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Von Arthur W. Upfield sind erschienen: Bony und der Bumerang Ein glücklicher Zufall Das rote Flugzeug Mr. Jellys Geheimnis Bony stellt eine Falle Todeszauber Der Kopf im Netz Bony und die Todesotter Bony wird verhaftet Der Pfad des Teufels Die Leute von nebenan Die Witwen von Broome Tödlicher Kult Der neue Schuh Die Giftvilla Viermal bei Neumond Der sterbende See Der schwarze Brunnen Der streitbare Prophet Höhle des Schweigens Bony kauft eine Frau Die Junggesellen von Broken Hill Bony und die schwarze Jungfrau Bony und die Maus Fremde sind unerwünscht Die weiße Wilde Wer war der Zweite Mann? Bony übernimmt den Fall Gefahr für Bony
Arthur W. Upfield
Fremde sind unerwünscht Bony and the Kelly gang Kriminalroman
WILHELM GOLDMANN VERLAG MÜNCHEN KRIMI VERLAG AG WOLLERAU/SCHWEIZ
Die Hauptpersonen des Romans sind: Inspektor Napoleon Bonaparte Mike Conway Oma Conway Red Kelly Brian Kelly Rosalie Ryan Bessie O’Grady
hier unter dem Namen Nat Bonnay ein Händler seine Großmutter Gutsherr sein Sohn Lehrerin ihre Freundin
Der Roman spielt in Cork Valley, einem Tal in den Bergen von Südaustralien. Made in Germany • III • 31142
© by Arthur W. Upfield. Ins Deutsche übertragen von Heinz Otto. Ungekürzte Ausgabe. Alle Rechte, auch die der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten. Jeder Nachdruck bedarf der Genehmigung des Verlages. Umschlag: Robert Taylor in dem MGM-Film ›Heiße Colts in harten Fäusten‹, Foto: MGM. Gesetzt aus der Linotype-Garamond-Antiqua. Druck: Presse-Druck Augsburg. KRIMI 1230 • ze/pap. ISBN 3-442-01230-9
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ie Landstraße zog sich schnurgerade über die schmale Küstenniederung zum Fluß der Southern Mountains von Neusüdwales hin. Sie war asphaltiert, und zu beiden Seiten dehnten sich die eingezäunten Weidegründe. Im saftigen Gras stand das wohlgenährte Vieh. Der Mann, der auf dieser Straße entlangmarschierte, kam von der Staatsstraße nach Sydney, hinter der sich die weite Fläche des Pazifik dehnte. Vor ihm stiegen die baumbestandenen Hänge an, die tausend Meter hoch aufragenden Granitfelsen zu stützen schienen. Dort oben sollten auf einem Kaninchenbau tote Frettchen liegen. Inspektor Bonaparte lebte normalerweise in den weiten Mulgawäldern, in Sanddünen und unendlichen, mit Salzbusch bestandenen Ebenen. Diese Gegend hier war nicht weniger reizvoll, nicht weniger geheimnisvoll, aber sie gehörte nicht zu seinem Dienstbereich. Finster und abweisend schienen die Berge auf ihn herabzublicken. »Ich muß immer an die Zeit denken, als ich noch ein kleiner Junge war«, hatte Chefinspektor Casement gesagt, sich von der Wandkarte abgewandt und sich wieder an seinen mit Akten beladenen Schreibtisch gesetzt. »Ich lebte auf der elterlichen Farm und mußte eines Tages in die Stadt ins Internat. Was sollte nun aus meinen drei Frettchen werden? Meinen alten Herrn konnte ich damit nicht behelligen, und meine Mutter ekelte sich vor ihnen. In der Nacht vor meiner Abreise brachte ich sie zum größten Kaninchenbau, den es in unserer Nähe gab, und ließ sie los. 5
Es gab da genügend Kaninchen, verhungern konnten sie also nicht. Am nächsten Morgen lief ich hinaus, um ihnen Adieu zu sagen, und fand alle drei tot auf dem Bauch liegend. Sehen Sie, ich hatte nicht bedacht, daß Füchse mit den Kaninchen zusammenleben.« Inspektor Bonaparte hatte den Blick von seinen langen braunen Fingern gelöst, die gerade damit beschäftigt gewesen waren, eine Zigarette zu drehen. »Hm, und nun sind es Ihre zweibeinigen Frettchen, die tot auf oder in der Nähe eines Baues mitten in den Southern Highlands gefunden wurden?« »Ganz recht. Einer tot und verschiedene bös zugerichtet. Der Bau befindet sich in der Nähe des Kreuzes, das ich gerade auf der Karte eingezeichnet habe. Vielleicht sollte ich richtiger sagen: Wir glauben, daß sich der Bau dort befindet.« Der herausfordernde Blick der Weinen braunen Augen seines Gegenübers hatte Inspektor Bonaparte gereizt und seltsam erregt. Er kannte alle offiziellen Daten und alle Einzelheiten der Wandkarte, und er überlegte nicht lange. Gewiß, dies war nicht sein Gebiet, diese riesigen Weidegründe, die vor den steil aufragenden Felsen endeten. Wenn man einen australischen Ureinwohner aus seiner gewohnten Umgebung herausreißt und weit weg verpflanzt, dann stirbt er entweder vor Durst oder vor Furcht. Und bringt man ihn wieder zurück, wird er heulen und seinen Kopf voller Verzweiflung in die Höhle eines Beuteltieres stecken. Bei diesen Ureinwohnern ist eben alles relativ, sogar bei Inspektor Napoleon Bonaparte, der jetzt den Namen Nathaniel Bonnay angenommen hatte. Ab und zu überholte ihn ein Wagen, aber er schien keinen Wert darauf zu legen, mitgenommen zu werden. Er wartete auf einen Lastwagen mit den Kennzeichen 101-PXA. Diesem Lastwagen würde in einiger Entfernung, sehr diskret und unbemerkt, ein Polizeiauto folgen. Es war natürlich bequemer, zu dem vermuteten »Kaninchenbau« mit dem Lastwagen zu fahren, als den 6
ganzen Weg zu Fuß zu marschieren. Und dort angekommen, bestand noch die Möglichkeit, daß sich keine Füchse in dem Bau befanden. Bevor Nat Bonnay auf dieser Landstraße nach den Southern Highlands losmarschiert war, hatte man sorgfältige Vorbereitungen getroffen. Er mußte, ohne Mißtrauen zu erwecken, nach Cork Valley gelangen, dessen Einwohner schon lange im Verdacht ungesetzlichen Tuns standen. Der ›Kaninchenbau‹ von Chefinspektor Casement war vermutlich nicht größer als ein Haus mit sechs Räumen, das Gebiet von Cork Valley hingegen umfaßte ungefähr vier Quadratmeilen. Es war jetzt Anfang April, eine Zeit, in der die Sonne noch angenehm warm ist, und die Ahornbäume allmählich ihre Herbstfärbung annehmen. Inspektor Bonaparte besaß normalerweise einen federnden Gang und war stets elegant gekleidet, aber als Nat Bonnay wies er keinen dieser Vorzüge auf. Seine Kleidung war alt und schäbig. Er trug Reitstiefel mit elastischem Schaft, eine rauhe, schlechtsitzende Gabardinehose und ein billiges Jackett. Der ausgefranste Kragen seines blauen Hemdes war schmutzig, in der Hand trug er einen kleinen, ramponierten Koffer, und mit seinem Filzhut wedelte er die Fliegen aus dem Gesicht. Der Lastwagen hinter ihm kroch näher wie ein sich anschleichender Fuchs. Als Bony zur Seite wich, sah er ihn nur zweihundert Meter hinter sich. Er tat so, als wolle er davonlaufen. Dann blieb er unentschlossen stehen und schien Deckung zu suchen. Schließlich besann er sich eines Besseren. Er winkte mit der Hand, um mitgenommen zu werden. Es war ein Dreitonner mit blitzenden Stoßstangen, dessen Fahrerhaus in frischer roter Lackfarbe erglänzte. Der Chauffeur fuhr zunächst langsam, gab aber dann wieder Gas, als seien ihm beim Anblick des wenig vertrauenerweckenden Wanderers Bedenken gekommen. Fünfzig Meter weiter hielt er doch an. Sein Mißtrauen 7
schien jedoch noch nicht geschwunden, als Bony es sich neben ihm auf dem Sitz bequem machte. Eine Minute lang sprach keiner der beiden. Der Fahrer bemerkte, daß der Unbekannte mit auffallendem Interesse den Rückspiegel im Auge behielt. »Danke«, sagte der Wanderer schließlich. »Schönes Wetter.« Der Chauffeur nickte. »Ja, die letzten Sommertage. Wohin wollen Sie denn?« »Ach, irgendwohin – nur weg von Sydney. Wie weit fahren Sie?« »Zwanzig Meilen vor Bowral biege ich ab in die Berge. Was ist denn so schlecht an Sydney?« Bony trommelte mit der linken Hand auf den Koffer, den er auf den Knien liegen hatte. Dem Chauffeur entging die offensichtliche Nervosität seines Fahrgastes nicht. »Ach, eine ganze Menge«, brummte der Mann schließlich. »In Sydney wird’s bald zu kalt, um im Freien zu schlafen. Und außerdem …« Seine nächsten Worte gingen im Motorengeräusch unter. »Außerdem bin ich nicht sehr beliebt dort«, fügte er schließlich hinzu. Die Farmen mit den Herrenhäusern und den farbenprächtigen Baumbeständen zogen vorüber, nur die Berge in der Ferne hoben unverrückt ihre granitenen Häupter. »Bowral! Was ist das eigentlich für ein Ort? Groß – klein?« »Ziemlich klein. Ein Städtchen mit vier Kneipen, drei Polizisten und fünfhundert kläffenden Hunden.« »Oh!« Den Fremden schien diese Auskunft unangenehm zu berühren, und der Chauffeur vergewisserte sich mit dem rechten Ellbogen, daß das Montiereisen griffbereit in der Innentasche der Tür steckte – für den Fall, daß er es brauchen sollte. »Ich habe kein Geld für die Kneipen«, fuhr der Fremde fort, »und keine Zeit für die Bullen. Aber ich habe gehört, daß hier draußen die Kartoffelernte jetzt im Gang ist. Und es soll doch auch Milchfarmen geben.« 8
»Ganz recht.« Die Bergkette ließ jetzt einen Einschnitt erkennen, der sich bald zu einem Tal erweiterte. Die nackten Felsen türmten sich hoch über die steil ansteigenden, baumbestandenen Hänge. »Na, was wollten Sie sagen?« bohrte der Fahrer. »Es würde mir nichts ausmachen, einen Job anzunehmen.« »Ach ja, das deuteten Sie an. Und Sie ließen ebenfalls durchblicken, daß Sie bei der Polizei nicht besonders angesehen sind. Haben Sie Ärger gehabt in Sydney?« »Ja. Und der soll auch in Sydney bleiben.« »Das kann ich mir denken.« Der Lastwagen bog um eine scharfe Kurve und schien geradewegs in den Berg zu fahren. Immer mehr Kurven kamen, die immer schärfer wurden, und der Motor heulte auf, wenn er eine besonders starke Steigung nehmen mußte. Zu beiden Seiten der Straße standen Buschwerk und hohe Eukalyptusbäume. Der Motor tuckerte nun sein gleichmäßiges Lied. Der Chauffeur mußte langsam fahren und hatte Zeit für eine Unterhaltung. »Ich habe auch Ärger«, sagte er in leichtem Plauderton. »Meine Kartoffeln müßten ausgebuddelt werden und einen guten Abnehmer finden. Wir wohnen etwas reichlich einsam. Die nächste Kneipe erst in Bowral, und überhaupt keine Polizei. Trotzdem leben wir ganz komfortabel. – Was ist das eigentlich für ein Ärger, den Sie hinter sich lassen wollen?« Bony drehte sich bedächtig eine Zigarette. Offensichtlich zögerte er, mit der Sprache herauszurücken. Zwischen den Bäumen wurde für einen Moment die tiefliegende Ebene sichtbar, und Bony genoß den atemberaubenden Blick. Nachdem er sich die Zigarette angezündet hatte, wandte er sich nach der anderen Seite und musterte den Fahrer. Der Mann war noch nicht fünfzig, von mittlerer Größe, hatte dunkle Augen und Haare, die fast so schwarz waren wie die seines Fahrgastes, jedoch dicht und lokkig. Bony trug seine Haare glatt zurückgekämmt. 9
»Mein Ärger geht eigentlich nur mich an«, brummte Bony. »Aber diese Kartoffeln, die darauf warten, ausgebuddelt zu werden … Na ja, mein hauptsächlichster Ärger liegt schon zwei Jahre zurück. Ich habe eine Zeitlang gesessen, wegen ein paar Pferden. Die Polizei scheint das nicht vergessen zu wollen. Vor ein paar Wochen kam ich nach Sydney, mit einem Scheck. Ich war rasch pleite, mußte im Park schlafen, wurde aufgegriffen und aus der Stadt verwiesen. Kein Geld! Also machte ich mich zu Fuß auf den Weg. Wie gesagt, ich wäre nicht abgeneigt, die Kartoffeln auszubuddeln.« »Das war also Ihr größerer Ärger«, spöttelte der Fahrer. »Und was ist der kleinere?« »An dem bin ich ganz unschuldig. Letzte Nacht kampierte ich neben der Landstraße. Ein Tippelbruder sah mein Feuer und machte bei mir halt. Er hatte einen Hahn, ich hatte ein Feuer. Wir brieten den Hahn, und der Tippelbruder achtete mit auffallender Sorgfalt darauf, daß sämtliche Federn verbrannt wurden. Wir sprachen darüber, wohin diese Straße führt, und über alles mögliche andere. Zum Schluß erzählte er mir dann, daß er den Hahn gestohlen hatte, und schlug vor, zum Frühstück noch einen zu organisieren. Ich war heilfroh, als ich endlich von ihm weg war. Stimmt, ich habe ein paar Pferde gestohlen, aber ich habe keine Lust, wegen eines Hahns eingebuchtet zu werden. Man braucht nur mit einem erwischt zu werden, und schon behauptet die Polizei, man hätte zwanzig gestohlen.« Der Fahrer lachte. »Ist denn da ein Unterschied, ob man Pferde oder Hühner stiehlt?« »Zunächst einmal ist ein Unterschied im Gewicht. Und natürlich auch im Wert. Außerdem habe ja nicht ich den Vogel geklaut. Ich erfuhr seine Herkunft ja erst, als der halbe Gockel bereits in meinem Magen steckte.« »Immerhin hatten Sie das Diebesgut bei sich – oder richtiger gesagt, in sich. Wo hat der Kerl den Hahn gestohlen?« 10
Eine ganz beiläufig gestellte Frage. Aber Bony hatte sie erwartet und die Antwort parat. »Dafür habe ich mich nicht interessiert. Er erzählte mir, daß er nach Süden wolle, also muß er den Vogel in der Gegend von Wollongong mitgenommen haben. Für die Polizei ist der Wert kaum ausschlaggebend. Da spielt es keine Rolle, ob man ein Pferd, ein Huhn oder einen Elefanten klaut.« »Hm! Und wieviel Pferde kamen bei Ihnen auf einen Elefanten?« »Drei. Kostete mich zwei Jahre, abzüglich Nachlaß für gute Führung. Aber müssen wir unbedingt darüber reden? Sie haben Kartoffeln auszubuddeln und nicht Pferde zu stehlen. Und ich sage Ihnen noch einmal, Hühner gehören nicht zu meinem Ressort.« Kleine Wasserfälle ergossen sich von der Höhe, bildeten ein schmales Rinnsal über die Straße, um auf der anderen Seite wieder abzufallen. Dieses Land mit seinen steilen Hängen, dieses Paradies aus grünem Pflanzenwuchs und funkelnden Wasserfällen war ganz gewiß nicht Bonys Heimat. An einer scharfen Kurve zweigte eine schmale Seitenstraße ab. Der Fahrer brachte seinen Wagen zum Stehen und stellte die Zündung ab. Der heiße Motor seufzte, und der Mann nahm Tabak und Zigarettenpapier aus dem Handschuhfach. »Wie heißen Sie?« fragte er. »Bonnay. Nat Bonnay.« »Erzählen Sie mir doch mehr über sich, Nat. Wo stammen Sie her, und warum gehen Sie nicht nach dorthin zurück?« »Gott, ich wüßte eigentlich nicht, was Sie das angeht. Na schön, ich stamme aus Queensland und kam nach Süden, um in der Nähe von Tenterfield zu arbeiten. Mein Boss dort züchtete Rennpferde. Wenn es Sie interessiert – der Mann heißt Marsdon. Zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang holte ich drei Einjährige aus dem Pferch und verlud sie auf einen Transportwagen. Mein Kumpel brachte sie zu einer neunzig Meilen 11
entfernten Farm, und als er dort ankam, erwartete ihn ein Polizist und sagte: ›Ha!‹ Was wir falsch gemacht haben, weiß ich bis heute nicht, aber wir bekamen jeder zwei Jahre. Während ich die Strafe absaß, ging meine Frau zu ihrer Familie zurück, und diese Leute drohen mir jetzt, mich zu erschießen, wenn ich mich dort jemals blicken lassen sollte. So, und nun reden wir besser von was anderem. Vielleicht von Ihren Kartoffeln?« Der Fahrer trat auf den Anlasser und bog in die weniger steile Seitenstraße ein. Bony lehnte sich zufrieden zurück. Bis jetzt hatte der ausgeklügelte Plan, den Chefinspektor Casement entwikkelt hatte, gut geklappt. Schließlich erreichte der Lastwagen einen breiten Sattel, auf dem ein weißes Haus stand – ein Traumhaus für den Sommerurlaub. Im Winter hielten die großen Eisenholzbäume hinter dem Haus die kalten Westwinde ab, und nach Süden und Norden bildeten die Felswände eine natürliche Schutzmauer. »Hier wohnen meine Mutter und ein Bruder von mir«, erklärte der Chauffeur. »Mein Bruder ist gelähmt – hatte vor Jahren einen Unfall mit dem Motorrad. Ich muß etwas abliefern, bleiben Sie solange hier. Ich werde mit meinem Bruder über die Kartoffeln sprechen.« Vor dem Tor im weißgestrichenen Zaun hielt er an und nahm eine Kiste von der Ladefläche. Er trug sie zur Veranda hinüber, auf der ein Bett stand. Durch Kissen gestützt lag hier ein Mann mit struppigem grauem Haar. Neben ihm stand in Reichweite ein großes Teleskop auf einem Stativ, mit dem er die auf dem See vorüberfahrenden Schiffe und auch das auf der anderen Seite liegende Tal beobachten konnte. Dort unten mußte nach Ansicht von Chefinspektor Casement der ›Kaninchenbau‹ liegen. Eine zierliche Frau trat aus dem Haus und beteiligte sich an der Unterhaltung zwischen dem Fahrer und dem Invaliden. Vor dem Zaun stolzierten Hühner herum. Aus dem einen der beiden Schornsteine stieg blauer Rauch auf. Kookaburras erfüllten die 12
friedliche Szene mit ihrem kollernden Gelächter. Nach einer Weile winkte der Fahrer Bony heran. Es ließ sich schwerlich übersehen, daß diese drei Menschen miteinander verwandt waren. Der ans Bett gefesselte Mann war älter als der Chauffeur. Sein wettergebräuntes Gesicht verriet, daß er die meiste Zeit auf der offenen Veranda lag. Stumm und aus harten Augen starrte er Nat Bonnay an. Seine Stimme klang leise und angenehm, als er endlich das Schweigen brach. »Da unten im Tal wartet Arbeit auf Sie«, sagte er. »Wir sind friedfertige Leute hier. Wenn Sie die Kartoffeln ernten und sich anständig aufführen, erhalten Sie gute Bezahlung und haben nichts auszustehen. Solange Sie nicht behaupten, aus Nordirland zu kommen, haben Sie nichts zu befürchten.« »Sehe ich so aus, als könnte ich von dort stammen?« Ein amüsiertes Lächeln umspielte Bonys Mundwinkel. »Woher stammt denn Ihr Vater?« »Keine Ahnung. Das hat meine Mutter mir nie erzählt.« »Ach nein!« »Wäre es schlimm, wenn ich sage, daß er vielleicht aus Dublin kommt?« Die beiden Männer lachten. Dann sagte der Gelähmte: »Bleiben Sie lieber bei der Wahrheit. All right, Nat. Sie haben den Job.«
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om Haus her lief die Straße eben dahin, nach fünfhundert Metern führte sie über eine rohgezimmerte, aber stabile Holzbrücke, um dann, jenseits des Baches, wieder ziemlich steil abzufallen. Das weiße Haus stand am Rande einer riesigen Naturarena, deren Tiefe im Licht der nach Westen wandernden Sonne meergrün schimmerte, während die Schatten ein blasses Blau zeigten. Gegen die südliche Wand deutete ein silberner Strich einen Wasserfall an, zu dessen Füßen winzige Häuschen weiße Quadrate bildeten. Rechts von der Ortschaft, hinter grünen Koppeln, stand ein Herrenhaus mit vielen Kaminen. Die im Sonnenlicht glitzernden Fenster schienen dem ins Tal fahrenden Lastwagen mißtrauisch entgegenzublinken. Der Chauffeur nahm jetzt den ersten Gang und mußte zudem noch bremsen. Diese Straße schien der ursprüngliche Zugang zum Cork Valley zu sein. Sie war steinig, aber durch ein geschicktes Entwässerungssystem trocken, und über die vielen Bäche und Vertiefungen führten Holzbrücken. Offensichtlich waren zum Bau dieser Straße keine öffentlichen Mittel verwendet worden. Von Chefinspektor Casements Wandkarte wußte Bony, daß dies hier der vordere Eingang zum Cork Valley war. Es mußten aber auch noch geheime Hintereingänge vorhanden sein. Bisher hatte der Plan ausgezeichnet geklappt. Alles sprach dafür, daß die Leute von Cork Valley tatsächlich ungesetzliche Dinge trieben, 14
sonst hätten sie wohl kaum einem Pferdedieb so bereitwillig Arbeit angeboten. Gewiß würden sie ihn auch vor der Polizei zu schützen versuchen. Als Bonnay durfte er natürlich weder den Namen des Mannes im Lastwagen noch den der Leute in dem weißen Haus wissen. Der Chefinspektor hatte ihm ganz bewußt nichts gesagt. Wenn er etwas wissen wollte, mußte er fragen. Keinesfalls durften die Leute zu dem Schluß kommen, daß er bereits über sie informiert sei. Dieser an sich unbedeutende Punkt mochte genügen, einem weiteren Frettchen das Leben zu kosten. »Für wen arbeite ich eigentlich?« fragte Bony ganz beiläufig. »Ich heiße Mike Conway. Ich fahre Transporte und mache Besorgungen für Cork Valley und besitze einen Laden. Meine Frau ist die Postmeisterin. Genügt das?« »Was heißt hier: ›Genügt das‹!« gab Bony unwirsch zurück. »Ich habe ja wohl das Recht, zu wissen, für wen ich arbeite. Oder …?« »Aber klar«, erwiderte der Mann. »Warum denn gleich so aufgeregt?« »Ach, zum Teufel, warum soll ich nicht Bescheid wissen!« »Das ist keine Antwort, Nat«, sagte der Chauffeur. »Haben Sie eine gute Schule besucht?« »Donnerwetter, warum denn nicht!« knurrte Bony. »Glauben Sie vielleicht, ich bin ein Wilder, nur weil meine Mutter eine Negerin war? Natürlich bin ich zur Schule gegangen. Auf die Mittelschule. Und danach wieder zurück aufs Land. Also – was soll ich nun für Sie tun? Kartoffeln ausbuddeln oder Schulmeister spielen?« »Beruhigen Sie sich, Nat, ich will Sie nicht ärgern. Man muß sich vom Leben nehmen, was man haben will, und darf nicht abwarten, was es einem gibt. Ich zahle Ihnen für jeden Sack Kartoffeln sieben Schilling, und meine Frau berechnet Ihnen für die Unterkunft und Verpflegung drei Pfund pro Woche. Und wenn die Kartoffeln ausgemacht sind, gibt es andere Arbeit, falls Sie bei uns bleiben wollen.« 15
»Ich denke schon, daß ich bleiben werde.« »Um so besser für Sie. Im Winter kann es kalt werden, und wir haben hier viel Nebel. Dann wird es bei uns erst richtig gemütlich. Aber noch etwas, Nat: die Conways und die Kellys mögen es nicht, wenn sich Fremde in ihre Angelegenheiten mischen. Ist das klar?« »Hm, ich glaube, wir werden miteinander auskommen, Mike.« »In Ordnung. Also – wir sind uns einig?« »Ich habe keine Lust, zu Fuß zurückzugehen. Außerdem gefällt mir das Wort ›gemütlich‹.« Fünfzehn Minuten später und hundertfünfzig Meter tiefer platzte der linke Vorderreifen. Mike Conway mußte noch bis zur nächsten Biegung fahren, wo er den Wagen vor dem Wegrollen sichern konnte. Der Neue wußte offenbar, was zu tun war. Er hatte das Reserverad bereit, als Conway noch mit dem Wagenheber beschäftigt war. Der Reifenwechsel dauerte zwanzig Minuten. »Sie sind ja tatsächlich zu etwas zu gebrauchen«, sagte Mike, als sie weiterfuhren. »Noch zwei Meilen, dann gibt’s ’ne Tasse Tee.« »Der Schlauch wird wohl zum Teufel sein«, meinte Bony, während er scharf nachdachte. Zwanzig Minuten hatte der Reifenwechsel gekostet, zwanzig Minuten hatten sie sich bei dem Weißen Haus aufgehalten. Das waren vierzig Minuten, und die genügten, um den sorgfältigsten Plan über den Haufen zu werfen. »Möglich!« Mike nickte fröhlich. »Aber der neue Schlauch wird schließlich von der Steuer abgesetzt.« »Die Haut, die mir beim Kartoffelbuddeln von den Händen abgeht, aber nicht«, murrte Bony. »Keine Angst, Nat. Sie werden gut bezahlt.« Die nächste Brücke führte über eine Schlucht, die unermeßlich tief zu sein schien. Sie besaß kein Geländer, und der Mann, der bisher nur in den weiten Ebenen im Innern des Landes gelebt hatte, zog fröstelnd die Schultern hoch. Gleich danach hatten sie 16
die Talsohle erreicht. Die Straße führte zwischen niedrigen Hügeln hindurch, wo das Vieh in kniehohem Gras weidete. Cork Valley! Ein solches Tal gab es in der ganzen Grafschaft Cork in Irland nicht. Cork Valley empfing den Mann, der sich jetzt Nat Bonnay nannte, im herbstlichen Kleid. Blaue Schatten senkten sich sanft über das Tal. Die gezackten Gipfel der umliegenden Berge ragten schwarz gegen den Himmel. Von einem Hügel aus sah Bony die Häuser leuchtend weiß gegen das Grün der Bäume, das vom silbernen Band eines hohen Wasserfalles unterbrochen wurde. Endlich hatten sie die Ortschaft erreicht. Bony zählte sieben Häuser – drei auf der einen, vier auf der anderen Seite der breiten ungepflasterten Straße. Als sie näher kamen, bemerkte er, wie die Leute zusammenliefen. »Was ist denn da los?« brummte Mike. Im ersten Haus zur Linken befand sich die Gemischtwarenhandlung, und hinter dem Laden ein großer Schuppen. Conway hielt davor an. Augenblicklich war der Wagen von einem halben Dutzend Männer umringt, die weder ein Willkommen boten noch Feindseligkeit verrieten. Ein Hüne mit flammend rotem Haar, kleinen, leuchtend blauen Augen und einem Vollbart, so rot wie seine Mähne, riß die Tür des Lastwagens auf. »Kommen Sie ’raus!« befahl er, und Stimme und Blick sagten deutlich genug, daß keine Zeit zu verlieren war. Bony kletterte mit seinem alten Koffer aus dem hohen Führerhaus. Von beiden Seiten wurde er gepackt und zu dem Schuppen geschleppt, ohne daß er sich hätte wehren können. Der große Raum beherbergte landwirtschaftliche Maschinen und einige Haufen Kartoffeln und Melonen. Am hinteren Ende hielt ein grinsender Junge eine Falltür auf. »Rasch, da hinunter, mein Freund«, sagte der Mann mit dem roten Bart. »Die Polizei ist dir dicht auf den Fersen.« Eine hölzerne Treppe führte hinab in ein unterirdisches Gelaß. Auf einem kleinen Tisch brannte eine Sturmlampe. An der Seite 17
stand ein Bett, auf dem zusammengefaltete Decken lagen. Die Falltür wurde so hastig zugeworfen, daß sie Bony beinahe am Kopf getroffen hätte. Er setzte sich auf den Stuhl am Tisch und drehte sich schmunzelnd eine Zigarette. Der Raum maß drei Meter im Quadrat und war zwei Meter hoch. Er war trocken, die Luft frisch, und die Einrichtung ließ darauf schließen, daß er nicht zum erstenmal benützt wurde. Um ein Haar hätte die Reifenpanne den ganzen Plan zunichte gemacht. Wenn das in einigem Abstand folgende Polizeiauto auf sie gestoßen wäre, hätte man Bony zwangsläufig festnehmen müssen – und das war ja nicht der Sinn ihres sorgfältig in Szene gesetzten Unternehmens. Bony vernahm Stimmengemurmel, und kurz darauf ein sich näherndes Auto. Er stieg die hölzernen Stufen hinauf und preßte sein Ohr an die Falltür. Das Auto hielt an, der Motor wurde abgestellt, und Wagentüren knallten. Vorsichtig lüftete Bony die Falltür einen Zentimeter. »Wir suchen einen gewissen Bonnay«, sagte Sergeant O’Leary aus Wollongong. »Er ist vorbestraft, und wir vermuten, daß er an Diebstählen in der Nähe von Wollongong beteiligt war. Brombeersucher glaubten, ihn am Fuß des Passes in Ihrem Wagen gesehen zu haben.« »Stimmt, Sergeant«, erwiderte Mike Conway mit ruhiger Stimme. »Der Kerl ist ein Halbblut, meiner Ansicht nach. Zwei Meilen hinter der Staatsstraße habe ich ihn mitgenommen. Er wollte nach Bowral und fragte mich noch, ob es da drüben wohl Arbeit gibt. Was hat er denn ausgefressen?« »Spielt keine Rolle«, brummte der Sergeant. »Der Mann hat eine ellenlange Vorstrafenliste. Sie haben ihn nicht mit hierher gebracht?« »Aber nein! Ich schleppe doch keine Landstreicher nach Cork Valley ein. An der Abzweigung zur Bergstraße setzte ich ihn ab. Haben Sie sich schon bei meinem Bruder erkundigt?« 18
»Ihr Bruder hat gesagt, daß er ihn nicht in Ihrem Wagen gesehen hat.« Die Stimme des Sergeanten klang frostig. »Wie ich bemerke, haben Sie noch nicht abgeladen.« »Na und?« fragte Conway gelassen. »Well, laden Sie ab. Der Bursche kann ja wieder aufgesprungen sein, ohne daß Sie etwas davon merkten.« »Laden Sie doch selber ab!« rief jemand mit dröhnender Stimme. Bony vermutete, daß es der rothaarige Hüne war. »Typisch Red Kelly!« gab der Sergeant zurück. Dann wurde Bony erneut von der ruhigen Stimme Conways beeindruckt. »Hör auf, Red«, sagte er. »Kommt, helft mal alle mit, den Wagen abzuladen. Der Draht kommt in den Schuppen, die Kisten in den Laden.« Durch einen schmalen Spalt beobachtete Bony die Aktivität draußen. Ein Mann schob eine Rolle Draht vor sich her, und Bony schloß die Falltür und stieg die Stufen hinab. Die Drahtrolle wurde auf die Falltür gelegt, und gleich danach die nächste. Bony stieg wieder die Treppe hinauf und lauschte. »Schauen Sie auch gut hinter dem Kartoffelhaufen nach, Sergeant«, rief ein Mann mit kehligem Lachen. »Oder vielleicht steckt er mitten drin.« »Diese Schwarzen sind raffinierte Burschen, Sergeant«, frozzelte ein zweiter. »Vielleicht liegt er unter einer Drahtrolle?« Zugleich mit diesen Worten wurde eine weitere Rolle auf die Falltür geworfen. Dann ließ die Aktivität langsam nach, und die Stimmen entfernten sich. Bony setzte sich an den Tisch und drehte sich eine Zigarette. Er war zufrieden. Die Polizeistreife hatte die Geschichte bestätigt, die er Conway erzählt hatte. Außerdem war jetzt bewiesen, daß die Leute von Cork Valley bereitwillig einen flüchtigen Verbrecher versteckten, und das ließ den Schluß zu, daß ungesetzliche Dinge bei ihnen zur Tagesordnung gehörten. Die ganze Gemeinde war ein Anachronismus für einen ordentlichen Staat. Ihr gehörte dieses reiche Tal mitten in den Bergen, die sich südlich von Sydney bis in 19
die Australischen Alpen erstreckten und weiter noch in das Gebirgslabyrinth von Gippsland, dessen westliche Ausläufer bis in die Nähe von Melbourne reichten. Auf der einen Seite des Hochlands lag der reiche Küstengürtel, auf der anderen die Farmen und Weidegründe und die blühenden Städte. Der ›Kaninchenbau‹ von Chefinspektor Casement umfaßte ein größeres Gebiet als Cork Valley. Nicht in Cork Valley selbst hatte man die ›toten Frettchen‹ gefunden, und seit vierzig Jahren war kein Mitglied dieser Gemeinde eines ernsthaften Verbrechens angeklagt worden. ›Diese Leute sind halsstarrig und schlau, Bony‹, hatte der Chefinspektor erklärt. ›Sie betreiben es geradezu als Sport, keine Lizenzen zu bezahlen. Sie haben sich auch so lange mit dem Kultusministerium herumgeschlagen, bis sie ihre eigene Schule behalten durften, und die Kinder nicht mit dem Bus nach außerhalb schicken mußten. Die Zollverwaltung ist überzeugt, daß man Schwarzbrennerei betreibt, konnte aber bisher nichts nachweisen. Das ist die Situation – aber es sind außerdem einige schwere Verbrechen geschehen. Vor sieben Jahren unternahm die Zollfahndung eine überraschende Razzia. Auf der Rückfahrt brach ihr Wagen durch eine Brücke. Steuern bezahlen die Leute von Cork Valley nie freiwillig, sie müssen stets im Zwangsverfahren eingetrieben werden. Deshalb werden dort auch keine Steuermittel für den Straßenbau verwendet. Letztes Jahr haben wir einen Beamten hingeschickt, er gab sich als Arbeiter aus und half bei der Kartoffelernte. Zwei Wochen später lieferten sie ihn im Hospital von Bowral ab. Sie schworen, er habe eine Rauferei angezettelt. Da er sich nicht als Polizeibeamter zu erkennen geben konnte, hatte er auch keine Möglichkeit zu beweisen, daß die anderen ihn in diese Schlägerei verwickelt hatten. Vor neun Jahren wurde die Leiche eines Mannes in einem Bach südlich von Kiama gefunden. Sie wurde niemals identifiziert. Ein künstliches Gebiß, das man in seiner Tasche fand, konnte ihm nicht gehört haben. Natürlich gab es 20
keine Anzeichen dafür, daß der Mann von jemandem aus Cork Valley ermordet worden war. Aber der Bach kommt aus den Bergen, in denen Cork Valley liegt. Das letzte Verbrechen dort in der Gegend geschah näher bei diesem mysteriösen Ort. Das Opfer war ein Beamter der Finanzverwaltung. Am einundzwanzigsten Dezember vergangenen Jahres wurde seine Leiche von einem Milchwagen gefunden. Sie lag auf der Straße, etwa drei Meilen von Bowral entfernt. Alle Anzeichen wiesen auf einen Verkehrsunfall mit Fahrerflucht hin. Die Obduktion ergab allerdings, daß der Mann schon einige Stunden tot gewesen war, bevor man ihn überfahren hatte. Hier war also ein Unfall vorgetäuscht worden. Der Tote trug Arbeitskleidung und Stiefel, aber seine Hände ließen erkennen, daß er nicht Arbeiter gewesen sein konnte. Wir brauchten vier Monate, bis wir ihn identifizieren konnten, aber das lag vor allem an den Begleitumständen. Der Mann – ein Finanzbeamter namens Eric Torby – hatte drei Monate Urlaub, und zwar vom ersten Dezember an. Er war ledig, besaß keine Verwandten, und seiner Wirtin erzählte er, daß er eine Wanderung durch das südliche Hochland unternehmen wolle und mehrere Wochen wegbleiben würde. Die Frau berichtete, er habe Knickerbockers und ein Tweedjackett getragen und warme Unterwäsche mitgenommen. Ferner habe er einen Explorationshammer in seinen Rucksack gesteckt, da er sich angeblich für Geologie interessiert habe. Dazu wäre zu bemerken, daß Cork Valley für einen Geologen uninteressant ist.‹ ›Um so interessanter aber für einen Finanzbeamten, der ein Schwarzbrennernest ausheben will«, hatte Bony erwidert. ›Ich werde mir noch einmal gründlich die Karte ansehen, und dann machen wir einen Plan, wie ich unauffällig nach Cork Valley gelangen kann.‹ Der erste Abschnitt dieses Planes hatte vorzüglich geklappt. Inspektor Bonaparte alias Nathaniel Bonnay lauschte dem davonfahrenden Polizeiwagen nach. Eine halbe Stunde lang 21
herrschte tiefe Stille. Dann hörte er, wie die Drahtrollen entfernt wurden. Die Falltür öffnete sich, und Mike Conway stapfte zusammen mit dem rothaarigen Hünen namens Kelly die Treppe herab. Conway setzte sich auf das Bett und zog den alten Koffer zu sich heran. Der Rotbart stemmte die Fäuste in die Hüften und blickte auf Bony herab.
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u bist also auf der Flucht, wie? Stiehlst Pferde und die Hühner einer armen Witwe!« Im Schein der Sturmlaterne wirkten die Augen des großen Mannes dunkel. Bony gewann den Eindruck, daß sie von einem wilden Blau waren. »Wenn du vielleicht die Absicht hast, in Cork Valley Hühner zu organisieren oder dir ein paar Pferde zu entleihen, dann rate ich dir zur Vorsicht!« »Ich habe keine arme Witwe bestohlen, wenn ich auch ihren Hahn gegessen habe«, erklärte Bony. »Und die Pferde gehörten einem reichen Züchter.« Jetzt beging Red Kelly seinen ersten Fehler. »Steh gefälligst auf, wenn du mit einem irischen Gentleman sprichst«, sagte er scharf. Bony stand auf, und Red Kelly war überrascht, wie der Mann vor ihm sich in Sekundenschnelle verwandelt hatte. Wie ein Panther fuhr Bony auf den Iren zu, der bedeutend breiter war als er und ihn um Haupteslänge überragte. 22
»Wer sind Sie eigentlich, daß Sie glauben, mir befehlen zu können!« brüllte er los. »Sie benehmen sich geradezu wie einer von diesen Gefängnisbullen, die ich zur Genüge kennengelernt habe. Sie waren wohl selber schon im Kittchen, weil Sie so genau ihre Sitten kennen?« »Aber, aber, mein Freund«, sagte der Rotbärtige beschwichtigend, während ein Grinsen seinen Mund umspielte. »Schon gut, Nat. Ich mußte mich nur vergewissern. Mike möchte, daß du ihm die Kartoffeln ausmachst. Später gibt’s dann noch andere Arbeit für dich.« Bony setzte sich wieder auf den Stuhl. Die beiden Männer sahen, wie sein Zorn rasch verebbte. Dieser unerwartete Ausbruch hatte sie ein wenig verblüfft. »Wir wollen nur sichergehen, daß Sie kein Schnüffler sind, Nat«, warf Conway mit seiner ruhigen Stimme ein. »Sie haben doch nichts dagegen, wenn wir uns vergewissern?« »Bitte sehr.« »Dann öffnen Sie den Koffer, Nat.« »Bedienen Sie sich. Er steht ja neben Ihnen.« Die beiden Männer untersuchten den Inhalt des Koffers sehr genau, vom Reservehemd bis zum neuen Kamm. Besonders eine Reitpeitsche und ein Paar Sporen fanden ihr Interesse. Während sie die Reitstiefel aus Känguruhleder betrachteten, blickten sie sich vielsagend an. »Falls ihr einen Beweis braucht, daß ich nicht der Ministerpräsident von Neusüdwales bin – hier«, brummte Bony und warf seine Brieftasche auf das Bett. »Ich würde Sie an die Kette legen, wenn Sie mit dem Kerl auch nur verwandt wären«, knurrte Red Kelly. Erzog die Papiere aus der Brieftasche: einen schmierigen Führerschein auf den Namen Nathaniel Bonnay, einen Brief an eine Adresse in Tenterfield mit der Anrede ›Lieber Nat‹ und der Unterschrift ›Dein Vater‹ – er enthielt eine Bitte um Geld –, und 23
schließlich einen Entlassungsschein aus dem Gefängnis, ebenfalls auf den Namen Bonnay lautend. Der große Mann schob die Papiere wieder in die Brieftasche, seufzte und reichte sie Bony zurück. »In Ordnung, Mike. Du kannst ihn beschäftigen.« »Die Absicht hatte ich bereits«, erwiderte Mike Conway. »Das weiß ich, aber schließlich muß ich darauf achten, daß der Friede in Cork Valley erhalten bleibt«, entgegnete der Rothaarige. Dann wandte er sich an Bony. »All right, Nat. Wir werden sehen, wie wir uns vertragen. Sie können Red zu mir sagen.« Nachdem er gegangen war, fragte Conway: »Zufrieden mit der Unterkunft?« »Warum nicht? Sie ist trocken, und – wie wir eben feststellen konnten – gemütlich.« »Das war die Polizei. Kam dicht hinter uns her. Schien sehr besorgt um Sie.« Conways Stimme war immer leise und gleichmäßig sanft. Sie verriet selten irgendeine Regung, trotzdem war Bony überzeugt, daß sich ein leidenschaftliches Temperament dahinter verbarg. »Ich habe es gehört«, meinte Bony. »Werden Sie etwa nervös wegen mir?« »Noch nicht, Nat.« Conway lächelte. »Hungrigen Leuten gehen manchmal die Nerven durch. Kommen Sie mit. Sie können sich waschen, und dann stelle ich Sie der Familie vor« Er ging voran. Jetzt endlich fand Bony Gelegenheit, sich oben umzusehen. Die Straße vor dem Lagerschuppen lag verlassen da. Die Sonne war untergegangen, und der Himmel im Norden schimmerte grün, wo er den Rand des Tales berührte. Red Kelly ritt im Galopp die Straße hinab zum Wasserfall. Bony sah, wie er durch eine Wand aus Büschen verschwand, die das letzte Haus mit der Meierei zu verbinden schien. Offensichtlich kehrte er zu dem Herrenhaus zurück, dessen viele Fenster sich deutlich von den dahinter auftürmenden Bergen abhoben. 24
Bony wurde zu einer Waschküche hinter dem Haus geführt und erhielt ein sauberes Handtuch. Heißes Wasser und Seife gab es genügend. Conway wusch sich an einem anderen Becken und glättete sich anschließend sein dunkles Haar mit Wasser. Er bemerkte, daß Bony einen Kamm aus der Tasche zog und sich ebenfalls sorgfältig frisierte. Der Neue schien also einen ordentlichen Eindruck machen zu wollen. Die große Wohnküche der Conways war eine Überraschung für Bony. An der einen Wand befanden sich zwei Feuerstellen – ein offener Kamin und ein Kochherd. Elektrisches Licht erhellte das weiße Tischtuch auf dem riesigen Eßtisch. Bony bemerkte eine wunderbar geschnitzte Standuhr, die gut zweihundert Jahre alt sein mochte. Drei große Gemälde in schweren Goldrahmen, verschiedene Schränkchen aus Zedernholz und wuchtige, geschnitzte Sessel waren ganz dazu angetan, das Herz eines jeden Antiquitätenhändlers höher schlagen zu lassen. »Ein Neuer, Matty«, sagte Conway zu seiner Frau, die sich bei ihrem Eintritt vom Kochherd umwandte. »Er heißt Nat.« Sie war groß und eckig, und ihr Gesicht trug unverkennbar den Stempel Irlands, ebenso wie aus ihren großen braunen Augen die Seele der Grünen Insel zu blicken schien. Sie nickte kurz und wandte sich wieder dem Herd zu. »Wer ist das, Mike?« Die Stimme kam von dem hohen Lehnstuhl, der vor dem Kamin stand. Conway winkte Bony heran und stellte ihn einer zierlichen alten Dame vor. Sie trug ein weißes Spitzenhäubchen, ein hochgeschlossenes schwarzes Mieder und weiße Spitzenmanschetten. »Nat Bonnay, Oma«, erwiderte Mike Conway. »Er wird uns die Kartoffeln herausmachen.« Die Flammen umspielten das runde Gesicht und glätteten die unzähligen Runzeln. Die dunklen Augen glänzten im Widerschein, ebenso wie die Brillanten an den puppenhaften Händen, die sie im Schoß liegen hatte. 25
»Du stellst also Nat an, damit er dir die Kartoffeln ausmacht«, sagte sie mit einer energischen Stimme. »Und was wirst du ihm zahlen, Mike?« Der irische Akzent war unüberhörbar, und als ihr Enkel antwortete, schwang er auch in seinen Worten mit. »Sieben Schilling pro Sack, Oma. Das ist der Tarif.« »Und der Marktpreis vierzig Pfund pro Tonne, oder wir werden alle ruiniert.« Die alte Frau musterte Bony, der in leicht geneigter Haltung vor ihr stand. Er las in ihren Augen lediglich Neugier. »Was verstehen Sie denn sonst noch, Nat? Abgesehen von den Kartoffeln.« »Ich kann reiten und Vieh ausmustern. Ich kann einen Zaun reparieren. Ich kann auch Pferde beschlagen, allerdings nicht besonders gut.« »Dafür kann er sie um so besser stehlen!« ergänzte Mike lachend. Die alte Frau nickte. »Das ist mir schon zu Ohren gekommen. Sie scheinen ganz gut gebaut zu sein. Können Sie einen Bumerang werfen?« Bony merkte, daß immer mehr Leute eintraten. Die alte Dame im hohen Lehnstuhl wußte zu warten, und die immer größer werdende Zahl hinter ihr ebenfalls. »Ich denke schon«, erwiderte er. »Allerdings habe ich schon seit Jahren keinen mehr geworfen. Dafür kann ich recht gut auf einem Gummibaumblatt musizieren.« »Ein Musiker also!« meinte die alte Dame lächelnd, und ihren Augen und ihrer Stimme war anzumerken, welchen Spaß es ihr bereitete, ihn aufzuziehen. »Mike!« rief Mrs. Conway. »Das Essen steht auf dem Tisch.« Bony lächelte Mikes Großmutter zu und ging mit den anderen zu dem Tisch hinüber, um den sich nun Männer, Frauen und Kinder in den verschiedensten Altersstufen versammelten. Er bekam einen Platz am unteren Ende zugewiesen. Mike, nachdem 26
er den Lehnstuhl an seine rechte Seite gerollt hatte, setzte sich an das Tischende, mit dem Rücken zum Kamin. Als seine Frau sich links neben ihn gesetzt hatte, sprach sie das Tischgebet. Das war eine weitere Überraschung für Bony, aber es sollten noch mehr kommen. Verblüfft musterte er die überladene Tafel: Berge von Kartoffeln und Rosenkohl umgaben Curryfleisch, das mit schneeweißem Reis umlegt war. Bonys Blick glitt über Schüsseln mit Butter und Käse, Kännchen mit Sahne, Gläser mit Essigzwiebeln und Flaschen mit den verschiedensten Soßen. Außer Conway, seiner Frau und seiner Großmutter saßen noch elf Personen am Tisch. Bonys Nachbar zur Rechten war der Junge, der ihm die Falltür aufgehalten hatte, neben diesem saß ein etwas älterer Junge, und einen Platz weiter ein kahlköpfiger Mann mit einem Gesicht, das jedem Karikaturisten als sprichwörtliches Vorbild für einen Iren hätte dienen können. Zu seiner Linken saß ein dunkelhaariges Mädchen, das augenblicklich sein romantisches Herz eroberte. Sie hatte auffallend gute Tischmanieren und hielt den Blick auf ihren Teller gesenkt. Obwohl ihr Gesicht kein Make-up zeigte, war es von mitreißender Schönheit. Zwei Männer und zwei Frauen, alle älter als Bonys Nachbarin, beschlossen mit ihren Kindern die Tischrunde. Das Essen wurde in beinahe völligem Schweigen eingenommen. Die Erwachsenen sprachen nur selten, die Kinder überhaupt nicht. Offensichtlich waren alle auf den Neuen gespannt, und einmal bemerkte Bony, daß sich die alte Mrs. Conway mit ihrem Enkel über ihn unterhielt. Er zeigte sich ganz als der scheue, von der Polizei gesuchte Pferdedieb, als den er sich ausgegeben hatte. Schließlich legte er manierlich Messer und Gabel auf den Teller und lehnte sich zurück. Er wartete darauf, daß ihn jemand ansprach, aber niemand richtete das Wort an ihn. Einer nach dem anderen legte das Besteck hin. Das Mädchen zu seiner Linken erhob sich, um den Tisch abzuräumen. 27
Die Gemälde fesselten Bonys Aufmerksamkeit. Obwohl der Raum groß war, wirkte er für die Bilder fast zu klein. Das eine zeigte ein Schloß unter tief hängenden Wolken, das zweite eine Weideszene mit grasendem Vieh, auf dem dritten waren ein Mann und eine Frau in der Kleidung eines vergangenen Jahrhunderts porträtiert. Der Mann erinnerte Bony an den roten Hünen namens Kelly. Ein großer Teller Aprikosenkuchen wurde vor ihn hingesetzt, und er dankte dem dunkelhaarigen Mädchen, das ihn bediente. Sie erwiderte zwar sein Lächeln, aber ihr Gesicht drückte Langeweile aus. Als sie sich jedoch wieder hingesetzt hatte, bemerkte Bony, daß sie ihn über den Löffel hinweg verstohlen musterte. Der letzte Gang bestand aus Käse, Brot und Butter. Die Kinder erhielten dazu ein Glas Wasser. Bony hoffte auf Kaffee oder Tee – wie sonst sollte man ein so üppiges australisches Mahl verdauen? Als die Kinder, alle zwischen zehn und fünfzehn Jahren, eins nach dem anderen verschwanden, war er fast der Verzweiflung nahe. Jetzt standen auch die Frauen auf und verließen den Raum, nur die Männer stopften sich die Pfeife oder drehten sich Zigaretten. Als der Rauch aufstieg, setzte sich der Kahlköpfige zu Bony, der sich bislang schrecklich einsam vorgekommen war. »Wie ich höre, können Sie einen Bumerang werfen«, sagte er beiläufig. »Wir haben noch irgendwo einen. Ein riesiges Ding. Wollen Sie ihn einmal werfen?« »Wenn es ein großer Bumerang ist, dient er zeremoniellen Zwekken«, erklärte Bony. »Die zum Werfen sind kleiner.« »Ich habe gelesen, daß die Eingeborenen mit dem Bumerang Vögel im Flug erledigen. Meinen Sie diese?« fragte der Kahlköpfige. Die dunkelgrauen Augen blickten ihn ernst an, aber tief im Hintergrund schien ein Schalk zu sitzen. 28
»Wenn die Vögel dicht genug sind«, meinte Bony. »Ein Treffer ist immer zu fünfzig Prozent Zufall. Eigentlich werfen die Eingeborenen nur zum Vergnügen.« Er ließ sich noch weiter über dieses Thema aus, als Mike Conway vor jeden zwei Porzellantassen setzte. Die eine enthielt schwarzen Kaffee, die andere eine helle Flüssigkeit, die man für Getreidekümmel hätte halten können, wenn sie in einem Glas serviert worden wäre. Der Kahlköpfige beobachtete, wie Conway sich wieder setzte, und verstummte mitten in einer Frage, als die alte Dame und die Männer die Tassen mit der hellen Flüssigkeit holten. Auch Bony ergriff seine Tasse. »Auf die Kellys«, sagte Mike Conway. Die Tassen wurden auf einen Zug leergetrunken und anschließend am Kaffee genippt. Bony hinkte ein wenig nach. Er hob die rechte Tasse, kippte den Inhalt hinunter. Ihm blieb die Luft weg, und er hatte den Eindruck, der Kopf würde ihm explodieren. Vor seinen Augen schlugen Flammen hoch, die gleich darauf von Wasser gelöscht wurden. Durch einen Nebelschleier sah er die alte Dame, die vor Vergnügen kreischte. Er rang nach Atem und kam taumelnd auf die Beine, dann schlug ihm jemand mit einem Vorschlaghammer auf den Rücken. Die Stimme des Kahlköpfigen drang wie aus weiter Ferne zu ihm: »Ich hätte Sie warnen sollen, Nat. Man muß es entweder auf einen Zug hinunterkippen oder Schluck um Schluck trinken. Aber nicht so, wie Sie es taten.«
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m schönsten Tal Australiens buddelte Inspektor Bonaparte Kartoffeln aus. Das Kartoffelfeld der Conways lag auf einem niedrigen Plateau im Zentrum von 1200 Hektar gutem Ackerland, das durch baumbestandenes Gelände und die steilen Hänge mit den nackten Felsen begrenzt wurde. Von seinem Arbeitsplatz aus konnte Bony die Straße sehen. Sie schlängelte sich von dem Haus, in dem Conways Bruder lebte, herab durch das Tal zur Ortschaft. Hinter dem Ort stürzte der Wasserfall in steilen Kaskaden abwärts. Je nach dem Stand der Sonne glänzte er golden, blau oder bernsteinfarben auf. Am Morgen und am Abend schien er aus flüssigem Silber zu sein. Das große Herrenhaus stand auf der anderen Seite des Tales. Am Morgen, wenn die Sonne aufging, erglühte das Schieferdach, und abends, bei Sonnenuntergang reflektierten die vielen spiegelnden Fenster das abschiednehmende Licht. Für Australien war es ein mächtiges Haus – eine steingewordene Erinnerung an die alte Heimat Irland. In ihm lebten Patrick Red Kelly, der Nachfahre des ersten Kelly, der Cork Valley entdeckt und in Besitz genommen hatte. Damals führte noch keine Eisenbahn von Sydney herunter, und die Straße von dort nach Melbourne war lediglich durch die Radspuren der Ochsenkarren markiert. Die Legende berichtet, daß dieser erste Kelly zwei Kinder gehabt hatte, einen Sohn und eine Tochter. Der Junge – Sean war 30
sein Name gewesen – ritt eines Tages aus dem Tal davon, um sich eine Frau zu suchen. Eine Woche später bereits kehrte er vermählt zurück. Er hatte sich sein Mädchen ganz einfach auf der Straße, die nach Melbourne führte, aufgegriffen und sich von einem Geistlichen trauen lassen, der sich bei ihrer Reisegruppe befunden hatte. Als seine Schwester Nora ins heiratsfähige Alter kam, machte sie es ihrem Bruder nach. Sie ritt davon und kehrte bald darauf zurück in Begleitung von zwei Priestern und einem berüchtigten Straßenräuber, bekannt als ›Black Daniel‹. Er hatte Pistolen im Gürtel, einen Bart wie einen Spaten, und auf seinen Kopf waren hundert Guineen ausgesetzt. Der Ärmste hielt sich für einen zähen Burschen, aber mit seiner Intelligenz muß es ein wenig gehapert haben. Er befand sich in dem Glauben, Nora Kelly nach Hause zu geleiten, um dafür von ihrem Vater eine hohe Belohnung zu kassieren. Was die beiden Priester dabei zu suchen haben sollten, ist schleierhaft. Immerhin waren sie anwesend, als die geschäftlichen Verhandlungen mit Noras Vater und Bruder begannen. Man erzählte sich, daß Black Daniel jeden übers Ohr zu hauen trachtete. Während er nur an Gold dachte, vergaß er ganz das schüchterne Opfer seiner Habgier, das mit niedergeschlagenen Augen und verschränkten Händen im Hintergrund stand. Dann verlor er plötzlich das Bewußtsein. Man behauptet, es sei einer von Noras schweren Stiefeln gewesen, der ihm auf das Haupt gesaust sei. Als er wieder zu sich kam, fand er sich durch einen Priester mit ihr vermählt, während ihn der andere hilfreich stützte. Bei dieser Gelegenheit stellte sich dann auch heraus, daß er eigentlich Conway hieß. Kurz nach dem Tod des ersten Kelly gerieten Sean Kelly und Black Daniel Conway über die Teilung des Landes in Streit. Sie trafen sich beim Morgengrauen, und als Sean tödlich getroffen zu Boden stürzte, besaß er noch die Kraft, die Pistole abzudrükken, so daß Conway ebenfalls das Zeitliche segnete. Nach dem Doppelbegräbnis schworen sich die Witwen, auch weiterhin in 31
Fehde zu leben. Aber die Frau des ersten Kelly wies ein Testament vor, in dem ihr verstorbener Mann ihr ganz Cork Valley vermacht hatte. ›Und damit herrscht jetzt Ruhe!‹ hatte sie kurz und bündig den beiden streitsüchtigen Witwen erklärt. Die bereits hochbetagte Dame muß ein ebenso bemerkenswerter Charakter wie ihr Mann gewesen sein. Geraume Zeit später schickte sie nach einem Priester-Rechtsanwalt. Einen Monat nach dem Doppelbegräbnis erschien dieser und las die Messe. Im Anschluß daran gab er den beiden jungen Witwen die Friedensbedingungen bekannt: Quer durch das Tal sollte eine hohe Mauer errichtet werden und Nora Conway die eine, ihre Schwägerin die andere Hälfte des Landes erhalten. Die junge Mrs. Kelly bekam jenen Teil zugesprochen, auf dem das Herrenhaus stand, während sich Nora Conway ihr Heim im anderen Teil erbauen sollte. Dieser Priester-Rechtsanwalt, ein wahrhaft heiliger Mann namens Cahill, hatte selbst die Errichtung der Steinmauer überwacht. Ein Teil von ihr stand heute noch, der andere war inzwischen durch einen Zaun ersetzt worden. Die alte Mrs. Conway, die Bony nun kennengelernt hatte, war die Enkeltochter von Black Daniel Conway. Gegen diese historische Mauer gelehnt, aß Bony sein Mittagbrot. Die Sonne war warm, die Luft kristallklar. Die Schönheit dieses Garten Eden würde er wohl nie mehr vergessen. Es hatte beinahe den Anschein, als sei er der einzige Mann in Cork Valley, der einer ernsthaften Arbeit nachging. Nach Ablauf der ersten Woche hatten sich seine Rückenmuskeln gefestigt, und die Buddelei begann ihm Freude zu machen. Es bereitete ihm geradezu Vergnügen, die vollen Säcke zu zählen. Natürlich gab es auch noch die Kühe zu melken, und offensichtlich waren es Hunderte. Aber diese Arbeit konnte keinen ausgewachsenen Mann auslasten, da die Conways Ställe mit elektrischen Melkanlagen besaßen. Der Strom wurde ihnen von außerhalb geliefert. 32
Bony fühlte sich schon bald als zu den Conways zugehörig. Früh um sieben erhielt er Frühstück, bekam Brote und eine Feldflasche voll Tee mit auf den Weg, und kehrte um sechs zu seiner unterirdischen Behausung und zum Abendessen zurück. Mike Conway, der Mann mit der sanften Stimme, behandelte ihn rücksichtsvoll, und der kahlköpfige Joe Flanagan – Bony vermutete, daß er der Dorfelektriker war – unterhielt sich dann und wann mit ihm. Die dunkelhaarige irische Schönheit, Rosalie Conway, lehrte die Kinder in der Schule und verhielt sich sogar zu ihren eigenen Verwandten reserviert. Die alte Mrs. Conway aber hatte ihren Spaß, den Neuen zu frozzeln und zu beobachten, wie er mit seinem Abendtrunk zu Rande kam. Bony verhielt sich ganz so, wie man es von einem Pferdedieb erwartete, der untertauchen will. Er unternahm keinen Versuch, die soziale Schranke, die ihn von der Familie trennte, zu überspringen. Ebensowenig versuchte er, sich mit den übrigen Mitgliedern des Clans, die in den anderen Häusern wohnten, anzufreunden. Er fand die Conways geradezu sympathisch, ihr vorbildliches häusliches Zusammenleben imponierte ihm. Es fiel einem schwer, sich in dieser Familie ungesetzliche Handlungen vorzustellen. Der erste Zweifel in dieser Hinsicht wurde jedoch am Ende dieser Woche geboren. Es war am Abend, und Bony wurde von einem der Jungen zum Essen gerufen. Offensichtlich war der Bub übereifrig gewesen, da Rosalie gerade erst den Tisch deckte. Als er zögernd auf der Schwelle stehenblieb, winkte ihn die alte Mrs. Conway zu sich heran. Sie sprach ihn auf gälisch an und erwartete offensichtlich eine Antwort. Ihre Urenkelin drehte sich vom Tisch um. »Sprich Englisch, Oma, wenn du etwas zu sagen hast«, rief das Mädchen ein wenig scharf. »Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten«, erwiderte die alte Dame gleichmütig und wandte sich wieder an Bony. »Ich sagte eben, junger Mann, daß Sie schneller arbeiten könnten. 33
Ich habe Sie durch mein Fernglas beobachtet. Ich kann Sie nämlich vom Fenster aus sehen.« »Nat kann so schnell arbeiten, wie es ihm gefällt«, meinte Mike Conway, der unbemerkt eingetreten war. »Er arbeitet ja im Akkord.« »Gewiß«, gab die alte Dame zu. »Je schneller er also arbeitet, um so schneller kommt er zu seinem Geld.« Da saß nun diese Frau, die schon über neunzig Jahre hier lebte, und blickte ihn pfiffig an. Sie war ein Überbleibsel aus einer Zeit, wo nur Ehrlichkeit und Mäßigkeit den Kampf mit diesem harten Land gewinnen konnten. Bony konnte sie gut verstehen – besser vielleicht als alle anderen Leute in Cork Valley. Er lächelte sie an, und dabei bemerkte er, wie rasch der Ausdruck ihrer Augen wechseln konnte. »Ich glaube, Sie übersehen da eine Kleinigkeit, Madam«, sagte er mit dem schrecklich übertriebenen Akzent eines Schauspielers. »Es ist doch so: je schneller ich arbeite, um so schneller bekomme ich mein Geld, wie Sie eben ganz richtig bemerkten. Aber je eher ich meinen Kontrakt erfüllt habe, um so eher werde ich auf die Gegenwart einer so charmanten Frau verzichten müssen.« Die alte Dame warf den Kopf zurück und lachte laut auf. »Dieser Süßholzraspler!« rief sie. »Seit meiner Brautzeit habe ich solchen Unsinn nicht mehr gehört!« In ihren Augen stand jetzt deutlich der Verdacht, daß er sich über sie lustig machen wollte. Auch die übrigen Mitglieder der Familie waren inzwischen eingetreten, und Bony spürte plötzlich feindseliges Schweigen um sich. Er hatte damit gerechnet, daß dieser Augenblick kommen würde, und war froh, am Morgen einige Blätter vom Gummibaum gesammelt zu haben. Jetzt nahm er ein Blatt zwischen die Finger, den Rand setzte er an die Lippen und spielte ›Danny Boy‹. Die etwas schnarrenden Töne klangen sanft und waren von einer Süße, wie man sie keiner Geige entlocken kann. Es tat nichts, daß er die Melodie nur unvollkommen spielte. Die ungewöhnliche Interpretation 34
des bekannten irischen Liedes fesselte seine Zuhörer. Bony entlockte dem vibrierenden Blatt einen letzten Ton, dann blieb er mit gesenktem Kopf stehen, ohne sich zu verbeugen. Seine Haltung ließ erkennen, daß er es nicht auf Beifall und Komplimente angelegt hatte. Ein Scheit Holz fiel im Kamin knisternd zusammen. Der Braten brutzelte auf dem Herd. »Spielen Sie das noch einmal, Nat«, sagte einer der Männer. »Nein, nicht gerade jetzt«, erwiderte Oma Conway energisch, während ihr dicke Tränen über die Wangen rollten. Eine der Frauen trat zu ihr und schob ihren Lehnstuhl zum Tisch. Auch die anderen nahmen ihre Plätze ein. Zum erstenmal spürte Bony, wie die ihm bisher gezeigte Reserviertheit nachließ. »Ist es schwer, auf so einem Blatt zu spielen?« fragte ihn ein etwa fünfzehnjähriges, sommersprossiges Mädchen. »Nicht allzusehr«, erwiderte Bony lächelnd. »Spielen alle Eingeborenen im Busch auf Gummiblättern?« wollte ein Junge wissen. »Nur manche der Eingeborenen auf den Schaffarmen«, antwortete Bony. »Die richtigen Eingeborenen im Busch können nur auf einem Didgerido spielen, das ist ein Stück ausgehöhltes Holz. Aber das ist nicht das, was wir unter Musik verstehen. Sie können bei ihren Tanzzeremonien trommeln, aber ich möchte wetten, daß sie kein irisches Lied spielen können.« Es war, wie wenn ein Fluß plötzlich die Deiche sprengt. Die bislang gezeigte Zurückhaltung war durch die neugierigen Fragen der Kinder wie weggewischt. Rosalie setzte einen großen Teller mit Irish Stew vor Bony hin, als sei dies die verdiente Belohnung für seine musikalische Darbietung. Auch die Erwachsenen hörten interessiert seinen Erklärungen zu. »Wir werden uns ein paar Blätter pflücken und Onkel Joe begleiten, wenn er auf seiner Ziehharmonika leiert«, sagte der Junge, der rechts neben Bony saß. 35
»Wir bilden eine Kapelle wie im Fernsehen!« rief ein anderer Junge begeistert. »Anstelle von Geigen nehmen wir Gummiblätter.« »Haltet jetzt euren Mund und eßt«, befahl Mike Conway, ohne darum seine Stimme zu erheben. Sofort herrschte Ruhe am Tisch. Die großen Gemälde, die alte Standuhr, die kupfernen Wärmflaschen an den Wänden und die Nippsachen auf Kaminsims und Regalen bildeten den passenden Rahmen für diesen Mann am oberen Ende der Tafel. Bony war insgeheim gerade zu dieser Feststellung gelangt, als plötzlich eine Klingel ertönte. Sie befand sich in einem altmodischen Klappenkasten, der an der Wand neben der Tür angebracht war. Das leise Tischgespräch brach schlagartig ab. Der kahlköpfige Onkel Joe stand auf und ging zu dem Kasten hinüber. Er ließ die heruntergefallene Klappe wieder zurückschnappen, und eine Nummer wurde sichtbar. Mike Conway stand ruhig auf und ging auf Bony zu. »Besuch, Nat. Sie gehen jetzt besser in Ihre Unterkunft und schließen die Falltür hinter sich. Ich sage Ihnen Bescheid, wenn wir wieder unter uns sind.« Bony nickte und ging langsam zur Hintertür, gefolgt von den mitfühlenden Blicken der Zurückbleibenden, die ihn bedauerten, weil er das Essen im Stich lassen mußte. Nur Rosalie Conway sah ihm nicht nach. Sie musterte ihren Brombeerkuchen, als habe sie einen Käfer entdeckt. Als Bony die Tür hinter sich geschlossen hatte, blieb er einen Augenblick stehen, um seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Er lauschte, vernahm aber nichts. Zwischen dem Haus und dem Schuppen ging er hindurch bis an den Rand der Straße. Jetzt sah er die Scheinwerfer eines Autos, das die Serpentinen vom weißen Haus herunterkam. Das Summen des Motors war noch sehr leise, und es war ein anderes Geräusch, das Bonys Aufmerksamkeit fesselte – ein schwaches Schwirren. Es kam 36
vom gegenüberliegenden Haus. Gegen den blassen Himmel sah er eine Fernsehantenne, die immer kleiner wurde und schließlich im Dachstuhl verschwand.
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ie Lampe stand unangezündet auf dem Tisch, die Falltür war geöffnet und durch einen Stock gesichert – der Rückzugsweg war also frei. Bony wartete im dunklen Innern des offenen Schuppens. Er hörte jetzt deutlich, wie das Auto immer näher kam. Es gab keinen Zweifel, daß die Alarmklingel diesen Wagen angekündigt hatte. Die Bewohner des gegenüberliegenden Hauses mußten ebenfalls gewarnt worden sein, da sie sofort ihre Fernsehantenne eingezogen hatten. Hier war der deutliche Beweis, daß diese Leute ein Geheimnis umgab. ›Niemand hat bisher dort die geringste Gesetzeswidrigkeit entdecken können‹, waren Chefinspektor Casements Worte gewesen. Wer hatte die Alarmklingel ausgelöst – und von wo aus? Bony erinnerte sich seiner Herfahrt im Lastwagen. Er wußte, wie lange man von dem weißen Haus bis ins Dorf brauchte. Entweder hatte man dort oben nicht sofort Alarm gegeben, oder er war von einer anderen Stelle ausgelöst worden. Es war Bonys Glück, daß er sich nicht aus dem Schuppen gewagt hatte, denn plötzlich tauchten die Scheinwerfer des Autos den ganzen Ort in gleißendes Licht. Bony zog sich weiter nach hinten zurück und beobachtete von dort die drei Männer, die die 37
Straße überquerten, um das Auto zu empfangen. Als der Wagen vor dem Laden anhielt, erkannte Bony für einen kurzen Moment Mike Conway und Joe Flanagan, dann verlöschten die Scheinwerfer. Es fiel kein Wort. Das Zuschlagen der Autotür verriet, daß die Männer eingestiegen sein mußten. Gleich darauf fuhr der Wagen mit gelöschten Lichtern am Schuppen vorüber und die Straße hinab. Bony erwartete, daß er an der Meierei erneut anhalten würde, hatte sich aber getäuscht. Das Auto fuhr weiter, und das Motorengeräusch wurde allmählich schwächer. Hinter der Meierei gab es keine Häuser mehr, nur noch einen riesigen Schweinestall. Das Auto fuhr auch daran vorbei. Bony stand so unbeweglich wie der Pfosten des Schuppens, an dem er lehnte. Er lauschte in die Dunkelheit und beobachtete, wie der Antennenmast am gegenüberliegenden Haus wieder ausgefahren wurde. Ein Stück weiter unten wiederholte sich das Schauspiel. Währenddessen fuhr das Auto unbeleuchtet stetig weiter in derselben Richtung, langsam und ohne anzuhalten. Offensichtlich kannte der Fahrer jeden Meter Weg. Das war kein Polizeifahrzeug gewesen. Trotzdem schien Mike Conway nicht gewußt zu haben, wer die Ankömmlinge waren, sonst hätte man wohl kaum die Fernsehantennen verschwinden lassen. Das kaum noch vernehmbare Motorengeräusch brach jetzt plötzlich ganz ab. In der Stille, die nun folgte, hörte Bony Musik aus dem Nachbarhaus, das Gurgeln des Baches hinter dem Dorf, er bildete sich sogar ein, daß das Rauschen des fernen Wasserfalls bis hierher herüberdrang. Er wußte nicht, wie lange er wartend in der Dunkelheit gestanden hatte. Das Motorengeräusch war jetzt wieder da, der Wagen kam auf demselben Weg zurück, immer noch unbeleuchtet. Er hielt wieder vor dem Laden. Türen knallten, und die Scheinwerfer flammten auf. Bony sah jetzt im ganzen fünf Männer – die drei aus dem Nachbarhaus und die beiden Conways. 38
Offensichtlich hatte man gemeinsam eine nächtliche Spazierfahrt unternommen. Als der Wagen davonfuhr, hielt er die Zeit für gekommen, sich in seinen Unterschlupf zurückzuziehen. Er zündete die Lampe an und gab sich den Anschein, als sei er in die Lektüre eines Taschenbuchs vertieft. Es kam jedoch niemand zu ihm herab. Der nächste Morgen begann nicht anders als sonst. Das Dorf lag noch im Schatten der Berge. Ein Teil der Kühe war bereits gemolken und stand im Hof hinter dem Melkschuppen, während in einem Seitenhof ein letzter Schub darauf wartete, an die Melkmaschine angeschlossen zu werden. Eine Frau trat aus einem der Häuser und klopfte eine Fußmatte aus. Zwei andere standen schwatzend beisammen. Ein Mann arbeitete bereits im Garten – die Szene war so, wie man sie jeden Morgen um diese Stunde beobachten konnte. Als Bony die Straße entlangtrottete, schoß schweifwedelnd ein Hund auf ihn zu. Hunde! Kein Hund hatte gestern abend angeschlagen, als das Auto gekommen war. Wie hatte man die Tiere unter Kontrolle gehalten? Über dieses Rätsel mußte er beim Kartoffelgraben nachdenken. Der australische Herbst ist von einzigartiger Schönheit. Die Tage sind angenehm und warm und die Nächte kühl. Niemand denkt mehr an die brütende Hitze, an den Staub und an die heißen Winde der Sommermonate. Am Ende des Dorfes bog Bony von der Straße ab und folgte einem Pfad, der sich durch niedriges Gebüsch wand, das aber schon bald offenem, mit Gummibäumen bestandenem Gelände wich. Schließlich gelangte er auf einen breiten Weg, der zwischen Drahtzäunen hindurch an das Ufer des Flüßchens führte. Im Augenblick war es mehr ein Bach, der sich durch das geröllübersäte Bett seinen Weg bahnte. Die Elstern ließen ihr lautes Schackern ertönen, und eine von ihnen stieß mehrmals auf Bony herab. Er überquerte eine schmale Brücke und gelangte auf eine 39
unbefestigte Straße. Versonnen betrachtete er die Reifenabdrükke und Hufspuren, die hier deutlich sichtbar waren. Nach einer halben Meile mußte er diese Straße wieder verlassen und einem Pfad folgen, der durch Weideland führte. Schließlich gelangte er zu der Stelle, wo die bereits gefüllten Kartoffelsäcke standen und seine Forke auf ihn wartete. Hier war sein Arbeitsplatz. Er legte Brotbeutel und Feldflasche auf einen Stein, der von der alten Grenzmauer gefallen war. Diese Mauer – sie war einen Meter zwanzig dick und ebenso hoch – schien keinen Anfang und kein Ende zu haben. Hier auf dem Kartoffelacker war ihre höchstgelegene Stelle, und darum waren hier auch die stärksten Spuren der Verwitterung sichtbar. Die Steine, die damals zu ihrem Bau verwendet worden waren, hatte man aus dem umliegenden Boden herausgeklaubt. Mrs. Kelly hatte also einen doppelten Zweck mit ihrem salomonischen Urteilsspruch erreicht: Frieden in der Familie und Verbesserung des Bodens. Bony stand an diesem höchsten Punkt des Talkessels und blickte um sich. Die Straße vom weißen Haus oben auf dem Sattel zog sich ins Tal herab wie ein Kreidestrich. Die Ortschaft wirkte wie weißer Marmor auf grünem Samt. Der Wasserfall im Hintergrund war aus flüssigem Silber. Jenseits der Mauer erhob sich das Haus der Kellys und blickte ihm mit seinen vielen Fenstern mißtrauisch zu. Er sah die Kinder, die sich auf der einzigen Straße des Dorfes tummelten und zur Schule gingen. Zwei Männer arbeiteten in der Nähe der Meierei, zwei andere trieben Kühe auf die Weide. Auf einer fernen Koppel, auf der Seite der Kellys, beobachtete er einen Reiter. Neben dem Schlachthaus, wo die Tierfelle zum Trocknen aufgehängt waren, kreiste ein Schwärm Krähen. Auf den Kartoffelsäcken tanzte ein Zaunkönig herum. Ringsum Ruhe und Frieden. Diese ländliche Szene würde jeden Maler begeistert haben. Spielende Kinder und Leute, die friedlich ihrer bäuerlichen Beschäftigung nachgingen und die 40
scheinbar nichts von den Segnungen der Television zu wissen schienen – wenigstens tagsüber nicht. Am Abend verwandelten sie sich dann auf seltsame Weise. Dann ragten plötzlich Fernsehantennen aus ihren Dächern; dann kredenzten sie als Abschluß ihres Abendessens einen Schnaps, der jeden normalen Sterblichen umwerfen mußte; dann tauchten Autos auf, die unbeleuchtet durch die Gegend fuhren. Aber warum eigentlich nicht? Jahrhundertelang hatte dieses Tal geschlummert und war nur von den Eingeborenen aufgesucht worden, die hier vor der Hitze des Sommers und der Kälte des Winters Zuflucht gesucht hatten. Bis die Kellys kamen. Sie vertrieben die Schwarzen, bauten das große Haus und säuberten den Boden von Steinen. Sie erklärten, das Tal gehöre ihnen. Oberflächlich betrachtet, ist dort alles ruhig und friedlich‹, hatte Chefinspektor Casement gesagt. ›Aber ich möchte wetten, daß mein ›Kaninchenbau‹ dort zu finden ist.‹ Ein Kookaburra gesellte sich zu dem Zaunkönig und ließ sich auf einem Kartoffelsack nieder. Ein zweiter hockte sich auf die Mauer. Methodisch und gründlich grub Bony Kartoffeln aus. Und gleichzeitig mit den Kartoffeln beförderte er lange, dicke Würmer ans Tageslicht. Die Kookaburras ließen ihren schnarrenden Ruf ertönen und stürzten sich auf die Beute. Schließlich wurden sie so habgierig, daß sie gefährlich dicht an der Gabel herumhüpften. Bony sprach mit ihnen. Ihre perlenartigen Augen blickten zwischen ihm und der Erde hin und her, und wenn er einmal eine kurze Verschnaufpause einlegte, schauten sie ihn vorwurfsvoll an und schienen ihm zu sagen, daß er endlich weitergraben solle. Er war ganz in seine Beschäftigung vertieft, als plötzlich Hufschlag ertönte. »Tag auch!« rief ihm eine fröhliche Stimme zu. »Was macht die Arbeit?« »Guten Tag«, erwiderte Bony. 41
Die Vögel stoben davon und Bony ging zur Mauer, wo seine Jacke lag. Er nahm sich Tabak und Zigarettenpapier aus der Tasche. Der Mann auf dem Pferd war Mitte Zwanzig. Man brauchte ihn nicht nach seinem Namen zu fragen – er war das Ebenbild des roten Hünen, der Bony gleich nach seiner Ankunft in Cork Valley in den Schuppen gezerrt hatte. »Schöner Tag heute«, meinte Bony. »Prächtig! Sind Sie der Pferdedieb?« Inspektor Bonaparte wand sich innerlich, aber mit ruhiger Stimme erwiderte er: »Well … ja. Und wer sind Sie?« »Ich bin Kelly – Brian Kelly. Und wie heißen Sie? Ich habe Ihren Namen schon gehört, aber wieder vergessen.« Bony schätzte Offenheit über alles, und er fand gleich Gefallen an dem jungen Mann. Brians graue Augen blickten ihn ehrlich an. Er hatte die Haarfarbe seines Vaters, dessen breite Schultern und auch den kräftigen Nacken. Seine Stimme war angenehm, seine abgerissene Reitkluft weniger. »Ich heiße Nathaniel Bonnay, aber sagen Sie doch einfach Nat zu mir. Wenn ich mich nicht irre, habe ich Ihren Vater schon kennengelernt. Sie besitzen ein schönes Haus.« »Es war mal schön, in der guten alten Zeit. Jetzt regnet es überall durch. Trotzdem ist es großartig hier, bis auf den Nebel. Ich persönlich liebe ihn ja, weil da die Leute nicht mehr so herumspionieren können, wie es zum Beispiel Oma Conway gerade jetzt wieder tut.« »Tatsächlich?« »Überzeugen Sie sich.« Brian Kelly wies zum Dorf hinunter. »Den ganzen Tag über hat sie ihr Fernglas am Auge. Der Alten entgeht nichts.« Bony sah, wie hinter einem Fenster des Conwayschen Hauses etwas aufblitzte. »Hm, dann wird sie mir wohl heute abend wieder sagen, daß ich nicht schnell genug arbeite.« 42
Der junge Mann stopfte seine Pfeife und musterte Bony mit pfiffigen, zusammengekniffenen Augen. Sein breiter Mund verriet Großzügigkeit, das Kinn hingegen Jähzorn. Seine Tuchmütze saß schief auf der flammend roten Haarmähne, die nach einer Schere schrie. Bony wußte, daß Brians Mutter schon viele Jahre tot war. Er wußte auch, daß dieser junge Kelly, ebenso wie die Conway-Kinder, in einem Internat erzogen worden war. Eine solche Erziehung kostete Geld, aber Geld war hier in diesem Tal vorhanden. Trotzdem war Brian Kelly so erbärmlich angezogen, als trüge er die abgelegten Sachen seines Vaters. »Arbeiten Sie gegen festen Lohn?« »Nein, im Akkord. Sieben Schilling pro Sack«, erwiderte Bony. »Oh!« Die Pfeife brannte nun, und Brian starrte nachdenklich hinüber zum Dorf. »Und wo wohnen Sie?« »In dem Verlies unter dem Schuppen.« »Ich war noch nie da unten, habe aber schon davon gehört. Gutes Versteck! Soviel ich weiß, ist das Essen da drüben ebenfalls gut. Wir essen wie die Hunde.« »Mrs. Conway ist eine wunderbare Köchin«, meinte Bony. »Sie scheint allerdings auch viel Hilfe zu haben.« »Tja, die Conways sind eben zivilisiert, und wir immer noch wie die Wilden.« Brian saß seitlich im Sattel, und das Pferd stand parallel zur Mauer. »Ich dachte, mit Pferden sei heutzutage nicht mehr viel anzufangen – wenn man sie stiehlt«, fügte er hinzu. Bony erklärte lachend, daß es sich in seinem Fall um beste Rennpferde gehandelt habe. Brian wollte Einzelheiten hören. Er wollte wissen, wo Tenterfield lag und ob es im Landesinnern wirklich so gute Arbeitsmöglichkeiten gäbe. Er wollte noch allerlei wissen, aber plötzlich umwölkte sich sein Gesicht. »Da – der alte Herr kommt! Der mit seiner ewigen Bevormundung. Mir hängt der Alte zum Halse heraus!« 43
Red Kelly kam sehr schnell näher. Er saß auf einer grauen Stute, die er Sporen und Reitpeitsche spüren ließ. Bekleidet war er mit einer eleganten Reithose und einem Tweedjackett. Der leichte Wind zerzauste seinen roten Bart und sein Haar. Vor den beiden angekommen, zugehe er das Tier aus vollem Galopp, indem er wütend an der Kandare riß. Bony, der an der Mauer lehnte, beachtete er nicht. Er brüllte seinen Sohn an, und die Wut in seiner Stimme war völlig unmotiviert. »Mach sofort, daß du hier wegkommst!« schrie er. »Scher dich an deine Arbeit! Los – verschwinde! Seit wann schwatzt du mit jedem Hergelaufenen, mit Pferdedieben und Landstreichern? Los – hau ab!« Der junge Kelly blieb bewegungslos auf seinem Pferd sitzen. Sein Gesicht war weiß, und seine Augen schienen das Rot vom Bart seines Vaters zu reflektieren. Blitzartig schlug der Alte mit seiner Reitpeitsche zu. Er traf seinen Sohn mitten ins Gesicht, so daß dessen Pfeife in hohem Bogen davonflog. »Ich bin der Boss von Cork Valley!« brüllte er. »Wenn ich sage, daß du verschwinden sollst, dann verschwindest du. Du hast dich schon lange nach einer Tracht Prügel gesehnt, mein Junge, schon lange!« Halb fiel Brian Kelly, halb glitt er vom Pferd. Mit einen geduckten Sprung stand er vor der grauen Stute. Red Kelly hob erneut die Reitpeitsche, aber da wurde er schon am Bein gepackt und vom Pferd gezerrt.
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ür Bony ergab sich augenblicklich die Frage: Ist diese Rauferei nur provoziert, um ihn hineinzuverwickeln – mit dem Resultat, daß man ihn im Hospital ablieferte, wie es bereits einem Polizeibeamten ergangen war? Andrerseits konnte dieser Streit zwischen Vater und Sohn durchaus echt sein. Sei dem wie es sei, Bony hatte einen wunderbaren Logenplatz, um den Fortgang der Ereignisse beobachten zu können. Kelly taumelte hoch, blinzelte mit den kleinen Schildkrötenaugen und brüllte auf, nachdem es ihm kurz die Sprache verschlagen hatte. Die beiden Gegner waren von gleicher Größe, Kelly senior jedoch schwerer, und er besaß wohl auch, trotz seines Alters, mehr Kraft. Bony setzte sich bequem zurecht, um diese Szene zu genießen. Die beiden Kämpfer waren sich ebenbürtig, wie sich bald herausstellte. Wütend trommelten sie mit den Fäusten aufeinander los. Bony vergaß, weshalb er sich hier befand, und wurde ganz vom Geist seiner mütterlichen Ahnen ergriffen. Der Sohn kniete jetzt auf der Brust seines Vaters und schien sich zu bemühen, ihm den Bart herauszureißen. Im nächsten Augenblick flog er jedoch zur Seite, sein Vater fuhr hoch und preßte den Jüngeren, als wolle er ihm sämtliche Rippen im Leibe zerbrechen. Minutenlang waren die beiden Männer wie junge Bären, die im Spiel miteinander raufen, aber dann lag Brian auf dem Rücken, und die riesigen Pranken des Alten schlossen sich um seine Kehle. Verzweifelt versuchte er, sich zu befreien. 45
Bony sprang von der Mauer und riß Red Kelly an den Haaren zurück. Der Alte richtete sich auf, schüttelte ihn von sich ab und wollte auf ihn losgehen. Bony war eine Sekunde früher auf den Beinen, und seine Stiefelspitze kollidierte mit Kellys Kinn, so daß der Mann wie ein gefällter Baum zu Boden ging. Während Kelly junior noch nach Atem rang und Kelly senior von seiner weiten Reise zurückkehrte, führte Bony einen Freudentanz auf. Ein David, der über zwei Goliaths gesiegt hatte! Als Red Kelly, noch ganz benommen, seine blaßblauen Augen öffnete, blickte er in die tiefblauen Augen seines Bezwingers. Brian Kelly taumelte hoch und brüllte Bony an: »Was fällt dir ein, du schwarzer Gauner! Halte dich gefälligst heraus! Das ist eine Auseinandersetzung, die dich nichts angeht!« Damit stürmte er auf Bony zu, der einen Kopf kleiner und rund zwanzig Pfund leichter war. Aber er schlug ein Loch in die Luft, und ehe er herumfahren konnte, saß Bony auf seinem Rükken und behandelte den Nacken seines Widersachers mit stahlharten Fingern, wie es ihm von seinen schwarzen Ahnen überliefert worden war. Ein brennender, unbeschreiblicher Schmerz, der nicht enden zu wollen schien, erfaßte Brians Gehirn. Wie aus weiter Ferne hörte er Bonys Stimme: »Ich könnte dich zum Wahnsinn treiben, du Idiot! Also beruhige dich!« Dann war Brian frei, und der mörderische Schmerz in seinem Kopf verebbte, aber die Erinnerung an ihn klang noch in ihm nach. Er wurde sich plötzlich bewußt, daß er schluchzend auf dem Boden kniete. Er hörte seinen Vater brüllen, daß er den schwarzen Halunken umbringen würde, dann gellte ein wütender Schrei, und gleich darauf gab es einen dumpfen Aufprall. Als Brian endlich seinen Kopf heben konnte, sah er seinen Vater auf einem großen Steinblock liegen – mit dem Bauch nach unten. Er wollte ihm zu Hilfe eilen, aber als er sah, wie der Alte stöhnend auf sein Gesicht sank, wurde Brian von Entsetzen gepackt. Er taumelte zu seinem Pferd, zog sich in den Sattel und ritt niedergeschlagen auf das Herrenhaus zu. 46
Zehn Minuten später schwankte auch Red Kelly zu seiner Stute, kletterte erschöpft in den Sattel und ritt seinem Sohn nach. Während des Nachmittags ließ Bony das Gelände hinter der Steinmauer nicht aus den Augen – es war immerhin möglich, daß die Kellys mit Verstärkung zurückkehrten. Der Zaunkönig hatte sich an den Insekten gütlich getan und hockte nun faul auf einem gefüllten Kartoffelsack. Auch die Kookaburras kehrten zurück, um sich ihren Anteil an der Kartoffelernte zu sichern. Als Bony zum Abendessen die Wohnküche der Conways betrat, schien ihn der ganze Clan zu erwarten. Die alte Dame saß in ihrem Lehnstuhl vor dem Kamin. »Kommen Sie her, junger Mann«, sagte sie energisch, »und legen Sie Rechenschaft ab.« Ein Spitzenhäubchen statt einer Perücke, ein schwarzes Kleid statt einer Richterrobe – aber die gleichen durchdringenden Augen, der gleiche eiserne Wille, die harten Tatsachen ans Licht zu bringen. Bony spürte intuitiv die gespannte Atmosphäre und wußte, daß er jetzt außerordentlich geschickt vorgehen mußte. »Also Nat – was ist geschehen?« Beim Film hätte er Millionen verdienen können, statt dessen lebte er vom kärglichen Gehalt eines Kriminalinspektors. Er spielte seine Rolle hervorragend, obwohl er überhaupt nicht darauf vorbereitet gewesen war. Nervös scharrte er mit den Füßen und blickte an den Gesichtern der Anwesenden vorbei. Schließlich schien er sich zusammenzureißen. »Woher wissen Sie davon? Es war doch niemand von Ihnen dabei«, murmelte er. »Ich war dabei«, entgegnete die alte Dame streng. »Mit meinem Fernglas habe ich alles mit angesehen.« »Oh …« Erneut begann er mit den Füßen zu scharren. »Tja, es kam so …« Seine Stimme klang jetzt verteidigend. »Ich mußte mich doch wehren! Während ich arbeitete, kam ein junger Mann. Er sei Brian Kelly, sagte er. Ein netter Mensch. Er meinte, die Kartoffelernte scheine ja gut zu sein, und was man so spricht. Dann 47
kam sein Vater angeprescht. Er schrie ihn an und sagte ihm, er solle machen, daß er nach Hause käme. Als er nicht gleich gehorchte, schlug ihm sein Vater mit der Reitpeitsche ins Gesicht. Der Junge sprang daraufhin vom Pferd und zerrte den alten Herrn herunter. Dann prügelten sie sich.« »Ja, ja – das habe ich doch alles gesehen!« Die Stimme der alten Dame klang schrill vor Ungeduld. »Ich sah ihre Köpfe über die Mauer hinweg, und Sie sah ich, wie Sie einen Freudentanz aufführten. Dann sprangen Sie von der Mauer herunter und mengten sich ein. Das habe ich gesehen.« »Ja, ich griff ein, weil ich dachte, sie brächten sich gegenseitig um. Mr. Kelly wollte seinen Sohn erwürgen. Daran mußte ich ihn hindern.« »Das habe ich nicht gesehen«, jammerte die alte Dame. »Erzählen Sie weiter.« »Na ja, und damit war die Rauferei der beiden beendet«, fuhr Bony fort. »Brian brauchte einige Zeit, um wieder zu Atem zu kommen, und der alte Herr mußte sich auch erst von meinem Kinnhaken erholen. Der Junior hat mich einen schwarzen Gauner genannt, wogegen ich energisch protestieren muß. Dann griff mich Mr. Kelly senior an. Es waren fünf Meter zwischen uns, und er kam mit großer Schnelligkeit auf mich zu. Er versuchte, mich zu treten, und hob einen Fuß an. Ich hatte gerade beide Hände unter seinem Fuß, als er zustieß, und dadurch schnellte er sich selbst in die Luft.« »Ha!« entfuhr es der alten Dame kaum hörbar. »Ich sah, wie Red Kelly zweimal so hoch wie die Mauer flog. Das kann ich beschwören. Und Sie haben ihn so hoch geworfen, Nat?« Nat Bonnay schien nervös zu werden. Er blickte vom Boden auf und direkt in die dunklen Augen der alten Frau. Dann sah er Mike Conway an, und schließlich in die lodernden Flammen. »Haben Sie Red Kelly zweimal so hoch wie die Mauer geworfen?« verlangte Mrs. Conway zu wissen. »Diesen großen roten Bullen von einem Iren? Haben Sie das getan?« 48
»Nun, ich mußte ihnen doch Einhalt gebieten«, erwiderte Nat mit deutlicher Verzweiflung. »Mr. Kelly würgte seinen Sohn. Brians Gesicht war schon ganz blau, und die Zunge hing ihm heraus. Ich will nicht, daß hier jemand umgebracht wird. Dann kommt die Polizei und stellt Fragen, und ich werde in die ganze Geschichte hineingezogen. Ich habe so schon Kummer genug. Bei euch Farmern ist das was anderes. Ihr habt die Polizei auf eurer Seite. Immer habt ihr die Polizei auf eurer Seite.« Nat holte tief Atem und spürte das tiefe Schweigen um sich. Halb ängstlich, halb trotzig fuhr er fort: »Mr. Kelly trat mir auf die Hände und schnellte dadurch in die Luft. Ich mußte mit ihm fertig werden, denn er war vor Wut wie von Sinnen. Als er von meinen Händen abschnellte, gab ich ihm einen kleinen Drall, und dadurch landete er mit dem Bauch auf einem Felsblock. Darauf war er ziemlich krank, aber ich denke nicht daran, ihn zu bedauern.« Tiefes Schweigen herrschte in dem großen Raum. Nur das Tikken der alten Standuhr war zu Vernehmen, für die Inspektor Bonaparte gern fünfhundert Pfund bezahlt haben würde, wenn er soviel Geld gehabt hätte. Doch plötzlich ging das Ticken der Uhr in einem schallenden Gelächter unter. Die alte Mrs. Conway trommelte mit ihren zierlichen Händen auf die Armlehnen ihres Sessels und quietschte vor Vergnügen. Mike Conway schlug sich immer wieder mit den Händen auf die Oberschenkel. Matty Conway hielt eine andere Frau in den Armen, und beide prusteten, bis sie keine Luft mehr bekamen. Joe Flanagan hüpfte auf seinen Säbelbeinen umher. Nur Rosalie Conway, die dunkelhaarige Schönheit, stand mit abweisendem Gesicht, die Hände in die Hüften gestemmt, da. Endlich faßte Mike sich und wies auf Bony. »Er hat nur eben die Hände unter Reds Fuß gehalten, und da fiel Red mit dem Bauch auf einen Felsbrocken. Er – unser Nat – wiegt ganze hundertdreißig Pfund, und er stemmt den alten Red 49
mit seinen zweihundert Pfund in die Luft, daß er auf einen Felsen fällt! Junge, Junge! Wenn ich das doch hätte sehen können!« »Ich habe es gesehen!« rief die alte Dame atemlos. »Ich habe alles durch mein Fernglas beobachtet.« Wieder wurde sie von einem Lachkrampf überwältigt. »Red war ziemlich krank! O Herr – ich kann nicht mehr …!« Die Frauen traten besorgt zu ihr und brachten die Männer zum Schweigen. Mit einiger Mühe gelang es ihnen, die alte Dame zu beruhigen, und schließlich nahmen alle Platz. Nat Bonnay mußte sich neben Oma Conway setzen, die ihr Herz durch einen Schluck ›Wein‹ beruhigte. Das Abendessen verlief auf die übliche Weise. Hatte Bonys Musizieren auf dem Gummiblatt schon einen Teil des Eises geschmolzen, so war heute durch seinen Sieg über die Kellys der letzte Rest Zurückhaltung verschwunden. Diese Conways irritierten Bony. Draußen im Busch war er schon vielen Iren begegnet, aber sie waren als Einzelpersonen in sein Leben getreten, und er hatte sie gegen den Hintergrund anderer Nationen gesehen und beurteilt. Hier aber war eine Familie, ein ganzer Clan, völlig isoliert in diesem Tal, in dem sie schon seit fünf oder sechs Generationen lebten. Er rief sich ins Gedächtnis zurück, daß er hier war, um den vermutlichen Mord an einem Finanzbeamten aufzuklären. Das Abendessen war beendet, und die Frauen und Kinder, außer der alten Mrs. Conway, zogen sich zurück. Als Mike die übliche Tasse Schnaps serviert hatte und Pfeifen und Zigaretten brannten, wandte er sich an Nat. »Sie halten uns gewiß für eine seltsame Sorte Menschen, Nat«, begann er. »Im Grunde genommen sind wir das auch. Wir halten zusammen. Alle für einen – einer für alle. Das ist unsere Parole. Schade, daß Sie mit den Kellys aneinandergeraten sind. Gewiß, ich hätte was drum gegeben, wenn ich dieses Schauspiel hätte miterleben können, aber wenn ich dabeigewesen wäre, hätte ich 50
den beiden helfen müssen. Verstehen Sie, Nat? Ich hätte gegen Sie Partei ergreifen müssen.« »Ach, zum Teufel, Mike!« explodierte Nat Bonnay. »Ich mußte sie doch trennen! Wie oft soll ich das denn noch sagen?« »Nein, das mußten Sie nicht. Das war eine familiäre Auseinandersetzung, und sie wäre ganz friedlich ausgegangen. Seit hundertfünfzig Jahren sind solche Prügeleien hier gang und gäbe. Halten Sie sich aus solchen Sachen heraus, und buddeln Sie Ihre Kartoffeln.« »In Ordnung. Wenn es Ihnen lieber ist, packe ich sogar zusammen und verschwinde.« »Nein, dazu ist es zu spät«, erwiderte Mike Conway. »Sie arbeiten für die Conways, und da sind Sie in gewisser Hinsicht selbst ein Conway. Sie haben sich in eine Auseinandersetzung der beiden Kellys eingemischt, also hat sich ein Conway eingemischt. Damit kann jetzt eine Feindschaft entstanden sein, die Jahre anhält. Aber wir wollen keine Feindschaft.« »Ich verstehe, Mike«, erwiderte Nat mit ernstem Gesicht. »Mike ist ein weiser Mann.« Die alte Mrs. Conway nickte zustimmend. »Im Laufe der Jahre sind wir hier in Cork Valley zu Verstand gekommen. Wir haben gelernt, daß wir unser Tal verlassen müssen und über ganz Australien verstreut werden, wenn wir keinen Frieden halten.« Sie blickte ihn lange und durchdringend an. »Sie haben sich selbst zu einem Conway gemacht, Nat. Jetzt sind Sie ein Conway. Und was man Ihnen antut, das tut man den Conways an.«
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rei Tage vergingen, ohne daß Bony die Kellys zu Gesicht bekommen hätte. Am Morgen des vierten Tages, als die Sonne über die Berge stieg, zog er seine Jacke aus, um mit der Arbeit zu beginnen. Akkordlohn spornt mächtig an. An seinem ersten Arbeitstag füllte Bony vier Säcke, und das war für seine ungeübten Muskeln schon zuviel. Am nächsten Tag brachte er es deshalb nicht einmal auf vier Säcke, aber dann wurden es fünf und schließlich sogar zehn. An diesem Morgen hatte Bony sich vorgenommen, bis Sonnenuntergang elf Säcke zu füllen. Es war ein herrlicher Tag. Einzelne Wolken trieben über den blauen Himmel in Richtung auf das Meer zu. Die Kookaburras kamen, und es schien, als könnten sie stündlich ihr eigenes Gewicht in Würmern verzehren. Bis zur Mittagspause hatte Bony sechs Säcke mit Kartoffeln gefüllt. Ein leichter Wind ging, und Bony mußte sein Feuer im Schutz der Steinmauer entfachen. Als der Tee fertig war, saß er an die Mauer gelehnt und aß große Scheiben Brot, dick mit Butter und Schinken belegt. Er betrachtete die sechs Säcke, die bereits gefüllt waren, und fühlte sich zufrieden. Er multiplizierte die sechs Säcke mit sieben Schilling und fühlte noch größere Zufriedenheit. An diesem Vormittag hatte er bereits zwei Pfund und zwei Schilling verdient. Das Leben war schön. Inspektor Bonaparte fühlte sich ausgezeichnet. Der Schinken schmeckte, und die Gummibäume dufteten. Tief sog er die saubere Luft in die Lungen. Er dachte daran, 52
daß er hier nur halb soviel rauchte wie sonst. Hinter einem der Fenster des Conwayschen Hauses blitzten die Linsen eines Fernglases auf. Dort saß Oma Conway und beobachtete ihn. ›Jetzt sind Sie ein Conway, und was man Ihnen antut, tut man den Conways an‹, hatte sie gesagt. Es war schön, ein Conway zu sein. Zum Teufel mit Chefinspektor Casement und seinen Leichen! Die Kühe hatten sich gelagert und käuten wieder. Der Zaunkönig schlief auf einem Kartoffelsack. Die Kookaburras hatten sich so vollgefressen, daß sie nur noch dahocken und bewegungslos vor sich hinstarren konnten. Nur die alte Mrs. Conway hantierte mit ihrem Fernglas, daß es nur so blitzte. Selbst die träge dahinsummenden Bienen schienen vom Frieden zu erzählen, der über Cork Valley lag. Auch die leise über Bony ertönende Stimme klang ganz friedlich. »Wohin willst du ihn haben, Nat?« Der Wind wehte die Worte hinüber zu den reglosen Kookaburras. Bony blickte auf und sah einen riesigen Stein über seinem Kopf schweben, zwei Arme, die ihn hielten, und den flammend roten Bart von Red Kelly. Wie schnell fällt ein Zentner Granit? Red Kelly stand auf der Mauer und konnte den Stein jeden Moment loslassen. Dann war keine Zeit mehr, sich zur Seite zu rollen oder wegzuspringen. Es war überhaupt keine Zeit mehr für vernünftige Überlegungen, jetzt konnte nur der Instinkt helfen. Red Kellys Augen blitzten vor Mordlust, ein teuflisches Grinsen verzerrte seinen Mund. Er wußte genau, daß er den Stein höchstens noch zwei Sekunden würde halten können. »Kommen Sie herunter«, sagte Bony, ohne sich zu rühren. »Ich möchte mit Ihnen sprechen.« Der Steinbrocken wurde nach rechts gestoßen. Mit einem dumpfen Dröhnen polterte er zu Boden. Red Kelly atmete tief auf und verschränkte die Arme. Bony fuhr sich mit dem Ärmel über die Stirn. Der Wind, der über seine feuchte Haut strich, schien plötzlich eiskalt zu sein. Das war also die Ursache für Oma 53
Conways Hantieren mit dem Fernglas gewesen: Sie hatte ihn warnen wollen. Jetzt war alles ruhig hinter ihrem Fenster. Der rothaarige Hüne sprang von der Mauer und setzte sich auf den Steinbrocken. »So was könnte jederzeit mit Ihnen passieren«, rief er mit dröhnender Stimme. »Hätten Sie auch nur ein Glied gerührt, wären Sie jetzt zerquetscht wie eine Fliege. Sie wollen also mit mir sprechen. Schießen Sie los.« »Ich werde reden«, erwiderte Bony und betonte das ›ich‹. »Und Sie werden zuhören.« Er betonte das ›Sie‹. »Ihr Iren habt eine enorme Einbildungskraft. Darum gibt es unter euch wohl auch soviel Dichter und Schriftsteller. Ihr bildet euch eine Menge ein, zum Beispiel, daß ihr euch niemals irrt. Ihr habt immer recht! Ich persönlich finde diese Auffassung ein wenig einseitig und – gefährlich. Sie hätten gar nicht hübsch ausgesehen mit ausgerissenem Bart und einem Strick um den Hals. Sie wissen ja selbst, daß Sie zum Mörder an Ihrem Sohn geworden wären, wenn ich nicht eingegriffen hätte.« »Verdammte Lüge!« brüllte Red Kelly. »Ruhe! Ich rede jetzt!« Der Alte setzte zu einer Erwiderung an, aber jetzt klappte er verblüfft den Mund zu. In seinen Augen stand heiße Wut. Bony konstatierte es zufrieden. Hätte kalte Wut in Reds Augen geschimmert, wäre die Situation bedeutend gefährlicher gewesen. Seine eigenen Augen blitzten wie Gletschereis, und wie der Dompteur allein durch seinen Blick den Löwen bezwingt, so bezwang er Red Kelly. »Wenn ich nicht eingegriffen hätte, läge Ihr Sohn jetzt auf dem Friedhof, und Sie würden in Ihrem Haus sitzen und auf die Polizei warten«, fuhr Bony fort, und jedes seiner Worte kam wie ein Hammerschlag. »Ihnen macht es vielleicht Spaß, mit der Polizei über einen Mord zu argumentieren – ich mag nicht einmal wegen eines Pferdes mit diesen Leuten reden. Ich will überhaupt keine Polizei sehen. Ich bin kein Kapitalist wie Sie, ich bin ein 54
einfacher Arbeiter. Mir gehören nicht viele Meilen Land wie Ihnen, ich besitze lediglich meine Freiheit. Und wenn ich noch einmal sehe, wie Sie jemanden erwürgen wollen, dann schlage ich Sie so zusammen, daß Sie acht Tage nicht mehr aufstehen. Sie hätten Ihren Sohn glatt umgebracht, aber das wollen Sie nicht zugeben. Sie besitzen nicht soviel Großmut, sich dafür zu bedanken, daß man Sie vor dem Galgen bewahrt hat. Das ist der Fehler bei euch Iren – bei den echten Iren –, daß ihr euch für das Salz der Erde haltet.« Die Augen des hünenhaften Mannes leuchteten wie zwei Laternen. Die kräftigen Schenkel spannten sich unter der dicken Gabardinehose, als er zum Sprung ansetzte. Aber plötzlich wich die Wut aus seinem Gesicht. »Hatten Sie gesagt ›echte Iren‹«?« fragte er leise. »Ganz recht, so sagte ich.« »Und was meinen Sie damit?« »Daß Sie rasch aufbrausen und lospoltern, im Grunde genommen aber offen und ehrlich sind.« »Weiter.« »Daß Sie imstande sind, einen Mann niederzuschlagen, ohne auch nur eine Sekunde zu überlegen, daß dieser Mann Ihnen einen großen Gefallen erwiesen hat.« »Sich selbst haben Sie aber auch keinen kleinen Gefallen damit getan, wie?« knurrte Kelly, noch nicht ganz überzeugt. »In unserem besonderen Fall trifft es sich, daß ich die Gegenwart der Polizei genausowenig wünsche wie Sie. Außerdem …« »Außerdem … was?« »Außerdem muß ich auch ein paar Tropfen irisches Blut in mir haben. Ich rege mich so schrecklich leicht auf …« Red Kellys Atem ging noch schwer, aber sein Zorn schien immer mehr zu verfliegen. Als er sein Klappmesser aus der Tasche zog, mit dem man einen Bullen hätte erstechen können, war Bony unbesorgt. Eine Pfeife und ein Päckchen Preßtabak folgten 55
nach. Die Pfeife wurde in den roten Bart geschoben und Tabak abgeschnitten. »Wenn Sie ein Ire wären, könnten Sie es mit den ganzen Conways gleichzeitig aufnehmen«, meinte Kelly bedächtig. »Wo haben Sie eigentlich diesen Trick gelernt, mit dem Sie mich neulich Knockout geschlagen haben?« »Den hat mir ein Berufsringer gezeigt.« »Zeigen Sie ihn mir auch, Nat?« »Nein. Wenn Sie den Trick kennen, wären Sie imstande, Ihre Gegner umzubringen – wahrscheinlich sogar ohne Absicht. Sie würden dem anderen glatt den Kopf von den Schultern stoßen. Nein, Ihnen zeige ich den Trick nicht.« »Ich könnte Sie aber sehr nett darum bitten.« Jetzt schwang wieder eine Drohung in Kellys Stimme. Die Pfeife baumelte aus seinem Mund, und das Messer ragte ihm aus der Faust. »Ich möchte meine Tricks lieber für mich behalten«, erklärte Bony unbeeindruckt. »Schließlich könnten wir ja noch einmal aneinandergeraten. Einmal habe ich einen Polizisten in die Luft springen lassen – der war anschließend sehr krank. Ich hätte dafür gehängt werden können.« »Einen Polizisten!« rief Kelly wegwerfend. »Schade, daß Sie den Halunken nicht umgebracht haben.« »Wenn Sie wüßten, daß er Ire war, würden Sie das nicht sagen.« »Ein Ire – ein Halunke von einem Iren war das! Überall stekken diese Hunde, die Polizeiämter sind voll von ihnen. Und die verdammte Verwaltung auch. Das sind desertierte Iren, Halunken sind das!« Die Pfeife fiel ihm heraus, und er schob sich einfach den abgeschnittenen Tabak in den Mund. »Das sind alles Halunken, Nat. In der Regierung sitzen sie und überall. Halunken von Iren! Anständigen Leuten Steuern aus der Tasche ziehen! Wenn du einen Lastwagen fährst, mußt du dafür bezahlen. Hast du einen Fernsehapparat oder ein Radio, mußt du dafür 56
bezahlen. Der Tabak wird besteuert und der Whisky auch. Und warum? Damit sie mit Frauen und Kindern und ihren Lakaien in der Weltgeschichte herumgondeln und sich ein feines Leben machen können. Dafür müssen die richtigen Iren – die echten Iren, wie Sie vorhin sagten – wie die Sklaven schuften. Die Halunken kriechen und katzbuckeln vor den Engländern, damit sie einmal zum Lord gemacht werden.« Diese unerwartete Tirade beeindruckte Bony sehr. Er fand sie recht aufschlußreich. In verschiedenen Ecken Australiens hatte er diese Verbitterung der Iren gegenüber der Verwaltung kennengelernt, aber es waren immer die ärmeren Schichten gewesen, die sich aufgelehnt hatten und unzufrieden waren, nicht die Großgrundbesitzer, zu denen Kelly ja offensichtlich gehörte. Bony bohrte weiter, da jetzt die Gelegenheit günstig war. »Schön, dieser Polizist war also ein Halunke. Wie steht es aber mit Ned Kelly?« Ned Kelly, ein Bandit, war Im Jahre 1880 in Melbourne wegen Mordes gehängt worden. Er galt als Australiens Nationalheld. Red Kelly schien zutiefst verletzt. Seine kleinen Augen verengten sich noch mehr. Finster blickte er Nat Bonnay an, wurde aber durch dessen ernstes Gesicht entwaffnet. »Ned Kelly war ein Gentleman«, sagte er mit erzwungener Ruhe. »Er war ein echter Ire, der Nachkomme einer langen Reihe echter Iren. Aber ein irischer Bastard hat ihn gehängt. Wenn diese Renegaten nicht gewesen wären, hätten Ned Kelly und seine Leute den Engländern ganz Victoria abgenommen. Ja, und Neusüdwales dazu. Ned Kelly war ein waschechter Ire. Gott sei seiner Seele gnädig. Sind Sie denn nicht in die Schule gegangen?« »Ich habe ein Buch über ihn gelesen«, erwiderte Nat. »Dann war es nicht das richtige Buch. Manche stehen voller Lügen.« Bedrückt blickte er vor sich hin. »Schade, daß Ihre Mutter keine Irin war«, fuhr er dann fort. »Sie hätte Ihnen die Wahrheit über Ned Kelly beigebracht. Sie 57
haben ein wenig irisches Blut in sich, Nat. Ich bemerkte das, als ich mit dem Felsbrocken über Ihnen stand.« Er erhob sich und reckte sich. »Schön, mein Freund. Lassen wir die Geschichte ruhen. Sie machen sich jetzt besser wieder an Ihre Kartoffeln. Wieviel schaffen Sie denn jetzt täglich?« »Gestern zehn Sack. Heute vormittag sechs.« »Zehn!« brüllte Red Kelly. »Dabei müssen Sie ja verhungern. Sie haben nicht den richtigen Dreh heraus. Ich werde es Ihnen zeigen.« Wie ein Panzer rollte er auf die Kartoffelforke zu und riß sie aus dem Boden. Dann schwang er sie wie ein Schwert. Bony hatte ganz methodisch gearbeitet, hatte jede Reihe gründlich umgegraben, die Gabel tief in den Boden gestochen und dann die Erde mit den Kartoffeln umgedreht. Red Kelly lief einfach mit gespreizten Beinen die Reihe entlang und schwang mit beiden Händen die Gabel. Der Schwung trieb die Zinken tief in die Erde und legte die Kartoffeln frei. Das alles geschah in einer kontinuierlichen Bewegung. Sobald die Gabel wieder in Anfangstellung war, trat Red einen gewaltigen Schritt nach vorn. Im Handumdrehen befand er sich am Ende der Reihe. Er hatte keine unnötige Bewegung gemacht. In jedem Beruf und bei jeder Tätigkeit gibt es gewisse Kniffe, und Bony lernte jetzt eine Menge, was das Kartoffelausmachen betraf. Allerdings brauchte man, um es Red Kelly gleichzutun, die Kraft von zwei Bonys. Er hatte bisher vierzig Minuten benötigt, um einen Sack zu füllen, Kelly schaffte es ungefähr in sieben. Er mußte den gefüllten Sack zum Stapel schleppen, während Red Kelly ihn wie ein Baby im Arm trug. »So, Nat, damit haben wir die Zeit wieder aufgeholt, in der wir geschwatzt haben«, rief er dröhnend. Er blickte zum Dorf hinüber und sah, wie sich das Sonnenlicht in Mrs. Conways Fernglas spiegelte. »Ha, ich mache mich besser auf den Weg, befinde mich hier auf fremdem Boden. Auf Wiedersehen, Nat, mein Freund. Ich möchte, daß du eines Tages für mich arbeitest. Und 58
vergiß nie, daß Ned Kelly ein Gentleman war, ein waschechter Ire. Du hast ein wahres Wort gesprochen. Wir sind waschechte Iren.« Er winkte freundschaftlich, schob sich die Pfeife in den Mund und sprang über die Mauer. Dann winkte er nochmals und ging mit langen Schritten auf das Herrenhaus zu, während Bony sich fragte, ob er wohl wirklich das Geheimnis der Leute von Cork Valley entdeckt hatte.
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ony probierte Red Kellys Arbeitsmethode, kehrte aber schon bald zu seiner eigenen zurück. Schließlich war er hier, um einen Mord aufzuklären. Er arbeitete methodisch, und seine Gedanken beschäftigten sich mit anderen Dingen als mit Kartoffeln. Eine Stunde nach Kellys Weggang wurde er durch einen Gewehrschuß aus seinen Gedanken aufgeschreckt. Er kam aus der Richtung des Flüßchens, und dem Knall nach zu urteilen, hatte es sich um eine Schrotflinte gehandelt. Eine halbe Stunde später wurde er durch die Stimme Joe Flanagans erneut aus seinen Gedanken aufgeschreckt. »Tag auch!« Die Flinte unter Joes linkem Arm und das Kaninchen in seiner rechten Hand taten kund, wie er seinen Nachmittag verbracht hatte. Hier war wieder einer, der nichts Besseres zu tun hatte, als die Zeit totzuschlagen. Er trug eine Kordhose, Gummistiefel und einen Jagdrock, in dessen Taschen noch ein Dutzend Kaninchen und ein halbes Dutzend Fasanen Platz hatten. Auf seinem Kopf 59
saß ein Filzhut mit abgeschnittener Krempe. Nur vorn hatte er ein Stück von der Krempe stehenlassen, um Schutz vor der Sonne zu haben. Bony wünschte ebenfalls einen guten Tag, und Joe lehnte das Gewehr an die Kartoffelsäcke. Er trat zu Bony, der weiterarbeitete, hockte sich auf seine Fersen und stopfte seine Pfeife. »Schöner Tag heute, Nat. Wie geht’s mit den Kartoffeln?« Sein lederartiges Gesicht schien gar nicht zu seiner sanften, akzentfreien Stimme zu passen. »Prächtig, Joe.« »Ich hörte, daß du vor einer Weile tüchtige Hilfe hattest?« »Stimmt. Red Kelly kam herüber und zeigte mir, wie man Kartoffeln ausmacht. Mrs. Conway hat es dir erzählt?« »Ja. Sie machte sich Sorgen um dich. Sie bat mich, hier drüben ein paar Hasen zu schießen. Hast du heute schon welche gesehen?« »Gestern morgen zwei – zwischen dem Kartoffelfeld und dem Flüßchen. Hast du frei heute?« »Ich habe oft frei. Bei meinen Installationen gibt es nicht viele Reparaturen. Ein schönes Leben, Nat. Wenig Arbeit, viel Essen und außerdem noch ein ordentliches Schlückchen. Wie war’s denn jetzt damit?« Er holte eine Literflasche aus seiner Jackettasche und schraubte den Plastikverschluß ab. Als Bony den Kopf schüttelte, zwinkerte er, setzte die Flasche an den Mund und schluckte zweimal kräftig, ohne das Gesicht zu verziehen. »Nicht ganz so ausgereift wie Mikes Dinner-Wein«, meinte er und schob die Flasche in die Tasche zurück. »Kommt von jenseits der Berge, Nat. Sie haben bloß noch nicht den richtigen Dreh heraus. Eines Nachts werden sie sich selbst in die Luft sprengen. Immerhin muß ein gutes Geschäft damit zu machen sein. Ohne Steuern ist der Preis ja ganz annehmbar. Red Kelly ist ziemlich übler Laune, habe ich gehört.« 60
Das war eine deutliche Aufforderung, und Bony hielt es für unklug, sie zu ignorieren. Er schilderte also, wie Red Kelly mit dem Felsbrocken über ihm gestanden hatte und wie es ihm gelungen war, mit heiler Haut davonzukommen. »Die alte Dame hat alles mit angesehen«, meinte Joe. »Sie wollte dich mit dem Fernglas warnen, als Red sich von hinten anschlich. Wenn du wieder einmal siehst, daß sie blinkt, dann ist das eine Warnung, und du gehst besser in Deckung. Wie gefällt es dir eigentlich hier?« »Ganz gut. Ich müßte nur die Leute besser verstehen können.« Joe zog an seiner Pfeife und veränderte seine kauernde Stellung ein wenig. Einige Sekunden sah er schweigend zu, wie Bony die Kartoffeln ans Tageslicht beförderte. »Hängt natürlich viel von dir selbst ab, Nat«, meinte er dann. »Ich bin nun schon elf Jahre hier. Ich brauchte ein ganzes Jahr, um die Leute zu verstehen. Selbst einem Iren gegenüber halten sie etwas zu sehr Abstand, und ein Fremder faßt hier selten Fuß. Immerhin bist du erstaunlich schnell warm geworden mit den Conways, besonders mit der alten Dame. Wenn du wolltest, könntest du für den Rest deines Lebens hier Unterschlupf finden.« »Ich möchte nicht bis an mein Lebensende Kartoffeln graben, Joe.« »Das hättest du auch gar nicht nötig. In Cork Valley gibt es angenehmere Möglichkeiten, seinen Unterhalt zu verdienen. Schließlich muß ja jeder irgendwo einmal Wurzeln schlagen.« Er kniff die Augen zusammen. »Aha, da kommt Old Frosty. – Wie gesagt, Nat, die Conways sind recht gut auf dich zu sprechen, aber die Hauptsache ist, daß man sich mit einfachen Dingen begnügt. Ich bleibe immer ein Jahr hier, dann habe ich genug Geld beisammen, um eine Reise zu machen. Letztes Jahr war ich in Europa, das Jahr davor in den Vereinigten Staaten. Nächstes Jahr will ich nach Südamerika.« Er stand auf. »Well, und jetzt schieße ich besser einen Hasen – falls es hier in der Gegend einen 61
gibt. Matty Conway kann einen Hasenpfeffer zubereiten wie keine zweite.« »Ja, sieh nur zu, daß du den Hasen erwischst«, drängte Bony. »Wer ist übrigens Old Frosty?« »Old Frosty! Da drüben im Süden diese Wolke. Ein sicheres Anzeichen dafür, daß Frost und Nebel kommen. Die Nebel hängen tagelang hier. Also dann, Nat.« Joe Flanagan nahm sein Gewehr, stopfte das Kaninchen in eine Tasche und stapfte über die Felder davon. Die Wolke im Süden war lang, schmal und geriffelt. Bony erinnerte sich an Chefinspektor Casements Worte: ›Kein Mensch weiß, was in diesen Tälern vorgeht, wenn die dicken Nebel da sind.‹ Langsam kam ›Old Frosty‹ von Süden angesegelt, und der scharfe Westwind erstarb. Joe Flanagan feuerte beide Läufe seiner Flinte leer, aber Bony konnte ihn nicht sehen, weil er sich in einer Bodensenke befand. Bony war sich darüber klar, daß Joe nicht zufällig hier auf getaucht war. Zweifellos hatte ihn Mrs. Conway geschickt, damit ihre Neugier befriedigt werden konnte. Vielleicht hatte ihm auch Mike Conway aufgetragen, einmal unauffällig vorzufühlen, ob er – Nat Bonnay – nicht gern in Cork Valley bleiben würde? Kein Mensch, der gegen Lohn oder auch im Akkord arbeitete, konnte es sich leisten, jedes Jahr eine halbe Weltreise zu machen. Joe Flanagan war schließlich nur Elektriker. Sollte er das einzige Frettchen sein, das gelernt hatte, mit den Füchsen einträchtig zusammenzuleben? Joe Flanagans Lebensweise war wirklich beneidenswert. Auf den großen Schafstationen im Innern des Landes gab es viele Männer – es waren die meisten –, die zwölf Monate schwer arbeiten und dann mit ihrem ersparten Geld in der Stadt zwei oder auch drei Wochen wie die Millionäre lebten, um anschließend wieder in den grauen Alltag zurückzukehren. Joe mußte viel reicher sein als diese Vierzehntage-Millionäre, wenn er jedes Jahr um die halbe Welt fahren konnte. Wo hatte er seinen Reichtum 62
her? Ein Red Kelly könnte vielleicht allein beim Kartoffelgraben soviel verdienen, nicht aber ein Nat Bonnay oder ein Joe – oberflächlich besehen. Joes Gespräch hatte die deutliche Aufforderung enthalten, sich näher an die Leute in Cork Valley anzuschließen. Man hatte ihm ja auch bereits zu verstehen gegeben, daß er zu den Conways gehöre. Eins stand jedenfalls fest: Die Bereitwilligkeit, mit der man ihn aufgenommen hatte, entsprang vor allem der Tatsache, daß er ein Pferdedieb war und von der Polizei gesucht wurde. Es gab noch viele Fragen. Warum ließ man ihn Kartoffeln ausgraben, obwohl es viele Männer im Dorf gab, die sich nur mit leichten Arbeiten zu beschäftigen schienen. Warum weigerten sich die Leute, Fernsehgebühren zu bezahlen und installierten statt dessen auf kostspielige und mühsame Weise diese versenkbaren Antennen? Der Reichtum dieses Tals war offenkundig, warum weigerten sich die Leute, Gebühren zu bezahlen, die für jeden anderen Bürger dieses Landes eine Selbstverständlichkeit waren? Warum hatten sie eine eigene Schule gebaut mit einer Conway als Lehrerin, obwohl ihre Kinder auf Staatskosten mit dem Schulbus nach Bowral gebracht werden konnten? Auf all diese Fragen mußte es eine Antwort geben, und diese Antwort könnte auch die Lösung des Mordfalls bringen, den er aufzuklären hatte. Bony grübelte weiter über diese Probleme nach, als er sich auf den Heimweg machte. Er schlenderte den sanften Abhang hinab, über die Viehweiden und gelangte schließlich zu dem am Flüßchen entlangführenden Weg. Er war ihn noch nicht in seiner ganzen Länge abgegangen, aber er vermutete, daß er vom Dorf zu Red Kellys Farm führte. In dem feinen roten Staub sah er seine eigenen und die Spuren von Joe Flanagan, außerdem noch Hufspuren und die Abdrücke einer Kuh und eines Kälbchens. Er hörte das Kälbchen, bevor er es sehen konnte, und auch die tiefere Stimme seiner Mutter. Er stand in dem flachen Flußbett, die Kuh oben am Ufer. Das junge Tier hatte anscheinend den 63
Fluß durchwaten wollen, war ausgerutscht und hatte sich den Fuß zwischen zwei Steinen eingeklemmt. Gleich daneben war die Brücke, und dahinter ging es an den dichten Büschen vorbei zur Straße, die ins Dorf führte. Bony setzte sich an den Rand der niedrigen Brücke und zog Stiefel und Socken aus. Vorsichtig stieg er in das unangenehm kalte Wasser, befreite das Kälbchen aus seiner verzweifelten Lage und führte es zum Ufer hinauf. Es schien unverletzt und höchstens ein bis zwei Stunden im Wasser gestanden zu haben. Als Bony wieder auf der Brücke saß und sich die Socken anzog, entdeckte er zwischen den Steinen im Wasser einen glitzernden Gegenstand. Die gekräuselte Oberfläche ließ ihn wie ein Stilett erscheinen. Er zog sich nochmals die Socken aus, stieg ins Wasser und brachte seinen Fund an Land. Es war ein Schraubenzieher – ein kleines Ding, wie ihn Frauen bei ihrer Nähmaschine benützen. Ein merkwürdiger Platz für einen Schraubenzieher aus einem Nähmaschinenkasten! Bony ging zu beiden Tieren hinüber und gab sich den Anschein, als wolle er sich überzeugen, ob das Kälbchen unverletzt sei. Dabei musterte er scharf sämtliche Spuren, die zur Brücke und von ihr wegführten. Er blieb nicht stehen, da er immer mit der Möglichkeit rechnete, beobachtet zu werden. Ohne Schwierigkeiten konnte er feststellen, daß Joe Flanagan sich hier aufgehalten hatte. Er war jedoch nicht über die nahe Brücke gegangen, sondern hatte sich an das weiche, niedrige Flußufer gesetzt. Auf dem Weg durch die Büsche überlegte Bony, warum Joe am Flußufer gesessen haben könnte. Irgendwo in der Nähe hatte der Mann ein Kaninchen geschossen, aber das war kein Grund, durch den Fluß zu gehen, da sich die Brücke ja ganz in der Nähe befand. Wegen des Kälbchens war er sicher nicht dagewesen, sonst würde er es ja befreit haben. Sollte er vielleicht nach dem Schraubenzieher gesucht haben, der ja durchaus ihm gehören konnte? Das wäre die einzige plausible Erklärung. 64
Als Bony eintrat, befand Joe sich bereits in der Wohnküche. Bony mußte sofort von seinem Zusammentreffen mit Red Kelly berichten. »Ich habe beobachtet, wie er sich anschlich«, sagte die Oma streng. »Ich versuchte, Sie zu warnen. In Zukunft behalten Sie mein Fenster im Auge, Nat. Dieser rote Bär hätte Sie umbringen können.« »Ich habe mich mit ihm versöhnt, Mrs. Conway«, erwiderte Bony lächelnd, und die alte Dame betrachtete ihn wohlgefällig. »Sie sollten wirklich ein Ire sein, Nat. Sie haben ganz Cork Valley für sich gewonnen.« Er saß wieder am unteren Ende der großen Tafel, mit Joe Flanagan zu seiner Rechten und Rosalie Conway zu seiner Linken. Zu seiner freudigen Überraschung gab es zunächst Austern und schließlich Koteletts mit einer weißen Soße, die so ausgezeichnet schmeckte, daß er sich entschloß, Matty Conway das Rezept zu entlocken, damit er es Mary mitnehmen konnte. Nachdem die Frauen und Kinder verschwunden waren, servierte Mike wie üblich den weißen ›Wein‹ in Porzellantassen. Joe berichtete, daß er ›Old Frosty‹ gesehen habe, und die Männer nickten. »Wir haben hier ungewöhnlich dicken Nebel«, erklärte Mike Bony. »War es in Tenterfield auch so schlimm?« »Nur am Morgen etwas Morgennebel. Aber hier scheint es ja eine ganz schöne Waschküche zu geben.« »Wenn Sie während der Arbeit davon überrascht würden, Nat – glauben Sie, daß Sie sich wieder nach Hause fänden?« »Na, so dick wird er doch wohl nicht sein, daß ich den Boden nicht mehr sehen könnte. Schließlich brauche ich ja nur meiner eigenen Spur nachzugehen.« »Ja, ja. Natürlich.« Mikes dunkle, ausdruckslose Augen blickten den Tisch entlang. Joe war damit beschäftigt, sich die Pfeife zu stopfen. Die alte Mrs. Conway blickte enttäuscht in ihre leere Tasse. 65
»Nat findet seinen Weg auch im Dunkeln«, meinte sie. »Über die Weiden, über die Felswände, über die Berge. Ich habe über die Eingeborenen gelesen. Nat ist doch einer. Er sagt es ja selbst.« »All right, Oma«, brummte Mike ungeduldig. »Ich wollte ja nur Nats Bestätigung, daß wir nicht nach ihm schauen müssen, wenn der Nebel plötzlich kommt.« »Um mich brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen«, meinte Bony. Oma Conway blickte von ihrer Tasse auf und nickte. »Bravo, Nat. So ist es recht.«
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ie Tage, die auf das Erscheinen von ›Old Frosty‹ folgten, zeigten, daß der Alarm falsch gewesen war. Der Herbst zeigte sich weiterhin schön, warm und voller Sonnenschein. Am Abend tauchte er das Tal in zarte Pastellfarben, und die Nächte blieben ruhig und angenehm kühl. Tag um Tag arbeitete Bony auf dem Kartoffelfeld und wartete darauf, daß der Berg zum Propheten käme. Eine solche Geduld besaß nur der australische Ureinwohner, und von dieser alten Rasse stammte Bony ab. Einen Tag, nachdem »Old Frosty‹ auf seiner Wolke am Himmel entlanggesegelt war, kamen zwei Conways mit dem Lastwagen und fuhren die Kartoffelsäcke zur Schweinemästerei, die ein Stück hinter der Meierei lag. Während des Tages luden sie den Wagen jedoch nicht ab, aber am nächsten Morgen stand er leer vor einem der Häuser. Als Bony am Abend nach Hause kam, war auch der große Melonenhaufen im Schuppen verschwunden. 66
Die Kinder bekamen Herbstferien, und fast alle machten sich nützlich. Sie halfen, die Kühe zum Melkschuppen und wieder hinaus auf die Weide zu treiben, die älteren arbeiteten in der Meierei. Drei Männer, die bei den Conways aßen – unter ihnen Joe Flanagan –, fehlten am dritten Abend bei der Mahlzeit. Am fünften Abend nach ›Old Frostys‹ Erscheinen servierte Matty Conway den gerühmten Hasenpfeffer, garniert mit schwarzem Johannisbeergelee. Bony gelangte zu der Ansicht, daß dies das richtige Leben für ihn sei. Am zehnten Mai waren tatsächlich die höher gelegenen Weideplätze mit Rauhreif bedeckt. Als Bony zum Kartoffelacker marschierte, biß ihm der Frost ins Gesicht, von Nebel war allerdings nichts zu sehen. Die Sonne vertrieb den Reif sehr schnell und brachte wieder Wärme. Ein böiger Wind aus West wehte von den entfernten Farmen den Geruch nach verbrannten Weizenstoppeln herüber. In Cork Valley hatte es eine Veränderung gegeben: Wo bisher Red Kellys vier Pferde gegrast hatten, grasten jetzt elf. Die Koppel war mehr als eine halbe Meile entfernt, trotzdem erkannte Bony deutlich Reds graue Stute, Brians Rotschimmel und noch zwei andere Tiere. Die übrigen sah er zum erstenmal. Man mußte nicht nur über eine ausgezeichnete Sehkraft verfügen, um die Tiere aus dieser Entfernung erkennen zu können – man mußte überhaupt ein gutes Auge für Pferde haben. Die vier, die Bony bereits kannte, waren grobknochig, gut genährt und in ausgezeichneter Verfassung, obgleich nicht für schwere Arbeit geeignet. Die sieben neuen waren kleiner, drahtiger und zäh. Offensichtlich hatte man sie von einer Koppel heruntergebracht, auf der das Gras, jetzt am Ende des Sommers, nur noch spärlich wuchs. Bonys Neugier war vor allem deshalb geweckt, weil es sich offensichtlich um eine völlig andere Rasse handelte. Und noch etwas machte ihn stutzig, aber die Entfernung war doch zu groß, als daß er sich hätte festlegen können. 67
Am Vormittag erschien Brian Kelly mit einem Zaumzeug. Er ging auf sein Pferd zu, säumte es auf und bestieg das ungesattelte Tier. Dann trieb er die Herde zum Haus hinüber, wo sie aus Bonys Blickfeld verschwand. Da er immer damit rechnen mußte, von Oma Conway beobachtet zu werden, ließ er sich sein Interesse nicht anmerken, sondern buddelte emsig Kartoffeln aus. Am Nachmittag ereignete sich wieder etwas Ungewöhnliches. Die alte Mrs. Conway signalisierte zu ihm herüber. Als er sich umblickte, sah er im Westen zwei Männer näher kommen. Sie waren noch ungefähr eine Viertelmeile von der Mauer entfernt, hatten schwere Rucksäcke auf dem Rücken und trugen derbe Bergsteigerkleidung. Red Kelly kam auf seiner grauen Stute angeprescht, um ihnen den Weg abzuschneiden. Impulsiv wollte Bony Mantel und Brotbeutel von der Mauer holen und davonlaufen, um sich zu verbergen. Ein solches Verhalten hätte zu seiner Rolle als von der Polizei gesuchter Dieb gepaßt. Als er jedoch sah, daß Red Kelly sich den beiden in den Weg stellte, beugte er sich tiefer über seine Arbeit. »Was glauben Sie eigentlich, wo Sie hier herumtrampeln?« brüllte Red Kelly, noch bevor er sein Pferd gezügelt hatte. »Dies ist Privatgrund. Ich erlaube nicht, daß Sie mein Vieh unruhig machen. Wohin wollen Sie eigentlich?« Die Antwort konnte Bony nicht verstehen. Red Kelly hingegen brüllte weiter aus Leibeskräften, obwohl er dicht vor den beiden Männern stand. »So, zur Küste und nach Wollongong! Dies hier ist nicht der Weg zur Küste und nach Wollongong. Wie kommen Sie überhaupt hierher? Was? Sie haben sich also über die Steilwand abgeseilt! Ich hätte große Lust, Sie anzuzeigen. Wir haben erst kürzlich Vieh verloren. Woher soll ich wissen, daß ihr hier nicht herumspionieren wollt, um zu stehlen. Ich will eure Namen nicht wissen. Ich will, daß ihr augenblicklich mein Grundstück verlaßt. 68
Ihr kommt jetzt mit zu meinem Haus. In einer halben Stunde fährt ein Lastwagen, der wird euch mitnehmen.« Die beiden Wanderer begannen den sanften Hang zum Haus hinunterzumarschieren, während Kelly hinterdrein ritt, als brächte er zwei Häftlinge ins Gefängnis. Bony lächelte amüsiert. Ob die beiden von Chefinspektor Casement geschickt worden waren? ›Wir müssen irgendwie in Verbindung bleiben‹, hatte er gesagt. ›Wir wollen nicht, daß auch Sie eines Tages tödlich überfahren auf der Straße liegen. Vielleicht schicken wir jede Woche einen Milchinspektor hin, und Sie könnten es so einrichten, daß er Sie zu Gesicht bekommt. Falls er Sie nicht sieht …‹ ›Das würde unseren ganzen Plan gefährden‹, hatte Bony widersprochen. ›Machen Sie sich um mich keine Sorgen. Ich melde mich, wenn ich meinen Auftrag beendet habe oder zu der Ansicht gelangt bin, daß Ihr Fuchsbau nicht in Cork Valley zu suchen ist. Also keine Einmischung, Chefinspektor.‹ Casement hatte sich schließlich, wenn auch widerwillig, einverstanden erklärt. Es war also unwahrscheinlich, daß diese Wanderer von Casement hergeschickt worden waren. Schließlich hatte ja jeder das Recht, eine Bergtour zu machen und im Freien zu kampieren. Man konnte darüber streiten, ob es erlaubt war, auch einmal über Privatgrund zu gehen, und die beiden Fremden schienen tatsächlich den ganzen Weg über bis zum Herrenhaus zu diskutieren. Eine halbe Stunde später stieg von der Straße eine Staubwolke auf, und Bony sah den Lastwagen die Serpentine zum weißen Haus auf dem Paß hinauffahren. Während er weiterarbeitete, hörte er aus der Richtung von Red Kellys Haus einen Amboß erklingen. Das schien zu bedeuten, daß die von der Koppel geholten Tiere beschlagen wurden. Und Pferde werden bekanntlich nur beschlagen, wenn man sie zur Arbeit einsetzen will. 69
Der vom Lastwagen aufgewirbelte Staub hing noch lange über den Serpentinen, das erste Anzeichen dafür, daß der Wind nachgelassen hatte. Einige Minuten, nachdem der Wagen über die Paßhöhe verschwunden war, ritten drei Männer von Kellys Haus in westlicher Richtung davon. Bony beobachtete sie unauffällig. Er war ziemlich sicher, daß einer davon Brian Kelly und ein anderer Steve Conway gewesen war, und keines ihrer Pferde zu jenen gehörte, die er heute zum erstenmal gesehen hatte. Als die Sonne sich den Berggipfeln im Westen näherte, kehrte der Lastwagen zurück. Der Wind war einer sanften Abendbrise gewichen. Deutlich tönten die Klänge des Schmiedehammers zu Bony herüber. Um fünf verschwand die Sonne hinter den Bergen, und der Schmied hörte mit seiner Arbeit auf. Wenige Minuten später wurden die Pferde wieder in die Koppel zurückgetrieben – die sieben fremden und Red Kellys graue Stute. Um Viertel nach fünf spießte Bony die Gabel in den Boden, zog seinen Mantel an, nahm Brotbeutel und Teekessel und machte sich auf den Heimweg. Als er die Wohnküche betrat, fragte er in scharfem Ton: »Was waren das für zwei Fremde?« Oma Conway starrte schweigend in die Flammen. Mike antwortete: »Wanderer – so behaupteten sie wenigstens.« »Ach nein! Und wer sagt mir, ob das stimmt?« »Sie behaupteten, daß sie Wanderer seien, und sie sahen auch danach aus, Nat. Sie hatten Rucksäcke und Seile bei sich. Also – was macht Ihnen da noch Kummer?« »Was mir Kummer macht!« äffte Bony nach. »Hören Sie, die kamen auf mich zumarschiert, und ich trug keinen Hut. Die können gesehen haben, daß ich kein richtiger Weißer bin. Kelly hat sie zwar nicht näher an mich herangelassen, aber wer weiß, ob sie mich nicht mit Ferngläsern von weiter weg beobachtet haben. Hat man sie nach Ferngläsern durchsucht? Oder hatten sie sie vielleicht um den Hals hängen, wie das so üblich ist?« 70
»Beruhigen Sie sich, Nat«, erwiderte Mike Conway. »Es ist alles in Ordnung. Sie trugen keine Ferngläser, und Red Kelly ist der Ansicht, daß sie nicht dicht genug heran waren, um Sie erkennen zu können. Wenn Sie glauben sollten, daß das Kriminalbeamte waren, dann lassen Sie diesen Gedanken ruhig fallen.« »Das glaube ich gar nicht einmal. Aber die beiden könnten ja irgendwelchen Leuten erzählen, daß sie hier aufgehalten wurden und mich beim Kartoffelausmachen gesehen haben. Und wenn das der Polizei zu Ohren kommt …« »Vergessen Sie den Zwischenfall.« Die etwas gespannte Atmosphäre, das Mißtrauen, das Bony bei seinem Eintreten deutlich gespürt hatte, war geschwunden. Jetzt schien niemand mehr zu glauben, daß die beiden Fremden Kriminalbeamte gewesen sein könnten, die nach ihrem Kollegen Ausschau gehalten hatten. »Beim Kartoffelausmachen kann ich von allen Seiten gesehen werden, das gefällt mir nicht«, fügte Bony noch hinzu. »Nat, mein Junge, nur keine Angst.« Oma Conway machte zum ersten Mal den Mund auf. »Es ist doch alles in Ordnung. Machen Sie uns keine Vorwürfe. Als ich die beiden sah, signalisierte ich Ihnen, lange, bevor sie Sie gesehen haben konnten.« Bony blickte die alte Dame mit einem schwachen Lächeln an. »Die Vorwürfe mache ich mir ja selbst, Oma«, begann er und brach sofort ab. »Oh, entschuldigen Sie, Mrs. Conway. Es war mir nur so herausgerutscht. Ich hätte in Ihre Richtung blicken sollen. In Zukunft werde ich daran denken.« »Es wäre jedenfalls klug, Nat«, erwiderte sie und fügte nachdenklich hinzu: »Sie können ruhig ›Oma‹ zu mir sagen, wenn Sie wollen. Alle Conways nennen mich so.« Bony strahlte. »Dafür muß ich Ihnen ein Ständchen bringen, Oma.« Schon hatte er das Gummiblatt zwischen den Fingern und an den Lippen. Das Abendessen war vergessen, als die alten Melodien aus Irland ertönten. 71
Jede Hausfrau will das Essen servieren, sobald es fertig ist, und als Bony eine kleine Pause einlegte, rief Matty Conway ihre Leute zu Tisch. Oma Conways Augen glänzten, als man sie zu ihrem Platz rollte, und Mike lächelte, was selten genug vorkam. Steve Conway erschien erst später. Er entschuldigte sich bei Matty, nickte der Oma und Mike zu und, als er saß, hatte er auch ein freundliches Nicken für Bony übrig. Als Bony nach dem Essen gehen wollte, lud Mike ihn ein, sich zu ihm und der alten Dame an den Kamin zu setzen. »Wie gefällt es Ihnen bei uns, Nat?« fragte er. »Nicht übel«, erwiderte Bony. »Und wie mache ich mich?« »Recht gut«, meinte Conway und starrte in die Flammen. »Hätten Sie Lust, noch zu bleiben – für ein Jahr, oder auch für immer?« »Das würde mir gar nicht schwerfallen, Mike, Sie waren alle recht nett zu mir. Sie wollen, daß ich weiter für Sie arbeite?« »Ja. Sehen Sie, hier in Cork Valley haben wir nicht allzuviel Männer. Arbeitskräfte sind bei uns immer knapp. Das liegt daran, daß die Conways und die Kellys unter sich bleiben wollen. Das Tal hat immer schon uns gehört. Wir mögen hier keine Fremden.« »Trotzdem haben Sie mich sofort eingestellt, nachdem Sie mich von der Straße aufgelesen hatten?« Mike lachte. »Die Erklärung dafür ist einfach, Nat. Ich wollte meine Kartoffeln aus der Erde haben. Sie saßen in der Patsche, und wir Iren haben ein weiches Herz für die Unterdrückten und Verfolgten. Stimmt’s, Oma?« »Ja, so ist es«, erwiderte die alte Dame. »Sie sind uns willkommen, Nat. Sie können hier als Conway unter Conways leben. Sie haben doch kein Zuhause, wie?« »Aber eine Frau haben Sie doch?« »Sie lief mir mit einem anderen Mann davon, als ich im Gefängnis saß.« 72
»Außer der Kartoffelbuddelei gibt es auch noch andere Arbeit«, warf Mike Conway ein. »Da wären zum Beispiel Pferde zuzureiten, wenn Sie mal was anderes machen wollen.« Bony gab vor, sich die Sache zu überlegen. Er fühlte sich absolut nicht wohl in seiner Haut. Die offene Herzlichkeit, die man ihm entgegenbrachte, setzte ihn in Verlegenheit. Schließlich schob er seine Skrupel beiseite. Ich bin Inspektor Bonaparte, rief er sich zur Ordnung, und nicht der Pferdedieb Nat Bonnay. »Ich würde ganz gern ein Conway sein«, meinte er.
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wei Tage nach dieser Unterhaltung kamen die ersten Winternebel. Am frühen Nachmittag verlor die Sonne ihre Kraft, und über dem östlich vom Wasserfall gelegenen Kamm tauchte ein Wattebausch auf. Immer dichter wurde seine weiße Masse und tastete sich schließlich mit vielen Armen den Berg herab. Da Bony keine Uhr bei sich hatte, konnte er die Zeit nur an der Anzahl der gefüllten Kartoffelsäcke schätzen. Als er sein Tagespensum erreicht hatte, machte er sich auf den Heimweg. Der Nebel war kein Hindernis für ihn. Er ging den Weg am Fluß entlang. Der Zaun am anderen Ufer war kaum zu erkennen. Als die verschwommenen Umrisse der Brücke aus dem Dunst auftauchten – er befand sich noch drei Meter davon entfernt –, entdeckte er die Gestalt am anderen Ende. Wie jeder Eingeborene, blieb er sofort bewegungslos stehen, so daß er wie ein Baumstumpf wirkte. Die Gestalt kam näher, bog vom Weg ab und ging zum Fluß hinab. Jetzt sah Bony, daß es 73
eine Frau in einem Kapuzenmantel war. Ohne sich zu setzen, zog sie die Schuhe aus und durchquerte langsam den Fluß, wobei sie sich an der Seitenplanke der Brücke festhielt, um nicht auszurutschen. Zunächst glaubte Bony, sie wolle den Schraubenzieher suchen, aber sie ging bis ans diesseitige Ufer weiter und zog sich die Schuhe wieder an. Dann kam sie die Böschung herauf und blieb abrupt stehen, als sie Bony sah. Es war Rosalie Conway. »Oh, Sie sind es, Nat!« sagte sie. »Sie kommen heute früh.« »Ja?« »Leise, bitte. Ich dachte, ich würde Sie noch draußen auf dem Feld treffen. Ich muß mit Ihnen sprechen, Nat. Dringend.« Er überlegte blitzschnell, ob es sich um ein abgekartetes Spiel handeln könne, aber ihr Blick und ihre Stimme verrieten soviel Ängstlichkeit, daß er diesen Gedanken verwarf. »Sind Sie gekommen, um … um heimlich mit mir zu sprechen?« fragte er verwundert. »Ja. Ich möchte Sie um eine Gefälligkeit bitten. Aber nicht hier. Es könnte jemand entlangkommen und uns sehen.« Sollte dies doch eine Falle sein? Bony blickte tief in die dunklen Augen des Mädchens, dann forschte er im Nebel nach einem versteckten Feind. »Warum sind Sie durch den Fluß gegangen, statt über die Brükke?« Als sei sie ungeduldig über diese Frage, tat Rosalie zwei Dinge gleichzeitig: Sie zog Bony von der Brücke weg und beantwortete seine Frage. »Weil die Brücke mit einem Klingelkontakt versehen ist.« Bony ließ sich in ein niedriges Gebüsch ziehen, von wo aus man den Weg trotz des Nebels beobachten konnte. Sie setzten sich: Schweigend dachte er über die soeben erfahrene Neuigkeit nach. »Dann sind wohl alle Brücken mit einem Klingelkontakt versehen?« fragte er schließlich. »Man ist also genau unterrichtet, wenn sich jemand dem Dorfe nähert?« 74
»Ja.« Das Mädchen nagte unmutig an der Unterlippe. »Vielleicht war es falsch, Sie einzuweihen, aber …« »Aber …?« bohrte Bony. »Es ist möglich, daß ich mich in Ihnen täusche«, fuhr sie fort, »aber ich habe Sie vom ersten Tag an beobachtet und den Eindruck gewonnen, daß Sie ein guter und warmherziger Mensch sind. Darum möchte ich Sie bitten, etwas für mich zu tun, was ich nicht selbst tun kann.« »Ich bin jetzt ein Conway. Solange es sich nicht gegen die Familie richtet …« »Nein, eigentlich nicht.« Sie zögerte einige Sekunden. »Ich möchte lediglich, daß Sie einen Brief für mich aufgeben.« »Warum geben Sie ihn nicht selbst auf?« »Das kann ich hier nicht. So verstehen Sie doch …« »Ich fürchte, ich verstehe kein Wort. Warum sagen Sie mir nicht offen, was los ist?« »Der Brief ist an einen Freund von mir. Ich … ich möchte nicht, daß Matty ihn sieht.« »Und wie könnte ich ihn aufgeben? Und wo?« »Sie sollen ihn einem Mädchen übergeben. Sie wird ihn in Kiama zur Post bringen.« Sie blickte ihm fest in die verschleierten Augen, während er noch immer eine Falle zu entdecken suchte. »Der Tag geht zu Ende«, erinnerte er sie. »Es wird bald dunkel.« »Ja, ich weiß. All right, Nat, ich will Ihnen vertrauen. Es handelt sich um einen völlig harmlosen Brief an einen Freund. Sie werden sich morgen mit den Packpferden auf den Weg machen. Am Ziel treffen Sie einen Mann mit einem Lastwagen – und dessen Tochter Bessie. Sie sollen weiter nichts tun, als Bessie den Brief geben. Sie ist meine Freundin und hat schon früher Briefe für mich besorgt. Aber die anderen dürfen nichts davon merken, versprechen Sie mir das?« »Ein Liebesbrief?« fragte er. 75
Rosalie nickte mit glänzenden Augen. »Der Mann mit dem Lastwagen …«, erkundigte sich Bony. »Wer ist es? Beschreiben Sie ihn mir.« »Er heißt O’Grady. Ein hochgewachsener schlanker Mann. Bessie ist ebenfalls groß und hat helles Haar und braune Augen. Sie ist ein Jahr jünger als ich. Sie brauchen ihr nur den Brief zu geben, ohne daß es die anderen merken …« »Ja, das sagten Sie bereits. Und wo ist er?« Er unterdrückte die Frage, was es mit diesen Packpferden auf sich habe, und versuchte noch nähere Einzelheiten über den Brief zu erfahren. »Ich weiß, Ihre Mutter ist hier Postmeisterin«, begann er. »Aber Sie sind doch alt genug, jedem zu schreiben, dem Sie schreiben wollen. Ich verstehe diese Geheimniskrämerei nicht ganz.« »Weil … nun«, Rosalie zögerte. »Matty Conway ist nicht meine Mutter, sie ist meine Tante. Ich bin eine Ryan, keine Conway. Außerdem soll ich jemanden heiraten, den sie für mich ausgesucht haben – und ich mag keinen Mann, den ich nicht liebe. Sie erfüllen mir meinen Wunsch, ja?« Er nahm den Brief und steckte ihn in die Innentasche. Er war sich immer noch nicht ganz im klaren, ob er richtig handelte, obwohl er jetzt überzeugt war, daß das Mädchen die Wahrheit sagte. Es wurde immer dunkler, sie mußten rasch ins Dorf zurück, aber er brauchte noch mehr Informationen. »Oh, Nat, vielen Dank!« sagte das Mädchen, und in ihren Augen spiegelte sich deutlich die Erleichterung wider. »Aber jetzt müssen wir uns beeilen.« Sie betraten gemeinsam die Brücke. Rosalie packte Bony am Arm und erklärte ihm, daß sie im Gleichschritt hinübergehen müßten, damit die Alarmklingel nur einmal anschlüge. »Die wissen jetzt, daß Sie von der Arbeit zurückkehren. Lassen Sie mich bitte vorausgehen. Bummeln Sie ein wenig, damit wir nicht zur gleichen Zeit eintreffen. Nochmals vielen Dank, Nat. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie sehr ich Ihnen verbunden bin.« 76
Als ihre Gestalt im Nebel verschwand, fiel ihm ein, daß er sie noch wegen der Packpferde hatte ausfragen wollen. Pferde! Handelte es sich um die fremden Tiere in Kellys Koppel? Hatte man sie für eine Bergtour beschlagen? Und die Brücken waren also mit Alarmvorrichtungen versehen! Auf diese Weise konnte niemand, auch kein Auto, unbemerkt ins Dorf gelangen. Das war interessant. Sobald man eine Brücke überquerte, zeigte dies der Klapperkasten in der Conwayschen Wohnküche an. Wirklich eine interessante Neuigkeit für Inspektor Bonaparte. Beim Abendessen erfuhr er gesprächsweise, daß seine Verspätung bemerkt worden war. Er entschuldigte sich damit, daß er sich wegen des Nebels in der Zeit geirrt habe. Nach dem Essen nahm Mike ihn mit in einen büroähnlichen Raum. »Möchten Sie nicht einmal ein paar Tage etwas anderes machen, Nat?« begann er. »Tja, warum nicht? Um was für eine Arbeit handelt es sich denn?« »Da wäre etwas nach Kiama zu liefern. Allerdings hinten herüber. Der Weg ist schlecht. Es müssen Packpferde genommen werden.« Er machte eine Pause und wartete auf Antwort. »Klingt nicht schlecht«, meinte Bony. »Mit Pferden kann ich ja umgehen. Wie Sie wissen, habe ich da meine Erfahrungen.« Mike lächelte, was bei ihm selten vorkam. »Die Leute mit den Pferden sind recht erfahren, Nat. Ihre Erfahrungen hingegen sind ja anderer Art, wie man sie hier normalerweise nicht sammeln kann. Ich bin davon überzeugt, daß Sie die Interessen der Conways wahrnehmen werden.« »Das will ich meinen, Mike.« »Hm, ich habe mich nicht in Ihnen getäuscht. Vielleicht muß ich Ihnen noch einige Punkte erklären, Nat. Wir verdienen mehr, wenn wir hintenherum verkaufen. Man soll ja bekanntlich aus seiner Arbeit herausholen, was herauszuholen ist. Das bedeutet, 77
daß man ab und zu auch mal ein Auge zudrücken muß. Verstehen Sie?« »So langsam.« »Natürlich sind auch ein paar Risiken damit verbunden, aber dank gewisser Vorsichtsmaßnahmen sind sie so niedrig wie möglich gehalten. Vom Profit fällt für jeden etwas ab. Der Job ist zwar anstrengend, aber die Bezahlung ausgezeichnet.« »Die Bezahlung ist nicht das Wichtigste«, wehrte Bony ab. »Sie haben Vertrauen zu mir, und ich habe Vertrauen zu Ihnen. Ihr Conways habt euch mir gegenüber unerhört anständig benommen. Ihr habt mir Schutz und Unterkunft gewährt. Wir könnten vielleicht noch besser miteinander auskommen, wenn ich einmal eine offene Frage stellen dürfte, ohne daß Sie gleich beleidigt wären.« »Fragen Sie, Nat.« »Geht es hier um illegalen Handel?« »Well, in gewisser Hinsicht schon.« »Dann ist es vielleicht besser, wenn ich gar nicht weiß, um was für Waren es sich handelt. Ich kümmere mich lediglich darum, daß die Sachen ans Ziel kommen, Mike.« »Gut!« rief Conway. »Wie ich schon sagte, die Bezahlung …« »Und wie ich bereits sagte, ist die Bezahlung nicht das Wichtigste. Ich werde es euch nie vergessen, daß ihr mich als einen Conway aufgenommen habt. Mir gefällt es bei euch. Sie haben sich mir gegenüber anständig benommen, Mike. Es ist gut, wenn ich mich revanchieren kann.« »Gut, Nat. Morgen früh um vier gibt es Frühstück. Pferde und Begleitpersonal machen sich kurz vor Tagesanbruch auf den Weg.« »In Ordnung!« »Übrigens – ich werde die eingesackten Kartoffeln hereinholen lassen, dann rechnen wir ab. Ich hörte von Joe Flanagan, daß er sich mit Ihnen über die Arbeitsbedingungen bei uns unterhalten hat. Urlaub und so weiter. Man verdient gut bei uns, Nat. 78
Außerdem verlangen wir von niemandem, daß er hier in Cork Valley arbeitet und lebt, ohne nicht einmal im Jahr eine Bierreise zu machen. Okay?« »Okay, Mike. Well, wenn ich morgen früh um vier aufstehen muß, gehe ich jetzt am besten in die Falle.« Rosalie Ryans Andeutung mit den Packpferden hatte sich also bewahrheitet. Nachdem Bony drei Wochen lang ausschließlich Kartoffeln gebuddelt hatte, freute er sich geradezu auf die Abwechslung. Da waren die Berge und die Pferde – und illegale Ware. Also Schmuggel! Na wenn schon! Er war lediglich abkommandiert, um einen Mord aufzuklären. Über Schmuggel hatte man ihm keine Anweisungen gegeben. Natürlich, die Ermordung des Finanzbeamten Torby konnte durchaus mit Schmuggel in Zusammenhang stehen. Schließlich hatte der Mann ja im Auftrag der Zollfahndung nach Schwarzbrennereien Ausschau halten sollen. Schmuggel – das klang romantisch. Das war Schleichhandel über verschwiegene steile Bergpfade. Aber den größten Profit an solchen Aktionen hatten doch immer nur die feinen Herren, die selber niemals die gefährlichen Strapazen des Transports auf sich nahmen. Bony tappte am Schuppen entlang nach seinem Kellerappartement. Der Nebel war günstig. Der Nebel war stets und zu allen Zeiten der beste Gehilfe der Schmuggler. An diesem Abend war er so dicht, daß Bony nicht einmal das Nachbarhaus erkennen konnte. In seinem Verlies war es angenehm warm, und nachdem er die Lampe angezündet hatte, setzte er sich an den Tisch und rauchte. Ein zufriedenes Lächeln umspielte seine Lippen. Sein Wecker zeigte fünf Minuten vor neun. Morgen früh würde er um vier geweckt werden. Das Bett sah sehr einladend aus, und er nahm diese Einladung an. Während des Ausziehens erinnerte er sich an Rosalies Brief. Rosalie! Ein hübscher Name, ebenso hübsch wie die Trägerin. Ihm fiel ein, daß er die Tasche, in die 79
er den Brief stecken wollte, mit einer Sicherheitsnadel verschließen mußte. Er betrachtete den Umschlag. Die Adresse war in einer sauberen, ordentlichen Handschrift geschrieben: Mr. Eric Hillier, 10 Evian Street, Rose Bay, Sydney. Seltsam! Mr. Eric Torby hatte ebenfalls dort gewohnt: 10 Evian Street, Rose Bay.
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V
ier Uhr, Nat. Das Frühstück ist fertig!« rief Mike durch die Falltür. Zehn Minuten später erschien Bony in der Wohnküche, und Mike servierte ihm Schinken, Eier, Toast und Kaffee. Im Kamin knisterten dicke Scheite. Der Tisch war nahe beim wärmenden Feuer gedeckt. »Ich will Ihnen Ihren Auftrag erklären«, sagte Mike. Er setzte sich ebenfalls an den Tisch und trank einen Schluck Kaffee. »Drüben auf dem Stuhl liegt eine Zeltbahn. Sie werden darin eine Rolle Decken, einen Militärmantel und Gamaschen finden – es wird kalt werden. Außer Ihnen werden noch drei Mann mit von der Partie sein. Den einen werden Sie bei Tag nicht sehen, so hoffe ich wenigstens. Es ist Brian Kelly, der als Späher vorausgeht. Er hinterläßt gewisse Zeichen, denen ihr folgen werdet. Brian sorgt dafür, daß ihr laufend Bescheid wißt – entweder Grünlicht oder Rotlicht, je nachdem. Ihre beiden Begleiter werden Ihnen zeigen, wie man diese Zeichen liest. Sie sollen in Zukunft auch allein in 80
der Lage sein, sie zu lesen, und Sie sollen sich auch den Weg gut merken.« »Alles klar?« »Völlig klar, Mike.« »Der Marsch dauert zwei Tage, dann werdet ihr auf einen Mann mit einem Lkw stoßen. Er heißt Timothy O’Grady. Er ist groß, hat eine lange Nase und kleine braune Augen. Er übernimmt die Ware und muß dafür einen Lieferschein quittieren – der steckt übrigens hier in diesem Umschlag. Sie dürfen unter keinen Umständen vergessen, sich die Quittung geben zu lassen. Außerdem erhalten Sie von ihm eine Rückladung, für die Sie nun Ihrerseits quittieren müssen.« »Verstehe«, sagte Bony. »Und meine beiden Begleiter – sind sie vertrauenswürdig?« »Der eine ist ein Kelly, der andere Steve Conway«, erklärte er. »Beide sind zwar imstande, Brians Zeichen zu deuten, aber sie können weder lesen noch schreiben. Zwei gute Kerle, auf die man sich verlassen kann. Sie kennen sich aus mit den Pferden und mit den Bergen.« »Darf ich eine Frage stellen?« Mike nickte, zog aber die Brauen hoch. »Sind sie bewaffnet?« »Nur mit ihren Zungen«, erwiderte Mike. »Aber die sind verdammt spitz. Keine Angst, Nat. Es ist gründlich Vorsorge getroffen. Ich möchte Ihnen nur soviel sagen: Vor reichlich hundert Jahren begann mein Urgroßvater mit diesem Handel, und es hat nie eine Störung gegeben. Der wichtigste Mann bei diesem Unternehmen ist der Späher. Und Sie sind der geborene Späher, Nat. Diesmal gehen Sie mit den Packtieren, das nächstemal mit dem Späher, und in Zukunft dann allein als Späher. Sie werden alles verstanden haben, wenn Sie wiederkommen.« »All right, Mike. Darf ich noch eine Frage stellen?« »Bitte.« 81
»Sie sagten, daß Brian Kelly diesmal als Späher vorangeht. Warum wird er das in Zukunft nicht mehr machen? Oder soll ich das nicht wissen?« »Warum nicht?« meinte Mike. »Die einen sind geboren, um in den Bergen als Späher und Führer zu fungieren, die anderen, um Kartoffeln auszumachen. Brian übernahm die Späherdienste, Jahre bevor er aufs Internat kam – übrigens war er dort sehr tüchtig. Sein Vater will, daß er Verwandte in Irland besucht. Er schickt ihn für ein Jahr hinüber.« »Aber er möchte nicht gehen?« »Er ist nicht besonders scharf darauf, Nat.« Mike kräuselte die Lippen. »Aber wir begrüßen diese Regelung ebenfalls. Er macht uns ein wenig Kummer wegen Rosalie. Die Reise wird ihm neue Eindrücke und Interessen vermitteln. Sein Schiff geht im Juli.« »Oh!« Bony erhob sich. »Ich wollte nicht in Ihre Familienangelegenheiten eindringen. Das geht mich nichts an.« »Das geht alle Conways an. Vergessen Sie nicht, daß Sie jetzt ein Conway sind. Also – hier ist der Lieferschein. Und nochmals: Es ist äußerst wichtig, daß O’Grady unterschreibt.« »Ich werde daran denken, Mike.« Im Militärmantel, die Deckenrolle über der Schulter, folgte Bony Mike Conway die Straße entlang und an der Meierei vorbei. Es war kalt und finster, aber der Nebel war nicht mehr ganz so dicht wie am Vorabend. Conway hatte eine starke Taschenlampe, deren Strahl er auf den Boden richtete. Sie passierten die Schweinemästerei und gingen über eine niedrige Brücke ans jenseitige Ufer des Flusses. Bony hätte gern gewußt, ob diese Brücke ebenfalls mit einer Alarmvorrichtung versehen war. Das Rauschen des Wasserfalls klang immer näher. Bony vermutete schon, er wäre der Treffpunkt, als Conway in einen schmalen Pfad einbog, der durch dichtes Buschwerk führte. Nach ungefähr vierhundert Metern gelangten sie zu einer Hütte. Jemand trat mit einer Taschenlampe hervor. Hier warteten die Pferde und die Männer. 82
»Alles bereit, Mike!« rief der Mann mit der Taschenlampe. »Morgen, Nat. Geben Sie Ihre Deckenrolle her, wir schnallen sie einem Pferd auf.« »Ist Brian schon weg?« fragte Mike. »Vor zwanzig Minuten ist er gegangen.« Der Mann war Steve Conway, den Bony von den gemeinsamen Mahlzeiten her kannte. Bonys Deckenrolle wurde einem Pferd aufgeschnallt, dessen Umrisse im Nebel nur schwach erkennbar waren. Ein zweiter Mann erschien, den Bony nicht kannte. »Brian hat Paddy und Tottie genommen«, sagte er. »Streaky sei nicht ganz auf der Höhe, meint er. Du möchtest sie gelegentlich mitnehmen, Mike. Sie ist da drüben angebunden.« »All right. Ihr macht euch jetzt auf den Weg. Viel Glück, Leute.« Die Kavalkade setzte sich in Bewegung. Jedes Tier war am Sattel des vorhergehenden festgebunden. Der Unbekannte führte den Zug an, Steve und Bony folgten. Es war windstill, aber die Luft scharf. In der dichten Finsternis konnten sie kaum die Hufe des vor ihnen gehenden Pferdes erkennen. Einmal wieherte eines der Tiere, sonst war nichts zu vernehmen als das dumpfe Klopfen ihrer Hufe auf der weichen Erde. Den Reitern wurde ein wenig geisterhaft zumute. Steve verharrte in tiefem Schweigen, und Bony fand Zeit, über die letzten Wochen nachzudenken. Mike Conway hatte also guten Grund gehabt, auf der Straße anzuhalten und ihn mitzunehmen – hier wurde ein Gehilfe für diese heimlichen Aktionen gebraucht. Mike und seine Großmutter hatten ihn sorgfältig geprüft. Er schien das völlige Vertrauen dieser Leute errungen zu haben. Natürlich würde man ihn auch weiterhin scharf unter die Lupe nehmen. Sehr viel würde davon abhängen, was Steve Conway bei der Rückkehr über ihn berichtete. Mikes Behauptung, weder Steve noch der andere könnten lesen und schreiben, war 83
höchst unglaubwürdig, wenn man bedachte, daß sämtliche anderen Conways und Kellys sogar ein College besucht hatten. Wenn er – Bony – jedoch den Warenbegleitschein quittierte für jene Fracht, die sie zurückbringen sollten, dann hatte man ihn praktisch in der Hand. Schließlich konnte doch wohl niemand behaupten, daß Brian Kelly nicht imstande war, seinen Namen zu schreiben, und Brian war schließlich auch mit von der Partie. Obwohl er davon überzeugt war, daß Rosalie nichts anderes im Sinn hatte, als sich mit ihrem Geliebten in Verbindung zu setzen, konnte dieser Brief auch die Probe sein, wie groß seine Loyalität den Conways gegenüber war. Und wenn er in irgendeine Falle tappte, würde man auch seine Leiche finden können – weitab von Chefinspektor Casements ›Kaninchenbau‹. Der Brief war an Hillier adressiert. Eric Hillier, 10 Evian Street, Rose Bay. In derselben Straße, im selben Haus, hatte Eric Torby gewohnt. Der Name Hillier war nie von Chefinspektor Casement erwähnt worden und auch in keinem Bericht erschienen. Man durfte auch nicht vergessen, daß die Identität des auf der Straße gefundenen Toten der Öffentlichkeit unbekannt war. Nur die Polizei wußte Bescheid – und der oder die Mörder. Es war anzunehmen, daß sich Torby hier als Hillier ausgegeben hatte. Weiter konnte man schließen, daß Rosalie nichts von seinem Tod wußte. Wie stand es aber in dieser Hinsicht mit den Conways und den Kellys? Bony fühlte sich unbehaglich bei dem Gedanken, daß er Rosalies Brief unbedingt lesen mußte, ehe er sich entscheiden konnte, was damit zu geschehen hatte. Er wußte, was passierte, wenn er ihn weiterleitete. Eric Torbys Hauswirtin würde ihn der Polizei übergeben, und diese würde ohne Schwierigkeiten herausfinden, daß die Schreiberin in Cork Valley lebte. Man würde augenblicklich mit den Nachforschungen beginnen, bevor er – Inspektor Bonaparte – seine eigenen Recherchen abgeschlossen hatte. Der Brief war also in jeder Hinsicht Dynamit. 84
Ein Liebesbrief! Liebe braucht Zeit, um zu wachsen. Wenn Hillier mit Eric Torby identisch war, dann konnte man annehmen, daß er eine Zeitlang in Cork Valley gelebt hatte. Er grübelte noch über diese Möglichkeit nach, als im Nebel die Umrisse eines weiträumigen Hauses auftauchten. Der Größe nach mußte es das Haus der Kellys sein. Es war unbeleuchtet, nur in einem dicht danebenliegenden Stallgebäude brannte Licht. Es war jetzt halb sechs, und vermutlich wurde dort gemolken. Eine halbe Stunde später hielten die Pferde an. Der Mann, der die Kavalkade angeführt hatte, kam nach hinten und bat Bony, mit die Spitze zu übernehmen, weil der Weg jetzt schwieriger würde. Er stellte sich als Jack vor. Bony konnte lediglich erkennen, daß Jack ziemlich dick war. Der schmale Pfad führte jetzt steil aufwärts durch dichtes Gebüsch, schlängelte sich über steinige Hänge wieder hinab in enge Schluchten und über gurgelnde Gebirgsbäche hinweg. Der Nebel und die Dunkelheit zwangen Jack häufig, seine abgeblendete Taschenlampe auf den Weg zu richten. Er tat dies jedoch nur, wenn es unerläßlich war. An dem von links nach rechts abfallenden Hang merkte Bony, daß sie den südwestlichen Bogen des Talkessels erstiegen. Er hielt sich so dicht an der Innenseite, daß er oft die nackten Felsen körperlich spürte, wenn er sich durch die Büsche tastete. Er wußte, daß sich auf Jacks Seite der steil abfallende Hang befand. Kein angenehmer Gedanke für jemand, der vom flachen Lande stammte. Allmählich schwand die tiefe Dunkelheit, und schließlich konnte Bony einiges durch den Nebel erkennen – das runde Gesicht seines Begleiters und die schwarzen Umrisse der Büsche. »Na, wie geht’s?« fragte Jack. »Nun, meine Augen habe ich noch, und auch die Nase ist noch dran«, erwiderte Bony. 85
»Der Abstieg ist immer schlimmer als der Aufstieg. Auf jeden Fall halten wir genau unseren Zeitplan ein. Laß dich nur vom nächsten Stück nicht bange machen.« Wenige Minuten später gelangten sie zu einer ungeheuren Felswand, die sich hoch über ihnen im Dunst verlor. Der Nebel war ein Segen, denn der schmale Pfad führte am Fuße dieser Felswand entlang – auf der einen Seite die nackte Wand, auf der anderen der steile Abhang in eine unendliche Tiefe. Hier gab es weder Baum noch Busch, nur Geröll, das unter ihren Schritten nachgab. Immer wieder strauchelten die Pferde und hatten Mühe, sich an der Felswand zu halten. Plötzlich sah Bony mitten auf dem Weg einen Ast liegen, von dem die Rinde abgeschält war. Jack hob ihn auf. »Brian ist vor uns«, erklärte er. »Wie würde dir eigentlich ein solcher Marsch nach einer durchzechten Nacht gefallen?« »Na, ich wäre bestimmt stocknüchtern, bis ich zu Hause anlangte«, versicherte Bony und schob sich mit dem Rücken an der Wand entlang wie ein Krebs, der seine Höhle zu erreichen suchte. »Hier geht es tief hinunter. Ein Stein braucht zehn Sekunden, bis er unten aufschlägt.« – »Mir gefällt der Nebel, Jack.« »Mir auch. Der Nebel ist der Freund des armen Mannes.« Er wandte sich zum Leittier. »Paß auf, du altes Biest, hier ist doch keine Rollschuhbahn. – Ja, wie ich schon sagte – der Nebel ist der Freund des armen Mannes. Das ist die einzige Zeit im Jahr, wo er sich wirklich frei fühlen kann.« Es ging jetzt um eine scharfe Biegung und Bony hoffte inständig, nicht schwindlig zu werden. Er hatte das Gefühl, daß sich neben ihm viele tausend Meilen tiefer Abgrund auftat. Mit Freuden hätte er jetzt Kartoffeln ausgemacht, und er fragte sich, ob die Kookaburras ihn wohl vermißten. Von da unten hatten die Berge immer recht schön ausgesehen. Wenn er nicht gerade ausrutschte oder sonst irgendwie verunglückte, würden ihn die Vögel heute nicht zu Gesicht bekommen. 86
Gesegnet sei dieser Nebel, der die Abgründe gnädig verhüllte. Sie tasteten sich weiter an der Felswand entlang, bis Jack in eine Art Dom einbog, in dem der ›Hund von Baskerville‹ zu spuken schien. Es war ein Spürhund. Mit gefletschten Zähnen kam er auf sie zu und schnupperte an Bonys Beinen. Als Bony ihn tätschelte, wedelte er mit dem Schwanz. Jack nahm ihm das grüne Band ab, und das Tier drehte sich um und lief zum gegenüberliegenden Ausgang der Schlucht. Gleich darauf war es verschwunden.
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ie Männer kontrollierten rasch den Sitz und die Gurte der Packsättel, dann ging der Marsch weiter. »Brian schickte uns den Hund«, erklärte Jack. »Das grüne Band bedeutet, daß niemand in der Gegend ist.« Grinsend fügte er hinzu: »Niemand außer uns echten Iren. Red Kelly hat uns erzählt, wie du uns einschätzt.« »Es gibt auch eine Menge Iren, die nicht ganz echt sind«, entgegnete Bony. »Diese Halunken in der Verwaltung …« »Gesindel!« brummte Jack. »Und bei der Polizei ebenfalls – und beim Zoll. Zum Teufel mit ihnen! Diese Kerle denken nur an zwei Dinge.« Die Hufe der Pferde klapperten jetzt auf nacktem Felsen. Die Mauern des ›Domes‹ weiteten sich, und sie kletterten eine steile Schlucht hinauf. »Und was sind das für ›zwei Dinge‹?« erkundigte sich Bony. 87
»Nun, zunächst einmal ihre Manie, den Leuten Steuern abzunehmen, besonders den ärmeren. Was man anzieht, es ist besteuert. Was man ißt oder trinkt, es ist besteuert. Überall Steuern! Und sie füllen sich die eigenen Taschen. Kaum tritt das Parlament zur ersten Sitzung zusammen, werden erst einmal die Diäten erhöht. Und obendrein haben sie noch überall freien Eintritt und Freikarten ebenfalls.« »Damit hast du nicht einmal unrecht«, stimmte Inspektor Bonaparte von ganzem Herzen zu. »Aber die Polizei kann sich nicht einfach die Gehälter erhöhen.« »Ach die!« In Jacks Stimme schwang ehrliche Verachtung. Sie befanden sich jetzt am Rande der Hochebene, die Cork Valley umgab. Der Nebel teilte sich, und die Strahlen der aufgehenden Sonne umfingen sie. Auf der Seite stand ein kleines Wäldchen. Jack führte eilig die schweratmenden Tiere hinein, damit sie sich dort etwas ausruhen konnten. »Jetzt haben wir gleich ein Stück offenes Gelände zu überqueren«, sagte er. »Wir müssen aufpassen, falls zufällig ein Flugzeug kommt.« Bony begleitete ihn zum Rande des Wäldchens, aber er interessierte sich nicht für Flugzeuge. Er stand auf einem Plateau aus grauem Fels, das mit Büschen und Bäumen bestanden war. Fast in gleicher Höhe mit diesem Plateau befand sich die obere Grenze des Nebelmeeres. So weit das Auge blicken konnte, dehnte sich diese weiße, brodelnde Masse, nur unterbrochen von den blauschwarzen Gipfeln, die wie Inseln daraus hervorragten. Nach der überstandenen Dunkelheit und dem Nebel erschien Bony die Sonne warm und wohltuend. Tief sog er die Luft in die Lungen, und es wäre ihm wie eine rohe Beleidigung der Natur vorgekommen, wenn er sich jetzt eine Zigarette angezündet hätte. Er blickte sich um und versuchte, die Lage von Cork Valley auszumachen: das Dorf, die Koppeln, die Serpentinen hinauf zum weißen Haus am Paß, in dem Conways Mutter und sein Bruder wohnten … Plötzlich entdeckte er das Haus. Das Dach 88
und die weißen Mauern ragten gerade noch aus dem Nebel heraus. Die Entfernung betrug fünf Meilen, und mit seinem Fernglas konnte der gelähmte Conway sie beobachten. Das Haus lag im Norden, die Sonne stand im Südosten. Viermal blitzte es drüben auf. Jack und Steve sahen das Signal, gaben jedoch keine Erklärung über dessen Bedeutung. Bony fragte auch nicht. Eine halbe Meile weiter nach Süden ragte ein Gipfel aus dem Nebelmeer. Von dort stieg eine dünne schwarze Rauchfahne empor. »Also – weiter geht’s, Freunde«, sagte Jack. Er nahm die Leine des Leittieres. Bony gesellte sich zu ihm, und die Pferde trotteten hinter ihnen her. Auf der anderen Seite des Plateaus ging es erneut hinab in den Nebel. Eisig schlugen die feuchten Schwaden über ihnen zusammen, als sie sich durch niedrige Büsche vorarbeiteten, aus denen einzelne Bäume aufstiegen wie Riesen ohne Köpfe und Arme. Eine Stunde verging – zumindest kam es Bony wie eine endlos lange Stunde vor –, und Jack trieb die Pferde unermüdlich zur Eile an. Er schien ungeduldig zu werden, und auch Steve spornte die Tiere an. Für Bony wäre es bedeutend angenehmer gewesen, auf einem Pferd zu sitzen, statt über diese steinigen Pfade zu klettern. Er war das Bergsteigen nicht gewohnt, und die Muskeln an Schenkeln und Waden begannen ihm zu schmerzen. Allmählich lichtete sich der Nebel wieder, und die Sonne erschien als bläuliche Scheibe. Die wie gespenstische Riesen wirkenden Bäume nahmen natürliche Gestalt an, die Sonne erstrahlte in goldenem Glanz und überschüttete mit ihrem Licht Bäume, Büsche und Felsen und ließ die Landschaft in den herrlichsten Pastellfarben erschimmern. Irgendwo zur Linken rauschte ein Bach, und das hallende Gelächter der Kookaburras und die heiseren Schreie der Eichelhäher erfüllten die Luft. 89
Ihr Weg führte jetzt durch eine breite Schlucht, die tief unter den aus dem Nebel ragenden Gipfeln lag. Plötzlich tauchte wieder ein Hund vor ihnen auf. Das geschah jetzt zum drittenmal, und stets war es ein anderes Tier gewesen. Er hatte ein grünes Bändchen am Halsband – das bedeutete also freie Fahrt. Jack nahm ihm das Bändchen ab, der Hund wedelte mit dem Schwanz und trottete wieder davon, die Nase dicht über dem Boden. »Die Hunde sind eine enorme Hilfe für Brian«, erklärte Jack. »Sie haben eine ausgezeichnete Witterung – spüren jeden Fremden im Umkreis von einer Meile auf. Toll, was man mit den Viechern alles anfangen kann. Man kann ihnen sogar beibringen, nicht zu bellen, ganz gleich, was passiert.« »Jedenfalls sind sie besser auf den Beinen als ich«, gestand Bony, und der Dicke grinste. »Na, du gewöhnst dich noch dran, Nat. Alles nur Training. Aber wir machen schon bald eine Rast.« Eine halbe Stunde später gelangten sie durch eine Mauer aus Büschen in eine große, offene Höhle. Den Tieren wurden die Ladungen abgeschnallt, und Bony bemerkte jetzt, daß eines der Pferde zwei Säcke Häcksel und ein anderes die Deckenrollen und Taschen mit Verpflegung trug. Sie zündeten ein Feuer an und kochten Tee, während die Pferde schnaubend aus den umgehängten Futtersäcken fraßen. Die Männer aßen kaltes Pökelfleisch und Brot und tranken starken Tee. Steve und Jack genehmigten sich zwischendurch auch einen Schluck ›Wein‹. Zum Aufwärmen, wie sie Bony erklärten. Bony genoß die Ruhepause. Er lehnte sich erleichtert gegen einen Häckselsack und drehte sich eine Zigarette. Plötzlich stand wieder ein Hund vor ihm – ein Spürhund. An seinem Halsband befand sich ein zusammengefalteter Zettel, der mit einem roten Bändchen befestigt war. »Tottie – hierher!« rief Jack. 90
Bony blickte den Mann an, der sich schlagartig verändert hatte. Alle Fröhlichkeit war aus seinem Gesicht gewichen, als er hastig den Zettel an sich nahm. »Da steht etwas Geschriebenes drauf, Steve. Verdammt! Brian weiß doch, daß wir nicht lesen können.« »Er weiß aber, daß ich es kann«, warf Bony ein. Die beiden Männer starrten ihn an, der kleine Dicke mißtrauisch, Steve hoffnungsvoll. »Gib her! Du sagtest doch, daß Rot Gefahr bedeutet«, fuhr er gereizt fort, als Jack zögerte. »Auf dem Zettel steht, um welche Gefahr es sich handelt. Also gib schon her!« Bonys Stimme klang scharf und befehlend, und die beiden musterten überrascht den Mann, der noch immer gegen den Futtersack lehnte. Nach kurzem Zögern reichte ihm Jack den Zettel. »Zwei Männer folgen euch«, las Bony vor. »Überquerten soeben Floods Gap. Nehmt den Wasserweg. Beeilt euch!« »Herrschaften, los! Aufladen und fort!« rief Steve aufgeregt, und alle drei machten sich hastig ans Satteln der Pferde. »Wie weit zurück ist Floods Gap?« wollte Bony wissen. »Eine halbe Meile von hier«, erwiderte Jack. »Los, Beeilung! Wir müssen ein Stück den Bach hinauf sein, bevor sie hier sind – falls sie es wirklich auf uns abgesehen haben.« Bony schnallte die dicken Bündel auf den Sattel. »Beschreibt mir den Weg zum Bach. Ich werde zurückbleiben und die Kerle ablenken.« »Eine knappe Meile von hier«, erwiderte Jack. »Der Bach hat ein sandiges Bett. Wir folgen ihm eine Viertelmeile bis zu einer Gabelung und biegen in den rechten Arm ein. Erst hinter dieser Gabelung sind wir außer Sicht. Wir gehen etwa eine Meile geradeaus und verlassen den Bach über eine flache Felsplatte.« »Und dann?« »Du willst eine Menge wissen, Nat, wie?« meinte Jack. »Ihr habt euren Feldzug ja auch wirklich prächtig organisiert«, knurrte Bony, der durch das rasche Aufladen außer Atem geraten war. »Da wird munter durch die Gegend getrabt und 91
Hufspuren hinterlassen, denen ein Blinder mit dem Krückstock folgen kann.« »Schon gut, Nat. Aber schließlich bist du nicht der Boss.« »Zeit, daß er es wird«, mischte sich Steve ein. »Ich wußte ja gleich, daß dieser Weg viel zu riskant ist. Ich habe das auch Red und Brian gesagt, aber sie wollten ja nicht auf mich hören. Los, kommt jetzt!« Er griff nach der Leine des Leittiers, und die anderen folgten ihm durch die Büsche hinaus in das Sonnenlicht der breiten Schlucht. Bony blieb stehen und blickte zurück. Er sah keine Bewegung zwischen den Felsblöcken, den niedrigen Büschen und den Eisenholzbäumen. Verzweifelt betrachtete er die überdeutlichen Hufspuren, dann eilte er der Karawane nach. Er huschte von Baum zu Baum, bis die Männer mit den Pferden seinen Blicken entschwanden. Hinter einem Felsblock wartete er auf die Verfolger. Wenige Minuten später entdeckte er sie. Sie folgten den Hufspuren, die auszumachen sogar einem Stadtmenschen keine Schwierigkeiten bereiten konnte. Bony sah, daß sie große Rucksäcke trugen und wie Städter gekleidet waren, deren Hobby es ist, im Urlaub in den Bergen herumzuklettern. Bony erkannte sie sofort. Es waren die beiden, die Red Kelly auf seiner Koppel gestellt und zur Umkehr gezwungen hatte. Jetzt kamen sie die Schlucht herauf, den Blick fest auf die Hufspuren gerichtet. Bald hatten sie die Höhle erreicht, wo die Karawane gerastet hatte. Sie hielten an, und Bony erkannte, daß es sich um erfahrene Buschläufer handelte. Sie blieben keine halbe Minute stehen, dann stiegen sie weiter hinauf. Während sie sich in der Höhle umsahen, konnte Bony unbemerkt hinter dem Felsblock verschwinden und der Karawane nacheilen. Fieberhaft überlegte er, wie er die Verfolger aufhalten könnte. Die Schlucht wurde plötzlich eng und steil und öffnete sich dann in ein breiteres Quertal. Von hier aus konnte Bony die Pferde sehen, die sich spritzend das Bachbett hinaufarbeiteten. Es bestand kein Zweifel, daß die 92
beiden Fremden hier sein würden, bevor die Karawane im rechten Bacharm verschwunden war. Bony wußte jetzt eine Möglichkeit, die beiden aufzuhalten, falls ihm noch genügend Zeit dazu blieb. Zum Glück hatte er seinen schweren Militärmantel auf ein Pferd geschnallt, so daß er sich ungehindert bewegen konnte. Zunächst lief er einige Meter zurück und dann den rechten Abhang der Schlucht hinauf. Wie ein Straßenräuber zog er sich den Filzhut tief ins Gesicht und band sich ein Taschentuch über Nase und Mund. Nachdem er etwa dreißig Meter hinaufgeklettert war, erblickte er die beiden Männer wieder. Sie befanden sich noch im weiträumigen Innern der Schlucht. Schwer atmend kletterte er weiter hinauf, bis er auf eine schmale Felsterrasse gelangte, die mit Steinbrocken der verschiedensten Größe übersät war. Er stieß einen Schrei aus. Die Männer blickten auf, sahen ihn und blieben stehen. Der eine nahm einen Feldstecher an die Augen, worauf Bony ihm eine lange Nase machte. Die beiden beratschlagten jetzt, wodurch Bony kostbare zwei Minuten gewann. Schließlich gingen sie mit dem gleichmäßig langsamen Schritt des geübten Bergsteigers weiter. Als Bony einen Felsbrocken in die Tiefe donnern ließ, blieben sie erneut stehen. Der Brocken riß andere Steine mit sich, so daß ein Teil der verräterischen Hufspuren verschüttet wurde. Ein zweiter Stein kam besser gezielt auf die beiden herunter, und als ein dritter in noch gefährlicherer Nähe bei ihnen aufschlug, traten sie den Rückzug an.
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er Bach war ungefähr drei Meter breit und an kaum einer Stelle tiefer als dreißig Zentimeter. Sein kristallklares Wasser war eisigkalt, und der graue Sand auf dem Grund befand sich in unaufhörlicher Bewegung. An der Stelle, wo die Karawane den Bach erreicht hatte, war das schmale Tal mit wildem Gras bewachsen. An den Felshängen wuchsen Bäume, die jedem Wetter Trotz boten. Die beiden Männer spornten die Pferde zu höchster Eile an, obwohl sie dabei riskierten, daß die Ladung ins Rutschen kam. Das Wasser spritzte hochauf, und bald waren Pferde, Ladung und Männer durchnäßt, aber ungeachtet dessen trieb Steve die erschöpften Tiere immer wieder mit Stockschlägen vorwärts. Steve war wütend – nicht weil er naß wurde. Er wußte, daß er bei einer Debatte viel zu schnell nachgab. Er hatte sich gegen die Wahl der Route ausgesprochen, war aber nicht gegen die beiden Kellys damit durchgekommen. Die beiden hatten fest mit der Beständigkeit des Nebels gerechnet, während er der Ansicht gewesen war, daß man in dieser Jahreszeit nicht darauf bauen konnte. Nach ihrem Plan wären sie zu dem Zeitpunkt, an dem der Nebel dünner wurde, bei der Höhle angelangt, um hier den Anbruch der Dunkelheit abzuwarten. Den Weg hier herauf hielt man für absolut sicher – immer vorausgesetzt, daß dichter Nebel herrschte, da sich dann keine Touristen in den Bergen befanden. 94
Jetzt hatte sich die Notwendigkeit ergeben, über einen gefährlichen Umweg den Treffpunkt mit O’Grady zu erreichen. Steve hatte das Gefühl, Blei an den Füßen zu haben. Eine Stunde lang marschierten sie durch das offene sonnenüberflutete Tal. Immer wieder blickte Steve ängstlich nach rückwärts. Da Nat unsichtbar blieb, glaubte er schon an Verrat. Was geschah, wenn dieser Kerl ein Polizeispitzel war? Hier konnte sich eine Katastrophe ungeahnten Ausmaßes anbahnen. Er – Steve hätte sie verhindern können, wenn er sich den Kellys gegenüber durchgesetzt hätte. Die Kellys brüllten und schlugen sich durchs Leben, die Conways hingegen benützten ihren Verstand. Endlich erreichten sie die Gabelung, und Jack bog in den rechten Arm des Baches ein, der nun bedeutend schmaler und tiefer wurde, aber immer noch in einem sandigen Bett dahinlief. Die Hänge wurden wieder steil und schlossen sich in der Höhe dicht zusammen, so daß die Karawane vom Tal aus nicht mehr gesehen werden konnte. Steve kletterte auf einen Baum und blickte zurück. Seine Hoffnung stieg wieder, als er keinen Verfolger sah. Er signalisierte Jack, daß hinter ihnen alles in Ordnung sei, und der Dicke verlangsamte das Tempo ein wenig. Eine weitere halbe Stunde marschierten sie bachaufwärts, dann wurde das Bachbett felsig, und sie mußten auf ein steiniges Plateau hinüberklettern. Von hier aus führte ihr Weg in eine enge Schlucht, die nach Süden anstieg. Eine Stunde später ging es über Felsstufen steil aufwärts. Sie gelangten in ein Labyrinth aus gigantischen Felsblöcken. Hinter einem dieser Felsen trat Brian Kelly hervor. Er war wie ein Bergsteiger gekleidet, trug einen leichten Rucksack, hatte ein starkes Fernglas umhängen und am Gürtel eine Pistolentasche. 95
»Na, da wären wir ja endlich«, knurrte Jack, und Steve grinste mürrisch, ohne ein Wort zu sagen. »Am besten machen wir Rast.« Brian nickte. Er packte mit an, als die Pferde von ihren Lasten befreit und mit einer Leine zusammengebunden wurden. Dann tat er zum erstenmal den Mund auf. »Es hätte schlimmer kommen können. Vor allem, wenn Nat nicht gewesen wäre.« »Wieso?« Jack lehnte sich an einen Felsen und öffnete seine Tabaksdose. »Wir sind naß bis auf die Knochen. Das war kein Vergnügen, kann ich dir sagen. Meine Streichhölzer sind ganz durchweicht. Und die Papiere würden ebenfalls triefen, wenn wir sie nicht in eine Büchse gesteckt hätten.« Brian reichte ihm eine Streichholzschachtel. Die Hunde lagen zu seinen Füßen. Die Pferde ließen die Köpfe hängen. Langsam begann die Sonne im Westen zu versinken. »Nat muß ganz schön müde sein, wenn er uns immer noch nicht eingeholt hat«, meinte Steve. »Oder er hat was angestellt.« »Und ob der was angestellt hat!« Brian lachte. »Ich sah euch in das Long Valley einbiegen und den Bach heraufmarschieren. Dann wartete ich auf Nat, und wißt ihr, wo ich ihn entdeckte? Er kletterte seitlich die Schlucht hinauf. Der Kerl hatte sich ein weißes Tuch vors Gesicht gebunden, fuchtelte wie wild mit den Armen und wälzte Felsbrocken in die Tiefe.« »Er hat die Kerle mit Steinen bewerten?« Steve lachte humorlos auf. »Gut für Nat. Er macht sich.« »Konntest du erkennen, was das für Burschen waren?« fragte Jack. Brian schüttelte den Kopf. »Sie waren zu weit weg. Mit ihren Rucksäcken sahen sie wie Bergsteiger aus.« »Woher wußtest du, daß sie uns verfolgen wollten?« fragte Steve. »Das wußte ich natürlich nicht mit Sicherheit, aber ebensowenig das Gegenteil.« 96
»Hm, das ist richtig«, mußte Steve zugeben. »Jedenfalls ist es eine dumme Geschichte. Wenn Nat sie umgebracht hat, gibt es die größten Scherereien. Das wird Mike bestimmt nicht gefallen.« »Na ja, ändern können wir es nicht mehr, oder?« brauste Brian auf. Steve explodierte ebenfalls, und zwar so unerwartet, wie man es bei zurückhaltenden Menschen manchmal erlebt. »Es hätte aber nicht zu passieren brauchen! Wir hatten keine Veranlassung, diesen Weg zu nehmen. Das sagte ich gleich, aber du und Red – ihr wolltet ja nicht hören. Ihr wißt immer alles besser, aber in Wirklichkeit wißt ihr einen Dreck. Dein Alter hat vor neun Jahren schon einmal einen großen Fehler gemacht, und das Geschäft war für den Rest der Saison verdorben.« »Davon weiß ich nichts«, erwiderte Brian gereizt. »Schluß jetzt mit der Streiterei«, mischte sich Jack ein. »Brian, du gehst mal ein Stück zurück und siehst nach Nat. Steve und ich müssen uns trocknen.« Brian Kelly stand auf – mit blitzenden Augen und wütendem Gesicht. Er schnippte mit den Fingern der rechten Hand, und einer der Hunde trottete in die angegebene Richtung davon. Er schnippte mit den Fingern der linken Hand, und der zweite Hund entfernte sich gehorsam nach dieser Seite. Einen Augenblick später war er selbst zwischen den Felsblöcken verschwunden. Mit den Hunden als Flankensicherung machte er sich auf den Weg. Er kletterte den Pfad hinab, der sich durch die Büsche schlängelte. Er war noch nicht sehr lange unterwegs, als er eine Stimme hinter sich vernahm. »Na, willst du wieder nach Cork Valley zurück, Brian?« Er fuhr herum und sah Bony, der an einem Baum lehnte. »Teufel noch mal! Ich habe dich nicht gesehen!« »Das solltest du auch nicht. Wo sind die anderen?« »Eine halbe Meile von hier.« 97
Brian pfiff durch die Zähne. »Ich verstehe das nicht – die Hunde haben dich ebenfalls nicht gemeldet.« »Die kennen mich ja schließlich.« Die Hunde tauchten jetzt auf. Sie begrüßten Bony mit wedelnden Schwänzen und folgten dann den beiden Männern, die hintereinander den schmalen Pfad hinaufstiegen. »Hast du die beiden Burschen umgebracht? Ich sah, wie du sie mit Felsbrocken bewarfst.« »Ich habe sie nur abgelenkt. Ich erzähle alles, wenn wir bei den anderen sind.« Jack und Steve hatten inzwischen aus trockenem Holz ein prasselndes Feuer entfacht, das nur wenig Rauch verursachte. Sie standen dicht davor und ließen sich die Sachen am Körper trocknen. Beide waren neugierig auf Bonys Geschichte. »Ich glaube, es waren die beiden, die Red beim Überqueren seiner Koppel gestellt hat«, begann Bony. »Ich bin allerdings nicht ganz sicher. Sie waren angezogen wie die üblichen Touristen, schienen mir aber besser durchtrainiert, als die Urlauber aus der Stadt es normalerweise sind. Ich mußte sie aufhalten, bevor sie einen Blick in das Tal werfen konnten, wo ihr im Bachbett aufwärts marschiertet.« »Du warfst also Felsbrocken auf sie herab«, bemerkte Brian. »Irgend etwas mußte ich ja schließlich tun. Ungefähr hundert Meter von ihnen ließ ich einen Steinblock hinunterrollen, die nachfolgenden dann immer dichter. Schließlich kapierten sie und zogen ab. Ich bin dann ebenfalls zum Bach hinunter, aber abwärts. Nach einer halben Stunde richtete ich es so ein, daß sie mich sahen. Sie gelangten nun zu der Ansicht, wir seien bachabwärts gegangen, und ich beobachtete, wie sie nach kurzem Beratschlagen loszogen – bachabwärts an beiden Ufern entlang.« Steve lächelte, auch Jack grinste vergnügt. Brian strahlte Bony anerkennend an. »Du hast sie also nicht umgebracht. Das ist großartig, Nat!« rief der kleine Dicke. 98
Bony runzelte die Stirn und starrte sie der Reihe nach aus seinen blauen Augen verwundert an. »Umgebracht!« wiederholte er. »Ja, glaubt ihr denn, wir könnten die Schnüffler von der Polizei hier brauchen? Wofür haltet ihr mich eigentlich? Ich bin doch kein Mörder – mit so was will ich nichts zu tun haben. Und du –« Er wies auf Brians Pistolentasche. »Was hast du da drin? Eine Pistole?« »Na ja, Kaugummi bestimmt nicht.« Die vier Männer erstarrten in Bewegungslosigkeit. Brian Kelly stand breitbeinig da, die Hände in die Hüften gestemmt. Steves und Jacks Augen gingen hin und her. Bony blickte von der Pistolentasche auf und in Brians graue Augen, die ihn trotzig anfunkelten. Er mußte diese Waffe haben, erstens, um sein Verhältnis zu den Conways noch fester zu gestalten, und zweitens, um nicht noch selbst in einen Mord verwickelt zu werden. Seine Stimme klang leise, aber hart. »Ich erhielt von Mike Conway einen Auftrag. Ich soll Waren an einen gewissen O’Grady liefern und andere Waren von ihm übernehmen. Ich weiß nicht, um was für Waren es sich handelt, und es interessiert mich auch nicht. Mir ist jedoch bekannt, daß es sich um ein illegales Geschäft handelt, und ich schere mich den Teufel darum. Aber mit einem Geschäft, bei dem Waffen getragen werden und womöglich lebenslänglich herausschaut, falls jemand umgelegt wird, will ich nichts zu tun haben. Du gibst mir jetzt die Pistole, oder ich schlage dich zusammen.« »Hol sie dir doch«, erwiderte Red Kellys Sohn lässig. »Moment, Nat!« Steve war aufgesprungen und hob beschwichtigend den Arm. »Brian, dir kann es genauso gehen wie Ted Kelso. Einer für alle und alle für einen – nach diesem Grundsatz bist du doch erzogen worden. Und eine alte Regel besagt: Keine Schußwaffe bei diesem Geschäft! Also – gib die Pistole her.« Brian Kelly blickte von Steve zu Bony, und von Bony zu Jack. Seine Augen blickten nicht mehr so offen wie bei der ersten Begegnung mit Bony. Langsam öffnete er den Gürtel, zog die 99
Pistolentasche heraus, warf sie auf den Boden und schloß den Gürtel wieder. Bony hob die Pistolentasche auf und ließ sie in eine tiefe Felsspalte fallen. »So, nun können wir aufatmen«, sagte er. »Wenn wir es nicht fertigbringen, ohne Waffen zu schmuggeln, dann sollten wir überhaupt die Finger davon lassen. Ihr lebt seit eurer Jugend in diesen Bergen, ich hingegen bin ein völliger Neuling. Trotzdem fällt mir auf, daß ihr Fehler auf Fehler macht. In einer halben Stunde wird der Nebel wieder dasein. Ihr sagt mir jetzt, was ihr vorhabt. Ich habe nämlich keine Lust, im Kittchen zu landen.«
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urch Hohlwege und Schluchten braute der Nebel herauf. Er umspülte die Gipfel wie eine weiße Flut, die sich an felsiger Küste bricht. Die Schmuggler entschlossen sich, das noch verbleibende Tageslicht auszunützen und weiterzuziehen. Während die Lasten wieder aufgeladen wurden, zog Brian mit den Hunden voraus. Der leichte Sieg über Brian erfüllte Bony mit Genugtuung. Dies, zusammen mit der genialen Irreführung der beiden Verfolger, mußte ihm das Vertrauen aller Männer in Cork Valley sichern. Außerdem hatte er das Gefühl, daß diese Schmugglertour den Wendepunkt in seinen Ermittlungen bedeuten würde. Im allgemeinen wird ein Verbrechen aufgeklärt, indem eine Organisation Ermittlungen gegen einen einzelnen führt. Gewisse Umstände können es aber auch nötig machen, daß ein einzelner Ermittlungen gegen eine Organisation führen muß. Diese 100
Situation war in den südlichen Bergen von Neusüdwales gegeben, und der ganz auf sich gestellte Ermittlungsbeamte mußte zunächst in die verdächtige Organisation einzudringen versuchen. Das war Inspektor Bonaparte bisher glänzend gelungen. Er hatte mit Chefinspektor Casement vereinbart, ihn nicht überwachen zu lassen oder irgendwelche Aktion zu starten, die seinen Auftrag nur gefährden würde. Casement hatte dies ausdrücklich zugesichert. Bony hielt es für unwahrscheinlich, daß der Chefinspektor diese Vereinbarung gebrochen haben sollte. Blieb nur noch die Zollfahndung. Eric Torby hatte in ihrem Auftrag Nachforschungen angestellt, und es lag auf der Hand, daß man von dieser Seite aus daran interessiert war, den mysteriösen Mord aufzuklären. Bony amüsierte der Gedanke, die beiden ›Bergsteiger‹ in die Flucht geschlagen zu haben, gleichzeitig stachelte dieser Zwischenfall seinen Ehrgeiz und seine Eitelkeit an. Was hatte sich auch die Steuerfahndung um eine Angelegenheit zu kümmern, die ausschließlich Sache der Polizei war! Pistolen aber konnte er auf keinen Fall dulden, und in dieser Hinsicht waren die Conways glücklicherweise ganz seiner Meinung. Da war vorhin der Name ›Kelso‹ gefallen, und kurz vorher hatten die Männer von einem Vorkommnis gesprochen, das sich vor neun Jahren ereignet haben sollte. Zufällig hatte Bony sich unbemerkt der Raststelle nähern und Steves Worte mit anhören können: ›Dein Alter hat vor neun Jahren diesen großen Fehler gemacht, und das Geschäft war für den Rest der Saison verdorben!‹ Und dann, als sie wegen der Pistole stritten, hatte Steve gesagt: ›Brian, dir kann es genauso gehen wie Kelso. Einer für alle und alle für einen …‹ Bony gingen diese Worte im Kopf herum. Er mußte unbedingt herausfinden, was sie zu bedeuten hatten. Später in der Nacht wechselte der Nebel mit tiefer Finsternis, und Jacks Taschenlampe enthüllte die Wände einer großen 101
Höhle. Jack erklärte, sie würden hier den Rest der Nacht lagern, vielleicht auch noch den ganzen folgenden Tag. Ehe die letzte Etappe in Angriff genommen werden könne, müsse gründlich aufgeklärt werden. Nach dem Mahl, das aus kaltem Braten und heißem Tee bestanden hatte und dem ein kräftiger Schluck ›Wein‹ gefolgt war, breitete Bony erleichtert seine Decken aus. Die Flammen des Lagerfeuers verbreiteten wohlige Wärme, und er sank augenblicklich in einen tiefen Schlaf. Als er aufwachte, fühlte er sich erfrischt, und auch der Muskelkater in den Beinen war verschwunden. Das Feuer glühte nur noch schwach. Die anderen schliefen noch fest. Als nächster erwachte Brian Kelly. Bony hockte vor dem Feuer, das er inzwischen wieder in Gang gebracht hatte. »Na, wie geht’s?« fragte Brian und nahm sich eine Tasse Kaffee. »Himmel, habe ich geschlafen!« »Ich ebenfalls!« erwiderte Bony. »Nicht mehr böse, heute morgen?« »Ich bin nicht nachtragend.« Brian nippte an seinem Becher. »Aber wenn du dich unbedingt schlagen willst – ich gehe keiner Rauferei aus dem Weg.« »Keine Lust.« »Na ja, ich gebe zu, es ist etwas früh.« Brian trank seinen Kaffee aus und schenkte sich nach. Dann stopfte er seine Pfeife, nahm ein brennendes Ästchen aus dem Feuer und zündete sie damit an. »Wie gefällt dir diese Arbeit?« »Mal was anderes als immer nur Kartoffeln buddeln.« »Hm, außerdem gibt es dabei auch mehr zu verdienen. Na, das wirst du schon noch merken. Hat schon seine Vorteile, mal aus dem Tal ’rauszukommen. In einigen Wochen werde ich für längere Zeit weggehen. Hat man es dir schon erzählt?« »Mike sprach davon, daß du eine Reise nach Übersee machen willst. Warst du früher schon mal weg?« 102
»Nein, und ich bin auch jetzt nicht scharf drauf. Bist du schon mal aus Australien ’rausgekommen?« Bony schüttelte den Kopf. »Hatte nie das Geld dazu.« »Das hat keiner – wenn er immer ehrlich ist.« Brian starrte trübsinnig in die Flammen. »Einer von uns Kellys arbeitet in Sydney in einem Reedereibüro. Er hat mir gesagt, daß nur fünf Prozent von den Passagieren der Ersten Klasse ihre Passage selbst bezahlen. Die übrigen fünfundneunzig Prozent fahren auf Kosten der Steuerzahler. Bezahlst du Steuern?« »Nur, wenn es sich nicht vermeiden läßt.« Brian grinste. »Genau wie ich. Und was mir diese Schufte abnehmen, hole ich mir zurück.« »Das dürfte dir ja nicht schwerfallen.« Bony lächelte. »Na ja, man tut, was man kann.« »Ist deine Passage schon gebucht?« »Ja. Ich fahre am achtundzwanzigsten Juli. Nach London, und von dort nach Dublin. Aber zum Fest bin ich noch hier. Das wird dein Blut zum Wallen bringen, Nat.« »Das Cork-Valley-Fest?« fragte Bony interessiert. »Ja. Heutzutage werden ja überall Feste gefeiert. Blumenfest in Bowral, Erbsenfest in Markham – und wir feiern eben das CorkValley-Fest. Ist aber eine private Angelegenheit. Nur für Verwandte und enge Freunde.« »Klingt vielversprechend.« Brian grinste über das ganze Gesicht und blickte auf seine Uhr. »Himmel, schon zehn vor neun. Ich muß mich auf die Beine machen. Weck die beiden Langschläfer. Während ich mich wasche, macht ihr das Frühstück.« Hemmungen schien er nicht zu kennen. Neben dem Feuer zog er sich splitternackt aus und ging zu dem reißenden Bach, der durch die Höhle floß. Er spritzte sich das eiskalte Wasser über den muskulösen Körper. Jack fütterte inzwischen die Pferde, während Steves Morgenwäsche darin bestand, die Hände kurz ins Wasser zu tauchen, bevor er zwei Dutzend Hammelkoteletts 103
auf ein Drahtnetz über das Feuer legte. Bony konnte sich nicht entschließen, es Brian gleichzutun und ebenfalls in das eisige Wasser zu steigen. Er wusch sich lediglich Gesicht und Hände, worauf Jack seinem Beispiel folgte. Nach dem Frühstück wurden die Hunde losgelassen, die sich gierig über die Reste der Hammelkoteletts stürzten. Jack wandte sich an Steve. »Was meinst du – sollten wir nicht den Rasiermessergrat nehmen?« »Das wäre der sicherste Weg«, stimmte Steve zu. »Wir dürfen kein Risiko mehr eingehen.« »Besonders, da wir nicht wissen, wo sich diese Kletterfaxen jetzt aufhalten. Bleibst du zurück, oder soll ich …« »Ich werde bleiben«, entschied Steve. »All right! Du nimmst die Hunde, Brian. Ich gebe dir eine halbe Stunde Vorsprung. An O’Gradys oberem Tor wartest du dann auf mich. Oh, Moment – ich muß dir noch die Bänder geben.« Jack holte die farbigen Bänder, die er den Hunden am Vortag abgenommen hatte. Nach der Verpflegung zu schließen, die sich die beiden Männer einpackten, schienen sie den ganzen Tag wegbleiben zu wollen. Als Brian verschwunden war, setzte sich Jack zu Steve und Bony ans Feuer. »Glaubst du, daß du dich allein nach Cork Valley zurückfinden würdest?« fragte er Bony. »Steck eine Katze in einen Sack und trage sie ein paar Meilen weit, sie wird trotzdem wieder nach Hause finden«, erwiderte Bony amüsiert. »Ich bin nach dem gleichen Rezept verfahren und habe mir trotz Nebel und Finsternis jede Biegung und jede Richtung gemerkt.« Steve seufzte, und Jack blickte Bony bewundernd an. »Das glaube ich dir ohne weiteres«, meinte er. »Wie wäre es, wenn du ungefähr zwei Meilen weit zurückgehen würdest? Du kommst dann zu einem scharfen Grat – dem Rasiermessergrat –, der zwei Gipfel miteinander verbindet. Zur Linken erhebt sich ein hoher Felsturm. Von dort aus kannst du den Grat beobachten 104
und das ganze Tal einsehen, durch das wir gestern heraufgekommen sind. Bleib bis Sonnenuntergang. Wie wäre das?« »Ich verstehe.« Bony nickte. »Und wenn ich die beiden Schnüffler entdecken sollte, komme ich zurück und erstatte Meldung.« »Genau das meinte ich!« Jack lachte. »Es bleibt dir natürlich unbenommen, sie wieder an der Nase herumzuführen, so wie gestern. Ich werde mit zwei Pferden eine falsche Spur legen. Nimm dir etwas zu essen mit, Nat.« Jack machte sich aus seinen Decken einen Sattel und ritt durch den Hohlweg davon. Das zweite Pferd führte er an der Leine hinter sich. Bony folgte ihm zu Fuß. Sie gelangten hinaus in die sonnenüberflutete Bergschlucht. Jack verließ bald den felsigen Untergrund und nahm die Spur an der Stelle wieder auf, wo sie gestern abgebrochen war. Bony orientierte sich ebenfalls an der Spur, die sie in der vergangenen Nacht zurückgelassen hatten. Er ging sie zurück. Sie war so deutlich, daß jeder Buschläufer ihr ohne Schwierigkeiten folgen konnte, dabei hätte man sie an verschiedenen Stellen mühelos auslöschen können. Offensichtlich war es eine irische Eigenart, weit voraus einen Späher zu schicken, aber keinerlei Vorsichtsmaßnahmen im Rücken zu ergreifen. An einem günstigen Punkt versteckte sich Bony hinter einem Felsen und rauchte zwei Zigaretten. Er war mißtrauisch. Er mußte wissen, ob Steve ihm vielleicht folgte. Als er sicher sein konnte, daß dies nicht der Fall war, stieg er weiter aufwärts, bis er zu dem Felsturm gelangte, der sich auf einem kahlen Hügel erhob. Von dort aus hatte man nach allen Seiten einen herrlichen Blick. Im Norden lag der Rasiermessergrat, der sich ungefähr über fünfhundert Meter hinzog und zwei Gipfel miteinander verband. Der Grat war oft nur anderthalb Meter breit und fiel zu beiden Seiten über hundert Meter tief ab. Bony überkam ein Schwächegefühl bei dem Gedanken, dort in stockdunkler Nacht hinüber zu müssen. 105
Er legte sich hinter einige Felsbrocken und sah Bergkamm hinter Bergkamm. In den Tälern glitzerten die Bäche silbern. Ein verwirrendes Durcheinander von steilen Schroffen, tiefen Schlünden, Schluchten und Klammen taten sich vor ihm auf. Er gelangte zu der Überzeugung, daß die beiden Bergwanderer diese Gebirgswelt mindestens ebensogut kannten wie die Männer von Cork Valley. Es konnte sich unmöglich um Städter handeln, die hier ihren Urlaub verbrachten. Tief unten in den Schluchten hingen Nebelschleier. Sobald die Sonne verschwunden sein würde, vielleicht schon eher, würden die weißen Schwaden wieder zu steigen beginnen. Der Vormittag verging, ohne daß Bony ein menschliches Wesen erblickt hätte. Er betrachtete die hoch fliegenden Adler, die ihn zweifellos beobachteten. Krähen waren hier seltener, aber eine schlug mehrere Kreise um ihn, bevor sie davonflog. Er sah dem Spiel eines Rotkehlchens zu, und einmal erblickte er auf einer Felsspitze einen Hirsch. Er hatte sich in seinem Kochgeschirr Wasser mitgebracht – nicht nur, um Tee davon zu kochen. Nachdem er trockene Äste gesammelt hatte, entfachte er ein Feuer und brachte das Wasser zum Kochen. Als der Dampf aufstieg, hielt er Rosalies Brief hinein. Ohne Schwierigkeiten löste er mit seinem Rasiermesser die Rückklappe des Umschlags. Er las: Lieber Eric, ich sende Dir diese Zeilen durch Vermittlung zweier Freunde. Ich warte nun schon so lange auf ein Lebenszeichen von Dir, daß ich annehmen muß, Matty Conway hat einen Brief von Dir unterschlagen. Ich hätte Dir schon längst geschrieben, wenn ich Deine Adresse gehabt hätte. Du weißt ja selbst, daß Deine Abreise aus Cork Valley sehr plötzlich und für mich überraschend erfolgte. Gestern nun fand ich durch Zufall in jenem Buch, das ich Dir lieh, Deine Zeilen, die mir auch Deine Anschrift verrieten. Ich danke Dir für Deine lieben Worte. Bitte schreibe mir recht bald, ob sie wirklich ernst gemeint sind. Sende Deinen Brief an Miss M. Mathews, Bowral, postlagernd. In zehn Tagen 106
fahre ich nach Bowral, um Einkäufe zu machen, dabei werde ich es einrichten, unbeobachtet auf das Postamt zu kommen. Du weißt ja selbst, wie schwierig das alles für mich ist. Als ich las, daß Du mich liebst und eines Tages wiederkommen würdest, um mich zu heiraten, habe ich vor Freude geweint. Bitte, Liebster, schreibe mir gleich, damit ich in zehn Tagen in Bowral Deine Antwort vorfinde … Bony war unschlüssig, was er mit dem Brief tun sollte. Er harrte bis Sonnenuntergang auf dem Felsturm aus. Als er den Rückweg antrat, vergewisserte er sich erneut, ob Steve ihm nicht nachgeschlichen war. Von den beiden Fremden hatte er keine Spur gesehen.
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ie Sonne war hinter den Gipfeln versunken, als Bony die Höhle erreichte. Brian und Jack waren bereits eingetroffen und warteten gespannt auf seinen Bericht. »Wie ihr heute morgen ganz richtig sagtet, kann man von dem Felsturm aus in das Tal einsehen, durch das ihr marschiert seid«, begann er. »Schade, daß ich kein Fernglas hatte. Gegen vier Uhr beobachtete ich zwei Männer, die den Bach heraufkamen. Ich glaube, sie trugen keine Rucksäcke. An der Gabelung hielten sie sich zwanzig Minuten auf, dann kehrten sie um.« »Der Teufel soll sie holen!« stieß Jack aus. »Besser, sie sind hinter uns als vor uns«, erwiderte Bony. »Der Weg vor uns ist frei – oder?« »Ja«, erwiderte Brian. 107
»Dann besteht ja kein Grund zur Sorge. Unsere Lieferung wird also ohne Zwischenfälle in die Hände von Mr. O’Grady gelangen. Auf dem Rückweg haben wir die Burschen vor uns, und irgendwie werden wir schon an ihnen vorbeikommen.« »Nein, Nat. Für den Rückweg benützen wir eine andere Route«, erklärte Jack, und Steve stimmte ihm zu. »Aber doch nicht mit der Rückladung«, protestierte Brian. »Es gibt keine Rückladung«, sagte Jack. »Wenigstens nicht die, die ursprünglich vorgesehen war.« »Was stimmt denn nicht mit der Rückladung?« erkundigte sich Bony. »Handelt es sich um Dynamit?« »Nein, Nat, nur um Zucker«, erwiderte Brian. »Den nehmen wir auf keinen Fall mit«, warf Steve ein, der damit beschäftigt war, Steaks zu grillen. »Und jetzt wollen wir essen. Anschließend machen wir uns dann an die Arbeit.« Zucker …! Zucker wird zur Herstellung von Alkohol benötigt, überlegte Bony. Und weil Mike mit dem Lastwagen kontrolliert werden konnte, mußte man ihn über die Berge schmuggeln. Das Märchen von den beiden Männern, die angeblich unten am Bach kampierten, hatte Bony nicht ohne Grund erzählt. Wenn man auf die Rückladung verzichtete, wurde die Herstellung des schwarzgebrannten Whiskys verzögert. Bony gewann also Zeit, und außerdem hoffte er, auf diese Weise noch einen anderen Verbindungsweg zwischen Cork Valley und O’Grady kennenzulernen. »Hat Mike dir gesagt, daß wir O’Grady treffen werden?« »Ja. Und er hat mich eindringlich ermahnt, daß ich mir unbedingt die Lieferung quittieren lassen und andrerseits die Rücklieferung quittieren müßte.« »Tja, aber da wir nun die beiden Kerle auf dem Hals haben, müssen wir umdisponieren«, erklärte Jack. »O’Grady kommt nicht mit dem Lastwagen. Wir treffen ihn bei einer Scheune, die zu seiner Farm gehört. Der Weg dorthin ist frei. Ich habe heute 108
mit O’Grady gesprochen und alles arrangiert. Es kostet zwar etwas mehr Zeit, aber das hilft nichts. Verstehst du?« »Selbstverständlich«, sagte Bony. »Brian mit den Hunden lassen wir kurz vor dem Ziel zurück, so daß er sich auf dem Heimweg wieder vor uns befindet.« »Nicht schlecht. Aber wenn ich später für die Transporte verantwortlich bin, marschieren wir nicht nur mit Vorhut, sondern auch mit einer Nachhut.« »Das mußt du mit Red besprechen, Nat.« »Werde ich, Jack«, versicherte Bony. »Und was ist nun mit dem Zucker, den wir als Rückladung nehmen sollten?« Der kleine Dicke lachte. »Ist er nicht köstlich? Der Kerl ist doch der geborene Pirat, wie?« Er wandte sich an Bony. »Nat, mein Junge, du tust lediglich, was man dir sagt. Und ich und Steve sagen dir schon zu gegebener Zeit, was zu tun ist. O’Grady ebenfalls. Er hat den Zucker. Also zerbrich dir nicht den Kopf deswegen. Wir werden schon nicht ohne Rückladung nach Hause kommen. Und auf jeden Fall benützen wir eine andere Route.« »Schön, aber dann behauptet später nicht, ich sei nervös geworden, weil es darum ging, ein paar Säcke Zucker für die Kinder in Cork Valley mitzunehmen.« Es dämmerte bereits, als sie die Höhle verließen. Brian bildete mit den Hunden wieder die Vorhut. An diesem Abend blieb der Nebel aus, und die Täler zeigten sich in einem satten Grün, während die Gipfel rotviolett erglühten. Später, als die Dunkelheit hereingebrochen war, zeigten nur die Sterne an, wo die Berge aufhörten und der Himmel begann. Nach einer reichlichen Stunde tauchte einer der Hunde auf. Im Schein seiner Taschenlampe löste Jack ein grünes Bändchen von seinem Halsband. Der Hund sprang sofort wieder davon, hinter Brian Kelly her. Nach einer weiteren Stunde gelangten sie zu einer Felsenterrasse, von der aus man bei Tage offensichtlich die Küstenniederung überblicken konnte. Jack ließ anhalten. Die Pferde sollten eine halbe Stunde verschnaufen. Die Lichter zur 109
Linken gehörten zu Kiama, und im Süden, am Horizont, wo der Himmel hell schimmere, läge Nowra, erklärte er. »Hier kommen wir auf dem Rückweg wieder vorbei. Dann halten wir uns direkt zum Binnenland. Deshalb wartet Brian hier und geht nicht mit zur Scheune.« Sie verfielen in Schweigen, und als Bony sich bereits zu wundern begann, weil Jacks halbe Stunde längst vorüber war, hörte er ein schwaches Geräusch. Er entdeckte die Umrisse einer Gestalt, die eine dunkle Silhouette gegen die Lichter von Nowra bildete. Bony wußte sofort, daß es nicht Brian war. Lauernd stand er da. Die Gestalt näherte sich und schlich an ihm vorüber, ohne ihn zu bemerken. Blitzschnell griff er zu und legte einen Armhebel an. »He, laß mich los!« »Ah, eine Frau! Wer sind Sie denn?« Jack lachte. »Das ist Bessie O’Grady Laß sie los, Nat.« Das Mädchen war fast so groß wie Bony, und zweifellos kräftig. Als er sie losließ, entging er nur mit knapper Mühe einem Schlag ins Gesicht. Der über Nowra leicht erhellte Himmel ließ ihn ihren auffahrenden Arm erkennen. »Aber, aber! Es war doch nicht bös gemeint«, schalt Bony. »Schließlich hat mir doch niemand Ihre Ankunft gemeldet. Nun bleiben Sie doch friedlich. Ich bitte ja auch um Verzeihung.« »Verdammt! Sie hätten mir beinahe den Arm gebrochen«, zischte ihn das Mädchen an, denn zum Schreien war hier nicht Zeit und Ort. »Wer sind Sie denn eigentlich, zum Teufel?« »Er ist Nat Bonnay«, gab Jack Auskunft. »Gehört nach Cork Valley. Ich erzählte deinem Vater von ihm.« »Mir hat er nichts davon gesagt. Na schön, Nat Bonnay. Diesmal will ich die Sache auf sich beruhen lassen. Aber rühren Sie mich nicht noch einmal an.« »Nur, wenn Sie mich dazu auffordern, Bessie«, erwiderte Bony schmunzelnd. 110
»Da werden Sie lange warten können. Wollen wir eigentlich die ganze Nacht hier herumstehen?« Bony, das Mädchen und Jack führten den Zug an. Zunächst ging es einen Saumpfad entlang, dann begann durch eine Schlucht der Abstieg. Bony hätte gern gewußt, warum das Mädchen sie so weit von der Farm ihres Vaters entfernt abgeholt hatte. Er fragte sie danach. »Ich muß euch einen neuen Weg führen«, erklärte sie. »Vater sieht im Dunkeln nicht mehr gut, seine Augen lassen langsam nach. Wie alt sind Sie, Nat?« »Wie alt!« Er erschrak förmlich bei dieser Frage. »Nun ja, ich könnte dreißig, ich könnte aber auch fünfzig sein. Es kommt ganz darauf an.« »Verheiratet?« »Meine Augen sehen nur Rosalie.« »Oh!« Bessie schwieg minutenlang. Bony bewunderte sie, weil sie sich so sicher durch die Finsternis bewegte. »Die Trauben dürften aber etwas zu hoch hängen, Nat?« meinte sie schließlich. »War ja auch nur Spaß. Ich hätte keine Chance.« »Darüber werde ich Ihnen meine Meinung sagen, wenn ich Sie bei Licht gesehen habe.« Zunächst ging es über weichen Untergrund, dann über Felsen und jetzt über Kies. Sie bewegten sich also in einem trockenen Bachbett vorwärts. »Sind Sie verheiratet?« fragte er. »Nein. Aber ich werde es bald sein.« »Und wer ist der Glückliche?« erkundigte sich Jack. »Ich kann es ja wohl nicht gut sein – oder etwa doch?« »Was denkst du eigentlich? Aber ich werde deine Neugier befriedigen, damit die Enttäuschung dich später nicht umbringt. Es ist Brian Kelly, Bis jetzt weiß er es allerdings noch nicht, aber zu gegebener Zeit wird er es schon erfahren. Er möchte sich Rosalie angeln, aber Rosalie und ich haben andere Pläne.« 111
»Sie sind eng miteinander befreundet?« bohrte Bony, der sich immer noch nicht entschlossen hatte, ob er den ihm aufgetragenen Kurierdienst ausführen sollte oder nicht. »Rosalie ist meine einzige Freundin. Außer ihr habe ich nur noch Vater. Für Rosalie würde ich alles tun. Für sie würde ich sogar Brian Kelly umbringen, oder wer ihr sonst in die Quere kommt. Also nehmen Sie sich in acht, Nat.« Sie gelangten zu einem Gattertor. Bessie öffnete es, ließ die Karawane hindurch und schloß es wieder. Offensichtlich kannte Jack sich jetzt aus, da das Mädchen hinten bei Steve blieb. »Ein ganz schönes Temperament, wie?« wandte Bony sich an Jack. »O ja! Wild wie die Berge in stürmischer Nacht. Sie leistet Männerarbeit und manchmal sogar mehr als das. Ihre Mutter kam bei einem Waldbrand ums Leben, und nun ist sie der Boss, auch über ihren Vater, und der ist ein ganz zäher Bursche. Wenn sie sich Brian aufs Korn genommen hat, wird sie ihn schon kirre machen. Wenn du es nicht glaubst, brauchst du nur mal ein Wort gegen Rosalie zu sagen.« »Werde mich hüten«, brummte Bony. »Diese Bessie scheint aus Stahldraht gemacht.« Einige Minuten später hob sich gegen den Sternenhimmel der Umriß eines unbeleuchteten Gebäudes ab. Jack marschierte direkt darauf zu. Sie gingen durch ein hohes Tor, und als das letzte Pferd im Innern war, wurden schwere Torflügel zugeschoben. Ein Streichholz flammte auf, eine Azetylenlampe begann zu zischen und verbreitete schließlich helles Licht. Bony sah einen großen hageren Mann mit grauem Haar und einem zerfurchten Gesicht. Er hielt die Lampe in die Höhe und musterte die Pferde mit ihren Ladungen. »Keine Schwierigkeiten mehr gehabt?« fragte er. »Nat sah die beiden Männer den Sandy Creek auf und ab laufen«, erwiderte Jack. »Sie haben immer noch herumgeschnüffelt. Ich erzählte dir ja schon, wie Nat die beiden geblufft hat, Tim.« 112
»Richtig.« O’Grady schwenkte die Lampe zu Bony herüber. »Freut mich, dich kennenzulernen, Nat. Ein Mann mit rascher Entschlußkraft ist uns immer willkommen. Mike Conway hat anscheinend gut gewählt.« »Ja, Vater. Mike scheint tatsächlich gut gewählt zu haben.« Neben dem Mann tauchte das ovale Gesicht der Tochter aus der Dunkelheit. Ihr Teint war durch Sonne und Wind verdorben, aber die großen braunen Augen und das in hübscher Ponyfrisur getragene Haar glichen dieses Manko wieder aus. Ihre Augen musterten den neuen Mann, jeden Zug seines dunkelhäutigen Gesichts. Sie trug einen kurzen Trenchcoat, Reithosen und ziemlich ausgetretene Stiefel. »Freut mich, daß ich der Kritik standhalte.« Bony blickte das Mädchen lächelnd an. »Ich muß mich nochmals entschuldigen, Sie so mißhandelt zu haben.« »He, wie war das?« wollte O’Grady wissen. Bessie berichtete ihm von dem rauhen Empfang, der ihr zuteil geworden war, und O’Grady schmunzelte vor sich hin. Der neue Mann da schien wirklich in Ordnung zu sein. Der handelte, ohne lange zu überlegen. »Schön, Jungs. Und nun ’runter mit der Ware.« Er reichte Bessie die Lampe, nahm einen Spaten und legte rasch eine Falltür frei. Steve und Jack begannen inzwischen mit dem Abladen der Lasten. Bessie stieg in den Keller hinab und zündete auch dort eine Lampe an. Als sie wieder heraufkam, ging sie zu Bony, der die in Säcke gebundenen Schnapsbehälter ablud. Sie bat ihn, sich zu ihr auf eine leere Kiste zu setzen. »Die werden auch allein damit fertig«, meinte sie. »Unterhalten wir uns lieber. Ich möchte über Sie Bescheid wissen.« In kurzen Worten skizzierte er seine – für derartige Fälle sorgfältig konstruierte – Vergangenheit. Das Mädchen wollte seine Auseinandersetzung mit den beiden Fremden in allen Einzelheiten geschildert haben, und schließlich erkundigte sie sich nach Rosalie. Jetzt endlich gelangte Bony zu einem Entschluß. 113
»Sie sagten vorhin, daß Sie für Rosalie alles tun würden. Ist das Ihr Ernst?« »Aber natürlich. Hat sie …?« »Sie bittet Sie um eine Gefälligkeit.« Er hob warnend den Finger an den Mund. »Rosalie hat einen Freund in Sydney. Sie möchte einen Brief für ihn zur Post geben.« Sie nickte zustimmend, und während sie angelegentlich zu Jack und Steve hinüberblickte, glitt der Brief unauffällig in ihre Tasche. »Geht in Ordnung, Nat.« Ihre Augen glänzten vor Erregung. »Hat sie gesagt, wer es ist? Ist Rosalie glücklich – wirklich glücklich?« »Die erste Frage muß ich mit Nein beantworten, die zweite mit Ja- wenn ich nicht irre. Wie lange haben Sie Rosalie nicht mehr gesehen?« »Weihnachten sahen wir uns das letztemal. Wir waren am Heiligen Abend in Cork Valley.« Ihre braunen Augen bildeten schmale Schlitze. »Ich glaube, ich weiß, wer es ist. Rosalie war damals so anders. Da war ein Mann bei den Conways gewesen, die anderen sagten mir das. Rosalie hat mir gegenüber nichts von ihm erwähnt. Man entdeckte ihn, als er Gesteinsproben in der Nähe des Wasserfalls losschlug. Er war Lehrer oder so etwas Ähnliches.« »Hörten Sie seinen Namen?« »Ja. Er hieß Hillier – Eric Hillier.« Sie lächelte. »Ich wundere mich wirklich. Vielleicht hat Rosalie ihre Liebe zu ihm erst später entdeckt, denn zu Weihnachten erzählte sie mir nichts davon. Sagen Sie ihr, Nat, daß ich gleich gewußt habe, für wen der Brief bestimmt ist, noch ehe ich die Anschrift gelesen hatte.« Die Behälter waren inzwischen verstaut, und als O’Grady die Kellertreppe heraufkam, lachte Bessie auf und sagte mit lauter Stimme: »Nein, das finde ich wirklich raffiniert – wie Sie die beiden Kerle mit den Felsbrocken vertrieben haben! Das hätte ich sehen mögen!« 114
Sie schwatzte lachend weiter, während die Pferde mit der Rücklieferung beladen wurden – es waren Säcke mit Zuckerrübenschnitzeln, also Viehfutter. Bony brachte schließlich den Lieferschein zum Vorschein und ließ O’Grady quittieren. Dann bestand er darauf, die Rückladung ebenfalls zu signieren, obwohl O’Grady und Jack abwinkten. Das sei völlig überflüssig, meinten sie. »So, damit hätten wir’s!« verkündete O’Grady endlich. »Sagt Mike und den anderen, daß wir zum Fest hinüberkommen, und Matty Conway, daß wir uns schon auf ihren Kuchen freuen. Und Red richtet aus, wir hoffen, daß er uns noch etwas von seinem Löwenzahn übriggelassen hat.« »Und Rosalie bestellen Sie, daß ich bereits die Tage zähle«, fügte Bessie, an Bony gewandt, hinzu. Das Licht verlöschte, das wuchtige Tor wurde geöffnet, und die Karawane zog hinaus in die Dunkelheit. Bessie geleitete sie bis zum Gattertor. Sie drückte Bonys Arm und bat Jack, Brian Kelly von ihr zu grüßen. Dann trennten sie sich. Bony hörte, wie sie das Gattertor wieder schloß. Er fühlte sich ausgesprochen zufrieden. Zufrieden vor allem darüber, daß er die ungebetenen Wanderer hatte davonjagen können. Er war sich vorgekommen wie ein Atomwissenschaftler, der vom Geheimdienst überwacht wird. Sein Fall verhielt sich natürlich anders, da die beiden Männer ja höchstens von der Zollfahndung gewesen sein konnten. Aber unbewußt lehnte er sich gegen jede Einmischung auf. Und bei dieser Gelegenheit hatte er den Leuten von Cork Valley seine Loyalität beweisen können. Zweifellos würde man ihm in Zukunft noch mehr Vertrauen entgegenbringen. Gegen Mitternacht erschien Brian Kelly mit den Hunden. Vor ihnen sei alles ruhig, meldete er. Sie beschlossen, für den Rest der Nacht hierzubleiben. Die Pferde wurden von ihren Lasten befreit und gefüttert. Sie zündeten ein Feuer an und machten ihre Schlafstätten zurecht. Als Bony erwachte, fand er sich zwischen 115
zwei riesigen Felsbrocken unter einer überhängenden Felsgalerie liegen. Sie befanden sich in einer schmalen Schlucht. Das fröhliche Rauschen eines reißenden Gebirgsbaches begrüßte den neuen Tag. Bony nahm Handtuch und Seife und ging zum Wasser. Er war überwältigt von dem gigantischen Anblick der steilen, graubraunen Felswände. Die Luft war von köstlicher Frische. An den schmalen grasbewachsenen Ufern ästen zwei Rehe, die bei seinem Anblick davonstoben. Ein paar Kaninchen hoppelten lediglich etwas weiter weg. Jack rollte sich als nächster aus den Decken. Er führte die Pferde zur Tränke. Als er zum Bach kam, sah er einen splitternackten Nat Bonnay, der wie wild im Wasser umherplanschte. »Bist du übergeschnappt?« erkundigte er sich. »Nein, noch nicht. Aber es könnte leicht passieren, wenn ich keinen Fisch zum Frühstück bekomme. In diesem Bach sind genug, um ganz Cork Valley zu versorgen. Tritt zur Seite – hier sind noch ein paar. Die wiegen mindestens ein halbes Pfund pro Stück.« »Na, mach nur so weiter, Nat«, ermunterte ihn Jack und führte die Pferde weiter bachabwärts. Brian erschien nun ebenfalls. Als er zwei Fische im Gras zappeln sah, erfaßte er sofort die Situation. Er lief bachaufwärts, riß sich die Kleider vom Leib und trieb, während das Wasser hoch aufspritzte, die Fische auf Bony zu. Während Pferde und Hunde gefüttert wurden, briet ihre Beute in der heißen Asche. Es war ein wundervoller Morgen, und Bony fühlte sich zum Bäumeausreißen. »Da hast du dich ja wieder einmal strafbar gemacht, Nat«, tadelte Steve und lachte dröhnend, während er eine prächtige Forelle zum Munde führte. »Ohne Lizenz zu fischen – aber, aber! Das bedeutet zehn Tage Knast, mein Lieber. Aber damit hast du immer noch Glück gehabt. Nächstes Jahr werden wir auch noch 116
die Luft, die wir einatmen, versteuern müssen. Die Luft ist das einzige, was noch nicht versteuert wird.« Bony musterte versonnen die Gesichter der drei Spitzbuben. Dann starrte er die gegenüberliegende Bergwand an. Ihm kam die Erkenntnis, daß ihm dieses Land mit seinen schroffen Hängen und Schluchten, mit seinen reißenden Bächen und den Menschen, die es wagten, sich gegen eine sture Bürokratie aufzulehnen, nicht mehr länger fremd war.
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as Haus war vor einhundertelf Jahren erbaut worden. Von Bonys Kartoffelacker aus wirkte es wie ein prächtiges Herrschaftshaus. Von nahem erkannte man allerdings, daß es bereits viele Jahrzehnte Cork Valley überschaute. Unschön, kalt und isoliert schien es die Bitterkeit einer alten Rasse aufgespeichert zu haben, ohne daß ihm fröhliches Lachen Wärme und neues Leben schenkte. Der große, verandaähnliche Eingang hatte einst eisenbeschlagene Türen besessen. Heute war der geflieste Boden der bevorzugte Aufenthalt von Hühnern und Hunden. An den dicken Eisenhaken in den Wänden hatte man früher die Pferde angebunden, während der Hausherr und seine Jagdgäste tafelten. An diesem Spätnachmittag ließ Red Kelly seine Besucher durch die Hintertür in die große Halle eintreten. »He, Mary!« rief er, und seine sonst so dröhnende Stimme klang gedämpft inmitten der Wandteppiche und Gobelins, der schweren Sessel rund um den gewaltigen Tisch. Er trug einen 117
braunen Manchesteranzug, und Bony fand, daß er ausgezeichnet in diese Umgebung paßte. Hier wirkte sogar Brian manierlich. Eine Frau erschien. Sie war groß und rüstig, mit einer weißen Schürze über dem schwarzen Kleid. Sie brachte ein großes Tablett mit Karaffen und Gläsern, das sie auf dem Tisch abstellte. Ihr Gesicht wirkte steinern, nur wenn ihr Blick Brian streifte, kam etwas Wärme in die ausdruckslosen Züge. Red bat seine Gäste, Platz zu nehmen und sich zu bedienen. Außer Jack, Steve, Mike Conway und Joe Flanagan, der seinen voluminösen Jagdrocktrug, waren noch drei Männer anwesend, die Bony nicht kannte. Behaglich schlürfte Bony den erstklassigen Whisky und drehte sich erst eine Anzahl Zigaretten, bevor er sich die erste anzündete. »Es gab also Schwierigkeiten«, stellte Red Kelly fest. »Wir haben alle üblichen Vorsichtsmaßnahmen ergriffen«, erwiderte Brian, worauf ihm sein Vater einen funkelnden Blick zuwarf. »Ruhe, mein Junge! Jack, du berichtest.« In seiner stoischen Art schilderte der kleine Dicke die einzelnen Phasen des Unternehmens, alles in der richtigen Reihenfolge. Er berichtete ausführlich, wie Bony die beiden Fremden mit Felsbrocken verjagt hatte, und daß er sie am nächsten Tag etwa an derselben Stelle wiedergesehen habe. Daraufhin hätten sie den Entschluß gefaßt, statt Zucker für Cork Valley Viehfutter für Moran, einen Farmer in der Nähe von Markham, mitzunehmen. Auf dem Rückweg hätten sie nichts mehr von den beiden Fremden gesehen, und diese Lieferung für Moran sei der Grund für ihre verspätete Rückkehr gewesen. Als er geendet hatte, schwiegen die Männer minutenlang. Offensichtlich warteten sie darauf, daß Red Kelly sich äußern solle. »Das ist Pech!« meinte er schließlich. 118
Niemand fügte dem etwas hinzu. Mike blickte über den Tisch hinweg Bony an. Sein Gesicht war unbeweglich, aber seine Augen drückten eine deutliche Aufforderung aus. Bony kam diesem Wunsch sofort nach. »Dieselben Worte gebrauchte Ned Kelly, bevor sie ihn hängten«, wandte er sich an Red. Die kleinen Augen des Alten begannen zornig zu funkeln. Seine riesigen Hände ballten sich zu Fäusten, und er duckte sich, als setze er zum Sprung über den Tisch an. »So etwas hat Ned niemals gesagt!« brüllte er. »Nein? Nun, dann hat er es aber sicherlich gedacht«, erwiderte Bony ungerührt. »Ihr habt denselben Fehler gemacht, den Ned Kelly in Glenrowan beging. Euer Fehler war, diese Route auszuwählen. Ned Kellys Fehler war, die Polizei zu unterschätzen. Beides kommt auf das gleiche heraus. Ich weiß wirklich nicht, warum euch die Polizei nicht schon vor Jahren auf die Schliche gekommen ist.« «Dafür gibt es Gründe«, brüllte Red und hämmerte mit der Faust auf den Tisch. »Du bist hier fremd. Du bist ein Grünschnabel. Du weißt überhaupt nichts. Du bist nichts als ein –« »Schluß jetzt!« unterbrach Mike Conway den Redestrom, als Red kurz nach Luft schnappte. »Es ist ja kein Unglück geschehen, und man kann immer aus seinen Fehlern lernen.« »Das kann man!« ereiferte sich Red. »Aber ich sage euch, daß wir keinen Fehler gemacht haben. Die Route war richtig. Es lag an Brian. Er hätte merken müssen, daß ihr verfolgt wurdet.« »Das habe ich«, bemerkte Brian trocken. »Und ich habe Jack davon in Kenntnis gesetzt. Was regst du dich also auf?« »Da – da soll doch gleich …! Mein eigen Fleisch und Blut wagt es doch tatsächlich …!« Red stieß den Stuhl zurück, der krachend umkippte. Brian sprang ebenfalls auf und trat vom Tisch zurück. Wütend starrten sich die beiden Männer in die Augen. Jack und Steve saßen in stoischer Ruhe da, rauchten und nippten an ihren Gläsern. Mike 119
Conway hatte bedächtig die Hände auf den Tisch gelegt. Bony drückte seine Zigarette aus und zündete sich die nächste an. Niemand sprach ein Wort, bis sich die beiden Kellys wieder stillschweigend hingesetzt hatten. »So, Mr. Nat Bonnay, und nun verraten Sie uns vielleicht einmal Ihre großartigen Ansichten«, höhnte Red. »Jemand hat mir erzählt, daß dieses Hintertürgeschäft von Cork Valley schon hundert Jahre alt ist«, begann Bony, wurde aber sofort von Red unterbrochen, der wissen wollte, wer eine solche Lüge in die Welt gesetzt habe. »Seien Sie still!« entgegnete Bony barsch. »Woher soll ich jetzt noch wissen, wer mir das gesagt hat? Ich bin kein wandelndes Archiv. Vor hundert Jahren, vor fünfzig, ja noch nicht einmal vor zehn Jahren gab es soviel Menschen in Australien wie heute. In einem der Bäche fanden wir prächtige Forellen, und das werden bestimmt auch noch andere Leute wissen und sie angeln wollen. Die Zeiten ändern sich. Wenn uns diesmal diese beiden Männer nicht auf die Spur gekommen wären, dann das nächste oder übernächste Mal bestimmt andere. Von jetzt an muß also nicht nur ein Späher vorausgehen, sondern auch einer hintennach folgen.« »Um das zu wissen, brauche ich ausgerechnet Sie!« brüllte Red. »Sehr richtig!« Bony nickte. »Aber da ist noch etwas, auf das ich Sie aufmerksam machen muß. Wenn nämlich die Pferde so auffällige Spuren hinterlassen, daß ihnen ein Blinder mit dem Krückstock folgen kann, dann ist das geradezu idiotisch. Moment – ich bin gleich fertig, dann können Sie toben und schreien. Wenn es keinen anderen Weg über die Berge gibt, dann muß eben etwas mit den Hufen der Pferde geschehen. Solange Sie sich einbilden, daß es hier in den Bergen keine Fremden gibt, weil es vor hundert Jahren keine gegeben hat, dann müssen Sie schon mich fragen, wie man einen solchen Handel aufzieht, ohne im Kittchen zu landen. Ich will es Ihnen gerne sagen, Red.« 120
Die roten Haare des Hünen schienen steil in die Höhe zu stehen, und auch sein Bart sträubte sich. Mit einem Schwapp kippte er sein Glas voll Whisky und trank es mit einem gewaltigen Schluck leer. Dann stieß er pfeifend die Luft durch die Nase, um nicht die Beherrschung zu verlieren, und das war schon eine beträchtliche Leistung. »Sagen Sie es uns, Nat«, forderte ihn Mike auf. »Ich hatte einmal Kamele über steiniges Gebiet zu führen«, erklärte Bony. »Wie ihr vielleicht wißt, haben Kamele besonders weiche Sohlen, die sich für sandigen Boden zwar gut eignen, auf spitzen Steinen aber leicht verwundbar sind. Für diese Kamele fertigten wir Lederschuhe an. Sie schonten die empfindlichen Sohlen der Tiere. Als anderes Beispiel möchte ich euch von einem Burschen erzählen, der einen gutgehenden Laden in einer Kleinstadt ausrauben wollte. Er fertigte für sein Pferd Lederstiefel an, und auf jeden Stiefel nagelte er an der Spitze und am Absatz ein Hufeisen. Das Pferd konnte damit natürlich nicht galoppieren, aber das war auch nicht nötig, denn der Räuber hatte genügend Zeit. Die Polizei konnte aus den Spuren nicht herauslesen, aus welcher Richtung er gekommen und in welche Richtung er davongeritten war. Dies nur als Anregung, was man machen kann.« »Keine schlechte Idee«, murmelte Brian Kelly, und nachdem Red Kelly kurz seinen Sohn angestarrt hatte, nickte auch er. »Sehr gut«, lobte Steve, und Jack nickte weise. »Solche präparierten Schuhe könnten wir gut brauchen. Man könnte sie am Mittelfuß festbinden und, wenn nötig, im Handumdrehen wieder abziehen.« »Damit läßt sich doch aber niemand bluffen«, brummte Red zweifelnd. »Doch zumindest für ein oder zwei Stunden, und das genügt schon«, meinte Jack. Wiederum nickte Brian zustimmend, offensichtlich vor allem darum, um seinem Vater zu widersprechen. »Wir könnten es ja auch wie dieser Ladendieb machen und zwei 121
entgegengesetzte Hufeisen auf die Schuhe nageln«, fügte Jack hinzu. »Sehr gut, Nat, hast du noch mehr solche Ideen?« »Ja, aber die behalte ich so lange für mich, bis sie gebraucht werden. Vielleicht könnten wir ja auch auf die Schuhe verzichten. Schließlich muß es doch Wege durch die Berge geben, auf denen man keine Spuren zurückläßt. Gebt mir Gelegenheit, mich umzusehen, und ich werde Wege finden.« Er setzte jetzt alles auf eine Karte. »Ich wette mit jedem einzelnen von euch, daß ich ganz allein die Pferde zu O’Grady führe und euch den Zucker bringe. Noch heute nacht könnte ich losgehen.« »Ich werde mich hüten, dir das nicht zuzutrauen!« rief Red mit dröhnender Stimme. »Ich ändere meine Meinung über dich, Nat, mein Junge. Die Idee mit den Pferdeschuhen kam mir schon vor längerer Zeit, aber ich hatte sie glatt wieder vergessen. Noch heute abend machst du dich auf den Weg, den Zucker zu holen.« »Nicht heute abend!« Alle blickten Mike Conway überrascht an. Seine Worte waren eigentlich nicht bedeutungsvoll, es war mehr der starke Wille, der dahinterstand. »Es war richtig von euch, den Zucker nicht mitzubringen«, begann Mike. »So knapp sind wir ja nicht. Es wäre ein Risiko gewesen, und wir müssen jedes Risiko vermeiden. Daß ihr gerade diese Route genommen habt, braucht kein Fehler gewesen zu sein. Wir wissen nicht, wie die beiden Fremden hinter die Karawane gerieten. Es kann eine ganz harmlose Erklärung dafür geben. Wir wissen auch nicht, wer sie sind. Nat wird sich jetzt nicht auf den Weg machen, nur um uns zu beweisen, daß er uns den Zukker ohne Zwischenfall bringen kann. Das ist kindisch. Wir unternehmen keine weitere Tour, solange wir nicht sicher sein können, daß wir kein Risiko eingehen.« »Aber … aber …!« explodierte Red, doch Mike brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. 122
»Eigentlich sind wir ja auf diese schwarzen Geschäfte gar nicht angewiesen«, fuhr Mike mit dozierender Stimme fort. »Ohne sie würden wir nicht verhungern, wie es früher der Fall gewesen ist. Nat hat ganz recht – die Zeiten haben sich geändert. Wir lieben unsere Unabhängigkeit und werden uns nicht politischem und bürokratischem Druck beugen. Das ist der Grund, warum wir auch weiterhin dieses Geschäft betreiben – allerdings nur unter der Voraussetzung, daß unsere Sicherheitsvorkehrungen einwandfrei sind.« Einer der Männer, den Bony nicht kannte, nickte wie ein mechanisches Spielzeug. Er trank seinen Whisky und schob verächtlich die Unterlippe vor. Jack nickte zustimmend zu Mikes Worten, und Brian schien auf etwas zu warten. Red Kelly stieß ein Grunzen aus und kippte sein Glas hinter. »Scotch!« brüllte er. »Elendes Gesöff! Die Schotten haben keinen anständigen Whisky mehr zustande gebracht, seit sie von den Engländern eingesackt wurden.« Er stapfte mit schweren Schritten zur Wand, hob ein Stück Tapete an, trat gegen die Scheuerleiste, und ein riesiger Schrank schwenkte in den Raum. Red nahm eine ZehnLiter-Korbflasche heraus, schloß die Geheimtür wieder und kam zum Tisch zurück. »Jetzt wollen wir mal einen Schluck für Männer nehmen. Kipp diese Limonade aus, Joe.« Er drückte die Korbflasche unter den Arm, zog den Kork heraus und füllte die Gläser mit dem echten Gebirgswhisky. »Sie haben die beiden Fremden doch aus ziemlicher Nähe gesehen, Nat«, fuhr Mike Conway fort. »Glauben Sie, daß es dieselben waren, die hier durchs Tal gekommen sind?« »Ich war nicht dicht genug, um es mit Sicherheit sagen zu können, Mike. Gebt mir eine Woche, und ich werde es festgestellt haben.« »Wie wollen Sie das denn machen?« bellte Red. »Indem ich Ihnen folge.« »Du denkst dir aber reichlich viel aus!« 123
»Ich versuche lediglich, ein paar nützliche Ratschläge zu geben«, entgegnete Bony. »Ich renne nicht mit dem Kopf gegen einen Felsen, um festzustellen, wie hart er ist. Ich folge den Spuren dieser Fremden. Dabei riskiere ich natürlich, daß sie mich wiedererkennen und mir die Polizei auf den Hals jagen. Trotzdem würde ich eher dieses Risiko – das meines Erachtens ziemlich gering ist – auf mich nehmen, als mir von zwei herumschnüffelnden Spionen mein Geschäft verderben zu lassen. Soll ich euch einmal sagen, was euer Kardinalfehler ist?« Red hob seine mächtigen Arme. Sein Bart sträubte sich, und seine Augen wirkten wie blaue Stecknadelknöpfe. Man hätte ihn komisch finden können, wenn nicht hinter seinem Gebaren drohende Gewalttätigkeit gestanden hätte. »Ruhig, Nat«, mahnte Mike, aber Bony ließ sich nicht mehr aufhalten. »Ihr lebt hier zu sehr unter euch. Ihr habt den Kontakt zur Außenwelt verloren. Ihr glaubt, die Polizei ist immer noch so wie damals zu Ned Kellys Zeit. Ich habe alles über Ned gelesen. Er hatte Verstand, und den benützte er ziemlich lange, bis er ihn schließlich in Glenrowan verlor. Da war er viel zu selbstbewußt, viel zu sehr von sich eingenommen und von der Dummheit der Polizei überzeugt. Da begann er Fehler zu machen, amüsierte sich in diesem Hotel, und da hatten sie ihn.« »Ich will nichts gegen Ned Kelly hören!« brüllte Red. »Ned Kelly hatte das Zeug in sich, ganz Australien zu erobern«, fuhr Bony ungerührt fort. »Er hätte König dieses Erdteils werden können, wenn die Krone nicht zu schwer für ihn gewesen wäre. Anstatt zu saufen, hätte er seinen Verstand behalten sollen. Genau wie Sie, Red. Ganz genau wie Sie. Nur mit dem Unterschied, daß Sie nie viel Verstand besessen haben. Also halten Sie lieber den Mund und setzen Sie sich hin.« Red stieß den Stuhl zurück und ruderte mit den Armen. Er dehnte seine Brust und beging denselben Fehler wie auf dem Kartoffelacker. Er stürmte auf Bony zu, wurde zur Decke geschleudert, 124
schien sich dort zu überschlagen und landete schließlich rücklings auf dem Boden. Bony spürte die anderen hinter sich und fuhr herum, weil er einen Angriff fürchtete. Aber die Männer standen ruhig da. Er wartete erneut darauf, daß Red angriff. Der Alte taumelte in die Höhe und betastete unter furchtbarem Gebrüll seinen Hinterkopf. »Ich werde dich zu Mus machen, du schwarzer Halunke! Ich werde dich so zu Mus machen, wie damals Kelso –« Seine weiteren Worte gingen unter in dem Protest der übrigen Männer, die ihn niederschrien, um ihn zur Besinnung zu bringen. Conway stand plötzlich auf dem Tisch, ein Glas in der einen, eine volle Karaffe in der anderen Hand. Der Alte tobte weiter, seine Worte waren in dem allgemeinen Tumult nicht zu verstehen. Er begann Bony zu umkreisen. Schließlich stand er mit dem Rücken zu Mike, der die günstige Gelegenheit nutzte. Er ließ die volle Karaffe auf Reds Kopf niedersausen – auf dieselbe Stelle, die vorhin schon etwas abbekommen hatte. Langsam drehte sich Red Kelly um. Aus trüben Augen erkannte er Mike und sah die Karaffe in dessen Hand. Sein Toben brach schlagartig ab – er brach in Gelächter aus. Dann gaben seine Knie nach, und er sackte in die Arme seines Sohnes. »Wir haben jetzt keine Zeit zum Raufen«, bemerkte Mike seelenruhig. »Trinken wir lieber noch einen Schluck.« Brian lehnte seinen Vater gegen die Wand, stand auf und grinste. »Saubere Arbeit«, meinte er aufgeräumt. Bony bewegte den Kopf hin und her, als habe er selbst diesen Schlag über den Schädel erhalten. Dann zuckte er resigniert die Achseln. Wer konnte diese Iren verstehen? Er schenkte sich einen kräftigen Schluck ein.
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ie alte Mrs. Conway saß am Kamin und starrte in die Flammen. Ihre dunklen Augen blickten versonnen, ihr Gesicht war gelöst, nur ihre weißen, zerbrechlichen Hände bewegten sich. Sie sah nicht Matty Conway, die am Herd stand, sie bemerkte auch Rosalie nicht, die am Tisch saß – sie sah die große Halle des Kellyschen Hauses vor sich. Vor rund siebzig Jahren war sie in diesem Haus getraut worden. Dort hatte sie ein Dutzend Totenwachen gehalten. Sie kannte die Geschichte jedes Gobelins, jedes Gemäldes. Sie kannte den Kamin, in dem man einen ganzen Baumstamm auf einmal verbrennen konnte, wenn man ihn von außerhalb des Hauses mit einem Brecheisen nachschob. Dieses große Haus, diese Halle war der Stolz aller Kellys und aller Conways, und auch all derer, die später in die beiden Familien eingeheiratet hatten. Das Bild ihrer Erinnerung schwand, als plötzlich neben ihr eine Stimme mit gekünsteltem irischem Akzent ertönte. »Ich habe in den letzten beiden Tagen viel an Sie gedacht, Oma. Ich hoffe, es geht Ihnen gut.« Ihre dunklen Augen blickten in die blauen Augen des Mannes. Sie musterte sein frisch rasiertes Gesicht und das schwarze Haar, das aus der Stirn gebürstet war. »Schade, daß du nicht öfter an mich denkst, Nat. Dann hättest du dich nicht mit Red Kelly in seinem eigenen Haus geprügelt.« »Es war doch keine richtige Prügelei, Oma. Außerdem rauft Red recht gern. Und als Gast soll man sich ganz nach den Wünschen 126
des Hausherrn richten. Erinnern Sie sich noch, wie Sie ihn damals hinter der Mauer in die Luft fliegen sahen?« »Allerdings.« »Na ja, heute nachmittag hat ihn die Decke daran gehindert, so hoch zu fliegen.« Er bemerkte das schwache Lächeln, das ihre Mundwinkel umspielte, und fuhr fort: »Es ist nur ein Trick. Der andere kommt mit großer Geschwindigkeit angelaufen und tritt in meine offenen Hände. Dann, während er zustoßen will, rukke ich kurz an, und so schnellt er in die Luft. Das ist doch keine Prügelei, hm?« »Man hat mir alles erzählt, Nat«, sagte Oma Conway und bemühte sich, wieder ein ernstes Gesicht zu machen. »Das Schlimmste ist nur, daß jetzt die Decke beschädigt ist.« »Aber, aber! Das hat Red doch ganz allein gemacht. Als er hinaufschnellte, schob er seinen Stiefel hindurch. Wirklich, Oma, ich bin da ganz unschuldig.« »Schon recht, Nat stand nur drei Meter unter ihm«, warf Mike ein. »Außerdem hat er versprochen, Red zu helfen, das Loch wieder zuzugipsen.« Die Augen der alten Dame funkelten. »Das wußte ich nicht. Davon hast du mir nichts erzählt.« »Dann muß ich es vergessen haben, Oma. Als Red wieder aus dem Land der Träume zurückkehrte, hockte Nat neben ihm – mit einem Glas Whisky. Zuerst sah Red den Whisky, dann sah er Nat und wollte wieder wütend werden. Nat sagte: ›Hier, trink einen Schluck und hör endlich mit der Alberei auf!‹ Red knurrte, er sei nicht albern. Er nahm das Glas und trank es auf einen Zug leer. Dann schlug er es auf den Boden und wollte mit dem ausgezackten Scherben auf Nat losgehen. Und dann –« »Zum Teufel – weiter!« Oma Conway atmete schwer und blickte Bony an, als wolle sie sich überzeugen, daß sein Gesicht nicht zerschnitten war. »Nat sagte: ›Nun mal von einem waschechten Iren zum anderen – warum wollen wir nicht für heute Schluß machen? Schließlich 127
ist es dein Haus, dein Whisky und deine Decke.‹ ›Welche Dekke?‹ fragte Red verdutzt. Er blickte hinauf und sah das Loch – du mußt ja bedenken, er saß auf dem Fußboden. Dann schaute er Nat an, und Nat lachte. Und da lachte Red auch, und Nat bot ihm an, beim Zugipsen des Loches zu helfen.« »In aller Freundschaft«, fügte Bony hinzu. »Red ist ein ganz prima Kerl.« »Und was wird mit diesem Kelso?« fragte Oma und warf ihm einen schrägen Blick zu. »Kelso …?« wiederholte Bony. »Ach ja, er sagte etwas davon, er wolle mich zu Mus machen wie diesen Kelso. Red war ja so außer sich, daß man seine Worte nicht auf die Goldwaage legen darf. Jedenfalls hatte er zum Schluß seine gute Laune wieder. Mit zehn Pfund Gipsmörtel ist die Decke wieder repariert. Ich habe ihm angeboten, den Gips zu kaufen, aber davon will er nichts wissen.« »Warum sollte er auch?« Im Widerschein der Flammen glühten die Augen der alten Dame golden. »Nat, möchtest du für mich etwas tun?« »So eine Frage!« erwiderte er. »Rasch, schießen Sie los!« Sie ging nicht auf seinen forschen Ton ein, und auch Mike machte ein ernstes Gesicht. »Willst du mir versprechen, Red nie wieder wütend zu machen? Er ist ein guter Freund, kann aber ein böser Feind werden. Wir wollen in Cork Valley keine Feindschaft mehr haben. Also, Nat, mein Junge, versprich es mir.« »Aber natürlich, Oma. Ich habe nicht an das Tal und die Leute gedacht. Sie wissen ja, wie es so geht: Red stichelt, und dann stichele ich. Aber ich verspreche Ihnen, daß so was nicht mehr passieren wird. Ihnen verspreche ich alles.« »Das glaube ich dir, mein Junge«, sagte die alte Dame heiter, und dann konnte sie nicht länger an sich halten. Sie brach in helles Gelächter aus. »Sag mal, Nat, wie groß ist das Loch denn eigentlich?« 128
»Na ja, einen halben Meter im Quadrat, und dann natürlich noch eine Menge Risse.« »Red ist bis zum Knie hindurchgefahren«, erklärte Mike und mußte ebenfalls lachen. »Ich dachte schon, er würde oben zum Dach wieder ’rauskommen. Oh, Nat, das ist schon ein toller Trick!« »Und als nächster Trick wird das Essen kalt«, unterbrach ihn seine Frau. Als Bony auf seinem angestammten Platz saß, mit Joe zur Rechten und Rosalie zur Linken, kam ihm erneut die Erkenntnis, daß er sich unter diesen Menschen glücklich fühlte. Wie leicht vergaß er doch immer wieder, warum er sich eigentlich hier befand! Nur in Augenblicken wie vorhin, als ihn die alte Dame verstohlen gemustert hatte, um herauszufinden, welche Wirkung der Name ›Kelso‹ auf ihn haben mochte, wurde er an seinen Auftrag erinnert. Es fiel ihm wirklich schwer, sich ins Bewußtsein zu rufen, daß er Inspektor der Kriminalpolizei war. Da saß Joe neben ihm und grinste noch immer leise vor sich hin bei der Vorstellung an die herrliche Prügelei, die es vorhin in Kellys Haus gegeben hatte. Und da saß Rosalie und warf ihm unter langen Wimpern hervor fragende Blicke zu. Er hatte noch keine Gelegenheit gefunden, ihr zu sagen, daß der Brief in Bessies Hände gelangt war. Dieses Mädchen bedeutete für ihn das vordringlichste Problem. Von ihr konnte er möglicherweise viel erfahren, er mußte es nur richtig anpacken. Er würde ihr sagen müssen, daß Torby tot war, und in ihrem Kummer würde sie ihm vielleicht gegen ihre eigenen Leute beistehen. »Was hat es eigentlich mit diesem Cork-Valley-Fest auf sich, von dem ich schon soviel gehört habe?« wandte er sich an Joe. Der rothaarige Junge wollte gerade an Joes Stelle zu einer Erwiderung ansetzen, als Mike Conway einschritt. Bony war immer wieder überrascht, welche Energie und Autorität in diesem sanften, zurückhaltenden Mann steckten. 129
»Unser Fest ist eine Art Geheimnis, Nat«, sagte er. »Ich hoffe, niemand wird Ihnen Genaueres darüber erzählen, damit es für Sie eine wirkliche Überraschung wird. Wann fand dieses Fest zum erstenmal statt, Tony?« »Im Jahre achtzehnhunderteinundachtzig«, erwiderte der rothaarige Junge auf Anhieb und blickte Mike voller Zuneigung an. Niemand in der Familie fürchtete sich vor ihm. »Und das Datum?« fragte Mike weiter. »Der elfte November«, kam die prompte Antwort. Mike lächelte. »So, Nat, das war das ursprüngliche Datum. Sie besuchten doch eine gute Schule und waren bestimmt ein aufmerksamer Schüler. Unser Fest ist das älteste in Australien. Es ist einzig in seiner Art, weil es nicht dazu dient, Touristen anzulokken. Es ist auch keine Geldschneiderei dabei, und außerdem ist es durch und durch demokratisch. Und nun sollen Sie raten, aus welchem Anlaß dieses Fest gefeiert wird.« »Schön, das will ich gern versuchen«, erwiderte Bony lachend. »Ein Blumenfest wie in Bowral kann es ja wohl nicht sein, auch kein Ananasfest … einen Augenblick. An welchem Tag feiert ihr es?« »Am ersten Juli.« »Dann kann es weder ein Blumenfest noch ein Erbsenfest sein, auch kein Thunfischfest – dazu ist jetzt nicht die richtige Jahreszeit. Ist es ein Kartoffelfest?« »Nein«, erwiderte Mike schmunzelnd. Bony lächelte den kleinen Tony und die anderen Kinder an, die gespannt dasaßen und auf seine Antwort warteten. »Ein Melonenfest? Schneeballfest? Ach –, ein Weinfest!« Joe Flanagan brach in lautes Gelächter aus. Mike schüttelte den Kopf und lächelte breit. Oma Conway lachte ebenfalls, und die Kinder quietschten vor Vergnügen. Er solle nur weiterraten, riefen sie ihm zu. Die alte Dame, Mike und dessen Frau steckten die Köpfe zusammen und flüsterten miteinander. Schließlich nickte Mike und wandte sich dann an Bony. 130
»Wie wäre es, Nat, wenn Sie auf unserem Fest ein wenig mit dem Gummiblatt musizierten? Wir haben ein Akkordeonorchester, da könnten Sie mitspielen. Und natürlich ab und zu ein Solo zum besten geben …« »Sehr gern«, erwiderte Bony. »Aber ich kenne nicht besonders viele Stücke. Eigentlich nur ›Danny Boy‹ und ›It’s A Long Way To Tipperary‹. Ich habe seit Jahren nicht mehr geübt. Außerdem sollen auf dem Fest ja wohl hauptsächlich irische Weisen gespielt werden.« Mike nickte, und die alte Dame rief: »Es ist ja noch Zeit zum Üben, Nat. Rosalie kann dir die irischen Weisen beibringen.« Alle Blicke richteten sich jetzt auf das Mädchen, das aufrecht und lächelnd neben ihm saß. Sie nickte bereitwillig. Bony glaubte sogar Begeisterung in ihrem Gesicht zu lesen. »Nun ja, warum nicht!« meinte er. »Falls Rosalie genügend Geduld aufbringt. Ich lerne wahrscheinlich nicht sehr rasch, aber ich besitze Ausdauer.« »Ihr könnt ja auf dem alten Klavier im Nebenzimmer üben«, schlug Matty Conway vor, aber Rosalie schüttelte den Kopf. »Das Instrument ist ja seit Jahren nicht mehr benützt worden, Matty. Nat kann nach dem Unterricht zu mir in die Schule kommen. Das Klavier dort ist in Ordnung.« Bony hatte den Eindruck, daß sich die anderen diesen Vorschlag erst durch den Kopf gehen lassen wollten, darum ergriff er die Gelegenheit beim Schopf. »Gut, Rosalie, vielen Dank. Morgen nach Schulschluß komme ich, und dann geben Sie statt Rechenunterricht Musikstunde. Ich werde mir noch ein paar besonders schöne Blätter besorgen, und wenn wir dann nicht den größten Beifall ernten, will ich nicht Nat Bonnay heißen. Kennen Sie ›When Irish Eyes Are Smiling‹? Und ›Irish Washerwoman‹?« Rosalie nickte, und ihre Augen glänzten vor Vorfreude. Dann wurden Einzelheiten diskutiert, wobei Bony erfuhr, daß ungefähr sechs oder sieben Akkordeons mitwirkten, ein halbes 131
Dutzend Geigen und sogar der alte Pat Mulvaney mit seinem Dudelsack. Joe Flanagan versicherte, daß alle zusammen ein ganz prächtiges Orchester abgäben, und Bony glaubte es gern. Nach dem Abendessen verschwanden die Kinder. Die übliche Tasse ›Wein‹ wurde herumgereicht, und dann lud Mike Bony zu einer kleinen Unterhaltung in sein Büro. Er setzte sich seitlich an seinen Schreibtisch, Bony nahm auf einem zweiten Stuhl Platz. »Ich freue mich, daß Sie Oma versprochen haben, Red nicht mehr zu reizen«, begann Mike. »Red ist schon immer ein etwas schwieriger Kunde gewesen. Sie haben ganz richtig erkannt: Er besitzt zuwenig Verstand. Wie wir alle wurde er aufs College geschickt, aber die haben ihn nicht lange dabehalten, weil er so jähzornig war und keine Vernunft annehmen wollte. Also, um des lieben Friedens willen, halten Sie sich zurück.« »Gewiß«, versicherte Bony bereitwillig. »Was heute nachmittag geschah, war meine Schuld, aber –« »Ich weiß. Er ist der unberechenbarste Ire, der mir je begegnet ist. Hat uns immer nur Scherereien gemacht. Wie gesagt, er gehört zum anderen Zweig der Familie. Trotzdem müssen wir alle zusammenhalten. Dann ist da noch etwas …« Seine dunklen Augen verengten sich. »Steve hat mir erzählt, daß Sie Brian die Pistole abgenommen und weggeworfen haben. Das war sehr gut, Nat, und wir sind Ihnen dafür verbunden. Außerdem bin ich Ihnen dankbar, daß Sie Red nichts davon gesagt haben.« »Ich wollte nicht noch mehr Öl aufs Feuer gießen, Mike. Und die Pistole – ich konnte auf keinen Fall zulassen, daß Brian sie behielt. Damit kann man ja in Teufels Küche geraten. Gewiß, er hatte nicht die Absicht, sie zu benützen, aber man weiß nie, wie es plötzlich kommen kann.« »Ganz recht, daß weiß man vorher nicht. Nun, Brian geht in wenigen Wochen nach Europa, und ich werde mich bedeutend wohler fühlen, wenn Sie dann als Späher fungieren. Ich habe zwar gesagt, daß wir auf dieses Geschäft nicht angewiesen sind, aber immerhin bringt es eine Menge ein. Auf diese Weise haben 132
wir auch viele Kontakte. Wir liefern nur die beste Ware, wie Sie sich denken können. Das Rezept ist ein durch viele Generationen überliefertes Familiengeheimnis. Was halten Sie eigentlich von den beiden Touristen, Nat?« Bony wiegte den Kopf. »Sie könnten Polizisten, ebensogut aber auch Zollfahndung sein. Vor einigen Jahren hob doch die Zollfahndung in der Nähe von Tenterfield auch eine Schwarzbrennerei aus.« »Wir hatten sie ebenfalls hier, aber natürlich konnte man uns nichts nachweisen. Ich verstehe einfach nicht, warum die beiden gerade jetzt hier herumschnüffeln. Seit vergangenem August haben wir nichts mehr geliefert. Unser Geschäft ruht den Sommer über. Und nun schicken wir zu Beginn des Winters die erste Lieferung los, und schon sind sie da!« »Ach, warum zerbrechen Sie sich darüber den Kopf!« erwiderte Bony gelassen. »Zwei Männer in den Bergen sind wie Ameisen auf einem Ast in einem überschwemmten Bach. Wenn man hindurchschwimmt, spielt dieser Ast überhaupt keine Rolle. Wenn Sie das nächstemal eine Lieferung zu O’Grady schicken, lassen Sie mich als Späher vorausgehen. Und zwar nicht unmittelbar vor den Packpferden, sondern zwei Tage früher.« Die dunklen Augen des Iren musterten Bonys Gesicht, jede Falte, jede Furche. Er nickte. »Noch etwas, Mike«, sagte Bony. »Ich sollte mich um die beiden Fremden kümmern. Ich möchte herausfinden, was sie hier suchen und wer sie sind – und wann sie wieder verschwinden.« Eine Minute lang starrte Mike Conway nachdenklich über Bonys Kopf hinweg die Wand an. »Das werde ich mir durch den Kopf gehen lassen, Nat. Auf jeden Fall wird vor dem Fest keine Tour mehr unternommen.« Er lächelte. »Das Fest ist nämlich eine äußerst bedeutsame Angelegenheit.«
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ony konnte sich jetzt ungehindert in Cork Valley bewegen – das war für ihn das wichtigste Resultat der Schmugglertour zu O’Grady. Dieses Privileg gefährdete er weder durch Voreiligkeit noch durch ein unbedachtes Wort. Mancher seiner Kollegen hätte sich um seine Frau gesorgt und versucht, Verbindung mit ihr aufzunehmen; ganz gewiß aber wäre er ängstlich darauf bedacht gewesen, einem Disziplinarverfahren aus dem Weg zu gehen und seinen Vorgesetzten einen Bericht zu übersenden. Bony tat nichts dergleichen. Er vertraute auf die Geduld und das Verständnis seiner Frau, und die Meinung seiner Vorgesetzten kümmerte ihn herzlich wenig. Er führte die Ermittlungen auf seine Art, und bisher hatte ihm der Erfolg stets recht gegeben. Es wäre ihm ein Vergnügen gewesen, die beiden Touristen aufzuspüren. Falls sich herausgestellt hätte, daß sie tatsächlich Polizeibeamte waren, hätte er ihnen einen Marsch geblasen, an den sie sich noch lange erinnert haben würden. Aber da Mike Conway sich bisher nicht zu seinem Vorschlag geäußert hatte, mußte er sich mit Geduld wappnen. Vielleicht kam der Berg zum Propheten … Niemand erwartete mehr von ihm, daß er sich gleich nach dem Abendessen in sein Verlies zurückzog. Die alte Mrs. Conway hatte Gefallen daran gefunden, noch ein wenig mit ihm zu schwatzen. Am Abend nach ihrer Rückkehr war er von Joe Flanagan eingeladen worden, im Hause eines Freundes das Fernsehprogramm mit anzusehen. Joe und Bony waren darin einig, daß das 134
Fernsehen ein Segen für die Menschheit sei, da es die Leute daran hinderte, mit leerem Geschwätz die Zeit totzuschlagen. An den folgenden Tagen grub Bony wieder Kartoffeln aus und erneuerte seine Freundschaft mit den Kookaburras und dem Zaunkönig. Mancher Besucher tauchte jetzt auf dem Kartoffelakker auf, um ein wenig mit ihm zu plaudern. Eines Morgens kam Red Kelly angeritten und eröffnete ihm, die Decke in der Halle sei wieder repariert. »Zum Teufel auch, Nat, was ist das nur für ein toller Trick!« fügte er bewundernd hinzu. Joe Flanagan erschien eines Nachmittags, als er sich wieder einmal auf Hasenjagd befand. Kurz nach ihm kam Jack vom Herrenhaus herüber. Er brachte starkes Papier und eine Schere mit und bat Bony, ihm ein Muster für die Pferdestiefel anzufertigen. Dann stattete ihm Rosalie mit den Schulkindern einen Besuch ab. Die Kinder waren mit kleinen Schaufeln, Spiritusgläsern und Schachteln bewaffnet. Es war ein schöner, warmer Nachmittag, und Rosalie erklärte ihm, daß sie sich auf einer naturkundlichen Exkursion befänden. Die älteren Kinder bekundeten vor allem Interesse für das, was unter den großen, von der Mauer gefallenen Steinen herumkroch, während die Mädchen Pflanzen sammelten, die Rosalie dann bestimmte. Niemand aber beachtete die Kookaburras, von denen einer so zutraulich war, daß er ständig Gefahr lief, von Bony aufgespießt zu werden. Als die Kinder beschäftigt waren, kam die erwartete Frage. Rosalie wußte, daß Oma Conway sie mit ihrem Fernglas beobachtete, und stellte sich deshalb so auf, daß sie den Anschein erweckte, als sähe sie lediglich zu, wie die Kartoffeln ans Tageslicht befördert wurden. »Haben Sie meinen Brief weitergegeben, Nat?« »Ich steckte ihn Bessie unauffällig zu, ganz wie Sie es mir aufgetragen hatten«, erwiderte Bony, ohne sich aus seiner gebückten Haltung aufzurichten. »Ich hoffe, richtig gehandelt zu haben. Sie müssen verstehen, daß ich die Conways nicht hintergehen möchte. Übrigens soll ich Sie vielmals von Bessie grüßen. Ich soll 135
Ihnen auch ausrichten, daß sie sich sehr darauf freut, Sie beim Fest wiederzusehen.« »Vielen Dank, Nat. Wann kommen Sie zur Musikstunde?« »Wann es Ihnen paßt. Ich denke, wir sollten bald beginnen, nicht wahr?« Sie wanderte mit den Kindern weiter. Auf dem Rückweg, etwa eine halbe Stunde später, kam sie noch einmal vorbei und schlug ihm vor, um fünf in der Schule zu sein. Bony arbeitete weiter. Hin und wieder richtete er sich auf und blickte den Kindern nach, die an der Mauer entlang zum Fluß gingen. Hoffentlich führt mein Entschluß nicht zu Komplikationen, dachte er. Er mußte ihr diese Nachricht so schonend wie möglich beibringen. Als er zehn Minuten vor fünf ins Schulhaus kam, korrigierte Rosalie Hefte. Die Schule bestand aus einem einzigen Klassenzimmer und war in einem cremefarbigen Gebäude untergebracht, das ringsum von einem asphaltierten Spielplatz umgeben war. Ein großer weißer Fahnenmast beherrschte die ganze Anlage. »Ah, da sind Sie ja, Nat! Können wir anfangen?« »Wenn es Ihnen recht ist? Die Gummiblätter habe ich mitgebracht. Ich bin heilfroh, daß die Kinder schon weg sind, am Anfang wird es schaurig klingen.« Er nahm neben Rosalie vor dem kostbaren Stutzflügel Platz. Von hier aus hatten sie die einzige Tür des Raumes im Auge. An der linken Wand befand sich ein großes Fenster. Es war geschlossen, besaß aber keine Rollos. Hinter dem Spielplatz begannen gleich die Häuser des Dorfes. Die Sonne warf ihre letzten Strahlen durch die Scheiben bis hinüber zur Tür, die Bony sorgfältig geschlossen hatte. Auf dieser Seite des Raumes konnte sie niemand von draußen beobachten – bis zum Einbruch der Dunkelheit. Sobald sie das Licht einschalten mußten, waren sie den Blikken der Dorfbewohner preisgegeben. 136
Rosalie begann zu spielen, und Bony beobachtete fasziniert ihre schönen Hände mit den gelenkigen Fingern. Sie trug drei kostbare Opalringe. Bony verstand etwas von Opalen und schätzte den Wert auf mindestens hundert Pfund. Sein Blick wanderte zu ihren schmalen Handgelenken, zu den weißen Manschetten ihres uniformähnlichen blauen Kleides, hinauf zu ihrem Gesicht und ihrem Haar. »Sie spielen ja gar nicht!« tadelte sie schulmeisterlich. »Ich höre Ihnen zu.« »Achten Sie auf die Melodie. Ich beginne noch einmal von vorn. Sind Sie sicher, daß niemand von den anderen sah, wie Sie Bessie den Brief gaben? So, und nun bitte mit dem Gummiblatt.« Rosalie spielte ›Come Back to Erin‹, und Bony gab sich mit der Begleitung die größte Mühe, während seine Gedanken weit fort waren. Er vergegenwärtigte sich jene Szene am Felsturm, als er den Umschlag geöffnet und Rosalies Brief gelesen hatte. Er sah die Flammen wieder vor sich, wie sie Rosalies Brief verzehrten. Er sah sich ein Blatt Papier aus der Tasche nehmen und schreiben: ›Chefinspektor Casement. Ich bin sehr verärgert. Als Touristen verkleidete Beamte spazieren in Cork Valley und den umliegenden Bergen herum – trotz Ihrer ausdrücklichen Zusicherung, sich in keiner Weise einzumischen. Bitte veranlassen Sie, daß diese Leute sofort zurückgezogen werden. Meine Ermittlungen gehen gut voran. Freundliche Grüße. B.‹ Und dann hatte er dieses Schreiben in Rosalies Umschlag gesteckt … »Das war gar nicht schön«, sagte die Lehrerin. »Versuchen wir es noch einmal.« »Ich mußte gerade an Bessie denken«, log er rasch. »Sie will Brian heiraten, hat sie mir gesagt.« »Das würde ich niemals zulassen«, erwiderte Rosalie energisch. »Ich bezweifle, daß Sie oder irgend jemand sonst auf der Welt Bessie von dem abhalten könnte, was sie sich einmal vorgenommen hat.« 137
»Sie täuschen sich, Nat. Bessie ist nur nach außen hin so starrköpfig.« »Ich soll Ihnen ausdrücklich bestellen, daß sie gewußt hat, für wen der Brief bestimmt war, noch bevor sie Gelegenheit hatte, die Anschrift zu lesen.« »Der Mann heißt Hillier.« »Ich weiß. Und Bessie wußte es auch. Sie erzählte mir, daß ein Eric Hillier eine Zeitlang bei den Conways gewohnt habe. Er sei Lehrer und Mineraloge gewesen. Aber da Sie ihr bei Ihrem letzten Zusammensein nichts von ihm sagten, nimmt sie an, daß Sie sich erst später in ihn verliebt haben.« »Bessie ist ein kluges Kind.« Sie begann ›My Wild Irish Rose‹ zu spielen. »Wir wollen uns jetzt an die Arbeit machen.« Bony wußte, daß er nicht mit der Tür ins Haus fallen durfte. Eine Frage im unpassenden Moment konnte seinen ganzen Plan zunichte machen. Diese charmante Irin war kein sich in Liebe verzehrendes Mädchen, das jedem seine Gefühle offenbarte, der nur ein wenig Sympathie für sie bekundete. Abgesehen von ihrer Loyalität der Familie gegenüber war sie ausgesprochen selbständig. Er hatte den Brief für sie befördert, und damit schien die Angelegenheit für sie erledigt zu sein. Aber schließlich war dies die erste Musikstunde. Einige Tage später zeigte Rosalie sich aufgeschlossener, und Bony erfuhr mehr von der Geschichte, die ihn so brennend interessierte. Torby war an einem Nachmittag Mitte Dezember aufgetaucht. Zusammen mit Mike Conway und einem Mann namens O’Halloran war er am Schulhaus vorübergekommen, als sie gerade Turnstunde abhielt. Er war stehengeblieben, hatte den Hut vor ihr gezogen und den Kindern einen fröhlichen Gruß zugerufen. Am gleichen Abend und an den folgenden Tagen hatte er in der Conwayschen Wohnküche auf dem Platz gesessen, den Bony jetzt einnahm. Er interessierte sich sehr für die Schule, und da er über Unterrichtsfragen sehr gut Bescheid wußte, zweifelte 138
niemand daran, daß er Lehrer war. Er verbringe seine Sommerferien stets in den Bergen, wobei er geologische Studien betriebe, so hatte er erklärt. O’Halloran hatte ihn östlich vom Wasserfall entdeckt. Er sei am Vortag hier ins Tal gekommen, hatte Torby gesagt. Auf die Frage, wie er denn den Weg über die Steilwände habe nehmen können, hatte er geantwortet, daß er ein erfahrener Bergsteiger sei. Mike Conway lud ihn ein, ein paar Tage in seinem Haus zu verbringen, und stellte ihm das Verlies unter dem Schuppen zur Verfügung. Anscheinend hatte Torby sich völlig ungezwungen im Tal bewegen können. Einmal sei er den Fluß bis zu Kellys Haus entlanggegangen, und er habe auch mehrmals das Schulhaus besucht, wie Rosalie erzählte. Bei einem seiner Besuche habe er in der Bücherei einen Band mit Berichten über die Pionierzeit entdeckt und ihn sich ausgeliehen. In diesem Buch hatte Rosalie später seine Nachricht gefunden. Nach sechs Tagen verschwand Torby dann plötzlich, ohne sich von ihr verabschiedet zu haben. Beim Abendessen erfuhr sie von Mike, daß man ihn bis Wollongong im Wagen mitgenommen habe. Das entliehene Buch hatte Torby einem der Kinder gegeben mit der Bitte, es Rosalie auszuhändigen. Das Mädchen gab Bony gegenüber offen zu, daß dieses merkwürdige und unhöfliche Verhalten sie aufs tiefste verletzt habe. Zwei Tage vor Weihnachten hatte Mike dann einen Brief vorgelesen, in dem Hillier sich für die genossene Gastfreundschaft bedankte. Als Absender war eine Adresse in Sydney-Rydalmere angegeben. Nach dem Fest hatte Rosalie an diese Adresse geschrieben, aber keine Antwort erhalten. Ihre Überraschung, als sie Hilliers Worte zufällig in dem entliehenen Buch entdeckte, sei riesengroß gewesen, zumal er ihr hier eine völlig andere Anschrift hinterlassen hatte, nämlich 10 Evian Street, Rose Bay. Und da habe sie den Verdacht geschöpft, 139
daß Matty Conway ihren ersten Brief an Eric gar nicht weitergeleitet hatte. Dies alles erzählte sie Bony, ohne daß er sie besonders dazu ermuntert hätte. Aber er mußte noch mehr wissen, und dazu war ein behutsames Kreuzverhör nötig. Das zog sich natürlich über mehrere Tage hin. »Erinnern Sie sich noch an das Datum, als Hillier nach Wollongong fuhr?« »O ja«, erwiderte Rosalie so nachdrücklich, als sei es ihr unmöglich, diesen Tag zu vergessen. »Es war am zwanzigsten Dezember.« Am 21. Dezember hatte man den toten Eric Torby auf der Straße nach Bowral gefunden. »Würden Sie mir gestatten, die Worte zu lesen, die er Ihnen in das Buch hineinschrieb?« »Oh, Nat, ich weiß nicht recht …« Aber dann fügte sie hinzu: »Ja, wenn Sie es gern wollen …« »Sie könnten mir das Buch ja einmal gelegentlich leihen.« »Ich habe die Seiten herausgerissen. Ich bewahre sie in einer kleinen Schatulle auf.« Bony seufzte unhörbar. »Nun, das ist ja auch nicht so wichtig. Sie sagten, Mike habe erklärt, Hillier habe sich im Auto nach Wollongong mitnehmen lassen. Wer hat den Wagen denn gefahren?« »Das weiß ich nicht.« »Mike war es nicht?« bohrte Bony weiter. »Sehen Sie, Nat, dieser zwanzigste Dezember war für mich ein Tag wie jeder andere – bis zum Abendessen. Warum hätte ich also besonders aufpassen sollen? Und auf was? Irgend jemand hat ihn mit nach Wollongong genommen. Er war schon beim Mittagessen nicht mehr da, aber da machte ich mir natürlich noch keine Gedanken.« »Ist Ihnen aufgefallen, daß jemand nach Hilliers Abreise besonders bedrückt wirkte?« 140
»Komisch, daß Sie mich das fragen«, murmelte Rosalie nachdenklich. »Ich hatte das Gefühl, daß mit Matty etwas nicht stimmte, bis dann dieser Brief von Eric kam, in dem er sich für die Gastfreundschaft bedankte.« »Und niemand außer Matty kann Ihren Brief an Hillier unterschlagen haben?« »Sie nimmt stets die Post aus dem Briefkasten, steckt sie in den Postsack und versiegelt diesen. Wer dann gerade nach Bowral oder Wollongong fährt, nimmt ihn mit.« In einem besonders günstigen Moment wagte Bony die Frage: »Warum sollte denn Matty Ihrer Meinung nach den Brief nicht abgeschickt haben?« »Weil sie nicht will, daß ich mich in einen Fremden verliebe. Eric ist ja nicht einmal Ire. Außerdem …« Das war zunächst alles, was er erfuhr. Erst zwei Abende später beendete Rosalie ihren Satz. Sie erzählte Bony, die Conways hofften, sie würde einen Kelly heiraten. »Als Brian vom College zurückkam, eröffnete mir Oma, daß er mich heiraten würde. Ich erwiderte, daß ich Brian nie genügend lieben könne, um seine Frau zu werden. Darauf meinte sie, Liebe habe mit Heirat nichts zu tun. Brian ist ganz in Ordnung, Nat, aber ich mußte ihn bereits einmal in seine Schranken weisen. Er tut mir leid, aber es ging nicht anders. Außerdem will ich heiraten, wen ich will.« Bony erfuhr noch, daß O’Halloran auf der Kellyschen Seite des Tales wohnte und daß er Torby alias Hillier ungefähr eine Viertelmeile östlich vom Wasserfall begegnet war. Er erkundigte sich auch nebenbei, ob sie die Gegend dort gut kenne, worauf sie erwiderte, sie sei niemals dort gewesen. Das Gelände um den Wasserfall sei streng tabu, da dort öfter ohne die geringsten Anzeichen große Felsbrocken aus der Wand brechen. Der Wasserfall! Bony mußte an jenen Abend denken, als ein Auto ins Dorf gekommen war. Drei Männer stiegen ein, und das Auto fuhr weiter, unbeleuchtet – in Richtung zum Wasserfall! 141
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onys Heldenstück während der Schmuggeltour hatte ihm zwar völlige Bewegungsfreiheit in Cork Valley beschert, aber dadurch war er dem Geheimnis des Tales in keiner Weise nähergekommen. Er wußte instinktiv, daß man ihm jetzt vertraute. Er wußte ebenfalls, daß der Zucker, den sie von O’Grady hätten mitbringen sollen, für die Herstellung des sogenannten Löwenzahnweins bestimmt gewesen war, aber man hatte ihm noch keinen Hinweis gegeben, wo sich die Brennerei befand. Er war zu dem Entschluß gelangt, sich strikt an seinen Auftrag zu halten, und der verlangte von ihm die Aufklärung des Mordes an Eric Torby. Er schloß weder schwarzgebrannten Whisky noch die Ermittlung von Schwarzhörern und Schwarzsehern von Rundfunk und Fernsehen ein. Immerhin war die Schwarzbrennerei höchstwahrscheinlich der Ansatzpunkt für die Aufklärung des Mordes. Zur Feststellung der Tatsache, daß Eric Torby kurz vor seinem Tode in Cork Valley gewesen war, hatte er eine ziemlich lange Zeit gebraucht. Bony machte sich darüber Gedanken. Immerhin hatte er dort Erfolg gehabt, wo umständliche Polizeiverhöre versagt hatten. Es gab keinen Zweifel, daß sein Plan zum Scheitern verurteilt gewesen wäre, wenn er gleich nach seiner Ankunft herumgeschnüffelt und nach illegalen Destillen gesucht hätte. Dieses Tal und seine Bewohner mußte man zu nehmen verstehen. Hier versagten alle landläufigen Methoden – nur Geduld und äußerste Behutsamkeit konnten zum Ziel führen. Zwei 142
Touristen waren in den Ort gekommen – Red Kelly hatte sie gestellt und von den Weidegründen verwiesen. Bony erinnerte sich des Kollegen, der vor ihm versucht hatte, das Geheimnis des Tals zu ergründen. Seine Ermittlungen waren beendet gewesen, noch ehe er sie hatte aufnehmen können – er war schwer verletzt im Krankenhaus gelandet. Und nun hatte Bony erfahren, auf welche Weise Erich Torby ins Dorf gelangt war. Wie ein Einbrecher mußte er über die Steilhänge hinab ins Tal geklettert sein, wo man ihn am folgenden Morgen entdeckt und in den Ort gebracht hatte. Bony revidierte seine ursprüngliche Meinung, daß der Mann sich ungezwungen hatte bewegen können. Vermutlich war jeder seiner Schritte scharf bewacht worden. Hatte man Torby zum Tode verurteilt und hingerichtet, weil er dem Geheimnis von Cork Valley auf die Spur gekommen war? Dann befand sich dieses Geheimnis in der Nähe des Wasserfalles, wo Torbys Spuren begonnen hatten, bis sie schließlich viele Meilen entfernt auf der Straße nach Bowral endeten. Bony konnte es nicht wagen, direkte Fragen zu stellen. Rosalie schien nicht zu wissen, mit wem Torby aus dem Dorf weggefahren war. Einen anderen konnte er nicht fragen, denn womit hätte ein Nat Bonnay ein solches Interesse begründen sollen? Selbst bei Rosalie mußte er mit seinen Fragen vorsichtig sein, um zu verhindern, daß sie sich ihm verschloß. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich in Geduld zu fassen und die Zeit für sich arbeiten zu lassen. Inzwischen mußte er versuchen, soviel wie möglich auf eigene Faust herauszubekommen. Er wartete bis Mitternacht, bevor er den Kellerraum verließ. Anstelle des am Abend getragenen weißen Hemdes hatte er ein dunkelblaues Arbeitshemd übergestreift, und statt der Stiefel trug er drei Paar Socken. Der Mond hing schon tief und drang nur schwach durch den leichten Nebel, so daß völlige Dunkelheit herrschte. Er mied die Straße und schlich hinter den Häusern und der Schule entlang. Dann hielt er sich neben dem Weg, auf dem seinerzeit das unbeleuchtete Auto entlanggefahren war. 143
Er hatte kaum die Dorfgrenze passiert, als er eine kalte Nase an seiner Hand spürte. Es war einer der Spürhunde, die Brian Kelly auf der Schmuggeltour begleitet hatten. »Na, was willst du denn?« flüsterte er. Er fürchtete schon, daß der Hund für Brian Kelly Spiondienste leistete und jeden Moment davonlaufen würde, um seinen Herrn zu verständigen. Aber der Spürhund blieb ruhig stehen, wedelte mit der Rute und blickte Bony mit schräggelegtem Kopf aus treuen Hundeaugen an. »Ich kann mir denken, was du willst«, murmelte Bony. »Du hast Langeweile und möchtest Spazierengehen, ja?« Der Hund schien diese Frage bejaht zu haben, denn er trottete ruhig vor ihm her. Bony hielt sich nach rechts, um den Weg hinter der Meierei zu erreichen. Schließlich gelangte er zur Schweinemästerei, die durch ihren Geruch und die Grunztöne, die daraus hervordrangen, unmöglich zu verfehlen war. Er blieb einen Augenblick stehen und blickte sich um. Bei Tageslicht wäre es einfach gewesen, einen Weg zu finden, der von hier weiterführte. Doch der Hund ersparte ihm unnütze Sucherei. Sobald das Tier bemerkt hatte, daß das Interesse des Mannes nicht den Schweinen galt, lief er schnüffelnd auf eine niedrige Buschwand zu und verschwand darin. Bony sah, daß es sich wider Erwarten um einen schmalen Gürtel handelte, auf dessen anderer Seite er die Reifenspuren entdeckte. Bei einer Inspektion der Schweinemästerei wäre keine Mensch auf die Idee gekommen, daß sich jenseits der Büsche ein Weg befand. Der Hund schien nun zu wissen, wohin der Mann wollte. Er trottete, die Nase dicht auf dem Boden, den Weg entlang. Rechter Hand lag der Fluß, und in kurzer Zeit gelangten sie zu einer Brücke, die eigentlich mehr einem Knüppeldamm glich. Bony ließ die Brücke links liegen. Er zog es vor, sich nasse Füße zu holen. Der wenig begangene Weg führte nur über Grasland und war nicht von Bäumen umstanden. Ohne Zweifel mußte der 144
Fahrer des Autos, das in jener Nacht ohne Licht hier entlanggefahren war, vorzügliche Augen besitzen. Ab und zu blieben Mann und Hund stehen, aber immer war es nur das Geräusch eines Kaninchens oder eines Beuteltieres gewesen, das die beiden nächtlichen Wanderer erschreckt hatte. Langsam wurde das Tosen des Wasserfalls immer stärker. Bei Tag hatte Bony die Entfernung zwischen Dorf und Wasserfall auf eine Meile geschätzt, jetzt schien ihm der Weg viel weiter zu sein. Sie gelangten wieder zum Fluß und zu einer Brücke, und wieder watete Bony durch das Wasser. Schließlich waren sie von einem ohrenbetäubenden Getöse umgeben, und Bony erblickte über sich die Schleier des aus der Höhe herabstürzenden Wasserfalls. An seinem Fuße war in den felsigen Boden ein Becken entstanden, in dem sich die Wassermassen mit nicht endenwollendem Donnern sammelten. Das überlaufende Wasser speiste den Fluß, und mehrere Pumpen versorgten zweifellos das Dorf. Hinter dem Becken führte der Weg nicht weiter, und es war beinahe anzunehmen, daß die Leute in dem unbeleuchteten Auto die Pumpen hatten kontrollieren wollen, östlich des Wasserfalls war Torby von O’Halloran gefunden worden … Der Spürhund wartete geduldig auf der östlichen Seite des Beckens. Bony ging weiter, und das Tier führte ihn durch spärliches Gebüsch und durch trockene Wasserläufe. Plötzlich bog es nach rechts ab, und ebenso plötzlich wie sie vorhin vor dem Wasserfall gestanden hatten, befanden sie sich jetzt unterhalb einer Felswand, die jedoch nicht völlig senkrecht in die Höhe stieg. Der Hund begann an ihr hinaufzuklettern. Als Bony zögerte, hielt er an und blickte wie fragend zurück. Bony sagte sich, daß der Hund schließlich keine Gemse war und also nicht aus Vergnügen an einer steilen Felswand hinaufklettern würde. Offensichtlich kannte er diesen Weg. Bony kam sich vor wie eine Fliege an der Wand, wenn plötzlich das Licht verlöscht. Er hatte den Eindruck, daß er, ununterbrochen das Getöse des Wasserfalls im Ohr, bereits mehrere hundert Meter hochgeklettert 145
war, als sie schließlich zu einer Felsterrasse gelangten, die breit genug war, ein Auto aufzunehmen. Es hatte allerdings nicht den Anschein, daß hier jemals ein Fahrzeug gestanden hatte. Er roch plötzlich Rauch – Rauch von verbrannten Gummibäumen. Der Hund lief weiter, und sie gelangten zu einem Baumstamm, der sich bei näherem Hinsehen als Teil eines Aufzuges erwies, mit dem man auch schwere Lasten befördern konnte. Die Felsterrasse verengte sich jetzt. Der Untergrund wurde naß und schlüpfrig, und jeder unbedachte Schritt mußte unweigerlich ins Verderben führen. Plötzlich befand sich Bony in einem Korridor, der auf der einen Seite aus Fels, auf der anderen aus einer Wasserwand bestand. Er war jetzt hinter dem Wasserfall und entdeckte den Eingang zu einer Höhle. Neben ihm stand der Hund und schien unschlüssig, ob er Bony noch weiter folgen solle. Auf dem Boden der Höhle stand eine Sturmlaterne. In ihrem Licht erkannte Bony einen Holzstoß und verschiedene andere Gegenstände, unter anderem einen großen Kessel und eine Rohrschlange. Aus den Ventilen entwich Dampf, und aus der schlecht verschlossenen Tür des Kessels leuchtete die Glut. Rauch und Dampf vereinigten sich schließlich an der Decke der Höhle, um als dunkle Wolke von den talwärts stürzenden Wassermassen aufgeschluckt zu werden. Ein vollendetes Versteck für eine Schwarzbrennerei! Von hier aus konnte man mehr als hundert Jahre lang die Interessenten mit dem echten Gebirgswhisky versorgen! Niemand, der diesen Wasserfall betrachtete, selbst wenn er dicht davor stand oder ein Fernglas benützte, würde etwas Verdächtiges bemerken können, da Rauch und Dampf untergingen im Gischt der Wassermassen. Der Hund machte keine Anstalten, weiterzugehen. Bony schlich, dicht an die Wand gedrückt, in die Höhle. Er sah jetzt Korbflaschen und Glaskrüge, mehrere kleine Hochdruckkessel, einen Berg Kartoffeln und Zuckersäcke. Dann entdeckte er eine schmale Nische an der Felswand, in die er hineinschlüpfte und 146
sich verbarg. Die brennende Lampe am Boden ließ die Anwesenheit eines Mannes vermuten. Bonys Vorsicht erwies sich als richtig. Neben dem großen Dampfkessel erschien ein Mann. Als er die Feuertür öffnete, erkannte Bony im Widerschein der Flammen Joe Flanagans Gesicht. Seine Glatze schien rot zu erglühen, während er Holzscheite in die Glut warf. Ein zweiter Mann näherte sich aus dem Hintergrund. Sein Mantel wehte wie von einem Luftzug bewegt. Bony kombinierte, daß sich weiter hinten in der Höhle ein Ventilator befinden mußte. Der Mann war Red Kelly. »Ich lege mich jetzt hin, Joe.« Er schrie, obwohl in der Höhle Stille herrschte. »Sag mir Bescheid, wenn du morgen früh gehst.« Flanagan schlug die Feuertür zu und drehte sich um. »In Ordnung, Red. Soll ich morgen abend wiederkommen?« »Nein. Wir machen bis nach dem Fest Schluß. Sag Spade Bescheid, daß er gegen Mittag kommt und mir beim Wegpacken hilft.« Red Kelly verschwand in einer Nebenhöhle und kehrte nach wenigen Minuten im Pyjama zurück. Im schwachen Licht der Sturmlaterne wirkte er wie ein Orang-Utan, den man für den Operationstisch zurechtgemacht hatte. »Sag Spade, daß er was zu futtern mitbringt«, rief er dröhnend über die Schulter zurück. Joe erwiderte, er würde es nicht vergessen, worauf Red endlich in der hinteren Höhle verschwand, wo anscheinend sein Bett stand. Joe holte sich einen leeren Sack und legte ihn über eine Kiste. Die Lampe hängte er an einem Rohr auf, dann rückte er die Kiste näher ans Feuer, holte aus seinem riesigen, weiten Rock eine Flasche und nahm einen kräftigen Schluck. Er schob die Flasche zurück, brachte ein Taschenbuch zum Vorschein und begann zu lesen. Das Rauschen des Wasserfalls drang nur gedämpft herein und vermischte sich mit dem Zischen des entweichenden Dampfes. 147
Bony überlegte, was er nun tun solle – eine weitere Untersuchung der Hohle schien ihm zu riskant. In diesem Augenblick schrillte eine Glocke. Sie schlug so unerwartet an, daß Bony ebenso erschrak wie der Mann auf der Kiste. Er warf das Buch weg und blickte nach rechts. Die Glocke verstummte, und die eingetretene Stille brachte Joe auf die Beine. Er nahm die Lampe und trat an die rechte Höhlenwand, wo der Lichtschein einen ähnlichen Klappenkasten enthüllte, wie er sich auch neben Mike Conways Küchentür befand. »He, Red!« rief Joe Flanagan, und Bony benützte die Gelegenheit, zum Höhleneingang zurückzuschlüpfen. Gespannt spähte er um die Ecke des Felsens. Kelly erschien. Er mußte die Alarmglocke ebenfalls gehört haben, denn er ging barfuß und ohne eine Frage zu stellen zu Joe hinüber. »Die erste Brücke«, sagte Joe, und seine Stimme Hang gar nicht freundlich. »Warten wir auf die zweite«, brummte Red. »Könnte ja auch ein Beuteltier sein, wie wir es schon einmal erlebten. Erst die zweite Brücke ist maßgebend.« Bony wartete nicht auf den zweiten Alarm, da er nicht wußte, welche der Brücken als erste und welche als zweite bezeichnet wurde. Er mußte machen, daß er wieder ins Tal hinunterkam. Als er über die breite Terrasse davonlief, hoffte er, sofort den Abstieg zu finden, denn dies war vermutlich der einzige Weg ins Tal. Beim Abstieg rutschte Bony zweimal aus. Dabei riß er einige Steine los, die polternd zu Tal rollten. Er hoffte, daß Red und Joe nicht davon alarmiert wurden. Endlich hatte er wieder festen Boden unter den Füßen. Er kroch in einen Busch, um zu sehen, ob Joe und Red ihm auf dem halsbrecherischen Pfad gefolgt waren. Als sich nichts rührte, schlug er sich tiefer in die Büsche. Er mochte diesmal nicht dem Pfad 148
folgen, sondern eilte, so schnell es in der Finsternis möglich war, quer durch das Gelände ins Dorf zurück. Die Häuser lagen in tiefer Dunkelheit, nur in Conways Küche brannte Licht. Bony spähte durch einen Spalt im Vorhang. Mike und Matty standen schweigend nebeneinander und blickten auf die weiße Klappe, die gefallen war. Lange Minuten standen sie unbeweglich, bis endlich die zweite weiße Scheibe fiel. Da löste sich die Spannung, und sie wandten sich von dem Kasten ab.
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allo, Nat, aufwachen!« Bony grunzte, drehte sich um, und Mike mußte noch einmal rufen. Bony hatte den Eindruck, noch keine fünf Minuten geschlafen zu haben. Er stand auf und zündete die Sturmlaterne an. Als Mike Conway mit Red Kelly die Stufen herunterkam, sahen sie einen verschlafenen, barfüßigen Nat am Tisch stehen. »Da gehen seltsame Dinge vor, Nat, mein Junge«, begann Red und setzte sich auf den einzigen Stuhl. »Dachte mir, daß du uns vielleicht helfen kannst.« Bony blickte blinzelnd von Red zu Mike, langte nach Papier und Tabak und rollte sich eine seiner sogenannten Zigaretten. »Eine komische Zeit habt ihr euch ausgesucht«, brummte Bony vorwurfsvoll. »Ich will euch ganz gern helfen, aber warum warten wir damit nicht bis zum Morgen?« »Tja, das ist so …« 149
»Ich will es erklären, Red«, unterbrach ihn Mike. »Es kommen nicht oft Fremde in unser Tal, Nat, aber heute nacht scheint jemand dagewesen zu sein. Sie sind um die Schweinemästerei geschlichen und haben dann die Straße benützt, als sie den Ort verließen. Wir möchten, daß Sie gleich morgen früh die Sache untersuchen – wie viele es sind, woher, wohin, und so weiter.« »Das dürfte nicht weiter schwer sein.« Bony zündete sich die Zigarette an und blickte auf den Wecker. »Erst fünf. In anderthalb Stunden wird es hell. Warum also diese Eile? Ihr erwartet doch wohl nicht von mir, daß ich im Dunkeln die Spur aufnehme?« »Natürlich nicht, Nat«, pflichtete ihm Mike bei. »Ich dachte mir, daß Sie sich anziehen und in Ruhe frühstücken. Inzwischen ist es dann hell. Ich muß Ihnen auch noch einiges erklären, damit Sie alles verstehen.« »Ja, ganz recht«, fügte Red hinzu. »Unser Fest rückt näher, da wollen wir keine Fremden hier haben. Du hilfst uns doch, wie?« »Welche Frage! Ist der Kaffee schon fertig?« Mike erwiderte, daß er in zwei Minuten fertig sein würde, und außerdem würde es auch noch einen Schluck ›zum Aufwärmen‹ geben. Als Bony in die Wohnküche kam, prasselte ein lustiges Feuer im Kamin, und auf dem Herd kochte das Kaffeewasser. Red saß bereits am Tisch, und Mike brachte Kaffee und ›Wein‹. Bei den wenigen Schritten vom Schuppen zum Haus hatte Bony gemerkt, daß es draußen eisig kalt war. »Schön«, meinte er und blickte die beiden Männer an. »Woher wißt ihr also, daß jemand ins Tal gekommen ist? Fehlen ein paar Schweine? Und woher wißt ihr, daß die Eindringlinge auf der Straße weitergegangen sind! Sie könnten doch noch im Tal sein.« »Das wollen wir ja herausfinden«, sagte der rote Hüne. »Deshalb sollst du ihre Spur aufnehmen.« 150
»Woher wißt ihr überhaupt, daß jemand hier war?« wiederholte Bony hartnäckig. »Weil sie gesehen wurden«, erwiderte Red. »Wie viele waren es denn?« »Woher sollen wir das wissen? Das sollst du herausfinden –« »Wir verschwenden nur Zeit«, unterbrach ihn Mike mit ruhiger Stimme. Mike Conway opponierte nur selten offen gegen Red Kelly, dafür war er ihm viel zu sehr überlegen, aber jetzt schien ihn die Sturheit des roten Hünen doch zur Verzweiflung zu bringen. »Die Männer wurden nicht gesehen, Nat«, erklärte er. »Unsere Brücken sind mit einer Alarmvorrichtung versehen. Die Klingeln wurden ausgelöst. Ich habe zusammen mit Matty dort drüben den Klappenkasten beobachtet. Wir dachten, wenn Sie gleich nach Tagesanbruch bei der obersten Brücke beginnen, müßten Sie sie einholen.« »Sie erwähnten vorhin die Straße – es ist doch dieselbe, über die wir damals ins Tal kamen, als Sie mich im Auto mitnahmen?« fragte Bony. Als Mike nickte, fuhr er fort: »Dann müssen sie, nachdem sie die oberste Brücke passiert hatten, am Haus Ihres Bruders vorbeigekommen sein. Hat er sie nicht zufällig gesehen? Er schläft doch auf der Veranda, wie? Hat er keine Hunde?« »Er schläft auf der Veranda, und er besitzt auch zwei Hunde. Die Fremden kamen nicht an seinem Haus vorüber.« »Dann werden wir herausfinden, welchen Weg sie genommen haben. Dürfte nicht weiter schwer sein.« Bony schenkte sich Kaffee nach. »Haben eigentlich auch früher schon Fremde hier herumgeschnüffelt, bevor ich hier war?« »Tja, nun …« Red blickte Bony mißtrauisch an. »Mich könnte die Polizei höchstens wegen dieses Hühnerdiebstahls suchen, an dem ich obendrein noch unschuldig bin«, fuhr Bony fort. »Aber deshalb kommen die nicht bei Nacht und Nebel über die Berge. Ich scheide also aus. Es muß einen anderen 151
Grund geben, der nichts mit mir zu tun hat. Sind also schon einmal Fremde hiergewesen?« »Ja«, erwiderte Mike. »Es sind früher schon welche hiergewesen.« »Und was haben Sie damals unternommen?« »Nichts. Wir haben uns lediglich eine Zeitlang ruhig verhalten.« »Aber jetzt können wir uns nicht einfach ruhig verhalten«, mischte sich Red ein. »In zehn Tagen ist unser Fest. Das können wir doch nicht verschieben.« »Warum sollte es denn verschoben werden?« fragte Bony. Red blickte Mike an, und Mike erwiderte nachdenklich diesen Blick. Beiden schien diese Frage unangenehm zu sein. Red setzte zu einer Erklärung an, zögerte, stotterte und überließ sie dann Mike. Doch auch Mike wirkte unsicher »Unser Fest ist keine öffentliche Veranstaltung«, sagte er schließlich. »Es werden keine Fremden zugelassen. Die Conways und die Kellys richten es aus, und unsere Freunde von auswärts werden dazu eingeladen. Es gibt ein paar Ansprachen, Spiele für die Kinder, und am Abend eine Theateraufführung. Dazu ordentlich zu essen und zu trinken. Und dabei brauchen wir keine Aufpasser.« »Und deshalb wollen wir keine Fremden hier in der Gegend«, fügte Red hinzu. Bony blickte auf die Uhr und drehte sich eine Zigarette. Red Kelly beherrschte nur mühsam seine Ungeduld. Durch die aufsteigenden Rauchwolken sah Bony, wie ihn die beiden Männer mißtrauisch beobachteten. »Das könnten dieselben Männer gewesen sein, die schon einmal hier durchs Tal gekommen sind, und denen wir auf unserer Tour begegnet sind«, sagte er. »Vielleicht erinnert ihr euch, daß ich nach unserer Rückkehr den beiden nachgehen wollte – aber das schien euch ja nicht recht zu sein. Wir können ihm nicht 152
trauen, habt ihr euch gedacht. Vielleicht ist er ein Polizist und steckt mit den beiden unter einer Decke.« »Das hat niemand gesagt!« schrie Red. »Na schön«, meinte Bony, immer noch ganz die beleidigte Unschuld. »Ihr sagt, die Brücken sind mit Alarmvorrichtungen versehen. Dadurch habt ihr feststellen können, wie die Männer über die beiden Brücken das Tal verließen. Ihr habt sie jedoch nicht hereinkommen hören. Jetzt wollt ihr, daß ich ihnen nachgehen soll. Ich halte es aber für viel wichtiger, erst einmal festzustellen, wie sie überhaupt hereingekommen sind. Woher, welchen Weg, und so weiter. Wenn wir das herausgefunden haben, können wir ja das betreffende Loch stopfen.« »Jetzt redest du vernünftig«, brummte Red. »Das ist doch ganz logisch«, fuhr Bony fort. »Ihr seid viel zu einseitig. Ihr schickt einen Späher voraus, vergeßt aber eine Nachhut. Ihr wollt, daß ich diesen Leuten nachgehe, ohne gleichzeitig ihre Spuren rückwärts zu verfolgen, wie es die Eingeborenen tun würden. Jetzt fahrt mich zunächst einmal hinauf zur Brücke, und später verfolgen wir dann die Spuren von der Schweinemästerei aus zurück. Habt ihr schon einmal die Hunde benützt, um eine Spur aufzunehmen?« »Dazu sind die Hunde nicht fähig.« »Dann werde ich es ihnen beibringen«, versprach Bony. Von der oberen Brücke verfolgte Bony die Spur der Männer bis zum Rand des Plateaus. Es war deutlich zu sehen, daß sie bewußt das weiße Haus auf der Paßhöhe gemieden hatten, um dann die Straße zum Macquarie Pass weiterzugehen. Bony bewies, daß es sich um zwei Männer gehandelt hatte – der eine rauchte Zigaretten, der andere nahm Kaugummi. Ihr Körpergewicht sei mit dem von Red vergleichbar, was darauf schließen ließe, daß sie schwere Rucksäcke getragen hätten. Mike und Red waren tief beeindruckt. Die Bewohner von Cork Valley waren zwar ausgezeichnete Buschläufer, aber vom Spurenlesen hatten sie praktisch keine Ahnung. 153
Nach dem zweiten Frühstück ging es dann zur Schweinemästerei, wo der Boden der Fahrzeuge, die hier stets wenden mußten, zerwühlt war. Hier waren keine Spuren zu finden. Bony entdeckte sie jedoch an der ersten Brücke wieder. Diese Brücke mußten sie überquert haben, als in der Höhle hinter dem Wasserfall die Alarmglocke anschlug. Bony hätte zu gern gewußt, wo sich die beiden befunden hatten, als er zu seiner Behausung zurückschlich. Es bestand kein Zweifel, daß sie die Brücke überquert hatten. Bony fand die Spuren jenseits des Flusses wieder und verfolgte sie weiter. Sie näherten sich jetzt von Osten dem Wasserfall und passierten ihn in einer Entfernung von etwa hundert Metern. Dies war also die Stelle, wo O’Halloran Torby bei geologischen Studien angetroffen hatte. »Sind Sie sicher, daß die beiden hier entlangkamen?« fragte Mike. »Daran besteht kein Zweifel – es ist ja deutlich zu sehen«, erklärte Bony. »Und sie sind nicht näher an den Wasserfall herangegangen?« wollte Red wissen. »Nein.« Sie waren noch keine vierzig Meter weitergegangen, da wies Bony auf Fußspuren. Zur besseren Sichtbarmachung zog er sie mit einem Stöckchen nach. Wenige Minuten später entdeckten sie die Asche eines kleinen Lagerfeuers, das nicht älter als achtzehn Stunden zu sein schien. »Sieht aus, als hätten sie hier einen Tag lang kampiert.« Red und Mike blieben stehen, während Bony den Lagerplatz umkreiste. »Sie sind zum Fuße des Wasserfalls gegangen, wo sich das Bekken befindet«, berichtete er bei seiner Rückkehr. »Wahrscheinlich haben sie sich dort Wasser geholt.« »Wann sind sie hiergewesen? Kannst du das sagen?« fuhr Red auf, und Bony versicherte, daß es wahrscheinlich am gestrigen 154
Abend gewesen sei. Red schien erleichtert zu sein. »Hat keinen Sinn, noch weiter zu suchen.« »Wir müssen herausfinden, an welcher Stelle sie in das Tal eingedrungen sind«, widersprach Bony und ging weiter, noch ehe Red protestieren konnte. Die Spur führte durch einige tiefe Wassergräben, über Grasflächen und durch niedriges Gebüsch, an einigen stattlichen Gummibäumen vorbei zum Fuß eines Granitblockes, der von Quarzadern durchzogen war. Dahinter erhob sich die steile Felswand. Hier bog die Spur nach links ab. Bony blieb abrupt stehen und starrte den Granitblock an. Schweigend beobachteten die beiden Männer, wie er hinüberging und einige Steinbrocken aufhob. Bony wußte, was er hier finden würde, tat aber so, als ob er etwas furchtbar Interessantes entdecke. »Gold! Das könnte Gold sein, aber ich möchte es nicht beschwören. Wurde hier im Tal schon einmal Gold gefunden?« »Mein Vater hat danach gesucht, aber immer ohne Erfolg«, antwortete Red. »Und jetzt brauche ich etwas zu trinken. Wie war’s, wenn wir nach Hause gingen und uns einen genehmigten?« »Gute Idee«, pflichtete Bony ein. »Trotzdem sollten wir aber überlegen, was die beiden Männer hier getan haben. Vielleicht waren es Prospektoren. Hier, sehen Sie! Sie haben Gesteinsproben losgeschlagen und Quarz herausgebrochen. Nur …« »Nur was?« fuhr Red auf. »Nur, daß sie das nicht erst gestern getan haben. Das war schon vor Wochen.« Red wollte den Zeitraum näher bestimmt haben, aber Bony gab eine ausweichende Antwort. »Gehen wir weiter. Vielleicht finden wir noch etwas, was uns mehr sagt.« »Zum Teufel, Nat«, brüllte Red Kelly. »Ich brauche einen Drink. Es ist gleich Mittag.« 155
Bony ignorierte diesen Einwand. Es blieb den beiden nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Die Spur führte an der Felswand entlang bis zu einer Stelle, wo die fast senkrechte Wand durch Rinnen und Spalten sowie einige vereinzelte Bäume Halt bot. Bony blickte nach oben. »Hier sind sie heruntergekommen«, stellte er lakonisch fest, setzte sich auf einen Stein und drehte sich eine Zigarette. Red und Mike blickten sich an. Mike war völlig perplex, aber in Reds Augen wetterleuchtete es. »All right«, meinte Mike. »Dann haben wir wohl einen Fehler gemacht.« »Ich gebe es zu«, gestand Red und blickte nach oben. »Wir haben einen Fehler gemacht. Nat, mein Junge. Wir haben geglaubt, daß die beiden Kerle den Weg herunterkamen, den ihr mit den Pferden genommen hattet. Wir hatten geglaubt, alle Wege ins Tal zu kennen. Mike jedenfalls war dieser Ansicht. Und jetzt bin ich dafür, daß wir nach Hause gehen und etwas trinken.« »Etwas Nitroglyzerin, und der Zugang ist versperrt«, meinte Bony, worauf Red zustimmend nickte. »Auf jeden Fall wissen wir jetzt, wie diese Schnüffler ins Tal kamen.« »Ich habe den Frauen versprochen, sie heute nachmittag zum Einkaufen nach Bowral zu fahren«, erklärte Mike mißlaunig. »Morgen sprechen wir noch einmal über alles.« Als sie ins Dorf zurückkamen, warteten die Frauen bereits im Ausgehstaat. Offensichtlich war ein solcher Einkaufsbummel ein besonderes Ereignis. Nach dem Mittagessen fuhren Matty Conway, Rosalie und drei andere Frauen mit dem Lastwagen davon. Matty Conway hatte Bonys Maße für einen Sportanzug, den er zum Fest tragen wollte. Als sie aus Bowral zurückkehrten, saß Bony mit der Oma beim Damespiel.
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m diese Jahreszeit regnete es nur selten, und Bony konnte noch eine weitere Woche Kartoffeln ausgraben. Die von den früheren Pionieren angepflanzten europäischen Laubbäume hatten jetzt ihre Blätter verloren. Die australischen Bäume begannen sich zu schälen – sie behielten ihr Laub den ganzen Winter über. Die Tage wurden klar und kalt, und am Abend senkten sich die Nebel über das Tal. Cork Valley hatte etwas Irisches an sich, aber das konnte Bony nicht beurteilen. Eine immer regere Geschäftigkeit setzte ein. Mike fuhr jetzt jeden Tag mit dem Lastwagen in die Stadt, und auch Kellys grüne Limousine wirbelte oft den Staub der Paßstraße auf. Bony lächelte bei dem Gedanken, wie oft jetzt die zu Hause gebliebenen Frauen durch die Alarmklingel zum Klappenkasten gerufen wurden. Der große Tag rückte immer näher, und als die Kinder Bony bei Tisch drängten, er solle doch endlich den Namen ihres Festes raten, brachte er ihn immer noch nicht heraus. Was mochte der elfte November für diese Menschen für eine Bedeutung haben? Der Waffenstillstand war es nicht. Captain Cook war an diesem Tag nicht in Botany Bay gelandet, und – soweit er sich entsinnen konnte – war es auch nicht der Geburtstag von Wilhelm dem Eroberer. Bony hatte jetzt vieles zu bedenken. Er fühlte, daß der Berg langsam auf den Propheten zukam, und oft kehrte er an den Wasserfall zurück, um sich Mikes und Reds Worte, die sie an die157
ser Stelle gesprochen hatten, besser ins Gedächtnis zurückzurufen. Daß Eric Torby über diesen Weg nach Cork Valley gekommen war, bewiesen die Spuren, die sein Hammer im Gestein hinterlassen hatte. Es konnte kein Zufall sein, daß die beiden Unbekannten ebenfalls an dieser Stelle zu Tal geklettert waren. Torby hatte vor seinem gewaltsamen Tod weder Zeit noch Gelegenheit gehabt, jemanden von diesem Weg zu unterrichten. Damit ergab sich der logische Schluß, daß dieser Abstieg den Leuten von der Zollfahndung oder von der Polizei bereits vorher bekannt gewesen war – es sei denn … Was war das für ein Fehler, den Mike Conway zugegeben hatte und für den Red Kelly nicht die volle Verantwortung übernehmen wollte? Bony gelangte sehr bald zu der Ansicht, daß es keinen Sinn hatte, länger darüber nachzudenken, solange ihm nicht neue Einzelheiten bekannt wurden. Bereits einen Tag später verriet eine mächtige Detonation, daß man Bonys Rat sehr schnell in die Tat umgesetzt hatte. Noch mehrmals dröhnten Detonationen von verschiedenen Stellen der umliegenden Berge. Man sprengte also auch noch andere Zugänge zu Inspektor Casements ›Kaninchenbau‹. Zum weiteren Beweis für die ungewöhnliche Betriebsamkeit im Ort erschienen in Kellys Koppeln immer mehr Pferde. Ursprünglich war dieses Fest am elften November gefeiert worden, aber aus irgendeinem Grund hatte man es nun auf den ersten Juli verlegt. Bony grübelte über dieses Rätsel nach, bis ihm die Erleuchtung kam: Im November herrschte schönes, klares Sommerwetter. Zum Branntweinschmuggel aber brauchte man Nebel, und Nebel brauchte man auch zu diesem Fest, das die Conways und Kellys so voller Begeisterung erwarteten. Drei Tage vor dem ersten Juli erreichte die Geschäftigkeit ihren Höhepunkt. Bei den Conways tauchten zwei fremde Frauen auf, und auch in den anderen Häusern entdeckte Bony Männer und Frauen, die er noch nie gesehen hatte. Aus sämtlichen 158
Schornsteinen des Ortes quoll dichter Rauch. Hinter der Schweinemästerei wurde eine Anzahl Schweine geschlachtet, und auch zwei Ochsen mußten ihr Leben lassen. Bony erhielt den Auftrag, zusammen mit Joe Flanagan, dem Elektriker, die Alarmanlagen zu überprüfen. In einem uralten Lieferwagen fuhren sie hinaus und inspizierten die Brücken. Joe kletterte hinunter, und Bony reichte ihm die erforderlichen Werkzeuge. Bei dieser Gelegenheit gab er dem Iren auch den Schraubenzieher, den er im Fluß gefunden hatte. Joe erklärte, dies sei sein Lieblingsschraubenzieher, und er sei froh, ihn endlich wiederzuhaben. Es gab mehr Brücken zu inspizieren, als Bony vermutet hätte. Joe prüfte die Kontakte, die unter ›losen‹ Planken angebracht waren, und zum Schluß mußten noch viele Meilen unterirdische Kabel überprüft werden. Joe entdeckte, daß Bony sehr geschickt mit dem Werkzeug umzugehen verstand und sich nicht scheute, auch einmal eine unangenehme Arbeit anzupacken. Mittags machten sie sich ein kleines Feuer und kochten Tee. Joe brachte seine Flasche mit dem ›Magenwärmer‹ zum Vorschein, sie aßen ihre Brote und rauchten und schwatzten noch eine Stunde. Manchmal erzählte Joe von seinen Reisen nach Übersee, manchmal unterhielten sie sich auch über Cork Valley und seine Leute. Joe hatte jetzt jede Scheu abgelegt und vertraute Bony völlig. »Morgen werden wir fertig«, sagte er, als sie am Abend ihres zweiten Arbeitstages nach Hause fuhren. »Morgen schließen wir frische Batterien an, und dann montieren wir das Schild an Reds Haus. Danach putzen wir die Zähne, polieren die Stiefel und machen uns fertig für die große Lustbarkeit.« Seine grauen Augen musterten Bony. »Kann ich dir mal einen Rat geben?« »Einen guten Rat nehme ich jederzeit an.« »Iß vor allem kräftig. Wer viel trinkt, muß auch viel essen.« »Ich werde weder das eine noch das andere im Übermaß tun.« 159
Joe lachte. »Wenn du erst siehst, was alles auf den Tisch kommt, wirst du am liebsten gar nicht mehr aufhören wollen. Du wirst weinen, weil nicht mehr in deinen Magen hineingeht.« Seine Stimme wurde weich. »Jahrhundertelang haben die Iren gehungert, jahrhundertelang mußten sie in Lumpen herumlaufen – damit die englischen Lords und die Regierung sich ihre Taschen füllen konnten. Viele kamen nach Australien, und hier ging die Hungerei weiter. Sie haben gekämpft und gelitten, und für sie ist Cork Valley das einzige Stück Heimat außerhalb ihres Mutterlandes.« »Das ist ihnen von ganzem Herzen zu gönnen«, meinte Bony ehrlich überzeugt. »Und es ist der einzige, wirklich gottesfürchtige Ort im ganzen Land. Wir haben unsere Fehler. Wir haben unsere eigenen Ansichten von Gerechtigkeit. Aber wir halten zusammen, und es dürfte in ganz Australien keine zufriedeneren Menschen geben als uns.« »Das glaube ich, Joe. Du sprachst von einem Schild, das an Reds Haus angebracht werden muß. Was ist das für ein Schild?« »Eine Lichtreklame. Sie kommt über den Eingang. ›Glenrowan Hotel«. Solange das Fest dauert, leuchtet dieses Schild – wahrscheinlich drei Tage lang.« »Das ›Glenrowan Hotel‹«, wiederholte Bony versonnen. »Das war das Lokal, in dem die Kelly-Bande im Jahre achtzehnhundertachtzig ihr Ende fand.« »Ganz recht, Nat. Als wir bei Red beisammensaßen, hast du es ganz richtig ausgedrückt: Nur weil sich Ned vollaufen ließ, verlor er seinen Kopf. Sie sind jetzt alle tot, aber ihre Freunde treffen sich jedes Jahr zu ihrem Gedenken hier in Cork Valley.« »Nach Art der echten Iren, wie?« »Ganz recht, Nat. Die Kinder können Spiele machen, die jungen Leute können flirten, die Alten können Erinnerungen austauschen und sich streiten. Es ist ein einmaliges Erlebnis – du wirst das nie wieder vergessen.« 160
»Jetzt kann ich mir auch den Namen des Festes denken. Es ist bestimmt …« »Aber nicht doch«, unterbrach ihn Joe. »Rate erst, wenn man dich beim Essen fragt.« Das Abendessen bestand aus Irish Stew und Brot mit Marmelade und Käse. Es war das einfachste Mahl, das Bony je hier vorgesetzt bekommen hatte, aber das lag ganz einfach daran, daß die Frauen keine Zeit zum Kochen hatten, weil sie mit den Vorbereitungen für das Fest beschäftigt waren. Bony riet wiederum weit daneben, als man ihn nach dem Namen des Festes fragte, aber das war wohl nicht ganz unabsichtlich. Es herrschte eine fiebernde Stimmung, besonders bei den Kindern, und lediglich Rosalie schien von dem Treiben unberührt. Seit ihrer Rückkehr vom Einkaufsbummel in Bowral hatte sie sich ganz in sich zurückgezogen. Sie hatte Bony auch keinen Musikunterricht mehr gegeben. Am nächsten Morgen schleppten Joe und Bony ein breites Schild herbei, auf dem aus roten Rückstrahlern der Name »Glenrowan Hotel« gebildet war. Sie befestigten es über der großen Eingangsveranda von Kellys Haus. In einem Baum auf der anderen Seite des Zufahrtsweges wurde ein Scheinwerfer angebracht. Joe erklärte, daß der Scheinwerfer so montiert sei, daß das Schild leuchte, ohne daß es von der Paßhöhe aus zu bemerken sei. Am Zufahrtsweg zum Haus der Kellys errichteten sie ein zweites Schild mit der Aufschrift »Nach Glenrowan«. Für Bony waren all diese Vorbereitungen etwas ganz Neues, und langsam wurde er von dem allgemeinen Fieber angesteckt. Er kam sich vor wie ein kleiner Junge, der einem ins Städtchen gekommenen Zirkus beim Aufbau des Zeltes hilft. Der Auftrag, der ihn hierher geführt hatte, erschien ihm in nebelhafte Ferne gerückt. Nach dem Mittagessen ging er mit Joe hinüber zum Herrenhaus. In der riesigen Halle hatte man die Gobelins abgenommen. Die nackten Wände wirkten grau und trist. Jack, der Schmuggler, baute mit zwei Helfern in der einen Ecke eine niedrige 161
Bühne auf. Red Kelly überwachte das Einlegen eines Baumstammes in den zweieinhalb Meter breiten Kamin. »Noch weiter herein damit!« brüllte er nach draußen. In diesem Kamin hätten sechzehn Mann Platz gehabt, und der Baumstamm wirkte nicht einmal übermäßig groß. Zwei Männer waren draußen mit Brechstangen dabei, den riesigen Baumstamm auf Rollen zu bewegen. Bony beobachtete fasziniert, wie sich das Ungetüm langsam durch ein Loch in der Wand hereinschob. Red Kelly stand im Kamin und dirigierte das ganze Unternehmen. »Wie lange soll das Ding denn brennen?« fragte Bony. Red blickte sich um. »Ungefähr vierzehn Tage, Nat. Diese Öfchen und elektrischen Heizgeräte sind nichts für uns. Wir wollen es richtig warm haben. Ein schönes Stück Eichenholzbaum, wie? Seit drei Jahren stach er mir schon in die Augen. Draußen ist eine Markierung eingeritzt, die hat mein Großvater im Jahre achtzehnhunderteinundsechzig angebracht. Mußt du dir mal anschauen. Hier wird Geschichte verbrannt, Nat.« »Die Geschichte ist an die Wände gemalt, Red«, ertönte eine heisere Stimme, und Bony sah einen alten Mann mit leuchtenden Augen und einem wettergegerbten Gesicht. Er trug Breecheshosen und einen weiten Rock, ähnlich wie Joe Flanagan ihn bevorzugte. Auf seinem weißen Haar saß ein Zylinder, von dem die Motten schon längst sämtliche Haare heruntergefressen hatten. »Tag auch, Gaffer«, dröhnte Reds Stimme. »Freut mich, dich zu sehen. Wie bekommt der Schnaps?« »Ach, meine Leber, Red«, erwiderte der Mann. »Aber wenn ich weniger Schnaps trinke, zwickt mich dafür das Zipperlein.« Bony wurde von seinem Chef weggeholt. Gemeinsam mit Joe zog er lange Reihen Glühbirnen unter der Decke entlang. »Ich kann die Stelle nicht mehr sehen, wo Red das Loch in die Decke getreten hat. Du vielleicht, Nat?« rief er Bony zu. »Nein. Red hat gute Arbeit geleistet.« 162
Brian nagelte mit zwei Mädchen eine riesige irische Fahne an die Wand. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes bauten mehrere Männer eine Bartheke auf, dahinter wurde ein hohes Regal errichtet. Ein paar Jungen brachten Stühle herbei. Ab und zu wehten verlockende Düfte zur Hintertür herein: Es roch nach am Spieße gebratenen Ochsen und würzigem, frischgebakkenem Kuchen. Der alte Mann mit dem Zylinder verschwand mit hungrigem Blick. Bony ging zu Brian und den Mädchen hinüber und bewunderte die irische Fahne. Das eine Mädchen behauptete, sie hinge schief, während Brian und das andere Mädchen ihr widersprachen. Mehrere Männer schleppten keuchend den Stutzflügel aus der Schule herbei. Brian reichte einem der Mädchen, das auf der Leiter stand, einen Hammer. Jemand rief ihr etwas zu, und das Mädchen ließ den Hammer fallen. Bony hob ihn auf und schob ihn in seinen Gürtel. Als er sah, daß die Männer mit dem Stutzflügel nicht zu Rande kamen, packte er mit an. Das Chaos wurde vollständig, als ein Dutzend kleiner Mädchen herbeigestürmt kam. Einige brachten Tassen, andere Tabletts mit belegten Brötchen, mit Torte und Kuchen. Ein paar Buben trugen einen Kessel Tee herein und boten ihn schüchtern den Arbeitenden an. Sogar der alte Gaffer machte sich darüber her und ließ sich seine Tasse mindestens ein dutzendmal nachfüllen. Nach der Teepause gingen Bony und Joe in die oberen Räume, wo die Glühbirnen überprüft und teilweise ersetzt werden mußten. Einige Frauen waren damit beschäftigt, die Betten zu beziehen. Ein paar von ihnen betrachteten Bony verstohlen, andere mit unverhülltem Interesse. Diese Räume wurden anscheinend niemals benützt. Nur in wenigen befand sich außer den Betten noch anderes Mobiliar. Auch hinter dem Hause waren noch Lampen anzubringen. Was Bony hier sah, versetzte ihn in Erstaunen. Zwei ganze Ochsen brieten am Spieß, in drei großen Kesseln wurde Schinken gekocht, und an der Rückfront eines offenen Schuppens zog sich eine ganze Reihe Backöfen entlang. Außerdem war hier eine 163
große Anzahl Wagen abgestellt – alte und neue, kleine und große, Einspänner und schwere Kutschen. Nachdem die elektrischen Installationen erledigt waren, bat man Bony, bei der Errichtung der Theke mitzuhelfen. Man nagelte gerade das Oberteil auf. »Wird Zeit, daß wir fertig werden«, sagte ein schlanker junger Mann mit blassem Gesicht, der über seinem dichten dunklen Haar eine Tellermütze trug. »Nägel her! Und du schlägst an deinem Ende das Brett fest.« Bony nickte und blickte sich nach einem Hammer um, bis man ihn darauf aufmerksam machte, daß er ja einen im Gürtel stekken habe. Nach kurzer Zeit war auch diese Arbeit erledigt, und Bony und Joe halfen, die Regale fertigzustellen. Das Durcheinandergequirle und Durcheinandergeschreie schien nicht enden zu wollen. Die Dämmerung brach herein, und Joe knipste immer mehr Lampen an. Auch die Regale waren nun fertig, und man zog einen Draht von Wand zu Wand, um einen langen grünen Vorhang anzubringen, der die Theke vom übrigen Raum abtrennte. Allmählich wurde es Zeit, ins Dorf zurückzukehren. Als Bony den Hammer und die übrigen Werkzeuge auf eine Kiste legte, machte er plötzlich eine Entdeckung. Am Griff des Hammers, den er seit mehr als einer Stunde in der Hand gehalten hatte, waren zwei Buchstaben eingeschnitzt – die Buchstaben ›ET‹. Bony nahm den Hammer und kletterte zu Joe in den Lieferwagen. Welch ein Zufall! Seine Gedanken beschäftigten sich noch damit, als er bereits am Abendbrottisch saß, bis der rothaarige Junge seine Grübeleien unterbrach. »Hören Sie, Nat! Sie müssen noch immer den Namen unseres Festes erraten.« »So, muß ich das? Na, dann laß mich mal überlegen. Ach, ich weiß schon, es ist das Musikfest.« 164
»Nein«, brüllten die Kinder im Chor, und heute abend rief Mike Conway sie nicht zur Ordnung. »Tja, dann muß es wohl das Ned-Kelly-Fest sein!« »Ja«, brüllen sie begeistert, und Inspektor Bonaparte stimmte in ihr Gelächter ein.
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I
n einen schmucken Sportanzug und neue schwarze Schuhe gekleidet, dazu die Taschen voller Geld, das er sich beim Kartoffelausmachen verdient hatte, erwartete Inspektor Bonaparte gespannt den Beginn des Ned-Kelly-Festes. In der großen Halle des Herrenhauses kamen nicht weniger als hundertfünfzig Menschen zusammen, darunter Kinder aller Altersstufen. Die Mehrzahl der Geladenen war in dunkler Kleidung erschienen, viele von ihnen in Kleidern und Anzügen aus längst vergangenen Zeiten, deren Stoffe aber von höchster Qualität waren. Über die Bäuche der Männer spannten sich schwere goldene Uhrketten. Man konnte den Eindruck gewinnen, daß es sich bei dieser Zusammenkunft eher um eine Kirchenversammlung als um ein fröhliches Fest zum Gedenken an den Rebellen Ned Kelly handelte. Mike Conway bahnte sich einen Weg durch das Gedränge zur Orchesterbühne. Er trug zum schwarzen Anzug ein blendendweißes Hemd mit weit vorstehenden Manschetten. Sein schwarzes Lokkenhaar kontrastierte scharf mit seinen blassen Gesichtszügen. Als er vor der Festversammlung stand, die in den aufgebauten Stuhlreihen und entlang der Wände Platz genommen hatte, 165
war es offensichtlich, daß er etwas von höchster Wichtigkeit zu sagen hatte. Eine halbe Minute musterte er schweigend die Anwesenden aus seinen dunklen Augen. Als er zu sprechen begann, fand Bony seine Ansicht über ihn in jeder Weise bestätigt. »Es ist schön, wieder einmal in einer Gesellschaft versammelt zu sein, deren Geist sich aus jenen Tagen erhalten hat, in denen das Leben noch hart war. Aber obwohl wir heute in verhältnismäßig großem Luxus leben, sind wir noch immer durchdrungen von den Idealen unserer Vorfahren. Sie wehrten sich gegen die Unterdrückung und kämpften für die Freiheit. Auch wir wehren uns gegen jede Art von Sklaverei, genau wie sie. Ohne die Treue zu uns selbst, ohne unsere Ideale von Freiheit und einem Leben ohne Zwang wären wir schon längst wie die Bewohner in den Städten geworden, die zufrieden sind, solange man ihnen Brot und Spiele gibt wie im alten Rom.« Kein schlechter Anfang, dachte Bony. Mike führte weiter aus, daß die Bewohner von Cork Valley von der Regierung unterdrückt und ausgebeutet würden. »Man sagt«, rief er mit schneidender Stimme, »daß man alles tun darf, solange es legal ist. Es ist sehr einfach, ein Gesetz zu erlassen, auf Grund dessen man die Leute ausplündern kann. Früher raubte man, ohne diese Raubzüge vorher zu legalisieren, und die Räuber waren Caesaren und Herrscher.« Mike machte ein Pause, um seine Worte bei den Zuhörern nachhallen zu lassen, dann fuhr er fort: »Es hat viele Tragödien in der Geschichte der Menschheit gegeben. Die größte war, als einem Mann, namens Guy Fawkes der Erfolg versagt blieb. Hätte Guy Fawkes damals das englische Parlament in die Luft sprengen können, würden sich die Politiker heutzutage hüten, auf ›legale Weise‹ ihr Volk zu unterdrücken und auszubeuten. Vielleicht ist die eine oder andere unserer Handlungen nicht legal, die Hauptsache für uns ist, daß wir selbst sie für moralisch halten. Moral steht höher als jedes Gesetz. Und darum sage ich: Unsere Weigerung, Steuern zu bezahlen, ist moralisch 166
gerechtfertigt. Wir haben ein Recht darauf, uns ein paar letzte Freiheiten zu erhalten. Unser Leitbild sind die Kellys. Ihr Kampf für die Freiheit und das Recht der Unterdrückten wird uns immer ein Beispiel sein. Ich übergebe das Wort an Red Kelly.« Nach Mikes Rede brauste kein tosender Beifall auf – man hörte allenthalben nur respektvolles, zustimmendes Gemurmel. Dann stand Red Kelly auf der Bühne. Seine kleinen blauen Augen funkelten im gedämpften Licht. Nach Mike Conways verhalten gesprochenen Worten dröhnte seine Stimme um so lauter in den Saal. »Kelly! Ned Kelly! Er war der größte Ire aller Zeiten. Wir alle wissen über ihn und sein tapferes Leben und Sterben Bescheid – Gott sei seiner Seele gnädig. Wir wissen, wie er gegen die Polizei, gegen die Tyrannei gekämpft hat. Wir wissen, wie seine Mutter, seine Schwester, seine Brüder und er selbst drangsaliert wurden, bis er zu den Waffen griff, um sich gegen die Peiniger zu wehren. Man erklärte ihm und den Seinen den Krieg, und er bewies, wie ein Ire zurückzuschlagen vermag. Er holte sich das Geld aus den Banken, aus diesen sogenannten Geldinstituten, und verteilte es an die Armen. Er war immer zur Stelle, wenn es galt, einem Geknechteten sein Recht zu verschaffen. Seine Feinde warfen seine Mutter, seine Schwester und viele seiner Freunde ohne Gerichtsverhandlung ins Gefängnis. Monatelang – jahrelang hielt man sie als Geiseln fest, weil man seiner selbst nicht habhaft werden konnte. Schließlich fingen sie Ned, aber nicht weil sie Mut und Verstand besaßen, sondern weil sie ihn überrumpeln konnten an jenem Tag, als er im ›Glenrowan Hotel‹ mit seinen Freunden ein Fest feierte. Die Feinde kamen, umstellten das Hotel und richteten ein furchtbares Blutbad an. Sie feuerten nieder, was ihnen vor die Gewehre kam, Schuldige und Unschuldige.« Einige der Zuhörer atmeten schwer. Red Kelly brachte jetzt ein Blatt Papier aus der Tasche, das er in die Höhe hielt. »Wir könnten vergeben und vergessen, wenn die Feinde der Kellys Engländer oder Schotten, wenn sie Polen oder Chinesen 167
gewesen wären. Aber, Freunde, die Widersacher der Kellys waren Iren! Hier habe ich eine Liste dieser Verräter, die für die Ermordung ihrer Landsleute Blutgeld annahmen. Hört! Ich verlese die Namen: Thomas Curnow, Wachtmeister Kelly, Sergeant Whelan, Wachtmeister P. Kelly, Wachtmeister Ryan, Wachtmeister Healey, Wachtmeister McColl, Wachtmeister … Ach, die Reihe dieser Verräter ist noch lang. Sie ließen sich diesen Verrat bezahlen …!« Als Red schwieg, senkte sich tiefe Stille über den Raum, die aber plötzlich von einem allgemeinen Schrei der Verachtung unterbrochen wurde. »Wir wissen«, fuhr Red fort, »daß nach diesem letzten großen Kampf Dan Kelly und Steve Hart tot waren. Ned Kelly gelangte schwer verwundet in die Hände der Polizei. Die Mittel, deren der Gegner sich bedient hatte, waren unfair und ein schreiendes Unrecht. Menschen, die mit der ganzen Sache nichts zu tun hatten, die sich nur zufällig im Hotel befanden, wurden niedergeschossen. Wir gedenken mit Dankbarkeit des Bischofs Gibney, der in das brennende Gebäude eindrang und, ungeachtet der Schießerei, viele vor dem sicheren Tod rettete. Aber wir gedenken auch jenes Richters, dessen Namen wir nie vergessen werden. Barry hieß dieser Mensch, der Ned Kelly zum Tode verurteilte. Kurz darauf schickte ihm der gerechte Gott eine Seuche, an der er starb.« Red blickte in die versammelte Menge, durch deren Reihen ein Stöhnen lief. Seine Augen suchten weiter, bis er Nat Bonnay gefunden hatte. »Unter uns weilt ein Mann, der ein Conway geworden ist. Ich erzähle euch jetzt von Nat Bonnay, meinem Freund, der mich besiegte. Er gab uns einen Namen. Er nannte uns die ›echten‹ Iren, im Gegensatz zu jenen, die in der Regierung und in der Verwaltung sitzen. Sie bezeichnete er als Bastarde. Wir sind die echten Iren, und wir sind stolz darauf. Ich danke dir, mein Freund Nat, 168
daß du uns so genannt hast. Und nun sprich ein paar Worte zu uns, bevor ich Gaffer bitte, das Fest zu eröffnen.« Bony war nicht ganz unvorbereitet, denn Red hatte ihm bereits damit gedroht, daß er ihn auf die Bühne rufen würde. Er ging also zu Red hinauf und blickte sich lächelnd um, bis er Oma Conway entdeckt hatte. Sie erwiderte sein Lächeln, und Bony spürte zum erstenmal in seinem Leben, daß ihm hier niemand wegen seiner dunklen Hautfarbe mit Geringschätzung begegnete. »Ich werde keine Rede halten«, begann er. »Aber ich will ein Gedicht vortragen, das ein alter Freund von mir geschrieben hat. Kühn waren die Männer in alter Zeit. Die Kellys durchstreiften das Land. Sie kämpften für die Gerechtigkeit Und starben durch Frevler Hand.« Bony wartete die Reaktion auf diese Worte nicht ab und fuhr schnell fort: »Groß war das Elend in dieser Zeit, Das Volk der Iren gespalten. Abtrünnige dienten der Obrigkeit; Ned Kelly bot Trotz den Gewalten.« Die Zuhörer ermutigten Bony durch Zurufe fortzufahren. »Die Kellys erkannten der Stunde Gebot: Sie holten das Geld aus den Banken, Um zu lindern der Ärmsten bittere Not; Und hielten die Feinde in Schranken.« Beifall brandete auf, und Bony mußte einige Sekunden warten, bis er mit der nächsten Strophe beginnen konnte. 169
»Ned Kellys Mutter, wehrlos und alt, Als Geisel ward sie gefangen. Kein Richter bot diesem Rechtsbruch Halt, Bis Ned Kelly wurde gehangen. Freunde, jetzt ist die Geschichte erzählt Vom Leben und schmachvollen Sterben Des Mannes, den ihr euch als Vorbild erwählt. Er lebt weiter – in euch, seinen Erben.« Tosender Beifall brauste auf. Bony kam nicht dazu, diese Anerkennung zu genießen, denn Red Kelly schlug ihm so begeistert auf die Schulter, daß er vor Schmerz in die Knie ging. Schließlich ging Gaffer, der Dorfälteste, auf die Bühne und hielt – mit dem Zylinder auf dem Kopf – eine überaus kurze Rede. Sie bestand eigentlich nur darin, daß er sagte, es sei ihm eine große Ehre, das Ned-Kelly-Fest zu eröffnen. Augenblicklich war jede Ordnung dahin, und ein Chaos brach aus. Ein großer Teil der Anwesenden strömte aus dem Saal, während andere Tische aufstellten und die Stühle arrangierten. Die Kinder hatten vor Erwartung große Augen und gerötete Bäckchen, als Rosalie sie in geschlossenem Zug auf die Bühne führte, wo sie mit einem Lied den Tumult niederzusingen versuchten. Als der Gesang zu Ende war, herrschte wieder tiefe Stille. Der alte Gaffer lehnte auf seinem Stock und starrte die Kinder an. In seinem weiten Rock wirkte er wie ein überdimensionaler Maikäfer. Mike Conways Bruder lag in hohe Kissen gebettet; neben seinem Rollbett stand Jack, der Schmuggler. Oma Conway saß in ihrem Rollstuhl. Zu ihrem dunkelgrünen Seidenkleid trug sie ein weißes Spitzenhäubchen. Um sie herum standen mehrere alte Damen, und man konnte den Eindruck gewinnen, daß die Königin von Cork Valley mit ihren Hofdamen residierte. Vom Hintereingang dröhnten Trommelschläge. Sie gingen in einen rasanten Wirbel über und verstummten abrupt. Der klagende 170
Ton des Dudelsacks wurde lauter und lauter, und schließlich erschien Pat Mulvaney. Er führte die Prozession der weißgekleideten Köche an, die riesige Platten mit Truthähnen, gebackenen Schweinsköpfen, gekochten Schinken, mit Bergen von Gemüse, Käse, Torten und Schlagsahne hereintrugen. Der Dudelsackpfeifer begleitete die Prozession durch den ganzen Raum. Bony, der aus dem australischen Binnenland stammte, wurde von der allgemeinen Begeisterung angesteckt. Jetzt flammten die Lichterketten auf, die er mit Joe quer durch den Raum an der Decke angebracht hatte, und die ganze Szene war plötzlich heiter und voller Farbe. Das Ned-Kelly-Fest hatte begonnen. Bony fühlte sich ein wenig einsam inmitten der ausgelassenen Menge. Er war eben doch nur ein Außenseiter, er gehörte nicht zu diesen Iren, die ein irisches Fest feierten. Es gelang ihm auch nicht, zu vergessen, weshalb er sich hier befand. Plötzlich legte sich eine Hand auf seinen Arm. »Sie sind das also, der in finsterer Nacht auf stillen Bergeshöhen unschuldige Mädchen überfällt«, sagte eine Stimme neben ihm. »Aber ich sehe ein, daß es dumm von mir war, Sie deshalb schlagen zu wollen. Sie sind wirklich ein netter Mensch, Nat. Bitte, führen Sie mich zu Tisch.« »Oh – Bessie O’Grady! Sie erinnern sich noch an mich?« »Na, welches Mädchen würde so etwas vergessen!« Sie trug einen weitgebauschten hellgrünen Rock und eine orangefarbene Seidenbluse, Ihr Haar war mit einem Band in der Farbe des Rockes zusammengehalten. In ihrem wettergebräunten Gesicht standen groß und glänzend die Augen, die einen starken Charakter verrieten. Ihre Hand packte fest zu. Bony begleitete sie zu einem der riesigen Büfetts. »Na, wie war’s mit einem schönen Stück Truthahn, flankiert von zwei Scheiben dieses prächtigen Schinkens?« fragte der Koch in weißer Jacke und weißer Schürze, mit der hohen Mütze auf dem Kopf. Erst viel später bemerkte Bony, daß es Mike Conway war. Er folgte Bessie mit den Tellern zum leeren Ende des 171
Tisches. Offensichtlich wollte sie mit ihm von vertraulichen Dingen sprechen. »Ich habe den Brief aufgegeben«, begann sie. »Ja?« »Rosalie bricht vor Kummer das Herz.« »Ach! Warum?« »Weil sie liebt, Nat – deshalb. Haben Sie je geliebt?« »Ja. Am Anfang ist es immer beunruhigend.« »Ich war noch nie verliebt, deshalb weiß ich nicht, wie das ist. Sagen Sie rasch etwas Lustiges. Oma Conway beobachtet uns.« »Haben Sie Brian schon verraten, daß Sie ihn heiraten werden?« »Noch nicht, Nat«, erwiderte sie und lachte. »Schade, daß Oma keine Brille braucht, die man ab und zu verschwinden lassen könnte. Ich mache mir Sorgen um Rosalie, Nat. Sie hat mich heute nacht in ihrem Zimmer beherbergt. Sie zeigte mir die Worte, die Eric ihr in das Buch geschrieben hatte, und sie erzählte mir auch, daß sie ihm geschrieben hatte, er solle ihr postlagernd nach Bowral antworten. Stellen Sie sich vor – er tat es nicht. Wenn der Kerl mir je über den Weg laufen sollte, schlage ich ihn zusammen.« »Aber Bessie! Das wäre doch nicht damenhaft.« »Damenhaft!« echote sie und senkte ihr Gesicht tief über den Teller. »Ich bin keine Dame, Nat. Und nun wollen wir essen, sonst fange ich noch an zu heulen.«
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ieser erste Nachmittag des Festes gehörte den Kindern und ihren Eltern. Die älteren Leute standen in Gruppen beisammen oder halfen beim Geschirrwaschen und Herrichten der Speisen. Als Bony seine Hilfe anbot, erinnerte man ihn daran, daß er doch zum Orchester gehöre. Nicht alle Kinder, die Bony sah, waren Rosalies Schüler. Viele kamen von auswärts. Eine Gruppe, die von einem weißhaarigen Asketen geleitet wurde, führte eine Anzahl Einakter auf. Es waren ausschließlich Szenen aus Ned Kellys Leben. Eines der Mädchen stellte Mrs. Kelly dar, ein anderes ihre Tochter Kate. Mehrere Jungen, als Polizeibeamte verkleidet, drangen in ihre Hütten ein und drangsalierten die beiden Frauen. Eine andere Szene schilderte die Ankunft der Kelly-Bande in Jerilderie. Der Polizeibeamte wurde eingesperrt, Ned Kelly führte die Frau des Beamten zur Kirche, während seine Bande die Bank ausraubte. Zum Schluß kam die Szene, wo sich die Kellys um die Pflugschar versammelten und beratschlagten, wie man daraus eine Rüstung machen könne, um gegen die Kugeln der Polizei geschützt zu sein. Nach der Vorstellung erhielt jedes der Kinder als Anerkennung ein kostbares Geschenk von Mikes gelähmtem Bruder. Nach der Theateraufführung konnte jeder tun, was er wollte. An den Wänden waren lange Tische mit Speisen, Süßigkeiten und Getränken aufgebaut. Als die Nacht hereinbrach, begann das Orchester zu spielen. Inmitten der Geigen und Akkordeons ging 173
Bonys Gummiblattmusiziererei völlig unter. Zwei Stunden lang wurde ununterbrochen getanzt. In der folgenden Pause sang ein Tenor, und Bony gab als Solo ›Danny Boy‹ zum besten. Gegen elf zog sich Oma Conway mit ihren Hofdamen zurück, während die Mädchen und die jüngeren Frauen weitertanzten und sich amüsierten. Obwohl Bony nur wenig getrunken hatte, fühlte er sich müde. Red hingegen war in seinem Element. Er tanzte so temperamentvoll mit den Mädchen wie sein Sohn Brian. Danach setzte er sich auf den Boden, lehnte sich gegen die Wand und schlief eine Stunde lang. Dann begann er von vorn. Bessie O’Grady schien der Abend überhaupt nicht anzustrengen. Sie forderte Bony zum Tanz auf. Er fühlte sich unsicher, da ihm die Tänze reichlich kompliziert erschienen, aber sie führte ihn mit sicherer Hand. Nachher zog sie ihn beiseite, um sich mit ihm wieder über Rosalies Liebesgeschichte zu unterhalten. »Ich werde Vater becircen, damit er mich nach Sydney fahren läßt«, sagte sie. »Gar nicht schwer, wenn ich ihn nur richtig nehme. Ich werde zu Eric Hillier gehen und ihm Verstand einbleuen.« »Rosalies Kummer geht Ihnen sehr nahe, ja?« Bony wollte jetzt einen Versuch unternehmen, den er sich vorher gründlich überlegt hatte. »Gesetzt den Fall, Eric Hillier hat den Brief nie bekommen?« »Aber er hat ihn bekommen! Ich habe ihn ja selbst in Kiama aufgegeben.« »Wenn man einen Brief zur Post gibt, dann bedeutet das noch lange nicht, daß ihn der Empfänger auch wirklich erhält. Vielleicht ist Hillier gar nicht nach Sydney zurückgefahren …« »Aber er muß doch dorthin zurückgefahren sein«, beharrte sie. »Er wohnt doch in der Evian Street.« »Ich hörte von Rosalie, daß er in dem Brief an Mike Conway eine ganz andere Anschrift angab. Wußten Sie das nicht?« 174
»Ja.« Bessie nippte an ihrem ›Wein‹ und saß einige Sekunden lang schweigend und mit gerunzelter Stirn da. »Mir gefällt das nicht, Nat«, meinte sie schließlich. »Ich muß nach Sydney fahren und die Geschichte in Ordnung bringen.« »Rosalie hat nicht gesehen, wie er Cork Valley verließ?« Wiederum folgte auf diese Frage eine nachdenkliche Pause. »Nein, Rosalie hat ihn nicht gesehen.« »Warum wollen Sie dann nicht erst einmal herauszufinden versuchen, wer Hillier eigentlich mitgenommen hat? Das dürfte Ihnen doch nicht schwerfallen. Besser, Sie fangen mit Ihren Nachforschungen hier in Cork Valley an, statt in Sydney.« Sie saßen nebeneinander am Tisch. Das Mädchen fuhr jetzt herum, packte Bony bei den Armen und blickte ihm mit funkelnden Augen ins Gesicht. »Was sagen Sie da, Nat? Reden Sie!« »Sie wissen genausoviel wie ich – und das ist sehr wenig. Sie könnten mehr wissen. Angenommen – ich sage ausdrücklich, angenommen! –, Brian Kelly ist hinter Rosalie her. Angenommen, er wußte, daß sich Rosalie in Eric verliebt hatte, und angenommen, man hatte ihn beauftragt, Eric Hillier zum Bahnhof in Wollongong zu fahren … Wie klingt das?« Bessie ließ ihn los und griff nach ihrem Glas. Bony nahm es ihr aus der Hand. »Trinken Sie jetzt nichts mehr. Sie wollen doch Rosalie helfen. Ich will das ebenfalls. Also müssen wir einen klaren Kopf behalten. Wir müssen herausfinden, mit wem Eric Cork Valley verlassen hat – falls er überhaupt jemals dieses Tal verlassen hat. Denken Sie einmal scharf nach. Angenommen, Hillier hat ein Geheimnis in Cork Valley entdeckt. Oder er wurde als Rivale angesehen. Nun, das weitere können Sie sich ja ausmalen. Bessie, wir müssen herausfinden, ob Eric lebt oder tot ist. Wenn er tot ist, können wir Rosalie nicht länger in dem Glauben lassen, daß er lebt.« 175
Stumm blickte das Mädchen vor sich hin, während Bony zwei Zigaretten drehte. Er hatte das Saatkorn gelegt und hoffte, daß es aufgehen würde. Doch jetzt kam Steve heran und bat Bessie zum Tanz, und auch Bony erhielt Gesellschaft. Mike Conway stellte eine Flasche auf den Tisch und setzte sich auf Bessies Platz. »Na, Sie scheinen sich ja zu amüsieren, Nat. Ich hoffe es jedenfalls sehr.« Mike konnte den Schnaps offensichtlich gut vertragen. Seine Hand zitterte nicht, als er die Flasche nahm und einschenkte. »Bessie O’Grady sollte ein Mann sein, finden Sie nicht? Ich habe den Eindruck, sie flirtet mit Ihnen.« »Hm, mag sein.« Bony hob das Glas. »Auf das Fest, Mike. Sie wissen ja, ich könnte älter sein als Sie, aber Sie werden mir zugeben, daß wir wünschten, früher manches anders getan zu haben, ganz gleich, wie alt wir sind. Ich wette, daß der Mann, der Bessie einmal heiratet, sehr rasch herausfinden wird, daß sie mehr verlangt als nur Geld. Sie verlangt von ihm, daß er Lord Oberrichter wird oder eine andere hohe Persönlichkeit, denn was sie aus ihm machen wird, ist letzten Endes sie selbst. Vielleicht glaubt sie, ohne sich dessen bewußt zu werden, daß ich der richtige Mann für sie sei.« »Um sich durch Sie weiterzuentwickeln, wie?« »Ja. Sie wissen, daß ich früher viel gelesen habe. Dabei fand ich heraus, daß fast alle großen Männer nur durch ihre Frauen das geworden sind, was sie später waren. Lesen Sie viel?« »Früher las ich viel.« Conway lächelte, obwohl sein Blick nachdenklich wirkte. »Ich weiß, was Sie denken«, sagte Bony. »Ich bin für Sie ein Rätsel, das Sie nicht lösen können. Nun, ich will Ihnen diese Aufgabe abnehmen. Ich besuchte die höhere Schule, danach die Universität Brisbane. Dann ging ich in den Busch, ritt Pferde zu und hütete Vieh. Ich hielt alle Trümpfe des Lebens in der Hand, aber immer wieder spielte ich falsch aus. Wir können nicht aus unserer Haut heraus. Ihre Eltern haben Sie geformt, und meine Eltern haben mich geformt. Und nun sagen Sie mir, warum Sie nicht 176
betrunken sind, und ich will Ihnen verraten, warum ich mich bemühe, nüchtern zu bleiben.« »Nicht schlecht gesagt, Nat.« Conway starrte auf Bonys Glas, der daraus bisher nur einen winzigen Schluck genommen hatte. »Ich werde darüber nachdenken. Vielleicht kann ich Ihnen aber auch sagen, warum wir nicht betrunken sind wie Red und die anderen. Vielleicht versuchen wir – jeder auf seine Art –, unserem Leitbild treu zu bleiben.« »Mit dieser Suche sind Sie vielleicht weitergegangen, als Sie glauben«, grübelte Bony. »Hier sind nun all diese Leute – Ihre Leute. Es ist zwei Uhr morgens. Die meisten sind betrunken. Und doch habe ich bisher noch nicht ein unanständiges Wort gehört. Und ich habe auch nicht beobachtet, daß auch nur eine einzige Frau belästigt wurde. Das liegt nicht nur am Selbstgebrannten Schnaps.« »Nein, Nat, das ist das Resultat einer Erziehung zur Gemeinschaft. Wer sich nicht unseren Sitten entsprechend benimmt, wird ausgeschlossen. Es waren nur sehr wenige, die ausgeschlossen wurden, aber doch ein paar.« Wieder trat ein nachdenklicher Ausdruck in Mikes Augen. »Seit der Gründung unseres Ortes leben wir nach dem Grundsatz: Alle für einen, einer für alle. Religion ist ein mächtiges Bindemittel, aber das Ideal von Wahrheit, von Gerechtigkeit und Einfalt des Herzens, das sich in der Kelly-Bande bildete, hatte noch eine viel größere Macht. Und darum feiern wir dieses Fest.« Bony lächelte Mike zu und hob sein Glas. »Darauf wollen wir trinken.« Mike lachte, nahm sein Glas und stieß mit ihm an. »Nicht so hastig, Nat. Die Nacht hat ja erst begonnen.« Auf der Bühne saß nur noch ein Geiger. Er begleitete den Tenor, der die Augen geschlossen und den Mund weit aufgerissen hatte, ohne daß ein Ton hörbar wurde. Als der Geiger zu spielen aufhörte und sich für den Beifall verbeugte, stand der Sänger noch immer mit aufgerissenem Mund da. Im nächsten 177
Augenblick kippte er nach vorn, wurde von Jack aufgefangen und in einer Ecke des Saales auf den Boden gelegt, wo bereits ein paar Männer ihren Rausch ausschliefen. »He, Mac, geh mal hinaus und schieb den Stamm weiter herein«, brüllte Red durch den Lärm. »Das Feuer geht ja gleich aus.« »Und wir machen jetzt am besten Schluß«, sagte Mike und stand auf. Bony zwängte sich durch die Menschengruppen hindurch und stieg über auf dem Boden liegende Gestalten, bis er vor dem großen Kamin stand und fasziniert beobachtete, wie der riesige Baumstamm durch das Loch in der Wand weiter hereingeschoben wurde. Mike Conway ging lächelnd von einer Frau zur anderen, flüsterte ihr etwas ins Ohr, und ohne Widerrede verließen sie den Raum. Die Autorität dieses Mannes war bemerkenswert. Als er vor Reds Tänzerin stehenblieb, protestierte der rote Hüne. Doch die Frau lachte nur und entzog ihm ihren Arm. Dann lächelte sie Mike zu und entfernte sich. Red wollte Mike anbrüllen, der ihn jedoch einfach stehenließ und zu Bessie hinüberging. Das Mädchen winkte allen, die noch auf den Beinen stehen konnten, fröhlich zu und lief hinter Reds Tänzerin her. Das Verschwinden der Frauen war nur ein Zwischenspiel. Einige Musikanten kehrten auf das Podium zurück und begannen zu spielen. Männer erschienen mit großen Körben und sammelten leere Flaschen und Gläser ein. Jede Flasche trug das Etikett einer bekannten Whiskymarke, aber es war schon lange her, daß sie gekauften Whisky enthalten hatten. Als Bony eine diesbezügliche Bemerkung machte, erklärte man ihm, daß dies eine Vorsichtsmaßregel für den Fall einer Razzia sei. »Vor fünf oder sechs Jahren hatten wir eine«, sagte der Mann im Sonntagsausgehanzug und entblößte beim Lächeln die spärlichen Überreste seiner Schneidezähne. »Die Polente stürmte 178
herein, sah sich die Flaschen an und ließ uns in Ruhe. Es ist ja nicht verboten, mit Freunden einen Whisky zu trinken.« Der Mann gehörte zu den wenigen Menschen, die ein braunes und ein blaues Auge haben. Obwohl er stark betrunken war, schien er doch noch klar denken zu können. »Das war ein schönes Gedicht, Nat. Wirst du es morgen noch einmal vortragen?« »Warum nicht, wenn man es noch einmal hören will. Wie heißt du übrigens? Ich habe dich früher schon mal gesehen …« »Ich bin Tim O’Halloran und wohne auf dieser Seite der Mauer, Nat. Hast du vielleicht was dagegen?« »Nur, wenn uns die Mauer daran hindern sollte, zusammen einen zu trinken.« Bony lachte, und sie öffneten eine Flasche vom besten schottischen Whisky – dem Etikett nach. »Na, dann auf eine ordentliche Prügelei vor Morgengrauen, Tim. Du wirst mich glatt besiegen. Moment – jetzt erinnere ich mich. Du bist derjenige, der diesen Hillier draußen beim Wasserfall aufgegabelt hat.« »Jawohl, Nat, der bin ich. Der Kerl behauptete, er sei Mineraloge. Wollte Gold finden. Ich habe ihm das nie geglaubt.« »Natürlich nicht.« Bony nickte. Da Tim noch nicht so betrunken war, daß er nicht mehr wußte, was er sagte, wechselte Bony auf ein weniger gefährliches Thema über. »Ich hole mir jetzt was zu futtern. Kommst du mit?« O’Halloran zog es vor, bei der Flasche zu bleiben. Er begann zu singen. Bony nahm sich ein Brot mit gepökeltem Schweinefleisch und schmierte sich dick Senf darüber. Da er normalerweise enthaltsam war, machte ihm der Alkohol schwer zu schaffen. Es wunderte ihn selbst, daß er noch aufrecht stehen konnte. Er nahm sein Brot und torkelte durch die Hintertür zur Küche, wo er vor dem riesigen Kochherd eine Walküre antraf. »Na, was wollen Sie denn hier?« begrüßte sie ihn ungnädig. »Verschwinden Sie aus meiner Küche. Männer haben hier keinen Zutritt.« 179
»Schimpfen Sie doch nicht gleich so, meine Liebe«, schmeichelte Bony. »Ich hätte gern eine Tasse Tee. Ich verdurste ja schon.« »Dann verdursten Sie anderswo. Um drei Uhr morgens wird weder Tee noch Kaffee gekocht. Und im übrigen sind Sie überhaupt kein Ire. Sie …« »Ich bin Nat Bonnay, meine Süße, und ich muß jetzt ein paar Liter Tee haben. Nun seien Sie doch nicht so garstig. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Sie kochen für mich Tee, und ich spiele währenddessen für Sie auf dem Gummiblatt. Hören Sie!« Er warf das belegte Brot auf den Tisch und zog ein Gummiblatt aus der Tasche. Als die Köchin drohend auf ihn zukam, begann Bony instinktiv ›Wo der Shannon fließt‹ zu spielen. Die Frau blieb stehen. Ihr gewaltiger Busen hob und senkte sich, und als die letzten Töne verklungen waren, sagte sie mit feucht schimmernden Augen: »Setz dich hin, Nat. Wenn es sein muß, werde ich dir zehn Liter Tee kochen.«
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ie hieß Nora O’Connor und mochte gut zwei Zentner wiegen. Ihr weißes Haar mußte früher rot gewesen sein. Sie hatte eine dicke, knollenförmige Nase, aber das bezeichnendste Merkmal an ihr war der Mund, der so rasch Fröhlichkeit, Ärger, Sympathie oder Schüchternheit ausdrücken konnte. Sie sei so früh auf, um Frühstück zu bereiten, falls jemand Lust danach verspüren sollte, erklärte sie ihm. 180
Nachdem sie auch noch ›Danny Boy‹ zu hören bekommen hatte, meinte sie: »Tee möbelt auf, Kaffee macht munter. Was soll’s also sein?« Bony erinnerte sich, daß bald ein neuer Tag anbrach, und da der Kaffee in der großen Kanne so verlockend duftete, entschied er sich für ihn. Sein Kopf war wieder klar, aber seine Augen und die Kehle brannten. Er wurde genötigt, sich an den Tisch zu setzen, und das Muster einer Köchin betrachtete sein belegtes Brot mit deutlichem Abscheu. Mit spitzen Fingern, als handle es sich um eine tote Ratte, warf sie es in den Abfallkübel. »Sie sollten Schinken, Eier und gebutterten Toast essen«, entschied sie. »Und zwischendurch können Sie das Lied noch einmal spielen – oder auch ein anderes.« Der Kaffee war ausgezeichnet, und der Schinkenspeck begann in der Pfanne zu prasseln. Bony war erstaunt, mit welch sparsamen Bewegungen diese dicke Frau auskam. Er spielte ›Danny Boy‹ und hoffte, daß Oma Conway es nicht hören und eifersüchtig werden würde. Durch den Kaffee fühlte er sich wieder besser. Er gehörte zu den Unglücklichen, die der Alkohol weder heiter noch beschwingt macht. Nachdem er gegessen hatte, sagte er, daß er ein paar Stunden schlafen wolle und nach Hause ginge. Aber davon wollte Nora nichts wissen. Sie führte ihn in eine kleine Kammer und befahl ihm, ins Bett ›hineinzuspringen‹. Als Bony aufwachte, stand Bessie O’Grady neben ihm. Sie brachte ihm auf einem Tablett Tee und Toast. »Zeit zum Aufstehen, Nat!« »Wie spät ist es denn, Bessie?« »Zehn Uhr vorbei. Sie hätten wenigstens die Schuhe ausziehen können.« Bony setzte sich auf den Bettrand und nahm das Tablett auf die Knie. Er lächelte das Mädchen an, aber sie erwiderte sein Lächeln nicht. Ihr Gesicht verriet Ärger. Er wußte, daß nicht er der Grund ihrer Verstimmung war. 181
»Die anderen sind damit beschäftigt, das Essen vorzubereiten«, sagte sie. »Wir haben einen Moment Zeit. Eric Hillier fuhr zusammen mit Brian Kelly aus Cork Valley ab. Es war am späten Nachmittag und die Schule noch nicht aus. Deshalb sah Rosalie ihn nicht wegfahren. Kurz vor dem Mittagessen möchten Sie wieder im Orchester mitspielen. Fühlen Sie sich wohl?« »Wundervoll«, erwiderte er. »Sie werden sich gleich noch wohler fühlen, wenn Sie hören, was ich Ihnen jetzt sage. Brian Kelly kehrte nicht mit dem Wagen zurück, sondern zu Fuß.« »Um welche Zeit?« »Das weiß ich nicht. Der mit dem Wagen zurückkam, und zwar erst am nächsten Morgen, war Red. Essen Sie jetzt Ihren Toast. Kommen Sie, ich kratze Ihnen die Butter herunter. Trokkener Toast wird für Ihren Magen bekömmlicher sein. Vater läßt mich nach Sydney fahren. Wir sehen uns dann später.« Sie verließ ihn, immer noch ohne zu lächeln. Bony rauchte einige Zigaretten, dann bat er Nora um ein Handtuch und lieh sich Jacks Rasierzeug aus. Als er die große Festhalle betrat, fand er beinahe alle Frauen um Oma Conway vor dem riesigen Kamin versammelt. Die Kinder spielten auf dem Boden. Das Orchester, das im Augenblick aus zwei Geigen und drei Akkordeons bestand, musizierte leise. Bony ging hinüber und spielte auf seinem Gummiblatt mit. Rosalie war weder am Flügel, noch befand sie sich unter den Frauen am Kamin. Die Musiker brachen ab, als die Tische für das Mittagsmahl hergerichtet wurden. Die Frauen sammelten ihre Kinder ein, um sie zu waschen. Als es zwölf Uhr wurde, strömten die Männer herein. Alles wartete gespannt auf den Einmarsch der Köche, die wie gestern von dem Dudelsackpfeifer angeführt wurden. Nach diesem zweiten Festmahl führten die Kinder wiederum Szenen aus Ned Kellys Leben auf. Ein Stück Geschichte wurde vor Bonys Augen lebendig, und er schaute aufmerksam zu. 182
Eine Polizeipatrouille, von einem Sergeanten befehligt, lagerte am Stringybark. Die Kellys griffen sie an. Der Sergeant und zwei Wachtmeister, wurden erschossen, während der dritte Wachtmeister entfloh. Dies war der erste schwere Zusammenstoß der Kelly-Bande mit der Polizei gewesen, und damit war der offene Krieg ausgebrochen, der erst mit dem blutigen Gemetzel von Glenrowan endete. Bony wußte, wie es zu Ned Kellys Niederlage gekommen war. Glenrowan war ein kleines Städtchen an der neuen Eisenbahnlinie nach Melbourne. Die Kelly-Bande hatte den Plan gefaßt, einige Banken nördlich von Glenrowan auszurauben. Dazu war es nötig, die Polizei aktionsfähig zu machen. Die Bande wollte falschen Alarm geben und den Zug eine Meile von Glenrowan zum Halten bringen. Die im Zug befindliche Polizeiverstärkung, die glauben mußte, daß ihre Kollegen in der Kaserne gefangengehalten wurden, würde aussteigen und diesen zur Hilfe eilen. Währenddes wollten die Kelly-Leute den Zug weiter nach Glenrowan fahren und die darin zurückgebliebenen Polizeipferde in die Berge treiben. Ohne Pferde war die Polizei machtlos – darauf basierte Ned Kellys Plan. Ein Sonntag im Juni des Jahres 1880 war als Tag X bestimmt worden. Damals gab es zwei Hotels in Glenrowan. Das eine gehörte einem Freund der Kellys, das andere einer Mrs. Jones, die mit der Bande verfeindet war. Das Lokal des Freundes ließ man unbehelligt, während Mrs. Jones gezwungen wurde, die Kelly-Leute aufzunehmen. Außerdem wurde noch ein großer Teil der Einwohner von Glenrowan geladen. Ein Festgelage begann. Alle waren fröhlich – bis auf Mrs. Jones, die zusehen mußte, wie ihre Vorräte an Speisen und Getränken immer mehr abnahmen. Während des Nachmittags wurden im Garten für die Kinder Spiele veranstaltet. Die Bandenmitglieder wurden langsam betrunken. Man vergaß, den Zug rechtzeitig anzuhalten, und die Polizei erfaßte die Situation, umstellte blitzschnell das Hotel und eröffnete ohne Rücksicht auf die unbeteiligten Gäste das Feuer. Da es ein Holzbau war, drangen die Kugeln durch 183
die dünnen Wände. Der Haß der Polizei – die Hälfte von ihr war irischer Abstammung – kannte keine Grenzen. Ein ganzes Jahr lang war sie von der Kelly-Bande zum Narren gehalten worden. Glenrowan! Drei Mitglieder der Bande starben beim Feuergefecht, Ned Kelly, der Anführer, wurde gehängt. In Glenrowan wurde der letzte Funke der Auflehnung gegen die Bürokratie erstickt. Glenrowan! Die Kinder hatten inzwischen ihre Aufführungen beendet. Das große Spiel, das alljährlich den Höhepunkt des Ned-Kelly-Festes bildete, konnte beginnen. Der Vorhang schwang zurück, und eine Theke wurde sichtbar. An dem mit Flaschen überladenen Regal hing ein Schild: ›Glenrowan Hotel‹. Ein Mann in Hemdsärmeln und einer roten Weste wusch Gläser. Am Ende der Theke hockte eine Katze und putzte sich. Eine Frau erschien. Sie war groß und hager und im Stil der achtziger Jahre gekleidet. Sie kam durch eine Seitentür und schalt den Mann aus, weil er zu faul sei. Zwei Männer traten ein. Der eine im Militärmantel, mit einem schwarzen Backenbart, der andere trug Röhrenhosen, und unter seiner geschlossenen Jacke war eine riesige Krawatte mit einem goldenen Hufeisen zu sehen. Sie nickten Mrs. Jones zu und verlangten Milch und Rum. Während sie diese seltsame Mischung hinunterstürzten, erklang von draußen Pferdegetrappel. Ein Junge stürmte herein. »Die Kellys sind hier!« Der Junge verschwand wieder, und Mrs. Jones fiel in Ohnmacht. Die beiden Gäste sprangen mit einem Satz über die Theke und verschwanden zusammen mit dem Schankkellner unter dem Tisch. Von draußen ertönte Stimmengemurmel, leise Kommandos und das Klirren von Metall. Durch Vorder- und Hintertür strömten die Leute von Glenrowan herein – dargestellt von Rosalie und Bessie, von Gaffer und Oma Conway in ihrem Rollstuhl. Sogar Mikes gelähmter Bruder wurde hereingeschoben. Sie füllten 184
die Szene wie eine zusammengetriebene Herde. Ihnen folgten vier Männer. Sie trugen Rüstungen, die aus zusammengesetzten Pflugscharen bestanden. Auf ihren Köpfen saßen gewaltige Helme. Ihr hünenhafter Anführer war mit einem Gewehr und einem altmodischen Revolver bewaffnet. Er konnte nur durch den schmalen Schlitz des Visiers blicken, und da sein Helm keine Mundöffnung hatte, klang seine Stimme wie aus einer tiefen Gruft. »Hallo, Mrs. Jones!« rief er der Frau zu, die aus ihrer Ohnmacht erwacht war. »Scheren Sie sich in Ihr Zimmer, Mrs. Jones! Und wenn Sie nicht dort bleiben, geht es Ihnen an den Kragen.« Er schlug mit der Faust auf den Tisch und befahl dem Schankkellner, endlich zum Vorschein zu kommen. »Etwas zu trinken, mein Junge. Drinks für alle Gäste der Kellys!« Seine blauen Augen glitzerten wie Gletschereis hinter dem Visier. »Dieser Tag gehört uns, Leute«, rief er ins Publikum. »Trinkt und seid fröhlich! Ihr seid die Gäste der Kellys – auf Kosten von Mama Jones!« Bony, der auf dem Musikpodium saß, erlebte die Wiederauferstehung längst vergangener Geschehnisse voller Verwunderung. Die Menge drängte sich jetzt zur Theke. Die beiden Gäste, die sich zusammen mit dem Schankkellner unter dem Tisch verborgen hatten, kamen wieder zum Vorschein und halfen beim Einschenken. Zusammen mit den anderen Musikern schob sich auch Bony nach vorn. Der Anführer der Kelly-Bande redete lärmend auf die Gäste ein. Unter dem Kinnreif des Helmes lugte sein schwarzer Bart hervor. Seine Stimme klang fremd. Aber der schwarze Bart paßte nicht recht zu den roten Härchen auf dem Handrücken des Hünen. »Ach zum Teufel damit, so kann ich ja nicht trinken«, rief er und nahm den Helm ab. Es war Red Kelly. Die drei Gefolgsleute machten es ihm nach, und Steve, Brian und Tim O’Halloran 185
kamen zum Vorschein. Nach ihrem spannenden Auftritt wirkten sie jetzt ein wenig lächerlich. Die Männer an der Bar trugen zum Teil angeklebte Backenbärte und die Kleidung aus den Tagen der Kelly-Bande. Der alte Gaffer war so aufgeregt, daß er mehr Grog über sein Kinn als in die Kehle kippte. Die Kinder erhielten Limonade. Zwei pausbäkkige Buben umklammerten Ned Kellys massive Beine und blickten voller Bewunderung zu ihm auf. Der Raum war gerammelt voll – voller als je zuvor. Sämtliche Lichter brannten. Schwer hing der Tabaksqualm in der Luft, und der Lärm wurde ohrenbetäubend. Die Nacht brach herein, und auf den Büfetts wurden die gewohnten Fleischberge aufgetürmt. Immer mehr Männer suchten sich einen Platz auf dem Boden, um ihren Rausch auszuschlafen. Auch Brian Kelly, ohne Helm, aber noch immer in seiner Rüstung, gehörte zu ihnen. Er lehnte den Kopf gegen die kühle Wand und wollte gerade ins Land der Träume entschweben, als er wie aus weiter Ferne Nat Bonnays Stimme vernahm. »Das ist ja ein toller Betrieb, Brian! He, du kannst doch jetzt nicht schlafen! Ich habe dir einen Drink mitgebracht, damit wir auf Old Irland anstoßen können.« »Ich mag nichts mehr«, stöhnte Brian, ohne die Augen zu öffnen. Bony lachte, trank und schüttete ein wenig Schnaps in Brians Rüstung. »Dort, wo du bald hinfährst, wird es so etwas nicht geben.« »Wohin ich fahre! Was redest du denn! Glaubst du im Ernst, ich führe wirklich nach London oder Dublin? Zum Teufel! Ich hole mir Rosalie, Nat. Sie gehört mir. Ich hole mir Rosalie, und wenn es das letzte …« »Das sagst du!« spöttelte Nat Bonnay. »Sie ist ja immer noch ganz verrückt nach diesem Hillier.« »Der ist gar keine Gefahr für mich, Nat. Den wird sie schon vergessen. Der ist in Sydney, und ich bin hier. Ich will jetzt schlafen, laß mich in Ruhe!« 186
Er hörte Nat Bonnay lachen. Dann spürte er ein Glas an den Lippen und trank. Ein guter Kerl, dieser Nat. »Du hast ihn einfach abgemurkst, wie?« vernahm er wieder Nats lachende Stimme. »Die Gelegenheit dazu hattest du doch, und du hast sie dir bestimmt nicht entgehen lassen, wie?« »Idiot!« murmelte Brian Kelly. »Nicht du, Nat, sondern ich. Ja, ich hätte ihn abmurksen sollen. Mein Alter hatte auch Angst, daß ich es tun könnte. Er nahm mir Hillier ab und schickte mich zurück.« »Wirklich?« »Zerbrich dir nicht den Kopf, Nat. Alles in Ordnung. Ich werde Rosalie heiraten, und damit basta!« Sie schwiegen. Stimmengemurmel, Gelächter und Musik drangen nebelhaft an Brians Ohr. Ein kräftiger Tenor sang ein Lied. »Vielleicht gelingt es dir tatsächlich, Brian«, kam Nats Stimme wieder von irgendwoher. »Ja, es könnte dir gelingen. Wo hat denn dein alter Herr Hillier von dir übernommen?« »Halt endlich den Mund. Ich möchte schlafen.« »Oben auf dem Paß wahrscheinlich?« »Hinter Conways Haus«, murmelte Brian schlaftrunken. »Wo die Straße in die Staatsstraße einmündet. Er hielt uns an und befahl mir, auszusteigen. Ich sei noch grün hinter den Ohren, sagte er und schlug mich nieder. Wenn er doch zur Vernunft käme, bevor ich neunzig bin, Nat.« »Vielleicht kann ich ihn dir vom Halse schaffen, Brian. Schlaf gut.«
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ony gab sich den Anschein, betrunken zu sein. Er legte sich ebenfalls an die Wand und barg den Kopf in den verschränkten Armen. Unter halbgeschlossenen Lidern hervor beobachtete er die Tänzer, die Bartheke, das Orchester – Rosalie saß jetzt am Flügel – und die große Vordertür. Red Kelly thronte in voller Rüstung auf dem Ende der Theke und grölte mit einigen Kumpanen Lieder. Es gab keinen Zweifel an der Zähigkeit der Leute von Cork Valley. Oma Conway weigerte sich standhaft, sich auf ihr Zimmer zurückzuziehen. Bessie tanzte mit ihrem Vater. Der Tenor war noch nicht betrunken genug, um die Stimme zu verlieren, und so kämpfte er verzweifelt gegen Red Kellys Chor an. Die Fortschritte, die Bony in den letzten zwölf Stunden gemacht hatte, waren vor allem das Resultat seines wochenlangen Aufenthaltes und dem dadurch entstandenen Vertrauensverhältnis zu diesen Leuten. Der Lohn für seine Geduld schien jetzt in greifbare Nähe gerückt. Noch eine weitere Stunde, und so mancher würde unter dem Einfluß des Alkohols bereit sein, sich mit ihm über die delikatesten Dinge zu unterhalten. Trotz ihres Protestes wurde Oma Conway nun doch hinausgebracht. Rosalie verließ unauffällig den Flügel und verschwand durch die Hintertür. Bessie wollte ihr folgen, aber ihr Tanzpartner ließ sie nicht los. Bony hielt es für angebracht, wieder zu sich zu kommen. Er setzte sich auf, gähnte und reckte sich. Er sah Joe Flanagan, der sich ganz allein in einem irischen Tanz produzierte. Unter den 188
Männern an der Bar entdeckte er Steve, auf dessen Gesicht ein gefrorenes Lächeln stand. Offensichtlich fühlte er sich sehr einsam. Er begrüßte Bony, indem er sich auf dessen Schulter stützte, um sich aufrecht zu halten. »Guter alter Nat! Wie geht’s denn so!« »Hab’ grade ein Nickerchen gemacht und bin jetzt wieder zu jeder Schandtat bereit, Steve.« Bony bestellte bei einem der Schankkellner Drinks, die augenblicklich serviert wurden. »Dieses Fest ist wunderbar. Das schönste Fest, das ich jemals erlebte, Steve. Red ist in Hochform, wie?« Bony drehte sich um und lehnte sich gegen die Theke. Er lächelte Steve an, und Steve erwiderte dieses Lächeln voll ehrlicher Zuneigung. »Schade, daß er sich nicht endlich zur Ruhe setzt«, meinte Steve und deutete auf Red. »Eines Tages wird er einen wirklich schwerwiegenden Fehler begehen, und dann finden sich plötzlich einige von uns im Gefängnis wieder. Mike ist da ein anderer Kerl. Er weiß genau, wann die Rechnung aufgeht.« Er packte Bony am Arm. »Du weißt ja, Nat, du und ich, wir beide könnten die Liefertour über die Berge ohne jedes Risiko machen.« »Was ich nicht leiden kann, Steve, ist ein unnützes Risiko. Ich mag keine Pistolen bei einem solchen Job. Du vielleicht?« Steve schüttelte den Kopf, stöhnte aber sofort vor Schmerz auf. Noch ein Drink mochte genügen, dachte Bony und ließ nachfüllen. »Die dümmste Geschichte, die ich je hörte, war ja die Sache mit Kelso«, ging Bony zum Angriff über. »Ja, und keiner von uns hatte etwas damit zu tun. Du weißt davon, Nat?« – »Nun, du selbst hast es mir doch erzählt, oder?« »Wirklich?« Steve runzelte die Stirn und nahm einen tiefen Schluck. »Ich weiß nicht …« »Ach, wozu sich den Kopf zerbrechen!« Bony lachte. »Schließlich ist das hier doch keine Quizveranstaltung. Die Rüstung steht dir wirklich prächtig. Wen stellst du eigentlich dar?« 189
»Dan Kelly. – Ja, die Sache mit Kelso war idiotisch. Durch einen privaten Streit wurde das Geschäft beeinträchtigt. Man soll Geschäft und Vergnügen immer auseinanderhalten. Ach, laß mich sitzen, Nat. Ich sehe dich schon doppelt. Ein schlechtes Zeichen. Dabei muß ich noch meine Rolle weiterspielen.« Bony wurde fast zu Boden geworfen, aber es gelang ihm doch noch, den Mann in eine Ecke zu schleifen. Steve war jetzt reif. »Red wird noch jemanden umbringen, wenn er sich nicht zusammennimmt«, meinte Bony. »Ich habe Mike gesagt, daß ich keine Minute länger in Cork Valley bleibe, wenn das passieren sollte.« »Und was hat Mike erwidert?« »Er meinte, wenn Red so etwas tun würde, wäre er derjenige, der zu gehen hätte. Gib mir was zu trinken.« »Du hast jetzt genug, Steve. Schlaf ein wenig. Ich bleibe in deiner Nähe.« Bony lagerte ihn möglichst bequem, und als er sich aufrichtete, vernahm er ein Kichern. Gaffer stand hinter ihm, noch immer den Zylinder auf dem Kopf. »Schwächlinge – alle sind Schwächlinge, Nat«, erklärte er. »Da war meine Generation anders. Anders als dieser Möchte-gernDan-Kelly hier. Und wie fühlst du dich?« »Recht gut. Und Sie?« »Bei mir ist es noch lange nicht soweit wie bei dem da«, erwiderte Gaffer und wies auf Steve. In diesem Augenblick kam ein Junge zur Tür hereingestürmt und blickte sich suchend um, bis er Red Kelly auf der Theke entdeckte. Er schob sich zwischen den tanzenden Paaren hindurch und schrie atemlos und nach Luft ringend. »Die Polizei … Die Polizei ist unterwegs, Red. Wirklich, Red …!« Der rothaarige Hüne unterbrach seine lautstarke Unterhaltung, blickte zur alten Uhr über der Theke und brüllte vor Lachen. 190
»Du bist früh dran, Col, viel zu früh. Soweit sind wir noch nicht. Komm in einer halben Stunde wieder. Und jetzt ’raus mit dir.« »Aber Red, es ist wahr, Red, wirklich wahr!« »Scher dich zum Teufel! Los! Ed, schmeiß ihn ’raus!« Ein untersetzter Mann schob den protestierenden Jungen zur Tür hinaus. Lachend kehrte er zu Red zurück, der seine Geschichte von dem wildgewordenen Stier weitererzählte. »Gehörte das zum Stück!« fragte Bony voll Interesse. Der alte Mann nickte, war aber offensichtlich verwundert. »Ja, es gehört zum Stück, Nat. Wie Red sagte, ein wenig zu früh.« »Dann ist der Junge ein guter Schauspieler.« »Eigentlich zu gut, Nat. Ich muß mal mit ihm sprechen.« »Ich begleite Sie. Wo steckt eigentlich Mike?« »Er wird Oma beruhigen müssen. Er ist der einzige unter uns, der noch einen klaren Kopf hat.« »Na, wie geht’s denn, Gaffer, altes Haus!« brüllte Red Kelly, als sie an der Theke vorübergingen. »He, Nat, wenn dich das Fell juckt, brauchst du mir nur Bescheid zu sagen.« Bony winkte lächelnd ab und ging hinter Gaffer her. Plötzlich hing Bessie an seinem Arm. »Tanzen Sie mit mir, Nat. Hören Sie, ich habe etwas erfahren. Sie haben seine Kleider und die anderen Sachen am nächsten Morgen im Küchenherd verbrannt.« »Nur einen Augenblick, Bessie. Wir müssen mal etwas nachprüfen.« Sie hatten die breite Vordertür noch nicht erreicht, da wurde sie aufgedrückt, und vier große, kräftige Männer stürmten in die Halle. Sie trugen Zivilkleidung und Regenmäntel, aber man sah ihnen auf den ersten Blick ihren Beruf an. Die Tanzenden hielten inne, sogar Red dämpfte seine Stimme, bis schließlich atemlose Stille herrschte. 191
»Steuerfahndung!« rief einer der Männer schneidend. »Wir haben einen Haussuchungsbefehl. Sie führen hier eine Schankwirtschaft, wie? Nun, einmal mußten wir Sie ja erwischen!« Niemand bewegte sich, nur Red Kelly rutschte langsam von der Theke und stülpte seinen Helm auf. Der Wortführer der Beamten stieß ein Lachen aus. »Ned Kelly, wie er leibte und lebte! Und er hat sich doch tatsächlich den Bart schwarz gefärbt. Na, da werden die Kinder aber eine Freude haben …« Seine Stimme wurde von den Tönen eines Dudelsackes überspielt, und Pat Mulvaney kam zur Hintertür hereinmarschiert. Die Anwesenden bildeten eine Gasse, um ihn durchzulassen. Pat Mulvaney war ein kräftiger Mann, er schob Red Kelly einfach beiseite und steuerte direkt auf die Eindringlinge zu. Er stieß den Wortführer vor den Bauch. Als der Mann zu Boden stürzte, machte Pat kehrt und marschierte zurück. Die Anwesenden rührten sich nicht. Sie verfolgten gebannt dieses Schauspiel, nur Red Kelly schob sich weiter nach vorn. Der Mann auf dem Boden krümmte sich vor Schmerz, und ein zweiter Beamter beugte sich über ihn. Der dritte blickte unsicher dem gepanzerten Hünen entgegen, während der vierte einen Revolver zog. Jetzt wurden Nat und Bessie zur Seite geschoben, und Mike Conway baute sich vor den Fremden auf. »Wer sind Sie?« fragte er scharf. »Beamter der Steuerfahndung. Treten Sie zurück. Wir haben einen Haussuchungsbefehl.« »Zeigen Sie ihn vor.« »Er wird Ihnen schon noch gezeigt, Mister. Treten Sie zurück. Sollte jemand gewalttätig werden – wir schießen!« »Sie befinden sich in einem Privathaus, und dies hier ist eine private Gesellschaft«, erwiderte Mike eisig. »Sie werden auf der Stelle den Raum verlassen.« »Später, Mr. Conway, später.« 192
Bony stellte sich neben Mike. Hinter ihnen bildeten die Männer rasch eine Mauer, und eine fieberhafte Tätigkeit setzte ein: Die Flaschen mit dem Selbstgebrannten Schnaps verschwanden in einem Schacht neben der Theke, während die echten Whiskyflaschen in die Regale gestellt wurden. Bony sah das nicht. Er kochte innerlich vor Zorn. Der Wortführer der Finanzbeamten kam wieder zu sich und befahl dem Mann mit dem Revolver, bei einem Angriff sofort zu schießen. »Alles zurücktreten!« kommandierte er. Die vier Beamten rückten vor, aber Mike und Bony und die übrigen Männer wichen nicht einen Zentimeter. Die Beamten versuchten die Männer zurückzudrängen. Dabei berührte einer unabsichtlich Bessie. Die klatschende Ohrfeige, die er bezog, war das Signal zur Eröffnung der Feindseligkeiten. Die Beamten waren nur vier gegen mindestens fünfzig, aber sie hielten sich prächtig. Es waren kräftige und zähe Burschen, die Erfahrung in derartigen Razzien hatten. Aber die Übermacht war doch zu groß. Red Kelly fand die Rüstung hinderlich, riß sich den Helm vom Kopf und stülpte ihn dem Mann mit dem Revolver über. Er brach ihm fast den Arm, als er ihm den Revolver entwand. Die Beamten wurden langsam zur Tür gedrängt. Red, im Besitz der Waffe, schlug kurzerhand einen seiner eigenen Leute nieder, um besser zielen zu können, aber da hockte auch schon Bony auf seinem Rücken und preßte ihm den Kopf nach vorn, um den Revolver zu ergreifen. Aber der Panzer behinderte Bony, und Red gelang es, zu feuern. Er schoß daneben. Jetzt konzentrierte er seine Aufmerksamkeit auf den Angreifer, der ihm im Nacken saß. Er wand und schüttelte sich und brüllte unverständliche Worte. Schließlich gaben die Lederriemen nach, und Brust- und Rükkenpanzer stürzten zusammen mit Bony zu Boden. Bony wurde getreten und gestoßen, und es gelang ihm nur mit größter Mühe, 193
in dem Durcheinander auf die Beine zu kommen – aber er hatte den Revolver. Als er sich aufrichtete, bot sich ihm ein ungewöhnlicher Anblick. Der alte Gaffer führte auf der Theke einen Solotanz auf. In der einen Hand hielt er eine Whiskyflasche, in der anderen seine Breeches. An der Hintertür hatte sich eine Traube aus neugierigen Frauen gebildet, und auf dem Podium sang der Tenor – ohne Begleitung, aber aus vollem Halse. Bony sah Red Kellys Kopf aus der Menge aufragen, aber der Hüne war so fest eingekeilt, daß er seine Hände nicht hochbekam. In ohnmächtiger Wut schrie er, man solle ihm Platz machen, damit er die Halunken umbringen könne. Bony konnte nichts anderes tun, als die zu Boden Gestürzten zwischen den trampelnden Füßen hervorzuziehen. Bessie unterstützte ihn bei dieser Tätigkeit. Das Mädchen schrie vor Begeisterung. Ihr Kleid war zerrissen, und Bony war es schleierhaft, wie es ihr gelungen war, sich aus diesem Menschenknäuel zu befreien. Joe Flanagan und ein anderer Mann wurden besinnungslos in eine Ecke gelegt. Jack und zwei andere stürzten sich erneut ins Getümmel. Und der Tenor sang immer noch. Bony trat resigniert beiseite. Er hatte eine Rißwunde auf dem Kopf und blutete aus der Nase. Das Resultat dieses Kampfes würde mindestens ein Toter und eine Anzahl Verletzter sein. Red Kelly war im Augenblick nicht zu sehen. Brian war wieder zu sich gekommen und richtete sich von seinem Schlafplatz an der Wand auf. Er setzte sich den Helm auf und stand einige Augenblicke taumelnd auf seinen Beinen. Dann packte er mit beiden Händen einen Stuhl, ein kurzer Ruck, und er hatte in jeder Hand einen kräftigen Knüttel. Ruhig ging er auf die brodelnde Masse zu und begann, ohne jede Warnung auf die Nächststehenden einzuschlagen. Das Ergebnis war verblüffend. Durch das Nachlassen des Druckes von außen gab es in der Mitte eine Explosion, und Red 194
Kelly erschien – ein Hüne mit schwarzgefärbtem Haar und Bart, auf dessen entblößter Brust die roten Haare leuchteten. Die Männer stürzten sich auf Brian, und im Handumdrehen war zwischen Red und Bony eine Gasse frei. Die Worte, die der Alte brüllte, gingen im Tumult unter, aber seine Absicht war unverkennbar. Anscheinend war er durch die bereits gemachten Erfahrungen nicht klüger geworden. Bony trat schnell einige Schritte zurück, um die Entfernung zwischen sich und dem Angreifer zu vergrößern. Plötzlich trat atemlose Stille ein. »Nicht dort entlang, Red!« schrie Jack. Aber der Hüne war bereits in Fahrt. Er stürmte vorwärts, die Hände griffbereit vorgestreckt. In seinen Augen flackerte Mordlust. Da trat er auch schon in Bonys Hände und schleuderte sich selbst in die Luft. In diesem Augenblick schien ihm doch wohl eingefallen zu sein, welche Erfahrung er bereits gemacht hatte. Er beugte rasch den Kopf nach unten, so daß er mit seinen breiten Schultern gegen die Decke stieß. Das Ergebnis war diesmal ein anderes. Red stieß gegen einen Balken, der, morsch und altersschwach, nachgab und einen Querbalken lockerte. Im nächsten Augenblick stürzte die halbe Decke ein. Sofort brach die Hölle los, doch der Staub eines Jahrhunderts sorgte rasch für Ruhe. Red öffnete den Mund, um loszubrüllen, aber seine Lunge war voller Staub. Die Männer wurden von Hustenkrämpfen geschüttelt. Gaffer hatte nichts von der herabstürzenden Decke mitbekommen und führte auf der Theke immer noch seinen Derwischtanz auf, und auch Bony, der sich neben dem Podium befand, auf dem der Tenor ungeachtet des Tumults seine Lieder schmetterte, war mit heiler Haut davongekommen. In diesem Augenblick marschierte die Polizei ein. Sergeant O’Leary war ein guter Taktiker, und seine Armee vierzehn Mann stark. Er trieb die Kampfhähne auseinander, ließ Red Kelly umzingeln und ihm wegen Gewalttätigkeit sofort 195
Handschellen anlegen. Den alten Gaffer holte er von der Theke herunter. Die auf dem Boden Liegenden wurden wieder auf die Beine gebracht, und Bony stellte erleichtert fest, daß es keinen Toten gegeben hatte. Bony baute sich vor Sergeant O’Leary auf. »Was soll das? Was soll diese Einmischung?« »Ein schönes Durcheinander, Inspektor«, erwiderte der Sergeant. »Ich meine – nicht hier. Wir erhielten Kenntnis, daß die Zollfahndung eine Razzia machen wollte. Das sollten wir verhindern.« »Die Bedingungen für meinen Auftrag waren klar und unmißverständlich«, polterte Bony los. »Sie gelten auch jetzt noch, Sir.« O’Leary unterdrückte nur mit Mühe einen Hustenanfall. »Danke«, erwiderte Bony. »Und jetzt werde ich mir erst einmal die Leute von der Zollfahndung vornehmen.« Er baute sich vor den vier Männern auf, die einen genauso lächerlichen Anblick boten wie er selbst. »Ich bin Inspektor Bonaparte und leite hier die Ermittlungen. Sie werden jetzt auf der Stelle verschwinden.« »Den Teufel werden wir«, erwiderte einer der Beauftragten barsch. »Dann lasse ich Sie festnehmen und zeige Sie wegen Hausfriedensbruch, Körperverletzung und schwerer Sachbeschädigung an. Sie können wählen.« Bony baute darauf, daß die Beamten keinen Haussuchungsbefehl besaßen, und er gewann. Die Finanzbeamten blickten nach oben, wo sich vorhin noch die Decke befunden hatte, dann zuckte der Wortführer die Achseln und führte seine Leute hinaus. Sergeant O’Leary lächelte ergrimmt. In Zukunft würde es viele Kompetenzstreitigkeiten geben. Bony winkte die Wachtmeister, die Red Kelly gepackt hielten, zu sich. Sie kamen heran, den Gefangenen in ihrer Mitte. 196
»Red, es tut mir ehrlich leid, wenn ich jetzt meine Pflicht tun muß«, begann Bony. »Heute nacht haben Sie denselben Fehler gemacht wie Ned Kelly in Glenrowan: Sie haben sich mit Alkohol den Verstand benebelt. Der Junge hat Sie rechtzeitig gewarnt, aber Sie schlugen die Warnung in den Wind. Damit haben Sie viel Kummer über die Leute von Cork Valley gebracht. Red Kelly – ich verhafte Sie als den Mörder von Eric Torby alias Eric Hillier. Alles, was Sie von jetzt an sagen, wird festgehalten und gegebenenfalls vor Gericht gegen Sie verwendet werden.« Und dann fügte er etwas hinzu, was Sergeant O’Leary in helles Erstaunen versetzte: »Also halt den Mund!«
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ild heulte der Wind durch die Nacht, und prasselnder Regen ging nieder. Hin und wieder pufften kleine blaue Rauchwolken aus dem Kamin, vor dem Oma Conway saß und traurig in die Flammen starrte. Neben ihr saß ihr Enkelsohn, während dessen Frau damit beschäftigt war, den Abendbrottisch zu decken. In einer entfernten Ecke unterhielt sich Joe Flanagan leise mit Steve. Es war der zweite Abend nach Beginn des Ned-Kelly-Festes. »Werden sie Red hängen?« fragte die alte Dame, ohne Mike dabei anzublicken. »Das hast du bereits einmal gefragt«, erwiderte Mike. »In Neusüdwales hängt man niemanden mehr. Er wird wahrscheinlich zwölf Jahre bekommen und bei guter Führung nach acht Jahren entlassen werden.« 197
»Er wird sich aber nicht gut führen, Mike. Das bringt er doch gar nicht fertig. Was wollte Brian von dir?« »Er kam nicht wegen Red. Er sagte, er habe gestern noch eine Aussprache mit Rosalie gehabt. Er meint, daß er jetzt, wo sein Vater nicht mehr da sei, etwas aus seinem Leben machen könne. Er hat Rosalie gebeten, auf ihn zu warten, damit er es ihr beweisen könne. Vor allem bittet er uns, nicht mehr darauf zu bestehen, daß er die Reise nach Irland antritt. Ich habe mit Rosalie gesprochen. Sie sagte mir, daß sie sich ein Jahr Bedenkzeit ausbittet.« »Gut. Dann warten wir also ab, Mike.« »Das dürfte meines Erachtens das beste sein.« Mike seufzte. »Hätte ich bloß diesen Burschen damals nicht mit hierhergebracht.« »Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen. Er hat uns alle eingewickelt. Sogar mich. Mit diesem … diesem …« Die alte Dame erstarrte und blickte ihren Enkel an. Von draußen ertönte mit elfengleichem Klang ›Danny Boy‹. Mike erhob sich. Matty, die gerade die Ofentür geöffnet hatte, erstarrte ebenfalls. Die Melodie wurde lauter, und jetzt erkannten sie, daß sie von der Hintertür kam. Gleich darauf erschien Bony. Sein Haar war vom Wind zerzaust, und zwischen den gewölbten Händen hielt er das Blatt eines Gummibaumes gegen die Lippen. Seine Augen glänzten und waren von einem tiefen Blau. Die beiden Männer am Ende des Raumes kamen heran, doch Mike winkte ab. Er selbst trat zurück, ohne Bony aus den Augen zu lassen, der vor Oma Conway stehengeblieben war. Er warf das Blatt des Gummibaumes ins Feuer. »Da ich ein Conway bin, möchte ich Sie alle ein wenig beruhigen«, begann er. »Und gleichzeitig möchte ich Ihnen Lebewohl sagen. Ich fahre nach Hause, zu meiner Frau und meinen Söhnen.« »Sie sind kein Conway«, erwiderte Mike eisig. 198
»O doch! Sie alle haben mich zu einem Conway gemacht, und ich bin stolz darauf. – Sie erinnern sich doch noch, Mike, wie wir die Stelle entdeckten, an der die beiden Touristen ins Tal gekommen waren. Aus dem, was Red bei dieser Gelegenheit sagte, konnte ich deutlich entnehmen, daß Sie nichts mit dem Mord an Torby zu tun haben konnten, ja, daß Sie überzeugt waren, er sei noch am Leben. Der Brief, den Sie erhielten, und von dem Sie annahmen, daß ihn Torby geschrieben hatte, war eine Fälschung von O’Halloran und in Sydney aufgegeben worden. Ich habe mit Red in seiner Zelle gesprochen. An jenem einundzwanzigsten Dezember, als der Mord geschah, lauerte er oben auf der Paßstraße dem Wagen auf, schlug Brian nieder und schickte ihn nach Hause. Anschließend fuhr er mit Torby an einen ruhigen Ort und brach ihm das Genick. Bis zum frühen Morgen wartete er. Dann legte er die Leiche auf die Straße nach Bowral. Zuvor zog er Torby noch die Kleidung aus und steckte ihn in einen Arbeitsanzug. Die Sachen des Ermordeten verbrannte er im Küchenherd. Zufällig kam die Köchin hinzu und kann das bezeugen. Ich habe Red erklärt, was seine Tat für jeden hier in Cork Valley zu bedeuten hat. Wie er Sie alle in die größten Schwierigkeiten gebracht hat. Ich habe ihm deutlich gemacht, daß eine ganze Anzahl von Ihnen wegen dieser Schwarzbrennerei ins Gefängnis wandern könne, ganz zu schweigen davon, daß Sie später ununterbrochen die Zollfahndung auf dem Hals haben werden.« »Bis jetzt ist niemand gekommen, obwohl wir es erwarteten. Wissen Sie eine Erklärung dafür?« fragte Mike. »Ich glaube, ja. Als ich den Auftrag erhielt, den Mord an Torby aufzuklären, stellte ich die Bedingung, daß sich keine anderen Polizeidienststellen einmischen durften. Diese Touristen beunruhigten mich. Darum schickte ich eine Nachricht an Torbys Adresse und vertraute darauf, daß man diesen Brief der Polizei übergeben würde. Statt dessen aber gelangte er in die Hände der Zollfahndung. Nun, diese Leute wurden sofort aktiv, wie Sie 199
wissen. Sie werden mir beipflichten müssen, daß das Fest ein anderes Ende hätte nehmen können, wenn Sergeant O’Leary nicht glücklicherweise aufgetaucht wäre.« »Stimmt«, mußte Mike zugeben. »Dann ist da noch der Tod dieses Kelso«, fuhr Bony ernst fort. »Ich war erleichtert, als ich erfuhr, daß außer Red niemand aus Cork Valley etwas damit zu tun hat. Und daß die Tat mehr als hundert Meilen südlich von Cork Valley geschah. Inwieweit Red in dieses Verbrechen verwickelt ist, muß erst noch untersucht werden. Um zu verhindern, daß Unschuldige in die Mordsache Torby hineingezogen werden, habe ich Red überredet, auszusagen, daß er den Mann aus ganz persönlichen Gründen getötet hat, was ja auch der Wahrheit entspricht. Und obwohl er nicht sehr intelligent ist, so glaube ich doch, daß er aus Loyalität gegenüber Cork Valley meinen Rat annehmen wird.« Einige Sekunden lang herrschte tiefes Schweigen. »Und was werden Sie jetzt tun?« fragte Mike schließlich. »Ich werde Material gegen ihn zusammenstellen. Was könnte ich sonst tun?« »Und Sie wissen von der Brennerei? Red hat es Ihnen erzählt?« wollte die alte Dame wissen. »Als ob Red je so etwas tun würde!« erwiderte Bony vorwurfsvoll. »Trotz allem ist es eine reizvolle Destille. Und dieser herrliche Whisky!« Bony lächelte Mike und die alte Dame an. »Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten: Zerstören Sie die Brennerei und machen Sie Schluß mit dem Schwarzhandel.« »Wenn wir das aber nun nicht über das Herz brächten, Sie echt irischer Inspektor Bonaparte?« fragte die alte Dame lauernd. »Dann würde ich Sie mit traurigem Herzen verlassen und bedauern, daß Sie mich einmal zu einem Conway gemacht haben.« »Tatsächlich, obwohl Sie uns doch unsere Rechte verweigern?« beharrte sie mit funkelnden Augen. 200
»Ich nicht, Oma, aber die Finanzbehörden. Bedenken Sie, daß sich die Zeiten geändert haben. Wir kleinen Leute müssen gehorchen. Und außerdem – es bleibt Ihnen doch unbenommen, sich mit einer kleinen Anlage mal ab und zu für den Hausgebrauch einen Schluck zu brennen. Nur mit dem Handel muß es ein für allemal aus sein.« Joe und Steve standen hinter dem Stuhl der alten Dame. Die beiden Mädchen waren ebenfalls eingetreten. Bessie O’Grady hatte den Arm um Rosalies Taille gelegt. »Nat, mein Junge, da kann ich nicht nein sagen«, erwiderte Oma Conway. »Also gut, Nat! Morgen in aller Frühe wird die Brennerei zerstört«, erklärte Mike ebenfalls. »Und werden Sie mir eine Einladung für das nächste Fest schicken?« »Du bist doch ein Conway!« erwiderte die alte Dame ohne Zögern. »Wollen Sie uns nicht sagen, wie die Steuerfahndung und die Polizei so überraschend hier auftauchen konnten?« erkundigte sich Mike. »Sie seilten sich über die Steilwand ab, nachdem sie gemerkt hatten, daß Cork Valley auf normalem Wege nicht zu überraschen war«, erläuterte Bony. »Die Polizei folgte den Beamten der Steuerfahndung, und die mußte sich eine neue Route suchen, als sie herausfanden, daß der Weg gesprengt war, über den Torby gekommen war. Wie ich schon sagte: Die Verhältnisse haben sich geändert. Die Zeiten des freien Unternehmereigentums sind vorbei.« Lächelnd und mit gekünstelt irischem Akzent fügte er hinzu: »Ich danke Ihnen im voraus für die Einladung zum nächsten Ned-Kelly-Fest. Und bevor ich Ihnen nun beim Essen Gesellschaft leiste, möchte ich Ihnen, Oma, ein Ständchen bringen. Was soll es denn sein?« Sie erwiderte etwas in Gälisch, und Matty rief: »Sprich doch Englisch, Oma.« 201
»Zum Teufel mit Englisch«, sagte Bony und brachte ein Gummiblatt zum Vorschein. »Ich weiß doch, wie ›Danny Boy‹ auf Gälisch heißt.« ENDE
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