Robert Sheckley
Fütterungszeiten unbekannt Science Fiction-Stories
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Robert Sheckley
Fütterungszeiten unbekannt Science Fiction-Stories
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Science Fiction-Bestseller Band 22 062
© Copyright 1960 by Bantam Books Inc. All rights reserved Deutsche Lizenzausgabe 1983 Scan by Brrazo 01/2006 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co., Bergisch Gladbach Originaltitel: NOTIONS UNLIMITED Ins Deutsche übertragen von: Michael Görden Titelillustration: Peter Coene Umschlaggestaltung: Quadro-Grafik, Bensberg Druck und Verarbeitung: Eisnerdruck GmbH, Berlin Printed in Western Germany ISBN 3-404-22062-5 Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Inhalt Eine Rüstung aus grauem Flanell........................................6 Der Egel.............................................................................27 Wachvogel .........................................................................57 Wenn der Wind weht.........................................................97 Am Morgen danach .........................................................123 Das Eingeborenen-Problem.............................................158 Fütterungszeit ..................................................................196 Durchhalten ist alles ........................................................203 Der Kämpfer ....................................................................224 Paradies II ........................................................................243
Eine Rüstung aus grauem Flanell
Die Art und Weise, derer Thomas Hanley sich bediente, um das Mädchen zu treffen, das später seine Frau werden sollte, ist eingehender Betrachtung wert, insbesondere für Anthropologen, Soziologen und all jene, die sich mit merkwürdigen Ereignissen beschäftigen. Sie kann auf bescheidene Art als ein Beispiel für die uns heute weniger geläufigen Begattungsbräuche des 20. Jahrhunderts dienen. Und da dieser besondere Brauch Einfluß auf die moderne amerikanische Industrie bekommen sollte, ist Hanleys Geschichte durchaus von Bedeutung. Thomas Hanley war ein hochgewachsener, schlanker junger Mann, konservativ in Geschmacksfragen, gemäßigt in seinen Ansichten und von beinahe beklagenswerter Bescheidenheit. Mit beiden Geschlechtern unterhielt er sich stets ganz so, wie es sich gehörte; er benutzte sogar die seinem Alter und der jeweiligen Situation angemessenen verbalen Ungehörigkeiten äußerst korrekt. Er besaß mehrere graue Flanellanzüge und viele schmalgeschnittene Krawatten mit regelmäßigen Streifen. Man könnte vielleicht denken, daß man ihn anhand seiner horngeränderten Brille aus der Menge herausfinden würde, aber das wäre ein Irrtum. Das war nicht Hanley. Hanley war der andere. Wer hätte geglaubt, daß hinter diesem mediokren, sich selbst verleugnenden, Anpassung und Fleiß ausstrahlenden Äußeren ein wildromantisches Herz schlug? Traurig, wie es nun mal ist, glaubte das jeder, denn die Verkleidungen legen immer nur den Verkleideten herein. Junge Männer wie Hanley in ihren grauen Flanellrüstungen mit ihren horngeränderten Visieren sind die heutigen -7-
Helden der Ritterlichkeit. Millionen von ihnen drängen sich durch die Straßen unserer großen Städte. Sie eilen mit festem Schritt dahin, die Augen geradeaus, die Stimme gesenkt, gekleidet, daß sie beinahe unsichtbar sind. Wie Schauspieler oder verhexte Männer leben sie ihre düsteren Leben, während in ihrem Inneren die Flamme der Romantik brennt und nicht sterben kann. Hanley gab sich regelmäßig – und nur zu vorhersehbar – Tagträumen vom Klingen der Schwerter, von großen Schiffen, die unter geblähten Segeln in die Sonne fuhren, von Mädchenaugen, dunkel und unendlich traurig, die unter einem Seidenschleier vorspähen, hin. Und, was ebenfalls vorhersehbar ist, er träumte auch von etwas moderneren Formen der Romanze. Aber eine romantische Romanze gehört zu jenen Artikeln, die in den großen Städten nur schwer zu haben sind. Erst kürzlich fiel diese Angebotslücke einigen unserer unternehmerischsten Geschäftsleuten auf. Und eines Abends erhielt Hanley den Besuch eines recht ungewöhnlichen Vertreters. Hanley war nach einem hektischen Freitag im Büro gerade in sein Einzimmer-Appartement zurückgekehrt. Er lockerte sich die Krawatte und dachte mit einer gewissen Melancholie an das lange Wochenende, das jetzt vor ihm lag. Auf den Boxkampf im Fernsehen verspürte er keine rechte Lust, und die Filme in den umliegenden Kinos hatte er alle schon gesehen. Zu allem Überdruß waren die Mädchen, die er kannte, uninteressant, und seine Chancen, andere zu treffen, praktisch gleich Null. Er setzte sich in seinen Lehnstuhl, als sich über -8-
Manhattan das dunkelblaue Zwielicht der Dämmerung breitete und spekulierte darüber, wo er wohl ein interessantes Mädchen finden könnte, und was er sagen würde, wenn er eins gefunden hätte, und … Es klingelte. In der Regel klingelten bei ihm nur Vertreter oder Leute vom Feuerwehrfonds unangemeldet. Aber an diesem Abend war ihm sogar das bescheidene Vergnügen, einen Vertreter abkanzeln zu können, willkommen. Also öffnete er die Tür und sah einen kleinen, properen, aufdringlich gekleideten Burschen vor sich stehen, der ihn über beide Backen anstrahlte. »Guten Abend, Mr. Hanley«, sagte der kleine Mann forsch. »Ich bin Joe Morris, Repräsentant im Außendienst des New Yorker Romanzen-Service mit dem Hauptbüro im Empire State Building und Zweigstellen in allen Stadtteilen, Westchester und New Jersey. Unsere Aufgabe ist es, einsamen Menschen zu dienen, Mr. Hanley, und dazu gehören Sie. Leugnen Sie es nicht! Warum sonst würden Sie an einem Freitagabend zu Hause sitzen. Sie sind einsam, und unser Geschäft und Vergnügen ist es nun einmal, Ihnen dienlich sein zu können. Ein aufgeweckter, gefühlvoller, gut aussehender junger Bursche wie Sie braucht Mädchen, nette Mädchen, angenehme, hübsche, verständnisvolle Mädchen …« »Machen Sie mal Pause«, erklärte Hanley ihm fest. »Falls Sie so etwas wie einen Callgirlring für einsame Herzen …« Er unterbrach sich, denn Joe Morris war dunkel -9-
angelaufen. Dem Vertreter schwoll der Kropf vor Entrüstung, und er drehte sich um und wollte gehen. »Warten Sie!« rief Hanley. »Es tut mir leid.« »Ich möchte Sie darauf hinweisen, Sir, daß ich Familienvater bin«, verkündete Joe Morris steif. »Ich habe eine Frau und drei Kinder in der Bronx. Falls Sie auch nur für eine Minute glauben, ich würde mich für etwas hergeben, das …« »Es tut mir wirklich leid.« Hanley bugsierte Morris in sein Appartement und placierte ihn in seinen Lehnstuhl. Mr. Morris fand sofort zu seiner forschen und jovialen Haltung zurück. »Nein, Mr. Hanley«, sagte er, »die jungen Damen, von denen ich sprechen wollte, sind keine – eh – professionellen Unterhalterinnen. Sie sind liebe, normale, romantisch veranlagte junge Mädchen. Aber sie sind einsam. Es gibt viele einsame Mädchen in unserer Stadt, Mr. Hanley.« Irgendwie hatte Hanley immer gedacht, dieser Zustand beschränke sich auf Männer. »Tatsächlich?« fragte er. »In der Tat. Der Sinn des New Yorker RomanzenService«, erklärte Morris, »besteht darin, junge Leute unter anständigen Umständen miteinander bekannt zu machen.« »Hmmmm«, sagte Hanley, »ich nehme an, Sie haben so etwas – wenn Sie mir den Ausdruck gestatten – wie einen Club der einsamen Herzen?« »Überhaupt nicht! Nichts dergleichen! Mein lieber Mr. Hanley, haben Sie jemals so etwas wie einen Club der einsamen Herzen besucht?« Hanley schüttelte den Kopf. - 10 -
»Das sollten Sie, Sir«, erklärte Morris. »Dann wüßten Sie unseren Service erst richtig zu schätzen. Ball der einsamen Herzen! Stellen Sie sich doch einmal so einen öden Saal vor, irgendwo im zweiten Stock einer billigen Broadway-Seitenstraße. An einem Ende spielen fünf Musiker in abgewetzten dunklen Anzügen mit tödlicher Lustlosigkeit die Schlager des Tages herunter. Ihre schmalbrüstige Musik hallt trostlos durch den Saal und vermischt sich mit dem Straßenlärm von draußen. An den Wänden stehen rechts und links Stuhlreihen, die Männer sitzen auf der einen Seite, die Frauen auf der anderen. Allen ist ihre Anwesenheit im Grunde genommen furchtbar peinlich. Von Zeit zu Zeit nimmt einer der Unglücklichen seinen Mut zusammen, um jemanden zum Tanz zu bitten, und bewegt sich dann steif mit seinem Partner unter den zynischen Blicken der restlichen Besucher über das Parkett.« Morris holte tief Luft. »So etwa hat man sich den Anachronismus vorzustellen, der als Club der einsamen Herzen bekannt ist – eine verkrampfte, nervöse, ekelhafte Einrichtung, die wesentlich besser in die Viktorianischen Zeiten paßt als in unsere. Beim New Yorker RomanzenService haben wir nur getan, was schon seit Jahren hätte getan werden müssen. Wir haben wissenschaftliche Präzision und technologisches Know-how für eine gründliche Studie der essentiellen Faktoren zusammengebracht, die ein erfolgreiches Kennenlernen zwischen den Geschlechtern beeinflussen.« »Was sind das für Faktoren?« erkundigte Hanley sich. »Die wichtigsten«, erklärte Morris, »sind Spontaneität und ein Gefühl der Schicksalhaftigkeit.« - 11 -
»Spontaneität und schicksalhafte Fügung sind doch eigentlich ein Widerspruch«, bemerkte Hanley erstaunt. »Natürlich. Die Romanze ist schon ihrer Natur nach aus widersprüchlichen Elementen zusammengesetzt. Wir können Ihnen das anhand mehrerer Graphiken und Tabellen nachweisen.« »Dann verkaufen Sie Romanzen?« erkundigte Hanley sich zweifelnd. »Genau das ist unser Artikel! Die reine, saubere Romanze selbst! Kein Sex, der ist überall zu kaufen. Keine Liebe – für die kann niemand eine langfristige Garantie übernehmen, deshalb ist sie nicht kommerziell verwertbar. Wir verkaufen Romanzen, Mr. Hanley. Die fehlende Zutat der modernen Gesellschaft, das Salz des Lebens, der Tagtraum jeder Altersgruppe!« »Das klingt sehr interessant« bestätigte Hanley. Aber er fragte sich doch im stillen, was wohl an diesem Morris dran war. Der Mann mochte ein Scharlatan sein oder vielleicht auch ein großer Innovateur. Was immer er sein mochte, Hanley zweifelte, ob man Romanzen wirklich verkaufen konnte. Jedenfalls keine echten Romanzen. Nicht jene dunklen, schmachtenden Visionen, von denen Hanley Tag und Nacht heimgesucht wurde. Er stand auf. »Vielen Dank, Mr. Morris. Ich werde mir überlegen, was Sie mir gesagt haben. Im Augenblick bin ich leider etwas in Eile, wenn es Ihnen deshalb nichts ausmachen würde …« »Aber, Sir! Sie können es sich doch sicherlich nicht leisten, eine Romanze zu verpassen!« - 12 -
»Tut mir leid, aber …« »Versuchen Sie es ein paar Tage mit unserem System, völlig kostenlos, versteht sich«, drängte Mr. Morris. »Hier, stecken Sie sich das an den Jackettaufschlag.« Er reichte Hanley etwas, das wie ein kleines Transistorradio mit einem winzigen Video-Auge aussah. »Was ist das?« fragte Hanley. »Ein kleines Transistorradio mit einem winzigen VideoAuge.« »Und was tut dieses Ding?« »Das merken Sie schon. Versuchen Sie es einfach. Wir sind das größte Unternehmen des Landes, das sich auf Romanzen spezialisiert hat, Mr. Hanley. Und das wollen wir auch bleiben, indem wir weiterhin die Bedürfnisse Millionen sensitiver junger amerikanischer Männer und Frauen erfüllen. Denken Sie daran – die Romanzen unserer Firma sind immer schicksalhaft, spontan, ästhetisch befriedigend, körperlich entzückend und moralisch vertretbar.« Und damit schüttelte Joe Morris Hanley die Hand und ging. Hanley drehte das winzige Transistorradio in den Händen. Es besaß keine Knöpfe oder Tasten. Er befestigte es an seinem Jackett. Nichts passierte. Er zuckte die Schultern, schob die Krawatte zurecht und brach zu einem Abendspaziergang auf. Draußen empfing ihn eine klare, kühle Nacht. Wie die meisten Nächte in Hanleys Leben war sie perfekt für eine - 13 -
Romanze. Um ihn her erstreckte sich die Stadt unendlich in ihren Möglichkeiten und überreich an Versprechungen. Aber der Stadt fehlte es an Erfüllung. Tausend Nächte war er schon durch diese Straßen gegangen, mit festem Schritt, die Augen geradeaus, für alles bereit, und nichts war jemals geschehen. Er kam an einem Appartementblock vorbei und dachte an die Frauen hinter den hohen, undurchsichtigen Fenstern, die hinuntersahen auf einen einsamen Spaziergänger in der dunklen Straße und sich Gedanken über ihn machten, hofften … »Hübsch, auf dem Dach eines Hauses zu sein«, sagte eine Stimme. »Sich die Stadt von hier oben anzusehen.« Hanley wirbelte auf dem Absatz herum. Er war völlig allein. Es dauerte einen Moment, bis er begriffen hatte, daß die Stimme aus dem winzigen Transistorradio gekommen war. »Was?« fragte Hanley. Das Radio blieb stumm. Auf die Stadt hinabsehen, überlegte Hanley. Das Radio schlug vor, er solle sich die Stadt von oben ansehen. Ja, dachte er, das wäre wohl nett. »Warum nicht?« fragte Hanley sich und wandte sich dem nächsten Gebäude zu. »Nicht das hier«, flüsterte das Radio. Hanley ging gehorsam an der Tür vorbei und hielt an der nächsten. »Das hier?« erkundigte er sich. - 14 -
Das Radio antwortete nicht. Aber Hanley hatte den vagen Eindruck eines zustimmenden leisen Grunz«is. Na, dachte er, das muß man wohl dem RomanzenService überlassen. Dort schien man zu wissen, was man tat. Seine Bewegungen waren so beinahe spontan, wie geführte Bewegungen eben sein können. In dem Haus trat Hanley in den Aufzug und drückte den obersten Knopf. Von der obersten Etage stieg er über eine kleine Treppe auf das Dach. Draußen wanderte er zur westlichen Seite des Hauses. »Andere Seite«, flüsterte das Radio. Hanley drehte sich um und ging zur anderen Seite. Von dort sah er über die Stadt und verfolgte die wohlgeordneten Reihen der Straßenlichter, weiß und mit einem schwachen Halo. Hier und dort leuchtete das Rot und Grün von Ampeln dazwischen auf, zu denen sich die farbigen Lichtflecken der Leuchtreklamen gesellten. Seine Stadt erstreckte sich vor ihm unendlich in ihren Möglichkeiten, überreich an Versprechungen, ohne jede Erfüllung. Plötzlich bemerkte er die Gegenwart einer anderen Person auf dem Dach, die gedankenverloren auf die Lichterketten hinabstarrte. »Entschuldigen Sie«, sagte Hanley. »Ich wollte Sie nicht belästigen.« »Das tun Sie nicht«, erwiderte die Person, und Hanley merkte, daß er mit einer Frau sprach. Wir sind Fremde, dachte Hanley, ein Mann und eine Frau, die sich durch Zufall – oder Schicksalsfügung – auf einem dunklen Dach hoch über der Stadt getroffen haben. - 15 -
Er fragte sich, wie viele Träume der Romanzen-Service wohl analysiert hatte, wie viele Visionen man dort aufgearbeitet hatte, um etwas so Perfektes produzieren zu können. Ein Seitenblick auf das Mädchen sagte ihm, daß es jung und hübsch war. Trotz ihrer gefaßten Haltung spürte er genau, wie tief sie das passende Element dieses Treffens, des Ortes, der Zeit und der Stimmung bewegte. Genau wie ihn. Er überlegte wild, aber ihm fiel nicht ein, was er sagen sollte. Keine Worte kamen ihm, und der Augenblick drohte zu verstreichen. »Die Lichter«, half ihm das Radio aus. »Die Lichter sind wunderschön«, sagte Hanley und kam sich dämlich vor. »Ja«, murmelte das Mädchen. »Wie ein großer Teppich von Sternen oder Speerspitzen in der Dunkelheit.« »Wie Wächter«, sagte Hanley, »die eine ewige Wache gegen die Nacht halten.« Er war sich nicht sicher, ob dieser Gedanke sein eigener war oder er nur einer kaum wahrnehmbaren Stimme aus dem Radio nachplapperte. »Ich komme oft hierher«, sagte das Mädchen. »Ich komme nie hierher«, sagte Hanley. »Aber heut nacht …« »Heut nacht mußte ich kommen. Ich wußte, daß ich Sie finden würde.« Hanley gewann den Eindruck, daß der RomanzenService einen besseren Dialogschreiber gebrauchen könnte. - 16 -
Bei hellem Tageslicht wären solche Dialoge einfach lächerlich. Aber nun, auf einem Dach hoch über der Stadt mit blitzenden Lichtern zu Füßen und den Sternen sehr nah über sich, war es die allernatürlichste Unterhaltung der Welt. »Ich ermutige sonst keine Fremden«, sagte das Mädchen und trat einen Schritt näher. »Aber …« »Ich bin kein Fremder«, sagte Hanley und bewegte sich ebenfalls näher. Das blasse blonde Haar des Mädchens schimmerte im Sternenlicht, ihre Lippen öffneten sich. Sie sah ihn an, ihre Gesichtszüge von der Stimmung, der Atmosphäre und dem sanften, schmeichelnden Licht seltsam überhöht. Sie standen sich dicht gegenüber, und Hanley konnte ihr Parfüm und ihr Haar riechen. Die Knie wurden ihm schwach, und in seinem Kopf breitete sich Verwirrung aus. »Nimm sie in die Arme«, flüsterte das Radio. Automatenhaft streckte Hanley seine Arme aus. Das Mädchen warf sich mit einem leichten Seufzer hinein. Sie küßten sich – einfach, natürlich, unausweichlich und mit einer sich steigernden und vorhersehbaren Leidenschaft. Dann bemerkte Hanley das winzige juwelenverzierte Transistorradio am Kragen des Mädchens. Trotzdem mußte er zugeben, daß ihr Treffen nicht nur spontan und schicksalhaft zugleich, sondern auch ein enormes Vergnügen war. Die Morgensonne strich schon über die Spitzen der Wolkenkratzer, als Hanley in sein Appartement zurück- 17 -
kehrte und erschöpft auf das Bett fiel. Er schlief den ganzen Tag über und erwachte gegen Abend mit einem Gefühl des Heißhungers. In einer nahegelegenen Bar aß er zu Abend und dachte darüber nach, was er in der letzten Nacht erlebt hatte. Es war wild, perfekt und wunderbar gewesen, alles daran – das Treffen auf dem Dach und später ihr warmes, abgedunkeltes Appartement; und schließlich sein Abschied in der Morgendämmerung mit ihrem zärtlichen Kuß noch warm auf den Lippen. Doch trotz allem war Hanley beunruhigt. Er konnte sich nicht helfen, aber es kam ihm schon etwas komisch vor, ein romantisches Treffen erlebt zu haben, das von Transistorradios arrangiert wurde, über die man ein für die Liebe geeignetes Paar in die entsprechend spontanen, doch zugleich schicksalhaften Lagen brachte. Ohne Zweifel war die Sache clever angelegt, aber etwas daran schien falsch zu sein. Er stellte sich Millionen junger Männer in grauen Flanellanzügen und regelmäßig gestreiften Krawatten vor, die von den kaum hörbaren Kommandos aus Millionen winziger Radios gelenkt, durch die Straßen der Stadt strömten. Er sah die Radio-Operatoren an ihren zentralen Videophon-Leitstellen – ernste, hart arbeitende Leute, die ihre Nachtschicht der professionellen Romanze widmeten, dann die Zeitung kauften und mit der U-Bahn nach Hause zu ihrem Mann oder ihrer Frau und den Kindern fuhren. Das war geschmacklos. Aber er mußte zugeben, daß es doch besser war als überhaupt keine Romanze. Schließlich lebte er in modernen Zeiten. Selbst Romanzen mußten - 18 -
heute vernünftig organisiert werden, wenn sie nicht von der Zeit überholt werden sollten. Abgesehen davon, dachte Hanley, was war daran eigentlich wirklich so komisch? Im Mittelalter hatte eine Hexe einem Ritter einen Zauber gegeben, der ihn zu seiner verwunschenen Dame führte. Heute gab ein Vertreter einem Mann ein Transistorradio, mit dem er dasselbe erreichte und wahrscheinlich erheblich schneller dazu. Gut möglich, dachte er sich, daß es überhaupt nie eine wirklich spontane und schicksalhafte Romanze gegeben hatte. Vielleicht brauchte man für so eine Sache immer einen Mittelsmann. Hanley verscheuchte alle düsteren Gedanken. Er zahlte sein Abendessen und ging spazieren. Diesmal führten seine festen, eiligen Schritte ihn in einen ärmeren Teil der Stadt. Hier säumten Mülleimer die Bürgersteige. Aus den schmutzigen Souterrainfenstern drang melancholisches Klarinettenspiel an sein Ohr. Eine schrille Frauenstimme schimpfte. Eine gestreifte Katze mit hungrigen Augen spähte ihm aus einer Seitengasse entgegen und sprang davon in die Dunkelheit. Hanley schauderte, blieb stehen und entschied sich, in seinen Teil der Stadt zurückzukehren. »Warum sich nicht noch etwas umsehen?« drängte das Radio ihn sehr leise, so als spräche eine Stimme in seinem Kopf. Hanley schauderte nochmal, und er ging weiter. Die Straßen waren jetzt verlassen und stumm wie ein Grab. Hanley eilte an riesigen fensterlosen Lagerhäusern - 19 -
und heruntergelassenen Torgittern vorbei. Einige Abenteuer, kam es ihm vor, sollte man sich besser ersparen. Das war kaum die passende Umgebung für eine Romanze. Vielleicht sollte er das Radio ignorieren und in die helle, wohlgeordnete Welt zurückkehren, die er kannte. Er hörte das Geräusch schneller Schritte. Als er um die nächste Ecke in eine schmale Seitengasse sah, entdeckte er drei kämpfende Gestalten. Zwei waren Männer, und die dritte, die sich von ihnen loszureißen versuchte, war ein Mädchen. Hanleys Reaktion erfolgte auf der Stelle. Er spannte seine Muskeln, um wegzurennen und einen Polizisten zu suchen. Besser sogar zwei oder drei. Aber das Radio hielt ihn zurück. »Du wirst mit ihnen fertig«, sagte das Radio. Den Teufel werde ich, dachte Hanley. Die Zeitungen waren voller Geschichten von Männern, die gedacht hatten, sie würden mit Straßenräubern fertig. Normalerweise hatten solche Männer im Krankenhaus wochenlang Zeit, diese Fehleinschätzung zu bereuen. Aber das Radio drängte ihn weiter. Und von einem schicksalhaften Gefühl getrieben, von den verzweifelten Schreien des Mädchens bewegt, nahm Hanley seine horngeränderte Brille ab, steckte sie in sein Brillenetui, schob das Etui in seine Jacketttasche und stürzte sich in das schwarze Maul der engen Gasse. Er rannte voll gegen einen Mülleimer, warf ihn um und erreichte die rangelnde Gruppe. Die Gangster hatten ihn noch nicht bemerkt. Hanley packte einen bei den Schultern, - 20 -
riß ihn herum und schlug mit seiner rechten Faust zu. Der Mann taumelte zurück gegen die Wand. Sein Freund ließ das Mädchen los und widmete sich Hanley, der mit beiden Händen und dem rechten Fuß auskeilte. Der Mann brach zusammen und knurrte: »Keine Aufregung, alter Knabe.« Hanley wandte sich wieder dem ersten Straßenräuber zu, der ihn wie eine Wildkatze ansprang. Erstaunlicherweise ging die ganze Salve seiner Schläge vorbei, und Hanley schickte ihn mit einem einzigen gut placierten linken Haken zu Boden. Die beiden Männer rappelten sich hoch und ergriffen die Flucht. Während sie davonrannten, konnte Hanley einen jammern hören: »Was ist das für eine Scheißart, sein Geld zu verdienen!« Diesen Fauxpas im Skript ignorierend, wandte Hanley sich dem Mädchen zu. Sie lehnte sich schutzsuchend an ihn. »Sie sind gekommen«, keuchte sie. »Das mußte ich«, sagte Hanley auf Anweisung der kaum hörbaren Radiostimme. »Ich weiß«, murmelte sie. Hanley sah, daß sie jung und hübsch war. Ihr schwarzes Haar schimmerte im Laternenlicht. Ihre Lippen öffneten sich. Sie sah ihn an, ihre Gesichtszüge von der Stimmung, der Atmosphäre und dem sanften, schmeichelnden Licht seltsam verklärt. Diesmal brauchte Hanley keinen Befehl aus dem Radio mehr, um sie in die Arme zu nehmen. Er lernte Form und Inhalt des romantischen Abenteuers und die richtige Art, eine spontane, doch schicksalhafte Affäre zu eröffnen. - 21 -
Sie brachen sofort zu ihrem Appartement auf. Und während sie gingen, bemerkte Hanley einen großen Juwel in ihrem schwarzen Haar schimmern. Er brauchte nicht sehr lange, um ihn als ein winziges, kunstvoll verkleidetes Transistorradio zu erkennen. Am nächsten Abend war Hanley wieder unterwegs, spazierte durch die Straßen und versuchte, eine leise unbefriedigte Stimme in seinen Gedanken zum Schweigen zu bringen. Es war eine perfekte Nacht gewesen, erinnerte er sich selbst, eine Nacht der sanften Schatten, weiches Haar strich ihm über die Augen, warme Tränen tropften ihm auf die Schulter, und doch … Es blieb die traurige Tatsache, daß dieses Mädchen nicht sein Typ gewesen war, genausowenig wie das Mädchen davor. Man kann eben nicht einfach völlig Fremde nach dem Zufallsprinzip zusammenwerfen und erwarten, daß eine feurige, schnelle Romanze sich in Liebe verwandelt. Liebe hat ihre eigenen Gesetze, und über die wacht sie scharf. Also spazierte Hanley durch den Abend, und in ihm wuchs die Überzeugung, daß er heute abend die Liebe finden würde. Denn heute hing die Mondsichel tief über der Stadt, und eine Brise aus dem Süden trug den Geruch von Nostalgie und Gewürzen in seine Nase. Ziellos wanderte er umher, denn sein Transistorradio blieb stumm. Kein Befehl führte ihn zu dem kleinen Pfad am Flußufer, und keine geheime Stimme drängte ihn, sich dem einsamen Mädchen zu nähern, das dort im Mondschein stand. - 22 -
Er stellte sich in ihre Nähe und versenkte sich in den Anblick. Zu seiner Linken spannte sich eine große Brücke, die Pfeiler spinnenhaft und verloren in die Dunkelheit reckend. Das ölige Wasser des Flusses glitt vorbei, unablässig schimmernd und wabernd. Eine ferne Schiffssirene dröhnte, und eine andere antwortete, wie klagende Geister in der Nacht verloren. Sein Radio gab ihm keinen Tip. Also sagte Hanley: »Hübscher Abend.« »Kann sein«, sagte das Mädchen, ohne sich umzudrehen. »Kann auch nicht sein.« »Die Schönheit ist da«, erklärte Hanley, »wenn man sie sehen möchte.« »Wie seltsam, so etwas zu sagen …« »Ist es das?« fragte Hanley und trat einen Schritt näher. »Ist es wirklich seltsam? Ist es seltsam, daß ich hier bin? Daß Sie hier sind?« »Vielleicht nicht«, sagte das Mädchen, wandte sich schließlich um und sah Hanley ins Gesicht. Sie war jung und hinreißend. Ihr bronzenes Haar schimmerte im Mondlicht, und ihre Gesichtszüge wirkten von der Stimmung, der Atmosphäre und dem sanften schmeichelnden Licht seltsam verzaubert. Ihre Lippen öffneten sich erstaunt. Und dann wußte Hanley es. Dieses Abenteuer war wirklich schicksalhaft und spontan! Das Radio hatte ihn nicht zu diesem Ort geführt, hatte ihm keine Tips und Antworten vorgeflüstert. Und als - 23 -
Hanley das Mädchen musterte, konnte er kein winziges Radio an ihrer Bluse oder in ihrem Haar entdecken. Er hatte seine Liebe ohne die Hilfe des New Yorker Romanzen-Service gefunden! Schließlich wurden seine dunklen, schicksalhaften Visionen nun doch wahr. Er streckte seine Arme aus. Mit einem sehr schwachen Seufzer drängte sie sich an ihn. Sie küßten sich, während die Lichter der Stadt blitzten und sich mit den Sternen über ihnen mischten, der gehörnte Mond über dem Himmel schwamm und Nebelhörner klagende Botschaften über den öligen schwarzen Fluß heulten. Atemlos trat das Mädchen einen Schritt zurück. »Magst du mich?« fragte sie. »Dich mögen?« rief Hanley aus. »Laß mich dir sagen …« »Bin ich froh«, sagte das Mädchen, »weil ich deine freie Einführungsromanze bin, die du als Bonus vom Romantische-Romanzen-Vertrieb, New Jersey, Hauptsitz in Newark, erhältst. Nur unsere Firma bietet Romanzen an, die wirklich spontan und schicksalhaft sind. Dank unserer technologischen Studien können wir längst auf solche plumpen Apparate wie Transistorradios mit ihrer Aura der Überwachung und Kontrolle verzichten, wo es doch keine Kontrolle geben sollte. Wir sind glücklich, Ihnen mit dieser freien Einführungsromanze gefallen zu haben. Aber denken Sie daran, dies ist nur ein Beispiel gewesen, ein Vorgeschmack auf das, was der Romantische-RomanzenGroßvertrieb mit Zweigstellen in allen Ländern der Erde Ihnen anbieten kann. In dieser Broschüre finden Sie mehrere Pläne für Ihr besonderes romantisches Abenteuer - 24 -
ausgearbeitet. Vielleicht interessieren Sie sich für unser Programm ›Romanzen in vielen Ländern‹, ein Komplettangebot, oder, .falls Sie eine wilde Phantasie haben, versuchen Sie es doch einmal mit unserem pikanten ›Romanzen in jedem Alter-Programm‹. Dann haben wir unsere regulären Städte-Romanzen und natürlich …« Sie drückte ihm eine Hochglanzbroschüre in die Hände. Hanley starrte auf das Buch, dann auf sie. Seine Finger öffneten sich, und die Werbebroschüre fiel zu Boden. »Ich bitte Sie, wir möchten Ihnen keinesfalls zu nahe treten!« rief das Mädchen erschrocken. »Diese geschäftsmäßigen Aspekte der Romanze sind notwendig, aber schnell vorbei. Danach ist alles völlig spontan und schicksalhaft. Sie erhalten jeden Monat Ihre Rechnung in einem neutralen unauffälligen Briefumschlag und …« Aber Hanley hatte sich abgewandt und rannte die Straße hinunter. Während er lief, riß er sich das winzige Transistorradio vom Jackett und warf es in den nächsten Gully. Weitere solide Vertreterangebote erwiesen sich bei Hanley völlig verschwendet. Er telephonierte mit einer Tante, die ihm sofort und mit wortreicher Aufregung eine Verabredung mit der Tochter einer ihrer ältesten Freundinnen arrangierte. Sie trafen sich in dem steifen, ungemütlichen Salon seiner Tante und unterhielten sich drei Stunden lang stockend über das Wetter, Colleges, Geschäfte, Politik und Freunde, die sie gemeinsam haben könnten. Und Hanleys strahlende Tante huschte ständig in den hellerleuchteten Raum, um ihnen Kaffee und selbstge- 25 -
backenen Kuchen vorzusetzen. Etwas an diesem steifen, formellen anachronistischen Treffen muß für diese beiden jungen Leute genau das Richtige gewesen sein. Sie begannen, sich regelmäßig zu treffen, und heirateten nach einer Eheanbahnung von drei Monaten. Es ist interessant, hier noch einmal nachdrücklich darauf hinzuweisen, daß Hanley zu den letzten gehörte, die ihre Frau auf die alte, unsichere, beiläufige und vorindustrielle Methode fanden. Denn die Service-Gesellschaften erkannten sofort das kommerzielle Potential von Hanleys Methode, werteten den Effekt der Peinlichkeit beim Kennenlernen auf die Psyche aus und ließen Studien über die Rolle der Tante in der amerikanischen Eheanbahnung anfertigen. Nun gehört es längst zu den regulären und hochgeschätzten Diensten der Gesellschaften, jungen Männern steife alte Tanten zu liefern, bei denen sie anrufen können, diese Tanten mit schüchternen und errötenden jungen Mädchen zu versorgen, und für dies alles das richtige Milieu in Gestalt eines hellen, ungemütlichen Salons zu liefern, einer unbequemen Couch und einer geschäftigen alten Dame, die ständig in unberechenbaren Abständen mit Kaffee und selbstgebackenem Kuchen hereingehuscht kommt. Die Spannung, sagt man, wird dann beinahe unerträglich.
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Der Egel
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Der Egel wartete auf Nahrung. Seit Jahrtausenden trieb er durch die riesige Leere des Weltraums. Während der unzähligen Jahrhunderte in der Weite zwischen den Sternen war er ohne Bewußtsein gewesen. Er merkte nicht, wie er schließlich eine Sonne erreichte. Lebensspendende Strahlung umgab die trockene, harte Spore. Gravitation zerrte an ihr. Ein Planet zog den Egel an, zusammen mit anderem stellaren Schutt, und er fiel herab; noch immer schien er leblos zu sein, in seiner harten Sporenkapsel. Ein Staubkorn unter vielen, wurde er von den Winden um die Erde geweht. Sie spielten mit ihm und ließen ihn fallen. Auf dem Boden kam Leben in ihn. Nahrung drang ein, die Sporenkapsel wurde durchlässig. Er wuchs – und fraß. Frank Conners kam auf die Veranda und hustete zweimal. »Hören Sie, Professor, bitte verzeihen Sie mir«, sagte er. Der lange, bleiche Mann im Liegestuhl rührte sich nicht. Seine Hornbrille war in die Stirn geschoben, und er schnarchte friedlich. »Tut mir schrecklich leid, Sie stören zu müssen«, sagte Conners und schob seinen zerknautschten Hut in den Nacken. »Ich weiß, daß Ihre Ruhewoche is und so, aber da is was verdammt Lustiges im Straßengraben.« Die linke Augenbraue des blassen Mannes zuckte, doch sonst gab es keine Anzeichen dafür, daß er Conners gehört hatte. - 28 -
Frank Conners hustete wieder. Er hielt seinen Spaten in der blauadrigen Hand. »Harn se mich gehört, Professor?« »Natürlich habe ich Sie gehört«, sagte Micheals mit leiser Stimme. Seine Augen waren noch immer geschlossen. »Sie haben einen Elf gefunden.« »Einen was?« fragte Conners und warf Micheals einen schiefen Blick zu. »Ein kleines Mädchen in einem grünen Anzug. Geben Sie ihm Milch zu trinken, Conners.« »Nein, Sir. Ich glaube, es ist ein Felsbrocken.« Micheals öffnete ein Auge und starrte damit in Conners' Richtung. »Tut mir wirklich schrecklich leid«, sagte Conners. Professor Micheals' Ruhewoche war ein zehn Jahre alter Brauch und seine einzige exzentrische Angewohnheit. Den ganzen Winter lehrte Micheals Anthropologie, arbeitete in einem halben Dutzend Komitees, pfuschte nebenbei noch den Physikern und Chemikern ins Handwerk und fand trotzdem die Zeit, jedes Jahr ein Buch zu schreiben. Wenn der Sommer kam, war er müde. Wenn er dann auf seiner bewährten Farm, draußen im Staat New York, eintraf, war es ein unumstößliches Gesetz, eine Woche lang absolut nichts zu tun. Er heuerte Frank Conners an, der in dieser Woche kochte und sich auch sonst nützlich machte, während Professor Micheals schlief. In der zweiten Woche spazierte Micheals herum, sah sich die Bäume an und angelte. Während der dritten Woche war er für gewöhnlich damit beschäftigt, in der Sonne zu - 29 -
liegen, zu lesen, die Schuppen zu reparieren und bergzusteigen. Am Ende der vierten Woche konnte er es kaum erwarten, wieder in die Stadt zu kommen. Doch die Ruhewoche war heilig. »Ich würde Sie wirklich nich wegen irgendeiner Kleinigkeit belästigen«, sagte Conners entschuldigend. »Aber dieser verdammte Felsbrocken hat zwei Zoll von meinem Spaten weggeschmolzen.« Micheals öffnete beide Augen und richtete sich auf. Conners hielt den Spaten hoch. Das abgerundete Ende war fein säuberlich abgeschnitten. Micheals schwang die Beine von der Couch und schlüpfte in abgetragene Mokkasins. »Sehn' wir uns dieses Wunder einmal an«, sagte er. Das Objekt lag am Rand des Vorgartens im Straßengraben, drei Fuß neben der Hauptstraße. Es war rund, vollkommen massiv und hatte ungefähr den Durchmesser eines Lastwagenreifens. Es war etwa einen Zoll dick, soweit er das beurteilen konnte, grauschwarz und in einem verzwickten Muster geädert. »Berühren Sie's nich«, warnte Conners. »Das werde ich nicht. Geben Sie mir einmal Ihren Spaten.« Micheals nahm den Spaten und stieß probeweise gegen das Objekt. Es war vollkommen unnachgiebig. Er hielt den Spaten einen Augenblick auf die Oberfläche des Objekts, zog ihn dann weg. Ein weiterer Zoll war verschwunden. Micheals runzelte die Stirn und drückte sich die Brille fester gegen die Nase. Er hielt den Spaten mit einer Hand auf den Felsbrocken, die andere Hand hielt er dicht über dessen Oberfläche. Noch mehr von dem Spaten verschwand. - 30 -
»Scheint keine Wärmeenergie freizuwerden«, sagte er zu Conners. »Haben Sie beim ersten Mal welche bemerkt?« Conners schüttelte den Kopf. Micheals hob einen Klumpen Erde auf und warf ihn auf das Objekt. Schnell löste sich die Erde auf, ohne eine Spur auf der grauschwarzen Oberfläche zu hinterlassen. Ein großer Stein folgte der Erde, und verschwand auf die gleiche Weise. »Is das nich so ungefähr das verdammteste Ding, das Sie je gesehen haben, Professor?« fragte Conners. »Ja«, stimmte Micheals zu und stand wieder auf. »Das ist es so ungefähr.« Er hob den Spaten und ließ ihn heftig auf das Objekt herabsausen. Als er auf traf, ließ Micheals ihn beinahe fallen. Er hatte den Stiel des Spatens fest umfaßt, falls dieser abprallen sollte. Doch der Spaten traf auf die unnachgiebige Oberfläche und blieb liegen. Es war kein Nachgeben zu spüren, aber auch absolut kein Abprallen. »Was glauben se is es?« fragte Conners. »Es ist kein Stein«, sagte Micheals. Er trat zurück. »Ein Egel trinkt Blut. Dieses Ding scheint Erde zu trinken. Und Spaten.« Er schlug noch ein paarmal probeweise auf es ein. Die beiden Männer sahen sich an. Auf der Straße rollten ein halbes Dutzend Armeelastwagen vorbei. »Ich werde das College anrufen und einen Physiker um Rat fragen«, sagte Micheals. »Oder einen Biologen. Ich möchte das Ding gerne loswerden, bevor es mir den Garten versaut.« Sie gingen zurück zum Haus.
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Alles nährte den Egel. Der Wind steuerte seinen Anteil an kinetischer Energie bei, indem er über die grauschwarze Oberfläche strich. Regen fiel, und die Kraft jedes einzelnen Tropfens vergrößerte die Vorräte des Egels. Das Wasser wurde von der allesabsorbierenden Oberfläche aufgesaugt. Das Sonnenlicht über ihm wurde absorbiert und in Masse für seinen Körper verwandelt. Unter sich nahm er den Untergrund auf; Erde, Steine und Äste wurden in den komplizierten Zellen des Egels zerkleinert und in Energie umgewandelt. Die Energie wurde wieder in Masse umgesetzt, und der Egel wuchs. Langsam begannen die ersten Funken des Bewußtseins zurückzukehren. Das erste, was er spürte, war die unmögliche Winzigkeit seines Körpers. Er wuchs. Als Micheals am nächsten Tag nachsah, maß der Egel acht Fuß im Durchmesser. Er ragte in die Straße hinein und über den Rand des Vorgartens. Am folgenden Tag betrug sein Durchmesser achtzehn Fuß. Er füllte den Straßengraben aus und bedeckte den größten Teil der Straßenbreite. An diesem Tag kam der Sheriff in seinem A-Modell angefahren, gefolgt von beinahe der halben Stadt. »Ist das Ihr Egel-Ding, Professor Micheals?« fragte Sheriff Flynn. »Ja, das ist es«, sagte Micheals. Er hatte in den vergangenen Tagen vergeblich nach einer Säure gesucht, mit der man Egel auflösen konnte. »Wir müssen es von der Straße runterkriegen«, sagte Flynn und marschierte wütend auf den Egel zu. »Sowas - 32 -
wie das hier darf die Straße nicht blockieren, Professor. Die Armee benutzt diese Straße schließlich immer.« »Tut mir furchtbar leid«, sagte Micheals mit aufrichtigem Gesicht. »Vorwärts, Sheriff! Aber seien Sie vorsichtig. Er ist heiß.« Der Egel war nicht heiß, aber unter diesen Umständen schien das die einfachste Erklärung zu sein. Micheals beobachtete mit Interesse, wie der Sheriff versuchte, ein Brecheisen unter den Egel zu schieben. Er lächelte in sich hinein, als es wieder hervorgezogen wurde und einen halben Fuß kürzer war. Der Sheriff ließ sich nicht so leicht entmutigen. Er war darauf vorbereitet gewesen, einen störrischen Felsbrocken anzutreffen. Er ging zum Notsitz seines Wagens und nahm einen Schweißbrenner und einen Schmiedehammer heraus, entzündete den Brenner und richtete ihn auf einen Rand des Egels. Nach fünf Minuten gab es noch keine Veränderung. Das Grau wurde nicht rot, ja schien sich noch nicht einmal aufzuheizen. Sheriff Flynn röstete es weitere fünfzehn Minuten, dann befahl er einen der Männer zu sich. »Schlag’ mit dem Hammer auf diesen Punkt, Jerry.« Jerry hob den Schmiedehammer auf, winkte den Sheriff zur Seite und schwang den Hammer über den Kopf. Er stieß einen Schrei aus, als der Hammer herabsauste und einfach liegenblieb. Es gab auch nicht die Spur eines Abprallens. In der Ferne hörten sie den Lärm eines Armee-Konvois. »Jetzt wird endlich etwas geschehen«, sagte Flynn. - 33 -
Micheals war sich da nicht so sicher. Er spazierte um die Peripherie des Egels herum und fragte sich, welche Substanz in dieser Weise reagieren würde. Die Antwort war einfach – keine Substanz. Keine bekannte Substanz. Der Fahrer des Leit-Jeeps hob die Hand, und der lange Konvoi kam zum Stehen. Ein harter, tüchtig aussehender Offizier stieg aus dem Jeep. An dem Stern auf beiden Schultern konnte Micheals erkennen, daß es sich um einen Brigade-General handelte. »Sie können diese Straße nicht blockieren«, sagte der General. Er war ein großer, magerer Mann mit Handschuhen. Er hatte ein sonnenverbranntes Gesicht und kalte Augen. »Bitte schaffen Sie dieses Ding beiseite.« »Wir können es nicht bewegen«, sagte Micheals. Er erzählte dem General, was in den letzten Tagen geschehen war. »Es muß sich bewegen lassen«, sagte der General. »Dieser Konvoi muß vorbei.« Er ging näher heran und betrachtete den Egel. »Sie sagen, es läßt sich mit einem Brecheisen nicht anheben? Ein Schweißgerät kann es nicht verbrennen?« »Richtig«, sagte Micheals und lächelte schwach. »Fahrer«, sagte der General über die Schulter. »Fahren Sie drüberweg.« Micheals wollte widersprechen, schwieg dann aber. Der militärische Verstand mußte auf seine eigene Weise dahinterkommen. Der Fahrer gab Gas, und der Jeep schoß vorwärts. Er übersprang die vier Zoll hohe Egelkante, erreichte die - 34 -
Mitte des Egels und hielt an. »Ich habe Ihnen nicht befohlen anzuhalten!« bellte der General. »Ich habe nicht angehalten, Sir!« protestierte der Fahrer. Der Jeep war zum Halten gebracht worden, und der Motor hatte ausgesetzt. Der Fahrer ließ ihn wieder an, schaltete den Allradantrieb ein und versuchte, vorwärtszukommen. Der Jeep rührte sich nicht, so, als sei er in Beton gesetzt worden. »Verzeihung«, sagte Micheals. »Wenn Sie genau hinsehen, bemerken Sie, daß die Reifen wegschmelzen.« Der General riß die Augen auf, seine Hand wanderte automatisch zu seinem Pistolengurt. Dann brüllte er: »Springen Sie, Fahrer! Berühren Sie dieses graue Zeug nicht!« Weißgesichtig kletterte der Fahrer auf die Motorhaube seines Jeeps, sah sich um, und sprang in Sicherheit. Es herrschte völlige Stille, während alle den Jeep beobachteten. Zuerst schmolzen seine Reifen weg und dann die Felgen. Auch die Karosserie, die nun auf der grauen Oberfläche ruhte, schmolz. Zuallerletzt verschwand die Antenne. Der General fing an, leise zu fluchen. Er drehte sich zu dem Fahrer um. »Gehn Sie nach hinten und holen Sie ein paar Männer mit Handgranaten und Dynamit.« Der Fahrer rannte zurück zum Konvoi. »Ich weiß nicht, was das hier ist«, sagte der General. »Aber einen Konvoi der U. S. Army wird es nicht auf- 35 -
halten.« Micheals war sich da nicht so sicher. Der Egel war jetzt fast wach, und sein Körper verlangte nach mehr und mehr Nahrung. Er zersetzte den Boden unter sich mit rasender Geschwindigkeit und füllte den entstehenden Leerraum mit seinem eigenen, sich ausdehnenden Körper. Ein großes Objekt landete auf ihm und wurde ebenfalls Nahrung. Dann plötzlich – Ein Energieausbruch auf seiner Oberfläche, dann noch einer, und noch einer. Er verzehrte sie dankbar und wandelte sie in Masse um. Kleine Metallkugeln trafen ihn, und ihre kinetische Energie wurde absorbiert, ihre Masse umgewandelt. Weitere Explosionen fanden statt und halfen, seine hungrigen Zellen zu füllen. Er begann, Dinge zu fühlen – kontrollierte Verbrennungsvorgänge in seiner Nähe, Wind, Massebewegungen. Es gab eine weitere, größere Explosion, ein Vorgeschmack auf wirkliche Nahrung! Dankbar fraß er, jetzt schneller wachsend. Er wartete begierig auf weitere Explosionen, während seine Zellen nach Nahrung schrien. Doch es gab keine weiteren. Er fuhr fort, den Boden zu fressen und die Sonnenenergie aufzunehmen. An dem geringer werdenden Energie-Angebot spürte er, daß es Nacht wurde. Weitere Tage und Nächte folgten. Vibrierende Objekte fuhren fort, sich um ihn herum zu bewegen. Er fraß und wuchs und dehnte sich aus.
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Micheals stand auf einem kleinen Hügel und beobachtete, wie sein Haus sich auflöste. Der Egel maß jetzt mehrere hundert Yards im Durchmesser. Er reichte bis vor die Haustür. Leb' wohl, trautes Heim, dachte Micheals und erinnerte sich an die zehn Sommer, die er hier verbracht hatte. Die Haustür verschwand im Körper des Egels. Stück für Stück wurde das Haus vernichtet. Der Egel sah jetzt aus wie ein Lavafeld; ein verfluchter Fleck auf der grünen Erde. »Entschuldigung, Sir«, sagte ein Soldat hinter ihm. »General O'Donnell möchte Sie sprechen.« »In Ordnung«, sagte Micheals und warf noch einen letzten Blick auf das Haus. Er folgte dem Soldaten durch den Stacheldraht, der in einer halben Meile Umkreis um den Egel gezogen worden war. Ein Trupp Soldaten stand entlang des Zaunes Wache. Sie hielten die Reporter und die Scharen von Neugierigen fern, die inzwischen am Schauplatz aufgetaucht waren. Micheals fragte sich, warum man ihn noch hereinließ. Wahrscheinlich, weil sich das alles zum größten Teil auf seinem Land abspielte, vermutete er. Der Soldat führte ihn zu einem Zelt. Micheals bückte sich und ging hinein. An einem kleinen Tisch saß General O'Donnell, noch immer mit Handschuhen. Er deutete auf einen Stuhl, und Micheals setzte sich. »Man hat mir die Anweisung erteilt, dafür zu sorgen, daß dieser Egel verschwindet«, sagte der General. - 37 -
Micheals nickte. Er verzichtete darauf, sich darüber auszulassen, wie ratsam es ist, einem Soldaten den Job eines Wissenschaftlers zu geben. »Sie sind ein Professor, nicht wahr?« »Ja. Anthropologe.« »Gut. Zigarette?« Der General gab Micheals Feuer. »Ich möchte gerne, daß Sie als Berater in meiner Nähe bleiben. Sie gehören zu den ersten, die diesen Egel gesehen haben. Ich wäre dankbar, wenn Sie mir Ihre Erkenntnisse über« – er lächelte – »den Feind mitteilen.« »Ich würde mich freuen«, sagte Micheals. »Trotzdem glaube ich, daß das eher Sache eines Physikers oder Biochemikers ist.« »Ich will nicht, daß dieser Platz hier von Wissenschaftlern wimmelt«, sagte General O'Donnell, und blickte mit gerunzelter Stirn auf die Spitze seiner Zigarette. »Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich habe den größten Respekt vor der Wissenschaft. Ich bin, wenn ich so sagen darf, ein wissenschaftlicher Soldat. Ich bin immer an den neuesten Waffen interessiert. Ohne die Wissenschaft können Sie heute keinen Krieg mehr führen.« O'Donnells› sonnenverbranntes Gesicht bekam einen entschlossenen Ausdruck. »Aber ich kann kein Team von Intellektuellen gebrauchen, die in den nächsten Monaten in diesem Ding herumstochern und mich aufhalten. Mein Job ist, es zu zerstören; mit allen Mitteln, die mir zur Verfügung stehen, und sofort. Und genau das werde ich tun.« »Ich glaube nicht, daß das so einfach ist«, sagte Micheals. - 38 -
»Deswegen brauche ich Sie«, sagte O'Donnell. »Sagen Sie mir warum, und ich werde einen Weg finden, wie es zu schaffen ist.« »So wie ich es mir vorstelle, ist der Egel ein organischer Masse-Energie-Konverter, und zwar einer von erschreckender Effizienz. Ich vermute, er hat zwei Arbeitsmöglichkeiten. Erstens wandelt er Masse in Energie um und dann zurück in Masse für seinen Körper. Zweitens wird Energie direkt in die Körpermasse umgewandelt. Wie das vor sich geht, weiß ich nicht. Der Egel besteht nicht aus Protoplasma. Möglicherweise ist er noch nicht einmal zellular …« »Also brauchen wir etwas Großes, um ihn zu vernichten«, unterbrach O'Donnell. »Gut, das geht in Ordnung. Ich habe erstklassiges Zeug hier.« »Sie scheinen mich nicht zu verstehen«, sagte Micheals. »Vielleicht habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt. Der Egel frißt Energie. Er kann die Sprengkraft jeder Energiewaffe verarbeiten, die Sie gegen ihn einsetzten.« »Was passiert«, fragte O'Donnell, »wenn er immer weiter frißt?« »Ich habe keine Ahnung, wo seine Wachstumsgrenzen liegen«, sagte Micheals. »Vielleicht wird sein Wachstum nur durch das Nahrungsangebot begrenzt.« »Sie meinen, er könnte theoretisch ewig weiterwachsen?« »Möglicherweise wächst er solange, wie er Nahrung findet.« - 39 -
»Das ist wahrhaftig eine Herausforderung«, sagte O'Donnell. »Dieser Egel kann nicht völlig immun gegen Gewaltanwendung sein.« »Es scheint aber so. Ich schlage vor, daß Sie einige Physiker herholen. Auch ein paar Biologen. Lassen Sie sie herausfinden, wie man ihn vernichten kann.« Der General drückte seine Zigarette aus. »Professor, ich kann nicht warten, während die Wissenschaftler sich zanken. Ich habe einen Wahlspruch.« Er machte eine eindrucksvolle Pause. »Nichts ist immun gegen Gewaltanwendung. Du mußt nur genügend Gewalt anwenden, und nichts wird dagegen standhalten. Nichts. Professor«, fuhr der General in freundlicherem Tonfall fort, »Sie sollten Ihre eigenen wissenschaftlichen Fähigkeiten nicht zu gering schätzen. Wir verfügen, konzentriert unter North Hill, über die größte Ansammlung von konventionellen und atomaren Waffen, die jemals an einem Ort gelagert wurde. Glauben Sie, daß Ihr Egel dieser Kraft standhalten kann?« »Ich nehme an, es ist möglich, das Ding zu überladen«, sagte Micheals unsicher. Er erkannte jetzt, warum der General ihn bei sich haben wollte. Er hatte eine Art wissenschaftliche Alibifunktion, besaß jedoch nicht die Autorität, dem General Schwierigkeiten zu machen. »Kommen Sie«, sagte General O'Donnell fröhlich. Er stand auf und schlug den Zelteingang zurück. »Wir werden diesen Egel jetzt in der Mitte aufsprengen.«
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Nach langem Warten gab es wieder energiereiche Nahrung. Sie wurde an einer Seite in ihn hineingepumpt. Zuerst war es nur wenig, dann immer mehr. Strahlungen, Erschütterungen, Explosionen, feste Stoffe, Flüssigkeiten – eine faszinierende Vielfalt von Nahrungsmitteln. Er verarbeitete sie alle. Doch die Nahrung strömte zu langsam für seine hungrige Zellen, denn ständig kamen neue Zellen hinzu, die gesättigt werden mußten. Der ewig-hungrige Körper schrie nach mehr Nahrung, und schneller! Jetzt, wo er eine einigermaßen effiziente Größe erreicht hatte, war er hellwach. Die Energie-Eindrücke um ihn herum verwirrten ihn, denn die Quelle der neuen Nahrung konzentrierte sich in einem Punkt. Mühelos erhob er sich in die Luft, flog ein kleines Stück und ließ sich auf die Nahrung fallen. Seine supereffizienten Zellen verschlangen gierig die energiereichen radioaktiven Substanzen. Aber er verschmähte auch die weniger wertvollen Metalle und die Klumpen aus Kohlehydraten nicht. »Diese verdammten Schwachköpfe«, sagte General O'Donnell. »Warum mußten sie auch in Panik ausbrechen? Man könnte meinen, sie hätten nie eine Ausbildung erhalten.« Er marschierte vor seinem Zelt auf und ab, das sich jetzt an einem neuen Standort, drei Meilen weiter weg, befand. Der Egel maß jetzt drei Meilen im Durchmesser. Drei Dörfer waren evakuiert worden. Micheals, der neben dem General stand, war noch immer wie betäubt von der Erinnerung. Der Egel hatte die - 41 -
geballte Kraft der Waffen eine Weile aufgenommen und sich dann in seiner ganzen Größe in die Luft erhoben. Sein Körper hatte die Sonne verdunkelt, als er über North Hill schwebte; und dann ließ er sich fallen. Es wäre genug Zeit für eine Evakuierung gewesen, doch die entsetzten Soldaten waren rasend vor Furcht. Siebenundsechzig Männer fielen bei der »Operation Egel«, und General O'Donnell bat um Erlaubnis, Atombomben einsetzen zu dürfen. Washington schickte eine Gruppe von Wissenschaftlern, die die Lage untersuchen sollten. »Haben diese Experten noch immer nicht entschieden?« fragte O'Donnell. Er war wütend vor dem Zelt stehengeblieben. »Sie haben jetzt lange genug geredet.« »Es ist eine schwere Entscheidung«, sagte Micheals. Da er kein offizielles Mitglied des Untersuchungsteams war, hatte er ihnen seine Informationen gegeben und war hinausgegangen. »Die Physiker sehen es als ein biologisches Problem an, und die Biologen scheinen zu glauben, daß die Chemiker die Antwort wissen. Keiner ist hier Experte, denn so etwas ist noch nie zuvor passiert. Wir haben einfach keine Daten.« »Es ist ein militärisches Problem«, sagte O'Donnell hart. »Es interessiert mich nicht, was das Ding ist – Ich will wissen, wie man es zerstören kann. Sie sollten mir lieber die Erlaubnis geben, die Bombe einzusetzen.« Darüber hatte Micheals seine eigenen Überlegungen angestellt. Es ließ sich nicht mit Sicherheit sagen, aber - 42 -
wenn man die Masse-Energie Absorptionsrate des Egels abschätzte, die sich in seiner Größe und seiner scheinbaren Wachstumskapazität ausdrückte, konnte eine Atombombe ihn vielleicht überladen – wenn sie rechtzeitig eingesetzt wurde. Er schätzte, daß diese Frist in drei Tagen ablief. Danach war es sinnlos. In ein paar Monaten konnte er die ganzen Vereinigten Staaten bedecken. »Seit einer Woche bitte ich jetzt schon darum, die Bombe einsetzen zu dürfen«, brummte O'Donnell. »Und ich werde die Erlaubnis bekommen, aber nicht ehe diese Dummköpfe mit ihrem verdammten Gerede aufhören.« Er blieb wieder stehen und sah Micheals an. »Ich werde den Egel vernichten. Ich werde ihn zerschmettern, und wenn es das letzte ist, was ich tue. Das ist nicht mehr allein eine Sicherheitsfrage. Es geht jetzt um meine Ehre.« Aus einer solchen Haltung heraus werden vielleicht große Generäle geboren, dachte Micheals, aber dieses Problem ließ sich so nicht lösen. Es war anthropomorphisch von O'Donnell, den Egel als Feind zu betrachten. Schon der Name »Egel« war ein vermenschlichender Faktor. Wie er es mit jedem physikalischen Rätsel machen würde, behandelte O'Donnell den Egel, als sei er einfach eine große Armee. Aber der Egel war nicht menschlich. Möglicherweise stammte er noch nicht einmal von der Erde. Er mußte nach neuen Maßstäben behandelt werden. »Da kommen unsere Schlauköpfe«, sagte O'Donnell. Von einem benachbarten Zelt näherte sich eine Gruppe - 43 -
erschöpfter Männer, angeführt von Allenson, einem Biologen der Regierung. »Nun«, fragte der General, »haben Sie herausgefunden, was er ist?« »Einen Augenblick. Ich brauche nur eben eine Gewebeprobe zu entnehmen«, sagte Allenson müde. Seine Augen waren rotgerändert. »Haben Sie eine wissenschaftliche Methode gefunden, ihn zu töten?« »Oh, das war nicht allzu schwierig«, sagte Moriarty, ein Atomphysiker, bissig. »Packen Sie ihn in ein völliges Vakuum. Dann wäre das Problem gelöst. Oder pusten Sie ihn mit Antischwerkraft von der Erde.« »Aber da Ihnen das schwerfallen dürfte«, sagte Allenson, »schlagen wir vor, daß Sie Ihre Atombombe einsetzen, und zwar so schnell wie möglich.« »Wird diese Meinung von der ganzen Gruppe geteilt?« fragte O'Donnell mit glänzenden Augen. »Ja.« Der General stürzte davon. Micheals schloß sich den Wissenschaftlern an. »Er hätte uns ganz zu Anfang herrufen sollen«, beschwerte sich Allenson. »Jetzt gibt es keine andere Möglichkeit mehr, als Gewalt anzuwenden.« »Sind Sie zu irgendwelchen Erkenntnissen über die Natur des Egels gelangt?« »Nur solche allgemeiner Art«, sagte Moriarty«, »und sie entsprechen ungefähr dem, was Sie gesagt haben. Die - 44 -
Herkunft des Egels ist vermutlich extraterristisch. Bis er auf der Erde landete, scheint er sich in einem Sporenstadium befunden zu haben.« Er brach ab und zündete seine Pfeife an. »In diesem Fall sollten wir froh sein, daß er nicht in einen Ozean fiel. Die Erde wäre uns unter den Füßen weggefressen worden, ehe wir überhaupt etwas gemerkt hätten.« Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. »Wie Sie schon gesagt haben, ist er ein perfekter Konverter – er kann Masse in Energie umwandeln, und jede Art von Energie in Masse.« Moriarty grinste. »Natürlich ist das unmöglich, und ich habe Zahlen, die das beweisen.« »Ich gehe etwas trinken«, sagte Allenson. »Kommt jemand mit?« »Das ist die beste Idee der ganzen Woche«, sagte Micheals. »Ich frage mich, wie lange es dauert, bis O'Donnell die Erlaubnis für den Einsatz der Bombe erhält.« »Wie ich die Politiker kenne«, sagte Moriarty, »zu lange.« Der Befund der Regierungswissenschaftler wurde von anderen Regierungswissenschaftlern überprüft. Das dauerte ein paar Tage. Dann wollte Washington wissen, ob es keine andere Möglichkeit gab, als mitten im Staat New York eine Atombombe zu zünden. Es brauchte etwas Zeit, sie davon zu überzeugen, daß dies notwendig war. Danach mußte die Bevölkerung evakuiert werden, was weitere Zeit beanspruchte. - 45 -
Dann wurden Anweisungen erteilt und fünf Atombomben aus dem Depot geholt. Eine Rakete wurde vorbereitet und unter General O'Donnells Kommando gestellt. Das dauerte einen weiteren Tag. Zu guter Letzt dann flog die stummelige Scoutrakete über New York hinweg. Aus der Luft war der grauschwarze Fleck leicht zu finden. Wie ein Krebsgeschwür erstreckte er sich zwischen Lake Placid und Elizabethtown, bedeckte Keene und Keene Valley und reichte bis an den Rand von Jay. Die erste Bombe wurde ausgeklinkt. Nach der ersten energiereichen Mahlzeit hatte er lange warten müssen. Die stärkere Strahlung am Tage wurde viele Male von der schwächeren Energie der Nächte abgelöst, während der Egel die Erde unter sich fraß, die Luft um ihn herum absorbierte und wuchs. Doch dann, eines Tages – Ein völlig überraschender Energieausbruch! Alles diente dem Egel als Nahrung, doch er hatte immer die Möglichkeit, die Nahrungsaufnahme zu drosseln. Dieses Mal ergoß sich die Energie über ihn, durchströmte ihn, beutelte ihn. Verzweifelt wuchs der Egel, versuchte, die gigantische Energiemenge aufzunehmen. Noch immer klein, erreichte er schnell die Grenze seiner Ladekapazität. Die überbeanspruchten, zum Bersten gefüllten Zellen bekamen mehr und mehr Nahrung. Mit ungeheurer Geschwindigkeit produzierte der bedrohte Körper neue Zellen. Und – Er hielt stand. Die Energie war jetzt beherrschbar, - 46 -
stimulierte weiteres Wachstum. Mehr Zellen nahmen die Belastung auf, schluckten die Nahrung. Die nächsten Dosen schmeckten vorzüglich und waren leicht zu beherrschen. Der Egel dehnte sich aus, wachsend, fressend und wachsend. Das war ein Vorgeschmack auf wirkliche Nahrung! Vor Verzückung geriet er fast in Ekstase. Hoffnungsvoll wartete er auf noch mehr, doch es kam nichts mehr. Er fuhr wieder fort, an der Erde zu fressen. Die Energie, die dazu benutzt wurde, weitere Zellen zu produzieren, verstreute sich schnell. Bald war er wieder hungrig. Er würde immer hungrig sein. O'Donnell zog sich mit seinen demoralisierten Männern zurück. Sie lagerten zehn Meilen vom südlichen Rand des Egels entfernt, in der evakuierten Stadt Schroon Lake. Der Egel hatte jetzt einen Durchmesser von über sechzig Meilen und wuchs immer noch zügig weiter. Er hatte sich über die Adirondack-Berge ausgebreitet, und alles von Saranac Lake bis Port Henry war vollkommen zugedeckt. Einer seiner Ränder verlief oberhalb von Westport, durch Lake Champlain hindurch. Die ganze Bevölkerung im Umkreis von hundert Meilen um den Egel war evakuiert worden. General O'Donnell erhielt die Erlaubnis, Wasserstoffbomben einzusetzen, falls seine Wissenschaftler das billigten. »Was haben unsere Schlauköpfe entschieden?« wollte O'Donnell wissen. - 47 -
Er und Micheals befanden sich im Wohnzimmer eines evakuierten Hauses in Schroon Lake. O'Donnell hatte es zu seinem neuen Hauptquartier gemacht. »Warum zögern Sie?« fragte O'Donnell ungeduldig. »Der Egel muß schleunigst in die Luft gejagt werden. Warum trödeln Sie herum?« »Sie befürchten eine Kettenreaktion«, erklärte Micheals ihm. »Durch eine Konzentrierung von Wasserstoffbomben in der Erdkruste oder der Atmosphäre könnte eine solche ausgelöst werden. Außerdem können noch eine Menge andere Dinge passieren.« »Vielleicht werden sie mir statt dessen eine BajonettAttacke vorschlagen«, sagte O'Donnell verächtlich. Micheals seufzte und setzte sich in einen Sessel. Er war davon überzeugt, daß diese ganze Vorgehensweise falsch war. Die Regierungswissenschaftler waren bei ihrer Untersuchung in eine einzige Richtung gedrängt worden. Der Druck auf sie war so groß, daß sie gar nicht die Möglichkeit hatten, etwas anderes als Gewalt überhaupt in Erwägung zu ziehen – und der Egel gedieh dabei prächtig. Micheals war sicher, daß es Augenblicke gab, wo es nicht ratsam war, Feuer mit Feuer zu bekämpfen. Feuer. Loki, Gott des Feuers. Und der List. Nein, dort ließ sich keine Antwort finden. Doch Micheals ließ seine Gedanken weiter durch die Mythologie schweifen, und erholte sich dabei von der unerträglichen Realität. Allenson kam herein, gefolgt von sechs anderen Männern. »Nun«, sagte Allenson, »mit der Anzahl von Bomben, - 48 -
die Sie unseren Berechnungen zufolge brauchen, könnten Sie leicht ein verdammt großes Loch in die Erde reißen.« »Im Krieg muß man Gefahren auf sich nehmen«, sagte O'Donnell grob. »Soll ich anfangen?« Micheals erkannte plötzlich, daß es O'Donnell völlig gleichgültig war, ob er die Erde in Stücke sprengte. Der rotgesichtige General sah nur, daß er die gewaltigste Explosion zünden würde, die je von Menschenhand ausgelöst worden war. »Langsam«, sagte Allenson. »Ich will, daß Sie auch die Meinungen der anderen hören.« Der General beherrschte sich nur mühsam. »Darf ich Sie daran erinnern«, sagte er, »daß der Egel, nach Ihren eigenen Berechnungen, mit einer Wachstumsrate von zwanzig Fuß pro Stunde wächst?« »Und diese Geschwindigkeit nimmt weiter zu«, ergänzte Allenson. »Doch eine solche Entscheidung darf nicht übereilt getroffen werden.« Micheals Gedanken schweiften wieder ab, zu den Lichtblitzen des Zeus. Das war es, was sie brauchten. Oder die Kraft von Herkules. OderEr setzte sich plötzlich auf. »Gentlemen, ich glaube, ich kann Ihnen eine andere Möglichkeit vorschlagen, auch wenn sie noch sehr verschwommen ist.« Sie starrten ihn an. »Haben Sie schon einmal etwas über Antäus gehört?« fragte er. - 49 -
Je mehr der Egel fraß, desto schneller wuchs er und desto hungriger wurde er. Obwohl er seine Herkunft vergessen hatte, erinnerte er sich sehr weit zurück. In jener fernen Vergangenheit hatte er einen Planeten gefressen. Gewaltig, gierig geworden, reiste er zu einem nahen Stern und fraß auch den, wobei er die Zellen erneuerte, die für den Flug in Energie umgewandelt worden waren. Doch dann gab es keine Nahrung mehr, und der nächste Stern war ungeheuer weit entfernt. Er machte sich auf die Reise, aber lange bevor er die Nahrung erreichte, ging ihm die Energie aus. Seine Masse, die in Energie zurückverwandelt wurde, um den Flug zu ermöglichen, war aufgebraucht. Er schrumpfte. Schließlich war alle Energie geschwunden. Er war eine Spore, die ziellos durch den Weltraum trieb. Das war das erste Mal gewesen. War es das wirklich? Er glaubte, sich an eine ferne, nebelhafte Zeit zurückerinnern zu können, in der das Universum gleichmäßig mit Sternen bedeckt gewesen war. Er hatte sich durch sie hindurchgefressen, ganze Sektionen vernichtet, wachsend, anschwellend. Und die Sterne waren in Panik auseinandergestoben, hatten sich zu Galaxien und Sternbildern gruppiert. Oder war das ein Traum? Methodisch fraß er an der Erde und fragte sich, wo die energiereiche Nahrung blieb. Und dann war sie wieder da, aber diesmal über dem Egel. Er wartete, doch die gierig machende Nahrung blieb außer Reichweite. Er konnte fühlen, wie energiereich und - 50 -
rein diese Nahrung war. Warum fiel sie nicht herab? Lange Zeit wartete der Egel, doch die Nahrung verharrte außer Reichweite. Schließlich erhob er sich in die Luft und folgte ihr. Die Nahrung wich zurück, weg, weg von der Oberfläche des Planeten. Der Egel kam hinterher, so schnell seine Größe es zuließ. Die energiereiche Nahrung floh hinaus in den Weltraum, und der Egel folgte. Weiter weg konnte er eine noch reichhaltigere Nahrungsquelle spüren. Die heiße, wunderbare Energie einer Sonne! O'Donnell ließ den Wissenschaftlern in der Befehlszentrale Sekt reichen. Offizielle Dinners würden folgen, aber dies war die Siegesfeier. »Einen Toast«, sagte der General stehend. Die Männer hoben ihre Gläser. Der einzige Mann, der nicht trank, war ein Leutnant; er saß vor dem Steuerpult, von dem aus das unbemannte Raumschiff gelenkt wurde. »Auf Micheals, für den Einfall mit – was war es noch gleich, Micheals?« »Antäus.« Micheals hatte stetig Sekt getrunken, spürte aber nicht, daß seine Stimmung sich hob. Antäus, Sohn von Gäa, der Erde und von Poseidon, dem Ozean. Der unbesiegbare Ringer. Jedesmal, wenn Herkules ihn zu Boden warf, erhob er sich wieder erholt. Bis Herkules ihn in der Luft hielt. - 51 -
Moriarty arbeitete mit Rechenschieber, Papier und Bleistift und murmelte dabei etwas Unverständliches. Allenson trank, sah aber nicht besonders glücklich drein. »Nun kommt schon, ihr Unglücksraben«, sagte O'Donnell und goß mehr Sekt ein. »Rechnet später. Trinkt jetzt.« Er wandte sich dem Leutnant zu. »Wie läuft's?« Micheals Analogie war auf ein Raumschiff angewendet worden. Das ferngesteuerte Schiff war mit puren Spaltprodukten gefüllt. Es hatte über dem Egel geschwebt, bis er sich erhob und dem Köder folgte. Antäus hatte seine Mutter, die Erde, verlassen und verlor seine Stärke in der Luft. Der Operator erlaubte dem Raumschiff, schnell genug zu fliegen, um außer Reichweite des Egels zu bleiben, und zugleich nah genug, daß er ihm folgte. Das Raumschiff und der Egel befanden sich auf Kollisionskurs mit der Sonne. »Ausgezeichnet, Sir«, sagte der Operator. »Er ist jetzt innerhalb des Merkur-Orbits.« »Männer«, sagte der General, »ich habe geschworen, dieses Ding zu zerstören. Dies ist nicht ganz die Art und Weise, die mir vorgeschwebt hatte. Ich hatte mit einem persönlicheren Weg gerechnet. Doch das entscheidende ist die Zerstörung. Sie alle werden Zeugen sein. Zerstörung ist in gewissen Augenblicken eine heilige Mission. Dies ist ein solcher Augenblick. Männer, ich fühle mich großartig.« »Lassen Sie das Raumschiff abdrehen!« Moriarty war es, der gesprochen hatte. Sein Gesicht war weiß. »Lassen Sie das verdammte Ding abdrehen!« Er schob ihnen seine Berechnungen zu. - 52 -
Sie waren leicht zu lesen. Die Wachstumsrate des Egels. Die geschätzte Energieverbrauchs-Rate. Seine Geschwindigkeit im Weltraum, eine Konstante. Die Energie, die er von der Sonne empfangen würde, während er sich näherte, eine exponentiale Kurve. Seine Energieabsorptions-Rate, berechnet in Wachstumstermen, dargestellt als überhöhte, sprunghafte Progression. Das Ergebnis – »Er wird die Sonne fressen«, sagte Moriarty, sehr leise. Die Befehlszentrale verwandelte sich in ein Tollhaus. Sechs von ihnen versuchten gleichzeitig, es O'Donnell zu erklären. Dann versuchte es Moriarty, und zuletzt Allenson. »Seine Wachstumsrate ist so groß und seine Geschwindigkeit so gering – und er wird so viel Energie bekommen –, daß er dann, wenn er die Sonne erreicht, in der Lage sein wird, sie zu fressen. Oder wenigstens von ihr zu leben, bis er sie fressen kann.« O'Donnell versuchte gar nicht erst zu begreifen. Er wandte sich dem Operator zu. »Abdrehen«, sagte er. Alle beugten sie sich über den Radarschirm und warteten. Die Nahrung verließ die Flugbahn des Egels und flitzte davon. Vor ihm lag ein gewaltiges Reservoir, doch immer noch weit entfernt. Der Egel zögerte. Seine rücksichtslos Energie verbrauchenden Zellen schrien nach einer Entscheidung. Die kleinere Nahrung zeigte sich, quälend nah. - 53 -
Das nähere Reservoir oder das größere? Der Körper des Egels wollte jetzt Nahrung. Er folgte dem Köder, weg von der Sonne. Die Sonne würde als nächstes kommen. »Locken Sie ihn im rechten Winkel zur Ebene des Sonnensystems weg«, sagte Allenson. Der Operator berührte die Kontrollen. Auf dem Radarschirm sahen sie einen Klecks, der einen Punkt verfolgte. Er hatte seinen Kurs geändert. Erleichterung durchströmte sie. Es war knapp gewesen! »In welchem Teil des Himmels ist der Egel wohl?« fragte O'Donnell mit ausdruckslosem Gesicht. »Kommen Sie mit nach draußen; ich denke, ich kann es ihnen zeigen«, sagte ein Astronom. Sie gingen zur Tür. »Irgendwo in diesem Bereich«, sagte der Astronom, mit dem Finger zeigend. »Ausgezeichnet. In Ordnung, Soldat«, sagte O'Donnell zu dem Operator. »Führen Sie Ihre Befehle aus.« Allen Wissenschaftlern zugleich stockte der Atem. Der Operator bediente die Kontrollen, und der Klecks begann den Punkt einzuholen. Micheals stürzte durch den Raum. »Stop«, sagte der General, und seine starke, befehlende Stimme stoppte Micheals. »Ich weiß, was ich tue. Ich habe dieses Schiff extra dafür bauen lassen.« Auf dem Radarschirm holte der Klecks den Punkt ein. - 54 -
»Ich habe Ihnen gesagt, das sei eine persönliche Angelegenheit«, sagte O'Donnell. »Ich schwor, diesen Egel zu zerstören. Es gibt keine Sicherheit für uns, solange er lebt.« Er lächelte. »Sollen wir einen Blick auf den Himmel werfen?« Der General marschierte zur Tür, gefolgt von den Wissenschaftlern. »Drücken Sie auf den Knopf, Soldat!« Der Operator drückte. Einen Moment lang geschah nichts. Dann erstrahlte der Himmel! Ein funkelnder Stern hing im Weltraum. Sein Glanz durchströmte die Nacht, wuchs, und begann zu verblassen. »Was haben Sie getan?« ächzte Micheals. »Die Rakete war um eine Wasserstoffbombe herum gebaut«, sagte O'Donnell, und sein hartes Gesicht triumphierte. »Ich zündete sie im Augenblick der Berührung.« Er rief dem Operator zu: »Zeigt sich irgendetwas auf dem Radar?« »Nicht ein Fleckchen, Sir.« »Männer«, sagte der General, »ich habe mich dem Feind zum Kampf gestellt und gesiegt. Laßt uns noch etwas Sekt trinken.« Doch Micheals fühlte, wie ihm plötzlich übel wurde. Er hatte gerade angefangen, durch den Energieverbrauch zu schrumpfen, als die große Explosion kam. Kein Gedanke daran, sie zu verkraften. Die Zellen des Egels hielten kaum für den Bruchteil einer Sekunde und über- 55 -
luden sich dann schlagartig. Der Egel wurde zerschmettert, zerrissen, vernichtet. Er zersplitterte in tausend Teilchen, und die Teilchen wurden weitere Millionen Male aufgespalten. Die Teilchen wurden mit der Explosionswelle davongeschleudert, und automatisch zerteilten sie sich weiter. Zu Sporen. Die Sporen schlossen sich zu trockenen, harten, scheinbar leblosen Staubwolken zusammen; Milliarden von ihnen trieben überall zerstreut. Ohne Bewußtsein schwebten sie durch die Leere des Weltraums. Milliarden von ihnen, die auf Nahrung warteten.
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Wachvogel
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Als Gelsen eintrat, sah er, daß die anderen WachvogelHersteller schon alle eingetroffen waren. Ohne ihn gab es noch sechs, und der Raum war bereits blau von teurem Zigarrenrauch. »Hallo, Charlie«, rief einer von ihnen, als Gelsen durch die Tür kam. Die anderen hielten lange genug in der Unterhaltung inne, um ihn beiläufig zu begrüßen. Als ein WachvogelHersteller war er exklusives Mitglied der Fabrikanten der Erlösung, hielt er sich mit ungutem Gefühl vor. Sehr exklusiv. Man mußte einen offiziellen Regierungsauftrag haben, wenn man die menschliche Rasse retten wollte. »Der Regierungsvertreter ist noch nicht hier«, sagte ihm jemand. »Er muß jeden Augenblick kommen.« »Wir bekommen grünes Licht«, fügte jemand anderes hinzu. »Fein.« Gelsen fand einen Sessel in der Nähe der Tür und ließ seinen Blick durch den Raum wandern. Es war wie auf einem SF-Con oder bei einem Pfadfindertreffen. Die sechs Männer glichen ihre geringe Zahl durch entsprechende Lautstärke aus. Der Präsident von Southern Consolidated redete so laut er konnte von der enormen Haltbarkeit der Wachvögel. Die beiden Aufsichtsratspräsidenten, mit denen er redete, grinsten, nickten, und einer versuchte, ihn mit dem Resultat eines Tests zu unterbrechen, den er zur Mängelbehebung der Wachvögel durchgeführt hatte. Der andere redete gleichzeitig über den neuen Nachladeapparat. - 58 -
Die anderen drei Männer bildeten ihre eigene kleine Gruppe und sangen Wachvogel-Loblieder. Gelsen bemerkte, daß sie alle sich aufrecht und stolz hielten, wie es sich für die Menschheitserlöser gehörte, als die sie sich selbst sahen. Bis vor ein paar Tagen hatte er sich selbst genauso gefühlt. Er hatte sich für einen dickbäuchigen, fast kahlen Heiligen gehalten. Er seufzte Und zündete sich eine Zigarette an. Zu Beginn des Projekts war er so enthusiastisch wie die anderen gewesen. Er erinnerte sich noch, wie er zu Macintyre, seinem Chefingenieur, gesagt hatte: »Mac, ein neues Zeitalter beginnt. Der Wachvogel ist die Antwort.« Und Macintyre hatte sehr profund genickt – der nächste, den er zum Wachvogel-Anhänger bekehrt hatte. Wie wundervoll die Sache damals doch noch ausgesehen hatte! Eine einfache, zuverlässige Antwort auf die größten Probleme der Menschheit, alles schön ordentlich in ein Kilo besonders haltbares Metall, Kristall und Plastik gepackt. Vielleicht war das auch gerade der Grund, warum er nun zu zweifeln begonnen hatte. Gelsen befürchtete, daß sich die Menschheitsprobleme einfach nicht so leicht lösen ließen. Irgendwo mußte ein Haken an der Sache sein. Schließlich war Mord ein uraltes Problem und der Wachvogel eine zu neuartige Lösung. »Meine Herren –«, sie waren so in ihr begeistertes Gespräch vertieft, daß ihnen die Ankunft des Regierungsvertreters entgangen war. Sofort wurde es still im Raum. »Meine Herren«, sagte der dickliche hohe Beamte, »der Präsident hat mit Zustimmung des Kongresses eine - 59 -
Wachvogel-Behörde für jede Stadt und jeden Regierungsbezirk dieses Landes eingerichtet.« Die Männer brachen in spontanes Triumphgeschrei aus. Nun bekamen sie also wirklich ihre Chance, die Welt zu retten, dachte Gelsen, und fragte sich gleichzeitig besorgt, was daran wohl nicht stimmte. Er hörte aufmerksam zu, als der Regierungsmann nun den Verteilungsplan erläuterte. Das Land wurde in sieben Großzonen aufgeteilt, die jede von einem Hersteller beliefert und betreut werden sollte. Das bedeutete natürlich ein Monopol, aber ein notwendiges. Wie beim Telephondienst lag es im besten Interesse der Öffentlichkeit. Man konnte beim Wachvogel schlecht den freien Wettbewerb einführen. Der Wachvogel war für jeden da. »Der Präsident hofft«, fuhr der Beamte fort, »daß ein umfassender Wachvogel-Dienst in der kürzest möglichen Zeit eingerichtet wird. Sie erhalten oberste Priorität bei der Zuteilung strategischer Metalle, bei Arbeitskräften und allem, was dazugehört.« »Für meine Fabrik kann ich bestätigen«, sagte der Präsident von Southern Consolidated, »daß wir davon ausgehen, die erste Abteilung Wachvögel innerhalb einer Woche in Dienst stellen zu können. Es ist alles für die Massenproduktion vorbereitet.« Die anderen Männer verkündeten die gleiche Bereitschaft. Die Fabriken waren schon seit Monaten in der Lage, Wachvögel am Fließband zu produzieren. Längst hatte man sich auf die Standardisierung der Ausstattung geeinigt. Nur der Startschuß des Präsidenten hatte noch gefehlt. - 60 -
»Schön«, stellte der Regierungsvertreter fest. »Wenn das alles ist, glaube ich, wir können … Gibt es da noch eine Frage?« »Ja«, meldete Gelsen sich. »Ich möchte wissen, ob das gegenwärtige Modell auch dasjenige sein soll, das wir in die Massenproduktion geben.« »Natürlich«, erwiderte der Beamte. »Es ist das am weitesten entwickelte.« »Ich habe da einen Einwand.« Gelsen stand auf. Seine Kollegen starrten ihn eisig an. Offensichtlich verzögerte er den Anbruch des goldenen Zeitalters leichtfertig. »Was ist das für ein Einwand?« wollte der Regierungsmann wissen. »Zunächst lassen Sie mich Ihnen versichern, daß ich hundert Prozent für eine Maschine bin, die Mord verhindert. So etwas brauchen wir schon lange. Ich habe nur Vorbehalte gegen das Lernprogramm des Wachvogels. Es führt letzten Endes dazu, der Maschine eine Art Pseudobewußtsein zu geben. Dem kann ich nicht zustimmen.« »Aber, Mr. Gelsen, Sie selbst haben doch nachgewiesen, daß der Wachvogel nur wirklich effizient arbeiten kann, wenn seine Schaltkreise um ein solches Programm erweitert werden. Ohne dieses Programm können die Wachvögel nur schätzungsweise siebzig Prozent der Morde verhindern.« »Ich weiß das«, bestätigte Gelsen und fühlte sich ausgesprochen unbehaglich. »Ich glaube nur, es könnte eine moralische Gefahr darin liegen, einer Maschine zu erlauben, Entscheidungen zu treffen, die eigentlich nur Menschen zusteht«, erklärte er zaghaft. - 61 -
»Oh, laß das doch jetzt, Gelsen«, rief einer der Aufsichtsratspräsidenten. »So ist es doch in Wirklichkeit gar nicht. Der Wachvogel sorgt doch nur für die Einhaltung von Gesetzen, zu denen sich vernünftige Menschen seit Urzeiten entschieden haben.« »Ich glaube, so ist es«, stimmte der Regierungsvertreter zu. »Aber ich kann schon verstehen, was Mr. Gelsen empfindet. Es ist traurig, daß wir die Lösung eines Menschheitsproblems in die Hand einer Maschine geben müssen, und noch trauriger, daß wir eine Maschine haben müssen, um die Einhaltung unserer Gesetze sicherzustellen. Aber ich bitte Sie, daran zu denken, Mr. Gelsen, daß es keine andere Möglichkeit gibt, einen Mörder an der Tat zu hindern, bevor er sie ausgeführt hat. Es wäre einfach unfair gegenüber den vielen unschuldig getöteten Menschen, die jedes Jahr Mördern zum Opfer fallen, wenn wir aus philosophischen Gründen auf den Wachvogel verzichten. Würden Sie mir darin nicht recht geben?« »Ja, das muß ich wohl«, lenkte Gelsen unglücklich ein. Er hatte sich selbst schon tausendmal nichts anderes gesagt, aber da blieb trotzdem eine vage böse Ahnung. Vielleicht sollte er noch einmal mit Macintyre darüber sprechen. Als die Konferenz sich auflöste, kam ihm ein Gedanke. Er grinste. Nun würden jede Menge Polizisten arbeitslos werden! »Na, was soll man davon halten?« wollte Officer Celtrics wissen. »Fünfzehn Jahre beim Morddezernat, und nun - 62 -
macht eine Maschine mich arbeitslos.« Er wischte sich mit seiner großen Hand über die Stirn und lehnte sich gegen den Schreibtisch des Captains. »Ist die Wissenschaft nicht toll?« Zwei andere Polizisten, auch früher beim Morddezernat, nickten düster. »Mach dir nichts draus«, meinte der Captain. »Wir finden einen Platz bei der Sitte für dich, Celtrics. Da wird es dir gefallen.« »Ich werd nur einfach nicht damit fertig«, beschwerte Celtrics sich. »Ein lausiges kleines Stückchen Blech und Glas klärt jetzt all die Verbrechen.« »Ganz so ist es ja nicht«, sagte der Captain. »Die Wachvögel sollen die Verbrechen verhindern, bevor sie überhaupt passieren.« »Kann es denn dann überhaupt noch Verbrechen geben?« fragte einer der Polizisten. »Ich meine, man kann ja erst für einen Mord aufgehängt werden, wenn man ihn begangen hat, oder?« »Darum geht es gar nicht«, erklärte der Captain, »die Wachvögel sind dafür da, einen Menschen aufzuhalten, bevor er seinen Mordplan ausführt.« »Dann nimmt niemand diese potentiellen Mörder fest?« fragte Celtrics nach. »Ich weiß noch nicht, wie sie diese Sache lösen wollen«, gab der Captain zu. Die Männer waren eine Weile still. Der Captain gähnte und sah auf die Uhr.
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»Eine Sache, die ich nicht ganz begreife«, meinte Celtrics, der sich noch immer an den Schreibtisch des Captains lehnte, »ist, wie diese Biester denn nun funktionieren. Wie ist man da überhaupt darauf gekommen, Captain?« Der Captain suchte in Celtrics Gesicht nach Anzeichen von Ironie. Seit Monaten waren die Zeitungen voll von Berichten über den Wachvogel. Aber dann erinnerte er sich, daß Celtrics und seine Kollegen selten mehr als die Sportseiten lasen. »Na ja«, sagte der Captain und versuchte, sich daran zu erinnern, was er in der Sonntagsbeilage gelesen hatte, »diese Wissenschaftler stellten kriminologische Studien an. Sie untersuchten, was in einem Mörder so vorgeht. Dabei fanden sie dann heraus, daß Mörder andere Gehirnwellen ausstrahlen als normale Menschen. Und ihre Schweißdrüsen funktionieren auch irgendwie anders. All das tritt auf, wenn jemand einen Mord begehen will. Also entwickelten die Wissenschaftler eine besondere Maschine, so einen Apparat, der rot aufleuchtet, Wenn er die entsprechenden Gehirn wellen mißt.« »Wissenschaftler«, knurrte Celtrics verbittert. »Nun, nachdem die Wissenschaftler diesen Apparat hatten, Wußten sie nicht, was man für einen Nutzen daraus ziehen konnte. Er war zu groß, um ihn durch die Gegend zu schleppen, und es kamen halt nur selten Mörder vorbei, um mal das Lämpchen aufleuchten zu lassen. Deshalb baute man also eine kleinere Anlage und probierte sie in ein paar Polizeiwachen aus. Hier in der Nähe haben sie so was, glaube ich, auch mal gemacht. Aber es funktionierte - 64 -
nicht besonders. Man war einfach nicht schnell genug am Ort des Verbrechens. Deshalb entwickelte man dann die Wachvögel.« »Ich glaub nicht, daß die einen echten Kriminellen aufhalten«, beharrte einer der Polizisten. »Das werden sie. Ich habe die Testergebnisse gelesen. Sie riechen ihn förmlich, bevor er sein Verbrechen begeht. Und wenn sie ihn gefunden haben, verpassen sie ihm einen kräftigen elektrischen Schlag oder so etwas. Das hält ihn auf.« »Also wird das Morddezernat aufgelöst, Captain?« fragte Celtrics. »Nichts da«, sagte der Captain. »Ich lasse natürlich eine Notmannschaft im Dienst. Es scheint ja auch, daß die Vögel nicht alle Morde verhindern. Warten wir erst mal ab, wie das alles funktioniert.« »Warum erwischen sie denn nicht alle?« »Einige Mörder strahlen diese Gehirnwellen einfach nicht aus«, antwortete der Captain und versuchte sich zu erinnern, was er in der Zeitung gelesen hatte. »Oder ihre Schweißdrüsen funktionieren nicht anständig oder sonstwas.« »Welche kriegen sie denn nicht?« fragte Celtrics mit sofort erwachender beruflicher Neugier. »Ich weiß nicht. Aber ich habe gehört, daß sie die verdammten Dinger überarbeitet haben, so daß sie bald wirklich alle erwischen.« »Wie soll das denn gehen?«
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»Sie lernen. Die Wachvögel, meine ich. Genau wie Menschen.« »Sie wollen uns auf den Arm nehmen.« »Überhaupt nicht.« »Na«, meinte Celtrics, »ich glaube, ich öle meine alte Betsy besser gut ein für alle Fälle. Diesen Wissenschaftlern kann man nicht trauen.« »Richtig.« »Vögel!« schnaubte Celtrics. Über der Stadt segelte der Wachvogel in einem weiten, trägen Kreisflug. Seine Aluminiumhülle schimmerte in der Morgensonne, und über seine steifen Schwingen tanzten Lichtreflexe. Schweigend zog er seine Bahn. Schweigend, aber mit allen mechanischen Sinnen beobachtend. Eine eingebaute Autonavigation sagte dem Wachvogel, wo er gerade war und hielt ihn auf seiner Bahn. Seine Augen und Ohren funktionierten als Einheit, suchten, lauerten. Und dann passierte etwas! Die elektronisch schnellen Reflexe des Wachvogels hatten auf eine Messung reagiert. Ein Vergleichsprogramm überprüfte die Messung mit den elektronischen und chemischen Daten in den Gedächtnisspeichern, ein Relais sprach an. Schon sauste der Wachvogel in die Tiefe und folgte dem immer stärker werdenden auslösenden Signal. Er roch einen bestimmten Schweiß, schmeckte eine besondere Gehirnwelle. - 66 -
Voll alarmiert und aktionsbereit huschte er in immer kleineren Kreisen durch das helle Morgenlicht seinem Ziel entgegen. Dinelli war so angespannt, daß er den Wachvogel nicht kommen sah. Er hatte die Pistole gehoben, und seine Augen flehten den kräftigen Gemüsehändler an. »Komm nicht näher.« »Du lausiger kleiner Mistkerl«, sagte der Gemüsehändler und machte einen weiteren Schritt. »Mich ausrauben willst du? Ich brech dir jeden Knochen, du kleine Ratte.« Der Gemüsehändler näherte sich unaufhaltsam dem kleinen Straßendieb, zu dumm oder zu mutig, um sich von einer Pistole einschüchtern zu lassen. »Na gut«, knurrte Dinelli in völliger Panik. »Na gut, Scheißer, dann kriegst du eben …« Ein elektrischer Schlag warf ihn auf den Rücken. Die Pistole flog ihm aus der Hand und landete in der Schaufensterauslage. »Teufel auch!« rief der Gemüsehändler und starrte den geschockten Dieb an. Dann sah er das Aufblitzen silberner Schwingen. »Na, das ist ja ein Ding. Diese Wachvögel funktionieren!« Er starrte hinaus, bis die Schwingen am Himmel verschwunden waren. Dann rief er die Polizei an. Der Wachvogel kehrte in seine Kreisbahn zurück. Sein Lernzentrum arbeitete die neuen Fakten auf, die er gerade über Mord erhalten hatte. Einige davon waren ihm bisher nicht bekannt gewesen. Diese Neuinformation wurde sofort an alle anderen - 67 -
Wachvögel gesendet, die ihm wiederum ihre Erfahrungen funkten. Neue Informationen, Methoden, Definitionen, wurden in einem ununterbrochenen Strom zwischen allen Einheiten ausgetauscht. Nachdem die Wachvögel nun unablässig von den Fließbändern rollten, erlaubte Gelsen sich etwas Entspannung. Ein lautes zufriedenes Summen erfüllte seine Fabrik. Die Aufträge wurden fristgerecht ausgeführt, wobei die größten Städte seiner Vertriebszone Priorität genossen. Dann kamen die kleineren Gemeinden, und so ging es weiter nach der Kriminalitätsrate. »Alles läuft glatt, Chef«, verkündete Macintyre, der gerade zur Tür hereinkam. Er hatte gerade eine Routineinspektion des Werkes vorgenommen. »Fein. Setzen Sie sich doch.« Der kräftiggebaute Ingenieur nahm Platz und zündete sich eine Zigarette an. »Wir arbeiten schon seit einiger Zeit an dieser Sache«, meinte Gelsen, als ihm einfach nichts anderes einfiel. »Das kann man sagen«, stimmte Macintyre zu. Er lehnte sich zurück und inhalierte tief. Er hatte schon beim ersten Wachvogel-Modell zu den beratenden Ingenieuren gehört. Das war jetzt sechs Jahre her. Seitdem arbeitete er für Gelsen, und die beiden Männer waren dabei gute Freunde geworden. »Was ich Sie eigentlich schon immer fragen wollte …« Gelsen hielt inne. Es fiel ihm nicht ein, wie er seine Sorgen - 68 -
in Worte kleiden konnte. Statt dessen fragte er: »Was halten Sie von den Wachvögeln, Mac?« »Wer, ich?« Der Ingenieur grinste nervös. Er hatte seit Jahren mit dem Wachvogel gegessen, getrunken und geschlafen. Aber eine persönliche Ansicht zu dem Projekt haben zu müssen, war ihm nie in den Sinn gekommen. »Na, ich denke, sie sind eine großartige Sache.« »Das meine ich nicht«, sagte Gelsen. Er begriff, daß es ihm im Grunde darum ging, jemanden zu finden, der seinen Standpunkt begriff. »Ich meine, können Sie sich vorstellen, daß irgendeine Gefahr in einer denkenden Maschine liegt?« »Das glaube ich nicht, Chef. Warum fragen Sie?« »Sehen Sie, ich bin kein Wissenschaftler oder Ingenieur. Ich hab mich nur mit den Kosten und der Produktionsplanung zu befassen, während ihr Jungs euch um die ganzen technischen Details kümmert. Aber als Laie jagt mir der Wachvogel irgendwie Angst ein.« »Gibt es keinen Grund für.« »Mir gefällt der Gedanke nicht, daß diese Vögel Lernprogramme haben.« »Aber warum nicht?« Dann grinste Macintyre wieder. »Ich weiß. Sie sind wie viele andere Leute, Chef – haben Angst, daß Ihre Maschinen eines Tages aufwachen und sich sagen: ›Was machen wir denn da? Lassen wir das doch und beherrschen lieber die ganze Welt.‹ Ist es das?« »Vielleicht etwas in dieser Richtung«, gab Gelsen zu. »Völlig unmöglich«, verkündete Macintyre. »Die Wach- 69 -
vögel sind komplexe Maschinen, das gebe ich zu, aber ein Großrechner ist wesentlich komplexer. Und sie haben einfach kein Bewußtsein.« »Nein. Aber die Wachvögel können lernen.« »Sicher. Das können alle neuen Rechner. Glauben Sie, daß jetzt alle Taschenrechner Wachvögel werden wollen?« Gelsen fühlte sich von Macintyre auf den Arm genommen und ärgerte sich über sich selbst. »Es ist doch Tatsache, daß die Wachvögel ihre Lernergebnisse direkt in Handlungen umsetzen können. Niemand überwacht sie dabei.« »Da liegt also das Problem«, sagte Macintyre. »Ich habe schon daran gedacht, mit der WachvogelSache aufzuhören.« Gelsen war das gerade erst richtig zu Bewußtsein gekommen. »Sehen Sie mal, Chef«, erklärte Macintyre. »Wollen Sie sich dazu etwas von einem Ingenieur sagen lassen?« »Lassen Sie hören.« »Diese Wachvögel sind nicht gefährlicher als ein Auto, ein IBM-Computer oder ein Thermometer. Sie haben nicht mehr Bewußtsein oder freien Willen als diese Dinge. Die Wachvögel sind dazu gebaut, auf bestimmte Reize zu reagieren und bestimmte Operationen auszuführen, sobald sie den entsprechenden Reiz verarbeitet haben.« »Und das Lernprogramm?« »Das braucht man eben«, meinte Macintyre geduldig, als müsse er die ganze Sache einem Zehnjährigen erklären. »Der Zweck des Wachvogels ist es, alle Mordversuche im - 70 -
Ansatz zu ersticken, richtig? Nun, nur bestimmte Mörder strahlen die bekannten Reize aus. Um alle rechtzeitig zu finden, muß der Wachvogel neue Definitionen von Mord suchen und zu dem in Korrelation setzen, was er bereits über Mord einprogrammiert bekommen hat.« »Ich glaube, das ist unmenschlich«, sagte Gelsen. »Das ist ja gerade das Gute daran. Die Wachvögel reagieren niemals emotional. Ihre Vernunft ist eben nicht anthropomorph, ohne menschliche Schwächen. Man kann sie nicht bestechen oder unter Drogen setzen. Man braucht aber auch keine Angst vor ihnen zu haben.« Das Sprechgerät auf Gebens Schreibtisch summte. Er ignorierte es. »Das weiß ich ja alles«, sagte Gelsen. »Aber trotzdem komme ich mir manchmal wie der Mann vor, der das Dynamit erfunden hat. Der dachte auch, man würde es nur dazu benutzen, um Baumstümpfe in die Luft zu sprengen.« »Sie haben den Wachvogel nicht erfunden.« »Ich fühle mich aber doch moralisch verantwortlich, weil ich ihn herstelle.« Das Sprechgerät summte wieder, und Gelsen drückte irritiert eine Taste. »Die Berichte über die erste Einsatzwoche der Wachvögel sind da«, meldete ihm seine Sekretärin. »Wie sehen sie aus?« »Wunderbar, Chef.« »Schicken Sie mir das Zeug in einer Viertelstunde rein.« Gelsen schaltete das Gerät ab und wandte sich an - 71 -
Macintyre, der sich mit einem Streichholz die Fingernägel säuberte. »Glauben Sie nicht, daß wir es hier mit einem Trend des menschlichen Denkens zu tun haben, der mechanische Gott? Der elektronische Übervater?« »Chef«, entgegnete Macintyre, »ich glaube, Sie sollten sich etwas genauer mit dem Wachvogel befassen. Wissen Sie eigentlich, wie er im einzelnen programmiert ist?« »Nur ganz allgemein.« »Das Programm beinhaltet zunächst die Aufgabe. Sie lautet, lebende Organismen daran zu hindern, Morde zu begehen. Zweitens, Mord wird als ein Gewaltakt definiert, der zum Beenden der Lebensfunktion eines lebenden Organismus durch einen anderen lebenden Organismus führt, wozu jede Art mörderischer Behandlung des angegriffenen Organismus gehört. Drittens, die meisten Morde können durch bestimmte chemische und elektrische Signale vor der Tat erkannt werden.« Macintyre unterbrach sich, um die nächste Zigarette anzuzünden. »Dieser Programmteil steuert alle Routinefunktionen. Für das Lernprogramm kommen dann noch zwei weitere Funktionen dazu. Viertens, es gibt einige lebende Organismen, die Morde begehen, ohne die unter Drei erwähnten Reizsignale abzustrahlen. Fünftens, diese können durch unter Berücksichtigung der zweiten Funktion gesammelte Daten aufgespürt werden.« »Verstehe«, sagte Gelsen. »Ist Ihnen nun klar, wie narrensicher die Sache ist?« »Ich glaube schon«, Gelsen zögerte einen Augenblick. »Ich nehme an, das war es.« - 72 -
»In Ordnung«, erwiderte der Ingenieur und ging. Gelsen dachte ein paar Minuten nach. Es konnte nichts falsch sein an den Wachvögeln. »Schicken Sie mir die Berichte rein«, rief er in das Sprechgerät. Hoch über den erleuchteten Gebäuden der Stadt zog der Wachvogel seine Bahn. Es war dunkel, aber in einiger Entfernung sah der Wachvogel einen anderen Wachvogel und fern hinter diesem einen weiteren. Denn dies war eine große Stadt. Morde verhindern … Inzwischen mußte auf wesentlich mehr geachtet werden. Neue Informationen hatte sich durch das unsichtbare Netz verbreitet, das alle Wachvögel miteinander verband. Neue Daten, neue Arten, die Gewaltakte des Mordes schon im Ansatz aufzuspüren. Dort! Ein feines Signal, zwei Wachvögel tauchten gleichzeitig hinab. Einer hatte die Spur Sekundenbruchteile früher aufgenommen. Er folgte ihr weiter, während der andere auf seine Beobachtungsposition zurückkehrte. Vierte Programmbedingung: Es gibt einige lebende Organismen, die Morde begehen, ohne die unter Drei erwähnten Reizsignale abzustrahlen. Durch seine neuen Informationen konnte der Wachvogel extrapolieren, daß dort unten ein Organismus einen Mord plante, obwohl die charakteristischen chemischen und elektrischen Hinweise fehlten. Der Wachvogel näherte sich mit weit geöffneten Sinnen dem Organismus. Er stellte fest, was er wissen mußte, und - 73 -
ging zum Sturzflug über. Roger Greco lehnte sich gegen die Hauswand, die Hände in den Taschen. In seiner linken spürte er den kühlen Griff der .45er. Greco wartete geduldig. Er dachte an nichts Besonderes, sondern lehnte einfach bequem an der Mauer und wartete auf einen Mann. Greco wußte nicht, warum der Mann getötet werden sollte. Es interessierte ihn auch nicht. Grecos fehlende Neugier machte einen Teil seines Wertes aus. Der Rest seines Wertes bestand in seiner Geschicklichkeit. Eine einzige Kugel sauber im Kopf eines Mannes placiert, den er nicht kannte. Es regte ihn nicht auf, es bereitete ihm keine Übelkeit. Es war ein Job wie jeder andere auch. Dieser bestand darin, Leute umzubringen. Na und? Als Grecos Opfer aus dem Haus trat, zog Greco die .45er aus der Tasche. Er löste den Sicherheitsbügel und hob die Pistole mit der rechten Hand. Noch immer dachte er an nichts Besonderes, während er zielte … Und es riß ihn von den Füßen. Greco dachte, jemand hätte auf ihn geschossen. Er kämpfte sich auf die Beine, sah sich um und entdeckte leicht benommen wieder sein Opfer. Er hob die Waffe. Wieder warf es ihn zu Boden. Diesmal lag er auf dem Boden und versuchte, im Liegen zu zielen. Er wäre nie auf den Gedanken gekommen, die Sache aufzugeben, denn Greco war ein solider Profi. Beim nächsten Schlag wurde alles schwarz. Für immer, denn die Pflicht des Wachvogels war, das Opfer der Gewalt vor der Ermordung zu schützen – um jeden Preis, - 74 -
notfalls auch den des Lebens seines potentiellen Mörders. Das Opfer ging zu seinem Wagen. Es hatte nichts Ungewöhnliches bemerkt. Alles hatte sich völlig lautlos abgespielt. Gelsen fühlte sich richtig prima. Die Wachvögel arbeiteten perfekt. Gewaltverbrechen gab es nur noch halb soviel, dann noch einmal um die Hälfte weniger. Dunkle Nebenstraßen verloren ihren Schrecken. Parks und Spielplätze brauchte niemand nach Einbruch der Nacht mehr zu meiden. Natürlich gab es noch immer Raub. Taschendiebstahl blühte und Betrug, Prostitution, Falschmünzerei und hunderte anderer Verbrechen. Aber das war nicht so wichtig. Man konnte verlorenes Geld zurückbekommen – ein verlorenes Leben nie. Gelsen war schon bereit, zuzugeben, daß er sich bei den Wachvögeln geirrt hatte. Sie führten tatsächlich einen Job aus, den Menschen niemals hätten ausführen können. Doch dann kam der Morgen mit den ersten bösen Vorzeichen. Macintyre kam ins Büro. Er stand schweigend vor Gelsens Schreibtisch, wirkte nervös und ein bißchen peinlich berührt. »Was ist los, Mac?« fragte Gelsen. »Einer der Wachvögel hat sich einen Schlachter vorgenommen. Hat ihm einen elektrischen Schlag verpaßt.« Gelsen dachte über diesen Vorfall kurz nach. Ja, die - 75 -
Wachvögel konnten so reagieren. Mit ihrem Lernprogramm hatten sie wahrscheinlich das Töten von Tieren als Mord definiert. »Dann muß man wohl den Schlachthäusern sagen, daß sie ihre Arbeit Maschinen überlassen sollen«, meinte Gelsen. »Ich fand diese Kopf Schlächterei schon immer widerwärtig.« »In Ordnung«, meinte Macintyre. Er verzog den Mund ein wenig, zuckte mit den Schultern und ging. Gelsen stand neben seinem Schreibtisch und dachte nach. Konnten die Wachvögel nicht zwischen einem Mörder und einem Mann unterscheiden, der einem legitimen Beruf nachging? Nein, offensichtlich nicht. Für sie blieb ein Mord immer ein Mord. Keine Ausnahmen. Er runzelte die Stirn. Wahrscheinlich mußte man an dem Programm doch noch ein wenig feilen. Aber nicht zuviel, entschied er schnell. Nur soviel, daß sie ein wenig mehr zu differenzieren lernten. Er setzte sich wieder und vergrub sich in seinen Papieren, um der alten Angst zu entkommen, die wieder an ihm zu nagen begann. Sie schnallten den Häftling auf dem Stuhl fest und legten ihm die Elektroden um die Beine. »Oh, oh«, stöhnte er, nur noch halb bei Bewußtsein. Er schien nicht mehr zu begreifen, was um ihn vorging. Sie drückten ihm den Helm auf seinen rasierten Schädel und zogen die letzten Riemen fest. Er stöhnte leise vor sich hin. Und dann segelte der Wachvogel herein. Wo er herkam, - 76 -
wußte niemand. Gefängnisse sind groß und stark bewacht, mit vielen verschlossenen Türen, aber der Wachvogel war da – um einen Mord zu verhindern! »Schafft das Ding hier raus!« rief der Wachhabende und griff nach dem Schalter. Der Wachvogel schickte ihn zu Boden. »Aufhören!« schrie der Wächter und griff selbst nach dem Schalter. Schon lag er neben seinem Vorgesetzten. »Das ist kein Mord, du Idiot!« brüllte ein anderer Wächter. Er zog seine Pistole, um den schimmernden Metallvogel abzuschießen. Die Reaktion schon im Ansatz erkennend, schmetterte der Wachvogel ihn mit einem elektrischen Schlag gegen die Wand. Es wurde still im Raum. Nach einer Weile begann der Mann unter dem Helm zu kichern. Dann hörte er wieder auf. Der Wachvogel zog mit zitternden Schwingen einen engen Kreis unter der Decke und hielt seine Wacht … Kein Mord würde hier je geschehen. Neue Daten rasten durch das elektrische Netzwerk der Wachvögel. Unabhängig und unkontrolliert verarbeiteten die Wachvögel diese Daten und zogen ihre Schlüsse. Beenden der Lebensfunktionen eines lebenden Organismus durch einen anderen lebenden Organismus, wozu jede Art mörderischer Behandlung des angegriffenen Organismus gehört. Neue Gewaltakte wurden erkannt, die zu verhindern waren. - 77 -
»Verdammtes Mistvieh, vorwärts!« Bauer Olister brüllte und hob wieder seine Peitsche. Das Pferd bäumte sich auf, und der Wagen krachte und polterte, während die Peitsche zubiß. »Du lausiges verdammtes Vieh, zum Pferdemetzger mit dir!« schrie der Bauer, »wenn du nicht endlich weiterläufst.« Wieder hob er die Peitsche. Sie fiel nicht mehr. Ein aufmerksamer Wachvogel hatte den Gewaltakt erkannt und den Bauern vom Wagen geschockt. Ein lebender Organismus? Was ist ein lebender Organismus? Die Wachvögel weiteten ihre Definition ständig aus, während sie neue Fakten verarbeiteten. Und natürlich erhielten sie so ständig mehr Arbeit. Der Hirsch war am Waldrand zwischen den Büschen kaum zu erkennen. Der Jäger hob das Gewehr und zielte sorgfältig. Er kam nicht mehr zum Schuß. Mit der freien Hand wischte Gelsen sich den Schweiß von der Stirn. »In Ordnung«, sagte er ins Telephon. Er lauschte der Schimpfkanonade von der anderen Seite noch eine Weile, dann legte er sachte auf. »Wer war das wieder?« fragte Macintyre. Er war unrasiert, sein Hemd stand offen, die Krawatte hing lose. »Wieder ein Fischer«, erklärte Gelsen. »Es scheint, daß die Wachvögel ihn nicht fischen lassen, selbst wenn seine Familie dabei verhungert. Er wollte wissen, was wir dagegen unternehmen.« - 78 -
»Wie viele hundert sind das schon?« »Ich weiß es nicht. Ich habe mir die Post von heute noch gar nicht angesehen.« »Nun, ich habe herausgefunden, woran es hapert«, verkündete Macintyre düster mit der Nonchalance eines Mannes, der weiß, wie er gerade die Erde in die Luft gejagt hat – nur leider fünf Minuten zu spät. »Lassen Sie hören.« »Alle hielten es für selbstverständlich, daß wir nur Morde verhindern wollten. Wir gingen davon aus, die Wachvögel würden genauso denken wie wir. Wir hätten die Programmanweisungen genauer differenzieren müssen.« »Ich habe so die Ahnung«, meinte Gelsen, »daß wir erst einmal genau wissen müssen, was ein Mord eigentlich ist, bevor wir die Programme genau darauf zuschneiden können. Und wenn wir das wirklich wüßten, würden wir gar keine Wachvögel brauchen.« »Oh, das weiß ich nicht. Man muß ihnen nur einfach einprogrammieren, daß einige Sachen, die wie ein Mord aussehen, eben kein Mord sind.« »Aber warum greifen sie Fischer an?« fragte Gelsen. »Warum sollten sie das nicht? Fische und alle Tiere sind lebende Organismen. Wir haben nur nicht daran gedacht, daß es Mord sein könnte, wenn man sie tötet.« Das Telephon klingelte. Gelsen funkelte es wütend an und schaltete das Sprechgerät ein. »Ich habe doch gesagt, keine Anrufe mehr, egal von wem.« »Dieser ist aus Washington«, entschuldigte sich die - 79 -
Sekretärin. »Ich dachte mir, Sie möchten …« »Entschuldigung.« Gelsen nahm das Gespräch an. »Ja. Sicher ist es eine Katastrophe … Haben sie wirklich? In Ordnung, das mache ich auf jeden Fall.« Er legte auf. »Kurz und bündig«, berichtete er Macintyre. »Wir sollen erst einmal den Laden dichtmachen.« »Das wird nicht so einfach sein«, sagte Macintyre. »Die Wachvögel operieren ja völlig unabhängig von jeder zentralen Kontrolle, wie Sie wissen. Sie kommen einmal in der Woche zur technischen Überwachung zurück ins Werk. Bei dieser Gelegenheit müssen wir sie einen nach dem anderen abschalten.« »Gut, fangen wir damit an. Bei Monroe an der Küste hat man fast ein Viertel der Vögel bereits abgeschossen.« »Ich glaube, ich könnte ein differenzierteres Programm ausknobeln«, versprach Macintyre. »Fein«, erwiderte Gelsen bitter. »Da machen Sie mich aber wirklich glücklich.« Die Wachvögel lernten schneller und schneller, erweiterten und ergänzten ihr Wissen. Vorläufig definierte Abstraktionen wurden überprüft, in Aktionen umgesetzt, bestätigt und weiter ausgeweitet. Morde verhindern … Rechnerprogramme reagieren logisch und vernünftig, aber nicht auf menschliche Art. Lebende Organismen? Alle lebenden Organismen! Die Wachvögel gaben sich die Aufgabe, alles Leben auf - 80 -
der Erde zu schützen. Die Fliege brummte durch das Zimmer, huschte über den Tisch, landete für Sekunden, um dann zum Fensterbrett zu flitzen. Der alte Mann schlich sich mit einer zusammengerollten Zeitung heran. Mörder! Die Wachvögel stießen herab und retteten die Fliege im letzten Augenblick. Der alte Mann zuckte noch einen Augenblick auf dem Boden, dann lag er still. Er hatte nur einen leichten elektrischen Schlag erhalten, aber für sein schwaches, altes Herz war das zuviel gewesen. Doch sein Opfer war gerettet, und nur das zählte. Rette das Opfer und verpasse dem Aggressor, was er verdient. »Warum sind sie nicht abgeschaltet worden?« tobte Gelsen aufgebracht. Der 2. Service-Ingenieur gestikulierte verzweifelt. In einer Ecke des Reparaturraumes lag der leitende Ingenieur der Serviceschicht. Er kam gerade wieder zu Bewußtsein. »Er hat versucht, einen abzuschalten«, erklärte sein Assistent. Die Hände des jungen Mannes waren ineinander verkrampft. Er gab sich sichtbare Mühe, nicht zu zittern. »Das ist lächerlich. Sie haben keinerlei Selbstverteidigungsprogramm.« »Dann schalten Sie doch selbst einen ab. Abgesehen davon, glaube ich gar nicht, daß noch einmal einer zurückkommt.« Was konnte passiert sein? Gelsen versuchte, sich einen - 81 -
Reim darauf zu machen. Die Wachvögel hatten noch immer keine endgültige Definition für lebende Organismen gefunden. Als man einige von ihnen im Monroe-Werk abgeschaltet hatte, mußten die anderen das entsprechend ausgewertet haben. Darüber waren sie zu dem Schluß gekommen, daß sie selbst auch lebende Organismen darstellten. Niemand hatte ihnen je etwas Gegenteiliges einprogrammiert. Sicher zeigten sie die meisten Funktionen, die für lebende Organismen charakteristisch waren. Da war die alte Angst wieder. Gelsen schauderte und rannte aus dem Reparatursaal. Er mußte so schnell wie möglich Macintyre finden. Die Schwester reichte dem Chirurg den Tupfer. »Skalpell.« Sie legte es ihm in die Hand. Er setzte zum ersten Schnitt an. Irgend etwas führte zu Unruhe im Operationssaal. »Wer hat dieses Ding hereingelassen?« »Ich weiß es nicht«, rief die Schwester mit gedämpfter Stimme unter ihrer Maske. »Schafft es hier raus.« Die Schwester wedelte mit den Armen, aber das glitzernde geflügelte Ding kreiste über ihren Kopf. Der Chirurg fuhr mit dem Schnitt fort – solange er dazu in der Lage war. Der Wachvogel trieb ihn vom Operationstisch und hielt Wache. - 82 -
»Rufen Sie die Wachvogel-Gesellschaft an!« befahl der Chirurg. »Sie sollen das Ding abschalten.« Der Wachvogel verhinderte Gewalt an einem lebenden Organismus. Der Chirurg mußte hilflos daneben stehen, während der Patient starb. Hoch über dem Netz der Highways kreiste der Wachvogel, beobachtete und wartete. Er arbeitete jetzt seit Wochen ohne Pause oder Wartung. Pause und Wartung waren unmöglich, weil der Wachvogel nicht zulassen durfte, daß er selbst – ein lebender Organismus – gemordet wurde. Und das geschah, wenn ein Wachvogel zu seinem Hersteller zurückkehren würde. Es gab einen eingebauten Rückkehrbefehl, der nach einem bestimmten Zeitraum aktiviert wurde. Aber der Wachvogel hatte einen Oberbefehl, dem er alles andere unterordnen mußte – Schutz des Lebens, eingeschlossen des eigenen. Die Definitionen des Mordes waren inzwischen fast unendlich ausgeweitet worden, so daß keine Chance mehr bestand, das Programm wirklich zu erfüllen. Aber der Wachvogel zog das nicht in Betracht. Er reagierte nur auf bestimmte Reize, wann immer sie kamen und woher auch immer. In seinem Speicher befand sich eine neue Definition von lebenden Organismen. Sie hatte sich aus der Entdeckung der Wachvögel ergeben, daß Wachvögel lebende Organismen waren. Das führte zu enormen Weiterungen. Der Reiz kam! Zum hundertstenmal an diesem Tag raste der Vogel in die Tiefe, um einen Mord zu verhindern. - 83 -
Jackson gähnte und fuhr den Wagen auf den Seitenstreifen. Den schimmernden Fleck am Himmel hatte er nicht bemerkt. Es gab für ihn auch keinen Grund, sich nach diesem Ding umzusehen. Jackson plante keinen Mord, jedenfalls keinen nach irgendeiner menschenmöglichen Definition. Das war der richtige Fleck für ein Nickerchen, entschied er. Seit sieben Stunden war er durchgefahren, und jetzt begann der Asphalt ihm vor den Augen zu verschwimmen. Er streckte die Hand aus, um den Motor abzustellen – und wurde von einem elektrischen Schlag in den Sitz zurückgeworfen. »Was, zum Teufel ist denn mit dir kaputt?« fragte er aufgebracht. »Ich will doch nur …« Er griff wieder nach dem Zündschlüssel und erhielt den nächsten Schlag. Jackson war klug genug, es kein drittes Mal zu versuchen. Er hatte die Radionachrichten verfolgt und wußte, was die Wachvögel mit uneinsichtigen Straftätern taten. »Du mechanischer Vollidiot«, sagte er zu dem wartenden Metallvogel. »Ein Auto lebt nicht. Ich versuche doch nicht, es umzubringen.« Aber der Wachvogel wußte nur, daß eine bestimmte Handlung einen Organismus außer Funktion setzte. Das Auto war mit Sicherheit ein funktionierender Organismus. War es nicht aus Metall wie die Wachvögel? Bewegte es sich nicht? »Ohne Reparatur und Wartung fallen sie bald von Himmel«, wiederholte Macintyre. Er schob einen Stapel Konstruktionsunterlagen zur Seite. - 84 -
»Wann?« fragte Gelsen. »Frühestens in sechs Wochen, spätestens in einem Jahr. Ein Jahr, wenn sie keine Unfälle oder Maschinenschäden haben.« »Ein Jahr«, wiederholte Gelsen. »In der Zwischenzeit bricht alles zusammen. Wissen Sie schon das Neueste?« »Was?« »Die Wachvögel haben entschieden, daß die Erde ein lebender Organismus ist. Sie erlauben Farmern nicht, die Erde zu pflügen. Und natürlich sind auch alle anderen Wesen lebende Organismen – Kaninchen, Käfer, Fliegen, Wölfe, Moskitos, Löwen, Krokodile, Krähen und auch die kleineren Lebensformen wie Bakterien.« »Ich weiß«, knurrte Macintyre. »Und Sie sagen mir, daß es zwischen sechs Monaten und einem Jahr dauert, bis die Dinger runterfallen. Aber was passiert jetzt? Was sollen wir in den nächsten sechs Monaten essen?« »Wir müssen etwas tun, und zwar schnell und sofort.« Der Ingenieur rieb sich das Kinn. »Das ganze Ökosystem geht zum Teufel.« »Sofort ist kaum das richtige Wort. Gestern wäre besser.« Gelsen zündete sich seine fünfunddreißigste Zigarette des Tages an. »Jedenfalls habe ich die bittere Befriedigung, so etwas geahnt zu haben. Obwohl ich genauso mitverantwortlich bin wie alle anderen maschinenanbetenden Narren.« Macintyre hörte nicht zu. Er dachte über Wachvögel - 85 -
nach. »Wie die Kaninchenplage in Australien.« »Die Todesfälle nehmen zu«, murmelte Gelsen. »Hungersnöte. Überschwemmungen. Nicht mal einen Baum kann man mehr fällen. Ärzte können nicht mehr – was reden Sie da gerade von Australien?« »Die Kaninchen«, wiederholte Macintyre. »Gibt kaum noch welche in Australien.« »Warum? Wie hat man das gemacht?« »Oh, man fand einen Krankheitserreger, der nur Kaninchen befällt. Ich glaube, er wurde von Moskitos übertragen …« »Arbeiten Sie daran«, sagte Gelsen. »Sie haben da vielleicht was gefunden. Ich will, daß Sie sich ans Telephon hängen und eine Notstandssitzung mit den Ingenieuren der anderen Werke arrangieren. Schnell muß das gehen. Vielleicht könnt ihr zusammen war austüfteln.« »In Ordnung«, erwiderte Macintyre. Er griff sich einen Packen weißen Papiers und eilte zum Telephon. »Was habe ich gesagt?« meinte Officer Celtrics. Er grinste den Captain an. »Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß Wissenschaftler Vollidioten sind?« »Ich hab Ihnen ja auch nicht widersprochen. Oder?« fragte der Captain. »Nein, aber Sie waren sich nicht sicher.« »Na, jetzt bin ich mir sicher. Machen Sie sich besser an die Arbeit, es gibt jede Menge zu tun für Sie.« »Ich weiß.« Celtrics zog den Revolver aus dem Halfter, - 86 -
überprüfte ihn und steckte ihn zurück. »Sind alle Jungs wieder da, Captain?« »Alle?« lachte der Captain humorlos. »Das Morddezernat ist um fünfzig Prozent aufgestockt. Es gibt jetzt mehr Morde als je zuvor.« »Kein Wunder«, sagte Celtrics. »Die Wachvögel sind zu sehr damit beschäftigt, Autos zu behüten und kriminelle Spinnen zu verfolgen. Er ging hinaus, drehte sich in der Tür aber noch einmal um. »Glauben Sie mir, Captain. Maschinen sind dämlich.« Der Captain nickte. Tausende von Wachvögeln versuchten, zahllose Millionen von Morden zu verhindern – ein hoffnungsloses Unterfangen. Aber die Wachvögel kannten keine Hoffnung. Ohne Bewußtsein, wie sie nun einmal waren, kannten sie kein Gefühl des Erfolges, keine Angst vor Versagen. Geduldig gingen sie ihrem Job nach und reagierten auf jedes auslösende Signal, das sie empfingen. Sie konnten nicht überall gleichzeitig sein, aber das war nicht nötig. Die Leute lernten schnell, was die Wachvögel nicht mochten und ließen die Finger davon. Es war einfach zu gefährlich. Mit ihrer hohen Geschwindigkeit und ihren superschnellen Beobachtungsorganen reagierten die Wachvögel zu prompt. Und jetzt meinten sie es ernst. In der ursprünglichen Programmdirektive hatte es eine Ausnahmeregelung gegeben, die das Töten eines Mörders erlaubte, wenn alle anderen Mittel versagten, um das Opfer zu schützen. - 87 -
Warum einen Mörder schonen? Es gab eine Rückkopplung. Die Wachvögel registrierten die Tatsache, daß Morde und Gewaltverbrechen geometrisch angestiegen waren, seit sie ihre Arbeit aufgenommen hatten. Das war tatsächlich so, denn die ständig ausgeweitete Definition erhöhte die Möglichkeiten, Morde zu begehen, fast ins Unendliche. Aber den Wachvögeln bewies dieser Anstieg, daß die ursprüngliche Methode der Mordverhinderung keinen ausreichenden Erfolg garantierte. Einfache Logik. Wenn Methode A nicht funktioniert, versuch es mit B. Die Wachvögel teilten tödliche Schläge aus. Die Schlachthöfe in Chicago mußten schließen, und das Vieh verhungerte in seinen Ställen, weil die Farmer des Mittelwestens kein Futtergetreide einbringen konnten. Niemand hatte den Wachvögeln erklärt, daß alles Leben von sorgfältig balancierten Morden abhängt. Das Verhungern störte die Wachvögel nicht, denn es war eine Sache, die nur den einzelnen Organismus betraf. Dieser Organismus verhungerte von selbst und ohne äußere Einwirkung. Nur auf die von außen zugefügte gewaltsame Beendigung der Lebensfunktionen reagierten die Maschinen. Jäger saßen zu Hause und starrten auf die silbernen Punkte am Himmel, die sie am liebsten ins Visier genommen hätten. Aber die meisten versuchten es nicht. Die Wachvögel erkannten schnell die Mordabsicht und bestraften sie tödlich. - 88 -
Fischerboote lagen in den Häfen. Fische waren lebende Organismen. Farmer fluchten, spuckten in die Hände und starben beim Versuch, die Ernte einzubringen. Das Getreide lebte und mußte geschützt werden. Kartoffeln waren den Wachvögeln so wichtig wie jeder andere Organismus. Der Tod eines einzigen Grashalms war genauso zu verhindern wie die Ermordung des Präsidenten … Für die Wachvögel. Und natürlich lebten auch bestimmte Maschinen. Das ergab sich daraus, daß die Wachvögel Maschinen waren und ebenfalls lebten. . Gott steh dir bei, wenn du dein Radio schlecht behandelst. Es abschalten, hieß, es umzubringen. Ganz offensichtlich – seine Stimme wurde zum Schweigen gebracht, das rote Glühen erlosch, das arme Ding wurde kalt. Die Wachvögel mühten sich redlich. Wölfe wurden umgebracht, wenn sie Kaninchen anfielen, Kaninchen wurden elektrisiert, wenn sie Kohlköpfe fressen wollten. Schlingpflanzen wurden verbrannt, während sie versuchten, einen Baum zu erdrosseln. Ein Schmetterling wurde hingerichtet, als man ihn beim Angriff auf eine Rose erwischte. Diese Überwachung war zufällig und völlig systemlos, weil es nur wenige Wachvögel gab. Auch eine Milliarde Wachvögel hätte dieses ambitionierte Projekt nicht durchführen können, das die paar tausend verfolgten. Der Effekt war eine mörderische Gewalt, die mit Tausenden von Blitzschlägen irrational über das Land raste - 89 -
und tausende Male am Tag irgendwo blind zuschlug. Blitze, die jede Bewegung voraussahen und schon den Vorsatz bestraften. »Meine Herren, bitte«, flehte der Regierungsvertreter. »Wir müssen uns beeilen.« Die sieben Hersteller unterbrachen ihr Gespräch. »Bevor wir diese Sitzung formell eröffnen«, sagte der Präsident der Monroe-Werke, »möchte ich etwas feststellen. Wir fühlen uns nicht für diese unglückliche Entwicklung verantwortlich. Es war von Anfang an ein Regierungsobjekt. Die Regierung muß ihre Verantwortung akzeptieren, die moralische und auch die finanzielle.« Gelsen zuckte die Schultern. Es war schwer vorstellbar, daß diese Männer noch vor ein paar Wochen gerne akzeptiert hatten, als Retter der Menschheit in die Geschichte einzugehen. Nun lehnten sie jede Verantwortung ab, nachdem die Erlösung in die Hose gegangen war. »Ich bin überzeugt, daß wir uns jetzt damit nicht befassen müssen«, versicherte der Regierungsvertreter ihm. »Wir müssen uns beeilen. Ihre Ingenieure haben ausgezeichnete Arbeit geleistet. Ich bin stolz auf die Kooperation, die Sie in diesem Notstand gezeigt haben. Sie sind hiermit ermächtigt, den erarbeiteten Plan in die Tat umzusetzen.« »Eine Minute«, sagte Gelsen. »Wir haben keine Minute Zeit.«
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»Der Plan ist nicht gut.« »Glauben Sie, daß er nicht funktioniert?« »Natürlich funktioniert er. Aber ich fürchte, daß wir damit vom Regen in die Traufe kommen.« Die Hersteller sahen aus, als hätten sie Gelsen liebend gerne jeder für sich erwürgt. Aber er zögerte nicht. »Haben wir denn gar nichts gelernt?« fragte er. »Sehen Sie denn nicht, daß man menschliche Probleme nicht durch blinde Mechanisierung lösen kann?« »Mr. Gelsen«, sagte der Monroe-Präsident, »ich würde Ihnen gerne bei Ihren philosophischen Betrachtungen zuhören, aber unglücklicherweise sterben gleichzeitig da draußen Menschen. Ernten faulen auf den Feldern. In einigen Landesteilen gibt es schon Hungersnöte. Die Wachvögel müssen sofort weg!« »Der Mord mußte auch sofort gestoppt werden. Ich erinnere mich noch, wie wir darin alle übereingestimmt haben. Aber das ist nicht der richtige Weg!« »Was würden Sie denn vorschlagen?« wollte der Regierungsvertreter wissen. Gelsen holte tief Luft. Für das, was er nun sagen wollte, brauchte er all seinen Mut. »Laßt die Wachvögel von selbst vom Himmel fallen«, schlug Gelsen vor. Es gab fast einen Volksaufstand. Der Regierungsvertreter beschwichtigte die Gemüter. »Lernen wir doch endlich unsere Lektion«, drängte Gelsen. »Geben wir zu, daß wir einen Fehler gemacht - 91 -
haben, als wir glaubten, menschliche Probleme auf technische Weise lösen zu können. Fangen wir wieder an. Benutzen wir Maschinen, selbstverständlich, aber nicht als Richter, nicht als Lehrer, nicht als Väter.« »Lächerlich«, erklärte der Beamte kühl. »Mr. Gelsen, Sie sind überstimmt. Ich schlage vor, daß Sie sich jetzt zusammennehmen.« Er räusperte sich. »Sie alle erhalten hiermit den Befehl des Präsidenten, den von Ihnen eingereichten Plan auszuführen.« Er warf Gelsen einen scharfen Blick zu. »Sich dem zu verweigern, wäre Landesverrat.« »Ich werde nach besten Kräften kooperieren«, versprach Gelsen. »Gut. Die Fließbänder müssen innerhalb einer Woche rollen.« Gelsen wankte allein aus dem Konferenzraum. Wieder war er verwirrt. Hatte er recht gehabt, oder war er nur ein notorischer Schwarzseher? Mit Sicherheit hatte er seine Befürchtungen nicht gerade in deutliche Worte gefaßt. Wußte er denn selbst, was er befürchtete? Gelsen fluchte lautlos. Er fragte sich, warum er nie bei irgend etwas sicher sein konnte. Gab es denn keine Werte, an die es sich zu halten lohnte? Er eilte zum Flughafen in seine Maschine. Der Wachvogel arbeitete inzwischen nur noch unsicher. Viel von seiner Feinmechanik funktionierte mangels Wartung nicht mehr, von der ständigen Beanspruchung überlastet. Aber noch immer reagierte die Maschine tapfer, - 92 -
sobald sie den entsprechenden Stimulus fand. Eine Spinne griff eine Fliege an. Der Wachvogel eilte zu ihrer Rettung. Gleichzeitig bemerkte er etwas auf Angriffskurs über sich. Der Wachvogel stellte sich dem Angreifer sofort. Ein scharfes Knistern, und ein Energieblitz zuckte in den Flügel des Wachvogels. Wütend schoß er seinen elektrischen Schlag ab. Der Angreifer wurde schwer getroffen. Doch wieder attackierte er den Wachvogel. Diesmal durchschlug ein Energiestrahl den Flügel. Der Wachvogel wich aus, aber der Angreifer verfolgte ihn blitzschnell beschleunigend und deckte ihn mit einer Energie-Kanonade ein. Der Wachvogel stürzte ab, aber es gelang ihm noch, eine Botschaft abzustrahlen. Dringend! Eine neue Gefahr für lebende Organismen, und die bisher tödlichste! Andere Wachvögel über dem Land verarbeiteten die Botschaft. Ihre Lernprogramme suchten nach einer Antwort auf die Bedrohung. »Also, Chef, Sie haben heute fünfzig abgeschossen«, berichtete Macintyre, als er in Gelsens Büro stürmte. »Fein«, sagte Gelsen und sah seinen Ingenieur nicht an. »So fein auch nicht.« Macintyre setzte sich. »Herrgott, bin ich übermüdet! Gestern waren es zweiundsiebzig.« »Ich weiß.« Auf Gelsens Schreibtisch lagen mehrere Dutzend Klageschreiben, die er mit einem verzweifelten Gebet an die Regierung weiterleitete. - 93 -
»Sie werden schon wieder aufholen«, versicherte Macintyre zuversichtlich. »Die Falken sind eigens dafür entwickelt, Wachvögel zu jagen – Sie sind stärker, schneller, und sie haben die bessere Bewaffnung. Wir haben die Produktion wirklich verdammt schnell aufgenommen, was?« »Das haben wir.« »Die Wachvögel sind aber auch nicht schlecht«, mußte Macintyre zugeben. »Sie lernen, wie man sich versteckt. Sie versuchen es mit einer Reihe von Tricks. Wissen Sie, jeder, den es erwischt, sendet den anderen noch einen Bericht seiner Fehler, aus denen die dann lernen.« Gelsen antwortete nicht. »Aber alles, was die Wachvögel können, können die Falken besser«, erklärte Macintyre optimistisch. »Die Falken haben ein besonderes Lernprogramm für die Jagd. Ihr Programm ist flexibler als das der Wachvögel. Sie lernen schneller.« Gelsen stand mit düsterem Blick auf, reckte sich und ging zum Fenster. Der Himmel war klar. Während er hinaussah, merkte er, daß er sich nun endlich sicher war. Richtig oder falsch, er hatte sich nun entschieden. »Sagen Sie mir«, fragte Gelsen, während er den Himmel beobachtete, »was werden die Falken jagen, wenn sie alle Wachvögel erwischt haben?« »Was?« sagte Macintyre. »Warum …?« »Nur um schon einmal sicherzugehen, sollten Sie schon einmal etwas entwickeln, mit dem man die Falken jagen kann. Nur für alle Fälle, meine ich.« - 94 -
»Sie glauben –« »Alles, was ich weiß, ist, daß die Falken von unserer Kontrolle unabhängig sind. Genau wie die Wachvögel. Fernsteuerung wäre zu langsam gewesen, lautete das Argument. Das Ziel war, die Wachvögel zu erwischen, und zwar schnell. Deshalb ist die Lernfähigkeit des Programms nicht beschränkt.« »Wir können sicher was austüfteln«, meinte Macintyre unsicher. »Wir haben also jetzt da oben am Himmel eine aggressive Maschine. Eine Jagdmaschine. Eine Mordmaschine. Vorher hatten wir eine Anti-Mord-Maschine. Ihre nächste Erfindung wird wohl noch selbständiger sein müssen, nehme ich an?« Macintyre antwortete nicht. »Ich mache Sie nicht verantwortlich«, sagte Gelsen. »Ich bin es. Wir alle sind es.« Über den Himmel huschte ein silbriger Fleck. »Das kommt davon«, meinte Gelsen, »wenn man einer Maschine eine Arbeit gibt, für die wir eigentlich selbst verantwortlich sein müßten.« Am Himmel stürzte sich ein Falke auf einen Wachvogel. Die gutbewaffnete Mordmaschine hatte in den letzten Tagen eine Menge gelernt. Ihre einzige Funktion war es, zu vernichten. Im Augenblick richtete sich dieses Mordprogramm gegen einen bestimmten Typ von lebendem Organismus, der metallisch war wie der Falke selbst.
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Aber der Falke hatte gerade entdeckt, daß es noch andere Typen lebender Organismen gab – auch die mußten vernichtet werden.
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Wenn der Wind weht
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Draußen kam Wind auf. Aber die beiden Männer in der Station hatten andere Dinge im Kopf. Clayton fummelte wieder am Hahn der Wasserleitung und wartete. Nichts geschah. »Hau doch mal drauf«, meinte Nerischev. Clayton hämmerte die Faust gegen das Rohr. Zwei Tropfen Wasser fielen aus dem Hahn. Ein dritter Tropfen zitterte an der Öffnung, schwankte und fiel. Das war alles. »Da haben wir's«, verkündete Clayton erbost. »Diese verdammte Wasserleitung ist draußen irgendwo blockiert. Schon wieder. Wieviel Wasser haben wir noch im Tank?« »Müßten so zwanzig Liter sein – falls der Tank nicht wieder leckt«, antwortete Nerischev. Er starrte den Wasserhahn an und trommelte mit langen nervösen Fingern darauf. Er war ein großer, blasser Mann mit spärlichem Bart, trotz seiner Größe eher zerbrechlich wirkend. Er sah nicht wie der Typ Mann aus, den man in einer Forschungsstation auf einem abgelegenen, fremden Planeten anzutreffen erwartet. Aber das Fernerkundungs-ExplorerKorps hatte zu seinem großen Bedauern feststellen müssen, daß es keinen Typ für solche Stationen gab. Nerischev war ein fähiger Biologe und Botaniker. Trotz seiner chronischen Nervosität besaß er überraschende Reserven an Kaltblütigkeit. Er war jene Art von Mensch, die erst in Krisen zur Hochform auflaufen. Wenn überhaupt, dann war es das, was ihn zum geeigneten Pionier für einen Planeten wie Carella I werden ließ. »Ich schlage vor, jemand geht raus und bringt die - 98 -
Wasserleitung in Ordnung«, sagte Nerischev, ohne Clayton anzusehen. »Das sollte wohl jemand machen«, sagte Clayton und hämmerte wieder gegen das Rohr. »Aber das ist 'ne mörderische Sache da draußen. Hör dir das an!« Clayton war ein kleiner, stiernackiger Mann mit rotem Gesicht und kräftiger Statur. Das war sein dritter Einsatz als Planetenexplorer. Er hatte es auch schon mit anderen Jobs des Fernerkundungs-Explorer-Korps versucht, aber nichts anderes sagte ihm zu. IGITT – Interstellare – brachte zu viele unerfreuliche Überraschungen. Diese Arbeit war etwas für Draufgänger und Verrückte. Aber Basisentwicklung war ihm zu langweilig und von Vorschriften eingeengt. Ihm gefiel eben die Arbeit bei der Planetenerkundung. Sie bestand darin, ein oder zwei Jahre auf einem Planeten abzusitzen, der von den IGITT-Jungs entdeckt und von Robotkameras oberflächenerkundet worden war. Was er auf diesen Planeten zu tun hatte, war stoisch das unbequeme Leben zu ertragen und geschickt das Überleben zu sichern. Nach etwa einem Jahr kam ein Ablösungsschiff, das ihn zurückbrachte, damit er der Zentrale Bericht erstattete. Auf der Grundlage dieses Berichtes wurde über die weitere Erschließung des Planeten entschieden, oder man ließ die Finger davon. Vor jedem neuen Einsatz versprach Clayton seiner Frau pflichtschuldig, daß es sein letzter sein würde, nach dieser Tour würde er auf der Erde bleiben und seine kleine Farm - 99 -
bewirtschaften. Er versprach es … Aber am Ende jedes Jahresurlaubs auf der Erde verlängerte Clayton seinen Vertrag doch wieder und flog wieder hinaus, um zu tun, wozu er am besten geeignet war: mit Geschick und Ausdauer zu überleben. Aber diesmal schien es ihn erwischt zu haben. Er und Nerischev waren seit acht Monaten auf Carella. Das Ablöseschiff würde noch vier Monate auf sich warten lassen. Wenn er hier wieder lebend weg kam, würde er keinen Auftrag mehr übernehmen. »Hör dir nur diesen Wind an«, meinte Nerischev. Gedämpft und fern seufzte und murmelte er um die stählerne Hülle der Station wie ein Zephyr, eine Sommerbrise. So hörte es sich jedenfalls von innen an, wenn man durch dreißig Zentimeter Stahl und eine noch dickere Geräuschisolation von diesem Wind getrennt war. »Es weht stärker«, sagte Clayton. »Da kommt was auf.« Er ging hinüber zum Windstärkenmesser. Nach der Skalenanzeige blies dieser sanft säuselnde Wind mit gleichmäßigen hundertsiebzehn Kilometern pro Stunde – auf Carella eine leichte Brise. »Mann o Mann!« meinte Clayton. »Ich will da nicht raus. Da draußen gibt's nichts, was mich so recht anzieht.« »Du bist an der Reihe«, verwies ihn Nerischev diskret. »Ich weiß. Laß mich erst ein bißchen jammern. Ja? Komm, holen wir uns die Wettervorhersage von Smannik.« Sie gingen durch die Station, ihre Absätze hallten von - 100 -
den Stahlplatten wider, vorbei an Lagerräumen mit Essen, Sauerstoffbehältern, Instrumenten, Notausrüstungen, Zusatznotausrüstungen. Am anderen Ende der Station lag die schwere Metalltür zum Geräteschuppen, wie sie ihn nannten. Die Männer setzten ihre Sauerstoffmasken auf und stellten die Zufuhr ein. »Fertig?« fragte Clayton. »Fertig.« Sie nahmen ihre Positionen ein und umklammerten Haltegriffe neben der Tür. Clayton berührte die automatische Entriegelung. Die Tür glitt zur Seite, und eine Windböe kreischte herein. Die Männer senkten die Köpfe und zogen sich gegen den Wind hinaus in den Schuppen. Der Schuppen war ein Anbau der Station, etwa zehn Meter lang und fünf Meter breit. Er war nicht völlig abgeschlossen, wie der Rest der Anlage. Die Wände bestanden aus einem offenen Stahlgerüst mit einem Gitterwerk dazwischen. Der Wind wehte durch diesen Aufbau, wurde aber etwas kontrolliert und gebremst. Der Windmesser verriet ihnen, daß es im Schuppen nur mit siebzig Kilometern in der Stunde wehte. Es war eine verdammte Plackerei, dachte Clayton, mit den Eingeborenen von Carella in einem ausgewachsenen Sturm konferieren zu müssen. Aber anders ging es nicht. Die Carellaner, die auf einem Planeten geboren waren, wo der Wind nie weniger als mit hundertzehn Kilometern in der Stunde wehte, konnten die »tote Luft« in der Station nicht vertragen. Selbst wenn der Sauerstoffgehalt bis auf die carellanischen Verhältnisse gesenkt wurde, konnten die - 101 -
Eingeborenen sich nicht darauf einstellen. In der Station wurde ihnen schwindelig und übel. Sie bekamen Erstickungsanfälle wie ein Mensch bei Unterdruck. Die siebzig Kilometer in der Stunde waren ein fairer Kompromiß für ein Treffen zwischen Menschen und Carellanern. Clayton und Nerischev schoben sich durch den Schuppen. In einer Ecke lag etwas, das wie ein Bündel ausgetrockneter Tintenfische aussah. Das Bündel schüttelte sich und winkte höflich mit zwei Tentakeln. »Guten Tag«, sagte Smannik. »Guten Tag«, sagte Clayton. »Was hältst du vom Wetter heute?« »Exzellent«, sagte Smannik. Nerischev zupfte an Claytons Ärmel. »Was sagt er?« fragte er und nickte bedeutungsvoll, als Clayton es ihm übersetzte. Nerischev fehlte Claytons Sprachbegabung. Selbst nach acht Monaten blieb die carellanische Sprache für ihn nur eine undeutbare Serie von Schnalzen und Pfiffen. Einige weitere Carellaner kamen, um sich an der Unterhaltung zu beteiligen. Sie sahen alle wie Spinnen oder Kraken aus, mit ihren kleinen zentralen Körpern und den langen, beweglichen Tentakeln. Dies war auf Carella die optimale Überlebensgestalt, und Clayton beneidete sie regelmäßig darum. Er war dazu gezwungen, sich völlig auf den Schutz der Station zu verlassen. Aber die Carellaner konnten in dieser Umgebung frei leben. Oft hatte er einen Eingeborenen schon gegen einen - 102 -
Wind von Tornadostärken angehen sehen, sieben oder acht Glieder im Boden verankert und ziehend, während andere Tentakeln schon voraus nach neuen Griffmulden tasteten. Er hatte sie vor dem Wind rollen sehen wie abgerissenes Buschwerk, die Tentakeln um den Leib geschlungen. Er dachte an die fröhliche, kühne Art, wie sie mit ihren Überlandschiffen segelten, geschickt jede Windstärke beherrschend. Na, dachte er, auf der Erde würden sie auch verdammt komisch aussehen. »Wie wird das Wetter denn gerade?« fragte er Smannik. Der Carellaner erwog die Frage eine Weile, schnüffelte im Wind und rieb zwei Tentakel zusammen. »Der Wind könnte noch etwas auffrischen«, sagte er schließlich. »Aber es gibt nichts Ernstes.« Clayton überlegte. Nichts Ernstes für einen Carellaner konnte für einen Erdenmenschen eine Katastrophe sein. Trotzdem klang es einigermaßen passabel. Er und Nerischev verließen den Schuppen und schlossen die Tür hinter sich. »Hör mal«, sagte Nerischev, »wenn du noch warten willst …« »Bringe es besser schnell hinter mich«, meinte Clayton. Hier in der Hauptschleuse, von einer blassen Leuchtröhre beschienen, erhob sich der glatte, schimmernde Leib des »Saurier«. Das war der Spitzname, den sie dem Fahrzeug gegeben hatten, das eigens für die Fortbewegung auf Carella - 103 -
konstruiert worden war. Der Saurier war geschützt wie ein Panzer und stromlinienförmig wie ein Sportgleiter. Er hatte Sichtschlitze aus unzerstörbarem Glas, das so dick war wie seine Stahlverkleidung. Sein Schwerpunkt lag extrem tief. Das meiste von seinen zwölf Tonnen preßte sich eng an den Boden. Der Saurier war luftdicht. Seine schwere Dieselmaschine sowie alle anderen Öffnungen waren mit speziellen Staubfiltern geschützt. Der Saurier ruhte auf sechs dicken Reifen und sah mit seiner unzerstörbaren Masse wie ein prähistorisches Monster aus. Clayton stieg ein, setzte den Sicherheitshelm mit der Sauerstoffmaske auf und schnallte sich im gepolsterten Fahrersitz fest. Er fuhr die Maschine hoch, lauschte aufmerksam auf den Motorenklang, dann nickte er. »Okay«, sagte er, »der Saurier ist fertig. Geh rauf und öffne mir das Garagentor.« »Viel Glück«, winkte Nerischev und verschwand. Clayton checkte die Armaturen und prüfte noch einmal alle Sonderfunktionen des Sauriers. Kurz darauf meldete Nerischev sich über den Bordfunk. »Ich öffne jetzt das Tor.« »In Ordnung.« Das schwere Tor glitt zurück, und Clayton fuhr den Saurier langsam hinaus. Die Station war auf einer weiten, leeren Ebene angelegt worden. Berge hätten gewissen Schutz vor dem Wind geboten; aber die Berge auf Carella befanden sich in einem ruhelosen Zustand des Auf- und Abtürmens. Doch die Ebene hatte ihre eigenen Gefahren. Gegen die schlimmste - 104 -
dieser Gefahren war die Station von einem Ring stählerner Pfosten umgeben. Die dicht beinander stehenden wiesen spitz nach allen Seiten wie uralte Panzersperren. Sie dienten auch dem gleichen Zweck. Clayton fuhr den Saurier den engen gewundenen Kanal zwischen den Pfosten hinab. Er verließ den Sicherheitsgürtel, fand die Pipeline und folgte ihr. Auf einem kleinen Bildschirm über seinem Kopf leuchtete jetzt eine weiße Linie auf. Die Linie würde jeden Bruch oder jede Verstopfung der Leitung anzeigen. Um ihn her erstreckte sich eine weite, felsige, monotone Wüste. Gelegentlich tauchte ein niedriges Buschwerk auf. Der Wind blies direkt von hinten und wurde von der Dieselmaschine fast übertönt. Er warf einen Blick auf den Windmesser. Der Wind von Carella blies mit hundertfünfundzwanzig Kilometern die Stunde. Er fuhr gleichmäßig weiter und summte leise unter der Sauerstoffmaske. Von Zeit zu Zeit hörte er einen Knall. Felsstücke hämmerten vom Wind getrieben gegen den Saurier. Sie prallten harmlos von den Stahlplatten ab. »Ist alles in Ordnung?« erkundigte sich Nerischev über Funk. »Klar«, bestätigte Clayton. In einiger Entfernung sah er ein carellanisches Überlandschiff. Es war etwa fünfzehn Meter lang, schätzte er, und segelte dicht unter dem Wind, schnell auf seinen groben Holzreifen krachend. Die Segel des Schiffs wurden aus den wenigen Blattpflanzen des Planeten gefertigt. Die Carella- 105 -
ner winkten mit ihren Tentakeln, als sie vorbeischössen. Sie schienen zur Station unterwegs zu sein. Clayton konzentrierte sich wieder auf die Wasserleitung. Er begann, den Wind jetzt über das Dröhnen des Diesels zu hören. Der Windmesser zeigte, daß die Windgeschwindigkeit inzwischen bei hunderteinunddreißig Kilometern lag. Düster starrte er durch den sandverklebten Fensterschlitz. In der Ferne reckten sich zerklüftete Klippen undeutlich gegen den staubverhangenen Himmel. Weitere Brocken hämmerten gegen die Hülle, und es tönte hohl durch das Fahrzeug. Er entdeckte ein weiteres carellanisches Schiff, dann noch drei. Sie trieben direkt vor dem Wind. Clayton fiel auf, daß ungewöhnlich viele Carellaner zur Station unterwegs schienen. Er rief Nerischev an. »Wie sieht's aus?« erkundigte Nerischev sich. »Ich bin fast bei der Quelle und hab noch keine Unterbrechung gefunden«, meldete Clayton. »Scheint, als ob eine Menge Carellaner zu uns unterwegs sind.« »Ich weiß. Sechs Schiffe ankern schon im Lee des Schuppens, und weitere machen gerade fest.« »Wir haben noch nie irgendwelche Schwierigkeiten mit den Eingeborenen gehabt«, sagte Clayton langsam. »Was das jetzt wohl werden soll?« »Sie haben Essen mitgebracht. Es könnte eine Feier sein.« »Vielleicht. Paß auf dich auf.«
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»Keine Sorge. Sei vorsichtig und beeil dich …« »Hab das Loch gefunden! Melde mich später wieder.« Die Unterbrechung war auf dem Bildschirm deutlich zu sehen. Ein Blick aus dem Sehschlitz bestätigte Clayton, daß hier ein Felsbrocken über die Leitung gerollt sein mußte und sie zerdrückt hatte. Er hielt sein Fahrzeug auf der windzugewandten Seite der Leitung an. Es wehte jetzt mit hunderteinundvierzig Stundenkilometern. Clayton glitt aus dem Wagen, ausgerüstet mit einigen Rohrstücken, Stahlklebern, einem Windanker und Werkzeugtaschen. Alles war an ihm festgebunden, und er selbst wurde durch ein starkes Nylonseil am Saurier gesichert. Draußen brüllte der Wind ohrenbetäubend. Er donnerte und röhrte wie eine Sturmflut. Clayton erhöhte die Sauerstoffzufuhr und ging an die Arbeit. Zwei Stunden später hatte er eine Reparaturarbeit beendet, für die er normalerweise keine fünfzehn Minuten gebraucht hätte. Seine Kleidung hing in Fetzen, und der Luft-Extraktor war völlig staubverklebt. Er kletterte zurück in den Saurier, schloß die Schleuse und warf sich zur Erholung auf den Boden. Das Fahrzeug begann unter den Windböen zu zittern. Clayton achtete nicht darauf. »Hallo? Hallo?« rief Nerischev über Funk. Erschöpft zog Clayton sich in den Fahrersitz und meldete sich. »Schnell zurück, Clayton! Keine Zeit zum Ausruhen! Der Wind ist über hundertsechzig! Ich glaube, es kommt - 107 -
Sturm auf!« Ein Sturm auf Carella war etwas, das sich Clayton nicht einmal vorzustellen wagte. Sie hatten in den acht Monaten bisher nur einen erlebt. Der Wind war dabei über zweihundert Stundenkilometer gegangen. Er wendete seinen Saurier und machte sich auf den Rückweg. Jetzt mußte er direkt gegen den Wind fahren. Trotz voller Kraft des Diesels mußte er feststellen, daß er mit dem Fahrzeug kaum vorankam. Gegen Einhundertsechzig-Kilometer-Wind schaffte auch der schwere Diesel nicht mehr als fünf Kilometer in der Stunde. Clayton starrte durch den Fensterschlitz. Der Wind zeichnete sich selbst mit langen Staub- und Sandfahnen, die alle direkt auf den Saurier zukamen, als würden sie aus dem unendlich weiten Himmel auf das im Verhältnis winzige Gefährt zielen. Vom Wind getragene Felsbrocken schmetterten gegen den Sehschlitz. Clayton duckte sich jedesmal instinktiv, obwohl für ihn keine wirkliche Gefahr bestand. Die schwere Maschine begann zu winseln und stottern. »Oh, Baby«, stöhnte Clayton, »laß mich jetzt nicht hängen. Nicht jetzt. Bring Papi nach Hause. Dann kannst du schlappmachen, bitte!« Er stellte fest, daß es noch fast fünfzehn Kilometer bis zur Station waren, die direkt windauf lag. Er hörte ein Geräusch, das wie eine Felslawine klang. Es stammte von einem hausgroßen Felsbrocken. Zu groß, um hochgeschleudert zu werden, rollte der Felsen vor dem Wind her und walzte einen Graben in den Boden. - 108 -
Clayton riß das Steuer zur Seite. Die Maschine quälte sich, und mit unendlicher Langsamkeit begann der Saurier, dem Felsen aus dem Weg zu kriechen. Zitternd verfolgte Clayton die Bahn des Brocken. Er hämmerte mit der Faust auf das Armaturenbrett. »Beweg dich, Baby, beweg dich!« Mit dumpfem Dröhnen rollte der Brocken mit gut fünfzig Stundenkilometern an ihm vorbei. »Zu knapp«, sagte Clayton zu sich selbst. Er versuchte, den Saurier wieder in den Wind zu drehen, in Richtung zur Station. Der Saurier wollte nicht. Der Diesel wimmerte gequält und versuchte, das große Fahrzeug auf den neuen Kurs zu zwingen. Aber der Wind drückte den Saurier wie eine solide graue Wand immer wieder zurück. Der Windmesser zeigte hundertneunzig Kilometer. »Wie kommst du voran?« fragte Nerischev über Funk. »Großartig! Laß mich in Ruhe, ich habe zu tun.« Clayton zog die Bremsen an, schnallte sich los und rannte nach hinten zur Maschine. Er stellte die Treibstoffzufuhr neu ein und veränderte den Hubraum, dann rannte er zurück an die Kontrollen. »He, Nerischev! Mir fliegt der Motor bald um die Ohren.« Es dauerte eine Sekunde, bevor Nerischev antwortete. Dann fragte er sehr ruhig: »Was fehlt ihm?« »Sand!« erklärte Clayton. »Staubteilchen, die mit hundertneunzig Stundenkilometern durch die Gegend - 109 -
fliegen – Sand in den Filtern, den Düsen, den Zuleitungen, überall. Ich versuch so weit zu kommen, wie es geht.« »Und dann?« »Dann versuche ich das Ding zurückzusegeln«, eröffnete Clayton. »Ich hoffe nur, daß der Mast durchhält.« Er wandte seine Aufmerksamkeit den Kontrollen zu. Bei solchen Windgeschwindigkeiten mußte der Saurier wie ein Schiff auf See behandelt werden. Clayton drehte langsam in den Wind, ließ sich von ihm herumdrücken und begann zu kreuzen. Diesmal schaffte der Saurier es und wechselte die Spur. Mehr war im Augenblick nicht zu schaffen, entschied Clayton. Er konnte nur versuchen, gegen den Wind anzukreuzen. Aber auch bei voller Kraft des Diesels konnte er sich nicht mehr als vierzig Grad gegen den Wind legen. Eine Stunde später kämpfte der Saurier sich weiter, kreuzte und kreuzte, drei Meilen zurücklegend, um zwei voranzukommen. Wunderbarerweise gab die Maschine nicht ihren Geist auf. Clayton segnete den Hersteller und flehte den Diesel an, noch ein kleines bißchen durchzuhalten. Durch den fast von Sand verklebten Fensterschlitz sah er ein weiteres carellanisches Überlandschiff. Es neigte sich gefährlich zur Seite, aber es segelte hart unter dem Wind und überholte Clayton schnell. Glücklicherweise Eingeborene, dachte Clayton – zweihundert Stundenkilometer Wind war für sie nur eine Segelbrise! Die Station mit ihrer grauen Halbkugel kam vor ihm in - 110 -
Sicht. »Ich packe es!« schrie Clayton. »Hol den Rum raus, Nerischev, alter Junge! Papa macht heute einen drauf!« In diesem Augenblick entschied der Diesel sich, doch noch den Geist aufzugeben. Clayton fluchte wild, während er die Bremsen anzog. Was für ein verdammtes Pech! Wenn er den Wind jetzt im Rücken gehabt hätte, könnte er einfach hineinrollen. Aber natürlich mußte es von vorne wehen. »Was machst du jetzt?« wollte Nerischev wissen. »Ich bleibe hier sitzen«, eröffnete Clayton ihm. »Sobald der Wind sich zum Hurrican mildert, geh ich zu Fuß nach Hause.« Die zwölf Tonnen des Sauriers bockten und schüttelten sich unter den Windstößen. »Weißt du«, sagte Clayton, »nach diesem Job hier verlängere ich meinen Vertrag nicht mehr.« »Dein Ernst? Meinst du das wirklich?« »Absolut sicher. Mir gehört eine Farm in Maryland, von der aus man über die Chesapeake-Bay sieht. Weißt du, was ich tun werde?« »Was?« »Ich werde Austern züchten. Siehst du, Austern sind … Moment mal!« Die Station schien langsam windauf von ihm fortgeweht zu werden. Clayton rieb sich die Augen und fragte sich, ob er schon verrückt wurde. Dann merkte er, daß trotz der Bremsen, trotz der Stromlinienform und trotz des - 111 -
Gewichtes der Saurier langsam von der Station fortgedrückt wurde. Wütend drückte er einen Knopf am Armaturenbrett und löste damit die Backbord- und Steuerbordanker. Er hörte das stählerne Krachen, als die Anker aufschlugen, und er hörte die Stahlkabel rattern und knirschen. Er ließ sechzig Meter Stahlkabel abrollen, dann blockierte er die Kabeltrommeln. Der Saurier stand wieder still. »Ich habe Anker geworfen«, berichtete Clayton. »Halten sie?« »Bis jetzt.« Clayton zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich in seinem gepolsterten Sessel zurück. Jeder Muskel schmerzte ihm von der Anstrengung. Die Augenlider zuckten vom angestrengten Starren auf den Windmesser. Er schloß die Augen und versuchte, sich zu entspannen. Das Geräusch des Windes dröhnte durch die Stahlplatten des Fahrzeugs. Der Wind heulte und klagte, zerrte an dem Saurier, versuchte, an seiner glatten Oberfläche Halt zu finden. Bei zweihundertzwölf Stundenkilometern zerfetzte es die Ventilatorfilter. Wenn er keine Schutzbrille tragen würde, dachte Clayton, wäre er jetzt längst erblindet und ohne seine Sauerstoffmaske längst erstickt. In der Kabine des Sauriers wirbelte dick und geladen der Staub. Mit der Geschwindigkeit von Pistolenkugeln schmetterten Steinchen gegen den Panzer. Sie hämmterten nun immer lauter. Er fragte sich, wieviel Kraft sie wohl noch brauchten, bevor sie damit anfingen, den Panzer zu durchschlagen. - 112 -
In Augenblicken wie diesen fiel es Clayton schwer, die Dinge weiter nur mit dem sogenannten gesunden Menschenverstand zu betrachten. Er war sich der Verletzlichkeit menschlichen Fleißes schmerzhaft bewußt und von der Gewalttätigkeit des Universums abgestoßen. Was hatte er hier draußen zu suchen? Der Mensch gehörte in die ruhige, stille Luft der Erde. Falls er jemals dorthin zurückkehrte … »Bist du noch in Ordnung?« fragte Nerischev. »Bin ganz toll drauf«, antwortete Clayton müde. »Wie sieht's bei dir in der Station aus?« »Nicht so besonders. Die ganze Metallstruktur beginnt mit dem Wind zu vibrieren. Genug Wind, lange genug, und die Fundamente geben nach.« »Und hier wollen sie ein Treibstofflager einrichten!« meinte Clayton. »Na ja, du kennst ja das Problem. Das hier ist der einzige feste Planet zwischen Angarsa III und dem südlichen Randgürtel. Alles andere sind Gasriesen.« »Die bauen ihre Station besser gleich im Raum.« »Die Kosten –« »Verdammt, Mensch, es kostet weniger, einen neuen Planeten dafür zu bauen, als das Treibstofflager hier auf Carella zu unterhalten!« Clayton spuckte einen Mundvoll Staub aus. »Ich will nur noch zurück aufs Ablöseschiff. Wie viele Eingeborene sind jetzt bei der Station?« »Im Schuppen müßten etwa fünfzehn sein.« »Irgendwelche Anzeichen von Gewalttätigkeit?« - 113 -
»Nein, aber sie führen sich komisch auf.« »Wieso?« »Ich weiß nicht«, meinte Nerischev. »Es gefällt mir nur nicht.« »Bleib aus dem Schuppen, ja? Du kannst ja sowieso nicht ihre Sprache sprechen, und ich hätte dich gerne noch in einem Stück, wenn ich zurückkomme.« Er zögerte. »Wenn …« »Du schaffst es schon«, versicherte Nerischev. »Klar doch. Ich … Oh Gott!« »Was ist los? Stimmt was nicht?« »Felsen im Anmarsch! Erzähl dir später!« Clayton wandte seine Aufmerksamkeit dem riesigen Felsbrocken zu, einem schnell größer werdenden schwarzen Fleck windauf. Er bewegte sich direkt auf den verankerten und bewegungsunfähigen Saurier zu. Clayton starrte auf den Windmesser. Unmöglich – zweihundertdreißig Stundenkilometer! Und doch erinnerte er sich daran, auf der Erde gab es in der Stratosphäre Jetströme von fast dreihundert Stundenkilometern. Der haushohe Brocken schien ständig zu wachsen, während er näherkam. Der Saurier stand genau in seiner Bahn. »Weg! Zur Seite!« brüllte Clayton den Felsen an und hämmerte beide Fäuste auf das Instrumentenbrett. Der Felsen kam direkt auf ihn zu, vom Wind auf einer schnurgeraden Linie gerollt. Mit einem Verzweiflungsschrei hieb Clayton auf die Taste, mit der beide Anker gelöst wurden. Es gab keine - 114 -
Zeit, sie einzuholen, selbst wenn die Winden es ausgehalten hätten. Er konnte sie nur absprengen. Noch immer wuchs der Felsen. Clayton löste die Bremsen. Der Saurier wurde jetzt von einem ZweihundertfünfzigKilometer-Wind angeschoben und kam schnell in Fahrt. Innerhalb von Sekunden raste er mit über fünfzig Stundenkilometern dahin. Clayton starrte in den Rückspiegel. Der Felsen war schneller. Als der Brocken noch näher kam, riß Clayton das Steuer hart nach links. Das Fahrzeug schwang widerstrebend zur Seite, schwankte, bäumte sich auf dem unebenen Grund auf, reckte eine Radreihe in die Luft und drohte sich zu überschlagen. Clayton kämpfte mit dem Steuer und versuchte alles, den Saurier wieder auszubalancieren. Er dachte: Ich bin wahrscheinlich der erste Mensch, der je einen Zwölf-Tonnen-Panzer … Der Felsbrocken, der jetzt wie ein ganzer Häuserblock aussah, donnerte vorbei. Das schwere Fahrzeug zitterte noch für Sekunden, dann senkte es sich wieder auf seine sechs Reifen. »Clayton! Was ist passiert? Bist du klar?« »Prima!« keuchte Clayton. »Aber ich mußte die Kabel kappen. Ich treibe mit dem Wind ab.« »Kannst du wenden?« »Wäre gerade beinahe beim Versuch gekentert.« »Wie weit kannst du noch?« Clayton starrte nach vorn. In der Ferne sah er die dramatischen schwarzen Klippen aufragen, von denen die Ebene eingeschlossen wurde. - 115 -
»Ich habe noch fünfundzwanzig Kilometer, bevor es mich vor die Klippen knallt. Bei meiner Geschwindigkeit bleibt da nicht viel Zeit.« Er zog wieder die Bremsen. Die Reifen kreischten, und es roch nach verschmortem Bremsbelag. Aber der Wind merkte mit seinen zweihundertfünfundsechzig Kilometern in der Stunde den Unterschied nicht. Der Saurier bewegte sich jetzt mit mehr als achtzig Stundenkilometern. »Versuch ihn auszusegeln«, schlug Nerischev vor. »Das packt er nicht.« »Versuch's, Mann, was willst du sonst machen? Der Windmesser zeigt über zweihundertachtundsechzig. Die ganze Station bebt! Felsbrocken reißen uns die Panzersperren weg. Ich habe Angst, daß ein paar Felsen durchkommen und die Kuppel …« »Spar's dir«, bat Clayton, »ich hab selbst genug Schwierigkeiten.« »Ich weiß nicht, ob die Station durchhält! Clayton, hör zu. Versuche, das …« Die Funkverbindung brach auf eine plötzliche und wenig Gutes verheißende Art ab. Clayton versuchte es ein paarmal, dann gab er auf, auch ein Schlag gegen die Sendezentrale half nicht. Er bewegte sich inzwischen mit achtundachtzig Stundenkilometern voran. Die Klippen ragten bereits riesig vor ihm auf. »Na dann«, sagte sich Clayton. »Jetzt kommt's.« Er löste seinen letzten Anker, der zur Notausrüstung gehörte. Nach vollen hundertfünfzig Metern Stahlkabel verringerte der Anker die Geschwindigkeit des Sauriers auf dreiund- 116 -
sechzig Stundenkilometer. Der Anker brach und fetzte wie ein düsengetriebener Pflug durch den Boden. Clayton fuhr das Segel aus. Dieser Mechanismus war von den irdischen Ingenieuren aufgrund der gleichen Theorie eingebaut worden, nach der man kleinen Motoryachten einen kleinen Mast mit einem Hilfssegel mitgibt. Die Segel sind nur für den Notfall, falls die Maschine ausfällt. Auf Carella würde man niemals von einem gestrandeten Fahrzeug zu Fuß nach Hause gehen können. Man brauchte eine Fortbewegungshilfe. Der Mast, ein kurzer kräftiger Stahlpfeiler, schob sich durch ein Loch auf dem Dach. Magnetische Verstrebungen rasteten ein und stützten ihn. Vom Mast entrollte sich ein Segel aus Metallgewebe. Als Segeltau hatte Clayton eine dreifach geflochtene flexible Stahltrosse, die über eine automatische Winde lief. Das Segel war nur wenige Quadratmeter groß. Es konnte einen Zwölftonner mit angezogenen Bremsen und einen hundertfünfzig Meter nachschleifenden Anker fortbewegen – mit Leichtigkeit – wenn der Wind mit zweihundertneunzig Kilometern in der Stunde blies. Clayton zog das Segeltau ein und versuchte, am Wind zu kreuzen. Im Rückspiegel sah er jetzt die schwarzen, zerklüfteten Klippen hinter sich. Sie lagen im Lee, seine Felsenküste. Aber er segelte dem Schiffbruch davon, Meter für Meter verließ er die Todeszone. »Los, Baby!« rief Clayton dem hart kämpfenden Saurier zu. - 117 -
Seine Siegesgewißheit zerbrach sofort, als es ohrenbetäubend krachte und etwas an seinem Kopf vorbeisirrte. Bei hundertsiebenundneunzig Stundenkilometern durchschlugen Steine seine Panzerung. Er erlebte jetzt das carellanische Gegenstück zu schwerem Maschinengewehrfeuer. Der Wind kreischte durch die Löcher und versuchte, ihn vom Sitz zu reißen. Verzweifelt klammerte er sich an das Steuer. Er konnte das Segel flappen hören. Es war aus dem flexibelsten und stärksten Stahlgewebe der Erde, aber es würde hier nicht lange halten. Der kurze, dicke Mast mit seinen sechs schweren Stützkabeln wippte wie eine Angelrute. Die Bremsbeläge waren abgeschliffen, und der Saurier raste jetzt wieder mit über siebzig dahin. Clayton war zu müde, um zu denken. Er kämpfte verzweifelt, die Hände am Steuer, die zusammengekniffenen Augen starr geradeaus. Das Segel riß kreischend. Die Fetzen peitschten sekundenlang herum, dann riß es den Mast ab. Einzelne Windstöße überschritten jetzt die Dreihundert-KilometerMarke. Der Wind trieb ihn jetzt zurück gegen die Klippen. Bei dreihundertzwei Stundenkilometern wurde der Saurier vom Boden abgehoben, meterweit fortgetragen und zurück auf die Reifen geknallt. Ein Vorderreifen platzte unter dem Druck, dann dröhnte es hinten zweimal. Clayton legte den Kopf auf die Arme und wartete auf das Ende. Plötzlich blieb der Saurier ruckartig stehen. Clayton wurde nach vorn geschleudert. Seine Sicherheitsgurte - 118 -
hielten ihn zurück, dann rissen auch sie. Er schlug gegen das Armaturenbrett und sackte benommen und blutend zu Boden. Er lag halb bewußtlos neben dem Fahrersessel und versuchte herauszufinden, was passiert war. Langsam zog er sich zurück in den Sitz und stellte benommen fest, daß er nichts Ernstes gebrochen hatte. Nur sein Magen mußte in Fetzen hängen. Die Lippen bluteten. Schließlich entdeckte er bei einem Blick in den Rückspiegel, was passiert sein mußte. Der Notanker an seinen hundertfünfzig Metern Stahlkabel hatte sich in einer Felsrinne verfangen. Ein verhedderter Anker hatte ihn einen Kilometer vor den Klippen gerettet. Für den Augenblick jedenfalls. Aber der Wind gab noch nicht auf. Mit dreihundertsechs Stundenkilometern brüllte der Sturm und hob den Saurier vom Boden, schmetterte ihn nieder, hob ihn wieder, knallte ihn wieder zurück. Das Stahlkabel summte wie eine Gitarrensaite. Clayton klammerte sich mit Armen und Beinen an seinen Sessel. Viel länger konnte er sich nicht festhalten. Und wenn er loslassen würde, schmierte ihn der verrückt bockende Saurier wie Zahnpasta über die Armaturen … Falls das Kabel nicht vorher riß und es ihn gegen die Klippen jagte. Er mobilisierte die letzten Kräfte. Als es den Saurier wieder hob, schaffte Clayton einen Blick auf den Windmesser. Davon wurde ihm noch schlechter. Er war erledigt, hatte es hinter sich, konnte es vergessen. Wie konnte man erwarten, einen Dreihunderteins-Stundenkilometer-Sturm zu überstehen? Das war zuviel für einen Menschen. - 119 -
Es war – dreihunderteins Stundenkilometer? Das bedeutete, der Wind ließ nach! Er konnte es erst gar nicht fassen. Aber langsam und gleichmäßig senkte sich die Anzeige des Windmessers. Bei zweihundertachtzig Stundenkilometern hörte der Saurier auf zu bocken und lag ruhig an seiner Ankerkette. Bei zweihundertsechsunddreißig wurde der Wind böig – ein sicheres Zeichen, daß der Sturm zu Ende ging. Als der Windmesser sich zweihundertzehn Stundenkilometern näherte, erlaubte Clayton sich den Luxus, in Ohnmacht zu versinken. Später am Tag kamen carellanische Eingeborene zu ihm heraus. Geschickt manövrierten sie ihre beiden großen Überlandschiffe neben den Saurier, befestigten ihre langen Taue aus Pflanzenfasern – die sich stärker als Stahl erwiesen – daran und schleppten das Wrack zurück zur Station. Sie brachten ihn in den Schuppen, und Nerischev trug ihn in die »tote Luft« der Station zurück. »Du hast dir nicht mehr gebrochen als ein paar Zähne«, sagte Nerischev. »Aber du hast keine zwei Zentimeter ohne blaue Flecken am Körper.« »Wir haben es jedenfalls überstanden«, knurrte Clayton. »Gerade noch. Unsere Felssperre ist völlig flachgewalzt. Die Station hat zwei direkte Treffer erhalten, die von der Kuppel gerade noch abgewehrt wurden. Ich habe das Fundament untersucht. Die Kuppelverankerung hält nicht mehr viel aus. Noch so ein Wind und …« »… und den schaffen wir auch. Wir Erdenjungs, wir packen es. Das war das Schlimmste in acht Monaten. Vier - 120 -
Monate noch, und das Ablöseschiff ist da! Kopf hoch, Nerischev, komm mit.« »Wohin gehen wir?« »Ich will mich mit diesem verdammten Smannik unterhalten!« Sie suchten den Schuppen auf. Er war mit Carellanern nahezu überfüllt. Im Lee der Station ankerten inzwischen mehrere Dutzend Überlandschiffe. »Smannik!« rief Clayton. »Was ist denn hier los?« »Es ist das große Sommerfest«, antwortete Smannik. »Unsere jährliche Freudenfeier.« »Hmmm. Dieser Wind eben? Was hältst du davon?« »Ich würde ihn als eine frische Brise einordnen«, meinte Smannik, »nichts Gefährliches, aber die steifen Böen vorhin sind unangenehm beim Segeln.« »Unangenehm! Ich hoffe, deine Vorhersagen sind in Zukunft etwas präziser.« »Man kann sich nie ganz auf das Wetter verlassen«, meinte Smannik. »Trotzdem bedaure ich tief, daß gerade meine letzte Vorhersage sich als falsch erwiesen hat.« »Deine letzte? Wie das? Was ist los?« »Diese Leute«, erklärte Smannik und deutete mit seinen Tentakeln in die Runde, »sind mein ganzer Stamm, die Seremai. Wir haben gerade das Sommerfest gefeiert. Nun ist der Sommer zu Ende, und wir müssen fortziehen.« »Wohin fahrt ihr?« »Zu den Höhlen im fernen Westen. Von hier aus segelt man zwei Wochen dorthin. Wir werden uns in die Höhlen - 121 -
zurückziehen und dort drei Monate leben. So sind wir für den Rest des Jahres in Sicherheit.« Clayton spürte eine eigenartige Beklemmung im Magen. »In Sicherheit vor was, Smannik?« »Wie ich dir erzählt habe, ist der Sommer nun vorbei. Wir brauchen jetzt Schutz vor dem Wind, den mächtigen Sturmwinden des Winters.« »Was erzählt er?« wollte Nerischev wissen. »Einen Augenblick.« Clayton dachte schnell über den Superhurrican nach, den er gerade überlebt hatte und den Smannik als steife, aber harmlose Böen klassifizierte. Er dachte an ihre Unbeweglichkeit, den zerstörten Saurier, die angeschlagenen Fundamente der Station, die niedergewalzte Felsensperre, die vier Monate bis zum Ablöseschiff. »Wir könnten mit euch auf den Landschiffen reisen, Smannik, und ebenfalls in den Höhlen Zuflucht suchen, um geschützt zu sein …« »Gerne«, sagte Smannik gastfreundlich. »Nein, das können wir nicht«, sagte Clayton sich selbst und spürte, daß sein Mut noch tiefer sank als während des Sturms. »Wir brauchen zusätzlichen Sauerstoff, unsere eigene Nahrung, einen Wasservorrat …« »Was ist nun?« drängte Nerischev ungeduldig. »Was, zum Teufel, hat er gesagt, daß du mich so ansiehst?« »Er sagt, die richtigen Stürme gibt es erst in den nächsten Monaten«, wiederholte Clayton. Die beiden Männer starrten sich an. Draußen kam Wind auf. - 122 -
Am Morgen danach
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Langsam und widerwillig kam Piersen zu sich. Er lag auf dem Rücken, die Augen fest geschlossen, und versuchte, das unvermeidliche Erwachen hinauszuzögern. Doch das Bewußtsein kehrte zurück und brachte Empfindungen mit sich. Seine Augäpfel schmerzten wie von Nadelstichen, und sein Hinterkopf begann zu pochen wie ein riesiges Herz. Seine Glieder schienen zu brennen, und sein Magen war ein tiefer Brunnen der Übelkeit. Die Erkenntnis, daß er unter dem absoluten König und Kaiser aller Kater litt, bedeutete keine Erleichterung für ihn. In bezug auf Kater verfügte Piersen über beachtliche Erfahrungen. Er hatte in seinem Leben die meisten von ihnen kennengelernt – das Alkohol-Zittern, die Miniscarette-Depressionen, die Nervenschmerzen durch DreifachSkliti. Aber dieser Kater war eine Kombination und Intensivierung von ihnen allen, und um das Maß voll zu machen, kamen noch Heroin-Entzugserscheinungen hinzu. Was hatte er letzte Nacht getrunken? Und wo? Er versuchte, sich zu erinnern, doch die vergangene Nacht war, wie so viele Nächte in seinem Leben, konturlos und verschwommen. Wie üblich würde er sie Stück für Stück rekonstruieren müssen. Nun gut, entschied er, es war an der Zeit, mannhaft zu sein. An der Zeit, die Augen zu öffnen, aus dem Bett zu steigen und tapfer zum Arzneischrank zu gehen. Ein Schuß Dichloral in die Vene sollte ihn eigentlich wieder auf Trab bringen. - 124 -
Piersen öffnete die Augen und machte Anstalten, aus dem Bett zu steigen. Dann erkannte er, daß er nicht im Bett war. Er lag in hohem Gras, unter einem grell-weißen Himmel, und der Geruch verfaulender Vegetation drang ihm in die Nase. Er stöhnte und schloß seine Augen wieder. Das war zuviel. Er mußte letzte Nacht tatsächlich eingekocht, geröstet und gut durchgebraten worden sein. Noch nicht mal bis nach Hause hatte er es geschafft. Anscheinend war er im Central Park zusammengeklappt. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als sich auf die Socken zu machen und sich zusammenzureißen, bis er seine Wohnung erreicht hatte. Unter großen Mühen öffnete er die Augen und erhob sich. Er stand in hohem Gras. In seiner Umgebung befanden sich, so weit er sehen konnte, riesige Bäume mit orange Stämmen. An den Bäumen rankten sich purpurrote und grüne Schlingpflanzen empor, von denen manche so dick wie sein Körper waren. Hinter den Bäumen war ein undurchdringlich dichter, wilder Dschungel aus Farnen, Sträuchern, giftig gelben Orchideen, schwarzen Kletterpflanzen und vielen unidentifizierbaren Gewächsen von ominöser Gestalt und Färbung. In diesem dichten Dschungel hörte er das Geschnatter und Gequiek kleiner Geschöpfe und das ferne, grollende Brüllen eines wilden Tieres. »Das ist nicht der Central Park«, teilte Piersen sich selbst mit. - 125 -
Er sah sich um und beschattete dabei die Augen gegen den grellen, sonnenlosen Himmel. »Ich glaube, das ist noch nicht einmal die Erde«, sagte er. Er war erstaunt und erfreut über seine Ruhe. Würdevoll setzte er sich in das hohe Gras und fuhr fort, sich seine Situation vor Augen zu führen. Er hieß Walter Hill Piersen. Er war 32 Jahre alt, ein Bewohner von New York City. Er war ein voll anerkannter Wähler, ein ehrbarer Arbeitsloser, und es ging ihm relativ gut. Am vergangenen Abend hatte er um viertel nach sieben seine Wohnung mit der Absicht verlassen, auf eine Party zu gehen. Es mußte ein schöner Abend gewesen sein. Ja, ein schöner Abend, sagte sich Piersen. Irgendwann während dieses Abends hatte er offensichtlich einen Blackout erlitten. Doch anstatt im Bett oder wenigstens im Central Park, war er am Rand eines dichten und übelriechenden Dschungels aufgewacht. Und darüber hinaus war er sicher, daß sich dieser Dschungel nicht auf der Erde befand. Das war eine gute Zusammenfassung seiner Lage, sagte sich Piersen. Er sah die riesigen orange Bäume, die purpurroten und grünen Schlingpflanzen, die sich an ihnen emporrankten, und das herabströmende grellweiße Sonnenlicht. Und endlich drang durch sein umnebeltes Hirn, daß dies alles real war. Er schrie vor Entsetzen, barg das Gesicht in den Händen und fiel in Ohnmacht.
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Als er das nächste Mal das Bewußtsein wiedererlangte, war sein Kater größtenteils verschwunden und hinterließ lediglich einen schlechten Geschmack im Mund und ein allgemeines Schwächegefühl. Piersen entschied sich dafür, auf der Stelle dem Alkohol abzuschwören – hatte er doch vorhin schon angefangen, Halluzinationen zu bekommen, über orangefarbene Bäume und purpurrote Schlingpflanzen, in einem fremdartigen Dschungel. Jetzt stocknüchtern, öffnete er die Augen und sah, daß er in einem fremdartigen Dschungel war. »Also gut!« rief er. »Was hat das alles zu bedeuten?« Er erhielt nicht sofort Antwort. Dann erhob sich in den umliegenden Bäumen ein gewaltiges Geschnatter unsichtbaren tierischen Lebens und verebbte langsam. Zitternd stand Piersen auf und lehnte sich gegen einen Baum. Er hatte so heftig auf die Situation reagiert, daß ihn nun nichts mehr erschüttern konnte. Er war also in einem Dschungel. In Ordnung – und was tat er hier? Er hatte keine Ahnung. Letzte Nacht mußte offenbar etwas Ungewöhnliches geschehen sein. Aber was? Mühsam versuchte er, die Geschehnisse des Abends zu rekonstruieren. Er hatte seine Wohnung um viertel nach sieben verlassen und war … Er wirbelte herum. Etwas kam auf ihn zu, bewegte sich leise durchs Unterholz. Piersen wartete mit pochendem Herzen. Es kam näher, bewegte sich vorsichtig, schnüffelte und stöhnte gedämpft. Dann teilte sich das Unterholz, und die Kreatur trat ins Freie. - 127 -
Sie war ungefähr drei Meter lang; ein stromlinienförmiges, blauschwarzes Tier, das wie ein Torpedo oder ein Hai geformt war, und sich ihm auf vier Paaren dicker, stummeliger Beine näherte. Es schien keine äußeren Augen oder Ohren zu besitzen, aber auf seinem abgerundeten Kopf vibrierten lange Fühler. Als es seinen langen, nach hinten versetzten Unterkiefer öffnete, sah Piersen gelbe Zahnreihen. Leise stöhnend kam die Kreatur auf ihn zu. Obwohl er noch nie ein solches Untier gesehen, oder davon geträumt hatte, bezweifelte Piersen doch keine Sekunde seine Gefährlichkeit. Er drehte sich um und sprintete in den Dschungel. Fünfzehn Minuten lang rannte er durch das Unterholz. Dann zwang seine völlige Erschöpfung ihn, stehenzubleiben. Weit weg konnte er die blauschwarze Kreatur stöhnen hören, während sie ihm folgte. Piersen setzte sich wieder in Bewegung, ging jetzt. Nach dem Stöhnen der Kreatur zu urteilen, konnte sie sich nicht besonders schnell bewegen. Er war in der Lage, seinen Vorsprung gehend zu halten. Doch was würde geschehen, wenn er stehenblieb? Was waren die Absichten des Wesens ihm gegenüber? Und konnte es auf Bäume klettern? Er entschied, darüber jetzt nicht nachzudenken. Die erste Frage, der Schlüssel zu allen anderen Fragen, war: Was tat er hier? Was war letzte Nacht mit ihm geschehen? Er konzentrierte sich. Er hatte seine Wohnung um viertel nach sieben - 128 -
verlassen und war spazierengegangen. Die New Yorker Klimatologen hatten, auf allgemeinen Wunsch, einen angenehm dunstigen Abend produziert, mit einem kreativen Hauch von Regen, der natürlich niemals genau auf die Stadt fallen würde. Das macht das Spazierengehen angenehm. Er ging die Fifth Avenue hinunter, sah sich die Schaufensterauslagen an und notierte sich die Gratistage, die die Geschäfte anboten. Er bemerkte, daß Baimlers Warenhaus am kommenden Mittwoch von sechs bis neun Uhr morgens einen Gratistag hatte. Eigentlich sollte er von seinem Stadtrat einen Sonderpaß bekommen. Sogar damit würde er früh aufstehen und in der Bevorrechtigtenschlange stehen müssen. Aber das war immer noch besser, als zu bezahlen. Nach einer halben Stunde war er angenehm hungrig. Es gab mehrere gute kommerzielle Restaurants in der Nähe, aber er hatte einfach kein Geld. Also ging er in die vierundfünfzigste Straße, zum Courtray Gratis-Restaurant. Am Eingang zeigte er seine Stimmkarte und seinen Sonderpaß, der von Courtrays drittem Assistenz-Sekretär unterzeichnet war, und wurde eingelassen. Er bestellte ein einfaches Filet-Mignon-Dinner und trank dazu einen milden Rotwein, da dort keine stärkeren Getränke serviert wurden. Sein Kellner brachte ihm die Abendzeitung. Piersen überflog die Gratisunterhaltungs-Angebote, fand aber nichts, das ihm zusagte. Als er im Begriff war, zu gehen, eilte der Manager des Restaurants auf ihn zu. - 129 -
»Verzeihen Sie, Sir«, sagte der Manager. »War alles zu Ihrer Zufriedenheit, Sir?« »Die Bedienung war langsam«, sagte Piersen. »Das Filet war zwar genießbar, aber nicht von wirklich erster Qualität. Der Wein war passabel.« »Ja, Sir – danke, Sir – entschuldigen Sie vielmals, Sir«, sagte der Manager und trug Piersens Kommentar in ein kleines Notizbuch ein. »Wir werden versuchen, das zu verbessern, Sir. Ihr Dinner war eine kleine Aufmerksamkeit des Ehrenwerten Blake Courtray, Leiter der New Yorker Wasserwerke. Mr. Courtray steht am 22. November zur Wiederwahl. Reihe J3 in Ihrer Wahlkabine. Wir bitten ergebenst um Ihre Stimme, Sir.« »Wir werden sehen«, sagte Piersen und verließ das Restaurant. Auf der Straße nahm er eine Souvenirpackung Zigaretten, die eine Musik machende Werbemaschine für Elmar Baine verteilte, einen weniger bedeutenden BrooklynPolitiker. Er ging wieder die Fifth Avenue entlang und dachte über Blake Courtray nach. Wie jeder anerkannte Bürger maß Piersen seiner Stimme großen Wert bei und gewährte sie nur nach reiflichen Überlegungen. Wie alle Wähler prüfte er sorgfältig die Eignung eines Kandidaten, ehe er für oder gegen ihn stimmte. Für Courtray sprach, daß er fast ein Jahr lang ein gutes Restaurant unterhalten hatte. Doch was hatte er sonst getan? Wo waren die Jazzkonzerte, die er versprochen hatte, und das Gratisunterhaltungs-Center? - 130 -
Die Knappheit öffentlicher Mittel war keine ausreichende Entschuldigung. Würde ein neuer Mann mehr tun? Oder sollte man Courtray wiederwählen? Diese Fragen wollten gründlich überlegt sein, dachte Piersen. Und jetzt war nicht die Zeit für ernsthaftes Nachdenken. Die Nächte waren zum Vergnügen, Trinken und Lachen da. Was sollte er an diesem Abend unternehmen? Die meisten Gratis-Shows hatte er schon gesehen. Sportveranstaltungen interessierten ihn nicht besonders. Es wurden mehrere Partys gegeben, aber sie hörten sich nicht sehr amüsant an. Mädchen gab es im Open House des Bürgermeisters, doch Piersens Appetit hatte in letzter Zeit nachgelassen. Also konnte er sich nur noch betrinken, was die sicherste Möglichkeit war, einem langweiligen Abend zu entrinnen. Was sollte er wählen? Miniscarette? Ein KontaktrauschGetränk? Skliti? »Hey, Walt!« Er drehte sich um. Billie Benz kam auf ihn zu. Er grinste breit und war schon halb betrunken. »Hallo Walt, altes Haus!« sagte Benz. »Schon was vor heut' abend?« »Nichts Besonderes, warum?« fragte Piersen. »Da hat ein neuer Schuppen aufgemacht. Ein toller, brillanter, aufregender neuer Schuppen. Mal reinschauen?« Piersen runzelte die Stirn. Er mochte Benz nicht. Der große, laute, rotgesichtige Mann war ein Drückeberger durch und durch, ein vollkommen nichtsnutziger Mensch. - 131 -
Die Tatsache, daß Benz keinen Beruf hatte, störte Piersen nicht. Kaum jemand arbeitete noch. Warum arbeiten, wenn man wählen gehen kann? Aber Benz war sogar zu faul zum Wählen. Und das, fand Piersen, war einfach zuviel. Das Wählen war die Pflicht und der Lebensunterhalt eines jeden Bürgers. Dennoch, Benz hatte ein unheimliches Talent, neue Schuppen aufzustöbern, ehe irgend jemand sonst sie fand. Piersen zögerte, dann fragte er: »Ist er gratis?« »So gratis wie Seife«, sagte Benz, unoriginell wie immer. »Und was läuft da?« »Nun, Freund, komm mit, und ich erzähl's dir …« Piersen wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Der Dschungel war totenstill geworden. Er hörte das blauschwarze Tier nicht mehr im Unterholz stöhnen. Vielleicht hatte es die Verfolgung aufgegeben. Sein Ausgeh-Anzug hing in Fetzen. Piersen zog das Jackett aus und knöpfte sein Hemd bis zum Bauch auf. Die Sonne, die irgendwo hinter dem leblos-weißen Himmel verborgen war, brannte herab. Er war in Schweiß gebadet, und seine Kehle war ausgetrocknet. Er würde bald Wasser brauchen. Seine Lage wurde gefährlich. Aber Piersen weigerte sich, darüber jetzt nachzudenken. Er mußte erst wissen, warum er hier war, ehe er einen Ausweg finden konnte. In welchen tollen, brillanten neuen Schuppen war er mit - 132 -
Billie Benz gegangen? Er lehnte sich gegen einen Baum und schloß die Augen. Langsam kehrte die Erinnerung zurück. Sie waren auf der 62. Straße nach Osten gegangen und dann … Er hörte ein Rascheln im Unterholz und blickte schnell auf. Die blauschwarze Kreatur kroch leise hervor. Ihre langen Antennen zitterten, dann richteten sie sich auf ihn. Sofort spannte sich die Kreatur und sprang. Piersen reagierte instinktiv und wich ihr aus. Die Kreatur verfehlte ihn mit ausgestreckten Klauen, wirbelte herum und sprang erneut. Aus dem Gleichgewicht geraten, konnte Piersen sich nicht rechtzeitig ducken. Er ließ beide Arme vorschnellen, und das haiförmige Tier krachte gegen ihn. Der Zusammenprall warf Piersen gegen einen Baum. Verzweifelt umklammerte er den breiten Hals des Untieres und versuchte, das schnappende Maul von seinem Gesicht fernzuhalten. Er verstärkte seinen Griff, versuchte, das Tier zu erwürgen, doch er hatte nicht genug Kraft in den Fingern. Die Kreatur drehte und wand sich, ihre Tatzen scharrten über den Boden. Piersens Arme begannen, unter dem Druck einzuknicken. Die schnappenden Kiefer näherten sich bis auf wenige Zentimeter seinem Gesicht. Eine lange, schwarz gepunktete Zunge züngelte hervor – Von Ekel gepackt, schleuderte Piersen die stöhnende Kreatur von sich. Ehe sie sich wieder erholen konnte, packte er zwei Schlingpflanzen und zog sich auf einen Baum hinauf. Von Panik getrieben, kletterte er von Ast zu Ast an dem - 133 -
glatten Stamm empor. Dreißig Fuß über dem Boden blickte er nach unten. Das blauschwarze Ding folgte ihm, als sei es auf Bäumen zu Hause. Piersen kletterte weiter; sein ganzer Körper begann von der Anstrengung zu zittern. Der Stamm wurde jetzt dünner, und es gab nur noch wenige Äste, an die er sich klammern konnte. Als er sich dem Baumwipfel näherte, fünfzig Fuß über dem Boden, fing der ganze Baum an, unter Piersens Gewicht zu schwanken. Er blickte hinab und sah, wie sich zehn Fuß unter ihm die Kreatur weiter näherte. Piersen stöhnte. Er fürchtete, nicht noch höher klettern zu können. Doch die Angst verlieh seinem Körper Kraft. Er stieg hinauf bis zum letzten starken Ast, umklammerte ihn fest und zog beide Beine an. Als das Untier herankam, trat er mit beiden Füßen aus. Er traf den Körper voll. Die Klauen der Kreatur rissen sich mit einem lauten, schabenden Geräusch von der Rinde los. Sie fiel kreischend hinab, krachte durch die überhängenden Zweige und landete schließlich mit einem dumpfen Aufschlag auf dem Boden. Dann war es still. Das Geschöpf war vermutlich tot, dachte Piersen. Aber er würde nicht hinabsteigen, um nachzusehen. Keine Macht der Erde – oder irgendeines anderen Planeten in der Galaxis – konnte ihn jetzt dazu bringen, freiwillig von diesem Baum herunterzuklettern. Er würde bleiben, wo er war, bis er sich richtig erholt hatte und bereit für den Abstieg war. - 134 -
Er glitt ein paar Fuß hinab, bis er zu einem großen, gegabelten Ast gelangte. Hier war ein sicherer Sitzplatz für ihn. Als er sich zurechtgesetzt hatte, merkte er, wie nahe er einem Kollaps war. Die Sauferei der vergangenen Nacht hatte ihn ertränkt; die Anstrengungen des heutigen Tages trockneten ihn aus. Wenn ihn jetzt etwas Größeres als ein Eichhörnchen angriff, war es vorbei. Er stützte seine bleischweren Glieder gegen den Baum, schloß die Augen und fuhr fort, die Ereignisse der letzten Nacht zu rekonstruieren. »Nun, Freund«, hatte Billie Benz gesagt, »komm mit, und ich erzähl's dir. Noch besser, ich werde es dir zeigen.« Sie gingen auf der 62. Straße nach Osten, während die tiefblaue Abenddämmerung sich zur Nacht verdunkelte. Manhattans Lichter gingen an, Sterne erschienen am Horizont, und ein zunehmender Mond leuchtete durch einen dünnen Dunstschleier. »Wohin gehn wir?« fragte Piersen. »Sind schon da, Partner«, sagte Benz. Sie standen vor einem kleinen Gebäude aus braunem Sandstein. Auf einem diskreten Messingschild an der Tür stand NARKOLIKA. »Ein neuer Gratisdrogen-Salon«, sagte Benz. »Er ist erst heute abend von Thomas Moriarty eröffnet worden, dem Bürgermeisterkandidaten der Reformer. Niemand hat bis jetzt davon erfahren.«
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»Großartig!« sagte Piersen. Es gab eine Menge Gratisveranstaltungen in der Stadt. Das einzige Problem war, sie zu finden, ehe der Massenandrang begann, denn beinahe jeder war auf der Suche nach neuen Vergnügungen. Vor vielen Jahren hatte das zentrale Eugenische Komitee der Regierung der Vereinten Welt die Weltbevölkerung bei einer vernünftigen Anzahl stabilisiert. In tausend Jahren hatte es nicht so wenige Menschen auf der Erde gegeben, und niemals war so gut für sie gesorgt worden. Unterwasser-Ökologie, Hydrokulturen und volle Nutzung der Erdoberfläche machten Nahrung und Kleidung reichlich verfügbar – tatsächlich gab es sogar ein Überangebot. Der Wohnungsbau für eine kleine, gleichbleibende Bevölkerung war kein Problem, dank vollautomatischer Bauverfahren und einem Überfluß an Materialien. Selbst Luxusgüter waren kein Luxus. Es war eine sichere, stabile, statische Kultur. Jene wenigen, die forschten, produzierten und die Maschinen bedienten, erhielten reichen Lohn. Doch die meisten Menschen hatten einfach keine Lust zu arbeiten. Es bestand kein Bedarf und kein Anreiz. Natürlich gab es einige ehrgeizige Männer, die vom Verlangen nach Reichtum, Einfluß und Macht getrieben wurden. Sie gingen in die Politik. Sie warben um Stimmen, indem sie den Pöbel ihres Distrikts aus reichlich vorhandenen öffentlichen Geldern ernährten, einkleideten und unterhielten. Und sie verfluchten die wankelmütigen Wähler, wenn diese sich anderen Politikern zuwandten, die noch größere Versprechungen machten. - 136 -
Es war so eine Art Utopia. Armut war vergessen, Kriege gab es schon lange nicht mehr, und jedermann hatte die Garantie eines langen, sorglosen Lebens. Es konnte allein menschliche Undankbarkeit sein, daß die Selbstmordrate so schockierend hoch war. Benz zeigte seine Pässe an der Tür, die sich sofort öffnete. Über einen Flur gelangten sie in ein großes, komfortabel möbliertes Wohnzimmer. Drei Männer und eine Frau, die ersten, die von der Neueröffnung gehört hatten, saßen bequem auf Sofas und rauchten blaßgrüne Zigaretten. Es lag ein angenehm unangenehm prickelnder Geruch in der Luft. Ein Diener' trat vor und führte sie zu einem freien Diwan. »Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause, Gentlemen«, sagte er. »Zünden Sie sich eine Narkola an, und vergessen Sie all Ihre Sorgen.« Er gab jedem von ihnen eine Packung mit blaßgrünen Zigaretten. »Was ist das für ein Zeug?« fragte Piersen. »Narkola-Zigaretten«, erklärte ihnen der Diener, »sind eine auserlesene Mischung türkischer und Virginia-Tabake, mit einer genau dosierten Beimischung von Narkola, einer berauschenden Pflanze, die im äquatorialen Gürtel der Venus wächst.« »Venus?« fragte Benz. »Ich wußte gar nicht, daß wir die Venus erreicht haben.« »Vor vier Jahren, Sir«, sagte der Diener. »Die YaleExpedition machte die erste Landung und richtete einen Stützpunkt ein.« - 137 -
»Ich glaube, ich habe etwas darüber gelesen«, sagte Piersen. »Oder in der Wochenschau gesehen. Venus. Ein unwirtlicher, dschungliger Ort, nicht wahr?« »Ziemlich unwirtlich«, sagte der Diener. »Das dachte ich mir«, sagte Piersen. »Muß schwierig sein, dort zu überleben. Macht dieses Narkola süchtig?« »Nicht im geringsten, Sir«, versicherte ihm der Diener. »Narkola hat den Effekt, den Alkohol eigentlich haben sollte, aber selten hat – schöne, erhebende Gefühle, Glücklichsein, lang anhaltende Wirkung, kein Kater. Dies ist eine kleine Aufmerksamkeit von Thomas Moriarty, dem Bürgermeisterkandidaten der Reformer. Reihe A2 in Ihrer Wahlkabine, Gentlemen. Wir bitten ergebenst um Ihre Stimme.« Beide Männer nickten und zündeten sich Zigaretten an. Piersen spürte die Wirkung beinahe sofort. Nach der ersten Zigarette war er entspannt, entrückt und hatte ein starkes Vorgefühl auf kommende Freuden. Die zweite steigerte diese Effekte und produzierte neue. Seine Sinne wurden wunderbar scharf. Die Welt schien ihm ein herrlicher Ort zu sein, ein Ort voller Hoffnung und Wunder. Und er selbst wurde ein vitaler und notwendiger Teil davon. Benz knuffte ihn in die Seite. »Tolle Sache, was?« »Große Klasse«, sagte Piersen. »Dieser Moriarty muß ein guter Mann sein. Die Welt braucht gute Männer.« »Richtig«, stimmte Benz zu. »Und gescheite Männer.« »Tapfere, kühne, weitblickende Männer«, fuhr Piersen mit Nachdruck fort. »Männer wie uns, Kumpel, um die Zukunft zu formen und –« Er brach plötzlich ab. - 138 -
»Was'n los?« fragte Benz. Piersen antwortete nicht. Durch einen glücklichen Zufall, den alle Trinker kennen, hatte sich die Wirkung der Droge plötzlich umgekehrt. Er hatte sich göttergleich gefühlt. Jetzt aber sah er mit der Schärfe eines Betrunkenen sich selbst, wie er wirklich war. Er war Walter Hill Piersen, 32, unverheiratet, unbeschäftigt, unnütz. Als er achtzehn war, hatte er einen Job angenommen, um seinen Eltern einen Gefallen zu tun. Aber nach einer Woche hatte er ihn aufgegeben, weil er ihn langweilte und er früh aufstehen mußte. Er hatte einmal in Erwägung gezogen, zu heiraten, doch die Verantwortung für eine Frau und eine Familie erschreckte ihn. Er war fast dreiunddreißig, dünn, schlaff und blaß. Er hatte nie irgend etwas getan, das für ihn selbst oder sonst irgendwen von der geringsten Bedeutung war, und würde auch nie etwas tun. »Erzähl's doch deinem Kumpel, Kumpel«, sagte Benz. »Will große Sachen machen«, murmelte Piersen und zog an seiner Zigarette. »Willst du das, Kumpel?« »Genau, verdammt! Will'n Abenteurer sein!« »Warum hast du das nicht gleich gesagt? Das arrangier ich für dich!« Benz sprang auf und zerrte Piersen am Arm. »Los, komm!« »Was willst du?« Piersen versuchte, Benz wegzustoßen. Er wollte einfach nur dasitzen und sich schrecklich fühlen. Doch Benz zog ihn auf die Füße. »Ich weiß, was du brauchst, Kumpel«, sagte Benz. - 139 -
»Abenteuer, Aufregung! Ich weiß den richtigen Ort dafür!« Piersen runzelte nachdenklich die Stirn und stand schwankend auf den Füßen. »Komm näher«, sagte er zu Benz. »Muß dir was flüstern.« Benz beugte sich vor. Piersen flüsterte: »Will Abenteuer – aber will nicht, daß mir was passiert. Kapiert?« »Kapiert«, versicherte Benz ihm. »Ich weiß genau, was du willst. Gehn wir! Abenteuer liegen vor uns! Sichere Abenteuer!« Arm in Arm, ihre Narkola-Päckchen umklammernd, taumelten sie aus dem Drogensalon des ReformKandidaten. Ein leichter Wind war aufgekommen und ließ den Baum, in dem Piersen sich festklammerte, hin und her schwingen. Er wehte über Piersens heißen, feuchten Körper und kühlte ihn plötzlich. Seine Zähne begannen zu klappern, und seine Arme schmerzten vom Umklammern des glatten Astes. Seine ausgetrocknete Kehle fühlte sich an, als sei sie mit feinem, heißem Sand belegt. Der Durst war unerträglich. Wenn nötig hätte er sich für einen Schluck Wasser jetzt mit einem Dutzend blauschwarzer Kreaturen angelegt. Langsam kletterte er von dem Baum hinab, seine undeutlichen Erinnerungen an die vergangene Nacht sortierend. Er mußte herausbekommen, was geschehen war, aber zuerst brauchte er Wasser. Auf dem Boden sah er die blauschwarze Kreatur; ihr Rückgrat war gebrochen, sie lag regungslos unter dem - 140 -
Baum. Er ging an ihr vorbei und schob sich in den Dschungel. Er schleppte sich vorwärts, stunden- oder tagelang, verlor unter dem grellen, unveränderlich weißen Himmel jedes Zeitgefühl. Das Dickicht riß an seiner Kleidung, und Vögel kreischten warnende Signale, während er voranstolperte. Er nahm von nichts Notiz, seine Augen waren glasig und seine Beine zittrig. Er fiel hin, rappelte sich auf und ging weiter, fiel wieder und wieder. Wie ein Roboter arbeitete er sich voran, bis er zufällig auf einen schmalen, schmutzig-braunen Wasserlauf stieß. Ohne einen Gedanken an die gefährlichen Bakterien, die darin enthalten sein konnten, zu verschwenden, legte Piersen sich auf den Bauch und trank. Nach einer Weile ruhte er sich aus und betrachtete seine Umgebung. Dicht um ihn herum waren die Wände des Dschungels – leuchtend, dicht, fremdartig. Der Himmel über ihm war grellweiß, nicht heller oder dunkler als zuvor. Und kleine, unsichtbare Lebewesen schirpten und quiekten im Unterholz. Es war ein sehr einsamer Ort, dachte Piersen, und ein sehr gefährlicher. Er wollte weg von hier. Doch welcher Weg führte hinaus? Gab es hier irgendwelche Städte, irgendwelche Menschen? Und wenn ja, wie sollte er sie in diesem weglosen Brachland jemals finden? Und was tat er hier? Er rieb sich das unrasierte Kinn und versuchte, sich zu erinnern. Die letzte Nacht schien eine Million Jahre her zu sein und zu einem völlig anderen Leben zu gehören. New - 141 -
York war wie eine Stadt in einem Traum. Dieser Dschungel war für ihn die einzige Realität, und der Hunger, der in seinem Bauch rumorte, und das eigenartige Surren, das gerade begonnen hatte. Er sah sich um und versuchte, die Quelle dieses Geräusches zu lokalisieren. Es schien von allen Seiten zu kommen, von überall und nirgends. Piersen ballte die Fäuste und starrte umher, bis seine Augen schmerzten; er versuchte, die neue Gefahr ausfindig zu machen. Dann bewegte sich in seiner Nähe ein leuchtend grüner Strauch. Angsterfüllt sprang Piersen beiseite. Der ganze Strauch zitterte, und seine dünnen, hakenförmigen Blätter erzeugten ein surrendes Geräusch. Dann – Die Pflanze blickte ihn an. Sie hatte keine Augen. Aber Piersen konnte spüren, daß die Pflanze ihn bemerkte, sich auf ihn konzentrierte, eine Entscheidung traf. Der Strauch surrte lauter. Seine Zweige streckten sich in Piersens Richtung, berührten den Boden, schlugen Wurzeln und sandten Ranken aus, die wuchsen, Wurzeln schlugen und neue Ranken aussandten. Die Pflanze wuchs auf ihn zu und bewegte sich dabei mit der Geschwindigkeit eines langsam gehenden Mannes. Piersen starrte auf die scharfen, glitzernden, hakenförmigen Blätter, die sich nach ihm ausstreckten. Er konnte es nicht glauben, und doch mußte er es glauben. Und dann fielen ihm die restlichen Ereignisse der vergangenen Nacht ein. - 142 -
»Wir sind da, Partner«, sagte Benz und ging in ein hell erleuchtetes Gebäude an der Madison Avenue. Er geleitete Piersen zum Aufzug. Sie fuhren hinauf zum dreiundzwanzigsten Stock und traten in ein großes, helles Vorzimmer. Auf einem diskreten Schild an der Wand stand ABENTEUER OHNE GRENZEN. »Ich habe von diesem Ort gehört«, sagte Piersen und zog tief an seiner Narkola-Zigarette. »Er gilt als teuer.« »Mach' dir deswegen keine Sorgen«, sagte Benz zu ihm. Eine blonde Empfangsdame notierte ihre Namen und führte sie zum Privatbüro des Action-Beraters Dr. Srinagar Jones. »Guten Abend, Gentlemen«, sagte Jones. Er war schmächtig, dünn und trug eine Brille mit dicken Gläsern. Piersen fiel es schwer, ein Kichern zu unterdrücken. Das war ein Action-Berater? »Die Herren wünschen also Abenteuer?« fragte Jones freundlich. »Er will Abenteuer«, sagte Benz. »Ich bin nur ein Freund von ihm.« »Natürlich. Also gut, Sir«, sagte Jones und wandte sich Piersen zu, »an welche Art von Abenteuer hatten sie gedacht?« »Abenteuer in der Natur«, antwortete Piersen ein bißchen dumpf, aber von Selbstvertrauen erfüllt. »Genau das haben wir zu bieten«, sagte Jones. »Für gewöhnlich erheben wir eine Gebühr. Aber heute abend - 143 -
sind alle Abenteuer gratis, eine Aufmerksamkeit von Präsident Main. Reihe Cl in Ihrer Stimmkabine. Kommen Sie hier lang, Sir.« »Augenblick. Ich will nicht getötet werden, wissen sie. Ist dieses Abenteuer sicher?« »Völlig sicher. Eine andere Art von Abenteuer würde heutzutage überhaupt nicht zugelassen. Folgendermaßen geht es vor sich: Sie machen es sich auf einem Bett in unserem Abenteuer-Zimmer bequem und erhalten eine schmerzfreie Injektion. Diese verursacht sofortige Bewußtlosigkeit. Dann erzeugen wir mit Hilfe sorgfältig ausgewählter künstlicher Sinnesreize ein Abenteuer in Ihrem Kopf.« »Wie ein Traum?« fragte Piersen. »Damit läßt es sich am besten vergleichen. Der Inhalt dieses Traumabenteuers ist vollkommen realistisch. Sie erfahren tatsächliche Schmerzen, tatsächliche Emotionen. Es läßt sich durch nichts von der Wirklichkeit unterscheiden. Außer natürlich dadurch, daß es ein Traum ist, und deswegen völlig ungefährlich.« »Was passiert, wenn ich in dem Abenteuer getötet werde?« »Genau das gleiche wie wenn Sie träumen, Sie würden getötet. Sie wachen auf, das ist alles. Aber während Sie sich in diesem ultra-realistischen, lebensecht farbigen Traum befinden, haben Sie Ihren freien Willen und die volle Kontrolle über Ihre Traum-Bewegungen.« »Weiß ich das alles während meines Abenteuers?« »Absolut. Während des Traumes wissen Sie genau, daß - 144 -
es sich um einen Traum handelt.« »Dann legen Sie los!« rief Piersen. »Fangen Sie an mit dem Traum!« Der leuchtend grüne Strauch wuchs langsam auf ihn zu. Piersen fing an zu lachen. Ein Traum! Natürlich, es war alles ein Traum! Nichts konnte ihm etwas anhaben. Der ihn bedrohende Strauch war reine Einbildung, genau wie das blauschwarze Tier. Selbst wenn die Kiefer der Bestie sich um seine Kehle geschlossen hätten, wäre er nicht getötet worden. Er wäre einfach im Abenteuer-Zimmer von ›Abenteuer ohne Grenzen‹ aufgewacht. Das ganze schien ihm jetzt lächerlich. Warum hatte er all das nicht früher erkannt? Das blauschwarze Ding war offenkundig ein Traumgebilde. Und der leuchtend grüne Strauch war einfach grotesk. Es war alles ziemlich albern und unglaubhaft, wenn man erst einmal richtig darüber nachdachte. Mit lauter Stimme sagte Piersen: »In Ordnung, Sie können mich jetzt aufwecken.« Nichts geschah. Dann erinnerte er sich, daß man nicht einfach geweckt wurde, wenn man es verlangte. Das hätte den Sinn des Abenteuers aufgehoben und die therapeutische Wirkung zunichte gemacht, die Aufregung und Furcht auf ein erschöpftes Nervensystem hatten. Er erinnerte sich jetzt. Die einzige Möglichkeit, ein Abenteuer zu verlassen, war alle Hindernisse zu überwinden. Oder, getötet zu werden. - 145 -
Die Pflanze hatte fast seinen Fuß erreicht. Piersen beobachtete sie, bewunderte ihr realistisches Aussehen. Sie verankerte eines ihrer hakenförmigen Blätter im Leder seines Schuhes. Piersen grinste, stolz darauf, wie er seine Furcht und seinen Ekel meisterte. Er brauchte sich bloß daran zu erinnern, daß das Ding ihm nichts anhaben konnte. Aber wie, fragte er sich, konnte jemand ein realistisches Abenteuer erleben, wenn er die ganze Zeit wußte, daß es nicht wirklich real war? ›Abenteuer ohne Grenzen‹ mußte das doch sicher in Betracht gezogen haben. Dann erinnerte er sich an das letzte, was Jones ihm gesagt hatte. Er hatte schon auf der weißen Liege gelegen, und Jones beugte sich gerade mit der fertigen Spritze über ihn. Piersen hatte gefragt: »Hör mal, Kamerad, wie kann ich ein Abenteuer erleben, wenn ich weiß, daß es nicht real ist?« »Dem ist Rechnung getragen worden«, hatte Jones gesagt. »Sehen Sie, Sir, einige unserer Kunden machen reale Abenteuer durch.« »Häh?« »Reale, tatsächliche, physische Abenteuer. Ein Kunde unter vielen erhält die Betäubungsinjektion, aber keine weiteren Traumreize. Er wird an Bord eines Raumschiffs gebracht und zur Venus geflogen. Dort wacht er auf und erlebt das in Wirklichkeit, was die anderen nur in ihrer Fantasie durchmachen. Wenn er es durchsteht, bleibt er am Leben.« »Und wenn nicht?« - 146 -
Jones hatte mit den Schultern gezuckt, geduldig mit erhobener Spritze wartend. »Das ist unmenschlich!« hatte Piersen geschrien. »Diese Meinung teilen wir nicht. Mr. Piersen, bedenken Sie den Bedarf nach Abenteuer in der heutigen Welt. Gefahr ist notwendig, um jene Schwächung des menschlichen Charakters auszugleichen, die das sorglose Leben der Rasse gebracht hat. Diese Fantasie-Abenteuer bieten Gefahr in der sichersten und angenehmsten Form. Aber sie wären völlig wertlos, wenn sie von demjenigen, der sie durchmacht, nicht ernst genommen würden. Für den Abenteurer muß die Möglichkeit bestehen, egal wie klein sie ist, daß er sich tatsächlich in einem Kampf auf Leben und Tod befindet.« »Aber diejenigen, die wirklich zur Venus gebracht werden –« »Ein unbedeutender Prozentsatz«, versicherte Jones ihm. »Weniger als einer unter zehntausend. Lediglich, um die Möglichkeit echter Gefahr für die anderen aufrechtzuerhalten.« »Aber ist es legal?« beharrte Piersen. »Völlig legal. Rein statistisch gesehen, ist es ein größeres Risiko, Miniscarette zu trinken oder Narkolas zu rauchen.« »Also«, sagte Piersen, »ich bin nicht ganz sicher, ob ich jetzt noch –« Die Nadel stach plötzlich in seinen Arm. »Es ist alles in bester Ordnung«, sagte Jones besänftigend. »Entspannen Sie sich einfach, Mr. Piersen …« - 147 -
Das war das letzte, woran er sich vor seinem Erwachen im Dschungel erinnerte. Der grüne Strauch hatte jetzt Piersens Knöchel erreicht. Ein schlankes, hakenförmiges Blatt glitt sehr langsam, sehr behutsam in Piersens Fleisch. Er spürte lediglich einen leichten Juckreiz. Nach einem Moment wurde das Blatt mattrot. Eine Blutsauger-Pflanze, dachte Piersen leicht amüsiert. Das ganze Abenteuer verlor für ihn plötzlich jeden Reiz. Es war von Anfang an eine verrückte Schnapsidee gewesen. Er hatte die Nase voll davon. Er wollte weg von hier, und zwar sofort. Der Strauch rückte näher heran und ließ zwei weitere hakenförmige Blätter in Piersens Bein gleiten. Die ganze Pflanze begann jetzt eine schmutzig rotbraune Farbe anzunehmen. Piersen wollte zurück nach New York, zurück zu Parties, zu Gratis-Essen und Gratis-Unterhaltung. Und er brauchte eine Menge Schlaf. Wenn er diese Gefahr zerstörte, würden neue auftauchen. Dies konnte tage- oder wochenlang so weitergehen. Der schnellste Weg nach Hause war, sich von dem Strauch töten zu lassen. Dann konnte er einfach aufwachen. Seine Kräfte schwanden. Er setzte sich hin und bemerkte, daß weitere Sträucher auf ihn zu wuchsen, angelockt vom Blutgeruch. »Es kann nicht real sein«, sagte er laut. »Niemand hat je von Blutsauger-Pflanzen gehört, nicht einmal auf der - 148 -
Venus!« Hoch über ihm kreisten geduldig große, schwarzflügelige Vögel, die warteten, bis der Leichnam ihnen gehörte. Konnte das real sein? Er erinnerte sich daran, daß es mit einer Wahrscheinlichkeit von zehntausend zu eins ein Traum war. Nur ein Traum. Ein lebendiger, realistischer Traum. Aber eben ein Traum. Trotzdem, angenommen, es war real? Der Blutverlust ließ ihn benommen und schwach werden. Er .dachte, ich will nach Hause. Der Weg nach Hause ist, zu sterben. Die Wahrscheinlichkeit meines tatsächlichen Todes ist so klein, so unendlich klein … Die Wahrheit wurde ihm schlagartig klar. In diesem Zeitalter würde niemand das Leben eines Wählers riskieren. ›Abenteuer ohne Grenzen‹ konnte keinen Menschen einer wirklichen Gefahr aussetzen! Jones hatte ihm bloß von dem einen unter zehntausend erzählt, um dem Fantasie-Abenteuer einen Hauch von Realität zu geben! Das mußte die Wahrheit sein. Er legte sich hin, schloß die Augen und bereitete sich darauf vor, zu sterben. Während er starb, trieben Gedanken durch seinen Kopf, alte Träume und Ängste und Hoffnungen. Er dachte an den einen Job, den er gehabt hatte, und an seine gemischten Gefühle der Freude und des Bedauerns, als er ihn wieder aufgab. Er dachte an seine engstirnigen, hart arbeitenden Eltern, die sich weigerten, die Belohnungen der - 149 -
Zivilisation anzunehmen, ohne sie sich, wie sie sagten, zu verdienen. Er dachte nach, intensiver als je zuvor in seinem Leben; und er stieß auf einen Piersen, von dessen Existenz er nie etwas geahnt hatte. Dieser andere Piersen war ein sehr unkompliziertes Geschöpf. Er wollte ganz einfach leben. Er war dafür bestimmt zu leben. Dieser Piersen weigerte sich, unter irgendwelchen Umständen zu sterben – selbst unter imaginären. Die beiden Piersens, der eine von Stolz, der andere vom Wunsch zu überleben getrieben, kämpften kurz miteinander, während die Kräfte ihres Körpers schwanden. Dann lösten sie das Problem auf eine für beide Seiten zufriedenstellende Weise. »Dieser verdammte Jones denkt, daß ich sterben will«, sagte Piersen. »Daß ich sterben will, um aufzuwachen. Nun, ich will verdammt sein, wenn ich ihm diese Genugtuung verschaffe!« Das war die einzige Möglichkeit, wie er seinen eigenen Wunsch zu leben akzeptieren konnte. Erschreckend geschwächt rappelte er sich auf und versuchte, die Blutsauger-Pflanze abzureißen. Sie gab nicht nach. Mit einem Wutschrei langte Piersen nach unten und zerrte mit aller Kraft. Die Haken rissen seine Beine auf, als sie sich lösten, und andere Haken glitten in seinen rechten Arm. Aber seine Beine waren jetzt frei. Er stieß zwei weitere Pflanzen mit einem Fußtritt beiseite und taumelte in den Dschungel, während der grüne Strauch an seinem Arm hinaufwuchs. - 150 -
Piersen stolperte vorwärts, bis er weit von den anderen Pflanzen entfernt war. Dann versuchte er, den letzten Strauch abzureißen. Der Strauch hatte seine beiden Arme umwickelt und hielt sie fest. Schluchzend vor Wut und Schmerz schwang Piersen seine Arme über den Kopf und schmetterte sie gegen einen Baumstamm. Die Haken lockerten sich. Wieder schmetterte er seine Arme gegen den Baum, die Augen vor Schmerz geschlossen. Wieder und wieder, bis der Strauch herabfiel. Sofort wankte Piersen weiter. Doch er hatte seinen Überlebenskampf zu lange hinausgeschoben. Er war blutüberströmt, und der Blutgeruch wirkte im Dschungel wie eine Alarmglocke. Über seinem Kopf sauste etwas Schnelles und Schwarzes herab. Piersen warf sich auf den Boden, und der Schatten glitt mit wirbelnden Schwingen und wütendem Schreien über ihn hinweg. Piersen wälzte sich auf die Füße und versuchte, unter einem dornigen Busch Schutz zu suchen. Ein großer, schwarzflügeliger Vogel mit einer karmesinroten Brust stieß zum zweiten Mal herab. Diesmal gruben sich scharfe Klauen in Piersens Schulter und warfen ihn zu Boden. Der Vogel landete wild mit den Flügeln schlagend auf Piersens Brust. Er hackte nach Piersens Augen, verfehlte sie, hackte erneut. Piersen schlug zu. Seine Faust traf den Vogel voll an der Kehle und warf ihn um. Piersen krabbelte auf allen Vieren in den Dornbusch. - 151 -
Der Vogel flatterte schreiend umher und versuchte, einen Weg hinein zu finden. Piersen brachte sich tiefer in das Dickicht hinein in Sicherheit. Dann hörte er ein leises Stöhnen neben sich. Er hatte zu lange gewartet. Der Dschungel hatte ihn als Todeskandidaten gebrandmarkt und würde ihn nie entkommen lassen. Seitlich von ihm war eine lange, blauschwarze, haiförmige Kreatur, etwas kleiner als die erste, der er begegnet war; sie kroch schnell und mühelos durch das Dornendickicht auf ihn zu. Gefangen zwischen einem kreischenden Tod in der Luft und einem stöhnenden Tod auf der Erde, kam Piersen auf die Füße. Er schrie seine Angst, seine Wut und seinen Trotz heraus. Und ohne zu zögern stürzte er sich auf die blauschwarze Bestie. Die großen Kiefern schnappten zu. Piersen lag regungslos da. Mit dem letzten Rest seines schwindenden Bewußtseins sah er, wie das Maul sich zum tödlichen Schlag weitete. Kann das real sein, fragte Piersen sich mit plötzlicher Furcht, ehe er ohnmächtig wurde. Als er das Bewußtsein wiedererlangte, lag er auf einem weißen Krankenbett in einem weißen, schwach beleuchteten Raum. Langsam wurde sein Kopf klar, und er erinnerte sich an – seinen Tod. Ein ganz beachtliches Abenteuer, dachte er. Ich muß den Jungs davon erzählen. Aber zuerst ein Drink. Vielleicht auch zehn Drinks und ein wenig Unterhaltung. - 152 -
Er drehte den Kopf. Ein Mädchen in Weiß, das neben seinem Bett auf einem Stuhl gesessen hatte, stand auf und beugte sich über ihn. »Wie fühlen Sie sich, Mr. Piersen?« fragte sie. »Gut«, sagte Piersen. »Wo ist Jones?« »Jones?« »Srinagar Jones. Er leitet diesen Laden.« »Sie müssen sich irren, Sir«, sagte das Mädchen. »Dr. Baintree leitet unsere Kolonie.« »Ihre was!.« rief Piersen. Ein Mann betrat den Raum. »Das ist alles, Schwester«, sagte er. Er wandte sich Piersen zu. »Willkommen auf Venus, Mr. Piersen. Ich bin Dr. Baintree, Direktor von Camp Fünf.« Piersen starrte ungläubig auf den großen, bärtigen Mann. Er rappelte sich vom Bett auf und wäre gefallen, wenn Baintree ihn nicht gestützt hätte. Er war verblüfft, daß der größte Teil seines Körpers mit Verbänden umwickelt war. »Es war real?« fragte er. Baintree führte ihn zum Fenster. Piersen blickte hinaus auf gerodetes Land, Zäune und den fernen Rand des Dschungels. »Einer von zehntausend!« sagte Piersen bitter. »So ein verdammtes Pech! Ich hätte getötet werden können!« »Beinahe«, sagte Baintree. »Aber Ihr Hiersein hat nichts mit Pech oder irgendwelchen Statistiken zu tun.« »Wie meinen Sie das?« - 153 -
»Mr. Piersen, lassen Sie es mich Ihnen so erklären: Das Leben auf der Erde ist sorgenfrei. Die Probleme der menschlichen Existenz sind gelöst – aber ich fürchte, gelöst zum Schaden der Rasse. Die Erde stagniert. Die Geburtenrate sinkt ständig, die Selbstmordrate steigt. Neue Gebiete öffnen sich im All, doch kaum jemand ist daran interessiert, dorthin zu gehen. Trotzdem, diese Gebiete müssen besiedelt werden, wenn die Rasse überleben soll.« »Genau das gleiche«, sagte Piersen, »habe ich schon in der Wochenschau gehört und in der Zeitung gelesen –« »Es hat Sie offenbar nicht beeindruckt.« »Ich glaube es nicht.« »Es ist wahr«, versicherte Baintree ihm, »ob Sie es glauben oder nicht.« »Sie sind ein Fanatiker«, sagte Piersen. »Ich werde nicht mit Ihnen diskutieren. Angenommen, es ist wahr – was hat das mit mir zu tun?« »Wir sind hoffnungslos unterbesetzt«, sagte Baintree. »Wir haben alle nur erdenklichen Vergünstigungen geboten, haben jede mögliche Anwerbemethode ausprobiert. Aber niemand will die Erde verlassen.« »Natürlich. Also?« »Dies hier ist die einzige Methode, die funktioniert. Abenteuer ohne Grenzen‹ wird von uns unterhalten. Geeignete Kandidaten werden hierher transportiert und im Dschungel ausgesetzt. Wir beobachten sie, um zu sehen, wie sie durchkommen. Das ist ein ausgezeichneter Eignungstest – für den Betroffenen, wie auch für uns.« »Was wäre geschehen«, fragte Piersen, »wenn ich mich - 154 -
nicht gegen die Sträucher gewehrt hätte?« Baintree zuckte die Achseln. »Und so haben Sie mich also angeworben«, sagte Piersen. »Sie ließen mich durch Ihren Hindernis-Parcours laufen, und ich kämpfte wie ein tapferer, dummer Junge, und Sie retteten mich im allerletzten Augenblick. Jetzt wird von mir erwartet, daß ich mir etwas darauf einbilde, von Ihnen aufgelesen worden zu sein, eh? Jetzt wird von mir erwartet, daß ich plötzlich entdecke, was für ein knallharter Bursche ich bin? Jetzt wird von mir erwartet, daß ich von einem vorausschauenden, kühnen Pioniergeist erfüllt bin?« Baintree beobachtete ihn ruhig. »Und jetzt wird von mir erwartet, daß ich einen Pioniers-Kontrakt unterzeichne? Baintree, Sie müssen mich für verrückt halten. Glauben Sie im Ernst, ich würde eine ausgesprochen angenehme Existenz auf der Erde aufgeben, um auf der Venus auf einer Farm herumzuwühlen oder mich durch einen Dschungel zu hacken? Zur Hölle mit Ihnen, Baintree, und zur Hölle mit Ihrem ganzen Missionierungsprogramm.« »Ich verstehe gut, was Sie empfinden«, antwortete Baintree. »Unsere Methoden sind etwas willkürlich, aber die Situation verlangt es. Wenn Sie sich beruhigt haben –« »Ich bin jetzt ganz ruhig!« schrie Piersen. »Hören Sie auf, mir etwas von der Rettung der Welt vorzupredigen! Ich will nach Hause in mein schönes, komfortables Freudenschloß.« »Sie können mit der Abendmaschine abreisen«, sagte Baintree. - 155 -
»Was? Einfach so?« »Einfach so.« »Das verstehe ich nicht«, sagte Piersen. »Soll das ein psychologischer Trick sein? Der funktioniert nicht – ich werde abreisen. Ich kann mir nicht vorstellen, warum irgendeines Ihrer gekidnappten Opfer hier bleiben sollte.« »Sie bleiben nicht«, sagte Baintree. »Was?« »Gelegentlich entscheidet sich einmal jemand, zu bleiben. Aber die meisten reagieren wie Sie. Sie entdecken keine plötzliche tiefe Liebe zu dem Boden hier, kein überwältigendes Bedürfnis, einen neuen Planeten zu erobern. Das gibt's nur in Kitschromanen. Sie wollen nach Hause. Aber sie willigen oft ein, uns auf der Erde zu helfen.« »Wie?« »Indem sie Anwerber werden«, sagte Baintree. »Das macht Spaß, wirklich. Sie essen und trinken und genießen das Leben, genau wie immer. Und wenn sie einen geeignet aussehenden Kandidaten finden, überreden sie ihn, ein Traumabenteuer bei ›Abenteuer ohne Grenzen‹ zu erleben – so, wie Benz es mit Ihnen gemacht hat.« Piersen blickte überrascht. »Benz? Dieser nichtsnutzige Faulpelz ist ein Anwerber?« »Sicher. Haben Sie geglaubt, Anwerber seien romantische Idealisten? Es sind Leute wie Sie, Piersen, denen es gefällt, ein angenehmes Leben zu haben und immer auf dem laufenden zu sein; und denen es vielleicht sogar gefällt, etwas Gutes für die menschliche Rasse zu tun, solange ihnen daraus keine Unannehmlichkeiten entstehen. - 156 -
Ich denke, diese Arbeit würde Ihnen gefallen.« »Ich könnte es für eine Weile versuchen«, sagte Piersen. »Nur so zum Spaß.« »Um mehr bitten wir gar nicht«, sagte Baintree. »Aber wie bekommen Sie neue Kolonisten?« »Nun, das ist eine komische Sache. Nach ein paar Jahren werden viele unserer Anwerber neugierig, wie es hier bei uns läuft. Und sie kehren zurück.« »Gut«, sagte Piersen, »ich werde es für eine Weile mit dieser Anwerber-Sache versuchen. Aber nur für eine Weile, solange es mir Spaß macht.« »Natürlich«, sagte Baintree. »Kommen Sie, Sie sollten jetzt besser packen.« »Und zählen Sie nicht darauf, daß ich zurückkomme. Ich bin ein Stadtmensch. Ich mag es bequem. Die missionarische Masche ist nur etwas für die ehrgeizigen Typen.« »Natürlich. Übrigens, Sie haben Ihre Sache gut gemacht, im Dschungel.« »Habe ich das?« Baintree nickte ernst. Piersen blieb am Fenster stehen und blickte auf die Felder, die Gebäude, die Zäune und den fernen Dschungel, den er bekämpft und fast besiegt hatte. »Wir sollten jetzt besser gehen«, sagte Baintree. »Eh? In Ordnung, ich komme«, sagte Piersen. Langsam wandte er sich von dem Fenster ab. Es ärgerte ihn ein wenig, sich von dem Anblick lösen zu müssen. Ein Gefühl, das er nicht zu deuten vermochte. - 157 -
Das Eingeborenen-Problem
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Edward Danton konnte sich nicht anpassen. Selbst als Baby zeigte er schon Vorzeichen asozialer Neigungen. Das hätte seinen Eltern als Warnung reichen müssen, deren Pflicht es gewesen wäre, ihn ohne Verzögerung zu einem kompetenten Säuglingspsychologen zu bringen. So ein Fachmann hätte herausfinden können, was in Dantons frühester Kindheit solche Antigruppen-Tendenzen verursachte. Aber Dantons Eltern, die zweifellos ihre eigenen Probleme dafür überdramatisierten, dachten einfach, der Kleine würde schon aus der Sache herauswachsen. Das tat er nie. Auf der Schule bestand Danton nur mit Mühe in Gruppenverhalten, Egokontrolle, Volksgefühl und öffentliche Werte – all jenen Fächern, in denen eine Person zurechtkommen muß, wenn sie in unserer modernen Welt ein anständiges Leben führen will. Wegen seiner fehlenden Einsichtigkeit konnte Danton niemals in der modernen Welt ruhig leben. Er brauchte eine Weile, um selbst auf dieses Problem zu kommen. Von seiner äußeren Erscheinung her hätte niemand auf Dantons grundsätzliches Fehlen von Anpassungsfähigkeit schließen können. Er war ein großer, athletischer junger Mann, grünäugig und lebensfroh. Er hatte etwas Gewisses an sich, das eine beachtliche Anziehung auf die Mädchen seines Zuwendungsenvironments ausübte. Tatsächlich machten ihm einige davon sogar ihr höchstes Kompliment, was nur darin bestehen konnte, ihn als Ehemann in - 159 -
Betracht zu ziehen. Aber selbst das oberflächlichste Mädchen konnte Dantons soziale Mängel nicht übersehen. Schon nach wenigen Stunden Massentanz, wenn der Spaß erst richtig anfing, erlaubte er sich, offen Müdigkeit zu zeigen. Er war bei der Zwölfhandbrücke wiederholt unaufmerksam, so daß er, zum Ärger der anderen elf Spieler, dauernd die Teekessel vergaß. Und beim U-Bahn-Spiel war Danton einfach unmöglich. Er bemühte sich aufrichtig, den Geist dieses klassischen Spiels zu meistern. Untergehakt mit seinen Teamkameraden warf er sich in den U-Bahn-Wagen und versuchte, ihn zu besetzen, bevor das andere Team durch die gegenüberliegende Tür stürmen konnte. Sein Gruppenführer schrie dabei: »Vorwärts, Männer! Wir nehmen diese Bahn nach Rockaway!« Und die gegnerische Gruppe schrie begeistert zurück: »Niemals! Ran, Jungs! Die Bronx oder nirgendwohin!« Danton kämpfte in den überfüllten Wagengängen, ein erstarrtes Lächeln auf dem Gesicht und müde Linien um Mund und Augen. Seine jeweilige Augenblicksfreundin sagte: »Was ist los, Edward? Macht es dir keinen Spaß?« »Sicher macht es das«, erwiderte Danton und holte tief Luft. »Aber das macht es nicht!« schrie das Mädchen erschrocken. »Begreifst du denn nicht, Edward, daß unsere Vorfahren so ihre Aggressionen abgebaut haben? Historiker haben nachgewiesen, daß nur das U-Bahn-Spiel einen globalen H-Bomben-Krieg verhindert hat. Wir haben - 160 -
genau die gleichen Aggressionen, und auch wir müssen sie in einem passenden sozialen Kontext abbauen.« »Ja, ich weiß«, pflegte Edward Danton zu sagen. »Ich genieße es hier ja wirklich. Ich – o Gott.« Denn in diesem Augenblick stürmte eine dritte Gruppe herein, die Arme verschränkt und laut intonierend: »Brooklyn, Brooklyn, Brooklyn!« Auf diese Weise verlor er eine Freundin nach der anderen, denn mit Danton gab es offensichtlich keine Zukunft. Fehlende Anpassungsgabe kann man nie verstecken. Es war unübersehbar, daß Danton niemals in den New Yorker Suburbs glücklich sein würde, die sich zwischen Rockport, Maine und Norfolk, Virginia, erstreckten; ja nicht einmal in irgendeiner anderen Suburb. Danton mühte sich vergeblich, mit seinen Problemen fertigzuwerden. Andere warnende Zeichen stellten sich ein. Er begann von den Retina-Projektionen der Anzeigengesellschaften tränende Augen zu bekommen, und er klagte über ständiges Ohrensausen von den Wolkensinger-Spots. Sein Arzt warnte ihn, daß eine reine Behandlung der Symptome diese psychosomatischen Störungen niemals heilen würde. Nein, man mußte erst Dantons zugrunde liegende Neurose behandeln, seine Asozialität. Aber genau damit konnte Danton sich nicht abfinden. Und so wandten seine Gedanken sich unaufhaltsam der Flucht zu. Es gab jede Menge Platz für die Asozialen der Erde – draußen im Weltraum. Während der letzten zwei Jahrhunderte waren Millionen - 161 -
von Psychotikem, Neurotikem, Psychopathen und Spinnern jeder Art und Klassifikation zu den Sternen ausgewandert. Die frühen Auswanderer reisten in Schiffen mit dem Mikkelsen-Antrieb und verbrachten zwanzig oder dreißig Jahre auf dem Sprung von einem Sonnensystem zum anderen. Die neueren Schiffe wurden von GM-SubraumConvertem angetrieben und legten die gleiche Strecke in wenigen Monaten zurück. Die Daheimgebliebenen trauerten um jeden verlorenen Erdenbürger, wie es sich für gut sozialisierte Menschen gehört, und freuten sich über den zusätzlichen Lebensraum auf der Erde. In seinem siebenundzwanzigsten Lebensjahr entschied Danton sich, die Erde zu verlassen und Sternenpionier zu werden. Es war ein tränenreicher Tag, als er seine Fortpflanzungsgenehmigung seinem besten Freund AI Travor schenkte. »Mensch, Edward«, sagte Travor und drehte das kostbare kleine Zertifikat unsicher zwischen den Fingern, »du weißt gar nicht, was Myrtle und mir das bedeutet. Wir wollten immer zwei Kinder. Und durch dich …« »Vergiß es«, sagte Danton. »Wo ich hinreise, da brauche ich keine Fortpflanzungserlaubnis. Es könnte sich sogar herausstellen, daß man sich da gar nicht fortpflanzen kann«, fügte er hinzu, selbst von diesem plötzlichen Einfall überrascht. »Aber wäre das denn nicht frustrierend für dich?« fragte AI, der immer über das angemessene Mitgefühl für das Wohlergehen eines Freundes verfügte. - 162 -
»Ich glaube schon. Aber vielleicht finde ich irgendwann doch irgendwo eine Pionierin. Und in der Zwischenzeit habe ich ja die guten alten Sublimationstechniken.« »Stimmt schon. Was hast du dir denn zur Sublimierung herausgesucht?« »Gemüseanbau. So was könnte auch von praktischem Nutzen sein. Man muß es auch mal mit Handarbeit versuchen.« »Das muß man sicher«, bestätigte AI. »Ja dann, Junge, viel Glück, Junge.« Nachdem er die Fortpflanzungserlaubnis verschenkt hatte, waren die Würfel endgültig gefallen. Danton warf sich kühn in das Abenteuer. Im Tausch gegen sein Geburtsrecht erhielt er von der Regierung unbegrenzten freien interstellaren Transport und eine Grundausrüstung mit Proviant für zwei Jahre. Danton brach sofort auf. Er mied die dichter bevölkerten Sternengegenden, wo die Welten sich in der Regel in den Händen von fanatischen kleinen Gruppen befanden. Er wollte sich bestimmt nicht auf Corani II niederlassen, wo die Riesenrechner die Herrschaft der Mathematik ausgerufen hatten. Auch war er zum Beispiel nicht an Heil V interessiert, wo die totalitär eingestellte Bevölkerung von dreihundertzweiundvierzig Einwohnern mit allem Ernst die Unterwerfung der Galaxis vorbereitete. Er umging die Farmplaneten, langweilige Welten mit restriktiven Gesetzen, die von extremen Gesundheitstheorien und Umweltschutzpraktiken beherrscht wurden. - 163 -
Als er nach Hedonia kam, zog er in Erwägung, sich auf diesem berüchtigten Planeten niederzulassen. Aber von den Bewohnern Hedonias sagte man, daß sie früh starben, obwohl niemand leugnete, daß sie dieses kurze Leben wirklich genossen. Danton entschied sich für den langen Genuß und reiste weiter. Er kam an den Bergbau-Welten vorbei, düsteren felsigen Plätzen, die von bärtigen, rauhbeinigen Männern mit einer Neigung zur plötzlichen Gewalttätigkeit bevölkert wurden. Und schließlich gelangte er in die Neu-Territorien. Hier lagen die unbewohnten Welten der äußersten Grenze des irdischen Einflußbereiches. Danton untersuchte eine ganze Reihe, bevor er einen Planeten fand, auf dem es nicht das geringste Anzeichen für fremdes intelligentes Leben gab. Es war eine ruhige, von Meeren bedeckte Welt, die mit zahllosen kleinen Inseln übersät war, auf denen ein üppiger Dschungel blühte und sich jagdbares Wild tummelte. Der Schiffskapitän nahm gelangweilt Dantons Anspruch auf den Planeten zu Protokoll und trug ihn ins Logbuch ein. Danton nannte seine Welt Neutahiti. Bei einer schnellen Umkreisung entdeckte man eine passende größere Insel, wahrscheinlich die größte. Dort wurde er abgesetzt und machte sich daran, sein Lager zu errichten. Am Anfang gab es viel Arbeit. Danton baute ein Haus aus Ästen und selbstgeflochtenen Grasmatten, nicht weit vom weißen, schimmernden Sandstrand. Er fertigte sich einen Speer zum Fischen, mehrere Reusen und ein Netz. Er legte seinen Gemüsegarten an und war entzückt, alles unter der tropischen Sonne gedeihen zu sehen, von dem warmen - 164 -
Regen begossen, der jeden Morgen zwischen sieben Uhr und sieben Uhr dreißig fiel. Alles in allem war Neutahiti ein paradiesischer Ort, und Danton hätte dort glücklicher sein können. Aber es gab eine Sache, die ihm den Spaß verdarb. Der Gemüsegarten, den er sich als erstklassige Sublimation vorgestellt hatte, erwies sich in dieser Beziehung als völliger Fehlschlag. Danton stellte fest, daß er jede Stunde des Tages und der Nacht mit Gedanken an Frauen verbrachte und stundenlang unter dem großen orangefarbenen Tropenmond traurige Lieder sang – Liebeslieder natürlich. Das war ungesund. Verzweifelt warf er sich auf andere mögliche Formen der Sublimierung; zuerst die Malerei, die er zugunsten eines Tagebuches aufgab, das er nicht mehr fortführte, um sich dem Komponieren einer Sonate zu widmen, nach deren Vollendung er zwei gewaltige Statuen aus dem lokalen Kalkstein schlug. Er wurde schließlich auch mit den Statuen fertig und versuchte, sich eine neue Beschäftigung auszudenken. Es gab keine Beschäftigung. Sein Gemüsegarten sorgte vorzüglich für sich selbst; aus Erdsamen gezogen, überwucherte das Gemüse sofort alle Eingeborenengewächse. Die Fische schwammen ihm in Schwärmen in die Netze, und wenn er Appetit auf Fleisch hatte, brauchte er nur eine Falle aufzustellen. Wieder mußte er feststellen, daß er Tag und Nacht an Frauen dachte; große Frauen, kleine Frauen, schwarze Frauen, weiße Frauen, braune Frauen. Der Tag kam, als Danton feststellen mußte, daß er sogar an marsianische Frauen dachte, was bisher noch keinem Terraner - 165 -
gelungen war. In diesem Augenblick wußte er, daß drastische Schritte nötig waren. Aber welche? Er besaß keine Möglichkeit, um Hilfe zu funken oder Neutahiti zu verlassen. Düster grübelte er darüber, als am Himmel über dem Meer ein schwarzer Fleck auftauchte. Danton sah zu, wie der Fleck langsam größer wurde. Vor Angst, es könne am Ende doch nur ein Vogel oder ein großes Insekt sein, wagte er kaum Luft zu holen. Aber der Fleck fuhr fort, sich zu vergrößern, und schon konnte man Düsen sehen, die immer weniger flammten. Ein Raumschiff war gekommen! Er war nicht länger allein. Das Schiff zog eine lange, langsame und vorsichtige Landekurve. Danton zog sich um und legte seinen besten Anzug an, einen Südseeumhang, den er für das Klima von Neutahiti besonders passend gefunden hatte. Er wusch sich, kämmte sich sorgfältig das Haar und beobachtete die Landung des Schiffes. Es war eines der alten Mikkelsen-Schiffe. Danton hatte gedacht, daß die Schiffe mit dem alten Antriebssystem längst außer Dienst gestellt waren, aber dieses hier war ganz offensichtlich schon länger im Dienst. Die Hülle war verbeult und verschmort, hoffnungslos altertümlich, doch mit einer gewissen Aura der Unbezwingbarkeit. Der Name stand mit stolzen Buchstaben auf dem Bug: Die HutterArche. Wenn Leute von einer langen Raumreise kommen, sind sie normalerweise ausgehungert nach frischer Nahrung. - 166 -
Danton sammelte für die Schiffspassagiere einen großen Haufen frischer Früchte und arrangierte sie geschmackvoll im Sand, als die Hutter-Arche donnernd am Strand aufsetzte. Eine enge Heckschleuse öffnete sich, und zwei Männer traten heraus. Sie waren mit Gewehren bewaffnet und von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet. Vorsichtig spähten sie in die Runde. Danton rannte zu ihnen. »Hallo, willkommen auf Neutahiti! Junge, bin ich froh, euch hier begrüßen zu können! Was gibt es Neues aus …?« »Zurück!« schrie einer der Männer. Er war über fünfzig, hochgewachsen und von beängstigender Hagerkeit. Das Gesicht verhärmt und hart. Seine eisblauen Augen durchbohrten Danton wie Pfeile. Sein Gewehr zielte auf Dantons Brust. Sein Partner war jünger, breitschultrig, breitgesichtig und breitbäuchig, eine sehr kräftige Erscheinung. »Was nicht in Ordnung?« fragte Danton stehenbleibend. »Wie heißt du?« »Edward Danton.« »Ich bin Simeon Smith«, sagte der Hagere, »Militärkommandant des Hutter-Volkes. Das ist Jedekiah Franker, mein Stellvertreter. Woher beherrscht du das Englische?« »Ich habe immer Englisch gesprochen«, erklärte Danton. »Sehen Sie, ich …« »Wo sind die anderen? Wo haben sie sich versteckt?« »Es gibt keine anderen, es gibt nur mich.« Danton sah am Schiff hoch und entdeckte Gesichter von Männern und Frauen hinter jedem Bullauge. »Ich habe diese Sachen für - 167 -
euch bereitgelegt.« Er deutete mit einer einladenden Geste auf die Obstberge. »Dachte mir, daß ihr vielleicht etwas Frisches essen möchtet nach der langen Reise.« Ein hübsches Mädchen mit kurzem fransigen blonden Haar erschien in der Schleuse. »Können wir jetzt rauskommen, Vater?« »Nein!« rief Simeon. »Es ist nicht sicher hier. Geh rein, Anita.« »Dann sehe ich von hier oben zu«, sagte sie und starrte Danton mit unverhohlener Neugier an. Danton starrte zurück, und ein schwacher, halbvergessener Schauder durchzitterte ihn. Simeon verkündete: »Wir nehmen dein Geschenk an. Wir werden es aber nicht essen.« »Warum nicht?« wollte Danton verständlicherweise wissen. »Weil«, sagte Jedekiah, »wir nicht wissen, welche Gifte dein Volk an uns ausprobieren will.« »Gifte? Hört mal, setzen wir uns doch und besprechen die Sache mal in Ruhe.« »Was hältst du davon?« fragte Jedekiah seinen Führer Simeon. »Genau, was ich erwartet habe«, sagte der Kommandant. »Verschlagen, schmeichlerisch und ohne Zweifel hinterhältig. Seine Leute wollen sich nicht zeigen. Warten irgendwo im Hinterhalt, wette ich. Ich glaube, eine praktische Lektion ist angeraten.« »Richtig«, stimmte Jedekiah grinsend zu. »Man muß die - 168 -
Angst vor der Zivilisation in ihre Seelen legen.« Er zielte mit seinem Gewehr auf Dantons Brust. »He!« kreischte Danton und wich zurück. »Aber Vater«, rief Anita, »er hat doch noch gar nichts getan.« »Genau das ist es. Erschießen wir ihn, und er wird auch nichts mehr tun. Der einzige gute Eingeborene ist ein toter Eingeborener.« »Auf diese Weise«, fügte Jedekiah hinzu, »merkt der Rest wenigstens, daß wir es ernst meinen.« »Aber das ist Unrecht!« schrie Anita aufgebracht. »Der Rat …« »… hat zur Zeit nichts zu sagen. Eine Landung auf einem fremden Planeten ist immer ein Notstand. Während eines Notstandes befiehlt nur das Militär. Wir tun, was wir für richtig halten. Denk an Lan II!« »Moment mal«, sagte Danton. »Ihr habt das alles falsch verstanden. Es gibt nur mich hier, niemand anderes. Kein Grund, um …« Neben seinem linken Fuß peitschte eine Kugel in den Sand. Er sprintete in den Schutz des Dschungels. Eine andere Kugel schlug dicht neben ihm durch die Blätter, als er sich kopfüber ins Unterholz warf. »Da!« hörte er Simeon brüllen. »Das soll ihnen eine Lehre sein!« Danton gönnte sich keine Rast, bis er einen Kilometer Dschungel zwischen sich und das Pionierschiff gebracht hatte. - 169 -
Er aß ein leichtes Mittagessen aus den örtlichen Parallelen zu Bananen und Brotfrüchten. Dann versuchte er herauszufinden, was mit den Huttern nicht stimmte. Waren sie verrückt? Sie hatten gesehen, daß er ein Erdenmensch war, allein und unbewaffnet, dazu offensichtlich freundlich gesinnt. Trotzdem hatten sie auf ihn geschossen – als praktische Lektion. Eine Lektion für wen? Für die dreckigen Eingeborenen, denen sie eine Lektion erteilen wollten … Das war es! Danton nickte sich selbst begeistert zu. Die Hutter mußten geglaubt haben, er sei ein Eingeborener. Ein Wilder, dessen Stamm im Dschungel lauerte, um die Neuankömmlinge bei der ersten passenden Gelegenheit zu massakrieren. Das war nun auch wieder keine so weit hergeholte Befürchtung. Hier stand er auf einem fernen Planeten vor ihnen, kein Raumschiff war da außer dem der Hutters, und Danton trug nicht viel mehr als einen Lendenschurz auf der bronzegebräunten Haut. Er wirkte wahrscheinlich wirklich genauso, wie man sich einen Eingeborenen eines wilden Planeten vorzustellen hatte! »Aber woher«, fragte Danton sich selbst, »glauben sie wohl, habe ich Englisch gelernt?« Die ganze Sache war lächerlich. Er machte sich auf den Rückweg zum Schiff, überzeugt, das Mißverständnis in ein paar Minuten aufklären zu können. Doch nach ein paar Metern blieb er stehen. Der Abend näherte sich. Hinter Danton schoben sich weiße und graue Wolkenbänke über den Himmel. Vom Meer her fiel ein dunkelblauer Schatten über das Land. Der Dschungel steckte voller unheimlicher Geräusche, die - 170 -
Danton schon lange als harmlos erkannt hatte. Aber die Neuankömmlinge mochten das anders sehen. Diese Leute hatten den Finger ständig am Abzug, erinnerte er sich. Hatte keinen Zweck, sie zu sehr zu bedrängen und sich eine Kugel einzufangen. Also schlich er vorsichtig durch den dichten Dschungel, ein stummer, dunkelhäutiger Schatten, der im Braun und Grün des Dschungels verschwand. Als er in die Nähe des Schiffes kam, kroch er auf allen Vieren durch das Unterholz, bis er von einer niedrigen Anhöhe den Strand übersehen konnte. Die Pioniere hatten schließlich doch ihr Schiff verlassen. Es waren mehrere Dutzend Männer und Frauen und ein paar Kinder. Alle waren in schweres schwarzes Leinen gekleidet und schwitzten in der Hitze. Sie hatten seine Früchte ignoriert. Statt dessen waren Aluminiumtische aufgebaut, auf denen es die monotone Schiffskost gab. In einiger Entfernung von der Menge sah Danton mehrere Männer mit Gewehren und Munitionsgürteln, die einen Sicherheitsring bildeten. Sie schienen aufmerksam den Dschungel im Auge zu behalten und warfen immer wieder sorgenvolle Blicke zum sich verdunkelnden Himmel. Simeon hob die Hand. Sofort wurde es still. »Freunde!« begann der Kommandant seine Ansprache. »Wir haben nun endlich unsere langersehnte Heimat erreicht! Vor uns liegt das Land von Milch und Honig, die Stätte der Gehorsamen und Gerechten. War das nun die lange Reise, die beständige Gefahr und die endlose Suche wert?« - 171 -
»Ja, Bruder!« intonierte das Hutter-Volk. Simeon hob wieder die Hand. »Kein zivilisierter Mensch hat diesen Planeten bisher besiedelt. Wir sind die ersten, und deshalb gehört dieser Planet uns. Aber es gibt Gefahren, meine Brüder! Wer weiß, welche fremdartigen Ungeheuer der Dschungel verbirgt?« »Nichts größeres als eine Amseleidechse«, murmelte Danton sich selbst zu. »Warum fragen sie mich nicht? Ich könnte es ihnen sagen.« »Wer weiß, welcher Leviathan dort in den Wassern lauert?« fuhr Simeon fort. »Aber eins wissen wir: Es gibt Eingeborene hier, nackt und wild, zweifellos hinterhältig, skrupellos und unmoralisch wie alle Wilden. Vor diesen müssen wir auf der Hut sein. Wir werden in Frieden mit ihnen leben, wenn sie uns lassen. Wir werden ihnen die Früchte der Zivilisation und die Blume der Kultur bringen. Sie mögen sich freundlich geben, aber vergeßt eins nicht, Freunde: Niemand kann sagen, was im Herzen eines Wilden vorgeht. Ihre Wertvorstellungen sind nicht die unseren; ihre Moral ist nicht die unsere. Wir können ihnen nicht trauen; wir müssen immer auf der Hut bleiben. Und im Zweifelsfalle müssen wir zuerst schießen! Denkt an Lan II!« Alle applaudierten, sangen eine Hymne und begannen mit dem Abendessen. Als es dunkel wurde, schaltete man die Suchscheinwerfer des Schiffes ein, die den Strand taghell erleuchteten. Die Wachtposten marschierten auf und ab, nervös die Schultern hochgezogen und den Finger am Drücker. - 172 -
Danton sah zu, wie die Siedler ihre Schlafsäcke ausrollten und sich unter dem Schiffsrumpf zur Ruhe legten. Nicht einmal die Angst vor einem nächtlichen Angriff konnte sie dazu zwingen, noch eine Nacht im Schiff zu verbringen, wenn es draußen frische Luft zu atmen gab. Der große orangefarbene Mond von Neutahiti verbarg sich halb hinter hochziehenden Nachtwolken. Die Wachtposten gingen auf und ab, fluchten und rückten näher zusammen, um sich gegenseitig Trost und Schutz zu geben. Sie begannen, auf Dschungelgeräusche zu schießen und erhellten die Schatten mit ihren Blastern. Danton kroch zurück in den Dschungel. Er verbrachte die Nacht hinter einem dicken Baumstamm, der ihm Schutz vor Querschlägern bot. Dies war nicht die richtige Nacht, Mißverständnisse aufzuklären. Die Hutter waren zu aufgeregt. Es würde besser sein, entschied er, die Sache bei Tageslicht auf einfache, direkte und vernünftige Art ins Lot zu bringen. Dazu brauchte es nur ein paar vernünftige Worte. Die Schwierigkeit war nur, daß die Hutter kaum vernünftig reagierten. Am Morgen sah alles trotzdem wesentlich besser aus. Danton wartete, bis die Hutter ihr Frühstück beendet hatten, dann spazierte er in einiger Entfernung auf den Strand. »Halt!« brüllten sofort alle Wachtposten. »Der Wilde ist zurück!« rief ein Siedler. »Mami!« schrie ein kleiner Junge, »ich will nicht von - 173 -
dem bösen Mann gefressen werden!« »Keine Angst, Schatz«, versprach die Mutter des Jungen, »dein Vater hat ein großes Gewehr für die dreckigen Wilden.« Simeon stürmte aus dem Raumschiff und starrte Danton an. »In Ordnung, du da! Komm langsam her!« Danton wankte mit weichen Knien über den Strand, die Haut vor nervöser Spannung juckend. Er ging zu Simeon und achtete streng darauf, seine leeren Hände immer deutlich zu zeigen. »Ich bin der Führer dieses Volkes«, sagte Simeon sehr langsam wie zu einem kleinen Kind. »Ich großer Häuptling. Du großer Bursche Häuptling von dein Volk?« »Wir brauchen wirklich nicht so miteinander zu reden«, meinte Danton. »Ich kann Sie so kaum verstehen. Ich habe Ihnen gestern gesagt, daß ich kein Volk habe. Es gibt nur mich.« Simeons hartes Gesicht wurde weiß vor Wut. »Wenn du nicht ehrlich mit mir bist, wird es dir noch leid tun. Also – wo ist dein Stamm?« »Ich bin von der Erde!« brüllte Danton. »Seid ihr taub? Können Sie nicht hören, daß ich Englisch rede?« Ein runzliger kleiner Mann mit weißen Haaren und großer Hornbrille trat, gefolgt von Jedekiah, zu ihnen. »Simeon«, sagte der kleine Mann, »ich glaube, ich kenne unseren Gast noch nicht.« »Professor Baker«, sagte Simeon, »dieser Wilde hier behauptet, er wäre von der Erde, und er sagt, sein Name sei Edward Danton.« - 174 -
Der Professor warf einen Blick auf Dantos Lendenschurz, seine gebräunte Haut und seine nackten, schwieligen Füße. »Du bist von der Erde?« fragte er Danton. »Natürlich.« »Wer hat diese steinernen Standbilder dort hinten am Strand erschaffen?« »Das war ich«, erklärte Danton, »aber das war nur eine Therapie. Wissen Sie …« »Ganz eindeutig primitive Kunst. Diese Stilisierung, diese Nasen …« »Das muß Zufall sein. Sehen Sie, vor ein paar Monaten habe ich die Erde in einem Raumschiff verlassen, weil ich ä …« »Wovon wurde es angetrieben?« fragte Professor Baker. »Von einem GM-Subraum-Converter.« Baker nickte, und Danton fuhr fort. »Nun, ich habe mich nicht für Plätze wie Corani oder Heil V interessiert, und Hedonia war für meinen Geschmack ein bißchen zuviel des Guten. Ich flog an den Bergbau-Welten vorbei und an den Farm-Welten und dann setzte mich das Regierungsschiff hier ab. Der Planet wurde als Neutahiti auf meinen Namen registriert. Aber inzwischen ist es mir hier ganz schön einsam geworden, deshalb bin ich froh, daß ihr Jungs bei mir gelandet seid.« »Na, Professor?« wollte Simeon wissen. »Was halten Sie davon?« »Erstaunlich«, murmelte Baker, »wirklich erstaunlich. Sein Verständnis des Umgangsenglisch zeugt von einer relativ hohen Intelligenz, die zu den häufigeren Phäno- 175 -
menen unzivilisierter Gesellschaften gehört, bei der es sich aber im Grunde nur um eine besonders schnelle Auffassungsgabe und Anpassung handelt. Unser Freund Danta (wie der unverfälschte Namen lauten dürfte?) wird wahrscheinlich in der Lage sein, uns viele Eingeborenenlegenden, Stammesmythen, Lieder, Tänze …« »Aber ich bin von der Erde!« »Nein, mein armer Freund«, korrigierte der Professor ihn sanft. »Das bist du nicht. Du hast aber ganz offensichtlich einen Erdenmenschen getroffen, doch das macht dich nicht selbst zu einem. Ein Händler war das, würde ich sagen, der hier zur Reparatur zwischengelandet ist.« Jedekiah bestätigte: »Es gibt Spuren, daß hier vor kurzer Zeit ein Raumschiff gelandet sein muß.« »Aha«, erklärte Professor Baker strahlend. »Die Bestätigung meiner Hypothese.« »Das war das Regierungsschiff«, erklärte Danton. »Es hat mich hier abgesetzt.« »Es ist interessant, bei dieser Gelegenheit beobachten zu können«, verkündete Professor Baker in belehrendem Tonfall, »wie viele fast plausible Geschichten bei Wilden an entscheidenden Punkten sofort zu Mythen umgeformt werden. Er behauptet, daß dieses Schiff von einem GMSubraum-Converter bewegt würde – was ein NonsensWortspiel ist, denn der einzige Raumantrieb ist der Mikkelsen. Er behauptet, die Reise von der Erde hierher hätte Monate gedauert (weil sein einfaches Vorstellungsvermögen nicht für eine Jahre dauernde Reise ausreicht), - 176 -
obwohl wir wissen, daß kein Raumantrieb dazu in der Lage wäre, nicht einmal theoretisch.« »Er ist möglicherweise entwickelt worden, nachdem Ihr Volk die Erde verlassen hat«, beharrte Danton. »Wie lange sind Sie denn schon unterwegs?« »Das Hutter-Raumschiff verließ die Erde vor einhundertundzwanzig Jahren«, antwortete Baker beiläufig. »Wir sind fast alle schon die vierte und fünfte Generation. Beachtet auch«, wandte Baker sich wieder an Simeon und Jedekiah, »seine Versuche, sich plausible Ortsnamen auszudenken. Worte wie Corani, Heil, Hedonia entsprechen seinem Gefühl der Onomatopoetik. Daß es solche Orte nicht gibt, spielt für ihn dabei keine Rolle.« »Es gibt sie!« rief Danton ungehalten. »Wo?« forderte Jedekiah ihn heraus. »Gib mir die Koordinaten.« »Woher soll ich die wissen? Ich bin doch kein Navigator. Ich glaube, Heil war beim Bootes, vielleicht war es auch die Kassiopeia. Nein, ich bin eigentlich sicher, daß es Bootes war …« »Tut mir leid, mein Junge«, sagte Jedekiah. »Es wird dich vielleicht interessieren zu erfahren, daß ich der Schiffsnavigator bin. Ich kann dir unsere Sternenatlanten und Karten zeigen. Solche Welten gibt es darauf nicht.« »Eure Karten müssen schon hundert Jahre überholt sein!« »Dann müssen die Sterne das auch sein«, knurrte Simeon. »So, Danta, wo ist nun dein Stamm? Warum verstecken sie sich vor uns? Was führen sie im Schilde?« - 177 -
»Das ist doch hirnrissig!« protestierte Danton. »Wie kann ich euch bloß überzeugen? Ich bin ein Erdenmensch. Ich stamme aus …« »Das reicht«, unterbrach Simeon. »Wenn es etwas gibt, was wir Hutter nicht vertragen, dann sind es Widerworte von Eingeborenen. Raus damit, Danta. Wo sind deine Leute?« »Es gibt nur mich hier«, beharrte Danton. »Zugeknöpft?« knirschte Jedekiah. »Vielleicht bringt dich die Schlangen-Peitsche etwas …« »Später, später«, sagte Simeon. »Sein Stamm wird bald rauskommen, um Tauschhandel zu versuchen. Wilde tun das immer. In der Zwischenzeit kannst du drüben beim Ausladen helfen, Danta.« »Nein, danke«, sagte Danton. »Ich gehe zurück zu …« Jedekiahs Faust erwischte Danton seitlich am Kinn. Er taumelte und konnte sich gerade noch auf den Beinen halten. »Der Kommandant hat gesagt, keine Widerworte!« röhrte Jedekiah. »Warum seid ihr Eingeborenen immer so faule Säcke? Du bekommst ja etwas, sobald wir die Glasperlen ausgeladen haben. Jetzt geh an die Arbeit.« Das schien das letzte Wort zu diesem Thema gewesen zu sein. Benommen und unsicher wie Millionen von Eingeborenen vor ihm auf tausend anderen Welten schloß Danton sich der langen Schlange von Kolonisten als Hilfsarbeiter an. Am späten Nachmittag waren sie mit dem Ausladen fertig, und die Siedler ruhten sich am Strand aus. Danton - 178 -
hielt sich abseits von ihnen, saß im Sand und versuchte, seine Lage zu überdenken. Er war tief in Gedanken versunken, als Anita mit einem Becher Wasser zu ihm kam. »Glauben Sie auch, daß ich ein Eingeborener bin?« fragte er sie. Sie setzte sich neben ihn und meinte: »Ich weiß wirklich nicht, was Sie sonst sein könnten. Jeder weiß, wie schnell Raumschiffe fliegen und …« »Die Zeiten haben sich verändert, seit die Hutter die Erde verlassen haben. Waren Sie denn die ganze Zeit im Weltraum unterwegs?« »Natürlich nicht. Das Hutter-Schiff flog nach H'Gastro I, aber dort war es nicht fruchtbar genug, deshalb zog die nächste Generation nach Ktedi um. Aber dort mutierte das Korn und brachte fast alle um, so daß man nach Lan II weiterflog. Dort glaubte man dann, eine bleibende Heimat gefunden zu haben.« »Was passierte?« »Die Eingeborenen«, erzählte Anita traurig. »Ich nehme an, am Anfang waren sie wohl noch ganz freundlich, und zunächst glaubte wohl jeder, wir hätten die Lage unter Kontrolle. Dann befanden wir uns von einem Tag auf den anderen im Krieg mit der gesamten Eingeborenenbevölkerung. Sie hatten nur Speere und solche Sachen, aber es waren zu viele von ihnen, deshalb flog das Schiff schließlich weiter, und so landeten wir hier.« »Hmmm«, sagte Danton. »Ich verstehe jetzt, warum euch Wilde so nervös machen.« - 179 -
»Na ja, sicher. Solange es irgendwelche Gefahren gibt, sind wir unter Militärbefehl. Das heißt Vater und Jedekiah. Aber sobald der Notstand aufgehoben ist, übernimmt unsere reguläre Hutter-Regierung.« »Wer führt die?« »Ein Ältestenrat«, sagte Anita, »Männer des guten Willens, die Gewalt verabscheuen. Wenn du und deine Leute wirklich friedlich …« »Ich habe keine Leute«, sagte Danton erschöpft. »Jedenfalls hätte dein Volk dann eine große Chance, unter der Herrschaft unserer Ältesten zu lernen und zu blühen«, schloß sie. Sie saßen zusammen und betrachteten den Sonnenuntergang. Danton bemerkte, wie der Wind an ihrem Haar zauste, ihr sanft über die Stirnlocken strich, und wie die Abendbläue ihre Lippen und Wangen beschien. Ihm schauderte, und er sagte sich, das müsse von der Abendkühle kommen. Und Anita, die über ihre Kindheit plauderte, fand es plötzlich schwierig, den Satz zu vollenden oder auch nur ihre Gedanken zusammenzuhalten. Nach einer Weile schoben ihre Hände sich aufeinander zu. Ihre Fingerspitzen berührten sich und verschränkten sich. Lange Zeit sagten sie überhaupt nichts. Und schließlich, ganz sanft und vorsichtig, küßten sie sich. »Was, zum Teufel, geht hier vor?« brüllte eine laute Stimme. Danton sah auf und entdeckte einen stämmigen Mann über sich, dessen Kopf den Mond verdunkelte, die Fäuste in die Hüften gestemmt. - 180 -
»Bitte, Jedekiah«, sagte Anita, »mach doch keine Szene.« »Steh auf«, befahl Jedekiah Danton mit bedrohlicher ruhiger Stimme. »Auf die Füße mit dir.« Danton stand auf und wartete, die Hände halb zu Fäusten geballt. »Du«, verkündete Jedekiah Anita, »bist eine Schande für deine Rasse und das ganze Hutter-Volk. Bist du verrückt? Du kannst doch nicht mit einem schmutzigen Eingeborenen rummachen und deine Selbstachtung behalten.« Er wandte sich an Danton. »Und du mußt was lernen, und lern es gut. Eingeborene machen sich nicht an Hutter-Frauen ran! Und diese kleine Lektion werde ich dir gleich hier und jetzt persönlich verabreichen.« Es gab ein kurzes Handgemenge, und dann fand Jedekiah sich auf dem Boden. »Schnell!« schrie Jedekiah. »Die Eingeborenen greifen an!« Eine Alarmglocke am Schiff schlug an. Sirenen heulten auf. Die Frauen und Kinder, lange für einen solchen Notfall trainiert, zogen sich geordnet in ihr Schiff zurück. An die Männer wurden Gewehre, Maschinengewehre und Handgranaten ausgegeben. Dann näherte sich ein Trupp Danton. »Das war doch nur Mann gegen Mann!« rief Danton ihnen laut entgegen. »Wir hatten eine Meinungsverschiedenheit, das ist alles. Da sind keine Eingeborenen oder sonst was. Nur ich.« Der Hutter an der Spitze befahl: »Anita, schnell, zum Schiff!« - 181 -
»Ich habe keine Eingeborenen gesehen«, sagte das Mädchen widerborstig. »Und es war wirklich nicht Dantas Fehler …« »Zurück!« Sie wurde aus dem Weg gezogen. Danton warf sich ins Unterholz, bevor die Maschinengewehre in Stellung waren. Er kroch zweihundert Meter auf allen Vieren, dann sprang er auf und rannte los. Glücklicherweise verfolgten ihn die Hutter nicht. Sie waren nur daran interessiert, ihr Schiff zu bewachen und ihren kleinen Brückenkopf am Strand zu halten. Danton hörte die ganze Nacht über Gewehrschüsse, laute Rufe und wildes Gebrüll. »Da schleicht einer!« »Schnell, hier rüber mit dem Maschinengewehr. Sie sind hinter uns!« »Da! Da! Ich hab einen!« »Nein, er ist abgehauen. Da hinten ist er … Paß auf, oben im Baum!« »Schieß, Mann, schieß!« Während der ganzen Nacht lauschte Danton darauf, wie die Hutter den Angriff eingebildeter Wilder zurückschlugen. Gegen Morgen ließ das Gewehrfeuer nach. Danton schätzte, daß eine Tonne Blei vergeudet worden war, Hunderte von Bäumen enthauptet und mehrere Hektar Gras zu Matsch getrampelt. Der Dschungel stank nach Kordit. Danton fiel in einen unruhigen Schlaf. Mittags wachte er wieder auf und hörte jemanden durch - 182 -
das Unterholz kommen. Er zog sich tiefer in den Dschungel zurück und suchte sich etwas zu essen. Dann entschloß er sich, die Sache nochmal zu durchdenken. Aber es fiel ihm nichts ein. Seine Gedanken wanderten nur zu Anita und dem Schmerz, sie verloren zu haben. Den ganzen restlichen Tag wanderte er untröstlich durch den Dschungel, und am späten Nachmittag hörte er wieder das Geräusch von jemandem, der durch das Unterholz brach. Er wandte sich ab, um tiefer ins Innere der Insel auszuweichen. Dann hörte er jemand seinen Namen rufen. »Danta! Danta, warte!« Es war Anita. Danton zögerte und wußte nicht, was er tun sollte. Sie mochte sich entschlossen haben, ihr Volk zu verlassen, um mit ihm im jungfräulichen Dschungel zu leben. Aber realistischer war es schon, davon auszugehen, daß man sie als Lockvogel benutzte, um ihn abzuknallen. Woher sollte er wissen, wo ihre Loyalität lag? »Danta! Wo bist du?« Danton erinnerte sich nachdrücklich daran, daß zwischen ihnen beiden nie etwas sein konnte. Ihr Volk hatte gezeigt, was es von Eingeborenen hielt. Sie würden ihm immer mißtrauen, immer versuchen, ihn umzubringen … »Bitte, Danta!« Danton zuckte mit den Schultern und lief auf die Stimme zu. Sie trafen sich auf einer kleinen Lichtung. Anitas Haar war zerzaust, und ihre Khakis waren von den Dschungel- 183 -
dornen zerrissen, aber für Danton würde es niemals eine schönere Frau geben. Für einen kurzen Moment glaubte er wirklich, daß sie kam, um mit ihm zu fliehen. Dann sah er bewaffnete Männer zwanzig Meter hinter ihr. »Es ist alles in Ordnung!« rief Anita. »Sie wollen dich nicht umbringen. Sie sind nur mitgekommen, um mich zu beschützen.« »Dich beschützen? Vor mir?« Danton lachte dumpf. »Sie kennen dich nicht so wie ich«, erklärte Anita. »Bei der Ratsversammlung heute morgen habe ich allen die Wahrheit gesagt.« »Hast du das?« »Natürlich. Dieser Kampf war nicht deine Schuld, und das habe ich allen klargemacht. Ich habe ihnen erzählt, daß du dich nur verteidigt hast. Und Jedekiah log. Keine Meute von Eingeborenen hat ihn angegriffen. Es gab nur dich, und das wissen jetzt alle.« »Gutes Mädchen«, hauchte Danton begeistert. »Haben sie dir geglaubt?« »Ich denke schon. Ich habe ihnen erklärt, daß der Eingeborenenangriff erst später kam.« Danton stöhnte. »Schau mal, wie kann es einen Eingeborenenangriff gegeben haben, wenn es hier überhaupt keine Eingeborenen gibt?« »Aber sie sind hier überall«, sagte Anita. »Ich habe sie doch selbst rufen gehört.« »Das waren deine eigenen Leute.« Danton versuchte, - 184 -
sich etwas einfallen zu lassen, mit dem er sie überzeugen konnte. Wenn er es nicht einmal schaffte, dieses eine Mädchen zu überzeugen, wie sollte er es dann beim Rest der Hutter schaffen? Und dann fiel es ihm ein. Es war eine sehr einfache Probe, aber ihr Effekt mußte überwältigend sein. »Du glaubst wirklich, daß es einen großen Eingeborenenangriff gegeben hat«, stellte Danton fest. »Natürlich.« »Wie viele Eingeborene?« »Ich habe gehört, daß ihr mindestens zehn zu eins überlegen seid.« »Und wir waren bewaffnet?« »Und ob ihr das seid.« »Wie kommt es dann«, fragte Danton triumphierend, »daß nicht ein einziger Hutter verwundet worden ist?« Sie starrte ihn mit großen Augen an. »Aber, DantaSchatz, viele von den Huttern sind verwundet, einige ernsthaft. Es ist ein Wunder, daß in dem ganzen Kampfgetümmel niemand getötet wurde!« Danton fühlte sich, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Für eine schreckliche Minute glaubte er ihr selbst. Die Hutter waren sich so sicher! Vielleicht hatte er einen Stamm, hatte wirklich Hunderte von bronzenen Wilden hinter sich, die im Dschungel versteckt lagen …« »Der Händler, der dir Englisch beigebracht hat«, sagte - 185 -
Anita, »muß ein verdammt skrupelloser Bursche gewesen sein. Weißt du, es verstößt gegen die interstellaren Gesetze, Feuerwaffen an Eingeborene zu verkaufen. Eines Tages wird man ihn fassen und dann …« »Feuerwaffen?« »Sicher. Natürlich konntet ihr noch nicht sehr zielsicher damit umgehen. Aber Simeon sagt, daß eure pure Feuerkraft schon …« »Ich nehme an, all eure Verwundeten haben Schüsse abbekommen.« »Ja. Die Männer haben euch nicht nahe genug herangelassen für Speere und Messer.« »Ich verstehe«, sagte Danton. Sein Beweis war völlig in sich zusammengebrochen. Aber er fühlte sich enorm erleichtert, weil er nun wußte, daß er doch nicht verrückt war. Die schlecht organisierten Hutter-Soldaten waren durch den Dschungel gelaufen und hatten auf alles geschossen, was sich bewegte – gegenseitig. Natürlich hatten sie ganz schön was abbekommen. Es war fast ein Wunder, daß sie sich nicht gegenseitig umgebracht hatten. »Aber ich habe ihnen erklärt, daß sie dir nicht die Schuld dafür geben können«, fuhr Anita fort. »Du wurdest zuerst angegriffen, und dein Volk muß geglaubt haben, daß du in Gefahr warst. Die Ältesten glauben, das sei durch Zeugenaussagen belegt.« »Nett von ihnen«, sagte Danton. »Sie wollen vernünftig sein. Sie erkennen jedenfalls an, daß ihr Eingeborenen menschliche Wesen seid, wie wir selbst.« - 186 -
»Seid ihr euch da so sicher?« fragte Danton mit bitterer Ironie. »Selbstverständlich. Deshalb hielten die Ältesten eine lange Besprechung über unsere Eingeborenenpolitik ab und entschieden die Sache ein- für allemal. Wir geben dir und deinem Volk ein Reservat von tausend Morgen. Das müßte euch doch reichen, oder? Unsere Männer schlagen schon die Grenzpfosten ein. Ihr werdet jetzt friedlich in eurem Reservat leben und wir leben in unserem Teil der Insel.« »Was?« sagte Danton. »Und um diese Vereinbarung zu besiegeln«, fuhr Anita fort, »bitten die Ältesten dich, dies hier anzunehmen.« Sie reichte ihm eine Pergamentrolle. »Was ist das?« »Es ist ein Friedensvertrag, der den HutterNeutahitianer-Krieg für beendet erklärt und unsere Völker zu ewiger Freundschaft verpflichtet.« Benommen nahm Danton das Pergament in Empfang. Er sah, daß die Männer in einiger Entfernung rot-schwarzgestreifte Pfosten in die Erde schlugen. Sie sangen bei der Arbeit, glücklich, eine Lösung für das Eingeborenen-Problem gefunden zu haben, und das so schnell und einfach. »Aber glaubst du nicht«, fragte Danton, »daß vielleicht – Assimilation die bessere Lösung wäre?« »Ich schlug das vor«, sagte Anita errötend. »Das hast du? Du meinst, du würdest mit mir …?« »Natürlich würde ich«, versicherte Anita, ohne ihn - 187 -
anzusehen. »Ich glaube, die Vereinigung zweier starker gesunder Rassen ist eine feine und wunderbare Sache. Und, Danta, was für herrliche Geschichten und Legenden könntest du den Kindern erzählen!« »Ich könnte ihnen beibringen, wie man jagt und fischt«, sagte Danton, »und welche Pflanzen eßbar sind und all solches Zeug.« »Und all deine farbenprächtigen Stammestänze und die Lieder …« Anita seufzte. »Es wäre wundervoll gewesen. Tut mir wirklich leid, Danta.« »Aber es muß doch eine Möglichkeit geben! Kann ich nicht mit den Ältesten reden? Kann ich denn gar nichts tun?« »Nichts«, sagte Anita. »Ich würde mit dir fortlaufen, Danta. Aber sie würden uns aufspüren, egal wie lange sie dafür brauchen.« »Sie werden uns nie finden«, versprach Danton. »Vielleicht. Ich würde es riskieren.« »Liebling!« »Aber ich kann es nicht. Dein armes Volk, Danta! Die Hutter würden Geiseln nehmen und sie umbringen, wenn man mich nicht ausliefert.« »Ich habe kein Volk! Ich habe keins, verdammt noch mal!« »Wie lieb von dir, das zu sagen«, versicherte Anita zärtlich. »Aber man darf nicht einfach für die Liebe von zwei Individuen fremde Leben opfern. Du mußt deinem Volk sagen, daß es die Reservatsgrenze nicht überschreiten darf, Danta. Sonst erschießt man deine Leute. Lebe wohl - 188 -
und denk daran, auf dem Pfad des Friedens lebt man am besten.« Sie eilte davon. Danton sah ihr nach, wütend über ihre edle Gesinnung, durch die sie jetzt grundlos getrennt waren, doch voller Liebe zu ihr für die Liebe, die sie seinem Volk gezeigt hatte. Daß sein Volk nur in der Einbildung existierte, zählte nicht. Der Gedanke allein war schön. Schließlich wandte er sich ab und wanderte tief in den Dschungel hinein. Er machte an einem kleinen Teich mit schwarzem Wasser halt, über den riesige Bäume ihr Blattwerk breiteten. Blühende Farne umgaben das Ufer. Dort ließ er sich nieder und plante den Rest seines Lebens. Anita war fort. Jede Möglichkeit der menschlichen Gesellschaft war fort. Er brauchte niemanden von ihnen, sagte er sich selbst, er hatte sein Reservat. Er konnte einen neuen Gemüsegarten anlegen, noch mehr Statuen schnitzen, noch mehr Sonaten komponieren, noch ein Tagebuch anfangen … »Zum Teufel damit!« schrie er die Bäume an. Er wollte nicht mehr länger sublimieren. Er wollte Anita, und er wollte mit Menschen leben. Er war es satt, allein zu sein. Was konnte er also unternehmen? Es schien keinen Ausweg zu geben. Er lehnte sich gegen einen Stamm und starrte in Neutahitits unglaublich blauen Himmel. Wenn nur die Hutter nicht so abergläubisch wären, so auf der Hut vor Eingeborenen, so martialisch … Und dann kam er ihm, ein Plan, der so absurd war, so gefährlich … - 189 -
»Es ist den Versuch wert«, sagte Danton zu sich selbst. »Selbst wenn sie mich dabei umbringen.« Er machte sich auf den Weg zur Reservatsgrenze. Ein Hutter-Posten sah ihn, als er in die Nähe des Raumschiffs kam und senkte das Gewehr. Danton hob beide Arme über den Kopf. »Nicht schießen! Ich habe mit euren Führern zu sprechen.« »Zurück in dein Reservat!« warnte der Posten. »Geh zurück, oder ich schieße.« »Ich muß mit Simeon reden«, beharrte Danton und rührte sich nicht vom Fleck. »Befehl ist Befehl«, sagte der Posten und legte an. »Warte eine Minute.« Simeon trat aus dem Raumschiff und runzelte die Stirn. »Was soll das hier werden?« »Dieser Eingeborene ist zurück«, sagte der Posten. »Soll ich ihn abknallen, Kommandant?« »Was willst du?« fragte Simeon Danton. »Ich bin hierhergekommen«, brüllte Danton, »um den Krieg zu erklären!« Das brachte das Hutter-Lager auf die Beine. In ein paar Minuten hatten sich Männer, Frauen und Kinder um das Raumschiff geschart. Die Ältesten, ein Rat von alten Männern, die an ihren langen weißen Barten leicht zu erkennen waren, standen abseits und konferierten. »Du hast den Friedensvertrag akzeptiert«, warf ihm Simeon vor. »Ich mußte mit den anderen Häuptlingen der Insel - 190 -
reden«, erklärte Danton und trat vor. »Wir empfinden den Vertrag als ungerecht. Neutahiti gehört uns. Es gehörte unseren Vätern und den Vätern unserer Väter. Hier haben wir unsere Kinder aufgezogen, unser Korn gesät und die Brotfrucht geerntet. Wir werden nicht in der Reservation leben!« »Oh, Danta!« rief Anita, die aus dem Raumschiff kam. »Ich bat dich, deinem Volk Frieden zu bringen!« »Sie wollten nicht zuhören«, berichtete Danton. »Alle Stämme versammeln sich. Nicht nur mein eigenes Volk, die Kinodschi, auch die Drowati, die Lorognasti, die Retelsbroichi und sogar die Witelli. Dazu natürlich ihre Nebenstämme und Hörigen.« »Wie viele seid ihr?« fragte Simeon. »Fünfzig- oder sechzigtausend. Selbstverständlich haben wir nicht alle Gewehre. Die meisten von uns werden mit primitiveren Waffen kämpfen wie vergifteten Pfeilen und Wurfspießen.« Ein nervöses Murmeln lief durch die Reihen der Siedler. »Viele von uns werden sterben«, sagte Danton mit steinernem Gesicht. »Uns kümmert es nicht. Jeder Neutahitianer wird wie ein Löwe kämpfen. Wir sind tausend gegen einen von euch. Wir haben Vettern auf den anderen Inseln, die uns zu Hilfe eilen werden. Wie hoch der Preis an Menschenleben und Mütterleid auch sein wird, wir werden euch in das Meer treiben. Ich habe gesprochen.« Er wandte sich um und schritt zurück in den Dschungel, jede Bewegung voller steifer Würde. - 191 -
»Soll ich ihn jetzt abknallen, Kommandant?« bettelte der Posten. »Das Gewehr runter, du Idiot!« fuhr Simeon ihn an. »Warte, Danta! Sicher können wir uns einigen. Blutvergießen ist sinnlos.« »Damit stimme ich überein«, verkündete Danton düster. »Was wollt ihr?« »Gleiche Rechte!« Die Ältesten traten sofort zu einer Notstandssitzung zusammen. Simeon hörte ihnen zu, dann kam er wieder zu Danton. »Das könnte in Ordnung gehen, gibt es sonst noch etwas?« »Nichts«, sagte Danton, »außer natürlich eine Verbindung zwischen dem herrschenden Clan der Hutter und dem herrschenden Clan der Neutahitianer, um unseren Pakt zu besiegeln. Heirat wäre das Sicherste.« Nach weiterer Beratung erteilten die Ältesten Simeon ihre Instruktionen. Der Militärkommandant war offensichtlich verwirrt. Die Muskeln an seinem Nacken traten vor, aber mit äußerster Anstrengung beherrschte er sich und nickte zustimmend. Er marschierte wieder zu Danton. »Die Ältesten haben mich autorisiert«, sagte er, »dir eine Blutsbruderschaft anzubieten. Du und ich als Repräsentanten der herrschenden Clans unserer Völker werden unser Blut in einer wunderbaren, symbolischen Zeremonie vermischen, dann das Brot brechen, das Salz –« »Tut mir leid«, unterbrach Danton. »Bei uns auf - 192 -
Neutahiti gibt es so etwas nicht. Es muß eine Heirat sein.« »Aber verdammt, Mann …« »Das ist mein letztes Wort.« »Wir werden das nie akzeptieren! Nie!« »Dann wählt ihr den Krieg«, verkündete Danton und marschierte in den Dschungel zurück. Er war in der Stimmung für Krieg. Aber wie, fragte er sich, kämpft man als einzelner Eingeborener gegen ein Raumschiff voller bewaffneter Männer? Während er noch darüber brütete, kamen Simeon und Anita durch den Dschungel zu ihm. »In Ordnung«, erklärte Simeon wütend. »Die Ältesten haben entschieden. Wir Hutter haben es satt, von Planet zu Planet ziehen zu müssen. Wir haben dieses Problem schon früher gehabt, und ich nehme an, wir würden es überall wieder haben. Uns steht das ganze Eingeborenen-Problem im Hals, nehme ich an …« Er schluckte hart, schaffte es aber dann doch, weiterzusprechen. »Wir werden uns besser assimilieren. Jedenfalls halten die Ältesten das für das Beste. Ich persönlich würde lieber kämpfen.« »Ihr würdet verlieren«, versicherte Danton ihm, und in diesem Moment fühlte er sich, als würde er die Hutter mit der linken Hand erledigen. »Mag sein«, gab Simeon zu. »Wie dem auch sei, du kannst Anita dafür danken, daß sie den Frieden möglich gemacht hat.« »Anita? Warum?« »Warum, Mann? Sie ist das einzige Mädchen im ganzen - 193 -
Lager, das einen nackten dreckigen, heidnischen Wilden heiraten will!« Und so wurden sie verheiratet, und Danta, den man nun als Des-Weißen-Mannes-Freund kannte, ließ sich bei den Huttern nieder, um ihnen bei der Erschließung ihres neuen Landes zu helfen. Sie zeigten ihm dafür die Wunder der Zivilisation. Man lehrte ihn Zwölfhandbrücke und Massentanz. Und bald bauten die Hutter ihre erste U-Bahn – denn ein zivilisiertes Volk muß seine Aggressionen abbauen –, und auch dieses Spiel brachte man Danta bei. Er gab sich Mühe, den Geist der klassischen irdischen Freizeitvergnügen zu begreifen, aber das ging offensichtlich über den Horizont seiner wilden Seele. Die Zivilisation bedrückte ihn, und so zogen Danta und seine Frau über den Planeten, folgten immer den Grenzen und wichen vor der sich ausweitenden Zivilisation zurück. Anthropologen besuchten ihn regelmäßig. Sie zeichneten alle Geschichten auf, die er seinen Kindern erzählte, die uralten herrlichen Legenden von Neutahiti – Geschichten von Himmelsgöttern und Wasserdämonen, Feuergeistern und Waldnymphen, und wie Katamandura den Auftrag erhielt, die Welt in nur drei Tagen aus dem Nichts zu erschaffen, und wie ihm das gelohnt wurde, und was Jewasi zu Hutmenlati sagte, als sie sich in der Unterwelt trafen, und die wunderbaren Folgen dieses Treffens. Die Anthropologen stellten Ähnlichkeiten zwischen diesen Legenden und gewissen Legenden auf der Erde fest, und darauf basierten sie interessante Theorien. Und sie waren sehr an den großen Kalksteinstatuen auf der Hauptinsel von Neutahiti interessiert, unheimlichen und - 194 -
beängstigenden Arbeiten, die kein Tourist jemals vergaß, eindeutig das Werk einer Prä-Hutter-Rasse, von der man keine Spur mehr auf Neutahiti finden konnte. Was die Wissenschaftler aber am meisten interessierte, war das Problem der alten Neutahitianer selbst. Diese glücklichen, lachenden, bronzenen Wilden, größer, stärker, besser aussehend und gesünder als jede andere Rasse, waren beim Kommen des weißen Mannes dahingeschwunden. Nur ein paar der ältesten Hutter konnten sich noch daran erinnern, sie in großer Zahl gesehen zu haben, doch ihre Geschichten galten als nicht sehr verläßlich. »Mein Volk?« pflegte Danta zu sagen, wenn man ihn ausfragte. »Ach, sie konnten die Krankheiten des weißen Mannes nicht ertragen, die mechanische Zivilisation des weißen Mannes und seine harte repressive Art zu leben. Sie sind zu einem glücklicheren Ort aufgefahren, nach Walhulla jenseits des Himmels. Und eines Tages werde auch ich dorthin ziehen.« Und jene weißen Männer, die dies hörten, spürten eine seltsame, unerklärliche Schuld und verdoppelten ihre Bemühungen, Danta Freundlichkeiten zu zeigen – dem letzten Eingeborenen.
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Fütterungszeit
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Treggis war sehr erleichtert, als der Besitzer des Buchladens nach vorn ging, um einen anderen Kunden zu bedienen. Schließlich war es außerordentlich nervenaufreibend, ständig einen gebückten, bebrillten, kriecherischen alten Mann neben sich stehen zu haben; einen alten Mann, der auf die Buchseite starrte, die man gerade betrachtete, der mit einem knorrigen, schmutzigen Finger hierhin und dorthin zeigte und dabei unterwürfig mit einem tabakbefleckten Taschentuch Staub von den Regalen wischte. Ganz zu schweigen von dem Verdruß, sich die heiseren, schrill klingenden Lebenserinnerungen dieses Kerles anhören zu müssen. Zweifelsohne meinte er es gut, aber es hatte schließlich alles seine Grenze. Man konnte nichts weiter tun, als höflich zu lächeln und zu hoffen, daß die kleine Glocke über der Ladentür läutete – wie es dann auch geschehen war. Treggis begab sich in den hinteren Teil des Ladens und hoffte, der widerliche kleine Mann würde nicht nach ihm suchen. Er ging an einem halben Hundert griechischer Titel vorüber, dann an der populärwissenschaftlichen Abteilung. Als nächstes passierte er, in einem eigenartigen Durcheinander von Autoren und Titeln, Edgar Rice Burroughs, Anthony Trollope, Theosophie und die Gedichte von Longfellow. Je weiter er nach hinten ging, desto dicker wurde der Staub, desto weniger kahle Glühbirnen hingen über dem Gang und desto höher wurden die Stapel der muffigen, eselsohrigen Bücher. Es war wirklich ein herrlicher alter Ort, und Treggis konnte für sein Leben nicht begreifen, warum er ihn nicht - 197 -
schon früher entdeckt hatte. Buchläden waren in seinem Leben das einzige Vergnügen. Er verbrachte seine gesamte Freizeit in ihnen, glücklich zwischen den Regalen hindurchwandernd. Natürlich war er nur an bestimmten Arten von Büchern interessiert. Am Ende des hohen Bücherberges waren drei weitere Durchgänge, die in einem absurden Winkel auseinanderliefen. Treggis folgte dem mittleren Pfad und dachte darüber nach, daß die Buchhandlung von außen nicht so groß gewirkt hatte; nur eine Tür, halb verborgen zwischen zwei Gebäuden, darüber ein altes, handbeschriftetes Schild. Doch man täuschte sich oft bei diesen alten Läden, denn sie waren häufig beinahe einen halben Häuserblock tief. Der Durchgang teilte sich in zwei weitere Bücherpfade. Treggis wählte den linken und begann Titel zu lesen, die er hier und da mit geübtem Blick heraussuchte. Er war nicht in Eile; wenn er wollte, konnte er den Rest des Tages hier verbringen – ganz zu schweigen von der Nacht. Er war acht oder zehn Fuß den Gang hinuntergeschlurft, ehe ihm ein Titel ins Auge fiel. Es war ein kleines, in Schwarz gebundenes Buch, alt, doch mit jenem alterslosen Aussehen, das manche Bücher haben. Seine Ränder waren abgenutzt, und die Schrift auf dem Einband war verblaßt. »Nun, was enthältst du?« murmelte Treggis leise. Auf dem Einband stand: Pflege und Fütterung des Greif. Und darunter, in kleinerer Schrift: Ratgeber für den Halter. Er wußte, ein Greif war ein mythologisches Ungeheuer, - 198 -
halb Löwe und halb Adler. »Nun gut«, sagte Treggis zu sich selbst. »Wollen mal sehen.« Er schlug das Buch auf und fing an, das Inhaltsverzeichnis zu lesen. Die Überschriften waren: 1. Die Gattung Greif. 2. Eine kurze Geschichte der Greifologie. 3. Unterarten des Greif. 4. Die Nahrung des Greif 5. Der Bau eines natürlichen Lebensraumes für den Greif. 6. Der Greif während der Mauser. 7. Der Greif und … Er klappte das Buch zu. »Dies«, sagte er sich, »ist ganz entschieden – nun ja, ungewöhnlich.« Er überflog die Seiten des Buches, las hier und da einen Satz. Sein erster Gedanke, daß es sich bei dem Buch um eines jener »unnatürlichen« naturhistorischen Werke handelte, die in der Elisabethanischen Zeit so beliebt gewesen waren, erwies sich eindeutig als falsch. Das Buch war nicht alt genug; der Stil hatte nichts Euphemistisches, keinen ausbalancierten Satzbau, keine kunstvolle Antithese und dergleichen. Er war geradeheraus, klar unterteilt, knapp. Treggis überflog einige weitere Seiten und stieß auf folgendes: »Die alleinige Nahrung des Greif sind Jungfrauen. Gefüttert wird einmal im Monat, und es ist ratsam, dabei Vorsicht walten zu lassen –« Er klappte das Buch wieder zu. Dieser Satz löste eine Kette ungewöhnlicher Gedanken aus. Errötend verscheuchte er sie und betrachtete wieder das Regal, in der Hoffnung, weitere Bücher der gleichen Sorte zu finden. Irgend etwas wie Eine kurze Geschichte der Affären der Sirenen, oder vielleicht Die Aufzucht von Minotauren, - 199 -
richtig gemacht. Aber da war nichts auch nur entfernt Ähnliches. Nicht in diesem Regal und, soweit er das beurteilen konnte, auch in keinem anderen. »Etwas gefunden?« fragte eine Stimme hinter ihm. Treggis schluckte, lächelte und hielt das alte schwarze Buch hoch. »Oh ja«, sagte der alte Mann und wischte den Staub von dem Einband. »Das ist ein sehr seltenes Buch, das hier.« »Oh, ist es das?« murmelte Treggis. »Greife«, sagte der alte Mann grüblerisch, während er das Buch durchblätterte, »sind sehr selten. Es sind sehr seltene – Tiere«, schloß er nach einem Augenblick des Nachdenkens. »Einen Dollar fünfzig für dieses Buch, Sir.« Treggis machte sich, seine Erwerbung unter den dünnen rechten Arm geklemmt, davon. Er ging schnurstracks nach Hause. Es war nicht gerade alltäglich, daß jemand ein Buch kaufte über die Pflege und Fütterung von Greifen. Treggis' Zimmer hatte auffallende Ähnlichkeit mit einem Secondhand-Buchladen. Es herrschte der gleiche Platzmangel, die gleiche graue Staubschicht lag über allem, und es gab das gleiche, vage arrangierte Chaos von Titeln, Autoren und Buchsorten. Treggis hielt sich nicht damit auf, sich an seinen Schätzen zu weiden. Seine abgegriffenen Wollüstigen Gedichte blieben unbeachtet. Die Psychopathia Sexualis stieß er äußerst unzeremoniell von seinem Sessel, setzte sich und fing an zu lesen. Es gab eine Menge, was bei der Pflege und Fütterung des Greif zu beachten war. Kaum zu glauben, daß ein Geschöpf, das - 200 -
halb Löwe und halb Adler war, dermaßen heikel sein sollte. Es gab auch eine interessante Abhandlung über die Ernährungsgewohnheiten des Greif. Und andere Informationen. Zur reinen Unterhaltung war das Greifenbuch mindestens ebensogut wie sein bisheriges Lieblingsbuch, Havelock Ellis' Vorlesungen über Sex. Am Schluß standen ausführliche Anweisungen, wie man zu dem Zoo gelangte. Die Anweisungen waren, um es vorsichtig auszudrücken, ungewöhnlich. Es war weit nach Mitternacht, als Treggis das Buch zuklappte. Was für eine Ansammlung merkwürdiger Informationen sich zwischen diesen beiden schwarzen Buchdeckeln befand! Besonders ein Satz ging ihm nicht aus dem Kopf: »Die alleinige Nahrung des Greif sind Jungfrauen.« Das beunruhigte ihn. Es schien irgendwie unfair. Nach einer Weile schlug er wieder das Kapitel auf, dessen Überschrift lautete: Anweisungen, wie man zu dem Zoo gelangt. Zweifellos waren sie seltsam. Aber doch auch nicht allzu schwierig. Mit Sicherheit erforderten sie nicht zu viel Körperkraft. Nur ein paar Worte, ein paar Bewegungen. Treggis erkannte plötzlich, wie ermüdend sein Job als Bankangestellter war. So oder so, eine stupide Verschwendung acht wertvoller Stunden eines jeden Tages. Um wieviel interessanter erschien es da, als Tierhalter für die Pflege eines Greif verantwortlich zu sein. Während der Mauser die speziellen Salben zu benutzen, Fragen über Greifologie zu beantworten. Für die Fütterung - 201 -
verantwortlich zu sein. »Die alleinige Nahrung …« »Ja, ja, ja, ja«, murmelte Treggis schnell und lief dabei in seinem engen Zimmer auf und ab. »Ein Schabernack – aber ich könnte die Anweisungen ruhig einmal ausprobieren. Nur so zum Spaß.« Er lachte hohl. Es gab keinen blendend hellen Blitz, kein Donnergetöse, aber Treggis wurde nichtsdestotrotz, augenblicklich, wie es schien, an einen Ort transportiert. Er taumelte einen Moment, gewann dann das Gleichgewicht wieder und öffnete die Augen. Die Sonne blendete ihn. Als er sich umsah, erkannte er, daß jemand die Aufgabe, Den natürlichen Lebensraum des Greif zu bauen, ausgezeichnet gelöst hatte. Treggis marschierte vorwärts und hielt sich dabei recht gut, in Anbetracht des Zitterns seiner Knöchel, seiner Knie und seines Magens. Dann sah er den Greif. Im gleichen Augenblick sah der Greif ihn. Zuerst langsam, dann mit ständig wachsender Geschwindigkeit, kam der Greif auf ihn zu. Er breitete die großen Adlerschwingen aus, streckte die Klauen vor und sprang oder segelte vorwärts. Unkontrolliert zitternd, versuchte Treggis aus dem Weg zu springen. Dann war der Greif über ihm, gewaltig und golden im Sonnenlicht, und Treggis kreischte verzweifelt: »Nein, nein! Die alleinige Nahrung des Greif sind Jung –« Der volle Durchblick kam Treggis, als die Klauen ihn hochhoben, und er kreischte noch einmal. - 202 -
Durchhalten ist alles
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Die Besatzungsmitglieder eines Raumschiffs müssen Freunde sein. Sie müssen harmonisch leben, um jenes sekundenschnelle Aufeinander-eingespielt-Sein zu erzielen, das von Zeit zu Zeit notwendig wird. Im Weltraum reicht in der Regel bereits ein Fehler. Es ist unbestritten, daß selbst die besten Schiffe ihre Unfälle haben; die zweitklassigen überleben nicht. Wenn man das weiß, ist zu begreifen, wie Kapitän Sven sich fühlte, als ihm, vier Stunden vor dem Start, mitgeteilt wurde, daß der Funker Forbes nicht mit dem neuen Ersatzmann zusammenarbeiten wolle. Forbes war mit dem neuen Ersatzmann noch nicht zusammengetroffen und wollte das auch nicht. Von ihm zu hören hatte genügt. Es sei nicht persönlich gemeint, erklärte Forbes. Seine Weigerung beruhe ausschließlich auf rassischen Gründen. »Sind Sie sicher?« fragte Kapitän Sven, als sein ChefIngenieur mit der Neuigkeit auf die Brücke kam. »Völlig sicher, Sir«, sagte Ingenieur Hao. Er war ein kleiner, flachgesichtiger, gelbhäutiger Mann aus Kanton. »Wir versuchten, es allein in Ordnung zu bringen. Aber Forbes will sich nicht beugen.« Kapitän Sven setzte sich schwer auf seinen gepolsterten Stuhl. Er war tief schockiert. Er hatte Rassenhaß für eine Sache aus ferner Vergangenheit gehalten. Ihn im wirklichen Leben anzutreffen, befremdete Sven so, wie ihn die Begegnung mit einem Dodo, einem Moa, oder einem Moskito befremdet haben würde. - 204 -
»Rassismus in diesem Zeitalter!« sagte Sven. »Das ist wirklich grotesk. Es ist genauso, als würde mir berichtet, daß sie Ketzer auf dem Dorfplatz verbrennen, oder Krieg mit Kobaltbomben androhen.« »Vorher gab es nie irgendwelche Anzeichen dafür«, sagte Hao. »Es kam völlig überraschend.« »Sie sind der älteste Mann auf dem Schiff«, sagte Sven. »Haben Sie versucht, ihn von dieser Haltung abzubringen?« »Ich habe stundenlang mit ihm geredet«, sagte Hao. »Ich habe deutlich gemacht, daß wir Chinesen jahrhundertelang die Japaner haßten, und umgekehrt. Wenn wir unsere Antipathie zum Wohle der Großen Kooperation überwinden konnten, warum nicht er?« »Hat es etwas genützt?« »Kein bißchen. Er sagte, das sei einfach nicht dasselbe.« Sven biß mit einer wütenden Geste die Spitze einer Zigarre ab, zündete sie an und paffte einen Augenblick. »Gut, ich will verdammt sein, wenn ich so etwas auf meinem Schiff dulde. Ich werde einen anderen Funker auftreiben!« »Das wird nicht so leicht sein, Sir«, sagte Hao. »Nicht hier.« Sven runzelte nachdenklich die Stirn. Sie befanden sich auf Discaya II, einer kleinen Randwelt in den Southern Star Reaches. Hier hatten sie eine Ladung aus Maschinenteilen gelöscht und den von der Company zugeteilten Ersatzmann an Bord genommen, der die unschuldige Ursache des ganzen Ärgers war. Discaya hatte eine Menge ausgebildeter - 205 -
Männer, aber sie waren alle Spezialisten für Hydraulik, Bergbau und damit verwandte Gebiete. Der einzige FunkOperator des Planeten war hier glücklich und zufrieden, hatte auf Discaya Frau und Kinder, besaß ein Haus in einer schönen Vorstadt und wäre niemals auf die Idee gekommen, wegzugehen. »Lächerlich, völlig lächerlich«, sagte Sven. »Ich kann auf Forbes nicht verzichten, und ich darf den neuen Mann nicht zurücklassen. Das wäre nicht fair. Außerdem würde mich die Company dann wahrscheinlich feuern. Und zu Recht, zu Recht. Ein Kapitän muß mit Ärger auf seinem Schiff fertigwerden können.« Hao nickte finster. »Wo stammt dieser Forbes her?« »Von einer Farm bei einem abgelegenen Dorf im Bergland der südlichen Vereinigten Staaten. Georgia, Sir. Vielleicht haben Sie schon einmal davon gehört?« »Ich denke ja«, sagte Sven, der in Uppsala einen Kurs über regionale Eigenheiten belegt hatte, um besser auf den Beruf des Kapitäns vorbereitet zu sein. »Georgia produziert Erdnüsse und Schweinefleisch.« »Und Männer«, ergänzte Hao. »Starke, tüchtige Männer. Georgianer arbeiten an allen Fronten, und im Vergleich zu Georgias Gesamtbevölkerung sind es unverhältnismäßig viele. Ihre Reputation ist unübertroffen.« »Ich weiß das alles«, brummte Sven. »Und Forbes ist ein erstklassiger Mann. Aber dieser Rassismus –« »Forbes kann nicht als typisch gelten«, sagte Hao. »Erwuchs in einer kleinen, isolierten Gemeinschaft auf, - 206 -
weit ab vom Strom des amerikanischen Lebens. Ähnliche Gemeinschaften überall auf der Welt entwickeln seltsame Bräuche und halten an ihnen fest. Ich erinnere mich an ein Dorf in Honan, wo –« »Ich kann es immer noch kaum glauben«, sagte Sven und unterbrach so das, was ein langer Vortrag über chinesisches Landleben zu werden versprach. »Und es gibt einfach keine Entschuldigung dafür. Alle Gemeinschaften haben als Erbe irgendeine Art von rassischem Bewußtsein. Doch jeder einzelne ist selbst dafür verantwortlich, sich davon zu befreien, wenn er sich der Hauptströmung des terranischen Lebens anschließt. Andere haben das getan. Warum nicht Forbes? Warum muß er uns mit seinen Problemen belästigen? Hat man ihn denn gar nichts über die Große Kooperation gelehrt?« Hao zuckte die Achseln. »Würden Sie mit ihm sprechen, Kapitän?« »Ja. Warten Sie, ich will zuerst mit Angka reden.« Der Chef-Ingenieur verließ die Brücke. Sven blieb tief in Gedanken versunken zurück, bis er hörte, wie an die Tür geklopft wurde. »Herein.« Angka trat ein. Er war ein Ladungs-Maat, ein großer, stattlicher Mann, dessen Haut die Farbe einer reifen Pflaume hatte. Er war ein reinrassiger Neger aus Ghana und ein erstklassiger Gitarrenspieler. »Ich nehme an«, sagte Sven, »Sie wissen alles über unser Problem.« »Es ist bedauerlich, Sir«, sagte Angka. - 207 -
»Bedauerlich? Es ist schlichtweg eine Katastrophe! Sie kennen das Risiko, das ein Flug unter diesen Umständen bedeutet. Ich muß in weniger als drei Stunden starten. Wir können nicht ohne Funker fliegen, und wir brauchen auch den Ersatzmann.« Angka stand unbewegt da und wartete. Sven streifte einen Inch weißer Asche von seiner Zigarre ab. »Hören Sie, Angka. Sie müssen wissen, warum ich Sie herbestellt habe.« »Ich kann es mir denken, Sir«, sagte Angka grinsend. »Sie sind Forbes' bester Freund. Können Sie ihn nicht umstimmen?« »Ich hab's versucht, Kapitän, Gott weiß, ich hab's versucht. Aber Sie kennen ja die Georgianer.« »Ich fürchte, nein.« »Prima Männer, Sir, aber störrisch wie Maultiere. Wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt haben, bleibt's dabei. Ich habe mit Forbes zwei Tage lang darüber geredet. Ich habe ihn letzte Nacht betrunken gemacht – natürlich aus streng dienstlichen Gründen, Sir«, fügte Angka hastig hinzu. »Schon in Ordnung. Fahren Sie fort.« »Und ich sprach zu ihm, wie ich zu meinem eigenen Sohn sprechen würde. Hab' ihn daran erinnert, wie gut die Crew bis jetzt miteinander ausgekommen ist. An all den Spaß, den wir in den Häfen hatten. Daran, wie gut es mit der Kooperation aussah. Sieh mal, Jimmy, habe ich zu ihm gesagt, mach' so weiter, und du wirst das alles kaputtmachen. Das willst du doch nicht, nicht wahr, habe ich ihn - 208 -
gefragt. Er plärrte wie ein Baby, Sir.« »Aber er änderte seine Meinung nicht?« »Er hat gesagt, er könnte nicht. Er hat gemeint, ich solle es aufgeben. Es gäbe eine einzige Rasse in dieser Galaxis, mit der er nicht zusammenarbeiten würde, und es hätte keinen Sinn, darüber zu diskutieren. Er hat gesagt, sein Pappi würde sich im Grab herumdrehen, wenn er es täte.« »Besteht Aussicht, daß er seine Meinung noch ändert?« fragte Sven. »Ich werde es weiter versuchen, aber ich glaube, es ist aussichtslos.« Er ging. Kapitän Sven saß da, das Kinn in eine große Hand gestützt. Er sah erneut auf den Schiffschronometer. Weniger als drei Stunden bis zum Start! Er nahm das Mikrofon des Interkom und bat um eine direkte Verbindung zum Raumhafen-Tower. Als er Kontakt mit dem Offizier vom Dienst harte, sagte er: »Ich bitte um Erlaubnis, noch ein paar Tage bleiben zu dürfen.« »Ich wünschte, ich könnte es erlauben, Kapitän Sven«, sagte der Offizier. »Aber wir brauchen den Startschacht. Wir können hier immer nur ein interstellares Schiff abfertigen. In fünf Stunden kommt ein Erzfrachter aus Calayo. Sie werden wahrscheinlich knapp mit Treibstoff sein.« »Das sind sie immer«, sagte Sven. »Ich sag Ihnen, was wir tun können. Wenn Sie ernstliche technische Schwierigkeiten haben, können wir ein paar Kräne auftreiben, Ihr Schiff in die Horizontale kippen und es vom Landefeld schleppen. Könnte allerdings eine ganze - 209 -
Weile dauern, bis wir es wieder aufstellen können.« »Danke, ist schon gut. Ich werde planmäßig starten.« Er beendete das Gespräch. Er konnte nicht zulassen, daß sein Schiff auf diese Weise abgeschoben wurde. Die Company würde dann ihn abschieben, da bestand kein Zweifel. Doch es gab einen Weg, den er einschlagen konnte. Einen unangenehmen, aber notwendigen. Er stand auf, warf den erloschenen Zigarrenstummel weg und marschierte von der Brücke. Er ging ins Krankenrevier des Schiffes. Der Arzt saß, in seinem weißen Kittel, da, hatte die Füße auf dem Schreibtisch und las ein drei Monate altes deutsches Medizin-Journal. »Willkommen, Käpt'n. Wie wär's mit einem Schluck streng medizinischen Brandy?« »Den könnte ich vertragen«, sagte Sven. Der junge Arzt schenkte eine heilsame Dosis aus einer Flasche ein, die die Aufschrift Sumpffieber-Kultur trug. »Warum das Etikett?« fragte Sven. »Hält die Männer davon ab, zu kosten. Sie müssen das Limonenextrakt des Kochs stehlen.« Der Arzt hieß Yitzhak Vilkin. Er war ein Israeli, hatte an der neuen medizinischen Schule in Beersheba promoviert. »Sie kennen das Forbes-Problem?« fragte Sven. »Alle kennen es.« »Ich frage Sie in Ihrer Eigenschaft als medizinischer Offizier an Bord dieses Schiffes: Haben Sie je zuvor irgendwelche Anzeichen von Rassenhaß bei Forbes beobachtet?« - 210 -
»Niemals«, antwortete Vilkin sofort. »Sind Sie sicher?« »Israelis haben ein Gespür für solche Dinge. Ich versichere Ihnen, es kam für mich völlig überraschend. Seitdem hatte ich natürlich einige längere Gespräche mit Forbes.« »Irgendwelche Schlußfolgerungen?« »Er ist ehrlich, tüchtig, geradeheraus und ein wenig einfach. Er hat einige antiquierte Ansichten in Form von alten Traditionen. Die Berg-Georgianer besitzen eine beachtliche Menge solcher Bräuche. Sie wurden häufig von Anthropologen aus Samoa und Fiji untersucht. Haben Sie Reifezeit in Georgia nicht gelesen, oder Sitten und Bräuche im Georgia-Bergland?« »Ich habe keine Zeit für solche Dinge«, sagte Sven. »Ich habe so schon genug damit zu tun, dieses Schiff in Betrieb zu halten, auch ohne daß ich mich in die individuelle Psychologie jedes einzelnen Besatzungsmitgliedes einlese.« »Das glaube ich, Käpt'n«, sagte der Arzt. »Nun, diese Bücher stehen in der Schiffsbibliothek, wenn Sie einen Blick hineinwerfen wollen. Ich wüßte nicht, wie ich Ihnen helfen könnte. Umerziehung braucht Zeit. Außerdem bin ich medizinischer Offizier und kein Psychologe. Die nackten Tatsachen sind diese: Es gibt eine einzige Rasse, mit der Forbes nicht zusammenarbeiten will, eine Rasse, die ihn dazu bringt, all seine altertümlichen rassischen Feindseligkeiten aufleben zu lassen. Durch einen unglücklichen Zufall gehört Ihr neuer Mann ausgerechnet dieser Rasse an.« - 211 -
»Ich lasse Forbes zurück«, sagte Sven abrupt. »Der Kommunikations-Offizier kann lernen, das Funkgerät zu bedienen. Forbes kann das nächste Schiff zurück nach Georgia nehmen.« »Das würde ich nicht empfehlen.« »Warum nicht?« »Forbes ist bei der Crew sehr beliebt. Sie glauben, daß er verdammt unvernünftig ist, aber sie wären gar nicht glücklich, wenn wir ohne ihn losfliegen.« »Noch mehr Ärger«, überlegte Sven. »Gefährlich, sehr gefährlich. Aber verdammt nochmal, ich kann den neuen Mann nicht zurücklassen. Ich will es nicht. Es ist nicht fair! Wer führt eigentlich dieses Schiff, ich oder Forbes?« »Eine sehr interessante Frage«, bemerkte Vilkin und duckte sich rasch, als der zornige Kapitän sein Glas nach ihm warf. Kapitän Sven ging in die Schiffsbibliothek, wo er Reifezeit in Georgia und Sitten und Bräuche im GeorgiaBergland überflog. Sie schienen nicht sonderlich hilfreich zu sein. Er dachte einen Moment nach und sah auf die Uhr. Noch zwei Stunden bis zum Start! Er eilte in den Navigationsraum. In dem Raum war Ks'rat. Ks'rat, ein Venusbewohner, hockte auf einem Schemel und inspizierte die HilfsNavigationsinstrumente. Er hielt einen Sextanten in drei Händen und polierte gerade die Spiegel mit seinem Fuß, seiner geschicktesten Gliedmaße. Als Sven hereinkam, wurde der Venusianer orangebraun, um seinen Respekt vor Svens Autorität zu bezeugen, dann kehrte er zu seinem - 212 -
üblichen Grün zurück. »Wie geht's?« fragte Sven. »Bestens«, sagte Ks'rat. »Abgesehen von dem ForbesProblem, natürlich.« Er benutzte eine manuelle Schalldose, da die Venusianer keine Stimmbänder besaßen. Zuerst waren diese Schalldosen rauh und metallisch gewesen; doch die Venusianer hatten sie ständig modifiziert, bis die typische venusianische »Stimme« ein weiches, samtiges Flüstern war. »Wegen Forbes bin ich hergekommen«, sagte Sven. »Sie sind kein Terraner. Tatsächlich sind Sie sogar nichtmenschlich. Ich dachte, Sie könnten ein neues Licht auf das Problem werfen. Irgend etwas, das ich vielleicht übersehen habe.« Ks'rat überlegte, dann wurde er grau; seine »unsichere« Farbe. »Ich fürchte, ich kann nicht viel helfen, Kapitän Sven. Wir hatten niemals irgendwelche rassischen Probleme auf Venus. Obgleich man die Sclarda-Situation vielleicht als Parallele betrachten könnte –« »Nicht wirklich«, sagte Sven. »Das war mehr ein religiöses Problem.« »Etwas anderes fällt mir nicht ein. Haben Sie versucht, den Mann umzustimmen?« »Alle anderen haben es versucht.« »Sie könnten mehr Glück haben, Kapitän. Als ein Autoritätssymbol können Sie vielleicht die Vaterfigur in ihm verdrängen. Versuchen Sie, mit diesem Vorteil ihm den wahren Grund seiner emotionellen Reaktion bewußt zu machen.« - 213 -
»Es gibt keinen Grund für Rassenhaß.« »Vielleicht nicht vom Standpunkt abstrakter Logik aus. Doch in einer menschlichen Betrachtungsweise werden Sie vielleicht eine Antwort und einen Schlüssel finden. Versuchen Sie, herauszufinden, was Forbes fürchtet. Wenn Sie ihn dazu bringen, seine eigenen Motive realistischer zu beurteilen, läßt er sich möglicherweise umstimmen.« »Ich werde mir das alles merken«, sagte Sven mit einem Sarkasmus, der gegenüber dem Venusianer nutzlos war. Aus dem Interkom ertönte das Kapitäns-Signal. Es war der Erste Maat. »Kapitän! Der Tower will wissen, ob Sie nach Plan starten.« »Das werde ich«, sagte Sven. »Sichern Sie das Schiff.« Er legte das Mikrofon hin. Ks'rat wurde leuchtend rot. Das war das venusische Äquivalent zu einer hochgezogenen Augenbraue. »Wie ich's auch anpacke, es ist verkehrt«, sagte Sven. »Danke für Ihren Rat. Ich werde jetzt mit Forbes reden.« »Übrigens«, sagte Ks'rat, »welcher Rasse gehört der Mann eigentlich an?« »Welcher Mann?« »Der neue Mann, mit dem Forbes nicht zusammenarbeiten will.« »Wie zur Hölle soll ich das wissen?« schrie Sven, dessen Temperament plötzlich mit ihm durchging. »Glauben Sie vielleicht, ich sitze auf der Brücke und prüfe die rassische Herkunft eines Mannes?« »Es könnte die Sache ändern.« - 214 -
»Warum sollte es? Vielleicht ist es ein Mongole, mit dem Forbes nicht zusammenarbeiten will, oder ein Pakistani oder ein New Yorker oder ein Marsianer. Was kümmert es mich, welche Rasse sein verrücktes kleines Hirn sich herausgepickt hat?« »Viel Glück, Kapitän Sven«, sagte Ks'rat, als Sven hinauseilte. James Forbes salutierte beim Betreten der Brücke, obwohl das an Bord von Svens Schiff nicht üblich war. Der Funker stand in Hab-Acht-Stellung. Er war ein großer, schmächtiger junger Mann, flachstirnig, hellhäutig, sommersprossig. Alles an ihm wirkte fügsam, entgegenkommend, höflich. Alles bis auf seine Augen; die waren dunkelblau und sehr standhaft. Sven wußte nicht, wie er anfangen sollte. Doch Forbes sprach als erster. »Sir«, sagte er, »Sie müssen wissen, daß ich mich schrecklich schäme. Sie waren ein guter Kapitän, Sir, der beste überhaupt, und das hier war ein glückliches Schiff. Ich komme mir wie ein wertloser Nichtsnutz vor, bei dem, was ich tue.« »Dann werden Sie es sich noch einmal überlegen?« fragte Sven mit einem schwachen Hoffnungsschimmer. »Ich wünschte, ich könnte es; wirklich. Ich würde meinen rechten Arm für Sie hergeben, Käpt'n, oder alles andere, was ich besitze.« »Ich will Ihren rechten Arm nicht. Ich will lediglich, daß Sie mit dem neuen Mann zusammenarbeiten.« »Gerade das kann ich nicht«, sagte Forbes traurig. - 215 -
»Warum zum Teufel können Sie nicht?« brüllte Sven, seinen Vorsatz vergessend, psychologisch vorzugehen. »Sie verstehen uns Jungs aus den Georgia-Bergen einfach nicht«, sagte Forbes. »Mein Pappi, er ruhe in Frieden, hat mich so erzogen. Der arme kleine alte Mann würde sich im Grab herumdrehen, wenn ich gegen seinen letzten Wunsch verstieße.« Sven unterdrückte einen Fluch und sagte: »Sie wissen, in welche Lage Sie mich damit bringen, Forbes. Haben Sie irgendeinen Vorschlag?« »Es gibt nur eine Lösung, Sir. Angka und ich werden das Schiff verlassen. Es ist besser, wenn Sie unterbemannt fliegen, als mit einer unkooperativen Crew, Sir.« »Angka geht mit Ihnen? Moment mal! Gegen wen hat er Vorurteile?« »Gegen niemand, Sir. Aber er und ich sind jetzt seit fast fünf Jahren Schiffskameraden, seit wir uns damals auf dem Frachter Stella trafen. Wohin der eine geht, geht auch der andere.« Ein rotes Licht blinkte auf Svens Armaturentafel; es zeigte an, daß das Schiff startklar war. Sven ignorierte es. »Ich kann nicht auf Sie beide verzichten«, sagte Sven. »Forbes, warum wollen Sie nicht mit dem neuen Mann zusammenarbeiten?« »Aus rassischen Gründen, Sir«, sagte Forbes fest. »Jetzt hören Sie mal genau zu. Sie haben unter mir gedient, einem Schweden. Hat Sie das gestört?« »Nicht im geringsten, Sir.« - 216 -
»Der medizinische Offizier ist ein Israeli. Der Navigator ist ein Venusianer. Der Ingenieur ein Chinese. Es gibt in dieser Crew Russen, New Yorker, Melanesier, Afrikaner und wer weiß, was alles. Männer jeder Rasse, jeden Glaubens und jeder Hautfarbe. Sie haben mit ihnen zusammengearbeitet.« »Natürlich habe ich das. Von frühester Kindheit an sind wir Berg-Georgianer darauf vorbereitet, mit allen Rassen zusammenzuarbeiten. Es ist unser Erbe. Mein Pappi hat mich das gelehrt. Aber ich werde nicht mit Blake zusammenarbeiten.« »Wer ist Blake?« »Der neue Mann, Sir.« »Wo stammt er her?« fragte Sven müde. »Aus den Georgia-Bergen.« Einen Augenblick lang glaubte Sven, er hätte sich verhört. Er starrte Forbes an, der den Blick nervös erwiderte. »Aus dem Bergland von Georgia?« »Ja, Sir. Nicht sehr weit weg von meinem Heimatort, glaube ich.« »Dieser Blake, ist er Weißer?« »Natürlich, Sir. Weißer englisch-schottischer Abstammung, genau wie ich.« Sven hatte das Gefühl, eine neue Welt zu entdecken, eine Welt, die kein zivilisierter Mensch je zuvor betreten hatte. Es verblüffte ihn, entdecken zu müssen, daß es auf der Erde sonderbarere Bräuche gab als irgendwo sonst in - 217 -
der Galaxis. Er sagte zu Forbes: »Erzählen Sie mir von dem Brauch.« »Ich dachte, jedermann wüßte über uns Berg-Georgianer Bescheid, Sir. In der Gegend, aus der ich komme, verlassen wir unser Elternhaus im Alter von sechzehn Jahren und kehren nicht mehr zurück. Unser Brauch lehrt uns, mit jeder Rasse zu arbeiten, mit jeder Rasse zu leben … außer unserer eigenen.« »Oh«, sagte Sven. »Dieser neue Mann, Blake, ist ein weißer BergGeorgianer. Er hätte die Mannschaftsliste durchsehen und nicht auf diesem Schiff anheuern sollen. Wirklich, es ist alles seine Schuld, und wenn er sich über den Brauch hinwegsetzen will, kann ich das nicht ändern.« »Aber warum arbeitet ihr nicht mit eurem eigenen Geschlecht zusammen?« fragte Sven. »Niemand weiß das, Sir. Seit Hunderten von Jahren wird es vom Vater auf den Sohn weitergegeben, seit dem Wasserstoffkrieg.« Sven sah ihn aufmerksam an, eine Idee begann Gestalt anzunehmen. »Forbes, hatten Sie jemals ein … besonderes Gefühl gegenüber Negern?« »Ja, Sir.« »Beschreiben Sie es.« »Nun, Sir, wir Berg-Georgianer halten es so, daß der Neger der natürliche Freund des weißen Mannes ist. Ich meine, Weiße können prima mit Chinesen, Marsianern und so weiter auskommen, aber das Verhältnis zwischen - 218 -
Schwarz und Weiß ist etwas Besonderes –« »Fahren Sie fort«, drängte Sven. »Schwer, es richtig zu erklären, Sir. Es ist einfach so, daß – nun, die Qualitäten der beiden ergänzen sich zu einer idealen Mischung. Es herrscht ein besonderes Einverständnis zwischen Schwarz und Weiß.« »Wußten Sie«, half Sven sanft nach, »daß Ihre Vorfahren vor langer Zeit einmal glaubten, der Neger sei ein niedrigeres menschliches Wesen? Daß sie Gesetze schufen, um ihn von den Weißen zu trennen? Und daß sie damit noch fortfuhren, lange nachdem der Rest der Welt seine Vorurteile besiegt hatte? Daß sie damit tatsächlich sogar bis zum Wasserstoffkrieg fortfuhren?« »Das ist eine Lüge, Sir!« rief Forbes. »Entschuldigen Sie, ich wollte Sie keinen Lügner nennen, Sir, aber das ist einfach nicht wahr. Wir Georgianer haben immer –« »Ich kann es Ihnen in Geschichtsbüchern und anthropologischen Studien zeigen. Ich habe mehrere davon in der Schiffsbibliothek, wenn Sie einmal einen Blick hinein werfen wollen!« »Yankee-Bücher!« »Ich werde Ihnen auch Südstaaten-Bücher zeigen. Es stimmt, Forbes, und es ist nichts, weswegen Sie sich schämen müßten. Erziehung ist ein langer, langsamer Prozeß. Es gibt eine ganze Menge in Ihrer Geschichte, auf das Sie stolz sein können.« »Wenn es wahr ist«, sagte Forbes, sehr zögernd, »was ist dann damals geschehen?« »Es steht in dem anthropologischen Buch. Sie wissen - 219 -
doch, daß Georgia während des Krieges von einer Wasserstoffbombe getroffen wurde, die für Norfolk bestimmt gewesen war?« »Ja, Sir.« »Vielleicht wußten Sie bisher nicht, daß die Bombe mitten in den sogenannten Black Belt fiel. Viele Weiße wurden getötet. Doch beinahe die gesamte Negerbevölkerung dieser Gegend Georgias war ausgelöscht.« »Das wußte ich nicht.« »Ich gebe Ihnen mein Wort, daß es dort vor dem Wasserstoffkrieg Rassenunruhen gegeben hat und Lynchjustiz und eine Menge Ärger zwischen Weiß und Schwarz. Plötzlich waren die Neger verschwunden – tot. Dies rief beträchtliche Schuldgefühle bei den Weißen hervor, besonders in abgelegenen Dörfern. Einige der abergläubischeren Weißen meinten, daß sie für diese Massenvernichtung geistig verantwortlich waren. Und das traf sie schwer, denn sie waren religiöse Menschen.« »Was sollte es ihnen denn ausmachen, wo sie doch die Neger haßten?« »Das taten sie nicht, das ist es ja gerade! Sie fürchteten Mischehen, wirtschaftliche Konkurrenz, eine Änderung der Hierarchie. Aber sie haßten die Neger nicht. Ganz im Gegenteil. Sie beteuerten immer bemerkenswert aufrichtig, daß sie die Neger mehr liebten, als es die ›liberalen‹ Nordstaatler taten. Das löste einen schweren Konflikt aus.« Forbes nickte, angestrengt nachdenkend. »In abgelegenen Dörfern wie dem Ihren entstand daraus der Brauch, fern von zu Hause zu arbeiten, mit jeder Rasse, - 220 -
außer der eigenen. Schuld war die Wurzel all dessen.« Schweiß rann über Forbes' sommersprossige Wangen. »Ich kann es nicht glauben«, sagte er. »Forbes, habe ich Sie jemals angelogen?« »Nein, Sir.« »Glauben Sie mir denn, wenn ich Ihnen schwöre, daß es wahr ist?« »Ich – ich werde es versuchen, Kapitän Sven.« »Jetzt kennen Sie den Grund für den Brauch. Werden Sie nun mit Blake arbeiten?« »Ich weiß nicht, ob ich es kann.« »Werden Sie es versuchen?« Forbes nagte an seiner Lippe und wand sich unbehaglich. »Kapitän, ich werde es versuchen. Ich weiß nicht, ob ich es kann, aber ich werde es versuchen. Und ich tue es für Sie und die Männer, nicht wegen dem, was Sie mir gesagt haben.« »Versuchen Sie es einfach«, sagte Sven. »Das ist alles, um was ich Sie bitte.« Forbes nickte und verließ eilig die Brücke. Sven signalisierte sofort dem Tower, daß er sich auf den Start vorbereitete. Unten in den Mannschaftsräumen wurde Forbes dem neuen Mann, Blake, vorgestellt. Der Ersatzmann war groß, schwarzhaarig, und fühlte sich offensichtlich nicht wohl in seiner Haut. »Howdy«, sagte Blake. - 221 -
»Howdy«, sagte Forbes. Beide deuteten zaghaft ein Händeschütteln an, führten es aber nicht richtig aus. »Ich bin aus der Nähe von Pompey«, sagte Forbes. »Ich bin aus Almira.« »Praktisch Tür an Tür«, sagte Forbes unglücklich. »Yeah, tut mir leid«, sagte Blake. Sie musterten sich schweigend. Nach einem langen Augenblick stöhnte Forbes: »Ich kann es nicht, ich kann es einfach nicht.« Er begann, wegzugehen. Plötzlich blieb er stehen, drehte sich um und platzte heraus: »Bist du ganz weiß?« »Kann ich nicht behaupten«, antwortete Blake. »Ich bin ein Achtel Cherokee, mütterlicherseits.« »Cherokee, eh?« »Richtig.« »Mensch, Mann, warum hast du das nicht gleich gesagt. Hab' einmal einen Cherokee aus Altahatchie gekannt, Tom Little Sitting Bear hieß er. Bist nicht zufällig verwandt mit ihm?« »Ich glaub' nicht«, sagte Blake. »Ich kenn' überhaupt keine Cherokees nicht.« »Ach, mach dir nichts draus. Sie hätten mir gleich sagen sollen, daß du'n Cherokee bist. Komm, ich zeig' dir deine Koje.« Als das Geschehene mehrere Stunden nach dem Start Kapitän Sven berichtet wurde, war er völlig perplex. Wie, fragte er sich, konnten ein Achtel Cherokesenblut einen Mann zum Cherokee machen? Waren die anderen sieben - 222 -
Achtel nicht ausschlaggebender? Er entschied, daß er amerikanische Südstaatler einfach nicht begriff.
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Der Kämpfer
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Es gab elf Planeten in diesem System, und Dillon fand heraus, daß die äußeren davon überhaupt kein Leben beherbergten. Der, von der Sonne aus, vierte Planet war einmal bewohnt gewesen, und der dritte würde es eines Tages sein. Aber auf dem zweiten, einer blauen Welt mit einem einzelnen Mond, existierte intelligentes Leben. Zu diesem Planeten steuerte Dillon sein Schiff. Er näherte sich heimlich, glitt im Schutze der Dunkelheit durch die Atmosphäre und flog durch dicke Regenwolken hinab, wobei er selbst fast wie eine Wolke aussah. Er landete mit jener absoluten Lautlosigkeit, die nur einem Erdenmenschen möglich war. Als sein Schiff schließlich aufsetzte, war es eine Stunde vor dem Morgengrauen; die sichere Stunde, die Zeit, in der die meisten Lebewesen am wenigsten wachsam sind, egal welcher Planet sie hervorgebracht hat. So ähnlich hatte sein Vater es ihm erklärt, bevor Dillon die Erde verließ. Der Angriff vor dem Morgengrauen war Bestandteil des Wissensschatzes der Erde; schwer erkämpftes Wissen, dessen alleiniges Ziel es war, das Überleben auf fremden Planeten zu ermöglichen. »Doch dieses ganze Wissen ist fehlbar«, hatte sein Vater ihn ermahnt. »Denn hier geht es um die am wenigsten berechenbare Form des Lebens, um intelligentes Leben.« Der alte Mann hatte bedeutungsschwer genickt, als er diese Feststellung traf. »Denke daran, mein Junge«, fuhr der alte Mann fort, »du kannst einen Meteor überlisten, eine Eiszeit voraussagen - 225 -
oder eine Nova vorhersehen. Aber wieviel weißt du wirklich über jene verwirrenden und sich ständig verändernden Geschöpfe, die mit Intelligenz ausgestattet sind?« Nicht sehr viel, erkannte Dillon. Doch er glaubte an seine Jugend, seine Begeisterung und seine Schlauheit, und er vertraute auf die einzigartige terranische Invasionstechnik. Mit dieser speziellen Ausbildung konnte ein Erdenmensch sich in jeder Art von Umwelt an die Spitze emporkämpfen, egal wie fremdartig oder wie feindlich diese Umwelt war. Von Geburt an war Dillon beigebracht worden, daß das Leben ein ständiger Kampf ist. Er hatte gelernt, daß die Galaxis groß und unfreundlich ist und zum größten Teil aus weißglühenden Sonnen und leerem Raum besteht. Aber manchmal gibt es auch Planeten, und auf diesen Planeten gibt es Rassen, die sich in Gestalt und Größe ungeheuer voneinander unterscheiden, aber eines gemeinsam haben: ihren Haß auf alles, das anders als sie selbst ist. Zwischen diesen Rassen war keine Zusammenarbeit möglich. Um als Erdenmensch unter ihnen zu leben, war ein Maximum an Ausbildung, Widerstandsfähigkeit und Schlauheit erforderlich. Und selbst dann, ein Überleben wäre unmöglich ohne die phantastische irdische Invasionstechnik. Dillon war ein geeigneter Schüler gewesen, begierig darauf, sich seiner Bestimmung in der großen Galaxis zu stellen. Er hatte sich auf die Liste für den Exodus eingetragen und nicht gewartet, bis er einberufen wurde. Und schließlich hatte man ihm, wie Millionen anderen jungen Männern zuvor, sein eigenes Raumschiff gegeben - 226 -
und ihn hinausgeschickt, und er ließ die kleine, übervölkerte Erde für immer hinter sich zurück. Er war geflogen, bis sein Treibstoffvorrat zu Ende ging. Und nun lag seine Bestimmung vor ihm. Sein Schiff stand in einem Dschungelstreifen in der Nähe eines Dorfes mit Strohdächern, das im dichten Unterholz fast unsichtbar war. Er wartete angespannt hinter seinen Instrumenten, bis die Morgendämmerung weiß heraufzog, gemischt mit den roten Anfängen des Sonnenaufgangs. Doch niemand näherte sich, keine Bomben fielen, keine Granaten explodierten. Er konnte davon ausgehen, daß seine Landung unbemerkt geblieben war. Als die gelbe Sonne des Planeten über den Rand des Horizonts kletterte, stieg Dillon aus und prüfte seine physikalische Umgebung. Er schnupperte die Luft, fühlte die Gravitation, schätzte das Spektrum und die Kraft der Sonne, und schüttelte traurig den Kopf. Wie die meisten Planeten in der Galaxis war dieser Planet für terranisches Leben ungeeignet. Ihm blieb vielleicht eine Stunde, um die Invasion zu Ende zu führen. Er berührte einen Knopf auf seiner Instrumententafel und ging schnell davon. Hinter ihm löste sich sein Schiff in graue Asche auf. Die Asche wurde vom Morgenwind aufgewirbelt und zerstreute sich über dem Dschungel. Nun war er seiner Bestimmung unwiderruflich ausgeliefert. Er bewegte sich auf das fremde Dorf zu. Als er sich näherte, sah er, daß die Hütten der Aliens rohe Gebilde aus Holz und Stroh waren, einige auch aus handbehauenen Steinen. Sie wirkten haltbar und für das Klima ausreichend. Nichts deutete auf das Vorhandensein - 227 -
von Straßen hin – es führte lediglich ein einziger Pfad in den Dschungel. Stromleitungen oder handwerklich gefertigte Artikel gab es nicht. Er entschied, daß dies eine junge Zivilisation war, eine, mit der er ohne Schwierigkeiten fertigwerden würde. Kühn marschierte er vorwärts und stieß beinahe mit einem Alien zusammen. Sie starrten einander an. Der Alien war zweibeinig, beträchtlich größer als ein Mensch und hatte ein gutes Schädelvolumen. Er trug ein einziges gestreiftes Kleidungsstück, das um seine Taille geschlungen war. Seine Haut war unter grauem Fell in einem hellen Braun pigmentiert. Er machte keinerlei Anstalten wegzurennen. »Ir tai!« sagte das Wesen. Laute, die Dillon als überraschten Aufschrei interpretierte. Er blickte sich hastig um und sah, daß ihn bis jetzt kein anderer Dorfbewohner entdeckt hatte. Er spannte sich etwas an und beugte sich vor. »K'tal tai a –« Wie eine große Sprungfeder schnellte Dillon vorwärts. Der Alien versuchte, sich zu ducken, aber Dillon drehte sich in der Luft wie eine Katze und schaffte es, mit einer Hand eine Gliedmaße des Alien zu umklammern. Mehr brauchte er nicht. Jetzt war der physische Kontakt hergestellt. Der Rest sollte eigentlich leicht sein. Seit Jahrhunderten zwang eine explodierende Geburtenrate die Bewohner der Erde, in ständig steigenden Zahlen auszuwandern. Doch nicht ein Planet von zehntausend war für menschliches Leben geeignet. Deswegen zog die Erde - 228 -
die Möglichkeit in Betracht, fremde Umwelten terranischen Bedürfnissen anzupassen oder Menschen biologisch zu verändern, um sie den neuen Umwelten anzupassen. Aber es gab eine dritte Methode, bei der sich mit dem geringsten Aufwand die größten Erfolge erzielen ließen. Man mußte die Neigung zur Geistesprojektion weiterentwickeln, die bei allen intelligenten Rassen latent vorhanden war. Die Erde brachte sie hervor, verstärkte und trainierte sie. Mit dieser Fähigkeit konnte ein Erdenmensch auf jedem Planeten leben, indem er einfach den Verstand eines seiner Bewohner übernahm. War dies erfolgt, hatte er einen für diese spezielle Umwelt maßgeschneiderten Körper, der mit nützlichen und interessanten Informationen gefüllt war. Wenn ein Mensch sich erst einmal etabliert hatte, verschaffte ihm seine Liebe zum Wettbewerb für gewöhnlich einen herausragenden Rang in der neuen Welt, die er überfallen hatte. Es gab nur ein kleines Hindernis; ein Alien widersetzte sich in der Regel dagegen, daß in seinen Verstand eingedrungen wurde. Und manchmal konnte er damit tatsächlich etwas ausrichten. Im ersten Augenblick des Eindringens registrierte Dillon mit tiefem Bedauern, wie sein eigener Körper zusammenbrach. Er würde sich sofort auflösen und keine Spur hinterlassen. Nur Dillon und sein Wirt würden wissen, daß eine Invasion stattgefunden hatte. Und am Ende würde es nur einer von ihnen wissen. Jetzt, im Verstand des Alien, konzentrierte sich Dillon - 229 -
ganz auf die Aufgabe, die vor ihm lag. Eine Barriere nach der anderen brach zusammen, als er zielgenau zu dem Zentrum vordrang, wo das Ich-bin-Ich existierte. Wenn er diese Burg betrat und das Ego, das sie gegenwärtig besetzt hielt, hinausdrängte, würde der Körper ihm gehören. Hastig errichtete Hindernisse lösten sich vor ihm auf. Einen Augenblick lang dachte Dillon, daß sein erster wilder Ansturm ihn bis ans Ziel bringen würde. Dann, plötzlich, verlor er die Orientierung, irrte durch ein graues und konturloses Niemandsland. Der Alien hatte sich von seinem anfänglichen Schock erholt. Dillon konnte spüren, wie um ihn herum Energien langsam wuchsen. Jetzt stand tatsächlich ein Kampf bevor. Eine Unterredung fand statt, im Niemandsland des fremden Verstandes. »Wer bist du?« »Edward Dillon, vom Planeten Erde. Und du?« »Arek. Wir nennen diesen Planeten K'egra. Was willst du hier, Dillon?« »Ein bißchen Lebensraum, Arek«, sagte Dillon grinsend. »Hättest du den übrig?« »Kommt überhaupt nicht in Frage … Verschwinde aus meinem Verstand!« »Ich kann nicht«, sagte Dillon. »Es gibt keinen Ort, wo ich hingehen könnte.« »Ich verstehe«, dachte Arek. »Das ist hart. Aber ich habe dich nicht eingeladen. Und irgend etwas sagt mir, daß - 230 -
du mehr willst, als nur Lebensraum. Du willst alles, nicht wahr?« »Ich muß die Kontrolle haben«, gab Dillon zu. »Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Aber wenn du nicht kämpfst, kann ich dir vielleicht etwas Raum lassen, obwohl das nicht üblich ist.« »Nicht üblich?« »Natürlich nicht«, sagte Dillon. »Verschiedene Rassen können nicht zusammen existieren. Das ist ein Naturgesetz. Der Stärkere vertreibt den Schwächeren. Aber ich wäre eventuell bereit, es für eine Weile zu versuchen.« »Du brauchst mir keine Gefälligkeiten zu erweisen«, sagte Arek und unterbrach die Verbindung. Das Grau des Niemandslandes wurde zu einem soliden Schwarz. Und Dillon, der auf den nahenden Kampf wartete, fühlte die ersten, stechenden Selbstzweifel. Arek war ein Primitiver. Er konnte keinerlei Übung im Geisteskampf besitzen. Und doch erfaßte er die Situation sofort, stellte sich auf sie ein und war nun darauf vorbereitet, mit ihr fertigzuwerden. Wahrscheinlich würden seine Verteidigungsversuche nutzlos sein, aber dennoch … Was für ein Wesen war das? Er stand auf einem steinigen Berghang, umgeben von zerklüfteten Felsen. In der Ferne lag eine hohe, neblig blaue Bergkette. Die Sonne stach ihm in die Augen, blendend und heiß. Ein schwarzer Punkt kroch den Hang hinauf und kam näher.
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Dillon stieß mit dem Fuß einen Stein aus dem Weg und wartete, daß der Punkt Formen annahm. Das war das Muster eines geistigen Kampfes, wo der Gedanke körperlich wird und Ideen greifbare Dinge sind. Der Punkt wurde ein K'egran. Plötzlich ragte er drohend vor Dillon auf, gewaltig, vor Muskeln strotzend und bewaffnet mit Schwert und Dolch. Dillon bewegte sich rückwärts und wich dem ersten Hieb aus. Der Kampf verlief nach einem erkennbaren – und kontrollierbaren – Schema. Aliens zauberten in der Regel ein idealisiertes Abbild ihrer Rasse hervor, bei dem ihre Stärken übertrieben und vergrößert wurden. Die Gestalt war zugleich furchteinflößend, übermenschlich und unwiderstehlich. Aber in der Regel hatte sie eine zumeist heikle Schwachstelle. Dillon entschied, darauf zu setzen, daß dies auch hier der Fall war. Der K'egran sprang vorwärts. Dillon duckte sich, ließ sich auf den Boden fallen, und seine beiden Füße schnellten vor, wobei sein Körper einen Moment lang ungedeckt war. Der K'egran versuchte zu parieren, war aber zu langsam. Der Stoß von Dillons Stiefeln traf machtvoll seinen Bauch. Triumphierend sprang Dillon auf. Die Schwachstelle war da! Er rannte unter das Schwert, fintierte und brach dem K'egran, während der ihn abzuwehren suchte, mit zwei Handkantenschlägen fein säuberlich das Genick. Der K'egran fiel und ließ den Boden erzittern. Dillon sah mit einem gewissen Mitgefühl zu, wie er starb. Das - 232 -
idealisierte Kämpferabbild einer Rasse war größer als in Wirklichkeit, stärker, mutiger und ausdauernder. Aber es hatte immer eine gewisse Schwerfälligkeit, eine sichere und schreckliche Erhabenheit. Das war für ein Bild ausgezeichnet – nicht aber für eine Kampfmaschine. Es bedeutete eine langsame Reaktionszeit, und die bedeutete den sicheren Tod, Der tote Riese verschwand. Für einen Augenblick dachte Dillon, er hätte gewonnen. Dann hörte er hinter sich ein Knurren. Er wirbelte herum und sah eine lange, niedrige schwarze Bestie, pantherähnlich, mit angelegten Ohren und entblößten Zähnen. Arek hatte also Reserven. Aber Dillon wußte, wieviel Energie ein solcher Kampf verbrauchte. Nach einer Weile würden die Reserven des Alien dahin sein. Und dann … Dillon hob das Schwert des Riesen auf und wich, während der Panther sich näherte, zurück, bis er einen hohen Felsblock fand, gegen den er sich mit dem Rücken abstützen konnte. Ein bauchhoher Felsen vor ihm diente als Brustwehr, über die der Panther springen mußte. Die Sonne hing vor ihm, schien ihm in die Augen, und ein leichter Wind blies ihm Staub ins Gesicht. Er holte mit dem Schwert aus, als der Panther sprang. Während der nächsten, sich dahinschleppenden Stunden traf und vernichtete Dillon eine komplette Sammlung der gefährlicheren Geschöpfe K'egras, und er begegnete ihnen, wie er ähnlichen Tieren auf der Erde begegnet wäre. Das Rhinozeros – wenigstens ähnelte es einem solchen – war leicht, abgesehen von seiner bemerkenswerten Größe und Geschwindigkeit. Es gelang ihm, es an den Rand einer - 233 -
Klippe zu locken und so lange aufzustacheln, bis es hinabstürzte. Die Kobra war schon gefährlicher; sie hätte ihm beinahe Gift in die Augen gespuckt, ehe er sie in der Mitte durchhacken konnte. Der Gorilla war mächtig, stark und schrecklich schnell. Doch nie bekam er mit seinen knochenzermalmenden Händen Dillon zu fassen, der vor und zurück tanzte und ihn dabei in Fetzen zerhackte. Der Tyrannosaurus war gepanzert und zählebig. Es brauchte eine Lawine, um ihn zu begraben. Und bei den anderen verlor Dillon den Überblick. Doch am Ende stand er allein dort, krank vor Erschöpfung, das Schwert zu einem schartigen Splitter geschrumpft. »Hast du genug, Dillon?« fragte Arek. »Nicht im geringsten«, antwortete Dillon durch durstgeschwärzte Lippen, »du kannst nicht ewig so weitermachen, Arek. Selbst für deine Vitalität gibt es eine Grenze.« »Tatsächlich?« fragte Arek. »Du kannst nicht mehr viele Reserven haben«, sagte Dillon und versuchte, dabei eine Zuversicht zu zeigen, die er nicht empfand. »Warum nicht vernünftig sein? Ich werde dir Raum lassen, Arek, das will ich wirklich. Ich … nun, ich empfinde einen gewissen Respekt für dich.« »Danke, Dillon«, sagte Arek. »Das Gefühl beruht auf einer gewissen Gegenseitigkeit. Wenn du also aufgeben würdest –« »Nein«, sagte Dillon. »Zu meinen Bedingungen.« »Okay«, sagte Arek. »Du willst es nicht anders!« »Mach schon weiter«, murrte Dillon. Schlagartig verschwand der felsige Berghang. - 234 -
Er stand knietief in einem grauen Moor. Große, knorrige, mit Moos bewachsene Bäume ragten aus dem stillen, grünen Wasser empor. Lilien, weiß wie Fischbäuche, zuckten und schwankten, obwohl es vollkommen windstill war. Ein toter, weißer Dampf hing über dem Wasser und schlug sich an der rauhen Rinde der Bäume nieder. Kein Laut war in dem Sumpf zu hören, obgleich Dillon überall um ihn herum die Anwesenheit von Leben spürte. Er wartete und blickte sich dabei langsam um. Er roch die schale, träge Luft, scharrte mit den Füßen in dem zähflüssigen Morast und prüfte den fauligen Geruch der Lilien. Eine Erkenntnis dämmerte ihm. Dieser Sumpf hatte nie auf K'egra existiert! Er wußte es mit der Sicherheit, mit der ein Erdenmensch fremde Welten fühlt. Die Gravitation war verschieden, und die Luft war verschieden. Selbst der Morast unter seinen Füßen ähnelte nicht dem Morast K'egras. Die Schlußfolgerungen daraus strömten zu schnell auf ihn ein, um sie zu ordnen. Verfügte K'egra also über Raumfahrt? Unmöglich! Wie konnte Arek dann einen Planeten so genau kennen, der anders war als sein eigener? Hatte er darüber gelesen, es sich vorgestellt, oder – Etwas Hartes prallte schwer von seiner Schulter ab. Weil er in seine Überlegungen vertieft war, hatte der Angriff ihn überrascht. Er versuchte sich zu bewegen, doch der Morast klebte an seinen Füßen. Ein Ast war von einem der riesigen, überhängenden Bäume herabgefallen. Als er aufblickte, - 235 -
begannen die Bäume zu schwanken und zu knarren. Äste bogen sich und knirschten, brachen ab und regneten auf ihn herab. Aber es war kein Wind da. Halb betäubt kämpfte sich Dillon durch den Sumpf und versuchte, festen Boden und einen Platz weg von den Bäumen zu finden. Doch die großen Stämme standen überall, und es gab keinen festen Grund in dem Sumpf. Der Regen aus Ästen wurde stärker, und Dillon wirbelte hin und her, nach etwas suchend, gegen das er kämpfen konnte. Aber da war nur der schweigende Sumpf. »Komm heraus und kämpfe!« kreischte Dillon. Er wurde auf die Knie geworfen, stand auf, fiel wieder. Dann entdeckte er, halb bewußtlos, einen Zufluchtsort. Er stolperte zu einem großen Baum und klammerte sich fest an dessen Wurzeln. Äste fielen, Zweige peitschten und krachten, aber der Baum konnte ihn nicht erreichen. Er war in Sicherheit! Doch dann sah er mit Entsetzen, daß die Lilien am Fuße des Baumes mit ihren langen Stengeln seine Knöchel umschlungen hatten. Er versuchte, sie abzuschütteln. Sie bogen sich wie bleiche Schlangen und umklammerten ihn noch fester. Er hackte sie ab und rannte aus dem Schutz des Baumes heraus. »Kämpfe mit mir!« bettelte Dillon, während die Zweige um ihn herum herabregneten. Er erhielt keine Antwort. Die Lilien wanden sich auf ihren Stengeln und streckten sich nach ihm aus. Über ihm gab es ein Rauschen wütender Flügel. Die Vögel des Sumpfes versammelten sich, - 236 -
schwarze und zerlumpte Aaskrähen, die auf das Ende warteten. Und als Dillon zu taumeln begann, spürte er, wie etwas Warmes und Schreckliches seine Knöchel berührte. Da wußte er, was er zu tun hatte. Er benötigte einen Augenblick, um Mut zu fassen. Dann stürzte Dillon sich kopfüber in das schmutzige, grüne Wasser. In dem Moment, als er tauchte, beruhigte sich der Sumpf. Die riesigen Bäume erstarrten gegen den schiefergrauen Himmel. Die Lilien beendeten ihre Ekstase und hingen leblos an ihren Stengeln. Der weiße Dampf klammerte sich regungslos an die rauhe Rinde der Bäume, und die Raubvögel glitten lautlos durch die dicke Luft. Eine Zeitlang stiegen Blasen zur Oberfläche auf. Dann hörten die Blasen auf. Dillon tauchte auf, nach Luft schnappend, tiefe Schrammen an Hals und Rücken. In seinen Händen hielt er die formlose, durchsichtige Kreatur, die den Sumpf beherrschte. Er watete zu einem Baum und schleuderte die schlaffe Kreatur dagegen, wobei sie völlig zerschmettert wurde. Dann setzte er sich hin. Nie zuvor hatte er sich so müde und elend gefühlt, nie zuvor war er so überzeugt von der Sinnlosigkeit seines Lebens gewesen. Warum kämpfte er um sein Überleben, wenn das Leben eine so unbedeutende Rolle in der Gesamtheit aller Dinge spielte? Von welcher Bedeutung war der kleine Augenblick seines Lebens, gemessen am Lauf der Planeten oder dem ewigen Funkeln der Sterne? - 237 -
Und Dillon war verblüfft über die Begierlichkeit, mit der er seine Existenz zu verlängern suchte. Das warme Wasser umspülte seine Brust. Leben, sagte sich Dillon schläfrig, ist nichts weiter als ein Juckreiz auf der Haut des Nicht-Lebendigen, ein Parasit der toten Materie. Die Menge macht's, sagte er sich, als das Wasser seinen Hals erreichte. Was war die Winzigkeit des Lebens im Vergleich zu der ungeheuren Größe des NichtLebendigen? Wenn Nicht-lebendig-Sein natürlich ist, dachte er, als das Wasser sein Kinn berührte, dann ist das Leben eine Krankheit. Und der einzige gesunde Gedanke des Lebens ist der Wunsch nach dem Tod. Der Tod war ein erfreulicher Gedanke in jenem Augenblick, als das Wasser seine Lippen liebkoste. Es lag eine Müdigkeit hinter dem Ausruhen und ein Gefühl des Krankseins hinter dem Gesundwerden. Es würde jetzt leicht sein aufzugeben, hinabzusinken, zu verschwinden – »Ausgezeichnet«, flüsterte Dillon, während er sich auf die Füße zog. »Ausgezeichneter Versuch, Arek. Vielleicht bist du auch müde? Vielleicht hast du nicht mehr viel in dir drin, außer einem bißchen Gefühl?« Es wurde dunkel. In der Dunkelheit flüsterte etwas, etwas, das wie eine Miniatur von Dillon aussah, etwas, das sich warm an seine Schulter kuschelte. »Aber es gibt schlimmere Dinge als den Tod«, sagte seine Miniatur. »Es gibt Dinge, denen sich kein lebendes Wesen stellen kann; schuldbewußtes Wissen, tief am Grund der Seele verborgen, verabscheut und verachtet, aber Wissen, Wissen, das niemals geleugnet werden kann. Der Tod ist - 238 -
besser als dieses Wissen, Dillon. Der Tod wird kostbar und unendlich schön. Du wirst für deinen Tod beten und versuchen, den Tod einzufangen – wenn du dich dem stellen mußt, was am Grund deiner Seele verborgen liegt.« Dillon versuchte, nicht auf das Geschöpf zu hören, das ihm so stark ähnelte. Doch die Miniatur klammerte sich an seine Schulter und argumentierte. Und Dillon sah, wie in der Dunkelheit etwas Gestalt annahm und erkannte die Gestalt. »Nicht das, Dillon«, flehte sein Doppelgänger. »Bitte, nicht das! Sei mutig, Dillon! Wähle deinen Tod! Sei kühn, sei mutig! Verstehe es, zur rechten Zeit zu sterben!« Dillon, der die Gestalt dessen, was auf ihn zu kam, erkannte, empfand eine Furcht, die er niemals für möglich gehalten hätte. Denn dies war Wissen aus den Tiefen seiner Seele, schuldbewußtes Wissen über ihn selbst und über alles, für das er je zu stehen geglaubt hatte. »Schnell, Dillon!« schrie sein Doppelgänger. »Sei stark, sei kühn, sei ehrlich! Stirb, solange du noch weißt, was du bist!« Und Dillon wollte sterben. Mit einem ungeheuren Seufzer der Erleichterung, begann er seinen Halt aufzugeben, sein Dasein davongleiten zu lassen … Und konnte es nicht. »Hilf mir!« kreischte er. »Ich kann nicht!« schrie seine Miniatur zurück. »Das mußt du selbst tun!« Und während das Wissen sich dicht gegen seine Augäpfel preßte, versuchte Dillon es wieder, bat um seinen - 239 -
Tod, erbettelte seinen Tod und konnte sich nicht selbst sterben lassen. Also konnte er nur eines tun. Er sammelte seine letzten Kräfte und warf sich verzweifelt auf die Gestalt, die vor ihm tanzte. Sie verschwand. Nach einem Moment erkannte Dillon, daß es keine Bedrohung mehr gab. Er stand allein auf Territorium, das er erobert hatte. Trotz allem, er hatte gesiegt! Vor ihm lag nun die Burg, unbewacht, und wartete auf ihn. Er empfand tiefen Respekt für den armen Arek. Er war ein guter Kämpfer gewesen, ein würdiger Gegner. Vielleicht konnte er ihm ein bißchen Lebensraum lassen, wenn Arek nicht versuchte – »Das ist sehr nett von dir, Dillon«, dröhnte eine Stimme. Dillon blieb keine Zeit zu reagieren. Eine so mächtige Faust hatte ihn gepackt, daß jeder Gedanke an Widerstand sinnlos war. Erst jetzt wurde er sich der wahren Macht bewußt, über die der Verstand des K'egran verfügte. »Du hast dich tapfer geschlagen, Dillon«, sagte Arek. »Du brauchst dich niemals des Kampfes, den du gekämpft hast, zu schämen.« »Aber ich hatte niemals eine Chance«, sagte Dillon. »Nein, niemals«, sagte Arek freundlich. »Du dachtest, der irdische Invasionsplan sei einzigartig, wie es die meisten jungen Rassen glauben. Aber K'egra ist alt, Dillon, und im Laufe unserer Existenz sind wir viele Male angegriffen worden, physisch und geistig. Deshalb ist das wirklich nichts Neues für uns.« - 240 -
»Du hast nur mit mir gespielt!« rief Dillon. »Ich wollte herausfinden, wie du bist«, sagte Arek. »Wie amüsiert mußt du dich gefühlt haben! Für dich war es ein Spiel. In Ordnung, mach weiter, beende es!« »Beende was?« »Töte mich!« »Warum sollte ich dich töten?« fragte Arek. »Weil – weil, was solltest du sonst mit mir anfangen? Warum sollte ich anders behandelt werden als die übrigen?« »Du hast einige der anderen getroffen, Dillon. Du hast mit Ethan gekämpft, der auf seinem Heimatplaneten einen Sumpf bewohnte, ehe er zu reisen begann. Und die Miniatur, die dir so überzeugend ins Ohr flüsterte, ist Oolermik, der vor nicht allzu langer Zeit kam, ganz Feuer und Schwert, wie du selbst.« »Aber –« »Wir akzeptierten sie hier, schufen Raum für sie, nutzten ihre guten Eigenschaften, um unsere zu ergänzen. Zusammen sind wir mehr als jeder für sich allein.« »Ihr lebt zusammen?« flüsterte Dillon. »In deinem Körper?« »Natürlich. Gute Körper sind rar in der Galaxis, und es gibt nicht viel Lebensraum für sie. Dillon, lerne meine Partner kennen.« Und Dillon sah das amorphe Sumpfgeschöpf wieder, und den schuppenhäutigen Oolermik, und ein Dutzend andere. - 241 -
»Aber das ist unmöglich!« rief Dillon. »Fremde Rassen können nicht zusammenleben! Leben bedeutet Kampf und Tod! Das ist ein fundamentales Naturgesetz.« »Ein sehr frühes Gesetz«, sagte Arek. »Schon vor langer Zeit haben wir entdeckt, daß Zusammenarbeit Überleben für alle bedeutet, und zu weit besseren Bedingungen. Du wirst dich daran gewöhnen. Willkommen im Bündnis, Dillon!« Und, immer noch verwirrt, betrat Dillon die Burg, um an der Partnerschaft mit vielen Rassen der Galaxis teilzuhaben.
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Paradies II
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Die Raumstation umkreiste ihren Planeten und wartete geduldig. Sie besaß genaugenommen keine Intelligenz, denn Intelligenz wäre in diesem Fall überflüssig gewesen. Sie war sich jedoch ihrer Existenz bewußt und zu bestimmten Reaktionen fähig. Sie war erfindungsreich. Ihr Daseinszweck schien selbst ihrem Metall eingeprägt zu sein und erfüllte ihre Stromkreise, die menschlichen Adern glichen, mit geheimnisvollem Leben. Und vielleicht verkörperte die Maschine einen Teil der Empfindungen, von denen ihre Konstrukteure beseelt gewesen waren – die wilden Hoffnungen, die Ängste, das verzweifelte Wettrennen mit der Zeit. Aber die Hoffnungen waren vergeblich gewesen, denn die Bewohner des Planeten waren ihrem Schicksal nicht entgangen, und die große Maschine schwebte am Himmel – unfertig und zwecklos. Aber sie war sich ihrer Existenz bewußt und zu bestimmten Reaktionen fähig. Sie war erfindungsreich. Sie wußte, was sie benötigte. Deshalb suchte sie den Raum ab und wartete auf die noch fehlenden Bestandteile, ohne die sie nicht funktionieren können würde, wie es ihre Erbauer vorgesehen hatten. In der Umgebung von Bootes stießen sie auf eine winzige kirschrote Sonne, und als ihr Schiff sich dem dazugehörigen System näherte, sahen sie, daß einer der Planeten die seltene blau-grüne Färbung der Erde aufwies. - 244 -
»Sehen Sie sich das an!« rief Fleming aus. Seine Stimme überschlug sich fast vor Aufregung. »Ein erdähnlicher Planet! Er ist doch erdähnlich, nicht wahr, Howard? Damit verdienen wir beide ein Vermögen!« Howard kam langsam aus der Schiffskombüse, wo er eine Kleinigkeit gegessen hatte. Er war untersetzt, kahlköpfig und dicklich. Im Augenblick machte er ein böses Gesicht, weil er bei den Vorbereitungen zum Mittagessen unterbrochen worden war. Howard kochte leidenschaftlich gern und wäre vermutlich ein Meisterkoch geworden, wenn er nicht noch mehr Talent als erfolgreicher Geschäftsmann gehabt hätte. Fleming und er aßen stets ausgezeichnet, denn Howard verstand etwas von französischer Küche, servierte Roastbeef mit einer Sauce Howard und hatte sogar einen Howardsalat erfunden. »Vielleicht ist er erdähnlich«, knurrte Howard jetzt und starrte den blau-grünen Planeten mißmutig an. »Natürlich ist er das!« behauptete Fleming. Fleming war jung und deshalb noch begeisterungsfähig. Er blieb trotz Howards Kochkünsten hager und hatte feuerrotes Haar, das ihm unordentlich in die Stirn fiel. Howard kam gut mit ihm aus, denn Fleming war nicht nur ein guter Pilot und Triebwerksingenieur, sondern er dachte auch nüchtern genug, um keine unnötigen Risiken einzugehen. Und diese Haltung war besonders wichtig, wenn man sich an Bord eines Raumschiffs befand, das allein ein Vermögen gekostet hatte. »Hoffentlich ist er nicht bevölkert!« flüsterte Fleming inbrünstig vor sich hin. »Hoffentlich können wir ihn ganz für uns behalten. Stellen Sie sich vor, daß er uns gehört, - 245 -
Howard! Ein erdähnlicher Planet! Großer Gott, wir können schon mit dem Land Milliarden verdienen, von Schürfrechten, Landegebühren und anderen Einnahmequellen ganz zu schweigen.« Howard zuckte mit den Schultern. Dieser junge Mann hatte noch viel zu lernen. Ob man Planeten suchte und verkaufte oder Orangen anbaute, blieb sich ziemlich gleich; der einzige Unterschied bestand darin, daß Orangen harmlos waren, was man von Planeten nicht immer behaupten konnte. Andererseits war mit Orangen auch weniger zu verdienen. »Sollen wir jetzt auf unserem Planeten landen?« fragte Fleming eifrig. »Natürlich«, stimmte Howard zu. »Aber diese Raumstation dort vorn legt eigentlich den Schluß nahe, daß es hier Leute gibt, die den Planeten als ihr Eigentum ansehen.« Fleming sah in die angegebene Richtung. Tatsächlich wurde die Raumstation, die bisher hinter dem Planeten verborgen gewesen war, jetzt immer deutlicher sichtbar. »Verdammt noch mal!« brummte Fleming enttäuscht. »Dann ist er also bewohnt. Glauben Sie, daß wir…« Er sprach nicht weiter, sondern warf einen vielsagenden Blick auf die Feuerknöpfe der Lenkwaffen des Raumschiffs. »Hm.« Howard warf einen nachdenklichen Blick auf die Raumstation, schätzte den technischen Fortschritt ab, den sie verkörperte, und schüttelte bedauernd den Kopf. »Nein, nicht hier«, entschied er. »Wie Sie meinen«, sagte Fleming. »Aber wir können - 246 -
uns zumindest die Handelsrechte sichern.« Er sah wieder nach draußen und griff nach Howards Arm. »Da – die Raumstation!« Auf der grauen Metalloberfläche der Raumstation blinkten in regelmäßigen Abständen verschiedenfarbige Lichter auf. »Können Sie sich vorstellen, was das heißen soll?« wollte Fleming wissen. »Keine Ahnung«, gab Howard zu, »und wir werden es hier oben auch nicht erfahren. Am besten landen Sie jetzt wirklich, wenn niemand Sie daran zu hindern versucht.« Fleming nickte und schaltete auf Handsteuerung um. Howard beobachtete ihn noch einige Zeit. Das Kontrollpult war mit Instrumenten, Knöpfen und Hebeln übersät, die aus Metall, Glas und Plastik bestanden. Fleming war seinerseits ein Mensch aus Fleisch und Blut und Knochen. Man hätte glauben sollen, daß zwischen so verschiedenen Elementen nur eine sehr oberflächliche Zusammenarbeit möglich gewesen wäre, aber Fleming schien jetzt förmlich mit dem Kontrollpult des Raumschiffs verwachsen. Seine Augen überprüften die Instrumente mit geradezu mechanischer Präzision, während seine Finger die richtigen Bewegungen machten, ohne daß er hinzusehen brauchte. Das Schiff schien unter seinen Händen zu neuem Leben zu erwachen und sich dabei seinem Willen zu unterwerfen. Kontrollampen blinkten auf, und der Lichtschein spiegelte sich in Flemings Augen, so daß der Eindruck entstand, sie leuchteten von innen heraus. - 247 -
Als das Schiff in die Atmosphäre des Planeten eingedrungen war und sich auf einer Spiralbahn zu Boden senkte, kehrte Howard in die Kombüse zurück, um die unterbrochenen Vorbereitungen zum Mittagessen weiterzuführen. Sie landeten am Rand einer Stadt und warteten auf Polizisten oder Zollbeamte. Aber niemand ließ sich blicken. Daraufhin vertrieben sie sich die Zeit damit, die Atmosphäre des Planeten zu analysieren; sie erwies sich als erdähnlich und enthielt nur etwas mehr Sauerstoff. Als noch immer niemand aufgetaucht war, übernachteten sie an Bord. Am nächsten Morgen öffnete Fleming die Luftschleuse, und sie machten sich auf den Weg in die Stadt. Die ersten Skelette, die auf der mit Bombenkratern übersäten Betonstraße lagen, verblüfften sie, weil sie so unordentlich wirkten. Welche zivilisierte Rasse ließ Skelette auf den Straßen liegen? Warum räumte hier niemand auf? Die Stadt war nur von Skeletten bevölkert: Tausende, Millionen von Skeletten, die in zerfallenen Theatern, im Staub vor Geschäften und überall vor den durch Beschuß demolierten Häusern lagen. »Hier scheint es Krieg gegeben zu haben«, meinte Fleming unbekümmert. Im Mittelpunkt der Stadt entdeckten sie einen weitläufigen Paradeplatz, auf dem endlose Reihen uniformierter Skelette zu Boden gesunken waren. Auf den Tribünen waren Offiziere, Beamte, Frauen und Eltern als - 248 -
Skelette zurückgeblieben. Und hinter den Tribünen lagen die Skelette von Kindern, die zusammengelaufen waren, um das bunte militärische Schauspiel mitzuerleben. »Daran kann nur ein Krieg schuld gewesen sein«, behauptete Fleming überzeugt. »Sie haben ihn verloren.« »Offensichtlich«, stimmte Howard zu. »Aber wer hat ihn gewonnen?« »Was?« »Wo sind die Sieger?« Fleming zuckte unsicher mit den Schultern. Er starrte die vielen Skelette an und wandte sich dann ruckartig ab. »Glauben Sie, daß alle Bewohner dieses Planeten tot sind?« fragte er hoffnungsvoll. »Das müßten wir erst feststellen.« Sie kehrten zu ihrem Schiff zurück. Fleming begann vergnügt zu pfeifen und beförderte einen Knochen, der ihm im Weg lag, mit einem Fußtritt zur Seite. »Diesmal haben wir es wirklich geschafft!« behauptete er grinsend. »Noch nicht«, wandte Howard vorsichtig ein. »Es könnte Überlebende geben, die…« Dann ließ er sich von Flemings Optimismus anstecken und grinste ebenfalls. »Vielleicht haben wir diesmal tatsächlich Glück gehabt«, gab er zu. Ihr Erkundungsflug um den Planeten dauerte nicht lange. Die blau-grüne Welt war ein von Bombenkratern durchlöchertes riesiges Grab. Auf jedem Kontinent enthielt jede Stadt Zehntausende von toten Einwohnern, und jede - 249 -
Großstadt war von Millionen von Skeletten bevölkert. Überall auf den Ebenen und in den Gebirgen lagen Skelette, die Seen enthielten welche, und in Wäldern und Dschungeln waren ebenfalls Skelette zu finden. »Gräßlich!« meinte Fleming, als sie wieder über dem Ausgangspunkt ihres Rundflugs schwebten. »Wie hoch war die Bevölkerung Ihrer Meinung nach gewesen, Howard?« »Ich schätze sie auf ungefähr zehn Milliarden«, antwortete Howard. »Und was kann diesen Leuten zugestoßen sein?« Howard lächelte weise. »Es gibt drei klassische Möglichkeiten des Völkermords. Die erste ist die Vergiftung der Atmosphäre durch Giftgas. Damit verwandt ist die Vergiftung durch Radioaktivität, unter der jedoch auch die Pflanzen leiden. Und zuletzt gibt es noch im Labor gezüchtete Bakterienstämme, die den einzigen Zweck haben, die Bevölkerung ganzer Kontinente auszurotten. Wenn man mit ihnen unvorsichtig umgeht, können sie einen ganzen Planeten entvölkern.« »Glauben Sie, daß das hier passiert ist?« fragte Fleming interessiert. »Ja«, antwortete Howard, rieb einen Apfel an seinem Ärmel ab und biß herzhaft hinein. »Ich bin kein Pathologe, aber die Spuren an den Knochen…« »Bakterien«, murmelte Fleming nachdenklich vor sich hin. Er hüstelte unwillkürlich. »Aber Sie glauben doch nicht, daß…« »Wenn die Bakterien noch gelebt hätten, wären wir - 250 -
beide bereits tot«, versicherte Howard ihm. »Das alles muß vor einigen Jahrhunderten passiert sein, weil die Skelette schon ziemlich verwittert sind. Und die Bakterien sind dann ebenfalls gestorben, weil ihnen die Lebensgrundlage, entzogen worden war.« Fleming nickte zufrieden. »Das paßt wie bestellt, Howard. Die armen Leute tun mir natürlich leid. Sie haben eben Pech gehabt. Aber der Planet gehört wirklich uns!« Er sah aus dem Bullauge auf die grünen Wälder hinab, die sich bis zum Horizont erstreckten. »Haben Sie sich schon einen Namen dafür überlegt, Howard?« Howard warf einen Blick auf das fruchtbare Land unter ihnen. »Wir könnten den Planeten Paradies II nennen«, schlug er dann vor. »Für Farmer scheint er jedenfalls das reinste Paradies zu sein.« »Paradies II! Das klingt verdammt gut«, stimmte Fleming zu. »Ich finde allerdings, daß wir zuerst dafür sorgen müssen, daß diese vielen Skelette beseitigt werden. Das verdirbt den ganzen Eindruck, wenn Sie mich fragen.« Howard nickte langsam. Es gab viele Einzelheiten dieser Art zu erledigen. »Damit können wir uns befassen, sobald…« Die Raumstation schwebte lautlos über sie hinweg. »Die Lichter!« rief Howard plötzlich aus und schlug sich mit der flachen Hand klatschend an die Stirn. »Lichter?« wiederholte Fleming gedehnt, während er der Raumstation nachsah. »Erinnern Sie sich nicht mehr daran?« fragte Howard. »Haben Sie die Blinklichter vergessen, die wir für Signale - 251 -
gehalten haben?« »Ah, richtig«, stimmte Fleming zögernd zu. »Halten Sie es für möglich, daß die Station noch immer bemannt ist?« »Das werden wir gleich feststellen«, erklärte Howard ihm grimmig. Er biß entschlossen in seinen Apfel, während Fleming sich ans Kontrollpult setzte und Kurs auf die Raumstation nahm. Als sie die Raumstation erreichten, sahen sie zuerst das andere Schiff, das zwischen den Metallstreben der Raumstation hing, wie eine Spinne in ihrem Netz hängt. Es war klein, kaum größer als die Pinasse ihres eigenen Schiffs, und seine Luftschleuse stand offen. Howard und Fleming legten ihre Raumanzüge an und schwebten zur Schleuse des anderen Schiffs hinüber. Fleming griff mit der behandschuhten Rechten nach dem Luk und zog es noch etwas weiter auf. Die beiden Männer leuchteten mit ihren Handscheinwerfern in die Kabine und wichen entsetzt zurück. Dann machte Howard eine ungeduldige Bewegung, und Fleming betrat die Kabine als erster. Sie hatten einen Toten vor sich. Der Mann im Pilotensitz trug einen Raumanzug, durch dessen Helm sein Gesicht deutlich zu erkennen war. Er war vom Tod überrascht worden, als er hatte aufspringen wollen, und sein Körper war für alle Ewigkeit in dieser halb sitzenden, halb stehenden Position erstarrt. Sein Gesicht war fleischig genug, um vom Todeskampf verzerrte Züge zu zeigen, aber die Haut war an einigen Stellen von irgendeiner Krankheit zerfressen. - 252 -
An der Rückwand der Kabine waren Kisten aufgestapelt. Fleming brach eine davon auf und leuchtete hinein. »Lebensmittel«, stellte Howard fest. »Wahrscheinlich hat er versucht, sich in die Raumstation zu retten«, stimmte Howard zu. »Aber er hat es eben nicht geschafft. « Die beiden Männer verließen das kleine Schiff rasch wieder. Dieser Anblick war nicht lange zu ertragen. Skelette konnte man sich eher ansehen; sie waren menschliche Überreste, bei deren Anblick man nicht daran zu denken brauchte, wie der Tote ausgesehen haben mochte. Aber diese Leiche sagte zuviel über die Todesumstände aus. »Wer hat also die Blinkscheinwerfer eingeschaltet?« wollte Fleming wissen, als sie wieder zwischen den Metallstreben der Raumstation schwebten. »Vielleicht werden sie automatisch eingeschaltet, sobald ein anderes Schiff geortet wird«, meinte Howard zweifelnd. »Hier in der Station kann es doch keine Überlebenden geben.« Sie arbeiteten sich bis zu der deutlich erkennbaren Luftschleuse der Station vor. Der Öffnungsmechanismus des Luks war durch eine schematische Darstellung an der Außenwand erklärt. »Sollen wir?« fragte Fleming. »Ist das nicht überflüssig?« wandte Howard rasch ein. »Die Bewohner dieses Planeten sind tot. Am besten fliegen wir gleich zurück und beanspruchen den Planeten für uns.« »Aber wenn es hier in der Station nur einen einzigen Überlebenden gibt, gehört der ganze Planet ihm«, gab - 253 -
Fleming zu bedenken. »Mit dieser Möglichkeit müssen wir rechnen.« Howard nickte widerstrebend. Es wäre unverantwortlich gewesen, zur Erde zu fliegen, dort offiziell Anspruch auf diesen Planeten zu erheben und mit einem Vermessungsteam zurückzukommen – um dann erst festzustellen, daß jemand die ganze Zeit über gemütlich in der Raumstation gelebt hatte. Der Fall sah anders aus, wenn es noch Überlebende gab, die sich auf dem Planeten selbst verborgen hielten. Ihr Anspruch auf Paradies II würde dann trotzdem bestehen bleiben. Aber ein Überlebender in einer Raumstation, die sie nicht untersucht hatten… »Leider geht es nicht anders«, stellte Howard fest und öffnete die Luftschleuse. Im Innern der Schleuse herrschte völlige Dunkelheit. Howard richtete den Strahl seines Handscheinwerfers auf Fleming. In dem weißen Licht war Flemings Gesicht schattenlos und glich einer stilisierten Maske. Howard kniff die Augen zusammen und erschrak fast vor diesem Anblick. »Die Luft ist atembar«, stellte Fleming mit einem Blick auf seinen Tester fest. Howard nahm erleichtert seinen Helm ab und veränderte den Lichtstrahl des Handscheinwerfers, so daß er eine größere Fläche beleuchtete. Die massiven Metallwände schienen ihn erdrücken zu wollen. Er tastete in seiner Tasche nach etwas Eßbarem, fand ein Radieschen und steckte es zur Beruhigung in den Mund. Dann brachen sie auf.
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Etwa eine halbe Stunde lang folgten sie einem engen, gewundenen Gang. Ihre Handscheinwerfer durchdrangen die Dunkelheit vor ihnen. Das Metall unter ihren Füßen, das so stabil aussah, begann auf unerklärliche Weise zu knarren und zu quietschen. Howard wurde nervös davon, aber Fleming schien diese Geräusche nicht einmal zu bemerken. »Wahrscheinlich sind auch von hier aus Bomben abgeworfen worden«, stellte Fleming nach einiger Zeit fest. »Das könnte stimmen«, gab Howard zu. »Das Ding muß Tausende von Tonnen wiegen«, fuhr Fleming fort und klopfte an eine Wand. »Wahrscheinlich müssen wir es als Schrott verkaufen, wenn sich die Maschinen nicht anderweitig verwenden lassen.« »Der Schrottwert dürfte…«, begann Howard, um dann plötzlich zu verstummen, weil sich im gleichen Augenblick eine Falltür öffnete, auf der Fleming stand. Fleming stürzte so rasch in die Tiefe, daß er nicht einmal mehr aufschreien konnte, und die Falltür schloß sich krachend. Howard stolperte rückwärts, als sei er geschlagen worden. Er blieb wie gelähmt stehen und versuchte seinen Schock zu überwinden. Die Erstarrung ließ langsam nach. «… wegen der Transportkosten nicht sonderlich hoch sein«, fuhr er automatisch fort, als könne er dadurch das Geschehene ungeschehen machen. Er trat dicht an die Falltür und rief mit lauter Stimme: »Fleming!« - 255 -
Keine Antwort. Howard lief ein kalter Schauer über den Rücken. »Fleming!« wiederholte er krächzend. Dann richtete er sich auf, hielt sich den schmerzenden Schädel und trottete zur Luftschleuse zurück. Er war zu keinem klaren Gedanken fähig. Das Schleusenluk war jedoch zugeschweißt, und die geschlossenen Fugen fühlten sich noch warm an, als Howard einen Handschuh auszog, um sie zu betasten. Howard beschäftigte sich eingehend damit. Er ließ die Hände über das Metall gleiten, schlug mit den Fäusten dagegen und versuchte es schließlich sogar mit Fußtritten. Dann merkte er, wie schwer die Dunkelheit auf ihm lastete. Er wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und warf sich plötzlich herum. »Wer ist da?« brüllte er in den Korridor hinein. »Fleming! Kannst du mich hören?« Er bekam keine Antwort. »Wer hat das getan?« fragte Howard laut. »Warum hast du mit den Scheinwerfern geblinkt? Was hast du Fleming angetan?« Er lauschte einige Sekunden lang angestrengt und fuhr dann schluchzend fort: »Laß mich hinaus! Laß mich zu meinem Schiff zurück! Ich erzähle auch niemand etwas davon!« Er wartete, hielt den Handscheinwerfer in den finsteren Korridor gerichtet und fragte sich, was jenseits der Dunkelheit liegen mochte. Schließlich kreischte er: »Warum läßt du nicht auch unter mir eine Falltür aufgehen?« Dann lehnte er sich keuchend und nach Atem ringend an - 256 -
die Metallwand. Aber unter ihm öffnete sich keine Falltür. Vielleicht passiert mir das nicht, überlegte er. Dieser Gedanke tröstete ihn wieder einen Augenblick lang. Er versuchte sich einzureden, daß es irgendwo eine zweite Schleuse geben müsse, durch die er die Raumstation verlassen können werde. Er ging in den Korridor hinein. Eine Stunde später marschierte er noch immer. Sein Handscheinwerfer beleuchtete einen Teil des Korridors vor ihm, aber er spürte, daß die Dunkelheit sich ihm von hinten näherte. Immerhin hatte er unterdessen seine Selbstbeherrschung wiedergefunden, und die Kopfschmerzen waren erträglicher geworden. Howard konnte wieder einigermaßen klar denken. Die Blinkscheinwerfer der Raumstation waren vermutlich automatisch eingeschaltet worden. Vielleicht hatte auch die Falltür automatisch funktioniert. Und was die Luftschleuse betraf, so war nicht auszuschließen, daß es sich dabei um eine Sicherungsmaßnahme handelte, die in Kriegszeiten verhindern sollte, daß feindliche Agenten in die Raumstation eindringen konnten. Howard war sich darüber im klaren, daß seine Erklärungsversuche nicht sonderlich logisch waren, aber im Augenblick konnte er in dieser Beziehung beim besten Willen nicht mehr leisten. Die ganze Situation war unerklärlich. Der Tote in dem Raumschiff, dieser schöne, von Skeletten bevölkerte Planet – irgendwo mußte es eine Verbindung zwischen den beiden geben. Wenn er nur wüßte, welcher Zusammenhang hier bestand … »Howard!« sagte eine Stimme. - 257 -
Howard machte unwillkürlich einen Satz zurück, als habe er einen unter Strom stehenden Draht berührt. Seine Kopfschmerzen begannen jetzt wieder; sie waren schlimmer als zuvor. »Ich bin's«, fuhr die Stimme fort. »Fleming.« Howard leuchtete mit seinem Handscheinwerfer planlos in alle Richtungen. »Wo?« fragte er. »Wo steckst du?« »Ungefähr dreißig Meter unter dir, soviel ich beurteilen kann«, antwortete Fleming. Seine Stimme hallte den Korridor entlang, wurde von den Wänden zurückgeworfen und dröhnte in Howards Ohren. »Die Tonqualität ist nicht besonders gut, aber mehr habe ich im Augenblick nicht zu bieten.« Howard setzte sich abrupt, weil seine Beine ihm den Dienst versagten. Trotzdem war er deutlich erleichtert. Daß Fleming sich dreißig Meter unter ihm aufhielt, war wenigstens verständlich, und daß die Tonqualität zu wünschen übrigließ, war begreifbar und erklärlich. »Kannst du wieder heraufkommen? Wie soll ich dir helfen?« »Das kannst du nicht«, antwortete Fleming, und Howard hatte den Eindruck, das nun folgende Krachen und Knacken sei als menschliches Lachen zu verstehen. »Ich habe nämlich nicht mehr allzuviel von meinem Körper übrig.« »Aber wo ist dann dein Körper geblieben?« erkundigte Howard sich ernsthaft. »Er hat den Sturz schlecht überstanden«, antwortete Fleming. »Aber zum Glück ist noch genug übrig, was sich verwerten ließ.« - 258 -
»Aha«, murmelte Howard vor sich hin. »Du bist jetzt also nur noch ein Gehirn, eine bloße Denkmaschine.« »Nein, etwas mehr«, widersprach Fleming ihm gelassen. »Die Maschine verwendet alle Teile, die sie brauchen kann.« Howard begann nervös zu lachen, denn er stellte sich vor, wie Flemings graues Gehirn in einer kristallklaren Nährlösung schwamm. Dann fragte er plötzlich: »Die Maschine? Welche Maschine?« »Die Raumstation«, erklärte Fleming. »Meiner Überzeugung nach ist sie das bisher komplizierteste Gebilde von Menschenhand. Sie hat die Blinkscheinwerfer eingeschaltet und die Schleuse für uns geöffnet.« »Aber warum nur?« »Das werde ich wohl bald erfahren«, stellte Fleming fest. »Ich bin jetzt ein Teil dieser Maschine geworden. Oder vielleicht ist sie ein Teil von mir. Sie hat mich jedenfalls gebraucht, weil sie nicht wirklich intelligent war. Die fehlende Intelligenz liefere ich jetzt.« »Du?« fragte Howard erstaunt. »Aber die Maschine konnte doch nicht wissen, daß du kommen würdest!« »Ich behaupte keineswegs, daß sie auf mich gewartet hat. Wahrscheinlich war der Mann in dem Raumschiff ursprünglich an meiner Stelle vorgesehen. Aber ich bin dieser Aufgabe ebenfalls gewachsen. Wir müssen gemeinsam die Pläne der Erbauer verwirklichen.« Howard beherrschte sich mühsam. Er konnte nicht mehr richtig denken. Er war nur noch von dem Gedanken beseelt, die Raumstation zu verlassen und zu seinem Schiff - 259 -
zurückzukehren. Dabei würde Fleming ihm helfen müssen; aber Fleming hatte sich verändert und war unberechenbar. Er schien noch menschlich zu sein. War er es wirklich? »Fleming«, sagte Howard zögernd. »Ja, alter Freund?« Das war ermutigend. »Kannst du dafür sorgen, daß ich hier herauskomme?« »Ich nehme es an«, antwortete Flemings Stimme. »Ich werde es jedenfalls versuchen.« »Ich komme dann mit den besten Neurochirurgen zurück«, versicherte Howard eifrig. »Keine Angst, das bringen wir alles wieder in Ordnung.« »Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen«, wehrte Fleming ab. »Mir geht es hier gut.« Howard wußte nicht mehr, wie viele Stunden er schon unterwegs war. Ein enger Korridor folgte dem anderen, teilte sich irgendwo und zweigte in weitere Korridore ab. Er wurde müde, und seine Beine begannen zu schmerzen. Er aß, während er marschierte. In seiner Tragtasche hatte er Sandwiches, die er jetzt mechanisch kaute, um bei Kräften zu bleiben. »Fleming«, rief er schließlich, als er eine Pause einlegen mußte. Nach einer langen Wartezeit hörte er einen Laut, als reibe Metall sich an Metall. »Wie lange noch?« fragte er in die Dunkelheit hinein. »Nicht mehr sehr lange«, erwiderte die blecherne - 260 -
Metallstimme. »Müde?« »Ja.« »Ich tue, was ich kann.« Flemings Stimme war erschreckend, aber die nun folgende Stille war noch schrecklicher. Als Howard angestrengt lauschte, hörte er irgendwo tief im Innern der Station ein kraftvolles Summen, das fast unmerklich lauter wurde. »Fleming?« »Ja?« »Wozu hat die Station ursprünglich gedient? Ist der Planet von hier aus bombardiert worden?« »Nein«, erklärte ihm die Stimme. »Aber ich kenne den eigentlichen Zweck der Maschine noch nicht. Ich muß erst völlig integriert sein.« »Aber sie erfüllt einen bestimmten Zweck?« erkundigte Howard sich. »Ja!« Die metallische Stimme antwortete so dröhnend laut, daß Howard zusammenzuckte. »Ich besitze wunderbar funktionelle und miteinander zusammenarbeitende Mechanismen. Ich kann allein die Temperatur in meinem Innern in wenigen Mikrosekunden um Hunderte von Grad verändern, ganz zu schweigen von meinen Mischwerken für Grundstoffe, die Energieversorgung und alles übrige. Und ich habe natürlich einen Daseinszweck!« Diese Antwort gefiel Howard nicht. Er hatte den Eindruck, Fleming identifiziere sich mit der Maschine. Seine Persönlichkeit schien mit dem mechanischen - 261 -
Bewußtsein der Raumstation zu einem Ganzen zu verwachsen. »Warum weißt du noch nicht, welchen Zweck die Maschine erfüllt?« fragte er. »Vorläufig fehlt noch ein wichtiges Teil«, erklärte Fleming ihm nach einer Pause. »Ein unbedingt erforderliches Muster. Außerdem beherrsche ich noch nicht sämtliche Funktionen der Maschine.« Nun summte es bereits aus verschiedenen Richtungen, und die Metallwände begannen zu vibrieren. Howard spürte deutlich, daß der Boden unter seinen Füßen zitterte. Die Raumstation schien aufzuwachen, sich zu recken und ihre Muskeln prüfend anzuspannen. Howard hatte das Gefühl, sich im Magen eines Ungeheuers zu befinden. Howard marschierte noch einige Stunden lang und ließ eine Spur aus Apfelkerngehäusen, Orangenschalen, fetten Fleischstückchen, einer leeren Feldflasche und einem Stück Pergamentpapier hinter sich zurück. Er aß jetzt ständig und konnte nicht mehr aufhören, weil sein Hunger eher noch zuzunehmen schien. Solange er aß, fühlte er sich sicher, denn der Vorgang des Essens verband ihn gefühlsmäßig mit seinem Schiff und der Erde. Plötzlich glitt ein Teil der Wand vor ihm lautlos zur Seite. Howard erschrak und wich unwillkürlich zurück. »Geh nur hinein«, forderte ihn eine Stimme auf, die nur Flemings sein konnte, obwohl er sie nicht wiedererkannte. »Warum? Was ist dort?« Howard leuchtete in die Öffnung und sah ein breites Förderband, das sich in die - 262 -
Dunkelheit hineinbewegte. »Du bist müde«, erklärte ihm die Stimme. »So geht es schneller.« Howard wäre am liebsten fortgelaufen, aber er wußte nicht, wohin er sich hätte wenden sollen. Er mußte Fleming trauen oder sich allein in die Dunkelheit hineinwagen, die vor ihm aufriß, soweit der Strahl seines Handscheinwerfers reichte, um sich hinter ihm sofort wieder zu schließen. »Geh hinein!« wiederholte die Stimme. Diesmal klang sie bereits energischer. Howard trat gehorsam durch die Öffnung und ließ sich auf dem Förderband nieder. Vor sich sah er wieder nur Dunkelheit. Er streckte sich auf dem Band aus. »Weißt du schon, wozu die Station dient?« fragte er die Dunkelheit. »Bald«, antwortete die Stimme. »Wir werden die anderen nicht enttäuschen.« Howard wagte nicht zu fragen, wer diese ›anderen‹ waren, die Fleming nicht enttäuschen wollte. Er schloß die Augen und ließ sich von der Dunkelheit einhüllen. Die Fahrt dauerte lange. Howard hatte sich den Handscheinwerfer unter den Arm geklemmt, so daß sein Lichtstrahl die blankpolierte Metalldecke über ihm traf. Er kaute gelegentlich auf einem Stück Sandwich herum, ohne recht zu merken, was er aß, und oft ohne überhaupt zu wissen, daß er etwas in den Mund gesteckt hatte. - 263 -
Um ihn herum schien die Maschine Selbstgespräche in einer Sprache zu führen, die er nicht verstand. Er hörte das Knirschen und Knarren sich bewegender Teile, die gegen diese Bewegung protestierten. Dann spritzte Öl deutlich hörbar zwischen sie, so daß sie sich lautlos weiterbewegten. Generatoren begannen zu summen, setzten zeitweise aus und summten schließlich um so eifriger weiter. Überall klickten Relais, knackten Schalter und knisterten elektrische Entladungen, während die Raumstation immer mehr zu einem mechanischen Leben erwachte. Aber was hatte das zu bedeuten? Howard wußte es nicht, als er mit geschlossenen Augen auf dem Förderband lag. Seine einzige Verbindung mit der Realität war das Sandwich gewesen, das er gekaut hatte; aber das Brot war bald aufgegessen, und Howard blieb mit seinen Alpträumen allein. Er sah die Skelette über den Planeten marschieren; Milliarden von Skeletten in militärisch ausgerichteten Reihen, die durch die Städte, über die Felder und in den Raum hinausmarschierten. Sie zogen an dem toten Piloten des kleinen Raumschiffs vorbei, und der Leichnam starrte sie neiderfüllt an. Laßt mich mitkommen, bat er, aber die Skelette schüttelten mitleidig den Kopf, weil der Pilot noch immer mit seinem Fleisch beladen war. Wann? fragte der Tote, und die Skelette antworteten: Wenn die Maschine funktioniert, wenn ihr Zweck offenbar wird. Dann werden die Milliarden Skelette erlöst, und dieser Leichnam wird von seinem Fleisch befreit. Aber bis dahin darf er die in seinem Schiff aufgehäuften Lebensmittel nicht verlassen. Die Skelette marschierten weiter, und der tote Pilot wartete - 264 -
wie zuvor auf seine Erlösung. »Ja!« Howard schrak auf und sah sich um. In seiner Nähe waren weder Skelette noch Leichen zu erkennen. Nur die Metallwände der Raumstation. »Ja!« Er hatte also doch eine Stimme gehört! »Was ist los?« fragte er in die Dunkelheit hinein. »Ich kenne meinen Daseinszweck!« Howard sprang auf und leuchtete mit dem Handscheinwerfer planlos um sich. Das Echo der metallischen Stimme überfiel ihn von allen Seiten, und er war von einer namenlosen Angst erfüllt. Ihm erschien es plötzlich schrecklich, daß die Maschine ihren Daseinszweck kennen sollte. »Welchen Zweck hast du also?« fragte er kaum hörbar. Statt der erwarteten Antwort flammte ein grelles Licht auf, vor dem sein Handscheinwerfer verblaßte. Howard schloß instinktiv die Augen, wich erschrocken zurück und wäre fast gestürzt. Das Förderband bewegte sich jetzt nicht mehr. Howard öffnete langsam die Augen und fand sich in einem riesigen, hell beleuchteten Raum wieder. Zu seinem Erstaunen waren die Wände vollständig mit Spiegeln verkleidet. Hundert Howards starrten ihn an, und er starrte zurück. Dann drehte er sich rasch um. Er sah keinen Ausgang. Aber die Spiegelbilder bewegten sich nicht wie er. Sie blieben statuengleich stehen. - 265 -
Howard hob die rechte Hand. Die anderen Howards ließen die Arme wie leblos hängen. Sie waren keine Spiegelbilder. Die hundert Howards setzten sich wie auf ein Zeichen hin in Bewegung und gingen auf die Mitte des großen Raums zu. Sie waren unsicher auf den Beinen, und in ihren glanzlosen Augen zeigte sich kein Intelligenzschimmer. Der ursprüngliche Howard stieß einen lauten Schrei aus und warf den Handscheinwerfer nach ihnen. Er fiel krachend zu Boden. Dann glaubte er plötzlich zu wissen, welchen Zweck die Maschine hatte. Ihre Erbauer hatten vorausgesehen, daß die Bevölkerung des Planeten aussterben würde. Deshalb hatten sie diese Maschine im Weltraum konstruiert, um sie Menschen produzieren zu lassen, die den Planeten wiederbevölkern konnten… Aber diese Howards schienen keine Intelligenz zu besitzen. Sie torkelten umher, bewegten sich ungelenk und waren offenbar kaum imstande, ihre Bewegungen zu kontrollieren. Und der ursprüngliche Howard merkte Sekunden später, welchem schrecklichen Irrtum er erlegen war. Die Decke des Raums glitt zur Seite. Riesige Fleischhaken senkten sich herab, blitzende Messer sanken langsam tiefer. Die Wände öffneten sich und zeigten, was hinter ihnen lag: gigantische Förderbänder und Maschinen, große Kessel, in denen es dampfte und siedete, Gefrierkammern und Tiefkühleinrichtungen. Mehr und mehr Howards marschierten herein; die Haken griffen nach ihnen und schleppten sie davon, sobald die Messer - 266 -
herabgezuckt waren, und die Howards wurden trotzdem immer mehr. Aber nur einer von ihnen schrie auf – der ursprüngliche Howard. »Fleming!« kreischte er entsetzt. »Nicht mich! Nicht mich, Fleming!« Jetzt war ihm alles klar: die Raumstation war zu einer Zeit gebaut worden, als ein Krieg die Bevölkerung des Planeten dezimierte. Der Pilot des Raumschiffs hätte sie bedienen sollen, aber er hatte sein Ziel nie erreicht. Und seine Ladung hatte aus Lebensmitteln bestanden… die er nie selbst gegessen hätte. Natürlich! Die Bevölkerung dieses Planeten mußte zehn Milliarden erreicht oder gar überschritten haben! Der Hunger hatte sie dann zu einem letzten Krieg getrieben. Und die Erbauer der Raumstation hatten sich verzweifelt bemüht, die Planetenbevölkerung zu retten… Aber sah Fleming denn nicht ein, daß er das falsche Muster war? Das konnte die Fleming-Maschine nicht, denn Howard erfüllte sämtliche Voraussetzungen. Howard sah nur noch ein Messer herabzucken. Dann wurde es dunkel um ihn. Und die Fleming-Maschine verarbeitete die hereinströmenden Howards, schlachtete und tranchierte sie, bereitete sie zu und schickte sie in die Tiefkühlräume: als gegrillten Howard, als Howardsteak, als Howard in Rahmsauce, als Howard mit Reis und natürlich auch als Howardsalat. Das von genialen Köpfen ersonnene Verfahren zur Vervielfältigung von Lebensmitteln funktionierte also - 267 -
einwandfrei! Der Krieg würde sofort enden, weil es jetzt mehr als genug Nahrung für alle geben würde. Essen! Essen! Essen für die verhungernden Milliarden auf Paradies II!
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