Eduardo Sguiglia Fordlandia Romanbiografie
Eduardo Sguiglias historischer Roman ist ein meisterhafter Bericht über den ...
43 downloads
529 Views
666KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Eduardo Sguiglia Fordlandia Romanbiografie
Eduardo Sguiglias historischer Roman ist ein meisterhafter Bericht über den immerwährenden Krieg des Menschen gegen die Natur. Die Stadt Fordlandia ist zugleich Waffe und Schauplatz dieser Schlacht, und der Kampf in ihrem Bannkreis ist das Abbild von Leidenschaft und Zwiespalt der menschlichen Seele. Ein auf Tatsachen beruhender Abenteuerroman über Utopien und künstlich erschaffene Welten.
Eduardo Sguiglia Fordlandia Romanbiografie Aus dem Spanischen von Veronika Schmidt und Rike Bolte © 2002 Europa Verlag GmbH Hamburg ISBN 3-203-82006-4
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Das Buch Weil er es satt hat, Wucherpreise für den von den Engländern monopolisierten Kautschuk zu bezahlen, beschließt Henry Ford 1928 die Produktion selbst aufzunehmen. Seine Wahl fällt auf den Amazonas, und kurz entschlossen wird dort ein gigantisches Projekt verwirklicht – die Gründung der Stadt, die den Namen ihres Erbauers trägt: Fordlandia. Ein argentinischer Ingenieur erzählt uns diese unglaubliche Geschichte. Es geht um Eroberung und Unterdrückung der Einheimischen, um Sklavenarbeit, Überlebenskampf und die Macht des Dschungels. Denn wie stets bei solchen übermütigen Unternehmungen verläuft alles anders als geplant. Der Urwald schlägt zurück, und die Männer, die dem Fortschritt der Menschheit den Weg bahnen wollten, müssen einsehen, dass dem Abenteuer überall die Möglichkeit des Scheiterns folgt. Eduardo Sguiglias Roman ist ein meisterhafter Bericht über den immerwährenden Krieg des Menschen gegen die Natur. Die Stadt Fordlandia ist zugleich Waffe und Schauplatz dieser Schlacht. »Eine Fabel, die Erinnerungen an Conrad und Kafka wach werden lässt … ›Fordlandia‹ führt uns vor Augen, wie dünn der Grat zwischen Inspiration und Wahn ist.« The New York Times
Der Autor
Eduardo Sguiglia, 1952 in Rosario (Argentinien) geboren, lebte zwischen 1976 und 1982 in Mexiko im Exil. Er arbeitet heute als Professor an der Universität von Buenos Aires. Neben mehreren preisgekrönten Essays veröffentlichte er zwei Romane. Die englischsprachige Ausgabe von »Fordlandia« zeichnete die Washington Post als einen der vier besten Romane des Jahres 2000 aus; sie wurde außerdem für den Dublin Literary Award nominiert.
EDUARDO SGUIGLIA
Fordlandia ROMAN Aus dem Spanischen von Veronika Schmidt und Rike Bolte
Europa Verlag Hamburg • Wien
Originalausgabe: »Fordlandia« © 1997 by Eduardo Sguiglia Published by arrangement with Eduardo Sguiglia Deutsche Erstausgabe © Europa Verlag GmbH Hamburg, September 2002 Umschlaggestaltung: Kathrin Steigerwald, Hamburg Foto: Ford-Werke AG, Köln ISBN 3-203-82006-4 Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie (http://dnb.ddb.de). Informationen über unser Programm erhalten Sie beim Europa Verlag, Neuer Wall 10, 20354 Hamburg oder unter www.europaverlag.de
Für Jutta und meine Kinder Nicolás, Fabián und Sebastián
I
L
angsam glitt die Moacyr an jenem Junimorgen den Fluss entlang. Im Sommer war der Tapajós flach und voller Sandbänke. Dort, wo in Ufernähe das Wasser stand, war es blau wie der Himmel. Durch meine Luke konnte ich den träge dahinströmenden Fluss sehen, die Wolkenschleier, den Urwald, der so gleichmäßig wie ein Schlafender zu atmen schien, und die uns endlos umgebende, undurchdringlich wirkende Landschaft. Nach dem Frühstück steckte ich mir eine Zigarette an und ging zur Kommandobrücke. Ich lief durch die Kabine der zweiten Klasse, dann über das Deck und stieg schließlich die eiserne Treppe zum Kapitän und seinen Leuten hinauf. Der Kapitän, ein Engländer mit fein geschnittenem, braungebranntem Gesicht, stand siegesgewiss auf der Brücke. Er blätterte in einem Handbuch, machte sich Notizen und gab gleichzeitig seinem Assistenten Anweisungen, die dieser für den Steuermann übersetzte. Dem Steuermann, ein Mulatte, der ebenso selbstsicher, ja fast selbstgefällig gewirkt hatte, solange wir auf dem Amazonas unterwegs gewesen waren, lief jetzt der Schweiß über das Gesicht; er sah äußerst angespannt aus, als fürchte er, gleich in einen Hinterhalt zu geraten. Fünf Tage waren vergangen, seit wir uns in Belém eingeschifft, und fast drei, seit wir im Hafen von Santarém den Amazonas verlassen hatten. Wir rechneten damit, noch im Lauf des Nachmittags unser Ziel zu erreichen. 7
Eine Weile sah ich dem Kapitän und dem Steuermann zu. Dann suchte ich meinen Platz wieder auf, machte es mir auf einem Sitz bequem, drückte die Zigarette aus und ließ meinen Blick über die Ufer schweifen. Damit hatte ich schon Stunden um Stunden verbracht, und mir war dabei eingefallen, dass ich während meiner ganzen Kindheit und Jugend leidenschaftlich gern Berichte über fremde Länder gelesen hatte. Ich entsann mich ebenso, dass ich jeweils am Ende der allerletzten Zeile auf der letzten Seite des jeweiligen Buches lange vergeblich darüber nachgegrübelt hatte, was an diesen Berichten wohl Wahrheit und was Erfindung sein mochte. Wenn ich mir dann vorstellte, dass es das, was auf diesen Seiten geschildert wurde, nicht mehr gab, oder was noch schlimmer war, dass es das nie gegeben hätte, kam tiefe Enttäuschung über mich. Nachdem ich allerdings bei dieser Reise immer wieder ausgiebig die Welt, die an uns vorüberzog, in Augenschein genommen hatte, begriff ich, dass die damaligen Beschreibungen der Dinge diesen zumindest heute sehr nahe kamen. Wo die Autoren begeistert von einer Unzahl von Bäumen berichtet hatten, erblickte ich Bäume, ja Millionen von überaus stämmigen und mächtigen Bäumen – und dazu eine sich bis in die Unendlichkeit ziehende Wand aus Pflanzen. Wo der Chronist beschrieben hatte, wie weißer Dampf sich in Kringeln über dem Urwald zusammengezogen hatte, sah ich Dunstschleier wie ein schimmerndes, durchsichtiges Gespinst über der Urwaldkuppel schweben. Was sich mir bot, war ein Universum aus Wald, Wasser und Stille, einer Stille, die mir Ehrfurcht einflößte. Kein Laut war zu hören, nichts regte sich. Später dann sollte ich mich an diesen trügerischen Frieden gewöhnen und zum Staunen kaum noch die Zeit haben. Auch sollte ich, wie es schon Plinius vor zweitausend Jahren widerfahren war, bald erkennen, dass ein mit Tausenden von hoch gewach8
senen, mehr noch: erhabenen Bäumen bestandener Boden nicht nur sein Gutes hat – außer natürlich für die Bäume. Die Moacyr war ein einfaches, mit einem leichten, von Stützbalken getragenen Dach ausgestattetes Frachtschiff. Auf Deck gab es außer der Kommandobrücke zwei Passagierkabinen erster sowie zweiter Klasse, die durch Türen miteinander verbunden waren. Fenster wiesen nach draußen, und es gab eine Küche, die auch als Lagerraum diente. Tagsüber standen Türen und Fenster immer offen, nachts wurden sie mit Moskitonetzen verhängt. In der ersten Klasse standen zehn Doppelsitze aus Holz zur Verfügung, es waren bequeme Sitze, von denen sich fünf auf jeder Seite befanden. Im Gegensatz zu den in der zweiten Klasse reisenden Passagieren hatte jeder von uns eine faltbare Liege aus Segeltuch zugewiesen bekommen, die man auf dem Raum zwischen der Sitzreihe und der Tür zur zweiten Klasse aufklappen konnte. Für die Mahlzeiten wurde dort ein Klapptisch aufgestellt. Man servierte uns Fisch, schwarze Bohnen und Schildkröteneier. Zum Frühstück Kaffee und feuchte Kekse. In der ersten Klasse waren wir nach dem Aufenthalt in Santarém nur noch drei Passagiere: Neben mir gab es da noch einen ewig langen, dünnen Nordamerikaner und einen deutschen Priester, dessen Orden mir unbekannt war. Jack, der Nordamerikaner, war wie ich in Belém an Bord gegangen. Der Priester hingegen war mit seinem Gehilfen, einem zierlichen Eingeborenen, der in der zweiten Klasse reiste, im Hafen von Santarém zugestiegen, wo der Tapajós in den Amazonas mündet und beide zusammen einen großen See bilden und die Pflanzenwelt sanft, beinahe heiter wirkt, die blütenbestandenen Bäume kürzer gewachsen sind und sich vielfach Wiesenflächen auftun. Jack schlief fast während der ganzen Reise. Er stand nur auf, um schnell und hastig zu essen, mittags und bei Ein9
bruch der Nacht und selten noch einmal zu anderen Zeiten. Dann schien er verwirrt, machte ein paar Schritte durch die Kabine, starrte mich an, als sähe er mich zum ersten Mal und lächelte mir flüchtig zu. »Sei unbesorgt, hier gibt es nichts zu fürchten«, beteuerte er, um anschließend wieder in Schweigen zu verfallen. Er setzte sich dann meistens auf seine Liege, langte mit einem Arm nach der roten Lederhülle, die er darunter deponiert hatte und in der sich seine spanische Gitarre befand, und rückte das verwahrte Instrument auf seinem Schoß zurecht. Schließlich pflegte er die Hülle zu öffnen, in sie hineinzulugen, sie wieder zu schließen und sie an ihren Platz unter der Liege, neben seinem Rucksack, zurückzuschieben. Eines Abends, als die Schatten des Urwaldes auf den Dampfer fielen, holte er die Gitarre ganz aus ihrer Hülle und begann, an ihren Saiten zu zupfen. Aber schon kurz darauf unterbrach er das Spielen, starrte gebannt auf den Holzboden und verstaute das Instrument wieder. Jack hatte blaue Augen, sehnige Hände und einen ausgewachsenen Bart, der sein abenteuerliches Aussehen unterstrich. Jedes Mal, wenn er die rote Lederhülle auf ihren Inhalt überprüft und wieder verstaut hatte, ließ er seinen Blick durch die Kabine schweifen und nahm einen langen Schluck Whisky aus einer Flasche, die er unter seinem Kissen versteckt hielt. Die Liegen fielen zwar schmal aus, waren aber von durchaus üblicher Länge. Doch wenn Jack sich auf seiner Liege ausstreckte, ragten seine Arme und Füße weit über deren Rand hinaus. Rekelte sich Jack auf seiner Liege, war der Priester meist mit schier unerschöpflicher Energie in das eine oder andere Gespräch mit den übrigen Passagieren oder gar mit Mitgliedern der Besatzung vertieft. Im Allgemeinen führte er seine Unterredungen mit gedämpfter Stimme, doch ab 10
und zu fiel mir auf, wie er heftig mit den Armen gestikulierend auf den jeweiligen Gesprächspartner einredete. Es waren etwa zehn Leute, die in der zweiten Klasse reisten. Sie blieben für sich und redeten und lachten nur untereinander. Es handelte sich bei ihnen ausnahmslos um Männer aus der Gegend, die ihren Hut nur abnahmen, wenn sie dem Priester oder dem Kapitän gegenübertraten. Kurz vor Mittag stand ich auf und lief durch die Kabine. An jenem Morgen hatte ich viel geraucht, mein Mund war trocken, und ich wollte mir die Füße vertreten. Ich rief den Steward, einen Schwarzen aus Bahia, und bat ihn um ein Bier. Die Sonne stand hoch am Himmel, und schon seit einer Weile begleiteten ein paar Papageien mit rotem, grünem und blauem Gefieder das Schiff. Auf diesem sich in Flussarmen verzweigenden Ozean, auf dem wir dahinglitten, zählen Stunden und Minuten nicht allzu viel. Die Zeit scheint stillzustehen, und man muss sich daran gewöhnen, Appetit und Schlummer allmählich dem Stand der Sonne anzupassen. Ungestraft führt sie ihr Regiment. Sie übernimmt es, anstelle des Mondes die Gezeiten zu regeln und bestimmt nach Lust und Laune Sitten, Bekleidung und den Zeitvertreib der Bewohner dieses Winkels der Erde. Ich nahm gerade den letzten Schluck Bier, als der Priester die Kabine betrat. Nach seinem langen Ausflug in die zweite Klasse hatte er jetzt offensichtlich Lust, sich mit uns zu unterhalten. Falls Jack nicht aufwachte, wäre ich das nächste Opfer seines Redeflusses. Ich fühlte mich wohl, freute mich darauf, endlich an das Ziel meiner Reise zu gelangen, und die Aussicht auf ein erzwungenes Gespräch mit dem Priester verdarb mir die Stimmung. Stets hatte ich das Gefühl, mich vor ihm rechtfertigen zu müssen, und das wollte ich nicht, nicht vor ihm und auch vor niemand anderem sonst. Außerdem hatte dieser blonde, feiste Mann etwas Unheilverkündendes und unangenehm 11
Undurchschaubares an sich. Er trug eine weiße Leinenhose und einen gestreiften, durchgeschwitzten schwarzen Rock. Auf seiner Brust zeichnete der Schweiß ein umgekehrtes Dreieck, dessen Grundlinie am Ansatz seines dikken Halses verlief. Sein Blick schweifte suchend umher. Ich grüßte ihn freundlich, trank mein Bier aus und setzte mich scheinbar teilnahmslos zum Rauchen wieder auf meinen Sitz. Da fixierte er Jack. An der Art, wie er ihn ansah, merkte ich, dass ihm dessen Betrunkensein bewusst war. Trotzdem beharrte er darauf, ihn wecken zu müssen. Erst rüttelte er ihn an der Schulter, dann gab er ihm ein paar immer schneller und heftiger werdende Schläge auf die Wangen. Jack antwortete mit einem Gebrummel und rekelte sich wieder zurecht, nicht ohne nach seinem Etui mit der Gitarre zu tasten. Der Priester ließ sich neben ihm auf die Knie nieder und begann, ihm direkt ins Ohr zu sprechen. »Wach auf, wach auf, Jack, komm, wir müssen uns unbedingt unterhalten«, forderte er. Vergebens. Die Szene erschien mir recht grob und sinnlos. In der Nacht, bevor wir uns eingeschifft hatten, hatte ich gesehen, wie Jack sich in einer Bar in Belém wie ein Wahnsinniger mit Whisky hatte voll laufen lassen. Mein Aufenthalt in Belém war sehr kurz gewesen, gerade lang genug für das Vorstellungsgespräch und die ärztliche Untersuchung. Die Stadt trägt noch Kennzeichen, die auf eine bessere Vergangenheit hinweisen. Belém liegt an der Mündung des Amazonas, und während der Vollmondnächte hallt das Getöse, das das Aufeinandertreffen des großen Stromes mit dem Ozean verursacht, in den engen Gassen des Hafens wider. Wegen seiner günstigen Lage hatte sich Belém während des »Runs« auf den brasilianischen Kautschuk zu einer wichtigen Handelsstadt entwickelt. Das leicht und im Überfluss erworbene Geld hat in Alleen, Gebäuden und in den herrschaftlichen 12
Häusern einer entschwundenen Epoche seine Spuren hinterlassen. Im Hafen hatte es von solchen Segelbooten, wie ich sie später auf dem Amazonas und auf dem Tapajós sehen sollte, gewimmelt. Die Schiffe waren beladen gewesen mit Früchten und anderen Waren, und die Besatzung verbrachte ihr Leben an Bord. Der Hafen fasste als sein Zentrum also eine Art schwimmenden Markt, der auch unter dem Namen Veropeso bekannt ist. In seiner Nähe hatte ich ein Zimmer in einem schlichten Hotel genommen. An meinem ersten Tag in Belém hatte ich nur einen kurzen Spaziergang durch den Hafen gemacht. Die Reise auf dem italienischen Dampfer, mit dem ich Buenos Aires verlassen hatte, war ruhig verlaufen, und wir hatten in verschiedenen brasilianischen Häfen angelegt. Aber die Eintönigkeit der See und der Anblick der fernen Küste hatten mich bald gelangweilt. Ich hatte mich während der Fahrt freiwillig von den übrigen Passagieren zurückgezogen und so genug Zeit gehabt, meine Gedanken zu ordnen. Ausgenommen war da nur eine einzige Nacht, die ich mit einer bezaubernden Französin bei ein paar Gläsern Wein verbracht hatte. Ich war aus freiem Willen hier. Bisher hatten Buenos Aires, das Stadtviertel Palermo, die Vororte meiner großen Stadt und meine Freunde alles für mich bedeutet. Aber ich hatte drei fatale Fehler begangen, von denen der eine jeweils schlimmer als der andere gewesen war, und ich wollte mich nicht damit abfinden, fortan mein bis dahin freies Leben gegen eine mittelmäßige Existenz voller Kompromisse eintauschen zu müssen. Mir war, als habe sich jäh eine schwere Zementplatte auf mich niedergesenkt, und von diesem Druck wollte ich mich befreien. Meine Mutter hätte mich verstanden. Sie hatte damals gegen eine Sippe starrsinniger Iren ankämpfen müssen, um 13
ihren eigenen Weg zu finden. Schließlich hatte sie einen criollo geheiratet. Unablässig hatte sie darauf bestanden, das Wichtigste im Leben sei, sich von der Klugheit leiten zu lassen, und stets sein eigener Herr zu sein. Ich teilte ihre Meinung. Aber es gab meine Mutter nicht mehr. Als ich mich entschloss, mich auf die Anzeige hin vorzustellen und mich dann einverstanden erklärte, das Land zu verlassen, kamen mir sie und ihr leuchtend blauer Blick in den Sinn. Die Ford Motor Company hatte am unteren Amazonas eine Stadt gegründet, um sich mit ihrem eigenen Kautschuk versorgen zu können, und sie brauchte zuverlässiges Personal. Der Verantwortungsbereich der ausgeschriebenen Stelle versprach einiges, die Bezahlung war unübertrefflich, und das Unternehmen verpflichtete sich, mich, wenn alles gut ging, später nach Detroit oder in eine europäische Filiale zu entsenden. Ich würde in der Gegenwart leben, ohne Besitz, der nur Ballast bedeutete, und meine Vergangenheit würde mir nicht weiter den Weg verstellen. Die Büros der Casa Pickrell, wo ich mich zum letzten Vorstellungsgespräch und zur Unterzeichnung des Vertrages hatte einfinden müssen, lagen im Geschäftsviertel von Belém, im ersten Stock eines tristen Gebäudes, das einem Kloster glich. Ich war bald darauf gestoßen, denn in der ganzen Stadt sprach man von nichts anderem als von den Plänen Fords. Als ich früh am Morgen angekommen war, hatte vor dem Gebäude eine lange Reihe von Bewerbern gestanden. Die Schlange hatte sich die Treppe vom ersten Stock bis auf die Straße hinuntergewunden. Die meisten der Wartenden hatten nach Bauern ausgesehen. Sie waren barfuß gewesen, und ihre lebhaften Gespräche hatten auf der Treppe und im Gebäude widergehallt. Später sollte ich noch mehr solcher Menschen kennen lernen – es waren Brasilianer aus dem Nordosten gewesen, die entschlossen 14
waren, ihr freies entbehrungsreiches Leben in der Wüste gegen Lohnarbeit im Urwald zu verdingen. Ich hatte mich nicht gedulden wollen, bis die Reihe an mich kam, sondern mich direkt an die Sekretärin gewandt. Es war eine beleibte Dame gewesen, die mich über ihre Brillengläser hinweg kaum eines Blickes würdigte. Ich hatte meinen Namen genannt, woraufhin sie in einem Stapel Papier auf ihrem Schreibtisch gewühlt hatte, dann hatte sie ein breites Grinsen aufgesetzt, als wüsste sie bereits alles über mich. Minuten später hatte sie mich diensteifrig in den Versammlungsraum geleitet. Diese Geste hatte mich mit ihr versöhnt. In der Mitte des Raumes, an dessen Wände Landkarten und Fotografien historischer Persönlichkeiten gehangen hatten, hatte ein runder Tisch aus Kiefernholz gestanden. Das Lärmen der Bauern war bis dorthin gedrungen. Ich hatte mich gerade auf einem der Holzstühle niedergelassen, als der Arzt erschienen war – ein verdorrtes Männchen mit einem buschigen Schnurrbart, der wahrscheinlich eine Hasenscharte verbarg. Er hatte mir den Puls gefühlt und war nach der Aufforderung, ich möge Hemd und Hosen ablegen, um mich herumgeschlichen und hatte mich ausgiebig gemustert. Er hatte sich erkundigt, ob ich Berufssportler wäre. Überrascht hatte ich mit Nein geantwortet und hinzugefügt, ich triebe zwar ziemlich viel Sport, täte dies aber nicht im professionellen Rahmen. Er hatte meiner Antwort keine Beachtung geschenkt, sich gesetzt und sich ein paar Notizen gemacht. Dann hatte er mich angewiesen, mich wieder anzuziehen, hatte mir Glück gewünscht und war so leise hinausgeschlichen, wie er gekommen war. Durch das Fenster hatte ich gesehen, wie sich schwere Wolken über den Himmel geschoben hatten. Ich hatte noch nicht den letzten Hemdknopf geschlossen, da war die 15
Tür aufgegangen und einer der Geschäftsführer, ein Mann mittlerer Statur und durchschnittlichen Körperbaus, war in den Raum gekommen. Er hatte sich mit einem knappen Händedruck vorgestellt und mich gebeten, ihm in ein nebenan gelegenes Büro zu folgen, in dem uns bereits ein weiterer Mitarbeiter erwartete. Dieser hatte gestanden, war groß gewachsen gewesen und hatte, ebenso wie der andere, einen makellosen braunen Anzug mit weißen Streifen und eine dazu passende weiße Weste getragen. Er hatte ein amerikanisches Englisch gesprochen. Vor dem einzigen Schreibtisch des Büros hatte man mich Platz nehmen lassen und mir Kaffee und Wasser vorgesetzt. Auf dem Schreibtisch hatte ich die Fragebögen entdeckt, die ich in Buenos Aires ausgefüllt hatte, und auch die Empfehlung, die ein Nachbar, der Aufseher in der argentinischen Filiale der Firma war, für mich verfasst hatte. Die beiden Männer hatten meine Papiere durchgesehen, die Notizen des Arztes überflogen und mir dann vier vage, merkwürdige Fragen gestellt. Meinen Antworten hatten sie aufmerksam und ohne mich zu unterbrechen gelauscht. Dann hatten sie mir auf Pappen zerlaufene Tintenflecken vorgelegt, deren Formen ich zu deuten gehabt hatte. Nach diesem Test hatten sie ein Formular ausgefüllt, einander etwas zugeflüstert und mir anschließend erklärt, wann und wo ich mich am nächsten Morgen im Hafen einzufinden hätte. Es gebe einen Dampfer, der zum Tapajós fuhr. Das Unternehmen verlange dringend nach meiner Anwesenheit. Ein gewisser Rowwe, Generaldirektor des Ganzen, werde mir meine Aufgaben vor Ort noch genau auseinander setzen. Der Vertrag war auf Englisch abgefasst gewesen. Ich hatte ihn durchgelesen und sofort unterschrieben. Auf einem Zusatzblatt hatte ich einen Begünstigten nennen müssen, dem sie eine Versicherungssumme von hundert Dollar zukommen lassen würden, falls mir etwas zustieße. Mein Vater 16
war mir eingefallen, schließlich aber hatte ich doch die Daten eines Freundes angegeben, bei dem ich noch ein paar Spielschulden hatte. Bevor sie sich von mir verabschiedeten, hatten sie sich in spöttischem Ton erkundigt, wieso ich nicht die Landkarte Irlands auf der Haut trüge. Denn es hieße doch – zumindest der Information des Arztes zufolge – dass sich bei allen Menschen irischer Abstammung ein Mal auf der Haut fände, das die Umrisse des alten Irlands besäße. Ich hatte mit den Schultern gezuckt und ausweichend geantwortet. Sie hatten nicht weiter nachgehakt. Als wir uns im Flur des Gebäudes unter den Blicken der stämmigen Bürogehilfin und der immer noch in der Reihe wartenden Bauern verabschiedeten, hatten sie mich umarmt, als wäre ich im Begriff, zu einer Reise ins Innere der Erde anstatt ins Zentrum Brasiliens aufzubrechen. Auf der Straße hatte mich ein Gefühl von Leere und Einsamkeit überfallen. Der Himmel war bewölkt gewesen und ein sehr feiner Regen gefallen. Ich hatte Lust gehabt, etwas zu trinken, und das einzige, was mich in diesem Augenblick interessiert hatte, war die nächstbeste Bar gewesen. Nach ein paar Schritten hatte ich eine ziemlich desolate, zwischen Geschäftsviertel und Hafen gelegene Kneipe aufgetan. Dort hatte ich die Zeit bis zum Anbruch der Dunkelheit verbracht. Das Licht war schummerig gewesen, was wohl dazu gedient hatte, die Anwesenheit der Huren zu vertuschen. Fast sämtliche Tische waren unbesetzt gewesen. Ich hatte mich in die Nähe der Tür gesetzt. Man hatte mir ein bis zum Rand gefülltes Glas gebracht, ich hatte es in einem Zug geleert. Die Frauen hatten sich an der Theke aufgehalten. Zwei oder drei, die ich allein auf die Straße hatte gehen sehen, waren in Begleitung wiedergekommen. An einem Tisch neben mir hatten ein 17
Nordamerikaner und zwei Brasilianer miteinander geredet. Als sich der Gringo eine von den Frauen geholt hatte und mit ihr im Separee hinter der Bar verschwunden war, hatten die Brasilianer mit mir ein Gespräch angefangen. Sie hatten wissen wollen, woher ich kam und wohin ich unterwegs war. Beide waren Journalisten gewesen, und einer von ihnen, João, der für die Folha do Norte, die lokale Zeitung, schrieb, hatte großes Interesse an meiner bevorstehenden Reise bekundet. Er hatte mir versprochen, mich zu besuchen und über meine Erfahrungen zu schreiben. Der andere, ein gebürtiger Spanier mit einem hageren, welken Gesicht, hatte in bitterem Ton erzählt, dass er vor etwa dreißig Jahren Präsident eines fernen, an der Grenze zu Bolivien gelegenen Urwaldstaates gewesen war. Man hätte dort ebenso Kautschuk produziert. Das Kommen und Gehen der Frauen, die immer wieder an unserem Tisch aufgetaucht waren, und die Witze seines Kollegen, der es wahrscheinlich satt hatte, sich einmal mehr dieselbe Geschichte anhören zu müssen, hatten ständig seine Erzählung unterbrochen. Es war mir schwer gefallen, ihm zu folgen. Immerhin hatte ich dann verstanden, dass der alte Spanier ein Komplott zwischen den USA und Bolivien, die sich diese Gegend hatten einverleiben wollen, aufgedeckt hatte, und dass er, mit Unterstützung des Gouverneurs von Manaus und zwanzig Bewaffneten, die Schwäche der bolivianischen Behörden und die Gleichgültigkeit der brasilianischen Zentralregierung ausgenutzt hatte, um die Kautschuksammler aufzuhetzen und eine eigene, unabhängige Republik zu gründen, eine ›Republik der Dichter‹. Er hatte mir zerfledderte Zeitungsausschnitte und verwischte, vergilbte Fotos gezeigt, die er in einem zerschlissenen Seidentüchlein in seiner obersten Jackentasche verwahrte. Der Staat, der mittlerweile in brasilianischen Händen war, nannte sich Acre. Es handelte sich um ein 18
üppig bewachsenes Urwaldgebiet, das weit ab vom Schuss lag und von Poeten regiert wurde, die nicht nur auf dem Papier etwas von Freiheit und Gerechtigkeit verstanden. Ich hatte mir die Fotos angeschaut. Auf den zerknitterten Bildern war eine Gruppe von Männern abgebildet gewesen, von denen die einen ernst, die anderen lächelnd, mit Waffen und Fahnen bestückt, inmitten des Dschungels stehend in die Kamera blickten. In ihrer Kleidung, mit ihren Mähnen und Schnurrbärten hatten sie eher drollig gewirkt. Ich hatte an der Echtheit dieser Fotos gezweifelt und gefragt, wieso die Geschichte noch in keinem Buch Eingang gefunden habe. »Sie ist noch zu frisch«, hatte ich zur Antwort bekommen. Einen Augenblick lang hatte ich mir vorgestellt, in ein solches Abenteuer verwickelt zu sein, und meine Mimik hatte wohl meine Gedanken widergespiegelt, denn die beiden Journalisten hatten Blicke getauscht und dann schallend zu lachen begonnen. Als sie mir eine weitere Runde Alkohol vorschlugen, waren ihre Gesichter schon fahl gewesen. Nach einer Weile war der Ami zurückgekommen, hatte sich von der Frau verabschiedet und war mit seiner Gitarre auf das schmale Podium in der Mitte der Bar gestiegen. Er war total betrunken gewesen, doch als er zu singen begonnen hatte, waren wir verstummt. Seine Stimme war rau gewesen. Sein Lied hatte folgenden Text gehabt: Dear God up in the sky I know that you are listening I know that it’s a little late for my prayer I’m not here to ask you to have pity on me I’m not here asking you to forgive me Or to change the way I am Time’s not on my side anymore I’ll take my chance on the final judgment day 19
But once I make it to my mysterious river Help me, help me Keep the devil down there, way down there in the hole You’ve got to help me. An Bord des Dampfers lag dieser Amerikaner, der den Namen Jack trug, nun ausgestreckt auf seiner Liege und versuchte dem penetranten Gesprächsangebot des deutschen Priesters zum Trotz weiterzuschlafen. Nachdem mein Bier alle war, setzte ich mich wieder auf meinen Sitz und verbrachte die Zeit mit Rauchen. Ich konnte dabei zusehen, wie der Urwald die Ufer zu belagern begann. Ich bin nie besonders empfindsam gewesen, noch berühren mich die Probleme anderer Leute allzu sehr, aber als ich sah, wie der Priester, dem die Geduld ausging, einen Eimer Wasser aus dem Fluss schöpfte und drauf und dran war, ihn über Jack auszukippen, reichte es mir, und ich bremste ihn: Ich erhob mich, ging zu ihm und bat ihn, Jack in Ruhe zu lassen und stattdessen mit mir vorlieb zu nehmen. Der Priester sah erst Jack an, dann mich, dann stellte er den Eimer ab und setzte sich zu mir. Er stützte seinen linken Arm, der dick war wie ein Baumstamm, auf die Lehne, lehnte die Zigarette ab, die ich ihm anbot und maß mich mit dem Blick dessen, der den Umgang mit Leuten, die Außergewöhnliches vorhaben, gewohnt ist. »Mein Name ist Theo, und ich bin hier, um armen Fehlgeleiteten Hoffnung zu geben. Aber wozu Sie, mein Sohn, diesen gesegneten Ort aufsuchen, weiß ich nicht. Um Geld zu machen, eine Zuflucht zu suchen, oder treibt Sie nur ein wissenschaftliches Interesse?–«, fragte er. »Natürlich um Geld zu machen, was glauben Sie denn?«, antwortete ich. Seine Miene drückte Unbehagen aus. 20
»Kautschuk. Schon wieder dieser Kautschuk«, murmelte er und versank in Gedanken. Er schlug die Beine übereinander, wischte sich mit der Hand den Schweiß von der Stirn und lehnte sich auf seinem Sitz zurück. Dann beugte er sich wieder vor. »Ich sage mal: Fordlandia, nicht wahr?« »Jawohl, genau dorthin bin ich unterwegs.« »Schauen Sie sich diesen jämmerlichen Säufer an, der so tut, als ob er schläft«, sagte er und wies mit dem Daumen auf Jack. »Der ist auch wegen des Kautschuks hier, genau wie Sie. Er ist ein Chef, ein wichtiger Mann, und trotzdem baut er einzig und allein auf Alkohol. Er glaubt, Alkohol mache ihn weniger verletzlich. Er will nicht mit mir reden, doch hier im Urwald ist Schweigen für weiße Männer kein Zeichen von Stärke. Ganz im Gegenteil.« Ich antwortete nicht, doch er fuhr fort: »Ich weiß es nicht, mein Sohn, und wohl keiner weiß, warum wir durchdrehen, sobald wir den Urwald betreten. Diese Stille, diese Schatten« – er wies auf die Ufer – »haben ihre eigene Art, uns in den Wahnsinn zu treiben. Ich weiß es nicht. Der Urwald besitzt etwas Unmenschliches, das erst nach uns greift, uns dann durchschüttelt und uns schließlich zu sich ruft, bereit, uns zu verschlingen. Wenn dieser Augenblick gekommen ist, funktioniert keiner unserer Sinne mehr und auch das beste Wissen ist keine Hilfe mehr. Ja, genau dort lauert der Teufel, er ist hinterhältig und verlockend, und nichts kann uns vor ihm erretten. Nichts, außer dem Glauben. Das kann ich Ihnen versichern.« »Ach, wirklich, Pater?« »Ja, wirklich, so ist es. Im Umkreis von zehntausend Kilometern, und dabei ist gleichgültig, woher Sie kommen und wohin Sie gehen, werden Sie nur zwei Dinge feststel21
len: Erstens werden Sie Ihres Unwissens gewahr werden, zweitens die unermessliche Macht des Schöpfers anerkennen. Der Glaube ist die einzige Antwort, die ich auf dieses dem einfachen Denken, der Mittelmäßigkeit und dem Aberglauben so jenseitige Problem kenne. Lediglich der Glaube vermag es, uns zu erretten. Außerdem, wissen Sie was?« »Nein.« »Am Amazonas rufen die Abergläubigen und die Hexenmeister den gleichen Schaden hervor wie Feiglinge in einem Heer.« »Wieso das?« »Sie haben Angst, und sie machen Angst.« Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Ich habe mich nie besonders für Religion, Geheimnisse und Beschwörungen interessiert. Um der Unterhaltung eine andere Richtung zu geben, fragte ich ihn nach dem Reichtum des Urwalds. »Der Anteil der weißen Bevölkerung in Brasilien ist zu klein und die herrlichen fruchtbaren Ländereien warten seit Jahrhunderten auf tüchtige, auf richtige Männer. Dagegen können die Eingeborenen nichts ausrichten. Das Land gibt sich nicht mit Müßiggängern zufrieden, mit diesen Heiden, die sich dem Fortschritt nur entgegenstellen. Auf keinen Fall, mein Sohn, auf keinen Fall!« Den letzten Satz brachte der Priester beinahe schreiend heraus. Theos Gesicht war während des Gesprächs rot angelaufen, Schweißtropfen rannen ihm über Stirn und Hals. Die Luft war warm, aber nicht drückend. Jetzt sah man hinter den Ufern kleine, von Grün überwucherte Hügel. Nicht ohne Mühe schob Theo eine Hand in seine Hosentasche, nahm ein kleines Stück von einer Pflanze heraus und bot es mir an. 22
»Nehmen Sie das, es ist Chininrinde.« Er hatte sich etwas beruhigt. »Kauen Sie jeden Tag ein wenig darauf herum, das hilft gegen Malaria. Was ich sagen will, ist ganz einfach: Wenn sie, die Indianer, die Neger und die Mulatten, alle zusammen wohnen würden, wenn wir sie alle zusammen hätten, alle in einem einzigen Tal, in einer Stadt, um sie zu zivilisieren, sie zu zähmen … Das wäre die Lösung, wir badeten im Überfluss und brauchten weder Zauberer noch Wahrsager. Nein, mein Herr. Aber hier, in diesem unendlichen kolossalen Garten Eden braucht es viel Gerenne, um ein paar Leute zusammenzutrommeln, unglücklicherweise ist das so. Ein paar finden sich hier, ein paar andere flussabwärts, ein paar weitere flussaufwärts oder an anderen Flüssen. Das ist das Problem. Das ist mein Problem. Verstehen Sie? Verstehen Sie mich, mein Sohn?« »Ja, ich verstehe.« »Sie verstehen das, aber ich wünschte, meine Kollegen in Rom, Rio, Tibet oder wo zum Teufel sie auch immer sich herumtreiben, wüssten von meinen Sorgen, schickten mir mehr Geld, mehr Mittel. Wie Henry Ford. Die haben Geld, Geld und Maschinen!« Er machte wieder eine Pause, als ob er nachdächte, dann fügte er hinzu: »Trotzdem sollten Sie sich mit dem Leib dieser armen Menschen zufrieden geben und nicht, wie mir zu Ohren gekommen ist, auch noch ihre Seele zu vereinnahmen versuchen … Woher sind Sie, mein Sohn? Ihr Akzent klingt nicht amerikanisch.« »Ich bin Argentinier, aus Buenos Aires.« »Argentinier, so, so. Immer dieses Kautschukfieber. Vorsicht, mein Sohn, der Urwald hortet Waffen gegen seine Henker. Im Urwald darf man weder dem trauen, was 23
man allzu leicht zu verstehen meint, noch dem, was man nicht begreift. Aber fürchten Sie sich nicht, ich werde Ihnen immer zur Seite stehen, wenn Sie mich brauchen sollten, jederzeit!«, warf er ein. Dann erhob er sich, schlug mir auf die Schulter und näherte sein Gesicht dem meinen. Er kam empfindlich dicht an mich heran und bat um eine Spende. Ich hatte meine Brieftasche mit Geld und Papieren unters Hemd gesteckt, in meine Unterhosen, und hatte nur ein paar Münzen in der Hosentasche. Die gab ich ihm. Er betrachtete sie gierig. Dann schob er sie in seine Jackentasche und ging. Er warf einen verächtlichen Blick auf Jack und machte sich zur Kabine der zweiten Klasse auf. Ich ahnte nicht, dass dieser Deutsche mir einmal das Leben retten sollte. Nach einer Weile drosselte der Dampfer sein Tempo und hielt auf einen weißen Sandstrand zu. Die Motoren husteten, als wäre irgendein Teil in Brüche gegangen. Ein Schwarm kleiner grüner Papageien flog von Ufer zu Ufer über den Fluss. Hinter dem Laubwerk sah ich ein paar Hütten aus Lehm und Stroh. Ein Kanu aus Baumrinde, von einem Mestizen gelenkt, kam, um den Priester abzuholen. Als dieser mit seinem Assistenten die Leiter hinabstieg, drehte er sich noch einmal um und reckte den Hals, um mich zu grüßen. Das Wasser war grün und klar. Auch ich grüßte und stieg dann auf die Kommandobrücke, um den Kapitän zu fragen, wie lange unsere Reise noch dauern würde. »Wir werden da sein, noch bevor der Nachmittag anbricht«, antwortete er feierlich.
24
II
D
ie goldene Uhr in dem eleganten Mahagonigehäuse zeigte zehn Minuten vor eins. Ernest Liebold verglich die Zeit mit der auf seiner Taschenuhr, die er aus der Westentasche zog, und ging hastig die Korrespondenz durch, die ihm seine Sekretärin morgens zurechtgelegt hatte. Der ovale Tisch im englischen Kolonialstil war für vier Gäste gedeckt. Die Mitte des Tisches beherrschte ein Rosenstrauß in einer Vase aus milchig blauem Kristall. Liebold, der für sämtliche Abwicklungen in dem Unternehmen zuständig war, kam gern zu allen Verabredungen ein paar Minuten früher und sogar im Speisezimmer musste er seinen Arbeitseifer beweisen. Nur zwei Dinge gefielen ihm hier: Ein Gemälde, das den Chef mit der rechten Hand auf die Lehne seines Lieblingsstuhles gestützt stehend und im Profil darstellte, und die Maxime Thoreaus, die der Chef in die Holzvertäfelung der Wände hatte eingravieren lassen: »Schlag dir dein Brennholz selbst, und es wird dich doppelt wärmen«. Als die beiden anderen Geschäftsführer eintrafen, entnahm Liebold der Korrespondenz ein Telegramm aus Brasilien. Es enthielt eine wichtige Information zu dem Thema, das sie heute, an jenem Junimittag des Jahres 1930, behandeln wollten. Edsel Ford und Charles Sorensen begrüßten Liebold und nahmen auf den jakobinischen Stühlen einander gegenüber Platz. Sie schwiegen. Edsel überflog Notizen in einer Akte, die er mitgebracht hatte, Sorensen schaute zum Fenster hinaus, Liebold warf erneut 25
einen vergleichenden Blick erst auf seine Taschenuhr, dann auf die goldene Standuhr und las das Telegramm noch einmal durch. Das Fenster ging auf den Parkplatz der Fabrik. Durch die Fenster-Scheiben waren Hunderte von funkelnagelneuen Autos zu sehen, die darauf warteten, in Eisenbahnwaggons verladen zu werden. Um Punkt eins ging die Tür auf, und ein mittelgroßer jugendlich aussehender Mann betrat den Speiseraum. Einigen galt er als einfacher Mensch, der irrtümlich für vielschichtig gehalten wurde, anderen als vielschichtiger Mensch, der eine Aura von Einfachheit verbreitete. Es handelte sich um Henry Ford, den reichsten Mann der Welt, dessen Unternehmen überall bekannt war und bewundert wurde. Ford ließ sich neben Edsel, seinem einzigen Sohn, dem er offiziell den Titel des Präsidenten der Gesellschaft übertragen hatte, nieder. Er warf einen Blick aus dem Fenster, um ihn dann auf Liebold und Sorensen zu richten, die ihm gegenübersaßen und ihm zulächelten. »Was gibt es heute Neues, Herr Präsident?–«, wandte er sich an Edsel. »Wir hatten vor, über die Situation am Amazonas zu sprechen.« Das Unternehmen verbrauchte damals ein Viertel des Kautschuks, der auf der Erde produziert wurde, und Ford hatte es satt, sich nach den Konditionen zu richten, die das englische Monopol dem Markt aufzwang. Sein Wunsch nach einer eigenen Kautschukproduktion war schon zu Beginn der zwanziger Jahre entstanden, und während er noch ebenso kostspielige wie vergebliche Forschungen zur künstlichen Herstellung des Rohstoffs unterstützte, schickte er seine Leute auf die Suche nach einem geeigneten Ort für eine gigantische Plantage. Seine Experten bereisten Panama, Kolumbien und Gebiete in Asien und Afrika, 26
doch Ford entschied sich schließlich für das brasilianische Amazonasgebiet. Millionen von Hektar hatte er dort erworben, um so viel Kautschuk zu produzieren, wie sein Unternehmen für die Reifen brauchte. Es war, wie er dem Kongress der Vereinigten Staaten stolz erklärte, das ehrgeizigste Kolonisierungsprojekt in der Geschichte des Amazonas. Es kam nur darauf an, dessen bisher noch nicht erkanntes Potenzial und seine außerordentliche Fruchtbarkeit zu bändigen und in Energie umzusetzen. »Die Macht unseres Willens samt unserem Einsatz wird den Amazonas zur ersten Station der Geschichte einer neuen Zivilisation werden lassen«, beschwor er. »Was für Probleme sollte es da schon geben? Wir haben genug Geld, Traktoren und einen guten Verwalter gesandt, unsere Beziehung zur Regierung ist ausgezeichnet, was kann man mehr verlangen? Das Einzige, was noch zu tun bleibt, meine Herren, ist, Kautschuk zu produzieren, und das tonnenweise. Denn wir müssen zweierlei erreichen: Erstens, dass uns die verdammten Engländer nicht länger mit ihren lächerlichen Preisen und der Kontrolle des Marktes ärgern. Zweitens, dass Charlie immer genug Rohstoff hat, um die Fords in der ganzen Welt laufen zu lassen. Nicht wahr, Charlie?« »So ist es, Henry. Ganz eindeutig«, antwortete Sorensen. Charles Sorensen, der den ausgedehnten Komplex über dem Rouge leitete, betrachtete Edsel mit verächtlichem Blick. Sorensen war überzeugt davon, dass er selbst aus eigenem Verdienst an der Spitze der Macht saß, und er hatte Recht. Tatsächlich war er derjenige gewesen, der die Fließbandarbeit eingeführt hatte, die seinen Chef unter Politikern, Industriellen und Wissenschaftlern berühmt, ja fast zur Legende gemacht hatte. Fünfzehn Jahre zuvor hatte er in der alten Fabrik von Highland Park den Mut gehabt, Konzepte, die bislang lediglich angedacht worden 27
waren, aufzugreifen und sie in Form eines Luftförderbandes in die Praxis umzusetzen. Auf diese Weise wurden nun Autoteile transportiert und in weitaus kürzerer Zeit zusammengesetzt als je zuvor. Eine kontinuierliche, synchrone und monotone Bewegung verband die Arbeiter, die die Chassis bauten mit denen, deren Handgriffe dem Schweißen von Motoren und Karosserien galten. Im Highland Park, der in einem Detroiter Stadtviertel lag, brauchte es für die komplette Herstellung eines Ford T damals zwölfeinhalb Arbeitsstunden eines Mannes. Nach der Einrichtung der Montageketten Sorensens verkürzte sich die Zeit auf eine Stunde. Henry Ford rechnete diese Entwicklung sich selbst an, indem er öffentlich verlautbaren ließ, die Idee dazu sei ihm während eines Besuchs in einer Uhrenfabrik gekommen. Sorensen lüftete das Geheimnis nie, noch widersprach er der erdichteten Version seines Chefs. Der »eiserne Charlie« verhielt sich dem Mann, der ihn damals zunächst als Industriedesigner eingestellt hatte, vollkommen loyal gegenüber und hatte es auf diese Weise geschafft, die Sprossen der Karriereleiter bis ganz nach oben zu erklimmen. Der in Dearborn am Ufer des Rouge gelegene Highland Park war einem Komplex von neunzig Gebäuden, dem Rouge-Werk, gewichen. Dort wurden täglich zehntausende Autos hergestellt und außerdem alle notwendigen Teile für die Ford-Produkte geschweißt und geformt. Sorensen, der eine äußerst strenge, melancholische Persönlichkeit war, leitete das Werk. Edsel war das einzige Hindernis, das ihm den Zugang zur absoluten Macht über das Unternehmen verstellte. »Wir hätten da allerdings noch ein paar Probleme«, wandte Edsel nun ein. »Was für Probleme sollen das denn sein? Komm, sag schon«, forderte Ford, der keine Gelegenheit vorübergehen ließ, seinem Sohn zu zeigen, wer der Chef war. 28
»Es ist nicht einfach, einen Stamm von festem Personal für die Plantage aufzutreiben, und außerdem ist der Mann, dem wir diese Aufgabe übertragen haben, an Malaria erkrankt.« »Ich hatte als Kind auch Sumpffieber und bin trotzdem hier. Ich glaube nicht, dass uns das aufhält. Dann sucht Ersatz, veranlasst alles, was für die Produktion nötig ist, und zwar schnell. Edison und Firestone haben mir versichert, dass die Herstellung von künstlichem Kautschuk unmöglich ist, es gibt also keine Alternative, es sei denn, du willst dich den Engländern fügen. Außerdem hat mir unsere Wirtschaftsabteilung versichert, dass der untere Amazonas, also unser Standort, für die Kautschukproduktion der beste Platz der Welt ist. Auch der Präsident, Herbert Hoover, hat mir das bestätigt. Auch die Samen, die die Engländer für ihre Plantagen in Malaysia und Ceylon benutzt haben, stammen von dort. Uns wird also nichts hindern, meine Herren. Also: Ärmel aufgekrempelt und Zeit sparen!« »Ich habe eine gute Nachricht aus unserem Büro in Brasilien«, schaltete sich Liebold ein und wies das Telegramm vor. Im Gegensatz zu Sorensen stand Liebold während der Besprechungen nicht gerne im Zentrum der Aufmerksamkeit. Er sprach verhalten, der Klang seiner Stimme war eintönig, und er wurde ärgerlich, wenn man ihn aufforderte, das eben Gesagte zu wiederholen. Ford kannte diese Schwäche. »Was hast du gesagt?« Liebold räusperte sich und antwortete dann: »Ich sagte, dass ich eine gute Nachricht hätte, und zwar aus dem Büro in Belém, in Brasilien. Sie haben uns ein Telegramm geschickt.« 29
»Was steht in der Nachricht?«, fragte Edsel. »Sie teilen uns mit, dass sie einen Ersatzmann für den Posten gefunden haben. Einen Argentinier.« »Italiener oder Argentinier? In Argentinien gibt es viele Italiener«, hakte Ford nach. »Argentinier, sagte ich, ein Argentinier mit einer irischen Mutter.« Die Tür ging auf und ein Kellner mit einem silbernen Tablett trat ein, um das Mittagessen aufzutischen. Er brachte eine Kanne mit Fruchtsaft, drei Teller mit Gerichten aus Soja und einen vierten mit einem Stück halbrohem Rindfleisch. Ford hatte sich seit einiger Zeit darauf versteift, vegetarisch zu essen und war überzeugt, dass Sojaprodukte Wunder wirkten. »Wenn die Leute lernten, das zu essen, was ihnen gut tut, brauchten wir weder Kliniken noch Gefängnisse«, pflegte er zu sagen. Das Tagesgericht bestand aus mit Sojakäse gefülltem Sellerie und Sojakroketten, und zum Nachtisch gab es mit Sojaeis gedeckten Apfelkuchen. Nur Sorensen, der sich eiligst zu dem Teller mit Fleisch begab, wagte es, sich dem rigorosen Diätanspruch des Chefs entgegenzustellen. Ford bat den Kellner, einen Italiener, der den leitenden Angestellten schon seit der Zeit im Highland Park das Essen auftrug, nach dem Servieren zu ihm zu kommen. Als er neben ihm stand, musterte er seine Hände und blickte ihm dann fest in die Augen. Ruhig wartete der Kellner die Gewissensfrage ab. »Ich nehme an, werter Umberto, dass du weder geraucht noch Alkohol getrunken hast, nicht wahr?« »Nein, Herr Ford, ganz gewiss nicht!« »Was hältst du davon, wenn wir einen Italiener wie dich als Lehrkoch in der Stadt einstellen, die wir gerade in Brasilien bauen?« 30
»Eine gute Idee, mein Herr. Hätte ich nicht meine Familie, würde ich selbst gehen. Sie wissen ja, für das Unternehmen und für Sie tue ich, was ich kann.« Ford zeigte sich mit der Antwort zufrieden und verabschiedete ihn mit einem Lächeln. Dann nahm er den Krug und roch an dem Saft. Er warf, bevor er sein Glas füllte, den drei anderen einen Blick zu. »Gut. Mit diesem Argentinier wäre das Problem also gelöst. Charlie, schick auf jeden Fall einen von deinen Leuten los. Wir brauchen jemanden, der sich im Dschungel umtut und berichtet, was da wirklich läuft. Übrigens wünsche ich, man möge mir ein paar Vögel aus der Gegend besorgen. Ich bin überzeugt davon, dass es dort einige Sorten gibt, die sich gut in meinem Haus in Fairlane machen würden.« »Ich kümmere mich noch heute Nachmittag darum«, antwortete Sorensen. »Und jetzt, Herr Präsident, meine Herren, werde ich mit Ihrer Erlaubnis das Mahl eröffnen«, sagte Ford. Edsel hatte vorgehabt, noch über weitere Themen zu sprechen, doch er schloss seine Akte, wechselte einen Blick mit Liebold und begann zu essen. In seinen braunen Augen spiegelte sich Überraschung. Er fühlte sich innerhalb des Ford-Unternehmens wie ein falscher Kronprätendent. Wieder einmal hatte er einen Weg einzuschlagen versucht, der seinen Wert beweisen sollte, ohne die Konfrontation mit dem Vater zu provozieren.
31
III
K
urz nach der Kurve, an der sich der Tapajós durch die Einmündung des Cupari – einer der größten Zuflüsse des Gewässers – verbreitert, zeigte sich der Kapitän in der Kabine. Er schien erleichtert und kündigte die unmittelbare Nähe von Fordlandia an und forderte uns auf, uns zum Aussteigen bereitzumachen. Jack erhob sich so rasch, als habe eine Feder ihn hochschnellen lassen. Dann zog er sein Hemd aus und begann, sich mit dem Wasser aus dem Eimer zu waschen, den der Priester neben ihn hatte stellen lassen. Ich hingegen ging bis zur äußersten Spitze des Bugs und wartete dort im Stehen gespannt auf das Auftauchen des legendären Getüms. Fordlandia. Der Abschnitt des Tapajós, den wir gerade berühren, verlief breit und gerade, und die Ufer waren hoch wie Eisenbahndämme. Die Strömung wurde stärker, und die Moacyr glitt dahin wie ein Tausendfüßler auf dem Boden eines Luxusladens. Kurz darauf erblickte ich Fordlandia. Was ich sah, war alles andere als großartig oder bombastisch. Immerhin bot der Anblick der Siedlung vom Fluss aus eine angenehme Abwechslung zu dem ewigen Grün. Sie lag am linken Ufer und wirkte wie ein großzügiger, freundlicher Zufluchtsort. Ob man mit der Strömung kam oder gegen sie, das Erste, was man von Fordlandia sah, war der lange, solide, auf Pfählen errichtete Holzkai und die Trinkwasser32
anlage am Fluss. Auf einer Seite des Kais fielen mir zwei riesige aus Zement, Metall und Glas gebaute Lagerhallen auf. Hinter einem flachen, unbebauten, busch- und baumlosen Stück Land folgten entlang der asphaltierten Straße, die sich bis zum Kai hinzog, einige weitere Lagerhallen und Straßen und etwa hundert Wohnhäuser mit weißen Mauern und rötlichen Dächern. Ein Stück von diesen Gebäuden entfernt, ragte das Trinkwasserdepot, einem konischen, stahlgrauen Wachturm gleich, empor. Das Gelände war leicht gewellt, und hinter den letzten Dächern konnte man Hügel erblicken. In der Ferne standen – als stolze Wachtposten des Waldes – hoch gewachsene, königlich wirkende Laubbäume und Palmen. Am Amazonas wird nur entlang der Ufer gesiedelt. Der Fluss nährt, trägt und verlockt, doch er zwingt die Menschen auch zu einer primitiven Lebensweise. Die Fordlandia-Siedlung hingegen drang in das Hinterland vor und strebte danach, die Voraussetzungen für eine unabhängige Existenz und eine einzigartige Lebensweise zu schaffen. Vor einigen Jahren hatten die Lake Ormoc und die Lake Farge, zwei Schiffe, die von Detroit aus losgefahren waren, die ersten Materialien und Werkzeuge hierher gebracht. Mit ihnen kamen auch die Menschen, die dann eine Gegend in Beschlag nahmen, die damals nicht mehr gewesen war als ein unwegsames Ufer namens Boa Vista. Jack, der sich unbemerkt neben mich gestellt hatte, reichte mir seine Whiskyflasche. Er strahlte, war frisch rasiert und gekämmt. Ein paar Tropfen Wasser rannen ihm aus seinem noch feuchten Haar über die Stirn. »Da, trink, nicht jeder lässt sich auf ein Gespräch mit diesem aufdringlichen Theo ein«, bemerkte er und bot mir die Flasche an. Ich nahm an und gab sie ihm nach einem Schluck zurück. Er setzte die Flasche an den Mund, und als er sich 33
vergewissert hatte, dass sie bis auf den letzten Tropfen leer war, küsste er sie und warf sie in den Fluss. »In der Wunderstadt«, sagte er und wies auf Fordlandia, »müssen wir sauber bleiben, sauber und rein.« Am Kai standen drei Männer wartend neben ein paar Kisten. Als wir vom Schiff gingen, kamen sie auf Jack zu und begrüßten ihn überschwänglich. Einer von ihnen schulterte Jacks Rucksack, lud sich die Gitarre auf und ging zusammen mit Jack in Richtung Stadt. Erst am nächsten Tag, bei meiner ersten offiziellen Besprechung mit den Herrschern von Fordlandia, sollte ich ihn wiedersehen. Die beiden anderen Männer gehörten zur Wachmannschaft, zu einer bewaffneten Wachmannschaft, die dem Kommando der Bosse von Fordlandia unterstand und in der Stadt für Ordnung sorgte. Brasiliens Regierung hatte hier tatsächlich keinerlei Befugnisse. Die Wachmänner, die in blaue Overalls gekleidet waren und Revolver an ihren Gürteln trugen, forderten mich und die Passagiere der zweiten Klasse auf, am Kai zu warten, während sie die Passagierliste und die Aufzeichnungen durchsahen, die ihnen der Kapitän ausgehändigt hatte. In einer der Kisten, die später in den Dampfer verladen werden sollten, saß ein Pärchen von Tukanen, die sich abmühten, ihre orangefarbenen Schnäbel durch die Ritzen zu schieben. Auf der Kiste klebte ein Etikett, dessen Aufschrift besagte, die Fracht solle vorsichtig behandelt und so schnell wie möglich an ihrem Bestimmungsort, Fairlane Mansion, Dearborn, Michigan, USA, geliefert werden. Einer der Passagiere aus der Zweiten trat an die Kiste und versuchte, die Schnäbel zu streicheln. Während die Vögel noch verstört in eine Ecke des Käfigs flüchteten, forderten die Wächter uns auf, ihnen zur nächsten Lagerhalle zu folgen. Sie verschwanden in dem Gebäude und riefen uns dann einen nach dem anderen mit Namen auf. Die Überprüfung 34
dauerte nur ein paar Minuten, und die, die wiederkamen, berichteten, man habe ihnen Spritzen gegeben, sie ein Chininpräparat gegen die Malaria schlucken lassen und sie gezwungen, Schnapsflasche, Taschenmesser und Tabak abzugeben. Das schien ihnen nicht viel auszumachen, und während einige direkt zum Hospital der Stadt aufbrachen, in dem sie zwei Tage zur Beobachtung bleiben sollten, warteten andere draußen, bis man in der Lagerhalle fertig war. Ich stand zwischen dem zur Lagerhalle führenden Park und dem Kai und beobachtete, wie die Besatzung, nachdem die Kisten verladen waren, eine Bahre auf das Schiff trug, auf der ein leichenblasser, in Laken gewickelter Mann lag. Ein Arzt, der die Bahre bis zum Steg begleitet hatte, sprach noch mit dem Kapitän, bis dieser befahl, das Signal zur Abfahrt zu geben. Ich sah, wie der Steuermann träge vom Heck bis zur Kommandobrücke schlurfte. Unsere Blicke kreuzten sich. Der Mulatte sah sich den Kranken an und winkte mir dann mit einer vielsagenden Geste zu. Ich blickte wieder in Richtung Fordlandia. Die letzten Sonnenstrahlen ließen das dunkle Grün der Vegetation hervortreten. Ich fragte mich, was mich hier wohl erwarten würde. Ich musste eine Weile warten, bis mich einer der Wächter aufrief. Anstatt mich in die Lagerhalle zu holen, stellte er mir jedoch einen Kollegen vor und bat mich, diesem zum Büro von Herrn Rowwe zu folgen. Der Direktor persönlich hatte auf der Wache angerufen und nach mir gefragt, und er wollte mich unverzüglich kennen lernen. Wir machten uns auf den Weg zu den Hauptgebäuden. Die Leute auf der Straße kamen und gingen, als würde nichts sie drängen. Manche bewegten sich gemächlich, Schafen gleich, ruhig, gleichmütig. Vor den Hauptgebäuden erstreckte sich ein weiter, mit Knotgras bewachsener Platz. 35
Hier fand der Empfang für besonders wichtige Besucher statt. Normalerweise war der quadratische Platz so leer und still, dass er noch viel größer wirkte, besonders im Sommer, wenn das grelle Sonnenlicht und die heiße Luft die Vorstellung, ihn überqueren zu müssen, besonders unangenehm machten. Zwischen Platz und Fluss hatte man einen kleinen Park angelegt, durch den ein kurviger Pfad führte. Er war mit Bananenstauden und Palmen bestanden, dazu gab es ein paar Bänke zum Ausruhen. Wir folgten der asphaltierten Straße bis auf den Hügel hinauf, wo sie sich in drei Wege verzweigte. Der breiteste von ihnen führte auf die zentrale Verwaltung zu, einem eleganten Gebäude aus roten Ziegeln. Die umliegenden kleinen Straßen waren nicht asphaltiert und zwischen Häusern und Baracken erstreckten sich mit Rasenplatten belegte Freiflächen, von denen einige mit Büschen und hohen Bäumen bestanden waren. J. F. Rowwe begann auf mich einzureden, kaum dass ich eingetreten war. Einen Stuhl bot er mir nicht an. Er war groß, rothaarig und trug wegen einer angeborenen Kurzsichtigkeit eine Brille mit dicken Gläsern. Er zeigte mir eine Landkarte von dem Gebiet, das der Ford Company gehört: drei Millionen Hektar am Tapajós, zwischen den Flüssen Cupari und Tapacurá gelegen. Das waren einhundertsechsundneunzig Kilometer Ufer. Auf der Karte waren die Stadt und andere, mit roter Tinte markierte Gebiete eingezeichnet. »Sehen Sie sich dieses Areal an. Hier müssen wir so viele Kautschukbäume pflanzen wie nur irgend möglich. In ein paar Jahren müssen wir bereit sein für die Produktion von etwa dreihunderttausend Tonnen. Das wäre genau die Hälfte dessen, was insgesamt an Kautschuk auf der Welt produziert wird. Bis jetzt sind wir nicht schnell genug vorwärts gekommen. Es gibt Probleme«, sagte er. 36
»Welcher Art?« »Wir haben nur wenige Arbeitskräfte gefunden. Wenige und schlechte.« »Und wie wollen Sie das ändernd« »Das ist ab sofort Ihr Problem. Wie ich aus dem Büro in Belém erfahren habe, sind Sie nach den Testergebnissen der geeignete Mann, um die erforderlichen Lösungen zu finden. Oder nicht?« »Ich glaube schon.« »Glauben Sie das nur, oder sind Sie sich dessen sicher?«, hakte er nach. »Ich bin mir sicher«, antwortete ich. Einen Augenblick dachte ich an die Antworten, die ich in Belém gegeben hatte. Eine fiel mir ein, aber ich konnte sie zu dem, was Rowwe von mir erwartete, nicht in Beziehung setzen. Als mich der mit dem amerikanischen Akzent fragte, wen ich als Ersten retten würde, falls im Haus meiner Familie ein Brand ausbrechen würde, hatte ich geantwortet, dass ich mich für den entscheiden würde, der mir am besten beim Löschen helfen könne. »Treiben Sie Männer auf, wir brauchen pure Muskelkraft, machen Sie, was Sie wollen und dies wo Sie wollen, aber beschaffen Sie mir Leute. So tragen Sie zum Fortschritt des Unternehmens bei und zu Ihrem eigenen. Lesen Sie das, lassen Sie sich etwas dazu einfallen, und morgen früh um acht Uhr sehe ich Sie bei der Besprechung mit den übrigen Geschäftsführern wieder«, fügte Rowwe hinzu. Er gab mir eine Mappe, die das, was er den Generalplan für Manöver, Taktiken und Strategien nannte, sowie Aufzeichnungen zur Charakterisierung der Einheimischen enthielt. Auf einer Holzkommode neben dem Schreibtisch 37
standen Glaszylinder, in denen sich getrocknete Spinnen befanden. Als Rowwe bemerkte, dass sie mich interessierten, sagte er gleichmütig: »Vergessen Sie die. Die Einzigen, die Ihnen hier wirklich Ärger machen können, sind diese beiden«, sagte er und öffnete eine Seitenschublade der Kommode. Ich schaute hinein. Ich sah eine tote Schlange und daneben ein kleines Gefäß. Es handelte sich um eine blaugrüne Kobra. Durch ihre Augen lief ein schwarzer Strich und ein gelber Streifen schmückte sie auf jeder Körperseite. »Die surucucu tötet schnell. Dieses verdammte Biest dagegen erledigt das allmählich«, sagte Rowwe und wies zunächst auf die Schlange und dann auf das Näpfchen. Ich hob den Napf hoch. Eine graue Mücke mit schwarzweißen Beinen lag darin. Es war eine Anopheles, die Überträgerin der Malaria. Rowwe legte mir eine Hand auf die Schulter. »Herzlich willkommen, und vergessen Sie nicht, morgen früh im Hospital vorbeizugehen. Sie brauchen ein paar Impfungen zur Vorbeugung. Das ist alles.« Der Wächter, der mich zu Rowwes Büro begleitet hatte, führte mich zu dem Haus, in dem ich während meines Aufenthaltes in Fordlandia wohnen sollte. Als ich ihm klar machte, dass ich Argentinier sei und kein Gringo, wie er angenommen hatte, freute er sich und erklärte mir die verschiedenen Gebäude, die am Weg lagen. In der Stadt waren die Lichter angegangen. Bäume, Straßen und Himmel begannen, sich mit den ersten Schatten der Nacht zu verwandeln. Dunkelheit hüllte die Vegetation ein, und die Bäume, deren Wipfel die Linie der Hügel nachzeichneten, schienen, anders als bei Tageslicht, jetzt bis in den Himmel hineinzuwachsen. Die zuvor so abwechslungsreiche 38
Landschaft verdichtete sich zu einer großen, fast geschlossenen Masse. Unterwegs kamen wir am Hospital, an der Schule, an verschiedenen Geschäften und an der Fabrik vorbei. Wir sahen Gruppen von Menschen, die im Kreis zusammenstanden und sich unterhielten. Das Haus, das in dem Viertel stand, in dem die Nordamerikaner wohnten, war aus Holz und mit einem Schrägdach versehen. Die Wände waren weiß, die Tür und die Fenster grün gestrichen. Das Haus war sauber und verfügte über ein Schlafzimmer mit zwei Einzelbetten, einen Ankleideraum und ein Büro. Für die leitenden Angestellten standen in Fordlandia Residenzen zur Verfügung, die in der Größe meiner Unterbringung gleich kamen, dann gab es einfachere Häuser für die Aufseher und eine Reihe von geräumigen Barakken, in denen die allein stehenden Arbeiter unterkamen. Die wenigen Arbeiter, die ihre Frauen mitgebracht hatten, wohnten in geräumigeren Bungalows. Meinem Haus gegenüber lag links, auf der anderen Straßenseite, der Freizeitsalon für die leitenden Angestellten. Durch das Schlafzimmerfenster konnte man Stimmen und aus dem Salon herübergetragene Musik hören. Ich ließ meine Tasche auf einem Bett stehen und schaute in jeden Winkel des Hauses. Gründlich untersuchte ich Möbel, Laken und Kissen, stieß jedoch nur auf eine Ameisen-Straße, die sich vom Waschbecken bis zu dem kleinen Garten am Eingang über den Fußboden zog. Dutzende der Insekten wimmelten im Waschbecken über dem Rest eines Stücks Seife. Ich steckte mir eine Zigarette an – in Gegenwart Rowwes hatte ich mich nicht getraut zu rauchen – und ging zum Schlafzimmerfenster. Ich schaute hinaus. Es war kein Mond zu sehen, und die Lichter der Straßen und Haustüren leuchteten hell auf im tiefen Dunkel der Nacht. Rowwe hatte mir Eindruck gemacht, einen schlechten 39
Eindruck. Dem Generaldirektor von Fordlandia hatte man wohl oder übel zu gehorchen. Aber ich verspürte ihm gegenüber weder Zuneigung noch Wertschätzung, ja nicht einmal Respekt. Er war weder höflich noch unhöflich. Ich hatte ihn kein einziges Mal lächeln gesehen. Er schien ein nüchterner, ein unerbittlicher und nüchterner Verwalter zu sein. Bei einer der üblichen Säuberungsaktionen unter den leitenden Angestellten des Unternehmens hatte es ihn hierher verschlagen. Als er die technische Abteilung des Werks in Detroit leitete, hatte er sich von den Plänen eines Zeichners leiten lassen, der, ermutigt vom Sohn Henry Fords, das Modell T durch ein moderneres Auto hatte ersetzen wollen. Die anderen Führungskräfte hatten ihn in die Enge getrieben, und zwar, wie es hieß, auf Geheiß von Ford höchstpersönlich. Man hatte ihn vor die Alternative gestellt, zu kündigen oder einen Posten im Ausland anzunehmen. Der Groll hatte ihm die Seele zerfressen, und das spürte man bei allen seinen Äußerungen. Ich öffnete meine Tasche und suchte nach dem Kölnischwasser. Ich lief quer durch das Zimmer ins Bad. Eine Zeit lang schaute ich zu, wie die Ameisen den Seifenrest bearbeiteten. Dann begoss ich ihn mit Kölnischwasser und zündete das Ganze mit einem Streichholz an. Die Flamme schoss hoch und erlosch rasch wieder. An diesem Abend ging ich früh zu Bett. Die Papiere, die Rowwe mir gegeben hatte, wollte ich am nächsten Morgen lesen, bevor ich ins Hospital und zur Besprechung ging. Es war offensichtlich, dass die Dinge in Fordlandia nicht so liefen, wie sie laufen sollten, aber richtig klar sollte mir das erst viel später werden.
40
IV
M
it meiner Arbeit begann ich am darauf folgenden Tag. Die Sirene, die den Beginn des Tagewerks in der Pflanzung und im Sägewerk ankündigte, holte mich früh aus dem Bett. Von Montag bis Samstag war sie täglich viermal zu hören, morgens um viertel nach sechs, dann um elf und um zwölf, zu Beginn und zum Ende der Mittagspause, und schließlich um halb sechs Uhr abends, wenn sie das Ende der Arbeitszeit verkündete. Sie heulte wie die Sirenen, die in Europa während des Krieges die Bombenangriffe angekündigt hatten. Man hatte hier genau das gleiche System installiert. Ich stand auf, rieb mir Oberkörper und Beine mit einem feuchten Lappen ab und zog mich, nachdem ich mich vergewissert hatte, dass sich kein Insekt in irgendeiner Falte meiner Kleidung versteckt hielt, an und ging hinaus. Es hatte die Nacht über geregnet. Die Luft war nun zäh und schwer. Als ich zu der Besprechung kam, waren alle leitenden Angestellten, insgesamt sechs Nordamerikaner, schon eingetroffen. Nur Rowwe fehlte noch. Fünf der Nordamerikaner waren Rowwes Mitarbeiter. Alle hatten sie den Gesichtsausdruck und das Auftreten von Menschen, die daran gewöhnt sind, andere zu beherrschen und zu lenken. Der Sechste war Jack. Er begrüßte mich freundlich und erkundigte sich, ob ich bereits im Hospital gewesen sei. Ich zeigte ihm die Einstiche der Spritzen im Arm und setzte mich neben ihn. Er machte einen besorgten 41
Eindruck. Wir tranken Kaffee, warteten auf Rowwe und stellten belanglose Vergleiche über Pampa und Urwald an. Etwas Bedrohliches lag in der Luft. Ich war sicher, dass Rowwe mich nach meiner Meinung zum Generalplan befragen würde, und das tat er auch, kaum dass er sich gesetzt hatte. Er trat ein, grüßte und setzte sich auf den Platz des Generaldirektors, der der Ehrenplatz am Tisch war. Der Plan bestand aus einer umfangreichen Abfolge von Grafiken und Zahlen, die Monat für Monat und Woche für Woche festlegten, was wie getan werden müsste und welche Mittel zur Durchführung notwendig wären, und zwar von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende. Er umfasste die Zeitspanne von 1926 – das war das Jahr, in dem das Gelände erworben worden war – bis 1956 – das war das Jahr, in dem spätestens alle festgesteckten Ziele erreicht worden sein sollten. Die Einleitung enthielt Kopien des Briefwechsels zwischen dem Gouverneur des Staates Pará, dem brasilianischen Botschafter in den USA und Henry Ford sowie solche des Gesetzes, das dem Unternehmen ein ausgedehntes Gebiet zuwies und ihm erlaubte, in diesem seine eigenen Behörden einzusetzen. Ebenso war das Duplikat eines an Henry Ford adressierten ausführlichen Berichts der Wissenschaftler La Rue und McCarro vorhanden. Er enthielt eine Chronik der Kautschukproduktion, betonte die Bedeutung dieses Rohstoffes für die moderne Welt und unterstützte insbesondere die Gründung einer Stadt in Amazonien, die an den Ufern des Tapajós liegen sollte. Einer der vielen Forscher, die sich in ferner Vergangenheit mit der Erkundung des Amazonas beschäftigt hatten, ein Franzose namens La Condamine, der von der Académie des Sciences beauftragt worden war, Newtons Theorien über Form und Größe der Erde zu überprüfen, hatte die ersten Kautschukmuster nach Europa geschickt. Die Eingeborenen, die das Material cahuchu nannten, 42
machten daraus Flaschen und Gefäße. In Europa wurde er anfangs zur Imprägnierung von Stoffen, Schuhen und Militärstiefeln verwandt. Nachdem Charles Goodyear 1839 zufällig entdeckt hatte, dass sich Kautschuk kombiniert mit Schwefel unter Zuführung von Hitze stabilisieren und vulkanisieren ließ, wurde das Material zur Produktion von Schläuchen, Planen und sogar bei der Herstellung von Kondomen benutzt. Mit Goodyears Entdeckung wurde Kautschuk zum Star der industriellen Entwicklung. Der Bericht hob hervor, wie unentbehrlich Kautschuk in allen Lebensphasen war, angefangen beim Sauger des Babyfläschchens bis zu den Reifen des Leichenwagens. Sogar die Ansicht eines englischen Politikers, des Gouverneurs von Ceylon, war in der Broschüre wiedergegeben. Dieser vertrat die Meinung, man solle »die Straßen der Londoner City mit Kautschuk pflastern, damit der Verkehrslärm die Konzentrationsfähigkeit der Geschäftsleute nicht länger beeinträchtigt«. Es dauerte nicht lange, bis die Engländer sich in das Geschäft mit dem Kautschuk einschalteten. Ende des neunzehnten Jahrhunderts hatte das Foreign Office einen Agenten losgeschickt, der das heimliche Einsammeln von Kautschuksamen an den Ufern des Tapajós, nicht weit von Fordlandia – genauer gesagt, zwischen dem Hafen von Santarém und Fordlandia – organisieren sollte. Die Kisten mit Samen trafen in der Baumschule von Kew Gardens in London ein, und ebenso von dort aus wurden die Schösslinge nach Ceylon, Malaysia, Java, Kambodscha und Kotschinchina versandt. Der Agent wurde mit Geld und Ehre belohnt und im hohen Alter zum Ritter des britischen Empire geschlagen. Ein paar Jahre zuvor hatte dasselbe Foreign Office mit dem Ziel, die Malaria im fernen Herrschaftsgebiet Ihrer Majestät zu bekämpfen, die Verschiffung von Schösslingen peruanischer Chinarindenbäume 43
nach Asien organisiert. Die Kautschukproduktion in den englischen Kolonien des Ostens stellte innerhalb kürzester Zeit die Produktion in Brasilien und dem Rest der Welt in den Schatten. Der Traum vom Amazonas war ausgeträumt. La Rue behauptete jedoch, dass jene Entwicklung dem Potenzial der Pflanzungen an den Ufern des Tapajós nicht zum Nachteil gereiche. Im Gegenteil. Organisation, Kapital und Disziplin seien bereits ausreichend. La Rue wies darauf hin, dass die Amerikaner im neunzehnten Jahrhundert die berühmte Erforschung der Schiffbarkeit des Amazonas durchgeführt hätten, und dass der Schwager einer jener Marineoffiziere, ein gewisser Maury, der zum Direktor des National Observatory aufgestiegen war, schon damals vorgeschlagen habe, das Gebiet mit Sklaven aus dem Süden zu kolonisieren. Der zum Staat Pará zählende Tapajós war das Herkunftsgebiet des Kautschuks, zudem waren die Bodenpreise lächerlich und die Produktion konnte einfach über den Fluss zum Ozean transportiert werden. La Rues Bericht wurde durch eine Weltkarte ergänzt, auf der die Strecke von Fordlandia bis zu dem Werk in Dearborn, Michigan, eingezeichnet war. Zwei Flüsse, ein Ozean, ein Kanal und ein großer See, alle gut schiffbar, verbanden einen Ort mit dem anderen, brachten den Diamanten zu seinem Feinschleifer. Als Randbemerkung gab La Rue, der Fords Schwäche für Etymologie kannte, seine eigenen Mutmaßungen über die Herkunft des Wortes Amazonas zum Besten. Was über Orellana und Walter Raleigh berichtet wurde, verwarf er. Über die beiden Eroberer hieß es, sie hätten ihrer Zeit das Scheitern ihrer Expeditionen (die erste fand zur Befreiung Pizarros statt, die zweite galt der Suche nach Gold in Guayana) einem Heer wilder blonder Frauen zugeschrieben, die sich ihnen, ähnlich den legendären Amazonen aus Herodots Erzählungen, am Flusslauf entgegengestellt hätten. 44
Nach La Rue war es richtig, den Namen des wundervollsten Flusses der Welt mit den rebellischen Frauen und der Legende zu verknüpfen, der Bezug zu Herodots Prosa jedoch sei falsch. La Rue behauptete, der Name des Flusses setze sich aus den beiden griechischen Wörtern ama und zona zusammen, was »mit dem Gürtel verbunden« bedeutete, und sowohl Orellana als auch Raleigh, hätten, als sie diesen Begriff verwendeten, an einen legendären Frauenstamm erinnert, der einst Afrika erobert hätte. Die Frauen hätten, verbunden nicht nur durch ihre Schlachtrufe, sondern auch durch ihre Gürtel, paarweise gekämpft. Das Einzige, was La Rue sorgfältig verschwieg, war die enge Freundschaft, die ihn mit dem Grundstücksspekulanten verband, der Ford die Tausende von Hektar rund um Fordlandia verkauft hatte. Statt den Generalplan zu studieren, hatte ich mir den frühen Morgen mit der Lektüre des Berichts von La Rue und den Aufzeichnungen über die Einheimischen vertrieben. Als Rowwe mich in Erwartung der Antwort ungeduldig ansah, schwindelte ich: »Meiner Meinung nach ist an dem Plan nichts auszusetzen. Was fehlt, ist lediglich seine Umsetzung.« »Genau«, bestätigte er. Jetzt wandte sich mir Jack zu. »Wie findest du den unterhaltsamen Bericht von Herrn La Rue?« »Sehr interessant«, sagte ich. »Sehr interessant, sagst du? Ich glaube, wir haben statt eines guten Personalchefs einen guten Diplomaten eingestellt«, bemerkte er lächelnd. »Hast du schon wieder Zweifel, Jack? Wie lange wird das noch so sein? Wann wirst du begreifen, dass der Erfolg von uns abhängt und von nichts und niemand ande45
rem? Natürlich müssen wir dafür überzeugt von unserer Sache sein … Und nüchtern dazu«, versetzte Rowwe. Einer der Nordamerikaner erhob sich und betätigte den Schalter für den Deckenventilator. Die Salonfenster standen offen, doch es roch trotzdem feucht und stockig. »Eine Tatsache allein ist entscheidend«, fuhr Rowwe, zu mir gewandt, fort. »Der Urwald arbeitet Tag und Nacht, wir nur tagsüber. Er wehrt sich als geballte Macht, wir hingegen agieren einzeln, sind eine allzu verstreute Kraft. Zum Ausgleich brauchen wir Leute, und zwar viele. Sie zu organisieren ist jetzt Ihre Sache. Ideal wären Weiße oder Chinesen.« »Chinesen?«, fragte Jack. »Ja, Chinesen, warum nicht? Im Moment müssen wir uns mit Eingeborenen begnügen, wenn wir mit ihnen unser Ziel aber nicht erreichen, werden wir große Schwierigkeiten bekommen.« Rowwes Erwähnung der Chinesen war nicht gerade originell. Denn es war La Rue, der in seinem Bericht schätzte, es brauchte für eine effektive Ausbeutung der brasilianischen Kautschukgebiete etwa eine Million chinesischer Arbeitskräfte. Später sollte es Rowwe jedoch lediglich gelingen, eine Hand voll Schwarzer von den Antillen anzuheuern. Und das sollte ihm übel bekommen. Jack sah Rowwe an und grinste. »Wenn es Schwierigkeiten gibt, ist ein Wechsel von Angestellten schmerzlich, aber unvermeidlich«, bemerkte er. Rowwe stand auf und legte eine Runde um den Tisch zurück. Er war wütend. An Jacks Sitzplatz angelangt, bückte er sich und flüsterte diesem ins Ohr: »Verschwinde. Und zwar sofort.« 46
Jack stand auf und drehte sich um, so dass er Rowwe ins Gesicht blicken konnte. Er überragte ihn um drei Zoll. Dann warf er mir einen Blick über die Schulter zu, schleuderte den Stift, den er in der Hand hatte, auf den Tisch und ging. Der Stift rollte und fiel auf den Boden. Rowwe hob ihn auf und schloss ihn in seine Faust. »Also. Machen wir weiter.« »Ich würde gerne die Pflanzung kennen lernen. Wäre das möglich?«, fragte ich. Rowwe wechselte Blicke mit den anderen Führungskräften. »Natürlich. Das versteht sich von selbst. Ich werde einen meiner Assistenten beauftragen, Sie durch die gesamte Anlage zu führen, einschließlich der Kantine. In ein paar Tagen sprechen wir uns wieder. Sie können sich jetzt zurückziehen«, sagte er. Während des ganzen Nachmittags und auch während der folgenden drei Tage besichtigte ich die Pflanzung. Es handelte sich um eine riesige Lichtung im Urwald. Etwas Derartiges hatte ich noch nie gesehen. Ich war beeindruckt. Auf der einen Seite befanden sich das Sägewerk, die Gärten und das Weideland für das Vieh. Die übrige Fläche bestand, so weit mein Blick reichte, aus Wegen und noch mehr Wegen. Ein regelrechtes Netz von Wegen, das sich zwischen ausgewachsenen Bäumen hindurch, durch Baumschulen, durch dicht bestandene und abgebrannte Wiesen und durch das Dickicht schlängelte sowie oberhalb und unterhalb der Felszüge und Hügel, die die Sonne versengt hatte, entlang verlief, breitete sich vor mir aus. Der Boden schien locker, sandig, und Traktoren und Montagefahrzeuge konnten nur einen kleinen Teil der Pflanzung befahren. Eine Vorhut von Tagelöhnern rodete alles Grün (außer den Kautschukbäumen), eine andere Ab47
teilung verbrannte das vertrocknete Gesträuch. Darauf folgte der Einsatz derer, die die Wurzeln rodeten und das Gelände einebneten, danach waren die Wegebauer und endlich die Pflanzer an der Reihe. Auf einigen Wegen sah man zahllose Männer arbeiten, auf anderen nicht eine Menschenseele. Die Aufseher und die Angestellten, die über die Arbeitsleistung Buch führten, hielten sich in über das Gelände verstreuten Häuschen auf, und ein paar von ihnen traten heraus, um mich zu begrüßen. Rowwes Assistent riet mir, dem Urwald nicht zu nahe zu kommen. Ich lief durch den Teil, in dem die Bäume angezapft wurden. Männer kerbten schräge Schnitte in die Stämme und fingen die austretende Gummimilch in einem Blechbehälter auf, der am unteren Teil der Bäume befestigt war. Sie arbeiteten mit einem kurzen Messer, das sie jeden Abend bei den Buchhaltern abliefern mussten. Die Männer liefen barfuß, trugen leichte Kleidung und einen Strohhut. Rowwes Assistent erzählte mir, die Tagelöhner fürchteten die Kobras, die wilden Eingeborenen und die Finsternis im Urwald. Jeder betreute eine lange Reihe von Bäumen. Alle zwei Stunden wurde das Latex aus den Blechgefäßen in Kübel geschüttet und zum Lager transportiert. Dort verdickten und räucherten andere Arbeiter die Masse ein, bis rauchgeschwärzte pelets daraus wurden, die nach Dearborn in Michigan eingeschifft wurden. Die hohen Bäume mit ihren ovalen Kronen standen etwa im Abstand von zehn Metern nebeneinander. Die Tagelöhner erklärten mir, dass man früher die Bäume abgeschlagen und sie mit Axt und Knüppeln ausgepresst habe. Sie selbst nannten sich seringueiros und den Baum seringal. Lange vor dem Franzosen La Condamine hatte der Priester Manoel de Esperanza schon beobachtet, wie Eingeborene Kautschuk gewannen. Als Bezeichnung für den milchigen Saft führte er das Wort seringa ein, das ursprünglich aus dem Grie48
chischen kommt und dem Portugiesischen angepasst wurde. Tatsächlich jedoch waren die meisten Männer keine Seringueiros, noch hatten sie irgendwelche Erfahrung mit dieser Art von Arbeit. Sie stammten aus dem Nordosten, wie die Männer, die ich in Belém gesehen hatte, als ich zu den Vorstellungsgesprächen im Haus Pirkrell unterwegs war. Sie waren nun einmal hier, Stechuhren prägten die Uhrzeit ihrer Arbeitsaufnahme sowie den Augenblick, in dem ihr Feierabend begann, in ihre Arbeitsnachweise ein, und sie alle befolgten die Vorschriften, die ihre Arbeit, ihr Essen und ihr gesamtes Leben regelten, denn ihre glühende, trockene Heimat hatte sie verstoßen. Hier arbeiteten dreitausend Männer, die nur darauf warteten, ihre Sachen packen zu können, sobald sie genug Geld beieinander hatten. Sie wirkten friedlich, aber es war denkbar, dass Enttäuschung oder Verzweiflung sie in die blutrünstigsten Raubtiere verwandelten. Auf dem Rückweg traf ich Jack. Er hockte mitten in einem Kreis von Arbeitern und gab Anweisungen. Er richtete sich, als er mich sah, auf, und begrüßte mich. Wir verabredeten uns für den nächsten Tag zum Mittagessen. Jack konnte man zu jeder Zeit irgendwo auf der Pflanzung begegnen. Umgeben von Männern mit Hacken, Spaten und Macheten gab er Instruktionen für den Wegebau und maß das Gelände mit Schritten aus. Mal hier, mal da ließ er lichten oder pflanzen, dann wieder nahm er Maß. Bei Einbruch der Nacht beendete er seine Arbeit, und am nächsten Morgen nahm er sie nur selten am selben Platz wieder auf. Manchmal gab es eine ganze Woche lang keine Spur von ihm. Ich erfuhr nie, ob er sich so in der Pflanzung engagierte, weil er dort den Führungskräften und den Kommentaren Rowwes oder der anderen ausweichen konnte oder weil die Landarbeit ihn an Michigan erinnerte, die wunderschöne Gegend, in der er aufgewachsen und wohl 49
glücklich gewesen war, ja die einzige wirklich schöne Zeit seines Lebens verbracht hatte. Ich ging den Weg nach Fordlandia hinauf. Unterwegs erklang die Sirene und ich blickte argwöhnisch zurück zum Urwald. An jenem Abend war mir, als warte der Urwald geduldig darauf, dass diese Invasion vorüberginge. Zu Hause warf ich mich aufs Bett und las noch einmal von vorne bis hinten den Bericht über die Amazonier. Es war eine detaillierte Darstellung über Gebräuche und Glauben dieser Menschen und von der soziologischen Abteilung des Fordwerks erstellt. Das einzige unvollständige Kapitel schien mir jenes über die Eingeborenen dieses Landstriches. Es hörte bei der Schilderung gewisser Mutproben auf, die ein junger Indio namens Teró bestehen musste, um zum neuen Häuptling der munduruku ernannt werden zu können. Ich hatte den Eindruck, dass diese Seiten von einer Frau geschrieben worden waren. Danach ging ich über die Straße zum Gesellschaftssalon und traf dort einen der Nordamerikaner, die ich am Morgen kennen gelernt hatte. Er saß an einem Tisch und legte sich mit spanischen Karten Patiencen. Der Salon war groß und gut beleuchtet, doch es galt strengstes Zigaretten- und Alkoholverbot. In dem Raum standen ein Billardtisch, eine Tischtennisplatte, ein Schachtisch und ein Musikautomat. Ich bestellte Kaffee und Paranüsse und spielte dann mit dem Amerikaner Billard. Er entpuppte sich als mürrischer Typ, und wenn er sprach, sprach er schnell. Er hieß Frank und war in Detroit unter Rowwe Handwerker bei Ford gewesen. Er spielte gut, und außerdem hatte er Glück. Nach einer Karambolage trat er zu mir und sagte mit gesenkter Stimme: »Lass mich dir einen guten Rat geben: Höre nicht auf Jack«, sagte er. »Wieso? Kennst du ihn gut?«, fragte ich. 50
Er schluckte Speichel, und ich sah, wie sich sein Adamsapfel hob und senkte. »Nein, aber er war im Gefängnis. Hüte dich vor ihm«, sagte er. Wir spielten zwei Partien, und ich verlor beide. Dann gingen wir hinaus, um zu rauchen. Die Luft war angenehm, und in der Stadt herrschte Stille. Ich sah einen Mann um mein Haus streichen. Frank steckte sich eine Pfeife an. »Sobald du dich mit Jack zu eng zusammentust, hast du verloren«, beharrte er. Ich machte die Zigarette aus, verabschiedete mich von Frank und überquerte die Straße. Der Mann, den ich beobachtet hatte, lehnte jetzt gelassen an meiner Haustür. Er drehte sich eine Zigarette. Als er mich sah, nahm er seinen Strohhut ab und ging mir entgegen. Er ging unsicher, taumelnd. Er wirkte nicht betrunken, eher müde. Er lief gebückt, und seine Arme baumelten an ihm herab, als fehlten ihnen die Gelenke. »Sind Sie der Argentinier?«, fragte er. »So ist es.« »Ich bin Enéas, Ihr Assistent.« Ich betrachtete ihn misstrauisch. »Rowwe schickt mich, aber machen Sie sich keine Sorgen, ich werde für Sie arbeiten«, sagte er. Er hatte seinen Hut in der einen Hand und die Zigarette in der anderen. Ich zündete ein Streichholz an und gab ihm im Schutz einer hohlen Hand Feuer. Ich sah, dass ihm zwei Finger an der linken Hand fehlten. Er zog den Rauch ein. Dann sagte er mit sanfter Stimme: »Ich habe sie im Sägewerk verloren. Aber acht geschickte Finger sind mehr wert als zehn ungeschickte.« 51
»Das will ich hoffen.« »Ich auch, mein Weißer.« Enéas hatte braune Haut und schwarzes krauses Haar. Am Amazonas stufen die Leute sich selbst nach der Art ihres Haarwuchses ein. Hautfarbe und Gesichtszüge sind nicht entscheidend, nur das Haar. Menschen mit feinem glattem Haar und dichtem Bartwuchs, das sind Weiße. Mulatten und caboclos hingegen haben dickes schwarzes Haar, und ihr Bartwuchs beschränkt sich auf ein paar Haare am Kinn. Eine breite Nase weist auf afrikanische Herkunft, Mandelaugen auf indianisches Blut hin. Natürlich spielt bei dieser Zuordnung das Geld eine Rolle, sogar eine sehr wichtige. Als wir einmal auf einem der vielen Flüsse unterwegs waren, die das Amazonastal durchziehen, begegnete uns ein Boot mit einem funkelnagelneuen Dieselmotor. Am Steuer saß ein selbstbewusst wirkender Schwarzer, ein Händler, den Enéas schon als Kind gekannt hatte. Als das Boot des Schwarzen sich entfernte, sagte Enéas in dem bewundernden Tonfall, den er für besondere Gelegenheiten aufbewahrte: »Sieh einer an, wie das Leben so spielt, jetzt ist Orlando ein Weißer geworden.« Ich antwortete, wenn Orlando der Mann am Steuer gewesen sei, dann habe Enéas wohl einen Knick in der Optik, denn für mich war der Typ so schwarz wie die Nacht. »Orlando war schwarz, jetzt ist er es nicht mehr«, insistierte er. Enéas galt als Caboclo mit afrikanischen und indianischen Vorfahren. Die eigentlichen Caboclos waren für ihn jedoch die Eingeborenen. Das Einzige, worum er mich ausdrücklich gebeten hatte, kaum dass wir uns kennen gelernt hatten, war, dass ich ihn auf keinen Fall als Caboclo bezeichnete. »Caboclo genannt zu werden ist keine Beleidigung, aber es betrübt einen sehr«, sagte er. Ich meinerseits erreichte, dass er mich nicht mit »Mein Weißer« ansprach, aber das geschah erst, als unsere Beziehung ihr so jähes 52
und schreckliches Ende fand. Bei jenem ersten Gespräch befahl ich ihm, er solle sich jeden Morgen nach dem Frühstück bei mir melden. Er lächelte und suchte dann seine Baracke auf. Ich beobachtete seinen eiligen schwankenden Gang und fragte mich, ob dieser Mann für meine Pläne nützlich sein könnte. Eine Zeit lang plagten mich diese Zweifel. Dann betrat ich das Haus. Ich fiel um vor Müdigkeit.
53
V
A
m nächsten Morgen sah ich mir in Enéas Begleitung Lagerhallen, Eisfabrik und Verwaltungsbüros an. Enéas hielt sich stets zwei oder drei Schritte hinter mir. Willig erfüllte er jede Anweisung, und wenn ich nicht sprach, schwieg auch er. Er rauchte lieber seine Zigaretten als meine amerikanischen Lucky Strikes. Wenn wir eine Pause machten, oder wenn ich stehen blieb, um bei dieser oder jener Arbeit zuzusehen, ging er in die Hocke oder stützte sich unweigerlich am erst besten Vorsprung ab. Seinen Bewegungen fehlte die bei Menschen übliche Elastizität. Er sah wie ein müder alter Gaul aus, und sein Gesichtsausdruck machte mich sauer. Eine Zeit lang hatte ich Lust, ihn durchzuschütteln. Ihn zu schlagen. Aber ich nahm mich zusammen und zeigte ihm mein Missfallen nur, indem ich ihm kurze knappe Anweisungen gab. Später gingen wir zum Kai. Ein weiteres Schiff hatte festgemacht. Es brachte Nahrungsmittel und Post. An Bord befand sich ein Syrer, der Zigaretten, Likör, Krokodilleder und Bücher aus zweiter Hand verkaufte. Der Syrer baute einen Tisch auf dem Kai auf und legte Flaschen und Zigaretten darauf. Daneben stapelte er die Bücher auf den Boden. Ich sah mich um. Während die Fracht ausgeladen wurde, warteten abseits mehrere Tagelöhner darauf, an Bord gehen und abfahren zu dürfen. Zwei bewaffnete Wächter kontrollierten ihr Gepäck. Einen der Tagelöhner zwangen sie, ein bisschen Maniok und Kautschuk, sowie eine Machete, die er in ei54
ner Tasche trug, auf dem Kai zu lassen. Ich sah, wie er, bevor er an Bord ging, einen Augenblick, in dem die Wächter abgelenkt waren, dazu nutzte, Maniok, Kautschuk und Messer mit einem Fußtritt in den Fluss zu befördern. Ich verlor keine Zeit und wandte mich an den Händler, um eine Flasche Likör und eine Stange Zigaretten zu verlangen. Überrascht schaute mich der Syrer an. Dann sah ich den Stapel Bücher durch. Es waren Gedichtbände, Länderbeschreibungen und politische Abhandlungen, und sie waren in Leder gebunden, mit Titeln in Goldlettern und mit Goldrändern versehen. Ich kaufte eines von ihnen, es befasste sich mit der brasilianischen Wüste, und zahlte für die drei Sachen mehr, als mich Essen und Tanz im Palais de Glace, mitten im Herzen von Buenos Aires, gekostet hätten. Der Syrer wollte mir noch mehr verkaufen. »Brauchen Sie nicht eine Pfeife oder einen Spiegel?«, bot er mir an. »Ich glaube nicht«, lehnte ich ab. Ich übergab meine Einkäufe Enéas und trug ihm auf, die Flasche so diskret wie möglich in meine Unterkunft zu bringen. Gegen Mittag traf ich mich mit Jack. Er wartete an der Kantinentür. Amüsiert schaute er zu, wie sich zwei Brasilianer vom Verwaltungspersonal mit einem Papagei unterhielten. Der Papagei antwortete mit Gekrächze. Er war mit einer Schnur an einem Fensterrahmen festgebunden. In der Kantine war das Essen noch nicht fertig. Wir setzten uns an den Tisch, der neben dem Fenster stand, an dem der Papagei hockte. Die Kantine war klein und ausschließlich für Führungskräfte und ihre Gäste vorgesehen. Ich sah zum Fenster hinaus. Die Brasilianer schauten uns an und entfernten sich dann. 55
»Weswegen bist du eigentlich hier?«, fragte Jack. »Aus Arbeits- und Geldgründen«, antwortete ich. »Und wovor fliehst du?« »Was soll das heißen? Ich fliehe vor nichts und niemandem«, log ich. »Wofür bestrafst du dich dann selbst?« »Was ist denn das für eine seltsame Frage?« Erstaunt sah mich Jack an. »Ach! Dann bist du also ein Freiwilliger. Es ist mir eine Freude, die Freiwilligen unter uns kennen zu lernen. Angenehm, Herr Freiwilliger«, konterte Jack. Dann konnte ich mir nicht verkneifen, ihn im Gegenzug zu fragen, was ihn nach Fordlandia verschlagen hatte. »Ich bin hier, um mich zu heilen und meine Seele zu retten«, antwortete er. »Und dies nach deiner Haftstrafe«, bemerkte ich. Einen Augenblick lang schwieg Jack betroffen. »Na, sieh mal einer an, wie schnell sich Nachrichten doch verbreiten. Ja, da ist etwas dran, ja, warum nicht? Ein paar Jahre versuche ich mein Glück hier, dann ziehe ich weiter. Und wenn es als Händler oder als irgendetwas anderes dieser Art ist. Weswegen hätte ich sonst mein geliebtes Michigan gegen diese feuchte Scheiße eintauschen sollen? Nun sagen Sie darauf mal etwas, Herr Job und Geld!« »Vielleicht bist du gekommen, um bei Ford aufzusteigen?« »Um bei Ford aufzusteigen! Dass ich nicht lache! Du meinst, wie Rowwe es getan hat vielleicht oder sein kleiner Freund Frank? Eine tolle Idee, wirklich! Das ist doch hirnrissig! Diese Typen sind alles Verlierer! Ich sage dir 56
eines: Hier ist alles dem Untergang geweiht, mein Freund. Und dies von Anfang an, mach dir ja nichts vor! In Detroit steigt man nicht auf, indem man Papiere wälzt und Abläufe abwickelt, sondern nur dann, wenn man Ideen hat, und zwar durchschlagende Ideen. Erfindungen muss man vorweisen können! So und nicht anders läuft es in Detroit. Und diese Typen, von denen wir sprechen, sind überflüssig, egal ob hier oder in Detroit, oder wohin auch immer du sie dir denken magst. Es sind nichts als Überflüssige, die sich in einem schon längst verlorenen Krieg verlaufen haben«, schloss er. Er schaute mich lange an. Der Kellner brachte uns das Essen. Ein bisschen Spinat und Maniok, ein gehacktes Ei und ein Stück gekochten Fisch. Er servierte uns auch eine Flasche und zwei Gläser. Ich nahm die Flasche in die Hände und roch an ihrem Hals. Sie hatte einen fruchtigen Geruch, der zwischen bitter und süß lag. Auf dem Etikett las ich: »Fruchtsaft, hergestellt in Fordlandia«. Ich füllte zwei Gläser, und wir stießen an. »Was ist das?«, fragte ich. »Papaya und Guyabana. Vervollständigt die zweitausendfünfhundert Kalorien, die man am Tag braucht. Zweitausendvierhundert für uns, zweitausenddreihundert für die Eingeborenen. Nicht mehr und nicht weniger. Genau so viel, wie du brauchst, um erneut die Kräfte zu sammeln, die dir die Tropen nehmen. Hast du das nicht in dem Bericht gelesen?« Ich gab zu, diesen Abschnitt noch nicht durchgelesen zu haben, und wir lachten. »Soll ich noch etwas bestellen?« Jack grinste. »Unvorstellbar!« Er wandte den Kopf und blickte hinaus. 57
»Weißt du, was mir als Einziges am Kautschuk gefällt?«, fragte er. »Nein.« »Dass du dank seiner mit Frauen zu tun haben kannst, ohne dir gleich die Pest zu holen.« »Worauf spielst du an? Auf die Herstellung von Kondomen?« »Natürlich, worauf sonst. Der alte Henry denkt an alles, mein Junge. Was zum Beispiel ist ein Auto? Eine Verheißung von Freiheit und Jugend. Deinen Körper, deine Gebrechen, deine Falten wirst du gegen nichts eintauschen können. Dein Auto aber sehr wohl. Mit einem Auto ist es leichter, Frauen kennen zu lernen und ins Bett zu kriegen, und mit den Kondomen dazu vermeidest du Probleme.« »Ich benutze sie nicht gern.« »Aber hallo!« Vor mir sitzt also ein rätselhafter Freiwilliger und er besitzt zudem noch die Seele eines syphilitischen Kirchenvaters … Na so was! Hör zu: Ich habe über die Geschichte des Kondoms gelesen. Es ist eine edle Geschichte, Kumpel. Sie handelt von Fürsten und Höflingen. Und sie ist um einiges älter als die glorreiche Erfindung des legendären Goodyear, nach der die Dinger haufenweise produziert wurden. Das war vielleicht ein Typ, der Goodyear, Mann! Wusstest du, dass die Schotten vor zweihundert Jahren ein Spottlied auf einen gewissen Quondam verfasst haben, der die Kondome verbieten lassen wollte, damit die Armen weniger vögelten? »Then Seringe and Condum / come both in request / while virtous Quondam / is treated in jest.« Wir waren gerade mit dem Essen fertig, als Rowwe eintrat. Er war allein und er sah erschöpft aus. Er kam auf uns zu und wandte sich, ohne Jack auch nur eines Blickes zu würdigen, fragend an mich: 58
»Wann fangen wir an zu arbeiten?« »Bald. Ich werde morgen Nachmittag auf Sie zukommen und Ihnen meine Pläne erklären«, gab ich ihm zur Antwort. Rowwe stimmte mir wortlos zu. Dann machte er eine halbe Drehung und setzte sich an den übernächsten Tisch. Der Kellner brachte Kaffee und Paranüsse zum Nachtisch. »Wie kann ich Arbeiter auftreiben, Jack?«, fragte ich flüsternd. »Versprich ihnen das Paradies, Job und Geld«, sagte er. »Und wo finde ich sie?« »Frag deinen Caboclo, der weiß es«, sagte er und zeigte auf Enéas. Ich sah aus dem Fenster. Draußen wartete Enéas auf mich, wie ich ihm aufgetragen hatte. Ich stand auf und drückte Jack die Hand. Leise fragte ich ihn: »Und die Gitarre?« Jack schielte aus dem Augenwinkel nach Rowwe. »In irgendeiner Vollmondnacht lade ich dich zu einem von meinen Konzerten ein«, sagte er. Während unseres Essens hatte es einen Platzregen gegeben. Er war aber schnell vorüber gewesen, und der Himmel war wieder klar geworden. Enéas war völlig durchnässt. Die letzten Tropfen hatten ihn auf dem Weg von der Angestellten-Kantine zu jener der Führungskräfte überrascht. Eigentlich hatte ich vorgehabt, mich auf der Pflanzung umzusehen, aber die Feuchtigkeit und die Insekten, die zu Tausenden hervorkrochen, brachten mich schnell davon ab. Wir gingen in mein Büro, und ich sagte Enéas, er solle mir detailliert alle Dörfer und Siedlungen der Umgebung aufzählen, die er kenne. Und mir erläutern, wie weit sie voneinander entfernt seien. Wie viele Leute je59
weils dort lebten. Und was wir für eine Reise durch die Gegend alles brauchten. Mein Vorschlag gefiel ihm, und er berichtete gewissenhaft, was er wusste. Wir sprachen darüber am Nachmittag in meinem Büro und setzten das Gespräch am folgenden Tag, als wir die Wege der Pflanzung entlangliefen, fort. Am Nachmittag des nächsten Tages wurde ich bei Rowwe vorstellig, um ihm meine Pläne zu unterbreiten. Während meines Vortrags bemerkte ich, dass ich in gewisser Weise stolz auf mich selbst war. »Ist jemand von Ihnen oder aus Belém schon mal durch die Gegend gereist, um die Stadt bekannt zu machen und Arbeit anzubieten?«, fragte ich. »Bis jetzt niemand.« »Gut, ich glaube, in ein paar Tagen bin ich so weit. Ich werde Baracken, Dörfer und kleine Pflanzungen an den Flüssen Cupari und Tapacurá besuchen. Ich brauche Geld, ziemlich viel Geld, Beglaubigungsschreiben, Prospekte, ein gutes Boot und Lebensmittel«, forderte ich. Rowwe stand auf und bat mich, ihm die Route auf der Karte zu beschreiben, die hinter ihm an der Wand hing. Ich zeigte ihm so ungefähr die Flüsse und das Gebiet, das ich bereisen wollte. »Sie sind kühn. Einverstanden. Ich kaufe es Ihnen ab. Sie können mit allem, was Sie brauchen, rechnen, zudem mit ein paar Waffen. Ich möchte auch, dass Sie Buch führen über alles, was Ihnen unterwegs begegnet«, sagte er. Dann öffnete er eine Schublade seines Schreibtischs und nahm ein paar maschinengeschriebene Seiten heraus. Für ein paar Sekunden überließ er sie mir. »Wenn Sie zurückkommen, ob erfolgreich oder nicht, lassen wir das anlaufen«, sagte er. 60
Ich konnte lediglich das Titelblatt erfassen. Oben links hieß es: »Für C. Sorensen. Büro Dearborn. Streng vertraulich.« Und der in Großbuchstaben gesetzte Titel lautete: VORSCHLAG ZUR ERWEITERUNG DES EIGENTUMS AUF SECHS MILLIONEN HEKTAR, ZUR BEHEBUNG DES ARBEITSKRÄFTEMANGELS UND ZUR WEITEREN ERSCHLIESSUNG DES AMAZONAS. Gezeichnet: J. F. Rowwe. Ich verabschiedete mich und versprach Rowwe, ihm meine Ideen und die notwendigen Daten schriftlich zukommen zu lassen. Ich spekulierte lange über den Inhalt dieser Seiten. Die Sache interessierte und beunruhigte mich gleichzeitig. Kurz darauf nahmen die Reisevorbereitungen meine ganze Zeit in Anspruch. Es war nicht einfach, meine erste Tour an die Zuflüsse des Tapajós zu organisieren. Ich kannte ja weder die Gegend noch den Urwald. Und was ich auf dem Hinweg an Bord der Moacyr gesehen hatte, hatte mich sehr beeindruckt. Nach diesem Trip würde ich die Aussichten für Fordlandia besser einschätzen können und wissen, ob das Ganze nur ein zu groß entworfenes Glashaus war oder gar eine Kristallglocke, die ein exzentrischer Millionär über seine exzentrischen Träume gestülpt hatte, oder ob es sich tatsächlich um ein bahnbrechendes Abenteuer handelte, bei dem in einem unbekannten Land, das ebenso unerforscht wie faszinierend war und viel zu schön, um es jemals wieder zu verlassen, die Fahne des Fortschrittes gehisst werden sollte. Ich lief durch die Pflanzung. Die Tagelöhner arbeiteten noch und warfen mir ab und zu flüchtige, manchmal spöttische Blicke zu. Mehr als einmal versuchte ich, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, doch meine Versuche scheiterten. Sie wussten, dass wir aus verschiedenen Welten kamen. Untereinander unterhielten sie sich in einem unverständlichen bäuerlichen Portugiesisch. 61
Irgendwann wurde ich bei dem Gedanken an die bevorstehende Reise nervös. Das war nicht gut. Bei innerer Unruhe, pflegte meine Mutter zu sagen, wird man zum Opfer seiner eigenen Nerven. Eine halbe Stunde lief ich ziellos umher. Auf den Wegen, über denen noch Sonne und Hitze flirrten, ging ich zurück zur Stadt und machte mich auf die Suche nach Enéas. Untätig schlenderte er durch eine der Querstraßen. Ich berichtete ihm, dass Rowwe meinem Vorschlag zugestimmt habe, woraufhin er vorschlug, wir sollten uns noch eine weitere Hilfskraft besorgen. Er würde sich darum kümmern. Es schien mir vernünftig, auf einen weiteren Mann zählen zu können, falls es Probleme gäbe, und ich stimmte zu. Außerdem war ich sicher, dass Enéas, der wie ein Mann von Adel jeder körperlichen Tätigkeit abgeneigt zu sein schien, darauf spekulierte, dass unser Gehilfe schließlich derjenige sein würde, der die täglich anfallenden Arbeiten würde ausführen müssen. Meine Vermutung wurde bestätigt, und unsere neuer Mann hieß Roque. Roque war Mulatte und kleiner als Enéas, sah sehr jung aus, fast noch wie ein Knabe, und stammte aus einer alten Siedlung im Umkreis des Tapajós. Er trug einen spärlichen Schnurrbart und hatte nur noch wenige, zudem bräunlich verfärbte und unregelmäßig stehende Zähne. Anders als bei Enéas war sein Gang flott und selbstbewusst. Während Enéas sich als fähig erwies, wenn es darum ging, auf Flüssen und im Urwald auch unter schwierigen Verhältnissen die Orientierung nicht zu verlieren, bewies Roque hingegen während unserer Expeditionen, dass er ein guter Koch und ein unübertrefflicher Unterhalter war. Er kannte sämtliche Mythen und Legenden des Amazonas, angefangen bei den einfachsten und bekanntesten – ich meine die, denen man unter jeweils leichter Abwandlung auch zum Beispiel in Buenos Aires begegnen konnte 62
– bis zu den allerfantastischsten. Wenn wir es einmal vorzogen, keine seiner Geschichten zu hören, Roque aber dennoch zum Erzählen ansetzte, war die einzige Möglichkeit, ihn zum Verstummen zu bringen, den folgenden Satz, der seinen Stolz tief verletzte, auszusprechen: »Halt den Mund, du schäbiger Neger!« Roque hatte einen glänzenden Verstand, auf den man sich allerdings nicht immer verlassen konnte, und der manchmal hell aufflammte, um dann, von einer Sekunde auf die andere, wieder zu verlöschen. Obwohl seine moralischen Vorstellungen nicht sonderlich tiefgründig oder gefestigt und auch relativ begrenzt waren, konnte er doch die komplexesten Gedankenverknüpfungen herstellen. Am Nachmittag bestellte ich beide in mein Büro. Ebenso wie die nordamerikanischen Angestellten hatte auch ich ein Zimmer gegenüber von Rowwes Räumen bezogen. Ich erläuterte ihnen mehrfach den Zweck der Reise und breitete eine Landkarte auf dem Schreibtisch aus. Wir entwarfen eine ungefähre Streckenplanung, berechneten die Zeit, die wir von einem Ort zum nächsten brauchen würden, und ich listete alles auf, was wir mitnehmen würden. Ich fragte sie, ob sie mit dem Gebrauch von Waffen vertraut seien. Rowwe hatte mir durch seinen Assistenten einen Revolver bringen lassen sowie ein Gewehr vom Kaliber 22, dazu Magazine und Munition. Enéas behauptete, Erfahrung mit der Handhabung von Gewehren zu haben. Wir verabredeten uns für den nächsten Morgen, um die letzten Vorbereitungen zu treffen. Dann schloss ich das Büro und ging nach Hause. Das Gewehr und eine Landkarte nahm ich mit. Ich betrat das Haus, durchquerte das Schlafzimmer, legte das Gewehr neben das Bett, stellte mich ans Fenster und öffnete es. Vor mir lag eine in die Nacht hinübergleitende Dämmerung. Der Abend erlosch an einem rosafarbenen 63
Himmel. Ich setzte mich aufs Bett und faltete die Landkarte auseinander. Meine Nervosität hatte kaum nachgelassen. Abermals ging ich die Einzelheiten durch und versuchte, mir die Namen von Flüssen und Siedlungen einzuprägen. Als Kind hatte ich eine ausgesprochene Leidenschaft für Landkarten. Mein Vater hatte mich oft auf Fahrten zu den Inseln im Tigre-Delta mitgenommen, wo er Freunde und Verwandte hatte. Einer seiner Freunde schenkte mir einmal, nach einem Bootsausflug, eine vom Militär erstellte Karte des Deltas. Stunden um Stunden verbrachte ich über dieser Karte und monatelang träumte ich davon, einmal an einer Forschungsexpedition teilnehmen zu können. Ich war ein einsamer Jäger. Ein Abschnitt aus einem Buch von Mark Twain fiel mir ein. Dieser schrieb in The Turning Point of My Life, er hätte sich in seiner Jugend innig gewünscht, den Amazonas zu bereisen, und hätte, bevor er sich in New Orleans für eine Mississippitour einschiffte, vergebens nach einem Schiff gesucht, das nach Pará fuhr. Kurz darauf faltete ich die Karte wieder zusammen, stand auf und ließ sie auf dem Schreibtisch liegen. Dann griff ich nach dem Gewehr, klappte es auf und überzeugte mich davon, dass der Lauf sauber war. Ich entsicherte es und zielte auf die Glühbirne, die von der Decke hing. Insekten umschwärmten sie. Ich drückte leicht auf den Abzug. Die Feder war hart. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich einen Schatten, der sich dem Fenster näherte. Dann flammte ein Streichholz auf. Ich zielte auf die Flamme. Der Schatten verschwand, und ich hörte das Geräusch eines Falles. Danach trat tiefe Stille ein. Kurze Zeit später sah ich, wie Franks eingefallenes, müdes Gesicht vorsichtig zum Fenster hereinschaute. »Was machst du denn da, bist du verrückt? Er ist wahnsinnig geworden!«, schrie er. 64
»Ich hatte nicht vor, auf dich zu schießen.« Er steckte seine Pfeife zurück in den Mund, zündete ein neues Streichholz an und sah mich wütend an. Er sog heftig an der Pfeife. »Ich wollte dich noch mal zum Billardspielen einladen, weil du doch übermorgen weg bist«, sagte er. Ich spiele gerne Billard. Ehrlich gesagt würde ich am liebsten mein ganzes Leben mit einem Queue in der einen und einem guten Schluck in der anderen Hand verbringen. Ich erklärte mich einverstanden, legte das Gewehr auf den Schreibtisch, doch als ich gerade gehen wollte, hielt mich Frank auf. »Warte doch! Lädst du mich nicht auf einen Schluck ein?« Überrascht sah ich ihn an. Einen Augenblick zögerte ich, doch dann ging ich zum Kleiderschrank, nahm eine Flasche heraus und füllte ein Glas. Ich schob das Moskitogitter hoch und reichte ihm das Glas durchs Fenster. Frank leerte es in einem Zug. »Dieser Syrer verkauft einem die reinste Scheiße«, sagte er. In dieser Nacht erfuhr ich von Frank ein paar Einzelheiten aus seinem Leben. Er erzählte, dass er in einem ärmlichen Viertel Detroits aufgewachsen sei, noch als Kind von zu Hause abgehauen sei und dann keinerlei Chance auf einen Job gehabt habe. Beinahe wäre er bei der Marine gelandet, und wären Ford und Rowwe, ja besonders Rowwe nicht gewesen, so triebe er sich jetzt als Dieb oder Betrüger auf der Straße oder irgendwo am Ende der Welt herum. »Und, sind wir hier nicht am Ende der Welt?«, entgegnete ich. 65
»In gewissem Sinne, ja. Aber das hier haben wir geschaffen, und das Sagen haben wir hier auch.« Außer Jack und Rowwe hielten sich gerade alle Nordamerikaner in dem Salon auf. Während wir Billard spielten, organisierten die vier anderen eine Pokerrunde. Sie spielten um Geld und tranken reichlich Kaffee. Ab und zu legten sie eine Pause ein und gingen zum Rauchen hinaus. Ein Pokerspiel, bei dem man weder rauchen noch trinken durfte, fand ich lächerlich, und ich war drauf und dran, ihnen meine Meinung zu sagen. Doch sie schienen sich zu amüsieren. Zwei von ihnen waren Buchhalter, die anderen beiden Ingenieure. Frank war Rowwes Vertrauensmann. Die Gringos pflegten ihre Assistenten und ihre brasilianischen Aufseher loszuschicken, deswegen sah man sie selbst selten außerhalb ihrer Büros. Zweimal täglich ließen sie sich dort immer zur selben Zeit Bericht erstatten und erteilten den Aufsehern Anweisungen. Jack war der Einzige, der direkten Kontakt mit den Tagelöhnern hatte, und sich auch auf der Pflanzung aufhielt. Deswegen duldeten sie ihn, auch wenn sie aus ihrer Verachtung für ihn kein Hehl machten. In ihren Scherzen und Bemerkungen spielten sie ständig auf ihn an. Einem ihrer Kommentare entnahm ich, dass Jack meinte, er könne etwas vor ihnen verborgen halten, eine Erfindung, die ihnen aber bekannt war, ohne dass er es ahnte. Bis nach Mitternacht blieb ich in dem Salon hängen. Dann ging ich spazieren. Vor der dichten Schwärze der Nacht ließ die Straßenbeleuchtung Spuren von städtischem Leben in der Siedlung aufleuchten. Sie wirkte richtig modern. Ich beschloss, sie mir vor dem Schlafengehen noch anzusehen.
66
VI
E
s war ein milder, heiterer Tag, und das Strahlen des Sommers erfüllte den Vormittag. Der Nebel hob sich im Morgengrauen über dem Urwald wie ein Theatervorhang. Der Tapajós schimmerte friedlich, und die Bäume standen reglos in der Stille. Ihr Duft lag in der leichten Sommerluft, die ihn von Ufer zu Ufer trug. Wir waren gerade ins Boot gestiegen, als ich mich umsah und Jack erblickte, der mit Caroline den Kai entlanglief. Lange schaute ich ihnen nach. Bis zu meiner Rückkehr blieb mir dieses Bild im Gedächtnis haften. Jack war schon seit dem frühen Morgen am Kai. Er hatte uns bei der Bootsinspektion und beim Verstauen des Gepäcks geholfen. Er hatte mir eine in einem Pappkarton verpackte Flasche Whisky mitgebracht. Bis am unteren Flusslauf das Kanu auftauchte, das Caroline brachte, wirkte er ziemlich nervös. Caroline kehrte von einer Reise zu einer Mundurukugemeinde zurück. Sie war in Begleitung eines Caboclo und eines Eingeborenen. Ihr Kanu war klein und bis zum Rand mit Früchten und Kunsthandwerk beladen. Jack half ihr beim Aussteigen, nahm sie beim Arm und stellte sie mir vor. Sie lächelte. »Das ist Caroline, sie ist verantwortlich für vieles, was du über diese Gegend hier gelesen hast.« Caroline war groß und blond und hatte graue, leicht schräg stehende Augen. Mir schien sie wie eine typische Forscherin gekleidet zu sein, was ihr gut stand. »Das ist der Argentinier, unsere neue Führungskraft. Er 67
wird von heute an mit seinem Schiff das Königreich erobern, das außer dir nur wenige Menschen zu durchqueren wagen«, bemerkte Jack und wies auf mich. Sie sah mich an. »Stimmt das?« »Völlig falsch. Ich reise nur, um Leute kennen zu lernen und ihnen Arbeit anzubieten«, sagte ich. Sie lachte. Ich studierte ihre Mimik. Wie Rowwe mir erzählte, sprach Jack noch lange davon, in welcher Weise ich an jenem Morgen Caroline angestarrt hatte. Sie war Kanadierin und stand bei der soziologischen Abteilung Fords unter Vertrag. Ford verfügte über einen Stab von Forschern und Sozialarbeitern, die die Häuser der Arbeiter besuchten, um sich zu vergewissern, dass diese sparsam und nicht in Sünde lebten. Sobald sie erschienen, mussten Sparbücher und Trauscheine vorgezeigt werden. Diese Hilfskräfte verteilten eine Broschüre mit dem Titel: »Lebensregeln«. Hierin wurden die Angestellten angehalten, für die tägliche Hygiene auch Seife zu benutzen, nicht auf den Boden zu spucken, Ratenkäufe zu vermeiden sowie, wenn sie Ausländer waren, Fords Schulen zu besuchen, in denen Englisch unterrichtet wurde. Den Frauen der Angestellten legte man nahe, keine Gäste aufzunehmen, um dem Risiko der Untreue während der Abwesenheit des Ehemanns vorzubeugen. Rowwe ließ die Broschüre ins Portugiesische und ins Tupi, die Sprache der Eingeborenen, übersetzen und unter den Bewohnern Fordlandias verteilen. Obwohl er darauf bestand, hatte ich für meinen Teil diese Blätter weder jemals dabei, noch brachte ich sie bei irgendeiner der Versammlungen oder irgendeinem der Ausflüge in die Gegend unter die Leute. Fords Vorstellung entsprechend hatte die soziologische Abteilung auf die Menschen ebenso einzuwirken, wie die Montagekette in seinen Fabriken zur Perfektionierung der Autos beitrug. 68
Das Unternehmen nahm auch Landstreicher und Kriminelle, die ihre Strafe abgesessen hatten, unter Vertrag, um ihnen eine Chance zu geben. Jacks Eintritt in die Gesellschaft hatte sein ehemaliger Zellengenosse, ein reuiger Ganove, der zum erfolgreichen Verkaufsdirektor avanciert war, ermöglicht. Caroline war von ihrer Ausbildung her weder Soziologin noch Sozialarbeiterin, sondern Anthropologin. Ihre Aufgabe am Amazonas war es, Wesen und Sitten der Eingeborenen zu erforschen. Sie reiste und schrieb viel. Ihre Berichte ließen vermuten, dass Fords Vorhaben hier zum Scheitern verurteilt war. Als der Kai Fordlandias außer Sicht war, blickte ich nach oben. Der Himmel war vollkommen wolkenlos. In der Ferne jedoch, hinter den Hügeln, blitzte es hie und da, und dann färbte sich ein langsam aufziehendes Schwarz flüchtig golden. Enéas räusperte sich und fragte mich dann, ob er sich die Schuhe ausziehen dürfe. Ich war einverstanden. Roque grinste und fragte Enéas, ob er es ihm nachtun dürfe. Enéas schaute mich fragend an, und ich bedeutete ihm, dass ich auch damit einverstanden sei. Roque stand am Heck und hielt das Steuer, Enéas hatte sich mir gegenüber am Heck gesetzt. Nun barfuß, rückte er seinen Strohhut zurecht und schwieg. Sein Blick war fest auf den Fluss gerichtet. Er rauchte. Hin und wieder gab er Roque die Richtung an. Bis mittags wollten wir einen Handelsposten an der Mündung des Cupari erreicht haben, der ungefähr sechzig Familien mit Waren im Tausch gegen Kautschuk versorgte. Enéas war überzeugt davon, dass die Leute dort sich mit Begeisterung für Ford gewinnen lassen würden. Das Boot hatte einen starken Dieselmotor und kam schnell voran. Nach einer Weile tippte mir Roque auf die Schulter. Ich drehte mich um und sah ihn an. Er schluckte und sagte: 69
»Sie sind nicht der erste Argentinier hier in der Gegend, mein Weißer. Da gab es vor langer Zeit schon mal einen, der war Vorarbeiter und sehr berühmt.« »Sehr berühmt?« »Ziemlich berühmt. Und gefürchtet war er auch, nicht wahr, Enéas?« Enéas gefiel diese Anspielung nicht. »Ich weiß es nicht mehr, und du wirst dich wohl kaum noch erinnern, du bist ja fast noch ein Kind!« »Na ja, ich habe ihn nicht gekannt, aber jeder kennt den Ruf von ›El Argentino‹«, antwortete Roque, »besonders im Gebiet von Manaus.« »Und was tat dieser berühmte Argentinier?«, fragte ich. »Dasselbe wie Sie, wenn auch anders. Er nahm Leute unter Vertrag, aber für sich selbst, nicht für jemand anderes. Er hatte Land. Er war reich.« »Und woher weißt du, dass er Argentinier war?« »Man nannte ihn so, El Argentino.« »Ich verstehe. Und wie kam er zu seinem Ruf?« »Es war die Art, wie er lebte. Er ließ die Leute wie Sklaven arbeiten und gab ihnen nichts dafür. Nichts. Höchstens ein bisschen Maniok und Schnaps. Wer sich ihm widersetzte, wurde an einen Baum gefesselt, wo die Insekten oder die Kobras ihn erledigten. Er war grausam, sehr grausam, El Argentino.« »Und was ist aus ihm geworden?« »Eines Nachts brachte ihn Anhangá um. Er schnitt seinen Körper in Stücke und warf diese dann eines nach dem anderen den Piranhas im Fluss vor. Seine eigenen Leute feierten den Anhangá.« »Ich verstehe. Und wer war dieser Anhangá?« 70
»Ach, mein Weißer! Anhangá ist ein Geist, der im Urwald umgeht. Manchmal erscheint er als Vogel, manchmal als Tier. In menschlicher Gestalt zeigt er sich nur als Krüppel. Dann fehlt ihm ein Auge oder ein Bein, oder seine Füße sind nach hinten verdreht. Er hält sich versteckt und frisst die Seele von allen, die sich im Urwald verlaufen. Er ist sehr tückisch, mein Weißer. Man begegnet ihm besser nicht!« »Halt den Mund, du schäbiger Neger!«, rief ihm Enéas zu. Roque verstummte, aber seine Augen röteten sich vor Zorn. Schweigend setzten wir unsere Fahrt fort. Der Motorlärm schreckte ein paar Vögel auf. Sie flogen über das Boot hinweg und suchten dann Schutz in anderen Bäumen. Ich faltete eine der Karten auf. In etwa vier Stunden müssten wir den Handelsposten erreichen. Dann öffnete ich den Rucksack, holte die Flasche heraus, die Jack mir geschenkt hatte, und nahm einen Schluck. Enéas sah mir zu. Er stand auf, holte eine in Papier eingewickelte Flasche aus seinem Rucksack und bot mir davon an: »Wollen Sie mal probieren? Er ist gut, hausgemacht«, sagte er. Ich nahm zwei Schluck und gab ihm die Flasche zurück. Es war ein süßlicher Schnaps von angenehmem Geschmack. Enéas war zufrieden. Auch er nahm einen Schluck, bevor er die Flasche wieder verstaute. Kurz darauf schlug Roque mir auf die Schulter. Als ich mich umdrehte, hielt er mir eine Flasche aus braunem Glas entgegen. »Versuchen Sie den mal, mein Weißer. Der ist richtig gut«, sagte er, nahm einen Schluck und reichte die Flasche dann mir. 71
Ich trank einen großen Schluck. Es war ein trockener starker Schnaps, Caipira genannt. Hitze durchfuhr mich. »Der ist gut, Roque, der ist richtig gut«, sagte ich. Roque sah Enéas an und grinste. Kurz nach Mittag näherten wir uns dem Posten. Schatten von dicken übereinander aufgetürmten Wolken glitten über den Fluss. Am rechten Ufer lag, umgeben von Buschwerk, der Handelsposten. Hinter dem Gesträuch drängten sich Bäume in engen Reihen. An dem schmalen, verrotteten Steg waren mehrere Kanus angebunden, und in einem von ihnen standen ein Mann und ein Kind und angelten. Das Kanu quoll über vor Fischen, und ein paar schwarzrote Vögel flatterten darum herum und hüpften von hier nach da. Der Posten bestand aus dem Steg und drei rot gestrichenen Holzgebäuden. Außerdem gab es zwei kleine Wohnhäuser, die sich rechts und links neben einer Art Laden befanden. Als wir näher kamen, hörten der Mann und das Kind auf zu fischen, und verließen das Kanu. Aus dem Laden traten Männer nach draußen und vor den Wohnhäusern erschienen einige Kinder. Wir machten fest und sprangen auf den Steg. Die Kinder und der Fischer liefen uns entgegen und bestaunten den Motor und die letzten Drehungen des Propellers. Die anderen Männer blieben an der Tür des Ladens stehen. Wir liefen ihnen entgegen, und unter ihnen erkannte ich Theo, den deutschen Priester. Er kam, als er mich erkannt hatte, auf mich zu und gab mir die Hand. Dann stellte er mir eines seiner Gemeindemitglieder nach dem anderen vor, und wir gingen alle zusammen in den Laden. In Theos Begleitung befand sich ein Norweger, der sich am Amazonas aufhielt, um die Vögel der Gegend zu erforschen. Es war ein netter Kerl, der gern lachte, und er war in Theos Mis72
sion untergebracht. Er trug einen Fotoapparat bei sich. Wir wechselten ein paar Worte auf Englisch, und er fragte mich, ob er ein Foto von uns im Kanu machen dürfe. Ich erfüllte seine Bitte, bevor wir weiterfuhren. Theo hielt sich an dem Posten auf, weil Francisco, der dessen Besitzer war, ihn hatte holen lassen. Er sollte ein Paar trauen – das jedoch gegen dessen Willen. Ein Bauer hatte ein Mädchen entjungfert, dessen Vater hatte sich bei Francisco beklagt und ihn gebeten, den jungen Verführer zu stellen und zur Hochzeit zu zwingen. Francisco war zwar auch Friedensrichter, aber die Brauteltern hatten auf der Anwesenheit eines Priesters bei der Hochzeit bestanden. Nachmittags sollte in dem am selben Fluss ein paar Kilometer weiter liegenden Haus der Braut gefeiert werden, und der Norweger hatte Theo zu diesem besonderen Anlass unbedingt begleiten wollen. Der Laden war klein und mit Waren voll gestopft. Ich sah Säcke mit Reis, Bohnen und Streichholzschachteln, Stoffballen, Kanister und Fässer mit Kerosin, Bier und Schnaps. Auch ein paar Gefäße mit Atebrin, einem Medikament gegen die Malaria, waren darunter. Im Sommer füllte sich der Laden einmal monatlich mit Kautschuksammlern, die ihre Ernte brachten. Dafür gab ihnen Francisco die Waren, die sie brauchten. Die Kautschuksammler nahmen meist mehr mit, als der Kautschuk nach Franciscos Meinung wert war. »Kredit« nannten die Leute dieses Spiel, das der Händler trieb. Francisco seinerseits hatte Kredit bei den Schiffen, die die Kautschukbarren im Laden abholten und ihn mit Handelsware aus Belém versorgten. Das Land, auf dem die Kautschuksammler arbeiteten, gehörte allem Anschein nach Francisco, wenn dies auch nie richtig überprüft worden war. Den Arbeitern war es verboten, den Kautschuk eigenständig an andere Händler oder Aufkäufer zu veräu73
ßern. Eine Liste mit den Namen der auf dem Land ansässigen Familien war an der Tür des Ladens angeschlagen, und speziell ausgerüstete und über die diversen Flussmündungen und Zuflüsse der Ländereien postierte Angestellte hatten mit Argusaugen über die Loyalität der Kautschuksammler zu wachen. Jeden Monat lud Francisco diese in seinen Laden, in dem ein paar Eisentische und Stühle standen, ein und bot kostenlos Musik, Essen und Getränke. Der Boden des Ladens war aus gestampftem Lehm, und die Ortsansässigen hielten sich am liebsten im Stehen darauf auf. Ich setzte mich mit Theo an einen Tisch, der Norweger stellte sich an die Theke, und ich gab eine Runde Bier für alle aus. Theo war genauso verschwitzt und schmutzig wie an Bord des Dampfers. Ich griff in meine Hemdentasche und holte das restliche Stück Chinin heraus. »Ich habe Ihr Geschenk immer noch«, bemerkte ich auf Englisch. »Ich hingegen habe Ihre Münzen schon ausgegeben«, versetzte er. Ich lehnte mich zurück und sah der Gruppe an der Theke zu. Enéas und Roque hatten sich dazugesellt und beteiligten sich vergnügt an den Gesprächen. Niemand beachtete uns. »Die Stadt braucht Leute, Theo, viel mehr Leute, und ich dachte, Sie könnten uns vielleicht helfen, sie zu finden.« »Ich? Warum sollte ich?«, fragte er. Ich dachte nach. Worte wie ›Staat‹, ›Entwicklung‹ oder ›Nation‹ hatten mir noch nie gefallen. Ich hatte sie gehört, als ich meine Eltern zu Zusammenkünften in die Vororte von Buenos Aires begleitete. Und ich kannte sie von Flugblättern, die zu Hause auftauchten. Aber sie hatten mir immer hohl und abgegriffen geklungen, und ich weigerte 74
mich, sie einfach so daherzusagen. Und hier, in diesem Randgebiet der Zivilisation, konnte ich sie erst recht nicht aussprechen. Theo aber war ein intelligenter gebildeter Mann, und ich wollte ihm nicht gleich Geld für seine Mitarbeit anbieten. »Nun, auf diese Weise würden Sie zur Entwicklung dieses Gebietes beitragen, und wir wären Ihnen sehr zu Dank verpflichtet«, sagte ich. »Wer ist wir?« »Ford, das Unternehmen, und der Staat Brasilien«, antwortete ich. »Das ist alles sehr weit weg und funktioniert nach ganz eigenen Glaubensregeln, mein Sohn. Außerdem tue ich mehr für die Leute vor Ort, als ihr alle zusammen.« Ich hatte Hunger und bestellte, als man das Bier brachte, etwas zu Essen. Theo ergriff einen Bierkrug und leerte ihn in einem Zug. Eine kleine braune Spinne krabbelte über unseren Tisch. Ich fegte sie mit dem Handrücken herunter und trat sie tot. Theo schüttelte den Kopf. »Mit deinem Benehmen ruinierst du den Urwald«, tadelte er mich. Ich starrte ihn an. »Wieso wollen Sie uns nicht in irgendeiner Form behilflich sein?« »Ich werde es mir überlegen. Aber kein Wort darüber zu Francisco«, raunte er mir, den Blick hinaus auf den Steg gerichtet, zu. Im gleichen Augenblick machte am Steg ein Kanu fest. Sämtliche Kinder, eine Frau, die aus dem Wohnhaus getreten war und ein Mann, der sich im Laden aufgehalten hatte, hießen Francisco willkommen. Dieser blieb einen Moment lang an unserem Boot stehen und kam dann wie75
derum mit dem Mann, der ihm entgegengegangen war, zum Laden. Er trug einen weißen Leinenanzug, war klein und wirkte vierschrötig und hatte einen federnden Gang. Als er eintrat, unterbrachen die Anwesenden ihr Gespräch und begrüßten ihn respektvoll. Er grüßte mit einem Kopfnicken zurück und sah dann zu Theo und zu mir herüber. Sein Blick durchbohrte mich. »Zum Wohl, Freunde!«, prostete er uns zu. Ich hob den Bierkrug, trank ihn halb leer und wischte mir den Mund mit der Hand ab. »Zum Wohl!«, erwiderte ich. Francisco setzte sich und schlug Theo auf die Schulter. Im Sitzen sah er noch kleiner aus. »Es ist alles soweit, Theo, wir können so bald wie möglich zur Hochzeit aufbrechen«, tat er kund. Theo legte mir eine Hand auf die Schulter. »Ich möchte dir diesen jungen Mann vorstellen, der aus Argentinien gekommen ist, um für Herrn Ford zu arbeiten. Er ist ein großzügiger Mensch.« »Ich hoffe, Sie kennen die Regeln des Kautschuks bereits«, sagte Francisco. Die ›Regeln des Kautschuks‹ bestanden in einer Abmachung zwischen Händlern und Sammlern, die früher jene caucheros mit Platzverweis, Geldbußen oder Gefängnis bestraften, die die Bäume schlecht pflegten, Ware in einem anderen Laden kauften als in dem, in dem man ihnen Kredit gegeben hatte oder sich davon machten, ohne ihre Schulden beglichen zu haben. Außerdem verboten sie den Caucheros, Flüchtlingen Unterschlupf zu gewähren. Immer wieder hatten sich die Caucheros gegen diese Bedingungen aufgelehnt. Einmal war es ihnen gelungen, auf der Plantage eines gewissen Pereiro Silva die Wächter zu 76
überwältigen und ein Boot zu stehlen, mit dem sie dann bis nach Belém kamen. Dort allerdings wurden sie von der Staatspolizei verhaftet, die sie, wie die Überlieferung berichtet, flussaufwärts zurück brachte und sie zwang, für den Rest ihres Lebens auf den abgelegensten Plantagen eben dieses Pereiro Silva zu arbeiten. In Carolines Bericht hieß es, dass diese Regeln schon vor zwanzig Jahren, als der Boom des brasilianischen Kautschuks zu Gunsten der englischen Kolonien in Asien verpuffte, außer Kraft gesetzt worden waren. Caroline hatte die also ungültig gewordenen Regeln dem Werk zweier einheimischer Autoren, Ferreira de Castro und Euclídes da Cunha, entnommen. Ich lehnte mich zurück und sah Francisco ein paar Sekunden an. Theo wischte sich mit einem Stück Papier den Schweiß von der Stirn. Ich hatte den Eindruck, dass alle Anwesenden jetzt auf unseren Tisch starrten. »Diese Regeln gehören der Vergangenheit an, die gibt es längst nicht mehr«, sagte ich. »Da irren Sie, mein Herr. Vielleicht in Santarém oder in Manaus. Aber hier gibt es die Regeln noch, und man hält sich an sie«, antwortete Francisco ernst. Derselbe Mann, der uns das Bier gebracht hatte, kam nun mit dem Essen. Zwei Teller mit gebratenem Fisch und Maniokmehl. Der Fisch roch nach Kabeljau, sein Fleisch war weiß und fest. Ich holte mein Taschenmesser heraus, klappte es auf, reinigte die Klinge mit einem Fetzen Papier und schnitt mir ein Stück ab. Es schmeckte köstlich. Ich erkundigte mich beim Kellner, was für eine Art Fisch das sei. »Pirarucu, es ist der Allerbeste, den wir haben. Für Sie auch, Patron?«, fragte der Kellner. »Nein, ich will gerade aufbrechen.« 77
»Kommen Sie, Mann, essen Sie doch mit uns«, sagte Theo. »Nein danke. Aber sobald Sie fertig sind, holen Sie mich in meinem Haus ab, dann ziehen wir los. Es war mir ein Vergnügen, mein Herr«, sagte Francisco, und, zum Kellner gewandt: »Lassen Sie weder den Herrn noch seine Freunde bezahlen. Sie sind ebenso eingeladen wie Theo und sein ausländischer Freund.« Ich hatte geglaubt, dass Francisco wenigstens für Geld mit uns zusammenarbeiten würde. Offensichtlich hatte ich mich geirrt. Wir aßen schweigend. Theo verschlang hastig seinen Fisch und bat mich um ein Streichholz als Zahnstocherersatz. Er stützte sich mit den Armen auf den Tisch auf und klemmte das Streichholz in einen Mundwinkel. »Ob Henry Ford wohl so freundlich wäre, meinem Ordensleiter einen Brief zu schreiben und darin meine Arbeit lobend zu erwähnen, und wäre er vielleicht auch dazu bereit, zum Bau einer weiteren Kirche in dieser Gegend beizutragen?«, fragte er mich. »Selbstverständlich. Ich wüsste nicht, was dagegen sprechen sollte.« »Gut, ich werde Ihnen helfen. Ich werde Ihnen Leute schicken. Aber vergessen Sie nicht, dass ich weder an den Kautschuk noch an die Kautschuksammler glaube. Es sind schwierige unstete Menschen, wahre Nomaden. Und der Kautschuk hat sich längst überlebt. Warum suchen Sie nicht nach Gold?« Ich zuckte mit den Schultern. Theo stand auf und sah mich erwartungsvoll an. Ich fuhr mit der Hand in die Hosentasche, nahm ein paar Scheine heraus und gab sie ihm. Er schien damit äußerst zufrieden. Er zählte die Scheine und reckte dann den Hals aus dem Kragen seines Rockes. Die Scheine verstaute er in einem Beutelchen, das er um den Hals trug. Dann bot er mir ein Stück Chinin an. 78
»Nehmen Sie das, mein Sohn. Gott segne Sie. Ich werde Ihnen immer zur Seite stehen, falls Sie mich brauchen. Grüß Gott.« Wir kauften noch ein paar Vorräte und brachen auf. Mit Enéas hatte ich ausgemacht, nach dem Handelsposten die Kautschuksammler, die für Francisco arbeiteten, zu besuchen. Wir würden eine ganze Weile unterwegs sein. Als wir den Anker lichteten und den Motor anwarfen, liefen die Kinder am Steg zusammen. Der Norweger begleitete uns mit seiner Kodak zum Boot und nahm drei Fotos auf. Francisco und Theo schauten uns aus der Haustür nach, bis wir die Flussmitte erreicht hatten. Die Luft war drückend und schwül geworden. Ich setzte mir den Strohhut auf und steckte mir eine Zigarette an. Während der Posten außer Sicht geriet, dachte ich über Jack und Caroline nach. »Sag mal, sind Caroline und Jack eigentlich ein Paar?«, fragte ich Enéas. »Ich glaube nicht.« »Es schien aber, als stünden sie sich sehr nahe«, sagte ich. Enéas zog ebenfalls an einer Zigarette. Der Rauch stieg vor seinem ruhigen dunklen Gesicht auf und zerging dann in der Luft. »Ich glaube nicht, dass eine Dame wie Fräulein Caroline sich in einen so ungeschliffenen Mann wie Jack verliebt, mein Weißer«, meinte er. Wir fuhren den Cupari flussaufwärts. Sein Wasserstand war niedrig. Ein Streifen feuchter, mit den Abfällen des Urwalds bedeckter purpurroter Erde zog sich an seinen Ufern entlang, und darüber flatterten bunte Schmetterlinge. Die Vegetation war üppig, verwebt und verschlungen zu einem Gewirr aus Ranken, Lianen, Sträuchern und Zweigen. Ich vertrieb mir die Zeit damit, einen am Ufer 79
stehenden Baum auszuwählen, um die zurückgelegte Strecke zu der Siedlung der Kautschuksammler abzuschätzen, aber noch bevor wir an ihm vorüberfuhren, hatte ich ihn unweigerlich aus den Augen verloren. Eine Stunde später erblickten wir die erste menschliche Behausung, eine auf einer kleinen Lichtung mitten im Urwald liegende Hütte. Auf dem sie umgebenden Grundstück türmten sich verkohlte Stämme und Zweige. Kautschuksammler waren dabei, hier einen Teil des Urwaldes abzubrennen, um neuen brauchbaren Boden zu gewinnen. Die Maßnahme galt auch einer Neutralisierung des Säuregehaltes des Bodens. Mit Feuer und Machete säuberten die Männer das Flussufer von Bäumen und Gezweig und säten dann ein bisschen Maniok, Kürbis und Pfeffer. Es war eine harte Arbeit. Je gründlicher sie das Land säuberten, desto besser würde die Ernte ausfallen. Einer von ihnen, der gerade Wurzeln rodete, unterbrach seine Arbeit, um uns willkommen zu heißen und beschrieb uns die Brandrodung und die Aussaat in allen Einzelheiten. Er war barfuß, nackt bis auf eine zerrissene alte Hose, und nur Enéas und Roque verstanden sein Portugiesisch, das sich anhörte, als zerquetsche er fortwährend die Wörter zwischen seinen Lippen. Seine Haut war gelblich, seine Hände und Ohren von Insektenstichen geschwollen. Er war uns gegenüber nicht misstrauisch, denn er kannte Fordlandia vom Hörensagen, und als ihm Enéas unseren Vorschlag vortrug und ihm anbot, ihn für seine Unterstützung zu entlohnen, erklärte er sich bereit, die anderen Familienoberhäupter zu einer Versammlung bei sich zu Hause herbeizurufen. Der Mann hieß Juca und machte sich zusammen mit Roque, dem diese Aufgabe missfiel, auf den Weg. Die Häuser der übrigen Familien lagen nicht weit entfernt, doch es war nicht einfach, sie zu finden. Einige standen am Cupari, andere lagen weiter im Urwald drin, am Ufer schmaler 80
Zuflüsse. Die Sonne ging unter, und die Aussicht, unterwegs von der Nacht überrascht zu werden, ängstigte Enéas. Juca hingegen war begeistert von der Vorstellung, mit einem Motorboot fahren zu dürfen. Enéas und ich blieben bei seiner Frau und seinen fünf Kindern. Das größte und das kleinste hatten entzündete geschwollene Füße. Die Frau hatte, als Juca uns vorstellte, kaum den Blick gehoben und widmete sich jetzt, nachdem sie uns Kaffee in kleinen Kürbisschalen vorgesetzt hatte, dem Flicken einer der Hängematten, die im Haus aufgehängt waren. Möbel gab es so gut wie keine. In der Küche standen ein Tisch, zwei Kisten und eine Holzbank und im Schlafzimmer zwei mit roter Farbe angestrichene Körbe aus Palmblättern. An einer Wand stapelten sich ein paar aufgerollte Netze, an einer anderen Wand lehnte das Bild eines Heiligen, dasselbe, das ich auf Franciscos Theke hatte stehen sehen: Es stellte den heiligen Benedikt dar und war von vier brennenden Kerzen umrahmt. Am unteren Amazonas verehrt man den heiligen Benedikt. Der schwarze Heilige ist von der Kirche nicht anerkannt. Meiner Meinung nach war er nur ein Pfuscher, der weder Wunder vollbracht noch eine besondere Geschichte aufzuweisen hatte. Dennoch widmeten ihm die Kautschuksammler den ersten Tag jeder Ernte und organisierten für die Tage davor in allen Bezirken Essen und Tanz. Kein Mensch blieb während der Festlichkeiten für den heiligen Benedikt in Fordlandia. Neben dem Heiligenbild lag eine zusammengerollte, mit einem Band verschnürte dünne Matratze. Juca und seine Frau hatten jeder für sich eine Hängematte, die Kinder machten es sich auf den beiden übrigen bequem. Juca erzählte uns, dass er und seine Frau die Matte nur benutzten, »wenn es uns danach verlangt, uns zu berühren«. Hinter dem Haus stand ein mit Palmenblättern gedeckter Lehmofen, in dem das Latex zum Gerinnen gebracht wurde. 81
Mit Enéas und Jucas ältestem Sohn liefen wir ein Stück die Pfade entlang, die nahe am Haus begannen, einige Kilometer weit in den Urwald vordrangen und mehr oder weniger zu ihrem Ausgangspunkt zurückführten. An ihren Rändern wuchsen alle achtzig oder hundert Schritte Kautschukbäume. Im Sommer sammelten Juca und sein Sohn hier das Latex ein. Sie brachen dann noch vor Morgengrauen auf und schlugen jedes Mal eine andere Richtung ein. Dank der niedrigen Temperaturen und der Tatsache, dass sie, um das Ausbluten der Bäume zu verhindern, die Wege immer abwechselnd abgingen, gewannen sie, wie sie beteuerten, eine größtmögliche Menge an Latex. Jeden Morgen gingen sie dieselbe Route zweimal ab. Beim ersten Mal ritzten sie die Stämme an, beim zweiten Mal sammelten sie die an den Bäumen befestigten Gefäße mit dem Latex ein. Jucas übrige Familienmitglieder halfen, indem sie die Wege von Gesträuch und Gestrüpp freihielten und Verbindungen zwischen ihnen schufen. Im Winter, von Dezember bis Ende Mai, wird die Arbeit eingestellt, weil die täglichen Regenfälle die Wege samt der Gefäße, in die das Latex rinnt, überschwemmen. Jede Mühe ist dann vergebens, und der Kautschuksammler verbringt die Zeit in der Hängematte, mit dem Pflanzen von Timbobäumen oder dem Fällen von Zedern. Im Winter führen die Flüsse unglaubliche Wassermengen und treten über die Ufer. Im Sommer hingegen schrumpfen sie zu Rinnsalen. Wenn im August die Kautschukbäume blühen und die welken Blüten in die Gefäße fallen und das Latex ruinieren, ist für die Kautschuksammler Ruhezeit. In Fordlandia hatte man mir gesagt, dass die Kautschuksammler sich vor den Kobras fürchteten, die sich im Laubwerk versteckt halten, und vor den ihnen feindlich gesinnten Eingeborenen, die immer wieder in dem Gebiet auftauchten. Juca und sein Sohn hingegen klagten über die 82
Malaria und die weiten Wege, die sowohl über festen Boden als auch durch Sumpfgebiete verliefen. Über die Sümpfe und die Gewässer, die auch im Sommer nicht austrockneten, führten aus Stämmen gefertigte schmale Brükken. Unterwegs hatten Juca und sein Ältester eine Machete und eine Flinte bei sich, falls sich die Gelegenheit zur Jagd auf eine cutia, eine paka oder, an einem Glückstag, auch auf ein Wildschwein bot. Die Paka schmeckt besser, ist aber flink und schwer zu erlegen. Wenn sie spürt, dass sie verfolgt wird, flüchtet sie ins Wasser, in dem sie hinwegtaucht und sogar gegen die Strömung schwimmt. Ohne Hund, der sie auf festem Boden stellt, ist die einzige Möglichkeit, sie zu erlegen, ein treffsicherer Schuss, sobald sie aus dem Wasser auftaucht, um Luft zu holen. Juca jagte nicht, da er gerade unter der panema litt. Als ich ein paar Tage später einen leicht zu erlegenden Fasan in einem Gebüsch verfehlte, behauptete Roque, dass Juca mir seine panema übertragen habe. Ich ignorierte sein Gerede. Für mich war es klar, dass ich den Fasan verfehlt hatte, weil ich den Revolver statt des Gewehres benutzt hatte. Der Lauf dieses italienischen Revolvers vom Kaliber 32 war sehr kurz und der Rückschlag so heftig, dass es unmöglich war, ein Ziel zu treffen. Ich hatte lediglich ein bisschen üben wollen, hatte es drauf angelegt und nicht durch das Visier, sondern darüber hinweggeguckt und versucht, den Rückstoß zu vermeiden. Dennoch hatte ich den Fasan um einen Meter verfehlt, denn dieser Revolver war wohl nur auf kurze Distanz zu gebrauchen. Wie auch Franciscos andere Kautschuksammler schnitt Juca die Stämme nicht besonders tief ein, um die Bäume nicht allzu sehr zu beschädigen. Er setzte eine vertikale Kerbe und im spitzen Winkel einige weitere. So lief viel mehr Milch heraus, als wenn man die Methode, die ich in Fordlandia kennen gelernt hatte, anwandte. Später erklärte 83
mir Jack, dass durch diese Art des Ritzens zwar mehr Milch flösse, der Baum jedoch langsam, aber sicher einginge. Eine Weile folgten wir einem der Pfade. Der Boden war mit einer Laubschicht bedeckt, in der wir bei jedem Schritt bis zu den Knöcheln einsanken. Der Urwald war sehr dicht, und über uns legten sich die Schatten einer vorzeitig angebrochenen Nacht. Mit der Dunkelheit tauchten die Weibchen der Anophelesmücke auf, und es ließ sich dazu noch ein ganzes weiteres Tierreich erahnen. Enéas und Jucas Sohn gingen voraus. Ich holte sie ein und schlug ihnen vor, heimzukehren. Kaum waren wir zu Hause angekommen, fiel die Nacht ein. Es war meine erste Nacht im Urwald, weit weg von Fordlandia. Wir entfachten ein Feuer, um die Insekten zu vertreiben und unterhielten uns, bis das Boot zurückkehrte. Juca und Roque trafen mit acht Familienoberhäuptern ein. Wir gingen in die Küche. Juca entzündete zwei Kerosinlampen, und wir ließen uns neben ihm nieder. Dichter schwarzer Rauch quoll aus den Lampen; sie hellten das Dunkel nur geringfügig auf. Ich schaute mir die Gesichter der Männer an, die unrasiert waren, schmutzig und blass; sie sahen aus wie nach einem Besäufnis. Ihre Körper rochen streng nach Schweiß. Während wir zusammensaßen, kochte Jucas Frau, die sich jetzt ein altes geblümtes Sonntagskleid angezogen hatte, in einem Tontopf drei cutias, die einer der Kautschuksammler mitgebracht hatte. Die Cutia ist ein großes Nagetier, das in Gestalt und Geschmack dem Hasen ähnelt. Der Kautschuksammler erzählte uns, wie er sie erlegt hatte. Bei den Cutias kommt es drauf an, geduldig und still darauf zu warten, bis sie aus ihrem Bau – meist einer Höhle in einem umgefallenen Baum – hervorkommen, sie schnell zu packen und mit einem einzigen Machetenhieb zu töten. »Da kommen sie aus ihrem Bau, um zu fressen, und dann 84
sind sie selbst es, die gefressen werden«, bemerkte der Mann mit einem Lächeln. Seine Hände waren dreckig und sein Gebiss verrutscht. Während wir uns unterhielten und Jucas Frau das Essen machte, spielten die Kinder vergnügt mit den schwarzen, glänzenden Fellen der Cutias. Der Duft des Fleisches ließ mir das Wasser im Munde zusammenlaufen. Enéas war hier unser Wortführer. Ich hatte mit ihm vereinbart, dass er mir die Fragen der Leute übersetzen und meine Antworten übermitteln solle. Wie ich ihm aufgetragen hatte, fing er mit den Vorteilen an, die das Leben in einer Siedlung wie der Fordlandias bietet, und beschrieb dabei in allen Einzelheiten Häuser, Kantine, Schule und Krankenhaus. Dann sprach er über die Arbeitszeiten, und dass die Arbeiter sonntags freihätten und machen könnten, was sie wollten, besonders mit dem Lohn, der ziemlich genau das Vierfache von dem betrug, was sie mit dem Kautschuksammeln für Francisco verdienten. Während Enéas sprach, nickte Roque bekräftigend, und ab und zu wiederholte er die letzten Worte eines Satzes. Ich wollte vermeiden, dass Roque uns alles verdarb, denn ich wusste, dass man den Mulatten nicht allzu viel Glauben schenkt. Aber es lief gut. Aufmerksam lauschte Juca Enéas Worten und behielt gleichzeitig seine Frau und seine Kinder im Blick. »Warum suchen Sie sich Ihre Leute nicht in Santarém oder Belém?«, fragte Juca. »Wir suchen auch dort. Viele von denen, die jetzt in der Stadt sind, stammen aus Belém«, antwortet Enéas, so, wie ich es ihm aufgetragen hatte. »Und wer ist der Patron?«, fragte einer der Kautschuksammler. »Henry Ford, ein Nordamerikaner, der Autos herstellt, Automobile.« 85
»Wo wohnt er?« »Sehr weit weg von hier, in einem anderen Land.« »Dann ist er also nicht hier?« »Nein, er hat Aufseher, die für ihn da sind.« »Und der Herr ist ein Bruder von diesem Nordamerikaner?«, fragte einer und zeigte auf mich. »Nein, er ist ein Aufseher, ein Chef.« »Woher kommt er?« »Ich bin Argentinier, ich komme aus Argentinien«, sagte ich. Die Männer schauten sich vielsagend an. Ich erinnerte mich an das, was Roque morgens erzählt hatte und musste schmunzeln. Es fiel mir nichts weiter ein, als ihnen Zigaretten anzubieten. Ich schüttelte das Päckchen, bis drei Zigaretten ein paar Zentimeter herausragten und hielt sie ihnen hin. Statt danach zu greifen, erbat sich einer der Männer die Schachtel, betrachtete die Abbildungen darauf und gab sie mir wieder zurück. Nicht einer nahm mein Angebot an. »Was sind Automobile?«, fragte Juca. »Wagen mit Motoren«, antwortete Enéas. »Ja, Wagen, die statt der Pferde eine Maschine benutzen, einen Motor«, fügte Roque hinzu. In einer der Broschüren über die Stadt war der Ford T abgebildet. Ich stand auf, kramte in meinem Rucksack, holte eine Broschüre heraus und hielt sie an die Lampe. Ich zeigte ihnen das Foto. Sie reichten sich die Broschüre weiter. Keiner konnte lesen. Der sie zuletzt in der Hand hielt, rief die Kinder zu sich und zeigte ihnen das Heftchen. Die Kinder lachten. »Zahlen Sie mit Geld oder mit Waren?« 86
»Mit Geld. Mit dem Geld könnt ihr alles kaufen, was ihr wollt«, sagte Enéas. »Was ihr wollt, alles, was ihr wollt«, wiederholte Roque. Ich beugte mich zu Roque und flüsterte ihm ins Ohr, er solle schweigen oder er müsse draußen warten, bis wir fertig seien. Roque senkte den Blick und verstummte. Jucas Frau verkündete, das Essen sei fertig, und bat ihren Mann, ihr beim Auftragen zu helfen. Alle Caucheros starrten Juca an. In strengem Ton antwortete er, das sei ihre Sache, sie solle ihn in Ruhe lassen und sich mit ihrer Arbeit beeilen. Im Licht der Lampen hatte ihr junges Gesicht einen finsteren Ausdruck. Sie warf Juca einen Blick zu, während sie den Topf auf den Tisch stellte, und zog sich dann ins Schlafzimmer zurück. Alle füllten ihre Teller aus Palmblättern mit Essen. Für den Schnaps gab es richtige Gläser. Während wir aßen, konnte ich das Flüstern der Nacht deutlicher vernehmen. Ich hörte lautes und leises Pfeifen aus dem Busch, etwas flüchtete über das Laubdach des Hauses, dann drang ein Jammern, das von einem Kind hätte stammen können, zu uns. Ganz in der Nähe quakten unaufhörlich Frösche. Wir aßen. Enéas fragte die Kautschuksammler, wie und wann wir uns wiedersähen. Die Männer schwiegen. Juca lutschte an einem Knochen. Angesichts des Schweigens der anderen legte er den Knochen auf den Teller und schlug, während er die Reste seines Essens mit einem alten Stück Brot auftunkte, vor, dass jeder die Bedingungen, die in der Siedlung galten, allen anderen Familien unterbreiten sollte. Sicherlich sei es nicht falsch, wenn ein paar von ihnen die Arbeit ausprobierten. »Nach den Feiertagen für den heiligen Johannes und den heiligen Petrus treffen wir uns wieder«, schloss er. Ich händigte jedem von ihnen eine kleine Summe als Vorschuss auf das, was sie später verdienen würden, aus und trug Roque und Enéas auf, die Männer zumindest bis 87
zum Zusammenfluss des Cupari und seiner nächsten Nebenflüsse zurückzubringen. Das Boot hatte ja einen starken Scheinwerfer. Roque und Enéas fügten sich widerwillig. Juca brachte sie bis zum Ufer und lieh ihnen zwei dieser kleinen Lampen, die man am Kopf befestigt, um die Wege zu beleuchten, wenn die Arbeit vor dem Morgengrauen beginnt. Die Frau deckte den Tisch ab und trug die Teller aus dem Haus zum Ofen. Dann kehrte sie zurück, tat sich selbst Essen auf und ging erneut ins Schlafzimmer. Mit Jucas Hilfe hängte ich eine Hängematte in der Küche auf. Als Enéas und Roque wiederkamen, taten sie es mir gleich. Noch lange hing der Geruch von Essen, Schmutz und Tabak in der Küche. Ich brauchte eine Weile, bis ich einschlafen konnte, und nachts wachte ich mehrmals auf. Auf Städter wirkt die nächtliche Stille der Pampa wie ein Wunder. Wer aus der Stadt kommt und seine Hängematte in der ersten Nacht am Fenster aufhängt oder sich im Bett ausstreckt, den umfängt auf zauberhafte Weise ein großes Schweigen. Als wäre er dem Wesentlichen und einem Glücksgefühl ein Stück näher gekommen. Im Urwald hingegen gibt es keine nächtliche Stille. Die Nacht hallt wider von dunklen Lauten: Man hört es röcheln, plätschern, fliehen, schreien; Wesen stürzen, klettern oder hasten vorwärts. Einmal hörte ich einen Schrei, ein gellendes Jammern wie unter endloser Marter, und nach dem Schrei ein Platschen. Ich sprang aus der Hängematte und hastete zu Juca und seiner Familie. Sie alle schliefen. Schließlich hätte ich beinahe Enéas und Roque in der Küche geweckt. Doch dann kam ich mir plötzlich lächerlich vor und öffnete, statt sie aus dem Schlaf zu holen, meinen Rucksack, um den Revolver in Griffweite neben der Hängematte zu haben, und legte mich wieder hin. 88
VII
A
ls Ford die Klänge des alten irischen Liedes vernahm, richtete er sich auf und stützte sich auf die Ellenbogen. In der Koje war es noch nicht ganz dunkel, und er konnte den bräunlichen Teppich, den Arbeitstisch, die Lithographien der Seeschlachten und in einer Ecke den aus edlem schwedischen Holz geschnitzten Stuhl, der am Boden befestigt war, erkennen. Plötzlich hörte er Schritte die Treppe hinaufkommen. Dann lief jemand den Gang entlang und näherte sich der Tür. Drei Stunden hatte er geruht, ohne dass ihn jemand gestört hätte, und alles erinnerte ihn an seine Überfahrt auf der Oskar II, als er nach Europa unterwegs gewesen war, um im Ersten Weltkrieg zu vermitteln und Frieden zwischen den Nationen zu stiften. »Nicht die Männer, die in den Schützengräben sterben, werden zur endgültigen Beilegung der Auseinandersetzungen beitragen, sondern jene, die sich an einem Tisch zusammensetzen«, hatte er gestammelt, sichtlich nervös der Menge zugewandt, die an einem Sonntag im Dezember des Jahres 1915 in New York an den Hafen gekommen war, um ihn zu verabschieden. Damals war er sehr populär gewesen, besonders, nachdem er den Lohn seiner Arbeiter weit über die in der Industrie üblichen Löhne erhöht hatte, und er wurde mit Ehrerbietung geradezu überschüttet. Er war der Meinung, sich zu jedem Ereignis äußern zu müssen, und natürlich äußerte er sich denn auch zu dem blutigen Krieg, der Europa geißelte und in den sich die USA nach seiner Überzeu89
gung nicht einzumischen hätten, und das selbst wenn die »Parasiten aus der Wall Street« gegenteiliger Meinung waren. Ermutigt durch die Unterstützung pazifistischer Organisationen charterte er ein Schiff, lud namhafte Persönlichkeiten ein und brach nach Europa auf. Viele seiner Freunde, unter ihnen auch Edison, ließen sich an dem Tag entschuldigen, und als er in See stach, machten sich Politiker wie Presse über seine Initiative, der sie bestenfalls ein Ungewisses Ende prophezeiten, gleichermaßen lustig. Roosevelt etwa bezeichnete sein Unternehmen als pure Dummheit, und in einem Leitartikel der doch etwas toleranteren New York Times hieß es, dass die Reise der Sache des Friedens allenfalls ebenso wenig nützen wie schaden würde. Diese negativen Voraussagen bewahrheiteten sich. Mitten auf dem Atlantik erfuhr Ford, dass die nordamerikanische Regierung die Beziehungen zu Deutschland abgebrochen und sich zum Kriegseintritt entschieden hatte. Die Pazifisten, die in seiner Begleitung waren, spalteten sich daraufhin in verschiedene Fraktionen auf. Ford verbrachte die meiste Zeit zurückgezogen und entmutigt in seiner Koje und erholte sich von einer Grippe, die er sich zugezogen hatte, als ihn eines Morgens beim Hinabsteigen in den Maschinenraum ein Wellenkamm durchnässt hatte. Kaum hatte das »Friedensschiff« in Norwegen festgemacht, gab Ford das Projekt auf und fuhr eilends wieder nach Hause. Kurz darauf willigte er ein, U-Boote in seinen Fabriken herstellen zu lassen, doch als Folge jenes pazifistischen Abenteuers verbreitete sich sein Ruhm in Europa. Betroffen von der Kritik einiger Intellektueller und Journalisten ließ er jedoch fürderhin von seinem Idealismus ab und appellierte an die praktische Vernunft: »Wenn ich auf die übliche Weise versucht hätte, mir Zugang zum europäischen Markt zu verschaffen, hätte mich das viele Mil90
lionen Dollar gekostet. Das Friedensschiff hingegen hat den Namen Ford in diesem Teil der Welt für wenig Geld berühmt gemacht.« Als Ford nun die Schritte vernahm, die sich der Koje näherten, und dann bemerkte, wie die Tür aufging und ein großer, nach Tabak riechender und mit einem tief ins Gesicht gezogenen Hut bekleideter Mann eintrat, überkam ihn dieselbe Angst wie damals an seinen einsamen, melancholischen Abenden auf der Oskar II. Er rührte sich nicht. Dann begegnete sein Blick den Augen des Eindringlings. »Jetzt, da wir mit unbekanntem Ziel auf demselben Schiff unterwegs sind, ja im selben Boot sitzen, und du unser Leben lenkst, sag mir Henry, was bist du eigentlich? Ein Erfinder oder ein Philosoph?« »Auf keinen Fall ein Erfinder. Ich habe nur die Entdekkungen anderer Männer, in denen die Arbeit von Hunderten von Jahren steckt, zusammengebracht. Wenn ich dasselbe fünfzig oder zehn oder auch nur fünf Jahre früher zu tun versucht hätte, wäre ich gescheitert. So ist das. Fortschritt findet dann statt, wenn all das, was dazu nötig ist, endgültig bereitliegt, er findet dann statt, wenn er unvermeidlich geworden und die Zeit für ihn reif ist. Ich bin nicht so dumm, zu glauben, dass nur einige wenige für die wirklich großen Veränderungen verantwortlich sind. Man erreicht nichts damit, wenn man sich selbst verleugnet … Meine Bestimmung ist es, Arbeitsplätze zu schaffen, ein Auto für jedermann herzustellen und nebenbei damit Geld zu machen. Mehr will ich gar nicht«, antwortete Ford. »Nun, wer auch immer du bist, ich muss dir die Wahrheit sagen: Du bist einsam, und niemand erwartet oder will etwas von dir.« »Was habe ich denn falsch gemacht?« 91
»Du hast nichts falsch gemacht. Es sind die anderen, die versagen.« »Also bin ich tot?« »Du bist einsam, nicht tot.« »Ich sehe da keinen Unterschied«, sagte Ford und beugte sich vor, um die Identität dieses Mannes mit der wohltönenden Stimme und der bäuerlichen Aussprache auszumachen. Vergebens. Das Bild verschwamm wie ein unter Wasser gehaltenes Foto und war im nächsten Augenblick verschwunden. Da wachte Ford auf, wandte seinen Blick Clara, seiner Frau, die neben ihm schlief, zu und sprang mit einem Satz aus dem Bett. Er lief durch das Zimmer zum Spiegel. Er war noch grauhaariger als in seinem Traum. Er sah auf die Uhr und ging in den Ankleideraum. Sein Herz schlug heftig. Einen Augenblick lang betrachtete er seine Garderobe und die hundert Paar Schuhe, die darin standen, dann ging er zu seinem Bett zurück und legte sich wieder hin. Er war jetzt ruhig, nachdenklich. Wer wohl dieser Mann war, der sich in seine Träume drängte? Vielleicht William, sein Vater, der seinem Ehrgeiz immer so skeptisch gegenübergestanden hatte? Oder vielleicht Couzens, der über lange Jahre hinweg sein treuer Verwalter gewesen war, bis zu dem Tag, an dem er ihn entlassen hatte, weil dieser kritisiert hatte, dass er seine Ideen immer auf Kosten des Unternehmens verbreitete? Unmöglich, keiner der beiden rauchte, sagte er sich. Dann fielen ihm die Brüder Dodge ein, jene Teilhaber, die er endlich durch ein geschicktes Manöver ausgebootet hatte. Sie waren einem über allem schwebenden mächtigen Gespenst gleich gewesen und hatten bis zuletzt verhindert, dass das Unternehmen, das seinen Namen trug, wirklich allein ihm gehörte. Der Gedanke an die beiden beschäftigte ihn für eine Weile. Dann verspürte er den jähen Wunsch, mit dem 92
Fahrrad spazieren zu fahren und erhob sich wieder. Frische Luft wehte durch die offenen Fenster herein, und in dem riesigen Garten brach langsam der Tag an. Ford betrat den Ankleideraum und zog Hemd und Hose an. Als er in seine Lederstiefel schlüpfte, vernahm er Claras Stimme: »Warum ziehst du denn Stiefel an, Schatz? Es ist doch Sommer!« »Stiefel? Ach so, ja, du hast Recht; ich breche gerade zum Amazonas auf.« »Bitte was? Was hast du gesagt, hättest du vor, Schatz?« »Es war nur ein Scherz. Beruhige dich bitte, Clara.«
93
VIII
F
rüh, sehr früh – es war gerade erst hell geworden – weckte mich Juca. Wir tranken ein bisschen dünnen Kaffee vom Vorabend und gingen dann mit seinem ältesten Sohn einen der Wege ab. Enéas und Roque ließen wir zurück, damit sie das in den Bootskiel eingedrungene Wasser ausschöpften. Drei Stunden später waren wir wieder zurück. Juca war glücklich. Er hatte etwa hundert Bäume eingekerbt, und das würde ihm ungefähr zwei oder drei Kilo Latex einbringen. Bei einem zweiten Durchgang würde die Gummiflüssigkeit eingesammelt und gegen Mittag koaguliert werden. Wir aßen noch ein wenig Fisch und Maniokmehl vor der Abfahrt. Juca verabschiedete uns mit seinen Kindern am Boot. Er wollte uns noch eine Kugel aus Kautschuk schenken, aber ich lehnte sie ab, und wir machten aus, dass wir uns bald mit weiteren Kautschuksammlern in Fordlandia wiedersehen würden. Wir fuhren flussaufwärts weiter zum nächsten Handelsposten. Anderthalb Tage Bootsfahrt lagen vor uns. Ich genoss es, unterwegs mein eigner Herr zu sein und Halt zu machen, wo ich wollte. Das Wetter war gut, und zum Essen und Schlafen kampierten wir an irgendeinem der zahlreichen kleinen Sandstrände des Ufers. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang begleiteten uns kleine rosa Papageien, und ich sah Tukane, Kolibris und Aras durch das Laubwerk fliegen. Die Strömung war ruhig, und der Urwald beobachtete lautlos unsere Fahrt. Einige Bäume 94
standen in Blüte. Das Schweigen des Urwaldes wird zweimal am Tag durchbrochen: wenn es dunkel wird und wenn es hell wird. Dann singen, brüllen oder kreischen alle Waldbewohner – aus Angst vor der einbrechenden Nacht oder vor Freude über das Anbrechen des Morgens. Den Rest des Tages herrscht absolute Stille, und man kann sich schnell einbilden, in ein künstliches Gebilde, oder besser: in ein in Trance gefallenes Gebiet geraten zu sein. Das Morgengrauen wiederum geht nicht mit dem gleichen großartigen Farbenspiel einher, wie es die Abenddämmerung tut, denn das Licht ist dann unbestimmt und trübe, und es vergeht viel Zeit, bis man einschätzen kann, ob der Tag heiter werden wird oder nicht. Im Morgengrauen entströmt dem Boden Feuchtigkeit, die die Vegetation in Nebelschleier hüllt. Alles ist in düsteres Grün getaucht, es herrscht ein grünes Halbdunkel. Als ich mit Juca unterwegs war, sah ich erst auf dem Rückweg, wie sich Streifen von klarem Licht über die Baumwipfel legten. Der Kampf ums Überleben lässt im Urwald alle gegen alle sein, und jeder ringt darum, nach oben zu gelangen, wo unter klarem Himmel im Sonnenschein ein grünes Blatt hell aufscheint: Unaufhaltsam drängt alles zum Licht. Auch das Zweigwerk strebt zum Licht, bewegt sich fort von den Jahrhunderte alten Stämmen. Juca erzählte mir an jenem Morgen auf dem Weg, dass es in der Heimat seiner Eltern, dem brasilianischen Nordosten, ganz anders zuginge. Statt den erstickenden Schatten zu entfliehen, versuchten dort alle Lebewesen, der Sonne als ihrem ärgsten Feind zu entkommen, wohingegen hier regelrechter Jubel den Sonnenaufgang begleitet. Die vielen Stimmen des Waldes hören sich dann anders an und bedeuten – und das ist vor allem wichtig –, dass der mit der Dunkelheit immer einhergehende Schrecken verblasst und sich schließlich für die Dauer des Tages zurückzieht. 95
Bis wir den nächsten Posten erreichten, hatten Enéas und Roque sich entzweit. Am Vorabend hatten sie bei der Rast an einem Strand heftig gestritten, und es hatte mich Mühe gekostet, sie zu beruhigen. Wir hatten an einem großen, ansteigenden Strand am rechten Ufer angelegt, die Hängematten auf den Sand gelegt und uns auf sie gesetzt, um uns gemütlich unterhalten zu können. Alles hatte damit begonnen, dass Roque das Thema der Ungleichheit anschnitt. »Mein Weißer, Sie und wir, wir unterscheiden uns sehr voneinander, nicht wahr?«, hatte er mich gefragt. Ich stützte mich auf die Ellenbogen und erkundigte mich, was ihn auf diesen Gedanken gebracht habe. »Der Unterschied besteht darin, dass ich, wenn ich eine Kokosnuss haben will, auf den Baum klettern und sie selbst herunterholen muss. Wenn Sie hingegen eine Kokosnuss wollen, bezahlen Sie jemanden, der Ihnen die Mühe abnimmt.« »Das muss aber nicht das ganze Leben lang so bleiben«, entgegnete ich. »Doch, ich glaube schon. Es sei denn, ich finde einen Schatz. Die Schätze offenbaren sich in den Träumen, und es gibt viele, so viele versteckte Schätze.« »Wo? Im Urwald?« »Nein, nicht nur im Urwald. Ein Vetter von mir, Lobato, hat eines Nachts in einem Traum verraten bekommen, wo genau gegenüber seines Hauses ein Schatz vergraben war und wie tief er in der Erde lag. Eine Stimme hat Lobato in dieser Nacht zugeflüstert: ›Das Geld ist da, es wartet auf dich.‹ Da stand er auf, ging über die Straße und grub die Truhe aus. Aber damit war sein Glück noch nicht zu Ende, oh nein, mein Herr.« 96
»Was ist denn dann noch passiert?« »Oh, noch viel. Mit dem Geld konnte er die Tochter eines reichen Händlers heiraten, und dann erbte er das Geschäft … Wie ist eigentlich Herr Ford reich geworden?« »Soweit ich weiß, mit Arbeit, Einfällen und ein bisschen Glück natürlich.« »Ach, mein Weißer, hier bei uns verändert sich nur etwas, wenn man einen Schatz findet, wenn man etwas erbt oder wenn …« Enéas war gerade dabei, einen Köder an einem Haken zu befestigen. Im Sommer ist der Fischfang ertragreich, und Enéas hatte heute Abend Glück gehabt. Fast mühelos hatte er einen schweren pacú erwischt. Ohne den Blick zu heben, mischte er sich in unser Gespräch ein. »Oder wenn er stiehlt, ja? Das wolltest du doch sagen, Neger: … wenn er stiehlt. Ford hat sein Geld mit Arbeit gemacht, mit viel Arbeit, er hat nicht auf eine Erbschaft gewartet, oder darauf, Gold unter den Steinen im Fluss zu finden, er hat nicht daran gedacht, zu stehlen.« »Hört, hört, hier spricht ein tapuía, dessen Frau fischen gehen muss«, murmelte Roque. Wenn man Enéas tapuía nannte, störte diesen das genau so, wie wenn man ihn ›Caboclo‹ nannte. Anders als die Schwarzen lassen sich die Nachfahren der Eingeborenen nicht gerne an ihre Vergangenheit erinnern. Enéas Vorfahren waren Eingeborene gewesen. Außerdem hatte Roque mit seinem Kommentar Enéas’ Fähigkeit in Zweifel gestellt, seine Familie ordentlich versorgt zu bekommen. Enéas explodierte. Schlagartig verschwand der müde Ausdruck aus seinem Gesicht. Er richtete sich auf – sein Körper wirkte dabei kraftvoll und außerordentlich geschmeidig – und warf sich auf Roque. Es kostete mich Mühe, ihn zurückzuhalten. Erst mit vorgehaltener Flinte 97
erreichte ich, dass er Roques Hals losließ und ans Ufer zurückwich. Dann kam die Dunkelheit, und beide zogen sich zurück. Spät am Abend gelangten wir an den Posten. Ich war müde, aber nach unserer Streckenplanung war es der letzte Posten, den wir aufsuchen wollten, und ich wollte Andrade, den Inhaber, gerne noch vor dem vollen Einbruch der Nacht sehen. Auf dem Steg empfingen uns ein paar Hunde. Sie waren riesig und kamen aus dem Urwald. Sie bellten uns an und verschwanden wieder im Busch. Ich habe keine Angst vor Hunden, zu Hause in Buenos Aires hatte ich immer irgendeinen Hund, und ich kann mit ihnen umgehen. Roque bat mich darum, im Boot bleiben zu dürfen, und ich stieg mit Enéas aus. Roque band das Boot zwischen zwei großen Kanus fest, und wir gingen zu dem Wohnhaus, das dem Laden gegenüberstand. Das Haus ähnelte Franciscos Haus, allerdings war es größer und besaß ein Strohdach. Die Hunde ließen sich nicht mehr blicken. Die Haustür ging auf und hinter ihr erschien Andrade. Er war dunkelhäutig, klein, und Kopfhaar und Schnurrbart waren in genau gleich große Hälften geteilt. Von Enéas wusste ich, dass etwa dreißig Kautschuksammlerfamilien auf seinem Land arbeiteten. Er ließ uns in den Laden eintreten. Dann bot er mir ein fürchterliches Getränk an, das er selbst zubereitete, zeigte mir sein Radiogerät (mit dem er in manchen Nächten sogar Sender aus Río de Janeiro empfangen konnte), und bat mich, Platz zu nehmen. Der Laden war geräumig und angefüllt mit einem großen Vorrat an Säcken mit Reis und Bohnen. Als Andrade erfuhr, dass ich in Fordlandia arbeitete, und dann, dass ich nichts Bedeutendes aus seinem Laden kaufen würde, verlor er nach und nach seine Freundlichkeit. Ich ergriff das Wort: »Ich bin gekommen, um Ihnen vorzuschlagen, dass Sie mit uns zusammenarbeiten. Schicken Sie uns – natürlich 98
gegen Geld – Ihre Leute und beschaffen Sie uns weitere Arbeitskräfte.« Andrade riss die Augen auf. Sie waren schwarz und ließen einen Hang zur Grausamkeit vermuten. Wahrscheinlich hätte es ihn gefreut, wenn ich sein Gebräu erbrochen hätte. Noch bevor er antworten konnte, erklärte ich: »Bei uns verdienen Sie mehr als bisher, und das ohne irgendwelche Probleme. Wir könnten für jeden Kautschuksammler, den Sie auftreiben, einen guten Preis vereinbaren.« Andrade trank ein Glas seines eigenen Gebräus und schien sich zu besinnen. »Wieso glauben Sie, dass ich mehr verdienen würde?« »Ganz einfach, wir brauchen die erfahrensten Leute, und dafür, dass Sie diese auftreiben, werden wir Sie bezahlen. Die übrigen Familienmitglieder bleiben weiter bei Ihnen. Außerdem können auch die, die nach Fordlandia kommen, sich weiterhin in Ihrem Laden versorgen.« »Und wenn alle gehen? Was soll ich dann machen? Fische züchten?« »Ich glaube nicht, dass alle kommen werden. Wir könnten eine Vereinbarung treffen«, schlug ich vor. »Warten Sie einen Augenblick«, sagte Andrade, erhob sich brüsk und ging in die hinteren Räume des Ladens. Enéas und ich tauschten einen Blick. Enéas lehnte an der Theke. Ich stand auf und ging zu ihm. Einige in Zeitungspapier eingewickelte Flaschen Whisky standen auf einer Seite der Theke, daneben lagen ein paar Stücke gedörrten Fleisches. Ich dachte an Jack, entkorkte eine der Flaschen, roch daran und nahm einen Schluck. Ich trug Enéas auf, sie zum Boot zu bringen. Die anderen wickelte ich aus und las dann die Zeitungsseiten. Sie stammten von einem Ex99
emplar der Folha do Norte, der Zeitung von Belém, waren aber vom vergangenen Jahr. Auf einer Seite entdeckte ich einen Artikel über Fordlandia samt einer Karikatur von Ford. Der Unternehmer war mit einer Königskrone auf dem Kopf auf einer Landkarte des Amazonas thronend abgebildet. »Der große Yankee, Zivilisation und Arbeit« lautete die Überschrift des Artikels. Ich las ihn durch, faltete das Blatt so ordentlich wie möglich zusammen und verbarg es in meinem Rucksack. Ich hob es so lange auf, bis ich, sehr viel später erst, endlich die Gelegenheit hatte, es Henry Ford selbst auszuhändigen. Ich las noch, als Andrade in Begleitung eines anderen Mannes, eines Mestizen, zurückkam. Er trug eine ausgebleichte graue Uniform mit Rangabzeichen an den Schultern. Zwischen Bauch und Gürtel steckte eine alte deutsche Pistole. Einen Patronengurt trug er nicht. Seine Augen sahen aus, als wäre er gerade erst aufgewacht. Andrade stellte ihn mir als Polizeioffizier vor. Er sagte, er gehöre zur Station von Santarém und sei mit dreien seiner Männer hier auf einem Routinebesuch. Andrade schaute auf die ausgewickelten Flaschen und das über die Theke verstreute Zeitungspapier. »Eine fehlt«, sagte er. »Ja. Was bin ich Ihnen schuldig?« »Das ist ein Geschenk, das mir der Offizier mitgebracht hat. Sie sind nicht verkäuflich. Also geben Sie sie mir zurück«, sagte er. Ich machte Enéas ein Zeichen, die Flasche zu holen. Wir standen immer noch an der Theke. Andrade bot auch dem Offizier einen Schluck seines Gebräus an. Der roch daran und lehnte ab. Er bat um ein Glas Schnaps. Beflissen erfüllte Andrade seinen Wunsch. »Sie rekrutieren Männer, die in Fords Plantage arbeiten sollen?«, fragte er mich. 100
»So ist es.« »Was zahlen Sie?« »Weit mehr als andere, und außerdem stellen wir Unterkunft, Verpflegung und Schulbesuch«, antwortete ich. »Und Andrade sagte mir, dass sie sich nicht mit denen begnügen, die Sie aus Belém herbringen, sondern dass Sie mehr und erfahrenere Leute brauchen.« »Das stimmt. Zur Erfüllung unserer Pläne brauchen wir mehr, viel mehr Leute.« »Haben Sie noch keine Probleme mit den Leuten gehabt?«, fragte Andrade. »Bis jetzt nicht.« Enéas kam zurück und gab mir die Flasche. Es war offensichtlich, dass er und Roque auch einen Schluck genommen hatten. Andrade bemerkte es und drückte sein Missfallen aus. »Wie ich sehe, nehmen Sie sich, was Sie wollen, mit oder ohne Erlaubnis. Sie sind gerade erst angekommen und führen sich schon auf wie die Herren des Hauses. Wie finden Sie das?« Der Offizier trank in einem Zug seinen Schnaps aus. Dann richtete er sich zu voller Größe auf. Er näherte sich mir und sah dabei Andrade an. »Ich finde, denen da muss man alles in Rechnung stellen. Wenn sie Leute wollen, sollen sie Leute haben. Aber bezahlen müssen sie im Voraus.« »Sie wollen hier übernachten, nicht wahr?«, fragte Andrade. »Wir hatten daran gedacht.« Der Offizier legte eine Hand an die Pistole und starrte mich an. 101
»Stell ihnen die Rechnung aus, Andrade, und zwar für das Kautschuksammeln, für die Nacht, für den Whisky und weil sie unter ausländischer Flagge brasilianische Gewässer befahren«, sagte der Offizier. Andrade zog eine Schublade in der Theke auf und griff zum Bleistift. Er brauchte ein paar Minuten und dann hielt er dem Offizier die Zahlen hin. Was er für die Nacht, den Whisky und das Schiff verlangte, war mehr als die Hälfte des Geldes, das mir noch blieb. Was er für das Kautschuksammeln verlangte, war reiner Wahnsinn. Ich sagte, ich würde es mir überlegen und verließ den Laden. Es war Nacht geworden. Roque war an Bord geblieben. In der Nähe des Hauses sah ich, wie sich drei Silhouetten abzeichneten, von denen ich annahm, es seien die Polizisten, die den Offizier begleitet hatten. Ich ging zum Boot, sprach mit Roque und ging wieder zurück. Meine Erregung verbarg ich. Als ich den Laden betrat, unterhielten sich der Offizier und Andrade leise. Andrade hatte eine weitere Lampe angezündet und sie auf die Theke gestellt. Der Raum stank nach Kerosin. Ich nahm die Pistole aus dem Rucksack und zielte auf die beiden. Enéas löste sich von der Theke und stellte sich neben mich. Andrade zuckte erschrocken zusammen. Der Offizier schnitt eine nervöse Grimasse und hob die Hände. Ich befahl Enéas, einen Kanister Benzin zu nehmen und zum Boot zu bringen. Ich ging zur Theke und legte ein paar Scheine darauf. Dann nahm ich dem Offizier die Pistole ab und holte die Kugeln heraus. Es waren nur drei Kugeln im Magazin. Als ich die Whiskyflasche ergriff, sah es so aus, als versuche Andrade, mir irgendetwas zu sagen. Ich grinste und ging rückwärts zur Tür. Ich befahl ihnen, den Laden nicht zu verlassen, bevor wir abgefahren seien. Dann machte ich die Tür auf und warf einen Blick auf das Haus. Die drei Silhouetten waren verschwunden. 102
Ich verriegelte die Tür von außen und ging langsam zum Boot. Einer der Hunde kam mir entgegen. Er verfolgte mich und bellte. Das Boot war losgebunden, der Motor lief, und Roque verhinderte, dass es ohne mich davonfuhr, indem er sich mit beiden Händen am Steg festhielt. Bevor ich hineinspringen konnte, biss der Hund mich in einen Knöchel. Kaum war ich an Bord, lösten wir den Anker und fuhren ab. Über dem Fluss lag undurchdringliche Dunkelheit. Wir fuhren ein paar Stunden mit gedrosseltem Tempo, dann gingen wir vor Anker, um uns auszuruhen. Im Morgengrauen sprangen ein paar Fische aus dem Wasser, und der Lärm ließ mich hochschrecken, als hätte ich Schüsse gehört. Ich versuchte, auf Deck weiterzuschlafen. Ich hatte meinen Kopf auf einen Arm niedergelegt, und hörte im Halbschlaf, wie Enéas und Roque sich unterhielten. »Dieser Typ ist doch völlig verrückt. Nach dem, was er da im Posten angestellt hat, kriegen wir große Probleme, jede Wette«, sagte Roque. »Ich sehe das anders. Ich glaube, er wollte zeigen, dass er Schneid hat. Das müssen hier alle Ausländer demonstrieren. Aber mir scheint, er ist wirklich mutig«, antwortete Enéas. »Nein, er hat Angst, furchtbare Angst, und er ist verrückt, und Angst gepaart mit Irrsinn, das führt zum Tode. Ich bin ein guter Mensch, Enéas, aber ich folge nicht so gerne den Befehlen von Verrückten. Du etwa?« Die beiden stimmten überein, dass ihnen meine Handlungsweise nicht gefallen hatte, und dann machten sie Bemerkungen über das Wetter, das Essen und die Kautschuksammler. Ich beschloss, mich zu rühren, damit sie Ruhe gaben. Ich ruhte, bis der Nebel sich auflöste, dann brachen wir nach Jocotá, der Geburtsstadt von Enéas und Roque, auf. 103
Die Fahrt verlief ruhig. Abends legten wir an den besten Stränden an und setzten unseren Weg fort, sobald es Tag wurde. Dann glitten wir, alle drei schweigend, stundenlang auf dem Wasser dahin. Zwei Tage später schließlich waren wir da. Vom Fluss aus sah Jocotá genau so hübsch aus wie Fordlandia. Bunt und freundlich lag es inmitten des Grüns. Das erste Gebäude, das ich sah, war die strahlend weiße Kirche mit ihrem erdfarbenen Dach. Danach erkannte ich das Verwaltungsgebäude, ein zweistöckiges Haus, und eine Reihe in hellen Farben gestrichener niedriger Häuser am Fluss. Es gab zwei Stege. Der längere, der in die Stadt führte, war dunkelrot angestrichen und stand auf Pfählen, an dem anderen kleineren, der sich weiter flussaufwärts befand, war ein ausrangiertes Segelboot festgemacht. Nahe an dem zu der Stadt gehörenden Steg ragten einige außerordentlich groß gewachsene Mangobäume in die Höhe. Die Schiffe, die Jocotá anliefen, legten an dem zur Stadt hin liegenden Kai an. Als ich aus dem Boot stieg und den Steg betrat, war die romantische Szenerie jedoch unversehens verflogen. Der Steg schwankte bei jedem Schritt, einige Planken fehlten, andere wiederum waren verfault. Jocotás Straßen bestanden aus Staub, und die meisten Häuser waren verfallen. Weiter hinten, jenseits des Flusses in der Nähe des Urwaldes sah ich zahlreiche mit Palmblättern gedeckte Lehmhütten. Im Zentrum des Ortes lag der Platz und um ihn herum seine vier wichtigsten Gebäude: die Verwaltung, die Kirche, die Gesundheitsstation und die Schule. Die Gesundheitsstation hatte große Fenster und war mit einem Vorgarten ausgestattet, die Schule war ein mit Ziegeln gedeckter Lehmbau, der auch als Wohnhaus für den Lehrer und seine Familie diente. Zwischen Kirche und Schule hatte man einen Fußballplatz eingerichtet. Von seiner schönsten Seite zeigte sich Jocotá vom 104
Fluss aus, während es aus der Nähe eher wie ein altes abgenutztes Möbelstück wirkte. Trotzdem stimmte mich der Anblick des Ortes froh, ja eigentlich freute ich mich über alles, was den Anblick dieses endlosen Waldes unterbrach. Ich hatte dann jeweils das Gefühl, irgendwo angekommen zu sein. Wir waren, bevor Jocotá aufgetaucht war, verschiedenen Kanus mit Fischern begegnet, die flussaufsowie flussabwärts unterwegs gewesen waren und mit Ruten und kleinen runden Netzen geangelt hatten. Das taten sie nur im Sommer, denn im Winter ist Fischfang in dieser Region praktisch unmöglich. Enéas erzählte mir, dass die Fische sich zu dieser Jahreszeit, vor allem von Januar bis Mai, in die Mangrovensümpfe zurückzogen und sich von dort nicht mehr fortbewegten. Wenn sie aber im Sommer die Flüsse bis zum Amazonas zur Eiablage hinaufschwammen, war es einfach, sie zu fangen. In den Bachläufen verwendete man dazu eine giftige Wurzel, die timbó genannt wird, die, als das DDT noch unbekannt war, auch als Insektizid im Kampf gegen die Anophelesmücke benutzt wurde. Man tauchte die Wurzel ins flache Wasser, das Gift lähmte die Fische und ließ sie an die Oberfläche treiben. In der Nähe von Jocotá übernahm ich das Steuer und Enéas und Roque setzten sich im Schneidersitz ins Heck. Sie waren froh, ihre Leute wiederzusehen, und wenn die Fischer sie erkannten, begrüßten sie sie glücklich und voller Stolz. Mir fiel ein, dass in Fordlandia nur die Angestellten sowie das Küchen- und Restaurantpersonal fischen durften. Gegenüber der Stadt befand sich, dreißig Meter landeinwärts gelegen, ein rundes Fischfangbecken mit einer aus Palmenstämmen gebauten Öffnung. Die Fische wurden von der Strömung in dieses Becken hineingeschwemmt und schließlich darin eingeschlossen. Wollte 105
man sich einen Fisch nehmen, wurde die Öffnung versperrt. Das Zuchtbecken gehörte Doña Dora, einer wohlhabenden Händlerin im Dorf. In ihrem Haus fand ich mein Nachtquartier.
106
IX
D
oña Doras Haus lag in einer Straße, die »Die Erste« genannt wurde. Die drei wichtigsten Straßen Jocotás verliefen parallel zum Fluss. Verwinkelte Nebenstraßen verbanden sie miteinander. Sie alle waren nach irgendeinem Heiligen getauft, doch für die Leute waren sie einfach nur »Die Erste«, »Die Zweite« und »Die Dritte«. »Die Erste« war die einzige der Straßen, die mit einer Reihe von hübschen solide wirkenden Häusern aufwarten konnte. Zudem schickte der Präfekt angesichts des bevorstehenden Festes des heiligen Apolonius dort täglich ein paar Arbeiter vorbei, die das Unkraut jäteten. Die Häuser waren aus Adobe und Holz gefertigt, geräumiger als sie von außen schienen, und mit Zement- oder Tonziegeldächern versehen, und jedes war von einem Garten umgeben. In der »Ersten« wohnten der Präfekt, der Postbeamte, eine Lehrerin und einige wenige Händler. Dora, eine dunkle Mulattin, war Witwe eines Schwarzen und bewirtschaftete gemeinsam mit ihrem Schwager einen Laden namens »Bola de Oro« – also »Die Goldkugel« –, betrieb die dem Dorf gegenüberliegende Fischzucht und besaß ein paar Morgen Land am anderen Flussufer. Das andere Ufer wurde von den Leuten als das »Arme Viertel« bezeichnet; Roques Familie wohnte dort. Doña Dora hingegen sicherten ihre Güter einen Platz in der Oberschicht des Dorfes und einen guten Namen. Doña Dora hatte eine unübersehbare Warze auf der 107
Wange und trug eine Brille mit Goldfassung. Ihre Miene war freundlich und heiter. Sie war die Taufpatin von Enéas’ Kindern, und auch wenn ein ungeschriebenes Gesetz die Liebesbeziehung zwischen einem Mann und der Patin seiner Kinder verbot, bin ich mir doch fast sicher, dass eine alte verheimlichte Liebe die beiden verband. Doña Doras Haus verfügte über zwei Schlafzimmer, ein Esszimmer und einen Salon für Besucher. In den beiden Schlafzimmern gab es Fenster und mit Matratzen ausgestattete Betten. Doña Dora wies mir das Zimmer zu, dessen Fenster auf den Patio hinausging und sagte mir gleich, bei ihr bekäme ich nur Frühstück und Abendessen. Viele der Häuser im Dorf hatten überhaupt keine Fenster, um das Eindringen der Nachtluft zu verhindern, denn es hieß, dass der kühle Hauch der Nacht die Malaria verbreite. Vom Esszimmer führte eine Tür auf einen Flur, der dieses mit dem Innenhof verband; der Besuchersalon wurde nur bei besonderen Gelegenheiten benutzt. Stolz hatte Doña Dora dort ihre Nähmaschine aufgestellt. Der Raum diente auch als Empfangsort für Freundinnen, zu denen unter anderem Doña Branquinha, eine aufdringliche, extrem gläubige Junggesellin, gehörte. Der Innenhof war mit zahlreichen Obstbäumen bestanden, des Weiteren gab es dort einen Hühnerstall. Als ich einmal spät in der Nacht noch hinausgegangen war, um zu rauchen und mir die Beine zu vertreten, war mit einem Mal Doña Doras erregtes Kichern und das nicht weniger erregte Keuchen meiner Hilfskraft Enéas zu mir gedrungen. In Jocotá hielten wir uns etwas länger als eine Woche auf. Am ersten Tag ruhte ich mich nur aus. Schon seit langem hatte ich auf keiner Matratze mehr gelegen, und außerdem tat mir der Knöchel weh. Die Wunde, die mir der Hund zugefügt hatte, hatte sich entzündet, und sowohl der 108
Sanitäter vom Gesundheitsposten als auch der Heilkundige, den Doña Dora holte, rieten mir zu Bettruhe, dazu sollte ich die Stelle mit einer Mischung aus pflanzlichen Harzen behandeln. Die Zubereitung enthielt auch Extrakte amazonischer Heilpflanzen, darunter Storaxbaum und fumo da mata. Sie roch angenehm. Während meiner Ruhepause dachte ich über mein derzeitiges Leben und mein Leben an und für sich nach. Meine Laune hob das nicht besonders. Ich hatte weder Lust, Enéas zu sehen, noch Lust, Roque zu sehen, als sie kamen, um nach mir zu schauen. Während der folgenden Tage jedoch traf ich mich mit den Leuten von Jocotá und nahm danach an den Festlichkeiten teil, die die Brüderschaft des heiligen Apolonius organisiert hatte. Mein Aufenthalt hatte für einige Unruhe gesorgt, und unsere Versammlungen waren, wenn man nach der Zahl der Anwesenden ging, große Erfolge. Enéas und Roque hatte ich gebeten, alle Leute zusammenzurufen, die an Arbeit in Fordlandia interessiert sein könnten; außerdem sollten sie die mitgebrachten Broschüren verteilen. Die erste Versammlung fand in der Schule statt, und die zweite, bei der der Präfekt anwesend war, hielten wir im Verwaltungsgebäude ab, das erst halb fertig gestellt und so schlecht belüftet war, dass die Hitze drinnen unerträglich wurde, wobei mir Doña Dora verriet, dass die Hälfte des Gebäudes abgerissen und mit dem Verkauf des Baumaterials Geld gemacht worden war. Da außer dem Präfekten noch die Crème de la crème des Ortes anwesend war, artete das Treffen, das ursprünglich als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme gedacht war, zu einem regelrechten gesellschaftlichen Ereignis aus. Das Dorf hatte etwa dreihundert Einwohner, und weitere hundert lebten verstreut in der Umgebung. Nach den beiden Versammlungen und dem Fest hatte ich das Gefühl, sie allesamt kennen gelernt zu 109
haben. In der Schule wurden fast keine Fragen gestellt, und ich gab mir Mühe, meinen Vortrag glaubhaft und überzeugend zu gestalten. Ich appellierte an den gesunden Menschenverstand und vermied hochtrabende Töne. Ganze Familien befanden sich unter den Anwesenden, und bis auf die herumtollenden Kinder hörten mir alle schweigend und mit derartiger Ehrfurcht zu, dass die Veranstaltung eher wie eine Predigt wirkte. Enéas unterstützte mich, indem er meine Worte in anschauliche Bilder übersetzte. Ich hielt meinen Vortrag im Stehen. Als ich fertig war, bestand der Lehrer, ein gebildeter kleiner Mann, der bei der Begrüßung lobende Worte über Fordlandia hatte fallen lassen, darauf, dass jemand sich zu meiner Rede äußern müsse. Er stellte sich neben mich und verkündete, dass der Fortschritt nur einmal rufe, und dass er wissen wolle, ob unter den Anwesenden und besonders unter jenen, die keine feste Arbeit hätten, Bereitschaft bestünde, diesem Aufruf zu folgen. Ein alter Herr, der meinen Vortrag aufmerksam gelauscht hatte, hob die Hand. Der Lehrer erteilte ihm das Wort. Der Mann erhob sich von seinem Sitz und sagte, er habe gehört, dass in Fordlandia die Essenszeiten durch eine Sirene geregelt seien, und dass er sich »nur von seinem eigenen Körper und sonst von niemandem seinen Hunger diktieren« ließe, und »wenn es stimme, dass er sich nach der Sirene richten« müsse, dann fürchte er, »auszutrocknen wie ein Stück Papier«. Der Blick, den mir der Lehrer daraufhin zuwarf, zwang mich zu einer Antwort. Es konnte nur Roque gewesen sein, der diese Information unter die Leute gebracht hatte. Ich zögerte. Dann gab ich zu, dass das mit der Sirene stimme, doch es sei die einzige Möglichkeit, Arbeit und Ruhezeit so vieler an ein und demselben Platz arbeitender Menschen zu koordinieren. Am Ende der Versammlung klatschte der Lehrer Beifall, und einige der Anwesenden taten es ihm nach. Als wir das 110
Gebäude verließen, lud ich den Lehrer, der Flavio hieß, noch auf einen Schluck ein. Wir liefen die »Erste« bis zur »Bola de Oro« hinunter. Die Luft war feucht, aber erträglich. In den Schaufenstern der »Bola de Oro« wurde für Schweizer Dosenmilch und Guyabanamarmelade geworben, beides sei gerade frisch aus Belém eingetroffen. Allerdings waren seit Ankunft der Union, des letzten Dampfers, der Jocotá angelaufen hatte, anderthalb Monate vergangen. Der Laden bestand aus zwei Räumen. Im vorderen Teil wurden die Kunden bedient, und es gab ein paar Tische, an die man sich setzen konnte, um etwas zu trinken. Hinten befand sich das Lager. Zahlreiche Kautschuksammler und Bauern waren Kunden der »Bola de Oro« und tauschten hier Kautschuk, Palmöl, Sarsaparille und Vanille gegen andere Lebensmittel oder Stoffe ein. Sarsaparille und Vanille waren bei den Händlern aus Belém sehr beliebt. Wir suchten uns einen Tisch in der Nähe der Tür. Durch ihre Glasscheiben hindurch konnte man den Steg und den Fluss erkennen. Raimundo, Doña Doras Schwager, unterbrach seine Unterhaltung mit zwei ortsansässigen Männern, um uns zu bedienen. Wir ließen uns Bier und Schnaps bringen. Der Fußboden war aus Holz und roch nach frischem Wachs. Auf dem Weg zum Laden hatte ich über die Resonanz nachgedacht, die es auf meinen Vortrag gegeben hatte. Meine Zuhörer hatten einen eher schüchternen und nicht sehr zuversichtlichen Eindruck gemacht. Der Lehrer war Anfang des Jahrhunderts in die Gegend gekommen. Damals, erzählte er mir, habe er sich mit Privatstunden in Portugiesisch, Französisch, Latein, Geometrie, Algebra, Geschichte und Geographie durchgeschlagen. Dann hatte er geheiratet und hatte, als der Traum vom grenzenlosen Wohlstand ausgeträumt war, nicht mehr fort gewollt und die Schule übernommen – es war die einzige, 111
die es im Umkreis von Hunderten von Kilometern gab. Flavio hatte ein verbittertes, melancholisches Gesicht. Ich erkundigte mich nach seiner Meinung über die Leute. »Wir sind Opfer unseres eigenen Größenwahns«, sagte er. »Ich verstehe.« »Obgleich ich mich, ehrlich gesagt, immer wieder frage, ob wir, die Menschen, Schuld daran haben, oder ob es Gott ist, der uns Reichtum versprach und uns gleichzeitig Hindernisse in den Weg legte.« »Welche Hindernisse meinen Sie?« fragte ich. »Welche wohl? Das Klima, die Umgebung, den Urwald.« »Ich glaube an den Menschen«, entgegnete ich. »Warum?« »Weil wir in der Lage sind, unaufhörlich Neues zu erschaffen.« »Was denn zum Beispiel?« »Nun, wir erfinden und bauen Maschinen, realisieren Projekte, kurzum, wir haben Ideen.« »Also haben wir Menschen Ihrer Meinung nach Einfluss auf die Natur?« »So ist es«, beteuerte ich. »Sie glauben also nicht, dass wir das Paradies zerstören, sobald wir es betreten?« »Nein, nein, das glaube ich nicht. Ich glaube auch nicht an die Natur als Spiegel des Göttlichen, wenn Sie das meinen.« »Aha. Ich für mein Teil, mein Freund, kann Ihnen versichern, dass das Betrachten des Urwalds mir sehr dabei geholfen hat, dem Geheimnis der menschlichen Seele ein wenig mehr auf die Spur zu kommen.« 112
»Und von welchem Geheimnis sprechen Sie?« »Es entzieht sich jeder Beschreibung. Solange mich keiner danach fragt, liegt es offen vor mir. Sobald ich es benennen soll, verschließt es sich mir wieder«, antwortete er mir und deutete ein Lächeln an. »Nicht nur die Natur kann uns zu Erkenntnissen verhelfen, sondern auch ein gutes Buch oder ein guter Film«, erwiderte ich. »Der Film ist nicht mein Gebiet, ich war bisher nur ein paar Mal im Kino, in Santarém, doch ich stimme Ihnen so weit zu, dass jemand, der es im Leben wirklich zu etwas bringen will, unbedingt lesen muss. Allerdings ist Amazonien, mein Freund, das letzte Kapitel der Schöpfungsgeschichte – und das ist noch nicht geschrieben worden.« »Sehen Sie. Eine der Aufgaben des Menschen ist das Schreiben. Überhaupt ist jeder Weg zum Schönen und Wahren vom Menschen angelegt.« »Vom Menschen ja, aber nicht vom Wilden. Ihre Freunde, die Nordamerikaner, halten uns doch nur für Wilde, ist das nicht so?« »Ich kann nur für mich sprechen.« »Nehmen Sie mir meine Fragen nicht übel. Bedenken Sie nur, dass es hier schwer ist, auf Menschen zu treffen, die lesen, und dass es noch viel schwieriger ist, Menschen zu finden, die nachdenken. Die Zahl derer, die nachdenken, ist außerordentlich gering. Außerdem sind weder Sie noch ich in der Lage, mit unserem Denken auf den Urwald einzuwirken. Nicht einmal die größten Geister werden jemals den Urwald beeindrucken können, denn es fehlt ihnen an Enthusiasmus, und sie schreiben nur für die Eliten.« Der Lehrer versank in seinen Gedanken, nahm einen Schluck Bier und steckte sich dann eine Zigarette an. Die 113
Dorfbewohner, die sich mit Raimundo unterhielten, grüßten Flavio im Hinausgehen. Es brauchte eine Zeit, bis er ihren Gruß erwiderte. »Ich weiß nicht, aber meinen Glauben an den Menschen habe ich verloren. Ebenso halte ich auch keine Meinung mehr für die einzig wahre, noch fühle ich mich für irgendetwas verantwortlich; dennoch muss ich zugeben, dass ich Fordlandia sehr gerne kennen lernen würde«, stellte er fest. Früher hatte Flavio eine Wochenzeitung im Dorf herausgegeben. Als wir unser Bier getrunken hatten, schlug er vor, mir das Gebäude zu zeigen, in dem einst die Redaktion und die Druckerei untergebracht waren. Wir gingen einen gewundenen, von Gesträuch überwucherten Weg entlang, auf dem man auch zu der Hütte, in der Enéas’ Frau und Kinder wohnten, gelangte. Das Redaktions- und Druckereigebäude, das einst eine wunderschöne Villa gewesen war, lag jetzt in Ruinen. Innen sah ich eine Harfe mit nur noch wenigen Saiten und außerdem einen Flügel, den die Termiten vollends zugrunde gerichtet hatten. Sie liefen über ein Stück Holz, das sich von der Tastatur gelöst hatte, an ihm hinauf. Als der Lehrer den Deckel aufklappte, flüchteten die Insekten in einen Gang, den sie in die Erde gegraben hatten. Flavio betrachtete den Flügel und strich zärtlich über ein paar seiner Tasten. Dann zeigte er mir, wo die Druckerei gewesen war, und wo die Redakteure gesessen hatten. Unter Brettern und Schutt suchte er vergeblich nach irgendeinem Rest Zeitung. Auf dem Nachbargrundstück zerfraßen die Termiten die letzten Überbleibsel eines Leichenwagens. Der Lehrer erklärte mir, dass der Wagen früher benutzt worden sei, als die Straße, die zum Friedhof führte, noch frei von Gestrüpp und Gesträuch gewesen sei; nun trüge man die Toten nur noch in einer mit zwei Stöcken versehenen Hängematte zu Grabe. Einen Augenblick lang sah er mich prüfend an. 114
»In Fordlandia haben Sie elektrisches Licht, nicht wahr?«, fragte er dann. »So ist es«, antwortete ich. »Also werden Sie Herr über den Urwald werden, und nicht, wie wir hier, als verwahrloste Lumpen enden.« Für eine kurze Zeit überkamen mich Zweifel. »Das will ich hoffen«, antwortete ich dann. Ich sah Flavio während der Festlichkeiten, die zu Ehren des heiligen Apolonius veranstaltet wurden, wieder. Er war betrunken und machte, anders als an jenem Nachmittag, einen fröhlichen Eindruck. Die einfachen Leute aus Jocotá feierten ihren heiligen Apolonius nachmittags mit einem Umzug durch die Straßen. In den Nächten wurde getanzt, und am letzten Tag zog eine von einem mit dem Bild des Heiligen geschmückten Einbaum angeführte Kanuprozession den Fluss entlang. Der Präfekt und die Händler organisierten im Haus von Don Raimundo, der zu ihnen gehörte, ihr eigenes Fest. Obwohl sich Händler und Grundbesitzer auf ihre Weise beteiligten, waren sie von den Festen, die während der Trockenzeit alle zwei Wochen stattfanden, nicht sonderlich begeistert. Denn am Amazonas ist es während der Festivitäten sowie am Vortag, wenn die Vorbereitungen stattfinden, und am Tag darauf, wenn schließlich der Kater ausgeschlafen werden muss, unmöglich, jemanden dazu zu bringen, Pflanzung und Ernte nicht zu vernachlässigen. Am ersten Festtag zog eine Gruppe, die um Spenden bat, durch Doña Doras Haus. Die Spendensammler führten eine Trommel mit sich und gaben je nach Großzügigkeit des Spenders mehr oder weniger Lieder zu Ehren des Heiligen zum Besten. Als sie an die Tür klopften, legte Doña Dora ihre Näharbeit beiseite, ging in den Innenhof und kam mit 115
zwei Hühnern zurück, die sie in einen Sack gesteckt hatte. Noch während sie die Hühner holen gegangen war, hatte Doña Branquinha, die seit dem Mittag zu Gast war, zweimal an meine Tür gehämmert, mich von der Anwesenheit der Gruppe informiert und um eine Spende gebeten. Die beiden Frauen hatten sich für das nächtliche Fest noch nicht zurechtgemacht. Ich hingegen hatte schon früh ein Bad im Fluss genommen – denn im Haus war das nicht möglich – und einen kleinen Frisiersalon in jener Straße aufgesucht, die man die »Zweite« nannte. Als ich im Salon in den Spiegel gesehen hatte, hatte ich bemerkt, dass ich abgenommen hatte, und dass mit den Fettpölsterchen auch meine Blässe verschwunden war. Ich erfüllte Doña Branquinhas Bitte um eine Spende, verließ mein Zimmer und ging durch den Seitenflur auf die Straße. Dort begrüßte ich die Gesangs-Truppe, drückte einem Mulatten, der den Zeremonienmeister machte, eine anschauliche Summe Geld in die Hand und hörte mir ihre Lieder an, bis sie aufbrachen. Der Mulatte hatte ein paar Verschen vorgetragen, die dann von der ganzen Gruppe wiederholt wurden, daran hatten sich Balladen mit schlichtem Text und einfacher Melodie geschlossen. Stellvertretend für Doña Dora überreichte Doña Branquinha die Hühner und blieb dann bei mir auf der Terrasse sitzen. Langsam sank die Sonne. Kanus überquerten den Fluss, legten am Steg oder irgendwo am Ufer an. Die Leute banden die Boote fest und versteckten, nachdem sie ausgestiegen waren, die Ruder im Gebüsch. Sie wussten aus Erfahrung, dass das Bootszubehör nach einer durchzechten Nacht von niemandem, der es eilig hatte, nach Hause zu kommen, als fremdes Eigentum respektiert werden würde. Sobald die Ruder versteckt waren, wurden von Männern wie von Frauen mit Festtagskleidung, Hängematten, Lebensmitteln und Schnaps angefüllte Blechkisten geschul116
tert und jubelnd durch die Menge getragen. Feuerwerkskörper detonierten. Manche der Frauen blieben stehen, strichen sich ihre Röcke glatt, bürsteten sich gegenseitig das Haar oder legten Schmuck an. »Diese Caboclos veranstalten die reinsten Orgien, um an die jungen Mädchen heranzukommen. Ein vornehmer Herr wie Sie jedoch sollte sich auf andere Weise vergnügen, nämlich gemeinsam mit uns im Haus von Raimundo«, drang Doña Branquinha in mich. Zwar hatten mich Doña Dora und der Präfekt schon längst dazu eingeladen, dennoch bedankte ich mich bei Branquinha für ihre Aufmerksamkeit. Dann verabschiedete ich mich und ging eine Weile am Fluss spazieren. Ich lief das Ufer entlang bis zu dem kleineren Steg. Er war schmaler und älter als der zur Stadt hin gelegene und ein wahrer Friedhof für lecke oder verlassene Boote und Reste zerbrochener Ruder. Dann wandte ich mich dem Dorf zu. Ich ging die »Zweite« hinauf, dann die »Erste« entlang und drehte schließlich eine Runde um den Platz. Die Kirche war angestrahlt, doch ihre Türen waren geschlossen. Ich hatte gehört, dass Theo, der deutsche Priester, in der Kirche Gottesdienste abhielt, wenn er ins Dorf kam, und dass er die Wände des Gotteshauses mit Hilfe anderer Gläubiger eigenhändig von innen und von außen geweißelt hatte. Ich hatte fest damit gerechnet, ihn heute Nachmittag zu treffen, und seine Abwesenheit überraschte mich. In der Mitte des Platzes hatte man einen hohen Holzmast aufgestellt, der mit dem Bild des Heiligen dekoriert war. Darum herum hingen Laub und ein paar ganze Ananasfrüchte. Auf dem Platz hatten sich einige Leute versammelt, es wurde gesungen und ein paar von ihnen probten ein Stück weiter weg in einer Ecke Samba-Rhythmen und die passenden Schritte dazu. Als ich über den Platz lief, erregten zwei Frauen meine Aufmerksamkeit. Sie trugen ab117
getragene eng anliegende Kleider und lachten und quatschten miteinander. Von einigen der Anwesenden wurden sie freundlich gegrüßt, andere sahen zu ihnen herüber und tuschelten dann aufgeregt miteinander. Eine von ihnen – sie hatte schräg liegende schwarze Augen und glattes Haar – gefiel mir besonders gut. Es war eine richtige mulatinha boa. Ich sah sie an und lächelte ihr zu. Später erfuhr ich, dass die beiden Huren waren, die von einem Ort zum anderen und von einem Fest zur nächsten Prozession zogen, um Kautschuksammler, Händler und Bauern zu beglücken und deren Stimmung zu heben. Die schöne Mulattin schenkte mir ein verheißungsvolles Lächeln. Eine Weile noch hielt ich mich auf dem Platz auf, dann ging ich auf einen Schluck in die »Bola de Oro«. Der Lehrer, Raimundo und ein Händler hatten sich um einen Tisch versammelt. Sie waren in ein Gespräch vertieft. Vor ihnen, in der Mitte des Tisches, standen zwei Schnapsflaschen. Die Männer machten mir Platz, und ich setzte mich zu ihnen. Der Lehrer füllte mir ein Glas und prostete mir zu. Ich fragte, warum Theo nicht da sei, und ob man ihn erst später erwarte. Der Lehrer sah mich an und grinste. Raimundo seinerseits wurde rot und senkte den Blick. Der andere Mann sagte, er glaube nicht, dass Theo rechtzeitig ankäme. Ich wollte wissen, ob Theo derartige Festlichkeiten aus religiösen Gründen ablehne, worauf mir der Lehrer die folgende Antwort gab: »Theo ist ein Schwerenöter; es ist nicht nur so, dass er etwas gegen das Tanzen und Trinken hätte, der Schweinehund nutzt unsere Arglosigkeit außerdem dazu aus, stundenlang allein mit unseren Frauen in seinem Beichtstuhl zu hocken!« Flavio schwankte beim Sprechen vor und zurück, dazu ließ ihn ein Schluckauf immer wieder erbeben. Er hob den Zeigefinger und erklärte mir stockend, dass sie ihm des118
wegen, zur Strafe also, ein leckes, ja sehr leckes Kanu geschickt hätten, das derart leck sei, dass sogar ein so versponnener und hartnäckiger Deutscher wie Theo mit hoher Wahrscheinlichkeit lieber auf die Reise verzichten würde. »Stellen Sie sich bloß Theos Gesicht vor«, fügte er dann hinzu. »Und erst Doña Branquinhas Gesicht, wenn sie merkt, was Sache ist!«, warf der Händler ein. Die drei lachten schallend. Wahrscheinlich waren Theos Gefühle, als er sich in dem alten sich langsam mit Wasser füllenden Boot, das ihn all seinen Bemühungen zum Trotz niemals irgendwohin bringen würde, denjenigen ähnlich, die ich verspürte, als ich nachts auf dem Fest bei Don Raimundo sah, wie Doña Branquinha sich von ihrem Stuhl erhob, den Salon durchquerte und mit gebleckten Zähnen direkt auf mich zusteuerte. Das Fest war schon länger im Gang, und jetzt, um Mittemacht, war Tanz zu den Märschen und Sambas, die ein Trio auf Rassel, Waschbrett und Trommel intonierte, angesagt. Der Salon war groß, und Essen und Trinken gab es im Überfluss. Die Kellner gehörten einem Stamm der Munduruku, jener Volksgruppe, die Caroline erforschte, an. Zu essen gab es Schwein, Huhn, Tapiokahäppchen und Guayavengebäck, zu trinken wurden Bier, Zuckerrohrschnaps und ein süßer Wein von schlechter Qualität angeboten. Der Lehrer überredete mich, ein paar schwarze Pastetchen zu kosten, die bitter schmeckten und, wie er erklärte, aus Guaranasamen, Maniokmehl und Pirarucuzunge zubereitet waren. »Kosten Sie das«, sagte er, »und erzählen Sie mir dann, wie es Ihnen bekommen ist.« Wir Männer standen auf der einen Seite des Salons, die Frauen saßen uns gegenüber auf der anderen. Sie alle tru119
gen Festtagskleider und frisch geputzte Schuhe. Die jüngsten durften nur mit ihren Vätern tanzen. Sie waren weder gut noch schlecht gekleidet, sondern zeitlos, jenseits irgendeiner Mode. Die Männer mussten den ganzen Salon durchqueren, um eine Frau zum Tanz aufzufordern. Doña Branquinha saß neben Doña Dora und starrte mich seit Erklingen des ersten Taktes unentwegt an. Ich bemerkte, dass die beiden Frauen sich für das Fest ihre schönsten Kleider angezogen hatten. Ich tat, was ich konnte, um Doña Branquinha zu ignorieren, aber es war vergeblich, denn sie kam schlichtweg direkt auf mich zu, nahm mich bei der Hand – das Trio spielte einen Samba –, und es blieb mir nichts anderes übrig, als ihren Schritten zu folgen. Bei Raimundo tanzte man den Samba, ohne dass sich die Körper der Tanzenden berührten und setzte schnelle schleifende Schritte. Der Oberkörper wurde – unter balancierenden Armbewegungen, die das Gleichgewicht sicherten – gerade gehalten. Beim Tanz auf der Straße hingegen legten sich viele Paare die Arme um den Leib. Ich war nie ein guter Tänzer, aber mit Doña Branquinha als Partnerin bewegte ich mich in dieser Nacht so geschmeidig wie ein Kleiderständer. Nach ein paar Sambas verließen wir die Tanzfläche, und Doña Branquinha führte mich an der Hand in eine Ecke, um mich ihren Freundinnen vorzustellen. Schon lange hatte ich mit keiner Frau mehr geschlafen. Die letzte war eine der Huren jener Bar in Belém gewesen, in der ich Jack kennen gelernt hatte. Ich dachte an Caroline. Eine Frau wie sie hätte ich jetzt gerne bei mir gehabt, jetzt, in diesem Augenblick. Um sie zum Tanzen und Trinken und dann zu einem Spaziergang zum Ufer einzuladen. Vielleicht würden wir die Nacht zusammen verbringen, womöglich sogar uns die ganze Nacht, diese ganze schwüle Urwaldnacht lang lieben. Ich holte mir ein 120
Glas Cachaza und musterte Branquinha von oben bis unten, während sie sich mit ihren Freundinnen unterhielt. Dann bat ich sie, mich zu entschuldigen, ich müsse frische Luft schnappen, und verließ den Salon. Draußen empfingen mich die ausgelassenen Klänge des Festes. Ich ging ihnen nach. Für das einfache Volk fand der Tanz in einer geschmückten, an der »Zweiten« gelegenen Baracke statt. An Straßenständen wurden Schnaps und Maniokpastetchen verkauft. Frauen und Männer verließen die Baracke, um draußen zu essen und zu trinken. Wir Männer mussten als Eintritt ein paar Münzen zahlen. Es herrschte gute Stimmung. Ein kleines Orchester spielte einen Samba nach dem anderen. Ab und zu wurden die erschöpften Trommler abgelöst. Die Paare tanzten barfuß auf dem gestampften Lehmboden. Es roch nach billigem Parfüm. Immer wieder hörte man das Krachen des Feuerwerks, das auf der Straße gezündet wurde. Eine Zeit lang tanzte ich mit einem Mädchen aus dem Dorf, bis es mich ohne weitere Erklärung einfach stehen ließ, um mit einem anderen weiterzutanzen. Einige Paare küssten und umarmten sich mitten auf der Tanzfläche. Ich traf Enéas. Er war mit seiner Frau gekommen, doch er tanzte lange mit einer anderen. Wie die meisten Männer war er in Weiß gekleidet und bewegte sich lässig unter den Frauen. Ich zog ihn beiseite und fragte ihn flüsternd nach den Huren. Lächelnd sagte er, ich solle ihm folgen. Er überließ seine Tanzpartnerin seiner Frau, und wir traten aus der Baracke ins Freie. Die Nacht war schon fast vorüber. Tastend liefen wir die »Zweite« entlang. Enéas ging mir voraus, sein Gang war noch schwankender als sonst. Unterwegs fragte ich ihn, ob er die Pastetchen kenne, die ich bei Raimundo gegessen hatte. »Die sind für die Weißen reserviert. Wir essen ein bisschen von der Catuabarinde, das reicht uns«, sagte er. 121
Als wir ein Stück weit gelaufen waren, tauchte plötzlich ein großer, recht wütender Wachhund auf und setzte uns nach. Als er jedoch Enéas schließlich erkannte, schmiegte er sich an ihn. Enéas schlang ihm die Arme um den Hals, führte ihn beiseite, hockte sich neben ihm nieder, sprach auf ihn ein und streichelte ihn lange. Wir gingen weiter. Endlich wies Enéas auf eine noch etwa hundert Meter von uns entfernt, neben einer Bäckerei stehende Laterne und verabschiedete sich. Ich steckte mir eine Zigarette an und ging auf die Laterne zu. Ich hoffte auf die Mulattin mit dem glatten Haar. Vor der Tür einer Hütte stand eine Gruppe von trinkenden, schwatzenden Männern. Beim Näherkommen sah ich, wie einer die Taille einer Frau umschlang, die in der Tür auftauchte, und sie nach drinnen schob. Dann entdeckte ich Roque. Er löste sich aus dem Schatten und begrüßte mich begeistert. Er sagte, ich solle mir keine Sorgen machen, er kenne alle der Männer gut und er würde mit ihnen reden, damit ich nicht warten müsse, bis ich an der Reihe sei, sondern hineingehen könne, sobald die nächste Frau frei werde. Ich zögerte, doch Roque bestand darauf und wandte sich, ohne meine endgültige Antwort abzuwarten, an die anderen und erreichte trotz einigen Widerstandes sein Ziel. Man ließ mir den Vortritt. Einen Augenblick später ging die Tür auf. Ich drückte meine Zigarette aus und trat ein. Die Hütte war in zwei Zimmer unterteilt. Ich hatte Pech. Die Mulattin mit dem glatten Haar war noch beschäftigt, ich wurde von der anderen bedient. Beim Hinausgehen bedankte ich mich bei den Männern, die mir den Vortritt gelassen hatten und ging dann wieder zum Tanz zurück. Roque stand mit den anderen weiter Schlange. Auf dem Rückweg erstand ich eine Flasche Schnaps. Ich suchte wieder die Baracke auf, lief über die Tanzfläche und setzte mich zu Enéas und seinen Frauen. Wir teilten uns die Flasche. Im Morgengrauen 122
wurde der Tanz beendet, und man schoss die letzten Feuerwerkskörper ab. Ich begleitete Enéas und ein paar andere Männer bei ein paar Runden um den Mast, bis mir plötzlich klar wurde, dass ich ziemlich betrunken war. Ich machte mich auf. Enéas winkte mir zu. Er blieb bei seinen Leuten, blieb, für mich unerreichbar, in einer anderen Welt zurück. Sein dunkles Gesicht strahlte. Zwei Tage später brachen wir nach Fordlandia auf. Unterwegs befahl ich, einen Umweg zu machen. Ich wollte den Munduruku einen Besuch abstatten.
123
X
I
n dieser Nacht, es war Oktober, war die Villa in Fairlane hell erleuchtet. Das Orchester der Musikakademie Detroit war in voller Besetzung und spielte Paso doble, Walzer und Galopp. Ein Teil der Gäste tanzte oder stand um die Tanzfläche herum und unterhielt sich; manch anderer der Geladenen stand im Garten in dem engeren Kreis, der sich um Edsel Ford gebildet hatte. Das Fest hatte nachmittags begonnen, die Musik ein wenig später. Henry und Clara Ford hatten den Tanz mit einem alten Walzer eröffnet. Dabei hatte Clara ein Abendkleid in Kastanienbraun – Henrys Lieblingsfarbe – getragen. Ihnen hatte sich das Tanzlehrerpaar angeschlossen, das Ford für den Unterricht im Werk eingestellt hatte, und daraufhin hatten die meisten der leitenden Angestellten und anwesenden Politiker ihre Frauen aufgefordert. Während sich die »Auto-Aristokratie«, wie sie in Detroit und im ganzen Land genannt wurde, beim Tanz vergnügte, zog es die Gruppe von Künstlern und Freunden Edsels vor, sich in der weiträumigen Bibliothek von Fairlane umzusehen, und sich anschließend mit dem Sohn des Gastgebers in den Garten zurückzuziehen. Ford hatte seinem Wohnsitz den Namen »Fairlane« zu Ehren des irischen Volkes gegeben, denn sein Großvater war Ire gewesen. Das Haus war aus Kalkstein und im Stil eines normannischen Schlosses erbaut und stand auf einem Gelände in Dearborn, das sich über mehr als sechshundert Hektar an den Ufern des Rouge entlang erstreckte. 124
Detroits Millionäre sowie Edsel zogen es vor, ihre Villen in der exklusiven Nachbarschaft des am Saint-Clairesee gelegenen »Gaukler Pointe« zu bauen. Ford jedoch hatte sein Schloss in Dearborn errichten lassen, ganz in der Nähe des Landstriches, in dem er geboren und aufgewachsen war. Neben den Dutzenden von Buchbänden, deren Deckel nicht nur ungelesene, sondern nicht einmal aufgeschnittene Seiten einschlossen, fanden sich in den Regalen der Fairlaner Bibliothek Originale von Shakespeare und Dickens. Trotzdem war dies nicht Fords Lieblingsplatz, denn er fühlte sich in seiner Parkanlage bedeutend wohler. Er schätzte den eigens von ihm angelegten See, das Hallenbad, den Rest Wald (es war derselbe Wald, in den ihn in seinen Kinderzeiten der Vater mitgenommen hatte) über alles, und sein größter Stolz war letztlich das Elektrizitätswerk, das er am Flussufer hatte errichten lassen. Mit seinen beiden gigantischen Generatoren und dem langen unterirdischen Tunnel, der es mit seinem Wohnsitz verband, war das Werk das Allererste, was er seinen Gästen zu zeigen pflegte. So lud er in dieser Oktobernacht, nachdem er fast eine Stunde lang getanzt hatte, seine beiden engsten Freunde, Thomas Edison – dem zu Ehren er das Fest veranstaltet hatte – und Harvey Firestone – der sein auserwählter Reifenlieferant war –, zu einem Spaziergang dorthin ein. Ford wirkte überaus glücklich. Er war bester Laune, die sich nur für einen Augenblick getrübt hatte, als ein von seinem Sohn eingeladenes mexikanisches Malerpaar den Dirigenten um einen Tango gebeten hatte. Der umsichtige Musiker hatte den Oberkellner mit einem Zettel zu Ford geschickt, auf dem er um dessen Genehmigung bat. Ford hatte seinen Tanz unterbrochen, die Erlaubnis versagt, seine Frau an der Tanzfläche stehen gelassen und den ganzen 125
Saal durchschritten, um die Mexikaner zurechtzuweisen: »Ein Gentleman sollte in der Lage sein, seine Partnerin so zu führen, dass er sie dabei nicht umarmt, nicht so jedenfalls, als handele es sich um seine Geliebte, und das ist meines Wissens nach beim Tango nicht zu vermeiden«, hatte er Diego Rivera belehrt. Das Fordwerk hatte bereits seinen eigenen Maler, doch Edsel hatte Rivera unter Vertrag genommen. Er sollte die Wände des Museums von Detroit mit Fresken versehen und auch ein Wandgemälde gestalten, das die Welt rund um das Automobil zum Thema haben sollte. Fords Worte hatten keinerlei Eindruck auf Rivera gemacht. Er hatte lediglich, ohne dabei den Blick von dem Gastgeber abzuwenden, mit den Schultern gezuckt. Daraufhin hatte seine Frau, Frida Kahlo, das Wort ergriffen und behauptet, es wäre doch eine hervorragende Idee, wenn alle Gäste, Männer wie Frauen, ihre Geliebten einmal beim Tango vorführten. Ford war bei den Worten der außergewöhnlichen Frau leicht errötet, hatte aber nichts erwidert. Der kleine Zwischenfall lag schon eine Weile zurück, und jetzt genoss Ford in Gesellschaft seiner beiden Freunde auf dem Weg zum Elektrizitätswerk unbeschwert die frische Brise, die vom Rouge herüberwehte. Er war glücklich und mit seiner Vorgehensweise zufrieden. Die letzten Jahre waren nicht einfach gewesen. Nach der Produktion von fünfzehn Millionen Exemplaren hatte er seinen geliebten Ford T, den kühnsten, schöpferischsten Traum seines Lebens, auslaufen lassen und dulden müssen, dass General Motors und Walter Chrysler ihre Schatten über sein Königreich warfen. Der neue Ford A hatte jedoch seinen Namen wieder an die Spitze der Popularitätsskala, die er nur mit Charles Lindbergh teilen musste, gebracht. Die Herstellung von Traktoren, Flugzeugen und Schiffen, die seine Insignien trugen, steuerten ihren Teil 126
zur Steigerung seines Prestiges bei. Außerdem waren vor ein paar Tagen zwei weitere Wünsche Wirklichkeit geworden: die Einweihung des Thomas-Edison-Institutes und die Eröffnung des Henry-Ford-Museums in der kleinen Stadt Greenfield Village, zu deren Gründung und Aufbau er beigetragen hatte, hatten stattgefunden. Sogar Präsident Hoover war bei den Feierlichkeiten zur Eröffnung des Instituts anwesend gewesen, und man hatte die Herrschaft des Menschen über die Energie und gleich dazu den fünfzigsten Geburtstag der Glühbirne gefeiert. Henry Ford bewunderte Thomas Edison. Er hatte früher, als er in Detroit anfing, für ihn gearbeitet und nie ein Hehl daraus gemacht, dass sowohl das Vertrautwerden mit Dynamos und Generatoren, als auch die Genehmigung dafür, die Edison-Werkstätten außerhalb der normalen Arbeitszeiten benutzen zu dürfen, seine Leidenschaft für die Mechanik beflügelt hatten. Noch heute erinnerte er sich an ein kurzes Gespräch, das er in jenen Jahren mit dem Erfinder geführt hatte und das er weiterhin als die Wichtigste all der Förderungen bewertete, die man ihm Zeit seines Lebens hatte angedeihen lassen. Im August 1896, wenige Wochen nach dieser einmaligen Rennfahrt, bei der ein von ihm entworfenes und nach seinen Plänen gebautes Auto die weltweite Höchstgeschwindigkeit erreicht hatte, war Henry Ford nach New York zur jährlichen Feier der »Edison Illuminating Company« gereist. Während einer kurzen Pause zwischen den Veranstaltungen lernte Ford Edison persönlich kennen, als dieser, umringt von Kollegen und Bewunderern, sich über Batterien als möglichen Antrieb für Elektroautos ausließ. Ein Aufseher der ›Edison Illuminating‹ erkannte Ford und machte den damals schon fast tauben Erfinder mit lauter Stimme auf diesen aufmerksam und erläuterte ihm die Fortschritte, die Ford bei benzingetriebenen Autos erreicht hatte. Edison hatte sich äußerst interessiert 127
gezeigt. Flink hatte sich Henry neben ihn gesetzt, hatte im Nu seine Entwürfe auf ein Stück Papier skizziert und sie detailliert auseinander gesetzt. Edison hatte ihm auf die Schulter geklopft und gesagt: »Junger Mann, Sie sind auf dem richtigen Weg. Machen Sie weiter so, denn gegenüber dem elektrischen Auto hat dieser Wagen den Vorteil, dass er sich mit seiner eigenen Energie versorgt.« Ford vergaß diesen Ausspruch nie. Der alte Erfinder hatte sich geweigert, an den abendlichen Festlichkeiten zur Einweihung des Instituts teilzunehmen. Er ließ sich außerhalb des Salons, in dem das Festmahl abgehalten wurde, nieder und lehnte es ab, seinen Platz zu verlassen. Er scheute die Menschenansammlung ebenso wie die Mikrofone, die seine Stimme über das ganze Land verbreiten sollten. Erst als Ford ihm den Arm angeboten hatte, hatte er sich zu den anderen gesellt. Während er sich in dieser Oktobernacht mit seinen Freunden auf den Weg zum Elektrizitätswerk begab, zog an Ford dieses Erlebnis noch einmal im Geiste vorüber, und es wurde ihm klar, dass das Schlimmste – wenn man die jüngste Vergangenheit so bezeichnen wollte – hinter ihm lag. Als sie am See angelangt waren und der letzte Abschnitt des Weges begann, warf er seinen Gefährten einen Blick zu. Edison sah alt und müde aus, und nichts an ihm ließ auf das exzentrische Wesen eines Genies schließen. Er ging langsam, mit hängenden Schultern und zu Boden gesenktem Blick. Firestone hingegen merkte man sein Alter nur an dem üppigen Hängebauch. Musik drang von weit her zu ihnen, doch ihr Klang war klar, und man konnte erkennen, dass das Orchester in der Villa eine varsovienne spielte. Ford pfiff die Melodie mit und deutete mit seinen langen dünnen Beinen ein paar Tanzschritte an. Firestone beobachtete ihn mit wohlmeinender Miene. 128
»Du bist glücklich, nicht wahr, Henry?«, sagte er. »So ist es, Harvey, so ist es. Das mit dem Institut ist eine gute Sache, und außerdem haben wir in dieser Woche mehrere Fabriken außerhalb der Großstädte eingeweiht. Die wahren USA liegen, wie unser lieber Thomas zu sagen pflegt, außerhalb der Großstädte.« »Womöglich liegen sie sogar außerhalb der USA«, scherzte Firestone. Die beiden Männer blickten Edison unverwandt an, doch fühlte dieser sich nicht weiter angesprochen. »Welchen Witz hast du Präsident Hoover doch gleich noch erzählt? Erzähl ihn uns auch«, bat Firestone. Henry Ford war erfreut. »Gerne. Ich habe ihm erzählt, dass ich eines Tages, als ich an einem Friedhof vorbeifuhr, sah, wie ein Totengräber ein riesiges Loch aushob. Ich fragte ihn, warum er so ein großes Loch grabe, und ob er vielleicht eine ganze Familie darin beerdigen wolle. Das nicht, antwortete er, doch der Typ, der hier begraben werden sollte, sei ein seltsamer Vogel gewesen. In seinem Testament habe er verfügt, dass man ihn in einem Ford begraben solle, denn der habe ihn bisher aus allen Löchern herausgefahren, und er sei sicher, dass er ihn auch aus dem letzten herausfahren werde«, gab er kund und lachte laut auf. Firestone stimmte darin ein und schlug Ford anerkennend auf die Schulter. Edison aber trottete gleichgültig weiter, blieb jedoch nach ein paar Schritten plötzlich stehen, als sei er gegen ein unsichtbares Hindernis gestoßen. Ohne die Hände aus den Taschen seines Smokings zu nehmen, hob er den Blick und heftete seine Augen auf Ford. »Und was ist mit Brasilien?«, fragte er. 129
Ford war von der Frage überrascht. Freundlich ergriff er den Arm seines alten Freundes, und näherte sich, während er ihn behutsam weiterzugehen drängte, dessen linkem Ohr, hob die Stimme und sagte: »Sehr gut, die Sache mit Brasilien läuft sehr gut. Wir verkaufen viele Autos und viele Lastwagen. Brasilien ist dabei, sich zur dynamischsten Filiale Südamerikas zu entwickeln.« »Das meine ich nicht. Ich habe dich nach deinem Traum gefragt, nach der Stadt im Dschungel.« Firestone wechselte die Seite und ging nun neben Ford her. »Wieso fragst du danach?«, erkundigte sich Ford. »Wegen der Vögel, man hat mir erzählt, du hättest hier neue Vögel«, sagte Edison und wies auf eine der zahlreichen Volieren zwischen den Bäumen am Wegesrand. »Oh ja, man hat mir herrliche exotische Vögel geschickt. Ich habe rosa Sittiche bekommen und ein Sorte, die aussieht, als habe man ihnen den Schnabel verkehrt an den Kopf geschweißt.« »Und wie geht es der Stadt?«, fragte Firestone. »In der Dschungel-Stadt gab es ein paar Probleme, aber jetzt ist alles wieder in bester Ordnung, und bald, Harvey, werden wir dir tonnenweise Kautschuk für deine Reifen anbieten können. Das wird eine großartige Sache. Oder glaubst du, lieber Thomas, dass es eines Tages möglich sein wird, synthetischen Kautschuk herzustellen? Was meinst du?« Ein paar Jahre lang hatte Ford den Versuch des Erfinders, künstlichen Kautschuk herzustellen, vergeblich finanziert. Edison schüttelte den Kopf. »Ich habe gehört, dass die Stadt deinen Namen trägt, stimmt das, Henry?«, fragte Firestone. 130
»Das stimmt, aber meine Idee war das nicht.« »Weshalb nicht? Für den Fall, dass etwas schief geht?« »Nein, die Stadt wird ein Erfolg. Es ist der Geschichte wegen, ich will nicht in die Geschichte eingehen«, scherzte Ford. »Du bist bereits in die Geschichte eingegangen«, entgegnete Firestone. »Du weißt, dass ich nicht an die Geschichte glaube, dass ich für die ganze Weltgeschichte nicht einen Dollar gäbe. Die einzige Geschichte, an die ich glaube, ist die, die wir täglich machen.« »Die Geschichte ist nur eine Abfolge von Lärm und Leidenschaften und wird von einer Handvoll Idioten erzählt, nicht wahr?« »Genau. Wer hat das gesagt?« »Shakespeare – steht in deiner Bibliothek«, antwortete Firestone. Über Fords Gesicht floh ein Lächeln. »Ich bin von lauter Weisen umgeben«, bemerkte er. Als sie an dem am Ufer des Rouge gelegenen Steg angekommen waren, blieben die drei Männer stehen. Die Nacht war klar. Das Schiff und die Boote der Familie waren am Ende des Steges festgebunden. In der Ferne sah man die Lichter und den rötlichen Rauch, der aus dem Fordwerk aufstieg, und dahinter den Lichterglanz Detroits. Wellen brachen sich am Steg und wiegten sanft die Boote. Ford sah auf die Uhr: Es war fast elf. Er nutzte die Gelegenheit, um einen Blick auf das Nachbarhaus zu werfen. In diesem Haus, das nur von hier aus sichtbar war, lebten die Dahlingers, offiziell als Ehepaar: Ray, sein ehemaliger Chauffeur, der jetzt Fords Viehzucht leitete und seine Frau Evangeline. Das Ganze war nichts als eine Farce, die er131
möglichte, dass Ford sich problemlos mit der schönen, energischen Evangeline treffen konnte, in die er sich vor vielen Jahren, als sie noch in seinem Betrieb arbeitete, verliebt hatte. »Tango«, murmelte Ford und blickte in Richtung des Hauses. »Sagtest du etwas?«, fragte Firestone. Ford drehte sich um. Edison zitterte, und es sah aus, als wären die Hosen seines Freundes in der Kälte klamm geworden. »Gehen wir lieber. Es ist kalt.« Auf dem Rückweg blieb Edison ein weiteres Mal unvermittelt stehen. »Henry, ich glaube, du musst dir diese Stadt im Dschungel selbst ansehen, und zwar so schnell wie möglich. Im Dschungel ist es, wo die Zukunft liegt. Lass sie nicht fallen«, sagte er. »Auf keinen Fall, lieber Thomas, auf keinen Fall.« Das Fest hatte seinen Höhepunkt erreicht. Kerzen brannten in silbernen Leuchtern, Kellner hasteten hin und her und trugen foie gras, Langusten, Kaviar und auch einige Sojagerichte auf. Zum Trinken reichte man Fruchtsaft, obschon um Mitternacht auch Champagnerflaschen entkorkt wurden. Niemals zuvor war alles so gut gelaufen. Doch nur wenige Tage später sollten – an einem schwarzen Dienstag – die Börsenkurse im Land stürzen und die Welt Henry Fords und seiner Freunde für eine geraume Zeit ins Wanken bringen.
132
XI
N
ach anderthalb Tagen Schiffsfahrt näherten wir uns einem von Angehörigen des Mundurukustammes bewohnten Dorf. Wir befuhren durch menschenleere Gegenden fließende Ströme und Bäche, und mir war ein wenig so, als kehrten wir allmählich zum Ursprung der Welt zurück. Dabei kamen wir als Botschafter von Veränderung und Fortschritt in diese Gebiete, denn wir waren Teil einer neuen Epoche, in der die Eroberung des Reiches der Bäume bevorstand. Diese Vorstellung faszinierte mich und ging mir lange Zeit im Kopf herum. In dem Wegabschnitt kurz vor dem Dorf floss der Fluss friedlich dahin, die Pflanzen strömten einen süßen schweren Duft aus, und eine angenehme Brise bewegte die warme, schwüle Luft. Die Sonne schien matt. Tags zuvor hatten wir nachmittags beobachten können, wie eine seltsame Wolke aus bunten Schmetterlingen ihr Licht für eine Weile verdunkelt hatte. Die gelben, schwarzen, weißen und blauen Falter waren ebenso plötzlich aufgetaucht, wie sie wieder verschwanden. Roque hatte erklärt, in dieser Gegend sei ein solches Phänomen nichts Außergewöhnliches, jedoch kündige es schlechte Zeiten an. Ich nahm das nicht ernst. Nach den Tagen in Jocotá waren Enéas und ich heiter und guter Dinge. Roque hingegen nicht. Kurz nachdem wir aus Jocotá abgefahren waren, hatte ich eine ernste Auseinandersetzung mit ihm gehabt, die ihn immer noch bedrückte. Er hatte lieber zu Hause in seinem Dorf bleiben wollen und hatte deswegen an seiner Stelle seinen Zwil133
lingsbruder geschickt, ohne mir Bescheid zu sagen. Sie ähnelten sich wie ein Ei dem anderen, und da wir im Morgengrauen aufgebrochen waren, hatten weder Enéas noch ich den Betrug bemerkt. Schweigend hatte der junge Mann das Steuer übernommen, ein Teil seines Gesichts war von der breiten Krempe eines Hutes verdeckt gewesen. Ich wurde erst aufmerksam, als ich mich bei dem falschen Roque für sein entgegenkommendes Verhalten im Bordell bedanken wollte. »Roque, ich möchte dir dafür danken, dass du dich bei den Huren so sehr für mich eingesetzt hast. Das hast du gut gemacht«, sagte ich. Der Zwilling sah mich an und grinste. »Wann bist du drangekommen, und welche hat dich bedient?«, fuhr ich in Gedanken an die Mulattin fort. »Die Alte«, antwortete er unumwunden. Doch die beiden Huren von Jocotá hatten beide wie junge Mädchen ausgesehen, und ich fragte nach, welche er denn als ›die Alte‹ bezeichne. Der Zwilling brach in Gelächter aus und entblößte dabei ein Gebiss, um das ihn Roque mit Sicherheit beneidete. Ich fuhr ihn an und befahl ihm, sofort nach Jocotá zurückzukehren und seinen Bruder zu suchen. Als wir endlich auf Roque gestoßen waren, hatten wir bereits so gut wie den ganzen Vormittag vergeudet. Anfangs stritt er mit mir, behauptete, dass sein Bruder schließlich auch für seinen Lebensunterhalt sorgen müsse und dass es nur recht und billig sei, Arbeit und Einkommen mit ihm zu teilen. Erst nachdem ich das Gewehr auf ihn gerichtet und ihm gedroht hatte, kurzen Prozess mit ihm zu machen und ihn niederzuschießen, wenn er mich das nächste Mal belöge oder zu fliehen versuche, hatte er mich um Vergebung gebeten und war ins Boot gestiegen. Er saß sehr gern am Steuer, doch zur Strafe ließ ich ihn 134
während der ganzen Fahrt zum Gebiet der Munduruku mit dem Rücken zum Heck in der Sonne sitzen und übergab das Steuer Enéas. In unmittelbarer Umgebung des Dorfes war der Urwald niedriger gewachsen, und das Ufer wies Einbuchtungen und Zugänge auf. Während wir das Anlegen vorbereiteten und die Wassertiefe ausloteten, hatte ich das Gefühl, dass wir aus dem Dickicht beobachtet wurden. Schon bald wurde dieses Gefühl zur Gewissheit. Kaum näherten wir uns dem Ufer, zeigte sich ein Indianer, dessen Körper von Kopf bis Fuß mit roter Farbe bemalt war. Er verharrte reglos und starrte uns an. Er wirkte kriegerisch und zugleich schwermütig. Als er sah, dass wir ihn bemerkt hatten, wandte er sich langsam ab, lief das Ufer entlang und verschwand im Gebüsch zu unserer Linken. Einen Augenblick später kam ein Dutzend Kinder angerannt. Sie warfen sich ins Wasser und tobten um das Boot herum. Die Kühnsten wagten sich bis an das Boot selbst heran. Erst beklopften sie das Holz und schwammen wieder fort, dann hielten sie sich rechts und links am Bootsrand fest und begleiteten uns, bis wir an einem kleinen Sandstrand festmachten, an dem schon verschiedene kiellose, aus Baumrinde gefertigte Kanus nebeneinander lagen. In den Kanus lagen Ruder und Fischernetze. Die Munduruku siedelten von jeher am Ufer und hatten deswegen alles Unrecht ertragen müssen, das über die Flussläufe in ihr Gebiet gelangt war. Wie alle Indianer hatten sie unter der Unterdrückung durch die Eroberer, die Jesuiten und Franziskaner und schließlich noch unter jener durch die feindlichen Nachbarstämme zu leiden gehabt. Die Eroberer wollten ihre Körper. Sie brauchten Arme zum Rudern, zum Jagen, zum Fischen und zum Säen und sie brauchten die Munduruku als Bedienstete. Die Jesuiten und Franziskaner wiederum wollten ihre Seele. Und die Stämme, die dem Zugriff der Eroberer 135
nach Osten und Norden ausgewichen waren, hatten es schließlich auf ihre Ländereien abgesehen. Wie alle anderen alten Kulturen, die am Amazonas gesiedelt hatten, waren auch die Mundurukus dazu verurteilt, alle Güter opfern zu müssen. Als sie im neunzehnten Jahrhundert mit den Weißen Frieden geschlossen und Handelsbeziehungen zu ihnen aufgenommen hatten, rafften sämtliche aus der Alten Welt importierten Seuchen einen großen Teil von ihnen hin, vor allem galt das für die Pocken. Carolines Erhebungen zufolge sank die Bevölkerungszahl der Munduruku um drei Viertel von zwanzigtausend auf fünftausend. Diese wurden zudem noch auf verschiedene Siedlungen verstreut. Die Geschichte der Munduruku war eine ganz besondere. Sowohl in Kriegs- als auch in Friedenszeiten waren sie bei ihren Nachbarn für ihre Kriegskunst bekannt – und gefürchtet. Die Munduruku waren Kopfjäger und pflegten ihre Trophäen bei der Jagd und beim Kampf mit sich zu führen. Die Besiegten nahmen sie gefangen und raubten ihnen Frauen und Kinder. Sie waren kühn genug, den Portugiesen in mehreren Schlachten erfolgreich Widerstand zu bieten, große Flüsse zu überqueren und die Niederlassungen der weißen Siedler in der Nähe von Belém zu überfallen. Sowohl die Portugiesen als auch die Siedler ließen sich lieber auf einen Waffenstillstand mit ihnen ein, als dass sie versucht hätten, den wehrhaften Stamm gewaltsam zu unterwerfen. Bei der Arbeit bewährten sich die Munduruku ebenso wie im Kampf. Ihrer Überlieferung nach hatte Karu Sakaibe, der Held ihrer Sagenwelt, nach der Erschaffung des Himmels (die Erde existierte bereits), bevor er in einem Loch im Urwald verschwand, die Eitlen unter den Menschen in Vögel und Tiere verwandelt und während einer Sintflut das Feuer gerettet. Vor allen Dingen aber hatte er 136
die Freude am Ackerbau gelehrt. Anfangs tauschten die Weißen bei den Munduruku Eisenbeile und Macheten gegen Yuccamehl ein. Später Waren gegen Tonnen von Kautschuk. Sie hielten sich strengstens an den Waffenstillstand. Gewalttätige Zwischenfälle waren im Laufe der Jahre nur selten vorgekommen, und wenn es geschehen war, dann nur dann, wenn irgendein Händler allzu brutale Methoden – etwa die der Geiselnahme – angewandt hatte, um sich das ausschließliche Recht auf den gesammelten Kautschuk zu sichern, oder wenn ihre Frauen missbraucht worden waren. Mir kam es seltsam vor, dass diese Menschen, die einst die stolzen Herren des Tapajós gewesen waren, sich in Sklaven anderer Herren verwandelt haben sollten. Wahrscheinlich war diese Tatsache, die man nur ungern als wahr annehmen konnte, der Grund für die Neugierde, die Caroline trieb, dieses Volk zu besuchen und zu erforschen. Mein Ziel hingegen war es, die Munduruku zur Arbeit in Fordlandia zu überreden. Und nebenher alles über sie zu erfahren, was Caroline mittlerweile wusste. Der Indianer, der am Ufer aufgetaucht war, führte uns in das Dorfzentrum, und dort zu einem Rundbau, der als »Männerhaus« bezeichnet wurde. Enéas hatte ihm auf Tupi den Grund unseres Besuches erklärt und ihn um Einlass in das Dorf gebeten. Der Weg vom Fluss zum Ort war gewunden, und wir mussten Dornen und Ranken beiseite schieben, um hindurch zu finden. Wir hatten unsere Waffen im Boot gelassen und nur die Rucksäcke bei uns sowie die drei Enten, die wir den Kaziken als Grundstock für eine Zucht schenken wollten. Die Idee hatte Enéas gehabt und er hatte die Tiere Doña Dora in Jocotá abgekauft. Caroline, hatte er gesagt, brächte bei allen ihren Besuchern Hühner als Gabe mit. Auch die Frauen und Kinder, die aus ihren Hütten kamen, um uns zu begleiten, waren halbnackt und mit roter 137
Farbe bemalt. Im Dorf wohnten zwei Clans, von denen der eine Rot trug, der andere Gelb und Blau. Wie die Kaziken mir erklärten, färbten sie ihre Haut, um das bedrückende Grün des Urwaldes besser ertragen zu können. Die roten Munduruku verwandten zur Gewinnung der Farbe die schönen Früchte, die den Urucumbaum zierten. Der natürliche Farbstoff interessierte auch die Händler in Jocotá und Belém sehr. Die Frauen und die Kinder, die sich um uns geschart hatten, schauten uns freundlich an. Die Frauen trugen ein weißes Tuch zwischen den Beinen, das an einem Band um die Taille hing, aber ihr Geschlecht kaum verdeckte. Diejenigen Frauen, die Säuglinge bei sich trugen, hatten ihre Brüste mit Honig eingerieben. Die jungen Mädchen waren bildhübsch, und ihr Lächeln war bezaubernd. Auf meinem Weg durch das Dorf liefen einige hinter mir her, um schüchtern mein Haar zu berühren. Als wir das Männerhaus erreichten, zerstreuten sich Frauen und Kinder. Das Männerhaus, das als Versammlungsraum und Tempel diente, nannten die Indianer ekcá. Sie bewahrten darin die kaduké, die geweihten Flöten, auf. Frauen war der Eintritt verboten. Rund um das Haus befand sich ein großzügig angelegter Zeremonienplatz, der mit Totems von Tieren und Pflanzen geschmückt war. Die übrigen Hütten des Dorfes umringten diesen Platz wie ein Rad. Die meisten Bauten waren aus Lehm und mit Palmblättern gedeckt, aber ich sah auch einige aus Adobe. In den Hütten hingen Hängematten zum Schlafen. Carolines Erhebung zufolge wohnten hier etwa dreihundert Eingeborene. Als wir kamen, waren nur wenige der Männer im Ort. Die meisten waren im Urwald beim Kautschuksammeln, andere waren beim Jagen und Säen oder waren flussaufoder flussabwärts zum Fischen unterwegs. Erst als es dunkel wurde, kamen sie zurück. Außer den Kaziken und ein 138
paar Jugendlichen waren nur die Männer im Ort geblieben, die kurz zuvor Väter geworden waren. Sie schaukelten in ihren Hängematten und nahmen nur leichte Nahrung zu sich, denn bei den Munduruku ist es nicht die Mutter, die nach der Geburt der Erholung bedarf, sondern der Vater. Allem Anschein nach lebten die Mundurukumänner monogam. Das hatte ihnen Karu Sakaibe auferlegt. An einer Hauswand des Männerhauses lehnten eine in Einzelteile zerlegte Radiostation und eine Fotoausrüstung; beide waren deutscher Herkunft. Als ich mir die Geräte genauer anschaute, näherten sich mir zwei Kaziken. Ich ging auf sie zu und reichte ihnen die Hand, doch ihr Gruß beschränkte sich auf ein kurzes Neigen des Kopfes. Ich befahl Roque, ihnen die Enten zu übergeben. Die Häuptlinge hoben die Vögel kurz hoch und reichten sie dann an den Indianer weiter, der uns bei unserer Ankunft empfangen hatte. Sie schienen auf diese Weise das Gewicht der Tiere abgeschätzt zu haben. Unser Begleiter brachte das Geflügel ins Männerhaus. Die Kaziken waren zum Zeichen ihrer Würde mit roter Farbe tätowiert. Sie baten uns nicht in den Tempel, und wir setzten uns im Kreis auf den Boden des Platzes, um miteinander zu reden. Die Unterhaltung hatte den rhythmischen Akzent des Tupi, und immer wieder gab es Schweigepausen. Während Enéas sich beim Übersetzen alle Mühe gab, schaute Roque, der noch immer gekränkt war und sich an der Unterhaltung vollkommen desinteressiert zeigte, den Mädchen hinterher. Die Kaziken bewahrten während des ganzen Gesprächs ihre reservierte Haltung, und wenn sie etwas sagten, vermieden sie den direkten Blickkontakt mit mir. Sie saßen sehr aufrecht, und ihre knappe Gestik war ausgesprochen erhaben. Ich hätte ihr Alter nicht bestimmen können. Sie wussten von Fordlandia und sie sprachen mit Respekt von Caroline. Ich schlug ihnen 139
vor, ihre Leute auf die Pflanzung zu schicken und versprach ihnen dafür Geld, Werkzeug, Medikamente oder was immer sie brauchen könnten. Ich versicherte ihnen ebenso, dass man sie gut und genauso behandeln werde wie die anderen Tagelöhner auch, und dass wir zusätzlich damit einverstanden seien, wenn sie nur während des Sommers bei uns arbeiteten. Des Weiteren versprach ich ihnen, dass im Falle einer Arbeitsbeziehung jedes Mitglied ihres Stammes die medizinischen Einrichtungen der Stadt werde nutzen können. Die Nacht fiel ein und im Urwald wurden Stimmen laut. Die Kaziken hörten sich ohne jede sichtbare Gefühlsregung meine Rede an. Als ich fertig war, entstand ein langes Schweigen. Endlich fragte einer von ihnen, warum nicht Caroline, sondern ich gekommen sei, um ihnen dieses Angebot zu machen. Ich antwortete ihnen, dass in Fordlandia Caroline die eine Aufgabe zufiele und mir eine andere. Einer der Kaziken wollte wissen, ob man bei Ford zuerst die Frauen losschicke, damit sie freundschaftliche Bande knüpften, und anschließend die Männer, mit denen dann das eigentliche Anliegen offenbar werde. Ich schmunzelte. Ein anderer sagte, sie würden über meinen Vorschlag nachdenken und erhob sich. Er trat in das Männerhaus und kam kurz darauf in Gesellschaft eines dritten Mannes, der ein mit Glut gefülltes Becken und einige Tongefäße trug, wieder. Ein weiterer Indianer wurde hinzugerufen, und man begann mit den Vorbereitungen für ein Ritual. Da begriff ich, dass das Gespräch beendet war, stand auf und begab mich mit Roque und Enéas an den Rand des Platzes, von dem aus wir die gut gelaunte Rückkehr der übrigen Männer verfolgen konnten. Sie trugen Pfeil und Bogen, Harpunen, Lanzen, aber auch Ackergeräte, Fische, Federn und Teile erlegter Tiere bei sich. Plötzlich lösten sich unter lautem Geschrei drei Männer aus der 140
Gruppe. Sie waren jung und kräftig und transportierten eine riesige tote Schlange. Einer hatte ihren Kopf in den Händen, der zweite den Körper, der dritte den Schwanz. Sie blieben vor den Kaziken stehen. Die anderen bildeten einen großen Kreis um Jäger und Beute. Dann kamen Frauen und Kinder hinzu. Bei der Schlange handelte es sich um eine Wasserboa, um eine große sucurijo. Sie war von grüngrauer Farbe, hatte einen gelben Bauch und ringförmige dunkle Flecken schmückten ihre Haut. Die Jäger waren sichtlich stolz auf ihren Fang und genossen es, bewundert zu werden. Ich bahnte mir einen Weg durch den Kreis, bis ich direkt vor den Jägern und der Boa stand. Einer der Jäger wurde auf mich aufmerksam. Er war fast so groß wie ich, sein Körper war tätowiert, und um den rechten Arm schlangen sich Ranken, die seine starken Muskeln noch um einiges mehr betonten. Später erfuhr ich, dass er zum zukünftigen Anführer der Krieger des Dorfes ausgewählt worden war. Caroline hatte über ihn geschrieben. Von einer Sekunde zur anderen drehte der Indianer sich um, ergriff mit beiden Händen den Kopf der Schlange und hielt ihn mir direkt vors Gesicht. Ich sah die gebogenen Zähne und die gespaltene Zunge der Boa. Mit einem Hieb schlug ich ihren Kopf zur Seite. Der Indianer brach in Gelächter aus, und Roque, der neben mir stand, rächte sich mit einem höhnischen Grinsen für seine Schmach am Morgen. Unter den anderen vernahm ich nur Gemurmel. Ich stand dem berühmten Teró gegenüber. Was ich nicht ahnen konnte, war, dass wir uns schon bald sehr viel näher kennen lernen sollten. Ich verließ den Kreis und lief um den Platz herum, bis alle sich zerstreuten, um sich das letzte Aufglühen der Sonne anzusehen, und die Kaziken uns zum Essen und Trinken riefen. 141
An der Stelle vor der Ekcá, an der wir nachmittags gesessen hatten, war ein Stück Baumwollstoff auf dem Boden ausgebreitet. Brennende Späne beleuchteten den Platz. Die Munduruku veranstalteten eine kleine Anfangszeremonie zum Wohle einer weiterhin guten Beziehung zwischen ihren und unseren Nachfahren. Die Munduruku spielten auf ihren geweihten Flöten und trugen danach ein starkes Getränk auf, eine Mischung aus fermentiertem Maniokmehl und gepressten Urwaldfrüchten. Zu essen gab es Fisch, Antilopenfleisch sowie die jungen Enten, die wir als Geschenk mitgebracht hatten. Als die Zeremonie beendet war, begleitete uns einer der Häuptlinge zu der Hütte, in der wir die Nacht verbringen sollten. Er überließ uns noch einen brennenden Span sowie ein Gefäß mit demselben Getränk, das wir zum Essen getrunken hatten. Hier und da standen Männer in Grüppchen umher, unterhielten sich und lachten laut. In den Hütten ruhten, ausgestreckt in ihren Hängematten, Frauen und Kinder. Die Hängematte des Mannes hing jeweils kurz über dem Boden, darüber war die der Frau angebracht und ganz oben die der Kinder. Am Boden brannten kleine Feuer, die die später kühle Morgenluft erwärmen würden. In unserer Hütte hingen alle drei Hängematten auf gleicher Höhe. Sie waren an Pfählen befestigt und von Moskitonetzen überdeckt. Ich war müde. Ich hob das Gefäß mit dem Getränk an den Mund und nahm einen langen Schluck, dann zündete ich mir eine Zigarette an. Anschließend leuchtete ich mit dem Span alle Winkel der Hütte aus und ließ das Licht anschließend auf dem Boden verglühen. Ich legte mich in meine Hängematte und genoss meine Zigarette in ruhigen Zügen. Enéas und Roque hielten sich noch draußen auf. Da hörte ich Schritte und sah, wie Enéas mit zwei Indianerinnen in den Raum kam. Sie waren uns gefolgt. Eine von 142
ihnen, ein bildhübsches Mädchen, das ihr Haar zu einer Art Pferdeschwanz zusammengebunden trug, hob einen Zipfel des Moskitonetzes und strahlte mich an. Die andere Indianerin folgte Enéas wieder hinaus. Ich ergriff die Hand des Mädchens und forderte sie auf, sich zu mir zu legen. Sie liebkoste mich auf sehr sanfte Weise. Ihre Hände wanderten durch das Haar meiner Achseln, meiner Brust, meines Geschlechts, meiner Beine und schließlich über meine Fußsohlen. Dann liebten wir uns mehrmals, ohne Hast und ohne Scham. Ihr Begehren war glücklicherweise in diesem Moment stärker als alles andere. Ich hatte gehört, dass es bei den indianischen Stämmen Frauen gab, die nicht heiraten durften, weil sie für die Einweihungszeremonie der jungen Männer auserwählt waren. Man hatte mir erklärt, dass sie allen, keinem aber ganz gehörten. Dass sie ihrer besonderen Stellung wegen, und obwohl sie die hübschesten unter den Frauen des jeweiligen Stammes waren, weder Neid noch Eifersucht erregten. Und dass sie alles wüssten über die Liebe. Ich hielt jene, die in dieser Nacht zu mir kam, für eine von diesen freien Frauen. Doch im Morgengrauen geschah etwas, was ich nicht hatte vorhersehen können. Teró kam in die Hütte gestürmt und beleuchtete uns mit einem brennenden Span. Sein Blick war stolz und wild und seine Gesten hatten etwas Drohendes, als führe er irgendetwas gegen mich im Schilde. Indessen hatte er, noch ehe ich mich vollständig erheben konnte, uns schon wieder den Rücken gekehrt und sich dem Ausgang der Hütte zugewandt. Ich versuchte, von der Indianerin zu erfahren, ob sie Probleme mit Teró hätte. Doch sie beantwortete meine Zeichensprache mit einem Lachen. Mir war der Schreck, den Terós Besuch verursacht hatte, in die Glieder gefahren. Das Mädchen blieb noch einen Augenblick bei mir, dann strich sie sich das Haar mit den Händen glatt und ging. 143
Am Morgen wollte ich früh aufbrechen, doch daraus wurde nichts. Als ich aufwachte, waren weder Enéas noch Roque in der Hütte. Enéas hatte in der Hoffnung, seine panema loszuwerden, einen pajé aufgesucht, und nach Roque musste ich lange suchen. Er hatte sich betrunken. Ich fand ihn am Strand, er lag bäuchlings in der prallen Sonne und schlief. Er hatte so viel getrunken, dass er nicht mehr laufen konnte, und ich brauchte fast eine Stunde, um ihn aufzuwecken. Enéas war überzeugt davon, dass die Indianerinnen uns mit panema angesteckt hätten. Auch ihn machte ich schließlich ausfindig, er lag ausgestreckt in einer Hängematte. Der pajé war dabei, ihm Rauch über den Körper zu blasen und massierte ihm dabei die Rippen. Für die Caboclos stellt die Panema eine unheimliche übernatürliche Kraft dar, die in dem Falle, dass sie nicht vertrieben wird, das Jagen, das Fischen oder auch das Lieben unmöglich macht. Enéas hatte Augen und Mund geöffnet, während der Pajé den Rauch, der von einer höchst aromatischen, aus Tabak, getrocknetem Pfeffer, Krötensekret und pulverisiertem Hirschhorn zubereiteten Mischung ausging, über seinen Körper blies. Als der Pajé mich eintreten sah, signalisierte er mir, ich solle Stille bewahren. Ich sah mich in der Hütte um und erblickte Tier-Totems, Reste von Häuten und Gefäße, aus denen angenehme Düfte aufstiegen. Die Mundurukus halten nichts von Opfern und bestrafen Hexenmeister mit dem Tode. Sie glauben nicht an böse Geister in der Natur. Den Pajés steht im Stamm eine untergeordnete Rolle zu. Dazu gehört, dass sie sich nur um solche Menschen kümmern dürfen, die an der Panema oder anderen ähnlichen Krankheiten litten. Als die Heilungszeremonie beendet war, stand Enéas zufrieden auf und schlug dem Pajé vor, mit mir weiterzumachen. Daraufhin stellte der Pajé sich vor mich und sah mir prüfend in die Augen. Sein Gesicht war mit schwarzer und 144
weißer Farbe bemalt, was ihm das Aussehen eines Raubvogels verlieh. Er sprach mit tiefer vibrierender Stimme. Enéas übersetzte simultan. Er sagte mir, der Pajé weigere sich, mich zu behandeln, da ich nicht an ihn glaube und ihn für einen Ignoranten hielte. Er hatte Recht. Als wir uns endlich aufmachten und ablegten, sprangen die Kinder wieder ins Wasser. Einer der Kaziken verabschiedete uns vom Ufer aus mit einer freundlichen Geste. Sein Schatten fiel weit über den Fluss. Kurz zuvor hatte er mir zugesichert, er werde einige seiner Leute nach Fordlandia schicken. Er hatte mir außerdem ein Tongefäß als Geschenk für Caroline mitgegeben. Während Roque sich damit beschäftigte, das Boot startklar zu machen – es dauerte einige Zeit, bis der Motor ansprang – sah ich, wie Enéas auf das Dickicht starrte. Ich folgte seinem Blick und sah, wie Teró, verborgen hinter einer Wand aus Bäumen stehend, jede unserer Bewegungen verfolgte.
145
XII ganze Tagesreisen trennten das Mundurukudorf Z wei von Fordlandia. Der erste Tag unserer Rückfahrt verlief fast unerträglich eintönig. Das Boot musste gegen die Strömung ankämpfen, und wir kamen nur langsam voran. Die Flussabschnitte glichen sich sehr, eine Kurve sah aus wie die andere, und auch die Bäume waren sich zum Verwechseln ähnlich. Die Reise zog sich länger hin, als ich gedacht hatte. Ich langweilte mich inzwischen geradezu und hielt es auch nicht mehr für nötig, die Strecke zu kartographieren. Ich hatte weder Lust zu lesen, noch reizte es mich, meine Beobachtungen niederzuschreiben. Mit nacktem Oberkörper, den Kopf mit einem Strohhut geschützt, saß ich breitbeinig rauchend bei einer Flasche Schnaps in der Sonne. Am Bug hielt Roque schweigend das Steuer in der Hand. Man sah ihm deutlich an, dass es ihm Mühe bereitete, den Blick nach vorne gerichtet zu halten. Seine Augen waren klein und gerötet, und er gähnte unaufhörlich. Enéas saß an Steuerbord, wendete mir den Rücken zu und verbrachte die Zeit damit, Fische anzulocken. Dabei pochte er sanft gegen den Bootsleib und stieß dazu einen langen, melancholischen Pfiff aus. Fische mit glänzenden silbrigen Schuppen schwammen an der Wasseroberfläche auf das Boot zu, sprangen in die Luft, prallten gegeneinander und fielen klatschend ins Wasser zurück. Enéas genoss seinen Erfolg. Hin und wieder erwachte ich aus meiner Lethargie und beobachtete ihn bei seiner Tätigkeit. Dann lächelte er begeistert und bedeutete mir mit einem an die Lippen ge146
führten Zeigefinger, dass ich schweigen sollte. Ich sah auch einige botos, die sich elegant näherten und wieder entfernten. Es waren graue Botos, aber sowohl Roque als auch Enéas bestanden darauf, sie seien rosafarben. Botos sind eine Art Süßwasserdelfine mit rundem Kopf und einer starken spitzen Nase. Sie sind harmlos, doch die Einheimischen kennen eine Unzahl von Fabeln, die sich um diese Tiere ranken, und die meisten drehen sich um ihr sexuelles Empfinden, das dem menschlichen sehr ähnlich sein soll. In Jocotá hatte ich gehört, wie Doña Dora und ihre Freundin Branquinha den menstruierenden Frauen rieten, weder im Fluss zu baden noch Schiffsfahrten zu unternehmen, solange ihre Menstruation andauere, denn der Boto könne dem Reiz, den dieser Zustand auf ihn ausübe, mit aller Sicherheit nicht widerstehen und zum Verführer werden. Roque behauptete, ein Boto habe sowohl eine seiner Cousinen, die Jungfrau gewesen war, als auch die Frau eines Freundes betört. Roque selbst trug einen Botozahn als Amulett um das Handgelenk. Enéas hingegen war überzeugt davon, dass die wahren Protagonisten all dieser Histörchen die lokalen Politiker waren, nicht die Botos. Er glaubte nur an die magischen Eigenschaften des linken Auges des Boto und an die Potenz seines Sexualorganes. Ein aus dem getrockneten und schließlich zerriebenen Auge und dem ebenso getrockneten Geschlecht zubereitetes und mit Carajurublättern vermengtes Getränk, versicherte er, rufe Erektionen hervor, die jede Geliebte mit Garantie zur Ekstase triebe. Vom übrigen Körper der Botos ließen sich weiterhin Hirn, Zähne, Haut, Fleisch und Fett verwenden, ja eigentlich lasse sich beinahe alles von diesen Walen verwerten. Ein paar Tage zuvor hatte ich die Gelegenheit gehabt, einen gestrandeten Boto aus der Nähe zu sehen. Er lag im Sterben, und die Wellen hatten ihn ans Ufer gespült. Sein Anblick und der Geruch, der von ihm ausgegangen war, hatten mich abgestoßen. 147
Am frühen Nachmittag brach ein Gewitter aus. Das Wasser schlug Wellen, und Blitze jagten einander. Das Unwetter beutelte unser Boot und tauchte alles in grünliches Licht. Dann begann ein heftiger, lauwarmer Regen zu fallen. Eine Weile später zog das Gewitter seine letzten Blitze und Wolkentürme ein und verschwand mit ihnen am Horizont. Tiefe Stille breitete sich aus. Ich fragte Enéas, warum er sein Dorf verlassen habe und in Fordlandia lebe. Er seufzte und bat mich um eine Zigarette. Mit dem brennenden Streichholz in der einen und der noch nicht angezündeten Zigarette in der anderen Hand sah er mich an. »Vielleicht war es Schicksal. Es sollte wohl so sein«, sagte er. Roque fragte ich nicht. Er wirkte gerade vollkommen abwesend. Erst als der Abend anbrach und Schatten sich über das Wasser legten, warf ich den Anker. Zum Übernachten suchten wir einen Strand auf. Roque trug ich auf, sofort ein Feuer zu machen, über dem wir den surubim rösten könnten, den Enéas geangelt hatte. Während das Fleisch briet, gruben wir ein paar Schildkröteneier aus, die köstlich schmeckten. Als die Sonne wieder aufging, umgab uns weißer Nebel, der sich nur langsam auflöste. Das Einzige, was ich noch ausmachen konnte, war der verschwommene Umriss des Bootes und ein trüber Wasserstreifen, der an das Ufer anschloss. Sonst nichts; der Rest der Welt schien sich lautlos verflüchtigt zu haben. Wir blieben so lange am Strand, bis der Morgen sich aufgeklart hatte. Kurz vor unserem Aufbruch schlug ich vor, auf Jagd zu gehen, denn bis zum Tapajós war es nicht mehr weit, kaum noch vier Stunden Bootsfahrt. Ich habe immer gern gejagt. Das Putzen der Waffen, die Pirsch, das Auswählen des Zieles, in Stellung zu gehen, anzulegen, den Atem anzuhalten und schließlich den Schuss abzufeuern, all das bereitete mir große Freude. 148
Als Jugendlicher war ich, obwohl man mir beigebracht hatte, mich vor Schlangen in Acht zu nehmen, stundenlang auf der Suche nach einer lohnenden Beute durch die Felder rund um das Landhaus gestreift, in dem ich meine Ferien verbrachte. In einem Frühling hatte ich sogar Freunde auf einer Reise nach Patagonien begleitet, da ich mir nicht die Gelegenheit entgehen lassen wollte, eine Jagd im weiträumigen Süden meines Landes zu erleben. Das Jagen lag mir im Blut, es schien mir etwas Selbstverständliches zu sein und weckt jetzt noch Gefühle wie Todesahnung, tiefes Überraschtsein und Verwirrung, und all das sind Zustände, die mich beglücken. Ich hatte ewig davon geträumt, einmal im Urwald zu jagen, in einem Gebiet wie das am Amazonas. Doch nie hatte ich dazu die Gelegenheit gehabt, und an diesem Morgen dachte ich, jetzt sei genau der richtige Moment, um meinen Traum wahr werden zu lassen. Mein Vorschlag fand ein positives Echo, und Enéas schlug vor, wir sollten im nächsten Flusslauf so lange weiterfahren, bis wir eine Bucht fänden. Um neun Uhr brachen wir auf. Ein paar Kilometer flussaufwärts stießen wir an Backbord auf eine Einmündung. Der Flusslauf war eng und gewunden, die Ufer rechts und links waren mit dichtem Buschwerk bewachsen, und über dem Buschwerk ragten mächtige hochgewachsene Bäume in den Himmel. Ein Stück weiter entdeckten wir eine von Dünen aus grauem Sand umgebene Lagune, die von Vögeln aller Art bevölkert war. Wir sahen dunkelblau gefiederte Reiher, rosafarbene colhereiros, piacocas im rotbraunen Federkleid und an den Ufern unter dem Namen jaburu bekannte Weißstörche mit schwarzem Schnabel stehen. Als der Bug des Bootes sich in die Lagune schob, stoben sie auseinander. Die aufgeschreckten Vögel flohen in Schwärmen, das Getöse ihres Flügelschlages hallte im Urwald wider. Ein Schwarm von guarás, mit schwarzem 149
und blaugrün schimmerndem Gefieder prallte in diesem Durcheinander fast gegen das Bootsdach. Es dauerte nur wenige Minuten, bis die Lagune und die Sandbänke wie leer gefegt waren, die Vögel in den umstehenden Bäumen Zuflucht gefunden hatten und kein Laut mehr zu hören war. Die Baumwipfel waren in allen Farben gesprenkelt, und manche Zweige bogen sich unter dem Gewicht der Reiher. Die Landschaft war atemberaubend. Vor einem breiten Strand ließen wir Anker. Es war sehr warm, und ich hatte Lust auf ein erfrischendes Bad. Ich befahl Enéas und Roque, die Waffen und ein bisschen Vorrat an Land zu bringen, und ging schwimmen. Ich steuerte einige Meter auf die Mitte der Lagune zu und kehrte dann wieder um. Roque stand am Ufer und erwartete mich. Er war aufgeregt. Kaum war ich aus dem Wasser, fragte er mich stammelnd, ob es sein könne, dass SuyásIndianer hier durch die Gegend streunten. Während ich geschwommen bin, habe ein unheimlich klingender Schrei, der mehr einem trockenen Gelächter geglichen habe, die Stille durchbrochen, ja die Luft sei von ihm erfüllt gewesen. Ich hatte mich schon morgens gefragt, ob wir in diesem Gebiet auf Suyás stoßen würden. Sie waren bei den Weißen, den Schwarzen und auch bei den Mundurukus gefürchtet. Normalerweise jedoch halten sie sich nicht an den Flüssen auf, da sie im östlichen Urwald, weit ab des Tapajós leben. Sie machen Jagd auf Menschen, auf deren Ausstattung und Geräte sie aus sind, und man erzählt sich grausige Geschichten über sie. Im Sonnenlicht des frühen Morgens hatten wir, kurz bevor wir aufgebrochen waren, einen schwarzen Punkt in der Ferne entdeckt. Das Kanu, oder was ein Kanu zu sein schien, war, von der Strömung getrieben, leicht vorangeglitten und hatte sich dann einen Kilometer vor uns im Buschwerk verborgen. Oft waren uns im Lauf der Reise Boote begegnet, auf de150
nen Caboclos, Eingeborene oder Kautschuksammler unterwegs waren. Das war nichts Ungewöhnliches. Bloß waren uns diese Boote nicht ausgewichen. »Um Gottes Willen, sind das vielleicht Suyás?«, hatte Roque erschrocken gefragt, den Blick voller Angst auf das manövrierende Kanu gerichtet. Mir hatten in diesem Augenblick die Haare unter meinem Hut zu Berge gestanden, doch es war mir nichts anderes eingefallen, als Roque darum zu bitten, er solle sich beruhigen, schnell in die Mitte des Flusses steuern und auf dieser Strecke besonders auf der Hut sein. Als Roque mich nun wieder nach den Suyás fragte, fiel mir das Erlebnis vom Morgen ein und ich rief nach Enéas. Er saß im Sand und fettete den Gewehrlauf ein. Er schloss den Lauf, stand auf und kam mit dem Gewehr in der Hand zu mir. Als ich ihn fragte, ob auch er, während ich Schwimmen war, einen Schrei gehört habe, blickte er mit einem spöttischen Grinsen zu Roque hinüber und wies mit dem Gewehrlauf auf die Baumwipfel. »Ja, natürlich, aber der kam von den acauas«, sagte er. Der acaua ist ein Falke von heller Farbe, der sich von Kobras ernährt. Wenn die Kautschuksammler in den Urwald gehen, imitieren sie seinen Ruf, um so die Vipern zu verscheuchen. Roque schaute zu den Bäumen auf und wandte sich dann wieder mir zu. »Was ich gehört habe, war nicht der Ruf der acauas. Aber selbst wenn Enéas Recht hat, dürfen wir nicht jagen. Die acauas verkünden nahendes Unheil, mein Weißer.« »Ich habe schon ein Gebet gesprochen. Warum tust du es nicht auch?«, fuhr ihn Enéas an. »Das werde ich sofort tun, aber ich werde nicht mit euch jagen gehen«, sagte Roque. Er faltete die Hände und sank auf die Knie. »Und du, was meinst du, Enéas?«, fragte ich. 151
Unsicher antwortete Enéas: »Mein Weißer, ich glaube, wir sollten, anstatt allzu tief ins Dickicht einzudringen, uns mit einem Feuer zufrieden geben, das ich am Rand des Waldes legen werde. Sie werden schon sehen, wie dann das Wild herausgeflitzt kommt.« Ich blickte zu Roque. Noch immer betete er mit geschlossenen Augen. Ich spürte Wut in mir aufsteigen. »Einverstanden, aber ihr seid Feiglinge«, stieß ich aus. Das war ein Fehler. Gekränkt sah mich Enéas an, und sein Blick verunsicherte mich. Hastig reichte er mir das Gewehr und machte sich auf, im Gebüsch trockene Zweige zu suchen. Nach einer Weile winkte er mich zu sich. Roque saß im Sand und verfolgte reglos unsere Bewegungen. Er war blass geworden. Ich setzte meinen Strohhut auf, da das Licht sehr grell war, schulterte das Gewehr und ging auf Enéas zu. Ich machte ein paar Schritte in Richtung Urwald. Enéas setzte die Zweige in Brand und wartete auf Wind. Als die Zweige aufflammten, bedeutete er mir, ich solle mich nicht von der Stelle rühren, und rannte in den Wald hinein. Ich war etwa fünfzig Meter vor der grünen Wand stehen geblieben. Schon bald fing das Gebüsch an zu brennen, und Flammen und Rauch lohten aus dem Dickicht. Ein paar erschreckte Vögel flogen in die höchsten Baumwipfel auf. Kurz darauf kam Enéas herausgerannt, ließ die Zweige zu Boden fallen und kam zu mir. Ich drückte ihm den Revolver in die Hand, nahm Positur ein und machte mich bereit, auf alles zu schießen, was mir vor die Flinte käme. Es brachen Pakas, schwarze Klammeraffen, Cutias, Gürteltiere und Schlangen aus dem in Flammen stehenden Grün hervor. Auch ein großer Ameisenbär war darunter. Wochen später versicherte mir Enéas, er habe einen riesigen Jaguar panisch zur Lagune rennen sehen. Ich war konzentriert beim Schießen, und sparsam. Den Ameisenbär schoss ich erst in den Rüssel, die zweite 152
Kugel traf ihn tödlich in den Leib. Das Echo der Schüsse drang durch die Luft. Dann verfeuerte ich ein ganzes Magazin auf Klammeraffen und Gürteltiere. Enéas, der wahrscheinlich ans Essen dachte, widmete sich den Pakas. So ganz ohne Mühe und Risiko aus dem Hinterhalt zu jagen sagte mir nicht zu. Als das Feuer zu verlöschen begann, hörte ich mit der Schießerei auf. Enéas tat es mir nach und trat neben mich. Ich betrachtete ihn. Er war verschwitzt und sah mich ernst und konzentriert an. Ich tauschte das Gewehr gegen den Revolver aus. Eine unwiderstehliche Kraft trieb mich plötzlich in den Wald, und ich war sicher, dass mir der Revolver dort nützlicher sein würde. Ich ging zurück zu dem Platz, an dem unsere Vorräte lagen, lud die Trommel des Revolvers, steckte mir eine Handvoll Kugeln in die Taschen und nahm einen Schluck Schnaps. Ich sah Roque an. Er hatte sich nicht von der Stelle gerührt und wirkte völlig unbeteiligt. Dann lief ich an Enéas vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen und drang in den Wald vor. Ich war nicht ganz bei Sinnen. Später schrieb ich diesen unwiderstehlichen Wunsch, das Schicksal herauszufordern und mich zu einer leichten, erbärmlichen Beute zu machen, der tropischen Hitze zu. Ja. Es ging um das Schicksal, um mein Schicksal. Ich nehme an, dass man mich solcher Anwandlungen wegen, die ich – wie an jenem Nachmittag – durchaus einmal haben kann, immer für brutal und unmenschlich gehalten hat, und auch für verrückt. Aber ich weiß, dass sie Ausdruck meiner damals unumstößlichen Überzeugung waren, dass die größten Geheimnisse des Lebens sich nur in wirklichen Extremsituationen offenbaren. Außerdem war ich es gewohnt, auf eigenen Füßen zu stehen und meiner Wege zu gehen, und das waren jene, für die ich mich selbst entschieden hatte. Vor dem Dickicht schoss ich noch auf eine kleine Schlange, die dem Feuer zu entkommen versuchte. Bevor 153
ich mir dann den Weg durch Äste und Büsche bahnte, drehte ich mich noch einmal um, um Enéas zuzurufen, er solle die besten Stücke für unser Mittagessen auswählen. Enéas nickte. Ich löste die Sicherung, spannte den Hahn, nahm mir einen langen Ast und ging entschlossen vorwärts. In der linken Hand, mit der ich weitaus besser zielen kann als mit der rechten, hielt ich den Revolver, und in der rechten den Stock, mit dem ich mir freie Bahn durch das Dickicht verschaffen wollte. Anfangs hatte ich vor, mich mit einer einzigen lohnenden Beute zufrieden zu geben. Aber ich war es leid und ich wehrte mich dagegen, dass diese abergläubischen Vorstellungen, auf die man hier beständig stieß, die ganze Hexenmeisterei, Roques’ Geschwätz und Angst meinem Wunsch in den Urwald vorzustoßen, in die Quere kamen. Da war die Furcht, einen Fehler zu machen, die Furcht vor dem anhangá, die Furcht vor Unvorhergesehenem. Ich war überzeugt davon, dass es dem Menschen nicht gelingen würde, diese Wesen, die den Urwald bewohnten, zu beherrschen, und dass es in diesem Fall dazu kommen würde, dass letztlich wir von ihnen beherrscht würden. Und was gab es hier schon anderes als uns eigentlich unterlegene Wesen; schließlich befand ich mich unter Tausenden von bewegungslosen Bäumen, die dazu verurteilt waren, früher oder später durch Menschenhand beschädigt oder abgeschlagen zu werden. Und auch mit den Tieren verhielt es sich doch nicht anders. Solange ich unterwegs war, hatte ich von den Raubtieren nichts als ihr bloßes Gebrüll wahrgenommen, nichts als Geschrei und Protest. Das einzige wirklich bedrohliche Tier dieser Gegend war der Jaguar, von dem aber bekannt ist, dass er nur angreift, wenn er sich bedroht fühlt. Ich war eine Bedrohung für ihn, ja, das stimmte. Aber ich glaubte – und vielleicht tat ich dies mit zu viel Überzeugung – an meine ei154
genen Rechte und ging davon aus, mein überraschendes Auftauchen würde ihn überrumpeln. Ich jagte gern, zielte gut, und mein Revolver hatte sieben Schuss. Sieben schnelle Kugeln und noch achtzehn weitere befanden sich in meiner Tasche. Ich war noch keine fünf Schritte gegangen, als ich plötzlich erschrak. Ich schaute mich um. Alles schien ruhig, ich wusste nicht, wovon auch nur die kleinste Gefahr für mich hätte ausgehen sollen. Nur das Grunzen der Guariba-Affen hoch über mir war zu hören. Aber die dichte, fast undurchdringliche Vegetation erhob sich vor mir wie eine unüberwindbare Mauer, und die wenigen Sonnenstrahlen, die das Laubwerk durchdrangen, waren derart schwach, dass es lediglich zu erahnen war, was Baum und Spiegelung, was Schein und was Wirklichkeit war. Ich begann, den schwülen Dunst, der mit der Dämmerung kam, wahrzunehmen, und die Feuchtigkeit legte sich mir auf Kleidung, Haut und Haare. Dann kamen die Insekten. Ich hasste Insekten. Ich hasste sie in Buenos Aires und ebenso in Fordlandia und ich hatte sie während der langen Zeit auf dem Schiff verabscheut. Und jetzt hier, im Wald, tauchten wie aus dem Nichts heraus Tausende von Insekten auf, umschwirrten mich summend und stürzten sich auf meinen Hals, meine Hände, meine Arme. Es waren Mücken, Schnaken und Wespen. Ich erschrak, fühlte mich gefangen, bedrängt von allen Seiten. Ich stürzte los und verspürte den heftigen Drang, zurückzukehren, ich wollte nichts als aus diesem Dickicht heraus, und das so schnell wie möglich. Im Urwald kann es leicht geschehen, dass man in Verwirrung gerät, bis das Gefühl in einem wächst, man habe sich verirrt, und einen Panik überkommt. Man glaubt dann, Schritte gehört zu haben, die niemand gesetzt hat, Auswege und Pfade entdeckt zu haben, die es nicht gibt. Man wird das Opfer seiner eigenen Halluzinationen, die 155
Nerven spannen sich Drahtseilen gleich, und die Sinne trügen. Und dieses Universum, das einen umgibt, trügt einen im gleichen Maße. Hinter allem scheint sich eine Falle zu verbergen. Und hinter allem lauert letztlich wirklich eine Falle. Ich rannte und rannte, bis meine Lungen fast zerbarsten. Ich fand nicht hinaus. Jäh blieb ich stehen, atmete tief durch. Dann bemerkte ich, dass mir die Kugeln aus den Taschen gefallen waren. Ich versuchte, mich zu beruhigen, doch es gelang mir nicht. Wieder rannte ich los, diesmal in die andere Richtung. Ich begann zu keuchen. Ich rannte, bis mich auch das beängstigte: mein eigenes Atmen. Der Urwaldboden war weich, schwammig. Dennoch hatte ich beim Rennen plötzlich einen scharfen Schmerz im rechten Fuß verspürt. Als ich erneut innehielt, zog ich Stiefel und Strumpf aus. Irgendetwas hatte das Leder durchdrungen, der Strumpf war voller Blut. An meinem Fuß klaffte eine tiefe, kreisförmige und stark schmerzende Wunde. Mein Hemd war schweißdurchnässt, ich war dreckig, alles an mir klebte; Säfte und Harze hatten mein Gesicht bespritzt. Ich zog Strumpf und Stiefel wieder an und schnitt mir einen Ast ab. Ich wollte meinen schnelleren Schritt wieder aufnehmen, und brauchte dafür eine Stütze. Ich versuchte, vorwärts zu kommen, aber es wollte mir nicht so recht gelingen. Also lief ich die Strecke, die ich vorher gerannt war, in einem gemäßigten, fast langsamen Schritt zurück. Es verging etwa eine halbe Stunde, aber ich fand nicht hinaus. Ich war völlig durcheinander, ich hatte mich verirrt. Angst überkam mich, und ich war wie gelähmt. Ich richtete den Revolver in die Luft und schoss dreimal. Die Schüsse knallten, und ihr Echo hallte mehrfach wider, bevor es in der Ferne verklang. Auf die Schüsse folgte ein Flügelschlagen und das Keckem der Affen. Ich schrie nach Enéas, aber nur die Affen antworte156
ten kreischend. Ich rappelte mich wieder auf, um meine Suche fortzusetzen. Diesmal wandte ich mich nach rechts. Die Mücken verfolgten mich in einem düsteren Schwarm, aber ich gab es auf, sie daran zu hindern, dass sie mich aussaugten. Mir wurde schlecht, und ich begann meinen Gleichgewichtssinn zu verlieren. Ich erblickte eine kleine Lichtung, in deren Mitte ein umgestürzter Baum lag und schleppte mich dorthin. Am Fuß des Stammes leckte ein Ameisenbär Ameisen auf. Er sah mich überrascht an und versteckte sich dann im Laubwerk. Nahe am Baum ließ ich mich fallen, lehnte mich mit dem Rücken gegen den Stamm und rührte mich nicht mehr. Ich war erschöpft, fiebrig, und der Schmerz im Fuß wurde unerträglich. Nach einer Weile hob ich den Blick. Dutzende von Spinnennetzen hingen, knapp über mir, in den untersten Zweigen des Baumes. Gleich würden die darin hockenden Spinnen, die winzig und von purpurroter Farbe waren, über mich herfallen. Ich bückte mich, packte den Revolver und feuerte zwei Schuss ab. Die Spinnweben wölbten sich unter dem Druck, zerrissen, und die gelösten Fäden schwebten hinab bis zum Boden. Drei oder vier Spinnen fielen aus ihrem Netz und verkrochen sich im Laub. Ich blickte durch die Lücke zwischen den übrig gebliebenen Netzen. Oben, weit über mir, unerreichbar, prangten Orchideen. Und weiter unten auf einem dicken Ast bewegte sich schon seit einer Weile etwas, das ich für eine Liane gehalten hatte, aber das jetzt aussah wie ein sich unaufhörlich aufblasender und wieder leerender Gummischlauch. Der Urwald ist ein Reich der Lügen und der Täuschungen. Ich verfolgte die Bewegungen des mutmaßlichen Schlauches von einem Ende zum anderen und entdeckte plötzlich den länglichen, rautenförmigen und blinden Kopf der echten Korallenschlange. Auf der Suche nach mir rollte sie sich ein und wieder auf. Ich beugte mich zur linken Seite weg, atmete 157
tief ein und spannte den Revolver. Es waren noch drei Kugeln in der Trommel. Ich nahm die Waffe in beide Hände und beschloss, erst zu schießen, wenn die Schlange ganz nahe wäre. Ich konnte sie nicht verfehlen. Wie vom Blitz getroffen fiel sie ein paar Meter neben mir auf den Boden. Ich schoss weitere drei Mal auf sie. Aber das Grauen hatte mich derartig überwältigt, dass ich nicht wagte nachzusehen, ob sie tödlich verletzt war. Ich lehnte mich wieder gegen den Stamm und blieb dort sitzen. Ohne einen einzigen Schuss in Reserve zu haben. Danach schloss ich die Augen und schlief ein. Ich träumte. Bestimmt waren es die Erregung und die Erschöpfung, die mich träumen ließen, ich sei tot. Mein Wunsch in dem Traum war es, begraben zu werden, jedoch nicht in diesem verfluchten Wald, sondern neben meiner Mutter. Ich träumte weiter, dass ich ein verwischtes Foto in der Hand hielt, und dass ebenfalls alle meine Freunde gestorben waren. Das Stechen der Mücken und die Bisse, die mir die über meinen Kopf krabbelnden Ameisen zufügten, rissen mich schließlich hoch. Ich stand, mich auf den gesunden Fuß stützend, auf und schüttelte die Ameisen ab. Ich legte Hemd, Hosen, Strümpfe und Schuhe ab. Es waren jetzt bereits mehrere Stunden vergangen, seitdem ich mich verirrt hatte, und es wurde unweigerlich Nacht. Ein Schrecken und Huschen war in der Finsternis zu hören. Die Schlange war verschwunden. Eine Kröte, die ihre Brut auf dem Rücken trug, kam näher und glotzte mich neugierig an. Dann verschwand sie mit drei Sprüngen unter der Pflanzendecke. Ich hörte sie in regelmäßigen Abständen quaken. Tatsächlich hatte ich keinen einzigen Schuss mehr übrig. Ich wusste nicht, was um alles in der Welt ich tun sollte, wenn es erst finstere Nacht würde. Ich war verwirrt, benommen, verzweifelt. Mir war, als hörte ich die Stimme meines Vaters, wie sie in den grauen Tagen seiner Wit158
werschaft geklungen hatte, als er so häufig die Bibel zitierte. Mein Schädel wog schwer wie ein Turm. Ich stützte den Kopf auf meine Hände. Dann verlor ich das Bewusstsein. In diesem Zustand fanden mich Enéas und Roque. Sie trugen Fackeln und hatten sich einen Weg freigeschlagen, so dass sie ohne Probleme wieder zurück aus dem Wald fanden. Von der Stelle, an der ich zusammengebrochen war, waren es nur vierhundert Meter bis zum Strand. Später berichteten sie mir, ich hätte sie nicht erkannt. Es hätte Mühe gemacht, mir die Waffe zu entringen und mich auf ihre Schultern zu laden.
159
XIII
M
ehr als einen Monat verbrachte ich im Hospital von Fordlandia, obwohl ich mich an einen Teil dieser Zeit nur vage und wie an einen Sturz in einen strahlend hellen Tunnel hinein erinnere. Bei diesem Sturz habe ich weder Furcht noch Triumph noch Verzweiflung noch irgendeine Form der Sehnsucht oder des Bedauerns empfunden. Wenn diese Erfahrung heute in mir wieder lebendig wird, bin ich auf eine Weise von ihr fasziniert, dass es mich beunruhigt. Als ich zu mir kam, fand ich mich in einem Krankenhausbett wieder. Ich registrierte allmählich, wie ein Pfleger damit beschäftigt war, mir die Wunde am Fuß auszuwaschen. Ich spähte zu ihm hinüber und ein leichtes Schaudern kroch in mir hoch. Er bemerkte mein Aufwachen und meine Beunruhigung und sagte, ich brauchte keine Angst zu haben. Ich hatte Durst und bat ihn um Wasser. Er reichte mir eine Flasche und ein Glas. Ich presste die Flasche an meinen Körper und spürte die Kälte des Glases. Dann trank ich in kleinen Schlucken drei Glas Wasser. Ich fragte den Pfleger, wo ich sei. Er lachte. »Im Hospital von Fordlandia«, sagte er. »Fordlandia?«, fragte ich. »Ja, in Fordlandia, genauer gesagt, im Paradies auf Erden.« Die ersten beiden Wochen im Hospital verbrachte ich im Bett. Mein rechter Fuß war verbunden, und mein Körper 160
war über und über mit merkwürdigen kleinen Narben und Spuren von Stichen bedeckt, die mir zwar keine Schmerzen bereiteten, doch ein lästiges Jucken hervorriefen, das von einer Sekunde auf die nächste einsetzte, und zwar immer nachts vor dem Einschlafen. Meine Temperatur, die nur selten normal war, machte den Ärzten in dieser Zeit Sorgen. Das Fieber stieg und fiel, mein Körper wies jedoch kein weiteres Symptom auf, das ihnen einen Hinweis für eine geeignete Therapie hätte geben können. Ich litt auch nicht an dem gefürchteten Schüttelfrost und den Schweißausbrüchen, die mit dem Sumpffieber einhergehen. Nicht nur mein Körper, auch meine Seele brauchte Pflege. Ich hatte, völlig allein auf mich gestellt, eine Extremsituation erlebt und die Grenzen des Erfahrbaren erreicht. Es hatte nicht viel gefehlt, und ich hätte aufgegeben, und obwohl ich jetzt wusste, was geschehen war, suchte mich die grausige Erinnerung immer wieder heim und machte es mir schwer, meine Gefühle zu ordnen, die ich nur mit Unruhe ertrug. Noch immer war ich wie erschlagen von meinem Erlebnis; es steckte mir immer noch in den Knochen. Noch nie hatte ich etwas Derartiges erlebt. Meine Gedanken kreisten um diesen Tag im Urwald, und alles drehte sich unerbittlich um die Erinnerung an ihn. Nur wenn ich in schlaflosen Nächten an den Zufall oder Umstände dachte, die mich gerettet hatten, fühlte ich eine Welle der Erleichterung in mir aufsteigen. Enéas besuchte mich damals. Er blieb einen ganzen Nachmittag, und wir unterhielten uns, bis ich ihm, weil ich wieder fiebrig wurde, nicht mehr folgen konnte. Er setzte sich ans Fußende meines Bettes und erzählte mir, wie überrascht er gewesen sei, als er mich im Dschungel fand, und er berichtete mir, was es über Roque und Fordlandia Neues gab. Roque hatte um Urlaub gebeten und war nach Jocotá gereist. Fordlandia wurde derweil durch die Anwesenheit von zweihundert neuen Arbeitern 161
in Unruhe versetzt, die man von Barbados hergeholt hatte. Und dann war da noch ein Tanzsaal eingeweiht worden. Bevor Enéas ging, bat ich ihn, mir beim Rasieren behilflich zu sein. Er besorgte ein Rasiermesser beim Pfleger, seifte mich ein und begann, mich zu rasieren. Als er damit fertig war, sah ich ihm einen Moment lang direkt in die Augen. Ich fühlte mich ihm verpflichtet. Ich gab ihm die Hand und dankte ihm dafür, mir das Leben gerettet zu haben. Er reagierte mit einem Lächeln und bot mir dann noch an, meine Verbände zu wechseln und die Wunde am Fuß auszuwaschen. Ich schlug sein Angebot aus und bat ihn stattdessen um zwei Dinge: Er möge Rowwe den Reisebericht bringen und mir ein paar von seinen Zigaretten dalassen. Er ließ mich anschließend alleine. Draußen neigte sich der Tag seinem Ende zu und die Hitze nahm ab, doch ich fühlte mich müde und fiel in einen tiefen Schlaf, aus dem ich dennoch einmal erschreckt und schweißüberströmt aufschreckte. Ich blickte um mich. Durch die Fenster kam die Dunkelheit herein. Der Pfleger hatte die Tür offen gelassen, und die einzige Lampe tauchte den Saal nicht in Licht, sondern in Schatten. Dann schlief ich wieder ein und versuchte im Schlaf, den Träumen zu entkommen, die über mich einfielen. Der Krankensaal im Hospital war groß und hatte auf der linken Seite hohe Fenster. Eine seiner beiden Türen führte in die Notaufnahme und die übrigen Sprechzimmer, die andere am Ende des Ganges zum Zimmer des Dienst habenden Arztes und zu den Räumen, in denen sich die Pfleger aufhielten. Dort wurden auch die Besucher eingelassen. Die Betten, einschließlich dem meinen, waren dem Fenster gegenüber aufgereiht. Es war kühl im Saal, und nachmittags, wenn die Hitze drückend zu werden begann, wurden die Fenster geöffnet und die Deckenventilatoren angestellt. So blieb der typische Krankenhausgeruch aus. 162
Die Nachmittage verliefen immer ruhig. Morgens fand die Visite statt. Wenn ein hoher Angestellter aus Fordlandia aufgenommen wurde, umgab man sein Bett mit einer spanischen Wand, die den Kontakt zu anderen Patienten verhinderte. Die Nordamerikaner besaßen das Privileg, sich zu Hause erholen zu können und dort sogar ärztlich versorgt zu werden. In meinem Fall jedoch rieten die Ärzte in Hinblick auf den Zustand, in dem ich mich befunden hatte, und angesichts meiner Pflegebedürftigkeit zur Unterbringung in der Klinik. Als ich mein Bewusstsein wiedererlangte und mein Fieber gesunken war, war meine erste Bitte, man möge die spanische Wand wegräumen. Nach einigen Tagen jedoch, als es meinem Nachbarn zur Rechten, einem Tagelöhner aus Santarém, schlechter ging, bat ich die Pfleger, sie wieder aufzustellen. Eines Morgens wurde mein Nachbar schlaff und triefte wie eine Wasserpflanze, und auf seine Lippen, die sich lila gefärbt hatten, legte sich weißer Schaum. Ich alarmierte sofort die Pfleger, woraufhin die Ärzte ihn zehn Minuten lang schweigend bearbeiteten; sie massierten ihn, bliesen seine Lungen auf und entleerten sie wieder. Als der Körper des Tagelöhners sich endlich regte, jubilierten die Ärzte lauthals. Die spanische Wand war nicht mein einziges Privileg im Hospital. Der Chefarzt ließ einen Schrank aufstellen, daran eine Klingel anbringen und zwei Stühle neben mein Bett stellen, und er sorgte auch dafür, dass das Bett mir gegenüber frei blieb. Von meinem Bett aus konnte ich durch das Fenster die großartigen Sonnenuntergänge im Urwald verfolgen. Der Chefarzt war mir gegenüber sehr liebenswürdig. Sobald er seinen morgendlichen Rundgang beendet, die verschiedenen Therapien angeordnet und ihre Ausführung 163
überwacht hatte, ging er in das Zimmer der Pfleger, kochte Kaffee und kam mit zwei Tassen zurück, von denen die eine für ihn und die andere für mich bestimmt war, und dazu gab es reichlich frisches Brot. Der Kaffee verströmte seinen köstlichen Duft bis zu meinem Bett; der Arzt zog sich einen Stuhl heran, bot mir eine Zigarette an und unterhielt sich mit mir. Er war in Rio de Janeiro geboren und sprach von der Stadt als hätten in ihr die gesamte Geographie, sämtliche Flora und Fauna dieser Welt, dazu ihre Geschichte und ihre Legenden zueinander gefunden. Er machte stets einen intelligenten Eindruck, bisweilen jedoch – und zwar dann, wenn sich die Unterhaltung um etwas anderes als Medizin, Rio de Janeiro oder den technischen Fortschritt drehte – bewies er recht wenig Fantasie. Antonio, so lautete sein Name, schwärmte für Wissenschaft und Maschinen, und unterstützte jeden Versuch, sie zu perfektionieren. Er war eine der zwei Personen unter meinen Bekannten, die haargenau Bescheid wussten über den Prototyp eines sechszylindrigen Motors, den Jack mit der Akribie eines Goldschmiedes und der Geduld eines Kunsthandwerkers aus gebrauchten Teilen von Traktoren und anderen Kraftfahrzeugen in einem zu einer Werkstatt umgebauten Zimmer, das er an sein Haus hatte anbauen lassen, zusammenbastelte. Jack, der die abschätzigen Kommentare, die seine Arbeit als Mechaniker unter den Nordamerikanern in Fordlandia hervorrief, ignorierte – zumindest tat er so –, steckte einen großen Teil seiner Energien in die Konstruktion dieses Motors und in seine kontinuierliche Verbesserung, was ihn seiner Meinung nach eines Tages zum Millionär machen würde: So arbeitete er ehrgeizig an der Automatisierung von Zündung und Schaltung, an der Installation von Zündkerzen im oberen Teil des Motors und saß außerdem daran, eine Wasserpumpe in der Weise funktionstüchtig zu machen, dass sie 164
als Kühlsystem nutzbar wurde. Jack träumte davon, den neuen Prototyp Henry Ford vorzustellen, und Antonio und des Weiteren ein Gehilfe, der Jacks Vertrauen genoss, nährten diese Illusion mit, indem sie ihm in ihrer Freizeit zur Hand gingen. Als ich Antonio kennen lernte, war er gerade fasziniert von den Vorteilen des modernen Elektrokardiographen, den Ford dem Hospital der Stadt gesandt hatte. Damals wusste man schon, dass die Muskeln leichte elektrische Ströme erzeugen, und dass ein rhythmisch schlagendes Herz Signale gibt, die an die Körperoberfläche weitergeleitet werden. Antonio und die übrigen Ärzte freuten sich auf die Möglichkeit, den Herzrhythmus aufzuzeichnen und zu beurteilen, auch wenn es ihnen in der Praxis an Kandidaten fehlte, an denen sie die Wirksamkeit hätten testen können. Das von Ford zur Verfügung gestellte Gerät funktionierte über eine Reihe von Elektroden, die am Hals, auf der Brust und an den Beinen befestigt wurden und durch Kabel mit einem komplexen Registriergerät verbunden waren. Doch nicht ein Einziger der Patienten war bereit, sich einer solchen Prozedur zu unterziehen. Eingedenk der Aufmerksamkeit, die man mir zukommen ließ, hatte ich gegen Antonios Experimente keine Einwände. Ich ließ ihn bereitwillig meinen Herzschlag messen und traute mich bei diesen Gelegenheiten sogar, das Instrument zu handhaben, um den seinen zu messen. Diese Experimente fanden zunächst morgens und dann an den Nachmittagen der letzten zwei Wochen meines Klinikaufenthaltes statt, als es mir allmählich besser ging, und man mir erlaubte, die anfangs strenge Routine nach und nach aufzulockern. Während dieser Zeit fand ich Gefallen an meiner Bettlägerigkeit und ich muss gestehen, dass diese Spiele mit dem Herzen neben den Besuchen das Einzige war, was mich auf meine Lektüre oder meine Ruhe verzichten ließ. Ich 165
hatte mich entschlossen, der Welt den Rücken zu kehren und den Kopf nicht aus dem Hospital zu recken, bis ich nicht völlig genesen wäre. Eines Mittags lag ich – in Unterhosen wohlgemerkt – auf einer Liege in der Nähe des Pflegerzimmers, man hatte meine Brust mit Elektroden gespickt, und ich wartete darauf, dass Antonio seine Kollegen zusammenriefe, um mit dem Elektrokardiogramm zu beginnen, als plötzlich Rowwe in Begleitung eines anderen Nordamerikaners, der Harry hieß und gerade aus Detroit eingetroffen war, hereinkam. Er war klein, gab sich formell, trug eine Brille mit Goldrand, ein Hemd aus Seide, einen Gürtel mit einer texanischen Schnalle und tat wichtig. In einer Hand trug er einen breitkrempigen Filzhut, in der anderen eine Aktentasche. Rowwe stellte ihn höflich vor, setzte dabei aber ein derart abweisendes Gesicht auf, dass ich sofort erraten hatte, dass es sich bei den beiden um Rivalen handelte. Und ebenso wenig wie ich Harry sympathisch war, gefiel er auch mir nicht, so viel war klar. Die beiden blieben nur einen Augenblick bei mir und warteten nicht einmal ab, dass ich mir die Elektroden abnahm. Rowwe stellte mir nach der Begrüßung, noch während sie sich auf den von Antonio herbeigeschafften Stühlen niederließen, verschiedene Fragen zu den möglichen Ergebnissen meiner Reise. Da er auf mich einen nervösen Eindruck machte, bot ich ihm an, den Bericht, den ich während unserer Bootsreise verfasst hatte und den ich ihm durch Enéas hatte zukommen lassen, ausführlicher zu gestalten, und dann fragte ich ihn, ob etwas vorgefallen sei. »Nichts, es handelt sich um reine Routine«, antwortete er. Er sah auf die Uhr. Es drängte ihn, zu gehen. Dann zeigte er auf die Elektroden und fragte mich in einem etwas schuldbewussten Ton nach meinem Herzen. »Haben Sie irgendwelche Probleme mit Ihrem Herzen?« 166
»Alles in Ordnung, es ist bloße Routine«, erwiderte ich. Rowwe legte ein kleines Päckchen auf die Liege. Das seien amerikanische Kekse für mich, erläuterte er, ein kleines Geschenk. Harry, der auf die Ellenbogen gestützt, den Panamahut in den Händen, aufmerksam nach vorne gebeugt dem Gespräch gefolgt war, schaltete sich ein. Mit rauer Stimme und in einem geradezu autoritären Ton forderte er mich auf, den Bericht ausführlicher zu gestalten, denn was er gelesen habe, sei zu knapp gehalten. Generell sei zu bedenken, dass das Unternehmen das Recht auf jede noch so nebensächlich scheinende, seine Angestellten betreffende Information und die ihnen aufgetragene Arbeit habe. Dann befragte er mich mit derselben geringschätzigen Miene zu den Arbeitern, zu denen ich Kontakt aufgenommen hatte, wollte ihre Zahl wissen und darüber aufgeklärt werden, wann sie meiner Meinung nach in Fordlandia erscheinen würden. Seine Fragen ärgerten mich, und ich zuckte mit den Schultern, um ihm anzudeuten, dass das unwichtig sei. Harry lächelte und stand auf. Er sah sich das Messgerät an und blickte dann zu Antonio, der unserer Unterhaltung stehend, mit gelassen verschränkten Armen und leicht geneigtem Kopf gelauscht hatte. »Wir schicken die Geräte nicht zum Zeitvertreib der Ärzte, und auch wenn es so wäre, schiene es mir angebrachter, eine Maschine zu schicken, die das Hirn der hier Anwesenden überprüft«, warf Harry Antonio vor. Bevor Harry ging, warf er mir noch einmal einen seltsamen Blick zu, beinahe so, als habe er etwas gegen mich. Ich sah ihn erst wieder, als er in Henry Fords Begleitung zurückkehrte. Rowwes Gesichtsausdruck hatte sich verdüstert, und er folgte Harry mit eiligen Schritten. »Setzen Sie sich mit mir in Verbindung, sobald Sie entlassen werden«, rief er mir noch im Laufen zu. 167
Der Abgang der beiden amüsierte mich. Ich nahm das Päckchen, aß ein paar Kekse und verkündete Antonio, wir könnten mit dem Versuch beginnen. Antonio hatte Harrys Vorschlag nicht gekränkt. Im Gegenteil. Viel später versuchte er uns in Jacks Werkstatt dazu zu überreden, ihn bei seiner Bitte an Ford zu unterstützen, er möge die Erfindung einer Maschine fördern, die die Untersuchung des Gehirns ermöglichte. Rowwe und Harry waren mittags gekommen, doch Besuchszeit war von fünf Uhr nachmittags bis um sieben Uhr abends. Am frühen Nachmittag schliefen die Kranken und die, die wach blieben, unterhielten sich quer durch den Saal miteinander. Nur wenige bekamen Besuch von Freunden oder Angehörigen. Während der letzten Tage meines Klinikaufenthaltes besuchte mich Jack, und zu guter Letzt auch Caroline. Ihr Besuch kam überraschend. Eines Nachmittags, als ich im Bett lag und ein altes Geschichtsbuch las, das mir die Ärzte geliehen hatten, und ein Teil meiner Kleidung auf dem Bett, ein anderer Teil am Boden verstreut herumlag, hörte ich ihr Lachen im Pflegerzimmer. Sie unterhielt sich vergnügt mit Antonio und dem Dienst habenden Arzt. Ich legte das Buch auf den Schrank, warf mir hastig ein Hemd über, schob den Rest meiner Kleidung unters Bett und zog mir das Laken bis zum Gürtel hoch. Caroline betrat den Saal zusammen mit Antonio. Ich stützte mich auf die Ellbogen und starrte sie an. Sie war bildhübsch und sah noch jünger aus, als bei unserer ersten Begegnung. Antonio ging ins Arztzimmer zurück, doch ich sah, dass er sich dabei zweimal nach Caroline umdrehte. Einige Zeit später kam er für einen weiteren Augenblick in den Saal, und es war zu vermuten, dass er das nur tat, um sie einmal mehr anschauen zu können. »Hallo, wie geht’s dir?«, fragte sie. 168
»Hallo«, antwortete ich. »Darf ich mich setzen?« »Natürlich.« Sie sah sich im Saal um. Die Männer, die wach waren, ließen uns nicht aus den Augen. Sie setzte sich auf die Bettkante und sah mich freudestrahlend an. »Die Ärzte haben sich positiv über dein Herz geäußert«, sagte sie. Auch ich war jetzt beschwingt. Ich konnte es nicht fassen, dass sie mir wirklich gegenübersaß. »Hast du denn Sorge gehabt, es könnte mit ihm etwas nicht stimmen?«, fragte ich. Caroline errötete. »Nein.« »Dann kann ich ja beruhigt sein.« »Hast du kein Fieber mehr? Geht es dir schon besser?« »Ja, viel besser.« »Hast du vor, die Mundurukus noch einmal zu besuchen?« »Nein, das ist dein Feld.« »Nach dem, was mir so zu Ohren gekommen ist, habe ich den Eindruck gewonnen, du wolltest mich dort ersetzen.« »Auf keinen Fall!«, sagte ich. »Warum hast du sie eigentlich aufgesucht?« Ich überlegte mir meine Antwort gut. »Ich habe deine Berichte gelesen – die übrigens sehr gut geschrieben sind … – und dabei schien mir, nichtsdestotrotz, der Abschnitt über die Eingeborenen unvollständig zu sein. Ich wollte einfach mehr über sie erfahren, das ist alles«, sagte ich. 169
»Hoffentlich hast du keinen Fehler dabei gemacht.« »Das glaube ich nicht, aber wenn du willst, kann ich dir irgendwann von meinen Erlebnissen erzählen.« »Einverstanden.« »Überhaupt würde ich dir gerne von meiner Reise berichten, vorausgesetzt natürlich, sie interessiert dich.« Caroline wandte ihren Blick ab. »Liest du gerne?«, fragte sie. »Ja, sehr gerne.« Irgendwo im Wald tirilierte ein Vogel. Caroline blickte zum Fenster. »Ein wundervoller Nachmittag«, sagte sie. Nun sah ich auch hinaus. Eine Brise bewegte sacht die Baumkronen. »Was hat dich eigentlich an diesen Ort hier geführt?«, fragte ich sie. »Ich bin meines Berufes wegen gekommen.« »Nur deswegen?« »Das ist doch ein guter Grund. Außerdem wollte ich ein paar Theorien überprüfen, einigen Annahmen nachgehen, die mich beschäftigten.« »Zu welchem Fachbereich gehören diese Annahmen?« »Mein Interesse konzentriert sich auf den Umgang der Menschen miteinander.« »Ich verstehe. Und du bist hier in gewisser Weise auf der Suche nach der Wahrheit. Stimmt das?« »In gewisser Weise, ja, so ist es.« »Und warum tust du das nicht in Montreal, in Kanada?« »Ich hatte irgendwann das Gefühl, neue Wege gehen zu müssen.« 170
»Das kenne ich auch.« »Tatsächlich?« »Ja. Aber weiter zu dir: Darf man etwas über deine Schlussfolgerungen erfahren?« Caroline antwortete mit einem Lächeln. »Noch nicht. Bisher bin ich noch zu keinen endgültigen Ergebnissen gekommen. Und du, was suchst du hier am Ende der Welt?« »Ich habe darauf auch noch keine Antwort. Wie du siehst, stimmen wir in etwas überein.« »Ich hoffe, dieses Übereinstimmen möge sich nie als negativ herausstellen.« »Wie kommst du darauf? Ich kann dir versichern, dass ich niemals etwas tun würde, was du als negativ empfinden könntest.« Wir schwiegen. Ich betrachtete ihr Gesicht. Ihr Mund mit den vollen Lippen kräuselte sich ein wenig in den Winkeln. Ich bekam Lust, sie zu küssen. Caroline blickte zum Arztzimmer und dann wieder zu mir. »Ich verstehe nicht, wo Jack so lange bleibt«, bemerkte sie. »Ist er denn mit dir zusammen gekommen?« »Nein, aber wir haben verabredet, uns hier zu treffen.« »Vielleicht hat er es sich anders überlegt, oder er hat es vergessen«, sagte ich. Die Erwähnung Jacks störte mich. Ich versuchte, meine Verunsicherung zu überspielen. »Hoffentlich kommt er noch. Ich würde ihn gern sehen«, fügte ich hinzu. Ich hörte, wie sich die Tür des Arztzimmers öffnete. Ich blickte mich um. Ein gut gelaunter Jack stand vor uns. Er wirkte frisch geduscht. 171
»Da ist er ja«, stieß Caroline aus und erhob sich. »Wo ist denn der berühmte kühne Argentinier?«, fragte Jack. Er trat ans Bett, beugte sich zu mir hinunter, umarmte mich und hauchte mir eine Wolke Whiskyatem ins Gesicht. »Gut siehst du aus, du Schuft«, behauptete er, »viel besser, als ich dachte. Warum ziehst du dich nicht an und stehst auf? Dann könnten wir unser Wiedersehen angemessen feiern, meinst du nicht?« »Es wäre mir ein Vergnügen«, sagte ich. Jack richtete sich an Caroline. »Komm mit raus, meine Liebe, lassen wir den Herrn ein paar Minuten allein, damit er sich für den Empfang eines Freundes und einer Dame so zurechtmachen kann, wie es sich gehört«, sagte er. Die beiden gingen hinaus, und ich stand auf, zog mich an und ging ins Bad. Ich suchte einen Spiegel, machte mein Haar nass und kämmte mich. Dann durchquerte ich den Saal bis ich zu dem Arztzimmer gelangte, in dem Jack und Caroline warteten. Zu dritt liefen wir zurück und ließen uns auf den Stühlen neben meinem Bett nieder. Jack hatte ein Päckchen mitgebracht. Als wir uns gesetzt hatten, machte er es auf, zog eine Flasche Whisky und eine Schachtel mit Süßigkeiten heraus, hielt mir beides unter die Nase, um es dann neben dem Bett auf den Boden zu legen. »Wir haben dir etwas mitgebracht«, sagte er. »Danke.« »Caroline wollte nicht mitkommen, aber ich habe sie überredet.« »Es muss schwer sein, sie zu überreden«, sagte ich. 172
»Glaub das bloß nicht. Sie ist sehr neugierig.« Caroline schlug ihm leicht auf die Schulter und machte eine Geste, die nur Frauen beherrschen, wenn sie merken, dass sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. »Jetzt ist es aber genug«, ermahnte sie uns. Jack grinste und zog ein Bündel Zigaretten aus seiner Hemdentasche. Er steckte eine für sich und eine für Caroline an und nahm einen Zug von beiden. Dann bot er mir eine an, doch ich lehnte ab. An jenem Nachmittag fiel es mir schwer, freundschaftliche Gefühle für ihn zu empfinden. »Wie ist es dir ergangen?«, fragte er. »Ich hatte zwei problematische Wochen, aber jetzt geht es mir gut.« »Und wie ist das mit den Kautschuksammlern gelaufen?« »Ich glaube, ein paar von ihnen werden wohl zum Arbeiten hierher kommen.« »Ganz bestimmt. Es sind ja schon jetzt einige erschienen, und alle haben sie nach dir gefragt. Du bist jetzt berühmt, mein Junge«, sagte er. »Ach ja, wirklich?« »Ganz ehrlich! Und im Dschungel? Erzähl doch mal, was hast du denn da angestellt?« »Ich weiß es nicht genau. Vielleicht war es die Hitze oder die Erschöpfung nach der Reise, die mich zu diesem idiotischen Verhalten getrieben hat. Ich weiß es wirklich nicht genau.« »Du meinst also, es wären die Hitze und die Erschöpfung gewesen, die dich gedrängt haben, in den Dschungel vorzudringen, und nicht dein eigener Wille?« »Ja, vielleicht.« 173
»Was für eine Enttäuschung! Und ich habe extra ein gutes Wässerchen mitgebracht, um einen außergewöhnlichen Mann angemessen feiern zu können«, sagte Jack. »Sich von seinen Gefühlen oder von den Umständen mitreißen zu lassen, ist doch etwas Außergewöhnliches«, bemerkte Caroline. »Ihre Worte rühren mich, meine Schöne«, konterte ich. »Du musst wissen, dass du einen alten amazonischen Mythos überwunden hast«, sprach Caroline weiter. »Und der wäre?« »Dass so mancher niemals wieder aus ihm herausfand, und dass es anderen nie gelang, überhaupt erst einmal in ihn hineinzugelangen.« »Also stoßen wir an!«, schlug Jack vor. Ich läutete das Glöckchen nach einem Pfleger, um ihn um ein paar Gläser zu bitten, doch es erschien niemand. Also stand ich auf und ging selbst ins Pflegerzimmer. Ich traf dort niemanden an, und es kostete mich Mühe, saubere Gläser zu finden. Einen Augenblick lang dachte ich, dass dieser Moment für alle Kranken eine gute Gelegenheit wäre, Reißaus zu nehmen. Als ich in den Saal zurückgekehrt war, öffnete Jack die Präsent-Flasche und füllte mir und sich selbst ein Glas. Auch Caroline schenkte er einen Schluck ein, und dann stießen wir an. Ich trank einen Zug. Ich fühlte mich angeregt. Caroline nippte an ihrem Glas und stellte es dann wieder ab. Sie saß kerzengerade auf ihrem Stuhl und dachte sichtlich an etwas anderes. Ich stellte mein Glas auf dem Boden ab und griff nach der Schachtel mit den Süßigkeiten. Ich öffnete sie und bot Caroline davon an. Es waren kandierte Früchte aus Pará. Sie nahm eine an und drehte sie, bevor sie sie aß, langsam in ihrer Hand hin und her. »Danke«, sagte sie. 174
Sie senkte den Blick auf ihre Finger. Ich bot ihr ein Taschentuch an. »Danke, das ist nicht nötig«, lehnte sie ab. »Wann ziehst du wieder in den Kampf?«, wandte sich Jack fragend an mich. »In ein paar Tagen.« »Du musst wissen, dass ein Typ aus Detroit da war, der sehen wollte, was hier in der Stadt läuft«, sagte Jack. »Harry?« »Ja, genau der. Kennst du ihn?« »Er hat mich mit Rowwe zusammen besucht. Ich hatte das Gefühl, dass Rowwe Probleme mit ihm hat. Dass er Angst vor ihm hat.« »Ich glaube, Rowwes Angst ist nicht so gefährlich wie dein Wahnsinn«, versetzte Jack. »Und, wie steht es mit der Stadt?«, warf ich ein. »Ach, sie nimmt mittlerweile kosmopolitische Züge an: Zusätzlich zu den Nordamerikanern, den Kautschuksammlern, die auf dein Geheiß gekommen sind, einem italienischen Tänzer, einem Argentinier und einer Kanadierin arbeiten hier jetzt zusätzlich noch Männer von den Antillen, und es sind viele. Bald haben wir hier New Yorker Verhältnisse.« »Probleme?« »Keine Probleme, mach dir keine Sorgen. Es wird dir, wenn du wieder draußen bist, schlechter gehen als hier, aber besser als im Urwald.« Wir sahen uns an und lachten alle drei. Als es dunkel wurde, gingen Jack und Caroline. Ich begleitete sie bis zum Pflegerzimmer, ging voraus und hielt ihnen die Tür auf. Als sie sich verabschiedeten, hätte ich 175
Caroline gerne umarmt, doch Jacks Gegenwart hielt mich davon ab. So gaben wir uns nur die Hand. Wir vereinbarten, uns bald wiederzusehen, dann aber außerhalb des Spitals. Ich ging in den Saal zurück und bot meinen Mitpatienten von den Süßigkeiten an, nahm zwei Schluck Whisky und schob die Flasche unters Bett. Ich war müde und legte mich hin. Ich schlief sofort ein, wurde aber um Mitternacht wach. In meinem Magen brannte es wie Feuer. Es war nicht ganz dunkel im Saal. Draußen sah ich, als ich aufstand und ans Fenster ging, den vollen Mond stehen. Sein Licht tauchte die Vegetation in einen sanften silbrigen Schein. Die frisch geschlüpften Zikaden erfüllten die Nacht mit ihrem Gesang, und hier und da fanden sich Glühwürmchen in kleinen Grüppchen zusammen. Später musste ich mich, was selten vorkommt, übergeben. Ich ging anschließend wieder ins Bett, konnte jedoch erst einschlafen, als im Morgengrauen der Gesang der Vögel einsetzte und der starke Duft des Kaffees, der im Pflegerzimmer zubereitet wurde, in den Saal strömte. Während der folgenden Tage verbesserte sich mein Gesundheitszustand weiterhin, und eines Morgens wurde ich entlassen. Ich packte meine Sachen gegen neun Uhr, und stellte, als ich an die frische Luft trat, überrascht fest, dass es kalt geworden war. Ich erlebte ein seltsames Urwaldphänomen, das für die Menschen des Tapajóstals fast unerträglich ist, friagem genannt wird und bei klarem, heiterem Himmel auftritt, wenn dazu Windböen aus den Anden die Temperatur stürzen lassen. Dann legen die Amazonier, starr vor Kälte, für ein paar Tage ihre Arbeit nieder und stellen dazu alle anderen Tätigkeiten ein. Sie flüchten in ihre Häuser und kauern sich ums Feuer. Die Vögel ziehen fort, und erfrorene Fische treiben auf der Oberfläche der Flüsse. Ich fürchtete, durch die Kälte einen Rückfall zu erleiden, doch das geschah nicht. Das Fieber kam nicht wie176
der, und ich fühlte mich nach wie vor wohl. Enéas, der sich mit einer Baumwolldecke – in die er ein Loch geschnitten hatte, um sie wie einen Poncho über den Kopf streifen zu können – vor der Kälte schützte, wartete an der Eingangstür und kam mir entgegen. Ich begrüßte ihn herzlich. Wir gingen zusammen an den Kai, dann liefen wir durch die Straße, in der sich die Kaufhäuser befanden, streiften den Platz und die Schule und steuerten auf das Viertel der Angestellten zu. Durch ein Fenster des Schulgebäudes sah ich einen der Nordamerikaner, einen weiteren Assistenten Rowwes, hinter dem Lehrerpult vor einer Klasse sitzen. In dem Raum saß eine große Anzahl Männer und auch ein paar Frauen. Nachmittags wurde in der Henry-Ford-Schule Schreiben und Lesen unterrichtet und zweimal wöchentlich morgens Englisch und Erste Hilfe. Da die Verwaltung für die Teilnahme an den Vormittagskursen keine Lohnabzüge vornahm, waren sie sehr gut besucht. Rowwes Assistent gab gerade eine Englischstunde. Er bemerkte mich nicht. Wir gingen weiter, die baumbestandenen Straße entlang, in der mein Haus stand. Wo sie endete, fuhren ein paar Traktoren vorbei und verpesteten die Luft mit ihrem Dieselgestank. Als wir das Angestelltenviertel erreicht hatten, warf ich nochmals einen Blick zurück auf die Stadt. Seit meiner Abreise hatte sich einiges verändert. Neue Wohnhäuser und Lagerhallen waren gebaut worden, und man legte Straßen an. Aus allen Richtungen und wie ein im Hintergrund waltender Beobachter wachte der Urwald über das Geschehen. In dieser Kälte schien mir sein Grün noch intensiver zu sein als sonst. Auf dem letzten Stück des Weges trafen wir eine Gruppe von Tagelöhnern, die sich die Hände an einem Holzfeuer wärmten. Auch ich trat an das Feuer. Bereitwillig machten sie mir Platz, und ich hatte den Eindruck, dass sie mir außergewöhnlichen Respekt entgegenbrachten. Ich streckte 177
meine Hände aus und betrachtete eine Zeit lang die Flammen. Dann zogen wir weiter. Kurz bevor wir bei meiner Wohnstätte anlangten, übermittelte mir Enéas eine Nachricht von Rowwe. »Herr Rowwe hat mir aufgetragen, Ihnen auszurichten, Sie sollten sich die Nachricht ansehen, die auf Ihrem Bett liegt und dann sofort zu ihm kommen«, sagte er. »Einverstanden. Wie sind die neuen Arbeiter?« »Die auf Ihre Veranlassung hin kamen, mein Weißer?« »Nein, die anderen, die von Barbados.« »Ach, die! Das sind ein paar Neger, die sowieso nichts anderes können als arbeiten. Richtige Sklaven sind das.« »Ich verstehe. Und warum, glaubst du, haben sie mich vorhin so angestarrt?« »Wer denn? Die beiden, bei denen wir stehen geblieben sind?« »Ja, genau die.« »Man bewundert Ihren Mut, mein Weißer.« »Weil ich in den Urwald gegangen bin?« »Nein. Den Urwald kennen sie selbst gut genug. Sie sind angesehen, weil Sie den Inhabern der Handelsposten gegenüber Mut gezeigt haben. Deswegen.« »Ich verstehe.« »Mein Weißer, fühlen Sie sich denn so, als kehrten Sie heim?«, fragte er mich. »Nein. Nichts dergleichen spüre ich«, musste ich ihm zur Antwort geben.
178
XIV
A
1s ich schließlich zu Hause war, betrat ich unverzüglich das Schlafzimmer. Wider Erwarten roch es darin nicht abgestanden. Das Fenster stand offen, und Sonnenstrahlen durchfluteten den Raum. Auf einem der Betten lagen ein Zettel und ein geschlossener Briefumschlag. Alles schien in Ordnung zu sein. Ich öffnete den Kleiderschrank und überprüfte meine Habe. Meine Wäsche war vollständig, und auf dem Regal lagen das Geographiebuch und der Strohhut. Der Rucksack stand auf dem Boden und neben ihm die fast leere Whiskyflasche, die ich vor der Reise gekauft hatte. Ich bückte mich und machte den Rucksack auf. Ich stieß auf den Revolver, den ich dabeigehabt hatte, und auf mein Notizbuch, das schmutzig und feucht geworden war. Daraufhin nahm ich ein Handtuch und ging ins Bad. Das Wasser war kalt, und in den ersten Strahl mischte sich Schlamm. Während ich mich mit dem Handtuch abtrocknete, konnte ich beobachten, wie die Ameisen neben dem Waschbecken ein Stückchen Seife über den Boden zerrten. Ich streckte meine Hand aus, nahm das Seifenstück und legte es ins Waschbecken. Eine Ameise biss sich in meinem Handteller fest, und es kostete mich Mühe, mich von ihr zu befreien. Ich kehrte ins Schlafzimmer zurück und nahm Zettel und Umschlag auf. Zum Lesen ging ich ans Fenster. Rowwe hieß mich willkommen und bat mich, ihn sobald wie möglich aufzusuchen. Im Umschlag steckte ein Brief von meinem Vater. Ich las die ersten Zeilen und brach 179
dann die Lektüre ab. Er schrieb über sich und seine neue Frau. Ich knüllte Zettel und Brief zusammen und warf sie auf den Boden. Ich sah zum Fenster hinaus. Frank war unterwegs zur Pflanzung, und es begleitete ihn ein dunkelhäutiger großer Mann, der auf europäische Art in Schwarz gekleidet war. Ich zog mich um und trank einen Schluck Whisky, aber er schmeckte mir nicht. Der Schluck blieb mir im Halse stecken. Auf dem Weg zu Rowwes Büro, auf dem mir die Kälte, die mich vorher munter gemacht hatte, ein Brennen im Gesicht und an den Beinen verursachte, sah ich mir die Stadt noch einmal an. Ich ließ den Lärm des Sägewerkes, den Rauch, der aus dem Schlot in die ruhige Morgenluft aufstieg, das Ächzen der Traktoren, die die Hügel hinauffuhren, den Anblick der aus rotem Lehm bestehenden und den der asphaltierten Straßen auf mich wirken. Dann war da noch der zwischen den Verwaltungsgebäuden sich erstreckende freie Raum, der große Kai am Ufer des Tapajós, jenem Fluss, der durch das riesige Gebiet strömte, das noch vor dem Ozean lag, da war, am gegenüberliegenden Ufer diese Wand aus Bäumen, die so weit gewachsen war, wie mein Auge reichte. Ich ertrug den blank gefegten Himmel nicht länger. Einen Augenblick lang ging mir Buenos Aires mit seinen verrauchten Cafés durch den Kopf, und es fielen mir die Nächte ein, in denen ich mich immer wieder mit Wein betäubt hatte. Rowwe ließ mich nicht warten. Die Tür zu seinem Büro stand offen. Er telefonierte gerade. Als er mich bemerkte, hängte er ein und bedeutete mir, einzutreten und die Tür zu schließen. Er stand auf und reichte mir die Hand. Wir setzten uns an einen Arbeitstisch, auf dem sich Papiere häuften. Rowwe sah mir fest in die Augen. »Wie fühlen Sie sich?«, fragte er. »Gut, ich habe mich wieder vollständig erholt.« 180
»Zweiundneunzig«, sagte er. »Zweiundneunzig was?«, fragte ich. »Zweiundneunzig Arbeiter haben sich auf Ihre Reise hin vorgestellt. Die Hälfte von ihnen ist verheiratet, einige von ihnen sind mit ihren Frauen gekommen, und die andere Hälfte ist ledig. Sie haben Erfolg gehabt. Ich kann nur sagen: nicht schlecht.« »Nicht schlecht?« »Nein. Außer der Tatsache, dass ein Priester einen Boten geschickt hat, der als Gegenleistung für vierzig Arbeiter die Unterstützung Fords für seine Mission gefordert hat. Er behauptete, das habe er so mit Ihnen vereinbart. Stimmt das?« »Ja, der Priester heißt Theo, und die Vereinbarung erschien mir angebracht. Ich habe das auch in meinem Bericht erwähnt.« »Ich kenne Theo. Wir haben ihm schon genug geholfen.« »Das wusste ich nicht.« »Schon gut, wir werden ihm das Geld geben. Es kam auch ein Händler und beschwerte sich, Sie wären in sein Gebiet eingedrungen. Was hat es damit auf sich?«, fragte Rowwe und deutete ein Schmunzeln an. »Das gehörte zum Plan. Ich hatte Sie in Kenntnis davon gesetzt.« »In Ordnung. Ihrer Abrechnung entsprechend müsste auch noch etwas mehr Geld übrig sein, aber sei es drum, lassen Sie uns das Thema wechseln. Ich möchte, dass Sie ein paar Neuigkeiten erfahren und dann Ihre Arbeit wieder aufnehmen.« »Ich höre.« »Gut. Mit Ihren Zweiundneunzig Leuten, die sich um das Pflanzen der Bäume kümmern werden, den vierzig 181
Mann, die das Büro in Belém eingestellt hat, und denen, die die allgemeinen Aufgaben übernehmen werden, und den weiteren zweihundertzwanzig … Haben Sie das gehört? Ich wiederhole: den zweihundertzwanzig, die ich auf Barbados rekrutieren konnte und für die Abholzung vorgesehen habe, könnten wir eigentlich zufrieden feststellen, dass unser Plan jetzt allmählich seine Umsetzung findet, meinen Sie nicht auch?« Ich versuchte mich an die Zahlen zu erinnern, die der Generalplan genannt hatte, doch ich hatte sie vergessen. Ich improvisierte meine Antwort. »Ich glaube, wir brauchen noch mehr Leute.« Rowwe stand auf und setzte sich wieder. »Genau so ist es. Wir brauchen noch viele Leute mehr, um diesen verdammten Dschungel zu besiegen. Viel, viel mehr. Lesen Sie das. Es ist in Detroit abgesegnet worden.« Rowwes Augen glänzten, doch seine Stimme blieb kalt und unbeteiligt. Er neigte sich vor und reichte mir die Akte. Ich erkannte das Titelblatt wieder (Rowwe hatte es mir ein paar Tage vor meiner Abreise gezeigt), doch der Titel erstaunte mich aufs Neue. Laut las ich vor: VORSCHLAG ZUR ERWEITERUNG DES EIGENTUMS AUF ANFANGS SECHS MILLIONEN HEKTAR ZUR BEHEBUNG DES ARBEITSKRÄFTEMANGELS UND ZUR WEITEREN EROBERUNG DES AMAZONAS. (Abweichend von der Formulierung, die ich das erste Mal gelesen hatte, hatte Rowwe »anfangs« hinzugefügt und Erschließung durch »Eroberung« ersetzt.) »Was bedeutet das?«, fragte ich. »Ganz einfach. Wenn es uns gelingt, auf diskrete, ja auf sehr diskrete Weise sowie auf einen Schlag Händler, Eingeborene und Kautschuksammler von ihren Ländereien, von Tausenden und Abertausenden Hektar Land rund her182
um zu verdrängen, und wenn dieses ganze Gelände uns zufällt, was wird dann wohl passieren?« »Dann haben wir noch mehr Land zur Verfügung.« »Ja, richtig, aber das ist nicht das Wichtigste. Das Wichtigste wird sein, dass diesen Leuten nichts anderes übrig bleiben wird, als für uns zu arbeiten. Dutzende von Männern werden, wenn sie nicht verhungern wollen, eine Arbeit in Fordlandia annehmen müssen. Auf diese Weise erreichen wir viel schneller unser Ziel, werden Tausende von Tonnen Kautschuk für Detroit produzieren, den Amazonas erobern und werden, mit Henry Ford an unserer Spitze, glücklich werden und dankbar dafür sein. Und der Amazonas wird gedeihen. Können Sie mir folgen?« »Ja, ich verstehe. Aber wie sollen wir dieses Ziel erreichen?« »Wir werden uns etwas einfallen lassen müssen. Damit meine ich Sie, Frank und selbstverständlich auch mich. Wenn Geld gebraucht wird, wird es Geld geben, wenn Politik gemacht werden muss, wird Politik gemacht werden, wenn Gewalt angewendet werden muss, so wird auch das geschehen. Wir werden Gewalt und Kühnheit brauchen. Und jeder wird dazu beitragen müssen, was er kann.« »Wieviel Geld werden wir brauchen?« »Ein paar Millionen Dollar mehr, aber das soll nicht Ihr Problem sein.« »Welche Aufgabe wird denn mir zufallen?« »Frank und ich werden uns mit Beléms Hilfe um Finanzen und Politik kümmern.« »Ich verstehe. Und Detroit hat den Vorschlag abgesegnet?«, fragte ich. »Nun, Detroit als solches nicht, doch Harry, der Henry Ford und Sorensen sehr nahe steht, hat mir sein Wort ge183
geben. Er war mit allem einverstanden, stärkt uns den Rücken und wird den Vorschlag präsentieren.« »Und was erwarten Sie von mir?«, fragte ich. »Dass Sie uns helfen, das Unternehmen in allen Einzelheiten vorzubereiten und dann Ihren Teil übernehmen und durchführen: Sie werden sich um die Vertreibung der Leute kümmern müssen. Wir liefern Ihnen alles, was dazu nötig sein wird. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen augenblicklich Ihr Gehalt verdreifachen und dafür sorgen, dass Sie in einem, spätestens in zwei Jahren einen führenden Posten in einer Niederlassung in Europa erhalten. Wie wäre es zum Beispiel mit London?« »Trinken Sie?«, unterbrach ich ihn. »Was ist denn das für eine Frage? Nein, keinen Tropfen. Ich trinke weder, noch rauche ich.« Ich sah ihn an und dachte nach. Ich hatte das Gefühl, Rowwe sei dabei, den Verstand zu verlieren und begreife in keiner Weise, wie folgenreich und kompliziert die Umsetzung seines Vorschlages war. Ich überlegte, ob Harry ihm mündlich sein Einverständnis gegeben hatte, um ihn in die Falle zu locken. Ich sah mir den Inhalt der Akte an. Er bestand aus nur drei beschriebenen Seiten, der Rest waren mit Pfeilen, Kreisen und Zahlen versehene Karten vom Tapajós. Im Text fand sich eine Fußnote von Caroline. Ich hob den Blick und legte die Akte vor Rowwe auf den Tisch. Die Vorbereitungen zur Durchführung des Vorschlages würden viel Zeit in Anspruch nehmen, wahrscheinlich drei oder vier Monate, jedenfalls lange genug, um auszusteigen, falls ich es für richtig hielte. »In Ordnung. Ich werde mich sachkundig machen, und dann sehen wir weiter«, sagte ich. Rowwe erhob sich und reichte mir seine Hand. »So gefällt es mir«, sagte er. »Sie können fest damit 184
rechnen, dass Ihnen alles zur Verfügung stehen wird, was Sie brauchen. Ich bitte allerdings um Diskretion. Also, Sie wissen Bescheid: nur Frank, Sie und ich.« Wir verabschiedeten uns gerade, als dreimal kurz an die Tür geklopft wurde. Ich sah Rowwe an, und er bedeutete mir, die Tür zu öffnen, hinter der Frank und der in Schwarz gekleidete Dunkelhäutige, den ich mit ihm hatte spazieren gehen sehen, auftauchten. »Mann, so eine Überraschung! Bist du denn schon wieder gesund?«, fragte Frank. »Ja, kerngesund«, antwortete ich. »Entschuldige, dass ich dich nicht im Krankenhaus besucht habe, aber ich musste eine Führungskraft aus Detroit auf ihrem Rückweg nach Belém begleiten. Naja, du weißt ja, wie das ist. Ich möchte dir George vorstellen. Er kommt von Barbados und ist eine Art Chef unter seinen Leuten«, erklärte Frank. »Hallo«, sagte George und neigte leicht den Kopf. »Hallo.« Um Georges kupferfarbenen Mund mit den elfenbeinfarbenen Zähnen lag ein wie eingefrorenes Lächeln. Das Weiße in seinen Augen, die auf eine Weise schauten, aus der man hätte schließen können, dass alles Übel dieser Welt sich in ihnen vereine, war gelblich verfärbt. »Was machen Ihre Leute?«, fragte Rowwe George. Die Männer von den Antillen wurden zum Abholzen und Roden des Urwaldes eingesetzt, und wo das Gelände es zuließ, von Traktoren und anderen Spezialfahrzeugen unterstützt, die in Detroit entworfen worden waren. Von den Brasilianern, die diese Arbeit vor der Ankunft der Antillianer ausgeführt hatten, waren jetzt mehr als hundert dazu eingesetzt worden, unter Jacks Kommando Kaut185
schuksamen in das urbar gemachte Gelände zu setzen, während die anderen dieselbe Arbeit in einem anderen Gebiet weiter südlich ausführten. Holzeinschlag und Rodung waren die gefährlichsten und deswegen am besten bezahlten Aufgaben. Für den Einsatz im Wald bekam man das Doppelte von dem, was die Kautschuksammler verdienten, und dreimal so viel wie die Männer, die für das Pflügen, das Pflanzen, das Sägen, das Setzen der Pfosten, den Anstrich, den Bau, das Verlegen der Kabel und das Stapeln oder das Befördern des Holzes verantwortlich waren. Es war auch ein Vielfaches von dem, was die Wächter, die Tagelöhner und viele ihrer Frauen verdienten, die die Gärten pflegten, Essen kochten und servierten, für die Verpackung und andere nicht spezialisierte Tätigkeiten zuständig waren. Rowwe hatte die Erlaubnis zur Einführung antillianischer Arbeitskräfte von der brasilianischen Regierung mit der Auflage erhalten, dass sich keiner von ihnen aus Fordlandia entfernen dürfe. Diese Männer hatten ihre eigenen Unterkünfte, ihre eigene Kantine und hatten mit Verwaltung und Führungskräften nur über George zu tun. Ihr Arbeitstag war länger – er dauerte dreizehn Stunden – und George, der sie auf Barbados angeworben und hierher gebracht hatte, behielt es sich vor, all jene körperlich zu bestrafen, die die Anordnungen nicht befolgten oder die Regeln verletzten, die er selbst aufgestellt hatte. Unter den Bewohnern Fordlandias ging das Gerücht um, George behielte einen Teil des Lohns seiner Leute für sich. George sah Frank an, dann mich, dann Rowwe. »Alles unter Kontrolle«, sagte er lächelnd. »Sind wir fertig?«, fragte ich Rowwe. »Ja, ja. Machen Sie sich an die Arbeit, wir bleiben in Kontakt.« Frank sah Rowwe an. Rowwe nickte. 186
»Warte«, sagte Frank. »Ich möchte, dass du dir noch ein paar Papiere durchsiehst.« Er ging zum Schreibtisch, öffnete ein Schubfach und kam mit einer Mappe, die keine Aufschrift trug, wieder und händigte sie mir aus. »Wie wäre es mit einer Runde Billard heute Abend?«, fragte er mich. »Einverstanden, wir sehen uns dort«, antwortete ich. Ich ging hinaus und über den Flur in mein Büro. Das Fenster stand offen, und es war kühl. Ich sah mich um. Alles war genau so, wie ich es vor meiner Abreise hinterlassen hatte. Ich setzte mich an den Schreibtisch und öffnete die Akte. Sie enthielt Karten und ungefähre Daten zum Gelände und zu der im Umkreis von sechshundert Kilometern um Fordlandia siedelnden Bevölkerung. Außerdem befand sich darin der Entwurf einer Anfrage an den Gouverneur von Pará, in der er um Auskunft dazu gebeten wurde, unter welchen Bedingungen der Zugriff auf das Gebiet erlaubt werde, welche Gesetzesvorschriften dabei zu beachten seien und wie hoch der Preis für die Operation sei. Ich schloss die Akte, öffnete eine Schublade und legte sie zu der Mappe, die Rowwe mir gegeben hatte. Dann stand ich auf, ging ans Fenster und steckte mir eine Zigarette an. Ich dachte nach. Dann ging ich, ohne genaues Ziel, spazieren, lief durch die Straßen und begab mich zur Pflanzung. Auf einem der Pfade sah ich George, gefolgt von zehn schwarzen Antillianern. Sie hatten einen aufrechten Gang und trugen kurze Hosen und Stiefel, und auf ihren nackten Oberkörpern zeichneten sich sämtliche Rippen ab. Ein paar von den Kautschuksammlern ließen ihre Arbeit ruhen, um ihnen hinterherzuschauen. Gleichmütig setzten George und die Schwarzen ihren Weg bis zum Urwald fort. 187
Der Tag schien nicht enden zu wollen. Enéas hatte ich freigegeben und ich hoffte, Caroline oder Jack in der Kantine oder irgendwo auf der Straße zu treffen, doch ich hatte keinen Erfolg. Abends ging ich mit Frank Billard spielen. Er war sehr freundlich und erkundigte sich nach meinen Reiseerlebnissen. Sein Ton war vertraulich, als habe ich nun die Schwelle zu einer auserwählten Zunft überschritten. Ich blieb wortkarg. Als wir uns an der Tür des Spielsalons verabschiedeten, schlug er mir auf die Schulter und behauptete, dass Ruhm und Reichtum nun in Reichweite lägen. Die Nachtluft war frisch, und ich beeilte mich, nach Hause zu kommen. Ich legte mich in voller Montur auf mein Bett. Verschränkte die Hände im Nacken und dachte an Fordlandia. Ich hätte die Stadt zeichnen können, so lange hatte ich sie an diesem seltsamen Tag, an dem anscheinend nichts von Dauer war, betrachtet. Ich schloss die Augen und schlief ein. Ich musste sehr müde gewesen sein, denn am nächsten Morgen wachte ich in genau derselben Haltung wieder auf.
188
XV
I
ch nahm mein Frühstück zeitig ein und beschloss dann, bei Caroline vorbeizuschauen. Ihr Haus lag ziemlich weit ab von den Wohnsitzen der Nordamerikaner, doch es war geräumig und hübsch und hatte einen gepflegten Vorgarten. Auf der rechten Seite stand in der Nähe der Eingangstreppe ein grün gestrichenes Gartentischchen. Hinter dem Haus wuchs eine Hecke aus schlanken, grau schimmernden Bäumen, und darüber sah man Palmen und dicht belaubte, blühende Bäume stehen. Als ich näher kam, fiel mir auf, wie zwei im Gebüsch verborgene Männer das Geschehen im Haus beobachteten. Einer von ihnen sah mich kommen, flüsterte dem anderen etwas zu, dann flüchteten sie im Laufschritt ins Dickicht. Ich verließ die Straße, postierte mich genau an der Stelle, an der vorher die beiden gestanden hatten und betrachtete von hier aus das Haus. Ein nach Süden gehendes Fenster stand offen, und der zurückgezogene Vorhang gab den Blick ins Innere frei. Ich sah in dem zu mir hin gelegenen Zimmer einen mit Papieren überhäuften Schreibtisch und ein Tischchen mit Bürsten, Spiegeln und Parfümflakons. An den Wänden hing indianisches Kunsthandwerk. Durch das Fenster fiel das Sonnenlicht auf die Papiere und in einem breiten Streifen auf den Boden. Kein Laut drang aus dem Haus zu mir herüber. Ich konnte erkennen, dass die Tür zu einem benachbarten Zimmer ebenfalls offen stand. Dann sah ich Caroline auf einem ungemachten Bett liegen. Sie hatte die geschlossenen Beine von sich gestreckt und 189
die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Von einem Augenblick auf den anderen stand sie auf, ging an den Schreibtisch im Nachbarzimmer, nahm einen Stift, beugte sich hinab, notierte etwas und blieb, den Blick auf die Papiere geheftet, nachdenklich stehen. Ich setzte zwei Schritte nach rechts hinter die Büsche, blickte zur Straße, sah aber niemanden kommen. Als ich erneut ins Haus schaute, hielt Caroline einen winzigen Spiegel in der einen Hand und lockerte mit der anderen ihr Haar. Sie trug ein ziemlich locker sitzendes Hemd, das ihr bis zu den Schenkeln reichte, und darunter keine Hose. Sie legte den Spiegel ab und kehrte in ihr Schlafzimmer zurück. Setzte sich aufs Bett und blieb eine Weile mit geneigtem Kopf und geschlossenen Beinen sitzen. Dann reckte sie sich, streckte ihre Arme, als wollte sie mit den Fingerspitzen das Dach berühren, ließ sie wieder fallen und trat ein zweites Mal an den Schreibtisch. In dem Augenblick, in dem sie sich gereckt hatte, hatte ich ihr Geschlecht sehen können, es war kastanienbraun und üppig behaart. Jetzt ergriff sie den Stift, schrieb etwas und hielt dann wieder inne. Ein paar Sekunden lang blieb sie reglos am Fenster stehen, blickte auf die Uhr und ging in das Schlafzimmer zurück, in dem ein Bett, eine spanische Wand und ein Schrank standen. Sie öffnete den Schrank, nahm eine Hose heraus, strich sie glatt und legte sie aufs Bett. Als sie ihr Hemd aufzuknöpfen begann, gleichzeitig mit einem Arm zur Türklinke langte und die Tür zustieß, verließ ich mein Versteck, trat zurück auf die Straße, steuerte das Haus von vorne an, stieg die Eingangstreppe hoch und klopfte an. Caroline war augenblicklich an der Tür und öffnete sie einen Spalt breit. »Guten Tag, wie weit bis du mit deinen Arbeitsergebnissen? Hast du genug geschlussfolgert?«, fragte ich sie. »Nein, ich bin noch nicht durch damit.« 190
»Ich würde gerne mal den Tanzsalon kennen lernen und dachte, wir könnten vielleicht zusammen hingehen. Hast du heute Zeit?« Caroline zögerte einen Augenblick. »Ja, gut«, antwortete sie dann. »Ich erwarte dich dort heute Abend um sieben Uhr. Einverstanden?« »Ich werde da sein, also bis heute Abend dann.« Sie lächelte und schloss die Tür. Ich klopfte noch einmal. »Ja?« Ich wollte ihr gerade raten, die Fenster zu schließen und die Vorhänge zuzuziehen, beherrschte mich aber noch rechtzeitig. »Ich werde pünktlich sein«, sagte ich. Caroline zog die Augenbrauen hoch. »Davon bin ich ausgegangen«, erwiderte sie. Dann ging ich ins Büro. An einer Straßenecke traf ich Enéas mit vier Tagelöhnern. Er stellte sie mir vor und bat mich, mich um sie zu kümmern. Die vier nahmen ihre Strohhüte ab und warteten auf eine Reaktion. Sie waren schmutzig und verschwitzt. Zwei von ihnen kamen aus Jocotá (sie waren auf meine Initiative hin hier), die zwei anderen waren vor zwei Jahren aus Belém gekommen. Ich bat sie, mit mir ins Büro zu kommen, doch sie weigerten sich. So unterhielten wir uns stehend, auf der Straße, im Schatten eines Baumes. Ich fragte sie, was sie wollten. Nachdem sie einander einige Blicke zugeworfen hatten, schauten sie Enéas erwartungsvoll an; dann ergriff der kleinste und unansehnlichste von ihnen das Wort. Er hielt eine Zigarette zwischen den Fingern. »Wir ertragen das nicht mehr«, brach es aus ihm heraus. »Was ertragt ihr nicht mehr?«, fragte ich. 191
»Alles, alles läuft hier schief.« In Buenos Aires hatte ich einmal eine Demonstration streikender Arbeiter miterlebt. Die Männer, die in der ersten Reihe gegangen waren, hatten Fahnen getragen und die anderen angefeuert. Ich war auf dem Weg zu einem Freund gewesen, als ich an der Ecke einer Allee auf die Demonstranten getroffen war. Ich war stehen geblieben und hatte einen Blick mit einem der Anführer gewechselt. Der Mann hatte eine Faust in die Luft fahren lassen, in seinem Blick hatten aber Angst und Verzweiflung gelegen. Ich war weitergegangen und hatte dann verfolgen können, wie ein paar Querstraßen weiter die Polizei angerückt kam. Kurze Zeit später hatte ich Schüsse gehört, es waren viele Schüsse gewesen. Ich hatte oft an diesen Vorfall denken müssen; vor allem war mir immer wieder jener Mann eingefallen, der trotz seiner offensichtlichen Angst auf mich so kühn gewirkt hatte. Ich erkannte nun im Gesicht des Tagelöhners genau diesen Ausdruck wieder. »Wie heißt du?«, fragte ich ihn. »Mauro«, antwortete er. »Und was läuft schief, Mauro?« »Alles. Aber besonders die Sache mit den ausländischen Schwarzen«, sagte er. »Und was wollt ihr?« Mauro blickte die anderen an. Er holte tief Luft, dann sprach er. Die Lippen unter seiner mit Mitessern übersäten Nase bebten. »Wir wollen, dass sie verschwinden!« »Ist das alles, was ihr wollt?« Mauro und die anderen wechselten Blicke und lachten. »Und wir wollen was anderes zu essen und zu trinken, und zwar das, was uns schmeckt. Das ist kein Leben, mein 192
Weißer«, empörte er sich. Jetzt lag beinahe ein wenig Schalk in seinen Augen. »Und was möchtet ihr essen und trinken?« »Das wissen Sie doch genau, mein Weißer.« »Denken alle so wie ihr?« »Ja, alle.« »Warum erzählt ihr das mir und nicht irgendjemand anderem, den Aufsehern oder Frank zum Beispiel?« »Enéas hat uns gesagt, dass Sie den Leuten zuhören.« Ich sah Enéas an. Er stützte sich auf einen Baumstamm, als sei er kurz davor, zusammenzubrechen. Als er meinen Blick auf sich spürte, richtete er sich auf und warf mir ein Lächeln zu. Ich richtete mich wieder an Mauro. »Warum geht ihr nicht einfach nach Hause, wenn es euch hier nicht mehr gefällt?« »Hier ist auch unser Zuhause«, widersprach er mir. »Geht wieder an die Arbeit, ich werde sehen, was ich für euch tun kann.« »Es ist wirklich nicht mehr zum Aushalten«, wiederholte Mauro kopfschüttelnd, woraufhin er sich umdrehte und die Straße hinunterlief. Die drei anderen folgten ihm zögernd. Ich bat Enéas, mich zum Büro zu begleiten. Dort öffnete ich das Fenster, setzte mich an den Schreibtisch und suchte in der Schublade, in der die Akten lagen, die mir Frank und Rowwe gegeben hatten, nach einem unbeschriebenen Blatt Papier. Ich schrieb Rowwe eine Notiz und ließ sie ihm von Enéas überbringen. »Wir müssen uns unterhalten«, schrieb ich, »die Leute sind mit der Anwesenheit der Schwarzen und mit dem Essen nicht einverstanden.« Enéas machte sich auf und erschien fast unmittelbar darauf wieder. In flüssiger klarer Schrift gab Rowwe mir zur Antwort: »Küm193
mern Sie sich um unseren Plan und nicht um diese Faulpelze. Finden Sie Ihre Namen heraus, damit wir sie feuern können.« Ich knäulte vor Enéas Augen das Papier zusammen und warf es in den Papierkorb. Daraufhin befahl ich Enéas, draußen auf meine Anweisungen zu warten, steckte mir eine Zigarette an und nahm mir Akten vor. Ich breitete sie auf dem Schreibtisch aus, betrachtete Karten und Zahlen; eigentlich musste ich mich schleunigst an die Arbeit machen. Stattdessen starrte ich aus dem Fenster und dachte an die Verabredung mit Caroline. Auch den weiteren Rest des Tages über fiel es mir schwer, mich auf die Arbeit zu konzentrieren. Es war wieder warm und schwül geworden. Am frühen Nachmittag zogen Wolken auf, verdeckten die Sonne, und ein Gewitter brach los. Punkt sieben Uhr erreichte ich den Tanzsalon. Caroline war bereits da. Sie trug eine weiße Bluse und die braune Hose, die sie morgens glatt gestrichen hatte. Das Haar fiel ihr offen über die Schultern. Sie sah wunderbar aus und schien sich über mein Erscheinen zu freuen. Zuvor hatte ich im Laden noch irgendetwas für sie erstehen wollen. Ich hatte mich für einen mit kleinen Edelsteinen besetzten Ring aus Silber entschieden. Ich überreichte ihn ihr nach unserer Begrüßung. Sie streifte ihn sofort über den linken Ringfinger und betrachtete ihn eine Weile. Dann strahlte sie mich an. Ich war stolz. Ich nahm sie beim Arm und führte sie in den Tanzsalon. Vor uns lag eine geräumige Halle mit großen Fenstern und einem Zementfußboden. Im Hintergrund befand sich ein Podest, davor gruppierten sich Tische und Stühle um einen mit gelber Farbe gestrichelten Kreis, der die Tanzfläche kennzeichnete. Auf jedem Tisch lag ein weißes Tischtuch, und darauf hatte man kleine Blumenarrangements platziert. Die Vorhänge vor den Fenstern waren zugezogen, doch hier und da schien das rötliche Sonnenlicht hindurch. Auf dem Podest stand ein Plattenspieler. Ein Kellner schlenderte zwischen den Ti194
schen umher und begrüßte die Neuankömmlinge, sobald sie Platz genommen hatten. Es wurde ausschließlich Fruchtsaft serviert. Auf einem Plakat an der Tür stand, dass Paaren der Zutritt nur in beschränktem Maße gestattet sei und dass auf angemessene Kleidung sowie auf das Tragen von Schuhen Wert gelegt werde. Als wir eintraten, hatte die Musik gerade begonnen. Ein Walzer erklang. Mit unsicheren Schritten imitierte ein Dutzend Paare die Bewegungen, die ein Tanzlehrer vormachte. Es war ein schmaler Italiener mit kindlichen Gesichtszügen und kleinen runden blauen Augen. Er hielt seine Arme der Luft entgegen, als umfange er eine unsichtbare Partnerin, die er, lebhaft und schwungvoll im Walzertakt hin und her tänzelnd, im Kreis herum führte. Die Paare sahen ihm dabei zu, dann stellten sie sich einander gegenüber, gaben sich eine Hand, legten die andere auf die Schulter des Partners (wobei die Männer ihre Hand auf keinen Fall um die Taille der Frauen legen durften) und versuchten, es dem Lehrer, der Schritte und Haltung korrigierte, einigermaßen recht zu machen. Die Frauen musterten mit kurzen verstohlenen Blicken gegenseitig ihre Garderobe. Mir kam diese Szenerie weniger wie eine Tanzstunde vor; sie ähnelte eher der Probe eines Theaterstückes, dessen Aufführung bald bevorstand, an dessen Erfolg jedoch niemand, nicht einmal der Regisseur, so recht glauben mochte. Der Tanzsalon war täglich von sieben bis halb neun Uhr abends geöffnet. Der Lehrer unterbrach, als er Caroline und mich erblickt hatte, augenblicklich seinen Unterricht für unsere Begrüßung und forderte uns auf, mitzutanzen. Er wirkte frustriert, und seine Gestik verriet einen gewissen Ekel und verhaltenen Ärger. »Die Leute da beherrschen zwar ihren Körper, aber tanzen können sie nicht, dazu sind sie zu primitiv«, monierte er auf Englisch. 195
Wir blieben neben der Tanzfläche stehen und sahen den Tanzenden noch eine Weile zu. Die Luft im Salon war stickig. Dann forderte ich Caroline zum Tanzen auf. Ich nahm ihre Hand in meine linke und legte die rechte um ihre Taille. Sie bewegte sich etwas steif, obgleich ihre Haltung gleichzeitig auch etwas Schlaffes hatte. Ihre Hände waren kühl und weich. Während wir tanzten, ließ sie ihren Blick über meine Schulter und über die übrigen Tanzenden schweifen und von einem Gesicht zum anderen gleiten. Wir drehten uns eine Weile zu der langweiligen, längst aus der Mode gekommenen Musik, bis wir feststellten, dass der Lehrer die Schallplatte, die bei unserer Ankunft gelaufen war, ein zweites Mal auflegte. Da entschieden wir uns, spazieren zu gehen und uns ein wenig den Sternenhimmel anzuschauen. Wir schlugen den Weg Richtung Fluss ein. »Du bist sehr schön«, gestand ich Caroline unterwegs. Ein Lächeln ging über ihr Gesicht. Sie hatte den Blick nach oben auf den Himmel gerichtet. Er war klar geworden, doch im Westen braute sich über den Baumwipfeln am Horizont ein neues Gewitter zusammen. Rasch wurde es dunkel. »Ich hoffe, morgen bei der Schiffsfahrt ist das Wetter gut«, sagte sie. »Gehst du etwa auf Reise?« »Ja, ich habe meinen Bericht fertig gestellt, und muss erst nach Belém, dann nach Rio de Janeiro und schließlich nach Kanada.« »Kannst du das nicht aufschieben?« »Nein, mein Vertrag mit dem Fordwerk ist beendet.« »Wirst du denn wiederkommen?« »Ich weiß es noch nicht«, antwortete sie. 196
»Aber würdest du gerne wiederkommen?« »Ich weiß nicht; aus beruflichen Gründen schon, aber ich habe ein schlechtes Gefühl.« »Bist du enttäuscht?« »Nein, erschreckt.« »Was meint Jack dazu?«, fragte ich. Caroline blieb stehen und sah mich an. Dann lachte sie lauthals. »Was hat denn das mit Jack zu tun?« »Das fiel mir nur so ein.« »Das ist typisch. Ebenso gut hättest du mich fragen können, was irgendeiner von den Eingeborenen davon hält.« »Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese ›edlen Wilden‹ deine Entscheidungen beeinflussen.« »Die ›edlen Wilden‹? Was weißt du denn schon über sie! Wenn du es unbedingt wissen willst: Es sind eure Pläne, die mich erschrecken, eure Projekte. Das ist keine Kolonisierung mehr, was ihr vorhabt, das ist schlicht und einfach eine Eroberung, die auf die Schwäche des Gegners baut. Ihr veranstaltet einen gemeinen hinterhältigen Massenmord, den ihr mit dem Verweis auf die Schrullen und den Größenwahn eines einzigen Mannes rechtfertigt oder auch nur scheinbar damit rechtfertigt! Es sind die Wahnvorstellungen eines Mannes, der sich zwar darauf versteht, mechanische Teile zusammenzusetzen und Maschinen zu konstruieren, aber von dem, was es sonst noch gibt, so gut wie keine Ahnung hat – das ist es, was euch leitet!« »Was meinst du? Beziehst du dich auf die Natur?« »Gewissermaßen ja.« »Auch die Natur ist gnadenlos.« »Ja. Aber in der Natur sind die Konflikte nicht konstant, sie verursachen weder Angst noch Schmerzen, und wenn 197
jemand sterben muss, dann zu dem Zweck, dass ein anderer überlebt. Du müsstest wissen, dass es hier nicht um einzelne Teile eines Ganzen geht, die wir nach Lust und Laune kombinieren und zusammenfügen können. In der Natur geschehen die Dinge, ja, sie geschehen einfach, das ist alles. Sie finden jenseits irgendeiner Form der Moral statt – die ihr allerdings wohl haben müsstet. Fordlandia ist für mich nur ein grausames Experiment. Sag mir bitte, was du davon hältst.« »Es geht hier aber doch um Fortschritt, um Zukunft.« »Um Fortschritt, sagst du? Du scherzt. Das war ein Witz, nicht wahr?« »Ja, es war ein Witz. Von einem gewissen Standpunkt aus betrachtet hast du Recht mit deinen Behauptungen.« »Endlich gibt das hier einmal einer zu!«, brach es aus ihr hervor. Wir kamen an dem Platz vorbei, auf dem einige Männer mit Gärtnerarbeit beschäftigt waren, dann liefen wir zum Ufer und schließlich durch eine Seitenstraße zum Kai. Mir stieg der Duft nach frisch gemähtem Gras in die Nase. Auf der Straße standen Pfützen, wir liefen durch roten Schlamm. Ein Traktor rumpelte an uns vorbei und parkte weiter vorne in einem Schuppen neben einer Lagerhalle. Auf dem Kai zogen die Küchenlieferanten Schnüre und Netze aus dem Wasser. Ihre Körbe waren randvoll mit Fischen. Kurz vor dem Kai fanden wir eine Bank, auf die wir uns setzten. Schweigend sahen wir auf den Fluss. Er floss geräuschlos durch die Dämmerung. »Ich hätte gerne mehr Zeit gehabt, dich kennen zu lernen«, brach ich das Schweigen. »Alles deutet wohl darauf hin, dass wir die Zeit nicht auf unserer Seite haben.« 198
»Wann kommt dein Schiff an?«, fragte ich. »Früh, im Morgengrauen.« »Wenn du willst, komme ich, um mich von dir zu verabschieden.« »Ja, gut.« Einen Augenblick lang verharrten wir regungslos. Ich sah Caroline an und bemerkte Spannung in ihrem Blick, als warte sie darauf, dass ich die Initiative ergriff. Alles schien darauf hinzudeuten, dass jetzt mein Part kam, aber mir fehlte der Mut. »Dann verabschieden wir uns jetzt, ich muss noch pakken und ein paar Aufzeichnungen korrigieren«, sagte sie. Sie erhob sich und reichte mir die Hand. »Gute Nacht, bis morgen«, sagte sie. Ich ergriff ihre Hand und zog sie an mich. »Warum tust du das?«, fragte sie. »Weil ich mir nichts sehnlicher wünsche als das.« Ich küsste sie und dann wollte ich sie an mich drücken, doch sie entzog sich jäh. »Bitte nicht, lass das«, bat sie. Sie sah mich noch einmal an, wandte sich ab und ließ mich stehen. Ich sah ihr nach, wie sie in Richtung Stadt davoneilte. Als sie die Straße erreicht hatte, drehte sie sich um und winkte. Ich lächelte ihr zu. Wenig später begann der Regen. Langsam fiel Tropfen für Tropfen. Die Lichter der Stadt waren angegangen, während der Abenddämmerung verbreiteten die Laternen, die immerfort von Insekten umschwirrt wurden, ein dichtes zum Boden scheinendes Licht, das die ersten Sterne noch blasser erscheinen ließ. Mit fortschreitender Dunkelheit jedoch glitten die Lichter funkelnd durch die Stadt, stiegen auf, um sogleich niederzufallen, jagten einander zwischen Bäumen und Häusern 199
hindurch bis in die undurchsichtige Finsternis des Waldes hinein. Ich hatte Lust zu rauchen, aber keine Zigaretten mehr. Ich nahm eine Abkürzung über einen Sandweg, holte mir ein Päckchen Zigaretten von zu Hause und ging in den Spielsalon. Als ich die Straße überquerte, brach ein richtiger Regenguss los. In der Beleuchtung an der Salontür sah der Regen klar und durchscheinend aus. Ich flüchtete in den Türrahmen, zündete eine Zigarette an und sog gierig daran. Jetzt zuckten die Blitze fast pausenlos, und das Regenwasser rauschte in Strömen durch die Abwasserkanäle. Ich dachte über Fordlandia und Carolines Einschätzung nach. Dann sah ich auf die Uhr. Es war fast neun. Ich betrat den Salon. Frank spielte Billard mit Nicky, dem Tanzlehrer. »Was machst denn du für ein Gesicht? Es scheint doch alles prima anzulaufen«, sagte Frank. Ich beschloss, mich an dem Billardspiel zu beteiligen. Der Tanzlehrer versuchte, mit mir ins Gespräch zu kommen. Er redete italienisch und nannte mir Personen, Restaurants und Tanzlokale in Buenos Aires und Montevideo, von denen er annahm, dass ich sie kannte. Aus seinen Worten sprach Langeweile, Müdigkeit, ja so etwas wie ein gegen alles gerichteter Widerwille – Überdruss. Er fand Fordlandia unerträglich, und als er von den Alleen und Promenaden in Buenos Aires, der Untergrundbahn oder der Rambla in Montevideo sprach, klang es, als ob er im Grunde einfach nur bedauerte, dass Fordlandia keinerlei solcher Sehenswürdigkeiten aufzuweisen hatte. Er gehörte zu dieser Sorte Menschen, die allen, denen sie begegnen, die Laune verderben. Ich antwortete mit ein paar Komplimenten und ein paar nichtssagenden Phrasen, um bloß keine Diskussion in Gang zu setzen. Ich hörte den Regen aufs Dach fallen und dachte an Caroline. An diesem Abend verlor ich sämtliche Spiele. 200
XVI
D
ie Manaos – so hieß das englische Schiff, mit dem Caroline abreisen sollte – kam noch vor dem Morgengrauen an. Ich lag im Bett, als ich die Sirene erklingen hörte, blieb aber noch fast eine Stunde liegen und schaute zu, wie es in meinem Zimmer allmählich heller wurde. Dann beeilte ich mich, an den Kai zu kommen. Der Wasserstand des Flusses war gestiegen, und die Strömung war stark. Das Wasser wirkte farblos, doch das Grün des Urwalds schimmerte im Sonnenlicht auf. Die Manaos war eines der besten Schiffe, die den Amazonas berühren und war mit einer großen Besatzung unterwegs. Man hatte zwei Laufstege zum Kai hinunter ausgelegt. Über den dem Ufer am nächsten gelegenen wurden Lasten und Gepäck auf- und abgeladen. Über den anderen, der auf die Mitte der Mole hinabführte, stiegen Passagiere aus und ein. Die Anzahl abfahrender Fahrgäste war um ein Erhebliches höher als die der Ankommenden. Es waren fast alles Tagelöhner, die nach einer Kontrolle durch ein paar Wächter bis zur Abfahrt erwartungsvoll und gut gelaunt am Rand der Landungsbrücke herumstanden. Auf dem Weg zum Kai traf ich Rowwe und Frank, die sich bereits von Caroline verabschiedet hatten. Es begleitete sie João, der Journalist, mit dem ich damals in der Bar von Belém an einem Tisch gesessen hatte. Er war schlanker geworden und trug einen breitkrempigen Hut gegen die Sonne. In seinem blauen Jackett und der weißen Leinenhose erinnerte er an einen Seemann. Er war in Santa201
rém an Bord gegangen und nach Fordlandia gekommen, um für die Folha do Norte zu berichten. Wir erkannten uns sofort wieder und verabredeten uns für später. Kaum hatte ich den Kai betreten, entdeckte ich Caroline. Sie stand mit dem Rücken zum Schiff am Ende der Mole und unterhielt sich mit drei Eingeborenen. Zwei von ihnen waren Frauen, und in dem Mann erkannte ich Teró, den jungen stolzen Krieger des Mundurukustammes. Ich blieb stehen und blickte zum Ufer. Ein einfaches, aus einem mächtigen ausgehöhlten Stamm gefertigtes Kanu war am Steg festgebunden. Ich setzte meinen Weg fort und näherte mich der Gruppe. Die Eingeborenen rückten von Caroline ab, und sie drehte sich mir zu. Lächelnd reichte sie mir die Hand, obwohl sie nicht gerade glücklich schien. Ich ergriff ihre Hand, umarmte sie und küsste sie auf die Wange. Sie ließ es geschehen. Ich sah, dass sie an der linken Hand den Ring trug. »Wie geht es dir?«, fragte ich. »Ich habe ein bisschen Reisefieber, aber ich bin ganz gerührt, dass auch sie alle gekommen sind, um sich zu verabschieden«, sagte sie und wies auf die Eingeborenen. Ich schaute auf Teró. Unsere Blicke kreuzten sich. In seinen Augen bemerkte ich denselben Ausdruck von Drohung, Herausforderung und Hass wie in jener Nacht im Mundurukudorf. »Kennt ihr euch?«, fragte Caroline. »Wir haben uns in seinem Dorf kennen gelernt«, antwortete ich. »Bist du auch traurig, dass ich fahre?«, wollte Caroline wissen. »Sehr. Ich hoffe, du kommst wieder«, sagte ich. »Ich werde es wirklich versuchen, ganz bestimmt.« 202
»Wann kommst du wieder?« »Ich denke, wenn die Regenzeit vorbei ist.« Da erschien Jack. Er gesellte sich zu uns und klopfte mir auf die Schulter. Er wirkte ernst, beinahe bekümmert. Er war in Gesellschaft einer kleinen dunkelhäutigen molligen Frau, die Carolines Hausangestellte gewesen war. Sie begann zu weinen und umschlang Caroline. Jack strich ihr tröstend über die Schultern, doch daraufhin weinte sie nur noch heftiger. Die Eingeborenenfrauen näherten sich schüchtern und umarmten Caroline ebenfalls. Jack und ich tauschten hilflose Blicke. Als die Frauen sich beruhigt hatten, nahm ich Caroline bei der Hand und führte sie ein Stückchen von der Gruppe weg an den Rand des Kais. »Mir gefallen Abschiedsszenen nicht, Caroline«, sagte ich. »Also gehe ich lieber. Ich wünsche dir Glück, und hoffe, dich bald wiederzusehen. Sobald wie irgend möglich.« »Nach der Regenzeit bin ich wieder da«, erwiderte sie. »Versprochen?« »Ja. Ich werde dir schreiben, wann ich wiederkomme.« Ich umarmte sie, dann riss ich mich los. Ich hielt sie noch in den Armen, als Pfiffe erschallten, die von einer am Bug zusammengekommenen Gruppe von Tagelöhnern zu uns hinüber drangen. Die Männer lehnten an der Reling und klatschten Beifall. Ich ließ Caroline zurück, blickte mich noch ein letztes Mal zu ihr um. Abermals trennten sich unsere Wege. Caroline und die Frauen umarmten sich erneut, auch Jack schien ergriffen, und ein paar Schritte dahinter sah ich in der stolzen Haltung eines Königs Teró stehen. Nochmals trafen sich unsere Blicke. Ich sah zu, dass ich fortkam. Auf der Straße, die zur Stadt führte, traf ich Enéas. Er begleitete einen seiner Freunde, der nach Santarém zu203
rückkehrte und trug dessen Koffer. Ich sagte ihm, dass ich ihn sofort für eine dringende Angelegenheit brauchte. Er sah mich gespannt an, überließ den Koffer seinem Besitzer und verabschiedete sich von ihm mit einem langen Händedruck. »Was ist denn los, mein Weißer?«, fragte er mich. »Siehst du den Einbaum da?«, fragte ich und wies auf das Ufer. »Ja. Aber was ist das Problem?«, fragte er. »Es gibt kein Problem, aber du sollst das Boot in den Fluss stoßen, und zwar jetzt, sofort. Dann kannst du dich, wenn du willst, weiter von deinem Freund verabschieden«, sagte ich. Enéas zauderte. »Was ist?«, fragte ich. »Gar nichts, mein Weißer,« sagte Enéas, rührte sich jedoch nicht von der Stelle und wich meinem Blick aus. Daraufhin ließ ich ihn mitten auf der Straße stehen und ging den Weg zurück, den ich gekommen war. Als ich das Einbaumkanu erreicht hatte, schielte ich zum Kai hoch. Die Gruppe rund um Caroline, zu der zwei weitere Frauen gestoßen waren, verabschiedete sich tatsächlich noch immer, Teró hingegen verfolgte aufmerksam jede meiner Bewegungen. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, den Kopf leicht nach links geneigt und stand in der prallen Sonne. Als er sah, dass ich auf den Einbaum zuging, ließ er die Arme fallen und machte einen Schritt nach vorn. Hundert Meter etwa trennten uns voneinander. Ich nahm die Sorge in seinem Blick wahr und grinste. Leise tönende Wellen schlugen gegen den Bug des Kanus. Ich beugte mich über den Bug, umklammerte die Ränder des Bootes mit beiden Händen und schob es mit aller Kraft ins Wasser. Das Kanu schaukelte, dann begann es sich vom Ufer 204
zu entfernen und mit der Strömung davonzuschwimmen. Teró jagte ein Stück den Kai entlang, stierte mich an und sprang ins Wasser, um zu versuchen, das sich langsam flussabwärts entfernende Kanu einzuholen. Ich sah, wie er sich Stoß um Stoß abmühte, um es zu erreichen. Dieser Indianer war mir noch etwas schuldig. Ich fühlte Genugtuung bei der Vorstellung, wie er gedemütigt nach Hause zurückkehrte, doch dann erkannte ich, dass ich mich ähnlich verhielt wie er, als er in seinem Dorf aus lauter Eifersucht meine Liebesnacht mit der jungen Eingeborenen gestört hatte. Ich verabscheue Eifersucht, erst recht, wenn sie unbegründet ist. Sie macht mich krank. Sie hat nichts Gutes. Ich glaube, ich war an jenem Morgen, ob dies begründet war oder nicht, auf Teró genauso eifersüchtig, wie ich es vor einiger Zeit auf Jack gewesen war. Wenn in Buenos Aires derartige Ängste meine Gefühle zu überwältigen gedroht hatten, hatte ich mich mit anderen Frauen abgelenkt. In Fordlandia jedoch war in dieser Beziehung nicht viel zu machen. Jener Zwischenfall mit Teró besiegelte unsere Feindschaft, und er sollte mir nie verzeihen. Mittags traf ich mich mit João, und wir gingen zusammen essen. Im Restaurant erwarteten uns Rowwe und Frank. Während João unterwegs Fotos von der Siedlung machte (er nahm auch eines von mir vor meinem Haus auf), erkundigte ich mich nach seinem Kollegen, dem alten Spanier, dem Abenteurer, in dessen Begleitung er damals in Belém gewesen war. Ich hatte mich inzwischen genauer über den Aufstand der Kautschuksammler von Acre sowie über die Geschehnisse informiert, von denen mir jener Spanier an dem Abend, an dem wir beobachtet hatten, wie die Huren kamen und gingen, so unzusammenhängend berichtet hatte. Insbesondere die Persönlichkeit des Anführers, der die Nachfolge des Spaniers an der Spitze der Bewegung übernommen hatte, hatte meine 205
Aufmerksamkeit erregt. Es hieß, dieser Caudillo namens Plácido de Castro hätte in seiner Verzweiflung über die Unterlegenheit seiner Truppen das Gebiet des südlichen Amazonas durchquert und die Kautschuksammler zum Aufstand gegen die Arroganz der Bolivianer aufgewiegelt. Sein Motto bei dieser Kampagne war schlicht gewesen und hatte »Schafft Männer herbei oder sterbt!« gelautet. Als ich João traf, fielen mir diese Geschichten wieder ein, und ich hätte gerne den Kontakt zu dem Spanier hergestellt, um mehr über diese zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts vorgefallene Episode zu erfahren. »Der Spanier hat vor zwei Monaten das Zeitliche gesegnet«, berichtete João jedoch, und in seiner Stimme schwang nicht die geringste Anteilnahme mit. Das einzige Mal, dass João in meiner Gegenwart wirklich einmal außer Fassung geraten war, war nach einem Essen gewesen. Ich hatte ihn in einem Moment, in dem er mit einer Zigarette im Mundwinkel dabei gewesen war, sich Notizen zu machen, darauf hingewiesen, dass etwas Asche auf seine Hose gefallen war. Rowwe hatte den Tisch im Restaurant wie zu einem Festessen herrichten lassen, mit Servietten in Serviettenringen und den passenden Tellern und Gläsern zu jedem Gang. Auf seine Veranlassung hin servierte man uns Corned Beef (was in jener Gegend ein absoluter Luxus war), verschiedene Salate und zum Nachtisch eine Platte mit Mandeln und Rosinen. João langte zu, als sei er gerade aus einem Krieg zurückgekehrt, und bekam dabei nicht mit, wie überrascht Frank und ich waren, als Rowwe uns nach dem Nachtisch aufforderte, auf den Erfolg Fordlandias mit einem Glas französischen Kognaks anzustoßen. Der Kellner brachte die Flasche, schenkte uns ein und ließ die Flasche auf dem Tisch stehen. Förmlich erhoben wir die Gläser und prosteten einander zu. Dann schob João den Dessertteller beiseite, kramte aus der Brusttasche seiner Jacke 206
ein Heft und einen kleinen Stift und nahm sich einen Fragebogen vor. Er stellte uns unzählige Fragen bezüglich unserer Pläne, unserer Beziehung zum Gouverneur, erkundigte sich nach der Erfahrung, die wir mit der Schule gemacht hatten, nach dem Verhalten der Leute und nach der Persönlichkeit Henry Fords. Es war Rowwe, der die Antworten gab, doch seine Sätze blieben häufig unvollendet. Er bot uns ein weiteres Mal von dem Kognak an, und wir stießen auch dieses Mal an, und zwar – auf sein Drängen hin – auf Brasilien und die Kolonisierung des Amazonas. Rowwe fuhr sich mit dem Arm über die Augen, eine Haarsträhne war ihm über die Stirn gefallen und ich bemerkte einen leichten Tremor seines Kopfes. Sein Gesicht hatte einen idiotischen Ausdruck angenommen. Schlagartig bat er uns, ihn für einen Moment zu entschuldigen, erhob sich schwerfällig und suchte die Toilette auf. Wir sahen seinem Zickzacklauf zu, bis die Tür sich hinter ihm schloss. Erneut hoben wir die Gläser und führten die Unterhaltung fort. »Was meinst du? Welchen Ausgang wird dieses Experiment, dieser Konflikt zwischen den Traktoren und der primitiven Welt, dieser Kampf des großen amerikanischen Kolosses gegen die Lebensgewohnheiten einer Handvoll zerlumpter Dunkelhäutiger nehmen?«, wollte João von mir wissen und glotzte mich dabei mit seinen hervorquellenden Augen prüfend an. »Natürlich wird sich die Vernunft durchsetzen«, erwiderte ich. »Und wer folgt hier gerade anstelle der Vernunft der Tollheit der Liebe? Hä? Wer lässt hier seinen Gefühlen freien Lauf und flirtet mit dieser jungen Dame?« Das kam von Frank. Ich starrte ihn fassungslos an. »Das weiß ich nicht, mein Freund. Das ist hier wohl die Jahrhundertfrage«, versetzte ich. 207
»Gut. Alles in Ordnung. Und Herr Ford ist zufrieden mit dem Stand der Dinge?« »Das nehme ich jedenfalls an«, antwortete ich. »Und die Männer von den Antillen, haben sie sich gut eingefügt?« »Ja, vollkommen problemlos. Sie arbeiten gut, und sie werden gut bezahlt. Was könnten sie mehr verlangen?«, antwortete Frank. »Und die Leute sind mit Fords Methoden einverstanden?« »Natürlich, man braucht ihnen ja nur zuzuschauen«, wiederholte Frank und wies zu einem der Fenster. João und ich blickten hinaus. Auf der fast unbelebten Straße waren nur vereinzelt mit ihrer Arbeit beschäftigte Männer zu sehen. In einer Ecke erkannte ich, an einen Kastanienbaum gelehnt, Mauro, den Tagelöhner, den mir Enéas vorgestellt und mit dem ich kürzlich gesprochen hatte. Er stand mit einem anderen Mann zusammen, und sie beobachteten uns beide. Sie schienen nur darauf zu warten, dass wir unsere Mahlzeit beendeten. Ich sah auf die Uhr. Es war schon nach zwei, und eigentlich sollten die Männer längst an ihrem Arbeitsplatz sein. Ich ließ Mauro nicht aus den Augen. Er hatte sich jetzt von dem Baum gelöst und machte mir mit der Hand Zeichen, was weder Frank noch João registrierten. Ich stand auf und erklärte, ich käme gleich wieder, ich hätte nur vergessen, meinem Assistenten noch einen bestimmten Auftrag zu geben. Sie machten sich darüber lustig und spielten auf die Wirkung des Kognaks an. Ich trat auf die Straße und lief direkt auf Mauro zu. Er ging mir ein paar Schritte entgegen, nahm seinen Hut ab und streckte mir die Hand entgegen. Statt darauf einzugehen, packte ich ihn am Arm und zerrte ihn beiseite, bis ich sicher war, dass man uns vom 208
Restaurant aus nicht mehr sehen konnte. Ich fuhr ihn an und befahl ihm, unverzüglich an seinen Arbeitsplatz zurückzukehren. Mauro legte eine Hand aufs Herz und erklärte, sie warteten doch auf den Journalisten, dem sie von ihren Problemen berichten wollten. Ich wiederholte, er solle sich davonscheren, ich wolle mit ihren Angelegenheiten nichts zu tun haben. In Mauros Blick mengte sich Enttäuschung. Ich ließ ihn stehen, ging ins Restaurant zurück und nahm meinen Platz ein. Inzwischen war Rowwe wieder aufgetaucht. Er war blass, bestimmte aber den Gesprächsverlauf. Wortreich pries er die grandiosen Leistungen, die das Fordwerk vollbrachte. Durch das Fenster verfolgte ich, wie Mauro und sein Freund sich langsam entfernten. Mauro hinkte leicht. Wir füllten die Gläser. Rowwe bedeutete mit der Hand, dass er keinen weiteren Schluck mehr wollte. Ein letztes Mal prosteten wir uns zu. Diesmal auf Henry Ford. João gab eine Anekdote zum Besten und forderte mich auf, es ihm gleich zu tun. Ich erzählte von dem Ingenieur, der mitten im Gebirge einen Staudamm baut und nach ein paar Wochen die Vorarbeiter fragt, ob es in der Gegend irgendwo Frauen gebe. Keiner außer João verstand, worum es ging, und er bemerkte, er kenne den Witz, nur spiele sich seine Version im Urwald ab. João blieb ein paar Tage in der Stadt. Zu Rowwes Missfallen verbrachte er einen großen Teil seiner Zeit mit Jack und interviewte auch noch andere Angestellte. Als wir uns dann verabschiedeten, erzählte er mir, Plácido de Castro, jener Anführer der Kautschuksammler, über den ich gerne mehr gewusst hätte, wäre seinerzeit, als er in einen Hinterhalt geriet, ermordet worden. »Soll ich dir sagen, was seine letzten Worte waren?«, fragte er mich. Ich bejahte eifrig. »Er war erregt. Und er zitierte: ›Wer zu leben versteht, der ist auch ein Meister im Sterben‹.« 209
XVII hörte ich, wie jemand am Fenster vorbeihastete, Z uerst dann drangen von fern Rufe und Schreie zu mir. Etwas explodierte und ließ die Erde erbeben. Es schien vom Sägewerk zu kommen. Kurz darauf hörte ich Schüsse fallen, noch mehr Stimmen und Schreie und das Geräusch hastig gesetzter Schritte im Gang. Ich unterbrach meine Lektüre, ließ alles liegen und eilte ans Fenster. Rowwe, Frank und drei mit Karabinern bewaffnete Wächter stürmten am Fenster vorbei. Hinter einer geschlossenen Tür hörte ich eine Stimme auf Englisch rufen: »Wilde, es sind Wilde, man sollte sie umbringen!« Ich hastete aus dem Büro auf die Straße. Verstört und wild gestikulierend irrten die übrigen Nordamerikaner und einige der brasilianischen Buchhalter durch die Flure. Sie trugen die Geldkassetten bei sich und verschanzten sich in Rowwes Büro. Auf der Straße hatte man zwanzig Wachmänner das Gebäude umstellen lassen. Die Männer rührten sich nicht, sie warteten auf ein Kommando, zielten aber mit ihren Gewehren auf die Leute, die sich, hundert Meter weiter unten in eine langsam die Straße füllende brodelnde Masse verwandelt hatten. Von überall her rannten Männer herbei; unter ihnen waren Büroangestellte, Aufseher und Ärzte. Sie durchquerten den Sicherheitsgürtel der Garde Richtung Gebäude und suchten darin Unterschlupf. Weitere Gruppen von Tagelöhnern und Kautschuksammlern tauchten auf, schlossen sich der Menge jedoch nicht an. Sie schienen aus dem Nichts zu kommen. Mit einem Mal waren sie da, als seien sie be210
stellt worden, um Zeugen eines tragischen Finales zu werden. Auf dem Boden vor der Menge lagen fünf Leichname, darunter die dreier antillianischer Schwarzer. Weiter hinten sah man Lagerhallen in Flammen aufgehen und eine schwarze Rauchsäule zum Himmel aufsteigen. Das Getöse von Flammen, einstürzenden Pfeilern und Wänden, Glasscheiben, die auf dem Boden zerbarsten, schallte bis zu dem Hauptgebäude herüber, in dem auch ich mich befand. Immer wieder mischten sich Jubelrufe unter den Lärm. Es war elf Uhr morgens, und der Aufstand hatte vor zwei Stunden begonnen. Einmal wöchentlich war Zahltag in Fordlandia. Jeden Samstagmorgen bildete sich dann vor den Büros in der Nähe des Sägewerks eine lange Schlange erwartungsvoller Arbeiter, die ihren Lohn in Empfang nehmen wollten. In aller Frühe waren die Kautschuksammler an der Reihe und diejenigen, die in der Pflanzung tätig waren. Auf sie folgten, in Tätigkeitsgruppen geordnet, alle Übrigen. Die Kautschuksammler waren übereingekommen, sich so aufzustellen, dass die Ältesten unter ihnen ganz vorne stehen durften, um als Erste ihr Geld ausgehändigt zu bekommen. An jenem Morgen jedoch hatten die Antillianer, insbesondere einige jüngere Männer, diese Sitte nicht respektiert. Die Kautschuksammler hatten zunächst mit Ermahnungen, dann mit Puffen und Stößen die Schwarzen zur Einhaltung der Regeln zu bewegen versucht und einem greisen Pflanzer den Vortritt gelassen. Einer der Antillianer, der jung, jähzornig und impulsiv war, hatte daraufhin ein kurzes Messer aus seiner Kleidung hervorgezogen und es vor dem Greis aufblitzen lassen. Der Alte hatte sich auf den Jungen gestürzt und daraufhin kalt den Stahl in seinen Unterleib eindringen gespürt. Nach zwei Stichen hatte der Alte sich vornüber gebeugt, war zwei Schritte zurückgewi211
chen, getaumelt und bäuchlings zu Boden gefallen. Ein Kautschuksammler hatte den Jungen mit einem Fausthieb zu Boden gestreckt und dann auf den Liegenden eingetreten. Dieser Augenblick war der Auftakt gewesen zu all dem, was auf den eigentlich heiter beginnenden Morgen gefolgt war: ein jäh einsetzender Strudel von sich hochschaukelnder Gewalt, die schließlich in Geschrei und Blutvergießen mündete. Die übrigen Kautschuksammler hatten nach dem Übergriff auf den Alten die jungen Antillianer angegriffen, sie vor den Büros umzingelt und nach einem ungleichen Nahkampf die Auseinandersetzung zu ihren Gunsten ausfechten können: Mit Steinen, Stöcken, Hacken und Spaten waren sie auf sie losgegangen und hatten sie schließlich erstochen. Danach hatte sich ihr Zorn gegen die anderen Antillianer gerichtet, die panisch Richtung Urwald geflohen waren und sich in einer noch unfertigen Lagerhalle verbarrikadiert hatten. Ein paar Wächter hatten versucht, die Kautschuksammler mit einer Gewehrsalve aufzuhalten, dabei wurden vier Männer verwundet und einer getötet. Ein Teil der Kautschuksammler hatte daraufhin von der Jagd auf die Antillianer abgelassen und dafür den Wächtern nachgesetzt. Sie hatten einen von ihnen bei seinem Versuch, auf einen Baum zu gelangen, ergriffen, ihn an den Haaren zu einem höher gewachsenen Baum geschleift, ihm einen Strick um den Hals gelegt und ihn kurzerhand aufgehängt. Die Masse der Leute hatte den Schuppen erreicht. Unterwegs hatte man mit Petroleum gefüllte Fässer organisiert, Tür und Fenster des Schuppens mit dem Brennstoff getränkt und angesteckt. Das Getöse des explodierenden Treibstoffs hatte den ganzen Ort durchlaufen. Die Menge hatte eine Weile den Flammen zugesehen und sich dann die Zentralbüros vorgenommen. Dabei hatten die Aufgebrachten ihre Wut an allen anderen Gebäuden ausgelassen. 212
Auf dem Weg zu dem höher gelegenen Teil der Stadt hatten sich ihnen weitere Aufständische angeschlossen. Außerdem hatten sie Neugierige aufgewiegelt, Panik unter den Behörden und den Angestellten ausgesät und deren überstürzte Flucht bewirkt. Hundert Meter vor den Büros, als die Truppe, in Reih und Glied kniend, damit gedroht hatte, das Feuer zu eröffnen, waren sie zum Stehen gekommen. Sie trugen fünf Leichname bei sich und hatten sie vor sich auf dem unebenen Straßenboden niedergelegt. Ich war entsetzt. Ich stand hinter den Reihen der Garde und sah aus den Augenwinkeln Frank sich neben mich stellen. Schweißtropfen rannten ihm über die Stirn, und er ließ sie laufen. Ich spürte ganz deutlich seine Angst. Rein zahlenmäßig war die Menge uns weit überlegen. Ich fragte ihn, was passiert sei. »Die reinsten Verbrecher sind das«, stieß er aus. Plötzlich lösten sich zwei Männer aus der Masse und kamen auf uns zu. Einer von ihnen war Mauro. Sie gingen langsam, schleppend, wie Greise. Frank rief den Chef der örtlichen Wachtruppe herbei. Es war ein Brasilianer aus Manaus, er war groß, hatte einen gelblichen Teint, war sehr dick und sah aus, als sei er früher noch dicker gewesen, denn die Haut hing schlaff und faltig an ihm herunter, dazu hatte er eine Glatze und auch die Bögen über seinen Augen waren kahl. Mit der rechten Hand hatte er eine Pistole gezückt. »Sieh nach, was die beiden wollen, und sag deinen Leuten, sie sollen das Feuer eröffnen, sobald ich das Zeichen dazu gebe«, befahl Frank. Der Dicke machte eine Verbeugung, sprach mit einem seiner Adjutanten und ging dann den beiden Kautschuksammlern mit entschlossenen Schritten entgegen. Seine Garde wartete gespannt und hielt weiter die Menge in 213
Schach, die beiden Fronten trafen sich auf halbem Weg. Ich sah Frank an, schlängelte mich durch die Wachen und lief schnellen Schrittes auf die drei Männer zu. Ich verstand, wieso all das passierte, aber ich hatte auf keinen Fall das Gefühl, dafür verantwortlich zu sein. Ich wollte nur nicht passiv abwarten und weiter im Ungewissen bleiben. Ich war den dreien bereits ziemlich nahe, als jemand meinen Namen rief. Ich ließ mich nicht irritieren. Mauro hatte mich erkannt, er stieß seinem Gefährten den Ellbogen in die Rippen und deutete ein Lächeln an. Er hatte eine Zigarette im Mundwinkel hängen. Als er dem Dicken von Angesicht zu Angesicht gegenüber stand, begann er zu sprechen. Der Brasilianer verpasste ihm eine heftige Ohrfeige und Mauros Zigarette fiel ein paar Meter weiter zu Boden. »Rauch nicht, wenn du mit mir sprichst, verstanden?«, fuhr der Dicke ihn an. Mauros Gesicht lief rot an, doch er sagte zunächst nichts. Dann fragte er, ob er seine Zigarette wieder aufheben dürfe. Der Dicke verneinte. Mauro trat dennoch einen Schritt zur Seite, beugte sich nieder und streckte seine Hand nach der Zigarette aus. Der Dicke entsicherte die Pistole und zielte auf Mauros Kopf. »Noch eine Bewegung, und ich blase dir das Hirn aus dem Schädel, Caboclo«, fauchte er. Schweißtropfen rannen mir in die Augenbrauen. Ich schob mich zwischen den Chef und Mauro, bückte mich, hob die Zigarette auf und nahm einen Zug. Dann reichte ich sie Mauro. Mauro richtete sich auf, nahm die Zigarette in die eine Hand und wischte sich mit der anderen über seine blutenden Lippen. Dann sprach Mauros Gefährte den Dicken an. Was er sagte, konnte ich nicht richtig verstehen, doch der Dicke holte, ohne die Pistole zu senken, aus, als wolle er ihm einen Schlag gegen den Kopf versetzen. 214
Dann drehte er sich mit einem zornigen Blick zu mir um. Mir löste sich der Schweiß aus den Brauen, er perlte langsam über meine Augenlider. Ein paar Sekunden standen der Brasilianer und ich einander regungslos gegenüber. Mir war klar, dass ich ihn in eine ungemütliche Lage gebracht hatte. Ich sah nach hinten, wo die Wache stand, und mein Blick fiel auf Frank, neben dem Jack stand. Ich hob eine Hand, dass er warten solle, und wandte mich daraufhin an den Dicken. »Stecken Sie die Pistole ein und bringen Sie in Erfahrung, was die Leute wollen«, wies ich ihn an. Der Dicke zögerte, schaute in Franks Richtung und wich dann ein paar Schritte zurück. Mauros Gefährte stammelte, die Schwarzen sollten verschwinden. Ich versprach ihm, mit Rowwe darüber zu sprechen, dies aber nur unter der Bedingung, dass ein Teil der Leute sofort in Begleitung einer Patrouille aufbräche, um das Feuer zu löschen und weitere Todesopfer zu vermeiden. Der Mann war einverstanden. Mauro näherte sich, setzte zum Sprechen an, aber ich schnitt ihm augenblicklich das Wort ab und befahl ihm, sich mit seinem Gefährten darum zu kümmern, dass die Abmachung eingehalten werde. Auf dem Weg zu Rowwes Büro trug ich dem Chef der Wache auf, schleunigst eine Patrouille loszuschicken, die die Kautschuksammler bei den Löscharbeiten unterstützen sollte. Der Dicke gehorchte, war aber immer noch wütend. Eine Weile später, von George aufgehetzt, im Flur vor Rowwes Büro, stürzte er sich unter den Augen sämtlicher Angestellter auf mich und forderte mich zum Kampf auf, George neben ihm, seine elfenbeinfarbenen Zähne blekkend. Ich sagte ihm, ich würde gerne auf sein Angebot eingehen, dächte aber, dass es besser sei, wenn er erst einmal Armbanduhr und Pistole ablege. Dann nahm ich Maß und trat ihm – als er gerade mit dem Öffnen des Pi215
stolengürtels beschäftigt war – mit der Kraft meines ganzen Körpers zwischen die Beine. Der Dicke schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen, griff sich mit den Händen zwischen die Beine und beugte sich vornüber. Ich machte einen Schritt, nur einen einzigen Schritt, zur Seite und blieb in der Entfernung stehen, aus der ich ihm gut einen Schlag in den Nacken versetzen konnte. Ich faltete die Hände, hob die Arme und ließ sie dann kurz und schnell auf den Fettring fallen, der seinen Hals mit dem Rücken verband. Der Dicke wimmerte vor Schmerzen und fiel auf die Knie. Die Verhandlungen mit Rowwe waren weniger hart, als ich erwartet hatte. Als ich in sein Büro trat, waren seine Augen vor Angst geweitet. Sämtliche Nordamerikaner sowie vier brasilianische Angestellte hatten sich bei ihm eingefunden (wobei Frank und Jack erst nach mir eintrafen). Er war nervös und tigerte, Verwünschungen ausstoßend, durch den Raum. Er wirkte dabei hilflos und aggressiv, schimpfte über die Leute, den Urwald und über das Schicksal, das ihn in seine missliche Lage gebracht hätte. In seinen Worten schien Hass mitzuschwingen, doch sie zeugten im Grunde vor allem von Schwäche und Verwirrung. Zum ersten Mal fühlte ich mich ihm überlegen. Ich merkte an, er solle sich beruhigen, wir müssten bereden, wie wir der Lage Herr werden könnten. Ohne sein hysterisches Hin- und Hergelaufe zu unterbrechen, forderte er mich auf, zu sprechen. Ich stellte mich vor ihn, verbaute ihm den Weg und sagte, ich würde mit ihm nur dann reden, wenn er alle außer Frank und Jack hinausschicke. Um weiter seine Runden drehen zu können, stieß mich Rowwe brüsk zur Seite und beschimpfte mich und alle anderen lauthals. Dann kam er meiner Bitte nach und forderte die Anwesenden auf, uns allein zu lassen. Frank und Jack, die 216
mir bis zu Rowwes Büro durch eine Art Spalier gefolgt waren, das Angestellte und Wächter nach der Konfrontation mit den Arbeitern zu meinem Schutz gebildet hatten, hörten sich schweigend unser Gespräch an. »Man muss die Aufständischen rausschmeißen und die Gewalttätigen erschießen«, sagte Rowwe. Ich blickte ihm fest in die Augen, sah die Angst in seinem Gesicht und fasste Mut. »Sie hingegen wollen, dass deine Antillianer und der Tanzlehrer verschwinden, und außerdem wollen sie, dass man sie etwas anderes essen und trinken lässt. Sie haben mir eine Stunde gegeben, um ihre Forderungen zu überdenken. Wenn wir nicht nachgeben, drohen sie damit, die ganze Stadt abzubrennen und sich dann mit dem ersten Schiff davonzumachen«, sagte ich. »Was wollen sie denn? Champagner und Kaviar etwa?«, fragte er. »Nein, schwarze Bohnen und Schnaps«, antwortete ich. »Man sollte diesen Haufen Idioten rausschmeißen«, murmelte er. Dann trat er an seinen Schreibtisch und ließ sich schwer in den Sessel fallen. Auf dem Tisch lag ein zwei Wochen altes Exemplar der Folha do Norte aufgeschlagen. Ein Foto Rowwes, auf dem er mit einem falschen Lächeln auf eine Gruppe von Traktoren, die im Urwald zu Gange waren, wies, illustrierte den Aufmacher. Er war so stolz auf diesen Artikel, dass er ihn für seine Angehörigen und für die Büros in Detroit fotokopieren und übersetzen lassen wollte. Die Überschrift des von João geschriebenen Artikels lautete: »Für Fordlandia, den Ausgangspunkt der neuen amazonischen Zivilisation, werden monatlich eine Million Dollar ausgegeben. Hier wird nach Yankeemanier gearbeitet und 217
Alkohol gibt es keinen.« Rowwe senkte den Kopf und schlug mit der Faust auf die Schreibtischplatte. »Nein«, sagte er. »Was meinen Sie damit?«, fragte ich. Rowwe antwortete nicht gleich. Er saß mit gesenktem Kopf da, die Ellbogen auf die Knie gestützt, und starrte auf seine Hände. Frank und Jack traten einen Schritt nach vorn und stellten sich neben mich. Ich bat Jack um eine Zigarette. Schnell zog Jack zwei Zigaretten aus seiner Brusttasche, eine für mich und eine für sich. Auch Frank bat um eine. Rowwes Blick war weiterhin auf seine Hände gerichtet, ein Bild der Verzweiflung. Jack und Frank rauchten hastig, mit tiefen Atemzügen. Ich sah zum Fenster hinaus. Einige brasilianische Angestellte standen in einer Gruppe zusammen und beobachteten unsere Versammlung. Ich schloss das Fenster. »Warum haben wir nur eine Stunde Zeit für die Entscheidung?«, fragte Frank. »Eine Stunde ist Zeit genug, um eine Entscheidung zu treffen«, erwiderte ich. »Ich habe keine Probleme mit den Vorschlägen dieser Bastarde. Wir könnten die Arbeit straffer organisieren und ohne die Antillianer genauso gut vorwärts kommen«, schlug Jack vor. Frank sah auf und durchbohrte ihn mit seinem Blick. »Du hast Schuld an all dem, was hier abläuft«, sagte er. Jack ballte eine Hand zur Faust und hielt sie Frank vors Gesicht. »Noch so einen Spruch, und du hast keinen einzigen Zahn mehr im Maul«, drohte er. »Und du keine Arbeit, keinen Lohn, keine Unterstützung mehr von uns! Scher dich doch mit deinem famosen Motor zurück ins Gefängnis nach Detroit!«, versetzte Frank. 218
Jack senkte die Faust und stellte sich ans Fenster. Dann hob er die Faust erneut und schlug die Fensterscheibe ein, die klirrend auf dem Boden zersprang. Die Brasilianer, die hinter dem Fenster gelauscht hatten, rannten erschrocken davon. Rowwe hob den Kopf. »Nein«, sagte er nochmals. Ich machte einen Schritt vorwärts und stützte mich mit meinen Händen auf den Schreibtisch. Starrte ihn an. »Worauf beziehen Sie sich?« »Detroit darf auf keinen Fall etwas hiervon erfahren, das darf alles nicht bekannt werden … niemals …« »Was sollen wir den Leuten denn sagen?« Rowwe stöhnte. Schlagartig sprang er auf, hastete mit großen Schritten durch das Büro, riss eine Schublade des Archivs auf, packte eine Akte (in der sich mit großer Wahrscheinlichkeit der Plan über das Projekt befand) und hielt sie mir fuchtelnd entgegen. »Und was machen wir hiermit? Hä? Was machen wir damit?«, brüllte er. »Rowwe, hören Sie mir zu! Diese Leute sind fähig, uns bei lebendigem Leib zu verbrennen, wenn sie keine Antwort kriegen!«, schrie ich zurück. Rowwe strich sich mit einer Hand über die Stirn und erwiderte dann mit veränderter, fast zitternder Stimme: »In Ordnung. Kümmern Sie sich mit Frank zusammen darum, dass die Antillianer und der Tanzlehrer ihre Sachen packen.« »Und was ist mit dem Essen und Trinken?« »Nur sonntags.« »Und das Kino?« »Wer hat von einem Kino gesprochen?« 219
Ich wies auf Frank. Der sah mich erstaunt an. »Wir«, sagte ich. »Ich werde in Belém um einen Projektor und Filme bitten«, sagte Rowwe. »Jetzt lassen Sie mich bitte allein.« Frank bat mich, den Beschluss den Kautschuksammlern mitzuteilen. Er übernähme es, mit dem Tanzlehrer und mit George und seinen Antillianern zu sprechen. Ich verließ das Büro. Draußen wartete, voller Spannung, der Großteil der Angestellten; der Wachtmeister harrte zusammen mit George immer noch darauf, sich mit mir prügeln zu können. Als ich auf die Straße kam, zielte die Wache nach wie vor auf die Menge, die eine fast vorbildliche Aufstellung eingenommen hatte. Enéas lief mir entgegen und schloss sich mir an. Er schritt würdevoll, ohne auch nur eine einzige überflüssige Bewegung zu machen, neben mir her. Der Himmel war strahlend blau, und die Luft roch nach Rauch und Asche. Mauro kam auf mich zu und fragte, ob die Antwort positiv ausgefallen sei. Ich nickte und ging weiter. Mauro lächelte. Ich blieb vor der Menge stehen. Noch immer lagen die Leichname am Boden. Die Augen des einen Antillianer waren weit geöffnet, und das Blut, das aus seinem Hals rann, hatte ein Pfütze neben seinem Kopf gebildet. Über den Toten schwirrten die Fliegen. Ich kletterte auf einen Petroleumtank und verfolgte, wie die Leute sich um mich herum versammelten. Dann blickte ich über die Menge hinweg. Die Straße führte leicht bergab, und ich hatte fast die ganze Stadt im Blick. Das Feuer in den Schuppen war am Erlöschen, und die Männer der Patrouille waren zusammen mit einigen anderen Leuten dabei, die letzten Flammen zu ersticken. Ich sah ein kleines Lastschiff sich dem Kai nähern. Das Deck schimmerte in der Sonne. Ich schwenkte mit meinem Blick zurück zu der vor mir versammelten Menge; in den Gesichtern spiegelte sich Angst wider. Frauen waren hinzugekommen. 220
Ich nahm wahr, dass die Leute sich darum drängten, mich sehen zu können. Ich hatte das Gefühl, alle Macht habe sich auf mich konzentriert, und dass ein paar Worte reichen würden, um die Ereignisse zu einem Ende zu bringen. Mein Blick kreuzte sich mit dem Mauros, und ich betrachtete die schmutzigen, verschwitzten Gesichter um ihn herum. Dann setzte ich an: »Caboclos«, sagte ich, »wir haben beschlossen, die Schwarzen zurückzuschicken und haben auch entschieden, dass ihr sonntags essen und trinken dürft, worauf ihr Lust habt. Beteiligt euch jetzt an der Wiederherstellung dessen, was ihr zerstört habt und bestattet die Toten, alle Toten! Jetzt ist Schluss!« Die Leute brachen in Jubelgeschrei aus, und die, die in den vorderen Reihen standen, machten Anstalten, mich auf ihre Schultern zu heben. Ich wehrte ab und war, da sie insistierten, dazu gezwungen, sie mit Enéas Hilfe abzudrängen. Anschließend löste sich die Menge auf, und ich suchte den Schatten eines Baumes auf. Ich blieb alleine in seinem Schutz sitzen und sah zu, wie einige zurück zur Pflanzung gingen, andere sich aufmachten, um sich um die Beseitigung der Verwüstungen zu kümmern, und wie eine kleine Gruppe, unter der Ärzte und Polizisten waren, sich der Toten annahm. Dann tauchten Frank und Jack auf. Nach kurzer Zeit war die Straße ruhig und leer. Nachts veranstalteten die Kautschuksammler ein Fest in einer neben ihren Baracken verlaufenden Passage. Jack und ich waren die einzigen Ausländer, die daran teilnahmen. Schnaps floss, es wurde Musik gemacht und getanzt. In der Baracke selbst fand eine improvisierte Trauerfeier für die Kautschuksammler statt, und die Leute kamen und gingen. Manche weinten. Ich sah Frauen ganz in Schwarz gekleidet und einige Männer Trauerflor tragen. Zwei Frauen, die neben uns stehend leise wimmerten und dann 221
das Fest verließen, berichteten uns, dass man die Kadaver der Antillianer in den Fluss geworfen habe. Ein auf Stühlen neben der Baracke stehendes Männerquartett spielte und sang fröhliche Lieder. Man bot uns Schnaps an, doch Jack und ich tranken lieber den Whisky, den wir selbst mitgebracht hatten. An einer Straßenseite hatten wir, am Boden sitzend, zusammen mit Antonio und zwei weiteren brasilianischen Ärzten eine kleine Runde gebildet. Der Mond stand hoch am Himmel, und die Stimmen der Nacht – Insekten, oder was auch immer es gewesen sein mag – störten uns nicht. Wir leerten zwei volle Flaschen. Irgendwann sah ich Enéas vorbeikommen. Ich rief ihn, lud ihn zu einem Schluck ein, und wir tranken uns zu. Um Mittemacht ging Jack nach Hause, um seine Gitarre zu holen, dann versuchte er erfolglos, das Quartett zu begleiten. Später ließ er die Gitarre bei uns und tanzte mit ein paar Frauen der Tagelöhner. Er sah glücklich aus. Die Tänze waren Schwindel erregend schnell, und die Tänzer bewegten sich meisterhaft und unbeschwert. Ich bekam Lust, den Tanzlehrer zu suchen und ihn an der Nase herbeizuziehen, um ihm zu zeigen, wie Körper sich zum Klang von Musik zu bewegen in der Lage waren. Eine Frau, die allein gekommen war, schloss sich unserer Runde an. Wir sprachen über Belangloses. Sie schien ergriffen. Dann fing sie an zu weinen und umarmte mich. Sie trug ein rot und weiß gestreiftes Kleid. Das glatte schwarze Haar und ihre ausladenden Brüste waren das Beste an ihr. Als ihre Tränen versiegt waren, nahm ich sie bei der Hand, verabschiedete mich von der Gruppe und nahm sie mit nach Hause. Nach ein paar Tagen hatte der Alltag in Fordlandia wieder Einkehr gehalten. Das Leben derer, die auf der Pflanzung arbeiteten, ging weiter wie zuvor. Sicher kehrten viele Tagelöhner in ihre Heimat zurück, sie taten das jedoch nicht, weil sie Repressalien von Seiten der Aufseher oder 222
der Wächter fürchteten, sondern weil sie die aufgetragene Disziplin schlicht und einfach nicht mehr ertrugen. Sie hatten begriffen, dass Anordnungen, jede Art von Anordnungen und Regeln ihnen fremd waren, dass sie etwas waren, was sie nicht begreifen konnten und was sie einschüchterte. Die, die blieben, richteten sich nach dem neuen Arbeitssystem. Da stets eine strenge Ordnung geherrscht hatte, fiel es ihnen nicht schwer, sich an die hinzukommenden Normen, das heißt, an die Aufteilung und Wiederholung von Aufgaben zu gewöhnen, die Rowwe auf Grund einiger von Jack verfassten Papiere einführte. Rodung, Abschlag und Pflanzung funktionierten dank dieses Modells (das sich an der Handhabung in Detroit orientierte), so zügig wie früher, als die Antillianer und eine größere Anzahl von Tagelöhnern mitgearbeitet hatten. Die Kautschukbäume wuchsen auf Tausenden von Hektar. Die Beziehungen zwischen Behörden und Tagelöhnern wurden weniger rigide und Rowwe musste nur sonntags ein paar Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, um die Ordnung zu wahren, wenn pro Mann eine halbe Flasche Alkohol gekauft und getrunken werden durfte. Unter der Führung Georges schifften sich die Antillianer in Richtung des kolumbianischen Amazonasgebietes ein (wozu George die entsprechende Aufenthaltsgenehmigung erhalten hatte), und der Tanzlehrer brach, nach einem vergeblichen Gesuch um einen Vertrag in Detroit, nach Montevideo auf. Mauro verschwand. Die Kautschuksammler erzählten, sie hätten ihn eines Tages allein zum Urwald laufen sehen. Er kehrte weder in dieser noch in der darauf folgenden Nacht noch jemals sonst zurück. Es ging das Gerücht um, der Polizeichef habe sich in einer betrunkenen Nacht gerühmt, ihn mit eigenen Händen umgebracht und seinen Leichnam im Dschungel versteckt zu haben. Ich hatte nicht herausfinden können, ob dies der Wahrheit entsprach, denn ich erfuhr von dieser Version erst, als der 223
Dicke schon abgefahren war, um sich mit George und den Schwarzen zusammenzutun. Einen Monat nach diesen Ereignissen trafen aus dem Büro in Belém ein Filmprojektor und fünf Filme ein. Ein paar Tage lang wurden die Filme ausschließlich bei Vorstellungen für die leitenden Angestellten im Spielsalon vorgeführt, aber schon bald hatte man die Nase voll von den lächerlichen Missgeschicken, die Buster Keaton, Charlie Chaplin, Douglas Fairbank oder Greta Garbo widerfuhren. So wurde das Gerät Antonio und seinen Ärzten übergeben. Diese veranstalteten Samstagabends und Sonntagnachmittags regelrechte Massenvorführungen. Obwohl ich leidenschaftlich gern Filme sah und immer behauptet hatte, ich könnte in einem Kino unter dem Lichtstrahl des Projektors das Ende der Welt abwarten, war ich mit dieser Entscheidung einverstanden. Doch konnte ich mich erst für das Zuschauen bei einigen Vorstellungen begeistern, als Antonio mir amüsiert erzählte, dass die Amazonier bei den tragischen Szenen Beifall klatschten und sich bei den gewöhnlichen Streichen der Helden erschreckten. Rowwes Pläne wurden aufgeschoben, die Nordamerikaner vertrieben sich die Zeit mit Intrigen und Gerüchten, und ich beschränkte mich darauf, Jack bei seinem Vorhaben, den Urwald zu zähmen, zur Hand zu gehen. Wir zogen unzählige Pfade durch das Dickicht und setzten in den Lichtungen Tausende von Schösslingen. Doch ein Tag glich dem anderen, und es fiel mir schwer, mich an meine neue Tätigkeit zu gewöhnen. Außerdem machte der Urwald zuverlässig Nacht für Nacht fast all das, was wir tagsüber angelegt hatten, wieder zunichte. Ich ahnte, dass wir eine Tragödie lebten, die nur vorläufig am Ende ihres ersten Aktes unterbrochen worden war. So verging der Rest des Sommers. Dann begann der Regen. Nach der Regenzeit sollte Caroline zurück kommen, so wie sie es versprochen hatte. 224
XVIII stand in dem langen Flur der Abteilung, in der die J ohn Kurbelwellen hergestellt wurden, als ein zierlicher jugendlich wirkender, aber alter Mann sich neben ihn stellte. John nahm die Gegenwart des Mannes sofort wahr, löste seinen Blick aber nicht vom Fließband und fuhr fort, mit der Spitze eines Werkzeuges, das so lang war wie sein Unterarm, die Teile der Kurbelwellen, die eines nach dem anderen in Gürtelhöhe an ihm vorbeiliefen, auszurichten. Zwar war John Anfänger (in dem Werk in Rouge gab es damals noch ein paar Tausend andere wie ihn), doch er kannte bereits alle Regeln, die man als Antwort auf den Druck der Gewerkschaft hier aufgestellt hatte. Die Gewerkschaft kämpfte um die Arbeiter der Autowerke, hatte die alten Delegierten durch neue ersetzt, die aggressiver vorgingen und sich besser zu organisieren verstanden, und bediente sich derselben Propaganda- und Agitationsmethoden, die ihr in der Stahlindustrie zum Erfolg verholfen hatten. Die Politik der hohen Löhne war im Werk mit der Depression des Jahres 1930 aufgegeben worden, und um den Vormarsch der Gewerkschaft zu stoppen (obwohl auch zuvor nie ein Funken von internem Protest geduldet worden war), hatte man von oben neue Verhaltensregeln angeordnet. So waren das Sichhinsetzen, das Knien, das Singen, das Reden und Lachen strengstens untersagt. Wer von einem Platz zum anderen ging, musste eine Erklärung dafür parat haben, die Toiletten wurden überwacht, um zu verhindern, dass dort Zusammenkünfte stattfänden oder 225
geraucht werde, und außerhalb des Komplexes patrouillierten Agenten in den nahe gelegenen Tavernen und Läden auf und ab, die auf eventuelle Verschwörer angesetzt waren. Auch die Loyalität zum Produkt wurde kontrolliert. Kein Angestellter oder Familienangehöriger durfte ein Auto fahren, das nicht im Werk hergestellt worden war. Vor allen Dingen jedoch wurde der Rhythmus der Fließbandarbeit beschleunigt; Verzögerungen wurden nicht mehr hingenommen, und die Zeit zum Essen war auf fünfzehn Minuten beschränkt worden. John lächelte also nicht, noch sang er oder sprach mit seinen Arbeitskameraden am Fließband. Er war in erster Linie angespannt, und die Gegenwart dieses Fremden, der seine Handgriffe so interessiert beobachtete, machte ihn noch nervöser. Statt seinen Arm auszustrecken, ohne sich dabei nach vorn zu beugen, das an ihm vorbeiziehende mechanische Teil mit Kraft und Genauigkeit – innerhalb von vier Sekunden, wie es die Anweisungen vorschrieben – zu treffen und auszurichten, beugte er sich zu weit nach vorn, verfehlte das Teil um wenige Zentimeter und brauchte doppelt so lange wie sonst. Sein durch die Nervosität verstärktes Ungeschick verzögerte den Arbeitsrhythmus der Abteilung auf eine Weise, die nicht mehr entschuldigt werden konnte. John fürchtete, dass man ihn entlassen werde (aus irgendeinem Grund rührte sich der Typ nicht von der Stelle und beobachtete genau jeden seiner Handgriffe), und dachte über sein Pech nach. Ob es angebracht wäre, sich umzudrehen, sich für seine Ungeschicklichkeit zu entschuldigen, zu gestehen, dass er vor zwei Tagen auf der Toilette Zeit vertan habe und angesichts der Schwierigkeit in Detroit eine andere Anstellung zu bekommen, um eine Chance zu bitten? Oder sollte er sich ohne aufzumucken in sein Schicksal fügen, um ein gutes Führungszeugnis bitten, das es ihm ermöglichte, der Marine beizutreten oder auf der Suche 226
nach dem Paradies – wie es sich seine Verlobte wünschte – nach Westen, das heißt nach Kalifornien auszuwandern? Einmal auf der Straße, und nichts ist mehr sicher, dachte er. Nichts Schlimmeres gab es im Leben, als arbeitslos und ohne Geld zu sein. Das machte einem zum Niemand, man hörte zu existieren auf, dachte er, und je weiter er seine Gedanken schweifen ließ, desto rasender, unerfüllbarer und fast gespenstisch erschien ihm mit einem Mal das Vorbeigleiten der Kurbelwellen. Er sollte seine Gedanken lieber abschalten. Ihm fiel ein, dass man ihm im Ausbildungskurs der Lehrlinge immer wieder eingehämmert hatte, nur ein leeres Hirn mache es möglich, sich dem Rhythmus der Maschinen vollständig anzupassen. War dies aus irgendeinem Grund unmöglich, solle man, hatte der Lehrmeister empfohlen, die Aufmerksamkeit auf die vorbeigleitenden Teile konzentrieren und mit ihrem Anblick etwas verknüpfen, das einem besonderen Ekel oder besondere Sympathie einflöße: eine Maus, eine Spinne, ein Schwein, eine Küchenschabe, ein Hintern, eine Titte. Er trat näher an die Maschine und versuchte, sich stur auf das Fließen der Teile zu konzentrieren. Doch an jenem Morgen war das vergebliche Mühe. Obwohl er seine ganze Willenskraft einsetzte, gelang es ihm nicht, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Er machte weiter, stand vor dem Fließband, fragte sich: »Und was jetzt?« Und beantwortete seine eigene Frage mit einem: »Nichts. Absolut nichts. Schluss, Ende, Aus.« Als der Mann, der ihm zusah, ihm nach einer Weile auf die Schulter klopfte, ihn um sein Werkzeug bat und darum, zur Seite zu treten, weil er seine Stelle einnehmen und seine Funktion ausführen wolle, wandte sich John um und gehorchte schüchtern, fast resigniert und mit niedergeschlagenen Augen. Der Mann hieß ihn genau zuzusehen, wie er seine Aufgabe ausführe, und dann zu versuchen, es 227
ihm nachzutun. Staunend sah John, mit welch unglaublichem Geschick der Mann mühelos, ohne zu zögern und fast elegant ein Dutzend der vorüberziehenden Kurbelwellen justierte. Dann beugte sich der Mann nach vom, senkte seinen Blick, las den Namen, der auf Johns Arbeitsanzug stand und gab ihm das Werkzeug zurück. »So, John, jetzt versuchen Sie es mal, aber ganz ruhig, lassen Sie die Maschine ihre Arbeit machen, Sie assistieren ihr nur. So werden Sie, wenn Sie nach Hause gehen, nicht erschöpft sein«, sagte er. Johns Gesicht bekam wieder ein wenig Farbe. Kopfschüttelnd, mit verschwitzten Händen griff er nach seinem Werkzeug und nahm seine Arbeit wieder auf. Dann warf er einen schnellen Blick über die Schulter und sah gerade noch, wie sich der Fremde, der ein Jackett mit Lederflikken an den Ellbogen und abgetretene Schuhe trug, leichten Schrittes über den Flur entfernte. Um Bestrafung zu vermeiden, hatten die Arbeiter mit der Zeit gelernt, sich untereinander zu verständigen, ohne die Lippen zu bewegen. In dringenden Fällen kommunizierten sie auch über Botschaften, die sie auf die über das Fließband laufenden Teile notierten. John reagierte auf die Botschaft, die man ihm eben hatte zukommen lassen, erst einmal mit Erstaunen. Dann schaute er noch einmal hinter sich den Flur entlang und suchte mit dem Blick die weiter entfernten Flure ab. Schließlich lächelte er seinen Abteilungskollegen zu, die ihm, Teil für Teil, die Identität des Fremden enthüllt hatten: »Rate mal, John, wer das war! Das war Henry Ford persönlich!« An diesem Januarmorgen war Ford früh in dem am Rouge gelegenen Werk eingetroffen. Während der ganzen Fahrt von seiner Villa in Fairlane bis zum Werk hatte er 228
geschwiegen. Nur ein einziges Mal, als sie an dem dicht an seinem Park gelegenen Haus vorüberfuhren, hatte er seinen Fahrer gebeten, am Straßenrand anzuhalten. Von dort aus hatte er den jungen Dahlinger mit einem alten Ford T über die Parkwege kurven sehen. Ford hatte sich in seinem Sitz zurückgelehnt und durch die Scheibe des Fensters einen Augenblick lang zugesehen, wie dieser Junge, der wahrscheinlich sein aus der Liebesbeziehung zu Evangeline hervorgegangener Sohn war, sich damit vergnügt hatte, den Wagen zwischen Pflanzen und Bäumen hindurchzusteuern. Dann hatte er die Weiterfahrt angeordnet. Den Angestellten, die ihn später in Rouge ankommen sahen, war sofort seine finstere und schlecht gelaunt wirkende Miene aufgefallen. Er sah aus, als habe ihn gerade der Blitz getroffen, und damit war ihnen klar, dass es an diesem Tag Ärger geben würde. Einige Angestellte, die sich in letzter Zeit an das barsche Verhalten ihres Chefs hatten gewöhnen müssen, schrieben diesen Missmut der Depression zu, die die nationale Wirtschaft bedrohte. Andere – das waren die Älteren unter ihnen – führten sein jähes Aufbrausen, seine Launenhaftigkeit und seine häufige unvorhersehbare Abwesenheit auf die Auswirkungen des Alters zurück, da diese ja selbst außergewöhnliche Persönlichkeiten nicht verschonten. Die wirtschaftliche Flaute hatte die gesamte Industrie und die Detroits im Besonderen heftig erschüttert. Doch die Ford Motor Company bewies – dank der kühnen Entschlüsse ihres Chefs, der angeordnet hatte, erst die Autopreise und dann die Arbeitslöhne zu senken – sowie dank seines riesigen Vermögens – eine robuste Lebenskraft in diesem erbarmungslosen Konkurrenzkampf, der den Sektor der Automobilindustrie zerfleischte. Sicher wurden die Kämpfe mit den Gewerkschaften immer härter, und auch Präsident Roosevelt, den er hasste, versuchte, ihn dazu zu bewegen, sich seinen 229
Versöhnungsmaßnahmen anzuschließen. Aber all das brachte Ford keineswegs um den Schlaf, und er wehrte sich mit kompromisslosen Absagen und auch, um bloß keine Schwäche – die seiner Meinung nach die Gesinnung eines Mannes mehr als alles andere korrumpierte – zu zeigen, auch mit einer gewissen Grobheit. Nein. Nein, es war nicht nur die Flaute, die Präsenz der Gewerkschaften oder Roosevelt, was ihm auf der Seele lag. Auch waren diese Anfälle von Jähzorn oder Überheblichkeit nicht einfach nur, wie seine langjährigen Untergebenen behaupteten, Anzeichen von Vergreisung. Jene, die sich rühmten, ihn seit jeher zu kennen, versicherten, man könne diese Ausfallserscheinungen ignorieren, sie müssten nicht unbedingt auf etwas Gravierendes hindeuten, und sie waren davon überzeugt, dass das hohe Alter – Ford war mittlerweile siebzig Jahre alt geworden – bei den neuen Obsessionen des Chefs seine Hand im Spiel hatte. Seine Experimente – die er als praktische Wissenschaft bezeichnete – hatten allerdings während der letzten Monate eine Form angenommen, bei der die Grenzen zwischen genialen, exzentrischen Einfällen und absurder Skurrilität verschwammen. So hatte ihn ein paar Wochen zuvor seine Enkelin, Edsels Tochter, im Bad ertappt, wie er sich, in festem Glauben, damit seine Haarwurzeln zu verjüngen, den Kopf mit Wasser gewaschen hatte, dem er den Rost alter Rasierklingen zugesetzt hatte. Und den Vorarbeitern und Arbeitern der Motorabteilung blieb eines Tages der Mund vor lauter Staunen offen stehen, als Ford sie an einem Winternachmittag plötzlich zusammenrief, um sie in seine neuesten Erkenntnisse einzuweihen: Sie möchten Kohlenmonoxid einatmen, wenn sie Herzbeschwerden und Tuberkulose vermeiden wollten. Zur selben Zeit berichtete die Presse über sein merkwürdiges Zusammentreffen mit einem Wissenschaftler namens Carver, der auf seine Einla230
dung hin Greenfield Village besuchte. Im Verlauf eines ausführlichen Gesprächs über die Vorteile der vegetarischen Ernährung fantasierte Ford, dass Kühe schon bald in Vergessenheit geraten würden, da der Mensch, wie sich die beiden dann ausmalten, dazu übergehen würde, künstliche Milch herzustellen. Carver erwähnte in dem Zusammenhang die Experimente, die er selbst durchgeführt hatte und die als Resultat ergeben hatten, dass sämtliche auf dem Erdball wuchernde Wildkräuter in Nahrungsmittel für die Menschheit umgewandelt werden konnten. Ford verlor keine Zeit. Er bat seinen Gast, ihn auf einem Spaziergang durch den Park zu begleiten, um Unkraut zu rupfen, und dann setzte er sich mit größter Selbstverständlichkeit unter den verwunderten Blicken des Wissenschaftlers auf den Rasen und begann, die Kräuter nach Art der Wiederkäuer zu verschlingen. Möglicherweise waren diese und ähnliche Launen Folgen des Alters. Vielleicht hatte der Tod seines Freundes Edison, der die einzige Person gewesen war, der gegenüber er sich seiner Extravaganzen immer geschämt hatte, ihn seine Hemmungen verlieren lassen. Doch ein Funke von Wahnsinn findet sich ja bekanntlich bei allen außergewöhnlich intelligenten Menschen. Anflüge von ungezügelter Fantasie und Skurrilität hatte Ford stets gehabt, und man machte es sich zu einfach, seine Launen, seine Stimmungsschwankungen und das beharrliche Bestehen auf seinen Einfällen einem beginnenden Verfall zuzuschreiben. Nein. Das Alter und die Wirtschaftskrise waren ein Teil des Problems, erklärten es aber nicht in Gänze. In Wirklichkeit zürnte Ford der Epoche, und das in ganz großem Maße. Er hielt die Krise für eine notwendige Buße, für eine reinigende Buße, die nach den Exzessen des Jazz-Zeitalters notwendig war, und er handelte dieser Einschätzung entsprechend konsequent. Offen stellte er sich gegen die Wohltätigkeit und 231
den Humanismus, den die Regierung und einige seiner Kollegen forderten, deklamierte Individualismus, Selbstgenügsamkeit und Willenskraft, und sprach sich für eine Dezentralisierung der Industrie sowie für eine Rückkehr aufs Land aus. Diese Schritte galten ihm als unfehlbare Heilmittel. In der von ihm herausgegebenen Zeitung The Dearborn Independent, als auch im Rahmen der sechs Minuten, die er in seinem Radioprogramm Die Stunde Fords zur Verfügung hatte, predigte er der amerikanischen Nation seine Ansichten. Doch für Millionen Menschen hatte sich die Realität verändert. Auf der Straße waren die Zeichen des sozialen Zusammenbruchs nicht zu übersehen, und Fords Worte klangen jetzt hohl und höhnisch für all diejenigen, die ihre Arbeit verloren hatten und im Müll nach etwas Essbarem wühlten. Ford, der für den Mann auf der Straße stets ein Held gewesen war, spürte, dass er an Ansehen verlor, in die Isolation abdriftete, dass sein Ruhm verflog, ja dass sein Anliegen ins Reich der Schatten entschwand, und nichts – weder die Gewerkschaften noch das voranschreitende Alter noch die mit ihm konkurrierenden Automobilhersteller und auch nicht die eingefleischtesten Feinde oder der Tod eines Freundes – so schlimm war wie das unaufhaltbare Schwinden seines Ruhmes, der verging wie das Licht eines Sommerabends. Als er an jenem kalten Januarmorgen im Rouge-Werk ankam, stieg er grußlos aus dem Auto und marschierte entschlossen auf sein Labor für Ingenieurswesen und Entwicklung zu, in dem seine Leute weiter an dem Entwurf des Modells V-8 arbeiteten. Wie auch bei den Modellen T und A war er persönlich an diesem Projekt beteiligt. Fast drei Stunden diskutierte er mit seinen Ingenieuren und Zeichnern noch über die kleinsten Details, und als er das Laboratorium verließ, behauptete er ihnen gegenüber in einer Drohgebärde, er wisse genau, dass sie Produktions232
geheimnisse an Walter Chrysler verrieten. Er verließ das Laboratorium dann Richtung Buchhaltung. Dort stieß er auf eine lange Schlange frierender Zulieferer, die auf ihre Bezahlung warteten. Ford betrat die Abteilung und fragte ihren Leiter, aus welchem Grunde man die Leute, bei denen es sich um Vertreter von Firmen handele, mit denen er seit langer Zeit zusammenarbeitete, warten lasse. »Das ist die Verwaltungsroutine«, antwortete der Angestellte mit einem gefrorenen Lächeln auf den Lippen. Ford forderte ihn auf, das Fenster zu öffnen, nahm einige Hauptbücher und andere Dinge vom Schreibtisch des Angestellten, ging ans Fenster und warf sie auf die Straße. »Ich sehe keinen Grund, mein Herr, mit dieser Routine fortzufahren, diese Bücher weiterzuführen. Füllen Sie das Geld in eine Tonne, und wenn Sie zahlen müssen, dann greifen Sie mit der Hand hinein, nehmen Sie das nötige Geld raus, und basta!«, schrie er. Als er die Buchhaltung verließ, traf er auf Sorensen und dessen Assistenten Harry, der, wie Sorensen erklärte, seinen Bericht über die Amazonasreise fertig gestellt habe und ihm jederzeit zur Verfügung stünde. Ford empfand Sympathie für Harry. Ihm gefiel dessen forsches Auftreten, das Missvergnügen, mit dem er seinen Launen nachgab, und seine rüde selbstsichere Persönlichkeit. Er verkörperte für ihn den Prototyp der Männlichkeit; er war ungeschliffen und entbehrte jeglicher Fantasie, hatte jedoch nach und nach Fords Vertrauen gewonnen. Wofür Liebold und auch Sorensen selbst später würden zahlen müssen. Ford sprach einen Augenblick lang mit beiden und ordnete zum Mittagessen ein gemeinsames Gespräch mit Sorensen, Edsel und Liebold über den Bericht an. Daraufhin verabschiedete er sich von Sorensen und Harry mit einem kurzen, kräftigen Händedruck und machte sich dann in eine der Abteilungen des Rouge-Komplexes auf. 233
Über Jahre hatte Ford regelmäßig die Montagebänder der alten Fabrik Highland Park bei seinen Visiten überprüft und hatte sich immer wie der gütige, über ein friedliches Reich waltende Monarch gefühlt. Doch Highland Park mit seinen fünf Stockwerken, den fünfzehntausend für Produktion und Montage zuständigen Maschinen und den Öfen, in denen die Zylinder hergestellt wurden, war im Vergleich zu Rouge die Miniaturausgabe einer industriellen Anlage. Rouge war einfach nicht greifbar. Als Ford schließlich in der Abteilung stand, in der die Kurbelwellen gefertigt wurden, dachte er – den Blick auf den unendlich langen Gang und die ebenso endlosen Montagebänder – nicht ohne eine gewisse Wehmut an das alte Werk. Seine Laune hatten sich indes gebessert. Vor ein paar Minuten noch hatte ihm Harry erzählt, dass man ihn wegen seiner sozialen Vorstellungen im Dschungel verehrte. Harry hatte ihn außerdem gefragt, warum er eine derart zerschlissene Jacke und dazu diese abgetragenen Schuhe trage. Er hatte geantwortet, er wolle auf diese Weise dazu beitragen, den Opfergeist der Arbeiter in dieser schweren Zeit zu fördern. Dabei hatte er die – zwar kaum merkliche, aber doch vorhandene – Bewunderung in den Mienen der beiden Männer wahrgenommen. Nun lief er gemächlichen Schrittes den Gang entlang. Er wurde auf die nervösen Bewegungen eines Anfängers aufmerksam und nahm sich alle Zeit, den Mann, der bereits den gesamten Produktionsrhythmus durcheinander brachte, korrigierend zur Hand zu gehen. Dann stieg er die Treppe ins erste Stockwerk hinauf, bog nach rechts und warf, bevor er das Speisezimmer betrat, einen Blick aus dem Fenster. Der Himmel war bewölkt, und der Wind trug die aus den Kaminen aufsteigenden Rauchsäulen nach Westen. Ford fiel für einen Augenblick der Sieg des Arrow ein. Das Auto, das er im kompletten Alleingang zusammengebaut hatte, 234
hatte im tiefen Winter des Jahres 1904 bei der Fahrt auf dem zugefrorenen Saint-Clair-See einen Geschwindigkeitsrekord aufgestellt. Jedes Mal, wenn das Auto über einen Spalt in der Eisdecke gefahren war, hatte es ein wenig abgehoben, und wenn dies nicht der Fall gewesen war, so war es empfindlich geschlittert. Nichtsdestotrotz war es Ford gelungen, das Steuer fest im Griff zu behalten. Das Tempo, das er hingelegt hatte, betrug hundertfünfzig Stundenkilometer und hatte dafür gesorgt, dass er und die von ihm hergestellten Autos bald in aller Munde waren. All das war eine aufregende Erfahrung gewesen, doch unendlich viel aufregender war der sich daran anschließende Erfolg. Seine Frau Clara war damals bei dem Wettrennen dabei gewesen und mit ihr der kleine gehorsame Edsel. Das Bild des kleinen Jungen, der sich auf der Eisfläche warm gehopst und ihm, bevor er aufs Gaspedal trat, um mit dem Arrow davonzuschießen, noch einmal zugewinkt hatte, nahm ihn für einige Sekunden vollkommen ein. »Dieser Junge – er ist so anders als ich«, bemerkte er im Selbstgespräch. Kurz darauf betrat er den Speiseraum, in dem ihn seiner Anordnung gemäß Edsel, Sorensen und Liebold, zusammen an einem Tisch sitzend, erwarteten. Ford grüßte, setzte sich und bat Edsel, mit den Themen des Tages zu beginnen. Edsel fühlte sich nicht wohl. Seine Gesundheit war durch ein hartnäckiges Magengeschwür, das sich schon bald zum Krebs auswachsen sollte, sehr angegriffen, und er hatte an jenem Morgen bis kurz vor Beginn der Besprechung in seinem Büro auf dem Sofa ruhen müssen. Er hatte nun drei Themen, die zu besprechen waren, auf seiner Liste stehen. Er nahm sich zusammen, verhehlte gegenüber seinem Vater seine Schmerzen und begann damit, die Struktur des Unternehmens anzusprechen. Er schlug die Ausarbeitung eines Organigramms vor, das die leitenden Funktionen genau darzustellen in 235
der Lage wäre. Er erwähnte, um seinen Argumenten Nachdruck zu verleihen, die erfolgreiche Erfahrung der General Motor Company. Diese hatte eine Art dezentralisierte Geschäftsführung entwickelt, dank derer die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Abteilungen und außerdem die Eigeninitiative der Angestellten um einiges erleichtert worden war. Das Unternehmen wurde hier als Maschine aufgefasst, deren bewegliche Teile Menschen und deren Kraftstoff der Verdienst war. Edsel vertrat neue Organisationsideen nicht nur, weil er den guten Vorgaben seiner gefährlichsten Konkurrenten um nichts nachstehen wollte, sondern auch, um ein für alle Mal die genauen Grenzen seiner eigenen Autorität als Präsident sowie die Kompetenz seiner loyalsten Mitarbeiter auszutesten. Ford schien all dem nicht zuzuhören. Dann aber rückte er sich in seinem Stuhl zurecht, sah seinem Sohn tief in die Augen und zögerte nicht mit seiner Antwort. »Ich sage nur: Wir brauchen keinerlei Organisation, keine Spezialisierung bestimmter Posten und auch keine Richtlinien für die Klärung der Nachfolge oder der Definition der Autorität. Ich will nichts davon wissen, es ist hier einfach nicht von Belang. Was steht als Nächstes an?« Edsel starrte auf seine Tagesordnung. »Den von Liebold vorbereiteten Finanzplänen zufolge sollten wir meiner Meinung nach die Möglichkeit in Erwägung ziehen, unser Kapital mit einem öffentlichen Angebot von Aktien zu vergrößern«, sagte er. Ford erblasste, stützte eine Hand auf den Tisch, beugte sich nach vorne und näherte sein Gesicht dem Edsels. Er musterte ihn ernst und gründlich. Es ging ihm durch den Kopf, ob nicht Edsel darauf aus war, die Macht seines Vaters im Unternehmen zu untergraben. Dies entsprach den Tatsachen. 236
»Lieber reiße ich Rouge und alle anderen Werke eines nach dem anderen nieder, ehe ich zulasse, dass irgendein jüdischer Spekulant unsere Aktien erwirbt«, bellte er. Edsel vergrub sein Gesicht in den Händen und verfiel in Schweigen. Dann erkundigte er sich – ohne seinen Vater dabei anzublicken – ob er das dritte Thema, das er für diesen Mittag vorbereitet habe, nennen dürfe, oder ob sie sogleich zum Essen schreiten sollten. »Worum dreht es sich denn dabei?«, versetzte Ford. »Es geht um den Erwerb der Rechte für den Bau des Zephyr. Ich glaube, wir würden mit diesem Modell den Geschmack der Mittelklasse treffen und könnten es der Qualität und dem Preis nach zwischen dem Ford und dem Lincoln platzieren.« »Wie hoch ist die Investition?« Edsel notierte eine Zahl mit mehreren Nullen auf einen Zettel und reichte diesen seinem Vater, der sie registrierte und dann nickte. »Einverstanden. Kauf sie. Gibt es noch irgendetwas?« Edsel entsann sich, mit welch schlechter Laune sein Vater am Morgen im Werk eingetroffen war und gab sich damit zufrieden, dass zumindest ein Drittel der Antworten positiv ausgefallen war. Die Idee, eine Teststrecke zu bauen und den Vorschlag, die Entwurfsabteilung von der Ingenieursabteilung zu trennen, verschob er auf ein anderes Mal. »Von meiner Seite steht nichts mehr an«, sagte er. Liebold schaltete sich ein. »Ich habe ein Problem«, sagte er. »Ach so? Was für eines denn?«, wollte Ford wissen. »Ich habe Schwierigkeiten mit Harry. Ich glaube, dieses Subjekt ist ein Parvenü, ein Schläger, der die Konfrontati237
on mit der Gewerkschaft bis zum Äußersten treibt und uns Probleme machen wird, und zwar uns allen«, entfuhr es ihm. »Ach Ernst, du siehst so nervös aus. Du brauchst wohl eine Pause. Ihr drei müsst wissen, dass Harry einer derjenigen war, die mich eine wichtige Entscheidung zu treffen bewegt haben, und ich möchte, dass ihr wisst, worum es sich handelt«, sprach Ford. Sorensen lehnte sich zufrieden zurück, und wartete darauf, dass Ford mit seiner Neuigkeit herausrückte. Seine Augen strahlten. »Welche Entscheidung?«, entgegnete er. »Ich werde auf Reisen gehen.« »Wohin denn?« erkundigte sich Sorensen. »Hast du Harrys Bericht vorliegen?«, fragte Ford zurück. »Den Bericht über den Dschungel?« »Ja, den Bericht über das, was Fordlandia genannt wird.« Sorensen griff nach einer Akte, die auf dem Tisch lag, und reichte sie Ford: »Hier ist er«, sagte er. »Was steht darin?«, fragte Ford. »Nun, darin heißt es, man müsse den Idioten ersetzen, der dort die Führung hat, er lechze – mit Hilfe unseres Geldes natürlich – nach Größe, weiterhin steht darin, dass das Projekt trotz einiger sehr wohl vorhandener Schwierigkeiten Erfolg haben wird«, referierte Sorensen. »Mir scheint, das Einzige, wozu dieses Projekt gut ist, ist die reine Geldverschwendung«, warf Edsel ein. Ford guckte Edsel an und wandte sich dann an Sorensen. »Was steht noch drin?« 238
»Nicht viel. Dass die Natur beeindruckend sei, exotisch, das Leben primitiv, die Leute aber mit dir zufrieden seien und deiner Sicht der Dinge, Henry, ganz besonders anhingen.« »Tja. Dorthin werde ich also aufbrechen«, sagte Ford. Die drei wechselten Blicke. Edsel in seinem Stuhl warf sich in Positur. »Es ist ein unwirtlicher, ein schwieriger Ort«, meinte er. »Nicht unwirtlicher und schwieriger als dieses Land hier. Oder glaubst du vielleicht, ich bleibe in Fairlane und züchte Rosen?«, antwortete Ford. »Nein, das glaube ich nicht.« Ohne die anderen eines Blickes zu würdigen, befahl Ford: »Also bereitet meine Reise vor. Sie soll zum günstigsten Zeitpunkt stattfinden, und es muss alles absolut geheim bleiben. Habt ihr verstanden?« Sorensen und Liebold nickten. Edsel starrte seinen Vater mit vor Erstaunen offenem Mund an. Er malte sich aus, wie während der Reise seines Vaters das Unternehmen den Bach runterging. In dem Moment kam der Kellner herein, deckte den Tisch und brachte das Mittagessen.
239
XIX
A
b Mitte Mai wurden die Tage wieder blau. Die sich wandelnde Farbe der Vegetation, das Verschwinden der Moskito- und Termitenschwärme kündigten das Ende des Winters an. Die Wege waren wieder begehbar, es ließ sich wieder durch die Stadt laufen und auch an den Fluss konnte man sich wieder setzen. Der Tapajós steigt während der winterlichen Regenfälle um fast drei Meter, verlässt sein Bett und überflutet Strande und Ufer. In dieser Zeit nimmt das Wasser eine dunkelbraune Farbe an und strömt schmutzig, schwerfällig und in Wirbeln zum Amazonas. Schon kurz nach Ende der Regenzeit, mit Beginn des Sommers, fällt das Wasser wieder schnell und nimmt eine herrlich durchscheinende Farbe an, in die sich große Flächen von Blautönen mengen. Ich nutzte die ersten Sommertage, um lange Spaziergänge durch die Stadt und entlang der Ufer zu machen. Mit den hellen Tagen kehrten auch die Vögel zurück, eine große Anzahl von Vögeln. Als Erste trafen die guarajubas ein. In einem riesigen Schwarm überflogen sie stundenlang die Stadt, und als sie sich niedergelassen hatten, hatten die Wipfel der Bäume die Farben ihrer Gefieder, Gelb und Purpur, angenommen. Es brauchte nicht lange, bis der Schlamm in der Sonne getrocknet war; überall entpuppten sich Schmetterlinge, und bei Einfall der Dämmerung ertönte wieder das durchdringende Zirpen der Zikaden. In der Luft zeigte sich das 240
wieder erweckte Leben, und auch in der Landschaft hinterließ, es seine ersten Spuren. Auf der Pflanzung jedoch standen die Dinge sehr schlecht. Eine uns unbekannte Krankheit hatte die Kautschukbäume befallen und ließ sie blitzschnell vertrocknen. Jack war der Erste, der davon aus dem Mund der Tagelöhner erfuhr. Er setzte Rowwe, nachdem er die Reihen mit der Gesundheitspatrouille inspiziert hatte, sofort über die Schäden in Kenntnis, dieser seinerseits bat unverzüglich das Büro in Belém um Hilfe. Hundert Hektar fielen der Epidemie täglich zum Opfer; sie hatte auf den südlichen Pflanzungen begonnen, war jetzt bereits schon nach Norden und Westen vorgedrungen. Das Büro in Belém schickte einen japanischen Experten mit dem ersten Schiff, das zum unteren Amazonas fuhr. Das Schiff brachte Vorräte, eine Gruppe neuer Arbeiter und Briefe. Einer der Briefe war für mich. Er war von Caroline. Ihre Reise war angenehm verlaufen, und in Montreal hatte sie einen weiteren Argentinier kennen gelernt (es handelte sich dabei um einen Ingenieur aus Rosario, der an der örtlichen Universität seine Studien vervollständigen wollte). Ihre Kollegen waren von ihren Forschungsergebnissen fasziniert und luden sie oft zu Vorträgen und Konferenzen ein. Sie jedoch wartete auf Nachrichten der Fordwerke, die sie um Fahrkarten und Geld gebeten hatte, um gegen Ende Juni wieder nach Fordlandia zurückkehren zu können. Sie schrieb, sie könne es kaum erwarten, den Amazonas wiederzusehen, habe Sehnsucht nach ihm (wobei sie »Sehnsucht« auf Spanisch geschrieben hatte, was ich als einen Beweis der Zuneigung zu mir deutete). Nach dem Lesen steckte ich den Brief in die Tasche und traf mich mit Jack. Beide waren wir an den Kai gegangen, um den Experten zu begrüßen, beide hatten wir einen Brief von Caroline erhalten, doch während ich mich dazu entschied, meinen in aller Ruhe im Büro zu lesen, machte 241
Jack sich sofort mit dem Japaner und Frank zu einem Rundgang durch die Pflanzung auf. Auch mir war die Epidemie auf keinen Fall gleichgültig. Nicht im Geringsten. Ich war nur in der Praxis der Forstwirtschaft überhaupt nicht versiert, wusste nichts von den Schwierigkeiten auf diesem Gebiet und hatte das Gefühl, es hier mit einem Fall zu tun zu haben, in dem man Gefahr lief, aus purer Eitelkeit Lösungen parat haben zu wollen und dadurch den Helden zu spielen. Ich war deswegen mit Jack schon einige Male aneinander geraten. Jack hatte auf die Epidemie reagiert, als handele es sich um ein ernstes Familienproblem, sein Charakter veränderte sich und er wurde für meinen Geschmack zu barsch und zu gewissenhaft. Mich bestürzen Persönlichkeitswandel, und es stößt mich ab, wenn sich die grundlegenden Charaktereigenschaften eines Menschen plötzlich verändern. Ich komme schwer damit zurecht, wenn Charisma, Großherzigkeit, Mut oder irgendein anderer Zug, der einen Menschen aus der Mittelmäßigkeit hervorhebt, wie über Nacht verschwinden, sich gleichsam in Luft auflöst. In der Zeit, die seit Beginn der Epidemie bis zu dem Augenblick, in dem der Experte eintraf, vergangen war, hatte Jack praktisch nichts anderes getan, als allein oder zusammen mit seinem Assistenten die südlichen Wege abzugehen, sich bei den Leuten nach den möglichen Ursachen zu erkundigen oder mit ihnen zu diskutieren. Er trug jetzt immer eine kleine Axt bei sich, denn er pflegte an jedem Pfad einen der am meisten betroffenen Bäume auszuwählen, um ihn abzuschlagen. Im Anschluss daran sammelte er ein paar Äste und ein paar abgestorbene Blätter auf und betrachtete sie eine Weile stumm. Er beriet sich mit den Kautschuksammlern und zog dann fast wortlos weiter oder gab in einem befehlshaberischen Ton Anweisungen. Ich begleitete ihn auf diesen Wegen nur selten. Jack hielt das Problem für sehr ernst, 242
fast unlösbar und widersetzte sich deswegen Rowwes Order, um jeden Preis mit der Aussaat und der Rodung fortzufahren, als sei nichts geschehen. Ich war damals der Meinung, man könne mit Hilfe eines Experten die Plage unter Kontrolle bekommen. Doch weder Jack noch ich, nicht einmal Rowwe oder Frank oder die Kautschuksammler hatten Argumente parat, noch besaßen sie irgendwelche Kenntnisse, die unsere Einschätzungen hätten untermauern können. Es waren nichts als Vermutungen, die sich einzig und allein auf ein letztes bisschen Hoffnung gründeten. Jack verteidigte dennoch standhaft seinen ätzenden Pessimismus. Zusammen mit der Veränderung seines Wesens war das der Ursprung unserer heftigen Diskussionen. Diese Streitigkeiten untergruben unsere gute Beziehung, die wir im Winter gepflegt hatten, als die Aktivitäten in der Stadt sich fast ausschließlich auf das Sägewerk und die Reparatur der Maschinen beschränkten, und die Männer und Frauen, die nicht fortgegangen waren, den größten Teil der Zeit zurückgezogen in ihren Häusern verbrachten. Die Wintertage am Amazonas sind unendlich lang. Man wacht bei dichtem Nebel auf, irgendwann beginnt es zu regnen, und der Niederschlag hält bis zur Dunkelheit an. Überall riecht es nach Wasser, und von überall her hört man es glucksend tönen. Die Wege sind mit einer dichten Laubschicht bedeckt, und die mit Moosen und Pflanzen durchsetzte Erde versinkt, triefend schwer und aufgelöst. Es ist trostlos, es ist das Ende der Welt. Zur Regenzeit wirken die Bäume wie allein gelassen, sie nähern sich einander und umarmen sich, als wollten sie sich gegenseitig schützen. Die Nächte sind trüb, und wenn der Mond sich dann und wann manchmal flüchtig wie eine Erscheinung inmitten des verhangenen Himmels zeigt, weckt er die vergebliche Hoffnung, dass das Wetter am folgenden Tag besser werden könnte. Man wacht in klammer 243
Wäsche auf und legt sich, von Insekten verfolgt, inmitten des großen Schlamms zur Nacht nieder. Sogar der Tabak muss zum Schutz vor Schimmelbefall in geschlossenen Gefäßen aufbewahrt werden. Die ersten Winterwochen waren hart. Die Sehnsucht nach einer Frau quälte mich. Ich dachte nicht nur an Caroline. Ich musste so sehr an all die Frauen denken, die ich je gekannt hatte, an all jene, die ich je geliebt hatte, dass mein Schlafzimmer und mein Büro sich mit ihren Gesichtern bevölkerten. Jack verschaffte mir schließlich eine Frau. Meine Tätigkeiten beschränkten sich zu der Zeit darauf, im Büro oder zu Hause zu lesen, und mit Frank und den Nordamerikanern Billard oder Poker zu spielen. Wenn diese Aktivitäten langweilig zu werden begannen, besuchte ich Jack. Dann öffnete er die Tür, wischte sich die Hände am Hemd ab, begrüßte mich, lud mich zu einer Tasse Kaffee oder einem Glas Whisky ein, und ich musste ihn zur Werkstatt begleiten, in der er, inmitten unzähliger auf einer Werkbank ausgebreiteter Einzelteile mit dem immer noch unfertigen Motor beschäftigt war. Dort traf ich auch auf Antonio, der Jack zur Hand ging. Die beiden bastelten inmitten eines höllischen Wirrwarrs. Sie waren von Muttern, Zylindern, Bolzen, Feilen, Schraubenschlüsseln und Hämmern und anderen Dingen, die ich hasse, weil ich von ihnen nicht viel verstehe, eingekesselt. Wenn ich auftauchte, unterbrachen sie ihre Arbeit, köpften eine Flasche, und dann verbrachten wir lange Stunden mit Trinken und Reden. Zwischendrin stimmte Jack seine Gitarre und stimmte ein Lied an, das ich unweigerlich mit seiner Beziehung zu Caroline in Verbindung brachte. Der Text lautete: When the angel of sadness Comes near my bed Dragging a ribbon of darkness 244
Across my eyes I ask for a last breath To say goodby to my girl To say goodby to my love. Eines Nachts erzählte er uns (aus der heiteren Gelassenheit, mit der Antonio seinem Bericht folgte, schloss ich allerdings, dass er die Geschichte schon kannte), wieso er eigentlich im Gefängnis gelandet war. Er hatte in betrunkenem Zustand und in Gegenwart des Saxofonisten und des Schlagzeugers seiner Band eines Nachts in seinem Geburtsort einen Mann totgeschlagen, der den ganzen Abend über mit seiner Verlobten geflirtet hatte. Er hatte vor Gericht seine Schuld gestanden und angeführt, er habe in Notwehr gehandelt. Die Geschworenen hatten sich von seiner Haltung erweichen lassen und ihn zu fünfeinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Kaum war er auf Bewährung entlassen worden, hatte ihn das Fordwerk auf Empfehlung eines anderen Straftäters eingestellt. An jenem Tag, an dem ich von dieser Geschichte erfuhr, ließ ich die beiden erst im Morgengrauen mit ihrer Bastelei allein. Als wir uns verabschiedeten, fragte mich Jack, ob ich mich in meiner Ehre verletzt fühlte, wenn er sich nach einer Frau für mich umsähe. Ich grinste. »Natürlich nicht«, sagte ich. Daraufhin schaute Jack Antonio an, dann kehrte er sich wieder mir zu. »Ich sehe mal, was ich für dich tun kann, mein Freund«, sagte er. Einige Zeit später klopfte, inmitten einer der nebligen Nächte, eine Mulattin an meine Tür. Jack hatte sie geschickt, und sie blieb, bis der Tag anbrach. Ich sah sie nicht wieder und erfuhr niemals ihren Namen. So verging 245
der Winter. Doch dann kamen diese blauen Tage, und das Wetter begann, sich einzupendeln. Ich hatte den Brief von Caroline erhalten und war auf dem Weg zu einem Treffen mit Jack, Frank und dem Experten. Ich hoffte, dabei zu erfahren, was man machen könnte – falls sich überhaupt noch etwas machen ließ –, um der Epidemie Einhalt zu gebieten. Ich war schon eine Weile in der südlichen Zone unterwegs, als ich die anderen etwa zweihundert Meter rechts von mir durch die Bäume hindurch entdeckte. Ich trat hinzu. Der Japaner war gerade dabei, ein Blatt mit der Lupe zu untersuchen. Der Rest der Gruppe stand gespannt um ihn herum. Man hatte alle Kautschuksammler zusammengerufen, die auf dem Areal arbeiteten. In Jacks Miene malte sich Furcht. Schweigend wartete ich auf das Urteil des Wissenschaftlers. Über uns flogen in Paaren weiße Reiher, das Geräusch ihres Flügelschlags drang zu uns. Der Japaner hob den Blick, steckte die Lupe in eine Tasche seines Jacketts und sagte leise: »Microcyclus ulei, dagegen kann man nichts machen.« »Was ist das?«, fragte Jack. Der Japaner zeigte mit einem Finger auf die Bäume, die am nächsten standen. »Das ist ein schrecklicher zerstörerischer Pilz, der durch die Blätter von Baum zu Baum übertragen wird. Man kennt ihn auch als ›Blattkrankheit‹.« »Wie kann man das unter Kontrolle kriegen?«, hakte Frank nach. Der Japaner schüttelte den Kopf. »Sind alle Bäume auf die gleiche Weise im gleichen Abstand zueinander gepflanzt?« 246
»Ja, alle, und es handelt sich um fast siebzig Millionen Pflanzen«, antwortete Jack. »Dann ist nichts zu machen. Alle werden früher oder später eingehen.« Frank verzog das Gesicht, sog an seiner Pfeife und stieß eine kleine Rauchwolke aus. Er war äußerst nervös. Er trat näher an den Japaner heran. »Ist Ihnen bekannt, wer hinter uns steht?«, fragte er ihn. »Ja«, antwortete der Japaner. »Sie wissen also, wer wir sind, und woher wir kommen?« »Ich denke schon«, erwiderte der Japaner. »Dann erklären Sie uns bitte, Sie Vollidiot, wieso Sie annehmen, dass alles, was wir hier in den letzten Jahren aufgebaut haben, jetzt einfach so zusammenbricht«, schrie Frank ihn an. Der Japaner blieb gelassen. »Weil die Bäume sehr eng gepflanzt wurden, und die Ausbreitung der Seuche auf diese Weise auf keinerlei Hindernis stößt.« Frank biss sich auf die Lippen. Dann wandte er sich an mich. »Na, sieh mal einer an, Argentinier, sieh dir einmal dieses jämmerliche Männlein an; es misstraut Fords Plänen und dazu auch noch uns, und wir schenken ihm Gehör, als handele es sich um Gott persönlich! Verdammt! Was er da sagt, ist der reinste Müll! Wir haben dich aus deinem Bau geholt und bezahlen dich, damit du uns hilfst«, fuhr er fort und durchbohrte den Japaner mit seinem Blick, »und nicht, damit du uns ins Gesicht spuckst. Also lass dir schleunigst eine Lösung einfallen!« Da griff Jack ein. Er packte Frank an der Schulter und stieß ihn heftig zurück. 247
»Halt den Mund! Lass ihn in Frieden«, sagte er. »Du sagst, ich soll den Mund halten? Dabei bist du es, der die Bäume so gepflanzt hat, damit sie eines Tages eingehen«, empörte sich Frank. Jack hob seine kleine Hacke und hielt sie ihm vor das Gesicht. »Noch ein Wort, und ich schneide dir mit einem Hieb den Hals durch«, drohte er. Frank trat einen Schritt zur Seite und sagte keinen Ton. »Wieso befällt dieser Pilz nicht die Bäume im Urwald und auch nicht die Gummibäume, die vorher schon hier standen, und die wir abgeholt haben?«, fragte ich den Japaner. »Und du musst jetzt auch noch deinen Senf dazugeben«, fuhr Jack mit seiner Attacke fort. »Ich bin nicht Frank, beruhige dich«, erwiderte ich. Der Japaner blickte Richtung Urwald. »Wie Sie sehen, ist zwischen den Urwaldbäumen etwa fünfzig Meter Abstand vorhanden, und das reicht, um eine eventuell auftretende Seuche aufzuhalten.« »Glauben Sie, dass es irgendeine Lösung gibt?«, beharrte ich. »Es gibt keine, außer der, alles zu verpflanzen und wieder von vorne anzufangen«, sagte er so beiläufig, als habe er uns gerade einmal guten Morgen gewünscht. Jack schlug mit der Faust gegen seine linke Handfläche. »Ich wusste es, ich wusste es, vom ersten Tag an habe ich es gewusst«, klagte er. »Und warum hast du das nicht gesagt, du Miststück?«, schrie Frank. Jetzt drehte Jack sich um und fixierte Frank. Ich schob 248
mich zwischen die beiden, legte Jack die Hände auf die Brust, um ihn zurückzuhalten. »Beruhige dich, wir müssen sehen, was sich jetzt machen lässt«, sagte ich. Jack schlug meine Hände weg und trat einen Schritt zurück. »Nichts können wir machen, rein gar nichts!«, schimpfte er und fuchtelte mit seiner Axt vor mir herum. Wir verstummten. Ich sah mich um und bemerkte, dass andere Tagelöhner hinzugekommen waren und unsere Auseinandersetzung verfolgten. Einige von ihnen hatten sich hingehockt. »Wie lange braucht die Seuche, bis sie die ganze Pflanzung erfasst hat?«, fragte ich den Japaner. »Das weiß ich nicht. Das kann Tage oder Monate dauern. Aber das ist noch nicht alles.« »Was denn noch?«, fragte ich weiter. »Der Pilz zieht die Insekten an. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie angreifen. In Massen«, sagte der Japaner. »Mücken?«, fragte ich. »Mücken, Mücken, du hast doch keinen blassen Schimmer«, fuhr Jack dazwischen. »Nein, Mücken nicht«, sagte der Japaner, »aber Hautflügler und Geradflügler.« »Was für Zeug?«, fragte ich. »Heuschrecken, Ameisen, Käfer und so weiter«, erklärte der Japaner in einem herablassenden Ton. Frank näherte sich mir und ergriff mich am Arm behielt dabei den Japaner fest im Blick. »Ja, natürlich, natürlich, es gibt wieder einen Weltkrieg, man wird Fordlandia, Detroit und Paris bombardieren, die 249
Planeten werden ineinander krachen, und dann wird alles, aber auch alles zugrunde gehen. Sie sind es, der das Rowwe erklären wird, denn ich werde das bestimmt nicht tun. So, Argentinier, lass uns aufbrechen, wir haben genug Zeit mit diesen verdammten zwei Hexenmeistern verloren«, schloss Frank. Der Japaner blickte ihn mit einem Schulterzucken an. Frank warf ihm einen drohenden Blick zurück und schlug den Weg zur Stadt ein. Ich folgte ihm auf dem Fuß. Wir liefen strammen Schrittes nebeneinander her. Frank führte seine Tirade gegen Jack und den japanischen Experten fort. Er war außer sich. Und er wollte Bestätigung. »Findest du nicht auch, dass die beiden nur zwei schwachsinnige Bastarde sind?«, fragte er mich. »Vielleicht, wer weiß«, antwortete ich. »Ich weiß es, ich bin mir absolut sicher«, beharrte Frank. Wir stürmten den Hügel auf dem kürzesten und schmalsten Pfad hinauf, liefen dann die Reihen erkrankter Bäume entlang zum Hauptgebäude hinunter. Wir erreichten es im Nu. Rowwe erwartete uns am Eingang. Er hatte die Arme in die Seiten gestemmt, und sein Gesicht verriet Anspannung. Er begrüßte uns und bat uns, ihm in sein Büro zu folgen. Wir traten ein, doch keiner von uns dreien nahm Platz. Frank ging ans Fenster, öffnete es und atmete tief ein. Er war erregt und musste husten. Rowwe stand genau in der Mitte des Büros und sah Frank, dann mich an. »Also, was ist los?«, fragte er. »Er behauptet, alles sei verloren«, sagte Frank. »Wer ist ›er‹?« Frank wich nicht vom Fenster. »Wer schon? Dieser verdammte Japaner natürlich, den uns Belém geschickt hat.« 250
»Und wieso ist alles verloren?« Rowwe ließ nicht locker. Frank wies auf mich. Rowwe sah mich neugierig an. Über seine Stirn liefen Schweißtropfen. Ich holte mir eine Zigarette aus der Hemdtasche und steckte sie an. Ich nahm einen tiefen Zug. »Sagen Sie nun etwas dazu oder nicht?«, fragte er mich. Ich sah ihm in die Augen. »Der Japaner hat gesagt, die Seuche würde durch einen Pilz hervorgerufen, der von Blatt zu Blatt übertragen wird, und es gäbe keine Möglichkeit, ihn zu bremsen«, erklärte ich. »Ein Pilz soll alles ruinieren?« »Ja, das hat er gesagt.« »Ein lächerlicher Pilz soll uns aufhalten, uns, die wir die kolossalste, fantastischste Maschine aller Zeiten erfunden haben?« Frank drehte sich um. »Er ist ein Bastard«, bemerkte er. »Wie sieht er aus?«, fragte Rowwe. Frank deutete mit der Hand die ungefähre Körpergröße des Japaners an. »Wie alle Japaner, klein und mager«, sagte er. Rowwe lief rot an. »Der Pilz, du Vollidiot, wie sieht der Pilz aus?« Frank runzelte die Brauen und senkte den Blick. »Der ist fast unsichtbar«, versetzte er. Einen Augenblick lang sann Rowwe reglos nach. Dann deutete er seinerseits die wahrscheinliche Größe des Pilzes an und brüllte: »So ein winziges Ding, ein Ding, das so winzig ist, soll 251
uns ruinieren? Was soll das heißen? Antwortet mir gefälligst! Ist das euer Ernst?« »Ja«, antwortete ich. »Das ist unmöglich! Und wenn Sie dem zustimmen, dann werden Sie derjenige sein, der Henry Ford das alles erklärt. Ich jedenfalls werde das nicht tun.« Rowwe drehte sich um, ergriff einen Stuhl an der Lehne und schleuderte ihn gegen die Wand. Dann ging er an seinen Schreibtisch, packte ein paar verstreute Schriftstücke und warf sie auf den Boden. Er ließ sich in seinen Sessel fallen und verbarg das Gesicht in den Händen. »So ein verdammter Mist, verflucht nochmal«, stöhnte er. Ich zog ein letztes Mal an meiner Zigarette, warf sie auf den Boden und trat sie sorgfältig aus, damit Rowwes Papiere nicht Feuer fassten. Franks und mein Blick kreuzten sich. Er zuckte die Schultern und machte mit den Händen eine Geste, die mir bedeutete, er habe nichts mehr hinzuzufügen. Nach einer Weile trat ich an Rowwes Schreibtisch und fragte: »Rowwe, hören Sie mir zu?« Rowwe spreizte die Finger vor seinen Augen. »Wenn Sie eine Lösung parat haben, ja, sonst nicht.« »Ich habe eine Idee. Während wir nach einem anderen Experten suchen«, sagte ich, um mir Franks Unterstützung zu sichern, »könnten wir versuchen, die Plage zu isolieren. Wir verbrennen alle Bäume bis dorthin, wo sie zugeschlagen hat – das heißt, wir vernichten alle kranken Bäume und schaffen so eine Barriere, die den Rest der Pflanzung schützt. Wir opfern einen Teil, um das Ganze zu retten.« Ein langes Schweigen entstand. Dann löste Rowwe seine Hände vom Gesicht, erhob sich und wankte auf mich zu. Seine Augen waren verschleiert. 252
»Auf wen werden Sie sich stützen, um zu erfahren, bis wohin die Seuche sich ausgebreitet hat und an welche Teile man Feuer legen muss?« Der Einwand war gerechtfertigt. Ich zögerte und sagte: »Auf Jack.« Frank löste sich vom Fenster. »Jack ist ein Verräter, er glaubt, alles sei verloren«, sagte er. Rowwe sah ihn über die Schulter hinweg an. »Das stimmt. Zähl nicht auf Jack. Der ist jetzt ein für alle Mal draußen«, pflichtete er bei. »Dann ziehe ich mit Enéas los. Erst mit Enéas und dann mit der Gesundheitspatrouille«, antwortete ich. »Sagen Sie mir, wie viele Hektar Sie niederbrennen werden, was meinen Sie?« »Ich weiß es nicht genau. Wahrscheinlich zwanzig- bis dreißigtausend.« »Wie lange wird das dauern?« »Vielleicht ein oder zwei Wochen.« Rowwe stierte mich einen Moment an und erwog meinen Vorschlag. Sein Gesicht wirkte ausdruckslos, doch ich sah, wie sich seine Kiefermuskeln anspannten. Frank trat zu uns. »Einen Teil opfern, um das Ganze zu retten. Eine gute Idee, mein Junge, das ist eine gute Idee, vorwärts, machen Sie das, legen Sie Feuer«, bat Rowwe. Auch Frank stimmte zu und klopfte mir anerkennend auf die Schulter. »Ich werde gleich morgen mit Enéas losgehen und das befallene Gebiet abstecken«, sagte ich. Ich verabschiedete mich und verließ das Büro. Als ich die Tür öffnete, sahen mich einige Verwaltungskräfte, die 253
sich im Gang versammelt hatten, um unsere Besprechung verfolgen zu können, erwartungsvoll an. Ich ging jedoch wortlos an ihnen vorüber in mein Büro und schloss die Tür hinter mir. Durch das Fenster konnte ich die Stadt und auch den Platz sehen. Es war ein strahlender Tag. Ich sah den Japaner in Begleitung Jacks zum Hauptgebäude kommen. Seine Diagnose hatte mich bestürzt, doch ich wollte einen Versuch machen, vielleicht den letzten, absurden Versuch, um das zu retten, was hoffnungslos verloren schien. Sollte die Entwicklung so verlaufen, wie der Experte vorhergesagt hatte, würde sich mein Leben bald ändern. Noch einmal las ich aufmerksam Carolines Brief. Ich fragte mich, ob ich bei Ford in den USA oder in Europa weiterarbeiten und außerdem Caroline sehen könnte, falls die Seuche die Pflanzung unwiderruflich zerstörte. Wahrscheinlich eher nicht. Während der Wintermonate hatte ich mir über ein unvorhersehbares Scheitern des Kautschuk-Projektes meine Gedanken gemacht, wobei zu vermerken ist, dass ein fantasierter Zusammenbruch natürlich etwas ganz anderes ist als ein tatsächlicher. Ich hörte den Japaner und Jack mit Rowwe auf dem Flur diskutieren und sah dann, wie sie sich auf den Rückweg in die Stadt begaben. Der Japaner schritt leichtfüßig daher, während Jack vollkommen niedergeschlagen wirkte. Ich steckte Carolines Brief ein und ging. Über einen von Rowwes Hilfskräften sandte ich Enéas die Nachricht, er möge mich am nächsten Morgen in aller Frühe abholen. Ich ging lange spazieren. Ich dachte noch einmal über das nach, was ich Rowwe gesagt hatte und revidierte dabei, dass mein Vorschlag nicht beinhaltete, einen Teil zu opfern, um das Ganze zu retten, sondern schlicht und einfach daraus bestand, uns mitsamt unseres Schiffes selbst zu versenken. Der Wald konnte triumphieren. Er hatte sich mit seinem Überraschungsangriff gerächt. Mich überkam 254
das plötzliche Gefühl, all das schon einmal erlebt zu haben. Ich ging in den Laden, um mir eine Zeitung aus Belém zu kaufen, und lief anschließend zum Restaurant. Beim Essen gesellten sich zwei brasilianische Funktionäre zu mir, die sich über die Ursachen der Seuche und die Folgen, die sie für die Pflanzung haben würde, informieren wollten. Lieber wäre ich allein geblieben, doch ich trank ein paar Tassen Kaffee mit ihnen und erzählte, was ich wusste. Dann zahlte ich und ging nach Hause. Ich schloss das Schlafzimmerfenster, zog die Vorhänge zu, goss mir ein Glas Whisky ein, setzte mich aufs Bett und vertiefte mich in die Lektüre der Zeitung. Die Neuigkeiten lenkten mich ab. In Brasilien erhoben sich die Bauern, und es schien sich ein revolutionärer Prozess in Gang zu setzen. Auf den Sportseiten informierte ein Sonderbericht über den Profifußball in Argentinien und hob hervor, dass der Mittelstürmer von Boca Juniors der beste Torschütze war. Ich griff nach der Flasche, die ich auf dem Boden abgestellt hatte, und goss mir ein weiteres Glas ein. Ich trank, bis ich vollständig betrunken war. Dann streckte ich mich im Bett aus und schlief ein. Nachts fiel die Temperatur, und die Geräusche des Urwalds drangen zu mir.
255
XX
E
néas schlich neben mir her, und nichts an seiner Haltung wies darauf hin, dass wir uns jetzt schon den zweiten Tag mit der Suche nach einer Lösung für unser beileibe gravierendes Problem herumschlugen. Er trug einen Strohhut, unter dessen verknitterter Krempe sein Haar hervorlugte. Er behauptete, seine Baracke noch vor Anbruch des Morgengrauens verlassen zu haben, und sein Gesicht bestätigte diese Behauptung, denn es ähnelte dem eines Schlafwandlers. Ich hingegen hatte zwar gut geschlafen, war jedoch nervös. Noch nie hatte ich mich so weit an die Grenzen der Pflanzung begeben, und es war merkwürdig, die Niederungen des Geländes inmitten der Bäume hinauf und hinab zu laufen und die Stille mitsamt der vom Wald ausgehenden Ruhe auszuhalten. Die Landschaft war großartig und die Umgebung öffnete sich, einem enthüllten Geheimnis gleich. Die milde, noch von der Feuchtigkeit gesättigte Luft stieg in Nebelstreifen in einen bereits strahlend blauen Himmel auf. Wir liefen nebeneinander her, und eine Gruppe von Tagelöhnern mitsamt einigen Vorarbeitern begleitete uns, um das Terrain nach meinen Anweisungen abzustecken. Einige Waldstücke waren der Seuche sehr schnell erlegen und waren stark verwüstet. Ich blieb immer wieder stehen, um Blätter und Bäume zu inspizieren. Ich weitete meinen Kontrollgang bis zur südlichen Grenze aus. Was ich bis dahin überprüft hatte, war komplett verseucht und musste, meinem Plan entsprechend, niedergebrannt werden. Ich teilte das den Vorarbeitern während einer Pause mit. 256
Sie stimmten mir zu, und Enéas war dem Vorschlag gegenüber weder abgeneigt noch war er begeistert von ihm. Wir hatten tags zuvor an den gut ausgebauten Wegen im Westen einen Test gemacht, hatten Benzinfässer anfahren lassen und damit einen Kilometer Bäume und Laubwerk begossen. Kaum hatten wir das Feuer gelegt, hatte sich der Urwald in ein Flammenmeer verwandelt, und wir hatten uns schleunigst in Sicherheit bringen müssen, um nicht von den erstickenden Hitzewellen eingeholt zu werden. Es war neun oder zehn Uhr, als wir an einem Posten der Anschreiber Halt machten, um eine Kaffee- und Zigarettenpause zu machen. Die Anschreiber waren von der Katastrophe entsetzt. Wir setzten unseren Weg weiter nach Süden fort. Ich wollte den letzten südlichen Posten kurz nach Mittag erreichen. Wir schlugen einen Pfad ein, der am Urwald entlangführte und bahnten uns Schritt für Schritt einen Weg durchs Gestrüpp. Rechts von uns begannen die Reihen der jungen Gummibäume. Links erhob sich eine dichte üppige Mauer aus Pflanzen, die sich jeden Moment auf uns niederzusenken drohte. Der Boden war weich, feucht und streckenweise mit Schlamm bedeckt. Die Hitze über dem Urwald nahm zu, die Zikaden zirpten durchdringend, und im Wald zwitscherten ein paar Vögel in einer angenehmeren Tonlage. Überall roch es nach gegorener Gummimilch und Feuchtigkeit. Plötzlich meinte ich zu spüren, obgleich ich nicht das geringste Geräusch gehört hatte, wie uns jemand durch das Dickicht hindurch beobachtete. Etwas in mir warnte mich. Da geschah das erste Unglück dieses Tages. Ich ließ Enéas von meiner Beunruhigung wissen. Er blieb stehen, blickte gleichgültig zum Urwald. Ich bot ihm eine Zigarette an. »Je älter man wird, desto ängstlicher wird man wohl«, beteuerte ich. 257
Enéas lächelte und zog eine Zigarre mit goldener Bauchbinde aus einer Hosentasche. Ich bestand aber darauf, er möge mein Angebot annehmen. Daraufhin verstaute er seine Zigarre, nahm eine Zigarette von mir an und klemmte sie sich behutsam zwischen die Zähne. »Eine gute Zigarette verscheucht den Kummer«, versicherte er. Er stand breitbeinig da, die Hände in den Hosentaschen vergraben, die Zigarette im Mundwinkel hängend. Sein Gesicht wirkte heiter. Ich zündete ein Streichholz an und formte mit meinen Händen eine Höhle, in der er seine Zigarette anstecken konnte. Er trat einen Schritt vor und beugte sich über meine Hände. Er stand mit dem Rücken zum Urwald, sein Kopf befand sich für ein paar Sekunden auf der Höhe meiner Brust. Plötzlich hörte ich ein Zischen in der Luft und einen trockenen Schlag, als träfe eine harte Faust auf ein Kinn. Enéas verlor das Gleichgewicht und taumelte, als habe sein Herz versagt. Als er in sich zusammenzusinken drohte, ergriff ich ihn an den Armen, um ihn zu halten, und sah den Pfeil, der in seinem Rücken steckte. Ich spähte in die Tiefe des Dickichts. Mir schien, zwischen Ästen und Blättern das wilde Gesicht Terós erkennen zu können. Da ertönte das Zischen ein zweites Mal, und ich riss, von einem erbärmlichen, widerwärtigen Überlebensreflex getrieben, Enéas’ Körper hoch und drückte ihn, als Schutz vor dem heimtückischen Angriff, an mich. Der zweite Pfeil drang in Enéas’ Hals. Ich trat ein paar Schritte zurück, Enéas Körper an meinen gepresst, und ließ mich zwischen die Kautschukbäume auf den Boden fallen. Ich setzte Enéas neben mich und hielt ihn an einer Schulter fest. Ein Faden Blut rann über seine Brust zum Gürtel hinab. Als ich den Pfeil in seinem Hals ergriff, um ihn mit einem Ruck herauszuziehen, sah er mich mit einem seltsam innigen, ja anrührenden Blick an und bat mich, es nicht zu tun. 258
»Lass mich sterben«, flüsterte er. »Das ist nicht gerecht, mein Freund, geh nicht fort«, entgegnete ich. Enéas schloss einen Moment lang die Augen und schlug sie dann wieder auf. Sie waren von einem seltsamen Glanz erfüllt. »Alle Menschen müssen sterben, aber einige davon, und das sind solche wie du, die leben wenigstens richtig. Ich habe es nicht gekonnt«, stammelte er. »Das stimmt nicht, Enéas, du bist ein großartiger Mensch, verzeih mir.« Sein leuchtender, forschender Blick umfing mich. Ich strich ihm sanft mit einer Hand über das Haar. Kurz darauf gab er ein Röcheln von sich, und der Glanz in seinen Augen verschwand. Er starb in meinen Armen, Sanftmut hatte sich auf sein Gesicht gelegt. Ich zog ihm die Pfeile aus dem Körper, wischte mit einem Taschentuch das Blut von seinem Mund, legte ihn auf den Boden und bedeckte seine nackte Brust mit dem Strohhut. Es sollte eine lange Zeit vergehen, bis ich Enéas’ Tod und seine Begleitumstände vergessen konnte. Ganz offensichtlich war ich das eigentliche Angriffsziel Terós gewesen, doch wieder einmal hatte mich ein launisches Schicksal begünstigt. Ich blieb bei Enéas’ Leichnam sitzen, ich war entsetzt und vollkommen verwirrt. Doch dann verdrängte der in mir aufkommende Hass mein Entsetzen. Ich weiß nicht, ob es meine Vergangenheit war, meine Freundschaft mit Enéas, die Probleme auf der Pflanzung oder alles zusammen, jedenfalls stürzte ich rachsüchtig los. Ich befahl den Vorarbeitern, sich um den Leichnam zu kümmern, und hetzte dann stolpernd in die Stadt. Ich wollte so schnell wie möglich nach Hause, meine Pistole holen und mich mit dem Boot auf die Suche nach Teró ins Mun259
durukudorf begeben. Dabei stieß ich auf Jack. Er versuchte noch, mich aufzuhalten, packte mich am Arm und wollte wissen, was passiert sei. Aber die Wut hatte mich sprachlos werden lassen. Ich holte meinen Rucksack, packte meine Pistole hinein, zwei Magazine, den Strohhut, Zigaretten, Karten und eine Flasche Schnaps. Dann steckte ich etwas Geld ein und ging. Am Kai lagen drei Boote des Werks. Den Wachleuten gegenüber behauptete ich, ich müsse für ein paar Tage zu einem dringenden Forschungsauftrag aufbrechen, und befahl ihnen, mir vier volle Benzinkanister auszuhändigen. Rowwe, behauptete ich weiter, werde ihnen die Genehmigung zur Abfahrt später zukommen lassen. Sie hörten mir misstrauisch zu. In der Zeit, in der der Wachchef noch im Hauptgebäude anrief, um die Erlaubnis bestätigen zu lassen, schafften zwei seiner Angestellten die Kanister schon herbei. Im Nu hatte ich sie aufgeladen, dann löste ich die Vertäuung, war mit einem Sprung im Boot, ließ den Motor an und fuhr los. Ich fuhr mit der Strömung und schätzte, das Dorf in anderthalb Tagen zu erreichen. Möglicherweise würde ich Teró jedoch schon vorher begegnen. Es hing davon ab, ob er sich entschied, nach seinem Verbrechen den Urwald zu verlassen und sofort in sein Dorf zurückzupaddeln. Diese Möglichkeit wäre für mich die günstigste. Während ich meinen Weg in rasendem Tempo zurücklegte, sehnte ich mit ganzem Willen den Moment herbei, in dem mir Teró von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen würde. Ich wollte Enéas’ Tod rächen. Ich wollte Terós Tod zum Tausch, wollte ihn auslöschen, wie man manchmal einen Alptraum auszuradieren wünscht. Das Schicksal stand mir wieder einmal zur Seite. Ein paar Kilometer flussaufwärts, an einem einsamen Sandstrand der rechten Seite des Ufers, das noch zu Fordlandia gehörte, traf ich auf Teró. Er saß mit einem anderen Ein260
geborenen zusammen in der Sonne. Am Strand lagen zwei Kanus. Da die Munduruku immer zu zweit oder zu mehreren unterwegs sind, nahm ich an, dass noch andere Eingeborene in der Nähe waren. In einem der Boote lagen außer den Rudern auch noch Pfeile, Netze und Lanzen. Ich drosselte den Motor und richtete den Bug auf den Strand. Als ich fast schon Grund berührte, warf ich den Anker und sprang hinaus. Als Teró und sein Begleiter merkten, dass das Boot auf den Strand zuhielt, sprangen sie auf. Sie waren bemalt und hatten ihre Scham mit Stofffetzen bedeckt. Ich verlor keine Zeit und griff nach der Pistole, entsicherte sie und ging auf Teró zu, der mir gleichermaßen entgegenkam. Seine Bewegungen waren stolz und er wirkte sicher, als erwarte er, dass ich ihm aus dem Weg ginge. Er schien zu lächeln, vielleicht aber entstand dieser Eindruck lediglich durch die Bemalung seines Gesichtes. Wir blieben stehen. Nur wenige Schritte trennten uns voneinander. Ich riss die Pistole hoch und zielte auf seine Brust. Wir sahen uns direkt in die Augen, sein dunkler Blick war ruhig, kalt. »Dein Ende ist gekommen, du indianische Missgeburt!«, schrie ich ihn an. Er hob die geöffneten Hände: Er war unbewaffnet. Ich überlegte, ob er es verdient hatte, einen unbewaffneten, durch einen Schuss in die Brust erzielten Heldentod zu sterben. Ich zögerte ein paar Sekunden. Dann ließ ich die Pistole in den Sand fallen und raufte alles, was ich an Wut und Verachtung für mich selbst empfand, zusammen und stürzte mich auf ihn. Ein zäher stummer Kampf begann. Dieser Indianer war verdammt stark und warf mich, obwohl ich durch meine Körpergröße im Vorteil war, mehrmals zu Boden. Bei der einen und anderen Gelegenheit traf ich ihn mit ganzer Kraft, wobei ich Faustschläge wie Fußtritte einsetzte. Dann packten wir uns verzweifelt an 261
den Armen und stießen mit den Köpfen aufeinander ein. Wir kamen, dicht aneinander gedrängt und ineinander verknotet, zu Boden und kämpften so schweißnass und aufeinander einschlagend weiter. In meiner Jugend hatten mich die Vororte von Buenos Aires angezogen und ich hatte dort die eine oder andere Messerstecherei erlebt. Aber dieser Kampf war der erste, den ich vom Anfang bis zum Ende gnadenlos und mit ungezügelter, ja Grauen erregender Wut durchfocht. Blut floss mir aus dem Mund und färbte meine Hände rot. Trotzdem berauschte mich dieser Kampf: Er hatte einen vitalen Sinn, es war richtig, zu bluten, und das Blut des anderen zu vergießen. Wir rollten ineinander verknäuelt zum Ufer, als ich plötzlich, die Füße im Wasser, auf Teró lag und ihm mit aller Kraft die Kehle zudrücken konnte. Ich hatte sein Leben in meinen Händen und ich sehnte mich danach, es ein für alle Mal auszulöschen. Doch Teró hielt dem Druck stand, und es gelang ihm mit äußerster Kraft, mich unter Einsatz von Armen und Beinen auf den Rücken zu pressen, und dann war er auf mir. Meine Füße steckten im Sand, mein Kopf lag im Wasser. Teró versetzte mir mit seinem Kopf einen heftigen Stoß gegen die Stirn, presste ein Knie auf meine Brust, benutzte seinen Unterarm als Hebel, setzte seine Faust auf Kinn und Hals und drückte meinen Kopf unter Wasser, um mich wie einen jungen Hund zu ersäufen. Aus seinen Augen blitzte ungebrochene Grausamkeit. Meine Lungen füllten sich mit Wasser, und ich war schon fast besinnungslos, als seine Muskeln plötzlich erschlafften und er über mir zusammensank. Ich richtete mich auf den Ellbogen auf und schob ihn von mir herunter. Beugte mich ein wenig nach vorne, sah, wie er mit dem Gesicht im Wasser neben mir lag und stieß seinen Körper weiter in den Fluss hinein. Um seinen Kopf herum stiegen Blasen an die Wasseroberfläche. Ich begriff dieses jähe Ende des 262
Kampfes nicht, bis ich aufsah und im Gegenlicht die Silhouette des deutschen Priesters erkannte. Er half mir auf; in seiner rechten Hand hielt er einen Knüppel. Ich setzte mich und schöpfte mir Wasser ins Gesicht. Ich hustete heftig. Ich blieb so eine Weile keuchend und erschöpft sitzen. Ich war über dieses abrupte Ende des Kampfes völlig verblüfft. Theo schien sehr zufrieden zu sein, im richtigen Moment zur Stelle gewesen zu sein und dem Indio einen kräftigen Schlag in den Nacken versetzt zu haben. In einem beinahe erfreut klingenden Ton sagte er: »Der Herr schützt seine Lämmer.« Ich rappelte mich hoch und blickte zum Fluss. Husten schüttelte mich. An einer ruhigen Stelle des Stromes versank Terós Körper im Wasser. Der junge indianische Assistent Theos hatte meine Pistole auf den jungen Begleiter Terós gerichtet. Theo schwang den Stamm, mit dem er mir zu Hilfe gekommen war, und schleuderte ihn ins Wasser. Dann bückte er sich und wusch sich die Hände in den kleinen an das Flussufer schwappenden Wellen. »Jetzt bist du dran«, sagte er. Er richtete sich auf. Was er gesagt hatte, hatte ernst geklungen. »Was meinen Sie damit?«, fragte ich. »Ich meine ihn da«, sagte er. Ich sah zu den beiden Eingeborenen. Theos Helfer war jetzt auf eine Düne gestiegen und zielte immer noch auf den Munduruku. Dieser verhielt sich ruhig. Er blickte abwartend über seine Schulter zu uns. Er war klein und zierlich. In der rechten Hand hielt er eine Lanze aus Holz. »Was soll mit ihm sein?«, fragte ich Theo. »Nichts Besonderes, aber du wirst ihn umbringen müssen«, versetzte Theo. 263
Fassungslos sah ich ihn an. »Dafür habe ich überhaupt keinen Grund«, antwortete ich. Theo strich sich mit der Hand über den Nacken und ging langsam auf sein Kanu zu. Nach ein paar Schritten wandte er sich um, sah mich an, schüttelte missbilligend den Kopf und ging weiter. Am Boot angekommen, holte er ein schwarz eingebundenes Buch hervor, schlug es auf, und hob den Blick zum Himmel, an dem nicht eine einzige Wolke zu sehen war; die Sonnenstrahlen fielen ungehindert in die kleine Bucht. Hoch über uns flog ein Reiherpaar nach Westen. Theo legte das Buch ins Kanu und marschierte auf die Düne zu. Er war doppelt so groß und breit wie sein Assistent. Er nahm ihm die Pistole ab und drängte den Munduruku dorthin ans Ufer, wo ich stand. Dem Eingeborenen, der kaum mehr als fünfzehn Jahre zählen mochte, war die Angst ins Gesicht geschrieben. Er stand mit gesenktem Blick vor mir, als habe er sich in sein Schicksal ergeben. Dann verzog sich sein Gesicht. Er weinte. Theo stellte sich neben mich und hielt weiter die Pistole auf ihn gerichtet. »Du willst wohl Krieg mit ihnen, oder was?«, fragte er. »Nein, das will ich nicht.« »Ich habe dir gerade das Leben gerettet, nicht wahr?« »Ja.« Theo hielt mir die Pistole hin. »Dann töte ihn.« »Das kann ich nicht tun, dazu gibt es keinen Grund«, antwortete ich entschlossen. Theos Faust schloss sich wieder um die Pistole. Ärgerlich sagte er: »Es ist doch vollkommen einleuchtend. Wenn du ihn nicht tötest, flieht er, rennt zu seinem Stamm, erzählt dort, 264
was vorgefallen ist, und schon haben wir ein Problem, das nicht nur dich, sondern alle anderen auch betrifft. Willst du etwa hier sterben, in diesem Wald, am Ende der Welt? Ist es das, was du willst?« Ich empfand Scham. Seine Argumente blieben dennoch wirkungslos. Ich stellte mich vor ihn und sah ihm fest in die Augen. Theo nahm ein Taschentuch aus seiner Tasche und wischte sich damit den Schweiß von der Stirn. Für einen Augenblick senkte er die Pistole. »Ich bin allein wegen Teró hier. Er hat mich heute Morgen umbringen wollen und hat stattdessen Enéas, meinen Assistenten, getötet. Das ist alles, und damit ist die Angelegenheit beendet.« »Woher weißt du denn, dass es Teró war? Ich habe ihn hier vor zwei Stunden noch beim Angeln angetroffen«, sagte Theo. Ich wollte nicht streiten und antwortete deswegen nicht. Theo schlug einen anderen Ton an und fuhr fort: »Wie auch immer, mein Sohn, du musst diesen Indianer umbringen. Andernfalls wird der Besuch deines Chefs, Henry Ford, von Blutvergießen und Tumult überschattet werden.« »Was wissen Sie schon vom Besuch Henry Fords?« Der Munduruku machte einen Schritt rückwärts. Theo spannte den Hahn, zielte auf den Jungen und schrie ihn in seiner Sprache an. Zitternd blieb der Munduruku stehen. »Hier erfährt jeder alles. Wusstest du etwa nicht, dass Ford dieser Tage die Stadt besichtigen wird? Denk an unsere Abmachung«, sagte er. Ich besann mich auf die Äußerungen von Frank und Rowwe zu der Seuche, die die Pflanzung befallen hatte. Auch sie hatten von Ford gesprochen, als müssten sie ihm schon bald eine Erklärung geben. Ich sah den Munduruku 265
an und dann Theo. »Bitte Theo, lassen Sie ihn laufen. Kein Unschuldiger verdient den Tod.« »Das ist keine korrekte Logik, mein Sohn, und sie gilt erst recht nicht hier«, widersprach er. »Oder glaubst du vielleicht, die Eroberung dieses Reiches sei ein Possenspiel? Glaubst du, dass die Welt ein Possenspiel ist? Entweder er oder sie oder wir, kapierst du das denn gar nicht? Es gibt nie nur einen Schuldigen. Töte ihn! Töte ihn endlich!«, befahl er. Ich hatte noch eine Chance: Die Pistole zu nehmen, Theo zu zwingen, zu verschwinden und diesen Indianer in Ruhe zu lassen. Ich beherrschte meinen Zorn und streckte die Hand aus. Doch in dem Augenblick, als Theo mir die Pistole hinhielt, rannte der Indianer auf sein Kanu zu, an dem nach einer Sekunde mit einem harten grauenhaften Knall alles zu Ende ging. Theo hatte mit einer einzigen gekonnten Bewegung blitzschnell die Pistole hochgerissen und dem Fliehenden in den Rücken geschossen. Der Indianer brach zusammen und blieb, tödlich getroffen, mit dem Gesicht am Boden liegen. Ich rannte zu ihm und versuchte, ihn in meinen Armen wieder ins Leben zurückzuholen. Vergebens. Theo spurtete an mir vorbei zu seinem Kanu. Er ließ die Pistole in den Sand fallen. »Mörder!«, fuhr ich ihn an. »Sich mit diesen Worten an seinen Lebensretter zu richten, das kann nur einer, der nicht ganz richtig im Kopf ist. Du tust mir leid, mein Sohn, denn du liebst deine Leute nicht und hasst deine Feinde nicht«, sprach er. Theo rief seinen Assistenten, sprang in das Kanu, das sein Assistent anschob; dann fuhren sie los. Kaum hatten sie abgelegt, richtete Theo sich, an den Bootsrand geklammert, auf. 266
»Wir sehen uns wieder, mein Sohn, wir werden uns wiedersehen, wenn Ford kommt. Und vergiss unsere Abmachung nicht!«, rief er. Ich blieb am Strand zurück. Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging. Es war gleichgültig, ob ich aufbrach oder nicht. Mein Mund war geschwollen, die Zunge trocken. Mühsam spuckte ich aus. Mein ganzer Körper schmerzte. Ich lag rücklings auf dem Sand und sah den über mir dahinschwebenden Vögeln zu. Der Himmel war nur hier und da bewölkt; Ruhe ging von ihm aus, während meine Gedanken und Gefühle wie ein Strudel in mir tobten. Obwohl Enéas nie ein wirklicher Freund gewesen war, betrübte mich sein Tod sehr. Ich setzte mich, steckte eine Zigarette an und verfiel ins Grübeln. Die von dem Wald und dem Wasser ausgehende und wie verdoppelt wirkende Stille drang in mich ein. Ich dachte an meine Jugend und die langen Gespräche, die ich mit meiner Mutter geführt hatte. »Die Jahre verändern unser Wesen nicht, und schließlich gewöhnt man sich an den Weg seines Sterns«, hatte sie häufig geäußert. Als es zu dämmern begann und die ersten Schatten fielen, legte ich den Leichnam des Jungen in das Kanu und zog es in die Strömung. Bevor ich es fortschwimmen ließ, nahm ich einen von den Pfeilen auf, die am Boden lagen. Er sah aus wie einer von denen, die Enéas getötet hatten. Dann versetzte ich dem Kanu einen Stoß und sah zu, wie es mit der Strömung davontrieb. Ich schwamm ihm nach, ergriff das Heck und wendete es. Es hatte keinen Kiel. Der Leichnam des Indianers glitt in den Tapajós. Ich schwamm nun zu meinem Boot, kletterte hinein, ließ den Motor an, nahm einen großen Schluck Schnaps und kehrte nach Fordlandia zurück. Diese Fahrt schien mir kürzer als der Hinweg. Die Dunkelheit setzte gerade ein, da kam die Stadt in Sicht. Als ich die Lichter und den Kai Fordlandias 267
erkannte, beschloss ich, die Pistole in den Fluss zu werfen. Da stand mein Haus. In diesem Moment war mein erster Gedanke, dass es mir Zuflucht, Frieden, Licht und Geborgenheit bot. Doch ich war kein Held, der verwundet aus dem Kampf zurückkehrte, und ich drückte in dieser Nacht kein Auge zu. In aller Frühe suchte ich Rowwe auf, und machte ihm klar, dass ich mit den Problemen der Pflanzung nichts mehr zu tun haben wollte. Ich wollte die Stadt so schnell wie möglich verlassen. Rowwe bestätigte mir bei diesem Treffen den unmittelbar bevorstehenden Besuch Henry Fords.
268
XXI
D
as Flugzeug dröhnte am Himmel, kreiste zweimal über der Stadt und landete nach einem sanften Gleitflug auf dem Tapajós. Die Leute, die bereits seit dem Morgen auf dem Platz ausharrten, klatschten Beifall und verfolgten mit großem Erstaunen die Manöver der Maschine. Kaum hatten die Kufen des Flugzeugs das Wasser berührt, löste sich die von Rowwe angeordnete, beinahe militärisch wirkende Formation auf, und alle rannten zum Ufer. Rowwe, die Nordamerikaner und ich standen am Kai. Rowwe stieß mich mit dem Ellenbogen an und wies auf das Flugzeug. »Auch diese Technologie stellen wir her«, bemerkte er stolz. Ich nickte schweigend. »Was ist los, Junge, nun lächeln Sie doch mal, gleich steht Ihnen Gott persönlich gegenüber, was haben Sie bloß?«, beharrte Rowwe. Ich blickte ihn an und machte mich davon. Ich dachte an Enéas. Sein Tod bedrückte mich nach wie vor. Rowwe warf mir einen bösen Blick zu, zog sich den Schlips zurecht und trat näher an Frank heran und flüsterte ihm etwas zu. Frank wandte den Kopf den sich am Ufer Drängenden zu und hob die Schultern. Die Nordamerikaner hatte Fords bevorstehender Besuch in Hochstimmung versetzt. Die Eitelkeit sprang ihnen schier aus den Augen. Ford würde nur bis zum Einbruch der Dunkelheit in der 269
Stadt bleiben und Rowwe hatte es, in Absprache mit dem Büro in Belém, übernommen, den zeitlichen Ablauf und die Begrüßungsfeierlichkeiten zu organisieren. Es gab einen Empfang auf dem Platz, für den man eine mit dem Rücken zum Fluss gekehrte Loge errichtet hatte, des Weiteren war eine Stadtrundfahrt in einem Ford A mit offenem Verdeck geplant. Nächstes Ereignis würde die Taufe der Schule auf den Namen des berühmten Besuchers sein, an die sich die Besichtigung von Hospital und Fabrik und darauf ein privates Büffet anschließen würden, auf dem verschiedene amazonische Spezialitäten angeboten werden würden. Als Letztes stand die Zusammenkunft mit den leitenden Angestellten an. Nachmittags sollte Ford irgendwann Jack, Antonio und mich empfangen. Auch Theo, der zusammen mit anderen Bewohnern Jocotás, unter denen ich unter anderem den Mathematiklehrer wiedererkannte, im Morgengrauen angekommen war, bemühte sich um einen Gesprächstermin. Theo sollte das Abhalten der Taufzeremonie übernehmen. Auch ein Financier aus Rio de Janeiro hatte um ein Gespräch gebeten. Er hatte sein luxuriöses Schiff seit dem Vortag mitten im Fluss verankert, weil Rowwe es ihm untersagt hatte, am Kai festzumachen. Niemand wusste genau, auf welchem Wege die Nachricht von Fords Besuch zu ihm gelangt war. Jedenfalls bestand der Financier darauf, Ford sehen zu müssen. Er wollte ihn für die Unterstützung eines fantastischen Projektes gewinnen, bei dem es um die Ausbeutung von Eisenminen im tiefen Urwald ging. Die Nordamerikaner wussten jedoch von ihm zu berichten, dass der Typ, der in New York geboren und aufgewachsen war, bereits einen großen Teil seines Vermögens und Dutzende von Männern beim Bau einer Eisenbahn im extremen Südwesten des Amazonas verloren hatte. 270
Rowwe hatte ein Orchester kommen lassen, das zu den einzelnen Programmpunkten aufspielen sollte. Ford sollte sich von der Loge aus mit einer Rede an die Junggesellen wenden, und bei seiner Fahrt durch die Straßen Fordlandias einen Stopp machen und ein paar Ehepaare begrüßen. Rowwe hatte angeordnet, die Paare hätten Fords Kommen vor ihrem Haus stehend abzuwarten. Das Bankett war für Fords Begleiter reserviert und von den Führungskräften aus der Stadt würden nur Rowwe selbst und Frank teilnehmen. Uns übrigen Angestellten würde man ein besonderes Menü im Kinosalon servieren, und in drei extra dafür hergerichteten Baracken stand ein großes Essen für die Arbeiterschaft bereit, danach würde getanzt werden. Rowwe hatte einige Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Eine Patrouille hatte am Vorabend alle Häuser durchsucht, um Zigaretten und alkoholische Getränke zu beschlagnahmen. Doch der Bericht, den er Ford würde abliefern müssen, würde eindeutig von einer Katastrophe sprechen, die nicht mehr zu verheimlichen war (die Seuche hatte bereits sechzig Prozent der Pflanzung erfasst), und es war meiner Ansicht nach sehr unwahrscheinlich, dass Musik, Speisen oder Zuneigungs- und Bewunderungsbekundungen Fords Verständnis würden wecken können. Als die Propeller der Maschine zu kreisen aufgehört hatten und das Flugzeug zum Stehen kam, bestieg Rowwe ein Boot und fuhr Ford entgegen. Im Flugzeug öffnete sich eine Tür, und man sah die undeutliche Gestalt eines Mannes. Das Orchester ließ, im Glauben, es handele sich um Ford, die Klänge eines volkstümlichen Marsches von Spinoza erklingen. Verzweifelt hob Rowwe die Hände, um das Orchester zum Schweigen zu bringen. Die Musik hörte so abrupt auf, wie sie eingesetzt hatte. Der Mann begrüßte Rowwe und trat wieder zurück ins Flugzeug. Es war der Chef des Büros in Belém. Ford war bis Belém ge271
flogen, hatte sich dort im Geheimen mit dem Gouverneur von Pará getroffen und sich dann entschlossen, mit einem Wasserflugzeug in den Urwald zu fliegen. Auf Anregung des Chefs des Belémer Büros befand sich ein Agrarwissenschaftler in seinem Gefolge. Einen Augenblick später sah ich, wie Harry aus der Maschine herauslugte, und hinter ihm, zum Himmel aufschauend, Henry Ford erscheinen. Der berühmte Mann grüßte die am Ufer versammelte Menge. Rowwe gab seinen Assistenten Zeichen, diese ließen ein paar Pfiffe ertönen, woraufhin die sich am Ufer drängende Menge mit einer Ovation reagierte. Das Orchester setzte erneut ein. Ford stand ein Lächeln im Gesicht geschrieben. Geschickt erklomm er das Deck des Bootes. Der Financier verfolgte vom Bug seines Schiffes aus die Vorgänge mit einem Fernglas. Als Ford es sich auf Deck bequem gemacht hatte, ließ das Schiff des Financiers seine Sirene erklingen. Ohne mit der Wimper zu zucken, wandte sich Ford nun dem Schiff zu. Der Financier hob die Arme, doch Ford musterte ihn nur gleichgültig. Während das Boot auf den Kai zuhielt, sorgte die Wache dafür, dass die Arbeiter auf die Mitte des Platzes zurückkehrten. Weiterhin seine lächelnde Miene wahrend, stieg Ford, von Harry und Rowwe eskortiert, die Stufen hinauf und begrüßte jeden von uns einzeln. Die Reihe begann mit Frank, dann folgten Rowwes Assistenten, Jack und schließlich ich. Ford machte übertrieben große Schritte. Seine Hände waren lang und schlank wie die eines Pianisten, und er bewegte sie unaufhörlich. Er trug einen cremefarbenen Leinenanzug englischen Zuschnitts, ein weißes Hemd, einen Filzhut und keine Krawatte. Ein Netz von Falten um seine Augen betonte sein treuherzig wirkendes Lächeln. Ich nannte, als ich ihm die Hand gab, meinen Namen. Ford hielt kurz inne und betrachtete mich aufmerksam. »Argentinier, nicht wahr?« 272
»Ja, mein Herr.« »Sie sind also der Argentinier, so, so. Mit Ihnen werde ich nachher noch sprechen«, sagte er. Rowwe, der neben ihm stand, klopfte mir zufrieden auf die Schulter. Dann begleitete er Ford bis zum Ende des Kais, wo sie den Dirigenten begrüßten, ins Auto stiegen und langsam bergauf durch die Menge fuhren, bis sie die Tribüne erreichten. Ford fasste seine Ansprache kurz, vielleicht sogar zu kurz, doch das Publikum, das sowieso kein Wort verstanden hatte, applaudierte frenetisch. Ford verzichtete bei seiner Rede gänzlich auf Gestik. Und er sagte Folgendes: »Ich bin überaus glücklich, die neue Zivilisation, ja die Zivilisation der Zukunft kennen zu lernen. Es freut mich, die Fundamente für einen Ort gelegt zu haben, der besonders ist, der weit entfernt ist von dem Schmutz und der Verderbtheit der Städte. Ich bitte Sie, so weiterzumachen, in Frieden und Harmonie zu weilen, den Respekt zu wahren, auf dass unsere Werte im ganzen Urwald, in allen Urwäldern dieser Welt triumphieren mögen. Dann wird nämlich das, was hier vonstatten geht, der Menschheit ein Beispiel sein. Danke, ich danke Ihnen«, schloss er und warf einen Blick auf die Menge, die begeistert seufzte. Nach Fords Ansprache setzte die Musik wieder ein. Von der ungewohnten Unruhe aufgestört, flog ein Schwarm Sittiche vom Platz auf und schwirrte zum anderen Ufer. Ford wies auf den Schwarm und machte sein Gefolge auf den schnellen Flug der Vögel aufmerksam. Eine große graue Heuschrecke ließ sich auf Rowwes Schulter nieder. Ford schnappte nach ihr und warf sie in die Luft, damit sie weiterflöge. Sie drehte ein paar Runden, ließ sich dann aber wieder auf Rowwes Schulter nieder. »Irgendjemand von euch scheint sie zu füttern, sonst käme sie nicht so eilig zurück«, stellte Ford scherzend fest. Rowwe nahm sei273
ne Äußerung ernst, doch Harry und Frank brachen in Gelächter aus, in das dann das ganze Gefolge mit einfiel. Nachmittags sah ich Ford wieder. Ich musste fast eine Stunde in einem der Klassenzimmer neben dem Raum in der Schule warten, in dem sich die Führungskräfte versammelt hatten. Die Schule war weiß gestrichen worden, und an den Innenwänden hatte man Fotografien aufgehängt, die die Geschichte des Autos und des Unternehmens illustrierten. Zwei bewaffnete Wächter an der Eingangstür sorgten dafür, dass die Unterredungen mit Ford nicht gestört wurden. Auf einer Holzbank sitzend, wartete ich darauf, an die Reihe zu kommen. Auch Jack und Antonio warteten. Die beiden machten ihr gesamtes zukünftiges Leben von den wenigen Minuten abhängig, die sie mit Ford würden sprechen dürfen. Er würde über Erfolg oder Scheitern, Licht oder Dunkelheit, Aufstieg oder Fall entscheiden. Entsprechend spannungsgeladen war die Atmosphäre im Klassenzimmer. Mir fielen die Nächte ein, in denen ein Freund von mir, Autor eines überzeugenden lyrischen Werkes, meinen Rat erbat, wie er ein Treffen mit Präsident Alvear in einem Café in der Innenstadt von Buenos Aires Gewinn bringend arrangieren könnte. Sein Motiv war nicht Eitelkeit, sondern Verzweiflung. Eine, wenn auch nur auf eine der Servietten des alten Cafés gekritzelte, Empfehlung Alvears, hätte ihm ermöglicht, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Seitdem wusste ich, dass das flüchtige Mitgefühl eines Mächtigen das Leben eines Menschen mit bescheidenen Wünschen tatsächlich in stabile Bahnen zu leiten in der Lage ist. Früher gefielen mir solche Momente der Spannung, die einem wichtigen Geschehen vorausgehen, und ich wünschte, ich hätte mit der gleichen Aufregung wie Jack und Antonio der Unterredung mit Henry Ford entgegenfiebern können, doch das Einzige, was ich an jenem Nachmittag mit Spannung er274
wartete, war die Gelegenheit, einmal mit einer bereits zu Lebzeiten legendären Persönlichkeit zu sprechen. Nichts weiter wollte ich. Antonio wünschte sich sehnlichst finanzielle Unterstützung für die Entwicklung einer Maschine, mit der er das Funktionieren des menschlichen Hirns erforschen könnte, und Jack hatte den Plan des Prototypen seines Motors mitgebracht und brannte darauf, Ford die Schritte zu dessen Weiterführung zu erläutern. Er hegte die Hoffnung, dadurch eine neue Chance zu erhalten. Jack war still und nachdenklich, doch Antonio redete fast ohne Unterlass auf mich ein. Ich hatte den Eindruck, er studiere mit mir die Argumente ein, die er Ford liefern wollte. »Sagen wir mal, der Körper eines Raubtieres beginnt an seinem Schlund, wo fängt dann deiner Meinung nach der Körper des Menschen an?«, fragte er mich als Erstes. »An den Augen«, antwortete ich. »Du irrst«, entgegnete er. »Der Ausgangspunkt ist das Hirn, und wir wissen nichts, überhaupt nichts darüber. Wir wissen weder, was es tut, wenn wir wach sind, noch wissen wir Bescheid über das, was es tut, wenn wir schlafen«, versicherte er. In genau diesem Moment ging die Tür auf und Harry trat heraus. Er musterte uns drei und kam mit einem Blatt Papier in der Hand auf uns zu. Er wandte sich an Antonio und forderte ihn in schroffem Ton auf, knapp und präzise die Gründe niederzulegen, weswegen er Ford zu sprechen wünsche. Antonio bediente sich meines Rückens als Unterlage und notierte ein paar kurze Sätze. Er übergab Harry das Blatt und blieb in Erwartung einer Antwort selbstsicher stehen. Es dauerte nicht lange, bis Harry wiederkam. Ford bot ihm eine Stellung im Hospital von Detroit an, und seine einzige Bedingung war, dass Antonio, anstelle sich weiter der Hirnforschung zu widmen, die Möglichkeit erforschen solle, serienweise Medikamente aus tropischen 275
Pflanzen und Früchten zu gewinnen. Antonio freute sich über diese Nachricht, als hätte er bei der Lotterie den Hauptgewinn gezogen. Mit einem Triumphgeheul sprang er auf und fiel mir und Jack um den Hals. Harry unterbrach den Jubel mit dem Hinweis, Ford erwarte unser Erscheinen. Jack ergriff seine Pläne, richtete sich auf und ging in den Saal. Ich folgte mit zwei Schritten Abstand. Die Stimmung im Saal schien nicht die beste zu sein. Rowwe und Frank machten Gesichter, als befänden sie sich auf einer Beerdigung, sie blickten ernst und ihre Augen waren gerötet. Ford saß am oberen Ende eines rechteckigen Tisches. Er hatte die Augenbrauen gerunzelt und einen müden Blick, als hätte er schon zu viel gesehen. Er hielt ein Buch in den Händen. Als wir eintraten, lächelte er uns zu, legte das Buch zur Seite und wies uns unsere Plätze am anderen Ende des Tisches. Harry lief um den Tisch, flüsterte Ford etwas ins Ohr und setzte sich dann links neben ihn. Es entstand ein langes Schweigen. Ford musterte Jack. »Lassen wir Jack sprechen, und dann hören wir Horacio an. Ich darf Sie doch Horacio nennen, nicht wahr?«, erkundigte er sich bei mir. Ich täuschte Selbstsicherheit vor. »Ja, selbstverständlich«, antwortete ich. Ford nickte wortlos. Jack entfaltete seine Pläne und breitete sie auf dem Tisch aus. Seine Hände zitterten. Er zögerte und hob dann an: »Herr Ford, ich möchte Ihnen mitteilen, dass ich meine Freizeit genutzt habe, um einen sechszylindrigen Motor zu entwickeln. Er springt automatisch an und wird von einer Wasserpumpe gekühlt. Ich würde Ihnen gerne die Pläne zeigen, die ich mitgebracht habe, und würde Ihnen auch gerne zeigen – soweit sie dies wünschen –, wie er funktio276
niert. Ich bin mir sicher, dass diese Weiterentwicklung unseren Autos den gewünschten Erfolg, ja einen fantastischen Erfolg bescheren wird.« Ford zog die Brauen hoch. Edsel hatte ihn, als er vor einigen Wochen von einer Europareise zurückgekehrt war, zur Unterstützung eines ähnlichen Projektes bewegen wollen und ihm versichert, dass die neuen Errungenschaften in der Automobilindustrie schon bald zum Alltag gehören würden. »Reichen Sie mir diese Pläne«, befahl er, ohne jemanden dabei anzuschauen. Harry stand auf, nahm Jack die Pläne aus den Händen und reichte sie Ford. Der warf einen kurzen prüfenden Blick darauf. Dann schüttelte er verächtlich den Kopf und gab sie an Harry zurück. In einem veränderten Tonfall, aber ohne sich an jemanden im Besonderen zu wenden, ließ er verlauten: »Das interessiert mich alles überhaupt nicht. Die sechs Zylinder sind nur für den Luxusmarkt interessant. Ein seltsamer Tag ist das heute. Ich lege Tausende von Kilometern zurück, um von einem Reinfall zu erfahren, und die dafür Verantwortlichen wollen nicht nur ihre Verantwortung nicht wahrhaben, die sie allerdings zweifellos werden übernehmen müssen, sondern einige von ihnen bilden sich auch noch ein, Mechanikern gleich arbeiten und denken zu können.« Ford ließ seinen Blick auf Rowwe ruhen und fuhr fort: »Gestatten Sie eine Frage, Jack, eine einzige Frage nur: Hat Sie während dieser ganzen Zeit niemand darauf hingewiesen, dass eine Seuche die Pflanzung verwüsten könnte, wenn die Bäume so gesetzt würden, wie sie gesetzt wurden? Antworten Sie mir. Ja oder nein?« »Nein, mein Herr.« 277
»Glauben Sie, wie es die Biologen tun, und wie es auch der tut, der uns heute begleitet hat, dass dieser Pilz alles vernichten wird, was wir hier erschaffen haben?« »Ja, das glaube ich.« »Kennen Sie sich in den Naturwissenschaften aus?« »Ich habe hier einiges gelernt, mein Herr.« »Haben Sie sich bemüht, sich sachkundiger zu machen?« »Nein, mein Herr.« »Glauben Sie, dass Ihre Kenntnisse ausreichend sind, um fundierte Meinungen zu äußern?« »Ich glaube nicht, mein Herr.« »Ich könnte also behaupten, dass Sie keine Ahnung haben?« »Das ist möglich.« »Gut, mein Junge, Sie haben keine Ahnung. Ich danke Ihnen für Ihre Bemühungen, Sie können sich jetzt zurückziehen.« Jack erhob sich, schlich zum Ende des Tisches, gab Ford die Hand, nahm seine Pläne und ging. Ford schwieg einen Moment, dann stand auch er auf. Harry tat es ihm gleich und bedeutete allen Anwesenden, sie hätten sich ebenfalls zu erheben. Wir gehorchten. Ford wandte sich an Harry: »Wünscht noch jemand, mich zu sehen?« »Ja, Henry, der Priester, der heute morgen die Taufe durchgeführt hat. Er heißt Theo und bittet uns um Unterstützung für sein Werk im Urwald.« »Ach, der Dicke. Was ist das eigentlich für einer?«, fragte Ford. »Du kennst ihn doch gut, nicht wahr?«, fragte Harry Rowwe. 278
Ich kam Rowwes Antwort zuvor. Ich hob eine Hand. »Darf ich dazu eine Meinung äußern?«, fragte ich, an Ford gewandt. Harry sah mich missbilligend an. Ford nickte. »Dieser Priester ist ein opportunistischer Abenteurer. Was er tut, tut er nur zu seinem eigenen Nutzen. Deswegen schlage ich vor, dass Sie ihm weder ein Gespräch gewähren, noch ihm Geld aushändigen«, sagte ich. Ford kam auf mich zu. Er blieb neben mir stehen und sprach von dort aus zu den anderen. Er war schlanker und kleiner, als er mir am Morgen vorgekommen war. »Gut, meine Herren, für heute reicht es. Was ich mit diesem jungen Mann zu besprechen habe, werde ich mit ihm auf einem kleinen Spaziergang klären. Beschaffen Sie mir einen Strohhut und stellen Sie sicher, dass uns unterwegs niemand stört.« Harry und Rowwe blickten einander überrascht an. Dann ging Rowwe zu einem Schrank, öffnete ihn, nahm einen Hut heraus und reichte ihn mit respektvoller Geste Ford. Ford zog sein Jackett aus und setzte sich den Hut auf, dessen Krempe er nach unten bog. Er sah aus wie ein Bauer an einem Feiertag. »Welchen Weg schlagen wir am besten ein?«, fragte er Rowwe. »Hier entlang«, antwortete Rowwe und wandte sich hastig einer Seitentür zu, die zum hinteren Ende des Platzes führte. Rowwe hielt uns wie ein Hotelpage die Tür auf. Harry machte sich inzwischen auf die Suche nach einem Wachmann. Ford bedeutete mir, ihm zu folgen, und wir brachen auf. Wir liefen an der Schule vorbei und schlugen einen Pfad 279
aus grauem Stein ein, der zum Flussufer führte. Rowwe, Frank und ein Wachmann folgten uns in ein paar Schritt Entfernung. Die Musik, die das Fest der Arbeiter begleitete, klang von weit her zu uns. Das Sonnenlicht wurde schwächer. Ford schwieg eine Zeit lang. Mit einem Mal ergriff er meinen Arm. Er wies auf einen Baum am Weg. »Das ist ein Mangobaum, nicht wahr?« fragte er. »Ja, so ist es.« »Haben Sie einmal die Gelegenheit gehabt, Amazonien und unser Gebiet von oben zu sehen, vom Flugzeug aus?« »Nein, nein, mein Herr.« »Ach, es ist traumhaft.« Ford warf einen Blick über seine Schulter. »Horacio, sagen Sie mir die Wahrheit: Rowwe und dieser Frank – das sind Vollidioten, oder irre ich mich?« »Ich glaube, Sie irren nicht, mein Herr.« »Ich habe es mir gedacht. Es ist ein Unding, hier zu scheitern. So ein Reichtum in Griffweite. Man braucht bloß zuzugreifen!« Ford blickte zum Himmel auf und sprach weiter. Ich war ihm dankbar, dass er mich weder über mein Leben noch über die Gründe ausfragte, die mich hierher gebracht hatten. »Wissen Sie, wer auf die Idee gekommen ist, diesem Ort meinen Namen zu geben?« »Ich weiß es nicht, mein Herr.« »Mein Herr, mein Herr, könnten Sie dieses ›mein Herr‹ nicht weglassen, Horacio?« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich hatte einen Assistenten, der mich immer mit ›mein Weißer‹ ansprach«, warf ich ein. 280
»Ja, doch Sie und ich, wir haben dieselbe Hautfarbe. Gibt es viele Neger in Argentinien?« »Nein.« »Und Juden?« »Sie bilden eine wichtige Kolonie.« »Das ist schlecht.« Ich sah ihn an. Ford bemerkte meine Verwirrung. »Ja, das ist schlecht«, wiederholte er mit Nachdruck. Ich erwiderte nichts. Wir setzten unseren Weg fort. Ford blieb mehrmals stehen, um dem Flug eines Vogels zuzuschauen. Einmal lief uns eine Paka über den Weg. »Glauben Sie an Reinkarnation?« fragte er. »Ich weiß sehr wenig darüber.« »Mich interessiert, welchen Einfluss unsere Vergangenheit auf uns hat, wenn es darum geht herauszufinden, wer wir eigentlich sind. Ich glaube zum Beispiel, dass die Seele eines Menschen bei dessen Tod in den Körper eines Neugeborenen schlüpft. Wenn der Mensch, der stirbt, schöpferisch ist, wird sein Geist aus dem Säugling ein Genie werden lassen, einen Leonardo da Vinci oder einen Edison. Die da jedoch«, sagte er und wies auf die Stelle, wo die Paka vorbeigerannt war, »haben sie bestimmt für ihr früheres Leben bestraft.« Ford lachte über seine eigene Äußerung. Da steckte ich meine Hand in die Tasche und holte einen alten Zeitungsausschnitt heraus, in dem Fords Präsenz am Amazonas kommentiert (und karikiert) wurde. Ich zeigte ihm den Ausschnitt. Ford nahm ihn an sich, zog eine Lupe aus der Tasche und studierte ihn sorgfältig. Mit einem Anflug von Stolz in der Stimme wiederholte er die Überschrift des Artikels: »›Zivilisation und Arbeit‹. Kann ich den behalten?« 281
»Natürlich. Er gehört Ihnen.« Ford lächelte zufrieden, drehte sich um und rief nach Harry, der sofort angerannt kam. Ford bat ihn, den Artikel aufzuheben. Wir näherten uns jetzt dem Fluss. Ich sah, dass ein vom Schiff des Financiers stammendes Beiboot auf das Ufer zufuhr. Es waren drei Personen an Bord. Oben am Steilufer wachten mit einigen Metern Abstand zueinander, die aus der Stadt rekrutierten Polizisten. »Wissen Sie ein wenig Bescheid über das Leben Leonardo da Vincis, dem Erfinder des Fahrrades?« »Ich habe das eine oder andere über ihn gelesen«, sagte ich. »Wissen Sie vielleicht etwas über meine Anfänge?«, fuhr er fort. »Nicht viel.« »Ich habe als Chefmechaniker in der ›Edison Illuminating‹ angefangen. Die Nächte über habe ich dort in einer kleinen Werkstatt, die ich im Hinterhof meines gemieteten Hauses in der Bagley Avenue in Detroit organisiert hatte, pausenlos damit verbracht, eine Maschine zu konstruieren und zusammenzufügen, meine Maschine. Sie war meine Obsession, mein Junge, meine große Obsession. Ihretwegen habe ich mich mit allen angelegt. Ich habe mir meinen Weg gebahnt, indem ich mich querstellte, sogar meinem Vater gegenüber. Ich hatte einen Mitarbeiter, den braven Herrn Bishop, mit dem ich an einem regnerischen Sommermorgen das Werk nach monatelanger Arbeit zu Ende brachte. An diesem Morgen spürte ich, mein Junge, ja, ich spürte es – das ist das richtige Wort –, dass diese Maschine alles verändern würde. Nichts auf der Welt würde mehr so sein wie vor dem Bekanntwerden meiner Maschine. Ich sagte zu Bishop, ich wolle sie ausprobieren, und zwar 282
gleich dort, auf den Straßen von Detroit, noch in dieser Nacht. Bishop aber widersprach mir. ›Henry, es ist spät‹, sagte er, ›und möglicherweise kriegen wir Probleme mit der Polizei oder den Pferdekutschen. Lass es uns auf den Vormittag des morgigen Tages verschieben‹, bat er mich. ›Nein, Bishop, nein. Entweder es wird heute noch geboren, oder es wird niemals das Licht der Welt erblicken. Merkst du nicht, was hier vor sich geht? Begreifst du nicht, dass wir eine Ära, eine neue Epoche der Menschheit einleiten, dass wir unsterblich sein werden?‹, fragte ich ihn entschlossen. Bishop ließ sich überzeugen und wir machten aus, er würde mit seinem Fahrrad vor der Maschine herfahren, um Probleme zu vermeiden. Bishop verließ das Haus mit seinem Fahrrad, und ich, mein Junge, drehte die Kurbel, und als Leben in meine Maschine kam, als dieses Motorchen anfing zu brüllen wie ein junger Löwe, der mitten im Dschungel seine Herrschaft verkündet, stieg ich auf und fuhr los. Ich hatte einen Kettenzug wie den eines Fahrrades installiert, und auch der Sitz war dem eines Fahrrades gleich, doch mein Vehikel war sehr viel mehr als das, es war ein Automobil, ein Fahrzeug mit einem Verbrennungsmotor. Im Nu ließ ich Bishop hinter mir. Ha! Ich fuhr die Grand River Avenue bis zum Washington Boulevard entlang. Acht Meilen pro Stunde. Da fährt der verrückte Henry mit seiner Höllenmaschine, die die Welt verändert, bei Regen, mit einer Geschwindigkeit von acht Meilen pro Stunde«, erinnerte sich Ford mit sehnsuchtsvollem Blick. Ich dachte an Jack, trat näher an ihn heran und erwiderte: »Jack hat auch hart gearbeitet, um Ihnen seine Maschine zeigen zu können.« Er achtete kaum auf das, was ich da gesagt hatte und seine Antwort fiel anders aus, als ich erhofft hatte. »Mein Vater wollte nicht einmal in meine Maschine einsteigen. Eine Woche später fuhren wir mit Clara und 283
dem kleinen Edsel zu seiner Farm. Meine gesamte Familie staunte über mein Automobil, die Nachbarn liefen zusammen, die Presse wollte Bilder haben; doch mein Vater, stur und gleichgültig, wie er war, tat nicht einen Schritt über die Schwelle seines Hauses. Tja.« Wir hatten das Ufer erreicht. Ford betrachtete den Lauf der Strömung. Ein Boot, das vom Schiff des Financiers abgelegt hatte, näherte sich uns Die Wächter formierten sich und forderten die Rückfahrt. In dem Boot hatte sich ein dicker, kahlköpfiger Mann aufgebaut; er hatte einen Lautsprecher in der Hand. »Henry, Henry!«, hallte es. Die Wächter zogen drohend ihre Waffen. Ford beobachtete das Manöver und bat mich, ihnen zu sagen, sie sollten ihn sprechen lassen. »Henry, ich will dich an einem großen Projekt beteiligen, es geht um Eisenminen im Süden des Amazonas, es ist ein fantastisches Projekt, bitte, lass uns darüber reden und vergiss den Kautschuk. Hör mich bitte an!« Ford formte mit den Händen einen Trichter um seinen Mund. »Was wissen Sie schon vom Kautschuk? Die ganze Welt braucht Kautschuk; Autos, Industrie, nichts geht ohne Kautschuk. Was wissen Sie schon davon?« »Der Kautschuk hier ist verflucht! Ich wollte eine Eisenbahn für seinen Transport bauen, aber ich bin gescheitert. Eine ganze Schiffsflotte habe ich dafür in Bewegung gesetzt und ich habe ein Vermögen von mehreren Millionen Dollar dabei verloren … Ich schlage dir jetzt die Sache mit dem Eisen vor, glaub mir, ich weiß, wovon ich rede!« Ford schüttelte den Kopf. Dann rief er: »Wer sind Sie?« 284
»Ja erinnerst du dich denn nicht an mich? Ich bin Percival, der Titan, wir haben uns damals in New York kennen gelernt!« »Sagen Sie, Percival, warum sollte ich einem Mann vertrauen, der gescheitert ist? Verraten Sie mir das einmal! Außerdem sollten Sie wissen, dass die Zeit der Träume, die Zeit der Erfindungen auf der ganzen Welt ein für alle Mal vorüber ist. Wenn Sie erst einmal raus aus dem Geschäft sind, finden Sie nie wieder zurück, so einfach ist das«, lancierte Ford. Der Mann verstummte. Ford winkte verächtlich ab und wandte ihm dann den Rücken zu. Dann kehrte er um. Das Boot steuerte langsam auf das Schiff zu. Harry, Frank und Rowwe hatten sich um Ford herumgruppiert. Ford blieb stehen und rief mich zu sich. Ich ging zu ihm. Er sah mich prüfend an. Ich bemerkte die Besorgnis in seinen tief in den Höhlen liegenden Augen. Er sprach sehr leise: »Ich weiß, dass Sie hier weg wollen. Man hat mir berichtet, dass Sie ein kühner Kerl sind. Wenn Sie in dem Unternehmen weitermachen wollen, ist Ihnen eine Stelle als Harrys Assistent sicher. Auch in Detroit gibt es solche Unruhen, wie Sie sie hier erlebt haben, und Sie können Harry unterstützen. Sollten Sie hier bleiben wollen, biete ich Ihnen an, bei einem Gegenschlag mitzuwirken. Sollten Sie jedoch nicht bei uns weitermachen wollen, möchte ich wissen, wie hoch Ihr Preis ist.« Da begriff ich den Grund für unseren Spaziergang. Doch ich wollte, dass er ihn aussprach. »Ich verstehe Sie nicht, mein Herr.« »Niemand darf jemals erfahren, dass ich hier eine Niederlage erlitten habe. Dass ich gegen diese ungestalten, gefühllosen Giganten nicht angekommen bin. Und erst recht darf Edsel, mein Sohn, davon nichts erfahren. Ich gebe 285
nicht auf, ich werde das Schlachtfeld an einem anderen Ort, vielleicht flussabwärts, neu eröffnen. Ich bin fest entschlossen. Wir werden dieses Gebiet aufgeben und ein anderes in Besitz nehmen. Doch von diesem gescheiterten Experiment, das unglücklicherweise meinen Namen trägt, soll kein Wort jemals fallen, niemals soll es Erwähnung finden. Der Teufel selbst soll es verschwinden lassen, wenn er will! Die Bäume sprechen nicht über die Tragödien, die sie verursachen, die Menschen jedoch wohl. Ich muss mich vorsehen. Wie hoch ist der Preis für Ihr Schweigen, Horacio? Sagen Sie es mir.« Gespannt verfolgte man unser Gespräch. »Ein paar Fahrkarten und ein bisschen Geld für mich und Caroline.« »Wer ist sie? Eine Geliebte?« »Etwas in der Art.« »Frauen richten keinen Schaden an. Gut, mein Junge, das Geschäft ist beschlossen. Das mit den Fahrkarten werde ich über Harry erledigen lassen.« Ford lächelte. Wir reichten uns die Hand. Dann schloss er sich den Gringos an. Er machte ein paar Schritte und wandte sich dann aber noch einmal um. »Horacio, wissen Sie was?« »Nein.« »Ihr Firpo hat unseren großen Dempsy k.o. geschlagen. Ganz eindeutig. Ich war selbst dabei, im Ring des Madison. Eine Trickserei, eine richtig ungerechte Trickserei ist das gewesen.« Ich schmunzelte. Ich sah, wie er mit großen Schritten vor den anderen herlief. Er war kein Denker. Er war auch kein Wissenschaftler. Doch er hatte etwas an sich, was auf außergewöhnliche Fähigkeiten schließen ließ. In seinem 286
brennenden wehmütigen Blick lag die erstaunliche Mischung aus Stolz, Überzeugung und Trotz, die ein Mann braucht, um die Welt zu verändern. Als Ford die Schule erreichte, setzte das Orchester wieder ein, und ein Feuerwerk wurde gezündet. Ein Stunde später reiste er ab. Er hatte genaue Anweisungen zur Vernichtung von Archiven, Fotos, Filmen und all dem hinterlassen, was sich in den Händen der Führungskräfte befand und sich auf die Stadt bezog. Außerdem hatte er Journalisten und Politikern angeordnet, das Stattgefundene zu vertuschen. Sollte all das nicht eingehalten werden, so würden wenigstens das Ausmaß des Scheiterns und ebenso die Angaben über Größe und Umfang des ehemaligen Projektes an und für sich auf ein Minimum reduziert werden. Das Flugzeug hob ab, und ich verfolgte seinen Flug, bis es nur noch als kleiner Punkt am Himmel zu erkennen war. Die ersten Sterne wurden sichtbar. Kurz darauf lichtete das Schiff des Financiers die Anker und verschwand mit der Strömung. Das Fest dauerte bis zum Einbruch der Nacht an. Doch keiner der Nordamerikaner nahm daran teil. Ebenso wenig stieß ich auf Jack oder Antonio. Ich hielt mich eine ganze Weile in einer der Baracken bei den Tagelöhnern auf. Es wurde keine Musik mehr gespielt, doch die Luft war erfüllt von Stimmen, Rufen und Gelächter. Um Mitternacht regnete es Heuschrecken. Es waren solche der Art, wie ich sie am Morgen gesehen hatte. Sie fielen auf Lampen und Tischdecken nieder. Zu dem Zeitpunkt betraten Theo, Roque und Flavio, der Mathematiklehrer, die Baracke. Roque hatte ich seit Monaten nicht gesehen. Die drei kamen auf mich zu. Sie waren betrunken. Theo trat an mich heran. Sein Gesicht hatte einen griesgrämigen Ausdruck, den die Trunkenheit ins Groteske verzerrte. »Dieser elende Wicht wollte mich nicht empfangen, also verfluche ich ihn, und ich verfluche diese schmierige 287
Stadt. Alles, alles hier soll die Hölle verschlingen«, sagte er und hob drohend den Zeigefinger. Roque und der Lehrer stellten sich zu ihm. Ich drückte beiden die Hand. »Wie ist es dir ergangen, Roque?« »Ich verziehe mich in den Süden, Gold suchen. Kommen Sie mit uns?« »Wen meinst du denn alles?« »Uns drei: den Priester, den Mulatten und diesen Lehrer, der es satt hat, vom Leben bloß zu träumen, während die Dinge an ihm vorüberziehen« antwortete der Lehrer. Sein Atem roch stark nach Alkohol. »Schließen Sie sich dem Unternehmen an, Horacio. Wir brauchen Männer wie Sie, wir brauchen Männer mit Skrupeln«, sagte Theo. »Wir werden ungefähr hundert Kilometer südlich von hier in den Wald vorstoßen. Dort kann man das Gold vom Boden aufsammeln«, fügte Roque großtuerisch hinzu. Er hielt ein Päckchen Zigaretten in der Hand, schüttelte es, bis zwei Zigaretten herausragten, und bot eine dem Lehrer an. Der Lehrer bediente sich, steckte die Zigarette zwischen die Lippen und starrte die ihm ein brennendes Zündholz hinhaltende Hand Roques eine Weile fassungslos an. Dann ließ er die Zigarette zu Boden fallen, holte stattdessen eine kleine Flasche aus der Brusttasche seiner Jacke und reichte sie mir. Ich nahm einen Schluck. Es war ein guter Schnaps. Wir rauchten und tranken schweigend und nach einer Pause, die mir unerträglich lang schien, bemerkten die drei Männer endlich, dass ihre Gegenwart mir unangenehm war. Eilig ließen sie von mir ab und schlugen den Weg Richtung Fluss ein. Sie verabschiedeten sich nicht. Ich sah sie nie wieder. Die grauen Heuschrecken hatten zu diesem Zeitpunkt schon alles in Be288
sitz genommen. Sie schwirrten um die Lichter, sprangen an den Wänden hoch und verfingen sich in den Haaren der Frauen.
289
XXII
C
aroline lag unter einem sauberen, ausgeblichenen Laken. Sie hatte die Augen geschlossen, das Haar lag ihr wirr um den Kopf. Sie sah frisch aus, aufgelöst, heiter, wie in der Sonne zerlaufener Honig. Ich stand einen Augenblick vor ihr und betrachtete ihr Gesicht, es wirkte ausgesprochen zart. Ich bückte mich und küsste sie auf die Wange. Um ihren Mund spielte ein Lächeln. Dann entfernte ich mich vom Bett und durchquerte das Zimmer, das sich langsam mit Licht füllte. Durch das offene Fenster drangen unbestimmt und von weit her die Geräusche des Hafens ein. In unserem Zimmer standen ein Bett, eine schwarze spanische Wand, drei Stühle, ein Tisch, ein Spiegel und eine Konsole. Auf dem Tisch lagen der Fotoapparat und einige Bücher, Akten und Parfümfläschchen von Caroline. An den Wänden hingen kitschige Bilder, auf denen Liebesszenen dargestellt waren. Ich trat hinter die spanische Wand, zog mich an, nahm etwas Geld von der Konsole, leerte den Aschbecher in einen Eimer und ging hinaus. Bevor ich die Tür zuzog, betrachtete ich Caroline noch einmal. Ihre Schultern waren mit dem Laken bedeckt, die Hände hatte sie neben dem Kopf liegen. Geräuschlos schloss ich die Tür und ging die Holztreppe hinab in das Untergeschoss des Hotels, in dem wir seit unserem Wiedersehen in Santarém vor zwei Wochen wohnten. Die Eingangshalle war menschenleer bis auf den Pförtner, der auf einer Bank schlief. Ich hatte große Lust, mich zu bewegen, und trat auf die Straße. 290
Ich lief ziemlich lange in einem geruhsamen Tempo. Ich fühlte mich frei. Anfangs mied ich die Gegend direkt um den Hafen und arbeitete mich dafür durch die umliegenden schmutzigen und engen Gässchen, die von Lehm- und Strohbauten flankiert waren und an manchem Warenlager vorbeiführten. Doch das Gewimmel von Menschen, die Schwärme von Händlern und Kunden, die lautstark mit Kauf und Verkauf beschäftigt waren, störte mich bei meinen Gedanken, und so entschied ich mich, den Weg hinabzugehen, der am Flussufer entlang lief. Der Lärm dieser Stadt missfiel mir, und ich verachtete auch die Leute, die – wie es schien – nichts anderes zu tun wussten, als sich gegenseitig um die Wette das Geld aus der Tasche zu ziehen. Und sie waren besessen von vulgären, von lächerlichen Dingen, denen sie hinterherträumten, nein, mehr noch: denen sie hinterherlechzten – wenn sich ihre Sehnsüchte überhaupt in die Kategorie des Traumes erheben ließen. Während meines Spazierganges dachte ich an Caroline. Sie war die schönste unter all den Frauen, die ich geliebt hatte. Unsere Liebe war während der ersten Tage wie ein Spiel gewesen, wie eine Art immerwährender Schöpfungsakt. Nach dem Niedergang Fordlandias – da war erst die Seuche gewesen, auf die eine kurze, aber verheerende Heuschreckeninvasion gefolgt war – hatten wir ausgemacht, uns in Santarém zu treffen. Dort, auf halbem Weg zwischen tiefstem Urwald und dem an den Ufern der Zivilisation sich entlangstreckenden Ozean, wollten wir über unsere Zukunft entscheiden. In jener ersten Nacht im Hotel (dem einzigen anständigen Hotel der Gegend, das sich finden ließ) lachten wir viel, redeten unaufhörlich, waren geradewegs in unsere Zwiesprache versunken. Die folgenden Tage tauschten wir Zärtlichkeiten, Küsse und Schmeicheleien aus, gestanden einander Dinge und verbrachten die meiste Zeit im Bett. Wir verließen das Zimmer nur, um 291
den wundervollen, wie von Safran gefärbten Sonnenuntergängen zuzusehen und im Restaurant des Hotels zu Abend zu essen. Dennoch wurde mir allmählich klar, dass dieser Zustand nicht ewig andauern konnte. Wir waren zu verschieden und uns gleichzeitig doch zu ähnlich. In der vorausgegangen Nacht hatte Caroline ausschließlich geschwiegen. Sie hatte nicht ein einziges Wort gesprochen, sondern sich ihren Grübeleien vollkommen überlassen. Sie war während des Spaziergangs durch den Hafen, im Restaurant des Hotels und auch im Zimmer stumm geblieben. Irgendwann nach dem Abendessen hatte sie mich um eine Zigarette gebeten. Ich hatte ihr eine Zigarette angesteckt, deren Rauch sie so tief einsog, wie ich es bisher nur von Männern gewohnt war. Dann hatte sie die Zigarette zwischen ihren Fingern gedreht, sich in ihrem Stuhl zurückgelehnt und mich minutenlang gemustert. Es war ihr dem Anschein nach schwer gefallen, auszusprechen, was sie beschäftigte. Ich hatte ihr dabei behilflich sein wollen, aber auch ich hatte keine Worte gefunden. Ich hatte letztlich mit den Schultern gezuckt. Caroline hatte sich die Stirn gerieben, ihr anklagendes Schweigen bewahrt und ich hatte Tränen in ihren Augen stehen sehen. Kurz darauf hatte sie verwirrt die Zigarette ausgedrückt, war mühsam aufgestanden und in unser Zimmer gegangen, ohne ihren Kognak ausgetrunken zu haben. Ich muss sagen, dass die Tränen jenes Abends mir heute immer noch zu schaffen machen. In genau diese Zeit fiel mein Treffen mit einem Engländer, dem ein Schiffsmagnat die Durchführung eines Projektes in einer abgelegenen Region des Amazonas vorgeschlagen hatte. Das Treffen hätte zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt stattfinden können. Bei dem gigantischen Vorhaben war die Rodung des Gebietes, seine Bepflanzung mit Kautschuk, Reis, Jute und Pfeffer, der Bau eines Sä292
gewerkes, sowie die Errichtung einer hacienda mit importiertem Vieh vorgesehen. Man war bereit, ein Vermögen zu investieren, hatte beste Beziehungen innerhalb und außerhalb Brasiliens und hoffte, dort nicht dieselben Fehler zu begehen wie die, die Fordlandia zum Zusammenbruch gebracht hatten. Kurz nach der Heuschreckeninvasion hatten wir alle (die nordamerikanischen Führungskräfte und ich) Fordlandia überstürzt in einer modernen Linienbarkasse verlassen, die uns auf dem Tapajós in doppelter Geschwindigkeit flussabwärts brachte, wie die Moacyr damals flussaufwärts benötigt hatte, und wir hatten die Reise über kein einziges Wort miteinander gesprochen. Ich war in Santarém ausgestiegen, um mich mit Caroline zu treffen, und die Gringos waren weitergefahren, die einen nach Belém, die anderen nach São Paulo, und Rowwe und Frank, die beiden für Fordlandia am wichtigsten gewesenen Personen, kehrten enttäuscht in ihr Land zurück in der Hoffnung, eine neue Anstellung zu finden. Die Pflanzung aber erholte sich nie wieder. Die Pilzepidemie hatte sie ruiniert und die Heuschrecken gaben ihr in wenigen Tagen den Rest. Die Gärten der Stadt waren im Handumdrehen eingegangen, und die Gebäude, die der Urwald eilends überdeckte, zeigten mit der Zeit nur noch die Schatten eines vergangenen Verdrusses. Der Vorhang unserer beklagenswerten Inszenierung fiel stumm – das Publikum war längst gegangen –, und in einer desolaten Atmosphäre leuchtete noch einmal das Zeichen ihres Scheiterns auf. Als wir uns einschifften, goss es in Strömen. Ich setzte mich steuerbords ans Heck und betrachtete noch ein letztes Mal die Stadt, bis sie aus meinem Blickfeld entschwand: eine verloschene Blume. Zurück blieben nur einige sich selbst überlassene Kautschuksammler, und Henry Ford II. übergab das Land nach dem Tod seines Großvaters (das Leben Edsels, seines Vaters, war schon lange 293
vorher zu Ende gegangen) für eine Handvoll Dollar der brasilianischen Regierung. Der Engländer, mit dem ich mich traf, ein Typ mit kalten, ausdruckslosen Augen, erzählte mir, er habe zwei der Nordamerikaner in Belém kennen gelernt, sie hätten ihm meinen Namen genannt und ihm vorgeschlagen, mich bei seinem Unternehmen mitzunehmen. Sie hatten ihm gesagt, er solle nach ›El Argentino‹ fragen. Jetzt wollte er wissen, unter welchen Bedingungen ich bereit wäre, den Job zu übernehmen. Zur selben Zeit hatten mir auch Händler aus Manaus, die sich für ein Wochenende in unserem Hotel aufhielten, vorgeschlagen, mich an der Ausbeutung einer Bauxitmine im Herzen des die Stadt umgebenden Dschungels zu beteiligen. Caroline wurde wütend, als ich ihr von diesen Projekten erzählte, dabei hätte ich sie bloß ansehen müssen, um ihre Antwort erraten zu können. Eigentlich konnte ich alle ihre Gedanken lesen, jedoch ins Zentrum ihres Wesens drang ich niemals vor. Caroline wünschte sich, dass wir auf den Spuren Jacks eine Reise nach Spanien unternähmen. Sie wollte in ihrem Beruf als Anthropologin arbeiten und war fasziniert von der politischen Zukunft Spaniens. Jack hatte Bekannte in Barcelona und hatte sich, nach einer heftigen Konfrontation mit der spanischen Justiz, dorthin eingeschifft. Vor seiner Abreise aus Fordlandia hatte er, unmittelbar nach dem Besuch Henry Fords, Frank aufgesucht und ihm mit einem Faustschlag die Nase entzweigeschlagen. Mir hatte Jack seinen Revolver hinterlassen, ein Blatt Papier mit dem Text zweier seiner Lieder (die meine Lieblingslieder waren), einen Zylinderverschluss seines Motors, der sich als Aschenbecher benutzen ließ, sowie einen Brief, den ich Caroline aushändigen sollte. Nachdem ich eine Weile durch den Hafen geschlendert war, blieb ich vor einer kleinen Bar stehen und trat dann 294
durch eine blau gestrichene Tür ein. Ich bestellte einen Kaffee und ein weiteres Getränk, während ich verstohlen die Reihen von Flaschen hinter der Bar, den Spiegel, den gestreiften Teppich, die gelben Tische und ein sich mit gedämpfter Stimme unterhaltendes Pärchen betrachtete. Ich blieb eine ganze Zeit lang so an der Bar stehen, dann setzte ich mich an einen Tisch neben das Fenster. Draußen war es fast völlig dunkel geworden. Der Himmel war von Wolken bedeckt, doch das sich zusammenbrauende Gewitter war noch nicht losgebrochen, und man hörte den Donner nur in weiter Ferne anrollen. Durch das Fenster konnte ich sehen, wie die leichten Hafen-Boote, in denen die Caboclos am Heck saßen, an den Ufern des hier breit fließenden und turbulenten Amazonas Zuflucht suchten. Ich dachte darüber nach, wie es wohl gewesen wäre, wenn ich in Buenos Aires geblieben wäre und ein anderes Leben geführt hätte, wenn ich versehentlich in einen anderen Zug gestiegen wäre, und mir das, was mir damals unerträglich erschienen war, zur Hölle geworden wäre. Ich fragte mich auch, ob ich noch derselbe Mann war, der vor anderthalb Jahren mit der Absicht hergekommen war, seine Angst zu ertragen und seine Geheimnisse zu verschweigen. Ich hatte das Gefühl, im Dschungel sehr intensiv gelebt zu haben, doch auf eine Art und Weise, die mit der Wahrheit nichts zu tun hatte. Ich konnte nicht fortgehen, und ebenso wenig konnte ich bleiben. Ich stand an einem Kreuzweg, doch an jenem Septembermorgen schien mir jedes Ziel, jede Möglichkeit gleichwertig. Durch die Fensterscheibe sah ich, dass es zu regnen begonnen hatte. Blitze zuckten, während der Regen immer stärker wurde, in fantastischen Zickzacklinien über den Himmel. Ich sah auf die Uhr. Es waren noch keine drei Stunden vergangen, seit ich das Hotelzimmer verlassen hatte. Nach einer Weile trank ich aus, zahlte und verließ die Bar. Ich hatte eine Entscheidung ge295
troffen und wollte so schnell wie möglich zum Hotel zurückkehren. Schließlich und endlich war die Welt eine von Wünschen, Zufällen und Irrtümern bestimmte Zone. Ich konnte insoweit nicht viel falsch machen.
296