Alex Abella
Fremde Götter
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Eigenlich gibt es keinen Zweifel: José Pimienta und Ramón Val...
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Alex Abella
Fremde Götter
scanned by ab corrected by mc
Eigenlich gibt es keinen Zweifel: José Pimienta und Ramón Valdez haben bei einem Raubüberfall ein Blutbad angerichtet. Aber Ramón ruft Charlie Morell auf den Plan, einen Ermittler, dem der Ruf vorauseilt, mit Vorliebe aussichtslose Fälle zu übernehmen. Ramón selbst behauptet, vom Bösen besessen gewesen zu sein und sich an nichts mehr erinnern zu können. Und Charlie, der sich während seiner Nachforschungen immer mehr in seine eigene Vergangenheit verstrickt, stolpert kopfüber in einen tropischen Alptraum aus Blutregen und Leidenschaft, Wahnsinn und Tod. ISBN: 3-442-42057-1 Original: »The Killing of the Saints« Aus dem Amerikanischen von Bernhard Schmid Erscheinungsjahr: 1994 Verlag: Wilhelm Goldmann Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagfoto: Ag. Die Kleinert/Nischke, München
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Eigentlich gibt es keinen Zweifel: José Pimienta und Ramón Valdez haben bei einem Raubüberfall auf ein Juweliergeschäft ein Blutbad angerichtet. Ein schneller Schuldspruch ist den beiden Exilkubanern gewiß. Zumal Ramón sogar auf den ihm zustehenden Pflichtverteidiger verzichtet. Statt dessen fordert er Charlie Morell an, einen gerichtlich zugelassenen Ermittler, dem der Ruf vorauseilt, mit Vorliebe aussichtslose Fälle zu übernehmen. Doch diesmal läßt sich Morell, der selbst kubanischer Abstammung ist, nur widerwillig auf den Fall ein. Denn Ramón behauptet, er könne sich an nichts mehr erinnern, er sei von dem Kriegsgott der Santería, einem aus Afrika stammenden grausamen Kult, besessen gewesen. Im Verlauf der Ermittlungen bestätigen sich Charlies böse Vorahnungen, und während er sich immer mehr in seine eigene Vergangenheit verstrickt, stolpert er kopfüber in einen tropischen Alptraum aus Blutregen und Leidenschaft, Wahnsinn und Tod. Fremde Götter - ein außergewöhnlicher Thriller über Gewalt, Sünde, Liebe und Erlösung, nicht zuletzt ein einfühlsames Stück Literatur über den Kampf um ethnische Identität. »Wären Dashiell Hammert und Raymond Chandler Kubaner gewesen, hätten sie diesen Roman geschrieben.« (Richard Condon)
Autor Alex Abella, geboren im kubanischen Havanna, kam im Alter von zehn Jahren in die USA. Er erhielt ein Stipendium der Pulitzer-Stiftung und studierte an der University of Columbia. Er lebt heute in Los Angeles, wo er zunächst als Dolmetscher im Obersten Gerichtshof tätig war. Mittlerweile ist der ehemalige Journalist und Auslandskorrespondent des San Francisco Chronicle und des Magazins Time als Drehbuchautor in die Filmindustrie gewechselt.
Für Armeen, sempre diritto!
Prolog Óyeme, chico, ven acá, was hör' ich da, du schreibst an einer großen Geschichte über die Kubaner und Marielitos von Los Angeles? Coño, chico, eins mußt du wissen: Die Kubaner sind die größten, immer und überall, Bruder, keiner, der uns in punkto Cleverness das Wasser reicht, keiner, der sexier wäre, keiner, der besser aussehen würde, alles klar? Schau dir doch bloß mal an, was wir aus Miami gemacht haben - bevor wir gekommen sind, war das doch kaum mehr als ein Stück Sumpf für Nigger und sterbende Juden. Wir haben daraus die Handelsmetropole Lateinamerikas gemacht, ein Zentrum für jeden, der Geschäfte machen und frei sein will, Leute, die bei Burdines einkaufen wollen eine Eigentumswohnung am Strand, ein Haus in Coral Gables, den neuesten Wagen. Qué va, Bruder, ohne uns wäre Miami nichts, eine von tausend Sandbänken am Rand eines Mangrovensumpfes voller fliegender Schaben und Taugenichtse. Alle sollten es so machen wie wir hier, mi hermano. Aber ich sag' dir mal was, weißt du was, ja? Die haben weder den Verstand noch den Mumm in den Knochen, um das zu schaffen, was wir geschafft haben: seinen Zorn und seinen Groll zusammennehmen und in Beton und Gold verwandeln, sich von dem leiten lassen, was man sich wünscht, bis man schließlich die Welt in der Tasche hat. Und warum? Weil man sie will, Punkt, aus, klar? Und deshalb sind wir die Besseren, deshalb sind wir einzigartig, únicos. Paß mal auf, wenn sämtliche Mexikaner in Los Angeles sich zusammentäten, ich sag's dir, Bruder, die Anglos wären am Arsch, Mann, am Arsch. Nichts, aber auch rein gar nichts kann dem Willen eines -5-
Volkes widerstehen, dessen Stunde gekommen ist. Das sind Naturgewalten, wie der Wind und die Gezeiten - ich meine, was sind schon Luft und Wasser, aber zusammengenommen und mit einem Willen dahinter wird ein Hurrikan oder eine Springflut daraus. Aber weißt du was? Dazu wird es nicht kommen, weil sie keine Kubaner sind. Schau dir doch bloß mal die Musik an, Mann, den Jazz, kommt alles aus Kuba. Nein, Tatsache! Die Jungs waren alle in Havanna, einer wie der andere, haben unseren Rum getrunken, mit unseren Frauen rumgemacht und dabei Geschmack an unserer Musik gefunden, und es hat nicht lang gedauert, Bruder, da hatten sie uns die guten Noten auch schon geklaut. Sogar den Rock 'n' Roll, mi hermano. Du glaubst mir nicht? Na dann hör mal: Du weißt, wie wichtig Bo Diddley gewesen ist, ja? Du weißt schon, sein Rhythmus, dieses damdidamdidam, damdam, das den ganzen Rock 'n' Roll beeinflußt und groß gemacht hat? Ey, der Mann gibt ja selber zu, daß er den aus einem kubanischen Lied geklaut hat. Du verstehst, ja, der Rhythmus, el sabor, dieses spezielle kubanische Etwas, wie die Möse einer süßen kleinen Kubanerin, mi hermano, einfach unvergleichlich. Alle diese Burschen sind zu uns gekommen und haben uns beklaut und hinterher behauptet, es wär' auf ihrem Mist gewachsen. Aber das ist schon in Ordnung, das ist vorbei. Deswegen braucht man sich heute keine grauen Haare mehr wachsen zu lassen. Du glaubst noch immer nicht, daß wir die Größten sind? Okay, dann nimm den Sport - den größten Boxer, den cleversten, den, der Sugar Ray Robinson alles beigebracht hat, was der Mann drauf hatte, wer war das? Ich sag's dir, Kid Chocolate war das, mein Bruder. Und vergiß nicht Kid Gavilán und Benny Kid Paret. Und dann Baseball ach was, da fangen wir erst gar nicht mit an, ich kann dir unmöglich die Namen aller kubanischen Größen aufzählen -6-
- Aparicio, Manchal und all die anderen. Und José Canseco, qué va, an einen Kubaner kommt einfach keiner ran. Weißt du, für so ein kleines Land sind wir einfach die Größten - deswegen nennen sie uns die Juden Lateinamerikas. Wir sind die Köpfe hinter allem südlich der Grenze. Und nördlich, nur daß wir da noch nicht so lange sind. Paß auf, wir sind von allen Einwanderern in der Geschichte dieses Landes die, die sich am schnellsten angepaßt haben. Coño, Mann, schneller sogar als die Juden. Wir haben Professoren, Künstler, Ingenieure, Reporter, Tänzer, Musiker, Modeschöpfer, Geschäftsleute - schau dir doch bloß mal den größten Konzern der Welt an, Coca-Cola, ich meine, jeder kennt Coke? Ich meine das zum Trinken, mi hermano, obwohl die Kubaner natürlich auch bei dem anderen Zeug die Finger mit drin haben, klar. Aber im Ernst, wer ist denn Chef von CocaCola? Un cubano. Wer sonst? Wir kennen uns. Wie gesagt, schau dir nur mal Miami an. Unser Problem war, daß wir immer diese politische Geschichte im Nacken hatten, du weißt schon, daß man uns die Hände gebunden hat und uns blind macht für die Realität. Deswegen sind wir erst hier was geworden, hier, auf diesem strohdummen, unehrlichen, heimtückischen und treulosen amerikanischen Boden, wo einfach nichts unmöglich ist und wo wir Tag für Tag sehen, wie man uns verraten hat, als wir diesen verdammten Nero mit der Zigarre und dem Lächeln aus Blei und Knochen auszuradieren versuchten. Aber, was soll's, das ist historia antigua. Was ich sagen will ist, wen interessieren schon die Marielitos? Die sind rübergekommen und haben gedacht, hier schiebt man's ihnen vorn und hinten rein! Für den Sozialismus oder was weiß ich haben die das hier gehalten. Kommen her und meinen, sie brauchen bloß zu bitten und schon wird ihnen gegeben - klopf an die Tür, und die Tür tut sich auf. Coño, -7-
Mann, diese Leute haben nicht die geringste Lust, sich die Finger wund zu arbeiten, sich den Arsch aufzureißen wie unsereins. Die wollen alles, nur weil sie eine hübsche Larve haben, klar? Und was tun sie? Sie jammern - über dies und das, und dann greifen sie zur pistola, als könnten sie ihre Probleme lösen, indem sie Leute voll Blei pumpen. Ich meine, was sind sie denn schon, die meisten von ihnen, Bruder? Ein Haufen Nigger, sonst nichts. Also verschwende bloß nicht zuviel Zeit mit denen. Die versauen uns weißen Kubanern nur den Ruf, weißt du, muy mala reputación. Fidel, dieser Hurensohn, der hat es euch Amerikanern genauso besorgt wie uns. Schickt uns diesen Abschaum, diesen menschlichen Bodensatz, aus Mazorra hat er den geholt, aus dem Irrenhaus - und aus den Gefängnissen. Dreck sind die, Mann, und mehr sind sie auch nicht wert, du solltest dich wirklich nicht um sie kümmern. Schau dir lieber an, was wir geleistet haben, Bruder, schau dir Miami an. Und das ist noch gar nichts, wart's nur ab. Nicht mehr lange, und wir haben sogar Kubaner im Kongreß und Senatoren von überall her, wirst schon sehen. Hier in Florida hatten wir ja schon einen kubanischen Gouverneur, und dann die, wie heißt sie doch gleich wieder, die Kongreßabgeordnete aus Dade… Scheiße, Mann, kann sogar sein, daß die wegen uns die Verfassung ändern, Bruder. Und dann wird ein in Havanna geborener Kubaner Präsident der Vereinigten Staaten - war' das nicht was! Also, vergiß die Marielitos, Bruder, vergiß sie, die sind Abschaum, nichts sind die. Scheiße sind sie, mierda. Fidel hätte sie allesamt umbringen sollen. Die haben nichts anderes verdient als die Wand, el paredón.
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1 In Los Angeles hat kaltes Wetter etwas vom Tod - es kommt völlig überraschend, und die Leute wünschen sich sofort die warmen Tage zurück. Der Tag aber, an dem zwei Exilkubaner einen der blutigsten Raubüberfälle in der Geschichte Südkaliforniens verübten, bot noch weit mehr Grund zum Jammern als die meisten anderen Wintereinbrüche hier im Süden. Schon bei Tagesanbruch fielen die Temperaturen in den Keller und zwangen die Bewohner an der Küste, unter Stapeln von weiten Klamotten, ärmellosen Hemden und gefalteten Sweatshirts nach ihren Wollsachen zu graben. Ungelogen, wie Sprechblasen in einem Comic standen den Leuten den ganzen Tag über die Dunstwolken vor dem Mund. Uralte Schmerzen und Leiden, die man jenseits der Tehachapis und der Grenze zu Arizona gelassen zu haben glaubte, stellten sich wieder ein wie alte Risse im Fundament eines Hauses. Zu Hause aßen die Leute plötzlich wieder Hafergrütze und Maisbrei, und die Restaurants und Cafés des gesamten Tals produzierten herzhafte Festmähler aus Eiern, Speck, Würsten und Pommes und packten auf alles doppelte Portionen Butter und Sahne - zum Teufel mit der Figur und dem Cholesterin. Wer einen Kamin hatte, machte Feuer und sorgte dafür, daß es sich so lange wie möglich hielt, während sich die wenigen Angelenos mit Weitblick massive Dosen Vitamin C verabreichten, um einer Erkältung oder Grippe vorzubeugen, die nach diesem Kälteeinbruch ebenso sicher waren wie das Überlaufen der Kanalisation in der Bucht von Santa Monica nach einem Sturm. José Pimienta und Ramón Valdez jedoch, die beiden -9-
Männer, die das Blutbad in Schnitzers Schmuckkästchen anrichten sollten, waren sich der Kälte kaum bewußt. Sie hatten die ganze Nacht über zu Oggun, dem mächtigen Krieger des Santería-Kults, gebetet, dessen Kraft und Wagemut sie sich für die geplante Heldentat erflehten. Der süßliche Duft von Basilikum, Jasmin und Räucherstäbchen machte ihre Drei-Zimmer-Wohnung in Echo Park zu einem parfümierten Dampfkochtopf mit einem Überdruck aus Müdigkeit, Angst und Verlangen. Selbst wenn sie die farbverkrusteten Fenster geöffnet hätten, um etwas Luft hereinzulassen, die Männer hätten die tortillas, burritos und menudos ihrer mexikanischen Nachbarn nicht gerochen. Sie hatten sich die Nacht über von Kaffee, Zigarren und einem gewaltigen Berg aus Kokain und Amphetaminen ernährt, und ihre Sinnesorgane waren völlig taub. Zwölf Stunden lang hatten sie vor dem Altar gekniet, auf dem sie ihre Werkzeuge aufgereiht hatten: einen Revolver Kaliber .357 Magnum, einen .45er Automatic Colt, eine Browning mit abgesägtem Lauf und Klappschaft, zwei Maschinenpistolen - eine schwarze Sten und eine graue Uzi - sowie sechs Stangen Dynamit und zwei Handgranaten. Um neun schließlich zogen sich die beiden aus, rieben sich die Körper mit Öl ein, kleideten sich ganz in Weiß - Unterwäsche, Schuhe, Socken, Hosen, Hemden, Sakko und Mantel -, verstauten ihr Arsenal in den Falten ihrer Kleidung und machten sich auf den Weg zu ihrer heiligen Mission. Als sie weg waren, fing ein Papiertuch auf dem Altar Feuer. Der Rauchalarm wurde ausgelöst, aber kein Mensch achtete darauf, bis die ganze Wohnung in Flammen stand und die Feuerwehr die Tür mit Äxten einschlagen mußte. Unter den verbrannten Opfergaben fanden sich einige enthauptete Hühner, ein gevierteilter Hund und ein paar verkohlte Knochen, die verdächtig -10-
nach den sterblichen Überresten eines Menschen aussahen. Auch der Mann, in dessen Geschäft José und Ramón ihre Hekatombe feiern sollten, sprach an diesem Wintertag sein Morgengebet. Barry Schnitzer war noch vor Tagesanbruch aufgewacht, hatte sich seinen Gebetsmantel um die gebeugten Schultern gelegt, die fadenscheinige Jarmulke aufs Haupt gesetzt und das jüdische Totengebet angestimmt. Früh aufzustehen war ihm zeitlebens leicht gefallen, schon in der Zeit, als er noch bei einem Flickschuster in einem kleinen Dorf in Galizien gelernt und Levi Abronowitz geheißen hatte. Eine Angewohnheit, die ihn dann auch vor den Lagern gerettet hatte. Er war der einzige, der nicht schlief, als in dem Viehwaggon, in dem man ihn und seine Leute nach Auschwitz transportierte, ein verfaultes Bodenbrett brach, auf die Schienen krachte und ein Loch hinterließ, durch das gerade seine Schultern paßten. Ohne einen Augenblick zu zögern, zwängte er sich hindurch und hängte sich wie eine Kakerlake an der Unterseite eines Küchentisches an den Waggon. Das Brett geriet zwischen die Schwellen, dann in die Achse und blockierte schließlich die Räder. Ruckend kam der Zug zum Stehen. Levis Kopf knallte auf die taunassen Schwellen. Einen Augenblick verlor er das Bewußtsein, aber bei seinem Lebenswillen war er in Sekundenschnelle wieder da. Er schlüpfte durch eine Lücke zwischen den eisernen Rädern, die so heiß waren, daß er sich an Händen und Knien Blasen holte. Als die Wachmannschaften endlich die Türen aufgezogen hatten, war Levi bereits auf der anderen Seite der Schienen und hastete, ein kleiner zerlumpter Mann, auf den Schutz eines Fichtenhains neben der Straße zu. Es sollte Stunden dauern, bevor die Strahlen einer winterblassen Sonne halbherzig in die nebelverhangene Landschaft piksten. Zu diesem Zeitpunkt -11-
versteckte Levi sich schon meilenweit weg von der Todesbahn in einem feuchten Abzugsrohr, bibbernd vor Kälte zwar, aber frei, sich zu seinem Onkel in Amerika durchzuschlagen. Selbst nachdem er seinen Namen geändert, zweimal geheiratet und ein Vermögen gemacht hatte, packte ihn Morgen für Morgen die Erinnerung an jenes knappe Entrinnen - wie ein steifes rheumatisches Gelenk, das erst warm gerieben und bewegt werden wollte, bevor es wieder zu gebrauchen war. So hoch er auch aufstieg, er bewahrte sich diese Erinnerung als Mahnung daran, daß Gott aus irgendeinem unerfindlichen Grund ihm, und nicht acht Millionen anderen, das Leben geschenkt hatte. Aus diesem Grund hegte Schnitzer auch immer Sympathien für Flüchtlinge aller Art. Er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß von einer weiteren Perspektive aus betrachtet (und wie sollte sie nicht weit sein, so schmal wie das Loch im Boden seines Waggons gewesen war?), jeder in der westlichen Welt ein Verschleppter war und daß im Grunde jeder von uns irgendwo seinen Davidstern trug. Als er eine Geschäftsführerin für den Laden suchte, den er im Einkaufszentrum an der Kreuzung Sechste und Hill geerbt hatte, entschied er sich deswegen für die dunkelhäutige, schwarzäugige junge Armenierin, deren scharfer Verstand ihren unangenehmen Akzent vergessen ließ. Hilda Sarkissian war damals fünfundzwanzig gewesen, mit einem kleinen Mädchen und einem Nichtsnutz von einem Gatten, der sie schlug, aber für Schnitzer hatte sie sich als Glücksfall erwiesen. Unter seiner umsichtigen Anleitung und mit ihren Kontakten im Nahen Osten - sie sprach flüssig Armenisch, Persisch, Türkisch und Arabisch - wuchs und gedieh Schnitzers Schmuckkästchen, bis er in ganz Südkalifornien ein rundes Dutzend Filialen -12-
hatte. Er hatte sich auf den kleinen Mann spezialisiert, den bescheidenen Kunden, den Frittenkoch oder den kleinen Angestellten, der sich ein paar Diamanten für die Manschetten leistete, die er mit zehn Dollar die Woche abstotterte, ohne zu merken, daß er schließlich einen Betrag hinlegte, für den er auch ein ganzes Kollier hätte haben können. Levi war ins Schmuckgeschäft eingestiegen, ohne auch nur die geringste Ahnung davon zu haben. Sein Schwiegervater hatte ihm den Laden hinterlassen, ihn und den Namen, den er sich denn auch ohne Zögern zu eigen machte. Als Sohn eines Hausierers, ohne die geringsten Kenntnisse und Fertigkeiten, konnte er sich zu einer geschäftstüchtigen Hilfe wie Hilda nur gratulieren. Das Geschäft machte sie beide reich, Hilda wie Levi, und bald zogen sie von Boyle Heights, dem alten Ghetto, das sich mit Bewohnern diverser lateinamerikanischer Länder gefüllt hatte, nach Northridge beziehungsweise Bel Air. Schnitzer hatte die Leitung des Geschäfts schon vor Jahren an Hilde abgetreten, kam jedoch zweimal die Woche, eine Zeremonie fast schon, in sein Flaggschiff, den Laden Ecke Sechste und Hill, jenes Geschäft, mit dem er sein Glück gemacht hatte. Wie schon die letzten sechzehn Jahre über hatte Hilda Sarkissian auch an diesem Morgen im Grunde nur ein Problem: ihre Tochter Jeannie. Hilda hatte sie ihrer zunehmenden Gewichtsprobleme wegen in einer psychiatrischen Klinik am Ort angemeldet. Jetzt mußte sie sie nur noch überreden, sich ihrer Figur zuliebe untersuchen, messen, wiegen und analysieren zu lassen. Als Hilda die Schlüssel ihres Daimlers aus der silbernen Schale in der Eingangshalle nahm, hörte sie Wasser in die Wanne laufen und stellte sich die Dampfwolken im babyblauen Bad ihrer Tochter vor. Sie zögerte einen -13-
Augenblick, überlegte, ob sie klopfen oder Jeannie herausbitten sollte, entschloß sich dann jedoch, die Konfrontation bis nach dem Abendessen aufzuschieben und nach Baklava und türkischem Kaffee wie zwei Damen darüber zu sprechen. Vielleicht konnte sie das dumme Mädel ja endlich zur Vernunft bringen. Hilda verließ das weitläufige Haus im spanischen Stil mit dem roten Ziegeldach und den teuren Fenstern mit Blick auf tausend Quadratmeter Azaleen, Rosen und dunkelgrüner Rasen. Sie winkte Dolores, ihrer salvadorianischen Haushälterin, zu, deren ramponierter Datsun in die Auffahrt einbog, als Hilda ihren Wagen auf die abschüssige Straße hinausmanövrierte. Sie warf einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett, und sofort regte sich die Ungeduld der Geschäftsfrau. Hupend sprang sie von Spur zu Spur, um noch vor der Ankunft des alten Schnitzers im Laden zu sein. Während Hilda sich durch den Verkehr manövrierte, nahm Carlos Azevedo, der Geschäftsführer des Ladens, bereits das Vorhängeschloß ab und schob das Faltgitter vor Schnitzers Flaggschiff auf. Er rümpfte geringschätzig die Nase über den Uringestank; irgendein Herumtreiber hatte mit dem Instinkt eines Vierbeiners sein Revier markiert. Azevedo, der selbst aus den rußbedeckten casuarinas von Montebello, East Los Angeles, stammte, hatte nichts als Verachtung für die Horden von gesunden Männern, die er Tag für Tag mit glasigen Augen in der Gegend um den Pershing Square die Hand aufhalten sah. Als Fernsehen und Zeitungen diese Leute als »Menschen ohne Zuhause« zu bezeichnen begannen, hatte ihn der Zorn gepackt. Pinche, Menschen ohne Zuhause, dachte er, die sind entweder nicht ganz richtig im Kopf oder Penner. Meine Leute, das waren Menschen ohne Zuhause. Diese Kerle da wollen nur nicht arbeiten: handeln mit Drogen, -14-
saufen sich zu und klauen Handtaschen. Und dann gehen sie her und behaupten, die Gesellschaft sei schuld. Chingaderas. Ich kann euch sagen, wenn ich hier Bürgermeister wäre, würden die arbeiten, Gräben ausheben, den Freeway saubermachen, wenn nicht gleich das pinche cárcel. Wäre mir scheißegal, Hauptsache, sie wären von der Straße. Azevedo schaltete die Alarmanlage aus und schloß auf. Nur Minuten später verließen drüben in Echo Park José und Ramón ihre Wohnung; noch eine ganze Weile hielt sich der Duft ihrer eingeölten Körper im schmalen Flur des Hauses. Die kalte Sonne stach ihnen in die erweiterten Pupillen und verlieh ihrer Umgebung eine nie gekannte Schärfe - den Schildern der spanischen Ärzte, dem Schindeldach des Pioneer-Markts, dem auf Low rider getrimmten De Soto, der sie an der Ecke erwartete. José wandte sich an Ramón und machte die einzige Bemerkung, die bis zum Betreten des Ladens fallen sollte. »Sieht aus wie Havanna im Winter.« »Ja, nur daß es kälter ist. Vamos, es ist schon spät.« Der De Soto, in dem José und Ramón zu Schnitzers Schmuckkästchen fuhren, war ein schwerfälliges Ungetüm Baujahr 49, das sie sich vom Inhaber einer Karosseriewerkstatt, einem kubanischen Landsmann namens Inocente González, ausgeliehen hatten. Als die Polizei nach den grausigen Ereignissen zu ihm kam, verdrehte der stattliche, aufstrebende Kapitalist die babyblauen Augen und meinte, er hätte keine Ahnung gehabt, was José und Ramón vorhatten. Die Beamten waren skeptisch. Aber was sollten sie tun; er sagte, sie wollten nach Disneyland, und da sie keinen Wagen gehabt hätten, hätte er ihnen den De Soto geliehen. Er selbst hatte den Wagen als Pfand einbehalten, nachdem der Besitzer sich nach einer Anklage wegen Brandstiftung nach Mexiko abgesetzt hatte. Der De Soto war laut González -15-
tiefer gelegt und mit einer speziellen Lowrider-Federung ausgestattet; Ramón hätte Schwierigkeiten gehabt, ihn durch die Stadt zu steuern. Bei der Kripo schloß man daraus messerscharf, daß der De Soto demnach beim Abbiegen auf den Parkplatz vor Schnitzers Laden nur aus reiner Unkenntnis über den Asphalt geschrammt war. Zeugen hatten den Wagen als Augenweide bezeichnet, die aerodynamische Haube und die Kotflügel himmelblau, chromblitzende Torpedostoßstangen, die sich durch die Rush hour in downtown Los Angeles schoben. Dem Parkplatzwächter, Remigio Flores, einem Veteranen aus den Straßenschlachten von Frogtown und San Fernando, standen die Haare zu Berge, als das Fahrgestell des Wagens auf der schrägen Zufahrt funkensprühend über den Asphalt schlitterte. Remigio wollte dem Fahrer schon sagen, das nächstemal doch die Aufhängung anzuheben, überlegte es sich dann jedoch anders, als er den eiskalten Gesichtsausdruck der beiden Insassen sah. José und Ramón stiegen aus und sagten ihm, er solle den Wagen gleich vorn am Eingang abstellen und den Motor laufen lassen. Remigio behielt die beiden im Auge, und als er sah, daß sie Schnitzers Laden betraten, war er sich hundertprozentig sicher, jeden Augenblick die Kugeln pfeifen zu hören. Also tat er, was man ihm sagte, er parkte den Wagen ganz vorn und ging dann in seine Hütte, wo er eine Hand auf die abgesägte Flinte legte, die er zum Schutz in der Ecke hatte. Bedenkt man die Umsätze, die Carlos und Hilda machten, war Schnitzers Flaggschiff im Grunde gar nicht so groß. Auf rund zweihundertdreißig Quadratmetern setzte der Laden über sechs Millionen Dollar im Jahr um, was um so erstaunlicher war, als hier praktisch kaum etwas über tausend Dollar zu haben war. -16-
Trotz der hohen Umsätze, vor allem um die Mittagszeit, wenn Heerscharen von Stenotypistinnen, Angestellten und Sekretärinnen über den Pershing Square hereinfielen, fühlte man sich mit nur einem Wachmann hinreichend geschützt. Der Mann hieß Gene Hawkins. Groß, schlaksig und schwarz wie er war, nannte man ihn als Namensvetter des Footballprofis von den San Francisco 49ers auch »Star«. Aber während das As vom Footballfeld leicht und behende war, neigte Schnitzers Hawkins zu Reflexion und Bedächtigkeit. Völlig durchgefroren, weil in seinem Citation, mit dem er aus Compton herüberkam, schon seit Monaten die Heizung nicht mehr funktionierte, war Gene erst einmal ins Hinterzimmer gegangen, um sich eine Schüssel Haferflocken zu machen. Zu diesem Zeitpunkt befand sich nur eine Kundin im Laden, eine ältere Asiatin mit einem kleinen Mädchen, die die Filigranohrringe in der Samtauslage musterte. Carlos sah José und Ramón als erster; sie betraten den Laden nebeneinander - wie zwei Schmalspurgangster aus einem Billigfilm. Er stand am Telefon und versuchte Beverly Alvarado zu erreichen, eine neue Angestellte, die bereits eine Stunde zu spät dran war, ohne sich entschuldigt zu haben. (Die Polizei fand später heraus, daß Beverly auf ihrer Fahrt von West Adams herauf einen kleinen Verkehrsunfall gehabt hatte, nur ein Blechschaden, aber der andere Fahrer hatte sie nicht gehen lassen.) Noch im selben Augenblick, in dem er die beiden Kubaner hereinkommen sah, wußte Carlos, daß es Ärger geben würde. Er legte auf, ohne es zehnmal klingen zu lassen wie sonst. Die beiden Kubaner waren vor drei Monaten aufgekreuzt und hatten Anhänger, Ohrringe und Halsketten gekauft, alles aus Gold. Zwar hatten sie achtzehn Karat gewollt, aber da der Laden nur -17-
Vierzehnkarätiges führte, nahmen sie das, vor allem nachdem Carlos sie davon überzeugt hatte, daß das Vierzehnkarätige länger hielt. Sie hatten ihm einen von Mr. Schnitzer selbst unterschriebenen Rabattschein vorgelegt, und er hatte die Summe halbiert; die restlichen achthundert Dollar wollten sie in Raten abzahlen. Obwohl ihre Referenzen auf etwas wackligen Beinen standen immerhin arbeiteten sie erst seit sechs Monaten in der Karosseriewerkstatt -, dachte sich Carlos, er könne sich die Ware ja wiederholen, falls es zum Schlimmsten käme. Als es dann tatsächlich dazu kam, wurde das Ganze zu einer unschönen Angelegenheit, der häßlichsten, mit der er je zu tun gehabt hatte. Die beiden ignorierten seine wiederholten Zahlungsaufforderungen. Sie behaupteten, Schnitzer habe ihnen den Schmuck geschenkt, und sahen nicht ein, warum sie für Geschenke bezahlen sollten. Carlos, der nicht glauben konnte, daß Schnitzer seine Ware an derart zwielichtige Typen verschenkte, rief beim Sheriff an, um ihn an seine Pflichten gegenüber den Geschäftsleuten zu erinnern. Er wollte die Ware als rechtmäßiger Eigentümer wiederhaben. Einer der Beamten, der den Schmuck in der Wohnung der beiden sicherstellte, berichtete Carlos, die Gegenstände auf einem Altar gefunden zu haben, als Opfergabe an einen Voodoogott; die Männer hätten geschworen, sie sich wiederzuholen. Carlos wandte sich Hawkins zu und stieß ihn mit dem Ellenbogen an. »He, Star, sehen Sie sich mal die beiden Typen an.« Hawkins drehte sich um und sah die beiden schwarzen Kubaner in den Laden stolzieren. Er ließ seine Haferflocken stehen und öffnete den Sicherheitsverschluß des Halfters mit dem Revolver vom Kaliber .387 Magnum. -18-
»Seien Sie vorsichtig«, sagte Carlos. Es war sein Bärengang, die Art wie er federnd und doch nie so recht ausbalanciert einen Fuß vor den anderen setzte, die Hawkins selbst mit einem Revolver am Gürtel zu einer beruhigenden Erscheinung machte; an diesem Tag besiegelte er sein Schicksal. José sah ihn kommen, und noch bevor der Wachmann sich räuspern konnte, um zu fragen, ob er den Herren helfen könne, hatte er Ramón bereits angetippt. Die beiden hatten kein Signal vereinbart, aber als Ramón die große Gestalt in Blau mit der Hand auf dem Revolver sah, riß er zum Erstaunen aller und nicht zuletzt seiner selbst die Maschinenpistole unter dem Mantel hervor und schoß Hawkins in beide Knie. Für einen Augenblick legte sich Totenstille über den Laden, ein Augenblick, in dem die Leute, die der Zufall zu diesem Zeitpunkt hier zusammengeführt hatte, die blutige Katastrophe bestaunten, bevor ihnen der Gedanke kam, ob sie wohl dasselbe Schicksal erwartete. Dann war es aus mit der Stille. Die asiatische Kundin, Nam Do Pang, stieß einen Schwall Obszönitäten aus, und während sie mit sich überschlagender Stimme zeterte, begann ihre Enkelin zu schluchzen und machte sich die Hosen naß. Hilda und Schnitzer, die hinten im Büro eine Lieferung Aquamarine begutachteten, die ihr rumänischer Freund Vlad Lobera mitgebracht hatte, liefen nach vorn. Carlos löste den Alarm aus, um die Polizei zu benachrichtigen; dann stand er auf, die Hände oben, ein bebendes Lächeln auf den Lippen. Während José sie in Schach hielt, ging Ramón zu Hawkins, um ihm die Waffe abzunehmen. Hawkins, von einer unvermuteten Mutreserve beseelt, wollte sich nicht entwaffnen lassen und schlug nach Josés Händen - man hätte meinen können, José versuchte, sich ein Plätzchen -19-
vom Tisch zu stibitzen. »Den wirst du mir nicht nehmen, laß das!« schrie Hawkins. Als José die Waffe endlich zu fassen bekam, lieferte Hawkins ihm einen kurzen Kampf. Der Revolver ging los, und die Kugel fuhr Hawkins in die Brust, brachte seinen rechten Lungenflügel zum Kollabieren und durchtrennte die Herzschlagader. Er erschauerte, erschlaffte und starb; Blut tropfte ihm aus Nase und Mund. Nam Do Pang versuchte, an Ramón vorbei auf die Straße zu kommen, aber Ramón trieb sie mit Tritten in den Laden zurück. »Noch eine Bewegung, und ich bring dich um!« Die Frau kauerte sich an den Schaukasten mit den Smaragdohrringen und nahm ihre Enkelin in den Arm. José zog zwei Mülltüten aus seiner Tasche. Dann schlug er mit dem Kolben seiner Waffe auf die Vitrinen ein, daß die Splitter nur so flogen, was einen weiteren stillen Alarm auslöste. Er räumte die Schaukästen aus und warf die samtbezogenen Etuis über die Schulter; rasch ging er von Vitrine zu Vitrine, während Ramón seine Waffe auf die Leute gerichtet hielt. Vielleicht hätte sich selbst zu diesem Zeitpunkt eine größere Tragödie noch vermeiden lassen, hätte Carlos nicht seine Chance gesehen, den Leuten seine cojones zu zeigen. Im gebrochenen Spanisch des barrio wandte er sich an José und Ramón: »Ihr wißt doch, daß ihr das mit dem Leben bezahlt.« José sah Carlos kurz an, dann Ramón, der ihm durch einen Wink mit der Waffe zu verstehen gab, er solle sich nicht aufhalten lassen. Ob nun aus einem Gefühl der Erniedrigung heraus oder einem bewußten Todeswunsch, vielleicht auch nur, weil er als Vorarbeiter auf dem Feld -20-
sein Leben lang Farbige herumschubsen und verhöhnen konnte, stichelte Carlos weiter, ohne zu kapieren, wie groß die kulturelle Kluft war, die die Kinder Castros von den Söhnen Montezumas trennte. »Pendejos, ihr Arschlöcher, wißt ihr nicht, daß die Weißen schon auf euch warten? Wenn ihr einen umbringt, seid ihr erledigt. Legt die Waffen weg. Ihr glaubt doch nicht etwa, daß euer Voodoomist euch aus dieser Geschichte heraushelfen kann, oder?« José sah Carlos erschreckt an. Der wußte nicht, daß er eben die schlimmste Beleidigung ausgestoßen hatte, mit der man einem santero kommen konnte. Ramón stand zitternd da und überlegte, ob er Carlos für seine Unverschämtheit erschießen sollte. Das Plärren der Kleinen durchdrang den Dunst aus Drogen und Entschlossenheit, mit dem er in den Laden gekommen war, ihre Schreie explodierten wie riesige Glocken in seinem Kopf. Diese Glocken standen bei Ramón für Krisen, Alarm und Tod. Sie lösten panische Erinnerungen an die Feuerübungen im Gefängnis Combinado del Este aus, bei denen alle beim ersten Ton aus der Zelle zu stürmen hatten. Unter den Flüchen der Wärter, unter Hohn, Schlägen von Gewehrkolben und Peitschen, Axtstielen, Kanthölzern und Ketten ging es hinunter in den Hof; das alles tobte Ramón durch den Kopf, als er sich umdrehte und der Kleinen den Lauf ins Gesicht drückte. »Calíate, calíate, halt's Maul, oder ich bring dich um, du Schlitzauge!« Ramón war drauf und dran abzudrücken, um ihr eine Kugel in den Kopf zu jagen. Was spielte es schon für eine Rolle, schließlich war es nur ein Leben mehr, und Oggún hätte einen schlitzäugigen kleinen Kopf mehr auf dem Berg von Schädeln, den seine Anhänger ihm darbrachten. Aber die alte Asiatin legte der Kleinen die Hand auf den -21-
Mund und zog das Kind an ihren Körper; auf vietnamesisch sagte sie Ramón, wie dumm ihre kleine Enkelin sei und daß sie Seine Lordschaft nie wieder belästigen würde. Ramón schlug Carlos den Kolben ans Kinn, und dieser landete in den Scherben auf dem Teppich. Carlos rappelte sich auf die Knie und rieb sich den Mund, seine aufgeplatzte Oberlippe füllte ihm den Mund mit Blut. Er spuckte einen Zahn aus. »Oh, mein Gott!« flüsterte Hilda, als wäre dieser Schlag schwerer zu erklären als die Schüsse auf Hawkins oder die Drohung gegen das kleine Mädchen. Es war bösartige, völlig unnötige Gewalt. Sie stellte sich instinktiv hinter Schnitzer, während der alte Mann zusah und überlegte, ob er wohl genug Zeit hätte, zu der Waffe zu kommen, die an der Unterseite seines Schreibtisches klebte. »Was zum Teufel ist los mit euch Niggern?« sagte Carlos, nach wie vor herausfordernd. »Seid ihr nicht mehr ganz bei Trost? Wollt ihr uns alle umbringen?« José hatte seine Plünderei unterbrochen und seinen Sack halb voll neben die gläserne Verkaufstheke gestellt. Ramón hatte ihm schon gesagt, daß es dazu kommen könnte: daß irgendein Idiot sich selbst nach Ausschalten des Wachmannes noch hartnäckig wehren könnte. Als er Ramón sah, erschauerte er - Oggun hatte von ihm Besitz ergriffen. Er stolzierte in der arroganten Pose des Gottes herum, den Bauch vorgestreckt, die Arme in die Seiten gestemmt, die Beine weit auseinander. Der Gott war vom Himmel gestiegen, und José hatte Angst vor dem, was der orisha verlangen könnte. Es ihm zu verweigern wäre schlimmer als der Tod; ihm zu gehorchen war nicht weniger tragisch. In der Zwischenzeit suchte Vlad Lobera, der fettleibige -22-
Rumäne, das Büro des alten Mannes nach einem Fluchtweg ab. Aber es war nur ein fensterloses Kabuff mit zwei Türen; die eine führte in eine kleine Toilette, die andere auf einen Flur, der in der einen Richtung in den Laden führte, in der anderen zum Notausgang. Lobera hatte die Schüsse gehört, die Hawkins Tod verkündeten; jetzt wagte er sich nicht hinaus. Er spürte, daß er sich vor Angst in die Hosen machte, rannte auf die Toilette und schloß hinter sich ab. Dort saß er dann auf der Kloschüssel, die Hose um die Knöchel, rauchte eine Zigarette nach der anderen und lauschte. Er hatte keine Ahnung, wer da sprach, er verspürte nur Todesangst, als er die Schüsse hörte - immer wieder. »Oggún, ña ña nile, Oggún kembo ti le«, flehte José. Er warf sich auf den Boden und küßte Ramón die Füße. »Bitte kehr nach Hause zurück, o mächtiger Gott, ehre uns nicht mit deiner Anwesenheit, du bist ein so mächtiges Wesen, und das hier sind armselige Hunde.« »Hunde sind meine Lieblingsspeise«, antwortete Ramón lachend. »Mein Zorn ist geweckt. Ich werde erst ruhen, wenn er beschwichtigt ist.« Er stampfte mit dem rechten Fuß, ganz so wie der Gott, schüttelte den Kopf und führte das Gewehr in der Hand wie einen Speer. Aus demselben verwegenen Impuls heraus, aus dem der Matador dem vorbeirasenden Stier einen Kuß auf den Hintern drückt, mit demselben Wagemut, mit dem Acapulcos Felsenspringer sich genau in dem Augenblick in die Tiefe stürzen, wenn die hereinkommende Brandung ihren Aufschlag dämpft - mit anderen Worten, mit derselben dummen Gedankenlosigkeit -, griff Carlos nach Ramóns Waffe. -23-
Oggún, der stolze Gott, der in Ramón hauste, hatte nichts als Verachtung für diesen armseligen Versuch, ihn zu entwaffnen. Mit seiner freien Hand ergriff Oggún den über zwei Zentner schweren Krieger, hob ihn über den Kopf wie einen zappelnden Leguan und schleuderte ihn gegen die Wand. »Nein, Oggún, nein«, schrie José, aber Ramón richtete das Gewehr auf den besinnungslosen Körper und durchlöcherte Carlos mit siebenundvierzig Kugeln. Zwei Sekunden ohrenbetäubendes Feuer. Ramón trat an den leblosen Körper, kniete neben ihm nieder, tauchte eine Hand in das warme Blut seines Opfers und schmierte sich den Lebensquell ins Gesicht. »Oggún niká! Oggún kabu kabu, Oggún arere alawo öde mao kokoro yigüe alobilona, Oggún iya fayo fayo!« schrie Ramón. Er hob die Arme in Siegerpose und stampfte mit beiden Füßen. Ein hochgewachsener Schwarzer in weißer Kleidung als Gott. Hilda und Schnitzer hatten sich schon hinter die Theke geduckt, als Ramón und Carlos aneinandergeraten waren. Jetzt, als sie den Todesschützen im Delirium sahen, krochen sie in Richtung Hintertür. Aber noch bevor sie den Knauf drehen konnten, der ihnen den Weg in die Erlösung geöffnet hätte, sah Ramón sie. In diesem Augenblick kehrte Oggún in die heimatlichen Gefilde seines Stammes zurück. Übrig blieb Ramón. Schweißgebadet und verwirrt stand er da und warf einen kläglichen Blick auf das, was sein göttliches Alter ego angerichtet hatte. Er fühlte sich leblos, erschöpft, seine Gedanken ein reißender und schäumender Strudel, der ihn ins Nichts zu ziehen versuchte. Weit weg, wie Gestalten auf einem Footballfeld in einer Zeitlupenwiederholung, sah er Hilda und Schnitzer an der Tür hantieren. Eine Stimme, die er zwar als seine eigene erkannte, die jedoch -24-
von jemand ganz anderem zu kommen schien, rief sie an: »Halt! Halt, oder ich erschieße euch!« Am liebsten hätte er José gefragt, wer da seine Stimme so überzeugend imitiert hatte; dann sah er sich die leere Maschinenpistole wegwerfen und die Pistole aus dem Hosenbund nehmen. Und diesmal hätte er am liebsten gefragt, ob das auch wirklich das Gescheiteste war. Er sah die Kugel aus der Waffe kommen und in Hildas hüpfende braune Frisur fahren, sah, wie sie in die Basis ihres Schädels fuhr und diesen in drei Stücke zerfetzte. Dann traf die Kugel die rechte Schulter des Alten, durchdrang mehrere Schichten Kleidung, grub sich durch Fleisch und Knorpel der Schulter, trat auf der anderen Seite wieder aus und landete in einer Schalldämmplatte neben der Tür. Die Waffe spuckte eine zweite Kugel aus, die auf Schnitzers Kinn zufuhr und ihm den Tod brachte. Als Ramón so in der Mitte des Ladens stand, die Waffe in der Hand, übermannte ihn die Sinnlosigkeit des Ganzen; er brach zusammen und setzte sich auf den Boden. »Coño, chico, was zum Teufel hast du getan?« schrie José auf spanisch, jetzt, wo er wußte, daß der Gott nicht mehr da war. Ramón blickte an ihm vorbei, ohne etwas zu sehen, und zuckte die Achseln. »So ist das Leben«, murmelte er. Der Schlager fiel ihm ein, den seine Frau Maritza zu Hause in Havana pausenlos gespielt hatte, nachdem ihre kleine Tochter an Typhus gestorben war. (Hinten im Büro verspürte Lobera, der noch immer auf der Toilette saß, ein weiteres Zucken in seinen Eingeweiden.) Ramón kam taumelnd auf die Beine und stützte sich an der Theke ab, die Knie noch immer ganz weich von einem -25-
Übermaß an Göttlichkeit, Zorn und Blut. Er senkte den Blick und sah die alte Asiatin und das kleine Mädchen, die ihn beide mit großen Augen anstarrten. Dann blickte er zum erstenmal zur Tür hinaus und sah die Polizisten, die sich die ganze Straße entlang verbarrikadierten. Und schon kam aus einem Megaphon: »Sie sind umstellt. Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus!« Daß die Polizei ihm den Fluchtweg versperren würde, damit hatte Ramón nicht gerechnet; in seinen Plänen hatte er sich immer genügend Zeit gegeben, problemlos davonzukommen. Rasch warf er einen Blick auf die diamantenbesetzte goldene Piaget an seinem Handgelenk, die neben der Zeit auch die Mondphasen anzeigte - 10 Uhr 35 vormittags, zunehmender Mond. Er konnte sich nicht erklären, wo die Zeit hingekommen war. Laut Plan hätten sie in diesem Augenblick schon auf dem Weg aus der Stadt sein müssen, auf dem Weg in die Wohnung, die er in Encinitas gemietet hatte, damit sie einen Unterschlupf hätten, bevor es weiter nach Baja ging. Was war passiert? Er bemerkte die Leichen auf dem mit Splittern übersäten Boden, roch das süßliche Blut, sah die dunkelroten Flecken auf seinem weißen Anzug. Sein Blick blieb an der Alten und dem kleinen Mädchen hängen, die noch immer neben den Smaragden kauerten. »Nimm die alte Schlampe als Deckung und sag dem Mann, daß wir Geiseln haben.« Während José die Frau von dem Kind trennte, griff Ramón sich das Mädchen und riß es los. »Sag ihnen, wir haben eine Bombe hier und jagen alles in die Luft, wenn sie zu stürmen versuchen.« Die folgenden beiden Stunden waren ein Chaos aus Stimmen, Drohungen, Anrufen und dem Lärm der Hubschrauber über dem Haus. Die Polizei hatte -26-
Klimaanlage und Strom abgestellt. Der süßliche Geruch des Blutes vermischte sich mit dem Gestank der Exkremente, die die Leichen freigegeben hatten. Die Unterhändler der Polizei versuchten José und Ramón dazu zu bewegen, ihre Geiseln laufen zu lassen und sich zu ergeben, aber Ramón weigerte sich nach dem zweiten Anruf, weiter mit ihnen zu reden. Er verlangte einen Mittelsmann - Juan »Cookie« Bongos, einen Diskjockey bei KQOK, der Nummer eins unter den spanischen Sendern der Stadt. Bongos war ein kleiner, schlanker Mann Ende Vierzig mit einer Frisur wie ein Terrier. Sein dunkelhäutiges Mestizengesicht erinnerte die spanischstämmige Bevölkerung auf unzähligen Plakatwänden zwischen Hollywood und Echo Park, daß es neben einem Haupttreffer im Lotto nichts Besseres gab als ihn. Aber noch nicht einmal Bongos fand komisch, was er sah, als er gegen elf in den Laden trat. Er sah die gleiche Art Blutbad, über die er in seiner Zeit als Reporter in Mittelamerika berichtet hatte - in Huichinalgo, El Payón, Monumenten des Todes, Räume, die auf den Befehl einiger Wahnsinniger zu Schlachthäusern geworden waren. Der Gestank war so überwältigend, daß es ihn würgte und er sich beinahe übergeben hätte. Er hatte ein Diktiergerät mitgebracht und schaltete es ein. Die Geiselnehmer, blutverschmiert, in säuerlichen Ausdünstungen gebadet, platzten mit ihrer Nachricht heraus. »Wir wollen einen Hubschrauber, sicheres Geleit zum Flughafen und eine Maschine nach Algerien, oder wir sterben hier alle!« schrie José nervös. »Igualdad, das wollen wir, Gleichheit«, sagte Ramón heiser. »Gleiche Behandlung und gleiche Achtung. -27-
Respekt. Sie hatten keinen Respekt vor uns. Sie denken, sie können mit uns machen, was sie wollen. Sie haben sich getäuscht. Wir fordern den Respekt, den man einem Menschen schuldig ist.« »Und sag den Hurensöhnen, sie haben eine Stunde Zeit, dann sprengen wir den Laden in die Luft. Es macht uns nichts aus zu sterben. Wir sind bereits tot«, betonte José. »Das hier ist die unvermeidliche Folge unseres Kampfes um Gleichheit und Würde«, fuhr Ramón, die Verzweiflung in Josés Kommentar ignorierend, fort. »Wenn die Anglos nichts von uns und unserer Situation hören wollen, werden sie genau das hier bekommen. Die Straßen werden rot sein vom Blut, und das Weinen der Witwen und die Schreie der Kinder werden im ganzen Land zu hören sein. Als Schwarze und Kubaner hat man uns doppelt diskriminiert. Das hier ist die bittere Ernte - züchte Raben, und sie hacken dir die Augen aus. Wir sind hier, um unsere Ehre zurückzuholen, unsere Würde, die uns von diesen Männern und ihren Handlungen gestohlen wurde. Für das, was hier geschehen ist, sind nicht wir verantwortlich, es lag außerhalb unserer Kontrolle.« »Okay, du hast genug gehört«, unterbrach ihn José. »Jetzt geh und sag den Hurensöhnen, sie haben eine Stunde, dann fliegen wir alle in die Luft.« Cookie ging, und in der nächsten halben Stunde fiel nicht ein einziges Wort in dem stickigen Laden; nichts war zu hören außer dem leisen Gesang, mit dem die alte Frau ihre zu Tode geängstigte Enkelin beruhigte. Mit hängenden Köpfen versanken José und Ramón in ihren eigenen Träumereien. Schließlich durchbrach das Wummern eines Hubschraubers die Stille. Langsam sank -28-
er in die Schlucht aus Glas und Beton und setzte auf der Straße vor dem Laden auf. Ein Megaphon brüllte los: »Meine Herren, wir sind Ihren Forderungen nachgekommen. Der Hubschrauber bringt Sie zum Flugplatz, wenn Sie jetzt herauskommen.« Ramón und José sahen einander überglücklich an - ihr Spiel war aufgegangen! Sie standen auf, nahmen ihre Waffen und gingen hinüber zu der Frau und dem Kind. »Du nimmst die Alte«, sagte Ramón. »Ich nehme das Kind.« Aber kaum hatte er die Kleine angefaßt, plärrte sie auch schon los. Sie biß und trat um sich vor Angst. José gab ihr eine Ohrfeige, aber die alte Frau sprang dazwischen, um das Kind zu verteidigen. Als ihr eine Kugel durch die linke Seite fuhr, fiel sie zurück und schlug mit dem Kopf gegen den Schaukasten. Sie war auf der Stelle tot. Die Kleine riß sich los und umarmte den leblosen Körper. Ramón fühlte der alten Frau den Puls. »Coño, die verdammte Alte ist tot! Es ist nicht zu fassen!« »Was machen wir jetzt?« Ramón überlegte rasch. Wie für Pizarro und die Konquistadoren führte auch ihre Straße nur in eine Richtung - nach vorn. Das ist es - wie El Cid! »Nimm sie hoch und halte sie, als wäre sie noch am Leben, als Deckung, bis wir im Hubschrauber sind.« José versuchte die Ladentür zu öffnen. »Coño, es ist abgeschlossen!« »Dann schau dich um, es muß doch noch einen anderen Ausgang geben!« Mit dem schreienden Mädchen im Arm trat Ramón die Hintertür auf, die in den Flur führte. An dessen Ende sah -29-
er den Notausgang. José folgte ihm, den Leichnam der alten Frau im Arm. Ramón legte seine Waffe auf den Boden. »Was machst du?« fragte José. »Ich möchte nicht, daß die denken, ich bringe sie um. Die schießen mich sonst womöglich ab. Sie ist zu klein als Deckung. Halt du die Pistole, ja?« »Okay.« Ramón ging hinaus und hielt die Kleine dabei hoch, beide Arme um ihre Taille. In dem Augenblick, in dem sie aus dem Laden traten, hörte das kleine Mädchen auf zu treten und starrte überrascht in die Runde. Auf Dächern, an Straßenecken, hinter Dutzenden von Streifenwagen rund um den Laden staken Gewehrläufe hervor. Einige Dutzend Meter vor ihnen wartete der Hubschrauber mit drehendem Rotor, bereit zum Start. José kam als nächstes, seine Maschinenpistole deutete auf Ramón und die Kleine, während er sich mit der Leiche der alten Frau abmühte. Vorsichtig gingen sie auf den Hubschrauber zu; Dutzende von Polizeibeamten beobachteten sie schweigend, die Waffen im Anschlag. Aus dem Inneren des Hubschraubers heraus winkte ein Mann. »Kommen Sie, apúrense«, rief der Mann auf spanisch. Ramón war auf dem Weg zum Hubschrauber, als ein Scharfschütze auf einem der Dächer seinen Kopf aufs Korn nahm und abdrückte. Ramón beugte sich in der letzten Sekunde vor, und die Kugel verfehlte ihn, schlug auf dem Pflaster auf und traf beim Zurückprallen das kleine Mädchen, das einen gedämpften kleinen Schrei ausstieß, bevor ihr Körper erschlaffte. Ramón setzte sie ab und sah zum Hubschrauber - die drei Flintenläufe -30-
erschienen in der Tür, alle drei auf ihn und José gerichtet. Ramón nahm die Hände hoch; José ließ die Leiche der alten Frau fallen und tat es ihm nach. »Ich will einen Anwalt«, sagte Ramón. »No hablo inglés.« »Ich auch«, sagte José.
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2 Ihr Fall war hoffnungslos. Sie wußten es, der Staatsanwalt wußte es. Die Richter wußten es, der Justizsekretär, ja selbst die Protokollführer wußten es. Was mich anbelangte, ich war mir da nicht so sicher. Als ich zum erstenmal von dem Blutbad im Schmuckkästchen hörte, legte ich die Geschichte zunächst zu Gunsten Josés und Ramóns aus, ein Service, den ich auch Kinderschändern, Automardern, Koksdealern, Vergewaltigern und anderen Missetätern angedeihen ließ. In Los Angeles ist das Verbrechen eine Industrie mit hoher Zuwachsrate; Gier, Armut und die illegale Zuwanderung nährten sie. Als einer ihrer Handlanger, der mit Billigung, nein, sagen wir ruhig mit dem Segen des Gerichtssystems arbeitete, konnte ich es mir nicht leisten, mich gegen diese Leute zu stellen. Es konnte schließlich jederzeit passieren, daß ich für sie arbeitete. Wann immer solche Typen nach mir verlangten, hieß das nichts anderes, als daß sie mit dem Rücken zur Wand standen. Sie hatten ihr Vertrauen in das System verloren, von der Polizei über die Priester bis hin zu Familie, Freunden und Anwälten. Selbst ihre Pflichtverteidiger hatten diese Leute mehr oder weniger subtil ihrer Hoffnung und Würde beraubt. Einmal mit dem Finger gezeigt, ein geflüsterter Rat, schon war es geschehen. Geh auf den Deal ein, drängten sie, die Geschworenen glauben dir nie im Leben, einem Vorbestraften mit einer Latte von Verhaftungen, einem Mann, der gesessen hatte; geh auf den Deal ein, Geschworene glauben immer dem Polizisten, nimm den Deal an, ein besseres Angebot wirst du nicht kriegen, nimm ihn an, nimm ihn an. Wieso sollte -32-
ein Polizist lügen? Und wenn die Typen dann mit dem Rücken zur Wand standen, wenn sie dachten, daß kein Aas mehr für sie eintreten würde, wenn ihnen zwanzig Jahre im Loch bevorstanden und ihnen klar wurde, daß sie sich einen anderen Ausweg suchen mußten, dann wandten sie sich an mich. Ich wußte, ich war ihre letzte Chance das häßliche Mädel, das um Viertel vor zwei zur Schönsten der Kneipe avancierte. Ich war ihre letzte Karte, aber es war durchaus möglich, daß ich ihr Trumpf war. Sicher, lieber hätten sie sich einen eigenen Anwalt genommen, einen ganz teuren - Ferragamo-Schuhe, Aktenkoffer aus Straußenleder, Silber an den Schläfen, Gold an den Manschetten, die Typen mit den richtigen Schulen, Titeln, Diplomen, Clubs, Autos und Uhren. Aber allein schon ein Blick auf deren Rolldatei hätte sie dreihundert Eier gekostet, und das war nicht selten genau der Betrag, dessentwegen ihnen vier, fünf, acht Jahre Knast blühten. Und das ohne strafverschärfende Momente wie Schußwaffen oder ein Verstoß gegen Bewährungsauflagen. Statt dessen steckte ihnen jemand in Biscayluz, Wayside, im Jugendgefängnis oder in der Bezirkshaftanstalt meinen Namen zu - buchstäblich auf einem Fetzen Papier, sei es aus La Opinión von letzter Woche oder der »Man of the Year«-Ausgabe des Time-Magazins vom letzten Jahr. Dann riefen sie an; ich hörte ihnen zu, und wenn ich das Gefühl hatte, es wäre einen Versuch wert, ließ ich mich vor Gericht blicken. Der Richter stellte unweigerlich erst einmal meine Qualifikationen in Frage und schüttelte den Kopf über meine Gebühren. Ich führte, ebenso unweigerlich, an, daß der Angeklagte um meine Dienste gebeten hätte und daß Euer Ehren - falls Euer Ehren sich umsehen wollen - feststellen würden, daß meine Honorare keineswegs außerordentlich seien, selbst wenn sie über der -33-
von der Kammer gebilligten Gebührenordnung lagen. Was natürlich gelogen war, aber schließlich hatte ich nicht umsonst Jura studiert. Ich war mit anderen Worten ihr vom Gericht bestellter Ermittler, der klägliche Ersatz für den Rechtsbeistand, den sie sich - begründet oder aus einer Laune heraus - nicht leisten konnten. Ich war der Mann, der auszog und den Zeugen aufzutreiben versuchte, den sie durch die Bank hatten. Und der selbstverständlich sofort aussagen würde, wenn ich ihm nur ausrichten könnte, daß sein Spielkamerad in Schwierigkeiten sei. Die Adresse? »Unten an der Vierundzwanzigsten Ecke Central; schau mal bei Ruby's Ribs vorbei, frag nach Raymond. Er ist immer da.« Wann immer ich ihnen klarzumachen versuchte, daß mir mit Adresse und Telefonnummer mehr gedient wäre, gingen meine Mandanten in die Luft, unwillig, daß ich ausgerechnet ich - ihre Ehre in Zweifel zog, ihre Integrität, von der Weisheit ihrer Entscheidung ganz zu schweigen. »Na gut, mein Freund, laß uns mal eines klarstellen! Du arbeitest für mich, also geh hin zu dem Kaffer! Oder was willst du sonst machen für dein Geld?« Manchmal versuchte ich ihnen mit Vernunft zu kommen, und wenn ich zehnmal wußte, daß es umsonst war. Schließlich zog ich los, ganz der ergebene Diener, um diesen wundersamen Zeugen aufzutreiben. War mir das dann gelungen, stellte sich heraus, daß der Zeuge vermißt wurde, tot war, nicht im Staat oder im Land oder nicht das geringste Interesse am Schicksal des Mannes hatte. Meistens jedoch waren die Zeugen genauso verschwunden wie die verfassungsmäßigen Rechte eines Verdächtigen in einem Streifenwagen. Wenn ich meinen Mandanten dann über den Stand der Dinge informierte, wartete ich gefaßt auf die Explosion -34-
Überraschung, Beschuldigungen, Verleumdungen, die Behauptung, ich hätte mich nicht korrekt verhalten, und schließlich die Forderung nach einem neuen Ermittler. Das war der Augenblick, in dem ich das Messer in der Wunde drehte: Ich sagte ihnen, die vom Gericht bewilligten Stunden seien verbraucht. Egal, ob sie mich nun weiterhaben wollten oder nicht, sie müßten den Richter fragen. Und eines sollten sie nicht vergessen: Ich hatte um den Job betteln müssen. Das setzte ihnen gewöhnlich einen Dämpfer auf. Von diesem Augenblick an hatte ich die Zügel in der Hand. Und wenn ich ihnen verschwieg, daß das Gericht selbstverständlich mehr Stunden bewilligte, solange sie nicht in den Akten erschienen, so nur, weil es nötig war, die Leute unter meiner Fuchtel zu haben. Ich sagte mir, ich wüßte besser, was gut für sie war. Außerdem muß ich gestehen, daß es mir Spaß machte, sie zappeln zu sehen. Es war der psychische Preis, den sie für meine Hilfe zahlen mußten. Immerhin waren sie fast durch die Bank schuldig. Da ich schon früh Spanisch gelernt hatte, wiesen mir die Gerichte oft Fälle zu, in denen die Betroffenen sich weigerten, die großzügigen Angebote der Staatsanwaltschaft dankend anzunehmen. Eines Wintermorgens, Wochen nach dem Massaker im Schmuckkästchen, kutschierte ich auf meinem Weg zum Gericht die Temple Street lang. Der Kindheitsfreund, der bezeugen sollte, daß mein Mandant zur Zeit eines Dopedeals in der Las Cortinas Bar gewesen war, hatte sich längst ins Ausland abgesetzt. Nicht nur das, die Bar war geschlossen worden, weil der Laden ein illegales Wettgeschäft beherbergte, wie es im einschmeichelnden Wortlaut der Anzeige hieß, die man gegen den ehemaligen Besitzer erstattet hatte, einen gewissen Tiburcio Perez aus -35-
Los Cochis in der Nähe von Culiacán in der Provinz Sinaloa im - Sie haben's erraten - sonnigen Mexiko. Mein Mann tat mir leid, aber ich tröstete mich mit dem herrlichen Anblick der schneebedeckten San-GabrielKette hinter Los Angeles. Es war ein klarer Morgen nach zwei Tagen Regen, der über tausend Meter zu Skifahrerträumen geworden war. Ich mußte an meinen ersten Besuch in Los Angeles denken, lange bevor ich hierher gezogen war. Damals hatte ich während einer Hitzeperiode im Februar von einer Kreuzung in Beverly Hills aus den schneebedeckten Mount Baldy gesehen nur sechzig Meilen östlich der Stadt. Ich hatte mir geschworen, selbst eines Tages in diesem Märchenland zu wohnen, in dem Schnee und Sonnenschein, Feuer und Eis in so inniger Umarmung lebten. Tja, ich habe mein Wort gehalten, aber es ist nicht ganz das geworden, wofür ich gebetet hatte. An der Ecke Broadway und Temple eilten bereits Hunderte von Gerechtigkeit suchenden Menschen zu ihrem Termin mit den Hütern juristischer Weisheit. Schwarze Menschen, braune Menschen, gelbe, beige, weiße Menschen; große, kleine, dünne, dicke und Trampel; die Häßlichen und die Stolzen, die Prachtexemplare und die Schüchternen; alte Männer in Klamotten von der Heilsarmee und Valley-Girls in weichem italienischem Leder; Mitglieder von Chicanogangs in Chinos, Pendletons und Hush Puppies mit ihren Bräuten, ihren rucas; schwarze Prediger aus South Central in billigen Anzügen, aber mit Würde, begleiteten ihre Brüder; unfähige weiße Eltern, Früchte der Inzucht, zündeten sich eine Zigarette an der anderen an, und trieben ihre flachsköpfigen kleinen Sprößlinge vor sich her; verwirrte Geschworene aus Vorstädten wie Pasadena oder Palos Verdes; der alkoholsüchtige -36-
Rechtsbeistand; der verführbare Staatsanwalt; die Blonden und die Dunklen, die Fixen und die Langsamen, die Glücklichen, die Stummen, die Schmerzgezeichneten, sie alle strömten in das dunkle Mausoleum mit den Marmorböden, das man unter dem Namen Strafjustizgebäude kannte. Ich warf noch einen letzten Blick auf den Mount Baldy; ich wußte, wenn ich mittags wieder herauskäme, hätte der Smog, den das Leben im Tal produzierte, die herrlich jungfräulichen Gipfel und Hänge mit gelbbraunem Ruß überzogen. Weder ich noch sonst einer auf dieser Welt könnte diese alles verdreckende Flutwelle aufhalten, die mit der Luft kam und sich nach dem Gesetz der Schwerkraft über jeden von uns legte. Ich holte noch einmal tief Luft und reihte mich in den Strom ein. »Charlie, Charlie Morell!« kam die Stimme eines Mannes von irgendwo aus der Lobby, wo ich auf den Aufzug wartete. Eine Masse graubrauner Locken hüpfte über den Köpfen der Menge daher, eine breite Nase, schmale Lippen, die an den Mundwinkeln zu einem Lächeln wurden, das ein ansonsten fahles Antlitz zum Leuchten brachte, das sein Besitzer den endlosen Tagen in Gerichtssälen und Gefängnissen und den Nächten in der Bibliothek und der Second Street Bar verdankte. Jim Trachenbergs Aktentasche flatterte an einem Schulterriemen hinter ihm her. Mit nur wenigen Schritten hatte er die Lobby durchquert. Wie immer machte er einen etwas verwirrten Eindruck - als könne er nicht glauben, daß er einsfünfundneunzig groß und ein waschechter Rechtsanwalt war. Er hielt mir eine Ausgabe des El Diario unter die Nase. »Na, wie geht's, Jim?« »Hast du das gesehen?« -37-
Er schlug mit der freien Hand auf die Zeitung; er strotzte nur so vor Selbstvertrauen. »Haben sie in La Mirada Gold gefunden?« »Ich bin in der Zeitung, Mann. Sie haben mir den Fall Schnitzer zugeteilt.« Gleich auf der ersten Seite des Moonieblattes stand Jim in all seiner unbeholfenen Pracht, ein Engel der Rechtschaffenheit, den man für vierhundert Dollar pro Tag beauftragt hatte, die Grundrechte zweier Massenmörder zu schützen. Das Foto war schlecht, und alles, was ich außer Jim erkennen konnte, waren zwei Männer in den Klamotten des Bezirksgefängnisses, der eine ein hochgewachsener hellhäutiger Schwarzer, der andere massiger, breiter und schwarz, wie nur die Kinder reinrassiger Afrikaner es waren. Darunter stand im blumigen Stil aller lateinamerikanischer Zeitungen: »Die des abscheulichen Mordes in einem luxuriösen Juweliergeschäft angeklagten Täter müssen sich zum erstenmal vor der Justiz verantworten.« »Wie ich sehe, labst du dich noch immer am Trog der öffentlichen Hand.« »Ja, klar, ich kriege nur Grundgebühren, aber es ist ein guter Fall. Willst du mitmachen?« »Wozu, Jimmy? Womit wollen die sich verteidigen? Sie waren da, sie haben den Laden ausgeräumt, sie haben die Leute umgebracht. Das kannst du drehen und wenden, wie du willst, die kriegen die Gaskammer in Quentin. Was willst du machen, auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren?« »Charlie, Charlie, du bist einfach schon zu lange hier. Du redest schon wie der Staatsanwalt.« »Ich rede wie ein vernünftiger Mensch.« »Es gibt immer mildernde Umstände.« -38-
»Ja, klar, laß mal sehen, es war ein sonniger Tag, stimmt's? Und einer der Jungs war gar nicht in der Stadt, und der Täter, verdammt, der hat einfach nicht gewußt, was er tut, stimmt's? Nein, warte, besser noch, er war besoffen und erinnert sich nicht mehr.« Das schwachbrüstige Bimmeln der Aufzugglocke ertönte, und eine Unmenge nach Angst, Alkohol, Tabak, Haarspray und billigem Parfüm riechender Menschen eilte heraus und in Richtung Tür. Sich seiner Größe und Masse nicht im geringsten bewußt, drängte sich Jim durch die Menge, die sich wie Eisschollen vor einem Brecher teilte. Ich folgte in seinem Kielwasser. »Das kapier' ich nicht«, sagte ich, als wir uns in die Kabine drängten. »Wieso haben die dich überhaupt bestellt? Das sind doch Fälle für den Pflichtverteidiger?« »Den hat Richterin Chambers aufgrund der besonderen Umstände disqualifiziert. Ich habe einen der beiden, dem anderen haben sie einen zweiten Verteidiger bestellt.« »Wieso denn das?« »He, Charlie, was ist mit dir los, liest du keine Zeitungen?« sagte eine Stimme aus einer Ecke des Aufzugs. Ich wandte mich um und erspähte Ron Lucas, den Anwalt aus Santa Monica, den seine kolumbianische Klientel zum reichen Mann gemacht hatte. »Die Post aus Medellin braucht dieser Tage etwas länger, Ron.« »Brauchst doch nur die Times zu lesen, Charlie. Unser Junge hat flink seine alte Nummer abgezogen. Behauptet, aus der persönlichen Beziehung zwischen Pflichtverteidiger und Angeklagten ergäbe sich ein Interessenkonflikt.« »Ich sollte wohl doch mal die Zeitungen lesen. Was für eine Beziehung denn?« -39-
Die Türen öffneten sich im neunten Stock. Lucas stieg aus, die Aktenmappe aus Eidechsenleder in der Rolexgeschmückten Hand. Er rief: »Die Jungs haben Dick Forestmanns Onkel umgebracht. Dick, das sagt dir doch was, oder?« »Natürlich sagt mir das was«, murmelte ich. Dick war der Chef der Pflichtverteidiger, ein kleiner unattraktiver Mann mit einem dicken Schnurrbart, der den fast kahlen Schädel kompensieren sollte, der im gelben Licht der Gerichtssäle strahlte. Ein netter Kerl, solange man ihm nicht Paroli bot; dann verwandelte er sich in einen üblen Schreihals. Angesichts seiner cholerischen Anfälle war es kein Wunder, daß die Richterin gleich die gesamte Dienststelle disqualifiziert hatte - Dick hätte den beiden Angeklagten nur zu gern selbst den Hals umgedreht. Jim stieg am Aufenthaltsraum der Richter im zehnten Stock aus. »Wir treffen uns zum Mittagessen bei Undermanns, okay? Ich muß unbedingt mit dir reden.« »Klar doch.« Mein derzeitiger Mandant nahm die Nachricht recht gelassen auf. Ich suhlte mich mit ihm im Selbstmitleid. Er bejammerte die Ungerechtigkeit seines Loses. Schließlich hatte die sechs Plastiktütchen mit der weißen, kokainähnlichen Substanz ein anderer hinter der Ulme im MacArthur-Park versteckt; ein anderer war in einem blauen 79er Thunderbird mit der kalifornischen Nummer 3 Adam Roger Nancy 764 davongerast, als die Undercoveragenten ihn zu schnappen versuchten. Und natürlich war es schrecklich, daß… Und so weiter. Auch wenn es schmerzte, ich erinnerte ihn daran, daß sämtliche Zeugen verschwunden waren und daß man ihn schon ein paarmal wegen Drogenhandels verhaftet hatte, -40-
Verhaftungen, die bis ins Jahr 1979 zurückgingen. Der Staatsanwalt bot ihm vier Jahre, maximal, für diesen Fall und zwei Verstöße gegen alte Bewährungsauflagen. Im Klartext hieß das, daß er zwei Jahre abzusitzen hätte, minus der fünf Monate U-Haft und der zweieinhalb, die man ihm für gute Führung und Arbeit anrechnen würde. Das bedeutete ein Jahr Chino, dann würde man ihn wegen der Überbelegung wieder auf die Straße setzen. Letzten Endes schien er fast glücklich; jedenfalls winkte er seinen vier Kindern nebst Gattin zu, einer kleinen pummeligen Frau mit einem Lächeln voller Goldzähne, die gleich den ganzen Clan mitgebracht hatte, damit sie ihren Papa ins Gefängnis des weißen Mannes wandern sahen. Das Mittagessen mit Jim ließ ich sausen. Der Gedanke, bei einem fettigen Lammsandwich den neuesten Ausbrüchen seines verwirrten Eifers zu lauschen und dabei Bröckchen und Brösel auf seine ohnehin schon schwer in Mitleidenschaft gezogene Krawatte fallen zu sehen, war mehr, als ich verkraften konnte. Jeder hat seine Grenzen. Ich setzte zwei Wochen lang nicht einen Fuß ins Gerichtsgebäude. Ich hatte genug mit meinem Umzug zu tun. Ich hatte eine Wohnung im ersten Stock in Los Feliz aufgetan, dem alten Italienerviertel am Griffith Park. Daneben hatte ich noch in einem außerordentlich komplizierten Fall von Scheckbetrug zu ermitteln, in dem eine Familie narbengesichtiger Nigerianer eine Versicherung aufs Kreuz gelegt hatte. Ich saß am Schreibtisch meines Arbeitszimmers und war eben der komplizierten Kette aus Einzahlungen, Abhebungen, Akkreditiven und Zahlungsanweisungen auf die Spur gekommen, als das Telefon klingelte. »Charlie, Jim Trachenberg.« -41-
»Hey, was gibt's denn? Ich dachte, du arbeitest an einem brillanten Plädoyer für deine beiden Kubaner.« »Deswegen rufe ich an. Der Hundsfott hat mich nach der ersten Anhörung gefeuert.« »Was du nicht sagst? So ein Idiot. Weiß er nicht, daß du der Beste bist, den man für Geld nicht kaufen kann.« »Das ist noch nicht alles.« »Ach was?« »Er will dich statt dessen.« »Sag das noch mal!« »Er will sich selber verteidigen. Und dazu will er dich als vom Gericht bestellten Ermittler.«
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3 Der massige, rothaarige Deputy las in einem ArchieHeftchen, als ich an das Fenster der Wachstube trat. Sein Kollege, ein drahtiger Schwarzer, guckte Football auf einem tragbaren Fernseher. Er warf mir einen Blick aus dem Augenwinkel zu. Dann stieß er den Rothaarigen an, der den Kopf hob; die Irritation über die Unterbrechung seiner geistigen Stimulation war ihm anzusehen. Ich schob ihm meine vom Amt für Verbraucherfragen ausgestellte Lizenz zu - Nummer 56 774 LQ. Er warf einen Blick auf das Foto, dann einen auf mich. Der etwas wehleidige Ausdruck auf dem Bild rührte daher, daß mir mein flotter Zahnarzt in Beverly Hills kurz zuvor eine Wurzelbehandlung verpaßt hatte. »Sind Sie bewaffnet? Falls ja, dann legen Sie Ihre Waffe bitte in eines der Schließfächer«, sagte Lurch mit seiner von der Gegensprechanlage blechern verstärkten Stimme. »Ich bin sauber.« »Zeigen Sie mal Ihren Aktenkoffer.« Ich gestattete dem glotzenden Riesen einen Blick auf dessen Inhalt. Er grunzte zufrieden. »Gehen Sie durch den Metalldetektor.« Testhalber ging ich um den Apparat herum. Zu diesem Zeitpunkt hatte er schon den Türöffner gedrückt. Mann, wäre das einfach, dachte ich. Das Tor aus forstgrünen Gitterstäben glitt klappernd zur Seite. Ich trat in den Gang zwischen den beiden Toren. Der Deputy hätte eigentlich warten müssen, bis das erste wieder geschlossen war, bevor er das zweite öffnete, aber ich nahm an, er hatte Angst, er könnte die Handlung seines -43-
Comics vergessen, und so legte er den Hebel für das zweite Tor gleich mit um. Viel zu einfach. Als ich in den Sprechraum trat, schlug mir der süßsaure Geruch aus Angst und Pine-Sol entgegen, der allen kalifornischen Gefängnissen anhaftet. Es war nicht viel los an diesem Nachmittag im Bezirksgefängnis. Nur eine Handvoll Anwälte und Bewährungshelfer waren da; sie saßen auf den langen Bänken und gingen ihre Fälle durch, während sie darauf warteten, daß ihre gefesselten Mandanten durch die Tür am hinteren Ende des Raums spähten. Ich gab dem Deputy am Wachtisch neben der Tür ein Zeichen und deutete auf eine der leeren Kabinen linkerhand. Ich schloß die Tür, setzte mich auf den Metallstuhl, breitete meine Akte aus und wartete auf Ramón de la Concepción Armas Valdez, dem sogenannten Kopf hinter dem Massaker im Schmuckladen. Ramóns Akte bis zu diesem abstoßenden Gewaltakt war in etwa repräsentativ für den kriminellen Marielito, wie er sich seit 1980 bei uns die Ehre gab. Die fünf- bis zehntausend Knastbrüder und Irrenhäusler, die Castro unter die Heerscharen seiner fliehenden politischen Gegner gemischt hatte, machten den ohnehin schon suspekten Haufen ungebildeter Schwarzer, Mulatten und aufsässiger Weißer zu einem schwer verdaulichen Brocken. Unter Vollzugsbeamten wurde Marielito rasch zum Synonym für den brutalsten und herzlosesten Kriminellen, den man sich vorstellen konnte. Diese Leute gingen in ihren Gewalttätigkeiten weit über das übliche Maß hinaus; sie hatten eine sadistische Lust daran, jede Opposition in Grund und Boden zu stampfen. Da wurde schon einer voll Blei gepumpt, wenn es nur so aussah, als könnte er zum Schlag ausholen. Leuten, die bei der Polizei sangen, schnitt man die Zunge heraus. Die Freundin bekam schon Säure ins Gesicht, wenn sie einen anderen -44-
nur ansah. Was man eben so unter einer echten Liebe zum Detail verstand. Der Unterschied zwischen Ramón und diesen Leuten war bis dahin nur graduell gewesen. Offiziell war er in Key West eingereist, auf der Jason, einem Fischkutter, der mit Flüchtlingen so vollgepackt war, daß das Deck nur noch wenige Zentimeter über der Wasserlinie lag. »Möglicherweise kriminelles Element empfehle Internierung«, hatte der Beamte von der Einwanderungsbehörde geschrieben. Ramón hatte zugegeben, in Kuba gesessen zu haben, wenn auch nur für politische Verbrechen, und diese waren ein weites Feld, das in Kuba von der üblen Nachrede bis zur Sabotage reichte. Laut den Unterlagen der Einwanderungsbehörde hatte Ramón weder viel über sein Leben gesagt, noch warum er es für nötig gehalten hatte, seine Stimme gegen Castro zu erheben. Als Teilnehmer am Angolakrieg hatte er einen ruhigen Job in einer Munitionsfabrik bekommen; er hatte eine Frau und eine Tochter sowie eine bescheidene, aber gemütliche Wohnung in Havanna. Nach seinem nicht näher definierten Einstand als Regimegegner verlor er Job, Wohnung, Frau und Kind, und schließlich war ihm nichts mehr geblieben als das Banditentum oder der Selbstmord. Dann öffnete man den Hafen von Mariel. Trotz der Zweifel seitens der Einwanderungsbehörde ließ man ihn schließlich durch, wohl weil man sich sagte, er könne kaum schlimmer sein als die vielen anderen, die damals ins Land drängten. »Señor Morell?« fragte eine schwere Stimme mit dem dicken, teigigen Akzent der schwarzen Kubaner. Ich sah von meiner Akte auf. Ein großer Schwarzer, um die hundertzehn Kilo auf einen Meter neunzig, hatte sich wie eine nubische Statue vor mir aufgebaut und warf seinen Schatten auf mich. »Ja?« -45-
Der Riese hatte etwas Respektvolles. Seine Miene war friedlich, die braunen Augen schienen um Vergebung zu bitten, entweder hatte man mir den falschen Mann geschickt, oder er hatte im Knast zu Jesus gefunden. Ich suchte nach dem verräterischen Schnurkreuz, das Knackis in solchen Fällen um den Hals trugen, und nach der Bibel in der schweißnassen Hand, fand aber weder das eine noch das andere. »Habla español?« fragte er mich fast zitternd, als wäre allein schon die Frage eine Zumutung, die ihm Ärger mit dem Kalfaktor einbringen könnte. Schwer zu glauben, daß man diesem Mann vorwarf, sechs Leute umgebracht zu haben. »Si, cómo no, siéntate.« Ich machte ihm Zeichen, sich zu setzen. Seine Hände waren breit, schwielig, unter seinen Fingernägeln hatte er noch immer Motorenöl und Wagenschmiere. Ein Mechaniker? Ich mußte noch mal in der Akte nachschlagen. »Ich heiße José Pimienta. Oder Bobo«, sagte er mit einem gutmütigen Lächeln. »Ramón schickt mich. Er will, daß Sie erst mit mir sprechen.« »Was, was? Augenblick mal. Ihr Jungs habt das nicht richtig kapiert. Nicht ihr habt hier das Sagen. Ihr braucht mich, nicht ich euch. Und wenn ich mich mit einem von euch unterhalten will, dann mit ihm und keinem anderen. Nicht ihr gebt hier den Ton an, sondern ich. Deputy!« »Nein, hören Sie. Er kann nicht mit Ihnen sprechen.« »Wieso nicht?« Er zögerte, sein dunkles Gesicht bebte vor unterdrückten Gefühlen, der Schmerz in ihm kam ihm aus jeder seiner schwarzen Falten. Der Deputy kam herübergeeilt; die Handschellen an seinem Gürtel klimperten wie das -46-
Glöckchen an einem Ziegenbock. José beeilte sich fortzufahren. »Er ist krank.« »Was soll das heißen, er ist krank? Was hat er denn?« »Ich meine, er betet.« »Was? Entscheiden Sie sich. Was ist mit ihm?« »Er ist krank, er ist krank vom Beten. Er ist ein Mann Gottes.« »Na großartig, das hat uns gerade noch gefehlt. Ein Priester als Killer!« »Nein, Sie verstehen nicht.« Der Deputy stand hinter José, die braunen Hemdsärmel straff über den Muskeln. Er hatte einen schwarzen Totschläger in der Rechten. »Stimmt was nicht?« fragte der Deputy mit dem nervösen Japsen eines Dobermanns kurz vor dem Sprung. »Er ist ein santero«, fügte José hinzu, »er betet und kann deshalb nicht reden - er ist krank.« Ich machte dem Deputy ein Zeichen zu verschwinden. »Alles in Ordnung, er wird sich benehmen.« »Sind Sie sicher?« »Kein Problem, Ray. Wir sind okay.« Yemayá. Ecué. Shangó, Oggún, Yamba-O. Die wohlklingenden Namen afrikanischer Gottheiten des geheimnisvollen Santeria-Kults, dem man Millionen von Anhängern und unbeschreibliche Kräfte zusprach. »Hat er Sie deshalb geschickt?« »Ja. Ich soll Ihnen zuerst die Geschichte erzählen.« »Habe ich eine andere Wahl?« »Ich kann gehen.« -47-
»Es ist nicht zu fassen. Fangen Sie an. Aber machen Sie's kurz.« José sagte, er und Ramón hätten sich bei einem Initiationsritus in Regla, einer fast ausschließlich von Schwarzen bewohnten Vorstadt, kennengelernt; sie liege Havana genau gegenüber und sei das Zentrum des Santeria-Kults in dieser Provinz. Die kubanische Regierung hatte den Kult als konterrevolutionären Aberglauben verboten, so daß besagtes Treffen spät abends und an einem geheimen Ort stattfand, weit weg von den neugierigen Augen der comités de vigilancia, die über das Kommen und Gehen der Anwohner eines Blocks detailliert Buch führten. Der Neuling, ein zehnjähriger, blinder, negroider Albino, traf seinen Gott in einem bunten Mantel im Keller einer ehemaligen Bäckerei in der Nähe des Hafens. Anwesend waren zweihundert Männer und Frauen, die Jobs und Freizeit riskierten für das Privileg, die Gottheit in ihre Anhänger fahren zu sehen. Nach Getrommel, Tanz und Inbesitznahme des Jungen, als Angst und Argwohn einem ekstatischen Gemeinschaftsgefühl gewichen waren, stellte Macucha, eine alte Frau, die die Familien der beiden kannte, José und Ramón einander vor. Sie prophezeite, daß die beiden ebenso unzertrennlich würden wie die Ibeyi, die Zwillingsgötter, die dem Yoruba-Pantheon als Götterboten dienten. José hatte sich eben zum Militär gemeldet, während Ramón bereits in Angola gegen Jonah Savimbis UnitaTruppen gekämpft hatte. Beide hatten sie schlecht bezahlte Jobs, als man die Tore der peruanischen Botschaft eindrückte und Tausende auf das Gelände stürmten. Ramón war unter den ersten Hundert gewesen, die über -48-
den Zaun geklettert und auf das kostbare Stückchen peruanischer Erde gesprungen waren. José dagegen war auf dem Weg zur Arbeit im La Estrella gewesen, als ihn die Leute des Blockwarts, die ihn als konterrevolutionären Sympathisanten kannten, in einem alten amerikanischen Jeep auflasen. »Du gehst!« sagte man ihm. Man fuhr ihn nach Mariel und setzte ihn bei der Menge ab, die ungeduldig auf die Einschiffung wartete. Ohne Familie, Freunde oder Bürgen, die sie herausgeholt hätten, schmachteten José und Ramón ein geschlagenes Jahr in den Lagern der amerikanischen Einwanderungsbehörde. Erst als die Katholische Hilfe auf Puerto Rico eine Tante von Josés Mutter auftat und diese sich widerwillig bereit erklärte, für das Wohlergehen der beiden zu bürgen, durften sie gehen. Nach Puerto Rico freilich schafften sie es nicht. Nachdem sie endlich frei waren, blieben sie bei den anderen Flüchtlingen in den zerfallenden Artdeco-Pensionen von Miami Beach. Durch die Vorliebe der Kubaner für Diminutiva waren sie inzwischen zu Marielitos geworden, den kleinen Leuten von Mariel - Instantparias zweier Nationen. Die prophezeite Kriminalitätswelle stellte sich bald ein. »Ja, sicher, aber das ist doch keine Entschuldigung, José. Vielen Leuten geht es dreckig, und trotzdem werden sie nicht zu Verbrechern.« »Ihr Amerikaner könnt das nicht verstehen. Lassen Sie mich erklären.« Zu Cariltos und Josés erstem Konflikt mit dem amerikanischen Gesetz kam es wegen eines geringfügigen Vergehens: man hatte in ihrem Zelt in einem unter einer Autobahnbrücke in Miami errichteten Lager ein nicht gemeldetes Messer gefunden. Ein nie bekanntgewordener Täter hatte im Lager mehrere Leute mit einem Messer verletzt und ihnen dann Geld und Lebensmittel geraubt. -49-
Die Einwanderungsbehörde verdächtigte Ramón und José, aber da Zeugen sich nicht zu melden wagten, wurde nie Anklage erhoben. Bei ihrem zweiten Konflikt mit dem Gesetz verhaftete man sie unter dem Verdacht, einen kleinen Supermarkt überfallen und dabei jemanden umgebracht zu haben. Ein Informant erzählte der Polizei, José hätte in sein Bier geheult aus Reue über das, was er und Ramón dem Inhaber des El Cebollón angetan hatten. Wie sich herausstellte, hatte man diesen eines Nachts, als er allein im Laden war, im Lagerraum gefesselt und dann neben einigen Kisten faulender Paradiesfeigen exekutiert, anders konnte man es nicht nennen. Die Beamten, die José und Ramón vernahmen, waren ausgesprochen ungeschickt die Verdächtigen verletzten sich bei einem schrecklichen Sturz auf der Wache: José trug dabei einige gebrochene Rippen davon, Ramón eine zerschmetterte Nase. Ein Geständnis bekam man bei aller Ungeschicklichkeit nicht. Man ließ sie wieder laufen, und der Fall wurde kurz darauf zu den Akten gelegt, als man den Informanten mit dem Gesicht nach unten unterhalb der Miami River Bridge fand. Man hatte ihm den Mund zugenäht - offensichtlich als er noch am Leben war. Danach kamen José und Ramón regelmäßig in Konflikt mit der Polizei. Schwere Körperverletzung, Raub, Besitz von Diebesgut, Buchmacherei, Besitz von Substanzen, die unter das Betäubungsmittelgesetz fallen, Verkauf einer solchen Substanz, mehrere sexuelle Übergriffe, Unzucht mit einem Minderjährigen - eine ganze Litanei von Anklagen, die José auf Vorurteile, Haß und Verwechslungen schob. Aber die beiden wurden nicht ein einziges Mal überführt. Schließlich bekamen die Gesetzeshüter doch noch ihre Chance: Die Drogenbehörde erwischte die beiden im Wagen eines gewissen Aníbal -50-
Guitiérrez, Inhaber einer Pizza-Man-Filiale und weithin bekannter Kunstkenner. Bei der Durchsuchung stellten die Agenten fest, daß Ramón und José Schnellfeuergewehre mit sich führten, und zwar verborgen; im Kofferraum, in braunen Supermarkttüten, fand man fünfzig Kilo Kokain in sauberen, plastikverpackten Ziegeln mit der Aufschrift »Bolivar's Best«, Guitiérrez' Anwälte erreichten, daß die Drogen als Beweis verworfen wurden; sie argumentierten, die Beamten hätten keinen ausreichenden Grund gehabt, den Wagen anzuhalten und somit auch keinen, ihn zu durchsuchen. Guitiérrez kehrte zu seinem Degas, seinem Geld und seinen Drogen zurück; er brauchte sich kaum Sorgen zu machen. Ramón und José jedoch kamen für sechzehn Monate hinter Gitter und, nachdem sie die abgesessen hatten, in die Bundesjustizvollzugsanstalt von Atlanta, von wo aus sie nach Kuba deportiert werden sollten. Ihr Schicksal nahm eine weitere Wende, als die Regierung Reagan die Deportation verpatzte: Man informierte die Betroffenen, daß sie bald ins Land ihrer Alpträume zurückkehren würden. Die Gefangenen meuterten, nahmen Dutzende von Geiseln und setzten das Gefängnis in Brand. Bei den folgenden Verhandlungen, erklärte sich das Justizministerium bereit, sämtliche Fälle zu überprüfen, und im allgemeinen Durcheinander, das dabei entstand, entschlüpften José und Ramón. Sie kehrten nach Miami zurück, aber dort hatte sich inzwischen einiges geändert. Guitiérrez war bei einem Unfall ums Leben gekommen: Sein Schnellboot war vor Lauderdale umgekippt und explodiert. Die Marielitos hatten Miami Beach verlassen, die alten Artdeco-Hotels und Wohnblöcke hatten Yuppies übernommen. Selbst die Behörden hatten sich geändert. Miami hatte einen -51-
kubanischen Bürgermeister, der fest entschlossen war, die Unerwünschten unter seinen Landsleuten mit Stumpf und Stiel auszurotten. Die Polizei, die sich zuvor nur bei Notfällen hatte blicken lassen, fuhr nun regelmäßig die Gegend ab. José und Ramón, die nach wie vor unzertrennlich waren, entschlossen sich, in den Westen zu gehen - in die Stadt der Träume am Pazifik. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Drei Stunden waren vergangen, und ich hatte José weder zu ihrem neuen Leben noch zu dem vorliegenden Verbrechen befragt. »Okay, das ist ja alles schön und gut, José, aber jetzt lassen Sie uns mal darüber reden, was im Schmuckkästchen passiert ist.« »Gut, aber ich muß Ihnen erst noch was sagen.« »Und das wäre?« »Ich erinnere mich an nichts mehr.« »Das ist seine Strategie, verstehen Sie«, sagte Josés Anwalt und spreizte seine manikürten Finger an der Kante seines Biedermeierschreibtisches; die polierten Nägel glänzten in einem Sonnenstrahl, der durch das Panoramafenster kam. Draußen kreiste, auf der Jagd nach einer Feldmaus im Müll der Baustellen, ein einsamer Habicht über den Betonschluchten von Bunker Hill. Clayton Finch Whitmore Smith III. schien sich wohlzufühlen in seinem Anwaltshorst, umgeben von Hockneys, Rushas und Diebenkorns, und der winzige Fragonard neben der Tür konnte seinen Status als hipper Kalifornier nur unterstreichen. Das teure Wollkrepptuch seines maßgeschneiderten Anzugs war genauso elegant wie die Argumente, die er vor Gericht zur Verteidigung seiner Klientel - reichen Geschäftsleuten und -52-
Hollywoodstars - vorbrachte. »Sobald die beiden Hirnklempner mit ihm durch sind, halten wir eine Anhörung über seine Zurechnungsfähigkeit. Ich denke, daß der Knabe sie nicht mehr alle hat, bei all dem Voodookram.« »Santería«, sagte ich. »Voodoo gehört nach Haiti.« »Ist doch egal, die Wirkung ist dieselbe: Man versetzt den Teilnehmer vorübergehend in einen Wahn, der ihn an das Erscheinen einer Gottheit glauben läßt.« »Hört sich ganz nach unserer Messe an.« Was seiner Argumentation einen Augenblick die Luft aus den Segeln nahm. Er strich sich über den sauber gestutzten rötlichen Bart und lächelte. »In der Tat.« Er kicherte. Sein glitzerndes Lächeln und die Lachfältchen um die grauen Augen verliehen Clay etwas anziehend Jungenhaftes. Ich konnte verstehen, warum Geschworene, vor allem Frauen, sich von seinen Reden überzeugen ließen. Jetzt wurde er ernst, seine Hand richtete den Mont-Blanc-Füller auf mich, um seine Argumentation zu unterstreichen. »Wir haben es bei Santería mit einem prähistorischen, antiwestlichen Kult zu tun, der seine Anhänger zu Besessenen macht, sie ihres Verstandes beraubt und Verbrechen begehen läßt, an die sie im Normalzustand nicht einmal denken würden. Also, für mich ist das eine der besten Definitionen von Wahnsinn, und deshalb benutze ich sie.« Er lehnte sich in seinen Ledersessel zurück und erwartete mein unaufrichtiges Lob. »Wollen Sie damit sagen, ich soll Valdez raten, sich darauf hinauszureden?« »Charlie, ich würde mir nicht anmaßen, Ihnen zu raten. -53-
Das müssen Sie mit ihm ausmachen. Wann ist übrigens das Anklageeröffnungsverfahren?« »Nächsten Dienstag. Bei Richterin Chambers.« »Gut.« Er kritzelte flink in seinem Kalender herum und blickte dann wieder auf. »Nach dem, was ich so höre, wird sie auf keinen Fall zulassen, daß er sich selbst verteidigt. Ich nehme an, Sie haben dem Burschen gesagt, daß er sich damit auch keinen Gefallen täte.« »Wenn ich ihn je zu Gesicht kriege. Ich war jetzt schon das zweitemal dort. Das erstemal hat er behauptet, er wäre krank, und dann stellt sich heraus, daß er in der Kapelle betet. Das zweitemal können sie ihn nicht finden. Der ganze Knast wird durchsucht. Und dann stellt sich heraus, daß er die ganze Zeit im Bett gelegen hat und die Wärter ihn bloß nicht gesehen haben.« »Ist ja ein toller Bursche. Mir fällt da gerade was ein. Ihr Bursche kann gar nicht dieselbe Verteidigung benutzen wie der meine. Er ist ein Priester, derjenige, der die Leute in Trance versetzt, das heißt also, daß bei ihm das Ganze bewußt ablief: Er hat seine Vernunft verworfen, um die Kräfte des Bösen anzurufen. Das Böse - nicht nur eine böswillige Absicht.« »Wie dramatisch. Machen Sie das Ganze deshalb unentgeltlich, Clay? Wollen Sie die Geschichte hinterher nach Hollywood verkaufen?« Clay schlug derart hart auf den Tisch, daß der Verschluß seiner Rolex aufging. »Verdammt, Charlie, können Sie denn gar nichts ernst nehmen?« sagte er, als er das Band wieder schloß. »Ich weiß alles über Sie. Ich weiß, warum Sie mit eingekniffenem Schwanz aus Dade County rübergekommen sind. Sie waren einer von den Großen -54-
und haben Scheiße gebaut.« »Denken Sie an Ihre Manieren«, sagte ich. »Sie werden unflätig.« Clays Miene verdüsterte sich. Ich sah die knallharte Ader, die ihn aus dem Schatten der Zuckerraffinerie in Vallejo und durch Stanford, Harvard und das Außenministerium getrieben, mit dreißig zum Sozius bei Manuel, Caesar, Brewer & Smith und mit vierzig zum Multimillionär gemacht hatte. »Spielen Sie keine Spielchen mit mir«, sagte er. »Sie wissen genau, daß das nicht stimmt. Die Sozietät übernimmt einige Fälle unentgeltlich, und jeder hier, von Caesar selbst bis hinunter zum blutigen Anfänger, muß jeder ran. Jetzt bin ich an der Reihe. Und ich verkaufe nichts nach Hollywood. Sie etwa?« »Wenn ich kann. Schließlich habe ich Rechnungen zu bezahlen.«
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4 Es war einer dieser Sonntage, in dem sich ganz Los Angeles ein Haus am Strand von Malibu wünscht. Außer denen, die schon eins haben - die wünschen sich eins an der Côte d'Azur. Aber so sehr sich diese wenigen Glücklichen auch über die Surfshops, die neonbeleuchteten Fastfood-Schuppen und die kilometerlangen Staus ärgern, wenn an den Wochenenden das ganze San-Fernando-Tal an den Zuma-Beach will, sie wissen wenigstens, daß sie etwas haben, wonach jeder andere sich sehnt: ihr eigenes, privates Stückchen Meer. Windgepeitschtes, blaues Wasser leckt an den gelben Dünen, das Auf und Ab der Surfer auf der Brandung, gelegentlich ein Spinnaker am Horizont, der Duft von salziger Gischt und Jasmin - ausgezeichnete Gründe, eine Million Dollar für zehn Meter Strand hinzublättern. Es sind die Schätze, für die sie gelogen und betrogen haben, die Früchte ihrer zwielichtigen Geschäfte und Gaunereien. In meiner Ecke von Los Angeles, der gepflegten Hügelund Terrassenlandschaft von Los Feliz, haben wir eine ähnliche Situation mit dem Griffith Park. Nur mit dem Unterschied, daß wir statt des Strands liebliche Täler mit Picknickbänken haben und sich statt des Meeres ein schmaler, verseuchter Bach durch die müllübersäten Straßen und überfüllten Parkplätze schlängelt; und die wenigen Glücklichen hier bei uns sind die Massen von mittelamerikanischen Zuwanderern, die in ihren Datsuns und Toyotas zum Park strömen. Menschen auf der Flucht vor Armut und Krieg. Zu siebt oder acht hocken sie in ihren japanischen Rostlauben; aus dem billigen Radio tönen Schmachtfetzen von Julio Iglesias, José José und -56-
Emanuel, Radio Amor und K-Love und an den Antennen wehen rosa Bänder. Dort parken die Familien - es sind immer Familien, auch wenn es sich um ein halbes Dutzend Männer handelt, das Armut und Umstände zusammengeführt hat, immer ist es eine familia - ihre Autos, holen Kühltasche mit Fleisch und Hühnchen heraus, die auf die Grills neben den Bänken kommen; dann machen sie ein paar cervezas auf und kicken mit dem Fußball. Ein paar Minuten später sind schon die ersten Partien im Gange: Salvadorianer, Guatemalteken, Mexikaner und Honduraner, gemischte Gruppen aus brauner Haut und ungestilltem Verlangen, die hier im Park die alten Bola-Turniere wieder aufleben lassen, die sich ihre indianischen Vorfahren im Dschungel von Peten Tikal und Tazumal geliefert haben. Sie sind die Glücklichen. Sie mußten weder über Schlachtfelder noch durch Wüsten, sie mußten sich nicht an Grenzern vorbeidrücken, sich von Schleppern verarschen lassen und ihren Vermietern ausbüchsen, um einen Job in El Lay zu bekommen, der ihnen gerade den Mindestlohn einbringt. Von denen gibt es Hunderttausende, wenn nicht gar Millionen. Sie sind die Arbeitskräfte, die Südkaliforniens Maschinen vor dem Stillstand bewahren. Die Menschen hier im Park dagegen sind die, die bereits einen Zipfel vom Erfolg erwischt haben; sie denken an Familien, Ausflüge und daran, hier Wurzeln zu schlagen. Sie blicken auf eine Zukunft in diesem Land, eine Zukunft mit einem eigenen mercado und einer casita in Pacoima. Und so packen sie an den Wochenenden Juan, Enrique, Joséfina, Fernando, Miguel, Eleazar, Aurora nebst deren Mutter in den Datsun, und ab geht's in den Park. Ich habe diese Leute immer um ihre Träume beneidet, so klein und beengt sie dem Außenstehenden auch erscheinen -57-
mögen. Mochten sie auch ihre Fehler haben, ihr Kompaß zeigt wenigstens eine Richtung an. Ich dagegen kam mir wie ein Stück Treibholz vor. Ich hatte nichts als das Diplom einer Elite-Uni und einen undankbaren Job, der mir einen goldenen Käfig bescherte, hinter dessen verrottenden Stäben ich sinnlos taumelnd in einer Tretmühle lief. An jenem Sonntag klopfte ich an die von duftenden Lilien und Geißblatt gesäumte Tür meines Vermieters. Aber Enzo Baldocchi steckte sein liturgisches Gesicht durch den Spalt und lehnte meine Einladung kopfschüttelnd ab. Seine zum Schneiden dicke Fahne roch nach Wodka und Amaretto; im Hintergrund erkundigte sich die Stimme einer Sizilianerin, welcher Hurensohn da nicht wüßte, wie spät es sei. Also machte ich mich allein auf den Weg und lief im gemächlichen Trab den Hügel hinauf. Die ganze Woche über waren die Temperaturen langsam gestiegen, Tag für Tag um einige Grad, und so war die Luft an diesem Sonntagmorgen um acht schon so warm und trügerisch wie die Umarmung eines Latinos. Laue Wüstenwinde hatten den Himmel gefegt. Er war babyblau wie ein O'Keeffe. Die Rasensprenger im tiefen Gras der mediterranen Anwesen bildeten Wolken aus Wasserdampf, die gelegentlich einen Hauch Wacholder oder Zitrus mitführten. Zwei Blocks von meiner Wohnung entfernt macht die Straße eine scharfe Kurve nach links und überwindet dann auf nur zweihundert Meter einen Höhenunterschied von gut einer Viertelmeile. Ich beugte mich vor und schwenkte abwechselnd die Arme zum Boden; ich spürte die Belastung in allen Muskeln, die Knie wurden mir weich, und die winzigen Perlen auf meinem T-Shirt wurden zu breiten Schweißbahnen. Keuchend erreichte ich die Ecke und warf einen Blick auf die Skyline von downtown Los -58-
Angeles; die Bürotürme standen wie hochkant gestellte Schuhkartons vor dem Gürtel der Baldwin Hills. Ich konnte sie nicht sehen, aber ich wußte, daß hinter diesen Hügeln das endlose Auf und Ab der Ölpumpen begann, gierige Arme, die pausenlos Öl aus der Erde pumpten, das die Stadt schon vor Hollywood, der Luftfahrtindustrie und den Arbeitsimmigranten reich gemacht hatte. Ich suchte das Bezirksgefängnis, wo Ramón und José im Augenblick wohnten, aber obwohl die Sicht von meinem Standpunkt aus gut fünfzig Meilen betrug, konnte ich den klobigen grauen Bunker am Fuße Chinatowns nicht entdecken. Dienstag hatten sie zwecks Anklageverlesung und den diversen Anträgen vor Gericht zu erscheinen, und ich hatte noch immer keine Gelegenheit gehabt, mit Ramón zu sprechen. Seit zwei Wochen hatte ich nichts weiter tun können, als Papierkram durchzugehen; seine Weigerung, mir auch nur den geringsten Hinweis zu geben, in welche Richtung ich ermitteln sollte, band mir die Hände. Ich hatte keine Ahnung, wie er vorgehen wollte oder welche Rolle ich in seiner Verteidigung spielen sollte. Vielleicht würde er es sich am Dienstag anders überlegen und doch noch um einen Pflichtverteidiger bitten. Vielleicht würde ich den Fall auch einfach ablehnen. Dieser letzte Gedanke gab dem Tag gleich ein anderes Gesicht. Ich kam auf die Longfellow, bückte mich dort und krabbelte unter dem rostigen Stacheldrahtzaun hindurch, dessen Mahnung BETRETEN VERBOTEN das blaue Zeichen der Stoners, einer Bande nichtsnutziger junger Weißer, zierte, und lief schnurstracks in die Wildnis. Gelber Staub wirbelte auf, als ich mich den ausgetretenen Pfad auf den Gipfel hinaufquälte. Ich lief gegen eine Eiche, spürte jedoch keinerlei Schmerz und sah mit merkwürdiger innerer Distanz, wie dort, wo der -59-
abgebrochene Ast mir die Haut vom Unterarm geschürft hatte, dunkles Blut auszutreten begann. Schließlich erreichte ich schwer atmend die staubige Lichtung auf dem Gipfel des Hügels, von der aus man einen Blick auf das ganze Becken hatte. Der Duft von Orangenblüten und Eukalyptus trieb an mir vorbei, als ich keuchend die Luft einsog und bald den Anblick der Stadt zu meinen Füßen genoß. Ich trat nach einigen alten Bierdosen und grinste über eine Drossel, die auf ein gebrauchtes Kondom einhackte. Los Angeles, die Stadt der Liebe. Als ich wieder an meinen Schreibtisch kam, klingelte das Telefon. Ich war noch vor dem Anrufbeantworter dran. »Hallo«, sagte ich etwas atemlos. »Ich wette, du warst joggen«, sagte Livie, und der Raum verdüsterte sich. Ich muß wohl einige Augenblicke die Luft angehalten haben, weil sie streitsüchtig fragte: »Bist du noch da?« »Natürlich.« Ich blickte auf meinen Schreibtisch, ich hatte das Gefühl zu versinken und suchte in der langweiligen Sicherheit des Alltags nach Halt. Papiere, Akten, ein Taschenkalender, eine Uhr mit leeren Batterien. Ich warf einen Blick auf meine Joggeruhr. In Miami aß man in einer halben Stunde zu Mittag. Ein Blutstropfen fiel von der Schürfwunde an meinem Arm und landete auf dem weißen Telefon. »Guten Morgen. Wie geht's dir? Was macht Julian?« Wie immer kam die Antwort wie mit dem Rapier und traf. »Ich rufe nicht an, um Artigkeiten auszutauschen, Charlie. Ich bin noch immer dieselbe: wütend und im -60-
Stich gelassen.« »Fang nicht wieder damit an.« »Oh, nein. Herumtreiber sind wie Trinker. Die Moralpredigt, die ihnen helfen würde, ist noch nicht geschrieben. Trotzdem brechen sie einem das Herz.« »Bitte. Du hörst dich an wie ein Country- &-WesternSong. Was willst du? Hast du den Scheck nicht gekriegt?« »Oh, den habe ich, ja. Aber meinst du nicht, daß du was vergessen hast?« Eine Fangfrage. Ich gebe mir alle Mühe, tausend Dinge zu vergessen. Und meist verfolgen und verhöhnen mich gerade die, die ich zu exorzieren versuche. Sie parken vor der Tür meines Verstands, um mich anzuspringen wie ein Geldeintreiber: Wir hätten da was zu bereden. »Nein, was denn?« »Wir haben den siebten April. Jemand will mit dir sprechen.« Sie gab den Hörer weiter, und noch bevor der andere den Mund aufmachte, wußte ich, wer es sein würde; mein Herz hüpfte vor Schmerz und Freude. »Hi, Papi.« »Hallo, Julian. Alles Gute zum Geburtstag. Hast du mein Geschenk schon gekriegt?« Julian quiekte vor Entzücken. »Du hast es nicht vergessen! Mami hat gesagt, du wärst vielleicht zu beschäftigt.« »Wie könnte ich das vergessen, Kerlchen. Ich bin sicher, du hast es in ein, zwei Tagen. Manchmal ist die Post etwas langsam.« »Klar, Paps, das ist es, die Post ist spät dran.« Julian. Goldene Locken, braune Augen, taufrische Haut, die nach Seife und Babypuder duftete. Überlauter, -61-
hyperaktiver Julian, der heute sieben wird. »Was treibst du denn heute, Champ? Gehst du auf eine Party?« »Na ja, Mami und ich haben einen Kuchen gebacken, und ich habe meine Freunde eingeladen. Philie, Bobby, Carlos, Rene und Donna. Dann fahren wir nach Lucaya. Ist echt gut!« »Da bin ich sicher.« »Was hast du mir denn geschickt, Papi? Ich will's nur wissen, weil ich schon so viele Geschenke habe, aber keiner hat mir das geschenkt, was ich wollte, was ich wirklich wollte.« Ein echter Sproß von Livie, dachte ich. »Und was willst du? Vielleicht hab' ich dir's ja geschickt.« »Einen Robocop! Und ein Videospiel - die Teenage Mutant Ninja Turtles!« »Na, vielleicht gefallen dir dann meine Geschenke.« Julian jauchzte. »Mensch, toll! Du bist wirklich der Größte, Paps! Wann kommst du nach Miami?« »Ich weiß noch nicht, Sportsfreund. Aber ich sag' dir was, vielleicht würdest du ja gern bald mal nach Los Angeles kommen. Wir können Disneyland…« »Ich weiß nicht, Papi. Alle sagen, Disney World ist besser, und da war ich schon dreimal mit Mami.« »Okay, dann gehen wir in die Universal Studios, und du kannst King Kong und den weißen Hai sehen.« »Hört sich cool an!« Julian wandte sich an Livie, die die ganze Zeit über neben ihm gestanden hatte, bereit, ihr Kind vor diesem -62-
herzlosen Nichtsnutz von einem Vater zu beschützen. »Können wir nach L. A. zu Universal, Mami? Können wir?« Ich hörte sie etwas sagen, was ich nicht verstand. Julian meldete sich wieder, enttäuscht. »Mami sagt, sie weiß nicht.« Dann flüsterte er. »Sie mag dich immer noch nicht.« »Das ist schon in Ordnung. So was ändert sich.« »Mami will noch mal mit dir reden; ich geh' jetzt mal.« »Okay, Champ. Glückwunsch zum Geburtstag.« Es klapperte, dann war Livies strenge, wohlmodulierte Stimme wieder da, deren schönes Volumen besonders im Fernsehen zum Tragen kommt, wo sie die Abendnachrichten moderiert. »Du brauchst gar nicht dran zu denken, ihn mir wegzunehmen.« »Nur für die Ferien.« »Kommt nicht in Frage. Wenn du ihn sehen willst, dann komm her. Ich traue dir nicht, und du weißt warum. Ach übrigens, ich heirate wieder. Ich schreibe dir. Wiedersehen.« »Wen denn? Wann?« Ich fragte nicht warum, da das offensichtlich war. Aber Livie hatte schon aufgelegt, bevor ich noch weitere Fragen stellen konnte. Das Summen in der Leitung bildete eine Leere, die sofort von den Fehlern meiner Vergangenheit gefüllt wurde. Witwe Chambers war schlecht aufgelegt. Einen Anwalt aus San Diego, der das Pech hatte, zwanzig Minuten zu spät zur Fortsetzung einer Anhörung zu kommen, -63-
verdonnerte sie wegen Mißachtung des Gerichts zu hundert Dollar Strafe. Als er gegen diese Behandlung protestiert hatte - schließlich waren trotz des offiziellen Sitzungsbeginns um 8 Uhr 30 um neun noch nicht mal die Türen offen -, hatte die Witwe den schreienden Anwalt vom Gerichtspolizisten in Gewahrsam nehmen lassen, damit er sich bis zu einer ordentlichen Anhörung später am Tag die Alternativen überlegen könne. Sein verblüffter Mandant schaute erst wie vor den Kopf geschlagen in die Runde, dann rief er: »Ich hol' Sie schon raus, Herr Anwalt! Ich hol' Sie schon raus!« Deputy Bill Smith kam grinsend aus dem Zellentrakt zurück. »Er hätte es wissen müssen«, vertraute er mir an. »Jetzt schreit er nach einem Anwalt.« »Ich frage mich, wie er sich fühlt - in Tuchfühlung mit den Leuten, die er verteidigt.« »Die Häftlinge sind noch nicht da. Der Bus aus Wayside hat Verspätung; er ist allein. Wen wollen Sie denn sehen?« »Na, wen wohl? Sie, auf einen kleinen Plausch - bißchen über die alten Zeiten plaudern.« »Von wegen, Scheiße. Ihre beiden Jungs, die kubanischen Zwillinge, die sind auch noch nicht da.« »Danke. Was macht das Geschäft?« Bill hatte nebenher eine kleine Videofirma im Moreno Valley, einer neuen Siedlung im Riverside County, dem Klapperschlangenzentrum Südkaliforniens; er zeichnete für die Leute Jahrestage und Hochzeiten auf. »Macht sich ganz gut. Vor kurzem habe ich den Ball vom Lion's Club aufgenommen.« Der Justizsekretär der Chambers, ein dunkelhaariger kleiner Mann mit dem beeindruckenden Namen Curtis -64-
Franklin Burr, winkte mir zu. Er war ein direkter Nachkomme des finsteren kleinen Mannes, der Alex Hamilton umgebracht hat. »Die Richterin würde Sie gern in ihrem Zimmer sprechen.« »Sofort.« Connie, der Vorname der Richterin, hing als gerahmte Stickerei zwischen zwei fuchsienroten Herzen hinter ihrem überhohen Ledersessel. Auf dem Schreibtisch stand ein weiterer Rahmen mit Schnappschüssen ihrer drei Töchter. An den getäfelten Wänden hingen die Diplome von der Universität, Plaketten aus der Zeit, als sie noch Staatsanwältin gewesen war, ein Foto, auf dem sie einen ehemaligen Streifenpolizisten umarmt, der es zum ersten schwarzen Bürgermeister von Los Angeles gebracht hatte. Nirgendwo eine Spur des Mannes, dem sie Namen und Position verdankte. John Chambers war ein Jurist aus Pasadena gewesen, der bei der braven weißen Einwohnerschaft dieses Smogkübels derart beliebt gewesen war, daß der Gouverneur sich genötigt sah, nach seinem Ableben seine Witwe auf seinen Posten zu setzen. Aber das war nun schon sechs Jahre her, nach kalifornischen Maßstäben eine ganze Generation. Die Richterin - blond, massiv und rotwangig - hob den Blick aus dem aufgeschlagenen Band der Juristischen Wochenschrift. Sie stieß einen knappen Husten aus, ein Lachen, das ihr Unbehagen darüber kaschieren sollte, einen Fremden in ihrem Allerheiligsten zu haben. »Hallo, Charlie. Setzen Sie sich, setzen Sie sich.« Ich tat, wie mir geheißen. Ich hatte nicht die Absicht, ihr zu widersprechen. »Ja, Madam?« »Ich möchte mit Ihnen über Ihren Fall reden, Valdez und Pimienta.« -65-
»Tja, Euer Ehren, eigentlich bin ich nur wegen Valdez hier. Pimienta wird von Clay Smith vertreten.« »Das weiß ich«, raunzte sie mich an, und schon war der Anflug von Jovialität aus ihrer Stimme verschwunden. »Aber Sie wissen genausogut wie ich, daß Pimienta noch nicht mal aufs Klo geht, ohne Valdez um Erlaubnis zu fragen, wenn Sie mir den Ausdruck verzeihen.« »Ich kann mich dafür nicht verbürgen, aber es sieht ganz so aus, ja.« »Na, dann lassen Sie mich Ihnen eines sagen. Ich werde in meinem Gerichtssaal keine Szenen dulden, haben wir uns verstanden?« »Ich bin mir nicht ganz sicher, wie ich das verstehen soll.« »Ich will keine Theatereffekte, kein Posieren, kein Schmollen, weder von Ihnen noch sonst jemandem. Ich habe Clay bereits dasselbe gesagt. Egal, wie meine Entscheidungen aussehen, sie gelten. Ich will weder eine Schau für die Geschworenen, noch möchte ich meine Entscheidungen wiederholen müssen. Und keine Fragen, die den Geschworenen so ganz zufällig - unterstreichen Sie das - unverbürgte Informationen liefern, ist das klar? Ich möchte eine saubere Akte, ein einstimmiges Urteil und weder Verfahrensfehler noch eine Urteilsaufhebung in der Berufung. Wir beginnen am Anfang und machen Schluß, wenn Schluß ist, wie sich das gehört. Ist das klar?« Sie hustete wieder. Ich lehnte mich in den Sessel zurück. »Völlig, Frau Richterin. Aber ich bin nicht Valdez' Anwalt; er will sich selbst verteidigen. Ich bin nur sein Privatdetektiv.« Die Richterin reagierte nicht direkt. Sie schwang den Sessel herum und ging hinüber zu ihrem Mr. Coffee auf dem Aktenschrank an der Wand. -66-
»Möchten Sie welchen?« fragte sie. »Schwarz, bitte.« Sie reichte mir einen ebenfalls mit fuchsienroten Herzen geschmückten Becher. Ich überlegte, was wohl hinter diesem Übermaß an Herzen steckte, Bedauern oder ein schlechtes Gewissen, kam jedoch zu keinem Schluß. Sie blies in ihre dampfende Tasse und wölbte mit einem boshaften Lächeln die Brauen. »Was muß ich da von Florida hören?« »Ein großer Staat, Frau Richterin. Was haben Sie denn gehört?« Sie nippte an ihrem Kaffee, ihr Lächeln machte die ausladenden Backen noch breiter. »Etwas über Sie und einen Fall in Dade, als Sie noch praktizierten. Man hat Ihnen einen Tadel ausgesprochen, nicht wahr?« »Wenn Sie die Wahrheit wissen wollen, man hat mir für ein Jahr die Arbeitserlaubnis entzogen. Damals habe ich mich dazu entschlossen, in Kalifornien neu anzufangen. Man hat mich allerdings für schuldig befunden. Und selbst wenn, so wissen Sie sehr gut, daß man in Kalifornien auch als Vorbestrafter zugelassen wird und praktizieren kann. Aber ich praktiziere nicht, und so müssen Sie schon entschuldigen, wenn ich das sage, aber ich verstehe weder worauf Sie hinauswollen, noch was Sie das angeht.« »Nun, ich habe gehört, und es handelt sich wohlgemerkt nur um Hörensagen und wäre vor Gericht nicht zulässig, aber ich habe gehört, man hätte Sie angeklagt. Aber Sie hätten gute Freunde im Parlament. Gute Freunde, die dafür gesorgt hatten, daß man die Anklage fallen ließ.« »Komisch, ich habe das ganz anders in Erinnerung.« »Nun, wie dem auch sei.« -67-
Sie stellte ihren Becher ab, nachdem sie ihren Verdacht bestätigt sah. »Ich sage Ihnen das nur, weil ich der Meinung bin, daß Ihr Mandant dringend eines Rechtsbeistands bedarf.« Gerettet. Warum nur begann ich diesen Fall langsam, aber sicher im Lichte von Heil und ewiger Verdammnis zu sehen? »Wollen Sie damit sagen, daß Sie ihm das Recht verwehren, sich selbst zu verteidigen?« Richterin Chambers beugte sich vor. »Nicht fürs erste. Später vielleicht. Hängt ganz davon ab, wie effektiv seine Verteidigung ist. Ich möchte nicht, daß er Dinge durch meinen Gerichtssaal brüllt, die nicht zur Sache gehören. Deshalb wollte ich mich nur vergewissern, daß Sie ihn dahingehend gründlich beraten. Ich weiß, es entspricht nicht der gängigen Meinung, aber ich halte nichts von einem Rechtsbeistand auf Abruf, aber es ist eine Verschwendung von Steuergeldern. Wenn der Mann sich sein eigenes Grab schaufeln will, nun, dann soll er. Aber ich möchte, daß er es richtig macht. Auf die vom Gesetz vorgeschriebene Weise. Ich denke, dies ist die einzige Möglichkeit, ihm eine anständige Verteidigung zu sichern. Er wollte keinen Pflichtverteidiger, er wollte keinen privaten Anwalt, und nach unserem Gesetz hat er das Recht, sich selbst zu verteidigen. Wenn er weiß, was er tut. Und die Entscheidung darüber behalte ich mir vor.« Sie lachte kehlig. »Dafür bezahlt man mich schließlich.« Das war's dann. »Tut mir leid, Frau Richterin, aber ich steige aus.« Sie setzte sich ruckartig auf. »Was soll das heißen?« »Ich möchte diesen Auftrag nicht.« »Aus welchem Grund?« -68-
»Ich kann ja noch nicht mal mit dem Mann reden, er arbeitet einfach nicht mit. Außerdem ist der Fall von vornherein verloren.« »Seit wann nimmt ein Ermittler einen Fall mit Rücksicht auf seinen Ausgang an? Das ist die anmaßendste Antwort, die mir in meiner langen Laufbahn als Juristin untergekommen ist. Sie machen das, basta!« »Ich muß aber nicht, Frau Richterin.« »Und ob Sie müssen. In drei Monaten werde ich Gerichtspräsidentin. Wenn Sie den Fall nicht übernehmen, werde ich höchstpersönlich dafür sorgen, daß man Ihren Namen von unserer Liste streicht. Und mit denen in Orange County und Ventura spreche ich auch. Dann können Sie wieder jedem armseligen Idioten hinterherlaufen, der an Ihre Tür klopft - als billiger kleiner Schlüssellochgucker, mehr sind Sie dann nämlich nicht mehr. Und ich werde dafür sorgen, daß auch jeder weiß warum. Ich bin auch sicher, daß die Times sich brennend gern mit Ihnen über Ihre Vergangenheit unterhalten würde.« Ein kurzes Schweigen. Ich sah aus dem Fenster. Grauer Smog kroch über die Stadt. »Ist das eine Drohung?« Sie atmete tief durch, dann ließ sie wieder ihr Lächeln durchscheinen. »Nein, Charlie. Nennen Sie es richterliche Überredung. Hören Sie, ich mag Sie. Um genau zu sein, ich denke, Sie sollten wieder praktizieren. Wieder mitmischen. Ich verlange, daß Sie diesen Fall als persönlichen Gefallen übernehmen. Das tun Sie doch, oder?« Sie grinste. »Tja, wenn Sie es so sehen. Ich hatte schon immer eine Schwäche für aussichtslose Engagements.« -69-
»Das hohe Gericht!« Man erhob sich - die Handvoll Anwälte, die zwielichtige Verwandtschaft der Häftlinge und das nie um eine dumme Bemerkung verlegene Gerichtspersonal, die allgegenwärtigen Styroporbecher mit dem viel zu süßen, weißlichen Kaffee in der Hand. Richterin Chambers kam rechts aus ihrem Zimmer und stellte sich, die Hände vor ihrem stattlichen Körper übereinandergelegt, neben ihren Sekretär. Deputy Smith, ganz Gerichtsdiener, intonierte mit einer Ernsthaftigkeit, die ich an ihm gar nicht kannte: »Vor der Flagge unserer Nation und eingedenk der Prinzipien, für die sie steht, tagt hier die 179. Strafkammer des Bezirksgerichts Los Angeles unter dem Vorsitz der ehrenwerten Richterin Constance Chambers. Ich bitte Sie, sich zu setzen und während der Sitzung das Lesen zu unterlassen.« Unter allgemeinem Gemurmel setzte sich das Publikum wieder auf die Holzbänke, während Anwälte und Hilfspersonal sich in ihre grünen Ledersessel sinken ließen und die Richterin die drei gepolsterten Stufen zu ihrem Stuhl hinaufstieg. Sie ließ sich fallen und warf einen wachen Blick auf den bis in Augenhöhe reichenden Aktenstapel. »Guten Morgen«, sagte sie. »Guten Morgen«, kam glöckchenklar von ihren Helfern. »Die Gefangenen sind eingetroffen, Euer Ehren«, sagte Deputy Smith. »Gut! Dann lassen Sie uns anfangen. John, bringen Sie Valdez und Pimienta herein.« »Ja, Frau Richterin.« Ich hörte Smith in den Zellen die Namen ausrufen, dann -70-
wurde es vorübergehend still, als die Häftlinge aus ihrer Zelle traten; nur das Klappern der Gittertür und das Rasseln von Schlüsseln, Handschellen und Ketten war zu hören. Als erster schlurfte Pimienta herein. Er trug die blaue Kleidung des Bezirksgefängnisses, und da die Handgelenke zu beiden Seiten an eine mit gelbem Plastik überzogene Bauchkette gefesselt waren, sah es aus, als halte er die Hände permanent in die Hüften gestemmt. Auch die Beine waren mit einer gelben Kette gefesselt, so daß er nur mit kleinen Schritten vorwärtskam - wie ein Sklave, der auf den Auktionsblock schlurft. Als er neben dem Anwaltstisch stand, bewegten sich die Muskeln seiner gewaltigen Arme, da er unbewußt pausenlos die Fäuste öffnete und wieder schloß - als wolle er nach der Freiheit greifen, die doch völlig außer Reichweite war. Als er sich im Saal umsah, bemerkte er mich in der ersten Reihe und lächelte mit einem kaum merklichen Nicken. Ich nickte zurück. Dann hörten wir den Lärm aus den Zellen. »Hören Sie auf, mich zu schubsen, Mann!« schrie ein Tenor mit kubanischem Akzent. Gleich darauf stolperte Ramón herein, mit rasselnden Ketten, und wäre fast auf dem Gesicht gelandet. Er richtete sich wieder auf, drehte sich um und stierte einen muskelbepackten Deputy an, der eben wieder zufassen wollte, als er die gerunzelte Stirn der Richterin sah. Deputy Smith kam herein und trat an seinem muskulösen Gehilfen vorbei neben Ramón. Dieser ließ seinen argwöhnischen Blick über den Saal gleiten. Es war das erstemal, daß ich ihn persönlich zu sehen bekam. Er war größer und massiver als auf den Fotos, die ich gesehen hatte; man hätte meinen können, er hatte sich die letzten Monate nur um seine Muskeln gekümmert. War José -71-
schwarz wie Onyx, so hatte Ramón die Farbe einer hellen Muskatnuß; in jedem anderen Land wäre er ein Mulatte gewesen. Schließlich richtete Ramón seine haselnußbraunen Augen auf mich, und sein kalter, analytischer Blick zerfiel in ein strahlendes kubanisches Lächeln, als er mich erkannte. Erst dann sah ich das Blutrinnsal, das ihm von einer geplatzten Lippe über das Kinn lief. »Was ist mit diesem Mann passiert, Deputy Smith?« fragte Chambers. Smith konnte ein Feixen nicht ganz unterdrücken. »Euer Ehren, Mr. Valdez geriet versehentlich an die Gittertür, als er aus der Zelle trat.« Ramón bedachte Smith mit einem verächtlichen Blick. »Ist das wahr, Mr. Valdez?« Keine Antwort. »Ob das wahr ist?« Noch immer keine Antwort. Die Richterin wandte sich an Burr. »Braucht der Mann einen Dolmetscher?« Burr schlug achselzuckend in der Akte nach. »Necesita intérprete?« fragte die Richterin. Ramón sah zu ihr hinauf und schüttelte den Kopf. »Nein, ich danke Ihnen, Madam Richterin. Ich komme zurecht.« Er mochte einen Akzent haben, aber er wußte sich auszudrücken. Blutstropfen landeten auf dem Tisch. »Was ist mit Ihnen passiert?« Schweigen. Ramón holte tief Atem und seufzte dann. Er wußte nur allzugut, daß der kleinste Sieg vor Gericht tausendmal heimgezahlt werden würde, wenn er wieder in -72-
der Zelle saß. »Ich bin gestolpert und habe mich gestoßen.« »Jemand soll dem Mann ein Kleenex geben. Sind Sie schwer verletzt?« Eine Bresche, in die sich springen ließ, und, wie ich später noch erfahren sollte, Ramón war nicht der Mann, der eine solche Gelegenheit ausließ. »Nur ein bißchen, Euer Ehren«, sagte er. »Aber ich bitte darum, daß man mir die Ketten abnimmt, Euer Ehren, so daß mir das nicht noch einmal passiert. Es ist schwierig, zu gehen und sich auf seine Verteidigung vorzubereiten, wenn man wie ein wildes Tier in Ketten ist.« Chambers nickte beifällig. »Da haben Sie wahrscheinlich recht. Deputy Smith, nehmen Sie ihm bitte die Fesseln ab.« »Euer Ehren«, sagte Smith, »es handelt sich hier um Sicherheitsvorkehrungen für das Gericht. Der Sheriff hat diese Männer als äußerst gefährlich eingestuft.« »Sagen Sie mir nicht, was ich zu tun habe, Deputy. Nehmen Sie die Ketten ab!« »Ja, Euer Ehren.« Smith holte seinen Schlüssel heraus, und Ramón sah sich mit einigen raschen Griffen befreit. Er streckte erleichtert die Arme. Schließlich reichte ihm der muskelbepackte Deputy ein Kleenex. »Ich danke Ihnen, Deputy«, sagte Valdez. »Laut Akte braucht er keinen Dolmetscher, Euer Ehren«, sagte Burr, der in seinen Papieren endlich die richtige Stelle gefunden hatte. »Vielen Dank für den Hinweis, Curtis. Dann können wir die Anklage verlesen. Ist die Staatsanwaltschaft soweit?« Dick Williams, der Staatsanwalt, stand auf und stützte -73-
seine Akte mit dem Stummel seiner linken Hand. Hochgewachsen, schlank und schwarz, weigerte sich der elegante Mr. Williams kategorisch, über seine Deformation zu sprechen, so daß den Leuten nichts anderes übrig blieb, als zu spekulieren: War die Verunstaltung angeboren oder ausnahmsweise mal der lange Arm des Gesetzes in den Wolf geraten. »Euer Ehren, ich vertrete hier den Kollegen, der in diesem Fall die Anklage führt. Das gilt nur für das heutige Anklageeröffnungsverfahren. Wie Sie wissen, werde ich nach Santa Monica versetzt, und meine Dienststelle hat sich noch nicht auf einen neuen Anklagevertreter einigen können.« »Sehr gut. Und die Verteidigung? Sind Sie bereit für das Verlesen der Anklage, Mr. Valdez?« Jetzt, wo er sich frei bewegen konnte, schlüpfte Ramón voll Selbstvertrauen in die Rolle des Anwalts. »Bereit.« »Nun, dann lassen Sie uns beginnen. Nein, einen Augenblick noch, wo ist Mr. Pimientas Rechtsbeistand?« »Hier, Euer Ehren!« Clay Smith kam im selben Augenblick in den Saal gerannt, die Nadelstreifen von Brioni verknittert von seinen außergerichtlichen Aktivitäten. Hiner ihm kam ein kleiner, schwarzgekleideter Asiate mit einer Videokamera auf der Schulter. Diesem wiederum folgte ein bauchiger Toningenieur mittleren Alters und ganz zum Schluß, fast wie ein nachträglicher Einfall, ein junger Lockenkopf - ein Reporter. »Ich habe einige Freunde mitgebracht«, sagte Clay, als er seinen Aktenkoffer auf dem Tisch der Anwälte absetzte. Das Reporterteam schlug sich auf eine Seite des Saals und setzte sich pflichtbewußt auf die leere Geschworenenbank. »Nicht so schnell«, sagte Chambers. »Haben Sie einen -74-
Antrag eingereicht?« Der Reporter warf einen Blick auf den Tonmann, der achselzuckend den kleinen asiatischen Kameramann ansah. Der rundliche Mann kramte mit einem beschwichtigenden Lächeln in seinen Taschen, bis er ein vielfach gefaltetes Papier zum Vorschein brachte. »Ja, Euer Ehren, hier ist er.« Er hielt das Papier der Richterin hin. »In Ordnung. Sie dürfen die Anklageverlesung aufzeichnen, aber stören Sie nicht die Verhandlung.« »Selbstverständlich nicht, Euer Ehren.« Der Kameramann schnappte sich sein Stativ, klappte die metallenen Beine aus und setzte seine Sony darauf. Das Dokument legte er auf einen Stuhl. Von meinem Platz aus sah ich, daß es sich bei dem Schrieb um die Speisekarte für den Straßenverkauf eines Seafood-Restaurants in Monterey Park handelte. Das Anklageeröffnungsverfahren dauerte nicht so lange, wie man vermutet hätte, wenn man bedenkt, daß man Ramón und José des Mordes in sechs Fällen bezichtigte, dazu sechsfacher Freiheitsberaubung, zweifachen Raubs und zwölf Vergehen gegen das Schußwaffengesetz. José hörte sich die Verhandlung gleichgültig an. Ramón dagegen war die Konzentration in Person. Er holte seine Nickelbrille heraus, um die getippten Seiten des Schriftsatzes mitzulesen. Er korrigierte die Schreibweise ihrer beiden Namen und verkündete schließlich: »Nicht schuldig!« Am Ende der Verlesung sagte Williams, so, als wäre es ihm eben erst eingefallen, die Staatsanwaltschaft würde die Todesstrafe beantragen, da die beiden Angeklagten ihre Morde während eines Raubüberfalls und damit unter erschwerenden Umständen begangen hätten. Clay konterte -75-
mit dem Hinweis, seine Kanzlei würde entsprechende Gegenanträge einreichen. Als Richterin Chambers Valdez fragte, ob er sich diesen anschließen wolle, sagte Ramón: »Wir schließen uns der Meinung der Staatsanwaltschaft insofern an, als es sich - angenommen ein solches Verbrechen hätte stattgefunden - in der Tat um erschwerende Umstände handeln würde. Aber da ein Gegenantrag der Preisgabe unserer Strategie gleichkäme, haben wir gegen eine solche Einstufung nichts einzuwenden.« Clay sah Valdez an, völlig verwirrt über das, was er da eben gehört hatte, dann warf er der Richterin einen Blick zu und hob in gespielter Entrüstung die Hände. Chambers entschloß sich, den Kommentar ebenfalls zu ignorieren, und setzte für das Vorverfahren einen Termin in drei Wochen fest. Ramón meldete sich wieder: »Euer Ehren, bevor wir uns vertagen, würde ich gern noch mündlich zur Kenntnis geben, daß ich am Tag des Vorverfahrens und der Festsetzung des Verhandlungstermins« - er warf einen Blick auf die handschriftliche Notiz auf seinem Block »Anträge auf Einstellung des Verfahrens, Akteneinsicht, Entgegenkommen, Paragraph 1538 Absatz 5, und andere einzureichen gedenke.« »Haben Sie schon eine Vorstellung davon, wie viele andere?« fragte Williams boshaft, »oder wollen Sie sich die erst beim Durchblättern des Strafgesetzbuches aussuchen?« »Mr. Williams, ich bitte Sie, sich nicht direkt an den Anwalt, Verzeihung, den Angeklagten zu wenden, solange er als Verteidiger auftritt, sondern an das Gericht«, mahnte Chambers. »Mr. Valdez wird Ihnen das zweifelsohne zehn Tage vorher schriftlich mitteilen. Sehe ich das richtig, Mr. Valdez?« »Selbstverständlich, Madam Richterin.« -76-
»Das wäre dann soweit alles.« Diesmal brauchte ich nicht zu warten, bis Ramón sich überlegt hatte, ob er mich empfangen wollte oder nicht. Als ich das Sprechzimmer im Bezirksgefängnis betrat, erwartete er mich bereits in einer der Glaskabinen. Er begrüßte mich mit einem herzlichen Lächeln, wenn auch mit einer gewissen Unsicherheit im Auftreten. Vorgebeugt, die Arme auf dem Tisch saß er da, ein Geschäftsmann, der mit einem Marketingexperten die Details einer Strategie besprach. Eine ganz alltägliche Sache, die nichts mit ihm persönlich zu tun hatte. »Wie konnten Sie das tun?« fragte ich ihn nicht weniger geschäftsmäßig. Sein Lächeln verschwand, aber statt der zornigen Antwort, die ich erwartet hatte, guckte er dumm aus der Wäsche - als stelle ihn meine Frage vor ein intellektuelles Problem, das er nicht zu fassen bekam. »Wie habe ich was getan?« antwortete er auf englisch. »Wie konnten Sie diese Leute erschießen?« »Oye, Mann, das war nicht ich.« »Wer dann?« Er lehnte sich in den Metallstuhl zurück und neigte den Kopf, um mich besser zu sehen. »Es war Pimienta. Ich war nur dabei.« Clay schmeckte diese Neuigkeit ganz und gar nicht. Er hob die gepflegten roten Brauen und knallte den Hörer auf den Apparat, daß die Kristallvase mit den schwarzen Tulpen hüpfte. Er hatte einen Platz für uns in einem Restaurant an der Flower Street reservieren wollen. Seiner Reaktion nach zu urteilen, war ich keine freie Mahlzeit -77-
mehr wert. »Seine neue Strategie, was. Nun, Sie können ihm ausrichten, daß er damit nicht durchkommt. Herrgott noch mal, der Typ hat sie doch nicht alle. Vielleicht sollten Sie ihn analysieren lassen. Ist Ihnen klar, daß ich eben dabei war, mich mit dem Staatsanwalt zu einigen?« Ich versuchte, weiter so zu tun, als interessiere mich das Ganze nicht. Daß man mir bei der Staatsanwaltschaft nicht sagen wollte, wer in diesem Fall die Anklage vertreten würde, war kein Grund sich aufzuregen. Die Aussicht auf Erfolg war schließlich einer der Gründe, warum man zu Leuten wie Manuel, Caesar, Brewer & Smith ging. »Wie sieht der Deal aus?« »Wenn sie sich für die Morde schuldig erklären, läßt man den Raub unter den Tisch fallen.« »Das bedeutet keine erschwerenden Tatbestände.« »Korrekt. Und keine Gaskammer. Mit ein bißchen Glück sind sie, sagen wir mal, in dreißig Jahren wieder draußen.« »Ein phantastischer Deal, Clay. Ich bin beeindruckt.« Trotz seiner Fertigkeiten im Verhandeln hätte Clay einen besseren Ankläger abgegeben - er hielt Humor für ein Zeichen von Schwäche. Er nahm meine Bemerkung nicht ernst. »Ich finde ihn selbst großartig. Ich dachte mir, auf Unzurechnungsfähigkeit zu plädieren, würde es nicht bringen, also habe ich sofort zugeschlagen, als die mir das anboten. Mein Bursche nimmt an, wenn der Ihre mitzieht.« Ich schüttelte den Kopf. »Was wollen Sie denn dann tun, Sie Schlauberger? Eine Sache ausfechten, bei der Sie nur in der Hölle landen können?« -78-
»Was macht Sie so sicher?« »Oh, hören Sie auf! Die könnten nicht schlimmer dran sein, wenn die Bullen die ganze Geschichte auf Video hätten. Ach übrigens, in der Beweismittelliste steht, daß die tatsächlich ein Band der ganzen Veranstaltung haben.« »Falsch«, sagte ich. »Das heißt ja, sie haben eins, aber es taugt nichts.« »Wie soll ich das verstehen? Juweliere sind doch angewiesen, rund um die Uhr aufzuzeichnen, was im Laden passiert.« »Ich habe das überprüft. Unsere Jungs hatten entweder Glück, oder sie waren ausgesprochen clever.« »Wie das?« »Zum einen hat die versteckte Kamera bei Schnitzer nicht funktioniert. Sie wollten sie schon seit einiger Zeit reparieren lassen, sind aber nie dazu gekommen. Und mit den beiden anderen ist irgendwas Komisches passiert.« »Was denn?« »Die Polizei ist sich nicht sicher, aber sie vermutet, daß während der Belagerung, als der Strom abgeschaltet war, einer der beiden nach hinten zu den Rekordern gegangen ist. Offensichtlich hat er alles zurückgespult. Als dann der Strom wieder anging, haben die Geräte automatisch wieder in der Aufnahmeposition losgelegt.« »Das heißt, daß alles verlorengegangen ist - überspielt?« »Genau. Unwiederbringlich.« »Tja, wie auch immer. Wir haben sechs Leichen, wir haben einen Zeugen, der sie hat reingehen sehen, wir haben ihr Waffenarsenal, einen Sack voll Schmuck und was weiß ich, einen weiteren Zeugen, der alles aus dem Hinterzimmer mit angehört hat. Nicht zu vergessen ihre Fingerabdrücke im ganzen Laden. Ich meine, es ist einfach -79-
unglaublich!« »Warten Sie mal. Wir wissen, daß sie bewaffnet rein sind, das stimmt. Aber, und das ist das ›aber‹, das zählt, wir wissen nicht, wer geschossen hat. Die Polizei hat in ihrer unendlichen Weisheit weder die Hände unserer Jungs auf Pulverspuren, noch die Waffen auf Fingerabdrücke untersucht.« »Das gibt's doch nicht!« »Besser noch, der Zeuge hinten hat nur irgendwas gehört, aber wie er im Bericht selber sagt, weiß er nicht, wer gesprochen hat und was gesprochen wurde.« »Stimmt. Und die Tasche mit den Klunkern? Ich nehme an, die können wir einfach vergessen - ich meine, wen interessiert eine solche Kleinigkeit schon.« »Wir wissen nicht, wieso jemand die Dinge in den Sack gesteckt hat. Ebensowenig, wie wir wissen, wie die Vitrinen zu Bruch gegangen sind. Wir wissen nur, was uns die beiden erzählen. Alle anderen sind tot. Wenn also Valdez behauptet, Pimienta war's gewesen, und Pimienta sagt Valdez, wer will sagen, was wirklich passiert ist?« »Nun, irgendeiner war's ja wohl, wir haben sechs Tote.« »Vielleicht war's gar keiner.« »Na toll, wer hat die Leute dann umgebracht - Gott? Der Zorn Gottes?« »Vielleicht.« »Also bitte! Gehen Sie wieder als Schnüffler, mein Guter, Sie waren zu lange weg vom Schuß.« »Womit Sie durchaus recht haben könnten.«
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5 Ich hatte das Haus schon hundert Mal gesehen jedesmal wenn ich den Sunset Crest von Beverly Hills nach Brentwood fuhr. In einem baumbestandenen Viertel voller Villen war dieses Anwesen das einzige, das sich in punkto Gräßlichkeit mit dem des arabischen Prinzen messen konnte, der sämtlichen Statuen auf seinem Grund und Boden Schamhaare hatte aufmalen lassen. Im Gegensatz zur Phantasie des Moslems, die durch ihre Lüsternheit schockierte, war es bei diesem ein aus dem Ruder geratener Realismus: Über das ganze Anwesen verteilt standen Dutzende von lebensgroßen Bronzeskulpturen, die Menschen diverser Berufsgruppen darstellten. Wäre da nicht die metallene Haut gewesen, man hätte sie für echt gehalten, so atemberaubend frisch realistisch waren sie. Zwischen den Azaleen stand ein Polizist aus schmutzigem Kupfer, der einen bronzenen Motorradfahrer aufschrieb; ein gelber japanischer Gärtner harkte die Waldreben, und von der Mauer aus spähten zwei eherne Kinder in den Garten. Ich kam mir selbst vor wie einer dieser Knülche, als das Tor sich öffnete und ich meinen staubigen 944 auf die kiesbestreute Zufahrt fuhr. Das ursprüngliche Haus war wahrscheinlich einer dieser Neo-Tudor-Kästen mit gotischem Einschlag gewesen, die sich die Leute aus dem Mittelwesten zu Tausenden hingestellt hatten, nachdem sie hier im Westen das große Geld gemacht hatten. Wie es aussah, hatte man es größtenteils abgerissen und auf die alten Fundamente einen langen, modernistischen Flachbau gestellt, Kanten und Glas, wo man hinsah, ein Kind von Neutra im Herrensattel auf Stanford White. -81-
Eine Menge exotischer Flora säumte den gepflasterten Weg, den mich der guatemaltekische Butler hinaufführte. Aus lauschigen Lauben und vereinzelten Lichtungen spitzten weitere Bronzen hervor, Leute bei Tätigkeiten, wie man sie vorwiegend im Wald betreibt - sie beobachteten Vögel, malten Landschaften und trieben es miteinander. Die Gattin lag mit nichts als der Andeutung eines Bikinislips auf einer Chaiselongue an der Sonnenseite eines formlosen Pools mit schwarzem Grund. Sie war groß und knochig und hatte den Vförmigen Rücken und die kräftigen Deltamuskeln einer Frau, die ihren Fitneßraum zum Tempel ihrer Schönheit macht. Die langen blonden Wellen schmiegten sich fügsam an ihre Schultern, als hätten sie Angst, die perfekt angelegte Symmetrie zu zerstören. So wie sie dalag, machte sie den Eindruck eines Jägers, der überlegt, was er noch schießen konnte. Ein breitschultriger, dunkelhaariger Mann stach vom Sprungbrett am anderen Ende des Pools, und für einen schwülfeuchten Tag wie diesen war der Hechter mehr als passabel. »Mr. Morell, señora«, sagte der Hausboy mit seiner Fistelstimme. Mrs. Schnitzer schlug die Augen auf und blickte mit einem Nicken in meine Richtung. »Gracias, Alberto.« Sie stand auf, schlüpfte in einen weißen Frotteemantel und schüttelte mir kräftig die Hand. »Danke für Ihr Kommen«, sagte sie im typisch knappen Ostküstenton. »Keine Ursache, Mrs. Schnitzer. Wenn ich Ihnen mein Beileid aussprechen darf.« Wir setzten uns an einen weißen, schmiedeeisernen Tisch mit vier passenden Stühlen, ein Set, wie man es sonst nur im Architectural Digest vor dem Hintergrund -82-
einer starken Brandung auf schwarzen Felsen sieht. Ein Alberto-Set, diskret und unbeachtet, auf dem Tisch eine Teekanne von Villeroy und Boch. Der Schwimmer mit dem breiten Rücken arbeitete sich rhythmisch an den Rand des Pools, machte eine Unterwasserwende und schwamm auf dem Rücken zurück. »Danke. Berry fehlt mir sehr. Alles, was ich habe, verdanke ich ihm.« Sie konzentrierte ihre blaugrauen Augen auf mich, um ihre Worte zu unterstreichen. Ich konnte nicht anders, ich mußte nach dem Schwimmer sehen. Sie lächelte. »Tee? Ein alter Indianertrick. Von heißem Tee wird einem an heißen Tagen viel schneller kühl als von was Kaltem. Ich kann Klimaanlagen nicht haben, sie verstopfen mir immer die Nebenhöhlen.« Ich schüttelte den Kopf. Während sie sich eine Tasse einschenkte, öffnete sich ihr Bademantel und ihre rechte Brust nebst braunem Nippel spitzte heraus. Sie setzte die Tasse ab und brachte den Mantel wieder in Ordnung. Sie lehnte sich im Stuhl zurück und schaute nach dem Schwimmer. Ihr Ton war eine Mischung aus Verachtung und Geringschätzung. »Delmer ist nur was fürs Bett, Mr. Morell. Er ist ein Freund der Familie, und er war schon immer scharf auf mich. Allein sein ist nicht so einfach. Wenigstens weiß ich genau, was Delmer will. Ich weiß so was zu schätzen. Man sollte immer wissen, was man will und damit nicht hinterm Berg halten. Selbst wenn man es zu verstecken versucht, die Leute merken es ja doch.« Delmer hatte das gegenüberliegende Ende des Pools erreicht, hielt an und winkte Mrs. Schnitzer zu. Sie winkte mit einem lauen Lächeln zurück. Mit einer einzigen raschen Bewegung hievte sich Delmer aus dem Pool, -83-
schlenderte auf einen Liegestuhl zu, nahm ein Handtuch und bummelte, sich den breiten, haarigen Rücken frottierend, davon. »Das kann ich verstehen, Mrs. Schnitzer. Offenheit hat ihren Charme, obwohl manche Leute es damit etwas übertreiben. Also, warum wollten Sie mich sprechen?« Sie wandte sich ab, ein überlegtes Ausweichmanöver. »Ich bin mit Clay Smiths' geschiedener Frau Darlene befreundet. Wie ich höre, vertreten Sie einen der Mörder meines Mannes.« »Aber nicht als Anwalt, ich bin nur sein Ermittler.« »Ja, das habe ich auch gehört. Nun, Mr. Morell, ich möchte gleich zur Sache kommen. Ich bin bereit, Ihnen hunderttausend Dollar zu zahlen, wenn Sie die Sache fallen lassen. Damit sollte es Ihnen möglich sein, ein eigenes Geschäft aufzumachen. Oder vielleicht wollen Sie zurück nach Miami.« In der Ferne hörte ich das Brummen eines Flugzeugs, das einzig fremde Geräusch in dieser lauschigen Laube des Hauses. »Es ist Ihnen doch klar, daß das illegal ist, was Sie da machen.« »Bitte, Mr. Morell, keine Spielchen. Die Sache ist ganz einfach. Ich will diese Männer sterben sehen. Es wäre mir lieber, wenn das legal über die Bühne ginge, aber wenn es nötig ist, werde ich auch zu anderen Mitteln greifen. Ich weiß, wenn Sie mit dem Fall nichts mehr zu tun haben, werden sich die beiden ihr eigenes Grab schaufeln.« »Was macht Sie so sicher, daß ich das verhindern könnte?« »Ich weiß, wozu Sie imstande sind, wenn Sie erst mal in Stimmung kommen. Deshalb mache ich Ihnen dieses -84-
Angebot um Sie in Stimmung zu bringen.« Sie legte eine Kunstpause ein, dann schenkte sie mir ihr spärliches Lächeln Nr. 5 nach der Strasberg-Methode. In dem Vierkaräter an ihrem Verlobungsring brach sich das Sonnenlicht. »Ich könnte mich dazu überreden lassen, noch etwas in Naturalien draufzulegen.« Ich schüttelte den Kopf, zugleich geschmeichelt und amüsiert. Bei meinen Erfolgen im Vertuschen meiner Vergangenheit hätte ich ebensogut in der Cosby-Show werben können. »Vielen Dank, Mrs. Schnitzer, aber ich scheiße mir grundsätzlich nicht ins eigene Nest.« Gelassen nippte sie an ihrem Tee. »Und was ist mit den Naturalien?« »Es würde mich wirklich interessieren. Warum bieten Sie mir soviel Geld, um einen Kerl zu kriegen, der Ihnen die Freiheit geschenkt hat?« Sie setzte die Tasse ab, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und holte dann tief Luft. »Sie scheinen mir nicht zu glauben. Ich habe Barry geliebt, wirklich geliebt. Das hört sich vielleicht sentimental an, aber er hat mich vor mir selbst gerettet. Die Fakten sehen folgendermaßen aus: Ich war Börsenmaklerin und wurde nach dem Crash achtundachtzig gefeuert, deswegen und wegen meines Kokainproblems. Das mich fünfhundert Dollar am Tag kostete. Nachdem ich meinen Job los war, wurde ich Hostess - Sie kennen die Sorte Edelnutte -, und das nur, um mein Problem zu finanzieren. Barrys Frau war gerade gestorben, und eines Abends brauchte er eine Begleiterin für die Oper. Er war unglaublich naiv, was diese Dinge anbelangt, also schlug er im Telefonbuch nach und rief in der Firma an. Ich war der Glückspilz, den man zu ihm schickte. Er verknallte sich in mich, ich erzählte ihm von -85-
meinem Problem, er schickte mich in die Betty-FordKlinik. Und schließlich bat er mich, seine Frau zu werden. Er hat mich nicht ein einziges Mal angerührt vor unserer Hochzeitsnacht. Er hat mich immer wie eine Dame behandelt, ja, wie eine Göttliche. Und dann knallt ihn einer ab wie einen Hund. Soviel zu den Fakten. Jetzt kann ich ihm meine Dankbarkeit nicht mehr zeigen. Ich habe es versucht, indem ich mich um unsere Anlagen gekümmert habe. Ich habe dafür gesorgt, daß das, was er geschaffen hat, auch mich noch lange überleben wird. Aber das genügt mir nicht. Ich will Rache, Mr. Morell. So einfach ist das. Ich möchte dafür sorgen, daß diese Schweine, die Barry umgebracht haben, auch kriegen, was sie verdienen.« Ich stand auf, durchaus mit Bedauern. »Sie werden sich einen anderen suchen müssen, Mrs. Schnitzer. Ich weiß nicht, ob ich an diesem Fall dranbleibe, aber falls ich es nicht tue, dann sicher nicht wegen Ihres Geldes, obwohl das Ganze sehr verlockend klingt. Glauben Sie's oder nicht, ich versuche immer zu tun, was ich für richtig halte. Ich bin keine Hure, egal für welchen Preis.« Meine Absage regte sie nicht im geringsten auf. Sie goß sich Tee nach und zündete sich mit einem massiv goldenen Feuerzeug von Cartier eine Zigarette an. »Mancher hat keine Wahl, Mr. Morell. Ich wünsche Ihnen nicht, daß Sie je in diese Lage kommen. Danke, daß Sie mir zugehört haben.« »Und ich danke Ihnen für die Show. Ich verspreche Ihnen, Clay eine begeisterte Kritik zu liefern. Vier Sterne, die heißeste Attraktion des Sommers. Viel nacktes Fleisch, moralische Zweideutigkeiten. Prädikat wertvoll - für Schwachköpfe.« Worauf ihr endlich der Kragen platzte. »Leck mich am -86-
Arsch! Verschwinde!« »Und ein ungewaschenes Mundwerk. Bin schon unterwegs.« Ich hätte sie gleich sehen sollen, aber meine Aufmerksamkeit hatte unter meinem Besuch bei den Schnitzers gelitten; meine Gedanken sprangen von einem zum nächsten, ganz in der meditativen Trance, die Angelenos entwickeln, um mit den vielen Kilometern fertig zu werden, die sie täglich zurückzulegen haben. Ich kutschierte die Benedict Canyon Road hinauf, die kurvenreiche, zweispurige Straße, die hinter der rosaroten Pracht des Beverly Hills Hotels beginnt und dann einige tausend Fuß über die Hügelkette klettert, um schließlich im San Fernando Valley zu landen. Ich möchte nicht sagen, daß ich mich einen Idioten schimpfte, die Hunderttausend ausgeschlagen zu haben, aber ich gratulierte mir auch nicht gerade. Es ist nicht einfach, ehrlich zu bleiben in einer Stadt, in der sich alles darum reißt, gekauft zu werden. Immerhin ist Los Angeles die Stadt der Deals. Tu mir einen Gefallen, und ich werde dir das nicht vergessen, wasch mir die Hand, und ich wasche dir irgendwann mal die deine. Clay war bereit zu einem Deal, die Staatsanwaltschaft war einverstanden; wahrscheinlich würde sich sogar Ramón selbst auf einen Deal einlassen, wenn er könnte. Aber ich hatte das alles so über, Deals, Angebote, Anteile, Offerten. Ich hatte es satt, diese Welt nur noch als einziges großes Warentermingeschäft zu sehen. Mir war nach etwas Soliderem, etwas, was mehr wert war als Geld, etwas, was über das Greifbare hinausging, ein Stückchen Ewigkeit. Und in genau diesem Augenblick stupste mich die Stoßstange des Continental an, und das derart, daß mein Porsche um ein Haar über die Klippe wäre. -87-
Meine Vorderreifen ließen schon den Kies auf dem Bankett springen, während die hinteren über den rissigen Asphalt schlitterten. Ich bremste und riß das Steuer herum, um vom Abgrund wegzukommen. Dreihundert Meter unter mir in der Schlucht sah ich das erdbebensichere Dach eines rustikalen Millionärsdomizils. Das schwarze Ungetüm in meinem Rückspiegel kam bereits wieder auf mich zu, drauf und dran, mich über die Kante zu schieben. Durch die getönte Scheibe des Lincoln sah ich zwei Schwarze in weißen T-Shirts und den blauen Kopftüchern der Grips. Einer der beiden hob mir die Hand mit erhobenem Zeige- und kleinem Finger entgegen, das Zeichen des Teufels. Warum, zum Geier, wollen die Kerle mir ans Leder? dachte ich. Ich schaltete in den zweiten Gang, beschleunigte aus der Kurve und dankte dabei Dr. Porsche für sein Kind. Der Lincoln erwischte mich in dem Augenblick, in dem ich in die Gerade schoß. Die Wucht des Aufpralls stieß mich schleudernd auf die Straßenmitte. Fast hätte ich die Kontrolle über den Wagen verloren. Ich bekam ihn gerade noch auf meine Spur, bevor der Laster einer Großbäckerei mich erwischte. Ich wäre zu gern aufs Gas getreten, aber die Haarnadelkurven zwangen mich, langsam zu fahren. Der Lincoln gewann wieder an Boden. Ich kam mir vor wie in einer zweitklassigen Fernsehserie. Mir kam der absurde Gedanke, daß in Los Angeles auch die Killer zuviel fernsehen. Aber im Augenblick war nicht dran zu denken, ihnen einfach davonzufahren. Ich sah meine Chance am Aussichtspunkt, einem drei Wagen breiten Asphaltstreifen mit einem niederen Geländer am Rand. Ich raste auf den Platz, der Lincoln dicht hinter mir. Dann bremste ich und hielt an. Da der hinter mir dachte, ich wollte zu Fuß abhauen, trat er drauf, um mich endlich über den Rand zu stoßen. Im Rückspiegel behielt ich den -88-
Lincoln im Auge, der wie ein schwarzer Panzer auf mich zugeschossen kam; dann, auf den letzten Drücker, als ob mir eine Nanosekunde des Zauderns ungewollt Flügel beschert hätte, trat ich aufs Gas und riß das Steuer dabei so weit nach links, wie es nur ging. Wie ein gut abgerichteter Hengst sprang mein 944 aus der engen Ecke. Der weitaus schwerfälligere Lincoln versuchte anzuhalten und Kies und Staub spuckend die Richtung zu ändern. Leider hatten meine Verfolger jedoch zuviel Tempo drauf, der Wagen geriet ins Schleudern, das Heck knallte auf das Geländer und brach durch. Der Wagen schwankte über dem Abgrund, die Hinterreifen drehten im Leeren. Die Fahrertür sprang auf, aber das nahm dem Lincoln nur die kostbare Balance; noch bevor die Insassen aussteigen konnten, bekam das Fahrzeug das Übergewicht und kippte. Auf seinem rasenden Weg nach unten schlug es mehrmals gegen die Klippe. Schließlich ging das ganze in einem Feuerball auf. Ich fuhr an den Randstein, stieg aus und würgte mein Frühstück hervor. Der ermittelnde Beamte, ein fast kahlköpfiger Sergeant mit einer Wamme, hieß Porras und meinte, es würde ein paar Tage dauern, bevor das Wrack durchgesehen war und man wüßte, wem die verkohlten und verstümmelten Leichen gehörten. Nachdem ich ihm versichert hatte, daß ich nicht die geringste Ahnung hätte, schickte er mich nach Hause. Das Schlimmste daran war, daß ich nicht einmal log. Ich hatte wirklich keinen Schimmer. Keiner meiner Fälle war so schlimm ausgegangen, daß einer meiner Kunden mich lieber.tot sehen würde, und was den Fall Valdez anbelangte, so gab es noch keinen Grund, mir ans Leder zu wollen - das kam vielleicht noch. Ich hätte mich darum kümmern, die Sache unter die Lupe nehmen sollen, aber ich ließ es gut sein. Sinnlose Gewalt, das -89-
Leben im Städtchen. Eine Woche nach meinem »Unfall« besuchte ich Ramón. Aus irgendeinem Grund fühlte er sich gezwungen, den tártaro zu spielen, den kubanischen Lebemann, den Partylöwen, der Stürmen, Tod und Teufel mit Schmäh und Witzen trotzte. »Qué pasa, Bruder?« waren seine ersten Worte, kaum daß ich mich auf den Klappstuhl in der Glaskabine gesetzt hatte. »Wie ich gehört habe, hatten Sie vor ein paar Tagen Probleme mit dem Wagen.« »Gute Nachrichten sprechen sich schnell herum. Woher wissen Sie das?« Er schien versucht, seine Quelle für sich zu behalten, aber dann drehte er in seinem tropischen Überschwang die Hände, als hätte er Kugellager in den Gelenken. »Von einem kleinen Vögelchen. Einem Galgenvogel, verstehen Sie?« »Ein schlechter Witz.« »Pimienta, mein bester Freund. Sein Anwalt hat's ihm gesagt.« »Sie reden noch miteinander?« Sein Lächeln war so breit, daß seine Zähne wie Hauer wirkten. »Aber klar doch, Mann. Wir sind wie Brüder.« »Wenn das so ist, warum wollen Sie ihm das dann anhängen?« »Ich liebe ihn, aber das heißt noch lange nicht, daß ich für ihn sterben werde. Er versteht das.« Ich schüttelte den Kopf über so viel brüderliche Zuneigung und holte meinen Notizblock heraus. »Ganz wie Sie wollen. Aber lassen Sie mich Ihnen eines -90-
sagen, der Anwalt Ihres Bruders ist nicht begeistert davon, daß Sie Ihren hermano beschuldigen. Offen gesagt, ich weiß selbst nicht, wie Sie das deichseln wollen, aber da ich nicht Ihr Anwalt bin, kann mir das schließlich scheißegal sein. Sie wollten mich haben, also spiele ich Ihren Detektiv. Aber das ist auch alles, no más, entiendes? Ich werde Ihnen weder sagen, wie Sie Ihren Fall anpacken sollen, noch beantworte ich irgendwelche rechtlichen Fragen. Und wenn Sie nicht wissen, was Sie tun, mir soll's recht sein. Nehmen Sie sich einen Anwalt. Ich habe keine Ahnung vom Gesetz, und falls ich mal eine gehabt haben sollte, so habe ich alles vergessen, glauben Sie mir. Also dann, wie war's, wenn Sie mir nun endlich sagen, wer Ihre Zeugen sind und wo ich meine Nase reinstecken soll.« Im nachhinein denke ich, daß ich etwas zu dick aufgetragen habe. Aber mein Ausbruch schien Ramón nicht weiter zu stören. Er lehnte sich so weit zurück, daß der Stuhl auf den Hinterbeinen zu stehen kam, dann verschränkte er die Arme hinter dem Kopf und starrte gegen die grüne Ölfarbe an der Decke. »Spitze, Bruder. Ich verstehe Sie. Wenn Sie Spielraum brauchen, um sich wieder in den Griff zu kriegen und über die Konsequenzen klarzuwerden, das geht in Ordnung. Also, ich will, daß Sie Kontakt zu einigen Leuten aufnehmen, die ich für meine Glaubwürdigkeit brauche.« »Haben Sie vor, einen Antrag auf Akteneinsicht zu stellen?« Er sah mich boshaft an und zog eine Augenbraue hoch. »Sie sagten doch, keine rechtlichen Fragen.« »Ich muß das wissen, um zu sehen, ob ich auch sämtliche Informationen habe, die ich brauche.« Der Laden, in den Ramón mich schickte, lag in einem der -91-
verwahrlosesten Abschnitte der Temple Street, zwei Meilen westlich des Justizpalastes. BOTÁNICA DEL SABIO INDIO hieß es auf einem Schild mit dem Bild eines Cherokee in vollem Federschmuck. Eine Kreuzung weiter kamen einige sorgfältig vergammelte Undercoverpolizisten aus der Rampart-Wache, einem Flachbau aus den fünfziger Jahren, dem einzigen Gebäude, das keine Graffiti zierten. Die All-American Dance Hall auf der anderen Seite, ein Salsa-Club, dessen Kundschaft zur einen Hälfte aus Drogenfahndern, zur anderen aus armseligen Kleindealern bestand, hatte noch nicht geöffnet. Sie machten erst bei Sonnenuntergang auf, zur gleichen Zeit wie die Nobeldisco nach der nächsten Kreuzung. Das Baby Boîte gehörte einer ehemaligen Kleindarstellerin in B-Produktionen und lag nur deshalb in dieser Gegend, weil sie eine gewisse Kundschaft garantierte: die übersättigten Snobs von der Westside mit ihrer Sehnsucht nach Dreck - Leute, die glauben, es gebe kein Leben östlich vom Crenshaw Boulevard. Nachts patrouillierten drei bewaffnete Wachleute auf dem kleinen Parkplatz des Clubs mit den weißen Gittern; sie beschützten die Ferraris, Daimler und Rolls-Royces vor den neugierigen Bewohnern des barrio, denen eine Radkappe einer dieser Nobelkarossen genügte, um die Familie über den Monat zu bringen. Wie eine alte Hure war diese Gegend weit akzeptabler unter dem Mantel der Nacht. Die Straßenlampen ließen die überquellenden Mülltonnen, die leeren Flaschen billigsten Fusels und die gelegentliche blutige Spritze im gnädigen Dunkel. Tagsüber waren weder die ausgebrannten Gebäude zu übersehen, noch die verrußten Fenster der guatemaltekischen Bäckerei in dem winzigen Einkaufszentrum. Ich kehrte dem allem den Rücken und trat in den Laden. -92-
In diesem wimmelte es vor Statuen. Sie standen auf Regalen, überschwemmten die Theken, standen grüppchenweise auf dem Boden und in Stellagen neben der Tür. Sie drückten sich aneinander wie Pilger auf dem Weg nach Santiago. Auf dem Boden stapelten sich Gebetbücher, die einem den Kontakt mit diesen Mächten ermöglichten, die Gebete an die Sieben Mächte, an die Heilige Frau von den Wassern, an den heiligen Petrus, den Mann mit den Schlüsseln zum Himmel. Daneben gab es Zaubersäfte in Spraydosen, die einem Segen, Geld, Liebe und Erfolg brachten, die ewigen Sehnsüchte der Menschheit; man brauchte sie nur im Augenblick der Not versprühen - Erfolg garantiert. Hinter Glastüren und bis an die Decke stapelten sich Balsam, Salben und Öle, die einem den fremdgehenden Partner zurückbrachten, den bösen Blick fernhielten, die Karten sprechen, Asse, Könige und Damen auf Kommandos auftauchen ließen und dem leidenden Haupt den allmächtigen Segen der Heiligen Dreifaltigkeit brachten. Und schließlich gab es, für die wahren Wissenden, Glastöpfe mit den Ingredienzen für geheime Heilmittel und Beschwörungszeremonien: Sarsaparillwurzeln, Basilikum, frisch und getrocknet, Kamille, Alraune, Keime, Rinden, muffige Wurzeln und Körner. Alles versprach nur eines: den Weg aus dem übervölkerten Slum, in dem die »Pflanzenhandlung für den Weisen Indianer« tagtäglich, außer sonntags von zwölf bis acht, öffnete. Der bärtige junge Mann hinter dem Ladentisch schlürfte eine Tasse asiatischer Nudeln und guckte dabei auf einem Panasonic mit siebziger Bildröhre die »HunderttausendDollar-Pyramide«. Zuerst ignorierte er mich, warf dann jedoch einen finsteren Blick in meine Richtung, als ich mit den Fingern in einem mit Zigarillos gespickten Haufen aus Pennies zu stochern begann, der sich vor der Figur eines -93-
Bettlers auf Krücken angesammelt hatte, dem einige Hunde die Wunden leckten. »Was kann ich für Sie tun?« sagte er im platten Spanisch der Kubaner. »Ich suche Juan Alfonso.« Statt mir zu antworten, wandte er sich wieder dem Programm zu. Dick Clark zog einem bereits ausgeschiedenen Kandidaten das Wort aus der Nase, das ihm zehntausend Dollar oder einen Urlaub in Acapulco eingebracht hätte. »Wissen Sie, wo ich ihn finden kann?« Er hob nicht mal die Augen von der Mattscheibe. »Er ist weg; ein besseres Leben aufbauen.« »Tun wir das nicht alle?« »Nein, er macht es wirklich, chico.« »Gut. Ich hoffe, er profitiert davon. Kann ich seine Gebete unterbrechen und ihn trotzdem sprechen?« Der junge Mann wandte sich wieder mir zu und sprach durch einen Mundvoll Nudeln. »Er ist wirklich dort. Am Gemeindezentrum. Es nennt sich Ein Besseres Leben. Es ist an der Ecke Mariposa und Rayo.« »Er ist auch Bauarbeiter?« »Der Laden hier ist nur für die Heiligen, nicht für den Mammon. Wir haben unsere eigene Baufirma.« Er sah sich um, holte eine Geschäftskarte aus einem Schub und reichte sie mir. »Indio Construction Company.« »Wir?« »Er ist mein Vater.« Der hellhäutige, blauäugige, große Mann, der die -94-
Baukolonne befehligte, sah ganz und gar nicht wie ein Indianer aus. Die einzigen amerikanischen Ureinwohner auf der Baustelle waren die drahtigen Salvadorianer und Guatemalteken, die mit Farbeimern, Leitern, Trögen und Gipssäcken herumhasteten. Aber Juan Alfonso, der Mann, zu dem Ramón mich auf der Suche nach einem Leumundszeugen geschickt hatte, war ein Spanier von Kopf bis Fuß. »Der Indio ist mein Kopf«, sagte er. »Wie bitte?« Er schrie einen Arbeiter an, der den richtigen Gelbton eines Türrahmens nicht hinbekam, dann wandte er sich wieder mir zu. »Mein Kopf. Sie wissen schon, mein spiritueller Führer. Während der Sitzungen spricht er durch mich.« Er ließ mich stehen, um einen anderen Arbeiter anzuschreien, der mit einem leeren Preßlufttacker durch die Gegend lief. Ich stand auf der Baustelle, sah mir den Himmel an, die Türrahmen, das schiefe Betonfundament und fragte mich, wie jemand auf den Gedanken kommen konnte, daß die Arbeit eines Ermittlers etwas Glamouröses hatte. Ich sinnierte eben über die Schattenseite meines Daseins als Lebensretter, als Juan Alfonso zurückkam. »Hat mein Sohn Sie geschickt? Dieser Mistkerl soll im Gefängnis verrotten. Sagen Sie ihm, ich habe es satt, ihn aus einem Schlamassel nach dem anderen zu holen. Von mir aus soll er sein Leben ruhig wegwerfen.« »Ihr Sohn?« »Hören Sie auf, spielen wir hier Rätselraten, oder hören Sie schlecht? Hat Roberto Sie nicht geschickt, damit ich ihn wieder mal wo'rauspauke? Ich habe ihm gesagt, er soll aufhören, Crack zu rauchen, es wird ihn noch umbringen. Lassen Sie ihn ruhig eine Weile brummen. Glaubt der -95-
denn, wir sind in dieses Land gekommen, damit er ein Tunichtgut wird, ein drogensüchtiger Schürzenjäger? Ich helfe ihm da nicht raus, das können Sie ihm sagen, und damit hat es sich!« »Tut mir leid, aber ich komme wegen Ramón Valdez.« Juan Alfonso schlug eine andere Gangart ein, wenn auch kaum merklich. »Coño, noch so ein Mistkerl. Wissen Sie, für einen Mann mit Ihrem Lächeln bringen Sie ziemlich schlechte Nachrichten. Was will er denn?« »Er will wissen, ob Sie bei seinem Prozeß für ihn aussagen wollen.« »Sind Sie verrückt? Wissen Sie, was er getan hat?« »Nein.« »Hören Sie, ich würde den ganzen Tag brauchen, um Ihnen das zu erzählen, aber ich habe wirklich zu tun hier.« Er schrieb eine Adresse auf seine Geschäftskarte. »Kommen Sie heute abend zu mir, dann können wir uns unterhalten. Ich werde Ihnen etwas über den Mistkerl erzählen. Ich hoffe, ein böser Blitz reißt ihn in Stücke.« Er reichte mir die Karte. »Sind Sie sein Anwalt?« »Sein Ermittler.« »Gut. Zu ermitteln gibt es bei dem nicht zu knapp.« Er schwieg und sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Sagen Sie mir noch eines, stimmt es wirklich, daß Frauen auf Detektive fliegen?« »Nur wenn sie glauben, daß sie was über sie wissen. Aber dann sollten sie die Finger von ihnen lassen, das gibt nur Ärger.« »Über Ärger brauchen Sie mir nichts zu erzählen. Wie, glauben Sie, daß ich zu zehn Kindern gekommen bin? -96-
Lassen Sie mich Ihnen eines sagen, nichts als Kopfschmerzen. Den ganzen Tag geht es, papá dies, papá das, ich brauche Geld für ein neues Auto, papi, ein neues Haus, hol mich aus dem Gefänngis, viejo. Und dann noch nicht mal ein Dankeschön.« Die zweite Person, auf die Ramón mich angesetzt hatte, war schwerer zu finden als ein smogloser Tag im August. Lucinda Luz, eine Verwandte, bei der er nach seiner Ankunft in Los Angeles abgestiegen war, arbeitete nicht mehr bei dem Schneider an der Alvarado. Die Geschäftsführerin des Ladens, eine alte Frau mit kantigem Gesicht und einer haarigen Warze auf der Stirn, versprach, meine Nachricht weiterzugeben, hatte jedoch keine große Hoffnung, sie in absehbarer Zeit wieder zu sehen. Nach allem, was ich verstand, hatte sich Lucinda Luz für Ramón und Pimienta verbürgt, nachdem sie in Atlanta entlassen worden waren. Aber nach ihrer Adresse zu urteilen, einer überbelegten und lauten Mietskaserne mit einem großen Innenhof voll halbnackter Kinder und frischer Wäsche, dürfte den beiden in ihrer Wohnung die Decke genauso schnell auf den Kopf gefallen sein wie in ihren Zellen. Sie war nicht zu Hause, und so schob ich ihr meine Karte unter der Tür durch und ging dann zu Enzo zum Essen. Mein Vermieter war der Eigentümer von Baldocchi's, einer Art Wahrzeichen von Los Feliz, ein Italiener mit singendem Kellner, nach Orégano duftender Pasta und strohumflochtenen Flaschen an einem von verstaubtem Plastikefeu umrankten Spalier. Enzo war ganz aus dem Häuschen, mich zu sehen. »Hallo, Charlie, setz dich. Bin gleich bei dir.« Ich kam seiner Aufforderung nach und setzte mich vor das Wandgemälde eines typisch italienischen Fischerdorfs -97-
mit bunten Booten, erdfarbenen Häusern und einer harmonischen Hügelkette im Hintergrund. Enzo setzte sich mit einem Glas Frascati zu mir. »Probleme, Charlie?« sagte er auf toskanisch, das er auf dem Knie seiner nonna gelernt hatte. »Immer dasselbe. Wie geht's denn so?« Meine Frage öffnete dem Italiener Tür und Tor, sich seinem Lieblingsthema zu widmen - sich selbst. Enzo marschierte begeistert hindurch. »Das Geschäft geht großartig, ich kann mich nicht beklagen, aber diese Angestellten, dio santo, wegen denen kriege ich noch einen Herzanfall! Du kennst die Leute ja…« Er deutete mit einem Nicken auf den mexikanischen Hilfskellner, der das Geschirr abräumte. »Sie haben nicht das geringste Interesse für ihre Arbeit, sie wollen einfach nichts ordentlich machen. Sie wollen es hinter sich bringen, e via, ab nach Hause. Da, schon wieder - schau dir Sergio an.« Wir beobachteten den Oberkellner, einen hohlwangigen Burschen mit Strichbärtchen und einem goldenen Ring im linken Ohr, der um zwei Studentinnen mit blonden Dauerwellen herumhuschte. »Er sollte sich ums Geschäft kümmern, nicht um die Mädchen. Ständig bringt er Reservierungen durcheinander, vergißt die Platzarrangements, es ist zum Haare raufen. Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich tun soll.« »Warum schaffst du dir nicht ein paar Italiener an?« Enzo sah mich unwillig an. »Soll das ein Witz sein? Die hätte ich keine Woche, und schon hätte ein Luxusladen von der Westside sie mir weggeschnappt.« -98-
»Soll das heißen, daß außer den Mexikanern keiner hier arbeiten will?« »Hör mal, ich habe keine Vorurteile. Salvadorianer, Guatemalteken, Honduraner, ist mir ganz egal, wo sie herkommen, solange sie ihre Arbeit machen. Vielleicht kennst du jemanden?« »Wenn ich was höre, geb' ich dir Bescheid.« Juan Alfonsos Haus in den Hügeln um den Silverlake war ein Bau aus der Zeit der Jahrhundertwende; zwei Pfeiler aus Flußsteinen an der Veranda stützten ein durchhängendes Dach. Durch das Türchen seines Vorgartens trat man in ein Meer von Lilien, Waldreben, Ringelblumen, Klatschmohn, Gladiolen und Glockenblumen, die in sorgsam geplanter Wildheit das ganze Häuschen umwogten. Ich parkte einen halben Block davor unter einem nach Limonen duftenden Magnolienbaum, dessen weiße Blüten auf dem Asphalt lagen. Das letzte Stückchen legte ich zu Fuß zurück. Eine alte Frau mit langen grauen Locken schaute finster aus dem heruntergekommenen Nachbarhaus, kaum daß ich Juan Alfonsos Gartentor öffnete, dann knallte sie die Fensterläden zu. Von einem Balkon ganz in der Nähe schrie ein Käuzchen. Die Haustür stand offen, also ging ich hinein. Im Wohnzimmer saßen zwei Paare auf dem geblümten Plastikbezug eines Sofas und guckten Jeopardy auf einem Projektionsfernseher mit 100er Bild. Auf einer Couch lümmelte sich Juan Alfonsos Sohn, immer noch am Essen; diesmal war es eine Schüssel gebrannter Mandeln, die er fest in den Schoß eingeklemmt hielt. Eines der Paare hatte den gelben Teint und die niedere Stirn der Nicaraguaner. Sie waren beide ganz in Weiß, die Frau in einem -99-
enganliegenden Kleid, das ihre vollen Brüste betonte; er in einem leichten Spenzer, eine Zigarre im Mund. Die anderen beiden waren Mulatten, sie hatten die breite Nase, die niedere Stirn und die kleinen Augen der Schwarzen aus der Karibik. Sie war unauffällig gekleidet und massierte dem Mann die Schultern. Als ich eintrat, hoben alle den Kopf und beäugten mich neugierig, aber nicht unfreundlich. In diesem Augenblick hörte ich jemanden lachen, dann kam Juan Alfonso aus der Küche im hinteren Teil des Raums, eine Dose Sprite in der Hand. Neben ihm eine junge Frau, kaum mehr als ein Mädchen, mit zimtfarbener Haut, hohen Wangenknochen, großen, haselnußbraunen Augen und welligem, dunklem Haar mit sonnengebleichten Strähnen, das ihr bis auf die Schultern fiel. Sie trug ein grüngelb geschecktes Kleid, die Farben eines herbstlichen Blattes. Sie war groß und schlank und lächelte, als würde sie mich kennen; aus ihren Augen blitzte neben Unschuld auch Schalk. Juan Alfonso schüttelte mir die Hand. »Chico, coño, wird aber auch Zeit, daß Sie kommen. Wir wollten schon ohne Sie anfangen.« »Was haben Sie denn vor?« »Ich dachte, das hätte ich Ihnen gesagt. Wir wollen uns mit den Göttern unterhalten.« »Doch keine bembé?« »Das ist ein Wort, das von euch Weißen stammt. Wir, die Eingeweihten, die Farbigen - ich mag eine weiße Haut haben, aber meine Seele ist so schwarz wie die eines flüchtigen Sklaven -, wir nennen es eine Unterhaltung, einen Besuch, wenn Sie wollen. Man hat Fragen, sie haben Antworten. Aber lassen Sie mich Ihnen erst mal jemanden vorstellen, den Sie sicher gern kennenlernen möchten.« -100-
Er wandte sich mit einem zufriedenen Lächeln an das Mädchen. »Lucinda, das ist der Mann, der dich sprechen wollte, Charlie Morell.« Sie bot mir ihre Hand. Sie war weich und duftete nach Jasmin. Zum erstenmal seit Jahren tat mein Herz einen Sprung. Paß bloß auf, mein Junge, dachte ich mir. »Haben Sie meine Karte gefunden?« Kaum war es heraus, merkte ich, wie dumm die Frage war, aber sie spielte mit, ein Schulmädchen, das den Klassentrottel veralbert. »Welche Karte?« »Sie hätten mich anrufen sollen. Ich möchte Ihnen einige Fragen stellen. Wann wäre es Ihnen recht?« »Warum nicht gleich?« Sie sah Juan Alfonso an, als suche sie Rat. Er zuckte die Achseln und ließ uns stehen. »Denk daran, daß Albertico jeden Augenblick kommt«, sagte er gleichgültig. Er ging hinüber und nahm ein Blumenarrangement vom Wohnzimmertisch, das er auf einer knarrenden Treppe in den Keller trug. Lucinda packte mich bei der Hand und lavierte mich auf ein Zweiersofa in der hinteren Ecke des Raums, wo der Lärm des Fernsehers nicht gar so schmerzhaft war. Sie kuschelte sich neben mich. Sie hatte eine schöne Haut und kräftige Knochen ein dunkelhäutiges, parfümiertes Püppchen, das sich auf spielerische Weise verschwörerisch gab. »Wer ist Albertico?« fragte ich, als ich ihre schlanke Hand in der meinen drückte. Ich verspürte den Zwang des Spielers vor dem Himmel aus grünem Filz - ein einziger glücklicher Wurf, lieber Gott, mehr brauche ich nicht. -101-
»Oh, er ist die Trommel. Juan Alfonso fängt nicht gern ohne den Wirbel für Yemayá, Unsere Liebe Frau, an. Er kommt immer zu spät.« Aus der Nähe sah ich, daß es ihre Haltung, ihr graziler Körper war, was sie so jung aussehen ließ; die feinen Fältchen um ihre Augen jedoch rückten sie eher an die Dreißig als an die Zwanzig. Ihr Parfüm traf mich mit der Wucht einer Welle; ich kam mir vor wie ein Verliebter. »Was wollten Sie mich fragen? Fragen Sie mich, was Sie wollen.« »Nicht so hastig, vielleicht gefällt es Ihnen ja gar nicht. Es geht um Ramón Valdez und José Pimienta.« Sie rümpfte die Nase, als hätte sie Unrat gerochen. »Um die beiden? Da kann ich Ihnen nur eines sagen. Mit denen hatte ich nichts als Ärger, seit ich für sie gebürgt habe. Ich hätte sie in Atlanta lassen sollen.« »Inwiefern Ärger?« Sie schwieg, zog ihre Hand zurück. »Was wollen Sie denn tun für die beiden? Sie sind doch nicht von der Polizei, oder?« »Das Gericht hat mich zu ihrem Ermittler bestellt. Ramón hat gesagt, ich soll zu Ihnen gehen. Er dachte, Sie und Juan Alfonso könnten beim Prozeß für ihn aussagen. Über seinen Charakter.« Was ihren Argwohn etwas zerstreute; dafür flackerten eine Vielzahl von Emotionen über ihr schlankes Gesicht. »Welchen Charakter denn?« Sie hielt inne. »Was in dem Laden passiert ist, ist einfach unglaublich. Diese armen Leute. Und das kleine Mädchen. Es ist zu traurig. Wissen Sie, es kommt alles nur von den Rocks.« »Welchen Rocks?« -102-
»Sie waren beide ganz in Ordnung, bis sie mit den Rocks angefangen haben, in dem Augenblick konnten Sie sie vergessen, es war einfach kein Auskommen mehr mit ihnen.« »Sie meinen Crack?« »Was denn sonst? Hören Sie, als die beiden hier rüber kamen, habe ich als Hausangestellte bei einer Kubanerin in Pasadena gearbeitet. Sie hatte ein großes Haus oben in den Hügeln. Wunderschön, wie auf einer Zuckerrohrplantage. Weiße Mauern, rotes Dach, muy linda. Na, jedenfalls sagte sie, sie hätte Platz im Gästehaus, da könnte sie die beiden unterbringen. Sie hatte das Gefühl, ihren Teil tun zu müssen, um geflohenen Kubanern zu helfen, wissen Sie. Also habe ich mich für Ramón verbürgt, daß er aus seinen Fehlern gelernt hätte. Na ja, eine Weile ging es auch gut. Sie wissen ja, daß Ramón José total in der Tasche hat, man möchte kaum glauben, wie sehr, und was Ramón sagte, das galt. Die Frau war beeindruckt von Ramón. Wußten Sie, daß er in Kuba studiert und zwei Diplome gemacht hat?« »Nein.« »In Psychologie und Tiefbau. Dazu spricht er Russisch und Französisch. Na, jedenfalls war die alte Dame schwer beeindruckt. Sie hat ihm Arbeit am Bau verschafft. Sie und ihr Mann - sie ist Witwe, er ist an Krebs gestorben sind in den fünfziger Jahren als Bauunternehmer reich geworden, nachdem sie die Insel verlassen hatten und hierhergezogen waren. Sie hatte also Beziehungen. So hat Ramón Juan Alfonso kennengelernt. Die beiden verdienten gutes Geld damit, Häuser zu renovieren. Sie kauften sogar zwei in Altadena. Aber dann hat er angefangen, dieses Zeug zu rauchen und ist verrückt geworden. Er hat den Job verloren, die beiden Häuser, und dann ist einer der beiden, welcher weiß ich nicht, ins Haus -103-
eingebrochen und hat etwas Schmuck und Silber gestohlen. Der Gärtner hat sie weglaufen sehen. Das war der alten Dame zuviel, und sie hat die beiden rausgeworfen und mich gleich mit, weil sie dachte, ich stecke mit drin. Und da drehten die beiden dann richtig durch.« »Hat sie sie angezeigt?« »Nein. Sie dachte sich, es wäre den Ärger nicht wert, vor Gericht zu gehen und auszusagen und so weiter. Sie sagte nur, sie hätte aus ihrem Fehler gelernt.« »Und was war das?« »Keinem kubanischen Landsmann mehr zu trauen, und schon gar keinem Marielito.« Das rhythmische Schlagen einer Eingeborenentrommel übertönte den Lärm des Fernsehers und machte unserer Unterhaltung ein Ende. Ich wandte mich der Tür zu und sah einen kleinen, gewichtigen Schwarzen mit einer kleinen geschnitzten batá an einer goldenen Schnur um den Hals. Er grinste. Alle im Raum wandten sich ihm zu, und das Stimmengewirr wurde noch lauter, als man ihn begrüßte. »Albertico! Wird aber auch Zeit, daß du kommst!« »Wo bleibst du denn? Glaubst du, die Heiligen haben nichts Besseres zu tun?« Der Trommler kam leichtfüßig ins Haus, verlor jedoch sofort sein Lächeln, als er mich so eng neben Lucinda sitzen sah. »Wer ist das?« fragte er. Sie stand auf und nahm ihn bei der Hand. »Sei nicht eifersüchtig. Das ist Charlie. Er ist wegen Ramón und José hier.« -104-
»Den beiden? Sie sind böse Kinder von Oggún, sie haben bekommen, was sie verdienen. Was wollen Sie für die beiden tun?« »Ich wüßte nicht, was ich für sie tun könnte.« »Er ist ihr Detektiv«, fügte Lucinda hinzu. »Ermittler«, sagte ich. »Er möchte mit Leuten sprechen, die die beiden kennen«, fuhr sie fort. »Ich habe schon mit der Polizei gesprochen«, sagte Albertico und verzog verächtlich den Mund. »Das hier ist was anderes, chico, das hier ist für sie, nicht für die Polizei«, sagte Lucinda. »Wir werden sehen«, sagte er und drehte uns den Rücken zu. »Alles bereit?« Juan Alfonso steckte den Kopf zur Kellertreppe herauf. »Vamos, vamos!« Albertico ging voraus, die knarrenden Stufen hinab, ein Tambourmajor an der Spitze einer spirituellen Parade. Der Altar befand sich am Nordostende eines zweckentfremdeten Partykellers auf einem wuscheligen orangefarbenen Teppich. Ein wassergefüllter Plastikeimer hielt dicke Sträuße Verbene, Basilikum und Nachtschatten frisch - die traditionellen Gaben für den heiligen Lazarus. Neben dem falschen, von der katholischen Kirche verstoßenen Heiligen stand ein gerahmter Druck der heiligen Barbara, der gekrönten Amazone mit dem Schwert, die für den dionysischen Gott Shangó steht. Zu ihren Füßen standen Körbe mit Opfergaben - Bananen, Maiskolben, Kiefernzapfen, Lorbeerblätter und eine Vase roter Geranien. Daneben zierten den Altar noch weitere Figuren - eine große schwarze Puppe in bedrucktem Kattun, der heilige Georg auf seinem Streitroß, das Heilige -105-
Kind von Atocha, eine Unmenge von Kultgegenständen, das Ganze im Schein von zwölf Motivkerzen, den einzigen Lichtquellen in dem feuchtkühlen Raum. Wir setzten uns in einem Halbkreis auf Campingstühlen um den Altar. Juan Alfonso brachte eine Flasche Rum zum Vorschein, die von Mund zu Mund ging; dann gab er Zigarren aus, die wir uns ansteckten. Ich bekam eine ausgetrocknete, brüchige Old Dutch in einer Plastikhülle. Ich überlegte mir in diesem Augenblick, ob ich nicht gehen sollte, um diese umnachteten Geister ihren Spielchen zu überlassen. Bei Tageslicht käme ich wohl zu offenen Antworten, soweit diese Leute offen sein wollten. Aber dann beging ich die größte Sünde, die einem Ermittler unterlaufen kann - ich wurde neugieriger, als es mein Auftrag verlangte. Es ist immer riskant, sich von seiner Neugierde verführen zu lassen, Pakete zu öffnen, die besser verschnürt geblieben, über ein Fenster zu wischen, eine schlecht gestrichene Tür aufzubrechen, nur um einen Blick zu riskieren. Trotzdem, ich konnte nicht anders. Ich redete mir ein, an diesem Ritual teilzunehmen würde mich diesen Leuten näherbringen. Hätte ich erst einmal ihr Vertrauen gewonnen, würde ich auch die Antworten bekommen, die ich suchte. Wobei ich freilich vergaß, daß ich gar nichts zu fragen hatte, und die Antworten dieser Leute das Rätsel um die beiden zu recht einsitzenden Mörder bestenfalls teilweise lösen konnten. Aber es steckte noch etwas anderes dahinter. Ich wollte mehr über diese Leute wissen, um mehr über mich selbst zu erfahren, über jene Teile meiner selbst, die unter diesen Exilanten aus der Karibik verstreut waren wie die Arme eines Seesterns, die, vom Körper gerissen, ein neues Zentrum bildeten, um das fehlende Herz zu ersetzen. Ich nehme an, ich wollte meine eigene Geschichte hören, die mir denn auch prompt -106-
geliefert werden sollte - durch lallende Stimmen zum Rhythmus einer Trommel, durch dichte Wolken stinkenden Rauchs. Die nichtssagende kleine Frau war die erste, die etwas sagte. Als hätte sie eine besonders schwere Last loszuwerden, begann sie, nur wenige Minuten nachdem wir Rum und Zigarren geteilt hatten, zu Alberticos vorzeitlichen Klängen Grimassen zu schneiden, wie kleine Kinder sie machen, um ihre Spielkameraden zu erschrecken. Die Augenbrauen begannen zu hüpfen, ihr Mund öffnete sich zum O eines Fischmauls, dann schloß er sich wieder mit eingesogenen Lippen, die Nasenflügel bebten, ihre Gesichtsmuskeln zuckten, dann brach ihr am ganzen Körper der Schweiß aus. Sie zitterte, als hätte sie einen Malariaanfall. Sie streckte die Hände aus, als schiebe sie eine Last von sich, und begann dann mit den Armen zu rudern. Die anderen verhielten sich abwartend und sahen zu, während Albertico seine Trommel im uralten Yoruba-Rhythmus schlug. Lucinda war in Ekstase geraten, sie lächelte breit, ihre Augen blitzten, der Tau ihres Schweißes und die Hitze der Erregung ließen ihre hohen Backenknochen noch markanter erscheinen. Die andere Frau stand auf und verfiel vor dem Altar in krampfartige Zuckungen. Die anderen ermunterten sie klatschend mit Zurufen, die ich nicht verstand. Dann wurde sie steif wie ein Besenstiel und begann sich zu drehen wie ein Kreisel, immer schneller und schneller, bis man den Eindruck hatte, die Zentrifugalkraft lasse sie schweben. Schließlich stürzte sie ab und landete mit dem Gesicht auf dem Boden, und das mit einem solchen Krach, daß ich sicher war, sie mußte sich was gebrochen haben, aber dann drehte sie sich lächelnd um, sprang auf und begann mit den Armen zu rudern und den Hüften zu kreisen. -107-
»Shangó, shangó, aché, awó, aché«, rief Juan Alfonso. »Was ist los?« flüsterte ich zu Lucinda. »Es ist Shangó, der Gott, es ist sein Tanz. Er ist heute abend gekommen, um mit uns zu sprechen.« Die Frau tanzte durch den Raum und setzte immer wieder die Flasche an, um uns mit Rum zu bespucken. Dann kam sie auf mich zu. Ich bereitete mich schon auf die Dusche vor, als sie den Rum schluckte und mich mit runden, besessenen Augen fixierte. Sie verdrehte sie, so daß ich nur noch das leuchtende Weiß ihrer Augäpfel sehen konnte. Sie lachte gackernd, und das mit einer gewaltigen, aber verhaltenen Boshaftigkeit. »Da bist du ja, Cariltos«, sagte sie mit einer extrem männlichen Stimme. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Ich wußte nicht, ob ich mit der Frau sprechen würde oder mit dem sogenannten Gott, in dessen Bann sie sich zu befinden schien. Also schwieg ich. »Sag den Leuten, warum du gekommen bist, Cariltos, warum du wirklich gekommen bist. Sag ihnen, wer du bist.« Albertico hörte abrupt zu trommeln auf. Ich spürte die Augen aller auf mir. »Was soll das heißen? Ich bin ich, wer sollte ich sonst sein?« Worauf sie wieder gackerte. »So redet der Heuchler, der du bist. Ich bin Shangó, und ich weiß, daß du dich verstellst. Du suchst hier den Schlüssel, um el negro Ramón und dieses marica-Ungeziefer José aus dem Kerker zu holen. Hah!« Sie tanzte wieder, ruderte dabei mit den Armen und schrie: »Die Musik, die Musik!« -108-
Albertico schlug wieder auf seine Trommel ein. Mir war furchtbar heiß und kalt zugleich, mein Atem kam in kurzen Stößen, als liefe ich einen gefährlich steilen Hügel hinauf. Sie baute sich vor mir auf, die Hände in die Hüften gestemmt. »Weißt du nicht, daß sie Anhänger des Feindes sind Oggún? Dieser armselige Hufschmied, hah! Ich habe es seiner Frau in den Arsch besorgt. Aber du, du willst den beiden helfen. Wie kannst du ihnen helfen, Cariltos, wo du nicht mal dir selbst helfen kannst?« Die Worte wollten mir nicht über die Lippen, sie klebten an meinem Gaumen. »Nicht so schüchtern, Cariltos. Sag den Leuten, wo du herkommst!« Mir platzte der Kragen, und ich stand auf. »Das ist doch gequirlte Scheiße, du kleine Schlampe! Ihr Idioten mit eurem idiotischen Getanze, ihr meint wohl, ihr könnt damit jeden zum Narren halten. Mich jedenfalls nicht! Ihr seid nichts weiter als kleine Affen mit großen Rosinen im Kopf. Ihr sehnt euch danach, weiß Gott wer zu sein, nur nicht ihr selbst!« Die Frau lächelte wissend. »Warum schämst du dich denn so, Cariltos?« »Wieso sollte ich mich schämen? Was soll das überhaupt? Ich weigere mich, mich mit einer Wahnsinnigen zu streiten.« Ich machte einen Schritt, aber ihre Worte ließen mich stehenbleiben. Sie drückte ihr Gesicht gegen das meine. »Sag ihnen, daß du in Havanna geboren bist. Sag ihnen, wie sehr du dich schämst, Kubaner zu sein. Sag ihnen, daß du deinen Vater umgebracht hast.« -109-
Angewidert blickte ich in das verzerrte, sabbernde schwarze Gesicht vor mir. Dann rannte ich die knarrende Treppe hinauf und in die mondhelle Nacht hinaus. Ich rannte zu meinem Wagen und brach auf der Motorhaube zusammen. Ich heulte.
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6 »Kommen Sie, schnell! Sie hat einen Herzanfall!« Doreen, die Vertretung des Justizsekretärs, stampfte mit den Füßen wie ein kleines Mädchen, dem man das Spielzeug weggenommen hat. Deputy Smith, eine junge Staatsanwältin und ich rannten nach hinten. Richterin Chambers lag flach und reglos auf dem Boden. Ihr normalerweise hochrotes Gesicht war leichenblaß, ihr Atem war flach und krampfartig. Einer ihrer grünen Wildlederpumps war vom Fuß gefallen und lag mit der Sohle nach oben auf dem Perser. Aus irgendeinem Grund sagte ich mir, ich müßte sie daran erinnern, sich den Absatz machen zu lassen. Bill kniete neben ihr und fühlte ihr den Puls, direkt unter dem Ohr. Er schüttelte den Kopf. »Sie dachte, sie hätte Sodbrennen, dann ist sie umgekippt!« kreischte Doreen über uns. Ich hob den Kopf und sah die blutjunge Staatsanwältin. Sie spielte nervös mit einer Locke ihres schwarzen Haars. »He, Charlie, ich brauch' dich hier!« sagte Bill. Laß es nicht noch einmal passieren, Charlie, paß auf. Mach jetzt nicht schlapp. Ein Leben ist vollauf genug. »Rufen Sie einen Krankenwagen. Stehen Sie doch nicht so rum!« schrie ich. Auf den Knien, legte ich mein Ohr an ihre Nase, um zu sehen, ob sie noch atmete. Nichts. Ich sah Bill an und schüttelte den Kopf. »Okay, dann zusammen«, sagte er. Ich nickte. Ich hatte das schon mal gemacht. Er legte der Richterin beide Hände auf die Brust und pumpte, während ich ihr den Mund öffnete, die Zunge aus der Luftröhre -111-
nahm, die Nase zuhielt und Luft in ihre Lunge zu pusten begann. Ihre schmalen Lippen fühlten sich kalt und glitschig an, wie die einer Plastikpuppe. Die Minuten vergingen, ohne daß sie reagiert hätte. Weitere Leute kamen dazu, aber keiner trug den weißen Kittel des Sanitäters, der mir meine schmerzliche Pflicht abgenommen hätte. Einen Augenblick lang war ich wieder in Miami, und die Gestalt, in die ich Leben zu pusten versuchte, war mein Vater, Adriano, steif und kalt. Die Richterin zuckte, stöhnte kurz auf und erbrach in meinen Mund. Ich spuckte die grünweiße Soße aus, und spürte, wie es mich hob. »Gut so, sie lebt!« sagte Bill. Mit meiner Krawatte wischte ich ihr den Mund aus und pustete weiter. Ich schmeckte den bitteren Gallensaft, der für ihr Leben stand. Bill fühlte ihr wieder den Puls. »Es pumpt«, sagte er. »Nicht aufhören!« Ich atmete rhythmisch ein und aus. Sie fühlte sich wärmer an, winzige Blutflecken kehrten auf die alabasterfarbene Haut zurück. Einmal öffnete sie die hellblauen Augen, sah mich ausdruckslos an, schloß sie dann wieder. Plötzlich: »Platz da! Aus dem Weg!« Ein Schwarzer in weißem Hemd und schwarzen Hosen schob mich beiseite und stülpte ihr eine Sauerstoffmaske aufs Gesicht. Der zweite Sanitäter stieß Bill beiseite, riß der Richterin die Bluse auf, hakte den kleinen Stoffbüstenhalter auf und legte zwei Defibrillatoren über ihre winzige linke Brust. Es hörte sich an wie zwei Schüsse. Der Sanitäter sah seinen Kollegen an, der nickte. Die Defibrillatoren rissen die Richterin ins Leben zurück, -112-
ihr Körper bäumte sich über dem beigen Teppich. »Okay, wir haben sie wieder«, sagte der Mann mit der Sauerstoffmaske, der ihr mit einem Apparat an seinem Handgelenk den Puls maß. »Also los!« Die beiden jungen Männer legten sie auf eine Rolltrage und bahnten sich einen Weg durch die Gerichtsdiener, Anwälte und Justizbeamten, die Zeuge dieses unerwarteten Zusammenstoßes mit dem Tod geworden waren. »Gute Arbeit, Charlie«, sagte Bill und schüttelte mir die Hand. Ich ging auf die Toilette und spülte mir den Mund aus. Ich sah zum Fenster hinaus und beobachtete den Smog des Behördenviertels, der sich in Girlanden um den Uhrenturm des Times-Gebäudes auf der anderen Seite des Mirror Square wand. Ich hörte meine Schwester nach mir rufen an jenem Tag in Kendall, an dem Kanal, aus dem der Alligator gekommen war. »Cariltos, Cariltos, komm, so komm doch!« Ich war damals sechzehn; die typische Grausamkeit des Teenagers hielt sich die Waage mit einem nicht weniger typischen Altruismus. Meine Schwester Celia heulte; das kräftige Makeup der Dreizehnjährigen zerrann unter den Angsttränen, die ihr über die Pausbacken liefen. »Was ist denn?« fragte ich, und trat meine Maschine an, die kleine Peugeot, die ich von meinem eigenen Geld hatte bezahlen müssen, weil mein Vater sie mir nicht gönnte. »Papá stirbt, er hat telefoniert, und auf einmal hatte er einen Anfall! Mamá ist bei Tante Julia, und ich weiß nicht, was ich tun soll!« -113-
Ich setzte mich auf mein Motorrad und ließ die Maschine aufheulen. Die Sonne brannte gnadenlos auf Dade County. Der Duft von Gräsern und Salzwasser lag in der Luft. Ich sah zum Himmel auf. Zwei Wolken hoch oben bildeten eine von Türmen gesäumte Burg. »Ich hole Hilfe«, sagte ich und fuhr davon. »Was soll ich tun?« schrie Celia. »Denk dir was aus! Benutz zur Abwechslung mal deinen Verstand!« Bis auf den heutigen Tag weiß ich nicht, warum ich auf meinen Vater so wütend war, aus welchem nichtigen Grund wir uns diesmal gestritten hatten. Seit ich dreizehn war, führten wir ständig Krieg. Seit dem Tag, an dem wir aus Havana gekommen waren, ich war damals zehn, waren wir ständig aneinander geraten. Meine Mutter und meine Schwester bemühten sich vergeblich, uns zu beruhigen. Vielleicht lag es an unseren grundsätzlich verschiedenen Reaktionen auf Amerika, vielleicht war es der vorprogrammierte Zusammenstoß zwischen dem alten Exilanten, der die herrliche Zeit nicht vergessen konnte, die man ihm gestohlen hatte, und dem jungen Einwanderer, für den es dringlicher war, sich den flüchtigen Freuden des Augenblicks zu widmen, bevor sie zu bloßen Schatten im Traum eines anderen wurden. Bobby Darin, Sandra Dee, die Beatles, John F. Kennedy, lange Haare - einem Mann, der sich Tag und Nacht nach einer triumphalen Rückkehr ins Land der Dominosteine, Zigarren und guarachas sehnte, mußten das Greuel sein. Ich war nicht der Sohn, den er erwartet hatte; ich war nicht der furchtlose Freiheitskämpfer, der mit jugendlicher Kraft das Banner der Demokratie schwingend das Land von der Tyrannei befreien würde. Und er war nicht der Vater, den ich mir gewünscht hätte, das gesetzte Familienoberhaupt, -114-
das uns zu den Spielen der Kinderliga mitnahm, uns das Schwimmen und Fahren beibrachte und mir Tips gab, wie man Mädchen aufgabelte. Durch diese Unfähigkeit, den Plattheiten gerecht zu werden, die wir voneinander erwarteten, hatten wir uns, so traurig das auch war, auseinandergelebt. Er sah nicht, daß ich ein verwirrtes, richtungsloses Kind mit zuviel Intelligenz und zu wenig Lebenswitz war. Ich erkannte nicht, daß er ein Mann voller Probleme war, der an einer Tankstelle arbeitete und Spanisch sprach in einem Land, in dem ein »Spanierschiß« nur um ein Haar über dem Nigger stand. Da mochte seine Haut so weiß, seine Augen so blau sein, wie sie wollten. Wir waren »unsere kubanischen Brüder, mit ihrer Lebenslust, ihren funkelnden Augen und ihrer Liebe zu Gesang und Tanz, die sich nach dem Tag sehnten, an dem ihre Heimat die kommunistische Unterdrückung abschütteln wird.« Er machte sich diese Sache zu eigen und lebte sie. Ich kehrte ihr den Rücken, weil ich wußte, daß dieser unfruchtbare Weg nur den Tod brachte. Ich hatte keine nennenswerte Vergangenheit, mein Leben war eine unendliche Reihe ständig wachsender Erfahrungen. Ich war noch nicht lange gefahren, vielleicht drei, vier Minuten, genug jedenfalls, um zu erkennen, daß ich der Situation ins Auge sehen mußte und nicht einfach weglaufen konnte. Selbst wenn ich es bis zum Krankenhaus ein paar Meilen die Straße hinunter schaffte, wäre Papá längst tot, bis der Krankenwagen endlich käme. Also drehte ich mitten im Verkehr um und fuhr zurück. Als ich ins Haus kam, kniete Celia noch immer heulend über ihm. Wenn ich heute zurückblicke, verstehe ich den kalten Zorn nicht mehr, der mich in jenem Augenblick überkam, meine völlige Mißachtung der Gefühle anderer. Für mich waren es Schwächen, und - zürnender -115-
Savonarola, der ich war - ich hielt ihre Misere für eine Folge ihrer eigenen Unfähigkeit, den Erfordernissen des Lebens gerecht zu werden. »Hör auf zu heulen«, sagte ich. »Hast du jemanden gerufen?« »Ich habe versucht, Tante Julia zu erreichen, aber es ist besetzt. Was machen wir nur?« Auf ihrem Gesicht sah ich den Schmerz einer Liebe, von der ich nie etwas geahnt hatte. Ich schnappte mir das Telefon und rief die Vermittlung an. Die Frau, die ranging, hatte im Zweiten Weltkrieg einer Krankenschwester assistiert, und nachdem sie einer Kollegin aufgetragen hatte, einen Krankenwagen zu rufen, gab sie mir detaillierte Anweisungen, wie ich meinem Vater wieder Leben einhauchen könnte. Als ich meine Lippen auf die seinen legte, kam ich mir vor wie Judas Ischariot, der seinen Herrn und Meister verlassen hatte. Beim Gedanken an die Ungeheuerlichkeit meiner Flucht geriet ich ins Zittern. Sein stacheliger Bart piekte mir wie eine Bürste ins Kinn. Als der Krankenwagen kam, war er wieder zu Bewußtsein gekommen. Als man ihn auf die Bahre hob, starrte er mich mit blutunterlaufenen Augen an. Er wußte Bescheid. »Er kommt doch wieder in Ordnung, ja, Charlie?« fragte Celia. »Sicher. Jeder hat mal einen Herzanfall. Du wirst sehen, er ist okay.« Als ich ihn im Krankenhaus besuchte, sprossen Drähte aus seinem Körper, Fangarme eines zähen Lebens. Celia, die nicht wußte, ob sie jubeln oder heulen sollte, plapperte, durch einen Wasserfall aus Tränen lächelnd, die Geschichte herunter. -116-
»Dale un beso a tu padre«, sagte Mamá mit strenger, vorwurfsvoller Miene. Sie war eine kleine Frau mit weißen Strähnen im Haar, die sich auf die kommenden Jahre einzustellen versuchte. Ihr wohlbehütetes Leben als Tochter eines Viehbarons in der Provinz Camagüey muß ihr in diesem Augenblick nicht weniger weit fort erschienen sein als die tonlose Folge der Rauchenden Colts auf dem Fernseher über unseren Köpfen. Ich kam dem Wunsch meiner Mutter nach und küßte meinen Vater. »Hi, Paps«, sagte ich ausdruckslos. Er blinzelte einige Male heftig, die Kiefermuskeln schwollen an in der Anstrengung, etwas zu sagen. Ich wandte mich an Mamá. »Was ist los mit ihm?« »Lo que has hecho, mi hijo«, sagte sie seufzend. Wie immer unterhielten wir uns in zwei Sprachen, zwei Welten, und keiner erkannte die Existenz der anderen an. Unsere Worte waren Barrieren, Waffen. »Ich habe doch nichts gemacht«, antwortete ich. Mein Dementi kam nicht an. Meine Mutter richtete ihren eisigen Blick auf mein angstgezeichnetes Gesicht. Sie dachte, wo wohl diese merkwürdige Kreatur hergekommen sein mochte, die ihr Sohn sein sollte. »Eben, nichts hast du gemacht«, wiederholte sie auf spanisch. Die Ärzte legten etwas mehr Nachsicht an den Tag als meine Mutter. Ohne meine wenn auch verspäteten Bemühungen wäre mein Vater auf jeden Fall gestorben. Der Sauerstoffmangel in den ersten Stadien - jene Minuten, in denen ich auf der Suche nach einem Ausweg durch die heißen Straßen gerast war hatten seinen Tribut gefordert. Der Schlaganfall hatte Paps linksseitig gelähmt -117-
und rechts zum Spastiker gemacht; sein Verstand funktionierte offensichtlich so scharf wie eh und je, aber er war in einem Körper gefangen, der unkontrollierbar war; nicht einmal seinen Schließmuskel hatte er unter Kontrolle. Die folgenden beiden Jahre meines Lebens waren vom Gestank menschlichen Verfalls durchdrungen. In der ersten Zeit waren Celia und ich untröstlich und zutiefst beunruhigt. Wir trösteten Mamá und lösten einander sogar beim Wechseln der Laken oder beim Leeren der Pfanne ab; wir schoben den übelriechenden Körper hinaus in die Sonne. Nach einer Weile jedoch lehnten wir uns gegen diesen Frondienst, gegen diese Hingabe an eine dahinsiechende Erinnerung auf. Papas Versicherung weigerte sich, außer für die Krankenhausrechnungen für irgend etwas aufzukommen, so daß Mamá sich einen Anwalt nahm und klagte. Da wir kaum genug zum Leben hatten, verkaufte meine Mutter zuerst die Tankstelle, dann das Haus. Wir zogen ins kubanische Ghetto im Südwestabschnitt der Achten Straße, eine Gegend voll Stuckkästen, in denen es von Flüchtlingen wimmelte, Menschen, die im Rennen um etwas Wohlstand in diesem fremden Land nicht mitkamen. Ich war nie ein besonders guter Schüler gewesen, aber jetzt wurde ich Klassenprimus, schaffte es auf die Liste derer, die ihre Arbeiten ohne Aufsicht schreiben durften, und bekam schließlich ein Stipendium für die BrownUniversität. Ich studierte Jura und war damit dem barrio für immer entkommen. Es wäre schön und heroisch zu sagen, daß ich mich den Büchern zuwandte, um vergangenes Unrecht wiedergutzumachen, daß ich Anwalt wurde, um die Sache meiner Familie vertreten und jene vernichten zu können, die uns unserer Stellung beraubt hatten. Aber das sind Worte, deren sich der Sohn meines -118-
Vaters bedienen würde. Nicht ich. Ich bin weder ein Held noch ein Racheengel. Bücher und Bildung waren nichts weiter als Wege zu der einen Chance, die kommen mußte. Wenn ich mich für die Juristerei entschied, so weil ich unbewußt spürte, daß es leichter wäre, sich hinter den Pfeilern der Justiz zu verstecken als hinter irgendeinem anderen Beruf. Ich wußte, ich war kalt, herrschsüchtig, berechnend und prinzipienlos, voller verdrängter Gefühle und ohne rechte Vorstellung von Recht und Unrecht. Für mich zählte nur, was ich mir erlauben könnte. Und da es mir wie jedem anderen auch um die Anerkennung meiner Zeitgenossen ging, schien es mir das beste, mich im Prestige des wichtigsten Berufes zu sonnen, den unsere gesetzbesessene Gesellschaft kennt. Einmal spielte ich sogar mit dem Gedanken, meine Inkompetenz - meine persönliche, nicht meine berufliche, da ich kaum einen Fall verlor - dem Staat zur Verfügung zu stellen und in die Politik zu gehen, mich der großen Verschwörung verklemmter und nach Anerkennung heischender Anwälte anzuschließen, die dieses Land seit seiner Gründung regierten - der erste Kubaner, der das Firmament der amerikanischen Politik schmückte. Nachdem ich erst einmal auf dem College war, blieb ich zwei Jahre lang weg. Als ich schließlich wieder nach Hause kam, hatte Papá bereits einen zweiten Schlaganfall gehabt - jetzt konnte er nur noch sein Essen kauen und die Augen verdrehen. Mamá umarmte mich, als ich meine Tasche ins Wohnzimmer stellte, das noch kleiner und erdrückender schien, als ich es in Erinnerung hatte. »Du bist gewachsen«, sagte sie auf spanisch. »Ich wette, du wirst so groß wie mein Vater. Du weißt, daß wir Nachkommen der Huanches sind, der Ureinwohner der Kanarischen Inseln. Die waren alle wie du, groß und blond. Que bonito, mi hijo.« -119-
»Danke, Mamá«, sagte ich ganz verlegen von ihrem ungewohnten Ausbruch. »Was macht Celia?« Sie verzog den Mund, als hätte sie in eine grüne Guave gebissen. »Por abí anda, puteando.« »Was soll das heißen, sie geht huren?« »Das soll heißen, daß sie genau das macht, die kleine Schlampe«, antwortete meine Mutter in einem Spanisch, das geradewegs aus Kastilien zu kommen schien. »Sie ist von der Schule abgegangen und arbeitet jetzt als Kellnerin in einem Nachtclub. Sie verdient in einer Nacht mehr, als dein Vater in einer Woche verdient hat, und gibt es gleich wieder aus. Hier, komm her.« Sie nahm mich bei der Hand und führte mich zu Celias Wandschrank. Er hing voll hauchdünner Kleider und seidener Blusen, Schuhe und Stiefel hatte sie dutzendweise, sogar Nerze und Zobel, deren teure Haare auf den warmen Fliesen lagen. »Schau dir das an! Sag mir, wie ein Mädchen mit einer ehrlichen Arbeit sich so etwas leisten kann? Sie ist eine puta, genau das ist sie, Gott sei ihrer Seele gnädig.« Manchmal wünsche ich mir, Mamá hätte recht gehabt und Celia wäre tatsächlich auf die Straße gegangen. Aber sie war dem größten Zuhälter des kubanischen Volkes verfallen - nach der Politik versteht sich -, den Drogen. Sie machte sich nicht die Mühe, es vor mir zu verbergen; sie dachte wohl, einer aus ihrer Generation hätte volles Veständnis dafür. Als wir allein waren, schloß sie die Tür und holte ein kleines, handgearbeitetes Ledermäppchen heraus, das einen kleinen Spiegel, einen Strohhalm, zwei volle Phiolen und eine versilberte Rasierklinge enthielt. Sie gab das Kokain auf den Spiegel, zerhackte es, zog ihre Linien, und das mit derselben Konzentration, mit der sie -120-
früher Zitronenbaisers gebacken hatte. »Was machst du damit?« fragte ich. »Wonach sieht es aus, du Dummkopf?« Gierig schnupfte sie die Linien, dann tauchte sie den Finger in ein Glas Wasser und ließ einige Tropfen in die Nase fallen. »Ich versuche das alles hier zu vergessen. Gott, ich hasse diese Wohnung.« Sie saß auf der Bettkante und schaukelte nachdenklich vor sich hin. »Erinnerst du dich noch an unseren Garten in Havanna, Charlie? Weißt du noch, wie Ignacio Anemonen und Tulpen pflanzte? Jeder sagte ihm, in Kuba wachsen keine Tulpen, aber er hat es geschafft. Ich habe ihn mal nach seinem Geheimnis gefragt - er legte die Zwiebeln in den Kühlschrank. Wir hatten den besten Garten auf der ganzen Insel, stimmt's? Manchmal, abends, muß ich dran denken, wie ich immer davongelaufen bin und mich im Gebüsch an der Laube oder im Brunnen versteckt habe. So kann ich am besten einschlafen. Ich habe so herrliche Träume. Dann wache ich auf, und alles ist noch schlimmer als zuvor. Es wäre besser, einfach zu vergessen, wenn wir die ganze Scheißinsel aus unserem verdammten Gedächtnis streichen könnten.« Sie schwieg, zog an ihrer Zigarette, schnippte die Asche beiseite. »Gott, ich hasse dieses Loch.« Es war ein Nachmittag im August. Paps hielt seinen Mittagsschlaf, Mamá war in der Kirche. Ein Laster donnerte die Straße entlang, daß die Fenster klirrten. Der heiße Dunst hing in der Luft wie nie gesagte Worte, wie Bedauern und Ewigkeit. »Warum gehst du nicht wieder auf die Schule?« »Nicht jeder kann so gescheit sein wie du, Charlie. Es gibt Leute, die sich mit ihrem beschränkten Verstand abfinden müssen. Ich tue, was das beste für mich ist, so -121-
wie du getan hast, was das beste für dich war.« »Und ein Nachtclub ist das beste für dich?« Sie lachte. Die Droge zupfte an der Saite des Glücks in ihr. »Das glaubt doch nur sie. Was soll ich sagen? Daß ich mein Geld damit verdiene, Schnee zu verkaufen?« »Wie bitte?« Sie schnaubte verächtlich. Ihre runden braunen Augen hatten eine strahlende Tiefe angenommen. Sie lüftete die gestreiften Spitzen ihres Haares. »Sei nicht so naiv. Na egal, ich habe nicht vor, es allzu lange zu machen. Ich gehe eine Weile nach Kolumbien. Tony möchte, daß ich seine Familie kennenlerne.« »Willst du heiraten?« Sie lachte wieder. »Du bist vielleicht jung. Obwohl du älter bist als ich. Das ist rein geschäftlich, verstehst du. Ich meine, okay, wir gehen miteinander und so, aber nur weil er so niedlich ist. Du solltest dich mal mit ihm unterhalten. Er hat gesagt, seine Leute würden dein Schulgeld übernehmen, wenn du später für sie arbeitest.« Abrupt stand ich auf, ich war angewidert. »Ich will davon nichts hören.« »Na, dann geh doch, geh«, schrie sie plötzlich. »Lauf weg, wie du's immer gemacht hast, das ist doch deine Spezialität. Dr. Carlos Morell auf der Flucht. Du und Houdini!« »Und das brauche ich mir auch nicht bieten zu lassen.« Ich stürmte aus dem Schlafzimmer, durchs Wohnzimmer, die Treppe hinunter und auf die Straße. Sie rannte mir nach. »O doch, das mußt du dir bieten lassen, weil es nämlich deine Schuld ist, Charlie! Du hast uns hierhergebracht! Du -122-
hast nicht gewußt, was du zu tun hast. Du hast unser Leben in die Scheiße gezogen. Es war alles deine Schuld, allein deine Schuld!« Ich lief die Straße hinunter, die Leute drehten sich nach mir um, die alten Männer über ihren Dominosteinen hoben den Kopf, die Paare, die am Kiosk an der Ecke ihren cafecito schlürften, starrten mich an. Dem Verkehr ausweichend, sprang ich über die Straße, überquerte den Parkplatz vor der Wohlfahrt und ging auf den Schulhof, wo ich mich in der Menge verlor. Was hatte es für einen Sinn zu streiten? Es war ihr freigestellt, mir böse zu sein, die Schuld einem anderen zu geben. Sie hatte ein Recht auf eine vor Widerwillen brennende Seele. Ich trug die Last der Verantwortung, das schmerzliche Wissen um meine Sünde. Ich hätte auf der Stelle mit ihr getauscht. Aber trotzdem, ich wollte nichts davon wissen, ich wollte nichts davon hören, ich wollte nicht daran denken. Ich hatte ein Loch gegraben und das Kind beerdigt. Ich wollte es nicht zurück. Von diesem Tag an gingen Celia und ich einander aus dem Weg; der Zwischenfall wurde nie wieder erwähnt. Einige Wochen darauf fuhr ich nach Jacksonville, um mir etwas Geld mit Orangenpflücken zu verdienen, bevor die Schule wieder begann. Celia zog noch im selben Jahr nach Kolumbien, nur wenige Monate vor ihrem achtzehnten Geburtstag. Gesetzlich gesehen war sie noch minderjährig, und Mamá drohte, sie deportieren zu lassen, aber ihre Drohungen stießen auf taube Ohren. Als ich Miami das nächstemal besuchte, hatte Mamá das Wohnzimmer den vielen Heiligen der katholischen Kirche überlassen und ging wie die Hohepriesterin eines vergessenen Kults nur noch in Schwarz. Sie ging zweimal am Tag zur Messe, setzte sich nach jeder Mahlzeit ans Fenster und betete, den Verkehr beobachtend, einen Rosenkranz. Während sie die -123-
geweihten Perlen durchzählte, wiegte sie sich in ihrem Schaukelstuhl aus Rohr und Mahagoni. Mechanisch rezitierte sie Lobgesänge an die Jungfrau: »Santa María, Madre de Dios, ruega por nosotros, pecadores, ahora y en la hora de nuestra muerte.« Gelangweilt von der Apathie dieses Raumes, schläfrig von Hitze, Reis und Bohnen, schloß ich die Augen und stellte sie mir vor, wie sie früher gewesen war, als wir noch in Havana gelebt hatten und Papá die größte Ölraffinerie des Landes geleitet hatte. Als wir in einem herrschaftlichen Haus mit grauen Mauern im Vedado gewohnt hatten und Mamá in einem halben Dutzend karitativer Frauenorganisationen gewesen war, als wir noch zwei Hausmädchen, einen Butler, einen Gärtner, eine Köchin und ein Kindermädchen gehabt hatten - ein Paradies, das einmal mir gehören würde, das war so sicher wie der nächste Tag, das Wachsen des Zuckerrohrs und Uncle Sam. Aber das war in Ordnung. Genaugenommen brachte mir diese Sehnsucht nach einem Leben, das ich nie gelebt hatte, eine Art Frieden; ich wußte, unsere feinziselierten Zukunftspläne hatte ein gleichgültiger Mahlstrom aus Politik und Gewalt zunichte gemacht. (Gab es in Kuba je einen Unterschied zwischen den beiden?) Zu Hause in Havanna wäre ich geworden, was die Kommunisten einen Parasiten nennen, einer, der seine Zeit mit Frauen, Daimlern und teakholzbestückten Yachten verbringt, einer, der die Räder der Macht so mühelos dreht wie ein geringerer Mann die eines Zahlenschlosses. An jenen Abenden, wenn die sumpfige Modrigkeit Miamis mir die Nase verkleisterte und ich in unserer Mietskaserne in Little Havana die vorüberfahrenden Autos und spanischen Flüche hörte, stellte ich mir das wirkliche Havanna vor, die hochfliegende, alte, grauweiße Stadt nur neunzig Meilen weit weg. Ich sah mich im weißen Anzug -124-
in einer Gosse, ein Dutzend Kugeln aus der Waffe eines Revolutionärs im Rücken, mein Blut mischte sich mit dem Unrat der Straße, dem toten Laub, den Zigarrenhüllen, der Spucke und dem schwarzen Dreck, der auf dem scharlachroten Rinnsal meines Lebenssaftes in einen Gulli trieb. Und irgendwie machte mich das glücklich. Der letzte Schicksalsschlag dieser Geschichte kam während meines letzten Studienjahres. Ich war für eine der kurzen Perioden der Folter, die andere Leute Ferien nannten, nach Hause gekommen. Celia war wieder aus Medellin zurück; ihre kurze Ehe mit Tony war gescheitert, nachdem sie zu dem Schluß gekommen war, daß Kolumbianer - allen voran ihr Gatte - das schmutzigste Volk der Welt seien, egal aus welcher Schicht sie stammten. Und da sie nie lang ohne männliche Begleitung auskam, hatte sie sich mit Adolfo eingelassen, auch Pipo genannt, dem Nissan-Händler, der ihr den Silver Z, Tonys Hochzeitsgeschenk, verkauft hatte. Ich gab mir alle Mühe, zu Hause zu leben, aber ich hatte weder die Geduld noch das Stehvermögen, mich mit den pausenlosen Gebeten meiner Mutter und dem Fäulnisgeruch meines Vaters abzufinden. Mit dem Geld, das ich mir das Jahr zuvor als Anwaltsgehilfe in einer Kanzlei in Newport verdient hatte, mietete ich mir ein winziges Apartment in Fort Lauderdale. Ein Schulfreund verschaffte mir einen Job in Rickey's Bar, in der man sich an den Wochenenden für einen pißwarmen Krug Bier einen Wet-T-Shirt-Wettbewerb ansehen konnte. Ich kam so selten wie möglich nach Hause und träumte Nacht für Nacht von meiner Familie. Aber die Lage, so mies sie auch war, hatte sich im Grunde gebessert. Die Versicherung hatte sich zu einem Vergleich bereit erklärt, so daß Mamá genug Geld hatte, -125-
um hin und wieder eine Pflegerin kommen zu lassen, die sie von ihren Pflichten befreite. Papas Zustand hatte sich stabilisiert, so daß er sich nur noch einmal pro Tag vollsaute und der Sabber nicht immer gleich in Sturzbächen kam. Hin und wieder brachte er sogar einige Worte hervor, Worte, die nicht lebenswichtig waren Brot, Milch, Wasser und Freiheit -, die für ihn jedoch noch eine andere Bedeutung haben mußten als die offensichtliche. Es war ein Samstagnachmittag. Ich stand bei Rickey's auf der Bühne, moderierte einen der Wet-T-ShirtWettbewerbe und hatte ein Auge auf Donna geworfen, eine kleine Rothaarige mit perfekten birnenförmigen Brüsten, als der Anruf kam. Während die Teilnehmerinnen in ihren Bikinihöschen aufmarschierten, die pitschnassen Hemden an den Körper geklatscht, griff ich nach dem Telefon an der Bar. »Was ist denn los?« bellte ich über den aufdringlichen Rhythmus der Doobie Brothers. »Charlie, Charlie, es ist soweit!« sagte die Stimme einer Frau. »Celia? Was zum Geier ist los? Ich bin mitten in der Arbeit!« rief ich über den Lärm. Donna, die auf der Bühne stand und darauf wartete, daß ich sie vorstellte, begoß sich bereits mit einem Krug Wasser; dann sah sie herüber. »Es ist Papá, Charlie. Er stirbt.« Wieder führten die Drähte aus meinem Vater, dasselbe schmerzgezeichnete Gesicht, der Geruch der Desinfektionsmittel, ein wolkenverhangener Ausblick auf den Golf. Nur der Bodenbelag ist ausgewechselt worden. -126-
»Ich wußte es nicht, woher sollte ich wissen, daß er allergisch gegen Krabben ist?« protestiert Tante Julia im Wartezimmer. »Ich habe ihm ein paar frituras gemacht, jeder mag sie gern fritiert. Er hat sie anstandslos aufgegessen, kein Problem.« Sie schweigt und sieht alle im Raum an. Celia, meinen Cousin Alvaro und seine Frau Magdalena, meinen Onkel Rafael, Virgilio, den Kameraden meines Vaters, eine zeitgenössische Trauergesellschaft. Ich habe noch den Sand in meinen Mokassins, da ich direkt vom Strand ins Krankenhaus gefahren bin. Ich zwinge mich dazu, mich auf ihre Worte zu konzentrieren. »Und dann, fünf Minuten später, macht er so komische Geräusche, ahn, ahn, ach, als würde er ersticken, sein Gesicht wird rot, er kriegt keine Luft. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich versuche alle anzurufen, aber ich komme zu keinem durch. Also habe ich einen Krankenwagen gerufen.« Den ganzen Tag, den ganzen Abend über wiederholt Julia die Geschichte für jeden, der neu dazukommt. Celia und ich gehen hinaus auf den Flur, um eine zu rauchen; wir beobachten die Inseln in der Biscayne Bay, die schimmernd in der Hitze des Spätnachmittags liegen. »Haßt du sie?« fragte Celia. »Wie sollte ich? Ist doch das beste so.« Sie zieht an ihrer Zigarette. Sie sieht schmaler aus, härter, als hätten die verlorenen Pfunde die schlanke Stahlrute in ihrem Innern bloßgelegt. Ihre braunen Augen, die im Augenblick vor Müdigkeit die Farbe von Haselnüssen haben, erscheinen mir riesig in dem hohlen Gesicht. »Der Arzt sagt, daß er sich nicht mehr erholt. Ich weiß nicht. Mamá war den ganzen Tag in der Kapelle beten. Sie -127-
ist überzeugt, daß ein Wunder geschieht. Ich glaube nicht mehr an Wunder.« Celia lacht nervös. »Ich glaube nicht mehr daran, seit ich Papá erwischt habe, wie er die Geschenke der Heiligen Drei Könige in die Kiste voll Stroh getan hat, die wir unter dem Bett versteckt hatten. Weißt du noch?« »Es war zerrissenes Zeitungspapier.« »Das ist auch so ein Problem mit dir. Du hast keine Phantasie.« Wir lächeln beide. Es ist vier Uhr morgens, und die Besucher sind alle gegangen. Celia schläft im Wartezimmer vor der Intensivstation, Mamá kniet in der Krankenhauskapelle und betet, lautlos, wie die Nonne, die sie mal hatte werden wollen. Niemand rührt sich, das Krankenhaus scheint geschlossen zu sein, frei zu haben, auf Urlaub zu sein. Der verblichene rote Teppich liegt vor mir wie ein ausgetretener Pfad in eine Schlucht voll verbrauchter Hoffnungen. Die Doppeltür vor der Station öffnet sich automatisch. Ich gehe hinein, am Schwesternraum vorbei. Er ist leer. Mein Vater hängt an einem Beatmungsgerät. Er ist wach. Seine blauen Augen beginnen zu flackern, als er mich erkennt. Wir sind die beiden einzigen, die in diesem Augenblick wach sind. Über einen Abgrund hinweg starren wir uns an, uns trennen Leben und Kultur. Einen kurzen, schwindelerregenden Augenblick lang werde ich zu ihm und sehe mich selbst am Fußende des Bettes stehen: sonnengebleichtes Haar, fleckige Shorts - ein junger Kerl direkt vom Strand. Ich sehe mich, und ich weiß, was er will. Vater bewegt die Lippen, versucht zu sprechen. Ich trete näher, um zu hören, was er sagt. Seine -128-
Augen springen zur Seite, hektisch, lebhaft, lebendiger als all die Jahre, seit wir Havanna verlassen haben. Der Eifer, mit dem er sprechen will, ist schmerzlich anzusehen. Ich schüttle den Kopf. Er bewegt die Lippen, und ein Hauch kommt heraus, ein Hauch, der ein Wort sein möchte. Noch einmal schüttle ich den Kopf. Er strengt sich an, versucht es noch einmal, und diesmal kommt der Hauch durch seine Stimmbänder, es entsteht das Wort, das unserem Volk, in der spanischen Kultur überhaupt, so wichtig ist, der ewige Partner der Sünde. »'uerte«, kommt es, dann gehorchen die Lippen nach all den Jahren endlich; im Zusammenspiel mit Kehlkopf und Seele erblüht dieses schöne, herrliche Wort. »Muerte.« Wieder springen seine Pupillen zur Seite. Ich sehe ihn durchdringend an, er nickt langsam. Es besteht kein Zweifel. Ich küsse ihn einmal, dann gehe ich an den Respirator. Ich weiß nicht, welchen Schalter ich umlegen muß. Er starrt auf einen neben seinem Bett, dreißig Zentimeter neben seiner Hand. Ich schalte ihn aus. Vater erschauert, als die Luftzufuhr unterbrochen wird. Ich sitze im Stuhl am Fußende des Bettes und beobachte ihn: er läuft rot an, dann blau, als sich die Lungen mit Flüssigkeit füllen. Unsere Blicke sind fest verschränkt. Ich denke an nichts, kann an nichts denken, die Zeit ist eine Flüssigkeit, die um mich herum gerinnt, während sein Gesicht vor Sauerstoffnot zu zucken beginnt. Dann atmet er nicht mehr. Eine Minute vergeht. Was tue ich da? frage ich mich. Was fühle ich? Ich schließe die Tür, ich antworte, ich durchtrenne die Lebensschnur, befreie den Geist, lasse den Mann frei, damit er auf die Insel fliegen kann, an der sein Herz hängt und die er nie hätte verlassen sollen. Ich fühle -129-
nichts, dann einen Hohlraum in der Brust und schließlich einen Schmerz, den ich nie wieder loswerden soll. Ich bin merkwürdig distanziert, ich bin nicht da, jemand anders hat sich meines Körpers bemächtigt, ich bin nirgendwo. Zwei Minuten. Drei, vier, fünf. Ich stehe auf, werfe noch einen letzten Blick auf meinen Vater. Ich drücke ihm.einen Kuß auf die Backe. »Segne mich, Papá. Ich liebe dich.« Ich schalte das Beatmungsgerät wieder ein und schleiche mich aus dem Zimmer. Ich gehe den Korridor zurück, rase die Treppe hinunter, zum Hintereingang hinaus und hinüber zur Bucht, wo ich ins Wasser springe, das kalte, dunkle, nächtliche Wasser. Ich schwimme und schwimme, und vergesse, vergesse, vergesse.
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7 Die Reifen des arg verbeulten Dodge Colt berührten kaum noch die Straße, als er einen Block weiter aus der Fünften Straße heraus auf den Broadway geschossen kam. Die vielen Leute, die so spät abends noch einkaufen waren dicke alte Frauen in zerschlissenen Kleidern mit schweren Taschen, Mädchen in kunstseidenen Kleidern, junge Kerle in Leder und Jeans, die das weiche Spanisch Mittelamerikas sprachen - teilten sich wie die Wellen vor Moses' Stab. Der Wagen fuhr im Slalom durch die Fahrzeuge, die auf Grün warteten; der Fahrer, jung, braun und verzweifelt, hing vor Angst halbtot hinter dem Steuer, seine drei Passagiere feuerten ihn an. Dann kam aus einer Gasse ein nicht weniger ramponierter Ford Monarch auf den Broadway gerast, der offensichtlich hinter dem Dodge her war. Ein junger Schwarzer mit einem Milchbart steuerte mit einer Hand, in der anderen hatte er ein Walkie-Talkie, in das er sprach. Der Monarch sauste eben an mir vorbei, als um eine andere Ecke ein dritter Wagen, ein dunkelblauer Chrysler Le Baron, kam, dessen provisorisches Kojak-Licht auf dem Dach die Passanten mit roten Blitzen aufschreckte, während die Sirene des Undercoverfahrzeugs heulte wie die Posaunen von Jericho. Der Wagen kam direkt vor mir zum Stehen, die Beifahrertür sprang auf. »Springen Sie rein, Charlie! Schnell!« Ich spähte hinein. Auf dem Beifahrersitz, neben einem unwilligen Asiaten am Steuer, saß Anthony Stuart Reynolds, der Richter, der nach Chambers' Schlaganfall den Prozeß gegen Ramón geerbt hatte. Reynolds trug Jeans und hätte dringend eine Rasur nötig gehabt; er bot -131-
einen herben Kontrast zu der adretten Erscheinung, die in italienischen Anzügen, Missoni-Krawatten und handgearbeiteten englischen Schuhen vor Gericht erschien. »Nun kommen Sie schon, Mann, die gehen uns sonst noch durch die Lappen!« sagte er in seinem breiten Charlestoner Akzent. Hol's der Teufel! Ich sprang hinein. Ich hatte noch nicht die Tür geschlossen, da schoß der Wagen schon den Broadway hinauf. Zu dritt drängten wir uns auf der vorderen Sitzbank, die nach Zigaretten und Pizza roch. Wir beobachteten die Gesichter der Fußgänger, die uns besorgt anstarrten, als sie aus dem Weg sprangen. Richter Reynolds schob sich aufgeregt die Schildpattbrille von der Nasenspitze - ein alter Hund mit einem neuen Knochen. »Gottverdammt noch mal, das ist ja wie in 'Nam. Ich habe einen Hubschrauber geflogen, wußten Sie das? Jetzt verstehe ich, warum einige der Jungs nicht vom Rauschgiftdezernat wegwollen. Waren Sie auch in Vietnam, Charlie?« »Tut mir leid, Sir, als ich aus dem College kam, war die Wehrpflicht abgeschafft.« »Da haben Sie was versäumt, Charlie.« »Das habe ich auch schon gehört, Sir.« Er blähte die Nüstern seiner Knollennase, die aus einer einzigen geschwollenen Vene bestand, und fuhr sich mit der Hand durch das dünnwerdende blonde Haar. Ich stellte ihn mir in zwanzig Jahren vor: rosig, fett, kahl, die Nase eine Ansammlung geplatzter Äderchen, ein nasser Sack hinter dem Richtertisch, die Begeisterung beim Teufel, sein Ranzen selbst unter der schwarzen Robe zu sehen, den Dienstschluß um halb fünf und den ersten Scotch im -132-
Kopf, während der Anwalt vor ihm für Gerechtigkeit plädiert. »Das hier ist Officer Nakamoto aus Rampart.« »Hallo«, sagte der Mann und sah dann wieder auf die Straße. Im Walkie-Talkie knisterte es; der Beamte im ersten Fahrzeug informierte die Wagen hinter ihm. »Ich habe mir gedacht, da ich so oft mit diesen Geschichten zu tun habe«, sagte der Richter, »sollte ich mir mal ansehen, wie so was läuft. Nun hören Sie mal gut zu, es war… - Wußten Sie übrigens, daß achtzig Prozent unserer Fälle mit Drogen zu tun haben? Ich dachte mir, ach was soll's, wenn man bedenkt, also es war, wenn ich das mal so sagen darf, es war einfach superb. Wir haben wirklich eine prima Truppe.« Ich dachte bei mir, daß er das wahrscheinlich rasch zurücknehmen würde, wenn er wüßte, wie einfallsreich die Beamten vom Rauschgiftdezernat sein konnten, wenn es darum ging, den Dealern Geständnisse abzupressen man streut den Leuten Asche in die Augen, wirft sie kopfüber die Treppe hinunter, hält ihnen Stromkabel in offene Wunden und Elektrostäbe an Schläfen und Ohren -, aber es war zu bezweifeln, daß wir während dieser albernen Nummer davon was zu sehen bekämen. Die Verfolgungsjagd ging nun die Sechste hinunter nach Osten, wir hatten Downtown hinter uns gelassen und näherten uns dem Refugium der Enterbten, dem barrio von Boyle Heights. Die Worte, die aus dem Walkie-Talkie kamen, wurden hektischer, die Beamten bemühten sich krampfhaft, den Verdächtigen den Weg abzuschneiden, bevor sie den sicheren Hafen erreichten. »Hier Wagen sechsundzwanzig. Wir haben den Dodge vor uns, er fährt Richtung Osten, überquert jetzt die Bahnüberführung an der Vierten. Haben wir noch eine -133-
Einheit in dieser Richtung? Ende.« Die Antwort war kaum zu verstehen. Wir rasten durch die trostlosen Seitenstraßen, auf deren Gehsteigen sich Nacht für Nacht Obdachlose, Verrückte und Säufer einrichteten. »Einheit siebenundvierzig. Wir sind in der Nähe. Fahren in die genannte Richtung. Ende.« »Ah ja, das Jagdfieber«, sagte der Richter mit hochrotem Kopf. Er freute sich wie ein Jäger in einem Feld voller Wachteln. »Tja, da ich Sie schon mal hier habe, Charlie Hopplaaa!« Der Wagen tat einen gewaltigen Satz, als wir über eine Querrinne rasten, und schon landeten wir auf der Straße über den Rangierbahnhof der Southern Pacific. Die Schienen sahen aus wie ein stählernes Spinnennetz, das sich meilenweit übers Land erstreckte und den Fluch von Handel und Wandel über das Becken verbreitete. »Was ich sagen wollte, da ich Sie schon mal hier habe, möchte ich mit Ihnen über diesen Valdez reden. Richter Obéra, unser neuer Präsident, hat mir den Fall zugeteilt. Sieht ganz so aus, als wäre Richterin Chambers für eine Weile außer Gefecht gesetzt. Nach allem, was man so hört, braucht es seine Zeit, sich von solchen Geschichten zu erholen. Also, ich habe mir den Fall angesehen und meine, wir sollten uns über einige Modi unterhalten. Da Sie nun mal auf einseitigen Antrag Valdez' als vertraulicher Berater fungieren, denke ich, Sie sollten ihm das alles auseinandersetzen, weil ich ein sauberes Protokoll haben will.« »Das wollte Chambers auch.« »Na schön, ich will es eben auch! Glauben Sie, ich habe Lust, mir von einem Haufen Dummköpfen in der nächsten Instanz mein Urteil… Heiliger Strohsack, da sind sie!« -134-
Der Colt kam schleudernd am Ende der langen Überführung zum Stehen - ein schwarzweißer Streifenwagen versperrte ihm den Weg. Zwei uniformierte Beamte hoben den Blick von einem gekrümmten Körper, der blutend auf der Straße lag. Die Türen des Colts sprangen auf, und alle vier Insassen spritzten in verschiedene Richtungen davon. Der erste Wagen der Rauschgiftfahnder schoß an uns vorbei und stoppte mit quietschenden Reifen. Zwei Undercoveragenten sprangen heraus, einer von ihnen hielt seine Marke hoch. »Polizei! Rauschgiftdezernat!« rief er, und schon ging es den Hügel hinauf, hinter dem Fahrer her, der bereits eine Gasse entlangwetzte. Einer der uniformierten Beamten drehte sich um, spurtete mit überraschendem Tempo los und überwältigte den dicksten der Gruppe, der zusammenklappte und dem Polizisten auf die Schuhe kotzte. »Perdón, perdón!« sagte er, wann immer er zum Luftholen kam. »Das ist unser Mann!« rief Richter Reynolds und deutete auf eine Gestalt, die die Treppe zum Los Angeles River hinunterlief. »Schnappen wir ihn!« Nakamoto bremste und öffnete im gleichen Augenblick die Tür, holte seine Waffe heraus und stürzte die Treppe hinab. »He, warten Sie auf mich!« rief Richter Reynolds. Ich zögerte einen Augenblick, zuckte die Achseln und stürzte ebenfalls los. Ich dachte nicht darüber nach, wieso ich mich der Verfolgung eines Verdächtigen nicht anschließen sollte. Für Richter Reynolds war die Jagd nach einem Drogenhändler eine natürliche Ausweitung seiner Hingabe an Recht und Ordnung ganz zu schweigen von einer prima Gelegenheit, Räuber und Gendarm zu spielen. Aber ich? Ich hatte keinen Grund. Ich lief blindlings hinterdrein. Der Grund würde mir schon noch einfallen. Nakamoto und Reynolds rasten die steile -135-
Holztreppe hinunter, die auf dem asphaltierten Ufer endete. Der Fluß, ein verdrecktes Rinnsal, das an dieser Stelle nur einen Meter zwanzig breit war, gurgelte in einem Schlitz im Asphalt seinem Totenbett im Long Beach Harbor entgegen. Vor uns sprang der Verdächtige, ein drahtiger kleiner Kerl mit langem, schwarzem Haar, vom letzten Absatz und landete wie eine Katze auf allen vieren auf der Straße, die den Fluß entlang führte. Einen Augenblick stand er da, dann stürzte er die Böschung hinunter zum Flußbett. Nakamoto stolperte auf den letzten Stufen und verlor seine Waffe, die auf dem Kies hinter der Treppe landete. Richter Reynolds kollidierte mit dem Beamten, und die beiden rollten in einem Knäuel nach unten. Ich, der hinter ihnen kam, sah gerade noch, wie Nakamoto sich befreite, nach seiner Waffe griff und sie auf den Flüchtenden richtete. »Stecken Sie die weg!« befahl der Richter, der sich aufrappelte und sich mit einem Kriegsruf die Uferböschung hinabstürzte. Nakamoto steckte die Waffe peinlich berührt ins Halfter zurück und folgte ihm. Der Dealer rannte mit fliegenden Armen und Beinen auf eine Eisenbahnbrücke zu, die eine halbe Meile weiter hinten über den Wasserlauf führte. Da sie wußten, daß er ihnen wahrscheinlich durch die Lappen ging, wenn er die Brücke erreichte, legten Reynolds und Nakamoto einen Zahn zu, zwei Hunde auf der Fährte eines verängstigten Hasen. Zirka fünfzig Meter hinter ihnen kam ich, meine Beine wurden eben erst warm, und meine Lunge weitete sich in der schwefeligen, metallhaltigen Luft. Reynolds machte als erster schlapp. Er klappte zusammen und ging in die Knie, das Gesicht puterrot; er bekam keine Luft mehr. Nakamoto blieb stehen, wohl weil er dachte, ein lebender Richter sei mehr wert als ein kleiner Dealer. Als ich an ihnen vorbeirannte, hörte ich -136-
den Richter rufen: »Los, Junge, schnapp ihn dir!« Der Mann rannte die Böschung hinauf, mit seinen Turnschuhen war die Steigung spielend zu schaffen. Ich hatte ihn schon fast, als ich ausrutschte, die Ledersohlen waren zu glatt, um mir den nötigen Halt zu geben. Er rannte auf die Treppe zu, die von der Straße auf die Brücke führte. Ich stand auf, streifte meine Schuhe ab und raste die Böschung hinauf, fest entschlossen, diesen Wettlauf zu gewinnen. Ich packte ihn in dem Augenblick, in dem er nach dem Treppengeländer griff. Wir kugelten über den Boden. Ich hatte ihn fest im Griff. Ganz plötzlich, wie ein gefangenes Tier, wurde er still, mit angstverzerrter Miene starrte er mich an - wie ein bettlägriger Patient, der seinem Tod ins Auge sieht. Durch sein schweißgetränktes Hemd spürte ich sein Herz klopfen. Keuchend sah ich mir seine großen braunen Augen an, seine fleckigen Zähne, sein pockennarbiges Gesicht. »Cómo te llamas?« fragte ich. »Jesús«, antwortete er. Einen Augenblick lang herrschte atemloses Schweigen, zwei Welten hielten sich die Waage. Die Wolken verzogen sich, der Mond leuchtete auf, irgendwo auf dem Bahnhof rangierte ein Zug. Ich hörte den Lärm eines Polizeihubschraubers näher kommen. Ich öffnete die Arme. »Vete, corre.« Er sah mich scharf an, den Bruchteil einer Sekunde lang, dann lächelte er breit. Ein Goldzahn leuchtete im Dunkeln. »Gracias«, sagte er und floh in die Dunkelheit. Ich holte tief Luft, saß einen Augenblick da und winkte, damit der Hubschrauber seinen Scheinwerfer auf mich richtete und Jésus zurück in seine Welt fliehen konnte. -137-
»Sie sind doch ein studierter Mann, Charlie. Sagen Sie mir mal, wer gesagt hat, das Gesetz sei etwas Gutes? War das Christus?« Die limettengrünen Wände schienen unter den heißen Lampen des Sprechzimmers zu vibrieren. Hinter der Glaswand saßen, an ihre Sitze gefesselt, in orangeblauen Overalls mit der Aufschrift EIGENTUM DER BEZIRKSHAFTANSTALT Los ANGELES auf dem Rücken die Häftlinge, ihnen gegenüber ihre Besucher Bewährungshelfer, Anwälte, Ermittler. Die Häftlinge waren die Liebenswürdigkeit selbst. Lächelnd stellten sie ihre besten Manieren zur Schau, während sie Morde, Vergewaltigungen, Drogenhandel, Brandstiftungen und Diebstähle diskutierten. Nur gelegentlich, in einem kalten Lächeln oder einem mörderischen Blick, spitzte etwas von der verborgenen Bösartigkeit durch. »Nein, das war Paulus.« »Was ist gut?« fragte Ramón. »Nun, die einen sagen, gut ist, wodurch man sich gut fühlt«, sagte ich und tappte damit so behutsam wie nur möglich durch das Minenfeld. »Gut sei ein Zustand, für den es keinen Ersatz geben kann. Dann gibt es jene, die sagen, es ist etwas, was nicht zu erreichen ist, ein Zustand, den wir anstreben, aber nie ganz erreichen können, ob es sich nun um den Himmel handelt oder um das platonische Ideal. Deshalb glauben sie, gut sei die Betrachtung des Ewigen, und sei es auch nur für einen kurzen Augenblick, die Betrachtung dessen, was hinter dem Sichtbaren steckt.« Ramón lächelte, als ich mich auf seine Fangfrage einließ. »Hören Sie, ich glaube nicht, daß Richter Reynolds Sie -138-
mit philosophischen Fußnoten durchkommen läßt. Was der will, ist, daß Sie bei der Sache bleiben - bei der Frage, ob Sie diese Morde begangen haben oder nicht.« Ramón beugte sich vor, hob die Augenbrauen, das krause Haar ein buschiges Wunder. »Aber mein Argument, meine Argumentation ist nun mal philosophisch.« »Das Gesetz läßt so was nicht zu. Und der Richter wird dafür sorgen, daß Sie sich an das Gesetz halten. Er hat es Ihnen doch gestern gesagt, als er Sie über Ihre Rechte aufgeklärt hat.« Ramón lehnte sich herausfordernd zurück. »Was für ein Gesetz soll das sein, das es mir nicht erlaubt, es in Frage zu stellen? Das ist ja wie in Kuba, wo Fidel und die Partei sagen, was Recht ist und damit basta. Ende der Diskussion.« »Sie können meckern, bis Sie schwarz werden, aber so sind die Gesetze nun mal, und Sie werden sie nicht ändern.« »Das werden wir sehen.« Dann richtete er sich auf, setzte seine Brille auf, überflog seinen gelben Notizblock und hakte einige Punkte auf seiner Liste ab. »Haben Sie mit Juan Alfonso gesprochen?« »Ja, aber er wird nicht zu Ihren Gunsten aussagen. Er haßt Sie wie die Pest.« »Gut. Genau was ich brauche. Einen parteiischen Zeugen, ich kann ihn vorladen lassen.« »Was hat das für einen Sinn?« Er schüttelte herablassend den Kopf. »Sein Haß wird nur mein religiöses Engagement bestätigen. Er wird meinen Status legitimieren.« -139-
Er hakte einen weiteren Punkt ab. »Der Polizeibericht?« »Hier.« Ich holte ein Exemplar der Akte aus meiner Tasche und legte sie auf den Tisch. Sie war fünfzehn Zentimeter dick und entsprechend schwer. Ramón nahm das Gummiband ab, das viele Berichte, Interviews, Analysen und Diagramme zusammenhielt. »Sind Fotos dabei?« fragte er. »Hinten. Ich habe die besten kopiert. Oder vielleicht sollte ich sagen die schlimmsten. Welche man den Geschworenen zeigen wird, weiß ich nicht.« Er nahm die zehn Seiten Fotos von Tod und Trostlosigkeit heraus und sah sie sich genauestens an, analysierte sie, wägte Pro und Kontra jedes einzelnen ab, indem er sie einer empfänglichen Jury aus seinesgleichen vorlegte. Eine Welle von Haß schlug über mir zusammen. Ich drückte mir die Fingernägel in die Handballen, bis Blut kam. Wer bin ich, Gott, diesem Ungeheuer zu helfen, dieser furchtbaren Kreatur, die mit einer flüchtigen Handbewegung das Leid und die Qualen beiseite wischte, für die sie verantwortlich war? Wieso bin ich hier? Warum? Ramón legte die Fotos beiseite. »Wer vertritt die Anklage? Hat man sich schon entschieden?« Ich holte mein Taschentuch heraus, wickelte es um mein Handgelenk, um die Blutung zu stillen. Ramón sah mir zu, sagte jedoch nichts. »Ja. Sie heißt Phyllis Chin. Ich kenne sie noch nicht.« »Una china. Die sind ja wirklich darauf aus, das Ganze zu einem Zirkus zu machen. Wer ist sie?« »Sie ist neu in der Abteilung. Sie wurde gerade von -140-
Alameda County herüberversetzt. Sie war dort Stellvertreterin des Oberstaatsanwalts. Aber da ihr Chef die letzte Wahl verlor, hat man sie die Stufen hinuntergeworfen. Erst durfte sie Strafzettel in Pleasanton einklagen. Sie wollte sich selbst zur Wahl stellen, aber eines Tages geriet ein besoffener Autofahrer auf die falsche Straßenseite und raste in ihren Kombi. Ihre ganze Familie kam dabei ums Leben. Eine erstaunlich starke Frau. Man hat ihr erlaubt, die Anklage gegen den Fahrer zu vertreten.« »So was hat es ja noch nie gegeben.« »Genau. Keine Ahnung, wie sie das gedeichselt hat. Aber sie hat, und sie hat den Kerl für den Rest seines Lebens hinter Schloß und Riegel gebracht. Danach hat sie ihr Haus verkauft und alles, was sie hatte, und hat sich hierher versetzen lassen.« »Dann ist wohl nicht gut Kirschen essen mit ihr.« »Sieht fast so aus. Aber das ist noch nicht alles.« »Ach.« »Es hat ganz den Anschein, als hätte sie auf diesem Fall bestanden - sie hat praktisch darum gebeten, ihn zu bekommen.« »Ist es nicht ungewöhnlich, daß man einen so großen Fall einem Neuen gibt?« Ramón sagte das ohne die Spur von Befangenheit. Er zweifelte nicht einen Augenblick an der Bedeutung seiner Tat. »Allerdings. Aber Pellegrini möchte sich ein Hintertürchen offenhalten.« »Wie soll ich das verstehen?« Das wird ja doch noch ganz spaßig, dachte ich. »Er ist überzeugt davon, Sie bereits in der Gaskammer -141-
zu haben. Diesen Fall kann man nicht verlieren. Aber für den Fall, daß er doch unterliegt - denken Sie an McMartin und die Twilight-Zone-Morde, da hatte man auch schon so gut wie gewonnen -, also in dem Fall kann er sich umdrehen und die Geschichte Phyllis anhängen. Sie ist sein Opferlamm. Sie verbringt den Rest ihrer Laufbahn in Pamona, und Pellegrini hat bei der nächsten Wahl nichts zu befürchten. Ich meine, jeder hier weiß, daß er seit seiner Zulassung als Anwalt auf den Gouverneursposten scharf ist.« Ramón schwieg einen Augenblick. »Diesen Fall hätte sie nicht übernehmen sollen.« Dann: »Ich freue mich schon darauf, sie kennenzulernen.« »Sie möchte Sie auch kennenlernen. Vor Gericht, bei der Verhandlung.« Das Lächeln des Deputy, einer massigen Frau mit Fettwülsten über dem Revolvergürtel, wirkte wie eine geballte Faust, als sie mich in Richter Reynolds Büro führte. Poster aus der Schweiz mit Fotos der schneebedeckten Gipfel um Zermatt zierten die Wände. Auf dem Schreibtisch des Richters stand das Foto eines lächelnden kleinen Mädchens mit einer Zahnlücke im Kostüm einer Halloween-Hexe. Der Richter wies auf einen Sessel, als ich hereinkam. Ihm gegenüber saß, in einem rosa Leinenkostüm, eine kleine, hübsche Asiatin mit zierlichem Knochenbau, pechschwarzem Haar und schwarzen Augen. »Na also, ich bin froh, Sie endlich hier zu haben, Charlie, ich möchte Ihnen Phyllis Chin vorstellen.« Sie hatte einen kräftigeren Handschlag, als man einer so zierlichen Frau zugetraut hätte. Ihr Lächeln hatte nichts -142-
Warmes, aber auch nichts Kaltes, es war nur höflich. »Freut mich«, sagte sie. »Ich möchte einige Einzelheiten durchgehen, bevor wir zur Hauptsache kommen, der Auswahl der Geschworenen«, sagte der Richter. »Also, Charlie, ich muß wissen, ob Ihr Mandant einige seiner Anträge stellen will, von denen wir alle wissen, daß sie reine Zeitverschwendung sind, oder ob wir endlich zur Tagesordnung übergehen können.« »Sie wissen, Herr Richter, daß mir derartige Erklärungen nicht zustehen.« »Sie sind nicht sein Anwalt?« fragte Chin aufrichtig überrascht. »Ich dachte, ich hätte Ihnen das gesagt, Phyllis. Charlie ist der Rechtsberater des Angeklagten, der sich selbst verteidigt.« Phyllis' blasser Elfenbeinteint lief rot an. »Herr Richter, ich muß darauf bestehen, daß ein Verteidiger ernannt wird. Dieser Fall ist zu wichtig, um ihn in die Hände eines unkundigen Kriminellen zu legen. Die Einwohner dieses Staats wollen Gerechtigkeit sehen. Es geht nicht an, daß wir unsere Energie auf eine Farce verschwenden, die in der Berufung verworfen wird.« Reynolds, den Phyllis' Ausführungen belustigten, legte die Hände zu einem umgekehrten V zusammen, ein Richelieu am Hof des Sonnenkönigs. »Nun, Mrs. Chin«, nölte er, »ich finde Ihre Sorge um den Eindruck, den die Justiz in dieser Sache machen könnte, ausgesprochen lobenswert. Auch daß Sie sich so aufrichtig um das Grundrecht des Volkes auf einen fairen Prozeß kümmern. Ja, ich bin so beeindruckt, daß ich überlege, ob es ratsam ist, Mr. Valdez das Recht auf Selbstvertretung zu gewähren.« -143-
»Darum geht es mir«, sagte Phyllis und beugte sich vor. »Sie haben nur eine Tatsache übersehen«, sagte Reynolds ebenso ruhig wie kalt. »Ich bin hier der Richter. Ich bestimme die Regeln. Ich sage, ob er sich selbst vertreten kann oder nicht - nicht Sie, nicht Ihre Dienststelle, nicht Oberstaatsanwalt Pellegrini, nicht der Gouverneur oder das Verfassungsgericht, nicht einmal, Gott steh ihm bei, der Präsident der Vereinigten Staaten. In diesem Gerichtssaal bin ich der Richter, und ich sage, er kann sich selbst verteidigen. Das braucht Ihnen nicht zu gefallen, es gibt schließlich keine Regel, nach der Ihnen die Entscheidungen des Richters zusagen müssen. Aber Sie werden sich an das halten, was ich sage. Haben Sie mich verstanden?« Phyllis saß kerzengerade da, die Hände im Schoß ineinandergelegt, ganz die Musterschülerin aus dem Mädchenpensionat. »Ja, Herr Richter«, sagte sie. Ihre Wimpern blinzelten aufgeregt. »Freut mich, das zu hören. Charlie, ist die Akteneinsicht zur Zufriedenheit Ihres Mandanten ausgefallen?« »So weit ich weiß, Sir, hat er keine Probleme mit den angeforderten Beweismitteln.« »Was ist mit dem Sheriff? Ich weiß, wie diese Leute arbeiten. Hindern sie Valdez an der Benutzung der juristischen Gefängnisbibliothek? Ich möchte mir nicht irgendeinen Krampf anhören müssen.« »Nein, Sir, die Leute des Sheriffs tun alles, um Mr. Valdez uneingeschränkten Zugang zur Bibliothek zu ermöglichen. Wir haben sogar eine Hilfe für kleine Kopier- und Schreibarbeiten bekommen.« »Ausgezeichnet. Genau das will ich hören. Also noch mal, wird er nun Anträge stellen oder nicht?« -144-
Ich sah zum Fenster hinaus auf das smogverhangene San-Gabriel-Massiv, das Los Angeles bewacht; Mount Baldy, fünfzig Meilen von hier, trug eine gelbe Narrenkappe. »Ich will mal so sagen, Herr Richter. Ich an seiner Stelle würde es tun, allein schon, um es im Protokoll zu haben.« »Das genügt mir«, sagte Reynolds und stand auf. »Sagen Sie ihm, er hat bis Ende der Woche Zeit, um seine Anträge schriftlich einzureichen. Ich möchte nämlich sofort damit anfangen. Es ist schon zuviel Zeit vergangen. Möchte jemand koffeinfreien Blue Mountain?« Phyllis schüttelte den Kopf, ich schloß mich ihr an. Reynolds schenkte sich eine Tasse ein. »Also, dann wollen wir uns mal an die Auswahl der Geschworenen machen. Angenommen, Mr. Valdez stellt ein Verlegungsgesuch mit der Begründung, die schlechte Publicity beeinträchtige einen fairen Prozeß. Nehmen wir ferner an - ich sage jetzt nicht, daß ich es tun werde, jeder von uns weiß, daß das nicht koscher wäre, wie man in Harvard sagt -, aber nehmen wir einfach mal an, ich lehne sein Gesuch ab und bin bereit, eine Liste von sechshundert Geschworenen zusammenstellen zu lassen.« Er hob die dicke Tasse an den Mund und nippte daran. »Das deshalb, und ich hoffe, Sie sind da einer Meinung mit mir, damit uns die Jury, mit der wir verhandelt haben, auch noch für das Urteil erhalten bleibt. Was die Geschichte etwas beschleunigen würde. So wie ich die Sache sehe, werden wir dafür ohnehin sechs Monate brauchen. Teilen Sie diese Meinung, Mrs. Chin?« »Das dürfte wohl hinkommen, Herr Richter.« »Gut. Dann sind wir uns einig. Mrs. Chin, ich nehme an, da Mr. Pimienta als Zeuge der Staatsanwaltschaft auftritt, werden Sie seinen Fall gesondert verhandeln wollen?« -145-
Phyllis gestattete sich das Vergnügen eines Lächelns. »Nein, Sir. Wir werden gegen beide Anklage erheben. Pimientas Fall wird nicht abgetrennt.« Der Richter setzte seinen Becher ab. »Himmelherrgott noch mal! Warum sagt mir das keiner? Jetzt muß ich den anderen Anwalt herzitieren und die ganze Geschichte noch mal durchgehen.« »Tut mir leid, Herr Richter. Sie haben nicht gefragt.« Die Vene auf Reynolds Stirn trat hervor. Aber dann grinste er. »Sie kleiner Schelm, Sie. Na schön. Kommen wir also noch mal zusammen. Rufen wir bei Mr. Smith an und bestellen ihn für morgen her. Dann wünsche ich Ihnen beiden noch einen schönen Tag.« Draußen auf dem Korridor folgte ich Phyllis, die forschen Schritts auf den Aufzug zusteuerte. »Tut mir leid, das mit dem Richter eben«, sagte ich. »Der Mann ist ein inkompetentes Arschloch«, sagte Phyllis. »Wir werden ihn mit Anträgen eindecken und den Fall von einer anderen Kammer verhandeln lassen.« »Sie wollen ihn wegen Befangenheit ablehnen?« »Wir wollen einen anderen. Er hat ja ganz offensichtlich Vorurteile.« Die Aufzugtür öffnete sich. »Geht's nach oben?« fragte Phyllis. Die fünfzehn Sardinen in der Kabine nickten resigniert. Phyllis stieg ein. Ich folgte ihr bis zur Tür der Staatsanwaltschaft. »Wann haben Sie sich dazu entschlossen, auch Pimienta anzuklagen? Ich dachte, der wäre umgefallen.« Phyllis drückte die Ziffern des Zahlenschlosses, und die Tür öffnete sich. »Heute morgen. Er weigert sich, Valdez als den Mörder -146-
zu bezeichnen. Er sagt, er kann sich nicht mehr erinnern, wer geschossen hat. Damit nützt er uns nichts mehr.« Eine Opernmelodie kam aus Enzos offenen Fenstern, eine aufreizend vertraute Arie, deren Titel sich in jener Ecke des Gedächtnisses versteckte, in der sich Lieder und Gefühle das Bett teilen. Ich öffnete die Balkontüren meines Büros, setzte mich an den Schreibtisch und betrachtete müßig die unregelmäßigen Hügel des Griffith Park. Mehr konnte ich als Ermittler nicht tun. Da ich den Fall nicht leitete, lag es nicht an mir zu entscheiden, ob ich über Ramóns Anweisungen hinaus noch weitere Zeugen oder Beweismaterial auftreiben sollte. Ich ging die Liste durch. Ich hatte das Schmuckgeschäft besucht, das mittlerweile geschlossen war. Das Gebäude war an eine Bauträgergesellschaft verkauft worden. Ich hatte mich mit den Zeugen der Anklage unterhalten, das heißt mit Ausnahme des Parkplatzwächters, der die beiden hineingehen hatte sehen, und des Reporters, der mit ihnen gesprochen hatte. Die beiden waren nicht in der Stadt. Dann waren da die sogenannten Leumundszeugen Juan Alfonso und Lucinda. Lucinda. Was war wohl aus ihr geworden? Ich rief bei ihr an. Es ging niemand ran. Ich legte wieder auf und drehte mich um. Ein Wanderfalke stieß unter Ausnutzung der Thermik in die Tiefe. Als er wieder hochkam, hatte er eine Taube in den Krallen. Das Telefon klingelte. »Ja. Morell Ermittlungen.« »Haben Sie eben bei mir angerufen? Hier ist Lucinda.« Bei ihrer hohen, kindlichen Stimme tanzten mir wie schon bei unserer ersten Begegnung Lust und Zuneigung vor Augen. Ich roch ihr Parfüm, spürte die glatte -147-
geschmeidige Haut ihrer Hände. »Woher wußten Sie das?« »Ich war unter der Dusche. Mit einemmal mußte ich an Sie denken, mir war, als würden Sie neben mir stehen.« Ich stellte sie mir nackt vor, ihren langen Hals, ihre kleinen runden Brüste, die schmale Taille, die schlanken glatten Beine, die in einem dunklen Lustgärtchen endeten. »Hat es Ihnen gefallen?« Sie kicherte. »Es schien so vertraut«, sagte sie, »ich sollte Sie bitten, mir den Rücken einzuseifen oder was weiß ich.« »Das könnte ich tun.« »Ich habe ja gerade erst geduscht!« »Dann müssen wir uns eben was Dauerhafteres suchen. Würden Sie zu mir rüberkommen? Ich möchte mit Ihnen reden.« »Wenn Sie mir versprechen, daß es nicht beim Reden bleibt.« »Das ist leicht versprochen. Schon eine feste Vorstellung?« »Wir werden sehen. Wo wohnen Sie?« Ich gab ihr Anweisungen. Sie sagte, sie würde eine halbe Stunde brauchen, weil sie noch tanken müßte. Als ich auflegte, wurde mir klar, daß ich seit meiner Flucht aus Juan Alfonsos Haus nicht mehr mit ihr gesprochen hatte. Und trotzdem fühlte ich mich ihr so nahe, als wären wir schon lange zusammen. Ich räumte etwas auf, öffnete Fenster, wechselte rasch Handtücher und Laken. Es schien keine Minute vergangen, da klingelte es an der Tür. Ich öffnete. Lucinda. Hohe Wangenknochen, haselnußbraune Augen, zimtfarbene Haut, strahlendes Lächeln, weißes Kleid, -148-
Strohhut, ein getüpfeltes Tuch um den Hals. »Hi«, sagte sie. »Hi«, sagte ich. Sie kam herein. Ich schloß die Tür. Die Unterlippe zwischen den Zähnen, wandte sie sich mir zu. Ich zitterte wie ein junger Hund, als ich auf sie zutrat und ihr den Hut abnahm. Ich küßte sie. Ihre Zunge fuhr mir in den Mund wie ein verloren geglaubter Freund, sie schlang die Arme um mich, ihre kleinen Fäuste trommelten sachte auf meinem Rücken, ihr schlanker Körper preßte sich an meinen. Ich fuhr mit einer Hand über ihren Körper, ihre Schultern, ihre Brüste, ihren Hintern. Ich hob den Rock, schob den weichen Seidenslip beiseite und fuhr mit einem Finger zwischen die Backen. Sie machte sich eifrig an den Knöpfen meines Hemds zu schaffen, küßte mich auf den Hals, die Schultern, die Brust. Ich war im Himmel, ich war in der Hölle, ich war überall. Es war mir egal. Ich war in ihr.
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8 Am nächsten Morgen schrillte das Telefon neben meinem Bett und sprengte die Mauer aus Wärme und Licht in meinem Schlafzimmer. Lucinda bewegte im Schlaf die Arme, als verscheuche sie eine Fliege. Ich war schon einige Zeit wach gewesen und hatte über sie, Ramón und mein Leben nachgedacht, mir ihren Körper ins Gedächtnis gebrannt, aber jetzt war es mit der Träumerei schlagartig vorbei. »Hallo.« »Mr. Morell? Hier Sergeant Porras von der Dienststelle des Sheriffs. Wenn Sie mal ins Präsidium kommen könnten, wir hätten da ein paar Fragen an Sie.« Porras warf eine kleine Stoffpuppe auf den Schreibtisch. Das bunte Püppchen trug einen gewürfelten Rock, hatte jedoch kein Gesicht, nur eine Art Zwiebel als Kopf und eine Kette aus Kaurimuscheln dort, wo der Hals hätte sein sollen. »Wir haben das hier in dem Wrack des Wagens gefunden, der Sie neulich umzubringen versuchte«, sagte Porras nüchtern, fast angewidert. Er sah mich ausdruckslos an, ein Mann, der Gesichter las wie ein Lastwagenfahrer Karten. »Wissen Sie, was das ist?« Ich nahm die Puppe vom Tisch. Grobes Tuch, sandgefüllt. Ein Magnet für Gebete und Verwünschungen, Symbol für die übernatürlichen Mächte, die sich unter uns tummeln. »Keine Ahnung. Ein Spielzeug für kleine Mädchen. Haben Sie mich deswegen kommen lassen?« Porras zündete sich eine Zigarette an und blies eine -150-
Rauchwolke an die Decke. »Das ist das Symbol für eine der Gottheiten der Santerta-Religion. Einer meiner Freunde sagt, es handelt sich um jemanden namens Yemayá.« »Und?« »Sie haben doch gesagt, Sie wüßten nicht, wer die Burschen waren, die Sie zu rammen versuchten.« »Korrektur: gerammt haben. Die haben versucht, mich umzubringen.« »Wie auch immer. Stehen Sie in irgendeiner Verbindung zu diesem Santería-Schwachsinn?« Fast wäre ich in die Falle getappt, aber nur fast. »Nicht persönlich. Ich kenne einige Leute, die daran glauben. Aber ich kenne schließlich auch Juden. Und einige meiner besten Freunde sind Christen. Sie wissen schon, Leute, bei denen die Heilige Jungfrau von Guadelupe vom Rückspiegel baumelt?« Porras faltete die Stirn. Er streckte eine Hand in die Schreibtischschublade und brachte eine Reihe von Gegenständen zum Vorschein, die er auf die Schreibtischunterlage warf - Perlen, Kokosschalen, Kruzifixe, Armreifen, einen kleinen Lazarus. »Das haben wir auch noch gefunden.« »Was soll ich sagen? Vielleicht wollten sie eine botánica aufmachen und kamen auf die Idee, die Götter vorher mit einem kleinen Opfer zu beschwichtigen. Wie soll ich das wissen, Sergeant?« Ich weigerte mich, diese Gegenstände in seiner Gegenwart ernst zu nehmen. »Wissen Sie was, Sie haben ein Problem mit Ihrer Einstellung.« »Ich habe kein Problem. Meine Einstellung ist völlig in -151-
Ordnung. Es sind Ihre Anspielungen, die mir nicht gefallen.« »Herrgott, Morell, wir versuchen Ihnen zu helfen, und Sie behandeln die ganze Geschichte wie einen Witz.« »Wieso, soll ich heulen, weil Sie mir ein paar Puppen zeigen?« »Sie akzeptieren nichts außer dem, was Sie selber machen, was? Nun, Amigo, das hier ist kein Witz. Diese beiden Dreckskerle wußten genau, wer Sie waren und wohin Sie wollten. Sehen Sie mal.« Porras zog unter einem Stapel von Akten und Berichten eine Klarsichthülle hervor. Er entnahm ihr zwei an den Ecken angekohlte Polaroids. »Das hier sind Sie beim Betreten des Gerichtsgebäudes gegenüber. Das hier sind Sie in Ihrem Wagen, das Nummernschild ist klar und deutlich zu sehen, Parkplatz siebzehn. Ich wußte gar nicht, daß Sie eine Marke für den Platz haben.« »Ich habe hohe Freunde in niederen Kreisen.« »Komisch. Die hatten Sie auf der Liste, Kamerad. Sie sollten in diesem Canyon Flügel kriegen und kein anderer, Sie sollten sich von L. A. verabschieden. Also, wollen Sie mir jetzt sagen, worum's hier geht, oder wollen Sie sich weiter aufführen wie ein pendejo?« »Wie bitte?« »Das ist ein Arschloch.« »Für Sie immer noch Mr. Arschloch.« »Na schön, Señor Arschloch.« Ich hob in gespielter Entrüstung die Hand. »Ich habe keine Ahnung, was das Ganze soll. Warum sagen Sie mir nicht einfach, wer die Burschen waren?« »Scheiße, ein paar Leute von der Stadtpolizei haben mir -152-
schon von Ihnen erzählt. Die hatten ganz recht.« »Was haben sie gesagt?« »Daß Sie den Tod verdient haben. Daß Sie eine ganze Menge sauberer Verfahren versaut haben, indem Sie Ihren Senf ins Getriebe schmieren mußten.« »Sie bringen Ihre Redewendungen durcheinander. Wer waren denn die Burschen nun?« Porras seufzte frustriert und drückte seine Zigarette aus. »Wir haben sie noch nicht identifiziert. Ihr Fall rangiert unter ferner liefen. Aber wir kommen noch dazu. Wir melden uns dann.« Ich stand auf und streckte mich. »Na, jedenfalls vielen Dank. Ich wollte den sechsten Stock des Justizpalastes schon immer mal am Mittag sehen.« Wenn ich mich beeilte, hätte ich noch genügend Zeit, bei KQOK vorbeizuschauen, um die Kopien der Bänder abzuholen, die Cookie Bongos, der Reporter, von seinem Gespräch mit Ramón und Pimienta im Schmuckkästchen gemacht hatte. Als ich in meinen Wagen stieg, sinnierte ich kurz darüber, wie rasch in Südkalifornien alles alterte, wie schnell Gebäude und Bauten, die für Jahrhunderte gebaut schienen, zu klein und nutzlos wurden angesichts der Bevölkerungsexplosion, angesichts der Anziehungskraft eines Landes, dessen staubige Dorfplätze und einsame Pueblos nie dazu bestimmt waren, mehr als einige tausend Seelen zu beherbergen. In einem Land wie diesem, so dachte ich, ist nichts wirklich außer den Träumen, das Künstliche ist die Norm. Alles, was zählt, ist der Glaube, seinen Mitmenschen seine Vision aufzwingen zu können. Deshalb war das Land schon immer ein fruchtbarer Boden für Visionäre -153-
gewesen, von Upton Sinclair über Louis B. Mayer bis zu Michael Milken. Kein Wunder, daß Ramón Santería ausgerechnet hierher gebracht hatte. Ein Kult, der im Augenblick offenbar mein Leben bedrohte. Nur daß ich nicht so recht wußte warum. Daß meine beiden Möchtegernmörder Anhänger des Santería-Kults gewesen sein sollten, störte mich nicht weiter; jeder konnte ein Anhänger des Kults sein, vom Richter mit den weißen Schläfen in der schwarzen Robe über den halbseidenen Bauunternehmer bis hin zum stämmigen Streifenpolizisten. Insofern glich der Kult jüdischem und spanischem Blut - selbst der, in dem man es am wenigsten vermutete, konnte es haben. Aber daß sie Fotos von mir gehabt hatten, war bedenklich. Es bedeutete, daß mich jemand auf dem Kieker hatte. Daß jemand detaillierte Anweisungen gegeben hatte, wie ich zu finden und was mit mir zu tun war. Und wenn dieser Jemand es einmal versucht hatte, so würde er oder sie es aller Wahrscheinlichkeit nach wieder versuchen. Ich überlegte, wer mich tot sehen wollte. Ich hatte viele Fälle bearbeitet, seit ich nach L. A. gekommen war, aber ich konnte mich nicht erinnern, daß mir auch nur in einem einzigen der Tod angedroht worden wäre. Das bedeutete, daß der Mordversuch irgendwie mit dem Fall Ramón zu tun hatte. Wer immer dahinter steckte, er wollte offenbar nicht, daß ich Ramón half oder etwas über den Fall erfuhr. Oder über jemanden? War es möglich, daß der Auftraggeber nicht wollte, daß ich einen Zeugen fand, der den Ausgang des Prozesses entscheidend beeinflussen könnte? Ich wußte es nicht, und die Wahrscheinlichkeit, daß ich es herausfand, bevor die Leute des Sheriffs der Identität meiner Möchtegernmörder auf die Spur kamen, war gering. Bis dahin blieb alles Spekulation, müßige, wenn -154-
auch beunruhigende Gedankenspiele - wie die Spekulationen über das nächste Erdbeben. Es würde kommen, wenn die Zeit dafür reif war, und die Sorge darüber konnte das Beben auch nicht aufhalten. Der Sender lag mitten in Hollywood, nur wenige Blocks südlich vom alten Sendeturm der RKO, dem kleinen Eiffelturm, der heute noch in die Luft über der abblätternden Mietskaserne ragt. Ich parkte auf einem mit zerschlagenen Bierflaschen übersäten Platz und steckte drei gefaltete Dollarscheine in den Schlitz der Parkuhr. Für einen Sender mit einer so großen Hörerschaft war das Hauptquartier von KQOK erstaunlich klein - vier mit falschem Holz getäfelte Räume, einschließlich des engen Empfangs, wo eine chola aus Guadalajara sich die Nägel feilte und den Cosmopolitan en español studierte. Sie deutete mit einer zierlichen braunen Hand den Flur hinunter auf die Sendekabine. Bongos legte eben eine Cassette mit Soundeffekten ein, die zu seinem Markenzeichen geworden waren - den blökenden Schafen folgte eine Kuhglocke, dann ein brutaler Furz und eine alte Frau mit einem lauten »Aih, aih, aih!«. Als er mich entdeckte, winkte er mich hinein und zeigte mir die Zahnlücke, die von den Reklamewänden in Echo Park, Pico Union und Downtown grinste. Er war klein, und sein Kopf wirkte unproportioniert und viel zu groß und imposant für eine so dünne, schmächtige Gestalt. »Bin gleich bei Ihnen«, sagte er. Sein Englisch verband die Spuren seiner salvadorianischen Herkunft mit dem melodiösen, zum Ende der Sätze hin offenen Rhythmus der Sprache von East Los Angeles. Aus einem Regal neben seinem Stuhl holte er einen Werbespot für einen -155-
kolumbianischen Kaffee, bereitete auf den Plattenmaschinen zwei Scheiben vor und beugte sich dann über das mit Schaumgummi überzogene Mikro. »Hijole, was für ein Kaffee. Ich bin so aufgeputscht, ich könnte fliegen. Seid ihr sicher, daß das bloß Kaffee ist? Immerhin kommt er aus Kolumbien, dem Land…« Er spielte einen weiteren Soundeffekt ein - jemand, der sich was in die Nase zog, gefolgt von einer Sirene und einer Maschinenpistole. Dann eine Stimme auf englisch: »Sie sind verhaftet!« »Aih, aih, aih, aih, aih«, schrie die alte Frau wieder auf. »Keine Sorge«, sagte Bongos, »es ist reiner Kaffee, Señor. Also dann, hier ein bißchen Musik, um all das… cafeína abzutanzen.« Er machte den Plattenspieler an, und eine schnelle cumbia aus Medellin erklang. Dann wandte er sich mir zu. »Was kann ich für Sie tun?« Ich sagte ihm, weshalb ich hier sei. Er runzelte die Stirn und befingerte seinen buschigen Schnurrbart. »Ach ja, Officer McCloskey sagte mir, daß Sie vorbeikämen.« Er drehte sich um, öffnete eine Schublade und nahm zwei Kassetten heraus. Er warf sie mir zu, stand dann auf und wurde von einem kleineren, dunkleren Mann mit Brille ersetzt. Der Mann legte eine Platte auf und brachte seine Lippen so ans Mikro, als wolle er es verschlucken. »Schönen guten Tag, ihr Freunde der Liebe«, sagte er mit tiefer, kehliger Donnerstimme, »hier ist er wieder einmal, der Augenblick, in dem euch die Engel Amors in den Himmel der Gefühle heben - mit eurem ›Liebesprogramm‹.« Bongos, der etwas hinkte, führte mich in sein Büro, eine -156-
Besenkammer, in die er zwei Aktenschränke gestellt hatte; ein Brett dazwischen diente als Schreibtisch; davor stand ein Stuhl. »Wo wurden Sie verletzt?« fragte ich. »Ein Andenken an D'Aubuissons Leute in El Salvador. Meine Berichterstattung über die Arena-Partei war nicht ganz nach ihrem Geschmack, da haben sie mir die Beine in vier Teile zerlegt.« »Sie hatten Glück, mit dem Leben davonzukommen.« »Da haben Sie recht. Sie hatten mir schon eine Kugel in den Kopf gejagt. Die Kopfverletzung ist verheilt, aber das linke Bein ist nie wieder ganz geworden.« Er ließ sich auf den Stuhl fallen und zog eine Schublade heraus. Er stellte zwei weitere Kassetten auf den Schreibtisch. »Geben Sie mir die wieder, die ich Ihnen gerade gegeben habe. Die hier sind soundmäßig besser. Verstehen Sie Kubaner? Manche Leute sagen, sie wären nicht zu verstehen.« »Ich bin Kubaner.« »Tatsächlich? Ich hätte Sie für einen gabacho gehalten, einen Argentinier. Na jedenfalls, hier nehmen Sie die.« »Danke schön.« »Sie können sie behalten. Aber ich muß Ihnen noch was über diese Burschen sagen. Die sind nicht ganz richtig im Kopf. In diesem Laden ist etwas passiert, was mit einem Raubüberfall nichts zu tun hatte. Es war, als hätten sie was gesehen, als hätten sie einen Blick in einen Abgrund getan und hätten dann aus Angst um ihre Seelen einen Rückzieher gemacht. Aber es war bereits zu spät, man hatte sie schon in die Grube gezogen. Verstehen Sie, was ich sagen will?« -157-
»Ich denke schon.« Als ich in meine Wohnung zurückkam, fand ich die Tür unverschlossen. Auf der Kommode lag ein Zettel, auf den Lucinda mir mühselig und mit kindlicher Handschrift eine Nachricht gekritzelt hatte, Orthographie und Grammatik auf dem Stand einer Drittkläßlerin. Sie war auf spanisch: »Ich gehe. Ich muß zur Arbeit. Ein Mann sagt, er hätte heute welche für mich. Mit der Bitte um Nachsicht, Lucinda.« Sie hatte ein »Ich liebe dich« angefangen, hatte aber das »te quiero« nach te q abgebrochen und dann durchgestrichen. Offensichtlich wagte sie nicht, von einer leidenschaftlichen Nacht auf eine dauerhafte Verbindung zu schließen. Ich duschte und mußte mich gar nicht abtrocknen, da mir der Wind von den Santa Anas die Feuchtigkeit vom Körper tupfte wie ein unsichtbarer Schwamm. Ich machte mir Kaffee, öffnete die Balkontüren und starrte zum Observatorium hinauf. Ich bin vierzehn und wohne in Opalocka. Nebenan ist eine Mulattenfamilie aus New York eingezogen, in jenen Tagen eine Seltenheit unter Kubanern. Das Mädchen, schlank und fröhlich, ist in meinem Alter; sie wartet jeden Tag auf mich, wenn ich von der Schule komme. Wir sitzen unter dem Orangenbaum in ihrem Garten, dessen Blüten die Bienen anziehen, die den Nektar umsummen. Eine Biene verscheuchend befingerte ich ihre kleinen Brüste. Wir küssen uns, mein erster Kuß. »Carlos, komm her«, brüllt mein Vater, der unerwartet von der Werkstatt nach Hause kommt. Ich sause davon, er hat mich in flagranti erwischt. Kaum öffne ich die Haustür, gibt er mir eine Ohrfeige, -158-
daß ich gegen die Wand taumle. »Ich will nicht, daß du mit kleinen Farbigen rumbumst!« Noch völlig geschockt, fällt mir nichts Besseres ein: »Wieso denn, Paps?« »Weil die nur eines von dir wollen, daß du ihnen ein Kind machst, damit sie dich am Wickel haben. Weil du noch zu jung bist, um dein Leben wegzuwerfen. Und weil ich es dir verbiete!« Ich rutsche die Wand entlang zu Boden und bleibe sitzen; mir ist ganz schwindlig. Ich lecke mir das Blut von der geplatzten Lippe. Ich sehe, daß er recht hat, daß hinter dieser Liebe das Gespenst einer ungewollten Bindung lauert, das Gespenst der Ehe, von Pflichten und Verpflichtungen, die weit über das hinausgehen, was ich mir vorstellen kann oder nicht. Ich gehe in die Küche und halte mir einen Eiswürfel an die Lippe. Ich sehe sie nie wieder. Ich erkläre es ihr nicht, ich spreche nicht mehr mit ihr. Einen Monat später ziehen wir nach Kendall, ein übereilter Umzug, der, wie ich heute weiß, direkt mit jenem Entdecktwerden zu tun hatte. Fühle ich mich deshalb zu Lucinda hingezogen? Ist sie nichts weiter als eine weitere Runde in unserem nie endenden Konflikt? Werde ich ihm je entkommen? In meinem Büro fiel ein Buch zu Boden. Erschreckt setzte ich mich auf. Ich stellte mir das Spalier in Enzos Garten vor, eine einladende Leiter für jeden Einbrecher. Ich stellte meine Kaffeetasse ab, stand auf und ging in die Küche. Ich nahm den 38er aus dem Nudeltopf. Ein weiteres Buch fiel zu Boden. Dann hörte ich jemanden eine Schublade aus meinem Aktenschrank ziehen, die rostigen Schienen quietschten. Ich hob die Waffe und lief an die gegenüberliegende Wand, wo ich -159-
wartete, ob der Eindringling herauskommen würde. Der Lärm in meinem Büro hörte nicht auf. Mein Herz dampfte wie ein Zug, der einen steilen Hügel hinabdonnert. Wieder ein Geräusch. Mit einem Satz war ich am Schlafzimmer und warf einen Blick hinein. Niemand zu sehen. Ich eilte an die Wand, die es von meinem Büro trennte und drückte meine feuchte Hand gegen die Wand. Ein Vogel auf dem Eukalyptusbaum vor dem Haus trällerte eine sonnige Melodie. Ein Seufzer, dann ein Stöhnen, als hätte sich der Eindringling verletzt. Verrückt vor Angst fuhr ich um die Ecke und sprang in die Tür, den Revolver mit beiden Händen in den Raum gerichtet. Ein massiger Mann mit breitem Rücken und welligem grauem Haar stand über meine Akten gebeugt und blätterte darin. Sein Atem war schwer und röchelnd. »Hände hoch, oder ich jage dir eine Kugel in den Kopf!« Der Mann hob die Hände. Sein Profil hatte etwas Vertrautes. Wer war das? »Drehen Sie sich um, aber langsam.« Der Mann drehte sich um. Wie in Zeitlupe fielen die Papiere zu Boden. Mir blieb die Luft weg, dann kam sie stoßartig, als wäre ich in einen eisigen See gefallen. Der durchsichtige Schlauch eines Beatmungsgeräts baumelte von seiner Nase, sein Gesicht schien im Krampf eingefroren, seine Haut war blaß wie die eines Toten, die schweren Augenlider kaum geöffnet. Mein Vater blickte mir aus dem Grab entgegen, schweigend, nicht liebevoll, nicht haßerfüllt, ein kurzer eingefrorener Augenblick. Dann begannen sich seine Züge aufzulösen, sie verschwanden, als wäre ein unsichtbarer Radiergummi am Werk, bis mich schließlich nur noch zwei traurige Augen anstarrten. Dann waren auch diese verschwunden, und alles, was blieb, war kalter Dunst und der Geruch -160-
abgebrannter Streichhölzer.
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9 Der siebte Dezember, ein rabenschwarzer Tag, der in die Annalen eingehen wird, war auch der Tag, an dem endlich der Prozeß begann. Zwei Jahre waren seit dem Blutbad im Schmuckkästchen vergangen, und die ganze Zeit über hatte ich Ramóns Fall im Hinterkopf, egal welche Ermittlungen ich sonst noch durchführte. Vierundzwanzig Monate Verzögerungen, Termine, Absagen - ein rasches Verfahren nach den Maßstäben der hiesigen Justiz. Die Gewißheit der Staatsanwaltschaft, anzutreten, um zu gewinnen - was wollte eine Verteidigung schon vorbringen? -, spielte eine nicht geringe Rolle dabei. Auch ich selbst sah zu diesem Zeitpunkt noch keine Verteidigung, und von Ramón war gar nichts gekommen. Ist das wirklich der Sinn der Sache, fragte ich mich, Ramón auf diese Art zum Opferlamm zu machen, einer schuldigen Kreatur, deren Opfertod… Aber das ist doch albern, sagte ich mir. Völlig schwachsinnig. Die Nacht zuvor fegten mit Hurrikanstärke die Winde aus den Santa Anas durch das Becken; sie erreichten Geschwindigkeiten von hundertsechzig Stundenkilometern; unwillkürlich und mit erschreckender Klarheit sah man sich an die schreckliche Seite von Mutter Natur erinnert. Auf dem San Bernardino Freeway klappten Sattelzüge zusammen wie Taschenmesser, von Palos Verdes bis Glendale rissen Stromleitungen, Buschbrände, die sich zu jedem anderen Zeitpunkt rasch erschöpft hätten, äscherten in den Bergen Tausende Hektar ein, bedrohten Häuser in Malibu, Monrovia und Pacific Palisades. Die Läden an meinen Schlafzimmerfenstern summten die ganze Nacht hindurch; sie ächzten unter der -162-
lange zurückgehaltenen Gewalt, die sie loszureißen versuchte, während in der Ferne das Heulen von Krankenwagen und Feuerwehren sich zu einem Refrain der Verzweiflung vereinte. Launisch zogen die Stunden vorbei, während ich mit hämmerndem Herzen im Bett lag und mir einbildete, das Haus müßte jeden Augenblick einfallen. Ich wartete auf das Ende. Statt dessen erhob sich, in seiner Ruhe nicht von dieser Welt, ein fliederfarbener Morgen - wie ein Wahnsinniger, der sich nach dem Mord an seiner Familie Kaffee macht, ohne auf die Leichen zu achten, die um den Herd verstreut liegen. Im Bezirksgerichtsgebäude warteten die Geschworenen, die auf die Liste sollten; zu Hunderten verstopften sie die Korridore wie Schulkinder, die auf die Glocke warteten, bevor sie in ihren Klassenzimmern verschwanden. Der Tag ist gekommen, dachte ich bei mir, als ich die Flügeltür zu Richter Reynolds Gerichtssaal öffnete, die Scharmützel sind vorbei, es geht einmal mehr in die Bresche. Vielleicht hätte ich gleich wieder hinausgehen und diese Farce eines Anwalts ohne Vollmacht, eines Rechtsbeistands ohne Mandanten hinschmeißen sollen, aber die Zentripetalkraft dieses Ereignisses zog mich weiter und weiter hinein. Außerdem hatte ich das Gefühl, doch eine Rolle zu spielen, eine obskure vielleicht, aber nichtsdestoweniger wichtige Rolle, die sich im Lauf der Zeit noch erweisen würde. Meine letzte Chance zur Flucht löste sich in nichts auf, als der Gerichtsdiener unter dem Rasseln ihrer Ketten Ramón und José in den Saal führte. Beide waren in Zivil. José trug einen weiten hellbeigen Anzug, ein zerknittertes Hemd und eine fünfzehn Zentimeter breite Blumenkrawatte; er sah aus, als hätte er -163-
eine Uniform gegen eine andere vertauscht. Ramón trug einen alten grauen Zweireiher von mir, der ihm wie angegossen paßte. Der Gerichtsdiener öffnete ihnen die Handschellen. José setzte sich neben Clay Smith in den hölzernen Stuhl des Angeklagten; eine blonde Dolmetscherin flüsterte ihm etwas ins Ohr. Ramón setzte sich auf seinen Stuhl und nickte mir zu. »Schöner Tag für den Galgen«, sagte er auf spanisch, brachte jedoch nur ein schwaches Lächeln zustande. »In Kalifornien macht man das mit Gas.« »Kleinkram. Man muß lernen, sich über die Umstände hinwegzusetzen, das Ganze nicht so eng zu sehen. Das ist das Geheimnis.« »Und deswegen sitzen Sie jetzt hier, stimmt's?« »Nicht lange.« Ramón überflog den Saal, nickte befriedigt beim Anblick des erwartungsvollen Publikums, der Reporter, der zusätzlichen Gerichtspolizisten, die besonders auffällig alle drei Meter rund um den Raum standen. Jim Ollin, der neueste Star im beständigen Nachrichtenkrieg der hiesigen Sender, stand neben seinem Kameramann hinter der Schranke und deutete mit seinem Notizblock auf uns wie mit einer Lanze, als er dem Mann Anweisung zum Zoomen gab. Ramón schenkte ihm ein breites Lächeln, dann wandte er sich wieder an mich. »Sagen Sie Ollin, ich werde heute nachmittag im Gefängnis mit ihm sprechen, falls er Interesse daran hat.« »Das hohe Gericht!« intonierte der Chef der Gerichtspolizisten, um den Auftritt des Richters anzukündigen. »Sind Sie verrückt«, flüsterte ich Ramón zu, »er könnte -164-
Ihnen den Fall ganz vermasseln.« »Wir werden sehen«, sagte er und legte sich die Hand aufs Herz, als der Gerichtsdiener von der Flagge sprach. In ihrer Ecke, wie ein Boxer von Trainer und Sekundant umgeben, stand Phyllis mit ihrem Chefermittler, Detective Ron Samuels, und ihrem Stellvertreter, Staatsanwalt Phil Hammond. Sie begegnete Reynolds in aller Ruhe, trotz des Grolls, der an ihr nagen mußte, weil sie ihn nicht losgeworden war. Pellegrini hatte ihren Vorschlag, einen anderen Richter einzusetzen, kurzerhand abgelehnt. Er war nicht bereit, eine bekannte Größe, so mangelhaft sie auch sein mochte, durch einen unbekannten Richter zu ersetzen, der ihnen die guten Siegeschancen womöglich mit irgendeiner obskuren Verordnung verdarb. Reynolds setzte sich in seinen blau gepolsterten Sessel, räusperte sich und warf einen raschen Blick auf den Akt vor sich, als hätte er vergessen, welcher Fall hier zur Verhandlung stand. Er hob die Augen. »Das Volk gegen Valdez und Pimienta. Sind die Parteien bereit?« »Die Staatsanwaltschaft ist bereit, Euer Ehren«, antwortete Phyllis und stand auf. »Die Verteidigung des Beschuldigten Pimienta ist bereit«, sagte Clay und stand ebenfalls auf. »Wir sind bereit«, sagte Ramón und legte auf dem Tisch die Hände ineinander. »Stehen Sie auf!« flüsterte ich. Er schüttelte den Kopf. Reynolds runzelte die Stirn, seine Augen hinter den Brillengläsern leuchteten. »Mr. Valdez, würden Sie aufstehen, wenn Sie sich an das Gericht wenden.« Ramón lächelte kleinlaut; fast hätte man meinen mögen, -165-
er bedaure zutiefst, was er vorhatte. »Euer Ehren, das Gesetz verpflichtet den Anwalt keineswegs aufzustehen, wenn er mit dem Richter spricht. Da ich als mein eigener Anwalt auftrete…« »Eine solche Verpflichtung besteht sehr wohl!« »Falls ich fragen darf, Herr Richter - wo kann ich diese Verpflichtung nachschlagen? Sie steht in keinem der Bücher, die ich kenne.« »Das spielt keine Rolle, es ist Tradition in unserem System.« »Wer sagt, daß man blind der Tradition zu folgen hat, bei allem Respekt?« Richter Reynolds ließ frustriert den Hammer knallen. »Ich sage es! Das hier ist mein Gerichtssaal, und in meinem Gerichtssaal, Sir, werden Sie meinen Anweisungen folgen!« Ramón schüttelte stur den Kopf. »Herr Richter, mich vor Ihnen zu erheben, hieße, vor einem Menschen aufzustehen und diesem Menschen Ehre zu erweisen und nicht dem Prinzip. Ich kann diese Ehre nur dem Gesetz und der Flagge erweisen, beides heilige Symbole unseres Landes. Wenn Sie sich erheben, wenn Sie mit mir sprechen, so bin ich auch bereit, mich zu erheben, wenn ich mit Ihnen spreche. Sie sind nur ein Mensch, Sie sind nicht das Gesetz.« »Sir, ich bin das…« Reynolds hielt einen Augenblick inne, da er sich zum erstenmal der auf ihn gerichteten Kamera bewußt wurde, ganz zu schweigen von der Tatsache, daß die Reporter jedes Wort der Konfrontation mitstenographierten. Aber der Stolz siegte. »Gerichtsdiener, entfernen Sie diesen Mann bis auf -166-
weiteres aus dem Saal. Herr Anwalt, treten Sie vor!« Jetzt endlich stand Ramón auf. »Richter, ich bin Anwalt und kann deshalb nicht ohne triftigen Grund aus diesem Saal entfernt werden!« »Ich habe einen triftigen Grund. Ich belange Sie wegen Ungebühr, Sir. Gerichtsdiener, bringen Sie ihn in Gewahrsam, bis wir entschieden haben, was wir mit ihm tun sollen!« Ramón wehrte sich kurz, gerade heftig genug, um dem Publikum der Sechs-Uhr-Nachrichten etwas für ihr Geld zu bieten. »Das stellt einen Mißbrauch Ihrer Macht dar, Euer Ehren«, rief er, als drei Gerichtspolizisten ihn hinauszerrten. »Sie sind nicht das Gesetz, kein Mensch ist das Gesetz. Sie können sich in diesem Land nicht wie King George gebärden, wie ein kommunistischer Kommissar. Verdammt noch mal, in diesem Land haben wir Gesetze!« Die Tür schlug hinter ihm zu. Ich hörte, wie man Ramón gegen die Wand warf, dann folgten die dumpfen Aufschläge der Totschläger auf seinem Körper. »Nicht schlagen!« schrie er. »Treten Sie vor, Mr. Morell«, sagte der Richter. Ich nahm Haltung an. »Jawohl, Sir!« »Hat man jemals einen derart anmaßenden Hurensohn gesehen?« sagte der Richter, als Phyllis, Clay und ich vor den Richtertisch traten. »Völlig unangebracht, Euer Ehren«, sagte Clay in dem Bemühen, bei Reynolds Punkte zu sammeln. »Bezeichnet mich dieser kleine Bimbo als König -167-
George! Ich meine, schließlich waren es meine Leute, die die Rotröcke seinerzeit aus Carolina gejagt haben. Da waren die seinen noch im Dschungel hinter Zebras her!« Phyllis mahnte in aller Ruhe zur Vorsicht. »Herr Richter, vielleicht sollten wir darüber in Ihrem Zimmer beraten. Hier könnte es jemand mitbekommen.« »Gute Idee!« Der Richter schlug mit dem Hammer. »Die Verhandlung wird unterbrochen!« Dann wandte er sich wieder an uns: »Ich meine, wir sehen besser mal nach, ob der Halbaffe recht hat. Schlagen wir nach.« An diesem Nachmittag begrüßte mich Ramón trotz der geschwollenen, geschundenen Backen und der zu Schlitzen verquollenen Augen wie der Sieger eines Titelkampfs. »Denen habe ich es gegeben, was?« »Ich würde sagen, dafür haben Sie aber auch ganz schön einstecken müssen.« Unser Gespräch war in eine Kabine im Hochsicherheitstrakt verlegt worden, abseits von den normalen Insassen der Haftanstalt, eine Isolierung, die Ramón ganz gut paßte. Er streckte die Arme, soweit die beiden Ketten mit den Vorhängeschlössern es zuließen. »Was erhoffen Sie sich davon?« Er grinste. Man hatte ihm einen seiner Vorderzähne ausgeschlagen, so daß er beim Lächeln die Zahnlücke eines Siebenjährigen zeigte. »Dieser Prozeß wird nicht im Gerichtssaal gewonnen, Carlitos. Ich brauche die Außenwelt als Geschworene. Sie werden über mein Schicksal entscheiden.« »Glauben Sie wirklich, der Richter erlaubt Ihnen, in -168-
diesem Prozeß den Ton anzugeben?« »Was bleibt ihm denn anderes übrig? Ich habe doch bereits die Grundregeln festgelegt. Er stand wie ein Tyrann da, was mittlerweile die ganze Welt gesehen hat.« »Das ist Ihre Meinung. So mancher wird sagen, daß man es hier mit einem Mörder zu tun hat, der keinen Respekt vor unserem Rechtsstaat hat. Sie könnten damit die Leute erst richtig gegen sich aufbringen.« Ramón machte eine wegwerfende Handbewegung. »Diese Leute habe ich schon vor langer Zeit verloren. Das sind die, für die Sie bloß vor der Bodega aufzutauchen brauchen, schon ist klar, wer die Mango gestohlen hat. Ich spreche aber von Gesetzen. Ich werde dafür sorgen, daß sich jeder strikt an den Buchstaben des Gesetzes hält. Wenn sie das nicht tun, bin ich verloren.« Diese letzte Aussage begleitete er mit demselben betonten Heben und Senken der Hand, wie ich es bei Castro im Fernsehen gesehen hatte, bei Castro, bei meinem Vater, bei allen Kubanern, wann immer Gepolter und Wortgeklingel mehr zählten als Vernunft und Logik sie legten dabei die Daumenkuppe an die Spitze des Zeigefingers und hielten die restlichen Finger gestreckt. Gerechtigkeit und Gesetz. Ramón sah mich an, als erwarte er meine Zustimmung, eine Bestätigung dafür, daß er ein offenes Ohr gefunden hatte; er schien sich der Ironie seiner Worte nicht bewußt zu sein. Mir wurde schlecht, ich schämte mich meiner selbst und dessen, was ich hier machte wie der kleine Junge, der einfach nicht aufhören kann, der Nachbarskatze Streichhölzer an den buschigen Schwanz zu halten. »Wir werden sehen, was passiert. Ich habe Ollin gesagt, daß er mit Ihnen sprechen könnte. Dem ist praktisch einer abgegangen, als er das hörte.« -169-
Er grinste, seine restlichen Zähne strahlten. »Ich weiß. Ich habe ihn beim Sender angerufen.« Ich war überrascht. Als Insasse des Hochsicherheitstraktes sollte Ramón nicht nur pausenlos unter Aufsicht stehen, sondern vor allem auch mit niemandem reden können, weder mit anderen Häftlingen noch mit der Außenwelt. Er war in einer Einzelzelle untergebracht, vier mal vier Meter groß. Seine einzige Verbindung zum Leben jenseits der hellgrünen Zellenwände und dem überfüllten Gerichtssaal waren seine Besuche in der Bibliothek, wo er zwei Gerichtspolizisten an der Seite hatte. »Wie haben Sie denn das geschafft?« Er schüttelte ausweichend den Kopf, er wollte sich nichts aus der Nase ziehen lassen. »Freunde, Glaubensbrüder.« »Santeros? Hier drin?« Er blickte mich finster an, das einzige, was der kaleidoskopartigen Geschwindigkeit gleichkam, mit der er sich änderte, war seine Unaufrichtigkeit - eine Pose nach der anderen, Masken um des gewünschten Effekts willens. »Wir sind überall, mi hermano. Wo Sie es am wenigsten erwarten, treffen Sie auf einen Santero oder wenigstens auf einen Gläubigen. Oder auf einen, der sich denkt: Na ja, ist vielleicht doch besser mitzumachen, nur für den Fall. So überleben wir.« Ich konnte mir die Frage nicht verkneifen: »Aber Ramón, wenn es so viele von euch gibt und Santería so mächtig ist, was machen Sie dann auf diesem Stuhl?« Er legte lächelnd eine Hand auf die meine. »Sie müssen noch viel lernen. Eines Tages versammelte Ochosi, der König des Himmels, die geringeren Götter um -170-
sich und sagte ihnen, es gebe ein Feld zu bestellen, auf daß die Früchte der Erde sprössen. Er fragte, wer das Feld pflügen wolle. Darauf schleuderte der anmaßende Shangó, der Herr der Blitze, einige seiner Blitze, aber sie verbrannten die Erde, und nichts wuchs. Dann kam Yemayá, die Göttin des Wassers, und setzte das Feld unter Wasser. Aber die Pflanzen ertranken, und nichts wuchs. Schließlich trat Oggün, der Hufschmied, an seine Esse und formte auf seinem Amboß ein Eisen zu einem Pflug. Und mit diesem Pflug brach er das Feld auf, Ochosi konnte säen, und es wuchs ein herrliches Batatenfeld. Und wissen Sie, woraus der Pflug geformt war? Aus Schwertern and Schilden. Wie hat sich das Christentum ausgebreitet, wie haben sich die Moslems durchgesetzt - zu Pferd, mit einem scharfen Schwert in der Hand.« »Und Sie sind der Christus dieser neuen Religion?« »Ich bin schon deshalb nicht der neue Erlöser, weil man uns nicht erlösen muß. Es gibt keine Erbsünde. Es gibt viele Heilige und viele Wege in den Himmel. Aber ich bringe die Botschaft der Heiligen auf die Erde.« Ich war wütend. »Hören Sie, machen wir Schluß mit dem Theater. Sie hatten nicht den geringsten Grund, diese Leute umzubringen, und jetzt versuchen Sie, sich als Messias hinzustellen, um Ihre verdammte Haut zu retten. Okay, schön, erzählen Sie das den Zeitungen, erzählen Sie's den Medien, dem Richter, den Geschworenen, aber mir kommen Sie nicht mit diesem Scheiß! Ich will davon nichts hören.« Ich stand auf, mein Stuhl kippte hinter mir um. Ich stürmte aus der Kabine, und Ramón rief mir höhnisch nach: »Aber was, wenn ich recht habe, Charlie, was, wenn ich die Wahrheit sage?« Ich blieb an der Tür stehen und drehte mich um. »Was -171-
ist die Wahrheit?« Ramón zeigte mir lächelnd seine Zahnlücke. Auf meinem Weg nach draußen sah ich Jim Ollin und sein Kamerateam im Vorzimmer. »Er ist bereit«, sagte ich und ging. Als ich nach Hause kam, lag Lucinda im Bett, sie trug mein Schlafanzughemd und blätterte in einem alten Familienalbum. Sie hatte ein halbes Glas Guavensaft auf der Marmorplatte des Nachtschränkchens stehen; am Rand des Glases klebte ihr rubinroter Lippenstift. Die Feuchtigkeit, die durch die offene Badtür kam, hing im Raum; ich konnte sehen, daß die Wanne noch randvoll von ihrem Schaumbad war. Es roch nach Jasmin und Verbenen; auf dem CD-Spieler liefen Miles Davis' Sketches of Spain. »Du hättest Geisha werden sollen«, sagte ich zu ihr und legte meinen Aktenkoffer auf die Kommode. Sie lächelte. »Was ist das?« »Das sind Frauen in Japan, die sich um nichts anderes kümmern als um ihren Mann.« Ich kroch zu ihr ins Bett und legte meinen Kopf in ihren Schoß. Mit kühlen Händen massierte sie mir die Stirn. »Dazu muß man keine Japanerin sein. Aber im Ernst, mi amor, ich tue so wenig für dich. Ich liege den ganzen Tag hier herum. Ich arbeite nicht, ich mache gar nichts.« Sie knotete mir die Krawatte auf, half mir aus dem Jackett. »Das stimmt doch nicht. Es genügt, daß du hier bist.« Ich öffnete das Schlafanzughemd, holte eine ihrer Brüste heraus, nuckelte an dem braunen Nippel. »Ach, Schatz«, sagte sie auf englisch und fügte auf -172-
spanisch »mein Leben, mein Herz« hinzu. Hinterher, als Lucinda sich im Bad wusch, beugte ich mich über die Bettkante und verrenkte mir schier den Hals, um das Album durchzublättern. Ich fand meinen Großvater, hager und streng. Er mied die weißen Leinenanzüge der wohlhabenden Geschäftsleute im Kuba der zwanziger Jahre und trug lieber das nüchterne Schwarz seiner katalanischen Vorfahren. Mein Vater, ein kleiner blonder Junge im weißen Matrosenanzug, stand vor ihm, und starrte in die Kamera. Es war ein Gruppenbild der reichsten Tabakhändler Havannas. Neben diesem Foto klebte ein anderes, das meinen Vater als Kadetten der Militärschule zeigte, sein jugendliches Haar dunkler, das herzförmige Muttermal auf der Backe bereits deutlich zu sehen. Meine Mutter als Fünfzehnjährige in einem Ballkleid von Schiaparelli auf dem Debütantinnenball im Biltmore. Dann kam ich, nackt und jauchzend am Strand in Varadero; mit dem Pipistrahl sah ich aus wie eine Putte aus einem römischen Brunnen. Meine Schwester, in ihrem fliederfarbenen Lieblingskleid, beim Ausblasen der Kerzen an ihrem zehnten Geburtstag; Dutzende von Kindern standen um sie herum, und meine Mutter trug ein Partyhütchen. Dann die beiden letzten Fotos von unserer Familie auf der Insel, beide von unserer Ranch in Camagüey - mein Vater mit einer Karte auf der Haube des Jeeps, sein alter Freund, die 45er im Gürtelhalfter, posierte als Afrikaforscher. Im letzten Bild des Albums saß ich auf meinem Lieblingspferd Pinto, einem Pony, das mir mein Vater in Kentucky gekauft hatte. Ich habe meinen Strohhut zurückgeschoben und lächle den Fotografen friedlich an. Das war im Januar 1959; die ganze Welt blickte lächelnd auf Kuba. Erschreckt hob ich den Kopf. Ein Hubschrauber der -173-
Stadtpolizei kam durch die Nacht und ließ die Wohnung erzittern. Die Rotorblätter zerschnitten die Luft in Streifen pulsierenden Lärms und erfüllten den Raum mit der Dringlichkeit historischer Notwendigkeiten. Ein schimmerndes weißes Band huschte über mein Fenster wie ein Bühnenscheinwerfer. Unten auf dem Gehsteig lief ein dunkelhäutiger kleiner Mann durch die Büsche unseres Hinterhofs und stieß in dem Bemühen, dem Scheinwerfer zu entgehen, die Töpfe mit den Alpenveilchen und Begonien um. »Keine Bewegung! Sie sind verhaftet!« dröhnte es aus dem Hubschrauber gut dreißig Meter über dem Haus. Der Mann ignorierte die Warnung und suchte nach einem Ausgang wie eine Katze in einem eingezäunten Garten. »Cazzo di Dio, cosa fa questo stronzo!« rief Enzo, der eben die Fensterläden aufwarf. Der Mann sah einen Augenblick zu mir hoch. Unsere Blicke trafen sich. Ich erkannte ihn nicht, obwohl er einer von Tausenden sein konnte, mit denen ich gearbeitet hatte; eine Bewegung seiner hageren, scharfen Züge deutete an, daß er mich erkannte, fast schien er meine Gegenwart zu bestätigen, aber er gab keinen Laut von sich. Dann sprang er mit einem mächtigen Satz über die rückwärtige Mauer und verschwand in der Dunkelheit. Der Hubschrauber verfolgte ihn, rief ihn wieder an, aber der Mann rannte weiter; offensichtlich hatte er nicht die Absicht, sich nur deshalb zu ergeben, weil man ihn entdeckt hatte. Ich ging wieder zurück ins Schlafzimmer. »Was war das für ein Krach?« fragte Lucinda. Ihr Gesicht glänzte noch vom Wasser. In diesem Augenblick wurde mir klar, daß die ganze Sache nicht mehr als ein paar Sekunden gedauert haben konnte, und dann dauerte es nur einige Augenblicke, und ich kapierte, daß er und ich ein und dieselbe Person waren. Aber wer war der Feind, -174-
und was wurde verbrochen? Gab es einen Ausweg? Hör auf, sagte ich mir, hör sofort mit diesem Unsinn auf. Du kannst jetzt nicht aufgeben, du mußt durchhalten. »Nichts«, sagte ich Lucinda, »die Polizei war hinter jemandem her. Wahrscheinlich hat irgendwo einer einzubrechen versucht.« Was sie zu beruhigen schien; sie schlenderte zurück ins Bad. »Es ist wirklich schlimm geworden«, sagte sie aus dem Bad, »Verbrechen, wo man hinsieht. Es ist einfach nicht fair. Da schuftet sich einer ab, und dann kommt einer und nimmt es ihm, nur weil es ihm gefällt. Was für eine Welt ist das? Die sollen sich Arbeit suchen, wirklich. Diese vaquetas, diese Taugenichtse.« Sie spähte zur Tür heraus und sah mich auf der Bettkante sitzen. »Das ist die Schuld der sozialistischen Regierung, weißt du. Da haben sie sich dran gewöhnt, alles umsonst zu kriegen.« »Nicht alle Diebe sind Kubaner, noch nicht mal alle Marielitos.« »Das nicht, aber sie geben ein schlechtes Beispiel, und die anderen machen es nach. Na egal, kein anständiger Kubaner sollte was mit Verbrechen zu tun haben, findest du nicht?« »Ich dachte, alle anständigen Kubaner wären tot oder aus politischen Gründen im Gefängnis.« »Ach, du!« Die glücklichen Augen des Jungen auf dem Foto starrten mich durch Jahrzehnte des Vergessens hindurch an. War das wirklich ich? Hatte ich jemals soviel Vertrauen in die Dinge gehabt, in die Welt, in Gott? -175-
Lucinda kam aus dem Bad und holte ihre Sachen aus den Schubladen, Spitzenhöschen, seidenes Unterhemd, einen dicken blauen Pullover. »Wo gehst du hin?« »Zu Martha, meiner Freundin. Hab' ich dir doch neulich erzählt. Sie kommt aus Miami ihre Mutter besuchen.« »Weiß ich nicht mehr.« Lucinda stemmte die Hände in die Hüften. »Aber, Carlos. Ich hab' dich doch gefragt, ob du mitkommen willst, und du wolltest nicht, weil du zu tun hast. Du kannst immer noch mit, wenn du willst.« »Muß ich vergessen haben. Bist du lange weg?« Sie kam herüber und küßte mich. »Nein, Baby, du weißt doch, daß ich es nicht lange ohne dich aushalte. Wir essen im Candilejas. Du kannst immer noch mit, wenn du willst.« »Nein, ist schon okay. Ich bin müde. Ich denke, ich bekomme eine Erkältung. Geh du, ich gehe ins Bett.« Sie drückte mir einen Kuß auf die Stirn. »Paß auf dich auf. Du weißt, daß ich ohne dich nicht leben könnte.« »Lügnerin.« »Ist aber wahr. Es steht in den Sternen geschrieben, weißt du. Lucinda und Carlos werden sich für immer lieben, bis in den Tod, bis in alle Ewigkeit, Amen.« Ich wachte keuchend auf, eine schwere Last auf der Brust. Ich wußte, ich hatte etwas Schlimmes getan, die Tatsache, daß ich noch lebte, war eine Abscheulichkeit, die nach einer Korrektur schrie. Mein Kissen war schweißgetränkt, und durch das Brummen in meinen Ohren hörte ich noch immer die letzten Worte meines Traums: »Hüte dich vor -176-
der roten Flut.« Mich überlief ein Schauer. Ich stand auf, wusch mich, schlüpfte in einen frischen Schlafanzug und ging wieder zu Bett. Ich schaltete den Fernseher ein. Elf Uhr. Ich schaltete von einem Kanal zum anderen, als ein vertrautes Gesicht über den Bildschirm zuckte. Ich schaltete zurück - Ollin interviewte Ramón. Es war eine gut vorbereitete Aufzeichnung; die flache Hintergrundbeleuchtung stammte geradewegs aus einem Spielberg-Film. Ramóns Züge füllten den ganzen Bildschirm, die Kamera pickte die Zahnlücke heraus, seine bebenden Nasenflügel, die funkelnden haselnußbraunen Augen, an denen die Wichtigkeit seines jeweiligen Arguments abzulesen war. Durch den Kamerafilter war er zum erstenmal überzeugend; zum erstenmal war er mehr als der laute Prahlhans oder der kaltherzige Mörder - er war gut informiert, eindeutig und stellte sich in den Kontext der amerikanischen Geschichte. Ollin befragte ihn nicht direkt zur Anklage, und Ramón wäre der letzte gewesen, der von sich aus davon angefangen hätte; sie konzentrierten sich darauf, was einen Mann in seiner Situation, mit seiner Bildung zum Verbrecher hatte werden lassen. »Oh, das ist ziemlich einfach, Sir«, schnurrte Ramón. »Die Versuchung ist überall, und es ist sehr einfach, ihr zu erliegen. Sehen Sie sich meinen Fall an. Ich bin ein gebildeter Mann, aber nachdem ich in dieses Land kam, war ich gezwungen, Dinge zu tun, die ich mir nie hätte träumen lassen - nur zum Überleben.« »Was waren das für Dinge, Ramón?« Ramón schüttelte den Kopf. »Schlimme Dinge, Dinge, über die ich lieber nicht sprechen möchte.« -177-
»Verstießen sie gegen das Gesetz?« »Wie hätten sie nicht gegen das Gesetz verstoßen sollen? Leute wie ich haben doch nicht die geringste Chance.« Ramón starrte direkt in die Kamera. »Wir kommen hierher, sind bereit, hart zu arbeiten, und alles, was wir finden, sind Leute, die uns betrügen und beschimpfen, die uns unser Geld stehlen, uns verführen und dann ins Gefängnis werfen, wenn wir schließlich dem Bild entsprechen, das sie sich von uns gemacht haben. Wissen Sie, sie haben uns zu den finsteren Spiegelbildern ihrer selbst gemacht und bestrafen uns, wenn wir diesen entsprechen. Diesem Land muß endlich klar werden, daß man diesen Kontinent Leuten wie uns weggenommen hat. Wir sind die steigende Flut, Mister, eine steigende Flut, die alle Schiffe auf die See hinausträgt - und wir werden bekommen, was uns zusteht.« Hier tat Ollin etwas Unerwartetes; er zeigte etwas Intelligenz. »Ramón, das ist nicht wahr. Diese Gesellschaft ist die offenste Gesellschaft der Welt. Leute aller Rassen und Länder kommen hierher und bringen es zu etwas. Es wird nicht jeder diskriminiert - es gibt sogar Gesetze dagegen. Und nicht jeder, der diskriminiert wird, wendet sich ab und wird zum Verbrecher. Das sind doch Ausreden.« »Das sagen Sie, weil Sie ein gebildeter Angehöriger der weißen Mittelschicht sind. Sie haben keine Ahnung, was es heißt, schwarz oder braun zu sein und allein schon deshalb wie ein Idiot behandelt zu werden, weil Sie die Sprache nicht korrekt sprechen. Sie wissen nicht, was es heißt zu wissen, daß dieses Land früher einem selbst gehört hat und dann gestohlen wurde. Sie wissen nicht, was es heißt, in ständiger Angst vor der Einwanderungsbehörde zu leben, allein in einem Land zu sein, in dem Sie gerade mal auf vierzig Dollar pro Tag -178-
hoffen können, wenn Sie überhaupt Arbeit finden. Sie wissen nicht, was es heißt, nicht einmal Mensch zweiter Klasse, sondern dritter Klasse zu sein, daß selbst die amerikanischen Schwarzen es noch besser haben als Sie, daß es ein Beverly Hills gibt und daß Sie hier leben, in Echo Park und South Central, während die anderen reich werden.« »Aber was ist mit den vielen Latinos, die Richter, Polizisten, Geschäftsleute und Beamte geworden sind?« »Sie sind nur die Marionetten der Herren Anglos.« Ollin schüttelte wütend den Kopf. »Okay, mal angenommen, Sie hätten recht - und Sie hören sich an wie die schwarzen Radikalen aus den sechziger Jahren.« »Die Panther waren gute Leute.« »…aber das hat nichts mit dem Gesetz und mit den Morden in diesem Juweliergeschäft zu tun. Zweimal Unrecht ergibt noch lange kein Recht.« »Es hat sehr wohl damit zu tun. Ich bin über Ihr Recht und Unrecht erhaben.«
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10 Richter Reynolds verschwendete keine Zeit, um auf den Punkt zu kommen. Als ehemaliger Militär glaubte er an geradlinige Beweisführung und schmucklose Auslegung der Paragraphen. Bei ihm wußte man genau, woran man war. Ramón hatte einen Schriftsatz vorbereitet, in dem er den Richter aufforderte, sich selbst wegen Befangenheit abzulehnen. Als ich ihn Curtis, dem Sekretär, gab, wußte ich, daß der Prozeß ab sofort in eine lautstarke Paragraphenschlacht ausarten würde; in dem Versuch, den schwächsten Fall in den Annalen der hiesigen Justiz zu gewinnen, würde eine prinzipienlose Taktik die andere jagen. Curtis warf einen Blick auf den Antrag und lachte. »Meint er das ernst?« »Fragen Sie ihn doch selbst.« »Ich nehme Sie beim Wort.« Curtis ging nach hinten ins Richterzimmer. Ich hörte einen gedämpften Fluch, den dumpfen Schlag eines Buches, ein Glas ging zu Bruch. Aschfahl kam der Sekretär zurück, setzte sich wieder auf seinen Platz und steckte sich mit zitternden Händen eine Zigarette an. »Ich hasse diesen Job«, sagte er. »Wenn ich keine Kinder hätte…« »Ich weiß, Curtis.« Wieder war der Gerichtssaal bis auf den letzten Platz gefüllt. Unter dem Publikum saßen einige Justizsekretäre, Pflichtverteidiger und Staatsanwälte, die sich in ihrer Freizeit die Show ansehen wollten. Die »Gerichtsflöhe«, ein Quartett rotgesichtiger, schäbig gekleideter -180-
Pensionäre, die der Unterhaltung wegen ins Gerichtsgebäude kamen, hatten sich ihre Plätze bereits gesichert, gleich neben den unzähligen Reportern. Ganz hinten saß eine Gruppe Santeros mit Armreifen und Halsketten aus Kaurimuscheln, die nervös ihre bunten Rosenkränze befingerten. Ich hörte das Surren der Kameras, als ich an den Tisch der Verteidigung zurückkehrte, um mich neben Ramón zu setzen. Er hatte sich eine Schildpattbrille besorgt, die ihm zusammen mit meinem Anzug und der Krawatte das Aussehen eines schwarzen Akademikers von der Howard-Universität verliehen. Er schenkte mir ein Lächeln, das sein vollständiges Gebiß sehen ließ. »Es war nur eine Krone, der Gefängniszahnarzt hat sie mir wieder eingesetzt«, sagte er auf spanisch. »Ich habe schon seit meiner Kindheit falsche Zähne, chico. Weil wir nach der Invasion in der Schweinebucht von Zuckerrohr leben mußten.« »Verstehe ich nicht.« »Der G-2 hat meine Leute verhaftet«, flüsterte er emotionslos. »Sie haben meinen alten Herrn wegen konterrevolutionärer Aktivitäten erschossen und meine Mama für fünf Jahre ins Lager geschickt. Ich bin weggelaufen und habe ein Jahr lang auf dem Land gelebt. Ich habe wegen Unterernährung meine Zähne verloren. Schließlich hat mich die Miliz gefunden und mich in ein politisches Waisenhaus gesteckt. Aber das ist eine andere Geschichte. Wie hat das alte Arschloch es aufgenommen?« »Sie spielen mit dem Feuer.« »Warum zum Teufel sollte ich nicht. Die haben schon den Pfahl aufgestellt. Da kann ich mich doch wenigstens -181-
ein bißchen amüsieren. Man verdient nicht zu leben, wenn man nicht über den Bart des Todes lachen kann.« »Verschonen Sie mich mit Ihrem blumigen Spanisch.« Er sprach wieder englisch. »Charlie, das hier ist eine Bühne, und wir alle tun, was nötig ist, kapiert?« Das Publikum hinter uns begann zu murmeln. Wir drehten uns um und sahen Claudia Well, die Chefkorrespondentin eines großen Senders, in einem blauseidenen Chanel-Kleid, hinter ihr ein Kamerateam. Sie lächelte Ramón zu. Er winkte. »He«, brummte der Gerichtsdiener. »Okay, Mann, okay«, antwortete Ramón prompt. Er beugte sich zu mir. »Sagen Sie ihr, ich rede dieses Wochenende mit ihr. Ich möchte erst sehen, wie sich der Prozeß entwickelt.« »Sie wollen Ihren Fall wirklich in den Medien verhandeln?« »So in der Art.« In diesem Augenblick kam Lucinda in den Saal. Sie sah aus, als hätte sie sich verlaufen. Sie erspähte mich, lächelte und nahm den Platz, den ihr einer der Gerichtsflöhe anbot. »Das lockt ja wirklich alles heraus«, sagte Ramón. »Die habe ich nicht mehr gesehen, seit…« »Das hohe Gericht!« Alles im Saal erhob sich, als der Gerichtsdiener die beim Auftritt des Richters übliche Formel intonierte. Ich warf Lucinda einen verstohlenen Blick zu, und plötzlich war mir, als stoße mir jemand ein Messer ins Herz. In der letzten Reihe stand unter den neugierigen Zuschauern ein Mann mit dem Gesicht meines Vaters und starrte mich an, als wolle er sagen: Nein, das ist kein Traum. Dann ging er aus dem Saal. Ich wollte ihm nachlaufen, ihn umarmen, -182-
ihn anflehen stehenzubleiben, mit mir zu sprechen, mir seinen Segen zu geben, mir zu sagen, daß mir vergeben war. Das gibt's doch nicht, dachte ich, als ich mich setzte. Ich bilde mir das ein, er ist es nicht, er kann es nicht sein, nein, das ist er nicht. Paß auf, paß auf, paß auf. »Guten Morgen«, sagte der Richter ausdruckslos. »Guten Morgen«, kam es im Chor von Spielern und Publikum - allen außer Ramón. »Bevor wir mit dem Fall das Volk gegen Valdez und Pimienta beginnen, möchte ich erst einige Punkte klären. Mr. Valdez, Sie haben sich gestern geweigert aufzustehen, wenn Sie sich an das Gericht wenden, und das mit der Begründung, es gebe keinen Präzedenz…« »Euer Ehren, wenn Sie mir gestatten…« Reynolds knallte seinen Hammer auf den Tisch. »Nein, Sir, Sie lassen mich ausreden oder ich lasse Sie wieder in Gewahrsam nehmen.« »Ja, Sir«, antwortete Ramón vergnügt. Sah Reynolds denn nicht, daß Ramón ihn an der Nase herumführte? »Wenn Sie glauben, das Gericht würde sich durch Ihre schlechten Manieren und Ihren Mangel an Höflichkeit zu einem Verfahrensfehler hinreißen lassen, so haben Sie sich geirrt, Sir. Ich bin weder von gestern noch aus einem anderen Land. Ich sehe, was Sie vorhaben. Aber ich möchte Sie daran erinnern, Mr. Valdez, daß ich der Richter bin und Sie der Angeklagte und daß ich die rechtlichen Fallstricke derartiger Manipulationen kenne. Sie werden in diesem Saal nicht den Ton angeben, sondern ich. Wenn Sie also darauf bestehen, nicht aufzustehen, wenn Sie sich an das Gericht wenden, dann bleiben Sie eben sitzen. Sollten Sie dennoch aufstehen, werde ich dies als eklatante Ungebühr werten und am Ende des Prozesses -183-
in meine Überlegungen mit einbeziehen.« Er nahm Ramóns in Druckbuchstaben abgefaßten Antrag zwischen Daumen und Zeigefinger, als wäre es eine schmutzige Windel. »Was Ihren Antrag auf Befangenheit anbelangt, so ist er hiermit abgelehnt.« Er warf das Blatt in einen Papierkorb. »Lassen Sie die Geschworenen herein.« Der Sekretär drückte auf einen Summer, um die zwölf Geschworenen im Raum nebenan aufzurufen. Sofort öffnete sich die Tür. Mrs. Inez Gardner, eine fettleibige Schwarze, kam herein und sah sich zu ihrer Überraschung den Kameras gegenüber. »Auf ins Fernsehen, Leute!« sagte sie zu den anderen Geschworenen, die im Gänsemarsch hinter ihr kamen. Das Publikum brach in Gelächter aus, selbst Richter Reynolds gestattete sich ein kleines Grinsen. Nur Phyllis, die das Kinn auf die Hände gestützt hatte, lächelte nicht. Die gute Laune legte sich, als es sich die größtenteils aus weißen Frauen mittleren Alters zusammengesetzte Jury auf den mit blauem Polyester bezogenen Drehstühlen bequem gemacht hatte. Ramón und ich waren während der Auswahl über die Zusammensetzung der Geschworenen heftig aneinander geraten. Es stimmt natürlich, daß ich nicht die geringste Absicht hatte, mich da hineinziehen zu lassen, aber die Kriterien, nach denen er seine eigenen Geschworenen auswählte, waren so widersprüchlich, daß ich praktisch gezwungen war, mich einzumischen. Meine langjährige Erfahrung beim Einschätzen dieser Leute, ihrer Verhältnisse, ihrer Vorlieben und Aversionen, versteckten Vorurteile und offensichtlichen Sympathien, ihrer Religion, ethnischen Zugehörigkeit und tausend anderer Kleinigkeiten, die eine erfolgreiche Jury -184-
ausmachen mit anderen Worten eine, die für Sie stimmt -, machen es mir unmöglich, untätig dabeizusitzen und zuzusehen, wie Ramón ausgerechnet jene wählte, die ihn mit Sicherheit nach San Quentin schicken würden. So warf Ramón in seinem ungeheuerlichen Hochmut sämtliche Minderheiten aus dem Gremium. Phyllis sah sich in der ungewöhnlichen Situation, einen Antrag gegen die Verteidigung einzubringen, in dem sie Ramón Sympathien für weiße Anglos vorwarf! So wählte man denn als Kompromiß rasch noch drei Farbige, nachdem Reynolds gedroht hatte, das ganze Gremium nach Hause zu schicken und einen neuen Auswahlprozeß anzusetzen. Clay, der Ramón bei der Auswahl freie Hand gelassen hatte - als wäre er zu einem zweiten Pimienta und folgsamen Anhänger des Santeria-Priesters geworden -, hatte Ramón gedrängt, Reynolds seine Drohung wahr machen zu lassen. Ich war seiner Meinung. Bei Mordfällen gilt, je mehr Zeit bis zum Prozeß vergeht, desto besser für den Angeklagten. Beweise können verändert oder verlegt werden, Zeugen können sterben oder nicht mehr zu erreichen sein, und dann kann es passieren, daß die Leute, die tatsächlich aussagen, feststellen müssen, daß ihre Erinnerung an die Ereignisse längst nicht mehr so scharf und überzeugend ist wie früher. Aber Ramón wollte davon nichts hören; er verliebte sich in seine neun gottesfürchtigen weißen Anglo-Christen und glaubte, sie allein würden ihn retten. Als ich mir jetzt ihre Gesichter ansah, konnte ich als Anwalt nur wütend den Kopf schütteln. Persönlich freilich war ich ganz zufrieden. Er hatte sich die Schlinge damit selbst um den Hals gelegt. Sollte er doch, es war schließlich sein gutes Recht. Jetzt überflog Richter Reynolds die Gesichter der Geschworenen, um sicherzugehen, daß es sich auch -185-
tatsächlich um die Leute handelte, die man ausgewählt hatte. Er senkte den Blick, räusperte sich und verlas Anklage und Aktenzeichen. »Guten Morgen, meine Damen und Herren. Nun, der Tag ist gekommen, auf den wir all die Monate hingearbeitet haben. Sie entscheiden hier über die Wahrheit. Sie entscheiden darüber, ob die Angeklagten, Ramón Valdez und José Pimienta, der Verbrechen, derer man sie bezichtigt, schuldig sind oder nicht. Es ist eine schwere Aufgabe, aber ich bin sicher, Sie werden sie gut bewältigen. Um die Angeklagten für schuldig zu befinden, müssen Sie über jeden berechtigten Zweifel hinaus von der Richtigkeit der vorgebrachten Anklagen überzeugt sein. Nun, ich denke, jeder von Ihnen weiß, was ein berechtigter Zweifel ist?« Eine rein rhetorische Frage, aber der Richter machte den Fehler, vor dem nächsten Satz eine oder zwei Sekunden verstreichen zu lassen. »Ich weiß es!« rief Mrs. Gardner und hob die Hand. »Ich danke Ihnen, Ma'am, ich bin sicher, Sie wissen es. Aber nur um sicher zu gehen, daß es auch jeder weiß, lese ich Ihnen die Definition vor, die das höchste Gericht unseres Landes in seiner Weisheit zum Prinzip gemacht hat. Danach ist berechtigter Zweifel mehr als bloßer Zweifel, da schließlich alles Menschliche einem eingebildeten Zweifel unterworfen sein kann. Es ist vielmehr der Zustand…« Ich versuchte, es mir bequemer zu machen, und ignorierte das Kuddelmuddel unausgegorener Ansichten über Zweifel, das kalifornische Richter zu Beginn eines jeden Verfahrens loswerden müssen, und das, obwohl sie genau wissen, daß es letztlich die lächelnden Gesichter der Angeklagten und die gedrechselten Argumente -186-
leidenschaftlicher Anwälte sind, die die Geschworenen überzeugen. Wenn die Geschworenen Ihren Mandanten sympathisch finden, dann werden sie auch einen Grund finden, ihn freizusprechen - und wenn dem nicht so ist, dann wird alle Logik und Überzeugungskraft der Welt ihn nicht freikriegen. »Mag sein, daß die beiden Parteien eine einleitende Erklärung abzugeben haben«, sagte Reynolds. »Aber denken Sie daran, daß die Ausführungen der Anwälte keine Beweiskraft haben. Beweismittel - mit anderen Worten die Wahrheit - ist nur, was in diesem Zustand vorgebracht oder Ihnen, den Geschworenen, zur direkten Inaugenscheinnahme vorgelegt wird. Die Ausführungen der Anwälte und ihre Fragen dürfen nur insofern berücksichtigt werden, als sie das Licht der Wahrheit auf die Beweise werfen. Nun denn, das Volk wird die erste Eröffnungserklärung abgeben. Die Verteidigung kann eine eigene Erklärung abgeben, falls sie es wünscht, obwohl« hier warf er Ramón, der seine handschriftlichen Notizen studierte, einen warnenden Blick zu -, »obwohl die Verteidigung von diesem Recht in den meisten Fällen erst Gebrauch macht, nachdem die Anklage ihren Fall vorgetragen hat. Nun hat, wie Sie gesehen haben, einer der Angeklagten, Mr. Valdez, es vorgezogen, von seinem verfassungsmäßigen Recht Gebrauch zu machen und als sein eigener Rechtsbeistand aufzutreten. Ich erinnere Sie daran, daß Sie aus der Tatsache, daß Mr. Valdez sich selbst verteidigt, keinerlei Schlüsse ziehen dürfen. Aus Sicherheitsgründen jedoch wird Mr. Valdez seine Ausführungen vom Tisch der Verteidigung aus machen. Hat die Anklagevertretung eine Eröffnungserklärung?« »Haben wir, Euer Ehren.« Phyllis stand auf, ihre ganzen Einsdreiundfünfzig im feurigen Rot. Ihr Ermittler, Detective Samuels, sah sie voll -187-
Bewunderung an; offensichtlich erwartete er Großes von ihr. Sie verließ ihren Tisch, trat ohne ein Wort der Warnung hinter uns und stellte sich zwischen Ramón und José. »Das sind die Angeklagten. Das sind die Männer, denen man eines der scheußlichsten Verbrechen in der Geschichte von Los-Angeles vorwirft, ein Verbrechen, das eine bösartige Gleichgültigkeit gegenüber Leben, Eigentum und menschlichem Leid an den Tag gelegt hat. Ich möchte, daß Sie daran denken, meine Damen und Herren, und zwar jedesmal, wenn Sie die beiden ansehen. Und auch das sollen Sie nicht vergessen.« Sie trat forsch an eine Staffelei, die sie vor der Geschworenenbank aufgebaut hatte, und enthüllte einen Karton, auf dem die vergrößerten Fotos von sechs Leichen klebten. »Das sind die Opfer dieses Verbrechens. Drei Männer, zwei Frauen und ein kleines Mädchen von sieben Jahren, ein Flüchtlingskind aus Vietnam, das infolge der Handlungsweise dieser Männer zu Tode kam, noch bevor es wußte, was es vom Leben erwarten konnte. Jedesmal, wenn Sie die Angeklagten sehen, möchte ich, daß Sie an diese Opfer denken und daran, daß sie für deren Tod verantwortlich sind.« Worauf Leben in Clay kam. Er stand auf und knallte seine Papiere auf den Tisch. »Einspruch, Euer Ehren! Diese Ausführungen sind dazu angetan, Vorurteile zu bilden, und gehen von Fakten aus, die nicht gerichtsbekannt sind!« »Ich bitte die Verteidigung, nicht zu unterbrechen«, warnte Reynolds. »Es handelt sich um die Eröffnungserklärung. Die Anklagevertretung hat in diesem Stadium das Recht zu sagen, was sie will.« -188-
»Aber Euer Ehren, der Vortrag entbehrt jeder Grundlage. Es wurde kein Beweis vorgelegt, der meinen Mandanten in Zusammenhang mit den Leuten auf diesen Fotografien gebracht hätte. Die Anklage verletzt dadurch aufs gröbste das Recht meines Mandanten auf eine unvoreingenommene Jury.« Ramón verfolgte die Konfrontation gleichgültig. Pimienta starrte, wie schon die ganze Zeit über, auf die Tischplatte; er schämte sich, der Welt in die Augen zu sehen. Geschworene und Publikum verfolgten die geheimnisvolle Sprache mit hochgezogenen Brauen und einem besorgten Ausdruck. Sie wußten, es passierte hier etwas Wichtiges, aber sie wußten nicht, was. »Ihr Einspruch ist zu Protokoll genommen, Herr Anwalt. Mrs. Chin, fahren Sie fort.« Clay hob die Hände, frustriert und mit theatralischer Hilflosigkeit. »Euer Ehren, ich muß das Gericht ersuchen…« Reynolds drehte seinen Sessel in seine Richtung, er hatte Mühe, sich zu beherrschen. »Mr. Smith, wenn ich noch ein Wort von Ihnen über…« Ein tiefes Rumpeln unterbrach den Richter - als fahre ein Güterzug durch den Saal. Er sah sich nervös um. Andere, die sich in Kalifornien besser auskannten als er, rannten bereits in Richtung der Ausgänge. Dutzende folgten, und bald verstopften schreiende Menschen die Türen. Daß sie zu ihrer eigenen Beerdigung kommen würden, hatte keiner erwartet. Der Boden begann zu beben, als stünde das Gebäude auf einem Rührwerk; die Wände ächzten. »Qué coño es esto, chico?« fragte Ramón. Was zum Teufel ist das? Das Ächzen wurde zu einem lauten Gebrüll, wie der Angstschrei ganzer Herden von Löwen, Bullen und -189-
Elefanten, ein grausiger Chor der Zerstörung. Die Wände bekamen Risse, die Gitter von den Deckenlichtern schwankten; einige fielen herunter. Mrs. Gardner stand auf, faltete die Hände und hob den Blick zum Himmel. »Tut mir leid, Herr, bitte, vergib mir, Herr!« schrie sie, dann sah sie sich zu Boden geworfen und landete neben ihren Kolleginnen, die sich Notizblöcke über den Kopf hielten. Richter Reynolds blieb wie gelähmt sitzen und sah sich das Spektakel ehrfürchtig an. Lucinda bahnte sich einen Weg durch die Menge, die aus dem Saal drängte, sprang über die Schranke und kam auf mich zu. Ich packte sie am Arm und riß sie mit mir unter den Tisch. Ramón kam wie ein Wiesel hinter uns her. »Terremoto!« schrie ich. Der Lärm wurde langsam unerträglich, das Donnern und Heulen einer unwiderstehlichen Kraft, die nicht nachlassen wollte. Ich spürte den Boden unter mir schwanken, als das Gebäude sich auf den nachgiebigen Trägern zwischen dem fünften und sechsten Stock drehte. Ein weiterer Lampenrost fiel, diesmal genau auf den Tisch über uns, an dem wir eben noch gesessen hatten. Ich blickte nach rechts und sah Pimienta, Clay und Detective Samuels unter dem Tisch kauern. Die Reporter und Kameraleute hinter uns hatten die Flucht ergriffen, nur ein schlaksiger Kameramann von CNN drehte mit unglaublicher Gelassenheit weiter - als zeichne er von der Pressetribüne der Rose Bowl aus ein Footballspiel auf. Eine Wand brach zusammen, Wolken aus Staub stiegen auf. Der Wasserspender am hinteren Ende des Saals kam aus der Wand, Wasser schoß aus dem Rohr und wurde zu einem schmierigen Bach, der sich auf dem grauen Teppich ausbreitete. Rund um uns tobte der Lärm einer undefinierbaren Zerstörung, Dinge gingen zu Bruch oder wurden auf irreparable Weise beschädigt. Das Chaos um -190-
uns war zum Verrücktwerden. Dann, als es schien, als hätte der Krach seinen Höhepunkt und die Wände die Grenzen ihrer Belastbarkeit erreicht, hörte das Beben auf. Wie eine gähnende Leere legte sich die Stille über uns, als hätte irgendwo ein großer Richter ein Machtwort gesprochen: Bis hierhin und nicht weiter. Ich hörte das Bimmein Hunderter, Tausender von Alarmglocken überall in der Stadt, eine Warnung, die viel zu spät kam. Ich spähte unter dem Tisch hervor und stand auf, bereit, sofort wieder unterzutauchen, sollte das Beben weitergehen. Aber es kam nichts - der Zorn war verraucht. Die nächsten beiden Tage gab es kein anderes Thema als das Beben. Es dauerte Wochen, der Prozeß war bereits wieder aufgenommen, bis die Seismologen an der Technischen Universität von Kalifornien das Epizentrum ausmachen konnten eine Stelle westlich des Broadway, östlich der Spring Street, nördlich des Freeway und südlich der First Street, mit anderen Worten zirka hundert Meter vom Gerichtsgebäude. Nervlich waren wir danach alle fertig. Beim geringsten ungewohnten Geräusch wachte ich nachts auf und wartete ängstlich auf das tiefe Grummeln. Lucinda ließ sich zwar durch nichts in ihrer Nachtruhe stören, war jedoch tagsüber ebenfalls fahrig und schlecht gelaunt. Zum erstenmal, seit sie eingezogen war, stritten wir uns über Dinge, von denen wir bereits während des zornigen Wortwechsels wußten, daß sie unwichtig waren und nichts weiter als ein Vorwand, das scheußliche Gefühl loszuwerden, die Katastrophe könnte sich jeden Augenblick wiederholen. In einer Hinsicht wirkte sich das Erdbeben zu Ramóns Vorteil aus - das Gerichtsgebäude wurde für eine Woche -191-
geschlossen. Was mir Gelegenheit gab, Ermittlungen über die Zeugen anzustellen, die Phyllis aufzurufen gedachte. Der erste Name auf Phyllis' Liste lautete Remigio Flores; er war der Parkplatzwächter, der Ramón und José in Schnitzers Schmuckkästchen hatte eilen sehen. Er hatte eine Adresse in El Sereno, einem Viertel in Los Angeles, dessen Name frei mit »Wachmann« zu übersetzen ist. Die Nachbarn jedoch sagten, der Mann sei schon vor einem Monat weggezogen, unter Polizeischutz. Seine Vermieterin, eine Frau mit honigfarbener Haut und einem Lächeln voll schiefer Zähne, sagte, die beiden uniformierten Polizisten wären mitten in der Nacht gekommen. Sie wären mit Flores in das drei mal vier Meter große Zimmer gegangen, das sie ihm vermietet hatte, und hätten ihm geholfen, seine Sachen zu packen. Sogar die ausstehende Miete für die letzten beiden Monate - 345,50 Dollar - hätten sie bezahlt. »Er hat doch nichts angestellt, oder?« fragte sie. »Nicht, daß ich wüßte.« »Lebt er noch? Wenn in meinem Land die Polizei jemanden mitten in der Nacht holt, dann kommt er nie wieder zurück.« »Wo kommen Sie denn her?« »Aus Guatemala, aus Huaquexchipotl, einer kleinen Stadt in den Bergen.« Sie stand auf der Schwelle ihrer Wohnung, eine feiste Schulter gegen den Türrahmen gelehnt. Hinter ihr balgten sich zwei kugelrunde schwarzhaarige Rotznasen mit schokoladenverschmierten Mäulern auf einer durchgesessenen Couch um einen Spielzeuglaster. Der Geruch kochender Bohnen kam aus der Tür. An der Wand hing ein zerknitterter Wandteppich mit dem Letzten Abendmahl: Judas verstreut das Salz, und Johannes fragt: -192-
Bin ich es, Herr? »Na, in diesem Land ist das genau anders rum, das dürfen Sie mir glauben. Wenn Sie die Polizei abholt, dann verschwinden Sie nicht, die bringen Sie nur woanders hin. Wie eine trauernde Seele, die keine Ruhe finden darf.« »Aih, dios mío, ein schreckliches Schicksal. Da ist es ja besser, tot zu sein und seinen Frieden zu finden.« »Ja, es ist schrecklich, da haben Sie recht. Wissen Sie, wo ich ihn finden könnte?« Die Tribünen auf dem Fußballplatz im Griffith Park waren bereits voll, als ich dort ankam, ein Meer brauner Gesichter hinter den Bannern der beiden Teams - blauweiß für die Colonials aus Antigua, schwarzgelb für die Senators aus Guatemala City. Mütter verteilten Limonade und Tacos aus großen Blechtöpfen an ihre Brut, kichernde Dienstmädchen und Haushälterinnen zeigten einander ihre Favoriten in den jeweiligen Teams. Alte Männer mit schwieligen Händen stritten sich über die Spielstrategie der amtierenden Weltmeister; gelegentlich kam einer mit einem Bauchladen die Bänke entlang und verkaufte kandierte Kokosbällchen, scharf gewürzte heiße Maiskolben, von denen man gelbe Finger bekam. Auf dem Spielfeld liefen sich junge Männer warm, die den Rest der Woche Autos wuschen, Tanks füllten, Geschirr abräumten, Gärten pflegten oder sich als Tagelöhner durchschlugen. Sie trugen leuchtende, frische Satintrikots und sonnten sich in der Bewunderung, die ihnen von den Tribünen her entgegenschlug. Der Mannschaftskapitän der Colonials rief einen jungen Mann von vielleicht zwanzig mit schwarzen Locken, heller Haut und tiefliegenden braunen Augen zu sich. »Remigio Flores?« fragte ich. -193-
Er sah mich argwöhnisch an, eine nervöse Katze, die auf das offene Fenster schielt. »Wenn ja, was geht Sie das an?« fuhr er mich auf spanisch an. »Ich bin ein vom Gericht bestellter Ermittler im Fall Valdez und Pimienta.« »Wer? Was?« »Die Morde bei dem Juwelier«, sagte ich. »Ah, no, nichts da, ich sage nichts«, antwortete er und ließ mich stehen. Ich folgte ihm. »Warum nicht? Wegen der Polizei?« Er fuhr herum und spuckte vor mir auf den Boden, nahe genug, daß sich einige Tröpfchen auf meinen Schuh verirrten. »Ich habe keine Angst. Aber ihr seid verrückt, in euch ist der Teufel gefahren. Ich habe schließlich gesehen, was die gemacht haben, als sie da rein sind.« »Was haben Sie gesehen?« »Ich habe sie mit ihren Waffen hineingehen sehen, total zugedröhnt, wie von einem andren Planeten sahen die aus, mano. Und der Wagen erst, in dem stank es nach Koks und PCP. Das waren doch locos. Ich habe gesehen, wie sie rein sind und einfach alle niedergemacht haben - wie einen Bananenbaum, mit einem Machetenschlag, zackl Das war's!« »Haben Sie durch das Schaufenster gesehen, als sie rein sind?« »Na sicher. Die haben das alles geplant. Zuerst haben sie die Glaskästen zerschlagen, dann fingen sie zu schießen an.« »Hat der Wachmann seine Waffe als erster gezogen?« -194-
»Mehr will ich darüber nicht sagen, okay?« »Hat er, oder hat er nicht?« Eine schwere Hand legte sich auf meine Schulter. »Ej, Kumpel, der Typ will nicht mit dir reden.« Ich drehte mich um und starrte auf die ausgeprägte Brustmuskulatur eines Surfertyps vom Manhattan Beach, einsdreiundachtzig, blond, braungebrannt, ein Rücken wie ein afrikanisches Schild. »Wer zum Teufel bist du denn, Kumpel?« Ich wischte seine Hand von meiner Schulter. Der Surferboy zeigte mir eine Marke von der Stadtpolizei Los Angeles. »Detective Moat, Stadtpolizei. Er steht unter Polizeischutz, lassen Sie ihn zufrieden.« Ich wollte mich nicht unterkriegen lassen und zeigte ihm meinen Ausweis. Moat studierte das schmerzgezeichnete Gesicht auf meinem Ausweis und reichte ihn mir lächelnd zurück. »Cool, Typ, ein lausiger Privatschnüffler. Na und?« »Ich habe ein Recht darauf, mit ihm zu reden.« »Wenn er mit Ihnen reden will. Er hat aber eben gesagt, daß er nicht will.« »Hat er nicht. Woher wollen Sie das wissen?« »Ándale, pues, ¿me tomas por otro gabacho pendejo?« sagte Moat mit überdeutlich mexikanischem Akzent. »He, halt die Luft an. Ich habe nur gesagt, daß ich mit ihm reden will, und Sie hindern mich daran. Ich werde das dem Gericht melden müssen.« »Du kannst dir deine Meldung ins Arschloch schieben.« »Kann ich nun mit ihm reden oder nicht?« Moat zögerte, dann rief er Remigio herüber. »Tú quieres -195-
hablar con este gringo?« »Ich bin kein Scheißgringo«, sagte ich. »Nein, Mann, ich sage nichts.« Moat drehte sich um und öffnete die Arme. »So ein Pech.« Remigio sah mich haßerfüllt an und spuckte dann noch mal aus. Diesmal landete die Spucke auf meinem Schuh. »Excusa«, knurrte er. In diesem Augenblick sah ich die Tätowierung auf seinem linken Unterarm, eine Schlange und einige Sterne, das Symbol des Abakuá-Kults, Anhänger von Shangó. »Remigio«, rief ich, als er wegging, »Shangó kuramá, ya kurumamá, ya kurumá.« Er drehte sich um und sah mich mit maßlosem Entsetzen an, dann lief er davon. Moat schüttelte verzweifelt den Kopf. »Was zum Teufel haben Sie gemacht?« Er rannte Remigio nach und holte ihn am Mulholland Fountain auf dem Los Feliz Boulevard ein. Moat gab ihm eine Ohrfeige, und Remigio beruhigte sich schließlich wieder. Ich wandte mich auf dem Boulevard links und kutschierte den Hügel hinauf. Ich hatte Remigio Angst einjagen wollen, indem ich die rituellen Worte wiederholte, die der Gott Shangó spricht, wann immer er von einem seiner Anhänger Besitz ergreift: Du kennst mich gut genug, um nicht von mir zu sprechen. Ich wußte, daß ihm das angst machen würde. Aber ich hätte wissen sollen, daß das nichts war gegen seine Angst vor der Polizei.
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11 Das Haus stand in Flammen, aus den Wänden wuchsen rote Feuerfinger, die nach mir griffen, um mir für den Rest meiner Tage weh zu tun. Ich hörte das Stöhnen, die Rufe der anderen, die in den brennenden Räumen gefangen waren; ihre Schmerzensschreie vereinten sich zu einem unerträglichen Geheul. Die Ausgänge hinter mir waren geschlossen, die Fenster verschwunden, hohe, glatte Feuerflanken tanzten um mich herum. Übelriechende Wolken aus grauem und blauem Rauch wallten durch den Raum, der Gestank von Schwefel und brennendem Haar war zum Ersticken; würgend schnappte ich nach Luft. Ich hatte keine Ahnung, wie ich hinauskommen sollte, ich wußte nur, daß ich vorwärts mußte, da sich hinter mir, krachend und zischend, eine zehn Meter hohe Feuerwand befand, ein vielarmiger Gott der Zerstörung, der sich schmatzend von Leben nährte. Nur der Boden, der mit einer zähen, griesigen Flüssigkeit bedeckt war, die nicht in Flammen stand, wurde von einem Luftzug gekühlt, der von irgendwo vor mir kam. Ich wußte nicht mehr, wie ich in diesen alles verschlingenden Raum gekommen war oder warum, ich war mir nur noch - tief und dunkel - einer Mission bewußt, die darin bestand, eine Botschaft zu überbringen, etwas zu tun, was man nicht vergessen würde. Ich kämpfte mich vorwärts, den Flur entlang, die Flammen griffen nach mir, die Schreie wurden immer lauter und eindringlicher. Der Flur wurde mit jedem Schritt enger, so daß die Flammen auf wenige Zentimeter heranrückten, die Hitze versengte mir die Kleidung, der Rauch verätzte mir die Lunge. Ich fiel zu Boden, um auf allen vieren weiterzukriechen, und sah, daß es sich bei der -197-
Flüssigkeit um Blut handelte. Ich spähte nach vorn. Eine weitere Wand versperrte mir den Ausgang. Durch die rasende Feuersbrunst sah ich meinen Vater, an ein Kreuz geschnallt, Röhren und Schläuche hingen aus seinem Körper; ich wußte, er war dazu verdammt, in alle Ewigkeit zu brennen. Seine Schmerzen, sein Leid ließen mich aufschreien, ich brüllte vor Abscheu und Angst, bis ich dachte, es gehe nicht mehr, dann merkte ich, daß gar kein Ton kam und meine Worte nichts als Gemurmel waren, das auf der Stelle von den höhnischen, rotgelben Flammen verschluckt wurde, die mich zu ersticken drohten… »Charlie, Charlie!« Lucinda saß auf meiner Brust, die Knie auf meinen Schultern, tiefe Sorgenfalten auf der Stirn, der Schreck stand ihr in die weit aufgerissenen Augen geschrieben. Sie bewegte sich zur Seite, ich setzte mich auf. Der Kissenbezug war durchgeschwitzt, mein T-Shirt patschnaß. Mein Herz raste, verzweifelt stürzte es vorwärts, um dem Rhythmus des Lebens einen Schritt voraus zu sein, noch immer auf der Suche nach einem Ausgang. Eine rosagraue Dämmerung spitzte über die Hügel des Parks. »Du hast geschrien wie ein Wahnsinniger«, sagte sie. »Ich mußte dich festhalten, so hast du um dich geschlagen.« »Es ist nichts, nur ein Traum«, sagte ich und versuchte meine Fassung wiederzugewinnen. In meinem Kopf summte es, ich spürte noch immer die Flammen an meinem Körper lecken. »Was hast du geträumt?« »Nichts. Ich, ich habe geträumt, ich sei in der Hölle, das ist alles.« -198-
»In der Hölle«, sagte sie ernst. Dann: »Hast du deinen Vater wiedergesehen?« »Er war in den Flammen. An einem Kreuz.« Sie legte sich neben mich und schwieg eine Weile. Beide spürten wir, wie das Ticken des Wahnsinns langsam verschwand. »Du mußt unbedingt mit Juan Alfonso sprechen«, sagte sie. »Ich sage dir, irgend jemand hat dich mit einem Fluch belegt, irgend jemand will dir Böses.« »Sei nicht albern, das ist doch Hokuspokus.« Ich stand auf und kam mit einem Handtuch zurück. »Und außerdem, wer sollte so etwas tun?« Ich bin fünfzehn und versuche genug Abonnenten zu werben, um mir das Moped zu kaufen, für das mein Vater nicht bezahlen will. Der Chef der Werberkolonne hat uns nach Homestead gefahren, wo wir mit unserem Spruch von Tür zu Tür gehen sollen. Es ist Nachmittag, die Sonne brennt herab, am Ende einer geteerten Straße, die abrupt vor einem Feld aufhört, steht hohes Gras. Ich klopfte an der Tür des letzten Hauses in der Straße. Eine Frau Mitte Dreißig mit offenem Blick und schwarzem Haar öffnet mir. Ich sage mein Sprüchlein auf. Sie lächelt und sagt, sie nimmt Vanidades. Sie bittet mich ins Haus. Es ist ein großes weißes Haus mit farbigen Gittern und einem Mosaik auf dem Fußboden. Sie läßt mich allein im Wohnzimmer, während sie im Schlafzimmer verschwindet, um ihr Scheckheft zu holen; ich staune über das, was ich sehe: ein Altar, der die ganze Wand ausfüllt, vom Boden bis zur Decke. Er ist reich geschmückt, mit Blumen, Obst, Heiligenbildern, magischen Utensilien mir ist als musterten mich von diesem überladenen Altar aus unzählige neugierige kleine Wesen. Die Frau kommt -199-
wieder, einen Scheck in der Hand, und sieht mich fasziniert vor den Opfergaben stehen. Sie lächelt, runzelt die Stirn und legt mir eine Hand auf den Kopf. »Komm«, sagt sie und gibt mir ihre Hand, »jemand hat dich mit einem Fluch belegt, wir müssen dich reinigen. Komm, hab keine Angst, mein Schöner, Frauen werden dir nie was tun. Komm.« Sie führt mich in einen Nebenraum, setzt mich in einen Korbstuhl, besprengt mich mit Weihwasser, nimmt eine goldene Schere und schnippelt damit rund um mich in der Luft. Sie hat die Augen geschlossen und rezitiert Sprüche in einer mir unbekannten Sprache. Sie nimmt eine brennende Zigarre - wer hat sie angezündet? wann? - und bläst Rauch über mich. Als sie fertig ist, sagt sie noch: »Jemand Finsteres will dir Böses. Ich habe mein Bestes getan. Dir wird nichts passieren. Deine Mutter wird ihre Fruchtbarkeit verlieren. Dein Vater…« »Was ist mit meinem Vater?« »Dein Vater wird immer bei dir sein. Du wirst wohlhabend werden, du wirst arm werden, dann wieder wohlhabend, und man wird deinen Namen nie vergessen.« Sie stößt einen Seufzer aus, blinzelt und reicht mir den Scheck. »Und vergiß nicht, zwei Jahre zum Preis von einem, okay?« Ich gehe nach Hause und klappere die nächsten zwei Monate über die botánicas von Little Havana ab. Ich sammle Briefmarken, Bücher und Gebete, lerne alles über die magischen Kräfte von Kokosnüssen, heiligen Steinen und Figuren, bis ich eines Tages nach Hause komme und meinen Kessel im Müll finde, die Steine zerstreut - ein katholischer Priester ist dabei, das Haus zu segnen. »Nie wieder!« sagte meine Mutter, »nie wieder.« -200-
Zwei Monate später stellte man Krebs bei ihr fest, man entfernt ihr die Gebärmutter. Nie wieder. Der Koch war ein untersetzter, pockennarbiger Kerl ganz in Weiß, die Butter und Kräuter, die er auf die Focaccia streut, haben ihre Spuren auf der Schürze hinterlassen. Er warf den Pizzateig auf die Marmorplatte und brachte ihn in Form. Da er sich beobachtet wußte, gab er seinen Bewegungen das gewisse Etwas, damit auch der letzte wußte, daß er auch als dunkelhäutiger Mexikaner nicht weniger Künstler war als die milchigen gabachos, die neben ihm die Teigstücke bearbeiteten, die man im Crocker Tag für Tag aß. Jemand ließ ein Glas fallen, und der Koch hob den Blick von seiner Arbeit. Er sah mich und lächelte. »Hola, Pancho, cómo estás?« »Ausgezeichnet, Señor Morell. Und Ihnen?« antwortete er auf englisch, fest entschlossen, mit seinen neuerworbenen Sprachkenntnissen zu renommieren. Das letztemal, als ich Pancho gesehen hatte, war er gerade verhaftet worden. Er hatte angeblich Kokain gekauft, und das nur zwei Tage nach seiner Entlassung aus Chino, wo er drei Jahre wegen bewaffnetem Raubüberfall gesessen hatte. Ich war der einzige, der ihm seine Geschichte abgekauft hatte, als er behauptete, die Polizei hätte den Falschen erwischt, er hätte nur ein Bier getrunken, als die Drogenfahnder die Billardhalle stürmten. Es gelang mir, drei Leute aufzutreiben, die bezeugen konnten, daß Pancho gerade erst hereingekommen war und der wirkliche Dealer, der ebenfalls Francisco hieß, sich durch die Hintertür verdrückt hatte. Der Richter wies den Fall ab und tadelte die Polizisten für ihren »Übereifer«. »Wie geht's Carmen?« -201-
»Danke gut. Sie bekommt bald ein Kleines.« »Glückwunsch! Wie viele sind es dann?« »Vier Mädchen und drei Jungen. Wir haben schon einen Namen. Adolfo Fidel.« »Auf daß er groß und stark werde!« »Ich danke Ihnen, Mr. Morell.« Ich nannte dem Oberkellner meinen Namen. Er sah auf der Liste nach, nahm eine Speisekarte vom Stapel und führte mich durch das Meer von Tischen. Es wimmelte von Angestellten der mittleren Führungsebene, die in Rudeln aus ihren Horsten in den Granit- und Glastürmen des Viertels kamen. »Sind Sie mit Francisco befreundet?« wollte er wissen. »Er war ein Mandant von mir. Wie macht er sich denn so?« »Nun, ich sage es nicht gern, aber es ist furchtbar. Er glaubt, er macht Tortillas, wenn er Focaccia machen sollte, alles ist trocken und viel zu lange gebacken. Man hat es ihm hundertmal gesagt, aber er will einfach nicht hören. Ich fürchte, er wird bald entlassen. Hier ist der Herr.« Clay saß in der gepolsterten Sitzecke, einen extragroßen Martini vor sich auf der Marmorplatte. Er studierte einen Bericht und machte mir Zeichen, mich zu setzen. »Sehen Sie sich das an«, sagte er und reichte mir den Akt. »Der Bericht des Leichenbeschauers. In dem heißt es, bei dem kleinen Mädchen hätten sich Anzeichen für sexuellen Mißbrauch gefunden. Chin hat ihn diese Woche erst bekommen. Jetzt werden sie die Anklage dahingehend ändern. Stellen Sie sich mal vor, was die beiden für eine Chance haben, wenn sie nicht nur als Mörder, sondern auch noch als Kinderschänder dastehen.« »Woher wollen die wissen, daß das im Laden passiert -202-
ist?« »Ach, Charlie, Sie wissen so gut wie ich, daß das völlig schnuppe ist. Denen geht es allein darum, bei der Jury noch mehr Vorurteile aufzubauen. Selbst wenn sie geneigt wären, im Fall der Morde Totschlag zu akzeptieren, aber Kinderficker lassen die nie wieder auf die Straße.« »Was meint denn Reynolds dazu?« »Er muß es zulassen, was soll er machen? Sie können die Anklage bis zum Schluß ändern. Auch wenn's niemandem nützt, ich weiß, daß das nicht unsere Jungs waren. Wie es aussieht, hatte die Kleine schon seit den Lagern in Malaysia eine Infektion in der Vagina. Würde mich nicht wundern, wenn die Großmutter sie auf den Strich geschickt hätte.« »Wieso?« »Na für Geld, was sonst? Eine Menge alter Knacker sind ganz scharf darauf, so kleine Dinger zu pimpern. Haben Sie Hunger? Ich sterbe fast.« Clay hob die Hand. Ein hochgewachsener, schlanker Kellner ganz in Weiß mit einer rosa Fliege kam herüber, teilte uns mit, daß er Chuck heiße und uns bedienen würde, bevor er eine Litanei überteuerter Tagesgerichte herunterleierte. Clays Spekulationen über das kleine Mädchen hatten mir den Appetit verdorben, also bat ich um einen Teller Minestrone. Ein Hilfskellner kam an den Tisch. »Señor Morell?« »Si.« »Don Francisco schickt Ihnen das hier.« Er stellte mir ein Körbchen frischgebackener Focaccia hin. Der Duft von Rosmarin und Knoblauch kitzelte mir die Nase. Pancho lächelte vom anderen Ende des Raums -203-
herüber. »Sag ihm, es ist der beste bolillo, den ich je gegessen habe.« Der Kleine nickte glücklich. Ich winkte Pancho zu, der zurückwinkte, um sich dann wieder über seinen Teig herzumachen. »Geben Sie mir mal ein paar ab«, sagte Clay. »Mhm, die sind gut! Na jedenfalls«, fuhr er zwischen Fladen und Martini fort, »der Fall sieht für unsere Jungs trostloser denn je aus.« »Hat nie einer behauptet, daß es leicht sein würde.« »Das nicht, aber jetzt ist es ein Ding der Unmöglichkeit. Deswegen hat sich mein Junge als Zeuge zur Verfügung gestellt.« »Schon wieder?« »Kennen Sie das alte chinesische Sprichwort nicht, nachdem der Weise seine Meinung ständig ändert. Ich habe eben einen Deal mit Chin abgeschlossen. Sie wird Totschlag mit mildernden Umständen empfehlen.« »Aber das wären doch nur sieben Jahre, höchstens.« »Stimmt genau. Könnte sogar sein, daß er nach dem Prozeß als freier Mann geht, bei all den Pluspunkten und so. Natürlich wird er dafür sorgen müssen, daß Valdez als einziger geschossen hat, daß er derjenige gewesen sei, der alles geplant hat, daß das Ganze eigentlich nur als Raubüberfall gedacht war und er sonst auch nicht mitgemacht hätte. Und daß Valdez dann ausgeflippt ist und unbedingt losballern mußte.« »Herrgott!« »Der kommt auch nicht mehr vor. Pimienta wird aussagen, daß das Ganze mit Religion nichts zu tun hatte. Und auch mit Santería oder was auch immer hätten sie -204-
nichts am Hut gehabt. Sie hätten sich das nur aus den Fingern gesogen, um den Leuten das Fell über die Ohren zu ziehen. Damit haben sie ihr Geld verdient, nachdem sie nach L. A. gekommen waren, damit und mit kleinen Koksdeals.« Clay schien richtig glücklich, als er mir das erzählte; er war erleichtert, wieder zum Kreis der Gewinner zu gehören. Chuck brachte eine mehlige Minestrone, grüne Erbsen auf Goldruteneintopf. »Na ja, das ändert dann ja einiges«, sagte ich und rührte um. »Ach was, nehmen Sie's nicht so tragisch. Wissen Sie, wenn Ihr Junge sich für schuldig erklärt, dann kriegt er nur noch lebenslänglich, ohne Aussicht auf vorzeitige Entlassung freilich. Aber allemal besser als die Gaskammer.« »Wenn dem so wäre, hätte er das schon lange gemacht.« »Hören Sie, Charlie, ich kenne Sie jetzt schon eine ganze Weile, und ich denke, Sie sollten sich abseilen. Sagen Sie, es gäbe einen Interessenkonflikt, lassen Sie sich was einfallen. Was soll das Ganze? Was haben Sie denn davon?« Einen Augenblick lang flatterte diese Aussicht vor mir wie eine leuchtendgelbe Fahne und knatterte im Wind der Freiheit. »Das kann ich nicht. Hören Sie, mal im Ernst, ich weiß, das hört sich lächerlich an, aber egal, was der Knabe angestellt hat, er braucht einen, der ihm hilft.« »Sie vergessen, daß er sich selbst verteidigt. Sie sind nicht sein Anwalt. Ich denke, es gibt da noch jemand, der sie eher überreden kann als ich. Da ist sie.« Mrs. Barry Schnitzer, geborene Barbara Taylor, trug ein weißes Kostüm von Ferré mit weißen Handschuhen und breitkrempigem Hut. Wie eine russische Großherzogin -205-
kam sie ins Restaurant. Angesichts ihrer Haltung suchte man unwillkürlich nach kleinen Mädchen, die Blütenblätter streuten, und Sklaven, die ihr die Schleppe trugen. Clay stand auf und küßte sie auf beide Wangen. Sie setzte sich auf die Bank und befreite die blonde Mähne, die ihr in glänzenden Kaskaden auf die Schultern fiel. Sie brachte ein graviertes Etui zum Vorschein und nahm eine Zigarette heraus, die Clay ihr sofort mit einem gierigen Lächeln ansteckte. Theatralisch, jede Bewegung genau berechnet, blies sie den Rauch aus, bevor sie mich anzusehen geruhte. »So sieht man sich wieder, Mr. Morell.« »Nun, meine Idee war das nicht. Ich habe zum Nachtisch nur poule sur le divan erwartet.« »Wie bitte?« »Ein schlechter Scherz. Seit wann arbeiten Sie beide denn zusammen? Ach, ich Dummchen, hab' ich doch glatt vergessen, Sie verkehren ja in denselben Kreisen. Na, dann sagen Sie mal, wann Sie über mein Leben entschieden haben, beim Diner in der Orangerie oder nach den Drinks im Riviera Country Club?« »Geben Sie mir doch eine Chance, Charlie.« »Wozu, ich kenne die Botschaft. Sie lautet folgendermaßen: Ich habe meinen Mann selig so sehr geliebt, daß ich nicht ruhen werde, bis ich Ihnen meinen letzten Cent gegeben habe, damit Sie den Fall vergessen. Wissen Sie, das ist wirklich phantasielos. Sie haben mir außer Geld nicht einen einzigen Grund genannt, warum ich aufhören sollte. Mir fallen jeden Tag Dutzende ein. Aber für Sie existiert nichts, was nicht mit Geld und Status zu tun hat. Terra incognita - haben Sie Ihr Latein noch parat, Clay? Der Weltraum. Es gibt noch andere Dinge als ein dickes Bankkonto oder« - ich befingerte das Revers -206-
von Clays Anzug - »britische Maßanzüge. Aber so was verstehen Leute wie Sie nicht. Wissen Sie was, Sie tun mir leid, ehrlich. Sie sind Gefangene Ihrer eigenen Sehnsüchte, Sie sind blind gegenüber allem außer dem Dollarzeichen.« »Es gibt sonst nichts, Mr. Morell«, sagte Mrs. Schnitzer und schnippte die Asche von ihrer Zigarette. »Ich glaube, ein gewisser Marx hat einmal über Materialismus und Marktwirtschaft geschrieben. Geld ist die westliche Welt.« »Muß wohl Grouchos verlorener Bruder gewesen sein. Sehen Sie doch, was aus Rußland geworden ist. Wie auch immer, Mrs. Schnitzer, auch der Westen ist nicht mehr der alte. Ehrlich gesagt, manchmal frage ich mich, ob wir noch die Vereinigten Staaten sind oder ob uns ein Scherz des Schicksals in ein großes Johannisburg verwandelt hat. Aber ich bin sicher, davon haben Sie noch nichts gemerkt.« Mrs. Schnitzer ließ mich geduldig ausreden. »Ich weiß nicht, was bemerkenswerter ist, Mr. Morell, Ihre Verachtung für unser System oder Ihr übersteigertes Selbstwertgefühl. Ihre Haltung ist, glaube ich, mit Diogenes und den Römern aus der Mode gekommen. Oder sind Sie der ehrliche Mann, den der Philosoph in Rom gesucht hat?« »Besser noch, Mrs. Schnitzer, Sie sind nahe dran. Nur daß es nicht Rom war, sondern Athen. Aber offensichtlich versteht man mich noch immer recht gut. Ich bin sicher, Sie erinnern sich aus Ihren Tagen an der Börse, daß Leute manchmal ziemlich halsstarrig sein können, nur weil sie jemand auf die Palme gebracht hat. Also lassen Sie mich ganz offen sein und Ihnen den ersten kostenlosen Rat geben, den Sie seit Jahren bekommen haben. Ramón kann diesen Fall nie im Leben gewinnen. Clay wird Ihnen sagen, daß sein Junge gar nicht mehr aufhören wird zu -207-
singen. Und wenn man bedenkt, daß er der einzige Zeuge ist, sollte Valdez schon mal seinen Hokuspokus aufsagen, weil er nämlich bald die große Mamba im Himmel sehen wird. Also, tun Sie mir einen Gefallen und lassen mich zufrieden, ja? Sie sind eine sehr schöne Frau, aber irgendwie schaffen Sie es, mich jedesmal zu beleidigen, wenn ich Ihnen über den Weg laufe.« »Ich bin sicher, Sie kennen das alte spanische Sprichwort: ›Es gibt keinen Blinderen als den, der nicht sehen will.‹ Sie kennen Valdez offensichtlich nicht.« Ich schüttelte ungläubig den Kopf. »Woher kennen Sie ihn denn so gut, wenn ich fragen darf?« Sie inhalierte seelenruhig, alles perfekt proportioniert, ihre rosa Lippen ein kleiner Schlot. »Ich hatte mal mit ihm zu tun.« »Inwiefern?« »Barbara, ich rate Ihnen, es dabei zu belassen«, mahnte Clay. »Um was geht es denn?« fragte ich. »Schon in Ordnung, Clay. Ich hatte selbst mal Interesse an diesen Stammesreligionen.« »Was? Jetzt aber mal langsam. Sie wollen mir doch nicht erzählen, daß Sie sich mit Ramón eingelassen haben?« Sie setzte sich ihren Hut wieder auf, als wolle sie jeden Augenblick gehen. Ihre Reserviertheit bekam einen kleinen Riß. »Das habe ich nicht gesagt. Mich hat nur dieses VoodooZeugs interessiert. Immerhin bin ich sicher, daß Sie wissen, wie viele unserer Dienstboten an diesen Unsinn glauben. Ich dachte mir, es könnte ganz amüsant sein, eine dieser Zeremonien zu besuchen.« -208-
»Lassen Sie mich raten. Der Verblichene war auch dabei, stimmt's?« »Barry kam ein- oder zweimal mit. Wir… Ich weiß, es hört sich komisch an, aber wir machten uns damals Sorgen um eine feindliche Übernahme, und er dachte, sich sozusagen nach allen Seiten abzusichern, könnte nichts schaden.« »Barbara, ich bitte Sie dringend, kein Wort mehr zu sagen«, mahnte Clay mit puterrotem Gesicht. »Wieso? Was sollte uns das schaden? Das hier ist ein freies Land, oder nicht? Der erste Verfassungszusatz garantiert Religionsfreiheit.« »Schon in Ordnung, Clay. Ich bin sicher, die Dame würde im Zeugenstand alles bestreiten. Außerdem bin nicht ich der Anwalt, sondern Ramon. Nur eines noch, hat es funktioniert?« Sie drückte ihre Zigarette aus und starrte in den Aschenbecher aus Steuben-Glas. Als sie den Blick wieder hob, schien das Grau ihrer Augen zu schillern, ihre Pupillen waren groß - als hätte sich auf der Leinwand ihres Gedächtnisses eben eine gräßliche Szene abgespielt. »Sehr gut sogar, fürchte ich. Der Mann, der die Übernahme geplant hatte, rutschte in der Badewanne aus und schlug sich den Schädel ein. Wir waren gerettet.« »Hat Schnitzer Ramón dafür bezahlt?« »Ich weiß nicht, ob er gewußt hat, wie wirkungsvoll er die Geschichte erledigt hatte. Barry sagte mir, er habe Valdez gesagt, er könne sich einige Armreife aussuchen. Er hat ihm eine Discountkarte oder etwas Ähnliches übergeben.« Ich sah Clay an. Er wandte die Augen ab. »Sie haben das die ganze Zeit gewußt, Sie Scheißkerl.« -209-
»Ich hielt es für unerheblich.« »Unerheblich? Die beiden hatten damit ein Motiv, in den Laden zu gehen. Sie haben keinen Raubüberfall geplant, sie wollten nur ihr Eigentum wiederhaben! Damit fallen die erschwerenden Umstände weg, und das wissen Sie genau. Dafür kriegen sie nie und nimmer Todesstrafe.« »Falls Sie es beweisen können«, entgegnete Clay. »Sie sind vielleicht Charakterschweine.« »Warum lassen Sie die Sache nicht einfach fallen, Mr. Morell. Es spielt doch keine Rolle, was für Absichten sie hatten. Sie haben ein Blutbad angerichtet, bei dem mein Gatte ums Leben kam.« »Das Gesetz unterscheidet zwischen einer Situation, die außer Kontrolle gerät, und einem vorsätzlichen Mord.« »Wollen Sie damit sagen, die sechs Toten waren nur ein Unfall?« »Das wäre sehr gut möglich.« Sie machte ihr letztes Gebot. »Eine Viertelmillion, Mr. Morell. Soviel kriegen Sie von mir. Zweihundertfünfzigtausend Dollar - Sie brauchen nur zu gehen, und zwar sofort.« Ich schob den Tisch vor und stand auf. »Ich gehe, aber Sie können Ihr Geld behalten. Ich brauche meinen Schlaf.« Sie lächelte fast liebenswürdig. »Na schön, aber passen Sie auf der Straße auf. Wie man so hört, gibt es eine Menge schlechter Fahrer.« Hatte sie die Grips beauftragt, mich in die Schlucht zu stoßen? Oder ließ sie mich nur ihre Verachtung spüren - so wie man einem Stier ein rotes Cape zeigt? -210-
»Auf meiner Versicherungspolice steht Ihr Name, Lady. Es braucht Sie nicht zu überraschen, wenn die Bullen vor Ihrer Tür stehen, sollte ich auf dem Freeway ins Gras beißen.« Gleicht der Besuch in einem von Latinos bewohnten barrio dem Aufenthalt in einem besetzten Land, so meint man bei einem Abstecher ins schwarze Ghetto von Los Angeles in eine Kriegszone zu kommen, in der man sich seit Jahren Scharmützel liefert. Die geistige Stille, die hier herrscht, steigt in die blaue Kuppel des wolkenlosen Himmels; mit dem Untergang der Sonne setzt eine eisige Kälte ein, Schüsse hallen durch die Nacht, Banden fahren Streife und spielen dabei lautstark Hiphop; sie kommen aus einer Gasse, verschwinden in einer anderen, Kanalratten beanspruchen die Straße. Ganze Schwärme von Kleindealern scharen sich um die Wagen der Kundschaft und zeigen Rocks, Pot und Waffen, während in den Häusern die Familien hinter verbarrikadierten Fenstern kauern und die Flüche, Schreie und Schüsse draußen mit einer neuen Art Gebet zu übertönen versuchen, einem neuen Ritual: die Versammlung vor dem Fernseher mit 80er Bildröhre, Hifi-Stereoton und Videorecorder, das Gebet vor den Ikonen aus dem Land der Situationskomödien. Sergeant Porras hatte mich auf meiner Suche nach den Schwarzen, die mich in den Benedict Canyon hatten schieben wollen, mitten ins Herz des Ghettos geschickt. »Gehen Sie nur«, hatte er mich herausgefordert, »spielen Sie ruhig die Zielscheibe.« Er reichte mir Kopien der Berichte, die er umständlich aus einem Pappordner nahm. »Wenn Sie als Detektiv so ein toller Hecht sind, dann lassen Sie doch mal sehen, ob -211-
Sie dahinterkommen, wer Sie tot sehen wollte.« Ich parkte vor dem ersten Haus, das der Bericht erwähnte. Es stand in der Mitte einer langen Ladenstraße in der Nähe des Long Beach Freeway. J-PAUL'S hieß es auf dem Schild, SIE KAUFEN, WIR GRILLEN. Es war der einzige Laden, der um elf Uhr morgens geöffnet hatte. Die anderen Geschäfte, eine kunterbunte Mischung von Gebrauchtreifenhändlern, Schnaps und Haushaltsgeräteläden, waren alle verrammelt; man hätte meinen können, die Besitzer erwarteten eine Invasion von Nazi-Panzern. Der Duft von Welsen und Kabeljau in großen Töpfen sprudelnden braunen Fetts schlug mir entgegen, als ich das staubige Fliegengitter aufstieß. Eine junge Schwarze hinter einigen Reihen baumelnder Maiskolben hob die Augen vom Hackbrett, auf dem sie Kohl schnitt. »Ja?« sagte sie geringschätzig. »Ich suche Bernice Adams.« »Wer sind Sie?« Es wurde Zeit, offiziell zu werden. Ich zeigte ihr rasch meine Karte und steckte sie ebenso rasch wieder ein. »Ich bin ein vom Bezirksgericht Los Angeles bestellter privater Ermittler.« Sie hörte lange genug zu hacken auf, um mir einen Blick zuzuwerfen, der normalerweise von einem.Stoß und einem Fluch begleitet wird. »Sie meinen, Sie sind ein Detektiv, wie im Fernsehen?« »So in der Art. Ist Mrs. Adams hier?« »Sie sind nicht von der Polizei?« »Nein, ich arbeite am Gericht. Könnte ich Mrs. Adams sprechen?« »Wer sucht denn nach mir?« -212-
Eine kleine, fettleibige Schwarze mit einer dicken Brille und Lockenwicklern kam aus dem Hinterzimmer. Sie trug ein grünes Kleid, durch das die drei Schwimmgürtel um ihre Hüfte zu sehen waren. Sie band sich eine frische Schürze um, und als sie vorn eine Schleife machte, klapperten die goldenen Armreifen an ihren Handgelenken. »Bist du taub, Mädchen? Will jemand was von mir?« »Der Mann hier, Tantchen. Er ist von der Polizei.« Das Stichwort für mich, die Sache smart und höflich anzugehen. »Vom Bezirksgericht Los Angeles. Sind Sie Mrs. Bernice Adams?« »Bin ich, ja. Hat Gerard wieder Ärger?« Sie kam an die Theke. Tastend flogen ihre Fingerspitzen über die Salz- und Pfefferstreuer, Topfdeckel und Küchenmesser, als sie sich zu orientieren versuchte. Aus einer großen Dose holte sie ein paar lange gelbe Gummihandschuhe, zog sie über und manövrierte sich, einige Male anstoßend, an die Spüle. »LaTona, der Wels ist fertig. Hol ihn raus.« Das Mädchen legte das Messer beiseite, nahm den Frittierkorb mit den Fischstückchen aus der Fettwanne und hakte ihn zum Abtropfen über dieser ein. Mrs. Adams tauchte eine behandschuhte Hand in einen Eimer in der Spüle und holte einen zappelnden Wels heraus. Mit der anderen griff sie nach einem Fleischerbeil und schlug dem Fisch mit einem gezielten Hieb den bärtigen Kopf ab. »Sie können hier rüberkommen, Mister, wenn Sie wollen. Ich seh' bei diesem Licht nicht besonders gut.« Sie kicherte über den kleinen privaten Witz und nahm ein Messer zur Hand, mit dem sie den Fisch öffnete. Seine blutigen schwarzen Innereien quollen auf das Hackbrett. -213-
Ich stand neben ihr und atmete neben ihrem schweren Veilchenparfüm den salzigen Gestank der ausgenommenen Fische ein. Sie schien sich in einer Schicht aus Wärme und Leben zu bewegen und sich ausgesprochen wohl zu fühlen in ihrer überschüssigen Haut. »Ich weiß wirklich nicht, wie oft ich den noch herauspauken muß. Ich hab' mir gedacht, er hätte aus der Jugendstrafe was gelernt. Aber der Junge hat ein Brett vor dem Kopf, der hört auf keinen. Ich sag's Ihnen gleich, er ist seit zwei Tagen nicht mehr nach Hause gekommen.« »Ich komme nicht wegen Gerard.« »Nicht? Sollten Sie aber! Irgendeiner muß dem Jungen mal eine Lektion erteilen, ich kann das nicht. Wenn nur meine arme Schwester noch leben würde. Die würd' ihm mal ordentlich den Hosenboden strammziehen, ich kann das nicht. Das einzige, was ich noch erwische, sind Welse, und das auch nur, weil sie schon im Eimer sind, ha, ha.« »Nein, Ma'am. Ich wollte wegen Rusty Thompson mit Ihnen sprechen.« Mrs. Adams schüttelte mißbilligend den Kopf. »Das ist auch so einer, der nicht weiß, wenn er's gut hat. Was hat er denn wieder angestellt? Einer alten Frau die Handtasche geklaut?« »Wie gut kennen Sie ihn?« »Rusty? Er war eine Zeitlang Gerards bester Freund. Ich habe ihn bei mir aufgenommen, als seine Eltern eingesperrt waren, weil sie Crack verkauften. Er ist aber nicht mehr hier.« »Wann ist er ausgezogen?« »So vor sechs Monaten. Er hat sich an LaTona rangemacht, und das war wirklich zuviel. Also hab' ich -214-
ihm die Tür gezeigt, so war das.« LaTona zog den Kopf ein und hackte den Kohl in immer kleinere Schnitzel, ganz sachte, um nichts zu versäumen. »Was ist denn mit ihm?« fragte Mrs. Adams, die rhythmisch den Fisch filetierte. »Er ist bei einem Autounfall umgekommen.« »Nein!« tönte es hinter mir. LaTona legte das Messer weg und rannte heulend aus dem Zimmer. Mrs. Adams seufzte und arbeitete weiter. »Ich habe immer Angst um den Jungen gehabt. Tut mir wirklich leid.« »Als er starb, hatte er einige religiöse Gegenstände im Auto.« »Religiös, Was soll denn das gewesen sein?« »Voodoopuppen, Halsketten und dergleichen.« »Sie meinen Amulette, Talismänner. Ja, ich erinner' mich, dafür hat er sich interessiert. Das wären afrikanische Götter, hat er gesagt, eine Religion für Schwarze. Er und Junior haben ständig über so Zeug geredet.« »Junior? Wie heißt der richtig?« »Eric Howard, glaube ich. Der ist immer im Big Hole oben an der Vermont.« »Ich danke Ihnen vielmals. Ich mach' mich dann wieder auf den Weg.« »Tun Sie das.« Beim Hinausgehen warf ich noch einen Blick zurück. Von blutenden Welsleichen umgeben hackte Mrs. Adams weiter obwohl ihr die Tränen über die Backen rannten. Das Hole war ein Drivein-Café in der Form eines riesigen Doughnuts, die höchste Stelle gut siebzehn Meter über der -215-
Straße, ein durch und durch unappetitliches Bauwerk aus Hasengitter und Putz nur wenige Blocks vom Freeway. Zehn Meilen die Vermont Avenue hinab sah man, in Nebel gehüllt, die Landzunge von Palos Verdes. Hier oben jedoch war die Sonne warm und rücksichtslos. Eine Handvoll BMWs, die Lieblingsmarke der Crackdealer, parkte vor dem Gebäude. Ich setzte mich an die ramponierte Resopaltheke; zwei Dutzend braune Augen in schwarzen Gesichtern fixierten mich. Es gibt Momente in diesem Geschäft, in denen hört man sich, ob man will oder nicht, wie ein Fernsehdetektiv an - wenn man die richtigen Fragen den falschen Leuten stellt. Ich hoffte nur, daß der Held wie im Film überlebte. Ich fragte den Mann hinter dem Tresen, ob er Rusty kenne. »Na klar. Der Kerl hing doch immer hier rum. Hab' ihn in letzter Zeit aber nicht mehr gesehen. Sind Sie von der Polizei?« »Nein, ich bin vom Gericht. Wie gut haben Sie ihn gekannt?« »Ich hab' den Bruder gekannt, seit er zehn war. Ich habe versucht, ihn auf den richtigen Weg zu bringen, aber ich kann nicht sagen, daß ich viel erreicht hätte.« »Wie bitte?« »Ich bin ein Zeuge Jehovas. Ich habe Rusty zu unseren Treffen eingeladen, aber er hing lieber mit denen da rum.« Er deutete auf den Tisch mit den Lederjacken, die uns beobachteten. »Drogen sind unsere Geisel, Mister, ein Zeichen, daß das Ende naht und daß wir uns vorbereiten sollten.« »Wissen Sie, ob er an Santería glaubte?« »Was ist das?« -216-
»Eine afrokubanische Religion. Laut der uns heute noch afrikanische Götter besuchen.« »Und der Herr sagte: ›Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.‹« »Nein, Sir, ich kann nicht…« Ich bekam einen Ellenbogen in die Rippen. Als ich mich umdrehte, sah ich mich einem kleinen, schlanken Schwarzen mit Sommersprossen und drahtigen roten Löckchen gegenüber. Er trug mehrere Goldketten auf seinem völlig schwarzen Outfit. Zwei massive Herren, die aussahen, als wollten sie sich als Linebackers bei den Raiders vorstellen, flankierten ihn. »Sie suchen Rusty«, sagte er. Seine beiden Kumpane lächelten nicht gerade freundlich. »Er ist tot.« »Ich weiß. Na und?« »Er hat versucht, mich umzubringen, und ich will wissen, warum.« Der Rotschopf wandte sich an seine Leibwächter. Seinem Lächeln nach hatte er es mit einem armen Idioten zu tun. »Gehörst du vielleicht zu dem kubanischen Arschloch, das die Leute in dem Laden umgenietet hat?« »Ja.« »Ich hab' doch gewußt, daß Rusty das nicht bringt. Ich hab' ihm noch gesagt, nimm eine Mac 11, mach ein Sieb aus dem Mann, aber der Blasse hat gemeint, nein, wir schieben ihn über die Klippe. Scheiße Mann, sag' ich zu ihm, totale Scheiße, das ist doch Schwachsinn, aber er wollte unbedingt, daß du bei einem Unfall draufgehst. Laß mich dir die Hand schütteln, Typ.« Er nahm meine Hand in seine kleine weiche Pfote. »Du -217-
hast wirklich Glück gehabt, du Arschloch.« »Wie sah der Weiße denn aus?« »Ungefähr deine Größe, grüne Augen, semmelblond. Ach ja, und dann hatte er noch so 'n Muttermal im Gesicht, links, sah aus wie 'n Herz.« In dem Augenblick packte mich das Grauen, ein eisiger Schrecken bohrte sich in meine Brust, mein Herz galoppierte in einer roten Angstwolke davon. Ich dachte, ich würde vom Hocker fallen. Ich hielt mich an der Kante des Tresens fest und atmete tief durch. »Was hast du denn?« fragte der Rotschopf. »Nichts. Hier.« Ich holte meine Brieftasche heraus und zeigte ihm das Foto. »Ist das der Mann?« »Das isser. Wer ist der Kleine?« Mein Vater grinste auf dem Foto in die Kamera, er hatte die Hände auf den Schultern eines überglücklichen Zehnjährigen. »Das bin ich.«
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12 Ich weiß bis heute nicht, wie ich dieses Wochende überstanden habe. Um ehrlich zu sein, ich weiß nicht einmal, wie ich aus Compton zurückgekommen bin. Ich nehme an, das Fieber, mit dem ich schon seit einiger Zeit gerungen hatte, kam endlich zum Ausbruch. Jedenfalls schwitzte ich einmal mehr die Laken durch. Am Montag jedoch erhob ich mich wie Lazarus und sah mich von einem babyblauen Himmel begrüßt. Einige Eichelhäher zwitscherten in den Ästen des Jakarandabaums vor unserem Balkon. Das Gespenst des Morgenmonds hing noch über den grünen Hügeln und warf einen letzten traurigen Blick auf seine blendende Gefährtin, bevor er sich wieder in die Dunkelheit stürzte. Wie war das möglich, fragte ich mich. Kann der Geist meines Vaters… Jetzt hör aber auf, Charlie. So was gibt's doch nicht. Du stehst unter Streß, das ist alles, und der Rotschopf wußte nicht, was er sagte. Die Toten kommen nicht zurück. Es gibt keine rastlosen Seelen. Du hast Papas Asche vor über zwanzig Jahren über dem Atlantik verstreut. Das hier ist Los Angeles, und Geister aus dem Osten tauchen in dieser Wüstenei nicht auf. Es ist der Streß. Vergiß es. Vergiß ihn. Vergiß. Lucinda beobachtete mich schon seit einigen Tagen und wartete auf Anzeichen für den Fluch, unter dem ich ihrer Ansicht nach stand. Nicht daß sie weniger liebevoll gewesen wäre. Im Gegenteil, mein Elend vergrößerte ihre Sorge um mich, so daß sie mich mit zärtlichen Aufmerksamkeiten überschüttete. Sie brachte mir café con leche ans Bett, füllte die Wohnung mit -219-
Blumenarrangements und steckte mir kleine Zettel in die Falten meiner Kleidung, auf denen stand, wie sehr sie mich liebte. Sie war sehr stolz auf ihre Fertigkeiten im Bett, und damals fühlte sie sich mehr denn je genötigt, ihre Virtuosität unter Beweis zu stellen. Sie entwickelte ein schier unerschöpfliches Repertoire. Nach einem heißen Bad und einer kalten Dusche, während der wir uns schon mal mit den Fingern bearbeiteten, stürzten wir ins Bett, spielten mit jeder Membran, jeder Öffnung, fügten unsere Körper auf Arten zusammen, wie sie in keinem der Handbücher vorkamen, die mir geläufig waren. Unsere Experimente kannte ich bestenfalls aus Phantasien, derer ich mich bis dahin geschämt hatte. Ich hätte nie geglaubt, wie gut meine ersten beiden Zehen in ihre triefende Möse paßten, daß ganz alltägliches Gemüse in ihrem Hintern ihr derartige Schreie entlocken könnte, während ich sie von vorne stieß. Ich fesselte und bestrafte sie mit Gürteln, peitschte sie, bis ihr der Hintern glühte, band sie ans Bett, verband ihr die Augen und trieb ihr meinen Schwanz in den Mund, bis sie es mit dem Schmerz persönlich zu treiben glaubte. Sie saugte an mir wie ein Kind an der Mutterbrust, aber kurz bevor es mir kam, stieß ich sie in den Arsch, bis ich mich nicht mehr halten konnte; dann riß ich ihn heraus, um über dem schönen Gesicht mit den verbundenen Augen zu explodieren. Ihre rosa Zunge strengte sich mächtig an, nichts von dem weißen Saft zu verschwenden. Dann wieder war ich ihr Sklave, der sich, mit Fliegenpatsche oder Kleidungsstücken gepeitscht, gezwungen sah, seine Zunge über ihren Körper wandern zu lassen, von ihren schwarzgoldenen Zehennägeln bis zu den Wurzeln ihres hennagefärbten Haars. Dann ohrfeigte und schlug sie mich, bis ich heulte, drückte meinen Kopf mit beiden Händen in die Kuhle zwischen ihren Beinen und führte meine flinke Kolibrizunge an die richtige Stelle -220-
in ihrer Spalte. Ich öffnete ihre Lippen, bis sich ihr harter kleiner Knopf aus dem lockigen Busch drängte, um gestreichelt, gesaugt, geküßt und gebissen zu werden. Sie schlang die.Beine um mich, wölbte mir ihren Körper entgegen und drückte mir ihr Schambein wie eine Faust in den Mund, bis meine Lippen wund waren; dann kam es ihr in Strömen salzigzähen Safts, vier, fünf, sechs Stöße in rascher Folge. Schließlich versetzte sie mir einen Stoß, daß mir die Luft wegblieb, ich landete auf dem Boden, nur um sofort wieder hochzukrabbeln und sie um Vergebung zu bitten, während sie glühend dalag, das Weiß ihrer Augen zum Himmel gedreht, der alles sah. Im Grunde hielt ich Lucinda aus; sie war meine Mätresse, Haushälterin, Vertraute und Beraterin geworden, meine braunhäutige tropische Albertine. Nicht, daß es sie gestört hätte. Sie blühte unter meiner lustvollen Zuwendung auf. Sie verlor die Knochigkeit, die mich an ein Model oder ein mittelamerikanisches Flüchtlingskind erinnert hatte, ihre Hüften wurden runder, ihr Busen voller, und wenn sie sich auszog, standen ihre Brüste mitsamt den festen braunen Warzen auch ohne Hilfe stramm. Paradoxerweise machten die Extrapfunde ihr Gesicht noch kantiger, sie bekam etwas Fleisch um die Wangenknochen, so daß darunter eine Kuhle entstand, dem das Auge entzückt bis zu den vollen Lippen folgte. Ich eröffnete ihr Konten bei Magnin und Neiman, kaufte ihr Schuhe am Melrose Place und Rodeo Drive, ließ ihr die Haare von José E. und die Nägel von Miss Julie machen, mit anderen Worten, ich verwandelte sie in eine lebende Puppe, deren einzige Aufgabe darin bestand, für meine Bedürfnisse da zu sein. Sie entledigte sich dieser Aufgabe so hervorragend, daß ich mich des Gefühls nicht erwehren konnte, sie habe nur auf einen wie mich gewartet, der ihr den letzten Schliff -221-
gab, den sie sich so gierig zu eigen machte. Aber trotz unserer sexuellen Wonnen kann ich nicht sagen, daß ich sie wirklich liebte. Wann immer ich sie nicht sah, vergaß ich sie, und sie fiel mir erst wieder ein, wenn ich den Schlüssel im Schloß drehte und sie sich mit einem Kuß und einer Geschichte in meine Arme warf und ihr Duft uns wie eine Girlande umgab. Dann sah ich sie an und staunte über ihre Schönheit, ihre Lebendigkeit, die mich noch genauso umwarfen wie damals, als ich sie das erstemal gesehen hatte. Damit keine Mißverständnisse aufkommen, ich schätzte mich glücklich, sie zu haben. Die wenigen Male, die uns Freunde oder Kollegen zusammen sahen, sei es in einem Straßencafe in Santa Monica oder beim Verlassen eines Kinos in Westwood, jubelte ich insgeheim über ihren Neid. Aber wann immer wir allein waren und nicht im Bett, ertappte ich mich dabei, die kleinen Mängel an ihr herauszupicken, Unregelmäßigkeiten vielleicht, wie etwa die hohe Wölbung ihrer Nasenflügel oder die flachen, stumpfen Fingerkuppen, die kantigen Knie; dann wünschte ich mir, ein Gott oder Chirurg zu sein, um diese Mängel auszulöschen und sie zum makellosen Ebenbild meines Verlangens zu machen. Vielleicht war es gut, daß mir das nie gelang, denn wer weiß, was für ein Ungeheuer ich geschaffen hätte, was für eine furchterregende Kreatur ich damit den Rest meiner Tage an meiner Seite gehabt hätte. Ich suchte nach jemandem oder etwas, und Lucinda war der treffendste Ausdruck dieser Undefinierten Sehnsucht, ein Weg aus dem Dickicht des Augenblicks, an dessen Ende eine mächtige Kreatur lauert, die sich von den Törichten und Unvorsichtigen nährt. »Daddy«, sagte sie eines Nachmittags, »Daddy, gehen wir tanzen, ich war schon ewig nicht mehr tanzen.« Sie wollte zu Alberto's, einer umgebauten Reisschälerei -222-
am Rand von Chinatown, gleich neben den Schienen. Kaum waren wir dort, wurde Lucinda zu einem lachenden, küßchengebenden Wirbelwind, der Türsteher ließ uns vor, alte Freunde begrüßten sie mit abrazos. Der Barkeeper schickte uns einen Drink an den Tisch, der Bandleader widmete ihr eine lateinamerikanische Version von »Love Me with All Your Heart«. »Bevor ich dich kennengelernt habe, war ich jedes Wochenende hier«, flüsterte sie beim Tanzen. »Habe ich eine Gefangene aus dir gemacht?« »Ah, papi, nicht doch, Daddy, natürlich nicht. Ich wünsche mir nur manchmal, du würdest dich nicht derart in diesen dummen Prozeß verbeißen. Du machst dir viel zuviel Sorgen. Deshalb bist du auch die ganze Zeit krank.« »Du glaubst also nicht mehr, daß mich einer mit einem Fluch belegt hat?« »Selbst wenn, kann man zurückschlagen. Wenn was passiert, kann man dagegen angehen.« »Wenn was passiert?« Ihre Lippen streiften mein Ohrläppchen. »Oh, zum Beispiel, daß dein Vater vor deinen Augen wieder lebendig wird oder daß du glaubst, andere Leute könnten ihn gesehen haben. Dafür ist jemand verantwortlich, der dein Selbstwertgefühl, dein Zentrum, zerstören will. Man kämpft dagegen mit einer Reinigung an. Und wenn nicht damit, dann mit einer ordentlichen Portion Unterhaltung.« Sie lachte. »Ja, ich schlage vor, wir gehen öfter aus, um den Bann zu brechen.« »Ich wußte gar nicht, daß ich mit einer Hexe zusammenlebe.« Sie drückte sich an mich, ihr Schenkel an meinem Schritt. -223-
»Ich bin keine Hexe, ich bin nur zauberhaft.« Es dauerte eine Weile, bis ihre Freunde und Anhänger uns zufrieden ließen. Sie spielte mit dem Bambusschirmchen in ihrem Glas und starrte sehnsüchtig auf die tanzenden Paare. »Ich wäre immer gern Tänzerin gewesen. Weißt du, so eine wie im Tropicana? Um in den vielen verschiedenen Kostümen aufzutreten. Aber meine Tanzlehrerin in Kuba sagte mir, ich wäre nicht gut genug. Du weißt ja, wie das dort ist, die Regierung sagt einem, was man zu werden hat. Kuba brauchte keine Tänzer mehr, sagte sie. Sie meinte, mulaticas wie ich wollten alle auf die Bühne. Was Kuba brauchte, das seien Lehrer und Sportlehrer. Also mußte ich Sportlehrerin werden. Ich kann dir sagen, ich war so glücklich, als ich in Key West vom Schiff stieg, ich hätte am liebsten die Erde geküßt.« »Hast du denn nicht?« »Ay, chico, nein, dazu war sie nun wirklich zu dreckig.« Sie kuschelte sich an mich. »Ich bin so froh, dich gefunden zu haben, Daddy. Oder daß du mich gefunden hast.« »Hast du nie daran gedacht, einen Beruf zu lernen? Ich würde dir helfen, weißt du?« Sie runzelte die Stirn über die Aussicht auf richtige Arbeit. »Ich weiß nicht. Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Manchmal beim Fernsehen, weißt du, da wünsche ich mir, ich wäre Anwältin oder Ärztin oder was amerikanische Mädchen so sind. Sogar eine Kapitalistin! Aber dann schalte ich auf meine novelas um und weiß, daß alles in Ordnung kommt. Dann sehe ich wieder, daß der Beruf einer Frau darin besteht, ihren Mann zu lieben und daß sie Glück hat, bei den Tragödien des Lebens jemanden an ihrer Seite zu haben.« -224-
»Was würdest du denn tun, wenn mir was zustößt?« Sie entzog sich mir, ließ sich meine Frage durch den Kopf gehen und kuschelte sich dann wieder an mich. »Nichts. Ich würde einfach sterben.« Ich stand auf der Toilette vor einer trogartigen Rinne, als der Betrunkene hereingestolpert kam. Unter der Wirkung von wer weiß wie vielen Bieren und aguardientes taumelte er auf die Toilette zu, kotzte rasch, putzte sich die Nase und kam dann herüber, um zu pinkeln. »Schlimmer Abend?« »Coño, chico, muß der tamal gewesen sein, den ich bei Gallego's hatte. Das Fleisch war verdorben, da bin ich sicher.« Er hatte einen langen, dunklen Schwanz, unbeschnitten wie der vieler Kubaner. Er schüttelte ihn einige Male vorsichtig, ließ ihn wieder in die Hose fallen und zog den Reißverschluß hoch. Am Waschbecken schüttete er sich Wasser ins Gesicht, das drahtige Haar und die groben Züge glitzerten im Licht. »Wie geht's denn Palito?« Seine Stimme war dick und belegt, der Akzent des geborenen Kubaners hatte noch die Spur eines anderen, schnelleren Dialekts, den ich nicht kannte. »Wie bitte?« Ich trat an den Handtuchspender und trocknete mir die Hände. »Na Palito. Ramón Valdez, coño. Wie geht's ihm denn?« Das war ja was ganz Neues. Palito? Ramón sollte Freunde haben? »Ja, er ist ein Kumpel von mir«, sagte er. »Noch von Mariel her. In letzter Zeit was von ihm gehört?« -225-
»Dem geht's gut, wenn man bedenkt, daß ihm die Gaskammer bevorsteht.« »Das ist nicht dein Ernst. Er steckt schon wieder in der Scheiße. Dieser Hurensohn lernt's nie.« »Wußtest du das denn nicht? Stand doch in allen Zeitungen.« »Ich bin eben erst zurückgekommen. Ich war ein paar Jahre in Südamerika, weißt du, im Holzgeschäft? Im Dschungel kriegt man nicht allzu viele Zeitungen.« »War er eigentlich schon immer verrückt?« »Ramón? Wie gesagt, der Hurensohn lernt's nie. Ich hab' mal gesehen, wie er einem im Streit das Messer über die Kehle gezogen hat. Mit dem legt man sich besser nicht an, soviel steht fest. Das Komische ist, daß er hinterher immer behauptet, er war's nicht gewesen, sondern die Götter. Oggún war's, Oggún war das, Oggún war jenes. Ständig kam er einem mit diesem Schwachsinn. Wir haben eine Weile zusammen gearbeitet, weißt du, drüben in Miami.« Er knüllte das Papierhandtuch zusammen und warf es in die Öltonne, die als Papierkorb diente. Ich hörte, daß die Band auf der Bühne wieder loslegte, die Trompetenriffs, die E-Gitarre, den Baß. »Woher wußtest du dann, daß ich ihn kenne?« fragte ich, als wir uns zusammen in die Menge zurückdrängten. »Coño, Mann, du bist doch mit Lucinda zusammen, ich habe dich gesehen.« »Na und?« Er blieb stehen und grinste mich an. Die Band legte einen Merenguerhythmus vor, und die Tanzfläche füllte sich mit drehenden Paaren. »Die beiden waren doch Mann und Frau, hast du das nicht gewußt? Also, die läßt dich wirklich dumm sterben, -226-
muchacho. Der solltest du mal besser ein paar Fragen stellen, wenn du weißt, was ich meine.« Um vier Uhr morgens kamen wir nach Hause, verschwitzt, müde und mehr als nur ein bißchen umnebelt. Auf der Treppe blieben wir stehen, um uns zu küssen, ich saugte an ihrer Zunge, betastete ihre Brüste, sie fuhr mir mit einer Hand über den Schritt und drückte meinen Schwanz; ihre Fingernägel gruben sich in den Stoff der Hose. Ich trug sie die Treppe hinauf. Sie kicherte auf jeder Stufe, oben verlor sie einen Schuh. Ich kämpfte mit dem Schloß, stieß die Tür auf, setzte sie auf die Couch und riß ihr, wortlos und ohne die Tür zu schließen, ohne Küsse, ohne Vorspiel, den Slip vom Leib und steckte meinen Schwanz in sie. Sie war bereit, ihre Möse heiß und tropfnaß; eine Hand kam zwischen ihren Beinen hervor, um mich zu halten und zu drücken, während sich ihre Vaginalmuskeln um meinen Schwanz spannten. Als ich in sie eindrang, krümmte sie sich mir entgegen, schlang ihre Arme um mich, hob die Beine und verschränkte sie in meinem Kreuz; ihr Schambein bewegte sich mahlend gegen das meine, während sie ihren Kopf in die Kuhle zwischen meinem Hals und meiner Schulter drückte. Sie erschauerte, als es ihr kam, und ich ejakulierte. Wir ließen voneinander ab. Ich fiel und landete auf dem Boden. Erst dann gab sie einen Ton von sich, ein tiefes, kehliges Schnurren. Sie streckte einen Arm und fuhr mir mit den Fingern durchs Haar. Ich hörte einen Vogel singen und spürte schon den warmen Morgen. »Du bist ein so guter Liebhaber, Charlie.« »So gut wie Ramón?« Sie fuhr herum. »Was soll das heißen?« Ich stand auf und zog die Hose hoch. Sie machte -227-
keinerlei Anstalten, ihre Nacktheit zu bedecken. Ich setzte mich auf einen mit Quasten verzierten Lederschemel, den sie in einem Antiquitätengeschäft gefunden hatte. »Warum hast du mir nicht gesagt, daß du mit Ramón verheiratet warst?« »Mit welchem Ramón?« »Hör auf mit den Faxen. Ramón Valdez.« Sie zog sich das Kleid zurecht und setzte sich auf die Couch. Dann beugte sie sich vor und küßte mich auf die Backe. »Also wirklich, du bist ein solches Kind. Ich laufe aus. Ich geh' erst ins Bad.« Ich saß noch immer am selben Fleck, als sie wiederkam. Ich hatte die ganze Zeit über nicht einen klaren Gedanken gefaßt. »Und?« fragte ich. »Und was?« antwortete sie, während sie sich, die Beine keusch geschlossen, setzte. »Ich sehe das Problem nicht.« »Warst du mit ihm verheiratet oder nicht?« »Kann schon sein.« »Was ist das für eine saudumme Antwort? Warst du's oder nicht - und wenn ja, wieso hast du mir das nicht gesagt?« »Ich habe dir doch gesagt, daß er nach seiner Entlassung in Atlanta bei mir war.« »Aber es ist doch wohl etwas anderes, wenn man mit jemandem verheiratet ist, meinst du nicht? Ich meine, so was vergißt man schließlich nicht.« »Du nervst mich. Was hast du? Ich weiß nicht, wieso du dir wegen was Sorgen machen solltest, was vor Jahren vielleicht mal war.« -228-
Ich stand auf, legte mein Gesicht an das ihre, inhalierte den süßen Duft des Wodkas in ihrem Atem, das Aroma körperlicher Liebe und französischen Parfüms. Ich kämpfte gegen das irre Verlangen an, sie zu küssen und noch mal mit ihr zu schlafen. »Weil du mit mir zusammen lebst. Weil meine Arbeit darin besteht, deinen Exgatten - falls du mit ihm verheiratet warst zu verteidigen. Weil du mich für ein Arschloch hältst, wenn du behauptest, die Sonne würde nicht scheinen. Weil du, und das ist das Schlimmste, mir nicht die Wahrheit gesagt hast. Also, jetzt raus damit, weil sich das morgen nämlich leicht feststellen läßt. Ich will es von dir hören.« Sie sah mir in die Augen; die gelben Flecken in ihrer Iris leuchteten im Licht des Flurs. Zum erstenmal bemerkte ich an ihr ein Gefühl, das mir vorher nie aufgefallen war, ein Gefühl, das um so stärker wurde, als sie es so verzweifelt zu verbergen suchte. Sie hatte Angst. Und die möglichen Gründe für diese Angst erhoben sich wie Ungetüme vom Boden meiner Phantasie. »Ay, mi amor, tut mir leid. Ich wollte dir nicht weh tun. Es gibt so viele Gründe, aus denen wir lieben, Gründe, die wir später bedauern. Dann denkt man an seine Dummheit zurück und nicht mehr an den Wahnsinn, der einen dazu getrieben hat. Verstehst du, was ich meine?« Ich lehnte mich zurück, sagte nichts, versuchte ein ausdrucksloses Gesicht zu machen, während Leidenschaft und Stolz in mir kämpften. »Nein, du bist keine Frau, du kannst das nicht verstehen. Du kannst nicht verstehen, was wir aus Liebe tun. Als Ramón aus Atlanta kam, war er nicht der, der er heute ist. Er war so glücklich, wieder frei zu sein - die Welt war voller Möglichkeiten für ihn. Er hatte Pläne, wieder als -229-
Ingenieur zu arbeiten, ein neues Leben anzufangen. Das erste, was er gelernt hat, war die Sprache. In nur wenigen Monaten konnte er fließend Englisch. Ich staunte nur so. Er schien fest entschlossen, seinen Weg zu machen. Damals begannen wir miteinander zu gehen. Er war so lieb.« Sie schwieg und schenkte mir ein mechanisches Lächeln. »Falls es dir ein Trost ist, du bist ein besserer Liebhaber. Du bist einfallsreicher. Ihn interessierte nur das Übliche. Aber Sex ist eben nicht alles, wichtig ist die Liebe.« Sie holte tief Luft, als sie diese Augenblicke noch einmal durchlebte. »Dann passierte etwas. Er hatte einen Job, er verkaufte Küchengeräte, von Tür zu Tür, Bratpfannen, Töpfe, was weiß ich. Sie sagten ihm, sie müßten ihn entlassen, weil man die Zahl der Vertreter reduzieren wolle. Aber er dachte, es wäre, weil er schwarz war und die Latinohausfrauen ihm nicht aufmachen wollten. Er versuchte bei anderen Kubanern Arbeit zu finden, aber die Kubaner, die gleich nach der Revolution hierher kamen, wollten nichts mit ihm zu tun haben. Schließlich war er ein Marielito, ein armseliger Krimineller, und obendrein schwarz. Also versuchte er Arbeit bei einer amerikanischen Firma zu bekommen, bei Schwarzen, die irgendeine Haarpflegeserie verkaufen. Aber die lehnten ihn als Latino ab. Schließlich begann er, Drogen zu nehmen. Das Komische daran ist, daß er damals etwas Geld verdiente mit Juan Alfonso, mit dem er Häuser renovierte, um sie wieder zu verkaufen. Aber da war es schon zu spät - Rauschgift zu verkaufen war einfacher. Da ich mit ihm zusammen rausflog, nachdem er die Frau in Pasadena bestohlen hatte, bin ich mit ihm zusammengezogen. Ich erinnere mich kaum noch daran -230-
eine Party nach der anderen, in der Nacht machten wir auf Deals, tagsüber schliefen wir, und das vor Angst nur schlecht. Wir heirateten. Wir hielten es für eine witzige Idee, also nahmen wir eine Maschine nach Las Vegas. Wir gaben uns als Puertoricaner aus und heirateten um zwei Uhr morgens in einer Kirche dort. Mehr weiß ich nicht mehr. Ich weiß weder, wie lange wir geblieben sind, noch sonst was. Als wir zurückkamen, erzählten wir es allen, also war ich seine Frau. Du weißt, daß die Ehe ungültig ist, wenn man falsche Angaben macht. Wir wußten das auch, aber wir taten so, als wäre alles korrekt. Er hatte damals schon mit Santería angefangen, weil er dachte, es würde ihn schützen. Aber dann steigerte er sich immer mehr hinein, als wäre er nicht mehr er selbst. Tag für Tag plagten ihn diese Götter, das war wirklich schlimm. Wenn Oggun kam, wurde er ausfallend und beleidigend und trieb es direkt unter meiner Nase mit allen möglichen Weibern. Also bin ich eines Tages abgehauen. Juan Alfonso hat mir geholfen. Er ist ein guter Mensch. Er war wie ein Vater zu mir. Und dann bist du aufgetaucht.« Sie wandte sich mir erwartungsvoll zu. Ich betrachtete ihre zierlichen Knochen, ihre hellbraune Haut, ihre verängstigten Augen. War es die Angst, es könnte aus sein zwischen uns, oder hatte sie einen ganz anderen Grund? Langsam kam sie herüber und legte mir ihren Kopf in den Schoß. Ich spielte mit ihrem Haar. »Als du ausgezogen bist«, fragte ich sie, »hatte er da den Schmuck aus dem Laden schon?« »Welchen Schmuck?« »Den er auf dem Altar benutzte, die Armreifen, Anhänger, all das Zeug.« »Ach das. Er hat gesagt, er hätte sie von einem Freund. -231-
Ich weiß aber nicht mehr von wem.« Sie bot mir wieder ihr Gesicht. »Verzeihst du mir, daß ich dir das nicht schon früher erzählt habe? Ich hatte solche Angst.« »Wovor?« »Dich zu verlieren.« Wenn es wahr ist, daß die Augen die Pforte zur Seele sind, dann erwartete Lucinda einen Frontalangriff und hatte sich schon verbarrikadiert. Die Angst war verschwunden, und die leuchtenden Scheiben suchten kühl nach meiner Reaktion. »Da gibt es nichts zu verzeihen«, sagte ich und drückte ihr einen Kuß auf die Stirn. »Du hast nur vergessen, es mir zu sagen, okay?« Den Bruchteil einer Sekunde war sie verblüfft. »Oh, ja, Daddy, ja, genau das war es. Ich hab's vergessen. Ich hab's vergessen. Gott, ich liebe dich so!«
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13 »Ist Ihnen schlecht?« fragte Ramón und hob den Blick aus der Akte. Das grelle Deckenlicht im Sprechzimmer ließ alle Schatten verschwinden. Ekel und Verzweiflung, meine alten Gefühle ihm gegenüber hatten sich meiner bemächtigt, als die Gittertüren aufschlugen und der Deputy mich in das Sprechzimmer im Bezirksgefängnis wies. Ramón hatte mich schon erwartet. Er war in juristische Kommentare vertieft, da er nach Präzedenzfällen suchte, die er zu seiner Verteidigung vorbringen wollte. »Es ging mir schon besser«, antwortete ich. »Sie sehen nicht gut aus. Meine Mamá hat mir immer einen Kamilleneinlauf gemacht. Sollten Sie mal versuchen.« »Lebt Ihre Mutter noch?« Ramóns Stimme gab einen Augenblick lang nach. »Nein, sie starb, nachdem sie aus dem Lager kam«, sagte er ohne Bedauern, distanziert. »Haben Sie sich deshalb gegen Fidel gewandt?« »Ich bin nie für Fidel gewesen. Nach meiner Rückkehr aus Angola habe ich das Interesse an der Revolution verloren. Ich war ein Held der Revolution, mit einem Diplom, und alles, was sie für mich hatten, war eine alte Ein-Zimmer-Wohnung in Alt-Havanna. Dann starb mein Kind an Typhus, wie in einem Entwicklungsland. Damals sagte ich mir, dieses Land ist ein Haufen Scheiße. Ich wollte nur noch eines: das Land verlassen. Aber, oye, genug von diesem Scheiß, die Vergangenheit hat noch keinem geholfen. Man muß nach vorn sehen, mano, -233-
immer nach vorn.« Danach erwähnte Ramón seine Familie nie wieder. Für ihn war die Vergangenheit eine Flucht von verlassenen, vernagelten Räumen, in denen er mal gelebt hatte und in denen sich jetzt der Staub der Erinnerungen sammelte. Für ihn war das die natürliche Ordnung der Dinge. Ramóns gut durchdachte Verteidigung lief auf ein bestechend einfaches Argument hinaus. Es basierte auf dem McNaughton-Test, der auf verminderte Zurechnungsfähigkeit plädiert, wenn der Täter während der Tat nicht in der Lage ist, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden. »Der Gesetzgeber hat das mit dem McNaughton-Test nach Dan White geändert«, erinnerte ich Ramón. »Das zieht nicht mehr.« »Sie sprechen von verminderter Zurechnungsfähigkeit, ich habe aber vor, kulturell zu argumentieren.« »Glauben Sie wirklich, Sie bringen eine amerikanische Jury dazu, Sie aus dem Knast zu holen, nachdem Sie…« Ich ließ den Satz unvollendet, aber er komplettierte ihn für mich. »Nachdem ich unschuldige Menschen, Frauen und Kinder, umgebracht und aus dem Laden eine Metzgerei gemacht habe?« Ich nickte. »Cariltos, warum sind wir denn überhaupt hier?« »Ich weiß nicht, wie Sie sie überzeugen wollen.« »Ich sage doch, es ist eine kulturelle Verteidigung. Sehen Sie, um jemandem einen Mord nachzuweisen, muß man ihm erst mal einen Vorsatz nachweisen, richtig?« »Ja. Aber wenn Sie glauben, die Geschworenen werden die Toten vergessen und Sie laufen lassen, dann haben Sie -234-
sich geschnitten.« »Nun warten Sie doch. Wir haben doch auch noch die erschwerenden Umstände, richtig? Mord in Tateinheit mit Raub. Meine Argumentation läuft darauf hinaus, daß es diesen Raub nicht gab.« »Ich weiß, daß Sie das behaupten.« Ich schwieg einen Augenblick und überlegte, ob ich ihm von meiner Unterhaltung mit Mrs. Schnitzer erzählen sollte, entschied mich aber dagegen. Ich wußte, sie würde im Zeugenstand alles bestreiten. Außerdem wollte ich sehen, wieviel er mir erzählen würde. Und letzten Endes war es schließlich sein Fall, seine Verteidigung, sein Problem. Nicht meines. »Pimienta wird was anderes sagen.« Ramón zwinkerte mir zu, fast schon lasziv. »Bobo lassen Sie mal meine Sorge sein. Wenn ich mit dem fertig bin, wird die Jury sehen, daß er mich nur beschuldigt hat, um seinen Hals aus der Schlinge zu ziehen. Kein Wort wird man ihm glauben.« »Sie meinen, die Tatsache, daß man ihm Straffreiheit zugesichert hat, macht ihn automatisch unglaubwürdig? Darauf würde ich mich nicht verlassen. Bei einer solch blutigen Geschichte werden sich die Geschworenen beide Beine ausreißen, der Staatsanwaltschaft sämtliche Trümpfe in die Hand zu spielen. Wahrscheinlich denken sie sich, wenn sie schon nicht beide kriegen, dann wenigstens Sie.« »Okay, wenn es soweit ist, werden wir sehen, wer recht hat. In der Zwischenzeit setzen Sie sich mit dieser Frau hier in Verbindung. Fragen Sie sie, ob sie bereit ist auszusagen.« Er schob mir einen Zettel mit dem Namen Graciela de Alba zu. -235-
»Die Ethnologin? Hören Sie auf, Ramón, die Frau ist achtzig Jahre alt und wohnt in Miami. Wenn sie nicht schon gestorben ist.« »Sie ist siebenundsiebzig. Und es geht ihr bestens, machen Sie sich keine Sorgen«, sagte er voller Selbstvertrauen. »Fragen Sie sie einfach, wann es ihr recht wäre, daß wir ihr aber höchstwahrscheinlich erst achtundvierzig Stunden vorher Bescheid geben können.« »Wird Reynolds das zulassen?« »Muß er ja. Schließlich will er nicht, daß man ihm in der Revision das Urteil kippt. Genau das wird aber passieren, wenn ich nicht alle Beweise über meinen Geisteszustand einbringen darf.« Ich setzte mich zurück und starrte auf die gestanzte Blechdecke über uns. »Es könnte hinhauen. Sie kriegen wahrscheinlich vorsätzlichen Mord und werden die erschwerenden Umstände los. Scheiße, vielleicht kriegen Sie sogar Totschlag und sind in elf, zwölf Jahren wieder draußen.« Ich hätte gedacht, die Aussicht würde aufmuntern, aber es gibt Leute, die sind nur mit dem Absoluten zufrieden. »Kommt gar nicht in Frage. Wir gewinnen diese Geschichte. Ich gehe als freier Mann hier raus.« »Ja, klar doch, und ich bin Robert Redford. Mensch, Sie haben schon Dusel, wenn Sie Totschlag kriegen. Wir haben es hier mit sechs Leichen zu tun, darunter ein kleines Mädchen.« »Für die Kleine bin ich nicht verantwortlich.« »Und die anderen, Ramón? Deren Leichen schreien nach Gerechtigkeit, wie können Sie das ignorieren?« »Das mag ja sein, aber schließlich bin ich es nicht gewesen.« -236-
»Schön. Dann sind wir also wieder bei Pimienta, ja?« »Nein, überhaupt nicht. Ich weiß nicht, wer es war.« »Hören Sie auf, das haben wir schon durchgekaut. Lassen Sie die Spielchen. Wenn Sie und Pimienta es nicht waren, wer, zum Teufel, war es dann?« Ich hörte mich schreien. Ich schleuderte ihm die Worte entgegen wie eine Salve Kugeln. »Oggún war es. Ich war es nicht. Oggún ist der Schuldige.« Am Tag, an dem die Gerichte wieder öffneten, war Los Angeles in den für das Central Valley typischen Waschküchennebel gehüllt; es war unmöglich, weiter als drei Meter über die Nasenspitze hinaus zu sehen. Als ich am Morgen - Lucinda lag noch murmelnd unter der Decke - die Fensterläden öffnete, lag die Meeresluft wie Zuckerwatte über den Gärten. Nur einige rote Rosen leuchteten aus dem Nebel. Downtown hatte irgendein Romantiker aus der GraffitiSzene Gehsteige, Masten und die Schaltkästen der Ampeln mit roten Buchstaben besprüht: »Ich fick so gern Frauen, weil ihre Mösen so geil sind.« Vor dem Gericht hatte der Dichter sein Lied geändert: »Ich fick so gern Polizistinnen, weil ihre Mösen so geil sind.« Mit der Frage, was für Hymnen er wohl auf Richter, Staatsanwälte und Deputy-Sheriffs schreiben würde, betrat ich das Gebäude. Arbeiter auf Gerüsten setzten erdbebensichere Stahlstäbe in die Wände ein; das Jaulen ihrer Bohrer war den ganzen Tag über der Soundtrack zu den Inszenierungen der Gerichte. -237-
In Reynolds Saal lief bereits alles auf Hochtouren, als ich kam. Ich erwischte den Richter bei einer Gardinenpredigt für einen schwarzen Gefangenen, der im reifen Alter von zweiundfünfzig Jahren noch Kokain verkauft hatte. »Also wirklich, Mr. Helms, das ist eine Straftat für junge Kerle. Sie haben schon zu viele graue Haare für derlei Unfug.« »Jawohl, Herr Richter.« »Es dreht sich nicht um das Gewicht der Straftat, Sir, sondern um deren Lächerlichkeit. Ich meine, was wollen Sie tun, wenn ein junger Kerl daher kommt und Ihre Ecke übernehmen will? Sie hätten nicht die Kraft, sich gegen ihn zu wehren, und weiß der Himmel, zu welchen Mitteln Sie greifen müßten.« »Jawohl, Herr Richter.« »Ich bin wirklich sauer, Mr. Helms, mächtig sauer. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie enttäuscht ich bin, daß ein Mann Ihres Alters, mit Ihrer Erfahrung sich noch zu solchen Kindereien hinreißen läßt.« »Jawohl, Herr Richter.« Reynolds sah mich hereinkommen und winkte mich neben den Richtertisch. »Guten Morgen, Mr. Morell.« »Guten Morgen, Euer Ehren.« Als ich vor dem Tisch stand, sagte er: »Charlie, wir fangen mit Ihrem Fall nicht vor elf an. Wir haben eine Menge Fälle aus den geschlossenen Sälen zu verhandeln. Trinken Sie noch einen Kaffee. Es sei denn, Sie wollen bleiben und zusehen, wie Gerechtigkeit geübt wird.« »Nehmen Sie's nicht persönlich, Herr Richter, aber ich würde lieber frühstücken gehen. Der Gedanke an -238-
Gerechtigkeit auf leeren Magen ist mir etwas zu happig.« Dann sah ich ihn. Meinen Vater. »Mr. Morell!« rief der Richter, als ich aus dem Saal stürmte. Ich hörte laute Stiefeltritte hinter mir. Ich zitterte unter den ohrenbetäubenden Schlägen meines rasenden Herzens. Er stierte mich einen Augenblick an, dann stürzte er an mir vorbei in den Korridor. Ich sah die Tür der Herrentoilette blitzen. Gegen die Strömung aus Vergangenheit, Emotionen und Realität ankämpfend, die mich ans andere Ufer zu treiben versuchte, lief ich, nein, schwebte ich in Richtung Toilette; ich hatte das Gefühl, für jeden Schritt über den gefliesten Boden Stunden zu brauchen. Dann waren wir allein. Ich sah seine Beine in einer der Kabinen. Hinter mir nahm ich vage Schritte und eine ferne Stimme wahr, die mir dringend etwas zu sagen versuchte. »Charlie, Charlie!« Langsam, aber mit aller Kraft, hob ich ein Bein und trat die Kabinentür auf. Der Mann drinnen hatte mir den Rücken zugewandt. Er wandte sich um, und ich hatte erneut das Gesicht meines Vaters vor mir - mit schwarzen Ringen unter den Augen und dem herzförmigen Muttermal auf der Backe, die blaugrauen Augen quollen über vom Schmerz ungesagter Dinge. »Recado para tí« - eine Nachricht für dich -, sagte er, dann winkte er und wurde zu einem grauen Nebel, bis schließlich nichts in der Kabine war außer einer großen Schabe auf der Klobrille, die mit ihren Fühlern winkte. Ich zertrat sie. Eine grelle Explosion folgte, dann rief jemand: »Charlie, Charlie, was ist mit dir?« Schließlich wurde es dunkel um mich.
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Im Krankenwagen kam ich kurz zu mir. Ein Sanitäter gab mir eine Spritze in den Arm. Ich spürte, daß wir durch die Straßen der Stadt rasten, die Sirene der Ambulanz ein tröstlicher Bote der Freiheit. Ich tauchte in eine satte, beruhigende Dunkelheit, sah mich für den Bruchteil eines Augenblicks in einem Kokon, dann kehrte ich zurück in die liebevolle Wärme und Sicherheit der Urflüssigkeit. Das Licht stach mir in die Augen, als ich sie wieder öffnete. Eine Schwester stand an meinem Bett und fühlte mir den Puls. Ich war der einzige Patient im Raum, die anderen Betten waren leer. »Werde ich überleben?« Die Antwort der Schwester - Pavlovich, wie es auf ihrem Namensschild hieß, milchige Haut, blaue Augen und graumeliertes Haar - fiel nicht weniger witzig aus: »Noch mindestens fünfzig Jahre, wenn Sie etwas auf sich achten.« Sie ließ meine Hand fallen und trug etwas in eine Tabelle ein, die sie dann ans Fußende des Bettes hing. »Sie hatten einen Nervenzusammenbruch, Sir«, sagte Dr. Patel später. Nußbraun, dicke Augengläser, schlechte Haut; ich hatte den Eindruck, er würde mir jeden Augenblick einen Trank aus einem Bombayer Basar anzudrehen versuchen. »Sie müssen versuchen, sich zu entspannen, es ist nicht gut, den Körper derartigem Streß auszusetzen. Sie hatten nicht zufällig eine Hörtäuschung?« »Besser noch, Doktor. Ich habe Gespenster gesehen. Sie haben mich nach der Zeit gefragt.« »Das ist sehr beunruhigend. Ihre körperliche Erschöpfung muß Sie auch psychisch völlig ausgelaugt haben. Sie wären gut beraten, sich Urlaub zu nehmen, mal aus Ihrer Routine auszubrechen. Wer weiß, was sonst noch -240-
passiert? Ich möchte nicht dafür verantwortlich sein. Nein, Mr. Morell, ich möchte dafür keinerlei Verantwortung übernehmen. Sie müssen sich entspannen.« »Sicher, Doc. Ich habe nur den größten Mordprozeß seit dem Nachtwandler-Fall am Hals. Ich nehme an, ich brauche nur nach einem Ersatzmann zu suchen und auf ein paar Wochen nach Acapulco zu fahren.« »Oh, nein, länger. Ich würde Ihnen dringend zu einem langen Urlaub raten. Einem Studienjahr vielleicht?« »Sind Sie sicher, daß Sie nicht für Mrs. Schnitzer arbeiten?« »Wie bitte?« »Schon gut. Ich kann nicht.« »Dann bleibt Ihnen nur eines.« »Und das wäre?« »Sie müssen sich Ihren Ängsten stellen und Ihre Arbeit zu Ihrem Urlaub machen. Ja. Nicht jeder kann das, aber in Ihrem Fall könnte es das Aus bedeuten, wenn es Ihnen nicht gelingt.« »Die rote Karte, meinen Sie.« »Genau. Sie haben eine witzige Art, sich auszudrücken, Mr. Morell.« Er lachte. Noch am Nachmittag desselben Tages bekam ich Besuch von Clay. Er machte einen schüchternen Eindruck, als wäre er nicht sicher, ob er hier richtig wäre. Ich war sicher, daß er nicht aus Herzensgüte gekommen war, sondern nur, um zu sehen, ob ich aus dem Rennen war. Trotzdem freute ich mich, ihn zu sehen - Herrgott, ich war über jeden froh, der mir Abwechslung von meinem Komikerduo Pavlovich und Patel bot. -241-
»Sie hätten sich wirklich einen leichteren Ausstieg verschaffen können«, sagte er. »Sie dürfen mir glauben, daß das nicht auf meinem Mist gewachsen ist.« »Wissen Sie, Reynolds hält Sie tatsächlich für einen unabdinglichen Teil des Verteidigerteams.« »Ich fühle mich geschmeichelt.« »Sollten Sie auch. Er hat den Prozeß unterbrochen, bis wir mehr über Ihren Zustand wissen. Ramón hat zwar ein Mordstheater gemacht, aber der Richter wollte davon nichts hören.« »Das verstehe ich nicht. Ich dachte, wenn mich jemand gern los wäre, dann Phyllis.« »Ganz und gar nicht. Sie gibt sich alle Mühe, den Anschein von Fairneß zu wahren.« Pause. Ein Grinsen. »Ramón ist das gar nicht recht. Er will Verfahrensfehler für die Berufung sammeln, für den Fall, daß er dran glauben muß.« »Also will Ramón weitermachen?« »Ja. Er sagte, Sie seien offensichtlich überarbeitet. Ich habe mich ihm natürlich angeschlossen. Was soll ich sonst tun? Sie wissen, wo ich stehe.« »Ramón wollte ohne mich weitermachen?« »Er meinte, man solle Sie ganz von dem Fall abziehen. Der Richter hat das abgelehnt.« »Sagen Sie denen, ich bin Montag wieder dabei. Keine Sorge.« Ich versuchte mehrmals am Tag vergeblich Lucinda zu erreichen; am späten Nachmittag kam sie schließlich atemlos und besorgt ins Zimmer gestürmt. Mein -242-
Vermieter, Enzo, hatte bereits vorbeigeschaut, und wir hatten ein Gläschen Monte Albano getrunken, den ich mit dem Demerol mischte, das Patel mir verschrieben hatte, was zur Folge hatte, daß ich mich ausgesprochen gut fühlte. Was ich denn auch gleich unter Beweis stellte, indem ich sie ausgiebig betatschte. Sie schlug mir auf die Hand. »Niño malo, du schlimmer Junge, du, du weißt doch, daß das hier nicht geht. Warte, bis wir zu Hause sind.« »Mañana, domani, morgen, volare, oh, oh.« »Du meinst, sie lassen dich erst morgen gehen?« »Cantare, oh, oh.« »Du bist ja gut aufgelegt für jemanden in deinem Zustand. Ich dachte, du hättest einen Herzanfall, und du singst und willst mit mir ins Bett.« »Ich bin ein freier Mann, mein Mädchen, ich bin frei, frei, frei. Libre de todo pecado. Morgen mache ich Schluß mit dem Fall Valdez. Für immer und ewig.« »Wieso denn?« »Ich bin krank, weißt du, enfermo. Ich kann nicht mehr weitermachen.« Lucinda sah mich einen Augenblick besorgt an. Fragend neigte sie den Kopf, als hätte sie nicht richtig gehört. »Bist du sicher?« »Positivo. Sieh mal, da bringen sie's.« Der Fernseher, auf dem eben noch die Qualen von Liebe und Lust in Santa Barbara zu sehen gewesen waren, schaltete um auf die weitaus faszinierenderen wahren Geschichten von Korruption, Leidenschaft und Mord. Die Fünf-Uhr-Nachrichten. Ich sah, wie sie mich auf einer Trage aus dem Gericht trugen und wie einen Laib Brot in den Krankenwagen schoben. -243-
»War wohl sonst nichts los heute.« Die Sprecherin, eine hübsche Rothaarige mit einer Stupsnase, gab einen detaillierten Bericht über meinen mittlerweile weltberühmten Zusammenbruch. Das Herz ging mir auf dabei. Dann gaben sie mir schließlich den Rest. »Unser Reporter, Jim Ollin, hat den Prozeß gegen Valdez und Pimienta von Anfang an verfolgt. In einem Exklusivbericht hat er enthüllt, daß dies nicht das erstemal ist. Erst vor einigen Jahren, als er noch als Anwalt in Florida praktizierte, kam es zu einem großen Skandal, nachdem er während eines Prozesses einen Nervenzusammenbruch erlitt. Jim?«
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14 »Soll das ins Protokoll?« Körperlos, ätherisch hängt die Frage zwischen den sonnigen Wänden von Richter Reynolds Zimmer - wie ein Smogfetzen, der sich durch die Doppelfenster geschlichen und seine unangenehme Duftmarke hinterlassen hat. Ich sehe mir die feierlichdüsteren Mienen der Leute an, die eine Aufgabe zu erledigen haben, um die sich keiner gerissen hat. In Gedanken versunken wägen sie die Konsequenzen ihrer Entscheidung ab. Phyllis, in einem blauen Kostüm von Ungaro, sitzt gefaßt und kerzengerade. Clay, der in einem grauen Wildledersessel sitzt, öffnet die Knöpfe seines maßgefertigten Nadelstreifenjacketts. Der Richter, in einem schwarzen Ledersessel hinter seinem Schreibtisch aus Teak, nippt an einer Tasse entkoffeinierter Kenya-Röstung und starrt mich an. Alle starren mich an. Die Frage bleibt unbeantwortet. »Herr Richter, können wir das bringen oder nicht?« Langsam dämmert es, woher die Frage kam. Janine, die Protokollführerin, ihre Maschine vor sich, richtete ihre krumme Nase auf den Richter. »In Ordnung«, sagt Reynolds. »Zur Verhandlung steht der Fall das Volk gegen Valdez und Pimienta. Dazu haben sich in meinem Zimmer folgende Personen zusammengefunden, ich, Richter Reynolds, die Vertreterin der Anklage, Phyllis Chin, der Vertreter der Verteidigung, Clay Smith, und der vom Gericht bestallte Ermittler Charles Morell. Bitte das nicht zu Protokoll nehmen, Janine: Das Ganze wird nach Abschrift versiegelt. Weiter im Protokoll. Sinn dieser Anhörung ist es, über die Kompetenz des Ermittlers Morell zu befinden. Darüber -245-
hinaus ist über Mr. Morells Antrag zu befinden, von diesem Fall aus gesundheitlichen Gründen entbunden zu werden. Mr. Morell, warum sagen Sie uns nicht, warum Sie von dem Fall entbunden zu werden wünschen.« Jetzt ist die Reihe an mir. Ich zögere. Soll ich mich bloßstellen, den Leuten sagen, daß ich von meinem Vater verfolgt zu werden glaube, daß ich für etwas bezahle, von dem sie nicht die geringste Ahnung haben, was sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht ausmalen können? Dann ist der Augenblick vorüber. »Euer Ehren«, wirft Phyllis ein, »ich wünsche, daß aus dem Protokoll hervorgeht, daß die Anklage diese Anhörung kategorisch ablehnt. Dieses angeblich standeswidrige Verhalten Mr. Morells - sollte es überhaupt stattgefunden haben - liegt außerhalb der Zuständigkeit dieses Gerichts und ist somit unerheblich für den hier zur Verhandlung stehenden Fall. Es handelt sich um Ereignisse, die sich vor Jahren in einem anderen Bundesstaat zugetragen haben und somit weder Auswirkungen auf das vorliegende Verfahren haben, noch auf Mr. Morells Leistung seit seiner Bestallung. Darüber hinaus liegt der Fall so, daß Mr. Morell als Ermittler von Mr. Valdez ausschließlich von diesem entlassen werden kann, ausgenommen Mr. Morell hätte sich eine grobe Fahrlässigkeit zuschulden kommen lassen, was bisher nicht der Fall war. Da die Behauptungen, er habe sich etwas zuschulden kommen lassen, bisher nicht bewiesen sind, und da Mr. Valdez - wie ich aus der Tatsache schließe, daß noch keine schriftliche Nachricht vorliegt bisher nicht den Wunsch geäußert hat, Mr. Morell zu entlassen, ist diese Anhörung über Mr. Morells Kompetenz nach unserer Ansicht rein akademischer Natur. Was Mr. Morells Gesundheitszustand betrifft, so kann darüber nur ein Arzt befinden. Ich möchte darauf -246-
hinweisen, daß kein fachärztlicher Befund vorliegt. Wir beantragen deshalb auch in diesem Punkt, die Anhörung mangels triftiger Gründe zu beenden.« Urplötzlich geht Reynolds in die Luft. Clay will eben einen Einwand anbringen, aber der Richter winkt ab. Ich sitze da und sehe unter Qualen zu. »Einwand, Euer Ehren, die Anklage…« »Einen Augenblick, Mr. Smith. Dies gehört nicht ins Protokoll. Phyllis, was zum Teufel machen Sie? Wollen Sie nun ein sauberes Verfahren oder nicht?« Phyllis ist völlig ungerührt: »Ich würde den Rest gern protokolliert sehen, Euer Ehren.« »Nichts da, vergessen Sie das Protokoll für den Augenblick. Erst will ich von Ihnen hören, warum Sie kein Licht in diese Angelegenheit bringen wollen und warum Charlie sich nicht aus gesundheitlichen Gründen verabschieden darf.« »Euer Ehren, ich werde diese Fragen erst beantworten, wenn sie zu Protokoll genommen werden.« Reynolds versucht sie in Grund und Boden zu starren, aber Phyllis hält seinem Blick stand. Der Richter gibt auf. Ich überlege, wie Ramón es mit dieser Frau aufnehmen will. »Na schön, wenn Sie unbedingt wollen. Dann eben zurück zum Protokoll. Also, Mrs. Chin, ich habe Ihre Ausführungen gehört, weiß aber nicht, wieso die Staatsanwaltschaft Wert darauf legt, daß in diesem Verfahren ein Fehler gemacht werden könnte, der bei einer Revision Grund für die Aufhebung des Urteils bieten könnte.« »Euer Ehren, es freut mich, daß das Gericht sich so sicher ist, daß das Volk diesen Fall gewinnt, obwohl ich -247-
nicht der Meinung bin, daß diese spezielle Frage zu einer Verwerfung des Urteils führen könnte. Unsere Behörde ist der Ansicht, daß Mr. Morell ein ebenso kompetenter wie qualifizierter Ermittler ist und daß die Ernennung eines Nachfolgers einer zügigen Beendigung des Verfahrens im Wege stünde. Es sind nun bereits zweieinhalb Jahre vergangen, unsere Zeugen können jeden Augenblick zum Problem werden. Ich möchte gar nicht darauf eingehen, daß die Erinnerung mit der Zeit schwächer wird, ich spreche nur von der Verfügbarkeit. Wie ich bereits gesagt habe, hat keine der beteiligten Parteien - weder die Anklage, noch Mr. Valdez oder das Gericht - offiziell einen Antrag auf die Enthebung Mr. Morells gestellt. Wir sind also der Ansicht, daß diese Anhörung rein akademisch ist.« »Ich wiederhole meinen Einwand, Euer Ehren.« Reynolds winkt Clay ein zweites Mal ab, als hätte er genug von seinem Protest. »Es handelt sich um eine formelle Anhörung, Mr. Smith. Kein Grund, auf Ihrem Einwand zu beharren. Nun denn, Mrs. Chin, ich habe Ihre Ausführungen gehört und sage Ihnen ganz offen, sie haben weder Hand noch Fuß. Ich bin sicher, es ist Ihnen bekannt, daß ein vorsitzender Richter bei triftigen Gründen eine vom Gericht ernannte Person nach eigenem Gutdünken entlassen kann. Also, hier wurden schwere Vorwürfe erhoben, derentwegen Mr. Morell vorübergehend verboten wurde, vor Gericht aufzutreten. Darüber hinaus hat er private Schwierigkeiten, die erörtert werden müssen.« In der für ihn typischen paternalistischen Pose eines Plantagenbesitzers wendet er sich an mich. »Ich weiß, wie schwierig das für Sie sein muß, Charlie. Wir alle sind hier, um zu helfen.« -248-
»Ich danke Ihnen, Herr Richter«, murmele ich. »Euer Ehren«, fügt Clay hinzu, »als Mr. Pimientas Rechtsbeistand muß ich zu Protokoll geben, daß wir dagegen sind, Mr. Morell in den Diensten des Mitangeklagten zu belassen.« »Ich nehme es zur Kenntnis.« »Wir sind der Ansicht, daß uns seine Handlungsweise schadet und daß auch nur der Anschein eines Fehlverhaltens seinerseits…« »Das bitte nicht ins Protokoll. Clay, würden Sie endlich den Mund halten! Sie sind aus reiner Höflichkeit eingeladen; es sollte Ihnen scheißegal sein, ob Charlie weiter mit von der Partie ist oder nicht. Es kann Ihren Jungen nur in ein besseres Licht rücken, vor allem wenn Oberstaatsanwalt Pellegrini grünes Licht für den Deal gibt, auf den Sie sich mit Phyllis geeinigt haben. Ihr Einwand ist zur Kenntnis genommen, Mr. Smith.« Der Richter wendet seine sorgenvolle Miene wieder mir zu. »Nun, Charlie, was ist passiert?« Ich schlucke trocken und spüre, wie sich die Haare auf meinem Unterarm aufstellen. Sie hieß Doris Diaz. Sie war klein, hellhäutig, hatte rostbraunes Haar, haselnußbraune Augen und die süßeste aller Stupsnasen, die sie eher wie ein Irenmädel aussehen ließ als ein Kind des alten Spaniens. Nur daß sie Kubanerin war, und damit war das Problem auch schon gegeben. Ich hielt mich damals wie viele andere Ehemänner auch für glücklich verheiratet. Ich vergrub mich in meiner Arbeit, trieb Sport und tauchte nur auf, um meine sexuellen Batterien nachzuladen und den emotionalen -249-
Horizont zu überfliegen. Ich hatte eine gutgehende Praxis in Dade County, ein Haus in Coral Gables, eine Blockhütte auf den Keys, einen neuen Porsche, eine schöne und erfolgreiche Frau und einen wunderbaren kleinen Jungen, der keine Probleme machte, weil sich um ihn eine Reihe von Kindermädchen kümmerte. Es war mir gelungen, die Erinnerung an meinen Vater zu verdrängen, und das so gründlich, daß ich bei den gelegentlichen sonntäglichen Besuchen in der erdrückenden Wohnung meiner Mutter völlig verwirrt vor seinem Foto stand, das sie zwischen Votivkerzen und Heiligenbildern stehen hatte; sein Bild hatte nicht die geringste Wirkung mehr auf mich. Das Südamerikaabenteuer meiner Schwester Celia war noch nicht zu Ende, und so war ich das einzige Kind, der treue Sohn. Ich erinnere mich nicht mehr genau, welcher meiner Bekannten oder zufriedenen Mandanten mich Doris' Bruder Guillermo empfohlen hatte, jedenfalls war er es, der mich engagierte, nachdem man Anklage gegen sie erhoben hatte. Sehr gut erinnere ich mich dagegen an meinen ersten Besuch und an den nachhaltigen Eindruck, den sie auf mich machte. Bevor ich fortfahre, muß ich gestehen, daß kubanische Mädchen mich nicht mehr interessierten, nachdem ich erwachsen geworden war. Ich dachte, es gäbe sie nur in zwei Ausführungen. Die bei weitem häufigste war das dunkelhaarige Modell, üppig ausgestattet, hellhäutig, eine lateinamerikanische Sexbombe mit einer Figur wie eine Sanduhr und funkelnden Augen. Und dann, als Alternative, der dünne, lebhafte Typ mit kleinen Brüsten und breiten Hüften, zänkisch und herrschsüchtig, während die andere lieb und entgegenkommend war. Doris paßte weder in die eine noch in die andere Kategorie. Freilich hatte sie ein kleines Problem; sie hatte -250-
ihren Chef mit einem antiken römischen Dolch umgebracht. Daß Doris das Messer geführt hatte und der Mann tot auf dem Boden lag, als die Polizei in das Bürohochhaus mit Blick auf den malvenfarbenen Golf von Biscayne kam, daran gab es keinen Zweifel. Tatsache war, daß sie selbst die Polizei gerufen hatte. Während der Beweisaufnahme hatte ich Gelegenheit, mir das Band mit ihrem Anruf bei der Polizei anzuhören. »Hallo, Polizei? Ich möchte einen Todesfall melden. Das Opfer ist Bob Lazo, der Architekt. In unserem Büro, 2648 Brickell. Nein, ich fürchte, er ist tot, ich habe nach Lebenszeichen gesucht. Ja, ich war dabei. Ich bin es selbst. Ich habe ihn getötet. Ich heiße Doris Diaz, ich bin seine Assistentin. Ja, ich bleibe hier. Ich warte. Vielen Dank.« Normalerweise wäre sie während der Dauer des Verfahrens ohne Kaution auf freiem Fuß geblieben; schlimmstenfalls hätte man eine Kaution von fünfzigtausend Dollar gefordert, schließlich war sie völlig unbescholten, hatte eine große, besorgte Familie und eine makellose berufliche Laufbahn. Eine vorbildliche Bürgerin. Aber dann kam die Politik ins Spiel. Wir befanden uns damals mitten in üblen Rassenunruhen, die Dade County periodisch heimsuchen; ein Polizeibeamter kubanischer Abstammung, ein Mann mit schlimmeren Vorurteilen als der rückständigste Bauer aus Mississippi, hatte einem schwarzen Studenten aus dem Ghetto den Schädel eingeschlagen. Vier Tage und Nächte lang hatte sich der furchtbare Zorn der Schwarzen entladen. Das Ergebnis: viel Asche, sechs Tote und Dutzende von Verletzten während der Zusammenstöße mit Polizei und Nationalgarde. Die wenigen schwarzen Politiker bei uns argumentierten, die Wurzel des Konflikts -251-
liege in der Ungleichheit des Gerichtssystems in Dade County; es gäbe zwei Gesetze : eines für die Schwarzen, eines für Anglos und Kubaner. Doris' Anklageeröffnungsverfahren fand einen Tag nach dem Ausklingen der Unruhen statt. Die Anklagevertretung wusch ihre Hände in Unschuld und lehnte es ab, Doris' Verhältnisse oder die Einzigartigkeit ihres Verbrechens in Betracht zu ziehen: keine Kaution. Als man damit nicht durchkam, forderte die Staatsanwaltschaft eine Million. Der Richter, der selbstverständlich an die Gleichheit aller vor dem Gesetz glaubte (und dessen Sohn von einer Kubanerin vor dem Traualtar versetzt worden war), bewilligte den Antrag auf eine Million Dollar Kaution, ohne mit der Wimper zu zucken. Kaum hatte sein Hammer zugeschlagen, da zerrten die Gerichtspolizisten Doris auch schon mit Gewalt aus dem Saal. Unter lautstarkem Protest zahlreicher Freunde und Angehöriger. Ihr Pflichtverteidiger, Chuck Windham, war überglücklich, den Fall abgeben zu können. »Wenn Sie mich fragen, Charlie, dann tickt die nicht richtig«, sagte Chuck, einen ungewohnt verschreckten Ausdruck auf seinem Frettchengesicht. »Sie will weder den Deal akzeptieren, den sie ihr anbieten, noch gibt sie mir irgendwas, worauf ich eine Verteidigung aufbauen könnte. Sie weigert sich, darüber zu sprechen, was passiert ist. Keine Ahnung, was man in einer solchen Situation machen soll.« »Ich nehme an, sie hält Sie für den heiligen Judas.« »Ich bin Jude, ich habe keine Ahnung von Heiligen.« »Er ist der Schutzpatron der Verlierer, Chuck. Sie sollten wirklich etwas ökumenischer denken.« »Ich habe daheim schon mehr Ökumene, als ich vertragen kann, vielen Dank.« -252-
Als die Gefängnisbeamtin Doris in ihrem abgetragenen Kittel, ohne Makeup und Schmuck, ins Sprechzimmer führte, sah sie aus wie ein müdes kleines Schulmädchen. Kaum daß sie mich zur Kenntnis nahm, als sie sich an den Metalltisch setzte. Ich begann, mich auf spanisch vorzustellen, wie der Großteil der Kubaner Südfloridas das gewohnt ist, da fiel sie mir ins Wort. Sie spreche lieber englisch, sagte sie, und das im perfekten Tonfall der Neuenglandstaaten, wo alle Leute an einer Kiefersperre zu leiden scheinen. Es war eine ungewöhnliche Bitte für eine Kubanerin, da wir gewöhnlich stolz darauf sind, Sprache und Gebräuche unserer Heimat zu bewahren. »Hat mein Bruder William Sie engagiert?« »Sie meinen Guillermo? Ja.« »Dieser Snob. Ich weiß nicht, warum er meint, die Leute damit beeindrucken zu müssen, Kubaner zu sein. Er heißt William, er wurde William getauft, wir nennen ihn seit jeher William. Ich weiß wirklich nicht, was der hat.« Hätte ich zugehört, ich meine wirklich zugehört, dann hätte mir diese kurze Aussage alles gesagt, was ich über den Fall wissen müßte. Vielleicht wäre ich sogar so gescheit gewesen, mich für ungeeignet erklären zu lassen. Aber ich hatte Bohnen in den Ohren und dachte nur mit dem einen Organ, das zwischen meinen Beinen Aufmerksamkeit zeigte. Meine spontane Erektion war das zweite Warnzeichen, die große Glocke neben dem kleinen Bimmeln, die mich auf die Gefahren hätte aufmerksam machen sollen. »Ich habe Anträge auf eine neue Kautionsverhandlung in Ihrem Fall gestellt. Egal, was passiert ist, eine Million halte ich für übertrieben. Schließlich sind Sie keine Drogenhändlerin, bei der die Gefahr bestünde, daß sie die nächste Maschine nach Kolumbien nimmt. Oder sind Sie -253-
das?« Sie schüttelte lächelnd den Kopf. Ihre Augen zeigten jetzt etwas Leben; ihre Wangen bekamen etwas Farbe. »Gut, habe ich auch nicht gedacht. Ich habe von Mr. Windham, Ihrem bisherigen Anwalt, alle Unterlagen erhalten. Er sagt, Sie wollten das Angebot der Staatsanwaltschaft nicht annehmen: Totschlag, fünfzehn bis fünfundzwanzig Jahre. Ist das immer noch der Fall?« Sie nickte. »Na schön, dann gehen wir vor Gericht. Aber ich muß erfahren, was wirklich passiert ist. Ich muß eine Verteidigung auf die Beine stellen. Mr. Windham meinte, Sie wollten weder über den Vorfall sprechen noch darüber, wie es dazu kam. Ich bin sicher, Sie verstehen, daß wir uns so nur schwer auf den Fall vorbereiten können.« »Ich nehme an, Sie haben recht, aber viel kann ich Ihnen wirklich nicht erzählen.« »Warum fangen wir nicht mit Ihrem Verhältnis zu Lazo an. War er mehr als nur Ihr Arbeitgeber?« »Sie meinen, ob wir etwas miteinander hatten?« »Das ist eine Möglichkeit.« Sie wandte den Blick ab, sah die alte Schachtel von Wärterin in der Ecke sitzen, der im Schlaf die Augen zugefallen waren. »Darf ich Ihnen eine Geschichte erzählen?« »Nur, wenn sie wahr ist.« »Das müssen Sie hinterher selbst entscheiden.« »Schön. Fangen Sie an.« Sie erzählte mir, wie ich jetzt weiß, eine Geschichte, die -254-
unter Kubanern sehr üblich war; im Grunde glich sie meiner eigenen. Eine Frau, die sich durch die Umstände von ihrer Familie getrennt und geschworen hatte, koste es, was es wolle, Architektin zu werden. Aber Doris schien der Weg durch ein unüberwindliches Hindernis verstellt: ihr Geschlecht. Nachdem sie an einer Universität im Norden ihr Diplom gemacht hatte, arbeitete sie in einem großen Büro. Der Chefarchitekt stahl ihr erst die Arbeit an einem großen Projekt und nötigte sie dann zu einer Affäre mit ihm, angeblich um ihr die Anerkennung für ihre Arbeit zu verschaffen. Letzten Endes stellte der Architekt ihre Pläne trotzdem als seine eigenen hin und entließ sie wegen Unfähigkeit. Nach einem Nervenzusammenbruch zog sie in dem Glauben, ihre eigenen Leute wären freundlicher, in den Süden. Aber ihr letzter Arbeitgeber, in diesem Fall das Opfer, der allseits geliebte Bob Lazo, hatte dasselbe Spiel zu spielen und sie eines Abends zu verführen versucht. Sie hatte den Dolch aus der Vitrine genommen und ihm diesen zehn Zentimeter über der Stelle, wo sich seine Schulterblätter trafen, in den Rücken gerammt. »Eine faszinierende Geschichte«, sagte ich. »Aber aus dem Schneider, so fürchte ich, sind Sie damit noch nicht.« »Wieso nicht?« »Weil zwischen den beiden Vorfällen kein ursächlicher Zusammenhang besteht, und wir keine Bestätigung über Ihren Geisteszustand zur Tatzeit haben. Wir haben keinen Beweis dafür, daß der erste Architekt Ihnen Ihre Pläne gestohlen hat, sondern lediglich Ihr Wort. Aber angenommen, die Geschworenen würden Ihnen das glauben, es wäre noch immer keine Rechtfertigung dafür, ihn zu töten. Schließlich haben Sie einen anderen ermordet. Und der Verblichene hat Ihnen schließlich keine Pläne gestohlen. Der Ankläger und der Richter werden -255-
sämtliche Anspielungen auf den ersten Vorfall als unerheblich abtun. Damit verlieren Sie jede Rechtfertigung für die Tötung.« »Was für ein lausiges System.« »Es ist das einzige, das wir haben. Unglücklicherweise hat es wenig Verständnis für die bloße Ähnlichkeit von Umständen. Wurden Sie von einem Psychiater untersucht?« Sie fuhr zusammen, als hätte ich sie geohrfeigt. »Wieso?« »Weil im Augenblick Ihre größte Chance darin besteht, wenn wir auf vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit plädieren.« Sie war drauf und dran, mir eine zu langen, aber statt dessen brach sie zusammen. Und ich hatte das Bedürfnis, sie in die Arme zu nehmen, ihr zu sagen, es würde alles gut werden, ich würde schon einen Weg finden, sie da herauszupauken. Ich merkte, daß meine Erektion verschwunden und meine Gefühle auf mein Herz übergegangen waren, das jetzt bekümmert zusah. »Wenn Sie meinen«, antwortete sie. »Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.« »Schön, dann machen wir es so. Warten wir ab, was der Psychiater sagt, und entscheiden dann, was zu tun ist. Er ist ein guter Freund von mir, Dr. Malcolm Richards. Er wird sich in den nächsten Tagen mit Ihnen in Verbindung setzen. Wie behandelt man Sie denn hier?« Sie hob den Kopf, und zum erstenmal füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie versuchte zu lächeln, aber das Grinsen wurde zu einer Grimasse. »Es ist furchtbar hier…« Ihre Stimme verlor sich. -256-
»Ich weiß. Tut mir leid. Ich werde Sie sobald wie möglich herausholen. Haben Sie eine Nachricht für jemanden, Ihren Freund vielleicht?« Sie lächelte matt und tat sich leid. »Ich habe keinen. Manchmal denke ich, ich habe vergessen, wie man liebt, ich kann nur noch hassen.« »So was sollten Sie nicht sagen es wird sich alles einrenken.« »Ja, natürlich.« Zuerst fiel mir gar nicht auf, daß ich ständig an Doris dachte. Ich stellte nur immer wieder fest, daß meine Gedanken auf unser Gespräch zurückkamen, und das an den unmöglichsten Orten im Delphinarium, beim Plädoyer, selbst beim Ballspielen mit meinem Sohn. Und jedesmal, wenn ich an sie dachte, spürte ich eine Regung im Schritt, ein Verlangen, sie mit den Lippen zu berühren, überall. Und ich ertappte mich beim Überlegen, was sie wohl im Augenblick machte, ob sie auch das Gewitter beobachtete oder wie ich von Moskitos zerstochen wurde. Selbst nachdem mich der Sex mit meiner Frau nicht mehr erregte, sah ich noch kein Problem. Olivia freilich fiel rasch auf, daß etwas nicht stimmte. Sie nahm sich eine Zigarette vom Nachttischchen, steckte sie an, stieß den Rauch durch die Nase und studierte ihn eingehend. »Was ist los mit dir?« fragte sie schließlich. »Was meinst du? Tut mir leid, Liebes, ich mache mir wohl Sorgen über meine Arbeit.« »Hast du eine andere?« Mit einem dramatischen Griff nach ihrer Hand wandte ich mich ihr zu. »Du weißt, daß ich dich nie betrogen -257-
habe. Wieso sagst du so was?« Mit einem Ruck befreite sie ihre Hand. »Weißt du eigentlich, daß wir seit drei Wochen nicht mehr miteinander geschlafen haben?« »Tut mir leid.« »Nein, das tut es dir nicht. Du versteckst etwas. Ich weiß nicht, was es ist, aber es ist alles, was dich noch interessiert.« »Ich bin einfach überarbeitet.« »Das ist kein Grund, deine Familie zu vernachlässigen. Oder deine Frau.« Was weiß sie schon, dachte ich und war beleidigt. Wahrscheinlich macht sie sich Sorgen um die Einschaltquoten ihres Senders. Wenn wir schon über Vernachlässigung sprechen, dann sollten wir nicht vergessen, wer samstags und sonntags nicht zu Hause ist, wer keine Zeit hat, mit dem Jungen zu spielen, weil sie nichts anderes als ihren Beruf im Kopf hat, wer der Ansicht ist, die Ehe sei nur eine Teilzeitverpflichtung. Sicher nicht ich, soviel steht fest! Aber ich sagte nichts. Ich ließ mich langsam von diesen Gefühlen vergiften, bis zum bitteren Ende. Einige Tage später brachte mir Frieda Kohler, meine Ermittlerin, ihren Bericht. »Da haben Sie sich ja was Nettes angelacht, Charlie.« Sie knallte mir den Bericht auf den Schreibtisch. »Sie ist nur eine Mandantin«, erwiderte ich schuldbewußt. »Ich meine einen netten Fall, Sohnemann. Wenn Sie die herauspauken, dann muß ich wohl den Hut vor Ihnen ziehen.« -258-
»Hat ja keiner gesagt, daß es leicht sein wird. Stimmt ihre Geschichte?« »Im großen und ganzen. Wußten Sie, daß Doris in eine Scheidungssache verwickelt war? Ein gewisser Gottschalk. Ihr erster Arbeitgeber.« »Nein, das wußte ich nicht.« »Mrs. G. sagte, Doris hätte jahrelang was mit ihrem Gatten gehabt. Und das sicher nicht heimlich. Sie hat behauptet, die beiden hätten eine Eigentumswohnung unten auf San Andres gehabt. Ich habe dafür aber keine Bestätigung gefunden.« »Und das übrige?« »Das stimmt größtenteils. Na ja, vielleicht nimmt sie's mit der Wahrheit hier und da nicht so genau. Wie die Geschichte mit ihrem Freund. Es stimmt, daß sie im Augenblick keinen hat, aber in Miami ging sie eine Zeitlang mit einem gewissen Carlos Montalvez Correa. Kennen Sie die Montalvez?« »Sie meinen doch nicht etwa die Montalvez aus Cali?« »Offensichtlich ein entfernter Verwandter. Unser Junge ist Viehzüchter, er studierte hier Landwirtschaft, ist aber wieder zurückgegangen.« »Danke. Wo ist die Rechnung?« »Hier. Seien Sie vorsichtig, Charlie. Sie mag zwar nur ein schmächtiges Ding sein, aber sie hat was. Die weiß genau, wie man mit Herzen spielt. Eine seltene Gabe heutzutage, aber sie hat sie.« »Danke, Frieda. Solltest dich als Briefkastentante bewerben.« Schließlich mußte ich wieder zu Doris. Ich konnte es nicht länger aufschieben, wenn ich sie als Mandantin nicht -259-
verlieren wollte. Sie war dünner als das letztemal, und auf dem rechten Auge hatte sie ein mächtiges Veilchen. Sie brach in Tränen aus, als sie mich sah. »Es ist so furchtbar hier«, sagte sie. »Was machen die mit Ihnen? Ich sorge für eine gerichtliche Verfügung, damit das aufhört.« »Es sind nicht die Wärterinnen, es sind die Häftlinge. Sie lassen mich nicht in Ruhe, sie beschimpfen mich, und sie, oh, mein Gott, ich kann Ihnen nicht sagen, wozu die mich zwingen.« Ich hätte sie nach ihrem Freund fragen sollen, ich hätte sie wegen diesem Gottschalk in die Mangel nehmen sollen, wegen der Scheidung und der Wohnung, aber der Anblick ihrer Tränen brach mir das Herz. Sie wollte mir nicht erzählen, wer sie wozu zwang, nur daß es mit Sex und Sklaverei zu tun hatte. Statt dessen rannte sie aus dem Raum und bat heulend um Einzelhaft. Ich war so gerührt, wie ich es nie für möglich gehalten hätte, jedenfalls nicht wegen einer unbewiesenen Behauptung und ein paar Tränen. Aber verstehen Sie, ich wollte ihr glauben. Und der einzige Grund, den ich bei der ganzen Geschichte anführen kann, ist, daß ich mich nach Glauben und Absolution sehnte. Ich fand beides, indem ich ihre Sache zu der meinen machte. Ich ging vor jedes Gericht in Dade County, um einen Richter zu finden, der die Kaution zurücknahm, aber ich fand keinen. Das Schreckgespenst einer Niederlage bei den nächsten Wahlen lahmte selbst die Hand des Gescheitesten, ganz gleich wie sehr er privat an Doris' Notlage Anteil nehmen mochte. Ich erreichte nur eine gerichtliche Verfügung, sie in eine Einzelzelle zu verlegen. »Das ist doch schon was«, sagte sie, »aber wissen Sie, es sind die Kalfakter, die mich nicht in Ruhe lassen.« -260-
»Jetzt werden sie. Sie sind jetzt allein.« »Es gibt keine Möglichkeit, denen zu entkommen, Charlie.« Wenige Stunden nach meinem letzten Besuch saß ich zu Hause und bereitete einen Schriftsatz vor, als das Gefängnis anrief - Doris habe versucht, sich zu erhängen. Eine der Wärterinnen hatte sie gerade noch rechtzeitig gefunden und das Bettlaken abgeschnitten, das sie um das Gitter eines hochgelegenen Fensters geschlungen hatte. Ich eilte ins Gefängniskrankenhaus. Sie lag in Handschellen im Bett in einem Raum mit fünf schwarzen Häftlingen. Ich berührte ihr Gesicht; sie lohnte es mir mit einem matten Lächeln. »Hi, Charlie. Tut mir leid, daß ich Sie im Stich gelassen habe.« »Nein, Sie haben niemanden im Stich gelassen. Ich bin es, der versagt hat. Ich hätte Sie rausholen sollen.« »Charlie«, flüsterte sie. »Ja?« »Es gibt eine Möglichkeit, der Geschichte ein Ende zu machen. Ich brauche nur etwas.« »Was meinen Sie?« »Ich flüstere es Ihnen ins Ohr.« Mit rasendem Herzen legte ich ihr ein Ohr an den Mund. »Yeyo«, flüsterte sie und küßte mich aufs Ohr. Es brannte unter ihrem Kuß. »Para quién?« Für wen? »Para la guardia. Bitte. Ich halte das nicht mehr aus.« Ich nickte und stand auf. »Okay.« -261-
Wenn es das war, was sie brauchte. Sie mußte es nur sagen. Sie lächelte, schloß die Augen und schlief ein. Dr. Richards' Bericht kam, als ich damit beschäftigt war, Doris' Bitte zu erfüllen. Die Untersuchung ergab, daß Doris in hohem Grad an Wahnvorstellungen litt und eine Menge ungelöster Konflikte mit sich herumtrage, die auf ihre kulturelle Identitätslosigkeit zurückzuführen seien. Diese Konflikte könnten unter dem Druck der Umstände zu unkontrollierbaren Aggressionen führen. Obwohl sie die meiste Zeit über völlig gesund und stabil sei, bestehe die Möglichkeit, daß sie in Krisensituationen die Kontrolle über sich verlöre. Das war die beste Nachricht, die ich hatte bekommen können, denn jetzt konnte die Staatsanwaltschaft es mir unmöglich verbieten, zur Erklärung ihres Geisteszustands im Augenblick des Mordes den ersten Vorfall mit einzubeziehen. Ich erzählte Doris die gute Nachricht im Sprechzimmer der Haftanstalt. »Wir haben außerdem einen vorgezogenen Verhandlungstermin. Nächste Woche beginnen wir mit der Auswahl der Geschworenen.« »Das ist wunderbar, Charlie. Was ist denn mit dem, worüber wir gesprochen haben?« Die Wände warfen das Pochen in meinen Ohren zurück. So lässig wie möglich nahm ich einen Schriftsatz heraus und winkte damit, so daß die Wärterin in der Ecke sehen konnte, daß ich Doris nur Papier gab. Die Wärterin nickte. Ich schob die Blätter über den Tisch. »Das ist der Schriftsatz mit Mrs. Gottschalks Aussage. Ich denke, die vierte Seite wird Ihnen gefallen.« »Danke. Ich werde Ihnen das nicht vergessen.« -262-
»Dann sind wir also verabredet, wenn Sie hier rauskommen?« »Ich gehöre ganz Ihnen.« Ich schwebte im siebten Himmel. Wir sahen uns nicht wieder bis zum Tag der Geschworenenauswahl. Ich schaute im Gefängnis vorbei, um mit ihr Aussagen und Dokumente durchzugehen. Plötzlich sagte sie: »Ich brauche mehr, Charlie.« »Es ist schon alles weg?« »Es ist nicht für mich, verstehen Sie.« »Das geht nicht. Es ist zu riskant.« Tags darauf, als man sie in den Gerichtssaal brachte, hatte sie einen Schnitt auf der Stirn und eine große Beule an der Schläfe. Ich sah sie an und nickte. Sie legte eine Hand über die meine und drückte sie sachte, als die Fernsehteams ihre Kameras auf uns richteten. Die Show konnte beginnen. Am Ende hatten wir uns auf zwölf Geschworene geeinigt und brauchten nur noch die vier Ersatzleute auszusuchen. Aber statt meine Papiere vorzubereiten, fuhr ich nach Miami Beach, wo ich schon mal für Doris gewesen war. Armando erkannte mich aus den Nachrichten. »Sie putzen ganz schön was weg, Herr Anwalt.« »Das bringt der Beruf so mit sich.« »Sie müssen es wissen. Macht hundert Dollar.« Nachdem ich im Wagen saß, öffnete ich das kleine Briefchen und breitete das Pulver darin auf ein Blatt -263-
Papier. Ich holte ein Fläschchen Korrekturflüssigkeit heraus, strich damit um den Rand und legte dann vorsichtig die dritte Seite eines Schriftsatzes darauf. Ich klammerte den Schriftsatz neu zusammen und fuhr zum Gefängnis. Ich wartete im Anwaltsraum auf Doris und ging nervös meine Papiere durch, als ein Deputy mir auf die Schulter tippte. Erschreckt fuhr ich zusammen. »Immer mit der Ruhe, Herr Anwalt«, sagte die Polizistin, »Sie brauchen nicht zu erschrecken. Ich wollte Ihnen nur sagen, daß Miss Diaz in fünf Minuten hier sein wird. Ihr Bus ist eben gekommen.« Ich nahm einen Block heraus und begann an meiner Eröffnungserklärung zu arbeiten, die ich, wenn alles glatt ging, tags darauf vortragen wollte. Ich begann mit einem Zitat der Schriftstellerin Eudora Welty, ein Hauch von Theatralik, der sich im Süden immer gut macht. »Mr. Morell?« Nicht weiter beunruhigt hob ich den Kopf. »Ja?« Zwei Sheriff's Deputies standen vor mir, Männer diesmal. »Wir haben die Aufgabe, Sie auf unerlaubte Gegenstände zu durchsuchen. Würden Sie uns bitte Ihren Aktenkoffer geben.« Ich legte meinen Füller weg, als der zweite Deputy schon nach meinem Koffer griff. »Dazu haben Sie kein Recht!« »Nur eine Routinedurchsuchung, Sir. Uns ist zu Ohren gekommen, daß man Kokain in die Haftanstalt schmuggelt. Wir durchsuchen jeden.« Der jüngere der beiden Deputies kippte den Inhalt meines Koffers auf den Tisch. Er begann meine Akten -264-
abzutasten. Mit kundigen Fingern ging er über die Ränder sämtlicher Seiten. Doris kam ins Zimmer in dem Augenblick, als der Deputy die doppelte Seite fand und sich aufgeregt an seinen Vorgesetzten wandte. »Hier haben wir was, Sarge.« Der junge Mann öffnete die Seite, und das weiße Pulver fiel heraus. Der Sergeant schüttelte bedauernd den Kopf. »Sie kommen besser mit, Herr Anwalt.« Doris sah schweigend zu, als die beiden Deputies mich aus dem Stuhl hoben und wegschleppten. »Ich sehe Sie morgen!« rief ich ihr zu. Sie winkte wie eine Italienerin, indem sie eine Hand öffnete und wieder schloß. Dann drehte sie sich um und ging. Ich bekam schließlich recht. Die Deputies hatten kein Recht, meinen Aktenkoffer zu durchsuchen, da sie dadurch die Vertraulichkeit meiner Papiere verletzten. Aus diesem Grund wurde auch keine Anzeige erstattet. Ebensowenig entzog man mir die Lizenz. Ich durfte nur eine Zeitlang nicht mehr vor Gericht gehen. Für die Medien freilich war der Zwischenfall ein gefundenes Fressen, da er denn auch zur Einstellung des Verfahrens führte. Ein neuer Richter übernahm den Fall, der sich mit fünfzigtausend Dollar Kaution zufriedengab, die Doris prompt bezahlte und ebenso prompt sausen ließ, indem sie nach Kolumbien ausbüchste. Die Zeitungen fanden heraus, was Frieda und ich nicht gewußt hatten: Lazo, Doris' Liebhaber, hatte Geld für ein Kartell aus Cali gewaschen; seine Projekte waren nur Fassade für weitaus profitablere Geschäfte im Süden gewesen. Man spekulierte, ob Doris Lazo nicht womöglich im -265-
Auftrag ermordet hatte - für eine halbe Million Dollar, da er das Kartell betrogen hatte, um seinen aufwendigen Lebensstil zu finanzieren. Außerdem war zu hören, daß Doris sich freiwillig gestellt hätte, weil sie bei ihrer Vergangenheit damit rechnen konnte, gegen Kaution entlassen zu werden. Als sich die Dinge dann ganz anders entwickelten und ihr ihr gediegener Charakter nichts mehr nützte, sah man sich nach einem Idioten um und fand auch gleich den größten in ganz Dade County - einen Anwalt, der sich seine Verteidigung von Herz und Schwanz diktieren ließ. Olivia und ich ließen uns danach scheiden. Schließlich kam ich auf der Jagd nach meinen letzten Träumen nach Kalifornien, wo ich immer noch bin und Buße tue. Für meinen Vater, meine Schwester, meine Mutter, meine Frau und meinen Sohn, die ich alle im Stich gelassen habe. »Also, Charlie, was ist in Florida passiert?« Richter Reynolds wölbt mir wieder seine buschigen Brauen entgegen. Er erwartet eine Antwort. Schließlich gebe ich sie ihm. »Nichts, Sir. Überhaupt nichts. Alles nur Lügen und Spekulationen.« Einen Augenblick hält er meinem Blick stand, dann wendet er sich befriedigt ab. »Nun, da haben Sie's. Es gibt keinen Grund, diese Anhörung fortzusetzen. Es ist nicht das geringste passiert.«
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15 Nach dieser Anhörung verflüchtigte sich das Interesse an meiner Vergangenheit. Mir wurde klar, daß außer Clay und Mrs. Schnitzer keinem wirklich daran gelegen war, mich loszuwerden. Ich war nur ein Werkzeug ihrer Strategie, ein Rädchen, um das man sich kümmern sollte, ohne allzu großes Aufheben zu machen. Nach einem Blick auf mein leeres Leben erklärte ich mich für diensttauglich, und schon stachen wir wieder in See. Aus irgendeinem Grund war die Zahl der Ersatzleute unter den Geschworenen während meiner Abwesenheit auf Null geschrumpft, als wäre ein himmlischer Gärtner dabei, die Bummler zu jäten, auf daß nur noch die mit Hingabe und Loyalität Gesegneten übrigblieben. Wir hatten neben den üblichen zwölf noch zwölf Ersatzleute ausgesucht, um sicher zu gehen, daß uns die Geschworenen auch bei unvorhergesehenen Zwischenfällen nicht ausgingen, wie das bei solchen Prozessen an der Tagesordnung ist. Als erstes verloren wir sechs der Ersatzleute; sie verloren ihren Job, als ihr Arbeitgeber, ein riesiges Luftfahrtunternehmen mit einer großzügigen Geschworenenpolitik, nach Nevada zog. Da die Leute damit ohne Einkommen waren, ließ man sie wegen der unzumutbaren finanziellen Belastung gehen. Dazu kamen diverse Krankheitsfälle. Einer der Ersatzleute bekam eine Blinddarmentzündung, ein anderer fing sich einen Epstein-Barr-Virus ein, ein dritter ausgerechnet die Gicht und eine vierte mußte sich einer größeren kieferorthopädischen Prozedur unterziehen und hatte monatelang einen Draht im Kiefer. Von den letzten beiden hatte einer einen Autounfall, der ihn in -267-
einen Streckverband beförderte, der andere erkrankte an Leberkrebs, so daß wir letztendlich ohne Ersatzleute dastanden. Phyllis störte die Aussicht eines Verfahrensabbruchs für den Fall, daß einer der restlichen zwölf krank wurde, nicht im geringsten. Sie war zuversichtlich, daß der Richter auch mit weniger als zwölf Leuten weitermachen würde. »Es gibt genügend Präzedenzfälle«, sagte sie mir in der Cafeteria des Gerichtsgebäudes, als sich die ersten sechs verabschiedet hatten. »Das liegt ganz im Ermessen des Richters.« Ich nippte an meiner Milch. An einem Tisch in unserer Nähe saß eine ungepflegte, ausgemergelte Frau ohne Zähne und rauchte, während ihre drei Kinder mit ihren Brathähnchen spielten, was ihr völlig egal zu sein schien. »Nicht bei diesem Richter. Reynolds ist viel zu sehr darauf bedacht, daß es zu keinem Verfahrensfehler kommt.« »Wenn er das für möglich hält, dann ist er noch dußliger, als ich dachte«, antwortete sie und biß ein Stückchen aus dem vorzüglichen Rippchen. »Solange es nicht zu einer mutwilligen Mißachtung der Prozeßordnung kommt, ergeben sich die meisten Verfahrensfehler aus übertriebener Vorsicht. Wie auch immer, er weiß, was gut für ihn ist. Immerhin steht er nächstes Jahr zur Wiederwahl, und ich bin sicher, daß er sich die Staatsanwaltschaft nicht zum Feind machen will.« »Nur wegen unserem Fall?« »Es ist ein großer Fall. Wir haben nicht die Absicht, uns den durch die Lappen gehen zu lassen. Ich werde das nicht zulassen.« »Wie schön.« -268-
Sie stieß ein hysterisches kleines Lachen aus. »Stimmt. Ich vergesse immer wieder, für wen Sie arbeiten.« »Das Gericht. Nur für's Gericht.« »Selbstverständlich. Aber ich sehe Sie gar nicht als…« »Als was? Den Typ, der sich mit aktenkundigen Kriminellen abgibt?« »Oh, ich weiß, es ist dumm von mir, aber ich habe noch nie verstanden, wie man solche Leute verteidigen kann.« »Das alte Lied. Erstens verteidige ich ihn nicht, und zweitens, was sollen wir Ihrer Meinung nach mit den Leuten anstellen? Sie im Morgengrauen an die Wand stellen?« »Warum nicht?« Mein Blick muß sie getroffen haben, da sie sich rasch korrigierte: »Nur ein Scherz. In China hat man das gemacht. Daran erinnere ich mich noch. Ich möchte nicht, daß das hier passiert.« Wie ein dunkler Schleier legte sich das Gewicht ihrer Erinnerungen über ihre Züge; in diesem Augenblick war sie nicht mehr die strenge Verwalterin einer unparteilichen Gerechtigkeit, sie war eine verängstigte Frau, die über die Schulter zurück auf eine blutige Vergangenheit sah. »Sie wissen, daß ich Kubaner bin, nicht wahr?« Sie musterte mich eingehend. »Nein, darauf wäre ich nie gekommen.« »Auch wir hatten eine Revolution. Wie schlimm war es für Sie? Als ich ein Kind war, suchte die Miliz meinen Vater. Er versteckte sich hinter Töpfen und Pfannen im Küchenschrank. Ein Kind mit einer Maschinenpistole hat ihn gefunden.« »Wie sind Sie… ist er…?« -269-
»Er hat einen commandante vom Ort geschmiert. Wir konnten noch in derselben Woche ungeschoren ausreisen.« »Bei mir war es schlimmer. Wir lebten in Kanton. Mein Vater war in der Kuomintang. Als die Kommunisten die Macht übernahmen, kamen sie und haben ihn im Garten vor unserem Haus umgebracht. Mit Stöcken haben sie ihn totgeschlagen.« »Tut mir leid. Das muß furchtbar gewesen sein.« »Muß es wohl. Ich erinnere mich nicht mehr. Ich war erst drei Jahre alt. Meine Mutter sagt, ich hätte zwar nicht geheult, aber ich hätte solche Angst gehabt, daß ich sang und mir die Hose naß machte.« »Wie sind Sie denn herausgekommen?« »Nachdem sie meinen Vater umgebracht hatten, sagten die Soldaten, sie würden uns am nächsten Tag holen, und sind gegangen. Ein Onkel von mir hatte irgendwelche Verbindungen. So ist es uns gelungen, auf ein Schiff nach Hongkong zu kommen, meine Mutter, meine Schwester und ich. Dort bin ich geblieben, bis ich Paul, meinen Exgatten, heiratete. Mit dem bin ich nach Amerika gegangen.« Sie wandte sich wieder mir zu. In ihren ovalen Augen zogen Stürme auf. »Sehen Sie, wir haben alle unsere Verluste und unsere Toten. Sie wissen, was mir passiert ist, bevor ich hierher kam?« »Ja. Tut mir leid.« »Danke. Das ist der Grund, warum ich mich mit Leuten wie Valdez nicht abfinden will. Aus diesem Grund wollte ich den Fall haben. Ich weiß, was Pellegrini denkt: daß die Leichen an mir hängen bleiben, wenn ich verliere. Nun, ich glaube nicht, daß ich verliere, aber selbst wenn, ist es mir egal. Und wissen Sie, warum? Weil ich einen großen -270-
Friedhof habe, auf dem schon eine Menge Leute liegen. Ich lebe nicht für Geld und Politik. Mir geht es ums Prinzip. Deshalb werde ich mir auch Valdez' Argumentation nicht bieten lassen. Oh, ich weiß, was er sagen wird: Die Gesellschaft hat ihn zu dem gemacht, was er ist. Nun, bei mir zieht das nicht. Wir alle haben die Wahl. Wir können Diamanten sein oder Staub. Es liegt ganz an uns, wie die Sache ausgeht.« Sie wischte sich mit einer Papierserviette über den Mund und stand auf. »Wir können nicht alle Diamanten sein, Phyllis.« »Nein, aber versuchen können wir's. Die Verhandlung geht um zwei weiter. Bis dann.« Es fällt mir schwer, den Aufruhr zu beschreiben, den die distanzierten, präzise gesetzten Worte von Phyllis' erstem Zeugen an jenem Nachmittag in mir auslösten - ein Gerichtsmediziner des Bezirks Los Angeles. »Herr Doktor, wie spricht man Ihren Namen aus?« »Ich heiße Lakshmanan Sathyavagiawaran Tagore. Das buchstabiert sich L-A-K-S-H-M-A-N-A-N-S-A-T-H-Y-AV-A-G-I-A-W-A-R-A-N-T-A-G-O-R-E. Aber Sie können mich Lou nennen.« Geschworene und Publikum brachen in schallendes Gelächter aus, selbst Ramón hob den Blick von seinem Block und lächelte. Nur die finstere Phyllis blieb ernst und stand, den strammen kleinen Körper in einem schwarzweißen Seidenkostüm, neben dem Zeugenstand, als hätte sie einen Besenstiel verschluckt. Der Tod ist kein Stoff für Witze. Sie wartete, bis das Lachen verebbt war, und bedachte die Geschworenen mit einem scharfen Blick. Angesichts -271-
ihrer gerunzelten Stirn verging ihnen das Lachen. »Könnten Sie uns sagen, was für einen Beruf Sie ausüben, Herr Doktor?« »Sicher. Ich bin Gerichtspathologe beim Gerichtsmedizinischen Institut im Bezirk Los Angeles.« »Würden Sie uns etwas über Ihre Ausbildung und Ihre Erfahrung auf dem Gebiet der Gerichtspathologie erzählen?« »Gern. Studiert habe ich an der Universität Bombay…« Ramón sah zum Richter auf und rasselte mit der Kette um seine Knöchel. »Keine Bedenken gegen die Erfahrung des Herrn Doktor.« Clay sah ihn an und zuckte mit den Achseln. »Keine Bedenken.« Richter Reynolds räusperte sich und wandte sich an die Jury. »Meine Damen und Herren, was Sie soeben gehört haben, ist eine Parteienübereinkunft. Das bedeutet, daß die Anwälte beider Seiten, Mr. Smith für Mr. Pimienta und Mr. Valdez in eigener Person, übereingekommen sind, eine bestimmte Information als gegeben zu akzeptieren. In diesem Fall handelt es sich um Qualifikation und Sachkenntnisse von Doktor…, des Herrn Doktors. Sie sind damit angehalten, die Tatsache, die Sachkenntnis des Herrn Doktors, als zweifelsfrei erwiesen zu betrachten, auch wenn keine Beweismittel vorgelegt wurden.« Phyllis trat zur Seite und brachte einen großformatigen, in braunes Packpapier gewickelten Bogen Karton zum Vorschein, den sie auf eine Staffelei vor dem Zeugenstand stellte und aufdeckte. Auf dem Karton waren vergrößert die Fotos der Opfer - vor und nach ihrem Tod. Lächelnde Gesichter auf der einen Seite, leblose, von Kugeln -272-
zerfetzte Körper mit grausigen Rinnsalen im Gesicht auf der anderen. »Herr Doktor, haben Sie an diesen Leichen die Autopsie vorgenommen?« fragte Phyllis. Der Arzt holte dicke Zweistärkengläser aus der Sakkotasche und setzte sie sich auf die Nasenspitze. »Zu meinem Bedauern ja.« »Einspruch!« tönte Clay. »Irrelevant!« »Stattgegeben!« »Euer Ehren«, behauptete sich Phyllis, »ich denke, der Zustand des Arztes…« »Der Zustand des Arztes steht hier nicht zur Debatte, Mrs. Chin. Bitte fahren Sie fort.« Nachdem ihr Versuch, aus den Fotos so viel wie möglich herauszuholen, fehlgeschlagen war, versuchte Phyllis es anders; mit Tränen in den Augen wandte sie sich an den Arzt. »Herr Doktor, was haben Sie sich gedacht, als man Ihnen diese Leichen brachte?« »Gedacht? Für mich handelte es sich um Arbeit, bedauerlicherweise. Es ist traurig, der Totengräber der Gesellschaft zu sein und die Ergebnisse ihrer Krankheiten zu katalogisieren, aber es ist nun einmal der Beruf, den ich gewählt habe. Rama…« »Einspruch, Euer Ehren«, konterte Clay wieder. »Ich sehe nicht, welche Rolle die persönliche Meinung oder der religiöse Glaube des Herrn Doktor hier spielen sollen. Das ist unerheblich!« »Stattgegeben.« »Aber ich will sie hören!« Alle Köpfe wandten sich Mrs. Gardner auf der Geschworenenbank zu, die den Richter herausfordernd -273-
fixierte. »Sie sind…« Richter Reynolds warf einen Blick auf seine Notizen. »Mrs. Chauncer.« »Mrs. Gardner.« »Richtig, Mrs. Chauncer wurde disqualifiziert. Also, Mrs. Gardner, wir stellen hier die Fragen und entscheiden, was Sie für Ihr Urteil hören sollen und was nicht.« »Warum? Warum können wir keine Fragen stellen?« »Weil Sie dann so dumme Fragen stellen würden wie eben.« Mrs. Gardner sah ihn schockiert an. »Entschuldigen Sie bitte«, korrigierte sich der Richter rasch, »dumm ist nicht das richtige Wort, unwichtig, äh, unerheblich. Der Richter befindet über das Gesetz, nicht Sie. Sie sind hier, um über Tatsachen zu befinden. Sie entscheiden auf der Grundlage dessen, was wir Ihnen vorlegen. Denken Sie bitte daran, Sie haben einen Eid geleistet, meinen Anweisungen zu folgen.« »Na gut, aber ich habe gehört, daß in anderen Staaten die Geschworenen die Zeugen was fragen dürfen. Ich würde gern wissen, warum wir das nicht dürfen.« »Weil Sie nicht dürfen!« brüllte Reynolds. »Das Gesetz in diesem Staat erlaubt das nicht. Sonst noch Fragen?« »Nein. Ich halte das nur für nicht fair.« »Dann schreiben Sie an Ihren Abgeordneten und sagen ihm, Sie wollen das Gesetz geändert haben. Fahren Sie fort, Mrs. Chin.« »Dürfen wir vortreten, Euer Ehren?« »Ja, selbstverständlich. Die Herren Anwälte?« Clay trat an den Richtertisch. Ich sah Ramón an, der mir -274-
mit einem Nicken zu verstehen gab, daß ich hingehen sollte. Als ich die Gruppe erreicht hatte, versuchte der Richter seine Stimme zu senken, was ihm jedoch nicht ganz gelang. »Ich kann es einfach nicht glauben, so viel Mist in einem einzigen verdammten Verfahren! Erst ein aufsässiger Angeklagter, jetzt eine aufsässige Geschworene. Wollt ihr sie los haben?« »Das geht nicht, Herr Richter«, sagte Phyllis. »Wir haben keine Ersatzleute mehr. Vielleicht sollten wir eine Pause machen, damit das Volk sich beruhigen kann.« »Das Volk?« Der Richter bedachte sie mit einem Lächeln. »Wahrscheinlich haben Sie recht.« Er hob den Kopf und verkündete: »Das Gericht macht eine Pause von zehn Minuten.« Die Geschworenen gingen im Gänsemarsch hinaus. »Also, Leute, dann macht auch mal eine Pause, weil ich fürchte, daß es nicht einfacher wird.« Auf dem Weg zur Snack Bar hörte ich Mrs. Gardner zu Mrs. Vaught vor der Tür zur Damentoilette sagen: »Also, die aus dem Süden, die stinken doch vor Vorurteilen. Der Teufel soll mich holen, wenn ich tu, was der sagt.« »Chico, dieser zurückgebliebene Südstaatler serviert uns diesen verdammten Fall auf einem silbernen Tablett, Gott segne ihn.« »Welcher Gott, Ramón?« »Irgendeiner, jeder!« Er warf einen Blick in einen kleinen Handspiegel, rückte sich die Krawatte zurecht - meine Krawatte, mein Anzug und grinste. »Wie Mrs. Gardner gesagt hat, ›Vorsicht, -275-
Kamera!‹« Der Vortrag war lang und schwierig, manchmal hatte man Probleme mitzukommen, aber keinen Augenblick langweilig. Der Doktor erklärte, für jeden Laien verständlich, das Blutbad, das man bei dem Juwelier angerichtet hatte. Zwei Tage lang sprach er ausführlich über Schußkanäle, verletzte Arterien, zerschmetterte Oberschenkelknochen, zersplitterte Halswirbel, eingefallene Kehlköpfe, geplatzte Augäpfel und Blut. Blutgruppen, Blutuntersuchungen, Blutspuren, Blut, Blut und nochmals Blut. Phyllis zeigte uns weitere Bilder - den Ladeninhaber und seine Geschäftsführerin Seite an Seite hinter den Schaukästen, graue Gehirnmasse sickerte aus klaffenden Stirnwunden; der Wachmann zusammengerollt, die Waffe noch in der Hand, in dem vergeblichen Bemühen, die Tragödie zu stoppen; die vietnamesische Großmutter mit angstverzerrtem Gesicht. Tod, wohin man blickte, ein brutaler Tod, ein überflüssiger und unverständlicher Tod. Als die Litanei des Grauens zu Ende war, wandte sich Reynolds an Ramón und versuchte ihn so neutral wie möglich zu fragen - was ihm nicht gelang. »Kreuzverhör, Mr. Valdez?« Ramón nahm die Brille ab und massierte sich die Schläfen, als sei ihm noch immer ganz schwummrig von all dem ungewohnten Blut. Jede Geste sagte den Geschworenen, daß auch er noch unter Schock stand, daß er die Greuel, die da eben geschildert wurden, nicht glauben konnte. »Keine Fragen«, antwortete er kopfschüttelnd. Reynolds schnaubte verächtlich. »Mr. Smith?« Clay hob den Kopf, tippte mit einem Finger auf seinen Notizblock ein. -276-
»Nur einige Fragen, Herr Doktor. Sie sagen, Opfer Nummer zwei, der Wachmann, starb durch eine Kugel in die linke Brustseite, die durch den Rücken wieder austrat, wobei sie den Herzbeutel durchdrang und die Aorta anriß. Ist das korrekt?« »Das ist korrekt, ja.« »Wie kommt das?« »Das ist ganz einfach. Die Kugel hat zunächst einmal eine innere Blutung verursacht, da das Blut nicht mehr nur durch die Aorta floß. Dann wurde das Herz selbst verletzt, so daß es rasch zu funktionieren aufhörte.« »Sie sagen, daß das nur eine einzige Kugel war, obwohl der Mann noch von zwei weiteren getroffen wurde?« »Ja. Es war Kugel Nummer drei, die letzte, sie hat den Tod verursacht.« »Ich verstehe. Sie sagen auch, er hatte eine Waffe in der Hand, als er starb?« »Das ist eine Information, die ich zum einen dem Polizeibericht entnehmen konnte, zum anderen aus den Tatortfotos, ja.« »Haben Sie die Finger des Wachmannes auf Pulverspuren getestet, um festzustellen, ob er seine Waffe abgefeuert hat?« Der Arzt setzte sich peinlich berührt zurecht, rückte das Mikrophon gerade, so daß seine Stimme zusammen mit einer schauerlichen Rückkopplung aus den Lautsprechern kam: »Wir haben unser Bestes getan.« Die Rückkopplung wurde zu einem unerträglichen Kreischen. Der Gerichtsdiener stand auf und rückte das Mikrophon wieder zurecht. Clay ließ nicht locker. »Wie meinen Sie das, Sie haben Ihr Bestes getan?« »Sehen Sie, unter normalen Umständen wird eine -277-
Prüfung auf Schmauchspuren noch am Tatort von dem ermittelnden Kriminalbeamten angeordnet. Das gehört zur Routine. Aus irgendeinem unerfindlichen…« »Entschuldigen Sie, wie war das?« fragte die Protokollführerin. »Unerfindlich - will sagen unerklärlich, unbegreiflich, absolut nicht zu verstehen.« »Warum ist das unverständlich, Herr Doktor?« fragte Clay. »Der am Tatort ermittelnde Beamte verlangte den Test nicht. Erst als ich die Opfer in der Leichenhalle hatte und die Akten durchging, stellte ich fest, daß der Test nicht am Tatort durchgeführt worden war. Ich habe meinem Assistenten sofort befohlen, die Hände abzutrennen und den Test durchzuführen. Ich fürchte, es war zu spät.« »Das heißt?« »Das Resultat erlaubte keine Schlüsse. Wir können nicht sagen, ob er seine Waffe abgefeuert hat oder nicht.« Detective Samuels, der ermittelnde Kripobeamte, flüsterte Phyllis aufgeregt etwas zu. Diese schüttelte verzweifelt den Kopf und wandte sich dem Richter zu. Trotzdem wollte Samuels nicht aufhören, ihr seine Geschichte zu erzählen, bis sie schließlich die Hand hob, damit er Ruhe gab. »Keine weiteren Fragen«, sagte Clay. »Noch Fragen?« sagte Reynolds mit einem Blick auf Chin. »Keine Fragen.« »Ich danke Ihnen, Doktor. Sie sind entlassen.« Ich wandte mich an Ramón, der eben einen Punkt auf seiner Liste abhakte. Zugegeben, es war ein kleiner Sieg. Beim Durchsehen der Berichte hatten wir entdeckt, daß -278-
die Polizei die Waffe des Wachmannes unabsichtlich zerstört hatte, noch bevor man irgendwelche Tests durchführte; mit anderen Worten, es war nicht mehr zu sagen, ob Ramón als erster geschossen hatte. Auf dieser Basis könnte man wenigstens versuchen, auf Notwehr zu plädieren, da Ramón glaubwürdig behaupten konnte, er hätte nicht die Absicht gehabt, jemanden zu erschießen. Das Bemerkenswerte daran war, daß Ramón die Sache nicht selbst zur Sprache bringen mußte; Clay hatte das für ihn erledigt. Man hätte meinen können, die beiden hätten ihre Strategien abgesprochen. Aber dann wiederum hatte man auf den Mann noch zwei weitere Kugeln abgefeuert, und außerdem war er nicht das einzige Opfer. Von einem wirklichen Vorteil war Ramón noch meilenweit entfernt. Das Summen wollte nicht aufhören. Es hörte sich an wie ein billiger Wecker unter einem Kopfkissen. Dann war Schluß. Durch die Wände drangen Gesprächsfetzen aus dem Gerichtssaal nebenan. Nur das Murmeln des Verkehrs, hin und wieder ein lästiges Hupen störte die nervöse Ruhe des leeren Geschworenenraums. Ich holte La Opinión heraus, ein 1926 von einem mexikanischen Einwanderer gegründetes Blatt, das heute von allen spanischsprachigen Zeitungen in den Vereinigten Staaten die größte Auflage hat. Annoncen für Anwälte und Unterstützung in Rechtsfragen aller Art umgaben die mageren Spalten. Die Anwälte versprachen Lösungen für alle möglichen arbeitsbedingten Probleme, vom Unfall über nervöse Erschöpfung und Beleidigungen bis hin zu Streitigkeiten und Überarbeitung. Egal, woran der Leser leiden mochte, es gab Hilfe. Die Anwälte hatten das Blatt mit Fotos in allen Farben und Größen zugekleistert; ihre Vornamen waren durch das spanische Gegenstück ersetzt in der Hoffnung auf mehr Kundschaft -279-
aus den Reihen der Armen und Entrechteten - und das bei einer Gebühr von siebzig bis zweihundert Dollar die Stunde, naturalmente. »Es gibt keine Gerechtigkeit«, sagte ich, als Clay und Phyllis den Raum betraten. »Was soll das heißen, Charlie?« sagte Clay. »Natürlich gibt es die. Solange man dafür bezahlt.« Er ließ sich in einen Drahtsessel fallen und krempelte die Ärmel seines maßgeschneiderten Sakkos hoch. »Hallo, Charles«, sagte Phyllis und legte ihre Ledermappe auf den Tisch. Ich rückte ihr einen Stuhl zurecht, aber sie lehnte ab. »Ich sollte gleich sagen, daß das nicht meine Idee war. Ich bin gegen einen Deal, egal wie er aussehen mag.« »Was Sie nicht sagen.« Ich deutete auf Clay. »Ich dachte, ihr hättet euch bereits geeinigt. Ich bin nur zur Akteneinsicht hier.« »Nun, Charles, wenn es Ihnen nichts ausmacht, ich möchte das erst vom Tisch bringen. Sie sollten die Bedingungen auch kennen.« »Jetzt, wo Sie's sagen, würde ich Sie gern hören. Manche Quellen erweisen sich als nicht besonders verläßlich.« Clay lehnte sich in gespielter Überraschung zurück. »Also, Mr. Pellegrini ist zu einer Entscheidung gekommen. Clay, er bietet Ihrem Mandanten Mord zweiten Grades, falls er bereit ist, gegen Valdez auszusagen.« »Was?« Clay war aufrichtig erstaunt. »Augenblick mal. Unsere Abmachung lautete Totschlag zweiten Grades, das sind sechs bis acht Jahre, nicht Mord. Das wären zwanzig. Da -280-
ist wohl bei der Übersetzung was verloren gegangen.« »Nein, tut mir leid; das habe ich nicht gesagt.« »Doch, Phyllis. Spielen Sie dieses Spielchen nicht mit mir. Lassen Sie mich ganz offen sein: Connors, Pellegrinis Mann, hat mir selbst gesagt, Sie wären befugt, das durchzuziehen. Mein Mandant ist damit einverstanden. Wir hatten einen Deal. Sie können jetzt nicht einfach kneifen.« »Clay, es handelt sich hier um ein abscheuliches Verbrechen.« »Das ist jeder Mord! Es ist nun mal scheußlich, jemanden umzubringen. Worum es jedoch geht, ist, daß Sie ohne meinen Klienten nicht die geringste Chance haben, einen hieb- und stichfesten Fall aufzubauen. Und das wissen Sie. Die Polizei hat nicht mal Fingerabdrücke von den Waffen genommen, und Sie wissen so gut wie ich, daß sie die Ermittlungen verbockt hat. Die übliche Schlamperei. Kein Mensch hat die Morde wirklich gesehen. Es besteht immer die Möglichkeit, daß irgendeine Bekloppte unter den Geschworenen hergeht und sagt, sie will weder dem einen noch dem anderen glauben. Und wie stehen Sie dann da? Geben Sie uns Totschlag zweiten Grades, und wir nageln dem Kubaner den Schwanz an den Arsch.« Phyllis wandte sich ab, trat ans Fenster und sah durch die schmierigen Scheiben auf die Wasserspeier am alten Justizpalast hinaus. Clay steckte sich nervös eine Zigarette an und richtete dann mit einem schuldbewußten Achselzucken den Blick auf mich. Phyllis wandte sich um. »Okay, Sie haben Ihren Deal. Charlie ist unser Zeuge.« »Großartig! Ich sage das gleich meinem Burschen. Ich rufe Sie heute nachmittag an, um einen Termin für ein -281-
Vorgespräch festzumachen.« Clay stand auf und schüttelte ihr die Hand. »Sie werden es nicht bedauern.« Eine Spur von Calvin Kleins Infinity zurücklassend stürmte er hinaus. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Charlie, erledigen wir das mit der Akteneinsicht heute nachmittag. Ich sollte Pellegrini erst sagen, daß der Deal unter Dach und Fach ist.« »Chico, das ist das Beste, was uns passieren konnte. Wer wird dem schon glauben?« sagte Ramón begeistert. »Etwa zwölf Geschworene.« »Meinen Sie damit, daß ich nicht glaubwürdig bin?« »Ich sage nur, daß Sie bisher noch nichts getan haben, die Leute auf Ihre Seite zu bringen. Ich sage nur, falls Sie nicht in den Zeugenstand gehen und aussagen, kann ich mich schon darauf einrichten, Sie in Quentin zu besuchen. Und wenn Sie aussagen, werde ich Sie trotzdem dort besuchen. Ich meine damit, Sie sehen einfach nicht aus wie einer, der große Reue zeigt. Sie sehen aus, als wären Sie seelenruhig, als hätten Sie alles im Griff. Er dagegen sieht dämlich und unterwürfig aus. Man wird es ihm leicht abnehmen, daß Sie das Sagen hatten. Daß Sie geschossen haben.« »Tja, das ist nun mal so.« »Das mag schon sein, aber das wird Ihnen auch nicht helfen, wenn er den Finger auf Sie richtet.« »Wissen Sie, Sie hätten ein padre werden sollen. Für Sie ist alles schwarz und weiß. Für Sie sieht immer alles gleich düster und verloren aus. Ich wette, Sie sind einer von denen, die auf einen Sonnentag sauer sind, nur weil es -282-
nachmittags regnen könnte.« »Wenn Ihnen mein Pessimismus auf den Geist geht, dann höre ich auf, okay?« Ramón schüttelte belustigt den Kopf. In solchen Augenblicken zog er an irgendeiner inneren Kette, und schon hellte ein freundliches Licht seine Züge auf. Dann wirkte er nicht mehr so ungeheuerlich, nicht mehr wie ein Alptraum aus Pflicht und Tod, sondern eher wie ein Angeber, der für Wein, Weib und Gesang lebt. Ein ganz normaler Kubaner eben. »So bin ich nun mal«, sagte ich. »An meinem achten Geburtstag hob mich unser Dienstmädchen mit einem großen Jauchzer hoch und küßte und drückte mich, weil ich acht geworden war. Dann sah sie mich an und sagte: ›Was ist los mit dir, du siehst so traurig aus.‹ Wollen Sie wissen, was ich dachte? Ich dachte: Na toll, acht Jahre näher am Tod. Was halten Sie davon?« Ramón beugte sich zu mir herüber, sein Gesicht berührte praktisch das meine über der niederen Glaswand. »Lassen Sie mich Ihnen was sagen. Haben Sie keine Angst vor dem Tod. Er ist das Schönste, was es auf Erden gibt. Nichts läßt sich mit ihm vergleichen.«
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16 Die Geschworenen betraten im Gänsemarsch den Saal. Wie jeden Morgen machten sie einen verschlafenen Eindruck. Als sie jedoch Ramón und mich allein am Tisch der Verteidigung sitzen sahen, begannen sie zu flüstern. Schwungvoll kam Richter Reynolds in den Saal. »Guten Morgen, meine Damen und Herren«, sagte er, während er sich noch die Robe zuknöpfte. »Guten Morgen«, brüllte die Jury wie eine artige Klasse. »Ich hoffe, Sie hatten alle ein schönes Wochenende. Also, einige von Ihnen haben vielleicht schon festgestellt, daß einer unserer Angeklagten fehlt. Es handelt sich dabei um Mister…« - der Richter machte eine kurze Schau daraus, den Namen nachzuschlagen, als hätte er ihn tatsächlich vergessen - »Mr. Pimienta. Nun, wir können Ihnen dazu nur sagen, daß sein Fall ohne Ihre Hilfe entschieden wurde. Sie dürfen das bei Ihrem Urteil über Mr. Valdez' Schuld oder Unschuld nicht in Betracht ziehen.« »Euer Ehren, dürfen wir vortreten?« fragte Phyllis. »Ohne die Protokollführerin.« Ich warf Ramón einen Blick zu, worauf er nickte. Ich verließ den Platz für Anwälte und schloß mich der Versammlung neben dem Sekretär an. Das Publikum war spärlicher geworden, nur noch die Hälfte der Plätze war besetzt. Die für die Medien reservierten Reihen dagegen waren nach wie vor voll. »Herr Richter, die Staatsanwaltschaft wird Mr. Pimienta als Zeugen der Anklage aufrufen. Wenn es das Gericht in Betracht ziehen könnte, eine diesbezügliche Erklärung -284-
abzugeben.« »Mr. Morell?« fragte Reynolds. »Euer Ehren, ich bin nur als Sprachrohr hier. Würde ich jedoch jemanden vertreten, würde ich wahrscheinlich sagen, es wäre besser, zu warten, bis die Anklage den Zeugen tatsächlich aufruft. Dann können die Geschworenen ihre eigenen Schlüsse ziehen. Bis dahin könnte noch eine Menge passieren.« »Nun, Charlie«, schnaubte Reynolds, »von einem weiteren Erdbeben mal abgesehen, sehe ich nicht, was noch passieren sollte, aber ich schließe mich Ihrem Argument an. Tut mir leid, Phyllis, ich habe nicht vor, Ihre kommenden Attraktionen groß anzukündigen. Ich weiß ja, daß Sie darin selbst sehr gut sind.« Phyllis murmelte die altehrwürdige Antwort aller Anwälte, unabhängig von der eben gefällten Entscheidung: »Ich danke Ihnen, Euer Ehren.« Als ich wieder am Tisch der Verteidigung saß, beugte sich Ramón zu mir. »Ich habe gehört, der Richter bumst eine der Justizsekretärinnen.« »Das wird Ihnen auch nicht helfen.« »Es könnte seiner Laune etwas auf die Sprünge helfen. Könnte Ihnen übrigens auch nichts schaden, so wie Sie aussehen, mano. Wann haben Sie das letztemal einen weggesteckt?« »Mir besorgt man es jeden Tag.« »Das Volk ruft Remigio Flores in den Zeugenstand.« Detective Samuels warf seinen beiden Leuten hinten im Saal einen Blick zu. Sie nickten, verließen den Raum und kamen mit dem Parkplatzwächter zurück. -285-
Remigio hatte gut zugenommen seit unserem Gespräch im Park, als er Detective Moat auszubüchsen versuchte. Wahrscheinlich hatte ihm die Polizei das Fußballspielen verboten; womöglich hatten sie Angst, sie würden ihn nicht erwischen, wenn er das nächstemal flitzte. Moat hatte einen Partner bekommen, ein nicht weniger imposantes Exemplar aus dem Reich der Wellenreiter. Das Trio nahm sich aus wie ein Stich aus dem neunzehnten Jahrhundert: ein feister kleiner Teufel, der vor den Altar der Gerechtigkeit geführt wurde. Mit einem nervösen Blick durch den Saal registrierte Remigio die Gesichter von Geschworenen, Richter und Publikum. Ein hörbares »Ah« entfuhr ihm, als er mich und Ramón erspähte. Seine Rechte zitterte bei der Vereidigung. »Sie hatten recht«, sagte Ramón. »Ich sehe die Tätowierung.« »Ja, sieht fast so aus, als hätte er sie loszuwerden versucht«, sagte ich. »Sehen Sie sich die Verfärbung rund herum an.« »Würden Sie uns Ihren Namen nennen und den Nachnamen für das Protokoll buchstabieren«, sagte Curtis. Schließlich ließ Remigio das Gericht wissen, daß er dreiundzwanzig sei, Guatemalteke, aber seit drei Jahren in Los Angeles wohne. Ja, er habe als Parkplatzwächter gearbeitet, als Mr. Valdez, der Angeklagte, in grauem Anzug und roter Krawatte, mit einem anderen Mann an besagtem Morgen vorgefahren sei. Sie seien beide ganz in Weiß gewesen und hätten nach Kölnisch Wasser gerochen. »Haben Sie die Angeklagten in den Laden gehen sehen?« fragte Phyllis. »Ja.« -286-
»Konnten Sie den Laden einsehen, während die beiden drin waren?« »Ja. Die Wand zum Parkplatz hin hat ein großes Schaufenster.« Phyllis ging nach hinten und brachte einen Grundriß der Örtlichkeit zum Vorschein, den sie auf die Staffelei stellte. Die nächste Stunde über ging sie alles durch, was einen Geschworenen interessieren konnte - Lichtverhältnisse, Entfernung, Perspektive, Himmelsrichtungen und die Anzahl der Fahrzeuge und Personen dort, die Sicht von seinem Häuschen aus, wie viele Male er es verlassen hatte, um weitere Wagen zu parken. Eine nach der anderen löschte sie sämtliche Variablen, die der Verteidigung hätten helfen können. Dann trieb sie den letzten Bolzen in das Bauwerk: »Haben Sie gesehen, wie der Angeklagte, Mr. Valdez, einen der Leute im Laden erschoß?« Remigio zögerte. Bis dahin war seine Aussage präzise und gesichtslos gewesen. Jetzt mußte er anfangen, seine Schuld gegenüber Gesellschaft und Staatsanwaltschaft zu begleichen, jetzt hieß es Namen nennen und jemanden beschuldigen. Er sah geradewegs vor sich hin, konzentrierte sich, ohne nach links oder rechts zu sehen auf die Rückwand des Saals zwölf Meter weiter hinten. »Sí.« »Ja«, antwortete die Dolmetscherin mit einem unangebrachten Grinsen. »Wen hat er erschossen?« »Ich habe gesehen, wie er den Geschäftsführer erschossen hat.« »Womit?« »Mit einer kurzen Maschinenpistole, wie man sie immer -287-
im Fernsehen sieht. Einer Uzi, glaube ich.« Die Fragen kamen nun wie ein Schnellfeuer - wie der Kugelhagel, der an jenem Wintermorgen den Laden beharkte. »Wo befand sich der Geschäftsführer, als Sie sahen, wie er erschossen wurde?« »Er war auf dem Boden.« »Haben Sie den Schuß gehört?« »Ja.« »Wie viele Schüsse wurden abgegeben?« »Viele. Ganze Salven. So um die zwanzig, denke ich.« »Wer schoß?« »Der Angeklagte.« »Hat sonst noch jemand geschossen?« »Nein.« »Was war mit dem Wachmann? Haben Sie den auch gesehen?« »Ja.« »Hatte der Mann eine Waffe?« »Ja.« »Hatte er sie in der Hand?« »Ja.« »Hat er sie abgefeuert?« »Dazu hatte er keine Gelegenheit. Der Angeklagte hat mit ihm gerungen und ihn dabei erschossen. Dann fingen alle zu schreien an.« »Was haben Sie gemacht?« »Ich habe Angst gekriegt und bin in mein Häuschen gelaufen, um die Polizei anzurufen.« »Haben Sie noch weitere Schüsse gehört?« -288-
»O ja. Aber ich bin nicht geblieben. Ich hatte Angst vor verirrten Kugeln. So wäre ich fast schon mal in Guatemala umgekommen.« »Sind Sie später noch mal in die Nähe des Ladens gegangen?« »Nein. Nein. Ich habe seither nicht mehr dort gearbeitet.« »Keine weiteren Fragen.« Richter Reynolds wandte sich an Ramón. Phyllis hatte gezeigt, daß Ramón während eines bewaffneten Raubüberfalls getötet hatte, was bei einem Kapitalverbrechen als erschwerender Umstand zu werten war. Jetzt mußte Ramón wirklich beweisen, was er als Verteidiger in eigener Sache drauf hatte. »Kreuzverhör«, sagte der Richter. »Danke, Euer Ehren. Mr. Flores, woher in Guatemala kommen Sie?« »Einspruch. Unerheblich«, tönte Phyllis. »Abgelehnt«, sagte der Richter ohne Zweifel in dem Glauben, Ramón würde sich sein eigenes Grab schaufeln, wenn er ihm nur genügend Bewegungsfreiheit ließ. »Guatemala City.« »Ah ja. Aus welcher zona in Guatemala kommen Sie?« »Wie bitte, ich verstehe nicht«, sagte Remigio. »Zona. Stadtteil, Bezirk, zona. Guatemala City ist in zonas aufgeteilt, Viertel. Aus welchem kommen Sie?« »Sieben«, fuhr Remigio ihn an. »Ah ja. Das ist in der Nähe des Reformerturms, stimmt's?« »Einige Blocks weiter.« »Sehr gut. Nun denn, wie lange, haben Sie gesagt, sind -289-
Sie schon in diesem Land? Drei Jahre?« »Einspruch. Unerheblich.« »Abgelehnt.« »Drei Jahre, ja.« »Sind Sie legal hier?« »Einspruch, Euer Ehren. Der rechtliche Status des Zeugen tut hier nichts zur Sache.« »Abgelehnt. Er könnte eine Auswirkung auf die Aussage haben.« »Ich danke Ihnen, Euer Ehren. Ganz meine Meinung.« »Äh, ich bin undokumentiert.« »Undokumentiert. Was für ein hübsches Wort, Mr. Flores. Was nichts anderes bedeutet als illegal, nicht wahr? Sie halten sich ohne Aufenthaltsgenehmigung hier auf, nicht wahr?« Remigio warf einen Blick auf Moat, einen Anflug von Verzweiflung in den Augen. »Muß ich darauf antworten?« flehte er in einem Englisch, dem seine Pein anzuhören war. »Sie haben gesagt, ich muß darauf nicht antworten.« »Beantworten Sie bitte die Frage, Mr. Flores«, befahl der Richter. »Also, haben Sie eine Aufenthaltsgenehmigung oder nicht?« wiederholte Ramón. »Nein«, fuhr Remigio ihn an, »aber ich laufe wenigstens nicht herum und bringe Leute um!« Sein Akzent verriet ihn schließlich. Ich wußte, wir hatten recht gehabt. »Ich beantrage, alles nach ›Nein‹ zu streichen, Euer Ehren. Das gehört nicht zur Antwort.« »Wird gestrichen.« »Ich würde auch gern die Jury dahingehend belehrt -290-
sehen.« Ramóns Forderung entlockte Reynolds ein gequältes Lächeln. »Meine Damen und Herren Geschworenen, ich muß Sie bitten, Mr. Flores' Anschuldigung gegen Mr. Valdez nicht zu beachten. Schließlich muß erst noch bewiesen werden, daß Mr. Valdez herumläuft und Leute umbringt, ganz egal, was andere sagen. Fahren Sie fort.« »Danke. Also, Mr. Flores, jetzt, wo wir wissen, woher Sie sind, sprechen wir doch ein wenig über Sie. Haben Sie je den Namen Francisco Miranda benutzt?« »Daran erinnere ich mich nicht.« »Oder Carlos Céspedes?« »Weiß ich nicht.« »Wie steht es mit Manuel Ochoa?« »Ich weiß nicht, warum Sie mich das fragen. Ich benutze immer meinen eigenen Namen.« Ramón zog einen Computerausdruck aus seinem Akt, faltete ihn auseinander, so daß die Geschworenen sehen konnten, daß er drei Seiten umfaßte. »Mr. Flores, ich habe hier Ihre Strafakte. Sie besagt, daß Sie dreißig Jahre alt und vorbestraft sind: wegen Einbruch, Umbau gestohlener Kraftfahrzeuge, Verkauf einer Substanz nach dem Betäubungsmittelgesetz für schuldig befunden. Außerdem steht hier, daß Sie sich seit sieben Jahren in diesem Land aufhalten, von denen Sie zwei in der Strafanstalt Chico verbracht haben. Wollen Sie das bestreiten?« Flores senkte den Blick. »Nein.« Dann hob er ihn wieder. »Trotzdem weiß ich, was ich sage.« Der Junge ist noch nicht fertig, dachte ich mir. Bin -291-
gespannt, wann er soweit ist. »Ja, das sagen Sie, ein verurteilter Verbrecher.« »Unerheblich, Euer Ehren«, konterte Phyllis. »Abgelehnt, Frau Staatsanwältin.« Reynolds sagte das mit Nachdruck. »Ihr Zeuge hat seine kriminelle Vergangenheit zugegeben.« »Ich danke Ihnen, Euer Ehren«, sagte Ramón. »Also, Mr. Flores, welcher Religion gehören Sie an?« »Einspruch, Euer Ehren. Das ist völlig unerheblich.« »In diesem Punkt muß ich Ihnen beipflichten, Mrs. Chin. Herr An…« Der Richter korrigierte sich gerade noch rechtzeitig. »Mr. Valdez, sofern Sie keinen triftigen Grund…« »Den habe ich, Euer Ehren. Ich werde ihn in Abwesenheit der Geschworenen und des Zeugen vorlegen.« Der Richter warf einen Blick auf die Uhr. »Nun, ich denke, es ist ohnehin Zeit für eine Pause. Also, warum nicht?« Moat und sein Kumpel begleiteten Remigio aus dem Saal. Nachdem der letzte Geschworene aus dem Saal war, wandte sich Reynolds an Ramón. Er bemühte sich, seine Herablassung so gut es ging zu zügeln. »Mr. Valdez.« »Euer Ehren, ich habe Grund zur Annahme, daß Mr. Flores einer anderen Religion angehört, einer Religion, die der meinen feindlich gesinnt ist. Meiner Meinung nach führt das zu Vorurteilen und Voreingenommenheit seinerseits, was seine Wahrnehmungen trüben könnte.« »Sie meinen, er ist ein Muselmane und Sie sind ein -292-
Christ oder etwas in der Art, richtig?« »Richtig.« »Antrag abgelehnt. Nur weil jemand einer anderen Religion angehört, heißt das noch lange nicht, daß er lügt oder Sie in die Gaskammer schicken will - was in diesem Fall auf das gleiche hinausläuft.« »Aber Euer Ehren!« »Kein aber, Mister! Ich sage hier, was Sache ist. Gehen Sie zurück in Ihre Zelle.« Phyllis wartete im Flur auf mich. »Wie konnten Sie nur!« »Wie konnten Sie? Sie sind angehalten, mir alle Informationen zukommen zu lassen, die Sie über Ihren Zeugen haben. Ich mußte losziehen und sie mir selbst besorgen.« »Ich wußte das nicht. Samuels hat es mir eben gesagt. Er hat es erst gestern abend herausgefunden. Wie sind Sie darauf gekommen?« »Seine Vermieterin hatte seine Sozialversicherungsnummer. Was soll ich machen, die Augen verschließen und meine Arbeit nicht tun?« »Sie hätten mich warnen können.« »Wieso?« Ich ging den Flur hinunter Richtung Snack Bar. Phyllis flitzte hinter mir her. »Sie wissen, daß er's getan hat. Sie wissen, er hat diese Leute umgebracht. Es ist gewissenlos.« Ich fuhr herum. »Wir haben das bereits durchgekaut, Phyllis. Jeder hat ein Recht auf Verteidigung. Selbst Hitler oder der Teufel haben das Recht auf die bestmögliche -293-
Verteidigung, inklusive eines Ermittlers. Das ist unser System, das ist Gesetz, wir wollen es so. Also müssen wir uns danach richten.« Sie ließ nicht locker. »Sie hätten mich warnen können.« »Ihnen die Arbeit machen, damit ich meine Lizenz verliere und den Respekt vor mir selbst? Es ist Ihre Schuld, daß diese Vollidioten von der Polizei keine Ahnung haben, wie man eine Ermittlung durchführt. Es ist Ihre Aufgabe, denen beizubringen, daß sie ihre Arbeit machen müssen, nicht meine.« »Jetzt hören Sie mal zu. Wir versuchen Abschaum wie ihn aus dem Verkehr zu ziehen. Versuchen Sie doch einmal im Leben, auf der Seite der Rechtschaffenen zu sein, nicht auf der des Drecks. Wenn Sie noch einen Rest an Würde haben, dann müßten Sie das tun.« »Ich nehme an, ich sollte zur Staatsanwaltschaft gehen und meine Seele generalüberholen lassen; die Leute dort sind ja offensichtlich Gottes handverlesene Waffen. Das können Sie sich abschminken, werte Dame. Wenn Sie den Mann verurteilen wollen, dann bringen Sie brauchbare Beweismittel. Hören Sie auf zu predigen. Und erwarten Sie nicht von mir, daß ich Ihnen die Arbeit mache.« Eine Handvoll Geschworener starrte mir nach, als ich die Treppe hinunterging. Es war mir völlig schnuppe, ob ich mit meinem Ausbruch Vorurteile in ihnen weckte oder nicht - das war Phyllis Problem. Was sollte ich tun? Ich mußte stehenbleiben, um zu verschnaufen. Ich spürte, wie mein Herz raste, das Gebäude geriet ins Schwanken. Alle meine Verteidigungsmechanismen konnten mir das nagende Gefühl in der Magengrube nicht nehmen, diese Angst, die in meinen Eingeweiden tobte. Ich trieb auf einem Meer von Abscheu und hatte nichts als das schwache Floß der Pflicht, um den Wellen der Schuld zu -294-
trotzen, die mich zu ersäufen drohten. Remigio hatte seine Fassung wiedergewonnen, als wir nach der Pause weitermachten. Voller Selbstvertrauen saß er da, rückte das Mikrofon zurecht, atmete tief ein und zog sich den Inhalt seiner Nase in den Rachen. »Mut aus Kolumbien«, sagte ich zu Ramón. »Tatsächlich? Ich dachte, er hätte eine schlimme Erkältung, pobrecito.« Dann hob er die Stimme. »Mr. Flores, vor der Pause haben Sie zugegeben, vorbestraft zu sein. Das letztemal wurden Sie wegen Drogenhandels verurteilt. Stehen Sie im Augenblick unter Drogen?« Alle Augen richteten sich auf Remigio. Seine selbstsichere Maske wurde durchsichtig, und die Angst kehrte in seine Augen zurück. »Einspruch.« »Abgelehnt.« »Nein«, murmelte Remigio. »Sie waren also nicht während der Pause auf der Toilette, um Kokain zu schnupfen, damit Sie Ihren Mut wiederfinden?« »Nein! Ich bin ein Mann. Ich brauche das nicht, um zu tun, was ich zu tun habe.« Wieder zeigte uns der Dolmetscher das milde Lächeln, sei es aus Reflex oder Zynismus. »Gut. Dann sagen Sie uns doch einmal, warum Sie sich hier als Guatemalteke ausgeben, wenn Sie laut Ihrem Verhaftungsprotokoll kubanischer Flüchtling sind.« »Einspruch, Euer Ehren«, rief Phyllis. »Annahme von Fakten, die nicht gerichtsbekannt sind. Will Mr. Valdez hier eigenes Wissen vorbringen?« -295-
Ramón hielt dem Gerichtsdiener die Papiere hin, damit er sie dem Richter brachte. Reynolds warf einen raschen Blick auf das Dokument. »Darf ich das sehen?« fragte Phyllis. »Selbstverständlich.« Ein Gerichtsdiener trug es hinüber zum Tisch der Anklagevertretung. »Ich möchte das als Beweisstück A der Verteidigung zu den Akten geben, Euer Ehren«, sagte Ramón, »die beglaubigte Kopie des Verhaftungsprotokolls.« »Es wird als solches zugelassen.« Ramón hielt ein weiteres Papier hoch. »Euer Ehren, das hier ist ein Stadtplan von Guatemala City aus dem Verlag Rand McNally. Würden Sie ihn bitte als Beweisstück B markieren lassen.« »Betrachten Sie es als markiert.« Der Gerichtsdiener kam wieder und holte das Dokument ab. Er sah nicht gerade glücklich aus. »Ich möchte, daß das Gericht zu Protokoll nimmt, daß der Reformerturm nicht im siebten, sondern im neunten Bezirk steht, der sich auf der entgegengesetzten Seite der Stadt befindet.« Ramón drehte seinen Stuhl Remigio zu und lächelte ihn breit an. »Also dann, Mr. Flores, sind Sie nun Kubaner oder nicht? Das jedenfalls haben Sie dem Beamten gesagt, der Sie verhaftet hat. Natürlich war das bereits 1984, als man Kubaner in Atlanta internierte, um sie zu deportieren. Wenn Sie Guatemalteke sind, warum können Sie uns dann nicht sagen, wo Sie gewohnt haben? Der siebte Bezirk ist nicht einmal in der Nähe des Reformerturms. Warum belügen Sie uns?« »Ich lüge nicht.« -296-
»Wie verhält es sich dann? Haben Sie den Beamten angelogen aus Angst, nach Guatemala deportiert zu werden?« Verzweifelt sah Remigio sich um. »Ja«, sagte er fast unhörbar. »Also haben Sie den Beamten angelogen.« »Ja.« »Aber jetzt lügen Sie nicht?« »Nein. Ich weiß, was ich gesehen habe.« »Na schön, dann sprechen wir darüber. Wie lange haben Sie auf diesem Parkplatz gearbeitet, sechs Monate?« »Ja.« Ramón wandte sich mir zu und machte eine Geste in Richtung der ledernen Aktenmappe. Ich reichte sie ihm. Er holte ein weiteres Dokument heraus, ein rosa Blatt mit einem Stempel, der es als beglaubigte Abschrift auswies. Er warf einen Blick darauf und legte es vor sich auf den Tisch. »Sie haben während dieser Zeit gesehen, daß der Platz von Lieferanten benutzt wurde, nicht wahr?« »Ja.« Ramón deutete auf den Grundriß des Parkplatzes neben dem Schmuckgeschäft, der noch auf der Staffelei stand, wo Phyllis ihn hingestellt hatte. »Ich kann aus allseits bekannten Gründen nicht aufstehen, also Mr. Flores, por favor, wären Sie so freundlich, zu der Zeichnung hinüberzugehen?« Flores trat an die Staffelei. Ein zweites Mal gingen wir Entfernungen durch, Parkplätze, Eingänge in das Gebäude. Remigio erzählte der Jury widerwillig, daß Lieferungen durch die Stahldoppeltüren auf der Südseite -297-
erfolgten, die von seinem Häuschen aus zu sehen waren, und zwar an einer ganz bestimmten, eigens für diesen Zweck markierten Stelle. »Ein solcher Lastwagen hätte Ihnen doch die Sicht versperrt, nicht wahr?« »Vielleicht. Ich habe trotzdem gesehen, was ich gesehen habe.« »Aber am Tag des Vorfalls, sagen Sie, hatten Sie eine klare Sicht auf das Ladeninnere. Ist das nicht so?« »Ja.« »Nun denn, der Vorfall ereignete sich um elf Uhr sieben. Sie haben uns gesagt, Sie waren sich sicher, was die Zeit anbelangt, weil Sie auf die Uhr gesehen haben, als wir unser Parkticket kauften, richtig?« »Ja.« »Sagen Sie uns auch die Wahrheit? Haben Sie nicht irgendwas vergessen?« Remigio warf einen weiteren Blick auf Moat und Phyllis. Er erwartete Unterstützung, fand aber keine. »Nein.« »Nein, Sie sagen uns die Wahrheit, oder nein, Sie haben nichts vergessen?« »Nein, ich habe nichts vergessen.« Ramón seufzte, dann nahm er den rosa Zettel vom Tisch. »Euer Ehren, ich habe hier die beglaubigte Kopie eines Frachtbriefs der Firma Abelson Express, in der bestätigt wird, daß um genau zehn Uhr neunundfünfzig dort angeliefert wurde. Die Fahrer müssen bei jeder Lieferung ihre Frachtpapiere in einer Stechuhr stempeln.« Reynolds riß dem Gerichtsdiener das Papier aus der Hand und prüfte es. -298-
»Euer Ehren, ich glaube nicht, daß man mir das gezeigt hat.« Reynolds gab es dem Gerichtsdiener zurück, der es an Phyllis weitergab. »Wie Sie sehen«, sagte Ramón, »zeigt der Stempel, daß der Wagen erst um drei Uhr sechzehn wieder abgefahren ist, nachdem der Zwischenfall längst vorbei war. Was nichts anderes besagt, als daß der Lastwagen auf dem Lieferantenplatz stand und Ihnen somit die Sicht versperrte, ist es nicht so, Mr. Flores?« »Das ist nicht wahr, ich habe Sie gesehen!« »O ja, Sie haben mich gesehen. Sie haben mich hineingehen sehen, aber das war auch schon alles, Mr. Flores. Ist es nicht so, daß Sie alles nur erfunden haben, weil die Polizei bis zu Ihrer Aussage hier für Ihren Lebensunterhalt aufkommt?« »Einspruch. Unerheblich, Euer Ehren«, sagte Phyllis. Aber Ramón hatte nicht die Absicht zurückzustecken. »Stimmt es etwa nicht, daß Ihnen die Polizei die Wohnung bezahlt, Ihren Lebensunterhalt bestreitet und Ihnen sogar eine Arbeitserlaubnis versprochen hat, wenn Sie hier aussagen?« »Ja, aber…« Alles weitere kam wie aus einem Maschinengewehr: »Also stimmt es. Sie haben also gelogen! Immerhin sind Sie ein Anhänger Shangós, oder? Als solcher wollen Sie den Tod der Diener Oggúns, nicht wahr?« »Euer Ehren, Einspruch! Unerheblich! Das hat nichts mit diesem Verfahren zu tun!« »Mr. Valdez, ich ersuche Sie dringend…« »Hör zu, Flores, ich weiß, du bist Kubaner und santero, also laß mich dir eines sagen: Oggún areré, alawó, kokóro -299-
yigüé yigüé.« »Euer Ehren!« »Gerichtsdiener, entfernen Sie Mr. Valdez aus dem Saal…« Aber noch bevor der Gerichtsdiener reagieren konnte, schubste Remigio die Dolmetscherin beiseite und sprang aus dem Zeugenstand, setzte über die Schranke ins Publikum und war auch schon zur Tür hinaus. Ramón grinste mich an, als Moat hinter Remigio hersetzte. »Danke für den Tip.« »Nichts zu danken. Ich tue nur meinen Job.« Zu Hause erwartete mich Lucinda. Zu meiner ganz besonderen Freude hatte sie mir eine nach Safran und Jod duftende Paella gemacht. »Nein, nein«, sagte sie, als mir auffiel, daß sie nur für eine Person gedeckt hatte, »ich will keine, die ist nur für dich.« Sie stellte den Steinguttopf auf den Untersetzer und schaufelte mir Berge von glänzendem Reis und Schalentieren auf die weißen Villeroy-&-Boch-Teller, die sie bei Bullock's gekauft hatte. »Im Angebot; sind sie nicht hübsch mit dem geblümten Rand«, hatte sie gesagt, als sie mir die Rechnung über fünfzehnhundert Dollar für sechs Gedecke brachte. »Wie macht sich der Prozeß?« fragte sie. Ich kaute zu Ende und nahm einen Schluck Watney's. »Du bist eine tolle Köchin.« »Gracias.« »Der Prozeß macht sich bis jetzt ganz gut, aber sie haben auch noch keine schweren Geschütze aufgefahren. Gegen -300-
den Gerichtsmediziner konnten wir nichts machen, aber den Knaben vom Parkplatz hat Ramón gründlich auseinandergenommen. Er hat ihm derart Angst gemacht, daß er davongelaufen ist. Sie haben ihn immer noch nicht wiedergefunden.« »Ich weiß, ich habe es im Fernsehen gesehen.« Sie schenkte mir den Rest der Flasche Bier ein und streichelte meinen Unterarm. »Du meinst also, Ramón wird gewinnen.« Ich sah sie an und suchte in ihren Zügen nach - ja, was? Erstaunen? Verlangen? Erwartung? »Wieso? Willst du, daß er freikommt?« Sie spielte mit ihrem Haar, zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Ich meine, egal, was er kriegt, er hat es verdient. Trotzdem glaube ich immer noch, er war's nicht, verstehst du? Ich nehme an, ich suche nur nach einer Ausrede.« »Zu schade, daß du nicht in der Jury sitzt. Das würde ihm wirklich gefallen.« »Ja, ich weiß. Zu schade.« Unser Sex an diesem Abend war mechanisch, ein rasches Reinraus, mehr Pflicht als Lust. Nachdem sie ins Bad gelaufen war, erschien sie in einem roten Flanellnachthemd in der Tür und betupfte sich den Hals mit Reinigungsmilch. »Enzo wollte dich heute nachmittag sprechen«, sagte sie und warf die benutzten Wattebäuschchen in die Toilettenschüssel. Ich nahm ein Reisemagazin zur Hand, mir war nach Flucht, ich träumte von Himmelbetten und Zuckerrohrplantagen an einem kristallklaren Strand, an dem die Laubfrösche sangen. »Was wollte er?« -301-
Sie stieg neben mir ins Bett. Sie roch nach Desinfektionsmittel und Zahnpasta - der Tod von Bakterien und Liebe. »Er fragte, ob du einen Oberkellner für ihn wüßtest. Er mußte seinen alten feuern, weil er ihn bestahl.« »Er hat mir schon gesagt, daß er Probleme hat. Zu blöd. Nein, ich kenne niemanden.« »O doch, du kennst jemanden.« Sie kuschelte sich einen Augenblick an mich. »Wen denn?« »Mich. Ich habe ihm gesagt, daß ich keine Arbeit habe und nichts zu tun und daß ich so was schon mal gemacht habe. Was natürlich gelogen war. Aber er hat gesagt, er würde es mit mir versuchen. Ich soll morgen abend anfangen, Spätschicht, sechs bis Mitternacht. Es macht dir doch nichts aus, corazón, oder?« Natürlich machte es mir was aus, natürlich wollte ich sie nicht aus den Augen lassen, natürlich wollte ich sie mit Haut und Haaren unter meiner Fuchtel haben. »Nein, natürlich nicht. Ich freue mich für dich.« Sie küßte mich. »Ich wußte, ich kann auf dich zählen, mein Leben. Ich danke dir. Gute Nacht.« »Gute Nacht.« Sie drehte sich um, machte das Licht aus und schlief ein. Ich spürte alle Anker, die mich noch mit der Realität verbanden, in einem Strom duftender Dunkelheit treiben. »Die Staatsanwaltschaft ruft Vlad Lobera in den Zeugenstand.« Ein schwergewichtiger Mann an der Grenze zur Fettleibigkeit kommt herein. Er ist leichenblaß, hat volle -302-
Lippen und einen Bart, der so dunkel ist, daß er wie ein Schleier über seinen Zügen liegt, ein Bart, dem weder Schick noch Guette etwas anhaben können; nur das Rasiermesser eines vorsichtigen Barbiers könnte diesem Bart beikommen. Er trägt einen wollenen Nadelstreifenanzug, ein weißes Hemd, keine Krawatte eine Gestalt wie von der Leinwand eines sozialistischen Realisten. Vlad, dessen Miene an seinen Namensvetter, den Pfähler, erinnert, schreitet entschlossen auf den Zeugenstand zu, buchstabiert seinen Namen, setzt sich und wirft Phyllis einen hilflosen Blick zu. »Ich weiß zufällig, daß der Dicke für über zehn Millionen Dollar Edelsteine pro Monat umsetzt«, flüsterte Ramón. »Woher wissen Sie das?« »Quellen, Charlie. Ich bin zwar im Knast, aber ich habe meine Ohren überall.« »Würden Sie uns Ihren Beruf nennen?« fragte Phyllis. »Ich bin Juwelier. Großhändler. Ich habe die besten Aquamarine von Stadt.« Gekicher im Saal über diese dreiste Werbung. »Wir danken Ihnen für diese Information, Mr. Lobera«, sagt Reynolds, »aber antworten Sie bitte nur auf die Fragen.« »Warum? Sie mögen keine Aquamarine? Sie sind der Spiegel von Himmel. Ich habe auch gute Smaragde. Großhandel.« »Ich bitte Sie, Mr. Lobera. Frau Staatsanwältin.« »Mr. Lobera, haben Sie Barry Schnitzer mit Edelsteinen beliefert?« »Wen?« -303-
»Eines der Opfer in diesem Fall, den Eigentümer von Schnitzers Schmuckkästchen.« »Oh, Sie meinen Levi. Das arme Schwein. Ja, sicher. Ich war dabei, als es ihn erwischt hat. Ich wäre selbst fast draufgegangen dabei.« Wieder Gekicher im Saal. Vlad sieht sich um, überrascht, daß seine Worte solche Heiterkeit auslösen. Phyllis steht auf und stellt sich hinter Ramón. »Sehen Sie in diesem Gerichtssaal jemanden, der an diesem Tag und zu dieser Zeit dort war?« »Ja, sicher. Der Schwarze vor Ihnen, der war da, zusammen mit noch einem Neg… - wie nennen Sie die jetzt? Afro-Amerikaner? Ihn habe ich gesehen, den anderen nicht. Großer Kerl, der andere, wissen Sie. Einer von den Typen, bei denen ich immer nervös werde wegen der Steine, die ich bei mir habe.« »Bitte im Protokoll zu vermerken, daß der Zeuge den Angeklagten, Mr. Valdez, erkannt hat.« »Wird vermerkt. Fahren Sie fort.« »Wo haben Sie sie gesehen?« fragt Phyllis. »Sie stehen neben der Schmuckvitrine und sehen sie an. Sie sind mir aufgefallen, weil sie ganz weiß angezogen waren und irgendwo komisch rochen.« »Wie darf ich das verstehen, komisch?« »Nach billigem Kölnisch Wasser, wissen Sie? Wirklich seltsamer Geruch.« Phyllis möchte ihm eben eine weitere Frage stellen, als sie sich statt dessen auf dem Absatz umdreht und wieder in ihren Sessel setzt. Sie geht ihre Papiere durch. Einige Sekunden erwartungsvollen Schweigens vergehen. »Frau Staatsanwältin?« fragte Reynolds. -304-
Phyllis spielte die Zerstreute. »Ja?« »Sonst noch was, Frau Staatsanwältin?« »Oh, nein, nein. Keine weiteren Fragen.« Eindringlich wende ich mich an Ramón. Eine merkwürdige Umkehr: Faust berät Mephisto. »Stellen Sie keine Fragen. Das ist eine Falle. Er hat nichts gesagt, was Sie belasten könnte. Sie wartet nur, daß Sie darauf reinfallen. Sagen Sie einfach: Keine Fragen.« Ramón wischte meine Mahnung beiseite. »Ich weiß schon, was ich tue.« »Mr. Valdez?« »Ich danke Ihnen, Euer Ehren. Mr. Lobera, Sie haben gesagt, Sie hätten mich und noch jemanden in diesem Laden gesehen. Sagen Sie mir eines: Sah es aus, als wären wir bewaffnet?« »Woher soll ich das wissen? Ich habe keine Waffen gesehen.« »Wie nahe sind Sie uns gekommen?« »Nahe genug, um Sie zu riechen.« Abermals Gelächter. Selbst Ramón muß lächeln. »Wie nahe ist das ungefähr? Zwei, drei Meter?« »Mehr oder weniger.« »Haben wir etwas gesagt? Was haben wir gemacht?« »Solange ich dabei war, haben Sie nichts gesagt. Sie haben auf die Vitrine gestarrt, als würden Sie etwas suchen, das war alles.« Phyllis lächelt. Ramón ist in die Falle getappt. Oder doch nicht? »Sie sagen, Sie haben sich während des Zwischenfalls im Laden aufgehalten. Wo genau waren Sie?« Vlad setzt sich zurecht, das Gewicht dieser Enthüllung -305-
macht ihm zu schaffen. »Nun, um die Wahrheit zu sagen, ich war auf dem Klo.« Diesmal lachen alle. Vlad zuckt mit den Achseln. »Was soll ich sagen? Ich hatte ein schweres Frühstück. Das war ein Fehler, ich habe einen nervösen Magen.« Er tätschelt seinen überhängenden Ranzen. Ramón wartet, bis das Lachen verebbt ist. »Wenn Sie so beschäftigt waren, wie Sie sagen, woher wissen Sie dann, daß etwas passiert ist?« »Ich habe es gehört. Ich war ja gleich vor der Tür. Ich habe das Geschrei gehört, und dann sagt Levi, dem ich eben einige Aquamarine gezeigt habe: ›Warten Sie mal einen Augenblick, Vlad.‹ Dann geht er raus. Ich wickle meine Steine wieder ein, da höre ich das Glas kaputtgehen, und dann, Peng, peng! Zwei Kugeln und ein Mordsgeschrei. Und dann war auf einmal die Hölle los.« »Mit anderen Worten, Sie haben nicht gesehen, was passiert ist.« »Stimmt. Aber die Wände sind dünn wie Papier, ich konnte alles hören. Ich habe mir in die Hosen geschissen, wenn Sie entschuldigen wollen, weil ich gedacht habe, die Kerle würden mich hören und reinkommen.« »Einen Augenblick mal. Sie wissen also nicht, ob wir noch da waren, nachdem Sie in Schnitzers Büro gegangen waren, oder? Sie haben nicht das geringste gesehen.« »Stimmt genau.« »Danke. Keine weiteren Fragen.« Der Richter macht sich seine Notizen auf dem Laptop, dann macht er eine Geste in Richtung Phyllis. »Weitere Fragen?« »Ja, Euer Ehren. Mr. Lobera, Sie haben eben den -306-
Angeklagten, Mr. Valdez, sprechen hören. War das eine der Stimmen, die Sie an jenem Tag im Laden gehört haben?« »Oh, ohne Zweifel. Das ist er. Ich erkenne ihn ganz sicher.« »Ich danke Ihnen. Keine weiteren Fragen.« Reynolds macht eine Geste in Ramóns Richtung, aber der hat Lobera bereits gefragt: »Lobera, haben Sie gehört, was gesagt wurde?« »O nein, das nicht. Ich meine, ich spreche nicht Spanisch oder was immer Sie sprechen. Ich verstand kein Wort.« »Ich hätte also genausogut sagen können: Legen Sie die Waffe weg und ergeben Sie sich. Ist das korrekt?« »Einspruch. Verlangt eine Mutmaßung seitens des Zeugen.« »Stattgegeben.« »Ich danke Ihnen, Mr. Lobera. Keine weiteren Fragen«, sagt Ramón. Als Lobera geht, fügt Ramón hinzu: »Ein schnelles Aus. So gewinnt man ein Spiel, Charlie.« »Falsch. Sie sind gerade auf dem ersten Base. Von da aus ist noch ein langer Weg bis zum Homeplate.« »Geben Sie mir Zeit, Carlito. Geben Sie mir etwas Zeit.«
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17 Wird die Zeit im Rückblick flacher? Sehen wir unsere Geschichte wie die Sterne Sirius oder Alpha Centauri - rot gesprenkelt, wenn sie nah, und blau, wenn sie weiter weg sind? Sind unsere Erinnerungen um so emotionaler, je frischer sie sind, nehmen sie das triste Blau der Gleichgültigkeit an, wenn sie in die Ferne rücken? Ich frage das, weil es in diesem Verfahren gewisse Dinge gibt, die ich vergessen habe, ohne daß ich sagen könnte warum. Die Tage vergingen im Einerlei des Schreckens, Greuel häuften sich auf Greuel, bis sie nach einer Weile den Sinn verloren; man verstand sie nicht mehr, hatte nichts mehr damit zu tun. Wenn es den Geschworenen so ging wie mir, dann konnte die detaillierte Schilderung der Morde durch die ermittelnden Kripobeamten, Detective Samuels, längst keine Wirkung mehr auf sie haben. Mit der langsamen, methodischen Eintönigkeit eines Mannes, für den Mord das tägliche Brot ist, sprach er über die technischen Ergebnisse seiner Ermittlungen - über Einschußkanäle, Grundrisse, über am Boden verstreute Trümmer, die Gedanken hinter der Entscheidung, den Laden zu umzingeln, statt zu stürmen, die genaue Aufstellung der beteiligten Beamten. Dann kam ein Kriminologe, ein hagerer, völlig kahlköpfiger Mann in einem Polyesterfreizeitanzug, der schon seit 1975 keine neuen Gedanken, kein neues Gefühl mehr gehabt hatte. Endlos sprach er über Kaliber und Einschußwinkel, Stoßboden und Laufspuren, über den Laborbeschuß zur Identifizierung der Tatwaffen - es gab so viele Details, daß die Dichte der Aussage kaum noch zu verkraften war. Phyllis hielt sich strikt an das Handbuch -308-
für Ankläger: Man häufe Beweismittel an, bis keiner mehr was versteht; was dann bei den Geschworenen hängenbleibt, ist, daß ein solcher Berg an Fakten nur eines bedeuten kann: die Schuld des Angeklagten. Die übliche Verteidigungsstrategie angesichts einer solchen Attacke besteht darin, Feuer mit Feuer zu bekämpfen, das sprichwörtliche Haar in der Suppe zu finden, indem man auf versteckte Ungereimtheiten und logische Mängel hinweist. Die Verteidigung läßt gewöhnlich eigene Tests durchführen und ruft ihre eigenen Sachverständigen in den Zeugenstand, die ihre Interpretation des Sachverhalts liefern. Das Prinzip des berechtigten Zweifels sitzt im Gerichtssaal wie ein Phantom, auf das sich jedermann bezieht, ohne es je beim Namen zu nennen. Ramón jedoch machte alles ganz anders; er ließ Phyllis, die sich schier überschlug, auch noch die letzte Kleinigkeit zu beweisen, das letzte Schlupfloch zu verstopfen, sich im Sperrfeuer ihrer eigenen Details totzulaufen. Selbst Richter Reynolds gab sich kaum noch Mühe, sein Gähnen zu unterdrücken. Ramón lehnte sich einfach zurück und sah zu, wie ihre Reifen durchdrehten; seine Strategie wurde von Tag zu Tag klarer. Er ließ sie Beweise, die auf den Mörder wiesen, anhäufen, um die Schuld dann im letzten Augenblick einem anderen in die Schuhe zu schieben. Der einzige, dem er ein paar Fragen stellte, war Detective Samuels: »Detective, haben Sie Fingerabdrücke von den Waffen genommen, die an jenem Tag abgefeuert wurden?« Der Lieutenant schaute in seinen Bericht, und blickte dann etwas gereizt auf. »Nein, das haben wir nicht.« »Ist das nicht ein Routinevorgang?« »Nicht unbedingt. Es hängt von der Situation ab. Wenn -309-
wir das Gefühl haben, genug Beweismittel für eine Anklage beisammen zu haben, nehmen wir nicht unbedingt Fingerabdrücke von den Waffen.« »Könnte das jetzt nachgeholt werden, die Fingerabdrücke abnehmen?« »Nein. Wir haben es vor einigen Monaten versucht, mußten aber feststellen, daß die Spuren unbrauchbar geworden waren. Zu viele Leute hatten die Waffen in der Hand gehabt, so daß es nicht mehr möglich war, Fingerabdrücke abzunehmen.« »Das heißt also mit anderen Worten, Sie wissen nicht wirklich, wer diese Waffen abgefeuert hat?« Samuels lächelte zum erstenmal während seiner ganzen Aussage. »Nun, das ist ziemlich einfach. Es waren entweder Sie, Mr. Pimienta, oder Sie beide.« »Aber Sie können es nicht zweifelsfrei sagen, nicht wahr?« »Sie waren die einzigen, die noch am Leben waren.« »Aber Sie wissen nicht, wer es getan hat, ja oder nein?« »Nun, ich weiß auch nicht, ob die Sonne morgen aufgehen wird, aber ich glaube es. Dasselbe Maß an Sicherheit habe ich in diesem Fall.« »Beantworten Sie bitte meine Frage, Sir. Wissen Sie zweifelsfrei, ob ich diese Waffen abgefeuert habe?« »Nein, das weiß ich nicht.« »Ich danke Ihnen, das ist alles.« Die Sonne tauchte eben als orangefarbener Ball ins Meer, als ich vor dem Haus ankam. Eine postmoderne Villa aus Kalkstein, weißem Putz und Glasziegeln mit zwei Türmen, deren kupferverkleidete konische Kuppeln so neu waren, daß sie rötlich schimmerten. Einige quadratische -310-
Fenster nahmen sich aus wie die Augen eines Roboters, Augen, die alles sahen und nichts kapierten. Auf einem steingefaßten Parkplatz vor dem Haus drängten sich bereits die Limousinen und was die Elite von Los Angeles zur Demonstration ihrer Macht eben so fährt: Jaguar, Porsche, Ferrari, Range Rover. Als ich sah, daß der Parkplatzbursche Tickets ausgab, war mir klar, daß es eine Halloweenparty mit allen Schikanen werden würde. Ich wendete, fuhr einen Block den Hügel hinab, um unter einem noch immer blühenden Eisenholzbaum zu parken. Als ich klingelte, öffnete mir Mae West. Oder besser gesagt, Suzan Nash, ihres Zeichens Staatsanwältin am Bezirksgericht in Van Nuys, die irgendwie nicht richtig angezogen schien. »Ist das ein Revolver in deiner Tasche, Großer?« fragte sie und klimperte mit den Wimpern, die aussahen, als würden sie jeden Augenblick zusammenkleben und nie wieder aufgehen. »Nein, Süße, ein Durchsuchungsbefehl. Mach dich schon mal frei.« »Wann immer du willst, mein Junge.« Sie drückte mir einen Kuß auf die Backe und forderte mich auf einzutreten. »Bedien' dich, die Party fängt grade erst an.« »Wo ist denn unser wunderbarer Gastgeber?« »Clay ist wahrscheinlich in der Küche, nach den Tamales sehen«, sagte sie, nahm mich am Arm und bugsierte mich in ein Wohnzimmer mit Ausblick auf den Strand von Palos Verdes bis rauf nach Point Hueneme. »Sie sind also noch immer zusammen?« fragte ich Suzan, als wir die Treppe in die zweite Ebene des Wohnzimmers hinabstiegen, an die sich ein runder Balkon anschloß. -311-
Frank Sinatras »Witchcraft« schwebte aus den wattstarken Lautsprechern, die in derselben Farbe gehalten waren wie die fuchsienroten Wände. »Wenn er will«, sagte Suzan. »Wie bitte?« »Sie wissen doch, daß Clay neben seiner Kanzlei keine anderen Bindungen eingehen kann. Um die Wahrheit zu sagen, ich bin mir nicht sicher, ob ich mit so jemandem verheiratet sein möchte.« »Sie wollen sich das alles durch die Lappen gehen lassen?« Ich deutete auf den großen Buffettisch, den zwei ehemalige Manager aus der Filmindustrie geliefert harten. Die beiden nannten ihre Firma Catering Girl, obwohl die einzige Frau bei ihnen die salvadorianische Geschirrspülerin war. Man ging als Katzen, Löwen oder Richard Nixon, mit anderen Worten, in der Maske seines wahren Ich; Starlets, Regisseure und Studiomanager plauderten mit Firmenanwälten, Richtern und Baulöwen die große Interessengemeinschaft, die in diesem Staat die Fäden zieht. »Ist doch nur Geld«, sagte Suzan. »Es gibt noch Wichtigeres im Leben.« Vor einem Hockney, der das San-Fernando-Tal zeigte, blieben wir stehen. Die Lithographie hing unter einer Skulptur aus neonfarbenem Fiberglass, die die vierstöckige Schnellstraßenkreuzung in downtown Los Angeles darzustellen schien. »Ich habe gehört, Sie haben eine Freundin. Wo ist sie denn?« »Sie arbeitet. Sie ist Empfangsdame bei Baldocchi's. An Halloween geht es in italienischen Restaurants immer -312-
hoch her, wußten Sie das nicht?« »Sie meinen wegen all der Mexikaner dort? Wußte ich nicht. Er müßte dort drin sein«, sagte sie und deutete auf die beiden Flügel einer Schwingtür mit Ätzglasscheiben. In der Küche stand Clay als Zorro mit einer zusammengerollten Peitsche an der Seite und kostete die tütenförmigen Tamales, die eine braunhäutige Frau in einem roten Kleid ihm auf einem Tablett präsentierte. »Nein, nein!« sagte er, »zu salzig, no mas salt, ach Scheiße.« »Dice el señor que están muy sudados los tamales«, sagte ich. Die Frau antwortete unwillig, daß ihre anderen Kunden sie so haben wollten. »Junge, Junge, bin ich froh, Sie zu sehen. Was sagt sie denn?« »Daß Sie die Tamales bezahlen müssen, weil Sie sie bestellt haben, sonst verklagt sie Sie.« »Schon gut, schon gut, está bien. Ándale, ándale.« Die Frau nahm ihre Tamales und schritt gemächlich ins Wohnzimmer. »Ach, was soll's, so wie die sich zusaufen, kommt ihnen was Salziges wahrscheinlich gerade recht. He, wieso sind Sie ohne Kostüm?« »Ich bleibe nicht lange.« Clay drehte sich um und bewunderte sich in einem nicht vorhandenen Spiegel. »Als Kind wollte ich immer Zorro sein. Also, was gibt's? Wollen Sie was zu trinken? María, cerveza para Charlie!« »Ich wollte mit Ihnen über Pimientas Aussage reden.« »Mensch, was ist mit Ihnen los? Können Sie nicht mal -313-
an was anderes denken als an die Arbeit. Es ist Halloween, schalten Sie ab, trinken Sie was, genehmigen Sie sich ein Naschen, stecken Sie einen weg. Heute regiert die Phantasie!« Eines der Hausmädchen brachte mir einen Corona mit einer halben Limette. Clay probierte eine der Tamales, indem er mit dem Finger den Teig durchbohrte und einen Klumpen Hackfleisch herauspulte. »Eine Überdosis Cholesterin. Scheiße. Ich war sturzbesoffen, als ich die Dinger bestellt habe. Wissen Sie, daß die Frau im El Coyote arbeitet? Geschieht mir ganz recht.« »Pimienta.« »Na schön! Hören Sie, was soll ich sagen? Er wird Ramón hinhängen, so einfach ist das. Er wird Phyllis in allen Einzelheiten erzählen, wo sie überall gewesen sind, was sie gemacht haben, was sie vorhatten.« »Zum Beispiel?« »Zum Beispiel, daß Ramón von Anfang an vorgehabt hatte, den Geschäftsführer und den Besitzer umzubringen, vielleicht auch den Wachmann. Die anderen kamen einfach dazwischen. Wie singt Dr. John so schön: ›Ich war zwar am falschen Ort, aber es war wohl die richtige Zeit.‹« Er sah sich nach einem Handtuch um, an dem er sich die Finger abwischen konnte, und als er auf der Marmorinsel keines fand, öffnete er einen der vergoldeten Wasserhähne und spülte ihn ab. »Meinen Sie, er sagt die Wahrheit?« »Die Wahrheit?« Er lachte. »Die würden die Wahrheit nicht sehen, wenn sie ihnen in den Arsch beißen würde. So voller -314-
Machoscheiße, wie die beiden sind. Die meinen, als Kubaner sind sie die größten und der Rest der Welt ist neidisch auf sie. Deshalb ist das alles doch passiert. Sie behaupten, Mexikaner hätten einen Groll gegen sie.« »Versteh' ich nicht.« »Der Geschäftsführer des Ladens war Mexikaner. Sie sind der Ansicht, er sei dafür verantwortlich gewesen, daß man ihnen den Schmuck wieder weggenommen hat, den Barry Schnitzer ihnen geschenkt hatte. Pimienta behauptet, er hätte sich mit dem Geschäftsführer zu einigen versucht, aber der hätte ihnen gesagt: Ihr Scheißkubaner, ihr haltet euch für so clever, seht doch zu, wie ihr die Klunker wiederkriegt - so was in der Art.« Clay zeigte einem der Mädchen einen Finger, und sofort brachte sie ihm ein frisches Bier. Er schüttete die halbe Flasche in sich hinein und rülpste. »So, jetzt fühl' ich mich wie ein richtiger Mexikaner. Ich weiß es nicht genau, aber ich denke, Pimienta wird behaupten, unter Ramóns Einfluß gestanden zu haben. Daß er nicht anders konnte. Sie kennen den Krampf ja: Jim Jones, der Teufel, hat mich dazu gezwungen. Er wird sagen, daß er nach all der Zeit im Gefängnis endlich die Nabelschnur durchtrennen konnte. Wie ein Neugeborenes im Land der Freiheit. Da wird er nämlich in schätzungsweise drei Monaten sein, wenn nicht schon früher, wenn ihm die U-Haft angerechnet wird. Gehen wir wieder rein, ich hab' keine Lust mehr, noch länger mit dem Personal rumzuhängen. He, nichts für ungut.« »Schon gut«, sagte ich, als wir uns wieder unter die Gäste mischten. »Arschlöcher sind nun mal Arschlöcher und reden nun mal Scheiße.« Seine Reaktion war völlig unerwartet. Entweder hatte -315-
ihm das Bier die Zunge gelähmt, oder sein Kostüm ließ ihn so reagieren, jedenfalls stieß er mich so heftig gegen die Wand, daß eine Vase von einer Konsole fiel. Er lehnte sich mit dem Unterarm gegen meinen Hals und drückte dagegen. »Wie kommen Sie dazu, mich ein Arschloch zu nennen?« Sein Atem roch nach Knoblauch und Bier. »Ihr Scheißkubaner seid doch alle gleich.« Ich ballte die Faust und knallte sie ihm in den Schritt; als er zusammenklappte, nahm ich den Ellenbogen hoch und erwischte ihn am Kinn. Er flog nach hinten, und ich schickte noch einen Uppercut in den Solarplexus hinterher. Er landete auf dem Rücken. »Für wen zum Teufel halten Sie sich denn, Clay?« Köpfe drehten sich in unsere Richtung, Schweigen legte sich über den Raum. Nur Tony Bennetts »I wanna be around« war im Hintergrund zu hören. Clay wandte den Kopf und kotzte auf die weißgebleichten Eichendielen. »Sie kotzen mich an«, fügte ich hinzu. Ich wußte, daß Clay wieder alle Sinne beisammen hatte, als er sich umdrehte und sich mit einem Grinsen die Kotze vom Kinn wischte. »Das beruht auf Gegenseitigkeit.« »Ich muß hier raus.« Alles drehte sich um, als ich ging. Nicht einer sagte ein Wort; keiner hinderte mich am Gehen. Die Situation war klar, so klar wie ein Jude in einem Raum voller Nazis, der gelbe Stern auf meiner Kleidung schrie: Hau bloß ab, du Abschaum, du Untermensch, du armseliges Stück Scheiße, du Stück Latinodreck.
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Auf dem Parkplatz sah ich mich von einem eben eintreffenden Bentley gestoppt. Als der Angestellte die Tür öffnete, kam ein Paar langer Beine in paillettenbesetzter Strumpfhose heraus, die zu einem IrmaLa-Douce-Kostüm gehörte - Mrs. Schnitzer. »Sie gehen schon, Mr. Morell?« »Ich wußte, daß Sie kommen. Da bin ich rasch rausgegangen, um mich zu verabschieden. Clay ist drin. Ein bißchen angeschlagen, aber ich bin sicher, er freut sich, Ihr Scheckbuch wiederzusehen.« Lächelnd warf sie sich die lila Boa über die Schulter. »Ich bin wirklich froh, Sie nicht bezahlt zu haben. Auch wenn es eine Befriedigung gewesen wäre, Sie zu besitzen. Aber es ist doch schade, Tausende für etwas hinzublättern, was man auch für einen Groschen haben kann.« »Ich weiß. Man braucht sich nur anzusehen, was Ihr Gatte gekriegt hat. Und dann zu sterben, damit Sie irgendwelche Idioten zum Narren halten können.« »Schön, Sie mal wiedergesehen zu haben, Mr. Morell.« »Ja, schönen Abend noch.« Auf dem Weg über den Hollywood Boulevard sah ich die übliche Galerie von Ausreißern, Drogenabhängigen, Hell's Angels und Huren, zu denen sich heute an Halloween die Kostümierten gesellt hatten, die als Vampirella, Freddie Krueger oder Ronald Reagan die blockierte Straße hinauf und hinunter wanderten, während übergewichtige Verkehrspolizisten mit Taschenlampen dafür zu sorgen versuchten, daß aus der nächtlichen Prozession kein Aufstand wurde. Als ich nach Hause kam, roch ich einen Hauch von Lucindas Giorgio. Wie gewöhnlich hatte sie das Wasser in -317-
der Wanne gelassen. Ich ließ es ablaufen und öffnete die Fenster. In der Eile hatte sie das Bett nicht gemacht, ihre Kleider lagen in einem Haufen auf dem Boden: der auberginefarbene Rock, der ihr nicht stand, die hellgrüne Bluse, die nicht richtig paßte, die schwarzen Strümpfe mit einer Laufmasche. Ich lebe bereits allein, sagte ich mir, was soll das alles? Ich ging wieder aus dem Haus, stieg in den Wagen und fuhr ziellos durch die Gegend, ohne zu wissen, wohin und warum. Ich richtete die Reifen in die Richtung, die mir richtig schien, bis ich schließlich feststellte, daß ich, zufällig oder nach einem inneren Kompaß, die sanften Hügel am Silver Lake hinabfuhr. Die Luft war hier wärmer, körniger, in den schmierigen Wolken um den Wasserspeicher sammelten sich die Abgase der Autos und Busse von Sunset Boulevard und downtown L.A. Irgendwie kam ich zu Juan Alfonsos Haus. Ich sah, daß im Haus Licht brannte, und parkte ein Stück die Straße hinab. Der Mond war von Wolken gesäumt, einige Sterne spitzten durch den Smog. Ich schob das Gartentürchen auf und stieg die Veranda hinauf, der süße Duft von Fresien hieß mich willkommen. Ich klopfte. »Ist jemand zu Hause?« Keine Antwort. Ich schob die Tür auf. Der große Fernseher war verschwunden, ebenso Couch, Sessel, Tisch, das Bleiglasbuffet mit den Miniaturen von Südfrüchten, alles war verschwunden, außer einer Handvoll Klappstühle und einem Kartentisch unter einer einsamen Glühbirne, die an einem nackten Kabel hing. »Juan Alfonso? Sind Sie zu Hause?« Auf der Anrichte in der Küche stand ein Karton Pollo Loco zum Mitnehmen, die gegrillte Hähnchenbrust zur -318-
Hälfte gegessen, die Behälter mit den Bohnen und dem gelben Reis geöffnet, eine Plastikgabel in jedem. Aus dem Keller hörte ich dumpf eine Trommel. »Juan Alfonso, hören Sie auf zu spielen!« sagte ich auf spanisch. Keine Antwort, oder jedenfalls keine gesprochene; statt dessen durchbrach ein rascher Wirbel auf einer Bongotrommel die Stille des Hauses. Er dauerte nur ein paar Sekunden, hörte dann abrupt auf; das Haus schien auf meinen nächsten Zug zu warten. Mein Herz ließ mich wissen, daß es noch da war; ein Schweißtropfen lief mir unters Hemd. In diesem Augenblick wünschte ich mir, meine Waffe dabei zu haben, nicht um jemanden umzubringen, sondern wegen des sicheren Gefühls, das sie einem gab. »Carlos, ven acá«, sagte eine Stimme von unten. Plötzlich verwandelte sich meine Angst in Zorn. Du willst, daß ich komme, ja? Du willst, daß ich zu dir komme? Ich zog eine leere Bierflasche aus dem Müll. Dir werd' ich's zeigen, ich schlag dir deinen verdammten Schädel ein! Ich stürzte die wacklige Treppe hinunter, hatte jedoch mit jedem Schritt das Gefühl, in einem flüssigen Universum zu versinken. Der Keller war in rotes Licht getaucht, eine Dunkelkammerleuchte, hätte man meinen können, ein durchdringender Jasminduft hing im Raum. Als ich, die Flasche in der Hand, von der letzten Stufe trat, spürte ich eine kalte Welle gegen meine Brust schlagen, eine Wolke gelber Schmetterlinge kam aus dem Nichts, und teilte sich, als ich den Boden berührte. Das gibt's doch nicht, dachte ich, das ist nicht echt. Entweder habe ich Halluzinationen, oder ich bin endlich gestorben, und falls dem so ist, wieso -319-
verspüre ich keine Erleichterung? Ich sah einen Halbkreis hölzerner Stühle dort, wo bei meinem letzten Besuch der Altar gestanden hatte, sieben Leute saßen darauf. Zuerst sah ich nur ihre Füße, allesamt schwarz, nackt, und einen Augenblick lang kam ich nicht dahinter, warum ich den Blick nicht heben konnte, warum mein Nacken gebeugt war, als hätte ich demütig Haltung angenommen. Unter großen Anstrengungen, in einem Kraftakt an Konzentration, hob ich den Kopf und sah, daß die Leute Masken aus Stroh, Kaurimuscheln und Lehm trugen, afrikanische Masken mit Stammeszeichen auf den Backen und fleischigen afrikanischen Lippen. Das rote Licht war hinter ihnen, eine rote Sonne, die auf ihren Rücken schien. Sie sprachen wie mit einer einzigen Stimme. »Laß zufrieden, Carlos, laß zufrieden, Carlos!« Ich versuchte zu sprechen, aber ich konnte nicht, meine Zunge war gegen den Gaumen gepreßt, der Gesang wurde lauter und begrub mich in den Falten seiner Dringlichkeit, bis ich meine Zunge schließlich losriß und schrie: »Wen denn?« In diesem Augenblick nahm die Gestalt in Weiß auf dem mittleren Stuhl ihre Maske ab, und ich sah meinen Vater. Ich sah mich. Ich sah Ramón. Ich sah sie alle, sah uns alle, wir lächelten ihn an, sie lächelten mich an. Ich hob langsam den Arm und warf die Flasche auf die Gestalt, die lächelte, als die Flasche sie am Kiefer traf. Ein furchtbarer Lärm zerriß den Raum, eine Wolke gelben Staubs kam aus der Stirn der Gestalt, als die Flasche das Gesicht getrockneten Lehms zerschlug. Unter der Wucht eines Schlags kippte ich nach hinten, alles um mich wurde tiefblau und dann zu einem beruhigenden Schwarz - einem ruhigen, friedlichen Nichts. -320-
Irgendwo schien ein helles Licht, ein Licht, das die Welt erfüllte; ich hörte eine kräftige Sprache voller Zischlaute. Dann kam der Schmerz in Wellen, ein Stechen am ganzen Körper. Ich öffnete die Augen. Ich war in Juan Alfonsos Keller, starrte jedoch in die braunen Augen eines hageren Mannes in einem schmierigen Unterhemd. »Wachen Sie auf, Mister, wachen Sie auf, oder wir rufen die Polizei!« Ich stützte mich auf die Ellbogen, schüttelte den Kopf. Ein zweiter Mann, dicklich, unrasiert, olivenhäutig, stand hinter dem ersten, die Hände auf den Knien, und spähte mich eindringlich an. »Sind Sie okay?« fragte der zweite Mann. Ich stand auf. »Ja, ich…, ich denke schon. Wer sind Sie?« »Ich bin Greg«, sagte der dickere der beiden, »das hier ist Vartek. Das Haus gehört uns.« »Sind Sie in Ordnung?« fragte Vartek. »Wir haben Sie heute morgen hier gefunden. Hat man Sie überfallen?« »Nein, ich muß wohl gefallen und ausgerutscht sein. Wo ist Juan Alfonso?« »Er hat uns das Haus vor zwei Monaten verkauft. Wir richten es wieder her, um es zu verkaufen.« Ich taumelte zur Wand, lehnte mich an, versuchte zu Atem zu kommen. »Ach so. Na, jedenfalls danke.« Ich holte tief Luft und schwankte auf die Treppe zu, hielt mich am Geländer fest. Die beiden Armenier berieten sich rasch. »He, Sie, Sie zeigen uns doch nicht an, oder?« fragte Vartek besorgt, als ich mich die Treppe hinauf schleppte. »Keine Sorge, ich zeige Sie nicht an, nein.« -321-
Die Sonne strahlte bereits, als ich auf die Straße hinausging. Ich sah auf die Uhr. Viertel zehn. Ich hatte die ganze Nacht in diesem Keller gelegen. Wie durch ein Wunder hatte man meinem 944 weder die Scheiben eingeschlagen noch einen Schlüssel über die Seite gezogen. Aber jemand hatte mir eine Nachrieht hinterlassen, eine Karte, die unter dem Scheibenwischer steckte. »Wenn du glaubst, ich hätte dich vergessen… Ich habe nicht.« Unterzeichnet: »Gott.«
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18 Wie von Clay prophezeit, handelte es sich bei Pimientas Geschichte um eine schnörkellose Erzählung mit nur einem einzigen Zweck - Ramón auf den Stuhl zu bringen. Seine Aussage dauerte drei Tage. Sie umfaßte ihre Kindheit in Kuba, ihre Begegnung in der kubanischen Botschaft, ihre Reise ins gelobte Land und ihr anschließendes Leben als Gewaltverbrecher. Pimientas aufrichtige Reue, die Bescheidenheit, mit der er Phyllis Fragen beantwortete, den Blick zu Boden gerichtet, die Art, wie er seine Antworten murmelte, die die Dolmetscherin dann in den Saal schrie, all das verlieh seiner Beichte weit mehr Gewicht als die tatsächliche Substanz. Trotz der Pose des reumütigen Sünders behauptete Pimienta, nicht gewußt zu haben, daß Ramón im Laden jemanden umbringen wollte. Was rechtlich gesehen ein Problem darstellte. Ohne diesen Vorsatz konnte die Anklagevertretung kein Todesurteil fordern. In ihrer Angst, ein weichherziger Geschworener könnte nicht auf vorsätzlichen Mord befinden, da ihm keine Absicht nachzuweisen war, behandelte Phyllis ihren Zeugen mit dem Feingefühl eines Metzgers, der auf einen Lammrücken einhackt. In flammendem Rot - Schuhe, Gürtel, Kleid von Escada und fest entschlossen trat sie in den Zeugenstand. »Ist es nicht so, Mr. Pimienta, daß Sie und Mr. Valdez an dem fraglichen Morgen über die Möglichkeit sprachen, daß während des Überfalls auf den Juwelier Schnitzer jemand umkommen könnte?« »Nein, darüber habe ich mir keine Gedanken gemacht. Wir dachten, wir müßten vielleicht den Wachmann -323-
entwaffnen, vielleicht auch verletzen, aber wir hatten nicht die Absicht, jemanden zu töten. Wir wollten uns nur die Steine des Heiligen wiederholen, den Leuten eine Lektion erteilen.« »Sie haben also doch die Möglichkeit in Betracht gezogen, daß jemand zu Schaden kommen könnte?« »Nun, ja.« »Und Sie sind absolut sicher, daß diese Lektion, von der Sie da sprechen, nicht beinhaltete, dem Geschäftsführer das Leben zu nehmen - wegen der Demütigung, die er Ihnen zugefügt hat?« Pimienta hob schließlich den Kopf. Er kapierte, daß es mit seinem Deal Essig war, wenn er jetzt nicht kooperierte. »Ich hatte keine Ahnung, daß Ramón das gemeint haben könnte.« »Was haben Sie sich denn vorgestellt?« »Na ja, er sagte, er wollte den Leuten eine Lektion erteilen, die sie nie vergessen würden. Nie wieder würden sie einem Kubaner so was antun - auch keinem anderen Lateinamerikaner. Ich dachte, er meinte damit nur, daß wir uns den Schmuck wieder holen würden, sonst nichts.« Clay saß im Publikum und beobachtete seinen Mandanten bei dieser Vorstellung. Er schien mit der Show zufrieden. »Warum ein Lateinamerikaner? Können Sie sich vorstellen, was er damit gemeint hat?« Hier hellte sich Pimientas Miene auf, ein inneres Leuchten brachte Leben in sein Gesicht, wie bei einem Kind, das sich an etwas Auswendiggelerntes erinnert. »Ja, natürlich. Wir haben viel darüber gesprochen. Die ganze Zeit. Es war sein, sein…« -324-
Hier stockte die Dolmetscherin. Sie warf einen Blick an die Decke, als lese sie eine dort versteckte Antwort ab. »Sein Alptraum«, sagte sie schließlich, nicht ganz sicher, ob sie das richtige Wort getroffen hatte. Wörtlich hatte Pimienta »schwacher Punkt« gesagt, aber »Alptraum« traf das, was jetzt kommen sollte, weit besser. »Erklären Sie das bitte.« Pimienta machte zum erstenmal eine ausladende Geste. »Sicher, das ist einfach. Sie brauchen sich nur umzusehen. Leute spanischer Abstammung werden in der Stadt sehr schlecht behandelt. Hier leben praktisch nur Lateinamerikaner, und trotzdem gibt es keinen lateinamerikanischen Bürgermeister. Die politische Macht ist ganz in der Hand der Anglos. Die Banken und die Filmindustrie gehören den Orientalen und den Juden, und sogar für die Schwarzen, die doch einen Bürgermeister haben, wird nicht das geringste getan. Sie werden immer noch unterdrückt.« »Das kannst du laut sagen, Bruder«, murmelte Mrs. Gardner auf der Geschworenenbank. »Einspruch, Euer Ehren«, sagte Phyllis, als ein mißbilligendes Raunen durch den Saal ging. »Sie erheben Einspruch gegen Ihren eigenen Zeugen, Frau Staatsanwaltin?« fragte der Richter. Da die Dolmetscherin Pimienta nicht sagte, daß er bei einem Einspruch zu schweigen hatte, setzte er seine Ausführungen fort, und die Dolmetscherin übersetzte trotz der lautstarken Proteste aus dem Publikum weiter. »Er sagte immer, Kalifornien sei längst erobert, aber die Chícanos hätten einfach nie gelernt, für ihre Rechte einzutreten. Man würde sie immer nur aufs Kreuz legen.« »Das Gericht gibt dem Einspruch statt und ermahnt die -325-
Anwesenden zur Ruhe, sonst wird der Saal geräumt«, mahnte der Richter. »Was wir hier brauchten, sagte er immer, sei eine Revolution. Irgend jemand müßte den Leuten beibringen, daß Latinos sich nicht verarschen lassen. Über kurz oder lang müßten sie den Preis dafür bezahlen, sie könnten uns nicht ewig verarschen«, fuhr die Dolmetscherin fort, die Pimienta noch immer nicht gesagt hatte, daß er still sein soll. Reynolds wandte sich schließlich zur Seite, sein Gesicht nicht weniger rot als Phyllis' Kleid. »Mr. Pimienta, halten Sie den Mund!« Worauf Pimienta endlich still wurde. »Ich dulde in meinem Gerichtssaal keine rassistischen Erklärungen, egal, wie man sie rechtfertigen will. Rassismus tut hier nichts zur Sache und wird dementsprechend nicht akzeptiert.« Ramón hob, wie immer mit einem Lächeln, die Hand. »Einspruch, Euer Ehren. Ich halte seine Aussage für nötig, um die geistige Verfassung zur Tatzeit zu erklären.« »Mr. Valdez, ich denke, wir haben bereits eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wie es um Ihre geistige Verfassung stand. Abgelehnt. Die Aussage des Zeugen wird aus dem Protokoll gestrichen. Die Geschworenen werden ermahnt, die letzten Erklärungen des Zeugen zu ignorieren, von…«, er warf einen Blick auf sein Notebook, »… von ›Alptraum‹ bis ›uns nicht ewig verarschen‹.« Er hob den Kopf. »Fahren Sie fort, Frau Staatsanwältin.« Phyllis biß sich auf die Lippe und eilte zurück auf ihre Seite des Anwaltstisches. Sie warf einen Blick auf einige Papiere, flüsterte dem Leiter der Ermittlungen eine Frage zu, setzte sich und faltete die Hände über der Akte. »Keine weiteren Fragen.« -326-
Reynolds notierte sich etwas und murmelte: »Mr. Valdez.« »Ich danke Ihnen, Euer Ehren.« Ramón rückte seine Brille zurecht, zog seine Notizen zurate, und legte sie dann mit großer Geste beiseite. »José, habe ich dir jemals gesagt, daß ich jemanden umbringen will?« Pimienta senkte den Blick wieder auf den Teppich. »Nein, du hast nur gesagt, es könnte Schwierigkeiten geben.« »Was habe ich dir gesagt, warum wir zu Schnitzer gehen?« »Du wolltest den Schmuck des Heiligen zurückholen, weil man ihm diesen geschenkt hatte.« »Was wollte ich damit tun?« »Ihn auf den Altar zurücklegen.« »Auf welchen Altar?« »Den Altar des Heiligen, Oggún, unserem Vater und Beschützer.« »Gehören wir beide derselben Religion an?« »Ja.« »Was für eine Religion ist das?« »Santería. Wir sind Kinder Oggúns.« Jetzt verstand ich, warum Ramón nie erwähnt hatte, daß es sich bei dem Schmuck um Schnitzers Geschenk gehandelt hatte. Wie er dazu gekommen war, hatte hier keinerlei Bedeutung, das einzig Wichtige war, was José und Ramón in diesem Schmuck sahen, warum sie ihn zurückhaben wollten. Mit einem einzigen flinken Zug hatte Ramón somit die gefährliche Notwendigkeit umschifft, Mrs. Schnitzer in den Zeugenstand zu rufen. -327-
Ihre Aussage hätte Ramón nur geschadet. Wer weiß, was alles ans Licht gekommen wäre, wäre sie erst einmal im Zeugenstand gewesen, womöglich auch die tödlichen Gebete, die Ramón auf Wunsch ihres Gatten gesagt hatte. Phyllis setzte sich auf, als hätte sie eine Feder im Rücken hochschnellen lassen. »Einspruch, Euer Ehren, das ist unerheblich. Sie haben entschieden…« »Ich weiß, was ich entschieden habe, aber da Ihr Zeuge von sich aus auf die Religion zu sprechen kam, hat Mr. Valdez auch ein Recht darauf, ihn diesbezüglich zu befragen«, sagte Reynolds. »Daran erinnere ich mich nicht.« »Dann sollten Sie besser achtgeben, Frau Staatsanwältin.« Reynolds zitierte vom Bildschirm seines Computers: »Mr. Pimienta sagte während Ihrer Einvernahme, die beiden wollten sich den Schmuck des Heiligen zurückholen, und wiederholte das im Kreuzverhör. Einspruch abgelehnt. Fahren Sie fort, Mr. Valdez.« »Ich danke Ihnen, Euer Ehren.« Der Richter lehnte sich mit einem Seufzen in seinen Ledersessel zurück. »Warum mußten wir den Schmuck zurückholen, José?« Pimienta gab sich freimütig, er sah Valdez offen an. »Das weißt du doch. Wenn wir es nicht getan hätten, wäre der Heilige zornig geworden, und man kann nie wissen, was der Heilige dann tut. Na ja. du weißt schon.« »Ja, ich weiß. Aber die Leute auf der Geschworenenbank wissen es nicht. Warum sagst du es ihnen nicht.« Pimienta befingerte seinen Goldring. »Oggún ist ein mächtiger Gott, aber er mag es nicht, wenn man ihn -328-
verlacht. Wenn man ihm etwas vom Altar nimmt, wird er wütend, und dann heißt es aufpassen, dann fährt der Tod wie ein Weltmeister dazwischen.« »Wie bitte, Frau Dolmetscherin?« fragte Reynolds. »Euer Ehren, der Zeuge hat es so gesagt. Das heißt wörtlich sagte er, der Tod fahre auf dem Fahrrad dazwischen, aber wie ein Weltmeister schien die beste Übersetzung.« »Ich verstehe«, antwortete der Richter. »Fahren Sie fort.« »José, was hast du den Heiligen mit eigenen Augen tun sehen?« »Mit eigenen Augen?« Er zögerte, kratzte sich nervös am Unterarm, auf dem er ein Kreuz: aus Pfeilspitzen hatte, in kubanischen Gefängnissen das Symbol für einen, der Strafen vollstreckt. »Ja, mit deinen eigenen Augen.« »Na ja, ich habe gesehen, wie er bei den Zusammenkünften kam, wie er sich einer Frau bemächtigte und sie Hundekot zu essen zwang, nur weil sie über ihn gelacht hatte. Ich habe gesehen, wie er jemanden zwang, aus einem Fenster im dritten Stock auf die Straße zu springen, so daß er für den Rest seines Lebens gelähmt war. Ich habe sogar gesehen, wie er Leute aus Rache getötet hat. Mit Oggún legt man sich besser nicht an.« »Ich denke, wir haben genug gehört. Wir entfernen uns immer weiter vom Thema«, sagte Reynolds. »Ich habe Ihnen gestattet, sich auf diesem Terrain zu bewegen, Mr. Valdez, aber das gibt Ihnen nicht das Recht, sich über diesen Umweg zu rechtfertigen. Wenden Sie sich bitte einem anderen Gebiet zu.« -329-
»Nur noch eine letzte Frage, Euer Ehren.« Reynolds zögerte. »Na schön, eine.« »José, hast du je gehört, daß jemand Oggún Schmuck weggenommen hat?« »Niemals.« Reynolds, der offensichtlich die Nase von der Fragerei voll hatte, warf einen Blick auf die Uhr. »Wie ich sehe, ist es Zeit für die Mittagspause. Die Verhandlung wird um zwei Uhr fortgesetzt.« Reynolds kam vom Podium und rief mich zu sich. In kaum verhohlenem Zorn flüsterte er: »Sagen Sie dem Jungen, er soll damit aufhören, ständig irrelevantes Zeug einzubringen, sonst widerrufe ich meine Entscheidung und bestelle ihm einen Anwalt. Wenn er nicht weiß, wie er seine Fragen zu stellen hat, soll er es bleiben lassen.«. »Ich werd's ihm sagen, Herr Richter.« »Tun Sie das«, sagte er und entfernte sich mit wehender Robe. Ich sah noch kurz das rote Haar und das strahlende Lächeln Linda Powells im Richterzimmer, bevor er die Tür zuwarf. Obwohl sie für das Prozeßregister zuständig war, konnte ich mich des Gefühls nicht erwehren, daß die beiden nicht nur auf juristischer Ebene miteinander verkehrten. »Herr Richter«, rief Burr, »wir müssen uns wegen der Sache Ramsey noch mal mit der Abteilung 100 kurzschließen! Scheiße.« Er wandte sich an mich; die Frustration grub ihm Löcher in die Haut. »Wenn die Frau in der Nähe ist, kriege ich ihn zu überhaupt nichts mehr.« »Das geht vorbei. Gerichtsaffären halten nicht.« »Ihr Wort in Gottes Ohr. Er ist bereits bei ihr eingezogen.« -330-
»Das ist natürlich was Ernstes.« Als ich mich umdrehte, sah ich Pimienta den Zeugenstand verlassen. Er warf Ramón einen traurigen, fragenden Blick zu. Ramón lächelte, bevor ein Polizist ihn wieder in die Zelle führte. Die Knöchelketten rasselten über den blauen Teppich. Der Polizist ließ mich zu ihm, nachdem er Ramón Krawatte, Schnürsenkel und Gürtel abgenommen hatte, um ihn nicht auf Selbstmordgedanken zu bringen. Ramón rauchte eine Zigarette; allein saß er auf einer eingebauten Betonbank an der Zellenwand. Die Wände waren eine einzige Graffitigalerie, von einem simplen HILFE! über CUCA TE QUIERO bis hin zu den stilisierten Schnörkeln der Rolling Thunders 269. Die größte Botschaft war auf spanisch und lautete: Ich wurde schuldig gesprochen, aber ich schwöre bei Gott, ich bin unschuldig. Ich bin Pancho. Ramón schien etwas zu bedrücken. »Chico, es gefällt mir nicht, was ich jetzt tun muß«, sagte er auf spanisch und dehnte dabei jede Silbe wie ein Kind, das auf dem Spielplatz seinen Freund geschlagen hat. »Sie müssen ihn unglaubwürdig machen, das ist Ihre Strategie.« »Schon, aber nach allem, was wir zusammen durchgemacht haben, wissen Sie, ihn so runterzumachen. Ich meine, ich habe ja noch nicht mal angefangen.« »Wenn Sie's nicht tun, können Sie schon mal anfangen, Karten für die Hinrichtung zu verkaufen.« Er grinste und drückte die Zigarette aus. »Nein, das wäre auch nichts.« Er riß die Plastikhülle von dem Sandwich, das ihm der Bezirk Los Angeles als Mittagessen gegeben hatte - drei Scheiben Mortadella mit Mayonnaise auf Weißbrot. -331-
»Was hat der Richter gesagt?« fragte er mit vollem Mund. »Er droht, Ihnen das Recht auf die eigene Verteidigung zu entziehen und einen Anwalt zu bestimmen, wenn Ihre Fragen nicht besser werden.« »Blödsinn«, sagte er auf englisch, dann kehrte er wieder zu seiner Muttersprache zurück. »Alles Bluff. Ich habe nichts gemacht, was ein Anwalt nicht auch machen würde. Das ist nur eine Ausrede dafür, mich an die Kandare zu nehmen. Es wäre ein Verfahrensfehler, der ihn das Urteil kosten könnte, das weiß er genau.« Er zuckte die Achseln, knüllte die Plastikhülle zusammen und warf sie in das Waschbecken am anderen Ende des Raums. »Können Sie sich vorstellen, daß ich in Kuba nie Basketball gelernt habe? Sie versuchten, einen Boxer aus mir zu machen, sie meinten, ich könnte ein zweiter Stevenson werden. Ist ein schöner Sport, Basketball. Na, sagen Sie diesem Bauerntrampel aus Georgia jedenfalls, daß ich heute nachmittag eine angenehme Überraschung für ihn habe. Ich meine, José tut mir leid, aber so ist das nun mal im Leben.« Er griff nach seinem Pausenapfel und wog ihn in der Hand. »Wissen Sie, daß man damit jemanden umbringen kann?« »Wie?« Ohne einen Augenblick zu zögern, warf er den Apfel mit einer unglaublich fixen Bewegung an die Wand, wie einen Baseball, mit einer solchen Geschwindigkeit, daß ich nur einen roten Schatten sah, bevor er gegen die Wand knallte und in tausend Stücke zerbarst. »So. Wenn der Sie trifft, ist er nicht weniger hart als eine Kugel.« -332-
»Ich werd' dran denken, wenn man mir auf dem Markt wieder mal zu viel abknöpfen will.« »Oh, nein, mach das nicht, chico, sonst landen Sie auch noch hier, und wer würde Sie dann verteidigen?« Ich ging durch die Einkaufsstraße unter dem Rathaus, ein trostloser Keller voller Schatten, auf dessen Bänken vor Schmutz starrende Obdachlose hockten und bei sirupsüßem Kaffee den endlosen Strom aus Justizpersonal, Angestellten und Anwälten begafften. Ich überquerte den Mittelhof, wo auf einem Kopfsteinpflasterkreis einige Plastiktische und Stühle standen, über denen der smogverhangene Himmel zu sehen war. Zerfledderte Palmen und überquellende Mülleimer umgaben die Tische. Ich ging durch die Galerie, kam auf der Main Street heraus und ging hinunter nach Japantown. Im Kyoto Café versuchte ich, Lucinda zu Hause zu erreichen. Beim vierten Klingeln schaltete sich der Anrufbeantworter ein, und ich hörte meine eigene Stimme um eine Nachricht bitten. Nach dem Piepsen fragte ich, ob sie zu Hause sei und rangehen könne, aber ich erhielt keine Antwort. Ich legte auf und setzte mich auf eine Tasse Miso-Suppe an die Theke. »Machen Sie kein so trauriges Gesicht, mein Freund, davon kriegen Sie nur graue Haare wie ich.« Ich hob den Kopf und sah Marty Green, den einzigen FBI-Agenten, den ich kannte, der nach seiner Pensionierung für das Gericht ermittelte. Sein krauses weißes Haar wirkte wie ein Heiligenschein um sein schwarzes, schweißglänzendes Gesicht. Das massive Goldmedaillon, das er um den Hals trug, glitzerte in der Sonne. »Das ist schon okay, seh' ich eben etwas distinguierter aus. Wie Sie. Immer noch Ermittler?« -333-
»Wissen Sie, Charlie, Leute wie wir hören nie auf«, sagte er mit dem Akzent seiner Heimat Barbados. »Was sollen wir auch machen? Es ist eine Sucht, seine Nase in die Angelegenheiten anderer Leute zu stecken. Ich mache das seit dreißig Jahren, und ich glaube nicht, daß ich damit aufhöre, bevor der liebe Gott mich ruft. Außerdem möchte meine Frau unbedingt ein neues Haus, also bleibt mir gar nichts anderes übrig, als zu arbeiten. Wie geht's Ihnen?« »Ging mir schon besser.« Er wandte sich einem Mann im blauen Anzug zu, der ungeduldig an der Tür stand. »Augenblick noch. Hören Sie, ich habe gehört, Sie arbeiten für diesen Valdez. Nehmen Sie einen Rat von mir an. Lassen Sie den Fall sausen. Geben Sie den Fall ab und rennen Sie, als wäre der Teufel hinter Ihnen her.« »Marty, Sie wissen, daß das nicht geht. Und außerdem ist die Geschichte so gut wie vorbei.« »Ist sie nicht. Wissen Sie, daß er zuerst mich engagieren wollte? Er wollte zuerst einen Privatdetektiv von den Inseln. Er wollte einen Weißen aus Kuba oder Puerto Rico. Er sagte, nur ein Weißer würde ihn verstehen. Als Sie hinzugezogen wurden, fragte er mich über Sie aus. Er wollte, daß ich hinter Ihnen herschnüffle. Er wollte alles über Sie wissen.« »Das ist doch normal.« »Nicht, wenn einer alles über Ihre Familie und so weiter wissen will. Nach allem, was ich gehört habe, hat er Sie von Kelly überprüfen lassen. Passen Sie auf, mein Freund, der Mann taugt nichts.« »Marty, ich habe noch nie erlebt, daß man einen Engel des Mordes angeklagt hätte.« »Hören Sie, er will Sie kontrollieren, Charlie. Er will Sie -334-
besitzen. Geben Sie das Ganze auf, werden Sie wieder Anwalt. Ich muß jetzt los. Rufen Sie mich doch mal an, und wir gehen was essen, okay?« Pimienta schmeckte die Frage ganz und gar nicht. Er wandte sich ab und schüttelte den Kopf wie ein Spielzeug, dessen Batterien es nicht mehr lange machen. »Was meinst du damit?« fragte er mit einem schmerzlichen Blick auf Phyllis. »Ich meine genau das, was ich eben gesagt habe«, sagte Ramón. »In welcher Beziehung stehen wir zueinander?« Pimienta fragte leise die Dolmetscherin, die die Achseln zuckte. »Das weißt du doch. Wir sind Freunde. Ich meine, wir waren Freunde.« Ramón nahm die Brille ab und rieb sich den Nasenrücken. Ich konnte sehen, daß es sich um Fensterglas handelte, er trug sie nur der Wirkung wegen. »Könntest du dich etwas deutlicher ausdrücken. Wo haben wir uns kennengelernt?« »Chico, du weißt, wo wir uns kennengelernt haben, in der peruanischen Botschaft. Wir kampierten dort zusammen mit Tausenden anderen.« Was eine freche Lüge war. José hatte mir selbst erzählt, sie hätten sich bei einem Santería-Ritual kennengelernt. Oder stimmte das nicht? Wann logen die beiden, und wann sagten sie die Wahrheit? Kannten sie den Unterschied überhaupt? Ich sagte jedoch nichts. »Okay, wer hat uns einander vorgestellt?« Phyllis meldete sich schließlich zu Wort. »Einspruch. Unerheblich.« Reynolds sah Ramón an. »Das scheint mir auch so. Wollen Sie einen Beweis führen?« -335-
»Euer Ehren«, sagte Ramón, »wenn es dem Gericht recht ist, das Ziel meiner Frage wird bald klar werden. Ich versuche, unsere Beziehung auszuleuchten.« »Das habe ich mir fast gedacht, Mr. Valdez. So viel Verachtung Sie für dieses Gericht auch haben mögen, ich bin nicht blöd.« »Euer Ehren, es liegt keinesfalls in meiner Absicht, das Gericht zu beleidigen.« »Schon gut, schon gut, machen Sie weiter. Sehen wir zu, daß wir vorankommen.« »Ja, Euer Ehren.« Ramón setzte seine Brille wieder auf. Dann fragte er, wie unter Schmerzen: »Wer hat uns einander vorgestellt?« Pimienta zögerte: »Pepita Ramírez.« »Pepita Ramírez. Ist das ein Mann oder eine Frau?« »Ein Mann.« »Ein Mann«, wiederholte Ramón. Aber noch bevor er fortfahren konnte, unterbrach wieder einmal die Dolmetscherin. »Entschuldigen Sie, Euer Ehren. Ich möchte mich korrigieren. Der Name lautet Pepito mit einem O.« Aber Ramón ging dazwischen. »Einspruch, Euer Ehren. Die Frau Dolmetscherin lag beim erstenmal ganz richtig.« »Ach ja, ist das wichtig, Mr. Valdez, ob es sich nun um ein O oder ein A handelt? Fahren Sie fort.« Ramón hob die Hände, als wolle er darauf bestehen, winkte dann jedoch ab. »Na schön. War Pepito ein ehemaliger Gefangener?« »Pepita. Ja, das war sie.« »José, warum sagst du ›sie‹, wenn Pepita ein Mann war?« -336-
Pimienta flüsterte etwas, was ich nicht mitbekam. Aber die Dolmetscherin setzte eine verblüffte Miene auf und fragte in raschem Spanisch: »Wie war das?« Pimienta wiederholte seine Antwort, dann sagte die Dolmetscherin: »Weil sie eine Schwester war.« Gekicher im Saal. Ramón lächelte. »Eine Schwester, ja. Heißt das, daß sie eine Frau war, mit allem, was dazu gehört, so wie die Frau Dolmetscherin?« »Nein, ich meine damit, daß sie ein maricón war.« »Was heißt das, maricón?« drängte ihn Ramón. »Er war… er mochte Männer, er war ein Perverser.« »Ich verstehe. Das ist sehr interessant. War Pepita deshalb im Gefängnis?« »Ja.« »Ist das alles?« »Na ja, auch wegen Prostitution.« »Ich verstehe. Nun gut, woher hast du das gewußt?« Ich hätte schwören mögen, daß Pimienta jeden Augenblick zu heulen anfangen würde. »Weil ich sie kannte.« »Wie gut hast du sie gekannt?« Pimienta senkte den Kopf und legte beschämt die Hände vors Gesicht. »Ich habe sie geliebt, na schön. Sie war mein Mädchen.« »Augenblick mal, Augenblick mal. Sagtest du eben nicht, daß sie ein er war. Heißt das etwa, daß du auch ein Homosexueller bist, José?« Phyllis stand wieder auf. »Euer Ehren, das ist völlig unerheblich. Ich verstehe absolut nicht, was die sexuellen Neigungen des Zeugen mit dem Verbrechen zu tun haben, dessen man den Angeklagten bezichtigt.« -337-
»Euer Ehren, es dient dazu, die Befangenheit des Zeugen und deren Auswirkungen auf seine Aussage aufzuzeigen.« »Mr. Valdez, wenn Sie mir nicht mit den nächsten beiden Fragen klarmachen können, worin diese Befangenheit besteht, werde ich Sie wegen mangelnder Kompetenz von Ihrer eigenen Verteidigung ausschließen.« »Ich danke Ihnen, Euer Ehren«, sagte Ramón. »Magst du Männer, José? Bist du homosexuell?« »Es ist mir nicht recht, aber ich kann nichts dagegen machen.« »Warst du nicht eifersüchtig auf meine Beziehungen mit Frauen?« »Ich weiß nicht.« »Ist es nicht so, daß man dich HIVpositiv getestet hat, daß du AIDS hast und daß du mir die Schuld gibst, dich angesteckt zu haben?« »Einspruch, Euer Ehren, mangelhafte Beweisführung. Mr. Valdez sagt selbst aus!« »Stattgegeben«, sagte der Richter. »Die Geschworenen werden diese letzte Frage nicht beachten, sie ist aus dem Protokoll zu streichen.« »Okay, okay«, rief Ramón. »José, waren wir ein Paar, du und ich, ja oder nein, beantworte nur das eine, ja oder nein?« Pimienta wandte sich ab, seine Augen flehten um Gnade, Mitgefühl, Respekt, um alles, was Ramón längst vergessen hatte. »Ja.« »Wann ging das zu Ende?« »Als du das Mädchen geheiratet hast, Lucy. Du hast gesagt, ich sei häßlich.« -338-
»Du sagst also heute gegen mich aus, weil du mich haßt, weil ich dich verlassen habe?« Pimienta stieß einen Seufzer aus und schüttelte den Kopf, und einen kurzen Augenblick lang war er von einer traurigen, gequälten Schönheit, einer Schönheit, wie Würde und verletzte Gefühle sie einem verleihen. »Nein, Ramón. Du weißt, daß ich dich nicht hasse. Ich bin nur hier, um die Wahrheit zu sagen, das ist alles.« »Und du sagst, die Wahrheit ist, daß ich diese Leute erschossen habe?« »Oh, ja, aber du wolltest es nicht. Das weiß ich.« »Sei still.« Pimienta wollte weitersprechen, aber als er Ramóns Hand hochgehen sah, verstummte er sofort. Was mir einiges hätte sagen sollen, aber in diesem Augenblick entging mir die Bedeutung von so viel Gehorsam. »Warum sagst du dann hier aus?« Pimienta zögerte und warf einen zweifelnden Blick auf Phyllis. Sie nickte ihm kaum merklich zu. »Weil man mir ein Geschäft vorgeschlagen hat.« »Ein Geschäft, sagst du. Was für ein Geschäft ist das?« »Daß ich nur sechs Jahre bekomme, wenn ich sage, was passiert ist.« »Sechs Jahre. Aber du hast doch selbst gesagt, du wärst bei allem dabeigewesen, daß wir alles gemeinsam gemacht hätten, richtig?« »Ja, das habe ich gesagt.« »Du warst dabei, als wir das Ganze geplant haben, richtig?« »Ja.« »Du hast mitgeholfen, die Waffen zu laden, hast sie mit -339-
zum Auto getragen, du bist gefahren, du bist mit mir in den Laden gegangen. Korrekt?« »Ja, das ist wahr.« »Aber du bekommst sechs Jahre. Weißt du, was mir bevorsteht?« Pimienta verdrehte die Augen wie ein Hundebaby, das am Sonntagsbraten geknabbert hat. »Ja, du hast es mir gesagt.« »Du weißt, daß du laut Gesetz nicht weniger verantwortlich bist als ich?« »Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, was ich tun soll!« Er senkte kurz den Kopf, dann blickte er wieder auf. »Willst du, daß ich alles zurücknehme, willst du, daß ich sage, es wäre nicht so gewesen?« »Nein, José. Ich will, daß du die Wahrheit sagst. Habe ich es getan? War ich es, Ramón, der diese Leute erschossen hat?« »Ja, aber du warst nicht du.« »Das verstehe ich nicht. War ich es nun, oder war ich es nicht?« »Ja, du warst es, aber es war Oggun, du konntest nichts dagegen tun!« Ramón atmete tief durch, legte seinen Füller beiseite. »Keine weiteren Fragen.« Phyllis stand auf und ging nach vorn zu Pimienta. Sie baute sich vor ihm auf, ihr Körper zitterte fast vor Konzentration. »Sagen Sie, Mr. Pimienta, habe ich Ihnen auch nur einmal gesagt, Sie sollten etwas anderes als die Wahrheit sagen?« »Nein.« -340-
»Entspricht alles, was Sie uns heute und während der letzten drei Tage erzählt haben, der Wahrheit?« »Ich schwöre, es ist die Wahrheit.« »Sie würden also nicht lügen, nur weil Ramón nicht mehr Ihr Liebhaber ist?« Pimienta legte sich die Hand aufs Herz und wandte sich an Ramón. »Ich liebe ihn immer noch, aber ich muß die Wahrheit sagen, sonst kann ich nicht mehr leben.« »Ich danke Ihnen.« Phyllis ging zu ihrem Stuhl zurück, setzte sich und beugte sich ihrem Ermittler zu. Sie wechselten einige Worte, dann sah sie den Richter an. »Euer Ehren, die Anklagevertretung schließt die Beweisaufnahme hiermit ab.« Reynolds, der die ganze Befragung über den Kopf in die Hände gelegt hatte, setzte sich wie von der Tarantel gestochen auf. Ich warf einen Blick auf die Geschworenen und sah, daß wenigstens die Hälfte von ihnen sich ebenfalls vorgebeugt hatte. Jetzt jedoch nahmen sie völlig überrascht ihre alte distanzierte Haltung wieder ein. »Na denn!« sagte der Richter, und alles lachte peinlich berührt, daß man sich von diesem merkwürdigen Melodram derart hatte fesseln lassen. Reynolds sah auf die Uhr. »Es ist drei Uhr, Mr. Valdez, sind Sie bereit fortzufahren?« »Euer Ehren, ich möchte beantragen, daß sich das Gericht auf Montag vertagt. Ich erwarte jeden Augenblick, daß ein Zeuge sich bei mir meldet.« »Ich mache sogar noch mehr. Ich gebe Ihnen noch eine Woche, was halten Sie davon? Meine Damen und Herren Geschworenen, aufgrund von Terminproblemen (ich sah -341-
Ramón erstaunt an, der die Achseln zuckte) wird es in diesem Saal eine Woche lang dunkel bleiben. Da heute Donnerstag ist und freitags nicht verhandelt wird, sehe ich Sie in alter Frische am Montag in einer Woche. Ich wünsche Ihnen eine schöne Woche!« Damit war er auch schon aufgestanden und sprintete in Richtung seines Zimmers. Ich ging hinüber zu Phyllis. »Was ist denn los?« »Ich dachte, er hätte es Ihnen gesagt«, sagte Phyllis. »Seine Frau mußte ins Krankenhaus, sie hat eine Überdosis Seconal geschluckt. Er möchte bei ihr bleiben, um die Geschichte wieder gradezubiegen.« »Tut mir leid.« »Sollte es nicht. Das gibt Valdez mehr Zeit, sich vorzubereiten. Die wird er auch brauchen.« »Wen sparen Sie sich denn für die zweite Runde auf?« »Kommen Sie, Charlie, Sie wissen, daß ich Ihnen das nicht sagen kann«, sagte Phyllis, während sie ihre Papiere in ihrem schwarzen Mark-Cross-Diplomatenköfferchen verstaute. »Nein, tut mir leid, ich wollte sagen, ich habe mich noch nicht entschieden. Ich gebe Ihnen eine Liste, wenn ich soweit bin.« »Wann? Wenn wir weiterverhandeln?« Sie lächelte hämisch. »Ich habe mich noch nicht entschieden.« Sie nahm ihr Aktenköfferchen und ging hinaus. Der Gerichtsdiener hielt ihr die Tür auf. Pimienta saß neben Clay im Publikum und schneuzte sich mit Clays besticktem Taschentuch. Clay nickte mir zu. Ich ging hin und bot ihm die Hand. »Tut mir leid wegen neulich abend.« Er sah meine Hand an, dann mich und lächelte. »Mir -342-
nicht. Sie gehören noch immer zum Personal. Und billig sind Sie obendrein.« »Ein relativer Begriff, Clay. Jede Hure hat Ihren Preis.« »Da haben Sie recht. Sie brauchen doch meinen Mandanten nicht mehr, oder?« Ich sah hinüber zu Ramón, der eben wieder in seine Zelle zurückgeführt wurde. »Ich werde mal nachfragen, aber ich glaube nicht. Sagen Sie mir nur eines, ist er wirklich HIVpositiv?« Clay sah mich an wie einen armen Trottel. »Das haben Sie geglaubt? Wirklich gut, daß der Mann sich selbst verteidigt. Er ist nämlich ein besserer Anwalt als Sie.« Er stand auf und tippte Pimienta auf einen seiner massiven Arme. »Gehen wir, Joe.« Pimienta stand auf und bat mich dann auf spanisch: »Sagen Sie ihm, es tut mir leid, okay? Ich wollte ihm nichts Böses, aber er wollte es ja so.« »Ich werde es ihm sagen.« »Und wenn es geht, geben Sie ihm das hier.« Pimienta nahm einen schweren Schlüssel aus Gold und Eisen, den er an einem Lederriemen um den Hals trug. Ich hob die Hände und trat einen Schritt zurück. »Nein, tut mir leid. Machen Sie das über die offiziellen Kanäle. Ich mache so was nicht.« »Aber es ist der Schlüssel Ogguns. Damit ihm nichts passiert!« »Machen Sie sich um den keine Sorgen, ich bin sicher, er kommt zurecht.« Als ich Ramón im Bezirksgefängnis besuchte, war er unerträglich gut gelaunt. Klatschend trafen sich seine -343-
Handflächen mit denen anderer Insassen, er pfiff, lächelte - alles in allem sah er aus wie einer, bei dem alles nach Plan zu laufen schien. »Seine Aussage kam einem Schuldspruch gleich. Sie konnten sie nicht erschüttern. Er sagt, Sie hätten es getan. Wieso sind Sie so fröhlich?« »Verstehen Sie denn nicht? Er hat gesagt, ich wollte es nicht tun.« »Ja, aber trotzdem sagt er, Sie hatten's getan. Phyllis wird sagen, Sie wären sich der Konsequenzen sehr wohl bewußt gewesen, so schwer bewaffnet wie Sie in den Laden sind. Sie wird sagen, Sie hatten die Absicht, diesen Schmuck zu stehlen. Solange Sie nämlich nicht das Gegenteil beweisen können, haben Sie laut Gesetz auch nichts anderes getan, ganz egal, was Sie Ihrer Ansicht nach getan haben. Da können Sie zehnmal behaupten, es wäre für Oggún, Mohammed oder Jesus Christus gewesen, es ist und bleibt bewaffneter Raub. Nicht zu vergessen, daß Sie die Leute umgebracht haben. Sie sind so gut wie tot, Ramón. Hören Sie, Sie können sich immer noch auf einen Deal einlassen.« »Einen Deal?« Ramón lehnte sich zurück. Hätte ich ihn geschlagen, er hätte nicht überraschter sein können. »Einen Deal? Sind Sie verrückt? Wovon reden Sie?« »Ich rede von Überleben, Mann, von Überleben und nichts anderem. Ihnen steht lebenslänglich ohne Aussicht auf vorzeitige Entlassung oder die Gaskammer bevor. Und so wie es aussieht, werden Sie wohl Ihrem Gott früher die Hand schütteln, als Sie sich das gedacht haben. Phyllis bietet Ihnen lebenslänglich ohne Haken. Das heißt, Sie kommen nach zwanzig Jahren für eine bedingte Entlassung in Frage.« -344-
»Zwanzig Jahre Gefängnis für etwas, was ich nicht getan habe?« »Alle sagen, daß Sie's waren, und sie haben Beweise dafür. Sogar Ihr eigener Mann hat Sie beschuldigt. Was wollen Sie sonst noch?« »Keine Deals, Nitty.« »Was?« »Elliot Ness. Sie wollen Kubaner sein und kennen Elliot Ness nicht? Keine Deals, Frank Nitty.« »Ness war der Bulle, Ramón. Sie sind Nitty.« »Wirklich? Na trotzdem, vergessen Sie's. Kein Deal. Ich bin's nicht gewesen.« »Klar doch. Meine Mutter war's.« »Nein, Ihr Vater.« Es lief mir eiskalt über den Rücken, und ich bekam eine Gänsehaut, als hätte jemand mit den Nägeln über eine Schiefertafel gekratzt. Einen Augenblick schien das Licht zu schwanken und die Wände durchzuhängen. »Was haben Sie gesagt?« »War nur ein Scherz. Oggún ist unser Vater.« »Meiner nicht.« Er grinste wie ein Wolf. »Wieso sind Sie so sicher?« Ich zögerte einen Augenblick, dann fragte ich ihn, ohne lange herumzureden: »Haben Sie mir je nachspionieren lassen?« »Ich? Warum sollte ich?« »Der Mann, den Sie anheuern wollten, hat es mir erzählt. Also, warum haben Sie das getan? Was erhofften Sie sich davon?« Ramón schüttelte tadelnd den Kopf. »Ihr Problem, Charlie.« -345-
»Hören Sie auf, mir was über meine Probleme zu erzählen! Die kenne ich selber verdammt gut. Ich will verdammt noch mal wissen, wieso Sie einen Ermittler losschicken, der im Privatleben des einzigen Menschen herumschnüffeln soll, der Ihnen in diesem Scheißsystem zu einer fairen Behandlung verhelfen will. Für wen zum Teufel halten Sie sich eigentlich?« Ich war schreiend aufgestanden. Ramón zuckte mit keiner Wimper. Er starrte mir nur in die Augen und sagte leise: »Ich habe nichts dergleichen getan.« Zwei Deputies kamen in unsere Kabine gelaufen, ihre Totschläger in der Hand. »Probleme, Charlie?« Ich schüttelte den Kopf. »Nur das Übliche. Ein undankbarer Drecksack.« »Okay, Valdez, gehen wir. Die Besuchszeit ist vorbei.« Ein Deputy löste Ramóns Ketten vom Stuhl. Ramón stand auf. Ich hatte ihn noch nie so würdig gesehen. Dann blickte er mir kalt in die Augen. »Ich wollte, aber ich habe nicht. Der Bezirk wollte davon nichts hören.«
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19 »Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen!« Völlig verwirrt hob Richter Reynolds den Blick von den Anträgen. Er packte die langen gelben Seiten mit Ramóns sauberer Blockschrift und fuchtelte damit herum, als wolle er eine lästige Schabe abschütteln. Er hatte uns in sein Zimmer gerufen, um die Anträge inoffiziell durchzugehen, bevor er seine Entscheidung offiziell und in Gegenwart Ramóns fällte. Im Augenblick jedoch saß er auf seiner jägergrünen Ledercouch und starrte auf die Belobigungen der Staatsanwaltschaft, des Sheriffs und der Freiwilligen Feuerwehr von Tuscaloosa an seiner Wand. Es sah nicht so aus, als würde Ramón bekommen, was er verlangte. »Sie verlangen von diesem Gericht, für Fahrtkosten und Unterkunft einer Sachverständigen aus Florida aufzukommen?« »Herr Richter, sie ist in diesem Land die bekannteste Autorität auf diesem Gebiet.« »Warum zum Teufel kann es nicht jemand von nicht gar so weit weg sein, San Francisco oder Sacramento?« »In Florida leben nun mal die meisten Kubaner, Herr Richter, also werden diese Studien dort gemacht. Ethnologische Forschung wie die von de Alba gibt es hier an der Westküste nicht. Außerdem hat sie die vergleichende Studie über Santería und andere Religionen geschrieben. Sie ist eine entscheidende Zeugin in diesem Fall.« Irgend etwas in meinen Worten mußte den Richter getroffen haben, da sein Erstaunen der Verwirrung wich, -347-
ein merkwürdiger Zustand für jemanden, der dafür bezahlt wird, zu allem und jedem eine Meinung zu haben. Reynolds nahm seine Pfeife zur Hand, eine neue Methode, sein Temperament zu zügeln, das so oft mit ihm durchzugehen drohte. Er steckte sie an und stieß einige nach Vanille duftende Rauchsignale aus. »Was meinen Sie dazu, Phyllis?« Phyllis, heute in Weiß und Beige, schob ihre silbernen Armreifen übers Handgelenk. »Das ist eine Ermessensfrage, Herr Richter. Sie wissen sehr wohl, daß sich die Anklagevertretung nicht in derlei Dinge einmischen kann. Aber im Prinzip neige ich dazu, Ihnen zuzustimmen. Wir sehen keine Notwendigkeit, Leute über dreitausend Meilen weit einfliegen zu lassen. Ich bin sicher, wir haben ausgezeichnete Ethnologen an unseren beiden Universitäten hier in der Stadt.« »Das ist nicht dasselbe«, sagte ich. »Die Leute sind keine Kubaner, und sie haben nicht fünfzig Jahre Forschung hinter sich.« »Ich hoffe nicht, Sie wollen damit sagen, daß nur die spanische Rasse…« »Leute spanischer Abstammung sind keine Rasse, sie stellen eine ethnische Gruppe dar.« »Was auch immer. Daß nur sie so was studieren können.« »Das sage ich ganz und gar nicht. Ich sage nur, daß wir ein Recht auf das Beste haben.« »Auf Kosten des Bezirks?« »Sie bezahlen Ihren Beratern zweihundertfünfzig Dollar die Stunde für Fälle von Trunkenheit am Steuer. Wieso macht Ihnen das hier plötzlich zu schaffen?« Reynolds legte seine Pfeife weg. »Ich denke, ich habe -348-
genug gehört.« »Bevor Sie Ihre Entscheidung fällen, Herr Richter, möchte ich Sie daran erinnern, daß die Anklagevertretung unerschütterlich gegen diese Art von Beweisführung ist. Wir sind der Ansicht, Santería und Religion haben mit diesem Fall nicht das geringste zu tun. Wir sind dagegen, daß die Verteidigung sie einbringt.« Was ich nicht so einfach hinnehmen konnte - obwohl ich für den Bruchteil einer Sekunde Götter aus den weißen Wänden treten und wieder verschwinden sah. »Herr Richter, es handelt sich hier um das Herzstück der Verteidigung. Valdez' Position, wie er sie mir erklärt hat, läuft darauf hinaus, daß die Ereignisse nur innerhalb des religiösen Kontexts zu verstehen sind. Valdez ist ein praktizierendes Mitglied dieses Kults, ein Priester sogar, um genau zu sein, und bei dem Schmuck handelte es sich um Geschenke an den Gott.« Reynolds griff wieder nach der Pfeife. »Was eine ausgesprochen interessante Frage aufwirft, Charlie. Will er damit sagen, daß jeder, dem irgendein Kultgegenstand weggenommen wird - zu Recht oder zu Unrecht - das Recht hat, den Betreffenden umzubringen?« Ich zögerte einen Augenblick, als ich rasch überlegte, was ich antworten sollte. Das Kreuz der Jesus-SavesKirche glitzerte in der Ferne. »Herr Richter, Sie unterstellen damit, daß es sich bei der vorliegenden Tat um eine vorsätzliche Strafaktion gegen die hypothetischen Täter handelt, was nicht der Fall ist. Wenn ich kurz in die Geschichte zurückgehen darf, so möchte ich darauf hinweisen, daß unzählige Menschen genau das getan haben, und das mit Billigung des höchsten Würdenträgers, den das Christentum hat. Man nannte das die Kreuzzüge, und es gab vier davon.« -349-
Phyllis feixte. »Sie wollen doch nicht etwa diesen Voodoo-Hokuspokus mit dem Glauben vergleichen, der das ideologische Fundament unserer Gesellschaft bildet.« Kein Problem, hier dagegenzuhalten, auch wenn man mir nicht notwendigerweise glauben mußte. »Schon wahr, aber nur wegen eines bloßen geschichtlichen Unfalls. Das Christentum war nur einer von mehreren Kulten, denen man im römischen Reich zur Zeit der Cäsaren anhing. Wären Nero und Tiberius nicht gewesen, die das Christentum verfolgten und damit einten, würden wir heute vielleicht vor dem Sonnensymbol Zarathustras oder dem Stier des Mitra-Kults knien.« »Charlie, so beeindruckend Ihr Wissen auch sein mag, hier ist es keinen Pfifferling wert.« »Ich würde sagen, es ist weit mehr wert, Herr Richter. Dieser Kult, diese Religion, wie immer Sie es nennen wollen, befindet sich im selben Stadium wie das Christentum zur Zeit von Kaiser Valerian.« »Wem?« fragte Reynolds. »Hundert Jahre bevor Konstantin es zur offiziellen Religion erklärte. Seine Anhänger sind sture Eiferer und unterscheiden sich darin gar nicht so sehr von Paulus.« »Ich habe nirgendwo in der Bibel gelesen, daß Paulus unschuldige Frauen und Kinder umgebracht hätte«, entgegnete Phyllis. »Vielleicht nicht, aber soweit ich mich erinnere, hat sich der alte Jehovah in Sodom und Gomorrah so einiges geleistet - von den Pharaonen und Ägyptern ganz zu schweigen.« Phyllis hätte sich gern noch etwas gestritten, aber Reynolds kam ihr zuvor. »Ich bin beeindruckt, Charlie. Ich werde Ihrer Liste von -350-
Titeln noch einen hinzufügen - theologischer Wortverdreher. Ich werde die Beweisführung zulassen. Das ist etwas, worüber eine Jury entscheiden sollte.« »Entschuldigen Sie, aber ich dachte, das wäre bereits geregelt. Was ist mit den Gebühren?« Reynolds saugte an seiner Pfeife. »Unglücklicherweise kann ich das nicht genehmigen. Sie steht nicht auf unserer Liste anerkannter Sachverständiger. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Suchen Sie sich einen Sachverständigen aus der Stadt. Oder besser noch, vielleicht kann Ihr Junge uns das selber erklären, wenn er in den Zeugenstand geht. Obwohl vielleicht am besten Sie das machen sollten, Sie wissen wahrscheinlich mehr darüber als er.« Das Haus befand sich am Bonnie Brae Boulevard, nur wenige Blocks vom McArthur Park, eine Gegend, die man erst verbarrikadieren und in ein großes, von Männern in Blau patrouilliertes Gefängnis verwandeln muß, bevor sich die Bewohner auf die Straße wagen. Vor dem Haus stand eine Reihe ramponierter Mülltonnen, aus denen der Abfall quoll. Aus einem offenen Fenster kamen die blechernen Klänge von Salsamusik, dem akustischen Gegenstück zum Gestank von Verfall und Katzenpisse. Auf der Treppe eines Nachbarhauses saß eine Handvoll herumalbernder vatos, die mich kurz über ihre Bierdosen hinweg fixierten, als ich in das Gewölbe eines Flurs trat, der auf einen Innenhof führte. Ein Wirrwarr von Balkonen erhob sich vor meinen Augen, acht Stockwerke hoch. Sieht irgendwie vertraut aus, dachte ich, als ich die Treppe in den fünften Stock hinaufstieg; Stufen wie Treppenabsätze waren mit winzigen schwarzen und weißen Fliesen ausgelegt. In dem Augenblick, in dem ich an die Tür klopfte, fiel es mir ein: Hierhin waren Ramón und Lucinda gezogen, nachdem man sie in Pasadena -351-
hinausgeworfen hatte; hier hatte ich Lucinda vor langer Zeit meine Karte unter die Tür geschoben. Es war die letzte Tür am Ende eines finsteren Flurs. Aus dem Inneren der Wohnung hörte ich eine Gitarre und eine Geige; sie spielten eine traurige mexikanische Melodie. Eine kleine Frau mit einem dreifarbigen Tuch öffnete die Tür. Mit ihrem braunen, runden Gesicht und den vorstehenden Zähnen sah sie aus wie ein exotischer, aber freundlicher Nager. »Wer klopft denn zu dieser Stunde des Glücks an die Tür von Ramo?« fragte sie im melodischen Spanisch des südlichen Mexiko. Ich roch den Pulque in ihrem Atem. »Buenas tardes. Ich suche die Familie von Pedro Ramo.« »Dann treten Sie bitte ein, Sir. Sie haben das gesuchte Haus gefunden. Auf daß das große Glück an diesem großen Tag auch über Sie komme.« Sie trat beiseite und wies mich in die Wohnung. Vierzehn Leute drängten sich in einem kleinen Raum; sie tranken Bier, Tequila und Hibiskuspunch mit Schuß. Ein riesiger pyramidenförmiger Altar beanspruchte die ganze hintere Wand. Mit bunter Folie dekoriert, auf der die Opfergaben standen - verblichene Fotos in Blechrahmen, Bienenwachskerzen, Früchte, Blumen, braune Zuckerhüte mit Schokoguß, mexikanische Lebkuchen, Zigaretten und Schnaps. In der Mitte des Raums standen Gitarrist und Geiger und spielten für die Hauptperson der Zeremonie, den Anlaß des Spektakels - einen toten Jungen in einem Fichtensarg. Das Kind war etwa vier Jahre alt, trug einen braunen Anzug und hatte die hervorquellenden Augen geschlossen; eine widerspenstige Locke pechschwarzen Haars stand ihm vom Kopf. Der Mann an der Gitarre sang: -352-
»Lebt wohl, meine Lieben, Ins traurige Vergessen muß ich gehen, Leb wohl, mein liebes Heim, Wo man mich zur Ruhe gelegt. Leb wohl, mein liebes Haus, Durch das ich mal gelaufen bin, Ich bitte alle meine Lieben, Nicht zu vergessen, daß es mich gab. Alles, was ihr aus dieser Welt mitnehmen könnt, Ganz gleich, wieviel Gold ihr auch haben mögt, Ist die Totenkiste eines armen Mannes, In der man euch hinaustragen wird.« Ein kleiner dunkelhäutiger Mann mit rotgeweinten Augen trat auf mich zu. »Wer immer Sie sind, Fremder, seien Sie willkommen an diesem Tag unseres großen Glücks.« Ich wußte nicht, was ich sagen sollte - in was für einen merkwürdigen Brauch war ich da geraten, der den Tod mit Freuden feierte? »Sind Sie Pedro Ramo?« »Ja, aber heute bin ich der stolze Vater von Leonardo, der über die Berge gegangen ist, um sich in den Chor der kleinen Kinder im Tal des Mondes einzureihen. Trinken Sie auf unser Glück, por favor, schließen Sie sich uns an!« Er drückte mir eine Büchse Tecate in die Hand. »Tut mir leid.« »Dazu besteht kein Grund. Wir haben versucht, ihn bei uns zu behalten, aber die Musik drüben war einfach zu schön.« »Ich bin hier in meiner Eigenschaft als gerichtlich bestellter Ermittler im Fall Ramón Valdez.« »Wer?« -353-
Sein Gesicht legte sich verwirrt in Falten. »Ramón Valdez, ein schwarzer Kubaner. Er sagte, Sie kennen ihn.« »Gestatten Sie, daß ich meine Frau frage. Ich erinnere mich nicht an ihn.« Schlurfenden Schrittes ging Juan hinüber zu seiner Frau, der Köchin, die mit Tränen in den Augen Tortilla machte. Ich sah mich im Raum um und roch süße Fresien, Weihrauch, Bier, Tequila und Trauer. *** hier fehlt im Original eine Seite (290)*** von ihr war ein Foto von uns beiden vor dem Dornröschenschloß in Disneyland. Fünf Uhr. In der Anfangszeit, kurz nachdem sie eingezogen war, hatte sie mich um diese Zeit erwartet, ein Glas Cabernet in der Hand, Vivaldi auf der Stereoanlage, aus der Küche hatte mich Knoblauch- und Zwiebelduft eines kubanischen Gerichts begrüßt. Sie hatte mich geküßt, ihr seidener Hausanzug war kühl unter meinen Fingern. Ich ließ ihr die Jacke über die Schultern gleiten, und wir fielen aufs Bett, während der Deckenventilator die vom Duft der Orangenblüten erfüllte Luft bewegte. Als erstes war mit dem Kochen Schluß gewesen, dann kam sie nicht mehr gelaufen, wenn ich nach Hause kam, und schließlich fiel auch die Musik weg. In letzter Zeit hatte ich nur noch ihre Zettel gefunden, auf denen sie mir in ihren kindlichen Krakeln mitteilte, daß es bei Enzo wieder mal spät werden würde. Mitten in der Nacht kam sie dann, nach Knoblauch und Wein riechend, mehr als nur angeheitert, und weckte mich mit ihrem Leben und einer plötzlichen Lust auf Sex, bei dem sie dann mittendrin einschlief, mit dem Gesicht zur Wand. Wenn ich morgens -354-
wegging, schlief sie noch; die weißen Laken über die lohfarbene Haut gezogen, lag sie da wie ein Baby in Windeln. Ich durchsuchte die ganze Wohnung nach einem Brief, einer Nachricht, fand aber nichts. Das grüne Licht des Anrufbeantworters blinkte. Ich spulte die Nachricht zurück. Lucindas perlende Stimme kam aus dem Lautsprecher, im Hintergrund das Klappern und Klirren von Geschirr. »Hola, Cariltos, wie geht's dir?« fragte sie. »Du wirst inzwischen gemerkt haben, daß meine Sachen weg sind. Mir ist nichts passiert, ich bin nur umgezogen. Tut mir leid, aber ich hatte schon lange das Gefühl, daß unsere Beziehung dem Ende zugeht. Ich rufe an, weil ich nicht weiß, wie ich dir das alles schriftlich sagen soll. Und ich traue mich nicht, es dir ins Gesicht zu sagen. Ich weiß auch nicht, was passiert ist. So was passiert eben, obwohl ich nie gedacht hätte, daß es uns beiden passieren würde. Ich weiß, es ist nicht deine Schuld, aber ich glaube nicht…« Ein Summen deutete an, daß die für die Nachricht zur Verfügung stehende Zeit abgelaufen war. Es piepte wieder, dann ging es weiter. »Hola, ich bin's noch mal. Ich muß mich kürzer fassen. Ich komme schon zurecht. Ich bin in eine Wohnung hier um die Ecke gezogen. Enzo hat mir beim Suchen geholfen. Er hat gesagt, er läßt mich länger arbeiten und zahlt mir mehr, damit ich nicht mehr auf dich angewiesen bin. Also ich weiß nicht, ich nehme an, das ist es wohl. Gott segne dich für alles, was du für mich getan hast. Wir hatten eine wunderbare Zeit zusammen, Charlie, und du wirst immer in meinem Herzen bleiben. Ich liebe…« Das Piepsen unterbrach sie mitten im Satz. -355-
Vier Stunden und zwei Flaschen Wein später schwanke ich schließlich die Vermont hinunter auf Enzos Restaurant zu. Ein Wirrwarr aus Stimmen, Musik und klapperndem Geschirr empfängt mich. Sämtliche Nischen sind belegt, an der Wand stehen Leute, die auf einen Platz warten. Ein kleiner mexikanischer Kellner schleppt eine Pizza mit Meeresfrüchten vorbei, die er so hoch wie möglich hält. Enzo sieht mich von der Bar auf der Seite aus und kommt herüber. »Cz'ao, Carlo.« »Ciao, stronzo«, sage ich ihm. Hallo, Arschloch. Ich sehe Lucinda aus dem hinteren Teil des Restaurants kommen; sie lacht noch über die anzügliche Bemerkung eines Kellners. Ihr Seidenkleid erinnert mich vage an das Fell eines Leoparden. Sie sieht mich, und das Lächeln verschwindet. Sie zögert einen Augenblick, dann kommt sie auf mich zu. Schweigend starren wir einander an. Enzo flüstert mir auf italienisch zu: »Mach keine Dummheiten, Charlie!« Lucinda hält meinem Blick stand, sie läuft weder davon, noch gibt sie nach. »Tut mir leid«, sagt sie schließlich. »Es mußte sein.« Ich stecke meine Hand unter die Jacke, spüre den Knauf meiner Waffe. Ich packe sie, ziehe sie aus dem Halfter und hole sie heraus. Enzo tritt zwischen uns, aber ich schiebe ihn weg. Den Gästen bleibt die Luft weg, als sie den Revolver sehen. Das Stimmengewirr verebbt. Vor Angst still geworden, beobachten sie uns. Lucinda zuckt mit keiner Wimper. Ich lege den Sicherungsflügel um, spanne den Hahn, drehe die Waffe dann um und halte sie ihr mit dem Knauf hin. Sie sieht sie an. -356-
»Nimm ihn«, sage ich, »mach schon. Bring's zu Ende.« Ich packe ihre Hand, zwinge ihr die Finger um den Griff, bis ich spüre, daß sie ihn hält. Ihre Hand zittert. Ihr Blick bleibt gesenkt. »Na schön«, sage ich, »dann behalte ihn. Wann immer du willst, ich bin bereit.« Ich gehe wieder, erwarte den Kuß zwischen den Schulterblättern. Er bleibt aus. Statt dessen spalten sich vor mir schweigend die wartenden Gäste. Ich trete auf die bevölkerte Straße. Stunden später sehe ich hoch oben vom Observatorium aus die blitzenden Lichter der Stadt unter mir. Ich stehe am Rand der Aussichtsplattform rund um das Gebäude und blicke auf die roten Dächer tausend Fuß unter mir. Eine Sternschnuppe rast über den Nachthimmel. »Ich wünsche mich in die Hölle!« schreie ich in die Dunkelheit. Ein schwaches Echo kommt zurück. Wieder eine Sternschnuppe. Ich weiß, man hat mir meinen Wunsch gewährt.
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20 Richter Reynolds wandte sich an Ramón: »Haben Sie eine Eröffnungserklärung, Mr. Valdez?« »Ja, Euer Ehren.« Mit diesen Worten stand Ramón zum erstenmal auf. Reynolds sah ihn schief an. Er lehnte sich zurück. Jede seiner Gesten sagte nur eines: Hier hast du den Strick, hier ist der Galgen, komm, ich helf dir. Die Kette klimperte leise, als Ramón den Stuhl zurückschob. Die Hände auf dem Tisch, beugte er sich vor und sah die Geschworenen an. Die Hornbrille gab ihm den feierlichen Anschein eines Justizsekretärs oder Theologiestudenten. »Meine Damen und Herren Geschworenen, Sie verzeihen mir hoffentlich, daß ich Ihnen nicht näher komme, aber wie Sie wissen, hat man mich für den Verlauf des Verfahrens in Ketten gelegt. Es wäre nicht nur unbequem, es wäre mir auch in hohem Maße peinlich, meine Ketten zu zeigen. Aber andererseits ist das natürlich, nicht?« Die Geschworenen lächelten mitfühlend. Ramóns weicher Akzent legte sich über die Worte wie Daunen. In meinem ganzen Leben hatte ich noch niemanden soviel Kapital aus seiner Fremdartigkeit schlagen sehen: die Vorteile zweier Kulturen auszunutzen, der fremden und der heimischen, der spanischen und der amerikanischen. »Vielleicht würden Sie mich besser verstehen, wenn ich einen Anwalt hätte. Bei meinem Akzent und alledem. Aber wie Sie sehen«, er wies mit großherziger Geste auf mich, »habe ich nur einen Ermittler. Ich bin mein eigener -358-
Anwalt. Ich bin sicher, Sie fragen sich warum. Nun, ich will es Ihnen sagen. Ich glaube, wenn in einem Fall die Fakten so gelagert, so ungewöhnlich sind, wenn die Wahrheit so sehr von der eigenen Interpretation abhängt wie in diesem, dann meine ich, ist es besser, keinen Anwalt zu haben. Es ist in diesem Fall besser, sich ohne Schild, ohne Waffen zu stellen und direkt an Sie, die Geschworenen, zu appellieren. Ich glaube nicht, daß es auf der ganzen Welt einen Anwalt gibt, der in diesem Fall für mehr Gerechtigkeit sorgen könnte als ich selbst. Sie müssen mich sehen, Sie müssen mich hören, dann können Sie entscheiden, ob Sie mir glauben wollen oder nicht. Sie müssen mich während des ganzen Verfahrens sehen und nicht nur am Ende, wenn ich selbst in den Zeugenstand trete. Das deshalb, weil die Wahrheit etwas ist, was aus unserem Körper kommt - der Geruch der Wahrheit muß aus jeder Pore unseres Wesens kommen, sonst wird einem niemand glauben, was wirklich passiert ist. Alles, was ich tue, muß den Geruch der Wahrheit an sich haben, sonst taugt es nichts.« Ramón hüstelte und zog ein Taschentuch heraus. Die Blicke der Geschworenen klebten an ihm. Mrs. Gardner hüstelte aus Sympathie gleich mit. Von meinem Stuhl aus konnte ich sehen, daß Ramón sich Notizen auf das Taschentuch gemacht hatte, damit keiner mitbekam, wie gründlich er sich auf diese Erklärung vorbereitet hatte, wie hart er gearbeitet hatte, um dem Ganzen den Anschein von Natürlichkeit und Spontaneität zu geben - die ungeplante Reaktion eines zu Unrecht angeklagten Mannes. »Nun, jeder von Ihnen hat mich seit Beginn des Prozesses gesehen, vor allem seit ich mein kleines… Problem am Anfang hatte.« -359-
Hier warf er einen Blick auf den Richter, um ihn an die Eröffnungssalve ihres Krieges zu erinnern. Die Geschworenen kicherten. »Ich denke, Sie konnten damals erkennen, daß ich ein Mann mit Prinzipien bin. Man hat mich in Ketten gelegt und in Einzelhaft gesteckt, weil ich mich weigerte, mich an eine veraltete Vorstellung von Respekt zu halten.« »Einspruch, Euer Ehren«, sagte Phyllis. »Mr. Valdez, falls Sie keine…« Alle Geschworenen wandten sich dem Richter zu. »Ja, Euer Ehren?« »Ich bitte Sie, von Bemerkungen abzusehen, die sich nicht direkt auf den Fall beziehen. Fahren Sie fort.« Ramón sah ihn einen Augenblick zögernd an, als gehe er in rasender Geschwindigkeit die Möglichkeiten durch, mit denen er sich konfrontiert sehen könnte, wenn er sich dem Richter jetzt widersetzte. Dann senkte er den Blick und wandte sich kopfschüttelnd an die Geschworenen. »Das ist alles, was ich Ihnen in bezug auf meine Prinzipien sagen kann. Wie Sie sehen, ist der Richter der Ansicht, sie hätten mit diesem Fall nichts zu tun.« Hier wandte er sich wieder Reynolds zu und starrte ihn an. »Ich bin anderer Meinung. Alles in diesem Fall hat mit mir persönlich zu tun, mit meinem Charakter, mit meiner Persönlichkeit, mit dem Mann, der ich bin, und dem, der ich angeblich bin. Denn Sie müssen verstehen, letztendlich ist alles nur eine Glaubensfrage - man glaubt an den einen, man glaubt an den anderen, man glaubt an die Götter.« Ramón bedachte die Geschworenen mit einem Lächeln. Das Auge der Kamera in der Ecke holte jede seiner Bewegungen mit dem Zoom heran. »Nun denn, Anklagevertreter vergleichen eine -360-
Eröffnungserklärung oft mit einer Straßenkarte. Sie weist einen auf die Höhepunkte der Reise hin, sie zeigt, wo es hingeht, worauf man achten sollte. Mrs. Chin hat das in diesem Fall nicht getan, und das mit gutem Grund, wie ich meine - auf diesen Fall lassen sich nämlich keine Straßenkarten anwenden. Es führen weder Straßen hinein noch heraus. Der Grund dafür ist ausgesprochen einfach: Keiner weiß etwas.« Er legte eine Pause ein, eine gewichtige Pause, während der er das Publikum fixierte. »Niemand weiß etwas, weil alles ein einziges Geheimnis ist. Terra incognita, wie die Lateiner sagen. Ich bin sicher, Sie fragen sich, was zum Teufel meint er damit? Wo ist das Geheimnis, alle sagen, er hat's getan. Die Anklagevertretung sagt, ich habe es getan, die Polizei sagt, ich habe es getan, mein ehemaliger Liebhaber, der selbst einmal Angeklagter in diesem Fall war, auch er sagt, ich habe es getan. Aber ich werde Ihnen ein Geheimnis verraten. Ich war es nicht. Ich, Ramón Valdez, so wahr ich hier stehe, vor Ihnen, vor diesem Gericht, vor der Flagge dieses großen Landes, ich sage Ihnen, ich habe es nicht getan.« Eine weitere Pause; auf seiner Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet. Er machte keine Anstalten, sie wegzuwischen. »Ich weiß, es klingt lächerlich, aber es ist wahr. Ich war es nicht. Etwas Größeres als wir, etwas weit über unsere Alltagsexistenz hinausreichendes, eine kosmische Macht ist gekommen und hat einen von uns im Rahmen einer größeren Absicht, eines größeren Planes, benutzt. Lächerlich, sagen Sie? Gott ist nicht grausam, Gott ist Güte, Gott ist Liebe. Aber ist er das wirklich? In einem alten Roman eines russischen Autors - die Russen wissen viel über die Seele, glauben Sie mir - in -361-
diesem Roman ist Jesus Christus auf die Erde zurückgekommen. Man führt ihn dem spanischen Großinquisitor vor. Der Großinquisitor ist unglaublich erregt, er kann nicht glauben, daß Jesus zurückgekehrt ist und ausgerechnet er ihn vor sich hat. Und die wichtigste Frage, die der Inquisitor Jesus stellt, ist: Wie kannst du es zulassen, daß auf dieser Welt Böses existiert? Wie sollen wir an dich glauben, an Christus, an Gott, wenn völlig grundlos unschuldige Kinder leiden müssen? Erst neulich ist mir etwas Ähnliches passiert. Im Gefängnis weinte einer, den ich kenne. Ich fragte ihn, warum er weint. Er sagte, seine kleine Tochter, sie war vier Jahre alt, er hatte sie seinem Bruder anvertraut, während er seine Strafe absitzt, sein kleines Mädchen war sexuell mißbraucht worden. Man hatte ihr einen Besenstiel in den Körper gesteckt, bis sie verblutete, dann hatte man ihre Leiche in einen Sack gesteckt und im Park verbrannt. Und das tat jener Bruder, der auf seine kleine Nichte aufpassen sollte. Das wäre die Frage, die ich persönlich Christus gestellt hätte, wäre er jetzt hier und wäre ich selbst der Großinquisitor. Heute, nach Auschwitz, nach Treblinka, nach Stalins Arbeitslagern, nach den Schlachtfeldern Kambodschas, dem Hunger in Äthiopien, wie sollen wir da noch an Christus glauben? Wissen Sie, meine Damen und Herren, wie die Antwort lautete, die Antwort, die Christus dem Inquisitor in diesem Roman gab? Er gab ihm keine. Er antwortete nicht. Wissen Sie warum? Weil Gott über jedes menschliche Verständnis hinausgeht, Gott ist jenseits von Gut und Böse, Gott ist…« »Einspruch, Euer Ehren«, unterbrach ihn Phyllis. »Mr. Valdez hält eine Sonntagsschulpredigt, die hier völlig unerheblich ist.« -362-
Die eisigen Blicke der Geschworenen hätten Phyllis warnen müssen, aber sie war nicht zu bremsen. Alle Farbe schien aus Ramóns Gesicht gewichen zu sein, der Schweiß rann ihm in den Hemdkragen. »Ich bin der Ansicht, Euer Ehren sollten Mr. Valdez die Verteidigung entziehen und einen Anwalt bestellen, der eine kompetente Verteidigung zu führen weiß.« Reynolds behauptete sich. »Frau Staatsanwältin, Eröffnungserklärungen lassen eine große Bandbreite von Themen zu«, entgegnete er, betonte jedoch, »solange eine Verbindung zum verhandelten Fall aufgezeigt werden kann. Fahren Sie fort, Mr. Valdez, aber denken Sie daran, ich weiß noch immer nicht, wo Ihre theologischen Betrachtungen hinführen sollen. Einspruch abgelehnt.« Ramón sah den Richter mit großen Augen an, warf einen Arm hoch, und zuckte dann wie im Krampf. Seine Worte kamen wie ein Schwall, atemlos, fast als wäre ihr Gewicht nicht zu ertragen, als müsse er sie so rasch wie möglich loswerden. »Wo sie uns hinführen, Euer Ehren, wo sie uns hinführen? Ich werde Ihnen sagen, wo uns das alles hinführt: an die Pforten der Hölle, Euer Ehren, an die Pforten des infierno, zum abre sus puertas y nos espera allí in der Dunkelheit inmitten von Heulen und Zähneknirschen y el concierto de las almas malditas, allá in der Höhe, wo der himmlische coro de angelitos danza en torno der Wolken mientras que un cholerischer Gott seinen Zorn…« Ich war wie vor den Kopf geschlagen, ich konnte nicht glauben, was ich da hörte. Diese unhaltbaren Behauptungen quollen ihm aus dem Mund, auf englisch, auf spanisch, zusammen mit Sabber und Geifer, als hätte sich irgendein perverser Geist seiner bemächtigt. Die -363-
Geschworenen sahen einander staunend an; sie wußten nicht, ob der Anfall echt oder vorgetäuscht war. Reynolds sah Ramón an wie ein Schmetterlingskundler, dem das Objekt seiner Forschung von der Nadel flattert. Phyllis sprang auf und hob eine anklagende Hand. Der Gerichtsdiener sprang aus seinem Sessel, seine Armmuskeln zuckten vor verhaltener Furcht. »Euer Ehren, Mr. Valdez stellt damit seine Inkompetenz unter Beweis. Was er hier von sich gibt, ist nichts weiter als unverständliches Geplapper. Wir verlangen, ihm den Fall zu entziehen!« Ramón beachtete sie gar nicht; der Geifer lief ihm nun völlig ungehindert aus dem Mund, seine Augen sprangen wie rasend hin und her, als verschaffe er sich einen Überblick über den christlichen Himmel, der ihm, einem Heiden, erschien, während uns Gläubigen die Vision verwehrt blieb. »… y las plagas del Santísmo werden sich im Triumph über das ganze Land ausbreiten, und wie el Señor dice, werde ich eure Erstgeborenen diesmal nicht schonen, nein, no lo haré, porque ni die Gebete de un justo habrán de apartarme de mi göttlichem Zorn, denn du hast gesündigt, Volk Israels, du hast zu den falschen Göttern gebetet, und den Dz'os de la dulzura y el amor ya gibt es nicht, ich werde kommen para abrir los caminos…« »Mr. Valdez, beherrschen Sie sich! Mr. Morell, würden Sie Ihren Mandanten bitte beruhigen!« »Er ist nicht mein Mandant, Euer Ehren!« sagte ich, stand jedoch auf und schüttelte ihn, um ihn zum Aufhören zu bewegen. »Er wird es aber sein, wenn Sie dem nicht ein Ende machen!« »Ramón, cállate, cállate, la boca!« sagte ich, aber er -364-
schleuderte mich mit einem Arm in meinen Sessel zurück mit einer solchen Wucht, daß ich umkippte und mehrere Meter weit rutschte. »… y la cólera de Dios no ha de parar, und ich werde in deine Häuser kommen, oh Israel, y la sangre de la oveja wird fließen…« »Gerichtsdiener, entfernen Sie diesen Mann aus dem Saal!« rief Reynolds. Der Deputy, der bereits nach Verstärkung geklingelt und nur auf den Befehl gewartet hatte, sprang Ramón an und rang ihn zu Boden. Drei weitere Polizisten betraten den Raum durch verschiedene Türen, sprangen über mich hinweg und griffen sich Ramón. Einer von ihnen löste die Kette, die ihn an den Tisch fesselte. »Palabra de Dios, das Wort Gottes, das Wort Gottes!« war das letzte, was Ramón sagte, als sich krachend die Zellentür hinter ihm schloß. Ich stand auf und rückte meinen Stuhl zurecht. »Das Gericht macht eine Pause! Mr. Morell, Mrs. Chin, bitte folgen Sie mir in mein Zimmer!« Als ich in den Zellentrakt komme, sitzt Ramón allein in seiner Zelle, den Rücken stocksteif an der Wand. Über ihm hat eine glücklose Seele Spiel das Spiel der Weißen Computerkriminalität! in die Wand geritzt. Ramón wendet mir langsam den Kopf zu, sieht mich und lächelt. Es ist fünf nach halb eins. »Eine großartige Vorstellung, aber ich glaube nicht, daß sie die Jury beeindruckt hat«, sage ich. »Glauben Sie wirklich, daß auch nur einer kapiert hat, was Sie gesagt haben? Die Protokollführerin hat nicht mitgeschrieben, diejenigen unter den Geschworenen, die Spanisch -365-
sprechen, können es so gut auch wieder nicht. Es war nichts als Geplapper. Aber Sie wußten, was Sie tun, oder? Mir können Sie mit dieser Besessenheitskacke nicht kommen. Ich weiß, das hier ist ein Spiel - ein Märchen, mit dem Sie Ihren Hals aus der Schlinge ziehen wollen.« Ramón antwortet nicht, er lächelt nur wissend, nichtssagend. Ich setze mich auf den Stuhl an der Gittertür, und einen Augenblick lang überlege ich, wer von uns beiden wirklich hinter Gittern sitzt. »Wieso können Sie Ihre Strafe nicht hinnehmen wie jeder andere auch? Warum erklären Sie sich nicht für schuldig und nehmen das Angebot an, das man Ihnen macht? Es wäre für uns alle leichter. Ich weiß, daß Sie's waren. Daran führt kein Weg vorbei. Man muß mit den Folgen leben. Oder daran sterben, kommt ganz darauf an. Aber nicht Sie. Sie kapieren nicht einmal, was Sie angerichtet haben. Sie wollen, daß alles nach Ihrem Kopf geht, aber dafür bezahlen wollen Sie nicht. Sie wollen den Mond nicht nur haben, er soll auch noch in Ihre Tasche passen. Sie wollen von allen hören, daß es nie einen wie Sie gegeben hat und daß Regeln für Sie nicht gelten. Ich wünschte, Sie würden verschwinden. Ich wünschte, Sie würden sterben. Aber vor allem wünschte ich, ich hätte den Mut, Sie umzubringen.« Ramón starrte mich noch immer an, noch immer mit dem Lächeln auf den Lippen. Müde schüttle ich den Kopf. »Der Richter will mich zu Ihrem Anwalt machen. Er sagt, Sie seien inkompetent und entzieht Ihnen das Recht, in eigener Sache aufzutreten. Sie wollten es nicht anders, aber ich denke, das wußten Sie die ganze Zeit. Also, was wollen Sie tun?« Ramón hebt eine Hand, stellt mir eine Frage mit den Fingern; er will irgend etwas. -366-
»Haben Sie mich nicht gehört? Ich sagte…« Ich sehe auf die Uhr. Es ist immer noch fünf nach halb eins, obwohl der große Zeiger über die römischen Ziffern kriecht. Mir wird klar, daß er kein Wort gehört hat, weil ich nicht einmal den Mund aufgemacht habe. Alle meine Worte waren unausgesprochen geblieben. Ich habe mir meine Ansprache nur eingebildet. Ich habe in der Stille der Zelle mit mir selbst gesprochen. Ramón stöhnt und flüstert dann heiser: »Ich habe meine Stimme verloren.« »Meine Damen und Herren Geschworenen«, intoniert Reynolds, »wir alle wußten von Anfang an, daß dieser Fall nicht einfach sein würde. Ich denke, die Ereignisse dieses Morgens haben uns das zur Genüge bewiesen.« Ich werfe einen Blick auf die erwartungsvollen Gesichter der Geschworenen, die nicht so recht wissen, was der Richter als nächstes sagen wird. Mir geht es ebenso, als ich darauf warte, zum Verteidiger der Finsternis bestellt zu werden. »Wenn ein Fall wie der von heute morgen eintritt und ein Angeklagter, der sich selbst verteidigt, sich so benimmt wie Mr. Valdez, gewährt man ihm normalerweise etwas Zeit, sich wieder zu erholen.« Reynolds sieht Ramón schweigend an, dann mich, dann wieder die Geschworenen. »Wie meine Mama immer sagte, das ist ja ein schlimmeres Theater, als wenn sich zwei Köter um einen Knochen streiten.« Lächeln und Gekicher, eine willkommene Abwechslung. »Da nun offensichtlich klar geworden ist, daß Mr. Valdez nicht in der Lage war, seine Verteidigung während dieses… dieses Zwischenfalls auf eine korrekte Weise -367-
weiterzuführen, hat sich eine ganze Reihe von Problemen ergeben. Es muß ein neuer Anwalt ernannt werden, er muß sich mit dem Fall vertraut machen, womöglich neue Anträge stellen, die ganze langwierige Arbeit eben, die Richter und Anwälte zu tun haben, während Sie draußen auf dem Flur warten, Kaffee trinken, eine Zigarette rauchen und lesen.« Erneutes Gekicher. Nur zu, Richter, sorgen Sie dafür, daß sie sich amüsieren, wärmen Sie sie etwas auf für mich, weil ich nämlich nicht die leiseste Ahnung habe, was ich tun soll. »Aber bevor wir dazu kommen«, fährt Reynolds fort, »muß ich Sie noch um eine Kleinigkeit bitten. Sie werden es auf keinen Fall gegen Mr. Valdez verwenden, daß er nicht imstande war, seinen Teil der Abmachung einzuhalten und sich selbst zu verteidigen, versprechen Sie mir das?« Die Geschworenen nicken. Phyllis mustert ihre Mienen auf Zeichen von Heuchelei. Ich sehe Ramón an, der sorglos lächelt. Weiß Gott, was für einen Eindruck ich selbst mache. »Falls es doch jemand tut, so möchte er bitte die Hand heben, ich möchte das gleich wissen. Ich sehe keine Hände. Schön, dann können wir fortfahren. Ich wußte doch, daß ich es mit aufgeschlossenen Leuten zu tun habe. Also, wie ich schon sagte, diese Art von… fliegendem Wechsel würde wegen der Schwierigkeiten, in einem so fortgeschrittenen Stadium einen Anwalt hinzuzuziehen, zu überflüssigen Verzögerungen führen. Wir haben deshalb eine Lösung, die Ihnen sicher zusagen wird. Sehen Sie den gutaussehenden Herren im schwarzen Anzug neben Mr. Valdez?« Alle Gesichter wenden sich mir zu. Gnadenlos richtet -368-
sich die Kamera des Nachrichtenteams auf mich. Ich lächle. »Das ist Mr. Morell, Mr. Charles Morell. Er war bisher Mr. Valdez' Ermittler, aber wie es der Zufall will, ist Mr. Morell auch Anwalt. Ein ausgesprochen guter, wie ich hinzufügen möchte. Stehen Sie doch bitte auf, Mr. Morell.« Zögernd komme ich auf die Beine; der Schweiß rinnt mir über die Unterarme, und ich frage mich, ob er mir wohl das Jackett durchweicht. »Mr. Morell ist mit dem Fall vertraut. Er hat sogar beim Aufbau von Mr. Valdez' Verteidigung mitgeholfen. Angesichts der Notlage, in der wir uns befinden, hat er sich großzügigerweise bereit erklärt, den Fall für den Rest des Verfahrens zu übernehmen. Also, Mr. Morell, versuchen Sie's.« Ich nicke, nehme meine gelben Zettel zur Hand, auf die ich mir das halbe Dutzend Argumente notiert habe, das die Geschworenen hören sollten. Ich trete an das Pult. Langsam drehe ich es so, daß ich die Gesichter der Geschworenen sehe. Im Hintergrund höre ich ein merkwürdiges lautes Geräusch. Ich kapiere, daß es mein Herz ist. Die alten Regeln und Tricks fallen mir ein. Tief Luft holen und lächeln. Schau sie immer nur grüppchenweise an, nicht mehr als zwei, drei auf einmal. Immer dafür sorgen, daß sich jeder einzelne erkannt und geschätzt fühlt. Lächle auf Teufel komm raus. Lächeln, lächeln und noch mal lächeln. Die Zeit vergeht. Alles starrt mich an. Ich sehe, daß die Argumente, die ich mir zurechtgelegt habe, völlig sinnlos sind. Nichts, was nicht bereits direkt oder indirekt gesagt wäre. Ich habe keine Verteidigung. Ich habe keine Argumente. Nichts als wertloses Zeug. -369-
Reynolds räuspert sich. »Mr. Morell?« »Ja, Euer Ehren«, antworte ich, das brave Hündchen auf der Ausstellung, bereit, für sein Herrchen die Runde zu machen. »Meine Damen und Herren«, beginne ich, »wie Sie ganz richtig vermuten« - nur keine komplizierten Wörter, immer schön einfach und unkompliziert bleiben! -, »ist es nicht einfach, so mitten in ein Verfahren wie dieses zu springen, so daß ich Sie um etwas Nachsicht bitten muß. Auch wenn ich Mr. Valdez bei seiner Verteidigung geholfen habe, so ist es mir doch nicht in den Sinn gekommen, selbst die Verteidigung zu übernehmen, Ihnen gegenüberzustehen, zu Ihnen zu sprechen. Ich hoffe, Sie verlieren nicht die Geduld mit mir.« So ist's recht, immer schön einfach bleiben, sorg dafür, daß sie sich wichtig fühlen. »Als Mr. Valdez von seinem…, durch seine schlechte Verfassung unterbrochen wurde, war er dabei, eine Frage des Herrn Richters zu beantworten, eine Frage, die - wie ich meine - einiges Licht auf unsere Betrachtungsweise dieses Falles wirft. Nun, hier ist bereits alles gesagt, das heißt, die Argumente, mit denen der Behauptung der Anklage entgegengetreten werden soll, Mr. Valdez sei der Mann, der diese sechs Leute in dem Juweliergeschäft getötet hat, sind bereits vorgetragen. Die Frage, wie Sie sich wohl erinnern, lautete, was Mr. Valdez mit seiner Argumentation über Gott, die Menschen, das Böse, die Sünde und all die schrecklichen Dinge, die wir auf dieser Welt Tag für Tag zu sehen bekommen, bezweckte. Ich glaube, wenn Mr. Valdez sprechen könnte - was er übrigens nicht kann, er hat die Sprache verloren -« »Einspruch, Euer Ehren«, geht Phyllis dazwischen. -370-
»Unerheblich.« »Abgelehnt. Fahren Sie fort, Mr. Morell.« »Ich danke Ihnen, Euer Ehren. Könnte Mr. Valdez sagen, was er sagen wollte, ich glaube, er hätte Ihnen folgendes gesagt: Zuweilen nimmt Gott sich einen Menschen heraus und macht ihn zum Werkzeug seines Willens, ohne daß dieser Mensch weiß, ob er auserwählt ist, das Schwert zu sein oder die heilende Hand. Genau das, meine Damen und Herren, ist hier der Fall.« Eine Welle aus Angst und Aufregung schlägt über mir zusammen, als ich meine Strategie entwickele - ein weißes Band über einem blutroten Feld. »Folgendes ist passiert. Entweder Mr. Valdez oder Mr. Pimienta - der, wie Sie gesehen haben, für seine Aussage von der Anklagevertretung eine Vergünstigung bekommen hat -, einer von beiden wurde während des Zwischenfalls in Schnitzers Schmuckkästchen von seinen Göttern heimgesucht. Einfacher gesagt, einer von beiden war besessen. Ja, besessen, wie die von Teufeln Besessenen in der Bibel, die Jesus in Schweine verwandelt hat, besessen wie jene Heiligen, die schweben und Wunder wirken, besessen wie das kleine Mädchen im Exorzisten besessen, mit anderen Worten, von einer Kraft, die weder richtig noch falsch anerkennt, von einer Kraft, die über unsere christliche Moral lacht und nichts anderes als sofortige Befriedigung verlangt.« Ich lege eine Pause ein, um die Worte wirken zu lassen. »Mag es sich um Sex, Essen, Liebe, Haß oder Tod handeln, für diese Kraft existiert nur das Unmittelbare. Sie steht jenseits dessen, was wir gut oder böse nennen, jenseits dessen, was wir für gehörig oder korrekt halten. Sie kommt aus einer Welt, die keiner von uns kennt, aus einer Welt heidnischer afrikanischer Gottheiten - aus eben -371-
dieser Welt kamen auch diese Götter.« Nun die letzten Worte, die ernüchternde Krönung dieser dick aufgetragenen Geschichte. »Wir werden beweisen, daß Mr. Valdez und Mr. Pimienta Anhänger eines afrokubanischen Kults, des Santeria-Kults, waren und daß es zu diesen Todesfällen kam, während sie sich in einem tranceartigen Zustand befanden, in dem die Götter herabgestiegen waren und sich der Körper ihrer Anhänger bemächtigt hatten. Mr. Valdez kann dieses Verbrechens nicht für schuldig befunden werden, da er sich seiner Handlungsweise im Banne dieser uralten, finsteren Götter nicht bewußt war. Ich danke Ihnen.« Ich setze mich, ausgelaugt, aber heiter. Ich höre, wie Reynolds den Geschworenen sagt, die Verteidigung könne aufgrund von Schwierigkeiten mit ihren Zeugen erst in drei Tagen fortfahren. Die Geschworenen sind noch nicht ganz draußen, als ich mich schließlich Ramón zuwende. Der Gerichtsdiener klopft ihm eben auf die Schulter, er muß wieder in die Zelle. Mit Daumen und Zeigefinger bildet er ein O, sein Mund formt ein lautloses Okay. Ich sehe ihm nach, wie er rasselnd in Richtung Zellentrakt verschwindet. Mein Herzschlag verlangsamt sich. Gott steh mir bei, denke ich mir. Gott steh mir bei.
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21 Graciela de Alba sah ganz und gar nicht aus, als wäre sie eben vom Totenbett aufgestanden. Klein, stämmig, stützte sie sich auf den Zeremonienstock eines nigerianischen Stammes. Mit ihrem graumelierten roten Wuschelkopf und den tiefen grünen Augen war sie ein baobab, ein Lebensbaum, in der Weite des Flughafens; von Horden anderer Passagiere umgeben stand sie am Pan-AmSchalter. Als sie mich kommen sah, hob sie den silbernen Knauf ihres Stocks und winkte mir zu. »Sie müssen Charlie sein«, sagte sie. »Bin ich, Señora de Alba. Tut mir leid, daß ich mich verspätet habe, aber auf dem Santa Monica Freeway ist ein Lkw zusammengeklappt.« »Ich weiß, ich weiß. Vier Autos Totalschaden, zwei Tote. Schrecklich.« »Woher wissen Sie das?« Ich machte mich auf die wildesten Enthüllungen gefaßt. Sie deutete auf die Lautsprecher am nahegelegenen Zeitungskiosk. »Aus dem Radio. Fertig?« Ihr Gepäck bestand aus einem großen schwarzen Überseekoffer, der sicher zwei Zentner wog. Der Gepäckträger, der ihn an meinen Porsche karrte, schüttelte müde den Kopf, als er ihn in den Kofferraum plumpsen ließ. »Was haben Sie da drin, Verehrteste? Eine Leiche?« »Vier. Das bringt Glück.« -373-
»Vier?« Der Mann sah sie überrascht an, dann brach er in schallendes Gelächter aus. Er rollte sein Wägelchen davon. »Zum Schießen.« De Alba watschelte um meinen Porsche herum und beugte sich über den Kotflügel. »Das ist aber schlampig repariert«, sagte sie. »Was meinen Sie?« »Sehen Sie die Wellen in der Karosserie?« Sie deutete auf die kaum zu sehenden Unebenheiten am Kotflügel vorne rechts. »Das haben die in der Werkstatt nicht richtig geschliffen. Wenn ich Sie wäre, würde ich mein Geld zurückverlangen. Ich meine, bei so einem hübschen Auto.« Sie streckte mir die Hand entgegen. »Was dagegen, wenn ich fahre?« Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen - die kleine alte Dame aus Miami mit Vier-Gang-Schaltung - fünf, um genau zu sein. »Überhaupt nicht.« Ich warf ihr die Schlüssel zu. Sie fing sie mit der freien Hand auf, schloß auf der Fahrerseite auf und glitt hinters Steuer. Ihr Umfang machte es nötig, den Sitz ganz nach hinten zu schieben; als ihr Bauch Platz hatte, kam sie mit den Zehenspitzen gerade noch an die Pedale. »Wollen Sie immer noch fahren?« »Unbedingt.« Sie ließ die Maschine aufheulen. »Ich habe eine Schwäche für Sportwagen. Ich habe einen Lotus zu Hause.« Wie eine Gesengte umfuhr sie den Kreisverkehr vor dem -374-
Terminal und nahm dann einem Cadillac die Vorfahrt, nur um noch bei Grün auf den Century Boulevard zu kommen, der vom Flughafen wegführt. Sie fuhr nicht einen Augenblick unter hundert, bis wir die Auffahrt zur 405 erreichten, an der sie kurz abbremste, um den Wagen dahinter sofort auf hundertfünfzig hochzujagen. Mit der traumwandlerischen Sicherheit eines Formel-Eins-Piloten schlängelte sie sich durch den zähen Verkehr. »Mein Wagen fährt sich nicht so schön. Tolle Schüssel.« »Danke. Sie sagten doch, Sie wären krank. Was ist passiert, zuviel Abgase erwischt?« Sie sah sich um, ihre Augen erfreuten sich an den matten grünen Hügeln auf der Strecke zum Mulholland Pass. »Wenn man davon krank würde, wäre ganz L. A. ein Krankenhaus auf Rädern. Nein, ich hatte Dickdarmkrebs.« »Wie sind Sie den losgeworden, mit Chemotherapie?« Sie sah mich verwirrt an. »Chemotherapie? Hat Ramón Ihnen das nicht erzählt?« Ich hätte wissen müssen, daß man mich wieder mal für dumm verkauft hatte. »Nein, der war in letzter Zeit nicht so recht bei sich. Er kann nicht sprechen.« »Tatsächlich? Was ist denn passiert?« »Er hatte letzte Woche eine Art Anfall. Mitten während der Eröffnungserklärung. Er hat sozusagen seine Zunge verschluckt.« »Der orisha muß ihm wirklich zürnen. Muß wohl seine Strafe sein.« Sie beäugte mich fragend. »Vielleicht ist es was anderes. Vielleicht wollten sie, daß Sie den Fall übernehmen.« »Da bin ich sicher. Vorsicht, der Lastwagen!« De Alba blickte wieder nach vorn. Der Wagen war drauf und dran, in einen rauchenden Anhänger voll kochenden -375-
Teers zu rasen; der alte Ford, der ihn hinten dran hatte, schaffte nicht mehr als sechzig die Steigung hinauf. Sie bremste, aber noch im selben Augenblick wurde die Strecke zweispurig, und schon schoß sie auf die Lücke zu. Als ich wieder zu Atem gekommen war, kutschierte sie schon wieder mit hundertdreißig dahin. »Tut mir leid«, sagte sie. »Auf diesen Schnellstraßen geht es aber auch ganz schön zu.« »Fällt Ihnen das auch schon auf?« Eine Weile fuhr sie schweigend dahin und betrachtete das grüngraue Steppengras zu beiden Seiten der Straße, die Zwergeichen, das undurchdringliche, schattige Gestrüpp. »Diese Hügel haben viel nganga«, sagte sie. »Was ist das?« »Geistige Kräfte. Ich spüre sie trotz des Verkehrs. Diese Gegend ist ein richtiger Magnet, finden Sie nicht? Oh, mein Gott!« Wir hatten den Paß überwunden und Mulholland hinter uns gelassen. Vor uns öffnete sich das San-Fernando-Tal, die breiten Schultern der San-Gabriel-Kette ragten gewichtig über geteerte Orangenhaine, Autohäuser, Bungalows und Swimmingpools. »Das ist ja wirklich eine magische Stadt«, murmelte sie, als könne sie es gar nicht glauben. »Eine Oase, wie immer gesagt wird.« Ich wußte nichts darauf zu erwidern. Wenn das hier das Wasserloch war, wie sah dann die Wüste aus? »Wie haben Sie Ramón kennengelernt?« fragte ich. »Sehen Sie sich die Häuser an!« sagte sie, als wir den Cahuenga-Paß hinabfuhren, und deutete auf die schindelgedeckten Bauten von den Hügeln von -376-
Hollywood. »Wie in Italien. Mit Glockentürmen und allem Drum und Dran. Wie malerisch! Wie wir uns kennengelernt haben? Nun ja, wissen Sie, eigentlich kennen wir uns gar nicht.« »Nein?« »Nein. Ich habe von ihm gehört. Er ist ein großer babalawo, wissen Sie, ein Hohepriester des SanteriaKults. Wie man mir sagte, ist er ein omokohba, einer, der in die geheimsten Riten und Mysterien dieser Religion eingeweiht ist. Wir haben gemeinsame Bekannte in Miami.« »Aber sollte ein Priester nicht ein vorbildliches Leben führen?« »Ja. Das ist das Problem. Er hat die Gebote seines Gottes mißachtet. Außerdem hat er sich mit palo mayombé beschäftigt.« »Sie meinen mit schwarzer Magie, mit der Wiedererweckung von Toten und solchem Zeug?« »Ja. Vielleicht weil ihn der Heilige verlassen und er sich den Toten zugewandt hat - vielleicht ist er auch nur machthungrig, ich weiß nicht. Was mach' ich jetzt?« Sie wies mit dem Kinn auf eine Gabelung, die eine Straße führte nach Pasadena, die andere nach downtown Los Angeles und Santa Ana. »Nehmen Sie den Harbor Freeway und fahren an der Sechsten Straße ab. Sie meinen also, so etwas ist dem Schmuckladen passiert?« Sie fuhr zügig über die zusammenführenden Spuren, und überholte den Verkehr auf der Kreuzung. »Ich weiß nicht, was dort passiert ist, aber ich bedaure, nicht hier gewesen zu sein, als es passierte. Es war irgendeine Art göttlicher Rache. Wissen Sie, daß im Santeria-Kult Zuchthäuser und -377-
Gefängnisse zwei der fünf Manifestationen des Bösen sind? Vor allem für Oggún, Ramóns Heiligen. Er muß eine ungeheure Sünde begangen haben, um so eingesperrt zu werden.« Wir fuhren an der Sechsten Straße ab und rutschten hinunter zum alten Biltmore, dem goldenen Hotel am Pershing Square. Mit quietschenden Reifen kam der Porsche zum Stehen. »Toller Wagen. Sie müssen mich unbedingt mal wieder damit fahren lassen.« Sie griff nach ihrem Stock, watschelte auf die Straße und winkte einem Pagen, damit er ihren Koffer holte. »Hören Sie«, sagte ich, »Sie haben es mir noch immer nicht gesagt. Was ist aus Ihrem Krebs geworden?« Der Page wuchtete den Koffer keuchend auf seinen Karren. »Vorsicht!« mahnte sie. Dann: »Ich hatte einen Traum, in dem mir Oggún mit einem Trank erschien. Als ich ihn trank, sagte er mir, ich sei geheilt worden, damit ich seinem Sohn helfen könne, der zwar gesündigt habe, den er aber über alles liebe. Tags darauf setzte bei meinem Krebs eine Remission ein.« »Woher wollen Sie wissen, daß es Ramón war?« »Oggún zeigte mir eine Figur von Ramón. Er sagte mir, wo ich hinkommen sollte. Dann zeigte er mir eine zweite. Ich wußte nicht, wer das war. Jetzt weiß ich es.« »Wer war das?« Sie lächelte mich an, und mir lief ein eisiger Schauer der Erkenntnis über den Rücken. »Ich sehe Sie morgen im Gericht«, sagte sie. Gegen halb zwölf, eine halbe Stunde vor der Mittagspause, rief ich schließlich unseren ersten Zeugen auf. Als Pedro Ramo in den Zeugenstand trat, tat er das -378-
mit der abgeklärten Ruhe eines Mannes, der seine Existenz schon unzählige Male hatte rechtfertigen müssen, eines Mannes, der zwar noch nicht wußte, wie seine Geschichte aussehen würde, dafür um so mehr, daß seine Gedanken und Handlungen wieder einmal ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt würden. Ich war die Fragen, die ich ihm stellen wollte, bereits auf dem Flur mit ihm durchgegangen, und jetzt, nachdem er geschworen hatte, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen, wartete er darauf, daß es losging. Der Dolmetscher, ein alter, bulliger Typ mit grauem Bart und Hörgerät, übersetzte im typisch melodiösen Rhythmus von East Los Angeles. »Ich kann nicht schreiben«, sagte Pedro, als der Sekretär ihn bat, seinen Namen zu buchstabieren. Reynolds verdrehte aufgebracht die Augen und wies den Dolmetscher an, die übliche Schreibweise anzugeben. Dann war ich an der Reihe. Ich stand auf, trat ans Pult, legte meinen Block darauf und tat so, als wäre niemand sonst im Saal - nur Pedro und ich, die sich auf ein paar freundliche Fragen getroffen hätten. »Mr. Ramo, kennen Sie den Angeklagten, Mr. Valdez?« »O ja, den kenne ich. Er war sehr gut zu uns, zu mir und meiner Familie«, sagte er. »Er ist unser Beschützer gewesen.« »Wie lange kennen Sie ihn schon?« »Ooh, lange, fast fünf Jahre. Darf ich etwas sagen?« Er sah den Richter flehentlich an, aber Reynolds kam ihm zuvor. »Warten Sie, bis der Herr Anwalt Sie etwas fragt.« Ramos Züge strafften sich; er hätte seine Geschichte zu gern erzählt. »In welcher Eigenschaft kennen Sie Mr. Valdez?« -379-
»Er ist unser Priester, unser Erlöser. Ohne ihn wären wir in große Schwierigkeiten gekommen.« »Wie meinen Sie das?« »Als wir damals nach Los Angeles kamen, hat er uns geholfen, eine Wohnung zu finden, dann hat er uns gesagt, wo wir Arbeit finden könnten. Er hat uns sehr geholfen.« »War er Ihnen gegenüber jemals grausam, hat er Ihnen je etwas angetan?« »Oh, nein, niemals.« »Und Ihrer Familie? Wissen Sie, wie er sich Ihrer Familie gegenüber verhalten hat?« »Er war sehr gut zu allen. Darf ich etwas sagen?« Wieder kam Reynolds ihm mit einer gebieterischen Geste zuvor. »Warten Sie, bis die Frage gestellt wird.« Ich warf einen Blick zur Seite. Anstatt sich Notizen zu machen, saß Phyllis da und feilte sich die Nägel mit einer Pappfeile, die nicht größer als ihr kleiner Finger war. Ramón grinste mich an; er war mit meiner traurigen Vorstellung bisher voll und ganz einverstanden. »Haben Sie Kinder, Mr. Ramo?« »Oh, ja. Fünf. Tomasito, Gabriel, Lupe, José und Panchito, er ist in den Ferien.« »Wie bitte?« sagte ich. Ramo hatte feriado gesagt, was der Dolmetscher falsch übersetzt hatte. Aber der Alte konferierte rasch und leise mit dem Indio, um mich schließlich nickend anzusehen. Nicht so recht überzeugt sagte er: »Er hat Urlaub wegen des Feiertags.« »Urlaub? Wie alt ist er?« »Er ist fünf, ja.« »Ist er nicht ein bißchen zu jung für einen Urlaub?« »O nein, der Feiertag kann einen jederzeit erwischen, -380-
wissen Sie.« »Ich verstehe. Es handelt sich also um einen Urlaub auf Dauer?« »Ja, unglücklicherweise.« »Ist er das, was wir ›tot‹ nennen?« Das Wort muerto klang fast wie ein Kinderlied durch den Saal. »No, no está muerto con tal de que yo lo recuerde«, erklärte er. Nein, solange ich ihn nicht vergesse, ist er nicht tot. Worauf jeder im Saal unterbrach, womit er gerade beschäftigt war - Phyllis ließ ihre Nägel sein, Reynolds das Kreuzworträtsel, der Polizist das Waffenjournal und das Publikum alles vom Reader's Digest bis zur Times -, um einen kurzen Blick auf den Vater zu werfen, der seinen Sohn nicht loslassen wollte. »Ich verstehe«, sagte ich, »verzeihen Sie mir bitte, ich weiß, daß Panchito in Ihrem Herzen noch lebt. Aber sein Körper, der liegt doch auf dem Friedhof?« Ramo, niedergeschlagen: »Ja.« »Kannte Mr. Valdez Panchito?« »Ja. Er hat ihn beim erstenmal überredet, noch bei uns zu bleiben.« »Wie das?« »Er fieberte danach zu gehen, er wurde immer schwächer, aber Don Ramón hat ihn gebadet, und darauf ging es ihm viel besser, so daß er sich entschloß, noch eine Weile bei uns zu bleiben.« »Hatten Sie ihn zum Arzt gebracht?« »Da hat man uns gesagt, daß es keinen Zweck hätte, er hätte die Krankheit tief in sich. Sie war in seinen Knochen.« -381-
»Und Sie sind sicher, daß Mr. Valdez, Don Ramón, wie Sie ihn nennen, ihm geholfen hat?« »Ich weiß es. Er hat noch zwei Jahre gelebt. Ich würde alles tun, um ihn wieder bei uns zu haben. Er war das Licht in unserem Haus.« »Hat Mr. Valdez dafür Geld verlangt?« »Oh, nein. E.r ist unser Priester. Ein guter Priester. Er verlangt nichts.« »Welcher Religion gehört er an?« »Der Religion der Heiligen, hat er gesagt. Der Heiligen.« »Sie meinen der Santería.« »Ja, der.« »Sind Sie der einzige, der dieser Religion angehört?« »Nein, wir sind viele. Wir waren eine Herde, aber jetzt ist unser Hirte im Gefängnis, und seine Schäfchen haben sich verlaufen. Darf ich etwas sagen?« Reynolds wollte ihn ein weiteres Mal stoppen, aber ich kam ihm zuvor. »Was möchten Sie sagen?« »Ich möchte sagen, daß der Mann, der meinen Jungen geheilt hat, nicht der Mann ist, den Sie hier haben. Das war ein anderer, wenn es wahr ist, was Don Ramón in diesem Geschäft gemacht haben soll. Aber ich möchte außerdem noch sagen: Don Ramón, wir lieben Sie, Sie fehlen uns, und wir warten auf Ihre Hand und Ihre Hilfe. Wir sind Ihnen sehr dankbar.« Ich stand da, die Hände krampfhaft um die Kante des Pults gelegt. Wellen der Ruhelosigkeit schlugen gegen meine Stirn, der Raum drehte sich, bis ich mich fragen hörte: »Mr. Ramo, glauben Sie an Jesus Christus?« »Christus? Ja, er ist ein Heiliger, nicht wahr?« Ich atmete tief durch, nahm meinen Block und kehrte zu -382-
meinem Platz zurück. »Keine weiteren Fragen.« »Mrs. Chin?« fragte Reynolds. Phyllis beugte sich zur Seite und flüsterte Samuels etwas zu. Der schüttelte den Kopf. Ich wußte, Ramo hatte keine Vorstrafen, nichts, was sie ihm hätten anhängen können. Müde, fast widerwillig, antwortete Phyllis. »Keine Fragen.« Reynolds wandte sich an Ramo. »Ich habe eine Frage. Wann ist Ihr Sohn in den Urlaub gegangen, wie Sie sagen?« »Vorige Woche, Señor.« »Und Sie sind der Ansicht, Ihr Sohn wäre nicht gegangen, wenn Mr. Valdez bei Ihnen gewesen wäre?« »Da bin ich ganz sicher.« »Sie halten Mr. Valdez also für einen guten Menschen?« »Er ist der beste Mensch, den ich kenne, Mr. Richter. Der Allerbeste.« Reynolds wandte sich ab, er war skeptisch. »Er hat Sie nicht dafür bezahlt, heute hierher zu kommen, oder?« »Nein, Señor. Meine Aussage ist kostenlos und freiwillig. Ich bin hier, weil ich ihn liebe.« Einen Augenblick herrschte Schweigen. »Sie dürfen gehen«, sagte der Richter. Ramo stand auf, warf Ramón noch einen mitfühlenden Blick zu und ging dann schweigend hinaus. Ramón zeigte grinsend die Zähne - eine wilde Maske vor seinen Gefühlen. Ich spazierte die zwei Stunden, die wir an diesem Tag Mittagspause hatten, durch die Stadt. Rastlose, -383-
unausgegorene Gefühle und vage Erinnerungen bestürmten mich im grellen Licht dieses Winternachmittags. Einen Block westlich, am Broadway, wogte der Strom der Spanischstämmigen über die Gehsteige, von der Ersten bis zum Olympic, vorbei an den grandiosen Kinos, die gebaut waren wie aztekische Tempel, den Beton- und Backsteinbauten voller Wechselstuben und farmacias, den Kiosken mit den spanischsprachigen Zeitungen, Elektronik-Discounts, vorbei am Pershing Square, am Biltmore-Hotel, das den Japanern gehört, vorbei am blutbesudelten Schmuckkästchen, wo die Tragödie an einem Wintervormittag vor fast drei Jahren ihren Lauf genommen hatte. Ich hatte gehört, daß man aus Schnitzers Laden einen Schnellimbiß machen wollte, aber man hatte nun doch wieder einen Juwelier darin untergebracht, die Gebrüder Arossian. Ich spähte hinein, wagte jedoch nicht hineinzugehen, trotz der Aufforderungen der langnasigen Verkäufer, die um das Vergnügen baten, mit mir Geschäfte machen zu dürfen. Ich wollte eben wieder gehen, als mein Blick auf eine funkelnde Anstecknadel fiel, eine mit Diamanten und Saphiren besetzte Taube im Flug. Ich blinzelte, als ich das Spiegelbild meines Vaters in der Scheibe zu sehen glaubte, aber als ich mich umdrehte, hatte ich nur den leeren Gehsteig vor mir und einen Crackdealer, der an der Ecke seine billigen Träume verhökerte. Schließlich merkte ich, daß ich etwas kaute, und stellte fest, daß ich einen blutwurstgefüllten Taco in der Hand hielt. Ich stand vor einem Stand auf dem Hauptmarkt. Alte Hausfrauen, bierbäuchige mexikanische Cowboys und billige Stricher machten hier Pause von dem Leben um mich herum. Das Mädchen hinter der Theke bot mir einen -384-
Becher mit einer rosa Flüssigkeit. »Ihr Sauerkleesaft, Señor.« Ich schüttelte den Kopf, warf den Taco in die Abfalltonne und ging. Als ich noch mal zurückblickte, sah ich einen Mann mit ockerfarbener Haut und schmuddligem weißem Hemd den Taco ausbuddeln; er biß hinein, bevor er sich auch noch meinen Saft von der Theke schnappte. Dann lief er in eine Ecke hinter dem Obststand, um sich zu verstecken. Im Schaufenster eines Fleischers entdeckte ich einen nackten Lammkopf, um die weißen Knochen waren die rosigen Knorpel zu sehen: Mit großen blauen Augen starrte er mich an. Ich eilte hinaus. Gib mir Kraft, Herr, führe mich durch dieses Tal. Flockige weiße Wolken türmten sich wie Burgen hinter mir auf, als ich die steile Olive Street hinauflief. Ich hatte noch nie solche Wolken gesehen, turmhohe, glitzernde Statuen aus Wasserdampf, die Tausende von Fuß hoch in den Himmel ragten, zinnenbewehrte Wattetürme, die sich von den San Gabriels herunterschoben. Wie gigantische Wächter umzingelten sie das Gerichtsgebäude, als warteten sie auf den Befehl zum Angriff. Zum erstenmal in meinem Leben hatte ich Angst vor dem, was diese wilden, hirnlosen Geschöpfe der Natur anrichten konnten. »Der Wind von den Santa Anas bläst sie von der Wüste herein«, sagte Camille Clark, eine ehemalige Pflichtverteidigerin, die die Armen für einen Job in Century City hatte sausen lassen; jetzt verteidigte sie Versicherungen gegen Schadensersatzforderungen geschädigter Krankenhauspatienten. »Die gibt es jedes Jahr um diese Zeit. Überrascht mich, daß Ihnen das noch nie aufgefallen ist. Dürfte jeden Augenblick losgehen.« »Wie meinen Sie das?« -385-
Wir fuhren in einem proppenvollen Aufzug nach oben; der Alkoholgestank eines bierbäuchigen Rockers war fast zu greifen. »Na der Ärger, wenn die Wolken auf die tropische Front stoßen, die wir in den letzten Tagen hatten - da passiert alles mögliche. Im Grunde ist das Tornadowetter, genau wie im Mittelwesten. Also wissen Sie, Charlie, Sie sehen gar nicht gut aus. Sie sollten mehr auf sich achten.« Ich stieg auf meiner Etage aus, die Aufzugtüren schnappten zu wie eine Guillotine. »Rufen Sie mal an!« waren Camilles letzte Worte. Pimienta wartete auf dem Flur; ich sah seine massige Gestalt vornübergebeugt auf der braunen Betonbank vor dem Saal. Ich hatte ihn erst für den folgenden Tag vorladen lassen, da ich damit rechnete, für Graciela de Albas Aussage mehr als einen Nachmittag zu brauchen. Ich dachte also, er hätte einfach den Tag verwechselt. Er hob den Kopf und hielt mich auf. Einer der Geschworenen ging um uns herum und eilte in den Saal. »Morell, wir müssen miteinander reden, coño«, sagte er. »Das machen wir morgen, keine Sorge.« »Nein, ich muß vorher mit Ihnen reden.« »Ich weiß nicht, ob ich das kann. Wo ist Ihr Anwalt?« »Señor Smith? Der hat meinen Fall abgegeben. Er hat geheiratet und ist auf Hochzeitsreise in Paris.« »Sie haben keinen Anwalt?« »Das spielt doch keine Rolle. Hören Sie, wir müssen reden.« »Worüber? Ich muß in den Saal.« »Ich habe in letzter Zeit Träume, Morell. Ich sehe die -386-
Gesichter der Toten, ihre Finger würgen mich, sie rufen nach mir. Dann stehe ich wieder im Laden, aber der brennt und ich komme nicht raus. Ich habe diese Träume jede Nacht.« »Na ja, Alpträume haben wir alle mal, José. Ich kann mich jetzt wirklich nicht mit Ihnen unterhalten. Hören Sie, warum…« Der Gerichtsdiener kam heraus. »Sehen Sie zu, daß Sie reinkommen, Charlie. Der Alte raucht schon vor Zorn.« Ich wandte mich an Pimienta. »Hören Sie, José, bleiben Sie hier sitzen und warten Sie. Ich bin bald wieder da.« Dann ging ich rasch in den Saal. De Alba mußte wohl während der Mittagspause im Saal gewesen sein, jedenfalls hatte sie neben der Geschworenenbank einen kompletten Santeria-Altar aufgebaut. Er hatte mehrere Etagen mit Opfergaben: Blumen, Körbe mit lebenden Tauben, Süßigkeiten; über dem Ganzen thronte ein großes Bild des Heiligen Petrus mit den Himmelsschlüsseln. Ein Dutzend Männer und Frauen in Weiß saßen in der ersten Reihe, de Alba, ganz in Schwarz, sprach, auf die Schranke gestützt, mit dem ältesten der Gruppe, einem hageren Schwarzen mit Stammeszeichen auf Backen und Stirn. Die Geschworenen saßen bereits auf ihren Plätzen; der Altar und die merkwürdigen Gegenstände darauf beschäftigten sie. Reynolds saß in seinem Sessel, Phyllis und Ramón in den ihren. Wie immer war ich der letzte. Reynolds machte Phyllis und mir Zeichen vorzutreten. »Sollten wir nicht die Protokollführerin dabei haben?« waren Phyllis' erste Worte. -387-
»Nein, nein, das kann warten, das geht allein uns an. Hören Sie, Charlie, ich habe Ihnen gesagt, daß ich Ihrer Verteidigung größtmöglichen Spielraum einräume, aber Sie machen daraus einen Zirkus. Baut die Frau hier einen gottverdammten Altar auf! Also, das hier ist keine Kirche, und ich bin kein Prediger, was zum Teufel haben Sie vor?« Was machst du, Charlie? hallt es durch meinen Kopf. Wie kannst du, wie auf einem Jahrmarkt, deine schwärenden Wunden zeigen - wie siamesische Zwillinge, wie eine grinsende Frau mit Bart? »Herr Richter, das dient nur Demonstrationszwecken«, improvisierte ich. »Die bevorstehende Aussage behandelt Religiöses, also habe ich mir gedacht, es wäre für die Geschworenen einfacher, wenn sie sehen, worum es geht.« »Sie wird doch niemanden mit einem Bann belegen, oder?« fragte Phyllis. »Sie sieht mir ganz nach einer Hexe aus.« »Ich glaube nicht. Aber vielleicht werde ich sie bitten, Sie zu verhexen, damit ich gewinne.« »Sonst noch was?« »Und wer sind die Leute in Weiß in der ersten Reihe? Sehen Sie sich die doch mal an, das sieht ja aus, als wären die Seelen der Toten zusammengekommen.« »Ich frag' mal.« Ich ging hinüber zu de Alba und beugte mich über die Schranke. »Mrs. de Alba, wer sind diese Leute?« »Das sind einige der wichtigsten babalawos von Los Angeles. Als ich ihnen sagte, daß ich aussage, wollten sie sehen, was passiert. Sie werden niemanden stören.« »Ich verstehe. Sind Sie eigentlich auch Priesterin?« -388-
»Himmel, nein, ich bin nur Anthropologin. Ich gehöre nicht mal der Religion an.« Ich ging wieder zum Richter. »Es sind Zuschauer.« »Das sehe ich auch. Was sind sie sonst noch?« »Angehörige dieser Religion. Sie interessieren sich für den Fall.« Der Richter stieß einen Seufzer aus. »Na schön, was soll's, ist schließlich ein freies Land, sie haben das Recht, hier zu sein. Fangen wir an.« Nachdem Curtis Graciela de Alba vereidigt hatte, verbeugte sie sich in Richtung des Altars, bevor sie sich setzte. Der Gerichtsdiener wollte ihr das Mikrofon einstellen, aber sie schob ihn beiseite. »Das brauche ich nicht. Ich habe eine ausgesprochen tragende Stimme. Ich mag keine Apparate.« Ich bezog meinen Posten am Pult, meinen gelben Block bei der Hand. Ich hatte mir darauf nur eine einzige Frage notiert: Warum? »Mrs. de Alba, könnten Sie uns sagen, was Sie von Beruf sind?« Sie rückte ihren Stuhl zurecht. »Gewiß. Ich bin Anthropologin.« Ihr kubanischer Akzent, der bisher kaum zu hören gewesen war, wurde unter der Anspannung deutlicher. »Könnten Sie uns etwas über Ihre Qualifikationen und Ihre Erfahrungen sagen?« »Natürlich. Ich habe mein Diplom in Anthropologie 1932 an der Universität Havanna gemacht. Ich habe 1933 an der Columbia-Universität bei Dr. Franz Boas, einem der Begründer der modernen Anthropologie, studiert, und 1935 in Harvard meinen Doktor gemacht, ebenfalls in -389-
Anthropologie. Ich habe Diplome von der Sorbonne, aus Cambridge, Berlin, Heidelberg und Wien. Ich habe, glaube ich, sechzehn Bücher und über tausend Artikel veröffentlicht. Meine Feldstudien führten mich zu den Indianern und Schwarzen Brasiliens, zusammen mit Dr. Claude Lévi-Strauss und, als sie noch unter uns war, mit Dr. Margaret Mead. Darüber hinaus…« »Das genügt. Ich denke, wir sind uns alle darüber einig, daß Sie über eine solide Ausbildung verfügen.« Gelächter im Saal. Ich gerate in Panik. Ich darf nicht komisch sein, ich darf den Fall nicht belasten, niemanden an die Kräfte hinter uns erinnern. »Ja, das könnte man sagen.« »Welches Spezialgebiet haben Sie, falls Sie eines haben?« »Mein besonderes Interesse gilt dem Santería-Kult, einer afrokubanischen Religion mit etwa fünf Millionen Anhängern in dieser Hemisphäre.« »Ich verstehe. Kennen Sie Mr. Valdez, den Angeklagten in diesem Fall?« »Nicht persönlich. Ich habe von ihm gehört.« »Was haben Sie gehört?« Phyllis steht auf, ihr rotes Seidenkleid raschelt dabei. »Einspruch, Euer Ehren. Hörensagen.« »Stattgegeben.« Wie komme ich darum herum? Wie kann ich sie ihr Wissen über Ramón vorbringen lassen? Soll ich das überhaupt? »Was wissen Sie über Mr. Valdez?« Sie starrte Ramón seelenruhig an. »Ich weiß, daß er einmal ein herausragender Santeria-Priester war. Er hatte vor Jahren den Ruf eines Wundertäters.« -390-
Soll ich diese Linie weiterverfolgen? Nein, laß gut sein, das Wort »Wundertäter« gibt der Phantasie Arbeit genug. Vorwärts, Charlie, du hast eine große Aufgabe vor dir! Er wartet auf dich. »Sie haben gesagt, Ihr Spezialgebiet sei das Studium des Santeria-Kults. Könnten Sie uns sagen, um welche Art von Religion es sich dabei handelt und worin sie sich von anderen Religionen wie dem Christentum oder dem Buddhismus unterscheidet?« »Gewiß. Bei Santería handelt es sich um eine synkretische Religion. Womit ich sagen will, daß hier aus zwei verschiedenen Religionen eine neue entstand. Es ist eine Kombination von westafrikanischer Religion und Katholizismus, in der man den alten nigerianischen Yoruba-Pantheon mit Heiligen der katholischen Kirche besetzt. Santería entstand während der Sklavenzeit, als afrikanische Sklaven ihre alte Religion vor ihren spanischen Herren zu verbergen suchten.« »Entschuldigen Sie, wenn ich Ihre Befragung unterbreche, Herr Anwalt«, sagte Reynolds mit dem Blick eines Mannes, der auf glühenden Kohlen saß, »aber wollen Sie damit sagen, Mrs. de Alba, daß es sich bei diesem Voodoo-Zeug tatsächlich um eine Religion handelt? Ich meine, daß man Nadeln in Puppen steckt und was weiß ich?« Ich hätte Einspruch erheben können mit dem Argument, die Frage stelle eine ungebührliche Einmischung dar und damit einen Verfahrensfehler, der den Abbruch des Prozesses rechtfertige. Aber ich hielt mich zurück. Ich dachte mir, daß die Mehrzahl der Geschworenen genauso dachte wie Reynolds. De Alba wandte sich an den Richter im aufgeklärten Ton eines Lehrers, der einen unterbelichteten Schüler vor sich -391-
hat. »Genaugenommen, Euer Ehren, unterscheidet sich der Glaube an nadelgespickte Puppen kaum von dem Glauben, daß das Wasser von Lourdes Kranke zu heilen oder das Blut des Schutzheiligen von Neapel Katastrophen für die Stadt vorauszusagen vermag. Es ist nur die Frage, an was man glauben will. Ich meine, wenn Sie glauben, daß Ihnen Ihre Gebete zu einem Mann am Kreuz das bringen, was Sie sich wünschen, dann ist der Sprung nicht besonders groß zu glauben, daß einem die Haarlocke einer Person Macht über diese verschaffen kann. Können Sie mir folgen?« »Wie der Hund einem Hasen, Ma'am. Aber was Sie da schildern, hört sich für mich nach Hexerei an.« De Alba schnaubte verächtlich. »Nun, Euer Ehren, Hexerei ist nichts weiter als ein Begriff, mit dem die Angehörigen der einen Religion die Riten der anderen belegen. Santería ist eine Religion, insofern sie über Glaubensartikel und theologische Prinzipien verfügt, die das Verhalten ihrer Anhänger regeln. Man glaubt an ein allem innewohnendes, transzendentes Wesen und befürwortet die gleichen Prinzipien von Gut, Böse und Brüderlichkeit, wie sie den Anhängern der jüdischchristlichen Tradition lieb und teuer sind.« Reynolds zögerte. »Fahren Sie fort.« »Danke, Euer Ehren«, sagte ich. »Mrs. de Alba, Sie haben sich, bevor Sie Platz nahmen, vor diesem Altar, wie Sie das Gebilde neben sich nennen, verbeugt. Könnten Sie uns erklären, was es damit auf sich hat?« »Gewiß.« Sie rutschte aus dem Sessel und ging auf ihren Stock gestützt die zwei Stufen hinab zum Altar. »Wie ich bereits gesagt habe, benutzt der Santeria-Kult katholische Bilder zur Darstellung seiner eigenen Götter. -392-
Sieben an der Zahl. Sie alle repräsentieren verschiedene Aspekte des Hauptgottes, Olorun, die allem innewohnende höchste Macht. Der heilige Petrus ist einer von ihnen, er ist das Symbol für Oggún, den Gott der Kriege und Krieger. Das Ganze hier«, sagte sie mit einer Geste über den Altar, »nennt sich eine plaza, eine Opfergabe an den Gott, dessen Bild wir hier sehen.« »Entschuldigen Sie nochmals, Herr Anwalt, aber Ma'am, ich muß das einfach fragen: Glauben Sie wirklich an diese Götter? Ich meine, daß sie tatsächlich existieren?« fragte Reynolds. »Euer Ehren, ich selbst bin keine Angehörige dieser Religion, das würde meine Stellung als Anthropologin beeinträchtigen. Aber es gibt in der Tat Millionen Menschen, die daran glauben.« »Das habe ich nicht gefragt. Was ich wissen will, ist, ob Sie an die tatsächliche, körperliche Existenz dieser Götter glauben?« »Nun, Euer Ehren, ich teile hierin die Ansicht des Schweizer Psychoanalytikers Carl Gustav Jung, daß es sich um Repräsentanten des kollektiven Unbewußten handelt, das in jedem von uns präsent ist, weil wir nun einmal Menschen sind. Jeder Gott steht für eine bestimmte Facette unserer Persönlichkeit. Wenn also ein Gott von uns Besitz ergreift, sei es Shangó, Obatalá oder Oggún, so kommen in uns kraft dieses Unbewußten die besonderen Persönlichkeitszüge jenes Gottes zum Ausdruck. So kann im Santeria-Kult ein und derselbe Gott gleichzeitig von zwei Leuten im selben Raum Besitz ergreifen, da wir den Gott wesentlich in uns tragen.« »Sie existieren also nicht wirklich.« »O doch, sie existieren in unserem Verstand, in einem ontologischen Sinn, wie das ganze Universum streng -393-
genommen nur im ontologischen Sinn existiert.« , Reynolds machte ein eingeschnapptes Gesicht. »Geschieht mir ganz recht. Ich stelle eine simple Frage und kriege Ontologie, was auch immer das ist. Fahren Sie fort.« Diesmal erntete er etwas nervöses Gelächter, eine kleine Befreiung, aber keine Flucht. »Mrs. de Alba, Sie sagten eben, das hier ist ein Altar für den heiligen Petrus, der zugleich die afrikanische Gottheit Oggún ist. Das ist doch der Gott des Krieges, nicht wahr?« »O ja, und ein schwieriger obendrein. Lassen Sie mich Ihnen was zeigen.« De Alba nahm eine Spielzeugpistole vom Altar und zielte damit auf mich. Im Saal ertönten Schreie. »Nicht doch«, sagte de Alba, »es ist nur ein Spielzeug! Sehen Sie!« Sie drückte ab, und es war ein Klicken zu hören. »Man braucht dabei keine echte Waffe, eine Nachbildung tut es auch.« »Als würden Sie in einem Wettbewerb antreten?« »Genau. Dieser Revolver und dieses Messer hier«, sie nahm ein Steakmesser aus einem Korb, »sind die Symbole von Oggúns Status als Krieger. Da er der Schmied unter den Yoruba-Göttern ist, ist er außerdem Herr über alles, was aus Eisen ist. Darüber hinaus ist er der Gott des Zorns und der Rache.« »Es handelt sich also um heilige Gaben, nicht?« »Das sind sie gewiß. Sie sind voll aché, der Kraft des Gottes.« »Was müßte der Anhänger eines Gottes tun, würde man ihm die dargebrachten Opfergaben vom Altar nehmen?« De Alba wurde blaß. »Mein Lieber, das ist ein schlimmes Sakrileg. Als erstes bekäme die Person, die den -394-
Altar entweiht hat, und alle, die dafür verantwortlich sind, den Zorn Gottes zu spüren. Der schrecklich sein kann. Es kann alles passieren, vom finanziellen Ruin über Krankheit bis hin zum Tod, wenn der Verlust schlimm genug ist und es sich um einen grimmigen Gott handelt.« »Würden Sie Oggun als grimmigen Gott bezeichnen?« »Unbedingt. Im Pantheon des Santeria-Kults nennt man ihn den Krieger. Er ist ein ausgesprochen rachsüchtiger Gott.« »Was also müßte ein Anhänger des Gottes in so einem Fall tun?« »Er - oder sie - hätte die Pflicht, diese Gaben zurückzubringen, sonst würde die Rache des Gottes auch über ihn - oder sie - kommen. Es ist eine heilige Pflicht.« Gut. Die Pflicht ist erwiesen. Dann mach dich mal an den Rest der Liste blutrünstiger Ausreden. »Ich verstehe. Aber ich nehme an, es gibt auch nettere Götter als Oggun, sanftere Götter, wie zum Beispiel den Gott der Liebe?« »Die Göttin der Liebe. Sie heißt Ochún und wird von der Jungfrau von El Cobre repräsentiert, der Schutzheiligen Kubas.« »Kann sich ein Anhänger des Santeria-Kults auch den Gott aussuchen, sagen wir einmal, lieber Ochún verehren, anstatt Oggun?« »Sie können jeden Gott bitten, Sie mit den Segnungen auszustatten, die in seiner Macht stehen - aber aussuchen können Sie sich Ihren Heiligen nicht.« Ja. Öffne die Tür und laß uns ein. »Wie ist das zu verstehen?« »Nun, sehen Sie, im Santeria-Kult glaubt man, daß Ihr Schicksal vom ersten Tag an feststeht und Sie einen -395-
Heiligen haben, einen Gott, der Ihre Persönlichkeit, Ihr Leben regiert, und das vom Augenblick der Niederkunft an. In Mr. Valdez' Fall handelt es sich um Oggun, den wir hier sehen.« »Einen Augenblick. Wollen Sie damit sagen, daß Mr. Valdez keine Wahl hatte, was seinen Gott anbelangt?« »Nicht die geringste. Wenn nämlich der Heilige auf einen herabsteigt, wenn er von einem seiner Anhänger Besitz ergreift, dann befindet dieser sich in Trance, er hat das Pferd des Gottes, sein caballo, zu sein, der Gott besteigt ihn. Nun, in diesem Augenblick haben Sie keinerlei Kontrolle und damit auch keine Wahl.« »Wie ist das zu verstehen? Können Sie nicht einfach sagen: Nein, ich lasse mir das nicht gefallen?« De Alba lachte. »Sie können den Gott ebensowenig aufhalten wie die Sonne.« »Dann ist das also eine Art Naturgewalt?« »Ja. Und überdies sind Sie nicht mehr Sie selbst, wenn es passiert, ich habe das viele Male mit eigenen Augen gesehen. Sie tun völlig überraschende Dinge, Dinge, die Sie sich nicht einmal vorstellen würden, und wenn Sie wieder zu sich kommen, erinnern Sie sich an nichts mehr. Dazu müssen Sie wissen, daß nicht Sie es waren, es war der Gott, der es durch Sie getan hat.« Jetzt die Dampfwalze, reiß die ganze Tür ein! »Heißt das, daß die besessene Person nicht weiß, was passiert, daß sie nicht im Vollbesitz ihrer geistigen Fähigkeiten ist wie ein normaler, vernünftiger Mensch?« »Das ist korrekt, man ist nicht mehr man selbst, es ist der Gott, der in einem ist. Man ist nicht mehr da. Es ist, als schlafe man, als sei man tot, die eigene Persönlichkeit ist einem abhanden gekommen. Man hat kein Bewußtsein, -396-
man ist sich nicht im geringsten darüber im klaren, was passiert ist.« Geschafft. Durch diese Bresche könnte eine ganze Armee marschieren. Wenn sie ihr glauben. »Glauben Sie also, daß Mr. Valdez von einem Gott besessen war, während diese Morde begangen wurden?« Phyllis stand auf, eine rotleuchtende Bake der Rechtschaffenheit. »Einspruch, Euer Ehren. Die Frage geht von einer Tatsache aus, die nicht als Beweis zugelassen ist, und übersteigt die Erfahrung dieser speziellen Zeugin.« Reynolds kratzte sich am Ohr. Er schien an einem imaginären Knochen zu kauen. »Nun, Frau Staatsanwältin, ich denke, die Fakten sind offensichtlich. Mr. Valdez wird des Mordes bezichtigt. Was die Aussage anbelangt, nun, so ist Mrs. de Alba als Sachverständige hier, und ich bin der Ansicht, daß sie ein Recht darauf hat, ihre Meinung über das Geschehen kundzutun. Die Geschworenen sollten dabei nicht vergessen, daß es sich um eine Sachverständigenmeinung innerhalb der gegebenen Grenzen handelt. Sie sollten diese Meinung mit dem ihr gebührenden Gewicht behandeln. Einspruch abgelehnt. Fahren Sie fort.« »Ihre Antwort, Mrs. de Alba?« »Ja. Meiner Meinung nach hat er in Trance gehandelt, seine Handlungsweise entspricht exakt der eines rachsüchtigen Gottes.« Ich wollte eben die nächste Frage stellen, als im Saal ein lautes Krachen zu hören war. »Was war das?« fragte Reynolds. »Der Wind, Euer Ehren«, sagte der Gerichtsdiener. »Vor dem Gebäude bläst ein starker Wind.« -397-
»Muß ja mächtig zugange sein, wenn wir ihn sogar hier drin noch hören. Na, dann fahren Sie fort, Mr. Morell. Nein, einen Augenblick noch, gestatten Sie, daß ich kurz unterbreche?« »Selbstverständlich, Euer Ehren.« »Mrs. de Alba, ich hab eine Frage. Sie haben den Altar hier aufgebaut und sprechen von Gottesverehrung und so weiter. Ich frage mich nun, wie diese Verehrung aussieht.« Mit einem warmen Lächeln wandte de Alba sich dem Richter zu. »Wenn Euer Ehren es wünschen, könnte ich es Ihnen demonstrieren. Es sind mehrere Priester im Saal, die mit Freuden dazu bereit wären.« »Einspruch, Euer Ehren«, rief Phyllis, aber Reynolds schüttelte unwillig den Kopf. »Abgelehnt, Mrs. Chin. Ich halte das in einem Fall wie diesem für angebracht. Also dann, holen Sie Ihre Freunde herauf. Ich wollte so was schon immer mal sehen. Ich habe bisher immer nur davon gehört.« »Mit Vergnügen.« Reynolds bedachte mich mit einem freundlichen Blick. Das also war seine Geheimwaffe, sein Geschenk an die Anklagevertretung. Aus diesem Grund hatte Phyllis sich erst gar nicht die Mühe gemacht, ihren eigenen Sachverständigen aufzurufen. Das ganze Verfahren über hatte Reynolds die Anklagevertretung bevorzugt. Seine Entscheidungen waren zwar nicht anzufechten, aber sie beeinflußten den Fall auf subtile Art zugunsten der Staatsanwaltschaft. Jetzt hatte er zu einem brillanten Vernichtungsschlag ausgeholt. Er hatte uns soweit gebracht, eine Zeremonie vorzuführen, die den SanteriaKult als lärmende Farce entlarven würde, als faulen Zauber, als traurigen Ersatz für eine echte Religion, ein Spektakel mit hohlen Göttern. -398-
Spielt doch keine Rolle, höre ich über dem Pochen in meinen Ohren. Wir sind bereit. Laßt uns ein. De Alba trat vom Podium und drehte sich schwungvoll um. »Nur eines noch, Herr Richter. Dürfen sie dabei rauchen?« »Solange sie hier nicht Pot rauchen, soll's mir recht sein.« Alles lachte. Ich wandte mich flüsternd an de Alba, als sie an mir vorbeikam: »Ist das auch richtig? Hier?« »No te preocupes, chico«, sagte sie auf spanisch. Keine Sorge, es ist alles geweissagt. Die sieben weißgekleideten Santeros in der ersten Reihe, fünf Männer und zwei Frauen, hörten aufmerksam zu, als de Alba erklärte, was dem Richter vorschwebte. Dann nickten sie alle sieben und standen auf. »Dürfen wir beginnen, Herr Richter?« fragte einer der Männer, ein großer Schwarzer mit pockennarbigem Gesicht. »Nur zu. Tun Sie so, als wären wir gar nicht da. Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause.« Der Mann öffnete einen Matchbeutel zu seinen Füßen und holte eine lange, mit weißen und violetten Perlen verzierte fratá-Trommel heraus; ein anderer brachte einen perlenbesetzten Flaschenkürbis zum Vorschein. Der Lange tippte mit den Fingern leicht auf das Trommelfell und erhielt eine rhythmische Antwort von dem mit dem Kürbis. Ein dritter, ein stämmiger Kleiner, holte eine Trommel heraus; auch er ließ einen kurzen Wirbel hören, auf den die beiden anderen antworteten. »Das nennt man einen güiro, Euer Ehren«, sagte de Alba -399-
und wies auf den Kürbis. »Es handelt sich um einen ausgehöhlten Kürbis, mit dem man die Götter ruft, in diesem Fall den Schutzheiligen von Mr. Valdez, Oggún.« »Vielleicht sollten wir das lieber lassen, Herr Richter«, sagte Phyllis, aber ihre Worte gingen unter im tamtam der Trommel. Der Mann mit dem güiro stieß einen Schrei in Yoruba aus: »Oggún niye o Oggún aribó Oggún niye o lya ki mode Oilé abé re Oggún de Oggundé ban bá Owa ni yere ko ma se O lyaó Awa ni ye Oggún areré ko ma se lyá.« Eine der Frauen trat vor den Altar und legte sich davor auf den Boden. Die Trommeln begannen mit einem Wirbel, der immer eindringlicher wurde, während der Mann fortfuhr: »Oggún ma kué akué kué kué Oggún ku ere o Oggún orilé fe re gun Kon ko su o ana lo.« De Alba übertönte das Schlagen der Trommeln. »Sie huldigt dem Gott und erweist ihm damit Ehre. Es gibt selbstverständlich keine Garantie für seinen Besuch.« »Selbstverständlich«, las ich von Reynolds geringschätzigen Lippen; seine Worte verschluckte der Gesang. Die Trommeln bummerten, das Rasseln des güiro bildete eine Art Kontrapunkt. Einer der Männer reichte eine Flasche Rum in die Runde, aus der alle sieben tranken. -400-
»Das ist Rum, Euer Ehren!« schrie de Alba. »Sie trinken ihn dem Gott zu Ehren! Er entspricht unserem Meßwein. Jetzt kommt das Bittgebet!« Der Lärm der Trommeln, der Gesang und das Rasseln des Kürbis bildeten eine Klangwand, eine Leiter aus Noten, auf der man sich in unbekannte Höhen hangelte. Ich warf einen raschen Blick auf Ramón, der seelenruhig dasaß; nur seine Hände klopften im Rhythmus der Trommeln mit. »Oggún areré alawó Oggún areré alawó Oddé mao kókoro Yigüé yigüé Oggún areré alawó Oggún areré alawó.« Augenblicklich nahm das Getrommel an Intensität zu, die Santeros begannen sich ihrem jeweiligen Gott entsprechend zu bewegen. Als erste geriet eine der Frauen in Trance. Sie stieß einen lauten Schrei aus und fiel zu Boden, raffte sich wieder auf und begann sich in der Art der Göttin Yemayá zu bewegen, ihre langen Haare peitschten die Luft wie Wellen; dann fiel auch die zweite Frau in Trance: In der Art des virilen Shangó tanzte sie mit kräftigen Beckenstößen durch den Saal. Und schließlich zeigten auch die Männer nach und nach Anzeichen von Besessenheit: Einer hinkte wie der unstete Babalú Aye; man hätte meinen können, eine Meute Hunde jage einen Einbeinigen durch den Saal. Die Musik ließ nicht einen Augenblick nach, die Trommeln wirkten auf das Unterbewußtsein, bis selbst einige aus dem Publikum, die nicht wußten, wie das Wunder der Massenpsychose wirkt, auf die Beine kamen und zu tanzen begannen. Sie kreisten mit den Hüften, schüttelten sich, als würden sie von Göttern oder Teufeln gebeutelt, die ihre Gegenwart auch dem hartnäckigsten Ungläubigen einbleuen wollten. -401-
Selbst auf der Geschworenenbank begann der eine oder andere auf die Schranke vor sich zu klopfen. Die Bewegungen der Tänzer wurden immer heftiger, als die Gruppe mehr und mehr in den eisernen Griff der Heiligen geriet. Shangó bestieg sein Pferd und gab ihm die Sporen, die Frau salutierte und tanzte springend durch den Saal, begegnete den Leuten mit weitaufgerissenen Augen und schlug sich mit den Fäusten gegen die Brust. Dann gingen, eine nach der anderen, die Lampen aus, bis Licht nur noch von den Kerzen kam. Was nicht hieß, daß die Elektrizität verschwunden war, sie wirkte nur so, wie sich das keiner im Saal vorgestellt hätte: Als die Protokollführerin ihren Computer anmachte, zischte der Cursor in Kreisen und Schnörkeln über den grünen Schirm. Sie hob den Kopf und fragte: »Was ist hier los?« Ein anhaltendes Grollen fuhr durch den Saal; es hörte sich an, als zerreiße ein riesiger Schleier. Die Wände schienen zu beben, das kalifornische Staatssiegel an der rotholzverschalten Wand flatterte wie eine Fahne, die Fenster im Geschworenenraum gingen zu Bruch. Heulend fuhr der Wind in den Saal, und eine Art Elmsfeuer tanzte über unseren Köpfen. Die Saaltüren flogen auf, Pimienta kam hereingestürzt, sprang auf die Schranke, hüpfte von dort auf den Anwaltstisch und brüllte lauter, als man es für menschenmöglich gehalten hätte, lauter noch als der Wind, lauter als die Trommeln, die seine Ankunft verkündeten: OGGÚN, OGGÚN ERERE NA NA NILE OGGÚN, OGGÚN Mit einem Salto landete er vor dem Gerichtsdiener und schleuderte ihn gegen die Wand, so daß der Mann das -402-
Bewußtsein verlor, während die anderen Heiligen Ochun, Yemaya, Babalú Ayé - einander mit Schulterstößen begrüßten. Mrs. Gardner fuhr aus ihrem Sessel und verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße zu sehen war. Zunächst redete sie nur in Zungen, dann jedoch schrie sie mit der tiefen, schmerzverzerrten Stimme eines Mannes: »Wie könnt Ihr meine Kinder an diesem Ort der Gerechtigkeit einer solchen Tragödie aussetzen?« Sie verlor das Bewußtsein und kippte um, als der Wind einen Regenschwall in den Saal peitschte - als wäre der Bug unseres Schiffes in die stürmische See getaucht, auf der wir zu segeln schienen. Phyllis, die sich an die letzte Naturkatastrophe erinnerte, suchte Zuflucht unter dem Tisch, während Richter Reynolds sich hinter dem Schreibtisch des Justizsekretärs verschanzte. Sturmböen fegten in den Saal, rissen Bilder von der Wand und wirbelten Akten auf, bis eine Säule aus ungezählten Bewährungs- und Polizeiberichten, Protokollen und Gefängnisbögen im Saal zu stehen schien. Schließlich heulte Pimienta auf, rannte aus dem Saal und wurde nie wieder gesehen, der tanzende Feuerball schwand zu einem Nichts, die Lichter gingen wieder an, die Santeros brachen zusammen, der Wind verebbte, und Stille senkte sich über den Saal, eine Stille der Erschöpfung, des Friedens - eine Totenstille.
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22 Die Geschworenen kamen herein, einer hinter dem anderen, eine fast andächtige Prozession, man hätte meinen können, sie hätten Kerzen in der Hand. Schweigend nahmen sie ihre Plätze ein. Einige Wochen waren seit der stürmischen Inbesitznahme des Gerichtssaals vergangen. Der erste Gedanke aller Beteiligten war, das Verfahren für ungültig zu erklären, bis einigen dämmerte, was es hieß, noch einmal alle Zeugen für ein zweites Verfahren zusammen zu holen. Remigio, der Parkplatzwächter, war nicht mehr da, ebenso Vlad, der Edelsteinhändler, Bongos, der Diskjockey, sie waren auswärts oder nicht zu erreichen, Pimienta schien wie vom Erdboden verschluckt; die Ermittler hatten keine Ahnung, wie man die Leute erreichen sollte. Von den Tatwaffen hatte man keine Fingerabdrücke genommen, es gab keine Überlebenden. Was blieb Phyllis also anderes übrig, als an den Geschworenen festzuhalten? Die Anklage hätte kein zweites Verfahren überstanden. Ich persönlich war für einen Verfahrensabbruch. Meiner Ansicht nach war von der Jury trotz des eindrucksvollen Feuerwerks nur ein Schuldspruch zu erwarten, und sei es nur weil man sich schämte und der Lächerlichkeit preisgegeben fühlte. Bei ihnen wirkte der Verdrängungsmechanismus, der uns auch sonst unsere dunklen Seiten vergessen läßt. Die Episode vor Gericht wäre bald vergessen. Reynolds weigerte sich, das Verfahren abzubrechen und ordnete an, sämtliche Aufzeichnungen über die »Demonstration« zu vernichten, so als hätte es sie nie gegeben. Er führte eine Reihe von juristischen Gründen -404-
an, so das mangelnde Fundament der Beweisführung, keine Gelegenheit zum Kreuzverhör, die Unmöglichkeit, das Ganze zu untersuchen, aber letztlich lief alles nur auf eines hinaus - Angst. Angst vor dem Unbekannten, Angst vor der Dunkelheit, Angst vor einer fremden Kraft, die die Seiten aus den Gesetzbüchern gerissen hatte. Da die Fernsehkameras im selben Augenblick den Geist aufgegeben hatten, als die Lichter ausgingen, war außer unserer Erinnerung nichts geblieben - der Eindruck eines Augenblicks, den alle vergessen wollten. Selbst die Journalisten, die alles miterlebt hatten, weigerten sich zu glauben; sie wollten sich nicht eingestehen, daß das Unmögliche tatsächlich passiert war. Als es dann in der Presse hieß, die atmosphärischen Bedingungen härten für einen außergewöhnlichen Tornado gesorgt, der durch das Verwaltungsviertel gefegt war und sowohl im Bezirksgerichtsgebäude als auch im Justizpalast für zerbrochene Fenster und panische Verwirrung gesorgt hätte, glaubten wir es alle. Und als der Richter sagte, die Ereignisse dieser Demonstration wären nichts weiter gewesen als eine Massenpsychose, ein Fall von Suggestion und Hysterie - die einzigen, die sich wirklich für besessen hielten, seien schließlich die Santeros, mit anderen Worten die professionellen Schwindler gewesen -, pflichteten wir ihm nickend bei. Keiner wollte sich eingestehen, daß unsere Realität nichts weiter ist als eine zarte Gazeschicht über einer stürmischen Leere. »Genauso war es in dem Juweliergeschäft, chico«, krächzte Ramón im Gefängnis, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. »Wir waren alle dabei, wir haben es alle gesehen, und jetzt sagt jeder, es wäre nicht passiert. Kein Mensch will die Wahrheit wissen.« Aber wie würden es die Geschworenen sehen? Weder -405-
ich noch Phyllis hatten weitere Zeugen aufgerufen. Wir waren beide sofort zu den Plädoyers übergegangen. Phyllis betonte immer wieder die Vorsätzlichkeit von Ramóns Handlungsweise, schließlich habe er die Waffen mitgenommen und Rache geschworen, als man ihm die Armreifen weggenommen hatte. Worte wie Altar, Religion oder Götter mied sie geflissentlich, aber sie hingen wie eine grelle Kulisse hinter ihren Ausführungen. Mein eigenes Plädoyer war kurz gewesen. Ich hatte mich verpflichtet, ihn zu verteidigen, und so tat ich mein Bestes und sagte, niemand habe gesehen, was in diesem Laden passiert war. Die Zeugen seien entweder tot oder voreingenommen; es gebe keinen objektiven Bericht über die Tragödie. Der Baum sei gefallen, und keiner habe ihn fallen hören. Ich spielte kurz mit dem Gedanken zu sagen, daß, falls Ramón die Morde begangen hatte - und er hatte, Gott vergib mir, er hatte -, so sei er doch nicht verantwortlich dafür, da er im Bann einer weit größeren Macht gestanden hätte, als wir uns vorstellen könnten. Ich ließ es jedoch bleiben. Das Ungesagte war überzeugender als jedes Argument, überzeugender als jeder rhetorische Höhenflug. Statt dessen las ich einen der ersten Paragraphen des kalifornischen Strafgesetzbuches vor. »Dieser lautet folgendermaßen, meine Damen und Herren. ›Hauptabschnitt eins. Jede Person kann ein Verbrechen begehen mit Ausnahme der im folgenden aufgeführten Fälle…‹ Es folgen einige Ausnahmen, dann kommt die, die uns interessiert, nämlich die fünfte. ›Personen, die die Tat, derer man sie bezichtigt, begangen haben, ohne sich dieser Tat bewußt zu sein.‹ Ende des Zitats. Sich der Tat bewußt zu sein, meine Damen und Herren. Das ist hier entscheidend und darf nicht unberücksichtigt bleiben. So will es das Gesetz. Wenn Sie nicht wissen, was Sie tun, -406-
wenn Sie sich Ihrer Handlungsweise nicht bewußt sind, ganz gleich wie abscheulich, wie abstoßend und gewissenlos das Verbrechen sein mag, dann sind Sie so unschuldig wie ein Kind, so rein wie der Schnee. Ohne Wissen, kein Verbrechen keine Sünde.« Zwei Wochen lang hatten die Geschworenen beraten. Wie Benediktiner waren sie zu den festgesetzten Pausen aus ihrem Raum geschlurft, um ihre Mahlzeiten einzunehmen, bevor sie sich wieder an ihre Gebete machten. Jetzt würden sie ihre Antwort bekanntgeben. Reynolds wandte sich den Geschworenen zu. Ich musterte Ramón, der den Richter anstarrte, dann Phyllis, den Gerichtsdiener; alles mied die Augen der Leute, die über die Fakten zu befinden hatten und deren schreckliches Urteil jeden Augenblick bekanntgegeben würde. Ganz hinten saß eine Reihe Santeros mit den weißlila Perlen Ogguns. Ich hörte das Summen der Fernsehkameras. »Meine Damen und Herren Geschworene, wie ich höre, sind Sie in diesem Fall zu einem Urteil gekommen. Wenn sich der Obmann bitte erheben möchte.« Mrs. Gardner stand auf, eine Hand fest auf dem Handlauf der Schranke, in der zweiten die Urteilsformulare. »Sind Sie zu einem Urteil gekommen?« »Ja, das sind wir.« »Würden Sie es bitte dem Gerichtsdiener geben.« Sie reichte den Stapel Papier dem Deputy, der die Vordrucke an Reynolds weitergab. Er warf einen Blick darauf und ging die Blätter dann rasch durch; schließlich hob er den Kopf und richtete den Blick auf die Geschworenen. Mrs. Gardner erwiderte ihn funkelnd. Reynolds atmete tief durch und winkte mit den Papieren. -407-
»Gerichtsdiener, geben Sie die bitte dem Sekretär zum Verlesen.« Der Gerichtsdiener übergab die Papiere Burr. »Im Landgericht der Stadt und des Bezirks Los Angeles im Bundesstaat Kalifornien…« Ich warf einen Blick auf Ramón: Er hatte seine Besorgnis fest im Griff, die Augenbrauen zusammengezogen, die Lippen herausfordernd gespitzt. »Aktenzeichen A875-4316, das Volk des Staates Kalifornien gegen Ramón Valdez, angeklagt…« Burr mußte wohl vorausgelesen haben, da er innehielt und blinzelte, bevor er mit nervöser, höherer Stimme fortfuhr. »Wir, die Geschworenen im obengenannten Strafverfahren, befinden den Angeklagten Ramón Valdez im ersten Punkt der Anklage, Verstoß gegen Paragraph 187a des kalifornischen Strafgesetzes, Mord ersten Grades, für nicht schuldig.« Nicht schuldig! hallte es durch meinen Kopf. NICHT SCHULDIG! NICHT SCHULDIG! NICHT SCHULDIG! Bei diesem ersten Spruch wurde der Saal zu einem Mahlstrom aus Schreien und Flüchen, während die Santeros in der letzten Reihe jubelnd aufstanden. Reynolds sah nach seinem Hammer, konnte ihn aber nicht finden, und so drosch er seinen Kaffeebecher auf den Tisch und befahl den unruhigen Leuten, Ruhe zu bewahren, aber mit jedem weiteren Urteil - NICHT SCHULDIG! NICHT SCHULDIG! NICHT SCHULDIG! wurde das Geschrei lauter und schriller, bis der Tumult praktisch nicht mehr zu kontrollieren war. Burr verlas sämtliche zweiunddreißig Anklagepunkte gegen Ramón, und die Antwort lautete ausnahmslos: NICHT SCHULDIG! NICHT SCHULDIG! NICHT SCHULDIG! -408-
Ich saß da, als hätte man mich in meinen Sessel genagelt, völlig benommen vom Erfolg meiner Bemühungen - ich hatte das Gefühl, die sechs Opfer selbst erschossen zu haben. »Ist das Ihr einstimmiges Urteil, meine Damen und Herren Geschworenen?« Die Geschworenen antworteten mit fester Stimme: »Ja, JA. JA!!!« Worauf es erst richtig losging im Saal, jetzt, wo man sicher sein konnte, daß der Vorhang gefallen war. Die Leute standen auf wie ein Mann, klatschten, jubelten, pfiffen, buhten. Schließlich kam es zu Handgreiflichkeiten. Deputies aus anderen Sälen eilten herbei, um die Streitenden zu trennen, während Phyllis und Samuels zusammen mit der Jury durch die Seitentür verschwanden. Reynolds befahl dem Polizisten, Ramón freizulassen, damit der Tumult ein Ende hatte. Kaum waren seine Ketten gefallen, stieß Ramón einen Schrei aus: »Victoria!« Dann sprang er in die Menge, seine Anhänger nahmen ihn auf die Schultern und trugen ihn aus dem Saal. Ich saß in meinem Stuhl, keiner beachtete mich, während um mich der Aufruhr tobte. Ich spürte das Gewicht meiner Handlungsweise auf mir lasten. Du warst zu gut, Charlie, zu gut beim falschen Mann. Ich blieb sitzen, bis der Saal geräumt war und nur noch Burr und ich übrig waren. Er holte einen Stapel Akten heraus und staubte sie ab. »Ich muß mich auf die morgigen Fälle vorbereiten. Die Gerechtigkeit schläft nicht.« Ich nickte, dann ging ich durch die Seitentür, Reynolds privaten Flur hinunter zu einem kleinen Serviceaufzug. Aktenkoffer und Aufzeichnungen ließ ich auf dem Tisch. -409-
Spielt keine Rolle, dachte ich mir, auch das wird vorübergehen. Ich verließ das Gebäude durch die Tiefgarage, überquerte die Main Street vor einem Linienbus, auf dem in großen gelben Lettern der Bestimmungsort stand: Paradise Grove. Ich betrat den Parkplatz, stieg in meinen Wagen und fuhr los, mied dabei jedoch den Schwarm von Fernsehreportern, die auf dem Gehsteig mit dem Schriftzug des Gerichtsgebäudes als Hintergrund ihre Anund Abmoderationen einspielten. Als ich davonfuhr, las ich auf dem Schaltkasten einer Ampel die neueste Botschaft des anonymen Pornograffitikünstlers: »Ich ficke am liebsten Schwangere, weil sie Gott in sich haben und es mir dann in ihm kommt.« Ich fuhr den Sunset Boulevard aufwärts nach Hause, vorbei an Anas Firmungs- und Brautmoden, am Club Tropical mit seinen südlichen Rhythmen, Nico & the Cohetes spielten dieses Wochenende, vorbei am Paradise Motel, einem braunen Backsteinbau auf einem Hügel mit Blick über downtown Los Angeles. Dann ging es hinauf nach Echo Park, vorbei an Lupe's Famous Burritos und El Asturiano, wo es die beste Paella in der ganzen Stadt gab, an El Carmelo mit seinem glasierten Guavengebäck und den Hunderten von Läden aller Art, in denen die spanische Bevölkerung die kleinen Tante-Emma-Läden von San Salvador, San Pedro Sula, Granada und Sancti Spiritu nachzuahmen versuchte, Ländern, aus denen sie stammte.eine Gegend mit einer Sprache voller Zischlaute, Menschen mit braunen Augen, braunen Gesichtern, schwieligen Händen, Halstüchern, Polyesteranzügen, Chinos, Hush Puppies, weißen T-Shirts, Mantillen, Capes und hüpfenden Spitzenkleidern, Menschen, die ihre Wassermelonen mit Paprika und Eis am Stiel in tausend -410-
fruchtigen Soßen aßen, das ganze ein Topf, in dem sich der Dampf staute, bis er eines Tages ebenso explodieren würde wie Ramón. Als ich darüber nachdachte, bekam ich Angst vor diesem Tag und fürchtete um meine Seele. Ich fuhr den Hillhurst Boulevard hinauf in einen rosa Nebel, der sich über die weißen Anwesen von Los Feliz, Hollywood, Beverly Hills, Brentwood und Rancho Park legte, vom Meer hinauf bis in die Berge. Wie ein totales Mißverständnis hatte sich der Nebel kühl und rein über mein Zuhause gelegt, die Stadt unserer Frommen Frau, der Königin der Engel von Porciuncula, Los Angeles, meine einzige und wahre Liebe.
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23 Aber das war noch nicht das Ende. Der Schluß dieser Geschichte kam nach einem Anruf der Stadtpolizei, der mich noch einmal in die grünen Korridore der Bezirkshaftanstalt führte. Dort saß, im Sprechzimmer der Anwälte, hinter der niederen Scheibe, die die Gefangenen von ihren Besuchern trennte, die Linke an eine Stange unter dem Stuhl gekettet, ein hagerer Mann Ende sechzig mit traurigen blauen Augen und einem Büschel weißer Haare auf seinem ansonsten kahlen Kopf. Obwohl sein blauer Gefängnisoverall ziemlich lose saß, hatte er einen Bauch, in dem sich sein ganzes Gewicht konzentrierte. Er erkannte mich auf der Stelle und winkte mir mit arthritischen Fingern zu. Ich setzte mich ihm gegenüber, wie vor den Kopf geschlagen, und fühlte mich zu ihm hingezogen wie ein Sohn zu seinem Vater. Die Ähnlichkeit war unheimlich. Wir starrten einander eine geschlagene Minute lang an. Mein Herz raste. Der Mann lachte und zeigte dabei eine Reihe fleckiger gelber Zähne, die aus dem blaßroten Zahnfleisch staken. Sein Atem stank nach Zigaretten und geschmacklosem Essen, seine Arme waren schorfig, und überhaupt roch er, als hätte er schon ebenso lange keine Dusche mehr gesehen, wie ich nicht mehr durchgeschlafen hatte. Aber in diesem Augenblick spielte das kaum eine Rolle. Seine blauen Augen wurden wäßrig, als er mich mit dem traurigen Lächeln meines Vaters bedachte. »Sie müssen Tom Elliot sein«, sagte ich. Er konnte niemand anders sein - außer einem Mann, der mit zahllosen Schläuchen im Körper in einem Krankenhaus in Miami gestorben war. -412-
»Genau der bin ich, Charlie. Es stört Sie doch nicht, wenn ich Sie Charlie nenne, oder? Immerhin kenne ich Sie in- und auswendig.« »Es stört mich nicht im geringsten.« »Schon komisch, was?« meinte er. »Jemanden wie mich zu sehen. Ich kann mir denken, daß Ihnen das Ganze ziemlich gespenstisch vorkommt.« »Im Gegenteil, ich habe mich schon darauf gefreut.« »Wenn ich ehrlich bin, ich auch. Deswegen habe ich den Cops auch gesagt, sie sollen Sie anrufen.« Er tätschelte seinen Kugelbauch. »Die Geschichte hier wird ziemlich groß, und die Ärzte meinen, es kann jeden Tag soweit sein. Scheiße, ich komm' mir vor, als wär' ich schwanger, verdammt noch mal, wenn ich weiß, daß ich…« Er hielt inne, als sich sein Gesicht vor Angst und Schmerzen zu einer Grimasse verzog. »Wie schlimm ist es denn?« »Der Doktor kann es nicht stoppen. Er läßt mich bestrahlen, aber es ist schon zu groß.« Er schwieg und holte Luft. »Drei Monate noch, höchstens.« »Tut mir leid.« »Was soll's, irgendwann sind wir alle dran, oder?« »Staub zu Staub.« »Asche zu Asche. Sind Sie auch katholisch? Natürlich, hätte ich mir denken können, als Kubaner. Tja. Wie gesagt, ich muß noch einiges loswerden, bevor ich meinen Abgang mache.« »Soll ich raten, oder werden Sie's mir sagen?« »Nein, nein, ich sag's Ihnen. Ich weiß ja nicht, ob's da -413-
oben einen gibt, wie man so schön sagt, aber ich war noch nie ein großer Spieler. Also muß ich das erledigen, bevor es zu spät ist.« »Zu spät für wen?« »Was? Ich verstehe nicht.« »Nichts. Wo haben Sie ihn kennengelernt?« Seine Büßermiene nahm einen beleidigten Ausdruck an, er richtete sich auf. »Drängen Sie mich nicht! Ich hab's nicht eilig.« »Schön. Machen Sie's so, wie Sie wollen.« Ich lehnte mich zurück. Der Mann leckte sich über die trockenen, mit Bläschen überzogenen Lippen. »Also, wir saßen in derselben Zelle. Sie hatten ihn wegen dieser Geschichte verlegt, zwei, drei Monate vorher, und sie steckten uns hier in den B-Block. Ich war grade auf dem Weg nach draußen. Ich hatte ein Jahr abgesessen, weil ich ein bißchen Stoff verkauft hatte, da haben die sich gedacht - ach was, ich weiß nicht, was die sich dabei gedacht haben, aus einem Sheriff bin ich mein Lebtag nicht schlau geworden. Na jedenfalls, als er reinkommt, nach dem Essen, schaut er mich so komisch an, ich meine wirklich komisch. Ich habe gleich nach dem Messer gegriffen, das ich mir schön scharf halte, und habe es ihm gezeigt. Ich stelle sofort klar, daß ich an meinen Arsch keinen ranlasse. Da schaut er mich an, grinst und fragt mit seinem komischen Akzent: ›Willst du dir etwas Geld verdienen?‹« »Und Sie haben ja gesagt.« .»Erst hab' ich ihn gefragt, was ich dafür tun müßte. Ich hatte nicht vor, ihm dafür einen abzukauen, wenn Sie wissen, was ich meine. Da holt er seinen Aktendeckel heraus, die Akte von seinem Fall, die er immer mit sich -414-
rumgeschleppt hat. Er geht die Papiere durch, und schließlich bringt er ein Bild zum Vorschein, ein uraltes Foto, weiß der Teufel, wo er das hergehabt hat. Es war schwarzweiß, ein Junge und ein Mann auf einem Pferd. Also er schaut es sich an, ich schau's mir an und sage: ›Ich werd' verrückt‹, und er sagt: ›Du siehst schon richtig. Es war wirklich unheimlich, wie ähnlich mir der Bursche sah. Ich meine, hier und da eine kleine Veränderung; ich mußt' mir zum Beispiel den Leberfleck auf die Backe malen, aber das war auch schon so ziemlich alles.« »Er hat Ihnen also gesagt, Sie sollen mir folgen.« Er senkte den Blick, hob ihn dann wieder, ohne mich anzusehen. »Ich hätt's wirklich nicht tun sollen. So was hab' ich noch nie gemacht. Ich sag' Ihnen eines, ich hab' nicht gewußt, daß er's ernst meint. Er hat mir gesagt, das wäre Ihr Papa, und er wollte Ihnen einen Schreck einjagen. Er meinte, so hätte er Sie leichter im Griff. Also hab' ich mitgemacht. Sie waren leicht zu finden. Ihnen zu folgen war auch kein Problem. Das Schwierige bei der ganzen Geschichte war, mich fix genug aus dem Staub zu machen. Das war meistens ziemlich schwierig. Ich bin richtig stolz darauf. Aber Sie haben mich ja von vornherein nicht für jemand Echtes gehalten.« »Das stimmt.« Er holte tief Luft und starrte seine schwarzen Fingernägel an. »Dann hat er mich unter Druck gesetzt.« »Wie meinen Sie das?« »Er hat mir sein Voodoopack nach Hause geschickt, diese Kerls in Weiß und so.« »Und?« -415-
»Die brachten mir eine Botschaft, die er geschrieben hatte, Anweisungen, Geld. Als ich das gelesen habe, da wollte ich einen Rückzieher machen, aber diese Kerls also die hätten Sie mal sehen sollen, einsneunzig, einsfünfundneunzig und nichts als Muskeln, wirklich schwere Jungs. Ein Alptraum war das. Na jedenfalls, diese Kerls haben mir gesagt, wenn ich die Anweisungen nicht befolge, dann würden sie mir den Schwanz abschneiden, in den Hals stecken und mich dann in Stücke säbeln. Dann könnte ich verbluten.« Er hob den Blick. »Sie glauben mir doch, oder?« »Hört sich bis jetzt ganz glaubwürdig an. Um was ging's denn bei der Botschaft?« Elliot suchte den Blick des Deputys und machte ihm Zeichen, daß das Gespräch vorbei sei. Als der Deputy von seinem Podium stieg und herüberkam, platzte Elliot heraus: »Ich sollte diese schwarzen Jungs anheuern, damit die Ihren Wagen in die Schlucht schieben.« Der Deputy bückte sich und machte eine Handschelle los. »Tut mir leid, Charlie. Ich wollte wirklich nicht, aber es ging einfach nicht anders, verstehen Sie?« Er stand da, vornübergebeugt, einen Bauch wie ein Basketball, und zitterte; er hatte sich etwas von der Seele geredet. Am liebsten wäre ich vor ihm niedergekniet und hätte ihn um Vergebung gebeten, ihm gesagt, daß ich nicht wüßte, was ich getan hätte. Statt dessen sagte ich: »Ich verstehe schon.« Ich stand ebenfalls auf und nahm mein Aktenköfferchen zur Hand. »Schlafen Sie in Frieden.« »Danke.« »Gehen wir, Elliot. Ab in die Zelle«, sagte der Deputy, -416-
und schubste das Ebenbild meines Vaters hinaus. Im Rückblick könnte ich nicht mehr sagen, ob die folgenden Ereignisse sich noch am selben Tag abspielten. Aber selbst wenn dem nicht so war, es liefe auf dasselbe hinaus, denn dieser letzte Beweis für meine Manipulation durch Ramón und Lucindas Verrat legte sich wie ein Tuch über die Ereignisse, verband sie miteinander und machte das Ende der Geschichte zu einem finsteren Kaleidoskop von Verlust und Trauer. Das Foto, von dem Elliot gesprochen hatte, war das letzte, das wir auf Kuba gemacht hatten. Ich bewahrte es in dem ledernen Album in meinem Büro auf. Ich fand es, aber als ich mir die Rückseite ansah, stellte ich fest, daß man es herausgerissen und dann mit billigem Klebestreifen wieder eingeklebt hatte. Es paßte alles zusammen, einschließlich der Tatsache, daß Lucinda am selben Tag bei Enzo aufhörte, an dem man Ramón freisprach. Noch am selben Tag klopfte der Ligurier mit trauriger Miene an meine Tür und hob die offenen Hände. »Dov'é la bella?« fragte er. »Alle meine Gäste fragen nach ihr, wo ist sie, wo ist sie? Ich habe bei ihr angerufen, aber es geht niemand ran, ich war dort, aber keiner weiß, wo sie hin ist.« »Ich weiß auch nicht, Enzo. Ich habe sie seit Wochen nicht mehr gesehen. Du erinnerst dich doch noch an den Abend.« »Ich dachte, na ja, weißt du, da ihr beide euch so nahesteht, vielleicht…« »Enzo, ich will dir mal was über Kubaner sagen. Wir glauben an das Endgültige, wir halten unser Wort, und wenn wir dabei draufgehen. Ich würde nie im Leben zu ihr -417-
zurückgehen.« »Scusa, weißt du, ich… Du nimmst das Leben einfach zu schwer. Na schön, gut, werde ich mir eben jemand andren suchen. Es ist schließlich nur eine Frau. Das Leben geht weiter.« Er ging, drehte sich dann noch mal um und blickte mich an, als sehe er mich zum erstenmal. »Ich wußte gar nicht, daß du Kubaner bist. Du siehst gar nicht aus wie einer.« »Wie sehen Kubaner denn aus?« »Ach, ich weiß auch nicht. Wie Castro eben, oder Desi Arnaz, oder, du weißt schon, negri, schwarz.« »Ich bin weder schwarz, noch Revolutionär, noch Bandleader. Ich bin ein weißer Anwalt ohne Bart, das ist alles.« Er zuckte die Achseln, die Art des Italieners, das Leben als gegeben zu betrachten. »Eh, was soll's. Du bist ein guter Mann. Mir ist es egal. Du rufst mich an, wenn du sie siehst, va bene?« »Va bene.« Ich saß im Wohnzimmer und sah den Suchscheinwerfer des Observatoriums im Griffith Park über den Nachthimmel wandern. Ich sah mich um, musterte die Zigarettenkippen, ich hatte wieder zu rauchen angefangen; der Teppich lag schief, ein Kissen auf dem Boden, die Fensterbretter waren staubig, leere Bierflaschen standen herum, die L. A. Times steckte ungeöffnet in ihrer Regenhülle, eine halb getrunkene Flasche Pfefferwodka. Ich mußte lachen. Du wirst langsam zum Klischee, sagte ich mir. Der Trottel mit dem gebrochenen Herzen, der seiner Liebe nachweint. Ich -418-
fand, das war der lustigste Gedanke, der mir in den letzten Wochen gekommen war. Wie ein Vulkan machte sich das so lange unterdrückte Lachen Luft, wie ein Rülpsen, als würde ich mich erbrechen. Ich fiel von der Couch. Ich wußte, was für ein jämmerliches Bild ich für einen Beobachter abgegeben hätte. Hilflos, völlig unkontrolliert, erstickte ich an meiner eigenen Häme; Tränen kamen, ohne daß ich sie beachtet hätte. Ich lachte über das Observatorium, die Flaschen, das Zimmer, die Stadt, meine Familie, mein Kind, meine Lieben und mein Leben; ich bedachte alles, was vor mir ablief, mit meinem spöttischen Lachen. Es war alles so lachhaft, so verachtenswert; das Ganze war ein Witz. Dann hörte ich den lauten Knall einer Handfeuerwaffe. Mein Lachen verstummte, ich setzte mich auf dem Boden auf, mein Herz raste. Ich versuchte mir einzureden, daß es nur eine Fehlzündung gewesen sei, aber ich kannte den Knall einer Waffe, dieses merkwürdig laute Peitschen einer Korditexplosion, die einen Klumpen tödlichen Stahls durch die Luft treibt. Es folgte ein zweiter Schuß, der jedoch durch etwas gedämpft wurde, einen improvisierten Schalldämpfer wie ein Kissen oder eine Decke. Ich warf einen Blick auf die Uhr auf dem Kamin. Zehn vor fünf Uhr morgens. Unter den Straßenlampen schmolzen noch Nebelschwaden. Weder Autos noch Fußgänger waren auf der Straße, nur ein Opossum, das auf der anderen Straßenseite in die Büsche huschte. Dann hörte ich einen dritten Schuß und einen Krach, als gehe eine Vase oder ein Krug zu Bruch. Ich stand auf und machte mich auf die Suche nach meinem Revolver. Ich konnte ihn nicht finden. Ich griff mir die einzige Waffe, die ich sonst noch im Haus hatte, eine alte Machete, die ich von einer Reise nach Yucatan mitgebracht hatte, und lief in die Richtung, aus der der Krach kam - Enzos -419-
Wohnung unter der meinen. Ich versuchte es an Enzos Tür, aber sie war verriegelt. Ich hielt ein Ohr an die Tür, hörte schwach die Stimmen mehrerer Leute; sie sprachen hastig, als hätten sie Angst, entdeckt zu werden. Ich lief hinaus, um über den Zaun zu springen, aber es war mir schon jemand zuvorgekommen: Das Vorhängeschloß, wahrscheinlich mit einem Bolzenschneider geöffnet, lag unter den Kamelien. Ich schob die Tür auf und stürmte in den Hinterhof, auf die Verandatüren zu, die Enzo einen Blick auf seinen geliebten Krauter- und Rosengarten boten. Auch sie standen offen, wenn auch die Vorhänge zugezogen waren, so daß ich nicht hineinsehen konnte. Ich hob die Machete, bereit zuzuschlagen, und schlüpfte ins Haus. Das erste, was ich sah, war Enzos Leiche, die neben dem langen Eßtisch aus Rosenholz lag. Mit verdrehten Gliedmaßen lag er da, das Gesicht nach unten, den rechten Arm nach außen gestreckt, die Hand flach auf dem Boden, als hätte er sich seinen Prinzipien zum Trotz mit einem faschistischen Gruß verabschieden wollen. Sein weißes TShirt war auf einer Seite blutgetränkt, die dunkelrote Flüssigkeit bildete eine glänzende Pfütze um den Gummizug seiner mit Blumen bedruckten Boxershorts. Der Tisch war für zwei Personen gedeckt; einige Kalamariringe waren auf das spitzenbesetzte Platzdeckchen gerutscht, eine offene Flasche Montefalcone über den Brotkorb gekippt. Zu meiner Rechten sah ich Lucinda die Schubladen eines Sideboards durchwühlen; hektisch warf sie Papiere auf den Boden, trampelte in ihrer verzweifelten Suche auf Fotos, Rezepten, Zeitungsausschnitten und Rechnungen herum. Sie trug einen schwarzen Spitzenbody - den ich ihr einmal bei Magnins gekauft hatte. »Hast du was verloren?« -420-
Sie drehte sich nach Luft schnappend um, ihr Gesicht war blaß vor Müdigkeit, Überraschung, Scham; unter den Augen hatte sie schwarze Ringe. Sie war dünner, linkischer, nervöser, als ich sie je zuvor gesehen hatte. Sie hatte die Geistesgegenwart, sich zu beruhigen. »Oh, Charlie!« sagte sie und eilte auf mich zu. Ich hielt ihr die Machete entgegen. Sie blieb stehen. »Ich habe die Nummer der Polizei gesucht. Du glaubst ja nicht, was passiert ist.« - »Sag's mir trotzdem.« Sie atmete keuchend durch den Mund. »Wir saßen gerade beim Abendessen, Enzo und ich.« »Wie kam es denn dazu? Vor kurzem hatte er dich doch noch abgeschrieben.« »Was? Ach, das meinst du, nur weil ich mir ein paar Tage frei genommen hatte, der Ärmste, ich hatte ihm nichts gesagt, aber jetzt…« Sie brach in Tränen aus, senkte den Kopf, schluchzte. »Spar dir das. Was zum Teufel war hier los?« Sie hob den Kopf, ihr Gesicht war dieselbe schmerzverzerrte Maske, die ich bereits von anderen Gelegenheiten kannte - als sie sich lustvoll in meinen Armen gewunden hatte. »Wir saßen beim Essen, als plötzlich ein Einbrecher auftauchte. Ich nehme an, er kam durch das Fenster. Er wollte Geld von Enzo, und als der ihm keines geben wollte, hat er auf ihn geschossen. Enzo wehrte sich, da schoß er noch mal.« Ich drehte mich um, sah mir den Tisch noch mal an, dann wieder Lucinda. »Du hast hier gesessen, links neben ihm?« Ich deutete auf den umgeworfenen Stuhl. »Ja, genau.« -421-
»Komisch. Wieso hast du dann kein Blut abgekriegt, Baby?« »Weiß ich nicht. Ich bin aufgestanden, nehme ich an.« »Und warum hat er dich leben lassen? Du bist eine Zeugin. Warum sollte er Enzo umbringen und dich nicht?« »Keine Ahnung, ich nehme an, er…« Ich spürte den Lauf eines Revolvers an meiner Seite, dann roch ich den vertrauten schlechten Atem, den fauligen Gestank der Finsternis. »Leg die Machete weg, Cariltos«, sagte Ramón, der hinter mir stand. Ich ließ die Waffe fallen. Sie landete neben Enzo. Ramón schob mich zur Seite, gegen das Sideboard. »Das war es also«, sagte ich. »Ein Überfall. Scheiße. Mußten Sie ihn deswegen gleich umbringen?« »Halt's Maul, du hast doch keine Ahnung, wovon du redest. Hast du ihn gefunden?« Lucinda zeigte ihm den Schlüssel zu einem Bankschließfach. »Was für eine Ausrede haben Sie heute, Ramón? Welcher Gott war's diesmal?« Ramón nahm den Schlüssel und steckte ihn in die Tasche. »Kein Gott. Das hier ist was rein Menschliches.« Er winkte Lucinda mit dem Revolver. »Zieh dir was an. Wir gehen.« Lucinda verschwand im Schlafzimmer am anderen Ende des Flurs. Ich sah, daß der Revolver in Ramóns Hand mir gehörte es war der 38er, nach dem ich gesucht hatte, bevor ich herunterkam. »Hat er Oggún auch Schmuck gestohlen?« -422-
Ramón sah mich verwirrt an, dann lachte er. »Ich habe Ihnen doch gesagt, es hat nichts mit den Heiligen zu tun. Der Schlüssel ist sehr wichtig, weil ich nämlich weiß, daß in diesem Schließfach fünfzigtausend Dollar und zwei Kilo Kokain liegen.« »Enzo soll mit Drogen gehandelt haben?« »Nicht wirklich, aber es war wie Bargeld, verstehst du? Ich nehme an, für ihn war es pures Gold.« Wir starrten einander an. Die Sonne kam eben durch, der Raum wurde nach und nach heller. Er seufzte. »Jetzt werde ich dich wohl umbringen müssen. Was mir überhaupt nicht recht ist, chico, aber du weißt ja, Geschäft ist Geschäft.« Ich begann hinter meinem Rücken das Sideboard nach einer Waffe abzutasten. »Warum haben Sie nicht dafür gesorgt, daß Ihre Crips es gleich richtig machen? Wieso jetzt?« »Das hast du auch rausgefunden? Diese amerikanischen Nigger sind einfach zu nichts zu gebrauchen. Ich wollte nur, daß du einen kleinen Unfall hast, kein Mensch wollte dich umbringen. Weißt du, nur für den Fall, daß was schief läuft, damit ich was in der Hand hätte, verstehst du, um den Fall zu verzögern, was weiß ich. Da siehst du's mal wieder, wenn man will, daß was richtig gemacht wird, muß man es selber machen.« »Und jetzt wollen Sie mich umbringen - nach allem, was ich für Sie getan habe?« »Du hast das nicht für mich getan. Du hattest deine eigenen Gründe. Ich war nicht weniger dein Werkzeug als du das meine. Jeder wollte etwas: ich meine Freiheit, du eine Absolution. Wir haben beide, was wir wollten.« Meine Finger schlossen sich um einen Flaschenhals. -423-
»Wie haben Sie das mit meinem Vater rausgekriegt?« »Ich habe dich überprüfen lassen. Ich habe Freunde, die Detektive anheuern können, weißt du. Richtige Detektive, keine Schauspieler wie dich.« Ein Lichtstrahl fiel golden auf Enzos blutigen Kopf. »Lucinda!« schrie Ramón. Sie knöpfte sich noch das Kleid zu, als sie gelaufen kam. »Geht es so?« Ramón ließ sich einen Augenblick ablenken, und ich warf die Flasche nach ihm. Er drückte ab, aber ich warf mich auf den Boden, hob die Machete auf und schlug nach seiner Hand. Ich erwischte sie mit der stumpfen Seite der Klinge, schlug ihm aber immerhin den Revolver aus der Hand. Als er sich danach bückte, sprang ich ihn an und erwischte ihn in dem Augenblick, in dem seine Finger sich um die Waffe schlossen. Ich stieß ihm ein Knie in die Nieren, aber er ließ den Revolver nicht los. Wir rollten zusammen über den Boden, stießen gegen den Tisch, gegen die Wand, gegen Enzos Leiche. »Schlag ihn! Schlag ihn!« befahl er Lucinda, die die Flasche nahm und damit auf eine Gelegenheit wartend über uns stand. Schließlich schlug sie zu und traf mich am Rücken, ich warf Ramón herum und drückte ihn gegen Enzo, in dessen Blut wir uns wälzten. Ich spürte Kräfte, die ich nie in mir vermutet hätte. Der Revolver ging los. »Schlag noch mal zu!« befahl er. Der Schlag landete auf Ramóns Schulter, der Revolver ging noch einmal los. Die Kugel traf sie am Hals. Sie schnappte nach Luft, dann sackte sie, Blut spuckend, zusammen. Schließlich gelang es mir, Ramón gegen den Rahmen der Verandatür zu rammen, wo ich ihm die Waffe abnehmen konnte. Ich kam wieder auf die Beine und trat ihm in den Schritt. Er klappte zusammen. -424-
»Sie rühren sich nicht von der Stelle!« schrie ich und ging zu Lucinda. Sie lag flach auf dem Rücken, die Augen vor Schreck weit aufgerissen, Blut quoll aus einem Loch, wo ihr Kehlkopf gewesen war. Ramón saß keuchend gegen die Wand gelehnt. »Vergiß sie, sie ist tot«, sagte er fast völlig außer Atem. »Jetzt sind nur noch wir beide übrig - wie von Anfang an.« »Hören Sie auf mit dem Scheiß, verdammt noch mal! Bleiben Sie sitzen!« »Wir beide. Es ging vom ersten Augenblick an nur um dich und mich. Sie war nur eine Brücke - wie der Prozeß und alles andere auch.« Er verstummte und atmete tief durch. »Denk drüber nach. Du kannst mich wieder verteidigen. Du kannst auf ein Verbrechen aus Leidenschaft plädieren. Sie trieb es mit Enzo, da habe ich durchgedreht und sie beide erschossen. Du paukst mich raus, ich weiß, du schaffst das. Ich mache dich zum berühmtesten Anwalt Amerikas du rettest mich zweimal vor der Gaskammer. Du schaffst es.« Ich nahm den Revolver in die Linke, zielte aber nach wie vor auf Ramón. Mit der Rechten griff ich nach meiner Machete und öffnete Lucindas Hals, damit sie nicht an ihrem eigenen Blut erstickte. »Vergiß sie, Charlie, vergiß sie!« Ich beugte mich über Lucinda, als Ramón sich nach vorn warf und in einem Splitterregen aus Glas und Holz durch die Verandatür sprang. Ich schoß; dann war der Revolver leer. Ich warf ihn weg und versuchte, Lucinda wiederzubeleben, aber es war zu spät - ihre Augen bewölkten sich, ihr Herz hörte auf zu schlagen. Ich stand auf und brüllte wie ein verwundetes Tier, dann raste ich durch die kaputte Tür. -425-
Ich sah Ramón den Hügel hinauf Richtung Observatorium rennen. In der Ferne hörte ich das Heulen einer Sirene und sah die dreifarbigen Lichtbalken der Funkstreifen, die auf das Haus zurasten. Ich rannte hinter ihm her, die steile Steigung hinauf, an den ziegelgedeckten Häusern und weitläufigen Anwesen vorbei und sprang auf die Treppe, die den Hügel hinaufführte. Ich sah ihn oben im Park verschwinden. Ich nahm drei, vier Stufen auf einmal, der Jäger auf den Fersen seiner Beute, der Geist auf der Jagd nach dem Fleisch. Als ich oben ankam, stand meine Lunge in Flammen, meine Beine drohten in tausend Stücke zu zerspringen. Dann sah ich Ramón ins Gebüsch rasen, den Pfad hinauf, der auf den Gipfel des Mount Hollywood führt. Ich setzte hinter ihm her, sprang über den Stacheldraht, zerriß mir die Hose, spürte die Stacheln in meiner Haut, weigerte mich jedoch, Schmerz zu empfinden. Ich war fest entschlossen, ihn nicht noch einmal davonkommen zu lassen - ich wollte nicht mehr versagen, nie wieder. Der Pfad endete in einem Dornendickicht. Ich sah Ramón vor mir unter den Zweigen hindurch den Hügel hinaufklettern. Ich warf mich auf die Erde und krabbelte auf allen vieren den trockenen Wasserlauf zwischen den Büschen hinauf, die Dornen rissen mir das Hemd vom Rücken, Steine und zerbrochene Flaschen zerschnitten mir Hände und Knie. Ich sah ihn erneut, als ich oben ankam, er schlug einen Haken nach links auf die Lichtung zu. Ich wußte, jetzt hatte ich ihn - aus der Lichtung gab es nur einen Weg heraus, und das war die Rinne, über die ich kam. Als ich die Lichtung erreichte, starrte er auf die Stadt unter ihm. Schwankend stand er am Rand des Abgrunds, unter dem tausend Fuß tiefer die Häuser lagen. Er drehte sich nach -426-
mir um, sein Gesicht eine Maske urzeitlichen Zorns - die Maske eines altertümlichen Gottes. Er hatte eine zerbrochene Flasche in der Hand. »Ich bin Oggún niká!« sagte er und fuhr mit der Flasche durch die Luft. »Ich bin Oggún, der Herr des Krieges! Komm her und stell dich deinem Schicksal!« Er stürzte sich auf mich, die Flasche schnellte auf mein Gesicht zu. Ich wartete bis zum letzten möglichen Moment, bevor ich zur Seite trat, seinen Arm zwischen meine Unterarme nahm und ihm den Knochen brach. Nur daß er den Schmerz nicht zu spüren schien. Er packte mich mit der Linken, schaffte es, mich um die eigene Achse zu wirbeln, hob mich mit einer Hand in die Höhe und trug mich an den Rand der Lichtung. Dort warf er mich zu Boden, aber ich bekam eine Bärentraube zu fassen, an der ich mich hochziehen konnte. Er sprang mir auf die Hände, trat mir ins Gesicht. Ich warf mich herum und stieß nach ihm. Aber er steckte den Tritt weg wie die Berührung eines Kindes. Ich sprang ihn an, trommelte mit den Fäusten auf ihn ein, aber es war wie in einem jener Alpträume, in denen man mit aller Kraft auf seinen Gegner eindrischt und die Schläge verpuffen wie in einem Kissen. Er rammte mir seinen Kopf in den Magen, so daß ich zu Boden ging, dann packte er meinen Arm und wollte mich in die Schlucht werfen, als irgend etwas oder irgend jemand ihm einen Stoß versetzte. Er fiel zu Boden und blickte zitternd vor Angst auf das, was sich hinter mir befand. Ich trat ihm vor die Brust und sah ihn fliegen, erst hinaus, dann tiefer, tiefer, auf die Felsen unter uns, wo er schließlich aufschlug. Keuchend stand ich auf. Dann lief es mir eiskalt über den Rücken - eiskalt vor Liebe für das, was ich sah. Das Bild meines Vaters stand vor mir, lächelnd. Und es war nicht etwa Tom Elliot, es war wirklich mein Vater, -427-
genauso wie ich ihn aus meiner Kindheit kannte, in einem Leinenanzug, jung, stark und voller Hoffnung. »Bien hecho, mi hijo«, sagte er. Gut gemacht. Als ich auf ihn zutrat, wich er zurück, auf die Kante der Lichtung zu. Dann tat er einen Schritt darüber hinaus und schwebte in der Luft; sein Körper wurde durchsichtig. Die Sonne war eben herausgekommen, die Dämmerung schlich sich davon und verschwand so wie er. »Estás perdonado«, sagte er noch. Dir ist verziehen. Dann war er fort, und die Sonne erhob sich wie ein Feuerball, die Stadt unserer Heiligen Mutter Gottes, der Königin der Engel, regte sich unter den Laken, setzte sich auf die Bettkante und grüßte den neuen Tag. Auf dem Heimweg trat ich in eine Telefonzelle und meldete ein Gespräch nach Florida an. »Hallo, Julian? Hi, ich bin's, Paps. Ich komme nach Hause. Ich liebe dich, mein Sohn.«
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