beim Geschlechtsverkehr zu unterbrechen. Sein Vater war mein jüdischer Bäcker, er hatte mich eingeschaltet, also war ich hingegangen. Gromsky war zweifellos verhandlungsfähig. Daß er was Unrechtes getan hatte, wußte er genau, aber dennoch mußte sich ein vereidigter Sachverständiger dazu äußern. Ich hatte meinen Basketballhimmel verlassen, eine Krawatte umgebunden und zehn Minuten lang über Psychologie doziert. »Ich bin Reporterin, eine werktätige Frau. Ich hab mich von meiner Zeitung hinschicken lassen, um Sie mal zu beobachten. Katherine Newhouse hält große Stücke auf Sie. Hätten Sie Lust, heute mit mir zu Abend zu essen?« Also keine Wildfremde, sondern doch ein von Kate arrangiertes Treffen mit Unbekannt. Schon seit geraumer Zeit, nach einer Reihe unvermeidlicher Pleiten, lasse ich mich auf dergleichen nicht mehr ein. Was das Witwerdasein angeht, liegt Kate völlig richtig: Es zieht Frauen an, auf eine bisweilen schon morbide Art. Obendrein bin ich kein Wald-und-Wiesen-Witwer, sondern wurde durch einen Selbstmord in diesen Familienstand versetzt, eine Sache von reizvoller Ambivalenz. Der arme Mann, was muß er gelitten haben! Und womit hat er sie wohl dazu getrieben? 51
Die meisten behandeln mich, als sei ich Tupelo. Sie tätscheln mich, füttern mich, und nach dem Abendessen darf ich mein müdes Haupt in ihren Schoß legen. Manche schmeißen sich regelrecht an mich ran, damit ich endlich sie vergesse. Die eifrigsten Missionarinnen wollen sie mir gar ersetzen. Die trollen sich meist schon früh am Abend. Und dann gibt es noch die einsamen, verletzten Frauen, die jemand suchen, den das Leben genauso gebeutelt hat wie sie. Ihre Zahl ist Legion. Fast alle wollen mit mir schlafen, nicht etwa, weil ich unwiderstehlich bin. Sondern weil sie dem Tod eins ficken wollen. Es zieht mich immer bloß runter. Ein Treffen mit Unbekannt war dies also nur auf meiner Seite. Jemma hatte mich nämlich schon gesehen, und ich kannte sie überhaupt nicht. Und sie rief selbst an, was nicht oft vorkam. Ehrlich gesagt reizte mich diese Situation sogar, und deswegen war ich unbefangener als sonst. Ich fand sie erfrischend direkt und geradeheraus, eine Frau, die weiß, was sie will, und keine Angst hat, sich danach zu strecken. Oder sie hatte Schiß und machte auf tollkühn. So oder so mußte ich sie um jeden Preis abwimmeln. »Tut mir leid«, log ich. »Ich muß heute noch was arbeiten. Vielleicht ein andermal. Vielen Dank für Ihren Anruf.« Dann legte ich auf. Dreimal hintereinander gelogen, und meine Tochter lauerte in der Tür. »Du hättest ›einen schönen Tag noch‹ wünschen müssen«, empörte sich Debby und stolzierte von dannen. Debbys Horcherei machte mich sauer. Ich hatte geglaubt, eine Absprache mit ihr zu haben. Ich hatte klipp und klar gesagt, was mir wichtig war, und sie hatte anerkannt, wenn nicht gar geschworen, darauf Rücksicht nehmen zu wollen. Statt dessen hatte sie mein Telefonat belauscht und sich 52
auch noch eine abfällige Bemerkung erlaubt. Das ist nicht ihre Art. Irgendwas beschäftigte sie. Sonst gehen wir nicht so miteinander um. Als Debby und ich die Vereinbarung für unser Zusammenleben festklopften, waren wir vier Jahre jünger und schmerzlich naiv. Immerhin hatten wir erkannt, daß wir die einzigartige Chance hatten, Verhaltensregeln und Machtverteilung in unserer Beziehung auszuhandeln, bevor wir zu einer Familie zusammenwuchsen. Wir nahmen das sehr ernst. Wir legten ja schließlich unser Fundament. Wir dachten uns Regeln aus: Wer soll was im Haushalt erledigen? Wer darf abends wie lange fortbleiben? Wer bestimmt das Fernsehprogramm? Wir merkten, daß wir uns in Details verzettelten und nicht mehr wußten, worum es ging. Es ging um gegenseitige Achtung. »Was ist dir wichtig?« fragte ich. »Die Wahrheit. Keine Lügen.« »Keine Lügen?« Das klang annehmbar. »Versuchen wir’s.« »Und was ist dir wichtig?« wollte sie wissen. »Meine Privatsphäre. Ungestörtheit, wenn die Tür zu ist.« »Kein Problem. Für mich gilt dasselbe. Was sonst noch?« »Ich weiß nicht, aber es gibt bestimmt noch einiges. Vatersein werd ich noch lernen müssen. Wir müssen unbedingt ständig miteinander reden. Da wird allerhand Blödsinn gelabert werden.« »Zum Beispiel?« »Zum Beispiel wird uns bestimmt irgendwann mal jemand unterstellen, wir hätten was miteinander.« 53
Debby wurde puterrot. »He, so was gibt’s. Nur bei uns nicht.« Sie nickte. Sie hatte verstanden. »Ich glaub, wir schaffen das, wenn wir nur miteinander reden.« »Darfst du mich analysieren?« fragte Debby. »Wenn du damit meinst, ob ich mich beruflich um dich kümmern darf, lautet die Antwort ja, aber eine Schranke gibt’s da schon, eine Art Sicherheitsbolzen. Jedesmal, wenn du über was nicht reden willst, brauchst du nur die Hand zu heben. Sobald du das tust, hör ich auf. Notfalls mitten im Satz. Und ich bin dann auch nicht sauer. Du hast das Recht zu schweigen, wenn nötig.« »Und können wir auch über dich reden, wie beim Quiz, oder ist das unzulässig?« »Du darfst alles fragen. Ich heb die Hand, wenn ich nicht drauf eingehen will. Okay?« »Okay. Ich hab ’ne Frage.« »Schieß los.« »Wie ist du Witwer geworden?« »Wie jeder andere auch. Mir ist die Frau gestorben.« Klar, das war Klugscheißerei, aber unter Druck bin ich so. »Ich meine, woran ist sie gestorben?« hakte Debby nach. »Ich weiß schon, was du meinst, und ich werd’s dir sagen.« Wäre ich ein echter Analytiker, hätte ich jetzt an der Pfeife gesaugt. »Ich hab keine Ahnung.« »Was soll das heißen, du hast keine Ahnung? Gab’s da noch keine Autopsien?« »Doch, bei Hippies mit Überdosis öfters. Manchmal haben sie rausgefunden, was sie genommen hatten, manch54
mal nicht. Bei ihr nicht. Es wurde auf Selbstmord erkannt, durch unspezifische Arzneimittelvergiftung. Sieh mal, Debby, ich will dir ja antworten. Eines Abends kam ich heim, und sie war tot. Wäre ich früher dagewesen, hätte sie wohl überlebt. Ich kam zu spät. Mehr gibt’s dazu nicht zu sagen. Ich weiß nicht, warum sie gestorben ist, und werd auch nie genau wissen, woran. Ich muß es halt verkraften. Nicht, daß sie tot ist, sondern, daß ich’s nicht weiß.« »Was glaubst du, ist passiert?« Ich hob die Hand. »Debby, ich glaube, einer der Gründe, weshalb wir einander ausgesucht haben, ist der, daß wir etwas gemeinsam haben. Wir haben beide durch sinnlose Gewalt das Liebste verloren und müssen damit leben. Vertrau mir. Noch gibt es Hoffnung.« »Mal sehen!« Sie nagte an einem schon stark abgekauten Nagel. »Hoffentlich.« Wir arbeiten immer noch daran. Die wahre Aufgabe aber ist, den Faden nicht abreißen zu lassen. Wenn was weh tut, flüchtet man eher zum Basketball oder zu Spätfilmen, als daß man redet. Ich klopfte bei ihr. Ich wollte ihr sagen, was ich von dem Vorfall hielt. Teil unserer Abmachung. »Herein!« rief sie und steckte den Kopf unter die Decke. »Das war nicht besonders cool. Du hast gelauscht und ’ne blöde Bemerkung gemacht. Der Anruf war für mich, nicht für dich.« »Ich weiß, das war totale Scheiße. Tut mir leid. Sind die Nerven.« »Hab ich gemerkt. Warum?« »Ich hab ’ne Verabredung. Heute abend. Deshalb wollte 55
ich, daß du ausgehst, weil ich mich dann nicht so schuldig fühle.« »Aber ich bin doch gern allein.« Erst recht im März. Doch wenn Debby eine Verabredung hat, ist das nichts Beiläufiges. Binnen vier Jahren hatte sie jährlich etwa eine, wobei dieser Mittelwert nur zustande kommt, weil sie mit jemand im selben Jahr zweimal ausgegangen ist. »Ist es dir recht?« »Mich brauchst du nicht zu fragen. Du kannst tun und lassen, was du willst. Hast du Kondome?« »Wir gehen Pizza essen. Von Peperoni wird man nicht schwanger. Und von einer Unterhaltung in der Kneipe kriegt man auch kein Aids. Meine Fresse, Simon, was denkst du dir eigentlich? Meinst du, wir bumsen bei Pizza Hut?« »Sorry, Kleine. Dachte, ich müßte das ansprechen. Ich bin halt noch nicht so lange Vater wie Seelenklempner. Wie hast du ihn kennengelernt, falls die Frage gestattet ist?« »Natürlich ist sie gestattet. Du darfst alles fragen«, erinnerte sie mich. »Aber ich brauch nicht antworten«, neckte sie. Aber sie antwortete doch. Atemlos, in einem langen Satz: Sie hat ihn halt in der Bibliothek kennengelernt, als sie was für mich recherchiert hat, aber eigentlich nicht in der Bibliothek, sondern mehr davor auf den Stufen, wo sie sich halt die Schnürsenkel hat binden müssen, und dabei hat sie sich halt die Notizen in die Tasche gestopft, und er hat gefragt, ob er ihr helfen kann, was freilich nicht nötig war, aber zeigt, daß er irgendwie interessiert ist, und er studiert am City College und ist sagenhaft nett, kein Schönling, aber Köpfchen weil … er will Jura studieren, wenn er das Geld zusammenkratzen kann, und er heißt Bobby. 56
»Klingt cool«, freute ich mich für sie und war zugleich beleidigt, daß sie nicht das ganze weitere Leben bei mir zu Hause verbringen wollte. »Cool sagt doch kein Mensch mehr. Er ist megageil.« Debby versuchte unermüdlich, mich in die neunziger Jahre zu zerren. Um total modern zu sein, brauchte ich statt »cool« offenbar bloß »megageil« zu sagen. Ich kann mich nicht dazu überwinden. »Cool«, beharrte ich trotzig. »Und wann gedenkst du zu Hause zu sein?« »In deinem tiefsten Innern spielst du ganz gern den Vater«, stichelte sie. »Noch zu ’ner rechtschaffenen Uhrzeit.« »Na schön.« Ich traute mir selbst nicht so recht. »Bin schon unterwegs«, flötete sie und ward nicht mehr gesehen. Ich widmete mich wieder dem Basketball. Das Spiel war fast vorbei, denn es war ohne mich weitergegangen, während ich mit Jemma Marin und Debby verhandelte. Es würde noch ein zweites kommen, wenn ich die Reporterkommentare durchhielt. Ich wurde ungeduldig ob der Manöverkritik und zappte von einem Programm zum andern. Ich machte mir Sorgen um Debby. Per Zufall schaltete ich kurz in die Regionalnachrichten. Mein Fehler. Ein frischgestylter Sabbelkopf meldete irgendwas über Janice Jensen. Die Videosequenz dauerte bestimmt nicht länger als sechs Sekunden. Der Hintergrundkommentar brabbelte was von einem Haftprüfungstermin, aber das war unwichtig. Die sechs Sekunden waren entscheidend. Gezeigt wurde eine typische Einstellung, wie zwei mollige Polizistinnen die Beschuldigte zwischen sich zur grünen Minna führen. Sie nimmt Deckung hinter den Beam57
tinnen und verdeckt ihre Gesichtshälfte zur Kamera mit der Hand. Aus irgendeinem Grand zieht ihr eine Begleiterin die Hand runter, vielleicht um ihr in den Transportwagen zu helfen, und einen Sekundenbruchteil lang sehe ich sie im Profil. Ich erfasse blondes Haar, zu einem schlichten Pferdeschwanz gebunden, und eine Großaufnahme von ihrem Jochbogen. Und dann Schnitt. Zuallererst spüre ich es in den Eiern. Wie wenn der Fahrstuhl im sechsundachtzigsten Stockwerk anhält und du kurz schwerelos bist und dir irgendwer sachte, aber entschlossen die Hoden hoch bis zum Adamsapfel hievt. Und dann klingt der Effekt langsam ab, während dein Sack die Bereitschaft bekundet, weiter die Heimstatt deiner Eier zu bleiben. Meiner war noch nicht wieder soweit. »Die kenne ich doch«, sagte ich zu mir selbst. Aber der Sabbelkopf war zu was anderem übergegangen und ließ mir nur einen Jochbeinausschnitt und eine Erinnerung, die nicht zu fassen war. Ich zog mir eine Tüte rein in dem Glauben, sie würde meinem Gedächtnis aufhelfen, aber es klappte nicht. Statt dessen schlief ich ein. Ich hatte sogar einen Traum. Ich träume selten und stelle alles mögliche an, solche seltenen Ereignisse zu unterdrücken. Dieser Traum aber durchbrach meine Abwehr. Ein seltsamer Traum, ohne Handlung, ein Stilleben von zwei fast vollreifen Pfirsichen in einem Korb, die sich sachte berühren. Debby klapperte mit dem Schlüssel in der Eingangstür und weckte mich. Sie sah schlechter aus als zuvor. Sie ließ sich neben mich fallen und zog nicht mal den Anorak aus. Das Fernsehen zeigte einen Herrenslalom, und ich schaltete ab. 58
»Scheiße«, zischte sie und trommelte mit den Fäusten auf die Schenkel. »Ich halt’s nicht aus. Ich kann mich selber nicht mehr leiden. Ich hab’s vermasselt.« »Was denn?« »Er wollte mit mir schlafen. Ich auch mit ihm. Und dann hab ich nein gesagt und bin heim. Scheiße.« Ich suchte nach einer väterlichen Bemerkung, nach was Beruhigendem oder einem Trost, aber ich war zu schlaftrunken, und mir fiel nichts ein. »Wie war das Spiel?« wollte sie wissen. »Hoffentlich besser als ein Abend mit einer schönen Frau.« »Woher weißt du, daß sie schön ist?« Sie sah mich wehmütig an, raffte sich auf, gab mir einen Gutenachtkuß und sagte: »Ich mach ’ne telefonische Anfrage bei den Anonymen Arschlöchern, ob sie ’nen Gruppenplatz frei haben.« »Frag auch gleich, ob sie Familientherapie machen«, schrie ich ihr hinterher. Ich versuchte noch mal vergeblich, mich auf Janice Jensen zu konzentrieren. Atemlos stürzte Debby noch mal herein. »Ach, Simon, tut mir leid. Ich hab’s vergessen zu sagen. Gabe hat angerufen, als du mit Tupelo draußen warst. Er kommt her und will dich morgen besuchen. Ich hätt’s aufschreiben sollen. Tut mir leid. Gute Nacht.« »Hat er sonst noch was gesagt, zum Beispiel, was er hier will?« »Nein, nur daß er uns besucht. Freust du dich?« »Sicher, warum nicht. Gute Nacht.« Gabriel Rose, mein Vater und Debbys Opa, wohnt in Michigan, reist nur sehr ungern und hat mich in seinem ganzen Leben noch nicht einmal besucht. Ich schlief unruhig, aber ohne weitere Alpträume. 59
Als ich aufstand, war es schon fast elf, und mein Vater saß bereits in der Kopfwerkstatt. Zum Glück hatte Debby vollauf mit ihm zu tun, und die beiden würden sich bestimmt miteinander beschäftigen, während ich duschen ging und versuchte, wach zu werden. Aber erst ging ich rein und gab ihm ein Küßchen, wie seit meiner Kindheit bei jeder Begrüßung. »Brauchst dich nicht zu schämen, wenn du deinen Vater küßt«, sagt er dann immer. Unnötigerweise, weil ich das nie so empfinde. Debby belaberte ihn mit Detailfragen nach alten Filmen, hauptsächlich wer Regie geführt hat und wer in welchem Film die Hauptrolle hatte. Er ging ganz darin auf, eine Art Quiz, das er immer lieber mochte, je älter er wurde. Sie hatten es grade mit Beach Red, einem drittklassigen Antikriegsfilm. Gabe tat zunächst ratlos, um desto besser auftrumpfen zu können. »Regie und Hauptrolle Cornell Wilde, glaube ich. Rip Torn in einer Nebenrolle.« »Shit«, knurrte sie. »Hab schon gemeint, jetzt hab ich dich. Na gut, noch eine. Welche Schauspielerin ist das in Claire’s Knee …« Ich verzog mich unter die Dusche. Mein Vater war kein guter Gesprächspartner. Von Verstand und Haltung her Rechtsanwalt, hatte er eine Neigung zu schroffer Sachlichkeit, die er auch pflegte. Er war ein beeindruckender Mann, massig, mit Glatze und Bart. Das zeigte Wirkung. Wenn Gabe Rose dozierte, hörte man zu, ob als Geschworener oder Mandant. Oder sein Sohn. Gabe wirkte müde und faltig, wie er mir so in der Kopfwerkstatt gegenüber saß. Auch nach sechs Jahren hat er den Tod meiner Mutter noch nicht verwunden. Fliegen ist ihm noch nie bekommen, und daß er als Witwer auf die Siebzig 60
geht, hat weder sein Durchhaltevermögen noch seine Begeisterung für technische Wunder wie Flugzeuge gestärkt. Er bat Debby, uns allein zu lassen, und verblüffte mich mit einer Frage nach Tommy. »Wie geht’s deinem Bruder? Sag nur, ob gut oder schlecht, und verrat ihm bloß nicht, daß ich gefragt habe.« »Ich verrat’s ihm doch jedesmal, wenn du nach ihm fragst. Es geht ihm gut«, beruhigte ich ihn. Er knurrte. Tommy ist nicht das rechte Gesprächsthema, zumindest nicht, seit er sich mit Einbruch und Drogenbesitz auf die andere Seite verirrt hat. Es ging um Heroin. Tommy hat eine Zeitlang gesessen, seine Sucht bewältigt und kommt jetzt gut klar, als eine Art Tagelöhner in der Musikbranche, der von einer zweitklassigen Band zur anderen driftet und sich so den Lebensunterhalt verdient. Mein Vater hat ihm seine Labilität nie verziehen. Mir ist das piepe. Ich und Tommy sind seit unserer Kindheit ein Herz und eine Seele. Er ist mein kleiner Bruder und meine wichtigste Hilfskraft. So einfach ist das. »Simon, ich hab da ein Problem.« »Schieß los, was denn?« »Sag du’s mir.« Ich finde dieses Spiel bescheuert. Gabe hat für Psychiatrie etwa genausoviel übrig wie für Schädelkunde. Er will mich bloß rausfordern. Zeig doch mal, was du kannst. »Na gut.« Wenn er das braucht, spiele ich halt mit. »Ich soll dir einen Gefallen tun. Du bittest ungern um dergleichen, und deinem Sohn gegenüber ist es dir erst recht ein Greuel. Du mußt dir erst noch ’nen Ruck geben, aber am Ende fragst du dann doch. Du bist aber nicht von so weit hergeflogen, damit ich dir jetzt deine Motive analysiere.« Ich hielt inne. »Wie war ich?« 61
»Du hast mein Vertrauen in deine Ausbildung wiederhergestellt. Die war auch teuer genug.« Er lächelte. Ich hab schon immer gemeint, daß er mich mag, es aber einfach nicht zugeben kann. »Na los«, forderte ich ihn auf. »Ich hab gerade einen alten Freund besucht. Seine Kleine hat Ärger, und der fällt genau in dein Fach. Klein ist sie natürlich nicht mehr. Sie ist so alt wie du. Und ihr Vater ist einer meiner Mandanten und ein Freund. Ich möchte, daß du sie dir ansiehst.« »Dürfte kein großes Problem sein. Ist schließlich mein Fach.« Aber irgendwas war nicht koscher. Mein Vater hatte einen weiten Weg auf sich genommen. »Die Sache hat ’nen kleinen Haken. Du kennst meinen Mandanten und dürftest dich auch an die Tochter erinnern. Er war in der Oberstufe dein Englischlehrer.« Ich brauchte nicht lange, um meine Erinnerungen aus der Oberschule zu sortieren. »Müßte Donahue sein. Ich wußte gar nicht, daß er dein Mandant war.« Er zuckte die Achsel. »Es gibt da durchaus ein paar Dinge bei mir, die du nicht weißt.« »Und ich soll sie mir also ansehen, das ist alles?« »Ja, sie hängt übel drin, und wie du schon gesagt hast, ist es schließlich dein Fach. Ich will, daß sie eine Koryphäe bekommt, und das bist du ja schließlich, auch wenn du mich das vor Zeugen nie sagen hören wirst.« »Klar erinnere ich mich an Donahues Tochter … Janice war doch …« Mir blieb das Herz stehen. Es konnte nicht sein. »Sie heißt jetzt Jensen.« Sie war es doch. 62
5 Ich beobachtete Janice Jensen, aber ich sah nichts. Ich saß in der Beobachtungskabine auf der abgedunkelten Seite des Einwegspiegels und wartete. Es widerstrebt mir, allein im Untersuchungszimmer zu sitzen, bis mir der Häftling gebracht wird. Da ist nämlich auf einmal nicht mehr klar, wer eigentlich der Gefangene ist. Auch bin ich mir nie ganz sicher, ob nicht doch jemand auf der dunklen Seite des Spiegels sitzt und genau das tut, was ich jetzt tat. Beobachten. Zugucken, wie der Proband all die kleinen nervösen Marotten preisgibt, die wir im Wartezimmer vom Onkel Doktor zeigen. Intimitäten. Menschen in Angst entblößen sich, aber deshalb saß ich nicht hier und beobachtete sie. Ich mußte mir ein Bild von ihr verschaffen, bevor ich mit ihr zu tun bekam. Aber Janice wußte um den Spiegel und hatte sich so hingesetzt, daß sie mir wenig mehr zeigte als ein gesenktes Profil. Jetzt bot sie mir nur den blonden Pferdeschwanz und die schmale, unberingte, leicht sommersprossige Hand vor dem Gesicht. Zwanzig Minuten lang bekam ich nur diese Pose zu sehen und keinerlei Einblick. Ärgerlich klopfte ich an das Spiegelfenster. Nicht eben cool und professionell, ich hatte halt die Beherrschung verloren. Aber es funktionierte. Ich hatte sie verblüfft, und sie verriet sich, indem sie den Bruchteil einer Sekunde hersah, bevor sie ihre Pose wieder einnahm. Aber dieser Sekundenbruchteil reichte. 63
Meine Hoden fuhren schon wieder Fahrstuhl. Mein Kopf dröhnte wie ein Gong, und der Verstand kam mir abhanden. Ich war wie auf einer Zeitreise. Es sei denn, da saß ihre Tochter. Der Gedanke war mir ein kurzer Trost. Es mußte die Tochter sein. Das gleiche Gesicht. So was kommt bei Töchtern vor. Ich rechnete nach, und es paßte. Ich stand sofort auf und ging zum Untersuchungszimmer, weil mir klar wurde, daß weiteres Abwarten mich mehr aus der Fassung bringen würde als sie. Als ich reinkam, hatte sie sich mit dem Rücken zur Tür gesetzt und sah in den Einwegspiegel, den sie die letzten zwanzig Minuten gemieden hatte. Ihr Parfüm traf mich wie ein Schlag, ehe ich meine Tischseite erreichte. »Shalimar«, glaube ich, aber die Marke ist unwichtig. Es war ihres, und noch bevor ich mich in ihrem Gesicht vergewissern konnte, fühlte ich mich schon zurückversetzt in die Zeit, als sich der Duft meines Rasierwassers auf alten, vom Haschrauch geschwängerten Sofakissen mit diesem Shalimar vermischte. Mir fiel ein, wie ich gewitzelt hatte, wir könnten ja die Kissen rauchen, bevor wir mit den Hanfstengeln und -samen vorlieb nahmen. Aber das durfte nicht wahr sein. Vielleicht hatte ich ja Halluzinationen. Wenn ich doch bloß Krähenfüße sehen könnte oder Zellulitis, oder sonst ein Zeichen des Alterungsprozesses. »Ach, Simon, du bist’s.« Aus ihrer Stimme klang Enttäuschung. »Die haben mir gesagt, ich hätte ganz besonderen Besuch. Ich hab gedacht, es ist Will.« Erst da lächelte sie, eine Andeutung von Fältchen in den Augenwinkeln, die einzig wahrnehmbare Veränderung in ihrem Gesicht. »Ich bin so froh, daß du da bist«, fing sie sich wieder. »Wirklich.« 64
Sie stand auf und streckte auffordernd beide Hände über den Tisch. Ich ergriff sie, und sie fühlten sich vertraut an. Ich schüttelte ungläubig den Kopf. »Janice Donahue.« »Du hast mich beobachtet, nicht?« Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf den Spiegel. »Ja.« »Ich bin froh.« Sie schlang unbewußt die Arme um sich. »Es gibt mir so ein sicheres Gefühl, wenn ich weiß, daß du wieder auf mich aufpaßt.« Sie versuchte ein Lächeln, aber diesmal zerfloß ihr Gesicht in Tränen. Ich ließ sie weinen. Vielleicht brauchte sie das ja. Ich dagegen hätte eine saftige Ohrfeige gebraucht, um die Regungen meines Körpergedächtnisses zu unterdrücken. Aus der Nähe ist ihr Haar von einem blassen Rotblond. So fein wie bei einem Kleinkind, und sie hat es zu dem vertrauten Pferdeschwanz gebunden, nicht viel länger als meiner. Ihr Gesicht ist schmal und klein, aber attraktiv. Die Nase ist jetzt ein bißchen stupsig, als hätte sie eine Schönheitsoperation machen lassen. Nicht die runden blauen Augen beherrschen ihr Gesicht, sondern die Lippen, klein, wie alles an ihr, aber voll und üppig. Sie hat kein einziges Pfund zugelegt, die Figur ist noch fest und elastisch. Sie sieht immer noch aus, als könne sie auf dem Stadionrasen als Cheerleader die Fußballmannschaft anfeuern. Auf Teenagerart kann sie recht hübsch sein, wirkt aber beinahe gewöhnlich, wenn sie die Stirn runzelt oder nachdenkt. Meine Janice. Ihr Körper verströmt eine jugendliche, vibrierende Sexualität. Nichts davon ist verlorengegangen. Ihr Kußmund lädt immer noch zum Knutschen ein. Sie trug einen Schottenrock mit einer großen Sicherheitsnadel aus Messing, als müßte die sie zusammenhalten. Und 65
einen eng anliegenden himmelblauen Pullover wie vor fünfundzwanzig Jahren. Nicht mal die Brüste waren abgeschlafft, sie ragten noch immer keß nach oben. Über der linken Brustwarze, die mich genau wie die andere durch die dünne Wolle provozierte, saß eine vergoldete Pandabrosche. Janice hatte vergessen zu altern. Ihr Gesicht zeigte bis auf ein paar Lachfältchen keine Spuren. Sie war ein fast vollkommener Abklatsch ihres jüngeren Ichs. Sie wirkte müde, wie an einem Montag in der Schule nach einem anstrengenden Wochenende voller Alkohol und Partys. Es fehlte nur der Pullover mit dem Schriftzug der Highschool. Während ich mich weiterentwickelt, die Jugend überwunden und irgendwie als Erwachsener seßhaft geworden war, hatte sich Janice im wahrsten Sinn des Wortes nicht im geringsten verändert. Sie war nicht etwa eine erwachsene Ausgabe des hübschen Teenagers, den ich mal kannte. Sie war immer noch dieser hübsche Teenager. Und es gab ihr so ein sicheres Gefühl, daß ich wieder auf sie aufpaßte. Mir wurde blümerant. Ich wollte jetzt nicht darüber nachdenken, was das bedeuten könnte, also konzentrierte ich mich auf eine alte Routine: den Begrüßungstest. Einer meiner Professoren von früher, Heinrich Zimm, hatte die letzten Jahre seiner Laufbahn mit der Überprüfung der Hypothese verbracht, daß die ersten Worte eines Patienten die bedeutsamsten seien. Zimm meinte dies wörtlich, und daher mußten alle angehenden Analytiker buchstabengetreu aufschreiben, wie der Patient seinen neuen Therapeuten begrüßt hatte. Dann entwickelte er komplizierte und veröffentlichungswürdige Theorien auf der Grundlage, ob der Proband »Hallo« oder »Tag« gesagt oder gar ein »Wie geht’s« riskiert hatte. 66
Über den Satz von vorhin wäre Zimm aus dem Häuschen geraten: »Ach, Simon, du bist’s. Die haben mir gesagt, ich hätte ganz besonderen Besuch. Ich hab gedacht, es ist Will.« Sie hatte mir sofort einen Dämpfer verpaßt. Meine Gedächtniszellen, eben erst erwacht, hatten jetzt einen regelrechten Flimmerkrampf. Das einzig Sinnvolle war jetzt, die Sache durchzuziehen. Das Chaos der Gefühle mußte ich später sortieren. »Janice, das hier ist kein normales Schwätzchen unter alten Freunden. Ich bin gebeten worden, deine Verhandlungsfähigkeit zu beurteilen. Es kann sein, daß ich ein Gutachten schreiben oder sogar vor Gericht aussagen muß. Ich bin verpflichtet, dich darauf hinzuweisen, daß nichts von dem hier der Schweigepflicht unterliegt. Alles was wir jetzt reden, kann vor Gericht relevant werden. Verstehst du das?« Ich hatte ihr ihre psychologischen Rechte verlesen. Sie nickte, rutschte dabei auf dem Stuhl herum und trocknete sich die Tränen. »Ich hab gedacht, du bist hier, um mir zu helfen«, sagte sie. »Ich hab nach dir verlangt. Ich hab gedacht, wir seien immerhin Freunde.« Freunde? Ein Vierteljahrhundert war vergangen, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Sie klang wie Debby, bloß jünger. »Das waren wir auch, und ich bin hier und helfe, wo ich kann. Ich finde nur, du solltest Bescheid wissen.« Sie gähnte, musterte kurz ihre Fingernägel und schwatzte drauflos, ganz wie in einer normalen Unterhaltung mit einem alten Freund. »Na, Simon, du hast dich vielleicht verändert! Wenn ich nicht gewußt hätte, daß du kommst, hätte ich dich nicht wiedererkannt. Du wirkst so … viel älter.« Wie die meisten meiner Altersgenossen. »Aber du nicht. Du hast dich überhaupt nicht verändert. Du siehst aus wie vor siebenundzwanzig Jahren. Es ist umwerfend.« Wie machte sie das? 67
»Danke«, sagte sie scheu. »Triffst du noch viele von damals? Hast du Will getroffen?« Schon wieder Will. Ihn wollte sie, nicht mich. Sonst noch was Neues? »Will?« fragte ich. »Will Hardin, du Dummer, den Torjäger.« Ich fragte nicht weiter. Ich wußte Bescheid über Will. Aber mich interessierte, warum sie an ihn dachte. »Du hast ihn erwartet. Du bist überrascht, daß ich es bin.« »Ich warte irgendwie immer auf Will. Niemand bleibt ewig verheiratet.« Kurzes, entschiedenes Kopfschütteln. »Nein, ist mir schon klar, daß er nicht kommt. Ich mein bloß manchmal, es könnte sein. Ist doch möglich. Alles ist möglich.« Das kam im Brustton der Überzeugung. »Hast du ihn mal getroffen? In letzter Zeit, meine ich?« Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte ihn in letzter Zeit nicht gesehen. »Nein, ich fahr nicht oft nach Hause. Der einzige aus der Schule, den ich noch treffe, ist mein Bruder Tommy. Den hast du wohl nicht gekannt. Er war drogenabhängig und ist drei Jahre jünger.« »Nein, aus der Mittelstufe kenne ich keinen.« Die aus der Mittelstufe hatte sie wohl vergessen, aber sonst niemand. Ihr Erinnerungsvermögen war phänomenal, als lebe sie statt in der Gegenwart in der Vergangenheit. Ich war vier Jahre auf dieser Schule gewesen und sie bloß eins. Dennoch war sie ein Lexikon für nostalgische Trivialitäten und wußte Namen und Ereignisse noch mit beklemmender Präzision. Ich lauschte gebannt dieser Frau, die in einer anderen Zeit gefangen war. »Das war ein gutes Jahr für mich«, erläuterte sie. »Solche hab ich nicht viele gehabt.« Vielleicht war das ihre Art, sich warmzulaufen. Sich an eine glückliche Vergangenheit zu erinnern war leichter, als 68
sich einer Zukunft zu stellen, wie Janice sie vor sich hatte. Aber einer von uns mußte die Sache ansprechen. »Janice, weißt du, warum du hier bist?« »Klar. Die Polizei hat mich hergebracht. Ich war schon oft so wo. Und ich kann dir versichern, ich bin voll orientiert« – was sie im Singsang mit »2. April, New York City, Janice Jensen« belegte. Sie gab sogar noch die Uhrzeit an, auf die Minute genau. Damit hatte sie bereits die halbe Arbeit für mich getan. »Du kennst dich aus, was?« »Klar doch, ich war schon öfter hier.« »Schon«, grübelte ich und überlegte, wie ich auf den fraglichen Abend überleiten sollte. »Aber du bist doch noch nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten, oder?« »Aber nein, du Dummer«, antwortete sie leicht verlegen. Ich wünschte, sie würde nicht »Dummer« zu mir sagen. Bin ich nämlich nicht. Nie gewesen. »Aber dir ist klar, daß dem jetzt so ist?« »Haben sie mir gesagt.« »Weißt du, was dir zur Last gelegt wird?« Sie nickte, ganz beschäftigt mit ihrem Taschentuch. »Kannst du mir sagen, was?« »Mord halt, glaub ich. Oder noch mehr?« Ich schüttelte den Kopf. Ein Doppelmord reichte doch wohl. »Kannst du mir sagen, was an dem Abend passiert ist, bevor sie dich hergebracht haben?« Eigentlich sollte sie das eher ihrer Strafverteidigerin erzählen als mir, aber ich war gekommen, um mir ihre Version anzuhören und sie auf ein formales Erfordernis hin zu beurteilen. Außerdem hatte ich Interesse an ihr. 69
»Warum hacken alle auf diesem Abend herum? Wenn ich was Schlimmes gemacht habe, sollen sie mich bestrafen. Sollen mich ein Jahr lang wegsperren, aber nicht dauernd triezen.« Ein Jahr lang wegsperren? Sie begann rhythmisch zu schaukeln. Die Musik dazu war für mich unhörbar. »Kannst du mir sagen, was an diesem Abend passiert ist?« beharrte ich auf meiner Frage. Sie war sichtlich wütend, aber weshalb und auf wen, war nicht klar. Wenn ich so weitermachte, würde es am Ende mich treffen. »Gut, ich sag’s dir. Jemand hat Dennis umgebracht. Ich bin froh darüber. Tut mir leid, aber so ist es. Er hat’s verdient. Geschieht ihm ganz recht, so, wie er mich behandelt hat.« Und da verflog der Nebel in einem Augenblick von Klarheit. Was sie jetzt vor Augen hatte, ließ wieder Tränen fließen. Sie schlug die Hände vors Gesicht, doch die Tränen tropften ihr durch die Finger. Nachdem sie geweint hatte, war sie gefaßter und nicht mehr so heiter. Die Wimperntusche war ihr zerlaufen. Sorgsam und mit Methode betupfe sie sich mit dem zerknüllten Taschentuch das Gesicht. »Sag es mir«, ermunterte ich sie. Die Kernfrage war noch nicht geklärt. Sie hatte geäußert: »Jemand hat Dennis umgebracht.« Daß sie es selbst getan hatte, brauchte sie nicht zuzugeben, jedenfalls jetzt noch nicht. Plädierte sie aber auf Schuldunfähigkeit, würde sie letztendlich haarklein beschreiben müssen, was sie da getan hatte; für Verhandlungsfähigkeit mußte sie jedoch nur zu ihrer Verteidigung beitragen können. »Ach, Simon, ich bin verhandlungsfähig, wirklich. Mach dir da keine Sorgen.« Machte ich mir welche? »Ich kann’s dir schon erzählen. Ich hab bloß keine Lust.« 70
Sie nestelte an ihrer Pandabrosche. Meine Augen hingen kurz an ihrer Hand. »Ist mir unangenehm«, druckste sie, und ihre Miene sprach Bände. »Weißt du, ich hab die ganze Geschichte schon Dr. Newhouse erzählt. Wenn du das mit der Verhandlungsfähigkeit bei mir übernimmst, sag ich auch dir alles. Großes Ehrenwort.« Den Fachjargon hatte sie also schon drauf. Kate hatte sie gut gedrillt. War natürlich ihr Job. Aber mit mir spielte Janice. Tat neckisch. Zugeknöpft. »Der Saukerl hat’s verdient, das kann ich dir flüstern. Wir ham jahrelang darüber geredet.« »Jahrelang drüber geredet, du und Dennis?« Eigenartig. »Nein, mit meiner Mutter. Sie hat gemeint, ich hätt ihm schon vor Jahren ’nen Riegel vorschieben sollen.« Sehr, sehr eigenartig. »Einen Riegel wogegen?« »Daß er mir weh getan hat. Mom hat gesagt, ich soll mir nix mehr gefallen lassen. Ich soll nicht so unterwürfig sein. Die Bullenmustergattin. Das Sofapüppchen. Sie meint, ich bin schwach, aber da irrt sie sich. Jetzt kann er mir nichts mehr tun.« »Was hat er dir denn getan?« »Mich geschlagen. Er war ganz anders als Will. Will war nett und lieb. Mutter hat immer gesagt, ich hätt bei Will bleiben sollen. Oder bei dir. Da wär’s mir viel besser ergangen.« Ihre Anspielung auf uns entging mir nicht, doch ich blieb bei der Sache. »Janice, kannst du mir sagen, was mit deinem Sohn ist?« »Was?« schrie sie plötzlich. »Mutter sagt, es geht ihm gut. Ist was mit Sean?« Sie wurde unvermittelt zappelig, 71
verschränkte aber dann die Arme und faßte sich wieder. »Nein, Mutter hätte mir das gesagt.« Nicht sehr wahrscheinlich. Irgendwer hätte mich aufklären sollen, daß sie das mit dem Kleinen nicht mehr wußte. »Wie oft sprichst du mit ihr? Mit deiner Mutter, meine ich.« »Andauernd.« Sie schaukelte wieder, ganz wie vorhin. »Janice, hörst du manchmal Stimmen, wenn niemand da ist?« Grundlegend, und schwer zu erfragen. Wer kann bei einer psychotischen Patientin noch sagen, was Wirklichkeit ist? Höchstens sie selbst. »Ja, andauernd. Ich hör Mutter, wenn sie nicht da ist. Ich hör Mutter immer.« »Und wie lange geht das schon so?« »Sehr lange. Du kannst alles darüber nachlesen, wenn’s dich interessiert. Dr. Newhouse hat gesagt, ich soll dir das Formular da geben. Für meine Krankenakte mußt du auf der Station unterschreiben.« Sie reichte die Vollmacht über den Tisch, als rieche sie streng. »Du wirst deine helle Freude dran haben. Da wimmelt’s von Verhaltensstörungen, Angstzuständen bis hin zur Schizophrenie vom undifferenzierten Typ. Alle Tassen außem Schrank. Kannst alles haben.« Ich hatte alles, was ich brauchte, bis auf die kalte Dusche. Ich stand lieber auf und ging, bevor da noch einer in Erinnerungen schwelgte. »Ich komm bald wieder. Paß auf dich auf.« Sie hob die Hand. »Simon, weißt du noch?« »Natürlich weiß ich noch.« »Hast du mich da gern gehabt?« 72
»Ja, Janice, ich hab dich wirklich gern gehabt.« Sie nickte, wie um zu sagen, »hab ich mir schon gedacht«, und die Befragung war vorbei. Janice war verhandlungsfähig, aber noch nicht so weit, sich auf Schuldunfähigkeit berufen zu können. Dazu würde sie sich klarmachen müssen, daß sie selbst die Tat begangen hatte. Bisher aber hielt sie sich quasi alles offen, eine Lektion, die sie mir schon vor vielen Jahren erteilt hatte. Noch etwas Relevantes fiel mir plötzlich ein. Die Mutter von Janice, Margery Donahue, war ein Jahr vor unserer Beziehung gestorben. Aber das war nicht das Härteste. Ich hatte ein Problem, ein berufsethisches. Ich wollte ihren Fall schon, aber eigentlich mach ich nie was mit Leuten, die ich persönlich kenne, nicht einmal mit flüchtigen Bekannten. Und das hier war härter, viel härter. Ich war mal blind und hoffnungslos in die Täterin verliebt gewesen.
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6 In dem Jahr rauchte ich erstmals Hasch, bekam Dad seinen Herzinfarkt, Tommy borgte sich sein erstes Auto aus und eroberte ich Janice Donahue nur, um sie wieder zu verlieren. Nixon hatte das Weiße Haus verlassen müssen, Watergate entblätterte sich weiter wie eine endlos verwesende Lotusblüte, und die Beatles waren Geschichte. Sogar der Schmerz um das Massaker der Nationalgarde an der Kent State University verblich allmählich im kollektiven Unbewußten, und zugleich erlahmte die Bewegung gegen den Vietnamkrieg. Für uns hatten die Bilder der toten Studenten, erschossen von amerikanischen Jungs in Uniform, die Welt verändert. Desgleichen das Dope. Das Marihuana entdeckte ich auf dem Campus der Universität von Michigan, wo in Bälde, wenn ich das letzte Schuljahr durchstehen würde, mein richtiges Leben beginnen sollte, das College. Obwohl ich nie aus Ann Arbor weggekommen war, streifte ich die Geistesverfassung des Kleinstädters ab und suchte Erleuchtung im Brennpunkt der Studentenbewegung. Die Universität, an der der SDS gegründet worden war, schien mir der rechte Ort für den Beginn meiner Suche. Es gab teach-ins, sit-ins, be-ins und smoke-ins jeder politischen Couleur. Ich trieb mich mit Psychologiestudenten herum, die auf Experimente abfuhren, hauptsächlich mit bewußtseinserweiternden Drogen. Nicht Amerika wollten sie verändern, sondern das eigene Bewußtsein, und bis zum Umfallen darüber quatschen. Daß ich als Oberschüler 74
Umgang in den heiligen Hallen der Alma Mater hatte, schmeichelte meinem Ego. Mir ging einer ab dabei. Ich ertrug mein letztes Schuljahr wie ein gefräßiges Geschwür, haute so oft wie möglich von zu Hause ab und war ständig so bekifft, wie es nur irgend ging. Dann bekam Dad seinen Herzinfarkt. Den hatte er sich redlich verdient. Er aß zuviel, rauchte zuviel, leistete einen Sechzehnstundentag in seiner Rechtsanwaltskanzlei, machte sich Sorgen über alles und jedes und war generell ein Alpha-Typ. In der Vorverhandlung zu einem Scheidungsverfahren kippte er um. Als Folge hatte er den größten Teil des Winters Hausarrest und barmte und grantelte, bis es uns allen so schlecht ging wie ihm. Das war keine Gemeinheit, er wollte bloß nicht der einzige sein, der litt. Ich ging ihm aus dem Weg, weil mir völlig klar war, daß sich die Stimmung in der Familie nicht gerade entkrampfen würde, wenn er mich auf dem Klo mit einem Joint erwischte. Auf die Schliche kam er mir trotzdem, wenn auch nicht auf dem Örtchen. Ich schrieb gerade an einer Hausarbeit in Geschichte und hatte eine angerauchte Tüte im Ascher liegenlassen. Dort fand er sie, weil er immer noch rauchte wie ein Schlot und in jedem Raum zuerst zum Aschenbecher strebte. »Simon, ich dachte, du hättest mehr Grips im Kopf!« Er streckte mir anklagend den Joint hin. Ich hätte ihm sagen können, daß ich nicht auf Lunge rauchte, aber keiner hätte mir das abgekauft, nicht mal damals. »Ist doch bloß Hanf. Nicht mal ’ne Droge. Nur ’ne Pflanze.« »Und Heroin ist eine Blume. Komm mir nicht oberschlau. Das hier ist ein verbotenes Betäubungsmittel, und ich dulde es nicht unter meinem Dach. Mach das da drau75
ßen«, er wies auf die Straße, »wenn du deinen Schuß brauchst.« Einen Vater, der so richtig auf der Höhe seiner Zeit ist, gibt es wohl nicht. Wir vertieften die Sache nicht weiter, aber unser Verhältnis wurde täglich gespannter. Da sprang Tommy in die Bresche. Er klaute ein Auto und baute damit einen Unfall. Er mußte vors Jugendgericht und mein Vater mit der Schande fertig werden, daß die Justiz, sein eigenes System, sich mit jemand von seinem Fleisch und Blut befaßte. Tommy kam mit einer strammen Verwarnung davon, mein Vater jedoch nicht drüber hinweg. Einer seiner Söhne war drogensüchtig und der andere ein gewöhnlicher Dieb. Wir gingen ihm weiterhin aus dem Weg. Tommy trieb, was Mittelschüler so treiben, und ich pilgerte hinüber zur Universität, um meinen Horizont zu erweitern und politisch bewußt zu werden. Das, was mich am meisten reizte, ging damals allerdings an mir vorbei. Zwar hatte ich mich grundsätzlich der freien Liebe verschrieben, doch war ich an eine Gruppe von Leuten geraten, die sich der Pflicht zur sexuellen Revolution verweigerten. Nichts da mit zügellosem Geschlechtsverkehr, bloß endlose Sitzungen voller wildem Geschwafel und Agitprop. Also lauschte ich aufmerksam und erfuhr vom militärisch-industriellen Komplex, und wie gigantisch wir alle damit beschissen wurden. Einmal rauchte ich auf einem be-in nackend einen Joint, aber das Ergebnis war eher schrumplig als geil. Es begann mit einem einzigen Kuß, bei dem die Zeit stehenblieb. Diesem einen Kuß waren ein paar wilde nächtliche Phantasien und mindestens zwei spektakuläre feuchte Träume vorausgegangen. Und er wäre wohl Wunschtraum 76
geblieben, wären nicht allerhand Umstände zusammengetroffen, überwiegend ein Konglomerat aus Jugend, Geilheit und dem Jahr achtundsechzig. Jeder Mann bekommt irgendwann in seinem Leben einen Kuß, der den Trieb in ihm weckt wie kein anderer, den Kuß nämlich, der das Kleinhirn kurzschließt und für das ganze weitere Leben fixiert, was Erregtheit bedeutet. Meinen erhielt ich von Janice Donahues Lippen. Und zwar in der High-School von Ann Arbor, auf dem Sweetheart Dance am Valentinstag unseres letzten Schuljahrs. Ich war pro forma mit Bev Reilly hingegangen, einem stillen, fleißigen Mädchen mit unbändig flammendem Rothaar, einem Kupferdächlein, das sie ärgerte. Viel lieber wäre sie schlicht brünett gewesen, um unter den Klassenkameradinnen nicht so aufzufallen. Ich habe immer die Ansicht vertreten, daß sie wunderschön gewesen wäre, wenn sie nur Flagge hätte zeigen wollen, aber sie hatte es mehr mit Flechtkränzchen als mit Schminke. Bev und ich hatten den größten Teil unseres letzten Schuljahrs gemeinsam verbracht und endlos über Politik und Sex geredet. Sie war katholisch, streng erzogen und hatte sogar mal daran gedacht, einem Nonnenorden beizutreten. Sie litt, weil sie hoffnungslos in Will Hardin verknallt war, unser rotblondes Musterbild eines Mittelstürmers. Ich war Agnostiker, angehender Hippie und fürs erste mit meinem heftigen Traumleben um Janice Donahue vollauf beschäftigt. Ich litt und zog mir Tüten rein, und Bev trank aus gebrochenem Herzen. Weil sie aber öfter brechen mußte, als ihr lieb war, ließ sie das dann mit dem Bier. Da wir beide keine wirkliche andere Verabredung hatten, waren wir nur hingegangen, um den Pärchen zuzusehen. Bestimmt tanzte Janice dort mit Will. Sie waren 77
schon zusammen gewesen, bevor Janice nach Ann Arbor gezogen war, als sie noch draußen wohnte am Workman’s Lake. Sie sah bestimmt blendend aus, er allerdings nicht minder. Wills Trümpfe waren seine Sportlichkeit und sein gutes Aussehen, aber er hatte auch gute Manieren und war leider nicht auf den Kopf gefallen, selbst wenn er nicht gerade das Zeug zum Klassenbesten hatte. Janice war hochintelligent, fröhlich und absolut umwerfend. Zur Abschlußballkönigin wurde sie nicht gewählt, aber nur aus einem formalen Grund nicht, denn sie war erst während des letzten Jahres auf unsere Schule gewechselt und lief daher außer Konkurrenz. Aber die Abschlußrede durfte sie halten, verdientermaßen. In ihrem Zeugnis stand keine einzige Zwei. Mathematik war nicht meine Stärke, und die Gleichung ging ganz klar nicht auf: Will besaß Janice. Ich begehrte sie. Will war stärker als ich, sah besser aus und war liebenswürdiger. Ich war der Intelligenzbolzen. Damit kriegte ich keine Schnitte. Am Rande war ich bei allen Cliquen an der Oberschule von Ann Arbor mit dabei. Die Jungs mit Köpfchen, meist angehende Hippies, duldeten mich, weil ich auf total abgefahrenes Zeug stand, auf Meditation, vegetarische Ernährung und außersinnliche Wahrnehmung. Außerdem rauchte ich Dope und gehörte schon deshalb dazu. Die Muskelprotze hatten Respekt, weil ich so ein langer Lulatsch war, doch machte ich nicht mit bei ihrem Imponiergehabe, und so was konnten sie weder vergeben noch vergessen. Die Drogenfuzzis auf ihren schweren Motorrädern krümmten mir aber kein Haar, weil ihnen sonst Tommy eins verplättet hätte. Ich war letztendlich ohne Anhang, je nach Blickwinkel frei oder ausgegrenzt, und meine Chancen, bei Janice Donahue zu landen, lagen daher so ziemlich bei Null. 78
Will konnte ich sogar gut leiden, und er respektierte mich. Wir tummelten uns auf getrennten Gebieten – er mit dem Körper, ich mit dem Kopf – und hatten unsere Einflußbereiche in aller Freundschaft sauber austariert. Er war Klassensprecher, ich in der Schülervertretung. Gelegentlich kamen wir bei offiziellen Anlässen nebeneinander auf dem Podium zu sitzen, und dann tuschelten wir, oft die ganze Veranstaltung hindurch. Will war sich seiner Schwächen und Stärken vollkommen bewußt. Er sah nicht ein, warum er an einem Problem lange herumklamüsern sollte, wo er doch stark genug war, mit dem Kopf durch die Wand zu kommen. Dumm war der nicht. Er kannte den Wert seines Körpers. Ich wußte um den Wert meines Verstands, auch daß er mir erst auf dem College zum Vorteil gereichen würde. Vorläufig hatte der Sportsmann die Oberhand, aber uns beiden war klar, daß sich das bald ändern würde. Will kannte zudem mein Geheimnis. Daß ich scharf auf sein Mädchen war. Darauf zu kommen war nicht schwer, denn wahrscheinlich empfanden fünfundachtzig Prozent der Schüler und Lehrer an der Schule genauso, einschließlich dem Direktor. Die Verbindung von Unschuld und Triebhaftigkeit bei ihr machte fast jeden verrückt. Ich hatte zaghafte Versuche gemacht, ihr nahezukommen. In der Schülervertretung hatten wir zweimal miteinander geredet. Einmal brachte ich sie zum Lachen, als ich vorschlug, Marihuana auf dem Schulgelände zu gestatten. Aber nur freitags. Ich hatte sie, wenn auch nur kurz, auf mich aufmerksam gemacht, und weil ich nichts zu verlieren hatte, lud ich Janice zum gemeinsamen Lunch auf dem Schulrasen ein. Sie kam, und wir plauschten ein Weilchen miteinander, aber 79
sie verliebte sich keineswegs auf der Stelle in mich. Ich hing an ihren Lippen und bot mein ganzes Gesprächstalent auf, um Eindruck bei ihr zu schinden. Vielleicht hätten wir »gute Freunde« werden können, aber nicht einmal dazu kam es, weil sie nämlich ihre Pause verlegte, damit sie mit der von Will zusammenfiel. Auf dem Sweetheart Dance hatten alle einen sitzen, außer Bev und mir. Wir kamen erst später dazu, weil wir um den Block gefahren waren, damit ich high werden konnte. Ich schaffte es. Die Fähnchen der Schule wirkten bunter als sonst. Weil Bev eine herzensgute Seele war, zog sie los, um irgendwas Schokoladiges für mich aufzutreiben, und ließ mich wie immer irgendwo am Rand des Geschehens stehen. Ich probierte gerade, ob ich rein psychisch einen Plastiklöffel von dem Tisch gegenüber in meine Hand beschwören konnte, wie ich es Uri Geller in der Glotze mit Silberbesteck hatte tun sehen. Plastik war dagegen doch wohl ein Kinderspiel. Doch baute sich Janice Donahue sich vor mir auf und unterbrach die Kraftlinien zwischen mir und dem Löffel. »Was treibst du da, Simon?« lallte sie. Sie roch nach Bier mit Rosenblättern. »Telekinese, mit Löffeln.« »Klappt’s?« »Noch nicht«, sagte ich und blickte finster, um ihr zu zeigen, daß ich so schnell nicht aufgab. Sie strich mir über die Wange, zog mein Gesicht zu sich heran und küßte mich. Ihre Lippen waren warm und feucht und brannten sich wie mit dem Schneidbrenner in meine Seele. Noch bevor sie meinen Mund freigab, spürte ich meine Erektion und fürchtete, sie könnte es merken. Ich wich mit den Hüften zurück. Sie drängte nach und rieb sich rhythmisch an mir. Da wäre es mir beinahe bekommen. 80
»Nur weiter so«, ermunterte sie mich, »du schaffst es schon noch.« Ich grübelte später, was sie wohl gemeint hatte, den Löffel oder das mit ihr. Damals hatte ich meine Sternstunde gehabt. Ich hätte es dabei belassen sollen, aber ich war noch so jung. Den nächsten Zug machte Janice. Sie wollte unbedingt zu viert ausgehen, zusammen mit Will, Bev und mir. Bev fühlte sich sehr unbehaglich, so zusammen mit Will, da Janice derart gegen sie abstach. Ich machte unentwegt auf geistreich und redete Will in dieser Hinsicht restlos an die Wand. Janice fand Gelegenheit genug, sich an mich zu pressen und mich spüren zu lassen, wie fest ihre kleinen Brüste waren – und wie tabu für mich. Will war das schnurz. Er mochte mich gut leiden, fand mich unterhaltsam und wußte genau, worin seine Macht bestand, was er mir einfach und gutmütig klarmachte, wie es so seine Art war: »Sie mag dein Köpfchen, Simon«, konstatierte er neidlos. »Aber meinen Schwanz.« Er zuckte die Schultern. Ich zuckte die Schultern. Wahr ist wahr. Und Karma ist Karma. Ich fixierte mich auf sie, oder zumindest auf ihren Körper. Ich verlangte mit jeder Faser nach ihr. Ich stellte mir vor, wie sie sich anzog und auszog, und das tat sie in meinem Kopf mindestens dreißigmal am Tag. Daß ich Liebe mit ihr machte, konnte ich mir nicht so recht vorstellen. Sie war mir zu rein für so etwas Abstoßendes, und ich war zu jung, zu unerfahren und unsicher, also hielt ich die Sache überschaubar, beließ es bei Janices nackter Figur, ganz ohne Kleider. 81
Die harmlosesten Wunschträume sind die, die nicht an der Wirklichkeit zuschanden kommen können. Eben deswegen hatte ich mir Janice ja ausgesucht. Sie war unnahbar, unerreichbar und in festen Händen. Es bestand keine Gefahr, daß meine Sehnsüchte in Erfüllung gingen. Sie würde auf immer und ewig an Will Hardin kleben, und ich würde immer scharf sein und ständig bekifft. Bloß daß das Objekt meiner Begierden, das für mich – wenn auch unbekleidet – so unschuldig war, mich eines Tages besuchen kam. Sie war angezogen, aber sonst genau wie in meinen Träumen. Ich gammelte auf unserer Vorveranda mit Bier, Buch und Joint in der Hollywoodschaukel und genoß die ersten Tage meiner Freiheit. Es war kurz nach dem Schulabschluß und bereits schwüler Hochsommer. Ich trug meine Sommerkluft: Shorts, gebatiktes T-Shirt und dazu ein orangefarbenes Stirnband, damit mir der Schweiß nicht in die Augen rann, sollte ich mich körperlich derart verausgaben, daß welcher floß. Ich fühlte mich rundum gut, mit einem Sommer zum Faulenzen vor mir, bevor es aufs College ging, und mit einer sturmfreien Bude, dem Werkzeugschuppen, den ich mir hergerichtet hatte. Mein Vater, der mich schon das ganze Jahr beharrlich als drogensüchtig bezeichnete, hatte mich in den Schuppen im Garten verwiesen, wo ich mein eigener Herr war und er meine Sucht, wie er sagte, nicht mitansehen mußte. Janice fuhr im Cabrio vor und hüpfte über die Tür heraus. Auch sie trug Shorts, aber viel knappere als ich, dazu ein sonnengelbes T-Shirt, einen breitkrempigen Panamahut und Plateausandalen. Sie wirkte wie eine Sonnenblume auf Achse. »Hi, Simon!« Sie winkte mir freudig zu. 82
Zum Glück war ich duhn, sonst hätte mich angesichts meines plötzlich fleischgewordenen Wunschtraums eine Zungenlähmung befallen. So aber reagierte ich wie eine Quasselstrippe. »Hallo, Janice, alles rund?« Soweit ich sehen konnte, entsprachen die Rundungen genau meiner Phantasie. »Cool. Bist du beschäftigt?« »Nicht so recht.« Ich hielt ihr The Prophet gerade lang genug hin, um sie mit Kahlils Profil auf dem Umschlag zu beeindrucken. »Ich brauch jemand zum Reden. Ich hab gemeint, wenn du nichts Besseres zu tun hast …?« Mein Ruf war bereits gefestigt. Ich war der amtliche Seelenklempner der Abschlußklasse, wenn auch auf Amateurbasis. »Probleme? Geh zu Simon, der kann mit allen und ist mit niemand verbandelt.« Schon damals war ich ein guter Zuhörer. »Warum nicht. Komm in mein Sprechzimmer.« Ich führte sie hinten ums Haus an den Geranien meiner Mutter vorbei in meine Hütte mit dem heißen Blechdach. Die Inneneinrichtung nahm die Postmoderne vorweg: Hacken, Rechen, Spaten und ein Rasenmäher. Ich hatte Kissen in psychedelischen Farben rund ums Bett und über den mit Teppichresten ausgelegten Boden verstreut. Für meine Besucher hatte ich einen Drehsessel. Selber hockte ich mich auf das Bett und lehnte den Kopf an einen aufgerollten Gartenschlauch. »Musik?« fragte ich, ganz der Gastgeber. »Ja, was von den Carpenters?« »Nicht unter meinem Dach.« Ich legte Santanas Abraxas auf und steckte mir eine Camel Filter an. Sie zog eine Mentholzigarette aus einem Lederetui, in dem auch ihr 83
Feuerzeug war. Eine Weile rauchten wir stumm. Ich hob eine Augenbraue, um sie zu ermuntern. »Also was ist? Nun red schon.« »Also, in ein paar Monaten geh ich aufs College, und ich hab, offen gesagt, einen Mordsbammel. Mit Will läuft das schon so lange, daß ich mir schon wie ’ne ewige Cheerleaderin vorkomm. Nervt mich allmählich. Höchste Zeit für was Neues. Ich hab keine Ahnung, was kommt, und einen Riesenschiß. Das war’s auch schon.« Es war ihr offenbar peinlich, sich schwach zu zeigen. »Wie läuft das dort überhaupt? Was sind das für Studenten dort auf dem College?« Ich berichtete ihr von den Jungs, mit denen ich rumhing, und was wir so trieben. Sie war fasziniert. Ihre Augen lasen in meinem Gesicht, während ich das Dope, die Gespräche, das Zusammenhocken beschrieb. Sie wollte wissen, was die Jungs anhatten, was sie lasen und welche Filme sie sahen. Die Antworten speicherte sie regelrecht ab. »Ich hab mein ganzes Leben immer wie ein Roboter funktionieren müssen«, klagte sie. »Bereits in meiner Babyzeit sind wir alle paar Jahre umgezogen. Ich hab immer lernen müssen, mich anzupassen, und das steht mir jetzt schon wieder bevor. Ist alles nicht so einfach. Irgendwie hab ich keine Bodenhaftung. Ich hab die Faxen so dicke.« »Was wünschst du dir denn?« »Mich nicht mehr danach richten zu müssen, was die andern sagen. Ich fühl mich schon so lange so leer, daß ich denk, ich weiß gar nicht, wer ich eigentlich bin.« »Und was meint Will dazu?« Trenne stets dein persönliches Anliegen von der Sache. »Der hat nichts damit zu tun. Wir ham Schluß gemacht. Der will am College weiter Football spielen. Alles, bloß 84
das nicht. Davon hab ich den Kanal voll. Höchste Zeit für was anderes.« »Willst du ’nen Joint?« »Ich hab noch nie Hasch geraucht.« »Es gibt immer ein erstes Mal«, redete ich ihr zu und langte über das Bett nach meinem Vorrat unter der Matratze. Ich rollte einen wunderschönen schlanken Joint, zündete ihn an und reichte ihn hinüber. »Was muß ich machen?« »So tief und lang inhalieren, wie du nur kannst. Nichts aushusten, sonst wirst du nicht high.« Ich machte es ihr vor, und hielt den Rauch eine Ewigkeit. Sie griff nach der Tüte, besah sie sich und paffte ein bißchen. »Auf die Art brauchst du ’ne Woche, bis du high bist. Du mußt mehr reinziehen und es drinbehalten.« Allmählich gefiel ich mir in der Rolle des Lehrers. Sie schaffte es beim zweiten Mal besser, und noch besser beim dritten Mal. »Und wie merk ich, daß ich high bin?« wollte sie wissen. Ich schilderte ihr alles: Farben, Geräusche, Heiterkeit. »Es klappt nicht«, klagte sie. »Doch. Wart’s ab.« Ich legte das neue James-TaylorAlbum auf. You’ve Got a Friend, genau das, was ich ihr sagen wollte. »Mach die Augen zu. Du hast nichts zu befürchten.« Sie schloß die Augen und ließ die Musik auf sich wirken. »Mach sie wieder auf«, sagte ich leise wie ein Lehrer für transzendentale Meditation. Sie gehorchte. »Wow! Riesig! Heiliges Kanonenrohr!« Sie ließ den Kopf kreisen. 85
»Es hat also geklappt«, bestätigte ich. Wir saßen da und hörten auf die Musik. »Hast du was zu essen?« Ich warf ihr eine Tüte Kartoffelchips rüber, und sie fiel drüber her wie kurz vor dem Hungertod. Dann stand sie plötzlich auf und schleuderte die Plateausandaletten von den Füßen. »Die brauch ich jetzt nicht mehr. Ich darf klein sein«, konstatierte sie. Sie hatte es erfaßt. »War voll daneben. Du bist genau richtig.« »Weißt du, Frauen müßten auch eingezogen werden.« »Wieso?« »Weil, dann hätte ich auch einen Einberufungsbefehl.« Ich besaß noch keinen und kam ums Verrecken nicht drauf, warum sie unbedingt einen wollte. »Wozu brauchst du ’nen Einberufungsbefehl?« »Damit ich ihn verbrennen kann.« »Aber du hast doch ’nen BH, oder?« Vor meinen verblüfften und begeisterten Augen führte Janice den Trick vor, wie Frauen sich den BH aufhaken, ohne das Hemdchen auszuziehen. Sie schüttelte ihn unten raus, stand auf und suchte nach dem Brennspiritus für den Grill. Sie bat um die Blechschale, die ich als Ascher nutzte, warf den BH darauf, übergoß ihn und steckte ihn an. Sie hatte es voll erfaßt. Janice kam am nächsten Tag wieder, und auch am übernächsten, und die folgenden zwei Monate fast täglich. Daß wir miteinander gingen, hätte niemand sagen können, denn wir unternahmen nie etwas. Wir hingen in meinem Schuppen rum und rauchten Hasch, hörten Musik und redeten über eine Welt, die draußen auf uns wartete. Wir hätten rüber zur Uni fahren und uns ein paar von den Frei86
heiten nehmen können, über die wir quatschten, aber Janice wollte nicht. Die Zukunft war für sie hier und jetzt im Schuppen. Sie gewöhnte sich an das Dope. Es stillte ihren Hunger nach neuen Gedanken, neuen Gefühlen. Sie saugte Kahlil Gilbrans, Germaine Greers und meine Ideen auf wie ein trockener Schwamm. Und das war genau der Punkt. Ich bemühte mich intensiv, sie mit dem Verstand zu verführen, indem ich lang und breit meine Wissensbröckchen über vielerlei Themen darbot und sie damit verblüffte. Es funktionierte. Sie verliebte sich in meinen Geist, während mein Körper noch in den Kulissen harrte. Dann rief ihn Janice auf die Bühne. An einem trägen Nachmittag, an dem wir beide von Sonne und Cannabis duhn waren, sagte Janice plötzlich: »Was meinst du, können wir nicht nackig bei dir rumlaufen? Wie ich mit meinem Körper Jungs rumkriegen kann, weiß ich genau, darum geht’s mir nicht. Aber ich schaff es nicht, ihn als was Eigenes zu akzeptieren, das ich nicht zu verstecken brauch. Bei dir fühl ich mich sicher. Ich will nicht vögeln. Ich will bloß, daß wir nackig rumlaufen. Was meinst du?« Was hätte ich dagegen sagen sollen? Diese Vorstellung von Freiheit ohne Scham und Schranken hatte ich ja selber aufgebracht. Ich zerrte mir die Klamotten runter, als sei nichts weiter dabei, was ja auch der Fall war, allerdings nicht unbedingt vor dem Objekt meiner Begierde. Janice tat es mir nach, und wir blieben sitzen und hörten Hot Tuna. Ich war so cool dabei, daß ich sicher war, auch mein Penis würde sich benehmen. Aber leider kriegte ich einen Ständer. »Brauchst dich nicht zu genieren«, beruhigte sie mich. »Kenn ich alles. Hab sogar schon welche in mir drin gehabt. Bloß liebgehabt hab ich noch nie einen.« 87
Ich hätte gern den meinen angeboten, aber er fühlte sich so klein und mickrig an. Als er schließlich merkte, daß Befriedigung nicht in die Tüte kam, wurde er wieder brav. Meine Familie bekam ich in diesem Sommer kaum zu Gesicht. An den meisten Tagen wartete ich mit Janice, bis alle weg waren, damit wir das ganze Haus für uns hatten, und dann kochten, aßen wir und guckten fern, alles hüllenlos. Während sich Janice frei und beschwingt fühlte, rächte sich an mir meine eigene Philosophie: Die Augen schwelgten, und ansonsten litt ich Hunger und Durst. Wenn meine Eltern da waren, war Janice von bestrikkender Höflichkeit. Sie konnten das Mädchen gut leiden und schärften mir ein, lieb zu ihr zu sein. Sie habe die Mutter verloren und habe es schwer. Janice sprach das Thema nie an. Als der Sommer fortschritt und Janice zu einem vollendeten Blumenkind wurde, merkte ich allmählich, daß ich genau das Erträumte bekommen hatte, eine Janice Donahue, die sich ständig vor meinen Augen an- und auszog. Wahrscheinlich sollte mir das irgendwas sagen, aber ich kam nicht darauf, was. Für ihre Abschlußprüfung in meinem Kurs »Weltanschauung nach Rose«, beschloß Janice, ihre Schau nach draußen zu verlagern. Wir gingen endlich miteinander aus. Dafür suchte sie sich das alljährliche Blues and Jazz Festival von Ann Arbor aus, das drei Tage lang auf einem Acker am Stadtrand abgehalten wurde. Das Publikum bestand hauptsächlich aus Studenten, keine Oberschüler. Die ersten beide Tagen rauchten wir Pot, tanzten und fühlten uns wohl in der Menge. Die Klamotten behielten wir an. Janice quatschte mit allen, die mit ihr quatschen wollten, und probierte ihr neuerlangtes Bewußtsein aus. 88
Am dritten Abend, dem Festivalfinale, zog sie zwei quadratische Stückchen Löschpapier mit dem aufgedruckten Bild eines teuflisch grinsenden Hippies aus der Tasche. Mr. Magic. LSD. Psychodelika törnten mich nicht gerade an, ich tat es nur Janice zuliebe. Wir warfen beide einen Trip ein. Sie tanzte und sang völlig entrückt, während ich die Zähne zusammenbiß und in der dreißig Grad schwülen Nacht fast erfror. Am Ausgang intonierten ein paar junge Hippies eins der Mantras des Tages: »Titten zeigen! Titten zeigen!« Die heimwärts strömenden Massen ignorierten sie weitgehend. Janice aber riß sich das Hemd herunter und schlug ein Rad, das in einer Grätsche mit oben ohne endete. Die Menge johlte Beifall. Sie küßte mich auf den Mund und sagte: »Danke, Simon. Auf meine Art werd ich dich immer lieben.« Unter Buhrufen streifte sie das Hemd wieder über und beschied der Menge: »Leute, mehr ist nicht.« Janice hatte bestanden, mit Glanz und Gloria. Etwa um drei Uhr morgens kamen wir in unseren Schuppen zurück. Ich war fix und fertig von dem chemischen Tip. Ich schaffte es grade noch zum Bett, wo ich zusammenklappte. Janice aber war bereit, es mit der ganzen Welt aufzunehmen. Ich meinte wegzusacken, aber einschlafen konnte ich nicht. Ich war zu aufgedreht. Sie hockte sich neben mich auf das Bett. Ich schwitzte. Sie wischte mir die Stirn mit einem Tuch, knöpfte mir das Hemd auf und kühlte mir die Brust mit einem feuchten Waschlappen. »Weißt du, wir haben noch nie miteinander geschlafen.« Und ob ich das wußte. Während sie mich weiter aufknöpfte, erklärte sie: »Wenn wir miteinander schlafen, verändert sich was zwischen uns. Das bedeutet, daß wir zusammen sind, ganz in89
tim. Vielleicht auf immer und ewig. Weißt du, ich schlaf nicht mit jedem. Es muß mir was bedeuten. Kommst du damit klar?« Sie streichelte mir die Brust und zog den Reißverschluß meiner Jeans auf. »Ich komme damit klar.« Es war genau das, was ich mir zu wünschen glaubte. »Aber aussehen tust du nicht danach«, zweifelte sie. »Will wird offensichtlich immer kräftiger, je mehr er intus hat. Aber du bist viel spilleriger.« Sie zog mich aus, während ich zugleich sie auszog. Körperlich war mir hundeelend vom LSD, aber mit ihr kam es mir vor, als erfüllten sich alle meine Träume. Sie streichelte mich, küßte mich und schwang sich rittlings auf mich. Ich kam im selben Moment, als ich in sie eindrang, vorzeitiger Erguß oder Ergebnis von zwei Monaten Vorspiel. »Ist nicht schlimm, das ergibt sich später«, tröstete sie mich. Gegen Morgen ging sie. Ich lag noch im Halbschlaf, hörte ihr »Bis später, ich liebe dich.« Sie hinterließ ein Briefchen. Darin stand, sie sei zu lange mit Will liiert gewesen und halte es für verfrüht, sich schon wieder zu binden. Sie wiederholte, auf ihre Art lieben werde sie mich immer. »Aber in Herzenssachen«, schrieb sie, »weiß ich besser Bescheid als du.« Für sie selbst sei es am besten, schloß sie, sie lasse sich alles offen. Sie kam nicht am nächsten Tag, auch nicht am übernächsten. Ihren Vater bekam ich drei Tage später ans Telefon. Von ihm erfuhr ich, daß Janice vorzeitig aufs College gegangen war.
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7 Ich schüttelte meine Erinnerungen ab. Gefühlsduseleien über die Vergangenheit halfen jetzt nicht. In der Gegenwart klarzusehen, darum ging’s. Ich griff nach der Hundeleine. Abendspaziergang. »Auf geht’s, Mädchen. Ich muß nachdenken.« Tupelo wachte auf und schüttelte sich, »’s kann losgehen.« Tupelo ist immer bereit. »Denk du nur. Ich spiel den Wachhund.« Ich hatte allerhand zu verarbeiten. Von Janice hatte ich nur gesehen, was sie mich sehen lassen wollte. Sie hatte alles im Griff. Aber verblüfft hatte ich sie doch. »Ach, du bist’s«, ließ sich nicht als Begeisterung fehldeuten. Ich war bloß der Nudelsalat mit Dosenthunfisch auf dem Schlemmerbüfett. Sie hatte ihre eigenen Wünsche. Der ersehnte Besuch, wohl ein übers Verfallsdatum tiefgekühlter Traum, in dem sie von Will Hardin gerettet wurde, hatte sich nicht erfüllt. Statt dessen war ich erschienen. Doch Will Hardin würde noch eine Schlüsselrolle in unserem laufenden Drama spielen, wenn Heinrich Zinns Theorie auch nur einen Schuß Pulver wert war. Und welche Rolle war mir zugedacht? Auch diese Frage hatte sie beantwortet. »Ich hab gedacht, du bist hier, um mir zu helfen. Ich hab nach dir verlangt.« So war’s gemeint: ein Helfer, Hausmeister und vielleicht Heiler für die rauhe Wirklichkeit, in der Wunschträume keine mythische Kraft haben. Will war kein Gerichtspsychologe. Aber ich, und so einen brauchte sie jetzt. Wieder mal nicht aufgepaßt. 91
Und wie um zu beweisen, daß Erwachsene bloß das Ergebnis ihrer Entwicklung vom Säugling über Kindheit und Jugend sind, ärgerte ich mich ein klein bißchen über diesen Korb. Janices Abschiedsworte an mich sagten womöglich das meiste aus, obwohl mir noch unklar war, warum. »Weißt du noch?« Als ob ich je vergessen könnte. Kokettierte sie damit? Würde zu ihr passen. Psychologisch war sie im richtigen Alter. »Hast du mich da gern gehabt?« Keine Frage, wenn ihre Realitätswahrnehmung nicht gestört gewesen war. Ich hatte damals deutlich bekundet, was ich für sie empfand. Die unterschwellige Frage lautete wohl: Wie stehst du jetzt zu mir? Wo ich eine Mörderin bin. Wird mich je noch wer liebhaben? Jeder wird älter. Es wundert mich zwar manchmal auch, wenn ich neue weiße Haare in meinem Bart entdecke. Aber selbst wenn ich sie nicht spüre, sind sie vorhanden. Ich kann sie als das anerkennen, was sie sind: Anzeichen fürs Überlebthaben. Janice aber ist körperlich und geistig noch ein Teenager. Sie sieht makellos aus, als hätten ihr die verflossenen Jahre nichts anhaben können. Aber diese Jahre waren Tatsache, und ich mußte ihnen nachspüren. Und die verstorbene Mutter meldete sich täglich. Ich hätte gern gewußt, was sie zu sagen hatte. Janice war bei meinem Besuch sichtlich bei klarem Verstand gewesen, keineswegs psychotisch. Aber so sind Psychosen. Sie kommen und gehen wie Ebbe und Flut. Es gab wirklich allerhand zu bedenken. Wenn tatsächlich sie selbst ihre Familie ausgerottet hatte, warum bloß? Auch Verrückte haben ihre Motive. »Hast du ’ne Idee?« wandte ich mich an Tupelo. »Hab sie nicht kennengelernt. Woher soll ich’s wissen? Mach uns bekannt, wenn du ’ne Meinung hören willst.« 92
»Nicht wahrscheinlich«, erwiderte ich und grübelte weiter. Plötzlich spürte ich einen scharfen Schmerz im Rücken, als sich was brennend in meine rechte Niere bohrte. Eine Stahlrute? Wie mir einfiel, gingen Raubüberfälle so los. Offenbar war ich schon wieder dran, zum vierten Mal. Tupelo tat unbeteiligt. Dabei war sie doch mein Wachhund. Kalter Raucheratem drang mir in die Nase, und jemand zischte mir ins Ohr: »Die Brieftasche, still und friedlich, oder dein Dünndarm ist auffem Pflaster.« Ich blieb stehen, wie angewurzelt. »Also was jetzt, du Arschgeige?« »Danke, diesmal nehm ich den Dünndarm auffem Pflaster«, entschied ich mich, wie nach der Speisekarte. »Ich häng an meiner Brieftasche. Ist echtes Leder.« Da sprang mein kleiner Bruder, der kräuselhaarige Irre, hinter meinem Rücken hervor, übers ganze Mondgesicht grinsend, und breitete die Arme aus, um mich zu drücken. Wir hatten einander drei Tage nicht gesehen. »Beinah hätt ich mir in die Hosen gemacht«, schimpfte ich, und mir war gar nicht zum Lachen. Das machte er nicht zum ersten Mal. »Erzähl keinen Scheiß!« Er linste zu mir hoch. »Du hast doch genau gewußt, daß ich es bin.« Tommy macht Leuten Angst. Ist nicht seine Schuld. Er ist eben anders, vom Körperbau kleinwüchsig, gedrungen, Muskeln wie Backsteine, und darauf dieser großartige Kopf. Sein Gesicht ist breitflächig, umrahmt von einer aufreizenden Afrofrisur. Furchterregend aber sind die Augen. Schmale Schlitze. Und er wirkt deswegen wie im Halbschlaf, oder aber gemeingefährlich. Dabei ist er mei93
stens bloß vollgedröhnt. So hat er schon ausgesehen, als wir noch Kinder waren und ganz ohne Dröhnung. »Na, Brüderchen, was ist? Nein, laß mich raten. Es ist die Jensen. Lieg ich richtig?« »Wie zum Kuckuck kannst du das wissen? Und wie hast du mich überhaupt gefunden?« Ich wußte nicht mal, wo ich war, wie also konnte er es wissen? »Kinderleicht. Ich hab dich von zu Hause beschattet, um dich denken zu hören. Und apropos Jensen, mal sehen, ob du mir folgen kannst. Unser Mädchen sozusagen von nebenan, die holde Maid, steckt bis zum Hals in der Scheiße, hat Gatten und Kind ermordet. Und wenn ich nicht irre, warst du in der Schule auf sie so spitz wie Lumpi. Viel zu reizvoll für Fingerchen weg. Daher weiß ich’s.« »Mach doch du den Psychiater.« Ich verriet ihm nicht, daß unser Vater mich gebeten hatte. Der machte auch Tommy fertig. »Klar. Simon, ist sie gaga? Der springende Punkt, oder?« »Weiß ich noch nicht. Steht noch nicht fest, ob sie’s getan hat, und erst recht nicht, ob sie dabei gaga gewesen ist.« »Klar wie Kloßbrühe.« Er zündete sich eine Salem aus einer verknitterten Packung an. »Was ist klar?« »Sie hat die zwei abgemurkst.« »Was?« »Bist du taub? Ich hab gesagt: ›Sie hat die zwei abgemurkst.‹« »Woher weißt du das?« Er runzelte die Stirn. »Von Gideon.« 94
»Was hat der damit zu tun?« Irgendwo schaltete bei mir eine Synapse nicht. »Simon, heute bist du nicht auf Zack. Hoffentlich hast du noch deine Intuition.« Er zerlegte das Wort in drei Silben. »Du weißt doch wohl noch, daß Gideon bei der New Yorker Mordkommission ist und Jensen ebenfalls Bulle war. Da kann unsereins doch wissen, was Sache ist, oder nicht?« »Schon.« »Also, was hältst du davon? Geht sie hops?« »Erinnerst du dich an sie?« »Machst du Witze? Ich soll die vergessen haben? Die hat doch …« »Warte!« unterbrach ich ihn. »Sag nichts. Ich will nicht wissen, was du meinst, bevor ich selber nicht weiß, was ich meine.« Warum eine schon versaute Umwelt noch weiter zumüllen? »Laß uns später drüber reden.« »Hast wohl Schiß, ich durchschau sie noch vor dir?« Er stieß mir den Ellbogen in die Rippen. »Ja. Jetzt bin ich wieder an der Reihe, was richtig zu raten.« »Jedenfalls, Sherlock, brauchst du mich für die Sache. Und du hast Schwein, weil ich zufällig mal Zeit hab.« Die hatte Tommy immer, außer wenn bei ihm gerade was lief. Wir arbeiteten schon jahrelang zusammen. Er konnte nachforschen, wo ich nicht hindurfte, und Dinge tun, die mir untersagt waren. »Wozu sollte ich dich brauchen? Ich rede ständig mit Leuten, auch ohne deine Hilfe.« »Und wie du mich brauchst!« beharrte er arrogant. 95
»Wieso?« Er reckte den kleinen Finger. »Kannst du kämpfen?« »Nee.« Er zählte mit dem Ringfinger weiter: »Mit der Waffe umgehen? Kannst du schießen? Ich meine, nicht bloß in den Wind?« »Nee.« »Dann laß ich dir deine Psychodiagnose, und du läßt mich deinen hübschen kleinen Hintern retten, wie jedesmal.« »Ich glaub nicht, daß das diesmal nötig sein wird.« »Glaubst du nie.« Ich neige tatsächlich dazu, Gefahr zu verleugnen. »Denk dran, Simon, nichts ist so einfach, wie es aussieht.« Solche Sentenzen gibt er gern von sich. »Es geht schließlich um Mord.« »Rauchst du ’nen Joint mit?« bot er im Weitergehen an. Tommy verdient nie viel, und Hasch ist teuer. »Klar«, bejahte ich. »Also dann bei dir. Außerdem habe ich meine Nichte schon fast ’ne Woche nicht mehr, gesehen. Wetten, sie sehnt sich nach unserem Gekabbel.« Tommy und Debby gehen wie Bruder und Schwester miteinander um, nicht wie Onkel und Nichte. Tommy wirkt eher wie vierzehn als wie vierzig, wenn er so rumalbert. Er zieht sie damit auf, daß sie ständig zu Hause hockt und in die Glotze guckt. Sie frotzelt ihn mit seinen Klamotten, seinem Aussehen und allem, was sie ihm an den Kopf werfen kann. Sie beleidigen einander in einem fort, aber 96
alles nur Geplänkel, nicht bösartig. Er kriegt sie sogar herum, mit ihm auszugehen. Tommy kann sehr therapeutisch sein. »Was geht denn hier ab, Debs? Du bist hinreißend wie immer«, fing er an. Sie trug geflickte Jeans, einen fransigen braunen Rollkragenpullover und war barfuß. »Laß mich in Ruh, du Melonenuhu.« Er drückte Debby wie ein Bär, preßte ihr die Arme an den Leib und lupfte sie. Sie revanchierte sich. Hochheben inklusive. »He, kein Scheiß, Debs, siehst gut aus. Wassen los?« »Simon, wo hast du diesen sinnlosen Sack Dünger aufgesammelt?« Sonst flucht sie wie ein Seemann, aber vor Tommy, dem Schandmaul, tut sie etepetete. »Bei einem Überfall mit vorgehaltenem Zeigefinger.« »Was war los, hast du den Stecher nicht aus dem Stiefel gekriegt, Messerheld?« »Stecher?« staunte Tommy. »Was issen das, Scheiße noch mal?« Er guckte nicht so viele Spätfilme wie sie. »’ne Klinge für Gossenganoven wie dich, zum Leuteabstechen«, erläuterte sie. »Gossenganove?« Sein Ton wurde ein Oktave schriller. »Gossenganove? Das trifft mich ins Herz, Debs!« Tommy tat zutiefst verletzt. Darin war er gut. Sie fiel drauf rein. »’tschuldige. Hab ich nur so gesagt.« »Mach’s wieder gut«, verlangte er. »Wie meint er das denn?« fragte sie mich. Ich zuckte die Achseln. Ich wußte so gut wie nie, was Tommy im Schilde führte, bis er zur Tat schritt. Sogar danach war ich mir oft nicht so sicher. 97
»Rauch ’nen Joint mit uns, Debs«, antwortete er. Die Spottlust verschwand aus Debbys Gesicht. Fast kamen ihr die Tränen. Drogen sind tabu. Sie probiert nie was, hat eine regelrechte Phobie. Warren hatte nonstop gehascht, bevor er am Ende ausrastete. Sie duldet es, wenn ich gelegentlich einen Joint rauche, aber es ist kein Gesprächsthema. Dabei wollte Tommy sie keineswegs auf den Pfad der Sünde locken. Er dachte halt, wenn sie draußen mit andern jungen Leuten aufs College geht, läßt sie sich am Ende doch breitschlagen und probiert irgendwas. Und wenn er es schon nicht verhindern kann, dann hat sie wenigstens Vertrauen zu ihm, und er kann eingreifen. »Willst du meine Ansicht hören?« fragte Tommy. »Nein«, lehnte sie ab. »Ist das letzte, was ich hören will.« »Meiner Ansicht nach«, beharrte er, »gibst du lieber dem Dope und dir die Schuld, statt der Sache ins Gesicht zu sehen … Erstens« – sein Zeigefinger ging hoch – »hat dein Vater es getan. Ein eigenständiger Mensch. Zweitens« – jetzt der Mittelfinger – »war es eine Kombination aus deinem Vater und dem Vietnamkrieg. Wenn du die Schuld auf irgendwas schieben mußt, dann auf den Krieg, und wenn du sie auf irgendwen schieben mußt, dann auf deinen Vater. Du willst unbedingt glauben, du und das Dope seien schuld. Da liegst du doppelt daneben. Du bist feige wie Hühnerkacke, wenn du dich an solche Lügen klammerst.« Sie boxte ihn in den Bizeps. Zu Tode verwundet schleppte er sich in die Küche. Wir konnten ihn in den Küchenschränken herumfuhrwerken hören, also machte er sich einen Happen. Für derlei Notfälle hatte ich Büchsenfleisch und Majo vorrätig. 98
»Trag’s nicht an mir aus«, wehrte ich mich vorsorglich. »Ich kann nichts dafür.« »Auch ich kann nichts dafür, daß er recht hat.« »Wohl nicht. Er hat noch mit was anderem recht. Du siehst gut aus. Bist du verliebt?« neckte ich sie, halb im Ernst. Debby wurde puterrot und nestelte an ihrem Pullover. Binnen Sekunden war sie wieder auf dreizehn regrediert. »Ich geh wieder mit Bobby aus. Das heißt aber nicht, daß ich verliebt bin.« »Was dann?« Das war Verabredung Nummer zwei, eine Fortsetzung von Nummer eins, der abgebrochenen, als Debby nicht mit ihm schlafen wollte, wenn ich mich recht erinnerte. »Weiß ich noch nicht«, druckste sie. »Cool«, knurrte ich. »Können wir jetzt mal ernsthaft über Kondome sprechen?« Theoretisch wußte Debby Bescheid und war auch vernünftig. Wir hatten endlos über Aids und Empfängnisverhütung geredet, auch über die emotionalen Risiken häufig wechselnden Geschlechtsverkehrs. Soweit ich wußte, hatte sie bisher noch nicht nennenswert was gehabt, aber das mit Bobby hörte sich vielversprechend an, oder gefährlich, je nachdem, ob aus ihrer Sicht oder aus meiner. Tommy futterte im Wohnzimmer gerade eine Ekelstulle mit Schweinernem, als ich »Kondome« sagte. Er sprang hoch, als hätte er sich in eine Reißzwecke gesetzt. »Geschichten zwischen Vater und Tochter. Da mach ich mich lieber vom Acker. Den Joint laß ich dir. Sag mir’s, wenn du aus Janice Donahue schlau geworden bist. Interessiert mich.« Ihn also auch. Er verschwand und hinterließ einen Waberduft aus Mayonnaise, Ketchup und Senf. 99
Debbys Gesicht nahm wieder seine normale Farbe an, und sie faßte sich. Sie zeigte mir drei bunte Kondompäckchen. »Ich hab keine Lust auf ’nen dicken Bauch. Bin bald wieder da. Wirst gar nicht dazu kommen, dir Sorgen zu machen.« Aber Sorgen machte ich mir bereits, und nicht bloß um Debby. Janice Donahue lauerte im Hintergrund und warf ihren beklemmenden Schatten. Aber bei Debby konnte ich was tun, also sprach ich das Thema an. Trotz der blühenden neuen Liebe sah ich sie seit Tagen immer unruhiger werden. Vielleicht waren es die Alpträume. Vielleicht war es der Freund. Es konnte alles mögliche sein. Weil ich nicht direkt fragen wollte, riskierte ich einen Wurf von der Mittellinie und landete einen Volltreffer im Netzkorb. »Was hast du neulich eigentlich in der Bibliothek gewollt?« Wo sie Bobby begegnet war. Der naheliegende Grund für ihre Rastlosigkeit war wohl irgendein Problem mit Liebe und Sex. Vielleicht brachte ich sie so dazu, was über Bobby zu sagen. »Du weißt ja, ich hab Kurse belegt. Da hab ich Hausarbeiten und so.« Sie zog einen Flunsch. »Du sagst, du hast für mich recherchiert«, köderte ich. »Das auch. Hintergrund, weißt du, ich hab Janice Jensen überprüft. Wie immer.« Gelegentlich recherchiert Debby für mich. »Man muß wissen, was gespielt wird«, sagt sie jedesmal und sieht die Presseberichte durch. Aber bei Janice Jensen hatte ich um keine Hilfe gebeten. »Was hast du gefunden?« »Fast gar nichts. Bloß auf den hinteren Seiten. Nicht mal eine feierliche Beerdigung mit Polizeimusikkorps. Ist ja nicht im Einsatz erschossen worden. Da war nix.« Sie klang enttäuscht. 100
»Sonst noch was?« »Ich hab auch das mit ihrem Kleinen nachgesehen.« Sie starrte zu Boden. Wir kamen an den wunden Punkt. »Weißt du, nicht viele Mütter bringen ihre Kinder um.« »Mehr, als du glaubst«, widersprach ich. »Was hast du wissen wollen?« Jetzt machte ich Druck und hätte sie fast verprellt, aber irgendwas war im Busch. »Das Sternzeichen von dem Kleinen. Ich wollte das Geburtsdatum wissen, wegen dem Sternzeichen. Ist das nicht recht?« Ihre Stimme klang dabei irgendwie brüchig. »Welches Sternzeichen hatte denn Lisa?« fragte ich, unsicher, worauf das jetzt hinauslief. Debbys Schuldgefühl kreise um ihr Schwesterchen. Sie meinte, sie hätte sie irgendwie retten können. »Weißt du, für ’nen Seelenklempner hast du manchmal ein beschissenes Timing. Ich muß mich umziehen.« Sie war kurz davor, loszuheulen. »Es ist jetzt halb vier, und du willst dich schon für heut abend umziehen. Na gut, zieh dich um, aber erst noch die Antwort. Was für Sternzeichen war dein Schwesterchen?« »Wassermann«, schluchzte sie jetzt leise. »Und sie war gar nicht meine Schwester.« »Was?« »Sondern mein leibliches Kind.« Sie hob die Rechte. Schluß der Debatte.
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8 An diesem Abend kam Debby nicht heim. Sie blieb fort, und ich blieb auf. Es machte mir angst, daß sie draußen in der Welt war, ohne meinen Schutz. Bis zum Morgen war ich geladen genug, meine miese Stimmung an jemand anderem auszulassen, und machte mich auf zu Kate. Fürs erste hatte ich vor, Debbys Enthüllung für mich zu behalten. Kate konnte ein andermal was dazu sagen. Ich hatte auch so eine Menge mit ihr zu bereden. »Beruhig dich«, mahnte Tupelo unterwegs zu ihr. »In so einem Zustand schadest du dir nur selbst.« Ich fletschte sie ein bißchen an, doch auf Übertragung reagiert sie nicht, nur auf Wahrheiten. Auf dem Weg zu Kate wuchs sich mein anfangs gelinder Zorn zu einer fressenden Wut aus, womöglich ein Testosteronschub. Kate mischte sich ärger ein als sonst, und zwar auch in jene Daseinsnischen, wo ich ausschließlich für mich sein will. Sie war ins Sperrgebiet eingedrungen. Daß Debby selbständiger werden müsse, predigte sie mir schon seit mehr als einem Jahr. Seit grauer Vorzeit traf sie für mich Verabredungen mit Unbekannt. Aber damit, daß sie mich über Janice im dunkeln gelassen und Dinge für sich behalten hatte, die ich unbedingt hätte wissen müssen, hatte sie mir einen Tort angetan, und bis ich bei ihr anlangte, war ich stocksauer. Den Portier Carmelo, den ich eigentlich gern mag, funkelte ich bloß an, Tupelo blieb schwanzwedelnd bei ihm 102
stehen. Ich holte den Lift zum Penthouse, herrschte Tupelo an und wippte auf den Fersen, bis sich die Aufzugtür zur drittsichersten Wohnungstür New Yorks, von Tommy sogar gegen sich selbst einbruchsicher entworfen, fast geräuschlos auftat. Ich besitze die nötigen Schlüssel und Codekarten, benutze sie auf Kates Ersuchen aber nie, wenn sie zu Hause ist. Jedenfalls nicht bis zu diesem Tag, als ich in rechtschaffener Empörung unangekündigt in ihr Penthouse eindrang. Ich wußte, wo ich sie finden würde. Es war Sonntag. Da sitzt sie immer mitten in ihrem saalartigen Wohnzimmer vor dem freistehenden Kamin in einem Zeitungswust aus Sunday Times und Washington Post. Ich stürmte direkt ins Wohnzimmer, blieb aber dann wie angewurzelt stehen. Sie zielte mit einer halbautomatischen Neunmillimeter auf meine Brust. Dann senkte sie den Lauf und stopfte die Pistole in die Kissen hinter sich. Ziemlich vergnatzt, das war sogar für mich unverkennbar. Sie kraulte erst ausgiebig Tupelo und richtete dann das Wort an mich: »Setz dich. Ich mag’s nicht, wenn du so über mir stehst. Du hast dir selbst die Tür aufgeschlossen. Obwohl ich zu Hause bin. Ich wäre dir äußerst zu Dank verbunden, wenn du klingeln würdest, wenn ich daheim bin.« Kate war in ihren vier Wänden sehr sicherheitsbewußt, vielleicht weil sie anders damit zurechtkommen mußte als die Gehfähigen. Und ich hatte gegen eine ihrer Regeln verstoßen. Die Waffe, auf mich gerichtet, sprach Bände. Mit Gummiknien und Kopfbewegung zum anderen Ende ihrer Couch fragte ich »Darf ich?« und ließ mich nieder. »Klar«, knurrte sie, sichtlich verärgert. »Aber sag, was du auf dem Herzen hast.« »Du pfuschst in meinem Leben rum, mit meinen Frauen, am schlimmsten aber mit meinem Kopf.« 103
»Wie reizend, dich so rumnölen zu hören, besonders am Sonntagmorgen. Eine deiner Begabungen, Rose, genau dann Dampf abzulassen, wenn es garantiert unpassend ist. Und da hab ich immer gemeint, Analytiker seien stolz auf ihr Gefühl für den rechten Zeitpunkt. Deins ist mangelhaft. Jedenfalls manchmal«, lenkte sie ein. »Also bitte jetzt, was im einzelnen wirfst du mir vor?« Per Nachnamen nannte sie mich nur, wenn sie stinksauer war. Aber auch das konnte mich nicht bremsen. Ich hatte eine Sauwut und sie über eine Strecke von siebenundneunzig Häuserblocks geduldig gepflegt. »Erstens«, hob ich den kleinen Finger, »wäre ich dir äußerst zu Dank verbunden, wenn du meiner Tochter nicht ständig in den Ohren liegen würdest, sie solle bei mir ausziehen. Zweitens hab ich dir gesagt, kein Rendezvous mehr, und du wolltest mich trotzdem wieder hintenrum verkuppeln. Du hast Jemma Marin angestiftet, daß sie mich anrufen soll. Drittens: Janice Jensen. Absolut unmöglich von dir, mich in dieses Gutachten zur Verhandlungsfähigkeit tappen zu lassen, ohne einen Hinweis darauf, daß ich dabei plötzlich vor meiner eigenen Vergangenheit stehe. Absolut unmöglich. Unprofessionell.« Der härteste Vorwurf überhaupt. Kate holte tief Luft und atmete langsam aus. »Wie dir deine liebe Debby bei so was sagen würde: Reg dich ab, Rose, Scheiße noch mal. Nimm dir ’nen Keks. Wird dir guttun.« Auf dem Couchtisch, einer Scheibe von einem Baumstamm, das übliche Durcheinander: Kaffeetopf, Tassen und ein gehäufter Teller von Kates ungenießbaren, steinharten Haferkeksen. Backen ist nicht ihre Stärke, wie sie selber zugibt, aber aus einem unerfindlichen Grund hält sie ihre Haferkekse für die Ausnahme. Sind sie aber nicht. Bei so einem Berg von dem Zeug hatte sie wohl Besuch 104
erwartet, vermutlich mich. Ich komme sonntags immer vorbei. Widerwillig führte ich eins dieser braunverbrannten Dinger zum Mund, biß ein Stückchen ab und versuchte es kleinzukriegen. Ernährungsphysiologisch bringt das nichts, aber es ermüdet die Kaumuskeln, und ich fühle mich immer gleich zwanzig Pfund schwerer. Wider Willen beruhigte ich mich. Nachdem ich mich am Haferkeks abgearbeitet hatte und Kate spürte, daß ich keine Energie zum Streiten mehr aufbrachte, nahm sie den Faden wieder auf. »Ich will auf deine Vorwürfe eingehen, in derselben Reihenfolge. Und laß mich gefälligst ausreden, bevor du dazwischenquatscht. In andern Worten, halt’s Maul und hör zu.« Ich ließ mich drauf ein, weil ich sicher war, daß ich dazu in der Lage war. Außerdem mußte ich die Haferspelze zwischen den Zähnen loswerden, bevor ich was sagen konnte. »Erstens«, bei ihr ging das ohne Finger, »weißt du ganz genau, wie ich über dich und deine Tochter denke. Als junge Frau braucht sie Freiraum für ihre eigene Entwicklung, ohne daß du ständig die Glucke spielst. Höchste Zeit, daß du losläßt.« »Ich …« »Maul halten und zuhören.« »Schön«, fügte ich mich. Tupelos Schwanz klopfte Zustimmung. Kate fuhr fort: »Ich weiß, wie es dir dabei geht. Du erträgst es einfach nicht, daß Debbys Vorgeschichte für dich immer noch im Verborgenen liegt. Du meinst, wenn du lang genug die Lauscher aufstellst und die Fragen richtig formulierst, findest du raus, was du nicht mitgekriegt hast. Dann weißt du in Gedanken so über alles Bescheid, als wärst du dabeigewesen, und erst dann bist du 105
endlich richtig ihr Vater. So aber läuft das nicht, und das weißt du ganz genau.« Ich wollte mir nicht schon wieder sagen lassen, was ich alles nicht wußte. »Es ist absolut unmöglich, daß …« »Ausreden lassen, ich bin noch nicht fertig.« Sie hob die Stimme gerade genug, um mich abzuwürgen. »Hast wohl Angst, deine Wut verraucht, wenn du zuhörst, und schaltest vielleicht deswegen lieber auf stur. Keine Sorge, du bist gleich dran. Ich weiß, du meinst, sie muß noch geschont werden, noch ’ne Weile abgeschirmt werden von der rauhen Wirklichkeit, weil ihr so weh getan worden ist. Also kümmerst du dich um alles. Du bist immer da, wenn sie dich braucht, und oft auch, wenn sie dich nicht braucht. Du tust ihr aber keinen Gefallen, indem du dich an sie klammerst. Was ich davon halte, weißt du ja schon lange, und sogar warum.« Kates Weg in die Selbstverantwortung war traumatisch verlaufen. Als Tochter eines Alkoholikers war sie seiner unberechenbaren Gewalttätigkeit ausgesetzt gewesen und hatte sofort nach ihrer Volljährigkeit geheiratet, um aus dem Haus zu kommen. Bald hatte sie jedoch feststellen müssen, daß sie bloß einen Schläger gegen den anderen eingetauscht hatte. Harry war Kokser und mit den Jahren immer gewalttätiger gegen sie geworden. Sie hatte den Ausbruch eben nicht geschafft. Eines Abends auf dem Heimweg von einer Party fuhr Harry vollgekokst wie ein Henker, bis er aus einer Kurve flog und gegen eine Stützmauer prallte. Er hatte nicht mal ’ne Schramme. Kate aber blieb querschnittsgelähmt. Als Harry sie kurz nach dem Unfall verließ, vielleicht weil er sich schuldig fühlte, wahrscheinlicher aber, weil er scharf auf seine Sekretärin war, mit der er unmittelbar danach zusammenzog, schüttelten alle ob seines Egoismus 106
und seiner Kaltschnäuzigkeit den Kopf. Nur Kate erkannte die Wahrheit. Sie war frei. Männer konnten ihr Leben nicht mehr beherrschen. Ihre Leidenschaft für das Recht ergab sich erst später aus ihrer Befreiung, wie sie ihre Fesselung an den Rollstuhl bezeichnete. Kate will ihre Lebensgeschichte nicht als Tragödie wahrgenommen wissen. »Wir alle müssen für unsere Freiheit bezahlen«, hat sie einmal geäußert, ohne eine Spur von Selbstmitleid. Kate lebt ihren Feminismus aus wie nur wenige andere, und so macht es sie ungeduldig, daß Debby noch von mir abhängig ist, selbst wenn Debby und ich das so wollen. »Und so gern du jetzt weiter wütend auf mich sein willst und so unterhaltsam ich das finde, mach ich dir jetzt trotzdem einen Strich durch die Rechnung. Ich muß mich bei dir entschuldigen, und das tue ich hiermit. Ich hab nicht das Recht, in deine Familie hineinzupfuschen. War mein Fehler. Es tut mir leid.« »Mist«, wehrte ich mich schwach. »Stinkt mir total, wenn du mich so ausbremst. Du nimmst mir alles weg.« Aber auch so kann ich auf Kate nie lange wütend sein. »Nimm dir dafür noch ’nen Keks.« Ich nahm einen, weil ich sonst bestimmt Debbys Enthüllung ausgeplaudert hätte. Ich kaute eine Weile tapfer, aber es nützte nichts. »Weißt du noch die Sache mit Debbys Schwesterchen, mit der Handgranate von ihrem Vater? Das ist ihre Tochter gewesen, nicht ihre Schwester.« Ich hätte geschworen, ein anderer hätte das rausgeplärrt. Kate seufzte, langte herüber und tätschelte mir die Hand. »Überrascht dich gar nicht?« fragte ich. 107
»Nein, überhaupt nicht. Erklärt vieles.« »Mir nicht.« Mir Debby als Mutter vorzustellen war für mich ein Schock. Daraus ergaben sich mehr Fragen als Antworten. »Will mir einfach nicht in den Kopf.« »Nimm’s nicht so tragisch. Das Leben hält sich nicht an die Psychoanalyse. Es braucht seine Zeit. Du weißt doch noch gar nicht so recht, wie du dazu stehst. Debby wird dir dabei schon helfen.« Ich nickte. Sie hatte natürlich recht. Richtig geduldig bin ich noch nie gewesen, auch wenn ich recht überzeugend so tun kann. »Aber zu Anklagepunkt zwei, dem HintenrumVerkuppeln, plädiere ich auf nicht schuldig. Ich hab Jemma Marin nicht geheißen, dich anzurufen. Von dir gesprochen hab ich wohl, aber von einem Schweigegelübde weiß ich nichts. Angefangen hat sie. Das kannst du mir nicht in die Schuhe schieben. Auch nicht, daß sie beharrlich ist, denn so ist sie halt. Im übrigen ist sie hübsch, intelligent und total dein Typ. Aber ich spar mir die Worte, sonst sagst du bloß wieder, ich will dich verkuppeln. Bin ich damit entlastet?« »In puncto Jemma Marin schon. Aber es gibt noch einen Anklagepunkt.« »Richtig, und der Vorwurf lautet, glaube ich, auf unprofessionelles Verhalten. Ein abscheuliches Verbrechen. Wenn wir’s auf unverbesserlichen Spieltrieb runterhandeln können, bekenne ich mich schuldig.« Sie lächelte schelmisch. »Absolut unmöglich, mich so ins Messer laufen zu lassen. Ich hab das Recht zu wissen, worauf ich mich einlasse. Absolut uncool.« »Es war ihre Idee, aber das soll keine Ausrede sein. Sie fand’s lustig. War’s das?« 108
»So würde ich’s nicht gerade nennen.« »Nun red schon. Ich sterbe vor Neugier!« Selbst Kate, die ewig Überlegene, wurde nun zum Teenager. Janice hat diese Wirkung auf Leute. »Na, die Dame hat offenbar allerhand Probleme. Aber auch ich hab allerhand Probleme, mit dem Fall nämlich, und unsere frühere Bekanntschaft ist dabei nicht gerade das geringste.« »Eure intime Bekanntschaft«, verbesserte Kate. »Was hat sie dir erzählt?« »Alles zu seiner Zeit. Was für Probleme hast du denn sonst noch mit dem Fall?« »Eines liegt derart auf der Hand, daß ich gedacht hätte, du sieht es. Wegen unserer früheren Bekanntschaft, von den Intimitäten mal ganz abgesehen, zerfetzt mich ein kompetenter Staatsanwalt doch in der Luft. Warum so was riskieren? Warum nimmst du nicht einfach Darling? Wär doch sauberer. Und neben der Bagatelle, daß dein Gutachter als befangen abgelehnt werden kann, ist da noch die Frage der Schuldfähigkeit. Sie hat mir fast nichts gesagt. Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich sie für verhandlungsfähig erklären kann, wenn es um den Mord an ihrem Sohn geht. Sie scheint nicht zu wissen, daß er tot ist.« »Doch, weiß sie, und die Verhandlungsfähigkeit ist keine Frage. Verhandlungsfähig ist sie.« Kate reichte mir ein Dokument, ein Gutachten für die Justiz über Janice Donahue Jensens Verhandlungsfähigkeit für ein Strafverfahren wegen zweifachen Mordes oder Totschlags. Eingeleitet wurde es wie üblich mit einer Beschreibung von Janice: »intelligente, attraktive Weiße von fünfundvierzig Jahren, aber jünger wirkend. Zeitlich, 109
räumlich und zur Person orientiert und imstande, auf Fragen des untersuchenden Psychologen einzugehen …« Zum Abschluß wurde sie juristisch und psychologisch für verhandlungsfähig befunden. Unterschrift Dr. Brice Darling. »Also Darling hast du schon?« fragte ich. »Brauchst du ein Doppelgutachten?« Eins reicht normalerweise. »Ja. Die Schuldfähigkeit macht er in einem Aufwasch mit. Kein extra Honorar. Kannst du mit ihm?« »Er ist ’ne Hure.« »Was du von ihm hältst, weiß ich. Ich hab dich gefragt, ob du mit ihm kannst.« Brice Darling ist der Oberschleimer in meiner Branche, der Mietgutachter. Gegen entsprechendes Honorar befindet er auf das Gewünschte und legt dem Gericht eine Glanzvorstellung hin. Er liefert Resultate und wird damit reich. Sein Markenzeichen: hochgezwirbelter Schnurrbart und unerschütterliche Arroganz vor Gericht. Ein Liebling der Medien. Der Einmannzirkus Brice Darling. »Ich kann schon mit ihm«, knurrte ich. »Bloß hätt ich gern besseren Umgang.« Ein einziges Mal hatten wir gemeinsam begutachtet und waren dabei keineswegs Freunde geworden. »Also bist du fest entschlossen, auf Schuldunfähigkeit zu plädieren.« »Bin ich. Nur das paßt zu den Ermittlungsergebnissen.« »Ich hab noch keine gesehen.« »Für dein Gutachten zur Schuldfähigkeit kriegst du alles, was ich hab. Ist zwar reichlich dünn, aber da ist alles drin.« Sie deutete auf eine Akte. »Dr. Blitzblender hast du doch schon, was brauchst du da mich noch?« 110
»Du weißt doch, die Verteidigung bietet üblicherweise zwei Gutachter auf. Hör zu, Simon. Wir reden hier von einem Strafprozeß. Tragödie vor den Schranken des Gerichts, Choreographie von mir. Ich weiß, daß Darling …«, sie suchte nach dem Wort, »wie Schweineschwarte ist, aber er bringt’s. Und für diejenigen, die seine Gelecktheit abstößt, brauchen wir dich: seriös, ehrlich, gewissenhaft, beinah lieb. Und du kennst sie auch noch von früher. Wer würde dir da nicht Glauben schenken?« »Aber Kate, daß du so eiskalt sein kannst!« Sie verblüffte mich wirklich. »Und daß du so naiv sein kannst! Simon, ich muß meine Arbeit machen, und es ist dir bestimmt nicht neu, daß ich sie gut mache. Du hältst es für ein Risiko, daß ihr euch von früher kennt. Ist es aber nicht. Das ist genau, was wir brauchen. Die Geschworenen werden dir wie gebannt lauschen. Du bist nicht nur der Experte für dein Sachgebiet, sondern ganz speziell auch für die Angeklagte. Sehr ergreifend. Ich hab damit nicht das geringste Problem.« »Aber ich«, konterte ich. »Daß man sich früher gekannt hat, ist in so einem Fall nicht grade ’ne Hilfe. Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich psychologisch ordentlich gutachten kann.« »Dann mach’s unordentlich.« »Mach ich nicht. Wenn ich dir kein ordentliches Gutachten schreiben kann, mach ich dir gar keins.« »Das, denke ich, ist absolut deine Sache. Wenn in deinem Psychohaushalt Chaos herrscht und du sie nicht unbefangen begutachten kannst, unterstützt du mich eben nicht offiziell. Sondern nebenbei. Ich kann mir nicht vorstellen, daß dich das nicht reizt.« »Reizt mich schon. Bloß weiß ich nicht, ob aus den rechten Motiven.« 111
Wenn ich Janice Jensen als Fall übernahm, mußte ich meine fünf Sinne beisammen haben. Ein sauberes Gutachten konnte ich nur liefern, wenn ich mir von ihr nichts ersehnte. Andernfalls hatte ich in der Sache nichts verloren. An mein Erwachsenwerden erinnere ich mich deutlich und unbefangen. Ich weiß noch genau, wie diese schlimmste Zeit meines Lebens gewesen ist. Ein schlaksiger, ungelenker Windbeutel mit überschießenden Hormonen hat’s nicht leicht. Janice Donahue hatte ein paar aufregende Momente in einen ansonsten qualvollen Übergang gebracht. Ob ich imstande war, sie trotz meiner hormonverzerrten Optik von damals heute klarer zu sehen? Kate riß mich aus meinen Gedanken, weil sie wußte, daß ich stundenlang so weitersinnieren konnte. »Du mußt mir sagen, was Sache ist. Meine Show muß laufen. Machst du mit, ist alles klar. Darling haben wir für Tod und Verdammnis. Er setzt den Punkt. Dich haben wir dann für Friede, Freude, Eierkuchen. Du setzt den Kontrapunkt. Sag Bescheid, wenn du nicht willst, dann such ich mir ’nen andern.« »So kenn ich dich gar nicht.« »Deshalb hab ich auch nie gewollt, daß wir zusammenarbeiten. Aus Angst, daß dir nicht paßt, was du dann siehst. Schiß hab ich immer noch, aber ich will’s durchziehen, weil’s nämlich klappen wird. Solange der Prozeß läuft, ist das mit uns beiden anders, aber verlieren tun wir dabei nichts. Ich vertrau auf unsere Fähigkeit, damit klarzukommen.« »Bestimmt kommen wir damit klar.« »Wenn dein Gutachten zu sanft ist, ruf ich dich einfach nicht auf. Hier hast du die Polizeiberichte und ihr ärztliches Aufnahmeprotokoll. Nicht viel, aber ein Ansatzpunkt. Mach mir die Schuldfähigkeit, und dann reden wir weiter.« 112
»Aber eins mußt du mir noch sagen. Magst du Janice?« »Möcht ich mir lieber vorbehalten.« Kate behielt sich immer was vor. Ich war gerade dabei, meine nächste Frage zu formulieren, da drehte sie den Spieß um. »Magst du sie denn?« provozierte sie. »Früher doch schon. Soviel weiß ich.« »Was weißt du sonst noch, was mir von Nutzen sein könnte?« wich ich aus. »Daß sie dich früher mal heiraten wollte. Hat sie mir erklärt. Aber dann bist du aufs College und hast sie sitzenlassen. Aber sie hat dich nie vergessen können.« »Das ist ja der Gipfel!« »Hör zu, Simon, mein einziges Interesse ist momentan, daß sie die bestmögliche Verteidigung bekommt. Willst du sie begutachten?« »Ja.« Ich merke es auf der Zunge, wenn ich mich auf eine faule Sache einlasse. So ein leicht muffiger Geschmack. Jetzt aber hatte ich wie Rattenköttel im Mund. Ein relativ friedlicher Sonntag in Manhattan, auf meinem ganzen Heimweg kein einziger Feuerüberfall aus einem vorbeirasenden Auto. Tupelo beschnüffelte schweigend Hydranten, während ich meinen Gedanken freien Lauf ließ. Es funktionierte, denn ich konnte mich beim Nachhausekommen an keinen einzigen entsinnen. Ohne die Wut auf Kate war mir aber leichter. Es war fünfzehn Uhr, und Debby war nicht da und auch noch nicht dagewesen, soweit erkennbar. Sie würde schon noch kommen, und mittlerweile konnte ich Kates Akte über Janice überfliegen. Kate hatte recht, viel war es nicht. 113
Ein handschriftliches Gedächtnisprotokoll zum ersten Gespräch mit ihrer Anwältin. Janice hatte die Tötungsdelikte durchaus eingeräumt. Mitunter schien sie wie vernagelt und außerstande, sich an die Geschehnisse des fraglichen Abends zu erinnern. Sie schwankte sichtlich zwischen klarer Wiedergabe von Details und Phasen von Gedächtnisverlust. Sie war unfähig, sich dem zu stellen, was sie ihrem Sohn angetan hatte. Die Notizen waren bruchstückhaft und eindeutig nicht von Kate im Gespräch verfertigt. Eher eine Zusammenfassung, die nichts hergab, außer daß Janice offen zu ihr gewesen war. Ich erfuhr nur wenig mehr, als ich bereits wußte. Die ersten Polizeiberichte brachten mehr Licht in die Sache, leuchteten aber die Bühne nicht völlig aus. Die Wohnung der Jensens bot keinen Anhaltspunkt, daß jemand gewaltsam eingedrungen war. Keinerlei Indiz für andere Anwesende als Janice und die beiden Opfer. Dennis, der Ehemann, war zuerst gestorben. Dies ging aus Sofortanalysen der Blutspritzer hervor. Auf Janices Kleidung befanden sich sowohl solche von Sean als von Dennis. Die Blutspritzer des Säuglings überlagerten sichtlich die des Gatten. Dennis’ Leiche wies nur sein eigenes Blut auf, während bei Sean auch Spuren von Dennis’ Blut festgestellt wurden, was die Annahme stützte, daß Dennis zuerst umgebracht worden war. Außer Dennis’ eigenen Fingerabdrücken waren welche von Janice auf seinem Dienstrevolver. Das Fischmesser, mit dem Sean erstochen worden war, wies dagegen nur Fingerabdrücke von Janice auf. Dennis war auf dem Sofa im Schlaf erschossen worden. Die erste Kugel hatte ihn getötet, die weiteren drei waren überflüssig gewesen. Sean war in Rückenlage schlafend in seinem Kinderbettchen getötet worden. Auch hier hatte die erste Wunde den Tod verursacht, aber es war weitere 114
zwölfmal auf ihn eingestochen worden. Beide Opfer waren erst vor wenigen Minuten verstorben, als die ersten Beamten eintrafen, auf den Notruf eines Nachbarn hin, der die Schüsse gehört hatte. Acht Minuten vor Mitternacht. Dennis war bald, nachdem er heimgekommen war, erschossen worden. Der Kühler seines Autos war beim Eintreffen der Beamten noch warm. Der restliche Polizeibericht war die Stilübung eines jungen Streifenpolizisten, das groteske Verhalten von Janice zu beschreiben, das ihn veranlaßte, die Diagnose »nicht mehr von dieser beschissenen Welt« zu stellen. Sie hatte kaum reagiert, wenn er sie ansprach, und auch das nur, indem sie seine Fragen wiederholte. Immerhin wußte er, daß man das Echolalie nennt. Sie habe mit dem Oberkörper gependelt, vor sich hin gesummt und bisweilen gekichert. Sie sei völlig in einem Gespräch mit einem unbekannten Partner aufgegangen, wenn sie nicht ins Leere gestarrt oder gekichert habe. Dies wußte er zutreffend als Halluzination zu bezeichnen. Aufgrund der polizeilich veranlaßten Aufnahmeuntersuchung in der psychiatrischen Abteilung des Bellevue Hospital wurde sie vom diensthabenden Arzt als »attraktive, offenbar körperlich gesunde Weiße« befunden. Sie war zeitlich, räumlich und zur Person eindeutig nicht orientiert. Sie war ein sabberndes, zitterndes Häufchen Elend, das sich heftig mit einer unsichtbaren dritten Person stritt. Sie hatte geschrien. Sie hatte geflucht. Sie hatte geweint. Aber auf die Fragen des Arztes kein einziges Mal reagiert. Sie hatte getan, als sei er gar nicht vorhanden. Der Streifenpolizist hatte mit seiner Diagnose »nicht mehr von dieser beschissenen Welt« also voll ins Schwarze getroffen. Die Annahme des Psychiaters, Janice sei körperlich gesund, wurde durch die ärztliche Untersuchung, Reflexe, 115
Blut- und Urinproben bestätigt. Bis auf eine erhebliche Dosis Psychopharmaka im Blut hatte sie nichts. Sie wies keinerlei äußere Verletzungen auf. Janice hatte sich gesperrt und dem Arzt die Arbeit fast unmöglich gemacht. Einen Scheidenabstrich hatte sie nicht zulassen wollen und wild um sich geschlagen, als er einen Versuch unternahm. Da hatte er aufgegeben. Ende der Geschichte. Bis auf die Tatortaufnahmen, die der Staatsanwalt an die Geschworenen weiterreichen würde und bei denen die meisten von ihnen aufstöhnen oder sich hinterher schneuzen würden. Bilder, die der Verteidigung genauso dienlich sein würden wie der Anklagevertretung, wegen des erschütternden Blicks auf die Folgen einer ungezügelten, irrsinnigen Wut. Dennis lag offenbar quer über dem Sofa auf dem Rükken. Von seinem Kopf war nicht mehr genug übrig, um ihn als Menschen zu identifizieren, da war nur noch ein Torso mit einem blutigen Stumpf. Sean war mit einem gebogenen Fischmesser mitten durch die Brust in sein Kinderbettchen genagelt. Er wirkte wie eine blutende Notiz an einer Pinnwand. Alles vorläufig, vorbehaltlich der Gutachten. Nur Schuldunfähigkeit schien gangbar. Ich klappte die Akten zu, um mich nicht darauf erbrechen zu müssen. Stundenlang saß ich in meinem Fenstersitz, starrte ins Leere, und vor meinem inneren Auge überlagerte sich das Bild meiner Tochter mit ihrer Tochter auf dem Arm mit dem Foto von Sean mit seinem Pflock durchs Herz. Um die Abendessenszeit klapperte ein Schlüssel in der Tür und holte mich zurück in die Wirklichkeit. Es war Tommy. 116
»Was hast du ihr getan?« fragte er im Hereinkommen. »Und wo ist die Flasche?« »Im Kühlschrank. Und wem hab ich was getan?« Er brachte eine Flasche Egri Bikaver herein, ungarischen Roten, goß sich ein Glas ein, hielt es gegen das Licht und stürzte es hinunter. »Der Jensen«, knurrte er. »Besucht hast du sie, mal sehen«, er blickte auf seine Uhr, »vor sechsunddreißig Stunden?« Ich nickte. »Und?« »Und? Gestern nacht hat sie ’nen Selbstmordversuch hingelegt. Saubere Arbeit.«
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9 Jetzt war für eine Weile der Deckel drauf. Janice lag als gescheiterte Selbstmörderin im Tiefschlaf auf der Intensivstation und wurde alle zehn Minuten daraufhin überprüft, ob sie noch atmete. Sollte ihre Atmung aussetzen und dies unbemerkt bleiben, würde die Justiz jemand am Wickel kriegen. Die Sache war peinlich genug, aber wenigstens war sie noch am Leben. Selbstmord nehme ich immer ernst. Ich habe beide Seiten kennengelernt, Krisenberatung, Telefonseelsorge und dergleichen, und leide selbst unter den Folgen erfolgloser Selbstmordverhütung. Jeder, der in der Selbstmordabwehr arbeitet, wird von Wiederholern grausam genervt. Deren Hilferufe sind wie Säuglingsgeplärr um Zuwendung. Wiederholer werden normalerweise hintangestellt. Fälle mit akuter Gefährdung haben Vorrang. Viel schlimmer als gescheiterte Selbstmörder sind jedoch solche, die es auf Anhieb schaffen, die Hoffnungskiller. Sie rufen an oder kommen in die Sprechstunde, schildern beredt, wie erbärmlich leer ihr Leben ist, und machen sich kurzerhand vom Acker. Irgendwo dazwischen stehen die unfreiwilligen, die von irgendwas zuviel geschluckt haben, aber eigentlich gar nicht die Absicht hatten zu sterben. Sie wollten sich bloß mal ausklinken, unerträglichen Schmerz vorübergehend betäuben. Zu Tode kommen sie, weil sie sich vertan oder verwirrt waren, manchmal auch eine Kombination aus beidem. Ich selbst bin durch so einen unfreiwilligen Selbstmord, einen fatalen Irrtum, zum Witwer geworden. 118
Ich mußte mehr über Janices Selbstmordversuch in Erfahrung bringen. Ich rief Kate an und erkundigte mich nach Einzelheiten. Janice durfte sich nach ihrer Probe für den »Großen Schlaf« erst mal lange ausruhen. Sie hatte eine unbekannte Menge Valium eingeworfen, genug für einen Abgang in die nächste Woche, wenn auch nicht ins Jenseits. Ich fragte Kate, ob sie wisse, wo Janice die Tabletten herhabe. Doch sie war nicht so neugierig wie ich. »Ist dein Bier, nicht meines. Warum ist das wichtig?« Ich hatte keinen Schimmer von Janices Motiven. »Ich will wissen, was sie damit sagen wollte und zu wem.« »Woher zum Teufel soll ich das wissen? Der Seelenarzt bist schließlich du?« »Schau mal, für das Valium gibt’s ’ne ganze Reihe Möglichkeiten. Entweder hatte sie die privat gehortet, oder jemand hat sie ihr gebracht. Wenn es ihre Pillen waren, wozu hatte sie sie dabei? Die haben dort in der Klinik doch Beruhigungsmittel in rauhen Mengen, und sie sind damit nicht knausrig. Was hat sie also gewollt?« »Frag sie doch selbst«, forderte Kate mich auf. »Vielen Dank, du bist mir ’ne große Hilfe.« Bei Kate kam ich nicht weiter. Es war eindeutig an der Zeit, daß ich mich mit dem unangenehmen Stapel von vergilbtem Papier befaßte, in dem die psychiatrische Krankengeschichte von Janice dokumentiert war. Schon sein bloßer Umfang war bedrückend. Im Laufe der Jahre hatte sie Dutzende Therapeuten aller nur denkbaren Richtungen verschlissen. Zu den meisten ging sie nur auf wenige Sitzungen. Auf dem College und später, während der Ehe, hatte sie jeweils Langzeittherapien versucht, doch ihr Durchhaltevermögen war fragwürdig geblieben. 119
Die Krankengeschichte hatte sogar eine gewisse zeitliche Logik. Die Anfangsdiagnosen waren ziemlich dekkungsgleich, wenn auch unspezifisch. In den Berichten war häufig von jugendlichem Irresein die Rede. Heute würde man das als akute Verhaltensstörung bezeichnen. Mit dieser Kategorie werden Jugendliche beschrieben, die den Eltern das Leben zur Hölle machen. Ich habe noch niemand kennengelernt, der nicht irgendwann auf irgendeine Art dieses Syndrom hatte, auch wenn es nicht immer benannt wird. Gehört zum Erwachsenwerden. Janice hatte Perioden von nächtlicher Enurese gehabt, von Bettnässen, und nach dem Tode ihrer Mutter eine kurze Abfolge erheblicher depressiver Episoden. Im College tauschte sie diese gegen Anorexia und Bulimia Nervosa ein, gegen Mager- und Eßbrechsucht. Psychotherapeutisch betrat sie damit Neuland und war ihrer Zeit weit voraus. Anorexia wurde erst mit Karen Carpenter populär. Bei der Jungverheirateten frisch vom College verflachte der Befund zur Allgemeinkategorie Neurose, mit starker Betonung auf manisch-depressive Stimmungsschwankungen, womit sie zu einem der Schäfchen wurde, die von Schlafstadtpsychiatern zwecks Finanzierung der Raten für ihren BMW geschoren werden. Ungefähr in den letzten fünf Jahren war Janice dann in die Erste Liga aufgestiegen, und zwar mit chronischer Schizophrenie. Sie wurde vorübergehend stationär behandelt und stabilisiert, also mit solchen Mengen Psychopharmaka vollgepumpt, daß man damit den halben Bundesstaat New Jersey hätte ruhigstellen können. Und vor dem neuesten jetzt hatte sie schon fünf unernste Selbstmordversuche gemacht, alle mit Valium. Eine Wiederholerin also. Ich schlug unser letztes Schuljahr und das Jahr davor nach, um mir Klarheit darüber zu verschaffen, wie sich der 120
Tod ihrer Mutter auf sie ausgewirkt hatte. Sie hatte ihn schwergenommen und einer Dauermedikation von Gemütsaufhellern wie Ellavil und Melaril bedurft, um einer chronischen Depression zu entgehen. Als psychotisch wurde Janice erstmals etikettiert, als sie die Stimme ihrer Mutter aus dem Grabe zu hören begann. Überhaupt nichts Brauchbares fand ich in meiner eigenen Erinnerung. Wenn sie derart gestört war, warum hatte ich dann nichts davon bemerkt? Psychiater war ich damals freilich noch nicht gewesen, aber auch kein Blindvogel. Ich hatte Janice Donahue als aktive, gesellige, erfolgreiche und mitnichten depressive junge Frau gekannt. Wenn sie psychisch krank war, hatte sie sich restlos verstellt. Oder hatte ich nur gesehen, was ich sehen wollte? War meine Erinnerung vielleicht zu verklärt? Wo ich verwirrt war, war es Janice keineswegs. Sie hatte ihren Zustand benennen können: alle Tassen außem Schrank. Und ich mußte jetzt den Schrank einräumen und zwischen Milch- und Mokkatassen differenzieren, sollte ich als Sachverständiger aussagen. Alle Tassen außem Schrank war zu unspezifisch. Debby wollte sich um acht Uhr früh ins Haus schleichen. Ich war erleichtert, als ich den Schlüssel im Schloß hörte, und froh, daß sie endlich wieder da war. Sie allerdings war nicht gerade angetan. Sie gab mir ein Küßchen auf die Wange, mit abgewandtem Gesicht. »Muß duschen.« Ich nickte. Das mit dem Duschen kenn ich. Allerhand gute Gründe sprechen dafür, nicht bloß, daß man sich nach dem GV klebrig fühlt. Vielleicht schwitzte sie auch vom Nachhausejoggen, obwohl sie das eigentlich nie tat. »Krieg ich jetzt ’ne Standpauke?« 121
»Warum?« Ich stellte mich nicht blöd. Ich hatte bloß keine Ahnung, weswegen ich wütend sein sollte. »Weil ich die ganze Nacht fortgeblieben bin.« »Nein.« Ihr gutes Recht, ob es mir paßte oder nicht. »Weil ich wegen Lisa gelogen habe?« »Nein, aber reden würd ich schon gern drüber.« Mir war noch gar nicht aufgegangen, daß die Lüge das Problem war. Für Debby aber war sie das. Sie hatte von Anfang an auf Ehrlichkeit zwischen uns beharrt. »Bin gleich wieder da.« Sie entfloh in die Dusche und war nach sechs Minuten zurück, immer noch blaß, aber frischer. »Tut mir leid, Simon, daß ich gestern abend abgehauen bin, nachdem ich die Bombe hab platzen lassen. Ich weiß schon, daß das uncool von mir war.« Sie kauerte sich zu einer ihrer Laß-uns-reden-Stellungen in den Sessel, fast fötal. »Ich glaub, ich hab das bloß auf die Art loswerden können. Du bist nicht sauer?« »Nein. Eher froh, daß es endlich raus ist. Erklärt vieles.« »Zum Beispiel?« »Zum Beispiel, warum du’s dir mit der Schuld so schwer machst.« Ich erkannte den Ablauf wieder. »Und deine Träume«, fuhr ich fort, »jetzt seh ich auch, warum dir die Träume so zusetzen. Müttern werden übernatürliche Kräfte zugeschrieben, wenn’s um ihre Kinder geht. Macht über Leben oder Tod. Du meinst, du hättest Lisa retten müssen und es nicht geschafft.« Dieses Gefühl kenne ich nur zu gut. »Und jetzt lebst du mit diesem mörderischen, selbstzerstörerischen Schuldgefühl und Selbsthaß, nur weil du dir einbildest, du hättest eingreifen müssen, obwohl du freilich überhaupt nichts tun konntest.« Bei mir ist das was anderes. Ich hätte bloß rechtzeitig daheim sein müssen. 122
»Aber Debra, Lisas Bedeutung für dich fängt nicht erst mit ihrem Tod an und endet auch nicht da. Das meinst du jetzt bloß, aber das bleibt nicht immer so. Du hast sie zur Welt gebracht, gefüttert und gewickelt. Sie war ein Stück Leben. Konzentrier deine Erinnerung darauf, wie sie gewesen ist.« Mit zwanzig Jahren Abstand schaffe ich es grade hin und wieder, mir meine Holde von damals als lebendige Frau vorzustellen, die ein Stück des Wegs mit mir gegangen ist. Meistens aber entsinne ich mich nur, wie sie gestorben ist und wie entsetzlich das für mich war. Diesen Teil der Trauerarbeit hab ich nie leisten können, bin darin steckengeblieben. Was ungerecht gegen uns beide ist, weil es mir die guten Erinnerungen raubt, wie sie damals zu mir gehalten hat. Debby weinte sich jetzt aus, und ich war froh, daß sie es zulassen konnte, sich so das Herz zu erleichtern. Auch so was, worin ich nicht gut bin. Aber ich wollte mehr wissen. Ist einfach meine Art. »Erzähl mir von ihrem Vater. Hast du ihn geliebt?« »Ach, Quatsch. Simon, das war ein Unfall. Ausgerechnet beim Knutschen im Autokino. In New Jersey.« Es war ihr peinlich. Nachdem ich die väterlichen Pflichten erledigt hatte, wechselte ich zum Stoff des Seelenklempners. »Wie hast du dich als Mutter gefühlt? Wie war Lisa denn?« »Es war ganz toll. Ich hab das so genossen! Sogar die Schwangerschaft. Da würde mal was Gutes aus mir rauskommen. Und wie sie aus mir rausgeflutscht war, ist’s genauso gewesen, kein Schmerz, kein Geschrei, einfach rausgeflutscht ist sie, da hab ich mich so richtig gut gefühlt.« Sie verstummte ob ihrer Erinnerungen. »Und nichts von dem Mist, von dem ich gelesen hatte, ist so gekommen. Es hat mich nicht runtergezogen. Ich 123
hab mich nicht geekelt beim Windeln. Ich fand’s schön. Ich war ’ne gute Mutter, Simon, und sie war ein ganz, ganz tolles Kind.« »Da bin ich froh. Ich glaub, die schönen Erinnerungen werden’s dir auf lange Sicht leichter machen. Halt dich dran fest. Sie sind deine Rettung, wenn’s mal so aussieht, als ginge gar nichts mehr.« Empfehlungen aussprechen konnte ich recht gut. Bloß nicht mich selber dran halten. Sie erzählte beinahe zwei Stunden lang von sich und Lisa. Wie intelligent und vergnügt sie war und wie sie durchs ganze Haus krabbelte und über ihre ersten drolligen Gehversuche. Debby erzählte lachend Geschichten und war ganz gelöst und voller Leben. Eine Weile vergaß sie völlig, welch ein Ende es genommen hatte. Als ihr die Puste ausging und die Erinnerungen nicht mehr so gepurzelt kamen, fragte sie plötzlich: »Schmeißt du mich raus, wenn ich Scheiße baue?« Was hatte sie wohl im Sinn? »Nein. Ich möchte, daß du bleibst. Aber wenn du noch weitere Lügen in petto hast, möcht ich’s lieber gleich wissen.« Sie reagierte unsicher und verwirrt und druckste: »Nein, sonst ist da nichts.« Das kam alles andere als überzeugend. Ich beschloß, jetzt nicht weiter zu schürfen. »Wie war deine Verabredung?« »Wir haben bei ihm gehockt und Wein gesüffelt. Ich mag ihn gern, Simon, und ich werd ihn wiedersehen. Hoffentlich noch oft. Aber keine Angst, ich hab dich immer noch lieb.« »Da hab ich keine. Darf ich ihn kennenlernen?« Vor meinem geistigen Auge musterte der treusorgende Hausvater den neuen Freund. 124
»Nein.« »Nein? Soll das ein Witz sein? Warum denn nicht?« »Ich will ihn nur für mich. Darum.« Ich wollte die Sache nicht auf die Spitze treiben. Schien mir unpassend. Sie ging ins Bett, und ich setzte mich in meinen Fenstersessel und dachte über Frauen im allgemeinen nach, und über Mütter im besonderen. An Janice kam ich nicht wieder heran. An ihre tote Mutter erst recht nicht. Blieb noch der Vater. Edward Donahue war nicht schwer zu finden, schließlich war er nicht abgetaucht. Kates Sekretärin gab mir die Adresse. Das Mohawk, passend und seriös, ein Familienhotel mit Wochentarif, eine Seltenheit in New York. Nicht grade das Pierre, aber auch keine Crackruine. Genau das Richtige für Lehrer im Ruhestand, mit allem Komfort und dicht beim Algonquin, das sie sich nicht leisten können. Ich rief nicht vorher an. Ich wollte nicht, daß Mr. Donahue in seinem Archiv über ehemalige Schüler nachschlug, wie es pensionierte Lehrer im Kopf mit sich herumtragen. Als er mir damals Shakespeare beibrachte, hatte er eine Figur wie ein Schneemann gehabt: drei Kugeln mit Bindegewebe dazwischen. Donahue war recht anständig gewesen, eher humorvoll und nicht darauf aus, junge Menschen zu kujonieren. Aber Macht in der Lehranstalt hatte er schon gehabt und sie auch genossen. Er betreute und benotete die Abschlußarbeiten im Hauptfach Englisch, und bei einem »Ungenügend« war’s vorbei mit dem Schulabschluß. Von den Teilnehmern am Leistungskurs Englisch ging ein Exemplar der Abschlußarbeit in Kunstleder gebunden an die 125
Schulbibliothek, und bekamen wir weniger als eine Zwei, war unser Haupt auf ewige Zeit mit Schande bedeckt. Ich hatte Donahue gut leiden mögen. Meine Abschlußarbeit hatte ich über die Ödipusproblematik in Hamlet geschrieben. Als Amateurpsychologe hatte Donahue seine Freude dran gehabt. Wir hatten die Arbeit stundenlang durchgesprochen, und ich hatte eine Eins bekommen, Kunstledereinband inklusive. Ein Vierteljahrhundert und drei Herzinfarkte hatten den Schneemann verändert. Die oberste Schneekugel war jetzt lang und hager. Die Augen hinter der Brille lagen tief eingesunken. Schneekugel Nummer zwei war mit Nummer drei glatt verwachsen, so daß jetzt der Schädel des armen Yorick auf Falstaffscher Leibesfülle saß. Donahue war über meinen Besuch nicht erfreut. »Dr. Rose.« Ein Händedruck. Er bat mich nicht herein. Früher hatte er mich Simon genannt. »Auf anwaltlichen Rat soll ich vor dem Prozeß mit niemandem sprechen. Tut mir leid, aber ich will nichts tun, was meiner Tochter Schaden könnte.« Wer meinte denn so was? »Darf ich fragen, wer Ihnen das gesagt hat? Meinen Auftrag habe ich nämlich von der Anwältin Ihrer Tochter.« »Ich weiß, aber der Rat stammt von Dr. Newhouse selber. Ausnahmen hat sie keine genannt. Daher muß ich …« Er sprach nicht zu Ende, schaffte es aber, mir die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Auf den Trick mit dem Fuß auf der Schwelle war ich nicht gekommen. Ich betastete gerade meine Nasenspitze auf Schäden, als die Tür sich wieder öffnete. »Ich bring es nicht fertig«, murmelte er reuevoll mit gesenktem Kopf. »So kann ich einen früheren Schüler und Freund nicht behandeln, auch wenn sie’s mir so geraten hat. Komm rein, Simon, schön, dich zu sehen, in Anbetracht der Umstände.« 126
Er ging mir voran zur Sitzecke, einer brettharten Hotelgarnitur. »Ist nicht so, als würde ich dich daheim hereinbitten. Warst du mal bei mir zu Hause?« »Ja, ein paarmal, wegen der Abschlußarbeit.« Er erinnerte sich offenbar nicht, daß Janice und ich ein kurzes Techtelmechtel gehabt hatten. »Tut mir leid«, bedauerte er. »In letzter Zeit geht alles drunter und drüber, und es nimmt mich ziemlich mit. Lieb von deinem Vater, daß er seine Hilfe angeboten hat. Oder vielmehr deine. Ich bin am Ende, Simon. Ich glaub, ich kann’s nicht verkraften, auch noch Jan zu verlieren.« Ich nickte mitfühlend. Das letzte Mitglied seiner Familie und in meiner Erinnerung sein Augenstern, jetzt auf dem besten Weg zur Vorhölle der einen oder anderen Art. »Mr. Donahue, es ist doch wohl einleuchtend, daß ich Janice besser helfen kann, wenn Sie mich über Dinge aus ihrer Krankengeschichte aufklären, die sie mir selbst jetzt nicht sagen kann.« Ich hatte keinerlei Grund zur Annahme, daß sie dergleichen nicht liefern würde. Ich wollte seine Version hören. »Na, wenn es nur um die Krankengeschichte geht, sehe ich nicht, wie das irgendwo schaden sollte. Ist sowieso alles in den Akten. Schieß los, Simon. Vielleicht kann ich von Nutzen sein. Ich hock hier schon viel zu lange rum und warte.« Unter Vermeidung glatter Lügen hielt ich meine Fragen oberflächlich und harmlos. Wie die Schwangerschaft seiner Frau verlaufen sei. Normal. Ob bei der Geburt was gewesen sei. Nichts Außergewöhnliches. Und die ersten Lebensmonate. Alles bestens. Aber nicht ganz. »Margery hat ein bißchen getrunken, als sie schwanger war, fällt mir jetzt ein, aber da wußten wir noch nicht, daß 127
es der Leibesfrucht schaden kann.« Eben erst eingefallen war ihm das nicht. Eine verhaltene Schuldzuweisung. »War Ihre Frau eine starke Trinkerin?« »Ich weiß nicht, ob ich darüber reden soll«, murmelte er in seine Strickweste. »Getrunken hat sie schon. Meist im Quartal, aber eine Alkoholikerin im strengen Sinne war sie keine.« Er wurde fahrig. »Waren Sie glücklich? Haben Sie eine gute Ehe geführt?« Sein Gesicht erstrahlte, ein Weihnachtsbaum von Reminiszenzen. In seiner Erzählung roch ich den Puter in der Herdröhre brutzeln. Und er beschränkte sich nicht auf Margery. Janice sei stets sein ganzer Stolz gewesen. Das Musterbild einer Vater-Tochter-Beziehung. Herzerwärmende Erinnerungen aus dem guten alten Amerika. Für meinen Geschmack zu dick aufgetragen. Ich mußte ihn unterbrechen, aus purem Selbsterhaltungstrieb. »Wie ist Ihre Frau gestorben? Sie war doch noch recht jung.« Ich hatte gedacht, er würde es nicht merken. »Warum fragst du das?« Er spannte den Kiefer. Doch gemerkt. Er reagierte wie ein in die Enge getriebenes Tier, mißtrauisch und wachsam. »Krankengeschichte, Mr. Donahue. In der Krankenakte steht nichts darüber, und ich möchte Janice gerade jetzt nicht damit behelligen.« Gelogen, aber glaubwürdig. »Natürlich. Entschuldigung. Du hörst das besser von mir.« Detailliert wie ein Gerichtsmediziner schilderte er die Todesursache seiner Ehefrau, eine Hirnblutung nach einem Sturz. Vermutlich unter Alkoholeinfluß. Dabei sei sie mit dem Kopf auf den Marmorfuß ihrer Stehlampe aufge128
schlagen, unter der sie immer las. Vom Alkohol hatte Donahue nichts gesagt. Den dachte ich mir dazu. Alles weitere war Hinterbliebenenschmus fürs Publikum, eine durch Wiederholung versteinerte Litanei. Es mochte alles wahr sein, oder überhaupt nichts. Janice hatte die Belastung nicht verkraftet; sie sei schon immer zart besaitet gewesen und habe sehr an Margery gehangen; die beiden seien unzertrennlich gewesen, die allerbesten Freundinnen; ihr Tod habe Janice überfordert; seine Tochter sei daran seelisch zerbrochen. Donahue war richtig in Fahrt gekommen, da unterbrach er sich plötzlich, als bemerke er erst jetzt, daß ich neben ihm saß. »Ich rede zuviel. Ich bin ein müder alter Mann und hab wohl mehr gesagt, als ich sollte. Es ist alles recht schwer für mich, wie du dir wohl denken kannst. Ich muß dich jetzt bitten zu gehen. Ich muß mich entschuldigen. Ich hätte nie …« Er stand auf, um mich zur Tür zu bringen. Ich hakte noch mal nach. »Haben Sie Margery aufgefunden, Mr. Donahue, oder ist es Janice gewesen?« Die eine Frage zuviel. »Warum, verdammt noch mal, fragst du so was? Du hast meine Gutmütigkeit weidlich ausgenutzt, und ich muß darauf bestehen, daß du jetzt gehst.« Höflich formuliert, aber mit gefletschtem Gebiß, und die Augen hatten plötzlich einen Basiliskenblick. Mr. Donahue hatte eine tückische Ader. »Mr. Donahue, dieses Ereignis war für Janice höchst traumatisch. Wenn sie sie auch noch gefunden hat …« Diesmal zog ich die Nase weg, bevor die Tür zuknallte. In meiner Branche ist ein Nein ein Ja, ein Ja ein Nein – und eine zugeknallte Tür ein offenes Eingeständnis. 129
10 Janice und ich verbrachten nach der Aufhebung der Selbstmordüberwachung achtzehn Stunden im Analysegespräch, allerdings verteilt über zwei Wochen. Indem ich die Termine zeitlich zerre, verschaffe ich mir Zeit zum Nachdenken und Planen, da jede Sitzung ihren eigenen Charakter hat. Hätte ich mit Janice zu tun gehabt, als ich noch Gerichtspsychiater im Staatsdienst war, hätte ich nicht die Privilegien eines forensischen Privatgutachters genossen. Für ihre Begutachtung hätte ich höchstens eine Stunde ansetzen dürfen, weil an demselben Tag noch ein Vatermörder, ein Muttervergewaltiger und sechs sonstige geisteskranke Straftäter auf meiner Warteliste gestanden hätten. Als selbständiger Sachverständiger aber kann ich mir so viel Zeit nehmen, wie nötig, und die Probandin sogar testen, wenn ich es für geboten halte. Janice sah berückend aus und ließ keine Nachwirkungen ihres Selbstmordversuchs erkennen. Irgend jemand suchte für sie jetzt etwas erwachsenere Klamotten aus. Sie hatte Ähnlichkeit mit einer Sekretärin in einer renommierten Anwaltskanzlei, bis auf die Ringelsocken und die Leinentreter. Die Kindfrau. Sie war so gelöst und eifrig, als freue sie sich schon lange auf diese Gespräche, und sei froh, daß es nun endlich so weit war. Gelegentlich reagierte sie gereizt und empfindlich, wenn wir uns zu nahe an ihre Mutter herantasteten, brachte ihre Aufwallungen aber stets rasch wieder unter Kontrolle. 130
Wir fingen mit ihrer Vorgeschichte an. Menschen malen bei ihren Kindheitserinnerungen entweder schweinchenrosa oder schwarz, Petunienblüten oder Pech mit Schwefel. Viele tun so, als wüßten sie gar nicht mehr, daß sie mal Kinder waren. Manche wissen es tatsächlich nicht mehr. Janice hatte nur karge Erinnerungen an ihre ersten zwölf Lebensjahre. In der Ödnis ihrer Kindheit hatte es gelegentlich warme Kuscheldecken gegeben, doch hatte sie diese Zeit vor allem damit verbracht, sich auf das richtige Leben vorzubereiten, das erst mit der Pubertät begann. Die Familie war häufig umgezogen, und sie hatte sich dann immer in einer neuen Schule zurechtfinden müssen. Janice empfand diesen ständigen Wechsel im nachhinein als stärkend. »Hat mich abgehärtet«, meinte sie. Ihre Mutter sei beherrschend gewesen, eine freundliche, sanfte, hilfsbereite Seele mit einem Hang zum Gängeln. »Sie hat mich nie aus den Augen gelassen«, was Janice als Herausforderung sah. In allen Kaufhäusern ging sie verloren, und stets endete die Sache damit, daß eine wütende Margery Donahue sich ausgerufen hörte, zwischen der Ansage zur Sonderaktion in Damenunterwäsche und der für den Räumungsverkauf in Polstermöbeln. »Ich hab gern was angestellt«, bekannte Janice verlegen. Sie beließ es nicht beim Versteckspielen, sondern entflammte zunehmend für das Wunder des Zündhölzchens. »Hast du bloß mit den Streichhölzern gespielt oder echt Feuer gelegt?« fragte ich. »Feuerchen«, gab sie zu. Kein Wunder, daß Margery Janice nicht aus den Augen ließ.
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Die Frage nach der frühesten Erinnerung ist ein hinterfotziger kleiner Kunstgriff, mit dem ein realer oder phantasierter Vorfall entlockt werden soll. Ich erinnere mich an eine Frau, die in allen Einzelheiten beschrieb, wie sie durch den Geburtskanal ans Licht der Welt kroch, und an einen Mann, der sich nur an den gestrigen Abend zurückerinnern konnte. Gerade deswegen mag ich die Frage, wegen der Vielfalt. Das aufschlußreichste einzelne Erinnerungsbild aus Janices prägenden Jahren ergab sich aus ihrer Antwort auf diesen Explorationstrick. »Ich stehe in der Tür zum Elternschlafzimmer. Mom schläft im Sitzen, auf Kissen gestützt. Ein aufgeschlagenes Buch liegt mit der Schrift nach unten auf ihrer Brust. Sie hat eine schwarze Schlafmaske über den Augen, um das Tageslicht auszuschließen. Sogar Stöpsel hat sie sich in die Ohren gesteckt, um nicht von meinem Knöttern gestört zu werden. ›Knöttern‹ nannte sie es, wenn ich was von ihr wollte. Ich weiß noch, wie ich mir wünschte, sie solle aufwachen. Ich brauchte sie, ich weiß nicht mehr, wofür. Vielleicht wollte ich bloß bei ihr sein.« »Wie alt warst du da?« »Vier oder fünf. Ich hatte meinen Teddy dabei. Wie ein Kleinkind schleppte ich den mit mir rum, bis sie ihn mir weggenommen hat. Als ich in die Schule kam. Sie hat gesagt, ich muß jetzt endlich groß werden.« Die Pubertät erwies sich als ergiebiger. In Janices Denken fing das wahre Leben erst mit dreizehn an. »Ich war so aufgeregt, als ich in die Oberschule kam und endlich Busen hatte«, erzählte sie. »Ich war sehr beliebt, ich meine, bei den Jungs. Sie sagten, ich sei hübsch, und haben sich um mich geprügelt. Halt so Sachen, wie Jungs eben sind. 132
Und es ist immer besser geworden. Schon in der drittletzten Klasse hatte ich zweimal einen festen Freund. Hast du das gewußt?« »Nein.« Da hatte ich sie noch nicht gekannt. »Ja, in der vorletzten Klasse dreimal, und in der Abschlußklasse bin ich schließlich draußen am See Will begegnet, und es hat gefunkt. Das war das Jahr, wo Mutter gestorben ist.« Sie hielt inne und sammelte sich. »Das hab ich schwergenommen. Sie war mir sehr wichtig. Ich glaub sogar, sie war ich.« »Wie meinst du das?« »Das ist ziemlich kompliziert, mit meiner Mutter und mir. Sie war sehr streng, verstehst du? Alle Sachen zum Anziehen hat sie mir ausgesucht, ich sollte unbedingt so gut aussehen wie möglich. ›Wer gut aussieht, fühlt sich gut‹, sagte sie immer. Und sie hat darauf geachtet, was ich esse, damit ich nicht dick werde. Sie sagte immer: ›Dicke Mädchen sind unglücklich.‹ Sie hat mir Benimm beigebracht und wie ich mit Jungs reden soll. Ich war schüchtern. Sie hat das alles nur gemacht, weil ich ein glückliches Leben haben sollte – und nie einsam sein. Sie war meine allerbeste Freundin.« Das hörte sich ganz danach an, daß Margery eine von diesen Dressurmüttern war, deren einziges Ziel im Leben darin besteht, die Tochter so abzurichten, daß sie den maximalen Marktwert bringt. Die meisten Töchter solcher Mütter entwickeln ein tiefes Haßgefühl gegen diese Dressur, denn sie bekommen dadurch ständig gesagt, sie seien eigentlich nicht gut genug. »Hast du jemals Wut auf sie gekriegt?« tastete ich mich vor. »Soll das ein Witz sein? Ich hab doch gesagt, sie war meine allerbeste Freundin.« »Auch allerbeste Freundinnen kriegen mal Wut aufeinander.« 133
»Nein. Da hätte ich ja Wut auf mich selber kriegen müssen. Ich war zum einen Teil ich und zum andern sie. Manchmal war ich die Mutter und sie die Tochter. Immer dann, wenn’s ihr nicht gut ging und ich mich um sie kümmern mußte.« »Also wenn sie getrunken hatte?« Janice schoß einen Mordblick auf mich ab. Mitten zwischen meine Augen. »Ich erklär’s doch schon die ganze Zeit. Du hörst bloß nicht zu. Wir waren ein Herz und eine Seele. Nach ihrem Tod war mir zumute, als wär ich nur noch ein halber Mensch. Von da an mußte ich in die Kliniken. Hast du doch alles gelesen, oder nicht?« »Ja, aber nach der Krankengeschichte hattest du schon Klinikaufenthalte, bevor deine Mutter gestorben ist.« »Ach, ja, aber nicht, weil’s mir schlecht ging. Ich hab über die Stränge geschlagen. Viel getrunken und mich rumgetrieben. Meine Mutter hat sich Sorgen gemacht, aber krank war ich nicht, noch nicht. Das alles hat erst angefangen, nachdem Mom gestorben war.« »Wie war es im letzten Schuljahr, in dem Jahr, als wir uns gekannt haben?« »Ich war sehr schlecht drauf, total depressiv. Sie haben mir einen Haufen Medikamente verschrieben. Antidepressiva und so ’n Zeug, um das Gemüt aufzuhellen. Aber das kannst du alles nicht wissen, weil … ich war fest entschlossen, mir nichts anmerken zu lassen. Wenn ich an meiner neuen Schule beliebt sein will, darf ich nicht deprimiert sein, und so hab ich mir eben nichts anmerken lassen und hab Will behalten. Wir waren fast das ganze Jahr zusammen. Das zumindest weißt du doch noch, oder?« »Ja, weiß ich noch.« 134
»Und dann kamst du. Du hast gesagt, du weißt das noch.« »Stimmt.« »Du hast mir echt geholfen, weißt du das?« »Wie denn?« »Ich war sehr verletzt wegen Will. Ich hatte wirklich Hilfe nötig, für mein Selbstvertrauen, weißt du. Und du warst ganz toll. Mein Anker. Ich mußte unbedingt aufhören mit den Spinnereien. Ohne dich hätt ich’s bestimmt nicht geschafft. Ich hab dir allerhand zu verdanken.« Ihr Tröster war ich also nicht gewesen. »Gern geschehen.« »Wie hast du das Valium hier reingebracht?« Ich machte eine Kopfbewegung in Richtung auf die weitläufige Klinik. »Keine Leibesvisitation? Untersucht haben sie dich doch aber, oder nicht?« »Ich weiß nicht mehr. Ist ja egal. Ich hatte sie in meiner …« Sie deutete auf das, was sie nicht sagen konnte. »Du hast das Valium in deiner Vagina reingeschmuggelt?« »Genau. Ich kann das Wort nicht leiden. Klingt so klinisch.« »Warum hast du das Valium reingeschmuggelt?« »Ich wußte ja nicht, wie schlimm es werden würde. Manchmal sehe ich ganz klar, und dann habe ich einen Haß auf mich selber.« Das klang nach Wahrheit. »Hast du gemeint, du stirbst davon? Wolltest du?« »Ja. Diesmal war ich sicher, daß ich genug von dem Zeug geschluckt hatte. Ich war echt überrascht, als ich wieder aufgewacht bin.« Die erste unverschämte Lüge. 135
»Warum wolltest du sterben?« »Würdest du das nicht, wenn du ich wärst?« »Du sprichst nie von deinem Vater«, bemerkte ich eines Tages. »Ach, er gehört schon dazu, bloß ist er nicht so stark wie Mutter. Er ist ein Schlaffi. Wir nehmen ihn nicht ernst. Er ist kein schlechter Kerl. Er war wirklich nett zu mir, nachdem Mom tot war, richtig nett. Aber abgehärtet hat ihn das nicht.« »Hat es dich abgehärtet?« »Alles, was mir widerfährt, härtet mich ab. Sagt Mom, und ich glaub ihr. Wirklich. Muß ich doch.« Wir gingen ihre Collegejahre in Bennington durch, gesellschaftliche und Studienerfolge, Stippvisiten in Anstalten und Urlaub in Ferienclubs. Und dann kam Dennis Jensen, Abendstudent an der Universität von Vermont und ehemaliger Marinesoldat, folglich für Janice ein Kriegsheld. Dennis eroberte sie im Sturm. Er trug oft Uniform, wenn sie zusammen ausgingen. Sie fand das sexy. Er brach das College ab, tauschte aber eine neue Uniform dafür ein, diesmal die blaue der Polizei von New York. Immer noch sexy. Sie heirateten, und ihr Leben nahm eine Wende. »Es macht keinen Spaß als Polizistengattin, überhaupt keinen. Schon gar nicht bei der New Yorker Polizei. Die allermieseste, gerade deshalb wollte Dennis ja da hin.« Sie rümpfte die Nase. »Ich könnt ein Buch drüber schreiben. Du hockst viel zu Hause rum, während er die ganze Zeit fort ist und zu tun hat. Wenn er dann schließlich heimgekommen ist, war er immer schlecht drauf und frustriert und reagierte sich dann 136
an mir ab. Hat mich geschlagen, und nicht bloß einmal.« Beim Reden pendelte sie jetzt mit dem Oberkörper. »Es war gräßlich, mir war ständig langweilig. Ich hab mal da und mal dort gejobbt, aber er hatte den ganzen Spaß, sozusagen. Die meiste Zeit war er Schreibtischhengst. Weißt du, daß er in all diesen Jahren nicht einmal auf Streife geschossen hat? Kein einziges Mal! Natürlich war er auf dem Schießstand und hat ein paar Pokale gewonnen, aber im Ernst hat er den Revolver nie benutzt.« Janice schon. »Ich glaub nicht, daß ich je Freude gehabt hab. Und dann hat er mich auch noch geschwängert. Mit Gewalt. Der Scheißkerl hat mich eines Abends vergewaltigt, bevor ich mein Pessar reinbekam. Ich wollte keine Kinder. Das Verhüten hatten wir jahrelang hingekriegt. Familienleben hatten wir keins. Wozu da in unserem Alter noch ein Kind? Und da ist Mom echt sauer auf mich geworden. Ich glaub, sie wollte nicht, daß ich Kinder kriege. Oder vielleicht war sie bloß wütend, daß ich mich hab vergewaltigen lassen. Oder vielleicht war sie auch neidisch, ich weiß nicht. Aber sie hat die ganze Zeit, wo ich schwanger war, mit mir rumgeschrien. Hat mich ›blöde Kuh‹ genannt. Hat gemeint, ich hätt’s besser wissen sollen, und …« Sie pendelte wieder mit dem Oberkörper, jetzt aber schneller. »Sie hat ständig auf mir rumgehackt. Tu dies, tu das. Nichts war ihr gut genug. Sie hat mich nicht mehr aus den Augen gelassen. Früher war sie ganz anders.« Genauso muß sie gewesen sein, dachte ich bei mir. »Wie war sie denn, als du anfingst, ihre Stimme zu hören?« Ich wollte mehr über diese Stimme wissen, die sich durch ihr ganzes Leben zog. »Ach, am Anfang war es ganz so, wie sie noch lebte. Sie war mir ’ne Hilfe. Sie hat mich beraten und mir meine 137
Probleme gelöst. Weißt du, daß ich ihre Stimme schon hörte, als sie noch am Leben war, bloß im anderen Zimmer? Ich hatte lange Gespräche mit ihr, meistens über Jungs. War mir mal so peinlich, als ich gemerkt hab, lieber Gott, sie ist ja gar nicht da, daß ich fast gestorben wär.« Sie schlug die gespreizten Finger vors Gesicht. »Wo ist sie denn da gewesen?« »Sie hat geschlafen. Im Ehebett.« »Hat sie geschlafen, weil sie getrunken hatte?« Die Sache lohnte einen zweiten Anlauf, also probierte ich’s. »Nein. Nur so.« Janice verstummte und verweigerte an diesem Tag jedes weitere Gespräch. »Wie hat sich deine Mutter verändert, als du schwanger wurdest?« Es geht was Wichtiges vor, wenn Halluzinationen vom Harmlosen ins Bösartige umschlagen, gewöhnlich kein gutes Zeichen für die Prognose. »Sie ist so nörgelig geworden. Und tückisch. Ein richtiger Hausdrachen. Und immer hab ich tun müssen, was sie sagte.« »Warum?« »Weil, wenn ich das nicht getan hab, dann wurde sie sauer und schrie die ganze Zeit mit mir herum, Tag und Nacht. Und ich hasse es, wenn sie mit mir rumschreit.« »Tust du immer, was sie dir sagt?« »Jetzt schon. Ich muß ja. Einmal hab ich ihr nicht gehorcht, aber das ist schon zehn Jahre her.« Sie wurde rot. »Willst du es mir erzählen?« »Na schön, aber ich kann nicht alles sagen. Ging um Sex.« Ich meinte, damit klarzukommen, nickte also auffordernd. 138
»Ich hab was gemacht, wo sie mir gesagt hatte, ich soll es nie, nie machen. Mit Dennis, daß du dir nichts Falsches denkst. Aber sie hat mir eingeschärft, daß ich das nie machen soll, und ich hab’s trotzdem gemacht.« Sie leckte sich die Lippen. »Und was war dann?« »Sie hat mich Flittchen und Nutte genannt und hat mich immerfort angeschrien.« »Wie lange denn?« »Sieben Jahre.«
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11 Ich war mir ziemlich sicher, daß ich alle erfaßbaren bewußten Dinge ausgeschöpft hatte. Weitere Fragen würden keine neuen Erkenntnisse bringen. Ein Rorschach aber durchaus. Ich schlug Janice vor, sich mit mir zusammen ein paar Kleckse anzusehen. »Hast du nicht den einen, den ich mit Dr. Kreuger gemacht hab? Das war mein bester.« Ich hatte kein Ergebnisprotokoll eines Rorschachs in ihrer Krankenakte gefunden. »Dein bester?« »Ach, nicht direkt mein bester, mein kreativster. Normalerweise sehe ich bloß Kleckse. Bei dem einen Mal aber habe ich alles mögliche gesehen. Ich bin schon oft so getestet worden. Macht richtig Spaß.« Ich brauchte Bestätigung, und der Rorschach stößt Türen auf, die sonst verschlossen bleiben. Wenn sie mir irgend etwas verheimlichte, würde ich so draufkommen. Wir einigten uns, daß ich das nächste Mal meine Trickkiste mitbringen sollte. Psychotests wende ich selten an, weil die meisten Blödsinn sind. Die Tiefenbefragung, die Ausnahme von der Regel, ist zu zeitaufwendig und zu teuer. Eine vollständige Testbatterie kann sechs bis acht Stunden dauern. Und wieviel Zeit für die Interpretation erforderlich wird, läßt sich vorher nicht berechnen. Eine aussterbende Kunst, durch ihre Kosten vom Markt verdrängt. Aber ich arbeite immer noch gern damit. Der Rorschach ist das psychologische Laserskalpell, das in der Hand des geschulten Psychologen tatsächlich in die 140
Tiefe dringt. Er ist raffiniert, aufschlußreich und kontraststark, wenn man eine Röntgenaufnahme vom psychischen Innenleben des Patienten braucht. Mir war bewußt, daß Janice mit allen Wassern gewaschen war, aber das war egal. Menschen verändern sich, was sie sehen, verändert sich, und was sie erblicken, enthüllt, wer sie sind. So einfach ist das. Außerdem kann man beim Rorschach nicht simulieren. Er läßt sich nicht täuschen. Er durchdringt jede Abwehr. Auf zehn weißen Kartonrechtecken befinden sich zehn Bilder, die irrigerweise als Tintenkleckse bezeichnet werden. Sind sie aber nicht. Es handelt sich vielmehr um komplizierte Figuren, meist in abgestuften Grautönen, wobei fünf der Karten auch Farben aufweisen. Und die eine Seite einer Karte ist durchaus kein spiegelgetreuer Abklatsch der anderen. Zwar ist die Umrißform klar in zwei Hälften getrennt, doch sind diese Hälften nicht völlig symmetrisch. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, was Probanden darin sehen können, und keine zwei Ergebnisprotokolle fallen gleich aus. Ein Abenteuer. Den Rorschach durchzuführen ist relativ leicht. Die Probanden werden jeweils einzeln getestet. Meine Aufgabe als Versuchsleiter ist es, zu beobachten und zu protokollieren. Interpretiert wird später. Der Proband sitzt zu meiner Linken, und ich reiche ihm eine Karte. Dann frage ich: »Was sehen Sie, beschreiben Sie’s mir.« Die meisten Menschen finden auf jeder Karte zwei oder drei interessante Bilder, was also etwa dreißig Reaktionen für den ganzen Kartensatz ergibt. Als nächstes überprüfe ich jede Antwort, ob auch ich die Teddybären dort sehe, wo der Proband sie gesehen hat. Während dieses Rückfragendurchlaufs ergeben sich Ergänzungen, Korrekturen und neue Details. Die protokolliere ich ebenfalls. Für mich ist das, als lausche ich der geheimen Musik der Seele. Zweifellos ein intimer Vorgang, der Zugang zur pri141
vatesten und bestgehüteten Sphäre des Probanden gestattet. Aus seinen Reaktionen ergibt sich eine psychologische Collage von geradezu beklemmender Aussagekraft und Präzision. Zauberei nennt es Kate. »Hoffentlich fangen wir mit den Klecksen an. Die mag ich am liebsten. Ich seh da haufenweise Zeugs.« »Klar, machen wir«, stimmte ich zu und nahm die Karten aus der Schachtel. Ich sah sie durch, um mich zu vergewissern, daß sie auch in der richtigen Reihenfolge lagen. Da riß Janice mir die Karten aus der Hand. Sie überflog eine nach der andern und wählte die Karte aus, zu der sie etwas sagen wollte. Ich unterbrach ihr Sortieren. »Janice, ich möchte den Test normgerecht durchführen. Macht es mir leichter.« »Ach, Simon, sei doch mal locker. Wie du es mir früher immer gepredigt hast. Machen wir doch mal was Verrücktes. Ich mach sie alle, aber in ’ner anderen Reihenfolge.« Sie usurpierte den Test auf eine Art und Weise, wie ich es noch nie bei jemand erlebt hatte. Sie würde sich die Karten eben selbst aussuchen, zum Teufel mit Hermann Rorschachs Reihenfolge. Halt mal locker vom Hocker. Ich hatte mit dem Rorschach schon Kurioses erlebt. Etliche Probanden hatten sich geweigert, überhaupt was von sich zu geben. Ein Jugendlicher hatte eine der Karten aus dem nächsten Fenster geschmissen. Ein völlig überdrehter Psychotiker hatte gar versucht, eins von den Kartonbildern aufzuessen. Aber noch nie hatte mir jemand alle weggegrabscht und sie wie eine Ausgabe von Vogue durchgeblättert, um sich die rauszuklauben, die er am liebsten mochte. Immer ein Abenteuer. »Also gut, Janice. Mach’s, wie du willst.« Prinzipienreiterei war hier sinnlos. Ihr Manöver wurde vermerkt und zur späteren Auswertung protokolliert. 142
Janice wählte die Nummer zehn, die letzte Karte und von allen die unruhigste. Sie zeigt etwa zwanzig verschiedene ineinanderfließende farbige Kleckse, je nachdem, wie man sie sieht, aber genau darum geht’s ja bei der ganzen Sache. »Die hab ich gesucht. Die hat’s in sich.« Sie stapelte die andern neun Karten ordentlich mit der Oberseite nach unten, links von sich außerhalb meiner Reichweite. »Mal sehen. Das blaue Ding in der Mitte ist ein Büstenhalter. Da sieht man die Brustwarzen irgendwie durch.« Sie zeigte auf die Brustwarzen. »Diese beiden großen rosa Dinger sind Babies, die an dem BH saugen, die symbolisieren meiner Meinung nach die Mutter. Das kleine graue Ding hier beißt die Mutter in den Rücken. Wenn das blaue Ding ein BH ist, ist das grüne Geschlängel da ihre Vagina.« Sie hatte ihre Verschämtheit überwunden und konnte das Wort jetzt sagen. »Und das ist ein Gabelbein von ’nem Vogel, das da einfach so im Leeren hängt. Die zwei Dinger da auf dem Kopf der Babys sind Käfer, die von den Babies loskommen wollen. Die blauen Kleckse da sind Amöben. Die orangenen Dinger hier draußen sind Blutflecken, aber mit dem übrigen Bild haben sie nichts zu tun. Die gelben Teile da drüber …« Und so ging es weiter, mit einer Reaktion auf jedes Detail, wobei sie diese unter Verwendung eines Bildausschnitts zu Geschichtchen verwob. »Das da sind grüne Würmer. Nein, es sind Raupen. Wahrscheinlich werden wunderschöne Schmetterlinge daraus, wenn dieses blaue Maul sie nicht frißt. Ich glaube, die blauen Dinger gewinnen.« Schließlich machte sie aus der ganzen Karte noch eine komplette Unterwasserwelt voller tropischer Fische und Mantarochen. Als sie innehielt, hatte ich eindrucksvolle siebenunddreißig Reaktionen. Aber sie war noch nicht fertig. 143
Sie nahm die Karte, drehte sie im Uhrzeigersinn um neunzig Grad und fing von vorne an. Der »BH« verwandelte sich in »blaue Tränen«, die »rosa Babies« in »schmelzendes Erdbeereis« und die »kleinen grauen Dinger, die der Mutter in den Rücken beißen«, wurden zu »alten, verschrumpelten Kaulquappen«. Jedes Detail wurde zu etwas anderem. Jede Empfindung, jede Nuance wandelte sich und paßte sich einem neuen Muster an. Was trieb sie da eigentlich? Sie wurde langsamer, und ich glaubte schon, wir hätten eine Chance auf die nächste Karte. Statt dessen drehte sie die alte erneut um neunzig Grad, wodurch diese jetzt im Vergleich zum Anfang kopfstand, und begann von vorn, alles neu und wieder anders. Als sie schließlich mit der einzigen Karte fertig war, die sie bislang kommentiert hatte, hatte ich dreiundachtzig Reaktionen protokolliert. Eineinhalb Stunden waren vergangen. So machte sie mit jeder Karte weiter, die sie aus dem Stapel zog. Sie erblickte Mütter, Säuglinge, kleine Wesen, die größere fraßen, Blut, Körperflüssigkeiten, ab und an einen Penis, gewöhnlich ohne Mann dazu. Und Vaginen allenthalben, zupackende, saugende, fressende, insgesamt achtzehn Stück, für mich persönlich ein Rekord. Jedesmal, wenn sie die Karte in eine neue Position drehte, verwandelte sich alles. Aus glücklich wurde traurig, aus ängstlich wütend, aus lebendig tot. Janice erblickte unzählige Neugeborene verschiedener Tierarten, die meisten von etwas Verwandtem einverleibt. Bei Karte drei, auf der zwei rote Kleckse an einer blutroten Verbindungskordel hängen, sah sie »Föten in utero« und zeigte mir in penibelster Detailversessenheit, wie verschieden die beiden seien, beide weiblich, aber doch jeweils anders. Eines der beiden Mädchen werde »es nicht schaffen«. Karte vier, mit dem Spitznamen »Vaterkarte«, weil sie dunkelgrau 144
und bedrohlich ist, brachte sie zum Lachen. Sie sagte, daß sei »fließender Gummi, vielleicht alte Galoschen, die zu was Nützlichem umgeschmolzen werden«. Sie war unermüdlich und konnte beliebig Energie nachtanken. Sie wurde es einfach nicht leid, sich selbst frei assoziieren zu hören. Der schiere Umfang ihrer Reaktionen war überwältigend, ebenso die Orgie von Blut und Gekröse, Dominanz und Sadismus, Gewalt und Schmerz in ihrer Phantasie. Bis sie alle zehn Karten durchhatte, waren sieben Stunden vergangen, und sie hatte vierhundertdreiundsechzig Reaktionen geäußert. Mein alter Rekord lag bei mageren einhundertzwanzig in vier Stunden, doch dieser Proband hatte Hirnlähmung gehabt. Bevor ich wegging, testete ich ein paar Grenzen aus und sprach empfindliche Bereiche an, um zu ergründen, wie tief die Verletzungen reichten. Ich fragte, ob sie alles in allem aus einer heilen Familie komme, und ihre Weihnachtsbäume stellten die ihres Vaters in den Schatten. Ich erinnerte sie an die Trunksucht ihrer Mutter, und sie zog vernehmlich Luft durch die Zähne und verstummte. Ich fragte, wie ihr zumute gewesen sei, als sie ihre Mutter tot aufgefunden habe, und sie wäre fast aus dem Zimmer gerannt. Ich hatte genug. Doch Janice war noch nicht fertig. »Weißt du, Simon, ich hab volles Vertrauen. Es wird sich alles zum Guten wenden.« »Hoffentlich.« Mir war nicht ganz klar, was das sollte. »Und weißt du, warum?« »Warum?« »Weil du wieder bei mir bist.« Sie drückte mir den Oberarm, als bewundere sie meinen prallen Bizeps. Ich hab keinen. »Du bist wieder mein Anker.« 145
»Janice, erzähl mir doch mal bitte, was an dem Tag passiert ist, als Dennis und Sean gestorben sind. Erzähl mir von diesem ganzen Tag, alles, woran du dich erinnern kannst.« Beginn der verfahrensrelevanten Befragung. Sie setzte sich in ihrem Stuhl gerade und strich sich den Rock glatt, bereit zum Aufsagen ihrer Lektion. »Wo soll ich anfangen, morgens mit dem Aufstehen?« Ich nickte. »In Ordnung.« Ein brusttiefer Seufzer. »Ich hab wirklich lange geschlafen, vielleicht bis elf. Dennis hatte Tagschicht und Sean morgens gefüttert und gewindelt, damit ich weiterschlafen kann. Er hatte ihn in seinem Gitterbettchen gelassen. Es ging ihm allmählich besser. Die Lungen fast frei, nur noch ein leises Rasseln. Er konnte stundenlang vor sich hinbrabbeln.« Sie mußte lachen, eigenartig heiter und befangen zugleich. Sie wirkte ungern wie eine Rabenmutter. »Ich hab mich nicht immer morgens im Bett rumfläzen können. Ich hatte schließlich ’nen Job.« Sie stockte abwartend. Ich biß an. »Erzähl mir davon.« »Ich hab für die Stadt gearbeitet, in einem Obdachlosenheim. Ach, Simon, es war so traurig, die ganzen Leute von der Straße, die nie baden. Fürchterlich.« Sie rümpfte die Nase, und ich wußte nicht so recht, was sie an den Leuten so fürchterlich gefunden hatte, daß sie obdachlos waren oder daß sie rochen. »Darin war ich gut, in der Sozialarbeit. Ich kann mich einfühlen, weißt du. Also ham sie sich mir anvertraut, und ich hab ihnen helfen können: Arbeit finden, ’ne Wohnung und so.« Ihre Miene wurde todernst. »Ich helfe Menschen wirklich gern. Aber dann haben sie mich entlassen, weil Sean krank geworden ist, und das war schlimm.« Offenbar überlegte sie, ob sie losheulen sollte, entschloß sich dann aber, tapfer die Zähne zusammenzubeißen. 146
Sie hatte sich vom fraglichen Tag wegmanövriert, und ich nahm es als Freibrief für Abschweifungen. »Hast du den Kleinen gestillt?« Sie krampfte die Hände um die Brüste. »Um Gottes willen, nein!« Sie fröstelte. »Ich hab das nicht hingekriegt. Ging einfach nicht.« Genug der Worte. »Mach weiter mit diesem Tag«, mahnte ich sanft. »Also, ich bin aufgestanden und hab gebadet. Seit ich arbeitslos bin, ist’s ja egal, wann ich aufstehe«, knurrte sie beleidigt. »Ich nehm morgens gern ein Bad. Mein einziger Luxus. Dann hab ich die Wäsche gemacht. Ein Riesenstapel. Wir können uns keinen Windeldienst leisten, also mach ich alles, macht mir nichts aus, weil ich Sean mit rumschleppen kann. Ich habe eins von den Traggestellen, wo du ihn direkt vorne bei dir hast.« Sie drückte einen imaginären Säugling an die Brust und pendelte sacht. Sie wirkte gelöst, frei vom Zwiespalt ihrer Gefühle zu Stillen und Mutterschaft. »Also haben wir die Wäsche gemacht und dann Seifenopern im Fernsehen geguckt. Ich weiß, wie blöd die sind. Ich mag sie trotzdem. Sind näher an der Wirklichkeit als mein eigenes Leben.« Traurigkeit, Bedauern, vielleicht ein Hauch Depression. »Dann hab ich mit Sean ein Schläfchen gemacht und bin zum Kochen wieder aufgestanden. Ausnahmsweise wollte Dennis zum Abendessen daheim sein. Er hatte es versprochen, also hab ich sein Lieblingsessen gemacht, Spaghetti und Fleischklößchen mit frischen Pilzen, nicht aus der Dose. Dann hab ich Sean schlafengelegt und das Kleid angezogen, das Dennis so mag, mit den Knöpfen vorn runter. Na schön, es macht ihn heiß.« Sie errötete leicht. »Und dann hab ich gewartet.« 147
Sie fing an, mit dem Oberkörper zu pendeln. »Ich hab gewartet und gewartet. Er hat’s doch versprochen gehabt! Dann hab ich die Wut gekriegt. Scheißkerl! Ich hab das Kleid ausgezogen und auf den Boden geschmissen. Ich hab den Küchenkittel angezogen. In letzter Zeit war ich schlampiger geworden. Meistens bedeutet das, daß ich prodromal bin.« Psychotischen Zuständen geht häufig ein langsamer Übergang voraus, von geistiger Gesundheit zum Wahnsinn. Die meisten könnten das überhaupt nicht benennen, aber Janice war eine alte Häsin. »Und dann hat das mit Mom wieder angefangen. Sie kann’s nicht leiden, wenn ich meine Sachen rumschmeiße. ›Heb’s auf, du Miststück. Kannst du denn gar nix richtigmachen? Du versagst doch total. Und alles nur wegen ihm da. Warum wirst du ihn nicht los? Zeig doch endlich mal Mumm, Teufel noch mal. Schaff ihn weg! Raus aus deinem Leben!‹« Sie war jetzt sehr unruhig und pendelte immer schneller. »Sie wollte einfach nicht aufhören. ›Tu endlich was, du Miststück! Schaff ihn dir vom Hals!‹« Ihr Gesicht wurde starr, eine Totenmaske. Was jetzt kam, war nicht mehr spaßig. »Dennis ist etwa um elf heimgekommen. Ich hab gleich gewußt, er war bei ’ner andern. Ich riech das, Parfüm und alles. Und er war sauer, weil die Spaghettisoße angebrannt war und die Wohnung ein Chaos. Er hat mich verprügelt.« Tränen tropften, schwer zu sagen, ob aus Wut oder Selbstmitleid. »Wohin hat er dich geschlagen?« »Überall hier.« Sie deutete auf Bauch, Nieren und Oberschenkel. »Er will nicht, daß man es sieht. Er findet mich hübsch.« 148
»Und dann hat er sich auf das Sofa schlafen gelegt. Nicht mal Hunger hat er gehabt, wahrscheinlich schon vorher gegessen.« Sie sagte das wie was Unanständiges. »Mom hat wieder losgelegt. ›Tu endlich mal im Leben was für dich. Halt ihn dir vom Hals!‹« Sie erschauderte. »Mom ist immer wütender geworden. Sie hat Schimpfwörter gebraucht, was sonst gar nicht ihre Art ist. ›Hör zu, du Miststück! Es ist ganz leicht und tut nicht weh. Los jetzt! Tu’s endlich!‹« Janice sah mir so starr in die Augen, wie es nur Verrückte tun. »Und da hab ich’s gemacht.« »Wie?« »Muß ich?« fragte sie schüchtern. »Klar muß ich.« Sie strich sich wieder den Rock glatt. »Ich hab seinen Revolver genommen und Moms Anweisungen befolgt. Sie hat mir alles ganz genau gesagt. Ich hab gemacht, was sie mich geheißen hat. Ich hab das Ding gespannt und es ihm direkt ins Ohr gesteckt, in das zum Couchtisch hin. Mom hat gesagt: ›Los! Drück ab!‹ Er ist kurz aufgewacht, aber ich hab abgedrückt, wie er’s mir beigebracht hat. Nie ziehen, immer drücken. Er ist ein bißchen hochgeschnalzt, aber Mom hatte recht. Es hat nicht weh getan. Dann hab ich seinen Kopf gedreht. Es war ganz klebrig, aber ich hab’s trotzdem gemacht. Ich hab den Lauf in sein andres Ohr gesteckt und noch mal abgedrückt. Er hat nichts mehr gespürt. Ansehen konnte ich ihn nicht. Seine Augen quollen total raus, und er hat mich angeglotzt wie ’n toter Fisch. Ich konnt’s nicht mehr mitansehen. Mom hat gesagt: ›Schieß ihm die Augen raus! Er kann dich sowieso nicht sehen.‹ Also habe ich’s gemacht, ein 149
Schuß in jedes Auge. Da hat er mich nicht mehr angeglotzt. Das ist alles. Dann bin ich in die Küche und hab mir die Hände gewaschen. Alles voller Blut. Dann bin ich zurück ins Wohnzimmer und hab die Trauben aufgegessen, die ich extra für ihn gekauft hatte. Alle, ich mußte ja nicht mehr teilen oder so.« Sie verstummte. Das Unangenehmste hatte sie hinter sich. »Hast du da nicht was ausgelassen?« »Du meinst das mit Sean, oder?« Genau das meinte ich. »Ich weiß nicht mehr. Ich bin mir nicht sicher, wirklich nicht. Sie sagen, irgend jemand hat das mit dem Fischmesser gemacht, um Himmels willen. Ich kann das nicht gewesen sein. Ich weiß nicht mehr viel, nachdem ich in die Küche bin.« »Könntest du dir das Fischmesser geholt haben?« »Kann schon sein«, bestätigte sie resigniert. »Die sagen, sonst ist niemand dagewesen. Ich weiß, daß ich bei Sean reingeschaut habe. Mach ich immer. Vielleicht hab ich’s getan.« »Was meinst du?« Ich dachte, sie wußte es genau. »Muß ich wohl getan haben. Ich kann’s einfach nicht glauben.« Diesmal waren die Tränen echt. »Und was ist passiert, nachdem du die Trauben gegessen hast?« »Dann sind die Bullen gekommen. Ich hab geglaubt, sie wollten Dennis zu irgendwas holen. Aber sie haben mich mitgenommen.« »Janice, als du auf ihn geschossen hast, war dir da klar, daß du was Unrechtes tust?« 150
»Ich hab getan, was ich mußte. Was Mom mich geheißen hat. Hab ihn mir vom Hals geschafft. Hat nicht mal weh getan.« »Ist Töten nicht unrecht?« Vielleicht wurde ihr moralisches Urteilsvermögen besser, wenn ich abstrakt formulierte. »Manchmal bestimmt. Aber nicht immer. Er hat es verdient. Hat Mutter gesagt.« »Warum hast du’s nicht sein lassen?« »Mom hätt’ mich totgeschlagen.« Die Tuchfühlungsfrage war hier nicht angebracht. Ich konnte nicht fragen, was sie getan hätte, wenn ein Schutzmann bei ihr gewesen wäre. Dennis war einer. »Simon, ich weiß nicht. Entweder hab ich’s gemacht, oder sie hat’s gemacht, oder wir gemeinsam. Ich war’s nicht. Sie war’s. Hör mal, willst du die Wahrheit wissen? Tut mir gar nicht leid, daß er tot ist. Bloß schade, daß ich es tun mußte. Hätte einer von seinen Junkies von der Straße tun sollen. Wäre ihm recht geschehen, auf der Straße zu verrekken. Mir geschieht es recht, wenn ich in einer Anstalt sterbe. Nicht wegen Dennis. Wegen Sean. Aber hab keine Angst, Simon. Ich versuch nicht mehr, mich umzubringen. Ich hab’s verdient zu sterben, aber nicht auf die Art. Das wär zu einfach.«
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12 »Du siehst wie’s Kätzchen am Bauch aus«, begrüßte ich Debby. Mal wirkt sie lebendig und strahlend, mal konturlos und ausgelaugt, und das von einer Minute zur andern, wenn ihre Stimmung in den Keller geht. Jetzt war ihr Gesicht blaß und teigig. »Daß du das überhaupt merkst. Du krümmst dich doch die ganze Zeit über deine Notizen wie Tupelo, wenn sie angebrüllt wird.« »Ich brülle Tupelo nie an«, wehrte ich mich, registrierte aber den Vorwurf. Irgendwas war mir entgangen. Ich arbeitete an meinem Bericht über Janice. Ich gutachte sorgfältig, fast pedantisch, meine Schwäche und Stärke zugleich. Gerichtsgutachten werden archiviert, und ich mache mich ungern öffentlich zum Deppen. Lieber noch privat. Ich hatte über dem Gutachten geistig masturbiert, gegrübelt, geschwitzt. Ich hatte die Worte kaum tippen können, wie bei einer hysterischen Fingerlähmung. Am Rande meines Gesichtsfelds war Debby gekommen und gegangen, aber tagelang war ich so mit Janice beschäftigt gewesen, daß ich nicht viel mitgekriegt hatte. Nun, wo mir was auffiel, machte ich mir Sorgen. Ich legte den Notizblock beiseite. »Bist du krank?« fragte ich mit echtem, wenn auch nachträglichem Mitgefühl. »Nein, hab bloß allerhand um die Ohren.« Sie ließ den Satz im Raum stehen. »Etwa?« 152
»Etwa, daß Bobby und ich ’ne Beziehungskiste haben.« »Du erzählst mir rein gar nichts«, drängelte ich. »Ich weiß nicht«, murmelte sie endlich über die Schulter. Bloß zuhören war gefragt, aber ich bekam einen Rappel und mußte den Vater raushängen. Mißtrauisch und anklagend. Immer eine große Hilfe. »Nehmt ihr Drogen?« Viele Anhaltspunkte hatte ich nicht, außer daß sie müde aussah. Dennoch mußte ich moralisieren, gegen alle Vernunft. Ich war auf rechtschaffene Empörung gefaßt – und bekam statt dessen ein Geständnis. »Wir haben uns Kokain reingezogen und ein paar Joints, aber hauptsächlich Wein. War vielleicht zuviel.« »Aber das bist doch nicht du, Debra.« War sie doch, hatte sie mir ja eben bestätigt. Väter reden eben nicht unbedingt schlau daher. »Es ist bloß, daß Bobby gern high wird und es für ihn noch schöner ist, wenn ich mitmache. Irgendwie mag ich’s.« Sie schüttelte den Kopf. »Nee, doch nicht.« »Aber du magst ihn.« »Ich glaub nicht, daß das alles ist. Ich glaub, ich bin verliebt, und ich hab eine Scheißangst.« Konnte ich verstehen. »Und wie ist’s bei ihm? Ist er auch verliebt?« »Ich glaube schon. Das ist es ja, was mir angst macht.« Auch das konnte ich verstehen. »Unter anderem.« Ich kam auf die Drogen zurück. »Debra, verliebt sein heißt nicht, daß du keine Entscheidungsfreiheit mehr hast. Vielleicht gibt’s ’ne Möglichkeit, mit ihm zusammenzusein ohne Drogenkonsum.« Nancy Reagan hätte nicht besser salbadern können. 153
»Hör sich das einer an, mein Vater, der selleriesaftsüchtige Haschrebell.« Ich hatte schon immer befürchtet, sie würde mir eines Tages meine Angewohnheiten aufs Butterbrot schmieren. Ich habe ein platonisches Verhältnis zu Marihuana, aber das war jetzt nicht der Punkt. Es ging um Debbys Umgang mit Drogen. Aber Ausreden hatte ich keine. Drogen sind Drogen. »Ich habe nicht gemeint, daß du eine selleriesaftsüchtige Haschrebellin werden sollst. Ich sag nicht mal was von Alternativen. Überlaß ich ganz dir. Ich sage dir nur, Drogen sind manchmal genau das Falsche. Zum Beispiel wenn du nicht voll bei Kräften oder gestreßt bist. Da gerätst du womöglich in einen Tunnel, der immer weiter in dein Allerverwundbarstes führt. Da drin kannst du dich verirren, und dann geht’s dir restlos schlecht. Ist mir passiert.« »Wann?« »Als meine Lady gestorben war.« Sie nahm es auf. »Und was hast du dann gemacht?« »Acht Jahre lang kein Hasch mehr angerührt.« Sie nahm auch das auf und lenkte ein. »Tut mir leid, meine Beschimpfung von vorhin. Nicht grade erwachsen. Ich werd drüber nachdenken. Und danke. Ich laß dich arbeiten.« Sie überließ mich meiner Mühsal. Daß sie so ohne weiteres einlenkte, konnte nur eines bedeuten: Mir war schon wieder was entgangen. Kate rief an und teilte mir mit, der Prozeß sei auf kommende Woche anberaumt. Sie brauche mein Gutachten für eine Besprechung der Verteidigung morgen früh. Aber die Worte wollten nicht. Obendrein auch noch so kurzfristig. Dabei wußte ich noch nicht mal, warum ich mich so schwer damit tat. 154
Auf der einen Ebene, auf die ich mich ja beschränken mußte, erfüllte Janice eindeutig alle Kriterien für Schuldunfähigkeit. Mit dem Protokoll ihres Verhaltens beim Eintreffen der Streifenbeamten, ihrer eigenen Darstellung des Geschehens und ihrer dicken Krankenakte aus der Psychiatrie war das unschwer zu vertreten. Sie war völlig weggetreten, als die Polizei kam, jahrelang Drehtürpatientin gewesen und bei ihren Morden nicht steuerungsfähig. Juristisch war sie aus dem Schneider. Janice war für mich aber kein juristisches Problem. Sondern ein viel persönlicheres. Ich sah sie nicht klar. Ich kaute alles noch mal durch. Ihre früheste Erinnerung schilderte ein einsames Kind, von der Mutter ausgesperrt. Mom, wie sie auf Kissen gestützt schläft, ein Buch über den nährenden Trostspendern, die Reizempfänger, Augen und Ohren, verbunden und zugestöpselt, um nicht gestört zu werden. Margery Donahue war gegen ihre Tochter hermetisch abgeschirmt gewesen. Kein Zufall also, daß die Wunden, die Janice Ehemann und Kind zufügte, genau diese Körperpartien trafen: Dennis’ Augen und Ohren sowie Seans Brust. Janice sprach durch ihre Handlungen, schlug zurück gegen die überbeschützende und trotzdem unzugängliche Mutter, die immer präsent war und doch nicht vorhanden. Mit ihren Gewalttaten wollte sie ein tiefverwurzeltes psychisches Rätsel lösen. Und wurden ihre Dämonen nicht zufriedengestellt, war weitere Gewalt zu erwarten. Janice und ihre Mutter waren nach ihren eigenen Worten ein kompliziertes Gespann, einzeln oder gemeinsam. Gemeinsam waren sie obendrein tödlich. Von Rechts wegen hätte Janice Wut auf die herrschsüchtige und gängelnde Tyrannin haben müssen, die ewig hinter ihr her war, lebendig und als Tote. Warum klammerte 155
sie sich an die Illusion, Margery sei ihre allerbeste Freundin gewesen? Vielleicht traute sie sich aus Angst vor der Allmacht ihrer Mutter nicht, wütend auf sie zu werden. Aber Wut hatte sie natürlich trotzdem, und was sie Dennis und Sean angetan hatte, war das Resultat einer gigantischen Übersprungshandlung. Ich war mir sicher, mein Rorschach-Protokoll enthielt den Schlüssel für meine Begutachtung von Janice, aber sie ließen mir nicht die Zeit, der Sache gerecht zu werden. Eigentlich sollte man den Rorschach als blinder Außenstehender angehen, aber hier war ich weder blind, noch stand ich außen vor. Es hatte mich Tage gekostet, durch die Daten zu waten, und jetzt schwappten sie mir über dem Kopf zusammen. Janice mußte sich in ihrer Innenwelt gegen unergründliche Gegenkräfte behaupten, um des schieren Überlebens willen. Grund genug also, jede Einzelheit zu beachten, und darin war Janice unschlagbar, nicht nur im Test. Herrschaft über andere war ihr Ding, Manipulation ihre bevorzugte Methode. Die Herrschaft über die Testsituation hatte sie sich von Anfang an verschafft, indem sie sogar mein Werkzeug usurpierte und für sich nutzte. Sie hatte auch die Herrschaft über mich gehabt, indem sie mich an sich fesselte, wobei ich acht Stunden lang jede ihrer Äußerung notieren mußte, der Wunschtraum jeder Narzißtin. Und wenn jemand narzißtisch war, dann Janice. Mehr als vierhundert Reaktionen machten überdeutlich, daß der Mensch, den sie auf der Welt am meisten liebte, sie selbst war. Wenn Herrschaft das Ziel und Manipulation die Methode war, dann war Sex das Vehikel. Die von ihr benannten achtzehn Vaginen kauten, schluckten, lachten und weinten wie Geschöpfe mit Eigenleben. Für Janice war Sex Waffe, Eroberungsmittel. Sie setzte ihre Sexualität so manipulativ 156
ein, als hänge ihr Leben davon ab. Vielleicht war es auch so. Vom Sex zur Gewalt war es freilich bei ihr nie weit. Dem einzigen Verweis auf Zärtlichkeit in ihrem Protokoll, küssenden Elefanten auf Karte zwei, folgte unmittelbar ein Blutschwall aus einer offenen Wunde, einer blutenden Vagina. Intimität war für Janice wie ein Messer durchs Herz. Leben zertrat sie so leicht wie der Stiefel die Kakerlake. Ihr Protokoll war derart gewaltgesättigt, daß ich so kurzfristig unmöglich Nuancen entschlüsseln konnte. Angesichts ihrer jüngsten Krankengeschichte kam soviel Tod und Verderben in ihrem Kopf nicht überraschend. Die Art, wie sie Informationen verarbeitete, allerdings schon. Sehr betroffen machte mich ihre Angewohnheit, die Karten um neunzig Grad zu drehen und von neuem zu assoziieren. Wie eine Realdarwinistin schuf sich Janice so eine Welt, in der alles in ständiger Evolution war und von einem Zustand zum anderen, von einem Wesen ins andere überging. Rosa Säuglinge wurden zu Erdbeereis und Büstenhalter zu Tränen. Mit einer bloßen Drehung der Karte. Janice verwandelte sich die Welt je nach Lust und Laune. Was wir alle begehren, wollte sie nicht, und zwar genau deswegen, weil sie nie bekommen hatte, was unsereinem zuteil geworden war. Kinder brauchen ein Gefühl der Sicherheit. Janice hatte sich nie geborgen fühlen können. Kinder brauchen die Gewißheit, geliebt zu werden. Janice war sie genau zu dem Zeitpunkt genommen worden, als es darauf ankam. Sie wußte nicht, was sie fühlte, außer daß sie beschädigt war. Es hätte mir das Leben leichter gemacht, wäre sie weniger wandelbar gewesen. Einer melancholischen Schizophrenen, die sich immer mehr in sich selbst zurückzieht, 157
oder einem bösartigen Monstrum von Soziopathin hätte ich mich gewachsen gefühlt. Sie aber war wie Quecksilber auf der Suche nach einem Gefäß. Ich konnte sie einfach nicht einfangen. Außer den Konturen einer äußerst labilen Psyche ließ sich nicht sagen, was ich sah. War sie Psychotikerin oder hochgradige Soziopathin? Ich wünschte mir mehr Zeit, um mich rechtschaffen in den Rorschach versenken zu können. Und wie waren die Morde passiert? Da liegt Dennis, eingeschlafen auf der Couch, erschöpft von seinem Alltag, wo die Post abgegangen ist, dieweil Janice daheim tödlich gelangweilt auf das bißchen Zuwendung gewartet hat. Als er ihr den Schuß Befriedigung nicht liefert, läßt sie ihrer Wut freien Lauf. Der Säugling, Produkt einer realen oder eingebildeten Vergewaltigung, belastet Janices zerbrochene Psyche unerträglich. Kleinkinder wollen immer etwas. Janice hat nichts zu geben, weil sie selbst viel zu bedürftig ist. Sie eliminiert das Hingabe heischende Objekt und damit zugleich eine Konkurrenz um das bißchen Zuwendung, das überhaupt zur Verfügung steht. Endlich keine Ansprüche mehr an ihren Körper. Schluß mit dem Streichelnmüssen, dem Begrapschtwerden. Janice scheint nicht zu wissen, wofür ihre Brüste da sind, ist von Vaginen besessen und wird beim Gedanken an oralen Sex rot. So hatte ich sie ganz und gar nicht in Erinnerung. Das größte Hindernis für die Erstellung eines realitätsnahen psychologischen Persönlichkeitsprofils von Janice Donahue Jensen waren meine eigenen Erinnerungen. Ich hatte sie gekannt, zu einer anderen Zeit, in einer anderen Welt. 158
Wenn das Bild nicht klar wird, liegt es entweder daran, daß die Äußerungen des Probanden keinen Sinn ergeben, also an einer psychologischen Unmöglichkeit, oder daran, daß der Blick des Betrachters getrübt ist. Atmosphärisches Rauschen im Empfänger. Das zu Wahrnehmungsirrtümern und Beurteilungsfehlern führt. In unserem Gewerbe heißt das Ambivalenz. In der Alltagssprache nennen wir es gemischte Gefühle. Ich verspürte Macht über sie und fand Gefallen daran. Vor mir das beliebteste Mädchen der Klasse, der unerreichbare Star, von mir einst errungen und wieder verloren. Und sie hatte mich dort verletzt, wo man in diesem Alter am verletzlichsten ist. Und das sehr tief. Und jetzt hatte ich die Macht. Ich konnte dazu beitragen, daß man sie lange Jahre ins Gefängnis steckte, oder ihr vorübergehend Zuflucht in einer Anstalt verschaffen, aus der sie vermutlich unbeschadet wieder freikam. Will Hardin konnte mir nicht mehr das Wasser reichen. Unsauber. Unbewältigte Geschichten. Und ob meine Ambivalenz altem Besitzverlangen entsprang oder gegenwärtiger Realität, machte wenig Unterschied. Der Nebel verzog sich nicht. Kate präsidierte am Kopfende des Konferenztischs, mit einem Anwaltsgehilfen als Protokollanten. Brice Darling und ich hatten einander über den Tisch hinweg zu mustern. Kein Wunschgegenüber für mich. Nachdem uns ein junger Sekretär mit Kaffee bedient hatte, hob Kate die Hand wie zur Eröffnung einer viel größeren Versammlung. »Wir wollen heute die Verteidigungsstrategie erörtern. Oder vielmehr haben wir uns heute getroffen, damit ich meine Strategie darlege und sehen kann, wo Sie hineinpassen.« Dies mit einem Blick zu uns bei159
den. Obwohl noch kein Wort gefallen war, konnte man schon an dem ionisierten Knistern merken, daß zwischen Mr. Rose und Mr. Darling keineswegs Harmonie herrschte. Sein Anzug von Brooks Brothers kleidete ihn wie eine Perlenkette die Sau. Sein dunkles Haar war mittig gescheitelt und mit Pomade nach hinten gestrichen. Auch die Schnurrbartspitzen waren gewichst. Eine elegante Portion Frühstücksfleisch. Für ihn wiederum war vermutlich mein Tote-Hosen-TShirt genauso ätzend. »Strategie ist natürlich nicht das rechte Wort«, fuhr Kate fort, nachdem sie die Brille abgenommen und sich die Augen gerieben hatte. »Aus Ihnen, meine Herren, besteht im wesentlichen der gesamte Fall. Ich möchte, daß Sie Ihre Unterlagen vergleichen, ob wir einer Meinung sind.« Keiner wollte anfangen, also brach Kate das Eis. »Überraschungen mag ich nicht. Dr. Darlings Gutachten ist klar und aussagekräftig. Paranoide Schizophrenie, schuldunfähig. Sind sie leicht zu erschüttern, Brice?« Er grinste wie ein Nager und schüttelte den Kopf. Ich sah zu, wie Kate etwas niederschrieb, weil ich so den Blickkontakt mit Darling vermeiden konnte. Kate wandte sich an mich. »Dr. Rose.« Das letzte Mal, als sie mich so angeredet hatte, machte sie mich im Gerichtssaal zur Schnecke. »Ich habe noch kein Gutachten von Ihnen und muß daher fragen, ob Sie sich dieser Meinung anschließen.« »Durchaus.« Ich hatte eine Weile nachgedacht, wie ich es ihr sagen sollte. »Aber ich schreibe kein Gutachten mit diesem Tenor, jedenfalls nicht für das Gericht. Und als Sachverständiger kann ich nicht aussagen. Ich hatte von Anfang an Bedenken, mit diesem Fall befaßt zu werden. 160
Ich war mit Mrs. Jensen vor langer Zeit bekannt. Unsere Beziehung war eine Zeitlang mehr als freundschaftlich. Wir haben was miteinander gehabt. Das setzt mich außerstande, eine unvoreingenommene Sachverständigenmeinung über Mrs. Jensen abzugeben. Also bin ich draußen.« »Das kommt recht plötzlich«, log sie vor Darling. Die Schau hatte begonnen. »Haben Sie noch irgendwelche prozeßrelevanten Informationen?« »Ich bedaure, wenn ich Ihnen Ungelegenheiten bereitet habe. Ich enthalte Ihnen nichts vor. Ich glaube nicht, daß meine Beziehung zu Mrs. Jensen in irgendeinem Bezug zu ihrem Fall steht oder stehen sollte. Das war vor langer Zeit. Aber daß ich die Angeklagte von früher kenne, bedeutet schlicht, daß ich passen muß. Ich bin befangen.« Darling gluckste, sicher um mich zu ärgern. Er war drauf und dran, eine geschmacklose Bemerkung zu machen, biß aber die Zähne zusammen und ließ sie nicht raus. Vielleicht hatte er auch einen Kieferkrampf. Kate fand das alles weniger lustig. Sie mußte eine Rolle umbesetzen. »Tut mir leid, daß Sie nicht mit uns arbeiten können, Dr. Rose. Zum Glück habe ich einen Sachverständigen in Reserve, der uns ein brauchbares Gutachten über die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Mrs. Jensen liefern wird. Wenn Sie uns jetzt entschuldigen wollen, wir haben einen Prozeß vorzubereiten.« Plötzlich reute es mich überhaupt nicht mehr, daß ich nicht mehr im Drehbuch stand. Niemand sagte mehr etwas. Von mir wurde ein höflicher Abgang erwartet. Kate hatte sich ihren Notizen zugewandt. Darling, der noch kein Wort geäußert hatte, bot mir die Hand. Ich schüttelte sie und ging aufs Klo, sie zu waschen.
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13 Der Prozeß veranschaulichte den Spruch: »Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin«. So geordnet, korrekt und ausgesprochen höflich ging es zu. Er verlief sogar völlig farblos, bis Janice ihre ganz spezielle Tönung hineinbrachte. Gegeben wurde das Stück in einem muffigen, stickigen Gerichtssaal. Publikum war fast keines vorhanden. Debby, Tommy und ich saßen rechts vom Mittelgang. Ed Donahue teilte sich die andere Seite mit einer Frau, die hektisch in einen Laptop tippte, und drei vereinzelt sitzenden Männern, vermutlich Gerichtsreportern, sowie zwei älteren Damen, die hinter Taschentüchern verstohlen in ihre Schinkenbrote bissen. Rentnerinnen, Gerichtssaalgroupies, Stammgäste in allen Prozessen, bei denen es um Tod oder Verstümmelung ging. Denen wurde schon bald langweilig, weil der Jensen-Prozeß rein formaljuristisch abgespult wurde, deshalb gingen sie sich woanders im Gerichtsgebäude einen blutrünstigeren Mord suchen. So kamen sie um ihr ganzes Vergnügen. Janice saß starr wie eine Barbiepuppe neben Kate am Tisch der Verteidigung. Sie linste kurz zu uns herüber und bewegte zum Gruß die Finger. Kate wies sie zurecht, und sie wandte sich wieder weg, wie in der Schule beim Weitergeben von Spickzetteln ertappt. Die Wahl der Geschworenen ging anstandslos vonstatten, ohne daß eine der beiden Seiten von ihrem Ablehnungsrecht Gebrauch machte. Es herrschte Einigkeit, daß eine Geschworenenschar von halbwegs gebildeten Durch162
schnittsbürgern alle Bedürfnisse erfüllen würde. Die Kernfragen waren medizinisch und sehr speziell, als Zeugen sollten fast nur Gutachter aussagen. Sieben Frauen und fünf Männer, Afroamerikaner, Weiße und Latinos, wurden zusammen mit zwei Ersatzgeschworenen vereidigt. Staatsanwaltschaft und Verteidigung waren zufrieden. Janice suchte zu allen Geschworenen Blickkontakt und verweilte dabei bei den Männern. Sie trug ein Kostüm und hatte das Haar straff nach hinten aus dem Gesicht gebunden, wodurch sie offen und aufrichtig wirkte. Sie machte die Geschworenen nicht direkt an, ließ aber ihre Augen sprechen. Sie flirtete. Während der Anklagebegründung der Staatsanwaltschaft vertrieb sie sich die Zeit mit ihrem Block und Bleistift für Sitzungsmitteilungen an ihre Anwältin. Sie benutzte sie nicht zum Schreiben, sondern klopfte ständig mit dem Bleistift auf den Block und gab so dem Verfahren seinen eigenartig arhythmischen Pulsschlag vor. Der stellvertretende Staatsanwalt Patrick Flannigan, hier als Lamm auf die Schlachtbank geschickt, war in keiner beneidenswerten Lage. Wer es schafft, eine eindeutig geistig gestörte, attraktive Weiße aus der Mittelschicht wegen eines brutalen Doppelmords verurteilen zu lassen, gewinnt damit keinen Blumentopf. Erwartet wurde von ihm allerdings, daß er im Sinne der Strafverfolgung Eifer zeigte. Doch Flannigan hatte seinen zu Hause gelassen. Die Kriminalbeamten sagten über das Schlachtfeld aus, das sie in der Wohnung der Jensens vorgefunden hatten. Im Kreuzverhör holte eine verhaltene Katherine Newhouse eine Beschreibung aus ihnen heraus, in welcher Verfassung sie Janice angetroffen hatten. Eins zu null für die Verteidigung. Ein Assistenzpathologe erläutert den Geschworenen, wie die beiden Opfer zu Tode gekommen waren. Kate entlock163
te ihm das Eingeständnis, daß drei der vier Schüsse in Dennis’ Kopf zuviel gewesen waren. Der erste hatte gereicht. Das gleiche galt für Seans Stichwunden. Schon die erste Verletzung mit dem Fischmesser war tödlich gewesen. Die etwa ein Dutzend weiteren Stiche waren überflüssig. Dann reichte Flannigan die Fotos herum, bei denen mir speiübel geworden war. Alle Geschworenen grimassierten, jeweils auf ihre Art, und zwei der Frauen kämpften mit den Tränen. Bis jetzt erledigte die Staatsanwaltschaft die Arbeit der Verteidigung. Ansonsten hatte Flannigan nur noch Claire DeWitt aufzubieten, Janices Vorgesetzte im Asyl, wo sie Obdachlose betreut hatte. Mrs. DeWitt, eine übergewichtige Matrone Ende Fünfzig, verhielt sich, als wäre sie am liebsten ganz woanders. Sie sagte aus, Janice habe beim Grillfest ihrer Behörde zum vierten Juli, also acht Monate vor dem Doppelmord, ihr gegenüber bemerkt, Dennis habe eine Lebensversicherung über zehntausend Dollar, mit Verdoppelung bei Todesfall in Ausübung dienstlicher Pflichten. Janice habe sich auch zu seiner Pension geäußert. Sie sagte weiter aus, Janice habe »ständig gemeckert«, über ihr Leben mit Dennis und darüber, »daß nie was passiert«. Janice sei allerdings, so ergänzte sie, eine mustergültige Sozialarbeiterin mit der besonderen Fähigkeit, Kontakt zu renitenten Klienten herzustellen, die ihre Obdachlosigkeit als Unrecht empfänden und für ein Feldbett und einen Teller Suppe keine allzu große Dankbarkeit aufbrächten. Solche habe Janice besonders gut beruhigen können. Im Kreuzverhör befragte Kate Mrs. DeWitt, in welchem Zusammenhang die Bemerkungen zur Lebensversicherung und Pension gefallen seien. 164
»Wörtlich hat sie gesagt«, präzisierte Claire DeWitt, eine für die Staatsanwaltschaft zwar nicht negative, aber doch problematische Zeugin, »›schmeißt man die verdammte Versicherungspolice mit diesem Witz von Pension zusammen, wird’s noch nicht mal ein Fliegenschiß‹.« Janice lachte auf, verstummte verschämt und barg das Gesicht in den Händen. Die Geschworenen lachten mit. Kate spürte, wie unangenehm der Frau das war, und stellte nur noch eine letzte Frage: »Wie würden Sie Mrs. Jensen als Mensch beschreiben?« Normalerweise gelten solche offenen Fragen als zu riskant. Aber Kate war keine Spielerin. Mrs. DeWitt überlegte kurz. »Ich würde sagen, sie ist seltsam.« Kate hakte nicht nach, sondern ließ die Worte in der Luft hängen wie einen urheberlosen Pups. Flannigan sah keinen Sinn in zusätzlichen Darlegungen, verzichtete auf weitere Zeugen und erklärte die Beweisaufnahme namens der Staatsanwaltschaft für abgeschlossen. Nun folgte noch die Expertenschlacht. Kates gesamtes Verteidigungskonzept fußte auf Psychopathologie, gestützt auf Albert Stein, einen akademischen Neuzugang in der Welt der forensischen Psychiatrie, und den altgedienten Brice Darling. Beide erklärten, Janice sei zum Zeitpunkt des Doppelmords geistesgestört, sich der Art ihres Verbrechens nicht bewußt gewesen und habe kein Unrechtsbewußtsein gehabt. Kurz, sie erfülle die gesetzlichen Voraussetzungen, wegen Schuldunfähigkeit freigesprochen zu werden. Normalerweise hat die Verteidigung die Aufgabe, mit den Sachverständigen die Grundlage ihrer Gutachten zu erörtern, wodurch diese Gelegenheit zur Vertiefung erhal165
ten. Kate verzichtete darauf. Sie beließ es für die Geschworenen bei den Schlußfolgerungen. Richter Detweiler verkündete eine Verhandlungspause, vermutlich als Reaktion auf die Eintönigkeit; das Mittagessen und Glas Aqua Velva sollten ihn und die in den Stühlen hängenden Geschworenen wiederbeleben. Wir erhoben uns, als die Geschworenen und der Richter aus dem Saal defilierten. Eine Polizistin trat zu Janice, um sie in die Haftzelle zu führen. Janice wechselte ein paar leise Worte mit ihr, trat an die Schranke und winkte mich mit dem Zeigefinger zu sich. Ich ging nach vorn und war froh, daß das lackierte Holzgitter eine Umarmung verhinderte. Janice faßte mich an beiden Händen. »Wieso darfst du mit mir reden?« wollte ich wissen. Normalerweise wurden Angeklagte rasch hinausgebracht und durften mit niemanden Rücksprache halten. »Ich hab ihr gesagt, du bist mein Therapeut.« Ich blickte zur Gerichtspolizistin, die mir Verständnis zunickte. »Ich bin so glücklich, daß du gekommen bist. Es gibt mir das Gefühl, daß mich jemand mag. Danke schön, Simon.« »Das alles ist sicher nicht einfach für dich«, murmelte ich die Routinephrase für Beerdigungen und Mordprozesse. »Ach ja, es ist das Härteste, was ich je durchmachen mußte.« Sie wirkte taufrisch. »Ich glaub, ich geh an der Sache noch kaputt.« Sie preßte meine Hände und ergab sich der Gerichtspolizistin. Die Frau, die auf den Laptop eingehackt hatte, wartete, bis Janice sicher hinausbegleitet war, bevor sie zu mir herüberkam. Ich dachte, sie wolle ein Interview. 166
»Dr. Rose, ich bin Jemma Marin.« Sie streckte mir die Hand hin. Sie war hübsch auf diese sanfte, unaufdringliche Art, der ich anscheinend nicht widerstehen kann. Tiefbraunes, nach hinten gebürstetes Haar, angenehme Ausstrahlung ihres semitisch bräunlichen Teints. Sie war von schlanker und schmaler Statur und trug einen unauffälligen braunen Hosenanzug mit einem wunderschönen sienafarbenen Schal über den Schultern. Kein Make-up. Kate hatte recht mit ihrer Bemerkung, sie sei genau mein Typ. »Eigentlich hatte ich erwartet, daß Sie heute aussagen.« »Ging nicht«, erläuterte ich, abweisender als beabsichtigt. Ich war nicht in Gesprächslaune, was Jemma sofort spürte. »Na gut.« Sie stopfte ihre Sachen in die Handtasche. »War nett, Sie kennengelernt zu haben.« War es nicht. »Mal sehen, ob ich auch für die zweite Hälfte einen Sitzplatz kriege.« Die Mittagspause war an Janice nicht spurlos vorübergegangen. Die Frisur ließ sich nicht mehr unter das Barett zwingen. Strähnen hingen ihr ins Gesicht. Sie blies sie ärgerlich beiseite. Das Kostüm wirkte immer noch wie frisch gebügelt, doch die Frau darin war sichtlich gewelkt. Sie klopfte auch nicht mehr mit ihrem Bleistift den Takt, sondern rollte ihn in den Fingern wie Captain Queeg von der Caine seine Stahlkugeln. Sie nestelte am Schulterriemen von Kates Handtasche über der Stuhllehne. Sie konnte einfach nicht stillsitzen. Kate beachtete sie nicht und konsultierte ihre Notizen. Vielleicht lag es auch gar nicht an der Mittagspause. Vielleicht machte es Janice nervös, daß sie gleich die Sachverständigen der Staatsanwaltschaft hören würde. Bisher hatte noch niemand Beweiskräftiges gegen ihre 167
Version der Wahrheit vorgetragen. Sie wußte jedoch, daß diese Sachverständigen dem Gericht darlegen würden, warum sie nicht schuldunfähig war. Dr. Chen, ein leutseliger Psychiater aus Korea mit nicht ganz fließendem Englisch, ordnete sie als schizotypisch persönlichkeitsgestört ein, mithin in eine Kategorie, die der Katalog der juristischen Definition von Schuldunfähigkeit nicht umschließt. Er ergänzte seine Diagnose um den Aspekt einer zeitweiligen reaktiven Psychose. Ein anfechtbares Gutachten. Kate legte los: »Doktor Chen, seit wann praktizieren Sie als Psychiater in den Vereinigten Staaten? Das heißt, wann wurden Sie zugelassen?« »Vor drei Monaten.« »Ließe sich Ihre Diagnose förmlich als psychotische Störung mit schizotypischen Merkmalen formulieren?« »Ja, ich glaube, das ist das gleiche.« Soviel zu Dr. Chen. Nichts, was gegen Janice sprach. Und nur noch ein weiterer Sachverständiger sollte gehört werden. Aber Janice war ein Nervenbündel. Sie fummelte an Kates Handtasche herum. Sie stach sich mit dem Bleistift in die Frisur. Und begann mit dem Oberkörper zu pendeln. Dr. Benito Falconi, ein gravitätischer Herr aus Südeuropa, sprach, als sei dies sein erster Besuch in Manhattan nach langer babylonischer Gefangenschaft in Brooklyn. Aber er redete gern, und Flannigan gab ihm dazu auch Gelegenheit. Er handelte ihre Kindheit, Jugend und ihr Erwachsenenleben ab, als sei Janice gar nicht anwesend. Jede Episode diente zur Untermauerung seiner Theorie über den Doppelmord. Janice, eine manisch-depressive Persönlichkeit, habe dabei aller Wahrscheinlichkeit nach das seelische Gleichgewicht und zugleich das Urteilsvermögen verloren. 168
Der Totschlag sei im Affekt begangen worden, nicht im Zustand der Schuldunfähigkeit. »Der Schlüssel zum Verständnis von Mrs. Jensen ist ihr Verhältnis zu ihrer Mutter«, erläuterte er. »Margery Donahue war eine schwierige, übellaunige Frau, die sich massiv in das Leben ihrer Tochter einmischte, es sozusagen beherrschte, wie es viele alkoholkranke Mütter tun. Mrs. Donahue ist während der gesamten Kindheit von Mrs. Jensen Alkoholikerin gewesen …« Und weiter kam der gute Doktor nicht. Janice stand auf. »Wenn Euer Ehren gestatten«, unterbrach sie, als sei sie die Anwältin. Sie schlüpfte an Kate vorbei, die vergeblich nach ihrem Ärmel haschte, und trat vor den Richtertisch. »Er hat nicht das Recht, so über meine Mutter zu reden. Über mich kann er sagen, was er will, aber ich glaube nicht, daß er so über meine Mutter reden kann.« Sie drehte den Bleistift heftig zwischen den Fingern und stand derart unter Hochspannung, daß sich die Luft im Gerichtssaal elektrisch auflud. Richter Detweiler, erstmal baff ob solchen Benehmens in seinem Gerichtssaal, blickte auffordernd zu einem Gerichtsdiener hinüber, der aber nichts merkte. Schließlich mahnte er: »Mrs. Jensen, bitte setzen Sie sich. Sie werden noch reichlich Gelegenheit haben, zu Ihrer Verteidigung auszusagen.« Janice warf über die Schulter einen Blick direkt zu mir, als müsse sie mich dringend etwas fragen. Dann wandte sie sich wieder zum Richtertisch hinüber. Und plötzlich schrie sie los. »So kann er nicht über meine Mutter reden!« Das Getöse ließ alle hochschrecken. Der Gerichtsdiener kam zu sich, aber nicht schnell genug. Mit einem Spurt und einem Vorstoß, der nur Sekundenbruchteile brauchte, sprang Janice zum Zeugenstuhl 169
und rammte Falconi ihr Knie zwischen die Beine, worauf dieser sofort beidhändig sein Geschlecht umfaßte. Dann hob sie den Bleistift und stieß ihn Falconi ins rechte Auge. Blut spritzte rot auf ihre Hand. Der Bleistift blieb stecken. Janice taumelte zurück und fiel vor der Geschworenenbank auf die Knie, während Falconi brüllte und den Bleistift herauszuziehen suchte. Der Gerichtsdiener, jetzt hellwach, schrie in den Flur um Unterstützung. Janice kreischte: »So helft mir doch! Daddy, hilf mir! Simon, hilf mir!« und streckte flehend die blutigen Hände aus. Ed Donahue klebte entgeistert auf seinem Sitz. Also sprang ich hin. Sie griff nach meinen Knöcheln und schmierte mir dabei Blut auf die Hose. »Hilf mir, Simon!« Sie brachten sie fort und jemand versorgte Dr. Falconi, der für seine Aussage sein rechtes Auge gegeben hatte. Kate rollte zu mir. »Ich glaube, damit ist die Sache gegessen.« Und so war’s. Es folgten Anträge auf Einstellung wegen Verfahrensfehlern, abgelehnt, Erörterungen im Richterzimmer, die Schlußplädoyers, und schließlich kam Richter Detweiler dazu, die Geschworenen zu instruieren. Niemand war überrascht, als die Geschworenen ein paar Tage nach Janices blendender Entgleisung nach nur eineinhalb Stunden Beratung, wohlweislich außer Reichweite der in ihrer Haftzelle einsitzenden Angeklagten, im Verfahren des Staates New York gegen Janice Donahue Jensen mit dem Urteilsspruch nicht schuldig mangels SchuldFähigkeit hereinkamen. Janice wurde in den Gewahrsam der Behörde des Staates New York für seelische Gesundheit zur Beobachtung und Behandlung für einen Zeitraum von nicht weniger als 170
sechs Monaten überstellt, wonach ihr Zustand erneut zu beurteilen sei. Ob Justitia Genugtuung erfahren hatte oder vergewaltigt oder gar hingemordet worden war, blieb dabei offen.
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14 Der Prozeß hatte mein unbewältigtes Verhältnis zu Janice geklärt, oder zumindest glaubte ich das. Ich konnte das Erlebte nicht richtig verarbeiten und blockte die blutigen Bilder bewußt ab. Oft rieb ich mir die Augen, voll Dankbarkeit, daß ich noch beide besaß. In Erinnerungsblitzen sah ich Falconi immer wieder den Bleistift rausziehen und bewußtlos im Zeugenstuhl zusammensacken, ein müßiger Versuch, das Geschehene abzumildern, denn der Bleistift war dringeblieben, und Falconi hatte nur immerfort gebrüllt. Und dann noch Janices blutverschmierte Hände an meinen Hosenaufschlägen. »Simon, hilf mir!« Ich gab die Hose in die Reinigung, weil ich aber meine Psyche nicht mit abgab, konnte ich sie trotzdem nicht mehr tragen. Ich schmiß sie in den Müll und beschloß, Janice zu vergessen, und alles, wofür sie stand. Schließlich war ich noch für anderes zuständig, etwa Arbeit und Anhang. Meine Arbeit nahm eine entschiedene Wendung zum Sexuellen. Kurz nach Janices Prozeß beauftragte mich eine Trebegängerin ohne Geld und festen Wohnsitz, die von einem Burschenschafter aus bestem Hause auf einer Party vergewaltigt worden war. Sie meinte, bei ihren Verhältnissen werde wohl nie Anklage erhoben und schon gar kein Täter verurteilt. Aber wenigstens schildern wollte sie ihren Fall dürfen. Ich hatte den Schweigekodex der Bundesbrüder gegen mich, doch ich schaffte es. Ich machte etliche junge Frauen ausfindig, die ebenfalls auf der Party gewesen wa172
ren und sich nicht an den Kodex gebunden fühlten, denn jeder von ihnen hätte dasselbe passieren können. Es sah ganz so aus, als würde es zum Prozeß kommen. Außerdem wurde ich von einem smarten Vorstandssprecher einer Brokerfirma an der Wall Street verpflichtet, dessen Tochter Mißbrauchsvorwürfe erhob. Er wollte ein paar Beweise vom Psychiater, daß sie offensichtlich an Wahnvorstellungen litt, damit er ihr »helfen«, das heißt sie auf Langzeiturlaub in eine private Klapsmühle verfrachten konnte. Ich verlangte ein schwindelerregendes Honorar. Nach der ersten Sitzung mit der Tochter und auf ihre Version hin erstattete ich ihr die ganze Summe. Sie legte sie an, um einen Zivilprozeß und ein Strafverfahren gegen den Vater in Gang zu setzen. Debby arbeitete an ihrer neuen Beziehung. Das Hunter College war in Semesterferien, und sie hatte sich den Sommer freigenommen, um mit Bobby zusammenzusein und über ihr weiteres Leben nachzudenken. Hörte sich ganz vernünftig an. Sie wirkte irgendwie gestärkt, selbstsicher und zugleich selbstkritischer. Mehr kann ein Vater nicht erwarten, und ein Therapeut erst recht nicht. Zwar hätte ich immer gern ihren Freund kennengelernt, aber sie weigerte sich glatt. Ich sah keinen Grund, warum sie ihn mir vorenthielt. Debby aber sehr wohl. »Du lernst ihn schon noch kennen, wenn es soweit ist.« Sie hob die Hand, jede weitere Erörterung unterbindend. Generell kamen wir gut klar, eher freundschaftlich, gar nicht wie Familie, zumindest wie keine mir bekannte. So konnte ich mich ohne Bedenken in meine Arbeit vergraben und Janice dabei in eine finstere Ecke meines unterbewußten Gedächtnisspeichers verbannen. Dann, als der Sommer ereignislos in den Herbst überging, erhielt ich Post von ihr. 173
Hallo, Simon, wie kommt’s, daß Du mich nie besuchst? Es ist jetzt schon fünf Monate her. Du fehlst mir. All diese Interviews und Tests bei Dir haben solchen Spaß gemacht. Diese Gespräche haben Türen in mir aufgestoßen, die allzu lange verschlossen gewesen sind. Ich merke, daß ich mich endlich meinen Dämonen stelle, und das habe ich nur Dir zu verdanken. Ich muß kämpfen, doch ich kriege die Oberhand, langsam, aber sicher. Zum Reden habe ich den netten jungen Arzt hier. Ich glaube, er mag mich echt. Er meint, der Weg zur Heilung sei nicht immer glatt. Er hat mir verstehen geholfen, daß Höhen und Tiefen unvermeidlich sind. Aber ich reite die Wellen ab und erfahre dabei täglich Neues. Eines schönen Tages fasse ich vielleicht so viel Mut, daß ich Dich anrufe. Derweil hilft mir schon die Gewißheit, daß Du wieder in mein Leben getreten bist. Danke für alles, was Du für mich tust. Schön, daß es Dich gibt. Bis bald, in Liebe Jan Mir war nach der Lektüre irgendwie mulmig. Da stimmte doch rein gar nichts. Ich nahm den Brief mit zu der Person, die es mehr als jede andere verdient hatte, mein Unbehagen zu teilen. Schließlich hatte sie mir die Sache eingebrockt. Ich traf Kate allein an, beim Imbiß in ihrem Besprechungsraum. Sie kaute abwesend, in einen Konzeptblock vertieft. »Gesellschaft gefällig?« bot ich mich an. Sie las die Seite zu Ende und blickte dann lächelnd auf. »Grade suche ich nach einer Ausrede, Pause zu machen. Iß ’nen Happen mit. Da steht was.« 174
»Mit Vergnügen.« Ich beugte mich hinunter und küßte sie, keine Luftküßchen, sondern ordentliche Schmatzer auf beide Backen. Nicht dieses So-tun-als-ob wie bei Schikkimicki. Der erste Wangenkuß machte mir Lust auf den zweiten. Kate wischte sich die Mayonnaise vom Mund, bevor sie mich zurückküßte. Sie trug eine fliederfarbene Seidenbluse mit Spitzenmanschetten und passendem halsoffenen Kragen. Der Leinenrock war von einem etwas satteren Lila. Sie blickte ruhig und gelassen, und sie hatte die Haare hinter die Ohren gebürstet, nicht festgesteckt. »Hübsch siehst du aus«, sagte ich. »Überrascht dich das? Ich versuch immer so auszusehn.« »Nein. Aber ich mag die Bluse. Läßt gerade so viel Schulter sehen wie nötig.« Ich verfolgte ihre Halslinie bis zum ersten Knopf, wo der Stoff die Haut zu bedecken begann. Kate zeigt nie zuviel Dekolleté und ist darum nicht weniger sexy. »Willst mich wohl veräppeln? Ich kann’s nicht leiden, wenn man mich wegen meiner Klamotten veräppelt.« »Ganz und gar nicht. Ich hab gesagt, daß du hübsch aussiehst, weil ich mir gedacht hab, daß du heute ganz besonders adrett bist. Wenn du meinst, ich will damit sagen, daß du sonst immer beschissen aussiehst, bist du halt keine Komplimente gewöhnt.« Ich schielte auf das, was sie aß, um festzustellen, ob ich was davon abhaben konnte. Normalerweise ißt sie Sandwiches mit Aufschnitt von Tieren, und das ist nichts für mich. Wegen der Salatsoße konnte ich es nicht so genau sagen, aber die Chancen auf Tofu standen schlecht. »Was ist da drauf?« »Ich hab ein Club-Sandwich bestellt, also ist wohl Putenfleisch und Schinken drauf. Was ist dir lieber?« 175
Kate hat ähnliche Ernährungsgewohnheiten wie Tommy. Sie ißt, um was im Magen zu haben, ohne Rücksicht auf Fettstufe oder Cholesteringehalt. Ich als strenggläubiger Anhänger von Du-bist-was-du-ißt habe schon vor vielen Jahren beschlossen, nichts mehr zu mir zu nehmen, was eine Mutter gehabt hat. Kate allerdings verschwendet keinen Gedanken daran, von wem ihr Futter abstammt. »In deinem Sandwich ist so viel Fett, daß es für einen ganzen Monat reicht. Du solltest mehr darauf achten, was du zu dir nimmst.« Wir Vegetarier neigen dazu, Moral zu predigen. Sie reckte sich. Sie war schlank und muskulös, Fettpölsterchen nur an den richtigen Stellen. »Siehst du auch nur ein Gramm überflüssiges Fett an diesem Body?« »Eins zu null für dich.« »Soll ich Peter um ein paar gebratene Pflanzenfasern ins Reformhaus schicken?« Peter war ihr Anwaltsgehilfe. »Nein, muß nicht sein. Ich guck dir zu.« »Genau das befürchte ich.« Sie drückte eine Taste am Telefon und bat Peter, mal schnell zum Inder rüberzulaufen. »Was hättest du gern?« »Auf Spesen?« »Klar.« »Dann Grillgemüse, den Schlemmerteller.« Kate rümpfte die Nase, gab Peter aber dennoch den Auftrag. Zehn Minuten später mampften wir beide unbeschwert. Wir plauderten über Politik, hauptsächlich die Wahlen. Keine Meinungsverschiedenheiten, konfliktfreies Terrain. Ich provoziere niemand beim Essen, am allerwenigsten mich selbst. Aber hinterher war es dann Zeit, die Abgeklärtheit in Kates Gesicht durch eine mißbilligend gekräu176
selte Oberlippe zu vertreiben. Ich setzte an. »Ich hab Post von Janice bekommen.« »Ja? Ich auch.« »Meine ist seltsam. Gefällt mir nicht.« Ich reichte ihr den Brief. Sie las ihn aufmerksam. »Was paßt dir nicht?« »Alles unpassend. Für was bedankt sie sich? Ich hab nichts getan. Und dieses ›Bis bald, in Liebe, Jan‹, was soll das, zum Kuckuck noch mal?« »Der Seelenklempner bist du. Ich find’s überhaupt nicht seltsam. Sie hat mir fast das gleiche geschrieben. Es läuft gut für sie. Warum soll sie uns das nicht schreiben? Dieses ›Bis bald, in Liebe‹ darf dich nicht überraschen. Sie steht auf dich. Mußt du doch inzwischen geschnallt haben.« »Nein!« Ich schüttelte den Kopf, vielleicht ein bißchen zu heftig. »Es ist nicht korrekt. Unpassend. Es ist irgendwie …« Ich suchte nach dem richtigen Wort, fand aber nur »… verrückt«. »Na so was. Simon, wenn die nicht verrückt ist, dann keine. Der Richter weiß es, die Geschworenen wissen’s und jetzt sogar Falconi. Sie hat ’nen Jagdschein. Ich kann mir nicht denken, warum dich ein bißchen unpassendes Verhalten stört. Was erwartest du denn von ihr, etwa Normalität?« »Ich erwarte überhaupt nichts«, behauptete ich. »Na, hättest du sollen, und hättest du wohl auch, wenn du nicht so einen Gefühlsstau hättest. Merkst du überhaupt, daß du bis auf ein paar taktlose Witzchen über Bleistifte kein Wort über sie verloren hast, seit das Urteil vorliegt? Ist nicht deine Art. Sonst hättest du jede Sekunde dieses Prozesses seziert. Aber seit Monaten verlierst du kein einziges Wort über sie. Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, das Problem hast du, nicht Janice.« 177
»Wie das?« »Sieh mal, Janice ist ein trauriger Fall. Ihre Mutter war Alkoholikerin und überstreng. Du weißt doch, was das bei Menschen anrichtet. Ist doch kein Geheimnis, daß ein pathologisches Mutter-Tochter-Verhältnis Schizophrenie erzeugen kann. So was macht verrückt. Weiß ich doch.« »Kate, du siehst nicht den springenden Punkt.« »Welchen denn?« »Der springende Punkt ist, daß sie wieder eine Beziehung mit mir haben will.« Ich strich mir mit der einen Hand über den Bart und nestelte mit der andern an meinem Pferdeschwanz. »Shit. Ich weiß nicht.« »Aber ich, weil ich dich schon öfter so erlebt hab. So bist du bloß, wenn du deine Hausaufgaben nicht gemacht hast. Du weißt doch noch, du bist aus ihrer Verteidigung raus, weil du keine ›saubere‹ Stellungnahme abgeben konntest. Na, kannst du immer noch nicht. Wenn ich du wäre, würde ich heimgehen, einen Joint rauchen und mir das auseinanderklamüsern. Hau schon ab. Ich muß arbeiten, und du machst mich mit deinem Rumgenestle nervös.« »Ich nestle nicht rum. Mach ich nie.« Ich stand auf, sammelte meine Essensreste ein und warf sie in den Abfall, weil ich in Kates Arbeitsbereich keinen Müll hinterlasse. »Ich führ dich heute abend zum Essen aus. Wie wär’s mit Vietnamesisch?« »Ich kann nicht, hab ’ne Verabredung.« »Wieder ein Kuscheltier? Wer ist der Glückliche?« »Laß diesen inquisitorischen Ton. Kümmer dich lieber um deine eigenen Probleme. Laß von meinen die Finger.« Ihre Oberlippe war entspannt, nicht mal die Andeutung eines Kräuselns. Und dabei steht sie doch auf Vietnamesisch. 178
Ich gab ihr einen Abschiedskuß und ließ sie allein, damit sie und ihre arme Leber den Cholesterinstoß abarbeiten konnten. Gefühle stören mich nicht. Hab ich ständig. Aber mit Verwirrung werde ich nicht fertig. Eine unaufgeräumte Psyche ist eine Todsünde bei einem Seelenklempner, dem sein hippokratischer Eid nur gelinde Ambivalenz erlaubt. Ich merkte meine Verwirrung deutlich, wenn ich mir überhaupt gestattete, was zu merken. Kate hatte zumindest in einem recht: Ich hatte mich lange genug darum gedrückt. Ich mußte die Sache mit meiner Familie erörtern. Zum Beispiel mit Debby. Als ihr Sondervater, der ich war, hätte ich das ganze Erlebnis längst mit ihr durchgehen sollen. Bestimmt hatte auch sie Empfindungen zu dem, was wir gemeinsam im Gerichtssaal erlebt hatten. Zum einen hatte sie selbst im Zeugenstuhl gesessen. Und zum anderen hatte Janice ihr Kind umgebracht und Debby fühlt sich, als hätte sie dasselbe verbrochen. Aber statt Gewissenserforschung hatte ich Schweigen gewählt, eine egoistische Entscheidung, wenn man in keiner Glaskugel lebt. Ich war meiner Tochter keine Hilfe. Ich zog sie in den Fenstersessel und zeigte ihr den Brief. »Lieber Gott, ist ja gruslig. Da krieg ich irre Gänsehaut.« »Magst du mit mir über den Prozeß reden, so lange danach?« »Sicher«, bejahte sie eifrig. Klar hatte sie das Gespräch gesucht, aber ich hatte nicht hingehört. Sie rutschte hinunter zu Tupelo und kraulte sie abwesend. »Die ganze Szene war abartig. Scheiße noch mal. Ich war bloß froh, daß ich nicht da oben im Zeugenstuhl sitzen mußte. Einmal reicht. Fürs ganze Leben. 179
Bloß daß Janice mich so stark an meinen Vater erinnert hat, wie er gewesen ist, an dem Abend damals. Sie war wie woanders, weggetreten, nicht wirklich da, als gucke sie nur zu, ganz von fern aus dem eigenen Kopf. Ich hab sie beobachtet, und ich hab wieder Daddy gesehen. Dieser Blick, kurz bevor sie den Psycho gestochen hat, den kenn ich. Von Daddy.« Sie schauderte, und das Zittern ging mir durch und durch. »Ich sehe sie vor mir, wie sie spreizbeinig dasteht und ihren Mann erschießt, peng, peng, peng, peng.« Pantomimisch stellte Debby nach, wie Janice ihrer Meinung nach vorgegangen war. »Mein Problem ist, daß ich auch sehe, wie sie das Messer nimmt und ihren Sohn ersticht.« Den Kindesmord stellte sie nicht pantomimisch dar. Wieso konnte sie sehen, wie Janice ihren Sohn tötete, und ich nicht? Wieso erfaßte sie etwas im Verhalten von Janice, wo ich als der angebliche Fachmann so konfus war? Mir war der Blick getrübt. Ich war nicht gerade deprimiert, aber etwas in der Art machte mir die Sinne stumpf. Und mir entging das Entscheidende an dem, was Debby gesagt hatte. Wieder ein Signal überhört. Von ihrem Vater sprach sie sonst nie. Ich rief Tommy an und lud ihn zu Hefekringeln und einem Gespräch zu mir. Selbstverständlich werde er kommen, wie immer, wenn es umsonst was zu essen gab. Tommy machte es sich in der Kopfwerkstatt gemütlich und entkorkte eine Flasche kalifornischen Burgunder, den er mit Debby trinken wollte. Debby und ich machten uns Hefekringel mit Tofu und Sojasprossen, Tommy häufte sich Krakauer mit Dijonsenf auf Pumpernickel, und Tupelo lauerte geduldig, was für sie abfiel. Wie immer war Tommy als erster mit essen fertig. Er zündete sich einen Joint an und las den Brief von Janice. 180
Er gefiel ihm gar nicht, wie ich an der Tatsache erkennen konnte, daß er an seiner Tüte zu ziehen vergaß und sie neu anzünden mußte. »Also, du willst jetzt endlich meine Geschichten von Janice hören. Schön, ich hab ’nen ganzen Jauchewagen voll.« »Ist auch höchste Zeit«, mischte sich Debby ein, die endlich wissen wollte, worüber ich so hartnäckig schwieg. Tommy reichte mir den Joint weiter, und ich winkte ab, eine Seltenheit. »Mein lieber Bruder Simon, das muß ja was Ernstes sein. Hier in der Hand hab ich die beste Sinsemilla von hier bis Hawaii, und mir scheint, du willst nicht mal dran ziehn. Am besten, du machst jetzt endlich den Mund auf und redest dir die Sache von der Seele, wenn du weißt, was ich meine. Los, erzähl schon, wie hat’s dich angemutet?« Debby gackerte. »Was denn?« »Der Prozeß, haben sie richtig entschieden?« »Wahrscheinlich. Janice ist eine sehr gestörte Frau.« Tommy lehnte sich zurück und verzog sein Mondgesicht zu einem breiten Grinsen. »Verwett bloß nicht Oma ihr klein Häuschen drauf, Sigmund. Sonst müßtest du als Rentner in die Armenviertel in der South Bronx ziehen. Du siehst die Pottsau völlig falsch.« Tommy nannte nicht alle Frauen so. Nur eine besondere Gattung. Er bot den Joint Debby an, die ebenfalls abwinkte, zog noch ein paarmal daran und lieferte uns dann sein Charakterbild von Janice: »Janice Donahue ist restlos verkorkst. War sie schon immer. Hat Sachen geklaut, bloß um es den andern zu zeigen. Das meiste hat sie Freunden und Freundinnen gemopst. Klamotten, Schallplatten, Andenken, lauter so ’n Zeug war verschwunden, wenn Janice über Nacht geblieben war. War allen bekannt, aber wer, Scheiße noch 181
mal, hätte groß was machen sollen? Ihr Papa war Lehrer, und ihre Mama war grade gestorben. Also hat niemand was gesagt, und sie hat ihre Freunde weiter ausgenommen. Sie hat gesoffen wie ein Loch und gerammelt wie ein Karnickel, und alles drehte sich nur um die Nummer eins, um sie selber. Das ist es, was ich an ihr überhaupt nie leiden konnte. Wenn sie was wollte, hat sie sich’s genommen, ’ne richtige Sammlerin. Aber willst du wissen, was sie sich am liebsten gegriffen hat? Lieber als alles andere? Du weißt’s nicht, also sag ich’s dir: Kerle. Sie hat Kerle gesammelt wie andere Teenager Pickel. Tut mir leid, Debs.« »Ich bin kein Teenager mehr, und ich hab keine Pickel.« »Jedenfalls war sie bei keinem Kerl wählerisch, solange er nur mit einer andern ging. Dann war sie hinter ihm her, mit ihren Titten, mit der Muschi, mit Schnaps, mit allem, was zog. Wem sie damit weh tat, war ihr scheißegal. War ihr ’ne Herzensfreude, die Girls zu beobachten, wenn sie ihnen die Kerle ausspannte. Was sie gereizt hat, war die Macht. Und ihr Sportsfreund hat’s entweder nicht gemerkt, oder es war ihm schnurz.« »Woher weißt du das alles«, fragte ich, »ich bin doch auf dieselbe Schule gegangen, auf die gleichen Partys, und ich soll nie was gemerkt haben?« Ganz zu schweigen davon, daß Janice und ich miteinander vertraut gewesen waren. »Ganz zu schweigen davon, daß du mit ihr gebumst hast«, echote Tommy meine Gedanken. Debby verschluckte sich am Wein. Diese Pikanterie hatte ich ihr vorenthalten. »Das alles beweist nur eines, großer Bruder: Du bist nicht schon immer so ein tiefernster Durchblicker gewesen wie heute. Am Anfang warst du wie wir alle, nur ein dummer Junge.« »Weißt du noch mehr?« ermunterte ihn Debby. 182
»Massig. Sie hatte ’ne Sammlung gebrauchter Präser.« »Igitt«, stöhnte Debby. »Keine Ahnung, was sie mit denen wollte. Vielleicht hat sie sie beschriftet und ins Poesiealbum geklebt.« »Aber das flunkerst du jetzt doch?« Ich hatte meine Zweifel. »Beleidige meinen aufrechten Charakter nicht! Sie war halt nicht besonders lieb, sondern ein kleines Dreckstück. Ich hab nie begriffen, was du in ihr gesehen hast. Du hast ’nen ganzen Sommer mit ihr verbracht.« »So ungefähr.« Jetzt ging es mir doch an die Nieren. »Laß mich noch so ’nen Ding erzählen. Keine Ahnung, warum ich mich gerade jetzt daran erinnere. Doch, jetzt weiß ich’s wieder. Es hat mich angekotzt, deshalb. Es war irgendwo auf so einem beschissenen Tanzvergnügen. Ich sollte ihr ein bißchen Alk organisieren. Unser Verhältnis war rein geschäftlich. Ich hab ihr Zeugs beschafft, an das sie mit ihren Klaumethoden nicht rankam. Sie hat mir Prozente gegeben. Nichts Riesiges. Geschäft eben. An dem Abend war sie schon völlig stramm, aber sie wollte mehr. Ich sag zu ihr, in ’ner halben Stunde vor der Tür. Sie kommt also raus, nimmt die volle Flasche Jim Beam und bietet mir ’nen ordentlichen Hieb an. Den gurgel ich runter. Da packt sie mich am Kopf und küßt mich, ’nen Zungenkuß. Sie geht ran, als hätte sie jahrelang keinen Mann gehabt.« Er wandte sich zu Debby. »Wird noch übler. Hör lieber weg.« »Spinnst du? Weghören, bei so was?« »Okay, deine Sache. Jedenfalls krieg ich ’nen Steifen, und sie geht her und rubbelt. ›Ficken?‹ vergewisser ich mich, weil, ich bin sonst überhaupt nicht ihr Typ. Wir treffen uns immer auf Parkplätzen und Schulaborten. ›Ich hab 183
keine Penunze für den Jim Beam‹, erklärt sie, schlecht für mich, denn ich hab’s vorgestreckt, in bar. Also geht sie mitten auf dem beknackten Parkplatz auf die Knie, macht mir den Hosenstall auf und fängt an zu lutschen. ›Dein Auto oder meins?‹ fragt sie, so richtig niedlich. Sie will’s mir besorgen, für ’ne beschissene Halbliterkeule Jim Beam.« Mein Voyeurismus gewann die Oberhand, wider bessere Einsicht. Ich fragte: »Und, hast du’s gemacht?« »Mann, hast du ’ne Meise?« Ich kam ins Grübeln, was Janice in diesem Sommer wohl von mir gewollt hatte. Ich war damals mit keiner anderen gegangen. Alk hatte ich ihr auch keinen beschafft. Ein Kondom hatten wir nicht benutzt. Und soweit ich mich erinnerte, hatte sie mich nie beklaut. Die Gartenrechen waren noch alle vorhanden, als sie den Abgang machte aufs College. Was war ich also für Janice gewesen? Sie hatte es mir ja gesagt. Ihr Anker. Ein Anker hält das Schiff. Er zieht auch in eine bestimmte Richtung, runter in den Schlick … Je länger ich mir alles durch den Kopf gehen ließ, desto konfuser wurde ich. Kate meinte, Janice sei ein trauriger Fall, Tommy hielt sie für eine Soziopathin, Debby für eine Irre. Und ich wußte immer noch nicht, was ich selbst von ihr hielt. »Scheiß drauf«, schloß ich die Diskussion. »Sie sitzt für ’ne geraume Zeit in der Klapsmühle. Den Brief hefte ich ab, für alle Fälle. Kein Grund, die Sache jetzt zu vertiefen.« »Hoffentlich hast du recht, Sigmund.« Tommys Worte tropften in unser Schweigen. 184
ZWEITER TEIL Schuldfähigkeit
15 »Brauchst du Hilfe?« erkundigte sich Tupelo. Ihr Angebot hatte einen Grund. Seit Tagen tappte ich durch grauen Nebel, der sich einfach nicht lichten wollte. »Wobei?« »Bei Janice.« »Nein, danke.« »Kneifen gilt nicht.« »Ich hab gesagt: nein, danke.« »Simon, die treibt dich um. Riecht doch jeder Hund. Sie macht dich scharf.« »Wer macht mich scharf?« »Janice. Um die geht es doch, oder?« »Nein, meinst du bloß.« »Dann red halt mit mir. Wird dir guttun.« »Tupelo, Platz!« befahl ich, damit klarstellend, wer bei uns der Herr ist und wer der Hund. Sie rollte sich ein auf ihrem Teppich, leicht eingeschnappt, knurrte noch: »Und ich hab doch recht« und steckte die Schnauze untern Schwanz. »Ich red erst weiter, wenn du wieder bei Sinnen bist.« »Noch was?« bellte ich, doch Tupelo war schon am Pennen. Der kurze Schlagabtausch hatte das Durcheinander in mir nicht geklärt. Nach einer Woche, die ich potrauchend 186
im Erker meinen Gedanken nachgehangen hatte, war mir die Sache noch immer nicht so recht klar, und ich hatte nur meine schmerzlichen Erinnerungen als Ausgangsbasis. Beim bloßen Gedanken an Janice erstickte ich fast am alten Miasma des ewigen Nichterwachsenwerdens. Mir dämmerte allmählich, was für ein hormonüberfluteter Irrwisch ich damals wohl gewesen sein mußte. Mir gefiel gar nicht, was ich sah – Frust, Sehnsucht, Enttäuschung, Alleinsein – der altbekannte juvenile Seelenschmerz. Und weit und breit kein schönes Gefühl. Wer machte denn bei klarem Verstand einen Köpfer in diesen Gully der Gefühle? Warum sollte ich jetzt, erwachsen, gereift und gründlich psychoanalysiert, noch einen solchen Sprung riskieren? Ich doch nicht. Keine Chance. Außer, ich wurde geschubst. Ich brauchte nicht lange zu warten. Debby hätte die nächste Aufdringlichkeit abgewimmelt, wäre sie zu Hause gewesen. Aber in letzter Zeit war sie kaum noch zu Besuch. Sie verbrachte mehr Zeit mit Bobby als mit mir. Ich war allein und mußte selber ans Telefon. Das Telefon kotzt mich an. Selber jemand anrufen tu ich nur, wenn ich verzweifelt bin. Ich hätte mich ganz abnabeln können, mit irgendeinem Schwindel auf dem Anrufbeantworter, aber ich wollte wenigstens ab und zu Debbys Stimme hören. Und manchmal klingelt das verdammte Ding eben, und ich heb ab. So kam es dazu. Es klingelte. Ich hob ab. »Hallo, Simon. Hör zu, ich hab bloß fünf Minuten. Tust du mir einen Gefallen?« Genau das ist es, was mich am Telefon so ankotzt. Sobald man abhebt, den Hörer ans Ohr hält und sich meldet, ist man gefangen, die Geisel von jedem, der in die Mu187
schel quatscht. »Janice, was kann ich für dich tun?« Klarer Fall, wär’s nicht am Telefon gewesen und hätte ich Zeit zum Denken gehabt, hätte ich so was nie angeboten. Der reinste Blankoscheck. Ohne eine von ihren dreihundert Sekunden zu verschwenden, kam sie sofort zur Sache. »Meine Beurteilung ist anberaumt. Ich bin so nervös.« Sie zog das ›so‹ in die Länge. »Ich hab gedacht, vielleicht intervenierst du da«, hoffte sie. »Für mich.« Jede Wette, sie harrte jetzt nägelkauend meiner Reaktion. Jetzt saß ich am längeren Hebel. Sie wollte mich bei der Beurteilung ihres Geisteszustands dabeihaben, die auf Gerichtsbeschluß sechs Monate nach ihrer Einweisung zu erfolgen hatte. Dafür galten jetzt andere Maßstäbe. Um ihre strafrechtliche Schuldfähigkeit ging es nicht mehr. Die hatten die Geschworenen bereits verneint. Jetzt ging es darum, ob sie sicherheitsverwahrt werden mußte. Die Ärzte würden nichtöffentlich irgendwo auf dem Klinikgelände tagen. Die Steuerungsfähigkeit der Patientin oder ihr Unrechtsbewußtsein spielten dabei keine Rolle mehr. Zu erörtern waren lediglich zwei Fragen: Ist die Patientin geistesgestört? Ist sie zum jetzigen Zeitpunkt eine Gefahr für sich oder andere? Wurden beide Punkte verneint, kam Janice auf freien Fuß. Sie bat mich also, ihr zu helfen rauszukommen. Wenn ich zweimal für sie ein Nein sprach, kam sie raus. Diese Macht hatte ich tatsächlich, und ich wußte auch, wie ich damit umgehen würde. »Janice, tut mir leid, aber das kann ich unmöglich für dich machen. Ich durfte im Prozeß nicht für dich aussagen, und jetzt darf ich’s auch nicht.« »Warum nicht?« quengelte sie wie ein Kleinkind, das nicht runter auf die Straße zum Spielen darf. 188
»Weil’s nicht geht. Ich kann weder für dich noch gegen dich aussagen, und auch nicht über dich. Das wäre standeswidrig. Es geht einfach nicht. Janice, du und ich hatten vor langer Zeit Umgang miteinander. Das ist nicht gut.« »Was für ’ne komische Formulierung. Wir hatten Umgang? So nennst du das also?« »Du weißt genau, was ich meine. Vielleicht sagen wir besser, wir waren zusammen.« »Klingt schon besser, viel besser.« Nachdem das geklärt war, wollte sie es ganz genau wissen. »Du willst mir also sagen, du kannst nichts für mich tun, weil wir uns geliebt haben?« Sie hob die Stimme um eine halbe Oktave. »Ja, Janice, genau das will ich sagen.« »Schön«, bestätigte sie plötzlich ganz sanft, ohne jede Schärfe. »Das ist nicht schlecht.« »Was ist nicht schlecht?« »Daß du nicht dabeisein kannst. Immerhin plausibel. Wenn ich dich nötig brauchte, würdest du kommen. Ich kenn dich.« Was quatscht die da eigentlich? dachte ich, war aber wenigstens inzwischen so schlau, nichts mehr zu fragen. Kostete mich allerhand Selbstüberwindung. »Brauchst jetzt nichts mehr zu sagen. Hör mal, die Zeit ist um. Muß auflegen. Ich seh dich, ganz sicher. Weiß ich genau. Tschühüs.« Und dann war sie weg, abgeklemmt, weggezappt. Wäre Ladislaw erreichbar gewesen, hätte ich ihn vielleicht aufgesucht und eine Fünfzigtausend-KilometerWartung bei mir machen lassen. Ein paar Analysesitzungen, um mein Bildschirmflackern zu beheben. Aber Ladislaw trieb sich hoch in den Anden herum. Und Tupelo redete nicht mehr mit mir. 189
Nolens volens mußte ich was unternehmen. Konnte ich meinen Lehranalytiker nicht erreichen, mußte ich das Nächstbeste versuchen. Und mit dem Klinikpsychiater von Janice sprechen. Für den Zutritt zum Maßregelvollzug am Pelham State Hospital wird keine Leibesvisitation verlangt, zumindest nicht jedesmal. Aber man muß die Taschen leeren und sich abtasten lassen. Für eine staatliche Anstalt ist die Klinik recht klein, und ich war schon früher hier gewesen, viel zu oft. Daher kenne ich die meisten Ärzte, einige der klinischen Psychologen und alle Pfleger und Verwaltungsangestellten. Doris, gebaut wie eine Pampelmuse mit aufgesetztem Kopf, hat Macht in Pelham und genießt sie auch. Offiziell ist sie Telefonistin, aber sie betätigt außerdem die Kippschalter auf der Steuerkonsole für die Sicherheitsschleusen. Das System ist simpel und beängstigend: An Verkehrsknotenpunkten der Anstalt sind Schleusen eingebaut. So eine Schleuse ist nichts anderes, als ein klaustrophobisches Quadratkäfterchen zwischen den Flurwänden und zwei gegenüberliegenden Türen, wie ein Fahrstuhl mit beidseitigem Scherengitter. Die Schleusen haben dieselbe Funktion wie bei einem Kanal. Man tritt hinein, und die Außentür geht automatisch zu. Man ist hermetisch eingeschlossen, bis Doris entschieden hat, daß alles seine Richtigkeit hat und dem Computer befiehlt, die Innentür zu öffnen. Erst dann kann man den angrenzenden Gebäudetrakt betreten. Die Realzeit in jeder Schleuse ist kurz, etwa fünf oder sechs Sekunden, außer wenn Doris sich einen Jux macht oder zu Geplänkel aufgelegt ist. Dann muß man warten, bis sie sich bequemt, den magischen Knopf zu drücken. Dreißig Sekunden in der Schleuse reichen, und das Leben zieht mehrmals vor dem geistigen Auge vorbei. 190
Ich frage mich dabei jedesmal, wie wohl jemand zumute ist, der dreißig Jahre vor sich hat. »Irgendwelche Waffen?« gackerte Doris, denn für sie bin ich ein vegetarischer Hippie, der in Gewehrläufe Blumen steckt. Ich händigte ihr meinen Schlüsselbund aus, den mit der Trillerpfeife gegen Vergewaltiger. Da mußte sie wieder geiern und mir unters Kinn fassen. Unbestätigten Gerüchten zufolge ist Doris dreiunddreißig und immer noch ungeküßt, nicht mal von der Mutter. Dreihundert Pfund unerfüllte Liebe und die Überzeugung, sexuelle Belästigung lasse sich jeder gern gefallen, sozusagen als Würze im langweiligen Alltag. »Wie wär’s mit ’nem Nümmerchen, wenn du fertig bist?« zwinkerte sie mir zu. »Aber Doris, ein Nümmerchen würde deiner Kraft und Fülle unmöglich gerecht. Biet mir zwei Wochen an der Riviera, und wir kommen vielleicht ins Gespräch.« »Jawoll!« kreischte sie und machte die entsprechende Pumpbewegung mit dem rechten Arm. Dann sagte sie mir, wohin ich solle und zu wem. Der Psychiater hieß Justin Katz und war mir unbekannt. »Wie ist er? Kann er was?« »Er ist jung.« Doris schüttelte langsam den Kopf. »Jung.« Sein Büro war ehemals der Putzmittelraum und hatte nichts von diesem Charme verloren. Keine Fenster, brusthoch stand darin zum Asthma reizender Schimmelgeruch. So angenehm geräumig wie eine Computernische in der Bibliothek. Dr. Katz komplimentierte mich auf den Besucherstuhl und bot mir einen wachsweichen Händedruck. Etwa fünf191
undzwanzig, hochgeschossen und schlank, kurzgeschnittenes Haar. Wie ein Bleistift mit schwarzem Radiergummi. Wenn ich sein Alter richtig schätzte, hatte er in diesem Job nur noch ein paar Jährchen bis zur kompletten Kauzigkeit. Die Krawatte, zu schmal und zu kurz gebunden, ließ ihn noch schlaksiger wirken. Könnte besser aussehen, der Junge, wenn er nur wüßte, wie. »Womit kann ich Ihnen helfen, Dr. Rose?« erkundigte er sich freundlich. Er wirkte beflissen. War vielleicht sein hervorstechendstes Merkmal. In Sachen Arztgeheimnis und Vertraulichkeit gibt es zweierlei Seelenklempner: harte Nüsse wie mich, die ohne Gerichtsverfügung kein Sterbenswörtchen über Klienten verlauten lassen, und Weicheier, die sich nur zu gern die Zunge lüpfen lassen. Letztere melden meist schwache Bedenken an und flehen regelrecht um eine goldene Brücke. Meist genügt es, ihnen den Bauch zu pinseln: »Ich habe volles Verständnis für Ihre Sachzwänge, aber womit könnten Sie mir denn weiterhelfen, trotz Ihrer Schweigepflicht?« Dann gibt es für sie kein Halten mehr. »Ich komme, um Sie wegen Mrs. Jensen zu konsultieren.« »Ich sage Ihnen gern alles, was ich darf.« Was denn, ganz ohne Zungenlüpfen? »Brauchen Sie denn keine Befreiung?« fragte ich. Blöderweise. Warum schlafende Hunde wecken? »Schon in der ersten Woche nach ihrer Einweisung wollte sie das Formblatt für Sie unterschreiben. Sie sagt, Sie würden nach ihrer Entlassung ihr Therapeut. Sie stehen als erster von dreien auf ihrer Besucherliste.« Es lag mir auf der Zunge, die beiden andern zu erfragen, und ich mußte mich beherrschen, auf den Irrwitz, ich würde sie therapieren, nicht spontan »Nie und nimmer!« zu 192
brüllen. Doch wollte ich jetzt genau hinhören, was er zu vermelden hatte. Was ich mir dachte, tat nichts zur Sache und ging ihn nichts an. »Wie macht sie sich?« ließ ich mich auf seine Ernsthaftigkeit ein. »Gut, wirklich exzellent. Wir haben die akustischen Halluzinationen allmählich im Griff, ich weiß allerdings nicht, ob durch die Medikamente oder durch die Gesprächstherapie. Sie ist zu wirklich profunden Einsichten fähig, und intelligent ist sie auch. Ich glaube, ich kann ganz gut mir ihr.« Letzteres kam heraus, als rechne er mit Widerspruch. »Wie sehen Sie sie?« So formuliert der Psychiater die Frage: Wie plemplem ist sie denn? »Ich meine, sie ist ganz eindeutig schizophren, paranoider Typ, vielleicht vor dem Hintergrund eines manischdepressiven Persönlichkeitsdefekts. Ein Auf und Ab wie bei fast allen hier, aber wenn sie voll da ist, leistet sie ordentliche Arbeit. Sie ist die einzige von meinen Patienten, die überhaupt imstande ist, mit mir zu reden.« Das Syndrom des Waschmaschinenmechanikers, bloß daß hier alles defekt war und niemand die Reparaturanleitung kannte. »Kommt Sicherheitsverwahrung in Frage?« »Ich glaube schon, aber Dauerverwahrungen mach ich noch keine. Ich bin bloß der behandelnde Psychiater, ich werde bei der Beurteilung nicht konsultiert.« »Wer dann?« »Belton und Underwood. Kennen Sie die beiden?« Ich nickte. Ich kannte sie und ihre Arbeitsweise. Sie hantierten mit Formblättern und deren menschlichen Anhängseln, mehr auf Bettenbelegung als auf Patientenwohl bedacht. Immerhin waren sie nicht korrupt. »Sagen Sie mir was über die Stimme.« Die Stimme der Mutter war der Eckpfeiler gewesen, als Janice auf Schuld193
unfähigkeit plädiert hatte. Die wechselnde Lautstärke und Brutalität dieser Stimme war ein zuverlässiger Meßfühler dafür, welche Fortschritte Janice machte. »Die Mutter scheint in den Hintergrund zu treten, während andere Stimmen stärker werden.« Andere Stimmen? Bei ihrer Befragung durch mich war Janice nur von einer einzigen Stimme verfolgt worden. Wenn die Truppe Zuwachs bekommen hatte, war dies ein wichtiges Indiz, wenn auch nicht eben ein hoffnungsvolles. »Andere Stimmen?« hakte ich laut nach. »Hat sie Ihnen das nicht gesagt?« Er wirkte ehrlich verblüfft. »Dr. Rose, die zweite Primärstimme in Mrs. Jensens Kopf sind Sie.« Meine Nackenhärchen sträubten sich. »Und was sage ich zu ihr?« fragte ich mit Pokermiene. »Sie beruhigen sie. Sie machen ihr Mut. Sie sind ihre Stimme der Vernunft, in direktem Gegensatz zu ihrer strafenden Mutter. In Ihnen sieht sie ihren Retter.« Ich nickte bedächtig, um mir Bedenkzeit zu verschaffen, und strich mir den Bart, wie es bei Psychoanalytikern der Brauch ist. »Gelegentlich halluziniert sie noch jemand anderen, aber er kommt ihr nicht so spontan in den Kopf wie Sie. Sie muß ihn aufrufen. Ihren ehemaligen Freund aus der Oberstufe.« Ich nickte wieder. »Sonst noch jemand?« »Bisher nicht, aber bei Mrs. Jensen weiß man nie. Es ist alles in Fluß. Sie ist wie Quecksilber. Sie wissen ja, was ich meine.« Die Diagnose kannte ich. 194
»Therapieren Sie Janice, wenn sie entlassen wird?« wollte er wissen, als sei das für ihn das Wichtigste. »Nein, und ich habe ihr das nie auch nur angedeutet. Sie müßte wissen, daß das nicht geht.« »Na, weiß sie aber nicht. Sie glaubt steif und fest daran. Das kann ich Ihnen beschwören. Sie rechnet mit Ihnen. Sie dauert mich«, setzte er traurig hinzu. »Ihre Wahnvorstellungen sitzen tief. Und Sie sind gegenwärtig darin die Hauptfigur.« Ich dankte dem jungen Arzt für seine Hilfsbereitschaft und machte ihm Mut für seine Arbeit mit Janice. Er hatte sie offenbar gern, und die Arbeit mit ihr schien ihm etwas zu bedeuten. Doch unser Gespräch hatte ihn sichtlich ernüchtert. Vielleicht hatte er gehofft, daß ich draußen den Fall von ihm übernehmen würde. Womöglich war ihm mein Besuch eine willkommene Abwechslung von seinen Patienten gewesen. Oder er war als Psychiater schon aus Berufsgründen Pessimist. »Darf ich noch um was bitten?« sagte ich im Gehen. »Könnte diese Konsultation unter uns bleiben? Mir ist lieber, sie erfährt nicht, daß ich da war. Wäre wohl nicht therapieförderlich.« »Wenn Sie meinen, daß es so besser ist, verspreche ich Ihnen, daß Mrs. Jensen von mir nichts über Ihren Besuch erfährt.« Ich bedankte mich noch mal und schickte mich an zu gehen, aber er mußte mich selber auch noch etwas fragen. »Wird’s irgendwann besser?« Da begriff ich die Trauer in seinem Blick. Die gleiche, die mich aus diesem Job getrieben hatte und mich letztendlich aus der ganzen Branche treiben mochte. Hoffentlich war hinterher noch so viel von mir übrig, daß ich mich in freundlicheren und weniger rauhen Verhältnissen zurechtfand. 195
»Nein.« Ich überließ Justin Katz seinen Dämonen, nahm aber die eigenen mit mir fort. Was wollte Janice von mir? Zu mir in die Sprechstunde? Mir auf den Schoß krabbeln und sich mir an den Hals hängen? Wieder zurück in das Rollenspiel LehrerSchülerin, wie einst im ausgebauten Gartenschuppen? Wie kam sie dazu, sich auf mich als Retter zu fixieren? Woher hatte sie den Einfall, ich würde sie therapieren? Wie kommen paranoide Schizophrene überhaupt auf ihre Einfälle? wunderte ich mich auf dem Weg zu den Fahrstühlen und den Sicherheitsschleusen. Fast wäre alles gutgegangen. Ich holte gerade meine Schlüssel bei Doris ab, die sich nicht mehr für mich, sondern für einen Hünen von Hilfssheriff interessierte, der vor ihr das Magazin seines Dienstrevolvers entleeren mußte. Da konnte ich nicht mithalten, also faßte ich sie unters Kinn, griff mir die Besucherliste, schob sie ihr wieder hin und strebte zum Ausgang. Etliche Büros und Konferenzzimmer lagen im besucheroffenen, nur mäßig überwachten Randbereich der Anstalt. Die Angehörigen konnten sich dort relativ frei bewegen, während sie auf Einlaß warteten. Ich fuhr herum: völlig unerwartete Laute aus einem der Torbögen zu den Innenhöfen, wie ich sie in einer staatlichen Heil- und Pflegeanstalt noch nie vernommen hatte. Da lachten Kinder! Ich mußte mich vergewissern. Ein neues Lehrplanangebot für Klassenausflüge – Orientierungsbesuch in der nächstgelegenen Klapsmühle? Gehörte irgendwie nicht hierher. Absolut unpassend. Aber meine Neugier kam mich teuer zu stehen. Um die Ecke spielte jemand Fangen mit drei kleinen Kindern. Es war Janice. Sie rannte mich fast um, und ich mußte sie auffangen, damit sie nicht hinfiel. 196
Sie trug ein einfaches ärmelloses Kleid mit einer zugeknöpften blauen Kittelschürze darüber, die sie als Hilfspflegerin auswies, als eine von den Insassinnen, die sich durch Wohlverhalten gewisse Vorrechte erwerben. Zeichenlehrerin an einer Grundschule hätte sie sein können. Sie blickte zu mir auf und klopfte sich ab, als habe sie was verschüttet. Dann strich sie sich die Haare zurück. »Ach, Simon, du bist’s!« stieß sie glücklich hervor. Überglücklich. Keine Enttäuschung diesmal. Sie war hingerissen, mich hier zu treffen. Ich war baff, also nickte ich und lächelte blöde. »So eine Überraschung! Ich hätte nie gedacht, daß ich dir hier in die Arme laufe. Guck nicht so entsetzt. Ich bin Vertrauenspatientin. Ich betreue die Kinder, während die Eltern ihren Besuch machen. Tut mir gut. Da fühl ich mich nützlich.« Sie schob die Kinder durch den Torbogen in einen kleinen Seminarraum, blieb aber dicht neben mir stehen. »Wie schön für dich.« Ich suchte mühsam nach Worten, als ich die Sprache wiedergefunden hatte. »Klar ist es das, du Dummer. So komme ich raus aus der Station. Wenn du was erleben willst, was dich runterzieht, dann laß dich mal einweisen. Treibt mich in den Wahnsinn.« Sie belachte verzögert ihren Freudschen Versprecher. Wieder hatte sie mich »Dummer« genannt. Vielleicht bin ich doch dümmer, als ich selber glaube. »Gehen wir doch ein Stück«, schlug sie vor. Sie faßte mich am Arm, eine ihrer Brüste dabei gegen meinen Oberarm drückend, und zog mich in einen stillen, kaum frequentierten Flur. »Du bist meinetwegen gekommen, was?« »Nein, Janice. Ich hab Dr. Katz besucht.« Grübelfalten. »Wieso?« 197
»Mich erkundigen, wie es dir geht.« Wenigstens war das keine Lüge. »Ach, das ist aber lieb. Dr. Katz ist auch lieb. Ich hab’s dir ja geschrieben. Er hilft mir.« Sie rieb sich sachte an meinem Oberarm, bis ich ihre steifgewordene Brustwarze spürte. »Und dir glaub ich nicht. Ich weiß genau, warum du hier bist. Ich hab immer gewußt, daß du kommen wirst.« Ich hob die Augenbraue, in stummer Frage. »Du kannst nicht dagegen an. Es treibt dich unwiderstehlich her.« Sie ließ meinen Arm los, faßte aber mit beiden Händen meine Fingerspitzen und schwang unsere Arme, wie ein Kind beim Ringelreihen. Sie ließ sie fallen, als es mir sichtlich keinen Spaß machte. Sie musterte mich hungrig. Wo Doris mich mit Blicken auszog, hatte mich Janice bereits im Bett. Zeit für einen Abgang. Aber nicht ohne eine Frage, immer eine letzte Frage. Mein wirklich unwiderstehlicher Trieb. »Janice, warum hast du Dr. Katz erzählt, ich werde dein Therapeut?« Sie blickte zu Boden und schlug die Hände vors Gesicht: »Weil ich das hoffe.« »Janice, das geht nicht. Ich kann dich unter keinen Umständen therapieren. Ich …« »Klar kannst du. Wirst du auch.« Sie bekam wieder diesen ausgehungerten Blick. »Du wirst mich echt gut therapieren«, bekräftigte sie, dabei in Slang verfallend. »Voll saugut«, wiederholte sie, wandte sich plötzlich ab und schritt hüftschwenkend zum Seminarraum und den ihr anvertrauten Kindern. Ich mußte ein paarmal tief durchatmen, um mich wieder zu fassen. Dann suchte ich den Ausgang. 198
16 Debbys Veränderung war offensichtlich. Sie benahm sich wie ein zickiger Teenager, faul, streitsüchtig, ewig beleidigt – eben wie ein Ekel. Ich hielt ihr allerhand zugute, denn viel Schönes im Leben hatte sie ja nicht gehabt. Sie aber fühlte sich im Recht, wenn sie zwei Tage abtauchte, ohne auch nur mal telefonisch Bescheid zu sagen. Sie war zwanzig geworden und konnte nach unserer Vereinbarung kommen und gehen, wie es ihr paßte, sogar alle Rücksicht fahren lassen, und genau das nahm sie sich gegenwärtig heraus. Jeder führt sich irgendwann mal auf wie der letzte Arsch. Als sie schließlich wieder erschien, sah sie aus wie völlig durch den Wind und hatte für mich nur eine flüchtige Umarmung übrig. Sie wirkte wie jemand, der nächtelang durchgemacht hat. Ich erschnüffelte einen Hauch von Hasch, aber ohne Beweise hielt ich diesmal lieber den Mund. Sie hatte auch gleich was auf dem Herzen. »Ist’s dir recht, wenn Bobby und ich hier in meinem Zimmer übernachten? Wir schlafen nämlich miteinander.« Sie zog einen Flunsch. »Davon gehe ich aus, aber gesagt hast du mir noch nichts.« »Jetzt hab ich’s dir gesagt. Ich hab was gefragt.« »Nun gut«, wollte ich Zeit schinden. »Hab ich mir noch nicht so richtig überlegt, aber irgendwas paßt mir dabei nicht so recht. Ich weiß nicht, ob ich das, was du jetzt treibst, unterstützen kann, solange du noch unter meinem Dach wohnst.« Das Geseire blieb mir fast im Halse stek199
ken. Da mimte ich doch den Vater, wie er im Buche steht. Und endlich hatte ich auch mal das mit dem Dach anbringen können. »So ’ne widerliche Heuchelei«, konstatierte meine Tochter. »Hast ja recht. Laß mich überlegen. Vielleicht möcht ich ihn erst mal kennenlernen.« Auch diese Phrase blieb mir quer im Hals. »Ist ja ätzend.« »Vielleicht. Muß mich erst an den Gedanken gewöhnen«, salbaderte ich, weil mir im Moment nichts mehr einfiel. »Bleib ich halt dort.« »Wie du meinst.« »Ist ja ätzend«, wiederholte sie. Sie zeigte mir einen Vogel, zum allerersten Mal, und verschwand von der Bildfläche. Ich rauchte einen Joint, kuschelte mich in meinen Fenstersitz und grübelte über mein Leben. Dabei nickte ich ein und hatte wieder einen Traum. Tommy und ich als Kinder. Ich dreizehn, kurz vor dem Hormonschub, aber immer noch mehr Kind als Mann. Wir haben weiße Kittel an, sind als Ärzte verkleidet. Wir holen uns bei Hägendasz Eis, jeder zwei Kugeln. Tommy schleckt zufrieden an seinem. Ich aber komme mit meinen beiden Kugeln nicht zurecht. Ich renne im Kreis und balanciere die Eistüte auf der Spitze des Zeigefingers, wie einen Besenstiel. Dann fällt das Eis runter. Ich versuche, die Kugeln nacheinander wieder in die Eistüte zu kriegen. Auch dreckig würde ich sie lutschen, aber ich bekomme das Glitschzeug immer noch nicht ausbalanciert. Es fällt ein zweites Mal runter. Tommy lacht sich schlapp, und ich 200
werde immer hektischer, kriege aber ums Verrecken nichts in die Tüte. Tommy lacht unentwegt, und meine Hektik mündet in sirrende Angst. Krummgezogen wachte ich auf, wie verkrüppelt. Kein Anruf von Debby. Da hatte ich in meinem Kugelsessel geschlafen, dem hartgepolsterten, statt im Wasserbett. Und gerade einen Traum gehabt, der irgendwie völlig verquer schien. Erstens waren auf dem Eis in meinem Traum Glitzerstreusel gewesen. So was lasse ich mir nie aufs Eis tun. Und außerdem hatte es damals, als Tommy und ich Kinder waren, noch kein Hägendasz gegeben. »Irgendwas ist da faul«, sprach ich halblaut vor mich hin. »Warum macht mir ’ne Eistüte angst?« Angst bedeutet immer eine Botschaft, das Unterbewußtsein sendet Warnungen, die entscheidend zum Überleben sind. In Wahrheit war mir schon seit Wochen mulmig, schon seit Janices Brief, und unsere Begegnung in der Anstalt hatte mein ungutes Gefühl nur noch verstärkt. Das nervige Warnschrillen im Hinterkopf ließ sich einfach nicht abstellen. Kates Anregung, ich solle mir erst mal über mich selbst klarwerden, klang durchaus vernünftig, aber psychologische Altlasten allein erklärten nicht, warum bei mir im Kopf alle Alarmsirenen angingen. Ich hatte Janice bewußt verdrängt, halb in dem Glauben und halb in der Hoffnung, sie werde auf unbestimmte Zeit in der Anstalt bleiben müssen. Nun war ihr diese Zukunft nicht mehr so gewiß, und ich spürte ganz genau, daß Ärger ins Haus stand, gleich um die nächste Ecke. Wer sich intensiv mit Gewaltverbrechen und mit den Menschen beschäftigt, die sie begangen haben, entwickelt einen sechsten Sinn für Gefahr. Geht nicht anders. Das eigene Leben kann davon abhängen. 201
Erfahrung an dieser Front sammelte ich während meiner vierjährigen Assistenzzeit in einer Heil- und Pflegeanstalt. Damals hatte ich ständig Tuchfühlung mit Gewaltverbrechern. Eines schönen Tages würde ich ja gern mal erfahren, welches Karma mich da getrieben hatte, mich Tag für Tag aus freien Stücken mit diesen Leuten zusammenschließen zu lassen, mit Menschen, die die Gesellschaft draußen generell für den letzten Abschaum hält. Eine Krankenstation mit sechzehn Mann im Hochsicherheitstrakt des Maßregelvollzugs. Sicherheitsverwahrt wurden dort nur Täter, die wegen Schuldunfähigkeit nicht verurteilt werden konnten, Schicksalskollegen von Janice, die wie sie »erfolgreich« auf mangelnde Schuldfähigkeit plädiert hatten. Sie sollten auf geistige Störungen behandelt werden, die unter diverse juristische Kategorien fielen. Ein paar von ihnen waren wirklich wahnsinnig. Und Gewalttäter waren sie alle. Neben einem tunnelartigen Gewölbe mit zwei Reihen Betten verfügte die Station über ein kleines Fernsehzimmer mit Metallklappstühlen, eine verblüffend gute Tischtennisplatte auf der Kreuzung zweier Flure und über einen gepflasterten Hof, der knapp ein halbes Basketballfeld groß war und auf dem die Männer bei gutem Wetter Würfe üben konnten. Ihr Lebensraum insgesamt war kleiner als der durchschnittliche Vorstadtbungalow für ein Ehepaar und die statistischen zwei Komma zwei Kinder. Eine Nahkampfzone. Neben den vom Gericht festgelegten periodischen Überprüfungen des Geisteszustandes von Patienten, die ich im Verwaltungstrakt erledigte, hatte ich mindestens die Hälfte meiner Arbeitszeit auf der Station zu verbringen, wo ich im Gespräch therapieren, die Medikamentenabgabe überwachen und den Insassen pauschal den psychischen Puls fühlen sollte. 202
Das Sprechzimmer auf der Station, in dem ich Patienten zur Therapie empfing, war noch enger und um einiges ungemütlicher gewesen als das Käfterchen von Justin Katz. Der Innenausstatter hatte es mit zwei Stahlsesseln mit grauen Plastikpolstern möbliert, jeder etwa einen halben Zentner schwer, und von der Decke baumelte eine nackte Hundert-Watt-Birne. Die Zelle war fensterlos, wenn man die Sichtklappe in der stahlbeschlagenen Tür nicht zählte. Die Prozedur der Therapiesitzungen hatte ihren eigenen Reiz. Ich ging immer zuerst rein, setzte mich hin und wartete, bis mir ein Wärter den Patienten zuführte, worauf er die Tür von außen zusperrte und bis Ende der Sitzung davor Wache hielt. Zu wissen, daß er draußen stand und horchte, ob ich Hilfe brauchte, während er mit seinem einzigen Kollegen zugleich die anderen fünfzehn Zombies auf der Station in Schach halten mußte, beruhigte mich ungemein. Einer der Insassen, ein Gorilla von hundertvierzig Kilo Gewicht, hieß bei seinen Mithäftlingen Thunfischdosencharlie, wegen der ungewöhnlichen Form seines Geschlechtsorgans. Charlie mochte mich ganz gut leiden, und wir hatten es sogar geschafft, ein freundschaftliches Arbeitsverhältnis zu entwickeln, obwohl er zu unvorhersagbaren Ausbrüchen neigte. Einmal war Charlie mitten in einer Therapiesitzung aufgesprungen und hatte seinen Sessel hoch über dem Kopf geschwungen, als sei er aus Styropor. Er drohte, mich allezumachen, wenn ich ihm keine Ehefrauenvisite von seiner Freundin gestattete, einer Prostituierten. Ich hätte ihm meine eigene Schwester versprochen, wenn da eine gewesen wäre, hätte er bloß das verdammte Stahlmöbel wieder hingestellt, still und friedlich. Ich schrie nach dem Wärter, aber der war offenbar gerade anderweitig beschäftigt. Charlie beruhigte sich schließlich von allein, nachdem ich 203
ihn abgelenkt und ihm eine unangebrochene Schachtel Marlboro versprochen hatte, die mit der besseren Verpakkung, Kartonklappe. Ein Neueingewiesener hatte weniger Glück als ich. Den Zoff gab es, nachdem sich herumgesprochen hatte, daß er wegen Kindesmißbrauch einsaß. Im Maßregelvollzug herrscht eine straffe Hierarchie, und Pädophile sind dort der unterste Bodensatz. Im Vergleich zu diesen eher stillen Abartigen halten sich selbst Lustmörder für was Besseres, denn sogar noch in dieser elenden Subkultur gelten Kinder als unschuldig und schutzbedürftig. Niemand dort drin ist der Ansicht, ein Pädophiler sollte jemals wieder an Kinder herangelassen werden, und so sind sich alle gewöhnlich stillschweigend einig, dafür zu sorgen, daß der perverse Dreckskerl nicht lebend rauskommt. Diesem Täter wurde durch eine von Thunfischdosencharlies Gewichthebernummern in die ewigen Jagdgründe verholfen. Mit der Bohnermaschine. Anstatt sanft über den Linoleumboden zu brummen, landete sie mit gezieltem Schwung auf der Halbglatze des Neuzugangs. Durch die Bank jeder auf der Station, inklusive der beiden Wärter, schwor Stein und Bein, er habe zum fraglichen Zeitpunkt anderweitig zu tun gehabt und könne somit keinerlei nähere Angaben zu dem Totschlag machen. Mir kam die Wahrheit erst mehrere Monate später zu Ohren, und ich beschloß, die Sache auf sich beruhen zu lassen, denn Charlie war derart geistesgestört und gewaltbereit, daß er ohnehin keine Chance auf Entlassung hatte. Schon seit vielen Jahren wurde die Sicherheitsverwahrung bei jeder seiner periodischen Zustandsbeurteilungen routinemäßig bestätigt. Charlie war sozusagen ein altes Frontschwein gewesen, eins von mehreren, die ihre Ausbilderpflicht erfüllt und den sechsten Sinn des naiven Dr. Rose so geschult hatten, 204
daß er an dieser Hauptkampflinie überlebte. Diese vier Jahre haben ihre Spuren hinterlassen. Seither nehme ich jedesmal, wenn ich Gefahr wittere, die Warnzeichen tödlich ernst. Kate sah die Sache nicht so wie ich. »Wo drückt dich denn wirklich der Schuh, Simon?« Wir saßen in ihrem Saal von Wohnzimmer vor dem Kamin und tranken Kaffee, Kates unglaubliches Gebräu, in dem sich der Löffel verbog. Das machte sie mit Fleiß. Sie schlürfte ihren Bohnenschlamm, und ich nippte davon, insgeheim heilfroh, daß sie nicht auch noch Haferkekse gesintert hatte. Wir waren gerade dabei, die Sicherheitsverwahrung für Janice theoretisch zu erörtern. »Ich halte Janice für gemeingefährlich. Das ist es, was mich drückt«, klärte ich sie auf. »In den siebziger Jahren sagten wir bei so einem Gefühl, es kommt aus dem Bauch.« »Schön, aber jetzt haben wir die Neunziger und können mit dergleichen nicht mehr kommen. Und ganz entschieden nicht dem Gericht. Wenn du ernsthaft auf Sicherheitsverwahrung rauswillst, dann werd, bitte schön, konkret«, wies sie mich mit ihrer Rechtsanwältinnenstimme zurecht. »Für wen ist sie denn gefährlich, für sich oder für andere?« »Ganz klar für andere.« »Irgendwelche Beweise?« »Na sauber, sie hat Mann und Kind umgebracht. Ist dir das nicht gefährlich genug?« »Rechtlich gesehen ist das schnurzpiepe. Du kannst doch vergangene Taten nicht zur Grundlage einer Prognose über künftige Gemeingefährlichkeit machen.« 205
»Kate, für eine Prognose zur Gemeingefährlichkeit gibt’s nirgendwo eine Grundlage, das ist dir doch bestimmt nichts Neues.« Als Gutachter vor Gericht stelle ich meiner Sachverständigenaussage immer die Einschränkung voran, Gemeingefährlichkeit könne beim gegenwärtigen Stand der psychiatrischen Wissenschaft keineswegs mit Gewißheit vorhergesagt werden. Und dann gebe ich auf richterliches Ersuchen genau eine solche Prognose ab. Ich muß mich dabei ausschließlich auf Verhalten in der Vergangenheit stützen, denn bessere Indikatoren stehen mir nicht zur Verfügung. Daß das nicht ganz hasenrein ist, weiß ich selber. »Dabei können wir nicht stehenbleiben«, sagte sie. »Das Gesetz verlangt, daß sie sicherheitsverwahrt werden muß, wenn sie gemeingefährlich ist, und uns obliegt die Beweislast, daß dem auch so ist, wegen Geisteskrankheit. Ist sie also geisteskrank? Erfüllt sie dieses Kriterium?« »Keine Ahnung. Hab ich dir doch schon gesagt.« »Simon, betrachte mal die Beweise. Sie hat kaltblütig ihren Ehemann umgebracht, aber Gattenmord ist nichts außer der Reihe. Jeden Tag zehn solche Fälle. Doch der Kleine, Simon, ein Säugling in seinem Bettchen! Ein dutzendmal noch zugestochen! Meinst du nicht auch, das ist Wahnsinn? Dauernd spricht sie mit ihrer Mutter, die schon gestorben ist, als sie noch in der Schule war. Und einem Gerichtsgutachter rammt sie den Bleistift ins Auge. Wenn das nicht Schizophrenie ist oder eine andere Geisteskrankheit, was dann? Ich bin keine Psychiaterin, aber für mich ist das alles recht schlüssig. Mir scheint, sie war mindestens zweimal irre, zum Zeitpunkt der Tat und vermutlich auch beim Prozeß.« »Schön, du bist überzeugt. Sie ist paranoid schizophren und gemeingefährlich dazu. Alle Kriterien treffen auf sie 206
zu. Die lassen sie doch nie wieder raus. Der nächste bitte. Wieso erörterst du das überhaupt mit mir?« »Ich hab’s aufs Tapet gebracht, weil ich heute morgen ein Schreiben erhielt, daß sie in einer Woche entlassen wird.« Ich bekam einen Adrenalinstoß, aber eine Überraschung war es eigentlich nicht. Daß sie nach der ersten Überprüfung entlassen werden würde, war mir bereits klargewesen, als mir Justin Katz die zuständigen Ärzte genannt hatte. Der Briefwechsel der Patienten wird routinemäßig vom Krankenhauspersonal gegengelesen, und aus Janices Briefen ging hervor, daß sie reflektiert war und optimistisch eingestellt, egal, was mein Bauch dazu sagte. Das Verhalten auf der Station muß mustergültig sein, bevor jemand überhaupt zur Vertrauenspatientin befördert wird. Daß sie bei Justin Katz regelmäßig Gesprächstherapie machte, hätte allein schon ausgereicht, ihre Entlassung zu gewährleisten. Jeder, der seine fünf Sinne soweit beieinander hat, daß er ein zusammenhängendes Gespräch führen kann, gehört nicht dort hinein. So haben die Ärzte zu urteilen. Und in gewisser Hinsicht hatten sie hier ja sogar recht. Verglichen mit den sonstigen Anstaltsinsassen war Janice ein Kronjuwel. »Nehmen wir mal einen Moment an, das System funktioniert«, überlegte Kate laut, »zum Tatzeitpunkt war sie also schuldunfähig, und jetzt ist sie irgendwie darüber weg. Sie geben ihr Medikamente, und wenn sie auf die Ärzte gefestigt wirkt, ist das auch gefestigt. In der Tat wirkt sie so gefestigt, daß sie entlassen werden kann. Vielleicht hat es so seine Richtigkeit. Ich meine, die Frau sollte ihre Chance haben, und du gönnst sie ihr nicht. Und was für Anhaltspunkte hast du, daß sie gemeingefährlich ist? Keine, bis jetzt jedenfalls nicht. Bloß so ein Gefühl. Wenn ich es recht betrachte, sehe ich eine traurige. zuwendungs207
bedürftige schwerkranke Frau. Und du siehst Gespenster. Wieso?« »Im Moment kann ich meine Gründe nicht formulieren.« »Weißt du, was ich glaube?« fragte sie rhetorisch. »Ich glaube, es ist Gegenübertragung.« Ich zuckte unter der Wucht des Schlags, auf so eine Bemerkung von meiner besten Freundin überhaupt nicht gefaßt. Die Retourkutsche. Immerhin hatte ich ihr im Zusammenhang mit Janice mangelnde Professionalität vorgeworfen. Übertragung ist, wenn die Patientin ihre Gefühle gegenüber wichtigen Bezugspersonen auf den Analytiker überträgt. Hat sie ihrer Mutter mißtraut, mißtraut sie auch dem Psycho; wollte sie den Vater verführen, probiert sie es auch beim Therapeuten. Übertragung ist therapeutisch, weil sie im Therapiezusammenhang im hellen Tageslicht exploriert werden kann, aus der Sicht von heute. Gegenübertragung ist das komplementäre Leiden, das den Analytiker oder die Analytikerin befällt, wenn sie zornig auf den Vertrauensmangel der Patienten reagierten oder zurückflirten. Vom Analytiker wird erwartet, daß er in der therapeutischen Beziehung sein emotionales Gleichgewicht wahrt. Gegenübertragung ist pfui-bäh. Bekommt sie der Analytiker nicht in den Griff, soll er den Fall abgeben, bevor er über die Schwächen seiner eigenen Psyche stolpert. Jedem Therapeuten widerfährt das irgendwann einmal. Wir sind schließlich keine Maschinen. Aber die Erwartung an uns ist, daß wir damit fertig werden. Und Kate unterstellte mir eine nicht bewältigte Gegenübertragung! Sie goß sich drei Finger hoch Kaffee ein, rührte um und wartete, ob ich gleich platzen würde, bevor sie noch ausgeredet hatte. Tat ich das, lieferte ich ihr nur den Beweis, wie recht sie hatte. Also hielt ich das Maul. 208
»Erstens hat sie dich früher heißgemacht. Siedendheiß. Und ich glaub, das tut sie noch.« »Hast du dich mit Tupelo abgesprochen?« Sie wischte mein Ablenkungsmanöver beiseite. »Zweitens liegt dein Problem mit ihr genau darin, daß du früher so blind auf sie abgefahren bist. Du warst ihr damals hörig, und heute mußt du dir von Tommy sagen lassen, daß sie gar nicht das unschuldige Blümelein war, für das du sie gehalten hast. Er klärt dich auf, sie war promisk und rachsüchtig. Und es macht dich fuchsteufelswild, daß du mit jemand so danebengelegen hast, egal mit wem, und wenn’s noch so lange her ist. Also klebst du an deiner nutzlosen Erinnerung an eine Unschuldsjanice, weithin ein Phantasieprodukt, wodurch du unfähig bist, sie heute richtig zu sehen. Ich glaube, sie macht dir angst, weil sie an etwas Unbewältigtes in dir selber rührt. Es verstellt dir den Blick. Klingt das plausibel?« »Ja, tut es. Unbestritten. Aber es erklärt noch nicht, warum ich Gefahr wittere.« »Das nicht, aber da müssen wir halt abwarten. Laß mich ausreden, weil ich dir das schon so lange mal sagen wollte, noch bevor Janice Jensen wieder in dein Leben getreten ist. Ich halte jetzt das für dringend geboten, also nehme ich kein Blatt vor den Mund. Denk bitte daran, ich sag dir das nur, weil du mir wichtig bist. Janice ist nur ein geringfügiger Störfaktor, aber durch sie wirst du auf Grundprobleme deiner Psyche gestoßen. Seit ich dich kenne, Simon, läufst du vor Frauen weg. Bevor du jetzt zum Gegenangriff übergehst, sag mir doch mal eins: Wie lange hat deine längste Dauerbeziehung zu einer Frau gehalten, von mir mal abgesehen?« Ich fing an, an den Fingern abzuzählen, in Monaten, nicht in Jahren. 209
»Und wenn wir mal Zora beiseite lassen, wie war es vorher, bevor sie dein Leben zerstört hat, wie lange hat deine längste Beziehung vor ihr gedauert?« Ich ließ das Abzählen gleich ganz sein, weil es diesmal Tage gewesen wären. Und als ich Kate Zoras Namen aussprechen hörte, bekam ich so einen Kloß in der Kehle, daß ich kaum schlucken konnte. Da hatte ich ganz nah am Wasser gebaut. »Und sieh dir nur mal das neueste Beispiel an, meine Freundin Jemma. Wir beide wissen, sie ist dein Typ, und trotzdem hast du auf ihr deutliches Interesse in keiner Weise reagiert. Worauf ich hinauswill, ist folgendes: Du schreibst deine Dickfelligkeit gern der Tragödie zu, wie Zora gestorben ist. Du willst dich nicht mehr einlassen, weil du Gefahr liefest, den Verlust wieder zu spüren. Und du meinst, du würdest damit nicht fertig. Verständlich. Was aber, wenn du der Wahrheit ins Auge siehst? Deine Probleme mit Frauen haben nicht mit Zora angefangen, sondern schon lange vorher. Vielleicht würdest du sagen, schon in der Wiege. Als Laie kann ich nur beschreiben, was ich sehe. In deiner Brust schlägt das Herz eines einsamen Jünglings. Und ich sehe einen fähigen, erfolgreichen, reifen Mann, der sich nie mit diesem Jungen voller Schmerz und Sehnsucht befaßt hat. Du bist ohne Mitgefühl für dein jüngeres Ich. Es wäre besser, du würdest welches entwickeln. Hast du das Kapitel denn nicht schon vor Jahrzehnten abgehandelt, in deiner Analyse?« »Nein, weiter als bis zur Wiege sind wir nie gekommen.« »Na, aber jetzt liegst du da nicht mehr drin und mußt ein paar Entscheidungen für dein Leben treffen. Du bist ein attraktiver Mann und hast soviel zu geben, aber du bist unnahbar. Du mußt dich entscheiden, ob du je eine echte Beziehung haben willst oder dich weiter hinter deiner Abwehr verschanzt. Machst du letzteres, wirst du plötzlich 210
merken, daß du nach Kalifornien umziehst und auf dem Sunset Strip jungen Eisbällchen hinterherjapst. Ich seh das regelrecht vor mir.« Eisbällchen? Sie spricht nicht nur mit meinem Hund, sondern assoziiert auch noch frei zu meinen Träumen? »Und Janice ist aus einem ganz bestimmten Grund jetzt in dein Leben getreten. Vielleicht ist es für dich an der Zeit, deine ungeklärten Angelegenheiten anzugehen. Nicht, was sie betrifft, sie ist bloß der Katalysator. Sondern bei dir selber. Und vielleicht, einfach so, kommst du diesmal nicht drum herum. Janice hat ihr eigenes Ding mit dir, und ich glaube, sie zwingt dich zu deinem Ding mit dir. Sieh’s doch mal als Chance.« Kate steht auf meiner Seite, und irgendwie gehören wir zusammen. Jedenfalls haben wir im Laufe der Jahre bewiesen, daß wir uns einander stetig widmen können. Ihre Worte taten mir weh, gerade weil sie von Herzen kamen. »Du kennst mich viel zu gut«, sagte ich. »Gerade gut genug.« Sie hatte beim Reden nicht zu mir hergesehen, sondern ins Feuer. Ich wählte dasselbe Fluchtmittel. Jetzt wandte sie sich mir zu, nahm mein Gesicht in beide Hände und küßte mich auf beide Wangen, nicht zum Gruß, sondern eher wie zum Abschluß, vielleicht ein Punktum. »Du schaffst es. Ich kenn dich. Du mußt. Und jetzt beweg dein geliebtes Ich bitte nach Hause, denn ich erwarte Besuch.« »Den, der dir das großartige vietnamesische Abendessen vermasselt hat?« »Nein, was ganz anderes.« »Du tust vielleicht geheimnisvoll. Wer ist’s denn diesmal?« »Erfährst du noch früh genug.« 211
17 Kates Bemerkungen schossen Kobolz in meinen Kopf. Normalerweise sind wir beide uns im Grunde ja einig, egal worum es geht, aber sie sah Janice so völlig anders, daß es mich erschütterte. Ich wußte nicht mehr, ob ich meinem Instinkt trauen sollte oder meiner liebsten Freundin. Bald sollte ich aktuellere Aufschlüsse erhalten. Debby war zur Abwechslung mal heimgekommen, wie ich am Rumpeln und Rauschen der uralten Waschmaschine merkte. Sie kam in letzter Zeit nur vorbei, wenn sie keine sauberen Klamotten mehr hatte. Ich kauerte in der Küche, bis zum Ellbogen im Kühlschrank, räumte Essensreste vom Vormonat aus und machte Tupelo damit so happy, daß sie mir am Ende sogar verzieh, meine Adoleszenz nicht mit ihr explorieren zu wollen. Ich glaube, den Ausschlag bei ihr gab der vergraute Tilsiter. Ich fand zwei undefinierbare, mit Schimmelrasen überwucherte Reste, die ich sofort in den Ausguß beförderte. Ladislaws Küche war um 1968 der neueste Schrei gewesen. Der Müllzerkleinerer im Abfluß ratterte, als zerhacke er außer dem mysteriösen grünen Matsch auch noch Messer und Gabel. Der Radau betäubte meine Realitätswahrnehmung bereits erheblich, da drängte sich mir ein weiteres Geräusch ins Bewußtsein. Eines Tages wird ein ehrgeiziger Psychologiediplomand sicher empirisch untersuchen, wie oft welche Probanden mit welchen Persönlichkeitsmerkmalen die Türklingel betätigen, wenn sie Einlaß in die Praxis des Analytikers hei212
schen. Ich würde die Hypothese formulieren, es besteht eine direkte Korrelation zwischen Aggressivität und Klingelwiederholung. Ich schaltete den Müllzerkleinerer ab, und mein Gehirn registrierte, daß der Haustürgong fröhlich dingdongdingte, unentwegt, ohne Gnade für die Bewohner. Mühelos erriet ich die Identität meiner Besucherin, noch bevor ich die Tür aufmachte. Da stand Janice, umrahmt von der Türöffnung, die Spätnachmittagssonne im Rücken, ein atemberaubender Anblick, wer immer auch hinsah. Trotz der Oktoberkühle war sie ohne Hut und Mantel. Ihr weiches Haar fiel schulterlang, frischgewaschen und geschmeidig. Keine Spur von Make-up im Gesicht, war auch nicht nötig, sie hatte vor Aufregung rote Bäckchen. Sie trug hautenge schwarze Jeans, die in schwarzen Stiefeletten verschwanden, und einen dicken weichen Rollkragenpullover, ebenfalls schwarz, der in mir den Begehr weckte, die Hand auszustrecken und hinzufassen. Ein Paradebeispiel, wie eine Frau provoziert, indem sie sich verhüllt. Ich hatte gerade eine ganze Kanne Kamillentee getrunken, blieb also gelassen, aber ich mußte zugeben, daß sie so ganz in Schwarz gehüllt hervorragend aussah. Was sich sonst bei mir rührte, vermerkte ich zur späteren Examination. Ich begrüßte sie mit dem distanziertesten Händedruck, den ich fertigbringe, und ich habe ziemlich lange Arme. Ich ging gerade vor ihr in die Kopfwerkstatt, als Debby mit ihrem Übernachtungsbeutel über den Flur huschte. Wir hatten nicht mehr geredet, seit sie mir den Vogel gezeigt hatte und kommentarlos verschwunden war. Ein Zusammentreffen, dem ich vorgebeugt hätte, hätte ich es kommen sehen. »Och, ’tschuldigung, ich bin auf dem Sprung.« Sie drückte sich an uns vorbei und dehnte dabei den Blickkon213
takt zu Janice. Sie nahm ihren Regenschirm aus dem Ständer neben der Wohnungstür und entwischte wieder in ihr Zimmer. »Und wer war das nun wieder?« fragte Janice, die Augen gerade so weit aufgerissen, daß es auffiel, ohne wie ein offener Affront zu wirken. »Meine Tochter. Sie muß wohl grade weg.« »Deine Tochter«, sinnierte sie, dabei mit zwei Fingern gegen die Lippen trommelnd. »Du warst nicht lange genug verheiratet für eine Tochter, obwohl, sie hat eigentlich das richtige Alter.« Janice hatte den ersten Ball im Netz. Die Bemerkung besagte, sie hatte Einblick in meine Biographie genommen und wußte von der Sache mit meiner Frau. Ich führte sie zu dem Sessel gegenüber meinem Schreibtisch und bot ihr Platz an, verhielt mich aber ansonsten kühl. Ich war auf der Hut und voller Vorbehalte gegen sie. Sie nahm meine Einladung zu einem Tee dankend an, und so floh ich in die Küche und brühte zwei Tassen Earl Grey, weil ich das Thein plötzlich zur Stärkung brauchte. Sie wartete voller Ungeduld und trommelte mit den Fingern auf der Schreibtischkante. Ihre Finger tanzten ständig auf irgendwas herum. Ich stellte den Tee ab und setzte mich ihr gegenüber, mit einem abwesenden Blick ins Feuer. In die bequeme Sitzecke auf der anderen Seite der Kopfwerkstatt hatte ich sie nicht komplimentieren wollen. Ich hatte was vor, aber ich mußte ihr zuerst die Möglichkeit geben, offenzulegen, was sie selbst im Sinn hatte. Sie mußte Luft holen, bevor sie sprach. »Nun, jetzt bin ich endlich wieder frei.« »Ja, sehe ich ja. Bestimmt eine Erlösung.« Bis hierhin neutral genug. 214
»Ich bin immer noch nicht so recht angekommen, aber ich fühl mich schon viel besser. Mein einziges Problem zur Zeit ist, daß ich bei Daddy in diesem muffigen alten Hotel wohnen muß, und das geht überhaupt nicht. Ich bin zu erwachsen, um bei meinem Vater zu leben.« Sie sah mich bedeutungsvoll an, aber mir entging, was sie damit andeuten wollte. Erwartete sie womöglich, daß ich ihr ein Zimmer bei mir anbot? Ich beschloß, den Besuch als informelles Beratungsgespräch handzuhaben, und schaltete auf mein bestes Analytikergehabe. »Was hast du denn sonst für Möglichkeiten?« »Ich könnte mir eine neue Wohnung suchen, vielleicht ein kleines Appartement, irgendwo, so als Frau ohne Anhang.« Kurzer Blick in meine Seele, wieder bedeutungsschwer. »Oder ich mach ’ne Reise. Ich hab ein bißchen Geld, das Dennis und ich bei einem Investmentfonds angelegt hatten. Wir haben’s jahrelang nicht angerührt, und der Finanzberater sagt, es ist jetzt wirklich ein ganz ordentliches Portefeuille. Ich könnte damit sogar eine Eigentumswohnung anbezahlen, falls ich mich dazu aufraffen kann. Was meinst du? Was würdest du machen?« »Was immer dein Herz dir sagt.« »Mein Herz? Nicht gerade sehr psychologisch.« »Nein, funktioniert aber bei den meisten Schlüsselentscheidungen im Leben. Also, was sagt dir dein Herz?« »Zweierlei, um ehrlich zu sein. Zunächst sagt es: ›Mach dich auf die Socken, Mädchen, du warst monatelang eingesperrt.‹ Hat seinen Reiz. Ob ich dir das andere jetzt schon sagen will, weiß ich nicht so recht.« Dauerbeschuß mit tiefen, forschenden Blicken. Noch so ein Blick, und ich brauchte trotz Dämmerstunde eine Sonnenbrille. 215
Ich biß auf den Köder nicht an und wechselte das Thema. Ich wollte jetzt meine eigene Tagesordnung abarbeiten. »Janice, ich wußte gar nicht, daß du ein eineiiger Zwilling bist. Was ist deiner Schwester zugestoßen?« Mein Interesse war oberflächlich, weil bekannt ist, daß ein verstorbener Zwilling aus dem psychischen Gleichgewicht bringen kann, aber deswegen schnitt ich das Thema nicht an. Ein Imponiertrick, sie sollte merken, daß ich allerhand draufhatte. »Woher um alles in der Welt weißt du das?« staunte sie. Von den roten Klecksen auf Karte drei, aber das würde ich ihr nicht auf die Nase binden. Ich zuckte die Achseln. »Also, was ist ihr zugestoßen?« wiederholte ich meine Frage. »Totgeboren, von der Nabelschnur erwürgt.« »Sie wäre jünger gewesen als du, immerhin ein paar Minuten.« »Ist ja direkt unheimlich, Simon. Woher weißt du das?« Ich zuckte die Schultern, um sie bewußt im dunkeln zu lassen, und ging ihr an die Kehle. »Janice, wie war das mit deiner Mutter? Woran ist sie gestorben?« Die Verblüffung von eben stand ihr noch im Gesicht. Wenn er über meine tote Zwillingsschwester Bescheid weiß, weiß er vermutlich auch das mit Mom. Bei Janice bekam der Lack die ersten Sprünge. Sie überlegte fieberhaft, wollte erst lügen, kam aber unter dem Druck meiner magischen Kräfte davon ab. »Warum fragst du?« »Weil du mich interessierst.« »Warum, Simon?« Mißtrauen und Lockung, eine unwiderstehliche Kombination. »Ich hab dich früher mal gekannt«, ich hielt inne und studierte ihre Miene. »Du bist wieder in mein Leben getre216
ten, und ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat. Du bist für mich mein eigener psychologischer Krimi.« Das kam völlig überzeugend, denn es war ungelogen. Ihr Blick war froh und traurig, erwartungsvoll und mißtrauisch, alles zugleich. Wie würde sie springen? »Schön, du kannst es genausogut von mir selber hören. Wenn du dich für mich interessierst, findest du es eh raus. Du weißt ja, was für ein Kaff Workman’s Lake ist. Es gab Gerüchte. Nachbarn hatten meine Eltern streiten hören. Als meine Mutter tot war, fingen die Leute an zu tuscheln, mein Vater wär’s gewesen. Kannst du dir so was vorstellen? Du kennst ihn ja. So ein Waschlappen. Ich finde das völlig absurd. Vater hat sie nie auch nur geschlagen. Hatte viel zuviel Schiß vor ihr. Sie war wie immer betrunken und ist hingefallen, denke ich. Mein Vater hat nichts damit zu tun. Kleinstadtgerede. Mehr nicht. Wir sind deswegen weggezogen. So sind wir in Ann Arbor gelandet.« »Und woher willst du wissen, daß deine Mutter hingefallen ist? Bist du sicher, daß er nichts damit zu tun hat?« Sie kaute darauf herum, als sie ihr der Gedanke noch nie gekommen. Dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, sie ist ganz von allein hingefallen. Daddy hätte ihr nie was getan. Er hat sie viel zu sehr geliebt. Haben wir beide.« »Wo bist du gewesen, als sie gestorben ist?« »Mit Will unterwegs.« »Hast du sie gefunden?« Sie schluckte schwer. »Ja.« »Wo war dein Vater?« »Weiß nicht.« Jetzt trommelte sie mit beiden Füßen und allen zehn Fingern. Gereizt, aber beherrscht. Es war nicht der Moment zum Nachhaken. Sondern höchste Zeit, den Besuch zu beenden und den Inhalt zu 217
verdauen. Ich hatte weitaus mehr erfahren, als ich vernünftigerweise hatte hoffen können. Ich ließ locker. »Janice, das ist eine recht schwere Last, die du wohl schon dein ganzes Leben mit dir rumschleppst. Was machst du in Richtung Therapie, jetzt, wo du nicht mehr bei Dr. Katz bist?« »Eigentlich bin ich ja noch bei ihm. Die Klinik hat ein Übergangsprogramm für ambulante Patienten, und er hat mich gebeten, mit ihm weiterzumachen. Ich glaube, er kann mich irgendwie leiden. Ich bin schon ein paarmal bei ihm gewesen, seit ich draußen bin. Du weißt ja, ich hab dich als Therapeuten gewollt, aber vielleicht hat das Leben für uns was anderes in petto.« Dabei sah sie an sich hinunter und ersparte mir diesmal die penetrante Musterung. Ich wartete gelassen auf den letzten Aufschlag. Dieses Match hatte ich mit links gewonnen. Janice stand auf, ging zum Kamin und nahm eine dramatische Pose ein, mit der sie Vivian Leigh in Vom Winde verweht glatt an die Wand gespielt hätte. Seitlich mit dem Ellbogen auf dem Kaminsims, ein Bein übers andere geschlagen, aufreizendes Wippen mit der Stiefelspitze. Scarlett O’Hara, fertig zum Ausritt. Fast hätte ich applaudiert. Sie ließ die Augen durch meine Kopfwerkstatt schweifen. »Ist ja ziemlich schick hier. So hab ich mir dein Heim gar nicht vorgestellt. Bißchen mehr Bohème, wie in einer Wohngemeinschaft von Hippies, ein Haufen Kissen rings um eine ziselierte Wasserpfeife. Du weißt ja, wie in dem alten Gartenschuppen, bloß bißchen größer.« »Janice, das ist lange her. Ich bin jetzt älter. Hier arbeite ich. Ist mein Sprechzimmer.« »Du hast aber bestimmt auch was, wo du dich entspannen kannst. Oder nicht?« »Ja, aber das ist privat.« 218
Enttäuschung und Zorn huschten ihr kurz übers Gesicht, aber sie hatte beides sofort im Griff. »Na, vielleicht zeigst du’s mir ja ein andermal.« Schweigen lastete im Raum, und sie wurde wieder von dieser Unruhe erfaßt. Sie setzte sich wieder in ihren Stuhl vor dem Schreibtisch und nahm den ersten Schluck Tee. »Dann verreise ich halt. Ich denke an so eine Netzkarte von Amtrack, weißt du, ein paar Wochen rumfahren und mal nach Ann Arbor, in die alten Jagdgründe.« »Klingt gut. Sag aber Justin Katz Bescheid. Sonst macht er sich Sorgen, wenn du nicht kommst.« Entwarnung war angesagt. Sie schickte sich an zu gehen. »Mach ich. Hör zu, war wirklich nett bei dir, aber jetzt muß ich los. Ich halt aber Fühlung, kannst dich drauf verlassen.« Hatte mir grade noch gefehlt. Wir erhoben uns beide, und ich ließ ihr den Vortritt in den Flur. Gerade als ich Janice hinausbrachte, kam Debby aus ihrem Zimmer, in Aufbruchstimmung. »Debby!« rief Janice. »In welche Richtung mußt du?« »In die Innenstadt.« »Fein, dann teilen wir uns ein Taxi.« Eds Hotel lag in der Gegenrichtung. Augenblicklich schoß es mir heiß den Rücken hinauf. Eben noch hatte sie Überraschung gemimt, daß ich eine Tochter hatte. Und jetzt nannte sie Debby beim Namen, obwohl ich ihn nicht preisgegeben hatte. Woher wußte sie das? Was wurde hier gespielt? Was zum Teufel ging hier vor? Debby sah erst mich und dann Janice an, unsicher über den nächsten Schritt. »Na schön, gehen wir«, fügte sie sich. Janice schritt durch die Haustür. Debby verhielt kurz. 219
»Keine Angst, Simon, ist bloß ’ne Taxifahrt. Geht schon in Ordnung.« Einmal ist womöglich Zufall, aber doppelt ist bereits ein Komplott. Offensichtlich wollte jede die andere kennenlernen, aus jeweils ganz eigenen Motiven. Debbys letzte Worte hallten mir im Kopf nach. »… ist bloß ’ne Taxifahrt. Geht schon in Ordnung.« Aber nicht bei mir. Schöne Entwarnung.
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18 Tommy kam um die Mittagessenszeit hereingestürmt und fand mich am Küchentisch. Nach dem Großputz im Kühlschrank hatte ich einen Wochenvorrat vegetarische Lasagne gebacken, und heute war erst der dritte Tag, also war noch genug davon da. »Mann«, schnaufte er beim Einschaufeln, »ich weiß nicht, wie du das ohne Hackfleisch runterkriegst. Schmeckt wie Asche und Friedrich.« »Mir gefällt’s aber so. Du riechst so den Duft der Kräuter, ist einfach feiner.« »Jeder nach seiner Fasson.« »Na, dir scheint’s ja doch zu schmecken. Immerhin hast du dir schon zum dritten Mal aufgetan.« »Gut gekontert. Ist aber bloß Kohldampf.« Zum Dank schenkte er mir sein unwiderstehliches Grinsen. Er hatte drei Portionen vertilgt, während ich noch an der ersten saß. Er aß wie als Elfjähriger bei seinen Stippvisiten zwischen Tagesfreizeit und Fußballmannschaft, mit denen er Mutter fast zum Wahnsinn trieb. Dann wusch er sich die Hände, anders als mit elf, und trocknete sie am Geschirrtuch ab. »Ich höre, deine alte Liebe ist wieder frei«, sagte er. »Hat sie sich schon gemeldet?« »Kam neulich vorbei.« »Rein zufällig«, zwinkerte er, bei seinen Schlitzaugen fast unsichtbar. Aber ich kenne ihn besser als jeden andern sonst auf diesem Planeten. 221
»Nein, nicht zufällig. Ganz klar ein Überfall, mit Vorsatz und Heimtücke. Bis an die Zähne hochgeschlossen, und Anspielungen allenthalben auf unsere gemeinsame Zukunft. Machte mich regelrecht krank.« »Siehst du sie wieder?« »Wahrscheinlich.« »Bist du plemplem, oder was?« »Ich war im Leben noch nie so vernünftig.« »Was ist es dann? Bist wohl immer noch geil auf sie?« »Tommy, du traust mir zuwenig zu. Ich versichere dir, ich hab keinerlei unanständige Lust. Aber irgendwie spür ich, es liegt in meinem ureigenen Interesse, wenn ich aufpasse, was sie so treibt. Ich darf ihr nicht den Rücken zudrehen. Erinnert mich allzusehr an die Typen damals in der Anstalt. Sie ist gefährlich.« »Erkenntnisse, von denen ich nichts weiß?« Sobald von Gefahr die Rede war, schaltete er auf Arbeitsmodus. »Immerhin weiß ich jetzt, daß sie es war, die ihre tote Mama gefunden hat. Hat bestimmt Narben verursacht. Und der sanfte alte Ed Donahue war damals offenbar noch nicht so sanft. Gerüchte, daß die Sache mit Margery nicht unbedingt ein Unfall war. Ich sage nicht, er hat sie umgebracht, aber wenn’s bei einem Ehestreit im Suff passiert ist, wär ich nicht überrascht. Wäre gut zu wissen.« »Mann, was für eine Familie! Kein Wunder, daß die in der Schule so verkorkst war. Wie hast du ihr das bloß aus der Nase gezogen?« »Bißchen mit Rorschach gehext.« »Alle Achtung. Und was hat sie sich jetzt vorgenommen, außer dich zu verführen?« »Debby. Ist mit ihr in die Innenstadt gefahren, obwohl sie in die Gegenrichtung wollte.« 222
»Hinterhältiges Aas. Will bestimmt über die Tochter an den Vater ran.« »Möglich. Aber ich hab ihr keine Hoffnungen gemacht, und da hat sie beschlossen, mit dem Zug über Land zu fahren. Will ihre Freiheit genießen. Eine Weile haben wir wohl Ruhe.« »Junge, da bist du schief gewickelt. Bild dir keine Schwachheiten ein. Dieses Weib bringt es nicht fertig, in der Versenkung zu verschwinden.« »Meinst du, ich soll was machen?« »Nee, die kommt von alleine wieder, sobald sie was von dir will.« Tommy hatte recht. Janice hatte mit Zurückhaltung nichts am Hut. Eine Exhibitionistin. Ausgeprägter Narzißmus. Sie würde bestimmt wieder auftauchen. »Und wenn es soweit ist, tu mir den Gefallen und paß auf deinen Arsch auf, oder heuer mich dafür an. Ich komm billig.« »Mach ich, Brüderchen, keine Bange.« »Ganz im Ernst, Simon. Wenn sie wieder aufkreuzt, will ich’s augenblicklich wissen.« »Ich halt dich auf dem laufenden.« »Wenn’s nur nicht zu läufig wird.« »Sehr witzig.« Er trank sein Bier aus und legte die Stirn in Falten, als sei er einem Rätsel auf der Spur. »Wo ist denn deine Tochter abgeblieben? Lief mir die letzten beiden Male nicht übern Weg.« »Keine leichte Frage.« »Scheiße, erspar mir die Psychopredigt. Gib’s zu.« »Wir hatten Zoff, sie wurde sauer auf mich, hat mich beschimpft und die Kurve gekratzt. Hängt bei ihrem Freund rum und versucht, ihr Leben auf eigene Füße zu stellen. Manchmal geht sie sogar in Vorlesungen. Das ist alles …« 223
»Sauer weswegen?« »Sie wollte mit ihrem Freund hier übernachten. Hab ihr gesagt, ich will ihn zuerst kennenlernen. Da ist sie durchgetickt.« »Spricht nicht gegen sie. Wirklich ätzend von dir. Warum soll er sich mustern lassen, bevor er hier mit ihr bumsen darf? Ist doch ihr Freund, nicht deiner. Mir scheint, als Vater bist du nicht so gut wie als Psycho.« »Du hast leicht reden. Du hast ja keine Tochter.« »Nee, aber ich war dreimal verheiratet. Du nur ein bißchen. Und wenn ich eine hätte, würd ich ihr hoffentlich keine Moralpredigten halten. Du mußt doch nicht jeden Fehler wiederholen, den deine Alten gemacht haben. Erfind lieber ein paar neue.« Damit ließ er mich vor meiner kaltgewordenen Lasagne sitzen. Tommys Bemerkung hatte gesessen. Meine Tochter war in einer Klemme und brauchte Zuwendung. Janice war jetzt erst mal weg, also konnte ich die Sache mit ihr auf Sparflamme schieben und mein Denken wieder auf Debby richten. Meine Tochter war völlig durch den Wind, gab aber nichts preis, bis auf den Zorn auf mich. Beim Gedanken an ihr gemeinsames Taxi mit Janice wurde mir erneut mulmig, aber da war noch was anderes. Derart blanke Wut hatte sie mir noch nie gezeigt. Sie wäre nie so ausgerastet, wenn sie nicht was bedrückt hätte. Wir hatten keine Zeit gehabt, uns auszusprechen. Ich wußte nur, daß sie meine Billigung gesucht hatte, in ihrem Zimmer bei mir mit ihrem Freund zusammenzusein. Nichts Ausgefallenes, aber ich hatte ja auch nicht ausgefallen reagiert. Bloß geäußert, ich wolle mir’s überlegen. Nein gesagt hatte ich nicht. 224
Ich wählte Kates Nummer, weil ich unbedingt jemand zum Reden brauchte und weil ich zu faul war, die mehr als sechzig Häuserblocks bis zu ihr zu laufen. Tupelo bemerkte, die Leibesübung täte uns beiden gut. Aber ich drückte nur Tasten am Telefon, und sie winselte verhaltene Mißbilligung. Wie Tommy hatte Kate keine Kinder und vielleicht gerade deswegen soviel Durchblick in Erziehungsfragen. Ihrer Einsicht stand kein so übermächtiges Ego im Wege. »Ich muß dich was zu meiner Tochter fragen. Sie ist stinkesauer auf mich, und ich hab keine Ahnung, warum.« »Trifft sich ja gut. Seit zwei Tagen bin ich mit ihr im Gespräch. Sie ist hier bei mir. Deshalb habe ich dich neulich abends abgewimmelt. Damit wir unter vier Augen reden konnten.« »Warum zum Kuckuck ist sie bei dir? Sie wohnt doch bei mir!« »Mach nicht die Mimose. Sie ist bei mir hier, weil sie eine Frau zum Reden braucht.« »Aha«, sagte ich. Leuchtete mir ein. Weiber wollen immer mit Weibern reden, und Kate und Debby waren welche. Das konnte ich schlucken. Und niemand auf der Welt hätte ich Debby in solcher Sache lieber anvertraut. »Nun mach dir mal keine Gedanken«, beruhigte Kate, »ich bequatsche sie schon nicht, bei dir auszuziehen.« »Danke. Weiß ich zu schätzen.« »Gern geschehen.« »Na, dann viel Spaß miteinander. Jetzt, wo ich weiß, was läuft, ist mir gleich viel wohler. Bei dir ist sie in guten Händen. In den besten.« »Danke für die Blumen.« 225
»Aber eins mußt du ihr von mir ausrichten. Daß ihr Vater die Geduld eines Esels hat.« »Weiß sie doch. Und ich schick sie heim, sobald wir hier fertig sind.« Debby rief was im Hintergrund. »›Cool bleiben‹ läßt sie dir bestellen. Bald sind wir soweit, und sie redet selber mit dir.« Und wirklich tauchte Debby schon drei Stunden später auf und war sichtlich nicht mehr so von der Rolle. Stummer Dank an Kate. Ich ermahnte mich zu mehr Verständnis. Selber hatte ich Meere von Wut auf die Eltern mitgeschleppt. Erst in jüngerer Zeit waren sie zu Schwimmbädern verdunstet, und ich war inzwischen viel älter. »Debra, laß uns reden. Ich find’s nicht schlimm, daß du so wütend warst, aber du hast mir wortlos einen Vogel gezeigt, und das hatten wir noch nie. Hast du ’nen Rochus auf mich?« »Nein, nicht auf dich.« »Auf wen dann, auf deinen Freund?« »Nein.« »Willst du’s mir nicht verraten?« »Vor ein paar Wochen habe ich Dad besucht. Nach Jahren zum ersten Mal.« Das erklärte den verlorenen Blick in ihren Augen und wohl auch die fressende Wut. Warren wurde im Island State Hospital verwahrt, einer Anstalt auf Long Island für geistesgestörte Täter, und dort angeblich therapiert. Ich kannte mich aus und mir war klar, was Debby gesehen hatte. Nichts Erbauliches, schon gar nicht, wenn ein lieber Mensch dort vegetieren muß. Debby erwähnte den Vater selten, aber sie schrieb ihm gelegentlich. Er antwortete regelmäßig, lange Episteln über laufende Kriege, über Politik und Verbrechen. Fern226
sehen war die einzige Abwechslung da drin, außer Tabletten und den Zombies seiner Umgebung. Sie hatte mir seine Briefe zu lesen gegeben, weil sie sie aus der Fassung brachten. Er verlor offenbar immer mehr die Bodenhaftung. Dennoch hatte er nie angedeutet, daß er Besuch haben wollte. Und auch sie hatte nie den Wunsch geäußert, ihn wiederzusehen. Obwohl, ich hätte darauf gefaßt sein müssen, daß das irgendwann auf die Tagesordnung kam. »Wie geht’s ihm?« »Furchtbar, ganz schlecht.« Sie schüttelte den Kopf, mit den Tränen kämpfend. »Simon, er ist überhaupt nicht mehr er selber. Ich habe sechzehn Jahre lang mit ihm zusammengelebt. Ich kenn ihn doch. Aber den Menschen, den ich da drin besucht hab, den hab ich nicht wiedererkannt. Was ich dort gesehen hab, war nicht Dad. Wer das war, weiß ich nicht … Er hat wie weggetreten gewirkt, aber nicht völlig. Er hat mich immerhin erkannt, und er hat sich gefreut. Simon, er ist jetzt so dick, daß ich in den Speckfalten kaum sein Gesicht hab finden können. Daddy ist nie dick gewesen. Dicksein konnte er überhaupt nicht leiden. Er hat mich angelächelt und dagehockt wie im Traum. Wenn ich ihn was gefragt hab, war’s, wie wenn ich ihn aufwecke. Auf Nachfragen gibt er Antwort, aber bloß mit Ja oder Nein. Simon, er kann keine richtigen Sätze mehr bilden. Es war so traurig. Er ist wieder wie ein kleines Kind. Und bewegen tut er sich wie unter Wasser. Er ist wie betrunken, halb abgestorben. Es ist so furchtbar. Bleibt das so?« »Höchstwahrscheinlich. Was du da gesehen hast, waren in erster Linie die Medikamente. Die verändern ihn so.« Warren war in einem durch Phenothiazin bewirkten Dauerwachtraum ruhiggestellt, schlurfte lange Flure hin227
auf und hinunter, ewig verirrt und auf der Suche. Ich hatte das schon viel zu oft gesehen. Therapieren heißt in solchen Anstalten, chemische Keulen zu verabreichen, Psychopharmaka in massiver Dosierung, dazu alle paar Wochen ein kurzes Gespräch mit dem behandelnden Psychiater. Dabei kommt nicht viel raus. Eine Sackgasse. »Warum machen sie das, warum pumpen sie ihn derart voll? Ist doch menschenunwürdig.« »Zum Ruhigstellen. Das schaltet die Halluzinationen aus und hält ihn nieder, damit er nicht noch mal ausrastet und tötet.« »Also damit er nicht ausrastet, machen sie ihn zum Zombie. Er ist wie aus Die Nacht der reitenden Leichen.« »Ich weiß. Ich kann dir nur sagen, daß sie früher Elektroschocks gegeben haben.« Womöglich bald wieder. Elektroschockbehandlung ist schwer im Kommen. Debby schüttelte angewidert den Kopf, zornig auf die Ärzte, auf ihn, auf mich, aber hauptsächlich auf sich selbst, weil sie nichts dagegen tun konnte. »Willst du noch mal hin?« »Nein.« Sie schmierte sich die Tränen weg. »Als die Besuchszeit um war, hat er geheult. Und zu mir gesagt: ›Debby, komm nie wieder her. Ich hab dich lieb. Komm bitte nie wieder her.‹« Ihr versagte die Stimme, und sie konnte eine Weile nicht weitersprechen. Ich schwieg geduldig. »Ich hab ihn doch auch lieb, Simon, und ich darf ihn nie wieder so beschämen. Deswegen ging’s ihm ja bei meinem Besuch so schlecht. Nein, tu ich ihm nicht noch einmal an.« »Kann ich denn was für dich tun?« »Ja, halt mich fest und sag mir, du schmeißt mich hier nicht raus.« 228
Ich tat wie geheißen. Wie kam sie bloß darauf, ich könnte sie rausschmeißen? Sie schluchzte laut an meiner Brust, und ich drückte sie ganz fest, damit es sie nicht zerriß. Als sie sich beruhigt hatte, fragte ich: »Warum bist du erst jetzt hin? Er ist doch schon lange dort.« »Ich hab das schon die ganze Zeit vorgehabt, seit sie wieder draußen ist.« Ich brauchte nicht zu fragen, wen sie meinte. »Ich hab mir gedacht, wenn die sich in sechs Monaten heilen lassen kann, vielleicht gibt’s dann auch Hoffnung für Dad. Aber ich hab keine sehen können.« »Hast du also deswegen getrödelt, um mit ihr im Taxi zu fahren?« Es stank mir immer noch, daß sie mit Janice gemeinsame Sache gemacht hatte, aber langsam kam ich auf den Trichter. Debby hatte sich in vergleichender Diagnostik versucht. »Ich mußte einfach sehen, wie sie ist.« »Und?« »Sie wirkt völlig normal. Sie war sehr nett und hat offenbar echtes Interesse an mir. Sie hat mich regelrecht ausgefragt.« »Über was?« »Über uns beide, wie wir zueinander gekommen sind und das alles. Und über mich selbst. Ob ich ’nen Freund habe. Wie ich mich bei dir fühle. Solche Sachen.« »Hast du was erzählt?« Was glaubte ich denn, daß sie die Antwort verweigert hatte? »Jetzt werd mir nicht paranoid. Nichts Persönliches. So schlau bin ich auch. Wir haben bloß so gequatscht.« Mein Angstpegel stieg. »Hat sie irgendwas Interessantes gesagt, irgendwas von Bedeutung?« Ich war mir nicht sicher, auf was ich hinauswollte. »Nein, aber eines sag ich dir: Sie ist scharf auf dich.« 229
»Weiß ich. Ich bin ein Mann. Woran hast du’s gemerkt?« »Ich bin eine Frau. Da kannst du mir trauen.« »Ich trau dir.« »Paß bloß auf deinen Arsch auf.« Schon die zweite Aufforderung heute. Meine Lieben formierten sich offenbar zu meiner Rückendeckung. »Mach ich.« Ich blickte mißtrauisch hinter mich, und Debby mußte lachen. »Simon, mal im Ernst: Wie können so verschiedene Leute schizophren sein wie die zwei? Die haben doch nichts miteinander gemein. Dad ist weggetreten. Und die nicht. Irgendwer hat da einen Bock geschossen.« »Wär nicht das erste Mal.«
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19 Janice wollte wohl gar nichts mehr von mir. Sie war weit weg. Ich merkte es daran, daß allmählich die Beklemmung wich, die ich seit ihrer Taxifahrt mit Debby verspürt hatte. Sie rief auch nicht an, das Leben war schön, und ich konnte jeden Tag freier atmen. Debby pendelte zwischen meiner und Bobbys Wohnung hin und her. Wie sie ihr Leben gestalten wollte, hatte sie noch nicht raus, aber sie blieb dran. Ihr Zorn auf mich war verflogen, und wir glotzten wieder wie früher Spätfilme, wenn sie bei mir war. Eines Nachmittags machte ich einen Abstecher ins Guggenheim-Museum, auf der Suche nach der vollkommenen Frau. Ich fand sie in einem Bild auf halber Höhe der Spirale. Sie erinnerte mich an Kates Freundin Jemma, und ein sehnsüchtiger Seufzer entrang sich meiner Brust. Beim Heimkommen vernahm ich Lachen aus Debbys Zimmer. Die Tür stand offen, und sie quatschte und gakkerte mit Kate. Ich hatte das Kate-Mobil ein Stück entfernt parken sehen und war daher nur überrascht, daß noch jemand im Zimmer hockte, eine spillerige Frau etwa Anfang Dreißig. Sofort durchzuckte mich, Kate und Debby hätten sich wieder mal verschworen, mich zu verkuppeln. Entsprechend argwöhnisch trat ich näher, den Gefühlspanzer bis zum Kinn hochgezurrt. Kate rauchte nie Dope, aber die andern beiden zogen sich gerade eine Tüte rein, und würziger Haschischduft erfüllte den Raum. Debby bot mir einen Zug an, und ich ließ mich drauf ein, nicht aber auf den zweiten. Mir war immer 231
noch unwohl bei einem gemeinsamen Joint mit meiner Tochter. Sie stellte mir ihre Freundin vor. »Roberta Kelly. Sie unterstützt mich bei meinen Zukunftsentschlüssen. Meine Karriereberaterin, echt.« Roberta streckte die Hand aus und ergriff die meine. Ein freundschaftlicher Händedruck. »Sehr erfreut, Simon. Debby hat schon allerhand über Sie erzählt, und Kate gerade auch.« Keine Gefahr im Verzug. Nicht mein Typ. Blond, glattgescheitelte Frisur und geradezu beklemmend schmal. Sie trug blusige Klamotten, um Fülle vorzutäuschen, was aber nichts nützte. Ihre Kleidung umschlang hauptsächlich Luft. Ziemlich kantiges Gesicht, aber die sanften grauen Augen strahlten warm und nachsichtig. Ich beschloß, gute Miene zum Spiel zu machen. »Machst du Fortschritte?« fragte ich Debby, als sie den Joint ausdrückte. »Ich bin schon reichlich stoned.« Da mußte ich lachen. Genau wie ich in ihrem Alter. »Kann ich auch als Nicht-Guru sehen. Ich hab gemeint, mit deiner Zukunftsplanung. Du hast hier ja offenbar die besten Beraterinnen.« »Hab ich auch. Ich könnt nächstes Jahr aufs CityCollege wechseln. Das Staatsexamen hätt ich dann in fünf oder sechs Jahren, wenn ich mich ins Zeug lege. Bobbi hat’s genauso gemacht, und sie kann mir helfen. Sie arbeitet in ’ner Anwaltskanzlei und meint, ich könnt dort auch ’nen Job kriegen, Fälle recherchieren.« Bobbi. Bobbi wollte einen Job für sie auftun. Debbys Beraterin und Freundin Bobbi. Mir ging ein Licht auf. Es lag auf der Hand, und sie gin232
gen ja auch so vertraut miteinander um. Die beiden waren zusammen. Ich mußte lachen über meine Ichbezogenheit und meine vorschnellen Vermutungen. Eine neue Frau im Haus. Die nur mir zugedacht sein konnte. Mir verschlug es kurz die Sprache. Debby räusperte sich und wechselte einen Verschwörerinnenblick mit Kate. Kate gab den Blick fragend an Bobbi weiter: »Sollen wir’s ihm verraten?« »Ich glaub, er blickt bereits durch.« Bobbi war keine Dumpfbacke. Ich schüttelte ihr abermals die Hand und sagte dazu: »Das freut mich jetzt aber wirklich. Debby hat mir auch allerhand von dir erzählt. Aber das meiste war leider gelogen. Debra, das mit der grenzenlosen Aufrichtigkeit ist doch deine Idee gewesen. Warum hältst du dich nicht daran? Hast du gemeint, ich raffe das nicht?« »Das war’s nicht. Ich hab gemeint, wenn du’s weißt, schickst du mich in ’ne Therapie oder so. Ich hab ’nen Bammel gehabt, du hättest vielleicht was dagegen, und da hab ich’s erst mit Kate durchsprechen müssen.« Ich blickte bestätigungsheischend zu Kate hinüber. »An dem Abend, wo du mich abgewimmelt hast?« »Ja. Sie wollte nicht, daß du noch da bist, wenn sie kommt, sie hat es dir noch nicht sagen können. Sie mußte noch mit einer anderen Frau darüber reden als nur mit Bobbi.« »Ich hab gemeint, du schmeißt mich womöglich raus«, erläuterte Debby. »Kate hat gesagt, keine Bange, aber ich hatte trotzdem Schiß. Ich hab befürchtet, du sagst dann, ich hätt wieder Scheiße gebaut.« Es gab mir einen Stich. Reue, daß ich ihr gegenüber derart versagt hatte. Doch faßte ich mich schnell. So war halt 233
das Leben. Ihre Furcht, offen mit mir zu reden, wurzelte in ihren ureigenen Ängsten und in der generellen Menschenscheu unserer Zeit. Ich brauchte mir nicht die Schuld an allen Gebrechen der Gesellschaft zuzurechnen. Als ich geschluckt hatte und wieder sprechen konnte, fand ich die knappste Formulierung: »Debra, Frauen lieben ist nicht Scheiße bauen.« Bobbi klatschte spontan, und Kate schloß sich mit einem »Hört, hört!« an. Debby stand auf und drückte mich. Da hatte ich eine Prüfung bestanden, ohne es zu wissen. Wir zogen in die Küche und bereiteten die nächsten zwei Stunden ein grandioses Abendessen zu, Reiscurry mit Tofu, gefolgt von einem selbstgebackenen Apfelstrudel. Ein richtiges Fest. Wir fraßen wie die Scheunendrescher. Kate thronte am Kopfende des Tisches und lächelte Lob. Wir hatten ihre höchsten Erwartungen erfüllt. Debby fühlte sich mit Bobbi offenbar wohl bei mir. Die beiden gingen lieb miteinander um, keine Sarkasmen oder Sticheleien wie so oft bei Pärchen. »Wie lange weißt du es schon?« wollte ich von Debby wissen. »Eigentlich schon, seit mir der Busen gewachsen ist. Ich kam bloß nicht damit klar. Du weißt ja, zu jung. Also hab ich mich halt schwängern lassen, beim ersten und einmaligen Verkehr mit ’nem Mann. Sozusagen. Daß das nicht mein Ding war, hab ich jedenfalls gleich gemerkt. Er war etwa so zart wie ein Präriebüffel, Hände wie Ziegelsteine. Keinen blassen Dunst, was eine Frau braucht, und es war ihm auch schnuppe. Wenn er nur abspritzen konnte, war er schon selig. Ich glaub, der hat nicht mal gewußt, was ’ne Klitoris ist, und erst recht nicht, für was sie gut ist.« Kate nickte, den Blick in die Feme gerichtet, die Oberlippe sacht verzogen. »Solche hab ich auch gehabt«, be234
merkte sie. »Erst letzten Monat.« Unser Gelächter war voller Spott, aber befreiend. »Manche Männer kommen nie drüber hinaus. Manchmal weiß ich nicht, warum ich mich mit denen überhaupt noch abgebe. Na gut, freilich weiß ich’s«, grinste sie, mit Glitzerblick. Einen Augenblick konnte ich mir vorstellen, wie sie als Sechzehnjährige gewesen sein muß. Sie fixierte Debby und wurde ernst. »Selbstverständlich hast du weitergemacht und dich mit andern Jungs verabredet, oder?« »Freilich, aber ich meine, irgendwie hab ich’s die ganze Zeit gewußt, ich konnt’s bloß noch nicht vor mir selber zugeben. Ich hab dann über Jungs mit weichen, fraulichen Gesichtern phantasiert. Und bald, das war dann nur noch ein kleiner Schritt, hab ich mir nackte Frauen vorgestellt. Und war mir immer noch nicht hundertprozentig sicher. Bis es mir eines schönen Tages beinah gekommen ist. Unter der Gemeinschaftsdusche. Ich war heilfroh, kein Mann zu sein, sonst hätte sie ja was gemerkt. Und von dem Moment an war ich mir sicher. Ich hab mich bloß noch nie verliebt, nicht vor Bobbi. Und seither bin ich nicht bloß sicher, sondern fühl mich saugut dabei. Und gleichzeitig hab ich ’nen Bammel gehabt, du läßt mich nicht mehr bei dir wohnen, wenn du es weißt.« »Deshalb wolltest du ständig wissen, ob ich dich nicht rausschmeiße.« »Klar.« »Kannst wohnen bleiben. Du Glückliche.« »Warum Glückliche?« »Weil du jetzt wenigstens über eins im Leben Gewißheit hast: Du bist verliebt.« »Stimmt«, bestätigte Kate. »Das ist mehr, als einer von uns beiden sagen kann, und wir sind hier angeblich die Reiferen.« 235
»Dann macht euch das mit uns nichts aus?« vergewisserte sich Bobbi. »Ich hatte eher Muffe wegen des Altersunterschieds. Ich hatte Angst, ihr würdet glauben, ich hätt sie verführt. Hätte mir gestunken, so als Sittenverderberin dazustehen.« »Nein, mir macht’s nichts aus«, bestätigte ich. »Meine Mutter war acht Jahre älter als mein Vater. Tommy und ich haben früh gelernt, da keine Vorurteile zu hegen. Sie hat uns richtig erzogen. Wir mußten uns hinsetzen, und dann sagte sie uns vor: ›Wahre Liebe kennt weder Alter, Hautfarbe noch Geschlecht‹, und ließ uns das nachsprechen. Sie war ihrer Zeit weit voraus.« »Eine bemerkenswerte Frau«, staunte Kate. »Kein Wunder, Simon, daß sie einen so liebenswerten Sohn hat. Wenn die Mutter in Ordnung war, ist es auch der Mann. Ich bin froh, daß ich sie noch kennengelernt habe und öfter mit ihr reden konnte, bevor sie gestorben ist.« Sie wandte sich an Bobbi. »Sie hätte eure Beziehung ganz und gar gebilligt. Wär ihr egal gewesen, ob du ihre Enkelin verführt hast.« »In Wirklichkeit war’s wohl eher andersrum«, ließ sich Debby vernehmen. »Ich hab sie verführt.« Sie hob und senkte die Augenbrauen wie ein schuldbewußter Groucho Marx. Bobbi fing an zu geiern, und wir alle kriegten erneut einen Lachkrampf. Was für eine schrecklich nette Familie! Beim Kaffee fragte Debby, ob Janice schon wieder aufgetaucht sei. »Nein, die ist weg vom Fenster, und mir ist’s recht so.« »Kann ich dir nicht verdenken«, sagte Bobbi. »Die macht mir Gänsehaut.« »Du kennst sie?« Meine Alarmglocken schrillten wieder. Konnte kein harmloser Zufall sein. 236
»Klar doch«, antwortete Debby an ihrer Stelle. »Damals mit dem Taxi. Ist einfach mit raufgekommen. Nichts weiter.« »Nichts weiter?« wiederholte ich in der Gewißheit, da war doch was. Ich wandte mich an Bobbi. »Was macht dir Gänsehaut?« »Weiß nicht so recht. Nichts, was sie gesagt oder gemacht hätte, eher das Wie. Ich weiß nicht. Sie wirkte unecht, irgendwie hölzern, viel zu bemüht. Machte mir ein mulmiges Gefühl.« »Lang ist sie nicht geblieben«, verharmloste Debby. »Viel zu lange«, sagte Bobbi. »Was Neues?« fragte ich, las aber die Bestätigung schon in Tommys Lachfältchen. »Erst sagst du mir, was du weißt, meins hat Zeit.« Ich meldete, Bobbi heiße Roberta, und ließ ihn den Rest selber folgern. Er überlegte kurz, schüttelte verwirrt den Kopf, so daß ich meinte, ihm auf die Sprünge helfen zu müssen. »Deine Nichte ist lesbisch.« »Danke, wußte das Wort nicht. Quatsch. Ich hab nur überlegt, wie mir so was entgehen konnte.« Er kratzte sich mit beiden Händen den Grind. »Überrascht mich nicht«, nickte er dann. »Also, großer Bruder, hast du zufällig Janice gesehen?« »Nein. Ich genieße es regelrecht, daß sie fort ist. Aber ich hab dir ja gesagt, von der hören wir nichts mehr. Sie will wohl doch nichts von mir.« »Aber fett!« Ich hob die Augenbrauen. »Kennst du noch das Spiel ›Ich sehe was, was du nicht siehst‹?« 237
Ich nickte. »Na gut«, sagte er mit einem spitzbübischen Lächeln, »ich verrat es dir. Es sieht rot aus. Guck mal aus dem Fenster.« Ich ging hin. Auch Erwachsene mögen Kinderspiele. »Schau geradeaus.« Ich tat wie geheißen. »Jetzt dreh den Kopf langsam um etwa fünfundvierzig Grad nach rechts. Langsamer. Und jetzt, was siehst du jetzt?« »Einen großen Umzugslaster beim Entladen. Ein paar Stühle, Teppiche auf dem Gehweg, einen Riesenteddybären. Willst du damit etwa sagen …?« Unmöglich, undenkbar. »Ich hab dir doch gesagt, sie kommt wieder, wenn sie was von dir will. Da hast du sie.« Mich fröstelte. »So was gibt’s doch nicht.« »Notier bitte in deinem Poesiealbum, du hast dich geirrt. Du bist nicht der einzige in der Familie mit Intuition. Sag ich ja schon immer.« Mir drehte sich der Kopf. Ich hatte schon mal Patienten gehabt, die mich beschatteten, aber das hier war restlos ausgeflippt. Übertragung auf den Therapeuten als Amoklauf. »Sieh’s doch positiv«, spöttelte Tommy. »So behältst du sie leichter im Auge.« »Und sie mich.« Etwas schnürte mir die Luft ab. Ich hätte nie an Entwarnung glauben dürfen. Mein Fensterplatz verfügt über einen Zauber. Ich bilde mir ein, niemand sieht mich, wenn ich in ein Buch oder in Gedanken versunken dasitze. Ist eine Art Wahnvorstellung, 238
verschafft mir aber Privatsphäre, solange der Zauber wirkt. Und jetzt tat mir jemand Gewalt an. Meine Privatsphäre oder das, was ich dafür hielt, wurde aufgehoben. Janice promenierte öfter an meinem Fenster vorbei als für ihre Alltagsverrichtungen notwendig. Sie lief ersichtlich immer dann ins Bild, wenn ich mir einen Kräutertee gebrüht hatte und mich in meinem Kugelsessel niederließ, ganz wie ein Endlosfilm, der sich nicht abschalten läßt. Blickkontakt suchten wir nie, aber sie war ständig präsent wie ein Pfau, der Rad schlägt. Beobachten tat sie mich nicht. Sie ließ sich von mir beobachten. Ich bat Tommy, ein paar Dinge zu überprüfen, und er kümmerte sich wie immer eifrig darum. Die ersten Wochen richtete Janice ihre neue Wohnung ein. Geld war kein Problem. Sie eröffnete Bankkonten, orderte Kreditkarten und gab mich dabei als Referenz an. Daran hatte Tommy seinen besonderen Spaß. Pflichtschuldigst nahm sie ihre Sitzungen bei Dr. Katz wahr, und sie trainierte zweimal wöchentlich im Ganzheitlichen Fitneßcenter. Allmorgendlich joggte sie am East River entlang, mit einem Walkman, um den Verkehrslärm auszublenden. Sie fand Arbeit als Betreuerin in einem von der Stadt subventionierten Heim für mißbrauchte Kinder. Das war sogar Tommy zu zynisch, und er hatte schon allerhand Zynismen erlebt. Sie mimte den Neuanfang, direkt vor unseren Augen. Dann erstand sie einen Welpen, einen Goldenen Retriever, etwa drei Monate alt. Noch ein Vorwand, zweimal täglich an meinem Fenster vorbeizuspazieren. Damit schaffte sie mich. Ich gab die erste Runde verloren. Ich räumte meinen Fensterplatz. 239
20 Ein paar Tage nach Erntedank rief sie an. »Hallo, Simon.« Sie schnurrte wie ein Kätzchen auf Automatik. »Ich bin’s Janice.« Eine weiße Fahne hatte ich nicht, also konnte ich keine hissen. »Ja, Janice, ich weiß. Kann ich was für dich tun?« heuchelte ich. »Du klingst am Telefon so sachlich. Ich erkenn deine Stimme kaum wieder.« Sie atmete, als bürste sie sich dabei die Haare, mit verfitzten Strähnen dazwischen. »Weißt du schon, daß wir Nachbarn sind?« »Klar weiß ich das. Janice, warum machst du so was?« »Ich hab Daddy zurück nach Ann Arbor geschickt, und ohne ihn hab ich’s im Hotel keine Minute mehr ausgehalten.« Vor ein paar Wochen hatte sie noch behauptet, sie halte es mit ihm dort nicht aus. »Ich meine, warum bist du ausgerechnet gegenüber eingezogen?« »Ist eine schöne Wohnung, und sie war frei.« Sie stockte, wie auf der Suche nach Argumenten. »Liegt auch nahe an meinem neuen Arbeitsplatz.« Sie stockte wieder, länger. Und haspelte das nächste wie atemlos herunter: »Und ich wollte dir nahe sein. Kannst du morgen zum Abendessen kommen? Eine Art Wohnungseinweihung, völlig zwanglos. Komm einfach, wie du bist.« Als sei das Routine zwischen uns. 240
Ich nahm einen Schluck Pfefferminztee, aus eigenem Anbau. Mit Übertragung hatte das nichts mehr zu tun. Eher mit der Versuchung des heiligen Antonius. »Wär reichlich unprofessionell«, wich ich aus. »Aber, aber«, klimperte sie mit den Augendeckeln. Psychologen hören dergleichen am Telefon. »Du kommst doch?« Wieder Töne wie von einer rolligen Katze. »Ich werd da sein.« Würde mir nicht leichtfallen, das Tommy zu verkaufen. »Diese Frau rückt mir immer mehr auf den Pelz, und sie mischt sich Schritt für Schritt in mein Leben ein. Ich kann zusehen, wie sie mich fertigmacht«, wütete ich gegenüber Kate. »Simon, du klingst nicht gerade rational.« »Ich weiß. Will ich ja auch nicht sein. Ich hab eine Stinkwut. Deshalb ruf ich dich an. Noch eine Woche, und ich muß in der Küche hausen. Das muß aufhören.« »Was?« »Die Belagerung. Die verliere ich.« »Wer ist denn hier im Krieg mit wem? Sie mit dir, oder du mit dir selber? Hör mal, sie mag dich. Weißt du doch längst. Ihr Vater ist fort, und sie fühlt sich einsam, und wahrscheinlich hat sie eine Heidenangst. Hat dir ihr Therapeut nicht gesagt, daß sie sich dir nahe fühlt? Na schön, ist sie jetzt halt in deiner Nähe oder zumindest in deiner Nachbarschaft. Vielleicht will sie sonst nichts.« »Ist das dein Ernst? Ich will ihr weder nahe sein, noch will ich sie in meiner Nähe. Kate, ich sag’s dir: Die ist ein Pulverfaß!« »Und ich meine nach wie vor, du hast Angst vor dem, was du für sie fühlst. Bevor du jetzt in den Krieg ziehst, klär lieber erst mal für dich, wo der Feind steht.« 241
»Ich seh schon, an der Frage muß ich mich abarbeiten, bis mein Adrenalinspiegel wieder sinkt.« »Hoffentlich kriegst du bald Klarheit.« »Krieg ich. Ob ich’s bis morgen abend schaffe?« »Warum?« »Ich geh zu ihr abendessen.« »Wozu das?« »Ich will ihr Bescheid stoßen, ein für allemal.« »Richte ihr schöne Grüße aus.« »Du machst wohl Witze.« »Klar. Simon, bevor du ihr Bescheid stößt, vergewissere dich, daß du selber Bescheid weißt.« Ein guter Rat. Nur ein Depp hätte ihn in den Wind geschlagen. Und kompetente Psychologen wissen, wann sie kapitulieren und jemand anderen fragen müssen, was eigentlich Sache ist. Jedesmal, wenn ich jemand brauche, der mir bei einem Fall Bescheid stößt, pilgere ich zu Olga Klein, der ältesten Fachfrau der Welt für Rorschachs. An Olga hatte es unter anderem gelegen, daß ich mich überhaupt für die Psychiatrie entschieden hatte, abgesehen von der naiven Vorstellung, durch psychologisches Wissen und Selbsterkenntnis werde das Leben weniger schlimm. Für die meisten anderen Assistenten der Psychiatrie war Olga eine Randfigur. Wenn sie sich überhaupt an sie entsannen, dann weil sie als Hexe verschrien war. Für mein Leben aber wurde sie zu einer Leitfigur. »Psychiatrie ist legalisierte Drogenverabreichung«, belferte sie. »Da lernst du kein Tüttelchen, wie du andern hilfst. Für dergleichen muß man ernsthaft studieren.« Sie hatte recht, und ich ergänzte meinen Lebenslauf später um eine Habilitation in klinischer Psychologie. Letztendlich lernte 242
ich sogar etwas über Psychotherapie, jedenfalls genug, um zu wissen, daß ich dergleichen nicht praktizieren wollte. Und konnte noch mal drei Jahre Student bleiben. Bei unserer ersten Begegnung gab Olga Kurse in psychologischer Diagnostik, und das Seminar fand bei ihr zu Hause statt. Sie wollte uns unbedingt aus der Klinik heraushaben, damit wir nicht vergaßen, da draußen war eine Welt voller Käuzinnen wie sie. Ihre Wohnung ähnelte einer Gruft mit vor Jahrtausenden weggeworfenen Urnen und Krügen. Möbel hatte sie keine, aber massenhaft Teppiche, aus dem Mittleren und Fernen Osten, dazwischen südamerikanische und nordafrikanische. Wenn sie uns beobachtete, wie jeder sich seinen Teppich wählte, griente sie immer in sich hinein. Es war stets finster, und zu Beginn des Seminars oder vielmehr der Séance zündete sie Räucherstäbchen an. Olga war Puristin. Als Veganerin aß sie nichts außer Obst und Beeren, also Früchte, die bereits vom Baum oder von der Ranke abgefallen waren. Sie wollte kein Lebewesen töten, um sich zu ernähren, nicht mal eine Mohrrübe. Mit der Konsequenz, daß sie so klapperdürr war wie Mahatma Gandhi. Ich schätzte sie auf irgendwo zwischen fünfundsiebzig und hundertneun. Wenn sie ihre beträchtlichen Energien aber fokussierte, konnte sie mit ihren hochgeschätzten Tests jedes Geheimnis lüften. Sie war eine begnadete psychologische Detektivin. Sie weigerte sich schlicht, vor dem Intellekt eines anderen die Segel zu streichen. Soviel immerhin hatten wir gemeinsam. Ich erinnere mich noch, wie ich Olga einmal bat, mein Protokoll über den unverständlichen Wortschwall einer Frau zu lesen, die mir im Fahrstuhl begegnet war. Auch so ein Auftrag von Olga: Sucht euch jemand im Aufzug, der 243
sich einer entnervenden Testbatterie stellt, damit ein übermüdeter Psychiatrieassistent endlich Steno lernen kann. Die erste, die ich fragte, eine einsame Frau, die im Grunde viel argwöhnischer hätte sein müssen, ließ sich noch für denselben Abend zu diesem Test breitschlagen. Zur Verblüffung aller, bloß nicht von Olga, fanden sich häufig in ein und demselben Aufzug vier oder fünf Freiwillige, die wetteiferten, bis der Gewinner feststand. Die Leute konnten gar nicht genug davon kriegen, sich seelisch zu entblößen. Wir waren noch nicht soweit, daß wir Testergebnisse interpretieren konnten, sondern sollten erst Fehler in der Anwendung der Testbatterie vermeiden lernen. Olga überflog unsere Niederschriften in etwa neunzig Sekunden und befand sie entweder für einwandfrei oder für Müll. Die diagnostischen Tricks wollte sie uns später beibringen. Nachdem Olga mein Gekritzel zu den Reaktionen der Probandin auf die Rorschachkarten durchgeblättert hatte, hatte sie mich angesehen. »Eine Bekannte von dir?« hatte sie wissen wollen. »Nein, ist aus dem Aufzug, genau nach Anweisung.« »Kannst du sie wiederfinden?« »Ja, sie wohnt bei mir im Haus.« »Ich würde dir empfehlen, das folgende Dilemma auf dich zu nehmen: Eine Frau, die du kaum kennst, hat dir gesagt, sie will sich umbringen. Vielleicht wollte sie es dir gar nicht sagen. Oder es war ein Hilfeschrei. Schwer zu sagen. Jedenfalls ist die gute Frau so gut wie tot, wenn niemand was unternimmt.« Ich hatte es auf mich genommen. Mir war zwar klar, daß ich keinen Schimmer hatte, was ich ihr sagen sollte, aber hin mußte ich. Ich klingelte an der Tür, und eine ältere 244
Frau machte auf. Ihre Mutter, allein in der Wohnung. Zwei Nächte vorher hatte die Tochter ihrem Leiden ein Ende bereitet, sicherheitshalber mit Schlafmitteln, Schnaps und einer Rasierklinge zugleich. Zuwenig unternommen, und zu spät. Damit hatte meine Ausbildung zum Psychoanalytiker angefangen. Und Olga Klein, die mit und unter jedem Mitglied von Freuds innerem Kreis gearbeitet zu haben behauptete, erwählte mich als ihren Lehrling. Sie pflegte zu jeder beliebigen Tages- oder Nachtstunde anzurufen, die Nummer der Rorschachkarte zu nennen und mir die Antwort eines Probanden vorzulesen. Dann mußte ich interpretieren. »Karte zehn, die blauen Umrisse. ›Das sind Blutegel. Sie saugen die Kühe aus, die auf dieser Wiese grasen.‹« »Wenn’s weiter nichts ist, kommt sie bald drüber weg. Drei Monate Gewöhnung an das Baby, und die postnatale Depression hat sich gelegt.« »Ganz meine Meinung«, knurrte sie dann und legte auf. ›Auf Wiederhören‹ sagte sie nie. Seit jener Zeit ging ich immer zu Olga, wenn ich einen kniffligen Fall hatte, bei dem ich nicht mehr aus noch ein wußte. Sie war gnadenlos, und ich verbissen. Wassermann und Löwe ergeben ein großartiges Team. Ich brachte ihr Janices Rorschachprotokoll. Olga will keinerlei Angaben bis auf Alter und Geschlecht der Probanden. Ich kannte ihre Methode. Jetzt mußte ich fünf Minuten, wenn nicht fünf Stunden hier sitzenbleiben, während sie prüfte und verglich, sinnierte, Geister beschwor und Zigaretten paffte. Auch das Rauchen betreibt sie mit äußerster Konsequenz. Jeden wachen Moment ihres Lebens, egal, wie lange dieses nun schon dauern mag. Ich frage mich immer, wie sie Zigaretten ausschließlich aus 245
Tabakblättern auftreibt, die von allein von den Stauden gefallen sind, traue mich aber nie zu fragen. Einmal allerdings wollte ich wissen, warum sie kettenrauche, und da hatte sie gekeckert: »An irgendwas muß man ja verrekken.« Sie studierte Janice etwa eine Stunde lang, bevor sie was sagte. Mit einer Stimme, als knirsche Glas. »Macht mir zu schaffen.« Sie drückte ihren Stummel aus und zündete die nächste an. »Nein, schlimmer. Macht mir angst. Diese Frau zeigt uns mehrere Persönlichkeiten. Keine Facetten von einer einzigen, auch keine multiple Persönlichkeit, nichts Schizophrenes und auch sonst keine andere mir bekannte Geistesstörung. Sie verfertigt Persönlichkeiten nach Lust und Laune. Hat wohl etliche in Reserve. Hätte Schauspielerin werden sollen. Ist natürlich alles Abwehr. Ein geschädigtes Kind, schon im Mutterleib verätzt. Die Mutter Alkoholikerin, würde ich sagen. Der Vater wohl auch, weil hier niemand drinsteht«, sie pochte auf das Protokoll, »der sie retten kann. Ich würde sagen, sie ist Nymphomanin. Sie frißt und nährt sich durch ihre Vagina. Zu Intimitäten mit ihr würde ich nicht raten. Ein Gewissen fehlt fast ganz, ähnlich dem Persönlichkeitsprofil eines Vergewaltigers. Bei Frauen findet man das so gut wie nie. Ich sehe nicht den geringsten Ansatz von Schuldgefühl.« Sie paffte ein paar Minuten lang schweigend vor sich hin. »Was noch?« fragte sie sich laut. Sie holte ihren Kartonsatz heraus, ein Original von 1921, wie sie immer behauptet, und begann die Karten zu drehen, aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, wie Janice. »In puncto Intelligenz würde ich sie unter die obersten zehn Prozent einstufen.« Noch mehr Sorgenfalten. »Sie verabscheut die Mutter, würde sie am liebsten durch den Wolf drehen, und Kind möchte ich bei der auch nicht sein. Würde mich vielleicht ebenso durch den Wolf 246
drehen. Ihr Mann, so sie einen hat, ist mit Sicherheit fix und fertig und hat wohl auch kein Gemächte mehr.« Sie stockte und hielt den Kopf schräg, als lausche sie auf eine bestimmte Frequenz. »Die meisten Sorgen mache ich mir über dich. Simon, du bist da ziemlich engagiert, was?« »Das liest du auch aus dem Rorschach?« fragte ich, immer wieder verblüfft von Olgas Hexerei. »Nein. Aus deinem Gesicht. Du machst dir Sorgen, was sie alles anstellen könnte. Du fühlst dich verpflichtet, was dagegen zu unternehmen, und sie hat bereits jemand durch den Wolf gedreht, oder du würdest nicht hier sitzen und gezwungenermaßen passivrauchen. Wenn ich alles zusammenzähle, weiß ich, du hängst da mit drin. Sieh mal, die Frau da ist ewig auf der Suche nach einem Vater, und zwar einem, der dem eigenen so unähnlich ist, wie es psychologisch überhaupt geht. Sie will einen Mann, der was leistet, der Macht hat, der sie endlich irgendwie zügeln kann. Im Grunde haßt sie die Männer, aber sie sucht immer noch nach dem einen, auf den sie sich verlassen kann. Ich glaube, das bist du, oder du bist zumindest ein aussichtsreicher Kandidat. Vielleicht sind da noch andere. Das ist keine Frau, die sich einem Mann öffnet, bevor sie ihn nicht mit Haut und Haaren verschlungen hat. Simon, sie liebt dich wie einen Vater, in diesem Fall kein großes Kompliment. Sie will über dich herrschen und hofft zugleich, daß du stark genug bist, sie kirre zu machen. Sie will mit dir spielen.« Olga saugte an ihrer Zigarette und kniff vor dem Rauch das rechte Auge zu. »Sie will dich haben, und sie kriegt meistens, was sie will. Und sie kann tödlich verletzen. Gefällt mir ganz und gar nicht. Ich mach mir Sorgen um dich. Also gut, jetzt kannst du es mir sagen. Was hat sie getan?« 247
Ich nannte zuerst meine Vermutungen über Ed und Margery und berichtete dann, was sie mit Dennis und Sean gemacht hatte. »Meinst du, sie tötet wieder?« fragte ich sie. »Warum nicht? Hat ihr Spaß gemacht. Und hat funktioniert. Sie ist alle losgeworden, die ihr im Wege waren.« »Drei Fragen noch. Hat sie einen Plan? Ich muß unbedingt rausfinden, ob sie so was wie ein Langzeitdrehbuch hat, weil ich wissen muß, welche Rolle mir zugedacht ist.« »Ich glaube nicht, daß sie so vorgeht. Sie ist gefühlsmäßig nicht reif genug, sich Zukunft vorzustellen. Sie ist eher wie ein körperloser Schlund, unersättlich, weil völlig ohne Verbindung. Und danach strebt sie – Verbindung herzustellen. Versteh mich nicht falsch. Ich hab nicht von Beziehung gesprochen. Sie sucht ein Wirtstier, bei dem sie aufhucken kann. Sie glaubt, damit endlich Befriedigung zu finden, aber das ist ihr nicht möglich. Pläne macht sie schon, aber nur kurzfristige. Sie ist die wandelnde Gier. Sie blickt nicht weiter als bis zur nächsten Mahlzeit. Und wenn sie die nicht kriegt oder es ihr nicht schmeckt, und es wird immer mal fad, dann kriegt sie Wut. Eine Riesenwut. Sie hat keine Hemmungen, sich auszutoben. Diese Wut macht mir angst. Könnte sich leicht gegen dich richten. Nimm dich bloß in Acht, Simon. Du bist offenbar die Hauptmahlzeit.« Endlich eine Verbündete, jemand, der genau wie ich spürte, wie gefährlich Janice war. »Wenn sie Wut auf mich kriegt, was ist dann zu erwarten?« »Ein Ausbruch, oder ein ausgewachsener Feldzug.« Nicht noch einen, das hielt ich nicht aus. »So oder so, du verlierst. Sie ist einfach abgefeimter. Und irgendwann zieht sie dann weiter, denn sie geht absolut pragmatisch 248
vor. Weiß nicht. Schwer zu sagen, was sie tun wird, aber das kennst du ja.« »Noch eine letzte Frage. Bitte nicht auslachen, Olga. Spontane Antwort genügt. Würdest du bei ihr abendessen?« Sie konnte dennoch nicht an sich halten. »Bist du irre? Abendessen? Wen soll’s denn geben?« gackerte sie los, verlor aber dann an ihren Raucherhusten. Als sie wieder Luft bekam, erklärte sie: »Nicht mal als Leiche ginge ich hin, und alleine erst recht nicht.« Viele sagten das auch über Olga Klein. »Sag mir das Wort für sie«, forderte ich sie auf. Olga hatte mir eine sehr nützliche Verstandesübung beigebracht: die Muttersprache nach dem einen Adjektiv abzusuchen, das einen Probanden am besten charakterisiert. Olga ist darin sehr begabt und findet immer das treffende Bild. »Zerfleischt.«
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21 Olgas Worte dröhnten mir im Kopf, während ich meine Vorkehrungen für das Stelldichein mit Janice traf. Früher hätte ich mich darauf gefreut und es ausgedehnt wie ein verlängertes Vorspiel. Jetzt aber hatte ich nur die Dusche danach im Sinn. Ich trank ein Glas frischgepreßten Papayasaft gegen Bluthochdruck und malmte vier Mohrrüben gegen Nachtblindheit. Ich hatte nie ernsthaft erwogen, die Einladung von Janice auszuschlagen, denn das wäre zwar mutig gewesen, aber nicht eben klug. Ich mußte da hin. Um ihr Gelegenheit zu geben, ihre Wunschträume an der Wirklichkeit zu messen, damit wir alle endlich wieder zu einem normalen Leben finden konnten. Das Ganze dauerte schon viel zu lang. Die Klamotten wählte ich sicherheitsbewußt: weite braune Rippkordhosen, steif und kratzig, ein gammeliges altes schwarzes T-Shirt mit gelbem Friedenssymbol, drüber ein dezent violett gestreiftes Hemd aus Grobleinen, eine braune Krawatte mit Windsorknoten und eine Strickweste aus Bolivien mit grasenden Lamas, ebenfalls rauh und kratzig. Die ungewohnte Krawatte sollte mich nicht bloß würgen, sondern auch ständig ermahnen, was mir blühen mochte, wenn ich zu leger wurde: Einmal nicht aufgepaßt, und du wirst am Halse aufgehängt, bis zum Tode. Die Kleidung sollte unerwünschte Schwingungen von vornherein neutralisieren. Ich tätschelte Tupelo und drückte meinen Bart an ihre Schnauze, damit ein wenig von der Aura des Goldenen Retrievers auf mich abfärbte. Niemand ist so verrückt, ei250
nem Goldenen Retriever was anzutun. »Paß bloß auf, Simon«, klopfte sie mit dem Schwanz. Ich beruhigte sie, indem ich sie mitnahm, als Personenschutz. Janice war nicht so abweisend angezogen. Sie trug hautenge Jeans, die ihre vorstehenden Hüftknochen betonten. Hinter dem Reißverschluß keine Spur von Bauch. Oben herum ein flauschiger Mohairpullover, babyblau und zwei Größen zu klein, unter dem sich jede Einzelheit ihrer Brüste abzeichnete. Kein BH. Kein Höschen. Da war ich wieder siebzehn und sie die unselige Eistüte, die geschleckt werden wollte. Ich ermahnte den Siebzehnjährigen, seine Zunge im Zaum zu halten. Er gehorchte. Janice war nervös und fickrig wie ein Schulmädchen. Sie umarmte mich linkisch, mit abgespreizten Fingern, und gab mir links und rechts Küßchen. An den Händen hatte sie eine widerlich grüne Paste, die wohl ein Avocadodip werden sollte. Sie wischte die Pampe an einem Papiertuch ab, komplimentierte mich herein und machte die Wohnungstür hinter mir zu. Psychologisch zeugte die Wohnzimmereinrichtung von Eklektizismus: Klappsofa von Castro mit sichtlich selbstgeknüpften Schondeckchen, hochglanzpolierte pseudoklassizistische Eßzimmergarnitur aus dem ganzjährigen Sonderangebot und der Riesenteddy, den ich bei ihrem Einzug auf dem Gehweg gesehen hatte. Er saß auf dem Boden, für einen Sessel zu groß. An der Wand eine Reproduktion von Modigliani, dazu Andy Warhols Suppendosen und ein Poster von Madonna. Auf dem unvermeidlichen Couchtisch aus Glas und Chromstahl harrte ein Schälchen Maistacos des Avocadodips. Eine Flasche im Sektkübel, zwei Kelchgläser daneben. Wir nahmen schräg zueinander Platz, in gegenüberliegenden Sofaecken. 251
»Wie geht’s denn so?« brach sie das Eis. »Janice, weißt du doch. Du siehst mich doch fast täglich.« Sie schlug die Augen nieder, wie bei was Unrechtem ertappt, und wechselte hastig das Thema. »Und was macht Debby?« »Warum willst du das wissen?« fragte ich stirnrunzelnd zurück. »Gehört doch zur Familie. Sei nicht so pingelig. Dürfen wir nicht mal ein bißchen plaudern?« »Janice, entschuldige mal. Für mich ist Debby kein Plauderthema. Sie ist meine Tochter.« »Okay. Sorry.« »Ich muß ein paar Dinge wissen, auch wenn es deine Geduld vielleicht strapaziert. Wenn es zwischen uns überhaupt zivil zugehen können soll, brauche ich klare Antworten. Erstens: Woher hast du von Debby gewußt, vor deinem Besuch bei mir? Und zweitens: Warum bist du danach mit zu ihrer Freundin?« Sie antwortete ohne Zögern. »Zuallererst möcht ich sagen, daß ich für uns beide viel mehr erhoffe als eine Freundschaft.« Wimperngeklimper wie gestern am Telefon. »Und zu deinen Fragen, nun, das ist schnell gesagt. Ich hab nichts zu verbergen. Ich weiß allerhand von dir, weil, ich hab mich über die Jahre auf dem laufenden gehalten. Versteh mich nicht falsch, ich hab dir nicht nachspioniert oder so, aber jeden deiner Fälle, über den was in der Zeitung stand, hab ich nachrecherchiert. Und Debby, weißt du, ist nicht grade ein Geheimnis. In der Klapsmühle haben sie mich an den Computer in der Bibliothek gelassen. Zum Zeitvertreib hab ich mich im Internet getummelt. War wenigstens was Sinnvolles. Und 252
einmal hab ich gesucht, ob es einen Who is Who der Psychiatrie gibt. Und wirklich in einer Datei der American Psychiatric Association eine Kurzbiographie über dich gefunden. Von da weiß ich das.« Sie lehnte sich zurück, selbstzufrieden, alles die reine Wahrheit. »Und zweitens?« »Ach ja, ’tschuldige. Na gut, um ehrlich zu sein, kam mir gerade zupaß, das Taxi mit ihr, auch wenn ich dafür in die Gegenrichtung mußte. Sie ist deine einzige andere Bezugsperson. Ich wollte sie nur mal näher kennenlernen. Mehr nicht. Hör mal, ich muß grad mal auf einen Sprung in die Küche.« Sie schaltete auf ihre Imitation von Doris Day. »Sieh dich doch um. Das Schlafzimmer liegt nach hinten raus. Für dich ist nichts tabu.« Sie huschte hinaus, um noch eine Avocado zu massakrieren. Als ich Janices Einladung annahm, hatte ich auch ein bißchen rumschnüffeln wollen. Genau die Chance, auf die ich gelauert hatte. Nonchalant schlenderte ich durch die Wohnung, auch ins Schlafzimmer. Eine regenbogenfarbene Duftkerze flackerte auf dem Nachttisch. Ich ignorierte das Doppelbett, bereits einladend für die Nacht aufgeschlagen, und mied geflissentlich, was nach Schubladen mit Dessous aussah. Statt dessen wandte ich mich stracks zum Schreibtisch. Ich las Buchrücken und blätterte kurz durch Bildbände, genau wie sie es beabsichtigt hatte. Ich hatte gerade noch kurz die Fotos an der Pinnwand begutachten können, da erschien Janice schon in der Tür. Vom bisher Gesehenen ging mir schon voll die Muffe. »Was treibst du da?« fragte sie. »Deine Jahrbücher angucken«, faßte ich mich. »Da hast du ja einiges.« 253
»Schon, aber das ist Vergangenheit. Heute abend geht’s um die Gegenwart«, schnurrte sie. »Und um die Zukunft.« Sie nahm mich an der Hand und zog mich wieder ins Wohnzimmer. Sie steuerte mich zum Sofa und ließ sich zu meinen Füßen nieder. Dann entkorkte sie den rosa Sekt und schenkte ein. Sie stippte einen Taco in den Avocadodip und wollte ihn mir in den Mund schieben. Ich drehte mich weg und griff nach dem Glas mit dem rosa Zeug, das ekelhaft süß war und schäumte, und da gab sie es auf, mich zu füttern. »Also, Simon«, sagte sie und strich sich eine Strähne weg, die ihr ständig ins Auge fiel. Wie auf Stichwort kam der Goldene Retriever hereingetapert. Auf meiner Runde durch die Wohnung war ich dem Welpen nicht begegnet. War wohl ins Bad gesperrt gewesen. »Elvis«, flötete Janice, »sag Simon guten Tag. Er ist unser Freund. Und begrüß auch Tupelo. Sie ist bestimmt dein Typ.« Die Hunde beschnüffelten sich. Tupelo rutschte auf den Hinterbacken so nah wie möglich zur Tür, während der Welpe so hocherfreut war, daß der Schwanz mit dem Hund wedelte. Es riß ihn zur Seite und warf ihn zweimal um, bevor er sein Gleichgewicht wiederfand. Tupelo leckte sich sichtlich gleichgültig die Pfoten, und Elvis beruhigte sich endlich wieder. Ich hatte keine Lust, den Welpen zu tätscheln. Der echte Elvis war, wenn mich mein Gedächtnis nicht trog, in Tupelo im US-Staate Mississippi geboren. Ich brachte das Gespräch wieder auf die Menschen. »Wie geht’s dir, seit dein Vater weg ist? Läßt er von sich hören?« 254
»Dem geht’s gut bei seinem Rentnerdasein daheim. Du weißt ja, Bridge am Nachmittag, Bourbon am Abend, Michigan Football am Samstag. Der ist zu Hause besser dran. Die Sache mit mir hat ihn fertig gemacht. Stark ist er ja nie gewesen. Als Mom von uns ging, war das für ihn das Ende. In letzter Zeit trinkt er zuviel. Die Gerüchte, diese widerliche Tuschelei über ihn und Mom, die hat er nie verwunden. Simon, die Leute haben ihn regelrecht geschnitten.« Die Augen waren ihr feucht geworden, und sie krampfte mehrfach die Faust. »Reden wir lieber über was anderes. Über uns.« Die Tränen versiegten so unvermittelt, wie sie gekommen waren. Darum ging’s ihr ja wohl nur. Um uns. Der Vater war eindeutig abgemeldet. Am besten stieß ich sie auf ihr Lieblingsthema. »Wohin hast du dich abgesetzt, nach deiner Stippvisite bei mir?« Sie strahlte, erwärmt von meiner Neugier und der Gelegenheit, von sich zu erzählen. »Zuerst war ich auf Achse. Ich bin mit der Bahn verreist und hab mir Gegenden angesehen, von denen ich noch nie gehört hatte. Das war sehr heilsam nach der Klinik. Schon die Fortbewegung war therapeutisch, wo ich doch so lang eingesperrt war. Brachte mich zum Nachdenken. Ich hab dann beschlossen, zurückzukommen und hierzubleiben. Bin ich ja ohnehin die meiste Zeit gewesen. New York kann dich zum Wahnsinn treiben, aber hier krieg ich wenigstens Luft. Und ohne Daddy jetzt fühl ich mich wieder ungebunden. Er war wie ’ne Glucke zu mir, weißt du, wollte mich nie ausgehen lassen und so. Jetzt hab ich’s um so schöner. Deshalb hab ich erst mal meinen Platz finden wollen. Ich meine natürlich seelisch«, setzte sie hinzu, hocherfreut über die Einsicht. »Ich hab mir allerhand Gedanken gemacht. Schon in der Anstalt bei Dr. Katz, und jetzt auch in meiner neuen 255
Therapie. Aber ich hab schon kapiert, die Seelenarbeit muß ich selber leisten.« Hoffentlich erstattete sie mir jetzt keinen Bericht. Das einzig noch Ödere als therapieren ist, wenn man sich von jemand darüber die Ohren vollblasen lassen muß. »Ich seh jetzt Sachen, die mir früher entgangen sind.« Sie konnte es doch nicht lassen. »Ich erkenne, welche Belastung es gewesen sein muß, wenn beide Elternteile Alkoholiker sind. Völlig dysfunktionale Familie. Und außerdem weiß ich jetzt, warum ich einfach nicht akzeptieren konnte, daß Mutter tot ist. Siehst du? Ich kann es sogar aussprechen. Vor einiger Zeit konnte ich das noch nicht.« Welch Fortschritt auf dem Weg zur Heilung. »Und ich erkenne jetzt auch meine zwiespältige Einstellung zu meinem Vater. Deshalb hab ich mir Dennis ja ausgesucht. Er hat so stark gewirkt, ganz anders als Daddy. Auch nur so ein Blender. Stark war der nicht, bloß brutal. Und ich hab die Schläge eingesteckt, weil ich meinte, ich hab keine Alternative. Bis der Kanal bei mir voll war. Als er auch noch fremdging, bin ich ausgetickt. Das sehe ich jetzt. Ich bin da hart dran. Und ich schaff es.« Siegessicher ballte sie die Faust. Für was war das jetzt der Einsatz, für schluchzende Geigen oder Humpta-täterä? »Janice, wozu hast du mich hergebeten?« »Ach komm, Simon, stell dich nicht so an. Alles bloß menschlich. Ich bin einsam, du bist einsam, oder so gut wie. Uns verbindet ’ne alte Freundschaft. Die früher mal sehr eng war. Und wir haben noch was gemeinsam: Wir sind beide verwitwet. Alles bloß menschlich.« Es ging mir durch und durch, wie ich sie so übers Verwitwetsein daherplappern hörte. Immerhin hatte ich meinen Familienstand nicht mit Vorsatz herbeigeführt. Am 256
liebsten hätte ich ihr eine reingesemmelt. Statt dessen strich ich mir den Bart. »Außerdem hab ich dich gern. War schon immer so. Und wenn ich mich recht entsinne, haben wir mittendrin aufgehört.« Ein Schlafzimmerblick. Der an den Rändern schon braun gewordene Avocadodip übte plötzlich magische Anziehungskraft auf mich aus. Ich griff aus Verlegenheit zu, nicht aus Appetit. Ob er nach was schmeckte, hätte ich nicht sagen können. Janice rührte kaum was an. Ich wartete sehnsüchtig auf den Hauptgang, obwohl, aus der Küche roch es nach nichts. Essen stand wohl nicht auf dem Programm. Sie langte hautnah über mich weg und schob eine CD rein, ein Potpourri alter Schlager, zu denen wir in Schulzeiten getanzt hatten, aber nicht miteinander. Eigenartige Hitliste für eine Frau, die sich von ihrer Vergangenheit lossagen wollte. Es begann mit My Girl von den Temptations. Janice kauerte immer noch zu meinen Füßen, und ich fühlte mich auf dem Sofa wie festgenagelt. Ich hatte mich nicht gerührt. Sie fing an, die Lippen zu den Songs zu bewegen und die bekannten Bühnen Verrenkungen der Temptations nachzuahmen. »I’ve got sunshine on a cloudy day«. Sie streckte die Arme aus, als Andeutung der Sonne. Von »When it’s cold outside« kriegte sie Schüttelfrost. Bei »I got the month of May« wurde ihr wieder warm und kuschlig. Zu »I guess you’ll say, what can make me feel this way?« verzog sie fragend das Gesicht. Und bei »My girl, my girl, my girl, talkin’ ’bout my girl« schließlich wiegte sie tatsächlich, wie einst die Temptations als Pose – und sie selber real noch vor knapp einem Jahr – ein Baby in den Armen. Sie hielt die Hampelei unentwegt durch bis zum Schluß und zollte sich selber lachend Beifall. Wenn sie das zu al257
len Songs aus dem Gedächtnis darbrachte, stand mir ein längerer MTV-Abend bevor. Auf ihren Motown-CDs waren Jahrzehnte gespeichert. Zum Glück merkte sie, daß das Publikum nicht mitging, und brach die Vorstellung ab. »Simon, bist du aber zugeknöpft! Brauchst du vielleicht ’nen Joint?« Schwungvoll holte sie einen aus einer Keramikschatulle, zündete ihn an und reichte ihn an mich weiter, wie vor ewigen Zeiten in meinem Schuppen. Nur daß ich ihr Angebot diesmal ablehnte. »Simon, ich bin von den Socken. Du wirst vor der Zeit alt!« Genauso fühlte ich mich auch, steinalt, gebannt in eine surreale Zeitmaschine. »Laß uns tanzen«, schlug sie vor und sprang auf. »Ich fürchte, ich hab keine Lust.« Meine Tanzkünste behalte ich mir für angenehmere Gesellschaft vor. Unverzagt und ohne Partner eher noch beschwingter, tanzte mir Janice was vor. »Ain’t Too Proud to Beg«, leitete über zu »The Tears of a Clown«, und Janice absolvierte nacheinander Twist, Jerk, Frug und mehrere andere Tänze, die ich wiedererkannte, aber nicht benennen konnte. Sie steigerte sich regelrecht hinein. Ich kann es nicht haben, wenn jemand so vor sich hintanzt. Ich komme mir da vor wie ein Voyeur vor dem Schlüsselloch in ein Schlafzimmer. Für mich ist das derart wie Selbstbefriedigung, daß mir beim Zusehen todeinsam zumute wird. Ich schlug ein Bein übers andere und tat krampfhaft so, als gefalle es mir. Nicht, daß Janice etwas gemerkt hätte. Sie kasperte weiter, blind und taub für ihre Umgebung, bis sie richtig in Schweiß geriet. Endlich fiel sie in melodramatischer Erschöpfung nieder, erneut mir zu Füßen. Meine Haremsfrau. Ich stellte meine Beine wieder nebeneinander, und sie 258
drapierte einen Arm über mein Knie. Als genüge ihr das nicht, schwang sie herum, fläzte sich beidarmig auf meine Schenkel und sah mich von unten herauf an. Die Haare, jetzt reichlich wuschlig, hingen ihr in die Augen, und ihre Brüste standen habtacht. »Simon, ich raff es nicht, wie du dich verändert hast. Du warst früher soviel lebendiger. Oder reut es dich, daß du hergekommen bist?« »Ja, es reut mich. Ich glaub, das wird so nichts.« »Wollen mal sehn, ob wir das nicht ändern.« Sie erhob sich auf die Knie, preßte sich zwischen meine Schenkel und streichelte mir den Schritt. »Du findest mich attraktiv, nicht?« »Du bist eine attraktive Frau, aber …« Sie fiel mir ins Wort. »Ich hab’s gewußt. Ich hab’s doch gewußt.« Sie rückte noch näher, packte meine Hand und strich sich mit meinen Fingerspitzen sacht über die Brust. Die Brustwarze war steif, vor Geilheit, vielleicht fror sie aber auch. Sie faßte sich mit gekreuzten Armen an den Bund und zog langsam den Pullover über den Kopf. Die Brüste standen keck nach oben wie auf der Ausklappseite vom Playboy. Eine Haut wie warmer Milchkaffee, wohl das Ergebnis geduldiger Bemühungen auf der Sonnenbank im Fitneßstudio. Sie legte sich meine Hand wieder auf die Brust, als solle sie dort anwachsen. Meine Abwehr erlahmte. Ich bin auch bloß ein Mensch. Da lag das Objekt meiner Jünglingsphantasien vor mir auf den Knien, bereits halb ausgezogen, mit der Offerte, die allererste, nicht so optimale sexuelle Begegnung noch mal ganz von vorn zu erleben. Die Bilder vor meinem inneren 259
Auge jagten sich, und ich war wie gelähmt. Ob sie mich töten würde, wenn wir gevögelt hatten? Wohl eher nicht. »Simon, du warst doch derjenige, der mir alles über das Freisein beigebracht hat. Was ist denn bloß mit dir?« Sie nibbelte energisch zwischen meinen Schenkeln und holte mich damit abrupt wieder ins Hier und Jetzt. Tupelo rülpste, wie zur Mahnung. »Janice, laß das. Du hast mich nicht ausreden lassen. Ich hab gesagt, du bist eine attraktive Frau, und das meine ich auch. Ist die Wahrheit.« Ich löste ihre Finger von meinem Schniedel und nahm meine Hand von ihrer Brust. »Aber leider bin ich für dich nicht zu haben. Ich bin Witwer aus Überzeugung und will es auch bleiben. Würde ohnehin nicht gutgehen. Ich muß dir was sagen: Ich empfinde nicht mehr wie damals. Ist zu lange her.« Bis heute hab ich keine Erklärung für diesen Anfall von Aufrichtigkeit. Konnte sie doch bloß stinkig machen. Sie sprang auf die Beine, stemmte die Hände in die Seiten und fauchte: »Verflucht! Ich weiß doch genau, du willst mich! Das spür ich doch!« Sie schälte sich aus den Jeans und schob sich mir ins Gesicht. Ich packte sie bei ihren abstehenden Hüftknochen und drückte sie auf Armeslänge weg, damit ich wieder Luft bekam. »Läuft nicht, Janice. Zieh dich an.« »Du Wichser, ich könnt jetzt ›Vergewaltigung!‹ schrein, daß du’s bloß weißt. Wer zum Teufel würde dir glauben?« Jetzt war sie echt stinkig. Ich sagte nichts. Mir fiel nichts Passendes ein. »Ich könnte dich ordentlich zur Schnecke machen, daß du’s bloß weißt.« Sie machte enttäuscht auf dem Absatz kehrt und wackelte ihren nackten Hintern aus dem Raum. Sie war sofort 260
wieder da, bevor ich es durch die Tür schaffte, aber ich hatte Vorsprung. Jetzt war sie in einen rosa Frotteebademantel gehüllt, bis zum Kinn und knöchellang. Sie warf sich aufs Sofa, schlang die Arme um sich und sandte mir einen Augenaufschlag von unten. »Braucht ja unserer Freundschaft keinen Abbruch zu tun.« Verstört nickte ich. Dieses Weib wurde durch keinen Rückschlag erwachsener. »Tut mir leid, Simon, war ungezogen von mir. Ich hätt nicht ausfallend werden dürfen. Du hast bestimmt noch zu arbeiten. Tut mir leid. Vielleicht brauch ich doch noch Medikation. Ich schaff’s schon«, nuschelte sie. »Mir tut’s auch leid.« Das stimmte. Hätte ich bloß auf Olga gehört und mir diese Szene erspart. »Du kommst aber, wenn ich dich nötig brauche, ja?« Ich war schon halb aus der Tür. »Ich kann dir nichts versprechen.« »Du brauchst nichts versprechen. Ich weiß Bescheid. Du wirst schon kommen.« »Warum meinst du?« »Weil du mich immer geliebt hast. Du hast mich immer begehrt und tust es noch. Du hast bloß eine Art Sperre im Kopf, aber das wird schon wieder. Darum.« Mit Tupelo, die so erleichtert schien wie ich, daß wir unverstümmelt davongekommen waren, schlich ich über die Straße nach Hause. Ich kam mir vor wie beschmutzt. Als wäre ich in einen alten Pornostreifen geraten, und dabei hatte ich doch nur zurückgewollt ins normale Leben. Gott sei Dank war niemand in der Wohnung. Schande, auch die von anderen, sollte jeder für sich tragen und im stillen abwaschen.
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22 Nach einer ausgedehnten heißen Dusche, einem kurzen, schmalen Joint und einer Tasse Baldriantee nahm ich meinen Fenstersessel wieder ein. Ich mußte nachdenken. Wenn jemand was von mir wollte, konnte ich ja unsichtbar tun. Spielen wollte Janice nicht mit mir, sie wollte mich verschlingen. Sie hätte mich nicht umgebracht, wenn wir Liebe gemacht hätten. Womöglich aber für meine Weigerung. Hatte sie aber nicht. Sondern einen ihrer Patentschwünge hingelegt, mit denen sie sich jedesmal wieder die Welt zurechtbog, einen labilen psychologischen Kompromiß. Lieber wollte sie klischeehaft »in Freundschaft auseinandergehen«, denn so konnte sie ihre Verluste konsolidieren und wenigstens teilweise ihr Gesicht wahren. Durchaus vernünftig, wenn auch an den Haaren herbeigezogen, momentan eine für sie akzeptable Lösung. Linderte wahrscheinlich ihre Anspannung und Wut. Später konnte sie es ja noch mal versuchen. Aus guten Freunden ist schon öfter ein Paar geworden. Das Beklemmende daran war ihre fixe Idee, ich liebte sie und das sei schon immer so gewesen und würde ewig so bleiben. Offenbar ihr Trost. Mir war das allerdings keiner. Es ließ mich innerlich derart frösteln, daß nicht mal der heiße Tee dagegen half. Olga hatte einen Ausbruch oder einen rücksichtslosen Feldzug für den Fall vorhergesagt, daß Janice von mir nicht bekam, was sie wollte. Den Ausbruch hatte ich miterlebt: Wie sie mit Vergewaltigunganzeige gedroht 262
hatte. Da hatte sie kurz die Beherrschung verloren und sich erst mühsam wieder gefaßt. Hoffentlich ließ sie es dabei bewenden. Hoffentlich rechnete sie sich aus, daß es für sie von Vorteil war, mich sausenzulassen, egal, wie heftig von mir geliebt sie sich glaubte, und weiterzuziehen zu saftigeren Weiden. Es war für sie nichts drin, wenn sie mir weiter nachstellte. Über Janices Verhalten nachzudenken, war relativ leicht. Aber was war mit mir? Wo paßte ich ins Bild? Hatte ich sie jemals geliebt? Hatte der schmachtende Jüngling von damals Liebe verspürt, oder war es nur verbrämte Geilheit gewesen? Liebe konnte es nicht gewesen sein. Liebe wärmt. Die Liebe fand später zu mir und wurde mir in einem Wimpernschlag entrissen. Und an dieser Stelle war ich noch niemals weitergekommen. Die Liebe hatte mir aufs Übelste mitgespielt, und ich war schlicht noch nicht darüber hinweg. Kate hatte recht. Zoras Tod hatte alles andere in meinem Leben derart überschattet, daß mir völlig entfallen war, wie ich zuvor gelebt hatte, ja sogar, daß mir weh getan worden war. Das Witwersein wurde mein Gewand, und ich hatte es seither mit einiger Würde getragen. Es war mir zupaß gekommen, nur hatte es mich blind gemacht für alles Geschehen vor Zoras Tod. Ich war also beklagenswert unvorbereitet, Janice zu kontern, als sie wieder in mein Leben trat. Mir war, als habe die Tragödie meine gesamte Jugend getilgt. Doch jetzt lag alles wieder offen vor mir. Ich konnte mich mit dem psychischen Schutt beschäftigen, den zu räumen mich Kate schon vor Monaten gedrängt hatte. Janice kam ins Bild, und bei mir regte sich was, das ich nicht mal vor Tupelo abstreiten konnte. »Sie macht dich scharf.« 263
Mach keine Witze, hatte ich gedacht. Dieses beschädigte, zerfleischte Wesen will meine Hilfe. Ich bin ein Menschenheiler. Ich hab meine Triebe doch wohl im Griff. Heute abend, als Janice sich ausgezogen und mir gezeigt hatte, was sie zu bieten hatte, in dieser sekundenlangen Unschlüssigkeit, bevor ich sie wegschob, hatte ich alles vor Augen gehabt. Ich hatte gesehen, wie es kommen würde, wenn Simon Rose sich nicht zu beherrschen vermochte. Die Szene vor meinem geistigen Auge war durchaus lustvoll gewesen, aber bar jeder Leidenschaft. Dafür braucht es Gefühle. Ich hatte bloß eine Aufblaspuppe vor mir gehabt und das Pornofilmgerammel, das junge Spunde wie ich einst mit Liebe verwechselt hatten. Im Kino wäre ich rausgegangen. Am stärksten verblüfft hatte mich bei diesem Bildergeflimmer, daß der Simon Rose in diesem Film ein Kind war. Ein Kind, das im Schuppen hinterm Eigenheim der Eltern haust, Dope raucht und davon träumt, endlich ein Mann zu werden. Ich hatte meine frühere Sehnsucht gesehen und meinen Schmerz um Janice Donahue, die mit ihrem Ballköniginnenszepter zum Mann schlagen konnte, oder aber auch nicht. Es war so simpel. Sie hatte alles gehabt, worauf amerikanische Männer in den sechziger Jahren scharf zu sein gelernt hatten. Das hatte ich für mich gewollt, nicht nur rein körperlich, sondern auch aus der Wunschvorstellung heraus, ihre Macht würde nach der geschlechtlichen Vereinigung auf mich abfärben. Aber das Sexuelle wandelte sich nicht zum Zauber, als wir es zum ersten und einzigen Male miteinander taten. Und dann verschwand sie aufs College, ließ sich alles offen, und mir nichts. Lange hatte ich nicht leiden müssen. Erwachsen wurde ich in den fünfzehn Minuten Erdzeit, als Bekifften und 264
Denkern, nicht aber Muskelprotzen, zuteil wurde, was ihnen zustand. Auch wenn die freie Liebe nie war, was sie sein sollte, eröffnete sie mir letztendlich den Zugang zur Welt des nachpubertären Geschlechtslebens und des Erwachsenseins. Janice hatte diesen Sprung nie geschafft. Durch eine Laune der Natur seelisch unterernährt, war sie in Gefühlsdingen zwergwüchsig geblieben. Als sie mir ihren Körper dargeboten hatte, war mir unwillkürlich durch den Kopf geschossen, das wäre ja wie Unzucht mit Minderjährigen, ein strafbares Delikt, denn Janice war in jeder Hinsicht minderjährig, sah man von ihrem Alter einmal ab. Von dem Moment an, als ich mir darüber klar wurde, gaben meine Regungen Ruhe, ein für allemal. Janice hatte sich mir endlich klar als das erwiesen, was sie eigentlich für mich war: ein alter Porno im Kopf. Bloß, daß diesmal der Streifen aus dem alten Projektor flutschte. Ich konnte hören, wie das lose Ende gegen die Spule flappte, bis sie durch die Reibung stehenblieb. Endlich einen Schlußstrich gezogen, dachte ich und hätte fast laut herausgelacht. »Die Eistüte ist runtergefallen«, murmelte ich vor mich hin. »Mußte so kommen«, knurrte Tupelo. Ich nickte, weil ich wußte, es stimmte. Ich beugte mich zu Tupelo hinunter und kraulte sie kräftig durch, vom Kopf bis zum Schwanz. Auf einmal wünschte ich mir, Debby käme zur Tür herein. Nach einer Stunde Frühjahrsputz an der Seele brauchte ich jemand um mich, der mir gut war. Also Debby, doch sie war wie üblich nicht da. Ich hätte bei Bobbi anrufen können, aber die Überheblichkeit des Psychologen hinderte mich. Ich wünschte mir, sie und Bobbi würden herkommen und hier übernachten. Sogar das Wasserbett würde ich abtreten. 265
Ich schlief wie ein Toter und erwachte mit einer angsteinflößenden Klarsichtigkeit. Ich rannte in Debbys Zimmer, aber ihr Bett war unberührt. Ich rief Bobbi an, aber niemand ging ran, auch kein Anrufbeantworter. Mit unterdrückter Panik machte ich mir klar, daß ich bloß warten und ungefähr alle zwei Minuten bei Bobbi anrufen konnte. Ich kaute ein Stück Baldrianwurzel roh. Keine Ahnung, warum ich einen so lebenswichtigen und offensichtlichen Schluß nicht gezogen hatte. Wenn Janice ihren Zorn nicht auf mich richtete, weil ich ihr einen Korb gegeben hatte, wen würde sie wohl zur Zielscheibe wählen? Mich? Unwahrscheinlich. Ich war weiterhin Objekt ihrer Begierde. Meine müßige Hoffnung von gestern abend, sie würde einfach zum nächsten Wirtstier weiterziehen, war restlos verflogen. Wenn Janice ihr Stück Fleisch wollte, konnte es nur von der einen Quelle kommen. Ich mußte Debby in Sicherheit bringen, weg aus der Schußlinie. Janice hatte sie ausgeforscht und wußte entschieden zuviel über ihren Tagesablauf. Drei Stunden und sechzig Anrufe später war Debby immer noch nicht an einem ihrer Wohnsitze aufgetaucht. Gegen Mittag schließlich, zu Bobbis Lunchzeit, trudelten die beiden bei mir ein, lachend, schwatzend, unversehrt. »Du siehst aus wie Gevatter Tod aus der Mikrowelle«, sagte Debby. »Was ist passiert?« Ich legte detailliert dar, wie ich um ihre Sicherheit fürchtete. Ich schenke ihr reinen Wein ein, in der Hoffnung, sie würde sich nicht sträuben. Janice sei wütend, gefährlich und gewohnt, ihrer Wut freien Lauf zu lassen. In bezug auf mich sei Debby für sie die einzige ernstzunehmende Konkurrenz. Janice habe bereits eine gemeinsame Taxi266
fahrt und eine Tasse Tee in Bobbis Wohnung erschlichen. Sie säßen beide wie auf dem Präsentierteller. Ich hatte Widerstand erwartet, Halsstarrigkeit von beiden, aber nichts dergleichen. Janice hatte beide nachhaltig beeindruckt. »Nichts wie weg hier«, sagte Debby. »Ich hab erst um fünf Arbeitsschluß«, wandte Bobbi ein. »Ach was, ich melde mich für den Nachmittag krank. Besser als Montag tot. Wo können wir hin?« Als einzig sicherer Ort fiel mir mein Vater ein. Dort fühlte sich Debby wohl, da draußen in Workman’s Lake, in Janices alten Jagdgründen. Doch Janice war jetzt in New York. Ich rief Gabe an, der meinte, er habe ganz gern mal Gesellschaft. Ich buchte sie binnen zwei Stunden auf einen Flug nach Detroit. Sie beschlossen, sich Debbys Klamotten zu teilen und gar nicht erst Bobbis Wohnung aufzusuchen. Noch in derselben Stunde waren sie fort. Ich bat sie, am Abend von Gabe aus durchzuklingeln, damit ich wieder Luft bekam. Sie riefen um sieben an, heil und gesund, und ich konnte wieder durchatmen, zum ersten Mal an diesem Tag. Ich brühte mir eine Kanne Morning Thunder, obwohl gar nicht Morgen war. Am liebsten hätte ich Kate bei mir gehabt, und ich hatte sogar bei ihr angerufen, doch sie war auf einem Empfang der Anwaltskammer. Wieder so eine Parade von Männern in Maßanzügen zur freien Auswahl. So richtig eifersüchtig war ich nicht. Mir wollte bloß nicht einleuchten, warum sie nicht lieber bei mir war, wo ich sie doch so brauchte. Also keine Eifersucht. Eher so was wie Mißgunst. Also hockte ich mich vor den Fernseher und glotzte Football zwischen College-Mannschaften. Alles in allem besser als nichts, und so machte ich mir ein bißchen Pop267
korn, damit ich so tun konnte, als hätte ich meinen Spaß. Ein paar Ballwechsel würde es schon geben. Ich ließ Tupelo allein zu einem abendlichen Verdauungsspaziergang hinaus. Dazu erklärte sie sich manchmal bereit, wenn ich keine Lust zum Rausgehen hatte. Dreieinhalb Stunden war ich da jetzt bestimmt gebannt, und so lange wollte ich sie es nicht verhalten lassen. Ich zog mir eine Tüte rein und machte es mir vor der Glotze bequem. Alle Erwartungen wurden erfüllt, jede Mannschaft machte vierhundert Yards, siebzig Punkte wurden geholt, und irgend jemand gewann. Tupelo hatte ich ganz vergessen. Erst als ich den Fernseher abschaltete, hörte ich ein angstvolles Winseln vor der Tür. Klang wie ein verirrtes Kätzchen. »Tut mir leid, Mädchen«, sagte ich zu mir selbst und stürzte hin, um sie reinzulassen. Tupelo vergaß ich selten, aber es war schon mal passiert, letztens bei einem Spiel der Nationalliga im Basketball, das für Michigan verlorenging. »Tut mir leid, Tupelo«, wiederholte ich, als ich schließlich die Tür aufmachte. »Ich war ganz ins Spiel versunken und hab dich vergessen. Warum hast du denn nicht gebellt?« Sonst bellt sie nämlich schlichtweg, wenn ich penne, wenn auch nur sehr verhalten für einen so großen Hund. Gewinselt hatte sie noch nie. Sie huschte ruhig, aber rasch an mir vorbei, ohne mich zu begrüßen. Ich dachte, sie sei sauer. Im Vorbeilaufen ließ sie sich nicht mal an den Kopf fassen. Dann machte sie sich in der Kopfwerkstatt auf ihrem Lieblingsteppich lang. Sauer war sie aber offenbar nicht, ungewöhnlich für Tupelo, die nicht gern wartet. Sie fing bloß an, sich zu putzen, leckte sich die Pfote, führte sie behutsam über das rechte Ohr und leckte sie wieder. Das ging jetzt so weiter, 268
bis alles wieder war, wie es sein sollte. Sie konnte sich stundenlang so beschäftigen. Ich ging in die Küche, um ihr ein Ei zu holen, als kleine Entschuldigung für meine Vergeßlichkeit. Da merkte ich, daß meine Hand ganz naß war. Irgendwas Klebriges, eingefangen in ihren dreieinhalb Stunden draußen. In der Küche pappten meine Finger bereits widerlich aneinander. Ich rannte zurück in die Kopfwerkstatt. Tupelo war noch immer mit dem rechten Ohr beschäftigt. Sie war nicht so aufgeregt wie ich. Das Klebrige an meiner Hand, das ich jetzt im hellen Licht der Kopfwerkstatt sehen konnte, war so rot wie die Lache neben ihr. »Tupelo!« Ich kniete nieder und nahm ihren Kopf in beide Hände. Blut war auch auf der Pfote, mit der sie über den Kopf rieb. Das rechte Ohr fehlte. »Meine Schuld, Simon. Mach dir keinen Vorwurf. Hab ja gewußt, ich soll nicht zu ihr hin. Hab’s trotzdem getan, Elvis begrüßen. Bin schließlich ein Hund.« Sie legte den einohrigen Kopf auf die Pfoten. Ich schluckte Tränen und Wut hinunter und kümmerte mich um sie, zu spät. Ich desinfizierte die Wunde, nähte und verband sie. Tupelo sagte nicht piep. Als ich fertig war, spürte ich pochenden Kopfschmerz. Meine Nackenmuskeln verhärteten zu Stahlseilen. Hab ich immer nach Extremsituationen. Ich klinkte die Haustür auf, in der Hoffnung, es gehe in der kalten Nachtluft vorbei, denn sonst hätte ich diese klopfende Qual stundenlang. Ich blickte die Straße auf und ab, auf der Suche nach ich weiß nicht was. Kein Licht in Janices Wohnung. Die 269
Nacht war frisch, ruhig und angenehm, nicht der geringste Anlaß zur Unruhe. Bis auf Tupelos verschrumpeltes Ohr vor meiner Schuhspitze.
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DRITTER TEIL Verbrechen und Gerechtigkeit
23 Es gab doch jemand, der so verrückt war, einem Goldenen Retriever was anzutun. Janice hatte mich widerlegt. Schlaf stand außer Frage. Ich versuchte, mich mit Atemübungen zu beruhigen. Als das auch nicht gelang, fing ich an, vor mich hinzusingen, aber auch das monotone »fuck you, fuck you, fuck you« half nicht weiter. Ich lenkte meinen Zorn nach innen. Debby hatte ich vor Schaden bewahrt, aber schlicht vergessen, Vorsorge für den Hund zu treffen. Ich hätte so wachsam sein müssen, dieser Verstümmelung vorzubeugen. Immer wieder blickte ich zu Tupelo, die in tiefem Schlafe lag, während ich mich dafür züchtigte, nicht zur rechten Zeit genug gesehen, gehört und erkannt zu haben. Im Morgengrauen rief ich Kate an. Ich war noch immer überdreht und mußte meine Geladenheit loswerden, bevor es mich zerriß. Ich weckte sie auf, was Kate total gegen den Strich geht, besonders wenn es am Abend vorher spät geworden ist. Ich entschuldigte mich gar nicht erst, sondern fiel gleich mit der Tür ins Haus. Wie katastrophal der Abend mit Janice gelaufen war. Meine Befürchtungen hinterher. Die Entscheidung, Debby auf Reisen zu schicken. Und dann berichtete ich, was Janice Tupelo angetan hatte. Ich hatte gedacht, sie würde mich wieder zusammenstauchen, ich sähe Gespenster. Doch weit gefehlt, sie fand mich leichtsinnig. »Und was ist mit dir?« fragte sie, vernehmlich außer sich. 272
»Für Debby hast du gesorgt. Das mit Tupelo hast du nicht gesehen, aber wer ahnt denn so was? Aber jetzt tust du, als sei alle Gefahr gebannt. Und was ist mit dir?« wiederholte sie. Mich selbst hatte ich gar nicht als Ziel betrachtet. Ich hielt mich für unverwundbar, weil Janice scharf auf mich war. Andererseits, daß ich ihre Reize verschmäht hatte, war für sie womöglich zuviel der Demütigung. Mir war es peinlich gewesen, ihr bestimmt ebenso. »Hätte ich bloß eher auf dich gehört«, sagte Kate. »Das läuft ja völlig aus dem Ruder. Dagegen muß rechtlich vorgegangen werden, höchste Zeit. Ob geisteskrank oder nicht, die Frau ist gefährlich. Und für dich wahrscheinlich am meisten.« »Ob sie geisteskrank ist, kann ich nicht sagen«, schränkte ich ein. »Vielleicht ist sie bloß irre.« »Ist mir doch egal. Ich will, daß du jetzt in deine Hosen steigst und deinen Hintern hierher bewegst. Zum Frühstück. Los, mach schon, daß du dort wegkommst, bitte.« »Vorher muß ich noch was erledigen.« »Nix vorher, Simon. Komm erst mal her und dann …« Irgendwie machte sich mein Zeigefinger selbständig, drückte den Kontakt nieder und beendete das Telefonat. Kates ersten Rat beherzigte ich. Ich stieg in die Hosen. Dann nahm ich meinen Fensterplatz wieder ein, diesmal ohne Beruhigungstee, und wartete, bis Janice Elvis Gassi führte, ihren Retriever mit den zwei Ohren. Es dauerte nicht lange. Ich schlug Tupelo die Tür vor der Nase zu und trat allein hinaus in die feuchte Novemberkälte. Janice schwante noch nichts, aber wir waren zu einer Nachbesprechung verabredet. 273
Sie trug einen blauen Anorak, Fausthandschuhe und eine Wollmütze mit Bommel. Ein Halbliter-Flachmann ragte aus der rechten Seitentasche. Sie sah in jeder Hinsicht aus wie eine abgeblühte Cheerleaderin. Sie reagierte betreten, als sie mich erblickte. Sie machte den Mund auf, brachte aber nichts heraus, verwirrt von der unverhofften Begegnung. Ohne Rollenbuch wußte sie ihren Text nicht. Alk und Mangel an Vorbereitung lähmten ihren Behauptungswillen. Ihre Fahne roch nach Gin und Orangenblüten. Meine Blicke verhehlten ihr nichts, angesichts meiner langjährigen Schulung zum Analytiker ein völliges Versagen. Immerhin hatte ich mir vorgenommen, meine Wut zu zügeln, wenn ich sie schon nicht kaschieren konnte. Sie spürte das, bevor ich auch nur ein Wort geäußert hatte. »Ich hab’s ja gewußt, du kommst mir drauf. Mir ist ’ne Sicherung durchgeknallt. Es tut mir so leid«, nuschelte sie in ihre Fäustlinge. Ich nickte. Ausnahmsweise mal die Wahrheit. »Bitte, ich sag ja, es tut mir leid. Diese Sache. War ungezogen von mir. Ich bin halt ausgerastet. Du bist aber auch ein Holzbock!« Sie stampfte auf. »Und überhaupt, was regst du dich auf?« Sie sah weg. »Hab ihr doch fast nichts getan. Hätte viel ärger sein können. Ist es sonst auch. Glaub mir, ich hab mich zurückgehalten.« Sie wich mir aus, als könnte ich nach ihr schlagen. Das ließ ich lieber sein. »So hat es überhaupt nicht kommen sollen«, muffelte sie. »Wie denn?« ergriff ich endlich das Wort. Sie schüttelte den Kopf und grinste. »So hab ich’s mir nie ausgemalt«, sagte sie, »gehen wir doch ein Stück.« 274
Wir wandten uns ostwärts zum Fluß, Elvis bei Janice so kurz an der Leine, als müsse sie das liebe Leben festhalten. Sie hielt mir den Flachmann hin. »Willst du ’nen Hieb?« Ich schüttelte den Kopf, und sie nahm einen kräftigen Zug. Wir erreichten das Ufer, und sie fiel auf eine Bank, als wären ihr die Knie weichgeworden. »Bleiben wir ’ne Weile hier. Ich bin zu strack zum Weiterlaufen. Reden wir doch ein bißchen, wenn du kannst. Vielleicht hast du dann Verständnis.« »Red du«, forderte ich sie auf. »Ich höre.« Sie ließ Elvis von der Leine, folgte ihm aber nervös mit Blicken, wie eine überängstliche Mutter. »Weißt du, es war einmal, da hatte ich die gleichen Träume wie die andern. Und auch noch Hoffnung. Lief alles bestens für mich. Trotzdem hab ich nichts abgekriegt. Das Traurige ist, daß Träume sich nicht erfüllen. Wären sie wahrgeworden, auch bloß einer, wär ich bestimmt …«, sie tastete nach Worten, »nicht krank geworden, und dann wäre nichts von alledem passiert. Hätte ganz anders kommen können.« Selbstmitleid troff aus ihren Worten. Reue war das nicht. Sie gab sich zum ersten Mal, wie sie war, und gestattete mir Einblick in die Seele einer Janice, wie sie hätte sein können. »Am innigsten hab ich mir in den letzten Monaten gewünscht, noch mal von vorn anfangen zu können, diesmal richtig, zusammen mit dir. Keine Spiele mehr. Du bist so anders als alle, die ich in meinem Leben kennengelernt hab. Nicht wie Daddy oder wie Dennis. Simon, ich möchte ein Kind, eins von dir. Mehr als alles in der Welt. Es geht noch, weißt du. Ich bin noch nicht durch den Wechsel. Und ich will’s wirklich. Die Zeit ist reif.« 275
Ich traute meinen Ohren nicht. Mir wurde kalt bis auf die Knochen. Ein Kind? Von mir? Und was würde sie dem dann antun, wenn sie es hatte? »Aber ich weiß, es ist eine fixe Idee. Tief im Innern spür ich die Wahrheit, weißt du. Du willst mich jetzt nicht. Es ist lange her, ganz wie du gesagt hast, ist in einem anderen Leben gewesen. Sag jetzt nichts. Ich weiß, was Sache ist.« Sie sah mir lange ins Gesicht. Dann schüttelte sie den Kopf, rief Elvis zu sich und fummelte mit Leine und Halsband, bis er wieder an sie gekettet war. Danach fand sie ihren Dialog im Rollenbuch wieder. Tonfall und Timbre veränderten sich. Sie war wieder auf Sendung. Ihre Miene heiterte auf, und sie tat plötzlich kokett. Die Verwandlung war gespenstisch und machte mir Gänsehaut. »Sieh mal«, lächelte sie mich an, »ich glaub immer noch, wir schaffen es miteinander. Im Moment brauchen wir wohl ein wenig Abstand, Zeit zum Nachdenken, damit wir uns alles offenhalten. Aber ich glaub felsenfest«, sie nickte heftig, »unsere Zeit kommt erst noch.« Tickte die Frau noch richtig? Man verführt doch keinen, indem man ihm den Hund verstümmelt! Ich war baff, traute meinen Ohren nicht, fand kaum die Stimme. Ich krächzte: »Bist du übergeschnappt?« Sie riß die Augen auf, das ganze Gesicht ein Fragezeichen. »Da bist du doch der Sachverständige!« Da irrte sie. Sachverstand konnte ich in diesem Fall nicht beanspruchen. Es ist eine Binsenweisheit, daß Chirurgen besser keine Familienmitglieder operieren. Und forensische Psychiater sollen keine Jugendlieben begutachten. Mit meiner Frage an Janice, ob sie übergeschnappt sei, hatte ich nur meiner Empörung Luft machen wollen. Doch die Frage hatte ih276
ren Reiz, und sie harrte noch einer befriedigenden Antwort. Im stillen dankte ich meinem Schöpfer, mir wenigstens so viel Verstand gegeben zu haben, daß ich mich rechtzeitig aus ihrer Verteidigung abgeseilt hatte. In einem war ich mir mit Janice allerdings einig: Es war Abstand angesagt. Am besten zwei verschiedene Planeten. Ich ging heim, um Tupelos Wunde nachzusehen, und fand sie sauber und ausnehmend gut vernäht. Ich merkte, daß es noch früh am Morgen war, ich konnte Kate also noch antreffen. Ich hinterließ Tommy eine dringliche Botschaft, wo ich zu finden sei und daß er nachkommen solle. Dann zog ich eine wärmere Jacke an und rief Tupelo. Konnte ich nicht aus meiner Haut, so doch wenigstens aus dem Haus. Kate hielt mich lange fest. Die ersten Tränen kamen ihr, als sie Tupelo drückte, und sie flossen in Strömen, als sie mich zum zweiten Mal umarmte. Schließlich beruhigte sie sich zu verhaltenem Schluchzen. Ich hatte sie noch nie so weinen sehen. Wirkte fast ansteckend auf mich. Sie klammerte sich mit einer Hand an mir fest und bedeutete mir mit der andern, ihr Papiertaschentücher zu bringen. Ich konnte sie eben greifen, ohne daß sie mich loslassen mußte. Sie zog zehn aus dem Karton und wischte sich damit übers Gesicht. Sie wurden schwarzfleckig. »Shit«, stöhnte sie. »Jetzt muß ich mir das Gesicht abwaschen und noch mal von vorn anfangen. Oder sie müssen mich heute ganz ohne Make-up in Kauf nehmen.« Für ihr bevorstehendes Auftreten vor Gericht hatte sie ein strenges, holzkohlengraues Wollkostüm angezogen, dazu eine weiche, perlmuttfarbene Seidenbluse. »Nimm dir was zum Frühstück, bis ich mich wieder zurechtgemacht habe. Dann müssen wir reden, und zwar schnell. Ich hab um zehn meinen Gerichtstermin.« 277
Der Küchentisch bog sich unter Hörnchen, Butter, Rührei, Frikadellen, Hefekringeln und Sahnequark, alles vom Schnellimbiß unten im Gebäude geliefert. Bloß der Kaffee war hausgemacht, trüb vom Satz und Plürre wie immer. Mir war überhaupt nicht nach Essen, doch Tupelo nahm dankbar ein Hörnchen entgegen und beknabberte es geziert. Kate erschien in frischer Kriegsbemalung. »Make-up trägst du doch sonst fast nie.« »Kommt auf den Fall an. Für den von heute brauche ich getuschte Wimpern.« Sie registrierte, wie ich vor dem unbenutzten Teller hockte und wie verhalten Tupelo das Hörnchen benagte. Gleich heult sie noch mal los, dachte ich. »Ich bin so froh, daß ihr zwei bei mir seid, daß ich’s gar nicht sagen kann.« »Das hast du uns gezeigt. Ist schon gut.« Sie rollte an den Tisch und ließ den Blick zweifelnd über das Angebot schweifen. Sie goß sich einen Kaffee ein, griff sich einen Hefekringel und bestrich ihn mit Sahnequark. Angewidert besah sie das Ergebnis. »Wenn ich nichts esse, halte ich nicht bis Mittag durch.« Sie zwang es sich rein. Meine Wut war verraucht. Geblieben war eine Benommenheit, fast wie Halbschlaf. Ein leichter Schockzustand, der mir nicht bewußt war, was freilich typisch dafür ist. Gedankenlos sah ich Kate zu, wie sie kaute. Ich reichte Tupelo einen Hefekringel, damit sie was Festeres hatte, und sie machte ihm entschlossen den Garaus. Kate tat mit ihrem Kringel desgleichen. »Simon, ich bin deine beste Freundin auf Erden, aber jetzt spreche ich dich nur als Anwältin an. Du hast ein Rechtsproblem, und ich glaube, das muß jetzt angegangen werden, heute noch.« 278
Sie wischte sich den Mund und schenkte sich noch einen Kaffee ein. »Ich sehe drei Vorgehensmöglichkeiten. Denk bitte darüber nach, nötigenfalls den ganzen Tag. Entscheiden können wir dann heute abend.« Sie hatte wohl gemerkt, daß ich sie nicht ansah, als sie sprach. Sie langte herüber und drehte mein Gesicht zu sich hin. »Du sollst zuhören«, mahnte sie. »Tu ich doch. Du siehst zwei Vorgehensmöglichkeiten.« Sie seufzte, manchmal erkennt sie auf den ersten Blick, wie es geistig um mich bestellt ist. »Na gut, ist jetzt egal. Unternehmen wir eben heute noch nichts. Vielleicht am besten, keine übertriebene Hast. Findet wenigstens das deine Billigung?« Ich nickte, dachte dabei aber nur an die Blutlache, Tupelos Verstümmelung und an das verschrumpelte Ohr vor meiner Haustür. Warum hatte ich nicht versucht, das Ohr wieder anzunähen? Wo das doch sogar bei abgeschnittenen Penissen klappte. Dann fiel mir ein, ich habe ja nicht Veterinärchirurg gelernt. »Hör mal her«, flehte Kate, »tu uns einen Gefallen. Bleib heute hier. Meine Wohnung ist auch deine. Fühl dich wie zu Hause. Leg dich hin. Du bist derart daneben, der reinste Zombie. Bring dein Gehirn wieder in Gang. Wir reden heute abend, oder eher, wenn ich mich loseisen kann. In Ordnung?« Ich nickte wieder und sah dabei den Film, wie Janice vor mir zurückwich und wie sie mir sagte, wir würden es schon noch schaffen miteinander. »In Ordnung?« Daß ich nicht aufnahmefähig war, mußte sie doch merken. »In Ordnung«, murmelte ich, ohne die geringste Ahnung, wovon die Rede gewesen war. 279
24 Ich duschte im Gästebad und pennte in Kates breitem Doppelbett, Tupelo zusammengerollt neben mir. Beim Aufwachen am Spätnachmittag hatte ich Hunger, und so schlug ich mich mit altbackenen Hefekringeln und Sahnequark voll. Die acht Stunden alten Rühreier waren zu unappetitlich, und die graugewordenen Bratkartoffeln erst recht. Mein Verstand wühlte sich langsam wieder ans Licht. Ich konnte wieder denken. Bei Gefühlen aus dem Bauch bin ich mißtrauisch. Gehen meist eher auf Magenverstimmung zurück als auf Intuition. Gefühle vom Herzen sind zuverlässiger, aber die kommen mir selten. Meist halte ich mich an das, worauf ich zählen kann: an das Hirn als das Organ, wo klare Gedanken entstehen. Auch meinem Instinkt hatte ich bislang nicht so recht getraut, weil da so viel im argen war, denn Janice hatte mich ja sozusagen zum Mann gemacht. Jetzt aber lag die Seelenlandschaft klar vor meinem inneren Auge, vielleicht weil mir der Verlassensschmerz von damals den Blick nicht mehr trübte. Ob Janice geisteskrank war oder eine Soziopathin, war mittlerweile eine akademische Frage. Jetzt ging es nur noch darum, was sie verübt hatte und was sie noch anrichten konnte. Das juristische Warum und Wozu trat zurück vor ihren Absichten, Launen, Schüben. Janice war zu unglaublichen Gewaltausbrüchen fähig. Das hatte sie mit dem Mord an Dennis und Sean bewiesen. 280
Wie sie ihre Wut an anderen auslebte, hing davon ab, wie tief sie die jeweilige Verletzung empfand. Als Benito Falconi an ihrem Narbengewebe kratzte, hatte sie völlig unberechenbar reagiert. Tupelos Verstümmelung war zwar genauso grausam gewesen, aber fraglos vorher genau kalkuliert. Sie hatte es ja selbst vor mir zugegeben: »Glaub mir, ich hab mich zurückgehalten.« Kalkuliert oder nicht, das war bereits der zweite Ausbruch gewesen. Ich mußte mich verhalten, als sei sie verrückt genug, einen regelrechten Feldzug gegen mich zu eröffnen. Hoffentlich fühlte sich Debby wohl unter dem kaltgrauen Winterhimmel von Michigan. Wenn es nach mir ging, konnte sie sich auf einen Langzeiturlaub einstellen. Tommy besaß einen Satz Chipkarten und Schlüssel zu Kates Wohnung. Er fand mich am Küchentisch vor, wo ich schon seit einer Stunde hockte und ins Leere starrte. Er nahm erst Tupelo, dann mich durch ein Rechteck aus beiden Daumen und Zeigefingern ins Visier, Kameraeinstellung für Hollywood, tausendmal geübt. Aber hier war nicht die Traumfabrik, und er blieb dabei auch todernst. Er hockte sich neben Tupelo und besah sich ihren Kopf. »Was zum Teufel … Geht’s dir gut, mein Mädchen?« Sie antwortete mit geduldigem, zärtlichem Lecken, was bei einem Goldenen Retriever soviel heißt wie: »Gut, danke der Nachfrage.« Dann ließ er sich mir gegenüber nieder. »Nun red schon.« Ich formulierte wie ein Roboter, in kurzen, abgehackten Sätzen, fast ganz ohne Pronomen und Verben. Er begriff. »Perverses kleines Luder«, sagte er. »Jetzt ist aber Handeln angesagt, nicht Grübeln. Bist du dafür, sie allezumachen?« 281
»Um Gottes willen! Das will ich nicht gehört haben.« »Ich hab ja nicht erwartet, daß du ja sagst. Aber warum erfindest du nicht zusammen mit Kate einen netten kleinen juristischen Schachzug, damit sie wieder weggesperrt wird?« »Kate dürfte bereits daran arbeiten. Entschieden haben wir noch nichts.« »Hör mal, ich muß noch wohin, aber da kann ich bald wieder weg, eine Erstkommunion in Little Italy. Damit du nicht auf dich gestellt bist, will ich, daß du etwa bis acht hier bei Kate bleibst und erst dann heimgehst. Wenn schon einer bei dir im Zimmer pennt, dann bin das ich.« Kate kam abends etwa gegen acht heim. Draußen war es dunkel geworden, und ich saß immer noch am Küchentisch. Sie wirkte abgekämpft. Das Kostüm, am Morgen noch so elegant, war so zerknittert wie alles an ihr. Sie hatte Sorgenfalten um die Augen. »Du siehst nicht gut aus«, begrüßte ich sie. »Schwerer Tag?« »Und du erst.« Sie hielt mir den chromspiegelnden Toaster vors Gesicht. Angetrockneter Sahnequark klebte mir rings um den Mund an Bart und Schnurrbart. Sah aus wie im Altersheim, gefüttert und nicht abgeputzt. »Ich dachte, ich hätte alles weggekriegt«, stotterte ich, stand auf, schritt zum Ausguß und schüttete mir Wasser ins Gesicht. Es tat gut, machte mich wach und beinah wieder lebendig. »Laß uns hinsetzen und reden.« Sie goß sich Cognac in einen Schwenker, blickte fragend zu mir, sah, daß ich zu keiner Entscheidung fähig war, und wählte für mich ein großes Perrier. Mit dem Getränketablett auf dem Schoß rollte sie ins Wohnzimmer, und ich zockelte hinterher. Sie stellte das Tablett ab und begann mit dem Feuermachen. Das tat sie immer mit Methode, und deswegen ging ein 282
Kaminfeuer bei ihr meist auch über Stunden nicht aus. Unterm Reden schilferte sie lange Rindenstreifen von den Kloben und machte daraus ein Glutnest genau in der Mitte. »Was hast du dir so gedacht?« wollte sie wissen. »Sieht aus, als hätte dir der Schlaf nicht viel genützt.« »Das hört sich jetzt bestimmt an wie bei einer Schallplatte mit Sprung. Ich kann dir nichts Neues oder Besonderes erzählen. Ich denke immer noch das gleiche. Wie gefährlich sie ist.« »Und was tust du dagegen?« »Nichts. Wachsam bleiben. Debby schützen. Ich will nichts unternehmen, wenn du das meinst. Ich hab keine Lust, was loszutreten. Sie hat schon zwei Ausbrüche gehabt. Sie kann jederzeit wieder hochgehen. Wozu reizen?« »Ich hab befürchtet, daß du so was sagst. Noch was?« »Ich hab meine Hausaufgaben erledigt, gestern abend, bevor sie Tupelo verstümmelt hat. Hätt ich schon vor Monaten tun sollen, als du es angesprochen hast. Du hattest natürlich recht. Jetzt kann ich sehen, was sie damals für mich gewesen ist. Ich will nichts mehr von ihr, aber vergewissern mußte ich mich.« »Schön, daß du es einsiehst. Wenn es um sie ging, war dein Verstand nicht grade klar.« »Der war glasklar. Ich hab ihm bloß nicht getraut.« »Stimmt, und ich war dir keine große Hilfe. Ich hab nicht mal deinem Instinkt geglaubt. Wieder mal eine Lehre für mich. Man soll das Persönliche vom Beruflichen trennen. Es tut mir leid, Simon. Ich bedaure, dich da hineingezogen zu haben.« »Hattest sicher deine Gründe. Ich hätte ja ablehnen können. Aber es hat mich gereizt. Schwamm drüber. Wir brauchen uns nicht voreinander zu entschuldigen.« 283
»Hach, das kenn ich doch irgendwoher. Gleich sagst du: Liebe heißt, nie sagen zu müssen, es tut mir leid.« Brachte auch mich zum Lachen, weil es deutlich machte, daß wir beide miteinander umgingen wie ein altes Ehepaar. Tat mir gut. Der Tag war ansonsten ziemlich unerfreulich gewesen. »Danke für die Blumen.« »Gern geschehen.« In zufriedenem Schweigen starrten wir eine Weile ins Feuer. »Mir geht schon den ganzen Tag durch den Kopf«, setzte Kate das Gespräch fort, »daß sie schon wieder ausgerastet ist, und zwar ganz kraß. Und das gegen dich. Keine Ahnung, was sie als nächstes vorhat. Ist viel zu unberechenbar. Ich glaube, du mußt ihr was stecken, ganz unmißverständlich. Wie ich schon sagte, gibt’s drei Möglichkeiten. Die erste und einfachste ist eine einstweilige Verfügung. Kann ich noch heute erwirken. Die richterliche Auflage, sich von dir und Tupelo fernzuhalten, und Debby könnte ich auch mit aufführen. Würde fürs erste Abhilfe schaffen. Zweitens könnten wir Strafanzeige erstatten, aber ich kann ihr nichts anlasten außer vorsätzlicher Sachbeschädigung, und das bringt nicht viel. Oder wir beantragen die Zwangseinweisung. Da läßt sie den Vater Einspruch einlegen, aber wir können doch wohl glaubhaft machen, daß sie eine Gefahr ist, und die Geistesgestörtheit können wir sogar beweisen. Ist schließlich gerichtsnotorisch. Aber entscheiden mußt du. Du kennst sie besser als ich.« »Was wär dir am liebsten?« »Ich meine, du solltest mir Mandat erteilen, eine einstweilige Verfügung gegen sie zu erwirken. Hab ich schon vorformuliert und unterzeichnen lassen. Wenn sie nichts mehr von dir will, ist die Verfügung entbehrlich gewesen. Schaden kann sie aber auf gar keinen Fall. Will sie näm284
lich doch noch was von dir, machen wir ihr damit klar, daß jetzt Schluß ist mit lustig. Solltest du damit einverstanden sein, hätte ich noch einen weiteren Vorschlag, diesmal als Freundin. Laß uns abhauen wie der geölte Blitz, sobald die Verfügung zugestellt ist. Hat keinen Sinn, ihren nächsten Tobsuchtsanfall abzuwarten.« Ich war baff. »Was hör ich da? Katherine Newhouse ist fürs Abhauen?« »Nein, eher für Zeit zum Nachdenken, zum Verschnaufen. Die Sache geht dir unter die Haut. Ich glaub, du brauchst Abstand.« Also schon drei, die den brauchten. »Ich hab mir schon eine Woche Urlaub genommen und kann auf Wunsch verlängern. Fahren wir in die Hütte. Hat dir schon früher geholfen. Und ich wollte schon immer, daß du sie auch mal im Winter erlebst. Ist jetzt schön dort oben. Hast du Lust? Kommst du mit?« War kaum auszuschlagen, auch wenn es auf Abhauen hinauslief. Die Hütte war Kates Geburtshaus in Creek’s Bay, unmittelbar nördlich von Stonington an der Küste von Maine. Ist ihr der liebste Platz auf Erden, dort sammelt sie neue Kraft. Hatte mir früher schon mal geholfen. Kates Sommersitz. Ich hatte sie die letzten zehn Jahre über mindestens jeweils ein paar Wochen dort besucht. Eine Zuflucht. Es lag wie ein Zauber über dem Ort. Kate war am Ende ihrer Kraft, und mir ging es nicht anders. Schon die Aussicht auf eine Hüttenwoche stimmte mich warm und hoffnungsfroh. Es klang wie der Himmel auf Erden. »Na gut. Aber ist es jetzt im Winter nicht kalt da oben?« »Eisig. Nimm Fäustlinge mit.« Ich mußte lachen. Es ging mir schon besser. Schon der Gedanke an eine Auszeit war wie Balsam. 285
»Was ist mit der einstweiligen Verfügung?« erinnerte mich Kate. »Ich glaube, du mußt da was tun.« »Sag ich dir morgen früh, Frau Anwältin, vor der Abfahrt. Ich will’s überschlafen. Bestell uns was für den Aufenthalt, das auch ich essen kann, ja? Letztes Jahr hast du für mich in der Hütte nur ein Pfund Leberpastetenaufschnitt im Kühlschrank gehabt.« »Lüg nicht. Es gab auch noch Mayonnaise.« Ich umarmte sie und zog die Jacke an. »Wo willst du denn jetzt hin?« »Heim und packen. Meine Fäustlinge holen.« »Nimm Tommy mit.« »Der wartet schon dort.« Sie runzelte die Stirn. »Warum übernachtet ihr nicht alle beide hier? Ich habe ein besseres Gefühl, wenn du an einem Ort bist, wo ich dich sehen kann, und nicht dort, wo sie dich sieht.« »Ist doch bloß für ein paar Stunden. Mach dir keine Sorgen.« »Aber ich mach mir welche, Simon. Sie ist geladen, und sie ist gefährlich. Und du bist ihre fixe Idee.«
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25 In aller Frühe schrillte Kates Telefon. Wir wollten gerade zur Tür hinaus, und Tupelo fiepte enttäuscht, als wir auf der Schwelle stehen blieben. Wir wollten nach Maine. Das K-Mobil war mit Klamotten, Musikkassetten und Eßvorräten in solcher Menge beladen, daß man die ganze Stadt Portland einen Monat davon hätte ernähren können. Kate ging keine Risiken ein. Sie wollte mich keinen Hunger leiden lassen. Wir hatten eben noch mal über die einstweilige Verfügung diskutiert. Und ich hatte Kate erklärt, daß ich sie für so sinnlos hielt wie eine private Krankenversicherung. Wer jahraus, jahrein Unsummen einbezahlt, bleibt deswegen noch lange nicht gesund. Ich wandte ein, die quittierte Zustellung einer einstweiligen Verfügung gewährleiste keineswegs, daß eine Hausfriedensbrecherin wegbleibe. Kate sah das anders, fand sich aber mit einem verärgerten »Wie du willst« mit meinem Nein ab. Sie rollte direkt hinter mir, doch beim zweiten Klingeln war uns beiden klar, sie wollte zurück. Ich hielt den Rollstuhl fest. »Kate, geh nicht ran.« Irgendwie klang ich dringlich genug, und sie meinte: »Na gut, ich stell nur den Anrufbeantworter laut.« Der Apparat schaltete sich mit dem vierten Klingeln ein, und ich wartete ungeduldig, bis die hektische Ansage vorbei war. »Aäh, hallo …?« Unsicher, pubertär, ganz und gar nicht die rollige Katze wie sonst. 287
»Hier Jan? Ich bin, äh … , ich muß wirklich Simon sprechen? Und ich hab gemeint, Sie wüßten vielleicht, wo er ist? Ist er … Ist er da? Simon, bist du da?« Mir standen die Haare zu Berge. »Simon? Ich brauch dich. Mir geht’s richtig schlecht? Es ist so … Ich hab mich nicht mehr im Griff. Bitte, ich muß mit dir reden. Mir geht es schlecht …« Sie schluckte und zögerte. »Ich trau nur noch dir. Du bist der einzige. Bitte. Kommst du her? Ich brauch dich nötig. Komm.« Eine lange Pause. Stille in der Leitung. Dann noch mal leise: »Ich brauch deine Hilfe.« Und dann dieses Klicken, wie von einem Revolver mit leerer Kammer. Kate übernahm als erste das Steuer. Ich war zu überdreht, um zu fahren, hätte mich aber auch in der transzendentesten und ausgeglichensten Seelenverfassung nicht auf den Stoßverkehr von Manhattan einlassen können. Wie man in so einer Großstadt Auto fährt, ist mir stets ein unlösbares Rätsel geblieben. Kate aber nicht. Sie fädelte sich mühelos durch das Labyrinth an der Triboro Bridge, und bald schnurrten wir auf der Interstate 95 dahin. Ich hatte fast eine Stunde lang geschwiegen, nur zum Teil aus Respekt vor Kates Fahrkünsten. Der Klageton in Janices Telefonstimme hatte mich frösteln lassen, und mir war seither nicht wieder warm geworden. Ich fummelte an den Drehschaltern vom Heizgebläse herum, aber es half nicht. »Was hast du denn, Simon? Ist dir etwa schlecht? Da spielst du jetzt schon die ganze Zeit dran rum. Ich sag dir doch, das funktioniert vollautomatisch.« »Mir wird einfach nicht warm.« 288
»Liegt an dem Anruf, nicht an der Heizung.« »Wird wohl so sein.« »Du hattest recht. Ich hätte nicht rangehen sollen.« »Zu spät.« »In Ordnung. Ein Vorschlag zur Güte. Beim Einsteigen hab ich gesagt, Janice wird unterwegs nicht erörtert, aber ich lasse mich breitschlagen, unter einer Bedingung allerdings: Wenn wir über die Grenze zu Massachusetts kommen, ist Schluß. Und das gnadenlos. Auch wenn du gerade inmitten der brillantesten Analyse deiner ganzen Psychologenkarriere sein solltest, gibt’s nur noch eins: Themawechsel. Sobald wir in Massachusetts sind, mußt du anfangen, dich auf die Hütte einzustimmen, zusammen mit mir, nolens volens. Da mußt du dich dann fügen.« »Abgemacht.« »Also, was an dem Anruf beschäftigt dich?« »Na, irgendwer muß doch reagieren. Hast du die Verzweiflung herausgehört? Sie hat fast geheult, wie sie gesagt hat, es geht ihr nicht gut. Und diese Kleinmädchenstimme, nach jedem Satz dieses Fragezeichen. Sie ist völlig regrediert. Debby und ihre Freundinnen haben manchmal genauso getan, aber die sind längst über so was weg.« Ich hielt inne, um mich zu sammeln. Mir war noch nicht so recht klar, worauf ich hinauswollte. »Seit sie aus der Anstalt raus ist, plädiere ich auf Anfassen mit der Feuerzange, weil ich Janice für gefährlich halte. Nicht daß du meinst, ich denke jetzt, ich hab falsch gelegen. Bloß sehe ich sie inzwischen auch noch in einem andern Licht, jetzt, wo ich nichts mehr von ihr will. Gefährlich ist sie. Das stimmt. Tupelo kann es bezeugen. Aber es hängt damit zusammen, daß sie krank und verwirrt ist. Sie sieht die Welt durch die Augen einer paranoiden Sechzehnjährigen. In diesem Alter ist sie meiner Meinung nach stehengeblieben, mit sechzehn, 289
nach dem Tod der Mutter. Sie ist absolut therapiebedürftig. Ich hab wirklich den Wunsch, was zu machen, bloß glaub ich nicht, daß ich dafür der Richtige bin.« »Tu vorerst noch nichts. Triff nicht mal eine Entscheidung«, schnitt mir Kate das Wort ab. »Ich will dir mal was sagen, ohne unterbrochen zu werden, und dann bist du wieder dran. Die ganze Zeit hab ich irgendwelche Eindrücke gehabt, Reaktionen, die mir zu schaffen machten, aber ich hab nicht genug darauf geachtet, weil ich sie ganz selbstverständlich für Symptome ihrer Krankheit gehalten hab. Jetzt aber, mit dem, was sie Tupelo angetan hat, sehe ich alles mit ganz anderen Augen.« Ihre Stimme klang so hart, daß mein Puls schneller wurde. Ich musterte aufmerksam ihr Profil, während sie weitersprach. »Jedenfalls lautet meine populärwissenschaftliche Schlußfolgerung: Sie ist nicht geistesgestört. Sondern bösartig.« Kate wandte mir einen Sekundenbruchteil das Gesicht zu und sah mir in die Augen, ob ich auch verstand, was sie meinte. Ich fror noch stärker, beherrschte mich aber und verkniff es mir, an den Armaturen zu fummeln. Ich sagte kein Wort. »Ich will mal ganz vorne anfangen. Wenn ich dir alles erzähle, verstehe ich es auch selber besser. Gehen wir mal zurück in die Woche nach ihrer Verhaftung. Du erinnerst dich, meine Notizen aus diesen ersten Gesprächen waren sehr bruchstückhaft. Das liegt daran, daß es für mich absoluten Vorrang hat, meine Gefühle aus einem Fall herauszuhalten. Ich nehme meine Pflichten sehr ernst – wird dir nichts Neues sein – und meine Pflicht war ihre Verteidigung. Also habe ich die aufgebaut. Streng sachlich. Zunächst zu Dennis und Sean. Sie hat keinerlei Reue wegen der Tat gezeigt. Sie war froh, daß beide tot sind. Sie hat sie noch über das Grab hinaus verflucht. Was sie über ihren Ehemann gesagt hat, konnte ich verkraften. Da 290
hab ich schon viel Schlimmeres gehört. Aber der Säugling, Simon. ›Der kleine Sauschwanz‹ hat sie über Sean gesagt. Inzwischen bin ich überzeugt, sie hat genau gewußt, was sie tat. Ich denke, sie hat ihn abgestochen, weil sie ihn nicht mehr am Hals haben wollte.« Ich kurbelte das Fenster herunter und ließ einen Schwall Novemberluft aus Connecticut ein. Genauso kalt wie in New York, aber viel weniger Kohlenmonoxyd. »Und bei den Stimmen hab ich auch so meine Zweifel. Sicher, sie hat geredet mit ihrer Mutter, oder zumindest so getan, als ob. Aber ein Gespräch könnte man das nicht nennen. Eher einen Dauermonolog. Janice ist nie still und lauscht. Für mich hört sich das an, als wäre ihre eigene Stimme die einzige in ihrem Kopf. Alles andere, sofern es überhaupt was gibt, kann sie nach Belieben an- und abstellen. Ich bin kein Psycho und weiß nicht die Bohne über akustische Halluzinationen, aber irgendwas ist da nicht koscher, soviel ist sogar mir klar. Klingt das halbwegs logisch für dich, Simon?« Eine rhetorische Frage, keine Antwort erforderlich. »Und sie haßt ihre Mutter. Sie hat ständig über sie gegeifert. Einmal hat sie erzählt, ihre Mutter sei Trinkerin gewesen, mit dem Kopf auf eine Lampe geschlagen und daran gestorben, und dazu hat sie gelacht. Mir ist ganz öd und kalt geworden dabei, und ich hab nicht so nachgehakt, wie ich hätte sollen. Aber je mehr ich darüber nachdenke, desto gespielter kommt mir das ganze vor.« »Was ist, kannst du jetzt übernehmen?« Sie bremste bereits. »Da vorn kommt ein Rastplatz. Laß uns tauschen.« Sie parkte und wartete, bis ich ausgestiegen war. Während Kate auf den Beifahrersitz rutschte, ging ich ums Auto herum und stieg ein. Ich schaltete um von der Handbedienung, und im Nu rollten wir wieder. 291
Kate fuhr fort, wo sie sich unterbrochen hatte. »Und dann war da noch Falconi. Ich bin mir jetzt ziemlich sicher, Janice hat die ganze Szene genau geplant. Sie hat sogar gewußt, wie der Prozeß ausgehen würde.« »Was einst du damit? Werd deutlicher.« »Na, sie hatte nicht im mindesten Schiß. Ich hab schon mit vielen Angeklagten zu tun gehabt, ob schuldig oder unschuldig, aller Hautfarben und aus jeder sozialen Schicht, aber alle haben eins gemeinsam: Sie haben alle Schiß. Erinnerst du dich an O. J. Simpsons Miene bei seinem Prozeßbeginn? Sogar dem war’s ins Gesicht geschrieben. Manche quälen sich ein bißchen mehr, andere weniger, aber alle haben eine Heidenangst, wie es ausgehen wird, egal wie stark die Verteidigung ist. Ist einfach die menschliche Natur. Aber Janice war nicht mal hippelig. Kannte weder Angst noch Zweifel. Hatte sich bereits alles ausgerechnet. Der arme Falconi. Ihr Schlachtopfer.« Meine Hand kam wie von selbst hoch und strich mir übers Auge. Kate sprach weiter. »Dann kommt sie frei und beginnt ihren ägyptischen Schleiertanz.« Ich blickte zu ihr hinüber. Straffe Oberlippe, sie war jetzt in Hochform. »Simon, diese Anrufe, ihr Überraschungsbesuch, der Wohnungskauf, alles keine Aktionen von jemand, der nicht weiß, was er tut. Ich weiß genau, wovon ich rede. Mit einem Alkoholiker, der nicht mehr wußte, was er tat, hab ich schließlich achtzehn Jahre unter einem Dach gelebt. Als Janice über Tupelo hergefallen ist, hatte sie sich das reiflich überlegt. Das war keine Spontanhandlung. Da war kaltes Auflauern und rasches Zupacken nötig, und so was geht nur mit Berechnung. Sie war stinkesauer auf dich, wir wissen ja, warum. Sie hat die Wut rausgelassen, und es hat ihr Spaß gemacht. Glaub bloß keinen Moment, daß Janice ›weggetreten ist‹. Ausgeschlossen.« Tupelo klopfte bestätigend mit dem Schwanz. 292
Kate sah sich nach ihr um. »Danke, Tupe. Siehst du? Sogar der Hund hat’s kapiert. Du hast Janice beleidigt, weil du ihr einen Korb gegeben hast, und das wollte sie dir heimzahlen. Und treffen konnte sie dich, indem sie deinem Hund was antat. Absolut psychopathische Reaktion, wenn du mich fragst. Aber hör dir mal das da an.« Sie kramte in ihrer riesigen Umhängetasche und holte eine Tonbandkassette heraus. Im Autoradio warf sie den alten Song von Rickie Lee Jones aus, den wir vorhin gehört hatten, schob die andere Kassette dafür rein und drückte auf Vorlauf. »Am nächsten Tag, nach deinem mißglückten Abend bei Janice, also ein paar Stunden, bevor sie Tupelo verstümmelt hat, ruft sie mich an und fragt, ob sie rüberkommen darf. Ich bin nicht in Stimmung und sage nein, spreche aber eine ganze Weile mit ihr am Telefon. Sie ist in einer redseligen Verfassung. Sie hört sich sogar ganz normal an, wenn man diese Bezeichnung überhaupt auf sie anwenden kann. Sie erzählt mir Sachen, die ich noch nie von ihr gehört habe. Ich weiß, diesmal lügt sie nicht. Ich kann nicht sagen, warum, aber sie klingt, als sei was in ihr aufgegangen und als gebe sie sich wenigstens einmal so, wie sie wirklich ist. Du weißt ja, ich schneide grundsätzlich alle Anrufe von Klienten mit, und ich hatte schon draufgedrückt. Die Begrüßungsfloskeln können wir uns sparen. Wart mal, ich muß noch ein Stück vorlaufen lassen.« Das Band zwitscherte und klickte ein paarmal, und ich hörte Bruchstücke des Gesprächsanfangs. Als Kate schließlich den Abspielknopf gefunden hatte, war Janice mitten in dem Satz. Sie klang gelassen und vernünftig, ja sogar nachdenklich. »… ’ne leichte Zeit war das nicht gerade. Vielleicht glauben Sie mir das nicht, weil ich so fröhlich tue und so, aber es war grauenhaft bei mir zu Hause, wo ich aufgewachsen bin. Das reinste Irrenhaus. Manchmal weiß ich nicht, wie ich da lebend rausgekommen bin.« 293
Eine kurze Stille und dann Kate, mit der kleinen Stimme, vertraulich, voller Verständnis. »Ich weiß genau, was Sie meinen. Bei uns hat nur einer getrunken, mein Vater, aber das ist gehupft wie gesprungen. Meine Mutter war nämlich nur noch damit beschäftigt, mit den Auswirkungen klarzukommen, und das war noch, bevor sie das Krankheitsbild Ko-Alkoholismus erfunden hatten.« »Ja, bei mir waren auch beide Rollenvorbilder beschissen. Sie haben Vater ja kennengelernt, ein Mickermännchen, so ist er schon immer gewesen. Für ihn war’s leichter, mit der Flasche klarzukommen als mit meiner Mutter. Kann ihm keinen Vorwurf draus machen. Sie hat ihn getreten wie einen räudigen Köter vom Schrottplatz, bis nichts mehr von ihm übrig war. Er ist eigentlich unser beider Opfer geworden. Viel macht er nicht her als Mann, aber ich hab ihn trotzdem lieb. Und Mutter war erstens ein Hausdrachen von vierundzwanzig Karat, und zweitens hat sie gesoffen. Sie wäre sogar dann so gemein wie ein Fischweib gewesen, wenn sie das Zeug nie angerührt hätte. Sie war bösartig, und ich bin von ihrem Fleische, Gott allein weiß, warum. Ich hab mich in diesem Panoptikum durchbringen müssen, und ein bißchen von mir sollte heil bleiben, und ich hab’s hingekriegt. Wissen Sie, ich hab nur ein einziges gutes Jahr gehabt in meinem ganzen Leben, und das war mit Simon. Das war das Jahr, nachdem meine Mutter gestorben ist. War ’ne echte Erlösung, wirklich. Ohne sie hätten Daddy und ich endlich leben können. Aber sie gab keine Ruhe. Tot hatte sie noch mehr Macht über uns als im Leben. Ich glaub, ich hab nie eine echte Chance gehabt.« Kate stoppte das Band. »Okay, aber eins geht mir dabei unter die Haut. Das war ganz klar kurz vor ihrem Ausbruch, aber sie klingt trotzdem nicht wie jemand, der gestört ist. Simon, ich hab mich von ihr einwickeln lassen. 294
Ich hab mein Elternhaus mit ihr erörtert. Das hab ich seit Jahren mit niemand außer dir getan. Es hat was Eigenartiges, sich mit anderen Davongekommenen auszutauschen. Ich könnt mich in den Hintern treten. Mich derart einlullen zu lassen! Aber darum geht’s jetzt nicht. Der springende Punkt ist, daß sie nur ein paar Stunden nach diesem Gespräch Tupelo das Ohr abgeschnitten hat.« Bis auf Tupelos leises Schwanzklopfen hinter uns herrschte Schweigen im Auto, während wir weiterfuhren. Kate hatte ihre Geschichte erzählt, aber ich merkte, sie war noch nicht zu Ende. Sie strahlte diese Aura äußerster Konzentration aus, die besagte, sie würde gleich eine wichtige Entscheidung verkünden. Ich konzentrierte mich auf die Fahrbahn und auf die Landschaft. Wir fuhren auf der Interstate 395 in Richtung Norden, hatten Norwich eben hinter uns gelassen und somit noch genügend Zeit. Ich wurde seit Tagen zum ersten Mal ruhig, weil ich wußte, was ich zu tun hatte. Es lag auf der Hand. Ich mußte Verbindung mit Janices neuem Psychiater aufnehmen. Dazu brauchte ich nur mal kurz Justin Katz anzurufen, um den Namen zu erfahren. Auf diesen Mann kam es an. »Folgendes, Simon. Laß uns Dr. Masters anrufen.« »Wen?« »Da ist Janice jetzt in Therapie. Ich dachte, du wüßtest das. Sie ist seit ihrer Entlassung regelmäßig hingegangen, aber ich weiß nicht, ob sie es noch tut. Gute Therapie, hervorragender Ruf, zumindest in Justizkreisen.« Anruf bei Katz also überflüssig. »Erzähl mir mehr von ihm«, forderte ich sie auf. »Von wem?« »Ihrem Therapeuten, wie ist er?« »Sie.« »Hä?« 295
»Sie. Er ist eine Sie. Dr. Amanda Masters. Ungefähr Mitte Dreißig, sehr kompetent, glänzende Referenzen. Ich hab sie ein paarmal aussagen hören. Sie ist äußerst konzentriert und kennt sich in ihrer Materie aus, selbst unter dem Streß meines vernichtenden Kreuzverhörs.« Sie war also der Mann, auf den es ankam. »Warum willst du sie anrufen?« »Um Janice wegsperren zu lassen. Mein Bauch sagt mir zwar, die Frau ist nicht verrückt. Aber ich laß sie trotzdem einweisen. Und dafür brauch ich Beweise.« »Hey, wenn du Beweise brauchst, mußt du bloß mal in ihre Wohnung gehen.« »Wieso?« »Wahrscheinlich hat das vor Gericht keinen Bestand, aber die Auswüchse ihrer Fixierung, die ich da gesehen hab, haben mich ziemlich befremdet. Nein, befremdet ist nicht das richtige Wort. Ich war völlig platt. Erst mal hat sie da so einen Schrein im Schlafzimmer. Den müßtest du mal sehen. Du kennst doch diese buddhistischen Altäre, wie sie manche vegetarischen Restaurants hinten im Gastraum haben – mit Buddhafigur, Bildern, Plastikblumen und Weihrauch? Na, bis auf die Statue ist das alles bei ihr auch da. Bloß, daß sie da statt Buddhaporträts wunderschöne gerahmte Fotografien hängen hat, halbkreisförmig über dem Schreibtisch. Die sind echt gespenstisch. Lauter Fotos von uns, von Janice und mir als Paar, zu verschiedenen Anlässen an der High School.« »Was ist daran gespenstisch?« »Das Gespenstische ist, daß Janice und ich nie miteinander ausgegangen sind. Wir sind nirgendwo zusammen gewesen, bis auf dieses eine Rock & Beat-Festival unter freiem Himmel, und dort waren alle viel zu bekifft, um eine Kamera zu halten.« 296
»Was soll das dann?« »Wußte ich auch nicht, bis ich ihr Bücherbord gesehen hab. Kate, die Fotos sind Collagen. Sie hat sie fabriziert, indem sie alle Schnappschüsse in unserem Jahrbuch der Abschlußklasse zerschnitten und neu zusammengeklebt hat. Mir wird erst so langsam klar, was für eine Fummelarbeit das gewesen sein muß. Diese gerahmten Fotos sind perfekt. Du brauchst die Lupe von Sherlock Holmes, bevor du die Schnittränder siehst. Ich war völlig geschmissen, das kann ich dir flüstern.« Kate ahnte offenbar nicht, was ich alles auf Lager hatte. Sie saugte es auf wie ein trockener Schwamm. Aber es kam noch dicker. »Und dann sind da noch ihre Klebealben, an denen kannst du studieren, was eine fixe Idee ist. Ganz offensichtlich hat sie mein Leben über Jahrzehnte dokumentiert. Der erste Ausschnitt ist ein Xerox aus einer uralten Zeitschrift der American Psychiatric Association. Irgend so ein Vortrag, den ich in meinem letzten Jahr an der Fakultät auf dieser Verbandstagung verzapft habe. Das erste Mal, daß was von mir gedruckt und veröffentlicht worden ist. Ich weiß nicht, wie sie es angestellt hat, aber sie hat einen Ausschnitt von jedem Artikel, der je unter meinem Namen erschienen ist. Moment. Natürlich weiß ich, wie sie es gemacht hat. Sie hat eine Agentur dafür bezahlt. Allerdings hat sie auch manches selber gefunden und archiviert, denn einige Kopien sind total vergilbt und mürbe. Hat mir jedenfalls irre Gänsehaut gemacht. Lieber Gott, jetzt rede ich schon wie Debby. ›Irre Gänsehaut.‹« Kate mußte lächeln. »Gut, ich mach schneller, wir sind bald aus Connecticut draußen. Sie hat die Langfassung dieses Mother-JonesArtikels, in Saffianleder gebunden, ist wohl ziemlich teuer 297
gewesen, und ihre Lieblingszitate sind darin mit Leuchtstift angestrichen. Sie hat sich sogar – Gott weiß woher – ein Video von meinem Interview mit Peter Jennings beschafft. Und mir ist noch mehr aufgefallen. Eine gewisse Zeit hat sie auch ein Klebealbum über Will Hardin geführt. Ich hab dir von ihm erzählt, ihr Freund auf der High School. Er hat eine kurze und wenig bemerkenswerte Karriere als Berufsspieler bei den Detroit Lions gemacht, und als er ausschied, ist sein Name auch nicht mehr in den Medien aufgetaucht. Deshalb hat das Album fast nur weiße Seiten. Und zum Schluß muß ich dir noch von ihren Nachschlagewerken erzählen. Es sind nur zwei, aber die haben’s in sich. Ein aktuelles Handbuch der Psychiatrie und der Pharma-Index. Ich brauch dir wohl nicht zu erläutern, was das heißt.« »Nein, aber es erschreckt mich.« Das Handbuch zur Diagnostik und Statistik geistiger Störungen wird vom Bundesverband Amerikanischer Psychiater herausgegeben. So ein Handbuch lohnt sich nur für zweierlei: Erstens verwenden es Psychotherapeuten, um den diversen pathologischen Zuständen, die ihnen in ihrer klinischen Praxis unterkommen, Kennziffern zuzuordnen. Ein Nachschlagewerk über jede nur denkbare geistige Störung, von paranoider Schizophrenie bis zur Trichotillomanie, meinem Lieblingsgebrechen, im Buch definiert als »wiederholtes Unvermögen, den Drang zum Haareausreißen zu steuern«. Gewissenhaft werden alle Erscheinungsformen jeder nur vorstellbaren Psychopathologie aufgeführt und jeder eine Kennziffer zugewiesen. Ohne Angabe dieser Nummer erkennt nämlich die Versicherung die Honorarforderung eines Therapeuten nicht an. Zweitens braucht man dieses Handbuch für den Behördenverkehr bei Entmündigungen, bei freiwilligen oder 298
Zwangseinweisungen in eine Heil- und Pflegeanstalt oder für eine Gutachtertätigkeit im Auftrag des Gerichts, wenn auf Schuldunfähigkeit plädiert wird. Ein Lexikon also. Keine spannende oder erotische Bettlektüre. Ebensowenig ist das der Pharma-Index, ein Nachschlagewerk der Pharmaindustrie über alle Arzneimittel und deren Verordnungsanzeigen, komplett mit Hinweisen zur chemischen Zusammensetzung, Dosierung und Kontraindikation. Von Nutzen für Erfinder von Designerdrogen, die hier oder dort mal ein Molekül austauschen und damit eine neue Dröhnung in die Disco werfen. Aber vor allem für Mediziner. Wozu also hatte Janice dieses Buch studiert? »Das war’s, Kate. Was hältst du davon?« »Hört sich für mich nicht nach ’ner Geisteskrankheit an. Und für dich auch nicht. Ich hab dir gesagt, was ich vorhabe. Ich werde tun, was ich kann, um sie wegsperren zu lassen. Ich hab mich beruflich ein paarmal geirrt. Meist nicht sehr schwerwiegend. Bei dieser Frau aber ist ein folgenschwerer Justizirrtum passiert, der korrigiert werden muß. Nun zu den gerichtsverwertbaren Beweisen. Du und Tommy, ihr werdet euch tummeln müssen. Ich möchte, daß ihr mir eine Strategie formuliert, aber viel mehr noch brauche ich Fakten. Lebenslauf, Dokumente. Geht der Sache mit der Mutter nach. Und was ist mit Dennis? Er war schließlich Polizist, Himmel noch mal. Da muß doch allerhand dokumentiert sein. Betrachte dich vom Tag unserer Rückkehr an als von der Anwaltskanzlei Newhouse und Partner angeheuert für eine Hintergrundrecherche zu Mrs. Jensen. Übernahme aller Spesen und Kosten.« »Gut. Ich meine, wir sollten bei Dr. Masters ansetzen und von dort zurückspulen. Mit der müssen wir uns beide 299
unterhalten. Ich würde zum Beispiel gern wissen, wie Janice …« »Sorry, Simon.« Die Staatsgrenze. Massachusetts.
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26 Eine Sehnsucht nach Eingeschneitwerden überfiel mich, als ich dem K-Mobil entstieg. Tupelo, die nie Zeit verlor, tobte bereits im Hof durch den Schnee. Wir waren in Sandy Port angelangt, etwa zwanzig Minuten die Küste entlang von Boothbay Harbor entfernt. Ich hatte die Hütte noch nie vor einem Hintergrund von so reinem, stillen Weiß gesehen. Kates Großvater war Zimmermann gewesen, seine Handwerkskunst sprach zu uns aus den handgebeilten Balken der Rückveranda und aus den silbern verwitterten Grobschindeln der Außenwände. Als Neubau war das die Wohnstatt der Großeltern gewesen, ein gemütliches Heim mit drei Zimmern und Küche. Kates Mutter war darin aufgewachsen, und sie selbst hatte einen Teil ihrer Kindheit hier verbracht. Ihre besten Jahre, wie sie gern sagt. Ein Nachbar hatte für uns die Heizung angeworfen, und die altertümlichen Rippenheizkörper gurgelten und knackten heimelig. Ich lud die Vorräte aus und ging gleich in die Küche, um das Abendessen herzurichten. Tupelo traf die kluge Wahl, mir dort Gesellschaft zu leisten. Kate wollte die letzte Stunde Tageslicht zum Holzhakken nutzen. »Ich fühl mich hier nicht richtig angekommen, bevor ich nicht das Kaminfeuer in Gang habe«, erklärte sie und rollte die Rampe hinunter zu dem überdachten Innenhof hinter dem Haus. Die Hütte war drinnen und draußen so modern wie möglich auf ihren Rollstuhl eingerichtet. Ich kochte und schmurgelte gemächlich zum Rhythmus von Kates Axt, einem stetigen Zack-Wumm, Zack301
Wumm, das mich jedesmal erinnert, wie wichtig ihre Körperertüchtigung ist. Ich staune immer über ihre Muskeln, die sie zweimal wöchentlich in einem Fitneßzentrum trainiert. Zwei Stunden später schlürften wir, vollgestopft mit gebratenem Reis und Gurken-Joghurt-Salat, unsern letzten Jasmintee vor dem Kamin. Tupelo ratzte, zu einem vollkommenen Kreis gerollt, die Schnauze unsichtbar, genau mittig zwischen uns und dem Feuer, während sich Kate mir gegenüber in die Sofaecke gekuschelt und die Füße in meinem Schoß liegen hatte. Zugedeckt waren wir mit einem kunstvollen Quilt, von irgendeiner Großtante für die Aussteuertruhe von Kates Mutter gefertigt. »Mir scheint, wir sitzen immer vor irgendeinem flakkernden Kaminfeuer beisammen«, bemerkte sie. »Ich weiß. Wüßte nicht, was ich lieber täte. Vielleicht nie mehr was anderes. Lassen wir alles fahren dahin, und verbringen wir unser weiteres Leben hier auf dem Sofa.« »Klingt verlockend.« Aber die Reisemüdigkeit holte uns schließlich doch ein, und wir verzogen uns, jeder in sein Schlafzimmer. Ein Fetzen Auswendiggelerntes aus der Sonntagsschule ging mir durch den Kopf, während ich in Schlaf sank: »Es wurde Abend, und es wurde Morgen: Erster Tag.« Der zweite Tag floß so geruhsam dahin wie ein träger Strom. Winter in der Hütte war die Ruhe als Prinzip. Nach dem Frühstück lasen wir einander vor, spalteten bergeweise Kaminholz, bereiteten abwechselnd kleine Mahlzeiten füreinander, hörten Bach und Van Morrison von diversen CDs und pflegten das gelassene Zwiegespräch, wenn uns danach war. Wir mußten jedesmal lachen, wenn uns an 302
Kleinigkeiten bewußt wurde, wie abgedreht manches aus unserem »normalen« Großstadtalltag hier plötzlich auf uns wirkte. Als es dämmerte, machte Kate Feuer und begann über ihre Ehe zu sprechen, was sie bestimmt die letzten zehn Jahre nicht mehr getan hatte. »Als ich alt genug war, wurde ich an Harry weitergereicht. Anfangs hat er mich nicht geschlagen. Es war für ihn viel interessanter, Koks zu schniefen. Da war er noch ein junger Spund, noch ohne längere Suchtkarriere. Aber es hat nicht lange gedauert, bis er dann doch tätlich wurde. Das Merkwürdige ist, und das kommt dir bestimmt seltsam vor, ich bildete mir sogar ein, ich hätte es ganz gut getroffen. Er war bei weitem nicht so brutal wie mein Vater, und ich war froh, es soviel besser zu haben. Und dann ist die Kette der Gewalt gegen mich gerissen, durch den Autounfall. Danach hatte ich mein Leben plötzlich ganz für mich, und ich fand’s toll. Herz, was willst du mehr? Nein, ich sag’s nicht. Weiß schon, was das Herz will.« Wir schwiegen uns eine Weile an, und in die Stille hinein knackten und knallten regelmäßig die flammenden Zedernkloben. »Ich hab oft über dich und deine Männer sinniert«, sagte ich. »Wetten, du lieferst mir gleich die Interpretation.« »Eins ist mir ein Rätsel. Die Männer um dich herum sind allesamt kalt wie Hundeschnauzen, außer mir. Ich glaube fast, Gefühle läßt du nur bei mir raus. Ansonsten hältst du sie in Schach, indem du dir Männer aussuchst, die gar nicht wissen, was fühlen heißt. Ich glaub, du hast früh lernen müssen, lieber keine Gefühle zuzulassen als spontane, aber dafür zahlst du einen hohen Preis. Kopf und Körper 303
bringst du in deine Beziehungen ein, aber das Herz bleibt außen vor. So geht das aber nicht, es sei denn, du willst wirklich allein bleiben.« Kates Oberlippe kräuselte sich zum Zeichen, daß ich mich jetzt über ein Minenfeld bewegte. »Und so wird dir dann auch quasi nur das zuteil, womit du dich bescheiden zu müssen glaubst: Fruchtlose, blutleere Beziehungen mit Männern in gehobener Stellung und Maßanzügen. Ich hab sie ja öfter erlebt. Kein einziger von denen kann je zu einer Gefahr für deinen Gefühlshaushalt werden. Sie fordern dich nicht einmal. Nichts als nette, gesellige Smokingträger.« Ihre Oberlippe zitterte jetzt, ganz sacht und nur dort, wo sie ohnehin gekräuselt war. »Und zeig mir mal, wo bei so einem netten geselligen Begleiter die Leidenschaft sitzt. Daß es in deinen Beziehungen auch um Sexualität geht, weiß ich. Aber davon rede ich nicht. Sondern von Leidenschaft. Vom Herzen.« »Und was ist mit dir? Du hast gut reden.« »Laß mich fürs erste mal außen vor. Wir reden hier von deinem Panzer, nicht von meinem. Den Mann, der dich zu schätzen weiß und der dich wirklich anrührt, mußt du erst noch finden.« Das Zittern wurde stärker, und eine verhaltene Träne kullerte. Sie starrte unentwegt ins Feuer. »Eines Tages mußt du es riskieren. Mußt drauf vertrauen, daß dich einer lieben kann, auch leidenschaftlich, ohne daß er gewalttätig wird. Sind nicht alle so wie dein Vater oder wie Harry. Da draußen gibt’s Männer, die anständig sind, nicht trinken, richtig lebendige, nicht bloß Brutalos oder Maßanzugfuzzis.« »Zeig mir einen«, blaffte sie. 304
Ich breitete die Arme aus, die Handflächen nach oben, und Kate lachte hell heraus. »Wenn du das Muster sein sollst für einen, der Gefühle an sich ranläßt, dann hab ich schlechte Karten.« »Nicht weglachen, Kate. Ist viel zu wichtig. Da gibt’s allerhand in deinem Leben, was du früher konntest. Einen Joint rauchen. Auf deinen zwei Beinen rumlaufen. Und noch was: dich lieben lassen. Hast du bestimmt früher mal gekonnt. Probier’s mal.« Sie war lange still bevor die Antwort kam. »Du irrst dich bloß in einem. Hab’s nie zugelassen.« »Überleg’s dir.« »Zieht mich jetzt runter. Bekakeln wir lieber was anderes.« »In Ordnung, also folgendes: So verschieden sind wir beide gar nicht. Klar, unsere Verletzungen sind verschieden, aber sieh dir mal an, wohin das geführt hat. Du bist einsam, wenn du Männer um dich hast, und ich bin einsam mit Frauen in meiner Gesellschaft. Wo ist da der Unterschied?« »Ich kriegs wenigstens besorgt«, erwiderte sie, lächelnd durch noch zwei verhaltene Tränen. »Und ab und zu häng ich mir einen um. Wäre gerade jetzt ’ne prima Idee. Bleibst du noch wach? Ich saufe so verdammt ungern allein.« Kate hielt Wort. Sie wurde sturzbetrunken. Ich sah ihr zu und wollte fast mithalten. Hinterher ließ sie sich von mir ins Bett bringen und zudecken. Eine neue Erfahrung, dieses längere, vertrauliche Miteinander. Früher war ich immer sommers in der Hütte gewesen und daran gewöhnt, Kate mit den zahllosen Übernach305
tungsgästen aus der Stadt und mit den betagten Nachbarn zu teilen, die häufig zu Besuch kamen, um Erinnerungen über Kates Familie aufzufrischen. Diesmal hatten wir nur uns, und unsere Freundschaft wurde dadurch auf subtile Weise tiefer. Eine hintergründige Harmonie lag über dem, was wir taten, sogar wenn wir schwiegen. Wir spürten sie beide und hatten beide Scheu, darüber zu sprechen. An unserem vierten Abend, nach einer Schneeballschlacht draußen vor dem Haus, waren wir wieder in unsere Lieblingsecken auf dem Sofa gekuschelt und redeten über die Kindheit. »Hab ich dir je von meinem Großvater erzählt?« fragte Kate. »Ich weiß nur, daß er sich eine Zeitlang um dich gekümmert hat, aber an Einzelheiten erinnere ich mich nicht. Erzähl doch.« »Ist ’ne lange Geschichte. Willst du sie wirklich hören?« »Sicher.« »Ich glaub, der hat mich gerettet.« »Dich gerettet?« »Ja, war mein Schutzengel.« »Kein Quatsch?« »Nein. Hör zu, klar, ist jetzt sehr ›in‹, fast schon alltäglich, so ein Schutzengel. Wird hinters Hutband gesteckt, so ein Blödsinn. Aber ich rede hier von einem echten, lange bevor sie das in Kalifornien entdeckt und zur Mode gemacht haben. Papa hab ich meinen Opa genannt. Er war schon Rentner, als ich zu ihm gekommen bin, und meine Großmutter hat noch in der Stadt gearbeitet, als Bankangestellte. Ich war fünf, das weiß ich noch genau, weil ich im selben Jahr 306
in den Kindergarten aufgenommen worden bin. Das Warum für meinen Umzug war so eine Art Familienlüge, wir müßten sparen. Mutter war immer beim Arbeiten. Vater hat getrunken, dauernd den Job gewechselt, und Mutter hat da wohl gemeint, ein bißchen Stabilität reinbringen zu müssen. Doch wenn ich so zurückblicke, glaube ich, es war wegen der Dresche.« Kate starrte ins Feuer, und ihre Augen wurden feucht. »Es gab ständig Dresche, die ärgste am Wochenende, da war er immer am aggressivsten. Aber man konnte sich wenigstens drauf einstellen. Viel beklemmender waren seine unvorhersehbaren Ausbrüche zwischendurch. Du weißt ja, wie das bei Alkoholikern ist. Vater konnte einen Moment sanft sein wie ein Lamm und im nächsten einen seiner rasenden Wutausbrüche kriegen. Er wurde dann völlig hemmungslos und schlug bloß noch blindlings um sich. Ich lernte wegrennen in ein Versteck, wenn es losging. Manchmal kam ich ungeschoren davon. Mutter aber nie. Ich will da nicht weiter drauf eingehen, es war jedenfalls nur schlimm. Mutter muß gespürt haben, wie mich das schädigt, und so hat sie mich bei den Großeltern untergebracht und dabei getan, als wäre das notwendig wegen ihrer neuen Stelle. Keine Weltreise, nur etwa eine Meile weiter, ich mußte nicht mal die Schule wechseln.« Das Getränk des Abends war Kakao, und an diesem Punkt des Gesprächs langten wir beide nach unseren Bechern, nahmen jeder einen Schluck und kuschelten uns wieder in unsere Ecken. »So hab ich zum ersten Mal in meinem kleinen Leben erfahren, wie es ist, wenn man sich sicher fühlen kann. Ständig und rundherum. Papa war ein sanfter Mann. Er hatte seine Zimmerei ja aufgegeben und konnte deswegen immer für mich da sein. Ich weiß noch genau, wie ich in 307
der ersten Woche mit ihm zur Schule ging und den Arm hochrecken mußte, damit meine Hand in die seine paßte. Er war sehr groß, auch für einen Erwachsenen. Er meinte mich begleiten zu müssen, bis ich mich an den neuen Schulweg gewöhnt hätte. Später ging ich allein. Wenn ich aus der Schule kam, hatte er immer das Mittagessen fertig. Dann las er mir vor, oder wir trollten uns hinten in den Schuppen, basteln oder Holz hacken. Damals hab ich’s gelernt, weißt du, mit einem Kinderbeil, das er für mich gemacht hat. Simon, ich hab mich geborgen gefühlt wie in einer Christbaumkugel. Papas Gegenwart hüllte mich ein, und ich wußte, solange er bei mir ist, kann mir niemand was tun. Natürlich konnte ich das damals nicht in Worte fassen, aber hätte ich Worte gehabt, hätte ich es Seelenfrieden genannt. Ungefähr so wie jetzt.« Ich faßte sie an den Händen. Nicht, um zu reden. Was in Kate jetzt vorging, durfte ich auf keinen Fall stören. Ich war bloß so froh, es miterleben zu dürfen. »Nun, die Wohltat war, daß ich zwei ganze Jahre bei ihm bleiben durfte, bis wir in die Stadt zogen. Und ich hatte zwei Jahre lang, bis auf ein paar Wochenenden und wenn Mutter Urlaub hatte, meinen Frieden. Als Papa im Jahr nach unserem Umzug gestorben ist, hatte ich das Gefühl, jetzt bist du ganz allein auf dieser Erde. Aber wenigstens diese zwei Jahre haben wir miteinander gehabt. Die sind lebenswichtig für mich gewesen. Da hab ich gelernt, es gibt noch eine andere Wirklichkeit, es gibt Menschen auf der Welt und sogar Männer, die mir nicht weh tun. Aber dieses Wenige, was ich damals gelernt hab, hab ich all diese Jahre tief in mir begraben gehalten. Simon, heute …, diese Zeit, die wir jetzt zusammen verbracht haben, das war anders als bei deinen früheren Be308
suchen. Zum zweiten Mal in meinem Leben fühle ich mich völlig geborgen.« Sie verstummte und sah mir tief in die Augen. In mich hinein. Und ich erwiderte ihren Blick. Wir waren an einem Kreuzweg angelangt, und wir wußten es beide. In der Stille spiegelte das Feuer die Energie zwischen uns. Ich fühlte mich wie schwebend in der Zeit. Mir schien, als stünden mir Puls und Atmung still. Langsam kam ich auf dem Sofa auf die Knie und beugte mich über Kate. Dabei sahen wir uns unablässig in die Augen. Als hebe sich ein Nebel von meiner Seele, erkannte ich, daß alle früheren Kreuzwege, Umwege, Freuden und Leiden meines Lebens nur Meilensteine gewesen waren auf dem Weg zu diesem Augenblick. Ich küßte Kate sachte auf die Oberlippe. Und setzte mich wieder auf meinen Platz. »Wollte ich schon immer mal machen, seit wir uns kennen.« Sie lächelte, die Oberlippe nicht die Spur gekräuselt. »Ist dir klar, daß wir in all den Jahren nie Liebe gemacht haben?« »Ja, fällt mir auch grade auf.« »Du riechst genau richtig«, sagte sie. »Bei dir oder bei mir?« »Laß uns doch hierbleiben.« »Muß ich da noch was wissen …, ich meine Besonderheiten, Rücksichten?« »Nicht zwischen uns.« *
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»Ich wußte gar nicht, daß du so scheu bist.« »Und ich nicht, daß du so scheu bist.« * »Und wie weiß ich, wo du empfindlich bist und wo nicht?« »Hm, ich hab da so heiße Stellen.« »Ach ja? Und wie finde ich die?« »Nachsehen … Gaaanz vorsichtig.« »Mm-hmm …« * »Ich mag’s. So mit dir zu lachen. Ist was Neues für mich. Sonst war das Lieben immer so stumm und feierlich.« »Ich weiß. Macht aber Spaß.« »Ich weiß.« * »Darf ich da?« »’türlich. Warum fragst du dauernd?« »Philosophie. Nimm nichts für gegeben. Stelle Fragen, bevor du beginnst.« »Ist ja albern. Wir sind doch keine Erstsemester.« »Gar nicht albern. Darf ich auch da?« »Ja, ja. Tu’s doch endlich.«
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* »Darf ich da?« »Ja. O Gott.« »So hat mich noch keine geheißen.« * »Kate.« »Ja?« »Wie du dich bewegst. So anmutig. Wie eine Nixe.« * »Simon.« »Mmm?« »Simon. Es ist …« »Ich weiß.« * »He, in einem hab ich mich geirrt.« »Mein Scanner kann keine Fehler finden.« »Nein, echt, kein Witz. Deine Philosophie. Ist nicht albern. Ist toll, vorher gefragt zu werden.« »Tja.« *
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»Das Feuer ist bald aus.« »Ich hab ehrlich nicht drauf geachtet.« »Sollen wir nicht was machen?« »Liegenbleiben und weiterkuscheln.« »Die ganze Nacht?« »Klingt gut.« * »Kate, das, äh …, gestern abend. Ich bin auf Wolke sieben.« »Schschsch. Ich schlaf noch.« »Ist nicht wahr. Hör zu. So viele Jahre enge Freundschaft, tausendmal berührt, und es braucht so lang. Komisch.« »Wir waren beide nicht bereit. Bis jetzt. Analysieren wir’s nicht kaputt. Sonst verzieh ich mich wieder in mein Schneckenhaus. Freu dich.« »Keine Angst, will’s ja nicht analysieren. Aber eins will ich dir sagen, muß ich. Jetzt, bevor wir weitermachen. Laß mich ausreden. Bloß eins: Ich hab keine Angst, mich auf dich einzulassen. Deshalb auf Wolke sieben. Weißt du, nach Zora hab ich gesagt nie wieder. Hab mir geschworen, mich nie wieder so an jemand zu hängen, weil, so einen Verlust verkraft ich nicht noch mal. Du hast das gewußt, auch wenn ich’s nie formuliert hab. Du hast ja gesehen, wie ich immer wegrenne, wenn eine attraktive Frau auf der Bildfläche erscheint. Aber Kate, jetzt bist du da. Ich will dir bloß sagen, ich bin jetzt offen. Für alles Weitere. Offen für dich, für uns. So was hab ich mich zwanzig Jahre nicht getraut. Ich bin so froh. Das war’s.« 312
Eine Stunde mochte vergangen sein, während wir dalagen und einander festhielten, während das Morgenlicht langsam hereinsickerte. Dann bewegte sich Kate neben mir. »He, ich krieg Rückenschmerzen. Wie lange liegen wir jetzt schon auf diesem Sofa? Wie wär’s mit Frühstück? Ich mach die Getränke, du den Rest. Und dann machen wir …« Es klopfte an der Haustür. Ich wickelte sie in den Quilt und schlüpfte in meine Jeans und mein Sweatshirt. Kates Nachbar stampfte den Schnee von den Stiefeln und trat ein, zusammen mit einem Schwall Polarluft von Neuengland. Bei ihm war für uns angerufen worden, denn wir hatten den Hörer ausgehängt. Der Alte hatte die Mitteilung auf einen Zeitungsrand gekritzelt. Sie war von Kates Kanzleigehilfen, und an mich. Die Telefonnummer kannte ich nicht. Aber die Vorwahl. Ann Arbor.
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27 Bev Reilly, meine stille rothaarige Freundin von der Oberschule und Partnerin beim Sweetheart Dance, und ihr Footballheld hatten sich am Ende doch gekriegt. Sie hieß jetzt Bev Hardin, mit Will seit Ende des ersten Collegejahrs verheiratet, wie im Rundbrief der Ehemaligen stand. Das letzte Mal hatte ich sie beim zehnjährigen Jubiläum getroffen, und in meinem Herzen hatte sie immer noch einen besonderen Platz. Sie nahm selbst ab, reichlich durcheinander. Janice sei in Ann Arbor. Offenbar hatte sie die Gangart gewechselt. Sie sei jetzt hinter Will her, und das nicht zum Zeitvertreib. Sondern so besessen wie eine mit pubertären Hormonschüben. »Wie ein Mäuschen mit heißem Höschen«, formulierte Bev. Binnen weniger Tage habe sie den Sturmangriff auf Familie Hardin eingeleitet, mit penetranten Anrufen, überfallartigen Besuchen und der Zustellung extravaganter und unpassender Liebesgaben. Will sei sogar schon bei ihr im Hotel gewesen. »Irgendwas ist da oberfaul«, sagte Bev. Ihre Stimme kippte, als ringe sie dabei die Hände. »Simon, du warst doch da beim Klassentreffen, du hast uns gesehen. Inzwischen hat Gott meinen Leib gesegnet, und wir sind einander dadurch noch näher gekommen. Will liebt mich, da bin ich mir sicher. Aber alles kommt ins Rutschen, und ich weiß nicht, warum. Sie hat ihn irgendwie in der Hand.« »Was kann ich tun, Bev? Warum rufst du an?« »Ich weiß nicht recht. Ist bloß so ein Gefühl. Wie Janice über dich redet, hast du vielleicht Einfluß auf sie. Aber das 314
ist es nicht allein. Es geht auch um Will. Vielleicht kriegst du ja raus, was mit ihm los ist, warum er am Haken hängt.« »Gut, ich muß heute noch nach New York, und morgen bin ich dann bei dir, mit dem ersten Flug. Aber Bev, eins macht mich neugierig. Wie hast du rausbekommen, wo ich zu finden bin?« »Ach, das war leicht. Ich hab deinen Vater draußen am See angerufen, und deine Tochter war dran. War wirklich hilfsbereit und verständnisvoll. Da hast du eine sehr gute Freundin. Sie hat mir zwei Nummern gegeben, deine und die von Katherine Newhouse. Bei der bekam ich nur den Anrufbeantworter, also habe ich in der Kanzlei angerufen. Simon, passiert das alles wirklich, oder bin ich meschugge?« »Du bist nicht meschugge. Morgen bin ich bei dir. Dann können wir reden. Nur noch eins: Wenn sich Janice meldet, sag ihr, daß ich unterwegs bin. Wird ein Dämpfer für sie.« Ich wiederholte Kate, was Bev mir berichtet hatte. Ihr Stirnrunzeln zeigte mir, daß sie wieder voll auf Anwältin umgeschaltet hatte. Die über die Schneidezähne eingezogene Oberlippe aber ließ ihre Enttäuschung und ihren Zorn erkennen, so in unserem ersten Miteinander gestört worden zu sein. »Schöner Reinfall mit meiner Regel. Von wegen Staatsgrenze von Massachusetts. Diese Frau kann uns offenbar nicht lassen. Weder wörtlich noch im übertragenen Sinne. Ich hab’s satt, von ihr rumgeschubst zu werden, und das ist mein Ernst.« Was die Zornesfalten zwischen ihren Augenbrauen unterstrichen. »Auf der Fahrt hierher hast du gemeint, du willst erst mit ihrer Therapeutin reden. Laß das jetzt sein. Sprich mit Tommy und ermittle die ganze Vorgeschichte. Wir müssen sie wegsperren lassen, und das schleunigst. Wenn du in Ann Arbor bist, um deiner Freundin zu helfen, kannst du gleich weitere Informa315
tionen beschaffen. Da bist du ja in ihren ehemaligen Jagdgründen.« Frühstück brachte ich keines hinunter, aber Kate überließ mich taktvoll meinem Tee. Ich hatte immer noch diesen Schlafzimmeraltar in Janices Wohnung vor Augen. Eins war bei der ganzen Sache sonnenklar: Hinter Will war Janice nicht her. Der Tränendrüsenanruf bei Kate hatte nicht das gewünschte Ergebnis gebracht, also hatte sie sich was einfallen lassen müssen. Sie hatte Bev dazu genötigt, mich nach Ann Arbor zu zitieren. Mir war klar, daß Janice da ein Ablenkungsmanöver inszenierte. Soweit ich wußte, war in Ann Arbor Debby die einzige Zielperson, auf die sie es wirklich abgesehen haben konnte. Was uns jetzt vorgeführt wurde, war Janices Zweitstrategie, das große Marionettenspiel. Nach meinem Angstpegel zu urteilen, ging ihr Plan bereits auf. Ich schüttete den kaltgewordenen Tee hinunter und stürzte mich in adrenalinbefeuerte Aktivität. Der erste Schritt war, bei meinem Vater anzurufen. Schon fünf Tage hatte ich mich nicht mehr nach Debby erkundigt. Zu lange, wo Janice in der Stadt nebenan ihr Unwesen trieb. Gabe kam ans Telefon, und er beruhigte mich. Debby gehe es gut, sie sei gerade bei Nachbarn. Nein, von Janice nichts gehört. Wir wechselten ein paar späte Worte über seinen Freund Ed Donahue. Er wollte mir nichts sagen, berief sich auf seine anwaltliche Schweigepflicht. Ich legte enttäuscht auf, doch hatte ich Verständnis für sein Juristenethos. Zumindest durfte ich vorläufig beruhigt sein. Debby ging es gut. Dann rief ich meinen Freund Gideon Dove in New York an und brachte ihn auf den neusten Stand. Zum einen wollte ich ihn Gewehr bei Fuß, zum anderen brauchte ich weitere Angaben von ihm. Wir verabredeten uns für den gleichen Abend. 316
Ich war fast abfahrbereit. Kate und ich hatten ein kurzes Gespräch. Sie verstand, warum es mir unter den Füßen brannte und daß ich hinfliegen mußte. Ihr Teil der Arbeit würde später kommen, erst nach meinen Ermittlungen, und so beschloß sie, den Rest der Woche wie geplant freizunehmen, in der Hütte zu bleiben und mich dann in New York zu treffen, um das Verfahren von Janices Einweisung einzuleiten. Das Gespräch wurde sehr innig. Kate zeigte starke Beschützerängste und eine Zeitlang erörterten wir, ob wir zusammen nach Michigan fliegen sollten. Widerstrebend gestand sie mir zu, daß ich mit den Verbindungen aus dem Anwaltsleben meines Vaters nötigenfalls Unterstützung bekommen konnte, falls Janice ausrastete. Aber auch ich sorgte mich um ihr Wohlergehen. Auf meine dringende Bitte erklärte sie sich bereit, das Telefon wieder einzustöpseln. Aber mir war nicht ganz wohl dabei, sie so allein in der Hütte zurückzulassen, wo doch die Wege vereist waren, ein Schneesturm drohte und der nächste Nachbar eine halbe Meile die Straße hinunter wohnte. Aber sie war sehr selbständig und würde gegen jeden Versuch der Bevormundung aufmucken. Ich schlug vor, Tommy herzubitten, und erwartete heftigen Widerstand. Doch Kate hatte sich irgendwie gewandelt. Sie war mir dankbar und meinte, es wäre ihr wirklich wohler dabei, zusammen mit Tommy nach New York zurückzufahren. Das Gebot des Augenblicks jedoch sei, daß Tommy mich nach Michigan begleite. Schließlich überzeugte sie mich, sie werde schon zurechtkommen, und ich gab nach. Tommy erreichte ich daheim. Er lauschte gespannt, als ich ihm Janices neueste Umtriebe schilderte. »Um Gottes willen«, stöhnte er. 317
»Ich flieg hin«, sagte ich. »Klar, und ich komm mit. Die Braut zündelt. Die braucht kalte Güsse.« Tommy glotzte zu viele schlechte Krimis. Ich packte eilig, drückte Kate ausgiebig und ließ mich mit Tupelo von ihr zur Haltestelle der Greyhoundbusse in Stonington bringen. Um eine von den Rollenbesetzungen der Laientruppe Jensen-Donahue hatte ich mich bislang noch nicht gekümmert. Mit Janice und Ed hatte ich mehr als einmal im Leben unmittelbar zu tun gehabt. Und auch wenn ich nie das Vergnügen hatte, auch Margerys persönliche Bekanntschaft zu machen, stimmten alle Gewährsleute darin überein: Sie war offenbar wirklich ein Drachen gewesen. Dennis Jensen allerdings war für mich eine blasse Karikatur geblieben, ein undefinierbares Sammelsurium von Stereotypen über Bullen, Schläger, Brutalos, Schürzenjäger. Ungefähr das Bild seiner Beschreibung durch Janice. Auf dem einzigen Foto ihres Gatten, da ich je vor Augen gehabt hatte, war er ebenfalls gesichtslos gewesen, im wahrsten Sinn des Wortes. Um Viertel vor neun am selben Abend saß ich wachen Verstandes und körperlich ermattet von der Fahrt Gideon Dove gegenüber, im Polizeipräsidium von New York. »Simon, du bist für mich wie ein Sohn.« »Gideon, dann wärst du als Zehnjähriger Vater geworden. Und laß mein Mütterchen aus dem Spiel. Wär nicht gegangen. Du bist schwarz.« »Na, das erklärt aber womöglich, warum Weiße Angst vor mir haben?« 318
Jede Silbe perfekt, wie gesungen. Der Mann könnte an der Universität Yale Sprecherziehung geben. Doch Angst machte Gideon manchen Weißen nicht weil er schwarz war, sondern weil er alles genausogut konnte wie sie, und vieles sogar besser. Teils war er Prediger, teils Sozialarbeiter, vor allem aber Polizist. Seine Stimme schmeichelte. Sein gedrungener, kräftiger Körperbau machte Eindruck. Mit seinem Äußeren, schwarz wie Ebenholz und schön, schlug er den Betrachter in seinen Bann, und mit seinem durchdringenden Blick erst recht. Er ist eine Schlüsselfigur in der Mordkommission, vielleicht eine künftige Legende. Seit Jahren klärt er Fälle, die von anderen, plumperen Polizisten verpatzt worden sind. Zwischen meinem und Gideons Leben besteht seit Jahren eine enge Verbindung, beruflich wie privat. Manchmal kommt es mir vor, als sei das nie anders gewesen. Gefestigt hatte unsere Seelenfreundschaft, daß ich seinem Jungen hatte helfen können. Sein ältester Sohn hatte nämlich meinen Weg gekreuzt, als er sich gerade mit einer von den Lebensfragen herumschlug, die man ungern mit dem Vater erörtert, und erst recht nicht, wenn dieser bei der Kripo ist. Gideon hatte mich gebeten, mich um Joshua zu kümmern. Normalerweise ist es mit Therapien Essig, wenn sie von den Eltern eingestielt worden sind. Die Jungen wissen, wer löhnt, und ziehen automatisch den Schluß, vom Therapeuten wird alles an die Alten verzinkt. Zu dem Zweck haben die das ganze ja überhaupt eingefädelt. Bei Joshua und mir allerdings lief das anders. Wir freundeten uns miteinander an. Gideon wollte nie auch nur ein Sterbenswörtchen von unseren Gesprächen wissen. Er hatte mich bloß ersucht, seinen Sohn in Therapie zu nehmen. Alles andere blieb uns überlassen. Er wußte, daß ich Joshua mochte, und es freute ihn. 319
Josh war inzwischen auf dem College, aber er meldete sich jedesmal, wenn er heimkam. Wir hielten Kontakt. Und ich vertraute Gideon bedingungslos. Er war immer da, wenn ich ihn brauchte. Bis ich ankam, hatte er sich die Fallakten kommen lassen und in seinem Gedächtnis geforscht. Er verfügt über ein unglaubliches Wissen über die Polizisten der Stadt New York. Seine Schäflein, wie er sie nennt. »Was mußt du wissen?« Ich lieferte ihm eine kurzgefaßte, aber unzensierte Version meines Umgangs mit der Menagerie Donahue-Jensen. »Aber ich hab ’nen blinden Fleck. Über Dennis weiß ich überhaupt nichts. Kannst du mir da was sagen?« »Hier, lies mal.« Er reichte mir einen Computerauszug von Dennis Jensens Personalakte. Ich sah mir zuerst das Foto an. Genau, wie ich ihn mir vorgestellt hatte, bloß kleiner. Nußknackerkinn, stählerner Blick, eine Westentaschenversion von Will Hardin. »Seine Frau hat ihn als brutal beschrieben«, erklärte ich, »als zu Tätlichkeiten neigend. Ist was aktenkundig über Schwierigkeiten in der Familie?« »Simon, du weißt, wie ich zu Gewalt in der Familie stehe. Jeder, der die Abendnachrichten glotzt, kann es sich denken. Weißt du schon das Neueste? Unser Projekt für ein Vorbeugungsprogramm wird endlich unterstützt. Ach, sorry, du bist ja schließlich nicht wegen eines Sachstandsberichts über mein Steckenpferd hergekommen. Deine Frage kann ich beantworten: Nein, Jensen war bestimmt kein Schläger, eher ein Geschlagener. Ich war darüber im Bilde, wahrscheinlich der ganze Haufen. Wir haben ihn zu einem Kurs in Selbstbehauptung geschickt. Ich weiß, grins nicht so, damals hatten wir halt noch nichts anderes. Jedenfalls konnte sich Dennis auf Streife nicht 320
behaupten und wurde am Ende in die Öffentlichkeitsarbeit versetzt. Da konnte er wenigstens im Dienst eine ruhige Kugel schieben.« »Also hat das Selbstbehauptungstraining nichts genützt?« »Nicht die Bohne. Ich hab die beiden mal bei einer Cocktailparty für die oberen Ränge erlebt. Dennis hatte zwei linke Füße und wollte so schnell wie möglich heim. Seine Gattin hat sich amüsiert wie die Ballkönigin und konnte nicht genug kriegen. Ist richtig drauf abgefahren. Hat mit allem geflirtet, was Schulterstücke trug. Als sie sich ausgetobt hatte, ließ sie sich von ihm heimfahren. Der Ärmste stand restlos unterm Pantoffel. Vor etwa zehn Jahren fingen wir gerade an, Gewalt in der Ehe offen zu diskutieren, und die Führung verfiel darauf, mit der Sache ›in den eigenen vier Wänden‹ anzufangen, wie die Pressestelle formulierte. Also haben wir eine Beratungsfirma beauftragt, die Häufigkeit häuslicher Gewalt bei unseren eigenen Leuten festzustellen. Dann haben wir eine Kampagne entwickelt, um das Bewußtsein dafür zu wecken und Paare in Gesprächstechniken zu schulen. Der springende Punkt hier ist jedoch, daß die Sozialarbeiter dabei nach dem Zufallsprinzip Polizistenfamilien befragt haben und die Jensens in die Stichprobe hineingeraten sind. In der Akte da findest du unter 1987 eine Kurzfassung des Interviews mit der Ehefrau. Wenn du willst, kann ich dir auch die Langschrift besorgen.« Ich blätterte zurück bis 1987 und überflog den Bericht. Und sah, daß sie uns auch in diesem Aspekt belogen hatte. Dennis hatte sie nicht geschlagen. Niemanden. Dagegen sah es ganz so aus, als habe Janice eine Zweitausgabe ihres schwachen Vaters geheiratet. »Hilft das was?« wollte Gideon wissen. 321
»Wenn man möchte, daß nichts mehr stimmig ist, schon.« Aber was war hier nicht stimmig? Viele Frauen heiraten Abbilder ihrer Väter. Warum überraschte mich das? Weil Janice gelogen hatte, was ihren Mann anging? Wahrheit war noch nie ihre Stärke. »Und was hast du jetzt vor, wenn ich fragen darf?« »Katherine hat mich beauftragt, die Vorgeschichte zu recherchieren, zur Vorbereitung der Zwangseinweisung. Ich flieg nach Ann Arbor. Kann ich mich notfalls auf dich berufen?« Wenn die Kacke am Dampfen ist, ist es immer nützlich, den Namen eines führenden Kripobeamten von New York nennen zu können. »Und was machst du dort?« »Weiß nicht, rumschnüffeln. Du hörst von mir.« Er bot an, Kontakt zur Polizei von Ann Arbor herzustellen. »Du weißt, mehr kann ich nicht tun. Liegt außerhalb unseres Hoheitsbereichs. Ganz zu schweigen davon, daß sie schon ein paar Monate draußen ist und noch gegen kein Gesetz verstoßen hat.« »Das entscheidende Wörtchen ist ›noch‹. Wart’s ab, man kann nie wissen.« »Nimm Tommy mit.« Er wollte immer, daß ich Tommy mitnahm. Gideon hielt mich für das Hirn und Tommy für den Hammer. »Der muß dir die Leute befragen, die sie damals gekannt hat. Er treibt dir jeden auf. Hat er dir jemals von der Sache in Montana erzählt?« »Nein.« »Frag ihn doch.« Tommy saß bereits in meiner Küche und vertilgte Reis mit Bohnen. »Erzähl mir über Montana.« 322
»Wie geht’s Gideon?« »Gut. Er hat gesagt, ich soll dich wegen Montana fragen.« »Diese Geschichte vergißt er nicht. Ich hab da mal einen gesucht und gefunden. Dabei hatte ich als Adresse bloß Montana.« »Wie hast du das geschafft?« Er kaute konzentriert und schluckte. »Bin hin und hab rumgefragt.« »Das ist alles? Montana ist immerhin ein Flächenstaat.« »Aber dünn besiedelt. Hab ja nicht behauptet, daß es schnell gegangen ist. Hat drei Tage gedauert. Hab ihn in Butte aufgetrieben.« »Und warum war’s so dringend?« »Schuldete mir Geld.« »Und, hast du es gekriegt?« »Mußt du das unbedingt wissen?«
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28 Der Verkaufsraum stand voller Neuwagen – er war aber auch so viel zu höhlenartig, um gemütlich zu wirken. Von jeder Wand verkündeten Transparente knallbunte Werbebotschaften. Die Riesenfläche war betulich in kleine Sitzecken mit Ledersofas und Plastiktischchen unterteilt, alle um einen nagelneuen und regelmäßig entstaubten Chrysler oder Plymouth herum gruppiert. Ich saß in so einer Nische und hatte immerhin einen Le Baron zur Gesellschaft. Neue Autos riechen für mich ekelhaft, und auch die Patina von Oldtimern sagt mir gar nichts. Ich erkenne auf der Straße keine neuen Modelle und kann mich für obenliegende Nockenwellen nicht begeistern. Kurz, ich bin ein untypischer Amerikaner. Automobile sind mir schnurz. Einmal im Leben habe ich doch eins besessen, einen Valiant-Sechszylinder, den ich auf Knien hätte anbeten sollen, aber ich sehe bis heute nicht ein, warum. Er war alt und hinfällig, und da ich ihm nicht beibringen konnte, elegant die Straßenseite zu wechseln, verkloppte ich ihn schließlich. Und bin ein Automuffel geblieben. Als Gebrechen ist das zwar nicht tödlich, bedeutet aber gelegentlich eine Einschränkung meiner Zuverlässigkeit als Augenzeuge, ohne daß ich allerdings was daraus gelernt hätte. Gideon wollte von mir einmal ein Auto beschrieben haben, mit dem ich Täter hatte flüchten sehen. »Es war ein großes blaues«, sagte ich. »Viertürer?« hakte er nach. 324
»Nein, ein Auto«, widersprach ich. Aber in Kinder’s Autovertretung für Chrysler Plymouth in Ann Arbor, Michigan, saß ich jetzt nicht, um ein Fahrzeug zu erwerben. Ich wollte hier etwas in Erfahrung bringen, sofern Will Hardin mitspielte. Ich hatte mit mir selbst um einen doppelten Papayashake gewettet, daß er schon lange vor ihren plötzlichen Liebesbeweisen von ihr gehört haben mußte. Ich war mit Tommy über den Flughafen von Detroit hergekommen. Sein Auftrag war es, in Workman’s Lake rumzuschnüffeln, dem Kaff, wo die Donahues vor dem Umzug nach Ann Arbor gewohnt hatten. Tommy war der Privatdetektiv in unserer Familie, und wenn in Workman’s Lake irgendwas über Janice bekannt war, das wir wissen mußten, würde er es rauskriegen. Mein Arbeitsgebiet war Janices Psyche. Ich mußte ihre frühe Krankengeschichte rekonstruieren. Und deshalb war ich nach Ann Arbor zurückgekehrt, für mich so voller schmerzlicher Erinnerungen, daß ich es bisher nach Kräften gemieden hatte. Will »die Ballkanone« Hardin kam in den Verkaufsraum geschossen und zwängte sich hastig in ein Sportjacket mit Lederflicken an den Ellbogen. Darunter trug er ein verschwitztes, enganliegendes T-Shirt mit der Aufschrift CAT. Die Buchstaben wanden sich um ein grinsendes Katzentier. Nach dem Spiel seiner Muskeln zu urteilen, hatte Will in den letzten zwanzig Jahren seine Plymouths nicht verkauft, sondern gestemmt. Seine Jahre sah man nur an einer Tonsur zwischen den blonden Stoppelhaaren auf seinem Hinterkopf. Er und Janice hatten eines gemeinsam: Sie alterten nicht. Will hatte nach der Schule eine glänzende Sportlerlaufbahn am College von Michigan eingeschlagen, drei Jahre 325
Quarterback der Collegemannschaft, zwei Meisterschaften in der ersten Liga. Weil er aber in der berüchtigten Angriffsformation der Michigans nur etwa drei Pässe warf, rückte er in der Spielerliste nicht nach vorn und wurde von den Detroiter Lions dann wegen seiner Schaufelhände als Fänger eingesetzt. Er spielte vier glanzlose Jahre für die Lions, bis mit einer Rotatorenmanschettenverletzung das Aus für ihn kam. Wäre er ein Profistar wie Mel Farr geworden, hätte er von Detroit seine eigene Autovertretung bekommen. Aber als nur lokaler Collegeheld mußte er als angestellter Verkäufer alten Schlachtenbummlern seines Vereins Anekdoten erzählen, wenn sie über vergangenen Ruhm zu reminiszieren kamen und dabei manchmal einen Chrysler kauften. Seine Augen suchten den Schauraum nach Kunden oder Interessenten ab. Ich war der einzige Mensch im Laden, und er schaltete auf Verkaufen. Ich beobachtete sein Mienenspiel. Ein Funke von früher zündete, erglomm und flammte schließlich zum Wiedererkennen auf. Bev hatte ihm offenbar nichts von meinem Besuch verraten. »Simon Rose!« brüllte er. »Ein Wunder!« »Schön, dich zu treffen, Will, auch meinerseits.« »Wunder« fand ich übertrieben. Bis ich das Logo unter der Grinskatze auf seinem T-Shirt las: Christliche Sportler von morgen. Ich streckte ihm die Hand hin. Er schüttelte sie. »Hast du eine Eingebung gehabt?« fragte er, mit kurzem Blick gen Himmel. »Nein, ich komm aus freien Stücken.« »Nein, ich hab gemeint …, ist ja egal, ich weiß schon. Du hattest eine Eingebung.« »Eine was?« 326
»Ich hab um Gottes Ratschluß gebetet, und ich bin sicher, du wirst ihn mir überbringen. Komm in mein Büro. Reden wir über die alten Zeiten.« Er hielt immer noch meine Hand fest. Er warf einen prüfenden Blick zurück in den Ausstellungsraum und schob mich dabei in ein halbverglastes Käfterchen mit seinem Namen an der Tür. Wegen irgendwas war er nervös, aber doch hoffentlich nicht meinetwegen. Will klemmte sich hinter seinen Schreibtisch, legte die Beine hoch und winkte mich in den Besuchersessel, ein rindsledernes Monstrum. »Du entschuldigst hoffentlich meinen Aufzug. Normalerweise verkaufe ich nicht in solchen Klamotten. Ich hab mit der Jugendmannschaft trainiert.« Er deutete auf die Katze. »Wir sind in der wilden Liga, weißt du, die Jungs aus der Altstadt.« Sport erhält die Jugend gesund. Und hält sie fern von der Straße und vom Crack. »Wie wär’s mit einem Kaffee oder Drink? Selber trinke ich nichts mehr, aber ich zwinge niemand meine Werte auf.« »Ein Kräutertee wäre nett.« Er drückte einen Knopf auf seiner Sprechanlage und bat eine gewisse Beatrice, im Seven-Eleven ein bißchen koffeinfreien Tee zu holen. Er bedankte sich mit »Gott segne dich« und legte auf. »Du willst doch hier kein Auto kaufen, oder?« fragte er verschämt. »Nein.« »Hab ich auch nicht gedacht, aber fragen muß ich halt.« Er nibbelte sich mit einem Taschentuch das Gesicht. »Dann bist du wegen Janice hier.« Neue Schweißperlen auf seiner Oberlippe. 327
Ich nickte. »Ich bin von einer Anwaltsfirma beauftragt, ihren psychologischen Hintergrund zu ermitteln. Deine Eindrücke und Erfahrungen könnten da sehr nützlich sein.« »Hier kann ich nicht über sie reden.« Er wischte sich über die Oberlippe. Vergebens, die Tropfen kamen wieder. »Ich weiß nicht mal, ob ich überhaupt irgendwo über sie reden kann.« Will schob ein paar Papiere auf seinem Schreibtisch hin und her, als sei das jetzt dringend. Muskelstränge, die mir nur aus dem Anatomieunterricht bekannt sind, spielten über seine Brust. Er griff wieder zum Telefon, vielleicht ein nervöser Tick, drückte ein paar Tasten und sagte Bev, er bringe einen Überraschungsgast zum Abendessen mit. »Ich möchte Bev dabei haben, wenn ich’s erzähle«, erläuterte Will. »Ist mir recht. Kann ich meine Tochter mitbringen?« Debby mopste sich, seit Bobbi nach New York zurückgeflogen war. »Klar. Bev kocht immer für eine Kompanie.« Das Eßzimmer der Hardins war ein Schmuckkästchen der amerikanischen Mittelschicht: Porzellan, Steingut, Zinn, gestickte Sinnsprüche zur Mahnung an das Gute und Schöne. Jesus liebt dich. America the Beautiful. Eigener Herd ist Goldes wert. Bev lachte zu meiner Begrüßung übers ganze Gesicht. Wir musterten einander auf Armeslänge. Sie war zu einer schönen Frau gereift, mit kräftigem, aber nicht übergroßem Busen. Breitgeschwungene Hüften und ein ordentlicher Hintern, nicht übergewichtig, aber drall. Ihr Gesicht ein Genrebildchen von Norman Rockwell, hübsch, ohne allzu viele Sommersprossen. Ihre Frisur war ungebändigt, 328
ein Tornado in Rot, von kleinen Haarnadeln oder Klammern gehalten. Sie sprach zuerst. »Du siehst genauso aus, wie ich mir dachte, alter Hippie. Du weißt ja, ist nicht beleidigend gemeint.« »Das fasse ich nie als Beleidigung auf. Ist ein Kompliment.« Will mußte lachen. »Sogar der Pferdeschwanz stimmt«, setzte sie hinzu. »Schön dich zu sehen, Simon.« Und sie umarmte mich. »Du bekennst dich jetzt offenbar zu deinen Haaren.« Ich strich ihr über die Ringellöckchen, die mich im Gesicht kitzelten. »Sind sie nicht schön? Sind sie nicht toll?« Sie wandte kokett den Kopf hin und her und schüttelte das rote Chaos. »Allerdings. Glückwunsch!« Ich stellte Debby vor, und es gab noch mal eine Runde Umarmungen. Bev drückte wie Mutter Erde, Will wie ein Kleiderschrank mit Bandscheibenvorfall. Dann verschwand Bev in einem hinteren Zimmer und kam mit einem Speckbaby wieder, einem Jungen, etwa acht Monate alt. Er hieß Brian und fühlte sich sichtlich wohl und innig geliebt. Da war es um Debby geschehen. Sie folgte Bev und Brian in die Küche, und Will und ich setzten uns an den Eßzimmertisch. Er war schon gedeckt und harrte nur noch des Abendessens. Cocktails gab’s wohl vorher keine. Bev servierte Hausmannskost, Tomatencremesuppe, Hühnerauflauf, Krautsalat. Karamelpudding zum Nachtisch stand fertig auf der Kredenz. »Alles hausgemacht, nix aus der Tiefkühltruhe«, kommentierte Will mit sichtlichem Stolz. »Auch wenn wir Gäste haben, kriegt Bev alles ohne Fertigprodukte hin.« 329
»Ausgezeichnet«, lobte ich, und das war es auch. Ich schob die Hühnchenstücke unauffällig an den Tellerrand, nachdem ich die Karotten und Kartoffeln aufgegabelt hatte. Von allem andern aß ich mit großem Appetit. »Der Pudding ist nicht selbergemacht«, schämte sich Bev. »Pudding kann ich nicht. Muß irgendein Trick sein.« Sie schob sich die Drahthaare aus dem Blickfeld. Beim Essen balancierte sie Brian auf dem Schoß. Als er quengelig wurde, bot sie ihm die Brust, und er schnappte sofort danach. »Auf Brian haben wir so lange warten müssen. Wir wollten schon früh eine Familie gründen, aber es hat nicht geklappt. Wir haben uns solche Mühe gegeben, daß es überhaupt keinen Spaß mehr gemacht hat. Als wir es dann aufgegeben hatten und meinten, es sei Gottes Wille, daß wir kinderlos bleiben, bin ich schwanger geworden. Wir sind sehr dankbar.« »Amen«, nickte Will. Wir halfen Bev beim Abräumen und zogen um ins altamerikanische Wohnzimmer, mit runden Vorsprüngen überall an Sofas und Sesseln, wie Knubbelerektionen. Bev gab Brian als Nachtisch die andere Brust. Endlich machte er Bäuerchen, pappsatt nach dieser Doppelmahlzeit. »Darf ich ihn halten?« fragte Debby. »Klar«, bejahte Bev bereitwillig, durchaus nicht eifersüchtig. Brian sabberte ein bißchen bei der Übergabe, beruhigte sich aber in Debbys Armbeuge schnell. Bev registrierte, daß Debby Erfahrung mit Säuglingen hatte. »Willst du ihn ins Bett bringen?« fragte sie. »Aber gern. Darf ich ihm vorlesen?« »Das mag er. Da ratzt er sofort.« Sie erklärte Debby, wo sie das Nötige finden würde, und Debby zog vergnügt mit dem Baby ab. 330
Auch wir wollten eine Gutenachtgeschichte hören. Will räusperte sich, Bev an seiner Seite, ihre Hand auf seinem Knie, zum Beistand. »Ich bin glücklich verheiratet, Simon, wie du sehen kannst. Bev, der Junge. Ich bin Christ, und das macht mir die Sache noch schwerer.« Er sah Billigung heischend zu Bev. Sie nickte ihm Mut zu. »Früher war ich anders. Ich hab Sachen getrieben, auf die ich nicht stolz bin, und die schlimmsten mit Janice Donahue. Hatte ich alles hinter mir gelassen, bis vor ein paar Monaten ihr Brief kam.« Gewonnen. Einen doppelten Papayashake für mich. »Ich hatte jahrelang nichts von ihr gehört und hätte es gern dabei belassen. Ich hatte keine Ahnung, was sie von mir will.« O doch, hatte er. Will wollte um die Wahrheit herumlavieren. Schwieriges Manöver. Er warf den Brief auf den Kaffeetisch, aber ich griff nicht danach. Sein Gesicht war ein Kaleidoskop von Gefühlen, und ich wollte nicht, daß mir eins entging. Wir hatten nacheinander schon Scham, Schuld, Aufregung und Angst gehabt, und er hatte noch weitaus mehr auf Lager. »Dieser Brief.« Er quälte sich, als habe er den Mund voll heißem Brei. »Der Brief ist über ihre schwierige Lage. Sie schreibt, du hättest ihr beim Prozeß geholfen. Dann bittet sie mich um Hilfe. Nichts Besonderes, etwas wie: ›Ich hoffe, du bist da, wenn ich dich brauche‹. Ich hab keine Ahnung, was sie meint, was ich für sie tun soll.« Er sah wieder zu Bev. Ich ließ die Aussage in der Luft hängen und nahm den Brief. Fast der gleiche Wortlaut wie in ihren Briefen an mich und an Kate. Dieses »Weißt du noch«, genau wie bei mir. Unterschrift: ›Deine Freundin fürs Leben, Jan.‹ »Was meint sie mit ›Weißt du noch?‹ Auf was spielt sie da an?« fragte ich. 331
»Keine Ahnung. Kann sonstwas gewesen sein.« Er stockte, wollte nicht weiterreden. Bev stieß ihn an. »Weiter, Will, sags ihm. Ich kenn die Geschichte schon, und ich hab dich lieb.« Meinte sie ganz ernst. Er beichtete, wie es gewesen war, bevor er zu Jesus fand. Gesoffen hatte er, Spieler beim Football absichtlich verletzt, Unzucht mit den meisten hübschen Mädchen unserer High-School getrieben. Nichts, was ich nicht schon geahnt hatte, und nichts, worauf der beste High-School Quarterback im Bezirk nicht hätte stolz sein dürfen. Aber Will wollte mit seinem Sündenregister nicht prahlen. Es war ihm peinlich, und er sprach ungern weiter. »Und Janice?« Die berühmte Frage mit zwei Wörtern. »Ich weiß nicht, was das helfen soll«, sagte er mit gesenktem Kopf. »Die Wahrheit hilft immer«, ermunterte ich ihn, ganz auf die Zielgruppe abgestimmt. Sie hatten gemeinsam geklaut, regelrechte Diebesorgien im Supermarkt veranstaltet und dabei alles mitgehen lassen, was Janice haben wollte: Lippenstift, Nagellack, Modeschmuck. Ein Spiel. Den Alk klauten sie im Schnapsladen, schoben sich die Flachmänner in die Unterhosen. Und sie bestahl auch ihre Freundinnen, was Will quer im Halse saß. Auch Tommy hatte damit seine Schwierigkeiten gehabt. »Es war ihr egal, daß sie Leuten weh tat.« Janice verkaufte einen Teil vom Schnaps an Jugendliche, die noch zu jung für Alkohol waren, und das mit sattem Gewinn. Das meiste aber schluckte sie selber, zusammen mit Will, bei ihrem Marathonbumsen am Samstagabend nach dem Spiel. Sie hatten es in Autos, Umkleideräumen, Bädern, Klassenzimmern und sogar im Ehebett ihrer El332
tern getrieben, kurz nachdem es durch den tragischen Tod ihrer Mutter vakant geworden war. »Ihr Sex war ziemlich verkorkst. Einmal wollte sie sogar dabei geschlagen werden, aber das konnte ich nicht.« Er brach ab. »Dazu sag ich jetzt lieber nichts mehr. Ich weiß, daß es ihr nichts hilft, und schaden will ich ihr auch nicht. Und außerdem schnallst du es ja schon. Du erinnerst dich vielleicht sowieso. Warst ja der nächste. Ging immer so weiter.« Niemand kaufte ihm das ab. Stockend setzte er wieder an. Nachdem er rausgefunden hatte, daß Janice es mit der halben Mannschaft trieb, mit seinem Stopper, Fänger und Rechtsaußen, hatte er zu Jesus gefunden und sein altes Leben hinter sich gelassen. Im College hatte er sich mit Bev zusammengetan und sie schließlich geheiratet. »Meine beste Entscheidung aller Zeiten.« Er hörte auf. Zu früh, wie mir schien. »Will, eins hab ich nie verstanden. Wer hat die Beziehung beendet, du oder Janice? Wie ist das abgelaufen?« Er rieb sich nachdenklich das Kinn. »So war es nicht. Wir haben nicht so richtig Schluß gemacht. Die Schule war vorbei, und wir sind einfach getrennte Wege gegangen. Kein großes Tamtam. Ich nahm Jesus an. Das fand sie fad. Das ist alles.« Und ich war das Zwischenspiel gewesen auf ihrem Countdown zum College. Vielleicht aber auch die Startrampe. Jedenfalls stimmte seine Darstellung vorn und hinten nicht. Ein glatter Schnitt? Viel zu reif für ihre Verhältnisse. Wo blieb da der unvermeidliche Knall? »Na gut, ist nicht ganz alles. Sie war schon auf dem Weg zu dir, bevor sie von mir weg ist. Sie hat dauernd von dir 333
gesprochen – wie schlau und klug du bist, was du in der Schulervertretung gesagt hast. Sie hatte nicht den rechten Respekt vor meinem Verstand. Hat mich oft runtergemacht, meistens durch Vergleiche mit dir. Ich hätte nur Muskeln. Du aber Köpfchen. Weh tun konnte sie. Darin war sie gut.« Wir hatten mehr gemeinsam, als ich gedacht hatte. Mich hatte Janice gnadenlos wegen meiner Unsportlichkeit gehänselt und mit Will verglichen, Körperteil für Körperteil. Weh tun konnte sie, aber satt. »Erinnerst du dich noch an Ellie Lomax?« fragte Will. Ich nickte. Das intelligenteste Mädchen in unserer Klasse, meilenweit vor der nächsten Konkurrentin, bis Janice zugezogen war. Wie ich mich entsann, hatte Janice ihr die Abschlußrede abgejagt, um ein paar Zehntelnoten. »Weißt du, was ihr im letzten Schuljahr bei den Klausuren passiert ist?« »Nein.« »Ellie hat’s vermasselt. Sie ist auf den zweiten Platz gerutscht. Janice wurde Nummer eins.« Ich erinnerte mich dunkel. »Na, Unpäßlichkeit war’s jedenfalls nicht«, klärte er uns auf. »Sie ist mittendrin weggetreten. Janice hat ihr beim Lunch Knockout-Tropfen in ihr Schweppes getan.« »Woher hast du das? Von ihr?« »Nein, weiß ich auch so. Machten wir oft. Die Kapseln Chloralhydrat, rot und blau, schluckten wir als Beruhigungsmittel. Sie hatte sie aus dem Vorrat ihrer Mutter. Die hatte das Zeug zentnerweise gehortet, bevor sie starb. Und dann war da noch die Sache mit Linda Brownstein, erinnerst du dich an die?« »Eine Cheerleaderin«, nickte ich. 334
»Die Anführerin, bis zu ihrer Sportverletzung.« »Bis zu was?« Auf die Cheerleaderszene hatte ich nie geachtet. Nur auf Janice. »Hat sich beim Feldhockey das Knie versaut und ist das ganze Jahr gehumpelt. Janice kam an die Spitze, und rat mal, wer ganz aus Versehen mit dem Schläger Lindas Knie getroffen hat?« Ich spürte, da war keine Antwort mehr nötig. Mir fiel nur ein, daß die Eiskunstläuferin Tony Harding da bestimmt nicht mal gezeugt gewesen war. »Ja, weh tun konnte sie, besonders denen, die ihr in die Quere kamen.« Er stockte wieder, überlegte offenbar, ob er noch eine Geschichte erzählen sollte. Er hatte sich wohl dagegen entschieden, denn er gab den Ball an mich ab. »Frag, wenn du noch was wissen willst. Ich sag’s dir. Ich wünschte bloß, ich könnte ihr helfen.« Ich fragte mich ganz nebenbei, warum. Mit dem Nebenbei fing ich an: »Wann hast du sie zuletzt getroffen?« Er scharrte mit den Füßen und stemmte die Fäuste in die Seiten, in mühsamer Erinnerung an etwas eigentlich ganz leicht zu Merkendes. »Im Laufe der Jahre ist sie ein paarmal vorbeigekommen. Ihr Vater wohnt noch hier, oder zumindest war das so, bis sie verhaftet wurde. Ich glaube, das letzte Mal habe ich sie gesehen …« »Sag’s ihm, Schatz«, ging Bev dazwischen. »Simon ist Psychiater. Er weiß es vermutlich sowieso. Du hast nichts Unrechtes getan.« Bev kam seiner Lüge zuvor. Völlig klar, daß er schwindelte. Aber auch ohne den Telefonanruf von Bev wäre es mir aufgefallen, an seinem trockenen Mund und dem schweißnassen Gesicht. Und dann hatte ich ja Janices Besucherliste in der Klinik einge335
sehen. Als einziger außer mir und ihrem Vater war Will dagewesen. »Okay, ich hab sie besucht. Sie hat angerufen, ein paar Tage nach dem Brief. Sie war in der Psychiatrie. Sie hat gesagt, es gehe ihr schlecht und sie müsse mich sehen. Bev und ich haben die Sache durchgesprochen.« Bev nickte. »Simon, wir sind schließlich Christenmenschen. Wir dürfen einen Hilferuf nicht ignorieren. Das zumindest mußte ich tun, sie auf Jesus verweisen, unseren Heiland. Also bin ich hingeflogen.« Für mich wäre es logischer gewesen, wenn Will nach einem Anruf von Janice die Beine unter den Arm genommen hätte, aber vielleicht denke ich ja bloß unchristlich. Andererseits war auch ich nicht gerade weggerannt. »Was hat sie gewollt?« Bestimmt nichts vom Jesulein. »Eigentlich nichts. Ich war eine Stunde bei ihr. Sie hat davon geredet, wie sie von vorne anfangen will, wenn sie rauskommt. Sie hat von dir gesprochen, als ihrem Therapeuten. Ich glaube, sie wollte wissen, ob ich ihr bestimmt helfe. Ich hab ihr was dagelassen, weißt du, Erbauungsliteratur. Vielleicht hat sie sie gelesen. Weiß nicht. Das ist alles. Ich schwör’s.« Hand aufs Herz. Klang schlicht genug. Freundin in Not ruft, Christenmensch fliegt hin. Nur sah er jämmerlich drein dabei, ein Mann in Seelenqualen. Er hatte einen Mordsbammel vor ihr. »Will, glaubst du, sie ist krank, ich meine geistig?« Er zuckte die Achseln. »Ich bin kein Psycho.« »Nein, aber du kennst sie seit vielen Jahren. Glaubst du, sie ist geisteskrank?« »Nein, sie ist nicht richtig krank. Ich meine, sie ist, wie sie immer war, total irre. Ich meine, sie ist ganz klar irre, 336
schon immer gewesen. Sie macht irre Sachen, hat sie schon immer gemacht. Sie hat ’nen Sprung in der Schüssel, keine Frage. Aber ob ich sie geisteskrank nennen würde oder bloß ganz anders als unsereins, kann ich dir nicht beantworten. Sie ist nicht übern Jordan. Sie ist nicht so richtig krank irre. Sie ist nur so normal irre wie du und ich, bloß noch viel irrer. Aber ich glaub nicht, daß sie krank ist. Verstehst du, wie ich das meine?« Leider hätte ich es selbst nicht besser formulieren können. Will sackte auf der Couch zusammen, erschöpft von seiner Odyssee durch die Vergangenheit. Er hatte noch mehr auf Lager, aber wenn ich zuviel Druck machte, würde er kneifen. Also machte ich nur ein bißchen. »Wovor hast du Angst, Will?« Bev und Will warfen beide einen Blick in Richtung von Brians Kinderzimmer, und uns allen dreien fiel dabei etwas Irres ein, das Janice getan hatte. »Lasset uns für sie beten«, sagte Will schließlich. Ein Schlußwort. Die Märchenstunde war vorbei. Wenn Beichten gut für die Seele ist, hatte er nichts davon gehabt. Da war noch was, aber Will konnte fürs erste nicht weiter und suchte Trost im Gebet. »Will, man braucht kein Psycho zu sein, um zu sehen, wie du dich quälst. Laß mich morgen noch mal herkommen, dann reden wir weiter. Wir wissen alle, da ist noch mehr.« »Okay, geht übermorgen schon früher. Kein Training.« Wir faßten uns erneut an den Händen, diesmal aber zu dritt. Debby und Brian konnten wir miteinander glucksen hören. Bev und Will senkten die Köpfe, und während sie zu Gott beteten, blickte ich auf den rosigen Kreis seiner beginnenden Hinterhauptsglatze. 337
29 Eine Geburt, zwei Todesfälle und eine Wiedergeburt. Alles durch Janice. Eine umtriebige Lady. Und die Schweißperlen auf Wills Oberlippe verhießen noch mehr. Mit seiner hastigen Aufforderung zum Gebet hatte er die Beichte vorerst unterbrochen, doch sein Schwitzen, seine Fickrigkeit und seine rote Birne waren vielversprechend gewesen. Die Hardins waren Säulen ihrer Gemeinde und Gesellschaft, des von der Religion geprägten Mittleren Westens. Sie gehörten zum Besten, was dieser Menschenschlag hervorbringt, weil sie im Grunde nur anständige Menschen sein wollten. Sie hatten sich dem amerikanischen Traum verschrieben, und der hatte es gut mit ihnen gemeint. Bev war das Musterbild der treuen Ehefrau, die verkörperte Rechtschaffenheit. Sie stand ihm nicht bloß zur Seite, weil sich das so gehörte, sondern weil sie es ganz bewußt so haben wollte. Will war ein Glückspilz. Aber seinen Seelenfrieden hatte er eingebüßt. Die Vergangenheit war auferstanden und setzte ihm zu. Sein sonst so unerschütterlicher Glaube stand unter Beschuß und war im Schwinden begriffen. Körperlich war er noch eindrucksvoll präsent, aber seelisch gingen ihm die Muckis aus. Er mußte mit einem Problem fertigwerden, bei dem er sich nicht durchboxen konnte. Er wankte. Müde, ratlos und angezählt. Will fürchtete nur Gott und Janice. Das mit Gott durfte ich getrost ihm selbst überlassen. Aber das mit Janice ging auch mich was an. Warum hatte er so panische Angst vor 338
ihr? Warum rannte er zu ihr hin, sobald sie nur pfiff? Warum tauchte er nicht lieber ab? Dafür war er mir eine Erklärung schuldig. Er hatte um Gottes Ratschluß gebeten, und ich war ihm erschienen. Seine Wunder kann man nicht lange hinhalten. Ich war auf die Fortsetzung gespannt. Gern wäre ich wie Debby bei Dad in seinem umgebauten Bauernhaus untergekommen, aber mit seinem Sohn Tommy in meiner Begleitung hätte Gabe was dagegen gehabt. Wir waren im frugalen Komfort des Campus Inn abgestiegen, das als einziges in Ann Arbor einen Goldenen Retriever kostenlos beherbergen wollte. Tommy und ich belegten jeder ein überbreites Bett und Tupelo einen Sessel vor dem Fernseher. Unsere Absteige hatte mehrere Vorzüge: Erstens lag sie fast mittig zwischen Gabes Haus an einem Feldweg im Nordwesten der Stadt und dem fast schon mondänen Reihenbungalow der Hardins an der Ypsilanti Road im Osten. Zweitens hatte mir eine freundliche studentische Tellerwäscherin aus der Nachtschicht der Hotelcafeteria versprochen, für Tupelo Futterpakete abzuzweigen. Und drittens befand sich im Erdgeschoß eine Cocktailbar, wo Tommy wenigstens einem seiner vielen Laster frönen konnte und wo wir gleich mit Ed Donahue das Vergnügen haben sollten. Dieser hatte meine Einladung auf einen Drink ins Hotel mit Freuden angenommen. Tommy hatte gerade den zweiten Martini gekippt und machte der Bedienung Zeichen. Vom Bildschirm über der Bar flackerte ein Michael-Jackson-Video herab, mit Bildwechseln so rasch wie die Flügelschläge eines Kolibri. Ich mußte mich wegdrehen, bevor mir die Reizleitungen durchschmorten. Ich nippte an meiner alkoholfreien Bloody Mary und lauschte Debby, die ihr Glas Rotwein unberührt auf dem schwarzen Mattglas unseres Tischchens stehen ließ. 339
Soeben hatte sie uns zum dritten Male geschildert, wie drollig Brian sei. »Ach, war das schön! Weißt du, ich hab nie wieder ein Baby im Arm gehalten, seit Lisa gestorben ist.« Sie mußte schmerzhaft schlucken. »Ich hatte bisher solchen Schiß, es könnte irgendwie nicht recht sein. Als dürfte ich keine Kinder mehr anfassen. Weil sie sonst sterben.« Der Fluch, der die Überlebenden zeichnet wie ein Brandmal. »Aber es hat mir solchen Spaß gemacht mit Brian. Da hab ich mich nach Lisa gesehnt. Im Grunde bin ich davon ganz durcheinander. Aber trotzdem froh, daß ich mitgegangen bin.« »Ich auch. War schön, dich so happy zu sehen.« »Bin ich nicht. Hab doch gesagt, ich bin durcheinander.« In Wahrheit war sie verstört, gründlich verstört, wie lange sie den Schmerz schon verdrängte. »Das regelt sich schon noch«, wollte ich sie beruhigen, aber Debby hatte sich von mir abgewandt und blickte zum Fernseher. Ich ließ sie in Ruhe. Wegen seiner unguten Erinnerungen hier in unserer Heimatstadt wollte sich Tommy am liebsten betrinken und hatte schon im Flughafen damit angefangen. Er war schon reichlich knille, als er die Olive aus seinem dritten Martini fischte. »Ich hab ’n paar Überraschungen für dich«, sagte er, mit einem Blick unter den Augenbrauen hervor. »Was Schöneres kann ich mir kaum vorstellen«, nickte ich, aber Tommy wußte, das war gelogen. Ich hab noch nie eine freudige Überraschung gehabt, in meinem ganzen Leben nicht. »Erst mal hab ich das da für dich organisiert. Sieh es dir später an, wenn ich abgefüllt bin, was in etwa acht Minuten der Fall sein wird.« »Nein, das geht nicht«, meldete sich Debby. »Du hast mir Revanche versprochen, drunten auf dem Nintendo.« 340
»Keine Bange, das schaff ich mit hinter dem Rücken gefesselten Augen.« »Abwarten. Den Familienrekord halte ich.« Tommy reichte mir ein Jahrbuch der High-School von Workman’s Lake. Von der Klasse, in der Janice gewesen war, bevor sie nach Ann Arbor zog. »Du hast ein Jahrbuch geklaut? Woher?« »Nicht ›woher‹, sondern nach Shakespeare ›von wem‹. Aber eigentlich heißt es, wo. In der Schulbücherei beschlagnahmt.« »Warum nicht ausgeliehen? Dafür sind Bibliotheken da.« »Wollte ich ja. Haben gesagt, Jahrbücher verlassen den Raum nicht. Da haben sie sich mal geirrt. Heb dir dein Dankeschön für später auf. Leih mir jetzt erst einmal dein Ohr. Ich hab den Schulleiter interviewt, einen Mr. Strauss.« »Als was bist du hingegangen?« Tommy hatte einen ganzen Fächer Visitenkarten mit diversen Namen und Berufen. »Als ich selber. Wozu die Dinge komplizieren. Ich hab ihm gesagt, ich schreibe als freier Autor über das Schulwesen in amerikanischen Kleinstädten, als Kontrastprogramm zur Großstadtpädagogik etwa von Ann Arbor.« Päda-go-gik zerlegte er in vier Silben. »In Workman’s Lake schieben sie ’nen Haß auf Lehranstalten wie in Ann Arbor. Finden sie arrogant und überheblich. Mit Recht. Er hat mir nur zu gern geschildert, wie in der Kleinstadt unterrichtet wird. Macht er seit dreißig Jahren, ist stolz auf jede einzelne kleine Errungenschaft. Redet wie ein Wasserfall, der Mann, und ich muß mir die ganze Zeit Notizen machen.« Wehleidig zeigte er die hierdurch verkrüppelten Finger der rechten Hand vor. 341
»Wirst es schon überleben. Komm zu deiner Überraschung, bevor Donahue da ist.« »Die Überraschung ist, worüber er nicht reden wollte. So ein Vogel wie dieser Strauss, eine elende Quasselstrippe, redet stundenlang, wenn man ihm den Bauch pinselt, und dann ist er plötzlich wie zugeknöpft, sobald ich den Namen Donahue nenne. Sagt nur immer wieder dasselbe, wie ein Anrufbeantworter. Janice war Klassenbeste, überall aktiv, rundherum eine Musterschülerin. Das alles mäuselt er, als hielte er einen Kaugummi unter der Oberlippe versteckt. Also hak ich nach und frage: ›Warum sind die Donahues überhaupt weggezogen?‹ Er meint, Ed hätte es äußerst schwergenommen. Ich frage, was denn, und er sagt: ›Margerys Ableben. Ed ist vor den Geistern davongelaufen.‹ Das mit dem ›äußerst schwergenommen‹ wiederholt er mindestens dreimal. Spielt dabei mit meiner Visitenkarte, und dann dämmert es ihm, und er wird stinkig und will mich rausschmeißen. Ich frag, was ist denn jetzt los, wo wir doch so eine nette Gesprächsatmosphäre hatten.« Gesprächs-at-mo-sphä-re mußte Tommy fast buchstabieren. »Und da fragt er zurück, wie mein Vater heißt. Ich sag’s ihm. Wozu flunkern? Und da schmeißt er mich echt raus. Und jetzt die Überraschung: Er meint, wenn ich mehr über die ›Affäre‹ Donahue wissen will, soll ich gefälligst den eigenen Vater fragen.« »Warum das?« »Woher soll ich das wissen, zum Kuckuck? Frag du ihn doch.« Damit zog er Debby hoch. »Komm schon, du trinkst ja ohnehin nichts. Überlassen wir Bruderherz seinem Pauker.« Auf der Fernsehleinwand über meinem Kopf verrenkte sich Melissa Etheridge gleich vierfach. Ich sah absichtlich 342
nicht hin, kein leichtes Unterfangen, und blätterte statt dessen das Jahrbuch durch. Überall Janice. Offenbar war sie immer mit von der Partie gewesen, doch auf den meisten Fotos irgendwie kostümiert. Als waschechtes Cockneygirl in Pygmalion, als Mauerblümchentochter in der Glasmenagerie und als wasserpflanzenbekränzte Ophelia in Hamlet. Unter ihrem Porträtfoto hieß es: »Die Welt ist ihre Bühne.« Und ihren Aussichten auf Erfolg im Leben hatten die Mitschüler die höchste Punktzahl von allen gegeben. Janice trat nicht nur als Diva des Schultheaters auf, sondern auch im Debattierklub, in der Schülervertretung und in der Jubelbrigade für die Sportmannschaften. Als Cheerleaderin abgelichtet war sie bei Football, Basketball und Baseball, stets in einer Art Sprunggrätsche, mit sieghaft gen Himmel gereckten Fäusten. Mein besonderes Augenmerk fanden die Schnappschüsse von den Schulereignissen des Jahres. Auf dem Jahresabschlußtanz war sie zur Ballkönigin erkoren worden, und die Kamera erfaßte sie, wie sie in die jubelnde Menge strahlte und Küßchen von einem linkischen, aber hingerissenen Will Hardin entgegennahm. Noch ein Foto, aus dem Debattierklub. Hier stand sie in Rednerpose am Pult und blickte selbstbewußt ins Publikum. Über das ganze Jahr hinweg kein Anzeichen einer Wandlung. Sie wirkte im Juni so puppenlustig wie im September vorher. Das Todesjahr ihrer Mutter, doch in ihrem Gesicht keine Trauer. Immer das Strahlemädchen. Freilich bloß Fotos, und viele davon gestellt. Aber wenn die Kamera nicht log, war Janice alles andere als depressiv gewesen. Oder damals schon eine begnadete Schauspielerin, wie es an anderer Stelle ja auch im Jahrbuch stand. Ich klappte den samtbezogenen Band zu, als ich Ed durch die Glastür in die Lounge kommen sah. Er hatte bei 343
den Drinks offenbar bereits vorgelegt. Sein Gang war schwankend. Ich trat hinzu und bot ihm den Arm, die Zunge war ihm schwer, und er nuschelte bereits. »Gunamd, Simon. Dankschschön für die Einladung. Ruhestand ist manchmal ssu ruich.« »Mr. Donahue …« »Sag Ed ssu mir«, unterbrach er mich, »ich glaub, is Zeit, daß wir uns duzen.« Ich führte ihn an einen größeren Tisch, der Platz bot für seinen Bauch. Er wedelte meine Fragen mit der Linken beiseite und zugleich mit der Rechten nach einem dreistöckigen Bourbon. Im Warten darauf bewahrte er mühsam das Gleichgewicht. Er kippte das halbe Glas hinunter, bevor er was sagte. »Wollt mich schon bei dir melden. Mach’s nich mehr lange, spür ich inne Knochen. Jan braucht mich nich mehr, oder will sagn, bin ihr jetzt ssiemlich egal. Zeit, daß sie ihr eignes Lehm führt, ohne Vätern über die Schulter.« Er nahm noch einen Hieb Bourbon und ließ nur die Neige im Glas. Aus der Nähe wirkte er noch ungepflegter als beim Hereinkommen. Bügelfreie Hose aus Vinyl. Im Ausschnitt des fadenscheinigen Pullovers der Schlafanzugkragen. Der Teint nicht blaß, sondern gläsern, die einzige Farbe in der Gesichtslandschaft das Rot von geplatzten Äderchen. Und er roch. Vom Bourbon wurde ihm die Zunge immer schwerer, doch das war ihm egal. Er verbarg sein Elend nicht mehr. Er trug es spazieren. »Folgndes wollt ich mit dir redn. Hab Angst um mein kleines Määchen, so alleine inner großen Stadt, ganz ohne mich und ohne jemand sum Ssuhörn. Muß sich jemand kümmern.« Ich hörte die Nachtigall trapsen. In aller Ruhe konnte ich meine Weigerung formulieren, noch während er stockend 344
die Bitte herausbrachte. »Kümmer dich, Simon, bitte. Jan hat Ssutraun ssu dir. Sie fühlt sich mit dir ver-bun-den. Bestimmt hört sie auf dich. Hilf ihr. Mir ssuliebe. Simon, sag ja. Muß ich hören, sonst hab ich keine Ruhe nich mehr.« »Ich kann deine Rolle nicht übernehmen, Ed, und auch nicht die Verantwortung, mich um Janice zu kümmern. Ich fürchte, dabei kann ich von keinem großen Nutzen sein. Sie braucht einen erfahrenen Therapeuten«, ergänzte ich, »und jemand anderen als mich.« »Das mein ich nich. Therapie hat sie. Ich mein ein Freund, der sich kümmert, mehr nich.« »Ed, ich bin therapeutisch nicht legitimiert, weiter dazwischenzufunken. Meine Freundschaft mit Janice ist lange her. Ich fürchte, ich kann dir nicht helfen. Ich habe getan, was ich konnte.« »Doch nur ab und ssu ein Anruf. Was sie so macht. Issas denn zuviel?« Viel zuviel, dachte ich. »Ich kann sie ja gelegentlich mal anrufen, wenn du unbedingt willst, aber …« »Mehr will ich ja nich. Anrufen. Mehr nich. Vieln Dank, Simon.« Sentimentales Suffgeschwätz, nur deswegen war ich auf ihn eingegangen. Und daß er sich bei mir hatte melden wollen, war glatt gelogen. Hätte ich ihn nicht angerufen, hätte dieses Gespräch nie stattgefunden. Und jetzt würde er gleich hackevoll sein. Aber vorher mußte ich noch ein paar Antworten haben. Wenn ich mich nicht beeilte, machte der Bourbon das Rennen. »Und jetzt brauche ich einen Gefallen von dir.« »Aber klar, nur ssu«, nuschelte er unschlüssig. »Ich hab da immer schon gern was wissen wollen, zum Tod deiner Frau. Aus gutem Grund. Die Sache mit ihrer 345
Mutter ist für Janice katastrophal gewesen. Wenn du ihr helfen willst, dann sag mir endlich, was da war, damals mit Margery.« Diesmal bot er keinen Widerstand. Er kapitulierte sofort vor meiner Nötigung, so wachsweich sie war. »Jan sorgt sich um mich, Simon. Hat Angst vor den alten Gerüchten. Hat dir dein Vater nichts gesagt?« »Mein Vater sagt nie was.« »Die Gerüchte ham Jan angst gemacht, und tun’s noch. Fürchtet wohl auch noch mich ssu verliern. Hat mich nämlich lieb, tief da drin.« Er schlug sich ungelenk mit der Faust aufs Herz. »Ich darf nicht länger schweigen. Schaden kann es mir nich mehr. Simon, ich hab dir manches verschwiegen, ssu Margery, und was ich gesagt hab, war meissens nich wahr. Wollt dich nich anlügen. Hab mir nur selber was vorgemacht.« Er sog die letzten Tropfen Whiskey aus seinem Glas, und seine Aussprache wurde plötzlich glasklar. Er winkte der Bedienung und bestellte noch einen. »Margery hat nicht bloß manchmal getrunken. Sie war eine unheilbare Gewohnheitstrinkerin, lange vor mir, und wenn sie voll war, war sie beleidigend und hundsgemein. Hat blindlings ihr Gift verspritzt, aber immer genau auf den wunden Punkt. Konnte tierisch grausam sein. Sieh dir Jan an. Ist jetzt fast dreißig Jahre her, und Margerys Zunge ätzt noch immer. Ich hab sie so gehaßt, daß ich sie hätte umbringen können. Hab mir oft ihren Tod gewünscht. Ihn mir sogar vorgestellt. Hab ihn Hunderte von Malen vor meinen geistigen Auge gesehen, bis es dann schließlich soweit war. Und trotzdem hab ich nur zufällig mit ihrem Tod zu tun. Klar, gewünscht hab ich ihn mir. Bloß, als es passiert ist, 346
da hab ich nur ihre Schläge abwehren wollen. In einem ihrer Wutanfälle hat sie um sich gehauen und mich getroffen. Ich hab zum ersten und einzigen Mal zurückgeschlagen. Hat mich bestimmt noch ärger erschreckt als sie. War nur der Bruchteil einer Sekunde. Hat das Gleichgewicht verloren und ist gestürzt. Mit dem Kopf auf den Lampenfuß, und dann hat sie keinen Mucks mehr gemacht. Unglaublich, wie rasch ein Menschenleben vorbei sein kann. Und jetzt sag mir, Simon, bin ich schuld?« Er wedelte mit der Hand, um meiner Antwort zuvorzukommen, unnötigerweise, denn ich wollte gar nichts dazu sagen. »Nein, sag’s nicht«, wehrte er ab. »Ich weiß, was ich bin. Glaub mir, Simon, ich weiß, was ich bin.« Er nahm einen Zug und mied dabei bewußt meinen Blick. Ein geschlagener Mann. »Wie hat die Justiz reagiert?« »Überraschend verständnisvoll. Im Büro des Bezirkssheriffs haben sie meine eidliche Aussage protokolliert und ihren Tod als Unfall eingetragen. Wahr wohl so was wie Glückssache. Als Lehrer, auch von vielen Polizistenkindern, hatte ich in der Gemeinde einen guten Ruf. Deswegen, und weil sich dein Vater eingeschaltet hat, kam die Sache zu den Akten.« Eines aber war nicht stimmig. »Wie kam es, daß Janice die Leiche gefunden hat? Warum hast du nicht nach dem Notarzt telefoniert?« »Ich bin weggerannt und hab mich verkrochen. Ich bin kein mutiger Mann, Simon, nie gewesen. Hat mich überfordert. Dachte, das ist ein Alptraum, wird schon vorbeigehen. Ich wollte nie, daß Janice sie findet. Ich hab nie gewollt …« Er schaffte gerade noch die nächste Bestellung, stürzte aber den Whiskey auf einen Zug hinunter, kaum daß er auf 347
dem Tisch stand. Deprimiert glotzte er in das leere Glas. »Mein zweiter großer Kummer ist, daß ich nie meinen Roman fertiggeschrieben hab. Sollte Die letzte Flasche heißen. Bin wohl schlicht nicht mehr dazu gekommen.« Dann fing er an zu weinen. Ich entschuldigte mich, um den Blasendruck loszuwerden und die Moleküle von Schuld abzuwaschen, die aus seiner Fahne waberten und mir wie Kleister im Gesicht klebten. Als ich zurückkam, sabbelte Ed still vor sich hin. Wahrscheinlich zitierte er aus seinem Roman. Er kannte mich nicht mehr. Statt seinem zusammenhanglosen Geseire zuzuhören, klemmte ich ein paar Scheine unter mein Weinglas und machte mich stumm vom Acker. Wenn er es überhaupt mitbekam, ließ er sich nichts anmerken. Es war schon spät, als ich auf mein Zimmer zurückkam, aber ich wählte trotzdem die Nummer meines Vaters. Wecken würde ich ihn bestimmt nicht. Je älter er wurde, desto weniger schlief er, und außerdem tat er nichts lieber, als einen Fall durchzuhecheln. Besonders seit seine Zeit als aktiver Anwalt zu Ende war, seit dem Ruhestand. Nachdem ich ihm eröffnet hatte, er brauche heute nicht auf Debby zu warten, kam ich auf Ed Donahue zurück. Gabe wollte eisern dichthalten. Als ich ihm vorhielt, daß ich die Sache zumindest teilweise auf sein Drängen übernommen hätte, öffnete er widerwillig sein Kopfarchiv, um mir Wesentliches über Margerys Ableben mitzuteilen. Er bestätigte den Verdacht, den ich bereits im stillen hegte, hatte aber keine Beweise. »Würdest du zur Verhandlung erscheinen und das unter Eid wiederholen?« »Ja, aber nur, wenn du ohne mich nicht auskommst. Denk dran, der Mann war in erster Linie mein Kumpel und erst in zweiter Linie mein Mandant. Aber meine Aus348
sage allein wird wohl nicht reichen. Hoffentlich kann ihr damaliger Freund das fehlende Puzzlestück beibringen.« »Gut. Also liegt alles bei Will Hardin. Ich werd dich nur kommen lassen, wenn es gar nicht anders geht.« Jetzt blieb nur noch eins abzuwarten. Würde Will sich die Sache von der Seele reden?
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30 Ich nahm niemanden mit zu den Hardins. Beim zweiten Besuch kamen sie mir vor, als sei unser gemeinsames Abendessen nicht zwei Tage her, sondern einen vollen Monat. Bevs Sommersprossen waren ausgebleicht und die roten Löckchen stramm zurückgezurrt. Will sah noch übler aus, wie ein Amateurboxer, der zu viele Kopftreffer hat einstecken müssen. Er hatte jetzt sogar einen Ansatz zu Hängebacken. Ob er trank? Die letzte Nacht jedenfalls hatte er sichtlich durchgemacht. Damit wir was Hieb- und Stichfestes in die Hand bekamen, um gegen Janice vorgehen zu können, mußte einer von den beiden auspacken, Bev oder Will. Diesmal würde ich keinen Rückzieher dulden, nix mehr mit »Lasset uns beten«. Sie würden die ganze Wahrheit rausrücken müssen, nicht bloß die läßlichen Sünden. Bev begrüßte mich mit einer Umarmung, die sofort in heftiges Schluchzen an meiner Brust überging. Sie krallte sich in meinen Pullover wie kurz vor dem Ertrinken. Wills Händedruck war kalt und schlaff wie ein toter Fisch und sein »Willkommen« gemurmelt, das Gesicht dazu faltig wie ein ungemachtes Bett. Er kauerte sich in den Sessel und knabberte die blonden Härchen auf seinem Handrükken ab. »Er läßt zu, daß sie uns unsere Familie kaputtmacht. Ich bin völlig am Ende«, schniefte Bev, und so sah sie auch aus. »Ich kenn das Weib doch, die hat sich seit der HighSchool um kein Jota verändert. Sie läßt nicht locker, bis sie ihn hat. Läßt sie nie.« Sie heulte vor sich hin, liebkoste 350
dabei Brian abwesend mit der einen Hand und wischte sich mit der andern die Tränen von der Backe. Als sie sich wieder gefangen hatte, machte sie mir einen heißen Zitronentee und einen Kaffee für sich. Will bekam nichts. Sie steckte Brian in seinen Schlafanzug, brachte ihn ins Bettchen und kam zurück ins Wohnzimmer, ein zittriges Nervenbündel. Anders als vorgestern mied sie jede Berührung mit Will. Kein Händchenhalten, um ihm Mut zu machen. Auch sprach sie an ihm vorbei, nur zu mir. »Ich muß dir was gestehen, Simon. Will hat nicht gewußt, daß ich dich anrufe. Ich hatte es einfach mit der Angst bekommen. Meine Welt fliegt in Fetzen, da muß ich doch was tun! Dir vertrau ich, und mit irgend jemand muß ich ja reden. Vor dir gibt’s keine Geheimnisse, geht jetzt nicht mehr. Aber es macht mich fertig. Das Fundament unserer Ehe, weißt du, ist immer Wahrhaftigkeit gewesen. Steht in unserem Hochzeitsgelübde.« Ein scharfer Blick hinüber zu Will. Dem Ehebrecher. Will biß sich immerfort Härchen vom Handrücken. Bev sprach weiter: »Ist etwa eine Woche her, da ist Janice zum ersten Mal hier bei uns aufgelaufen. Kein Anruf vorher, hat mich sozusagen überrumpelt. Ich hatte sie seit der Schulabschlußfeier nicht mehr gesehen. Hübsch ist sie immer noch.« Und Bev war es, wie zum Kontrapunkt, immer noch nicht. »Und sie war total nett. Hat mir gesagt, sie hätte mich immer gemocht und hoffentlich würden wir jetzt dicke Freundinnen. In Ann Arbor sei sie jetzt wieder, um seßhaft zu werden, und sie fragte mich um Rat wegen Wohnung und Job. Hätte mich richtig gefreut, wär da nicht dieses Gefühl gewesen, sie will dich aushorchen, sie baldowert quasi was aus. Sie mußte unbedingt in unserem Hochzeitsalbum blättern, und als ich’s später weglegen wollte, merk ich, da sind ein paar Fotos rausgerissen. Sehr eigen351
artig. Aber ich weiß ja, daß sie krank ist. Also denk ich mir, vielleicht hat sie’s mit den Nerven, weißt du, fühlt sich nicht wohl in ihrer Haut. Wer will sich da auskennen? Ich hatte ihr ein paar Tips gegeben, wegen ’ner Wohnung. Wir hatten Kaffee getrunken. Sie hatte sich bedankt und war wieder gegangen. Kam mir alles doch recht harmlos vor. Ich hätte es besser wissen müssen. Abends hab ich’s gleich Will erzählt. Dem ist freilich sofort mulmig geworden. In der Arbeit hatte sie ihn noch nicht angerufen. Er hat gesagt, bei ihm sei sie noch nicht gewesen. Dann ist sie plötzlich zu unserem Bibelkreis erschienen. Wir leben schließlich in einem freien Land, habe ich bei mir gedacht. Immerhin, gläubig ist sie. Ich hab sie Pfarrer Blaine vorgestellt. Janice war katzenfreundlich. Sie hat Brian gedrückt und Will ein Küßchen auf die Backe gegeben. Ich hatte es grade geschafft, den ganzen Tag nicht mehr an sie zu denken, da kommt Will heim und erzählt, sie war jetzt auch im Laden, sich ein Auto ansehen. Will nagte inzwischen schon an den Sehnen auf seinem Handrücken. Will hat gemeint, das mit dem Auto sei nur ein Vorwand gewesen. Und ich hab gesagt, daß er das wohl richtig sieht. Und dann fällt mir ein, ist ja überhaupt nicht christlich gedacht von mir. Die Frau tut ja nichts Unrechtes. Sie wagt einen Neuanfang, klar, daß sie da Hilfe sucht. Und ich begegne ihr nur mit Mißgunst, ohne jeden Grund, bloß weil ich mich entsinne, wie sie früher gewesen ist. Vielleicht lernt der Mensch ja dazu. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, also hab ich bei ihr angerufen. Sie hat sich bedankt für meine Unterstützung bei der Wohnungssuche und für Wills Beratung mit dem Auto. Sie war ganz nett am Telefon, aber irgendwie nicht bei der Sache. Weil, ich glaube, da hatte sie gerade Will bei sich auf dem Zimmer.« Wieder so ein Messerblick. 352
Er nickte bestätigend, nahm aber den Ball nicht auf. »Am Tag, bevor ich bei dir angerufen hab, war sie mittags wieder ganz zufällig in der Autofirma vorbeigekommen und hatte ihn zum Lunch eingeladen. Er hat angenommen. Und dann hat sie ihn aufgefordert, mit raufzukommen und mit ihr zu schlafen. An dem Tag hat er sich noch geweigert. Am selben Abend ist sie mich wieder hier besuchen gekommen. Ich konnte mir nicht denken, was um alles in der Welt sie von mir will. Und da hat sie es mir gesagt. Sie hat gesagt, sie liebt Will, und er liebt sie. ›Keine böse Absicht. Ist halt so gekommen‹, hat sie gemeint. Und sie wolle mir nur sagen, das ginge nicht gegen mich, aber schnappen würde sie ihn sich schon. Dieses Flittchen sagt mir ins Gesicht, sie nimmt mir den Mann weg!« Bev unterbrach sich, entsetzt über den Ausdruck, der ihr rausgerutscht war. Sie entschuldigte sich. »Simon, du kennst mich. So was sag ich sonst nie. Aber ich glaub, ich dreh noch durch.« Sie rieb sich die Stirn, in völliger Ratlosigkeit. »Mir kommt’s so vor, als hätte ich noch nie im Leben solche Angst ausgestanden. Ich bin Christin, Simon. Ich denk sonst von andern Leuten nicht gleich das Schlechteste. Ist nicht meine Art. Wär auch gegen meinen Glauben. Ich meine, alle Menschen sind doch im Grunde anständig und ehrlich. Aber die andere Wange kann man nicht ewig hinhalten. Ich kann doch nicht untätig danebenstehen und zusehen, wie sie mir meinen Will ausspannt! Aus irgendeinem Grund hat sie Macht über ihn. Und bis gestern abend hatte ich keine blasse Ahnung, warum. Ich hab bloß geahnt, daß Will mir keinen reinen Wein einschenkt. Das hat mich sehr enttäuscht, und ich merkte, mich packt langsam die Wut. Also habe ich zu unserem Herrn Jesus gebetet, und er hat mir den Weg gewiesen. 353
Gestern abend frage ich Will also direkt: ›Warum sagst du ihr nicht einfach, sie soll abhauen? Liebst du sie etwa?‹« Jetzt sah Bev Will an, während sie sprach. Er hatte sie tief verletzt, und sie wollte, daß er es merkte. »Und da erzählt er mir, was ich die ganze Zeit schon hätte wissen müssen und was er auch dir hätte sagen sollen, schon vorgestern hier bei uns.« Sie rutschte zurück in den Sessel. Fertig. Sie hatte reinen Tisch gemacht, für sich. Will nuschelte etwas auf seinen Handrücken. Ich konnte nicht alles verstehen, doch die Worte »Sie killt mich«, schlüpften ihm zwischen den Fingern durch. Beide starrten wir ihn an, bis er die Hand vom Mund nahm. »Ich bin dabeigewesen, als Janice ihre Mutter umgebracht hat.« Zum ersten Mal sah er auf. »Raus damit, Will«, forderte ich ihn auf. »Von Anfang an.« »Den Anfang«, seufzte er, »kennst du doch größtenteils. Der Anfang ist immer leicht. Ich möchte bloß wissen, wann das endlich zu Ende ist.« Angefangen hatte es, als er Janice draußen am See begegnet war. Wills Familie hatte dort ein Häuschen gehabt, und Janice war damals im vorletzten Schuljahr gewesen, noch in Workman’s Lake. Sie seien einander zufällig begegnet, meinte er, aber da Janice nichts im Leben dem Zufall überließ, hatte sie ihr Zusammentreffen mit dem berühmtesten Quarterback des Bezirks wohl doch arrangiert. »Sie war hübsch. Ich hatte gerade mit meiner Freundin Schluß gemacht und war einsam. Paßte mir ganz gut, mit jemand anzubandeln, der nicht aus Ann Arbor war.« Bevor Will wußte, wie ihm geschah, waren sie miteinander gegangen, ständig. Er hatte sie gern, und sie wußte genau, was ein Kerl braucht. Und ließ sich nie lange bitten, hatte selber Spaß daran. 354
»Weißt du, es war cool. Sie sah blendend aus, hatte eine tolle Figur, und sie trieb’s gerne mit mir. Ich war da siebzehn, was wollte ich mehr? Aber ihre Mutter hat ewig dagegen gekeift.« Janice habe mit der Mutter in Fehde gelegen, seit sie »Busen gekriegt« hatte. Will hatte unzählige Gefechte zwischen den beiden mitbekommen. Margery, meist betrunken, habe die Tochter nur noch angegiftet. Daß Janice jung, hübsch und allseits begehrt war, habe die Mutter regelrecht krank gemacht. Ob Frisur, Eßverhalten oder Klamotten, nichts habe sie ihr je recht machen können. Auch an den Jungs, mit denen sie ging, hatte sie immer was auszusetzen gehabt. Von Will habe sie immer nur als dem »Hirni« gesprochen, und das sogar in seiner Gegenwart. Jemand vor Dritten runterzumachen, sei für sie jedesmal ein regelrechter Abgang gewesen. Ed Donahue habe bei diesem Damenringkampf im Schlamm immer nur begütigen wollen. »›Alles nur halb so schlimm‹, hat er immer gesagt, wenn wieder mal die Fetzen flogen. ›In dem Alter kommen Töchter nie mit der Mutter klar. Die zwei halten ’s zusammen in keinem Zimmer aus. Geht aber vorbei. Ist doch bei Söhnen und Vätern das gleiche.‹« Bei diesen Worten suchte Will zum ersten Mal an diesem Abend meinen Blick. »Simon, ich hab keine Ahnung von Psychologie, aber wie man andere verletzt, da kenn ich mich aus. Hab schließlich Football gespielt. Spiel ist das keins, sondern Krieg. Mit dem Ziel, den Gegner allezumachen. Darunter läuft nichts. Und Janice hatte Krieg mit ihrer Mutter. Ich hab das ja alles miterlebt. Eine von den beiden mußte am Ende obenauf bleiben. In der Liga war ein Unentschieden undenkbar. Ich hab gesehen, wie sie aufeinander eingedroschen haben. War abstoßend, und ich war bloß froh, daß keine 355
Schußwaffe im Haus war. Eine von beiden hätte bestimmt irgendwann abgedrückt. Teufel noch mal, Margery war so eine geifernde Hexe, daß ich’s vielleicht selber getan hätte. Sogar mir hat sie das Leben blutsauer gemacht, und ich bin da nur hin, wenn es überhaupt nicht anders ging. Mit ihrem Gekreische hätte sie Gläser zerspringen lassen können. ›Du tust, was ich sage, du Flittchen!‹« keifte Will plötzlich schrill, einen von Margery Donahues Ausbrüchen wiedergebend. »Ich hab sie bloß noch ›die Schreieule‹ genannt. Für Janice war sie ›die Stimme‹. Das mußte einfach ein schlimmes Ende nehmen. Und wenn’s soweit war, wollte ich so weit vom Schuß sein wie irgend möglich.« Janice habe fast ständig Hausarrest gehabt. Aber sie habe immer bloß abgewartet, bis Margery sich von Sinnen getrunken hatte, und dann gemacht, was sie wollte. Mit Eds stillschweigender Billigung. Eines Abends habe Janice sich mit Will auf dem Parkplatz von Kroger’s verabredet, dem einzigen Supermarkt der Kleinstadt. Mit der Schnellreinigung und der Drogerie auf der andern Straßenseite für die Jugendlichen von Workman’s Lake sozusagen das Freizeitzentrum. Sie hätten dort den Abend hauptsächlich im abgestellten Auto verbracht und einander umschichtig aufgegeilt und befriedigt. Danach seien sie losgefahren und hätten sich Steak und Pommes reingezogen. Bumsen habe Janice immer hungrig gemacht. »Sie war unglaublich«, erinnerte sich Will. »Ich hab nie wieder eine Frau solche Mengen vertilgen sehen. Und immer Eis hinterher. Auch dabei hat sie mich regelrecht untern Tisch gelutscht«, ergänzte er, viel zu gefangen in seiner Erzählung, um die Anzüglichkeit zu bemerken. Er hatte sie weit nach zwei Uhr morgens heimgefahren, und sie hatten wie immer an der Haustür noch eine Weile 356
geschmust. Janice fuhr darauf ab, wenn er sich mit einem Steifen heimtrollen mußte. Und dann hatte sie sich wieder mal ins Haus geschlichen. Wenn sie sicher oben in ihrem Zimmer angekommen war, winkte sie zu Will hinunter, und er sei dann immer so leise weggefahren, wie es mit dem durchgerosteten Auspuff eben ging. In der Nacht allerdings sei Janice nicht mal bis zur Treppe gelangt. Die Mutter habe ihr im Wohnzimmer aufgelauert, auf dem Sofa, mit Rosemarys Baby zum Wachbleiben und einer Buddel Wild Turkey. Ed sei nicht daheim gewesen. Sogar von draußen habe Will mitbekommen, wie stockbesoffen Margery war. »Hörte sich furchtbar an. Ich hatte die beiden einander schon öfter anschreien hören, aber noch nie, wenn beide so sturzbetrunken waren. Klang wie Krawall zwischen Straßennutten. Also schieb ich die Tür einen Spalt auf und lausche. Damals hat in Workman’s Lake noch kein Mensch die Haustür abgeschlossen. Da hatten die Leute noch nicht diesen Verfolgungswahn. Egal, laß mich’s zu Ende bringen. Seit Wochen schon hatten die zwei im Streit gelegen, es ging um den Jahresball. Janice fand ihr Ballkleid abscheulich, auch die Schuhe, alles mit Fleiß von der Mutter so ausgesucht. Und Margery spitzte schon die ganze Zeit nur auf einen Vorwand, Hausarrest verhängen zu können. Um ihr den Ball zu versauen. Janice hatte zu mir gesagt, sie läßt sich das nicht mehr gefallen. Sie war total scharf auf diesen Jahresball, hat sich Chancen auf die Wahl zur Ballkönigin ausgerechnet.« Jetzt aber habe Margery drakonisch reagiert. Weil Janice sich schon wieder über den Hausarrest hinweggesetzt habe 357
und mit Will losgezogen sei, habe Margery ein Machtwort gesprochen, das ihr eigenes Schicksal besiegelte, auch wenn sie davon nichts ahnte. »›Du gehst mir nicht auf den Jahresball, das ist mein letztes Wort, du Flittchen, und wenn ich dich festbinden muß! Auf diesen Ball gehst du mir nicht! Dein Hirni soll sich selber einen runterholen!‹« kreischte Will in einer weiteren Stimmenimitation. »Offenbar hat Janice das für bare Münze genommen, oder sie war selber zu besoffen und zu rasend vor Wut. ›Da liegst du aber daneben, Alte!‹ hat sie zurückgeschrien. ›Da liegst du aber diesmal vollkommen daneben!‹« Will schwitzte unmäßig und tupfte sich ständig mit einem verwaschenen braunen Taschentuch das Gesicht ab. »Gesehen hab ich es nicht, Simon, das schwör ich dir. Aber gehört. Janice grunzt wie beim Gewichtheben. Ihre Mutter schreit noch: ›Was fällt dir ein!‹ Und dann nichts mehr. Ich hör einen dumpfen Schlag, richtig schmatzend, und wieder ein Stöhnen, diesmal von der Mutter, und wie das Gewicht, oder egal, was es war, auf dem Teppichboden landet. Janice schiebt ein paarmal was hin und her, hört sich an wie Möbelrücken. Und da bin ich schnell weg und ins Auto. Eine Weile später kommt sie raus, sie weiß ja, daß ich immer noch am Straßenrand parke. Sie preßt sich derart an mich, daß sie mich fast auf der Fahrerseite aus der Karre drückt. Sie riecht verschwitzt, nach Angstschweiß, und sie hat gemurmelt: ›Jetzt ist sie endlich still.‹« Bis zum Morgen hätten sie dann weitergevögelt, im geparkten Auto, wenige Häuserblocks weiter. Will selber sei dabei durcheinander, besoffen und verängstigt gewesen, Janice aber geil und unersättlich. Mit Tagesanbruch seien 358
sie frühstücken gefahren, und danach habe sich Janice von ihm zu Hause absetzen lassen wollen. Sie sei sicher gewesen, ihr Vater würde da sein, wenn sie heimkam. Und hatte sie richtig gerechnet, würde Margery bereits auf dem Tisch in der Leichenhalle liegen, in Erwartung ihrer Autopsie. Fehlanzeige. Ed war überhaupt nicht heimgekommen. Janice habe ihre Mutter genauso vorgefunden, wie sie sie hatte liegen lassen, mit dem Kopf gegen den Fuß der Stehlampe. Der ganze Teppich sei rot vollgesuppt gewesen. »Sie schnappt völlig über. Kreischt rum und schmeißt Zeugs an die Wand. Hab ich mein Lebtag nicht wieder gehört, so was. Janice ist restlos durchgedreht. Hat gerast vor Zorn, auf die Mutter, weil sie da immer noch rumlag, und wär sie nicht tot gewesen, hätt sie sie gleich noch mal umgebracht.« Auf Drängen von Janice hatte Will die Polizei gerufen. Beim Warten auf die Bullen sei Janice plötzlich ganz ruhig geworden und habe Tacheles geredet. »›Will‹, sagt sie zu mir, ›das Ding hier bleibt unter uns, verstanden? Wir sind die ganze Nacht zusammengewesen, und beim Heimkommen heute morgen haben wir das da vorgefunden. Solltest du jemals was anderes behaupten, mach ich dich alle. Und ich mein das ganz im Ernst. Mich kriegen die nie. Aber ich dich. Das schwör ich dir, und meine Schwüre sind mir heilig.‹ Und dazu zwinkert sie mir sogar zu und küßt mich auf die Nasenspitze. Und kaum daß die Streife vorgefahren ist, dreht sie wieder durch, weint, schluchzt, schlägt um sich. Mußten ihr eine Beruhigungsspritze verpassen. Die Wochen danach haben wir weitergemacht, als sei nichts gewesen. Eine Weile hatten sie Mr. Donahue in Verdacht, aber den ließen sie wieder fallen. Jedem, der 359
mich gefragt hat, hab ich gesagt, wir hätten die ganze Nacht im Auto verbracht. Es wurde auf Unfalltod befunden. Janice trug Trauer wie üblich, bis auf den Abschlußball, wo sie zur Ballkönigin gewählt wurde. Und willst du wissen, was ihr einziger Kommentar dazu war? ›Das Leben geht weiter. Hat Mutter auch immer gesagt.‹ Und dann hat sich Donahue nach Ann Arbor versetzen lassen. Wir sind noch das ganze Jahr miteinander gegangen, wie, weiß nicht mehr. Janice hat mich immer wieder an ihren Schwur erinnert Und zum Schulende mit mir Schluß gemacht. Oder vielmehr hat sie mir den Laufpaß gegeben. Nachdem sie aufs College gegangen war, habe ich nie wieder von ihr gehört, bis zu dem Brief aus der Psychiatrie und meinem Besuch dort. Das ist alles. Ich weiß, hätt ich dir schon vorgestern alles sagen sollen. Aber ich hab’s noch nie jemand erzählt, hatte immer viel zuviel Angst.« »Die hast du auch jetzt«, konstatierte ich. »Ach, Mann. Die killt mich doch, einfach so«, er schnippte mit den Fingern, »wegen einer Fliege an der Wand.« »Will, du hast Recht und Gesetz auf deiner Seite. Bist du bereit, deine Geschichte einem Richter zu erzählen? Moment, antworte noch nicht. Ich versteh deine Angst durchaus, und du hast auch gute Gründe dafür. Aber wenn du mir hilfst, sie wegsperren zu lassen, braucht keiner von uns sie je wieder zu fürchten. Wir sind dabei, sie zwangseinweisen zu lassen, als gemeingefährliche Irre. Aber unter Umständen kann sie auch wegen Mordes an Margery belangt werden. Laß es dir durch den Kopf gehen, und wir reden später noch mal, wenn ich das mit meiner Freundin besprochen habe, mit der Anwältin in New York. Und nun sag, ist da noch was? Verschweigst du mir was?« 360
Er murmelte vor sich hin und nickte. Bev forderte ihn auf: »Erzähl schon. Ich seh mal nach dem Kleinen.« Sie ließ uns allein. Ich hob fragend die rechte Augenbraue, nur halb. »Gestern ist sie in den Schauraum gekommen, spät, kurz vor Feierabend. Sie sieht immer noch toll aus, wenn du weißt, was ich meine. Sie komme bloß noch mal vorbei, auf Wiedersehen sagen. Was immer sie Bev vorgeflunkert hat von wegen hier seßhaft werden, davon hat sie mir gegenüber nie was verlauten lassen. Im Gegenteil. Sie müsse wieder zurück in den Osten, sie hätte schon das Ticket für den Nachtflug. Hätte was Dringendes vor, hat sie gesagt. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.« Bei mir fingen die Alarmglocken an zu schrillen und hörten nicht wieder auf. Ich bekam solche Hitzewallungen, daß ich glaubte, ich müßte ohnmächtig umsinken. Will redete weiter. »Da haben wir es getrieben, auf dem Rücksitz von dem Cherokee im Vorführraum. Sie wollte nur ein bißchen knutschen, weißt du, um der alten Zeiten willen. Hätte nie gedacht, daß das so ausartet. Die ganzen Jahre bin ich Bev treu gewesen. Was ist bloß an diesem Weib? Ich hätt’s doch auch sein lassen können. Versteh mich selber nicht.« Ich merkte, ich konnte nicht mehr zuhören. »Will, einen Moment, ich muß dringend bei meiner Freundin anrufen, in Maine. Geht das von diesem Apparat hier?« »Klar, nur zu. Warum? Stimmt was nicht?« Ich begann zu wählen. Ich war derart zittrig, daß ich mich zweimal verwählte, ehe ich endlich durchkam. »Hallo, Simon«, gurrte Janice. »Jetzt kommst du bestimmt.«
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31 Eine fressende Wut hatte mich gepackt. Sie verzehrte mich fast. Es wollte mir nicht in den Kopf, daß Janice mich doch ausgetrickst hatte. Dabei hatte ich doch genau gespürt, der Hilferuf aus Ann Arbor war eine Finte. Und dennoch hatte ich zum zweiten Mal in meinem Leben versagt und einen geliebten Menschen nicht geschützt. Debby verwies mich sanft darauf, daß ich von meiner Wut runterkommen müsse. »Du kannst überhaupt nichts für Kate tun, wenn du dich nicht abregst.« Ich zwang mich, stillzusitzen und alles noch mal durchzugehen, um den richtigen Blickwinkel zu kriegen. Nichts an Wills Geschichte hatte mich überrascht. Zwar war es ganz gut, die Einzelheiten bestätigt zu bekommen, aber was Sache war, hatte ich schon vor dem Besuch dort gewußt. Schon mein Vater hatte Eds Geständnis ad absurdum geführt. »Eins mußt du wissen, Simon«, hatte Gabe am Telefon erklärt, »Margerys Tod wurde Ed nie angelastet.« »Ach nein. Und warum nicht, wenn ich fragen darf?« Ich war noch immer wütend, weil er nicht früher damit rausgerückt war. »Er hatte ein Alibi.« »Alibis kann man fälschen«, mahnte ich meinen Vater. »Aber nicht seines. Er hat mit Freunden gepokert. Bei mir.« Offenbar waren die Donahues eine Laienspieltruppe. Eds Bekenntnisse in der Hotelbar waren also Theater gewesen. 362
Bei einem Unfalltod hätte er sich die Umstände mit diesem Geständnis bestimmt nicht gemacht. Er hatte sich verhalten wie jeder liebende Vater einer Mörderin. Er hatte sein Äußerstes versucht, um sie zu decken. Mörder kommen öfter davon, als daß sie erwischt werden. Diese Lektion hatte Janice früh gelernt. Der Mord an der Mutter hatte ihrem psychologischen Profil den letzten Schliff gegeben. Nach Margerys Ableben hatte Janice »die Stimme« geboren und daraus die Nutzanwendung für ihr weiteres Leben gezogen. Fortan würde sie ihre blutrünstigen Phantasien in die Tat umsetzen, hinterher die Ausgeflippte markieren – und ungeschoren davonkommen können. Und je überzogener das hysterische Getue, desto besser. Halluzinationen hatte Janice keine. Sie erfand Rollen aus dem Stegreif. Doch kein Mensch tötet ohne Motiv. Ob vernünftig oder verrückt, verständlich oder verschlungen, ein Motiv gibt es immer. Welches Motiv hatte Janice? Sie litt es nicht, wenn ihr jemand im Wege stand. Die meisten Menschen entwickeln Strategien, um Hindernisse zwischen sich und ihren Wunschvorstellungen zu überwinden. Wir lernen Finten gebrauchen, Situationen meiden und auf Umwegen ans Ziel zu gelangen. Janice hatte eben Mord gelernt. Als sie mir gesagt hatte, sie hätte Tupelo ja auch töten können, war das ihr voller Ernst gewesen. Hatte sie zunächst wohl erwogen, sich aber dann mit einer Verstümmelung im Vorbeigehn begnügt. Sie meinte offenbar, ich müßte mich erkenntlich zeigen, vielleicht mit einer Grußkarte, von Hallmark: »Schön, daß es Dich gibt und daß Du meinen Hund nicht totgemacht hast.« Janice war eine dreifach abgefeimte Mörderin und im Dauerbesitz eines Kärtchens, auf dem »Gehe nicht ins Gefängnis!« stand. Ihre mit Sorgfalt aufgebaute Krankenge363
schichte war der sichere Freifahrtschein. Sie war unlängst für schuldunfähig befunden und von der Anklage des Mordes an Dennis und Sean freigesprochen worden. Wie konnten Geschworene, die ihre fünf Sinne beisammen hatten, sie jemals noch eines Mordes schuldig sprechen? So, wie Janice es sah, konnte ihr keiner mehr damit kommen. Nach ihrer festen Überzeugung hatte sie eine Lizenz zum Töten. An mir lag es nun, Janice hinter Schloß und Riegel zu bringen, und Kate mußte dabei am Leben bleiben. Das Einsperren deckte sich mit Janices Plänen, nur nicht das mit Kate. Nach ihrem Drehbuch hatte Katherine Newhouse bald den letzten Auftritt ihrer Karriere. Einen stummen Part, quasi als Requisit. Nach der Dramaturgie mußte sie bloß mal schnell sterben. Und wie sah meine Rolle aus? Janice hatte mich als Zeugen eingeplant, in Wahrheit als Komplizen, denn sie zählte auf mich als Beobachter ihrer Bühnenleistung und sachkundigen Rezensenten. Meine Aussage sollte dafür sorgen, daß ihre Drehtürstrategie aufging: rein in die Anstalt und nach sechs Monaten wieder raus. Ich sollte stummer Zuschauer dieser amerikanischen Tragödie sein und hinterher fachkundig das nötige Zeugnis ablegen. Wie gehabt, würde sie sich auf »die Stimme« berufen und auf Schuldunfähigkeit plädieren. Die Geschworenen würden nicht umhin können, in Janice das schuldlose Opfer eines Systems zu sehen, das außerstande war, sie vor sich selbst zu schützen. Janice hatte nicht die mindeste Absicht, ihr weiteres Leben im Maßregelvollzug zu verbringen. Da sie so unwahrscheinlich schnell »gesund« werden konnte, würde sie wieder sechs Monate absitzen und freikommen. Das gesamte Drehbuch paßte zu ihrem psychologischen Profil. Der Mord an Kate räumte weg, was sie als einziges 364
Hindernis zwischen sich und ihrem Wunschpartner ansah. Sie war narzißtisch genug, sich so etwas auszudenken, tückisch genug, mein Dabeisein zu erzwingen, und so gemeingefährlich, ihren Mordplan Schritt für Schritt in die Tat umzusetzen. Mir oblag es, das Drehbuch umzuschreiben, eine Bananenschale auf die Bühne zu praktizieren und dafür zu sorgen, daß sie darauf ausglitt. Ich geriet beinahe in Panik, als ich hörte, alle Flüge nach Boston oder New York seien für den Rest des Tages ausgebucht. Zusammen mit Debby suchte ich bereits im Autoatlas eine Route durch Kanada nach Maine, als Tommy trocken bemerkte, da müßten wir aber vierundzwanzig Stunden an einem Stück durchbrettern. So buchten wir lieber einen Frühflug nach Boston. Von dort konnten wir mit einem Mietwagen Sandy Port erreichen. Ich schaffte es, einigermaßen Ruhe zu bewahren, indem ich mir ständig vorsagte, Kate sei sicher, zumindest so lange, bis ich dort war. Für Janices Ersten Akt mußte sie am Leben sein. An Schlaf war nicht zu denken. Die Nacht war noch jung, und ich mußte meine Angst ablassen. Da brachte ich am besten die Arbeit zu Ende, mit der mich Kate beauftragt hatte. Ich bat die füllige Zimmerkellnerin, mir eine Thermosflasche Espresso zu bringen, stellte meinen Laptop auf das Tischchen und fing an zu tippen, Tupelo zu meinen Füßen. Die Worte hüpften mir aus den Fingern. »Janice Donahue wirkt jünger, als sie ist …« begann ich meine ausführliche, wenn auch arg nachträgliche Zusammenfassung der faktengebundenen und unverbrämten psychologischen Fallgeschichte einer Serienmörderin. Ich schloß am frü365
hen Morgen mit einer speziellen Pointe, wie sie in Gutachten zu Schuldfähigkeit eher selten ist. In den Medien hatte mir das bereits eine gewisse Berühmtheit eingebracht, weil die Journalisten glaubten, ich könne Verbrechen vorhersagen. Ich sagte also Janices nächste Tat voraus. Das fertige Gutachten faxte ich an Gideon, die Staatsanwaltschaft, an das Gericht und an Kates Kanzlei. Trotz meiner ausgefeilten Abwehrmechanismen konnte ich meine Gefühle auf Dauer nicht niederhalten. Wir waren fast am Ziel, noch eine Stunde südlich von Sandy Port. Debby saß am Steuer, und Tommy und Tupelo ratzten auf der Rückbank. Über viele Meilen hatte ich mit wachsender Angst vor mich hingesprochen, wie ich mit Janice nach der Ankunft fertig werden wollte. Zu planen gab es wahrhaftig nichts mehr. Es blieb uns beiden nur noch unsere nackte Angst. Debby brach als erste zusammen. Kate war für sie die große Schwester. Eine Mutter hatte sie eigentlich nie gehabt. Kate war seit Jahren ihre Freundin und Vertrauensperson. »Lieber Gott, Simon, wie sollen wir weitermachen, wenn sie Kate umbringt?« Das Schluchzen schüttelte sie derart, daß ich sagte, sie solle rechts ranfahren und halten. Ich packte sie bei den Schultern und drehte sie zu mir herum. »So was dürfen wir nicht mal denken«, sagte ich so fest wie möglich. »Ich muß in der Überzeugung da ran, daß ich Janice aufhalten kann. Du hast eins noch nicht kapiert: Ich kann nicht weiter, wenn Kate stirbt.« Die Wirkung war, daß Debby schlagartig zu schluchzen vergaß. »Was soll das heißen, Simon?« 366
»Du weißt noch nicht alles, auch weil es so neu ist. Ich habe noch nicht die Worte dafür. Ich hab Kate lieb.« »Klar, weiß ich, ist doch schon immer so.« »Ja, aber jetzt ist mehr daraus geworden. In unserer Woche oben in der Hütte, da hat’s gefunkt, Debra. Ich liebe sie richtig.« »Ach Simon!« Sie kam über den Vordersitz gerutscht und umarmte mich. »Simon, wie mich das für dich freut!« Sie sah mich an und riß die Augen auf. »Heiliger Strohsack!« Sie glitt ebenso rasch wieder hinters Steuer, wischte sich die Tränen ab und legte den Gang ein. »Und wir sitzen hier herum! Wir müssen weiter. Nichts wie hin! Erzähl es mir unterwegs!« Aber ich bekam kein Wort mehr heraus. Ich hatte eben schon alles gesagt: »Ich liebe sie richtig.« Und indem ich mich das selbst aus meinem tiefsten Inneren sagen hörte, erst zum zweiten Mal in meinem Leben, brach etwas in mir auf. Ich konnte sie verlieren. Ich konnte Kate verlieren. Meine geliebte Kate. Mir wurde eng um die Brust. Mich packte ein Schmerz, so alt und so tief, daß ich nicht mehr wußte, wie noch Luft holen. Ich verpreßte den Herzschmerz mit beiden Fäusten auf der linken Brust, und dann schwebte ich über eine Schwelle. Ich war nicht mehr im Auto. Sondern in einer winzigen Studentenbude, zwanzig Jahre früher. Ich kam gerade herein, heim von einem Abendseminar. Wir waren seit zwei Monaten verheiratet, und der Himmel hing voller Geigen. Das Leben war so schön. Der Drehknauf der Wohnungstür war nicht abgeschlossen gewesen, toll, weil ich meinen Schlüsselbund vergessen hatte. Wieder mal Schwein gehabt. 367
»Zora!« rief ich. Keine Antwort. Da ist sie ja, im Bad. Das Weib liebt die Wanne. Wieder mal eingepennt. Liegt da bestimmt schon stundenlang drin. Die Haare schon wieder trocken. Die Lippen blau. Dornröschen mal wachküssen. So kalt die Lippen. Und schmecken bitter. Wie ein Schlag ins Gesicht. Das Fläschchen Gelatinekapseln auf dem Wannenrand, die roten, starken. Fast leer. Zieh sie aus dem Wasser. Rüber aufs Bett. Atem riecht nach Chloralhydrat. Gott sei Dank, atmet aus. Atme, Schatz, atme. Atme, Schatz. Atme. Deck sie zu. Ins Bett. Schön warm ist sie, nicht so kalt, wie ich erst dachte. Ist gut. Tote sind kalt. Puls. Scheiße, kein Puls. Bin viel zu zittrig, ihn zu tasten. So lange sich ihre Brust hebt und senkt, ist alles in Ordnung. Doch da rührt sich nichts. Oberkörper aufstützen. Atemwege freimachen. Zählen, weiter zählen. Atme, Zora. Jetzt hebt sich die Brust. Gut. Solange wir zusammen atmen, lebt sie. »Notarzt!« brülle ich, zwischen der Mund-zu-MundBeatmung, hoffentlich hören es die Nachbarn. »Notarzt!« Küß sie. Rechte Backe. Linke Backe. Keine Reaktion. Solange wir zusammen atmen, lebt sie. Bleib am Leben. Ja doch, wir fahren nach Peru. Atme, Zora, atme. Kein Atem. Komm zurück, Zora. Zeit zum Aufwachen. 368
Küß ihre Augen. Komm schon, Zora, sieh mich an. Geh nicht weg! Verlaß mich nicht! Martinshorn. Sanitäter. Jemand hat mich gehört. Gott sei Dank. »Schaffen wir sie raus da.« Nicht so grob. Ist schlaff wie eine Stoffpuppe. Martinshorn. Rücksitz im Rettungswagen. Da hab ich nicht mehr gesessen, seit … »Gib mal die Maske rüber, Kumpel.« Maske. Sauerstoffmaske. Zischen. Maske ab. Atmet nicht. Sanitäter schlägt mit der Faust in die Herzgegend. Zora nicht schlagen. Tust ihr weh. Nicht auf die Brust schlagen. Das heißt, sie ist … »Code blau«, funkt der Sanitäter. Sag das nicht, hau sie auf die Brust, aber sag nicht das. Heißt PUV. Patient unterwegs verstorben. Als ich zu mir kam, kauerte ich vornübergekrümmt auf dem Beifahrersitz, die Arme um den Leib geschlungen, und heulte wie ein kleines Kind, im Nacherleben meines Verlusts. Nach zwanzig Jahren. Zwanzig lange Jahre alles verdrängt, und zum ersten Mal litt ich Todesschmerz. Mir war, als würde mir Lebendiges aus dem Leib gerissen. Ich weiß nicht mehr, wie lange das so ging mit mir. Am Ende faßte ich mich und nahm die Umgebung wieder wahr. Mir fiel auf, die Karre schlingert ja auf der vereisten Straße wie verrückt. Debby schleudert um die letzte Kurve, und die Hütte kommt in Sicht. 369
32 Ich hätte gern einen Liter Baldriantee geschluckt, bevor ich ihr gegenübertrat. Da ich keinen zur Verfügung hatte, nahm ich Zuflucht zu meiner jahrelangen Meditationserfahrung, und sie tat mir den Gefallen. Ich machte drei lange, tiefe Atemzüge, und mein Kopf war ganz leer. Noch ein Stoßgebet, dann küßte ich Debby auf beide Backen und stieß die Autotür auf. »Willst du uns wirklich nicht dabeihaben?« fragte sie zum hundertsten Mal. »Wirklich nicht. Wart hier draußen. Halt dich warm. Und wenn Tommy aufwacht, soll er auch warten. Ich muß da allein rein. Wird schon klappen.« Obwohl ich so unter Druck stand, konnte ich mich dem Reiz der Landschaft nicht entziehen. Ich nahm auf, wie die Sonne in den Eiskristallen glitzerte, welch lange Schatten die kahlen schwarzen Äste auf den Neuschnee warfen. Ich schlug den Pfad zu den Stufen vor der Haustür ein. Ich probierte den Knauf, die Haustür war nicht abgeschlossen. ein Herz setzte einen Schlag aus, als ich mich zwang, nicht an jene andere unverschlossene Tür zu denken. Ich trat ein. Ein Feuer prasselte im Kamin. Sonst war es still im Haus. Wegen der zugezogenen Vorhänge verbreitete das Feuer im Wohnzimmer einen warmen gelbroten Flackerschein. Der Rollstuhl stand zum Kamin hin, daher konnte ich von der Tür aus nur ihren Rücken sehen. Ich bemerkte die hinter die Ohren zurückgesteckten Härchen und hätte sie am liebsten gleich gekrault. Als ich die Tür hinter mir 370
zuklinkte, legte sie ihr Buch auf den Beistelltisch neben sich, mit den aufgeschlagenen Seiten nach unten. Ich brach ungern den Zauber der Stille, aber ich war so erleichtert bei ihrem Anblick, daß ich was sagen mußte. »Hallo, Kate.« Ich tat einen Schritt nach vorn, und sie schwang mit dem Rollstuhl zu mir herum. Ich verharrte wie angewurzelt. Die Angst begann mich zu würgen, und ich mußte sie erst hinunterzwingen. Mir schoß die Filmszene aus Der Exorzist durch den Kopf, wo aus den Augen des kleinen Mädchens urplötzlich der Dämon zurückstarrt. Im Rollstuhl lächelte Janice und streckte die Arme nach mir aus. Hervorragend einstudiert. Im Gerichtssaal hatte sie bestimmt ein dutzendmal beobachten können, wie Kate mich begrüßt, und sie hatte fleißig geübt. Als ich sie so sehen mußte, in Kates Bademantel, die Haare genauso geschnitten und zurückgeföhnt, wäre ich fast durchgedreht. Aber ich fing mich augenblicklich wieder. Der Überraschungseffekt ihres Ersten Akts war gelungen. Janice ließ die Arme sinken, als ihr klar wurde, daß von mir keine Umarmung kam. Sie stand auf und schleuderte die Wolldecke von sich, die über ihren Beinen gelegen hatte. Sie blieb mitten im Zimmer stehen und beobachtete mich scharf. Der Morgenmantel machte mir zu schaffen. Vielleicht hatte sie eine Uzi drunter. Oder sie war splitternackt, die womöglich widerwärtigere Alternative. Sie wies mich in einen Sessel, der direkt gegenüber der Tür zu Kates Schlafzimmer stand. Wie weit würde sie gehen? Ich studierte die Kunst an den Wänden, noch nicht so recht entschlossen, mich zu setzen. Unauffällig versuchte ich im Krebsgang seitwärts zum Schlafzimmer zu gelan371
gen. Aber Janice machte meine Bewegung mit und hielt sich zwischen mir und der Tür. Ich tat, als wolle ich in die Küche, und schlug dann einen Haken zum Schlafzimmer. Sie vertrat mir den Weg, packte mich am Arm und führte mich zum Sessel. Ich mußte mich vergewissern, ob wir im Rollenbuch auf derselben Seite waren. »Du möchtest wohl jetzt keinen Kaffee?« Offenbar liegt es bei den Donahues in der Familie, zum Laientheater Erfrischungen anzubieten, zur Einstimmung des Publikums. Ich schüttelte den Kopf. »Nein, Janice.« Sie setzte sich aufs Sofa. »Und wie geht es dir so, Simon?« Nur Janice kann in so einem Moment Konversation machen. »Janice, weißt du, warum ich hergekommen bin?« »Ja. Ich hab immer gewußt, du kommst, wenn ich dich nötig brauche, und das ist jetzt buchstäblich meine Stunde der größten Not.« Mit hochgezogenen Brauen wartete sie darauf, wie ich reagieren würde. Von mir kam aber nichts. »Ich muß wieder in die Klinik, Simon. Du kommst, um mich fortzubringen von alledem hier.« »Ich komme Kate holen. Die will ich fortbringen von alledem hier.« »Natürlich, hab ich gewußt. Und ich geb sie dir. Ich versprech’s dir. Indianerehrenwort.« Sie legte die Hand dorthin, wo das Herz ist, wenn man eins hat. »Ich muß es doch irgendeinem Menschen sagen«, seufzte sie. Ich muß es doch loswerden.« Nicht irgendeinem. Mir. Mit einem Nicken bekundete ich, ich sei ganz Ohr. 372
»Wo soll ich anfangen?« Ich zuckte die Schultern. »Ist deine Vorstellung.« »Vielleicht mit dem Anfang«, bot sie an. »Aber mit welchem?« Ich zuckte wieder die Schultern. »Wie wär’s mit der Entlassung aus der Klinik? Obwohl, da weißt du das meiste schon.« Ich legte den Kopf erwartungsvoll schräg. »Nach der Entlassung hab ich bei Daddy gewohnt, in diesem schrecklichen Hotel. Nein, können wir überspringen, weißt du alles. Damals hab ich dich ja besucht. Und dann hab ich meine Rundfahrt mit Amtrak gemacht. Vielleicht sollte ich da anfangen. Okay. Zuerst hab ich die Tabletten weggelassen. Weiß schon, hätt ich nicht sollen, aber ich war so froh, wieder draußen zu sein. ch hab gedacht, das Zeug brauch ich nicht mehr. Verkleistert mir bloß das Hirn. Wirklich helfen tut es nicht.« Erster Schritt, die Neuroleptika absetzen. »Eigentlich war es ja Moms Idee. Sie hat gleich gewußt, ohne diese Chemie geht’s mir besser.« Zweiter Schritt, Mom ins Spiel bringen. »Ich glaub, das erste Mal, wo ich ihre Stimme wieder gehört hab, das war noch im Zug. Sie war froh, daß wir Abstand zwischen uns und Daddy bringen. Sie hat gemeint, er ist lieb, aber senil. Sie hat gesagt, wir müßten jetzt ein bißchen Zeit füreinander haben. Nur wir Mädchen allein. So hat sie sich jedenfalls ausgedrückt.« Dritter Schritt, »die Stimme« reaktivieren. Den Quilt der Schuldunfähigkeit um einen weiteren Flicken komplettieren. »Sie war wirklich nett, hat mich aufgebaut. Hat sich so gefreut, daß ich dich wiedergefunden hab. Hat mir gesagt, 373
du liebst mich immer noch und ich brauch bloß machen, was sie sagt, und alles wird gut. Schon in Ohio hat die Zugfahrt keinen Spaß mehr gemacht, und ich hab Daddy angerufen. Aber der hat bloß rumgejammert. Hat gesagt, was soll er jetzt noch in New York, wo ich doch wieder auf eigenen Füßen stehe. Er will wieder heim nach Michigan. Mom hat gesagt, ich soll zurück nach New York, also bin ich gefahren. Und in die Wohnung gezogen, schräg gegenüber von dir. Und da hab ich dann diesen Blödsinn angestellt. War absolut kindisch von mir, weiß ich jetzt auch.« Schon wieder so ein Triumph der Erkenntnis. »Es ist halt so, daß ich mich bei dir sicher fühle. Nachdem Daddy wieder weg war, hab ich gedacht, niemand kann mir was tun, wenn ich in deiner Nähe bleibe. Aber ich hab mich geirrt. Du hast mir was getan! Da ist Mom stocksauer geworden. Sie ergreift immer Partei für mich, weißt du. ›Dem zahlen wir’s schon noch heim‹, hat sie gesagt. ›Du könntest ja dieses Teiggesicht von Tochter mal ordentlich aufmischen.‹« Also erwogen hatte sie es. Wenigstens in diesem Punkt hatte ich nicht kraß danebengelegen. »Aber Debby ist von der Bildfläche verschwunden. Und als wir gerade so am Reden waren, was wir machen sollen, sieht Mom Tupelo draußen vorm Haus rumschnüffeln. Da hab ich das Ohr abgeschnitten. Mom hat gesagt, geschieht dir ganz recht. Und dann war mir wieder ein bißchen besser, als du am Morgen danach mit mir runter zum Fluß gegangen bist. Du hast mir echt zugehört. Hinterher hat Mom gesagt: ›Siehst du, hab ich’s dir doch gleich gesagt, du mußt den Männern nur zeigen, daß du es ernst meinst, sonst tram374
peln sie bloß rum auf dir.‹ Egal, die ganze Geschichte mit dem Hund ist ja nicht so wichtig.« War sie aber. Für Tupelo. Und für mich. »Es ging mir doch nur darum, dir klarzumachen, daß wir beide zusammenkommen müssen. Aber dann bist du am gleichen Abend abgehauen, mit Koffer. Mom war außer sich. ›Beschatt ihn. Laß ihn nicht entwischen!‹ hat sie geschrien. Und so hab ich die Wahrheit rausgekriegt. Über dich und Katherine.« Kates Namen zischte sie. »Mom wurde sauwütend. Hat mich dauernd unter Druck gesetzt. Hat gesagt, ich tauge zu gar nichts. Hat mich beschimpft. Hat gesagt, ich muß das geregelt kriegen.« Janice lehnte sich zurück und sah mich erwartungsvoll an. Ich wußte meinen Text auch ohne Stichwort. Jetzt sollte ich fragen, was Mom denn damit meinte. Aber ich hielt mich an meine eigene Rollenvorgabe. Der schweigende Zeuge. »Okay, dann sag ich’s dir halt.« Ich hatte es ja gewußt, es war Verlaß auf sie. »Sie hat gesagt, alles ist bloß fürchterlich schiefgelaufen. ›Dieses Weib, dieser Putzlappen, diese alte Schachtel in ihrem Elektrorolli, die macht sich breit in dem Leben, das dir zusteht!‹« Nur mit Mühe beherrschte ich mich. Am liebsten hätte ich sie erwürgt. »Zuerst wußte ich gar nicht, was Mom damit meint. Ich hab nicht gewußt, was sie von mir will.« Viel zu bescheiden. Freilich hatte sie es gewußt. »Ich bin sogar Bev und Will besuchen gefahren, weißt du, um rauszubekommen, ob ich es nicht doch mit ihm probieren soll. Er war so reizend, als er mich in der Klinik besucht hat. Und eine Weile ist es ganz toll gelaufen. Aber dann sagt mir Mom, ich vergeude da bloß meine Zeit. 375
Wenn ich das mit Katherine nicht geregelt kriege, bin ich die totale Versagerin, die Null, tauge zu nichts, bin’s nicht wert zu leben.« So also lief der Hase. Nur diese eine überwältigende Wahnvorstellung, in die Ohren geblasen von der Mutter aller Mütter. Da war die Vorbereitung ja schon fast perfekt. »›Hör mal, du Flittchen!‹ hat Mom geschrien, ›was bist du bloß für eine, überläßt deinen Mann einer andern? Hast du denn überhaupt keinen Stolz, keinen Charakter? Krieg das geregelt, du saublödes Luder. Krieg das geregelt, oder du siehst nur noch Scheiße im Leben!‹ Ich hab mich gewehrt, solange ich konnte«, seufzte sie ermattet. »Ich wollt ihr doch nicht schon wieder nachgeben. Aber sie hat einfach nicht lockergelassen, und da hab ich gedacht, vielleicht hat sie ja recht. Aber trotzdem hab ich noch nicht so recht gewollt, und da hat Mom wirklich die Sau rausgelassen.« Janice fing sachte an zu pendeln. »Sie hat mich in einem fort angebrüllt. ›Hör her, du Fickbiene. Mach die Fliege hier, fahr endlich hin! Krieg das geregelt‹, hat sie geschrien, ›oder ich laß dir keine ruhige Minute mehr. Da kannst du Gift drauf nehmen. Regel das endlich, ein für allemal!‹« Diesmal hatte Janice mir nicht nur mitgeteilt, was ihre Mutter gesagt hatte. Sie hatte es gekreischt, ganz wie Margery. Es lief mir kalt den Rücken hinunter. Schon bei Wills recht ähnlicher Stimmenimitation war mir fast das Blut gestockt. »Also hab ich ihr gehorcht. Ich bin gefahren, und zwar hierher, wie sie es mich geheißen hat. Katherine wollte mich nicht reinlassen. Ich hab mich bei ihr entschuldigt für den vielen Ärger, den ich gemacht hab. Ich hab ihr gesagt, 376
ich hätte ein sehr langes Telefonat mit dir gehabt und hätte jetzt endlich Klarheit im Kopf. Ich hab ihr gesagt, du holst gerade deine Tochter ab und du wolltest dich mit ihr treffen, in New York. Aber sie wollte mir einfach nicht glauben. Sie war so scheißmißtrauisch.« Janice pendelte jetzt rascher. »Sie hat mich dauernd gefragt, woher ich weiß, wo sie zu finden ist. Hat wohl nicht viel Phantasie. Ich hab ihr gesagt, ich hab ihren Kanzleifritzen überzeugt, daß ich so eine Art Krise hätte. Wo wir doch so alte Freundinnen sind. Aber sie hat mich noch immer nicht an sich vorbeilassen wollen, ins Haus. Mir ist so arschkalt, und das Aas verstellt mir den Weg mit ihrem verdammten Rollstuhl! Dann hat Mom gesehen, wie sie in die Tasche langt, und mich angeschrien: ›Paß auf, du blöde Kuh! Siehst du denn nicht, sie hat eine Kanone! Tu endlich was!‹ Da hab ich sie umgeschubst. Freilich hatte sie eine Pistole, ist ihr aber beim Umkippen aus der Hand gefallen. Die hat sich vielleicht gewehrt! Hat richtig Kraft. Aber ich kann meine Beine gebrauchen, im Gegensatz zu ihr, und da hab ich sie am Ende untergekriegt und bewußtlos geschlagen. Ich wollte ihr was antun, aber Mom hat mich gestoppt. Sie hat gesagt, ich soll auf dich warten, sonst läuft alles verquer. ›Spritz ihr das Zeug, das du dir besorgt hast. Das stellt sie ruhig.‹ Ich hab ihr intravenös Valium gegeben und ihr die Hände hinterm Rücken gefesselt. Die Beine konnte ich mir schenken, mit denen kann sie eh nichts ausrichten. Dann hat Mom gesagt, ich soll ihr zu trinken einflößen, bevor ich sie kneble. Wollte ich nicht. Sie sollte gefälligst leiden, aber Mom war hartnäckig. Und da mußte ich halt. Und dann hab ich auf deinen Anruf gewartet. Ich hab gewußt, du kannst zwei und zwei zusammenzählen.« 377
Mir kam die Galle hoch, ob Kates Leiden und Entwürdigung. Doch das Spiel ging jetzt gleich zu Ende, und ich durfte mich nicht ablenken lassen. Der Quilt war fast komplett. Erstens: Die Tabletten absetzen. Zweitens: Die Stimme zurückholen. Drittens: Sich von ihr einblasen lassen, eine andere Frau macht sich in dem Leben breit, das ihr zusteht, und nimmt ihr den Mann weg. Nicht gerade eine komplexe Wahnvorstellung, wirklich nicht. Für Geschworene leicht nachvollziehbar. Nur ein Flicken fehlte noch. Sie hatte sich für alles rückversichert, was sie bisher getan hatte. Jetzt mußte sie nur noch die Erklärung für das liefern, was sie im Schilde führte. Sie sah zum Schlafzimmer und wieder zu mir. »Jetzt, wo du hier bist, will sie von mir …« Sie wirkte verwirrt. »Hilf mir, Simon, ich hab solche Angst.« Sie starrte an mir vorbei, blickte kurz abwesend, dann gab sie sich einen Ruck, wie von weit her. »Alleine komm ich nicht gegen sie an. Sie schafft mich jedesmal. So hilf mir doch«, bettelte sie. Als sie geendet hatte, schlug sie die Augen nieder. Applaus nach dem Zweiten Akt. Jetzt war die Vorbereitung perfekt.
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33 Der Vorhang hob sich zum Höhepunkt und Schlußakt. Janice murmelte vor sich in. Die Worte konnte ich nicht verstehen. Sie schaukelte rhythmisch zu einer Melodie, die ich nicht vernahm. Ihr Oberkörper zuckte zunehmend willentlich, und sie nickte und warf den Kopf zurück wie bei einem Heavy-Metal-Konzert. Das Schaukeln verlangsamte sich, und ein verhalten kehliges Stöhnen entrang sich ihr. Ihr Gesicht verzog sich zu einem tückischen Grinsen. Sie lachte los, nicht laut heraus, nicht fröhlich, eher wie ein makabres Glucksen. Sie fixierte den Blick auf einen unsichtbaren Lichtpunkt. »Janice?« Nur mal prüfen. Keine Antwort. Weggetreten. Ihr Blick wurde so leer wie der eines Psychoanalytikers. Noch ein paarmal schaukeln, stöhnen und murmeln, und sie begann klar und deutlich zu sprechen, auch für die Stehplätze ganz hinten: »Nein, Mom, ich tu es nicht. Kannst du nicht von mir verlangen.« Sie schüttelte heftig den Kopf. »O nein«, stöhnte sie und schlug die Hände vors Gesicht. Sie schluchzte, oder zumindest schüttelte es sie. Dann wurde sie wieder starr, steinern. Sie setzte sich kerzengerade auf und ließ die Hände in den Schoß fallen. Die Wimperntusche lief ihr mit den Tränen herunter. Stille. »Janice?« Noch mal prüfen. Ich wäre enttäuscht gewesen, hätte sie geantwortet. Sie enttäuschte mich nicht. 379
Sie erhob sich wie ein Roboter, ein schlecht geölter. Sie ließ Kates Morgenmantel fallen und enthüllte schwarze Lederhosen und ein buntes Flatterhemd. Eine Uzi hatte sie nicht darunter. Aber ein nagelneues Fischmesser, blitzblank. Sie stieß einen Schrei aus, durchdringend wie eine Trillerpfeife, der mich wohl aufspringen lassen sollte. Schreien beherrschte sie gut. Im Handumdrehen war sie an der Schlafzimmertür und drückte langsam die Klinke hinunter. Ich beobachtete sie vom Sessel aus. Schließlich war ich das Publikum. Sie sah verblüfft zu mir her, ihr Blick fragte: »Verdammt noch mal, warum bleibst du da hocken? Unternimm was!« Meine Augen antworteten, ich bin Psychoanalytiker. Ich enthalte mich jeden Eingreifens. Ich beobachte nur. Dann stand ich doch auf, aber nur der besseren Sicht wegen. Da riß Janice rasch die Tür auf, ein bißchen zu theatralisch. Von drinnen hörte ich ein tiefes, gedämpftes Stöhnen. Jede meiner Körperzellen wollte hinzuspringen, doch ich hatte mich noch immer im Griff. Janice wurde unschlüssig. Sie kam ohne mich nicht weiter. Wenn ich nicht jede Einzelheit mitkriegte, würde ich ihr als Augenzeuge wenig nützen. Sie drehte eine Pirouette wie im Ballett, in grotesker Zeitlupe. Ich rechnete mir noch etwa sieben Sekunden aus, um eine Hinrichtung zu verhindern. Sie drehte sich allmählich schneller und murmelte dazu, erst unverständlich, dann halblaut. »Nein, Mutter. Nein, Mutter. Nein, Mutter.« Sie hob die Lautstärke ihres Sing380
sangs und versetzte sich in eine Kreiseldrehung. Deren Ende würde gewiß auch Kates Ende sein. Sie wirbelte ins Schlafzimmer. Mit zwei schnellen Schritten war ich dort. Kate lag rücklings auf dem Boden. Geknebelt und auf gefesselten Händen liegend, stierte sie benommen um sich wie jemand, der aus der Narkose aufwacht. Gott sei Dank war sie bei Bewußtsein. Margery hatte es offenbar für entbehrlich gehalten, ihr noch mehr Valium zu spritzen. Immer noch mit dem Singsang »Nein, Mutter. Nein, Mutter«, vollendete Janice ihren Ballettkreisel und ließ sich neben Kate niederfallen. Das Fischmesser verharrte über Kates Brust. Meine sieben Sekunden waren um. »Hör zu, du Flittchen!« kreischte ich in höchster Lautstärke und so schrill ich konnte. Hörte sich an wie eine Einbrechersirene mit Sprachprogramm. Janice starrte mich an, in blinder Wut, weil ich ihr die Todesszene verhunzt hatte. Die Messerspitze entfernte sich keinen Millimeter von Kates Pullover. Kate ächzte durch den Knebel. »Hör mir jetzt mal gut zu«, herrschte ich sie an. »Dein Leben könnte daran hängen. Janice, du brauchst mich nötig, und wenn du nicht auf mich hörst, garantiere ich dir, du verrottest den Rest deines Lebens hinter Gittern.« Sie war sich unschlüssig über ihren nächsten Zug. Es hatte sie erst verblüfft, dann wütend gemacht, daß ich sie mit Margerys Kreischen abgelenkt hatte. Doch etwas in ihrem Innern mahnte sie zugleich. Ich hatte ihr immer nur die Wahrheit gesagt. Ihr linker Arm zitterte von der Anspannung, sich in der Hockstellung zu halten. Der rechte hielt das Messer stetig über Kates Brust. Aber sie war ganz Ohr. 381
»Folgendes ist deine Rechtslage: Erstens«, ich reckte den rechten Daumen, »machen sie dir wegen Dennis und Sean keinen Prozeß mehr. Zweimal in derselben Sache geht nicht. Zweitens«, reckte ich den Zeigefinger, »wohl aber wegen deiner Mutter. Kinderleicht zu beweisen. Mord verjährt nicht. Augenzeugen gibt’s keine, aber einen Ohrenzeugen. Der will auch gegen dich aussagen, und seine Aussage ist hieb- und stichfest.« Hoffentlich behielt ich recht. Ich sah sie zusammenzucken, als ich Will erwähnte. Ausgezeichnet. »Drittens: Falconi. Vorsätzliche Körperverletzung ist kein Pappenstiel. Ein intelligenter, beredter Zeuge, und seine entstellte Visage beeindruckt die Geschworenen bestimmt. Viertens: Tupelo. Gilt zwar nur als vorsätzliche Sachbeschädigung, aber die Zusammenschau deiner hemmungslosen Greueltaten entlarvt dich unweigerlich als Simulantin. Entspricht Diagnose Nummer V65.20 nach dem Handbuch, das du ja bestens kennst. Ich helf dir aber gern auf die Sprünge. Unter die genannte Kategorie fallen Gemütszustände, die nicht auf Geisteskrankheit zurückzuführen sind. Anders gesagt, diese Standarddiagnose verbaut dir jede Möglichkeit, auf Schuldunfähigkeit zu plädieren. Kommen wir also zu Punkt fünf, zu Kate.« Ich spreizte jetzt alle Finger der rechten Hand. »Läßt du das mit Kate sein, hast du den Hauch einer Chance. Tust du es doch, ist für dich endgültig Feierabend.« Sie erwog meine fünf Punkte. Hatten ja eine gewisse Logik, die ihren Verstand ansprechen sollten. Dachte sie allerdings zu lang darüber nach, ging ihr womöglich auf, daß zwar alles richtig war, deswegen aber noch lange nicht ihr Motiv entfiel, Kate umzubringen. 382
Dafür sorgte ich, noch ehe sie zu Ende gedacht hatte: »Bei dir in der Wohnung steht ein Exemplar von Mother Jones mit dem Artikel über mich. Weißt du noch, um was es dabei geht?« Brachte ich sie dazu, auf mich einzugehen, auf die Frage zu antworten, war ihr selbstinduzierter psychotischer Zwangsablauf unterbrochen. Dann konnte ich umschalten auf Phase zwei, die mir eben eingefallen war. Doch sie zeigte keine Reaktion. »Sag, um was es in dem Artikel über mich geht!« donnerte ich, als sei ich ihr Lehrer und dies die wichtigste Prüfung ihres Lebens. »Prognosen«, maulte sie, ganz die verstockte Schülerin. »Richtig.« Ich hielt meinen Tonfall getragen und beherrscht. »Die nennen meine Vorahnungen beklemmend. Mit der Einschränkung, ich könnte auch ohne klinische Erkenntnisse rein zufällig ins Schwarze getroffen haben. Irrtum. Den Beweis hab ich inzwischen erbracht. Ich hab auch über dich ein Gutachten geschrieben, Janice, und es an alle zuständigen Stellen gefaxt, an den Bezirksstaatsanwalt, ans Gericht und an einen Bekannten von der Mordkommission. Dieser Bericht berichtigt deine Akte. Er faßt deine wahre Krankengeschichte zusammen, aber das hatten wir schon, unter Punkt eins bis fünf. Ich diagnostiziere dich als abgefeimte Simulantin mit ausgeprägt soziopathischen Persönlichkeitsmerkmalen. Aber der Knackpunkt kommt erst noch. Ich hab nämlich noch was an deine Prognose drangehängt. Mal sehen, ob ich es auswendig zusammenbringe. Also Gänsefüßchen Anfang: ›Mit hinreichender forensischer Gewißheit ist davon auszugehen, daß die Beschuldigte‹ – das bist du – ›versuchen wird, Katherine Newhouse 383
lebensbedrohlichen Schaden zuzufügen. Ihre Handlungen hierbei gehen ebensowenig wie die bereits geschilderten Kapitalverbrechen und Straftaten auf Geisteskrankheit zurück.‹ Gänsefüßchen Ende. Laß auch nur einen Tropfen von Kates Blut fließen, und du bist todsicher dran. Da hab ich vorgesorgt. Wenn du es nicht glaubst, ruf Lieutenant Gideon Dove von der New Yorker Mordkommission an. Er hat Dennis persönlich gekannt, und dich kennt er auch.« Ich nannte ihr seine beiden Telefonnummern, dienstlich und privat. »Kannst du ruhig machen. Ich bring dir gern das Telefon rüber.« Sie wurde fahl, während es hinter ihrer Stirn ratterte. »Das hast du getan, echt?« Unglauben in der Stimme. »Ja.« Bis jetzt noch keine Lüge von mir. »Aber ich hab geglaubt, du magst mich. Warum nur?« »Weil ein Ende sein muß, Janice. Hast du kein Einsehen? Die Sache muß aufhören. Aus deinem Wunschtraum wird nichts. Leg das Fischmesser weg, und du hast eine Chance. Tu ihr was, und du bist erledigt, ein für allemal.« Sie schien ratlos und enttäuscht. Aber Anstalten, das Fischmesser loszulassen, machte sie keine. Sie umkrampfte es fester denn je. Sie verlagerte das Gewicht von einem Knie auf das andere, und ich sah, gleich würde sie ausbrechen wie ein Vulkan. Ich mußte die Eruption in geordnete Bahnen lenken. »Tut mir leid, daß ich es sein muß.« Gelogen. »Aber irgendwer mußte dich ja entlarven. Du simulierst. Du bist nicht geisteskrank, bist es nie gewesen, obwohl, gestört bist du schon. Zutiefst gestört. Tut mir leid, daß ich es sein muß.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich will dich nicht anlügen. Es tut mir nicht im mindesten leid, daß ich es sein 384
muß. Was jetzt mit dir wird, geschieht dir ganz recht. Im Grunde bist du bloß ganz banal bösartig. Du wirst keine ruhige Minute mehr haben im Leben. Dafür werde ich sorgen. Hab ich ja schon. Der Frauenknast ist gerammelt voll von stinkendem Gossendreck wie dir.« Darauf sprang sie an. »Du Sauhund!« zischte sie. Nun hatte ihre Wut ein Ventil gefunden. Mich. Sie stand auf und ging mich von rechts an. Sie war jetzt so außer sich, daß sie nicht merkte, wie Kate sich zum Bett wälzte. Sie erhob das Messer über den Kopf und sprang mich an. Ich deckte wie ein Boxer Gesicht und Brust. Ich wußte nicht, wie mich wehren. Nur eins war klar: Ich mußte sie von Kate ablenken. Lieber sterben als Kates Tod verkraften. Das Weitere nahm ich wahr wie in Zeitlupe, und es kam mir vor wie ein Jahr. In Wirklichkeit spielte sich alles binnen Sekunden ab. So blitzartig, daß alles vorbei war, noch bevor es weh tat. Janice stach zu. Kate hatte sich aufgesetzt und stützte sich mühsam auf ihre gebundenen Hände. In einer Bodengymnastikübung schwang sie beide Beine kreisförmig und traf Janice an den Knöcheln, wodurch diese das Gleichgewicht verlor, nicht aber ihren Schwung nach vorn. Ich deckte mit der Linken meine Genitalien und prellte mit der Rechten den Arm mit der niedersausenden Klinge. Mit halbem Erfolg. Die Linke wurde mir vom Messer an den Oberschenkel genagelt. Sah aus wie eine von Janices blutigen Pinnwandnotizen. Ich preßte die gespießte Hand gegen den Schenkel und riß mit der andern das Messer heraus. Blut quoll mir durch den Jeansstoff zwischen den Fingern hervor. Der Schmerz kam nicht gleich. Er war weit entfernt und dumpf. Meine Knie gaben nach, und ich fiel hin. 385
Janice rappelte sich auf und wollte zur Tür. Ein Schuß krachte. Sie schrie vor Wut und Frust. Dann knickte sie um und umklammerte ihren Fuß. Verblüfft sah ich zu Kate hinüber. Sie lag auf der Seite, die Arme wie bei einem Schlangenmenschen verrenkt, die Pistole kaum sichtbar seitwärts an der Hüfte. »Wo hast du denn die her?« »Von unterm Bett.« »Wie viele davon hortest du denn?« fragte ich. »Du hast gut reden. Du kannst notfalls weglaufen.« Sie schloß die Augen. Inzwischen war Janice durchs Wohnzimmer gekrochen, eine Blutspur auf dem Teppich hinterlassend. Ich wankte zur Haustür, um sie am Fliehen zu hindern, stolperte aber, stürzte und konnte mich nicht mehr rühren. Sie entkam! »Na, du Miststück, wo willst du denn hin?« hörte ich Tommy draußen fragen. Und fiel in Ohnmacht.
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34 Debby blieb unter meiner Tür kurz stehen. Ein verschossener olivgrüner Packsack baumelte ihr über die Schulter, voller Bücher und Skripten. »Bis später. Muß in der Bibliothek was recherchieren.« »Irgendwelche Pläne für nachher?« erkundigte ich mich. »Ich treff mich mit Bobbi im Bella Italia. Heute ist der letzte Tag, den Tommy dort spielt. Kommst du auch?« Von meinem Fensterplatz sah ich hinüber zu Kate. Mit der dampfenden Kaffeetasse in der Hand thronte die Königin der Sonntagsblätter mitten auf meinem Wasserbett, in einem Meer von Zeitungspapier. Sie sagte nicht piep, doch ihre Oberlippe sprach Bände. Inzwischen konnte ich schon viel besser zwischen den feineren Nuancen des Lippenkräuselns unterscheiden. »Nein, ich glaube, wir bleiben heute hier«, sagte ich zu Debby. »Bestell Tommy, er soll sich nicht so rar machen. Trotzdem vielen Dank.« Debby dippte die Augendeckel zum Gruß und schoß einen verständnisinnigen Blick zu mir herüber. Dann machte sie, in ihrer gekonntesten Greta-Garbo-Imitation: »Ich sehe schon, ihr möchtet für euch sein.« Und schlich auf Zehenspitzen hinaus. Kate lächelte mich an. »Kann sie wirklich gut. Müssen die vielen Jahre vor dem Videorecorder sein.« »Auf die Garbo ist sie schon immer abgefahren. Na, hast du was gefunden über den Prozeß?« 387
»Kein Sterbenswörtchen. Was ist denn für die Medien schon der soundsovielste Jagdschein? Und dann auch noch bloß eine schlappe Körperverletzung. Stand nicht mal was auf den letzten Seiten.« »Wundert mich nicht.« »Simon, ich weiß, es ist absurd, noch mal drüber zu reden, aber jetzt ganz unter uns: Ich weiß immer noch nicht hundertprozentig, warum Janice mich tot sehen wollte. Reiner Vergeltungsdrang? Gehässigkeit? Rache für den Korb, den du ihr gegeben hast?« »Schon, aber das ist nicht alles. Für sie warst du ein Riesenhindernis. Sie hat gemeint, ist die erst mal aus dem Weg, ist Simon wieder frei für mich. Für eine Soziopathin von zwingender Logik.« »Das krieg ich nicht auf die Reihe. Ist jenseits meiner Vorstellungskraft. Sie glaubt im Ernst, sie kann dich rumkriegen, nachdem sie deine Liebste abgestochen hat?« »Ist tatsächlich jenseits der Vorstellungskraft. Aber nicht für Janice. Ihr Narzißmus ist so hochprozentig, so völlig bar jeden Gespürs für ihren ›Nächsten‹, daß sie sich tatsächlich auf eine Zeit freuen kann, wo ich ihren unwiderstehlichen Reizen erneut erliege. Sie kann nicht verkraften, von mir nicht begehrt zu werden. Also schreibt sie meine Kälte dem Umstand zu, daß es in meinem Leben dich gibt.« »Na gut, das kann ich nachvollziehen, obwohl ich’s kaum glauben kann. Willst du noch einen Kaffee?« »Nein, danke. Zwei Tassen von deinem Giftsud reichen. Mehr vertrage ich nicht.« »Wie fandest du ihre Verteidigung?« »Hab ich dir doch schon gesagt. Viel zu oft.« »Ich formuliere die Frage neu, Euer Ehren. Wie fanden Sie die Auswahl der Leumundszeugen?« 388
»Da kann ich nicht Beifall genug spenden. Sehr effektvoll. Nicht überzogen, weißt du, mit Rücksicht auf Janices Vorgeschichte.« »Trotzdem, mußt du zugeben, war es ein genialer Schachzug, Falconi für die Verteidigung aufzurufen. Hat sogar mich beeindruckt, und ich bin abgebrüht.« »Ich muß auch sagen, das war der Gipfel.« »Ehrlich gesagt, bei der wär ich gern die Staatsanwältin gewesen. Mal so richtig Zähne zeigen. Aber das Rechtswesen duldet es nicht, daß Opfer in eigener Sache plädieren.« »Ich meine immer noch, sie hätte wegen Muttermordes belangt werden müssen.« »Fang nicht wieder davon an. Hätte nicht geklappt. Ich hab Will doch gehört. Das wär nach hinten losgegangen. Der war viel zu sehr durch den Wind. Der klang ja, als lüge er wie gedruckt.« »Und jetzt berufe ich mich auf deine Regel mit der Staatsgrenze von Massachusetts. Themawechsel. Irgendwas anderes.« »Na gut, reden wir über uns.« »Schön. Aber erst komme ich rüber zu dir.« Ich schuf Platz auf dem Bett, indem ich die vier Zipfel der Tagesdecke in eine Hand faßte und den ganzen Zeitungsmüll auf dem Fußboden deponierte, wobei ich Tupelo fast darunter begrub. Dann machte ich mich neben Kate lang. »Ich höre.« Sie rutschte in Liegestellung neben mich. »Ich hab mir was überlegt.« »Na so was.« »Werd nicht spöttisch. Hör erst mal zu, wie du versprochen hast. Ich hab mir überlegt, wird sauteuer, diese doppelte Haushaltsführung, wo wir doch so oft zusammen sind. 389
Ist einfach unpraktisch. Ich hab’s neulich mal durchgerechnet, und die Zahlen sind heftig. Wenn wir eine Wohnung aufgeben, können wir das Geld investieren und …« »Kate. Halt ein. Das ist der drolligste Antrag, den mir je eine Frau gemacht hat. Hört sich an wie die Eheberaterin vom Wall Street Journal.« Ich legte meine Arme um sie und schnupperte den vertrauten Duft ihres Haars. »Meinst du damit, wir sollen zusammenleben? Hast du das sagen wollen?« »Na schön, ich bin am Überlegen.« Sie beugte sich ein wenig zurück, so daß ich ihr ins Gesicht sehen konnte, aber den Blick hob sie nicht. »Jetzt, wo Debby ihren neuen Job hat, sagt sie, sie besorgt sich bis nächsten Herbst eine eigene kleine Bude. Soviel Platz brauchst du dann nicht mehr. Könnte der richtige Zeitpunkt sein für einen Umzug.« »Kate, sieh mich an!« Sie hielt den Blick immer noch gesenkt. Ich hob sanft ihr Kinn, und sie sah mir in die Augen. »Ich hab neulich was Interessantes gelesen«, sagte ich. »In manchen orientalischen Kulturen herrscht der Glaube, daß man für jemand zeitlebens verantwortlich ist, wenn man ihm das Leben gerettet hat. Du verstehst, was das heißt, ja?« Sie bekam nasse Augen. In letzter Zeit hatte sie nahe am Wasser gebaut. Ich auch. Wir hatten allerhand nachzuholen. »Kate. Ich liebe dich, Kate. Es läuft alles, wie es soll. Keine Ängste mehr, weißt du noch? Wir sind zusammen. Die Zeit der Angst ist vorbei.« Noch eine Umarmung, lang und innig. Sie murmelte was Unverständliches gegen mein Schlüsselbein. »Was hast du gesagt?« »Ich hab gesagt, ich mag deine Wärme neben mir.« »Darf ich?« 390
EPILOG Janice hielt ein Gänseblümchen in der Linken. Sie hatte es frisch gepflückt. Der Frühling neigte sich seinem Ende zu, und die Blumen standen auf dem Rasen im Garten in voller Blüte. Sie zupfte die weißen Blütenblättchen einzeln ab und hob sie hoch in den Sonnenstrahl, der durch das vergitterte Fenster hereinfiel. Sie saß auf dem Boden im Flur, die Beine übereinandergeschlagen zum Lotussitz. Das Pflegepersonal hatte sie gern in der Nähe, direkt gegenüber der Tür zur Stationszentrale, um sie rufen zu können, wenn ein Botengang fällig wurde. Sie war derzeit die einzige Patientin auf der Station, auf die Verlaß war. Sie sah blendend aus. Die Haare waren nachgewachsen, und sie trug sie zu einem kurzen Pferdeschwanz gebündelt. Sie wirkte gepflegt, gut ernährt und ausgeruht und war sehr gewissenhaft mit Rouge, Puder, Lidschatten, und Wimperntusche umgegangen. Sie roch angenehm frisch gebadet, nach Seife der Marke Elfenbein. Das Gänseblümchen war fast gerupft. Sie ließ die letzten Blütenblättchen auf den kalten Linoleumboden trudeln, eins nach dem andern, und murmelte dazu ihren zeitlosen Singsang: »Er liebt mich. Er liebt mich nicht. Er liebt mich. Er liebt mich nicht. Er …«
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