RICHARD STARK FRAGEN SIE DEN PAPAGEI Roman
Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren
Paul Zsolnay Verlag
Die Or...
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RICHARD STARK FRAGEN SIE DEN PAPAGEI Roman
Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren
Paul Zsolnay Verlag
Die Originalausgabe erschien erstmals 2006 unter dem Titel Ask the Parrot bei Mysterious Press/Warner Books in New York.
1 2 3 4 5 12 11 10 09 08 ISBN 978-3-552-05446-2
© Richard Stark 2006 Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe © Paul Zsolnay Verlag Wien 2008 Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg Printed in Germany
TEIL EINS
EINS Als der Hubschrauber nach Norden abdrehte und hinter der Hügelkuppe verschwand, trat Parker unter dem Baum hervor, wo er gewartet hatte, und stieg weiter bergauf. Was immer auf der anderen Seite dieses Hügels sein mochte, war auf jeden Fall besser als die Hunde, die im Talgrund hinter ihm bellten, unruhig herumrannten, an ihren Leinen zerrten, seinen Geruch aufnahmen und den Berg hinaufwollten. Er konnte den Fuß des Hügels mit den Polizeiwagen, die rings um den gemieteten Dodge, den er an dem Schnellimbiss stehengelassen hatte, nicht mehr sehen, aber das brauchte er auch nicht. Das aufgeregte Jaulen der Hunde reichte vollkommen. Wie hoch war dieser Hügel? Parker war nicht für eine Wanderung an einem Oktobermittag in bergigem Gelände gekleidet; seine Straßenschuhe rutschten auf dem Laub, und sein Jackett bauschte sich, als er sich von Baumstamm zu Baumstamm nach oben hangelte. Doch er musste den Vorsprung vor den Hunden halten und darauf hoffen, dass er, wenn es irgendwann endlich wieder bergab ging, ein gutes Versteck oder irgend etwas Brauchbares fand. Wie weit noch bis zum Gipfel? Er hielt, an die rauhe Borke eines Baums gelehnt, inne und hob den Blick, und fünf Meter über ihm stand zwischen den dünnen Stämmen der nachwachsenden Bäume ein Mann. Die Nachmittagssonne hing links von Parker, der Himmel hinter dem Mann ein blasses
Oktobergrau, der Mann selbst nur eine Silhouette. Mit einem Gewehr. Kein Bulle. Allein. Ein Mann, der da stand, auf Parker hinunterblickte, dieselben Hunde hörte wie Parker und das Gewehr entspannt und schräg nach oben gerichtet vor der Brust hielt. Parker senkte den Blick wieder, griff nach dem nächsten Baum und zog sich hinauf. Es dauerte drei, vier Minuten, bis er auf gleicher Höhe mit dem Mann war. Der trat einen Schritt zurück und sagte: »Das reicht. Genau da.« »Ich muss weiter«, sagte Parker, blieb aber stehen und wünschte, seine Schuhe gäben ihm auf dem dürren Laub einen besseren Halt. Der Mann sagte: »Sind Sie einer von diesen Bankräubern, von denen ich im Fernsehen gehört hab? Die drüben in Massachusetts die Bank leergeräumt haben?« Parker sagte nichts. Wenn das Gewehr sich bewegte, würde er reagieren müssen. Der Mann musterte ihn, und ein paar Sekunden lang betrachteten sie einander. Der Mann war etwa fünfzig und trug eine rote Jagdjacke aus Leder mit vielen Taschen, ausgebleichte Blue Jeans und schwarze Stiefel. Der Schirm einer rot-schwarzen Flanellmütze beschattete die Augen. Neben ihm lag ein grauer, halbgefüllter Segeltuchsack mit braunen Ledergriffen. Bei näherem Hinsehen erkannte man eine Anspannung in dem Mann, die ein Teil von ihm zu sein schien und nicht daher stammte, dass er im Wald einem Mann auf der Flucht begegnet war. Seine Hände umklammerten das Gewehr, und in seinen Augen war eine Bitterkeit, als hätte ihn einmal irgend etwas verletzt und als wäre er entschlossen, so etwas nicht noch einmal hinzunehmen.
Er schüttelte den Kopf und zog, ungeduldig angesichts des Schweigens, die Mundwinkel nach unten. »Ich frage nur«, sagte er, »weil ich, als ich Sie und dann die Hunde gehört hab, gedacht habe, wenn Sie einer von denen sind, will ich mit Ihnen reden.« Er zuckte zutiefst pessimistisch die Schultern. »Wenn nicht, können Sie hier stehenbleiben und die Hunde streicheln.« »Ich hab’s nicht dabei«, sagte Parker. Überrascht sagte der Mann: »Nein, wohl kaum. War ja auch ’ne Lastwagenladung Geld, nicht?« »So ungefähr.« Der Mann sah den Hügel hinunter. Die Hunde waren noch nicht in Sicht, aber man konnte sie hören, immer wilder und aufgeregter, nur zurückgehalten durch die Unbeholfenheit ihrer Führer, die sich bergauf mühten. »Heute könnte Ihr Glückstag sein«, sagte er, »und meiner auch.« Wieder eine verdrießliche Miene. »Ich könnte mal einen gebrauchen.« Er bückte sich, hob den Segeltuchsack auf und sagte: »Ich hab mir was für den Kochtopf geschossen. Mein Wagen steht dahinten.« Parker folgte ihm das kurze Stück bis zum Hügelrücken, wo der Wald sich lichtete. In einer kleinen Baumgruppe stand auf einem kaum sichtbaren Weg ein schwarzer FordGeländewagen, »’n alter Forstweg«, sagte der Mann, öffnete die Hecktür des Wagens und legte den Sack und das Gewehr hinein. »Ist besser, wenn Sie vorn sitzen.« »Klar.« Parker setzte sich auf den Beifahrersitz, während der Mann von der anderen Seite einstieg. Der Schlüssel steckte im Zündschloss. Er startete den Wagen und fuhr den bewaldeten Nordhang auf einem Weg hinunter, der meist nur daran zu erkennen war, dass dort keine Bäume standen.
Ohne die Augen von dem Weg zu nehmen, der sich vor ihnen den Hügel hinunterwand, sagte der Mann: »Ich bin Tom Lindahl. Und wie soll ich Sie nennen?« »Ed«, beschloss Parker. »Haben Sie irgendwelche Waffen dabei, Ed?« »Nein.« »Die haben hier überall Straßensperren errichtet.« »Ich weiß.« »Ich meine, wenn Sie glauben, Sie könnten mir eins überziehen und mir den Wagen klauen, wäre Ihre Fahrt nach zehn Minuten zu Ende.« »Können Sie die Straßensperren umgehen?« fragte Parker. »Bis zu mir sind’s bloß ein paar Kilometer«, sagte Lindahl. »Wir werden keinem begegnen. Ich kenne mich hier aus.« »Gut.« Parker blickte an Lindahls verdrießlichem Gesicht vorbei nach links. Zwischen den Bäumen konnte er jetzt unterhalb von ihnen eine zweispurige asphaltierte Straße sehen, die parallel zu dem Forstweg verlief. Dort unten fuhr ein roter Pick-up, allerdings in die andere Richtung, nämlich bergauf. Parker sagte: »Können die uns von da unten sehen?« »Spielt keine Rolle.« »Die mit den Hunden werden in fünf Minuten auf dem Kamm sein«, sagte Parker. »Wenn sie den Weg sehen, werden sie sich zusammenreimen, dass ich mit einem Wagen weggefahren bin.« »Wir sind bald da«, sagte Lindahl und lachte unvermittelt. Es war ein rostiges Geräusch, als würde er sonst nicht oft lachen. »Wegen Ihnen bin ich überhaupt hier rausgefahren«, sagte er. »Ach ja?«
»Im Fernsehen reden sie bloß noch von diesem Bankraub, von dem ganzen Geld, das weg ist – ich hab’s nicht mehr ausgehalten. Ich dachte: Diese Burschen lassen sich nicht herumschubsen. Diese Burschen haben keine Angst vor ihrem eigenen Schatten, die gehen hin und erledigen, was erledigt werden muss. Ich hatte eine solche Wut auf mich selbst – ich bin ein Feigling, das sag ich Ihnen lieber gleich –, dass ich einfach das Gewehr nehmen und hier rausfahren musste. Die beiden Kaninchen dahinten kamen mir weiß Gott gelegen, aber wirklich gebraucht hab ich sie im Moment eigentlich nicht. Ich bin wegen Ihnen hier rausgefahren.« Parker betrachtete sein Profil. Wenn er sprach, machte Lindahl einen etwas weniger verbitterten Eindruck. Was immer an ihm nagte, tat offenbar mehr weh, wenn er es für sich behielt. Lindahl warf ihm einen kurzen Blick zu. Sein Gesichtsausdruck war jetzt beinahe fröhlich. »Und da sind Sie«, sagte er. »Und aus der Nähe, muss ich sagen, sehen Sie nicht gerade aus wie einer, der viel auf der Pfanne hat.« Er lenkte nach links ein steiles Gefalle hinunter, an dessen Ende der Weg in die Straße mündete.
ZWEI
Der Name auf dem Ortsschild lautete Pooley, und es war ein Nest. An einer kleinen Kreuzung standen Blinklichter, die in zwei Richtungen gelb und in die beiden anderen Richtungen rot leuchteten. An der Ecke befanden sich eine Tankstelle, eine geschlossene Bankfiliale, eine geschlossene Kneipe und ein geschlossenes Sportgeschäft. Entlang der beiden schmalen Straßen der Stadt standen etwa zwanzig Häuser – drei oder vier davon waren mit Brettern vernagelt, die meisten anderen heruntergekommen. Auf einer Veranda saß ein alter Mann in einem Schaukelstuhl und schlief, und ein Stück weiter kniete eine alte Frau in ihrem Vorgarten. Lindahl fuhr geradeaus über die Kreuzung und bog kurz danach rechts in eine gekieste Einfahrt neben einem der vernagelten Häuser ein. Hinter dem Haus stand am Ende des Grundstücks eine für drei Wagen vorgesehene und mit braunen Schindeln verkleidete Garage, die zu einer Wohnung umgebaut worden war. Lindahl hielt an. »Gehen Sie rein«, sagte er. »Die Tür ist offen. Ich kümmere mich um die Kaninchen.« Parker stieg aus dem Ford und ging zu dem mittleren Garagentor, aus dem eine behelfsmäßige Haustür konstruiert worden war. Daneben befand sich ein Doppelschiebefenster, das von innen mit einer Jalousie verschlossen war. Er stieß die Tür auf und trat in das trübe beleuchtete Innere. Es roch ein wenig wie in einer Höhle: alter Schmutz, ge-
mischt mit irgendeinem Tiergeruch. Dann bemerkte er den Papagei in dem großen Käfig auf dem Fernseher. Auch der Papagei sah ihn und drehte den grünen Kopf von einer Seite zur anderen, sagte jedoch nichts, sondern gab nur einen leisen, gurgelnden Ton von sich und hob wiegend die Füße von der Stange. Die Zeitung auf dem Boden des Käfigs war nicht neu. Der Rest des Wohnzimmers wirkte ziemlich normal, aber schäbig – es war mit alten, verschlissenen Möbeln ausgestattet. Der Fernseher lief mit abgeschaltetem Ton und zeigte Werbung für ein Mittel gegen Sodbrennen. Der Grund für Lindahls Wut war Geldmangel. Es war nicht gerecht, dass er bedürftig war, dass er in einer solchen Umgebung leben und Kaninchen schießen musste, um etwas im Topf zu haben. Die Nachrichten von dem großen Bankraub hatten ihn mit Wut, Depressionen und Selbsthass erfüllt; er hätte etwas unternehmen müssen, um an das Geld zu kommen, das ihm, wie er fand, rechtmäßig zustand, doch er hatte nichts unternommen. Und jetzt glaubte er, dass es helfen würde, mit einem Bankräuber zu reden. Die nächsten fünf Minuten verbrachte Parker damit, sich ein wenig umzusehen: Wohnzimmer, Schlafzimmer, Bad, Küche, Abstellkammer mit Ölofen. In einer Wandhalterung im Schlafzimmer waren drei weitere Gewehre festgeschlossen, doch Parker fand keine Pistolen. Lindahl lebte allein und schien nicht viel Kontakt mit anderen zu haben. Er hatte ein Konto mit zweihundertdreiundsiebzig Dollar, schrieb ausschließlich Schecks für laufende Ausgaben wie Telefon und Strom aus und hob Geld am Automaten ab. Ein monatlicher Zahlungseingang in Höhe von siebzehnhundertsechsundfünfzig Dollar trug den Vermerk »Ber.unf.«. Berufsunfähigkeitsrente?
Lindahl würde ihm sagen, warum er mit einem Bankräuber lieber reden als ihn der Polizei ausliefern wollte. Was auch immer der Grund sein mochte – im Augenblick brauchte Parker ihn. Seine einzigen Papiere waren jetzt, da der Wagen, den er damit gemietet hatte, der Polizei in die Hände gefallen war, nutzlos. In den nächsten Tagen würde es in dieser Gegend unmöglich sein, irgendwohin zu fahren oder auch nur zu gehen, ohne hin und wieder einen Ausweis vorzeigen zu müssen. Als Lindahl mit dem Gewehr und zwei weißen Plastiktüten in den Händen eintrat, saß Parker in dem Sessel, der nicht dem Fernseher zugewandt war, und blätterte in dem örtlichen Käseblatt von gestern. Nach den Überschriften zu urteilen gab es hier keine großen Städte, nur kleinere Ortschaften. Parker sah zur Tür, und Lindahl sagte: »Ich räume nur schnell das hier weg und wasche mir die Hände«, und ging weiter in die Küche. Parker hörte Wasser laufen, dann kehrte Lindahl mit dem Gewehr zurück, das er locker in der Hand hielt. »Nur das noch«, sagte er und ging ins Schlafzimmer. Parker hörte das Klicken, mit dem das Gewehr in der Wandhalterung festgeschlossen wurde. Jetzt endlich kam Lindahl ins Wohnzimmer und setzte sich auf die linke Seite des Sofas. »Ich hab nachgedacht, wie ich es Ihnen sagen soll«, begann er. »Ich bin’s nicht mehr gewöhnt, mit Leuten zu reden.« Er hielt inne und sah Parker an, als warte er auf eine Antwort, doch Parker sagte nichts. Also verzog Lindahl das Gesicht zu seinem säuerlichen Lächeln und sagte: »Bei Ihnen ist es wahrscheinlich genauso.« »Sie wollen mir etwas sagen.« »Ich bin ein Petzer«, sagte Lindahl, als hätte er das ursprünglich mit sehr viel mehr Worten sagen wollen. »Meine
Frau hat gesagt, ich sollte das nicht tun, sie hat gesagt, ich würde alles verlieren, auch sie, und sie hat recht gehabt. Aber ich bin eben stur.« »Und wo haben Sie gepetzt?« »Ich hab zweiundzwanzig Jahre auf einer Rennbahn in Richtung Syracuse gearbeitet«, sagte Lindahl. »Das Ding hieß Gro-More – nach einer Futtermittelfirma, die vor vierzig Jahren pleite gegangen ist. Den Namen haben sie beibehalten.« »Sie haben gepetzt.« »Ich war Technischer Direktor, verantwortlich für die Infrastruktur, den Zustand der Gebäude, der Tribüne und der Bahn. Ich hab Leute eingestellt, Aufträge vergeben. Mit dem Geld hatte ich nichts zu tun.« »Was war’s dann«, sagte Parker, »wovon Sie nichts wissen sollten?« »Ich hätte nicht davon wissen müssen.« Lindahl schüttelte den Kopf und begann zu erklären. »Es war eine saubere Rennbahn«, sagte er. »Wir alle, alle, die da gearbeitet haben, waren froh, dass es eine saubere Rennbahn war. Eine Rennbahn kann auf tausend Arten schmutzig sein, aber nur auf eine Art sauber, und als ich rausfand, was die mit dem Geld angestellt haben, tat das richtig weh. Es war, als hätten sie einem aus meiner Familie was Schmutziges angetan.« Das Bemühen, seine Motive zu erklären, vertiefte die Falten in seinem Gesicht. Er hielt inne, machte eine wegwischende Gebärde und sagte: »Ich brauche ein Bier. Ohne ein Bier kann ich Ihnen das nicht erzählen.« Er stand auf und fragte: »Sie auch?« »Nein, aber holen Sie sich ruhig eins.« Das tat Lindahl, und als er wieder auf dem Sofa saß, fuhr er fort: »Die haben also folgendes gemacht: Sie haben ille-
gale Wahlkampfspenden für Politiker aus diesem Bundesstaat versteckt und durch die Rennbahn geschleust. Gewaschen sozusagen.« »Wie hat das funktioniert?« fragte Parker. »Einer geht zur Rennbahn und setzt bei jedem Rennen tausend Dollar auf einen krassen Außenseiter. Auf die Art und Weise lässt er an einem Tag achttausend Dollar da. An einem Tag. Das Geld bleibt im System, weil er mit seiner Kreditkarte bezahlt, aber ein ganzer Haufen kleiner Wetten, die andere Leute gemacht haben, verschwindet. Wetten, die mit Bargeld bezahlt worden sind. Der Typ hat die achttausend also nicht dem Politiker gegeben, sondern auf der Rennbahn verzockt, aber kurz darauf taucht das Geld in der Tasche von dem Politiker auf.« »Die Pferde haben’s ihm gespendet.« »So ungefähr«, nickte Lindahl. »Als ich das erfahren hab, war ich wie vor den Kopf geschlagen. Bei uns gab’s kein Doping, keine Absprachen, keine vertauschten Pferde, keine Mafia – und dann das. Ich hab mit einem der Chefs gesprochen, aber der sah kein Problem. Man hilft doch nur ein paar Freunden, keiner von der Rennbahn macht dabei einen Schnitt. Das Ganze dient bloß dazu, ein paar von den idiotischen Bestimmungen zu umgehen, die sich die Sesselfurzer in Washington ausgedacht haben.« »Klingt gut«, sagte Parker. »Ist aber nicht gut.« Lindahl nahm einen Schluck Bier. »Das ist Korruption. Wo man auch hinsieht: die Politiker, die Rennbahn, alles, was mit Sport zu tun hat. Ich hab mit meiner Frau darüber gesprochen, monatelang, immer wieder, und sie hat gesagt, das ginge mich nichts an, und ich würde meinen Job verlieren und alles andere dazu. Wir hatten nie viel Geld, und sie hat gesagt, wenn ich entschlossen wäre,
mein Leben in den Sand zu setzen, würde sie nicht bleiben und dabei zusehen. Aber ich konnte nicht anders, und darum bin ich schließlich zur Staatspolizei gegangen.« »Und die haben Sie verdrahtet?« »Genau.« Lindahl machte ein gequältes Gesicht. »Das bereue ich wirklich«, sagte er. »Wenn ich hingegangen wäre und gesagt hätte: ›Da läuft das und das‹, wäre ich eben bloß irgendein Zeuge gewesen. Die Staatsanwaltschaft hat mir Druck gemacht, damit ich ihnen helfe, den Fall vor Gericht zu bringen. Aber letztlich waren die Politiker einfach zu stark. Es wurde alles unter den Teppich gekehrt, und keinem ist was passiert. Nur mir.« »Sie wussten, dass es so kommen würde.« »Wahrscheinlich«, sagte Lindahl und nahm noch einen Schluck. »Die haben mich überredet, aber im Grunde hab ich mich wahrscheinlich auch selbst überredet. Ich hab gedacht, das wäre das Beste für die Rennbahn – können Sie sich das vorstellen? Nicht das Beste für mich, sondern für eine verdammte Rennbahn, die nach einem Viehfutter benannt ist. Ich sollte mal meinen Kopf untersuchen lassen.« »Zu spät«, sagte Parker. Lindahl seufzte. »Allerdings«, sagte er. »Alle haben gesagt, ich soll mir keine Sorgen machen, es gibt Gesetze, die Zeugen schützen, und mir kann keiner was anhaben.« Er machte, die Bierflasche in der Hand, eine Geste, die den ganzen Raum einschloss. »Sie sehen ja, wo ich jetzt bin. Meine Frau hat Wort gehalten und ist mit ihrer verwitweten Schwester abgehauen. Ich bin seit vier Jahren arbeitslos. Ich kriege eine kleine Berufsunfähigkeitsrente, weil ich vor Jahren mal unter ein Pferd gekommen bin. Ich hinke nicht mal mehr, aber in meinem Alter, mit meiner Geschichte und in dieser Gegend finde ich niemanden, der mir irgendeinen Job gibt.
Nicht mal an der Hamburgertheke wollen die einen, der so alt ist wie ich.« »Stimmt«, sagte Parker. »Und darum haben Sie sich in den Hintern gebissen, weil Sie sich nicht gerächt haben. Denn Sie denken, das könnten Sie. Aber wie?« »Ich hab die Gebäude jahrelang in Schuss gehalten«, sagte Lindahl. »Ich habe noch immer sämtliche Schlüssel. Ich fahre noch immer ab und zu hin, wenn kein Rennen veranstaltet wird und das Ganze geschlossen ist wie ein Museum, und dann laufe ich einfach ein bisschen herum. Manchmal finde ich eine Tür mit einem neuen Schloss, dann nehme ich einen Ersatzschlüssel vom Brett und kopiere ihn.« »Sie können also rein- und rausspazieren.« »Nicht nur das«, sagte Lindahl. »Ich weiß auch, wo man rein- und rausspazieren kann. Ich weiß, wo das Geld aufbewahrt wird, wo es herumliegt, wo es für den Transport in die Bank gesammelt und gelagert wird. Ich weiß, wo alles ist und wie man drankommt. Während der Rennen wird alles rund um die Uhr bewacht, aber ich weiß, wie man um drei Uhr morgens mit einem Lastwagen reinkommt, ohne dass einer was merkt. Ich weiß, wie man reinkommt und eine große Ladung wieder rausbringt.« Lindahl hatte bereits einiges von dort mitgenommen, aber das war es nicht, was er meinte. Parker sagte: »Die haben Sie also um Ihre Frau und Ihren Job gebracht, und da haben Sie beschlossen, sie auszunehmen, dick abzusahnen, von hier zu verschwinden und sich gemütlich zur Ruhe zu setzen.« »Genau«, sagte Lindahl. »Seit vier Jahren denke ich an nichts anderes.« »Warum haben Sie’s nicht gemacht?« »Weil ich ein jämmerlicher Feigling ohne Rückgrat bin«, sagte Lindahl und trank sein Bier aus.
DREI
»Könnte aber auch sein«, sagte Parker, »dass Sie gar nicht so blöd sind.« Lindahl sah ihn stirnrunzelnd an. »Inwiefern?« »Sie gehen da rein«, sagte Parker, »um drei Uhr morgens, mit Ihrem Lastwagen und Ihren Schlüsseln und Ihrem Insiderwissen, und laden das ganze Geld auf Ihren Lastwagen und verschwinden, und wenn die am nächsten Morgen sehen, dass das Geld weg ist und nirgendwo Einbruchspuren zu sehen sind, was ist dann das erste, was sie sagen? Sie sagen: ›Gibt’s da vielleicht irgendwo einen ehemaligen Mitarbeiter, der was gegen uns hat?‹« »Ich weiß«, sagte Lindahl, lachte in sich hinein und schüttelte den Kopf. »Das gehört ja zum Plan. Mir geht’s ja nicht nur um das Geld, sondern auch um Rache. Die sollen wissen, dass ich mich gerächt hab und dass sie nichts dagegen tun können.« »Sie wollen einfach verschwinden.« »So was ist schon vorgekommen.« »In letzter Zeit seltener«, sagte Parker. »Im Augenblick sitze ich hier und höre Ihnen zu, anstatt von hier zu verschwinden, und das nur, weil ich keinen Ausweis habe.« »Tja, Sie haben sie aufgescheucht«, sagte Lindahl. »Sie haben ihre Bank ausgeraubt.« »Ihre Rennbahn auszurauben wird sie aber auch aufscheuchen.«
»Ich erzähle Ihnen jetzt mal meinen Plan«, sagte Lindahl. »Bei den Wetten bezahlen die Verlierer die Gewinner, also braucht man anfangs nur wenig Bargeld. Beim ersten Rennen nimmt das Wettbüro genug ein, um die Gewinner zu bezahlen und einen Schnitt zu machen, und so geht’s dann weiter. Etwa zwanzig Prozent vom Umsatz bleibt als Gewinn, und das ist das Geld, das ich haben will. Am Ende des Tages werden das Bargeld und die Kreditkartenquittungen in Kisten verpackt. Die Kisten kommen auf kleine Wagen, und die werden mit dem Lastenaufzug in den Keller gefahren. Dann geht’s durch einen Korridor in den sogenannten Saferaum, der hat Betonwände, keine Fenster und nur eine Tür, und die ist aus Stahl und immer verschlossen. Neben dieser Tür ist die Tür zu der Rampe, die am Ende des Clubhauses zur Oberfläche führt. Auch diese Tür ist verschlossen, und das Tor am oberen Ende der Rampe ebenfalls. Von Montag bis Freitag kommt eine Stunde nach Schließung der Rennbahn ein Geldtransporter, fährt rückwärts die Rampe runter und holt die Tageseinnahmen ab. Samstags und sonntags kommt er nicht, sondern erst am Montag morgen um acht – dann holt er die Wochenendeinnahmen ab.« »Und Ihr Plan ist«, sagte Parker, »die Sache Sonntag nacht durchzuziehen.« Lindahl schüttelte den Kopf. »Samstag nacht«, sagte er. »Diese Kisten sind schwer. Wenn die erst mal da stehen, rührt sie bis Montag morgen keiner mehr an. Ich fahre also Samstag nacht dorthin, mit Kisten, die genauso aussehen wie die von der Rennbahn. Ich nehme die vollen mit und lasse die leeren da. Dadurch bleiben mir sechsunddreißig Stunden, bis irgendeiner was merkt. Wie weit kann man in sechsunddreißig Stunden kommen, wenn man bar bezahlt und keine Spuren hinterlässt?«
Jeder hinterlässt Spuren, aber es hatte keinen Zweck, das Lindahl zu erklären, denn es war ja sowieso alles bloß Phantasie. Parker hätte sich Lindahls Schlüssel und Ortskenntnisse zunutze machen können, wenn die Gegend ein wenig ruhiger gewesen wäre und er ein, zwei zuverlässige Typen hätte finden können, aber Lindahl selbst konnte unmöglich in dieses Feuer greifen, ohne sich zu verbrennen. Es war nicht Parkers Aufgabe, einem Amateur zu sagen, dass er ein Amateur war, und ihn an Führerschein, Nummernschilder, Fingerabdrücke und das Misstrauen zu erinnern, das Barzahlung in einem Land erregt, in dem jeder Kreditkarten verwendet. Also sagte er: »Und den Papagei nehmen Sie mit?« Lindahl war von dem unvermittelten Themenwechsel überrascht, und dann erst recht, als er begriff, dass es überhaupt kein Themenwechsel war. »Darüber hab ich noch nie nachgedacht«, sagte er und lachte wieder in sich hinein. »Halten Sie nach einem Mann mit einem Papagei Ausschau.« Er wandte sich zu dem Vogel um, als sähe er ihn zum erstenmal, und sagte: »Das bin ich in den letzten Jahren doch gewesen, oder? Wer sonst würde sich einen Papagei zulegen, der nicht spricht?« »Kein Wort?« »Kein Wort.« Lindahl musterte den Papagei, und der Vogel legte den Kopf schief und musterte seinerseits Lindahl, hörte aber schließlich damit auf und wühlte mit dem Schnabel in seinen Federn. Seine Augen waren so groß und schimmernd wie Knöpfe an einem Kommunionsanzug. Wieder zu Parker gewandt, sagte Lindahl: »Da sehen Sie, wie wenig Lust zu reden ich in den letzten Jahren hatte. Ich nehme ihn lieber nicht mit, aber das ist kein Problem. Ich
komme ganz gut allein zurecht. Ich werde nicht mit irgendwelchen Leuten irgendwelche Gespräche anfangen. Gehört der zu Ihnen?« Er nickte in Richtung Fernseher. Parker beugte sich vor und sah auf den Bildschirm, der ein altes Polizeifoto von Nick Dalesia zeigte. Nick war bis eben einer seiner Partner gewesen. Unter dem Foto stand »Nicholas Leonard Dalesia«. Sie hatten Nick also geschnappt. Das änderte alles. »Soll ich den Ton einschalten?« »Wir wissen, was sie sagen«, antwortete Parker. Lindahl nickte. »Wahrscheinlich.« Der Täter wurde vorgeführt. Dalesia ging in Handschellen, mit gesenktem Kopf und sah ziemlich mitgenommen aus. Er lief in ruckartigen kleinen Schritten von einem Wagen der Staatspolizei über den breiten Betonbürgersteig irgendeiner Kreisstadt zum Seiteneingang eines Backsteingebäudes, das vorn das Gericht und in einem Seitenflügel das Gefängnis beherbergte. Es war die Polizei des Staates New York, also war auch Nick nicht sehr weit gekommen. So viele uniformierte Polizisten wie möglich drängten sich ins Bild, um Nick vom Wagen zum Gebäude zu schieben. Parker lehnte sich zurück und sah nicht mehr auf den Bildschirm. Sie hatten das Ding zu dritt durchgezogen und die Beute versteckt, anstatt zu versuchen, sie durch die Straßensperren zu bringen. Wenn man einen von ihnen schnappte, dann würde er – das war klar – das Versteck verraten, um sich die Sache ein wenig zu erleichtern. Er konnte auch seine Partner verraten, sofern er genug von ihnen wusste. Wenn man der erste war, der geschnappt wurde, gab man so viel wie möglich preis. Und wenn man nicht der erste war, ließ man sich lieber überhaupt nicht schnappen, denn dann gab es keine Verhandlungsmasse mehr.
Das Geld war also weg. Es war eine fette Beute gewesen, aber jetzt war sie weg, bis auf die viertausend in Parkers Tasche, und er musste noch einen Weg durch dieses Minenfeld finden. Er sagte: »Die Saison auf dieser Rennbahn von Ihnen läuft noch?« »Noch zwei Wochen«, sagte Lindahl, »und dann ist sie bis Ende April geschlossen.« »Also noch drei Samstage – heute und die beiden kommenden.« »Heute können wir’s nicht tun«, sagte Lindahl und machte ein erschrockenes Gesicht. »Wir können heute nacht hinfahren«, sagte Parker. »Ein Probelauf, um zu sehen, ob es überhaupt möglich ist.« Lindahl wirkte eifrig und beunruhigt zugleich. »Sie meinen, Sie würden das mit mir machen?« »Mal sehen«, sagte Parker.
VIER
Parker stand auf, ging zur Tür und zog die Jalousie vor dem Fenster daneben hoch. Das mit Brettern vernagelte Haus zwischen der Garage und der Straße war ein zweieinhalbstöckiges Holzgebäude, wahrscheinlich hundert Jahre alt, und die ursprüngliche Farbe war schon längst zu einem Grau verbleicht. Bis auf ein kleines rundes Dachbodenfenster waren alle Türen und Fenster mit großen Sperrholzplatten verschlossen, die ebenfalls altersgrau waren. »Erzählen Sie mir mal von dem Haus da«, sagte Parker. Lindahl erhob sich, stellte sich neben ihn und sagte: »Da hat ewig eine Frau namens Grothe gelebt. Sie war Pensionärin, hatte irgendeine Beamtenstelle in der Staatsregierung gehabt. Sie war allein, und als sie schließlich starb, war sie über neunzig.« »Warum ist da alles verrammelt?« »Irgendwelche Cousins haben das Ding geerbt, aber die wollen mit dieser Gegend nichts zu tun haben und sind vor Jahren zu einem Makler gegangen, damit er es für sie verkauft. Bloß kauft hier keiner mehr irgendwas, und nach einer Weile hat die Gemeinde es zur Deckung der Grundsteuerschuld gepfändet und die Fenster und Türen vernagelt, damit sich keine Penner darin einnisten.« »Sind Sie schon mal drin gewesen?« »Geht ja nicht. Ist alles fest verschlossen. Und warum auch? Da gibt’s bloß Staub und Trockenfäule.«
»Und von wem haben Sie dieses Haus hier gemietet?« »Von der Gemeinde. Ist verdammt billig, und zwar mit Recht. Wer kommt da?« Ein schwarzer Taurus war von der Straße abgebogen und fuhr an dem verrammelten Haus vorbei auf sie zu. Lindahl warf Parker einen kurzen Blick zu. »Sind Sie hier?« Wenn man sich nicht verstecken kann, muss man bleiben, wo man ist. »Ich bin Ed Smith«, sagte Parker. »Ich hab vor Jahren auf der Rennbahn gearbeitet und bin dann nach Chicago gezogen. Jetzt besuche ich Sie.« »Smith?« »Es gibt Leute, die so heißen«, sagte Parker. Ein untersetzter Mann in einer dunkelbraunen Windjacke stieg aus dem Wagen. »Wer ist das?« »Ach, der«, sagte Lindahl, als der Mann die Wagentür zuschlug, kurz zu Lindahls daneben geparktem Ford sah und in Richtung Tür ging. »Wie heißt der noch mal? Fred, Fred Soundso.« Fred sah die beiden durch das Fenster und winkte. Sein Gesicht unter dem roten Mützenschirm war breit und dick und wurde beherrscht von einer Wulst unmittelbar über den Augen. »Angel- und Jagdclub«, sagte Lindahl und öffnete die Tür. »Fred! Mensch, wir haben uns ja ewig nicht gesehen!« »Du stehst immer noch in der Mitgliederkartei«, sagte Fred, grinste und nickte Parker kurz zu. »Komm rein, komm rein«, sagte Lindahl und trat zur Seite. »Das ist Ed Smith, ist zu Besuch. Du willst doch wohl nicht den Mitgliedsbeitrag kassieren, oder?« Fred lachte pflichtschuldig, streckte Parker die Hand hin und sagte: »Fred Thiemann. Jagen Sie auch, Ed?« »Manchmal.«
»Ich könnte dir ein Bier anbieten«, sagte Lindahl mit zweifelndem Unterton. »Nein, nein, keinen Alkohol«, sagte Fred, »nicht jetzt. Du hast bestimmt von diesen Bankräubern gehört, die von Massachusetts rübergekommen sind.« Parker konnte sehen, wie sich Lindahls Halsmuskeln spannten, als er sich nicht zu Parker umdrehte, sondern sagte: »Einen von ihnen haben sie geschnappt, oder?« »Nicht weit von hier. Die Staatspolizei glaubt, dass die anderen beiden sich noch irgendwo hier in der Gegend verstecken, und hat uns und die American Legion und die Veteranenverbände und so weiter gebeten, dass wir uns mal im Wald und in leerstehenden Häusern umsehen und sie vielleicht aufstöbern. Es ist Wochenende, und eine Menge Leute machen mit.« Er zuckte die Schultern und grinste freudig und verlegen zugleich. »Wie kleine Jungs, die Räuber und Gendarm spielen.« »Wie ein Suchtrupp seinerzeit im Wilden Westen«, sagte Lindahl. »Genau«, sagte Fred. »Nur ohne Pferde. Jedenfalls, ein paar von uns treffen sich in St. Stanislas und nehmen sich den Hickory Hill vor. Keiner rechnet damit, dass wir irgendwas finden, aber vielleicht können wir dafür sorgen, dass diese Typen in Bewegung bleiben.« »Wie haben sie den ersten gekriegt?« fragte Parker. »Er hat Geld aus der Beute ausgegeben«, sagte Fred. »Und das waren hauptsächlich frisch gedruckte Scheine – die hatten die Seriennummern.« Die viertausend Dollar in Parkers Tasche waren also neues Geld. Er sagte: »Der Typ war ganz schön leichtsinnig.« »Hoffentlich sind die anderen genauso leichtsinnig«, sagte Fred. »Wir haben deine Telefonnummer nicht, Tom, und dar-
um hab ich gesagt, ich schaue mal bei dir vorbei und frage dich, ob du mitmachen willst. Sie auch, Ed.« Lindahl sah Parker an. »Hast du Lust?« »Klar«, sagte Parker. »Der sicherste Platz weit und breit ist beim Suchtrupp.«
FÜNF
»Tom«, sagte Parker, »du musst mir ein Gewehr leihen. Ich hab keins dabei.« Lindahl sah ihn erschrocken an, sagte dann aber: »Klar. Komm und such dir eins aus.« »Soll ich auf euch warten?« fragte Fred Thiemann. »Nein, fahr schon mal vor«, sagte Lindahl. »Ich brauche noch ein paar Minuten. Wir sehen uns dann in St. Stanislas.« »Gut. Hat mich gefreut, Ed.« »Mich auch.« Thiemann ging und schloss hinter sich die Tür, und Lindahl wandte sich zum Schlafzimmer. Parker folgte ihm, und als er durch die Tür trat, starrte Lindahl ihn wütend an. Sein Gesicht hatte mit einemmal rote Flecken. »Sie müssen hier verschwinden!« Es war ein heiseres Flüstern, beinahe ein erstickter Schrei. »Sobald Fred weg ist, hauen Sie ab!« »Nein«, sagte Parker. »Was?« Lindahl traute seinen Ohren nicht. »Sie können nicht hierbleiben. Sie sind auf der Flucht!« »Wir haben eine Abmachung«, sagte Parker, »und an die werden wir uns halten.« »Nein, werden wir nicht! Keine Sekunde mehr!« Parker stand in der Schlafzimmertür und sah durch das vordere Fenster. »Fred ist gerade gefahren«, sagte er. »Was wollen Sie machen – schreien? Zu dem leeren Haus da vorn?
Wollen Sie ein Gewehr aus der Halterung nehmen anstatt zwei?« »Als Sie gesagt haben ... als Sie gesagt haben, dass ich Ihnen ein Gewehr leihen muss ... Herrgott, da bin ich zur Besinnung gekommen, genau in diesem Augenblick. Sie könnten jemanden umbringen, den ich kenne.« »Wie sieht es aus, wenn ich der einzige ohne Gewehr bin?« sagte Parker. »Wozu bin ich denn sonst dabei?« Lindahl ließ sich schwer auf das Bett sinken, die Hände hingen schlaff zwischen den Knien. »Ich muss verrückt gewesen sein«, sagte er zum Fußboden. »Ich hab all die Jahre über diese verdammte Rennbahn nachgedacht, und dann hab ich über Sie nachgedacht, und verdammt – auf einmal stehen Sie vor mir, und ich hab die Gäule mit mir durchgehen lassen. Ein Hirngespinst.« Er starrte Parker an und versuchte, ein strenges Gesicht zu machen. »Ich werde einem Hirngespinst kein Gewehr geben. Sie müssen verschwinden. Ich hab Sie bis hierher gebracht, aber jetzt sind Sie auf sich selbst gestellt. Ich werde kein Wort über Sie sagen.« »Das funktioniert nicht«, sagte Parker. »Sie sind jetzt ein Komplize. Sie haben mich auf dem Hügel in Ihren Wagen steigen lassen, mich mit nach Hause genommen und als Bekannten vorgestellt, der gerade zu Besuch ist. Wenn Sie jetzt ohne mich in St. Dingsbums erscheinen, was sagen Sie dann Fred? Und wenn ich geschnappt werde und Fred mein Gesicht im Fernsehen sieht? Was sagen Sie dann zu den Bullen?« »Ich muss verrückt gewesen sein«, flüsterte Lindahl wie zu sich selbst. »Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe.« »Sie haben an Rache gedacht. Ich werde keinen von Ihren Freunden erschießen, jetzt, wo Sie plötzlich so viele davon haben. Aber ich werde ein Gewehr haben, weil alle anderen auch eins haben.«
Lindahl sah ihn an. »Was ist, wenn wir den anderen Typ aufstöbern? Was ist, wenn Sie versuchen, ihm zu helfen?« »Das würde ich nicht tun«, sagte Parker. Lindahl sah ihn stirnrunzelnd an und versuchte zu verstehen, was Parker damit meinte. Er sackte ein Stück zusammen. »Sie meinen, Sie würden ihn töten.« Das würde Parker tun, um sich zu schützen, aber er wollte nicht, dass Lindahl darüber nachdachte. »Ich werde mich von ihm fernhalten«, sagte er. »Und er von mir. Wahrscheinlich ist er sowieso schon über alle Berge.« Lindahl schien nicht imstande, sich in Bewegung zu setzen. Er blieb auf dem Bett sitzen, starrte ins Leere und schüttelte langsam den Kopf, während Parker die vier Gewehre in der verschlossenen Wandhalterung begutachtete. Die beiden oberen waren beinahe identisch: Remington, Modell 11oo, einläufige Schrotflinten, die obere Kaliber .20, die zweite das etwas größere und schwerere Kaliber .16. Die anderen beiden waren Repetierbüchsen: eine Marlin 336Y für .30-30 Winchester-Patronen und eine Ruger 96 für .44 Magnum-Patronen. Alle vier waren alt, aber gut gepflegt und vielleicht gebraucht gekauft worden. Parker wandte sich wieder zu Lindahl, der noch immer zusammengesunken und reglos auf dem Bett saß. »Lindahl«, sagte er. Lindahl hob den Blick. In seinen Augen war kaum eine Gefühlsregung – er grübelte, tief in Gedanken versunken, vor sich hin. »Sie und ich gehen zu diesem Suchtrupp«, sagte Parker. »Wir nehmen die beiden Repetiergewehre, aber ungeladen, so dass keiner von uns versehentlich einen Schuss abgeben kann. Wir machen mit, bis die Sache abgeblasen wird, dann gehen wir was essen und kommen wieder her.«
»Ich will Sie hier nicht haben«, sagte Lindahl dumpf, aber stur. »Hören Sie zu. Wir reden von ein paar Stunden, die wir da draußen verbringen. Was Sie wollten – oder geglaubt haben zu wollen –, war Rache. Sie haben jetzt Zeit, darüber nachzudenken. Wenn wir wieder hier sind, sagen Sie’s mir: Entweder wollen Sie die Rennbahn dann immer noch ausrauben oder nicht. Wenn Sie’s machen wollen, fahren wir hin und sehen es uns an. Wenn nicht, verschwinde ich morgen früh.« »Ich will Sie hier nicht haben.« »Sie haben mich aber. Sie haben mich hergebracht, und jetzt bin ich hier. Wenn Ihr Freund Fred nicht wäre, könnte ich Sie in die Abstellkammer sperren und vergessen. Aber wenn wir nicht bald in St. Soundso erscheinen, wird Fred anfangen, sich über dies und das Gedanken zu machen. Also müssen wir dorthin. Lassen Sie uns gehen.« Lindahl schüttelte langsam und benommen den Kopf. »Wie ist das nur passiert?« wollte er wissen. »Sie haben sich dazu entschieden, als Sie mich den Hügel raufkommen sahen«, sagte Parker. »Sie hätten mich über den Haufen schießen oder in Schach halten können, bis die Hunde dagewesen wären, und Sie hätten sich denken können, dass es dafür eine Belohnung geben würde. Aber Sie haben mich gesehen und gedacht: ›Der Typ kann mir helfen.‹ Vielleicht kann er das auch. Vielleicht ändern Sie aber auch Ihre Meinung. Das sehen wir dann, wenn wir zurückkommen. Haben Sie eine Jacke übrig? Irgendwas Passendes für den Wald?« Lindahl blinzelte verwirrt. »Eine Jacke? Ja, ich hab ein paar Jacken.« »Und Stiefel, wenn’s geht. Diese Schuhe taugen nicht fürs Gelände. Haben Sie ein Paar Stiefel für mich?«
Lindahl wollte nicht auf dieses Thema eingehen. »Ich habe Stiefel, ich habe Stiefel«, murmelte er und schüttelte den Kopf. »Aber... nein. Nehmen Sie meinen Wagen. Fahren Sie einfach weg.« »Und denen genau in die Arme«, sagte Parker. »Sehen Sie mich an, Tom.« Widerwillig sah Lindahl auf. »Wollen Sie, dass ich glaube, dass Sie ein Problem sind, Tom?« fragte Parker. Lindahl sah ihn stirnrunzelnd an, wendete den Blick ab und schüttelte den Kopf. »Nein.« »Dann leihen Sie mir eine Jacke und ein Paar Stiefel. Und wollen Sie die Ruger oder die Marlin?«
SECHS
Die schwarz-rote Wolljacke war zu weit, aber die Schnürstiefel passten. Parker nahm die Marlin, eine fünfundachtzig Zentimeter lange Büchse, die knapp drei Kilo wog und ein fünfschüssiges Röhrenmagazin hatte. Sie legten die beiden Gewehre auf den Boden hinter den Vordersitzen des Geländewagens und verließen Pooley auf einem anderen Weg als dem, den sie gekommen waren. Nach etwa zehn Kilometern näherten sie sich der ersten Straßensperre: Zwei Wagen der Staatspolizei verengten die Straße auf eine einzige Spur, die Fahrzeuge und die uniformierten Polizisten hoben sich in der spätnachmittäglichen Oktobersonne scharf vom Dunkel des Waldes ringsum ab. Als Lindahl den Wagen abbremste, sagte Parker: »Sie übernehmen das Reden.« »Ich weiß.« Der Beamte, der sich zu Lindahls geöffnetem Fenster hinunterbeugte, war schon älter, recht korpulent und für diesen Sondereinsatz vom Innendienst abkommandiert worden, was ihn mit Unmut erfüllte. Lindahl sagte ihm seinen Namen und dass er Mitglied des Angel- und Jagdclubs Hickory sei. Sie seien unterwegs nach St. Stanislas, um sich an der Suche zu beteiligen. Der Beamte trat einen Schritt zur Seite, warf einen Blick auf die beiden Gewehre auf dem Wagenboden und sagte: »Das ganze County ist auf einmal voller unausgebildeter
Männer mit Gewehren. Ich würd’s ja nicht so machen, aber mich hat keiner gefragt. Haben Sie einen Mitgliedsausweis?« »Für den Angel- und Jagdclub? Klar.« Lindahl zog seine Brieftasche hervor und klang ein wenig verlegen, als er sagte: »Der ist nicht mehr so ganz aktuell.« »Macht nichts«, sagte der Polizist. »Ist ja sowieso kein Foto drauf.« Er nickte, als Lindahl ihm den Ausweis zeigte, und sagte: »Legen Sie ihn aufs Armaturenbrett – wenn Sie noch mal angehalten werden, wissen die Kollegen gleich, wer Sie sind.« »Gute Idee.« Lindahl legte den Mitgliedsausweis so hin, dass man ihn durch die Windschutzscheibe sehen konnte. Mürrisch, aber resigniert trat der Polizist einen Schritt zurück und sagte: »Okay, gute Fahrt.« »Danke, Sir.« Sie fuhren durch hügeliges, größtenteils bewaldetes Gelände. Viele der Bäume verfärbten sich herbstlich rot, rotbraun und golden. Es gab Apfelgärten mit Bäumen, deren Laub dunkelrot war, und stoppelige Wiesen, auf denen Kühe gegrast hatten. Jetzt waren die meisten leer, doch hier und da konnte man Pferde, Schafe und sogar Lamas sehen. Die wenigen Häuser waren alt und geduckt. Eine Weile fuhren sie bergauf. Die Straße führte in Serpentinen durch einen teils bewirtschafteten Wald, und schließlich erreichten sie eine Ortschaft mit einer steilen Hauptstraße und einem Schild, auf dem »St. Stanislas« stand. Ihr Ziel war keine Kirche, sondern eine alte Versammlungshalle, deren Holzverkleidung vor zu vielen Jahren mittelbraun gestrichen worden war. Davor standen entlang der Straße Pfosten mit den metallenen Insignien von einem halben Dutzend Clubs und Bruderschaften. Auf dem Platz neben dem Gebäude parkten bereits meh-
rere Wagen, und Lindahl stellte seinen Ford dazu. Die beiden nahmen die Gewehre und gingen zu der Gruppe von Männern, die vor der verschlossenen Vordertür des Hauses standen. Die meisten waren über fünfzig, weich und übergewichtig, und sie bewegten sich mit beherrschter Erregung. Lindahl kannte jeden von ihnen, auch wenn klar war, dass er schon länger nichts mit ihnen zu tun gehabt hatte. Sie freuten sich, ja waren geradezu begeistert, ihn zu sehen, und sie freuten sich auch, Parker kennenzulernen, den Lindahl als einen alten Freund vorstellte, der gerade zu Besuch war. Parker schüttelte den lächelnden Männern, die ihn aufstöbern wollten, die Hände, und dann fuhr ein Wagen der Staatspolizei vor, und zwei Uniformierte stiegen aus. Der jüngere war ein einfacher Streifenpolizist, der ältere dagegen hatte an Mütze und Uniform zusätzliche Kordeln und Abzeichen. Dieser stieg die Stufen zum Eingang der Versammlungshalle hinauf, drehte sich um und sagte: »Ich möchte Ihnen für Ihr Kommen danken. In dieser Gegend treiben sich zwei sehr gefährliche Männer herum, und es ist ein Zeichen von Bürgersinn, dass Sie uns helfen wollen, sie zu finden und in Gewahrsam zu nehmen. Sie alle haben in den Fernsehnachrichten gehört, welches Verbrechen diese Männer begangen haben. Sie haben niemanden getötet, aber eine Menge Sachschaden verursacht und drei Angestellte der Geldtransportfirma ins Krankenhaus gebracht. Die Waffen, die sie dabei benutzt haben, sind in den Vereinigten Staaten verboten. Wir wissen nicht, ob sie diese Waffen noch haben oder ob sie vielleicht noch andere besitzen. Aber wir wissen, dass sie bewaffnet waren und äußerst gefährlich sind. Wir bitten Sie, nicht allein loszugehen, sondern immer in Sichtweite von mindestens einer Person Ihrer Gruppe zu bleiben. Wenn Sie
auf einen der Flüchtigen oder sogar alle beide stoßen, versuchen Sie nicht, ihn oder sie selbst festzunehmen. Wir haben es hier mit Berufsverbrechern zu tun, mit skrupellosen Männern, auf die sehr lange Haftstrafen warten. Diese Männer haben keinen Grund, Sie nicht niederzuschießen, wenn Sie sich ihnen in den Weg stellen. Wenn Sie glauben, sie entdeckt zu haben, setzen Sie sich so schnell wie möglich mit uns oder einer anderen Polizeistelle in Verbindung. Versuchen Sie sie im Auge zu behalten, und lassen Sie sich unter keinen Umständen auf ein Feuergefecht mit ihnen ein. Mein Kollege Oskott wird Ihnen Phantombilder der Gesuchten geben, und Ben Weiser, Ihr Clubvorsitzender, wird Ihnen das Gebiet beschreiben, das Sie durchsuchen sollen. Ben?« Ben Weiser war in den Sechzigern und so übergewichtig wie die meisten anderen. Oben auf dem Kopf war er vollkommen kahl, doch an den Seiten und hinten hatte er sehr lange graue Haare, die ihm über die Ohren und den Kragen fielen, so dass er aussah wie ein Kavallerie-Scout im Ruhestand. Während Oskott Fotokopien der Phantombilder austeilte, sagte Weiser: »Freut mich, dass ihr fast vollzählig gekommen seid. Wir haben sogar einen Freiwilligen dabei, Ed Smith, den Tom Lindahl mitgebracht hat – das ist dann also ein Ausgleich für all die Treffen, bei denen Tom nicht erschienen ist. Schön, dass du da bist, Tom. Und willkommen beim Angel- und Jagdclub Hickory, Ed.« Parker nahm die beiden Kopien und betrachtete sie, während Weiser fortfuhr, Leutseligkeiten von sich zu geben, und ein anderer Mann in das Gebäude ging und mit einer Staffelei zurückkehrte, die er auf die oberste Stufe stellte. Parker hatte das Phantombild von sich selbst bereits gesehen, und zwar im Fernseher des Schnellimbisses, bevor die Polizei seinen Mietwagen entdeckt hatte. Keiner hatte vom Bildschirm
zu diesem Gast an der Theke gesehen und gerufen: »Da ist er!«, und auch vor dem Versammlungshaus drehte sich keiner zu ihm um und sagte: »Ed? Bist das nicht du?« Die andere Zeichnung sollte McWhitney darstellen, seinen vormaligen Partner, und wenn man McWhitney kannte und gesagt bekam, dass er der Mann auf der Zeichnung war, konnte man wohl gewisse Ähnlichkeiten entdecken. Doch an dieser Gruppe hätte McWhitney vorbeigehen können, und nicht einer der Männer hätte sich nach ihm umgedreht. Phantombilder kümmerten Parker nicht. Sorge bereiteten ihm nur die viertausend Dollar in numerierten Scheinen, die er in der Tasche hatte, und die Tatsache, dass er keinen verwendbaren Ausweis besaß. Bis zur Lösung dieser beiden Probleme war er bei dem Suchtrupp am besten aufgehoben. »Sehen ganz schön hart aus, diese Burschen«, sagte einer. »Ich weiß nicht, ob ich die überhaupt finden will.« Dafür bekam er ein paar Lacher, und dann sagte ein anderer: »Ach, ich glaube, Cory und ich würden mit denen schon fertig werden, oder was meinst du, Cory?« »Ich halte solange deine Jacke«, sagte der neben ihm, und während auch diese Bemerkung belacht wurde, sah Parker sich die beiden an – Cory und den, dem er die Jacke halten wollte. Sie waren etwas jünger und wirkten etwas rauher als die meisten anderen. Beide trugen Jeans, Stiefel und dicke, dunkle Arbeitshemden. Vielleicht waren sie Brüder, denn sie hatten dasselbe dichte, dunkelblonde Haar, das ihnen in Strähnen über die Ohren hing, und dieselben hängenden Schultern. Der eine, der gesagt hatte, Cory und er würden es mit den Flüchtigen aufnehmen, hatte eine schwarze Klappe auf dem linken Auge, was ihn unvermeidlich wie einen Piraten aussehen ließ – als wäre er der hartgesottenere der bei-
den Brüder. Mit dem gesunden Auge sah er sich nun herausfordernd um, als suchte er jemanden, mit dem er es außerdem aufnehmen könnte. Sein Blick streifte auch Parker, und der wandte sich ab, denn er wollte nicht allzuviel Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Inzwischen sagte Ben Weiser: »Hier ist eine topographische Karte der Gegend.« Jemand hatte sie auf der Staffelei ausgebreitet, musste sie jedoch festhalten, damit die Brise sie nicht davonwehte. Weiser beschrieb, welches Gebiet sie absuchen sollten, und sagte Sätze wie: »Ihr kennt ja das Haus vom alten Heisler.« Offenbar kannten es tatsächlich alle. Parker achtete nicht weiter auf die Einzelheiten – in diesem Teil des Landes kannte er sich ohnehin nicht aus –, doch den Ansatz, den sie wählten, fand er interessant. Sie nahmen an, dass die beiden Gesuchten die Haupt- und wahrscheinlich auch die Nebenstraßen mieden; aber warum sie vermuteten, dass die Bankräuber sich in Waldläufer verwandelt hatten, wurde nicht deutlich. Jedenfalls hatten diese Leute vor, Feldwege und Zufahrten zu kontrollieren, die niemand mehr benutzte, und insbesondere wollten sie sich verlassene Gebäude, ehemalige Bauernhöfe und Scheunen vornehmen, ja sogar einen alten Bahnhof. Die Siedlung, zu der er gehört hatte, gab es nicht mehr, denn die Eisenmine war schon vor hundert Jahren geschlossen worden. Und dort würde Parker zusammen mit Tom Lindahl und Fred Thiemann suchen. Man hatte beschlossen, in Gruppen zu drei Mann loszuziehen, und Weiser erklärte den Grund dafür. Falls eine Gruppe auf einen oder beide Flüchtige stieß, konnte einer zurücklaufen und Alarm schlagen, ohne dass ein anderer allein zurückblieb, um den oder die Gesuchten im Auge zu behalten. Die Männer, die einzeln oder zu zweit gekommen waren,
fanden sich nun zu Dreiergruppen zusammen und gingen zu den Wagen. Da Lindahls Geländewagen geräumiger war als Thiemanns Taurus, entschieden sie sich für diesen. Lin-dahl setzte sich ans Steuer, Parker nahm wie zuvor auf dem Beifahrersitz Platz, und Thiemann saß hinten bei den Gewehren. Sie schlossen sich der Kolonne an, die den Parkplatz vor dem Versammlungshaus verließ, und folgten etwa eineinhalb Kilometer weit ein paar anderen Wagen. »Dieser Ort, zu dem wir fahren«, erklärte Lindahl, »heißt Wolf Peak und war früher mal eine Bergarbeitersiedlung.« »Vor dem Bürgerkrieg«, warf Thiemann von hinten ein. »Hier im Nordwesten gab’s überall Eisenbergwerke, aber nach dem Bürgerkrieg waren die alle erschöpft.« »In Wolf Peak haben sie noch bis zur Jahrhundertwende weitergemacht«, sagte Lindahl, »haben Abraum verarbeitet und ein bisschen Holzfällerei betrieben, aber die Jungen sind alle weggezogen, und als um neunzehnhundert herum die Eisenbahnlinie eingestellt worden ist, war’s dann vorbei.« »Die Häuser waren alle aus Holz«, sagte Thiemann, »und sind abgebrannt oder einfach verrottet, aber der Bahnhof ist aus dem Stein, den sie hier in der Gegend gebrochen haben. Das Dach ist weg, aber die Mauern stehen noch. Ich hab da selbst mal Unterschlupf gesucht, als ich auf der Jagd war und ein Gewitter kam.« »Es gibt da oben vielleicht noch ein paar andere Verstecke«, sagte Lindahl, »aber in erster Linie interessiert uns der Bahnhof.« Thiemann streckte sich auf dem Rücksitz aus und sagte: »Soll ich euch sagen, was ich glaube? Ich glaube, diese Bankräuber sind aus der Stadt und haben keine Ahnung, was es heißt, sich in einer Gegend wie der hier zu verstecken.«
»Wie meinen Sie das?« fragte Parker. »Leute wie Tom und ich«, sagte Thiemann, »stammen aus Familien, die schon seit Generationen hier sind – es ist, als wären die Erinnerungen unserer Großväter mit unseren eigenen vermischt. Wir kennen diesen Teil der Welt wie unsere Westentasche. Kein Stadtmensch kennt seine Stadt so wie wir diese Hügel. Wenn ein Fremder hier durchkommt, wenn er versucht, sich zu verstecken, dann sieht ihn einer und denkt: ›Der ist nicht von hier.‹ Hier kann man sich nicht verstecken.« »Ich verstehe«, sagte Parker. Thiemann beugte sich vor und sagte: »Woher kommen Sie eigentlich, Ed?« »Aus Chicago«, sagte Parker. »Aber ich kenne mich dort nicht besonders gut aus.« Thiemann grinste. »Dann wissen Sie ja, was ich meine«, sagte er und lehnte sich wieder zurück. Die Straße führte meist bergauf und kreuzte nach ein paar Kilometern eine Hauptstraße, auf der eine Straßensperre errichtet war. Einer der Polizisten, jünger als der erste, trat auf sie zu, sah dann Lindahls Mitgliedsausweis auf dem Armaturenbrett, winkte sie durch und rief grinsend: »Weidmannsheil.« Nach wenigen Kilometern bog Lindahl nach links auf eine steile zweispurige Straße voller Risse und Schlaglöcher ab. »Da oben stehen noch ein paar Häuser«, sagte er, »deswegen halten sie die Straße einigermaßen in Schuss. Danach gibt’s nur noch Feldwege.« »Die schütteln einem glatt die Zähne aus dem Kopf«, bemerkte Thiemann. Er hatte beinahe recht. Nach dem zweiten kleinen bewohnten Haus rückte der Wald näher an den Weg heran, der jetzt auch noch steiler als zuvor bergauf führte und geriffelt
war wie Wellblech. Lindahl fuhr langsam und wich den tiefsten Schlaglöchern aus. »War die Eisenbahnlinie in der Nähe der Straße?« fragte Parker. »Ich sehe nichts davon.« »Die haben die Gleise im Zweiten Weltkrieg abgebaut und eingeschmolzen«, sagte Lindahl. »Es ist jetzt nicht mehr weit.« Zuerst sah man zwischen den Bäumen rechts und links des Wegs Kaminstümpfe aus Feld- oder Backsteinen aufragen, dann Ruinen von Holzhäusern, die zu einem Drittel ihrer ursprünglichen Höhe zusammengesunken waren, und schließlich tauchte rechts vor ihnen der Bahnhof auf, flach und langgestreckt, ohne Dach, mit schmalen, hohen Fensterhöhlen und umgeben von Überresten einer Betonfläche. Im Gebäude wuchsen Ahornbäume und Wildkirschen, manche von ihnen ragten über die Dachkante hinaus. Der Wald war hier so dicht, dass das Sonnenlicht nur in schmalen Streifen auf den Boden fiel – wie von Scheinwerfern, die den Schauspieler, dem sie eigentlich folgen sollten, verloren hatten. Was früher einmal ein Parkplatz gewesen sein mochte, war jetzt überwuchert. Lindahl hielt einfach vor dem Gebäude auf dem Weg an, und alle drei stiegen aus. Thiemann hatte sein Gewehr, eine Winchester 70, Kaliber .30-06, schon in der Hand, während Lindahl die linke hintere Tür öffnete und die beiden anderen Gewehre herausholte. Parker ging vorn um den Wagen herum und streckte die Hand aus, und nach kurzem Zögern reichte ihm Lindahl mit einem starken, misstrauischen Stirnrunzeln die Marlin. Die Front des Gebäudes war von Ranken überwachsen, die auch über den türlosen Eingang hingen. »Vorsicht«, sagte Thiemann und zeigte darauf, »das ist Giftsumach.« »Auf der Rückseite gibt’s wahrscheinlich breitere Türen«,
vermutete Lindahl. »Für Frachten.« Sie gingen um das Gebäude herum. Man konnte tatsächlich nicht mehr erkennen, wofür es ursprünglich gedient hatte: keine Bahnsteige, kein Gleisbett, keine verrostenden Gepäckkarren. Es hätte ursprünglich, vor langer Zeit, ebensogut ein Tempel im Dschungel sein können. Einer der Zugänge an dieser Seite war breit und nicht halb zugewachsen. Sie traten hindurch, und Thiemann zeigte nach links und sagte: »Da drüben hab ich damals Schutz gesucht und darauf gewartet, dass das Gewitter aufhört.« Er spähte in die Ecke und sagte: »Was ist das?« Sie gingen zur linken Ecke des Gebäudes. Dort lag ein kleiner Haufen aus altem Stoff, hauptsächlich verschlissene Decken und Handtücher. Es sah aus wie ein Mäusenest, stammte jedoch offensichtlich von einem Menschen. »Du bist nicht der einzige, der hier Schutz vor einem Gewitter gesucht hat«, sagte Lindahl. Er hob den Blick und fuhr fort: »Mit den überhängenden Ästen ist das wahrscheinlich der geschützteste Ort.« Thiemann stützte den Gewehrkolben auf den Boden, ging in die Hocke und betastete den Stoffhaufen. Mit weit aufgerissenen Augen sah er zu ihnen auf und flüsterte so leise, dass sie es gerade noch hören konnten: »Warm.« Lindahl starrte Parker an. Seine Hände umklammerten das Gewehr wie zuvor, als Parker, verfolgt von den Hunden, ihn auf dem Hügel zum erstenmal gesehen hatte. »Hat den Wagen gehört«, sagte Parker. Thiemann stand auf. »Dann ist er noch in der Nähe.« Er war aufgeregt, beinahe aufgekratzt, bemühte sich aber, es zu verbergen und einen erwachsenen, professionellen Eindruck zu machen. Lindahl sagte, hauptsächlich zu Parker gewandt: »Glaubst
du, er ist bewaffnet?« »Wenn er versuchen wollte, durch die Straßensperren zu kommen, wohl eher nicht.« »Einer, der sich hier oben versteckt«, sagte Thiemann, »versucht nicht, durch die Straßensperren zu kommen.« Parker wusste, dass der Mann, den sie aufgestöbert hatten, nicht McWhitney sein konnte, sah aber keinen Grund, das den anderen mitzuteilen. »Könnte auch ein anderer sein«, sagte er nur. Thiemann schnaubte. »Hier oben, am Arsch der Welt?« »Sie waren ja auch mal hier.« Thiemann schüttelte den Kopf, unwillig, weil man seine Phantasie in Frage stellte. Er zeigte auf den Stoffhaufen und sagte: »Ich hab mir damals kein Lager gemacht, und« – er hob den Finger zum Himmel – »es gibt kein Gewitter. Also lasst uns sehen, was wir hier haben.« Sie verließen den Bahnhof. Thiemann ging halb geduckt voraus, das Gewehr mit beiden Händen gepackt. Draußen blieb er stehen und blickte über die ebene Fläche, wo die Gleise gewesen waren, zum Wald. Er war ganz still geworden, ganz Auge und Ohr, und studierte das nach rechts steil abfallende Gelände. Zwischen den dünnen Stämmen der nachwachsenden Bäume wucherte niedriges Gebüsch. Parker und Lindahl warteten kurz hinter Thiemann, und nach einer langen Minute trat dieser, ohne den Blick vom Waldrand zu wenden, einen Schritt zurück. »Seht mal dahin, wohin ich sehe.« Geradeaus und etwas nach rechts. Parker und Lindahl sahen hin. Parker wusste nicht, ob Lindahl etwas bemerkte – er jedenfalls konnte nichts entdecken. Da waren nur Büsche und Bäume. »An dem Busch da vorn sind kleine Zweige abgebrochen«,
murmelte Thiemann. »Das Unterholz ist da sehr dicht. Seht ihr, wie er sich durchgezwängt hat?« »Stimmt«, sagte Lindahl. »Sehr gut, Fred.« »Ist auch nicht viel anders als ’ne Hirschjagd.« Thiemann nickte zum Wald hin. »Ihr beide bleibt rechts und links von mir. Ich gehe durch die Lücke, die er gerissen hat.« Langsam setzten sie sich in Bewegung. Lindahl warf Parker hinter Thiemanns Rücken einen besorgten Blick zu, konzentrierte sich dann aber auf das Gelände. Das Land war zerklüftet, voller Felsen und Gräben; sie kamen nur sehr langsam voran. Es war unmöglich, dabei keine Geräusche zu machen: Unter ihren Füßen knirschten tote Äste und dürres Laub, und sie mussten ständig Zweige beiseite schieben. Als sie etwa zehn Meter zurückgelegt hatten, drehte Parker sich um. Das Bahnhofsgebäude war bereits größtenteils vom Unterholz verborgen, nur die unregelmäßige Dachlinie war noch zu sehen. Sich hier zu verlaufen würde nicht lange dauern. »Stehenbleiben!« Das war Thiemann, ein undeutlicher Schemen im Wald zu Parkers Linken. Vor ihnen ertönte plötzlich lautes Rascheln und Knacken. Jemand rannte verzweifelt durch den unbarmherzigen Wald. »Fred, nicht!« Das war Lindahl, unsichtbar auf Thiemanns anderer Seite. Er klang panisch. »Stehenbleiben, verdammt!« rief Thiemann. Der Schuss klang hell und flach, ohne jedes Echo, als hätte man zwei Holzblöcke zusammengeschlagen. »Nicht, Fred!« Zu spät. Man hörte einen heiseren Schrei und dann eine heftige Bewegung auf dem Waldboden. Parker ging darauf zu. Zu seiner Linken rückte Thiemann vor, vorsichtiger und
tief geduckt. Was immer da getroffen worden war, schlug nun lärmend um sich und ließ die Büsche erzittern. Parker war rechtzeitig da, um das Blut aus dem Loch im Rücken des Manns quellen zu sehen, so rot wie Wein, so dick wie Motoröl. Er lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Laub und den Zweigen und zuckte mit den Armen und Beinen, als wollte er durch den Wald schwimmen. Und dann lag er still. Der pulsierende Blutstrom wurde schwächer und versiegte, als Thiemann hinzutrat. Er schnaufte, als wäre er zwei Kilometer gerannt, und starrte den Mann auf dem Boden so gebannt an, als hätte er ihn soeben geboren. Seine Stimme war heiser, als er sagte: »Welcher ist es?« »Keiner von beiden«, sagte Parker. Lindahl kam von weiter links hinzu. »Was ist mit ihm?« »Er ist tot«, sagte Parker. Thiemann versuchte, die Phantombilder aus der Tasche zu ziehen, ohne sein Gewehr loszulassen. »Verdammt«, sagte er. »Verdammt! Halt mal, Tom.« Lindahl nahm Thiemanns Gewehr, und Thiemann holte die beiden Kopien hervor, faltete sie auseinander und ließ sich neben dem Toten auf ein Knie nieder. Er wollte den Leichnam offenbar nicht anfassen, musste aber den Kopf des Mannes drehen, um das Gesicht sehen zu können. »Er ist keiner von denen«, sagte Parker. Doch Thiemann wollte es noch nicht glauben. Der Mann, der vor ihnen auf dem Boden lag, war klein, mager und alt, mit dünnem, grauem, verfilztem Haar und einem dichten, grauen, ungepflegten Bart. Er trug eine zerrissene graue Arbeitshose und einen blauen, alten, mottenzerfressenen Pullover mit zahllosen Flecken. An den Füßen hatte er zu große
schwarze Schnürschuhe und keine Socken. Die Knöchel waren schmutzig und voller alter Schnitte und Schürfwunden. Thiemann musste den Kopf des Toten mit beiden Händen drehen. Das Gesicht war knochendürr, mit tiefen Falten und Schorf rings um den Mund und unter den Augen, die entsetzt auf irgend etwas weit Entferntes starrten. Thiemann wich zurück und wischte die Finger an Gras und Blättern ab. »Ein alter Landstreicher«, sagte er. Seine Stimme klang so, wie die Augen des Toten blickten. »Fred?« sagte Lindahl. »Hast du ihn nicht genau erkennen können?« »Er ist... gerannt. Warum zum Teufel ist er weggerannt?« »Weil Männer mit Gewehren hinter ihm her waren«, sagte Parker. »Scheiße.« Thiemann suchte nach irgendeinem Halt, nach irgend etwas, das ihm sein inneres Gleichgewicht zurückgeben würde. »Weiß er denn nicht, was hier los ist? Alle hier in der Gegend wissen es. Gott und die Welt sind unterwegs und suchen nach den Bankräubern. Keiner will was von ihm – warum, verdammt, rennt er dann weg?« Er stand zusammengesunken und mit hängenden Armen da, den Blick ins Leere gerichtet. »Fred, der Typ wusste nichts davon«, sagte Lindahl sanft. »Er hat hier oben gehaust, irgendein alter Penner, und ab und zu ist er hinunter ins Tal gegangen und hat geschnorrt oder geklaut, aber für die Nachrichten hat er sich nicht interessiert, Fred.« Thiemann sagte: »Ich fühle mich ... Ich kann nicht... Ich muss...« Parker und Lindahl stützten ihn von beiden Seiten und halfen ihm, sich zu setzen. Der Tote lag links neben ihm.
Thiemann sah ihn nicht an und drehte sich im Sitzen ein Stück, bis der Mann aus seinem Blickfeld verschwunden war. »Meint ihr«, sagte er, kleinlauter als zuvor, »wir sollten das hier... ihn... runterbringen? Oder einfach der Polizei sagen, wo er liegt?« »Nein«, sagte Parker. Thiemann sah auf. »Was?« »Wir werden der Polizei nichts sagen. Wir werden niemandem was sagen.« Lindahl hielt sein eigenes Gewehr in der rechten und Thiemanns in der linken Hand. Er sah Parker argwöhnisch an, machte eine Bewegung, als wünschte er, er hätte eine Hand frei, und sagte: »Wie meinst du das, Ed?« »Die haben uns gesagt, wir sollen nicht schießen«, sagte Parker. »Selbst wenn wir einen von ihnen gefunden hätten, hätten wir nicht schießen sollen. Und der hier ist keiner von denen. Er war unbewaffnet und ist in den Rücken geschossen worden.« Parker sah Thiemann an. »Wenn Sie zur Polizei gehen, wandern Sie in den Knast.« »Aber ...« Thiemann sah auf der Suche nach einem Ausweg nach links und rechts. »Aber das ist nicht recht. Wir sind so was wie Hilfssheriffs.« »Wir sollten suchen«, sagte Parker. »Die Augen offenhalten. Nicht schießen. Wenn Sie zur Polizei gehen, Fred, ist das schlecht für Sie und schlecht für uns.« Das riss Thiemann aus seiner Erstarrung. »Schlecht für euch? Herrje, inwiefern soll das schlecht für euch sein?« Parker konnte nicht riskieren, dass sich die Polizei für dieses Trio von Jägern interessierte. Wenn man ihn genauer unter die Lupe nähme, würde er innerhalb von fünf Minuten auffliegen. Doch Thiemann brauchte eine andere Begründung. »Sie haben einen unbewaffneten Mann in den Rücken
geschossen«, sagte er, um noch ein wenig Salz in die Wunde zu reiben. »Einen Mann, der nicht zu denen gehört hat, die wir suchen. Tom und ich waren dabei und haben Sie nicht daran gehindert. Und das heißt, dass wir Komplizen sind.« Parker sah Lindahl an und sagte, ohne sein Gewehr zu bewegen: »Du weißt, wie ich das meine, Tom. Für uns ist das genauso wichtig. Das hier ist nicht passiert.« Lindahl war bleich geworden. Er begriff, was Parker ihm und Thiemann klarmachen wollte. »Mein Gott, Ed«, sagte er, »du meinst, wir sollen ihn hier liegenlassen? Das kann man mit einem Menschen doch nicht machen.« »Tom«, sagte Parker, »was dieser Typ mit sich selbst gemacht hat, war ganz genauso schlimm, es ging nur langsamer. Er hatte kein großartiges Leben, und es war nicht mehr viel davon übrig. Was für einen Unterschied macht es, ob er da drüben, in der Ruine, erfriert oder verhungert oder im Delirium tremens an Leberzirrhose stirbt oder hier im Wald durch Freds Kugel? Er ist tot, und die Tiere werden sich über seine Leiche hermachen.« »Herrgott«, sagte Fred und hielt sich mit seiner zitternden linken Hand die Augen zu. »Ich kann so was nicht mal denken«, sagte Lindahl. »Darum denke ich für euch«, sagte Parker. »Wir stecken in einer Klemme, und der einzige Ausweg ist, dass das hier nie passiert ist.« Lindahls hilfloser Blick wanderte von dem Toten zu Thiemanns zusammengesunkener Gestalt und schließlich zu Parker. »Sollten wir ihn nicht wenigstens ... begraben?« Parker kratzte mit der Fußspitze über den steinigen Boden. »Hier? Wie denn? Selbst wenn wir drei Schaufeln hätten – die wir nicht haben –, würde es Stunden dauern, ein Loch zu graben. Und wozu? Fred, was für Tiere gibt’s hier
oben außer Hirsche?« Thiemann schien überrascht, dass man ihn ansprach. Langsam ließ er die Hand sinken und sah blinzelnd zu Parker auf, ohne ihm in die Augen zu blicken. »Tiere?« »Raubtiere. Aasfresser.« Thiemann stieß einen tiefen, bebenden Seufzer aus, doch als er sprach, war seine Stimme ruhig. »Tja«, sagte er, »wir haben Kojoten – nicht viele, aber ein paar.« »Luchse«, sagte Lindahl. »Stimmt. Und einen Haufen Truthahngeier«, sagte Thiemann und deutete auf den Himmel. »Die werden kommen«, sagte Lindahl, »kaum dass wir weg sind.« Thiemann schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er, »so schnell nicht. Es wird schon ein paar Stunden dauern, bis –« Er hielt inne, kniff die Augen fest zusammen und schüttelte den Kopf. »Verdammt!« »Sie dachten, es wäre der richtige«, sagte Parker zu ihm. Jetzt, da Thiemann keine Probleme mehr machen würde, war es am besten, wenn er sich nicht allzusehr aufregte. »Es hätte jedem von uns passieren können.« »Das stimmt, Fred«, sagte Lindahl. Thiemann breitete die Hände aus. »Es war einfach so ... Ich dachte: Mann, ich hab ihn! Ich! Ich hab ihn!« Wieder schüttelte er voller Selbstekel den Kopf. »Als ich gesagt hab, dass wir uns aufführen wie kleine Jungs, hab ich doch nicht so was gemeint. Das sollte ein Witz sein. Aber es war kein Witz.« Er sah Lindahl um Vergebung heischend an und sagte: »Ich hab noch nie jemanden getötet. Einen Menschen. Irgend jemanden. Wenn man einen Hirsch schießt, na ja, dann hat man Wildbret, dann hat man...« »Einen Grund«, schlug Lindahl vor.
»Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich dazu noch imstande bin.« Thiemann blickte sich um, vermied es aber, den Toten anzusehen. »Würdet ihr mir bitte aufhelfen?« Sie taten es. Er sagte: »Ich kann nicht mehr, ich muss nach Hause, ich muss ... ich weiß nicht, ich muss allein sein. Für heute bin ich fertig.« »Haben Sie eine Frau, Fred?« fragte Parker. »Klar«, sagte Thiemann. »Und eine Tochter, die aufs College geht.« »Können Sie mit Ihrer Frau reden? Können Sie ihr vertrauen?« Thiemann sah ihn verwundert an. »Klar kann ich ihr vertrauen. Aber mit ihr reden?« Er zeigte hinter sich auf den Leichnam. »Darüber?« »Sie müssen mit jemandem darüber reden«, sagte Parker. »Sie können das nicht irgendwohin schieben und dann nie mehr darüber sprechen, denn dann wird es Sie auffressen. Sie werden das nicht aushalten. Und mit jemand anders können Sie nicht darüber reden, nicht mal mit Tom hier. Sagen Sie es Ihrer Frau, sprechen Sie mit ihr darüber.« »Er hat recht, Fred«, sagte Lindahl. »Jane wird dir helfen.« Thiemann zuckte verlegen und unbehaglich mit den Schultern. »Bringt mich zurück zum Wagen.« Sie arbeiteten sich durch das dichte Unterholz zur Bahnhofsruine. Thiemann hatte nicht um sein Gewehr gebeten und schien nichts davon wissen zu wollen, dass es seins war, und so trug Lindahl beide Gewehre im rechten Arm und bahnte sich mit dem linken einen Weg durch das Gebüsch. Parker ging hinter den beiden, den Blick auf ihre Rücken gerichtet, und überlegte, was mit ihnen zu tun sei. Dass überall in dieser Gegend Straßensperren errichtet waren und er keine brauchbaren Papiere und nicht einmal brauchbares
Bargeld besaß, bedeutete, dass er sich, wenigstens für den Augenblick, möglichst an Lindahl halten musste. Aber wieviel Verlass war auf Thiemann? Wenn er mit seiner Frau sprach und sie vernünftig war und wusste, was zu tun war, um ihn vor Problemen zu bewahren, war alles in Ordnung. Aber wenn Thiemann anfing, mit jemand anders, irgend jemand anders zu reden, würde die Sache im Nu ans Licht kommen. Und Parker würde erst wissen, dass es ein Problem gab, wenn Lindahls Haus umstellt würde. Die Alternative war, beide zu erschießen, Lindahls Ford zu nehmen und zu verschwinden. In diesem County würde Lindahls Mitgliedsausweis für den Angel- und Jagdclub Hickory ihn durch alle Straßensperren bringen, besonders wenn er das Gewehr gut sichtbar auf den Rücksitz legte. Nicht die Marlin, sondern die Ruger – die einzige Waffe, die nicht abgefeuert worden war. Aber das Problem beschränkte sich ja nicht auf dieses County, sondern erstreckte sich hundert Kilometer in jede Richtung. Ein sicherer Unterschlupf war im Augenblick das Wertvollste, worauf er hoffen konnte. Wenn Lindahl oder Thiemann ihm so ähnlich gesehen hätten, dass er deren Papiere hätte benutzen können, dann wäre es anders gewesen. Lindahl wandte plötzlich den Kopf und sah ihn stirnrunzelnd und mit einem fragenden Blick an, doch Parker schob sich wie die beiden anderen durchs Unterholz, die Marlin locker im Arm, die Hand weder am Abzug noch am Repetierhebel. Parker nickte ihm ausdruckslos zu, und Lindahl drehte sich wieder zum Bahnhof um, der jetzt vor ihnen lag, und ging weiter.
SIEBEN
Sie saßen im Ford wie zuvor: Lindahl am Steuer, Parker neben ihm, Thiemann mit den drei Gewehren auf dem Rücksitz. Während der ersten Minuten, als sie über die Waschbrettpiste fuhren, schwiegen alle, doch dann sagte Thiemann, als hätte er lange darüber gebrütet: »Ihr habt mich jetzt echt in der Hand, stimmt’s? Ihr beiden.« Lindahl warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel, musste sich aber wieder auf den Weg konzentrieren. »In der Hand? Wie meinst du das: in der Hand?« »Naja, du weißt schon – diese ... Sache. Ihr wisst, dass ich einen Mann erschossen habe.« Parker drehte sich halb um, so dass er Thiemann ansehen konnte, und legte den Unterarm auf die Lehne. »Wir alle müssen einander vertrauen, Fred. Tom und ich werden niemandem was davon sagen – also sitzen wir im selben Boot wie Sie.« »Nicht ganz«, sagte Thiemann, und er klang bitter. »Nicht ganz, Ed Smith.« Mit einem abermaligen raschen Blick in den Rückspiegel sagte Lindahl: »Was ist los, Fred? Du kennst mich. Wir kennen uns schon lange.« »Nicht lange, Tom«, erwiderte Thiemann. »Nicht jahrelang. Du kommst nicht zu den Treffen, du gehst nicht raus. Ich hab dein saures Gesicht seit drei Jahren nicht gesehen. Du lebst wie ein Einsiedler.« »So schlimm steht’s nun auch wieder nicht um mich«, sagte
Lindahl, doch es klang, als gäbe er zu, dass es vielleicht doch so schlimm um ihn stand. »Jeder weiß«, sagte Thiemann, »was für ein Miesepeter du geworden bist, seit du deinen Job verloren hast.« Das gefiel Lindahl nicht. »Ach ja? Jeder weiß das? Und alle reden darüber, was, Fred?« »Darüber braucht niemand zu reden«, sagte Thiemann. »Das wissen ja sowieso alle. Du hast deinen Job verloren, du bist ein Miesepeter geworden, deine Frau ist dir davongelaufen, und du verhältst dich nicht so, als wolltest du irgendwelche Freunde haben. Ich kenne dich gar nicht mehr. Ich kenne dich fast so wenig wie diesen Burschen hier, und von dem weiß ich immerhin, dass er schnell und gut reden kann.« »Fred«, sagte Parker, »erzählen Sie Ihrer Frau, was heute passiert ist, und fragen Sie sie, ob Sie sich stellen sollen. Wenn sie will, dass Sie sich stellen, ist es ganz egal, was ich sage.« »Ach, ich weiß, was sie sagen wird«, antwortete Thiemann, als wäre er wütend über dieses Wissen. »Mach dir keine Probleme, mach es nicht noch schlimmer, du kannst den Mann nicht wieder lebendig machen, es ist vorbei.« »Absolut richtig«, sagte Lindahl. Thiemann beugte sich vor, so dass sein Gesicht dem Parkers näher war und er zu Lindahls Profil sprechen konnte, und sagte: »Das einzige, was sie mir nicht sagen wird, ist: Vergiss es. Ich werde es nie vergessen.« »Keiner von uns wird das je vergessen, Fred«, sagte Lindahl. »Das war für uns alle ein schlimmer Augenblick.« Parker sah, dass Thiemann fand, er müsse bestraft werden, aber klug genug war, um zu wissen, dass er sich selbst nicht bestrafen konnte, ohne auch andere zu bestrafen. Zunächst seine Frau und seine Tochter, die aufs College ging.
Aber dann auch Tom Lindahl. Thiemann versuchte also, sich von den Leuten zu distanzieren, die zu leiden haben würden. Tom Lindahl war für ihn ein Fremder, ein Einsiedler, ein Miesepeter. Seine Frau würde ihn nicht verstehen, sondern nur irgendwelche StandardRatschläge geben. An diese unwürdigen Menschen konnte er nicht denken – er konnte nur an sich selbst denken. Mit der Tochter würde er mehr Mühe haben. Vielleicht würde sie ihn auf Kurs halten. Die gefährlichste Zeitspanne war jedenfalls die zwischen jetzt und der Ankunft bei Thiemanns Haus. Sofern seine Frau zu Hause war. »Fred, ist Ihre Frau jetzt zu Hause?« fragte Parker. »Ja«, sagte Thiemann ohne großes Interesse. »Sie arbeitet im Krankenhaus, allerdings nicht samstags.« »Das ist gut«, sagte Parker. Schweigend fuhren sie weiter, bis sie wieder auf der Landstraße waren und an die Straßensperre kamen, wo der lächelnde Polizist sie erkannte und durchwinkte. Lindahl und Parker winkten zurück, während Thiemann zusammengesunken dasaß und auf die Lehne des Beifahrersitzes starrte. Kurz darauf richtete er sich auf und sagte zu keinem von beiden im besonderen: »Ich weiß nicht, ob ich fahren kann.« Parker sah ihn an: Thiemann war bleich geworden. Seit dem Vorfall befand er sich in einem Schockzustand, und jetzt zog sein Organismus das Blut aus jenen Körperteilen ab, in denen es gebraucht wurde, zum Beispiel aus seinem Gehirn. »Soll ich dich nach Hause fahren, Fred?« fragte Lindahl. »Aber da ist ja noch mein Wagen«, sagte Thiemann. »Der steht immer noch in St. Stanislas.« Parker sagte: »Ich könnte Sie mit Ihrem Wagen fahren, Fred, und Tom könnte uns folgen.« Lindahl warf Parker einen scharfen Blick zu. »Du meinst, ich
fahre euch nach?« »Das ist die einzige Möglichkeit, wie ich dann wieder zu deinem Haus komme, Tom. Was meinen Sie, Fred – soll ich?« Thiemann sah stirnrunzelnd von Parker zu Lindahls Hinterkopf und wieder zu Parker. »Ich glaube schon«, sagte er. »So sollten wir’s machen. Danke.«
ACHT
Vor dem Versammlungshaus parkten mehrere Wagen von Leuten, die, wie Thiemann, mit anderen zur Suche aufgebrochen waren. Wie es aussah, war sonst noch niemand zurück. Zwischen den Fahrzeugen stand ein Wagen der Staatspolizei. Parker sah ihn und sagte zu Lindahl: »Du redest mit dem Polizisten, und ich bringe Fred zu seinem Wagen. Als wir den Bahnhof durchsucht haben, ist ihm schlecht geworden. Wir haben da oben nichts gefunden.« »Okay.« Der Polizist stieg aus. Es war der ältere mit der Mützenkordel, der zuvor zu den Männern gesprochen hatte. Lindahl fuhr zu Thiemanns Taurus und hielt an, dann stiegen sie aus. Während Lindahl auf den Polizisten zuging, suchte Thiemann in seinen Taschen nach dem Wagenschlüssel und fand ihn schließlich, schaffte es mit seinen zitternden Fingern jedoch nicht, den Knopf zu drücken, der die Türen entriegelte. »Verdammt. Ich kann dieses Ding nicht –« »Geben Sie her.« Thiemann sah Parker an und wollte ihm die Schlüssel zunächst nicht geben, tat es dann aber schließlich doch. Parker drückte auf den Knopf und sah über die Kühlerhaube des Geländewagens zu Lindahl, der mit dem Polizisten sprach. Er schien das ganz gut zu machen – es gab anscheinend keine Probleme. Thiemann öffnete die Fahrertür und machte ein verwirr-
tes Gesicht. »Ich sollte auf der anderen Seite einsteigen«, sagte er. »Ich hole Ihr Gewehr«, sagte Parker. »Nein!« Es war eine scharfe Antwort und so laut, dass Lindahl und der Polizist zu ihnen herübersahen. Ruhig und leise sagte Parker: »Wollen Sie es bei Tom lassen?« Thiemann blinzelte und nickte. »Fürs erste«, sagte er. »Ja, nur fürs erste. Ich hole es dann ab ... irgendwann.« »Ich sag’s ihm. Setzen Sie sich schon mal rein, ich bin gleich wieder da.« »Ja, okay.« Thiemanns Wagenschlüssel in der Hand ging Parker zu Lindahl und dem Polizisten. Die beiden sahen noch immer zu Thiemann. »Tag«, sagte Parker zu dem Polizisten. »Tag. Alles in Ordnung?« »Nein, Fred ist ganz schön durch den Wind.« »Wenn Sie mich fragen, ist es Borreliose«, sagte Lindahl. »Ja, das kommt hier ziemlich häufig vor«, sagte der Polizist. »Kopfschmerzen«, sagte Parker. »Und er ist ganz durcheinander. Ich fahre ihn nach Hause.« »Gut.« »Tom, er will dass du sein Gewehr mitnimmst – er holt es dann später ab.« Parker zuckte die Schultern und sah den Polizisten mit einem schwachen Grinsen an. »Deswegen hat er so laut ›Nein‹ gerufen«, sagte er. »Wahrscheinlich denkt er, er könnte sich versehentlich erschießen.« »Wenn man mit einem Gewehr in der Hand stolpert«, sagte der Polizist. »So was ist schon vorgekommen.« »Fährst du mir nach, Tom?« »Ja. Okay, Captain?«
»Klar«, sagte der Polizist. »Danke für Ihre Hilfe.« »Jederzeit«, sagte Lindahl. Als sie zu den Wagen gingen, rief der Polizist ihnen nach: »Sagen Sie Ihrem Freund, er soll eine Blutuntersuchung machen lassen. Mit Borreliose ist nicht zu spaßen.« »Ich sag’s ihm«, versprach Lindahl. Sie gingen weiter, und Parker fragte leise: »Ist das so eine Art örtliche Krankheit?« »Sie wird von Zecken übertragen«, sagte Lindahl. »Es ist eine ziemlich üble Sache. Aber ich wette, Fred hätte lieber Borreliose als das, womit er sich jetzt herumschlagen muss.«
NEUN
Parker setzte sich ans Steuer des Taurus, schob, weil er längere Beine hatte, den Sitz ein Stück zurück, ließ den Motor an und sah dann zu Thiemann, der reglos neben ihm saß und tief in Gedanken versunken vor sich hin starrte. Parker wartete und sagte schließlich: »Wohin?« »Was? Ach so. Herrje, ich weiß nicht, was mit mir los ist.« »Die Sache hat Sie mitgenommen«, sagte Parker. »Das ist nur natürlich. Also, wohin?« »An der Ausfahrt vom Parkplatz links.« Parker fuhr los und sah, dass Lindahls Geländewagen ihnen folgte. »Geben Sie mir rechtzeitig Bescheid, wenn ich abbiegen muss«, sagte er. »Ja. Mir geht’s jetzt besser. Wird schon gehen.« »Gut.« Sie fuhren ein paar Kilometer, und Parker merkte, dass Thiemanns Aufmerksamkeit sich nach und nach von seinen düsteren Gedanken auf Parkers Profil richtete. Thiemann sah ihn mit gerunzelter Stirn fragend an, als versuchte er, etwas zu verstehen. Parker sagte nichts, und Thiemann blickte wieder nach vorn und sagte: »An dem Stoppschild da müssen wir rechts.« »Gut.« Sie bogen ab. Vor ihnen war eine weitere Straßensperre. Parker ließ das Seitenfenster herunter, fuhr auf den Standstreifen und winkte Lindahl, er solle sie überholen. Als Lindahl, der das Fenster der Beifahrertür geöffnet hatte, auf
gleicher Höhe mit ihnen war, rief Parker ihm zu: »Wir gehören zu dir – du hast unsere Gewehre.« Lindahl nickte und gab Gas. Parker folgte ihm. »Weiß Tom, wo Sie wohnen?« fragte er. »Klar.« »Gut. Dann kann er vorausfahren, und Sie brauchen mir nicht den Weg zu erklären.« »Ist wahrscheinlich am besten.« An der Sperre bremste Lindahl ab. Der Beamte gehörte zur örtlichen Polizei. Er sah Lindahls Mitgliedsausweis auf dem Armaturenbrett und winkte ihn durch, doch Lindahl hielt kurz an und erklärte die Sachlage. Der Mann warf einen Blick auf die Gewehre, die auf dem Boden vor dem Rücksitz lagen, nickte und winkte Lindahl abermals durch, ebenso wie Parker. Er grinste nicht wie der an der anderen Straßensperre, aber er hielt Parker auch nicht an. Eine Weile fuhren sie schweigend hinter Lindahl her, dann sagte Thiemann: »Sie mochten diese Straßensperre nicht.« »Es ist immer leichter, wenn sie einen durchwinken. Und wir wollten ja, dass Tom vorausfährt.« »Aber Sie mochten diese Straßensperre nicht.« »Stimmt, ich mag keine Straßensperren«, sagte Parker. »Die machen mich nervös. Die Leute sind angespannt, und manchmal passiert was.« »Sie macht gar nichts nervös«, sagte Thiemann. Parker sah ihn an und blickte wieder auf die Straße und Lindahls Wagen. »Was soll denn das heißen?« »Als ich da oben den Mann erschossen hab, hat mich das völlig fertiggemacht.« »Ja, klar.« »Und Tom auch. Nur Sie nicht.«
»Vielleicht merkt man mir so was einfach nicht an.« »Kann sein. Aber Sie waren ganz schön cool. Sie wussten, was wir tun sollten und warum wir es tun sollten. Tom und ich, wir wären nie auf den Gedanken gekommen, den armen Kerl für die Aasfresser liegenzulassen. Das war das erste, das Sie mich gefragt haben: was für Aasfresser es hier in der Gegend gibt.« »Weil Sie in Schwierigkeiten waren, Fred«, sagte Parker. »Das wissen Sie doch. Und Tom weiß es ebenfalls.« »In dem Augenblick, als Sie die Straßensperre gesehen haben«, sagte Thiemann, »haben Sie das Fenster aufgemacht und sind rechts rangefahren. Sie wussten genau, was Sie zu Tom sagen mussten.« »Es war einfacher, ihn vorfahren zu lassen und durchgewunken zu werden, anstatt anzuhalten und die ganze Prozedur mitmachen zu müssen.« »Wir hätten bloß die Führerscheine zeigen müssen.« »So war’s jedenfalls einfacher.« Thiemann sah durch die Windschutzscheibe und sagte nichts mehr, aber er dachte nach. Er hatte irgendeinen Verdacht, doch er wusste nicht, welchen. Er hatte gespürt, dass Parker anders war, doch er wusste nicht, was das bedeutete. Ein älteres, offenes, knallrotes Cadillac-Cabriolet, so groß wie ein Schnellboot, kam ihnen, unvermittelt laut hupend, entgegen. Die drei Männer mittleren Alters mit leuchtendroten oder orangefarbenen Mützen, die darin saßen, winkten Lindahl mit Bierdosen zu. Lindahl hupte ebenfalls und winkte zurück, hielt aber nicht an. Auch der Cadillac fuhr weiter, und die drei Männer grinsten und riefen auch Parker und Thiemann etwas zu. Sie waren fröhlich und ausgelassen. Parker grüßte mit einem Nicken, hupte aber nicht. »Die gehören zu unserer Gruppe«, sagte Thiemann.
»Ich weiß.« »Sie sollten lieber nicht trinken. Das ist das Schlimmste, was man tun kann.« Thiemann verzog das Gesicht und wandte sich ab. »Beinahe das Schlimmste.« Lindahl setzte den linken Blinker, und Parker tat dasselbe. »Wie weit ist es noch?« »Ein paar Kilometer.« Thiemann sah ihn wieder an. »Sie halten nicht viel von uns, stimmt’s?« »Wie meinen Sie das?« »Nicht bloß von diesen Burschen mit dem Bier«, sagte Thiemann. »Von uns allen, die wir hier herumrennen und Menschenjäger spielen. Man konnte es in den Augen der Polizisten sehen: Die fanden, wir sind ein Witz. Nutzlos und ein Witz. Und in Ihren Augen hab ich’s auch gesehen. Sie denken dasselbe.« Parker bog hinter Lindahl ab. Das Misstrauen, das Thiemanns Gespür für Parkers Andersartigkeit entsprang, hatte sich in Verlegenheit verwandelt: Parker war nicht mehr ein außenstehender, unbekannter Fremder, dem man nicht trauen konnte, sondern ein Richter, der über ihnen stand und sie für schuldig befunden hatte. Das war gut, denn es sorgte dafür, dass Thiemann in der Spur blieb und keine Probleme machte. »Oder stimmt das etwa nicht, Ed? Sie denken doch auch so, oder?« »Nein, kein Witz«, sagte Parker. »Aber Sie sind nicht dafür ausgebildet. Mit der richtigen Ausbildung hätten Sie da oben im Wald vielleicht nicht ganz so schnell geschossen.« »Nicht ganz so schnell.« Thiemann stieß ein freudloses Lachen aus. »Einer, der ausgebildet ist, wäre vielleicht noch schneller gewesen, sollte man meinen.« »Einer, der ausgebildet ist, weiß, wann er schnell sein muss«,
sagte Parker. »Sind Sie ausgebildet?« »Ein bisschen.« »Dachte ich mir. Hier ist es.« Es war eine eher vorstädtische als ländliche Wohngegend mit in weiten Bögen verlaufenden Straßen und hübschen kleinen Häusern auf großen grünen Grundstücken. Lindahl schaltete den rechten Blinker ein, bog jedoch nicht ab, sondern hielt hinter einer Einfahrt, die zu einem hellbraunen Haus im Ranchstil mit Doppelgarage führte. Parker fuhr in die Einfahrt und fragte: »Welche Garage?« »Ist egal, sie sind beide voller Gerümpel.« Parker hielt an, schaltete den Motor aus und öffnete die Fahrertür. Thiemann blieb einfach sitzen. »Je eher Sie mit ihr sprechen, desto besser«, sagte Parker. »Verdammt, was soll ich ihr denn sagen?« »Schatz, ich habe einen Fehler gemacht.« Thiemann machte ein verstörtes Gesicht. »Das ist eine verdammt merkwürdige Art, es auszudrücken.« »Aber genau das ist passiert.« »Ein Fehler.« »Kommen Sie, steigen Sie aus.« Sie stiegen aus und sahen einander über das Wagendach hinweg an. »Ich denke die ganze Zeit«, sagte Thiemann, »wie gut es ist, dass Sie nicht die Geduld mit mir verloren haben. Ich weiß nicht, warum ich das denke.« »Ich habe jede Menge Geduld«, sagte Parker. »Ich bin im Urlaub. Reden Sie mit Ihrer Frau.« »Mache ich. Vielleicht sehen wir uns noch, bevor Sie wieder fahren.« »Vielleicht«, sagte Parker.
ZEHN
Parker stieg in den Ford, und Lindahl fuhr sogleich los. Er sah auf die leere, einen Bogen beschreibende Vorortstraße und sagte: »Wie geht’s ihm?« »Sie kennen ihn besser als ich.« »Nicht in einer solchen Situation.« Lindahl warf Parker einen kurzen, unbehaglichen Blick zu, als wisse er nicht, wie er es ausdrücken sollte, und sah wieder auf die Straße. »Das ist ja nichts, was einfach so passiert ist«, sagte er. »Er hat einen Mann erschossen. Ich kann mir das nicht mal vorstellen.« »Sie haben versucht, ihn davon abzuhalten.« »Er war einfach zu ...« Lindahl hielt inne, während er aus dem Vorort auf die Landstraße einbog. »Fred führt gern das Kommando«, sagte er. »Er denkt gern, dass er einer ist, der alles im Griff hat, egal, was es ist.« »Hat er diese Sache auch im Griff?« Wieder ein rascher Seitenblick. »Was meinen Sie damit?« »Er steht unter Schock«, sagte Parker. »Darum kann er im Augenblick nicht klar denken. Außerdem hat er tief drinnen die Vorstellung, dass er bestraft werden sollte. Das könnte dazu führen, dass er zu den Bullen geht, und das wiederum wäre schlecht für alle.« »Besonders für Sie.« »Nein, besonders für Fred. Er tut vielleicht so, als hätte er alles im Griff, aber in Wirklichkeit bewegt er sich auf unbekanntem Territorium. Die Erinnerungen seines Großvaters
werden ihm keine große Hilfe sein.« Lindahl schnaubte. »Ich wette, es tut ihm leid, dass er das gesagt hat.« »Vielleicht, später.« »Ich sag Ihnen was – das könnte ihm helfen, die Klappe zu halten«, sagte Lindahl, »und es ist was, über das er nie redet. Sein ältester Sohn sitzt im Knast.« »Wie ist das denn passiert?« »Er war in der Armee, und die haben ihn in den Nahen Osten geschickt, damit er denen alles über Demokratie beibringt. Dort hat er ein paar junge Einheimische kennengelernt, die wiederum ihm einiges beigebracht haben. Diese Burschen sind in irgendwelche Häuser gegangen und mit Sachen rausspaziert, die sie vorher noch nicht hatten.« »Aha.« »Nicht wie Sie. Eher Kleinkram. George war trotzdem schwer beeindruckt. Als er zurückkam, hat er allen davon erzählt. Die hatten sogar ein spezielles Wort dafür: Hawasim – das heißt Plünderer.« Lindahl zuckte die Schultern. »Ist wahrscheinlich nicht ganz einfach, in einem Kriegsgebiet ein Plünderer zu sein.« »Wahrscheinlich.« »George dachte, er wäre auch ein Hawasim, und jetzt sitzt er drei bis fünf Jahre in Attica ab. Das letzte, was Fred will, ist, in der Nachbarzelle zu sitzen.« »Gut.« Sie fuhren schweigend weiter. Parker nahm an, dass der Schock darüber, dass sein Sohn im Gefängnis saß, für Thiemann beinahe so groß war wie der, den er heute erlitten hatte. Würde dieser zweite Schlag es wahrscheinlicher machen, dass er sich in sich selbst zurückzog, den Mund hielt und keine Probleme machte? Oder würde er eher dafür sor-
gen, dass Thiemann außer Kontrolle geriet? »Ich will es durchziehen«, sagte Lindahl. Sie hatten etwa zehn Minuten lang geschwiegen, und nun brach dieser Satz so unvermittelt aus ihm hervor, als wollte er nicht vergessen, ihn auszusprechen. Oder als wollte er die Gelegenheit, seine Meinung zu ändern, nicht wahrnehmen. Er hatte die Worte tonlos, aber mit Nachdruck gesagt, und sein Gesicht verriet große Intensität. »Die Rennbahn?« fragte Parker. »Ich habe diese Leute drei Jahre nicht gesehen«, sagte Lindahl. »Was hat Fred gesagt? Drei Jahre? Er hatte recht: Ich kenne sie nicht mehr, und sie kennen mich nicht. Ich bin ihnen scheißegal.« »Die haben Sie ebenfalls lange nicht gesehen.« »Aber sie haben eine Meinung über mich«, sagte Lindahl, »und mehr brauchen sie gar nicht. Sie haben gehört, was Fred gesagt hat. Ich habe meinen Job verloren, meine Frau ist mir davongelaufen, ich bin ein Miesepeter geworden – Ende der Geschichte.« »Sie haben ihnen ja auch keine andere gegeben.« »Weil es so ist.« Lindahl nickte wie zustimmend der Straße vor ihnen zu. »Solange ich hierbleibe«, sagte er, »bin ich das, wofür sie mich halten. Ein Einsiedler, hat Fred gesagt. Der sein Leben nicht bloß einmal zerstört hat, sondern es jeden Tag aufs neue zerstört.« Wieder ein nachdrückliches Nicken, diesmal mit einem nachdrücklichen Blick auf Parker. »Und das bleibe ich«, sagte er, »solange ich hier bin, es gibt keine Hoffnung, da je rauszukommen. Ich muss die Rennbahn ausrauben, sonst bin ich wie ein Toter, wie ein wandelnder Toter, ganz allein.« Er lachte – es klang bitter. »Mit einem Papagei, der nicht spricht.« »Wir fahren nachher hin«, sagte Parker. »Wenn es dunkel
ist.« Lindahl atmete tief und bebend ein und dann wieder aus. »Ich bin ein neuer Mensch«, sagte er. »Man sieht’s mir noch nicht an, aber ich bin ein neuer Mensch.«
ELF
Mit ausgeschaltetem Ton schien der Fernseher nur mitzuteilen, dass nicht viel Mitteilenswertes geschehen war. Parker gab Lindahl Jacke und Schuhe zurück, und dann machte Lindahl sich auf, um etwas zu essen zu besorgen. »Sie wollen bestimmt nichts von den Kaninchen«, sagte er. »Und ich auch nicht mehr.« »Gut«, sagte Parker. Lindahl schlüpfte in seine Jacke. »Hier in der Nähe gibt’s nichts«, sagte er. »Ich werde wahrscheinlich eine Stunde weg sein.« »Wenn irgendwas passiert, von dem ich erfahren sollte, rufen Sie an«, sagte Parker. Lindahl sah ihn überrascht an. »Sie wollen doch wohl nicht ans Telefon gehen.« »Nein. Aber ich werde mir anhören, was Sie dem Anrufbeantworter zu erzählen haben.« »Oh. Ja, gut.« Lindahl fuhr davon, und Parker ging in die Küche, wo er beim erstenmal eine Schublade voll Werkzeug gesehen hatte. Er zog die viertausend Dollar in neuen Scheinen aus der Tasche und stopfte das Bündel tief in den übelriechenden Müllsack unter der Spüle, wusch sich die Hände und wandte sich der Schublade zu. Er nahm einen Hammer, einen Schlitz- und einen Kreuzschlitzschraubenzieher, eine Handsäge und eine Taschenlampe heraus. Aus dem Schlafzimmer holte er einen rechten Handschuh aus schwarzem
Leder. Dann verließ er die umgebaute Garage und ging zur Rückseite des vernagelten Hauses. Es war inzwischen beinahe sieben Uhr und im abendlichen Zwielicht gerade noch hell genug, um etwas erkennen zu können. Die wenigen Häuser, in denen Licht brannte, wirkten dunkler als der Rest der Welt. Auf der Straße war kein Verkehr, und außer dem Rascheln kleiner Tiere war kein Laut zu hören. Parker untersuchte die Hintertür des Hauses. Zwei Betonstufen mit verzierten Eisengeländern führten hinauf. Eine ein Zentimeter dicke Sperrholzplatte war mit Aussparungen für die Geländer versehen und an beiden Seiten und oben am Türrahmen festgeschraubt worden. Es waren insgesamt vierzehn Kreuzschlitzschrauben, die vermutlich mit einem Akkuschrauber hineingedreht worden waren, einem Werkzeug, das Parker nicht hatte. Die große Frage war, wie lang diese Schrauben waren. Für eine ein Zentimeter dicke Sperrholzplatte wären zweieinhalb Zentimeter lange Schrauben vollkommen ausreichend, aber jemand mit einem Akkuschrauber würde auch längere verwenden, wenn sie gerade zur Hand waren. Parker zog den Handschuh an und nahm den Kreuzschlitzschraubenzieher von der Stufe, wo er das Werkzeug abgelegt hatte. Die Schrauben waren vor langer Zeit eingedreht worden, und die erste saß ziemlich fest, doch Parker packte den Schraubenzieher mit beiden Händen, und nach ein paar heftigen Rucken löste sich die Schraube und glitt heraus, als wäre sie geölt. Zweieinhalb Zentimeter; gut. Parker steckte sie in die Tasche und wandte sich der nächsten zu. Einige ließen sich leicht herausdrehen, andere leisteten mehr Widerstand, aber insgesamt brauchte er nur eine Vier-
telstunde, um alle zu lösen. Parker zog die Sperrholzplatte zurück; dahinter war eine gewöhnliche Küchentür mit vier kleinen Fensterscheiben in der oberen Hälfte. Der Türgriff war entfernt worden, denn er wäre der Holzplatte im Weg gewesen. Der nächste Schritt bestand darin, die Schrauben zu bearbeiten. Er drehte die Platte seitlich und lehnte sie an ein Geländer, dann setzte er alle Schrauben bis auf die in der linken unteren Ecke wieder ein, jedoch nur so weit, dass der Kopf noch ein paar Millimeter herausstand. Die Spitzen, die über die Innenseite der Platte ragten, sägte er ab. Anschließend drehte er die Schrauben bis zum Anschlag hinein. Wenn die Sperrholzplatte vor der Tür stand, würde alles aussehen wie immer, doch ein leichter Ruck an der Oberkante würde genügen, um sie zu entfernen. Die letzte Schraube drehte er von innen etwas oberhalb der Mitte in die Platte, allerdings nur so weit, dass sie von außen nicht zu sehen war. Sie würde der Griff sein, mit dem man die Platte von innen zuziehen konnte. Dann kam die Tür an die Reihe. Er zog den Handschuh aus, hielt ihn vor das Fenster, das dem fehlenden Türgriff am nächsten lag, und schlug mit dem Hammer darauf. Das gedämpfte Klirren des zerbrochenen Glases hallte hauptsächlich im Inneren des Hauses wider. Er entfernte die letzten Scherben aus dem Rahmen, griff durch das Fenster, fand den Griff auf der Innenseite der Tür und drehte ihn. Die Tür war nicht verschlossen – es gab ja auch keinen Grund dafür. Er stieß die Tür auf und ging hinein. Unter seinen Füßen knirschten Scherben. Er drehte sich um und schob die Sperrholzplatte vor die Türöffnung, wobei die Aussparungen für die Geländer ihm halfen. Als er an der zuletzt angebrachten Schraube zog, saß die Platte passgenau, und die gekürzten
Schrauben glitten gerade so weit in die Löcher, dass sie die Platte hielten. Und jetzt also das Haus. Die Sperrholzplatten über Türen und Fenstern sorgten für vollständige Finsternis. Parker schaltete die Taschenlampe ein und sah, dass man nicht alles herausgerissen hatte. Als die Gemeinde das Haus hatte verschließen lassen, hatte man gehofft, eines Tages einen Käufer dafür zu finden, und daher waren Gas-, Wasser- und Stromleitungen noch vorhanden, ebenso die Spüle und ein dreißig Jahre alter Kühlschrank, dessen Tür von einem Milchkanister aus Plastik offengehalten wurde. Wasser und Strom waren allerdings abgestellt, aber das war ja nicht anders zu erwarten gewesen. Parker ging durch die leeren, verstaubten Räume und fand nichts Ungewöhnliches. Die Bodendielen waren grau lackiert, der Wandanstrich war zu einer stumpfen Unfarbe verbleicht, in den Ecken und an den schmutzblinden Fenstern hingen große Spinnweben. Seit die Sperrholzplatten angebracht worden waren, hatte niemand das Haus betreten. In der Küche legte er die Taschenlampe auf einen Unterschrank neben der Hintertür; wenn er noch einmal hierherkommen musste, würde er keine Zeit haben, nach einer anderen Lichtquelle zu suchen. Hier gab es nichts mehr zu tun oder zu erforschen. Er verließ das Haus, zog die Tür nicht ganz zu und drückte die Holzplatte gegen den Türrahmen. Dann kehrte er in die umgebaute Garage zurück und wartete auf das Essen.
ZWÖLF
»Wenn wir uns heute nacht Ihre Rennbahn ansehen wollen, gibt es ein Problem«, sagte Parker. Lindahl stellte seine Bierdose ab. »Und das wäre?« Sie saßen im Wohnzimmer und aßen passable Pizzen. Lindahl trank Bier, Parker Wasser. Draußen war es nun ganz dunkel. Der stumme Fernseher zeigte Sitcoms – es gab also keine neuen Entwicklungen. Der Papagei in seinem Käfig schien meist zu schlafen, doch hin und wieder drehte er den Kopf, machte ein gurgelndes Geräusch und marschierte auf der Stelle. »Die suchen nach zwei Männern«, sagte Parker. »Sie wissen nicht, ob diese Männer noch zusammen sind oder ob sie sich getrennt haben. Wenn wir irgendwohin kommen, wo Ihr Mitgliedsausweis nicht mehr akzeptiert wird, und da ist eine Straßensperre, und die Bullen sehen zwei Männer im Wagen, werden sie unsere Papiere kontrollieren.« »Und Sie haben keine.« »Keine, die ich vorzeigen könnte.« Lindahl kaute auf seiner Pizza und dachte nach. »Das Blöde ist«, sagte er, »wenn wir erst mal an der Rennbahn sind, könnte ich was für Sie tun, aber vorher nicht.« Parker sah ihn stirnrunzelnd an. »Was für mich tun? Wie?« »Jeder Angestellte hat einen Firmenausweis«, sagte Lindahl. »Der ist in Plastik eingeschweißt, und man hängt ihn sich um den Hals. Ich hab damals die Maschine gekauft, ich
hab sie ausgesucht und weiß, wie man sie bedient. Ich könnte Ihren Führerschein fotografieren, die Angaben mit Hilfe der Maschine verändern und das Ganze ausdrucken und laminieren. Es wäre keine perfekte Fälschung, aber es hätte ziemlich viel Ähnlichkeit mit einem echten Führerschein.« »Aber das geht erst, wenn wir dort sind«, sagte Parker. »Wenn mein Wagen einen Kofferraum hätte –« »Nein.« »Naja, er hat ja auch keinen. Aber der Punkt ist: Wenn wir erst mal dort sind, können wir dieses Problem lösen.« Parker dachte nach. Er wusste, was zu tun war, aber es gefiel ihm nicht. Lindahl war so unsicher, und Parker musste ihn an der kurzen Leine halten, doch das war jetzt nicht möglich. Wenn Lindahl allein war und Zeit zum Nachdenken hatte, dachte er womöglich: Ach, was soll’s – ich rufe die Bullen. Aber ganz gleich, wie groß das Risiko war – Parker würde es eingehen müssen. Er sagte: »Nein, Sie brauchen mich dabei eigentlich gar nicht. Diese Maschine fügt ein Passfoto auf dem Ausweis ein, oder?« »Klar.« »Auf meinem Führerschein ist schon ein Foto. Lassen Sie alles unverändert, bis auf den Namen und die Adresse. Dafür brauchen Sie nicht mich, sondern nur den Führerschein.« Lindahl runzelte die Stirn. »Sie meinen, ich soll das allein machen? Dann muss ich heute nacht den ganzen Weg zweimal fahren.« »Beim zweitenmal fahre ich«, sagte Parker. »Es ist die einzige Möglichkeit, Tom. Ohne Führerschein kann ich hier nicht weg.« »Es ist eine Stunde Fahrt.« »Es liegt bei Ihnen«, sagte Parker. »Entweder wir machen’s
so oder gar nicht. Sie haben die Wahl.« Lindahl betrachtete seine Bierdose. »Ich sollte lieber Kaffee trinken«, sagte er, stand auf und ging in die Küche.
DREIZEHN
Lindahl fuhr um kurz vor neun. Zehn Minuten später klopfte es an der Tür. Parker saß im Wohnzimmer neben dem stummen Fernseher, ohne auf den Apparat zu sehen. Er hatte noch ein wenig warten wollen, bevor er einen Erkundungsgang machte, aber nun war jemand gekommen. Parker wartete reglos. Die Tür und das Fenster neben ihr waren so nachlässig in die Öffnung des Garagentors eingepasst worden, dass man Geräusche von draußen hören konnte: zwei Leute, die leise miteinander sprachen, und das Scharren von Füßen. Dann wurde noch einmal fester geklopft, und jemand rief: »Ed! Ed, sind Sie da drin?« Es klang aggressiv, drängend. Ed? Wer immer das war, wollte nicht zu Lindahl. Nein, es war jemand, der das Haus beobachtet und darauf gewartet hatte, dass Lindahl wegfuhr; erst dann war er gekommen und hatte geklopft, weil er mit Ed sprechen wollte. Die Stimme kam Parker entfernt bekannt vor, er hatte sie vor kurzem irgendwo gehört. Es war nicht Thiemann, sondern irgendjemand anders. »Verdammt, Ed, wo sind Ihre Manieren? Machen Sie auf!« Jemand rüttelte am Türgriff, und da die Tür nicht verschlossen war, taumelte er unversehens ins Wohnzimmer, wobei er sich, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, am Griff festhielt und ein überraschtes und verlegenes Lachen ausstieß. Es war der Einäugige mit der Augenklappe von dem Treffen in St. Stanislas, und hinter ihm kam, wachsamer und vor-
sichtiger, sein Jackenhalter Cory. Sie sahen Parker an, der im Sessel sitzen geblieben war. »Was ist los, Ed?«, sagte der Einäugige. »Warum machen Sie nicht auf?« »Es ist nicht meine Tür«, sagte Parker. »Aber Sie können doch was sagen«, beharrte der Typ. »Wenn jemand einen höflichen Besuch macht, wenn jemand höflich an die Tür klopft und Ihren Namen ruft, können Sie doch wohl antworten, oder?« »Ich bin nicht in Stimmung für Besuch«, sagte Parker. Der Einäugige war sowohl überrascht als auch beleidigt. »Nicht in Stimmung! Hast du das gehört, Cory?« »Cal«, sagte Cory – eine leise Warnung. Aber Cal war niemand, der auf Warnungen hörte. Er sah sich finster um, machte ein paar Schritte, ließ sich Parker gegenüber rücklings auf das Sofa fallen und sagte: »Aber ich bin in Stimmung für einen Besuch.« Dann zwinkerte er plötzlich voll freudiger Überraschung, zeigte an Parker vorbei und rief: »Cory, sieh dir das an!« »Das ist ein Papagei«, sagte Cory. »Verdammt, ein Papagei! So was sollte ich haben!« Er beugte sich zu Parker, zeigte auf seine Augenklappe und sagte: »Sie sehen doch, wie der zu mir passen würde, oder?« »Er gehört aber Tom«, sagte Parker. Cory trat einen Schritt vor und sagte: »Cal hat nicht gemeint, dass er ihn haben will. Ihn reizt bloß die Vorstellung. Sie wissen schon, wegen der Augenklappe.« »Ich will doch nicht so einen verdammten Vogel«, sagte Cal. Jetzt wirkte er wieder unzufrieden. Er beugte sich noch weiter zu Parker. »Ich wette, Sie haben nicht gemerkt, dass wir Zwillinge sind«, sagte er. »Ich wusste, dass Sie Brüder sind«, sagte Parker.
»Ja, aber nicht, dass wir Zwillinge sind. Das liegt an dieser verdammten –« Er zeigte wütend auf die Augenklappe. »Wenn ich nur«, begann er, hielt aber inne, machte eine wegwischende Handbewegung und lehnte sich zurück, um zu zeigen, wie ruhig und vernünftig er war. »Die Sache ist die«, sagte er, »mit einer Operation und einem Glasauge könnte ich genauso aussehen wie dieser attraktive Bursche hier.« »Die Versicherung wollte nicht zahlen«, erklärte Cory. »Dabei war ich gar nicht so betrunken!« rief Cal, jetzt wieder wütend. »Und überhaupt war dieser andere Arsch schuld.« Er beugte sich abermals zu Parker und sagte in vertraulichem Ton: »Ich brauche bloß ein bisschen Geld, Ed, das verstehen Sie doch. Aber wo soll ich das herkriegen, Ed? Ich und Cory, wir arbeiten als Schreiner in der Fertighausfabrik drüben in LeForestville – wo sollen wir fünfzehn-, zwanzigtausend Dollar hernehmen?« »Weiß ich auch nicht«, sagte Parker. »Aber ich wette, Sie haben ein bisschen Geld, Ed«, sagte Cal, lächelte mit falscher Freundlichkeit und entblößte dabei schiefe Zähne. »Ich wette, Sie könnten mir aushelfen, wenn Sie nur wollten.« »Eine Hand wäscht die andere«, sagte Cory erläuternd. Dann hatte das Phantombild also doch seinen Zweck erfüllt, jedenfalls bei diesen beiden. Zu Cory gewandt sagte Parker: »Und welche Hand würde mir dabei gewaschen?« »Wir brauchen doch nicht in die Einzelheiten zu gehen«, sagte Cal ungeduldig, lehnte sich zurück und wedelte mit der Hand. »Wir sind bloß freundlich, das ist alles, ein paar freundliche Typen, die einander aushelfen. Cal und Cory Dennison und der gute alte Ed ... wie war das noch mal? Smith?« »Genau«, sagte Parker.
»Komischer Name: Smith«, sagte Cal und sprach ihn so aus, dass er ganz fremdartig klang, wobei er seinem Bruder mit dem gesunden Auge zuzwinkerte. »Hört man gar nicht oft. Jedenfalls nicht hier in der Gegend.« »Zur Sache«, sagte Parker. »Zur Sache?« Cal schien überrascht, als wäre er der Meinung, sie hätten die Sache längst erörtert. »Wir wollen bloß Kumpels sein, das ist alles«, sagte er. »Sie wissen schon: uns gegenseitig helfen. Vielleicht könnten wir ja was für Sie tun. Oder vielleicht haben Sie rein zufällig irgendwo einen Haufen Geld rumliegen – dann würden Sie doch wahrscheinlich einem Kumpel mit seinem verdammten Auge helfen wollen.« »Das ist Tom Lindahls Sofa, auf dem Sie da sitzen«, sagte Parker. Cal grinste und zuckte die Schultern. »Na und?« »Stehen Sie auf.« »Ach, ich glaube nicht.« Cal streckte die Beine von sich und breitete die Arme aus, um zu zeigen, wie gemütlich das Sofa war. »Jeder muss doch irgendwo sein, oder nicht? Sogar ein gesuchter –« »Nein, muss er nicht«, sagte Parker. Irritiert, weil er seine schlaue Bemerkung darüber, dass sogar gesuchte Bankräuber irgendwo sein mussten, nicht hatte loswerden können, blinzelte Cal mit seinem gesunden Auge Parker an und sagte: »Was?« »Manche Leute«, sagte Parker, »müssen nirgendwo sein.« Er stand auf und merkte, dass die beiden sich anspannten. Zu Cory sagte er: »Sie sind derjenige mit Grips. Was machen Sie jetzt?« »Hören Sie mal«, sagte Cal. Aber Cory machte eine beschwichtigende Handbewegung in Richtung seines Bruders, sah Parker an und sagte: »Viel-
leicht bereden wir die Sache morgen noch einmal. Vielleicht wenn Tom da ist.« »Fragen Sie ihn«, sagte Parker. Cory nickte. »Das werden wir tun. Komm, Cal.« Cal sah zu seinem Bruder auf und beschloss, den Mund zu halten. Er wollte sich erheben, doch das Sofa war durchgesessen und machte es ihm nicht leicht. Als er versuchte, auf die Beine zu kommen und dabei elegant auszusehen, machte Parker eine schnelle, unscheinbare Bewegung mit den Händen, und Cal verlor das Gleichgewicht und sackte zurück auf das Sofa. »Sie müssen aufpassen«, sagte Parker. »Komm schon, Cal«, sagte Cory und streckte eine Hand aus. Cal griff wütend zu und ließ sich hochziehen. Sie gingen zur noch immer offenen Tür. Parker folgte ihnen und sah draußen ihren roten, verbeulten Dodge Ram mit der auf der Ladefläche festgeschraubten Werkzeugkiste. Die beiden traten hinaus, und Parker blieb in der Tür stehen. »Immer schön vorsichtig«, sagte er zu Cal. »Sie wollen doch nicht, dass dem anderen Auge auch noch was passiert.« Während Cory ihn am Ellbogen zum Pick-up zog, sah Cal wütend und mit verzerrtem Gesicht zurück und rief: »Machen Sie sich darüber mal keine Sorgen! Aber was ist mit dem hier? Was ist mit dem kaputten Auge?« Parker zuckte die Schultern. »Fragen Sie den Papagei.«
VIERZEHN
Cory fuhr, darum gab es kein Reifenquietschen, kein qualmendes Gummi. Parker sah dem Ram nach, blieb noch fünf Minuten in der offenen Tür stehen und lauschte in die absolut stille Nacht, bevor er hinaustrat, die Tür schloss und durch die Einfahrt zur Straße ging. Links von ihm, an diagonal gegenüberliegenden Ecken der Kreuzung, standen zwei hohe Straßenlaternen, doch im übrigen lag die Straße im Dunkeln – nur hier und da war ein Fenster trübe beleuchtet. Parker wandte sich zunächst nach rechts, vorbei an einem dunklen Haus, dann an einem weiteren, in dessen hellerleuchtetem Wohnzimmer ein altes Ehepaar vor einem Brettspiel saß, danach an dem nächsten dunklen Haus sowie einem Haus, das mit Brettern vernagelt war, und schließlich kam er an das letzte auf dieser Straßenseite, in dem eine Frau, eingepackt in Schals und Decken, als führe sie Schlitten in Sibirien, allein vor dem Fernseher saß. Dieser erste Spaziergang durch den Ort diente nur dazu, die Atmosphäre aufzunehmen. Es war, als gäbe es hier nur noch den kümmerlichen Rest, die paar Figuren, die im Stadion sitzen bleiben, wenn das Spiel schon längst vorbei ist. Nirgends gab es Kinder vor einem Fernseher, nirgends lag Spielzeug auf einer Veranda, nirgends waren mehr als zwei Menschen in einem Haus zu sehen. Dies waren die anständigen Armen, die im Ruhestand an dem einzigen Ort lebten, den sie je gekannt hatten. Sie besaßen vermutlich nicht viel,
was für Parker von Nutzen gewesen wäre – mit einer Ausnahme vielleicht. Ältere, nicht vermögende Leute in einem abgelegenen Ort: Der eine oder andere hatte vielleicht eine Pistole. Auf der anderen Straßenseite kam Parker an der Tankstelle vorbei, die allerdings bereits geschlossen hatte. Das Licht einer Sodamaschine im vorderen Teil des Büros beleuchtete die Zapfsäulen, und an der Wand hinter dem Tresen glomm ein Nachtlicht. Bis jetzt war kein einziger Wagen durch den Ort gefahren. Die Lichter an der Kreuzung blinkten ganz umsonst. Doch als er kurz hinter der Tankstelle war, sah Parker einen Wagen aus der Schwärze jenseits der Ortsgrenze auftauchen. Er ging weiter und betrachtete die Häuser, während der Wagen sich rasch näherte, bis das eingeschaltete Fernlicht Parker störte. Aber dann blendete der Fahrer es ab, was bedeutete, dass er Parker gesehen hatte und rücksichtsvoll war. Beim Durchfahren des Orts verlangsamte der Wagen die Geschwindigkeit und fuhr an Parker vorbei, der in gleichbleibendem Tempo weiterging. Ein paar Sekunden später hörte er das Quietschen der Reifen, als der Wagen wendete und neben ihm abbremste. Kein Bulle. Ein alter, verbeulter, viertüriger Toyota in irgendeiner dunklen Farbe. Das Fenster auf der rechten Seite glitt herunter, als der Wagen zum Stehen kam, und die Fahrerin, die allein darin saß, beugte sich über den Beifahrersitz und fragte: »Kann ich Ihnen helfen?« Er hätte weitergehen können, doch sie wäre einfach neben ihm hergefahren, daher blieb er stehen und sagte: »Wobei?« Diese Antwort schien sie zu verwirren. Sie wirkte jünger als die anderen Leute in diesem Ort – etwas über dreißig –, und die Armaturenbeleuchtung versah ihr Gesicht mit har-
ten Linien von Licht und Schatten. Sie sagte: »Suchen Sie eine bestimmte Adresse oder so?« »Nein.« »Ich dachte nur... Hier läuft normalerweise niemand herum.« »Ich schon.« »Aber Sie sind nicht von hier.« »Ich bin zu Besuch.« »Aha.« Endlich fühlte sie sich auf sicherem Boden. Sie setzte etwas auf, das vermutlich ein freundliches Lächeln sein sollte, und sagte: »Wen besuchen Sie denn?« Es war einfacher und erregte weniger Misstrauen, wenn er es ihr sagte. »Tom Lindahl.« »Tom! Da bin ich aber überrascht. Ich dachte, er wäre –« Ihr wurde bewusst, dass sie im Begriff war, etwas wenig Schmeichelhaftes über Lindahl zu diesem Mann sagen, der ein Freund oder Verwandter von ihm war, und so lachte sie verlegen und sagte: »Naja, Sie wissen schon, was ich meine.« »Sie dachten, er wäre ein Einsiedler.« »So ungefähr, ja.« »Er ist ein Einsiedler«, sagte Parker. »Aber ich bin bei ihm zu Besuch.« »Tja, warum nicht?« Sie strich über das Lenkrad, als täte es ihr leid, dass sie angehalten hatte. »Freut mich, dass er ... Freut mich, dass er Besuch hat.« »Und im Augenblick«, sagte Parker, »mache ich meinen abendlichen Verdauungsspaziergang.« »Natürlich. Tja, dann...« Im Gegensatz zu ihr wusste er, wie er diese Unterhaltung beenden konnte. Er nickte ihr zu und ging weiter, ohne sich umzusehen. Nach einem langen Augenblick der Stille heulte der Motor auf, die Reifen quietschten beim abermaligen
Wenden, und dann entfernte sich das Motorengeräusch und verklang. Ein paar Minuten später, am anderen Ende des Orts, kam er an das Haus, wo zuvor der alte Mann schlafend auf der Veranda gesessen hatte. Jetzt war das einzige Licht, das von dort auf die Straße fiel, das hektische blaugraue Flimmern eines Fernsehers, und als Parker durch das Fenster des Wohnzimmers spähte, saß derselbe Mann in denselben Kleidern schlafend auf einem Sofa, während das Licht des Fernsehers auf ihm tanzte wie Reflexionen von einem Wasserfall. Er konnte ebensogut hier anfangen. Als Parker sich umblickte, war der Toyota mit der neugierigen Frau verschwunden. Er ging zur Rückseite des Hauses, die ähnlich aussah wie die des verschlossenen Hauses, in dem er vorhin gewesen war. Auch hier führten ein paar von verzierten Eisengeländern flankierte Betonstufen zur Hintertür. Parker zog eine Kreditkarte aus der Tasche, die nur noch zu dem Zweck diente, zu dem er sie jetzt einsetzen wollte, denn auf ihr stand derselbe Name wie auf dem Führerschein, den Lindahl mitgenommen hatte. Er schob sie in die Fuge zwischen Tür und Rahmen, drückte die Falle zurück und öffnete die Tür. Sie quietschte leise, doch vom anderen Ende des Hauses hörte er das Jaulen von Polizeisirenen und anschwellende Musik. Dieses Gebäude war kleiner als das verschlossene Haus, es hatte nur ein Stockwerk und war nicht viel größer als Lindahls umgebaute Garage. In der unaufgeräumten Küche brannte kein Licht, ebenso wie in dem daran angrenzenden Esszimmer, das mit Möbeln vollgestellt war, als wäre der Besitzer irgendwann aus einem größeren Haus hierhergezogen. Der Raum neben dem Esszimmer war offenbar ein selten benutztes Gästezimmer, und so schlich Parker wieder in
die Küche, öffnete dort eine andere Tür und stand im Schlafzimmer. Es gab zwei Orte, wo man normalerweise eine Pistole verwahrte, und beide befanden sich im Schlafzimmer: entweder in einer verschlossenen Kiste auf der Kommode oder in einer verschlossenen Schublade des Nachttischs. Auf der Kommode lagen jedoch nur ein paar Münzen, Socken, Zeitschriften und eine sehr dünne Brieftasche, aber die untere der beiden Schubladen im Nachttisch war abgeschlossen. Parker zog die obere Schublade auf und fand in der beinahe vollständigen Dunkelheit tastend ein paar Pillenfläsch-chen, eine Taschenlampe, eine Brille, ein Kartenspiel und schließlich einen Schlüssel. Er schob die Schublade zu, schloss die andere auf und holte einen Smith & Wesson Ranger, Kaliber .22, hervor, einen blauschwarzen Revolver mit fünf Zentimeter langem Lauf, der in einem durchschnittlich großen Zimmer einigermaßen zielgenau schoss, auf größere Entfernungen aber nicht viel taugte. Er würde dennoch seinen Zweck erfüllen. Parker steckte den Revolver ein, tastete noch etwas in der Schublade umher und stieß auf eine kleine, schwere Pappschachtel. Sie enthielt Patronen und war beinahe voll. War der Revolver noch nie abgefeuert worden? Möglich. Er steckte auch die Munitionsschachtel ein, schloss die Schublade ab und legte den Schlüssel wieder an seinen Platz. Begleitet von den Worten eines Gerichtsmediziners, die aus dem Wohnzimmer drangen, schlich er zur Hintertür hinaus. Als er durch die Einfahrt zur Straße ging, verstummte der Ton des Fernsehers plötzlich, und das Licht im Wohnzimmer wurde eingeschaltet und fiel durch die Fenster. Parker machte einen Bogen um den Lichtschein, setzte seinen Weg zur Straße fort und sah, dass der alte Mann in den rückwär-
tigen Teil des Hauses ging. Parker spazierte zurück zu Lindahls Haus. Hatten die Leute, die hier wohnten, noch irgend etwas anderes, das ihm von Nutzen sein konnte? Nein. Er brauchte einen schönen Haufen Geld und einen unbelasteten Wagen. Darum würde er sich kümmern, sobald er den gefälschten Führerschein hatte. Sofern er ihn je bekam. In Lindahls Haus stellte er fest, dass keine Nachrichten auf dem Anrufbeantworter waren. Möglicherweise erledigte Lindahl also einfach das, was sie besprochen hatten. Parker setzte sich und wartete. Lindahl hatte gesagt, bis zur Rennbahn sei es etwas mehr als eine Stunde, und er war kurz vor neun gefahren. Als im stummen Fernseher die Elf-Uhr-Nachrichten begannen, stand Parker auf, vergewisserte sich mit einem Blick auf den Bildschirm, dass es nichts Neues über die Bankräuber gab, und verließ dann das Haus, in dem er alle Lichter brennen ließ. Er entfernte das Brett vor der Hintertür des Vorderhauses, schlüpfte hinein und zog das Sperrholz wieder an seine Stelle. Mit Lindahls Taschenlampe ging er in den ersten Stock, fand die ausfahrbare Leiter zum Speicher und kletterte hinauf. Das runde Fenster, das als einziges nicht mit einer Holzplatte verschlossen war, schimmerte undeutlich zu seiner Rechten. Er schaltete die Taschenlampe aus, tastete sich zum Fenster und sah hinaus. Das Fenster befand sich in Kopfhöhe. Es ging nach hinten hinaus und hatte einen Durchmesser von etwa dreißig Zentimetern. Parker konnte Lindahls Haus und ein Stück der Einfahrt sehen, mehr nicht. Den Revolver in der einen und die Lampe in der anderen Tasche, lehnte er sich an die Wand, spähte durch das Fenster und wartete auf das, was da kommen würde.
FÜNFZEHN
Um fünf vor halb zwölf erhellte ein Lichtschein die Vorderseite von Lindahls Haus, und dann erschien sein schwarzer Geländewagen, rollte langsam aus und blieb an der üblichen Stelle stehen. Lindahl stieg aus, gähnte herzhaft und ging ins Haus. Parker beobachtete. Dort unten tat sich nichts. Nach zwei Minuten wurde die Vordertür wieder geöffnet, Lindahl trat heraus und sah nach links und rechts. Das Vorderhaus beachtete er nicht. Vielleicht rief er etwas, doch wenn es so war, konnte Parker es nicht hören. Jedenfalls ging er, nachdem er sich noch einmal umgesehen und verwundert den Kopf geschüttelt hatte, wieder hinein. Parker verließ seinen Platz am Fenster. Auf dem Dachboden war es stockdunkel, und irgendwo war das rechteckige Loch mit der Leiter. Er zog die Taschenlampe hervor, legte die Finger über das Glas, schaltete die Lampe ein und spreizte langsam die Finger, bis er den Boden und das obere Ende der Leiter erkennen konnte. Er machte sich nicht die Mühe, die Leiter wieder zusammenzuschieben. An der Hintertür schaltete er die Taschenlampe aus und legte sie auf die Arbeitsfläche neben der Tür, dann schlüpfte er hinaus, drückte die Sperrholzplatte gegen den Türrahmen und ging die paar Schritte hinüber zu Lindahls Haus. Lindahl war im Schlafzimmer, kam jedoch sogleich her-
aus, als er die Tür hörte. Auf seinem Gesicht war noch immer ein verwunderter Ausdruck. »Wo waren Sie denn?« »Hab mich in der Nachbarschaft umgesehen. Haben Sie den Führerschein?« Die Verwunderung wich einem stolzen Lächeln, als Lin-dahl die laminierte Karte aus der Hemdtasche zog und Parker reichte. »Sehen Sie ihn sich an.« Er sah sehr gut aus. Es war derselbe Führerschein wie zuvor, ausgestellt vom Staat New York, in zarten Pastellfarben, mit Parkers Foto. Parker hieß jetzt allerdings William G. Dodd und wohnte in 216 N. Sycamore Court, Troy. Die Karte schien etwas dicker zu sein als das Original, aber das fiel nicht weiter auf. »Sieht gut aus«, sagte Parker und steckte den Führerschein in die Brieftasche. »Woher haben Sie den Namen und die Adresse? Ausgedacht?« »Nein. Bill Dodd hat vor Jahren auf der Rennbahn gearbeitet und ist dann in den Ruhestand gegangen, und die Adresse ist die von Verwandten eines anderen Angestellten. Hab ich aus den Personalakten.« Schulterzuckend, aber sehr zufrieden mit sich selbst sagte Lindahl: »Ich dachte, es wäre besser, wenn Sie nicht allzu nah bei der Rennbahn leben.« Parker konnte nicht erkennen, was für einen Unterschied das machen sollte, ging aber nicht weiter darauf ein. »Soll ich fahren?« fragte er. »Herrgott, ja, das wäre gut«, sagte Lindahl. »Ich bin auf dem Hinweg übrigens dreimal angehalten worden und zweimal auf dem Rückweg. Ich wäre froh, wenn ich mal für eine Weile nicht fahren müsste. Geben Sie mir fünf Minuten.« »Okay.« Lindahl wandte sich zum Schlafzimmer, blieb aber stehen und drehte sich mit einem strahlenden Lächeln auf dem
Gesicht um. »Ich werd’s wirklich tun«, sagte er. »Als ich von hier losgefahren bin, war ich mir noch nicht sicher, aber als ich dann die Rennbahn gesehen hab, war alles klar. Es war wie ein Stein an meinem Hals, und jetzt werde ich ihn loswerden.« »Gut.« »Ja. Und es ist gut, dass wir uns getroffen haben«, sagte Lindahl. »Gut für uns beide. Geben Sie mir fünf Minuten.«
TEIL ZWEI
EINS
Auf der Plakatwand rechts der Straße stand:
GRO-MORE-RENNBAHN Nächste Ausfahrt
»Da geht’s zum Haupteingang«, sagte Lindahl, »aber da wollen wir nicht hin. Fahren Sie weiter – nach fünfhundert Metern kommt ein Feldweg.« Die Uhr im Armaturenbrett zeigte 12:42. In der vergangenen Stunde war William G. Dodds neuer Führerschein an Straßensperren von zwei Polizisten überprüft und für gut befunden worden, was bei Nacht natürlich leichter war als bei Tag. Unterwegs hatte Lindahls Gemütsverfassung geschwankt zwischen Phasen erregter Redseligkeit, in denen er Parker kleine Einblicke in seine Biographie gegeben hatte, und einer tiefen Versunkenheit, in der er, so stumm wie sein Papagei, seine neuerdings veränderte innere Landschaft betrachtet hatte. Der Haupteingang, an dem sie vorbeifuhren, bestand aus einem breiten Tor, dahinter lagen ein Parkplatz, eine Reihe von Kassenhäuschen und jenseits davon das langgestreckte Clubhaus. Das Tor selbst bestand aus geschwungenen Eisenstangen, die an Pfeilern in Form stilisierter Bullen aufgehängt waren. Im Clubhaus brannten hier und da einige trübe Lichter.
»Wer ist jetzt da drinnen?« fragte Parker. »Zwei Wachen. Das Licht da ganz rechts ist der Wachraum. Früher gab’s nachts bloß einen Wachmann, aber sie sind dahintergekommen, dass er immer geschlafen hat – darum sind’s jetzt zwei.« »Gehen sie herum? Machen sie ihre Runden?« »Nein, sie haben Monitore im Wachraum. Im Clubhaus und in den Ställen sind Kameras und Rauchmelder verteilt, und die Türen und Fenster im Erdgeschoss sind alarmgesichert.« »Sind die Wachen bewaffnet?« »Na klar. Sie tragen einen Revolver im Holster. Sie sind in Uniform und arbeiten für einen Sicherheitsdienst, mit dem die Rennbahn einen Vertrag hat. Hier müssen wir abbiegen.« Es war ein schmaler Feldweg, neben dem nur ein Schild stand, das eine Sackgasse anzeigte. Parker fuhr langsam und spähte nach rechts in die Dunkelheit, wo die Rennbahn liegen musste. »Ist das eine Mauer?« »Ein Holzzaun, zweieinhalb Meter hoch, rund um das ganze Gelände. Auf diesem Weg werden die Pferde und die Lieferungen reingebracht. Und wenn sie einen Rettungswagen brauchen, kommt der auch über diesen Weg. Da vorn geht es rechts ab bis zum Tor.« »Können die unsere Scheinwerfer sehen?« »Nein, es ist keiner da außer den Wachen im Wachraum. Die anderen Lichter brennen nur wegen den feuerpolizeilichen Vorschriften.« Das Tor war mit Maschendraht bespannt und zweieinhalb Meter hoch wie der Zaun, der sich rechts und links davon erstreckte. Parker hielt kurz davor an, so dass die Scheinwerfer durch den Maschendraht auf die weiße Bretterfassade der Stirnseite des Clubhauses leuchteten. Von beiden Ecken des
Hauses zogen sich hohe weiße Bretterzäune im Bogen zum Begrenzungszaun, so dass ein großer, umfriedeter Platz entstand, der teils asphaltiert war. Am Zaun zur Linken waren einige Lastwagen, Pick-ups und Pferdetransporter geparkt, am Zaun rechts vom Tor standen ein Feuerwehrwagen und eine Ambulanz. Lindahl öffnete die Beifahrertür und sagte: »Ich schalte den Alarm aus und mache das Tor auf.« »Gibt’s hier keine Überwachungskamera?« »Nein«, sagte Lindahl. »Nur im Haus und in den Ställen. Die haben mehr Angst vor einem Feuer als vor einem Einbruch. Oder dass jemand den Pferden was tut. Ich bin gleich wieder da.« Parker wartete, während Lindahl einen Metallkasten neben dem Tor aufklappte, auf einem Tastenfeld eine Nummer eingab, dann einen Schlüsselbund aus der Tasche zog, einen Schlüssel auswählte und das Vorhängeschloss am Tor aufsperrte. Er stieß das Tor auf und bedeutete Parker, ihm zu folgen. Zuversichtlich ging er im Scheinwerferlicht auf das Clubhaus zu, drehte sich um und machte Parker ein Zeichen, vor einer Art dreiseitigem Käfig aus Maschendraht zu halten, der an die Mitte der Clubhausfassade angebaut war. Lindahl kam zur Fahrertür und sagte: »Lassen Sie den Motor laufen und das Licht eingeschaltet – ich will Ihnen was zeigen.« Parker stieg aus und ging mit Lindahl zu dem Käfig. Die Vorderseite bestand aus einem weiteren Tor, hinter dem eine betonierte Rampe zum Kellergeschoss des Hauses führte und nach etwa zweieinhalb Metern vor einem schmucklosen, metallenen Garagentor endete. »Hinter dem Tor da«, sagte Lindahl, »ist der Korridor, der nach links zum Saferaum führt. Der Geldtransporter fährt
rückwärts runter, die Leute machen das Tor auf und laden die Kisten ein. Das Zeug für die Gastronomie und so weiter wird ebenfalls hier angeliefert. Aber wir müssen auf einem anderen Weg hinein, also stellen Sie jetzt den Motor ab. Wir gehen durch die Tür da.« Die Tür befand sich an der vorderen Ecke des Clubhauses. Sie war aus massivem Holz und mit einem Schild versehen, auf dem »Kein Zutritt« stand. Als Parker den Motor des Fords abgestellt hatte und vor der Tür stand, hatte Lindahl bereits aufgeschlossen. »Kameras gibt’s erst im Hauptkorridor«, sagte er. »Ich hatte mit mehr Sicherheitsmaßnahmen gerechnet«, sagte Parker. »Tja, es ist eben eine kleine Rennbahn irgendwo in der Provinz«, sagte Lindahl und ging voraus durch einen trübe beleuchteten Korridor, vorbei an verschlossenen Türen. »Es gibt zweimal vierundzwanzig Tage, an denen Rennen stattfinden, einmal im Frühjahr und einmal im Herbst, und in den übrigen Monaten ist die Bahn geschlossen. Sie wollten sich an ein Übertragungssystem anschließen lassen, damit die Leute in der restlichen Zeit auf andere Rennen wetten können, aber das hat bis jetzt nicht geklappt. Ich glaube, es gibt hier in der Gegend einfach zu wenige Kunden. Also wird hier nie das große Geld gemacht, und in all den Jahren hat es keinen einzigen Einbruch gegeben. Ein paarmal haben irgendwelche Verrückten versucht, an die Pferde ranzukommen, aber sonst ist nie was passiert. Hier entlang – damit umgehen wir den Hauptkorridor.« Lindahl öffnete eine Tür zu seiner Linken, und sie betraten einen breiten Raum mit niedriger Decke, schwarzem Linoleumboden und acht in regelmäßigen Abständen platzierten Schreibtischen. Ein fluoreszierender Ring um eine große
Wanduhr sorgte für Beleuchtung. Auf den meisten Tischen lagen Papiere und alles mögliche andere Zeug – auf einem stand ein grüner Plastikteller mit einem Rest Omelett mit Speck. »Das ist die Buchhaltung«, sagte Lindahl und zeigte auf eine weitere Tür. »Und da war mein Büro. Verdammt!« Er war gegen einen Tisch gestoßen, und der Teller fiel auf den Boden. Lindahl bückte sich, um ihn aufzuheben, doch das Omelett lag auf dem schwarzen Linoleum, das sich in einen schwarzen Ozean verwandelt hatte, in dem das Omelett die kleine, sandige Insel war, in der ein Speckstreifen steckte, leicht gestaucht, aber tapfer, die perfekte Verkörperung des gestrandeten Seemanns, der nun einsam auf die Bildunterschrift wartete. Das Ganze sah aus wie etwas, das die alten Griechen Acheiropoietoi nannten: eine nicht von Menschenhand stammende bildliche Darstellung. »Ich sollte das lieber aufräumen«, sagte Lindahl und musterte zweifelnd und mit gerunzelter Stirn die Insel. »Das war eine Maus«, sagte Parker. »Legen Sie den Teller darauf und lassen Sie uns weitergehen.« »Na gut.« Lindahl ging durch eine andere Tür in einen Korridor, der genauso aussah wie der erste. Sie wandten sich nach links. Lindahl ging voraus, und Parker prägte sich den Weg ein. Am Ende des Korridors, wo dieser nach rechts in einen breiteren Flur abbog, blieb Lindahl stehen. Er beugte sich vor, spähte um die Ecke und sagte: »Da – sehen Sie die Kamera?« Parker beugte sich ebenfalls vor. In einiger Entfernung war in der linken Wand des Flurs eine geschlossene Tür mit einem kleinen Fenster aus drahtarmiertem Glas und einem
Stoßgriff. Darüber war ein nach unten gerichteter Scheinwerfer an die Wand geschraubt, der die Fläche vor der Tür beleuchtete und dessen Licht bis zu ihnen schien. Über dem Scheinwerfer, knapp unterhalb der abgehängten Decke, war an einem Metallarm eine Kamera montiert. Sie zeigte im Augenblick auf das andere Ende des Flurs, bewegte sich jedoch und richtete sich langsam nach links. Parker sah, dass sie innehielt und nach einer kurzen Pause in die andere Richtung schwenkte. Er fuhr zurück und lehnte sich an die Wand. »Erzählen Sie mir mehr davon.« »Sie schwenkt in einer Minute von links nach rechts – immer hin und her. Wenn sie hierherzeigt und sich dann in die andere Richtung bewegt, ist sie für ein paar Sekunden auf diese Ecke gerichtet. Danach haben wir vierzig Sekunden, um den Flur entlang und durch die Tür da zu gehen. Dahinter ist das Treppenhaus – keine Kameras. Wir gehen in den Keller. Da ist die Kamera.« Lindahl wartete und schien in Gedanken Sekunden zu zählen. Dann spähte er um die Ecke und sagte: »Okay.« Sie gingen durch den Flur, während die Kamera weiter von ihnen weg schwenkte. Lindahl stieß die Tür auf, und Parker folgte ihm in das Treppenhaus, wo Betonstufen nach oben und unten führten. Eine kleine Lampe über der Tür beleuchtete den Absatz. Sie gingen hinunter in das Kellergeschoss, wo die Treppe vor einer identischen Tür mit einer identischen Lampe endete. »Das ist jetzt ein bisschen heikel«, sagte Lindahl, »denn wenn die Kamera genau geradeaus zeigt und ich die Tür aufmache, können die Wachen die Lichtveränderung auf dem Bildschirm sehen. Warten Sie.« Er beugte sich zu dem kleinen Fenster, legte die Wange an
das Glas und spähte steil nach oben. »Ich kann sie so gerade eben sehen ... So, gut. Jetzt.« Er öffnete die Tür und ging rasch nach rechts. Parker folgte ihm. Das Ende des Korridors war hier näher als im Erdgeschoss, und dort war eine Metalltür. Im Gehen wählte Lindahl einen Schlüssel von seinem Bund aus. Mit einer schnellen Drehung schloss er die Tür auf und trat hindurch. Parker blickte sich um und sah, dass die Kamera noch immer nach links schwenkte. Als die Tür wieder ins Schloss gefallen war, herrschte in dem Raum, in dem sie sich nun befanden, vollkommene Dunkelheit. »Ich will hier lieber kein Licht machen«, sagte Lindahl, »weil es möglicherweise unter der Tür durchschimmert und die Kamera es sehen könnte. Ich bin mir da nicht sicher. Moment.« Parker wartete und lehnte an der geschlossenen Tür. Er hörte, dass Lindahl ein paar Schritte machte und einen Schlüssel in ein Schloss steckte. Rechts von ihm öffnete sich eine Tür, und dann flammten im angrenzenden Raum an der Decke montierte Neonröhren auf. Im Widerschein des Lichts sah er sich um. Der Raum, in dem er sich befand, war leer und länger als breit. Er hatte einen Betonboden, die Wände bestanden aus Betonblöcken, und am anderen Ende war ein fensterloses Garagentor, bestimmt dasselbe, das er von draußen gesehen hatte. Ein Gabelstapler stand in der Ecke rechts von Parker. Als er zu dem Raum ging, in dem Lindahl das Licht angeschaltet hatte, stellte er fest, dass die Tür höher und breiter als normal war, so dass der Stapler hindurchfahren konnte. Lindahl sicherte die feuerfeste Tür aus grauem Metall mit einem am Betonboden befestigten Haken, damit sie nicht zufiel. Das war also der Saferaum, ein fensterloser, quadratischer
Raum mit niedriger Decke und Wänden aus Betonblöcken, die in einem stumpfen Grau gestrichen waren. Links war ein halbes Dutzend flacher, länglicher Metallkästen auf einer Palette aufgestapelt. Jeder Kasten trug auf der Längsseite in weißen Lettern das Logo der Rennbahn. In einem Industrieregal aus Blech an der rechten Wand standen noch mehr dieser Kästen, außerdem Kasseneinsätze mit Hartgeldfächern, ein Werkzeugkasten sowie verschiedene Dosen. Lindahl sagte: »So sieht’s aus.« »Ja.« »Die Kästen gehören der Rennbahn, darum werden die leeren immer wieder hierher zurückgebracht. Ab und zu kriegt mal einer eine Beule oder ein Scharnier geht kaputt – dann wird der Kasten weggeworfen. Die sind sehr vorsichtig und packen diese Kästen in schwarze Plastikbeutel, bevor sie sie in den Müllcontainer werfen.« »Aber Sie wissen das«, sagte Parker, »und haben diese Kästen nach Hause mitgenommen.« »Ich habe sieben.« Lindahls Stolz auf seine Weitsicht wich sogleich einem Selbstekel. »Ich war so schlau«, sagte er. »Ich hab alles geplant bis ins letzte Detail, aber ich hab’s nicht gebracht, herzufahren und es durchzuziehen.« »Wollten Sie das Zeug mit Ihrem Ford abtransportieren?« fragte Parker. »Nein, das würde nicht funktionieren, soviel ist sicher.« Lindahl zuckte die Schultern. »Dafür braucht man einen Kleintransporter, einen Lieferwagen.« »Und haben Sie einen?« »Nein, den würde ich mieten.« Lindahl grinste Parker beinahe trotzig an und fuhr fort: »Ja, ich weiß – noch etwas, das die Polizei auf meine Spur bringen würde. Aber mir ist egal, ob sie es wissen, weil ich dann nämlich schon längst über alle
Berge bin. Ich würde den Wagen und die leeren Kästen sogar bei mir zu Hause stehenlassen – ich würde ja sowieso nie zurückkommen.« Das stimmte. »Noch irgendwas, was Sie mir zeigen wollen?« fragte Parker. »Nein, das ist alles. Wir müssen auf dem Weg zurückgehen, den wir gekommen sind. Wenn man die Tür zur Rampe öffnet, leuchtet im Wachraum ein Alarmlicht. Man muss den Alarm von dieser Seite ausschalten und die Tür dann öffnen. Und wenn man sie schließt und den Alarm nicht wieder einschaltet, leuchtet das Licht auch auf. Wenn wir es also am nächsten Samstag machen ... also, falls wir es machen ... jedenfalls, wenn wir es machen, müssen wir rein- und auf demselben Weg wieder rausgehen, den Wagen rausfahren, zurückkommen, alles abschließen, den Alarm wieder einschalten und auf dem Umweg wieder raufgehen und verschwinden. Gibt’s noch was, was Sie sehen wollen?« Parker zeigte auf die Kästen, die auf der Palette standen. »Sind die abgeschlossen?« »Nicht nötig.« »Machen Sie mal einen auf.« »Klar.« Der Deckel bestand aus zwei langen Metallflügeln, die an den Längsseiten der Kästen befestigt waren. Lindahl ließ sich vor der Palette auf ein Knie nieder und klappte die beiden Deckelteile auf, die anscheinend recht schwer waren. In dem Kasten lagen Kasseneinsätze wie die in dem Regal übereinandergestapelt, scheinbar drei übereinander, doch diese waren voller Bargeld; die Scheine waren in den linken Fächern, die Münzen in den rechten. »Die Dinger sind ziemlich schwer«, sagte Lindahl, als er den Deckel zuklappte und sich erhob.
»So sehen sie auch aus.« »Noch was?« »Wieviel liegt hier normalerweise in der Nacht von Samstag auf Sonntag?« »Wahrscheinlich mehr als hunderttausend, weniger als hundertfünfzig.« Parker nickte. Genug, um von hier zu verschwinden. »Also, was halten Sie davon?« fragte Lindahl stolz und gespannt. »Sieht gut aus.« Mit einem breiten, erleichterten Lächeln sagte Lindahl: »Ich wusste, dass Sie das sagen würden. Dann wollen Sie’s also machen?« »Ja.« Als sie auf dem Rückweg die Treppe zum Erdgeschoss hinaufgingen, sagte Lindahl: »Ich weiß übrigens, warum ich diesen Kasten aufmachen sollte. Sie wollten nicht, dass Ihre Fingerabdrücke darauf sind.« »Genau«, sagte Parker.
ZWEI
Parker schwieg, bis sie ein gutes Stück von der Rennbahn entfernt waren und in nördlicher Richtung fuhren. Dann sagte er: »Wenn wir es machen, müssen Sie tun, was ich sage.« »Sie meinen, weil Sie der Profi sind.« »Mir ist es nicht egal, ob ich verhaftet werde oder nicht.« »Mir auch nicht«, sagte Lindahl. »Verstehen Sie mich nicht falsch – ich hab nicht so eine Art Todessehnsucht. Wenn die Schweine mich erwischen, haben sie mich wieder mal geschlagen, und das will ich nicht. Glauben Sie mir, ich gehe nicht ins Gefängnis – das wird nicht passieren.« »Lieber würden Sie sterben.« Lindahl verzog das Gesicht und versuchte, eine Antwort darauf zu finden. Schließlich sagte er: »Würden Sie sich ergeben?« »Ich will sie gar nicht erst im Genick sitzen haben«, sagte Parker. »Das ist es, was zählt.« »Aber sie haben Ihnen im Genick gesessen. Als ich Sie zum ersten Mal gesehen hab, auf dem Hügel da, waren sie Ihnen dicht auf den Fersen.« »Ich kann mich gut erinnern«, versicherte Parker ihm. »Und darum werden wir es, wenn wir es machen, auf meine Art machen, ohne Wenn und Aber.« »Aber ich kann doch wohl nein sagen«, erwiderte Lindahl. »Ich kann sagen: Nein, das will ich nicht, und dann tun wir’s nicht. Wenn Sie zum Beispiel sagen: ›Und jetzt legen wir die
beiden Wachmänner um‹, kann ich nein sagen, und dann tun wir das nicht.« »Ich bin nicht drauf aus, jemanden umzulegen«, sagte Parker. »Das macht die Bullen immer nur wütender.« »Na ja, egal, was es ist«, sagte Lindahl. »Wenn ich nicht will, kann ich nein sagen, und dann tun wir’s nicht.« »Stimmt«, sagte Parker. »Sie können jederzeit nein sagen.« »Gut. Dann verstehen wir uns.« Lindahl nickte zur Windschutzscheibe. »Da vorn sind Lichter.« Sie waren zu dieser Nachtzeit nur hin und wieder einem anderen Wagen begegnet, doch vor ihnen sahen sie jetzt die unverkennbaren Lichter einer weiteren Straßensperre. Diese Sperren würden die ganze Nacht dort sein und vielleicht auch morgen nacht. Die Polizei suchte nach zwei Männern, die sich möglicherweise getrennt hatten, möglicherweise aber auch noch zusammen waren, und daher erregte jeder Wagen, der mitten in der Nacht mit zwei Männern unterwegs war, ihre Aufmerksamkeit. Zudem langweilten sich die Beamten, da hier, auf dieser Landstraße, sehr wenig Verkehr herrschte. Zum erstenmal wurden Parker und Lindahl gebeten auszusteigen, während die Polizisten das Innere des Fords mit den Taschenlampen ableuchteten. Allerdings durchsuchte man die beiden nicht nach Waffen, und wieder wurde Parkers Führerschein ohne weiteres akzeptiert. Ihr Wagen war der einzige an der Straßensperre, und als sie nach Norden in die Dunkelheit davonfuhren, waren keine anderen Lichter zu sehen als die im Rückspiegel kleiner werdenden Warnlampen. Lindahl drehte sich immer wieder nach ihnen um, und erst als sie verschwunden waren, sprach er weiter. »Ich nehme an, Sie haben einen Plan. Wegen der Rennbahn, meine ich.«
»Ja.« »Er ist wahrscheinlich anders als meiner.« »Zum Teil.« »Zu welchem Teil?« »Erstens«, sagte Parker, »werden wir diese Metallkästen nicht mitnehmen. Es gibt keinen Grund, sich mit diesem Gewicht abzuschleppen.« »Aber in irgendwas müssen wir das Geld transportieren.« »Gibt’s hier irgendwo ein Einkaufszentrum? Irgendwas, das am Sonntag geöffnet ist?« »Ungefähr sechzig Kilometer von mir«, sagte Lindahl, »in Richtung Albany.« »Morgen fahren Sie dahin«, sagte Parker, »und kaufen zwei Reisetaschen. Sie wissen schon – große Taschen aus Segeltuch.« »Wie die von der Armee.« »Genau.« Lindahl schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Sie haben doch gesehen, wieviel Geld da herumliegt.« »Wir nehmen nur die großen Scheine«, sagte Parker. »Nichts unter zehn Dollar. Und kein Kleingeld.« »Hm«, sagte Lindahl und nickte langsam. »Ja, das ist wohl vernünftig.« »Und wir brauchen zwei Paar Gummihandschuhe.« »Wegen der Fingerabdrücke. Okay. Noch was?« »Nein, das ist alles. Und Sie müssen volltanken – Sie haben nicht mehr viel Benzin.« »Gut.« Lindahl schwieg eine Weile, dann runzelte er die Stirn und sagte: »Warum müssen wir das alles morgen erledigen? Montag sind die Geschäfte in der Nähe doch wieder geöffnet.« »Weil wir uns das Geld morgen nacht holen«, sagte Parker.
DREI
»Nein!« Lindahl war entsetzt. »Das ist nicht gut! Dann haben wir nicht genug Zeit, um zu verschwinden!« »Erstens«, sagte Parker, »wollen wir uns mal von Ihrer Sechsunddreißig-Stunden-Phantasie verabschieden. Sie können nicht verschwinden, weil Sie kein Versteck haben. Wo wollen Sie sechsunddreißig Stunden später sein? In Oregon? Wo wollen Sie schlafen? Wollen Sie in ein Motel gehen und bar bezahlen? Wenn Sie mit Kreditkarte zahlen, wissen die sofort, wo Sie sind, denn Ihr Konto wird überwacht werden. Also bezahlen Sie bar? Der Typ im Motel wird Ihr Nummernschild sehen wollen. Oh, Sie sind aus New York?« »Herrje.« »Egal, wo Sie in diesem Land hingehen – alle hängen am selben Computer. Ob Sie bloß die Straßenseite wechseln oder quer durchs Land reisen: Sobald Sie sich irgendwohin bewegen, wissen die, wo Sie sind. Sie wollen das Land verlassen? Haben Sie einen Pass?« »Nein«, sagte Lindahl. Er klang kleinlaut. »Ich bin nie viel gereist.« »Dann ist jetzt kein guter Augenblick, um damit anzufangen«, sagte Parker. »Sie können nicht verschwinden, weil Sie die Regeln nicht kennen. Anstatt also der Typ zu sein, der die Rennbahn ausgeraubt hat, und denen eine Nase zu drehen, weil die Sie nie kriegen werden, sind Sie der Typ, der die Rennbahn nicht ausgeraubt hat, und bleiben da, wo Sie im-
mer sind, nämlich zu Hause. Und Sie lassen die Ihr Haus durchsuchen, und in der fraglichen Nacht haben Sie in Ihrem Bett gelegen und geschlafen wie in jeder anderen Nacht, und das Geld rühren Sie ein Jahr lang nicht an. So müssen Sie’s machen, wenn Sie die Sache durchziehen und nicht dafür in den Knast wandern wollen.« »Das ist ...« Lindahl schüttelte den Kopf und machte mit einer Hand unbestimmte Gebärden, als wollte er einem Menschen, der noch nie einen Elefanten gesehen hatte, einen beschreiben. »Das ist ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Das ist einfach nicht mehr dasselbe.« »Sie wollen zwei Dinge«, sagte Parker. »Oder jedenfalls haben Sie das gesagt. Sie wollen Rache. Und Sie wollen das Geld.« »Tja«, sagte Lindahl, und nun schien er etwas verlegen, etwas unbeholfen. »Eigentlich sollten die wissen, dass ich es war.« »Weil Sie verschwinden wollten.« »Aber Sie sagen, dass ich das nicht kann.« »Sie sind ein Leben als Krimineller nicht gewöhnt«, sagte Parker. »Es gibt zuviel, was Sie nicht wissen, zu viele Fehler, die Sie machen können. Sie können das Geld haben, und Sie können Rache nehmen, und vielleicht denken ein paar Ihrer ehemaligen Bosse, dass Sie es waren, aber das werden die nicht beweisen können, und Sie und Ihr Papagei leben einfach weiter wie zuvor.« »So hatte ich mir das nicht vorgestellt«, sagte Lindahl noch einmal. »Ich hatte mir vorgestellt, dass ich nicht mehr so leben würde wie jetzt. Dass ich nicht mehr ein paar armselige Kaninchen fürs Abendessen schießen muss. Dass ich mich nicht mehr in dieser jämmerlichen Bruchbude verkrieche und nie jemanden sehe und alle denken, dass ich ein ver-
rückter Einsiedler bin, und keiner sich einen Dreck um mich kümmert.« »Das haben Sie vier Jahre lang gemacht«, erinnerte Parker ihn, »und Sie können es noch ein Jahr länger machen. Oder vielleicht nicht ganz ein Jahr länger. Nächstes Jahr im Juli erzählen Sie ein paar Leuten, dass Sie Urlaub machen wollen, dass Sie irgendwohin fahren. Dann nehmen Sie das Geld und fahren –« »Irgendwohin, wo es warm ist.« »Das liegt bei Ihnen. Wenn Sie dort sind, eröffnen Sie ein Konto und zahlen alle paar Wochen ein paar tausend Dollar ein. Sie mieten sich ein Haus, und dann fahren Sie hierher zurück und sagen den Leuten, an die Sie Ihre Miete zahlen, dass Sie beschlossen haben, sich in einer schöneren und wärmeren Gegend zur Ruhe zu setzen. Und dann haben Sie freie Bahn.« Lindahl schwieg lange. Parker saß am Steuer, und die Scheinwerfer schoben den bleichen Fächer aus Licht vor ihnen her. Sie fuhren durch hügelige Landschaft und schlafende Kleinstädte – hier und da war ein Licht zu sehen, doch die meiste Zeit war es so dunkel wie damals, als der Kontinent noch weitgehend unbewohnt gewesen war. Schließlich seufzte Lindahl tief und sagte: »Ich glaube, das würde ich hinkriegen.« »Das glaube ich auch.« »Es ist, als würde man auf die Jagd gehen. In mancher Hinsicht ist es, als würde man auf die Jagd gehen. Das Wichtigste dabei ist Geduld. Wenn man Geduld hat, kriegt man, was man haben will.« »Stimmt.« »Ich müsste ... Wenn wir es machen, müsste ich das Geld verstecken. Ich meine, richtig gut verstecken, wo sie es nicht finden würden. Wo es keiner finden würde.«
»Ich zeige Ihnen, wo.« »Sie kennen schon ein Versteck?« sagte Lindahl überrascht. »Aber das andere, was Sie machen müssen«, sagte Parker, »ist, diese Metallkästen loszuwerden. Die werden wir nicht brauchen, und Sie wollen doch nicht, dass irgendein Polizist sie findet, denn auf die Fragen, die dann kommen, haben Sie keine Antworten.« »Sie haben recht«, sagte Lindahl. »An die hab ich gar nicht gedacht. Sie stehen in einer Ecke der Abstellkammer.« »Wischen Sie Ihre Fingerabdrücke ab.« »Die Dinger sind noch in den Plastiksäcken, in denen sie weggeworfen worden sind. Ich hab sie da drin gelassen.« »Um so besser. Nehmen Sie sie morgen mit und werfen Sie sie in irgendeinen anderen Müllcontainer, vielleicht an dem Einkaufszentrum. Sorgen Sie dafür, dass sie nie wiederauftauchen.« »Gut, das werde ich tun.« Lindahl wandte sich zu Parker und sagte neugierig: »Und Sie wissen wirklich, wo ich das Geld verstecken soll?« »In dem verrammelten Vorderhaus.« »Ach, ich weiß nicht«, sagte Lindahl. »Ich glaube, es ist ganz schön schwierig, da reinzukommen. Nicht, ohne jede Menge Spuren zu hinterlassen.« »Ich bin schon drinnen gewesen«, sagte Parker. »Es ist alles bereit. Morgen zeige ich es Ihnen.« »Sie waren da drinnen? Mein Gott.« »Für den Fall, dass es sich als schlechte Idee erweisen würde, in Ihrem Haus zu sein«, sagte Parker. »Das muss ich sehen.« Darauf erwiderte Parker nichts, und sie fuhren für eine Weile schweigend weiter. Es war inzwischen nach vier Uhr
morgens, und bis sie bei Lindahls Haus anlangten, würde es nach fünf sein. Und Lindahl hatte morgen eine Menge zu erledigen. »Wissen Sie«, sagte Lindahl nach ungefähr einer Viertelstunde, »jetzt ist es real. Als ich wieder an der Rennbahn war und mir alles angesehen habe, und als ich dann gemerkt habe, dass ich noch immer scheißwütend bin wegen all dem, was passiert ist, und dass ich mich noch immer an denen rächen will, da dachte ich: Jetzt ist es endlich real. Aber es war nicht real. Es war noch immer eine Phantasie, in der ich am Ende nach Westen reite wie einer in einem Film. Wie vorhin, als Fred Thiemann gesagt hat, wir wären ein Suchtrupp wie im Wilden Westen, nur ohne Pferde. Das war seine Phantasie, und die hat ihn am Ende in den Hintern gebissen, nicht?« »Ja«, sagte Parker. »Und meine Phantasie hätte dasselbe gemacht. Und darum ist diese Sache jetzt zum erstenmal wirklich real.« Lindahl sah hinaus in die Finsternis und lächelte. Parker sagte nichts.
VIER
Als sie endlich nach Pooley kamen und an dem mit Brettern verschlossenen Haus vorbeifuhren, runzelte Lindahl die Stirn und sagte: »Und Sie sind wirklich da drin gewesen?« »Wir sehen es uns später an«, sagte Parker. »Jetzt müssen wir schlafen.« Es war beinahe halb sechs. Zu ihrer Rechten zeigte sich das erste Morgengrauen und ließ die Silhouetten von Hügeln erkennen. Die einzigen Lichter im Ort waren die Straßenlaternen und die Blinklichter an der Kreuzung sowie das Nachtlicht in der Tankstelle. Parker stellte den Wagen an der üblichen Stelle ab. Lindahl stieg aus und gähnte, Parker blieb neben dem Wagen stehen und horchte. Es war kein Laut zu hören. Er folgte Lindahl ins Haus, wo der Fernseher zunächst die einzige Lichtquelle war, doch dann knipste Lindahl eine Stehlampe neben dem Sofa an, schaltete den Fernseher aus und sagte: »Das Sofa ist nicht schlecht. Ich gebe Ihnen eine Decke und einen Kissenbezug.« »Haben Sie einen Wecker?« »Klar. Aufweiche Uhrzeit soll ich ihn stellen?« »Zehn.« »Da bleibt uns nicht viel Zeit zum Schlafen«, sagte Lindahl überrascht. »Wenn alles vorbei ist, können Sie schlafen, soviel Sie wollen«, versprach ihm Parker.
FÜNF
Lindahl gähnte, als sie zum Vorderhaus gingen. Es war halb elf Uhr morgens. Sie waren vor einer halben Stunde aufgestanden und hatten schweigend gefrühstückt, bevor sie hinaus in die kalte, feuchte Luft gegangen waren. Der Himmel war gräulichweiß, als wäre er dabei, Schimmel anzusetzen. Parker ging voraus zum Hintereingang des Hauses, wo er nach der Oberkante der Sperrholzplatte griff und sie wegzog. »Oh!« Lindahl hielt mitten im Gähnen inne und machte große Augen. »War das schon immer so?« »Das hab ich gestern erledigt.« Lindahl trat näher, um die Platte zu untersuchen, und strich mit dem Finger über eine der gekürzten Schrauben. »Sie haben sie abgesägt.« »Genau.« »Und wofür ist die in der Mitte?« »Damit man die Platte von drinnen vor die Tür ziehen kann. Kommen Sie.« Parker stieß die Tür auf und bedeutete Lindahl, vor ihm hineinzugehen. Als Parker ihm folgte und die Holzplatte wieder in die richtige Position rückte, fragte Lindahl: »Ist das meine Taschenlampe?« »Ja. Wir brauchen sie. Schalten Sie sie ein.« Das tat Lindahl, und Parker zog die Platte an den Türrahmen und sagte: »Geben Sie mir die Lampe – ich hab mich hier schon umgesehen.«
»Gut.« Sie gingen durch das dunkle Haus hinauf zum Dachboden, und Lindahl trat an das runde Fenster. »Hier waren Sie gestern nacht, als ich nach Hause gekommen bin«, sagte er. »Für den Fall, dass ich die Polizei mitbringen würde oder so.« »Stimmt.« Parker richtete den Strahl der Taschenlampe auf die Stelle hinter dem rechteckigen Loch für die Leiter, wo die Dachschräge dem Boden am nächsten kam und die Wand nur etwa einen Meter hoch war. Dort lagen ein alter, verbeulter Pappkoffer sowie ein paar Vorhänge und Vorhangstangen. »Legen Sie Ihre Reisetasche zu dem Zeug da und lassen Sie sie dort liegen, bis Sie sich eine warme Gegend ausgesucht haben. Und sobald sie da deponiert ist, ersetzen Sie die abgesägten Schrauben an der Hintertür durch lange – nur für den Fall, dass mal jemand kommt, um nachzusehen, ob noch alles gut verschlossen ist.« »Und dann reibe ich sie mit ein bisschen Dreck ein.« »Gut.« Sie gingen wieder hinunter und verließen das Haus, und während Parker die Sperrholzplatte an Ort und Stelle schob, sagte er: »Ich komme mit zu diesem Einkaufszentrum – mal sehen, ob ich dort was finde, was ich brauchen kann. Wir laden jetzt die Kästen in Ihren Wagen.« »Okay.« Bevor sie sich auf den Weg machten, steckte Parker den Revolver in die Jackentasche. Wieder war er derjenige, der fahren musste, denn vier Stunden Schlaf waren für Lindahl zuwenig gewesen. Die sieben Kästen in den schwarzen Müllsäcken waren so hoch auf dem Rücksitz gestapelt, dass Parker nur die Außenspiegel benutzen konnte.
Die erste Straßensperre, an die sie kamen, war mit demselben missmutigen alten Polizisten besetzt wie gestern. »Sie beide hab ich doch schon mal gesehen«, sagte er, als Parker ihm seinen neuen Führerschein reichte. »Unausgebildete Männer mit Gewehren«, sagte Parker. »Der Angel- und Jagdclub Hickory. Heute allerdings ohne Gewehre.« »Na, wenigstens ist gestern keiner erschossen worden«, sagte der Mann und gab Parker den Führerschein zurück. »Irgendwas Neues von den beiden, die Sie suchen?« »Kein Sterbenswörtchen.« Die Unzufriedenheit zog das Gesicht des Beamten in die Länge, als wirkte die Schwerkraft bei ihm doppelt. »Wenn Sie mich fragen, sitzen die Vögel längst an irgendeinem Strand in Florida. Aber mich fragt ja keiner.« »Sie könnten doch Ihren Vorgesetzten bitten, dass er Sie hinschickt, damit Sie sich dort mal umsehen«, schlug Parker vor. »Sie können jetzt fahren«, sagte der Polizist. Als sich der Wagen in Bewegung setzte, sagte Lindahl: »Sie werden wohl nie nervös, was?« »Gibt ja keinen Grund. Halten Sie die Augen offen nach irgendwas, wo wir die Kästen loswerden können.« Dreißig Kilometer weiter wurden sie fündig: Eine alte Bowlingbahn wurde abgerissen, und am Rand der an diesem Sonntagmorgen menschenleeren und unbewachten Baustelle standen zwei große, halb mit allerlei Schutt gefüllte Container. Sie holten die sieben Kästen aus dem Wagen und verteilten sie auf die beiden Container, damit sie weniger auffielen. Dann fuhren sie weiter zum Einkaufszentrum, das nicht besonders groß und bereits etwas älter war. Eines der beiden Hauptgeschäfte war geschlossen worden. Die Namen
der Läden, die zwischen der geöffneten und der geschlossenen Kaufhausfiliale aufgereiht waren, lasen sich wie eine Anthologie landesweit bekannter Firmen. Der Parkplatz war zu einem Viertel gefüllt, so dass sie nahe dem Haupteingang parken konnten, gleich neben den für Behinderte reservierten Stellflächen. Sie gingen hinein, und Parker sagte: »Sie kaufen jetzt die beiden Reisetaschen und die Gummihandschuhe. Ich sehe mich mal ein bisschen um. Wir treffen uns beim Hauptausgang.« »Gut.« Lindahl nahm einen Einkaufswagen und schob ihn in das mäßig besuchte Kaufhaus. Parker sah ihm nach, drehte sich um und spazierte draußen an den kleineren Geschäften entlang. Auf dem Hinweg hatte er sich bereits für das vielversprechendste entschieden: ein Bekleidungsgeschäft für junge Leute, wo überweite Jeans, Baseballmützen und Sweatshirts mit dem Aufdruck verschiedener Strafanstalten verkauft wurden. Ja. Als er durch das Schaufenster spähte, vorbei an Turnschuhen, die aussahen wie Raumstationen, sah er keine Kunden, sondern nur den Verkäufer, einen mageren Oberschüler, der Kleider trug, wie sie in diesem Laden verkauft wurden. Er ging umher und ordnete halbherzig die Auslagen. Parker betrat das Geschäft. Der Junge blickte auf, erst hoffnungsvoll, dann ausdruckslos, als er sah, dass dieser Kunde wahrscheinlich nichts kaufen würde. »Guten Tag, Sir. Was kann ich für Sie tun?« »Tja«, sagte Parker und zeigte ihm den Revolver, »du könntest zunächst mal die Kasse da drüben aufmachen, und dann könntest du dich hinter der Theke auf den Bauch legen.«
Der Junge starrte erst den Revolver und dann Parker an, als hätte er die Fähigkeit, Englisch zu verstehen, verloren. Parker hob den Revolver, so dass er aus einem halben Meter Entfernung auf die Nase des Jungen zielte. »Oder«, sagte er, »ich könnte dir die Rübe wegpusten und die Kasse selbst aufmachen.« »Nein, ich mach schon!« Schlaksig und abrupt setzte er sich in Bewegung und stieß gegen Tische und Regale, als er hinter die Theke lief und die Kasse öffnete. Er trat einen Schritt von der geöffneten Lade zurück und starrte Parker an. »Sie werden mich doch nicht erschießen, oder?« »Nicht, wenn du dich auf den Bauch legst.« Der Junge ließ sich fallen, als wäre er getroffen, und am Boden legte er die gefalteten, zitternden Hände auf den Hinterkopf. Parker griff über die Theke hinweg in die Kasse und nahm die Zehner und Zwanziger heraus, wobei er darauf achtete, nur das Geld zu berühren. Dann sah er hinab auf den Jungen und sagte: »Sieh auf deine Uhr.« Die gefalteten Hände trennten sich, und der Junge legte den Kopf in den Nacken und blickte auf die große runde Uhr an seinem linken Handgelenk. »Ich werde draußen fünf Minuten warten. Wenn ich durch das Schaufenster sehe, dass du aufgestanden bist, schieße ich. Fünf Minuten. Verstanden?« »Ja, Sir.« Der Junge starrte unverwandt und mit durchgebogenem Genick auf seine Uhr. Parker verließ das Geschäft und kehrte zurück zum Kaufhaus. Drinnen fand er Lindahl, der an der Kasse stand. Vor ihm war nur noch ein anderer Kunde. Im Einkaufswagen lagen zwei dunkelbraune, in durchsichtiges Plastik einge-
schweißte Reisetaschen und zwei Paar gelbe, in einer Klarsichtpackung auf Pappe montierte Gummihandschuhe. Lindahl nickte Parker zu. »Ich hab alles. Haben Sie auch was gekauft?« »Nein, ich hab mich nur umgesehen.« Lindahl war an der Reihe. Er bezahlte und steckte seine Einkäufe in eine große Plastiktüte, auf der über einem Smiley-Gesicht der Name des Kaufhauses stand. Sie gingen hinaus. Lindahl trug die Tüte und sagte: »Soll ich fahren?« »Ja, okay.« Parker gab ihm die Wagenschlüssel. An der Ausfahrt des Parkplatzes mussten sie warten, weil ein Polizeiwagen mit blinkenden Lichtern und jaulender Sirene vorbeifuhr. Lindahl sah ihm überrascht nach. »Was ist denn da passiert?« »Hat nichts mit uns zu tun«, sagte Parker.
SECHS
Auf dem Rückweg hielten sie an einem heruntergekommenen Schnellimbiss, um etwas zu Mittag zu essen. Sie setzten sich an einen Tisch an dem großen Fenster, durch das man den sehr spärlichen Sonntagsverkehr auf dieser kleinen Landstraße sehen konnte, und nachdem sie bei der Kellnerin ihre Bestellung aufgegeben hatten, sagte Parker: »Erzählen Sie mir von den Dennisons.« »Von wem? Ach so, Cory und Cal. Warum wollen Sie denn von denen was wissen?« »Die kamen gestern abend, um mit mir zu reden. Gleich nachdem Sie gefahren waren.« »Die kamen ... Die waren bei mir zu Hause?« »Sie denken, ich könnte einer der gesuchten Bankräuber sein.« »O Gott!« Lindahl sah aus, als würde er gleich aus dem Fenster springen, die Straße entlangrennen und erst nach hundert Kilometern stehenbleiben. »Was haben die vor?« »Wenn ich einer von den Bankräubern bin«, sagte Parker, »dann habe ich eine Menge Geld.« »Aber Sie haben keine Menge Geld.« »Wenn ich einer von den Bankräubern wäre und eine Menge Geld hätte, dann könnte ich Cal etwas davon abgeben, und dann könnte er sich eine Operation und ein Glasauge leisten.« »Verstehe.« Lindahl war nicht mehr panisch, sondern
machte ein Gesicht, als hätte er noch nie etwas so Dämliches gehört. »Das haben sie gesagt? Sie sind der Räuber, geben Sie uns was von dem Geld ab?« »Das Wort Räuber fiel nicht.« »Aber darum ging es? Wenn Sie ihnen Geld geben, gehen sie nicht zur Polizei? So ungefähr haben die sich das vorgestellt?« »Ich glaube schon.« »Das ist eine typische Cal-Idee«, sagte Lindahl. »Er ist schon als Kind gern von Scheunendächern gesprungen.« »Cory ist der Schlauere von beiden«, stimmte Parker ihm zu. »Aber er tut, was Cal ihm sagt. Sie haben gesagt, sie wollen heute noch mal kommen und mit Ihnen reden.« Lindahl war wieder verwundert. »Mit mir? Warum denn?« »Um rauszufinden, ob ich wirklich Ihr alter Kumpel Ed Smith bin.« Lindahl lehnte sich zurück und breitete die Hände aus. »Klar sind Sie das. Sollte ich doch wohl wissen.« »Richtig«, sagte Parker. Als die Kellnerin ihr Essen brachte, fuhr er fort: »Die Einzelheiten können wir gleich jetzt, beim Essen, besprechen. Für den Fall, dass jemand mit Ihnen und dann mit mir redet.« »Gut, machen wir.« »Wir müssen uns nur noch heute vorsehen«, sagte Parker, »und dann haben wir’s hinter uns.« Mit einem überraschten Lachen sagte Lindahl: »Stimmt! Nur noch heute. Die Sache ist beinahe gelaufen.«
SIEBEN
Um kurz vor zwei waren sie wieder bei Lindahls Haus. Der Wagen, der davor parkte, war nicht der Dodge Ram der Dennisons, sondern ein schwarzer Taurus, den Parker als Fred Thiemanns Wagen erkannte. Die Fahrertür wurde geöffnet, und eine Frau in den Fünfzigern stieg aus. Sie trug Jeans und eine Windjacke. Offenbar hatte sie auf Lindahls und Parkers Rückkehr gewartet. »Die Frau?« sagte Parker. »Jane«, antwortete Lindahl und machte ein besorgtes Gesicht. »Was mag da schiefgegangen sein?« »Sie wird’s uns gleich sagen.« Lindahl hielt neben dem Taurus an, während Jane Thiemann stirnrunzelnd an der Haustür stand und auf sie wartete. Parker musterte sie durch die Windschutzscheibe und sah eine Frau, die von irgend etwas niedergedrückt war. Nicht wütend und auch nicht verängstigt, aber doch so besorgt, dass sie sich über ihr äußeres Erscheinungsbild keine Gedanken machte. Sie war einfach hinausgefahren in die Welt, gefasst auf schlechte Nachrichten, ganz gleich, wie diese aussehen mochten. Parker und Lindahl stiegen aus dem Geländewagen. Lindahl sagte: »Hallo, Jane. Wie geht’s Fred?« »Er ist kurz davor durchzudrehen.« Sie sah Parker mit einem düsteren Blick an. »Sie sind wahrscheinlich Ed Smith.« »Stimmt.«
»Fred hat Angst vor Ihnen«, sagte sie. »Ich weiß nicht genau, warum.« Parker zuckte die Schultern. »Ich auch nicht.« »Willst du nicht reinkommen?« fragte Lindahl. »Ich soll Freds Gewehr holen.« »Natürlich. Ich hab’s in der Halterung im Schlafzimmer festgeschlossen. Komm mit.« Sie traten ins Wohnzimmer, wo der Papagei den Kopf wandte und Jane Thiemann voller Interesse betrachtete. Sie sah auf den Fernseher. »Lässt du den die ganze Zeit laufen?« »Dann bewegt sich wenigstens irgendwas. Ich bin gleich wieder da.« Lindahl ging ins Schlafzimmer, und Parker sagte: »Wieso ist das so dringend? Braucht Fred das Gewehr etwa?« Sie sah ihn scharf an. »Um sich zu erschießen, meinen Sie?« »Für irgendwas. Er will doch wohl keinen Hirsch schießen.« Lindahl, der mit Thiemanns Gewehr aus dem Schlafzimmer kam, sagte: »Die Jagdsaison für Hirsche fängt erst nächsten Monat an.« Sie sah das Gewehr ihres Mannes an und sagte: »Ich würde mich gern kurz setzen.« »Na klar«, sagte Lindahl überrascht und verlegen. Sie ließ sich auf das Sofa fallen, als wären ihre Muskeln unvermittelt erschlafft, und er trat einen Schritt zurück und lehnte das Gewehr an die Wand. »Tut mir leid, Jane, ich vergesse meine Manieren. Möchtest du etwas trinken? Wasser? Ich glaube, ich habe auch Cola.« »Soll ich den Fernseher abstellen?« fragte Parker. »Ja, bitte«, sagte sie, und zu Lindahl: »Ein Glas Wasser, bitte.«
Lindahl ging hinaus, und Parker schaltete den Fernseher aus und setzte sich in den Sessel neben dem Apparat, gegenüber dem Sofa. »Fred steht wohl noch immer unter Schock«, sagte er. »Wir stehen beide unter Schock«, sagte sie. »Aber er mehr als ich. Er ist wütend, er hat Angst, und er hat das Gefühl, er müsste etwas tun, aber er weiß nicht, was. Danke, Tom.« Lindahl war zurückgekehrt und reichte ihr ein Glas Wasser mit Eiswürfeln. Er stand verlegen da und wollte sich nicht neben sie auf das Sofa setzen. Schließlich nahm er einen Küchenstuhl, der in der Ecke stand, stellte ihn in die Mitte des Zimmers, zwischen Parker und Jane Thiemann, und setzte sich. »Was sagt er denn so?« fragte Parker. »Alles mögliche. Er redet viel von Ihnen.« »Von mir?« »Er versteht Sie nicht, aber irgendwie hat er das Gefühl, er müsste Sie verstehen. Er weiß nur: Wenn Sie nicht gewesen wären, dann wäre jetzt alles anders.« »Aber dieser Mann da oben wäre immer noch tot.« »Ja, das weiß ich, wir beide wissen das. Er gibt Ihnen ja auch keine Schuld. Er sagt, schuld ist das, was er ›meine eigene Blödheit« nennt. Aber wenn nur er und Tom da oben gewesen wären, dann wären sie zur Polizei gegangen, und wer weiß, was dann passiert wäre?« »Nichts Gutes«, sagte Parker. »Vielleicht.« Sie nahm einen Schluck Wasser und hielt das Glas mit beiden Händen im Schoß. »Aber vielleicht hätte man auch festgestellt, dass es ein Unfall war«, sagte sie, »und dass dieser Mann... dass er nur... dass er keine Verwandten oder so hatte...« »Er war Abfall«, sagte Parker. »Ein Mensch, aber Abfall.«
»Es klingt hart, wenn Sie es so ausdrücken«, sagte sie, »aber es stimmt. Die Polizei hätte die Sache vielleicht untersucht, hätte vielleicht gesehen, wer Fred ist und wer der andere war, und gesagt: ›Na ja, das war ein Unfall – wir wollen keine große Sache daraus machen.‹ Aber jetzt geht das natürlich nicht mehr.« »Es wäre nie gegangen«, sagte Parker. »Der Typ hatte eine Identität. Sie hätten sie rausgefunden, über die Fingerabdrücke oder einen Gentest oder das Zahnschema oder irgendwas anderes. Er hatte Verwandte, und die hätten Aufklärung verlangt. Zu wissen, dass ein Cousin sich zu Tode säuft, ist eine Sache, aber zu wissen, dass er eine Kugel in den Rücken gekriegt hat, ist was ganz anderes.« »Oh!« »Fred hätte keine hohe Strafe gekriegt«, sagte Parker, »aber er hätte für einige Zeit ins Gefängnis gemusst.« »Und das ist es, was ihm angst macht«, sagte sie, und nun sah sie aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen, doch sie schüttelte den Kopf und sprach weiter. »Eine von den Sachen, die ihm angst machen. Die Vorstellung, ins Gefängnis ... Wir können nicht... Unser Sohn ist –« »Das hat Tom mir erzählt«, sagte Parker. »Danach. Er musste es mir sagen.« »Ich hab’s niemandem sonst erzählt, Jane«, sagte Lindahl. »Ehrenwort.« »Ach, ich glaub’s dir ja.« Sie sah Parker wieder mit diesem düsteren Blick an und fuhr fort: »Die ganze Sache hat Fred schlimmer mitgenommen als George. Er muss Schlaftabletten nehmen, sonst liegt er die ganze Nacht wach und denkt an diese Gefängniszelle. Er stellt sich diese Gefängniszelle vor. Er ist mehr in der Zelle als George.« »Wie lange muss George sitzen?« fragte Parker.
»Ach, noch höchstens ein Jahr«, sagte sie mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Allerhöchstens. Jeder weiß, dass er ein posttraumatisches Syndrom hatte. Seine dienstliche Beurteilung könnte nicht besser sein, das sagen alle. Hat Tom Ihnen gesagt, dass er verwundet war?« »Nein.« »Ich hab keine Geschichten erzählt, Jane«, sagte Lindahl. »Ich weiß.« Zu Parker gewandt sagte sie: »Ja, er war verwundet. Eine Sprengmine neben der Straße.« Sie fuhr mit der Hand über ihre linke Hüfte. »Er hatte hier schwere Verbrennungen, und das Gelenk war zertrümmert. Er hat jetzt ein künstliches Hüftgelenk.« »Dann werden sie ihn so bald wie möglich rauslassen«, sagte Parker. »In höchstens einem Jahr.« Parker nickte. »Haben Sie Fred gesagt, dass George sich freuen wird, ihn zu sehen, wenn er rauskommt?« Sie sah ihn blinzelnd an. »Na ja, das weiß er doch. Wie meinen Sie das?« Parker nickte zu dem Gewehr, das an der Wand lehnte, und sagte: »Er macht im Augenblick einiges durch. Vielleicht kommt er zu dem Schluss, dass das Ding da besser ist als Schlaftabletten.« Ihre Augen wurden groß, und sie legte eine zitternde Hand an den Mund, sagte aber nichts. Sie hatte dieselbe Wahrheit gedacht, sie aber verdrängt. »Wenn Sie ihm das Gewehr geben«, sagte Parker, »dann erinnern Sie ihn daran, dass George, nach allem, was er hinter sich gebracht hat, sehr enttäuscht sein wird, wenn sein Vater nicht da ist, um ihn am Gefängnistor zu begrüßen.« »Das werde ich«, sagte sie. »Vielleicht wird das ...« Sie sah sich suchend um. »Ich brauche kein Wasser mehr.«
Lindahl sprang auf, um ihr das Glas abzunehmen. »Es tut uns leid, Jane«, sagte er. »Keiner von uns wollte, dass das passiert.« »Es liegt ja nicht an euch beiden, sondern an ihm. Das Schlimmste ist, dass er das weiß.« Sie stand unsicher auf. »Ich sollte nicht zu lange wegbleiben.« Parker erhob sich ebenfalls und sagte: »Wenn Sie zu ihm halten, wird er das durchstehen.« »Ich hoffe, Sie haben recht.« Lindahl reichte ihr das Gewehr. »Es ist gesichert.« »Gut.« Sie schwankte etwas unter dem ungewohnten Gewicht, was bedeutete, dass ihr Mann sie nie auf die Jagd mitgenommen hatte. »Ich werde es Fred sagen.« Sie sah Parker an. »Dass George wollen wird, dass sein Vater da ist, wenn er rauskommt.« »Gut.« »Ich bring dich zum Wagen«, sagte Lindahl. Parker wartete, und Lindahl kam zurück und sagte: »Sie waren sehr mitfühlend.« Er klang erstaunt. »Ich hätte nicht gedacht, dass Sie so mitfühlend sein können.« Er schaltete den Fernseher wieder ein. »Musste ich ja«, sagte Parker. »Sie wissen genau, dass Thiemann mit dem Gedanken spielt, sich umzubringen. Wenn er das tut, werden die Bullen mit seiner Frau sprechen, und dann dauert es drei Minuten, bis sie rausgefunden haben, was passiert ist, und zehn Minuten später stehen sie hier vor der Tür.« Parker schüttelte den Kopf. »Ich bin so mitfühlend, wie ich sein muss. Wir wollen schließlich keine Schießerei mit der Polizei.«
ACHT
Drei Minuten nachdem Jane Thiemann gegangen war, schwang die Tür auf, und Cal Dennison schlenderte herein. »Die Frau hatte ein Gewehr«, sagte er. »Sie ist auf der Suche nach den Bankräubern«, sagte Parker. Während Cory eintrat, die Tür hinter sich schloss und Lindahl vorsichtig zunickte, lachte Cal und sagte: »Na, da war sie ja hier genau richtig.« »Nein, da war sie hier genau falsch«, sagte Parker. »Cal, du quatscht mal wieder, ohne nachzudenken«, sagte Lindahl. »Glaub ich nicht«, sagte Cal und zog ein zerknittertes Stück Papier aus der Tasche. Er strich es, so gut es ging, auf seiner dunkelgrauen Hemdbrust glatt, hielt es Lindahl unter die Nase und sagte: »Jetzt sag was, Tom. Sag einfach, was du davon hältst.« Ohne es zu berühren, sah Lindahl widerwillig auf das Blatt Papier mit dem mittlerweile vertrauten Phantombild und sagte missmutig: »Na ja, da gibt’s so was wie eine Ähnlichkeit. Eine sehr entfernte Ähnlichkeit.« »Eine sehr entfernte Ähnlichkeit?« Cal hielt das Papier mit ausgestreckten Armen an den beiden seitlichen Kanten, drehte sich zu Parker und sagte: »Was meinen Sie, Ed? Mal angenommen, dieser Bursche würde auf der Straße auf Sie zukommen, würden Sie dann nicht sagen: ›Sieht so aus, als
hätte ich einen Zwillingsbruder, von dem ich gar nichts weiß‹? Oder was?« »Das könnten tausend andere genausogut sagen.« »Nicht tausend andere.« »Cal«, sagte Lindahl, »wenn der Typ auf diesem Bild so viel Ähnlichkeit mit Ed hat und alle da oben in St. Stanislas eine Kopie davon hatten und Ed mitten unter uns stand, wie kommt’s dann, dass keiner das gemerkt hat? Wie kommt’s, dass sich auf dem verdammten Parkplatz keiner auf Ed gestürzt und ihn verhaftet hat?« »Das war wie in dieser Geschichte, die wir in der Schule gelesen haben«, sagte Cal stirnrunzelnd und reichte Cory das Blatt Papier. »Von diesem Schriftsteller, den wir lesen mussten, all das unheimliche Zeug. Poe. Irgendwas mit einem Brief. Wo es darum ging, dass alle einen Brief suchen, ihn aber nicht finden, und zwar, weil er die ganze Zeit offen herumliegt, an einer Stelle, wo man ihn nie vermuten würde. Und hier haben wir’s mit einem Typ zu tun, den alle suchen, und wo ist der beste Ort, um sich zu verstecken? Genau unter den Leuten, die ihn suchen, denn das ist der einzige Ort im ganzen County, wo keiner mit ihm rechnet.« Mit einer Stimme, die von Sarkasmus triefte, sagte Lindahl: »Und du, Cal, bist der einzige, der dahintergekommen ist.« »Könnte doch sein«, sagte Cal selbstzufrieden. »Könnte doch sein.« »Diesmal nicht«, sagte Parker, und Cory sagte: »Seht euch das an.« Sie wandten sich zum Fernseher, der ebenfalls das Phantombild zeigte, und darunter stand: FLÜCHTIGER VERBRECHER SCHLÄGT WIEDER ZU.
»Mann!« sagte Cal. »Mach mal den Ton an.«
Lindahl nahm rasch die Fernbedienung, die auf dem Apparat lag, und schaltete den Ton ein. Eine weibliche Stimme sagte aus dem Off: »... möglicherweise noch immer zusammen.« Auf dem Bildschirm erschien jetzt eine Gesamtansicht des Einkaufszentrums, in dem Parker und Lindahl am Morgen gewesen waren. »Es war ein ruhiger Morgen in dem Bekleidungsgeschäft The Rad im Willoughby Hills Center – doch dann kamen der oder die Räuber.« Nun zeigte man die Vorderseite des Ladens, den Parker ausgeraubt hatte, und uniformierte Polizisten, die hineinund hinausgingen. Parker spürte, dass Lindahl neben ihm aufs höchste angespannt war – Schock und Wut arbeiteten in ihm, fanden aber noch keinen sprachlichen Ausdruck. Parker schob die rechte Hand in die Tasche und berührte den Revolver. Wenn es jetzt losging, würde er alle drei erledigen müssen. »Der Verkäufer Edwin Kislamski war um elf Uhr fünfundvierzig allein im Geschäft, als ein Mann eintrat, Mr. Kislamski mit einer Pistole bedrohte und mehr als dreitausend Dollar aus der Ladenkasse raubte.« Der Verkäufer war zu sehen. Er saß auf einer Holzbank vor einer grünen Wand, augenscheinlich im Wachraum eines Polizeireviers. Aus irgendeinem Grund war er in eine dicke, cremefarbene Decke gewickelt, als hätte man ihn vor dem Ertrinken gerettet. Er hielt die Decke mit beiden Händen fest. Der entsetzte Anflug eines Lächelns huschte wie das flackernde Licht eines entfernten Scheinwerfers über sein Gesicht, als er sagte: »Ich hab ihn gleich erkannt.« Ein Schnitt, und dann fuhr er fort: »Ja, ich konnte ihn gut sehen. Besser, als mir lieb war.« »Ha!« rief Cal. »Das glaube ich! Hast du schon die Hosen gewechselt, Kleiner?«
»Halt’s Maul, Cal«, sagte Cory. Nun sah man, wie eine Reporterin vor dem Geschäft irgendeinen höheren Polizeibeamten mit Kordeln an der Mütze interviewte, doch der Ton kam noch immer aus dem Off. »Wie Captain Andrew Oldrum von der Staatspolizei sagte, besteht einiger Grund zu der Annahme, dass der andere an dem Banküberfall in Massachusetts beteiligte flüchtige Täter der Fahrer des Fluchtwagens war.« Lindahl starrte Parker an, der den Blick nicht erwiderte, sondern nur den Kopf schüttelte. Er musste Lindahl daran erinnern, in Anwesenheit der Dennisons keine Szene zu machen. Man hörte den Interviewton oder jedenfalls einen Teil dessen, was Captain Oldrum zu sagen hatte: »Wenn man bedenkt, wo die beiden zuletzt gesehen wurden, sieht es so aus, als wären sie umgekehrt, was recht schlau von ihnen wäre, denn das hieße, dass sie sich in einem Gebiet befinden, das wir bereits durchsucht haben.« »Captain Oldrum, warum begehen diese Männer einen so vergleichsweise kleinen Raub, wenn sie in Massachusetts doch mehrere hunderttausend Dollar erbeutet haben?« »Tja, nach dem, was der eine, den wir festgenommen haben, ausgesagt hat, haben wir Grund zu der Annahme, dass sie das Geld nicht mehr haben. Und selbst wenn sie noch einen Teil davon haben, wissen sie inzwischen, dass es zu gefährlich ist, dieses Geld auszugeben, weil wir die Seriennummern kennen. Sie brauchen also Bargeld, das sie verwenden können, ohne Verdacht zu erregen. Trotzdem zeigt dieser Überfall, dass sie vermutlich ziemlich verzweifelt sind – es sieht also so aus, als wären wir ihnen dichter auf den Fersen, als wir heute morgen noch angenommen haben.« Als nächstes sah man das Studio, wo dieselbe Reporterin
in die Kamera lächelte und sagte: »Die Polizei bittet alle, die zur Zeit des Überfalls im Willoughby Hills Center waren und die Flüchtigen, ihren Wagen oder sonst etwas Verdächtiges gesehen haben, die unten eingeblendete Telefonnummer anzurufen –« »Los, rufen wir an«, sagte Cal. »Wir haben ihn ja hier.« Lachend und an Lindahl gewandt fügte er hinzu: »Und du warst wahrscheinlich der Fahrer!« »Halt’s Maul, Cal«, sagte Parker. »Tom, mach den Fernseher aus.« Cal wurde unvermittelt wütend. »Mein Bruder kann mir sagen, dass ich das Maul halten soll – Sie nicht!« Während Lindahl den Ton des Fernsehers abstellte, machte Parker einen Schritt auf Cal zu und schlug ihn mit der offenen Hand knapp unterhalb der Augenklappe hart auf die Wange. Überrascht und empört fuhr dieser zurück. Parker stand mit locker hängenden Armen da und musterte ihn, während Cal fuchtelnd und mit weit aufgerissenem Auge überlegte, was er tun könnte. »Okay«, sagte Cory und trat vor. Allerdings stellte er sich nicht zwischen die beiden, sondern blieb ein wenig seitlich stehen, als wäre er ein Ringrichter. »Okay, das reicht. Noch mal so was, und Sie haben’s auch mit mir zu tun.« Parker wandte sich zu ihm. »Die sagen, es war eindeutig einer von denen, die sie suchen, und sie sagen, er war in diesem Einkaufszentrum, wo ich übrigens nicht war. Aber nehmen wir mal an, Ihr Bruder hat recht. Gerade haben wir gehört, dass die beiden das Geld nicht mehr haben oder wenn doch, dann können sie nichts damit anfangen, weil die Polizei die Seriennummern hat. Wenn ich also einer der Räuber bin, dann habe ich das Geld entweder nicht mehr, oder ich habe Geld, mit dem keiner was anfangen kann. Und wenn ich
einer der Räuber bin, wie kommt’s dann, dass ich Sie beide gestern nacht nicht über den Haufen geschossen hab?« Cory hatte zugehört und dabei nachdenklich genickt, und nun sagte er: »Weiß ich nicht.« »Was wissen Sie denn?« »Irgendwas ist hier faul.« Cory nickte zu seinem Bruder, sah aber weiterhin Parker an. »Cal und ich haben es beide gemerkt, und wir haben darüber gesprochen.« Cal war offenbar zu dem Schluss gekommen, der Schlag ins Gesicht sei inzwischen so lange her, dass er darauf nicht mehr reagieren musste, und sagte auf seine übliche aggressive Art: »Was machen Sie eigentlich hier, das ist doch der Punkt. Ob Sie nun einer der Räuber sind oder nicht, und ich weiß ganz genau, dass Sie einer von denen sind – aber selbst wenn nicht: Wie kommt’s, dass Sie hier sind? Was machen Sie hier?« »Ich besuche meinen alten Freund Tom.« »Quatsch«, sagte Cal. »Das haben Ihnen vielleicht die alten Säcke vom Jagdclub abgekauft, aber wir nicht. Ich hab Sie da oben in St. Stanislas gesehen und sofort gedacht: ›Was ist denn das für ein Typ?‹ Und das war, bevor ich dieses Phantombild kannte.« Lindahl trat einen Schritt vor. Er war blasser als sonst, und Parker konnte sehen, dass er das, was er gerade aus dem Fernseher erfahren hatte, noch nicht ganz verarbeitet hatte, doch sein Gesichtsausdruck war entschlossen. »Cal«, sagte er, »du hast mich noch nie einen Lügner genannt.« Cal drehte sich um und starrte ihn finster an. »Und? Willst du mir jetzt auch eine reinhauen? Lieber nicht, Tom.« »Dann nenn mich nicht Lügner.« »Cal«, sagte Cory und unterbrach das, was Cal hatte sagen wollen, »wir sind hier fertig.«
Cal hatte nun Grund, alle finster anzusehen. »Fertig? Was soll das heißen: fertig? Jetzt raubt dieser Typ auch noch Einkaufszentren aus!« »Das geht uns nichts an«, sagte Cory. »Komm schon, Cal. Entschuldige, dass wir hier so reingeplatzt sind, Tom.« »Jederzeit«, sagte Lindahl, klang aber noch immer wütend. »Das nächste Mal klopft ihr vorher an.« »Machen wir. Komm, Cal. Tut mir leid, wenn wir Sie genervt haben, Ed.« »Haben Sie nicht«, sagte Parker. »Na, dann ...« Cory schob Cal zur Tür. Cal wollte sich noch über irgend etwas ereifern, aber Cory bugsierte ihn mit Kopfnicken und Gesten hinaus, und dann waren die beiden endlich vor der Tür, die Cory schloss, ohne sich noch einmal umzusehen. Parker stand da und betrachtete die Tür mit gerunzelter Stirn. Nach einer Weile sah Lindahl ihn verwundert an und sagte: »Was ist?« Parker nickte in Richtung Tür. »Cory plant etwas.«
NEUN
Sechs Stunden. In sechs Stunden würden Parker und Lindahl Pooley verlassen und nach Süden zur Rennbahn fahren, die, wenn sie dort ankamen, leer und dunkel auf sie warten würde. Das war nicht das Problem; das Problem waren die sechs Stunden. Zum einen: Irgendwo dort draußen war Cory Dennison und plante etwas. Er war zu dem Schluss gekommen, dass Parker, ganz gleich, wer er war, irgend etwas vorhatte, das für die Dennisons von erheblichem Interesse sein würde und das sie deshalb in Erfahrung bringen mussten. Was würden die beiden also vermutlich tun? In der Nähe warten? Lindahls Haus und den Geländewagen im Auge behalten und ihnen folgen, wenn sie wegfuhren? Den ganzen Weg bis zur Rennbahn? Also gut – er würde die Brüder irgendwann in nächster Zeit neutralisieren müssen. Dabei waren sie auf ihre Art weniger gefährlich als Fred Thiemann, denn sie waren wenigstens zurechnungsfähig und einigermaßen bei Verstand und wussten, was sie wollten, was man von Thiemann nicht behaupten konnte. Er war wie eine ungesicherte Kanone und hatte sich nicht in der Gewalt, und auch seine Frau hatte ihn nur teilweise im Griff. Parker konnte nichts tun, was es nicht noch schlimmer machen würde. Wenn Thiemann starb – durch Parker oder durch eigene Hand oder durch die irgendeines anderen –, musste Parker die Rennbahn vergessen und
so schnell wie möglich aus dieser Gegend verschwinden, bevor die Polizei zur Stelle war. Denn sobald sich die Polizei für Thiemann interessierte, würde sie sich auch für seine Partner bei der Suche nach den Räubern interessieren. Seine Frau würde Lindahls Namen nennen, und das war dann das Ende. Welche Optionen hatte er? Er konnte Lindahl fesseln oder ihn erschießen, wenn er irgendwelchen Ärger machte, und mit dem Geländewagen verschwinden. Er würde die Wagenpapiere und einen neuen Führerschein auf den Namen William G. Dodd haben, und wenn man ihn anhielt, würde er sagen, sein Freund Tom Lindahl habe ihm den Wagen geliehen. Aber wenn er das tat und Fred Thiemann sich die Kugel gab, würde Parker, ohne es zu wissen, in einem heißen Wagen unterwegs sein. Oder er konnte die sechs Stunden abwarten, die Dennisons ignorieren und darauf vertrauen, dass Jane Thiemann ihren Mann bei der Stange hielt – dann konnte ihn die Katastrophe hier ereilen, in Tom Lindahls Wohnzimmer, gemütlich zurückgelehnt und mit hochgelegten Beinen. Einen anderen Wagen. Er brauchte einen Wagen, mit dem er herumfahren konnte, einen Wagen, mit dem er an Straßensperren keine Schwierigkeiten bekommen würde. Einen Wagen mit einwandfreien Papieren, der keinen Verdacht erregen würde, ganz gleich, was hier in der Nachbarschaft passiert war. Als die Dennisons fort waren, sagte Parker: »Ich fahre mal zur Tankstelle an der Ecke und tanke den Wagen voll.« Mit bitterem Unterton sagte Lindahl: »Und Sie bezahlen mit dem Geld, das Sie dem Jungen abgenommen haben?« Parker sah ihn an. »Sie haben da was falsch verstanden,
Tom«, sagte er. »Ich hab dem Jungen nichts abgenommen. Ich hab das Geld einer Firma abgenommen, die neunhundert Geschäfte unterhält. Ich brauchte das Geld. Das wissen Sie.« »Hatten Sie den Revolver schon die ganze Zeit?« »Ich bin gleich wieder da«, sagte Parker und wandte sich zur Tür. »Nein, warten Sie.« Parker drehte sich um und sah, dass Lindahl versuchte, sein Denken neu auszurichten. Er wartete, bis Lindahl nickte und sagte: »Schon gut. Ich weiß, wer Sie sind. Das wusste ich ja schon die ganze Zeit. Ich sollte nicht so tun, als ginge mich das irgendwas an.« »Stimmt.« »Es ist nicht leicht«, sagte Lindahl. »Es ist nicht leicht, wenn man mit...« Er ließ den Satz in der Luft hängen, aber Parker hatte schon verstanden. Es ist nicht leicht, wenn man mit einem Raubtier zusammen ist. »Es ist ja nicht für lange«, sagte er. »Nein, ich weiß. Aber ich wollte Ihnen noch sagen« – Lindahl war offenbar bestrebt, schnell das Thema zu wechseln –, »dass Sie lieber nicht zu der Tankstelle an der Ecke fahren sollten. Wenn Sie an der Straße nach rechts abbiegen, kommt nach ungefähr zwölf Kilometern eine Getty-Tankstelle. Immer geradeaus.« »Aber die hier ist praktisch vor der Haustür. Und sie ist sonntags geöffnet. Ich hab das Schild gesehen.« »Nein, da sollten Sie nicht hingehen«, beharrte Lindahl. »Da kostet der Sprit drei, vier Cent mehr als irgendwo sonst.« »Woher kriegt der Typ dann seine Kunden?« »Er hat ja keine«, sagte Lindahl. »Die einzigen, die bei ihm tanken, sind Fremde oder irgendwelche Leute, die sich verfahren haben.«
»Und wie kommt er über die Runden?« »Er kriegt Sozialhilfe«, sagte Lindahl. »Und er verkauft Lotterielose, das ist eigentlich der Hauptgrund, warum irgend jemand dorthin geht. Viele hier sind ganz verrückt auf Lotterielose. Und außerdem hat er eine Reparaturwerkstatt.« »Ich hab ein paar Wagen da herumstehen sehen, aber ich wusste nicht, ob er sie repariert oder verkauft.« »Er repariert sie, er ist Mechaniker«, sagte Lindahl. »Das war früher sein Hauptberuf, irgendwo in Pennsylvania. Er hat da für einen großen Autohändler gearbeitet. Dann ist er in Pension gegangen, ist hierhergezogen und hat die Tankstelle gekauft, weil seine Frau hier irgendwo aus der Gegend stammt.« »Aber warum verkauft er das Benzin so teuer?« »Er ist einfach ein komischer Kauz«, sagte Lindahl. »Ein Einzelgänger. Er bastelt gern an Motoren und so herum, und sonst sitzt er in der Tankstelle und hört Radio.« »Ist er ein guter Mechaniker?« »Ja.« Lindahl nickte nachdrücklich. »Er macht gute Reparaturen und bescheißt einen nicht – in der Hinsicht ist er fair. Darauf ist er stolz. Ich hab meinen Wagen mal zu ihm gebracht, und das hat er gut gemacht. So ist er eben: Er repariert Autos, aber er hat keine Lust, mit einem zu reden. Ich glaube, er mag Autos lieber als Menschen.« »Wie heißt er?« »Brian Hopwood. Aber Sie sollten nicht zu ihm gehen.« »Nein, tue ich nicht«, sagte Parker. »Ich stehe nicht auf komische Käuze, die zuviel Geld verlangen. Also die GettyTankstelle, sagen Sie? Rechts ab und dann zwölf Kilometer?« »Genau«, sagte Lindahl.
ZEHN
Der rote Ram der Denisons war nirgends zu sehen, als Parker aus dem Ort fuhr, nach einem Kilometer wendete, an Lindahls hinter dem verlassenen Haus versteckter Wohngarage vorbeifuhr und an der Tankstelle hielt, die, wie die meisten Tankstellen, auch bei Tageslicht hell erleuchtet, aber dennoch von einer Atmosphäre der Verlassenheit umgeben war. Drei von beiden Seiten zu bedienende Zapfsäulen standen in einer Reihe. Dahinter war ein niedriges, breites, mit weißen Brettern verkleidetes Gebäude, dessen Fassade von mehreren großen Garagenkipptoren eingenommen wurde. Nur am rechten Ende befand sich ein kleines Büro. Das große Fenster sowie die kleineren Fenster in der Tür waren mit Werbeplakaten für Treibstoffzusätze verklebt. Rechts von dem Gebäude, am Rand des asphaltierten Parkplatzes, stand ein halbes Dutzend älterer Wagen, allesamt mit Nummernschildern, was bedeutete, dass sie nicht zu verkaufen waren, sondern repariert werden sollten. Parker stieg aus dem Ford und las die handgeschriebenen Schilder, die an den Zapfsäulen hingen: VOR DEM TANKEN IM BÜRO BEZAHLEN. Er zog die ersten beiden Zwanziger der Beute aus dem Einkaufszentrum hervor und ging zu der Tür, wo ein zweites handgeschriebenes Schild mit den Öffnungszeiten hing, unter anderem SO 10-16. Er öffnete die Tür und hörte das Klingeln einer Glocke, gefolgt von klassischer Musik – ziemlich laut, mit vielen
Streichinstrumenten –, die die Glocke kurz übertönt hatte. Nach Lindahls Beschreibung von Brian Hopwood hatte Parker eine andere Musik erwartet – aber das war ja schließlich der Grund, warum er hier war: Er wollte sich einen Eindruck von dem Mann und seinem Geschäft verschaffen. Das Büro war klein, dunkel und eng und wirkte, als wäre alles mit einem dünnen Ölfilm überzogen. Der Schreibtisch war aus dunklem Metall und bedeckt mit Reparaturhandbüchern, Tabellen mit technischen Daten und Terminplänen. Außerdem stand dort ein altes schwarzes Telefon. Der Drehstuhl aus dunklem Holz war sehr niedrig gestellt, und über Sitz und Lehne hatte man alte Decken und ein paar braune Fensterleder gehängt. An der hinteren Wand befand sich ein Regal mit einer alten Registrierkasse, und daneben hingen an einem Brett diverse Schlüssel mit Anhängern aus Pappe. In der linken Wand war ein offener Durchgang zum Werkstattbereich. Von dort trat jetzt ein Mann ein, der die Stirn runzelte, als hätte er nicht erwartet, unterbrochen zu werden. Er war klein und dürr und im Pensionsalter. Er trug eine Armeesonnenbrille mit wellenförmig verbogenen Bügeln und ölverschmierte Arbeitskleidung, wischte sich die Hände an einem kleinen Handtuch ab, dessen Zipfel er unter dem Gürtel hindurchgezogen hatte, und sagte: »Tag.« »Tag.« Parker hielt ihm die beiden Zwanziger hin und sagte: »Ich bin mir nicht sicher, ob ich soviel brauche. Wenn nicht, komme ich noch mal und hole mir das Wechselgeld.« Hopwood war offenbar nicht sonderlich erfreut: Wegen einer Tankfüllung würde er zweimal mit diesem Kunden zu tun haben. Dennoch nahm er die Zwanziger, legte sie auf das Regalbrett vor der Kasse und sagte: »Welche Säule?« Parker spähte durch einen Spalt zwischen den Werbeplakaten und sagte: »Drei.«
Hopwood bückte sich und schaltete die Pumpe ein. »Ich kassiere dann, wenn Sie fertig sind.« »Gut.« Hopwood war schon wieder in der Werkstatt, bevor Parker die Klinke in der Hand hielt. Der Mann war nicht neugierig und würde Parker nicht beobachten, also ging er zuerst zu den Wagen, die am Ende des Parkplatzes standen. Sie waren alle abgeschlossen – die Schlüssel hingen vermutlich an dem Brett im Büro. In einigen lagen irgendwelche persönlichen Gegenstände: eine Decke, eine Thermosflasche. Laut Gesetz waren Halter verpflichtet, die Wagenpapiere in ihrer Brieftasche aufzubewahren, aber die meisten legten sie zum Versicherungsschein ins Handschuhfach, also waren vermutlich ein paar der hier abgestellten Wagen für Parker geeignet. Sollte sich die Notwendigkeit ergeben. Parker ging zurück zum Ford und tankte für achtunddreißig Dollar fünfzig. Es hätte noch mehr in den Tank gepasst, zumal Hopwood ja recht teuer war, aber Parker wollte noch ein zweites Mal mit ihm reden. Hopwood kam aus der Werkstatt, als die Glocke klingelte, und Parker sagte: »Tut mir leid, mehr ging nicht rein.« »Kein Problem.« Hopwood bückte sich, um den Betrag abzulesen. »Ich bin bei Tom Lindahl zu Besuch«, sagte Parker. »Achtunddreißig fünfzig. Ich hab den Wagen erkannt.« »Ich mache einen kleinen Urlaub.« »Tatsächlich?« Hopwood tippte den Betrag ein und gab Parker einen Dollar und zwei Fünfundzwanzigcentstücke. »Da steht, dass Sie heute um vier zumachen«, sagte Parker. »Stimmt.« Hopwood sah blinzelnd auf die runde weiße Wanduhr neben dem Durchgang zur Werkstatt und sagte: »Ist noch ’ne Stunde. Sie hätten sich nicht beeilen müssen.«
»Wenn Sie schließen«, sagte Parker, »ist dann wirklich geschlossen? Oder sind Sie noch ein bisschen da, für den Fall, dass noch jemand kommt? Arbeiten vielleicht noch an der einen oder anderen Reparatur?« »Auf keinen Fall«, sagte Hopwood und klang fast so empört, als hätte jemand vorgeschlagen, er solle einen Meineid schwören. »Um vier mach ich den Laden dicht, geh nach Hause, sag meiner Frau hallo, dusche und lese die Sonntagsbeilage, bis es Abendessen gibt. Ich weiß nicht, was Tom Lindahl Ihnen erzählt hat, aber so blöd bin ich auch wieder nicht.« »Tom hat gesagt, Sie sind ein guter Mechaniker.« »Oh, schönen Dank.« Er nickte zu dem Ford an den Zapfsäulen und sagte: »Ich hab’s immerhin geschafft, das Ding am Laufen zu halten. Fährt ganz gut, oder?« »Ja«, stimmte Parker ihm zu. Er steckte das Wechselgeld ein, sagte: »Viel Spaß mit der Sonntagsbeilage«, und wandte sich zum Gehen.
ELF
»Einen Moment«, sagte Hopwood, und als Parker sich umdrehte, die Hand nur Zentimeter vom Türgriff entfernt, hatte Hopwood die Schublade seines unaufgeräumten Schreibtischs herausgezogen und hielt jetzt eine winzige Pistole in der Hand, deren Auge auf Parker gerichtet war. In der noch offenen Schublade lag eine schmutzige Kopie des Phantombilds. »Vielleicht legen Sie lieber die Hände auf den Kopf«, sagte Hopwood. Das tat Parker nicht. Statt dessen zeigte er auf das Bild in der Schublade. »Sie denken doch wohl nicht, das bin ich, oder? Das ist nicht mal mehr ein Witz.« »Ich mache keine Scherze, Mister«, sagte Hopwood. Die Pistole verschwand fast in seiner Faust, sie war klein, aber kein Spielzeug, eine Seecamp LWS32 mit einem Magazin, das sechs .32er Patronen enthielt. Der Lauf war nur zweieinhalb Zentimeter lang – wenn man damit auf die andere Straßenseite schoss, würde man nicht viel ausrichten, aber hier, in diesem kleinen Raum, erfüllte sie vollkommen ihren Zweck. Hopwoods Hand beschrieb einen kleinen Bogen nach rechts unten, so dass die Pistole jetzt auf Parkers linkes Bein zielte. »Wenn ich Ihnen ins Knie schießen muss, werd ich’s tun.« »Ich hab Ihnen doch gesagt: Ich bin zu Besuch bei Tom Lindahl. Rufen Sie ihn an. Das da ist sein Wagen –«
»Zum letzten Mal: Hände auf den Kopf.« Parker blieb nichts anderes übrig. Als er die Arme hob, wurde die Tür direkt hinter ihm geöffnet, und jemand trat ein. Hopwood war für einen Augenblick abgelenkt, und Parker machte einen raschen Schritt nach links und drehte sich dabei. Er sah, dass in seinem Rücken die neugierige Frau stand, die gestern nacht an ihm vorbeigefahren war und angehalten hatte, um ihn zu fragen, ob sie helfen könne. Sie war verwirrt von der Szene, in die sie hereingeplatzt war, und reagierte auf die Anspannung, die in der Luft lag, ohne die kleine Automatik in Hopwoods Hand zu bemerken. »Tut mir leid, wenn ich –« Parker packte sie mit beiden Händen am linken Ellbogen und schleuderte sie mit aller Kraft quer durch den Raum auf Hopwood zu, der zu spät versuchte auszuweichen, gegen die Ecke des Schreibtischs stieß und das Gleichgewicht verlor. Die Frau prallte gegen ihn, und die beiden fielen schräg übereinander vom Tisch auf den Boden. Als sie sich voneinander gelöst hatten und zu Parker aufsahen, hatte dieser den Revolver in der Hand. »Bleibt, wo ihr seid«, sagte er und zeigte Hopwood den Ranger. »Ich schieße nicht bloß ins Knie.« »Was ...? Was ist...?« Die Frau war noch immer in erster Linie verwirrt, doch dann sah sie den Ranger in Parkers Hand. Ihre Augen weiteten sich, und sie rief: »Sie! Sie haben Jacks Revolver gestohlen!«
TEIL DREI
EINS
Von den drei Männern, die den Bankraub in Massachusetts durchgezogen hatten, war Nelson McWhitney der einzige, der den Tatort mit einem sauberen Führerschein und seinem eigenen, amtlich zugelassenen Pick-up verlassen hatte. Die Polizisten, die ihn an den Straßensperren angehalten hatten, um seinen Wagen zu durchsuchen, hatten ihn davor gewarnt, in südlicher Richtung zur Schnellstraße zu fahren, weil die zahlreichen Kontrollen dort zu endlosen Verkehrsstaus führten, und so war McWhitney, dessen Ziel eigentlich Long Island gewesen war, stundenlang weiter nach Westen gefahren und schließlich in der Gegend gelandet, in der Parker gestrandet und Nick Dalesia geschnappt worden war. Er hörte die Nachricht im Radio seines Wagens und reagierte mit einem ironischen Nicken, einem lässigen Salutieren und den Worten: »Tja, das war’s dann wohl, Nick.« Ein paar Kilometer weiter nickte er, nachdem er ein bisschen nachgedacht hatte, noch einmal und sagte: »Und das war’s dann wohl auch mit dem Geld.« Denn nur damit konnte Nick Punkte machen, oder? Hinter Syracuse bog McWhitney nach Süden ab und hielt sich dabei an die kleineren Straßen, weil es dort weniger Staus gab. Trotzdem kam er nur langsam voran. Schließlich gab er es auf, übernachtete bei Binghamton in einem Motel, stand am Sonntag früh auf und nahm in einer noch immer von Polizisten bevölkerten Welt Kurs nach Südosten in Rich-
tung Long Island, wo er wohnte, wo die kleine Bar war, die ihm gehörte, und wo er demnächst eine Verabredung mit einer Frau namens Sharon hatte. An einem normalen Tag hätte er Besseres zu tun gehabt, als durch New York City nach Long Island zu fahren, aber dieser Tag war alles andere als normal. Es war erstaunlich, für wieviel Aufregung drei Männer mit einem simplen Banküberfall sorgen konnten. Und nachdem die Bullen Nick Dale-sia geschnappt hatten, waren sie natürlich um so erpichter darauf, die anderen beiden auch noch zu kriegen. Während er durch den Staat New York fuhr, kam ihm der Gedanke, er selbst könnte möglicherweise ebenfalls ein Punktelieferant für Nick sein. Er überlegte und kam zu dem Schluss, Nick und er hätten nicht so viele private Informationen ausgetauscht, dass sein Kumpel den Polizisten hätte verraten können, McWhitney lebe auf Long Island. Hoffte er jedenfalls. Wenn er schließlich dort war, würde er sich erst mal in der Nachbarschaft umsehen. Sollte Nick tatsächlich genug über ihn wissen und genaue Angaben gemacht haben, dann würden rings um die Wohnung und die Bar so viele Bullen herumhängen, dass er sie bemerken würde. Also hinfahren und nachsehen. In Westchester hielt er an einem Schnellimbiss und aß etwas zu Mittag, dann fuhr er weiter in Richtung Süden zur ThrogsNeck-Brücke, die nach Long Island führte. Die Kontrolle an der Brücke war die gründlichste und intensivste bisher, doch sobald er auf der Insel war, wurde alles plötzlich ganz beschaulich. Es gab nur eine begrenzte Anzahl von Möglichkeiten, auf die Insel zu kommen, und offenbar glaubte die Polizei, dass bis jetzt keiner der Bankräuber durchgeschlüpft sei.
In der Gegend, wo er wohnte, war es so friedlich wie an jedem anderen Sonntagnachmittag. Auch in der Bar, die er für die Zeit seines kleinen »Urlaubs« einem Typ, den er kannte, anvertraut hatte, war es sehr ruhig. Sie war beinahe leer, was für einen Sonntagnachmittag ebenfalls normal war. McWhitney parkte den Pick-up in der Gasse hinter dem Haus, in dem er wohnte, ging in seine leere Wohnung, in der die Luft abgestanden war, öffnete ein paar Fenster und eine Bierdose und schaltete CNN ein. Nichts Neues vom Bankraub. Er fragte sich, wie es Parker wohl unter den braven Bürgern erging.
ZWEI
Brian Hopwood lag rücklings auf dem schmutzigen Boden seines Büros. In der linken Seite, wo sein Brustkorb gegen die spitze Ecke des Tischs gestoßen war, verspürte er einen stechenden Schmerz, und in der Faust hielt er noch immer die nutzlose kleine Spielzeugpistole. Er starrte an der Masse von Suzanne Gilberts welligem, kastanienbraunem Haar vorbei hinauf zu dem harten Burschen, dem er dämlicherweise eine Pistole unter die Nase gehalten hatte, und dachte: Na, Gott sei Dank bin ich noch nicht tot – das ist schon mal gut. Ja, das war gut. Wenn dieser harte Bursche, dieser Bankräuber, einfach zwei störende Elemente aus dem Weg hätte räumen wollen, dann hätte er sie schlicht über den Haufen geschossen, ohne Kommentar, ohne eine Warnung wie: »Ich schieße nicht bloß ins Knie.« Also wollte er sie nicht erschießen, oder jedenfalls nur, wenn es unumgänglich war. Brian Hopwood hatte das Rentenalter zum Teil deshalb erreicht, weil er es nie für irgend jemanden unumgänglich gemacht hatte, ihn zu erschießen, und so wollte er es auch für den Rest seines Lebens halten. Was bedeutete, dass er Suzanne zum Schweigen bringen musste. Sie war schwerer, als sie wirkte, und lag halb auf dem Bauch über ihm wie ein auf eine Kühlerhaube gebundener toter Hirsch, den Oberkörper auf den Ellbogen gestützt, der sich in Hopwoods Magen bohrte. Empört und entgeistert starrte sie den Kerl an, der ihrer beider Leben in der Hand hielt, und schrie: »Sie! Sie
haben Jacks Revolver gestohlen!« Als wäre sie in irgendeiner Quizshow. Jack Riley? Sie musste wohl Jack Riley meinen – aber was zum Teufel sollte Jack Riley mit einem Revolver anfangen? Er wischte die Frage beiseite, kämpfte gegen seine Angewohnheit an, die Gedanken abschweifen zu lassen – und das war es ja, was ihn zu dem erstklassigen, aber eigenbrötlerischen Mechaniker gemacht hatte, der er war, in diesem Beruf, in dem er seine Gedanken jederzeit Spazierengehen lassen konnte, während die Hände und irgendein anderer Teil seines Gehirns sich mit dem speziellen Problem eines speziellen Wagens befassten –, und er rief oder versuchte es mit dem heiseren Krächzen, das offenbar alles war, was er zustande brachte: »Halt den Mund, Suzanne, und geh von mir runter! Ich lege die Pistole hin, Mister – sehen Sie? Ich leg sie hier auf den Boden, und ich kann sie zu Ihnen rüberschieben, wenn Sie ... Suzanne, geh runter, verdammt!« Das tat sie dann schließlich auch. Sie wälzte sich nach rechts von ihm herunter, mit wirbelnden Beinen und fliegendem Haar. Sie trug eine schwarze Hose und einen grauen Wollpullover, so dass sie dabei nichts entblößte, und doch registrierte Brians zu Abschweifungen stets bereites Hirn, dass dieser Körper in Bewegung etwas sehr angenehm Weibliches hatte. Der harte Bursche hatte sich nicht gerührt, doch jetzt zeigte er, während er mit dem Revolver noch immer auf Brian zielte, mit der Linken auf Suzanne und sagte: »Das reicht.« Suzanne saß mit gestreckten, gespreizten Beinen da, bewegte sich aber trotzdem noch ein bisschen: Sie kreuzte die Beine zu einer Art lockerer Lotoshaltung und starrte ihn wütend an, aber wenigstens hielt sie den Mund.
Als hätte er sie damit in einen Käfig gesperrt und aus dem Spiel genommen, sah der harte Bursche Brian an und sagte: »Erzählen Sie mir was von ihr.« Erzählen Sie mir was von ihr? Sie sitzt doch hier; warum fragt er sie nicht selbst? Er ist der Typ mit der Pistole, Brian, und darf tun, was er will. Also sagte Brian: »Sie heißt Suzanne Gilbert. Sie arbeitet nachts in der Notaufnahme vom Holy Mary Hospital. Ihr Großvater wohnt ein paar Häuser entfernt von hier.« »Jack?« »Jack Riley. Das ist ihr Großvater.« Und jetzt öffnete Suzanne wieder den Mund; kapierte sie denn nicht, was hier los war? Offenbar nicht, denn sie sagte mit beleidigter Stimme: »Warum haben Sie Jacks Revolver gestohlen?« Der Kerl sah sie an, und obgleich sein Gesicht sich nicht zu etwas verzog, das man ein Lächeln hätte nennen können, schien ihn die Frage irgendwie zu amüsieren. »Nur für den Fall«, sagte er zu ihr, »dass Brian seine Kanone rausholt. Sie haben gestern nacht nicht nach Ihrem Großvater gesehen.« Gestern nacht? Brian sah von dem harten Burschen zu Suzanne, die nicht sonderlich besorgt, geschweige denn verängstigt wirkte, und dachte: Was war denn gestern nacht? Es schien da irgendeine Geschichte zu geben, die er nicht kannte. Sie sagte: »Nein, ich bin bloß auf dem Heimweg vorbeigefahren. Manchmal kann er nicht schlafen und sitzt auf der Veranda und lässt das Licht brennen. Dann gehe ich zu ihm, und wir reden ein bisschen. Er weiß, dass ich komme, und das macht es leichter für ihn – deswegen schläft er in letzter Zeit besser als früher. Als ich gestern nacht vorbeifuhr, war er vor dem Fernseher eingeschlafen – das war okay, also bin ich
weitergefahren. Ich nehme an, kurz danach sind Sie eingebrochen und haben ihm den Revolver gestohlen.« Herrgott, Suzanne, dachte Brian, lass gut sein. Doch den harten Burschen schien das nicht zu stören. Er zuckte bloß die Schultern und sagte: »Er schien ihn nicht dringend zu brauchen.« Dann richtete er seine kalten Augen auf Brian, musterte ihn eine Weile, als könnte er doch noch zu dem Schluss kommen, Brian sei ein störendes Element, das er einfach über den Haufen schießen sollte, und sagte dann: »Wann haben Sie den Entschluss gefasst?« »Ein Held zu sein?« Brian war inzwischen jenseits jeder Peinlichkeit. Er zuckte die Schultern und wendete den Blick ab. »Erst als ich es getan hab.« In Wirklichkeit war der Gedanke langsam in ihm entstanden. Dieser Mann war hereingekommen, hatte ihm zwei Zwanziger gegeben und gesagt, er nehme die Zapfsäule Nummer drei, und dann war er rausgegangen. Brian hatte sich wieder mit der Bremstrommel beschäftigt, mit der er um vier, wenn er die Tankstelle schloss, fertig sein wollte, und beim Arbeiten hatte er in Gedanken das Gesicht des Kunden über eines der beiden Phantombilder gelegt, die er in die Schublade getan hatte, weil ihm widerstrebte, etwas wegzuwerfen, das die Polizei ihm gegeben hatte. Andererseits hatte er aber die beiden Bilder nicht an die Wand hängen wollen, wo sie ihn nur ständig irritieren und ablenken würden. In kurzer Zeit waren die beiden Gesichter miteinander verschmolzen, und er hatte gewusst, dass der Kunde, der da draußen tankte, einer der Bankräuber war, nach denen alle suchten. Und dass er mit Tom Lindahls Wagen unterwegs war, dem Gott weiß was passiert war. Was sollte er tun? Er beschloss, das Schicksal entscheiden zu lassen. Wenn der Typ für vierzig Dollar tankte und weg-
fuhr, würde Brian das nächste Mal, wenn er in sein Büro käme, die Polizei anrufen und sagen, er glaube, er habe gerade einen der Bankräuber in Tom Lindahls Wagen gesehen – dann sollten die sich darum kümmern. Aber wenn der Typ zurückkam, um sein Wechselgeld zu holen, würde Brian das als Wink des Schicksals auffassen, ihn selbst festzunehmen. Er hatte in der Schublade eine kleine Pistole, und die Sache schien ganz einfach zu sein: Pistole rausholen, den Räuber in Schach halten, die Polizei anrufen und warten. Das hatte ja prima geklappt, nicht? Der harte Bursche schien in etwa dasselbe zu denken, denn er sagte: »Sie hätten besser gewartet, bis ich weg gewesen wäre, und dann die Polizei angerufen.« »Ja, ich weiß«, sagte Brian. »Wenn Sie für vierzig Dollar getankt hätten und nicht mehr reingekommen wären, hätte ich das auch getan.« »Tja, Brian«, sagte der harte Bursche, »ich würde sagen, für einen Tag war das genug Dummheit.« »Ich hoffe es.« »Wenn ich Ihnen also sage, Sie sollen Ihre Frau anrufen und ihr sagen, dass Sie heute später kommen, sie soll nicht mit dem Essen warten, es könnte neun oder zehn Uhr werden, dann werden Sie keine weiteren Dummheiten machen, oder?« »Ich mache nie Überstunden«, sagte Brian. Er fühlte sich relativ sicher und wollte es bleiben. »Wenn ich ihr das sage«, erklärte er, »weiß sie sofort, dass irgendwas nicht stimmt. Dazu brauche ich gar keine Dummheiten zu machen.« Der harte Bursche winkte ab, schüttelte den Kopf und wedelte mit dem Revolver, um Brians ungeteilte Aufmerksamkeit zu erhalten. »Sie haben einen wichtigen Kunden«, sagte er. »Oder ein guter Freund ist gekommen. Es gibt irgendeinen
Notfall, jemand muss morgen zu einer Hochzeit, und Sie müssen den Wagen unbedingt noch fertigmachen.« Zu beider Überraschung meldete Suzanne sich zu Wort. »Dr. Hertzberg«, sagte sie. Der harte Bursche sah sie an. »Wer ist das?« »Er behandelt eine Menge Leute hier in der Gegend«, sagte sie. »Meinen Großvater zum Beispiel.« Sie sah Brian an. »Und dich auch.« »Stimmt«, sagte Brian. Ihm wurde bewusst, dass sie recht hatte: Das wäre plausibel. Der harte Bursche musterte ihn und dachte nach. »Wenn Ihre Frau Ihnen das nicht abkauft«, sagte er, »kann ich Sie hier nicht allein lassen.« »Ich weiß«, sagte Brian. »Aber Suzanne hat recht: Dr. Hertzberg ist der einzige, für den ich Überstunden machen würde. Also gut, ich rufe sie an.« »Gut. Suzanne, Sie bleiben, wo Sie sind. Und Sie, Brian, stehen auf und setzen sich an den Schreibtisch. Und bewegen Sie sich schön langsam und so, dass ich Ihre Hände sehen kann.« »Mach ich«, versprach Brian. Und er hielt sein Versprechen. Er spürte ein paar heftige Stiche in den Rippen, als er aufstand und sich dabei auf dieselbe Schreibtischecke stützte, gegen die er zuvor gestolpert war, und als er endlich auf den Beinen stand, keuchte er, als wäre er gerannt. Auch die tiefen Atemzüge taten weh, und so drehte er sich langsam um und ließ sich auf den Stuhl sinken. Der Schmerz ließ nach, und das Atmen fiel ihm leichter. »Lassen Sie mir ein bisschen Zeit zum Verschnaufen«, sagte er. »Und ich muss mir überlegen, was ich sage.« »Nur zu.« Brian sah zu Suzanne, und sie erwiderte seinen Blick mit
einem Stirnrunzeln, doch die Frage, die darin lag, blieb ihm unverständlich. Suzanne war eine nette, wenn auch etwas rechthaberische Frau, die Enkelin eines Nachbarn, er kannte sie seit Jahren, wenn auch eigentlich nicht besonders gut. Er gehörte nicht zu den Männern, die mit geschiedenen, seit einiger Zeit allein lebenden Frauen plauderten, und darum hatte er, als sie ihn stirnrunzelnd und mit fragendem Blick ansah, keine Ahnung, was sie dachte, was sie wissen wollte. »Los jetzt.« »Oh.« Brian sah das Telefon an. »Ja.« Er nahm den Hörer in die Hand und bemerkte zum erstenmal, dass einige der Tasten viel schmutziger waren als die anderen. Da seine Hände immer ölverschmiert waren, wenn er hier arbeitete, musste es ja auch so sein, denn die Nummer, die er am häufigsten wählte, war seine eigene, wenn er mit Edna sprechen wollte. Ja; er tippte die Ziffernfolge auf den schmutzigen Tasten ein, und beim zweiten Klingeln meldete sich Edna: »Drei sieben fünf zwei.« »Edna, ich bin’s. Bei mir wird’s heute später, ich muss noch was fertigmachen.« »Was? Hast du eine Geliebte?« »Ja. Wir fahren zusammen nach Miami Beach.« »Ohne dein Abendessen? Glaub ich nicht.« »Die Sache ist die: Dr. Hertzberg, du weißt schon, muss morgen zu einer Hochzeit in Pennsylvania, und der Kühler seiner Klapperkiste ist ziemlich hinüber. Ich hab ihm versprochen, dass das Ding morgen früh fertig ist.« »Ich mache Hähnchencurry.« »Das kann man auch aufwärmen.« »Ach, Männer. Wann kommst du denn dann?« »Neun, vielleicht zehn.«
»Warum hast du ihm nicht gleich einen neuen Wagen verkauft?« »Weil ich mit Dr. Hertzberg nicht lange herumdiskutiere. Er will zu dieser Hochzeit.« Sie seufzte tief und ehrlich. »Und der Mann ist ein Heiliger, ich weiß, ich weiß. Ich werde dir das Hähnchencurry nicht aufwärmen. Ich werd’s essen, wenn es fertig ist und schmeckt.« Er wusste, dass sie das nicht tun würde, dass sie auf ihn warten würde, und hoffte mit aller Kraft, dass sie nicht ewig würde warten müssen. Er würde einfach tun, was der harte Bursche sagte, er war dankbar, dass dieser Typ Profi genug war, um nicht gleich loszuballern, sobald er einen Amateur mit einer Pistole sah, und nachher würde das Hähnchencurry, aufgewärmt oder kalt, das Leckerste sein, was er je gegessen hatte. »Ich komme so bald wie möglich«, sagte er. »Grüß den Doktor von mir.« »Mach ich.« Erst als er aufgelegt hatte, begannen seine Hände zu zittern, und zwar so, dass er sie gar nicht mehr stillhalten konnte. Er war hier in dieser Glaskugel, in der es plötzlich gar keine Luft mehr gab, und hatte Kontakt mit der normalen Welt außerhalb gehabt, und das hatte ihn mehr erschüttert, als er es für möglich gehalten hätte. Der harte Bursche stand an der Tür und sagte: »Gut, das haben Sie sehr gut gemacht.« »Danke.« »Jetzt brauche ich Ihre Schnürsenkel.« »Klar«, sagte Brian und wusste, was das bedeutete. Sofern nicht irgendwas ganz Neues schiefging, würde er diese Sache überleben.
Weil er in der Werkstatt von großen, schweren, schmutzigen Dingen umgeben war, die sich bewegten und obendrein manchmal scharfe Kanten hatte, trug er dort hohe Schnürstiefel mit Stahlkappen. Er beugte sich hinunter und zog die Schnürsenkel heraus. Der harte Bursche sagte: »Haben Sie ein ›Geschlossen‹-Schild?« »Ja, es klemmt da drüben, hinter dem Schrank.« Er fuhr fort, die Schnürsenkel aus den Ösen zu ziehen, und der harte Bursche sagte: »Und hängen Sie’s ins Fenster?« »Jeden Abend.« »Auf der einen Seite steht ›Geöffnet‹, auf der anderen ›Geschlossen‹. Wieso benutzen Sie’s nicht, wenn Sie geöffnet haben?« »Die Leute wissen, wann ich da bin.« In Wirklichkeit war es so, dass Brian das Schild nicht benutzte, weil er fand, es sei eine Einladung an alle möglichen Leute, einfach hereinzuspazieren, ihn vollzuquatschen und ihm die Zeit zu stehlen. Wer wollte das schon? Der harte Bursche sagte: »Und wo hängen Sie’s hin? Tür oder Fenster?« »Ich stelle es immer in die untere rechte Ecke des Fensters. Zwischen Glas und Rahmen ist ein kleiner Spalt. Hier sind die Schnürsenkel.« »Legen Sie sie auf den Tisch. Stehen Sie auf, Suzanne. Aber langsam! Kommen Sie her und nehmen Sie einen der Schnürsenkel. Und Sie, Brian, legen die Hände auf den Rücken. Suzanne, Sie binden ihm jetzt die Hände zusammen und dann an die Querstrebe der Stuhllehne. Na los.« »Ich weiß nicht, warum Sie –« »Jetzt.« Brian spürte die rauhen Schnürsenkel an den Handgelenken. Der harte Bursche sagte: »Nicht so fest, dass es ihm das
Blut abschnürt, aber auch nicht zu locker. Wenn Sie fertig sind, werde ich den Knoten kontrollieren.« »Ich war bei den Pfadfindern«, sagte sie. »Ich kann Knoten.« Brian hatte das Gefühl, dass sie die Schnürsenkel ziemlich fest anzog. Hatte er nicht irgendwo gelesen, dass man sich später befreien konnte, wenn man in dem Augenblick, da man gefesselt wurde, bestimmte Muskelpartien anspannte? Naja, vielleicht gab es Leute, die das konnten. »Gut. Und jetzt stellen Sie sich hin, Suzanne, und legen auch die Hände auf den Rücken.« »Ich will nicht gefesselt werden.« »Entweder ich fessle Sie, oder ich erschieße Sie. Sie zu erschießen wäre für uns beide leichter, weil Sie dann nicht mehr so angespannt sind. Ich tu’s nur nicht, weil die Bullen dann so motiviert sind.« Die Stille, die nun eintrat, erschien Brian endlos. Wenn der Typ Suzanne erschoss, würde er dann nicht auch Brian erschießen müssen? Die Bullen wären ja sowieso schon motiviert. Wach auf, Suzanne! Kapierst du denn nicht, was hier los ist? Doch dann veränderte sich die Stille in seinem Rücken, und Brian meinte, das Schaben der Schnürsenkel auf Suzannes Haut zu hören. Es gab keine Diskussion, keine Widerrede, und das war auch gut so. »Gut, Suzanne. Sie setzen sich jetzt an die Wand hier – warten Sie, ich helfe Ihnen. Sehr schön. Strecken Sie die Beine aus.« Brians Stuhl hatte Rollen, die nicht sehr gut liefen, aber es gelang ihm, sich vom Tisch abzustoßen und gerade so weit zu drehen, dass er Suzanne auf dem Boden sitzen sehen konnte,
den Rücken an die Seitenwand gelehnt, und der harte Bursche hatte sich vor ihr auf ein Knie niedergelassen und fesselte ihre Beine mit einem nagelneuen Starterkabel. Als er fertig war, sah er zu Brian und sagte: »Der Stuhl hat Rollen. Das gefällt mir nicht.« »Tut mir leid«, sagte Brian. Der harte Bursche stand auf und ging in die Werkstatt. Sie hörten, wie er dort herumkramte. Als er zurückkam, hatte er ein paar Werkzeuge und eine dicke Rolle schwarzes Klebeband dabei. Wortlos legte er alles auf den Tisch, dann schob er den Stuhl mitsamt Brian in die rechte Ecke des Raums, zwischen der Eingangstür und der auf dem Boden sitzenden Suzanne. Niemand, der draußen bei den Zapfsäulen stand, würde die beiden sehen können. Er warf einen prüfenden Blick auf Brians Handgelenke und schien zufrieden, denn als nächstes band er Brians weißbestrumpfte Knöchel mit dem Klebeband an den Stuhlbeinen fest und blockierte die Stuhlrollen mit Schraubenziehern, die er auf dem Boden festklebte. Schließlich umwickelte er auch die Rollen mit dem Band. Offenbar hatte er alles gesagt, was er hatte sagen wollen, und würdigte sie, während er all dies tat, auch kaum noch eines Blickes. Er trat einen Schritt zurück, um sein Werk zu begutachten, während die beiden ihn stumm ansahen. Dann trat er zu dem Schlüsselbrett an der Rückwand, musterte die Schlüssel, las die Anhänger und wählte schließlich einen aus. Brian glaubte zu erkennen, dass er sich für Jeff Egglestons Infiniti entschieden hatte, den besten Wagen, der gerade da war. Das war alles. Der harte Bursche ging zur Tür, prüfte das Schloss, das auf Knopfdruck funktionierte, und trat, ohne sie noch einmal anzusehen, hinaus. Brian konnte nicht erken-
nen, ob er in dem Infiniti oder mit Tom Lindahls Geländewagen wegfuhr. »Diese Arroganz!« rief Suzanne. »Wie man vollkommen Fremden so etwas antun kann, ohne Entschuldigung, ohne jeden Grund, ohne ... Ich hab noch nie einen so schrecklichen, schrecklichen ...« Anscheinend wusste sie nicht, wie sie diesen Satz zu Ende bringen sollte. »Suzanne«, sagte Brian und versuchte, freundlich zu sein und sie zu beruhigen, »wenn man das ist, was er ist, und in der Situation ist, in der er ist, kann man so ziemlich alles machen, was man will.« Suzanne richtete ihre Empörung gegen Brian, als wäre das alles seine Schuld (was ja auch beinahe stimmte). Ihre Stimme triefte vor Verachtung und Sarkasmus, als sie sagte: »Ach ja? Warum? Ist er vielleicht irgendeine Berühmtheit?« Brian sah sie an und dachte: Das wird eine lange Nacht.
DREI
Cal starrte finster durch die Windschutzscheibe. Cory saß am Steuer des Pick-ups. »Wenn ich einer der Räuber bin, wie kommt’s dann, dass ich Sie beide gestern nacht nicht über den Haufen geschossen hab?‹« sagte er, und es klang, als wollte er ausspucken. »Der reißt das Maul ganz schön auf, Cory. Wir hätten seinen Bluff gleich auffliegen lassen sollen.« »Das hätte uns auch nichts gebracht.« »Aber mir hätte es was gebracht.« Cal sah sich um. Sie waren auf der Landstraße, Pooley lag weit hinter ihnen. »Wo fahren wir hin?« »Zu Judy.« Das war ihre jüngere Schwester, die allein lebte, seit der Typ, von dem sie gedacht hatte, er würde sie heiraten, lieber zur Marine gegangen war. »Warum?« »Damit sie uns ihren Wagen leiht.« Cal schnaubte. »Die leiht uns ihren Wagen nicht.« Cory sah auf die Straße und sagte: »Dir nicht. Mir schon.« »Warum? Was sollen wir mit ihrer kleinen Blechkiste?« »Wir müssen einen anderen Wagen haben«, sagte Cory, »weil Tom und der andere Typ diesen Pick-up kennen. Wenn die ihn in ihrem Rückspiegel sehen, wissen sie gleich, was los ist.« »Ach so. Ja, klar, natürlich«, sagte Cal und tat, als hätte er selbst bereits daran gedacht oder jedenfalls denken können.
Um zu beweisen, dass auch er auf Einzelheiten achten konnte, sagte er: »Aber wie willst du sie dazu bringen, dass sie dir den Wagen leiht? Wenn du mit dieser Karre da erscheinst, hast du ja schon einen Wagen, und wenn du dann sagst: ›Leih mir deinen Wagens was willst du als Begründung angeben? Weil wir einen Bankräuber zur Strecke bringen wollen?« »Ich hab ein Bewerbungsgespräch«, sagte Cory. Cal sah ihn skeptisch an. »Was für ein Bewerbungsgespräch?« »Ich sage, ich hab ein Bewerbungsgespräch. In der Computerabteilung vom Community College.« »Die haben dich doch schon abgelehnt.« »Das weiß ich, und Judy weiß es auch.« Cory nickte der Straße vor ihnen zustimmend zu. »Aber ich erzähle Judy, dass ich noch ein zweites Bewerbungsgespräch habe, und diesmal ziehe ich mich nicht an wie ein Bauer und fahre nicht in einem Pick-up vor. Diesmal ziehe ich mich an wie einer, der Computerzeug unterrichtet, und fahre in Judys hübschem Volkswagen Jetta vor. Das werde ich ihr erzählen, und es ist die reine Wahrheit. Ich fahr das Ding sogar durch die Waschanlage.« »Judy hat was gegen mich«, erklärte Cal. »Wenn sie mich sieht, wird sie sagen: ›Wozu willst du den Säufer da mitnehmen zum College?‹« Cory lachte. »Du hast recht«, sagte er. »Wenn ich zu ihr fahre, darfst du nicht dabeisein. Ich muss mit Judy allein reden.« »Und wo soll ich sein, wenn du Judy was vorsülzt?« »Ungefähr einen Kilometer vorher ist ein Schnellimbiss«, erinnerte ihn Cory. »Randall.«
»Genau. Da setz ich dich ab, dann kannst du einen Kaffee trinken –« »Oder ein Bier.« »Lieber einen Kaffee. Heute nacht müssen wir auf Draht sein.« »Okay, okay, also einen Kaffee. Und dann fährst du allein zu Judy.« »Und komme mit dem Jetta und hole dich ab.« »Und dieser sogenannte schwere Junge hat keine Ahnung, dass wir ihm im Genick sitzen.« »Genau.« Cal runzelte die Stirn. Ihm kam plötzlich ein Gedanke. »Und was ist, wenn wir zurückkommen und sie sind schon weg?« »Was immer die vorhaben – die machen es erst, wenn es dunkel ist«, versicherte ihm Cory. Das klang vernünftig. Cal nickte, starrte auf die Straße, dachte nach und sagte dann: »Und was, glaubst du, haben die vor?« »Das werden wir sehen, wenn sie’s machen«, sagte Cory, und dann schwiegen sie, bis er vor dem Schnellimbiss anhielt, der ursprünglich aus einem einzigen Eisenbahnspeisewagen bestanden hatte, aber im Lauf der Zeit mit zusätzlichen Gasträumen und Küchen und größeren Neonzeichen versehen worden war, bis er schließlich eher wie ein von Indianern betriebenes Kasino aussah als wie ein Laden, wo man etwas zu essen bekommen konnte. Er stand da, wo die Landstraße, auf der sie fuhren, und eine der größeren Schnellstraßen sich kreuzten, und war immer recht voll, auch wenn das Essen nicht besonders war. Cory hielt in der Nähe des Eingangs und sagte: »Dauert vielleicht ’ne halbe Stunde.«
»Ich setze mich ans Fenster«, sagte Cal und öffnete die Beifahrertür. »Und nur Kaffee, Cal, okay?« »Ja, ja. Mach dir keine Sorgen.« Er stieg aus, Cory fuhr weiter, und Cal ging hinein und bestellte einen Cheeseburger, gebratene Zwiebelringe und ein Bier.
VIER
Gewöhnlich verbrachte Fred die Sonntagnachmittage im Herbst und im Winter damit, sich allein im Wohnzimmer die Footballspiele anzusehen, während Jane lesend auf der verglasten Hinterveranda saß, die im Sommer ein Treibhaus war und im Winter den besten Blick auf die Welt dort draußen bot. Doch als sie mit dem Gewehr von Tom Lindahl zurückkehrte, saß Fred zwar in seinem Lieblingssessel im Wohnzimmer, aber der Fernseher war nicht eingeschaltet, und Fred hockte zusammengesunken da und starrte brütend zwischen den Knien hindurch auf den Teppich. Er hob kaum den Kopf, als sie eintrat und, in dem Versuch, munter zu klingen, sagte: »Ich wusste gar nicht, dass das Ding so schwer ist.« »Ah, du hast es«, sagte er beinahe teilnahmslos. »Gut.« »Soll ich es in den Schrank stellen?« »Ja. Okay.« Sie wandte sich zum Gehen, drehte sich aber noch einmal um und fragte: »Kein Football?« »Ach, ist doch immer dasselbe«, sagte er, zuckte die Schultern und sah ihr nicht in die Augen. Sie war seit jeher der Meinung gewesen, dass Footballspiele im Grunde immer dasselbe waren – jeden Sonntag dieselben Spielzüge, es war wie rituelles japanisches Theater, nur die Kostüme wechselten –, doch diese Einschätzung aus Freds Mund zu hören, fand sie beunruhigend. Aber sie nickte nur, ging ins Schlafzimmer und stellte das Gewehr an seinen
Platz in der hinteren linken Ecke des Schranks. Dann kehrte sie ins Wohnzimmer zurück, wo Fred sich nicht gerührt hatte, und sagte: »Ich hab diesen Mann gesehen.« Er richtete sich ein bisschen auf. »Wen? Ach so, den.« »Er ist sehr seltsam, Fred.« »Er weiß, was er will«, sagte Fred, und das schien ihr ebenfalls eine seltsame Bemerkung zu sein. »Er hat etwas gesagt«, fuhr sie fort, »das ich im ersten Augenblick eigenartig fand, aber vielleicht war es ja gut.« Keine Reaktion. Sie wartete darauf, dass Fred fragte, was dieser seltsame Mann gesagt hatte, aber er sah sie nicht einmal an, und so musste sie ohne ein Stichwort weitersprechen. »Er hat gesagt, dass George dich sehen will, wenn er nach Hause kommt.« »George?« Es klang nicht so, als könnte er sich an seinen Sohn nicht erinnern – eher, als verstünde er nicht, warum er überhaupt zur Sprache kam. »Tom hat es ihm erzählt«, sagte sie. »Und er hat gesagt, dass George dich wird sehen wollen, wenn er nach Hause kommt.« »Natürlich wird er mich sehen«, sagte Fred, und jetzt hatte er einen gereizten Unterton. »Was meinst du damit?« »Naja, nur dass wir wieder Zusammensein werden.« Er runzelte die Stirn und versuchte zu verstehen, und dann wurde sein Gesicht plötzlich wütend, und er sagte: »Weil ich mein Gewehr zurückhaben wollte? Es ist doch meins.« »Das weiß ich, Fred.« »Es steht im Schrank. Du hast mich gefragt, und ich habe gesagt, du sollst es in den Schrank stellen. Für was halten mich die Leute eigentlich?« »Ich hab doch gesagt, es war etwas, was ich eigenartig fand, das ist alles, Fred.«
»Das würde ihm gefallen, oder?« sagte Fred und machte ein düsteres Gesicht. »Das würde alle seine Probleme lösen, oder?« »Was für Probleme, Fred? Jetzt weiß ich nicht, wovon du redest.« »Nichts«, sagte er, wandte sich ab und machte eine wegwischende Gebärde. »Es ist gar nichts. Danke, dass du es geholt hast.« Das war ein klares Zeichen, dass er das Gespräch als beendet betrachtete, und so ging sie wieder hinaus, goss in der Küche eine Tasse Pulverkaffee auf und setzte sich dann auf die Veranda, wo das Buch, das sie gerade las, auf ihrem Sessel lag. Jane las gern. Das Lesen trug sie stets hinaus aus ihrer Welt, fort von dieser verglasten Veranda und dem Ausblick auf den Wechsel der Jahreszeiten, und versetzte sie in eine andere Welt mit anderen Ausblicken, anderen Menschen und anderen Jahreszeiten. Sonst stets; heute aber nicht. Jane kaufte gewöhnlich Bestseller, doch erst, wenn sie als Taschenbuch erschienen waren, wenn das aufgeregte Gesumm, das die Veröffentlichung begleitet hatte, verstummt war und sie die Geschichte sehen konnte, wie sie war, mit all ihren Einsichten und Mängeln. Sie war eine nachsichtige Leserin, selbst wenn sie Passagen las, die nicht ganz stimmig waren. Gab es nicht auch im wirklichen Leben hin und wieder Dinge, die nicht stimmig waren? Wie dieser Smith, der bei Tom Lindahl zu Besuch war. Was konnte die beiden zusammengebracht haben? Und wie kam es, dass Tom, den sie seit ungefähr dreißig Jahren kannte, plötzlich einen »alten Freund« hatte, von dem noch nie jemand gehört hatte? Nein – das war das wirkliche Leben. Sie versuchte sich auf
das Leben in diesem Buch zu konzentrieren, und als ihr das nach mehreren Anläufen gelang, tauchte sie schließlich in die Charaktere und ihre Geschichte ein. Sie konzentrierte sich auf die Probleme dieser anderen Beziehungen und ihrer ineinander verwobenen Geschichten, bis es so dunkel geworden war, dass sie nicht mehr weiterlesen konnte. Sie schaltete die Stehlampe zu ihrer Linken ein, warf einen Blick auf die Uhr und sah, dass es bereits nach sieben war. Oje, und sie hatten noch nicht mal über das Abendessen nachgedacht. Normalerweise wäre Fred inzwischen gekommen, um ihr zu sagen, das Spiel sei vorbei. Er hätte sich zu ihr gesetzt, und dann hätten sie besprochen, was es zum Abendessen geben sollte –jetzt, da Jodie auf die Penn State ging, war viel weniger Zeitdruck als früher. Aber heute gab es keinen Football, kein Spielende und keinen Fred. Wollte er denn ewig im Wohnzimmer sitzen und vor sich hin brüten? Da drinnen musste es doch noch viel dunkler sein als hier auf der Veranda, doch als Jane sich zur Tür umdrehte, konnte sie nirgends im Haus einen Lichtschimmer sehen. War dort im Dunkeln irgend etwas Beängstigendes? War da drinnen irgend etwas Fremdes, etwas wie ein ungelesenes Buch, aber eines, das sie nicht gern lesen würde? Irgendwo war etwas Beängstigendes, dessen war sie sicher, etwas, das ihr überhaupt nicht gefallen würde, wie der Augenblick in einem Horrorfilm, da man weiß, dass gleich etwas Schreckliches passieren wird. Aber da war nichts – sie war nur nervös. Das war ihr Haus. War er eingenickt? Das war vielleicht ganz gut so, erst recht, wenn er sich dann, nach dem Aufwachen, besser fühlte. Aber sie sollte lieber nachsehen, also legte sie ein
Lesezeichen in das Buch, stand auf, ging durch das Haus und schaltete dabei die Lichter an. Das Wohnzimmer war leer. Sie sah zum Schlafzimmer und rief: »Fred?« Keine Antwort. Plötzlich bekam sie wirklich Angst, eine schrecklichere Angst, als sie je beim Lesen eines Buches oder Sehen eines Horrorfilms verspürt hatte. Sie ging zur Haustür und sah hinaus. Ihre Garage war voller Gerümpel, und darum stand der Taurus immer in der Einfahrt. Draußen war es jetzt sehr dunkel, und der Taurus war schwarz. Sie musste die Außenbeleuchtung einschalten, um sicher sein zu können, dass der Wagen fort war. Wo war Fred? Was hatte er getan? Jane bekam immer mehr Angst. Beinahe wollte sie die Antworten auf die Fragen, die ihr durch den Kopf schössen, gar nicht wissen. Sie eilte ins Schlafzimmer und öffnete den Schrank. Das Gewehr war verschwunden.
FÜNF
»Es ist dunkel«, sagte Tom. Er stand am Fenster und drehte sich zu dem Mann um, den er in Gedanken Ed zu nennen sich angewöhnt hatte, obwohl er wusste, dass das auf keinen Fall sein Name sein konnte. »Wann wollen Sie losfahren?« Ed stand auf, kam zu ihm und warf einen Blick nach draußen. »Der Plan hat sich ein bisschen geändert«, sagte er. Das gefiel Tom nicht. Es war sehr schwer, mit den Ereignissen Schritt zu halten, seit er die Büchse der Pandora geöffnet hatte, als er Ed auf der Flucht vor den Hunden den Hügel hatte hinaufsteigen sehen und beschlossen hatte, ihn nicht der Polizei auszuliefern, sondern zu benutzen. Dieser aus dem Augenblick, aus Frustration und Selbstverachtung geborene Entschluss hatte nicht enden wollende Konsequenzen, und Tom hatte beinahe das Gefühl, dass er, ohne es zu wollen, zu einem Rodeoreiter geworden war, der zum erstenmal in seinem Leben auf einem wildbockenden Bronco saß, und dass ein Sturz eine unglaubliche Katastrophe nach sich ziehen würde. Er fragte sich, ob seine Stimme bebte, als er sagte: »Ist es nicht ein bisschen spät für einen neuen Plan? Wollen Sie es doch nicht heute nacht machen?« »Nein, wir machen es heute nacht. Der neue Plan ist, dass Sie allein hinfahren.« »Allein?« Beunruhigt sagte Tom: »Ich dachte, wir ziehen das zusammen durch.«
»Tun wir auch. Wenn Sie an dem ersten Tor sind, das Sie gestern aufgeschlossen haben, warten Sie. Wenn ich noch nicht da bin, komme ich ein bisschen später.« »Aber –« Tom versuchte zu verstehen, was hier vor sich ging. Ed hatte keinen Wagen. Er kannte hier niemanden, den er um Hilfe bitten konnte. Wie sollte er zur Rennbahn kommen? »Wie kommen Sie zur Rennbahn?« »Ich komme schon«, sagte Ed. »Sie brauchen nicht zu wissen, was ich vorhabe.« »Ich verstehe das nicht«, sagte Tom. Er war nicht bloß verwirrt, sondern auch sehr nervös, als stünde er am Rand einer hohen Klippe. Eine Übelkeit erregende Angst stieg in ihm auf – er hatte den ekelhaften Geschmack von Galle in der Kehle. »Ich verstehe nicht, wieso wir den Plan ändern sollen.« »Sie werden’s verstehen, wenn alles vorbei ist. Hören Sie zu, Tom.« Widerwillig sagte Tom: »Okay, ich höre.« »Sie fahren zur Rennbahn. Wenn Sie irgendwann Corys Pick-up sehen, machen Sie sich keine Gedanken.« »Warum? Wollen Sie damit fahren?« »Nein. Machen Sie sich einfach keine Gedanken. Fahren Sie weiter. Wenn Sie dort sind, warten Sie. Wenn ich nicht innerhalb von einer halben Stunde da bin, können Sie die Sache allein durchziehen oder umkehren und wieder zurückfahren. Ganz wie Sie wollen. Aber ich werde kommen.« »Haben Sie noch was anderes laufen?« Ed sah ihn genervt an. »Wir funktionieren nach verschiedenen Regeln, Tom. Das wissen Sie doch.« »Ja.« Wieso habe ich bloß geglaubt, dass ich ihn kontrollieren kann? dachte Tom und erinnerte sich an den Anblick des
Mannes, der mühsam den Hügel hinaufgestiegen war. Weil er auf der Flucht war? Das hat ihn nicht zu jemandem gemacht, den man kontrollieren kann, sondern zu jemandem, den man nie und nimmer kontrollieren kann. »Jetzt wäre der richtige Augenblick, um loszufahren«, sagte Ed. Erschrocken dachte Tom: Ich soll noch immer fahren! Ich soll das noch immer tun. Herrgott, Tom, du bist hier doch nicht der Helfer – das ist dein Raubzug. Du bist derjenige, der sich diese Sache ausgedacht hat, du bist derjenige, der diesen Scheißkerlen von der Rennbahn weh tun wollte, und du bist derjenige, der diesen anderen Mann dazugeholt hat. Und es noch immer deine Sache. Sehr nervös, aber in dem Wissen, dass ihm nichts anderes übrigblieb, sah Tom sich in seinem kleinen Wohnzimmer um und sagte: »Schalten Sie dann das Licht aus?« »Gehen Sie jetzt, Tom.« »Na gut.« Tom warf einen Blick auf den Papagei und merkte, dass dieser ihn direkt ansah. Warum hab ich ihm nie einen Namen gegeben? dachte er. Ich werd’s jetzt tun. Wenn ich zurückkomme. Nein, ich werde mir auf der Fahrt dorthin einen Namen ausdenken.
SECHS
Als es begann, dunkel zu werden, schaltete Jack Riley das Licht auf der Veranda an. Das war das Zeichen für Suzanne, dass sie reinkommen sollte, aber heute abend kam sie nicht. Wo war sie? Vor vier Stunden. Vor etwas über vier Stunden war sie dagewesen, und sie hatten darüber spekuliert, wer hier in der Gegend wohl imstande wäre, sich in das Haus eines Mannes zu schleichen und seinen Revolver zu stehlen. Sie hatte gesagt, sie wolle noch eben tanken und etwas für das gemeinsame Abendessen einkaufen, und dann war sie weggefahren. Jack hatte gedacht, sie würde eine Stunde brauchen. Er hatte nicht gesehen, in welche Richtung sie gefahren war – vielleicht zu Brian Hopwoods Tankstelle hier im Ort, möglicherweise aber auch zu der Getty-Tankstelle, je nachdem, wo sie was zu essen kaufen wollte. Also eine halbe, vielleicht auch eine Stunde, aber jedenfalls nicht länger. Um kurz nach sechs wachte er vor dem Fernseher auf – schon wieder! Er verfluchte sich. Wie oft hatte er sich vorgenommen, nicht mehr vor dem Fernseher einzuschlafen? Er wusste doch, was er tun musste: beim ersten Anzeichen von Schläfrigkeit aufstehen und herumlaufen. Vielleicht hinausgehen. Das Licht einschalten. Einfach irgendwas tun, anstatt wieder mal vor dem verdammten Fernseher einzuschlafen. Aber er brachte es nicht fertig. Er saß da, sah sich hellwach
irgendeine blöde Sendung an, und das nächste, was ihm bewusst wurde, war, dass zwei, drei, vier Stunden vergangen waren und er wieder vor dem Apparat aufwachte, mit trockenem Mund, dröhnendem Kopf und steifen Gliedern. Verdammt, wie konnte er damit aufhören? Vielleicht, indem er sich einfach nicht mehr setzte? Nie mehr im Sitzen fernsehen, nur noch im Stehen? Oder würde er dann im Stehen einschlafen und sich die Nase brechen, wenn er umfiel? Frauen lebten doch angeblich länger als Männer. Sie sollten dasein und einem einen Rippenstoß geben, wenn sie merkten, dass man einschlief. Noch so etwas, was einem das Leben schwermachte, seit Eileen nicht mehr da war. Jack Riley war seit neun Jahren Witwer. Die letzten sieben Jahre hatte er in diesem Haus gelebt. Irgendwann hatte er begriffen, dass das alte zu groß war, um es allein in Ordnung zu halten, und dass er das Geld, das er dafür kriegte, besser in Blue-Chip-Aktien angelegt war. Seit seinem Umzug war Suzanne die einzige Frau, mit der er näheren Kontakt hatte – allerdings war sie ziemlich anders als Eileen, und einer der Unterschiede war, dass in ihrer Jobbeschreibung nirgends stand, sie müsse die ganze Zeit neben ihm sitzen und ihm einen Rippenstoß geben, wenn er mal wieder dabei war, vor dem verdammten Fernseher einzuschlafen. Wo war Suzanne? Wie weit konnte sie gefahren sein, um zu tanken und etwas zu essen zu kaufen? Sie hatte doch keinen Unfall gehabt? Wenn er aus dem Fenster gesehen hätte, als sie losgefahren war, hätte er jetzt eine ungefähre Vorstellung davon haben können, wo sie gerade war. In Brian Hopwoods Tankstelle? Es war nach sechs, und er wusste, dass Brian längst Feierabend gemacht hatte, doch er rief trotzdem dort an, nur für den Fall, aber natürlich läutete und läutete das Telefon in
dem leeren Büro, und Brian war der letzte, der sich einen Anrufbeantworter anschaffen würde. Oder vielleicht in die andere Richtung? Jack kannte niemanden, der in der Getty-Tankstelle arbeitete – außerdem musste Suzanne schon längst dort gewesen sein. So wie sie schon längst wieder hätte zurück sein müssen, wenn nichts dazwischengekommen wäre. Jack schaltete den Fernseher aus, bevor er sich setzte, denn er wollte nicht wieder einnicken, verdammt – er wollte hellwach sein, wenn sie kam, und in der Zwischenzeit wollte er hellwach sein, um sich Sorgen zu machen. Das alles hatte gestern nacht angefangen, als er wieder mal vor dem laufenden Fernseher aufgewacht war und sich aus dem Sessel gehievt hatte, um zu Bett zu gehen. Seit er allein in diesem Haus lebte, war er ein Gewohnheitsmensch geworden, und eine dieser Gewohnheiten war, dass er jeden Abend, wenn er zu Bett ging, als letztes die Schublade in seinem Nachttisch auf schloss und einen Blick auf den Revolver darin warf. Wenn man allein in einem abgelegenen Ort wie diesem wohnte, war es beruhigend zu wissen, dass dieser kleine Beschützer da war. Jack hatte nie einen Schuss abgegeben; er hatte die Waffe nur wegen des Gefühls der Sicherheit gekauft, das sie ihm vermittelte, aber dieses Gefühl der Sicherheit war sehr real – es ließ ihn ruhig schlafen –, und so war dieses abendliche Ritual entstanden, bei dem er vor dem Schlafengehen kurz nach dem Revolver sah. Wie nach einem Haustier, dem man gute Nacht sagte. Und gestern nacht war das Ding plötzlich fort. Das war ein echter Schock. Jack lag halb zurückgesunken im Bett und öffnete die Schublade, doch als er sah, dass dort, wo der Revolver hätte sein sollen, nichts war, fuhr er wieder hoch. Er
sah sich entsetzt im Zimmer um, suchte nach einer Erklärung, versuchte sich an einen Augenblick zu erinnern, in dem er die Waffe selbst irgendwo anders hingelegt hatte – wohin? –, doch er fand keinen solchen Augenblick und auch keinen Grund dafür. Als nächstes ging er durch das ganze Haus und überprüfte, ob alle Türen und Fenster fest verschlossen waren – sie waren es. Dann war der Revolver also irgendwann tagsüber gestohlen worden? Aber wer wusste, dass er einen besaß und wo er ihn aufbewahrte und wo der Schlüssel war? Jack kannte die wenigen Leute, die hier wohnten, und keinem von ihnen traute er auch nur im entferntesten zu, dass er sich in sein Haus schlich und ihm seinen Revolver klaute. Aber wer dann? Ein Landstreicher? Hier gab es keine Landstreicher. Hier ging überhaupt niemand zu Fuß. Und jemand, der in einem Wagen vorbeifuhr, würde nicht plötzlich anhalten, in Jack Rileys Haus gehen und es mit seiner Waffe wieder verlassen. Wie man es auch drehte und wendete: Es ergab einfach keinen Sinn. Die Sache war ihm sehr unheimlich. Er schaltete das Licht auf der vorderen Veranda ein, als könnte das zu dieser späten Stunde noch Suzanne herbeirufen, schaltete es aber gleich wieder aus, weil er wusste, dass es Suzanne nicht mitten in der Nacht herbeirufen würde, und gar nicht daran denken wollte, wen es statt ihrer anlocken könnte. Also ließ er das Licht im Badezimmer und in der Küche brennen und konnte dann doch noch ein bisschen schlafen, und am nächsten Morgen rief er Suzanne an, um es ihr zu erzählen. Natürlich war sie genauso verwundert wie er. Sie hatte am Sonntag morgen noch andere Dinge zu erledigen, konnte aber am Nachmittag vorbeikommen, und das tat sie dann auch. Als sie da war, erzählte er ihr die Geschichte noch ein-
mal. Sie kontrollierte alle Türen und Fenster, half ihm, in allen anderen Schubladen zu suchen, setzte sich schließlich hin und überlegte, wer die Waffe gestohlen haben könnte. Ihnen fiel niemand ein. Schließlich sagte Suzanne, sie werde jetzt tanken und etwas zu essen besorgen, und Jack schlief wieder vor dem verdammten Fernseher ein. Und nun? Suzanne war seit Stunden fort. Draußen war es dunkel. Kein Revolver, keine Suzanne. Irgendwann nach sieben Uhr gestand er sich ein, dass es keine Alternative gab: Er musste die Polizei anrufen. Er wollte nicht. Wenn sich herausstellte, dass es eine einfache, vernünftige Erklärung für das Verschwinden – sowohl Suzannes als auch des Revolvers – gab, würde er sich wie ein Idiot vorkommen, wie ein alter Zausel, der seinen Verstand nicht mehr beisammenhatte. Aber der Revolver war wirklich verschwunden, und Suzanne war wirklich nicht zurückgekehrt, und so blieb ihm letztlich nichts anderes übrig. Jack hatte alle Notfallnummern auf ein Stück Pappe geschrieben, das er mit Reißzwecken an der Wand über dem Telefon in der Küche befestigt hatte. Darauf stand auch die Nummer der nahe gelegenen Kaserne der Staatspolizei, die für Pooley und Umgebung zuständig war. Zögernd, aber in dem Bewusstsein, dass es wohl unumgänglich war, wählte Jack die Nummer und hörte kurz darauf eine Stimme, die sagte: »Staatspolizei, Trooper London.« »Hallo«, sagte Jack. »Ich möchte etwas melden – eigentlich zwei Dinge.« »Ja, Sir. Ihr Name, Sir?« sagte Trooper London. »Erstens ... Ach so. Riley. John Edward Riley.« »Und Ihre Adresse, Sir?« »Route 34, Pooley«, sagte er und gab auch die Hausnummer an. Schließlich wollte der Polizist noch seine Telefon-
nummer wissen, und erst dann zeigte er so etwas wie Interesse für den Grund des Anrufs. »Sie wollten etwas melden, Sir?« »Eine Vermisstenmeldung«, sagte Jack. »Eigentlich zwei.« »Familienmitglieder, Sir?« »Tja, also ... Der erste Zwischenfall war gestern nacht. Mein Revolver ist weg.« »Ihr Revolver, Sir?« »Ich habe ... ich hatte ... also, als ich hierhergezogen bin, habe ich mir einen kleinen Revolver gekauft, einen Ranger. Ich habe die Waffenkarte und alles – das war nur zur Selbstverteidigung.« »Ja, Sir. Und der ist verschwunden?« »Ja, gestern nacht. Ich bewahre ihn in einer abgeschlossenen Schublade auf, und als ich gestern nacht vor dem Zubettgehen nachgesehen hab, ob alles okay ist, war er weg.« »Hatten Sie denn Grund zu der Annahme, es könnte nicht alles okay sein, Sir?« »Erst als ich sah, dass der Revolver weg war.« »Hatten Sie denn einen Grund, nach dem Revolver zu sehen?« »Das tue ich immer. Jeden Abend – einfach, um mich zu vergewissern.« »Ich verstehe, Sir. Könnten Sie mir sagen, wer sonst noch bei Ihnen wohnt?« »Nur ich. Ich lebe allein.« »Hatten Sie gestern Gäste, Sir?« »Nein, ich war allein. Deswegen verstehe ich das ja auch nicht.« »Haben Sie das Verschwinden gemeldet, Sir?« »Nein, erst jetzt. Ich meine, der Polizei. Heute morgen habe ich meine Enkelin Suzanne angerufen, und sie ist heute
nachmittag vorbeigekommen, und wir haben gemeinsam gesucht, aber der Revolver ist weg. Gegen drei Uhr ist sie weggefahren, sie wollte tanken und etwas zu essen für uns besorgen, aber sie ist nicht zurückgekommen.« »Ihre Enkelin, Sir?« »Suzanne. Suzanne Gilbert.« Und dann musste er dem Trooper alle möglichen Angaben über Suzanne machen, ihr Aussehen beschreiben, ihr Alter, ihr Gewicht und ihren Beruf und eine Menge anderes Zeug, das, wie es Jack schien, überhaupt nichts zur Sache tat, doch er dachte: Das ist sein Job, soll er ihn tun. Danach kamen viele Fragen zu Suzannes Wagen, und dann wollte Trooper London noch alles mögliche andere über sie wissen: War sie verheiratet, hatte sie einen Freund, lebte sie allein, war sie früher schon einmal allein weggefahren? Die ganze Zeit konnte Jack dem neutralen, nüchternen Ton des Mannes nicht entnehmen, ob dieser ihn ernst nahm oder von oben herab behandelte. Denn wenn es nur ein winziges Anzeichen dafür gab, dass man ihn von oben herab behandelte, würde er ein Riesentheater veranstalten. Der Revolver war nicht so wichtig – hier ging es um Suzanne! Doch dann sagte der Trooper endlich: »Wir schicken Ihnen einen Streifenwagen, Sir. Er wird in spätestens einer halben Stunde dasein.« Herrgott, dachte Jack, hoffentlich ist Suzanne bis dahin zurück. Andererseits: Hoffentlich ist sie bis dahin nicht zurück. Ihr soll nichts Schlimmes passieren – sie soll nur noch nicht dasein, wenn die Polizisten kommen. »Danke«, sagte er. »Ich lasse das Licht auf der Veranda brennen.«
SIEBEN
Was Fred auf dem toten Fernsehbildschirm sah, war nicht Football, sondern die Zelle. Die Allzweckzelle, manchmal die, in die er selbst wandern würde, manchmal die, in der George jetzt saß – was ist bloß aus unserer Familie geworden? –, und manchmal die Zelle, das Grab, in dem der Mann lag, den er getötet hatte und der noch im Tod zuckte. Er hatte Georges Zelle natürlich nie gesehen, und so existierte diese sich ständig verändernde Zelle nur in seiner Phantasie, die sich hauptsächlich aus alten, in schlaflosen Nächten gesehenen Schwarzweißfilmen nährte. Es war ein kleiner Raum, länger als breit, mit hoher Decke und harten Gitterstäben an der Schmalseite und einem kleinen Fenster weit oben in der gegenüberliegenden Wand, durch das man nur eine graue Fläche sah. In der Zelle roch es nach Feuchtigkeit und Moder. Dort lag er zusammengekrümmt auf dem Boden – oder es war George, der dort lag, und manchmal auch der arme Kerl vom Wolf Peak, dem das letzte dickflüssige Blut aus dem Rücken sickerte. Vor den Wohnzimmerfenstern wurde es langsam dunkel. Seine Phantasie hatte Fred bisher nie sehr zugesetzt, doch nun füllte sie ihn ganz aus, eine von blankliegenden Nerven befeuerte Phantasie: Er stellte sich die Zelle vor, die Schande und jetzt, da der Abend sich herabsenkte, die Zähne. Die den Leichnam zerrissen. Es wird immer dunkler, und all die raschelnden Wesen des Waldes finden sich ein
und schlagen ihre Zähne in das Fleisch und knurren einander an und reißen und reißen. An seinem Körper. So wie er manchmal George in dieser schrecklichen Gefängniszelle war, so war er jetzt manchmal auch der tote Mann am Wolf Peak und spürte die Bisse, spürte die Reißzähne. Ich halte das nicht aus, dachte er, ich muss da raus, und damit meinte er, dass er seinen Geist nicht mehr ertragen konnte, dass er seinen Geist abstellen musste, und natürlich wusste er, was das bedeutete. Aber was hielt ihn davon ab? Nicht der Gedanke an seine Familie, seine Frau, seinen Sohn, seine Tochter – die würden nach einer Weile darüber hinwegkommen; jeder kam irgendwann über jeden hinweg. Auch nicht Feigheit. Er hatte keine Angst davor, den Lauf in den Mund zu stecken und abzudrücken; er wusste, der Schrecken würde kurz und der Schmerz beinahe nicht existent sein. Was ihn abhielt, war der Gedanke an diesen Smith. Ed Smith oder wie der hieß. Ihm durch Jane eine Nachricht zu schicken, wieder eins von diesen psychologischen Spielchen zu spielen, genau wie dort oben im Wald, genau wie auf der Fahrt hierher. Ihn zu manipulieren. Jane mit einer verschlüsselten Nachricht zu ihm zu schicken: Bring dich nicht um. Verschlüsselt, weil der eigentliche Zweck dieser Nachricht war, ihm den Gedanken einzugeben, es sei das Beste, sich umzubringen. Das war es, was Ed Smith vorschwebte – es war so offensichtlich. Er heuchelte Sympathie – als würde dieser Mann die Bedeutung des Wortes »Sympathie« überhaupt kennen –, um ihm diesen kleinen Wurm in den Kopf zu setzen: Wäre nicht alles leichter, wenn du tot wärst? Herrgott, ja, das wäre es. Für diese Erkenntnis brauchte er
doch nicht Ed Smith. Aber es war ein Ding der Unmöglichkeit, solange dieser Smith überall präsent war. Ganz gleich, welche Schmerzen er litt, ganz gleich, wie hoffnungslos alles war – er konnte sich nicht umbringen, er konnte es einfach nicht, und zwar aus dem einfachen Grund, dass er einem Scheißkerl wie Ed Smith diese Genugtuung nicht gönnte. Die Zeit verging, und seine Gedanken kreisten immer um dasselbe, doch langsam verschob sich etwas, und er kam nach und nach zu einer anderen Perspektive. Wenn Ed Smith weg wäre. Er würde aus diesem Loch herausfinden können, er würde mit seinem Leben weitermachen können, wenn Ed Smith ... Nein. Wenn es Ed Smith nicht mehr gäbe. Dann wäre alles anders. Die Bürde des toten Mannes am Wolf Peak würde weniger schwer auf ihm lasten, die Angst vor der Entdeckung wäre von ihm genommen. Fred wusste, dass Tom Lindahl nie ein Sterbenswörtchen über das, was dort oben passiert war, verraten würde. Tom war nicht das Problem. Aber wie sollten sie Ed Smith vertrauen, wie konnten sie wissen, was er als nächstes tun würde? Das Problem war nicht Freds Phantasie – die war nur momentan überreizt durch die Ereignisse. Das Problem war auch nicht George, der natürlich in einem Jahr, in nicht mal einem Jahr zurückkehren würde, und natürlich würde Fred dasein, um ihn in die Arme zu schließen. Das Problem war nicht Fred, nicht George, nicht Tom, nicht der arme alte Penner da oben am Wolf Peak. Das einzige Problem war Ed Smith. Als Fred nach all diesen Gedanken endlich aufstand und ins Schlafzimmer ging, tat er das beinahe ohne zu denken. Wenn man sich sicher war, gab es nichts mehr zu bedenken, und Fred war sich sicher.
Er hielt das Gewehr locker in der Rechten, umfasste mit der Hand das warme Holz des Schaftes und freute sich wie stets über das gute Gefühl, das ihn dabei überkam. Er hatte lange Zeit sehr gute Erinnerungen mit diesem Gewehr verbunden, Erinnerungen an erfolgreiche Jagden, und bald würden sie wieder gut sein. Er wusste, dass Jane, die auf der hinteren Veranda in ihr Buch vertieft war, nicht hören würde, wie er wegfuhr, doch er ließ den Taurus trotzdem die Einfahrt hinunterrollen und drehte den Zündschlüssel erst, als der Wagen auf der leeren Straße stand. Die Häuser ringsum waren warm erleuchtet – dort hatten sich die Familien zum Sonntagabend zusammengefunden. Sehr bald würde es bei den Thiemanns auch so sein. Er legte das Gewehr auf den Beifahrersitz und fuhr zu Tom Lindahls Haus.
ACHT Der Papagei sah die Welt schwarzweiß. Er kannte die Welt, in der er lebte, und wusste, dass sie sehr stark war und dass er selbst darin ebenfalls sehr stark war und dass er immer, wenn er glaubte, Hunger zu haben, Futter in seinem Napf finden würde. Er war sauber und saß lieber auf der Schaukelstange als auf dem Boden der Welt, selbst wenn dieser, selten genug, erneuert war, beinahe blendendweiß, mit schwarzen Punkten, laut knisternd, wenn er sie berührte, bis er wieder seinen Kot darauffallen ließ. Wenn er sich Bewegung verschaffen wollte, kletterte er an der Schaukel und den senkrechten Gitterstäben des Käfigs hinauf und hinunter. Manchmal auch an einer Seite hinauf und kopfüber auf der anderen Seite hinunter, ohne besonderen Grund. Seine starken Klauen packten die oberen Gitterstäbe, so dass er, wenn er den Kopf in den Nacken legte und die Welt, diese Welt, mit einem runden, schwarzweißen Auge betrachtete, eine ganz neue Perspektive gewann. Es gab nicht viel in dieser Welt, aber er brauchte ja auch nicht viel. Mit seinen starken Klauen und seinem kräftigen Schnabel, mit dem er auf die Gitterstäbe biss, so dass er auf der Zunge einen Geschmack wie vom Inneren des Gehirns hatte, konnte er sich hier bewegen und hatte alles im Griff, was er im Griff haben musste. Außerhalb des Käfigs und diesen umhüllend war ein anderer Käfig, der ihn jedoch nicht sonderlich interessierte. Un-
ter seinem Käfig glühte auf der einen Seite ein gedämpftes Licht, das den größeren Käfig mit sanften, ständig wechselnden Schemen erfüllte. Manchmal ertönten von dort auch kratzende Geräusche. Weiter entfernt erschien hin und wieder ganz kurz eine größere, höhere, blassere rechteckige Helligkeit, wenn die anderen Wesen den äußeren Käfig betraten oder verließen. Zuweilen erzeugten sie dieses Rechteck und bewegten sich hindurch, ohne dass das dazugehörige Licht erschien. Diese Wesen erregten seine Neugier, aber nur ein wenig. Er studierte sie, wenn sie da waren, musterte sie gewöhnlich mit einem Auge und wartete darauf, dass sie etwas taten, das sie erklärte. Bislang hatte er vergeblich gewartet. Manchmal schlief der Papagei. Er schlief auf der Schaukel, die seine Klauen umklammerten, die großen Knopfaugen waren geschlossen und die steifen grünen Federn leicht aufgeplustert. Wenn er erwachte, wusste er stets, dass er geschlafen hatte und nichts geschehen war und dass es jetzt, da er wieder wach war, an der Zeit war zu essen und zu scheißen, zu trinken und zu pissen, und das tat er dann auch. Jetzt war jetzt. Die Wesen gingen hinaus, ohne dass viel Helligkeit durch das Rechteck gefallen wäre, und es waren keine Wesen mehr da. Das flackernde Licht von unten flackerte geräuschlos weiter. Die Zeit verging, und der Papagei schlief ein und wurde unvermittelt durch einen Lärm geweckt. Ein anderes Wesen war hereingekommen, mit knallenden und schreienden Geräuschen. Es ging vor dem hellen Viereck vorbei, verschwand in anderen Dunkelheiten und kehrte zurück. Es schrie und schrie, und dann beugte es sich zu dem Papagei und starrte ihn an, starrte sein linkes Auge an, mit dem er es beobachtete, und schrie immer wieder dasselbe.
Der Papagei hatte nie gesprochen. Er war nie in einer Situation gewesen, in der es ihm angebracht erschienen wäre zu sprechen. Das Wesen, das in dem Käfig außerhalb seines Käfigs wohnte, sagte fast nie etwas. Es war dem Papagei nie eingefallen zu sprechen. Doch nun schrie dieses Wesen, dieses unbekannte, fremde Wesen, immer wieder dasselbe, und dem Papagei kam der Gedanke, er könnte dieselben Laute hervorbringen. Es wäre vielleicht schön, diese Laute hervorzubringen. Er und das Wesen könnten gemeinsam diese Laute hervorbringen. Also öffnete er den Schnabel, zum erstenmal nicht, um einen Gitterstab zu packen, und der erste Laut, den er hervorbrachte, war ein heiseres Krächzen, was ja nur verständlich war. Doch dann gelang es ihm besser: »O isser? O isser? O isser?« Das Wesen fuhr zurück. Es kreischte. Es schrie viele verschiedene Laute, zu viele, zu schnell und durcheinander, als dass der Papagei sie hätte nachsprechen können. Dann schob es ein Metallrohr in den Käfig und wollte es gegen die Brust des Papageis stoßen, doch dieser wich auf seiner Schaukel mit Leichtigkeit aus und packte das Ende des Rohrs mit dem linken Fuß. Das Wesen schrie noch immer, und jetzt fiel der Papagei mit ein: »O isser? O isser?« Der Papagei beugte den Kopf und neigte sich zur Seite. Er sah mit dem linken Auge in den langen runden Tunnel in dem Rohr. »O isser? O isser?« Die gleißendweiße Flamme kam so schnell.
NEUN
Trooper James Duckbundy war ein Gesundheitsfanatiker, und darum liebte er es, mit offenem Fenster zu fahren. Trooper Roger Ellis hätte sich gern mit General-Motors-Luft zufriedengegeben, aber diesmal saß Duckbundy am Steuer, also hatte er zu bestimmen. Sie fuhren nach Pooley, weil irgendein alter Knacker angerufen und gesagt hatte, er habe seine Pistole verlegt. Beide Trooper wussten, dass jeder Bürger das Recht hatte, eine Waffe zu tragen und so weiter, doch sie waren der festen Überzeugung, dass es in der Welt sicherer zugehen würde, wenn Idioten nicht bewaffnet wären. Sie konnten verstehen, dass jemand – ganz gleich, welchen Alters – mal seine Wagenschlüssel oder seine Uhr verlegte, aber seine Waffe? Das war genau die Sorte von Leuten, die ihrer Meinung nach besser gar keine Waffe haben sollten. Von allen verschlafenen Ortschaften dieser Welt musste Pooley eine der verschlafensten sein. Als sie dort ankamen, sahen sie wenige Lichter und gar keinen Verkehr, und Duckbundy parkte vor der angegebenen Adresse, einem kleinen Haus, das beleuchtet war wie ein Weihnachtsbaum, dem einzigen Haus in ganz Pooley, in dem drinnen wie draußen anscheinend jedes einzelne Licht angeschaltet worden war. Dass er seine Pistole nicht mehr fand, schien den Besitzer nervös gemacht zu haben. Weil Duckbundy ein Gesundheitsfanatiker war und sein
Fenster geöffnet hatte, hörten sie, noch bevor er den Motor abgestellt hatte, den flachen, humorlosen Knall eines Schusses. Er kam von weiter vorn, auf der anderen Straßenseite. Sie sahen einander an. »Das war keine Pistole«, sagte Ellis. »Und Applaus war’s auch nicht«, sagte Duckbundy und stellte die Automatik wieder auf Fahrt. Während sie langsam die Straße entlangfuhren, hörten sie keine weiteren Schüsse, aber das machte nichts. Eine Schusswaffe im Abstand von weniger als hundertfünfzig Metern von einem Haus abzufeuern, ist ein Verbrechen, und ein Schuss reicht. Sie fuhren im Schrittempo und musterten die Häuser zu ihrer Linken, bis Ellis sagte: »Da drüben bewegt sich was.« Dort stand ein mit Brettern vernageltes Haus, daneben war eine Einfahrt, an deren Ende ein Gebäude lag, das wie eine Garage aussah. Duckbundy bremste, drehte den Suchscheinwerfer nach links und schaltete ihn ein. In dem plötzlichen gleißenden Licht sahen sie einen Mann vor der Garage. Er hielt ein Gewehr in der Hand und stieg gerade in einen schwarzen Taurus. Auf dem Gewehrlauf glänzte etwas Feuchtes, als der Mann herumfuhr und in das Scheinwerferlicht starrte. Er umklammerte das Gewehr jetzt mit beiden Händen. Ellis hatte das Mikrofon in der Hand, als er ausstieg. »Polizei«, dröhnte es aus dem Lautsprecher auf dem Dach des Streifenwagens. »Bleiben Sie stehen, und legen Sie die Waffe auf den Boden.« Der Mann tat nichts dergleichen. Er schrie etwas, irgend etwas Unzusammenhängendes, und dann hob er das Gewehr. Die beiden Polizisten feuerten elf Schüsse ab. Drei hätten gereicht.
ZEHN
Was für einen Namen gibt man einem Papagei? Muss er mit einem P anfangen? Polly Papagei. Papageno Papagei. Pistolero Papagei – nicht gut. Piepen Papagei. An diesem Abend herrschte weniger Verkehr, und es gab weniger Straßensperren. Tom hatte den Eindruck, dass die Polizei nicht mehr glaubte, die Flüchtigen eingekreist zu haben, und nur noch den Schein wahrte. Wie wollte Ed zur Rennbahn kommen, ohne Wagen oder Komplizen? Oder hatte er, während Tom fort gewesen war, mit jemandem telefoniert und sich verabredet, womöglich mit einem anderen Profi, einem anderen hartgesottenen Kerl, der mit ihm zur Rennbahn fahren und bei dem Raub helfen würde? Um dabei was einzusacken? Toms Anteil natürlich. Er konnte noch immer an irgendeiner geöffneten Tankstelle halten, die Polizei anrufen und ihnen sagen, wo sie einen der Gesuchten finden würden. Es sei denn, Ed hätte unmittelbar nach Tom das Haus verlassen. Aber das spielte keine Rolle; er würde nicht halten. Es war zu spät, um irgend etwas zu ändern, zu spät, um sich für etwas anderes als dies zu entscheiden. Im Rückspiegel tauchten verschiedene Wagen auf, und einige überholten ihn, weil er wegen all dieser sorgenvollen Gedanken nicht mit seiner normalen Geschwindigkeit fuhr, sondern etwa zehn bis zwanzig Stundenkilometer langsa-
mer. Eine Zeitlang folgte ihm ein grauer Volkswagen Jetta – irgend jemand, der genauso dahintrottelte wie er –, doch dann kam eine der wenigen Straßensperren, und nach diesem Halt war der Jetta verschwunden, und ein paar Kilometer lang blieb der Rückspiegel schwarz. Auf den Verkehr wurde er erst wieder aufmerksam, als ein Stück hinter ihm andere Scheinwerfer auftauchten, die sich rasch näherten. Der Fahrer war offenbar ein Raser, der für etwa einen Kilometer dicht auffuhr und dann, sobald die durchgezogene Mittellinie endete, mit aufheulendem Motor überholte. Im Scheinwerferlicht konnte Tom erkennen, dass es ein schwarzer Infiniti war, ein schnellerer, stärkerer Wagen als seiner, der bald außer Sicht war. Perry Papagei? Ed Papagei? Madonna Papagei? William G. Dodd Papagei? Und wenn er nun nicht kommt? Wenn ich, nach all den Vorbereitungen, dort warte und Ed Smith sich nie mehr sehen lässt? Wenn er so plötzlich aus meinem Leben verschwindet, wie er gekommen ist? Das wäre eine gewisse Erleichterung, aber Tom wusste, dass dies die falsche Frage war. Die richtige lautete: Wenn Ed Smith verschwunden blieb, konnte Tom es dann allein schaffen, konnte er mit beiden Reisetaschen nach Hause zurückkehren, konnte er die Rennbahn ganz allein ausrauben und die Beute in dem verlassenen Haus verstecken? Tom glaubte nicht daran. Er wusste genau, was er tun würde, wenn er an der Rennbahn länger als eine halbe Stunde warten und Ed nicht auftauchen würde. Er würde abhauen. Er war noch immer der Feigling, der er sein Leben lang gewesen war. Er brauchte Ed Smith, damit der ihm so was wie ein Rückgrat gab. Er hasste den Gedanken, dass er diesen Mann brauchte, doch er wusste, dass es die Wahrheit
war. Nicht einmal nach all dem, was gewesen war, würde er imstande sein, die Rennbahn allein auszurauben. Will ich, dass er kommt? Will ich, dass es jetzt Wirklichkeit wird, oder will ich bloß eine Ausrede, damit ich zurück zu meiner miesen kleinen Hütte fahren kann, um dort den Rest meines Lebens vor mich hin zu vegetieren? Was will ich, was will ich wirklich? Er wusste es ebenso wenig, wie er einen Namen für den Papagei wusste.
ELF
Suzanne erwachte davon, dass Steinchen an ihr Fenster prasselten. Sie war verärgert, sie wollte nicht aufwachen und dachte: Herrgott, wer will denn was von mir, um diese Uhrzeit? Wie spät ist es überhaupt? Nein, das sind keine Steinchen, da wird geschossen! Gewehre, Pistolen – da wird geschossen! Suzanne schlug die Augen auf und befand sich mitten in einem Albtraum. Anstatt in der stillen Dunkelheit ihres friedlichen Zimmers zu liegen, saß sie aufrecht in einem Raum voller strenger Winkel und Kanten, in dem Streifen grellen Lichts eine mit gedrängten Schemen angefüllte Schwärze durchschnitten. Oben Licht, unten Dunkel, Schwärze ringsum – ein Fenster? »Oh! Mein Gott, was ist –« »Still!« Ein weiterer Schock. Das war eine männliche Stimme, leise, intensiv, guttural und keineswegs freundlich. Sie ließ Suzanne verstummen, als hätte ihr jemand den Mund zugehalten, jedenfalls so lange, bis der scharfe Biss des Schnürsenkels in ihre Handgelenke die Erinnerung an den Schrek-ken und die Demütigung zurückbrachte. Wieso hatte sie nicht gleich gemerkt, dass der Mann der gesuchte Bankräuber war? Seit vielen Jahren nahm sie ganz selbstverständlich an, dass sie, während sie sich durch diese Welt bewegte, einfach ignoriert und schlecht oder unfair be-
handelt würde, so dass es ihr, als plötzlich ein Mann vor ihr stand, mit einer Pistole herumfuchtelte und andere Menschen fesselte, als wären sie politische Gefangene, um dann ohne ein Wort der Erklärung davonzumarschieren, irgendwie ganz normal vorkam – es war in gewisser Weise genau das, was sie ohnehin die ganze Zeit erwartete, auch wenn meistens nichts geschah, was auch nur entfernte Ähnlichkeit mit dieser Situation hatte. Und jetzt, da es geschehen war? Sie war ganz eingesponnen gewesen in ihr Gefühl, dass sie mal wieder schlecht behan-delt worden war, dass ihre Erwartungen sich erfüllt hatten, und es war ihr gar nicht in den Sinn gekommen, sich zu fragen, wer dieser Mann sein mochte oder warum er solche Dinge tat. In der ganzen Gegend wurde nach Bankräubern gesucht, aber hatte Suzanne, als es geschehen war, gedacht: Bankräuber? Nein, sie hatte gedacht: Siehst du, was sie mal wieder mit dir machen?, und ausgerechnet Brian Hopwood musste ihr sagen – und zwar mit nicht gerade sanften, einfühlsamen Worten –, dass es diesmal nicht um sie ging, sondern um ihn, den Mann, der sie beide gefesselt hatte und dann verschwunden war. Sobald Brian ihr erklärt hatte, was eigentlich los war, überfiel sie – etwas verspätet – ein Entsetzen, vermischt mit einem solchen Gefühl der Demütigung, dass die Anspannung sie in stundenlanges Schweigen verfallen ließ, weil sie fürchtete, sie könnte sich irgendwie noch mehr blamieren. Brian, der sowieso nie ein Wort sagte, schwieg ebenfalls, bis irgendwann, nach einer Gott weiß wie langen Zeit, das Telefon läutete und läutete und Brian schließlich sagte: »Ich hoffe bloß, das ist Edna, und ich hoffe, sie merkt, dass hier was faul ist.«
Doch dann hörte das Telefon auf zu läuten, und Brian sagte nichts mehr, und trotz ihrer unbequemen Lage, trotz ihrer Angst und Scham schlief Suzanne ein. Ja, tatsächlich! Und wachte irgendwann auf, weil draußen Schüsse fielen. Schluss jetzt. Wer schoss dort? War der Bankräuber zurück, hatte er beschlossen, sie doch noch zu töten? Aber es war so lange her, dass er gegangen war – da war es noch hell gewesen. Musste er, während Suzanne auf dem Boden von Brian Hopwoods schmutziger Tankstelle geschlafen hatte, nicht schon über alle Berge geflohen sein, musste er nicht schon längst tief in irgendeiner anderen Übeltat stecken? Sie versuchte es mit einem Flüstern. »Brian?« »Ja.« Barsch, aber nicht unfreundlich. »Brian, was passiert jetzt?« Sein Lachen klang bitter und ganz und gar nicht freundlich. »Tja, wir sind hier verschnürt wie zwei Weihnachtsgänse. Wir können überhaupt nichts machen, solange keiner beschließt, mal nach uns zu sehen.« »Aber da draußen wird geschossen. Brian? Wer schießt da?« »Woher soll ich das wissen?« Er klang jetzt regelrecht genervt. Sie suchte nach einer Möglichkeit, ihn zu beschwichtigen, und zugleich nach einem Ausweg aus ihrer misslichen Lage. »Wird Edna vielleicht kommen?« »Ich glaube nicht, dass sie vorhin angerufen hat.« Suzanne kam plötzlich ein Gedanke. »Es könnte Jack gewesen sein. Sie wissen schon, mein Großvater.« »Ich weiß, wer Jack ist«, sagte Brian recht gereizt. »Wird er kommen und Sie suchen?« »Nicht, wenn es dunkel ist.« »Na prima.«
Die Stille, die jetzt draußen herrschte, war schlimmer als die Schüsse – man wusste nicht, wo jemand war. Von plötzlicher Panik überkommen, flüsterte Suzanne schrill: »Brian, wir müssen hier raus!« »Nur zu!« Das klang sarkastisch, defätistisch und ohne ein Fünkchen Mitgefühl – unter anderen Umständen hätte sie Brian grob gefunden. Sie ignorierte es. »Nein, wirklich«, flüsterte sie. »Ich weiß, dass Sie sich mit dem Stuhl da nicht bewegen können –« »Allerdings.« »Aber ich kann mich bewegen.« »Sie sind an Händen und Füßen gefesselt.« »Aber ich kann mich bewegen. Wenn ich jetzt zu Ihnen käme und –« »Wie denn?« »Ich weiß nicht – kriechend oder robbend. Ist doch egal.« »Na gut«, sagte er. »Nehmen wir mal an, Sie wären hier.« »Ich hab die Knoten gemacht. Ich weiß, wie ich sie gemacht habe. Und ich glaube, ich könnte sie auch wieder aufmachen.« »Und wie wollen Sie an die Knoten rankommen?« Sie dachte nach. Jetzt, da sie wach war und wusste, wo sie sich befand, konnte sie das Büro klarer erkennen, auch wenn nur wenig Licht von draußen hereinschien, von den Zapfsäulen, dem Getränkeautomaten und den Straßenlaternen. Suzanne und Brian waren in der vorderen linken Ecke des Raums, wo niemand sie von draußen durch das Fenster sehen konnte. Der Stuhl, auf dem Brian saß, war mit Klebeband am Boden befestigt, und sonst gab es in ihrer unmittelbaren Nähe keine Möbelstücke. Jenseits des dunklen Durchgangs zur Werkstatt stand der Schreibtisch wie das soeben geräumte Hauptquartier einer geschlagenen Armee. Nein,
keiner geschlagenen Armee, eher schon einer versprengten Kompanie. Ein Küchenstuhl ohne Armlehnen stand an der gegenüberliegenden Wand – ein widerwilliges Zugeständnis an die Tatsache, dass eines Tages doch mal ein Kunde kommen könnte, der sich setzen wollte. »Hat der Stuhl da drüben Rollen?« »Nein, warum sollte er?« »Nur so eine Frage.« »Lassen Sie’s gut sein, Suzanne. Morgen früh werden sie –« »Ich kann nicht bis morgen warten«, sagte sie und merkte, dass das die Wahrheit war. Jetzt, da sie ganz wach war, musste sie auf die Toilette, und zwar bald. »Lassen Sie mich was probieren«, sagte sie, obwohl das Bedürfnis mit jeder Bewegung dringender wurde. »Was machen Sie denn?«, fragte er, gereizt wie immer, als sie sich über den Boden zu ihm schob. »Ich will bloß versuchen ...« Mit gefesselten Händen und Füßen konnte sie sich nur mit seltsamen kleinen Hüpfern fortbewegen, doch schon bald war sie, wo sie sein wollte: Sie saß mit dem Rücken zu Brian da, ihre gefesselten Hände waren an seinen Knöcheln und ihre gebeugten Schultern an seinen Schienbeinen. Erschöpft ruhte sie sich kurz aus, bis ihr bewusst wurde, dass ihr Kopf an Brians Oberschenkel lag und dass ihm das gar nicht gefiel. Also hob sie den Kopf, tastete hinter sich umher und fand schließlich ein Stück Klebeband, mit dem einer der Schraubenzieher befestigt war, die verhinderten, dass der Stuhl bewegt werden konnte. Brian schwieg wieder, und sie merkte, dass er den Kopf nach vorn beugte, um zu erkennen, was sie da machte und ob ihnen das irgend etwas helfen würde. Das Klebeband haftete
fest an dem Holzboden, doch Suzanne ertastete schließlich ein Ende, und es gelang ihr, es ein wenig abzulösen. Jetzt konnte sie das Band abziehen, und der Schraubenzieher gab ihr zusätzlich einen Hebel. Endlich flüsterte sie triumphierend: »Ich hab’s!« »Es ist mehr als eins«, sagte er. »Aber wenn alle weg sind, kann ich helfen.« Diese Verwandlung von jemandem, der sich ihr gegenüber gereizt, spöttisch und ungeduldig verhielt, in jemanden, der zu helfen versprach, war unvermittelt und blieb unkommentiert. Sie nahm das Angebot mit einem schlichten Nicken an und rutschte ein wenig rückwärts, bis sie ein weiteres Stück Klebeband ertasten konnte. Nun, da sie wusste, wie sie vorgehen musste, war der zweite Schraubenzieher leichter zu entfernen, und dann konnte Brian seinen Stuhl bewegen, wenn auch nur in winzigen Rucken, da seine Füße noch immer mit Klebeband gefesselt und an den Fuß des Stuhls gebunden waren. »Und jetzt?« fragte er. »Ich glaube nicht, dass ich mit dem Ding durch die Tür komme.« »Ich hole den anderen Stuhl her«, sagte sie. »Wenn ich es schaffe, mich darauf zu setzen, komme ich vielleicht an den Knoten an Ihren Handgelenken.« »Wozu soll das gut sein? Der sitzt schön fest, Suzanne, das kann ich Ihnen versichern.« »Ich hab ihn selbst gemacht«, sagte sie. »Wir wollen mal sehen, was ich tun kann.« »Wie Sie wollen«, antwortete er, klang aber nicht überzeugt. Das war ihr gleichgültig. Sie hatte sich in Bewegung gesetzt, sie war in Bewegung. Sie wälzte sich über den Boden, ihr wurde schwindlig, doch schließlich stieß sie gegen den
anderen Stuhl. Ihre mit dem Starterkabel gefesselten Beine waren lediglich zu wenig differenzierten Bewegungen imstande, aber es gelang ihr, den Stuhl mit den Füßen von der Wand und um den Schreibtisch herum zu bugsieren und in Brians Richtung zu schieben, der sich erstaunlicherweise große Mühe gab, ihr entgegenzukommen: Er wippte mit dem Oberkörper nach vorn, drückte die weißbestrumpften Zehen gegen den Boden und schob so den Stuhl auf seinen Rollen Zentimeter für Zentimeter aus der Ecke, so dass Suzanne ihn leichter erreichen konnte. Es war nicht schwer, die Stühle so in Position zu schieben, dass Brian ihr den Rücken zuwandte und Suzanne, wenn sie seitlich auf dem anderen Stuhl saß, mit den gefesselten Händen Brians Handgelenke erreichen konnte. Nein, die eigentliche Schwierigkeit bestand darin, irgendwie auf den Stuhl zu klettern. Sie schaffte es zwar, sich bäuchlings über die Sitzfläche zu legen, doch dann ging es nicht weiter, weil sie sich nirgends abstützen konnte. Schließlich stieß sie hervor: »Brian, Sie müssen mir helfen.« »Gern. Wie?« »Ich muss meinen Fuß zwischen Ihre Beine legen, und Sie müssen ihn festhalten. Ich kann mich auf diesem Stuhl nur aufrichten, wenn ich irgendwo einen Halt finde.« »Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich weiß nicht, was Sie vorhaben, aber von mir aus ... versuchen wir’s. Seien Sie nur um Gottes willen vorsichtig, Suzanne.« »Es wird ganz schnell gehen«, versprach sie. Es ging nicht schnell, und es tat ihr leid, ihn ächzen zu hören, als sie ihre rechte Ferse in seinen Schoß bohrte, doch sie brauchte diesen Hebel, um sich auf der Sitzfläche herumdrehen zu können, bis sie erst auf der Seite und dann auf dem Rücken lag. Schließlich konnte sie mit den Händen die
Streben der Stuhllehne packen und sich langsam in eine sitzende Position ziehen. »Geschafft!« »Herrje.« »Es tut mir leid, Brian. Können Sie sich ein bisschen von mir weg drehen?« »Kann ich.« Sie tastete, bis sie seine Hände mit den dicken Fingern, dann die Handgelenke und endlich den dünnen, festverknoteten Schnürsenkel fühlte. Ja, das war der Knoten, den sie gemacht hatte – ein guter Knoten, aber leicht zu öffnen, wenn man wusste, wie. Hier war eine Schlaufe, da war das lose Ende, und da... Brian fuhr zusammen, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen. »Was ist das? Moment mal! Meine Hände sind frei!« »Brian, bitte, bitte, machen Sie mir die Hände los, bitte, schnell!« »Ja, klar, ich muss nur erst ... Er hat’s uns nicht gerade leichtgemacht, dieser miese ... Da, na bitte!« »Gott sei Dank!« rief sie und beugte sich hinunter, um das Starterkabel abzuwickeln. Er mühte sich noch mit dem Klebeband ab, mit dem seine Füße gefesselt waren. Suzanne sprang auf und strich mit den Händen über die Wand. »Wo ist der Lichtschalter?« »Wir müssen vorsichtig sein, wenn wir rausgehen, Suzanne – wir wissen schließlich nicht, was da –« »Ich will ja gar nicht raus«, sagte sie und eilte durch den Durchgang in Richtung Werkstatt. »Ich will zur Toilette!« »Sie brauchen den Schlüssel!« rief er ihr nach.
ZWÖLF
Wo wollte Tom hin? Das ergab keinen Sinn. Gegen halb acht war der Geländewagen von der kleinen, umgebauten Garage, in der Tom wohnte, weggefahren, und zwar in südlicher Richtung. Cory und Cal waren ihm mit dem Volkswagen Jetta in einigem Abstand gefolgt, und eine Stunde später waren alle noch immer unterwegs, in südwestlicher Richtung quer durch den Bundesstaat New York, fort von Pooley und Massachusetts, wo der Banküberfall stattgefunden hatte, aus dem wohl Ed Smith’ Geld stammte. Wollten Tom und Smith das Geld holen? Was konnten sie sonst vorhaben? Cory wunderte sich immer mehr, was hier eigentlich los war, doch er sprach die Fragen, die ihm durch den Kopf gingen, lieber nicht aus, denn sonst würde Cal womöglich darauf dringen, irgend etwas Übereiltes zu tun, zum Beispiel den Wagen vor ihnen einfach zu rammen, nur um zu sehen, was dann passierte. Also behielt Cory seine Zweifel für sich und fuhr weiter, in der Hoffnung, dass diese Fahrt bald zu Ende sein würde. Cory hatte tatsächlich keine Mühe gehabt, sich den Jetta von seiner Schwester zu leihen. Sie hatte sich so gefreut, dass Cory vielleicht einen richtigen Job bekommen würde – womit sie einen Bürojob meinte, nicht die Fabrikarbeit, die Cory und Cal sonst immer machten –, dass er wegen seiner Lügengeschichte regelrecht Schuldgefühle hatte. Aber er redete sich ein, dass alles prima laufen und sie die Wahrheit nie er-
fahren werde, also brauchte er sich darüber auch nicht den Kopf zu zerbrechen. Ein bisschen besorgniserregend war – wenigstens anfangs, als Cory zu dem Schnellimbiss zurückgekehrt war –, dass Cal sich offenbar nicht, wie versprochen, auf Kaffee beschränkt hatte. Sein Bieratem war nicht so deutlich zu riechen, wie wenn sie nebeneinander im Pick-up gesessen hätten, aber dennoch unverkennbar. Cory hätte eine Bemerkung machen können, aber wozu? Cal hätte es einfach abgestritten, er hätte rundheraus gelogen und gewartet, bis die Frage sich irgendwie erledigt hätte. Das war Cals Art der Problemlösung. Und dabei war er nicht mal ein guter Lügner – er war im Grunde sogar ein verdammt schlechter, im Gegensatz zu Cory, dem es immer gelang, eine geschmeidige Plausibilität zu erzeugen –, aber wenn Cal seine Lüge erst mal ausgesprochen hatte, hielt er unbeirrbar daran fest, also wozu seinen Atem verschwenden? Anfangs, als sie in einer Einfahrt neben einem der verlassenen Häuser von Pooley Posten bezogen hatten – ein Stück von Toms Haus entfernt, weil es noch hell war –, war Cal angespannt und gereizt gewesen, weil er angetrunken war und wollte, dass jetzt gleich etwas passierte. Sein linkes, von der Augenklappe verdecktes Auge war untätig, aber das rechte starrte erregt, als wollte er durch Mauern und um Ecken spähen. »Wann setzen die denn endlich ihren Arsch in Bewegung?« »Wir warten’s einfach ab, dann sehen wir’s ja.« »Vielleicht sollte ich mal eine Peilung vornehmen.« »Nein, wir warten hier. Wenn sie irgendwohin fahren, kriegen wir es mit.« Dann musste Cal aussteigen und pinkeln, und das be-
ruhigte ihn ein bisschen, wenn auch nur für eine Weile. Noch dreimal wollte er hinübergehen und einen Blick durch Toms Fenster werfen, um zu sehen, was dort drinnen vor sich ging, und dreimal musste Cory ihn daran erinnern, dass die beiden früher oder später das Haus verlassen und auf die Straße einbiegen mussten. Wollte Cal vielleicht gerade mitten in Toms Einfahrt stehen, wenn sie herauskamen? Natürlich nicht. Wollte er, dass sie ihn sahen, wenn er durch das Fenster lugte? Absolut nicht. Ihre Theorie über die Pläne der beiden hatten sie schon mehrmals erörtert, doch Cal, der gelangweilt und zappelig im Wagen saß und darauf wartete, dass sich etwas tat, musste alles unbedingt noch einmal durchkauen. »Es geht jedenfalls um Geld, soviel ist sicher«, sagte er. »Alles andere wäre Quatsch. Tom würde sich nicht mit so einem Typ abgeben, ihn schützen und überall erzählen, dass er ein ehemaliger Kollege von ihm ist, wenn da nicht irgendwas für ihn rausspringen würde.« Cory nickte. »Das denken wir jedenfalls.« »Damit rechnen wir fest«, sagte Cal. »Irgendwo muss noch was von dieser Beute rumliegen, sonst würde Tom den Typ nicht verstecken. Ich meine, da geht er doch ein ganz schönes Risiko ein, Cory.« »Stimmt.« »Das ist der einzige Grund, warum er das macht: für die Kohle.« Cal lachte laut. »Ich weiß ja nicht, wie’s mit dir ist, Cory, aber ich könnte sie gut gebrauchen. War mir jedenfalls lieber als ein Job in dem College.« »Obwohl ich den auch ganz gern hätte«, gab Cory zu. Cal grinste ihn an und tätschelte ihm den Arm. »Du schaffst das schon«, sagte er. »Du bist der Schlaue von uns beiden.«
»Und du bist der Komische.« »Absolut. Ich könnte doch zur Telefonzelle gehen und mal da drüben anrufen, nur um zu sehen, was sie dann machen.« »Nein«, sagte Cory. »Ich will nicht, dass sie auch nur einen einzigen Gedanken an uns verschwenden oder denken, dass irgend jemand sich für sie interessiert, denn das könnte sie von dem abhalten, was sie tun wollen.« »Ja, kann sein.« »Denk dran: Ich bin der Schlaue von uns beiden.« Darüber musste Cal lachen, und das entspannte ihn ein wenig. Sie warteten in einträchtigem Schweigen. Nach und nach senkte sich der Abend herab, und genau als jenes trügerische Zwielicht herrschte, in dem man nur sehr schwer etwas erkennen kann, weil es weder Tag noch Nacht ist, schob sich Tom Lindahls Ford aus der Einfahrt, bog nach Süden ab und entfernte sich. »Da sind sie!« »Seh ich doch, Cal. Immer mit der Ruhe.« Cory wartete, bis der Ford beinahe außer Sichtweite war, dann ließ er den Motor des Jetta an und folgte ihm in gehörigem Abstand. Auf dem Beifahrersitz atmete Cal vernehmlich durch den Mund, zog das Hemd aus der Hose, griff darunter und holte eine recht kleine Pistole hervor, das High-Standard-GI-Modell, Kaliber .45. Cory starrte ihn an. »Was willst du denn damit?« Cal lachte. »Ohne so was sollte man nie aus dem Haus gehen.« Zuvor hatte er keinen betrunkenen Eindruck gemacht, doch jetzt, Stunden nachdem er das Bier getrunken hatte, umgab ihn, als er dasaß und in beiden Händen die Pistole hielt, plötzlich eine verschwommene Aggressivität. »Jetzt komm schon, Cal«, sagte Cory. »Du hast keinen Ton davon gesagt, dass du das Ding mitbringen willst.« Vor ihnen
fuhr Tom Lindahls Ford in einem stetigen, gemächlichen Tempo. Er war leicht zu verfolgen. »Tja, ich wusste genau, dass du was dagegen haben würdest, wenn ich es dir sage. Also hab ich beschlossen, sie einfach mitzunehmen und nichts zu sagen, damit’s keinen Streit gibt.« »Wenn die Bullen uns anhalten –« »Warum sollten die uns anhalten? Wir fahren« – Cal lehnte den Kopf an Corys Oberarm, so dass er mit dem rechten Auge den Tacho sehen konnte – »genau sechzig. Wer sollte uns anhalten?« »Cal, ich will das Ding nicht sehen.« »Du siehst es ja gar nicht.« Cal beugte sich vor, legte die Pistole auf den Boden und stellte den rechten Fuß darauf. »Siehst du? Sie ist einfach nur da.« »Ist sie wenigstens gesichert?« »Na klar. Was denkst du denn?« »Wenn wir mit den beiden reden«, sagte Cory, »dann fang bitte nicht an, damit herumzufuchteln.« »Er ist doch derjenige, der den Mund so vollnimmt, oder? ›Dann wärt ihr jetzt tot.‹ Ach ja, war ich das? Nein, wir haben unseren kleinen Freund hier, auf dem Boden, wo ihn keiner sieht und keiner an ihn denkt, und wenn es irgendwann heute abend nötig ist, eine Überraschung aus dem Hut zu zaubern, dann haben wir eine.« »Lass sie einfach da liegen«, sagte Cory. »Tu ich ja.« Irgendwie machte das Wissen um die Pistole seines Bruders im Wagen seiner Schwester Cory nervös, als hätte er irgendeinen schweren Fehler begangen. Cal hatte das verdammte Ding vor Jahren in einer Pfandleihe in Buffalo gekauft, ohne dass er hätte sagen können, warum eigentlich. Er
hatte die Pistole gesehen und haben wollen, das war alles. Im ersten Jahr hatte er sie ab und zu hervorgeholt, war in den Wald gegangen und hatte geübt, indem er auf Bäume oder Zaunpfosten geschossen hatte, aber dann hatte sie eigentlich nur noch in seinem Zimmer in irgendeiner Schublade gelegen und war praktisch vergessen gewesen. Cory hatte so lange nicht an sie gedacht, dass sie ihm, als Cal sie hier im Wagen plötzlich in der Hand hatte, wie etwas ganz Neues vorkam, wie eine Gila-Echse oder so. Na gut, sollte sie auf dem Boden liegen. Wenn Cal sich damit sicherer fühlte. Aber wenn es an der Zeit war auszusteigen, würde Cory dafür sorgen, dass die Pistole nicht ebenfalls ausstieg. Ein paar Kilometer weiter sahen sie die hellen roten und weißen Warnlichter der ersten Straßensperre an diesem Abend. Cory verlangsamte die Fahrt und sagte: »Schieb das Scheißding unter den Sitz.« »Okay.« Sogar Cal schien ein bisschen kleinlaut, als er sich vorbeugte und die Pistole versteckte. Cory fuhr so langsam, wie er es wagte, damit Tom die Straßensperre passieren konnte. Er kam neben dem wartenden Polizisten zum Stehen und griff nach seiner Brieftasche. Der Polizist hatte eine lange Taschenlampe, die er zunächst auf Cory und dann auf Cal richtete, ohne sie mit dem Strahl zu blenden. Er war der gelangweilteste Polizist, mit dem sie es bisher zu tun gehabt hatten, und studierte wortlos Corys Führerschein. Cal hatte das Handschuhfach geöffnet, doch der Beamte fragte nicht mal nach den Wagenpapieren, sondern reichte den Führerschein zurück und winkte sie mit der Taschenlampe weiter. Der Ford hatte keinen großen Vorsprung gewonnen und
fuhr noch immer gemächlich dahin, als hätte Tom es nicht besonders eilig, irgendwohin zu kommen. Als Cory ein wenig aufgeholt hatte und das Tempo verlangsamte, um denselben Abstand wie zuvor einzuhalten, sagte Cal: »Was ist da los, Cory? Macht er bloß eine kleine Spazierfahrt?« »Ich weiß auch nicht«, gab Cory zu. »Aber mir ist gerade eingefallen, in welche Richtung er fährt.« »Ach ja? Und zwar?« »In Richtung der Rennbahn, wo er mal gearbeitet hat.« »Was? Tom?« »Er hat da jahrelang gearbeitet, und dann haben sie ihn wegen irgendwas rausgeschmissen.« »Und warum sollte er jetzt da hinfahren?« »Ich weiß nicht, was die vorhaben«, sagte Cory. »Ich meine, da sind sie losgefahren, genau wie wir es uns gedacht haben, aber jetzt kapiere ich nicht, was das soll. Die führen uns jedenfalls nicht zu irgendwelchem Geld.« »Vielleicht hilft Tom dem Typ, von hier zu verschwinden.« »Mit sechzig Stundenkilometern? Außerdem hätte er das schon gestern nacht tun können. Oder heute.« »Fahr näher ran«, sagte Cal. »Mal sehen, was sie machen.« »Sie fahren«, sagte Cory. »Na los, Cory, fahr näher ran.« »Man kann nachts nicht in einen anderen Wagen sehen.« »Fahr näher ran, verdammt.« Cory verringerte den Abstand, ohne zu dicht aufzufahren, und so fuhren sie eine Weile dahin und dachten nach, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Dann sah Cory weiter vorn die Warnlichter der nächsten Straßensperre und sagte: »Wir müssen mehr Abstand halten«, und im selben Augenblick rief Cal: »Verdammt!« »Was?« Cory hatte den Fuß vom Gas genommen. Der Jetta
wurde langsamer, während der Ford sich auf die Sperre zubewegte. Die Bremslichter leuchteten noch nicht auf. »Er ist allein da drin!« »Was?« »Fahr rechts ran, fahr rechts ran, verdammt!« Rechts der Straße war eine geschlossene Tankstelle. Cory bog ab und ließ den Wagen an den Zapfsäulen vorbeirollen. »Wie meinst du das: ›Er ist allein da drin‹?« »Tom! Ich hab die Lichter der Straßensperre durch seine Windschutzscheibe gesehen, und er sitzt allein in der Scheißkarre! Hakan!« Cory bremste. »Wo ist er denn dann? Vielleicht liegt er auf der Rückbank.« »An einer Straßensperre? Er ist nicht da drin«, beharrte Cal. In diesem Augenblick fuhr plötzlich ein schwarzer Wagen dicht an ihnen vorbei und kam schräg vor dem Jetta zum Stehen. Cal starrte ihn mit einem Auge an. »Was ist das denn?« Der Fahrer stieg aus und sah sie über das Dach des Wagens hinweg an, und natürlich war es Ed Smith. Reflexartig legte Cory den Rückwärtsgang ein, als Smith einen Schritt zur Seite machte, als wollte er um seinen Wagen herum zu ihnen kommen und mit ihnen reden. Cal gab ihm keine Gelegenheit dazu. Er sprang aus dem Jetta, und als Cory sich nach rechts wandte, sah er, dass Cal die Pistole in der Hand hatte. Cory rief: »Nicht!«, aber Cal schrie Smith irgendeine Beschimpfung zu und hob die Hand, als wollte er auf ihn schießen, doch im selben Augenblick legte Smith die Hand, in der er etwas Kleines, Schwarzes hatte, auf das Wagendach, und das Ding hustete eine punktgroße rote Flamme hervor, und Cal stürzte hintenüber. Seine Pistole fiel auf den Betonboden der Tankstelle. Cory schrie und trat auf das Gaspedal. Der Jetta raste
rückwärts an den Zapfsäulen vorbei. Die offene Beifahrertür streifte sie beinahe und wedelte wild, als würde sie im nächsten Augenblick aus den Angeln reißen, bis Cory scharf bremste und die Tür zuschlug. Smith kam, die Hand mit der Waffe locker hängend, auf ihn zu. Cory riss das Lenkrad herum, schaltete in den Vorwärtsgang und raste in Richtung Norden davon, bis Cal und Smith und der Ford und die Straßensperre und alles andere im Rückspiegel immer kleiner wurden und schließlich verschwanden. Absolute Panik ließ ihn auf der leeren Straße vier oder fünf Minuten dahinrasen, bis vor ihm ein langsamerer Pick-up auftauchte und er vom Gas ging. Die Panik legte sich, er konnte wieder klarer denken. Er wusste, dass er umkehren und sich um Cal kümmern musste. Er war der jüngere, aber er war schon immer der gewesen, der seinen Kopf benutzte und Cals Blödsinn zwar mitmachte, ihnen beiden aber – manchmal – aus den Schwierigkeiten heraushalf, wenn die Dinge aus dem Ruder liefen. Cal war verletzt. Getroffen. Wie schlimm getroffen? Cory wendete und fuhr wieder nach Süden und hätte die Tankstelle verpasst, wenn er nicht die Straßensperre weiter vorn gesehen hätte. Aber da war sie, und Cory bog ein, fuhr an den Zapfsäulen vorbei, wo er vorhin gehalten hatte, und bremste. Smith und der schwarze Wagen waren verschwunden. Cory hatte Angst vor dem, was er finden würde. Er stieg aus dem Jetta und sah rechts vom Wagen nach. Cals Pistole lag dort, wo sie auf den Boden gefallen war, aber sonst war nichts zu sehen. Keine Spur von Cal. Cory stieg wieder ein, legte die Pistole auf den Beifahrersitz und fuhr hierhin und dorthin, so dass er mit Hilfe
der Scheinwerfer das ganze Tankstellengelände absuchen konnte. Er fand nichts. Im Büro brannte ein Nachtlicht. Cory stieg abermals aus und spähte durch die Fenster. Er suchte überall. Cal war verschwunden.
DREIZEHN
Robert Modale, Captain der Staatspolizei, betrachtete das Phantombild des Bankräubers, das, weil es in Brians Hopwoods Tankstelle in der Schublade gelegen hatte, ölverschmiert und zerknittert war, und jetzt, da er die Wahrheit kannte, sah er es: Das war das Gesicht des Mannes, mit dem er gestern erst auf dem Parkplatz in St. Stanislas gesprochen hatte. Sie hatten sich über Borreliose unterhalten, aber wer hätte geahnt, dass das der Gesuchte gewesen war? Die Verbrecher, mit denen man es gewöhnlich zu tun hatte, waren nicht so dreist. Captain Modale war ein ruhiger Mensch, der nicht zu Temperamentsausbrüchen neigte, aber selbst für ihn war dies ein außergewöhnlicher Augenblick. Ein unbeherrschterer Mann hätte vielleicht geflucht oder mit der Faust gegen die Wand geschlagen, doch Captain Modale biss sich lediglich auf die Lippen, blähte die Nasenflügel ein wenig, nickte dem Bild, das er in der ruhigen linken Hand hielt, zu und dachte: Nächstes Mal erkenne ich dich. In diesem Augenblick – um zehn vor neun am Sonntag abend – stand der Captain im hellerleuchteten Wohnzimmer eines alten Mannes namens Jack Riley, der seinen Revolver, einen Smith & Wesson Ranger, Kaliber .22, als gestohlen gemeldet und damit diese ganze Kette von Ereignissen in Gang gesetzt hatte. Riley hockte eifrig und mit glänzenden Augen auf der Kante seines Sessels, in dem er offenbar sonst immer
saß und das Programm in dem Fernsehapparat da drüben verfolgte. Seine Enkelin Suzanne Gilbert, eine gutaussehende, wenn auch etwas hemdsärmelig wirkende Frau, der es anscheinend nicht viel ausgemacht hatte, von dem Bankräuber recht grob angefasst und gefesselt worden zu sein, saß auf der Armlehne des Sessels und hatte ihrem Großvater beschützend den Arm um die Schultern gelegt. Brian Hopwood, der noch immer seine schmutzige Arbeitskleidung trug, stand neben dem Sofa und sprach durch Rileys Telefon mit seiner Frau, erklärte ihr, was geschehen war, und versicherte ihr womöglich, dass jetzt alles in Ordnung sei. Trooper Oskott hielt an der Haustür Wache. Alle warteten darauf, dass Captain Modale sich einen Überblick verschaffte und dann entschied, was als nächstes zu geschehen habe, aber bei Gott, hier war ein Haufen Zeug, über das er sich einen Überblick verschaffen musste. An dieser Sache waren, wie es dem Captain schien, zu viele Menschen beteiligt, und alle standen in Beziehung zueinander. Zunächst mal dieser Bankräuber, den alle hier als Ed Smith kannten – ein Name, der, nachdem der Captain ihn in den Computer im Streifenwagen eingegeben hatte, Tausende von Ergebnissen gebracht hatte, die allesamt kein Stück weiterzuführen schienen. Zunächst also mal dieser Mr. Ed Smith, der ganz gewiss nicht so hieß, aus praktischen Gründen aber fürs erste so heißen sollte. Welcher Art waren die Beziehungen zwischen Smith und den anderen Leuten in Pooley – nicht zu vergessen Fred Thiemann, diesem Burschen, den die Leute des Captains vorhin auf der anderen Straßenseite erschossen hatten – und wie fest waren sie, wie lange mochten sie schon bestehen? Trooper Oskott hatte ihn von der Kaserne nach Pooley gefahren, und er war in dieses Wohnzimmer gegangen, wo ihn
die Leute erwarteten, die von den beiden anderen Beamten, die Mr. Riley gerufen hatte, hierhergebeten worden waren. Der Captain hatte den gelben Notizblock auf den dunklen Sofatisch geworfen, um das Phantombild entgegenzunehmen, das Hopwood ihm unbedingt zeigen wollte, und jetzt saß er auf dem Sofa – vor ihm lag der Notizblock, Riley und diese Frau namens Gilbert saßen zu seiner Rechten, der Fernseher war zu seiner Linken, Hopwood stand ebenfalls links von ihm am Ende des Sofas – und zog einen Kugelschreiber aus der Tasche. Nachdem er das Phantombild unter den Block geschoben hatte, drückte er auf den Knopf, der die Mine ausfahren ließ, und sagte: »Ich möchte erst mal auf diesen Smith zu sprechen kommen und auf die Beziehung, in der sie alle zu ihm stehen.« Suzanne Gilbert sagte in einem Ton, als sei sie im Begriff, sich über diese Frage zu empören: »Beziehung? Keiner von uns stand in irgendeiner Beziehung zu ihm.« »Ich hab den Kerl ja nicht mal zu sehen gekriegt«, sagte Riley. Brian Hopwood, der soeben den Hörer aufgelegt hatte, zog den kleinen Stuhl heran, der neben dem Fernseher stand, und ließ sich so vorsichtig darauf nieder, als befürchte er, ihn schmutzig zu machen. »Ich hab ihn nur ein einziges Mal gesehen, nämlich heute nachmittag, als er bei mir getankt hat.« »Aber Sie haben ihn gleich erkannt.« »Nicht gleich. Aber ich hab darüber nachgedacht, und als er das zweite Mal reinkam, um sein Wechselgeld zu holen – er hatte das Geld, das er mir gegeben hatte, nicht ganz aufgebraucht –, da wusste ich, wer er war, und dann hab ich das Blödeste gemacht, was ich in meinem ganzen Leben gemacht hab.« »Sie haben genau das getan, was ein guter Bürger unter
diesen Umständen tun sollte«, sagte der Captain, obwohl er es selbst nicht glaubte. Hopwood glaubte es ebenfalls nicht. »Ein guter Bürger, der Sehnsucht hat zu sterben«, lautete seine Vermutung. Der Captain beschloss, nicht weiter darauf einzugehen. An die anderen gewandt sagte er: »Dann hatte bis heute also niemand von Ihnen mit diesem Mann zu tun.« Widerwillig, wie es schien, als nähme sie noch immer Anstoß an dem Wort »Beziehung«, sagte Suzanne Gilbert: »Na ja ... ich hab ihn gestern nacht gesehen.« »Aha«, sagte der Captain und verbarg seine Überraschung. »Und wo haben Sie ihn gesehen?« »Da draußen«, sagte sie und nickte in Richtung des Fensters zur Straße. »Ich bin vorbeigefahren, und er ging an der Straße entlang. Hier sieht man normalerweise keine Leute herumlaufen.« »Nein«, stimmte der Captain ihr zu. »Und Sie waren zufällig hier?« »Nein, ich fahre oft nach der Arbeit hier vorbei«, sagte sie, als hätte er ihr etwas vorgeworfen, das sie entschieden zurückweisen musste. »Wenn Jack mit mir sprechen will, schaltet er das Verandalicht ein.« »Aha. Und war das Verandalicht eingeschaltet?« »Nein, war es nicht.« »Ich war vor dem verdammten Fernseher eingeschlafen«, sagte Riley. »Wieder mal.« »Und da haben Sie also diesen Mann gesehen«, sagte der Captain. »Er ging einfach die Straße entlang, sagen Sie.« »Ja. Das fand ich seltsam, also hab ich angehalten und ihn gefragt, ob ich ihm helfen kann, und er sagte, er sei bei Tom Lindahl zu Besuch –« »Dem Mann, dessen Papagei erschossen worden ist.«
Sie sah ihn ausdruckslos an. »Wie bitte?« Diese Leute wussten also noch nichts davon. »Nichts«, sagte der Captain, um nicht abzulenken. Aber Hopwood sagte: »Jemand hat einen Papagei erschossen?« »Tom Lindahls Papagei.« »Ich wusste gar nicht, dass er einen hatte«, sagte Hopwood. »Warum sollte einer einen Papagei erschießen?« »Damit er nicht redet«, sagte Riley und lachte gackernd. »Jack!« sagte seine Enkelin tadelnd und rüttelte ihn zurechtweisend an der Schulter. »Zurück zu Ihnen«, sagte der Captain zu ihr. »Der Mann, mit dem Sie gestern nacht gesprochen haben, sagte also, er sei bei Tom Lindahl zu Besuch.« »Ja.« Sie machte ein verwirrtes Gesicht und fügte hinzu: »Da dachte ich, es ist alles in Ordnung.« »An der Tankstelle hatte er Toms Wagen«, sagte Hopwood. »Den kenne ich.« Suzanne Gilbert sagte: »Hat er Tom auch was getan?« »Das wissen wir nicht, Ma’am«, sagte der Captain. »Lindahl ist nicht zu Hause, und sein Wagen ist auch weg.« »Der Kerl hat Jeff Egglestons Wagen geklaut«, sagte Hopwood. »Der stand bei mir, an der Tankstelle.« »Den schwarzen Infiniti«, sagte der Captain. »Ja, ich weiß – wir fahnden nach ihm.« »Ich will damit sagen«, warf Hopwood ein, »wenn er Jeffs Wagen hat, kann er nicht Toms Wagen haben. Man kann schließlich nur einen Wagen fahren.« »Dann müssen wir also annehmen«, sagte der Captain, »dass Lindahl mit seinem eigenen Wagen unterwegs ist. Hat irgendjemand eine Ahnung, wohin er gefahren sein könnte?« »Nirgendwohin«, sagte Hopwood, und Suzanne Gilbert
sagte: »Als ich gestern mit dem Mann gesprochen habe, hat er gesagt, dass Tom Lindahl ein Einsiedler ist. Und ich glaube, das stimmt.« Der Captain hielt inne und überlegte, welche Frage ihn in diesem Problem weiterbringen würde, und in der kurzen Stille, die eintrat, läutete die Türglocke und ließ alle zusammenzucken. Der Captain sagte: »Trooper Oskott, bitte sehen Sie mal nach.« Der Trooper ging zur Tür, öffnete sie und sprach kurz mit jemandem auf der Veranda. Dann drehte er sich um und sagte: »Jemand für Sie, Captain.« »Danke.« Der Captain erhob sich und sagte zu den anderen: »Ich glaube, wir sind gleich fertig. Lassen Sie mich nachsehen, was es gibt.« »Ich würde gern nach Hause gehen«, sagte Hopwood. »Kann ich mir vorstellen«, sagte der Captain und trat auf die Veranda, wo ein in Zivil gekleideter Inspektor der Staatspolizei namens Harrison ihn erwartete und fragte: »Wie läuft’s?« »Ziemlich verwirrend.« »Vielleicht hilft das hier ein bisschen: Mrs. Thiemann hat eine Aussage gemacht.« »Ja?« »Sie sagt, ihr Mann war einer von denen, die gestern nach den flüchtigen Bankräubern gesucht haben.« »Ich hab sie gesehen«, sagte der Captain. »Er war mit dem verschwundenen Lindahl und dem Burschen zusammen, den alle Smith nennen.« »Sie sagt, ihr Mann hat gesagt, dass sie rauf zum Wolf Peak gefahren sind.« »Stimmt.« »Und dass ihr Mann dort oben einen Mann erschossen hat.«
Der Captain konnte seine Verblüffung nicht verbergen. »Er hat was?« »Irgendeinen alten Säufer, einen Penner oder so.« Harrison zuckte die Schultern. »Thiemann war aufgeregt – er dachte, es wäre einer der Bankräuber, und dann hat er ihn erschossen.« »Ich verstehe das alles nicht«, sagte der Captain. »Der eine ist ein Bankräuber, der andere erschießt plötzlich einen Menschen – und einen Papagei –, und der dritte, der sein Leben lang ein ganz normaler, unauffälliger Mensch war, ist auf einmal verschwunden.« »Die Sache ist die«, sagte Harrison. »Thiemann wollte sich stellen, aber Smith hat es ihm ausgeredet. Er hat gesagt, das wäre das Beste für ihn.« »Es war das Beste für Smith.« »Ja, klar. Aber Thiemann hat es nicht ausgehalten. Seine Frau sagt, es hat ihn wahnsinnig gemacht.« Der Captain sah über die Straße. »Also ist er hergefahren, um mit Smith abzurechnen. Aber es war keiner da.« »Da hat Lindahl Schwein gehabt«, sagte Harrison und korrigierte sich: »Da hat irgendwer Schwein gehabt.« »Dieser Smith«, sagte der Captain, »raubt in Massachusetts eine Bank aus, kann fliehen, schafft es bis hierher, tut sich mit zwei anderen Leuten zusammen, mit ganz normalen Leuten, und plötzlich spielen alle verrückt.« »Glauben Sie, er hat irgendwas mit ihnen angestellt?« »Ich weiß es wirklich nicht«, sagte der Captain und sah von der beleuchteten Veranda auf die dunkle Straße. »Und wir werden erst erfahren, was hier wirklich los war«, fuhr er fort, »wenn Tom Lindahl es uns erzählt. Ich wollte, wir hätten ihn hier.« Er nickte in die Dunkelheit. »Ja, Lindahl«, sagte er, »ich würde wirklich zu gern wissen, wo Sie sind.«
VIERZEHN
Gegen halb zehn gähnte Bill Henry, reckte sich und schob den Stuhl von dem Schreibtisch zurück, auf dem die neueste Ausgabe von Angeln und Jagen schon seit einiger Zeit aufgeschlagen, aber ungelesen lag. Er stand auf, gähnte noch einmal und sagte: »Ich glaube, ich werde mal ein bisschen herumlaufen.« Max Evanson, mit dem er gewöhnlich die Nachtschicht hatte, sah etwas überrascht von seiner Zeitschrift auf und fragte: »Herumlaufen? Wo denn?« »Auf der Rennbahn. Im Gebäude. Einfach ein paar Schritte machen.« Max verstand noch immer nicht. Er war ein eher konservativer Typ, der, wie er mehr als einmal gesagt hatte, nur an Dinge glaubte, die »Hand und Fuß« hatten. Er sah keinen Grund, warum Bill oder er selbst oder sonst jemand, der auf der Gro-More-Rennbahn Nachtdienst machte, vor Ablauf der Schicht von seinem bequemen Stuhl im Wachraum aufstehen sollte. »Du willst auf der Rennbahn herumlaufen?« sagte er. »Die ist zweieinhalb, drei Kilometer lang.« »Ich will doch nicht auf der Bahn laufen«, sagte Bill. »Das meine ich nicht. Schau mal, Max, Mitte nächsten Monats bin ich hier raus, gerade rechtzeitig zu Thanksgiving, und da sehe ich diesen Laden eben mit anderen Augen, verstehst du?« »Nein«, sagte Max.
»Ich arbeite jetzt seit siebenunddreißig Jahren hier«, sagte Bill. »Die letzten fünf davon in diesem blöden Wachraum, und ziemlich bald werde ich überhaupt nicht mehr hier arbeiten.« »Ich bin vierzehn Monate nach dir dran«, sagte Max. Es klang wie ein Gebet. »Na, dann wird’s dir in vierzehn Monaten genauso gehen wie mir«, versicherte ihm Bill. »Und zwar wie?« Die Skepsis in Max’ Stimme war nicht zu überhören. »Du wirst dich nicht direkt danach sehnen, aber –« »Sehnen? Nach diesem Ding hier? Die Leute, denen der Laden gehört –« »Nein, nicht sehnen«, beharrte Bill. »Es ist nur ... Wenn man so viel Zeit seines Lebens an einem bestimmten Ort verbracht hat und weiß, dass man bald nicht mehr dort sein wird, dann heißt das nicht unbedingt, dass einem was fehlen wird, aber man will sich doch alles genau einprägen.« »Ich hab’s mir eingeprägt«, versicherte ihm Max. »Tja, ich werde also mal ein bisschen herumlaufen«, sagte Bill. »Pass schön auf.« »Mhh«, sagte Max. Um die behördlichen Auflagen und die Bedingungen der Versicherungen zu erfüllen, war seit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg eine externe Firma für den Schutz der Gro-MoreRennbahn zuständig. Die Rennbahn hatte einen Vertrag über sämtliche Sicherheitsmaßnahmen – vom Aufsichtspersonal bis hin zu Überwachungskameras – mit der Firma abgeschlossen, deren Angestellte in den Genuss derselben, nicht besonders guten Kranken- und Rentenversicherung kamen wie die Angestellten der Rennbahn.
Den größten Teil seiner siebenunddreißig Jahre hatte Bill Henry als Aufsicht am Eingang gearbeitet, und das hatte ihm gefallen. Es war angenehm, an der frischen Luft zu sein, und außerdem interessanter, als, wie es gelegentlich vorkam, in Uniform vor den Schaltern des Wettbüros stehen zu müssen, mit dem Revolver im Halfter und strengem Gesicht – als bestünde auch nur entfernt die Gefahr, dass einer der Wetter plötzlich eine Waffe hervorzog und einen Überfall versuchte. So was kam nicht vor. Wenn ein Wachmann sich dem Rentenalter näherte und trotz der braunen Uniform und des Revolvers nicht mehr abschreckend genug wirkte, versetzte man ihn zum Nachtdienst. Es war ein einfacher, leichter Job, sofern man, wie die meisten Wachleute, gern las. Eine kurze Arbeitswoche mit reduziertem Lohn, aber die Rente war in Sicht, und darum war das eigentlich kein Problem. Teile des Gebäudes waren nachts verschlossen, zum Beispiel der Saferaum im Keller und die Kasse im ersten Stock, aber sonst war fast alles innerhalb des Begrenzungszauns zugänglich und mit der feuerpolizeilich vorgeschriebenen Notbeleuchtung versehen. Bill verließ den Wachraum und ging erst durch den Korridor, vorbei an anderen Büroräumen, und schließlich hinaus und nach rechts zu der Absperrung nahe der Ziellinie. Die Hauptbahn war ein langes, sich nach links und rechts erstreckendes und von trüben Lichtern beleuchtetes Oval, innerhalb dessen die etwas kleinere Grasbahn wie ein grüner Fluss lag, der den in einem anderen Grünton schimmernden Kern des Ovals umschloss. Dieser war mit einem verzierten Brunnen und mehrjährigen Blumen geschmückt, die um diese Jahreszeit langsam verblühten. Nachts, wenn alles menschenleer war, wirkte die Bahn
viel größer als bei Tag, als könnte man sie wahrscheinlich sogar vom Mond aus sehen, obwohl das, wie Bill wusste, unmöglich war. Ihm gefiel diese Größe und Leere und die Tatsache, dass es hier, trotz all dieser Weite, nie ein Echo gab. Es war, als saugte die Bahn alle Geräusche auf, so dass die ganze Szenerie ruhig und zeitlos und auch ein bisschen unheimlich wirkte. Er wandte sich nach links und ging an der Absperrung entlang in Richtung Kurve, wo er den Weg zu den Ställen einschlagen konnte, wenn ihm danach war, doch das würde er heute wohl nicht tun. Es waren immer ein paar Pferdeknechte und Trainerassistenten da, die dort auf Feldbetten oder in Schlafsäcken übernachteten, weil es mit dem einen oder anderen Pferd irgendein Problem gab, und diese Leute sahen es nicht gern, wenn man dort herumging und die Tiere nervös machte. Bill spazierte zum Ende des Clubhauses und der Tribüne, die beide ein einziges Gebäude bildeten, und bemerkte dabei den Lichtschimmer von Scheinwerfern, die über den weißen, das ganze Gelände umgebenden Holzzaun strichen. Scheinwerfer? Sie waren außerhalb, so dass er nur einen Widerschein über dem Zaun sehen konnte, und als er stehenblieb und diese unerwartete Erscheinung stirnrunzelnd musterte, erlosch das Licht. Was hatte dort ein Licht zu suchen? Nachts sollte in dem Bereich jenseits des Zauns eigentlich niemand sein. Es war etwa da, wo der Zufahrtsweg für die Lieferanten endete, an der Stirnseite des Clubhauses, und wenn die Rennbahn geschlossen war, gab es überhaupt keinen Grund für irgendwelchen Autoverkehr auf diesem Weg. Es sei denn, irgendjemand wollte den Pferden was tun. Wie es so was geben konnte, hatte Bill noch nie verstan-
den, aber es gab eben kranke Menschen, die gern Pferde verstümmelten. Die sie mit Äxten, Messern oder Flaschen voller Säure angriffen. Warum taten Menschen so etwas? Sie wurden doch jedesmal geschnappt, blutverschmiert und sabbernd, und jedes-mal in eine Klapsmühle gesperrt, und nie gab es irgendeine Erklärung. Was immer schiefgelaufen war in einem solchen Leben, in einem solchen Kopf – warum ließen diese Leute es an Pferden aus? War es heute nacht mal wieder soweit? Bill wusste, dass es in erster Linie diese Verrückten waren, die seinen Job als Nachtwächter auf der Rennbahn notwendig machten – sie und das ständige Risiko, dass ein Feuer ausbrach. War es also das, was er hier entdeckt hatte: irgendeinen Verrückten mit einer Motorsäge? War er im Begriff, ein Held zu werden, ob er es nun wollte oder nicht? Es würde wohl das beste sein, ins Clubhaus zurückzukehren und ein Fenster zu suchen, durch das er einen Blick auf den Zufahrtsweg werfen konnte. Mal sehen, was dort draußen war. Konnte ja nicht schaden.
FÜNFZEHN
Tom Lindahl fuhr nicht nur am Haupteingang der Rennbahn mit den stilisierten Bullen rechts und links des Tors vorbei, sondern auch an dem Zufahrtsweg, der nur an dem Sackgassenschild zu erkennen war und dem er bis zur Stirnseite des Clubhauses hätte folgen sollen. Er fuhr einfach weiter. Ein, zwei Kilometer lang dachte er nicht einmal darüber nach, was er eigentlich tat, sondern fuhr, als wäre das seine einzige Absicht: endlos, ziellos dahinzufahren. Es war leicht, es war tröstlich, und es war vollkommen sinnlos. Nach ein paar Kilometern kam er ein wenig zur Besinnung, genug, um zu begreifen, dass die Sache nicht funktionieren würde. Während der langen Fahrt hierher hatte er Ed Smith nirgends gesehen. Er war zu der Überzeugung gekommen, dass er ihn nie Wiedersehen würde, aber das bedeutete nicht, dass er einfach immer weiterfahren konnte. Wohin denn? Wozu denn? Ich kann nicht zurück, dachte er zum allererstenmal. Es war ein beängstigender Gedanke. Er war auf einer dunklen Landstraße und fuhr auf eine Kreuzung zu, an der ein hellerleuchteter Schnellimbiss stand. Er weigerte sich, etwas zu denken, biss die Zähne zusammen, um den Ansturm der Gedanken zurückzuhalten, und fuhr, bis er den Schnellimbiss erreicht hatte, wo er auf den Parkplatz einbog, im Halbdunkel hinter dem Gebäude anhielt, das Fenster öffnete und den Motor abstellte. Dann sank er auf dem Sitz zusam-
men und starrte auf die Rückseite des Hauses, den Müllcontainer und die mit Fliegengitter bespannte Tür, hinter der das blendendhelle Küchenlicht brannte. Ich kann nicht dorthin zurück. Er meinte Pooley, er meinte die kleine, umgebaute Garage, in der er gewohnt hatte, er meinte sein ganzes Leben. Er dachte nicht: Ich kann nicht zurück nach Hause. Das war kein Zuhause, er hatte seit Jahren kein Zuhause mehr. Nein, es war der Ort, wo er kampiert hatte, wo er darauf gewartet hatte, dass etwas passierte, obwohl dort, bis Smith aufgetaucht war, nie irgend etwas passiert wäre, außer dass er eines Tages aufgehört hätte zu warten. Aber Smith war aufgetaucht und hatte die Dinge ins Rollen gebracht. Tom war ihm begegnet, hatte sich mit ihm zusammengetan, hatte ihm von der Rennbahn erzählt, weil er gedacht hatte, er wolle Geld und Rache – aber da hatte er sich getäuscht. Was er in Wirklichkeit gewollt hatte, war eine Handgranate, die er mitten in sein leeres, unerträgliches Leben werfen konnte, und die hatte er ja nun weiß Gott gefunden. Er konnte nicht zurück, weil zu viele Leute ihn mit Smith gesehen hatten, und wer Smith war, würde so oder so herauskommen. Wenn sie diesen Raub durchzogen, würde die Aufmerksamkeit der Polizei sich automatisch auf Tom Lindahl richten, und zwar einfach deshalb, weil er ein ehemaliger Mitarbeiter mit einem Hass auf die Geschäftsleitung war, und was würde sie dann finden? Den mysteriösen Ed Smith, der genau im rechten Augenblick aufgetaucht und wieder verschwunden war. Aber selbst ohne den Raub – wie lange würde Ed Smith’ Identität verborgen bleiben? Fred Thiemann hatte einen Verdacht und wusste nur noch nicht so recht, welchen. Jane, Freds Frau, war schlauer und hartnäckiger als Fred, und wenn
sie erst einmal anfing, sich Gedanken über Smith zu machen, würde das Versteckspiel bald vorbei sein. Und steckten nicht auch Cal und Cory Dennison ihre Nasen in alles mögliche? Tom blieb also nichts anderes übrig, als zu tun, was er instinktiv tun wollte: einfach weiterfahren, immer Richtung Süden, und versuchen, jemand anders zu werden, jemand anders an einem anderen Ort. Smith hatte gesagt, heutzutage sei es unmöglich, einfach so zu verschwinden, aber das konnte nicht stimmen. Immer wieder verschwanden Leute. Und weiß Gott, es gab nichts, was Tom Lindahl sich sehnlicher wünschte, als zu verschwinden. Die einzige Frage war: Sollte er zurück zur Rennbahn fahren, um zu sehen, ob Smith dort auftauchte? Er wusste, ohne Smith würde er heute abend keinen Raub durchziehen – er würde das Clubhaus nicht betreten, er würde nicht mal aus dem Wagen steigen. Aber er sollte wenigstens zurückfahren und einen letzten Blick auf die Rennbahn werfen, bevor er mit diesem Teil seines Lebens abschloss. Er würde Smith eine halbe Stunde geben, und dann würde er davonfahren und nie mehr Tom Lindahl sein. Sobald er diesen Entschluss gefasst hatte, war es ganz leicht – als wäre es immer schon leicht gewesen; er war einfach zu nah dran gewesen, um den Weg zu erkennen. Jetzt sah er ihn. Er ließ den Motor an und fuhr zurück bis zu dem Zufahrtsweg mit dem Sackgassenschild, und diesmal bog er ein. Er folgte dem Weg um die Rechtskurve zum Maschendrahtzaun, blieb vor dem Tor stehen, stieg aber nicht aus, sondern sah durch den Zaun zum Clubhaus und schaltete nach einer Weile die Scheinwerfer aus. Er brauchte sie nicht – er wusste ja, wo er war. Im Dunkeln neben Toms offenem Fenster sagte Smith: »Na, dann wollen wir mal.«
TEIL VIER
EINS
Parker sah, dass der graue Volkswagen Jetta Pooley hinter Toms Geländewagen verließ, und folgte ihm in dem Infiniti von Brian Hopwoods Tankstelle. Die beste Gelegenheit, sich mit dem Jetta und den beiden darin zu befassen, kam kurz vor der zweiten Straßensperre, als der Volkswagen zu einer geschlossenen Tankstelle abbog. Parker hielt neben dem Wagen. Er wollte mit den Brüdern reden und sehen, was er tun musste, um sie loszuwerden – vielleicht die Reifen zerschießen oder die Zündung lahmlegen, irgendwas jedenfalls, das ihnen genug Angst machte –, aber bevor er ein Wort sagen konnte, sprang dieser Idiot Cal aus dem Jetta und schwenkte eine Kanone, und Parker legte ihn um. Der andere hatte dann auch die Hosen voll und zischte davon wie ein Wassertropfen in einer heißen Bratpfanne, aber Parker wusste, dass er zurückkommen würde. Es war Corys Lebensaufgabe, seinem blöderen, verrückteren Bruder zu helfen, und darum würde er, sobald seine Angst nachgelassen hatte, zur Tankstelle zurückkehren. Das einzige Problem war die Leiche. Ohne die Leiche würde Cory die Polizisten, die an der Straßensperre standen, zu weit entfernt, um den trockenen Knall des Schusses zu hören, nicht alarmieren können. Die Polizisten langweilten sich, sie waren weniger überzeugt denn je, dass sie hier irgend etwas Hilfreiches finden würden, und sie durchsuchten auch keine Wagen mehr, nicht mal Wagen, in denen zwei
Männer saßen, und so lud Parker die Leiche in den Kofferraum und passierte ohne Probleme die Straßensperre, indem er die Wagenpapiere, die er in der Mappe mit der Betriebsanleitung gefunden hatte, und William G. Dodds Führerschein vorzeigte. Er warf die Leiche ein paar Kilometer weiter, wo die Straße still, dunkel und leer dalag und weit und breit kein Haus zu sehen war, die Böschung hinunter, an deren Fuß er einen unsichtbaren Bach munter plätschern hörte. Kurz darauf hatte er Toms Geländewagen, der noch immer zwanzig Kilometer unter der erlaubten Höchstgeschwindigkeit dahintrottelte, eingeholt. Er überholte ihn, sobald sich eine Gelegenheit dazu bot, und fuhr zur Rennbahn, wo er den Infiniti links des Weges vor dem Zaun parkte, und zwar so, dass die Schnauze zum Tor zeigte. Dann stellte er den Motor ab, schaltete die Innenraumbeleuchtung aus, so dass sie auch dann nicht aufleuchtete, wenn er die Tür öffnete, und wartete. Tom brauchte länger, als er hätte brauchen dürfen. Hatte er die Nerven verloren? Wenn er einfach weitergefahren war, zu durchgedreht, um zu erkennen, was das Beste für ihn war, würde Parker nichts anderes übrigbleiben, als wegzufahren und die Sache mit der Rennbahn zu vergessen. Ohne Toms Schlüssel und Ortskenntnisse würde er es nicht schaffen, hineinzukommen. In diesem Fall würde er einfach die Nacht hindurch nach Süden fahren. Kein Geld von der Bank in Massachusetts und jetzt auch kein Geld von der Rennbahn. Am Morgen würde er von dort, wo immer er dann war, Ciaire anrufen, damit sie mit dem Wagen kam und ihn holte, und das wär’s dann. Er hatte sie schon zu lange nicht gesehen. Doch da kam Tom. Parker sah die Scheinwerfer, die sich
auf dem Zufahrtsweg näherten, und stieg aus dem Infiniti. Er ging langsam zu dem Tor, vor dem der Geländewagen zum Stehen kam, und sah im schwachen Licht der Armaturenbeleuchtung Toms Gesicht. Parker näherte sich der Fahrertür, deren Fenster geöffnet war. Tom saß einfach da und bemerkte Parker nicht, doch dann stellte er endlich den Motor ab, und in der Dunkelheit sagte Parker: »Na, dann wollen wir mal.«
ZWEI
Parker trug die Reisetaschen, die noch immer in ihren Plastikhüllen steckten, und folgte Lindahl, der dasselbe tat wie bei ihrem ersten Besuch: Er gab den Code in die Alarmanlage neben dem Tor ein, schloss auf und fuhr den Wagen vor die Tür des Käfigs an der Rampe, die hinunter zum Saferaum führte. Parker trat an den Wagen, als Lindahl ausstieg, zum Zaun sah und fragte: »Haben Sie da draußen einen Wagen?« »Dazu kommen wir später. Wir wollen jetzt schnell rein und wieder raus.« »Gut. Okay.« Wieder schloss Lindahl die Holztür auf und führte Parker auf demselben Weg wie zuvor durch das Gebäude. Diesmal stand in der Buchhaltung kein Teller mit Essensresten, den er vom Tisch hätte stoßen können, und von dem Schmutz, den sie beim erstenmal hinterlassen hatten, war keine Spur mehr zu sehen. Lindahl wartete, bis die Kamera im Korridor in die andere Richtung schwenkte, und dann gingen sie zu der Tür, die zum Treppenhaus führte. Im Keller drückte Lindahl das Gesicht an das kleine Fenster in der Tür, um zu sehen, in welche Richtung die Kamera gerade zeigte, und ging, den Schlüssel bereits in der Hand, zur Tür am Ende des Korridors. Wieder war es vollkommen dunkel, als sich die Tür hinter ihnen schloss. Parker wusste, dass Lindahl fürchtete, die Kamera draußen könnte das Licht unter der Tür durchschim-
mern sehen, und so wartete er im Dunkeln, die Reisetaschen in der Hand und einen Ellbogen gegen die geschlossene Tür gedrückt, um nicht die Orientierung zu verlieren. Er hörte das Schlurfen von Lindahls Füßen, als dieser sich vorsichtig auf die Tür zum Saferaum zubewegte. Es trat eine kleine Stille ein, dann wurde ein Schlüssel ins Schloss gesteckt und die Tür geöffnet, und schließlich flammte im Saferaum die Deckenbeleuchtung auf, so dass Parker den Vorraum, in dem er sich befand, sehen konnte: In der Ecke stand der Gabelstapler, und am anderen Ende sah er das fensterlose Garagentor. An diesem Abend standen zwei Paletten mit Geldkästen auf dem Boden. Ein nervöses Grinsen flackerte über Lindahls verängstigt wirkendes Gesicht, und er sagte: »Wir haben unser Geld verdoppelt, hm?« »Genau. Hier.« Parker reichte Lindahl eine der Taschen. Lindahl nahm sie und sagte: »Und wie sollen wir das jetzt machen?« »Wir öffnen die Kästen und packen das Geld in die Taschen. Lassen Sie die Einer und Fünfer liegen.« »Nein, ich habe gemeint: Wie teilen wir es auf?« Parker schüttelte den Kopf. »Wir teilen es nicht auf. Was in Ihrer Tasche ist, nehmen Sie mit.« »Gut.« Sie streiften die Plastikumhüllungen von den Taschen, als im Nachbarraum blendendhelles Licht aufflammte. Sie erstarrten und sahen einander an, und von nebenan ertönte eine Stimme: »Ist hier jemand?« Die Stimme sollte ruhig und fest klingen, doch sie zitterte ein wenig. Parker gab Lindahl seine Tasche und zeigte auf den Winkel hinter der offenen Tür, während er auf die Türöffnung zuging und rief: »Hallo? Wie komme ich hier raus?«
Hinter ihm ging Lindahl auf Zehenspitzen und mit kalkweißem Gesicht in die Ecke, und Parker trat in den Vorraum, wo er an der Tür, durch die sie gekommen waren, einen Mann in einer braunen Uniform sah. Er war groß, etwa eins fünfundneunzig, und früher war er sicher muskulös gewesen, doch jetzt war er älter, hatte seine Form verloren und zu lange ein bequemes Leben geführt. Im hellen Licht der Neonröhren verrieten die Augen und Wangenknochen Angst. Er trug einen Revolver, doch der war nicht in seiner Hand, sondern steckte im Halfter an der rechten Hüfte, und seine rechte Hand lag noch auf dem Lichtschalter neben der Tür. Er sah Parker an und legte die Hand auf den Revolvergriff, löste aber nicht den Sicherungsriemen. Ein tiefes Stirnrunzeln sollte seine Angst verbergen, als er sagte: »Was zum Teufel machen Sie denn hier?« »Ich suche den Ausgang.« Parker sah über die Schulter zum Saferaum. »Wo bin ich eigentlich?« »Was soll das heißen: ›Ich suche den Ausgang«?« Der Wachmann spürte, dass keine Gefahr drohte, und entschied sich für jene distanzierte Barschheit, die im Umgang mit Zivilisten vermutlich schon immer seine Taktik gewesen war. Parker breitete die Hände aus. »Hier ist alles zu. Ich komme nicht raus aus diesem verdammten Kasten.« »Die Tür da ist immer abgeschlossen«, sagte der Wachmann und wies mit dem Kinn auf den Saferaum. »Nein, die war nicht abgeschlossen«, sagte Parker. »Ich hab Licht gesehen und dachte, da ist vielleicht ein Ausgang.« »Ich verstehe das nicht«, sagte der Wachmann. »Was machen Sie überhaupt hier? Jeden Tag, wenn wir schließen, sehen wir überall nach, damit keiner mehr im Haus ist.« »Ich bin eingeschlafen«, sagte Parker. »Auf der Toilette, in einer Kabine.« Er versuchte nicht, den Anschein zu er-
wecken, als wäre ihm das peinlich, sondern stellte es sachlich fest. »Dabei hab ich gar nicht so viel getrunken. Aber seit einiger Zeit arbeite ich Doppelschichten ...« Er zuckte die Schultern. »Können Sie mich rausbringen?« Der Wachmann war misstrauisch, wusste aber nicht recht, warum. Er nickte in Richtung Saferaum und sagte: »Die Tür ist immer abgeschlossen.« »Sie war aber offen, so wie jetzt.« Parker zeigte auf die Türöffnung. »Die Tür war eingehängt, und das Licht war an. Meinen Sie vielleicht, ich habe Schlüssel? Sehen Sie sich die Tür an – ich hab sie nicht aufgebrochen, sie war offen. Es tut mir leid. Wenn Sie die Polizei rufen wollen, nur zu, aber bringen Sie mich bitte hier raus.« Der Wachmann musterte ihn. »Wir gehen jetzt erst mal zum Wachraum«, beschloss er. »Nichts dagegen«, sagte Parker. »Wenn’s da einen Ausgang gibt.« »Sie gehen voraus.« »Okay. Aber Sie müssen mir sagen, wo es langgeht.« Die rechte Hand des Wachmanns wanderte vom Revolvergriff zum Türknauf hinter ihm. Er öffnete die Tür, trat zur Seite und sagte: »Hier raus und dann den Korridor entlang.« »Okay.« Als Parker an ihm vorbeiging, sah der Wachmann die Tür mit einem Stirnrunzeln an. »War die hier auch nicht abgeschlossen?« »Nein, die war nicht mal zu.« »Die ist aber immer zu.« Parker wartete, während der Wachmann durch die Tür trat und sie hinter sich schloss. »War sie aber nicht«, sagte Parker. »Sie war nur angelehnt, ich konnte sie einfach aufstoßen. Und dann hab ich da drin das Licht gesehen.«
»Irgendwas stimmt hier nicht«, sagte der Wachmann und wies mit einer Kopfbewegung zum Ende des Korridors. »Da entlang.« »Okay.« Sie gingen an der Tür vorbei, die zu der Treppe führte, über die Lindahl und Parker gekommen waren. Parker wandte nicht den Kopf, sondern sah geradeaus, und der Wachmann sagte, er solle nach links in einen anderen Korridor abbiegen. Es war ein ganz anderer Weg als der, den Parker zuvor mit Lindahl gegangen war, und er führte zu einem Aufzug. Der Wachmann stieg also nicht gern Treppen hinauf. Er stand auch nicht gern allein mit Parker in der kleinen Metallkabine des Aufzugs, denn er drückte sich an die Rückwand und sah Parker von der Seite an. Die Hand hatte er wieder auf den Revolvergriff gelegt, und diesmal spielten die Finger mit dem Sicherungsriemen. Oben war der Korridor mit Teppich ausgelegt. »Nach links.« Parker ging wieder voraus. »Rechts durch die offene Tür«, sagte der Wachmann. Parker trat in den Raum. Es war der Wachraum: Reihen von Monitoren, in Wandgestellen festgeschlossene Schrotflinten und diverse Tische, von denen allerdings nur einer besetzt war, und zwar von einer etwas kleineren Version des ersten Wachmanns, ebenso außer Form wie sein Kollege. Bei Parkers Anblick wollte er sich erheben, setzte sich jedoch wieder, als der andere eintrat. Mit einem Blick auf seinen Kollegen sagte er: »Bill? Wen hast du denn da?« »Er war im Saferaum.« »Was?« Jetzt stand er auf und musterte Parker stirnrunzelnd, sprach aber weiter zu dem anderen Wachmann. »Was macht er hier?«
»Er sagt, er sucht den Ausgang. Er sagt, er ist auf dem Klo eingeschlafen.« Er zeigte auf die Bildschirme und sagte: »Hast du ihn auf einem der Monitore gesehen?« »Ich hab nur dich gesehen, sonst nichts.« Er wandte sich zu Parker. »Wie sind Sie hier reingekommen?« »Zu Fuß.« Das gefiel ihm nicht. »Nicht frech werden.« »Ich hab dem da« – Parker zeigte auf Bill – »schon erzählt: Ich bin eingeschlafen, dann bin ich aufgewacht und hab versucht, den Ausgang zu finden, aber alles war abgeschlossen.« »Außer dem Saferaum«, sagte Bill. »Wie findest du das?« »Nicht sehr komisch«, sagte der andere und fragte Parker: »Haben Sie noch jemanden dabei?« »Ich hab keinen gesehen«, sagte Bill. »Wenn ich auf dem Klo einschlafe«, sagte Parker, »dann meistens allein.« Der zweite Wachmann wurde langsam wütend. Er musterte Parker lange mit einem scharfen Blick und sagte dann: »Vielleicht sollte ich Sie ein bisschen weichklopfen.« »Lass uns die Polizei anrufen«, sagte Bill. »Das können wir später machen«, sagte sein Kollege. Er sah Parker noch immer wütend an, wies auf den Tisch und sagte: »Machen Sie die Taschen leer.« »Okay.« Parker zog die Pistole aus der Tasche, zeigte sie ihnen und trat einen Schritt nach links, damit er beide Männer im Auge hatte. »Reicht das?« »Oh, du verdammter –« Der zweite war jetzt rot im Gesicht und noch wütender als zuvor. Er machte eine Bewegung, als wollte er um den Tisch herumkommen. »Max! Mensch, Max, vierzehn Monate, denk dran!« Das ließ Max innehalten oder jedenfalls langsamer werden. »Was hast du uns denn da angeschleppt?« stöhnte er.
»Auf den Boden«, sagte Parker, »alle beide, da drüben. Gesicht nach unten.« Keiner bewegte sich. »Wir sind zu zweit«, sagte Max. »Gleich seid ihr nicht mal mehr allein. Ihr legt euch auf den Boden, egal, ob mit Loch im Kopf oder ohne. Jetzt.« »Vierzehn Monate, Max«, sagte Bill und ging steif in die Knie. Er hatte Mühe, sich zu setzen, und noch mehr Mühe, sich auf den Bauch zu legen. Max sah ihm angespannt zu. Er wollte sich von diesem bewaffneten Fremden nicht demütigen lassen, doch schließlich wurde ihm klar, dass ihm nichts anderes übrigblieb. Er versuchte, sich eleganter zu setzen als sein Kollege, doch das misslang ihm, und schließlich verlor er das Gleichgewicht und landete mit einem dumpfen Plumps auf seinem Hintern. Er legte sich rasch auf den Bauch und wendete das Gesicht ab. »Wo bewahrt ihr die Handschellen auf?« fragte Parker. »Leck mich«, sagte Max zum Teppich. »Vielleicht sollte ich Sie ein bisschen weichklopfen«, sagte Parker. »Sie sind in dem Tisch, auf dem der Blumentopf steht«, sagte Bill. »In der untersten Schublade.« Parker holte sie hervor und warf sie zwischen den beiden Wachmännern auf den Boden. »Bill, Sie legen sie Max an.« Max murmelte: »Verdammt, verdammt, verdammt«, verstummte aber, als er hörte, dass Bill sich auf die Knie erhob. Alle warteten, was Bill tun würde. Ein paar Sekunden lang tat er gar nichts. »Das reicht jetzt, Bill«, sagte Parker. »Tun Sie’s.« Bill war verlegen. »Tut mir leid, Max«, sagte er, als er ihm mit den Handschellen die Hände auf den Rücken fesselte. »Verdammt, warum lassen wir uns das gefallen?«
»Weil er eine Pistole hat, Max.« »Wir doch auch!« »Aber er hat seine in der Hand.« »Auf den Bauch, Bill«, sagte Parker, legte ihm das zweite Paar Handschellen an und stellte Stühle zwischen die Beine der Männer, damit sie sich nicht auf den Rücken drehen oder herumwälzen konnten. Nach einem letzten Blick auf die Monitore, die leere Räume und Korridore zeigten, ging er mit schnellen Schritten zum Aufzug.
DREI
Lindahl saß auf den beiden gefüllten Reisetaschen. Die Kasseneinsätze lagen, noch voller Münzen und kleiner Scheine, verstreut zwischen den geöffneten Kästen. Lindahl schien angestrengt nachzudenken, und es dauerte einen Augenblick, bis er merkte, dass Parker zurück war. Er schrak zusammen, sprang auf und sagte: »Bin jetzt ich dran?« Parker sah ihn an. »Womit?« »Ich kenne den Mann«, sagte Lindahl. »Ich hab seine Stimme erkannt. Er heißt Bill und arbeitet schon ewig hier.« »Stimmt, er heißt Bill.« »Ein ziemlicher Schrank. Mir fällt sein Nachname nicht ein.« »Sie haben die Taschen vollgepackt«, sagte Parker. »Gut.« Lindahl musterte sie und sagte: »Ich hab es möglichst gleich aufgeteilt. Wenn das jetzt noch eine Rolle spielt.« »Dann lassen Sie uns mal raus hier.« Lindahl rührte sich nicht. Er hielt den Blick auf die Reisetaschen gerichtet, als überlegte er noch immer, wie Bills Nachname lautete, sah Parker dann von der Seite an und sagte: »Sie haben ihn umgebracht, stimmt’s?« »Nein«, sagte Parker. »Warum hätte ich das tun sollen?« »Ich hab Sie hierhergebracht, ich hab Sie in diese Sache hineingezogen. Aber Sie gehören hier nicht hin – zu diesen Leuten. Ich muss immer an Fred denken.« Parker wollte so schnell wie möglich verschwinden, aber
Lindahl machte offenbar eine Art Krise durch und brauchte Zeit. »Was ist mit Fred?« »Er dreht durch. Er hat einen Menschen getötet, und jetzt dreht er durch.« »Ich glaube, er war vorher schon ein bisschen verrückt«, sagte Parker. »Vielleicht wegen seinem Sohn oder was weiß ich. Er hat einen Mann erschossen, der weder für ihn noch für sonst jemanden eine Gefahr war.« »Er hätte sich stellen sollen. Er hat’s nur wegen Ihnen nicht getan.« »Es wäre schlecht für ihn gewesen, sich zu stellen. Im Knast wäre er nicht weniger verrückt geworden.« »Aber er hätte es jetzt nicht auf dem Gewissen«, sagte Lindahl. »Und dieser Mann wäre jetzt nicht mehr da oben ... Sie würden seine Familie ausfindig machen. Er würde eine Beerdigung bekommen.« »Kann sein. Tom, wir müssen jetzt diese Taschen hier rausschaffen, und dann ist alles vorbei.« »Wenn Sie Bill umgebracht haben«, sagte Lindahl, »werden Sie mich jetzt ebenfalls umbringen.« »Tom«, sagte Parker, »man legt nur dann einen um, wenn es absolut unumgänglich ist. Es bringt die Bullen dermaßen gegen einen auf- die werden noch wilder, als sie jetzt schon sind.« »Wo ist er?« Parker runzelte die Stirn. Das dauerte zu lange. »Bill hat Handschellen an und liegt mit dem anderen – Max – auf dem Boden im Wachraum.« »Sie hatten Handschellen dabei?« »Die waren im Wachraum. Tom, hören Sie auf damit. Wir müssen hier raus.« Lindahl sah zur Tür, als wollte er zum Wachraum gehen
und sich davon überzeugen, dass seine alten Freunde Bill und Max noch am Leben waren, doch dann schüttelte er den Kopf und sagte: »Man stellt es sich immer anders vor. Man stellt sich vor, wie es anders laufen könnte.« »So wie es jetzt gelaufen ist«, sagte Parker, »müssen wir hier verschwinden.« Lindahl holte tief Luft. »Sie haben recht«, sagte er, ging zur Tür und zog die Schlüssel aus der Tasche.
VIER
Parker wartete in der Tür, während Lindahl mit den Schlüsseln zum Kasten der Alarmanlage am Ende des Korridors ging. Mit einem Schlüssel schloß er den Kasten auf, mit einem zweiten schaltete er die Alarmanlage aus. Dies war die Alarmanlage, die es erforderlich gemacht hätte, wieder hierherzukommen, nachdem sie das Geld rausgebracht hatten. Sie hätten das Tor von innen geschlossen und die Alarmanlage wieder eingeschaltet, und dann wären sie auf dem anderen Weg wieder hinausgegangen – alles nur, damit das Warnlicht im Wachraum nicht zu blinken begann. Jetzt, da Parker die beiden Wachmänner gefesselt hatte, spielte es keine Rolle, ob das Licht blinkte oder nicht. So ging es einfacher und schneller. Lindahl öffnete das Garagentor, und sie sahen die Rampe, die hinauf zum Parkplatz führte, wo hinter dem Maschendrahtkäfig der Ford-Geländewagen stand. Parker sah Lindahl nach, der die Rampe hinaufging, drehte sich dann um und holte eine der Reisetaschen aus dem Saferaum. Als er wieder im Korridor war, kam ihm Lindahl entgegen – zu früh und ohne den Wagen. Er sah beunruhigt aus. »Irgendwas stimmt da nicht«, flüsterte er. Parker stellte die Tasche ab. »Was?« »Da oben ist noch ein Wagen«, sagte Lindahl. »Ein grauer Wagen. Er steht direkt hinter meinem Ford. Ich habe niemanden darin sitzen sehen.«
»Nein, es sitzt keiner drin«, sagte Parker. »Wenn er seinen Wagen direkt hinter Ihrem geparkt hat, dann darum, damit er die Fahrerseite sehen kann. Er ist irgendwo links, im Dunkeln, an einer Stelle, wo er sowohl die Tür, durch die wir gegangen sind, als auch die Fahrerseite seines Wagens sehen kann. Wir müssen auf dem einen oder anderen Weg hinaus, und das weiß er.« »Aber wer?« Lindahl sah Parker mit zusammengekniffenen Augen an, als wäre es schwieriger geworden, ihn zu erkennen. »Wissen Sie, wer das ist?« »Cory Dennison.« »Cory! Was zum Teufel will der denn hier?« »Unser Geld.« Parker machte einen Schritt in Richtung Rampe, ging aber nicht hinauf. »Ist Cal nicht dabei?« fragte Lindahl. »Nein, es ist nur Cory, aber das reicht ja.« Lindahl schüttelte den Kopf. »Cory und Cal sind immer zusammen, sie machen nichts allein.« »Diesmal«, sagte Parker, »ist es nur Cory.« Lindahl starrte ihn an und versuchte, eine Frage zu formulieren. Parker wartete und sagte dann: »Gibt es was, was Sie wissen möchten?« Lindahl dachte nach. Er sah besorgter aus denn je. Schließlich sagte er: »Vorhin war eine Weile ein Wagen hinter mir – es könnte der da draußen gewesen sein. Waren das Cal und Cory?« »Ja.« »Da waren sie zu zweit, und jetzt ist es nur noch Cory. Wartet Cal irgendwo?« »Nein.« Lindahl nickte und wendete den Blick ab. »Unser Problem ist«, sagte Parker, »dass er uns hier in der Falle hat. Wir dür-
fen nicht viel Zeit verschwenden. Vielleicht hat einer der Wachmänner eine Frau, die ihn gern spät in der Nacht anruft, und was passiert, wenn keiner ans Telefon geht?« Lindahl hörte auf, sich Gedanken über Cal zu machen, und drehte sich zu der Rampe um. »Sie haben recht. Wenn ich raufgehen und seinen Wagen mit meinem wegschieben würde...« »Er hat den Gang eingelegt und die Handbremse angezogen. Können Sie sich doch vorstellen. Und sobald Sie in Ihren Wagen steigen und den Motor anlassen, erschießt er Sie.« »Aber wir müssen hier raus.« »Wir kommen schon hier raus. Ist das Tor in dem Maschendrahtkäfig aufgeschlossen?« »Ja, das Schloss ist offen, aber das Tor ist noch zu. Ich hab beim Aufschließen den anderen Wagen gesehen.« »Schalten Sie hier unten die Lichter aus«, sagte Parker, »und verhalten Sie sich ruhig.« Er ging zur Rampe, aber Lindahl sagte: »Warten Sie.« »Was ist?« »Und wenn ...« Lindahl wies mit einer unbestimmten Geste auf die Rampe. »Wenn Cory anstatt mir herunterkommt?« fragte Parker. »Ja.« Parker nickte zu der Tür, die zum Korridor führte. »Gehen Sie da entlang. Sie haben die Schlüssel – schließen Sie hinter sich ab.« »Mein Wagen.« »Die Wachmänner haben Pistolen«, sagte Parker. »Holen Sie sich eine und tun Sie Ihr Bestes. Und Licht aus.« »Okay.« Während Lindahl die Lichter ausschaltete, sah er zum Garagentor.
FÜNF
Die Pistole in der Hand, ging Parker im Dunkeln die Rampe hinauf, blieb vor dem geschlossenen Tor stehen und wartete, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Im Moment stand kein Mond am Himmel, aber viele helle Sterne gaben der Welt einen leichten samtiggrauen Schimmer. Auf der anderen Seite des Maschendrahttors sah er die dunklen Umrisse von Lindahls schwarzem Geländewagen und dahinter den grauen Jetta. Weiter links, an dem Zaun, der am Clubhaus endete, standen, undeutlich auszumachen, ein paar Wagen, die zur Rennbahn gehörten. Links und rechts verschwanden die Zäune, die diesen Platz einfassten, im Bogen in der Dunkelheit. Parker wusste, dass der Platz die Form eines großen Trapezes hatte, an dessen kurzer Seite das Clubhaus stand. Von dort führten zwei zweieinhalb Meter hohe Bretterzäune zum Begrenzungszaun, der das ganze Gelände umgab. Hier drinnen gab es nur nackten Boden und kurzes Gras, lediglich dort drüben, links von ihm, standen ein paar Wagen. Dort musste Cory sein. Es war unmöglich, das Tor des Maschendrahtvorbaus lautlos zu öffnen. Der Riegel bestand aus einer Metallstange mit UProfil, die angehoben werden musste. Das Geräusch, das dabei entstand, war leise, aber scharf; Cory hatte es bestimmt gehört. Das Tor hatte zwei Flügel. Parker zog den rechten gerade
so weit auf, dass er durch die Öffnung schlüpfen konnte, kauerte sich vor Lindahls Geländewagen nieder und kroch, die Pistole in der Hand, links an dem Ford vorbei und auf die geparkten Wagen zu. Wenn er sich nach links oder rechts bewegte, würde Cory ihn als Silhouette vor dem weißen Clubhaus oder dem weißen Zaun ausmachen können, doch wenn er vor den beiden dunklen Wagen und dem Vorbau blieb, würde er allenfalls als undeutlicher Schemen zu sehen sein. Es war absolut still, bis auf das fast unhörbare Scharren seiner Bewegungen auf dem von Unkraut überwucherten Boden. Dann vernahm er von weiter vorn ein metallisches Klicken, und im nächsten Augenblick flammten zwei Scheinwerfer auf. Es waren die eines großen Lastwagens. Sie waren höher angebracht als bei einem Personenwagen und etwas nach rechts gerichtet, doch in dem Streulicht war deutlich zu sehen, dass Parker auf dem Boden lag, auf halbem Weg zwischen dem Tor und den geparkten Wagen. Parker zerschoss den Scheinwerfer, der ihm näher war, und rollte sich nach rechts, auf den Lastwagen zu. Im selben Augenblick hörte er von vorn einen Schuss und hinter sich das Klirren eines Autofensters. Er lag wieder auf dem Bauch, zerschoss auch den zweiten Scheinwerfer und wälzte sich erneut nach links, während Cory zweimal feuerte und dabei noch immer zu hoch zielte, wie die meisten, die auf etwas schießen, das sich unterhalb von ihnen befindet. Cory verschwendete nicht noch mehr Munition. Parker stützte sich auf die Ellbogen, richtete sich halb auf und rannte geduckt los. Das Scheinwerferlicht hatte ihn geblendet, so dass er nicht viel sehen konnte, aber Cory ging es vermutlich nicht anders.
Die Hecktür eines Rettungswagens. Der Lastwagen, dessen Scheinwerfer Cory eingeschaltet hatte, stand weiter rechts. Parker lief hinter dem Rettungswagen bis zum Zaun. Er spähte in beiden Richtungen daran entlang, doch es war niemand zu sehen. Er wartete und lauschte. Stille. Cory war noch immer irgendwo hier, bei den Wagen. Wenn er schlau war, rührte er sich nicht und wartete darauf, dass Parker etwas unternahm, denn Parker musste etwas unternehmen – er konnte nicht bei Tagesanbruch noch immer hier herumlaufen. Cory war wahrscheinlich nicht in dem Wagen mit den Scheinwerfern, sondern hatte sicher durch das Seitenfenster gegriffen, um sie einzuschalten. Vermutlich war er dazu auf das Trittbrett gestiegen, was auch erklärte, warum es bis zu den Schüssen einen Augenblick gedauert hatte: Er hatte erst heruntersteigen müssen. Ob er wohl noch dort drüben war, in der Nähe des Wagens? Hatte er Parker rennen sehen? Hatte er eine Vermutung, wo Parker jetzt war? Zeit für einen Ortswechsel. Den Rücken an den Zaun gedrückt, schob Parker sich nach links. Neben dem Rettungswagen stand, ebenfalls mit der Schnauze zum Zaun, ein Pickup, dann kamen ein einachsiger, nach vorn gekippter Pferdetransporter und ein kleiner Feuerwehrwagen, der rückwärts eingeparkt worden war. War das der Wagen gewesen, dessen Scheinwerfer aufgeleuchtet hatten? Das nächste Fahrzeug war wieder ein Pickup, der ebenfalls mit dem Heck zum Zaun stand, doch er war zu klein und kam nicht in Frage. Parker legte sich hinter dem Feuerwehrwagen auf den Boden und spähte unter den Wagen hindurch, ob er Corys Füße sehen könnte. Nein – Cory war nicht in unmittelbarer
Nähe des Feuerwehrwagens, und alles, was weiter entfernt war, konnte Parker nicht erkennen. Gerade als er sich wieder erhob, leuchtete weiter links erneut ein Scheinwerferpaar auf. Er drehte sich danach um, doch beinahe im selben Augenblick erloschen die Lichter wieder, und die Dunkelheit war noch finsterer als zuvor. Cory wusste also nicht, wo Parker war, und konnte sich nun denken, dass er irgendwo zwischen den Wagen umherschlich. Parker bewegte sich vorsichtig auf die Stelle zu, wo die Scheinwerfer aufgeleuchtet hatten, als er plötzlich jemanden rennen hörte. Das Fenster auf der Fahrerseite des Pick-ups war geschlossen, aber die Tür ließ sich öffnen, worauf die Innenbeleuchtung aufflammte. Parker schaltete die Scheinwerfer ein: Cory rannte, so schnell er konnte, auf das Tor und die Rampe zu. Er verschwand hinter dem Ford, als Parker, einen Sekundenbruchteil zu spät, feuerte. Parker schaltete die Scheinwerfer aus, knallte die Tür des Pick-ups zu und rannte Cory nach. »Tom!« rief er. »Bleiben Sie in Deckung!« Als er das Tor erreicht hatte, hielt er inne und lauschte. Von unten war kein Laut zu hören. War Lindahl ins Clubhaus gegangen und hatte die Türen hinter sich abgeschlossen, oder schlich Cory nun dort herum? Oder wartete er in der Dunkelheit dort unten darauf, dass Parker ihn verfolgte? Parker duckte sich und kroch vor den Ford, vor dessen dunkler Silhouette er für jeden am Fuß der Rampe unsichtbar war. Er wartete und hörte keinen Ton, und langsam merkte er, dass im Keller keine absolute Dunkelheit herrschte. Im Korridor, der zum Vorraum führte, brannte noch immer das Licht – ein gelber Schimmer, der durch das dicke Glas des kleinen Fensters in der Tür fiel.
Das Tor stand ein wenig offen, wie er es vorhin verlassen hatte. Er schob sich seitlich hindurch, wartete und kroch langsam vorwärts. Zentimeter für Zentimeter schlich er tiefgeduckt die Rampe hinunter, die linke Hand auf dem geneigten Betonboden hinter sich, in der Rechten den Revolver. Er ließ das trübe leuchtende Rechteck des Fensters nicht aus den Augen und hoffte, dass sich irgendjemand daran vorbeibewegte. Während er sich voranarbeitete, atmete er flach und lautlos durch den Mund. Er lauschte auf irgendwelche Geräusche, die ihm verraten würden, wo Cory war, hörte aber nichts. Am Fuß der Rampe angekommen, blieb er in der Hocke und stützte sich nun mit der linken Hand nach vorn ab. Die Reisetasche, die er aus dem Saferaum hierhergebracht hatte, musste irgendwo links vor ihm liegen; er bewegte sich in diese Richtung, ohne das beleuchtete Fenster aus den Augen zu lassen. Da war die Tasche. Er drehte sich langsam und ließ sich darauf nieder, die Knie gespreizt, die Unterarme auf die Beine gelegt, so dass die Hände locker und entspannt hingen. Es war nicht viel Zeit zu verlieren, doch hierfür war noch genug Zeit. Er würde warten, Cory würde sich verraten, und Parker würde ihn umlegen. Er würde warten, Lindahl würde zurückkommen und irgendein Geräusch machen, das Cory aus der Deckung treiben würde, und Parker würde ihn umlegen. Das kleine, gelbleuchtende Rechteck dort oben in der Tür sah aus wie das Fenster einer Burg auf einem Berg. Ruhig atmend beobachtete Parker es. Er erlaubte seinem Körper, sich zu entspannen, und wartete.
SECHS
»Ed! Ed! Sind Sie da unten?« Vielleicht zehn Minuten waren vergangen, auf keinen Fall mehr. Die beiden warteten lautlos im Dunkeln, und mit einemmal ertönte dieser halblaute Ruf vom oberen Ende der Rampe. Lindahl war also doch nicht im Clubhaus, sondern dort oben, draußen, beim Tor und den beiden Wagen. Parker behielt das gelbe Fenster in der Tür im Auge und setzte sich auf. Die Hand mit dem Revolver ruhte jetzt auf seinem rechten Knie. Wenn Lindahl draußen war, hatte er den Weg bis zu der Tür, durch die sie ins Haus gegangen waren, zurückverfolgt. Und wenn er das getan hatte, war er doch bestimmt bei den Wachmännern gewesen, um nachzusehen, ob sie noch lebten, und ihnen die Waffen abzunehmen. Wenn das stimmte, dann hatte er diesen Raum nicht verlassen, als Parker ihm die Warnung zugerufen hatte, sondern schon früher, nämlich in dem Augenblick, als Parker die Rampe hinaufgegangen und verschwunden war. Und zwar, weil er zu diesem Zeitpunkt schon den Plan gehabt hatte, sich die Revolver der Wachmänner zu holen. Um sich zu verteidigen oder um Parker aufs Kreuz zu legen? »Ed! Wo zum Teufel stecken Sie?« »Kommen Sie runter.« Das war Cory, von der anderen Seite des dunklen Raums. Er hatte versucht, seine Stimme rauh und undeutlich klingen zu lassen.
Aber er hatte nicht wie Parker geklungen, denn Lindahl antwortete vom oberen Ende der Rampe mit einem leichten Beben in der Stimme: »Wer ist da? Cory, bist du das?« Es trat eine lange Stille ein, und dann sagte Cory mit seiner eigenen Stimme: »Ja. Komm runter.« Parker zielte auf die Stelle, wo die Stimme herkam, doch sie verstummte zu schnell. Solange er nicht sicher sein konnte, dass er treffen würde, schoss er lieber nicht. Lindahl machte keine Anstalten herunterzukommen. Er fragte: »Wo ist Ed?« »Er hat meinen Bruder umgebracht.« Wieder zu kurz, um sicher zielen zu können. »Ich weiß«, sagte Lindahl. »Hast du ihn getötet, Cory?« Eine weitere lange Pause. »Ja.« »Hör zu, Cory«, sagte Lindahl. »Mit mir hast du doch keine Rechnung offen, oder?« »Nein.« »Ich hatte nichts mit dem zu tun, was er mit Cal gemacht hat. Als er’s mir erzählt hat, hätte ich kotzen können.« Cory gab keine Antwort – was hätte er auch antworten sollen? »Komm, Cory«, sagte Lindahl, »mach das Licht da unten an und lass uns beraten, was wir jetzt tun sollen.« »Wo ist der Schalter?« »Siehst du das Fenster in der Tür links von dir? Der Schalter ist gleich links von der Tür.« »Okay.« Parker hob die Pistole. Cory würde vor dem Fenster vorbeigehen. Aber Lindahl am oberen Ende der Rampe hatte einen anderen Blickwinkel und sah Cory früher vor der Tür und dem erleuchteten Fenster vorbeigehen, und daher war es Lindahl,
der einen der Revolver der Wachmänner abfeuerte. Und danebenschoss. Parker rollte auf den Boden neben der Reisetasche, als Cory schrie, die Tür aufriss und aus dem Raum rannte, während Lindahl noch zwei Kugeln verschwendete. Es war nur einen Augenblick hell gewesen, als die Tür geöffnet war – danach herrschte wieder Dunkelheit. Hatte Lindahl in diesem Augenblick Parker auf dem Boden neben der Tasche gesehen? Parker wartete und lauschte, hörte Lindahl aber nicht herunterkommen, und so stand er auf, ging zur Tür und spähte rasch durch das Fenster. Er sah nur den leeren Korridor. Cory war schnell verschwunden. Was würde er jetzt tun? Höchstwahrscheinlich würde er einen Ort suchen, wo er Rückendeckung hatte und er auf eine Gelegenheit hoffen konnte, Lindahl zu erledigen, bevor dieser ihn erledigte. Und warum hatte Lindahl geschossen? Weil er, wie Parker, begriffen hatte, dass Cory sich für den Tod seines Bruders an ihnen beiden rächen wollte. Und was hatte Lindahl nun vor? Parker ging die Rampe hinauf und hörte, als er oben angekommen war, leise Geräusche. Er trat neben den Ford und sah, dass der Jetta leicht schwankte. Lindahl machte sich darin zu schaffen. Es dauerte eine Weile, bis Parker sich zusammengereimt hatte, was geschehen war. Corys erster Schuss auf Parker hatte das hintere Seitenfenster auf der Fahrerseite des Jetta durchschlagen. Der Wagen war natürlich abgeschlossen, aber Lindahl hatte durch das Loch im Fenster gegriffen und die Tür entriegelt. Von draußen hatte er jedoch die Verriegelung der Fahrertür nicht erreichen können, und daher war er in den Wagen gestiegen und kletterte nun unbeholfen und hastig und vor Anstrengung grunzend vom Rücksitz nach vorn.
Sollten Cory und Lindahl sich miteinander beschäftigen. Lindahl war zu sehr in Anspruch genommen, um irgend etwas zu bemerken, und so ging Parker am Clubhaus entlang, vorbei an der Tür, durch die sie zuvor ins Haus gelangt waren, und folgte dem Zaun zu den geparkten Wagen. Bei dem ersten, einem großen Pferdetransporter mit Kastenaufbau, blieb er stehen. Inzwischen stieg Lindahl aus dem Jetta – offenbar hatte er erledigt, was er dort hatte erledigen wollen. Cory hatte sicher die Schlüssel mitgenommen, also hatte Lindahl nur den Leerlauf einlegen und die Handbremse lösen können. Ja. Lindahls Ford stand mit der Schnauze zur Rampe, die hintere Stoßstange berührte die hintere Stoßstange des Jetta. Lindahl setzte sich ans Steuer des Fords, legte den Rückwärtsgang ein und schob den Jetta fort. Nach einigen Metern wendete er, setzte zurück ans obere Ende der Rampe und stieg aus. Wollte er nichts gegen Cory unternehmen? Oder hatte er begriffen, dass er jetzt ohnehin nicht mehr in sein altes Leben zurückkehren konnte und es daher keine Rolle spielte, ob ihm jemand, den er aus jener Zeit kannte, nach dem Leben trachtete? Glaubte er, mit zwei Taschen voller Geld stünden seine Chancen auf eine erfolgreiche Flucht besser als mit einer? Oder hatte er Cory geglaubt, als dieser behauptet hatte, Parker sei tot – obwohl Cory das nur gesagt hatte, um Parker hervorzulocken oder Lindahl davon zu überzeugen, dass die Schießerei vorüber sei. Lindahl öffnete beide Flügel des Tors, fuhr rückwärts die Rampe hinunter und verschwand. Im nächsten Augenblick ging dort unten das Licht an, und eine Sekunde später schwang die Tür zum Clubhaus auf, und Cory trat heraus.
SIEBEN
Es war hier oben praktisch genauso dunkel wie zuvor. Anscheinend hatte Lindahl nur die Lampen im Saferaum angeschaltet – er befürchtete wohl, mehr Licht könnte draußen Aufmerksamkeit erregen. Doch der Widerschein war immerhin so ausreichend, dass Parker sehen konnte, wie Cory, die Pistole in der Hand, aus der Tür trat, innehielt und zunächst in Richtung des Lichts und dann zu den geparkten Wagen schaute. Parker konnte Corys Gedanken hören, als spräche der sie laut aus. Er war sich nicht sicher, ob eine seiner Kugeln Parker getroffen hatte. Solange er nicht wusste, wo Parker – oder seine Leiche – war, wagte er es nicht, sich zu zeigen. Er wusste, dass ihm nicht viel Zeit blieb, bis Lindahl mit dem Geld die Rampe hinauffuhr, doch zunächst musste er sich um Parker kümmern. Während Cory dies alles durch den Kopf ging und er in der Tür zum Clubhaus stand, als bestünde die Möglichkeit, dass er umkehrte und wieder hineinging, beschloss Parker zu handeln. Am Rettungswagen waren neben der Hecktür Leitersprossen angebracht. Parker kletterte hinauf und legte sich auf den Bauch, den Kopf zur Seite gewendet, um Cory zu beobachten. Dieser war schließlich zu dem Schluss gekommen, dass er zwischen den geparkten Wagen nach Parker suchen und dabei schnell und vorsichtig vorgehen musste. Das alles machte ihn nervös und schwächte seine Wut. Als
er unten, in der Dunkelheit, gewartet hatte, war er ebenso still gewesen wie Parker – sonst wäre er nicht mehr am Leben. Doch als er jetzt zwischen den Wagen umherschlich, keuchte er – ein hektisches, rasselndes Schnaufen, anhand dessen man seinen Weg durch das Dunkel verfolgen konnte, als hätte er eine Karte gezeichnet. Es war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um auf Cory zu schießen, denn ein Schuss würde Lindahl irgendwohin fliehen lassen, und Parker wollte, dass Lindahl sich, für den Augenblick jedenfalls, nicht von der Stelle rührte. Also blieb er auf dem Rettungswagen liegen, während Cory unten in die Führerhäuser spähte und unter den Wagen nachsah, immer noch keuchend und die Hand mit der Pistole ausgestreckt. Parker wartete. Das Keuchen bog um die Front des Rettungswagens und bewegte sich an ihm entlang. Parker packte seinen Revolver am Laufund schlug den Kolben kräftig auf den bebenden Hinterkopf. Cory stürzte vornüber und fiel mit dem Gesicht auf den Boden. Er kam so unvermittelt zum Stillstand wie ein Filmprojektor, der noch das letzte Bild zeigt. Parker kletterte vom Rettungswagen und machte sich nicht die Mühe, nach Cory zu sehen. Wenn er tot war, war er tot. Wenn er noch lebte, würde er für eine Weile außer Gefecht sein. Als Parker das offene Tor am oberen Ende der Rampe erreichte, war Lindahl gerade dabei, die zweite Tasche im Kofferraum hinter den Rücksitzen des Geländewagens zu verstauen. Parker ließ ihn weitermachen und ging zu dem Tor in dem Begrenzungszaun, das sie geschlossen, aber nicht verriegelt hatten. Er trat durch die Öffnung, als am Clubhaus die hellen Scheinwerfer des Fords in den Himmel leuchteten und sich dann senkten, als der Wagen von der Rampe auf den
Parkplatz fuhr. Parker wandte sich nach rechts und stellte sich hinter den Holzzaun. Am Tor musste Lindahl anhalten, um es zu öffnen, und als er ausgestiegen war, trat Parker ins Scheinwerferlicht und sagte: »Sie haben unser Geld.« Lindahl strauchelte. Er versuchte, sich an einem der Torflügel festzuhalten, doch der schwang auf, und Lindahl wäre beinahe gestürzt. »Ed! Herrgott!« Lindahl hatte keine Waffe in der Hand, also steckte Parker den Revolver ein, als er um den Torflügel herumging, und sagte: »Helfen Sie mir, meine Tasche umzuladen.« »Klar ... Sie ... Er hat gesagt, Sie sind tot.« »Er hat sich geirrt. Kommen Sie, Tom, bringen wir’s hinter uns.« Parker öffnete die Heckklappe und sah die beiden länglichen Taschen, die an Leichensäcke erinnerten. Lindahl stellte sich neben ihn. Auch er betrachtete die Taschen. »Ich hab’s getan«, sagte er, und seine Stimme war leise, aber stolz. »Ich weiß, wir haben’s gemeinsam durchgezogen, aber ich hab’s getan. Nach all den Jahren.« »Wir legen sie einfach draußen auf den Boden«, sagte Parker und griff nach der oberen Tasche. »Da drüben am Zaun.« »Ich soll Ihren Wagen nicht sehen.« »Sie brauchen meinen Wagen nicht zu sehen. Kommen Sie, Tom.« Sie packten die Tasche an den Enden, trugen sie um den Wagen herum durch das Tor und legten sie am Zaun auf den Boden. Lindahl sah sie an und sagte: »Die meiste Zeit war ich sicher, wenn wir es je schaffen würden – und ich hab eigentlich nicht geglaubt, dass wir es schaffen würden –, dann würden Sie ...« Er sprach den Satz nicht zu Ende und machte eine unbestimmte Geste.
»Sie waren sicher, dass ich Sie umlegen würde«, sagte Parker. »Ich weiß.« »Sie hätten es jederzeit tun können.« »Sie haben mir diesen Job vorgeschlagen«, sagte Parker, »Sie haben ihn mit mir durchgezogen, und das hier gehört Ihnen.« Lindahl kicherte – hier draußen war das ein seltsames Geräusch. »Sie meinen«, sagte er, »da gilt so was wie Ganovenehre?« »Nein«, sagte Parker, »ich meine, ein Profi ist ein Profi. Fahren Sie los, Tom, und meiden Sie Straßensperren. Dieser Wagen ist inzwischen vielleicht heiß.« »Ich werd’s schon schaffen«, sagte Lindahl. Das Kichern hatte in ihm eine Leichtigkeit, ein Selbstvertrauen geweckt – es war, als hätte er etwas getrunken. »Bis dann«, sagte er und setzte sich ans Steuer des Fords. Das Fenster der Fahrertür war offen. Er sah hinaus und wollte vielleicht noch etwas sagen, doch Parker schüttelte den Kopf, und so legte Lindahl einfach den Gang ein und fuhr davon. Als Lindahl die Zufahrtsstraße erreicht hatte, die zur Landstraße führte, ging Parker zu dem Infiniti, um ihn zu der Stelle zu fahren, wo die Tasche lag. Als er ausstieg, war Lindahl nicht mehr zu sehen. Parker fragte sich, wie weit er wohl kommen würde. Zentaur 2008-09-03