KLEINE
B I B L I O T H E K DES WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR- U N D K U LT U R K U N D LI C H E HEFTE
RUDOLF EGER
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KLEINE
B I B L I O T H E K DES WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR- U N D K U LT U R K U N D LI C H E HEFTE
RUDOLF EGER
FORSTMEISTER DRAIS GESCHICHTE
UND GESCHICHTEN ERFINDUNG
VERLAG
SEBASTIAN
UM
EINE
LUX
M U R N A U • M Ü N C H E N • I N N S B R U C K - B A S E L
Skandal an der herzoglichen Tafel An einem Maitag des Jahres 1804 stand in der Karlsruher Residenz das Barometer auf Sturm. Der Kurfürst, von dem jedermann wußte, daß er Wert auf erlesene Speisen legte, hatte die Tafel während der Mahlzeit mit zornrotem Kopf verlassen. Am Vortag hatte der hohe Herr das Hähnchen nach Königinart, das auf der Speisekarte als Hauptgericht stand, gestrichen und an seine Stelle Rehbraten gesetzt. Der Küchenchef erlaubte sich zwar zu bemerken, daß noch kein Reh geliefert sei, doch der Kurfürst wischte den Einwand mit einer Handbewegung weg. Er hatte kürzlich Karl von Drais, dessen Pate er war, zum Forstadjunkten ernannt, und da der junge Mann wußte, daß sein Souverän eine Schwäche für Rehbraten hatte und die Schonzeit am Vortage zu Ende gegangen war, verstand es sich von selbst, daß Drais alles daransetzen werde, die Hofküche sofort mit dem erwarteten Wild zu versehen. „Wie Eure Durchlaucht befehlen", hatte der Küchenmeister geantwortet und sich unter Bücklingen zurückgezogen. Als anderntags die Tafel gedeckt war, gab es nach dem Vorgericht eine peinliche Panne. Der nächste Gang blieb aus. Bestürzt eilte der Oberkoch herbei. Er habe sich an die Weisungen Seiner Durchlaucht gehalten und mit dem Eintreffen des Rehs gerechnet, erklärte er verzweifelt. Daß es ausgeblieben sei, könne ihm niemand zur Last legen. Doch der Kurfürst schien kein Einsehen zu haben. Zum Entsetzen der Hofgesellschaft verschwand der erzürnte Herr in seinen Privatgemächern.
* Das Jagdgebiet, das dem jungen Drais unterstellt war, lag zwischen der badischen Residenz und Bruchsal. Da er erst neunzehn 2
Jahre alt war, bedeutete die Betrauung mit einem Revier dieser Lage einen ungewöhnlichen Gunstbeweis. Drais selber wäre es lieber gewesen, wenn man ihm erlaubt hätte, einen Beruf zu wählen, der seinen Neigungen besser entsprach als die Beschäftigung mit Jagd- und Forstwesen. Doch der Sohn des Oberhofrichters, eines Barons Drais von Sauerbronn, den seine Geburt berechtigte, ein Amt bei Hofe zu bekleiden, konnte unmöglich Mechaniker werden, wie er es wünschte. Der Vater hätte es gern gesehen, wenn Karl Drais sich für die juristische Laufbahn entschieden hätte, doch von dem trockenen Paragraphenkram wollte er nichts wissen. Zum Soldaten eignete er sich ebensowenig, und sein Leben als Höfling zu verbringen, kam erst recht nicht in Betracht. So war als letzter standesgemäßer Wirkungskreis nur die Karriere eines Forstmannes übriggeblieben. Karl von Drais hatte nicht nein gesagt; nicht weil ihm die damit verbundene Tätigkeit zusagte, sondern aus einem anderen Grunde: Es war ihm ein kleines Haus zugewiesen worden, das mehrere Räume enthielt; einen Raum konnte er mit allem ausstatten, was er für seine technischen Versuche brauchte, einer Drehbank, einem Schraubstock, einer Bohrwinde und allerlei anderen Vorrichtungen, die man eher in der Werkstatt eines Handwerkers als in der Kanzlei eines Forstadjunkten erwartet hätte. Die Jäger, die ihm beigegeben wurden, hätten für ihr Leben gern gewußt, welchen Zweck der Apparat wohl haben mochte, an dem ihr Vorgesetzter in seiner Freizeit bastelte. Er sah aus wie eine größere Kaffeemühle, doch befanden sich im Innern — wie sie ausfindig gemacht hatten — gebogene Klingen, die wie kleine türkische Säbel aussahen. Sie waren an einer Scheibe angebradit, die durch eine Kurbel in Bewegung gesetzt werden konnte. Man darf aber nicht glauben, daß Drais über der Maschine, der er so viel Zeit widmete, das Jagen vergessen hätte und der Kurfürst nur aus diesem Grunde vergebens auf den erhofften Braten hätte warten müssen. Nein, die Sache war noch schlimmer: Drais hatte tatsächlich ein Reh zur Strecke gebracht, aber versäumt, es nach Karlsruhe zu senden, da er das Fleisch für die Versuche brauchte, die ihm so sehr am Herzen lagen. Was er konstruiert hatte, war nicht mehr und weniger als eine Hackmaschine. Er ging von dem Gedanken aus, daß die „kleinen Leute", für die ein Braten unerschwinglich war, zu einem sättigenden Gericht gelangen konnten, wenn sie mit Hilfe seines Hackwolfs das Fleisch zerkleinerten und durch Mehl und Kartoffelreste ergänzten. Auch an die zahnlosen 3
Alten hatte er gedacht, die unzerkleinertes Fleisch kaum noch beißen konnten. . Der Abgesandte des Kurfürsten, dem er entschuldigend seine Maschine vorführte, war von seinen Ideen keineswegs beeindruckt; er warnte ihn, sich allzusehr auf die Langmut des Regenten zu verlassen. Sofort begab sich Drais auf die Jagd, bekam auch wirklich einen Rehbock vor die Flinte, und noch am selben Abend konnte der Küchenchef dem Kurfürsten, wenn auch verspätet, den gewünschten Rehbraten servieren.
Der Forstadjunkt wird zum Forstmeister ernannt Daß der Hofbeamte von seiner Erfindung nichts zu halten schien, veranlaßte Drais im übrigen nicht, an ihrem Wert zu zweifeln. Sobald er in die Stadt kam, suchte er den Besitzer einer Messerschmiede auf, legte ihm die Hackmaschine vor und hoffte, seine Idee für ein schönes Geld verkaufen zu können. Der Mann sah ihn an, als zweifle er an seinem Verstand. „Hackmaschine?" wiederholte er verständnislos. „Wer braucht denn so etwas?" „Tausende von alten Menschen, die keine Zähne mehr haben." Ein Achselzucken antwortete ihm. Das gleiche erlebte der Forstadjunkt bei anderen Messerschmieden, die er für seinen Hackwolf zu interessieren suchte. Schließlich mußte er einsehen, daß keine Aussicht bestand, die Neuheit durchzusetzen. Für einen Mann wie Drais, dessen technische Phantasie überschäumte, war das kein Grund, den Kopf hängen zu lassen. War die Hackmaschine ein Fehlschlag gewesen, so würde dem Ding, das er jetzt in Arbeit nahm, um so mehr Erfolg beschieden sein. Nach Ansicht seiner Untergebenen glich das, was der Forstadjunkt in den folgenden Wochen konstruierte, eher einem Galgen als einem brauchbaren Gerät. Es bestand aus einem Pfosten, an dem in halber Höhe ein Querholz befestigt war. Von oben hingen an Stäben Klötzchen herab, jedes trug auf seiner unteren Fläche einen plastischen Buchstaben. Drais ließ ein Fuhrwerk kommen und befahl dem Kutscher, das Ungetüm nach Heidelberg zu schaffen. Er selbst benützte den Postwagen und war zur Stelle, als der „Galgen" anlangte. Er schleppte ihn in das Gebäude, in dem die Universitätskammer für Mechanik untergebracht war. Der diensthabende Professor hörte sich seine Erklärungen an und entgegnete wenig freundlich: 4
Das Laufrad, wie es Karl von Drais 1817 zur Genehmigung dem Ministerium in Karlsruhe in einer Zeichnung vorlegte. „Eine Schreibmaschine sagen Sie. Wissen Sie nicht, daß sowas schon vor hundert Jahren erfunden wurde? Von einem gewissen Mill, einem Engländer". Drais fiel aus allen Wolken. „Aber wieso ist sie dann nirgends in Gebrauch —?" brachte er mühsam hervor. „Weil sie gar nicht hergestellt wurde. Mill hat nur eine Zeichnung angefertigt, aber die Zeichnung ist patentiert worden!" 5
„Und aus welchem Grunde hat er die Maschine nicht gebaut?" fragte Karl von Drais. , , . , Das weiß ich nicht!" erwiderte ihm der Gelehrte. „Wahrscheinlich weil er von ihrer Überflüssigkeit überzeugt war. Adieu, mein Herr!" „ Drais kehrte enttäuscht in seine Wälder zurück Er hatte nicht einen Augenblick daran gezweifelt, etwas Umwalzendes erfunden zu haben Die Bitte um ein Gutachten hatte er nicht mehr vorzubringen gewagt — und ohne eine Empfehlung von fachkundiger Stelle sah er keine Möglichkeit, die Erfindung auszuwerten Das war ein harter Schlag. Er hatte beabsichtigt der, grünen Rock auszuziehen, sobald er die Kaufsumme in Händen hielt; die Jagd, das Schlagen der Bäume und alles, was damit zusammenhing, wurden ihm jetzt zur unerträglichen Last. _ Trotzdem ergab sich, daß er bald danach das Dienstkleid des Forstmannes ablegen konnte, allerdings nicht, um in Zukunft nur noch seinen Erfindungen zu leben. Er sollte Soldat werden. Nicht als Freiwilliger. Wenn der Landesherr ihm nahelegte, in die Armee einzutreten, so hatte das einen gewichtigen Grund. Der Kurfürst war 1806 von Napoleon gedrängt worden, sich dem Rheinbund anzuschließen, und er hatte sich wohl oder übel dem Diktator unterwerfen müssen. Zum Dank hatte ihm Bonaparte den Rang eines Großherzogs verliehen; es war eine schwache Entschädigung dafür, daß er sich von Stund an als Alliierter des gehaßten Despoten zu betrachten hatte und ihm Regimenter über Regimenter zur Verfügung stellen mußte. Wer von den einberufenen badischen Untertanen das nötige Geld besaß, blieb daheim und schickte einen Stellvertreter ins Feld. Doch diese „Remplacanten" legten wenig soldatischen Geist an den Tag. Sie gingen darauf aus, sich gefangennehmen zu lassen, womit das gefährliche Geschäft, den feindlichen Kugeln ausgesetzt zu sein, für immer zu Ende war. Napoleon entging es nicht, daß die badischen Heeresverbände sich weit schlechter schlugen als die übrigen Truppen, und er schickte dem Großherzog einen äußerst ungnädig gehaltenen Brief, in dem er sein Militär eine Horde Feiglinge nannte. Der Großherzog begriff, daß seine Leute keine rechte Kampfeslust entwickelten, weil sie nicht als Kanonenfutter dienen wollten. Da er aber willens war, dem Franzosenkaiser eine bessere Meinung von den Badensern beizubringen, um seine Stellung nicht zu gefähr6
den, suchte er unter den Mitgliedern des Adels junge, zielbewußte Männer aus, die sich dazu eigneten, seine Soldaten zu Elan und Draufgängertum zu erziehen. Einer von ihnen war sein Patenkind, Karl Drais von Sauerbronn. So ging der Forstadjunkt als Avantageur an die Front und erfuhr während der Schlacht bei Friedland die Feuertaufe. Da er sich vorbildlich hielt, beförderte man ihn zum Offizier. Er bewährte sich 1809 auch in der Schlacht bei Wagram und wurde für besondere Tapferkeit vor dem Feinde zum Premierleutnant ernannt. Noch zwei weitere Jahre blieb er bei der Fahne. Als er erfuhr, daß sein Pate, der Großherzog, verschieden sei, fühlte er keine Verpflichtung mehr, noch länger Heeresdienst zu tun. Er bat um seine Entlassung. In seiner Vaterstadt empfing ihn der Nachfolger des verstorbenen Regenten, Großherzog Karl Ludwig, mit größter Zuvorkommenheit. Karl Ludwig hatte Stephanie Beauharnais, die Tochter der Kaiserin Josephine, zur Frau und war bemüht, dem Offizier, der an Frankreichs Seite gekämpft hatte, seinen Dank und seine Anerkennung zu bekunden. Er ernannte den Sechsundzwanzigjährigen zum Forstmeister. In dieser Eigenschaft sollte Drais die Verwaltung eine» Jagdgebietes übernehmen, das noch größer war als sein früheres Revier, aber viel Arbeit verursachte. Da Drais darauf brannte, sich endlich wieder mit technischen Dingen zu befassen, erbat er sich vom Landesherrn die Erlaubnis, seinen Forstbereich erst in einigen Monaten zu übernehmen. Karl Ludwig stimmte zu, und schon am folgenden Tag erklang aus dem Innern des freiherrlichen Stadthauses in Karlsruhe der Lärm des Bohrens, Sägens und Hämmerns.
Drais baut seine Laufmaschine Im Felde bereits hatte sich Drais etwas ausgedacht, das er jetzt auszuführen begann: den Bau eines Fahrzeugs, das keiner Pferde bedurfte. Es dauerte nicht lange und die Polizei erfuhr, daß nachts in den Straßen von Karlsruhe ein Wagen gesehen werde, der sich auf rätselhafte Weise fortbewege. Man ging der Sache nach und stellte fest, daß der Forstmann wieder einmal etwas konstruiert hatte und offenbar im Schutz der Dunkelheit mit einem geheimnisvollen Vehikel Probefahren unternahm. Als den Pferdehändlern und Gespannhaltern des Landes die Neuigkeit zu Ohren kam, war die Aufregung groß. Wenn es diesem Forstmeister tatsächlich gelungen war, ein Gefährt zu konstruieren, das ohne Zugtiere lief, war der Handel mit Gäulen so gut wie lahm7
gelegt. In der Zunft wurde des langen und breiten beraten, was zu tun sei. Man beschloß, dem Baron einen runden Betrag anzubieten, falls er bereit wäre, das von ihm erdachte, mit den Füßen bewegte Fuhrwerk zu zerstören. Aber Drais war von seinen Ideen viel zu sehr besessen, als daß er für Geld — und wären es hunderttausend Taler gewesen — auf den Ruhm seiner Erfindung verzichtet hätte. Die Abgewiesenen wandten sich an die Behörde. Dem „Hofrats-Collegium", das im Badischen für Wirtschaftsangelegenheiten zuständig war, erschien die Sache wichtig genug, sie dem Großherzog zur Kenntnis zu bringen; denn die Pferdehändler und Gespannhalter gehörten zu den Höchstbesteuerten im Lande. Es konnte für die großherzogliche Kasse verhängnisvolle Folgen haben, wenn ihr Gewerbe beeinträchtigt wurde. Karl Ludwig hörte sich den Vortrag seiner Räte an, aber er hatte im Augenblick andere Sorgen: Napoleon -war bei Leipzig vernichtend geschlagen worden. Bekümmert sah der Landesherr in die Zukunft. Die verwandtschaftlichen Beziehungen zu Napoleon würden die neuen Machthaber vielleicht veranlassen, ihn zum Verzicht auf den Thron Badens zu zwingen. Um den Fall Drais rasch aus der Welt zu schaffen, ließ er ihm sagen, man sei geneigt, ihn ehrenhalber zum Professor der Mechanik zu ernennen, sofern das umstrittene Fahrzeug der Öffentlichkeit vorenthalten bliebe. So erging eine Order an den Herrn Forstmeister, sich bei dem zuständigen Minister einzufinden, der dieser Begegnung mit Besorgnis entgegensah; denn Drais stand in dem Ruf, daß er kein Blatt vor den Mund nahm, wenn er in Hitze geriet. Überdies war stadtbekannt, daß er die ansehnliche Summe, die ihm in der gleichen Sache geboten worden war, brüsk zurückgewiesen hatte. Wie konnte man hoffen, daß ein Titel den Starrkopf zum Nachgeben brächte. Die Unterredung verlief ganz anders, als seine Widersacher erwartet hatten. Als der Besucher erfuhr, der Großherzog wolle ihn unter der angegebenen Bedingung zum Professor ernennen, überlegte er keinen Augenblick. Gelassen erklärte er: „Sagen Sie Seiner Durchlaucht, daß ich mich verpflichte, den Wagen unbrauchbar zu machen". „Unbrauchbar? Ich habe Sie richtig verstanden? Sie sagten wirklich: unbrauchbar?" „Ja, das sagte ich", entgegnete Drais, erhob sich, machte die vorgeschriebene Verbeugung, ging und ließ einen fassungslosen Gesprächspartner zurück. Den Grund konnte der hohe Herr freilich nicht erraten. 8
Forstmeister Drais war am vergangenen Tage auf eine Chronik aus dem Jahre 1650 gestoßen, in der ein Fahrzeug beschrieben wurde, das mit seiner Konstruktion in fast allen Stücken übereinstimmte. Erfinder war ein Nürnberger namens Farfler gewesen. Er hatte sich den Wagen gebaut, um zur Kirche fahren zu können, da er an beiden Beinen gelähmt war. Der Gedanke, daß man ihm, dem Herrn von Drais, vorwerfen könne, sich am Gedankengut dieses Farfler vergriffen zu haben, hatte in ihm den Entschluß zum Reifen gebracht, das Vehikel in Stücke zu schlagen. Drais hatte es Spaß
Der Herr Forstmeister Baron von Drais von Sauerbronn mit Zylinder, Dienstfrack und Nankinghose mit dem „Holzroß" auf einer badischen Landstraße. 9
gemacht, den Minister durch ein rasches „Ja" zu verblüffen. Die Vernichtung des selbstbeweglichen Fahrzeugs war ohnehin beschlossene Sache gewesen. Zudem hatte eine andere Idee von ihm Besitz ergriffen, und diese Idee — davon war Drais fest überzeugt — würde seinen Namen weltbekannt machen. Es war ein Gestell aus zwei hintereinander befindlichen Rädern, die durch eine Lenkvorrichtung nach rechts und links gesteuert werden konnten. Der „Reiter" thronte auf einem kleinen Sitz, der über den Rädern festgeschraubt war. Die Maschine wurde dadurch in Bewegung gesetzt, daß der „Reiter" sich und sein Fahrzeug ständig vom Boden abstieß und zwischendurch die gewonnene Schwungkraft zum bequemen Weiterrollen ausnutzte. Er glaubte, daß sie bei Botengängen von größtem Nutzen sein könne; auch für Briefpostenläufer und andere Stafetten, für Reisende und Gesellschaftsfahrten würde sie geeignet sein; nicht zuletzt aber wäre sie ein geeignetes Mittel für gesunde Bewegung in frischer Luft und für vergnügliche Stunden. Die „Schnellaufmaschine", wie er sie nannte, beruhte auf den Gesetzen der Balance. Doch konnten sich die wenigsten Leute erklären, wie es möglich sein sollte, auf zwei Rädern einspurig dahinzufahren, ohne umzukippen und dauernd im Straßenstaub zu landen. Selbst sehr gelehrte Männer bewiesen mit viel Scharfsinn, daß man mit zwei Rädern die Balance nicht halten könne. Drais aber wußte es besser. Besonders auf Bergabfahrten war das Fahren ein großes Vergnügen. Jetzt galt es, das Publikum für das Verkehrsmittel zu gewinnen, und Drais verfaßte eine Broschüre, in der er schrieb: „In theoretischer Hinsicht liegt der bekannte Mechanismus des Rades, auf die einfachste Art für das Laufen angewendet, zu Grunde. Die Erfindung ist daher in Absicht auf Ersparung der Kraft fast ganz mit der alten der gewöhnlichen Wagen zu vergleichen. So gut ein Pferd auf der Landstraße die auf einen verhältnismäßig wohl gearbeiteten Wagen geladene Last viel leichter samt dem Wagen zieht, als ohne ihn die Ladung auf dem Rücken trägt, so gut schiebt der Mensch sein eigenes Gewicht viel leichter auf einer Maschine fort, als daß er das Gewicht selber trägt. Das ist um so mehr der Fall, als man mit nur einer einzigen Spur sich immer die besten Strecken der Landstraße aussuchen kann." Fast niemand verstand das unklare Geschreibsel. Deshalb beschloß der Verfasser, die Laufmaschine in Tätigkeit vorzuführen. Das Er10
gebnis war alles andere als ermutigend. Die bevorzugten Stände waren schockiert, weil einer der Ihrigen sich in dieser Weise lächerlich machte; der einfache Mann, der in einem Baron eine Art höheres Wesen erblickt hatte, schüttelte mißbilligend den Kopf und gab seiner Verachtung für diesen Freiherrn, der sich zum Gespött der Gassenjungen hergab, offen Ausdruck. Um so größer war die Überraschung, als sich herausstellte, daß das, was man als dummen Jux betrachtet hatte, von einem Mitglied des Hofes als durchaus ernstzunehmende Erfindung bezeichnet wurde. Das „Badische Magazin" druckte ein Schreiben ab, das dem Forstmeister zugegangen war: „Hochwohlgeborener, Hochverehrter Herr Forstmeister! Die mir in Euer Hochwohlgeborenen Schreiben zugeschickte Abbildung und Beschreibung Ihrer Laufmaschine habe ich erhalten und daraus ersehen, daß abermals durch Dero ausgezeichnetes Talent für Wissenschaft und Industrie die Welt mit einer nützlichen und genialen Erfindung beschenkt worden ist, die Ihrem Geist sowohl als dem Bestreben, gemeinnützig zu seyn, viele Ehre macht. Ich sage demselben für diese Überschickung und für die bey dieser Gelegenheit ausgedrückten anhänglichen Gesinnungen meinen verbindlichsten Dank und habe die Ehre zu seyn Euer Hochwohlgeboren ergebenster Leopold Markgraf zu Baden" Der Absender war ein Oheim des Großherzogs und spielte in Karlsruhe eine bedeutende Rolle.
Empfang beim Zaren Die badischen Barone waren in einer schwierigen Lage; sie hatten dem vermeintlichen Hanswurst die kalte Schulter gezeigt und bereuten jetzt ihre Voreiligkeit, wußten aber nicht, wie sie es anstellen sollten, wieder auf gutem Fuß mit ihm zu stehen. Besuche empfing er nicht. Die Dienerschaft war angewiesen, jedermann auszurichten, ihr Herr sei nicht daheim. Außerhalb seines Hauses mit ihm in Berührung zu kommen, war schwer, denn er mied es, seinen hochmütigen Standesgenossen zu begegnen. Drais ging nie zu Hofe, obwohl er seinem Rang gemäß verpflichtet gewesen wäre, an Festen im Schloß teilzunehmen. Zwischen dem Großherzog und Drais bestand immer noch eine Verstimmung. Vielleicht hatte der Landesvater nach der Zusage des Erfinders, auf die Inbetriebsetzung des selbsttätigen Wagens zu verzichten, geglaubt, Drais werde nie wie11
der ein neuartiges Beförderungsmittel konstruieren und ihn daher für wortbrüchig gehalten. Trotz des Wohlwollens des Markgrafen erhielt Drais das erhoffte Patent nicht. Drais hatte allen Grund, wütend zu sein. Die Versuchsfahrten, die er nur nachts unternahm, um den Tumult, den er voraussah, zu vermeiden, bewiesen, daß seine Maschine sich glänzend bewährte. So war er auf seinen Souverän schlecht zu sprechen und nahm sich vor, ihm sein Verhalten heimzuzahlen. Die Geschichte, wie ihm das gelungen ist, wird von den Chronisten auf verschiedene Weise wiedergegeben, Die lustigste dieser Lesarten, die vielleicht nur eine Anekdote ist, erzählt das Folgende: Dem Forstmeister bot sich eine Gelegenheit zu seinem Streich, als Zar Alexander, der mit der badischen Herrscherfamilie verwandt war, seinen Besuch in Karlsruhe angekündigt hatte. Natürlich würde der Großherzog zu Ehren des Gastes Festlichkeiten veranstalten — für Leute, die hoffähig waren, eine gute Gelegenheit, in die Sichtnähe des Kaisers zu gelangen. Für den Hofherrn und Forstmeister Karl von Drais hatte die Sache jedoch eine Schwierigkeit: Er war wohl Kammerherr, hatte aber von dieser Würde bisher keinen Gebrauch gemacht und daher auch versäumt, sich das vorgeschriebene Staatskleid anfertigen zu lassen. Da die Ankunft Alexanders kurz bevorstand, fehlte die Zeit, sich einen goldgestickten Frack sdineidern zu lassen. Drais sah einen Ausweg: Sein Vater, der seinen Lebensabend in Wien verbrachte, hatte die Hoftracht, die er bei feierlichen Anlässen zu tragen pflegte, in Karlsruhe zurückgelassen. Da er etwa von gleicher Statur war wie sein Sohn, glaubte Drais, die väterliche Staatstracht tragen zu können. Was die Maße betraf, stimmte es, doch der Zustand, in dem sich die Kleidungsstücke befanden, war jämmerlich. Die Nähte spiegelten, das Gold des Kragens war schwarz geworden, kurz: der Frack hätte auf einem Maskenball getragen werden können, für einen Hofball war er unmöglich. Bei seinem Erscheinen im großherzoglichen Palais erregte Drais unliebsames Aufsehen. Ein Kämmerer trat an ihn heran und forderte ihn flüsternd auf, ihm zu folgen. Gemeinsam begaben sie sich in einen Seitentrakt, wo in der Kleiderkammer in Reih und Glied die vorgeschriebenen Gewänder für Hofbedienstete und Edelleute hingen. Hier fanden sie das passende Prachtstück. Eine halbe Stunde später begann der Empfang. Drais, der jetzt den Anforderungen entsprach, die man an einen Gast des Landesherrn stellen durfte, war unter denen, die dem Zaren vorgestellt 12
werden sollten. Wie üblich nannte der Obersthofmeister jeweils die Namen der beiden Personen, die als nächste angesprochen werden sollten; die Betreffenden machten den vorgeschriebenen „Kratzfuß". Die zwei Regenten wandten sich je einem der nebeneinanderstehenden Herren zu, um die üblichen unverbindlichen Worte zu äußern und anzuhören. Zur Überraschung des Zaren beschränkte sich Karl Friedrich Dräis, Freiherr von Sauerbronn, nicht wie die übrigen Hofherren darauf, die Fragen zu beantworten, die an ihn gestellt wurden; der Forstmeister überfiel den Kaiser mit einer Flut von Beredsamkeit, die den russischen Gast schon bald erkennen ließen, daß ein einfallsreicher Erfinder vor ihm stand. Die Rede des Barons gipfelte in der Bitte, der Kaiser möge die von ihm erdachte Maschine in Augenschein nehmen und sich überzeugen, welch ungeheurer Vorteil für eine kriegführende Macht darin bestehe, über ein mit Laufrädern ausgestattetes Korps zu verfügen. Eines machte Alexander allerdings stutzig: daß dieser Hof mann in ihn drang, das neue Beförderungsmittel irgendwo zu besichtigen, wo außer ihnen beiden niemand zugegen war. Die Heimlichkeit begründete Drais damit, daß er am Hofe von Feinden umgeben sei, die nicht ruhen würden, bis die Vorführung aus diesem oder jenem Grunde abgesagt wäre. Inzwischen hatte der Großherzog den Kreis der Höflinge bereits zur Hälfte abgeschritten und warf befremdete Blicke über die Schulter zurück. Offenbar konnte er sich nicht erklären, was Alexander mit dem Forstmeister erörtern mochte. Der Obersthofmeister, der den Ablauf des Empfanges auf die Minute berechnet und den Beginn der Polonaise auf neun Uhr dreißig angesetzt hatte, sah sein ganzes Programm über den Haufen geworfen. Dem Erfinder gelang es, die russische Majestät seinen Wünschen geneigt zu machen. Dem Zaren gefiel es, mit jemand reden zu können, der sich über die starren Vorschriften der Etikette hinwegsetzte und nicht wie zu einem Potentaten, sondern wie zu Seinesgleichen mit ihm sprach. Das Ansinnen, sich an einem Orte einzufinden, der so abgeschieden war, daß niemand sich hinzugesellen konnte, hätte einen furchtsameren Menschen als Alexander davon abgehalten, zuzustimmen. Attentate waren nichts Ungewöhnliches in dieser Zeit. Doch dem Zaren schien das Abenteuer Spaß zu machen. Natürlich mutete Drais ihm nicht zu, in eine einsame Gegend zu kommen. Er schlug als Treffpunkt den großen Zeremonien13
saal des Schlosses vor, der in der kommenden Nacht, für die kein Fest anberaumt war, als Ort der Vorführung der Laufmaschine wie geschaffen sein würde. Der Kaiser hielt Wort, fand sich zur vereinbarten Stunde ein und sparte nicht mit Lob, als der Kammerherr mit verblüffender Schnelligkeit von einem Ende des Saales zum anderen fuhr, Bogen beschrieb, Wendungen vollführte, kurz, dem Herrscher Gelegenheit gab, zu beurteilen, was das neue Beförderungsmittel zu leisten imstande war. Was weder Alexander noch Drais bedacht hatten, war die Tatsache, daß die Wohnräume des Großherzogs über dem Zeremoniensaal lagen; so konnten ihm die Geräusche, die durch das Abstoßen mit den Stiefeln entstanden, nicht entgehen. Unter militärischer Bedekkung, von zwölf Mann der Schloßwache flankiert, stieg der Großherzog zum Zeremoniensaal hinab und traute seinen Augen nicht, als er im schwachen Licht des Mondes, das durch die hohen Fenster hereinfiel, den Forstmeister auf einem sonderbaren Ding die Wand entlang reiten sah, während sein hoher Gast in der Mitte des Raum stand, Bravorufe ausstieß und applaudierte. Beim Anblick der Eskorte, die den Landesvater umgab, spiel ein belustigtes Lächeln um den Mund Alexanders, und auch der Ba ron konnte ein Lachen nicht unterdrücken. Beiden war klar, da Karl Ludwig eine angstvolle Viertelstunde durchlebt haben mußte. Als furchtsamer Mann erkannt zu sein, mochte den eitlen Karl Ludwig nicht wenig verdrossen haben. Schärfer als es vielleicht seine Absicht war, erkundigte er sich, was die nächtliche Szene bedeute. Der Zar gab ihm Antwort, wußte aber selbst nicht, wie er begreiflich machen sollte, weshalb man den Gastgeber übergangen hatte. Der Schluß der Zusammenkunft, die für den Erfinder einen aussichtsreichen Verlauf zu nehmen schien, ging überstürzt vor sich. Alexander drückte dem Baron die Hand, versprach, sich auch seinen pferdelosen Wagen vorführen zu lassen, und zog sich mit dem Großherzog zurück.
* Die Vorführung des Wagens fand tags darauf im Schloßpark statt, doch erfüllten sich die Hoffnungen des Erfinders auch diesmal nicht. Er hatte erwartet, daß der Kaiser seinen Vorschlag aufgreifen und ihn zum Kommandanten einer Heeresabteilung ernennen werde, die, zwischen Infanterie und Kavallerie stehend, das Laufen mit dem Reiten verband. Er hatte sich ausgemalt, welcher Triumph es sein würde, vor den Großherzog hinzutreten und ihm zu eröffnen, 14
daß er Baden den Rücken kehren werde, um in Zukunft einem Souverän zu dienen, der den Wert eines Menschen besser zu beurteilen vermöge. Es kam nicht dazu. Der Zar begnügte sich damit, dem großherzoglichen Forstmeister seine Anerkennung auszusprechen und ihm ein Schmuckstück zukommen zu lassen, worüber das „Badische Magazin" unter den Hofnachrichten eine sehr stolze Notiz veröffentlichte: „Der Kammerjunker Forstmeister Freyherr von Drais hat seinen erfundenen Wagen, der ohne Pferde durch den insitzenden Menschen getrieben, leicht und schnell dahinläuft, Ihrer Majestät, dem Kaiser von Rußland, vorgeführt. Der Monarch hatte daran Wohlgefallen, verlangte am folgenden Tage die nochmalige Vorzeigung, äußerte: ,C'est bien ingenieux!' — ,Das ist geradezu genial' — und sandte dem Erfinder einen brillantenen Ring für das Vergnügen, welches Ihrer Kaiserlichen Majestät damit gemacht worden sey."
Rekordfahrt Karlsruhe — Kehl Das alles hatte sich vor vier Jahren ereignet. Die Scheu, sich bei Tage auf der Laufmaschine zu zeigen, Tiatte Drais inzwischen überwunden und dem unausbleiblichen Tumult tapfer die Stirne geboten. Durch das Schreiben des Markgrafen, der gern ein wenig den Außenseiter und Oppositionellen spielte, war die ganze Angelegenheit in ein neues Stadium getreten. Man sprach in Hofkreisen davon, der Großherzog wolle es vermeiden, sich in offenen Gegensatz zu seinem Onkel zu stellen, und überlege, ob er dem Baron Drais das nachgesuchte Patent doch noch erteilen solle. Trotz des Einsiedlerdaseins, das er noch immer führte, hörte der Forstmeister Drais davon, daß seine Sache eine günstige Wendung zu nehmen schien. Um zu erfahren, wie weit die Angelegenheit gediehen sei, begab er sich ins Ministerium des Innern, das für den Fall zuständig war. Der Minister selbst empfing ihn, erklärte jedoch, Seine Durchlaucht habe noch keine endgültigen Entschlüsse gefaßt. Er selber könne das Gesuch um Ausstellung einer Schutzurkunde nicht unterstützen, denn Gefährte, die durch eigene Kraft in Bewegung zu setzen seien, hätten schon verschiedene Leute vor Drais konstruiert, darunter ein sechszehnjähriger Junge, Francois Blanchard, der um das Jahr 1750 einen mechanischen Wagen gebaut habe und damit sieben Meilen weit gefahren sei. Ludwig XV. habe sich das Fahrzeug vorführen lassen und es überschwenglich gelobt. 15
Schroffer, als es die Exzellenz gewohnt war, widersprach Drais. Er wies darauf hin, daß seine Erfindung nicht als Wagen ange-r sprochen werden dürfe. Das Neue daran bestehe in der Tatsache, daß sie nur zwei Räder benötige, um die Leistung eines Fußgängers zu verzehnfachen. Der Minister meinte, das sei wohl stark übertrieben. Im übrigen gebe es ja Fuhrwerke genug, die jemanden, der Eile habe, rasch von einem Ort zum anderen befördern könnten. „Aber nicht so rasch wie mein Laufrad", beharrte Drais und verstieg sich zu der Behauptung, daß sich mit Hilfe der Laufmaschine in einem Viertel der Zeit, den die Postkutsche brauche, jedes beliebige Ziel erreichen lasse. Eine so unsinnige Behauptung wollten Ihre Exzellenz um keinen Preis gelten lassen. Und schließlich kam es zu einer Wette. Drais erklärte, daß er die Strecke von Karlsruhe nach Kehl, der gegenüber von Straßburg gelegenen Rheinstadt, für deren Bewältigung die Postkutsche sechzehn Stunden benötigte, in vier Stunden zurücklegen werde.
* An dem Tag, der für die Austragung der Wette bestimmt worden war, hatte sich ganz Karlsruhe aufgemacht, um beim Start zugegen zu sein. Auch in Kehl stand die Bevölkerung Kopf an Kopf, um das Eintreffen der Laufmaschine zu erwarten. Aber auch in allen Orten, die Drais unterwegs passieren mußte, säumten Neugierige die Straßenränder; die Zeitungen hatten von der Wette Wind bekommen und ihren Lesern das denkwürdige Ereignis angekündigt. Es war ausgemacht, daß der Verlierer an den Gewinner einen beträchtlichen Betrag zahlen mußte. Der Minister hatte die Wettsumme sehr hoch bemessen, da er überzeugt war, daß er der Sieger sein würde. Aber die Enttäuschung Ihrer Exzellenz war groß, als die Nachricht aus Kehl eintraf, daß das Laufrad kurz vor Ablauf der vierten Stunde eingetroffen sei. Der Ausgang der Wette erregte großes Aufsehen, und Drais glaubte bereits gewonnenes Spiel zu haben. Er ließ Prospekte drucken, um den Interessenten die Bestellung zu erleichtern. Er bot mehrere Ausführungen seiner Laufmaschine an: „Einfache Maschinen zum Preise von 44 Gulden. Einfache Maschinen mit Einrichtung zur Höherstellung des Sitzes, um von Personen verschiedener Größe benutzt werden zu können: Preis 50 Gulden. 16
Die jungen Herren von damals huldigen im „Velodrom", in der Drais'schen Laufhalle, dem Laufradsport. Maschinen mit zwei Sitzen hintereinander, auf der zwei Personen zugleich fahren können und nach hinlänglicher Übung in Balancieren immer einer fast ganz ausruhen kann, mit Erhöhungseinrichtung für die Sitze: Preis 75 Gulden." Jetzt konnte er die Zurückgezogenheit, in der er bisher seine Tage verbracht hatte, nicht länger aufrechthalten. Vor allem mußte er das Verbot, Besucher vorzulassen, rückgängig machen; die Besteller, auf die er rechnete, sollten einen Teil des Kaufpreises anzahlen, und eine Hilfskraft, die das Geld in Empfang nehmen 17
konnte, war nicht vorhanden. Er mußte selber den Kassierer spielen. Zu seinem Verdruß sprach aber niemand vor, um seine Laufmaschine zu bestellen. Er wartete Tag um Tag, Woche um Woche. Endlich — seit dem Erscheinen des Prospektes war mehr als ein Monat vergangen — meldete man ihm eine Dame, die ihn zu sprechen wünsche.
Hundertmal um den Marktplatz Die Besucherin war eine Französin. Die auffällige Art, in der sie sich kleidete, und ihr ganzes Benehmen ließen darauf schließen, daß es sich um eine Künstlerin handelte. Die Demoiselle gab an, sie gehöre dem Ballett an, das um diese Zeit in Karlsruhe ein Gastspiel gab. Drais war neugierig, warum gerade sie an seiner Erfindung interessiert sei. Die Tänzerin schien auf diese Frage vorbereitet. Sie sprudelte eine etwas wirre Rede hervor, aus der zu entnehmen war, daß sie in ihrer Heimat Leute kenne, die bereit sein würden, in eine solche Neuheit Kapital zu stecken, sobald sie ihre Leistungsfähigkeit bewiesen habe. Darüber bestehe kein Zweifel, erwiderte Drais. Demoiselle habe gewiß davon gehört, mit welcher Schnelligkeit das Laufrad die Strecke von Karlsruhe nach Kehl zurückgelegt habe. Darauf gab sie zur Antwort, die Fahrt auf ebener Chaussee werde von ihren Freunden kaum als Beweis dafür betrachtet werden, daß die Maschine den Anforderungen entspreche, die man an sie stellen müsse. „Was verlangen Ihre Freunde noch?" stieß der Erfinder ärgerlich hervor. „Daß Sie den Marktplatz hundertmal umrunden." Der Forstmeister dachte nach. Was man von ihm forderte, konnte die Laufmaschine zwar spielend bewältigen, aber ob er, der Fahrer, die Strapaze aushalten würde, stand durchaus nicht fest; er würde gezwungen sein, ständig Kurven zu beschreiben und also nie Gelegenheit haben, seine Maschine auslaufen zu lassen, um neue Kräfte zu sammeln. „Ich werde es mir überlegen", erklärte er schließlich, ließ sich das Quartier nennen, in dem die Dame wohnte, und erhob sich zum Zeichen, daß er die Unterredung als beendet betrachte. Die Aussicht, seine Erfindung gemeinsam mit einer Finanzgruppe auszuwerten, war sehr verlockend. Anderseits war es denkbar, daß er die Fahrt aus Erschöpfung vorzeitig abbrechen mußte. Falls die 18
Französin ausposaunte, daß sie diese Bedingung gestellt hatte, würde es bald ganz Karlsruhe und auch der Großherzog erfahren. Stand sein Patent nicht auf dem Spiel? Während Drais den Fall noch nach allen Seiten erwog, wurde ihm ein Schriftstück zugestellt, das seinem Schwanken ein Ende setzte. Das Schreiben kam aus der Kanzlei des Großherzogs: „Wir, Carl, von Gottes Gnaden Großherzog von Baden, Herzog von Zähringen, Landgraf von Nollenburg, Graf von Hanau usw. bewilligen dem Kammerjunker Freyherrn von Drais ein Erfindungspatent auf zehn Jahre für die von ihm erfundene Laufmaschine, in dem Maße, daß Niemand dieselbe in den diesseitigen Großherzoglichen Landen nachmachen oder nachmachen lassen oder auf öffentlichen Straßen oder Plätzen gebrauchen soll, ohne sich zuerst mit dem Erfinder darüber abgefunden und ein Zeichen von ihm dafür gelöst zu haben. — Wir beauftragen daher das Ministerium des Innern, auf seinen über diesen Gegenstand erstatteten Vortrag vom 6. Januar d. J. von Drais ein solches Erfindungspatent in der gewöhnlichen Strafe für das Entgegenhandeln ausfertigen zu lassen. Gegeben zu Karlsruhe im Großherzoglichen Staatsministerium, den 12. Januar 1818."
* Der Weg war frei. Noch am gleichen Tage ließ Drais die Künstlerin wissen, daß er am folgenden Sonntag versuchen werde, die ihm gestellte Bedingung zu erfüllen. Schon vierundzwanzig Stunden später war das bevorstehende Ereignis Stadtgespräch. Die Polizeibehörde wandte sich an Drais um Auskunft, ob das Gerücht auf Wahrheit beruhe, da man in diesem Falle Vorkehrungen treffen müsse; es sei mit einer großen Menschenansammlung zu rechnen. Ganz Karlsruhe war an dem vereinbarten Sonntag auf den Beinen. Die Einwohner standen dicht gedrängt um den Marktplatz, voller Neugier, ob die Laufmaschine tatsächlich als „Roß des armen Mannes" in Betracht kam, wie sein Schöpfer es genannt hatte. Was Drais an diesem Tage vollbrachte, überstieg alles, was er sich selber zugetraut hatte. Daß er in vier Stunden Kehl erreicht hatte, bedeutete wenig, gemessen an der Anstrengung, die es ihn kostete, Runde um Runde im Kreise zu fahren. Auf der Chaussee hatte das Gefälle ihm oft erlaubt, mühelos dahinzurollen, während er jetzt die Maschine ohne Pause vorwärtstreiben und mehr als einmal befürchten mußte, daß sein Herz plötzlich den Dienst versagte. 19
Nur unter Aufbietung seiner letzten Energie gelang es ihm durchzuhalten. Als er endlich, nach mehr als zweieinhalb Stunden, zum hundertsten Mal den Marktplatz umkreist hatte, war er mehr tot als lebendig. Ein Wagen mußte ihn heimbringen. Sein jämmerlicher Zustand wurde aber durch die Hoffnung, daß er nunmehr seine Erfindung in großem Stil auswerten könne, völlig aufgewogen. Am folgenden Tage erwartete er die entscheidende Besprechung. Doch die Französin ließ nichts von sich hören. Drais wartete weitere .vierundzwanzig Stunden, dann beschloß er, die Dame aufzusuchen. Das Quartier, das sie ihm genannt hatte, befand sich in einem Pensionshause, das Fremde von besonderem Ansehen zu beherbergen pflegte. Die Pensionsinhaberin empfing ihn mit der Nachricht, daß die Tänzerin am vergangenen Tage Hals über Kopf abgereist sei, und zwar auf Betreiben der Behörde. Man habe sie durch einen Gendarm an die Landesgrenze schaffen lassen. Der Grund für diese Maßregel sei nicht bekannt. Nur soviel stehe fest: die Demoiselle habe in den Stunden, in denen die Straßen leer waren und der Baron sich auf dem Laufrad produzierte, eine Person von Stande zu einem Stelldichein erwartet, die aber nicht gekommen sei. Dagegen habe sich am folgenden Morgen ein Polizeidiener eingefunden, der ihrer Mieterin ein amtliches Schreiben überbrachte. Daraufhin habe die Dame in aller Eile ihre Habseligkeiten in Koffer und Taschen verstaut. Kurz darauf sei sie von einer Karosse abgeholt worden, und neben dem Wagenlenker habe ein Gendarm auf dem Kutschbock gesessen. Es bestand kein Zweifel, daß Drais zum besten gehalten worden war. Offenbar hatte er nur als Figur in einem Intrigenspiel gedient.
Der Forstmeister in Paris und London So hatte sich also für ihn auch diese Chance als Luftbild erwiesen. Auch seine Erwartung, daß einige der prominenten Zuschauer als Käufer für seine Laufmaschine auftreten würden, erfüllte sich nicht. Unter diesen Umständen war ihm seine Vaterstadt verleidet. Von einem Tag zum anderen beschloß er, seine Zelte abzubrechen; anderwärts würde die Größe seiner Erfindung gewiß gebührende Anerkennung finden. Ohne sich von jemand zu verabschieden und ohne sich vom Regenten beurlauben zu lassen, verließ er die Heimat. Er fühlte sidi umso mehr zu diesem Schritt berechtigt, als ihm 20
die Forstbehörde inzwischen mitgeteilt hatte, daß man ihn als ausgeschieden betrachte, sozusagen als im Ruhestand befindlich, aber ohne Anrecht auf irgendwelche Bezüge. Der Entschluß, sich nach Paris zu wenden, erwies sich als ein glücklicher Gedanke. Die Laufmaschine erregte in der französischen Hauptstadt nicht geringeres Aufsehen als in Karlsruhe, nur mit dem Unterschied, daß die Leute, die sie sahen, den Fahrenden nicht auslachten, sondern auf der Stelle begriffen, daß sie eine sehr entwicklungsfähige Neuheit vor sich hatten. Wenn Drais auf dem Laufrad durch die Alleen des Bois de Boulogne rollte, stellten sich ihm häufig Spaziergänger in den Weg, die ihn fragten, wo sie das
Zeitgenössisches Spottbild auf die Erfindung des Laufrades. 21
Fahrzeug kaufen könnten. Drais hatte eine mechanische Werkstätte ausfindig gemacht, die bereit war, das Modell zu kopieren, und er verwies die Interessenten an diese Adresse. Die Begeisterung für das neue Beförderungsmittel flaute aber bald wieder ab. Drais wechselte erneut seine Wirkungsstätte, um in England, wo schon damals alle Arten von Sport gepflegt wurden, sein Glück zu versuchen. Er erwarb ein altes Zirkuszelt und schlug es auf einem Gelände auf, das die Stadt ihm bereitwillig überließ, dem Unternehmen gab er den Namen „Velodrom", Laufhalle. Auf Plakaten lud er die Londoner ein, sich die Kunst, eine» Laufmaschine zu betätigen, beibringen zu lassen und dann an Wettrennen teilzunehmen, die täglich zur Austragung kommen sollten. Bald fanden sich die ersten Besucher ein, doch glaubten manche, das Honorar für die Lehrstunden sparen zu können, und versuchten, sich ohne vorherige Unterweisung auf dem Holzroß zu halten. Das endete mit mancherlei Pannen, verrenkten Gliedmaßen, so daß die Gestürzten bald einsahen, daß sie besser daran taten, Unterricht zu nehmen. Drais war überbeschäftigt, hatte ansehnliche Einnahmen, die sich erhöhten, als eine Anzahl von Schülern ausgebildet war, die in den Parkanlagen umherfuhren und weitere Anhänger für den neuen Sport warben. Schließlich herrschte ein derartiger Andrang im Velodrom, daß sich die Besucher stundenlang gedulden mußten, bis sie an die Reihe kamen. Das „Hobby horse", das .Steckenpferd', das „Dandy horse", das ,Geckenroß', wie man es hier nannte, hatte London erobert. Aber nicht nur aus dieser Quelle ergoß sich ein Goldstrom in die Taschen des Erfinders. Noch von einer anderen Seite flössen ihm Gelder zu. Die britische Postverwaltung bestellte zwölf Laufmaschinen. Wie der Vorstand betonte, sollten sie erprobt werden. Sofern sie sich bewährten, war ein weiterer Auftrag vorgesehen. Drais beglückwünschte sich, nach England gekommen zu sein und nicht länger daheim auf den Tag seiner Anerkennung gewartet zu haben. Aber schon erwartete ihn eine neue Enttäuschung. Die Postbehörde bekam einen neuen Leiter, der für die Drais'schen Maschinen kein Interesse mehr zeigte. Man gab an, daß der Schuhbedarf der Postbediensteten seit der Einführung des Laufrades erschreckend gestiegen sei, da das dauernde Abstoßen die Stiefelspitzen abnütze. Die entstehenden Reparaturkosten seien untragbar. Schon folgte der zweite Schlag. Der Londoner Oberbürgermeister untersagte die Rennen auf dem städtischen Grundstück und ver22
langte die Entfernung des Zeltes. Drais hielt nach einem ähnlichen Gelände Umschau und fand auch einen Platz, der sich für seine Zwecke eignete. Vorsichtshalber fragte der Grundstückseigentümer bei der Verwaltung an, ob gegen die Verlegung des Velodroms Einwände zu erwarten seien. Die Verwaltung verbot daraufhin alle Radveranstaltungen in der Stadt. Drais setzte Himmel und Hölle in Bewegung, um die entscheidenden Stellen von ihrem Nein abzubringen. Umsonst! Vielleicht war bekanntgeworden, daß er unter der Fahne Napoleons, auf Seiten des großen Gegners Englands, gefochten hatte.
Ein böser Studentenulk Als Drais erkannte, daß alle Eingaben zwecklos waren, beschloß er, mit seinen Ersparnissen nach Karlsruhe zurückzukehren und eine Fabrik für Laufmaschinen zu gründen. Das Interesse, das er bei den Parisern und Londonern gefunden hatte, würde — seiner Meinung nach — auch in Wien, in Rom, in Brüssel und St. Petersburg vorhanden sein und ihm erlauben, das Laufrad in alle Teile der Welt zu exportieren. So trat er die Heimreise an und ging gleich nach seiner Ankunft in Karlsruhe daran, Bauplätze zu besichtigen. Auch mit Architekten, Kaufleuten und Handwerkern verhandelte er. Aber bald mußte er einsehen, daß das Kapital, das er mitgebracht hatte, nicht reichte, um die Fabrik zu errichten. Zwar hatte er bereits ein zusagendes Baugelände erworben, aber nur den halben Kaufpreis erlegt, mit der Verpflichtung, den Rest bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zu begleichen. Würde er den vereinbarten Termin nicht einhalten, galt die Anzahlung als verfallen. Die Lieferanten der Baumaterialien hatten ihm einzureden gewußt, daß er gut daran tue, Holzbalken, Ziegelsteine und Dachschindeln ohne Verzug anzuschaffen, da der Bau bei den zu erwartenden Preisaufschlägen später viel teuerer werden würde. Der weltfremde Drais glaubte ihren Angaben und ließ sich bestimmen, Wechsel auszustellen, als seine Barmittel knapp wurden. Zu spät erfaßte er, daß er in eine gefährliche Lage geraten war. Wenn ihm nicht von irgendeiner Seite Gelder zuflössen, mußte alles ins Stocken geraten, würde er den Baugrund verlieren und gezwungen sein, das halbfertige Gebäude abreißen zu lassen. Drais entschloß sich, ein Velodrom, wie es jenseits des Kanals zu einer Goldgrube geworden war, auch in seiner Vaterstadt einzu23
richten. Als er, vorsichtig geworden, bei der zuständigen Stelle anfragte, kam er zur Überzeugung, daß man die Eröffnung einer Sportstätte durch ein Mitglied der Hofgesellschaft verhindern werde. Während er verzweifelt nach einem Ausweg suchte, wurde er, als er sich vorübergehend in Heidelberg aufhielt, das Opfer eines Studentenstreichs. Einige junge Taugenichtse logen ihm vor, Söhne steinreicher Väter zu sein und auch selbst über große Geldmittel zu verfügen.
* Der leichtgläubige Erfinder kam gar nicht auf den Gedanken, daß die gewissenlosen Burschen es auf einen Schabernack abgesehen hatten. Von den klangvollen Namen geblendet, ging er auf ihre Anregung ein, das geplante Unternehmen mit ihrer finanziellen Hilfe großzügig aufzubauen. Jahrelang hatte er darauf gewartet, endlich denjenigen zu begegnen, die den Wert seiner Maschine begriffen. Daß es junge Menschen waren, erfüllte ihn mit besonderer Genugtuung und Freude; denn gerade der Jugend hatte er seine Laufmaschinen zugedacht. Es erschien ihm keineswegs unglaubwürdig, daß sie sich seiner Erfindung annahmen; der Plan, den sie sich ausgedacht hatten, um die Erfindung mit einem Schlage einzuführen, lag im Bereich der Möglichkeit. Sie schlugen vor, ein Radrennen zu veranstalten, und zwar in großem Stil. Dem Gewinner sollten tausend Dukaten zufallen, in der damaligen Zeit ein ganzes Vermögen. Bedingung war der Besitz einer Laufmaschine. Dadurch sollten alle, die von der Höhe der Prämie verlockt wurden, veranlaßt werden, Laufräder zu kaufen. Voller Begeisterung ließ Drais auf Kredit Dutzende von Laufrädern herstellen, er war überzeugt, daß er sie sofort absetzen werde. Noch war die Fabrik nicht so weit, selbst zu produzieren. Der Auftrag wurde an einen Stellmacher vergeben, der sich die Schnelligkeit der Lieferung, auf die Drais gedrungen hatte, gut bezahlen ließ. Schließlich stand ein ganzes Rudel von Laufmaschinen in der Halle des freiherrlichen Stadthauses. Der Absatz ging aber nur sehr schleppend vonstatten. Zunächst drängten ihn die Leute, die Schuldverschreibungen von ihm in Händen hatten, nicht. Einem Manne, der die Mittel besaß, um demjenigen, der das Exerzierfeid ein paar Mal umrundete, tausend Goldstücke zu schenken, konnte man getrost die Zahlung stunden. 24
Drais bereitete das Ausbleiben der ihm zugesagten Summen allmählich Sorgen. Da ein Schreiben, das an die gegebenen Versprechungen erinnerte, ohne Ergebnis blieb, unternahm er am Tage vor dem Rennen die Reise nach Heidelberg, um von den vergeßlichen jungen Herren wenigstens den Betrag zu erlangen, den er tags darauf, bei der Preisverteilung, in Händen haben mußte. In der Universitätsstadt machte er sich sogleich auf den Weg zur Stammkneipe der Studenten. Als er vor der Kneipe eintraf, wurde einer von ihnen an die Luft gesetzt. Aus dem, was der Wirt hinterher rief, ging hervor, daß es sich um einen üblen Schuldenmacher handelte, der seit Wochen ausgiebig zechte, aber offenbar keinen roten Heller besaß. Drais erschien am Stammtisch, sah in verlegene Gesichter und wußte, wie die Dinge standen. Den leichtfertigen Burschen hatte es Spaß gemacht, die Rolle freigebiger Gönner zu spielen. Jetzt dämmerte ihnen, was sie angerichtet hatten, aber dem Erfinder, dessen Verpflichtungen in die Tausende gingen, beizuspringen, war ihnen beim besten Willen nicht möglich. Drais kehrte geschlagen nach Karlsruhe zurück; er konnte einige Wertgegenstände, die sich im Hause befanden, zu Geld machen, aber der Ertrag würde nicht ausreichen. Vor der Blamage, öffentlich erklären zu müssen, daß das Wettrennen nicht abgehalten werden könne, da das Geld für die Preisträger fehle, graute ihm.
Sturm auf das Haus des Freiherrn In der Nähe seiner Wohnung befand sich ein Antiquitätenladen. Dort wollte er eine Miniatur, alte Spitzen, eine Porzellangruppe und ein paar andere Wertgegenstände verkaufen. Bevor er aber Zeit fand, die Sachen zusammenzupacken, erschien ein Abgesandter des Großherzogs, der ihn bat, sich in der Residenz einzufinden. Der Landesvater hatte den Besuch auswärtiger Fürstlichkeiten erhalten, die großes Interesse für die Laufmaschine bekundeten und die Absicht geäußert hatten, sich eine Wettfahrt anzusehen. Drais mußte wohl oder übel der Aufforderung Folge leisten. Die Ereignisse überstürzten sich. Vielleicht sah er in dieser unerwarteten Einladung einen Wink des Schicksals, eine Möglichkeit, sich dem Regenten anzuvertrauen, dem es ein leichtes gewesen wäre, ihn vor der drohenden Bloßstellung zu bewahren. Im Schloß bot sich aber keine Gelegenheit zu einer Aussprache unter vier Augen. Schon nach kurzer Zeit fuhren Equipagen vor, die der Großherzog und seine Gäste bestiegen. Auch Drais wurde in einen Wagen genötigt, 25
dann rollte eine Kalesche nach der anderen dem Exerzierfeld zu, auf dem das Radrennen stattfinden sollte. Auf der Tribüne, die man errichtet hatte, um dem Bürgermeister und den Stadtvätern Gelegenheit zu geben, das Ereignis zu verfolgen, herrschte Verwirrung, als der Landesvater erschien, mit dessen Kommen niemand gerechnet hatte. Während Boten nach allen Richtungen ausgesandt wurden, um angemessene Sitzgelegenheiten heranzuschaffen, trat Drais auf den Landesherrn zu und setzte zu einem hastig geflüsterten Geständnis an. Aber bevor er die entscheidenden Worte hervorbringen konnte, wurde der hohe Herr von einer fremden Prinzessin in Anspruch genommen; das, was gesagt werden sollte, blieb ungesprochen. Schon verkündete ein Flintenschuß den Beginn des Rennens. Die Dinge trieben unaufhaltsam dem Verhängnis zu. Als von den wenigen Teilnehmern einer nach dem anderen stürzte, hoffte Drais, daß der Skandal vermieden werden könne. Aber dann hielten sich zwei, drei der Beteiligten auf ihren Maschinen, und einer, ein Halbwüchsiger, kam als erster ans Ziel.
* Der Großherzog war beglückt. In aller Öffentlichkeit zeichnete er Karl von Drais durch einen Händedruck aus. Der Regent hatte es übernommen, die tausend Goldstücke dem Sieger persönlich zu überreichen; als aber der Augenblick der Preisverteilung gekommen war, beobachtete man, wie Drais auf Seine Durchlaucht einsprach und wie sich dessen Miene, die eben noch Wohlwollen und Leutseligkeit ausgedrückt hatte, jäh verdüsterte. Er zischte dem Erfinder Worte zu, die keiner verstand, wandte ihm jäh den Rücken, forderte seine Gäste durch eine Handbewegung auf, ihm zu folgen, und eilte dem Platze zu, an dem die Wagenkolonne wartete. Minutenlang begriff niemand, was vorgegangen war. Dann gab einer halblaut der Vermutung Ausdruck, daß man betrogen worden sei. Seine Worte waren gehört worden, und jeder wiederholte sie dem Nachbar, bis die Menge plötzlich in Schmährufe ausbrach und mit geballten Fäusten gegen die Tribüne vordrang. Drais suchte dem wütenden Haufen zu erklären, wie übel ihm mitgespielt worden war. Die Versicherung, daß man ihn übertölpelt, ihn durch falsche Vorspiegelungen in diese Lage gebracht hatte, half ihm nichts. Als er gestand, durch den Streich den Rest seines Vermö26
gens eingebüßt zu haben und bettelarm zu sein, überschrieen ihn seine Gläubiger: Spitzbube, Hochstapler, Schwindler, Betrüger! Steine flogen. Beschmutzt, aus vielen Wunden blutend, erkannte Drais, daß alles, was er sagte, seine Lage nur verschlimmerte. So brach er seine Erklärungen ab und schritt die Tribünentreppe hinab. Er wäre gelyncht worden, hätte das Gefährt, das ihn hierher gebracht hatte, nicht auf ihn gewartet. Im Wirrwarr, der dem überstürzten Aufbruch des Großherzogs folgte, hatten die Adjutanten versäumt, die Karosse zurückzubeordern. Als Drais herantrat, sprang der Heiduck vom Kutschbock und öffnete den Schlag. Drais stolperte ins Innere. Die Schreie der enttäuschten Menge übertönten den Hufschlag der dahinjagenden Gäule. Zu Hause ging er daran, alle Türen zu verrammeln. Er sah voraus, daß man versuchen würde, sich seiner zu bemächtigen. Und wirklich erschien bald eine Horde verwegener Kerle vor seinem Grundstück. Von Minute zu Minute erhielten sie Zuzug. Schließlich traten zwei von ihnen vor. Sie schienen entschlossen, sich gewaltsam Eintritt ins Haus zu verschaffen. Das alte, wurmstichige Tor konnte nicht lange standhalten. Drais holte ein Überbleibsel aus seiner Forstmeisterzeit, einen Hinterlader, vom Estrich. Es konnte nur noch Minuten dauern, bis die Männer eindrangen. Er wartete oben an der Treppe. Plötzlich verstummte das Stimmengewirr. Kommandorufe ertönten. Draußen trat Stille ein. Die Polizei hatte Hilfe geschickt.
Einige Wochen später fand der Prozeß gegen den Freiherrn statt; er war angeklagt, die ausgestellten Wechsel nicht eingelöst zu haben. Drais suchte dem Gericht klarzumachen, daß die Beträge, die er bereits erlegt hatte, den wahren Wert der Lieferungen deckten, aber er drang nicht durch und wurde verurteilt, die Schulden auf Heller und Pfennig zu bezahlen. Er mußte das Haus, in dem er wohnte, veräußern. Zwei Drittel des Besitzes gehörten seinen Tanten, die im Ausland lebten und den Verkauf des Grundstücks begrüßten, weil bares Geld für sie wertvoller war als der Besitz eines Hausanteils, der keine Einnahmen abwarf. Der Erlös aus dem Drittel, das dem Erfinder verblieb, reichte aus, seine Verbindlichkeiten zu regeln. Dann stand Drais auf der Straße. Einige hundert Taler hatte er aus dem Zusammenbruch retten können. Sie verhalfen ihm dazu, 27
sich schlecht und recht über Wasser zu halten. Erschien er in der Öffentlichkeit, erregte er allein schon durch sein Äußeres Anstoß. Er trug eine Uniformhose aus der Zeit, als er Offizier gewesen war, dazu einen abgetragenen Forstmeisterfrack, und als Kopfbedeckung einen uralten verbeulten „Chapeau claque", der seine Erscheinung noch grotesker machte. Ein solcher Kammerherr mußte den badischen Hof bei Außenstehenden, die nach Karlsruhe kamen, in Mißkredit bringen. Räte des Großherzogs rieten dem Fürsten, die Sache aus der Welt zu schaffen und dem Baron ein Ruhegeld zu bewilligen. Der durch die Ereignisse des Radrennens verärgerte Großherzog wollte nichts davon wissen, schließlich aber gab er seine Zustimmung, und der Akt mit der Befürwortung des Ministers für innere Angelegenheiten wanderte in das Büro des Finanzministers. Drais hatte keine Ahnung von dem, was sich inzwischen zugetragen hatte. Wie so oft in der letzten Zeit saß er in den Abendstunden in einer Wirtschaft, wo um wenig Geld der Branntwein ausgeschenkt wurde, der ihn sein verfehltes Leben vergessen ließ. Das Unglück wollte es, daß an einem dieser Abende in seiner Nähe ein britischer Reisender Platz nahm, der kein Auge von dem seltsamen Gast wandte. Er erkundigte sich, wer der Mensch in der verschlissenen Uniform sei, und erfuhr, wen er vor sich hatte. „Das also ist der Verrückte, dessen Satansrad in London zum Lieblingssport des Pöbels geworden ist!" Nichts konnte Drais ärger erbittern als die Beschimpfung seiner Erfindung. Es kam zu einem wilden Raufhandel. Zuletzt, als man die Kämpfenden trennte, waren beide übel zugerichtet. Weder der Engländer noch der Deutsche konnten den Sieg für sich in Anspruch nehmen. Der einzige, der Grund hatte, zu triumphieren, war der Großherzog. Dem lästigen Kammerherrn wurden wegen des öffentlichen Ärgernisses Rang und Ruhegehalt aberkannt und der Kammerherrenschlüssel entzogen.
Schaubudenummer Für den Erfinder schwand jede Hoffnung, jemals wieder ein menschenwürdiges Dasein zu führen. Er wurde mit der Zeit ein Kuriosum für die Stadt, der „närrische Baron", ein Mensch, den niemand für voll nahm, auf den man die Landesfremden aufmerksam machte, ein Sonderling, der sich über alle Regeln der guten Gesellschaft, über Herkommen und Sitte hinwegsetzte. 28
Trotzdem sann er noch immer über Verbesserungen an seiner Laufmaschine nach, die sich gut fortentwickelt hatte. Zeitweise hatte Drais die Lenkstange zugleich auch als Stütze für die Hände benutzt, während er das Rad laufend vorantrieb. Um den Armen während des Fahrens eine Auflage zu geben und die Lenkung beweglicher zu machen, brachte er zwischen Sattel und Lenker noch eine Armstütze an. Den Sattel, ein längliches, schmales Lederkissen, hängte er, damit er elastischer wurde, zwischen zwei senkrechte Hölzer. Eine Tretkurbel lehnte er für seine Laufmaschine ab, da sie ihm nicht sportlich genug erschien. Aber jede Verbesserung kostete Geld. Als die spärlichen Mittel, über die Drais verfügte, zu Ende gegangen waren, gab er sich dazu her, auf seiner Maschine Clownerien vorzuführen; er bot den Passanten an, gegen Zahlung eines kleinen Betrages halsbrecherische Fahrten auf dem Laufrad zu unternehmen. Rohlinge nützten das aus, um den alternden Mann zu Leistungen zu treiben, die ihm das Genick brechen konnten. Er trug eine Gehirnerschütterung davon. Aber er war gezwungen, immer tollkühner zu werden, wenn einige Groschen in Aussicht standen. Später verbrachte er sein Leben wandernd auf den Landstraßen Badens. Täglich trat er in einem anderen Ort auf und ging mit dem Hut in der Hand von Mann zu Mann, um freiwillige Spenden einzusammeln. Hatte er das Glück, an einen Platz zu kommen, an dem gerade ein Jahrmarkt war, so heimste er Beträge ein, die ihn für einige Zeit der Sorgen enthoben, zumal für den Winter, wenn fußhoch der Schnee lag und er seine Schaufahrten einstellen mußte. Er legte immer einiges zurück, um nicht während der kalten Jahreszeit zu verhungern. So lebte der einstige Kammerherr und Forstmeister als eine Schaubudennummer Jahr um Jahr dahin. Den Glauben an die Größe seiner Erfindung hatten ihm alle Schicksalsschläge nicht nehmen können. Wenn er — was nicht häufig geschah — mit Menschen ins Gespräch kam und ihn seine Wortkargheit verließ, entwarf er Zukunftsbilder, die in den Zuhörern die Überzeugung bestärkten, daß sein Spitzname nur allzu begründet war: nur ein Phantast konnte glauben, daß eines Tages das Zweirad seinen Triumphzug antreten werde. An einem Wintertag des Jahres 1851 saß Drais in einer Gastwirtschaft in Karlsruhe, in der man ihm noch immer die Achtung bezeugte, die dem Patenkind des früheren Landesvaters gebührte. Obwohl seine Zeche nur bescheiden zu sein pflegte, legte der Wirt 29
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stets eine Zeitung vor ihn hin und erkundigte sich nach dem Befinden des Herrn Barons. Der Sechsundsechzigjährige hatte über vielerlei zu klagen. Knochenbrüche, Prellungen, Quetschungen, die er sich zugezogen hatte, verursachten ihm bleibende Schmerzen. Auch an diesem Abend hatte er sich in eine Zeitung vertieft. Drais, der es haßte, wenn er zum Gegenstand der Aufmerksamkeit wurde, erhob sich plötzlich ungestüm und hielt ein lautes Selbstgespräch. Die Gäste starrten ihn verständnislos an. In der Zeitung mußte etwas stehen, das ihn völlig aufwühlte. Die Notiz hatte folgenden Wortlaut: „In den Kämpfen auf Neuseeland hat die britische Heeresverwaltung zum erstenmal Laufmaschinen eingesetzt, die sich ausgezeichnet bewährten. Die Eingeborenen wurden durch den Anblick der Maschinen in Schrecken versetzt und ergriffen die Flucht." „Mein Werk . . . meine Maschine . . . " , rief er und ließ mit einem Ausdruck unsagbaren Stolzes den Blick umhergehen. Dann verzerrten sich seine Züge. Er taumelte, griff in die Luft und sank in sich zusammen. Man brachte ihn in seine Wohnung in der Zähringerstraße Nr. 43, wo sein Kostgeber Rebmann sich seiner annahm. Am 10. Dezember 1851 erlöste ihn der Tod von seinem elenden Dasein. Was er nicht mehr gelesen hatte, war der Schluß der Meldung, die besagte, daß das Laufrad eine Erfindung des Engländers Gompertz sei. Gompertz hatte die Maschine des Deutschen nachkonstruiert und mit einer Änderung des Getriebes versehen. Drais aber hatte in dem Glauben, sein Werk habe endlich die verdiente Anerkennung gefunden, den letzten Atemzug getan. Das Schicksal hatte ihn in seiner Todesstunde für alles, was ihm widerfahren war, entschädigt.
Noch im Todesjahre des Forstmeisters a. D. Karl von Drais begann die Laufmaschine des Karlsruhers ihren Weg in die Zukunft. Philipp Moritz Fischer versah das Vorderrad der Maschine mit einer Tretkurbel, und der Franzose Michaux baute für diese Kurbelmaschine in Paris die erste Fabrik. Anfang der sechziger Jahre kam der gefederte Sattel hinzu, 1869 der Vollgummireifen und die Tretpedale zwischen den beiden Rädern. 1886 erhielt der Leipziger Fabrikant Weber ein Patent auf eine elektrische Fahrradbeleuchtung, die an die Stelle der Kerzen-, Petroleum- und Karbidlampen treten 30
sollte. 1888 erfand der schottische Tierarzt Dunlop den Luftreifen und 1900 Sachs den Freilauf. Das Fahrrad, der ausgereifte Nachfahre der Drais:schen Laufmaschine, wurde zum wichtigsten Verkehrsmittel des „kleinen Mannes", wie Drais es erträumt, ja vorausgesehen hatte. Hundert Millionen Räder rollen heute über die Wege und Straßen der Welt.
Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky
L u x - L e s e b o g e n 310
(Technik)
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