Atlan ‐ Die Abenteuer der SOL Nr. 544 All‐Mohandot
Gefangene des Ysterioons von H. G. Francis
Solaner im Re...
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Atlan ‐ Die Abenteuer der SOL Nr. 544 All‐Mohandot
Gefangene des Ysterioons von H. G. Francis
Solaner im Reich der Ysteroonen
Seit Dezember des Jahres 3586, als die SOL unter dem Kommando der Solgeborenen auf große Fahrt ging und mit unbekanntem Ziel in den Tiefen des Sternenmeeres verschwand, sind mehr als zweihundert Jahre vergangen, und niemand hat in der Zwischenzeit etwas vom Verbleib des Generationenschiffs gehört. Schließlich ist es jedoch soweit – und ein Mann kommt wieder in Kontakt mit dem verschollenen Schiff. Dieser Mann ist Atlan. Die Kosmokraten entlassen ihn, damit er sich um die SOL kümmert und sie einer neuen Bestimmung zuführt. Jetzt schreibt man an Bord des Schiffes den Anfang des Jahres 3792, und der Arkonide hat trotz seines relativ kurzen Wirkens auf der SOL bereits den Anstoß zu entscheidenden positiven Veränderungen im Leben der Solaner gegeben – ganz davon abgesehen, daß er gleich nach seinem Erscheinen die SOL vor der Vernichtung rettete. Gegenwärtig hält sich Atlan mit der abgekoppelten SZ‐2 in der Kleingalaxis Flatterfeld auf. Seine selbstgewählte Mission, die auf die Enträtselung des Geheimnisses der Ysteronen ausgerichtet ist, hat das Ysterioon, den Ausgangspunkt der Nickelraubzüge, erreicht. Solaner sind somit ins eigentliche Reich der Ysteronen vorgestoßen. Atlan will verhandeln, um die auf Break‐2 festsitzende SZ‐2 zu befreien, doch man behandelt die Solaner als GEFANGENE DES YSTERIOONS …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan ‐ Der Arkonide verhandelt mit den Ysteronen. Breckcrown Hayes und Oserfan ‐ Atlans Begleiter. Bungeltjat ‐ Ein Ysterone. WyltʹRong ‐ Ein Wesen, das sich als Ysterone ausgibt. Sanny und Argan U ‐ Die Molaatin und der Puschyde in den Tiefen des Ysterioons.
1. Die Technikerin blickte Atlan mühsam beherrscht an, und ihm fiel auf, daß ihre Pupillen unnatürlich geweitet waren. Hektische Flecken zeichneten ihr Gesicht, als sie den Arm des Arkoniden ergriff und sich an ihn klammerte. »Ich muß hier ʹraus«, sagte sie. »Verstehst du? Ich werde verrückt, wenn wir uns das noch länger bieten lassen. Wir haben das doch gar nicht nötig. Wenn wir wollen, können wir in zwei Minuten draußen sein. Warum tun wir nichts? Warum bleiben wir?« »Katrin«, entgegnete der Arkonide gelassen. »So beruhige dich doch.« »Beruhigen?« empörte sie sich mit schriller werdender Stimme. »Ich bin ruhig. Wie kannst du behaupten, daß ich es nicht bin? Wahrscheinlich bin ich die einzige an Bord, die ihre Sinne noch beisammen hat. Alle anderen drehen allmählich durch. Jeder weiß es, nur du scheinst auf beiden Augen blind zu sein.« »Na schön«, lenkte Atlan ein. »Vielleicht habe ich wirklich nichts bemerkt. Aber nun hast du es mir ja gesagt, und ich kann etwas unternehmen. Inzwischen wirst du dir von dem Medo‐Robot ein Beruhigungsmittel geben lassen.« Sie funkelte ihn an, als habe er ihr einen unanständigen Antrag gemacht. »Du redest und redest, anstatt irgend etwas zu unternehmen«, schrie sie und zerrte wütend an seinem Arm. »Du bist überhaupt
derjenige, der uns in diese Lage gebracht hat. Nun sieh zu, wie du uns wieder ʹrausbringst.« Atlan bedauerte, daß niemand in der Nähe war, an den er die Technikerin weiterreichen konnte. Er hatte anderes zu tun, als sich um eine Frau zu kümmern, die offenbar kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand. »Das würde ich gern«, erklärte er ruhig. »Leider hinderst du mich daran. Wenn du vernünftig wärst und zum Medo‐Roboter gehen würdest, könnte ich schon einiges in Ordnung bringen.« Tränen stiegen ihr in die Augen, und Atlan begriff, daß er etwas Falsches gesagt hatte. Er erkannte, daß sie keine medizinische Behandlung benötigte, sondern nur ein wenig Trost. »Es tut mir leid«, entschuldigte er sich. »Vielleicht solltest du mir sagen, warum du meinst, es nicht ertragen zu können, wenn wir eingeschlossen sind.« Sie schüttelte den Kopf und hastete davon. Atlan wollte ihr folgen, sah jedoch, daß Argan U durch ein sich öffnendes Schott herankam. Der Puschyde gestikulierte aufgeregt mit den Armen. »Du mußt in die Zentrale kommen«, rief er. »Es eilt.« Argan U war nur etwa anderthalb Meter groß. Er sah aus wie ein kleiner, geschuppter Bär. In seinen meist traurig wirkenden Augen spiegelte sich jetzt die Angst wider. »Was ist denn los, Kleiner?« fragte der Aktivatorträger. »Esther dreht durch«, erklärte U. »Sie will schießen.« Atlan erbleichte, da er nicht mit einer derartigen Nachricht gerechnet hatte. Die Lage spitzte sich gefährlich zu. Wortlos eilte er hinter Argan U her, der eine leichte Kombination aus hellblauem Stoff trug, die einen lebhaften Kontrast zu den orangefarbenen Schuppen seines Körpers bildeten. Er versuchte, den Puschyden zu überholen, aber dieser lief so ungeschickt vor ihm her, daß es ihm nicht gelang, an ihm vorbeizukommen. Wenn jemand tatsächlich mit Bordwaffen schießen wollte, kam das Schiff mit seiner Besatzung in eine unübersehbare Gefahr.
Die DUSTY QUEEN saß im Innern des Ysterioons fest. Meterdicke Nickelplatten schotteten sie ab. Atlan hatte das Raumschiff einige Male verlassen, um das Nickelgefängnis zu untersuchen, in dem sie sich befanden. Er hatte nirgendwo einen Ausgang entdeckt. Es schien, als sei die Korvette für alle Zeiten gefangen. Für die Besatzung stellte diese Situation eine allzu große Belastung dar. Viele Männer und Frauen wurden nicht mit der Tatsache fertig, daß sich die DUSTY QUEEN nicht im freien Weltraum bewegte und anscheinend keine Möglichkeit hatte, zur SOL zurückzukehren. Der Kontakt zu SZ‐2 war abgebrochen. Alle Versuche, ihn wiederherzustellen, waren gescheitert, und zwischen der SZ‐2 und der SOL gab es ebenfalls keine Verbindung mehr. Atlan war mit der DUSTY QUEEN gestartet, um herauszufinden, was die SZ‐2 an Break‐2 fesselte, und um sie aus ihrer Notlage zu befreien. Doch war zur Zeit überhaupt nicht daran zu denken, daß er in dieser Hinsieht irgend etwas tun konnte. »Es begann ganz plötzlich«, berichtete Argan U mit erhobener Stimme. »Eben noch war Esther normal, dann plötzlich drehte sie durch. Wenn sie mit Bordwaffen schießt, ist es aus mit uns.« Das brauchst du mir nicht zu sagen, dachte der Arkonide. Die Ysteronen, deren Gefangene sie waren, hatten Verhandlungsbereitschaft signalisiert. Sie hatten angekündigt, daß sie gewillt waren, in Kürze einige führende Persönlichkeiten von der Besatzung der DUSTY QUEEN zur Statue bringen zu lassen. Allerdings hatten sie nicht deutlich gemacht, was sie unter dem Begriff in Kürze verstanden. Hatten die riesigen Lebewesen gemeint: in einigen Stunden? Oder waren auch noch einige Wochen eine kurze Zeit für sie? Sternfeuer hatte versucht, es auf telepathischem Weg herauszufinden, aber das war ihr nicht gelungen. Sie konnte bei den Ysteronen nur telepathisch ermitteln, wenn sie ihnen direkt gegenüberstand. Durch die Abschottung wurde sie jedoch auch noch in anderer Hinsicht behindert. Der telepathische Kontakt zu
Bjo Breiskoll war abgebrochen, so daß die Isolierung absolut war. »Glaubst du, daß wir es bald schaffen freizukommen?« fragte Argan U, während sie sich der Zentrale näherten. »Oder müssen wir noch lange bleiben?« »Ich wollte, ich könnte dir das beantworten«, entgegnete der Arkonide. Er hatte das Hauptschott zur Zentrale erreicht. »Wie sieht es da drinnen aus?« fragte er. »Warum hast du mich geholt? Wieso wird Breckcrown nicht allein damit fertig?« »Sie hat eine Waffe«, antwortete er lakonisch und breitete die Ärmchen aus, um damit anzudeuten, daß er ebenso wie alle anderen unter diesen Umständen wehrlos war. Atlan öffnete das Schott. Lautlos glitt es zur Seite. Dennoch bemerkte Esther es sofort. Die junge Frau stand am Waffenleitpult der DUSTY QUEEN. Sie hielt einen Thermostrahler in den Händen und zielte damit auf Breckcrown Hayes, der als Pilot der Korvette fungierte. Glücklicherweise hatte sie sich noch nicht entschließen können, ihre Drohung wahrzumachen. »Was willst du hier?« fauchte sie den Arkoniden an und schwenkte die Waffe herum. »Du wirst mich auch nicht daran hindern, das zu tun, was getan werden muß. Du bist genauso unfähig wie die anderen. Du läßt dich ebenfalls einschließen. Wenn ich irgend etwas bereue, so ist es, mich für diese Expedition gemeldet zu haben, aber nur, weil ich dir vertraut habe.« Ihre Stimme schwankte, und ihre Augen flackerten. Sie stand fraglos unmittelbar vor einem Nervenzusammenbruch, und niemand konnte sagen, wie sie in den nächsten Sekunden reagieren würde. Atlan erlebte solche Situationen nicht zum ersten Mal. Er wußte, daß es vor allem auf Ruhe und Überzeugungskraft ankam, und daß es wichtig war, die junge Frau spüren zu lassen, daß er sie ernst nahm.
»Mit der Waffe lösen wir keine Probleme«, sagte er. »Schon gar nicht, wenn wir uns gegenseitig damit bedrohen.« »Ich bedrohe niemanden«, erwiderte sie mit überkippender Stimme. »Ich will nur, daß ihr mich endlich allein laßt. Ihr habt hier in der Zentrale nichts zu suchen.« Ihr Teint war wächsern, als ob alles Blut aus ihrem Kopf gewichen sei. »Wenn du willst, lassen wir dich allein«, versprach der Arkonide. »Aber das geht nicht«, protestierte Breckcrown Hayes ärgerlich. »Weißt du eigentlich, was Esther vorhat? Sie will mit den Desintegratorstrahlern auf die Wände da draußen schießen. Sie will notfalls das ganze Ysterioon zerfetzen, nur damit wir endlich starten können. Dabei müßte ihr klar sein, daß wir überhaupt nicht mehr starten werden, wenn wir hier irgend etwas zerstören.« »Es gibt keinen anderen Weg«, behauptete die junge Frau erregt. »Wir kommen sonst nicht frei.« »Esther, du weißt, daß es um mehr geht als nur um uns«, sagte der Aktivatorträger. »Wir sind hier, weil wir etwas für die SZ‐2 tun müssen, und wir werden mit Sicherheit nichts erreichen, wenn wir mit Gewalt vorgehen.« »Wir reden immer nur, anstatt zu handeln«, rief sie. »Aber ich habe die Nase voll. Ich denke nicht daran, noch länger zu warten. Ich will die Entscheidung jetzt. Sofort.« Sie hob die Waffe wieder, die sie vorübergehend ein wenig gesenkt hatte, und sie zielte auf die Stirn des Arkoniden. »Geht nach draußen«, befahl sie. »Ich zähle bis drei. Wenn ihr die Zentrale bis dahin nicht verlassen habt, erschieße ich Atlan.« Ihre Hand zitterte so heftig, daß sie die andere zur Hilfe nehmen mußte, um die Waffe halten zu können. »Eins.« Sternfeuer ging durch das offene Schott hinaus. Damit gab sie ein deutliches Zeichen.
Sie hat Esthers Gedanken erfaßt, erkannte das Extrahirn. Und sie glaubt, daß sie wirklich schießen wird. »Zwei.« Breckcrown Hayes, Brooklyn, Oserfan und Sanny schlossen sich ihr an. »Das kannst du doch nicht machen«, protestierte Argan U. »Du wirst gleich sehen, was ich alles kann«, fuhr sie ihn an. Der Puschyde zuckte erschrocken zusammen und eilte hinter den anderen her. Atlan war allein mit der jungen Frau. »Willst du nicht gehen?« fragte sie. »Ich bleibe.« »Ich zähle gleich bis drei.« Er blickte sie an, und seine Lider verengten sich. Kein Muskel zuckte in seinem Gesicht, und das Rot seiner Augen schien sich zu verdunkeln. »Was glaubst du, was geschehen wird, wenn du das tust?« fragte er. »Meinst du wirklich, daß du danach noch dazu kommst, die Desintegratorstrahler zu bedienen? Dann hast du einen Mord auf dem Gewissen. Das ist mehr, als du verkraften kannst.« »Ich zähle bis drei«, drohte sie. »Laß es lieber sein« schlug er ihr freundlich vor und ging langsam auf sie zu. »Du würdest nicht mich töten, sondern dich selbst.« Ihre Augen weiteten sich, und sie legte den Kopf ein wenig schief, als lausche sie seinen Worten nach. »Bleib stehen, Atlan.« »Du gibst mir jetzt deine Waffe, Esther. Danach vergessen wir, was vorgefallen ist. Ich verspreche dir, daß ich alles tun werde, was in meiner Macht steht, damit wir möglichst rasch aus dieser Falle herauskommen.« »Drei!« Sie schrie dieses Wort in höchster Verzweiflung hinaus. Ihre Lider zuckten, und Tränen rannen ihr über die Wangen. »Ich schieße!«
Der Arkonide streckte die Hand aus, ergriff die Waffe und bog sie zur Seite. Sie entglitt den Händen der jungen Frau, und Atlan zog sie rasch an sich. Esther sank schluchzend auf den Boden. Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen. Atlan legte ihr tröstend die Hand auf die Schulter. »Es wird alles gut werden, Esther«, sagte er leise. »Wir werden bald starten. Ganz bestimmt.« »Ich ertrage es nicht, so eingeschlossen zu sein«, wimmerte sie. »Es geht über meine Kräfte. Ich ersticke.« »Du bist nicht die einzige, der es so ergeht«, erwiderte er sanft. »Viele haben Angst.« »Warum denn hier?« fragte sie. »Warum nicht in der SOL, wenn die Korvette in einem Hangar steht? Dort habe ich noch nie Angst gehabt.« »Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Vielleicht liegt es daran, daß die Ysteronen draußen sind, und daß wir uns durch sie bedroht fühlen.« Argan U kehrte in die Zentrale zurück. Er lugte zunächst vorsichtig durch ein offenes Schott und trat dann leise summend ein. »Na, alles in Ordnung?« fragte er, als sei nichts geschehen. »Oder gibt es noch Probleme?« »Wir gehen nach draußen«, sagte Atlan. »Kommst du mit?« * Minuten später waren Atlan, Esther und Argan U außerhalb der Korvette. Sie betraten eine Art Hangar, dessen Wände meterdick waren und aus reinem Nickel bestanden. Der Schleuse gegenüber kauerte Girgeltjoff. Der Ysterone war annähernd zwanzig Meter groß. Mit großen, traurigen Augen blickte er Atlan, den Puschyden und die junge Frau
an. Er hatte vier Beine, die etwa zehn Meter lang waren und somit die Hälfte seiner Körperlänge ausmachten. Sie waren nackt und unbedeckt. Ansonsten war der Ysterone humanoid. Seine Arme waren kurz und endeten in feingliedrigen Händen, die jeweils fünf Finger hatten. Und auch der Kopf ähnelte dem eines Menschen. Der Riese seufzte wehleidig, als fürchte er, mit Vorwürfen überschüttet zu werden, weil er an einem Nickelraubzug teilgenommen hatte. Doch Atlan und seine Begleiter hatten nicht vor, sich mit ihm zu befassen. Sie blieben etwa zwanzig Meter von ihm entfernt an einer Nickelwand stehen. Wir könnten ausbrechen, wenn wir wollen, stellte der Logiksektor fest. Diese Wände können wir mit Bordwaffen beseitigen. Bliebe jedoch die Gefahr, daß man uns mit Traktorstrahlen zurückholt. Aber das wäre mit einem schnellen und überraschenden Ausbruch zu bewältigen. »Wir müssen ja nicht mit Mann und Maus verschwinden«, bemerkte Argan U und strich mit den Fingern über die Nickelwand, »aber wir könnten ein Mauseloch schaffen.« Atlan blickte ihn verwundert an. Er wußte nicht, was der Puschyde meinte. Argan U beschrieb einen Kreis mit der Hand. »Wir könnten ein Loch hineinschneiden, das gerade groß genug für mich ist«, erläuterte er. »Ich könnte hindurchkriechen und mich dann umsehen. Auf jemanden, der so klein ist wie ich, achtet niemand.« »Das ist eine Idee, über die wir nachdenken sollten«, erwiderte der Arkonide. »Wir müssen etwas unternehmen.« »Dann bist du also einverstanden?« »Damit provozieren wir die Ysteronen«, wandte Esther ängstlich ein. »Wir fordern sie zu Gegenaktionen heraus, die uns allen nur schaden können, solange wir eingeschlossen sind.« »Mal so, mal so«, spottete Argan U. »Hauptsache dagegen.« »Ich bin nicht dagegen, daß wir etwas unternehmen«, entgegnete sie hitzig. »Ich bin aber auch nicht dafür, daß wir unser aller Leben
aufs Spiel setzen.« »Du willst hier nicht versauern«, stellte U fest, »aber du willst auch nichts riskieren. Hast du vergessen, daß du gerade eben noch bereit warst, die Nickelwände mit Desintegratorstrahlern zu beseitigen?« Die junge Frau senkte beschämt den Kopf. Abermals traten ihr Tränen in die Augen. »Es tut mir leid«, sagte sie leise. »Ich bin vollkommen durcheinander.« »Girgeltjoff muß es noch einmal versuchen.« Atlan fuhr sich seufzend mit den Händen durch das silberweiße Haar. »Wir müssen weiterkommen.« Er verwünschte die Situation, in der sie sich befanden, zumal er befürchten mußte, daß noch weitere Besatzungsmitglieder Nervenzusammenbrüche erleiden würden, wenn es nicht gelang, die Korvette aus ihrem Verlies herauszubringen. Als er sich der DUSTY QUEEN zuwandte, erschien Oserfan in der Schleuse. »Die Ysteronen haben sich gemeldet«, rief er. »Komm schnell.« Girgeltjoff stöhnte leise wie unter großen Qualen. Er richtete sich neugierig auf. »Sie lassen von sich hören«, sagte er. »Endlich.« »Sprich mit ihnen«, forderte der Arkonide ihn auf. »Ich muß es tun«, erwiderte der Riese wehleidig. Die Unterlippe sank ihm zuckend herab, und es schien, als werde er sogleich in Tränen ausbrechen. »Ich warte schon lange darauf, daß sie mir die Gelegenheit geben, etwas zu bereinigen.« »Sie sprechen über Normalfunk mit uns«, erläuterte Oserfan. Er trat zwei Schritte in die Schleuse zurück, da er merkte, daß der Ysterone seinen Anblick nicht ertrug. »Breckcrown schaltete gerade auf das Schleusenmikro um.« »Komm etwas näher«, forderte Atlan Girgeltjoff auf. Der Ysterone nickte und schwenkte die Beine vorsichtig herum,
um Atlan nicht zu gefährden. Dann kniete er sich vor die Schleuse. »Hier spricht Girgeltjoff«, sagte er. Die positronischen Translatoren übersetzten seine Worte, so daß Atlan ihn verstehen konnte. »Ich bin froh, daß ihr euch gemeldet habt.« »Was hast du uns zu sagen, Girgeltjoff?« antworteten die Ysteronen aus dem Inneren des riesigen Raumgebildes, in dem die Korvette gefangen war. »Ich muß wissen, wie ihr meinen Alleingang zu den Pluuh und danach zu den Solanern bestrafen wollt.« Girgeltjoffs Gesicht nahm einen Ausdruck höchster Spannung an. »Gar nicht«, schallte es aus dem Lautsprecher des Schleuseninterkoms. »Schließlich sind solche Ausbrüche in Anbetracht der hohen psychischen Belastung von uns allen normal.« »Normal?« fragte Girgeltjoff überrascht. Er beugte sich noch weiter vor, als habe er Angst, irgend etwas zu überhören. »Außerdem bist du nicht so lange fort gewesen, daß sich dein Verstoß gegen das Nickelgesetz bereits nachteilig für dich auswirken könnte.« Atlan blickte den Riesen an seiner Seite an. Ihm fiel auf, daß er einen seltsamen Geruch verströmte. Das hing offenbar damit zusammen, daß er erregt war. Girgeltjoff verschwieg, daß er sich nicht an das Vorhandensein von Nickel gebunden fühlte. Atlan lächelte. Der junge Ysterone mochte wehleidig und ängstlich sein, dumm aber war er gewiß nicht. »Ich danke euch«, sagte Girgeltjoff erleichtert. »Weshalb habt ihr euch gemeldet?« »Wir möchten, daß die Fremden drei ihrer wichtigsten Persönlichkeiten benennen. Diesen wollen wir Gelegenheit geben, mit Vertretern aus der Tabuzone zu sprechen.« »Warte. Ich muß fragen, ob die Fremden damit einverstanden sind.«
Atlan gab Oserfan ein Zeichen, und dieser unterbrach die Funkverbindung, so daß die Ysteronen nicht mithören konnten, was sie besprachen. »Endlich«, seufzte Argan U. »Es wurde aber auch Zeit, daß sie mit uns reden.« »Wen willst du zu ihnen schicken?« fragte Esther. »Und ist es überhaupt sinnvoll, das zu tun?« »Wie meinst du das?« fragte der Arkonide. Sie lächelte überlegen. »Das liegt doch auf der Hand. Wenn drei unserer wichtigsten Persönlichkeiten zu den Ysteronen gehen, sind wir unserer Führungspersönlichkeiten beraubt. Die Riesen können sich an drei Fingern ausrechnen, daß sie uns damit zugleich unsere Handlungsfähigkeit nehmen.« »Das ist grundsätzlich richtig«, stimmte der Arkonide zu. »Dennoch werden wir das Angebot annehmen.« »Wer soll zu ihnen gehen?« fragte U. »Breckcrown Hayes, Osa und ich«, antwortete der Aktivatorträger, nachdem er kurz nachgedacht hatte. Esther und Argan U blickten ihn überrascht an. »Breckcrown und dich kenne ich«, entgegnete der Puschyde. »Aber wer ist Osa?« »Ein trojanisches Pferd. Du wirst es bald kennenlernen«, versprach der Arkonide. Er gab Oserfan ein Zeichen, den Interkom wieder einzuschalten. Dann forderte er Girgeltjoff auf, weiterzusprechen. »Wir sind einverstanden«, erklärte der Riese daraufhin den anderen Ysteronen. »Wer wird kommen?« »Atlan, Breckcrown Hayes und Osa«, antwortete der Riese auftragsgemäß. 2.
»Esther hat vollkommen recht«, sagte Atlan wenig später, als er in seiner Kabine mit Argan U, den beiden Molaaten Oserfan und Sanny, sowie mit Breckcrown Hayes allein war. »Wir können nicht ohne jede Rückendeckung zu den Ysteronen gehen. Deshalb habe ich mich entschlossen, Osa mitzunehmen.« Er blickte Argan U lächelnd an. »Und jetzt wird es wohl Zeit, diesen geheimnisvollen Osa vorzustellen«, fuhr er fort. »Das ist allerdings insofern etwas schwierig, als er noch gar nicht existiert.« Argan U legte den Kopf schief, und seine Augen weiteten sich. Er erwiderte nichts, aber ihm war anzusehen, daß er an dem Verstand des Arkoniden zweifelte, oder doch zumindest fürchtete, von diesem verulkt zu werden. »Er existiert noch nicht?« fragte Sanny. »Was soll das bedeuten? Wie kann uns jemanden begleiten, der gar nicht da ist?« »Das kann er natürlich erst, wenn wir ihn geschaffen haben«, erläuterte Atlan. »Jetzt begreife ich«, rief der Puschyde. »Du denkst an einen Roboter.« »Genau das«, bestätigte Atlan. »Ich möchte einen Roboter bauen, in dem soviel Platz ist, daß Oserfan, Sanny und Argan U sich darin verstecken können.« »Ich verstehe«, sprudelte Sanny aufgeregt hervor. »Osa soll zu den Ysteronen gehen, aber wir drei werden die Gelegenheit ergreifen und unterwegs aussteigen.« »Genauso habe ich es mir vorgestellt.« Argan U kicherte. »Es ist gut, daß ich dabei bin. Wenn Oserfan und Sanny auf so engem Raum allein sind, könnten sie auf dumme Gedanken kommen.« Die beiden Molaaten blickten sichtlich pikiert zur Seite. Argan U spürte, daß seine Bemerkung nicht ganz angebracht war, und er
räusperte sich verlegen. »Wir steigen aus und werden wichtige Erkenntnisse liefern«, sagte er. »Du kannst dich auf uns verlassen.« »Ich weiß nicht, wieviel Zeit wir haben«, meldete sich Breckcrown Hayes. »Reicht sie aus, einen Roboter zubauen?« »Das wird sich zeigen«, erwiderte der Arkonide. »Ich bin dafür, daß wir beiden sofort mit der Arbeit beginnen. Ich stelle mir vor, daß der Automat ein konventionelles Inneres hat und mit einer Biomolplastschicht überzogen wird, so daß er für die Ysteronen wie ein lebendes Wesen aussieht.« »Das wird wirklich knapp.« Hayes erhob sich. Für ihn war alles besprochen. Jetzt kam es nur noch darauf an, so schnell wie möglich mit der Arbeit zu beginnen. Wie alle anderen Beiboote der SOL hatte auch die DUSTY QUEEN eine positronisch gesteuerte Fabrikationsstätte an Bord. Diese war zwar zwischenzeitlich funktionsunfähig gewesen, mittlerweile aber repariert worden, so daß sie nun wieder einwandfrei funktionierte. Die leistungsfähige Positronik war in der Lage, auch komplizierteste Produktionstechniken zu steuern und die verschiedenen Maschinen so einzusetzen, daß sie vorprogrammierte Produkte herstellte. Die Palette der Möglichkeiten reichte von Maschinen einfachster Art bis hinauf zu Apparaturen mit höchstem technischen Anspruch. Es kam nur darauf an, das dafür notwendige Material zu beschaffen und die Fertigungsanlage damit zu beschicken. Die Materialbeschaffung erwies sich als der schwierigste Teil des Unternehmens. Breckcrown Hayes durchkämmte das Raumschiff nach allem, was für den Roboter benötigt wurde. Währenddessen arbeitete Atlan am Computer den Konstruktionsplan für den »Trojaner« aus. Nachdem die vorbereitenden Arbeiten abgeschlossen waren, wofür Breckcrown Hayes und der Arkonide etwa eine Stunde gebraucht hatten, schaltete Atlan den Produktionsvorgang ein. Die Maschine folgte seinen Befehlen und begann mit der Fertigung des
Roboters. »Hoffentlich schaffen wir es rechtzeitig«, sagte Hayes. »Es wäre schon ganz gut, wenn es uns gelänge, unser trojanisches Pferd bei den Ysteronen einzuschmuggeln.« »Ich bin davon überzeugt, daß Osa früh genug fertig wird«, erwiderte der Arkonide gelassen, während er beobachtete, wie die Maschine erste Teile des Roboters herstellte. Es waren Motoren, mit deren Hilfe die Arme des Automaten bewegt werden sollten. Gleichzeitig entstand das Grundgerüst des Robotkörpers. Atlan und Breckcrown Hayes reichten der Maschine weiteres Material. Dazu gehörten auch Kleinstmotoren, die aus den Ersatzteilbeständen der Korvette stammten. Die Fertigungsanlage überprüfte sie und veränderte einige von ihnen, um sie den Bedürfnissen des Roboters Osa anzugleichen. Mit verblüffender Geschwindigkeit entstanden weitere Einzelteile, die von dem Fertigungsroboter zu einem rasch anwachsenden Gebilde zusammengesetzt wurden. Als etwa eine Stunde verstrichen war, stand der fast fertiggestellte Roboter vor ihnen, eine imposante Gestalt von 2,53 Metern Höhe und mit einem tonnenförmigen Körper, in dem sich drei ausreichend große Höhlungen für Sanny, Oserfan und Argan U befanden. »Fehlt nur noch die Biomolplastschicht«, sagte der Arkonide. »Aber die müßte nun auch schon soweit sein.« Er forderte den Roboter auf, ihm und Hayes zu folgen. Dann verließ er die Fertigungsanlage und wechselte in ein chemisches Labor über, das ebenfalls von einer Positronik gesteuert wurde und vollautomatisch arbeitete. In einer transparenten Wanne schwamm ein weiches, zähflüssiges Gebilde, das noch keine Konturen zeigte. Als der Arkonide einige Schaltungen an der Positronik vornahm, betrat Argan U das Labor. Gegen den Roboter wirkte das geschuppte Wesen geradezu zwergenhaft. Es legte den Kopf in den Nacken und blickte an der Maschine hoch.
»Ich habe ein eigenartiges Gefühl«, bekannte Argan U. »So als würde alles ganz anders kommen, als wir es uns vorstellen.« »Das ist völlig normal«, erwiderte der Arkonide. Er verstand den Puschyden. Angenehm war es sicherlich nicht, zu den Ysteronen vorzudringen, die bei ihren Nickelraubzügen allzu deutlich bewiesen hatten, daß sie auf andere Intelligenzen keine Rücksicht nahmen. »Doch das ändert sich, wenn ihr in dem Roboter steckt. Sobald ihr aktiv in das Geschehen eingreifen könnt, wirst du dich besser fühlen.« Argan U fuhr sich mit den Fingerspitzen über die Schuppen seiner Wange und verursachte dabei ein eigenartig knisterndes Geräusch. »Du meinst, es liegt nur daran, daß wir zunächst nur in dem Ding da stecken und nichts tun können?« »Genau«, bestätigte der Aktivatorträger. »Wenn du dich für die mittlere Kammer im Robotkörper entschließt, kannst du durch die Augen der Maschine sehen. Was sie wahrnimmt, erscheint auf einem Monitorschirm in der Körperhöhle, so daß du dich darüber informieren kannst, wie es in der näheren Umgebung des Roboters aussieht. Du kannst von dort auch Befehle an die Maschine erteilen. Du brauchst nur in ein Mikrophon zu geben, was du willst. Die Impulse werden an die Positronik des Roboters weitergeleitet, und er wird tun, was du ihm befiehlst.« »Dann nehme ich diese Körperhöhle«, entschied der Puschyde. »Mit derartigen Aufgaben können wir Sanny oder Oserfan schließlich nicht belasten.« Atlan musterte den kleinen Freund verstohlen. Was ist los mit ihm? fragte er sich. Er ist anders als sonst. Irgend etwas stört ihn. Auch Breckcrown Hayes spürte, daß Argan U sich mit einem Problem herumschlug, das er offenbar allein nicht bewältigen konnte. Er ließ sich in die Hocke sinken, so daß sich seine Augen auf der gleichen Höhe mit den Augen des Puschyden befanden. Besorgt blickte er Argan U an.
»Was ist los?« fragte er. »Gibt es etwas, was wir wissen sollten?« U schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht, wovon du redest«, erwiderte er. »Warum bist du nervös?« »Ich bin nicht nervös, aber ich habe den Eindruck, daß du es bist.« Argan U schüttelte den Kopf und lachte leise. »Da sieht man mal wieder, daß du keine Ahnung hast, wie ich bin. Du scheinst mich mit einem von euren Teddybären zu verwechseln.« »Teddybären werden nicht nervös«, erklärte Hayes ohne die Spur eines Lächelns. Sein von vielen feinen Falten durchzogenes Gesicht, das ihn älter aussehen ließ, als er war, nahm den Ausdruck tiefster Besorgnis an. »Ich bin weder ein Teddybär, noch bin ich nervös«, fuhr U unerwartet schroff auf. »Wenn du meinst, daß ich nicht für diesen Einsatz geeignet bin, dann solltest du darauf verzichten, mich zu den Ysteronen zu schicken.« Er wandte sich um und blickte Atlan herausfordernd an. »Und das gilt auch für dich«, fügte er überraschend aggressiv hinzu. Atlan pfiff verwundert. »So kenne ich dich ja gar nicht«, sagte er. »Was sind denn das überhaupt für Töne?« »Ich finde, wir sollten uns darauf konzentrieren, daß der Roboter endlich fertiggestellt wird. Wenn wir uns streiten, spielen wir damit nur den Ysteronen in die Hände.« »Du hast recht«, stimmte der Arkonide zu. »Unsere Situation ist ungünstig, und sie wird nicht dadurch besser, daß wir uns von dem ablenken lassen, was allein wichtig ist.« Du solltest ihn nicht zu den Ysteronen gehen lassen, warnte das Extrahirn. Irgend etwas stimmt nicht. Sanny und Oserfan allein schaffen es nicht, dachte er dann. U ist nicht gerade eine Geistesgröße, aber er ist findig und kann sich und
ihnen in gefährlichen Situationen mit überraschenden Ideen helfen. »Ich frage mich, ob wir nicht ein unnötiges Risiko eingehen«, sagte Hayes vorsichtig. Atlan ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Er beobachtete U, der vor dem transparenten Behälter stand und vergessen zu haben schien, worüber er noch eben gesprochen hatte. »Es bleibt bei unserem Plan«, sagte der Arkonide dann. Er nahm die Bedenken Breckcrowns nicht auf die leichte Schulter. Wenn dieser sonst so wortkarge Mann sich so intensiv mit Argan U und dem Einsatzplan befaßte, dann war das ein deutliches Zeichen dafür, daß er sich ernsthafte Sorgen um ihn machte. Doch Atlan konnte sich nicht dazu durchringen, auf eine Rückendeckung zu verzichten, sobald er die DUSTY QUEEN und ihr Gefängnis verlassen hatte. Er war davon überzeugt, daß die augenscheinliche Nervosität des Puschyden in gewisser Hinsicht mit klaustrophobischen Ängsten zu tun hatte, unter denen auch noch andere Besatzungsmitglieder litten, und die sich legen würden, sobald er aktiv werden konnte. Er ging zu dem Behälter, in dem die Biomolplastmasse für den Roboter vorbereitet wurde, und tippte mehrere Befehle in die Tastatur der Positronik. Unmittelbar darauf glitt aus einem Schlitz unter dem transparenten Tank eine Folie, die wie eine fein durchblutete Haut aussah. »Was ist das?« fragte der Puschyde. »Mit Hilfe dieser Folie werden die Befehle der Positronik an die Biomolplastschicht übertragen«, erläuterte Atlan bereitwillig, während er die Haut über den Roboter streifte und sie an ihren Nahtstellen verschweißte. »Sie besteht aus einem semibiotischen Material, mit dem gleichzeitig ein natürlich gewachsenes Skelett vorgetäuscht werden kann, wenn der Roboter von Untersuchungsgeräten überprüft wird.« »Du glaubst, daß sie Osa mit Röntgenstrahlen angehen?« fragte Argan U. »Meinst du wirklich, daß die Ysteronen so mißtrauisch
sind?« »Nein. Ich wollte damit nur sagen, daß wir für den Notfall gerüstet sind.« Er drückte einige Tasten an der Positronik, und die Biomolplastmasse floß aus dem transparenten Behälter in eine flache Wanne. Der Roboter legte sich unaufgefordert hinein, und ein Deckel schloß sich über ihm, so daß sich das weitere Geschehen den Augen der beiden Männer und des Puschyden entzog. Nur Minuten vergingen, dann glitt der Deckel wieder zur Seite. Argan U stellte sich neugierig auf die Zehenspitzen. Doch er war nicht groß genug, um in die Wanne sehen zu können. Deshalb stieg er rasch auf einen Hocker und blickte dann staunend auf den Automaten, der ihm den Anblick eines schlafenden, unbekleideten Mannes bot, der durch kein äußeres Anzeichen von einem lebenden Wesen zu unterscheiden war. Osa öffnete die Augen. »Komm heraus aus der Wanne«, befahl der Arkonide. Breckcrown Hayes warf dem Roboter Wäsche und eine Kombination hin, die der Fertigungsroboter mittlerweile ausgeworfen hatte. »Zieh dich an«, sagte er. Osa gehorchte. »Und wie kommen wir hinein?« fragte Argan U. »Hätten wir nicht schon vorher hineinkriechen müssen?« »Er kann die Biomolplasthaut auf dem Rücken öffnen und wieder schließen, ohne daß eine Narbe verbleibt«, erläuterte der Arkonide. »Ihr könnt also jederzeit ein‐ und aussteigen. Ihr braucht es ihm nur zu sagen.« »Ich stehe euch zur Verfügung«, sagte der Roboter mit dunkler, angenehm klingender Stimme. Sanny betrat den Raum, als habe sie nur darauf gewartet, daß Atlan und Hayes ihre Arbeiten abschlossen. »Die Ysteronen haben sich wieder gemeldet«, sagte sie. »Sie
erwarten uns in zehn Minuten.« Hayes pfiff leise durch die Zähne. »Dann haben wir wirklich Glück gehabt«, stellte er fest. »Bis dahin können wir es schaffen.« Atlan, Sanny und er besprachen weitere Einzelheiten des bevorstehenden Gesprächs. Wenig später gesellte sich Oserfan hinzu, und auch er machte einige wichtige Vorschläge. Argan U aber verhielt sich schweigsam. Ganz gegen seine sonstige Gewohnheit hielt er sich zurück, so als habe er nichts mit dem zu tun, was nun kommen sollte. Der Arkonide bemerkte wohl, daß irgend etwas nicht mit U stimmte, glaubte aber, daß sich alles wieder normalisieren würde, wenn der Puschyde die DUSTY QUEEN erst einmal verlassen hatte. * Argan U kämpfte mit sich. Unangenehme Erinnerungen wurden in ihm wach, als er daran dachte, daß er sich in dem Roboter verstecken sollte, der unmittelbar vor der Hauptschleuse auf dem Boden saß und seinen Rücken entblößt hatte. Sanny und Oserfan krochen in die Maschine und versteckten sich in den Körperhöhlungen, die so groß waren, daß sie dort genügend Platz hatten. Über Lautsprecher drangen Außengeräusche zu ihnen herein, so daß auch sie über das informiert waren, was in ihrer Umgebung vorging. »Und jetzt du«, sagte Breckcrown Hayes. »Worauf wartest du?« Der Puschyde gab sich einen Ruck. Unsinn, schalt er sich. Was hat dies mit dem zu tun, was damals geschehen ist? Dies ist etwas ganz anderes. Du kannst es nicht mit dem anderen vergleichen. Doch es half wenig, daß er sich selbst in dieser Weise zuredete. Die
innere Unruhe blieb, und es gelang ihm auch nicht, sie vor den wachsamen Augen des Arkoniden zu verbergen. Leise vor sich hin brummelnd schob er sich in den Spalt, der sich im Rücken des Roboters aufgetan hatte. Er kroch in eine Höhlung, in der er mit angezogenen Beinen sitzen konnte. Vor ihm leuchtete der Monitorschirm. »Ist alles in Ordnung, U?« fragte Atlan. »Natürlich«, erwiderte dieser gereizt. »Ich meine, du hast genug gefragt.« Nachdem er eine Reihe von Ausrüstungsgegenständen entgegengenommen und in Fächern verstaut hatte, betätigte er einige kleine Hebel, und die Lücke im Rücken des Roboters schloß sich. Osa zog seine Kombination hoch bis zu den Schultern. Später sollte U sie in einem markierten Bereich wieder aufschneiden, so daß er zusammen mit den beiden Molaaten aussteigen konnte. Da der Arkonide sich dessen jedoch nicht völlig sicher war, daß sich der Schnitt einwandfrei wieder selbst verkleben würde, wollte er die Kombination vorläufig noch unbeschädigt lassen. Atlan ging über die Bemerkung des Puschyden hinweg. »Wir prüfen die Funkverbindung durch«, sagte er. »Kannst du mich hören, Oserfan?« »Einwandfrei«, antwortete der Molaate. Seine Worte hallten aus dem Armbandgerät des Arkoniden, der nicht zu befürchten brauchte, daß die Ysteronen das Gespräch abhörten. Es wurde von einem Zerhacker, der zwischengeschaltet war, für jeden Außenstehenden unverständlich gemacht. »Wir bleiben also dabei«, erklärte der Aktivatorträger. »Sanny und U steigen aus, während du in Osa bleibst. Oder hast du es dir inzwischen anders überlegt?« »Nein«, erwiderte Oserfan. »Es ist schon richtig so. Ich will dich auf jeden Fall in die Tabuzone begleiten. Sanny und U können uns den Rücken freihalten und sich ein wenig umsehen. Vielleicht finden sie etwas heraus, was für uns alle wichtig ist.«
Atlan hätte es lieber gesehen, wenn an Stelle von Sanny der Molaate Oserfan ausgestiegen wäre, doch das lehnte dieser ab. Er sah es offenbar als gefährlicher und risikoreicher an, an dem Gespräch mit den Ysteronen teilzunehmen, als heimlich ins Ysterioon vorzustoßen. Argan U nahm zu dieser Entscheidung nicht Stellung. Es schien, als sei ihm egal, wer ihn begleitete. Schweigend verharrte er im Roboter, und er verhielt sich auch noch ruhig, als Atlan, Breckcrown Hayes und Osa die DUSTY QUEEN endlich verließen. Auf dem Monitorschirm verfolgte er, wie sie an dem riesigen Girgeltjoff vorbeigingen, der ängstlich im Hangar kauerte und keinerlei Anstalten machte, sich ihnen anzuschließen. In der Nickelwand hatte sich eine fast zwei Meter breite und vier Meter hohe Öffnung aufgetan, und jetzt zeigte sich, daß der Panzer, der die DUSTY QUEEN umschloß, tatsächlich mehrere Meter dick war. »Warten sie auf uns?« wisperte Sanny neugierig. »Noch sehe ich niemanden«, antwortete der Puschyde ebenso leise. Doch schon Sekunden später korrigierte er seine Aussage, als ein fast dreißig Meter hohes Schott vor ihm zur Seite glitt, und die Gestalten von zwei Ysteronen heraustraten. »Steigt auf«, befahl einer von ihnen und zeigte auf eine große Antigravplatte, auf der sich zwei Sitzgestelle erhoben, die aus der Sicht des Puschyden eher riesigen Radarschirmen glichen als Sitzmöbeln. Die beiden Ysteronen setzten sich jedoch hinein und warteten, bis Atlan, Breckcrown Hayes und Osa hinter ihnen an einem Gitter standen, an dem sie sich festhalten konnten. Dann starteten sie die Transportmaschine. Sie erhob sich lautlos vom Boden und schwebte zunächst langsam durch einen langgestreckten Gang. Nach einer Weile beschleunigte sie jedoch immer stärker, und Argan U hörte, wie der Fahrtwind in den Aufbauten der Antigravplattform pfiff.
»Hoffentlich werden die nicht noch schneller«, sagte er ärgerlich. »Bei so einem Tempo können wir kaum noch abspringen.« »Wir haben keine andere Wahl«, entgegnete Sanny gelassen. Sie schien überhaupt keine Bedenken zu haben. »Wir müssen es versuchen, oder wir wären besser in der DUSTY QUEEN geblieben.« »Also gut«, entschied Argan U. »Steigen wir aus.« Er betätigte einige Hebel, und der Rücken des Roboters öffnete sich. Mit einem Desintegratormesser schnitt er die Kombination auf, mit der Osa bekleidet war. Er beugte sich vor, so daß er hinaussehen konnte. Die Transportplattform flog mit hoher Geschwindigkeit durch einen Gang, an dessen Seiten sich Maschinenbänke erhoben, aus denen hin und wieder Halbfertigteile ausgeworfen wurden. Diese fielen auf ein unsichtbares Energieband, von dem sie erfaßt und weggetragen wurden. »Ich glaube, wir können es riskieren«, sagte Argan U leise. »Wer weiß, wie weit es noch bis zur Tabu‐Zone ist. Wenn wir noch länger warten, könnte es zu spät sein. Also, Sanny, bist du bereit?« »Natürlich. Das habe ich doch gerade eben gesagt.« Argan U seufzte, als hadere er mit dem Schicksal, weil es so schwer war, sich mit einem weiblichen Wesen auseinanderzusetzen. Er kroch durch den Spalt nach draußen und ließ sich kopfüber an den Beinen des Roboters nach unten gleiten. Dann drückte er sich an die Maschine, um sich vor den beiden Ysteronen zu verstecken, die ihn um deutlich mehr als zehn Meter überragten. Für einen Moment fürchtete er, sie könnten auf ihn herabblicken, aber sie drehten sich nicht um, sondern richteten ihre ganze Aufmerksamkeit nach vorn. »Steh nicht so herum, sondern hilf mir«, flüsterte Sanny und streckte ihm ihre Hände entgegen. Er ergriff sie und hob sie herab, nachdem sie ihm einige Ausrüstungsgegenstände gereicht hatte. Schweigend deutete der Puschyde nach vorn, und Sanny sah, daß sie sich einem Verteiler näherten, von dem mehrere Gänge
abzweigten. Die Transportplattform wurde bereits langsamer. Die beiden Ysteronen drosselten die Fahrt, um abbiegen zu können. »Das ist unsere Chance«, flüsterte Sanny. »Siehst du den Maschinenblock, der sich quer über den Gang schiebt? Wenn wir zum richtigen Zeitpunkt abspringen, können wir uns dahinter verstecken, und die beiden Riesen werden nichts bemerken.« »Hoffentlich«, entgegnete er und schob sich einen Desintegratorstrahler in den Gürtel. »Ich springe zuerst.« »Warum du?« fauchte sie ihn an. »Warum nicht? Ich kann dir dann immerhin helfen, falls es notwendig sein sollte.« Bevor sie widersprechen konnte, ließ er sich über die Kante der Transportplatte fallen. Er stürzte auf die rechte Schulter, überschlug sich und rutschte bäuchlings über den glatten Boden bis an den Maschinenblock heran. Sanny sprang hinterher. Sie landete auf beiden Füßen, konnte sich jedoch nicht halten und stürzte. Und auch sie glitt über den Boden. Sie raste auf den Maschinenblock zu, der den Gang versperrte, und es schien bereits, als werde sie mit großer Wucht dagegenschlagen. Doch Argan U schnellte sich ihr entgegen und fing sie geschickt ab. Beide blieben liegen und warteten mit fliegendem Atem darauf, daß die Transportmaschine halten und zurückkehren würde. Doch die Ysteronen flogen weiter. Sie hatten nichts bemerkt. »Ich dachte, ich zerschlage mir die Beine an diesem Stahlblock«, sagte die Molaatin leise, und sie zitterte ein wenig, weil ihr bewußt wurde, wie schwer sie sich hätte verletzen können. »Es war wohl doch ganz gut, daß du als erster gesprungen bist.« »Das ist immerhin etwas«, entgegnete er und richtete sich auf. »Ich dachte, du würdest mir auch jetzt noch Vorwürfe machen.« »Sie wären vermutlich berechtigt, aber ich verzichte darauf, weil ich ja noch ein wenig länger mit dir zusammenarbeiten muß. Schade eigentlich, daß wir nicht schon vorher festgelegt haben, wer von uns beiden das Kommando führt.«
»Ich natürlich«, erwiderte der Puschyde, als komme etwas anderes überhaupt nicht in Frage. Er kratzte sich die Wange. »Aber darüber wollen wir nicht streiten. Ich habe …« Er verstummte plötzlich, und seine Augen weiteten sich. Sanny, die begriff, daß er irgend etwas gesehen hatte, was ihn zutiefst erschreckte, fuhr herum, doch ihr fiel nichts auf. »Was ist los?« fragte sie. Argan U antwortete nicht. Er stand wie erstarrt auf der Stelle, und es schien, als horche er in sich hinein, wie jemand, der verborgenes Wissen an den Tag zu bringen versucht. Sie stieß ihn an. »Wir sitzen beide in einem Boot«, mahnte sie. »Ich muß es ebenso wie du wissen, wenn irgend etwas passiert, was uns gefährden könnte.« Argan U beachtete sie nicht. Er rannte plötzlich los, überquerte den Gang und warf sich mit dem ganzen Körper gegen eine Klappe in der Wand. Sie gab nach und kippte unter seinem Gewicht nach unten. Der Puschyde rollte über sie hinweg in einen hell erleuchteten Raum. Sanny, die ungemein schnell reagiert hatte, war unmittelbar darauf bei ihm. Sie sah eine kleine, dunkle Gestalt durch eine andere Öffnung verschwinden, die etwa zwanzig Meter von ihnen entfernt war und auf der anderen Seite eines mit laut arbeitenden Maschinen gefüllten Raumes lag. Sie war sich dessen ganz sicher, daß sie einen Puschyden gesehen hatte, der jedoch nichts von Argan U und ihr bemerkt hatte. Doch dieser Puschyde hatte im Gegensatz zu Argan U keine orangefarbenen Schuppen, sondern bläulichschwarze Schuppen. Ein breiter, roter Streifen zog sich quer über seine Stirn, und sein rechter Unterarm fehlte. Er wurde durch einen künstlichen Unterarm ersetzt, dessen stählerne Streben sich scharf von den dunklen Schuppen abhoben. Für Sanny stand außer Frage, daß Argan U dieses Wesen kannte,
da er sonst nicht in dieser auffallenden Weise reagiert hätte. Sie packte ihn an der Schulter. »Wer ist das?« fragte sie. »Willst du es mir nicht sagen?« »Too Goron«, antwortete er, und eine Welt schien für ihn einzustürzen. »Du kennst ihn? Ist es ein Puschyde, so wie du einer bist?« »Er ist ein Puschyde«, antwortete Argan U zögernd. Seine Stimme klang rauh und hart. »Aber er entstammt nicht meinem Volk. Er kommt aus dem Süden.« Erinnerungen wurden in ihm wach, die er längst verschüttet geglaubt hatte. 3. Atlan hatte bemerkt, daß Argan U und Sanny ausgestiegen waren. Er war darauf vorbereitet gewesen und hatte daher beobachtet, wie die beiden ihr Versteck verlassen hatten und von der Plattform gesprungen waren. Er nickte Breckcrown Hayes zu, und dieser gab ihm mit einer knappen Handbewegung zu verstehen, daß er Argan U und die Molaatin ebenfalls gesehen hatte. Das Fluggerät verringerte seine Geschwindigkeit weiterhin, und wenig später glitt es in einen großen Raum, in dem zwei andere Ysteronen auf sie warteten. Ein samtblauer, weicher Belag bedeckte den Teppich und verlieh dem Raum eine angenehme, entspannte Atmosphäre. An den Wänden befanden sich abstrakte Malereien, die durch ungewöhnlich harmonische Farbabstimmungen auffielen, und von denen jedes auf eine andere Art zu leben schien. Atlan spürte augenblicklich, daß sie Charaktereigenschaften darstellen sollten, und er mußte zugeben, daß dies dem Künstler hervorragend gelungen war. Während eines der Bilder eine ungewöhnliche Heiterkeit ausströmte, die auf den Betrachter übersprang, sobald er
sich auf die Darstellung konzentrierte, beinhaltete ein anderes Lustlosigkeit, ein weiteres das Böse – mit geradezu erschreckender Intensität – und abermals ein anderes Mut und Entschlossenheit. Der Arkonide fühlte sich von diesen künstlerischen Werken angezogen, zumal er sie bei den Ysteronen nicht erwartet hatte, und er hätte sich gern länger mit ihnen befaßt. Doch das war vorläufig nicht möglich. Er mußte mit den Riesen reden und versuchen, mit ihnen die anstehenden Probleme zu lösen. Das war schwer genug. Die beiden Ysteronen saßen in schalenförmigen Sesseln, die durch jeweils drei dicke Beine gestützt wurden. Hinter ihnen hingen an kaum sichtbaren Fäden Leuchtelemente herab, die körperlos zu sein schienen, und die ein angenehmes Licht verbreiteten. Vom Boden ragten säulenartige Gebilde auf, von denen einige ebenfalls als Lampen zu dienen schienen, andere aber nichterkennbare Funktionen hatten. Seltsam, dachte der Arkonide. Wir sind von Darstellungen von Charaktereigenschaften, von Gut und Böse, von Heiterkeit und Traurigkeit und von vielen anderen Gegensätzlichkeiten umgeben. Und die beiden Ysteronen sind mittendrin. Welche Bedeutung hat das? Wollen sie uns damit etwas zu verstehen geben? Wollen sie uns zeigen, daß es kein einziges Volk im Universum gibt, das nur gute Charaktereigenschaften oder nur schlechte hat? Die beiden Ysteronen, welche die Plattform gesteuert hatten, zogen sich mit der Flugmaschine zurück, als Atlan, Breckcrown Hayes und Osa von dieser herabgestiegen waren. Sie flogen hinaus, und das riesige Schott schloß sich hinter ihnen. »Nun, das sieht nicht gerade nach einem freundschaftlichen Empfang aus«, stellte Hayes fest. »Eher nach einem Verhör. Man bietet uns noch nicht einmal Platz an.« Atlan blickte zu den beiden Ysteronen auf, die ihn um mehr als acht Meter überragten. Er sah das Pulsieren des Blutes in ihren Adern, beobachtete, wie
die großporige, lederartige Haut an verschiedenen Stellen zuckte, und er verfolgte, wie die farblosen Haare auf ihren Beinen sich bewegten, als wollten sie Fremdkörper von der Haut entfernen. Er hörte, wie die Giganten atmeten, und wie es in ihren Körpern bei den verschiedenen Verdauungsvorgängen rumorte. Wäre das nicht gewesen, hätte er das Gefühl gehabt, vor riesigen Statuen zu stehen, da der Größenunterschied zwischen ihnen und den Ysteronen allzu erdrückend war. »Wir sind nicht glücklich darüber, daß ihr hier seid«, sagte einer der beiden Riesen. Er trug eine überwiegend rötliche Kleidung, die jedoch ausschließlich seinen Körper bedeckte, und Arme, Beine und Kopf frei ließ. »Da ihr jedoch hier seid, können wir auch miteinander reden. Das ist immerhin noch besser, als gegeneinander zu kämpfen. Mein Name ist Bungeltjat.« Er deutete auf den Ysteronen neben sich und fügte hinzu: »Und das ist WyltʹRong.« Atlan stellte Breckcrown Hayes, Osa und sich vor. »Wo sind wir hier?« fragte er dann und deutete mit einer Geste an, daß sich seine Frage auf die Räumlichkeit bezog. Bungeltjat verstand ihn richtig. »Dieser Raum grenzt unmittelbar an die Tabuzone der Mittelkugel«, erwiderte er. »Genügt das?« »Ich danke dir«, antwortete der Arkonide. Bungeltjat beugte sich weit vor und blickte starr auf die beiden Männer und Osa herab. Seine ohnehin riesigen Augen schienen sich noch zu weiten. »Sagt mir, was ihr von uns und unserer Tätigkeit wißt«, forderte er. Atlan und Hayes verstanden ihn mühelos, da seine Worte von den positronischen Translatoren übersetzt wurden. Der Arkonide zögerte nicht, von seinen Erfahrungen in Bumerang und von den vernichteten Molaatenwelten zu berichten. Ebenso schilderte er seine Erlebnisse mit den aggressiven Robotstationen und gab dabei deutlich zu verstehen, was er von den Ysteronen
hielt. Er klagte sie an. Dabei ließ er Bungeltjat nicht aus den Augen, und ihm fiel auf, daß dieser bei jedem Vorwurf, den er erhob, zusammenzuckte, als werde er von Peitschenhieben getroffen. WyltʹRong dagegen zeigte sich unbeteiligt. Sein Gesicht blieb ausdruckslos und unbewegt. Es machte einen geradezu leblosen Eindruck auf Atlan. »Weiter«, forderte Bungeltjat, als könne er es nicht erwarten, mit noch mehr Anklagepunkten konfrontiert zu werden. * Sanny packte Argan U an den Schultern. »Willst du mir nicht endlich etwas über diesen Too Goron sagen?« rief sie. Der Puschyde zuckte zusammen, schüttelte ihre Hand ab und stürmte davon, bevor sie ihn aufhalten konnte. Er durchquerte den Raum und stürzte sich durch die Tür, durch die das schwarzgeschuppte Wesen verschwunden war. Er kam in einen Abstellraum, der überraschend niedrig war. Metallcontainer lagerten auf Regalreihen. »Wo bist du, Too Goron?« schrie Argan U. »Hier«, antwortete eine schneidend scharfe, unangenehm klingende Stimme neben ihm. U wirbelte herum, sah jedoch nur noch, daß ein Metallstab auf ihn herabsauste. Ausweichen konnte er ihm nicht mehr. Er fühlte einen harten Schlag und stürzte bewußtlos zu Boden. Als er wieder zu sich kam, beugte sich Sanny über ihn. »Du Dummkopf«, schalt sie ihn. »Warum hörst du nicht auf mich? Ich will jetzt wissen, wer Too Goron ist, und was du mit ihm zu tun hast.« »Wir haben keine Zeit, darüber zu reden«, sträubte er sich. »Denke
doch an Atlan und an Breckcrown. Wir müssen die Zeit nutzen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube, daß dieser Too Goron wichtig für uns alle ist. Ich will wissen, wer er ist.« Argan U preßte sich stöhnend die Hände gegen den Kopf. »Also schön«, lenkte er ein. »Du gibst ja doch keine Ruhe.« * Argan U Than lag im blauen Schatten eines Blattbaums und blickte blinzelnd zu Arris O Veil auf, die zierlich und klein zwischen den Blumen am Bach stand und sich nicht für eine der farbenprächtigen Blüten entscheiden konnte. Ihre orangefarbenen Schuppen glänzten im Licht der roten Sonne Cur‐Cur An. »Du bist zu sorglos, U Than«, sagte sie. »Hast du denn gar keine Angst?« »Warum sollte ich Angst haben, wenn du bei mir bist?« Sie schlug die Augen nieder und fuhr sich rasch mit der Zunge über die Nasenspitze, eine Geste, die sowohl Verlegenheit als auch Verliebtheit verriet. »Du bist verantwortlich für den Gürtel des Verkünders«, erinnerte sie ihn an seine Pflichten. »Und du weißt, was geschieht, wenn er gestohlen wird.« Er winkte gelassen ab und pustete sich dann eine Libelle von der Nasenspitze, auf der das Insekt landen wollte. »Wozu sich Sorgen machen?« seufzte er. »Seit dreitausend Jahren hat niemand versucht, sich an dem Gürtel des Verkünders zu vergreifen, und das wird auch jetzt keiner wagen.« »Die Blauen aus dem Süden befinden sich in Aufruhr. Sie haben erklärt, daß wir den Gürtel widerrechtlich an uns gebracht haben, und daß der Gürtel allein ihr Eigentum sei, weil der Verkünder in Sorthai geboren wurde, in Sorthai gelebt hat und schließlich dort
auch gestorben ist.« »Ich weiß. Ich weiß.« Argan U Than seufzte erneut. Mußte Arris O Veil ausgerechnet über den Gürtel mit ihm sprechen? Gab es nicht noch viele andere Dinge, die ihnen beiden viel wichtiger sein sollten? Sie kam zu ihm und kniete sich neben ihm ins Gras, und er sah, daß die Schuppen ihres Körpers glänzten, als seien sie an ihren Rändern mit winzigen Diamanten besetzt. Ihre ausdrucksvollen Augen verdunkelten sich. »U Than, bitte, hör mir zu«, flehte sie. »In dreitausend Jahren ist nichts passiert. Das ist richtig. Aber seit dreitausend Jahren gilt: Wenn ein Hüter des Gürtels seine Pflichten vernachlässigt, und wenn durch seine Schuld der Gürtel des Verkünders beschädigt, oder gar gestohlen wird, so ist der Hüter mit dem Tode zu bestrafen.« »Aber das weiß ich doch«, erwiderte er und strich ihr zärtlich mit den Fingerspitzen über die Wange. »Und warum bist du dann hier und nicht im Tempel?« »Weil der Tempel nur fünfzig Schritte von uns entfernt ist, und weil mir wichtig ist, daß wir über unsere Zukunft sprechen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich liebe dich«, beteuerte sie, »aber du mußt dir darüber klar sein, daß ich keinen Mann heiraten werde, der seine Pflichten vernachlässigt.« Argan U Than lachte. »Sieh dir doch den Tempel an«, forderte er sie auf. »Er steht auf freiem Gelände. Wenn irgend jemand kommen und etwas daraus rauben wollte, würde ich ihn schon sehr früh bemerken, so früh, daß er den Tempel nicht vor mir erreichen kann.« »Hoffentlich irrst du dich nicht. Ich würde sterben, wenn sie dich verurteilen würden. Die Neuen sind hart und konsequent. Sie sind mir zu fanatisch. Ich habe das Gefühl, daß sie nur darauf warten, ein Exempel statuieren zu können.«
»Dazu werden sie keine Gelegenheit haben.« Er zog die junge Frau an sich, die bei einer der großen Nachrichtenagenturen von Cur‐Cur U als Bildjournalistin arbeitete. »Warum verschwenden wir unsere Zeit mit solchen Gedanken?« »Ich habe Angst«, erklärte sie. »Du sagst, daß du jeden sehen würdest, der sich dem Tempel nähert, aber ich habe gehört, daß die Blauen eine neue Waffe entwickelt haben, mit der sie sich unsichtbar machen können.« Argan U Than lachte. »Liebling, du glaubst doch nicht die Ammenmärchen deiner Agentur? Sich unsichtbar machen. So etwas ist reiner Unsinn.« »Meinst du?« fragte eine dunkle Stimme. Der Tempelwächter und Arris O Veil fuhren erschrocken auseinander. Sie konnten niemanden sehen. »Wer ist da?« fragte die Journalistin. »Ein hübsches Kind«, bemerkte jemand. »Was glaubst du, was Katan Xaran dafür geben würde, sich mit ihr amüsieren zu können?« »Eine ausgezeichnete Idee. Wir nehmen sie mit.« Argan U Than begriff. Die Gerüchte, die in letzter Zeit verbreitet worden waren, entsprachen der Wahrheit. Seit Jahrhunderten herrschte eine Patt‐Situation zwischen dem Norden und dem Süden. Keine Seite verfügte über eine Waffe, die es ihr erlaubte, die andere anzugreifen. Jetzt aber hatten die Blauen etwas, mit denen sie ungehindert eindringen konnten. Er warf sich nach vorn, als er glaubte, eine flüchtige Bewegung im Gras gesehen zu haben, und streckte die Arme aus. Plötzlich fühlte er einen Arm in den Händen. Er zerrte mit der einen Hand daran und schlug mit der anderen auf seinen unsichtbaren Gegner ein. »Lauf, Arris«, schrie er. »Lauf, sonst verschleppen sie dich.« Er hörte, wie sie verzweifelt nach ihm rief, und er verstärkte seine Anstrengungen. Seine Faust schnellte vor, und er traf. Er spürte, wie er auf harten Widerstand stieß, er hörte den Unsichtbaren
aufstöhnen und zu Boden stürzen. Dann sah er, wie die junge Frau, die er liebte, und die ihm mehr bedeutete als jeder andere Puschyde, davonzuschweben schien. Sie lag wie von einem Luftpolster getragen in der Luft und schlug mit Armen und Beinen um sich. Gleichzeitig flehte sie um Gnade. Sie wußte, was es für sie bedeutete, wenn sie in den Süden verschleppt wurde. Jede Frau aus dem Norden war sich darüber klar, daß es keine Rückkehr von den Blauen gab. Noch nie in der Geschichte der Puschyden war eine Frau, die in den Staat im Süden entführt worden war, von dort zurückgekehrt. Auch nicht zu jener Zeit, als der Verkünder gelebt hatte. Argan U Than begriff, daß einer der Unsichtbaren Arris O Veil trug, und daß es deshalb aussah, als ob sie davonschwebe. Er rannte hinter ihr her, kam jedoch nur wenige Schritte weit. Dann stolperte er über etwas, was ihm jemand zwischen die Beine schob. Ein Hieb traf seinen Kopf und stürzte ihn ins Dunkel. Argan U Than versuchte vergeblich, sich zu halten. Er glitt ab und verlor das Bewußtsein. Als es ihm endlich wieder gelang, die Augen zu öffnen, sah er mehrere uniformierte Männer vom neuformierten Kreis der Gerechten. »Was ist los?« fragte er und richtete sich auf. Sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerz, und er drückte rasch die Hände an den Kopf, als könne er seine Pein dadurch lindern. Zugleich erinnerte er sich wieder an das, was vorgefallen war. »Haben sie …?« begann er. Weiter kam er nicht. Einer der Männer trat ihm brutal in die Seite und schlug ihm einen Stock, der aus geflochtenem Leder bestand, über die Schulter. »Sie haben den Gürtel des Verkünders gestohlen«, sagte er mit zornbebender Stimme. »Das kostbarste unserer Güter ist entwendet worden, und der Mann, der dafür verantwortlich ist, liegt hier im Gras und schläft, anstatt das Heiligtum zu verteidigen, wie es seine
Pflicht ist.« Argan U Than hatte das Gefühl, daß sich alles in ihm zusammenkrampfte. Sein Magen schien ins Bodenlose zu sacken. Er wußte, was diese Anklage bedeutete. Wenn ein Hüter des Gürtels seine Pflichten vernachlässigt und wenn durch seine Schuld der Gürtel des Verkünders beschädigt, oder gar gestohlen wird, so ist der Hüter mit dem Tode zu bestrafen. Das waren die Worte Arris O Veils gewesen. Er hatte die Warnung in den Wind geschlagen. Nun war es zu spät. Der Gürtel des Verkünders, das höchste Heiligtum seines Volkes, war gestohlen worden. Die Richter würden ihn zum Tode verurteilen, und nur ein Wunder würde ihn noch retten können. * Der Richter blickte Argan U Than durchdringend an. »Ich will nur die Wahrheit von dir wissen«, sagte er. »Mehr nicht.« Der Tempel‐Wächter war allein mit ihm in seinem Arbeitszimmer. Die letzten Vorbereitungen für die Verhandlung liefen, die in einer Stunde beginnen würde. »Ich habe die Wahrheit gesagt«, beteuerte Argan U Than erstaunt. Er lächelte. »Außerdem weißt du doch, daß ich gar nicht so sorglos war, wie es ausgesehen hat.« »Du warst nicht im Tempel, wie es Vorschrift ist, sondern hast dich von einer jungen Frau, um die du dich bewirbst, ablenken lassen. Du warst in einem Hain in der Nähe des Tempels.« »Das ist richtig«, bestätigte Argan U Than. »Aber das bedeutet doch nichts. Wie du weißt, habe ich eine technische Ausbildung erhalten. Ich selbst habe einen Teil der elektronischen Einrichtungen entwickelt, die den Tempel und den Gürtel des Verkünders
geschützt haben. Du weißt ganz genau, daß es unmöglich ist, sich dem Tempel zu nähern, ohne daß ein Alarm ausgelöst wird.« Der Richter verzog keine Miene. »Tut mir leid, davon weiß ich nichts.« »Dann lügst du.« »Mäßige dich! Weißt du nicht, mit wem du sprichst?« »Mit meinem Richter, mit einem der vier Männer, die genau über die Sicherheitsmaßnahmen des Tempels unterrichtet sind. Zu diesen vier Männern gehören neben dir der Bote des Verkünders, der Oberste der Gerechten und der Hüter des Tempels, also ich.« »Der Oberste der Gerechten ist erst seit vier Jahren im Amt. Die Revolution hat ihn nach oben getragen, und er hat sicherlich noch keine Zeit gehabt, sich mit dem Tempel und seinen Einrichtungen zu befassen.« »Das mag sein. Dennoch ist es eine Tatsache, daß ich nicht sorglos war. Die Unsichtbaren konnten eindringen, ohne daß ich es verhindern konnte. Ich hätte auch dann nichts tun können, wenn ich im Tempel gewesen wäre und auf dem Gürtel des Verkünders gesessen hätte.« »Wie kannst du so über den Gürtel reden?« fragte der Richter schockiert. »Verzeih. Ich habe mich etwas drastisch ausgedrückt, jedoch nur gesagt, worauf es ankommt.« »Ich glaube nicht an die Unsichtbaren«, erwiderte der Richter, »und ich empfehle dir, sie in der Verhandlung nicht zu erwähnen.« »Sie können mich vielleicht noch retten.« »Nein, das können sie nicht. Nur ich kann das noch. Wenn wir vor Gericht anerkennen, daß es diese Unsichtbaren gibt, hat das unabsehbare Folgen für unser Volk. Wir können nicht mehr in Sicherheit leben. Außerdem kann das Gericht sie nicht anerkennen, solange es keine untrüglichen Beweise hat.« »Aber was soll ich tun?« rief Argan U Than verzweifelt. Er verstand den Richter nicht mehr. Wie konnte dieser von ihm
verlangen, daß er darauf verzichtete, sich zu verteidigen? Immerhin ging es um sein Leben! »Du wirst sagen, daß du außerhalb des Tempels warst, weil du durch ungewöhnliche Geräusche herausgelockt worden bist. Draußen im Hain hast du dann Arris O Veil getroffen. Du bist zu ihr gegangen, um mit ihr zu sprechen. Als du bei ihr warst, bist du von hinten niedergeschlagen worden. Du weißt nicht, von wem.« »Aber wenn ich das sage, belaste ich Arris O Veil«, protestierte Argan U Than. »Das ist nicht zu ändern. Es ist der einzige Weg, dein Leben zu retten. Es tut mir leid um Arris O Veil, aber wir müssen realistisch bleiben. Wir wissen, daß sie niemals aus dem Süden zurückkehren wird, und wenn sie dich wirklich geliebt hat, dann wird sie dir diese kleine Lüge verzeihen, weil du nur durch sie dein Leben retten kannst.« »Du wirst mich nicht zum Tode verurteilen?« »Nein«, versprach der Richter. »Ich werde dich zu Kerker verurteilen. Du wirst einige Monate eingesperrt bleiben, danach werde ich dich wieder in die Freiheit entlassen, vorausgesetzt, du bist bereit, in den Süden zu gehen und nach dem Gürtel des Verkünders zu suchen.« »Dazu bin ich bereit«, antwortete Argan U Than, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. »Ich werde den Gürtel zurückholen. Aber … wie maskiere ich mich? Die Puschyden im Süden haben blauschwarze Schuppen. Sie werden mich sofort erkennen.« Er streckte dem Richter die Hände entgegen, um ihm zu zeigen, daß die Handrücken mit orangefarbenen Schuppen bedeckt waren. »Wir haben mittlerweile ein Verfahren entwickelt, mit dem man die Farbe der Schuppen verändern kann«, erwiderte der Richter. »Wir werden deine Schuppen einfärben, so daß du dich in Sorthai bewegen kannst, ohne aufzufallen.« »Wenn es so ist, werde ich in der Verhandlung sagen, was du mir vorgeschlagen hast.«
4. Die Verhandlung verlief so, wie Argan U Than und der Richter es besprochen hatten. Sie war öffentlich, und daher drängten sich weit über tausend Neugierige im Saal. Reporter und Journalisten aller auf Cur‐Cur U vertretenen Medien verfolgten das Geschehen von der Pressetribüne aus. Argan U Than schwankte in seinen Gefühlen. Mal genoß er es, in dieser Weise im Blickpunkt der Öffentlichkeit zu stehen, mal erschreckte es ihn, denn er fürchtete, den Makel des Mannes, dem das höchste Heiligtum der Puschyden gestohlen worden war, niemals wieder loswerden zu können. Schon nach etwa einer Stunde folgte die Urteilsverkündung. »Angeklagter, begib dich in den Roten Kreis«, befahl der Richter, nachdem alle Aussagen gemacht worden waren. Argan U Than gehorchte. Er war ganz sicher, daß nichts mehr geschehen würde, was ihn überraschen konnte. Gelassen verließ er den Drahtkäfig, in dem er sich bisher aufgehalten hatte, und betrat den Freiraum inmitten des Saales, der der Rote Kreis genannt wurde. Von hier aus führten zwei schmale Gänge zu zwei sich gegenüberliegenden Türen. Hinter der Tür auf der linken Seite wartete der Henker auf den Verurteilten, hinter der rechten Tür lag die Freiheit. In den Drahtkäfig zurückgehen mußte, wer zu einer Kerkerstrafe verdammt worden war. Der Rote Kreis hatte einen Durchmesser von etwa vier Metern. Eine weiße Steinplatte wurde durch eine dünne, rote Linie zu den Zuschauern hin begrenzt. Jenseits der Linie saßen die Kinder des Verkünders, Mönche, die aus der Einsamkeit der Wälder in die Stadt gekommen waren, um die Verhandlung zu verfolgen. Ihre Gesichter waren maskenhaft starr. Unter diesen Männern war, wie Argan U Than genau wußte, kein einziger, der ihm je verzeihen würde, daß
er den Diebstahl des Heiligtums zugelassen hatte. Der Angeklagte verschränkte die Hände hinter dem Rücken und senkte den Kopf, um in der vorgeschriebenen Demutshaltung das Urteil entgegenzunehmen. Es wurde still im Saal. Argan U Than vernahm nur das Surren und Klicken der Kameras. Der Richter erhob sich, und dumpf hallte die Glocke des Henkers aus dem Hinrichtungsraum herüber, mit der der Ankläger den Tod forderte. Ganz schön eindrucksvoll, dachte Argan U Than. Jemandem, der nicht weiß, daß er mit heiler Haut davonkommen wird, muß das ganz schön an die Knochen gehen. »Das Urteil«, rief der Richter. Eine eigenartige Spannung erfaßte den Angeklagten. Würde der Richter Wort halten? Warum zweifelst du? fragte Argan U Than sich. Er hat es doch gesagt. Der Richter ist einer der wichtigsten Männer aller Puschyden. Er kann gar nicht lügen. »Das Gericht verurteilt den Angeklagten zum Tode durch das Schwert«, rief der Richter. »Das Urteil ist sofort zu vollstrecken.« Ein Aufstöhnen ging durch den Saal. Argan U Than hob den Kopf. Er erfaßte noch nicht, welches Urteil ergangen war. Doch dann schrie irgend jemand im Saal: »Tod dem Frevler!« Eine Gruppe junger Männer brach in frenetischen Jubel aus. Und jetzt erfaßte U Than die volle Wahrheit. Der Richter hatte ihn betrogen und belogen. Er hatte nie die Absicht gehabt, ihn zu schonen. Argan U Than blickte ihn entsetzt an, und der Richter wich ihm nicht aus. Für einen kurzen Moment lächelte er grimmig und selbstzufrieden. Deutlicher hätte er nicht machen können, das er mich hereingelegt hat!
Argan U Than stieß die Arme nach oben. »Hört mich an«, schrie er. »Hört mich an. Ich muß euch etwas sagen.« Die Besucher reagierten ebenso neugierig wie schnell auf seine Rufe. Im Saal wurde es still. U Than erwartete, daß man ihn am Reden hindern würde, aber weder des Richter noch sonst jemand unternahm etwas, ihn zum Schweigen zu bringen. »Es war alles ganz anders«, rief er in den Saal. »Man hat mich gezwungen zu lügen. Tatsächlich sind Unsichtbare über mich hergefallen. Unsichtbare haben den Tempel angegriffen. Sie …« Seine weiteren Worte gingen in dem Gelächter unter, das ihm plötzlich entgegenbrandete, und Argan U Than erfaßte, daß er die Chance verschenkt hatte, sein Leben zu retten. Jetzt war es zu spät, das Geschehen so zu schildern, wie es gewesen war. Uniformierte aus dem Kreis der Gerechten kamen zu ihm, packten ihn und schleiften ihn zu der Tür, hinter der der Henker auf ihn lauerte. Als die Tür sich öffnete, sah der Verurteilte einen riesigen Mann vor einem Holzklotz stehen. In seinen Händen hielt er das blitzende Henkersschwert. * Oserfan, der in dem Roboter Osa steckte, meldete sich überraschend zu Wort. Atlan hatte den Eindruck, als könne sich der Molaate angesichts der riesigen Ysteronen nicht mehr beherrschen. »Müssen wir die ermordeten Molaaten noch erwähnen?« rief Oserfan. Seine Stimme wurde durch die positronischen Einrichtungen des Roboters vielfach verstärkt und hallte dröhnend zu den Ysteronen hinauf. Bungeltjat zuckte erneut zusammen. Er richtete sich schnaufend auf und lehnte sich zurück, während Wylt´Rong seine
Haltung auch jetzt nicht veränderte und durch kein äußerliches Zeichen verriet, was er empfand. Einige Minuten verstrichen, in denen niemand etwas sagte. Endlich beugte Bungeltjat sich wieder etwas nach vorn, doch seine Blicke waren nicht auf Atlan, Hayes und Osa gerichtet, sondern auf die Bilder an den Wänden. Der Arkonide glaubte spüren zu können, daß der Ysterone seelische Kraft aus den Kunstwerken zu schöpfen versuchte. »Wir haben keine Molaaten getötet«, behauptete Bungeltjat. »Das ist nicht wahr!« rief Oserfan. »Es ist wahr«, beteuerte das riesige Wesen mit so leiser Stimme, daß Atlan es kaum verstehen konnte. »Was ist denn mit ihnen geschehen?« fragte Oserfan. »Wo sind sie?« »Wir haben die Molaaten vor der Zerstörung ihrer Welten auf einen anderen Planeten gebracht«, antwortete Bungeltjat. »Es hat Unfälle und auch Übergriffe von rabiaten Ysteronen gegeben. Wir gestehen das ein. Aber das sind Ausnahmen.« Oserfan lachte zornig. »Wo liegt denn die Planet, auf dem die Molaaten angeblich sind?« »Das kann ich dir leider nicht sagen. Ich weiß es nicht.« Der Ysterone hob bedauernd die Arme, die im Verhältnis zum Gesamtbild des Giganten viel zu klein erschienen. »Ich würde es dir sagen, wenn ich es wüßte, aber ich weiß es nicht.« Der Ysterone senkte den Kopf und blickte Atlan an, und der Arkonide glaubte, in den Augen des Riesen Unsicherheit und Angst erkennen zu können. »Wir bedauern, was vorgefallen ist«, erklärte Bungeltjat. »Es tut uns leid, aber wir haben keine andere Möglichkeit. Mein Volk und ich müssen tun, was wir tun, auch wenn ihr uns dafür verdammt.« »Wer zwingt auch dazu?« fragte Breckcrown Hayes, doch Bungeltjat ging über diese Frage hinweg, als sei sie nicht gestellt worden.
* Argan U Than schrie auf, als er den Henker sah. Er versuchte, den Männern zu entkommen, die ihn in die Hinrichtungskammer führten. Er ließ sich fallen und schlug um sich, doch das half ihm nichts. Sie schleiften ihn zu dem Holzblock und warfen ihn mit dem Oberkörper darüber. Dumpf krachend fiel die Tür hinter ihnen zu. Argan U Than fühlte den Einstich einer Nadel im Nacken. Sie betäuben mich, bevor sie mich töten! schoß es ihm durch den Kopf. Im gleichen Moment verlor er das Bewußtsein. Das Narkotikum, das die Henkersknechte ihm injiziert hatten, tat seine Wirkung. Während er in einen Abgrund versank, glaubte er zu hören, wie das Henkersschwert auf ihn herabzischte. Ein wuchtiger Schlag traf seinen Körper und erschütterte ihn. Nahezu übergangslos kamen die nächsten Eindrücke. An seinem Ohr summte etwas, und Schritte entfernten sich. Es dauerte lange, bis Argan U Than begriff, daß er noch lebte, und daß viel Zeit seit dem Urteilsspruch und der anschließenden Injektion des Narkotikums vergangen sein mußte. Er vernahm das glucksende Rufen eines Nachtvogels, und ihm wurde bewußt, daß er irgendwo außerhalb der Stadt im Gras lag und allein war. Während er noch darüber nachdachte, wie so etwas möglich war, versank er erneut in einen Schlaf, der tief und traumlos war. Als er abermals erwachte, war es nicht mehr ganz dunkel, und er fror. Er krümmte sich zusammen und suchte Schutz vor der Kälte, die unangenehm und feucht auf ihn eindrang, doch jetzt hatte sein Körper das Gift überwunden, und er blieb wach. Er schlug die Augen auf und sah Gras, an dem Tautropfen hingen, in denen sich das Licht der aufgehenden Sonne fing.
Dann geriet eine Hand in sein Blickfeld. Es war eine Hand, die mit blauschwarzen Schuppen bedeckt war. Die Hand eines Mannes aus Sorthai. Er zuckte davor zurück. Zugleich verschwand die Hand, und in jähem Entsetzen erfaßte Argan U Than, daß er seine eigene Hand gesehen hatte. Er erinnerte sich daran, daß der Richter gesagt hatte, man habe ein Mittel erfunden, mit dem man die Schuppen einfärben könne. Argan U Than richtete sich auf und preßte die Hände vor das Gesicht. Allmählich klärte sich sein Kopf, und ihm fiel alles wieder ein, was geschehen war. Sie haben mich nicht hingerichtet, dachte er, aber was sie jetzt mit mir getan haben, kommt einer Hinrichtung ziemlich nahe. Er blickte an sich herab. Er trug graue Hosen, aus denen seine schwarzgeschuppten Füße hervorsahen. Eine schwere, grüne Lederjacke umhüllte seinen Oberkörper. Sie war innen weich und angenehm anzuhaben. Ein dünnes Hemd aus gereinigtem Spinnengespinst wärmte zusätzlich, aber nicht ausreichend. In einem roten Tuchgürtel, der seine Hüften umspannte, fand er einige Münzen, ein Stückchen Papier und ein Messer. Das war seine gesamte Ausrüstung. Er zog die Jacke fröstelnd zu, während er einen kleinen Hügel hinaufstieg, weil er hoffte, von dort einen guten Ausblick zu haben, so daß er sehen konnte, wo er war. Ein leichter, aber sehr kalter Morgenwind wehte von Norden her. Er kündigte den kommenden Winter an. Ich muß weg, sagte Argan U Than sich. Wenn mich irgend jemand sieht, muß er mich für einen Blauen aus dem Süden halten. Er wird mich jagen und vielleicht auch töten. Der Schrecken fuhr ihm in die Glieder. Darüber hatte er bisher kaum gedacht. Jetzt wurde ihm klar, daß er sich aufgrund seines Aussehens mitten im Feindesland befand. Er fühlte das Papier in seinen Fingern und entfaltete es.
»Du kannst nur unter deinesgleichen leben, Argan U!« las er. Verwirrt schüttelte er den Kopf, kniff die Augen zusammen und richtete seine Blicke erneut auf diese Zeile, die mit der Maschine geschrieben war. »Du kannst nur unter deinesgleichen leben, Argan U!« Er sprach diese Worte laut aus, und dabei ging ihm ihr Sinn auf. Zugleich erfaßte er, wer ihm diese Nachricht zukommen ließ. Es konnte nur der Richter sein. Du kannst nur unter deinesgleichen leben! Das bedeutete, daß er den Norden so schnell wie möglich verlassen mußte. Seine Schuppen waren nicht mehr orangefarben, sondern blauschwarz. Seinesgleichen – das waren die Bewohner von Sorthai. Nur dort konnte er hoffen, untertauchen zu können. Doch es wäre nicht nötig gewesen, ihm diesen Hinweis zu geben. Er wäre ohnehin auf dem schnellsten Weg nach Süden gegangen, denn die Blauen hatten Arris O Veil entführt. Sie war jetzt im Süden einem grauenhaften Schicksal ausgeliefert. Er mußte sie befreien. In dieser Hinsicht war sogar ein Vorteil, daß seine Schuppen nun blauschwarz waren. So konnte er sich unter die Bewohner der Städte mischen und unerkannt nach ihr suchen. Und noch etwas teilte ihm der Richter mit. Er nannte ihn Argan U. Der ehrenvolle Zusatz Than war ihm aberkannt worden. Argan U empfand diese Tatsache als demütigend, aber dennoch als gerecht. Er war Tempelwächter gewesen. Er hatte sich für dieses Ehrenamt beworben und war unter vielen anderen ausgewählt worden. Unter seiner Verantwortung war der Gürtel des Verkünders entwendet worden, und daher war eine Bestrafung gerechtfertigt – auch dann, wenn er tatsächlich den Diebstahl mit keinen Mitteln hätte verhindern können. »Na schön«, sagte er laut. »Dann bleibt es eben bei Argan U.« Er schob die Gedanken an die gestohlene Reliquie von sich und nahm sich vor, erst einmal die zunächst anstehenden Probleme zu
lösen. Wenn ich weiß, wo ich bin, werde ich mich auf den Weg nach Süden machen, dachte er. Im Süden werde ich Arris O suchen und befreien. Danach werde ich meine Schuppen wieder umfärben, und wenn ich dazu die ganze Welt auf den Kopf stellen müßte. Und dann endlich werde ich klären, wie das eigentlich mit dem Überfall auf den Tempel wirklich war. Vielleicht gelingt es mir, den Gürtel aus dem Süden wieder mitzubringen. Nördlich von ihm lag zwischen sanft gewellten und dichtbewaldeten Hügeln ein blauer See mit vielen, kleinen Inseln und dichtem Wassergrasbewuchs an den Ufern. Südlich von ihm fiel das Land zunächst ab. Zwischen zwei mit Nadelhölzern bewachsenen Bergen schimmerte ein weiterer See. Dahinter stiegen blau glänzende Felswände bis zu einer Höhe von mehreren tausend Metern auf. Nirgendwo war eine Siedlung zu sehen. Nicht eine einzige Rauchsäule stieg aus den Wäldern auf. Es schien, als sei er allein auf der Welt. Er ließ sich ins Gras sinken und überlegte, ob er noch auf dem Hauptkontinent der vier nördlichen Erdteile war, oder ob man ihn schon in den Süden gebracht hatte. Doch ihm wurde schnell klar, daß er nicht weit vom Tempel entfernt sein konnte. Vielleicht sind es zwei‐ oder dreihundert Kilometer, mehr aber nicht, dachte er, und er vergegenwärtigte sich das Bild des Hauptkontinents. Vier Landbrücken verbanden diesen mit den beiden südlichen Kontinenten. Zwei von ihnen waren so unwegsam, daß er kaum hoffen konnte, auf ihnen durchzukommen. Dafür wurden die beiden anderen aber um so schärfer kontrolliert. Er mußte sich also entscheiden, welchen Weg er einschlagen sollte. Wenn er schnell nach Süden wollte, dann mußte er sich durch die Kontrollen schlagen. Wenn er vor der Entdeckung sicher sein wollte, dann mußte er über die Berge gehen.
Ich habe keine Zeit zu verschenken, sagte er sich. Arris ist bei den Blauen. Es kommt auf jede Minute an. Je früher ich sie finde, desto besser. Er bedauerte, daß er nie gereist war und kaum etwas von seiner Heimat kannte. So blieb ihm keine andere Wahl, als sich mühsam ins Gedächtnis zu rufen, was er auf der Schule gelernt hatte, und zu erraten, wo er war. Nachdem er etwa eine Stunde lang auf dem Hügel verharrt hatte, glaubte er, eine Lösung gefunden zu haben. Er erhob sich und machte sich auf den Weg zu den schroff aufsteigenden Bergen. Er wollte eine ihrer Schluchten durchqueren und war überzeugt, dann bald in flaches Land zu kommen. Vielleicht stoße ich in den Bergen auf irgendwelche Leute, die ich fragen kann, dachte er, doch kaum war ihm dieser Gedanke gekommen, als er ihn auch schon wieder verwarf. Er konnte und durfte niemanden fragen, da man ihn aufgrund seiner Schuppenfarbe für einen Feind halten würde. Er begann laut zu fluchen. Eigentlich kann ich es mir gar nicht leisten, am Tage durch die Gegend zu laufen, dachte er. Wenn mich jemand sieht, ist der Teufel los. Ich muß vorsichtig sein. Von nun an blieb er unter den Bäumen, und er trat nie auf eine freie Fläche hinaus, bevor er sich vergewissert hatte, daß ihn niemand überraschen konnte. Gegen Mittag erreichte Argan U das Ende der Schlucht, doch lag nun kein flaches Land vor ihm, wie er gehofft hatte, sondern steile Felswände erhoben sich vor ihm. Ein dunkler Canon, dessen Grund bewaldet war, führte nach Südwesten. An seinem Eingang standen mehrere Holzhäuser, vor denen Vieh weidete. Rauch stieg aus einem Schornstein auf und zeigte an, daß der Bauernhof bewirtschaftet wurde. Puschyden waren jedoch nicht zu sehen. Argan U überlegte, ob er bis zum Einbruch der Dunkelheit warten sollte, bis er zu dem Anwesen ging, erinnerte sich dann jedoch
wieder daran, daß Arris O Veil, die Frau, die er liebte, von den Barbaren aus dem Süden entführt worden war. Daher nahm er allen Mut zusammen und schlich sich im Schutz einiger Bäume und Büsche an die Häuser heran. Als ihn nur noch wenige Meter von einem Schuppen trennten, trat plötzlich ein stämmiger Bauer aus einem Stall hervor und trug einen Eimer mit Milch ins Wohnhaus. Argan U fuhr erschrocken zurück und versteckte sich hinter einem Busch. Der Bauer bemerkte ihn nicht. Argan U atmete erleichtert auf, als er im Haupthaus verschwunden war, denn er wußte, daß er ihm kräftemäßig nicht gewachsen war. Er wartete einige Minuten, dann traute er sich aus seiner Deckung hervor. Neugierig blickte er in den Stall, in dem mehrere Bergziegen angebunden waren. Argan U wußte, daß man auf ihnen reiten konnte, aber er hatte nie auf dem Rücken irgendeines Tieres gesessen, und er war sich darüber klar, daß ein Versuch, mit einer Bergziege zu fliehen, von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen wäre. Doch in der Ecke des Stalles stand ein Motorrad, und damit konnte er umgehen. Es kommt nur darauf an, daß genügend Treibstoff im Tank ist, dachte er, während er sich ängstlich an den Bergziegen vorbei stahl. Die Tiere hatten weit vorspringende und gefährlich spitze Hörner, mit denen sie ihm schwere Verletzungen hätten beibringen können, und ihm fiel ein, daß er schon häufiger von tödlichen Zwischenfällen mit diesen Tieren gelesen hatte. Doch ungehindert erreichte er das Motorrad. Er untersuchte es und stellte erleichtert fest, daß es in Ordnung war. Es konnte noch nicht allzu lange her sein, daß der Bauer damit gefahren war. In einem Reservetank fand er noch etwas Treibstoff, so daß er die Maschine auftanken konnte. Er schätzte, daß er wenigstens zweihundert Kilometer weit damit kommen konnte, vorausgesetzt, er wurde von niemandem aufgehalten. Danach mußte er sehen, ob
er irgendwo ein geeignetes Gemisch stehlen konnte. Da er den Bauern nicht vorzeitig auf sich aufmerksam machen wollte, entschloß er sich, das Motorrad aus dem Stall zu schieben. Doch er hatte seine Hände kaum auf den Lenker gelegt, als draußen ein Beißer anschlug. Das hundeähnliche Tier war offenbar bis jetzt im Haus gewesen und witterte nun, daß etwas nicht in Ordnung war. Der Bauer pfiff laut und rief es dann zu sich. Als Argan U schon glaubte, er werde in den Stall kommen und ihn überraschen, vernahm er die Stimme einer Frau. Sie rief den Bauern ins Haus. »Du mußt hören, was sie in den Nachrichten senden«, sagte sie. »Der Gürtel des Verkünders ist gestohlen worden, und deshalb herrscht in den Städten Aufruhr.« Der Bauer antwortete etwas, was Argan U nicht verstand, befahl dann den Beißer zu sich und kehrte ins Haus zurück. Ich muß wissen, was da los ist, dachte der Hüter und verwarf den Plan, so schnell wie möglich mit dem Motorrad zu fliehen. Er schlich hinter dem Bauern her. Eines der Fenster stand offen, und Argan U eilte lautlos zu ihm hin. Jetzt war er froh darüber, daß der Richter ihm keine Schuhe gegeben hatte, denn mit bloßen Füßen verursachte er keine Geräusche. Er stellte sich unter das Fenster und lauschte. »… haben die Behörden offenbar in Verlegenheit gebracht«, meldete der Nachrichtensprecher. »Auf den Straßen der großen Städte unseres Landes kommt es zu Massendemonstrationen, bei denen Männer und Frauen dagegen protestieren, daß die Reliquie des Verkünders gestohlen werden konnte. Der Kreis der Gerechten geht mit aller Schärfe gegen die Demonstranten vor und droht den Gebrauch von Schußwaffen an. Vorläufig hat er jedoch noch nicht erreichen können, daß sich die Demonstrationen auflösen.« Danach schaltete der Sender um auf eine Außenstation. Das Geschrei der Puschyden, die ihren Protest vortrugen, hallte aus den Lautsprechern.
Argan U wunderte sich, daß es zu derartigen Kundgebungen gekommen war. Er konnte verstehen, daß die Puschyden empört über den Verlust des Gürtels des Verkünders waren, konnte sich jedoch nicht erklären, warum die Massen die mit diktatorischer Machtfülle ausgestattete, alleinherrschende Partei der Gerechten in dieser Weise anklagten. Mit einem solchen Verhalten hatte er nie gerechnet, ja, er hatte sich noch nicht einmal Gedanken darüber gemacht, wie die Masse der Puschyden im Norden auf den Diebstahl reagieren würde. Warum sind sie nicht auf die Blauschwarzen wütend? fragte er sich. Die sind doch schließlich schuld, denn sie haben den Gürtel gestohlen. Er stutzte. Woher wußte er das eigentlich? Er hatte keinen von ihnen gesehen. Dummkopf! schalt er sich dann. Wer sollte so etwas denn sonst tun? Die Blauen sind doch schon seit dreitausend Jahren scharf auf den Gürtel. Und jetzt haben sie ihn. Sie und niemand anderes. Er kehrte zum Stall zurück. Bevor er ihn betrat, blickte er noch einmal zum Hauptgebäude hinüber, und er sah, daß der Beißer zur Tür herauskam. Das Tier war unruhig. Noch hatte es ihn nicht gewittert, aber es konnte kein Zweifel daran bestehen, daß es aus dem Haus gekommen war, weil es gemerkt hatte, daß irgend etwas nicht in Ordnung war. U war so erschrocken, daß er für einige Zeit nicht wußte, was er tun sollte. Er hörte, daß der Bauer sich dem Stall näherte, und unwillkürlich sah er sich nach einem Versteck um. Dann wurde ihm jedoch klar, daß der Beißer ihn auf jeden Fall finden würde. Ihm blieb nur eine Möglichkeit. Er startete das Motorrad. Laut röhrend sprang der Motor an und übertönte alle anderen Geräusche des Bauernhofs. Argan U schwang sich in den Sattel und gab Gas. Die Maschine rollte an den
Hörnern der aufgeschreckten Bergziegen vorbei auf die Tür zu, in der der Beißer erschien. Laut knurrend warf sich ihm das Tier entgegen. Die messerscharfen Zähne schnappten nach seinen Beinen. Argan U beschleunigte voll und zog gleichzeitig die Beine an, um den Zähnen zu entgehen. Die Maschine schwankte und wäre beinahe umgekippt. Dann jedoch schoß sie donnernd durch die offene Tür auf den Hof hinaus. Argan U sah den Bauern vor sich auftauchen, und er riß das Motorrad zur Seite, um ihn nicht zu überfahren. Er hörte sein wütendes Gebrüll und bemerkte noch, daß er mit einer Mistgabel angriff. Dann jedoch war er schon an ihm vorbei und jagte einen Feldweg hinunter. Der Beißer hetzte noch eine Weile hinter ihm her, blieb endlich jedoch zurück und kehrte um, als er merkte, daß er ihn nicht einholen konnte. Argan U lachte und steuerte das Motorrad in die Schlucht hinein. Der Bauer wird telefonieren, dachte er. Bestimmt ruft er Nachbarn zu Hilfe, aber das wird ihm nichts nützen. Ich komme auch an ihnen vorbei. Eine Stunde später dachte er anders. Er fuhr durch einen Wald und konnte durch eine Schneise auf ein weites Tal hinabsehen, das vor ihm lag. Eine Straße führte durch einen kleinen Ort, und vor diesem hatten die Einwohner eine Barriere errichtet. Man scheute offenbar keine Mühen, um ihn, den vermeintlich Blauschwarzen aus dem Süden, abzufangen. Er ließ die Maschine ausrollen, um sich in aller Ruhe umzusehen. Dann erkannte er, daß es nur diese eine Straße gab, die durch das vor ihm liegende Tal führte. Dann fahre ich eben querfeldein, dachte er, und wenn das nicht geht, warte ich, bis es dunkel ist. Er tastete sich langsam bis zum Waldrand vor und beobachtete von dort aus einige Männer, die in breiter Linie auf den Wald zukamen. Sie wollten ihn offensichtlich schon früh abfangen, und sie schienen nicht auf den Gedanken zu
kommen, daß er sie bemerken könnte. Zugleich sah er, daß es eine Möglichkeit gab, quer über die Felder an der Siedlung vorbeizufahren. Dabei mußte er zwar einen gewaltigen Umweg in Kauf nehmen, konnte jedoch hoffen, hinter Knicks und Erdwällen eine ausreichende Deckung zu finden. 5. Das Gespräch zwischen den beiden Ysteronen und den Abgesandten von der DUSTY QUEEN geriet ins Stocken, und der Eindruck, daß sich Bungeltjat in größter Verlegenheit befand, verstärkte sich. Atlan fragte sich, was von dem Geständnis des Riesen zu halten war. Während er noch über die Aussagen Bungeltjats nachdachte und seine nächste Frage vorbereitete, hallten einige melodische Töne aus einem Lautsprecher an der Decke. Die beiden Ysteronen erhoben sich augenblicklich und verließen den Raum. Im Türschott drehte Bungeltjat sich um. »Wir kommen wieder«, versprach er. »Wartet.« »Uns bleibt wohl auch kaum etwas anderes übrig«, murmelte Oserfan. »Seltsam«, sagte Breckcrown Hayes, als er mit Atlan und dem Molaaten allein war. »Das paßt doch irgendwie nicht zusammen.« »Warum sind sie hinausgegangen?« Oserfan ließ den Roboter, in dem er sich versteckt hielt, einige Schritte auf und ab gehen. »Wollen sie sich beraten?« »Vielleicht hat Bungeltjat uns mehr gesagt, als er durfte?« überlegte der Arkonide. »Du meinst, er wurde zurückgepfiffen?« Hayes schien sich mit diesem Gedanken nicht anfreunden zu können. »Warum nicht? Schließlich dürften er und WyltʹRong nicht die
einzigen Ysteronen im Ysterioon sein. Sicherlich gibt es auch hier Rangunterschiede. Bungeltjat macht mir nicht den Eindruck, daß er dabei einen besonders hohen Rang einnimmt.« »Das ist richtig«, erwiderte Hayes. »Er war verlegen. Er sah aus wie jemand, der sich in die Ecke gedrängt fühlt.« »Was mich überrascht«, bemerkte Oserfan, »ist das Entgegenkommen, das er uns zeigt. Warum antwortet er, wenn ihm unsere Fragen so peinlich sind? Warum läßt er sich in Verlegenheit bringen? Wieso läßt er sich beschuldigen? Die Ysteronen haben hier die Macht. Nicht wir. Sie haben uns in der Hand, und niemand kann sie zwingen, etwas auszusagen, was sie nicht verraten wollen.« »Unter normalen Umständen nicht«, entgegnete Atlan. »Wir werden noch vieles zu klären haben«, stellte Breckcrown Hayes fest. Er blickte den Arkoniden an. »Ist dir an WyltʹRong etwas aufgefallen?« »Ich habe kaum auf ihn geachtet. Er schien allerdings viel gelassener zu sein als Bungeltjat.« »Ich auch nicht, aber ich habe das Gefühl, daß irgend etwas mit ihm nicht stimmt. Wenn er zurückkommt, werde ich ihn mal unter die Lupe nehmen.« »Wie willst du das denn anstellen?« fragte Oserfan verblüfft. »Du kannst doch einen Riesen wie den Ysteronen nicht unter eine Lupe legen.« »Warum nicht?« lachte Hayes. »Es kommt nur auf die Lupe an.« * Argan U arbeitete sich mit seinem Motorrad über die Felder und Wiesen voran, wobei er stets darauf achtete, daß er von der Stadt her nicht gesehen werden konnte. Als er schon glaubte, zur Straße zurückkehren zu können, weil nur noch einige verstreute Häuser in seiner Nähe lagen, bemerkte er
plötzlich eine Horde von etwa dreißig Männern, die aus einem Hain auftauchten und brüllend eines der Häuser stürmten, das kaum hundert Meter von ihm entfernt war. In seinem ersten Schrecken glaubte er, daß man ihn entdeckt hatte, dann aber sah er, daß es einzig und allein um das Haus und seine Bewohner ging. Die Männer brachen die Tür auf und drangen in das Gebäude ein. Verschwinde! drängte ihn eine innere Stimme. Dies ist die beste Gelegenheit dazu. Doch er verließ sein Versteck nicht. Er blieb hinter einem Knick liegen, weil er sich nicht entgehen lassen wollte, was geschah. Für ihn stand fest, daß die Aktion der Männer irgendwie mit den Unruhen zusammenhing, von denen er im Fernsehen gehört hatte. Die Männer zerrten einen Uniformierten aus dem Haus und stießen ihn laut schreiend vor sich her. Der Gepeinigte trug eine hellblaue Kleidung, die ihn unübersehbar als Parteigänger der Gerechten kennzeichnete, und Argan U erkannte, daß der Zorn seiner Gegner sich nicht in erster Linie gegen ihn, sondern gegen die Uniform richtete. Sie sind wütend, weil der Gürtel des Verkünders gestohlen worden ist, und sie machen die Gerechten dafür verantwortlich, schoß es ihm durch den Kopf. Er haßte die Gerechten, die alle anderen Parteien verboten hatten, als sie an die Macht gekommen waren, und die mit diktatorischer Gewalt herrschten. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung stand den Gerechten ablehnend gegenüber, doch nun war es zu spät. Die neuen Herrscher hatten ihre Macht schnell ausgebaut. Sie war durch zahllose Organisationen überall präsent und wußten sich selbst in den kleinsten Dörfern durchzusetzen. Argan U lächelte erbittert, als er beobachtete, wie die aufgebrachten Männer den Uniformierten auszogen und ihn und seine Kleidung in einen Tümpel warfen, um ihn danach mit Sand und Schmutz zu bewerfen und ihn lautstark zu verhöhnen. Diese Männer mochten glauben, daß sie damit etwas erreichten,
doch sie würden nichts ändern. Vielleicht zerstörten sie die Autorität dieses einen Funktionärs, die Gerechten aber – die in den Augen Argan Us alles andere als gerecht waren – würden sie nicht stürzen. Möglicherweise haben die Gerechten die Demonstrationen und Übergriffe selbst inszeniert, damit das Volk Dampf ablassen kann, dachte er. Später werden sie um so härter durchgreifen. Er duckte sich und schob das Motorrad im Schutz des Knicks weiter. Allmählich blieb der Lärm hinter ihm zurück, und Argan U stieg schließlich wieder in den Sattel und startete. Er blieb auf einem Feldweg, der parallel zur Straße verlief, weil er glaubte, hier sicherer zu sein. Tatsächlich begegnete ihm niemand mehr, bis es endlich dunkelte. Zu dieser Zeit lagen die Berge schon weit hinter ihm, und er konnte die schroff aufsteigenden Gipfel des Schneegebirges sehen, das eine breite Barriere gegen Süden bildete. Endlich hatte er die Bestätigung dafür, daß er sich auf dem richtigen Wege befand. Er brach noch einmal in einen Schuppen ein, um hier etwas Treibstoff zu entwenden. Zugleich nahm er sich vor, später für den Schaden aufzukommen, sobald es ihm möglich war. Im Schutz der Nacht überwand er die eisigen Schluchten des Schneegebirges, in denen die Temperaturen so tief sanken, daß er sich kaum noch auf dem Motorrad halten konnte, weil die Kälte seine Muskeln verkrampfte. Mit eiserner Disziplin hielt er durch. Er kämpfte gegen die Kälte an, so gut es ging, und näherte sich gegen Morgen, als es spürbar wärmer wurde, einer der Landbrücken, die zum Süden führten. Als er die letzte Anhöhe vor dem Meer überwand, konnte er ungewöhnlich weit nach Süden sehen, weil die Luft kristallklar und sauber war. Vor ihm lief das Land zusammen, als würde es in einen Trichter gepreßt und führte dann in einer bis zum Horizont reichenden Hügelkette nach Süden ins Meer hinaus. Argan U hielt an. Er blieb auf dem Motorrad sitzen und blickte bestürzt auf das Bild,
das sich ihm bot. Er war immer davon ausgegangen, daß der Weg nach Süden frei war. Jetzt wurde er eines anderen belehrt. Eine Mauer spannte sich quer über das Land und sperrte alle ab, die von Norden nach Süden oder in umgekehrter Richtung von Süden nach Norden ziehen wollten. Da komme ich niemals durch, erkannte er. Die Mauerkrone war so breit, daß Armeefahrzeuge darauf fahren konnten. Die Rohre von mächtigen Geschützen ragten in den Himmel, und neben ihnen drehten sich zahlreiche Radarantennen. Es ist sinnlos, dachte Argan U. Ich habe keine Chance. Verwundert fragte er sich, wie die Blauen aus dem Süden es geschafft hatten, diesen Verteidigungswall zu überwinden, bis zum Tempel vorzustoßen, dort die Reliquie zu stehlen und dann in den Süden nach Sorthai zurückzukehren. Es muß eine Lücke geben! fuhr es ihm durch den Sinn. Irgendwo gibt es einen Durchschlupf. Vielleicht sind sie mit einem Schiff gekommen und später wieder geflüchtet. Unwillkürlich hielt er nach irgendeinem Anzeichen Ausschau, das auf ein Schiff hinwies, doch dann wurde er sich dessen bewußt, daß die Abwehranlagen sich auch auf das Meer hinausziehen mußten, da es sinnlos gewesen wäre, allein über das Land heranrückende Feinde abzuwehren. Die Blauen haben Jahre Zeit gehabt, einen Plan auszuarbeiten, die Verteidigungsanlagen zu prüfen und dann den Vorstoß zu unternehmen, dachte er schließlich resignierend. Und du willst es auf Anhieb schaffen? Unmöglich. Er merkte jetzt, daß er seit mehr als vierundzwanzig Stunden nicht mehr geschlafen hatte. Die Müdigkeit drohte ihn zu übermannen. Und da er sich daran erinnerte, unter der Anhöhe eine versteckt liegende Hütte gesehen zu haben, zog er sich von der Straße zurück. Zu seiner Erleichterung fand er die Hütte unbewohnt vor. Sie
enthielt nur wenige Einrichtungsgegenstände. Offenbar wurden sie nur selten von Straßenbauarbeitern benutzt. Argan U schob das Motorrad unter die Bäume und deckte es mit Zweigen zu, damit es von der Straße her nicht zu sehen war, dann legte er sich auf den Boden der Hütte und schlief fast augenblicklich ein. Viel Ruhe war ihm jedoch nicht vergönnt. Er wachte schon bald wieder auf, weil er ein eigenartiges Pfeifen hörte, das in ein bedrohlich klingendes Dröhnen überging, das allmählich verebbte. Er sprang auf und eilte aus der Hütte, und dann sah er drei diskusförmige Flugkörper, die von Süden über die Anhöhe kamen und mit einer für ihn unfaßbaren Geschwindigkeit nach Norden flogen. Sie folgten offenbar jenen Maschinen, die er zuvor gehört hatte. Als sie über dem Schneegebirge verschwanden, donnerte und krachte es, als sei er mitten in ein Gewitter geraten. Dabei spannte sich der Himmel klar und rot über ihm. Vereinzelte Explosionswolken zeigten an, daß die Soldaten mit den Geschützen von der Mauer auf die fremden Flugkörper geschossen, aber nicht getroffen hatten. Erschrocken zog er sich in die Hütte zurück. Waren die Blauen mit derartigen Flugmaschinen gekommen? War es ihnen nach Jahrtausenden doch gelungen, eine Waffe zu entwickeln, der niemand etwas entgegenzusetzen hatte? Fluggeräte solcher Art hatte er noch nie gesehen, und er konnte sich auch nicht erklären, mit welcher Technik sie sich in der Luft hielten. Da die Maschinen verschwunden waren, legte er sich wieder auf den Boden. Er dachte noch eine Weile über sie nach und schlief dann wieder ein. Er wäre sicherlich nicht so früh wach geworden, wenn er nicht gefühlt hätte, wie ihm jemand etwas gegen den Hals drückte. Er wollte sich dagegen wehren, hob die Hand zum Kopf und spürte plötzlich den kalten Lauf einer Schußwaffe zwischen den Fingern. Erschrocken zog er die Hand zurück.
»Das ist vernünftig, Blauer«, sagte jemand. »Ich schieße, wenn du mich dazu zwingst.« Argan U schlug die Augen auf. Ein verwahrlost aussehender Mann kniete vor ihm auf dem Boden. Er hielt eine Pistole in der Hand, mit der er ihn bedrohte. Der Fremde grinste breit und sagte: »Es kommt nicht alle Tage vor, daß man einen wie dich erwischt.« »Kommt es denn überhaupt vor?« fragte Argan U, den in diesem Moment weniger die Gefahr interessierte, in der er schwebte, als vielmehr, ob nördlich des Verteidigungswalls blauschwarz geschuppte Puschyden aus dem Süden angetroffen worden waren. »Nicht, daß ich wüßte«, sagte der Fremde. Unwillig verzog er das Gesicht. »Ich habe noch nie davon gehört. Aber jetzt habe ich dich. Eine fette Beute, möchte ich meinen. Was glaubst du, was die Offiziere der Gerechten mir für dich bezahlen werden?« »Du willst mich ausliefern? Geht es dir so schlecht?« Die Augen des Fremden verengten sich. Argwöhnisch musterte er Argan U. »Du willst doch nicht behaupten, daß du mir aus einer Verlegenheit helfen kannst?« »Nimm die Pistole zur Seite, damit ich mich hinsetzen kann. Ich laufe nicht weg. Wozu auch. Ich benötige Hilfe.« Der Mann, der ihn überfallen hatte, zog sich bis zur Tür zurück, zielte jedoch ständig mit der Waffe auf ihn. Er trug einen schwarzen Umhang, der ihm von den Schultern bis zu den Füßen reichte. Eine Pelzmütze bedeckte den Kopf, und farbenprächtige Perlenketten zierten seine Schultern. Alles, was er trug, sah alt und vernachlässigt aus. »Wer bist du?« fragte er. »Und wie kommst du hierher? Bist du aus einem dieser fliegenden Scheiben gefallen?« »Ich bin Argan U«, antwortete er. Der Fremde lachte dröhnend. »Argan U ist zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Ich
habe die Verhandlung zufällig im Fernsehen verfolgt. Außerdem ist U ganz normal geschuppt und nicht blauschwarz, so wie du es bist.« »Laß mich meine Geschichte erzählen«, bat Argan U. »Und dann kannst du mir sagen, ob du sie glaubst oder nicht.« Der Fremde blieb skeptisch, war jedoch neugierig genug, sich anzuhören, was U widerfahren war. Der Fremde, der sich Bol nannte, schüttelte nachdenklich den Kopf. »Es ist schwer zu glauben, aber irgendwie hört es sich so an, als ob alles stimmt«, erklärte er, als Argan U seinen Bericht zu Ende gebracht hatte. »Nehmen wir einmal an, daß du die Wahrheit sagst. Welchen Vorteil hätte ich davon, wenn ich dir helfe?« »Es ist ganz einfach«, erwiderte Argan U. »Offiziell bin ich tot. Aber ich habe immer noch etwas Geld auf meinem Konto, und in dem Urteil ist nichts von meinem Vermögen gesagt worden. Es ist nach wie vor vorhanden, aber mir nicht zugänglich. Ich kann schließlich nicht in irgendeine Bank gehen und mir Geld auszahlen lassen. Man würde mich sofort in den Kerker werfen lassen. Meine Verwandten haben nach dem Gesetz nicht vor Ablauf eines halben Jahres Zugriff zu meinem Geld.« »Ich verstehe«, rief Bol und befeuchtete sich aufgeregt die Nasenspitze mit der Zunge. »Du willst mich zu einer Bank schicken und Geld holen lassen.« »Das wäre eine Idee. Eine Hälfte für dich, eine für mich. Damit könnten wir dann etwas anfangen.« »Was denn, zum Beispiel?« »Wir könnten versuchen, eine Lücke im Verteidigungswall für mich zu finden. Ich muß Arris O Veil aus dem Süden zurückholen.« Bol lachte. Er legte den Kopf schief und kniff ein Auge zu. Die Pistole wanderte in den Gürtel zurück. »Bist du so naiv, oder tust du nur so?« fragte er. »Dir sollte mittlerweile doch klar sein, daß die Blauschwarzen den Gürtel des
Verkünders gar nicht gestohlen haben.« »Nicht?« »Bestimmt nicht. Niemand kommt durch die Verteidigungslinien, und nach dem Überfall auf den Tempel schon gar nicht. Das schaffen auch Unsichtbare nicht. Ich weiß, daß die Soldaten an der Grenze mit allen möglichen Tricks arbeiten. Keiner kommt durch.« »Wenn es nicht die Blauen waren, ergibt der Diebstahl keinen Sinn.« »Du bist also doch naiv«, stellte Bol fest. »Natürlich ergibt es einen Sinn. Ich sehe zwei Möglichkeiten. Entweder waren es die Gerechten selbst oder die Konterrevolutionäre, ihre Gegner.« »Daran habe ich auch schon gedacht.« »Der Diebstahl erregt das ganze Volk. In den großen Städten ist der Teufel los. Aber noch ist nicht zu erkennen, wem das mehr in den Kram paßt, den Gerechten oder den anderen. Die Gerechten könnten die Demonstrationen provoziert haben, um so die Anführer der Konterrevolution an die Öffentlichkeit zu locken, sie zu identifizieren und sie später zu verhaften.« Argan U dachte eine Weile nach. »Wenn es so ist, dann bin ich also das Opfer eines Komplotts«, sagte er. »Aber was haben diese seltsamen Flugmaschinen damit zu tun? Solche Maschinen habe ich noch nie gesehen.« »Bin ich Plothat, der Weise?« entgegnete Bol. »Woher soll ich das wissen? Glaubst du vielleicht, ich kann dir jede Frage beantworten?« »Verzeih mir. Natürlich kannst du nicht alles wissen. Aber vielleicht kannst du mir sagen, wo ich jetzt anfangen soll. Ich muß doch etwas tun. Sie wollen, daß ich versuche, in den Süden zu gehen, weil ich dunkle Schuppen habe. Und sie glauben, daß ich dabei erschossen werde.« »Ich glaube nicht, daß es die Gerechten sind, die hinter dem Komplott stehen.« »Nicht? Warum nicht?« »Die Gerechten schicken in ihrer unendlichen Güte täglich
Dutzende ihrer Gegner in den Tod«, antwortete Bol mit beißender Ironie. »Sie sind so gerecht, daß sie alle gleich behandeln – nämlich gleich schlecht. Glaubst du, daß sie Hemmungen gehabt hätten, dir den Kopf abzuschlagen? Bestimmt nicht. Nein, sie waren es nicht.« Argan U mußte ihm recht geben. Er konnte sich nicht vorstellen, daß die Gerechten ihn geschont hätten. »Da ist etwas dran«, sagte er. »Die Gerechten hätten mich nicht am Leben gelassen und mir so die Chance gegeben, mich zu rächen. Aber wer kann das alles inszeniert haben?« »Denke einmal darüber nach«, empfahl ihm Bol. »Am besten fängst du ganz von vorn an.« »Ganz von vorn?« Bol verdrehte die Augen. »Na hör mal, so dumm kannst du doch gar nicht sein. Ich meine bei dem Überfall auf dich und den Tempel. Wenn du dir diesen Überfall genau betrachtest und ihn Schritt für Schritt rekonstruierst, dann fällt dir bestimmt etwas auf.« »Das habe ich schon mehrmals getan. Ich habe alles überdacht.« »Dann tu es noch einmal. Wenn du wissen willst, wer dich reingelegt hat, dann mußt du diesen Weg gehen.« »Ich will es versuchen.« Argan U gähnte. »Hast du etwas zu essen für mich?« Bol konnte ihm nichts geben, da er selbst nichts hatte. »Wenn du Hunger hast, müssen wir in die nächste Stadt. Wir müssen versuchen, Geld von deinem Konto abzuheben. Wenn das klappt, können wir uns kaufen, was wir benötigen. Vielleicht können wir auch Makeup für deine Schuppen besorgen, so daß wir dich in einen anständigen Puschyden zurückverwandeln können.« »Wir brechen sofort auf«, entschied Argan U. Er ging auf die Tür zu, blieb jedoch plötzlich stehen, als sei er gegen eine unsichtbare Wand gelaufen. Mit beiden Händen griff er sich an den Kopf. »Ich weiß es«, schrie er. »Zum Teufel. Jetzt weiß ich es.« »Was weißt du?«
»Wer hinter diesem gemeinen Intrigenspiel steht. Es kann nur einer sein. Du hast recht. Die Antwort liegt in dem Überfall selbst. Es ist alles ganz klar.« »Würdest du mir erklären?« fragte Bol. Argan U zweifelte nicht daran, daß er ein Aussteiger war, der sich aus allen Bindungen gelöst hatte und in der freien Natur lebte. Seine Sprache verriet, daß er früher ein anderes Leben geführt hatte. Es war die Sprache eines überdurchschnittlich gebildeten Puschyden. »Es ist wirklich einfach«, antwortete Argan U. »Ich habe dir doch gesagt, daß der Tempel mit zahllosen elektronischen Fallen gesichert ist, so daß normalerweise niemand in seine Nähe kommen kann, ohne einen Alarm auszulösen.« »Ja, ich erinnere mich. Und?« »Das System der Fallen war nur mir bekannt und dem Boten des Verkünders. Ich könnte jederzeit in den Tempel eindringen, weil ich die unvermeidlichen Lücken im System kenne. Hm. Und der Bote des Verkünders weiß auch, was er zu tun hat.« Bol setzte sich. »Ach, du meine Güte«, seufzte er und kratzte sich hinter einem Ohr. »Du willst doch wohl nicht behaupten, daß der Bote des Verkünders, der höchste Priester unseres Volkes, ein derart durchtriebenes Spiel eingefädelt hat? Begreifst du überhaupt, was du da sagst? Too Goron ist ein Unantastbarer. Allein eine solche Beschuldigung zu erheben, ist schon eine Sünde. Und wenn wahr ist, was sie verkünden, kann es dir übel ergehen.« »Du glaubst wohl nicht an das, was der Verkünder gesagt hat, wie?« »Um ehrlich zu sein – nicht ein Wort. Im Gegenteil. Ich bin davon überzeugt, daß es für uns alle besser wäre, wir würden nicht den Satan anbeten, sondern einen gütigen Gott. Ich kann mir vorstellen, daß es einen solchen Gott gibt.« Argan U lächelte. »Allmählich kommt es mir unwahrscheinlich vor, daß uns der
Zufall zusammengeführt hat, Bol. Ich glaube daran, daß es den Satan gibt, aber ich weigere mich, das Böse anzubeten.« Bol blickte ihn erstaunt an. »Immerhin hast du dich als Hüter beworben. Und du bist Hüter gewesen. Wieso hast du dich in den Dienst Satans gestellt, wenn du ihn ablehnst?« Argan U wich ihm nicht aus. »Ich habe einen Fehler gemacht, den ich mittlerweile bereue. Heute weiß ich, daß es falsch war, Hüter zu sein. Doch ich habe an meine Karriere gedacht. Vielleicht weißt du, wieviel es wert ist, wenn ich deinen Papieren steht, daß du ein solches Amt bekleidet hast.« »Das ist geradezu pikant«, sagte Bol belustigt. »Ein Ketzer bewirbt sich um den Posten des Hüters, um einen Posten mithin, um den sich Tausende anderer reißen. Unter ihnen sind sicherlich fast nur Gläubige. Aber nicht einer von ihnen wird durch das Amt geehrt, nein, ausgerechnet ein Mann, der Satan von seinem Thron stoßen möchte.« »Das ist keineswegs komisch«, protestierte Argan U. »Je mehr ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, daß Too Goron recht gut wußte, warum er mir das Amt gab und nicht einem anderen. Ich habe meine Prüfer nicht getäuscht, wie ich mir eingebildet habe, sondern ihnen ungewollt verraten, wie ich wirklich denke. Deshalb wollte Too Goron mich strafen, und das ist ihm auch gelungen. Mir, dem Ketzer, ist der Gürtel gestohlen worden. Too Goron hat zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen.« »Was wirst du tun?« »Ich gehe wieder nach Norden. Ich werde das Kloster aufsuchen und den Gürtel herausholen.« »Das ist unmöglich.« »Nichts ist unmöglich. Ich werde es wagen. Auf jeden Fall. Ob du dabei bist oder nicht.« »Ich habe keinen Grund, mich in Gefahr zu begeben«, entgegnete
Bol. »Dennoch werde ich dabei sein. Ich möchte sehen, wie Too Goron, der höchste Diener des Satans, stürzt.« Er stutzte und hielt Argan U fest, als dieser die Hütte verlassen wollte. »Eines aber ist mir noch unklar. Irgendwie paßte es nicht.« »Was meinst du?« »Wieso läßt Too Goron den Gürtel des Verkünders stehlen? Wieso inszeniert er einen Raubüberfall auf das höchste Gut seiner Sekte?« »Liegt das nicht auf der Hand? Er will die Gerechten stürzen. Er will die Konterrevolution.« »Aber er hat mehr als einmal die Partei der Gerechten in der Öffentlichkeit unterstützt.« »Mag sein, aber für mich ist klar, daß er die absolute Macht will. Es genügt ihm nicht mehr, der oberste Priester Satans zu sein. Er will auch noch die weltliche Macht. Und die erreicht er nur, wenn er zuvor die Gerechten hinwegfegt. Ich fürchte, es wird ihm mit Hilfe der aufgehetzten Massen gelingen, zumal die Gerechten nicht ihn als Gegner ansehen, sondern die Blauen aus dem Süden.« 6. »Das Kloster«, sagte Bol. »Endlich. Wir haben es geschafft.« Er zog Argan U zur Seite hinter einige Felsen, so daß sie von der Straße aus nicht gesehen werden konnten. »Da ist es.« Argan U ließ sich erschöpft auf den Boden sinken. Das Kloster machte einen nachhaltigen Eindruck auf ihn. Es war ein gewaltiges Bauwerk, das sich auf der höchsten Kante einer senkrecht aufsteigenden Felswand erhob. Es bestand zum Teil aus natürlich gewachsenem Stein, der durch Anbauten kunstvoll erweitert worden war, so daß es nun den Anblick eines gewaltigen Vogelkopfes mit weit vorspringendem, scharf gekrümmten
Schnabel bot, aus dem sich ein mehrere Meter breiter Bach ergoß. Das Wasser stürzte in die Tiefe und bildete einen schäumenden Wasserfall von annähernd zweihundert Metern Höhe. Argan U erschauerte beim Anblick dieses Vogelkopfes, dessen schwarze Augenhöhlen eine magische Ausstrahlung hatten. In jedem Tempel von Cur‐Cur U befand sich eine Nachbildung dieses Tempels, doch keine hatte eine derart düstere und dämonische Kraft wie dieses Gebäude selbst. Argan U wurde unsicher. Konnte es nicht sein, daß er sich geirrt hatte? War möglicherweise dieses Kloster doch der Eingang zum Reich Satans? Wie nun, wenn es der Wahrheit entsprach, daß der Herr der Finsternis seine Widersacher vernichtete, sobald sie es wagten, dieses Kloster zu betreten? Welch ein Hohn, dachte Argan U, daß sich über der Steilwand sanfte, grüne Hügel wellen, die zu einer ganz anderen Welt gehören, einer lichten, schönen Welt. »Was tun wir?« fragte Bol, der weniger beeindruckt zu sein schien als er. »Versuchen wir es gleich, oder warten wir ein paar Tage, bis wir mehr wissen? Es wäre vielleicht ganz gut, wenn wir das Kloster ein wenig beobachten.« Argan U schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Neun Tage sind wir nun schon unterwegs. Wenn ich die zwei Tage noch hinzurechne, die zwischen dem Überfall auf den Tempel und meiner Gerichtsverhandlung lagen, dann ist Arris schon elf Tage in den Händen dieser Satansanbeter.« »Sei froh, daß es so ist«, entgegnete Bol. »Wäre sie im Süden bei den Blauen, dann wäre jetzt alles zu spät. Die Klosterbrüder aber werden ihr nichts tun. Ihnen kommt es doch nur darauf an, daß Arris O nichts verraten kann.« »Davon bin ich noch lange nicht überzeugt, Bol. Vergiß nicht, was sie mit mir gemacht haben. Das war schon fast Mord.« »Versuchter Mord«, korrigierte der Aussteiger.
Argan U tat den Einwand seines Gefährten mit einer Handbewegung ab. Er blickte zum Tempel hinüber, von dem sie noch etwa einen Kilometer entfernt waren. Zwischen ihm und ihnen lag ein Talkessel, den sie umgehen mußten, wenn sie den Sitz des Boten des Verkünders erreichen wollten. Die Straße führte über der Felskante durch die Hügel. Zahlreiche Bauern und Handwerker zogen zum Kloster, um dort ihre Waren zu verkaufen. Argan U blickte auf seine Hände. Die Schuppen hatten nun schon fast wieder eine normale Farbe. Die Blaufärbung hatte sich von Tag zu Tag verringert, so daß er die Schuppen nicht mehr mit einer Farbe übertünchen mußte. Diese Maskierung war ohnehin sehr schlecht gewesen, und sie war mehr als einmal von aufmerksamen Beobachtern durchschaut worden. »Wir haben Geld«, sagte Argan U. »Du konntest ja genügend von meinem Konto abheben. Wir werden versuchen, einem Bauern den Karren mit allem abzukaufen, was drauf ist. Wenn wir genügend bieten, ist das wohl kein Problem. Und dann fahren wir ebenso wie die anderen mit dem Karren ins Kloster. Alles weitere muß sich dann darin ergeben.« Er blickte Bol fragend an. »Na schön, Argan U. Ich bin dabei. Wir wollen keine Zeit verschwenden.« Die beiden Männer traten auf die Straße hinaus und warteten, bis ein Bauer mit einem Karren voller Obstkisten kam. Eine Bergziege zog den Wagen. Es war ein altes Tier, von dem keine Schwierigkeiten zu erwarten waren. Bol, der sich in solchen Dingen als der Geschicktere der beiden erwiesen hatte, übernahm die Verhandlung, und wenige Minuten später wechselte der Karren mit allem Obst und der Ziege den Besitzer. Der Bauer zog zufrieden mit einer Tasche voller Goldstücke ab. Argan U und Bol entluden den Karren und bauten die Kisten dann darauf so wieder auf, daß sich eine Höhlung zwischen ihnen befand, in der sich Argan U verstecken konnte.
Wie berechtigt diese Vorsichtsmaßnahme war, erwies sich, als Bol den Karren durch das Tor des Klosters lenkte. Vier Gehilfen des Boten nahmen ihn in Empfang. Sie untersuchten den Karren und befragten Bol, da sie ihn noch nie zuvor gesehen hatten. Argan U hörte ihre Stimmen und erriet aus ihrem Verhalten, daß sie damit rechneten, ein Unbefugter könne ins Kloster eindringen. Er konnte sich denken, wen sie damit meinten. Offenbar bereute der Bote, daß er ihn nicht hatte hinrichten lassen. Die Gehilfen nahmen einige Kisten vom Karren herab, entdeckten Argan U jedoch nicht, da Bol das Versteck allzu raffiniert angelegt hatte. Der Karren durfte passieren. Das Kloster war von einer hohen Mauer umgeben, die ihm seit Jahrhunderten Schutz geboten hatte. Innerhalb der Mauer wimmelte es an diesem Tag von Puschyden, die aus allen Himmelsrichtungen gekommen waren, um auf dem Markt Handel zu treiben. »Der Bote des Verkünders hat überall seine Diener stehen«, sagte Bol, während er den Karren als Verkaufsstand einrichtete. »Einige sind sogar bewaffnet.« Er schuf eine Lücke zwischen den Kisten, so daß Argan U hinausblicken konnte. Dann wartete er ab, bis er sicher sein konnte, daß sie nicht beobachtet wurden, und ließ ihn aus seinem Versteck heraus. »Ich halte es für möglich, daß unter den Bauern auch Agenten der Gerechten sind«, flüsterte er. »Vielleicht ist man mittlerweile dahintergekommen, wer sie zu stürzen versucht.« Argan U zuckte mit den Schultern. Dazu konnte er nichts sagen. Er fand nur, daß der Markt ein ungewöhnlich friedliches Bild bot, das sich grundlegend von dem unterschied, was Bol und er in den vergangenen Tagen gesehen hatten. Wo auch immer sie gewesen waren, überall hatte es Auseinandersetzungen mit den Gerechten gegeben. Einige Städte waren in Flammen aufgegangen, und in einigen Teilen des Landes herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände.
»Wer sich hier wohl fühlt, muß ganz schön abgebrüht sein«, sagte Argan U und hob eine Kiste mit Früchten vom Karren. Verstohlen sah er sich um. Das Tor bestand aus kunstvoll behauenen Steinen und bildete den weit geöffneten Rachen eines Raubtiers mit weiß glänzenden Zähnen. Die Diener des Verkünders trugen Vogelkopfmasken, die den gesamten Kopf umschlossen und große Ähnlichkeit mit dem Bauwerk des Klosters hatten. Auch bei ihnen bildeten die Augenhöhle schwarze, unheimliche Löcher, die unergründlich zu sein schienen. Gekleidet waren sie mit schwarzen Umhängen, die von den Schultern bis auf den Boden reichten. Schwarze Handschuhe umschlossen ihre Hände, und ebenfalls schwarz waren die Schwerter und Schußwaffen, die in ihren Gürteln steckten. Seltsam eigentlich, daß sie alle schwarz sind, dachte Argan U. Seine Blicke glitten zu den düsteren Wänden des eigentlichen Klostergebäudes hinüber, dessen gewölbtes Dach aus der Nähe der Schädeldecke eines federlosen Vogels glich. Er bemerkte, daß auf ihm einige schwenkbare Fernsehkameras installiert waren, mit denen der Markt überwacht wurde. »Wir schaffen es nur, wenn wir uns Masken besorgen können«, sagte er. »Hier ist für mich das Ende«, entgegnete Bol ruhig. »Du hast keine Chance. Sieh das doch ein. Die sind nicht so dumm, dich herum spionieren zulassen.« »Glaubst du, ich habe mich bis in dieses Kloster durchgekämpft, um jetzt aufzugeben? Ich will in das Kloster, und ich schaffe es. Wenn Arris O hier ist, hole ich sie heraus.« »Wahnsinn.« »Du willst kneifen?« »Hör zu mein Lieber. Ich bin aus meinem Beruf ausgestiegen, weil ich es leid war, mich immer selbst zu beweisen. Ich bin nicht bereit, ständig etwas zu leisten und dabei alles aufs Spiel zu setzen. Und schon gar nicht, wenn ich mir ausrechnen kann, daß es nicht gut
geht.« Argan U lächelte. Verständnisvoll blickte er den Mann an, der ihm in den letzten Tagen zum Freund geworden war. »Du hast recht«, erwiderte er. »Das kann ich dir nicht zumuten. Dies ist mein Privatkrieg gegen die Leute, die mir die Frau genommen haben, die mir mehr bedeutet als alles andere auf der Welt, und die mein Leben zerstört haben. Du hast schon mehr als genug für mich getan. Ich danke dir.« Er reichte ihm die Hände und verabschiedete sich von ihm. »Bitte bleib bis zum Ende des Marktes. Wenn es mir gelingt, Arris O zu befreien und den Gürtel zu holen, dann kommen wir hierher zurück. Einverstanden?« »Das ist doch selbstverständlich.« Argan U schob sich zwischen Obstkarren und Motorwagen hindurch, nutzte das unübersichtliche Gewimmel auf dem Markt zur Deckung und tauchte bald darauf an einer Nische auf, die von einem einzelnen Diener bewacht wurde. Dieser Gehilfe des Boten war ihm aufgefallen, weil er sich offenbar für eine junge Verkäuferin von Keramikwaren interessierte, die in seiner Nähe an einem Stand arbeitete. Er brauchte nicht lange auf seine Chance zu warten. Als die Verkäuferin sich von ihrem Stand entfernte, versuchte der Diener ihr zu folgen. Argan U glitt lautlos auf ihn zu, packte ihn von hinten und warf ihn hinter einem Lastwagen zu Boden. Mit einem kräftigen Schlag gegen den Hals betäubte er ihn. Blitzschnell riß er ihm die Kleider herunter und legte sie sich selbst an. Dann zerrte er den Bewußtlosen hinter einen Lastwagen und fesselte ihn mit herumliegendem Draht. Er warf einige leere Obstkisten über ihn und kehrte dann in seiner Maske zu der Nische zurück. Hier verharrte er einige Minuten. Alles blieb ruhig. Niemand hatte den Kampf bemerkt. Um sicher sein zu können, daß der Diener nicht so bald Alarm schlagen konnte, ging er erneut zu ihm und legte noch einige weitere Kisten über ihn. Dann öffnete er eine Tür in der
Nische und betrat das Kloster. Er kam in eine Stube, in der auf Tischen und Bänken schwarze Umhänge, Gürtel, Taschen, Obst und Speisereste herumlagen. Aus einem Lautsprecher über der Tür ertönte die düstere Musik des Satanskults. Argan U erkannte die mysteriöse Opfermelodie, von der es hieß, daß sie stets mit dem Tod eines Menschen verbunden war. Er schlüpfte durch eine Tür und eilte dann einen langgestreckten Gang entlang, aus dem ein eigenartiges Rauschen ertönte, das er sich zunächst nicht erklären konnte. Doch dann erreichte er am Ende des Ganges eine Brücke, die durch Gitter gesichert war, und er sah den Fluß aus einer felsigen Öffnung hervorschießen. Das Wasser verschwand schäumend und gurgelnd jenseits der Brücke in einem Felsdom, durch den Licht hereinschimmerte. Dahinter liegt der Schnabel, dachte Argan U. Von dort stürzt das Wasser aus dem Kloster in die Tiefe. Er ließ sich auf die Hocke sinken, um durch den Dom blicken zu können und verengte geblendet die Augen, als ihm ein Lichtstrahl ins Gesicht fiel. Er hatte das Gefühl, durch den Rachen eines Ungeheuers hinauszusehen. Das glitzernde Wasser glich einer riesigen Zunge, und was er im ersten Moment für Zähne gehalten hatte, identifizierte er nun als die vermummten Gestalten von Dienern, die an beiden Ufern des Flusses standen. Ausgezeichnet, dachte er. Wenn sie mit ihrer Teufelsanbetung beschäftigt sind, kann ich mich um so besser im Kloster umsehen. Tatsächlich störte ihn niemand, als er in den folgenden Minuten zahlreiche Räume inspizierte. Ein einziges Mal begegnete ihm ein maskierter Diener, doch dieser nahm keine Notiz von ihm. Dann aber erreichte Argan U einen Säulengang, aus dem er das Rauschen des Flusses vernahm, und er erriet, daß dieser Gang in die Halle führte, in der die Satansanbetung stattfand. Wenn der Gürtel des Verkünders im Kloster ist, dann ist er
möglicherweise dort, wo sie ihre Zeremonien abhalten, dachte er und eilte den Gang entlang. Am Ende der Säulenreihen öffnete sich eine gewaltige Halle, die von dem Rauschen des Wassers erfüllt war. Etwa zweihundert Diener standen zu beiden Seiten des Flusses, über den sich eine golden schimmernde Brücke spannte. Von dieser herab leitete der höchste Priester des Landes, der Bote des Verkünders, die Opferzeremonie. Argan U stockte der Atem, als er die gefesselte Gestalt sah, die auf der Brücke kauerte. Obwohl sie vollkommen in schwarze Tücher eingehüllt war, glaubte er erkennen zu können, daß es sich um eine junge Frau handelte, und jetzt zweifelte er nicht mehr daran, daß die Satansanbeter tatsächlich Puschydenopfer darbrachten. Im gleichen Moment entdeckte er noch eine weitere Ungeheuerlichkeit, die seinen lange gehegten Verdacht bestätigte. Hinter dem Boten erhob sich eine mit schwarzen Tüchern ausgeschlagene Tafel, und an ihr hing der Gürtel des Verkünders. Argan U erkannte ihn sofort wieder, und er war ganz sicher, daß es sich um die echte Reliquie handelte, da er sie lange genug bewacht hatte. Also war der Bote des Verkünders tatsächlich der Dieb. Also ging es doch um die absolute Macht über die nördlichen Kontinente von Cur‐Cur U. Puschydenopfer waren verboten. Auch die Revolutionsregierung hatte das Verbot nicht aufgehoben. Doch das scherte den Boten des Verkünders und seine Anhänger offenbar nicht. Sie waren bereit, diese junge Frau zu töten. Sie wollten sie in den Fluß stürzen. Argan U war wie gelähmt vor Grauen und Entsetzen. Er war sich darüber klar, was es für die Frau bedeutete, wenn die Henkersknechte Too Gorons sie ins Wasser warfen. Sie würde von den Fluten mitgerissen und zweihundert Meter unter dem Kloster zwischen den Felsen zerschmettert werden. Auf ein Zeichen des Boten kamen zwei seiner Diener auf die
Brücke. Sie nahmen der jungen Frau die Fesseln ab und rissen ihr die Tücher über ihrem Kopf zurück. Argan U schrie entsetzt auf. Arris O Veil war das Opfer! Seine Arris O, die ihm mehr bedeutete als jeder andere Puschyde. Seine Geliebte, für die er bereit war, sein Leben zu opfern. »Nein«, schrie er und rannte wie von Sinnen auf die Brücke zu. »Das dürft ihr nicht tun!« Der Bote des Verkünders fuhr herum und streckte abwehrend die Arme aus, während mehrere Diener sich auf Argan U warfen, um ihn festzuhalten. Arris O Veil blickte ihn mit angstgeweiteten Augen an. Sie begriff erst, was geschah, als Argan U im Kampf mit seinen Gegnern die Maske verlor. Sie richtete sich auf und versuchte, ihren Peinigern zu entkommen. In diesem Moment gab Too Goron, der Bote des Verkünders, den verhängnisvollen Befehl. Er zog einen goldenen Stab aus seinem Gürtel hervor und berührte die junge Frau damit. »Nein, nicht«, flehte Argan U. »Laßt sie leben.« Too Goron streckte den Arm aus und zeigte auf die Öffnung, durch die das Wasser hinausschoß und in die Tiefe stürzte. Die beiden Diener gaben Arris O Veil einen Stoß. Die junge Frau kippte vornüber und fiel ins Wasser. Argan U sah, wie sie gegen die Strömung ankämpfte, sich jedoch nicht behaupten konnte, mitgerissen und durch die Öffnung hinausgetragen wurde. In diesem Augenblick, als gewiß war, daß Arris O Veil sterben würde, zerbrach etwas in Argan U, zugleich aber wurden ungeheure Kräfte in ihm frei. Er schleuderte seine Gegner von sich, riß sein Schwert aus dem Gürtel und stürmte auf die Brücke. Die beiden Diener, die Arris O getötet hatten, stellten sich ihm entgegen, doch er drang so wild auf sie ein, daß sie ihm schon bei der ersten Attacke unterlagen. Sie stürzten beide über die Brüstung der Brücke in den Strom. Damit ereilte sie das gleiche Schicksal wie ihr Opfer.
Doch ihnen galt die Angriffswut Argan Us nicht. Er wollte Too Goron, der wie erstarrt auf der Brücke stand. In seiner Angst und seinem Schrecken zog der Bote des Verkünders sein Kurzschwert viel zu spät aus dem Gürtel. Argan U hieb wuchtig zu und traf Too Goron am rechten Ellenbogen. Er trennte ihm den Unterarm ab. Aufschreiend stürzte der Bote des Verkünders zu Boden und verlor dabei seine Vogelkopfmaske. Die Maske rollte zur Seite und glitt zwischen zwei Eisenstäben der Brücke hindurch, als werde sie von einer unsichtbaren Kraft geleitet. Unendlich langsam, wie es schien, fiel sie ins Wasser. Sie tanzte darauf wie eine Nußschale, beschleunigte dann plötzlich und schoß durch die Öffnung in den Wasserfall hinaus. Doch niemand in der Halle achtete darauf. Alle Diener standen wie paralysiert auf der Stelle und blickten Too Goron an, der sich schreiend auf dem Boden wälzte und seinen verletzten Arm hielt. Argan U glaubte, den Verstand verloren zu haben. Es kann nicht sein! dachte er. Es ist unmöglich. Aber seine Augen trogen ihn nicht. Too Goron hatte blauschwarze Schuppen, und ein breiter, roter Strich zog sich quer über seine Stirn. Too Goron war kein Puschyde von den Nordkontinenten. Er kam aus Sorthai. Der höchste Priester von Cur‐Cur U war ein Blauer. Ein Erzfeind der nördlichen Puschyden bekleidete das Amt des Boten. Und aus dieser Position heraus hatte er einen Angriff auf die absolute Macht im Staat gestartet. Tausend verschiedene Gedanken stürzten auf Argan U ein. Er wollte etwas sagen, brachte jedoch nur einige Stammellaute über die Lippen. Doch diese hatten Signalwirkung auf die entsetzten Diener, von denen viele vermutlich die Ungeheuerlichkeit der Entdeckung erfaßten und auch begriffen, welchen Hintergrund diese hatte. Einige umringten Too Goron, nahmen ihn auf und schleppten ihn
weg. Andere stürzten sich auf Argan U. Dieser glaubte, daß sie ihn ins Wasser werfen würden, um sich für seine Tat zu rächen, doch das taten sie nicht. Sie trugen ihn ebenfalls aus der Halle, schlugen dabei jedoch eine andere Richtung ein als diejenigen, die sich Too Gorons angenommen hatten. * In den nächsten Tagen wähnte sich Argan U bereits in der Hölle. Die von ihrem Boten betrogenen Bewohner des Klosters quälten ihn, wo sie nur konnten, und schließlich verurteilte ihn eine Gruppe von ihnen zum Tode. Argan U nahm es gleichmütig hin. »Wenn ihr meint, daß euch danach besser ist, bringt mich ruhig um. Im Wasserfall stirbt man schnell«, sagte er zu dem Gericht. »Es macht mir nichts mehr aus, nachdem ihr Arris O Veil ermordet habt.« »Du hast recht«, entgegnete der Diener, der als Richter fungierte. »Und deshalb wirst du nicht im Wasser sterben.« »Eigentlich solltet ihr mir dankbar sein, daß ich den Betrüger entlarvt habe, aber das ist wohl zuviel von euch verlangt.« Sie gingen nicht auf seine Worte ein, sondern führten ihn schweigend hinaus. Abermals verstrichen einige Tage, in denen Argan U in einem Kellerraum des Klosters eingesperrt war. In diesen Tagen aber gaben ihm die Diener alles, was er wollte. Sie stellten ihm reichlich Wein und Wasser in sein Verlies und verabreichten ihm raffiniert zubereitete Speisen zu essen. Diese dufteten so verlockend, daß er ihnen nicht widerstehen konnte. Einige Male wurde es unruhig im Kloster. Argan U vernahm die Schritte von Männern, die schwere Stiefel trugen, und er hörte Schreie. Mehrmals schienen Schüsse gefallen zu sein, doch er war
sich dessen nicht sicher. Dann holten sie ihn eines Nachts aus seinem Verlies, legten ihn auf die Ladefläche eines Motorwagens und fuhren etwa eine Stunde lang mit ihm durch das Land. Er konnte sich ihr Verhalten nicht erklären, war jedoch zu stolz, sie zu fragen. Lange nach Einbruch der Dunkelheit verluden sie ihn in ein Flugzeug, das augenblicklich startete. Nun wußte er überhaupt nicht mehr, was sie mit ihm vorhatten. Er dachte zunächst daran, daß sie ihn nach Süden fliegen wollten, um ihn den Blauen auszuliefern, doch verwarf er diesen Gedanken wieder, weil er zu abwegig war. Gegen Morgen landete das Flugzeug jedoch nur, weil es aufgetankt werden mußte. »Treibt ihr nicht ein wenig zuviel Aufwand mit mir?« fragte er spöttisch. »Wenn ihr mich umbringen wollt, hättet ihr es doch viel billiger haben können.« Auch jetzt antworteten sie nicht. Gegen Mittag wurde das Flugzeug plötzlich langsamer. Einer der Diener kam zu Argan U nahm ihm die Armfesseln ab, während ein anderer mit einer Pistole auf ihn zielte. Das Seil an seinen Füßen löste er nicht. »Du steigst jetzt aus«, erklärte er ihm. »Landen wir?« fragte er. »Nein. Mit ein bißchen Glück bist du gleich tot. Wenn du Pech hast, fällst du in den weichen Sand und überlebst einige Tage. Wir sind mitten über der Wüste Tarkan. Niemand kann von hier zu Fuß bis in bewohnte Gebiete kommen.« Bevor Argan U sich noch der Bedeutung dieser Worte bewußt werden konnte, öffneten die beiden Diener eine Tür und stießen ihn hinaus. Das Flugzeug war nur etwa zehn Meter über den roten Dünen der Wüste. Argan U überschlug sich in der Luft, stürzte knapp über den Kamm einer Wanderdüne hinweg und fiel dann in einen steil abfallenden Sandhang. Er rutschte mit dem Sand in die
Tiefe, wobei sein Sturz sanft abgefangen wurde. Unverletzt blieb er schließlich im Wellental zwischen zwei Dünen liegen. Ohne zu wissen, warum er das tat, löste er die Fesseln an seinen Füßen in fliegender Eile und stürmte dann die Düne hoch. Der Sand rutschte immer wieder unter seinen Füßen weg, so daß er schließlich immer langsamer vorankam. Aber er gab nicht auf. Er kämpfte weiter, bis er schließlich heftig nach Atem ringend und vollkommen erschöpft auf dem Kamm der Düne lag. Das Flugzeug kam zurück. Es war eine kleine Maschine, die nicht sehr schnell flog. Argan U winkte, obwohl er wußte, daß die Diener ihn nicht wieder aufnehmen würden. Er konnte nicht anders. Das Flugzeug schwankte, und für einen Moment glaubte U, daß es abstürzen werde, doch dann begriff er, daß der Pilot absichtlich mit den Flügeln gewackelt hatte, um ihm einen höhnischen Gruß in die Tiefe zu schicken. Danach stieg die Maschine steil auf und entfernte sich von ihm. Er sah ihr nach, bis sie im roten Dunst des Himmels verschwunden war. Sengend heiß brannte die Sonne herab. Argan U war durstig. Er sah sich um. So weit das Auge reichte, wellte sich Düne auf Düne. Er befand sich mitten in einem Meer aus rotem Sand, und jetzt endlich ging ihm auf, welche Strafe die Diener ihm zugedacht hatten. Er sollte qualvoll verdursten. 7. Sanny blickte Argan U erschüttert an. »Es tut mir leid«, sagte sie mitfühlend. »Ich wußte nicht, daß du das alles erlebt hast. Es muß schrecklich für dich gewesen sein, als
du zusehen mußtest, wie Arris O Veil starb. War sie schön?« »Sehr«, erwiderte er. »Ich habe nie eine schönere Frau gesehen.« »Jetzt kann ich verstehen, daß es dich fast um deinen Verstand gebracht hat, als du diesen Too Goron bemerkt hast. Wie ist es nur möglich, daß er hier ist?« »Das möchte ich von ihm wissen«, entgegnete der Puschyde. »Er soll es mir sagen, aber ich kann mir denken, daß es ihm ähnlich ergangen ist wie mir.« »Meine Neugier ist noch nicht ganz gestillt«, gestand sie. »Wie ist es dir denn ergangen? Wie bist du aus der Wüste herausgekommen?« »Das müßtest du eigentlich wissen.« Er blinzelte mit einem Auge, sichtlich bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, wie aufgewühlt er durch die Erinnerung an die Ereignisse im Kloster war. »Ich habe nicht die geringste Ahnung«, gestand die Paramathematikerin. »Wenn ich es von der Wahrscheinlichkeitsrechnung her betrachte, dürftest du nicht vor mir sitzen.« »Ich habe drei Tage und Nächte in der Wüste verbracht, ohne mich von der Stelle zu rühren, und auf den Tod gewartet. Es hätte keinen Sinn gehabt, in irgendeine Richtung zu gehen, ich selbst hätte mich nicht retten können.« »Du warst ohne jede Hoffnung?« »Natürlich. Es gab ja keine. Und doch bin ich gerettet worden. Am Morgen des dritten Tages vernahm ich ein Pfeifen und Dröhnen, das mir bekannt vorkam. Drei diskusförmige Raumschiffe rasten über die Wüste hinweg.« Er lächelte. »Nun, heute weiß ich, daß die Solaner an Bord der Space‐Jets mich bemerkt haben, weil die Individualtaster angeschlagen haben. Die Männer und Frauen von der SOL wunderten sich darüber, daß mitten in der Wüste jemand war. Sie wurden neugierig, und eine Space‐Jet landete in meiner Nähe.«
Argan U zuckte mit den Schultern. »Was bleibt viel zu erzählen«, schloß er. »Ich erfuhr, daß es nicht nur den Satan, sondern auch einen Gott der Liebe gibt, und das bedeutete mir mehr als jede Botschaft des Verkünders. Die Männer und Frauen von der SOL haben mir geholfen, bei Verstand zu bleiben. Ich werde es ihnen niemals vergessen. Vielleicht war ich hin und wieder etwas wunderlich, aber das sollte man nicht so streng bewerten.« »Was wirst du jetzt tun?« fragte sie. »Ich werde Too Goron jagen, bis ich ihn habe. Und dann werde ich ihn töten, so wie er Arris O Veil getötet hat.« »Ich werde dir dabei helfen«, versprach sie. »Komm. Wir machen uns auf die Suche.« Er blickte sie verwundert an. »Du willst mir helfen?« »Warum nicht?« »Weil du so ganz und gar nicht der Typ bist, von dem ich mir vorstellen kann, daß er jemanden umbringt.« »Das habe ich von dir auch nicht erwartet.« Sie verließen den Raum und eilten über einen Gang weiter. Sie wußten nicht, in welcher Richtung Too Goron verschwunden war, deshalb blieb ihnen keine andere Wahl, als zu hoffen, daß sie ihm irgendwo erneut begegneten. Sie waren sich jedoch dessen bewußt, daß die Aussichten gering waren, weil das Ysterioon viel zu groß war. Hier gab es Tausende von Verstecken, in die sich der Gesuchte verkriechen konnte. Und er war im Vorteil, da er offenbar schon wesentlich länger hier war als sie und sich daher erheblich besser auskannte. »Was glaubst du, wie er hierhergekommen ist?« fragte Sanny. »Ich sagte doch schon – so wie ich. Irgendwann muß erneut ein Raumschiff nach Cur‐Cur U gekommen sein. Too Goron ist an Bord gegangen und von Cur‐Cur U geflüchtet.« »Du glaubst also, daß er seine Machtpläne nicht verwirklichen
konnte?« »Bestimmt nicht. Nach seiner Demaskierung im Kloster ist er erledigt gewesen. Leider weiß ich nicht, wie der Kampf zwischen ihm und den Gerechten ausgegangen ist, aber ich hoffe, daß weder der falsche Satanskult noch die Diktatur der Gerechten heute noch weiterbesteht.« Argan U blickte Sanny nachdenklich an. »Irgendwann möchte ich mal wieder nach Hause«, gestand er. »Vorher habe ich nie das Bedürfnis gehabt. Jetzt aber habe ich mir alles von der Seele geredet, was mich belastet hat. Und nun möchte ich wissen, wie es sich heute auf Cur‐Cur U lebt. Vielleicht komme ich irgendwann dorthin zurück.« »Bestimmt«, antwortete die Paramathematikerin, obwohl sie es sich nicht vorstellen konnte. Gar zu lange war Argan U nun schon an Bord der SOL, und allzu weit waren sie von Cur‐Cur U entfernt. Plötzlich griff Argan U nach ihrem Arm und zog sie zur Seite in eine Nische. Sanny sah zwei Ysteronen den Gang überqueren und durch eine Tür verschwinden. »Hast du gesehen?« fragte der Puschyde erregt. »Nein. Was denn?« »Die beiden Riesen sind in einen Raum gegangen, in dem Atlan, Breckcrown und Oserfan sind. Ich habe den Arkoniden gesehen.« »Die anderen nicht?« »Nein, aber wo er ist, da sind sie auch. Komm. Wir wollen näher heran.« Argan U eilte voran, und die Molaatin folgte ihm bis zu der Tür, durch die die Ysteronen verschwunden waren. Er suchte nach einem Spalt, durch den er in den Raum sehen konnte, fand jedoch keinen. »Da zweigt ein Gang ab«, sagte sie. »Vielleicht können wir von einer anderen Seite her heran.« Argan U nickte nur und zog sie mit sich. Plötzlich hatte er es eilig, als ob er befürchtete, irgend etwas zu versäumen.
Als er die Gangbiegung erreichte, sah er eine dunkle Gestalt, die auf einer Rampe kauerte, die an der Wand schräg in die Höhe führte. »Too Goron«, entfuhr es ihm. »Sei vorsichtig. Er ist bewaffnet«, rief Sanny, während Argan U sich wie ein Besessener auf den ehemaligen Priester stürzte, der offenbar trotz seiner Ortskenntnisse nicht wußte, wohin er sich wenden sollte, und für den der Angriff völlig überraschend kam. Bevor er noch reagieren konnte, war Argan U bei ihm und schlug wütend auf ihn ein. Doch Too Goron war ein kräftiger Mann, der sich keineswegs geschlagen gab. Er wehrte die Attacke ab und versetzte Argan U einen wuchtigen Schlag auf die Nase. Damit verschaffte er sich etwas Luft. Er konnte den Mann, den er um sein Lebensglück betrogen hatte, von sich stoßen und flüchtete dann die Rampe hinauf. Sanny wollte Argan U zu Hilfe kommen, war dabei jedoch so ungeschickt, daß sie ihn lediglich behinderte. So gewann Too Goron einige Meter Vorsprung. Er hatte die halbe Höhe der Rampe bereits erreicht, als Argan U mit der Verfolgung begann. »Paß auf«, rief Sanny. »Er will schießen.« Tatsächlich holte der schwarzgeschuppte Puschyde einen Energiestrahler aus seinem Gürtel hervor. Argan U warf sich mit aller Kraft nach vorn, da er erkannte, daß es auf Sekundenbruchteile ankam. Er jagte die Rampe so schnell hoch, wie er nie zuvor gelaufen war, und es gelang ihm im buchstäblich letzten Moment, die Waffe zur Seite zu schlagen. Ein Schuß löste sich, und ein sonnenheller Blitz durchschlug ein Belüftungsgitter. Argan U, der unwillkürlich den Kopf zur Seite wandte, sah den Energiestrahl auf eine der Gestalten im Raum hinabfahren, und während die Waffe auf den Boden polterte und Too Goron weiterflüchtete, begriff er, daß der ehemalige Priester Osa getroffen hatte.
Die mächtige Gestalt des Roboters stürzte zu Boden. Der Energiestrahl hatte den Kopf und einen Teil der Schulter weggebrannt. »Er hat Oserfan getötet«, schrie er entsetzt und rannte mit Sanny hinter dem Flüchtenden her. * Atlan war erleichtert, als die beiden Ysteronen zurückkehrten. Endlich konnte er hoffen, weiter Informationen zu bekommen. »Habt ihr noch Fragen?« Bungeltjat setzte sich in seinen Sessel, während WyltʹRong stehenblieb. »Natürlich haben wir Fragen«, erwiderte der Arkonide. »Uns interessiert vor allem, wo die ungeheuren Mengen an Nickel bleiben, die ihr erbeutet habt. Wieso habt ihr einen so hohen Nickelverschleiß?« »Das Ysterioon …«, begann Bungeltjat. »Für das Ysterioon habt ihr nicht einmal ein Promille des geraubten Nickels verbraucht«, unterbrach ihn Atlan. »Warum versuchst du, mich mit derart unaufrichtigen Antworten zu täuschen? Du solltest doch wissen, wie durchsichtig eine solche Behauptung ist.« Bungeltjat blickte verlegen zur Seite. Er fühlte sich offensichtlich in die Enge getrieben. Hilfesuchend blickte er WyltʹRong an, als dieser sich neben ihn setzte, doch der eigenartig unbeteiligt wirkende Ysterone äußerte sich auch jetzt nicht. Bungeltjat weiß selbst nicht genau, wo das Nickel bleibt, meldete das Extrahirn. »Warum fragt ihr mich danach?« erkundigte der Ysterone sich. »Das ist doch alles nicht so wichtig. Mir ist viel wichtiger, euch zu sagen, daß wir keine andere Möglichkeit haben, als so zu handeln, wie wir es tun.«
»Das wissen wir bereits«, erwiderte der Arkonide brüsk. »Du hast es uns schon gesagt.« »Aber das ist ein ganz entscheidender Punkt«, protestierte Bungeltjat. »Ihr müßt begreifen, daß es hier um wesentlich mehr geht als um die Beschaffung von Nickel und …« »Komm zur Sache«, forderte der Aktivatorträger ihn kühl auf. »Keiner von uns kann sich vorstellen, daß du nichts über den Verbleib des Nickels weißt.« »Warum willst du unbedingt wissen, wohin wir das Nickel bringen, und wozu es verwendet wird?« »Weil sich dann weitere Antworten automatisch ergeben.« Bungeltjat seufzte gequält. Breckcrown Hayes hüstelte. Er beugte sich zu Atlan hinüber. »Mit WyltʹRong stimmt etwas nicht«, flüsterte er ihm zu. »Ich glaube, er ist gar kein Ysterone, sondern eine Attrappe oder eine verkleidete Gestalt – so wie unser Trojaner.« Er hatte sehr leise gesprochen, dennoch hatte WyltʹRong ihn gehört. Er beugte sich weit vor, deutete auf Osa und sagte: »Na und? Das ist auch eine Verkleidung.« Während Atlan noch überlegte, was er darauf antworten sollte, vernahm er einen Aufschrei, und plötzlich schlug ein Energiestrahl aus der Wand, traf Osa am Kopf und warf ihn zu Boden Überraschenderweise verhielten sich die beiden Ysteronen ruhig. Sie warfen nur einen flüchtigen Blick zu dem Belüftungsgitter hoch, durch das der Energiestrahl hereingeschlagen war. Atlan und Hayes beugten sich über Osa. Beide fragten sich, ob die Hitze das Innere des Roboters durchdrungen und Oserfan getötet hatte. »Oserfan«, rief der Arkonide. »Hörst du mich?« Der Molaate antwortete nicht, doch als Atlan den zerstörten Roboter herumwälzte und seine Kleidung am Rücken öffnen wollte, platzte diese bereits auseinander, und Oserfan kroch aus dem Rumpf der Maschine. Er schnaufte empört und strich sich den
Schweiß weg, indem er sich mit dem Unterarm über das Gesicht fuhr. »Mann«, stöhnte er. »Das war verdammt heiß da drinnen. Welcher Idiot kommt denn hier auf den Gedanken, auf mich zu schießen?« Er war offensichtlich in Ordnung. Bungeltjat schlug die Hände vor das Gesicht, als er den Molaaten sah. Er sprang auf und eilte in die Ecke des Raumes, wobei er laute, klagende Worte ausstieß, die von den Translatoren nicht übersetzt wurden. WyltʹRong ging gelassen zu ihm, legte ihm die Hand an den Arm und führte ihn zur Tür. Er schob den jammernden Ysteronen mit sanfter Gewalt hinaus, schloß das Schott und wandte sich dann den drei Unterhändlern von der DUSTY QUEEN zu. Mittlerweile waren Roboter an der Stelle erschienen, von der der Energieschuß gekommen war. Sie trennten das zerstörte Belüftungsgitter heraus und ersetzten es durch ein neues. »Warum hast du das getan?« fragte Atlan und zeigte auf den zerstörten Roboter. »Ich habe es nicht getan«, erwiderte WyltʹRong zu seiner Überraschung. »Ich habe es auch nicht veranlaßt. Derjenige, der dafür verantwortlich ist, wird bestraft werden.« »Du kannst mir nicht erzählen, daß hier im Ysterioon etwas geschieht, was ihr nicht unter Kontrolle habt.« WyltʹRong setzte sich in seinen Sessel. »Die Fragen stelle ich«, erklärte er mit scharfer Stimme. »Du scheinst übersehen zu haben, daß nicht mehr Bungeltjat das Gespräch führt, sondern ich.« Achtung! signalisierte das Extrahirn. WyltʹRong läßt sich bestimmt nicht in die Enge treiben. Er ist von anderem Kaliber als Bungeltjat. Er wechselte einen raschen Blick mit Breckcrown Hayes, denn nun kam er ebenfalls zu der Überzeugung, daß WyltʹRong tatsächlich kein Ysterone war, sondern nur eine robotische Attrappe, in der sich ein anderes Wesen verbarg.
»Was wollt ihr hier?« fragte WyltʹRong. »Habe ich das nicht deutlich gemacht?« erwiderte der Arkonide. »Wir wollen Informationen. Wir müssen herausfinden, was hinter den Nickelraubzügen wirklich steht.« WyltʹRong lächelte abfällig. Er machte keinen Hehl daraus, daß er Atlan nicht glaubte. »Ich kann auch anders mit euch verfahren, wenn ihr euch weigert, mir die Wahrheit zu sagen«, drohte er. »Es liegt bei euch. Also – warum seid ihr hier?« Es hat keinen Sinn, um den heißen Brei herumzureden, erkannte der Arkonide. Breckcrown hat recht. In dieser Attrappe steckt ein fremdes Wesen, und mit dem kann ich nicht so umspringen wie mit Bungeltjat. »Wer oder was sind eure Auftraggeber?« fragte WyltʹRong. »Versuche nicht, mir weiszumachen, daß es sie nicht gibt. Ich ahne, daß es hier um mehr geht als nur darum, die Nickelgeschichte aufzuklären. Das ist unbedeutend für euch. Ihr versucht lediglich, eure wahren Interessen dahinter zu verstecken.« Er beugte sich noch weiter vor und blickte mit geweiteten Augen auf den Arkoniden herab. »Ich weiß, daß ihr euch einbildet, eine kosmische Mission zu erfüllen.« »Große Worte«, kommentierte Atlan. »Aber sie entsprechen der Wahrheit.« »Vielleicht.« »Versuche nicht, mir auszuweichen«, sagte WyltʹRong mit schneidend scharfer Stimme. »Nun gut«, lenkte der Aktivatorträger ein, blieb jedoch bewußt vage in seiner Aussage. »Es geht in der Tat um kosmische Dinge. Es geht darum, Friedenszellen zu bilden, die eine Auseinandersetzung zwischen Superintelligenzen verhindern können.« Er sprach von seinem Auftrag, den er von den Kosmokraten erhalten hatte, und von den Superintelligenzen, drückte sich jedoch auch hier absichtlich nicht ganz klar aus.
WyltʹRong schien jedoch augenblicklich zu verstehen. Der Ausdruck seines Gesichts veränderte sich. Die Lippen wurden schmal, und die Augen verengten sich. Zornig sagte er: »Ihr befindet euch in einem Gebiet, das bereits von einer anderen Macht beansprucht wird. Verschwindet mit allem, was ihr habt. Hier habt ihr wahrhaftig nichts zu suchen.« »So ohne weiteres lassen wir uns nicht abspeisen«, rief Oserfan. »Ich will wissen, was aus den Molaaten geworden ist.« »Das wirst du schon noch erfahren«, erwiderte WyltʹRong ablehnend. Er erhob sich und gab damit klar zu erkennen, daß das Gespräch für ihn abgeschlossen war. »Moment noch«, bat der Arkonide. »Wir sind noch nicht zu Ende.« »Nicht?« WyltʹRong lächelte erstaunt. »Wer entscheidet denn das? Du oder ich?« »Die Nickelraubzüge müssen beendet und die Ysteronen von jeglichem Zwang befreit werden«, forderte der Arkonide. »Für uns steht fest, daß die Ysteronen zu den Raubzügen gezwungen werden. Damit muß Schluß sein.« »Das sind Dinge, die du getrost uns überlassen kannst. Wir wissen schon, was wir tun.« »Tatsächlich?« Atlan merkte, daß WyltʹRong ihn nicht an sich heranlassen würde. Daher versuchte er erneut, ihn anzugreifen und in die Enge zu treiben. Er wollte etwas über die Hintergründe der Macht erfahren, die das Geschehen um die Ysteronen lenkte. »Du weißt, daß wir anderer Ansicht sind«, erklärte er daher. »Diese Nickelraubzüge sind unverantwortlich, und sie sind auch nicht mit kosmischen Notwendigkeiten zu rechtfertigen. Oder doch?« WyltʹRong blickte ihn ausdruckslos an, so als habe er die Frage nicht gehört. »Wer gibt hier die Befehle?« forschte Atlan daher. »Ich bin nicht bereit, mich mit bedeutungslosen Persönlichkeiten zu unterhalten. Ich suche das Gespräch auf höchster Ebene, und ich fordere dich
daher auf, mich endlich zu dem zu bringen, der hier die Verantwortung trägt.« »Fordern kannst du immerhin«, entgegnete WyltʹRong. Er zeigte nicht die geringste Bereitschaft, Atlan entgegenzukommen. »Die Ysteronen haben mir zugesagt, daß sie mich zu der Statue bringen werden«, fuhr dieser daher fort. »Ich warte darauf, daß sie ihr Versprechen halten. Sie sollen mich zur Statue führen.« Diese Forderung zielte in die gleiche Richtung, wie die vorangegangenen. Atlan wollte den eigentlichen Machthaber des Ysterioons sprechen und sich nicht mit anderen aufhalten, die für ihn im Grunde genommen bedeutungslos waren. WyltʹRong antwortete nicht. Er blickte an die Decke und schien zu überlegen. »Wie lange willst du mich warten lassen?« fragte der Arkonide energisch. »Du hast etwas angesprochen, was ich nicht entscheiden kann«, erwiderte der Riese. »Wartet in eurem Raumschiff, bis ich einige Informationen eingeholt habe, die für mich – und wahrscheinlich auch für euch – wichtig sind.« Er erhob sich, ging zur Tür und gab ihnen mit einer unmißverständlichen Geste zu verstehen, daß sie den Raum verlassen sollten. »Wir müssen uns fügen«, stellte Atlan leise fest. »Gehen wir also.« Sie schritten durch die Tür hinaus, die dem mittlerweile reparierten Belüftungsgitter gegenüberlag. Auf dem sich anschließenden Gang parkte die Transportplattform, mit der sie gekommen waren. WyltʹRong setzte sich in einen der Sessel, von dem aus er sie steuern konnte. Ein kastenförmiger Roboter, der mit verschiedenen Waffen ausgerüstet war, schwebte heran und verankerte sich neben ihm. Wortlos startete WyltʹRong. Die Maschine hatte kaum einige Meter zurückgelegt, als Bungeltjat auf dem Gang erschien. Atlan, der sich sein Gesicht eingeprägt hatte, erkannte ihn sogleich wieder.
WyltʹRong stoppte die Plattform, wechselte ein paar Worte mit Bungeltjat und überließ es diesem dann, Atlan, Hayes und Oserfan zur DUSTY QUEEN zurückzubringen. Bungeltjat startete, flog etwa hundert Meter weit und flüsterte dann: »Ich muß mit euch reden. Es ist wichtig.« Verstohlen blickte er sich um, doch WyltʹRong war schon in einem abzweigenden Gang verschwunden. 8. »Was ist passiert?« rief Sanny erregt. »Er hat Osa am Kopf getroffen«, antwortete Argan U. »Der Roboter ist zerstört. Ich weiß nicht, wie es um Oserfan steht.« Die Paramathematikerin blieb stehen. »Wir müssen ihn über Funk rufen«, sagte sie. »Ich muß wissen, was mit ihm ist.« Argan U erfaßte, daß sie Gewißheit haben wollte, und daß sie ihn nur behindern würde, wenn sie sie nicht bekam. Er schaltete daher das Funkgerät ein und rief Oserfan. Der Molaate meldete sich so schnell, als habe er nur auf den Anruf gewartet. »Laßt mich in Ruhe«, bat er mit gedämpfter Stimme. »Ist dir etwas passiert?« fragte Sanny nervös. »Nein. Macht euch keine Sorgen. Und jetzt still. Dieser WyltʹRong hat verdammt scharfe Ohren. Ende.« Er schaltete ab. Sanny atmete erleichtert auf. »Weiter«, sagte sie. »Oder willst du Too Goron entwischen lassen?« Dieses Mal hatten sie gesehen, in welche Richtung der Puschyde geflüchtet war. »Er entkommt uns nicht«, frohlockte Sanny, als sich eine Tür
hinter ihnen schloß, und der dunkelgeschuppte Puschyde nur noch etwa fünfzig Meter vor ihnen war. »Ich bin ganz sicher.« Doch dann flüchtete Too Goron durch eine seitlich abzweigende Tür und verriegelte diese hinter sich. Argan U brauchte mehrere Minuten, bis er die Tür öffnen konnte, und als sie danach in eine Art Labor kamen, war der ehemalige Priester verschwunden. Sanny und U diskutierten kurz miteinander und entschieden sich dann dafür, zusammenzubleiben und auf gut Glück einen von zwei möglichen Fluchtwegen zu verfolgen. »Wenn wir uns trennen, finden wir uns vielleicht nie wieder«, sagte der Puschyde. »Schließlich haben wir nur ein Funkgerät.« »Mir ist noch etwas eingefallen«, bemerkte die Molaatin. »Darf ich dich etwas fragen?« »Natürlich.« »Als Arris O Veil entführt wurde, haben die Unsichtbaren gesagt, daß sich jemand über sie freuen würde. Katan Karan hieß er, glaube ich.« »Ja, diesen Namen haben sie genannt.« »Du hast ihn später aber nie mehr erwähnt.« »Weil er unwichtig ist. Mit diesem Namen wollten sie doch nur von Too Goron ablenken.« Argan U hielt Sanny fest. Sie hatten eine Gangbiegung erreicht. Dahinter öffnete sich eine Halle, und in dieser bewegte sich ein Wesen, das Argan U auf den ersten Blick an eine riesige Ratte erinnerte. Es hatte ein struppiges, graues Fell und einen nach vorn spitz zulaufenden Kopf mit kleinen, schwarzen Augen. Der Mund war tief gespalten, und da er leicht geöffnet war, konnten der Puschyde und seine Begleiterin vier große Schneidezähne sehen, die einen furchterregenden Eindruck auf sie machten. Das Wesen ging aufrecht. Es war dünn und hatte zierliche Hände. Da das Wesen unbekleidet war, hätte man es für ein Tier halten können, doch es trug mehrere Gurte um Hüften und Schultern, in denen allerlei Ausrüstungsgegenstände steckten, und mit den Händen
umklammerte das Geschöpf einen mit farbigen Mustern versehenen Stab, an dem in wechselndem Rhythmus verschiedene Lichter aufleuchteten. Damit hantierte es in einer Weise herum, die an seiner Intelligenz keinen Zweifel ließ. »Seltsam«, wisperte Sanny. »So ein Wesen habe ich noch niemals gesehen.« »Ich auch nicht«, antwortete Argan U. »Es macht einen arroganten Eindruck auf mich.« »Auf mich auch. Und es scheint über irgend etwas nachzudenken.« Das Wesen verharrte einige Sekunden lang auf der Stelle, fuhr dann plötzlich hoch und eilte auf einen Gang zu, vor dem sich ein matt schimmerndes Energiegitter erhob. Argan U erwartete, daß es irgend etwas tun würde, um das Gitter zu beseitigen, doch er irrte sich. Das rattenähnliche Wesen bewegte weder eine Hand, noch gab es einen auffallenden Laut von sich. Es schien, als wolle es sich in das Gitter stürzen. Doch plötzlich verschwand dieses, so daß das Wesen, das etwa 2,60 m groß war, passieren konnte. Kaum war es durch die Öffnung gegangen, als sich das Gitter auch schon wieder aufbaute. »Irgendwo muß ein Sensor sein«, stellte Sanny leise fest. »Die Frage ist nur, ob er auch auf uns anspricht oder nur auf solche Wesen.« »Wir könnten es ausprobieren«, schlug Argan U vor. Die Halle enthielt einige seltsam geformte Einrichtungsgegenstände, bei denen nicht zu erkennen war, welchem Zweck sie dienten. Manche glichen aufgeschnittenen Schneckengehäusen, andere waren einfache Würfel, die mit fremdartigen Mustern versehen waren. Daneben stiegen spiralförmig treppenähnliche Bauwerke auf, die aus zahllosen fluoreszierenden Kugeln zusammengesetzt zu sein schienen, und vom Fußboden auf der einen Seite der Halle bis zur Decke auf der anderen zog sich ein unendlich zartes Gebilde, das vielfach in sich
gewunden war, sich an mehreren Stellen blütenartig öffnete oder sich wie ein in die Luft geworfener Schleier weitete. Elemente in allen Farben des Regenbogens belebten es und verliehen ihm ein geheimnisvolles Leben. Sanny wollte zu dem Energiegitter gehen, um zu testen, ob es auch bei ihr erlosch, blieb jedoch plötzlich stehen, weil sie etwas Rotes hinter einem Würfel bemerkte. Warnend legte sie einen Finger an ihre Lippen, dann duckte sie sich und glitt mühelos unter einer Bank hindurch. Sie schob sich bäuchlings weiter, blickte dann zu Argan U zurück und deutete auf den Würfel. Sie hat Too Goron gefunden! erkannte er. Jetzt war er sicher, daß ihm der ehemalige Priester nicht mehr entkommen würde. Er griff nach seiner Waffe, zog sie aus dem Gürtel und hielt dann zögernd inne. Zwanzig Jahre lang hatte er von seiner Rache geträumt. Immer wieder hatte er sich vorgestellt, daß er Too Goron gegenüberstehen und ihn töten würde. Doch nie hatte er sich eine reale Chance ausgerechnet. Er war in all den Jahren davon überzeugt gewesen, daß es unmöglich war, ihm noch einmal zu begegnen. Jetzt aber war es soweit. Too Goron kauerte ahnungslos hinter dem Würfel. Er brauchte nur zu ihm zu gehen und ihn zu töten. Er schloß die Augen und sah das zarte Gesicht von Arris O Veil vor sich. Er glaubte ihre Stimme zu hören, und dann tauchten die Schreckensbilder der Opferszene im Kloster aus den Tiefen seiner Erinnerung auf. Sie führten zu keinem Haßausbruch. Allzu lange war es schon her, daß Arris O Veil einem Verbrechen zum Opfer gefallen war. Die Wunde war verheilt. Ich könnte ihn töten, aber ich will es nicht, dachte er. Seltsam. Und dabei hat es mich all die Jahre gequält. Er ging auf den Würfel zu, hinter dem Too Goron kauerte, und dabei wurde ihm klar, warum ihm die Rache nichts mehr bedeutete.
Too Gorons große Pläne waren zu Nichts zerstoben. Der ehemalige Priester war ins Bodenlose gestürzt. Jetzt lebte er wie das Ungeziefer von den Abfällen der Ysteronen und der rattenähnlichen Wesen. Er war nicht mehr jene große und überlegene Persönlichkeit, an die Argan U all die Jahre gedacht hatte. Er war nur noch eine bemitleidenswerte Kreatur, die sich zitternd vor Angst in eine Ecke verkrochen hatte und darauf wartete, daß ihre Feinde abzogen. »Komm heraus, Too Goron«, sagte er laut. »Es ist vorbei.« Er wollte seinem Widersacher damit zu verstehen geben, daß er auf eine gewaltsame Auseinandersetzung verzichten wollte, weil es sinnlos für ihn geworden war, mit ihm zu kämpfen. Doch Too Goron verstand ihn nicht. Schreiend sprang er auf und wich vor ihm zurück. »Ich habe nur einige Fragen«, erklärte Argan U. »Ich möchte wissen, wer auf Cur‐Cur U gesiegt hat. Du warst es wohl nicht, denn sonst hätte man dich nicht verjagt. Aber was ist mit den Gerechten? Und wie haben die Puschyden aus Sorthai sich verhalten? Haben sie eingegriffen? Und wie war es überhaupt möglich, daß ein Blauer wie du Bote des Verkünders geworden ist? Hast du den echten Boten ermordet? Bist du in seine Maske geschlüpft? Antworte.« »Ich weiß nicht, was du willst«, rief er mit überkippender Stimme. »Ich bin noch immer der Bote des Verkünders. Ich habe den Befehl, die Botschaft des Satans in das Universum hinauszutragen.« Er sank auf die Knie und blickte Argan U kichernd an. »Nein, das ist nicht richtig. Ich hatte den Auftrag, es zu tun«, korrigierte er sich. »Und ich habe es auch versucht, aber es ist zu spät.« »Zu spät?« fragte Argan U verwundert. »Ja«, antwortete der ehemalige Priester verzweifelt, und seine Augen weiteten sich. »Es ist zu spät. Die Botschaft des Satans ist schon überall bekannt.« Argan U trat einen weiteren Schritt auf ihn zu. Er wollte Too Goron helfen aufzustehen, doch wiederum verstand ihn dieser
falsch. Der dunkelgeschuppte Puschyde glaubte, er wolle ihn angreifen. Er schnellte sich kreischend in die Höhe, wirbelte herum und versuchte, dem rattenähnlichen Wesen zu folgen und durch die Gangöffnung zu fliehen. Bei ihm erlosch das Energiegitter jedoch nicht. Too Goron rannte in die tödliche Falle und verging in ihr. Nur noch ein wenig Asche blieb von ihm, die auf den Boden herabrieselte. Erschüttert blieb Argan U vor dem Gitter stehen. »Ich wollte es nicht«, beteuerte er leise, als Sanny zu ihm kam. »Wirklich nicht.« Sie blickte mitfühlend zu ihm auf. »Ich weiß«, erwiderte sie. »Er war wahnsinnig, und er hat dich völlig falsch verstanden.« * »Du mußt mit uns reden?« fragte Atlan. »Warum jetzt, und warum nicht schon vorhin?« »Er war dabei«, antwortete Bungeltjat, als sei damit alles gesagt. »Hört zu. Ich bin alt und werde bald sterben. Bevor es aber soweit ist, möchte ich noch etwas für mein unterjochtes Volk tun. Vielleicht kann ich die Schuld, die wir Ysteronen auf uns geladen haben, dadurch ein wenig verringern.« »Ganz bestimmt sogar«, erwiderte der Arkonide. »Oserfan wird es dir bestätigen.« »Mir wäre es lieber, er würde etwas für uns und für mein Volk tun als nur für sein unterjochtes Volk«, sagte der Molaate. »Könntest du dich dazu durchringen, Ysterone?« »Ich hoffe es, versprechen kann ich es jedoch nicht.« »Was wirst du tun?« fragte Atlan. »In genau zwei Stunden wird euer Raumschiff frei sein. Die Wand
wird sich öffnen, so daß ihr starten könnt.« Der Arkonide zögerte mit seiner Antwort. Er hatte so gut wie nichts erfahren, seit er im Ysterioon war. Nun sollte er wegfliegen, ohne den geringsten Fortschritt erzielt zu haben? Sanny und Argan U waren nicht an Bord und würden voraussichtlich in zwei Stunden auch noch nicht dort sein. Das war ein weiterer Grund, hier zu bleiben. Doch die Stimmung an Bord war nicht gut. Mehrere Besatzungsmitglieder litten unter klaustrophobischen Ängsten. Ihr Verhalten war unberechenbar. Ebenfalls völlig offen war, wie die anderen Ysteronen sich verhalten würden. Atlan vermutete, daß sie darüber hinaus nicht allein im Ysterioon waren, sondern daß sich auch noch jene Wesen hier aufhielten, welche die Ysteronen unterjochten. Gerade sie beunruhigten Atlan jedoch besonders. Wer waren diese Fremden? »Gut«, sagte der Aktivatorträger. »Wir danken dir. Wir werden die Gelegenheit ergreifen und starten. Ich habe jedoch noch eine Frage. Wer ist WyltʹRong?« Der Ysterone blickte ihn an. »Ich würde es dir sagen, wenn ich es wüßte«, beteuerte er. »Aber ich weiß es nicht. Ganz gewiß ist er kein Ysterone.« »Dann versteckt er sich nur in dem Körper eines Ysteronen?« »In dem künstlichen Körper eines Ysteronen«, bestätigte Bungeltjat. »Er kommt aus der Tabuzone, die für uns Ysteronen gesperrt ist.« »Habt ihr je versucht, in sie einzudringen?« »Allerdings, aber es ist niemals gelungen. Eine Strahlung betäubt jeden Unbefugten. Wahrscheinlich auch euch.« Die Transportplattform hatte ihr Ziel erreicht. Durch eine Öffnung in der Wand schwebte sie bis vor die DU‐STY QUEEN, und Bungeltjat bat Atlan, Breckcrown Hayes und Oserfan auszusteigen. Ohne den im Hangar kauernden Girgeltjoff zu beachten, flog der Ysterone durch die Öffnung hinaus.
»Wir befinden uns in einer bösen Lage«, sagte Hayes enttäuscht. »Das kann mal wohl sagen«, rief Oserfan. »Erreicht haben wir nichts. Erfahren haben wir nur wenig. Abfliegen können wir nicht, da Argan U und Sanny nicht bei uns sind, und somit war auch der Plan, die beiden als Rückendeckung zu benutzen, falsch.« Erschrocken blickte er auf, als Girgeltjoff zu ihm kam. »Argan U und Sanny sind noch im Ysterioon?« fragte der junge Ysterone. * Als Sanny bemerkte, daß sich eines der rattenähnlichen Wesen der Halle näherte, in der sie sich befanden, warnte sie Argan U und zog sich mit ihm in einen nicht versperrten Gang zurück. »Wir scheinen Glück zu haben«, sagte der Puschyde und zeigte auf eine kopfgroße Öffnung in der Wand, die durch ein Energiegitter ausgefüllt worde. »Wir sind in der Nähe der Statue. Dort ist sie. Siehst du sie?« Er kniete sich vor dem Loch auf den Boden und blickte hindurch. Die Molaatin kauerte sich neben ihm hin. Beide vergaßen in diesen Sekunden völlig, daß draußen vor der Tür ein rattenähnliches Wesen vorbeiging, das eine erhebliche Gefahr für sie darstellte. Sie sahen die Statue, die etwa fünfzig Meter hoch war, und die unzweifelhaft einen Ysteronen darstellen sollte. Sie stand auf einem quadratischen Sockel, der eine Höhe von annähernd 10 Metern und eine Kantenlänge von etwa 40 Metern hatte. »Die Statue«, sagte Argan U. »Wir haben es geschafft, Sanny.« Mehrere der Unbekannten, die offensichtlich die Macht über das Ysterioon hatten, eilten durch die Eingänge im Sockel der Statue aus und ein. Ysteronen waren nicht zu sehen. »Was sagst du dazu?« fragte die Molaatin. »Keine Ysteronen, nur diese Fremden.«
»Ich gehe jede Wette ein, daß Ysteronen hier nichts zu suchen haben«, erwiderte Argan U. »Weiß der Teufel, was die Fremden hier treiben, ich kann es mir jedenfalls nicht erklären.« »Wir müssen Atlan unterrichten«, drängte die Paramathematikerin. »Er muß wissen, was hier geschieht.« »Mal sehen, ob er sich meldet.« * »Argan U und Sanny sind noch im Ysterioon«, antwortete Atlan. »Und ich fürchte, wir müssen sie hier lassen. Wir werden starten.« »Laßt mich zu ihnen gehen«, bat Girgeltjoff. »Dies ist meine Welt. Ich werde versuchen, den beiden zu helfen. Bitte, gebt mir ein Funkgerät.« »Das ist kein Problem«, antwortete Oserfan und kletterte in die Schleuse der DUSTY QUEEN. Breckcrown Hayes folgte ihm, um mit Hilfe des Schleuseninterkoms eine Funkverbindung für Girgeltjoff mit den Ysteronen herzustellen. Die Riesen meldeten sich sofort, und als Girgeltjoff darum bat, wieder bei ihnen aufgenommen zu weiden, forderten sie ihn auf, ins Ysterioon zu kommen. Oserfan kehrte zurück, um Girgeltjoff ein leistungsstarkes Funkgerät zu reichen, und als sich die Nickelwand für den Ysteronen öffnete, meldete sich Argan U. »… wir sind am Rand der Tabuzone«, rief Argan U. »Wir sehen die Statue. Hier sind keine Ysteronen. Nur große, aufrecht gehende Wesen, die wie Ratten aussehen. Sie haben …« Girgeltjoff war durch die Öffnung hinausgegangen, und diese hatte sich wieder geschlossen. Damit brach auch die Funkverbindung zu Argan U und der Molaatin ab. Brooklyn erschien in der Schleuse. Wie sich zeigte, hatte Oserfan sie in aller Eile informiert.
»Das Wohl der gesamten Besatzung und das der DUSTY QUEEN gehen vor«, erklärte sie. »Außerdem hat sich die Situation der Besatzung verschlechtert. Während ihr weg wart, hatte ich einige Schwierigkeiten. Wir wollen nicht davon reden, aber ich weiß, daß wir vor sehr schwerwiegenden Problemen stehen werden, wenn wir nicht starten.« Atlan entschied sich angesichts dieser Situation schweren Herzens für den Start. Pünktlich – wie vorhergesagt – öffnete sich die Nickelwand. Vergeblich versuchte der Arkonide, Verbindung mit Sanny und Argan U zu bekommen. Die beiden Freunde meldeten sich nicht. Sie blieben im Ysterioon zurück, ohne zu ahnen, daß die DUSTY QUEEN in den Weltraum hinausglitt und sich rasch beschleunigend entfernte. Atlan ließ den Planeten Pryttar anfliegen, landete dort jedoch nicht, sondern täuschte ein derartiges Manöver nur vor. Sobald die DUSTY QUEEN den Planeten halb umrundet hatte, so daß Pryttar nun zwischen ihr und dem Ysterioon lag, gab er das Kommando zum Weiterflug. Die Korvette raste an der Sonne Nickelmaul vorbei bis zu dem mächtigen Trümmerring. In diesem Bereich wirkte die »Nickel‐Absorber‐Strahlung« nicht, so daß das Schiff voll manövrierfähig blieb. Atlan hoffte, im Trümmerring verweilen und hier Funksprüche von Girgeltjoff auffangen zu können. Als die DUSTY QUEEN ihre vorgesehene Position zwischen den Trümmern erreicht hatte, kam Breckcrown Hayes in die Zentrale, in der sich neben Brooklyn nur noch Oserfan aufhielt. »Ich habe während unseres Vorbeiflugs an Pryttar alle Aufzeichnungsgeräte laufen lassen«, erklärte er. »Seht euch an, was ich entdeckt habe. Es gibt auf dieser Glutwelt eine künstlich angelegte Station.« »Unmöglich«, rief Oserfan. »Laß sehen«, bat der Arkonide.
Hayes ging zum Hauptcomputer und tippte einige Codeziffern ein. Auf dem Hauptbildschirm erschien das von der Positronik zusammengestellte Bild, das sich aus den Ergebnissen zusammensetzte, die alle Ortungsinstrumente geliefert hatten. »Als erstes fiel mir eine künstliche Energiequelle auf«, erläuterte Breckcrown Hayes. Auf dem Bildschirm zeichnete sich ein dunkles Gebilde ab, das sich deutlich von der Oberfläche des Planeten abhob, die aus glutflüssiger Lava bestand. »Von dort kommen die energetischen Impulse«, erklärte Hayes. Das Gebilde war kreisförmig und hatte einen Durchmesser von knapp einem Kilometer. »Damit nicht genug«, fuhr Hayes fort. »Ich habe noch einige andere Messungen durchgeführt. Ich weiß jetzt, daß die eigentliche Strahlung des Ysterioons erst jenseits des Trümmerrings beginnt.« »Das bedeutet, daß wir nicht zur SZ‐2 fliegen können«, stellte Atlan fest. Breckcrown Hayes ging darauf nicht ein. »Die Vermessung des Systems zeigt weiter, daß zwischen dem Ysterioon und dem Planeten Pryttar ein Datenfluß oder etwas Ähnliches erfolgt. Der Planet und die dort befindliche Energiequelle haben also eine Funktion.« Atlan setzte sich in einen Sessel. »Wir müssen wissen, um was es sich bei dem Objekt auf Pryttar handelt«, sagte er. »Wir werden eine Expedition zusammenstellen, die nach Pryttar fliegt.« ENDE Die Gefangenen des Ysterioons konnten entkommen – bis auf Sanny und Argan U, die beiden Extras, die sich in der Nähe der Tabuzone aufhalten.
Atlan ist gegenwärtig nicht in der Lage, den beiden Hilfe zu leisten, denn die Ereignisse im Kores‐System überstürzen sich, und das Ende einer Welt ist nahe. Mehr zu diesem Thema berichtet Horst Hoffmann im Atlan‐Band der nächsten Woche. Der Roman erscheint unter dem Titel: DER ATOMBRAND