KIM WOZENCRAFT
Fieberhaft Aus dem Amerikanischen von Bernhard Schmid
Buch In der harten, kaltblütigen Männerwelt der ...
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KIM WOZENCRAFT
Fieberhaft Aus dem Amerikanischen von Bernhard Schmid
Buch In der harten, kaltblütigen Männerwelt der Polizei will die junge Kristen Cates, gerade einundzwanzig und frisch von der High School, beweisen, daß auch sie als Frau »was drauf hat«. Und Kristen scheint tatsächlich so etwas wie ein Naturtalent zu sein. Mühelos taucht sie in die Welt der kleinen Dealer und Fixer ein. Doch skrupellose Vorgesetzte und der faszinierende Kitzel des Risikos treiben sie immer tiefer in einen teuflischen Hexenkessel, in Drogenkonsum und eigene Abhängigkeit. Kristen und ihr Partner Jim kommen bald selbst nicht mehr los von dem Stoff, den sie eigentlich bekämpfen sollen, und wissen schließlich nicht mehr, auf welcher Seite sie eigentlich stehen. Zwischen Pflichterfüllung und der fieberhaften Sucht nach der Droge hin- und hergerissen, werden sie erbarmungslos aufgerieben. Authentisch und mit schonungsloser Offenheit enthüllt die ExUndercover-Agentin Kim Wozencraft die dreckige Realität der Drogenszene und einer korrupten Polizei. Ihr furioser literarischer Erstling ist sowohl ein nur leicht verschlüsselter Enthüllungsroman und empörte Anklage als auch ein packender, actiongeladener Polizeithriller besonderer Art. »Fieberhaft ist hart wie ein Kriegsroman oder ein Polizeibericht, makaber wie eine nachtschwarze Biographie und rasant wie ein actiongeladener Thriller.« (Washington Post Book World)
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Autorin Kim Wozencraft wuchs in einem Vorort von Dallas, Texas, auf und führte lange Zeit selbst ein Doppelleben als UndercoverAgentin der Drogenfahndung, bis sie selbst bei ihren Ermittlungen drogenabhängig und straffällig wurde. Nach einer Entziehungskur und einigen Jahren Gefängnis hat sie an der Columbia-Universität studiert und lebt heute in New York. Ihre Erlebnisse als Drogenfahnderin hat Kim Wozencraft in ihrem aufsehenerregenden Erstlingsroman Fieberhaft aufgearbeitet.
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Für John
Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Rush«
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Prolog Von Zeit zu Zeit, wenn meine Konzentration nachläßt und mir die Gedanken entgleiten, übermannt mich ein rasender Zorn, der mir die Sicht nimmt, mich meiner Sehkraft beraubt, den Raum rund um mich die Farbe eines blutleeren Muskels annehmen läßt. Ich versuche mir einzureden, daß ich es nicht wirklich tun würde. Fast sechs Wochen bin ich jetzt schon hier, im psychiatrischen Trakt; die Gefängnisseelenklempner arbeiten noch immer an ihrem Gutachten. Auf keinen Fall dürfen sie das erfahren. Nichts, was sie sagen könnten, würde an meinen Gefühlen auch nur das geringste ändern, und ich kann ihnen unmöglich sagen, wie oft am Tag meine Gedanken die Richtung verlieren und dieses Etwas, dieses rasende, unerwünschte Etwas über meinen Verstand herfällt. Ich darf einfach nicht daran denken. Wie ich das machen soll, weiß ich nicht. Aber wenn ich es ihnen sage, dann erklären sie mich für gemeingefährlich. Dann rufen sie Nettle an und warnen ihn. Und laufen auf der Stelle zu Dr. Mossman. An ihm liegt es zu entscheiden, ob ich einen Knacks habe oder nicht. Wenn er mich für normal hält, dann schickt er mich wieder unter die Leute, damit ich meinen Knast abreißen kann. Aber wenn er mich für unzurechnungsfähig erklärt, hält er damit die Zeit an. Er kann mich hier drin behalten, so lange er will, für den Rest meiner Tage, wenn es ihm paßt, und es wird mir noch nicht mal auf meine Strafe angerechnet. Wenn ich 5
unzurechnungsfähig bin, dann bin ich laut Gesetz außerstande zu kapieren, daß ich brumme. Demzufolge kann es auch keine Strafe sein, und die abgerissene Zeit darf mir nicht angerechnet werden. Es liegt an Dr. Mossman, das zu entscheiden. Ich bin nicht unschuldig. Soviel kapiere ich noch, egal, zu welchem Schluß der Arzt kommen mag. Aber wenn ich zu verstehen versuche, was mich hier hereingebracht hat, warum ich mich überhaupt darauf eingelassen habe, dann lande ich immer wieder bei Jim Raynor und Donald Nettle. Aber Nettle ist der, auf den es ankommt. Es war nicht Jims Schuld. Ich habe mich derart schnell in ihn verknallt, wie ein Schulmädchen und mit der gleichen bedingungslosen Loyalität. Das war meine eigene Schwäche. Jim war mein Chef, mein Mentor. Er glaubte an mich, als ich noch nicht alt genug war, um zu wissen, wie man an sich selbst glaubt. Als wir uns kennenlernten, war er schon sechs Jahre bei der Polizei gewesen. Er konnte ein mieses Schwein sein, wenn die Situation es erforderte, und das machte ihn stark. Er wußte mit Brutalität umzugehen, und er glaubte an das, was er tat. Wenigstens auf der ein oder anderen Ebene. Aber vor allem wußte er, was Realpolitik bedeutete, daß es einfach nicht anders geht, als bei den kleinen Dealern von der Straße zu kaufen, und daß es nur ums Überleben geht. Er war Pragmatiker. »Mach das Beste aus dem, was dir grade zur Verfügung steht«, sagte er mir. Aber eine optimistische Philosophie war das nicht gerade. Er brachte mir bei, daß man die Regeln schon eine Kleinigkeit beugen muß, will man Ergebnisse sehen. Er machte einen richtigen Cop aus mir. Er gab mir das Gefühl, zum erstenmal in meinem Leben wie ein Erwachsener zu denken und zu handeln. Und von Anfang an, vom ersten Tag an, lernte ich durch ihn gewisse Notwendigkeiten verstehen. Hätte ich gewußt, was alles dazu gehörte, daß man imstande 6
sein mußte, seine Gefühle abzuschalten, sie einfach total verschwinden zu lassen, ich hätte die Bewerbung womöglich nie im Leben ausgefüllt. Aber das kommt nun mal erst nach und nach, so langsam, daß man es gar nicht mitkriegt. Die Verletzungen, die Toten, die Lügen, alles drischt auf einen ein, bis man schließlich einmal in sich geht, nur um festzustellen, daß dort nichts mehr übrig ist. Nichts außer einer großen Leere. Und es ist ein verdammt gutes Gefühl, wenn einem nichts mehr weh tut. Ich darf nicht an Nettle denken. Ich versuche, mich darauf zu konzentrieren, was ich dem Bewährungsausschuß sagen soll, wenn ich an den Seelenklempnern vorbeikomme. Ich werde ihnen erzählen, daß ich Leichtathletin war. Daß ich Sprinterin war und Basketball gespielt habe und Softball in der Kirchenliga. Daß ich in der Theatergruppe war und im Spanischklub und für die Schulzeitung geschrieben habe. Daß ich meine Samstage in den Ställen bei uns in der Nähe mit Pferdewaschen verbrachte auf die entfernte Möglichkeit hin, daß man mich mal dafür reiten ließ. Ich werde denen erklären, daß ich an Gott glaubte und meine Eltern anständige Leute waren, die sich verteufelt viel Mühe gaben, zusammenzubleiben und ihren Kindern ein Zuhause zu geben. Ich werde ihnen sagen, daß ich einmal an einem Sonntag, ich war in der vierten Klasse, nicht zur Kommunion gegangen bin, weil Rory Larson zehn Minuten vor der Messe Sweetarts verteilt hatte, daß ich knien geblieben bin und mich lieber Schwester Mary Josephs bösem Blick ausgesetzt habe, als den Leib Christi mit Süßigkeiten zu vermischen. Ich werde versuchen, ihnen klarzumachen, daß meine Absichten ehrenhaft waren. Und ich werde zugeben, daß ich Jim Ray7
nor geliebt habe, und das mehr, als für uns beide gut war. Und sie werden sagen: »Nun hören Sie schon auf mit dem Scheiß, Cates. Weswegen hat man Sie eingesperrt?« * Ich bin nicht unschuldig. Aber es ist irgendwie ein tröstender Gedanke, mir jetzt, hier drinnen, zu sagen, daß ich, hätte ich nicht so maßlos geglaubt, hätte ich Jim nicht geliebt, Nettle erst gar nicht begegnet und der maßlose Haß, der mir jetzt so vertraut ist, erst gar nicht aufgekommen wäre. Es gibt Augenblicke, vor allem mitten in der Nacht, in denen es mir unmöglich ist, die grauenhaften Rachegelüste einzudämmen, die meinen Magen in einen nassen Schwamm verwandeln und die Wände sogar im Dunkeln rot anlaufen lassen. Ich versuche mir zu vergeben. So gut ich nur kann. Manchmal, nachts, versuche ich zu beten. Meine Zellengenossin hat eine Holzplakette über ihrem Bett, in der folgender Spruch eingebrannt ist: UND WIE BESTRAFEN WIR DIE, DEREN REUE BEREITS GRÖSSER IST ALS IHRE MlSSETAT? Ich wüßte keine Antwort darauf, aber wenn ich tief in mich gehe, in Tiefen, die zu fürchten man uns beigebracht hat, dann erkenne ich erschauernd und angewidert das Ausmaß meines Hasses auf Nettle. Ich kämpfe dagegen an, von ihm verzehrt zu werden. Er ist eine Strafe für mich. In manchen Nächten bereitet er mir solche Schmerzen, daß man meinen könnte, ich hätte einen Abszeß am Herzen. Er verspürt keinerlei Reue darüber, was er Jim angetan hat, von mir ganz zu schweigen. Nicht die Spur von Reue. Alles, was ich von ihm will, ist sein Eingeständnis. In den Nächten hier drinnen sitze ich auf meinem Bett in die 8
Ecke gelehnt und höre den Schließer seine Zwei-Uhr-Runde machen. Das metallische Rasseln der gegen seine Hüften schlagenden Schlüssel hallt durch den Bau, wenn er auf Gummisohlen den Korridor langkommt, und dann steht für einen Augenblick ein Schatten hinter dem Drahtglasfenster in der Tür zu unserer Zelle, unserem Käfig. Ein Lichtpunkt trifft das Bett, wischt suchend über die Decke, findet meine Füße und fährt mir ruckartig ins Gesicht. Sofort beginnt er in den Augen zu brennen, dieser grelle Lichtschein, aber dann ist er wieder verschwunden, und die Schlüssel klappern weiter den Korridor lang. Ich sitze da und starre in die schillernden gelben Punkte, die vor mir durch den Raum tanzen wie einander im Dunkeln haschende Gespenster. Und ich verachte das dringende Bedürfnis in mir, Nettle zu finden und alles richtigzustellen. Ich will es nicht verspüren. Aber ich tu's nun mal. Gott im Himmel – und wie.
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Kapitel Eins Nicht, daß ich als Kind davon geträumt hätte, zur Polizei zu gehen. Ich glaube noch nicht mal, daß ich überhaupt je daran gedacht habe, irgend etwas Spezielles zu werden. Meine Großmutter nannte mich eine wilde kleine Range, und das war ich auch, aber ich hatte trotzdem schon früh genug kapiert, daß der Tag kommen würde, an dem ich mich in die traditionelle Rolle der Frau zu fügen hätte; und ich war nun mal von klein auf darauf getrimmt worden zu tun, was man von mir erwartete. Ich dachte nicht im Traum über die knackigen grünen Rasenflächen von Houstons Vorstädten hinaus und gestand mir die Beklommenheit einfach nicht ein, die mich bei dem Gedanken an die Möglichkeit, mein Leben als Hausmütterchen zu beschließen, befiel. Irgendwie machte ich wohl auf Aschenputtel: Ich studierte, wenn auch mehr nebenbei, an der Universität von Houston und bediente, genauso nebenbei, in Wild Bill's Rootin' Tootin' Ice Cream Saloon in der Alameda Mall und hoffte darauf, es würde jemand aus heiterem Himmel in mein Leben schneien und es für immer verändern. Alton Sharply, ein Kunde, der regelmäßig Freitag abends hereinschaute, war es, der meinte, ich sollte es doch mal mit der Aufnahmeprüfung bei der Stadtpolizei von Pasadena versuchen. Alton war schon seit Monaten bei uns Stammkunde gewesen, und ich hätte ihn nie im Leben für einen Keiler gehalten. Eines Tages, ich kam eben mit meinem Tablett voller Eisbecher an seinen Tisch, da meinte er: »Sie sollten wirklich zusehen, daß Sie hier rauskommen, Kristen. Das hat doch keine Zukunft.« Ich 10
stellte ihm seinen heißen Malzshake auf das Papierdeckchen und erledigte den Rest der Bestellungen. Als ich ihm die Rechnung brachte, gab mir Alton ein Anmeldeformular. »Denken Sie drüber nach«, sagte er. »Pasadena wächst wie verrückt, Sie könnten es mit Leichtigkeit in zwei Jahren zum Sergeant bringen.« Ich war einundzwanzig, also gerade mal alt genug, um überhaupt für den Job in Frage zu kommen. Ich wußte, dreißig Dollar waren ein hervorragendes Trinkgeld, auch für einen Samstagabend. Hin und wieder machte ich abends mit Freundinnen einen drauf, die wie ich den rechten Augenblick abzupassen versuchten, dies oder jenes studierten und darauf warteten, daß etwas passierte. Und ich wußte auch, daß ich auf der High School fast gut genug oder besser fast schnell genug gewesen war, um es als Läuferin zu was zu bringen, aber eben nur fast. Im Hürdenlauf hatte ich gar keine so schlechte Figur gemacht. Aber egal, wie hart ich an mir arbeitete, wie hart ich trainierte, die letzten entscheidenden zwei Zehntelsekunden wurde ich einfach nicht los. Gewonnen habe ich oft, ja eigentlich fast immer, bis man mich zu den großen offenen Spielen im Astrodome eingeladen hatte. Zwei Zehntelsekunden können einem wie vierzig Meilen vorkommen, wenn man eben die letzte Hürde hinter sich gebracht hat und sich eine olympiareife Gegnerin vor einem ins Zielband wirft. Alton ließ nicht locker, und was er sagte, hörte sich gar nicht mal so übel an, fast so, als könne mein Leben damit plötzlich einen Sinn bekommen. Ich würde etwas wirklich Wichtiges tun und könnte endlich aufhören, Schokobecher zu jonglieren und »Happy Birthday« zu singen. *
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Noch am selben Tag, an dem man mich einstellte, lernte ich Jim kennen. Alton eskortierte mich an einer Reihe von Schreibnischen voller Sekretärinnen vorbei, die nicht viel älter sein konnten als ich. Er führte mich in ein Büro und ließ mich allein. Ich saß an einer Wand, die mit Belobigungen nur so gespickt war; keine Bürgerinitiative, von der ich schon mal gehört hatte, die hier nicht vertreten gewesen wäre, und obendrein einige, die mir nichts sagten. Einige Minuten später kam Jim Raynor herein. Er sah ganz anders aus als die Polizisten, die mir bis dahin über den Weg gelaufen waren. Er war groß, mittelschwer, trug einen maßgeschneiderten olivgrünen Anzug. Sein Haar war schwarz und gewellt und reichte ihm fast bis auf die Schultern. Und seine tiefliegenden Augen waren von einem derart hellen Blau, daß einem die Iris um die Pupillen herum fast weiß erschien; gesäumt wurden sie von einem blaugrauen, mit gelbgrünen Flecken gesprenkelten Ring. Als er über den Schreibtisch langte, um mir die Hand zu drücken, öffnete sich sein Jackett und gab den Blick auf ein Schulterholster frei. Obwohl er nur dastand und lächelte, schien er ganz und gar bei der Sache, und als ich seine warme, trockene Handfläche gegen die meine spürte, fühlte ich seine Anspannung. Er war Captain, Leiter der Kripo, und sein Selbstvertrauen erstaunte mich. Alles, was er tat, tat er mit einer nüchternen Sicherheit, die mich glauben ließ, er wüßte, wo's langging, und hätte alles im Griff. Er hatte auch schon einen Job für mich – als verdeckter Ermittler beim Rauschgiftdezernat. Für Pasadena, Texas, mit seinen nicht ganz 100000 Einwohnern waren Drogen zu einem handfesten Problem geworden. Die Polizei war aufgefordert, etwas dagegen zu unternehmen. Sich eng an die östliche Stadtgrenze von Houston anschmiegend und mit dem schmalen Zipfel Land, 12
der sich von der südöstlichen Ecke bis hinunter an die Bucht von Galveston zog, war Pasadena eher eine kleine Stadt als ein Vorort. Man kannte mich noch nicht auf der Straße. Ich hatte weder eine Ahnung von Polizeiarbeit noch vom Polizeijargon. Und obendrein war ich eine Frau. Ich war genau das, was man gesucht hatte. Ein Naturtalent, sagte Jim. Wie geschaffen für den Job. Ich hatte keine Ahnung, ob ich es bringen würde; alles, was ich wußte, war, daß mir allein schon bei dem Gedanken, weiter Eis zu verkaufen oder in irgendwelchen Klassenzimmern Professoren zuzuhören, die sich in ihren eigenen Seminaren zu Tode langweilten, das große Kotzen kam. Ich wollte es wenigstens mal versuchen. Man sah mir auf den ersten Blick an, daß ich Sportlerin war. Von meiner Mutter hatte ich das blonde Haar und die grünen Augen, von meinem Vater die Kerbe im Kinn. Ich war ausgesprochen kräftig. Ich lief noch immer jeden Tag ein paar Kilometer und stemmte auf der Hantelbank fast mein eigenes Gewicht, das um die fünfundfünfzig, sechsundfünfzig Kilo pendelte. Ich sah jünger aus, als ich war, und das schon derart, daß man die seltenen Male, in denen ich mir ein Bier kaufte, jedesmal gleich meinen Ausweis sehen wollte. Ich genoß den vibrierenden Kloß, der sich vor Aufregung in meinem Magen bildete, als Jim mir zu verstehen gab, daß die Arbeit womöglich gefährlich würde. Ich wußte, daß da irgendwo irgendwas passierte, das mir womöglich jenes Gefühl zurückbrachte, das ich gehabt hatte, wann immer ich an der Startlinie kniete, bereit zu rennen, bereit zu explodieren. Mir war nach Risiko. Mir war nach Abenteuer. Und auch wenn Pasadena nicht Houston war oder New York, es existierte nun mal, und ich konnte in zwei Wochen anfangen. 13
Ich war zu naiv, um herzugehen und erst mal darüber nachzudenken, viel zu jung, um an irgendwelche Folgen zu denken. Mein Eifer war einfach rührend. Ja, sagte ich, das möchte ich tun. Wie eine Närrin sagte ich es. Wie die unwissende, gedankenlose und geradezu lächerlich hitzige kleine Optimistin, die ich nun mal war. Ich wollte den Job um alles in der Welt. * Jim fuhr mich auf den Schießplatz, damit ich mich für das Tragen einer Waffe qualifizieren konnte. Vor diesem drückend schwülen Aprilnachmittag hatte ich noch nicht mal eine Waffe in der Hand gehabt, aber Jim war ein guter Lehrer. Von den hundert Schuß, die ich abgab, verfehlten nur vier das Schwarze, und auch die nur um einige Zentimeter. Als ich fertig war, zog Jim die Scheibe heran und betrachtete sich die Löcher, die sich gleichmäßig im Rumpf der menschlichen Silhouette bündelten. »Sie haben eine ruhige Hand«, sagte er. »Großartiges Trefferbild. Sie ziehen nicht nach links oder rechts wie die meisten Anfänger, die ich erlebt habe.« Während wir zu seinem Plymouth zurückschlenderten, rollte er die Pappscheibe zu einem Zylinder, und als ich nach der Wagentür langte, war seine Hand schneller und umfaßte den Griff vor der meinen. »Ich habe großes Vertrauen in Sie«, sagte er. »Sie werden einen prima Polizisten abgeben. Aber wenn Sie mit mir zusammen sind, dann erlauben Sie mir hoffentlich, mich wie ein Gentleman zu benehmen.« Er öffnete mir die Tür und hielt sie, bis ich drin saß, dann drückte er sie behutsam zu. Ich beobachtete ihn im Rückspiegel, als er nach hinten ging und meine Zielscheibe im Kofferraum verstaute. Ich mußte daran denken, daß ich auf der High School und im College immer nur mit grünen Jungs ausge14
gangen war. Er ging auf der anderen Seite um den Wagen herum und beugte sich zum Fenster herein. »Sagen Sie mal«, sagte er, »was sollte der Quatsch auf Ihrer Bewerbung von wegen, Sie hätten auf der High School ein paar Joints geraucht?« »Ich hab's ein paarmal probiert«, sagte ich. »Jeder hat es probiert.« »Jetzt mal nur unter uns Pfarrerstöchtern. Ich sag's nicht weiter. Also offen und ehrlich.« »Das ist alles«, sagte ich. »Drei- oder viermal.« Der Türknopf schnellte hoch, und er setzte sich hinters Steuer, dann lehnte er sich über mich und öffnete das Handschuhfach. Er nahm eine Pistole heraus, so klein, daß sie bequem in eine Handfläche paßte. Er gab sie mir. Ihr Gewicht überraschte mich. »Eine Fünfundzwanziger«, sagte er. »Leicht zu verstauen.« »Sieht aus wie ein Spielzeug.« »Eine Pille aus dem Ding hier springt in Ihnen herum, bis es was trifft, was fest genug ist, um drin steckenzubleiben. Ein Freund von mir, der früher mal bei der Staatspolizei war, Denny Dennison, der wäre wegen so einem Ding fast blind geworden. Er hat noch heute ein paar Splitter im Kopf. Damit können Sie ganz schön was anrichten, glauben Sie mir.« Ich ließ die Pistole in meine Handtasche gleiten und versuchte dabei einen ruhigen Eindruck zu machen. »Ich hoffe, Sie haben für heute abend noch nichts vor«, sagte er. »Wir fahren nach Houston. Wir beide haben eine Menge zu besprechen, und das können wir genausogut bei einem Abendessen erledigen.« *
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Während meines ersten Einsatzes als Ermittler ging alles so rasch, daß ich es gar nicht richtig mitbekam. Die Polizei von Pasadena steckte mich in eine Wohnung im Osten der Stadt, und Jim stellte mir meinen ersten Gewährsmann vor, einen fast noch rotznasigen Halbstarken namens Skip, dem als Speedfreak automatisch Knast drohte, weil er gegen die Bewährungsauflagen verstoßen hatte. Er sollte mich Dealern vorstellen, die mich auf sein Wort hin für koscher halten und mir was verkaufen sollten. Jim sollte dann regelmäßig bei mir vorbeischauen, am besten weit nach Mitternacht, um die Beweisstücke abzuholen und den Papierkram zu erledigen. So sah es der Plan jedenfalls vor. Nach Jims Schätzung würden die Ermittlungen zirka neunzig Tage dauern. Die Betreffenden sollten erst verhaftet werden, wenn ich alles beisammen und die Anklagejury auf Grund meiner Aussage die Einleitung eines Hauptverfahrens beschlossen hätte. Ich war noch nicht mal auf der Polizeischule gewesen. * Skip mußte mir beibringen, wie man einen Joint dreht. Einen Tag, nachdem Jim uns miteinander bekannt gemacht hatte, kam er abends mit einer Unze Pot und zeigte mir, wie man das Gras auf ein Blättchen Zigarettenpapier bröselte und das Ganze dann rollte. Ich versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie nervös ich war, aber ich zerriß ein Papierchen nach dem anderen. »Übung macht den Meister«, sagte er. »Das mußt du nun mal beherrschen.« Schließlich hatte ich dann die ganze Unze zu Joints gedreht. »Den Grundkurs im Stäbchenbauen haste bestanden«, sagte Skip. »Willst einen duchziehen?« »Da pass ich mal lieber.« 16
»Captain Raynor hat gesagt, du weißt, was gebacken wird.« Überhaupt nichts wußte ich. Jim hatte mir gesagt, Skip würde mir alles beibringen. Er hatte was von Simulieren gesagt; wie ich das anstellen sollte, das hatte er mir nicht erklärt. Skip steckte einen der Joints an und hielt ihn mir hin. »Relax«, sagte er. »Alles reine Übungssache.« Er beobachtete mich sorgfältig, als ich den Rauch einsog und drinbehielt, während ich ihm den Joint wieder zurückgab. Langsam ließ ich den Rauch wieder ab und blies Luft durch die Nase, damit es so aussah, als hätte ich inhaliert. Ich hielt meine Vorstellung für ziemlich überzeugend. Skip nahm einen weiteren Zug, sah mich an und schüttelte den Kopf. »Wenn du das auf der Straße machst«, sagte er, »garantiere ich dir, daß wir zwei bis über den Hals in der Scheiße stecken.« * Skip fuhr mich zu den Londonderry Apartments und hinterließ an jeder Ampel Gummispuren auf dem Asphalt. Sein Auto war sein Leben: ein chromblitzender schwarzer 57er Chevy, so blank poliert, daß man bei Sonne fast blind davon wurde. Das Mädchen, das uns öffnete, war nichts Besonderes, aber ganz hübsch, ungefähr neunzehn oder zwanzig Jahre alt, das blasse Gesicht voller Sommersprossen, langes braunes Haar. Angezogen war sie wie ich: ausgestellte Levis und Pulli. »He, Skipper«, sagte sie, die Tür weit aufreißend, und deutete uns an einzutreten. »Wie geht's, wie steht's«, fragte Skip. »Ich hab hier 'ne Freundin, die was kaufen will.« Als mir das Mädchen den Pot reichte, gab ich mir alle Mühe, den Kenner zu markieren. Ich öffnete einige der Päckchen und beschnupperte den Inhalt. Das Zeug roch süßlich, wie frisch 17
gemachtes Heu. Schließlich suchte ich mir eins davon aus und kurbelte einen Joint, als hätte ich seit Jahren nichts anderes getan. Ich reichte ihn Skip, der am Saum seiner Jeans ein Streichholz anriß und so tief inhalierte, daß man hätte meinen können, er sauge eine Art Trost aus diesem Ding. Er machte noch drei, vier rasche Züge, dann gab er ihn mir zurück. Ich hielt ihn, wie ich hoffte, lässig genug und nahm ihn wieder zwischen die Lippen. Als Jim spät in der Nacht vorbeikam, um das Beweismaterial abzuholen, erzählte ich ihm, was Skip über meinen Simulationsversuch gesagt hatte. »Der Typ hat vollkommen recht«, sagte er. »Das dauert keine Minute, und die haben Sie durchschaut. Hören Sie mir jetzt mal gut zu. Simulieren ist ein Wort, das vor Gericht ganz praktisch ist. Aber wir sind schließlich hier draußen, um Stoff zu kaufen.« Es war fast drei Uhr morgens, als Skip mich an meiner Wohnung absetzte. Wir hatten einen Deal hinter uns, hatten Hasch gekauft und irgendeine Art Speed. Wir kauften jetzt regelmäßig, und als die Wochen so ins Land zogen, begann mir mein Job Spaß zu machen. Daran, was danach passieren würde, brauchte ich ja nicht unbedingt zu denken, also ließ ich es bleiben. Ich zog mit Skip los, kaufte Dope und übergab es Jim. Ich war auf der Seite der Guten, überzeugt davon, das Richtige zu tun, und gab mir alle Mühe, das Ganze so locker vom Hocker zu erledigen wie nur möglich. Als ich in mein Wohnzimmer kam, fand ich Jim. Er saß auf der Matratze unter dem Zauberer-von-Oz-Poster, das ich an die Wand geklebt hatte, und klickerte mit den Eiswürfeln in seinem leeren Glas. Ich hatte die Wohnung so richtig toffte posthippiemäßig ausgestattet: die Matratze direkt auf dem Wohnzimmerboden, Poster von Bogie, Blue Oyster Cult, Omar Sharif, ein paar Backsteinbü18
cherregale für Kerzen und Taschenbücher. Ich zündete die Kerzen an und schaltete das Licht aus. »Wir haben Hasch gekauft«, sagte ich. »Etwas Speed. Braune und durchsichtige Kapseln. Noch etwas Scotch?« »Klar.« Er hielt mir sein Glas hin. »Braun und durchsichtig? Wahrscheinlich Dexedrin.« Er steckte sich eine Zigarette an und warf das Päckchen auf die Matratze. »Und bringen Sie mir etwas Wasser dazu, bitte, ja?« Ich stand da mit seinem leeren Glas in der Hand. »Tja«, sagte er. »Sie sehen auch aus, als hätten Sie ein bißchen Hasch gekauft. Taugt es was?« »Sieht so aus«, sagte ich. Ich tat so cool wie möglich. Ganz schön blöd mußte ich ausgesehen haben. Er wußte, daß ich high war, und ich wußte, daß ich high zu sein hatte. Es gehörte zu meinem Job. »Warten Sie, bis Sie an einen Drücker geraten«, sagte er. »Dann wird's erst richtig ernst.« Als ich ihm seinen Drink aus der Küche brachte, zog er eben ein kleines Plastikpäckchen aus der Socke. »Darüber müssen Sie Bescheid wissen«, sagte er. Er legte das Päckchen auf den Tisch. »Haben Sie Wattebäuschchen?« Ich ging ins Bad und holte ihm ein paar. »Glauben Sie, Sie stehen das durch?« fragte er. »Was?« fragte ich. »Ich werde mir eine Nadel in den Arm stecken.« Ich war so ruhig, daß es schon ekelhaft war. Ich war fest entschlossen, mich durch nichts unterkriegen zu lassen. Ich wollte ihm zeigen, was ich drauf hatte. Er wickelte das Päckchen auf und holte eine Spritze und ein kleines, mit gelblichem Pulver gefülltes Zellophantütchen heraus. »Einen Löffel«, sagte er. »Habe ich doch glatt meinen Löffel vergessen.« 19
»Einen Eßlöffel«, rief er mir nach, als ich nochmal in die Küche ging. Er verbog den Stiel, so daß die kleine Kelle parallel zum Tisch lag, dann zog er Wasser in die Spritze und drückte es auf den Löffel. Er mischte etwas von dem Pulver dazu. »Man nennt das Aufkochen«, sagte er. »Der Löffel, die Watte und die Pumpe, das alles zusammen bezeichnet man zuweilen auch als Besteck. Wenn Sie keine Watte zur Hand haben, tut's auch ein Stückchen Zigarettenfilter.« Er riß ein Streichholz an und fuhr damit einige Male über den Boden des Löffels, bis das Wasser zu blubbern begann. »Okay«, sagte er langsam und zog das Wort in die Länge. »Sie kochen Heroin auf, nicht aber Koks. Manche Leute kochen auch ihren Speed auf, aber nicht allzu viele.« Mit einigen Handgriffen hatte er den Schuß präpariert, dann kippte er die Spritze, so daß die Nadel nach oben stand, und schnippte mit dem Mittelfinger ordentlich gegen den Plastikzylinder, bis Luftbläschen aufzusteigen begannen. Schließlich drückte er den Kolben in die Spritze, bis an der Spitze der Injektionsnadel ein kleiner Tropfen erschien. »So, das wär's«, sagte er. »Schon kann's losgehen. Ist aber nicht das Dümmste, wenn man die Geschichte einen Augenblick abkühlen läßt. Wenn Sie sich das Zeug sofort reindrücken, brennt Ihrer Pumpe garantiert 'ne Sicherung durch.« Er sah sich im Zimmer um, bis sein Blick an dem geflochtenen Ledergürtel um meine Hüften hängenblieb. »Geben Sie mir den mal«, sagte er nickend. »Sie sind wirklich ein verdammtes Naturtalent.« Ich sah ihm zu, wie er sich den Gürtel um den Bizeps schnallte und die geballte Faust auf und ab bewegte. Große, strickartige Venen begannen sich auf der Innenseite seines Arms abzuzeichnen. 20
Er nahm die Spritze vom Tisch und schob sich die Nadel langsam in den Arm. »Okay, jetzt nehmen Sie den Gürtel ab«, sagte er. Seine Stimme war heiser. Der Kreislauf. Für den Biologieunterricht hatte ich alles darüber auswendig gelernt. Sollte das wirklich erst ein paar Monate her sein? Arterien und Venen, Kapillaren, das Herz. Austausch von Gasen und Nährstoffen. Es würde durch die Vena cava superior kommen – sauerstoffarmes, kohlendioxidgesättigtes Blut für das faustgroße, birnenförmige Herz. Mit Heroin angereichertes Blut. Direkt ins Herz. Kokainhaltiges Blut. Ins Herz. In die Lungen. Ins Gehirn. »Was ich Ihnen jetzt zeige«, sagte er, »nennt man checken.« Er zog am Kolben, bis etwas hellrotes Blut in den Zylinder quirlte, wo es sich sofort mit der trüben Flüssigkeit vermischte, die schon drin war. »Auf die Weise weiß der Junkie, daß er die Nadel auch wirklich in der Vene hat. Wenn man das Ding zu weit reinsteckt oder nicht weit genug, dann schießt man sich den Stoff ins Gewebe. Sie kriegen zwar immer noch eine leichte Dröhnung, aber erst nach einiger Zeit, und außerdem ist es nicht zu vergleichen mit dem, was Sie kriegen, wenn Sie die Vene erwischen. So ein Junkie wird mächtig stinkig, wenn er danebenschießt.« Dann saß er da, die Nadel in seiner Vene, sein Blut in der Spritze, die Spritze auf seinem Arm; eine ganze Weile. Ich sah genau hin, sah den Grat, den die Nadel unter seiner Haut bildete, die Spitze vorn dran, sah, wie sich die Spritze ganz, ganz sachte im Rhythmus seines Pulses bewegte. Der ganze Vorgang faszinierte mich – das Ritual der Vorbereitung, die religiöse Konzentration, mit der Jim auf der Glasplatte des Couchtisches die Instrumente zurechtlegte, in genau der Reihenfolge, in der er sie brauchte; die Vorfreude auf den Genuß, 21
die ihm deutlich ins Gesicht geschrieben stand. Und ich mit all der Begeisterung und dem trügerischen Allmachtsgefühl, das den Grünschnabel nun mal auszeichnet, redete mir in diesem Augenblick ein, daß ich schon damit klarkommen würde, daß ich mit allem und jedem klarkommen würde. Ich saß in der Kerzenbeleuchtung meines Wohnzimmers, starrte auf die Nadel und weigerte mich, mir Angst einjagen zu lassen. »Was ist da drin?« fragte ich. »Ist nur Sahnepulver, aber es sieht ein bißchen aus wie Heroin und vor allem wie Speed. Ich dachte mir, für Demonstrationszwecke würde es prima gehen.« »Hören Sie auf«, sagte ich. »Sie können sich das doch unmöglich spritzen.« »Bestimmt nicht. Aber wenn's hart auf hart kommt, könnte ich's tun. Ich habe immer ein bißchen was davon dabei.« Cremiges, milchiges, mit Sahnepulver angereichertes Blut fürs Herz. Irgendwas stimmte hier nicht, so was mußte doch tödlich sein. Unbedingt. Aber Jim war Captain; er kannte sich aus. Die Lektion war so unerhört, daß ich nicht anders konnte, als sie zu akzeptieren, aber sie hinterließ eine unangenehme Unruhe in meinem Magen. Ich wußte nicht genug, um mir ein eigenes Urteil zu bilden, und irgendwie konnte ich mich des Gefühls nicht erwehren, daß ich gar nichts Näheres wissen wollte. Bullen und Dope. Zum Wohl der Allgemeinheit. »Ist nicht leicht zu ertragen, so was«, sagte er. »Aber Sie sind auf dem besten Weg. Früher oder später wird Ihnen das wohl oder übel unterkommen.« Er sah mich intensiv an und dann die Pumpe; schließlich zog er sich die Spritze wieder heraus. Eine dunkelrote Blutperle bildete sich auf seinem Arm. Er wischte sie mit dem Zeigefinger weg und leckte den Finger feinsäuberlich ab. »Ich geh das Zeug nur mal eben saubermachen«, sagte er. 22
»Im Bad ist Alkohol.« Ich stand auf, um ihm zu zeigen wo. »Bleiben Sie, bleiben Sie sitzen, ich find mich schon zurecht.« Er sperrte sich ein, und ich hörte das Wasser laufen. Er war einige Minuten drin, mir schien das Ganze ziemlich lange zu dauern. Schließlich ging ich an die Tür. »Alles in Ordnung?« fragte ich. Er räusperte sich. »Alles klar. Bin gleich wieder bei Ihnen.« Die gleiche heisere Stimme wie vorhin. Einige Minuten später setzte er sich wieder auf die Matratze. »Einer geht noch«, sagte er und hielt mir sein Glas entgegen. Ich brachte ihm noch einen Scotch, und er lehnte sich zurück gegen die Wand, ein Knie angewinkelt, den Arm über das Knie gelegt, den Drink in der Hand, in der anderen die Zigarette. »Hören Sie, diese Drückerei ist nicht so einfach zu verkraften, ich weiß«, sagte er, »aber es ist nun mal so, daß es Ihnen das Leben retten könnte, wenn Sie wissen, wie's gemacht wird. Sollten Sie mal die Wahl haben zwischen einer Pumpe und einer 45er, bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als die Pumpe zu nehmen. Für den Fall, daß Sie keine andere Möglichkeit sehen, aus einem Deal mit heiler Haut davonzukommen. So was kommt vor. Die Vorbereitungen machen Sie selber, aber Sie lassen dem Dealer den ersten Druck, klar? Ein heißer Schuß ist nicht weniger fix als eine Kugel.« Er beugte sich nach vorn, um seine Zigarette im Aschenbecher auszudrücken. »Dieser ganze Krampf von wegen Abhängigkeit. So was ist nur eine Frage Ihrer Charakterstärke. Ich habe schon gesehen, wie man Fahnder daherbrachte, die sechs oder acht Wochen in einer Schießbude herumgehangen haben, und die Typen hingen wirklich voll drauf, aber dann muß man eben zeigen, was man drauf hat. Man strampelt ein oder zwei Wochen gegen die Bettdecke. Kriegt ein bißchen Fieber.« Seine Hand zitterte, als er sein Glas auf dem Teppich abstellte. »Dann«, sagte er, »steht man wieder auf und zieht wie23
der los.« Ich muß ihn wohl angesehen haben, als würde ich ihm kein Wort glauben. »He«, sagte er, »so ist das nun mal. So ein Heroindealer kommt mit dem Stoff nicht rüber, bevor er nicht weiß, daß Sie verdammt noch mal in Ordnung sind, egal, wer Sie sein mögen. Es ist ein Geschäft. So ist es nun mal. Aber Sie sind recht stabil für ein Mädel, mein lieber Mann, wirklich stabil, ich weiß, Sie kommen damit klar. Sie haben 'ne Menge Überstunden geschoben, bleiben Sie einfach dran, dann kommen Sie auch an die schweren Jungs ran.« Er neigte sich in meine Richtung, seine Schulter war der meinen so nah, daß ich seine Wärme spürte. »Sie sehen wirklich etwas abgespannt aus«, sagte er rasch. »Wie wär's, wenn ich Ihnen eine ordentliche kleine Massage verabreiche?« Ich war mit so was noch nie konfrontiert worden. Ich kannte die Symptome nicht. Ich wollte natürlich, daß er wüßte, daß ich was wegstecken konnte, daß ich Courage hatte, daß es nichts gab, was ich nicht vertragen würde. Irgendwas in mir wußte natürlich, daß das Zeug kein Sahnepulver gewesen war, aber er schien in Ordnung zu sein; immerhin hatte er sich nicht in irgendein seltsames, reißendes Ungeheuer verwandelt. Er saß neben mir auf der Matratze in meinem Wohnzimmer und schlürfte seinen Scotch. Sein Blick schien mir schärfer als zuvor, und er schluckte ständig; vor allem machte er den Eindruck, als könnte er sich ewig so mit mir weiter unterhalten. Aber das war auch alles. Ich wollte um alles in der Welt glauben, daß es nur eine Lektion gewesen war, eine kleine praxisnahe Ausbildungsstunde. Wochenlang war er fast jede Nacht vorbeigekommen, um Beweismaterial abzuholen oder einfach um sich, wie er sich ausdrückte, zu vergewissern, daß mich nicht irgendein Dealer nach 24
Mexiko verschleppt hätte. Er war mein Beschützer, und das gefiel mir, aber weit wichtiger noch, ich hatte das Gefühl, daß er an mich glaubte. Er hatte mir erzählt, daß man ihm die Hölle heiß machte, weil er eine Frau in den Untergrund geschickt hatte. Das sei ihm egal, hatte er gesagt, er habe Vertrauen zu mir. Jedesmal, wenn er ging und ich in dieser Wohnung allein ins Bett mußte, lag ich da und ließ mich beim Gedanken an ihn treiben, immer in der Hoffnung, er würde in einem meiner Träume auftauchen. Ich wollte, daß er mich massierte. Ich wollte, daß er mich berührte. Er begann mir den Hals zu reiben, bewegte seine Hände langsam kreisend über meine Schultern und dann den Rücken hinab. Sein Griff war noch kräftiger, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Als er meine Hüften erreichte, drehte er mich um und begann mich zu küssen, erst leicht, an meinen Lippen nibbelnd, dann fester, und ich war außerstande, dem, was da passierte, Einhalt zu gebieten, konnte nicht und wollte nicht und wußte, ich sollte es tun; er küßte mich, bis ich nicht mehr klar denken konnte, küßte mich, bis er jeglichen Widerstand beiseite gewischt hatte und ich fiel. Er nahm mein Gesicht in seine Hände und wurde wieder zärtlich, küßte mich sachte und mit Bedacht, und dann spürte ich, wie die Matratze sich neben mir hob, und er stand rasch auf und ging in die Küche, an die Bar. Ich setzte mich auf, versuchte mich wieder auf die Reihe zu kriegen, hatte das Gefühl, man habe mich aus dem Fenster geschubst. Einige Zeit stand er schweigend da, mit dem Rücken zu mir, seine Fingerspitzen in den Taschen seiner Jeans. Ich nahm ein Schlückchen aus seinem Glas. »Tja«, sagte er schließlich und drehte sich um, um mich anzustarren. »Können Sie mir sagen, auf was wir beide uns da eben eingelassen haben?« 25
»Ist doch egal«, sagte ich und ließ mich von ihm ausziehen. Dann küßte er mich wieder, und dann war er in mir, tief in mir, und stieß zu und richtete sich auf, streckte einen Arm, um sich auf dem Couchtisch abzustützen und unsere sich gegeneinander bewegenden Körper zu betrachten. * »Wir ziehen diesmal die Jungs von der Staatspolizei hinzu«, sagte Jim. Sein Ton war streng geschäftsmäßig wie immer, wenn ich ihn über den regulären Apparat anrief. »Ich weiß auch schon wen. Sagen Sie dem Arschloch, daß Sie Ihren Freund mitbringen. Der Mann ist der beste Polizist von ganz Texas.« »Ich hab's für heute abend ausgemacht«, sagte ich. »Um sieben.« »Er wird bis um sechs bei Ihnen aufkreuzen. So ein langer Lulatsch mit einem großen braunen Bart. Rob Johnson. Ein guter Freund von mir. Rufen Sie mich an, wenn alles über die Bühne ist.« Ich hatte Hayden, den Dealer, erst einige Tage zuvor kennengelernt, und das ausgerechnet vor den Briefkästen unter der Treppe, die zu unserem Stockwerk führte. Er sagte mir, er studiere Theologie und Kunstgeschichte, und dann fiel ihm seine Post aus der Hand und lag über den ganzen Gehsteig verstreut da. Als er sich bückte, um sie aufzuheben, fiel ihm eine Phiole aus der Tasche, und ich riskierte es. Jim hatte mir bei unserem Abendessen in Houston damals, gleich am ersten Abend, gesagt, ich solle nach Chemikalien fragen. Das tat ich denn auch, und Hayden fiel prompt darauf herein. »Ist gebongt«, sagte er. »Wenn du Schnee oder Acid suchst, ich kann dir schon aushelfen.« So einfach war das. Fraget, und es wird euch gegeben. 26
* Der Mann von der Staatspolizei war ein total geschleckter Typ. In einem Sechshundert-Dollar-Anzug und grauen Straußenlederstiefeln und sich mit den Fingern den Bart kämmend, lief er an jenem Abend zusammen mit mir in Haydens Apartment ein. Er fläzte sich auf die Couch, als wäre er zu Hause, und tätschelte den Platz neben sich. Seine Stiefel glänzten nicht, sie funkelten. Ich blieb einen Augenblick stehen und gab vor, mir die religiösen Drucke an der Wand gegenüber anzusehen, versuchte jedoch in Wirklichkeit Haydens Größe und Gewicht abzuschätzen. Rob hatte den Bericht zu schreiben, und sollte er mich fragen, so wollte ich ihm eine genaue Beschreibung liefern. Als ich mich setzte, legte er hinter mir einen Arm auf die Lehne des Sofas und mimte den Freund, indem er die Hand leicht auf meine Schulter legte. Hayden brachte ein verschließbares Plastiktütchen mit weißem Pulver aus dem Schrank in der Diele. »Ich will ja nicht protzen«, sagte er, »aber das ist mit das Beste, was mir je untergekommen ist.« »Dann wollen wir doch gleich mal probieren«, sagte Rob. Er legte mir die Arme um den Hals und knabberte an meinem Ohr. »Machen Sie mir einfach alles nach, dann kann Ihnen nichts passieren«, flüsterte er. Hayden nahm einen der gerahmten Drucke von der Wand und legte ihn vorsichtig auf den Couchtisch. Er löffelte was von dem Pulver auf das Glas und machte sich daran, es in Spuren aufzuteilen, wobei er dem Faltenfall der Gewänder folgte, die die Heiligen auf dem Gemälde trugen. »Das hier hat ein Typ namens Giovanni DiPaolo gemalt«, sagte er. »Ich meine, es ist zwar nur ein Druck, ein Poster, klar, aber es heißt Paradies. Fahr ich unheimlich drauf ab.« 27
Rob sah mich an und hob seine schweren braunen Brauen, dann zuckte er die Achseln und begann einen Hundert-DollarSchein zu einem festen Röhrchen zu rollen. Er setzte sich auf die Couchkante, beugte sich über den Tisch, bog den gerollten Schein ein paarmal zurecht und sah dann augenzwinkernd zu mir herüber. Ich muß wohl total verängstigt ausgesehen haben. Ich kann es mir nicht anders vorstellen. Ich versuchte zu schauspielern, gab mir alle Mühe, den Eindruck zu erwecken, als würde ich tagaus, tagein nichts anderes tun, aber ich hatte eine Scheißangst vor dem Zeug, diesem Kokain. Aber auch wenn ich die Hosen gestrichen voll hatte, ich wollte es probieren. Ich wollte wissen, warum man so ein Trara um das Zeug machte, warum jedermann davon sprach. Und obendrein fragte ich mich die ganze Zeit über, ob das alles nicht so eine Art Prüfung war, ob nicht vielleicht Jim Rob nur deshalb hinzugezogen hatte, um herauszukriegen, ob ich den Kauf auch tatsächlich über die Bühne brachte. Ich kam mir so unheimlich dämlich vor und fragte mich, ob ich nicht ein bißchen unter Verfolgungswahn litt, aber hier ging es schließlich nicht mehr nur um Pot. Ich saß neben einem Staatspolizisten und war fast verrückt vor Angst, weil ich mir dauernd überlegte, ob das Ganze nicht vielleicht eine Falle war, ob er mir nicht vielleicht zusehen würde, wie ich mir das Zeug reinzog, um mich dann dafür zu verhaften. Und die ganze Zeit gab ich mir die denkbar größte Mühe, ganz, ganz unheimlich cool zu tun. Rob hob sich den Heiligendruck in den Schoß, beugte sich vor und schnupfte zwei von den Spuren weg. Ich schaute ihm zu und konnte einfach nicht glauben, was ich da sah. Ich dachte, er mußte doch wohl simulieren, aber ich sah das Zeug in der gerollten Hundertdollarnote verschwinden, sah die winzigen Kokainflocken, die ihm aus den Nasenlöchern bröselten, bevor er den Kopf nach hinten legte und mit aller Kraft die Nase hoch28
zog. Und ich sah den Genuß in seinen Augen. Dann reichte er mir den Druck herüber, und ich merkte, daß er nicht weniger nervös war als ich. Wir kannten einander nicht, wir hatten uns schließlich eben erst kennengelernt, und mit dem, was er da tat, lieferte er sich mir völlig aus. Das Pulver traf mich hinten in der Kehle und betäubte sie auf der Stelle. Noch bevor Hayden den Rest der Spuren weggesnieft hatte, verspürte ich den ersten überwältigend angenehmen Anfall von Euphorie, wie die Psychologen den Rush nennen. Und Rob saß neben mir mit einem klitzekleinen Lächeln auf dem Gesicht, gerade noch, daß es durch den Bart drang, aber es war unzweifelhaft da. * Wieder daheim in meiner Wohnung löffelte er etwas Pulver auf die Anrichte in der Küche und benutzte seine Kreditkarte, um die Spuren zu ziehen. »Sie waren großartig«, sagte er. »Ich weiß ja nicht, was Raynor Ihnen gesagt hat, aber ich würde sagen, Sie werden ein prima Polizist.« »Was der mir gesagt hat, kann ich Ihnen schon sagen«, sagte ich. »Ich soll alles tun, was nötig ist, einen Fall unter Dach und Fach zu bringen, und dabei aufpassen, daß ich mir keine Kugel einfange.« Er musterte mich und deutete auf die Riegel auf der Anrichte. »Ja«, sagte er, »Sie können Gift drauf nehmen, daß wir das nicht wollen.« »Ich habe ihn nur zitiert.« »Da bin ich sicher«, sagte er und reichte mir die Hundert-Dollar-Note. »Ich bin sicher, Sie haben ihn wörtlich zitiert.« Ich rollte den Schein, bis er fest genug war, und lehnte mich 29
über das Kokain auf der Anrichte. Nie in meinem Leben hatte ich mich so gefühlt. Nie. Die Unbefleckte Empfängnis in Pulverform. Und ich tat es natürlich nur, weil es schließlich irgend jemand tun mußte. Ich brachte ein persönliches Opfer. Was habe ich mir nur für einen Mist eingeredet, um zu erklären, was ich da tat. »Sehen Sie«, sagte Rob und machte weitere Riegel zurecht, »das ist so: Wir stehen hier draußen und riskieren unser Leben, um die Straße von Taugenichtsen zu säubern. Aber der Job hat auch so seine kleinen Vorteile.«
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Kapitel Zwei Nachtstreife. Ich saß im Streifenwagen, kämpfte gegen den Schlaf an und versuchte nicht allzu viel Gummi auf der Straße zu lassen. Die Ermittlungen waren abgeschlossen, die Verhaftungen unter Dach und Fach. Ich war auf der Polizeischule gewesen und mußte jetzt erfahren, was ganz ordinäre Streife hieß. In manchen Nächten war es schlicht unmöglich, nicht hinter dem Steuer einzunicken. Da kutschierte ich in einem Wohnviertel eine stille nächtliche Straße lang, und mit einmal kniff mich der Clip meiner Krawatte am Hals, und schon hörte ich von der anderen Seite meines Traums sachte die Reifen gegen den Randstein scheuern. Für gewöhnlich riß mich dieses langsame Schaben aus dem Schlaf, bevor ich tatsächlich auf den Gehsteig knallte; ich hielt dann an, stieg aus, ging drei- oder viermal um den Wagen, schüttelte den Kopf und machte rasch die Augen auf und zu, um wieder zu Bewußtsein zu kommen. Die Nachtstreife ist die Schicht, in der die gesetzestreuen Bürger wohlbehütet in ihren Federn liegen und die Straßen denen überlassen, die mit Einbrecherwerkzeug oder Waffen in den Taschen durch die Schatten streifen. Man konnte es geradezu spüren, es war, als verändere sich der Luftdruck, eine surrende Geschäftigkeit unter dem schwarzen Mantel der Morgenstunden, die sich nach Mitternacht besonders still und leise dahinschleppten. Es dauerte jedesmal fast eine ganze Woche, bis man sich wieder an den nächtlichen Arbeitstag gewöhnt hatte, und die Schichten rotierten ständig; von der Nachtstreife über den Tag31
dienst bis zur Spätschicht, und das alle vier Wochen. Die ersten vier Tage nach dem Wechsel waren immer eine Lektion in Desorientiertheit; mein Körper hatte keinen blassen Schimmer, ob ihm nun nach Eiern zu Mittag oder Pizza zum Frühstück sein sollte. Wann immer ich in einer Gegend Streife fuhr, die nicht allzu weit von meiner Wohnung entfernt war, aß ich lieber zu Hause als im Restaurant. Das Geglotze der Zivilisten brachte mich aus der Fassung. In den Monaten nach den auf Grund der von mir und Rob getätigten Deals erfolgten Verhaftungen hatte ich Jim nur auf den Fluren des Präsidiums gesehen. Einmal, am Abend vor der Abschlußfeier in der Polizeischule, hatte er mich angerufen, um mir zu sagen, daß er käme. Eine ganze Stunde habe ich mir an jenem Abend die Schuhe poliert, am nächsten Tag dann machte ich zusammen mit neunundzwanzig Männern die Zeremonie mit, immer mit einem Auge das Publikum nach Jims Gesicht durchforstend. Er hat sich nicht blicken lassen. Wann immer ich zufällig auf dem Revier mit ihm zu tun hatte, grüßte er mich höflich, eben so, als hätte er nun mal beruflich mit mir zu tun, oder was weiß ich. Ich konnte das nicht anders interpretieren, als daß er in jenen Nächten in meiner Wohnung eine Gelegenheit beim Schopf gepackt hatte, weiter nichts. Es tat weh, und ich war ziemlich konfus, aber ich hielt den Mund und ließ mir nicht anmerken, daß ich mich verlassen fühlte. Er war ein Captain bei der Kripo, und ich war ein popliger Streifenpolizist; ich hatte nicht die geringste Lust, eine Demütigung zu riskieren, indem ich hinter etwas herlief, von dem ich gehofft hatte, es wäre eine Beziehung. Manchmal hatte ich das Gefühl, er wolle mich prüfen und warte nur darauf zu sehen, ob ich auch ja anständig blieb, nachdem ich die ersten drei Monate meiner Polizistenlaufbahn damit verbracht hatte, Sticks durchzuziehen und Koks zu sniefen. Aber das war eigentlich kein Problem. Es 32
ließ sich unschwer einordnen, ich betrachtete es als Teil meiner Arbeit. Die Drogen gingen mir nun wirklich nicht ab. Was mir abging, war die Arbeit im RD. Und die Zeit mit Jim. Wenn wir uns auf dem Korridor begegneten, zuckte sein Augenlid, als könne es sich nicht ganz entschließen, mir zuzuzwinkern, und er sagte: »Nehmen Sie den Kopf hoch, Wachtmeister.« Ich tat so, als beschäftige mich irgendwas an meiner Uniform, rückte das Koppel zurecht oder die Krawatte gerade und nickte höflich. »Aber immer doch«, sagte ich, und dann war er auch schon wieder vorbei und sprach leise mit irgendeinem untergebenen Kriminaler, der bei ihm war. * Man hatte mich eben wieder einmal der Nachtstreife zugeteilt, als der erste unserer Drogenfälle zur Verhandlung kam. Die Staatsanwaltschaft hatte Monate damit zugebracht, Hayden Smiths Anwalt dazu zu kriegen, seinen Klienten dazu zu bewegen, sich als Gegenleistung für eine Strafminderung »schuldig« zu bekennen. Ich hatte damit jedoch nichts mehr zu tun. Die meisten der anderen Delinquenten, es mochten so um die zwanzig gewesen sein, hatten sich auf einen Kuhhandel eingelassen und waren mit Bewährung davongekommen, aber Hayden bestand auf seinen Auftritt vor Gericht. Um sieben Uhr früh war meine Schicht zu Ende, und ich ging nach Hause, duschte mich, zog mich an, setzte mich auf die Couch und wartete darauf, daß Jim und Rob mich abholen kamen. Ich hätte völlig erschossen sein sollen, aber der Gedanke, tatsächlich vor Gericht aufzutreten, machte mich hellwach. Auf dem Weg zum Gerichtsgebäude des Harris County saß ich auf dem Rücksitz und hörte zu, wie Jim und Rob sich über irgendeinen Deal unterhielten. Ich beneidete sie. Der Streifen33
dienst, so hatte ich feststellen müssen, war langweilig, ja geradezu unfaßbar öd. Jim brach die Unterhaltung plötzlich ab und reichte mir Robs Berichte nach hinten. »Das sollten Sie sich mal anschauen«, sagte er. Ich nahm sie und begann zu lesen. Sie waren sauber, picobello, kein Wort von Spiegeln, zu Röhrchen gerollten HundertDollar-Scheinen oder Cops mit 'nem Snief. Wir warteten im Raum für die Zeugen der Staatsanwaltschaft, einem schrankgroßen Kabuff mit nichts weiter drin als fünf hellgrünen Sesseln und einem riesigen Stehascher. Es roch nach getrocknetem Schweiß und feuchten Zigarren. Rob ging auf und ab, während Jim neben mir saß und mit den Fingern leise gegen die Sessellehne trommelte. Ich konzentrierte mich auf die Berichte und prägte mir Tage und Uhrzeiten ein. »Nu entspann dich mal, Mädel«, sagte Jim schließlich. »Der Staatsanwalt wird dich genau das fragen, was wir heute morgen schon durchgegangen sind.« »Und der Verteidiger?« Rob trat gegen einen der Stühle. »Scheiß auf den«, sagte er. »Der Mann versucht, einem gottverdammten Dealer den Knast zu ersparen. Der Typ ist nicht weniger Geschmeiß als die Flockis selber. Die gehören alle miteinander nach Huntsville, einer wie der andere.« Er rückte sich die Krawatte zurecht und setzte sich. Ein paar Minuten darauf klopfte ein uralter Gerichtsdiener an die Tür und steckte seine Nase in den Raum. »Agent Johnson«, sagte er, »Sie sind dran.« Rob verstaute ein paar lose Haare hinter den Ohren. Sein Pferdeschwanz reichte ihm bis weit über die Schultern seines marineblauen Nadelstreifenjacketts. »Zeit, unseren lieben Hayden zu vergittern«, sagte er und baute eine Art Männchen, bevor er hinausstürmte. 34
»Zu blöd, daß du nicht dabei sein kannst«, sagte Jim. »Du müßtest dir unbedingt jemanden anschauen, der weiß, wie man eine Aussage macht.« »Ich bin froh, wenn ich's bloß überlebe.« »He«, sagte er, »nimm's nicht so tragisch. Der Typ hat dir was verkauft. Er ist derjenige, der hier vor Gericht steht. Du gehst einfach da rauf und beantwortest die Fragen, und schon bist du wieder draußen.« »Aber was ist mit – Sie wissen schon, wir haben das Zeug doch selber genommen? Widerspricht das nicht unserer Rolle als gesetzestreue Ordnungshüter?« Ich wußte eigentlich gar nicht mal, warum ich ihn das fragte. Ich kannte die Antwort ohnehin. So viel hatte ich nun wirklich gelernt, aber ich wollte es nun einmal jemanden sagen hören. Vielleicht wollte ich von der Verantwortung entbunden werden. Er stand auf und stützte einen Fuß auf den Stuhl. »Schau mal«, sagte er, »jeder weiß, was hier gebacken wird. Bis hinauf zum Richter. Alle wissen sie, wie so was läuft. Aber kein Mensch will's hören. Du hast Johnson mit reingebracht, dieser Typ, Smith, hat euch beiden Stoff verkauft, ihr habt dafür gelöhnt und seid wieder gegangen. Du hast alles vor dir liegen, und wenn du's nicht schwarz auf weiß hast, dann sagst du einfach, du kannst dich nicht mehr erinnern.« »Ich weiß nicht so recht«, sagte ich. »Ein Meineid.« »Hör mal, Baby«, sagte er, »laß mich dir jetzt mal eines sagen, und wenn du da drinnen fertig bist, dann wirst du auch wissen, was ich meine.« Er rieb sich mit der Hand gegen die Stirn und kniff sich müde in die Augenbrauen. »Die stellen dir da drinnen ein paar Fragen. Der Staatsanwalt wird die Höflichkeit in Person sein. Der Verteidiger vielleicht auch. Oder er ist ein totales Arschloch und geht frontal auf dich los. Wie auch immer, du bleibst sitzen, beantwortest die Fragen wie ein Profi und läßt 35
dich auf keinen Fall aus der Fassung bringen.« »Irgendwie habe ich das Gefühl, als hätte ich mir gerade sechs Riegel rosa Peruaner reingezogen.« »Hauptsache, deine Aussage hat Hand und Fuß.« Er klopfte sich auf die Taschen seines Jacketts. »He, nu komm schon, du bringst das schon. Jeder da drinnen lügt. Jeder von denen hat seine Leiche im Keller. Die verdammten Anwälte lügen schon allein durch die Art, wie sie ihre Fragen stellen. Wir sind hier, um diesen Knaben in den Bau zu bringen. Also gehst du da rein und beantwortest die Fragen. Sagst du eben nicht die ganze Wahrheit, so wahr dir Gott helfe, na schön, aber du hilfst mit, die Dealer von der Straße zu räumen.« Er steckte sich eine Zigarette an, dann setzte er sich wieder, und es wurde still in dem kleinen Raum. Irgendwo über uns zog ein Flugzeug vorbei und brummte in den Winternachmittag. Ich spürte, wie mir der Schweiß den Körper herunterperlte. Ich sollte also in den Gerichtssaal gehen, in den Zeugenstand treten und lügen. Nicht über den Deal selbst, aber darüber, zusammen mit Hayden Drogen genommen zu haben. Wir hatten das Dope gekauft, er hatte es uns verkauft. Ich hatte Zwölfjährige aus seiner Wohnung kommen sehen, die irgendwas in ihren Taschen verstauten. Ich würde lügen, weil es nicht anders ging. Ich konzentrierte mich auf die Polizeiberichte. Als ich den Kopf hob, hatte Jim den Ellenbogen aufs Knie gelegt, sein Kinn ruhte auf seiner Faust, er beobachtete mich. »Wie ist denn der Streifendienst so?« fragte er. »Gefällt er dir?« »Ich habe mich fünf Monate zu Tode gelangweilt.« »Kann ich mir denken. Tja, wir haben dich eben verwöhnt. Nach der Drogenarbeit ist alles langweilig. Du wirst bei der Kripo sein, ehe du dich's versiehst. Aber erst mal mußt du deine Zeit in Blau absolvieren.« »Ich gehe jetzt wieder auf die Uni. Natürlich nur nebenbei, 36
zwei Scheine dieses Semester. Kriminalistische Ermittlungsmethoden und Französisch.« »Französisch?« Er drehte sich in seinem Stuhl zu mir herum. »Mit wem willst du denn parlehwulieren?« »Niemand Speziellem.« »Menschmaier, Mädel, du solltest versuchen, Jura zu studieren. Neben dir würden so einige von den Staatsanwälten, die ich erlebt habe, ganz schön alt aussehen.« Er war drauf und dran, sich eine weitere Zigarette anzuzünden, überlegte es sich dann jedoch anders und ließ die Schachtel wieder in die Tasche zurückgleiten. »Also. Dann bist du ja vollauf beschäftigt?« »Ich arbeite, ich schlafe, ich gehe zur Uni.« »Keine Affäre? Jetzt hör aber auf.« »Ich vermisse die Arbeit beim Rauschgiftdezernat, falls Sie wissen, was ich meine. Ich gehe hin und wieder mit Rob zum Mittagessen.« »Dacht ich's mir doch«, sagte er. Er holte eine Zigarette heraus. »Ich hatte schon so ein Gefühl, daß der um dich rumstreicht.« »Will ja sonst keiner was mit mir zu tun haben. Die Jungs aus meiner Schicht behandeln mich als hätten sie Angst vor mir.« »Na hör mal, was hast du denn erwartet? Du hast in den ersten drei Monaten mehr Verbrecher abgegriffen als die in ihrer ganzen Dienstzeit. Die sind neidisch.« »Eigentlich sind sie ganz in Ordnung«, sagte ich. »Die meisten jedenfalls. Aber ich gehöre nun mal nicht dazu. Und ich weiß noch nicht mal, ob ich das überhaupt will.« Ich sah, daß ich meine Kopien der Berichte zu einem Rohr gerollt hatte, und versuchte sie wieder plan zu kriegen. »Ach, was soll's«, sagte Jim. »Robs Frau kennt ihn in- und auswendig. Der ist das völlig schnuppe. Was soll an einem gelegentlichen Mittagessen schon auszusetzen zu sein.« Ich stand auf und ging zum Fenster. Der Januarhimmel war 37
kalt und blau, das Glas und der Stahl des Zentrums von Houston drängelten sich darin. Unten wimmelten die Menschen wie Ameisen über die Gehsteige. Ich wandte mich an Jim. »Entschuldigen Sie, Captain«, sagte ich, »aber manchmal können Sie wirklich ein richtiger Drecksack sein.« »Ja«, sagte er, »da hast du völlig recht. Manchmal kann ich das wirklich.« Er lehnte sich in den Sessel zurück und ließ die Arme zu beiden Seiten herabhängen. »Aber was soll's. So wird das Leben wenigstens nicht langweilig.« »Und was sollte das mit uns?« fragte ich. »Was da eine Weile zwischen uns lief, war das nur – was weiß ich, was sollte das?« »Ich habe im Augenblick drei große Fälle zu bearbeiten. Ich hatte eine Menge zu tun. Und der Präsident macht mir die Hölle heiß.« Er rutschte im Stuhl nach vorne und ließ die Beine vorschnellen. »Weswegen?« »Du kennst doch Sergeant Quill?« »Er war ein paarmal bei einer Dienstbesprechung dabei.« »Tja, er hat dem Chef gegenüber ›angedeutet‹, ich hätte mich aus dem Beweismaterial bedient. Behauptet, er hätte mich high gesehen. Dieses Arschloch. Hat seiner Lebtag noch keinen anständigen Fall unter Dach und Fach gebracht. Scheiße, der könnte noch nicht mal einen blutenden Elefanten über einen frisch verschneiten Acker verfolgen. Aber Captain werden wollen; er will die Kripo leiten.« »Das hat doch nichts mit dem zu tun, was ich dich gefragt habe«, sagte ich. »Hast du überhaupt eine Ahnung, wie das war?« Er stand auf und legte mir die Arme um die Schultern und drängte mich in die Ecke neben der Tür. »Ich weiß genau, wie es war.« Er hob die Arme, stemmte die Hände zu beiden Seiten meines Kopfes gegen die Wand und 38
beugte sich dann herunter und küßte mich. »Es war, als bekämst du nicht genug Luft«, sagte er leise. »Du hattest das Gefühl zu ersticken.« Er küßte mich ein weiteres Mal. Dann spürte ich, daß mir seine Finger etwas in die Hand drückten. »Schluck das«, sagte er, »und du stehst im Zeugenstand wie eine Eins.« Die Tür ging auf, und er wich abrupt ein paar Schritte zurück und ging ans Fenster, ließ mich in der Ecke stehen wie ein Kind, das sich versteckt. Ich würgte die Valium hinunter, als Rob hereinkam und hinter sich die Tür zutrat. »Mensch, ich sag's euch«, meinte er, »und so ein Typ nennt sich Staatsanwalt. Keinen Pfifferling taugt der. Versaut das ganze Beweismaterial!« Er war völlig aus dem Häuschen, rollte auf den Fußballen auf und ab und warf die Arme vor und zurück. »Zu blöd, um seine Fälle auseinanderzuhalten, nicht ein Datum, das gestimmt hätte, so was von gottserbärmlich.« Er ging hinüber zu Jim und klopfte ihm auf den Rücken. »Sei bloß froh, daß du hier nicht aussagen mußt«, sagte er. »Der Mann ist absolut unfähig.« Jim warf mir einen Blick zu und drehte sich dann um und sah Rob scharf an. »Was spielt das schon für eine Rolle, Johnson, solange du dich um meine Beamtin hier kümmerst.« »He«, sagte Rob, »jetzt mach aber mal halblang?« Er trat einen Schritt zurück und stieß die Hände in die Taschen. »Du warst ja wohl nirgendwo zu sehen, oder?« In diesem Augenblick lehnte sich der Gerichtsdiener in den Raum und rettete mich: »Cates. Wachtmeister Cates.« Ich folgte ihm den Korridor entlang und durch die schweren Türen des Gerichtssaals. Ich hoffte, einen gefaßten Eindruck zu machen. Ich hoffte, die Valium würde möglichst schnell zu wirken beginnen. * 39
Jim schlief, als ich zurückkam; er war im Stuhl zusammengesunken, das Kinn auf der Brust. Rob stand an den Fenstern und zeichnete in die Ecke jeder Scheibe eine kleine Sonne; mit der Fingerspitze grub er kurze, fransige Strahlen in den rußigen Schmutz. »Wir können gehen«, sagte ich. Jim zog langsam seinen Kopf nach oben und rieb sich blinzelnd das Gesicht. Er stand auf und streckte sich und ließ die Arme fallen. »Was zum Teufel ist los mit dir?« fragte er mich. Rob machte sich daran, an der Rückenlehne eines der Sessel seinen Finger abzuwischen. »Nichts«, sagte ich. »Du hattest recht.« »In welcher Beziehung?« fragte Rob. »Was ist passiert? Hat dieser armselige Abklatsch von einem Ankläger unseren Fall versiebt?« »Nein«, sagte ich. »Ich glaube es jedenfalls nicht.« »Warum machst du dann so 'n Gesicht?« fragte Rob. »Es ist einfach unglaublich«, sagte ich. »Haydens Anwalt ging her und beschuldigte mich – und jetzt sperrt mal die Ohren auf –, eine Verführerin zu sein. Er hat gesagt, ich hätte Hayden auf eine Rauschgiftparty gelockt und vor ihm gestrippt, damit er mir Drogen verkauft.« Jim warf Rob einen Blick zu und legte mir dann einen Arm um die Schultern. »Aber sonst hast du's durchgestanden, ja?« »Hat er versucht zu sagen, du wärst mit dem Macker ins Bett gegangen?« fragte Rob. »Nein«, sagte ich. »Nur die Masche mit der Verführerin. Ich hatte noch nicht mal eine Ahnung, daß man heutzutage noch so denkt.« Jim lächelte, als er zur Tür ging. »Hört sich ganz so an«, sagte 40
er, »als wärst du mit 'nem blauen Auge davongekommen.« * Wieder in meiner Wohnung rief ich bei der FEZ an und bat die Führungsbeamtin von der Spätschicht, mich um zehn anzurufen, damit ich auch ja rechtzeitig zur Schicht aufwachte. Ich stellte meinen Wecker auf halb zehn und vergrub mich in den Laken, um wenigstens ein paar Stunden Schlaf zu kriegen, bevor ich wieder auf der Matte zu stehen hatte. Als das Telefon klingelte, tanzte ich gerade auf dem Tisch der Verteidigung und pellte mich zu den Klängen einer Jazzband auf der Geschworenenbank aus meiner Uniform, während die Anwälte und der Richter applaudierten und Hayden Smith dasaß und auf die Stahlmanschetten um seine Handgelenke starrte. Jim war ganz hinten im Saal und versuchte, über die Bänke zu klettern, kam aber aus irgendeinem Grund nicht durch und schrie dem Richter »Einspruch« zu, »Einspruch Euer Ehren, Einspruch. Ich habe einen Einspruch einzulegen«. * Ich nahm mir zwei Becher Kaffee mit zur Dienstbesprechung, setzte mich und trank wie betäubt, während der Sergeant die Arbeit verteilte. Als er mit seinen Anweisungen fertig war, sagte er, er habe noch eine besondere Ankündigung zu machen. »Heute kam der erste der Drogenfälle zur Verhandlung, die unsere Kollegin, Wachtmeister Kristen Cates, zusammengetragen hat«, sagte er. »Ich habe heute abend erfahren, daß der Angeklagte, Hayden Smith, für schuldig befunden wurde, gegen das texanische BtmG verstoßen zu haben. Für die unter Ihnen, die ihr Gesetzbuch nicht auswendig kennen, es handelt sich 41
dabei um das Betäubungsmittelgesetz. Die Geschworenen haben ihm insgesamt siebenundfünfzig Jahre aufgebrummt.« Es gab Applaus und Pfiffe, und der Sergeant prostete mir mit seinem Kaffeebecher zu. »Gratuliere, Cates«, sagte er, »verdammt gute Arbeit.« Ich dankte ihm und leerte einen meiner Becher; den Männern um mich herum nickte ich schweigend zu, aber in mir, ganz tief drin, spürte ich, wie sich etwas verschob; irgend etwas geriet aus dem Gleichgewicht. Ein Mann. Was heißt hier Mann, ein Typ in meinem Alter saß im Gefängnis und hatte siebenundfünfzig Jahre vor sich, weil er ein bißchen gedealt hatte, weil er ein paar Gramm irgendeines Pulvers vertickt hatte. Und ich hatte mitgeholfen, ihn da hineinzubringen. Unsere Wege hatten sich gekreuzt, und ich hatte ihn in eine Welt voller Dreck und grinsender Dummheit gestoßen, einen Ort voll metallisch schimmernder Gewalt und nächtlichen Schreien. Ich konnte mir nicht vorstellen, was er mir gegenüber empfinden mußte. Aber das Gefühl war da, es war Realität. Während man mir im Einsatzraum applaudierte, spürte ich, wie eine Krankheit, seinen Haß in meinen Körper sickern und ein Teil von mir werden. Und jener Teil meines Gehirns, der auf mein gefühlsmäßiges Überleben ausgerichtet war, wußte, die einzige Art und Weise, mich gegen einen derart rasenden Zorn zu schützen, bestand darin, ihn mit gleicher Münze zurückzugeben. * Die Nachtschicht wurde zur Tagschicht, die Tagschicht wieder zur Nachtschicht. Pasadena, Texas. Was machte ich nur in Pasadena, Texas. An jedem Achtundzwanzigsten wechselte die Schicht. Monat für Monat. Im Umkleideraum der Frauen nannten wir diesen Wechsel die Höllenperiode. Wir waren drei, eine 42
für jede Schicht. Wir kannten einander nicht; wir gaben einander lediglich die Klinke in die Hand, um sieben, um drei und um elf. Ich sammelte genügend Überstunden, um mir jede Woche für die Uni in Houston freinehmen zu können, wann immer es nötig war. In meinem Seminar über kriminalistische Ermittlungsmethoden kam als Gast einer von der Kripo in Dallas und plauderte aus dem Nähkästchen über die Ermordung Kennedys. »Der Tatort war vom ersten Augenblick an im Eimer«, sagte er. »Und dann fielen die Herren Kollegen wie die Heuschrecken über die Beweismittel her und stopften sich in die Taschen, was zu kriegen war, um Souvenirs zu ergattern.« Nach dem Unterricht fuhr ich nach Hause und mußte an meine Schulzeit denken. Ich war in der vierten Klasse, und die Nonnen trieben uns wie die Schafe in die Kirche, damit wir niederknieten und für den sterbenden Präsidenten Rosenkränze beteten. Monsignore O'Brien stand am Altar und sagte uns, daß in diesem Augenblick auf der ganzen Welt ein Hochamt gelesen werde, wie spät es auch sein mochte, und ich drückte die Perlen des Rosenkranzes und betete, so fest ich nur konnte, und dachte, Gott würde besonders aufmerksam zuhören, weil jeder Katholik auf der ganzen Welt zur selben Stunde um dasselbe bat, um die Rettung eines der ihren. Als ich nach Hause kam, lernte ich einige Stunden Französisch. Es war fast schon neun, als die Sonne endlich untergegangen war, und dann war es zehn und wieder einmal Zeit, mich in die Uniform zu knöpfen und mich auf den Weg ins Präsidium zu machen. Auf Schicht passierte rein gar nichts, der Sprechfunk blieb stumm. Das Mondlicht schimmerte auf den blassen Betonplatten der Straßen und den beigefarbenen Rasenflächen und tauchte die Welt in ein gräuliches Weiß, die Farbe von Chilesalpeterfelsen. Mit ausgeschalteten Scheinwerfern fuhr ich durch Gassen, 43
suchte nach Einbrechern und konjugierte dabei französische Verben. In der Mitte einer Gasse kam ich an einem nicht umzäunten Hinterhof voller Schlafsäcke vorbei. Auf der Veranda saß eine Gruppe Mädchen im Teenageralter im Nachthemd um einen Picknicktisch, ihre Hände umflatterten ihre Gesichter, während sie sich unterhielten und in die Aprilnacht kicherten. Eine von ihnen sah meinen Streifenwagen und deutete in meine Richtung, und die anderen drehten sich um, um herüberzustarren. Ich winkte und rollte vorbei und ließ den Wagen weiter im Leerlauf die Gasse langrollen. Ich war schläfrig und fühlte mich Jahrzehnte entfernt von solchen Schlummerpartys im Freien und Teenagerlieben. Ich wäre am liebsten zu Hause im Bett gewesen. Ich dachte mir, es wäre vielleicht gar nicht so übel, einen Joint zu rauchen. Bloß einen. Bloß dieses eine Mal. Mich auf den Weg zu machen und mir was organisieren, nur so zum Spaß an der Freude. Mein Gurt schnürte mich im Kreuz ein, und mein Gesicht wurde taub wie immer gegen drei Uhr morgens. Das bedeutete, daß ich mich am Riemen reißen mußte, sonst würde ich wieder anfangen, gegen den Randstein zu knallen. Über Funk bat ich darum, mich zur Pause abmelden zu dürfen, und fuhr zu meiner Wohnung. Mir war nach einer Büchse Ravioli und einem zwanzigminütigen Nickerchen, aber als ich in mein Schlafzimmer kam, saß dort Jim auf dem Bett, gegen die Wand gelehnt, eine halbleere Flasche Wodka am Oberschenkel. Vor dem Schlafzimmerfenster sah ich einen glänzenden Schraubenzieher auf dem Teppich liegen. »Guten Abend, Wachtmeister«, stammelte er. »Die Uniform steht dir verdammt gut. Willst du mich filzen? Ich werde gern gefilzt.« Er atmete seufzend aus, und sein Kopf fiel nach vorn. Er sah furchtbar aus, sein Haar gekräuselt und feucht, ein Hemd44
zipfel hing ihm aus der Hose, seine Dienstwaffe hatte er vorne in den Hosenbund seiner Jeans geschoben. Ich zog sie heraus und legte sie auf das Nachtkästchen und zog ihn vorsichtig von der Wand weg, bis er auf der Seite lag. Plötzlich öffnete er die Augen und griff nach meiner Dienstmarke. »Du hast es noch nicht gehört«, flüsterte er laut. »Aus deiner Richtung hört man überhaupt nicht allzuviel in letzter Zeit«, sagte ich. »Nein«, stöhnte er leise. »Ich wollte dich sehen. Ich wollte mit dir reden. Weißt du's nun oder nicht?« »Alles, was ich weiß, ist, daß du anscheinend hier reinspazierst, wann's dir gerade paßt. Und dann verschwindest du wieder. Ich meine, wann haben wir uns das letzte Mal unterhalten? Beim Prozeß gegen Smith? Du hast dir Sorgen um Sergeant Quill gemacht, soweit ich mich erinnere. Wie kommst du denn mit ihm zurecht?« »Er konnte nichts beweisen. Gab ja auch nichts zu beweisen.« Jim mühte sich ab, sich aufzusetzen. »Aber ich habe heute gekündigt. Ich gehe. Ich hab genug von den Clowns von der hiesigen Polizei.« Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Also öffnete ich mein Koppel und legte es auf die Kommode. »Muß dir ja unheimlich leichtfallen, was? Alles ganz easy. Ist doch ganz einfach, so mir nichts dir nichts abzuhauen.« »He«, raunzte er mich an, »erzähl du mir nichts von einfach, ja!« »Über was soll ich dir denn dann was erzählen? Was will der Herr denn hören?« »Daß du zu mir stehst. Daß du verstehst, warum ich gehe. Ich muß einfach. Ich weiß, was auf dieser Welt gebacken wird, Mädel. Vielleicht war mein Vater nicht immer da, wenn ich ihn gebraucht hätte, aber ich respektierte ihn. Und eines hat er mir 45
auf jeden Fall beigebracht, nichts über meinen Namen kommen zu lassen.« Er hielt mir die Flasche hin, und ich setzte mich und nahm einen Schluck und genoß das Brennen. »Tja«, nölte er betrunken. »Mein Alter. Hat in den Ölfeldern Ketten auf die Bohrer geworfen und sich dabei schier zu Tode geschuftet, bis er sich eines Tages verschätzt hat.« Er zog eine Hand über den Mund. »Er verliert die Kette. Die Kette reißt, knallt los wie der Blitz und erschlägt glatt seinen besten Kumpel.« »Und was hat das damit zu tun, daß du aufhörst?« »Big Spring ist eine Kleinstadt. Die Leute begannen zu spekulieren, sie meinten, er sei besoffen gewesen und daß es deshalb passiert wäre. Damit konnte er nicht leben. Also ist er auf und davon.« Ich gab ihm die Flasche zurück, und er nahm einen langen Zug. »Er meinte, er würde irgendwo hingehen, wo er keinen Dreck am Namen hätte.« »Willst du damit sagen, du gehst hier weg, nur weil irgendein fettsteißiger Sergeant dir auf die Pelle rückt? Und du erwartest, daß ich dir das abkaufe?« »Jedenfalls seh ich zu, daß ich aus Pasadena verschwinde«, sagte er. »Du läßt dich von diesem Quill vom Hof jagen?« »Hör mal. Rob hat mir gesagt, daß man drüben in Beaumont Leute einstellt. Er sagte etwas über den Chef dort, einen gewissen Nettle. Der sucht einen, den er in den Untergrund schicken kann. Eine Langzeitermittlung. Er will mich sehen.« »Dann sag es doch gleich, Jim. Du gehst, weil sich die Möglichkeit bietet, als UCA loszuziehen. Aber komm mir nicht mit diesem Quatsch von wegen deiner beschmutzten Ehre.« »Es ist knapp hundertfünfzig Kilometer östlich von hier«, sagte er. »Du könntest in anderthalb Stunden drüben sein.« 46
Ich gab keine Antwort. Als meine halbe Stunde vorbei war, holte ich mein Sprechfunkgerät und meldete mich zum Dienst zurück, während ich mit Jims Kopf in meinem Schoß auf dem Bett saß. Er sagte nicht, daß er mich liebte oder daß er mich vermissen würde. Vielleicht dachte er, er brauchte es mir nicht zu sagen. Vielleicht nahm er an, ich wüßte es auch so. Ich strich ihm übers Haar und massierte ihm den Rücken, bis er leise zu schnarchen begann, dann ging ich hinaus zu meinem Wagen, um bis Sonnenaufgang durch verlassene Straßen zu fahren und an den Türen der Einkaufszentren zu rütteln.
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Kapitel Drei Ich saß in einem verdunkelten Klassenzimmer in Austin und guckte mir die farbenprächtigen Dias an, die eines nach dem anderen auf eine große Leinwand klatschten. Eine runde, gelbe Tablette mit goldenen Sprenkeln, ein geradezu herbstliches Gelb auf einem warmen orangefarbenen Untergrund. »Oxycodon«, nölte der Mann, der den Vortrag hielt, im hinteren Teil des Raums. »Markenname Percodan. Wird als Schmerzmittel verschrieben. Auf der Straße gilt es als Ablöscher. Keine illegale Herstellung, soweit uns bekannt ist. Die meisten Dealer kriegen es, indem sie ihre Skripts von Apotheke zu Apotheke tragen, aber es ist anzunehmen, daß man das Zeug auch kartonweise am Hintereingang der Fabrik verscherbelt.« Auf der Leinwand quollen große, runde weiße Tabletten aus einer braunen Arzneimittelflasche auf eine blaue Unterlage. »Methaqualon. Schlaftabletten. Ausgesprochen populär. Wird auf der Straße mit bis zu zwölf Mücken das Stück gehandelt. Werden zuweilen auch Ludes oder Quays genannt. Legen einen angeblich auf der Stelle flach.« Verhaltenes Gelächter füllte den Raum. Ein Häufchen glänzender rosa Pillen auf einem weißen Tisch, aber nur kurz, dann eine Großaufnahme von einer einzelnen leuchtenden Pille, rosa Leuchtfarbe vor gelbem Hintergrund. Ich drehte mich etwas zur Seite und sah eine Reihe Männergesichter im rosafarbenen Licht leuchten, die von der Tischreihe hinter mir auf die Leinwand starrten. 48
»Phenmetrazinhydrochlorid«, sagte der Vortragende. »Preludin. Eine davon kann auf der Straße fünfzehn, manchmal zwanzig Mücken bringen. Ein Appetitzügler, ausgesprochen potenter Speed. Angeblich auch ein Aphrodisiakum. Anwendung auch intravenös nach einem ausgesprochen ausgefeilten Verfahren, bei dem man die Wirkstoffe mit was Flüssigem extrahiert. Nur ausgesprochene Kenner unter den Junkies wissen, wie so was geht.« So ging das zwei Stunden lang. Alton hatte recht gehabt. Mit bereits einer Ermittlung auf dem Konto und nach kaum zehn Monaten Streifendienst war ich drauf und dran, bei der Kripo unterzukommen. Und diesmal ließ man mir sogar etwas innerbetriebliche Fortbildung angedeihen, bevor ich meine neue Stelle antrat. Ein Häufchen gelbes Pulver, kleine Wachspapierbriefchen, eine Spritze, die rote Plastikschutzkappe abgezogen, die Nadel glänzte vor einem grünen Untergrund. »Diamorphinhydrochlorid. Heroin. Wird nach Gewicht verkauft. Wir werden noch diese Woche eine ganze Sitzung darauf verwenden.« Dias und Vorträge. Ich hatte von diesen Drogen gehört, hatte selbst schon einige davon gekauft. Aber in meiner ersten Ermittlung hatte sich, abgesehen von dem Kokainkauf bei Hayden, eigentlich meist alles nur um Marihuanafälle gedreht, kleine Fische. Ein paarmal hatte ich LSD gekauft sowie ein paar Valium und Appetitzügler. Und das eine Mal, daß mir ein Heroinkauf gelungen war, hatte ich das Zeug nicht gleich nehmen müssen. Ich hatte in einer Küche gesessen und darauf gewartet, daß die Connection mit dem Stoff kam. Dann hatte ich den Mann mit städtischen Steuergeldern bezahlt und so schnell wie möglich die Kurve gekratzt. Ich hatte einen Mordsbammel davor gehabt. Dann weißes Pulver auf einer Apothekerwaage. Dahinter volle 49
Plastiksäckchen, eines davon aufgerissen, das Pulver quoll auf die glatte schwarze Tischoberfläche. Es war pur. Astrein. Das erkannte ich sofort. So weit wußte ich Bescheid. »Benzoylmethylekgonin, ein weißes kristallines Alkaloid. Daran erfreuten sich schon Lumina wie Papst Leo XIII., Massenet, Gounod, Hermann Göring und Sigmund Freud.« Irgend jemand hinter mir flüsterte: »Was ist'n ein Lumina?« Eine andere Stimme antwortete ihm: »Scheiße, keine Ahnung.« »Kokain. Entwickelt sich blitzartig zur Droge Nummer eins. Es gibt Leute, die verschneiden es mit Heroin und schießen sich die Melange. So was nennt sich dann Speedball. Die reinste chemische Achterbahn.« Das Licht ging an. Der Captain sagte: »Lassen Sie uns eine Pause machen und einen Kaffee trinken. In einer Viertelstunde geht's dann weiter.« Wegen der plötzlichen fluoreszierenden Helligkeit blinzelnd, die Augen zusammengekniffen, standen wir auf und tappten einer hinter dem anderen hinaus zu den Automaten in der Cafeteria. »Dieses Preludin, von dem Zeug würd' ich ganz gern mal was probieren«, sagte einer und lachte nervös. * Am späten Nachmittag, nach einem Vortrag über die illegale Herstellung von Methamphetamin (man nehme Phenyl-2-Propanon, Hydroxylamin, Methanol, Wasserstoff, Natriumazetat, Palladiumschwarz, Kaliumhydroxid, Äther, Schwefelsäure, Lithiumalanat und Formaldehyd, schüttele das Ganze ordentlich, bete, daß es einem nicht um die Ohren fliegt, und hat dann ein oder zwei Pfund Speed, Crystal, Meth oder Yellow Dog, von dem einen ein Zehntelgramm für geschlagene vierundzwanzig Stun50
den unter Strom setzt und von dem einem jede Unze zwei Riesen bringt, wenn der Markt was hergibt), saß ich im Tagesraum am nördlichen Ende des Wohnheims. Ich befand mich auf der Schule des Amts für Öffentliche Sicherheit, das Ganze war halbmilitärisch aufgezogen, und der texanische Staat bildete dort seine jungen Autobahnpolizisten aus und veranstaltete spezielle Seminare für die diversen Stadtpolizeien und Hilfssheriffs aus dem ganzen Staat. Von den teilnehmenden Beamten teilten sich jeweils zwei ein Zimmer, in jedem Zimmer standen zwei Armeepritschen und ein kleiner Schreibtisch. Da ich die einzige Frau in der Klasse war, hatte ich ein Zimmer für mich allein. Im Tagesraum, einem länglichen Aufenthaltsraum mit einem an der Decke montierten Fernseher und vier oder fünf kreuz und quer stehenden Sofas, saß ich unter einem sepiagetönten Foto von Lone Wolf Gonzaulles, der sich wirklich großartig machte in seinem verbeulten braunen Stetson und den über der Brust gekreuzten Munitionsgurten. EIN AUFSTAND, EIN RANGER stand auf einem Messingschild am unteren Rand des wurmstichigen Rahmens zu lesen. Der Mann, der in der Klasse neben mir saß, ein Hilfssheriff in Bluejeans aus Midland, kam herein und sah, daß ich das Porträt anstarrte. »Der gute alte Lone Wolf«, sagte er nölig. »Das waren noch Zeiten, was?« »Als Männer noch Männer waren«, sagte ich. »Erst schießen, dann fragen.« Er schüttelte den Kopf und lachte glucksend. »Ein paar von uns gehen auf ein, zwei Bier rüber in The Chase. Kommen Sie mit?« »Nö danke«, sagte ich. »Aber trotzdem viel Spaß.« Ich hörte ihre Stimmen den Korridor hinunter verschwinden. 51
Dann ging ich auf mein Zimmer und schrieb einen Brief an Jim, in dem ich ihm von meiner Beförderung erzählte und wie sehr ich hoffte, bald wieder beim Rauschgiftdezernat zu arbeiten. Ich schrieb ihm, wie sehr ich ihn vermißte und daß ich mir wünschte, er würde wieder zurückkommen. Und als ich ihm alles erzählt hatte, saß ich da und starrte den Brief lange an. Bestimmt wollte er nichts davon hören. Er war in Beaumont auf der Straße und tobte sich nach Herzenslust aus. Ich zerriß den Brief in so kleine Fetzchen wie nur möglich und warf den ganzen Kram in den Papierkorb. Ich griff mir meine Schlüssel und fuhr zum Memorial-Stadion der Universität von Texas. Auf der Aschenbahn drängten sich die Jogger, die meisten von ihnen in Orange und Weiß, und trabten leichtfüßig durch den Juniabend. Ich zog meine Tennisschuhe aus und spazierte langsam die achte Bahn entlang. Der federnde, genoppte Gummibelag war noch immer genauso erstklassig in Schuß wie damals beim Staatssportfest gegen Ende meines letzten Jahres auf der High School. Ich hatte noch nie auf einer Allwetterbahn gestanden, ich hatte das Gefühl, auf einem riesigen Radiergummi zu laufen. Wenn das Reglement es nicht verboten hätte, wäre ich barfuß gelaufen. Im Training, auf den langen Strecken, habe ich mir immer vorgestellt, ich sei eine Indianerin, eine Kriegerin in Tierhäuten, die leichtfüßig über die texanischen Prärien lief mit einer dringenden Botschaft für den Häuptling eines weit entfernten Stammes, einer Warnung, die ihm Zeit geben würde, sich auf den Angriff des weißen Mannes vorzubereiten. * In jenem Sommer brachte man sich in Pasadena reihenweise um, Arbeiter, Leute, die sich ihren Lebensunterhalt als Maurer, 52
Dockarbeiter oder beim Bau einer Straße verdienten, irgendeiner Autobahn mit irgendeiner Nummer, die irgendwohin führte. Sie schluckten Pillen, erschossen sich oder baumelten in ihren Garagen an dilettantisch geknoteten Schlingen. Ich lernte, daß Selbstmord nicht weniger ansteckend war als Schnupfen. Irgendeiner kommt auf die glorreiche Idee, und schon machen es ihm alle anderen nach. Immer scheinen sie es gleich bündelweise zu tun. Ein Elektriker bastelte sich gar eine Vorrichtung, die ihn mit 220 Volt ins Reich der Glückseligkeit katapultierte. Im Zeitraum von nur sechseinhalb Wochen hatten wir neun Fälle, und bis auf einen waren sie allesamt Weiße gewesen, Männer zwischen vierzig und sechsundfünfzig; und alle bis auf einen hatten sie in der Nordstadt gewohnt. Auf dem Revier nannten wir den Norden bald Lemmingsville. Die Polizeiberichte führten die Fälle ausnahmslos als Selbstmorde. Ich war mir da nicht so sicher, obwohl ich in einigen der Fälle selbst recherchierte. Nicht, daß ich glaubte, es wäre Mord im Spiel gewesen, aber davon, daß es sich tatsächlich ausnahmslos um Fälle von absichtlicher Selbsttötung handelte, war ich auch nicht überzeugt. Mit dem Feuerwerk am Nationalfeiertag kam auch der letzte große Bums für zwei dieser guten Bürgersleute. So war der 4. Juli der Tag, an dem sich besagter Elektriker etwa in der Höhe der Nieren ein paar Kupferbleche auf die bloße Haut schnallte, die daran befestigten Drähte in einen Stecker schraubte, sich auf den Wohnzimmerboden setzte und den Stecker in die Dose schob. Er hatte wirklich ganze Arbeit geleistet. Sein Apparat hätte jederzeit das TÜV-Siegel gekriegt. An meinem dritten Tag bei der Kripo hatte ich mit einem Fall zu tun, der ganz nach einem Selbstmord aussah, aber der Kollege, der für meine Ausbildung zuständig war, erklärte mir, es handle sich bei dem Opfer um einen aus der Zunft jener ganz 53
speziellen Autoerotiker, die ihren sexuellen Genuß dadurch zu steigern versuchen, daß sie sich während des Wichsens die Sauerstoffzufuhr abschneiden. In diesem Fall habe ganz einfach der Laufknoten versagt. Aber da der Typ noch die Hosen anhatte, mußte ich davon ausgehen, daß ich es hier nicht mit einem Sexunfall, sondern einem glatten Selbstmord zu tun hatte. Bei Opfer Nummer zwei gab es freilich nicht den geringsten Zweifel an seiner Absicht. Er stellte sich vor seinen Kühlschrank, biß auf den Lauf einer 375er und pustete einen Mordsbrocken seines Scheitellappens an die Küchenwand hinter sich. Ich roch das Blut in dem Augenblick, in dem ich zur Haustür hineinkam. Sämtliche Lichter waren an, und im hinteren Teil des Hauses pfiff jemand »Good night, Irene«. Der Körper reagiert auf den durchdringenden Geruch von Blut. Eine Reaktion, die nicht zu kontrollieren ist. Es überkommt einen einfach. Und ganz egal, wie sehr man sich einzureden versucht, daß hier nur Ruhigbleiben hilft, der Körper reagiert. Ich ging in Richtung des Pfeifens, versuchte mich dagegen zu wappnen, was ich gleich sehen würde, und obwohl ich wußte, daß keinerlei Gefahr bestand, spürte ich, wie sich mir die Nackenhaare aufstellten. Noch über das Pfeifen hinweg hörte ich meinen Puls. Ich schwöre, ich spürte, wie sich die Luft gegen meine Haut drückte, und ich konnte gar nicht so schnell schlucken, wie meine Speicheldrüsen produzierten. Blutgeruch brennt einem nicht in der Nase, er nimmt schlagartig vom ganzen Körper Besitz und hebt ihn auf eine ganz eigene Ebene des Bewußtseins um die menschliche Sterblichkeit. Coy Mason von der Spurensicherung war der Mann, der pfiff. Mit einer Pinzette in der Hand stand er, gegen den Kühlschrank gestützt, auf der Anrichte und zupfte ein schwarzes Haar aus einer der Akustikplatten an der Decke. »Unglaublich«, sagte er und kratzte sich den kurz vor dem 54
Kahlschlag stehenden Kopf. »Es ist einfach unglaublich, was so eine 375er alles kann. Treibt glatt ein einzelnes Haar in die Decke.« Die Leiche lag gegen den Kühlschrank gelehnt wie ein nasser Sack in einer Blutlache, die sich fast über den ganzen weißen Linoleumboden ausgebreitet hatte. Dem Typ fehlte fast der ganze Hinterkopf. Er trug die Hosen eines Tarnanzugs und ein grünes T-Shirt. »Wie sind Sie nur so schnell hergekommen?« fragte ich. »Ach, Sie wissen ja, wie das ist«, sagte Coy, »man hört's über Funk.« Ich war sicher, daß Coy jede wache Minute am Sprechfunk klebte und darum betete, daß es endlich wieder einen Mord aufzuklären gab. Er war nur glücklich in einem Raum, in dem es auch eine Leiche gab. Ein paar Minuten nach mir kamen die Leute von der Ambulanz und hievten das Opfer auf eine makellos weiße Trage. Als sie wieder fort waren, machte ich einen Spaziergang durch das Haus. Auf dem Nachtkästchen stand eine leere Flasche Seconal, ausgegeben an einen gewissen Todd Williams. Daneben lag ein Bild des Mannes, der jetzt als Leiche in der Küche lag, vermutlich besagter Todd Williams. Zusammen mit drei anderen Typen in grünen Kampfanzügen posierte er vor einer strohgedeckten Hütte. Auf dem Boden des Kleiderschranks fand ich eine braune Einkaufstüte halbvoll mit lehmbraunem Marihuana. Abgesehen davon sah alles genauso aus, wie es aussehen sollte. Zahnbürste und Rasierer lagen auf der Ablage im Bad, eine Flasche Shampoo stand geöffnet auf einer Ecke der Badewanne. Im Schlafzimmer hingen, über einen Stuhl gefaltet, einige zerknitterte Wäschestücke, womöglich Bügelwäsche. Ein neuer Playboy lag neben dem Bett, Miss Juni war auseinandergefaltet. Ein Raum, in dem gelebt worden war. Ich ging wieder in die Küche. 55
»Einen Abschiedsbrief gibt's auch«, sagte Coy. »Da drüben neben der Packung Mr. Chips auf der Anrichte. Die Plätzchen sind steinalt.« Ich nahm den Abschiedsbrief. Tut mir leid wegen der Sauerei, aber ihr Bullen seid ja sowieso nichts anderes als bessere Müllmänner. Todd Williams, wenn das tatsächlich der Name von Opfer Nummer zwei war, war ein Mann mit Beobachtungsgabe gewesen. Ein wahrer Dichter. Ich war bis zu diesem Augenblick noch nicht ganz dahintergekommen, hatte im Grunde noch nicht so recht verstanden, warum ich mir bei dem, womit ich mir da meine Brötchen verdiente, immer irgendwie wie ein Abfallsammler am Rand der Autobahn vorgekommen war, wie einer der in den Gräben hinter den Leitplanken mit einem Nagelstock auf Kaugummipapierchen einstocherte, während die Autofahrer munter weiter ihre Abfalltüten auf die Straße leerten. Ich fand es faszinierend, Einbrechern und Vergewaltigern nachzustellen, aber Todd hatte den Nagel genau auf den Kopf getroffen: Ich war ein Müllmann, kratzte den Dreck von der Straße und lud ihn in einem System ab, das nur mit Abfall gedieh. Ich gehörte dazu, und mit einemmal erschien mir alles so eng und klein. Abgesehen von den Selbstmordfällen, in denen es nichts oder wenigstens nicht viel zu ermitteln gab, war der heißeste Fall in letzter Zeit der »Würstchenschwenker von der West Side« gewesen, ein Weißer, Mitte dreißig, der sich seine Kicks dadurch verschaffte, daß er in den Sommerferien Sechstkläßlerinnen auf dem Heimweg von der Bibelstunde seinen Penis zeigte. Der Typ wartete immer genau zur rechten Zeit am rechten Ort, um die mit der Bibel in der Hand nach Hause hüpfenden Kleinen abzu56
passen. Er sagte nie auch nur ein Wort, jedenfalls konnten sich die jungen Zeuginnen an nichts erinnern; und hätten sie ihn zitieren können, dann wäre es, ehrlich gesagt, auch egal gewesen. Den auf den Fall angesetzten Kriminalbeamten interessierte es nicht die Bohne, ob er den »Schwenker« erwischte oder nicht. »Ermittler« W. I. Whilaby, wie er sich nennen ließ, saß am liebsten hinter seinem Schreibtisch mit einem Aufkleber EINE FARM WÄRE MIR LIEBER hinter sich an der Wand und schichtete zu Country & Western-Musik seine Vorgänge um. Wir hatten achtundzwanzig Fälle von unsittlicher Entblößung, deren Modus operandi auf den Schwenker deutete, und W. I. hatte sie allesamt in einem sauberen Stoß vor sich auf dem Tisch liegen. Er sagte, der Mann sei harmlos. Kein Mensch komme zu Schaden, und die Schulmädchen schienen kichernd darüber hinwegsehen zu können. Aber die Eltern, die drängten darauf, daß etwas getan würde; eine nette kleine samstagnachmittägliche Lynchparty wäre genau nach ihrem Geschmack gewesen. Ich hatte nichts mit dem Fall zu tun. Sergeant Quill benutzte seine Autorität, den Fluch des Reviers, seine einzige weibliche Kriminalbeamtin, darauf anzusetzen, gestohlene Radkappen ausfindig zu machen und Selbstmordberichte zu schreiben. Aber ich wußte, daß der Lieutenant früher oder später eingreifen und W. I. Bescheid stoßen würde, damit der sein faules Gestell in Bewegung setzte und etwas unternahm. Womöglich nannte er ihn dabei sogar bei seinem Vornamen, Welcome Israel, dessen Erwähnung in W. I.s Gegenwart immer für einen kleinen Schlagabtausch gut war. Wie sich herausstellte, versäumte ich den Zirkus, aber als ich nach meiner Arbeit an den Selbstmordfällen ins Büro zurückkam, sah ich den Stapel Protokolle über den »Schwenker« auf meinem Schreibtisch liegen. Obendrauf lag eine Mitteilung vom Lieutenant: Muß unbedingt vom Tisch. 57
Eigentlich sollte ich die folgenden beiden Tage dienstfrei haben, hatte mir aber noch nichts vorgenommen. Ich machte Überstunden, bis weit nach elf, schlug mich mit Papierkram herum, bis das Präsidium leer war. Als alle weg waren, sprach ich den Bericht über Todd Williams auf Band und fragte mich, ob die Kanonenschläge, die Heuler und die Chinakracher, die in ganz Pasadena explodierten, wohl darauf zu hören wären. Ich beschriftete eben die Kassetten, als das Telefon klingelte. Als ich den Hörer abnahm, hörte ich deutlich, daß jemand in der Leitung war, bekam aber keine Reaktion, als ich mich meldete. »Kriminalpolizei, Cates«, sagte ich nochmal. Immer noch keine Antwort. Ich horchte noch einen Augenblick und wollte eben wieder auflegen, als Jims Stimme über die Leitung kam. »Was treibst du denn so?« »Papierkram«, sagte ich. »Nein, im Ernst«, sagte er, »was gibt's Neues.« »Zwei Selbstmorde und eine ganze Masse unsittlicher Entblößungen. Total aufregend.« »Du solltest runterkommen.« »Schon irgendwelche Anklagen zusammengekriegt?« »Die ein oder andre. Noch nichts Großes. Aber es ist schön hier unten. Würde dir gefallen.« »Ist das eine Einladung?« »Du fehlst mir.« »Ich habe morgen frei«, sagte ich. »Ich seh dich dann.« Wir legten auf, und ich beschriftete den Rest der Kassetten und hinterließ sie auf dem Schreibtisch der Sekretärin. Und dann tat ich etwas, an das ich zuvor noch nicht mal gedacht hätte. Ich ging in Coys Büro und holte mir eine Handvoll Gras aus der braunen Papiertüte, die ich bei Williams konfisziert hatte. Auf dem Nachhauseweg ging ich in einen Supermarkt und kaufte 58
mir ein Päckchen Zigarettenpapier. * Tags darauf schnappte ich den Schwenker, aber nicht etwa durch kriminalistisches Geschick oder harte Arbeit. Ich hatte vorgehabt, mich so gegen neun auf den Weg nach Beaumont zu machen, aber kurz nach sieben rief die Zentrale an, eine Funkstreife habe einen Spanner in Gewahrsam genommen, der haargenau auf die Beschreibung passe, die die Schulmädchen geliefert hatten. Die Kollegin von der Zentrale verband mich mit dem Gewahrsamstrakt, und ich bat Coy, mir ein ordentliches Foto von dem Typ zu besorgen, bevor man ihn gegen Kaution wieder laufen ließ. »Heute nachmittag können Sie's haben«, sagte er. Ich rief Jim an und versuchte mir meine Enttäuschung nicht anhören zu lassen, als ich ihm sagte, ich würde es vor nächster Woche nicht schaffen. Er hörte sich an, als hätte ich ihn aufgeweckt. Bis vier Uhr nachmittags dann hatten den Mann vier der Opfer einwandfrei identifiziert. Ich hatte mir aus der großen Fotokiste in Coys Büro die Konterfeis von sieben Männern ausgesucht, die dem Schwenker halbwegs ähnlich sahen. Jede der Zeuginnen hatte sofort und mit absoluter Sicherheit auf den Spanner gedeutet. Er entpuppte sich als ein gewisser Albert Ashbey, Berater für elektronische Datenverarbeitung. Ich erledigte den vorgeschriebenen Papierkram, ging damit zum Stadtmagistraten und besorgte mir einen Haftbefehl. In einem zivilen Dienstwagen fuhr ich los, um Mr. Ashbey abzuholen, nahm aber einen uniformierten Beamten mit für den Fall, daß es Ärger geben sollte. Es gab keinen. Seine Frau stand in dem mit Teppichboden aus59
gelegten Wohnzimmer und weinte leise vor sich hin, während der Streifenpolizist ihrem Bären von einem Ehemann Handschellen anpaßte. Ich las dem Mann seine Rechte vor, und dann sahen wir zu, daß wir fortkamen, bevor Mrs. Ashbey so richtig dämmerte, was da vor sich ging, und sie womöglich handgreiflich wurde. Einen Augenblick lang hätte ich ihr ihre Nummer fast abgekauft. Mit einem ihrer schlanken Finger berührte sie eine Wange ihres Gatten und sah ihn an, die Tränen kullerten ihr ungeniert übers Gesicht, und ich begann mich zu fragen, ob sich die Schulmädchen nicht vielleicht doch geirrt hatten. Möglich wäre so etwas durchaus. Es passierte ständig. Es bestand durchaus die Möglichkeit, daß sich meine ach so verläßlichen Zeugen unter dem Druck, unbedingt jemanden identifizieren zu müssen, ihre Gewißheit nur eingeredet hatten. Nachdem die Uniformierten Ashbey zum zweitenmal an ein und demselben Tag abgefertigt und eingebuchtet hatten, brachte man den Mann in mein Büro. In Tennisshorts und Sporthemd setzte er sich, ohne ein Wort zu sagen, auf den Stuhl vor meinem Schreibtisch. Mit dem Daumen fuhr ich über den Stapel Protokolle und bot ihm Kaffee an. Ich überlegte, was Jim wohl gerade machte. »Nein, danke«, sagte er. »Mr. Ashbey«, sagte ich, »wir würden diese Geschichte gern klären.« »Ich war's nicht«, sagte er. Er fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht, vom Kinn bis zu den Augenbrauen, dann wischte er sich die lehmbraunen Haare aus der Stirn. »Vier Leute haben Sie bereits einwandfrei identifiziert«, sagte ich. »Wir brauchen nur die andern kommen zu lassen, damit sie sich die Fotos ansehen, dann sind es noch mehr.« Er begann zu weinen, eine kleine Tränenpfütze bildete sich an seinen unteren Augenrändern, aber er wischte mit den Daumen 60
darüber und blinzelte einige Male rasch, bevor er die Hände in den Schoß faltete. »Schauen Sie«, sagte ich, »ich weiß, Sie wollten niemand was Böses tun. Sie haben nie jemandem was zuleide getan. Aber die Geschichte ist nun mal passiert, und jetzt müssen wir uns darum kümmern.« Er beugte sich nach vorn über den Schreibtisch und glotzte mich an. Braune Augen. Pockennarbiges Gesicht. Genau wie die Opfer ausgesagt hatten. Irgendwie kam ich mir bei dem Versuch, ihn zum Singen zu bringen, schäbig vor. Jedesmal, wenn ich jemandem ein Geständnis abgerungen hatte, verspürte ich das Bedürfnis, lange und heiß zu duschen. Es juckte mich am ganzen Körper bei dieser Vernehmerei. Er legte seine Hände auf den Stapel Berichte, als handle es sich um die Heilige Schrift, und sah mich an. Einen langen Augenblick sah er mich so an, dann flüsterte er: »Kennen Sie den Namen Gottes?« Ich kannte ihn; mehr als einmal hatte ich zu Hause in dem ruhigen Houstoner Vorort, in dem ich aufgewachsen bin, die Haustür einem Paar Zeugen Jehovas in schwarzen Anzügen geöffnet. Aber ich hätte auch ja gesagt, wenn ich keine Ahnung gehabt hätte, was er meinte, in der Hoffnung, ihm damit sein Geständnis zu erleichtern. »Ich kenne ihn«, sagte ich. »Dann können wir zusammen beten.« »Mr. Ashbey«, sagte ich, »ich bin hier, um Ihnen zu helfen.« Er würde mir glauben, ich hatte den richtigen Augenblick erwischt. Wie fast jeder andere auch, war er im Grunde bereit, sich seiner Last zu entledigen. Er wollte es nur auf eine Art und Weise tun, die ihn nicht als Satan dastehen ließ. Er faltete die Hände über den Berichten und schloß die schweren Lider über den Augen. Dann öffnete er sie wieder und sagte: 61
»Wenn Sie mit mir beten, können wir die Antwort finden.« Ich hatte keine Ahnung, ob das bedeutete, daß er singen würde, und ich hätte auch nicht so recht sagen können, wie es kam, aber jedenfalls saß Mr. Ashbey schließlich auf meinem Stuhl und ich kniete neben ihm, meine Linke zwischen seinen verschwitzten Händen und lauschte seinem Gebet und überlegte dabei, ob er wohl noch wenige Stunden zuvor, seinen Schwanz in der Hand, in irgendeiner Straße gestanden hatte. Inmitten seines Gebets hörte ich ein Geräusch auf dem Flur direkt vor der Tür, und als ich die Augen öffnete, sah ich W. I., seine Kaffeetasse mit dem Emblem der Houston Oilers in der Hand, auf der Schwelle stehen und blöde grinsend mit dem Kopf rollen. Als Mr. Ashbey sein Gebet gesprochen hatte, stand ich auf und brachte ihm ein Glas Wasser. »Jetzt lassen Sie uns mal sehen, ob wir diesem Papierkram nicht beikommen«, sagte ich. »Ich bin bereit«, sagte er. Bei all seiner Gefaßtheit und trotz seiner Bärenstatur sah er aus wie ein Zweijähriger, der sich verlaufen hatte. Als wir schließlich fertig waren, so gegen Mitternacht, hatte ich ein unterschriebenes Geständnis für fünfundzwanzig der Fälle. Das war meine Schuld. Hätte ich meine Arbeit richtig gemacht, dann hätte er sie alle auf sich genommen, mochten sie nun auf sein Konto gegangen sein oder nicht. Da hatte ich mich nun an der hohen Schule der Vernehmung versucht und hatte versagt. Ich führte ihn hinüber zu den Gewahrsamszellen, wo er die Nacht verbringen würde, es sei denn, es fand sich noch ein Richter, der zu dieser nachtschlafenden Zeit aus den Federn kroch, um eine Kaution festzusetzen. Nachdem ich ihn dem Schließer übergeben hatte, diktierte ich noch den abschließenden Bericht auf Band. Immer wieder verlor ich den Faden und mußte die Kassette zurückspulen, um die Sache auf die Reihe zu kriegen. 62
Ich konnte nicht anders, aber ich mußte ständig denken, daß ich trotz Mr. Ashbeys religiösem Eifer nicht das Gefühl hatte, er sei irgendwie bösartig. Er hatte sich einen ordentlichen Teil des amerikanischen Traums erfüllt: eine Familie, ein nettes Haus, ein paar Kinder, einen ordentlichen Job. Aber ich konnte mich einfach des Gefühls nicht erwehren, daß sich Mr. Ashbey auf dieser Welt im Grunde nur nach einem Menschen sehnte, der ihm ein bißchen Aufmerksamkeit schenkte. Der vielleicht mal ein Gebet mit ihm sprach. * Sergeant Quill hatte ein Schild an die Vorderseite seines Schreibtisches geklebt: KÜHE MÖGEN KOMMEN, KÜHE MÖGEN GEHEN, DOCH DER BULLE HIER, DER BLEIBT BESTEHEN. W. I. nannte das Agri-Humor. »Er hat fünfundzwanzig gestanden«, sagte ich. Quill knallte seine fensterkittfarbenen Seeschildkrötstiefel auf den Schreibtisch und lehnte sich zurück, sein Bauch verlagerte sich nach links, als er seinen Mordsarsch auf dem Stuhl zurechtrückte. »Was ist mit den restlichen drei?« »Das war er nicht.« »Verdammt«, sagte er, »und Sie konnten ihn nicht dazu überreden, drei lausige Fälle mehr auf sich zu nehmen? Wo er eh schon wegen fünfundzwanzig vor Gericht geht, da kommt's auf drei mehr nun wirklich nicht mehr an.« »Hören Sie, Sergeant«, sagte ich, »er ist ein religiöser Mensch.« »Ja, unser alter W. I. hat mir schon erzählt, daß Sie gestern nacht vor ihm auf die Knie gegangen sind.« Er gab etwas von sich, daß sich halb nach verächtlichem Schnauben, halb nach Lachen anhörte. »Verdammt, das hätte ich wirklich zu gern 63
gesehen.« Innerhalb weniger Stunden wußte es das ganze Präsidium. Aber das war mir schnuppe. Irgendwie half es mir bei meinem Versuch, langsam, aber sicher die wächsernen Leichen und den Blutgeruch zu vergessen. Was ich jedoch nicht vergessen konnte, war der Abschiedsbrief. Jedesmal, wenn ich einen der blitzsauberen Laster der Müllabfuhr durch irgendeine unserer manikürten Gassen brummen sah, kam er mir in den Sinn. Während dieser Sommernachmittage, wenn die Hitze auf den dünnen Teerstreifen zwischen den Betonplatten der Straßen Blasen warf, konnte ich mir die Szene zuweilen vorstellen. Mr. Ashbey, wie er unter der sengenden Nachmittagssonne am Ende einer glatten Auffahrt stand, schwitzend, neben einer zwei Meter hohen Wacholderhecke. Wie er dastand, in Tennisshorts, den Hosenstall offen und das Pferd auf der Weide, seinen schlaffen Penis in einer Hand. Wie er in der grellen Sonne auf einem unserer blitzsauberen Parkwege stand und sich vor den Lastern der Stadtreinigung versteckte. Wie er, auf Schulmädchen wartend, den Namen Gottes flüsterte.
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Kapitel Vier Ich saß neben Jim auf der arg mitgenommenen Couch einer Wohnung in der Südstadt von Beaumont, einer trostlosen Zweizimmerbleibe mit einer Küche voll schmutzigem Geschirr und einem Wohnzimmer voll Sitzgelegenheiten, auf denen sich schmuddelige Klamotten häuften. Uns gegenüber saß Willy Red, ein Dealer, der nebenbei auch noch Hehlergeschäfte machte. »Quatscht hier nich solchen Stuß«, sagte Willy. »Hör ma, Mann, ihr habt getönt, ihr wollt Ätsch, also hier isses. Ich will relaxen, kapiert, ich mein, ich kenn euch doch gar nicht oder was. Ich will relaxen.« Er war riesengroß, hatte kaffeebraune Haut und ganz kurze hellrote Stoppeln auf dem Kopf. Während er sprach, zog er einen vernickelten 38er aus einem Stapel Zeitungen auf dem Boden neben seiner Superliege. Er hielt die Waffe nachlässig in der Hand und fuhr, leise ratschend, mit dem Daumennagel über den gerippten Hahn. »So, nu zeigt mir mal, daß ihr nich von der Schmiere seid«, meinte er und warf seine Hand vor und zurück, so daß seine Kanone erst auf Jim, dann auf mich zeigte. Ich machte mir schier ins Hemd, war aber gleichzeitig auch voll da. Ich hatte Jim neben mir, ich war Jims Partner, wir hatten es mit einem richtigen Stück Dreck von der Straße zu tun, und der Mann war drauf und dran, uns was zu verticken. Ich war mir jedoch noch nicht mal ganz darüber im klaren, was ich eigentlich hier zu suchen hatte.
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* Noch am selben Vormittag, an dem ich Sergeant Quill die Beichte des Würstchenschwenkers ausgehändigt hatte, war ich zum erstenmal nach Beaumont gefahren. Jim und ich hatten den Nachmittag im Tyrell Park verbracht, waren über die Reitwege bis zum Golfplatz spaziert, um den braven Bürgern beim Spielen zuzuschauen. Am Abend waren wir dann in seine Wohnung gegangen, seine Bleibe, in der es nichts gab, außer einem in einer Ecke des Schlafzimmers angenieteten Doppelbett und einer Kaffeemaschine auf der Anrichte in der Küche. Er hatte gewartet, bis ich Klamotten in meine Reisetasche zu werfen begann. Erst dann hatte er gesagt: »Komm nächste Woche wieder.« Und so war das dann fast den ganzen Sommer über gegangen. Um elf Uhr nachts, wenn meine letzte Schicht der Woche zu Ende war, schnappte ich mir eine Thermoskanne voll Kaffee, klappte das Verdeck meines 442 nach hinten, knallte Robin Trower oder die Doobie Brothers ins Kassettendeck und zischte los. Und dann flog ich durch die großen grauweißen Lichtkreise, die die Schnellstraße während des ersten Teils der Reise schmückten, dort, wo es noch Lampen gab. Später löste sie dann der Himmel ab, und die Kegel meiner Scheinwerfer schnitten durch die texanische Nacht – blauschwarz wie der tiefste Ozean. Und in Beaumont wartete bereits Jim auf mich. Zwei Tage darauf, so spät wie nur irgend möglich, setzte ich mich wieder in den Wagen und fuhr zurück nach Pasadena – der Bulle hier, der bleibt bestehen –, um wieder fünf Tage lang knöcheltief im Dreck zu waten. Als mich Jim an einem Augustnachmittag, der so heiß und feucht war, daß sogar die Bäume zu schwitzen schienen, schließlich fragte, überlegte ich erst gar nicht lange. Nie und nimmer, 66
hatte ich mir eingeredet. Auf keinen Fall würde ich je wieder die Grenze überschreiten. Und daß ich das einfach nicht nötig hätte. Und bis zu diesem Nachmittag hatte ich das auch geglaubt. Aber ich fuhr schnurstracks zurück nach Pasadena, sagte Quill, ich würde ihn in unserem nächsten Leben wiedersehen, verstaute meine Möbel auf einem Mietlaster, und schon war ich wieder unterwegs nach Beaumont. Ich dachte nicht darüber nach. Es war nun einmal das, was ich wollte, dieses sperrige Etwas zwischen Jim und mir, das an mir zerrte, als wäre die Schwerkraft außer Rand und Band geraten, dieses Ding, gegen das ich angekämpft, gegen das ich mich mit Händen und Füßen gewehrt hatte, das ich mit aller Gewalt hatte unterdrücken wollen, was mir freilich nicht gelungen war. Ich wollte, daß es mich unter sich begrub. Ich wollte ihn, wollte ihn um Mitternacht meinen Namen flüstern hören. Es war mir völlig egal, wo er wohnte und was er trieb. Ich wollte mein Gesicht in die warme Kuhle in seinem Kissen kuscheln, nachdem er morgens aus dem Bett stieg. Ich ließ mir keine Zeit zum Überlegen. * Jim griff langsam in Richtung seines Knöchels. Willy Reds Finger spannten sich um den Revolver. »Immer mit der Ruhe, Mann, ist nur mein Besteck«, sagte Jim und zog eine Spritze aus seiner Socke. Er sah Willy Red geradewegs in die Augen. Der grinste uns an und zeigte dabei seine langen gelben Zähne. Jim holte sein Taschenmesser heraus, schippte etwas von dem Pulver aus dem Päckchen auf dem Tisch und klopfte es behutsam in den Löffel, den Willy gestellt hatte. Vorsichtig zog er aus einem halbvollen Glas auf dem Tisch zehn Kubik Wasser in die Pumpe und spritzte es in den Löffel; dann riß er ein Streichholz 67
an. Während er den Stoff aufkochte, nahm ich meinen Gürtel ab und legte ihn über seinen Oberschenkel. »So is recht«, meinte Willy Red. Er schnalzte einmal laut mit den Lippen und sog dann ein paarmal Luft durch die Zähne. Sauber und gewußt wie führte Jim die Nadel ein und ließ die Spritze dann auf dem Arm liegen, während er den Gürtel um seinen Bizeps lockerte. Er zog den Kolben zurück und sah zu, wie sich sein Blut mit der Flüssigkeit in der Spritze mischte. »Ja, mach zu«, drängte Willy Red. »Gleich rauschst du in den siebten Himmel.« Jim drückte den Kolben etwas hinein, langsam, zog ihn dann wieder heraus, drückte wieder und machte das so lange, bis er das ganze Heroin im Arm hatte. »Oh, affengeil«, stöhnte Willy Red und rutschte auf die Stuhlkante. »Auf Raten, Mann, geil! Pumpen! Find ich echt stark!« Jim zog die Nadel aus dem Arm und setzte sich wieder richtig hin, seine Augenlider flatterten. Ich sah zu. Ich erinnerte mich an meine Lektion. Wenn du an einen Junkie gerätst, dann wird's ernst, hatte er mir gesagt. »Verdammt«, flüsterte Jim. »Klasse Zeug, Willy Red. Echt verdammt guter Stoff.« »Mmmhmmm. Von Red kriegste den besten. Nur den besten.« Jim lehnte sich zurück. »Also«, sagte Willy Red, »was is mit dir, Schwester, mal kosten? Wie isses?« »Nee, Mann«, murmelte Jim und schüttelte leicht den Kopf, die Augen halb geschlossen. »Sie drückt nicht. Die Schwester hier drückt nicht.« »Oh, Mann«, stöhnte Willy Red, »da entgeht ihr aber das Beste vom Leben. Scheiße.« Er saß da und starrte mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Aber ich denk schon, daß sie drückt«, sagte er. »Ich denk, sie drückt oder sie kommt hier nich mehr 68
raus.« »Eh, Mann, du wolltest, daß ich mir 'n Druck mache, und ich hab mir was reingedrückt«, murmelte Jim. »Mach die Frau doch nicht unnötig an, sie fixt nicht.« »Mann, wer sagt'n hier was von anmachen. Ich red hier von abknallen, wenn sie sich nich inner halben Minute was reingeknallt hat. Ich sag doch, Mann, schließlich kenn ich euch nich.« Jim gab sich alle Mühe aufzustehen, gab es dann aber auf und fiel zurück auf die Couch. Ich beugte mich vor und sah Willy Red in die Augen. »Du denkst, Durrell hat dir die Schmiere auf die Pelle geschickt?« fragte ich. »Uns hat er gesagt, es wär alles cool, er hat gesagt, du hättst ihm gesagt, wir könnten vorbeischauen, es wäre alles paletti.« »Durrell isso cool wie die andre Seite von meinem Kopfkissen, Süße, aber du hast hier noch nix gebracht. Durrell sagt mir, er kennt 'n paar Leutchen, die was drücken wollen, die was von meinem guten Braunen wollen. Also, wozu seid ihr angetanzt, wenn ihr nicht drücken wollt? Kannste mir das verticken?« Ich nahm die Spritze vom Tisch. Als ich Wasser aufzog, wurde es milchig und rot; der Rest von Jims Schuß. Ich spritzte die Flüssigkeit rechts von ihm gegen die Wand. Sie bildete einen rosaroten Krakel auf der schmuddeliggelben Gipsfaserplatte. Blutwasser. »Scheiß auf Durrell«, sagte ich und machte alles genauso, wie ich es eben bei Jim gesehen hatte, um den Schuß vorzubereiten. Ich zitterte, versuchte meine Hände unter Kontrolle zu halten und Willy Red nicht merken zu lassen, was für einen Mordsbammel ich hatte. Und ich wollte es tun, um ganz ehrlich zu sein, ich wollte es tun. Ich wollte wissen, wie man sich fühlte, da draußen, am Rand des Abgrunds, und ich wollte, daß Jim sagen konnte, ich hätte Courage, ich hätte es gebracht. Er öffnete die 69
Augen, als ich den Gürtel von seinem Schoß nahm. Ich hatte keine Ahnung, wie ich die Nadel durch die Haut und in meine Vene bringen sollte, keine Ahnung, ob mich das Zeug nicht vielleicht umbringen würde. Ich wußte, die Möglichkeit bestand, aber ich wußte es nur in der Art und Weise, wie Kinder so etwas wissen. Nicht ich. Doch nie und nimmer ich. »He, Mann, wart mal, Mann, wart, laß mich das machen«, sagte Jim. Er nahm mir die Spritze aus der Hand und beugte sich tief über meinen Arm. Er schob mir die Nadel so behutsam unter die Haut, daß ich sie gar nicht spürte, lockerte den Gürtel und drückte den Kolben langsam hinein, diesmal mit einer einzigen Bewegung, langsam, gleichmäßig und ohne zu pumpen. Reglos saß ich da und wartete, versuchte dem Zeug in mir nachzuspüren, zu sehen, wie es floß, und dann schmolz mein Körper auch schon dahin, und es drückte mir die Augen zu. Falls um mich herum etwas passierte, ich jedenfalls hatte nichts damit zu tun. Ich war nur ein kleines schimmerndes Ding, ein leuchtendes, bocciakugelgroßes rundes Wesen irgendwo in diesem Körper, der so warm und köstlich und so weit weg war. Gesprächsfetzen schwebten um mich herum. Es war angenehm. Wirklich sehr, sehr angenehm. »Yeah«, sagte Willy Red gedehnt und fistelig. »Yeah. Hat 'ne geile Abfahrt, die Alte. Dröhnland. Yeah. Ich krieg selber'ne Dröhnung davon, bloß vom Zuschaun. Bloß vom Zuschaun. Yeah.« Schweigend saß ich auf der Couch. Ich beobachtete die Szene von weit, weit weg. Willy Red traf Vorbereitungen, sich selbst einen Druck zu setzen. Alles war weich, wunderbar weich. Er steckte sich die Nadel in den Arm, spielte mit dem Kolben, zog ihn raus, drückte ihn wieder rein, langsam, und immer ein kleines Stückchen weniger weit raus und eine Kleinigkeit weiter rein. 70
»Pumpen mußte«, flüsterte er, total in sich versunken, konzentriert. Ich zog mich nach vorn, sah mich langsam im Raum um. Alles war so weit, weit weg. Ich sah meine Hand nach einer Aloe greifen, die neben der Couch stand, beobachtete, wie meine Hand die Pflanze aus dem Topf zog und sie gepackt hielt, mit baumelnden Wurzeln, und der ganze Dreck auf dem Boden landete. Ich hörte, wie ich mich mühelos in den grünen Plastiktopf erbrach. »Das Zeug ist echt Klasse, was?« meinte Willy Red immer noch grinsend und rieb sich mit dem Finger über die kleine Stichwunde genau unter der Ellenbogenbeuge. Er wandte sich an Jim. »Bist ja ziemlich stabil. Ich hab noch nie einen von euch weißen Bubis gesehen, der auf das Zeug nicht tierisch gereihert hat.« Jim öffnete ein Auge und lächelte Willy Red an. »Von dem Stoff will ich garantiert noch mehr«, sagte er. Willy Red beugte sich nach vorn in Jims Richtung, die Brust fast auf den Knien, das Gesicht nach oben. »Manana«, sagte er. »Schaut mal so gegen drei vorbei.« Als wir wieder im Auto saßen, lehnte sich Jim über das Lenkrad und glotzte stur auf das endlose weiße Band am Rand der rechten Spur der Staatsstraße 10. »Bist du in Ordnung?« fragte er. »Mir ging's nie besser«, hörte ich mich sagen. »Na schön dann. Hast wirklich fix geschaltet.« »Ich war nie besser.« »Bist eben ein Naturtalent«, sagte er. »Ein verdammtes Naturtalent.« »War auch wirklich ein Fest«, sagte ich. »Du hättest den Ausdruck auf Quills Visage sehen sollen, als ich ihm meine Kündigung gab.« »Ich wollte, ich hätte ihn gesehen.« 71
»Mit sofortiger Wirkung. Er hat mich gefragt, warum ich gehe.« »Und?« »Ich hab ihm gesagt, ich geh wieder auf die Uni.« »Ist natürlich deine Sache«, sagte er. »Aber dieser Typ da, dieser Nettle, der würde dich vom Fleck weg einstellen.« »Meinst du?« »Ja«, sagte er. »Und ich sag dir, diesem Durrell tret ich ordentlich was in den Arsch. Baut uns der mißtrauische Hundsfott doch glatt eine Lampe. Glaubt der doch echt, ich bin von der Schmiere oder was.« »Dieser Willy Red«, sagte ich, »hatte kastanienbraune Augen. Echt, kastanienbraune Augen, Scheiße. Hast du gesehen?« * Das anhaltende, fast schon rhythmische Zuknallen der Küchenschranktüren weckte mich. Ich hatte auf der Couch vor mich hingedöst und darauf gewartet, daß Jim nach Hause kam. Abend für Abend saß ich in seiner Wohnung, las die Broschüren der verschiedenen Colleges fürs Herbstsemester '78 und wartete darauf, daß er heimkam. An manchen Abenden brachte er Dealer mit. Ich rauchte ihren Shit und lachte mit ihnen, und dann später, wenn sie wieder weg waren, sah ich Jim zu, wie er seine Berichte schrieb. Ich hatte noch eine ganze Woche, bevor ich mich immatrikulieren konnte, war mir jedoch noch nicht sicher, ob ich überhaupt wieder aufs College sollte. Ich genoß es, einfach so in der Luft zu hängen. Jim hing an der Kühlschranktür und stierte mit leerem Blick auf die leeren Fächer vor ihm. Ich hob den Kopf, immer noch nicht wieder ganz da, sah sein Gesicht, über das der grelle Licht72
schein aus dem Kühlschrank schwappte, und drehte mich dann um, um zu schlafen, richtig zu schlafen. Er war zu Hause. Ich hörte ihn hin- und herlaufen, dann ging das Geklapper los. Ich stand auf, um zu sehen, was nicht stimmte. Er stand im Flur, über den Türknopf der Badezimmertür gebeugt, und stocherte mit einem Schraubenzieher am Schloß herum. »Ich habe mich ausgesperrt, wie, weiß ich auch nicht«, sagte er mit merkwürdig monotoner Stimme. Ich sah ihm in die Augen. Eine wahre Straßenkarte geschwollener, gezackter Äderchen sproß ihm aus dem dünnen blauen Ring um seine groschengroßen Pupillen. Er hatte einen Fall abgeschlossen. Oder wenigstens hatte er an einem gearbeitet. Ich nahm ihm den Schraubenzieher ab und knackte das Schloß. Er warf einen Blick auf das Werkzeug in meiner Hand und marschierte an mir vorbei ins Bad und schloß die Tür zwischen uns. Ich ging wieder zur Couch und setzte mich, versuchte mich wach zu kriegen, indem ich mir die Augen rieb. Mit einem gedämpften Röcheln setzte die Heizung ein, und ich spürte eine Bewegung über meinem Kopf, als in Deckenhöhe die warme Luft aus dem Schacht zu strömen begann. Es war nicht kalt draußen, wir hatten ja erst September, aber Jim bestand darauf, die Heizung anzulassen. Von der anderen Seite der Badezimmertür kam das Geklapper zugeschlagener Schränke, dann war es still, und schließlich das grauenhafte Echo von Jims Gewürge. Er hatte nicht abgeschlossen, und als ich hereinkam, rollte er sich gerade von der Kloschüssel und begann torkelnd und stöhnend im Kreis zu kriechen, immer rund herum. Er griff nach meinen Füßen, umklammerte meine Fesseln, aber als ich mich zu ihm hinunterbückte, schnellte er nach hinten und riß den Kopf zur Seite, als wolle er einem Haken ausweichen. Er schoß einen kurzen Blick auf die leuchtend blauen und grünen Blumen 73
auf der Tapete über dem Waschbecken und hielt sich schützend die Hände vors Gesicht. »Aufhören!« brüllte er. »Mach, daß es aufhört, verdammt noch mal!« »Ist ja gut«, sagte ich, »ist ja alles gut.« Ganz langsam streckte ich die Hände nach ihm aus. »Du bist in Ordnung, es kann dir nichts passieren.« Ruckartig drehte er sich um und griff nach dem Duschvorhang, zog ihn sich vor den Körper und knallte dann mitsamt der Vorhangstange auf den Boden. Ich warf den Vorhang in die Wanne und beugte mich über ihn. Er atmete nicht mehr. Ich schlug ihm gegen die Brust, so fest ich konnte, riß ein Handtuch vom Halter über dem Klo, wischte ihm den Mund aus und versuchte es mit einer Herzdruckmassage. Abwechselnd drückte ich auf seine Brust und pustete ihm in den Mund und dachte dabei immer wieder und wieder und wieder: »Schnauf doch, schnauf!« Mit meiner ganzen Willenskraft versuchte ich es zu erzwingen, versuchte den Gedanken an all die Geschichten zu verdrängen, die er mir erzählt hatte – wie viele Agenten schon eine Überdosis erwischt hatten, die Panik, die einen bei dem bloßen Gedanken daran überkam, man könnte eine Leiche am Hals haben, von der man bei Gott nicht wußte, wie man sie erklären sollte oder wie es dazu gekommen war oder irgendwas. In diesem Augenblick hätte ich mich ohrfeigen können für meine Liebe zu ihm. Aber ich liebte ihn nun mal. Immer wieder legte ich meine Lippen auf die seinen und zwang ihm meinen Atem in die Lunge. Ich glaube, gebetet habe ich auch. Ich überlegte krampfhaft, wie ich ihn weiter beatmen und gleichzeitig zum Telefon laufen konnte, um wer weiß wen zu Hilfe zu rufen, als er würgend und hustend die Augen öffnete. Er blinzelte, riß sie dann weit auf, blinzelte dann wieder. Dann eine rasche Bewegung, und ich knallte mit dem Hinterkopf 74
gegen die Kacheln, daß ich nur noch weiße Sterne sah. Ich spürte, wie mir die Augen aus den Höhlen traten, schier bis zum letzten Gewinde, und hörte Jim rund um mich toben und seine Angst hinausschreien. »ICH WEISS, DASS ICH ERLEDIGT BIN DU BRAUCHST ES MIR NICHT NOCH UNTER DIE NASE ZU REIBEN DU DRECKSAU ICH BIN HIER UM DIE DRECKARBEIT ZU MACHEN! VERSTECK DIE PUMPEN DIE KÖNNEN JEDE MINUTE HIER SEIN! SCHEISSBUNDESBULLEN! KÖNNEN IHREN ARSCH NICHT VON NEM MAUSLOCH UNTERSCHEIDEN ABER DIE LOBEEREN DIE KASSIEREN SIE MANN! DIE KASSIEREN SIE DIE KASSIEREN DIE . . .« Seine Stimme wurde langsamer, bis sie nur noch zu kriechen schien, und als ich wieder was sehen konnten, kniete er vornüber gebeugt, den Wasserhahn in beiden Händen, in der Badewanne und murmelte vor sich hin; Tränen rannen ihm übers Gesicht. Ich rappelte mich auf und griff ihm mit einer langsamen Bewegung unter die Arme, sprach beruhigend auf ihn ein, während der Schmerz in meinem Kopf zu pochen begann. Mir war schwummrig, aber ich kriegte ihn aus dem Bad; mir seinen Arm über die Schulter ziehend, schleppte ich ihn auf die Couch. Ich roch die Chemikalien in seinem Schweiß, als hätte er Batteriesäure in den Adern, die ihm aus allen Poren trat. »Ich weiß nicht, auf was du drauf bist«, sagte ich, »aber du hast zuviel erwischt.« Ich redete mit mir selbst. Wie ein nasser Sack knallte er auf die Couch. Ich legte eine Decke über ihn und schob sie ihm leicht unter die Schulterblätter. Ich nahm sein Gesicht in die Hände, versuchte ihn dazu zu zwingen, mich anzuschauen. Seine Augen zuckten von einem Winkel in den anderen, nur auf mich richteten sie sich nicht; dann gab er es auf und schloß sie einfach wieder. 75
»Jim«, sagte ich. »Ich weiß nicht, ich weiß nicht«, seufzte er. Ich dachte daran, einen Krankenwagen zu rufen und an das Donnerwetter, das folgen würde, wenn die Gewaltigen aus dem Präsidium das spitzkriegten. Es war wohl besser abzuwarten; solange er mir bei Bewußtsein blieb, tat ich wohl besser daran zu warten. Er war plötzlich ruhig; die Augen weit geöffnet, lag er auf die Couch gestreckt wie ein Kadaver und stierte an die Decke. Ich saß da und rieb mir das Horn, das auf meinem Hinterkopf zu wachsen begann. »Rob«, sagte er schließlich. Es war fast zwei Uhr morgens, aber ich wählte die Nummer. Seine Frau war dran, sie schien zu resignieren, als sie eine Frauenstimme hörte, aber sie weckte ihn. »Tut mir leid«, sagte ich. »Aber Jim hat eine Überdosis erwischt. Ich brauche ein bißchen Hilfe.« »Auf was ist er denn?« »Weiß ich nicht. Vielleicht Acid, vielleicht auch PCP. Egal was, jedenfalls ist es ein Teufelszeug.« »Bin schon unterwegs.« Ich drehte mich um, als Jim sich eben die Klamotten vom Leib riß und, sie im ganzen Wohnzimmer verstreuend, auf die Wohnungstür zustrebte. Ich erwischte ihn, als er schon mit der Sicherheitskette kämpfte, und bugsierte ihn vorsichtig wieder auf die Couch. »Bleib einfach liegen«, sagte ich, »Rob ist schon unterwegs.« Ich nahm seine Waffe vom Tisch, holte meine eigene unter dem Couchpolster hervor und verstaute beide zusammen mit dem Schraubenzieher unter dem Polster am anderen Ende der beiden L-förmig zusammengestellten Sitzelemente. Ich sammelte seine Jeans, sein Hemd und die Unterwäsche auf und warf sie neben der Couch auf den Boden. Er könnte sie womöglich für lebendig 76
halten, für irgendwas, was auf dem Boden lauerte und darauf wartete, ihm etwas anzutun. Ich setzte mich, um ihn im Auge zu behalten; ich hoffte, er würde ruhig bleiben, bis Rob die knapp sechzig Kilometer von Saratoga herunter hinter sich gebracht hätte. Es dauerte fast eine ganze Stunde, bis Rob endlich zur Tür hereinkam. Er hatte noch einen kleinen Umweg gemacht und seinen ehemaligen Partner, Denny Dennison, abgeholt. Jim kauerte auf dem Boden in einer Ecke des Wohnzimmers und stierte den Porzellanwindhund neben der Stereoanlage an. »Ich weiß, ich weiß«, sagte er immer wieder, »sie hat's mir damals gesagt, am Tag, als ich wegging. Aber jetzt ist sie tot.« Er hielt inne, neigte den Kopf und kaute, auf eine Antwort wartend, auf seiner Zunge herum. Er kauerte vor dem Hund, auf die Hände gestützt, nach vorn gebeugt; auf dem gekrümmten Rücken, dort, wo der Knotenstock seiner Wirbelsäule gegen die Haut drückte, zeichnete sich eine Kette weißer Flecken ab. »Mutter ist tot«, sagte er. Denny warf mir einen Blick zu, dann Rob, schließlich schüttelte er den Kopf und kollerte leise in sich hinein. »Tut mir leid«, sagte er schließlich. »Tut mir leid. Wir haben das alle hinter uns, aber irgendwie ist es einfach so saukomisch. Auf was ist er denn? Ist er schon nackt nach Hause gekommen?« »Nein«, sagte ich. »Der Strip kam erst nachher. Ich tippe auf PCP oder Acid.« »Das hier ist zwar ein ziemlich irres Treffen«, sagte Denny, »aber ich freue mich trotzdem, Sie endlich kennenzulernen.« Wir drückten einander die Hände. Er schien auf dem linken Auge zu schielen. »Was hältst du davon?« fragte ich Rob. »Ich würde sagen, der Arsch da ist total am Klinken. Und ich habe dem Kerl noch gesagt, daß er hier aufpassen muß.« 77
Denny schaffte Jim zurück auf den langen Teil des Sofas und setzte sich auf den kürzeren. Jim plapperte irgendwas von Pumpen und Dope und der Schmiere und daß er es schon bringen würde, aber er war ruhig; er schien mit sich selbst zu reden. Schweigend behielten wir ihn im Auge. »Wie wär's mit 'ner Tasse Kaffee?« fragte Denny schließlich. Wir setzten uns an den winzigen Eßtisch neben der Anrichte auf der anderen Seite des Raums. Denny schaufelte vier große Löffel Zucker in seine Tasse, goß sie fast mit Milch voll und füllte sie schließlich mit Kaffee, bis die Flüssigkeit fast eine Kuppel bildete. Er beugte sich darüber und schlürfte laut drauflos. Rob trank den seinen wie immer schwarz und hielt seinen kleinen Finger gestreckt, während er trank, als lasse er ihn strammstehen. »Und du meinst«, sagte Rob schließlich, »daß sich unser guter alter Jim hier den goldenen Schuß verpassen wollte?« Ich sah Denny an. Er schwang einen schwarz bestiefelten Fuß auf den leeren Stuhl neben ihm und zuckte die Achseln. »Alles schon dagewesen«, sagte er. »Ausgeschlossen«, sagte ich. »Das ist absolut ausgeschlossen. Irgend jemand hat ihm was untergejubelt.« »He, Mann, ich mach dem Burschen doch keinen Vorwurf«, sagte Rob. »War nur 'ne Frage.« »Und es ist auch ausgeschlossen, daß es ein Versehen war«, fügte ich hinzu. »Er braucht doch bloß dran zu schmecken, und er weiß, wieviel er braucht. Er kennt sich aus.« Ich wollte ihnen gegenüber einfach nicht zugeben, daß mir diese Möglichkeit noch gar nicht in den Sinn gekommen war. Wir saßen da, schlürften unseren Kaffee und starrten Jim an. Er hatte die Augen geschlossen, aber ich sah, daß sich die Decke im Rhythmus seiner Atmung bewegte. »Wirst du's seinem Sergeant sagen, diesem – wie heißt der 78
Knabe doch gleich wieder – Dodd?« fragte Denny. »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ich kenne den Mann ja noch nicht mal. Ich bin ihm nur einmal begegnet, zehn Minuten, als ich mit Jim aufs Präsidium ging, um Beweismaterial abzuliefern.« »Der Hellste, der mir je untergekommen ist, ist der Bursche nicht gerade«, sagte Denny. »Das kannst du laut sagen«, meinte Rob. »Vielleicht solltest du gleich zum Chef gehen.« Ich trat an die Couch und prüfte Jims Puls. Er war regelmäßig, wenn auch ziemlich schnell. »Der kommt wieder hin«, sagte Denny. »Laß es ihn ausschlafen.« »Er hat mir schon mal zu schnaufen aufgehört.« Ich rieb mir meinen Hinterkopf. Die Beule dort hatte die Größe eines Silberdollars und kribbelte, als benutze sie jemand als Nadelkissen. »Hör mal«, sagte Denny, »solange ihm nicht der Schaum vor dem Mund steht, ist er okay. Relax, Mädel. Wenn er abstreichen würde, hätte er's schon hinter sich.« »Und abgesehen davon«, sagte Rob, »kannst du ihn sowieso nicht ins Krankenhaus bringen. Er kauft dort von einigen Schwestern Morphium, mindestens von zweien, hat er mir selber erzählt. Vielleicht sind es sogar noch mehr. Seine Tarnung wäre in Null Komma nix im Arsch.« * Als es endlich fünf Uhr wurde, machte Denny den Fernseher an, um sich die »Meldungen für Farmer und Rancher« anzugucken. »Muß schließlich auf dem laufenden bleiben«, nölte er. »Ich bin nämlich jetzt selber Bauer, weißt du.« »Schöner Bauer«, sagte Rob. »Ach leck mich doch, du Geige.« Denny wischte sich ein 79
Büschel blonder Haare aus der Stirn. Von seiner linken Augenbraue fehlte das meiste. Statt dessen hatte er eine große weiße Narbe über dem Auge. »Wie wär's, wenn ich mal loszieh und was zum Frühstück hole?« sagte Rob. »Mach man«, sagte Denny. »Ich könnte grad was vertragen.« »Hast du Kohle?« fragte Rob. »Ich bin ohne meine Brieftasche aus dem Haus.« Denny gab ihm einen Zwanziger, den er sich in eine Tasche seiner Jeans stopfte. »Bin gleich wieder da«, sagte er und huschte zur Tür hinaus. »Was meinst du«, fragte ich ihn. »Glaubst du, er war es selbst?« »Hör mal, Kleines«, sagte Denny, »ich denk überhaupt nix. Schließlich schnauft der Mann noch, oder? Alles, was ich dir im Augenblick sagen kann, ist, daß die ganze Geschichte zum Himmel stinkt, daß es nicht mehr schöner geht.« »Seine Arbeit hier?« »Nicht nur das. Mich hätte so 'n Dealer um ein Haar umgebracht. Ich kann diesen ganzen Scheiß einfach nicht mehr ab. Ich hab's bis hier.« »Jim hat erzählt, du wärst in einen Hinterhalt geraten.« »Ich bin seitdem halb blind. Aber eine Kuh sehe ich noch gut genug, um ihr einen Strick um den Hals zu legen. Und das Scheunentor finde ich auch noch. Wenn's nicht gerade wolkig ist, komm ich sogar mit meinem Laster über die Landstraße.« »Ich habe nie wirklich gehört, was damals eigentlich abgelaufen ist.« »Die haben versucht uns aalglatt abzuziehen, das Ganze war von hü bis hott eine Linkaktion. Ich und Rob, wir arbeiteten damals in der Gegend von San Angelo und sollten irgendwelchen Mexikanern aus Coahuila zwei Ki Braunen abkaufen.« Er nahm einen Schluck Kaffee und behielt die Tasse in der Hand, 80
während er sprach. »Wir hockten in irgend so einem kleinen Loch von einem Motel am Rand von Ozona, das ist unten im Crockett County, und schwitzten wie die Schweine. Wir hatten uns gedacht, die würden den Stoff irgendwo zwischen Del Rio und Langtry rüberbringen, oder vielleicht auch woanders, weiß der Geier, wir hatten keine Ahnung. Am Nachmittag hatten wir vierzig Grad im Schatten, das Motel hatte noch nicht mal 'nen Namen. Noch drei Stunden nach Sonnenuntergang spürte man, wie die Erde Hitze abgab. Immerhin hatte unser Zimmer 'ne Hintertür. Und du kannst Gift drauf nehmen, daß Johnson die gefunden hat. Die Mexen trudelten ohne das Dope ein. Sie sagten, es würde in ein paar Minuten nachkommen. Ich geh mal kurz pinkeln, und kaum steh ich da, den Schwanz in der Hand, keine Plempe, kein gar nichts, noch nicht mal 'nen Nagelclip, um mich zu verteidigen, seh ich eine Kanone zur Tür hereinkommen, und schon liege ich auf dem Boden und bin am Krabbeln. Ich habe noch nicht mal was gehört, als sie das erste Mal abdrückten. Absolut null. Schweigen im Walde. Und dann sah ich auf einmal nichts mehr. Ich war verdammt noch mal blind. Ich hörte Schritte zur Hintertür raus, und ich konnte an nichts andres denken als an meine Kinder. Meine Kinder, das war alles. »Es hatte mich im Gesicht erwischt, genau hier.« Er deutete auf seine linke Augenbraue. »Und Johnson, ich weiß auch nicht, wie er's geschafft hat, jedenfalls ist er ihnen durch diese Scheißhintertür ausgebüxt und in die Wüste hinausgedüst. Der Mistkerl hatte einen solchen Zahn drauf, daß er glatt die Schuhe verloren hat. Einer von den Leuten des Sheriffs hat sie vierzig Meter vor der Hintertür gefunden. Die Mexikaner haben ihn aber gekriegt, und kaum hatten sie ihn am Wickel, fingen sie auch schon an, ihn fürchterlich aufzumischen. Ich sag dir, einer von denen hatte ihm schon sein Brotmesser zu drei Vierteln übers Gesicht gezo81
gen, als er ihnen endlich seine Marke unter die Nase hielt. Erst dann haben sie aufgehört auf ihn einzudreschen und sind selber stiftengegangen.« Es klopfte an der Tür; Robs besonderes Klopfzeichen, dreizwo-drei. Ich stand auf, um ihn reinzulassen. »Schoko, Zucker oder Blaubeer«, sagte er und warf eine Zwölferpackung Doughnuts auf den Kaffeetisch. Denny winkte ab. »Die Ranger sind hinter ihnen her«, fuhr er fort. »Sie haben sie drei Tage später gefunden, in Pandale. Sie sind noch in Huntsville beim Baumwollezupfen und dürfen sich den Arsch stopfen lassen. Gott segne das texanische Justizvollzugssystem. Und sie können noch von Glück reden, wenn sie nie wieder rauskommen.« »Erzählst du schon wieder von deinen Mexikanern?« fragte Rob. »Die kommen nicht mehr raus. Zweimal lebenslänglich. Vergiß sie endlich.« »Klar doch, Sherlock.« Denny sah ihn an und war drauf und dran, noch etwas zu sagen, griff sich aber dann statt dessen einen Doughnut und schob die Schachtel zu mir herüber. Rob war also getürmt. Ich verstand nicht, wie er und Denny dann immer noch so gute Freunde sein konnten, aber ich wußte, daß dem so war. Denny war es gewesen, der Rob dazu überredet hatte, von Houston wegzuziehen. Er hätte seinen Partner gern in der Nähe, hatte er gesagt, obwohl er bereits seit fast fünf Jahren aus dem Polizeidienst ausgeschieden war. »Ich bin in die Nähe von Saratoga hinausgezogen, gleich nachdem ich aus dem Krankenhaus kam«, sagte Denny. »Ich hatte gehört, daß es dort Heilquellen geben soll. Von wegen Heilquellen. Da war keiner mehr dran, seit sie am Spindietop auf Öl gestoßen sind, aber Angeln ist dort prima. Ich gehe mit meinem Jungen jeden Samstag angeln, oben bei Livingston oder Toledo Bend. Ich habe gut anderthalb Hektar Land und ein paar Milch82
kühe und eine Grillkuhle hinter dem Haus. Ein paar Legehennen und einen Gockel, der sich für das schönste Vieh diesseits von Memphis hält. Und im Schatten ist es schön kühl.« »Sicher doch«, sagte Rob, »protzt so lange mit seiner guten Luft und seinen Pinien, bis er mich belabert hatte, auch aufs Land zu ziehen. Es ist stinklangweilig, und obendrein kann ich jetzt jeden Tag über 100 Kilometer zum Dienst fahren. Ist noch Kaffee da?« Denny trat an die Couch und sah mit zusammengekniffenen Augen auf den Fernseher; er versuchte wohl wenigstens ein bißchen was von dem Bild durch seinen beschädigten Sehnerv zu kriegen, aber eigentlich hörte er wohl mehr auf den Nachrichtensprecher, der lauthals gegen den Preis von Schweinebäuchen protestierte. Jim schlief auf der Couch, warf sich aber ständig von einer Seite auf die andere. Rob begann im Wohnzimmer auf und ab zu laufen und verstreute dabei Blaubeerdoughnutbrösel, bis Denny ihm sagte, er solle sich gefälligst auf seine vier blütenweißen Buchstaben hocken und Ruhe geben. Rob warf seinen angebissenen Doughnut nach ihm, goß sich noch einen Kaffee ein und setzte sich zu mir an den Tisch. »Ich trage da in Houston gerade Beweise gegen ein paar Koksdealer zusammen«, sagte er. »Astreiner Stoff.« »Und?« »Ich dachte nur, du bist vielleicht müde. Wollte dir nur ein bißchen Hilfe anbieten.« »Die könnte ich wirklich brauchen«, sagte ich. Er holte ein Tütchen aus seiner Hemdtasche und machte sich daran, einige Riegel auf die Tischplatte zu spachteln. »Hast du je gedacht, daß es so kommen würde?« fragte er. »Damals, als du zur Polizei gegangen bist?« »Ich hatte keine Ahnung.« »Denk ich mir. Tja, manchmal muß man einfach seinem 83
Instinkt folgen.« Er sniefte zwei der Riegel und reichte mir das Röhrchen. »Weißt du«, sagte er, »ich schau mir im Fernsehen den Wetterbericht an und höre den Knallkopf irgendwas von Luftdruck erzählen und denke mir, ist ja schön und gut, aber wie wirkt sich das auf mich aus? Gibt es da draußen irgendwas, das die ganze Geschichte hier im Griff hat oder was?« Ich zog mir die Spuren in die Nase und gab ihm das Röhrchen zurück. »Danke für den Schubs.« »Jederzeit«, sagte er. »Wann immer du willst. Bei mir brauchst du nur den Mund aufzumachen.« Ich sah zu Jim hinüber. Er schlief noch immer, unter der Decke zuckte langsam einer seiner Füße vor sich hin. Brauchst nur den Mund aufzumachen. Am Abend vor dem großen Abgriff in Pasadena stand ich in meiner Wohnung und starrte aus dem rückwärtigen Fenster auf ein großes Feld, auf dem in seiner ganzen Junipracht das Unkraut stand, und versuchte, mich für meine Rückkehr ins wirkliche Leben zu sammeln, für die bevorstehenden Verhaftungen; ich fragte mich, was Hayden Smith wohl denken würde, wenn er feststellen mußte, daß ich ein Bulle war, was die anderen denken würden, jeder einzelne von ihnen. Ich überlegte, ob es richtig war, was ich getan hatte, und wie ich mir vorkommen würde, gezeichnet zu sein, eine Uniform zu tragen, ob es überhaupt eine Rolle spielen würde; und bei alledem versuchte ich, nicht zu tief zu denken. Und dann kommt um zwei Uhr morgens Rob in meine Wohnung geschneit mit seinem strammen Körper, hager wie ein Indianer, einen Strauß Rosen in der einen Hand, eine Flasche Champagner in der anderen. Fängt ohne ein Wort zu sagen an, Spuren aufzubauen und den Champagner zu öffnen, alles mit ruhigen, effizienten Bewegungen und ohne auch nur eine Minute zu verlieren; und das war es dann, unsere letzte Nacht 84
als Partner. All die Wochen über, in denen wir das Liebespaar gegeben hatten. In der Art und Weise, wie er mir unter die Bluse griff, lag ein Anflug von Verzweiflung. Ohne unnötig Gefühle zu verschwenden, hob er mich hoch und hielt mich fest; ich spürte den kühlen weißen Gips an meinem Rücken und seine Hitze in mir, die schweißglatte Wärme seiner Haut; sein Atem wurde schneller, der meine auch – sein Geruch, seine überwältigende Stärke. Ich schlürfte meinen Kaffee und sah den Mann auf der anderen Seite des Tisches an. »Bleibst du hier unten?« fragte er mich ruhig. »Ich denke schon«, sagte ich. »Vielleicht gehe ich wieder zur Schule. Ich weiß nicht. Jim sagte, ich solle runterkommen. Hier bin ich. Aber mir war nicht ganz klar, daß es das hier war, was er wollte.« »Raynor kommt wieder in Ordnung.« Behutsam setzte er seine Tasse ab und lehnte sich zurück. »Er kommt wieder in Ordnung. Aber eines sag ich dir. Wenn meine Kinder ein bißchen größer sind, dann steige ich aus dieser Seite des Geschäfts aus. Ich sehe, wie diese Schweine die große Kohle machen, und frage mich, was ich hier tue. Verstehst du? Ich habe vor, mich für einige Zeit auf die Seite der Gewinner zu schlagen.« »Kennst du denn überhaupt einen Polizisten, der das nicht getan hat?« »Teufel auch, Kleines, ich kenne Typen bei der Grenzpolizei, die haben mir gesagt, ihre Aufgabe bestehe nicht darin, Dealer hopszunehmen, sondern darin, die Konkurrenz auszuschalten.« Er zupfte an seinem Bart. Er war kurz geschoren, war aber dunkel genug, um die Narbe auf seinem Unterkiefer zu kaschieren. Der typische Agentenzyklus: Man läßt sich Bart und Haare wachsen, man wird ein mieses Schwein, sammelt Beweismaterial und schneidet wieder alles ab, Hauptsache, man verändert 85
ständig sein Aussehen; um alles in der Welt gilt es zu vermeiden, daß einen jemand wiedererkennt. Sein Haar reichte ihm bis über die Ohrläppchen, stand ihm zottig über den Kragen, dunkel wie eh und je, glatt und braun. »Ich habe so oft darüber nachgedacht«, sagte er. »Aber dann komme ich nach Hause und sehe meine Kleine im Hinterhof den Ball herumkicken. Man hat's wirklich nicht leicht, Mann.« »Wir können leicht philosophisch werden«, sagte ich, »und uns einreden, das wäre der Grund dafür. Um fünf Uhr morgens ist das kein Problem. Aber wenn du mal richtig hinschaust und siehst, was das Zeug den Leuten antut, dann kannst du so was nicht einfach unter den Tisch fallenlassen.« »Wer zum Teufel weiß das schon.« Er lehnte sich zurück und verschränkte die Finger in seinem Nacken. »Rufst du nun den Chef an?« »In ein paar Stunden. Hat doch keinen Sinn, ihn jetzt aus dem Bett zu holen. Wir können nicht viel mehr tun als abzuwarten.« »Hör mal«, sagte er, »ich versuche dir wirklich nicht zu sagen, wie du dein Leben führen sollst, Mann, Jim ist ein prima Typ, aber er arbeitet im Augenblick, verstehst du. Du weißt doch, wie das manchmal ist. Da passiert nun mal das ein oder andere. Irgendwann weiß man nicht mehr, ob man ein Männchen oder ein Weibchen ist.« »Ich denke, ich werde diesen Nettle wissen lassen, was vor sich geht.« »Gute Idee«, sagte er. »Sehr gute Idee. Verschaff Jim etwas Rückendeckung und dir selber auch.« Er pflückte einen Doughnut aus der Schachtel auf dem Tisch, biß ein großes Stück davon ab und warf ihn wieder in Richtung Schachtel. Er landete mitten im Kokain auf dem Tisch. »Herrgott noch mal«, schimpfte er, »schau dir das an. Ich hab wirklich kein Glück. Jesus, Maria und Josef.« Vorsichtig hob er 86
den Doughnut auf und begann ihn abzulecken, wobei er sich den Bart mit Puderzucker eindeckte. Ich nahm ein Streichholzbriefchen und versuchte damit den Zucker von den Koksriegeln wegzustreichen. »Mann«, sagte er, »das Zeug hab ich ja nun wirklich versaut. Sieht mir wieder mal ähnlich.« »War wahrscheinlich ohnehin schon jede Menge Zucker drin«, sagte ich. Er reichte mir das Röhrchen. »Ja, wahrscheinlich«, sagte er. »So was richtig Astreines ist heutzutage kaum noch zu haben. Jedenfalls nicht auf der Straße.«
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Kapitel Fünf Die Küche des Polizeipräsidenten war spiegelblank, Schöner Wohnen hätte sie nicht properer hinzaubern können; der Lysolgeruch raubte einem schier die Sinne. Nettles Frau hatte mir geöffnet und mich mit einer Handbewegung ins Haus gebeten. Sie trug eine blaßrosa Kittelbluse mit einem altmodischen Spitzenkragen; ihr blondes Haar war zu Zöpfen geflochten, die sie hinten zu einem Knoten aufgesteckt hatte. »Donald ist gleich bei Ihnen«, sagte sie leicht gedehnt. »Wollnse 'n Eistee?« »Nein, danke«, sagte ich. Sie verdrückte sich in Richtung der Lacher einer Fernsehkomödie, die von irgendwo aus dem vorderen Teil des Hauses kamen. Ich setzte mich an den Tisch, einen runden Apparat aus Fichte in der Mitte der geräumigen Küche. Jim hatte mir nicht genau gesagt, warum sein Chef mich sprechen wollte, nur daß es etwas mit der Überdosis zu tun hatte und daß ich allein kommen sollte. Es war fast zwei Wochen her, daß ich Nettle angerufen und ihm erklärt hatte, was passiert war. Es hatte nicht den Anschein gehabt, als würde ihm das schlaflose Nächte bereiten. »Behalten Sie ihn im Auge«, hatte er mir gesagt. »Lassen Sie es mich wissen, wenn es schlimmer wird.« Obwohl Jim sich wieder zu erholen schien, hatte er immer wieder Tage, an denen es ihm ziemlich dreckig ging. Eines Morgens hatte ich ihn auf dem Treppenabsatz vor seiner Wohnung gefunden. Er saß da und starrte durch das schmiedeeiserne Gitter des Geländers. Auf die Frage, was er denn beobachte, sah er mich ganz merkwürdig an 88
und sagte: »Ich weiß nicht genau. An manchen Tagen schaue ich mich um und habe das Gefühl, daß es die ganze Welt um mich rum fröstelt.« An der Wand neben dem Fenster hing ein Bild von Mrs. Nettle. Sie trug ein blaues Abendkleid, hielt einen Strauß Rosen in der Hand, und auf einer gelben Schärpe über ihrem Oberkörper bildeten silberne Flitterbuchstaben ein großes Miss BEAUMONT. Sie stand vor einem Bohrturm. Beaumonts Liebesaffäre mit dem Öl hatte Tradition. Als 1901 am Spindietop der Lucas-Gusher aus der Erde fuhr und eine über hundert Meter hohe Fontäne flüssiger Dinosaurierüberreste in den Himmel schoß, wimmelte es, wie überall in Osttexas, sofort vor Leuten, die schnell reich werden wollten. Innerhalb eines einzigen Monats wurde aus dem Dorf eine Stadt mit dreißigtausend Einwohnern, jeder einzelne von ihnen ein Mann mit Unternehmergeist. Es muß das reinste Chaos gewesen sein. Und eine Schlammschlacht. Eine gewaltige Schlammschlacht. Dann erschienen Texaco und Mobil auf der Bildfläche. Du Pont Chemicals. Dann kam der Kanal. Dann die Gewerkschaften. Ich war schon einmal tief nach Osttexas hineingekommen, anläßlich der regionalen Leichtathletikmeisterschaften; da war ich noch auf der High School gewesen. Ich war das einzige weiße Mädchen in der Staffel über eine Meile. Als wir vor dem Chicken Shack in Lufkin haltmachten, um zu Mittag zu essen, weigerten sich die sechs schwarzen Frauen in der Mannschaft, den Bus zu verlassen. Ich staunte nicht schlecht, als ich sah, daß sie tatsächlich Angst hatten; ich hatte eine derartige Angst noch nie aus der Nähe erlebt. Aber als ich sie schließlich mit ins Restaurant geschleppt hatte, kapierte ich, warum sie lieber draußen hatten bleiben wollen. Kaum waren wir drin, wurde es mit einem Schlag totenstill im Lokal. Die Leute beugten sich über die Tische und redeten, sahen sich dann nach uns um und hatten 89
sich wieder was zu sagen. Die Stimme der Bedienung, die unsere Bestellung entgegennahm, hatte einen häßlichen, höhnischen Unterton, und als unser Essen kam, sah es ganz so aus, als hätte man es aus einiger Entfernung auf die Teller geflatscht. Warum Jim sich ausgerechnet hier niederlassen mußte, war mir schleierhaft, außer vielleicht, daß Rob in der Nähe war und Denny; und daß er hier die Möglichkeit hatte, im Untergrund zu arbeiten und noch mal von vorn anzufangen. Als Nettle in die Küche geschritten kam, verriß er den Kopf in einer Art militärischen Gruß, bevor er sich mir gegenübersetzte. Der Mann war glatt wie Motorenöl, blankgeputzt und hochgewachsen, und noch nicht mal im eigenen Haus hatte er das Jackett ausgezogen. Seine Krawatte, ein lockergewebter Streifen aus hellblauem Polyester, würgte seinen mageren weißen Hals, und als er mir gegenübersaß, legte er seine kleinen, frisch manikürten Hände sauber gefaltet auf die Tischplatte zwischen uns. Jedes Haar auf seinem Kopf war an seinem Platz, jedes einzelne rote Haar, und sein Schnurrbart war unter der Nase auf Bleistiftstrich getrimmt. Er trug durchscheinende schwarze Kniesocken und schwarze Lacklederslipper mit goldenen Schnallen. Ständig zupfte er sich irgendwelche unsichtbaren Fusseln vom Anzug. »Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind«, sagte er. Ich nickte, unschlüssig, wie ich auf den Mann reagieren sollte. Ich wollte ihm vertrauen, es war ungeheuer wichtig für mich, offen mit ihm reden zu können, aber er ließ sich nicht in die Karten gucken. Nach und nach konnte ich mich des Gefühls nicht erwehren, daß er sich nach Schutz vor den Elementen sehnte – genauso wie diese abgefeimten kleinen weißen Christen, die predigend in Fernsehkameras greinen, damit die Leute ihnen Geld schicken. Er faltete die Hände und legte sein spitzes Kinn auf die Fingerspitzen. Er seufzte seinen besten Weltschmerzseufzer. 90
»Vielleicht sind Sie sich darüber im klaren«, sagte er, »daß die Stadt beträchtliche Mühe – und Ausgaben – in diese Ermittlung investiert. Ich persönlich habe sie eingeleitet. Ich bin für ihren Erfolg verantwortlich. Ich muß einfach wissen, wie es meinem Spitzenagenten geht.« »Das habe ich Ihnen bereits gesagt«, sagte ich. »Und Sergeant Dodd hat ihn bereits zweimal gesehen seit der Überdosis. Warum fragen Sie da mich?« »Sie sind doch sein Verhältnis, oder nicht? Sie sind jeden Tag mit ihm zusammen. Sie kennen ihn.« Jims Verhältnis. Das also war ich für Nettle. »Ich nehme an, man könnte es so ausdrücken«, antwortete ich ihm. »Oder Sie könnten auch sagen, wir sind verlobt, oder fast. Jedenfalls bin ich deswegen hier. Nicht als Babysitter.« »Das verlange ich auch nicht von Ihnen. Sie haben Erfahrung. Ich frage Sie nach Ihrer Meinung.« »Meiner Meinung nach braucht er nicht nur eine Pause, man muß ihn aus dem Verkehr ziehen. Schauen Sie sich seine Berichte an. In den letzten zwei Wochen hat er vielleicht gerade einen Kauf getätigt. Sie sollten die Sache sofort abblasen und mit dem zufrieden sein, was Sie haben.« Er rückte sich seinen Stuhl zurecht, legte die Beine übereinander und hängte einen Ellenbogen über die geschnitzte Lehne. »Das ist unmöglich«, sagte er. »Wir haben es nämlich auf eine bestimmte Person abgesehen. Wie es aussieht, ist Jim bisher noch nicht mal in die Nähe des Mannes gekommen.« »Gaines.« »Er ist Ihnen also ein Begriff.« »Nicht unbedingt«, sagte ich. »Er soll angeblich irgendwie im Pornogeschäft mitmischen, soviel ich weiß.« »Das ist das mindeste. Er besitzt vier Nachtlokale, zwei hier, zwei in Houston. Das Fitneßcenter draußen bei China gehört 91
ihm, und dann hat er noch zwei Gebrauchtwagenhandlungen am Stadtrand. Kennen Sie Lovelace, das Miederwarengeschäft?« »Frederick's of Hollywood auf Westernart. Ja, hab ich gesehen.« »Das gehört auch ihm.« »Wenn Sie mich fragen, Herr Präsident, hört sich das alles nicht gerade himmelschreiend illegal an.« »Alles nur Fassade.« Er zog ein Blatt Papier aus der Innentasche seines Jacketts, faltete es sorgfältig auseinander und las vor. »Ich habe hier seinen Eintrag beim KPMD. Zweimal tätlicher Angriff, dreimal Zurschaustellung obszönen Materials, zweimal Widerstand gegen die Staatsgewalt, Trunkenheit am Steuer.« Er faltete das Papier wieder zusammen und schob es sauber zurück in seine Tasche. »Keine Verurteilung. Darüber hinaus wissen wir von den Kollegen in Lubbock, daß einige ›polizeibekannte Geschäftspartner‹ von ihm Verdächtige in zwei Mordfällen sind. Einer drüben in New Mexico, einer hier in Texas.« »Wie lange ist das her?« »Der letzte? Etwa anderthalb Jahre, April siebenundsiebzig.« »Na ja, wenn die ihre Beweise bis heute nicht beisammen haben, dann werden sie sie auch nicht mehr zusammenkriegen.« »Sie sind nah drangewesen, wirklich nah. Die Opfer haben für X-tra Special Video gearbeitet, auch eine seiner Firmen, und wurden beide in der Wüste gefunden, mit einer Kugel im Kopf, Kaliber .375, Einschuß im Hinterkopf. Beiden hatte man den Ring- und den kleinen Finger der linken Hand gebrochen.« »Üble Sache.« »Jede verdammte Behörde in diesem Bezirk bis hinunter zum Konstableramt ist scharf auf diesen Will Gaines. Und ich sagte, ich könnte ihn liefern. Ich habe mich bei einer Sitzung der Sonderkommission hingestellt und gesagt, ich hätte einen verdeckten Ermittler eingesetzt. Und dieser Mann bleibt im Untergrund, 92
bis diese Ermittlung erfolgreich abgeschlossen ist. Es hängt eine ganze Menge davon ab.« So wie ich die Sache sah, stand vor allem Nettles Bestätigung als Polizeipräsident auf dem Spiel. Er war drei Jahre lang Stellvertreter des Präsidenten gewesen, bis sein Boß von der Bildfläche verschwand. Jeder hier wußte, daß Polizeipräsident Duane Anderson eines Abends nach Hause gekommen war, besoffen wie gewöhnlich, und obendrein mit einer derart miesen Laune, daß er seine Frau umzubringen drohte. Seine vierjährigen Zwillinge saßen mit ihren leuchtend bunten Bauklötzchen auf dem Boden, während Anderson seinen Gefühlen Luft machte. Dann sahen sie zu, wie er über das frühamerikanische Sofa stolpernd zur Verandatür hinauswankte, um die MAC 10 zu holen, die er unter dem Vordersitz des Wagens hatte. Als er wieder durch die Schiebetür kam, gab seine Frau einen Schuß aus der 357er ab, die er ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. Sie erwischte ihn am linken Auge, und der lautstarke Alkoholiker hauchte noch auf dem Wohnzimmerboden sein Leben aus. Die Geschworenen kamen zu dem Schluß, daß Mrs. Andersons Berufung auf Notwehr Hand und Fuß hatte. Nettle, als Vize, wurde daraufhin zum Interimspräsidenten ernannt, und es gab hier keinen, der nicht gewußt hätte, daß er sich nichts sehnlicher wünschte, als auf diesem Posten zu bleiben. »Schauen Sie«, sagte Nettle, »warum auch immer Sie hierher gezogen sind, wichtig ist, daß Sie Jim zur Hand gehen können. Er hat mir selbst gesagt, daß er Sie gern in der Mannschaft hätte.« »Ich tue ohnehin, was ich kann«, sagte ich. »Ich bin für ihn da. Aber eigentlich will ich wieder auf die Uni.« »Und wenn ich Ihnen sagen würde, daß Sie studieren und gleichzeitig für uns arbeiten könnten? Und kündigen, wenn 93
diese Geschichte vorbei ist? Glauben Sie wirklich, daß Menschen wie Gaines frei herumlaufen sollten?« »Natürlich nicht«, sagte ich. »Na schön. Tragen wir gegen ihn eine Anklage wegen Pornographie zusammen, und er kriegt ein paar Jahre. Wenn wir überhaupt soviel Glück haben, daß man ihn uns verurteilt. Aber wenn Sie und Jim dem Mann Kokain abkaufen, können wir ihn für lange, lange Zeit wegschließen.« »Jim geht es nicht gut.« Ich versuchte es wenigstens. »Er braucht eine Pause.« »Genesis zwei, Vers achtzehn«, sagte er. »Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei. Ich stelle ihm einen Helfer an die Seite, der zu ihm paßt.« »Amen«, antwortete ich. »Was heißt das konkret?« »Jim braucht Sie. Ich möchte, daß Sie bei uns einsteigen.« »Wie soll das aussehen? Ich mache bei dieser einen Sache mit und steige aus, wann immer ich will?« »Wenn wir das Beweismaterial beisammen haben. Wenn Sie dann immer noch gehen wollen. Jederzeit. Kein Haken.« Er rückte seinen Stuhl wieder herum und beugte sich über den Tisch in meine Richtung. Er hatte winzige graue Augen. »Aber wissen Sie, unsere kleine Stadt hier ist gar nicht so übel. Ein großartiges Fleckchen Erde, um Kinder großzuziehen. Und wir wollen, daß es so bleibt.« Er lächelte. »Jim sagte mir, Sie sind Läuferin.« »Früher mal.« »Tja, sehen Sie, Beaumont ist der Geburtsort einer sehr berühmten Sportlerin. Sie haben doch sicher von Babe Didrikson gehört. Und Sie können mir nicht sagen, daß unsere Gegend nicht wunderschön ist.« »Ich bin nicht wegen der schönen Gegend hier.« »Verstehen Sie mich richtig«, sagte er. »Ich schreibe Ihnen eine 94
Empfehlung, mit der Sie jede Arbeit kriegen, die Sie haben wollen. Ich habe Freunde an der Universität. Das Studium könnte ein Klacks für Sie sein, ein bißchen Papierkram, weiter nichts. Ich kann da so einiges bewegen.« Er zupfte an seinem Revers herum und rieb dann mit gerunzelter Stirn den Daumen gegen den Zeigefinger. »Und Sie könnten bei dieser Ermittlung wirklich das Tüpfelchen auf dem i sein. Sie könnten uns helfen, diesen Kerl von der Straße zu schaffen.« Das war die eine Seite. Die andere waren die Willy Reds dieser Welt. Sollte ich mich tatsächlich dazu entschließen, na ja, diesmal wußte ich wenigstens, wo's langging. Ich dachte, ich hätte kapiert, was Ermessen bedeutete. Ich dachte, ich könnte nicht nur gute Arbeit leisten, sondern auch ganz allgemein was Gutes tun. Und ich würde Jims Partner sein. An den Rest der Geschichte wollte ich nicht denken; ich wollte glauben, daß ich mein Gleichgewicht bewahren konnte. Daß ich in den Untergrund gehen und Beweismaterial zusammentragen, daß ich das Opfer bringen konnte, um dann wieder aufzutauchen und so mir nichts dir nichts clean dazustehen. Ich stellte mir das Ganze als Mordsspaß vor. Ich wußte nicht so recht, was ich eigentlich beweisen wollte. »Sagen Sie ja oder nein«, sagte Nettle. »Wie auch immer Sie sich entscheiden, Jim ermittelt verdeckt weiter, bis die Arbeit getan ist. Das ist alles, was es dazu zu sagen gibt.« Er lehnte sich zurück und zog seinen Schlips noch enger um den Kragen. Ich saß einen Augenblick lang da und überlegte, ob es eine Möglichkeit gäbe, Jim zum Aufhören zu bewegen. Nicht die geringste. Er kannte schließlich nichts anderes. Er war Polizist. Er liebte seinen Beruf. Und zum Teil galt das auch für mich, ob ich es mir nun eingestehen wollte oder nicht. Hörte sich ganz so an, als wäre dieser Gaines ein großer Fisch. Das wäre doch was, was die Mühe lohnte. 95
»Na, was ist?« »Ich denke, ich bin dabei.« Er räusperte sich und preßte die Handflächen zusammen. »Wir müssen Sie natürlich der üblichen Einstellungsprozedur unterziehen. Sie können die Prüfung und den Hindernisparcours nächsten Mittwoch absolvieren, er ist draußen bei Pine am IH-10, am Ende der Happ Street. Seien Sie um zehn Uhr da. Gleich Donnerstagmorgen verschaffe ich Ihnen einen Termin bei der Prüfungskommission. Und einen Polygraphentest arrangiere ich auch. Sie brauchen sich keinerlei Sorgen zu machen. In Ihrem Fall ist das alles nur reine Formsache.« * Ich hatte bereits kurz die eine oder andere Dosis Sergeant Larry Dodd abgekriegt, seit ich nach Beaumont gezogen war, meist wenn Jim seine Beweismittel auf dem Präsidium ablieferte. Er war ein waschechter Südstaatler aus Arkansas; Nettle hatte ihn erst vor kurzem zum Chef des Sitten- und Rauschgiftdezernats ernannt. Nachdem er auf der Fahrt aus der Stadt zum drittenmal bei Rot über eine Kreuzung gedüst war, legte ich meinen Sicherheitsgurt an. Seine Stimme donnerte einem entgegen wie eine Abrißbirne. »Ich sage Ihnen«, brüllte er, den Motor übertönend, »ich hätte es schaffen können, aber es war nur einfach zu verdammt heiß, ich sage Ihnen, das Wasser kochte einem im Arsch. Nachdem sie mir drei Tage lang den Schwanz in den Dreck gerammelt hatten und ich unter dem Helm fast im Schweiß ersoffen wäre, habe ich mir gesagt, das reicht. Scheiß auf das Trainingslager. Scheiß auf die Houston Oilers. Das ist es einfach nicht wert. Seither bin ich bei der Polizei.« Groß genug, um in der Verteidigung zu spielen, war er ja, viel96
leicht auch im Sturm. Er hielt die Schultern über das Lenkrad gebeugt, und sein lockiges, hinterwäldlerblondes Haar berührte den Himmel unseres Dodge. Er stand auf dem Gaspedal, als wolle er es durchs Bodenblech treten. Dem Motor nach zu urteilen, würden wir entweder jeden Augenblick abheben oder in die Luft fliegen. »Eines Tages find ich schon noch raus«, sagte er, »warum ich auf der Welt bin. Ich hab nicht vor, meinen Lebtag in Beaumont herumzuhängen.« Wir fuhren satte hundertsechzig, und die braune Landschaft wischte nur so an uns vorbei, als ich neben der Straße das Blaulicht aus dem Graben spitzen sah. »Polizei!« rief ich. »Wassis?« »Zu spät. Autobahnpolizei, das Knöllchen ist uns sicher.« »Aaauuuu Schei-issse!« stöhnte er. Er drosch auf das Lenkrad ein und bremste den Wagen auf etwa sechzig herunter, während wir nach der Streife Ausschau hielten. Sie standen zirka einen halben Kilometer weiter vorn neben der Straße auf der Bankette. Einer der Uniformierten mühte sich mit einer riesigen schwarzen Frau ab, während sein Kollege, die Daumen unter das Koppel gehakt, dastand und sich vor Lachen schier kugeln wollte. Dodd fuhr an den Rand und hielt seine Dienstmarke vor sich, als er aus dem Wagen stieg. »Polizei!« rief er. »Aus Beaumont! Kann man euch Jungs vielleicht unter die Arme greifen?« Ich blieb sitzen und spürte den Wind am Wagen rütteln, bis mir Dodd Zeichen machte auszusteigen. Als ich öffnete, schnappte sich der Wind den Wagenschlag und riß ihn mir aus der Hand und gleich so weit auf, daß die Scharniere ächzten. Knirschenden Schritts ging ich über den Kies hinüber ins Unkraut, wo Dodd und der Staatspolizist mit der Frau standen. Sie war wirklich ein Schwergewicht, ich schätzte sie auf zwei97
hundertsechzig Pfund, und leicht einsachtzig groß. Handschellen hielten ihr die Arme hinter den Körper, ihre Hose hing ihr um die Knöchel. Sie trug einen riesigen weißen Schlüpfer, und selbst bei dem Wind, den wir hatten, roch ich ihre Schnapsfahne auf zwei Meter Entfernung. »Verdammt«, sagte Dodd, »die bläst euch glatt zwei Promille.« Der Wind drückte ihm die Haare an den Kopf. Er wütete derart, daß er mir den Atem aus der Lunge zu saugen schien. Ich lehnte mich dagegen, bis Dodd plötzlich einen Schlag antäuschte, dann mit der anderen Faust nach meinem Arm boxte, aber kurz davor abbremste. »Hilf denen mal aus. Gegen dich kann sie nicht wegen sexueller Belästigung klagen.« Ich bückte mich zu der Wulst aus rotkariertem Baumwollstoff um ihre Knöchel hinunter und zog ihr die Hose hoch; den Reißverschluß bekam ich beim besten Willen nicht zu. Ich hob dem Polizisten meine Handflächen entgegen. »Besser krieg ich's nicht hin.« »Danke«, lallte die Frau. Er zog sie hinüber zum Streifenwagen und faltete sie in den Rücksitz, dann knallte er die Tür zu. »Und ihr beiden macht etwas langsamer, klar?« »Klar doch«, sagte Dodd. Er fuhr den Wagen ein Stück mit sechzig, aber kaum hatte er ein paar kleine Hügel zwischen uns und die Radarfalle gebracht, trat er wieder drauf. »Wir kommen zu spät«, erklärte er. »Ich bin noch nicht mal bei der Polizei, und schon ziehe ich Besoffene an«, sagte ich. »Das ist wirklich das letzte, was mir fehlt.« »Ach, was soll's«, schrie Dodd, »sie hat schließlich nicht gekotzt oder was. Aber ich hab auch nicht gern mit Niggern zu tun.« 98
»Tun Sie mir einen Gefallen«, sagte ich. »Klar doch«, sagte er. »Schießen Sie los.« »Lassen Sie das in meiner Gegenwart.« »Was lassen?« Ich schloß die Augen und tat den Rest des Wegs bis Houston, als schlafe ich. * Die Einrichtung des Wartezimmers war sicher irgendwann mal der letzte Schrei gewesen. Der Boden war mit schmutzigbeigem Linoleum ausgelegt, dazu gab es ein paar Stühle aus Chrom und weißem Kunstleder und einige uralte Magazine auf einem Chromstahl-Couchtisch voller Rostflecke. Die Zeitschriften waren fast durchweg alte Nummern von Polizeiarbeit heute. Schließlich kam der Prüfer heraus. Er war klein und rund und schien in kleinen Schüben zu gehen, in kurzen Spurts mit vielen kleinen Schritten. »Cates!« sagte er und führte mich in einen ankleidezimmergroßen weißen Raum mit einem kleinen Schreibtisch und zwei Stühlen in der Mitte. Der Lügendetektor stand geöffnet auf dem Tisch, die Drähte für den Anschluß an den Schreibmechanismus baumelten über die Lehne eines der Stühle. Er schenkte sich die vorbereitenden Fragen, mit denen die meisten Prüfer ihren Prüflingen die Wahrheit zu entlocken versuchen. Ich setzte mich, und sofort schnallte er mir die Ausrüstung um: eine Blutdruckmanschette um den linken Bizeps, einen wie ein Akkordeon gefalteten Plastikschlauch um den Brustkorb und metallene Plänchen mit Klettverschluß um Zeige- und Mittelfinger meiner linken Hand. Er drückte auf einen Wandschalter, und das große Licht ging aus, nur noch ein orangefarbener Schein blieb im Raum; ich kam 99
mir vor wie in der Dunkelkammer eines Fotografen. »Bleiben Sie bitte ganz ruhig sitzen, und schauen Sie geradeaus nach vorn«, sagte er. Er sprach leise, aber sein Ton hatte etwas Fades, Quengelndes. Ich hatte eine Vision: Ich beantwortete die erste Frage, und die Nadeln schleuderten ihre Tinte rundum an die Wände. »Entspannen Sie sich jetzt.« Er brachte einige Knöpfe in die richtige Position. Als ich meinen ersten Polygraphentest absolviert hatte, damals für die Polizei in Pasadena, war ich in das Zimmer gekommen und hatte geglaubt, die Maschine könne meine Gedanken lesen. Aber das war damals. »Der Test beginnt in drei Minuten«, sagte er. Er justierte sein Gerät weiter. Ich suchte mir eine weiße Farbblase an der Mauer vor mir und konzentrierte mich darauf. Was anderes gab es hier nicht. Nur eine kleine Farbblase an der Wand. Es gab nur noch das Jetzt, diese Minute, diesen einen winzigkleinen Augenblick meiner Existenz und den kaum wahrnehmbaren Splitter eines grauen Schattens, den eine kleine Farbblase an der Wand im orangefarbenen Licht unseres Raumes warf. »Antworten Sie bitte mit ja oder nein«, sagte der Prüfer. Er berührte einen Knopf. »Heißen Sie mit Vornamen Kristen?« Eine Kontrollfrage. Meine Reaktionen auf die anderen Fragen, die eigentlichen Fragen, würden an meinen Reaktionen an dieser gemessen werden. Ich dachte an den Tag, an dem ich in die Küche des Selbstmörders gekommen war, wie hieß er doch gleich wieder, Todd, ja. Todd, dessen Hirn an seinem Kühlschrank klebte. Ich mußte ein paar Neutronen aufscheuchen, eine möglichst starke Reaktion auf die Frage zusammenkriegen, damit bei den Fragen über Drogen der Unterschied in den Ausschlägen der Tintenkurven auf dem Millimeterpapier nicht so 100
offensichtlich wäre. »Ja«, sagte ich. In Wirklichkeit heiße ich Kristen. Ich fragte mich, ob ich log. Gegen Ende fragte er mich noch die Standardfrage, ob ich hinter der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika stünde, und schloß dann mit der großen Fangfrage. »Haben Sie sich je etwas zuschulden kommen lassen, das gemäß den Gesetzen des Staates Texas und der Vereinigten Staaten von Amerika ein Verbrechen darstellt?« Er sprach »Amerika« genauso aus, wie Lyndon Baines [Johnson] es immer ausgesprochen haue: »aMÖRka.« »Nein«, sagte ich und glaubte es auch. * Dodd saß da und las in einem der Hefte, während wir auf die Ergebnisse warteten. Schließlich kam der Prüfer herausgeschusselt, in der einen Hand eine Zigarre, mit der anderen schleifte er zirka drei Meter Millimeterpapier hinter sich her. Er stupste mit dem matschigen Ende der Zigarre gegen das Papier und zog die Brauen hoch, bis er aussah wie ein Eichhörnchen mit einem Maul voller Pecannüsse. »Irgendwas ist da faul«, sagte er entschieden. Dodd machte große Augen. Erst starrte er den Prüfer an, dann mich. Das Gesicht des Prüfers zerfiel in ein schiefes Grinsen, er paffte an seiner Zigarre, dann kam ihm ein krächzender Laut aus dem Hals. »Hol's der Deibel«, sagte er, »mit einer derart weißen Weste kann sie unmöglich zwei Jahre bei der Polizei gewesen sein. Sie hat ihrer Lebtag nichts, aber auch rein gar nichts angestellt.« Dodd lächelte mich an und sagte: »Uffff! Einen Augenblick lang hab ich gedacht, wir kriegen Schwierigkeiten. Tja, Mädel, 101
dann gratuliere ich! Willkommen bei der Stadtpolizei von Beaumont!« * Später am Abend desselben Tages stand ich in Dodds Küche und wartete darauf, daß er endlich den Papierkram aus seiner Aktenmappe holte. Bis auf eine kleine Lampe über dem Gasherd war es im ganzen Haus dunkel. Der Herd war hellgrün wie der Kühlschrank, der Geschirrspüler und das Spülbecken. Schließlich und endlich brachte er die Papiere zum Vorschein. Er wandte sich mir zu und hob die rechte Hand. Er war wirklich groß. Vielleicht doch ein Verteidiger. »Heben Sie die rechte Hand«, sagte er. Ich sah ihn an. »Ach, scheiß drauf«, sagte er. »Wozu der ganze Zirkus. Kraft des mir von den Arschlöchern, die in dieser Stadt das Sagen haben, übertragenen Amtes, ernenne ich Sie hiermit zum Polizeibeamten der Stadt Beaumont im Jefferson County unseres großartigen Staates Texas. Greifen Sie durch, daß die Fetzen fliegen. Amen.« Er legte die Papiere auf den Küchentisch. »Unterschreiben Sie hier«, sagte er und deutete darauf. Er zog ein weiteres Formblatt aus der Tasche und sagte: »Suchen Sie sich einen Decknamen aus.« »Jim hat mich den Leuten als Florence vorgestellt«, sagte ich. »Was zum Teufel soll 'n das für 'n Name sein?« »Ein angenommener.« »Was?« »Es ist ein Name«, sagte ich. »Man kennt mich schon als Flo. Kein Mensch würde auf den Gedanken kommen, daß sich ein Bulle einen solchen Namen aussucht, oder?« »Da können Sie Gift drauf nehmen. Und wie soll ihr Nachname aussehen – Nightingale?« 102
»Wright«, sagte ich. »Nix da. Kommt überhaupt nicht in Frage.« »W-r-i-g-h-t. Wright.« »Alles klar«, sagte er und nickte dämlich, während er etwas auf die Vorderseite des Formblatts vor ihm kritzelte. »Okay, Florence Wright.« Er schüttelte den Kopf. »Großer Gott im Himmel! Damit gehen Sie morgen zur Sicherheitsabteilung, die geben Ihnen einen Führerschein auf Ihren neuen Namen. Und bevor ich's vergesse, es geht mich natürlich nichts an, ob Sie bisher mit Jim zusammen gewohnt haben. Alles, was mich interessiert, ist, daß Sie ab sofort eine eigene Bleibe haben. Also suchen Sie sich eine Wohnung. Und wie gesagt, greifen Sie da draußen ordentlich durch. Wir wollen Anzeigen.« * Auf dem Weg die Auffahrt zu Jims Wohnung hinauf sah ich mir die Pinien rund um den Parkplatz an und atmete ihren kalten, klaren Duft ein. Ich fragte mich, auf was ich mich da nur wieder eingelassen hatte. Jim sagte immer: »Was rundum geht, kommt wieder.« Als ich die stille Auffahrt hinaufging, konnte ich mich des Gefühls nicht erwehren, daß das, was da wiederkommen würde, womöglich einen ganz gewaltigen Zahn draufhaben würde. Ich lachte mich aus und versuchte das Gefühl abzuschütteln. Du reagierst viel zu emotional, sagte ich mir. Alles nur ein Gefühl. Der Nachmittagswind war zu einer nächtlichen Brise geworden, und ich lauschte auf das Knarren der Pinien und kämpfte dagegen an, mir das hexenhafte Geflüster der Geister vorzustellen, die dort irgendwo in den Zweigen hockten. Aber hier war alles so anders, als hinkte man der Zeit fünfzig Jahre hinterher. Die Rassen blieben hübsch getrennt. Ein Mann arbeitete schwer, spielte um hohe Einsätze und kümmerte sich um 103
seine Familie. Falls er Samstagabend mit den Jungs einen über den Durst trank und dabei ein paar Fenster zu Bruch gingen, tja, das gehörte nun mal dazu. Seine Frau versuchte dann alles wieder gradezubiegen – bis zum nächstenmal. Und dann versuchte sie's eben wieder. Beaumont. Am äußeren Rand von Osttexas, hart an der Grenze des Big-Thickets-Nationalparks. Die Einheimischen hier sahen ständig UFOs, und draußen in den Pinienwäldern liefen ihnen Außerirdische über den Weg.
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Kapitel Sechs Ich hätte zuhören sollen. Ich hätte auf das Flüstern in mir hören sollen, auf dieses »Paß bloß auf«, das irgendwo aus der Gegend meiner Schädelbasis kam. Ich brachte die Stimme zum Schweigen, befahl ihr, den Mund zu halten, zu verschwinden, mich in Ruhe zu lassen. Ich war fest entschlossen zu wissen, was ich tat. * Jim schlief, als ich von der mitternächtlichen Vereidigungszeremonie bei Dodd nach Hause kam. Als ich aus den Kleidern schlüpfte und neben ihn ins Bett kroch, rollte er sich auf die Seite und zog mich an sich, sein Körper warm unter der Decke. »Bist du jetzt bei der Polizei?« fragte er schläfrig. »Kannst mich Wachtmeister nennen«, sagte ich. »Ich liebe dich«, flüsterte er, und ich drehte mich um, um mein Gesicht gegen seine Brust zu drücken. Der Geruch seiner Haut vermischte sich mit dem frischen Laken, als er mich umschlang und mir beim Einschlafen half. In meinem Traum lag ich nackt auf einem verschneiten Feld, nur daß es überhaupt nicht kalt war. Um mich herum schwebte der Schnee wie Musik; er war vom reinsten Weiß, und auf meiner Haut schmolz er warm dahin; er umgab mich, bedeckte mich, und dann hatte ich plötzlich Eis auf meiner Brust. Schlagartig war ich wach. Als ich die Augen öffnete, sah ich Jims Hand; sie drückte mir ein kaltes Glas mitten auf die Brust. »Du bist grausam«, sagte ich. Er lachte. 105
»Ein Becher zur Feier des Tages«, grinste er. Ich setzte mich auf, hellwach jetzt, und sah, daß das Schlafzimmerfenster immer noch dunkel war. Er reichte mir das Glas und hob das seine zum Toast. »Auf meinen Partner«, sagte er. »Trinkt kräftig, und macht euch bereit zur Schlacht.« Eiskalt explodierte der Champagner mir im Hals, Jim trank den seinen in einem einzigen langen Zug hinunter. Ich versuchte mit ihm Schritt zu halten. Dann gab er mir eine entkorkte und schwitzende grüne Flasche. Er griff nach einer zweiten Flasche, preßte den Daumen auf die Öffnung und begann sie zu schütteln, wobei er mich anstarrte, als wäre ich eine Zielscheibe. Ich sprang auf und lief davon, konnte mich aber nirgendwo verstecken, und er erwischte mich mitten auf dem Rücken, als ich eben die Schlafzimmertür erreicht hatte. Ich wischte um die Ecke und drückte mich gegen die Wand, lachte und schüttelte wütend meine Flasche, und als er in der Hocke ins Wohnzimmer gewatschelt kam, kriegte er eine volle Breitseite. Mit einemmal rangen wir miteinander, die Flaschen lagen irgendwo auf dem Boden. Wir waren glitschig und naß vom Champagner, er pinnte mir die Arme gegen die Wand, kerzengerade nach oben, und beugte sich herunter und begann mir den Hals zu küssen, leckte wie toll den Champagner von meiner Haut, drückte dann ruhig und mich weiter küssend mit kreisenden Bewegungen seine Brust gegen die meine, führte meine Hände, wickelte sich meine Arme um seinen Hals, zog mich an sich und schleppte uns beide zur Couch und begann ganz langsam, tief, mit einer Zärtlichkeit, von der ich gar nicht gewußt hatte, daß er sie besaß. Jemand klopfte laut hämmernd gegen die Tür. Ich war schon halb durchs Schlafzimmer, noch bevor ich aufwachte und herumschusselnd nach irgendwas zum Anziehen suchte. Draußen war es immer noch dunkel oder zumindest grau vom dämmern106
den Morgen. Ich fand mich nicht zurecht, ich hatte keine Ahnung, wie spät es war oder wie lange wir geschlafen hatten. Ich warf Jim seine Jeans zu, und er stieg auf dem Weg zur Tür hinein, während ich die Bettwäsche nach meiner Pistole durchwühlte. Ich hörte, wie die Tür aufging, und lauschte auf Gefahrensignale in Jims Stimme. Ich konnte keine feststellen. Ich verstaute die Waffe wieder unter meinem Kissen, kriegte mich wieder ein und suchte mir was zum Anziehen. Als ich ins Wohnzimmer ging, klebte mir wegen des eingetrockneten Champagners das Hemd auf dem Rücken. Jim saß auf der Couch und rauchte mit einem Nachbarn einen Joint. »Flo«, sagte er, »darf ich dir Walker vorstellen.« Walker stand auf, schüttelte sich das hellbraune Haar aus den Augen und nickte mir zu. Er war groß und stämmig, trug ein Blues-Brothers-T-Shirt und verwaschene Jeans. »Ich habe Sie schon gesehen«, sagte er. »Ich wollte Sie letzte Woche schon fragen, ob ich Ihnen nicht mit den Einkaufstüten helfen kann, aber…« Er zuckte mit den Achseln und setzte sich wieder. Er hatte eine tiefe, leise Stimme voller schüchterner, altmodischer Cowboyhöflichkeit. Seine schwarzen Arbeitsstiefel hatten Stahleinlagen an den Spitzen und waren mit rotem Lehm verkrustet; er hatte die typische Winterbräune eines Mannes, der im Freien arbeitet. »Weißt du noch, der Blaue Hawaiianer letzte Woche?« fragte mich Jim, »den hatte ich von dem Knaben hier.« »Prima Stoff«, sagte ich. Walker nickte wieder. »Wir haben heute schon mittags Feierabend gemacht, wegen dem Regen«, sagte er. »Ich krieg noch mehr rein und wollte nur mal schnell vorbeischaun, ob ihr Interesse habt.« »Aber immer«, sagte Jim. Er reichte mir den Joint. Mir fiel auf, daß Walker mich sorgfältig beobachtete, als ich einen Zug tat. 107
»Wie spät ist es denn eigentlich?« fragte ich. »Kurz vor drei«, sagte Walker. »Tut mir leid, daß ich Sie aufgeweckt habe.« Ich trat ans Fenster und zog die Vorhänge zurück. »Kein Problem«, sagte ich. »Für gewöhnlich schlafe ich auch nicht den ganzen Tag, aber ich bin heute nacht um vier in einen Champagnerhinterhalt geraten.« Ich spürte, daß Jim in meine Richtung lächelte. »Das ist ja stockfinster da draußen.« Die Wolken waren blaugrau, wie der Dotter eines viel zu hart gekochten Eies, und schienen nur wenige Meter über den Dächern zu hängen. Alles war naß, das Wasser tropfte rhythmisch von den Zweigen der dunkelgrünen Pinien im Hof. »Na ja, schifft ja auch schon fast eine geschlagene Stunde lang wie 'ne Kuh auf 'n flachen Stein«, sagte Walker. »Ich versteh überhaupt nicht, wie da einer schlafen konnte. Bei dem Gedonner und überhaupt.« Als ich mich vom Fenster abwandte, fiel ich fast über eine leere Champagnerflasche. Ich hob sie auf und zielte damit auf Jim. »Sei gewarnt«, sagte ich. »Der Angriff kommt, wenn du's am wenigsten erwartest.« Walker legte einen Joint auf den Tisch und stand auf. »Na, dann macht mal weiter, bei was auch immer ich euch gestört habe. Wieviel wollt ihr denn haben?« »Ein Viertelpfund würde es wohl für den Augenblick tun«, sagte Jim. »Du hast nicht zufällig was von dem anderen Zeug, oder?« »Weißling?« fragte Walker. »Krieg ich mit dem Hawaiianer rein. Interessiert?« »Wie ein Falke an einem Junikäfer«, sagte Jim. Ein paar Minuten, nachdem Walker gegangen war, begann es wieder zu regnen; schwer und beständig trommelten die Tropfen auf die hölzernen Schindeln, um dann in wahren Wänden über die Traufe hinaus und am Fenster vorbeizuschießen. 108
»Sieht kalt aus draußen«, sagte Jim. Er stand auf und schaltete den Fernseher an, ließ aber den Ton aus und machte dafür die Anlage an. Ein schwarzweißer John Wayne spähte durchs Gebüsch auf einen Kreis junger Burschen, die lachend eine Flasche kreisen ließen; dazu gab es Eric Clapton. Wir setzten uns auf die Couch, und Jim nahm den Joint, den Walker dagelassen hatte. »Pusher hin, Pusher her«, sagte er, »dafür, daß er solches Wahnsinnsgras hat, verdient der Bursche wirklich eine Chance.« »Versuch das mal dem Staatsanwalt zu verklickern«, sagte ich. »Würde wahrscheinlich selbst 'n Pfund wollen. Trotzdem, ich finde, eine Bewährung sollte doch wirklich jeder gut haben.« »Wach auf. Der Typ ja. Aber alle? Kommt nicht in die Tüte.« »Ich habe ihn von Dodd überprüfen lassen. Keine Vorstrafen.« »Technisch gesehen hat dieser Witzbold Gaines auch keine Vorstrafen. Bei Null Verurteilungen.« »Rob hat einen Spitzel in Houston, der sagt, Gaines hat als Rausschmeißer in Atlantic City angefangen. Fat Willy haben sie ihn dort genannt. Der Typ ist zwei Meter fünf, wiegt gut zweihundertzehn Pfund und hat in ganz New Jersey damit geprotzt, die zehn baumelten in seiner Hose.« »Ein leibhaftiger Märchenprinz.« »Kannst du laut sagen. Fat Willy. Großer Gott. Der Spitzel meint, er hätte mit eigenen Augen gesehen, wie er eines Abends aus irgend so einem halben Hemd von einem Kartengeber Hackfleisch gemacht hat. Er hat den Knaben raus auf den Parkplatz hinter dem Kasino getragen, ihm fast sämtliche Zähne ausgeschlagen und ist ihm dann auf die Brust gesprungen, bis er die Rippen krachen hörte.« »Hört sich nicht gerade an wie die Art von Mensch, die auf ein Täßchen Tee und Mitleid reagiert.« »Das einzige, was der kapiert, ist eine Kanone unter der Nase. 109
Aber wir müssen uns was anderes ausdenken.« »Knobel du das aus«, sagte ich. Jim guckte auf den Fernseher. »John Wayne, und der Tag ist gerettet«, sagte er. »Ich bin mit diesem Scheiß aufgewachsen und habe dran geglaubt.« * Im Drillers Club dröhnte Heavy Metal aus den Lautsprechern, und das in einer Lautstärke, daß mir die Magenwände klapperten. Am hinteren Ende des den ganzen Raum durchziehenden Tresens stand eine kleine Ölpumpe, die einem im Tausch für ein paar Vierteldollar Bier in den Becher spritzte. Walker lehnte daneben und unterhielt sich mit einem Typ, der aussah wie Charles Manson. Jim und ich hatten einen Tisch in der Nähe der rückwärtigen Wand und warteten darauf zu sehen, ob Gaines sich blicken ließ. Er tauchte immer in irgendeinem seiner Lokale auf, sondierte die ortsansässigen Schönheiten, und kaum war einer seiner Stinger verdunstet, bestellte er sich auch schon den nächsten. Er war ein Hüne, knapp an der Fettgrenze, schien aber ziemlich solide gebaut. Er war tatsächlich zwei Meter fünf, mindestens zwei Meter fünf, sein dickes blondes Haar reichte ihm bis zu den Ohrläppchen, und die breiten Koteletten waren bereits gelblichgrau. Er hatte die Visage eines Schwergewichtlers, den man einmal zu oft auf die Bretter geschickt hatte. Seine Nase war total zermanscht. Tag für Tag machten Jim und ich abends die Runde, bis wir ihn gefunden hatten. Wir müßten uns von ihm sehen lassen, erklärte Jim. Es sei nötig, daß wir zu den »Stammkunden« gehörten. Nach dem Drillers war Ace's and Ate's an der Reihe, wo wir dasaßen, Gimlets süffelnd Backgammon spielten und die Discomusik zu ignorieren versuchten. Unser letzter Stopp war The 110
Yellow Rose; dort tranken wir Lone Star und schauten den Tänzern zu, die den Abend im Two-Step durchbrachten. Das Ganze endete jede Nacht mit einer Country & Western-Version der Ouvertüre zu Wilhelm Teil. Sie begann langsam, wurde mit jeder Strophe schneller, bis die Körper schließlich völlig außer Rand und Band über die Tanzfläche wirbelten, während die bunten Lichter über ihnen wie rasend zum Takt der Musik blitzten. Jim beugte sich zu mir herüber und sagte mir etwas direkt ins Ohr. »Vielleicht sollten wir uns verziehen, woanders nachschauen.« »Ist doch noch früh«, sagte ich. »Geben wir ihm noch ein paar Minuten.« Es war noch nicht mal zehn; es würde also noch eine gute Stunde dauern, bevor die rauhbeinigen Bohrleute betrunken genug wären, um ihr Bier durch die Gegend zu schütten und einander die Billardqueues über den Buckel zu ziehen. Ich ging in den mit »Stuten« gekennzeichneten Raum, und als ich zurückkam, kam eben Gaines durchs Lokal geschlendert, begrüßte hier und da einen Kunden und rieb sich mit einer seiner großen Pranken den Bauch. Er trug einen blauen Pullover mit V-Ausschnitt und graue Freizeithosen. Als er an unserem Tisch vorbeikam, knallte er Jim eine seiner mächtigen Hände auf die Schulter und sagte: »Wie geht's denn so, Mann?« Er lächelte mir zu und ging auf sein Büro zu, blieb aber erst noch einen Augenblick am Tresen stehen und wechselte ein paar Worte mit einem Rockerduo. Er hatte leise gesprochen, emotionslos und monoton. Er hatte noch nicht mal auf Jims Antwort gewartet. »Der Typ traut uns nicht über den Weg«, sagte Jim und beugte sich herüber, um mir zuzuflüstern: »Das hier war der Judaskuß für seine Leute. Ganz hinten an der Bar.« 111
Ich sah mich langsam um und musterte die Kerle, denen Gaines zugenickt hatte. Der eine von ihnen war ziemlich schmächtig und hatte schlohweißes Haar, das ihm bis auf die Mitte des Rückens hing. Kein Härchen im Gesicht. Nicht mal Augenbrauen. Der andere war größer und trug einen Fu Manchu. Beide trugen sie Rockerkluft – Lederhosen, Lederjacken, Stiefel. »Vielleicht sollte ich mal Nachschub besorgen«, sagte ich. »Walker hallo sagen und mir die beiden aus der Nähe anschauen.« »Mach mal«, sagte Jim. »Wenn wir jetzt gehen, dann weiß Gaines auf jeden Fall, daß wir von der Schmiere sind.« Der Mann, der sich mit Walker unterhielt, sah, daß ich zu ihnen rüberkam; er sagte noch was zu ihm und verzog sich in Richtung Herrentoilette. Ich nahm einen Becher vom Tresen und warf ein paar Vierteldollar in die Pumpanlage. »Sie wissen ja wohl, daß da Lone Star rauskommt«, meinte Walker lächelnd. »Ich würde lieber Schafsdesinfektionsmittel trinken.« »Ein bißchen Schnee wäre mir auch lieber«, sagte ich. »Sie haben sich ganz schön rar gemacht.« »Kleine Verzögerung«, sagte er. »In ein paar Tagen ist er da. Das andere habe ich morgen. Wenn Sie Lust haben, kommen Sie doch vorbei. Nach sechs bin ich daheim.« »Dann bis morgen«, sagte ich. Die beiden Halbstarken standen gerade einen Meter von mir entfernt, und als ich mich von der Bar abwandte, hatte ich den Eindruck, der mit dem weißen Haar hätte mir zugezwinkert. Jim hatte seinen Margarita halb geleert, als ich mit den Bieren zurückkam. »So durstig?« fragte ich. »Ich habe für später noch einen Deal angeleiert. Die rothaarige Kellnerin da drüben. Speed.« 112
»Die reinste Sumpfralle«, sagte ich. »Hast du denn überhaupt keine Skrupel?« Die Frau war ein wandelndes Skelett in hautengen schwarzen Stretchhosen, ihre Haut war fast gelb, das Haar gefärbt, im Farbton einer angefaulten Tangerine. »Wenn sie zu haben ist, ist das ihr Problem. Ich habe nicht geflirtet.« »Sieht aus, als leide sie an Appetitlosigkeit.« »Was erwartest du von einem Speedfreak?« Nachdem der Club dichtgemacht hatte, fuhren wir eine Weile durch die Gegend, um der Kellnerin Zeit zu geben, nach Hause zu kommen. Es war fast eins, als wir dort ankamen. Der Wohnblock war gelinde gesagt schäbig. Er bestand aus einem einzigen zweistöckigen Gebäude, ein Holzbau, der dringend einen Anstrich nötig gehabt hätte. »Gib mir zwanzig Minuten«, sagte Jim. »Ich glaube nicht, daß es Ärger gibt.« »Nun wart mal«, sagte ich. »Ich soll nicht mit? Was soll denn das werden?« »Ich bin in Ordnung. Das hier übernehm ich.« »Keine Zeugen.« »Wenn ich in zwanzig Minuten nicht wieder draußen bin, kommst du mir nach.« Er zog eine Serviette aus der Tasche seines Jacketts, warf einen Blick darauf und stopfte sie wieder hinein. »Apartment 23«, sagte er. »He«, sagte ich. »Hör auf mich zu verarschen.« »Laß mich nur machen«, sagte er. »Ich find das nicht richtig.« »Sie hängt an der Nadel, kapierst du nicht? Du hast doch gesehen, wie das mit Willy Red gelaufen ist?« »Ja«, sagte ich. »Das hab ich. Und? Hab ich es vielleicht nicht gebracht oder was?« »Du hast das absolut spitze gebracht«, sagte er. »Genau das 113
macht mir ja angst.« Er schlängelte sich durch die geparkten Autos und stieg langsam die Treppe hinauf, warf einen weiteren Blick auf die Serviette, dann noch einen. Ich ließ den Motor laufen und die Heizung an. Zwanzig Minuten. Du bist stabil für 'n Mädel, Mann, ich weiß, du bringst das. Ganz genau. Was also hatte ich dann hier draußen im Wagen zu suchen? Der Teufel soll ihn holen. Ich stieg aus und setzte mich auf die Haube, die im Gegensatz zur kalten Luft der Novembernacht ganz warm war. Im Erdgeschoß zählte ich zehn ausgebleichte rote Türen in gleichen Abständen voneinander, zwischen ihnen auf jeder Seite eine Reihe Fenster. Aus einigen flackerte das blaue Licht von Fernsehern. Hinter einer der Türen explodierte die Stimme eines Mannes, dann die einer Frau, die zurückbrüllte. Ihre zornigen Laute zupften an meinem Magen. Ich fragte mich, wie weit sie wohl gehen würden, ob wohl Glas zu Bruch gehen würde oder ob es zum Schlagabtausch kam, aber es hörte sich nicht so an, als würde die Geschichte zu einem Fall für die Funkstreife ausarten. Ich hörte ihrem Geschrei an, daß sie lediglich Dampf abzulassen versuchten, ein Versuch, den Druck loszuwerden, der sich zwischen Paaren in aller Stille aufstaut, bis er entweder explodiert oder sie in die Tiefe zieht und die beiden so aneinanderdrückt, daß sie ohne den anderen zu atmen vergessen. Das Geschrei war ebenso abrupt vorbei, wie es begonnen hatte, und als Jim die Treppe herunterkam, waren seine Schritte auf den hölzernen Stufen weithin zu hören. * Sobald wir nach Hause gekommen waren, schrieb er seinen Bericht, malte seine Initialen auf die winzigen Plastikdreiecke 114
und versiegelte sie in einem großen braunen Kuvert. Er schrieb das Datum und die Zeit sowie seine Initialen über die Klappe, und zwar so, daß die Ziffern über die Klebenaht gingen; so konnte man sicher sein, daß das Ganze unbeschädigt ins Labor kam. Die Chemiker schlitzten so einen Umschlag oben auf, analysierten eine Probe und versiegelten ihn mit rotem Klebeband; zuletzt fügten sie noch ihre eigenen Initialen hinzu. »Du bist dran«, sagte Jim und reichte mir den Umschlag. »Ich habe den Kauf doch gar nicht gesehen«, sagte ich. »Du hast mich reingehen sehen, du hast gesehen, wie ich damit wieder rauskam. Und jetzt siehst du, wie ich das Ganze versiegle. Ich bezweifle sowieso, daß die Geschichte überhaupt zur Verhandlung kommt.« Ich nahm den Umschlag und fügte meine eigenen Initialen hinzu. Wenn er sich Speed gedrückt hatte, so konnte ich jedenfalls nichts feststellen. Er schien ruhig, ein bißchen high von dem, was wir den Abend über getrunken hatten, aber jedenfalls stand er nicht unter Strom. »Tja«, sagte ich, »da hat der mächtige Gaines heute abend also endlich den Mund aufgemacht.« »Wir müssen jetzt viel Geduld haben. Er ist nicht die Art von Mann, die man drängelt.« »Walker meinte, er hätte morgen was zu kiffen. Er meinte, ich sollte bei ihm vorbeischauen.« »Ich hab mir gedacht, wir sollten den kleinen Bankert umdrehen.« »Ich werd ihm mal auf den Zahn fühlen«, sagte ich. »Im Moment bin ich müde.« Er stand auf und streckte sich. »Ich denke, ich lese noch ein bißchen Zeitung, mal sehen, was so passiert.« Ich nahm den Umschlag. »Laß liegen«, sagte er. »Den verstau ich später.« 115
Ich war schon fast eingeschlafen, als ich hörte, wie er die Wohnungstür öffnete und leise von außen absperrte.
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Kapitel Sieben Tags darauf schlief ich fast bis eins, und als ich aufwachte, war Jim noch immer nicht wieder da. Auf dem Tisch lag eine Nachricht: Hatte noch was Geschäftliches zu erledigen, sehe Dich zum Abendessen. Ich rief einige Leute an und arrangierte ein paar Deals; den Rest des Nachmittags verbrachte ich damit, von einem Kanal auf den anderen zu schalten. Um sieben, ich war eben dabei, zu Walker zu gehen, kreuzte Jim dann auf. Er sah aus, als hätte er sechzig Kilometer auf einer miesen Straße hinter sich. »Wo soll's denn hingehen?« fragte er. »Zu Walker«, sagte ich. »Angeblich hat er was zu rauchen.« »Ich bin total erschossen, ich warte hier.« Er kickte seine Schuhe von den Füßen und ließ sich auf die Couch fallen. »Ich bin gestern nacht ein paar Straßenräubern über den Weg gelaufen«, sagte er. »Das waren vielleicht zwei traurige Säcke. Den einen haben sie erst gestern aus dem Bau gelassen. Sie meinten, sie würden bis Samstag Speed reinkriegen.« »Ich kann's gar nicht erwarten, sie kennenzulernen. Bin bald wieder da.« * Ich mußte mit der Faust gegen Walkers Tür hämmern. Seine Anlage nahm fast die ganze Nordwand des Wohnzimmers in Anspruch, und er hatte sie volle Kanne aufgedreht. Er hörte gerade KOKE, einen Sender aus Austin, auf diese Entfernung, 117
und das auf UKW; die Traffic spielten eben »The Low Spark of High-Heeled Boys«. Als ich mich setzte, plumpste er neben mich auf die Couch und baute uns, die Lippen zum Text bewegend, einen Joint. Als er fertig war, nahm er die Fernbedienung und dämpfte die Lautstärke. »Ist nicht der Hawaiianer«, sagte er, »ist aber trotzdem ziemlich ordentlich.« Ich steckte ihn an und gab ihn ihm zurück, und eine Weile rauchten wir schweigend vor uns hin. Irgendwie schien er mir fickrig, dauernd klopfte er mit dem Stiefel den Takt zu einer imaginären Melodie. »Ich glaube«, sagte er schließlich, »wir sollten uns mal über was unterhalten.« »Und das wäre?« fragte ich. »Ein paar von meinen Freunden und ich«, sagte er, »na ja, sie machen sich irgendwie Sorgen, wir machen uns Sorgen wegen deinem Freund.« Er warf einen Blick auf die Uhr, dann klopfte er mit einem Knöchel gegen das Glas. »Schrott«, murmelte er. »Kaputt?« »Nee, sie geht nur nach. Jeden Abend geht das Ding eine Dreiviertelstunde nach. Rolex – meine Fresse.« »Gib sie zurück«, sagte ich. »Kann ich nicht. Hat mir 'n Typ für was zu rauchen gegeben.« »Jemand, den ich kenne?« »Nee. Der hat sich dünne gemacht, ich find ihn nicht mehr. Ist auch egal.« »Also, was liegt an? Was habt ihr für 'n Problem?« »Ein paar von uns sind irgendwie, ah – na ja, ein paar von meinen Freunden meinen, Jim könnte 'n Bulle sein.« Er pickte ein Bröselchen Marihuana von seiner Zunge, wischte es an seine Jeans und hielt mir den Joint hin. 118
»Ich kenne Jim seit zehn Jahren«, log ich. »Deine Freunde sollten aufpassen, wen sie einen Bullen nennen.« »Ich sage ja nicht, daß er einer ist, bloß daß sich ein paar Leutchen so ihre Gedanken machen. Ich meine, er ist erst im Mai hierher gezogen, er arbeitet nicht und kauft seither regelmäßig Dope – verdammt noch mal von fast jedem, der ihm über den Weg läuft. Die Leute reden nun mal, und das ist nicht gut. Könnte schließlich einer bei zu Schaden kommen.« »Genau das ist es«, sagte ich. »Es könnte jemand zu Schaden kommen. Das hat Jim gerade noch gefehlt, daß ein Haufen Schmalspurgauner irgendwas von wegen Bulle quatscht. Die feine Englische ist das nicht gerade.« »Na ja, ich glaub ja auch nicht, daß er einer ist, aber wenn an den Gerüchten was dran ist, stecke ich verdammt noch mal bis über beide Ohren in der Scheiße.« »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, sagte ich. »Jedenfalls nicht wegen Jim. Und deinen Freunden solltest du sagen, sie sollten sich vorher überlegen, was sie sagen. Jim macht Geschäfte, verstehst du. Auf Terz kann er verzichten, egal mit wem und woher. Vertick denen das mal.« »Teufel auch, ich mach mir doch nicht gleich ins Hemd. Ich meine, ich hab mir eben gedacht, ich sollte mal mit dir drüber quatschen. Ich weiß, du bist 'n senkrechter Typ – Scheiße, du bist 'ne Frau, und ich weiß, du stehst dich gut mit Jim, und, na ja, wenn er von der Schmiere ist, verstehst du, dann schau ich ganz schön alt aus.« Ich war mir nicht sicher, aber es schien mir ganz so, als presche Walker wie ein Irrer voraus auf der Suche nach irgendeiner Art Deal. Er wußte, daß was am Kochen war. Ich konnte die Aufforderung in seinen Augen sehen. Er hatte die Hosen voll und suchte nach einem Ausweg aus dem Irrgarten, obwohl er noch nicht mal völlig sicher war, daß er überhaupt in einem steckte. 119
Für mich hörte es sich jedenfalls ganz so an, als biete er sich mir ganz offen als Informant an. »Warum gehen wir nicht einfach rauf und reden mit Jim?« schlug ich vor. »Er ist daheim. Wir sollten das vom Tisch bringen.« Er stieß einen Seufzer aus. »Laß mich erst noch einen bauen.« »Mach mal«, sagte ich. »Jim wird dir dankbar sein.« Ich saß da und beobachtete ihn, wie er Ruhe zu bewahren versuchte, während er den Joint rollte. Ich mußte an meine erste Nacht mit Skip denken und wie ich mich abgemüht hatte, eine ganze Tüte zu Joints zu drehen, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, was ich da machte oder auf was ich mich da einließ. Damals hatte ich nur ein paar bequeme Antworten auf meine müßigen kleinen Fragen gewollt; jetzt war ich närrisch genug zu glauben, ich hätte sie. Der Typ da gehörte wirklich nicht ins Gefängnis. Er hatte Ärger, er wußte gar nicht wieviel Ärger, und ich war einfach unfähig, die eiskalte Effizienz aufzubringen, mit der Jim schon auf die Welt gekommen zu sein schien. Ich konnte Walker gut leiden. Ob er nun wußte, um was er mich da bat, oder nicht. Aber es wäre besser für uns alle, wenn er seine Delikte abarbeitete und einer Verhaftung aus dem Weg ging. Jim hatte ja davon gesprochen, ihn hochgehen zu lassen und umzudrehen. Mir fehlte dieser räuberische Instinkt. Vielleicht trieb mich gerade das dazu, mich um so mehr ins Zeug zu legen. Vielleicht war es die Verlockung einer Illusion: Ich bin anders als die alle miteinander; ich bin ihnen moralisch überlegen; denen bringe ich schon bei, wie sie sich zu verhalten haben. Das Ganze war ein ausgemachter Schwindel. Als Untergrundfahnder gegen einen wie Walker zu ermitteln! Ich kam mir vor wie eine Politesse! * 120
Jim lag auf der Couch, in die Decke gewickelt, obwohl die Heizung an war. Es mußte mindestens sechsundzwanzig Grad haben. »Eh, Mann«, sagte er und rappelte sich auf, als Walker und ich hereinkamen. »Was läuft denn?« Seine Augen waren geschwollen, sein Gesicht hatte eine Falte von einem Knitter im Kissen. »Walker möchte mit dir plaudern.« »Oh«, sagte er. »Verdammt noch mal. Ich habe mir Kaffee gemacht, bin aber eingepennt, bevor er fertig war.« Er warf die Decke ab und stand auf, um den obersten Knopf seiner Jeans zuzumachen. »Wie spät ist es denn?« »Kurz vor acht.« Ich machte eine Geste in Richtung Küchentisch, und Walker setzte sich. »Entschuldigt mich einen Augenblick«, sagte Jim. Er schloß die Tür hinter sich, als er ins Schlafzimmer ging. Ich holte Tassen aus der Küche und stellte sie auf den Tisch. »Wahrscheinlich ist der da drin wieder eingepennt«, sagte ich. »Bin gleich wieder da.« Jim stand vor dem Spiegel an der Schranktür und kämmte sich. »Er wird singen«, flüsterte ich ihm zu. »Ist wohl einfach aufgesprungen und hat sich freiwillig gemeldet, was?« »Praktisch ja. Es gibt da so Gerüchte. Er macht sich Sorgen. Er sagt, er ist zu allem bereit, wenn er da nur rauskommt. Er hat Angst, du könntest ein Bulle sein.« »Sollte er wohl auch, meinst du nicht?« fragte Jim. »Du hast doch was von umdrehen gesagt. Ich denke, er ist reif.« »Was ist mit Nettle?« »Der macht doch alles mit, wenn es ihm nur Anklagen bringt. Wir sollten's einfach tun und es El Jefe erst hinterher sagen.« 121
»El Jefe«, sagte Jim. »Du hast ihn ja wirklich durchschaut.« Er stieg in seine Schuhe und lehnte sich gegen die Kommode. »Ja. Alles, was der will, sind seine Anklagen. Der spielt mit.« »Du hast doch gesagt, daß Walker gute Connections hat. Er könnte uns das Leben erleichtern. Und wir könnten ihn aus dem Knast heraushalten.« »Gib du jetzt mal den guten Polizisten, Baby. Sei höflich. Bleib ruhig, und kümmer dich um die emotionellen Bedürfnisse des Jungen. Davon wird er nämlich gleich 'ne ganze Menge haben.« Jim wartete, bis ich beim Tischdecken mit der Zuckerdose und den Löffeln klapperte, bevor er aus dem Schlafzimmer kam; er setzte sich neben Walker. Er hatte sich seine 45er vorne in den Hosenbund geschoben, und in seinen Augen sah ich jenen Blick, den ich eine ganze Weile nicht mehr bemerkt hatte, eine Mischung aus Gier und Eifer, die seine Augenbrauen nach unten zog und seine Kinnmuskeln hart werden ließ. Das letzte Mal, daß ich ihn so gesehen hatte, das war, als er auf irgendeiner Veranda stand und sich anschickte, eine Tür einzutreten. »Was hast du auf dem Herzen?« fragte er. Walker saß eine Minute lang schweigend da, räusperte sich dann, sagte aber noch immer nichts. »Er glaubt, du bist 'n Bulle«, sagte ich. »Stimmt das, du Krücke?« fragte Jim. »Du läufst also in der Stadt herum und quatschst überall rum, daß ich von der Schmiere wäre?« Walker starrte auf die Waffe und schüttelte den Kopf. »Ich beschuldige dich absolut nicht, Mann, ich denk nur, du solltest wissen, daß sich ein paar Leute Sorgen machen. Es liegt einfach so in der Luft, verstehste, die Leute reden nun mal.« »Na, dann hör mal zu, Kleiner«, sagte Jim, »laß mich hier mal eines klarstellen.« Er stand auf, zog seine Pistole und hielt sie Walker gegen die Lippen. Walker richtete sich kerzengerade auf; 122
dann saß er da und versuchte sich die Haare aus den Augen zu blinzeln. Sein T-Shirt war schwarz, und das Logo von Aerosmith vorne drauf begann sich bereits zu schälen. »Wenn du auch nur einem Schwanz ein Sterbenswörtchen von dem erzählst, was ich dir hier heut nacht sage, ich schwör bei Gott, ich bring dich um. So einfach ist das. Ich mach dich so schnell alle, daß du schon tot bist, noch bevor du hier warst. Kapiert?« Ich sah, wie Walker langsam blaß wurde; in deutlich zu unterscheidenden Stadien nahm seine Haut eine gräulichweiße Färbung an. Sein Nicken war kaum zu erkennen. Jim stand da, sein Zorn kochte auf kleiner Flamme, und in diesem Augenblick wußte ich, daß er dazu fähig wäre; er würde genau das tun, womit er hier drohte. Ich hielt meine Hand ruhig, als ich den Kaffee einschenkte. Jim hielt noch immer die Waffe in Walkers Gesicht und starrte ihn an, als würde das Krümmen seines Fingers ihrer beider Seelen erlösen. »Nicht ein Wort«, sagte Jim. »Zu niemandem.« Er zog die Waffe weg und stopfte sie sich wieder vorn in die Jeans. »Ich muß aufs Klo«, sagte Walker. »Draußen auf dem Flur«, sagte ich. Ich hörte, wie sich die Badezimmertür schloß, und wandte mich an Jim. »Ankläger, Richter und Jury, was?« »Kein Grund, die Geschichte vor Gericht zu zerren«, sagte er. »Ich weiß, daß er schuldig ist; er weiß, daß er schuldig ist. Scheiße, wenn er auf den Deal eingeht, dann ist das das Beste, was ihm passieren konnte. Der Junge würde in der Kiste keine zehn Minuten alt.« Walker kam zurück und ließ sich auf seinen Stuhl fallen; er landete dabei so hart, daß es ihm die Luft aus der Brust stieß. 123
»Wie hast du's gecheckt?« »Was?« »Wie du drauf gekommen bist, daß ich ein Bulle sein könnte?« »Weiß ich auch nicht«, sagte Walker. »Oder nicht genau. Keine Ahnung.« Er schüttelte den Kopf. »Ich nehme an, kein Mensch kann sich soviel Dope reintun, wie du gekauft hast. Und ich hab nie gehört, daß jemand von dir gekauft hätte.« »Aha. Tja, du hast recht.« »Von wegen«, sagte Walker. »Du bist doch nie und nimmer von der Schmiere.« »Was zum Teufel soll das, wenn du nicht glaubst, daß ich von der Schmiere bin, warum zum Geier bist du dann hier? Oder ist dem Herrn Freitag abend ein bißchen langweilig geworden, und er hat sich entschlossen, sich nach ein bißchen Amüsement umzuschauen?« »Ich glaub's einfach nicht«, sagte Walker. Ich holte einige Blankoanzeigenformulare aus dem Schlafzimmerschrank. Wenn Walker aufmuckte, würde Jims Kanone wieder zum Vorschein kommen. »Siehst du die hier?« fragte ich. »Es gibt zwei davon mit deinem Namen – hier auf der obersten Zeile. Sie stecken im Präsidium im Aktenschrank des Rauschgiftdezernats.« Walker starrte die Formulare an. Saubere Kästchen für Namen, Adresse, Personenbeschreibung, Datum und Zeitpunkt der Straftat, dazu noch Raum für Einzelheiten. »Mann, was wollt ihr von mir?« fragte er. »Komm schon, Flo. Jetzt ist es genug. Mann. Laßt uns einen durchziehen.« »Walker«, sagte ich, »wir sind Polizisten. Undercoverleute. Drogenfahnder. Tja, auch in Ihrer Stadt kann so was passieren. Kapiert?« Er ließ den Kopf nach hinten fallen und schloß die Augen. »Verdammt«, stöhnte er. »Und ich dachte die ganze Zeit über, 124
du wärst aus Frankreich.« »Was?« fragte ich. »Ja«, sagte er, »du siehst wirklich französisch aus.« Er lachte in sich hinein. »Ich weiß nicht, Mann, ich hab einfach immer gedacht, du wärst Französin.« Er ließ seinen Kopf hin- und herfallen, sein Adamsapfel stand ihm aus dem Hals. »Ich habe mir die ganze Zeit überlegt, ob ich dich nicht flachlegen könnte, ohne daß Jim es spitzkriegt.« »Jetzt hör mal«, sagte Jim. Er setzte sich wieder und beugte sich zu Walker hinüber. »Ich brauche jetzt ein paar Antworten, Freundchen.« Walker zog den Kopf nach oben und sah ihn an. »Willst du aus den Anklagen da raus?« fragte ihn Jim. »Willst du für uns arbeiten? Du sorgst dafür, daß sich die anderen beruhigen, stellst uns einigen Leuten vor, und wir lassen die Anklagen unter den Tisch fallen. Also, was soll's sein?« »Mann, krieg ich keinen Anwalt? Ich meine, ich will wenigstens mit 'nem Lieutenant oder was reden, Mann. Ich will zum Geier noch mal wissen, was hier vorgeht. Ihr könnt das nicht tun.« Jim griff nach dem Telefon und wählte die Nummer des Drogendezernats. »Sergeant«, sagte er. »Na, Überstunden an einem Freitagabend?« Er hörte einen Augenblick zu. »Haben Sie jemanden da, der für uns was erledigen würde.« Er schwieg wieder, sagte okay und legte dann auf. »Los, gehen wir«, sagte er. »Wohin?« wollte Walker wissen. »Den Polizeichef treffen. Er wartet hinter dem Piggly Wiggly. Du hast zehn Minuten. Du solltest dir die ganze Geschichte auf der Fahrt gründlich durch den Kopf gehen lassen.« »Ich will einen Anwalt.« 125
»Du willst einen Anwalt?« Jim war sofort wieder auf den Beinen. »Na schön. Hier ist das Telefon. Ich sag dir, was passiert. Du rufst einen Anwalt an, und wir vergessen, daß wir dich laufen lassen wollten. Wir stellen dich vor Gericht. Wir erzählen einer soliden, braven Jury aus dem Jefferson County, die Drogen haßt wie die Pest, daß du auf den Straßen ihrer schönen Stadt rumgelaufen bist und Kokain und LSD vertickt hast. Weißt du, was die machen, mein Junge? Die vergittern dich für vierzig Jahre. Womöglich lebenslänglich. Also mach. Ruf deinen Scheißanwalt an.« * Ich blieb hinter dem Steuer sitzen, als Jim und Walker ausstiegen. Auf dem halben Weg hinüber zu Dodds Plymouth drehte Jim sich um. »Kommst nicht mit?« »Ich bleibe da«, sagte ich. Sie stiegen hinten ein, und ich sah durch die Windschutzscheibe ihre Silhouetten, als sie die Köpfe zusammensteckten und miteinander sprachen. Die Gasse hinter dem Supermarkt war schmal und finster, nur eine einzige vergitterte Glühbirne über der Laderampe erleuchtete sie. Neben der Rampe stand ein großer grüner Schuttcontainer; der Asphalt rund um ihn war mit zertretenen Kartons und Pappstückchen übersät. Ich erspähte ein großes Glas Bosco unten vor dem Container, es hatte einen Sprung. Sie redeten eine ganze Weile. Einmal schaltete ich die Zündung ein und ließ einige Minuten lang die Standheizung laufen. Als die beiden zurück zum Wagen kamen, hielt Jim Walkers Arm im klassischen Griff, mit dem man Verdächtige in Gewahrsam nahm, eine Geste, die besagte: »Wir haben ihn.« Nettle und Dodd fuhren langsam aus der Gasse. Jim stieg hinten ein und 126
deutete Walker an, sich vorne neben mich zu setzen. »Laß uns was kaufen gehen«, sagte Jim. »Jetzt gleich?« fragte Walker. »Noch in dieser Minute. Wer ist der Typ, mit dem du immer rumhängst, dein Kumpel, der mit dem braunen Leichenwagen, der, der sich für so 'nen heißen Typ hält. Hat der gerade was?« Walker fing an, im Dunkeln seine Fingergelenke knacken zu lassen. »Hör zu, Freundchen«, sagte Jim, »du wirst es tun, also los. Zeig mir, zu wem du hältst.« »Grady«, sagte Walker. »Er heißt Grady Carter.« An einer Exxon-Tankstelle gab Jim Walker einen Vierteldollar und stellte sich neben die Telefonzelle, während Walker, auf die Tasten des Telefons einstochernd, den Absatz seines Stiefels durch einen Ölfleck auf dem Betonboden zog. Ich beobachtete ihn, wie er sprach; dann brachte ihn Jim wieder ans Auto und beugte sich herein, um mich zu fragen, ob ich eine Limo haben wollte. Walker stieg ein, setzte sich neben mich und starrte auf das Handschuhfach, während ich zusah, wie Jim den Automaten fütterte; sein Gesicht glühte, als er sich bückte, um die Dosen herauszuziehen. »Flipp jetzt nicht aus«, sagte ich. »Ich weiß, das sieht ziemlich sonderbar aus, aber verlier jetzt nicht die Nerven. Es kommt alles in Ordnung.« Walker schlug gegen das Armaturenbrett, daß es nur so klatschte, und wandte sich mir zu. »Was zum Geier soll das heißen, in Ordnung?« brüllte er. »Alles kommt inOrdnung?!Da erzählt mir irgend so 'n Scheißpolizeichef, er will dreißig Anklagen von mir, und ihr, ihr beide bringt mich zu meinem besten Freund, damit ich euch dabei helfe, ihm Stoff abzukaufen – und du sagst mir, es kommt alles in Ordnung.« 127
»He«, sagte ich, »du brauchst dir das Gericht noch nicht mal anzusehen, wenn du tust, was man dir sagt. Jim und ich, wir haben die Möglichkeit, dir zu helfen. Wir können dir helfen, und wir können deinem Freund helfen. Aber du mußt mit uns zusammenarbeiten. Hörst du überhaupt, was ich sage?« Mir war schlecht. Jim kam mit einigen Dosen Dr. Pepper zurück und legte sich quer auf den Rücksitz. »Vierte Straße hast du gesagt?« fragte er. »Ja«, sagte Walker. »Es gibt da 'nen Laden. Er trifft sich dort mit uns.« * Ich fuhr auf den Parkplatz und parkte unter einem hell erleuchteten Schild, das die Leute dazu anhielt, den Kot ihrer Hunde wegzuräumen. Unter der roten Schrift befand sich das Bild eines Dackels auf den Hinterbeinen mit einer offenen Papiertüte zwischen den Zähnen. Um seinen Hintern herum waren gebogene Striche aufgemalt, um anzudeuten, daß er mit dem Schwanz wedelte. »Er ist schon da«, sagte Walker. Der Leichenwagen parkte neben der Mauer auf der Südseite des Ladens. »Hat der Typ 'ne Plempe dabei?« fragte Jim. »Für gewöhnlich nicht«, sagte Walker. »Okay. Flo wird mit dir gehen. Bevor irgendwas den Besitzer wechselt, mußt du aussteigen. Solange du den Deal nicht wirklich über die Bühne gehen siehst, kann die Verteidigung dich auch nicht als Zeugen bestellen. Kapiert?« »Ich denk schon«, sagte Walker. »Was kaufen wir? Demerol?« fragte ich. »Ja«, stöhnte Walker. »Demerol oder was zu rauchen.« 128
»Wir nehmen Demerol«, sagte Jim. Ich folgte Walker über den Platz, und als wir dem Leichenwagen nahe genug gekommen waren, sah ich, daß er hinten mit jeder Menge Trödel beladen war, fast durchweg Kram aus Mexiko: Verandalaternen, schmiedeeiserne Buchstützen, pinatas sowie einige Rechen- und Schreibmaschinen. Grady lehnte sich aus dem Fenster und lächelte, als er uns sah. Sein linker Schneidezahn hatte eine Goldkrone mit einem eingearbeiteten Peace-Zeichen in der Mitte. »Wie steht er'n so, Mann?« fragte er. »Das hier ist Flo«, sagte Walker. »Sie ist grad bei mir gegenüber eingezogen.« »Freut mich. Wo bist du her?« »Houston«, sagte ich. »Oh. Ist mir ein zu hartes Pflaster, Mann.« »Walker sagt, hier könnte es irgendwo Demerol geben.« »Könnte schon sein«, sagte Grady und tauchte hinunter auf den Wagenboden. Er kam wieder hoch mit einem Henkelmann mit einem Batman darauf; sein Zahn leuchtete mir aus der Dunkelheit des Leichenwagens entgegen. »Ist schon da«, nölte er. Walker klopfte gegen seine Brusttasche. »Verdammt«, schimpfte er, »jetzt sind mir doch glatt die Lullen ausgegangen. Bin gleich wieder da.« Grady brachte ein Fläschchen voller Pillen zum Vorschein und schüttelte es. »Wieviel?« fragte ich. * Als wir die Treppe zu Jims Wohnung hinaufstiegen, beugte er sich zu mir herüber und nahm mich beim Arm. »Wir sorgen lie129
ber dafür, daß sich der Junge ordentlich was vor die Birne knallt«, sagte er. »Der weiß im Augenblick noch nicht mal, wie man Entspannung buchstabiert.« Walker ging ohne Umwege ins Wohnzimmer und setzte sich in den Winkel der Anbaucouch. Jim gab ihm eine Demerol und bot ihm dazu den Rest seiner Limonade. »Relax«, sagte er. »Ist schließlich nicht das Ende der Welt.« Walker ging mit der winzigen Tablette um, als wäre sie eine Hostie und er bei der heiligen Kommunion; gleich mit beiden seiner zitternden Hände legte er sie sich sachte auf die Zunge. Jim und ich setzten uns auf die beiden Enden der Couch; er warf mir eine Tablette zu. »Ein Freund von mir«, sagte er, »schwört, daß er das erste Mal, als er Demerol nahm, geglaubt hat, er schwebe auf einem Meer aus Titten.« Irgendwann versuchten wir einen Joint zu rauchen, aber er ging uns immer wieder aus. »Wie alt bist du?« fragte ich Walker schließlich. »Zwanzig?« knödelte er. »Ja. Zwanzig. Und baue eine derartige Riesenscheiße.« Wir dösten die ganze Nacht vor uns hin; manchmal hatte das, was wir sagten, Sinn, manchmal waren es bloß Worte. Walker bekam das Raynor-Evangelium zu hören: »Es ist die Pflicht eines jeden Bürgers, alles zu tun, was er kann, um dazu beizutragen, daß den Kindern auf der Straße nichts passiert.« Ich döste auf das Demerol und lauschte Jim, der mit trunkener Leidenschaft in die Nacht hineinredete. Es war die gleiche Leier, die er und Rob damals mir vorgebetet hatten, als ich in den Untergrund ging, ein klägliches kleines Liedchen, das so großartig geklungen hatte, als ich es zum erstenmal hörte. Während Jim redete, rang ich mit meinen Augenlidern und sah zu, wie Walkers Kopf von einer Schulter auf die andere rollte, während er gegen die Drogen ankämpfend zu kapieren ver130
suchte, was er da hörte. Ich sah im Dunkeln weiße Quadrate und Dreiecke um sein schmales Gesicht treiben. »Wie alt bist du denn?« fragte ich. »Zwanzig?« sagte er. »Hatten wir das nicht schon mal?« »Weiß nicht, vielleicht.« Meine Zunge fühlte sich an wie Gelatine. »Du brauchst dich nicht beschissen zu fühlen«, sagte ich. Fragt sich nur, wem von uns beiden ich das ans Herz legte. »Das solltest du nicht, verstehst du, du brauchst dich wirklich nicht so beschissen zu fühlen. Glaubst du vielleicht, Grady hätte nicht genau dasselbe gemacht? Ich sag's dir. Alle machen es. Jeder einzelne. Wach auf und komm zu dir, Mann, sag, was du weißt, und du gehst frei aus.« »Nun krieg dich mal wieder ein«, sagte Jim zu mir. »Der Typ zieht womöglich los und erzählt der ganzen Stadt, was hier abläuft.« Er beugte sich in Walkers Richtung. »Ich hoffe, daß du's tust, du Krücke. Ich hoffe es wirklich. Ist schon viel zu lang her, daß ich einen umgebracht habe; ich bin irgendwie richtig in Stimmung, verstehst du?« »Will jemand eine Schokolade?« fragte ich. »Ich steh nämlich jetzt auf.« Bei Tagesanbruch griff sich Walker seine Stiefel und stolperte auf Strümpfen nach Hause. Er war ein Mann der Straße, er wußte, was da draußen gebacken wurde; nur, daß die Regeln sich mit einemmal total verändert hatten. Ich sah ihm nach, als er die Treppe hinunterwankte und über den Gehsteig auf die Fliegengittertür seiner Veranda zutaumelte. »Keine Bange«, sagte Jim. »Der merkt sich, was wir ihm gesagt haben.«
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Kapitel Acht Als ich in Dodds Auffahrt einbog, öffnete sich langsam das Garagentor, und er winkte mich hinein; nachdem das Heck meines Olds den Eingang freigegeben hatte, drückte er einen Schalter an der Wand. Ich hörte das Summen eines Elektromotors unter dem Knirschen irgendeines Getriebes, und das Tor schloß sich wieder. Dodd trug Jeans, ein schmutziges weißes T-Shirt und eine Baseballmütze der Astros. Er hätte genausogut ein Schweinezüchter sein können. Ich stieg aus und übergab ihm das Beweismaterial; ein ganzes Dutzend neuer Fälle, dank Walker. Ich kam eben von einem Koksdeal und war noch so abgedröhnt, daß ich nur hoffen konnte, er würde mir nichts anmerken. »Ihr greift ja wirklich durch, daß die Fetzen fliegen«, sagte Dodd. »Ihr habt bald fünfzig Anklagen beisammen. Was Neues über Gaines?« »Wir lassen uns von ihm sehen«, sagte ich. »Ich habe den Drillers Club schon so über, daß ich speien könnte.« »Wie viele Bullen kennen Sie, die nicht gern dafür bezahlt werden würden, einen drauf zumachen? Haben Sie schon eine eigene Wohnung?« »Nein«, sagte ich, »und Sie können auch nicht gerade einen draufmachen, wenn Sie sich die ganze Zeit über die Schulter schauen müssen.« »Alles, was Sie sich anschauen müssen, Mädchen, sind die Kleinanzeigen«, sagte er, »damit Sie verdammt noch mal endlich zu einer eigenen Wohnung kommen. Nettle macht mir deswegen die Hölle heiß.« 132
»Ich hatte noch nicht viel Zeit für Privates.« »Das ist nichts Privates, das ist bei uns hier Dienstvorschrift.« Er lehnte sich gegen meinen Wagen. »Was macht denn Jim? Den sieht man in letzter Zeit ja gar nicht mehr.« »Der ist okay«, sagte ich. »Ich arbeite meistens mit Walker, Jim ist im Augenblick an einer Gruppe Pillendealer dran.« Er sah die Umschläge durch. »Ganzen Arschvoll Speed gekauft, was?« »Ja«, sagte ich, »davon ist jede Menge im Umlauf.« »Speed und Koks, wie's aussieht.« »Das hier sind meine. Aus Walkers Bekanntschaft.« »Eine ganze Menge von den Namen hier hab ich schon mal gesehen. Einbrecher. Einige von ihnen sind noch auf Bewährung. Spart uns Zeit vor Gericht.« Er ließ seinen Blick über mich gleiten. »Sie werden mager, Mädchen.« »Ich hab ein paar Pfund abgelegt«, sagte ich. »Wir arbeiten schließlich nur dreiundzwanzig Stunden am Tag.« »Und macht eure Sache gut«, sagte er. »Nur nicht nachlassen.« * Ich unterschrieb einen Mietvertrag über ein Jahr für eine Zweizimmerwohnung in den Elysian Fields Apartments genau gegenüber von Jims Haus. Der Mann von der Telefonfirma warf mir einen komischen Blick zu, als er mir den Apparat installierte. Eine Weile arbeitete er schweigend vor sich hin und meinte dann schließlich: »Keine Möbel? Kein Geschirr?« Ich sagte ihm, ich sei noch nicht ganz eingezogen. Das hatte ich auch nicht vor. Die Adresse würde genügen. An manchen Nachmittagen, wenn ich allein zu Hause war, ging ich hinüber und setzte mich mitten im Wohnzimmer auf den beigen Teppichboden, rauchte einen Joint und versuchte mir vorzustel133
len, wie es wohl sein würde, wenn die Ermittlungen vorüber wären. Wir kauften jede Menge Dope, massenhaft, aber ich sagte mir immer wieder, wir hätten alles unter Kontrolle. Es wäre kein Problem, sich danach wieder auf die Reihe zu kriegen. Ich war stark genug. Ich würde es schon bringen. * Rob in seinem langen schwarzen Ledermantel kam zur Wohnungstür hereingeschlendert, sah sich im Raum um und meinte: »Ich bin sicher, hier gibt's irgendwo was zu rauchen.« Walker hatte eine ganze Mannschaft mit herübergebracht; wie Fische hatte er sie an Land gezogen und auf unseren Wohnzimmerboden gekippt. Jims Bude war mittlerweile in der ganzen Stadt zum Geheimtip geworden. Keine Regeln. Laute Musik. Jede Menge zu saufen, jede Menge zu rauchen. Genau der Ort, wo man noch herumhängen konnte, nachdem die Clubs dichtmachten. Abwechselnd hängte man sich ans Telefon, um den Kokainnachschub zu gewährleisten. So auch diesmal wieder. Wir hatten die Bude voller kleiner Fische, Discocowboys mit ihren Freundinnen, Leute, die nun mal auf keiner Party fehlten, keiner von ihnen ein ernsthafter Dealer. »Das hier ist Jim«, sagte ich zu unseren künftigen Angeklagten, als Rob hereinspazierte. »Wo ist denn Jim?« fragte mich Rob. »Ich dachte, du wärst Jim«, sagte jemand. »Der andere Jim«, sagte Rob. »Wo steckt er?« »Schnell mal was zu essen kaufen«, sagte Walker. »Um zwei Uhr nachts?« fragte Rob. »Das Zeug hier macht ganz schön Kohldampf«, sagte jemand. »Du heißt auch Jim?« »Ja«, sagte Rob. »Ich bin Jim. Also, gebt ihr Saftsäcke mir nun 134
was zu rauchen ab, oder was?« Jemand hielt ihm einen Joint hin. Jemand anders nahm J. J. Cale vom Plattenteller und legte Supertramp auf. Rob zog an dem Joint. Seine Nasenflügel blähten sich beim Inhalieren. »Verdammt«, sagte er plötzlich, »hab ich ganz vergessen. Ich hab noch jemand im Auto.« »Bring sie rein«, sagte ich. »Ist keine Sie.« »Jemand, den ich kenne?« Er grinste. »Es ist Jim. Ich geh ihn holen, für den Fall, daß Jim bald zurückkommt. Er wollte nicht raufkommen, wenn Jim nicht da ist.« »Sag ihm, Jim ist gleich wieder da.« Walker starrte uns an. Rob nahm noch einen Zug und gab ihm den Joint, dann ging er zur Tür. »Heb mir was auf«, rief er. »Bin in 'n paar Minuten wieder da.« Ein magerer Delinquent, der eben am Telefonieren war, machte Walker Zeichen, ihm den Joint hinüberzubringen. Rob kam wieder herein und stellte Denny vor. »He, Leute«, sagte er, »das hier ist Jim.« Jemand meinte: »Was ist 'n hier los?« Ein anderer nahm Supertramp vom Plattenteller und legte Marvin Gaye auf. Denny schnüffelte in den Raum und sagte: »Habt ihr hier irgendwas, was nicht illegal ist?« Ich brachte ihm eine Flasche Wild Turkey und ein Schnapsglas. »Das ist genau das richtige«, sagte er. Er betastete die Narbe, wo früher mal seine Augenbraue gewesen war, und blinzelte ein paarmal, als versuchte er aufzuwachen. Walker nickte in Richtung Schlafzimmer, und ich folgte ihm. »Was sind denn das für Typen?« fragte er und schloß die Tür. »Alles Jims«, sagte ich. 135
»Jetzt komm schon. Im Ernst. Was wird hier gespielt?« »Staatspolizei, einer im Dienst, der andere ex.« »Fahnder?« »Einer ja, der andere war mal einer«, sagte ich. Er sah mich an, halb stoned, halb besoffen, immer noch verwirrt. Ich fiel auf die Knie und streckte die Hände gegen die Decke; der ganze Raum um mich herum drehte sich. Ich hörte meine besoffene Stimme von den Wänden prallen, während ich sang: »When the smack begins to flow / Then I really don't care anymore / About all you Jim-Jims in this town / And everybody putting everybody eise down / And all the politicians making crazy sounds / And all the dead bodies piled up in mounds.« Ich erhob mich schwankend und knallte gegen die Wand, verbeugte mich, lachte, kicherte, total stoned. Walker starrte mich an. »Tut mir leid«, sagte ich. Die Wände schimmerten. »Schnall ich nicht«, sagte er und ließ sich aufs Bett fallen. Ich versuchte, meinen Blick scharf zu kriegen. »Frei nach Lou Reed.« Ein kurzer Schwall Rod Stewart und lautes Stimmengewirr schob sich mit Rob durch die Tür, als er ins Zimmer gehuscht kam. Sachte drückte er die Tür hinter sich zu, die Musik hämmerte gegen die Schlafzimmerwand. »Walker«, knödelte ich, »ich möchte dir Jim vorstellen.« Es gelang Walker aufzustehen und Rob die Hand zu drücken. »Wie geht's denn so, Mann?« fragte Rob. »Es geht«, sagte Walker. »Geht grade so.« Rob holte ein Fläschchen Pillen aus der Tasche seines Jacketts und begann es hochzuwerfen und wieder aufzufangen. »Wer ist'n er da?« fragte er. »Nicht-Jim«, sagte ich. »Un-Jim. Non-Jim, aber nicht Anti-Jim. Arbeitet für uns.« »Stimmt das?« Rob rasselte mit den Pillen und ließ das Fläsch136
chen in seine Tasche zurückgleiten. »Du weißt nicht zufällig irgendwas darüber, was sich in Houston so tut, oder? Mein Revier ist der ganze Ballungsraum Houston.« »Könnt schon sein«, sagte Walker. »Ich kenn ein paar Leute dort. Kommt drauf an, was dabei rausschaut.« Rob warf den Kopf nach hinten. »Oh, jaaa«, kreischte er mit einer Falsettstimme, »dem Jungen hier geht's ja wirklich.« Er holte seine Stimme wieder herunter und redete wie ein Wasserfall auf Walker ein. »Du meinst von wegen 'ner Chance, Mann? Man hat so seine Möglichkeiten, 'nem armen weißen Bubi, der sich in die Scheiße gerudert hat, was nachzulassen. Der Staat drückt da jede Menge Augen zu. Wenn du hier fertig bist, verstehst du. Es gibt Leute, die so was professionell machen und ganz gut von leben. Du ziehst ja ohnehin um, wenn das hier gegessen ist, nehm ich an.« Er nahm die Flasche heraus und schüttete die Pillen aufs Bett. »Schau mal einer an«, sagte er mit überraschter Stimme und deutete darauf, »da hat doch glatt jemand seinen Stoff vergessen.« Walker nahm eine rosa Tablette und inspizierte die Zeichen darauf. »Was ist das?« »Sieht aus wie Speed«, sagte Rob. »Könnte so was wie Preludin sein. Jedenfalls hab ich gehört, daß es verdammt guter Stoff sein soll. Vielleicht sollt's mal jemand hier probieren.« * Jim war unterwegs, um einen Deal zu machen, als Walker tags darauf nach der Arbeit vorbeischaute, über und über mit roter Erde bedeckt. Seinem Blick nach zu urteilen war er vollgedröhnt, aber er bewegte sich fast in Zeitlupe, als er auf die Couch fiel und in einer seiner Taschen grub. 137
»Blue Ringers«, sagte er und gab mir eine Kapsel. »Der Typ hat Tausende davon.« »Noch nie was von gehört«, sagte ich. »Ich bisher auch nicht.« »Hast du sie probiert?« »Ich hab mich damit von dem rosa Zeugs runtergeschossen, das ihr mir heut nacht gegeben habt. Muß 'n verdammt guter Ablöscher sein. Der Typ heißt Monroe. Er erwartet deinen Anruf. Ich habe ihm gesagt, du wärst mindestens an ein paar hundert interessiert. Wenn sie was taugen.« Früh am Abend fuhr ich hinaus, fand schließlich auch die richtigen Ziffern auf einem der Briefkästen an der Straße und bog in eine tief ausgefahrene Zufahrt ab. Das Haus war aus Schlackensteinen, ein perfekter Würfel ein Stückchen abseits der Straße; es war von Bäumen umgeben. Ich grub in meiner Handtasche und vergewisserte mich, daß meine Waffe ganz obenauf lag. Die ganze Szenerie sah mir ziemlich hinterwäldlerisch aus und war entsprechend unheimlich; in Augenblicken wie diesem wurde mir klar, wie verwundbar ich war. In der Mitte von nirgendwo allein mit einem Dealer, den ich noch nicht mal kannte. Er kam aus dem Haus, noch bevor ich aus dem Wagen war, und ich erkannte ihn auf der Stelle. Es war der Mann, der sich in jener Nacht im Drillers Club sofort aus dem Staub gemacht hatte, als ich auf Walker zugegangen war. Sogar aus der Nähe sah er Charles Manson ähnlich. Das gleiche unbändige Haar, die gleichen irren Augen. Abgesehen von einem Klo, einem begehbaren Wandschrank und einer kleinen Küche, bestand das Haus nur aus einem einzigen großen Raum voller Spieltische – Blackjack, Poker, sogar ein Rouletterad. Der Boden war aus Beton; genau in der Mitte entdeckte ich einen ganz ordinären vergitterten Straßengully; an der rückwärtigen Wand standen einige Ledercouches, daneben 138
auf dem Boden große Messingspucknäpfe. »Willst du 'n Bier«, fragte er mich, und seine Stimme scharrte durch den Raum wie eine nasse Schaufel auf trockenem Beton. Es war keine Frage. »Ich denke, ich könnte eins vertragen«, sagte ich. »Hast du hier ab und zu 'ne Party laufen oder was?« »Jeden Freitag«, sagte er, »und jeden Samstag.« Ich folgte ihm nach hinten in die Küche. Er nahm zwei Dosen Bier aus dem Kühlschrank und gab mir eine davon. Dann schlug er einen Pappkarton neben dem Herd auf, griff hinein und brachte eine Handvoll winziger weißer Kapseln zum Vorschein, jede davon mit einem leuchtend blauen Ring um den Bauch. »Wie viele willst du haben?« fragte er. »Ab wieviel gibt's denn Rabatt?« »Stück zu drei Scheinen bis hundert. Darüber zweifünfzig.« Ich schlürfte an meinem Bier. »Hundert hört sich gut an.« Er schüttete eine Handvoll auf die Anrichte und zählte sie zu je zweien in ein Fläschchen. Als er fertig war, verschloß er es mit einer Plastikkappe, nahm zwei von den übriggebliebenen Kapseln und gab mir eine davon. »Laß uns ordentlich was vor die Birne knallen«, sagte er. »Ich hab da Leute, die auf die Dinger hier warten«, sagte ich. »Ich muß wieder in die Stadt zurückfahren.« »Ich hab gesagt, wir wollen uns was vor die Birne knallen.« Ich warf mir die Pille in den Mund und nahm einen Schluck Bier, dann gab ich ihm das Geld. Ich rechnete mir aus, daß ich so um die zwanzig Minuten hatte, bevor bei dem Zeug die Post abging. »Hör mal«, sagte ich, »ich sitz wirklich in der Scheiße, wenn ich nicht zurückkomme. Ich hab 'ner Menge Leute versprochen, die Dinger bis heute abend zu besorgen. War wirklich Klasse hier, 139
aber ich muß los.« Er drehte sich um und ging in das Ankleidezimmer und kam mit einer getopften jungen Marihuanapflanze zurück. »Peace«, sagte er und machte die dazugehörige Geste. »Ja, Peace«, sagte ich. »Alles klar. Ich seh dich dann wieder mal.« Gerade als ich einsteigen wollte, drückte er mich gegen die Seite des Wagens und preßte mir einen widerlichen Kuß auf den Mund. Ich drückte mich seitlich davon und schlüpfte auf den Vordersitz. »Ich muß wirklich los.« »Gute Fahrt«, flüsterte er. Es müssen wohl die Ringers gewesen sein, aber seine Augen schienen im Dunkeln zu glühen. Ich erinnere mich noch an die ersten zehn Minuten der Fahrt zurück in die Stadt. Danach bestand alles nur noch aus Scheinwerfern. Ich wußte, ich saß in meinem Wagen, ich wußte nicht, auf welcher Straße; ich wußte nicht, wer am Steuer saß. Ich erinnere mich noch an eine Telefonzelle, weiß aber nicht mehr wo. Ich stand drin, zitterte, hämmerte auf die Knöpfe ein, hörte die Stimme des Fräuleins vom Amt. Ich muß wohl ohnmächtig geworden sein. Ich erinnere mich noch, wie ich die schmutzige Glaswand der Telefonzelle hinunterrutschte und daß ich den grauen Plastikhörer hilflos am Ende seiner metallenen Leitung baumeln sah; ich spürte, daß er mir gegen die Stirn klopfte. Dann ging ich durch die Tür von Jims Wohnung, und ich erinnere mich noch daran, daß Jim und Rob und Denny mich anstarrten, als ich auf die Couch knallte. Sie lachten. Ich weiß noch, daß ich Jim das Fläschchen mit den Kapseln zuwarf. Dann trat ich wieder ab. * 140
Sie hatten Trompeten dabei, vier, um genau zu sein, und das, was sie schmetterten, hörte es sich eher nach einem Signal zum Angriff an als nach der Eröffnung zu einer Christmette. Die Prozession kam aus dem hinteren Teil der Kirche den Mittelgang herunter, ein Trupp Ministranten unter Führung von Monsignore O'Brien, prächtig anzuschauen in seinem weiß-goldenen Meßgewand, hinter ihm zwei Priester, die ich nicht kannte. Der Monsignore war ganz unglaublich gealtert, sein Haar war schlohweiß geworden, die fahle Haut um den Mund hatte tiefe Falten. Zu viele Jahre im Kampf gegen die Sünde, zu viele Jahre unerhört gebliebener Rosenkränze, zu viele Taufen und letzte Ölungen. Er hatte sich so selbstsicher angehört, damals, an dem Tag, als er für Kennedy gebetet hatte. Fest umfaßte ich die Lehne des Kirchenstuhls vor mir, damit mir die Hände nicht zitterten. Der Prozession voran kam der Geruch von Weihrauch das Kirchenschiff herauf und schlug sich sofort mit den Parfums der Frauen, den Rasierwassern der Männer und vor allem mit dem kollektiven Atem der Gemeinde. Ich hatte Angst, tatsächlich so auszusehen, wie ich mich fühlte. Sie, wir, alle nebeneinander, alle in einer Reihe, die fünfte von vorne: Paps, Mama, Valerie, Michelle, ich. Und Jim. Christmette in der Kirche des Guten Hirten. Ich muß schon sagen. Jim und ich hatten noch am Nachmittag eine Viertelunze Koks gekauft, bevor wir uns auf den Weg nach Houston gemacht hatten. »Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.« Die Stimme des Monsignore war trotz des Mikrophons kaum zu hören und zitterte vor Alkohol. Ich stand zwischen Michelle und Jim, ich trug meine Gerichtskleidung, ein konservatives graues Kostüm, das mir mittlerweile längst um mindestens eine Nummer zu groß war. Meine Schwestern hatten mich am Telefon angebettelt. Wir 141
sind doch eine Familie, hatten sie gesagt, wir sollten uns auch wie eine Familie benehmen. Ist schließlich nur einmal im Jahr, sagten sie. Es ist Weihnachten. Für einen Tag kannst du nun wirklich raufkommen. Ich tat mein Bestes, um den Eindruck zu erwecken, als wäre ich bei der Sache. Mein Vater sang wunderschön auf seinem Platz gleich neben dem Mittelgang. Ich sprach die Worte vor mich hin und versuchte, die Nase nicht zu oft hochzuziehen. Ich beobachtete, wie sie zur Kommunion gingen. Ich kam mir vor wie aufgepfropft, eine Zutat, die der Koch noch in letzter Minute in den Topf geworfen hatte, um den Eintopf zu retten. * Als wir nach Hause kamen, zeigte ich Jim mein altes Zimmer. In der Ecke stand noch immer die eine Doppelbetthälfte, immer noch mit dem blauen Bezug und der passenden rüschenverzierten Tagesdecke. Über dem kleinen Schreibtisch daneben eine Pinnwand voller Medaillen und rot-blauer Bänder. Erster Platz im Staffellauf über eine Meile, erster Platz über 220 Yards Sprint, zweiter Platz im Hochsprung. Erster Platz über 80 Yards Hürden. Was hatte Babe Didrikson mir schon voraus, außer daß sie auch die langen Strecken gelaufen war. Auf der Kommode stand eine Trophäe von der Softball-Kirchenliga, ein Monument der Sandkastenliga. »Mann«, sagte Jim, »das ist ja das reinste Museum hier.« »Ja«, sagte ich, »meine Mutter redet immer davon, daraus ein Studierzimmer zu machen.« Ich stand da und starrte auf die Bänder und dachte zurück. Einmal, während meines ersten Jahres, hatte ich die Mannschaft verlassen, ich hatte dem Trainer gesagt, ich sähe keinen Sinn mehr darin, ewig im Kreis herumzulaufen. Drei Wochen lang hatte ich es ausgehalten, dann war 142
ich wieder dabei. Jim schloß die Tür und trat hinter mich, drückte sich an mich und legte mir die Arme um die Taille. »Lassen die mich hier schlafen?« »Nie und nimmer«, sagte ich. »Meine Leute stehen nicht auf Todsünden.« »Jetzt hör aber auf«, sagte er, »die wissen doch Bescheid.« »Bescheid wissen und sich was eingestehen, sind zwei verschiedene Paar Stiefel. Ich zeig dir das Gästezimmer.« Er griff neben die Bänder und nahm ein gerahmtes Foto von der Wand. Es war eins aus meiner High-School-Zeit, ich übersprang eben vor sieben anderen Läuferinnen eine Hürde. Das Gewinnen war mir leichtgefallen; es war immer leicht gewesen, weil ich gerne um die Wette lief, ich war vernarrt in den Wettlauf an sich. Jim brachte eine Phiole zum Vorschein und begann auf dem Foto einige Spuren zu ziehen. »Das erste Mal, daß ich in 'ner Messe gewesen bin«, sagte er. »Der Prediger bei uns daheim sagte immer, wir würden in der Hölle schmoren, wenn wir je den Fuß in eine katholische Kirche setzen würden. Er meinte, der Papst sei der Antichrist.« »Welcher Papst?« »Alle miteinander. Der Posten an sich, egal wer ihn gerade innehat.« »Und was meinst du, wirst du schmoren?« »Das weiß ich schon, seit ich achtzehn bin«, sagte er und beugte sich vor, um eine Spur zu sniefen. »Ich habe eine Tasche gepackt, bin zur Tür hinaus und auf nach Austin, und das letzte, was meine Mama zu mir sagte, war genau das: ›Du gehst geradewegs in die Hölle.‹ Von der vorderen Veranda hat sie's geschrien, vor Gott und allen Nachbarn. Es war auch schon egal. Irgendwas hatte bei ihr ausgehakt, nachdem mein Paps sich aus 143
dem Staub gemacht hatte. Die nächsten fünf Jahre verbrachte sie im Garten beim Unkrautjäten, und dabei zitierte sie aus den Korintherbriefen. Ich hatte keine Ahnung, wo's hingehen sollte, ich wußte nur, ich mußte raus aus Big Spring.« Er reichte mir das Röhrchen. Ich wollte kein Kokain mehr. Ich hatte ohnehin schon den Flattermann, und das ganz gewaltig. Wir hatten eine mit Speed verschnittene Ladung erwischt, das konnte ich schmecken, und das Zeug wollte einfach keine Ruhe geben. Meine Familie war im Wohnzimmer und wartete darauf, daß ich gute Nacht sagen kam. Ich wollte nichts mehr davon. Ich wollte mich hinlegen. Ich beugte mich über das Foto. Ich wollte es nicht. Ich wollte nichts mehr von dem Zeug. Von wegen. Und wie ich wollte. * Fast die ganze Nacht über lag ich wach; meine Augen waren zu müde zum Lesen, aber alles andere an mir stand derart unter Strom, daß an Schlaf noch nicht mal zu denken war. Im Morgengrauen nickte ich schließlich leicht ein. Küchengeräusche weckten mich wieder; meine Schwestern, die über irgend etwas lachten, während sie den Tisch deckten. Der Truthahn war perfekt, goldbraun. Mein Vater meinte, er sehe so richtig schön saftig aus. Er setzte sich ans eine Ende des Tisches, Jim ans andere. Meine Mutter und Michelle saßen Valerie und mir gegenüber. Wir trugen alle die neuen Kleider, die wir einander am Abend zuvor in farbenprächtiges Geschenkpapier gewickelt überreicht hatten, nachdem wir aus der Messe zurückgekommen waren. Sogar ein Hund saß dabei, ein arthritischer alter Collie namens Herbert, den man etwa ein Jahr, nachdem ich auf den Campus gezogen war, in die Familie aufgenom144
men hatte. Herb saß an der Schwelle zum Eßzimmer, die Vorderpfoten genau auf der imaginären Linie, die niemals zu übertreten man ihm beigebracht hatte; seine Nase hob sich, um etwas vom Duft des Weihnachtsessens abzubekommen. Ich fühlte mich umzingelt; als sollte eigentlich ich diejenige sein, die dort auf der Schwelle des Eßzimmers bettelte. Sie waren so gute Leute, so gläubig, so durch und durch amerikanisch. Michelle hatte Ferien, sie studierte Biologie an der SMU in Dallas; Valerie ging in die letzte Klasse der High School. Meine Eltern? Stinknormale Arbeitsleute. Sie mähten den Rasen und zahlten ihre Steuern. Sie kauften zu essen und jubelten, wenn auch etwas verhalten, für die Oilers. Sie wählten demokratisch, und das regelmäßig, sogar bei den Vorwahlen. Sie glaubten an Gesetz und Ordnung, und wie allen anständigen Eltern jagte ihnen das Drogenproblem einen heiligen Schrecken ein. Sie hielten meinen Beruf für ehrbar. Es hätte nicht den geringsten Sinn gehabt, ihnen auch nur irgend etwas erklären zu wollen. Ich beobachtete meinen Vater, der eben den Truthahn tranchierte, und das mit der gleichen Akribie, wie er alles machte, und versuchte etwas Appetit aufzubringen. Als er fertig war, lächelte er in die Runde und sagte: »Jim, würden Sie gern das Gebet sprechen?« Jim warf mir einen Blick zu, der besagte: In was zum Teufel hast du mich da bloß reingeritten? Sein Gesicht glättete sich aber wieder, und er sagte: »Sicher. Es wäre mir eine Ehre.« Während Jims Gebet sah ich auf und sah, daß Vater und Mutter mich musterten; ich spürte, wie mein Mund ihnen zuzulächeln versuchte, und senkte schnell den Blick. Ich hatte die Augen meiner Mutter. Wie mochten sie wohl gerade aussehen? »Amen«, sagte Jim, und das Amen der Familie kam wie ein Echo. 145
»Langt zu«, sagte mein Vater und griff nach der Soße. Er löffelte sich davon auf den Teller und reichte sie an Valerie weiter. »In Beaumont ist also soweit alles in Ordnung«, sagte Vater und meinte Jim. »Bestens«, sagte Jim, »alles bestens. Haben Sie mitgekriegt, was die Oilers so machen?« »Was kann man schon von einem Verein erwarten«, sagte mein Vater lachend, »bei dem sie schon den Trainer Schlappi nennen?« Ich nahm einen Bissen in den Mund und kaute. Ich glaube, in diesem Augenblick wünschte ich mir, mein Vater würde aufspringen und mit der Faust auf den Tisch hauen und Forderungen stellen. Würde wissen wollen, warum seine Tochter aussah wie eine Leiche auf Urlaub, warum sie nie anrief, warum ihre Augen aussahen, als wären sie mit einer Schicht Eiweiß überzogen. Warum sie bei Tisch nicht mehr lachte und scherzte wie früher. Ich wünschte es mir und fürchtete mich doch davor. Aber er würde es ohnehin nicht tun. Er würde es nicht tun, weil er es nie getan hatte; nie hatte er etwas in Frage gestellt, was seine Familie betraf. Wie gern hätte ich seine Sorgen um mich verdient. Warum ich sie nicht verdiente, wußte ich auch nicht so recht. Ich mußte an den Tag meiner Einstellung in Pasadena denken. Ich war nach Hause gefahren, um ihnen zu erzählen, was ich machen würde. Mein Vater stellte mir nur eine einzige Frage: Ob es denn auch das sei, was ich tun wolle. Ich hatte ja gesagt, und er meinte: »Begeistert bin ich nicht gerade. Aber du bist, wie man so schön sagt, frei, weiß und einundzwanzig. Es ist deine Entscheidung.« Das war alles, es war meine Entscheidung gewesen, ob ich nun reif genug war, sie zu treffen, oder nicht. Ich schaute in die Runde, sah mir all die höflich geschlossenen vor sich hinkauenden Münder an. 146
»Kristen«, sagte Valerie, »du mußt unbedingt Steve kennenlernen. Er ist ja sooo goldig, einfach unglaublich. Wir gehen nächsten Samstag zu Rod Stewart, er hat Karten für die dritte Reihe und alles, und in einer Band spielt er auch, er spielt Schlagzeug.« »Das ist schön«, sagte ich. Ich biß in den Truthahn und kaute. Er schmeckte nach nichts. »Wie heißt denn seine Band?« fragte Jim. Danke, dachte ich. Unterhaltet euch nur weiter. Ich kenne diese Leute nicht mehr. Unterhaltet euch einfach weiter, und ich sitze dabei und zwinge mir das Essen rein und versuche nicht umzukippen. * Ich ließ Wasser über die Teller laufen und reichte sie Michelle, die sie in den Geschirrspüler stellte. »Du siehst nicht gerade aus wie das blühende Leben«, sagte sie. »Mama macht sich Sorgen.« »Hat sie was gesagt?« »Sie hat gesagt, daß du schlecht aussiehst.« »Warum sollte sie dir das sagen?« »Warum sagt sie mir immer alles. Weiß ich auch nicht. Wir unterhalten uns eben.« »Sie sollte sich keine Sorgen machen«, sagte ich. »Es sind nur die vielen Überstunden. Viel zu viele Überstunden. Aber es ist bald vorbei, dann kann ich eine Pause einlegen. Was läuft denn so an der Schule?« »Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn mag«, sagte sie. »Wen?« »Na Jim. Irgendwas an ihm stört mich. Aber er zieht sich gut an.«
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* Später am Nachmittag guckten wir alle zusammen Football. Das war wenigstens sicher – um den Fernseher zu sitzen, Jim und Vater bei ihren Kommentaren zu den Spielen zuzuhören. Michelle zeigte uns das Kleid, das sie bei der bevorstehenden Neujahrsfeier tragen wollte; es war schwarz, wirklich schick, einfach umwerfend. Michelle konnte tragen, was sie wollte, an ihr sah alles umwerfend aus. Sie wußte ihren Bemühungen die richtige Richtung zu geben. »Ich glaube, dazu brauchst du Satinpumps«, sagte meine Mutter. Sie wandte sich an mich. »Was meinst du dazu, schwarze Satinpumps?« »Würd ich auch sagen«, sagte ich. Ich hatte keine Ahnung. »Möchtest du ein Stück Kuchen?« fragte sie. »Pekantorte ist auch noch da.« »Ich bin noch voll vom Essen«, sagte ich. »Vielleicht später.« »Na schön, dann eben später«, sagte sie rasch, der verletzte Unterton war nicht zu überhören. Ich beleidigte sie, ohne es zu wollen. Ich wollte über alles reden. Ich wollte endlich wieder von hier verschwinden. * Als es Abend wurde, verabschiedeten wir uns und umarmten einander zärtlich. So war es immer gewesen, man legte sich leicht die Hand auf die Schulter, als würde man etwas zerbrechen, wenn man zu hart drückte. Ich sah meine Familie auf der vorderen Veranda stehen und uns zuwinken, als Jim langsam losfuhr. Ich wollte bleiben. Ich wollte mit ihnen reden. Ich kannte sie nicht mehr. Als wir um die Ecke bogen, schien Jims ganzer Körper zu seuf148
zen. Er schlang einen Arm hinten um den Beifahrersitz und sagte: »Mein lieber Schwan, deine Familie ist ja wirklich was für sich, aber so was von spießig. Ich meine, wir haben schließlich 1978, um Himmels willen, und du bist schließlich nicht mehr sechzehn. Dieser Schwachsinn mit den getrennten Zimmern, ich halt's einfach nicht aus.« Vielleicht hatte er recht, oder vielleicht lag es auch einfach nur daran, daß unsere Phiolen so gut wie leer waren.
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Kapitel Neun Ich bin so verdammt gut in meinem Job. Ich krabble auf dem Boden herum, krabble auf dem Scheißboden herum, in dem wunderschönen schwarzen Seidenkimono, den Jim mir geschenkt hat, bevor er mich in seinem Wohnzimmer mit einer Viertelunze Koks allein ließ, um sich wieder um seine »Geschäfte« zu kümmern. Beide gingen wir voll und ganz in unserem Job auf. Ich krabble auf dem Boden herum, kreuz und quer, suche nach einem winzigen Krümel Weißling, in der Hoffnung, einen Brocken zu finden, in der Hoffnung auf einen weiteren Schubs für mein Herz, einen weiteren Rush; ich wollte hoch hinaus, ganz hinauf, um der Heiligen Dreifaltigkeit ins Gesicht zu lachen: »He, Jungs, was läuft 'n so?« Mein Körper will hinauf, deshalb krabbelt er hier auf dem Boden herum, und mein Verstand versucht, mit ihm Schritt zu halten, ein ganzer Kontinent liegt zwischen meinem Körper und meinem Verstand, Lichtjahre zwischen meinen Augen und meinen Händen, aber nur eine Nanosekunde zwischen dort, wo ich vor zwanzig Minuten war, und da, wo ich jetzt bin. Nur noch einen Brocken. Ein Bröselchen Schnee. Und wenn's noch so winzig ist. Nur ein kleines bißchen. Was für ein kleiner Abstand zwischen Elend und Freude. Was weiß ich, was ich nicht alles von unserem braunen Teppich zupfe. Meine Knie brennen vom Krabbeln. Ein Stückchen Watte, ein paar Fusseln, ein Bröselchen weißer Farbe von der Wohnzimmerwand. Abfall. Ich will Jim dabei zusehen, wie er mir die Nadel setzt, wie er 150
sie mir mit einer sauberen Bewegung in die Vene einführt; ich fahr ab auf diesen kleinen kieksenden Schmerz, den man noch spürt, kurz bevor der Ozean auf das Herz trifft. Ich bin ein derart guter Drogenfahnder. Jim und ich, wir beide konnten ohne die geringste Vorbereitung in ein Lokal gehen, und wenn wir wieder rauskamen, hatten wir noch für denselben Abend drei Deals angeleiert und vier weitere für tags darauf. Wir wußten, wie man Stoff kaufte. Wir wußten, wie wir unsere V-Leute zu führen hatten, wir kannten uns aus auf der Straße. Und wenn ich mir einen kleinen Snief einfange, was soll's? Wir sind die Guten. Was wir machen, ist in Ordnung. Genau. Ich krabble auf dem Boden herum. Irgendwo muß doch noch etwas Koks rumliegen. Wenn keiner mehr da ist, dann müssen wir eben was anschaffen. Es ist Beweismaterial. Wir brauchen schließlich was zum Abliefern; sogar Vierprozentiger ist schon genug. Es muß einfach noch was da sein. Ich muß noch was finden. Es ist, als rieche man Blut, so wie es sofort den ganzen Körper befällt, die gleichen Reaktionen, der Geruch geht einem durch und durch, der reine, saubere, lächelnde Geruch von Kokain. Jim stand in der Tür, er trug seinen eigenen Kimono, einen braunen mit einem Drachen auf dem Rücken. Ich sah seine Beine, die feinen schwarzen Härchen auf seinen Beinen. Wenn genug Kokain da ist, das heißt, wenn zuviel da ist, wenn ich mich alle zwanzig Minuten ein Stückchen höher trippen kann und zwischen dem einen und dem anderen Druck auf die Uhr starre, die Finger auf den Puls gepreßt, um die Schläge zu zählen und darauf zu warten, daß sie von 174 auf unter neunzig zurückgehen, damit ich nachlegen kann, dann wachsen zuweilen Haare aus allem um mich herum. Beinhaare. Direkt vor meinen Augen wachsen sie aus den Kissen, den Wänden, dem Tep151
pich. Feine blasse Härchen oder dicke schwarze Haare. Ich schließe die Augen, und auf der Innenseite meiner Augenlieder beginnen mir Haare zu wachsen. Wir hatten was gekauft; ohne uns darauf vorzubereiten, hatten wir was gekauft, einige Nächte zuvor, oder waren es Wochen, Monate, Jahre, keine Ahnung, von irgend so einem Stück Scheiße mit Cowboyhut, der damit prahlte, der jüngste Bankräuber in der Geschichte des ganzen Landes gewesen zu sein. Wir hatten Walker den Abend freigegeben und waren durch die Lokale gezogen. Als Kind, als neunjähriges Kind, hatte er, der Cowboy, mitgeholfen, einen Banküberfall abzuziehen. Und sein Freund, der gleich neben dem Cowboy an den Flipper gelehnt stand, war erst am Tag zuvor aus Huntsville entlassen worden; er hatte einen Blick in den Augen, als warte er nur auf einen in Uniform, der ihn kassieren kam und wieder zurück in die Kiste verfrachtete. Drei Gramm Koks, nicht mal ein Brösel von den Tonnen, die ins Land kommen, aber schließlich haben wir es hier mit wirklich miesen Figuren zu tun, wirklich kaputten Typen; wenn es darum geht, solche Leute von der Straße zu räumen, ist eine Rauschgiftklage nicht schlechter als eine wegen Raub. Der Cowboy, der schon als Baby eine Bank ausgeraubt hatte, meinte: »He, Mann, versteht ihr, wir müssen schließlich wissen, ob ihr okay seid, Mann, oder was. Hier habt ihr meine Pumpe. Ich will sehn, wie ihr euch was reindrückt.« Und während er das sagt, hält er die Hand um die hübschen Walnußgriffschalen eines Colt Lawman. Also machen wir's, Jim und ich, drücken uns den Stoff rein, direkt unter seinem scheelen Blick; und es ist das erste Mal, daß ich Koks schieße, und was wußte Willy Red schon von einer Abfahrt, das hier, das ist eine Abfahrt; so was wie das hier habe ich meiner Lebtag nicht gefühlt, noch nicht mal mit Heroin. Ich nicke Gott zu und flüstere: »Wirklich nett bei euch hier oben.« Und Jim grinst mich an, weil wir in diesem Augenblick beide 152
daran denken, wie sich dieses Arschloch da vor Gericht aufführen wird: »Die haben sich Dope reingeknallt! Scheiße, die haben sich doch selber Dope reingeballert!« Und wenn der Ankläger uns fragt, ob wir jemals Drogen genommen hätten, werden wir sagen: »Nein, Sir, selbstverständlich nicht, wir sind schließlich Polizeibeamte.« Und wir werden dabei so was von sauber und durch und durch amerikanisch aussehen. Und die Jury wird uns dafür ins Herz schließen, bewaffnete Räuber und Dealer und wer weiß was noch für Kroppzeug, das zum drittenmal rückfällig geworden ist, von der Straße geholt zu haben. Um sie für die Kinder sicher zu machen. Ich finde es irgendwie ganz in Ordnung, dieses Geschmeiß bei seinem eigenen mistigen kleinen Spiel zu schlagen. Ich bin nach wie vor empfänglich für die Ironien des Lebens. Ich krabble auf dem Boden herum. Jim schaute auf mich herunter, nahm die Pumpen vom Couchtisch und sagte: »Ich glaub, ich mach die hier mal lieber sauber.« Zu jeder Tages- und Nachtzeit klopften sie an unsere Tür, schwankend, taumelnd, allesamt auf der Suche nach einer Freistatt, einem Ort, wo sie sich einen Schuß setzen konnten, ohne belästigt zu werden. Manchmal zusammen mit Walker, manchmal, weil sie von uns auf der Straße gehört hatten, die Szene zog sie an – there's a new kid in town. Wir kauften ihren Stoff und schrieben unsere Berichte, mit besonderer Aufmerksamkeit auf Uhrzeit und Datum und Personenbeschreibung; alles, was diese Leute in den Augen einer Jury zu Menschen hätte machen können, ließen wir weg: Nadean zum Beispiel, ein ausgebranntes Relikt der Sechziger, züchtete Azaleen und baute ganz zufällig nebenbei etwas Marihuana an und lieferte ihre Pfunde stets mit einer Gratiszimmerpflanze und einigen Reminiszenzen an Woodstock; ein Typ namens Buzz Saw, der eines Tages auftauchte, um seinem alten Freund Dice – 153
»der hat mal hier gewohnt, da bin ich sicher« – Quaaludes zu verkaufen, und ich, die gegen Dice sechs Kokslieferungen in Händen hatte, rief ihn an, um ihm zu sagen, daß Buzz Saw ihn suchte, und kaufte dann selbst ein Dutzend Quays von Buzz, von dem ich bis zu diesem Augenblick noch nicht mal gehört hatte. Und dann gab es da noch Typen wie Lester, den Lästerer, der eines Tages vorbeikam, um mit seinem funkelnagelneuen Smith & Wesson .38 Chief Special anzugeben, der so klasse in die Tasche seiner pludrigen weißen Hosen paßte und den er, so schwor er uns, damit einweihen würde, »das erste Bullenschwein« abzuknallen, »das mir über die Schwelle kommt«. Als er wieder ging, fragten wir uns, ob er uns wohl einen Wink mit dem Zaunpfahl hatte geben wollen oder ob er ständig auf diesem Psychopathentrip wäre. Er nahm uns mit nach Hause, damit wir uns seine neueste Ware beguckten, und das in einem roten 56er Galaxy, mit dem er über den Highway 10 bretterte, als wäre es Zeit zu sterben; einen ganzen Sonntagnachmittag besudelten wir mit Dopequalm und Wodka. Wir schauten uns heiße Fernseher und gestohlene Flinten an, während Lester in der Küche herumfuhrwerkte und sich dann mit einer geladenen Spritze in jeder Hand anschickte, seiner nicht mehr ganz so süßen kleinen sechzehnjährigen Freundin einen Schuß zu setzen; noch am Vormittag hatte sie Schmiere gestanden, während Lester und sein kleiner Bruder Douglas die rückwärtigen Fenster einiger netter maßgeschneiderter Villen einschlugen, um nachzusehen, ob es nicht was abzustauben gab, während die Besitzer in der Kirche waren. Wir sahen zu, wie Lester Lisas Arm abband und das Meth injizierte, sahen, wie Lisa große Augen kriegte; wir hörten sie nach Luft schnappen, als der Speed ihr Herz erwischte. Sie schaffte es gerade noch zur Küchenspüle, bevor sie loskotzte. Dann tauchte 154
sie lächelnd wieder auf und sah fasziniert zu, wie Lester das gleiche mit seinem jüngeren Bruder veranstaltete. Sie wollten ein Faß aufmachen, also machten wir ein Faß auf, und tja, ich hatte wohl ein Problem – ich spürte den gewaltigen Stoß, roch den Chemiegeruch und hatte den ätzenden Säuregeschmack des Speeds im Rachen, und das, obwohl ich ihnen beim Fixen nur zusah. * Zwei Tage und wer weiß wie viele Beweismittel später stand Jim in der Küche – welchen Tag hatten wir, welchen Monat, wie lange machten wir das nun schon? – und hielt eine Preludin unter den Wasserhahn, um die Dragierung abzuwaschen. Fünf rosa Tabletten lagen in Reih und Glied auf der Kante der Spüle. Ein Reagenzglas, ein gläserner Rührstab, zwei neue Spritzen und eine Zange. Er hob den Blick und sah mich an, sein Mund schürzte sich zu einer Frage. Der Medikamentengeruch stieg mir den Rachen herauf, meine Zunge schwitzte ihn aus; es war der Geschmack von Prelus, ganz anders als der von Koks oder Meth; die Nadeln lagen auf der Anrichte und bettelten. Und genau das gefiel Jim: sich über meinen Arm zu beugen und zuzuschauen, wie sich das Blut mit dem Stoff mischte, und dann einen Augenblick zu stoppen, um mir in die Augen zu schauen, bevor er den Kolben drückte. Ich bring dich drauf. Langsam begann es zu wirken, kitzelte mir einen einzigen langen Augenblick das Herz, um dann voll reinzuknallen. Es war wie ein Frontalzusammenstoß; es riß mich hoch, ich hustete, würgte – zuviel, er hatte mir zuviel gegeben! Rund um mich herum war alles rot; Jim war rot, als er sich über seinen Arm beugte; rosa Moleküle tanzten in der abgestandenen Luft des Raumes; und 155
dann das Brennen in meiner Lunge, den Rachen herauf, zwischen meinen Beinen, und schon ging ich in die Knie, meine Arme unter mir, wappnete mich, wartete, die Backe gegen den Boden gepreßt, den Geruch des Teppichs in der Nase, und Jim kniete sich hinter mich und packte meine Hüften, und dann gab es nichts mehr als diesen einen Fick, pur, schweiß getränkt und verzweifelt, bis wir schrien und wund und keuchend auf dem Boden lagen. * Ich stand vor dem Spiegel im Bad und ließ meinen Hausmantel fallen. Die Blutergüsse reichten vom Ellenbogen bis zum Handgelenk, große schwarze und gelbe Flecken auf der Innenseite eines jeden Arms. Ich ließ die Dusche laufen, viel zu heiß, beobachtete, wie meine Haut unter dem siedendheißen Wasser rosig wurde. Ich nibbelte, bis ich das Gefühl hatte, sie mir Schicht für Schicht abzuziehen. Ich atmete den Dampf ein. Ich versuchte zu verstehen. Es verändert einen. Man kann sich einreden, daß man es tut, weil man muß, weil man sonst sein Beweismaterial nicht zusammenbekommt. Weil es besser ist als Sex, oder weil es den Sex besser macht. Oder weil man sich heute nun mal gerade danach fühlt. Aber egal, was man sich einredet, wie man es sich erklärt, es gibt nur einen einzigen Grund. Man ist auf der Jagd nach dem Rush. Und ganz gleich, wie oft man ihn sich verschafft, ganz egal, wie viele Male, man kriegt ihn einfach nicht mehr. Es gibt Leute, die suchen ihr ganzes Leben lang danach. Sie stehlen dafür. Sie wissen nicht, wie man aufgibt. Morden dafür. Sie jagen hinter ihm her, bis er sie zu jagen beginnt wie ein brüllendes Tier. Er springt ihnen ins Kreuz wie ein Bär, reißt ihnen das Fleisch von 156
den Knochen und bringt sie um. Aber zu diesem Zeitpunkt sind sie schon lange tot.
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Kapitel Zehn Viel später, Jahre später, sollte man mich fragen, warum ich denn nichts dagegen getan hätte. Als hätte ich das nicht. Ich nehme an, in ihren Augen läuft zu wenig tun und nichts tun auf ein und dasselbe hinaus. Im nachhinein ist es immer leicht, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Warum hast du nicht? Und was war damit? Konntest du nicht? Hinterher ist man immer klüger. * Ich kam nach Hause aus dem einen oder anderen Club und sah, daß man Jim die Wohnungstür eingetreten hatte. Ich hätte wie gelähmt dastehen sollen, Angst haben sollen, aber ich stand noch immer derart unter Strom von den Kostproben des Beweismaterials, das ich an diesem Abend zusammengetragen hatte, daß mich nur die totale Ruhe überkam, als sich das Adrenalin in mein Blut mischte. Ich zog meine Pistole und spähte in die Wohnung. Er lag ohnmächtig auf der Couch, sein Arm baumelte über die Kante; er stak aus der marineblauen Decke, die seinen Körper bis hinauf an die Augen bedeckte. Ich überprüfte Schlafzimmer, Bad, Küche und Schränke, bewegte mich leise, vorsichtig, bereit, jeden Augenblick abzudrücken, hoffte auf die Chance. Die Seelenklempner sagen, die Trennlinie zwischen Mord und Selbstmord sei dünn, das Ganze sei nur eine Frage der Richtung, in die man seinen Abscheu wende. 158
Ich kniete mich neben die Couch. Ich sah mir Jims Arm an. Er war wirklich gut, womit ich meine, er konnte sich einen Schuß setzen, ohne große Narben zu hinterlassen; ein stecknadelgroßer Einstich und tags darauf war nur noch der Hauch eines Blutergusses zu sehen – freilich nur, wenn er alles im Griff hatte. Die Spuren waren da, alle Anzeichen der Krankheit, die er sich selbst beigebracht hatte. Die Blutergüsse, große blaue, grüne, gelbe Blutergüsse und dazu Dutzende von verschorften Punkten auf der Haut. Um sie herum gerötete Schwellungen. Ich versuchte ihn wachzurütteln. Er stöhnte und drehte sich im Schlaf um. Ich stemmte einen Stuhl unter den Türknopf, zog mir die Bettdecke ins Wohnzimmer und streckte mich auf dem kürzeren Teil der Couch aus. Ich horchte auf den pochenden Pulsschlag in meinen Ohren; geduldig wartete ich, während mein Körper daran arbeitete, die Gifte loszuwerden, die ich ihm den ganzen Tag und den ganzen Abend über aufgezwungen hatte. Ich sah Jim beim Schlafen zu. Sogar jetzt, im Schlaf, waren die Muskeln seines Kiefers angespannt, seine Zähne fest zusammengepreßt. Nie hatte ich auf seinem Gesicht die entspannte Unschuld des Schlafs gesehen; aber manchmal muß sie ja wohl dagewesen sein. Ich überlegte, ob die Welt, in der er schlief, genauso tückisch war wie die, gegen die wir Tag für Tag kämpften, der wir Tag für Tag unsere Zugeständnisse machten; und ich wollte mit ihm dort sein, in seine Träume eintauchen und uns beide an einen Ort führen, wo wir wenigstens einige Stunden lang Frieden finden würden. Ich wollte mich wieder einmal so fühlen wie an den Sommersonntagmorgen meiner Kindheit, an denen ich früh aufwachte, meine Seele noch immer vollkommen rein von der Beichte am Samstagabend, und mir mein Sommerkleid anzog, mir meine Sandalen schnappte und auf Zehenspitzen aus dem Haus schlich, während meine Familie noch schlief. Die 159
Morgen, an die ich mich erinnere, waren alle strahlend sonnig, aber die Luft war noch kühl von der Nacht und voll vom Duft der Bäume. Ich spazierte an den stillen, grünen, am Vortag gemähten Rasen vorbei auf die hartgewalzte Schotterstraße durch den Wald, die ich kühl und fest gegen die bloßen Fußsohlen spürte. Der Wald öffnete sich auf den Spielplatz der Volksschule, wo meine Freunde aus der sechsten Klasse während der Nachmittagspause immer Kickball spielten. Dann stand ich vor dem Basketballplatz, einem rauh asphaltierten schwarzen Rechteck, das, jetzt schon weich von der Hitze, auf mich wartete. Ich stand einen Augenblick lang am Ende, das mir am nächsten war, den Kopf gesenkt, und rezitierte: »Gebenedeit seist du Jungfrau Maria, nimm dies als meine Gabe, es ist nur recht und billig, daß der Mensch auf der Erde leiden soll, da Gott gab seinen einzigen Sohn, auf daß alle Menschen gerettet werden, um vom Tod in ein neues Leben zu treten. Nimm hiermit mein eigenes kleines Leid zu Ehren deines geheiligten Namens und dem deines Sohnes Jesus Christus, und bitte Gott, auf mich herabzusehen und mich zu segnen und mir meine Sünden zu vergeben.« Dann ging ich mit langsamen Schritten den heißen Asphalt hinunter, meine Fußsohlen brannten mit jedem neuen Schritt, bis sie an der Freiwurflinie auf der anderen Seite fast taub waren. Ich nahm das als Zeichen, daß mein Opfer angenommen worden war; ich trat von dem heißen Asphalt auf den kühlen Rasen, wo ich in einem Zustand der Gnade dastand und in meine Sandalen schlüpfte, damit ich mich auf den Weg zur Achtuhrmesse machen konnte. Jim setzte sich mit einemmal auf und sah sich mit geschlossenen Augen im Wohnzimmer um. »Ich verstehe die Frage nicht«, sagte er und legte sich dann wieder hin und zerrte sich die Decke hoch bis zum Kinn. »Jim?« flüsterte ich. »Jim?« Er schlief tief und fest. Ich stand auf, schenkte mir einen 160
Wodka ein und starrte auf die Uhr. Vier Uhr siebzehn morgens, und ich saß da, gefangen in den frühen Morgenstunden, die Stunden pochender Gedanken und flatternder Mägen, in denen die, die an Schlaflosigkeit leiden, ihre Tagträume haben. Ich war müde, derart müde, so furchtbar müde. Alles, was ich wollte, war, daß mir endlich die Augen zufielen. Ich ging zu Jims Schrank und begann seine Jacketts zu durchsuchen – auf der Suche nach einem verlorenen oder vergessenen Vorrat. Ich fand Streichholzbriefchen und Zahnstocher, Kleingeld, zerknitterte Cocktailservietten voller Süchtigenhieroglyphen – Telefonnummern, Preislisten, Initialen – und schließlich und endlich in der Tasche seines einzigen wollenen Anzugs ein paar Quaaludes. Ich nahm eine davon, dann noch eine halbe und ging wieder zur Couch, um auf ihre Wirkung zu warten, auf einen Schlaf so tief und traumlos, daß noch nicht mal der finsterste Alptraum darunter hervorkriechen konnte. Ich schlief ein, eine Hand unter dem Kissen auf dem Griff meiner Pistole. * Der niedrigstehende Bogen der Sonne saß auf dem Dach des Wohnhauses gegenüber; Walker stand in der Tür und klopfte laut gegen den zersplitterten Rahmen. Sein Körper war ein Schatten gegen das grelle gelbe Licht. Ich bewegte mich in Zeitlupe, als ich mir die Bettdecke über die Arme zog, und sah den Stuhl, mit dem ich die Tür verkantet hatte, umgekippt auf dem Teppich liegen. Walker betastete den Türknopf. »Was war denn hier los?« Ich zerrte an der Bettdecke. Meine Arme heilten, aber die Blutergüsse waren noch zu sehen. Er war in Arbeitskleidung: Bluejeans, Sicherheitshalbstiefel mit Stahlspitzen und ein paar 161
Sweatshirts übereinander. Um den Kopf hatte er sich ein schwarzes Tuch gebunden. Der umgekippte Stuhl sah irgendwie verwundet aus. »Sag schon?« Ich beugte mich vor und holte den Spiegel unter der Couch hervor, hielt dabei aber sorgfältig die Bettdecke über meine Arme; dann zog ich eine Glasphiole aus der Tasche meiner Jeans. »Hier, knall dir was rein«, sagte ich. Er machte die Wohnungstür zu, als würde sie schließen, und verdunkelte damit den Raum bis auf den dünnen Lichtkeil der untergehenden Sonne, der den Teppich zerschnitt, und den beigen Schimmer des durch die Vorhänge dringenden Tageslichts. »Bin gleich wieder da«, sagte ich. Ich stolperte ins Schlafzimmer und fand ein Sweatshirt: NEHMT SIE AUF DIE HÖRNER, UT, HÄNGT EUCH REIN. Die Spuren auf meinen Armen schienen höhnisch zu mir heraufzugrinsen, schienen mir mit blaugrünen Worten etwas von mangelnder Selbstachtung entgegenzuschreien und was ich für ein Schwächling sei. »Wie tief willst du noch sinken?« fragten sie. »Willst du den großen Sprung tun? Du hängst voll drauf. Einwandfrei voll drauf. Daran ist nicht zu rütteln. SCHAU DICH DOCH AN.« »Flo?« Walker klopfte an die Tür. »Bist du okay?« »Ja«, rief ich. »Mir geht's prima. Ich versuch bloß aufzuwachen.« Ich zog mir die Ärmel herunter und wischte mir über die Augen. »Na, dann komm schon raus«, sagte er. »Das Zeug, das du mir gegeben hast, schafft das garantiert. Von wem hast 'n das?« Ich sah im Spiegel nach meinen Augen und öffnete die Schlafzimmertür. Walker war in der Küche und machte schniefend Kaffee. Er deutete auf den Spiegel auf der Anrichte. Die kostbaren weißen Spuren. Gesegnete Erlösung. 162
»Wir bauen in der Südstadt gerade ein Haus mit sechs Schlafzimmern«, sagte er. »Danach haben wir noch zwei mehr auf der Liste, fast genausogroß. Damit hab ich bis mindestens Juli Arbeit.« »Prima«, sagte ich, »das ist wirklich prima. Wir sind schon lange vorher fertig.« Ich trug den Kaffee ins Wohnzimmer, ich brauchte die weiche Couch. Jeder Knochen im Leib tat mir weh. Ich setzte mich in die Ecke und wickelte mir die Bettdecke um die Schultern, nur die Hand mit dem Kaffee blieb draußen. »Siehst aus wie Pocahontas«, sagte Walker. »Eine blonde Pocahontas.« Er zog sich die Stiefel aus und legte die Füße auf den Couchtisch. »Jetzt sag schon. Wer hat die Tür eingeschlagen?« »Keine Ahnung«, sagte ich. »Sie war schon so, als ich gestern abend heimkam. Jim war hier. Er wird wohl wissen, was los war.« »Und wo ist er jetzt?« »Irgendwas kaufen nehm ich an.« »Du scheinst ganz schön fertig zu sein«, sagte er. »Ich bin müde. Das ist alles.« »Also, soll ich nach Hause und 'ne Dusche nehmen, mich saubermachen? Arbeiten wir heut abend?« »Ich hab etwas Stoff in Aussicht von diesem Mungo, den du mir letzte Woche vorgestellt hast. Er traut mir. Ich werd ihn fragen, ob er es herbringen will. Mir ist nicht danach rauszugehen.« »Willst du, daß ich dableibe?« »Mir geht's prima. Du brauchst nicht zu bleiben. Nimm dir den Abend frei. Geh mal aus, mach irgendwas.« »Bringt er Schnee?« »Er hat jedenfalls gesagt, daß er welchen hat.« »Vielleicht bleib ich trotzdem da.« »Wenn du willst«, sagte ich. »Aber ich bin okay.« 163
»Ich bleib da.« Er stand auf und blätterte sich durch die Schallplatten. »Irgendwas Ruhiges«, sagte ich. »Okay? Nimm was Ruhiges.« Er legte Patsy Cline auf und kam wieder auf die Couch. »Flo«, sagte er. »Haben dir deine Eltern das angetan, dir einen solchen Namen zu geben?« »Gehört zu meiner Legende.« »Ist schon komisch«, sagte er. »Ich dachte, da lern ich die beiden coolen Typen kennen, die gegenüber eingezogen sind. Du verstehst schon, prima Nachbarn und so. Ich hab euch wirklich gemocht. Und dann stellt sich heraus, daß ich einen Dreck über euch weiß, noch nicht mal deinen Namen kenne ich.« »Ja. Na ja, aber du brauchst dich nicht mehr mit uns abzugeben, wenn das hier vorbei ist. Wir werden aus deinem Leben verschwinden, und du kannst es dir wieder einrichten, wie's mal war.« »Nicht ganz.« Er schlürfte seinen Kaffee. »Willst du wegziehen?« »Glaub ich nicht.« »Von vornherein ausschließen würde ich's nicht«, sagte ich. »Die Leute drehen nun mal durch, wenn man sie einbuchtet. In Pasadena haben mir einige gedroht, mich umzubringen.« »Offensichtlich haben Sie's nicht getan.« »Sie haben es noch nicht mal versucht, jedenfalls soviel ich weiß. Für gewöhnlich ist es nur Gerede. Aber man muß es in Betracht ziehen.« »Wie bist du da nur reingeraten? Warum bist du 'n Bulle geworden?« »Weiß ich auch nicht«, sagte ich. »Ich dachte mal, ich wüßte es, aber ich weiß es nicht. Nicht mehr.« Ich zog die Decke enger um mich. »Warum hilfst du uns, abgesehen davon, daß du dir Knast ersparen willst?« 164
»Um meine Freunde zu schützen.« »Da nimmst du doch auch irgendwie ganz schön was auf dich.« »Nicht wirklich. Ich hatte Jim ja schon was verkauft. Für mich war's eh schon zu spät, ich wollt's nur um ihretwillen wissen. Damit man sie nicht schnappt. Falls er von der Schmiere ist, meine ich. Daß du auch dazugehören könntest, hätte ich nie im Traum gedacht.« Eine Weile lang sagten wir nichts. Es hatte zu dämmern begonnen, und der Raum lag wieder im Schatten. Ich wußte, ich verstieß gegen die Regeln, indem ich mich mit einem Informanten anfreundete, aber ich brauchte einfach einen Freund. Ich brauchte eine Dosis Freundschaft. Die einzigen Leute, mit denen ich in Beaumont verkehrte, waren Dealer, und selbst wenn ich dazugehörte, dann spielte ich doch nur eine Rolle. Es war alles an der Oberfläche, die bloße Illusion von Kommunikation. Rob kam vorbei, wenn er dachte, es wäre Stoff im Haus, aber Denny war weggeblieben, nachdem er damals mitten in die Party geraten war. Er sagte, es mache ihm angst, zu nahe mit Untergrundfahndern zusammen zu sein. Er konnte die ganze Geschichte nicht ab. »Kümmerst du dich um Grady?« fragte mich Walker. »So gut ich kann«, sagte ich. »Laß mich Mungo anrufen.« Ich stand auf und schleppte das Telefon auf die Couch. »Ist das sein richtiger Name oder steht der nur auf seinem Nummernschild?« »Anders hab ich ihn nie gekannt.« Er machte sich daran, weitere Riegel zurechtzuschaufeln. »Hör mal«, sagte ich, »du würdest mir nicht vielleicht die Wohnungstür reparieren, was? Jeder könnte sich hier reinschleichen.« Er stand auf, streckte sich faul und stöhnte genüßlich. Sein Haar bekam goldene Streifen vom Rest der Frühlingssonne. Es 165
verfing sich vorne mit seinen Augenbrauen und fiel ihm hinten geradewegs über die Schultern. »Du läßt mich an meinem freien Abend arbeiten?« »Ich frag nur nach Freiwilligen«, sagte ich. »Ich kann mir auch 'nen Schlosser rufen.« Er ließ die Hände gegen die Oberschenkel knallen und seufzte. »Schon gut«, sagte er. »Schon gut. Laß mich nur mein Werkzeug holen.« * Jim kam nicht nach Hause. Er rief auch nicht an. Er kam und kam nicht. Ich machte sauber. Ich schrubbte die Bude vom Boden bis zur Decke, schrubbte und schrubbte, wischte rötlichen Staub von den Tischen, harkte den Teppich mit dem Staubsauger, schob und zog, achtmal, wenn es sein mußte, hin und her, harkte unsichtbare Linien. Beißend hing rund um mich der Geruch von Salmiak in der Luft, jedes Glas, jede Kachel wurde desinfiziert; ich polierte die Fenster streifenfrei sauber, meine gelben Arme leuchteten mir entgegen. Ich verbog Nadeln und warf Pumpen weg, zog mir Koks in die Nase. Ich war froh, daß ich kein Heroin geschossen hatte. So stark war ich nun auch wieder nicht, so couragiert nicht. Ich sammelte Klamotten von Stühlen, vom Boden des Schranks, von unter dem Bett, ging in die Wäscherei, sah zu, wie sie in den sauber glänzenden rostfreien Maschinen hin und her geworfen wurden, naß und voller Seifenschaum. Er kam nicht nach Hause. Ich zog mir Koks in die Nase. Ich überlegte, ob er wohl tot sei. Ich überlegte, wie ich mich wohl fühlte. Der erste Tag. Der zweite Tag. Die dritte Nacht. Ich saß in der Wohnung. Ich ging ans Telefon und an die Tür. Ich trank literweise Orangensaft, aß Bananen, schluckte Vitamine. Ich 166
brauchte Kokain. Meiner Haut und meinen Armen versprach ich das Blaue vom Himmel. Als die Dealer herüberkamen, brachte ich den Spiegel zum Vorschein. Wenn sie sich einen Druck setzten, wenn sie ihre Pumpen anschleppten, saß ich dabei und sah zu, hatte den Geschmack im Mund, zählte die Sekunden, bis sie wieder gingen. Ich sehnte mich danach. An manchen Tagen schrie mein Verstand geradezu danach. Ich zog mir das Zeug in die Nase, um die Schreie in mir zu dämpfen. Ich fragte mich, wo Jim wohl stecken mochte. Am Ende des fünften Tags rief Dodd an. »Mein Stuhl ist futsch«, sagte er. »Was?« »Ich sagte, mein Stuhl ist futsch.« »Ich versteh kein Wort.« »Ja, Mädel«, sagte er und lachte dabei nervös, »heut morgen ist er verschwunden.« Er machte eine Pause. »Ich hab ihn nämlich mit dem Arsch verschluckt, als der Chef anrief, um mich zu fragen, was zum Teufel mit euch beiden los sein mag. Der Mann ist auf hundertachtzig.« »Wegen was denn?« fragte ich. »Er will wissen, warum noch immer keine Anklage gegen Gaines vorliegt. Habt ihr euch erkältet?« »Wir verschnaufen nur mal kurz«, sagte ich. »Er will, daß bald was passiert.« »Wir arbeiten dran. Wir kommen schon noch an ihn ran. Haben Sie mit Jim gesprochen?« »Nein, warum? Wo zum Teufel steckt er?« »Lassen Sie's gut sein, er ist schon okay«, sagte ich. »Wir haben ein paar Anklagen für Sie. Ich bringe das Beweismaterial heute abend vorbei.« »Sehen Sie zu, daß Sie's bis Viertel vor sechs schaffen. Ich hab 167
heut abend noch was vor.« * Ich konnte kaum die Straße sehen. Ich kutschierte an viktorianischen Häusern vorbei, grub im Handschuhfach nach irgendwas, womit ich mir die Augen trocknen konnte, und wußte, daß es ohnehin keinen Zweck hätte. Ich hatte Umschläge voller Phiolen, voller Beweismaterial, das heißt, im Grunde konnte man es kaum mehr so bezeichnen. Ich hatte eher Mannit mit Koks verschnitten als umgekehrt. Ich erspähte Douglas den Jüngeren, Lesters kleinen Bruder, in der einen Hand hielt er sein T-Shirt, der Daumen der anderen stak in die Luft. Er sah meinen Wagen und winkte; ich fuhr an den Randstein, um ihn mitzunehmen; ich ließ mir Zeit mit dem Bremsen, um mir die Augen zu trocknen. Ich wußte nicht, heulte ich, weil ich mich nach Jim sehnte oder nach was Stärkerem. Er sah gut aus, die blonden Haare reichten ihm bis auf die Schultern, seine Akne hatte sich verzogen, seit ich ihn das letzte Mal in einem der Clubs gesehen hatte. Er hatte mir Speed verkauft an jenem Abend. Als ich ihm sagte, er sehe gesund aus, erzählte er mir, er habe das Zeug aufgegeben. »Tut dir gut«, sagte ich. »Wo willst du denn hin?« »Zu Lester dem Lästerer.« Ich drehte das Radio an. Armes Schwein. Er gab sich alle Mühe, nur leider zu spät. Achtzehn Jahre alt und ein Gläubiger, der den ganzen Scheiß aufsaugte, den Lester verzapfte, der sich für einen Kommunisten hielt und meinte, das bedeute, man könne sich alles nehmen, wo immer man es fand, weil die Regierung es einem schulde, aber nicht damit rüberkam. Mit zehn Jahren hatte er angefangen für Lester den Lästerer Schmiere zu ste168
hen; Lester war damals selbst erst siebzehn gewesen. Schließlich hatte Lester den Sprung von Privathäusern zu Banken geschafft und war wegen bewaffneten Raubs in die Kiste gewandert. Er saß neben mir und lächelte stillvergnügt in den sonnigen Nachmittag hinein; und ich hatte die ganze Zeit über die Schlüssel zu seiner Gefängniszelle um den Hals; ich hatte die Umschläge im Kofferraum eingeschlossen, die Berichte waren geschrieben, ihm standen zwei Klagen wegen Kuriertätigkeit und zehn oder zwölf wegen seiner sonntagvormittäglichen Einbrüche ins Haus. Er und Lester wußten, wie man schnell arbeitete, soviel stand fest. Und für dieses eine Mal traf das auch auf Sergeant Dodd zu. Die Seriennummern auf dem Zeug, das Jim und ich an jenem Morgen gekauft hatten, waren bereits zurückverfolgt. Wir wußten, in welche Häuser die beiden eingestiegen waren und was sie hatten mitgehen lassen. Sie hatten nicht die geringste Chance; sein unglaublich dämlicher Bruder hatte ihn in ein Haus geführt, das dem Cousin des Staatsanwalts gehörte, und die beiden hatten alles mitgehen lassen, was sie nur tragen konnten, einschließlich einer diamantbesetzten Schmetterlingsbrosche, die ich ihm für fünfzig Dollar abkaufte. Und die die Frau des Cousins auf der Stelle wiedererkannt hatte, als Dodd sie hatte kommen lassen, um ihre Besitzansprüche geltend zu machen. Es war alles gegessen, und kein Mensch konnte mehr was dran ändern, beim besten Willen nicht. Sie saßen alle in der Tinte, unsere Angeklagten, einer wie der andere. Der Trottel fuhr hier quietschvergnügt mit mir durch die Gegend und hatte keinen blassen Schimmer, daß ihn meine Aussage ins Gefängnis bringen würde. Die meine und die von Jim – so wahr uns Gott helfe. Und jetzt, zu spät, hatte er sich also entschlossen, auf den richtigen Weg zu kommen. Drogenfahndung. Wir machten uns doch nur was vor. 169
»Ein 442«, sagte er. »Dein Wagen gefällt mir, echt.« »Schluckt sogar Normal.« Ich setzte ihn bei Lester ab, vor einer gelben Keksschachtel von einem Haus mit abgestorbenen Pyracanthabüschen unter den beiden vorderen Fenstern. Einige Zeit später hielt ich an einem 7-Eleven, kaufte mir eine Dr. Pepper und rief Dodd an, um ihm zu sagen, daß mich ein Deal aufgehalten hätte und ich es nicht mehr schaffen würde. Ich hatte einfach keine Lust, ihm zu erklären zu versuchen, warum von Jim kein Beweismaterial mehr kam. Ich fuhr. Ich wünschte, ich hätte ein Ziel. Irgendwann merkte ich, daß es im Wagen unerträglich warm war, und ich kurbelte ein Fenster herunter. Aus dem Radio tönte es: »Ihr solltet alle rausgehen an diesem herrlichen Dienstagnachmittag. Der März hat sich ins Land geschlichen, und womöglich sehen wir heute noch 26 Grad. Und wie war das doch gleich wieder mit den verlogenen Augen? Hier sind die Eagles für Euch.«
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Kapitel Elf Ich weiß nicht genau, warum ich rüberging. Vielleicht wollte ich einfach den Anrufen und dem ständigen Geklopfe an der Tür entkommen. Ich ging hinüber zu meiner leeren Wohnung, meiner Adresse. Ich bekam den Schlüssel nur schwer ins Schloß, aber als ich die Tür offen hatte, sah ich ihn. Jim war in meiner Wohnung. In ein weißes Laken gewickelt, hockte er auf dem Wohnzimmerboden, eine abgesägte Flinte in der Armbeuge. Die Flinte war von vorn bis hinten mit Kreppband umwickelt, einschließlich des Abzugs. So vermied man Fingerabdrücke. Etwas Glänzendes im Bad stach mir ins Auge. Ich schaute an Jim vorbei und sah, daß der Siphon des Waschbeckens abmontiert in einer Pfütze rostroten Wassers lag. Er starrte auf die Wohnungstür. »Sperr ab«, sagte er. »Hast du was verloren?« fragte ich. »Ist dir was in den Abfluß gefallen, Jim? Was für eine Scheiße ziehst du hier ab? Ich dachte schon, du wärst tot. Ich wußte nicht, was ich tun soll, wen ich anrufen soll; ich wußte noch nicht mal, wo ich dich suchen soll. Find ich ja wirklich abgespitzt, Mann. So was von abgespitzt.« »Die Tür«, sagte er, »schließ ab. Es kommen Leute.« »Kein Mensch kommt.« »Total üble Macker«, sagte er. »Schwere Jungs. Straßenräuber. Sperr ab.« Ich ging an ihm vorbei ins Bad. Auf der Konsole lagen ein Reagenzglas, auf dessen Boden sich trüber weißer Schlamm abgesetzt hatte, ein gläsernes Rührstäbchen und eine mit Blut einge171
färbte Plastikspritze. »Hast wohl deine Prelus wieder rausgeholt? Können ganz schön glitschig werden, wenn man sie wäscht, was? Eine Schande, so um einen ordentlichen Rush zu kommen.« Schwankend stand er auf und schloß die Wohnungstür ab. »Gar nicht so einfach«, sagte ich, »die glitschigen kleinen Biester unter fließendem Wasser festzuhalten, was? Aber das ist es doch wert, oder? Die hübsche harte rosa Glasur abzuwaschen, den ganzen Tag nichts anderes zu tun, als so 'n Zeug aufzukochen, umzurühren, in Reagenzgläschen herumzustochern und dir den Plempel dann reinzudrücken. Jaaa, das ist es schon wert, das Zeug.« »Was keifst du hier rum? Hier können jeden Augenblick ein paar total üble Macker aufkreuzen.« Er fiel gegen die Wand und sackte zurück auf den Boden. »Sie kommen.« Er leckte sich über die Lippen. »Ich weiß, daß sie kommen.« »Was redest du denn da?« fragte ich ihn. »Denk doch erst mal nach, bevor du so 'nen Quatsch redest. Jeder Dealer in der ganzen Stadt ist davon überzeugt, daß du der übelste Macker der ganzen Gegend bist. Was faselst du also zusammen? Die haben alle Angst vor dir. Du Macker.« »Dieser Cowboytyp, der und seine Kumpels. Sie sind stinkig. Sie sind hinter mir her.« Er zog sich die Decke um die Schultern, über den Kopf, machte sich eine Kapuze. Er zitterte. Ich sah den Schweiß auf seiner Stirn. Er legte die Flinte in den Schoß und zündete sich eine Zigarette an, nahm zwei tiefe Züge, bevor er das Streichholz in einen Pappbecher warf. Kaffeesatz und Zigarettenstummel. »Hast du Beweismaterial für Dodd?« fragte ich ihn. »Ich trage ihm heute was rüber.« Ich zog meine Ärmel hoch und streckte ihm meine Arme entgegen. »Schau her«, sagte ich. »Schau her. Ich komm wieder hoch.« 172
Er starrte zu mir hoch, so um zwei Uhr, dann schloß er die Augen und ließ das Kinn auf die Brust fallen. »Komm dir nur wie weiß Gott was vor«, sagte er, als spreche er mit dem Boden. »Zeig mir nur, was für ein guter, anständiger Mensch du bist. Mit wem zum Teufel, glaubst du, hast du's hier zu tun? Willst du mir erzählen, daß du von heute auf morgen wieder sauber bist? Werd mal erwachsen, verdammt noch mal!« »Jedenfalls drücke ich nicht mehr«, sagte ich. »Kein Druck mehr.« »Und seit wann, seit wie lange? Wir müssen immer noch Gaines kriegen. Wir haben noch ein ganz schönes Stück vor uns bei unserem kleinen Geschäft.« »Willst du damit sagen, daß Gaines ein Junkie ist? Das glaube ich nicht. Bei dem brauchen wir so was nicht abzuziehen.« »Schau im Schrank nach, Mann, die Umschläge sind im Schrank.« Ich fand sie genau dort, wo er gesagt hatte, über den ganzen Boden verstreut, braune Umschläge, Beweismittelumschläge, ein Anzeigenformular an jedem. Sie waren fest verschlossen gewesen. Sie waren wieder aufgerissen und geleert worden. Ich sah die Berichte durch. Er hatte jede Menge Speed gekauft: Preludin, Meth, Desoxyn, Biphetamin. Ich trug die Umschläge ins Wohnzimmer zurück und warf sie neben ihm auf den Boden. »Jim«, sagte ich, »es ist kein Dope da. Was machst du bloß? Was in Gottes Namen machst du hier bloß?« »Ich tu meine Arbeit«, sagte er. »Ich tu nur meine verdammte Arbeit.« Ich setzte mich ihm gegenüber. »He, Macker«, sagte ich, »rede mit mir. Sag mir, daß du damit fertig bist. Ich möchte deine Sprüche noch mal hören von wegen ein paar Tage gegen die Laken strampeln und dann wieder aufstehen und loslaufen. Los, raus damit.« 173
»Ich kann nur warten«, sagte er. »Die kommen schon.« Ich scharrte die Umschläge zusammen und trug sie zum Ausguß in der Küche. Über dem Müllschlucker verbrannte ich sie, einen nach dem anderen, die Umschläge mitsamt den Anzeigen. »Du tanzt wohl den Kriminaltango«, sagte ich. Er sagte nichts. Die Flammen spiegelten sich in der rostfreien Stahlspüle; einoder zweimal züngelten sie hoch und leckten am Boden des Hängeschranks. »He«, sagte ich, »vor langer Zeit hast du mir mal den Unterschied erklärt zwischen einem Chippie und einem ausgewachsenen Drücker.« Gegen die Wand gelehnt saß er da. »Du bist ein Fixer, Jim, das hier ist nicht was über ein, zwei Tage. Du bist voll drauf auf dem Zeug.« Er legte das Gewehr über den anderen Arm. Schließlich war nichts weiter übrig als matschige Stückchen schwarzgrauer Asche. Ich spülte die Überreste den Müllschlucker hinunter, und, den Schalter an der Wand drückend, horchte ich auf das Knirschen der Messer unter der Spüle, bevor ich wieder hinüberging und mich ihm gegenübersetzte. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte, welche Worte ihn erreichen würden. Er zündete sich eine weitere Zigarette an und rieb sich die Augen. »Nicht daß ich glaube, daß du's kapierst oder daß es dich überhaupt interessiert«, sagte ich, »aber ich liebe dich. Ich bin nicht hier heruntergezogen, um mir das hier mitanzusehen. Komm mit mir nach Hause, in deine Wohnung. Bitte. Sag mir, wie ich dir helfen kann.« »Später«, sagte er. »Komm heut abend vorbei. Brauchst ja nicht zu bleiben. Komm einfach vorbei. Und wenn's nur für ein paar Minuten ist. Du mußt hier raus.« 174
»Später«, sagte er. »Später. Laß mich überlegen.« * »Also wo ist er?« fragte Walker. »Drüben in meiner Wohnung«, sagte ich. »Er hat Probleme. Er braucht ein paar Tage.« »Ist er krank?« »Er braucht ein paar Tage.« »Aber er ist doch in Ordnung«, sagte Walker. »Ich behalt ihn im Auge. Womöglich kommt er heut abend rüber.« »Mann. Kein leichter Job, den du da hast.« »Kannst du sagen«, sagte ich. »Hast du was zu rauchen?« Walker hatte sich die Stiefel ausgezogen und döste vor sich hin, während ich dasaß und in die Glotze starrte, ohne wirklich zuzusehen. Es klopfte an der Tür, und als ich aufmachte, stand Jim auf dem Treppenabsatz. Er spähte durch die Tür auf Walker, der sich eben auf der Couch bewegte, dann sah er mich mit einem wilden Ausdruck in den Augen an; noch nie zuvor hatte ich ihn so gesehen. Er zischte an mir vorbei und riß sich das Jackett vom Leib, während er auf die Couch zustürmte. Walker stand auf, und Jim verlor keine Sekunde, er warf sein Jackett auf den Boden, riß seine Waffe aus dem Gürtel und knallte sie auf den Kaffeetisch, als er dran vorbeikam, und dann packte er Walker am Hemd, direkt unter dem Kragen, und warf ihn gegen die Wohnzimmerwand. »Jim!« schrie ich. »Hör auf!« Ich griff nach seinen Armen, aber er stieß mich weg, und ich landete auf dem Boden. Ich schüttelte mich, spürte den Schmerz in meinem Arm, versuchte mich aufzusetzen. »Okay, du Scheißkerl«, knurrte Jim. Er griff hinunter nach Wal175
ker, der auf den Boden gesunken war und reglos dasaß, riß ihn hoch, bis er wieder stand, und rammte ihm eine Faust in den Magen. Walker klappte zusammen, kriegte aber wieder Luft und stand wieder auf, die Lippen zurückgezogen und die Augen zusammengekniffen. Er rückte von der Wand ab und ging um den Couchtisch herum zur Zimmermitte, wo mehr Platz war. Ich sah in seinen Augen, daß er kämpfen wollte, seine Rechte zog sich zurück, um den nächsten Schlag abzublocken, aber dann schien er sich mit einemmal zu fangen. Der Haß verschwand aus seinem Gesicht, kalte Berechnung trat an seinen Platz. Ich konnte sehen, daß Walker das Gefühl hatte, Jim durchaus Paroli bieten, ja ihn sogar schlagen zu können, aber in dem Augenblick, in dem er hatte zuschlagen wollen, war ihm eingefallen, mit wem er es zu tun hatte; er kapierte, in welcher Situation er war, und ließ den Arm sinken. Jim sah, daß Walker aufgab, und holte mit dem rechten Arm aus. Der Schlag warf Walker gegen den Tisch und rücklings gegen die Couch. Langsam glitt er nach unten, hielt sich das Gesicht und krümmte sich gegen die Kissen. »Hör auf!« schrie er. »Jetzt ist es genug!« Er bettelte nicht. Er sagte Jim nur, er solle aufhören, es sei denn, er wolle einen Kampf. Jim stand über ihm, derart aufgedreht, daß ich den Eindruck hatte, er würde vom Fleck weg explodieren. Er bebte vor Zorn, atmete laut, fast keuchend. Ich stand auf und ging langsam auf ihn zu. Ich legte ihm eine Hand auf den Arm. Ich versuchte ihn zu beruhigen. Ich kam mir vor, als wäre ich durch eine Windschutzscheibe geknallt. »Jim«, sagte ich. »Schau mich an.« Ruckartig riß er den Kopf herum. Er zitterte am ganzen Körper. »Warum tust du so was?« »Das ist hier nicht die Frage«, sagte er. »Die Frage ist, was zum Teufel du hier treibst.« »Das, worum du mich gebeten hast«, sagte ich. »Ich sitze hier 176
und warte.« »Und was macht er hier?« Er deutete auf Walker, der vornüber gebeugt auf der Couch saß, die Hände gegen den Magen gepreßt. »Er wollte sehen, ob du in Ordnung bist«, sagte ich. »Das ist alles.« Walker hob den Kopf und sah Jim an. »Es geht mir prima«, rief Jim und riß sich von mir los. »Es geht mir absolut prima!« Er wandte sich wieder Walker zu. »Jetzt hör mal, ich will Fälle von dir, du Arschloch, und ich meine Fälle, nicht diesen albernen Pippifax, den du bisher angeschleppt hast. Glaubst du, ich setz mich gemütlich hierher und laß mir den Scheiß bieten, den du mir bisher aufgetischt hast? Du leierst mir ein paar wirkliche Dealer an, aus mit diesem Pillenkrampf. Ich will Koks. Ich will Heroin. Ich will Speed. Und ich will diesen Drecksack von Gaines. Was Besseres kannst du dir doch gar nicht wünschen, kannst dabei mit meiner Lady einen draufmachen. Ist doch was andres, als Deals für einen Typen aufzureißen. Du weißt genau, daß kein Schwein auf die Idee kommt, daß sie von der Schmiere ist. Also mach mal zu, Junge, und reiß was auf für sie, reiß was auf, damit sie richtiges Dope kaufen kann, und bring mir ein paar gottverdammte Fälle zum Zug, bevor ich dich persönlich in Huntsville abliefere.« »Walker«, sagte ich leise, »geh nach Hause.« Er griff sich seine Stiefel und ging in Richtung Tür, hielt, die Hand auf dem Türknopf, noch einmal an, um Jim anzufunkeln. »Geh«, bat ich ihn. »Geh jetzt.« Er schloß die Tür, und ich bückte mich, um den Couchtisch zurechtzurücken; dann sammelte ich die Stiele von unserem Pot vom Boden auf. Jim ging im Wohnzimmer auf und ab; er zitterte immer noch. Als ich die Sauerei weggeräumt hatte, setzte ich mich auf die 177
Couch und rieb mir den Arm an der Stelle, wo ich hingefallen war. Plötzlich hörte er auf herumzulaufen und schaute mich an. »Du bist vielleicht kaputt«, sagte ich. »Walker hat sich den Arsch aufgerissen und mir zu jeder Menge verdammt guter Fälle verholfen. Du bist wirklich kaputt.« »Wo wir schon vom Kaputtsein sprechen, Baby. Du scheinst da ja wirklich Bescheid zu wissen. Du bist so blöd, daß es doch schon weh tun muß.« Er stapfte hinaus und knallte die Tür hinter sich zu. Ich wollte ihm nach, wollte versuchen, ihn zurückzuholen, wollte versuchen, irgend etwas zu retten. Ich tastete unter der Couch nach dem Spiegel. * In den Clubs war es laut. Jeden Abend der gleiche Lärm. Es roch nach biergetränkten Teppichen und ranzigem Nikotin. Überall Betrunkene. Die Leute versuchten, sich auf jede nur erdenkliche Weise zuzumachen, zuzuschütten, zuzuknallen. Walker tat von jetzt an sein Bestes, einen klaren Kopf zu vermeiden. Abend für Abend saß ich im Drillers Club und wartete darauf, daß er mit neuen Delinquenten angewankt kam. Ich testete ihren Stoff gleich auf dem Tisch. Scheiß drauf. Ich gab Walker eine Kostprobe, bedankte mich bei den Verkäufern und legte, in der Hoffnung, Gaines würde es mitkriegen, gleich selbst noch mal nach. Am Ende eines jeden Abends schleppte ich mich in Jims Wohnung, holte die Mühle heraus und verschnitt den Stoff, bis er sein ursprüngliches Gewicht wiederhatte; dann schrieb ich die Berichte. Wann immer ich Dodd Beweismaterial lieferte, fragte er mich nach Jim, und ich sagte ihm, er arbeite an Gaines. Ich hoffte, es wäre noch genug Dope in den Phiolen, um die Chemiker im Labor zufriedenzustellen. 178
* Ich sah Rob schon durch das Ladenfenster. Er saß zurückgelehnt in einem Schaukelstuhl aus Bugholz, die Stiefel auf einen großen Walnußschreibtisch gelegt. Er las die Zeitung. Die Main Street von Saratoga war dunkel und ausgestorben, die Türen für die Nacht verschlossen, die Besitzer schliefen oder sahen sich das Spätprogramm im Fernsehen an. Das einsame Licht im Laden kam durch das vom Boden bis zur Decke reichende Schaufenster und warf einen gräulichen Schleier auf den Gehsteig. Auf einem kleinen Schild darüber stand in Kursivschrift schwarz auf braun: DENN'S ANTIQUES. Rob hob den Kopf, als meine Scheinwerfer auf das Heck seines Wagens trafen, der einzige, der auf der Straße geparkt war, und als ich an der Tür war, hatte er bereits die Schlüssel gefunden und aufgeschlossen. Der Geruch von Möbelpolitur empfing mich, als ich hineinging. »Ich bin froh, daß du angerufen hast«, sagte er. »Es ist einsam hier draußen.« »Das ist also Dennys Laden«, sagte ich. »Dem Namen nach. Er hat im ganzen Land Cousins und Schwestern, die ihn für ihn schmeißen. Ich glaube aber nicht, daß er damit was verdient. Das ist das gleiche wie mit seiner Landwirtschaft, es gibt ihm ein Gesprächsthema. Gar nicht so einfach, mit siebenundzwanzig in den Ruhestand zu gehen.« Er nahm eine Maiskolbenpfeife aus seiner Hemdtasche und klopfte damit gegen den Absatz seines Stiefels. »Ich bin wirklich froh, daß du angerufen hast«, sagte er. »Die Langeweile hier bringt mich fast um.« »Ein Freund von uns besorgt das mit Speed.« »Und was gibt's sonst Neues? Laß uns nach hinten gehen. Das 179
ist Berufsrisiko, Mann.« Wir schlängelten uns durch den Laden, vorbei an Spitzenantiquitäten wie Couchgarnituren und Kochnischen aus den Sechzigern zu einer kleinen Tür in der rückwärtigen Wand. Das Lager stand voller Gerümpel, zumeist alte Kommoden und Kopfbretter, darunter einige Nachtkästchen, einige Küchentische. Das einzige Licht kam über die dreiviertelhohe Mauer, die das Lager vom Laden trennte. Ich warf ihm ein Päckchen zu. »Gelobt sei der Herr«, sagte er und stopfte sich was von dem Stoff in die Pfeife. »Koks ist auch da«, sagte ich, »falls du interessiert bist.« »Teufel auch, Baby, natürlich bin ich interessiert. Den ganzen Abend hocke ich schon hier und frag mich, was man hier wohl anstellen kann, außer vielleicht den Hund zu bumsen.« Ich warf ihm eine Phiole zu. »Wir tragen eben Material über einen landesweiten Speedring zusammen«, sagte er. »Das Hauptquartier ist in San Antonio. Nichts als Lauschangriffe und Überwachung, nicht eine Verhaftung in Sicht, und im Präsidium ist auch nichts zu holen. Total tote Hose. Und zu allem Überfluß haben wir auch noch einen neuen Chemiker in unserer Abteilung. Der Hurensohn bewacht seinen Asservatenschrank, als wär's Fort Knox. Wahrscheinlich schleicht er sich nachts ran und streckt den Stoff, nimmt das pure Zeugs mit nach Hause und hinterläßt Beutel mit Zweiprozentigem oder was weiß ich.« Er sah sich im Lager um, erspähte auf einem Kommodenaufbau einen Spiegel und machte sich daran, mit dem Hemdsärmel eine kleine Fläche blank zu polieren. Er baute die Riegel auf, einen länger als den anderen, rollte dann einen Zwanzigdollarschein zusammen und kniete sich neben den Tisch. »Na«, meinte er, »hart gearbeitet?« Er stand auf und legte den 180
Kopf zurück und zog die Nase hoch. »Zu hart«, sagte ich. »Ich habe in den letzten beiden Wochen einfach zu viele Fälle zusammengetragen. Und das viel zu schnell. Die Leute müssen einfach schon reden. Möchtest du ein paar Quays?« »Mensch, Baby, du bist ja besser als der Weihnachtsmann.« »Mein kleiner Elf hat Überstunden gemacht.« »Wie geht's dem Typ denn? Anständiger Spitzel?« »Man kommt kaum noch mit. Ich glaube, er war schon drauf und dran, Geschmack daran zu finden, und hat sich eine Karriere bei der Beaumonter Stadtpolizei ausgemalt. Bis Jim ihn aufgemischt hat.« »Raynor hat dem Typ in den Arsch getreten? Wann? Weswegen?« »Eines Abends, letzte Woche. Wegen nichts und wieder nichts.« »Er ist einfach auf den Typ losgegangen?« »Nicht ernsthaft, ich meine, er hat ihm nichts gebrochen oder so, aber er hat ihn beleidigt. Ich wäre vor Angst fast gestorben.« Rob riß den Kopf nach hinten und begann sich am Bart zu ziehen, wobei er mich aufmerksam musterte. »Bist du in Ordnung?« »Mir geht's gut«, sagte ich. »Aber er hat mir angst gemacht. Er hat einfach durchgedreht. Er kauft in letzter Zeit viel zuviel Speed, Mann, er kommt mir vor, als wäre er jemand anders. Er wußte überhaupt nicht, was er tat.« Ich stand auf und lehnte mich gegen einen vernarbten Schreibtisch neben dem Couchtisch. Rob machte weitere Riegel zurecht, dann kam er herüber und sah mir ins Gesicht. »Wirklich, ich freu mich, daß du rausgekommen bist«, sagte er. »Ich wollte mit dir reden«, sagte ich. »Ich bin so was von durcheinander.« 181
»Kann ich mir denken«, sagte er. Er schlang die Arme um mich, und ich drückte mein Gesicht gegen seinen Hals; ich wollte nur, daß er mich festhielt. »Nimm's nicht so tragisch«, sagte er. »Nimm's dir nicht so zu Herzen.« Eine ganze Weile standen wir so da und wiegten uns langsam. Und dann, bevor ich noch merkte, was passierte, preßte er sich an mich und drückte mich rückwärts über den Schreibtisch, küßte mich, zog mich an sich und zwang mich dabei gleichzeitig auf die Tischplatte. »Ich hab dich vermißt«, flüsterte er. Ich versuchte stehenzubleiben, aber er hatte mich über dem Schreibtisch, wir rangen miteinander. Und dann hörte ich auf mich zu wehren, ich spürte, wie ich nachgab; Tränen traten mir in die Augen, und ich versuchte erst gar nicht, sie aufzuhalten; er küßte mich, und ich hatte keine Lust zu kämpfen, ich war es leid zu kämpfen, und dann berührten seine Fingerspitzen mein Gesicht, das naß und verschmiert war, und urplötzlich hörte er auf und wich zurück. »Tut mir leid«, sagte er leise und half mir auf die Beine. »Ich dachte nur…« Er holte ein Taschentuch heraus und betupfte mir die Augen. »Wirklich, ich, ich wollte nicht, oh, Scheiße, Mann, was in aller Welt stimmt denn nicht?« Ich nahm das Taschentuch und wischte mir das Gesicht ab. »Alles«, sagte ich. »Alles stimmt nicht.« »Beruhig dich«, sagte er. »Nimm's dir nicht so zu Herzen.« Er legte seine Hand in die meine. »Tut mir leid. Ich dachte, du wärst rausgekommen, um mich zu sehen.« »Ich weiß auch nicht wieso«, sagte ich, »aber du hast wirklich Talent, mich wie eine, eine – ach, was weiß ich wie, dastehen zu lassen. Es ist alles so verfahren.« »He«, sagte er leise, »Jim hat einem Spitzel in den Arsch getreten. Warum deswegen so einen Zirkus machen? So was kommt 182
vor. Meistens haben sie's sowieso verdient. Auf wessen Seite stehst du?« »Das ist es ja gerade«, sagte ich. »Er ist mein Partner. Und mehr noch.« Ich schaute auf den Boden, warf einen Blick durch den Raum und sah ihm schließlich in die Augen. »Aber der Hurensohn hängt ja voll drauf.« »Oh.« Er steckte die Pfeife an. »Erzähl weiter«, sagte er. »Hier, rauch was. Krieg dich wieder ein. Du weißt doch, wie das so geht, Baby. Ich hab mit dem Mann gearbeitet. Der kommt schon wieder auf die Beine.« »Ich spreche vom Drücken, Rob.« Er sagte nichts. »Methamphetamin, verstehst du. Preludin. Er ist total paranoid. Er hockt seit mindestens zwei Wochen im Wohnzimmer meiner Wohnung auf dem Boden, drückt sich Speed rein und wartet darauf, daß jemand kommt, um ihn sich zu schnappen. Vorher, ich weiß auch nicht. Ich bin mir nicht sicher, wie lang er schon so drauf ist. Er behauptet, er könne sich noch nicht mal mehr daran erinnern, daß er nach Hause gekommen ist und Walker zusammengeschlagen hat. Ich gehe rein, und es ist, als würde ich auf einen Geist einreden.« Rob ließ meine Hände fallen und trat ein paar Schritte zurück. »Er reißt die Beweismittelumschläge wieder auf«, sagte ich. »Nachdem er sie schon versiegelt hat! Ich gehe hin, um seine Fälle abzuholen, um sie bei Dodd abzuliefern, und es ist kein Beweismittel mehr da.« »Dieser Arschgeige ist wohl schon alles wurscht, was?« »Den interessiert nur noch, wo er den nächsten Druck herkriegt.« »Und was ist mit dir?« »Eine Zeitlang ging's mir ziemlich dreckig.« »Ach ja?« Er stemmte die Hände in die Taschen. »Mal so rich183
tig versumpft, was?« Er musterte mich, ein argwöhnisches Glitzern in den Augen. »Zieh deine Ärmel hoch.« Mir wurde ganz heiß, ich spürte, wie mir das Blut den Hals hinaufkroch und sich über meine Wangen ausbreitete. Ich hatte das Gefühl, mit einer Ohrfeige geweckt worden zu sein; als hätte ich die Augen aufgemacht und mich in der Gosse gefunden. Ich kam mir vor wie der letzte Dreck. »Zeig mir deine Arme«, sagte er. »Na, mach schon. Zieh die Ärmel hoch. Wenn ich mich schon auf was einlasse, dann will ich auch genau wissen auf was.« Es war genau wie in dem Traum, in dem ich auf dem Tisch der Verteidigung gestanden und meine Uniform ausgezogen hatte. Ich erkannte das Gefühl, aber so stark wie in diesem Augenblick war es noch nie gewesen. Natürlich sicherte Rob sich nur den Rücken, aber das konnte die Scham nicht lindern, die mir den Rücken heraufkroch und sich um meinen Hals schlängelte. Er nahm meine Ellenbogen in seine Hände, drehte meine Arme in Richtung des kärglichen Lichts, das über die Trennwand tröpfelte. Sie waren sauber. Auch die letzten gelben Spuren waren verschwunden. Meine Arme waren sauber, aber ich war mir nie in meinem Leben so schmutzig vorgekommen. Man inspizierte mich, man checkte mich auf Mängel, die ich mir selbst beigebracht hatte; man nahm mich unter die Lupe wie eine Rinderhälfte. »He«, sagte ich, »du hast mich gefragt, ich hab's dir gesagt. Es war bei der Arbeit. Bei ein paar Fällen. Und noch 'ne Weile danach. Ich habe mich wieder hochgerappelt.« Er gab meine Arme frei, und ich spürte, wie sie zu beiden Seiten herabfielen. Er rollte mir die Ärmel wieder nach unten und knöpfte die Bündchen zu, dann legte er mir die Hände auf die Schultern. »Schau«, sagte er, »ich kenne Raynor nun fast schon seit fünf 184
Jahren. Die meiste Zeit über war er ein verdammt guter Polizist. Er hat einigen wirklich miesen Dealern das Handwerk gelegt. Und es ist nicht das erste Mal, daß er so drauf ist. Er hat's noch jedesmal durchgestanden, er bringt es auch diesmal wieder. Aber bleib weg von ihm. Trag dir deine eigenen Fälle zusammen, kümmer dich um deinen eigenen Kram. Denny und ich, wir reden mal mit ihm.« »Rob«, sagte ich, »ich kann ihn nicht einfach so im Stich lassen.« »Tust du doch nicht«, sagte er. »Du läßt ihn nicht im Stich. Ich hab das schon zu oft gesehen. Du mußt nur etwas auf Distanz gehen. Zu deinem Besten und zu seinem. Gib ihm etwas Luft, die Kurve zu kriegen.« Er umarmte mich und drückte mich an sich, und ich legte meine Arme um ihn und meinen Kopf an seine Schulter. Gern wäre ich mit ihm so stehengeblieben, bis alles vorbei gewesen wäre. »Weißt du«, sagte er, »ich hab ja nun auch schon den ein oder anderen Fall hinter mir, und das erste, was du lernen mußt, ist, daß einer der Gründe, warum man Spitzel beschäftigt, darin besteht, daß die mit der Pumpe arbeiten und nicht du. Das Ganze ist eine Fahrkarte in die Hölle ohne Rückfahrt, Mann. Es gibt Fahnder, die meinen, so denken bloß Hosenscheißer, aber ich sag dir, laß die Finger von dem Zeug.« Er stand da und wiegte mich sachte. »Ruf mich an«, sagte er, »ist mir egal wann, wenn du irgendwas brauchst, ruf mich an. Kapiert? Egal was. Wenn du mich brauchst, ruf mich an.« Er drückte mich. »Gott«, sagte er dann, »ich hab ja schon so manche Scheiße gesehen in meinem Leben, aber das ist ja wirklich der Abschuß. Der Drecksack hatte wirklich kein Recht dazu, Mann, es gab überhaupt keinen Grund dafür.« 185
»Er braucht Hilfe«, flüsterte ich. Rob seufzte. »Brauchen wir die nicht alle?« sagte er. * Am nächsten Morgen, als ich Rob und Denny zu meiner Wohnung brachte und die Tür aufschloß, erstarrte Jim, kaum daß er die beiden sah. »He, Mann«, sagte Rob, »was läuft'n so?« »Ganz üble Geschichte«, sagte Jim. »Ich hab's ihr doch gesagt.« Er deutete auf mich. »Irgendwelche Macker sind hinter mir her.« Denny warf mir die Schlüssel zu seinem Laster zu. »Du schuldest mir einen Tank«, sagte er. Ich ließ sie allein und fuhr in Dennys Laster los, ohne Ziel, einfach um die Zeit totzuschlagen. Ich fuhr einfach so vor mich hin und dachte an Jim, hoffte, daß wenigstens Denny zu ihm durchdringen würde, wenn es schon Rob nicht gelänge; ich wußte, ich hatte versagt. Sie sprachen mit ihm. Denny vielleicht. Oder redete nur Jim. Vielleicht Denny. Was mich anbelangte, so glaubte ich, ich wäre über den Berg, wenigstens was die Drückerei anbelangte; immerhin sniefte ich nur noch und schluckte zu viele Pillen, aber das nur bei der Arbeit, oder jedenfalls meistens während der Arbeit. Manchmal auch bei Deals, bei denen es nicht unbedingt nötig gewesen wäre. Ich machte es, weil es sicher war, weil es die Dealer beruhigte, weil es eine Schicht Stärke über die Angst in mir breitete. * Als ich zu meiner Wohnung zurückkam, die nicht mein Zuhause war, kein Ort, an dem man sich sicher fühlen konnte, nur eine Adresse um der Dienstvorschriften willen, saßen sie im Kreis auf 186
dem Boden; keiner sagte was. Ich gab Denny seine Schlüssel zurück und setzte mich an die Wand. Jim ließ seinen Blick durch den Raum schweifen und sah uns dann einen nach dem anderen an. »He«, sagte er dann plötzlich voller Haß, »warum kümmert ihr Arschgeigen euch nicht um euern eigenen Kram. Ich komm mit dem meinen schon klar.« Er stand auf und ging zur Tür hinaus. Denny ging ihm nach. »Genau wie du's beschrieben hast«, sagte Rob. »Was hat er gesagt?« »Einen Dreck hat er gesagt. Hör mir mal zu. Du rufst diesen Sergeant an und sagst ihm gerade heraus, was hier abläuft. Sorg dafür, daß sie Jim Hilfe verschaffen.« »Und wenn sie's nicht tun?« »Sie tun's schon«, sagte er. »Sie müssen ja.«
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Kapitel Zwölf Dodd deutete seinen Flur hinunter in Richtung Gästezimmer. »Bin gleich bei Ihnen«, sagte er. »Muß nur noch schnell pinkeln gehen.« Das Zimmer war weiß; auf dem Himmelbett lag eine weiße Spitzentagesdecke. Die Kissen auf dem Schaukelstuhl paßten exakt dazu, und über dem Kopfbrett hing ein gerahmtes Bild von Jesus; er hielt eine goldene Kugel in der Hand, gelbes Licht strömte hinter seinem bloßgelegten lila-roten Herzen hervor. Ich setzte mich in den Schaukelstuhl in der Ecke und lauschte auf Dodds Frau, die ihrem kleinen Jungen hinter einer geschlossenen Tür ein Stück den Flur hinunter ein Wiegenlied vorsang. Ich kam mir vor wie ein Einbrecher, der mitten in ein Märchen gestolpert war. Ich hatte vergessen, daß es so etwas überhaupt noch gab. Ich hörte sie leise die Tür zuziehen, dann kam sie herein und fragte mich, ob ich etwas Eistee wolle. Dodd kam hinter ihr herein. »Nicht jetzt«, sagte er, »wir haben was zu bereden.« Das erste, was er sagte, nachdem ich ihm alles erzählt hatte, war: »Oh, Herr im Himmel, Mann, ich habe ihm ein paar Ballons Heroin und ein paar Hits Speed für den Anfang gegeben. Er hat mir gesagt, er bräuchte sie. Herr im Himmel.« Ich glaube, ich kriegte den Mund nicht mehr zu. »Sergeant«, sagte ich, »wir sprechen hier über ein Menschenleben.« »Ich versuche nachzudenken.« 188
»Vergessen Sie das Dope«, sagte ich. »Das ist längst in seinen Stoffwechsel gewandert.« »Was?« »Er ist süchtig. Was auch immer sie ihm gegeben haben, es ist schnurstracks in seinen Arm gewandert.« »Wir müssen seine Dienstmarke einziehen. Er darf auf keinen Fall länger eine Dienstmarke tragen.« »He, scheiß auf die Dienstmarke, Mann! Er ist dabei, sich umzubringen!« »Trotzdem darf er die Marke nicht mehr tragen. Wie viele seiner Fälle, meinen Sie, sind faul?« »Weiß ich auch nicht. Ich habe keinen Schimmer. Wahrscheinlich die meisten, die er im letzten Monat oder so zusammengetragen hat.« »Wir müssen uns mit dem Chef treffen. Können Sie ihn dazu bewegen, zu einem Treffen zu kommen?« »Ich werd's versuchen«, sagte ich. »Ich weiß nicht.« »Der Chef wird zuerst mit Ihnen sprechen wollen. Ich ruf Sie später an, und wir machen einen Zeitpunkt aus. Sind Sie sich auch absolut sicher?« »Wissen Sie«, sagte ich, »man hat mir bei der Polizei vom ersten Tag an eines eingebleut, und das war, auf seinen Partner achtzugeben. Ich glaube daran. Wenn ich gedacht hätte, es gäbe einen andere Möglichkeit, Jim da rauszuziehen, als Ihnen oder Nettle oder wem auch immer davon zu erzählen, ich hätte es getan. Ich hab's versucht. Ich kann's nicht. Der Mann bringt sich um. Und jetzt besorgen Sie uns gottverdammt noch mal Hilfe.« * An der Landstraße 105, genau westlich vom Sour Lake, standen Rob, Denny und ich gegen Dennys Laster gelehnt und warteten 189
auf Nettle. »Schmeckt mir gar nicht«, sagte Denny. »Das schmeckt mir wirklich ganz und gar nicht.« »Was hätte ich denn tun sollen?« fragte ich. Er kickte mit seinem Stiefel in den Sand. Nettle in seinem Dienstchevy hielt neben uns, stieg aus, verdrehte den Kopf, peilte die Lage, sah sich nach Beobachtern um. »Kristen«, sagte er, »was genau geht hier vor?« Ich zuckte zusammen, als ich meinen richtigen Namen hörte. »Wissen Sie, was Sie haben?« fragte ihn Denny. »Sie haben einen total kaputten Beamten an der Hand. Ihr Mann drückt schon jeden Tag.« Nettle räusperte sich und sah Rob an. »Wir haben versucht, mit ihm zu reden«, sagte Rob. »Er ist total paranoid.« Nettle sah mich an, ein grimmiges Lächeln auf seinen Wurmlippen. Sogar in der Nachmittagsbrise blieb jedes seiner Haare exakt dort, wo er es hingepappt hatte. Fast war ich darauf gefaßt, er würde den Kopf senken und um Jims Genesung beten. »Was meinen Sie, sollen wir tun?« fragte er. Denny scharrte wieder mit dem Stiefel, legte sich eine Hand über den Schritt und spuckte auf die Straße. »Scheiße«, nölte er, »wir sollten den Hurensohn an einen Abort ketten und ihn hängen lassen, bis er von dem Zeug wieder runter ist.« Der Chef lachte, Rob lachte, wir alle lachten. Nettle hörte ganz plötzlich auf und sah mich hart an. »Bringen Sie ihn heute abend um sieben zu Dodd nach Hause. Sagen Sie ihm, das ist ein Befehl.« »Ich werd's versuchen.« »Bringen Sie ihn selbst hin.« Er wandte sich seinem Wagen zu. »Schönen Dank, Männer, daß ihr rausgekommen seid«, sagte er 190
über die Schulter. Als er verschwunden war, sah Denny mich an und sagte: »Teufel, Mädel, es ist erst Mittag, du brauchst wirklich nicht den ganzen Nachmittag damit zu verbringen, dich auf heute abend zu freuen. Ich kenne da einen verdammt guten Grill ein Stück weiter vorn. Laßt uns was essen gehen.« »Schönen Dank, Männer, daß ihr rausgekommen seid«, äffte ich Nettle nach und rutschte auf den mittleren Sitz. Rob und Denny setzten sich zu beiden Seiten neben mich, und Denny hängte sich über das Lenkrad, kniff die Augen zusammen, als er sich vorbeugte, um nach der Straße zu sehen. »Wie sieht's denn aus?« fragte er. »Verkehrsstau«, sagte Rob. Ein alter Falcon voller Teenager röhrte vorbei und verschwand hinter einer Kurve. »Okay««, sagte Rob. Denny fuhr den alten Laster vorsichtig auf die Straße, und wir tuckerten mit vierzig dahin. Meist hielt er den Laster in unserer Spur, aber ab und zu geriet er auch über den gelben Doppelstreiffen. Dann sagte ihm Rob jedesmal, er solle nach rechts rüberziehen. Nach dem fünften Mal wandte sich Denny an Rob und sagte: »Jetzt beruhige dich endlich, Mann, ich fahr schließlich auch allein kreuz und quer durchs Land.« »Solltest du aber nicht, Gottverdammt noch mal«, sagte Rob. »Scheiße, du bist blind. Du hast noch nicht mal 'nen Führerschein.« »Solange ich keine Kühe oder Kinder erwische, soll's mir recht sein.« Ich hörte ihrem Geplänkel zu; ich wußte, sie scherzten meinetwegen, aber ich bekam einfach die unsagbare Angst nicht in den Griff, die in mir arbeitete. Zwischen den beiden eingekeilt saß ich da, Schulter an Schulter in dem verstaubten Führerhaus von 191
Dennys Farmlaster; zu meinen Füßen lag ein Lasso auf dem Boden, der Geruch der Fichten kam zu den Fenstern herein. Ich suchte nach etwas, nach irgend etwas, über das ich nachdenken konnte. Aber alles, was mir in den Sinn kam, war das Bild von Jim in seinem Laken. Ich spürte die Muskeln von Dennys Arm, während er durch seine Welt der Schatten fuhr und auf der Straße nach einer Bewegung suchte, die ihm etwas Lebendiges signalisierte, etwas, dem er ausweichen mußte. * Der Duft brennenden Mesquitholzes hing über dem Parkplatz, und der scharfe Geruch von Gegrilltem ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen, obwohl ich das Gefühl hatte, mein Magen wäre mit Helium gefüllt. Ich wußte gar nicht mehr, wie es war, so richtig Appetit zu haben. Das Restaurant war eine alte Scheune, der Boden war aus Holz und mit Sägespänen ausgestreut, die roten Kunstlederbänke in den Nischen hatten Narben aus schwarzem Isolierband. In jeder der Nischen gab es eine Minijukebox mit Merle und Hank jr. und Willie, Waylon und Tammy und Patsy. Als wir ankamen, sang Ray Charles eben sein »Georgia«. »Schon mal dort gewesen?« fragte Denny. »Ich bin in Atlanta aufgewachsen«, sagte Rob. »Das weißt du doch.« »Ich rede mit Kristen«, sagte Denny. »Sechs Brüder«, sagte Rob, »drei Schwestern. Am Rand von Atlanta. Mit achtzehn habe ich zugesehen, daß ich von dort wegkam. Eine Zeitlang habe ich in New Orleans auf einer Bohrinsel gearbeitet, aber das war mir auf die Dauer zu anstrengend. Da bin ich in San Angelo zur Autobahnpolizei. Von da aus zum 192
Rauschgiftdezernat.« Er warf einen Vierteldollar in unsere Musicbox und drückte »I Fall to Pieces«. »Spiel doch was von Johnny Paycheck«, sagte Denny. »Manchmal denke ich dran, wieder zurückzugehen. Ich meine auf die Bohrinseln. Paycheck steht nicht drauf.« »Was ist mit Mel Tillis?« »Ja. Der ist hier.« »Drück ihn.« »Aber diese Förderinseln«, sagte Rob. »Die sind verdammt gefährlich. So mancher hat da schon 'n Arm oder 'n Bein verloren.« Denny legte seine Speisekarte auf den Tisch und starrte Rob an. »Du kleiner Hurensohn«, lachte er, »jedenfalls wird dort normalerweise nicht auf einen geschossen.« Rob sah sich die Karte an. »He«, sagte er. »Ich habe Kinder zu ernähren, wißt ihr das?« Die Kellnerin nahm unsere Bestellungen entgegen und kam nur wenige Minuten später mit großen ovalen Platten zurück, auf denen sich Spareribs, Kartoffelsalat und rote Bohnen häuften. »Ich nehm an, ein Mann muß wohl tun, wozu er taugt«, sagte Denny. »Vielleicht war ja ich es, der Glück hatte. Ich bin wenigstens noch mit dem Ruhestand davongekommen.« »Du hast doch keine Ahnung, Mann.« Rob legte seine Gabel hin und starrte Denny an. »Keinen blassen Schimmer.« Er nahm eines der Rippchen und biß bösartig hinein. »Gib mir mal die Soße rüber«, murmelte er. »Nein, den Tabasco.« Ich stocherte im Kartoffelsalat herum, während Denny und Rob über ihre Teller herfielen und an ihren Rippchen saugten, bis nur noch saubere weiße Knochen übrig waren, und sich dann die Finger leckten. 193
»Du solltest lieber essen, Mädel«, sagte Denny. »Ich kann nicht«, sagte ich »Weil du's versaubeutelt hast.« Ich hob den Kopf und sah ihn an. »Was soll das heißen?« »Das soll heißen, du hättest Nettle da nicht mit reinziehen sollen. Das war 'n Fehler. Tut mir leid, Darling. Ich hab dich wirklich zum Fressen gern, aber ich glaube, du hast das versaubeutelt, und ich hab so das Gefühl, daß ich dir das sagen sollte. Das soll nicht heißen, daß ich dich jetzt nicht mehr so gern hab wie früher. Ich glaube nur, dir steht eine Menge Kummer ins Haus.« Ich sah zu Rob hinüber, der dasaß und an einem Rippchen nagte. »Ich mußte es tun«, sagte ich. Ich fragte mich, warum Rob denn nichts sagte. »Paß bloß auf dich auf«, sagte Denny. »Nettle sieht mir ganz nach der Art von Mann aus, der dich ohne mit der Wimper zu zucken in die Pfanne hauen würde.« * Er saß noch genauso da, wie ich ihn verlassen hatte – in das Laken gewickelt, die Flinte in der Armbeuge, starrte er auf die Tür. Wie viele Tage mochte sein Bart wohl schon alt sein, sein Haar war fettig, sein Schweiß roch nach Speed. Ich setzte mich ihm gegenüber. »Du mußt aufhören«, sagte ich. Er stierte an mir vorbei. »Jim.« »Ich komm damit schon klar.« Er nickte langsam, geschwächt, die Augen schmale Schlitze. »Ich warte hier auf die Typen. Ich bin fertig.« »Das kannst du sagen«, sagte ich. »Du bist fertig.« 194
Ich stand auf. »Tut mir leid«, sagte ich. »Ehrlich. Aber ich wußte nicht mehr, was ich tun sollte.« »Was zum Teufel willst du damit sagen?« »Was ich damit sagen will. Mit Denny wolltest du nicht reden, mit Rob wolltest du nicht reden.« »Scheiß auf Rob. Dieses blöde Arschloch, dieser Dünnbrettbohrer. Der ist doch abgehauen. Der Typ ist abgehauen, als Dennison ihn gebraucht hätte. Der steckt doch die Nase bloß bei Sonne aus dem Bau, der weiß doch nicht mal, was ›brauchen‹ heißt, dieses verschissene Leichtgewicht, diese Scheißkanone, diese Arschgeige. Der soll sich meinetwegen ins Knie ficken. Aber dazu hat er ja dich, stimmt's? Du bumst doch mit ihm!« »Verdammt noch mal, Jim, verdreh doch nicht alles!« schrie ich. »Wir haben nichts miteinander. Großer Gott, ich habe nichts mit ihm. Weder mit ihm noch mit Walker. Kapierst du, was das heißt, süchtig? Verfolgungswahn? Hörst du mir überhaupt zu. Ich rede mit dir.« »Ein Partner sollte hinter einem stehen, wenn die Scheiße am Dampfen ist«, sagte er. »Da hast du schon recht«, sagte ich, »aber die einzige Scheiße, die hier dampft, die hast du in deinem Kopf. Du hast doch einen Verfolgungswahn. Walker weiß, was in der Stadt läuft; kein Mensch in dieser Stadt ist hinter dir her. Man verdächtigt dich noch nicht mal mehr. Himmel noch mal!« Er drückte sich die Flinte gegen die Brust und sah mich durch den Sirup auf seinen Augen an. »Walker ist ein blutiger Anfänger, der weiß doch 'n Dreck.« Seine Backen waren eingefallen, seine Haut war rot angelaufen. »Ich hab dir ein paar Rippchen mitgebracht«, sagte ich. »Du mußt was essen.« »Ich will, daß mein Partner hier neben mir auf der Matte steht, wenn's hier losgeht.« 195
Ich setzte mich, nahm ihm die Flinte weg, legte sie neben mich und zog ihn an mich, bis er nachgab. Er machte es sich auf dem Boden bequem und legte den Kopf in meinen Schoß, seine knochige Schulter grub sich in meinen Oberschenkel. Ich streichelte ihm das Haar. Ich wartete, bis ich spürte, daß er sich entspannte. »Wir haben ein Treffen«, sagte ich. »Heute abend.« Seine Augen sprangen auf, und er riß den Kopf hoch. »Mit wem?« fragte er. »Weswegen?« »Ich wußte nicht mehr, was ich tun sollte«, sagte ich. »Ich habe mit Dodd gesprochen und mit Nettle.« Auf der Stelle war er auf den Beinen und auf dem Weg zur Tür, hielt jedoch mittendrin noch einmal an und wirbelte herum, um mich anzusehen. Ich blieb sitzen, versteckte die Flinte hinter mir. »Was zum Geier willst du damit sagen«, brüllte er. »Was hast du ihnen gesagt?« In einem Halbkreis kam er auf mich zu, seine Augen waren weiß vor Schock. »Was hast du denen gesagt!« Schweigend saß ich da und starrte ihn an. Er verschränkte die Arme und stand zitternd da, schaute mich an, seine Nasenflügel aufgebläht, seine Augen verkniffen. »Sag's mir«, sagte er scharf. Ich saß da und sagte nichts, ich sah ihn nur an und wartete. Ich weiß nicht mehr, wieviel Zeit verging. Schließlich ging er ins Bad; ich hörte Wasser laufen. Ganz ruhig kam er wieder heraus. Er setzte sich mir gegenüber. »Verdammt, Mädel«, sagte er. »Red endlich mit mir. Soviel schuldest du mir ja wohl. Ich hab was gut bei dir. Laß mich wissen, was da auf mich zukommt.« »Ich habe ihnen alles erzählt«, sagte ich. »Ich habe ihnen gesagt, daß einige von den Fällen faul waren. Ich habe ihnen gesagt, daß du von dem Zeug nicht mehr runter kommst.« Er ließ den Kopf fallen und drückte sich die Handflächen auf 196
die Augen. »Warum?« fragte er. »Weil ich mußte«, sagte ich. »Du mußtest«, sagte er. »Eine schöne Bescherung. Was für eine beschissene Bescherung.« »Das kannst du laut sagen«, sagte ich. »Das ist es wirklich. Wenigstens hörst du mir jetzt endlich zu. Wir sollen um sieben dort sein.« »Um sieben«, sagte er. »Weißt du, was du getan hast?« Er drückte sich mit den Fingern gegen die Schläfen und schüttelte langsam den Kopf. »Weißt du, was du tust?« »Ja«, sagte ich, »ich weiß es. Wie du immer so schön sagst, Mann, ich tu mein Bestes mit dem, was ich habe.« »Von wegen«, sagte er. Er hob den Kopf und sah mich durchdringend an. »Du hast uns wahrscheinlich eben beide in die Kiste befördert.« »Das ist doch Quatsch, und das weißt du«, sagte ich. »Du hast eine Überdosis erwischt, Jim, das war nicht deine Schuld. Nettle hat mich eingestellt, um auf dich aufzupassen, um dir zu helfen. Und das tue ich. Du brauchst dem Mann nur die Wahrheit zu sagen. Die können uns dafür nicht ins Gefängnis stecken.« * Als es zu dämmern begann, saß ich in Dodds Wohnzimmer auf einer langflorigen lila Couch. Jim saß in einem passenden Sessel, die Stirn gerunzelt, einer seiner Füße tappte nervös auf den Teppich ein, mit den Fingern der einen rieb er sich die Innenfläche der anderen Hand. Sein Haar war immer noch fettig und hing ihm in schlampigen Zotteln herab, aber immerhin hatte er ein frisches Hemd angezogen, die Bündchen fest um die Handgelenke geknöpft. 197
Dodd saß zwischen uns auf dem anderen Ende der Couch, Nettle war etwas weiter weg, Jim diagonal gegenüber, auf einer Liege mit hochgeklapptem Rückenteil. Die Lampe im Raum beleuchtete einen kleinen Kreis, der die Couch und Jims Stuhl einschloß; von Nettle ragten nur die Beine aus dem Schatten, der über dem Rest des Raums hing. Ich sah seine Knie, die Hosen darüber gespannt, und in der Lücke zwischen seinen knöchelhohen Socken und den Umschlägen seiner Hose das fischbäuchige Weiß seiner Beine. Er räusperte sich mit einem dünnen trockenen Huster. »Wir haben also ein Problem«, sagte er. »Tja, Chef«, sagte Dodd, »Sie haben ja selbst schon verdeckt ermittelt, Sie wissen, wie's da so zugeht.« Ich schob die Vorhänge etwas beiseite. Auf dem Rasen auf der anderen Straßenseite spielten einige Kinder Touchfootball. Nettle im Untergrund. Hat wahrscheinlich irgendeinen Schwarzen wegen einer Streichholzschachtel Marihuana kassiert. Fünfzehn Jahre Kiste. Tolle Sache. »Wie schlimm ist es?« fragte Nettle. Ich ließ den Vorhang wieder an seinen Platz fallen und sah zu Jim hinüber. »Seit der Überdosis geht's mir wohl ziemlich dreckig«, sagte er. Seine Stimme bebte. Er warf mir einen Blick zu. Ich hatte meinen Partner verraten – und meinen Geliebten. »Wie dreckig ist das genau?« fragte Nettle. Jim atmete tief durch, beugte sich ohne aufzustehen nach vorn, rollte seinen Ärmel hoch und hielt Nettle seinen Arm hin. Er sah noch schlimmer aus, als ich ihn in Erinnerung hatte. Er hatte eine gut zehn Zentimeter lange Spur Einstichnarben auf dem Arm, leuchtend rot und geschwollen, als wäre ihm irgendein Kriechzeug unter die blutunterlaufene, mit schorfigen Punkten übersäte Haut gekrochen. 198
Nettle beugte sich vor, um sich die Geschichte anzusehen, schüttelte langsam den Kopf und setzte sich dann wieder zurück. Er hob eine Hand zum Gesicht und rieb sich die Backe. »Ich denke«, sagte er schließlich, »Sie könnten ein paar Tage Urlaub gebrauchen. Gehen Sie nach Houston, ruhen Sie sich aus. Und dann kommen Sie wieder her und stellen die gottverdammte Anklage gegen Gaines auf die Beine.« Jim legte den Kopf zur Seite und funkelte mich böse an: Siehst du, du Schlampe, ich komm schon klar damit. Er nickte Nettle zu. Ein paar Tage Urlaub. Ich hatte das Gefühl, gleich keine Luft mehr zu kriegen. »Auf der Stelle«, sagte Jim. »Danke für Ihr Vertrauen.« »Das hat nichts mit Vertrauen zu tun, Raynor«, sagte Nettle. »Ich will Gaines. Deswegen wurden Sie eingestellt, und ich erwarte, daß Sie Ihre Aufgabe erledigen.« Jim warf Nettle einen bösen Blick zu, beherrschte sich aber dann. »Alles klar«, sagte er leise und stand auf, um zu gehen. »Larry«, sagte Nettle, »warum fahren Sie Jim nicht nach Hause. Ich würde mich gern noch ein paar Minuten mit Kristen unterhalten.« Er wandte sich an mich. »Fahren Sie mir einfach ein Stückchen hinterher. Wir können uns in meinem Wagen unterhalten, dann können Sie zurückfahren.« Auf einer asphaltierten zweispurigen Straße fuhr er von Dodds Haus aus gemächlich in Richtung Süden. Die Pinien standen bis an die Bankette, gegen den nachtblauen Himmel wirkten sie schwarz. Hunderte von Sternen waren zu sehen, Tausende, Millionen Sterne, die man von der Stadt aus gar nicht sah. Nach etwa einer Meile sah ich über den Kuppen der Bäume ein Leuchten. Nettle fuhr langsam, vorsichtig, als tastete er sich vorwärts. 199
Ich kam um eine Kurve und sah eine Kirche, ganz in Weiß, ein makelloses, leuchtendes Weiß. Von schwarzem Asphalt umgeben stand sie auf einer großen Lichtung zwischen den Pinien, von Scheinwerfern angestrahlt leuchtete sie in die Nacht. Sauber und eben und schwarz lag der Asphalt davor; weiße Linien mit exakten Kanten markierten die Parkplätze. Der Turm, groß und traditionell und leuchtend, ein greller weißer Finger vor der zerrissenen Schwärze der mächtigen Pinien, die dahinter in den Nachthimmel ragten. Nettle fuhr auf die Bankette, noch kurz vor der Kirche. Ich rollte langsam hinter ihn, stellte den Motor ab und ging über den Kies nach vorn zu seinem Chevy. Ich stieg ein, die Tür fiel mit einem leisen Klicken zu; der für neue Autos so typische Geruch umfing mich, Vinyl, Plastik, ein ultrasauberer Teppich. Ich saß da und starrte auf die Kirche, überlegte, ob er mich jetzt feuern würde. Er wandte sich mir zu, legte seinen Arm um die Rückenlehne. »Ich wollte Ihnen nur sagen, daß ich weiß, wie schwer es für Sie war, alles zu sagen«, sagte er. »Dazu war eine ganze Menge Vertrauen nötig, und ich wollte Ihnen nur versichern, daß Sie jederzeit zu mir kommen können, wenn es ein Problem gibt.« »Drei Tage Urlaub werden hier nicht helfen, Chef. Das wissen Sie.« Er drehte sich im Sitz mir zu und beugte sich herüber. Er hatte derart gleichmäßige, weiße Zähne, derart poliert, derart makellos, so was von perfekt. Ich verachtete seine Zähne. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen«, meinte er, »wie wichtig es für mich ist zu wissen, daß ich in meinem Präsidium Beamte habe, die bereit sind, mir gegenüber aufrichtig zu sein und mir zu sagen, was vor sich geht. Ich schätze das. Ich werde daran denken, wenn es Zeit für eine Beförderung wird.« Dann warf er sich nach vorn, packte mein Gesicht und zog mich an sich. Ich weiß nicht genau, was danach passierte, ich 200
spürte einen Arm um meine Taille, der zog, und einen anderen, seinen Unterarm, um meinen Hals; er versuchte mich in den Vordersitz zu drücken. Ich schlug um mich, entwand mich ihm, irgendwas zerriß, seine Lippen drückten sich matschig gegen meine Backe. Und dann war ich irgendwie draußen, knallte die Tür gegen die Hand, die sich nach mir streckte und hörte ihn etwas schreien, als ich auf meinen Wagen zurannte. Ich ließ die Maschine an, riß das Lenkrad hart nach links und knallte das Gaspedal gegen das Bodenblech, mit kreischenden Reifen war ich auf der Straße, Kies gegen seinen Wagen schleudernd. Ich hörte die metallischen Aufschläge, als die Steine gegen seinen Kofferraum knallten; im Rückspiegel sah ich Nettle neben seinem Wagen im Sechseck springen. Dieser Drecksack. Ich hielt das Gaspedal gegen den Boden gedrückt, bis mein Tacho am Anschlag war, und manövrierte den Wagen um die Kurven. Der Teufel soll ihn holen. Kaum sitzt eine Frau neben ihm im Wagen, mitten in der Nacht am Straßenrand, und, großer Gott, schon muß sie's wollen. Wie sollte es anders sein. Dieser nichtsnutzige, gottbeschissene, osttexanische Schleimscheißer von einem Playboy. Ich fuhr nicht langsamer, bis ich an den Stadtrand kam, und dann saß ich bei grünem Licht vor einer Ampel und wischte mir seine getrocknete Spucke von der Backe. Bei Gelb schaffte ich es endlich über die Kreuzung. Ich rieb mir die Hände an den Jeans, bis ich die Reibungswärme auf dem Schenkel spürte. * Jim war in der Wohnung, als ich dort ankam. Er saß am Küchentisch und trank Bier. Ich ging an die Küchenspüle und wusch mir, feste schrubbend, das Gesicht, dann ging ich ins Schlafzimmer, um die Klamotten zu wechseln. 201
»Schöne Bescherung«, sagte er, als ich mich zu ihm setzte. »Mein Leben lang hab ich noch nie was zugegeben. Nichts. Ganz egal, was man mir vorgeworfen hat. Jetzt hat mir der Drecksack einen Strick um den Hals gelegt. Er braucht die Schlinge bloß noch zuzuziehen. Scheißbescherung.« Irgend etwas stürzte in mir nach oben, und ich sah zu Boden, versuchte meinen Kopf klarzuschütteln, schaffte es aber nicht; ich fiel, ich ertrank, ich konnte es nicht aufhalten. Ich stand auf und drosch ihm vor die Brust, daß es ihn fast aus dem Stuhl gerissen hätte. »Wer zum Teufel bist du denn«, brüllte ich, »daß du mir irgendwas von einer schönen Bescherung erzählen kannst? Schöne Bescherung? Ja, du Drecksack, es ist eine schöne Bescherung! Komm runter, hast du gesagt, komm runter und heirate mich, werde meine Frau, liebe mich. Und ich tu's auch noch, ich komm hier runter, und du machst einen wertlosen Sack Scheiße aus mir, der zu nichts mehr nütze ist, als dir Nadeln in deinen armseligen Arm zu stecken. Von mir aus kannst du verrecken! Von mir aus kannst du dich verpissen und hingehen, wo der Pfeffer wächst!« Er stand auf, den Mund halb geöffnet, die Augen vor Schreck aufgerissen, und griff nach mir. Ich stieß mich an ihm vorbei und schlug gegen die Wand, spürte, wie die weiche Gipsplatte unter meiner Faust nachgab. »Leck mich, Arsch!« schrie ich. »Du und deine selbstgerechte Scheiße von wegen Gesetzeshüter, ein Scheißjunkie bist du, das ist alles! Ein total abgefuckter kleiner Hosenscheißer von einem Nadelfreak!« Ich sackte gegen die Wand und schloß die Augen. »Du bist ja noch nicht mal mein Mitleid wert.« Er legte mir eine Hand auf die Schulter und zog mich an sich. Ich spürte die feuchte Wärme seiner Tränen auf meinem Hals, sein Körper drückte sich fest gegen meinen Rücken. 202
»Tut mir leid«, sagte er. »Tut mir so verdammt leid!«
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Kapitel Dreizehn Wir fuhren nicht nach Houston. Wir fuhren nirgendwo hin. Wir wußten beide, daß drei Tage hinten und vorn nicht genügen würden. Wir blieben einfach in der Wohnung, und nach einer ganzen Nacht ohne Stoff legte sich Jim schließlich ins Bett. Als ich, eine Tasse Rinderbrühe in der Hand, ins Schlafzimmer kam, lag er unter drei Decken und schwitzte gewaltig. »Iß ein bißchen was davon«, sagte ich. Er wandte sich ab. »Ich kann nicht.« Das Fieber hatte seine Stimme geschwächt; sein Unterkiefer zitterte, als hätte er einen Krampf. »Und das alles von Speed?« fragte ich. Seine Zähne klapperten laut in der morgendlichen Stille. »Von wegen Speed«, sagte er. »H.« Genauso gut hätte er mir endlich gestehen können, er hätte heimlich eine Geliebte, eine andere Frau. Es kam mir gerade so vor, als hätte man mir eine Binde von den Augen gerissen, nachdem man mich wochenlang blind durch die Gegend geführt hatte. Ich dachte, er wäre stark genug, sich von der Uberdosis zu erholen, die ganze Zeit über hatte ich geglaubt, es gehe ihm gut. Ich war so sehr damit beschäftigt gewesen, Beweismaterial zusammenzutragen, daß ich nicht gemerkt hatte, wie schwer es ihn erwischt hatte. »Ich dachte, du wüßtest es«, sagte er. Ich hatte keine Antwort darauf. Ich war erleichtert, als jemand an die Tür klopfte. »Sag ihnen, ich bin krank«, sagte er. »Sag ihnen, ich hab die Grippe oder so was.« Er biß die Zähne zusammen, und ich 204
schloß die Schlafzimmertür hinter mir. Es war Jammer, ein Halbstarker, ein ehemaliger Flocki, der auf Speed umgestiegen war, weil er, wie er meinte, auf diese Weise mehr zustande brachte. Er war schmächtig, fast winzig, hatte fettiges braunes Haar, das ihm in ungekämmten Zotteln bis auf die Mitte des Rückens fiel, und ein struppiges, ebenfalls graubraunes Ziegenbärtchen. Die einzig wirkliche Farbe, die an seinen Levis noch zu sehen war, waren die grauschwarzen Ölflecken, die er in Streifen auf den Schenkeln hatte. Seine mongoliden Augen waren geradezu widerlich blau, aber er war einer der sanftmütigsten unserer Delinquenten. »Flo«, stammelte er, »ich will dir nicht auf den Wecker fallen, aber könnt ich vielleicht mal für 'n paar Minuten eure Waage haben?« Ich winkte ihn in die Wohnung und stellte ihm die Waage auf den Eßtisch. Er begann seine Utensilien aus den Stiefeln zu ziehen. »Hast du vielleicht Tütchen?« fragte er. Ich brachte ihm die verschließbaren Plastiktütchen aus der Küche und die anderen Gerätschaften, die er brauchen würde: den Spiegel, die Mühle, die Rasierklingen, eine Schachtel Streichhölzer. »Ich bin derart abgebrannt«, sagte er. »Ich hab noch nicht mal 'nen Platz zum Pennen, ich muß unbedingt ein bißchen Cash ranschaffen. Ich schlafe schon aufm Güterbahnhof.« Dementsprechend muffelte er auch; der Geruch der Armut hing in seinen Klamotten, der Geruch von Schweiß und unzähligen Schmutzschichten. »Willst du was essen?« fragte ich. »Jim ist irgendwie krank, und ich wollte eben probieren, ob ich nicht ein paar Eier in ihn reinkrieg.« »Das wär prima«, sagte er. »Ich hab schon die ganze Woche 205
über oder so kaum was gegessen. Was hat er denn?« Ihm konnte ich es sagen, weil er so etwas verstand; die Situation wäre nicht so verlogen wie die mit Nettle. Damals im Drogenkursus hatte man uns beigebracht, uns immer Legenden mit einer gewissen Nähe zu unserem wirklichen Leben zuzulegen; auf die Art und Weise riskiere man weniger Ausrutscher. Ein Ratschlag, der jetzt geschenkt war, was Jim und mich anbelangte. Wir konnten nicht mehr ausrutschen. Wir spielten längst keine Rolle mehr. »Er hat heimlich was Härteres gedrückt«, sagte ich. »Er versucht wieder auf die Beine zu kommen.« »Oh, Mann«, sagte Jammer, »ich kenn das. Ist 'n ganz schöner Schlauch.« Ich rührte ihm ein paar Eier in die Pfanne, während Jammer den Rest seines Vorrats verschnitt und das Pulver in kleine Plastikdreiecke schweißte, die er für zehn Dollar das Stück verkaufen würde. Er machte lange genug Pause, um den Tellervoll Eier zu verschlingen, den ich ihm hinstellte, dann machte er sich wieder an die Arbeit, seine Hände zitterten so übel, daß ich nur noch staunen konnte, daß er den Speed nicht über den ganzen Tisch verschüttete. Nicht ein einziges Gramm ging ihm verloren. Als er fertig war, fragte er mich, ob ich was abhaben wollte, und natürlich sagte ich ja. Natürlich wollte ich was abhaben. Was ich ihm nicht sagte, war: Ja, Jammer, ich will was abhaben, aber nicht weil ich es mir in den Arm drücke, ich will was abhaben, damit ich eine weitere Anklage gegen dich habe, so daß dir der Staatsanwalt den Prozeß machen und der Staat dich hinter Schloß und Riegel stecken kann. Ich brauche eine weitere Nummer, Nettle will so viel Fälle wie nur möglich; ja, verkauf mir noch was von deinem Stoff. Ich kaufte ihm drei Zehnertütchen ab, und er steckte seine dreißig Scheine weg, als wäre es ein Mordskapital, genug, um damit 206
was ganz Großes aufzuziehen. »Meinst du, ich könnt mal eure Dusche benutzen?« fragte er. »Ich geb dir ein Handtuch«, sagte ich. Es tat mir gut, nett zu ihm zu sein. Vielleicht würde er später mal dran denken. Ich räumte die Waage weg und schlug noch ein paar Eier in die Pfanne, während Jammer im Bad war. Jim setzte sich eben auf, als ich sie ihm brachte. Die Brühe hatte er nicht angerührt. »Versuch's wenigstens«, sagte ich. »Im Augenblick«, sagte er, »komme ich mir wie zertrampelte Hundescheiße vor. Wer ist im Bad?« »Jammer. Ich hab ihm etwas Speed abgekauft.« »Wozu?« fragte er. »Wir haben schon zwei Käufe gegen ihn.« »Weil er Geld brauchte. Abgesehen davon, nur weil Nettle gesagt hat, wir sollen uns Gaines schnappen, sollen wir deswegen jetzt von sonst niemandem mehr was kaufen? Da werden aber einige ganz schön stutzig, das sag ich dir.« »Er will diese Anklage nun mal.« »Ich war dabei. Ich hab's gehört.« »Ich werde einfach zu alt für diese Scheiße. Wenn ich so weitermache, lande ich noch mit einem Gemüselaster neben dem Highway und sage den Leuten, was der Eibisch kostet.« »He, Jim, du bist ja kaum dreißig. Das ist wirklich noch kein Alter fürs Heim. Jetzt iß das.« Er machte den Mund auf, und ich stopfte eine Gabelvoll Eier hinein. Er schloß die Augen und mühte sich ab, sie zu schlucken. »Sind verdammt trocken«, sagte er. »So wie du's getrieben hast, bleiben sie sowieso nicht lange unten.« »Ich hätte dich da nicht mit hineinziehen sollen, Mädchen.« Jammer klopfte an die Schlafzimmertür und trat in den Raum und stellte sich verlegen neben die Kommode. Sein nasses Haar hatte er zu einem Pferdeschwanz zusammengezogen und über 207
die Schulter drapiert. Sein nach wie vor speckiges Hemd wurde ganz naß davon. »Wie fühlst du dich denn so, Mann?« fragte er und schob die Hände in seine Gesäßtaschen. »Als wär mir ein Laster drübergefahren«, sagte Jim. »Ja«, sagte Jammer. »Ich sag dir, ich war vier Jahr auf Etsch. Steig auf Speed um. Das haut dich nicht so um.« »Na jedenfalls«, sagte Jim, »wir sehen uns, wenn ich wieder auf die Beine komme, Mann.« »Klar doch«, sagte Jammer. Er sah mich an. »Danke fürs Essen und alles.« Als er fort war, sah Jim mich an. »Warum hast du's ihm gesagt?« fragte er schließlich. »Der kommt ganz schön rum«, sagte ich. »Jetzt glaubt auch der letzte in der Stadt, daß du nicht die Schmiere bist. Einschließlich Gaines.« Mit einemmal umklammerte er seinen Bauch und deutete auf den Abfalleimer neben der Kommode. »Schnell«, stöhnte er zuckend. * Delinquent Nummer achtundsiebzig, neunundsiebzig, achtzig. Während Jim sich mit Schlaf kurierte, kaufte ich weiter: Kokain um fünf Uhr morgens und um halb neun Quays; Acid um zwei und um halb drei Biphetamin. Tag für Tag, Nacht für Nacht. Mein Körper ging in so viele verschiedene Richtungen, daß ich es aufgab, mir noch Gedanken darüber zu machen, ob sich das Zeug nun miteinander vertrug oder nicht. Aber die ganze Zeit über war ich davon überzeugt, daß ich alles im Griff hätte. Ich tat meinen Job. Jim hatte die Kontrolle verloren, er hatte sich unterkriegen lassen, aber ich, ich zeigte ihm, daß ich was drauf 208
hatte, daß ich stark war, daß ich damit klarkam. Ich ging zu ihm ins Schlafzimmer, derart abgedröhnt, daß ich nicht mehr klar denken konnte, und redete seelenruhig mit ihm, erstattete ihm Bericht über meine Fortschritte, packte ihn in die Decke und sagte ihm, daß ich ihn liebte. Ich dachte daran, ihn in meine Wohnung zu verfrachten, damit er vor all den Aktivitäten Ruhe hatte, aber die Bude war ja noch immer leer, und ich hatte nicht die geringste Lust, irgendwelche Möbel über den Gehsteig zu schleifen. Ich glaube, es verging etwa eine Woche, bevor Jim wieder aufstehen konnte und sich was anzog. Ich achtete wirklich nicht darauf. Ich kaufte Stoff und versuchte ihn zwischendurch dazu zu kriegen, etwas zu essen. An dem Tag, an dem er sich schließlich wieder stark genug fühlte herumzulaufen, kam er herein, setzte sich an den Eßtisch und starrte mich an. Ich hatte eben etwas Koks gekauft und hatte noch immer den Spiegel und die Phiolen auf dem Tisch; jetzt saß ich da mit meinem Snief, versuchte das Ende meiner Rotzglocke zu erwischen und haßte mich dafür, auf den Geschmack von Rotz zu stehen. »Vielleicht probier ich's mal mit einem kleinen Mittagessen«, sagte er. »Ausgezeichnet«, sagte ich. »Ich mach dir einen Salat.« »Bloß Cornflakes oder so.« Er nahm eine der Phiolen und rollte sie zwischen den Fingern. »Habe ich einem Typ namens Seymour abgekauft.« »Hat Walker den Deal angeleiert?« »Ja. Mit diesem Kauf haben wir sechsundachtzig Delinquenten beisammen.« »Aber der Große ist nicht dabei«, sagte er. »Wieviel davon sind VNU-NNU?« Von wie vielen Leuten hatten wir nur den Nachnamen oder nur den Vornamen? Durchreisende, Leute ohne 209
Namen, Dealer, die nur mal eben schnell in einen Park oder einen Club huschten, ihre Ware abstießen und sich sofort wieder aus dem Staub machten, ohne mehr zurückzulassen als eine Personenbeschreibung. »Dodd hat mir gesagt, nur dein dritter Kauf«, sagte ich, »der im Chicken Shack.« Meine Hände zitterten, als ich ihm Milch über seine Cornflakes goß und sie ihm an den Tisch trug. Ich war so vollgedröhnt, daß es schier zum Heulen war. Ich brachte ihm die Sonntagszeitung von der Couch und legte sie ihm auf den Tisch. »Hier lies mal«, sagte ich. »Der Gouverneur hat den Drogen den Krieg erklärt. Er hat einen Ausschuß zusammengestellt und so.« »Zieh's am Flaggenmast hoch und schau, ob einer salutiert«, sagte er schwach. »Es ist die Rede davon, das Militär einzuschalten. Die werden sich alle eine Mordsdröhnung holen. Stell dir die Ledernacken auf Acid vor.« »Vergiß Acid«, sagte er. »Rob hat mir irgendwas von einem Zeug erzählt, das er Freebase nannte. Du mischst ein bißchen Koks mit irgendwelchen Wahnsinnschemikalien, trocknest das Ganze und rauchst es. Er meint, das erste, was einem in den Sinn kommt, wenn man sich das Zeug reinzieht, ist Mord und Totschlag.« »Klar doch. Genauso wie du gleich zum Fenster rausjumpst, wenn du das erste Mal LSD nimmst.« Ich griff nach seiner Stirn. Sie war kühl. »Ich bin in Ordnung«, sagte er. »Wirklich.« Er tippte mit dem Finger auf die Zeitung. »Hier steht, der Gouverneur kommt im Mai vorbei.« »Wetten, daß Nettle unseren Großaufputz für genau diesen Termin angesetzt hat.« 210
»Ja«, sagte er. »Und er wird mir gewaltig im Nacken sitzen. Wir haben gerade noch vier Wochen, um eine Anklage zusammenzukriegen.« »Glaubst du, an diesem Gerede über die Cowboymafia ist was dran?« fragte ich. Nettle hatte behauptet, Gaines stecke mit ihr unter einer Decke – eine Gruppe von Ranchern, die ihr Einkommen damit aufbesserten, indem sie tonnenweise Pot verkauften. Den Platz dazu hatten sie ja, genauso wie die Laster und über ganz Texas verteilt die strategischen Positionen, ganz zu schweigen von der Ethik des alten Westens: Wag es mir ja keiner, mich einzuschränken; ich bring jeden um, der mir in die Quere kommt. »Wer weiß«, sagte Jim. »Er will jetzt unbedingt, daß wir einen Kauf aus einem von Gaines' Wagen machen. Damit er ihn beschlagnahmen kann.« »Der meint wohl, das hier ist irgend so 'ne Art Spielshow oder was?« »Er will den Cadillac. Ich sagte ihm, wir sollten lieber zusehen, uns einen von den Daimlern zu schnappen.« Er lächelte. »Wir sollten es so einfädeln, daß wir mit dem alten Müllaster dastehen, den Gaines hinter dem Drillers stehen hat. Nettle würde es garantiert zerreißen.« »Ich bin froh, daß du wieder auf den Beinen bist«, sagte ich. Ich griff nach dem Spiegel. Die Hand mit dem Löffel blieb auf halbem Weg zu Jims Mund stehen. »Ich bin nur müde«, sagte ich. »Ist das letzte Mal.« »Bis wann?« fragte er. »Bis zum nächsten Deal. Keine Sorge. Ich kann damit umgehen.« *
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Als Jim Nettle an jenem Nachmittag anrief und ihm sagte, wir kämen Gaines immer näher, fragte ich mich, ob er jetzt übergeschnappt war und den Bezug zur Realität total verloren hatte. »Was soll das heißen, wir kommen ihm näher«, sagte ich, als er auflegte. »Wir haben ihn ja seit Wochen noch nicht mal mehr zu Gesicht bekommen.« »Ich brauche etwas Luft«, sagte er. »Ich will nicht, daß Nettle zapplig wird. Wir haben es hier mit einem schweren Brocken zu tun.« Ich hatte ihn wegen eines Falles noch nie so nervös gesehen. In Pasadena war immer er derjenige gewesen, der den Angriff leitete. Er war es, der Türen eintrat, der ohne die geringste Vorbereitung in die nächste Schießbude ging und mit einigen neuen Anklagen zum Vorschein kam. Aber das hier war schon kein Eifer mehr. Er schien fast verzweifelt. »Der Chef hat Walker gesagt, er würde automatisch frei ausgehen, wenn er ihm Gaines liefert.« »Klar doch«, sagte ich. »Als ob Walker mit dem in ein und derselben Liga spielen würde. Er hat gute Arbeit geleistet, und was mich angeht, ist er aus dem Schneider.« Er stand auf und machte sich daran, die Zeitungen der ganzen Woche aufzusammeln, die über das ganze Wohnzimmer verteilt waren. »Was hältst du davon, wenn wir die Möbel in deine Bleibe rüberrutschen?« fragte er. »Vielleicht sollten wir für den Rest der Geschichte unsere Operationsbasis drüben einrichten.« »Hört sich nach 'ner Menge unnützer Schinderei an.« »Hier herrscht einfach zuviel Betrieb«, sagte er. »Es wäre ganz gut, wenn wir wo hingingen, wo's etwas ruhiger ist. Wir konzentrieren uns jetzt ganz auf Gaines.« Ich mußte an jenen Nachmittag denken, als mein Lauftrainer mir sagte, ich solle mit den Hürden umgehen lernen. Er stellte 212
sie auf dem Footballfeld auf, weil dort Gras wuchs und ich da hinfallen konnte, ohne mir allzuviel Haut abzuschürfen. Ich diskutierte mit ihm, versuchte ihn davon zu überzeugen, daß ich eine Sprinterin sei, aber er sagte mir, dazu sei ich nicht schnell genug; entweder ich verlegte mich auf die Meile, oder ich lernte, über Hürden zu springen. Wir waren unter der drückenden Aprilsonne aneinandergeraten, und er sagte: »Du bringst es noch zu was. Du hast das Zeug dazu. Hör mir zu. Ich gebe dir einen guten Rat.« Ich war ganz aus dem Häuschen, daß er mich ausgewählt hatte, daß er sich entschlossen hatte, besondere Mühe auf mein Training zu verwenden. Ich arbeitete für ihn. Ich schwitzte und rackerte, um mich seiner Aufmerksamkeit würdig zu erweisen. Die Macht des Wortes. Als ich die Verpflichtung übernahm, Gaines zu schnappen, hatte ich das gleiche Gefühl wie früher bei den Leichtathletiktreffen, beim Staffellauf über die Meile an der Linie zum Wechselraum, mein Körper so voll Adrenalin, daß ich Mühe hatte, die dritte Läuferin, die die Bahn herauf auf mich zugestürzt kam, überhaupt zu sehen, und dann schoß sie über die Linie, das Zeichen für mich loszuziehen, und mit einemmal war meine Sicht so klar, daß ich in dem Augenblick, bevor ich den Kopf wandte, um loszurennen, sogar den Leberfleck auf ihrem Ohrläppchen sah; dann, als sie mich einzuholen versuchte, horchte ich auf ihre Schritte und wartete auf ihr Kommando: »Jetzt!« Und ich griff nach hinten, die Handfläche nach oben, und wartete, bis das harte Metall des Stabs in meine Hand klatschte; dann hatte ich ihn und rannte, lief die ersten beiden Abschnitte nach Plan; der Trainer am Pflock rief mir die Zeiten zu; das dritte Viertel gab ich alles, was ich drauf hatte, bis es wehtat, weil mir die rasiermessergeladene Luft die Lunge zerschnitt; und dann, dann, die letzten hundert Yards, auf der Zielgeraden, da war ich dann genau dort, wo ich sein wollte – zwei 213
Schritte fehlten noch zum ersten Platz, und es war keine physische Angelegenheit mehr, sondern nur noch eine Frage des Willens, und schließlich sprintete ich an der vordersten Läuferin vorbei, trat so hart wie möglich in den Boden, zwang meine Beine, Kraft zu haben, von den Tribünen her kamen die Rufe, das Zielband fühlte sich großartig an, als ich es mit einer scharfen Abwärtsbewegung der Arme zerriß. Gaines war ein großer Fisch. Er war eine Trophäe, die zu holen sich lohnte. Das Telefon klingelte, und noch bevor ich hallo sagen konnte, quasselte Dodd schon drauflos, als wolle er mir mitteilen, man hätte den Weltuntergang auf nächsten Dienstag vorverlegt. »Der Dreck lag überall herum«, rief er. »Spulenweise! Den vergittern wir für vierzig Jahre!« »Wo war es denn?« fragte ich. »Draußen neben dem Bach hinter seinem Haus. Die gottverdammte Jury braucht nur einen Blick auf den Kram zu werfen, und schon hängen sie uns den Mistkerl noch auf der Treppe vorm Gericht auf!« »Wo hattet ihr den Tip her?« »Vertraulicher Hinweis.« »Habt ihr euch was Schriftliches besorgt?« Schweigen. »Wir sind einfach rein und haben's mitgenommen«, sagte er dann leise. »Zum Teufel, wir hatten keine Zeit, uns um Besitzgrenzen oder was weiß ich zu kümmern. Das Zeug lag kaum vierzig Meter vor seiner Hintertür. Zaun ist da keiner.« »Sie hatten einen vertraulichen Hinweis darauf, daß auf Gaines Grund und Boden Pornos herumliegen, und Sie haben sich keinen Durchsuchungsbefehl besorgt?« »Scheiße, nein, Mann, ich hab doch gesagt, der Kram lag draußen, spulenweise, einfach ans Bachufer geworfen.« 214
»Und keinen Schrieb.« »Nein«, sagte er entschieden. »Aber Sie sollten das Zeug mal sehen!« Er schrie, so aufgedreht war er. »Wenn darauf die Todesstrafe stehen würde, käme er auf den Stuhl. Es hätte Stunden gedauert, einen Durchsuchungsbefehl zu kriegen.« »Hat er Sie da draußen gesehen?« »Teufel, nein. War ja keiner daheim.« »Dann wollt ihr ihn also kassieren?« »Ich weiß nicht. Das muß ich erst mit dem Chef abklären. Der redet jetzt was von hundert Angeklagten, kann den Hals nicht voll kriegen.« »Um Himmels willen, Dodd, wir haben doch schon über achtzig! Wir kriegen ja noch nicht mal mehr Dealer, wir sind schon bei den letzten Kiffern. Was soll denn das für 'nen Sinn haben?« »Ich werd mit ihm reden.« »Ja, und sagen Sie ihm, er hat einen Beamten, der zu drei Vierteln im Eimer ist, und einen zweiten, der's auch nicht mehr lange macht. Aber das ist dem sowieso schnuppe.« »Was soll das denn heißen?« »Ich habe den größten Teil der Woche damit verbracht, meinem Partner dabei zuzuschauen, wie er seine Eingeweide in einen Mülleimer neben dem Bett kotzt, er konnte noch nicht mal aufs Klo!« Jim nahm mir den Hörer aus der Hand. »Sergeant«, sagte er. »Wir haben hier einiges durchgemacht. Aber wir haben wieder alles auf der Reihe, ich meine, wir könnten ein bißchen Hilfe oder so gebrauchen, aber wir kommen schon klar.« Ein paar Minuten lang hielt er Dodd einen Vortrag über Durchsuchungsbefehle und legte dann auf. »Verdammt, Frau.« Er lächelte mich zum erstenmal seit Wochen an. »Du bringst uns noch beide wegen Befehlsverweigerung vor den Ausschuß.« 215
»Meinst du, der weiß überhaupt, was das ist?« »Ja«, sagte er und ließ sich in einen Sessel fallen. »Auch wenn er dämlich ist. Ich komme mir vor wie ein Gaul, den man hart geritten und naß in den Stall gestellt hat.« Er machte sich eine Spur zurecht und griff nach dem Röhrchen. »Mal sehen, ob man auch auf die Art und Weise drauf kommen kann, wenn die Toleranzgrenze schon mal unten ist.« Ich nahm ihm das Röhrchen aus der Hand. »He«, sagte er und griff danach, »hab ein bißchen Vertrauen.« Er nahm es und beugte sich über den Spiegel. »So wie du, ja?« fragte ich. Aber ich war erleichtert, als er es tat. Es hatte mir ganz und gar nicht gefallen, wie er mich angesehen hatte, als ich gekokst hatte, während er aß. »Dodd meinte, er würde zurückrufen«, sagte er und spielte geistesabwesend mit der Phiole. »Um uns wissen zu lassen, ob sie ihn tatsächlich kassieren.« »Wenn der Bach auf Gaines' Grund und Boden liegt, können sie das vergessen. Abgesehen davon, du glaubst doch nicht im Ernst, daß El Jefe da mitmacht! Der geht doch auf sein großes Ziel nicht wegen eines bloßen Vergehens los.« Als Dodd schließlich anrief, teilte er uns nur die Adressen und die Zeiten für einige Treffen mit. Nettle schickte uns zu ein paar Ärzten. Eine Vorsichtsmaßnahme, sagte Dodd. Nur um sicherzugehen, daß wir in Ordnung waren. Es war geradezu rührend, außer daß ich wußte, daß El Jefe sich einen Dreck um Jim oder mich scherte und nicht eine Minute darauf verschwendete, sich Gedanken um unser Wohlergehen zu machen. Wenn er Dodd gegenüber etwas von einer Vorsichtsmaßnahme gesagt hatte, dann sicher nicht um unsertwillen. *
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Wir saßen in dem kahlen Wartezimmer des Kreiskrankenhauses und sahen Junkies und minderbemittelte schwangere Schwarze ein- und auspilgern, bis eine Schwester schließlich uns aufrief. Der erste Arzt mußte schon um die neunzig Jahre auf dem Buckel gehabt haben; sein Bart reichte ihm bis auf die Gürtelschnalle und das krause graue Haar fast bis auf die Schultern. Er saß da über seinen Schreibtisch gebeugt, und als er aufstand, blieben seine Schultern gebeugt. Ich mußte an Rumpelstilzchen denken. Er maß noch nicht mal unsere Temperaturen. Als Jim ihm sagte, daß wir nicht schlafen könnten, verschrieb er uns Valium und Quaalude, ohne auch nur eine einzige Frage zu stellen. Als wir wieder im Auto saßen, sah Jim sich die Rezepte an und schüttelte den Kopf. In seinem besten Westtexanisch nölte er los: »Mensch, Scheiße, Schatzi, El Jefe kümmert sich aber echt um uns. Wenn das nicht der Abschuß ist. Ein Wunder der modernen Medizin.« Dann ging es zu einem Psychologen, bei dem wir um halb vier einen Termin hatten. Die Sprechstundenhilfe führte uns in einen vier mal sechs Meter großen Raum, der ganz und gar mit einem langflorigen blaßgrauen Teppich ausgelegt war, der Boden, die Wände, die Decken, sogar die Bänke an den Wänden entlang. Sahnefarbene Kissen waren auf die Bänke geworfen, an den Wänden hingen Dutzende von gerahmten Zertifikaten. »Riecht mir ganz nach Inkompetenz«, sagte ich. »Sei schön artig«, sagte Jim. »Vielleicht stauben wir hier auch was ab.« »Dazu hat er nicht die richtigen Referenzen«, sagte ich. »Auf den Wischen hier steht Psychologe. Er kann keine Rezepte ausstellen.« Wir standen noch immer mitten im Zimmer, als der Doktor hereinkam, groß, stämmig, in schweren beigen Freizeithosen, 217
marineblauem Sporthemd und grauen Wildlederslippern. Auf den ersten Blick schien er ziemlich dichtes schwarzes Haar zu haben, aber als ich näher hinsah, bemerkte ich, daß es sich um nicht viel mehr als um eine einzige schwarze Strähne handelte, die er sich in Schlingen um die Glatze gelegt und mit irgendeinem superstarken Haarspray festgeklebt hatte. »Guten Tag«, sagte er mit pappsüßer Stimme. »Ich bin Doktor Mawes, Jack, wenn Ihnen das lieber ist. Ich wollte Ihnen erst einmal sagen, daß Polizeichef Nettle ein alter Freund von mir ist und wir uns ausführlich unterhalten haben. Sie können versichert sein, daß alles, was Sie hier sagen, völlig vertraulich behandelt wird.« Ich nahm das als todsicheren Hinweis darauf, daß er sofort zum Telefon spurten würde, sobald wir hier wieder draußen waren. Er zitterte praktisch vor Aufregung, so toll fand er es, an einem Geheimnis teilzuhaben. »Doktor«, sagte Jim, »ich weiß nicht so recht, warum wir hier sind, außer daß uns unser Boß gesagt hat, wir hätten einen Termin. Da Sie mit ihm gesprochen haben, nehme ich an, Sie wissen, daß wir stark unter Streß stehen und daß ich vor einigen Monaten eine Überdosis erwischt habe.« Dr. Jack setzte sich uns direkt gegenüber und nahm ein Kissen zwischen die Hände. Er sah aus, als könnte er jeden Augenblick zu sabbern anfangen. »Lassen Sie mich Ihnen etwas über meine bisherige Bilanz erzählen«, sagte er schließlich. »Ich hatte in der Vergangenheit einige ganz wunderbare Erfolge. Bis auf den heutigen Tag, so darf ich mit einigem Stolz sagen, habe ich dreiunddreißig Ehen gerettet und fast siebenundvierzig Alkoholiker erlöst. Rauschgiftfälle habe ich bisher noch keinen einzigen verloren. Die Behandlung, die mir vorschwebt, würde Ihnen beiden ganz ungemein guttun.« 218
»Wie lang dauert sie«, fragte Jim. »Das ist das Schöne daran«, sagte Dr. Jack. »Sie dauert nur ein Wochenende. Und Sie haben Glück. Die Einkehrtage unserer christlichen Gemeinschaft beginnen kommenden Freitag.« Ich sah Jim an, und er mich, dann sahen wir beiden wieder den Doktor an. Aus irgendeinem Grund war ich versucht, eine Phiole aus der Tasche zu zaubern und ihm eine Spur anzubieten. »Die Kosten«, so fuhr er fort, »betragen nur dreihundertfünfunsiebzig Dollar, darin sind Hin- und Rückfahrt zum Lake Livingston, ein halbprivates Blockhaus und die Aktivitäten unserer Gemeinschaft bereits inbegriffen. Aber darüber brauchen Sie sich ohnehin keine Sorgen zu machen. Der Polizeichef meinte, er würde die Frachtkosten, verzeihen Sie meine Ausdrucksweise, ausnahmsweise übernehmen.« »Doktor«, sagte ich und imitierte den süßlich besorgten Ton, vor dem seine Stimme nur so troff, »das ist eine ziemlich eindrucksvolle Bilanz. Sie sagen, Sie haben Leuten geholfen, von Drogen wegzukommen? Wie sieht Ihr Geheimnis aus?« »Die Kraft des Glaubens, junge Frau.« Er drückte sich das Kissen in den Schoß und strahlte uns an. »Es ist erstaunlich«, sagte er. »Ganz einfach die Kraft des Glaubens.« »Doc«, sagte Jim, »wir sind im Augenblick einfach nicht in der Lage, uns freizunehmen. Vielleicht könnten Sie uns einfach die Informationen geben, und wir melden uns bei Ihnen.« Ein kaum wahrnehmbarer Anflug eines Stirnrunzeins umwölkte Dr. Jacks selbstgefällig lächelndes Antlitz, aber nur einen Augenblick. Dann zog er sich wieder die Maske eines tiefen und erhabenen inneren Friedens über sein Gesicht – als wollte er Gandhi imitieren. »Aber selbstverständlich, aber gewiß doch«, sagte er. »Fragen Sie einfach die Sprechstundenhilfe danach.« Die gab uns drei Broschüren und faltete geziert die Hände über 219
dem Herzen; ihr Mund dehnte sich von einem Ohr zum anderen, während sie uns zusah, wie wir zur Tür hinausgingen. Jim fuhr ziellos herum, er wußte nicht wohin und sagte auch nicht viel, während er fuhr. Ich steckte Steely Dan in den Recorder und grub im Aschenbecher nach einem Stäbchen, bevor ich die Broschüren zur Hand nahm. »›Was Jeder Christ Wissen Muß‹«, las ich vor. Jim verdrehte die Augen. »›Wie Man Sein Es Versteht Und Es mit Christus Versöhnt.‹ Aha, da haben wir's ja schon. ›Dr. Jack Mawes lädt Sie ein, ein Wochenende der Kontaktaufnahme mit Jesus zu verbringen. Drei Tage Einkehr voller Spaß in der Schönheit und der Pracht von Lake Livingston für Paare, die ihre zwischenmenschlichen Beziehungen durch Christus stärken wollen.‹« »Einkehrtage der Christlichen Gemeinschaft«, sagte Jim. »Ich wette, das sind echt klasse Touren.« Er reichte mir den Joint. »Ich werde aus diesem Nettle einfach nicht schlau.« »Ist wahrscheinlich irgend so ein verdammter Partnertauschclub«, sagte ich. Er warf mir einen Blick zu. »Hat er dich angemacht oder was?« »Jetzt komm aber«, sagte ich. »Laß mich in Ruhe.« Ich wollte es ihm erzählen. Es wäre zu schön, ihm dabei zuzusehen, wie er Nettle ungespitzt in den Boden schlug. Ich tat einen langen langsamen Zug. »Wußtest du«, fragte ich ihn, »daß sich die Band nach einem berühmten Godemiche benannt hat?« »Steely Dan?« fragte er. »Ich trau mich jedenfalls wetten, daß dieser Gaines mehr als nur ein paar davon auf Lager hat.« »Fängst du schon wieder mit dem an.« »Zum Teufel, ja, ich fang schon wieder mit dem an. Ich meine, um Gottes willen, mal von Nettle ganz abgesehen, was soll man denn machen, wenn so ein Typ hergeht und in seinen Clubs Frauen aushält und sie mit Preludin füttert, bis sie willig und 220
reif für die Kamera sind?« »Wo hast du denn das her?« »He«, sagte er. »Recht ist recht, und falsch ist falsch. Und der Typ ist ganz einfach total daneben.« »Es muß doch irgendeine Möglichkeit geben, ihn abzuschießen.« »Ohne Beweise, Mann, der ist doch bisher immer frei ausgegangen. Aber ich sag dir eins. Wenn der Typ nicht total daneben ist, dann küß ich dir um zwölf Uhr mittags vor der Post den Hintern und geb dir noch 'ne Stunde, um die ganze Stadt zusammenzutrommeln.«
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Kapitel Vierzehn Wir lagen auf dem Teppich im leeren Wohnzimmer meiner Wohnung und starrten auf die weiße Decke über uns. Die Vorhänge waren zurückgezogen, und die Ruhe des Spätnachmittags flüsterte durch die Fliegengitter, warm und schläfrig. Hier und da blähte ein Windhauch die Vorhänge, blies sie sanft von der Fensterkante und schlich dann über den Boden, um mir die bloßen Fußsohlen zu kitzeln. Jim nahm meine Hand und strich mit den Fingern leicht über die Innenseite, kaum daß er sie berührte, dann über das Handgelenk und den nackten Arm. »Tut das gut?« flüsterte er. »Ausgesprochen. Ist schon eine Weile her, weißt du.« »Und ob ich das weiß. Dreh dich um.« Ich drehte mich auf den Bauch, und er setzte sich breitbeinig auf meinen Rücken und begann meine Schultern zu kneten. »Den BH, bitte«, sagte ich. Er griff unter meine Bluse und öffnete die Haken, dann arbeitete er sich langsam meine Rückseite hinunter. Als er bei den Zehen angelangt war, war ich kaum noch bei Bewußtsein. »Penn mir hier nicht weg«, sagte er. »Das hier basiert nämlich auf Gegenseitigkeit.« Er kniete sich hin, knöpfte sein Hemd auf und ballte es zu einem Kissen. »Jetzt bin ich dran.« Er streckte sich neben mir aus. »Ich komme mir vor wie Götterspeise«, sagte ich. »Ich habe noch nicht mal mehr die Kraft zu blinzeln.« Ich stemmte mich hoch und rollte mich auf ihn. 222
»Höher«, sagte er. »Fang oben am Hals an.« Ich bearbeitete eben die Sehne in seiner linken Kniekehle, als ich den Kopf hob und sah, wie er seinen Arm anstarrte und die knotige Masse unter der geröteten Haut rieb. »Ich glaube, ich hab's geschafft«, sagte er leise. Ich beugte mich über ihn und drückte auf die Male. Es fühlte sich an, als hätte er einen röhrenförmigen Knorpel unter der Haut. Die Blutergüsse waren zum größten Teil verschwunden, nur direkt um die Einstiche herum sah man eine kaum noch wahrnehmbare gelbliche Färbung. »Zuviel Narbengewebe«, sagte er. »Hier habe ich eine, die mir bleibt.« »Warte doch erst mal ab«, sagte ich. Ich widmete mich wieder der Massage seiner Beine. »Das dauert mindestens ein Jahr. Aber vor Gericht aussagen müssen wir schon viel früher.« »Dann sagen wir ihnen eben, wir hätten dir sterilisiertes Wasser gespritzt, bis sich ein Einstichkanal gebildet hat. Zwecks deiner Tarnung.« Er lag da und drückte mit einem Finger auf seiner Haut herum. »Vielleicht sollte ich einfach zu diesem Spinner von einem Seelenklempner gehen und ihn fragen, ob er einen auch durch Handauflegen heilt.« »Wir sollten uns Gaines greifen und dann machen, daß wir hier wegkommen.« »Wohin?« »Irgendwohin. Irgendwo raus aufs Land.« »Und was sollen wir da tun?« »Irgendwas. Von mir aus können wir Meerschweinchen züchten. Nur was anderes muß es sein.« »Ich hätte den Deal längst hinter mir, wenn ich wüßte, wie ich's anstellen soll.« 223
»Du steckst da nicht allein drin, weißt du.« »Heißt das, daß du eine Idee hast?« »Vielleicht sollten wir einfach abwarten, bis Nettle nachgibt und uns zurückpfeift.« »Da kannst du lange warten. So scharf, wie der auf Gaines ist, gehen wir zwei nirgendwohin, bevor wir ihm nicht eine Anklage liefern. Ich habe keine Ahnung, wie ich mich da rausmanövrieren soll.« Er rollte sich unter mir auf den Rücken und zog mich zu sich hinunter. »Was soll's«, sagte er, »der läuft uns nicht davon.« Er seufzte leise. »Was hältst du davon, wenn wir ins Restaurant gehen, vielleicht in den kleinen mexikanischen Laden draußen bei Vidor, oder wir ziehen uns einen Film rein oder was.« »Ein bißchen später«, sagte ich und stützte mich auf. Er griff nach oben und knöpfte mir die Bluse auf. Ich spürte seine Lippen auf meinen Ohrläppchen, als er flüsterte: »Ich wußte gar nicht, wie sehr du mir fehlst.« * Als ich aufwachte, früh am Abend, war ich allein. Ich zog mich an und ging in seine Wohnung hinüber. Ich überlegte, wohin er gegangen sein könnte und warum er mich einfach so hatte liegen lassen, schlafend, nackt auf dem Boden meines leeren Wohnzimmers. Er war nicht zu Hause, Nachricht war auch keine da. Ich versuchte es bei Walker. »Ich hab ihn nicht gesehen«, sagte er. »Leg auch keinen gesteigerten Wert darauf. Ich habe ja nichts dagegen, wenn mir einer in den Arsch zu treten versucht, wenn er 'nen guten Grund hat, aber das, was er da abgezogen hat, Mann, das war nicht richtig.« »Er war total zugeknallt«, sagte ich. »Er kriegt 'ne Menge 224
Druck von oben. Er hat's nicht so gemeint.« »Ich weiß nicht, ich sollte das vielleicht gar nicht erwähnen, aber ich habe da einen Quaaludedeal für dich angeleiert. Wenn du an Pillen noch interessiert bist.« »Wo und wann?« »Der Typ verkauft sie am Yellow Rose, draußen auf dem Parkplatz, so um die Zeit, wenn die dort dichtmachen.« »Ich komm um elf wieder vorbei«, sagte ich. Ich fragte mich, wo Jim steckte, aber ich wurde nicht gleich nervös. Ich war sicher, daß mit ihm alles in Ordnung war. * Der Parkplatz war proppenvoll; nichts zwischen Sammy Hagar und Merle Haggard, was hier nicht aus den Radios und Cassettenrecordern der Autos in die laue Nachtluft dröhnte. Auf Gummibeinen kamen die letzten Gäste aus dem Lokal und standen dann schwankend in kleinen Grüppchen unter dem breiten Vordach beisammen, das das ganze Gebäude entlangführte. * »Da drüben«, sagte Walker und deutete auf einen schmutzigen orangefarbenen Van auf der Südseite des gut 4000 qm großen Parkplatzes. »Wir sagen ihm einfach, Monroe schickt uns.« »Warte hier«, sagte ich. »Ist total unnötig, daß du auch noch Zeuge wirst.« Er stieg aus und schlenderte auf die Vorderseite des Clubs zu. Ich fädelte den Olds durch die geparkten Wagen und die Knötchen von Leuten, bis ich an der Fahrerseite des Vans zum Stehen kam. Der Typ am Steuer hatte einen Afrohaarschnitt. Ich brauchte gar nichts zu sagen. Er schaute einen langen Augenblick zu mir 225
herab, beugte sich dann aus dem Fenster und meinte: »Wie viele?« »Ist aber nicht zufällig dieser kanadische Dreck, oder?« fragte ich. »Rorer«, sagte er. »Garantiert. Fünf das Stück.« »Wie ist es bei zwo Dutzend?« »Überlaß ich dir für 'n Hunni.« Ich reichte ihm einen Schein hinüber, und er warf mir ein Säckchen in den Schoß. Dann lehnte er sich aus dem Fenster und reichte mir eine kalte Dose Dr. Pepper. »Wenn das kein Service ist«, sagte ich. »Wenn die hier was taugen, will ich mehr.« »Ich bin hier«, sagte er. Ich fuhr langsam davon und sah im Rückspiegel nach der Autonummer. Einer, der es einem derart leicht machte, verdiente nichts anderes, als identifiziert zu werden. Ich parkte auf einem freien Platz weiter unten in derselben Reihe, in der Walker sich mit einer Gruppe Cowboys unterhielt. Wie alle anderen Clubs in Beaumont mußte auch das Yellow Rose aufgrund einer Stadtverordnung um Mitternacht schließen, so daß den Gästen nichts anderes übrigblieb, als sich auf dem Parkplatz zu versammeln, bis es ihnen zu langweilig wurde oder eine Keilerei ausbrach oder die Bullen kamen, um sie samt und sonders nach Hause zu scheuchen. Ich mußte sie schon fast fünf Minuten unverhohlen angestarrt haben, bis ich kapierte, daß Jim und Rob in der Nähe des Vordereingangs standen und sich mit Gaines unterhielten. Jim hatte seine Hände in die Taschen geschoben und nickte mit dem Kopf, während Gaines, ganz offensichtlich über irgend etwas aufgebracht, mit seinen mächtigen Armen herumfuchtelte. Ich fühlte mich verraten. Ich hatte keine Ahnung, warum er sich entschlossen hatte, es ohne mich anzugehen, und es war mir 226
auch egal. Er hatte mich nicht mitmachen lassen, hatte mich durch Rob ersetzt, und das nach seiner Tirade gegen Rob, was für ein Dünnbrettbohrer er sei und daß er Fersengeld gegeben habe, als man ihn brauchte. Ich dachte schon daran hinüberzugehen, hatte die Hand schon am Türgriff und war drauf und dran, es zu tun, aber wenn Jim tatsächlich seinen Deal machte und ich käme dazu und vermasselte ihn, so würde er mir das nie verzeihen. Ich tappte auf die Hupe, und als Walker aufsah, winkte ich ihn herüber. »Ich hab grad noch was gekauft«, sagte er. »Was zu sniefen.« »Vergiß das jetzt mal«, sagte ich. »Wir haben was zu tun.« »Und das wäre?« »Da wären ein paar Möbel zu transportieren.« »Jetzt? Verdammt, es ist fast eins.« Ich gab ihm eine Quay und das Dr. Pepper. »Macht sicher Spaß«, sagte ich. * Am nächsten Morgen rüttelte Jim mich wach und sagte etwas von Beeilung und Anziehen. Ich taumelte unter die Dusche, und nach und nach schaffte ich es, die Augen aufzubekommen. Kaum kam ich in die Küche, reichte er mir auch schon einen Kaffee. »Wer war das?« fragte er und fuhr mit dem Arm durch den Raum. »Und wann? Ich komme letzte Nacht nach Hause, und man hat mir die verdammte Bude ausgeräumt.« »Walker und ich waren's«, murmelte ich. »Du hast doch gesagt, du wolltest umziehen, oder? Und ich hatte unter Garantie gerade nichts Besseres zu tun. Da mein Partner mich gestern nacht anscheinend unter keinen Umständen dabeihaben wollte.« »Ich habe gearbeitet.« 227
»Hab ich gesehen.« »Was soll das heißen?« »Ich war am Yellow Rose. Walker hat einen Deal arrangiert. Ich bin raus, um ein paar Quays zu kaufen. Ich habe dich mit Gaines reden sehen.« »Ja«, sagte er. »Ich mußte es einfach versuchen. Aber er beißt nicht an. Rob wedelt ihm mit einem ganzen Arsch voll Scheine vor der Nase rum, und Gaines schaut sich die Kohle an, als wär's Roßdung.« »Wann haben wir denn beschlossen, den Staat da mit reinzuziehen? Hat Nettle es sich denn anders überlegt?« »Ich habe ihn nicht gefragt.« Er goß sich etwas Kaffee ein und setzte sich. »Schau«, sagte er, »ich habe versucht, die Geschichte durchzuziehen. Mir gehen bei der Sache langsam, aber sicher die Möglichkeiten aus. Ich versuche einfach, meine Haut zu retten. Und die deine.« Ich horchte auf den Pulsschlag des prächtigen Quaaludekaters zwischen meinen Ohren. Er versuchte sich also aus dem Loch zu graben, das ich uns beiden geschaufelt hatte. Ich konnte ihm hundertmal sagen, daß ich bei ihm war. Er wollte noch nicht mal, daß ich ihm die Schaufel reichte. »Wir treffen uns heute mit Nettle«, sagte er. »Und ich werde ihm sagen, daß wir Gaines nicht drankriegen.« »Der springt im Sechseck.« »Scheiß drauf. Wegen einem gottverdammten Dopedeal stellen sie uns schon nicht an die Wand.« Er stand auf und ging ein paar Schritte in Richtung Küche. »Rob sollte jeden Augenblick hier sein.« Ich konnte nicht aufwachen. Die Geräusche, die Jim machte, als er den Geschirrspüler ausräumte, erreichten mich wie durch einen Nebel. »Ich habe den Mann heute nacht geradeheraus angehauen«, 228
sagte er. »Wie ich dir schon damals in der Nacht im Drillers gesagt habe, der Typ hält uns für die Schmiere.« »Du weißt doch, daß er's hat«, sagte ich. »Schön, na und? Jedenfalls läßt er sich nicht drauf ein, mir was zu verkaufen. Er hat wie der Blitz den Rückwärtsgang eingelegt.« Ich saß am Tisch und hörte überdeutlich das metallische Geklimper, als Jim die Messer in die Küchenschublade warf. Auf dem Weg zu unserem Treffen reichte mir Rob eine Flasche Visine für meinen Kater. »Laß mir ein bißchen was übrig«, sagte er. Nettle wartete in der Gasse hinter Krogers Lebensmittelladen; er stand neben seinem Wagen, als wir dort ankamen. Er trug neue Schuhe, schwarze Wildlederslipper mit weißen Glanzledereinsätzen obenauf. »Ganz schön scharfe Treter, die Sie da haben, Chef«, sagte Jim. Nettle sah, worauf Jim schaute, und wiegte den Kopf. »Danke«, sagte er, »danke.« Er sah Rob an. »Schön, Sie wiederzusehen. Wie geht's denn so?« »Prima, ausgezeichnet«, sagte Rob. Das Visine hatte nicht viel geholfen. Er war high, und man sah es ihm an. »Hören Sie, Boß«, sagte Jim, »ich will Ihre Zeit nicht verschwenden. Gaines dealt nicht. Jedenfalls nicht mit uns. Ich habe versucht, an ihn ranzukommen, verdammt, Rob war gestern abend dabei, aber der Typ kommt mit nichts rüber. Null. Er redet noch nicht mal drüber.« »Jetzt warten Sie mal«, stammelte Nettle. »Will Gaines ist ein Dealer. Das haben wir schwarz auf weiß in unseren Ermittlungsakten.« »Ich sag's Ihnen doch«, sagte Jim, »der bleibt sauber. Keine Chance, dem eine Drogenanklage anzuhängen.« Rob unterstützte Jim mit einem Nicken. Nettle wandte sich an 229
mich. »Und Sie?« fragte er. »Ich war nicht dabei«, sagte ich. »Ich war unterwegs, Pillen kaufen.« »Das ist doch Krampf«, sagte er. »Ich weiß hundertprozentig, daß er dealt.« »Und woher?« fragte Jim. »Wir haben unsere Quellen«, sagte Nettle. »Es steht in unseren Akten.« Er warf mir einen Blick zu, musterte mich kurz vom Kopf bis zu den Zehen. »Ich wette, Ihnen würde er alles geben, was Sie von ihm verlangen.« Vielleicht war es mein Kater. Vielleicht verstand ich ihn aber auch nicht richtig. Aber ich hatte schon richtig gehört. Nettles blaßgraue Augen schauten an mir herab, und er sah garantiert keinen Polizisten. »Hören Sie, Chef«, sagte ich, »Sie können sich jemand anderen suchen, der mit ihm ins Bett geht, falls es das ist, was Sie von mir verlangen. In meiner Arbeitsplatzbeschreibung steht nichts davon, daß ich auf den Strich gehen muß.« Er trat einen Schritt zurück und lehnte sich gegen seinen Wagen; es sah ganz so aus, als würde er jeden Augenblick zu gähnen anfangen. »Das wollte ich damit nicht andeuten«, sagte er. »Hören Sie«, sagte Jim, »was würden Sie sagen, wenn ich mich vor Sie hinstellen würde, so wie jetzt, und Ihnen sage, daß Will Gaines nicht mit Drogen handelt?« Nettle sah sich um und warf einen Blick in die Gasse. »Ich würde Sie nur eines fragen«, flüsterte er. »›Wann haben Sie endlich den großen Fall unter Dach und Fach?‹« Jim schwieg. Nettle steckte die Hände in die Hosentaschen und ging leicht in die Knie. »Übrigens«, sagte er, »wie geht's denn Ihrem Arm?« 230
* Auf der Fahrt nach Hause sagte lange keiner auch nur einen Ton. Rob drehte das Radio an und hämmerte dabei so schnell auf den Stationstasten herum, daß wir nur zusammenhanglose Musik- und Stimmenfetzen zu hören bekamen. »Der Mann sagt euch, ihr sollt dran drehen«, sagte er schließlich. »Ja«, sagte Jim. »Und er hat verdammt klar durchblicken lassen, was passiert, wenn wir's nicht tun.« Er legte einen Arm über die Lehne und seinen Kopf auf meine Schulter. »Scheiße, Baby«, stöhnte er. »In Null Komma nix hätten wir gegen den Typ einen Fall beisammen, wenn du bloß mal bei El Jefes Plan mitspielen tätst.« Ich stieß ihm einen Ellenbogen in die Rippen, und er tat so, als würde er über dem Steuer zusammenbrechen, und hätte uns dabei fast in den Graben gefahren. * Als die Geschichte ihrem Ende zuging, begann ich unseren Delinquenten Winks zu geben. Sie hatten nur ein paar Tage gebraucht, um die neue Wohnung zu finden, und auch die Telefonnummer kriegten sie raus, und als die Ermittlungen ihrem Ende zugingen, kam ich mir langsam, aber sicher vor wie ein Tier, das mit einem Bein in eine Falle geraten war. Die Möglichkeiten? Drinbleiben und sich das Fell über die Ohren ziehen lassen oder sich das Bein abbeißen und sich in den Wald schleppen, in der Hoffnung, dabei nicht zu verbluten. Alles, was wir brauchten, war Gaines. Nettle hatte seine Traumzahl beisammen. Fast zweihundert Anklagen gegen hun231
dert Delinquenten. Und wir waren noch nicht einmal fertig. Wenn unsere Delinquenten bei uns vorbeischauten, legte ich Musik für sie auf. Manchmal spielte ich »Everything that you do will come back to you.« Mein Lieblingsstück war eines von Steely Dan: »Agents of the law, luckless pedestrians, I know you're out there somewhere…« Einige Stunden und weiß Gott, wie viele Tequillas später war ich dann einer von ihnen, ich dachte mir, scheiß doch drauf, wir sind hier beisammen, und das ist es doch, was zählt. Uns haben sie nicht im Dschungel umgebracht, und über den Börsenmarkt brauchen wir uns auch keine Sorgen zu machen, keiner hat hier Bedarf an haute couture. Ich werde mein Leben nicht damit zubringen, Strafzettel an Raser zu verteilen. Ich halte mich vielleicht nicht immer an die Regeln, aber den einen oder anderen Fetzen Skrupel habe ich doch noch, und mögen die zehnmal in meinem Brustkorb herumhängen wie ein paar zerrissene Lumpen, ich laß mich doch nicht von Will Gaines bumsen, bloß damit Nettle seinen Fall kriegt. Das ist es doch, was Nettle will; genau das erwartet er von mir – und alles schön im Rahmen der Pflichterfüllung. Aber ohne mich. Natürlich könnt ich's tun, ich würde schließlich nicht daran sterben, und gut, ich habe sogar daran gedacht, als er die Möglichkeit ansprach, aber ich hätte ihm dafür meine Pistole über die Visage ziehen sollen, gleich dort, auf der Stelle. Ich hätte ihn kalt erwischen und das herrliche Knirschen des rostfreien Stahls auf seinem hirnlosen Schädel spüren sollen. Das hätte schon was für sich gehabt. Es hätte was für sich gehabt, nur einmal sein Haar in Unordnung zu sehen. Ich sehe ihn vor mir, El Jefe, wie er draußen steht, das Megaphon in der Hand: all is forgiven, mad dog surrender – alles ist vergeben, ergib dich, du tollwütiger Hund… Die Angeklagten und ich sitzen hier im Zimmer, wir sind zusammen, schnaufen noch, der Cuervo macht uns warm. Jetzt, nachdem ich in ihrer Welt gelebt 232
habe, verstehe ich, warum sie Bullen so hassen. Ich weiß, wie Bullen über die Gesetze denken, die durchzusetzen sie einen Eid geleistet haben – und auch, wie sie nicht drüber denken. Bullen haben keine Zeit, Fragen zu stellen, sie sind viel zu sehr damit beschäftigt, am Leben zu bleiben. Sie respektieren Autorität, weil man sie dazu ausgewählt hat, den Status quo aufrecht zu erhalten. Sie haben die Macht auf ihrer Seite, und die Macht will sie an der Front sehen, wo sie die, die was haben, von denen trennen sollen, die nichts haben. Ich verachte unsere Delinquenten, aber ich habe auch Mitleid mit ihnen, weil sie in der Groschenliga spielen anstatt an der Wall Street. Spät in der Nacht dann, wenn sie alle fort sind, setzen Jim und ich uns auf die Couch und unterhalten uns darüber, wen von ihnen wir durch die Maschen schlüpfen lassen sollen. Throw back the little ones and pan fry the big ones – Wirf die Kleinen wieder rein und die Großen in die Pfanne. Aber jetzt zündet erst mal die Kerzen an, baut euch einen Joint, und laßt die Flasche kreisen. Jetzt sind wir erst mal alle beisammen. Eines sonnigen Tages werde ich euch im Namen des Gesetzes hochgehen lassen. Aber im Augenblick laßt uns erst mal einen durchziehen und Musik hören. * Der Bericht, in Jims magerer, geradliniger Handschrift lautete folgendermaßen: Etwa gegen 23.42 am Mittwoch, den 26. April 1978, kaufte Agent Jim Raynor von der Stadtpolizei Beaumont von dem Verdächtigen GAINES, WILLIAM ROBERT, W/M, geb. 16.3.42, in der Gasse hinter dem Drillers Club, einer Bar innerhalb des Stadtgebiets von Beaumont, Texas, Beweisstück I, ein Plastiksäckchen mit weißem Pulver, von dem er annimmt, es sei 233
Kokain. Agent Kristen Cates war Zeuge der Übergabe. Wir hatten den Mann in jener Nacht noch nicht mal begrüßt. Als Walker zur Wohnungstür hereingetrottet kam und erzählte, daß in einem Zimmer im Best Western am IH-10 ein Knabe saß, der unzenweise Koks verkaufte, rief Jim Dodd an und sagte ihm, der Deal mit Gaines sei arrangiert und wir bräuchten Geld für den Kauf. Wir trafen uns mit Dodd und holten das Geld ab, dann fuhren Walker und ich hinüber und kauften von der unbekannten männlichen Person in Zimmer 144 eine Unze Kokain. Als wir wieder nach Hause kamen, ging Jim im Wohnzimmer auf und ab, er rauchte eine Zigarette, während die andere noch im Aschenbecher auf dem Couchtisch brannte. Ich schüttete die Unze Koks auf ein Plastiktablett, das wohl aus irgendeiner Cafeteria stammte, und zweigte einige Gramm für Walker ab. »Mach dir 'n schönen Tag«, sagte ich. »Hier geht's bald hart auf hart.« »Und fang mal langsam an, drüber nachzudenken, wohin du dich verdrückst«, sagte Jim. »Mich verdrücken?« meinte Walker. »Ich geh nirgendwo hin. Ich bin hier in der Stadt zu Hause. Ich bleibe, wo ich bin.« »Du bist noch verrückter, als ich dachte«, sagte Jim. Walker steckte sich die Phiolen in die Taschen seiner Jeans und ging lächelnd zur Tür. »Also«, sagte Jim. »Ich würde sagen, wir sollten das Zeug ein bißchen strecken. Hat doch keinen Sinn, prima Dope zu verschwenden.« Ich zweigte weitere acht Gramm ab, und wir verschnitten sie mit zwanzig Gramm Mannit. Als wir fertig waren, saßen wir eine Weile da, starrten auf unser Säckchen, unser Beweismittel. Ich spielte mit einer Spur auf dem Spiegel, formte sie zu einem S, begradigte es und formte ein neues. 234
»Das Zeug wird einen nicht gerade umhauen«, sagte ich. »Hauptsache, es ist Dope.« Er zündete sich an seiner Kippe eine neue Zigarette an. »Hör mir mal zu, Mädel«, sagte er. »Hör mir jetzt genau zu. Wenn wir das hier durchziehen, wird jemand dran glauben müssen.« Ich beugte mich vor und sniefte eine Spur. Komm schon, Mann, mach schon, sprich mir ein bißchen Mut zu. »Entweder er – oder wir«, sagte Jim. »Aber dran glauben muß jemand.« Ich hörte ihn. Ich versuchte, seine Worte in mich aufzunehmen. Ich nehme an, wir waren an einem Punkt angelangt, an dem wir die Geschichte um jeden Preis hinter uns bringen wollten. Wir wollten aussteigen. Und wir waren der Meinung, Gaines müsse aus dem Verkehr gezogen werden, rechtzeitig oder nicht. Ich bildete mir ein, die Dinge nun endlich in der richtigen Perspektive zu sehen. Jim setzte sich in seinen Sessel und streckte die Beine aus. Ich nickte in Richtung seines Arms. »Was ist damit?« Er starrte auf die Nadelspuren. »Weiß ich noch nicht so recht.« Er rollte die Ärmel hinunter. »Wahrscheinlich gewährt man ihm Kaution.« »Ich weiß«, sagte ich. »Vor Gericht werden wir ordentlich zur Sache gehen müssen.« »Jim«, sagte ich, »ich bin dabei. Okay?« »Rob hat so was schon zigmal durchgemacht. Und Denny und jeder andere Drogenfahnder, den ich jemals kennengelernt habe.« Auch das war Teil der Geschichte. Nach allem, was wir zusammen durchgemacht hatten, wollte ich ihm immer noch zeigen, daß ich es brachte. »Weißt du«, sagte er, »vor einigen Jahren, in Houston, da habe ich mit einem von der Staatspolizei zusammengearbeitet. Das 235
heißt, eigentlich hing ich nur eines Abends mit ihm rum. Er hatte eben irgendeinem Typen eine Unze Braunen Mexikaner abgekauft, und auf dem Weg zurück ins Büro fuhren wir an einem alten Haus vorbei. Auf der Veranda saß ein Mexikaner und trank sein Bier. Mein sauberer Agent schaut aus dem Fenster, sieht sich den Knaben an und meint zu mir: ›Weißt du, ich glaube, das arme Schwein da drüben hat mir gerade eine halbe Unze Braunen Mexikaner verkauft. Laß mich nur mal schnell die Adresse notieren.‹ Es war eine faule Anzeige, Mann, von vorn bis hinten faul. Ich weiß bis heute noch nicht, warum er das getan hat. Drei Monate später kriege ich eine Vorladung. Der Hurensohn hatte mich in seinem Bericht als Zeugen genannt.« »Hast du ausgesagt?« »Ja, ich habe ausgesagt. Ich habe mir den ganzen Dreck aus den Fingern gesogen, er hatte mir ja noch nicht mal eine Kopie von seinem Bericht gegeben. Die Jury hat's uns nicht abgekauft. Als die Verhandlung vorbei war, bin ich ihm aufs Klo nach und habe ihn windelweich geschlagen.« »Du meinst also immer noch, ich hätte nicht zu Nettle gehen sollen.« »Das habe ich nicht gesagt. Aber ich muß wissen, daß du zu mir stehst.« »Entweder du tust es, oder du läßt es«, sagte ich. »Wir könnten wohl die ganze Nacht hier rumsitzen und das Zeug anstarren.« »Zum Teufel damit.« Mit einem Filzstift setzten wir unsere Initialen auf das Säckchen, und dann hörte ich Dodds Jubelschrei durchs Telefon, als Jim ihm sagte, wir hätten den Fall unter Dach und Fach. »Der Vollidiot glaubt tatsächlich, Gaines hat uns was verkauft«, sagte Jim, als er auflegte. »Er ruft den Chef an. Sie wollen den Bericht und das Beweismaterial noch heute abend. 236
Der Fall kriegt Sonderbehandlung. Willst du rüberfahren?« »Zu Dodd? Nein danke. Ich bleib lieber hier.« »Ich sollte Rob anrufen«, sagte er und deutete auf das Häufchen Koks auf dem Tisch. »Er würde sich sicher über was davon freuen.« Nachdem er gegangen war, zündete ich mir eine Kerze an und stellte sie auf den Couchtisch, holte mir den Spiegel herüber und legte mir einige Spuren zurecht. Ich wußte nicht, was in mir vorging. Es war, als hätte sich die Taubheit in meinem Rachen auf meinen ganzen Körper ausgebreitet. Ich war vollkommen leer, völlig ausgepumpt. Als von der Tür her leise Robs Klopfzeichen kam, fuhr ich erschreckt zusammen. »Jim hat mich angerufen«, sagte er. »Ihr spielt wohl jetzt mit harten Bandagen, was?« Er klopfte sich einige Riegel zurecht und zog sie sich rasch hoch, bevor er wieder aufstand, um im Wohnzimmer herumzulaufen. »Na also«, sagte er, »willkommen im Verein.«
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Kapitel Fünfzehn Walker brauchte ein paar Minuten, um vom Dach zu klettern. Sein T-Shirt war schweißgetränkt und klebte ihm auf dem Rücken wie eine zweite Haut. Er nahm sein Tuch von der Stirn und wrang es aus, wickelte es dann auf und schwenkte es träge in der heißen Nachmittagsluft. Wo man hinsah nichts als Bauarbeiter, die hämmerten, sägten und Teile von Häusern durch die Gegend schleppten. »Was ist denn los?« fragte er. Sein Blick war irgendwie stumpf, so als hätte er eben eine schlechte Nachricht erhalten. »Gehen wir zu meinem Wagen hinüber«, sagte ich. »Hier gibt's zu viele Ohren.« »Macht nichts«, sagte er. »Die sind hier sowieso alle halb taub.« Wir schlenderten hinüber zum Randstein. Wie der Straße selbst sah man auch dem Gehsteig den nagelneuen Beton an; er war noch fast weiß. Die ganze Gegend war mit halbfertigen Häusern gesprenkelt, bei einigen stand gerade eben der Rahmen. »In ein paar Tagen haben wir das Baby hier fertig«, sagte Walker. »Walker«, sagte ich, »wir starten heute nachmittag unseren Großaufputz.« Das Halstuch rutschte ihm aus der Hand, und er griff danach, während es auf den Gehsteig zuflatterte. »Wir könnten das mit deiner Kaution im voraus deichseln und dich zusammen mit den anderen verhaften. Dann würde es so aussehen, als hättest du von nichts gewußt.« »Nichts da, Mann, glaubst du, ich habe das alles gemacht, um 238
trotzdem ins Gefängnis zu gehen? Kommt gar nicht in die Tüte, verdammt noch mal. Noch nicht mal für zehn Minuten.« »Dann solltest du besser von hier verschwinden. Irgendwelche Verwandten, bei denen du unterkommen könntest?« »Ich gehe nirgendwo hin«, sagte er. »Ich bin hier aufgewachsen, ich kenne die Leute hier.« »Und sie dich. Und sie wissen, wo du zu finden bist.« »Laß sie doch«, sagte er. »Ich lauf nicht weg.« »Du hast ja keine Ahnung«, sagte ich. »Es wird schlimm. Und du bist kein Polizist, Walker, du hast keine Marke. Bei mir oder Jim werden sie es sich wenigstens zweimal überlegen, bevor sie uns umlegen.« »Das hört sich vielleicht komisch an«, sagte er, »aber ich schäm mich nicht wegen dem, was ich gemacht habe. Ich meine, okay, na schön, ich bin ein Dealer, in dem Sinn, daß ich ein paar Freunde versorge. Das heißt aber noch lange nicht, daß ich auf Einbrecher oder Diebe stehe. Ihr habt 'ne Menge davon erwischt, und mir soll's recht sein. Ich schäm mich deswegen nicht.« »Rob könnte für dich was in Houston arrangieren.« »Ich gehöre nicht in die Großstadt. Ich bleibe.« »Was muß ich denn tun«, fragte ich ihn, »dir drohen? Dir sagen, daß ich dir was anhänge, wenn du bleibst, daß du trotzdem im Knast landest?« Er trat einen Schritt zurück und sah mich durchdringend an, während er sich das Halstuch um die Knöchel seiner rechten Hand wickelte. »Das würdest du nicht tun«, sagte er. »Ich kenne dich. Ich bleibe.« »Du bist ja total bekloppt«, sagte ich. »Total verrückt.« »Gerade genug, um über die Runden zu kommen. Ich kann schon auf mich aufpassen.« »Wenn's Ärger gibt, dann ruf auf der Wache an, und sag 239
denen, sie sollen mich sofort auftreiben, egal wo ich bin oder was grade abläuft.« »Ich sag dir doch, ich kann selber auf mich aufpassen.« »Tja, dann schau dir ab und zu über die Schulter«, sagte ich. »Du kannst nicht vierundzwanzig Stunden wach bleiben.« Langsam faltete er sein Tuch und band es sich wieder um den Kopf. »Deswegen schlafe ich auch neben meiner Flinte«, sagte er. »Und ich benutze sie auch, verdammt noch mal, wenn ich muß.« Als ich nach Hause kam, hockte Jim vornübergebeugt auf der Couchkante und hielt sich ein eisgefülltes Handtuch gegen den Arm. Seine Augen waren fest geschlossen; sein Oberkörper pendelte langsam vor und zurück; leise stöhnte er vor sich hin – er summte verhalten im uralten Rhythmus des Schmerzes. Als ich die Tür hinter mir schloß, sah er mich und stand auf, immer noch in der Hüfte eingeknickt. »Das wäre erledigt«, sagte er. Ein ramponiertes Chrombügeleisen mit schwarzem Griff stand mitten auf dem Eßtisch, das Kabel führte zur Steckdose neben der Buchse fürs Telefon. Ich sah ihn an, dann das Bügeleisen, dann wieder ihn; eine Welle von Übelkeit schwappte mir durch den Körper. »Du hast doch nicht wirklich?« »Irgendwas mußte ich doch tun.« Ich ging hinüber und hob das Handtuch von seinem Arm. Dort, wo die Nadelnarben gewesen waren, war seine Haut über und über mit Bläschen bedeckt und ekelhaft braun. »Wie konntest du nur?« fragte ich. »Ich mußte.« »Gott im Himmel, Raynor, das sind Verbrennungen zweiten Grades!« »Ist schon okay«, sagte er. »Das wird wieder.« Er legte das 240
Handtuch wieder auf und begann im Kreis um den Couchtisch zu laufen. »Also hör zu, ich habe mir ein Hemd gebügelt, und das Bügelbrett ist umgekippt, und als ich nach dem Ding griff, ist es direkt auf meinem Arm gelandet. Das ist alles. Das ist meine Geschichte.« »Wir haben ja noch nicht mal ein Bügelbrett! Ich kann nicht glauben, daß du das gemacht hast. Ich meine, du hättest dich doch tätowieren lassen können oder was weiß ich.« »Lieber schmor ich mit zerbrochenem Kreuz in der Hölle«, sagte er. »Tätowierungen sind so ziemlich das Allerletzte, was ich je gesehen habe.« Ich schenkte zwei Gläschen Scotch ein und brachte ihm eins hinüber. »Ich muß das noch verbinden, bevor wir aufs Präsidium gehen«, sagte ich. »Heutzutage verbindet man Brandwunden nicht mehr.« »Du kannst doch nicht die ganze Zeit dein Hemd dagegenscheuern lassen. Laß mich noch mal sehen. Ich bin jetzt ruhiger.« Er nahm das Handtuch weg. »Großer Gott, das ist wirklich übel.« »Sieht nicht gut aus, stimmt«, seufzte er, »aber es erfüllt seinen Zweck.« * Das Büro von RD und Sitte hatte man am Ende eines Flurs in der Nähe des Hinterausgangs versteckt, weit ab vom Schuß, gleich gegenüber der Asservatenkammer. Es war klein, quadratisch und fensterlos, dafür war das Neonlicht um so greller; ausgestattet war es mit zwei metallenen Schreibtischen, die rückwärtige Wand war mit Aktenschränken verstellt: einer schwarz, der andere beige, der dritte kommißgrün; stapelweise quoll der 241
Papierkram heraus, dazwischen Kladden mit Verhaftungsunterlagen und diverse andere Vorgänge. Jim hatte die Beine übereinander geschlagen und seinen Arm in den Schoß gelegt; während er verbissen an einer Zigarette zog, rotierte sein Fuß wie ein Quirl. Dodd durchmaß mit vier Schritten den Raum, dumpf und rhythmisch knallten die gummibesohlten Absätze seiner Stiefel auf das beige Linoleum; an der nördlichen Wand machte er kehrt und stapfte die vier Schritte zurück auf die andere Seite. Dort drehte er sich wieder um, und die Reise begann von neuem. Ich saß hinter einem der Schreibtische, und mein Magen wand sich wie ein Netz voll lebender Fische, während ich in unserem »Abgriff-Buch« blätterte, einem dicken blauen Loseblatt-Notizbuch voller Namen, Adressen, Fotos, Beschreibungen und Verstöße. Hundertzwölf Bürger, für jeden eine Seite. Alles in eine Reihe, und dann raus mit ihnen! In zwei Stunden sollte die Verhaftungswelle anlaufen. Ich konnte nicht glauben, daß es tatsächlich vorbei war. Zack. Einfach so. Fast neun Monate war Jim im Untergrund gewesen, ich etwas über sieben. Und jetzt erwartete man von uns, innerhalb weniger Stunden auf die andere Seite, in die Welt der Soliden, zurückzuhuschen. Jim hatte das schon so oft praktiziert, daß er den Wechsel längst nicht mehr so ganz sauber schaffte, egal in welche Richtung er nun wollte. Und ich? Ich war einfach da; mein Körper saß im Präsidium, und ich tat mein Bestes, ihn nicht zu verlieren und schreiend zur Hintertür hinauszurennen. El Jefe, Dodd, der Staatsanwalt, die Anklagejury – alle wollten sie die Polizeibeamtin Kristen Cates sehen: tapfer, ehrlich und mit tadellosem Lebenswandel. Aber sie hatte sich eine ganze Zeitlang nicht mehr blicken lassen. Ich war gern Flo, ich war Flo: Ich dröhnte mich gern zu, ich war gern die ganze Nacht unterwegs und taumelte von Bars in Privathäuser und wieder zurück, 242
schälte Hundertdollarnoten von dem Bündel Scheine, das mir die Stadt zur Verfügung stellte, um Stoff zu kaufen. Rauchen, sniefen, schlucken, drücken – und das Ganze im fliegenden Wechsel, rauf, runter, links, rechts, einmal so schnell, daß die Zunge mit den Pingpongweltmeisterschaften der Neurotransmittoren in meinem Hirn gar nicht mehr mitkam, dann wieder so langsam und gemächlich, daß sich ein einziges Blinzeln über geschlagene zwanzig Minuten hinzuziehen schien; auf Quaaludes auszuflippen, indem man sie mit Cuervo hinunterspült oder Lone Star oder gleich mit der Quintessenz osttexanischer Verderbtheit: Wild Turkey. Ich kam mir bei all dem Hin und Her verdammt noch mal schon vor wie ein Senator. Es war mir zu eng zwischen den hellgrün getünchten Schlackensteinmauern des Dezernatsbüros; als wäre ich eben von einer langen Auslandsreise zurückgekommen und sähe die Sitten und Gebräuche meiner eigenen Landsleute plötzlich mit ganz anderen Augen. Diese sogenannte bürgerliche Welt. In ein paar Stunden würde hier die Hölle los sein, und so mancher würde sich auf die Suche nach Jim und mir machen. Und Walker. Ich hatte keine Ahnung, wie viele von den Drohungen ernst gemeint waren, man konnte so was immer erst dann mit Bestimmtheit sagen, wenn wirklich was passierte. Einigen dieser beschränkten Landeier hier würde es ganz einfach darum gehen, ihre angeknackste männliche Ehre wieder hinzubiegen; die konnten es einer Frau nicht durchgehen lassen, sie einkassiert zu haben. Ich freute mich ganz und gar nicht auf meinen pflichtgemäßen Auftritt bei der Einsatzbesprechung in einem Raum voller uniformierter Polizisten, die die Verhaftungen vornehmen würden. Ein Raum voller Uniformen, die schon am Geschirr wetzten, um endlich loszuziehen und über ein paar Dealer herzufallen, ganz wild darauf, endlich wieder mal ein bißchen grob werden zu können. In einigen Fällen konnte ich das durchaus 243
verstehen, da war ich genauso scharf darauf wie sie – in einigen Fällen; aber die Streifenpolizisten, mit denen ich bis dahin zu tun gehabt hatte, na ja, Ermessen war nicht gerade ihre starke Seite gewesen. Die Aggressionen hingen über dem Präsidium, als stehe es unter dem Einfluß einer Hochdruckfront, die stürmisches Wetter versprach. Überall, wo man hinsah, sausten geschäftig eifrige Polizisten umher. Und ich brauchte Hilfe. Zwanzig Minuten vor der Einsatzbesprechung ging ich aufs Klo und genehmigte mir eine ordentliche Prise von dem rosigweißen Bolivianer, den ich bei der unbekannten männlichen Person erstanden hatte; dann verstaute ich die Phiole wieder im Stiefel. Du bringst das schon. Alles klar. Ich verspürte den kurzen Anflug von Paranoia, der die kühle Woge des Selbstvertrauens unterhöhlt, die das Kokain mit sich bringt; die Tatsache, daß ich neben einer blitzsauberen Porzellanschüssel in einer der roten Metallkabinen auf der Damentoilette des Polizeipräsidiums stand, trug ohne Zweifel dazu bei. Ich hatte keine Ahnung, was ich hier machte, ich war einfach da, stand da und schnaufte und hatte Angst davor nachzudenken. Ich wußte, das da draußen in den Büros, auf den Korridoren und in der Halle, das waren die Guten. Aus irgendeinem Grund fragte ich mich, ob wohl auch Beaumont seinen Polizeiball hatte und ob man auch hier einmal im Jahr Karten für irgendeinen wohltätigen Zweck oder etwas in der Art verkaufte. Ich war umgeben von Polizisten, die mich für eine der ihren hielten. Vom rechtlichen Standpunkt aus war ich das auch, ich hatte sogar eine nagelneue vernickelte Dienstmarke, die das bewies. Beamtin des Rauschgiftdezernats. Dienstnummer 714. Sieben-eins-vier, zu schön, um wahr zu sein. Rorer 714, so lautete der Code, den man jeder einzelnen Quaalude aufprägte, bevor sie vom Band kullerte. Ach, entschuldigen Sie, Wachtmeister, ist das Ihre Dienstnummer oder Ihre Lieblings244
droge? Ich schlug mit einer Hand gegen die Metalltür der Kabine, nur um das Echo durch die Toilette hallen zu hören, dann beugte ich mich vor, um im Wandspiegel meine Nasenlöcher zu inspizieren, bevor ich mich wieder auf den Weg ins Büro des RD machte. Von der Stelle, wo mein Schädel auf dem Hals saß, begann sich ein Kribbeln auszubreiten, meine Haare stellten sich auf. Was, wenn es einer merkte, wenn einer spitzkriegte, daß ich high war? Ich befahl mir, mich zu entspannen. Die würden mich noch nicht mal anschauen. Die dachten einzig und allein daran, endlich jemandem eins überzubraten. Auch der kleinste Anlaß würde ihnen genügen, »Widerstand gegen die Staatsgewalt« zu brüllen und den Nächstbesten mit ihren gottverdammten Schlagstöcken zu traktieren, bevor sie ihm Manschetten um die blutunterlaufenen Handgelenke legten. Und was wäre schon, wenn sie's schnallten? Sogar wenn tatsächlich einer von den Streifengorillas Verdacht schöpfen würde, seine Anschuldigung würde ja doch auf El Jefes Schreibtisch landen; und für Nettle wäre es nun wirklich keine Neuigkeit, daß seine Drogenfahnder bis an die Kiemen zugedröhnt durch die Gegend liefen. Jim lehnte vor dem Büro an der Wand. »Tonight's the night…«, sang er leise. »Bist du in Ordnung?« fragte ich ihn. »Ich fühl mich beschissen«, sagte er. »So ein Großaufputz macht meiner Mutter Sohn jedesmal höllisch nervös. Wo warst du denn?« »Ich hab mir nur die Nase gepudert.« »Kann ich verstehen, Baby. Ich mach mir selber vor Angst fast in die Hosen.« »Wie geht's deinem Arm?« »Fühlt sich an, als hätte ich ihn in einen Mähdrescher gesteckt.« Er legte mir eine Hand auf die Schulter. »Verdammt, Mädel, du 245
siehst ja wirklich aus, als hättest du die Hosen gestrichen voll. Du bist ganz blaß.« »Das hab ich auch – die Hosen gestrichen voll.« »Hör mal«, sagte er, »laß dich bloß nicht auf die Palme bringen. Eine Menge Leute werden rumbrüllen, bei was sie uns nicht alles gesehen hätten. Du darfst auf keinen Fall etwas zugeben, hörst du, noch nicht mal, wenn sie dir den verdammten Beweis unter die Nase halten. Niemals was zugeben. Absolut nichts.« Er beugte sich zu mir und ahmte Nixons Stimme nach: »Fall mir jetzt bloß nicht um.« »Das, was man uns da vorwerfen wird?« Ich schüttelte den Kopf. »Meinst du, daß irgend jemand auch nur ein Wort davon glauben wird?« »Genau das ist das Problem, Baby. Genau deswegen läuft das hier so, wie's verdammt noch mal läuft.« Als er das sagte, hörte ich ein Lied in meinem Kopf: »The Way You Do the Things You do«. Es wollte nicht mehr verschwinden. Es spukte mir durch den Kopf, immer wieder der gleiche Refrain. Die schmalztriefende, dialektgefärbte Stimme gehörte keiner geringeren als Rita Coolidge; verzweifelt mühten sich die weißen Sängerinnen im Chor ab, ihre »uuuuh-huuuuhs« nach Spiritual klingen zu lassen, versagten aber kläglich. Ich schalt mich dafür, mir einen so dummen Song zum Ohrwurm werden zu lassen, und ging schließlich wieder ins Büro, wo ich mich auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch fallen ließ und vor mich hinschwitzte. Vor Gericht würde es zugehen wie auf einer Achterbahn. Wenn diese Drecksäcke in den Zeugenstand traten und ihre Geschichten erzählten, würde man mich mit Sicherheit anstarren. Die Geschworenen würden dasitzen und zuhören, wie die eine Seite die andere mit ihren Lügen zu übertrumpfen versuchte. »Das kann doch unmöglich passiert sein«, würden sie 246
denken, »nicht hier. Nicht in Beaumont, Texas.« Wie Jim gesagt hatte, jeder würde lügen. Gerichtsverhandlung. Von wegen. Ein beschissenes rechtslastiges absurdes Theaterstück, und der Kritiker in seiner schwarzen Robe saß oben auf dem Richterstuhl. Wir sind die Richter. Bald würden sämtliche Delinquenten unten im Bunker sitzen; dann würde man sie der Reihe nach vorführen, um sie zu fotografieren, ihre Fingerabdrücke zu nehmen, ihnen eine Nummer zu verpassen, eine Anklage zuzuordnen und sie in die Kartei aufzunehmen; dann kriegten sie ihre Handschellen zurück, würden aneinandergekettet und in fensterlosen weißen Kleinbussen ins Bezirksgefängnis verfrachtet, wo man sie abermals fotografieren, ihre Fingerabdrücke nehmen, ihnen eine Nummer verpassen, eine Anklage zuordnen und in die Kartei aufnehmen würde; und schließlich würden die Anwälte und die gewerbsmäßigen Kautionssteller aufkreuzen, um ihnen ihr Geld aus der Tasche zu ziehen – sei es nun ehrlich verdient oder nicht –, und ihnen vorübergehend ein Stückchen Freiheit sichern: ein Märchenuniversum in der Größe des Landkreises, wo sie sich frei bewegen, sich unterhalten und essen und schlafen durften wie jeder andere brave Bürger auch; träumen würden sie darin freilich vom Staatsanwalt, vom Bezirksgericht und vom texanischen Justizvollzugssystem. Der Drogenkrieg. Kommen Sie mir bloß nicht damit. * Dodd ging voran nach unten zur Einsatzbesprechung. Jim und ich kannten uns im Präsidium noch nicht mal aus. Als ich vor den in Reih und Glied aufgestellten Männern in ihren dunkelblauen Uniformen stand, frisch geschrubbt, glattrasiert und kraftstrotzend, die blitzenden Dienstmarken exakt 247
anderthalb Zentimeter unter der linken Brusttasche, wäre ich am liebsten in meine Wohnung geflüchtet, um unsere Delinquenten anzurufen und ihnen zu sagen, sie sollten bloß zusehen, daß sie so schnell wie nur möglich aus der Stadt kamen – auf der Stelle und ohne Fragen zu stellen, da ich es Ihnen unmöglich erklären konnte, selbst wenn ich die Zeit dazu hätte; sie sollten nur abhauen, so weit weg wie nur möglich und nie mehr wiederkommen; sie sollten verschwinden und die Freiheit genießen, die ich nur vage zu verspüren vermochte, mochte ich auch so tun, als lebte ich sie. Eine Nacht in Pasadena kam mir in den Sinn, wir waren bei der Dienstbesprechung kurz vor Beginn der Nachtschicht. Ich hatte mich mit einem Beamten unterhalten, der etwa ein Jahr, bevor man mich eingestellt hatte, im Untergrund gearbeitet hatte. Wir tauschten Kriegsgeschichten aus, und dann sagte er aus heiterem Himmel: »Ja, ich hab da 'n paar prima Leute kennengelernt. Und das Problem dabei war, na ja, ich weiß auch nicht. Hast du jemals das Gefühl gehabt, daß sie diejenigen waren, die recht hatten?« Als El Jefe den Raum betrat, fuhren alle auf und bauten Männchen. Zusammen mit Jim und Dodd im Hintergrund stehend, beeindruckte mich diese Zurschaustellung von fast schon militärischer Disziplin irgendwie. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, in Habachtstellung zu springen, wenn der Polizeipräsident den Raum betrat, schon gar nicht bei diesem fischgesichtigen Bettnässer. In Pasadena war es weit weniger förmlich zugegangen. Der Chef stellte Jim und mich als die beiden neuesten Mitglieder der Truppe vor und erklärte, daß wir monatelang im Untergrund gearbeitet hatten. Eine Uniform in der dritten Reihe hockte da und starrte mich mit offenem Mund an, bis ich sein abschätzendes Gestarre nicht mehr ertragen konnte und ihm 248
zuzwinkerte. Er klappte die Luke unter seinem schmucken kleinen Schnurrbart zu und wandte den Kopf, um sich Nettles Erklärungen anzuhören. El Jefe, nach wie vor Interimspolizeichef, bis der Stadtrat seine Ernennung billigte, stand vor seinen Leuten und ermahnte sie, vorsichtig zu sein, unnötig hartes Vorgehen zu vermeiden und so weit als möglich höflich zu bleiben. Dann sagte er in seiner ölglatten Stimme: »Natürlich wissen wir alle, daß wir es da draußen mit einigen ausgesprochen gefährlichen Burschen zu tun haben werden. Unsere Fahnder haben eruiert, daß mindestens siebenundfünfzig Prozent von ihnen Waffen mit sich führen, entweder in ihren Fahrzeugen oder am Mann. Tun Sie also, was nötig ist, um sich zu schützen.« Ich konnte den Mann auf den Tod nicht verknusen; nichts an ihm, was ich nicht verachtet hätte. El Jefe. Der Polizeichef. OAVD nannte ihn Dodd – Oberarschloch vom Dienst. So was von seelenruhig, so was von penibel; und dabei war er der bornierteste Typ, der mir je untergekommen war. Immer munter voran! (Aber daß ihr mir euch ja den Rücken sichert.) Jetzt macht mal voran, Männer, schiebt mich die Karriereleiter hoch. Er stand da, mit Schlips und Weste und Schulterholster, seine schwammigen weißen Arme staken aus den kurzen Ärmeln seines Hemds. Ich bin meinen Lebtag kein Modepüppchen gewesen, aber einen Typen, der zu einem kurzärmeligen Hemd eine Weste trug, konnte ich beim besten Willen nicht ab, und den hier schon gleich gar nicht. Irgendwie sah es einfach jämmerlich aus. Und dazu das Bärtchen, dieser kleine haarige Fleck auf seiner Oberlippe, über den ich mich am liebsten mit einer Pinzette hergemacht hätte, Haar für Haar. Seine Leute waren ihm scheißegal. Ihn interessierte lediglich sein eigenes armseliges Vorwärtskommen. Er war einzig allein für Donald Nettle auf der Welt, sonst für nichts und niemanden. 249
Ich dachte an den Abend am Straßenrand, ein Stück vor der Kirche, als seine knochenlosen Hände nach meinem Kinn gegriffen hatten und seine formlosen Lippen auf mein Gesicht zugekommen waren. Ich hätte ihm eine schmieren sollen, ich hätte ihm eine Kugel verpassen können. Und ich springe aus dem Wagen und laufe davon. Ich stellte mir seinen Hinterkopf an der Wand hinter ihm vor, seine grauen Zellen über die Wandtafel des Dienstbesprechungsraums verspritzt. Ein einzelnes seiner roten Haare sauber in die Decke getrieben. Ich stellte mir vor, wie es sich anfühlen würde, meine Pistole wieder in den Bund meiner Jeans zu schieben, der Lauf noch warm vom Schuß. »Die beiden haben wirklich eine Wahnsinnsarbeit geleistet«, sagte Dodd eben, und seine Stimme dröhnte durch den Raum. »Jim, Kristen, würde einer von euch beiden gern was sagen?« Oh, was ich gern sagen würde. Jim warf mir einen Blick zu. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie gut es tut, wieder unter zivilisierten Menschen zu sein«, log ich. »Alles, was ich im Augenblick sagen kann, ist, daß ihr Leute auf der Straße einen Mordsrespekt genießt.« War das gut genug? Habe ich bestanden? Ich wollte etwas Koks nachlegen. Die Beamten nickten, ein paar plusterten sich sichtlich auf, einige lachten gar vor Entzücken. Ich sah sie mir an. Sechs von ihnen trugen Fliegenschißbärtchen; damit zollte fast ein Fünftel der Männer im Raum El Jefe unbewußt ihren haarigen Respekt, kultivierten ihren Miniaturtribut direkt auf ihren steifen Oberlippen. »Ich bin mit ein paar von euch Typen auf der Straße über Kreuz gekommen«, fügte Jim hinzu, »und ich kann euch wirklich sagen, ich war verdammt nervös. Ihr leistet wirklich verdammt gute Arbeit da draußen.« Noch mehr Gelächter. Die beiden Drogenfahnder machten sich 250
nicht schlecht. »Schauen Sie sich noch mal die speziellen Hinweise unten auf jeder Seite Ihrer Notizbücher an«, sagte Dodd, »die, in denen es um bewaffnete Verdächtige geht. Lesen Sie sie unbedingt noch mal durch, bevor Sie jemanden zu verhaften versuchen. Funkmäßig wird heute abend wahrscheinlich mächtig was geboten sein, also beschränken Sie sich auf das Nötigste. Melden Sie sich nur, wenn Sie jemanden in Gewahrsam haben, ansonsten halten Sie die Frequenzen frei.« Die Besprechung löste sich auf, und die Uniformierten strömten dem Ausgang zu. Dodd drängte sich durch die Männer herüber zu Jim und mir. »Okay«, meinte er. »Kristen, Sie gehen mit meiner Gruppe. Jim, Sie fahren mit Gruppe eins, der Chef ist auch dabei. Sie haben nur eine Verhaftung, und das ist Gaines. Wenn Ihnen danach noch immer nach Action ist, rufen Sie einfach rein, ich schicke Ihnen dann jemanden, der Sie abholt.« Jim ging auf Nettle zu, der neben dem Pult im vorderen Teil des Raums stand. »Ich bin gleich bei Ihnen, Sergeant«, sagte ich. »Lassen Sie mich nur noch mal schnell für kleine Mädchen.« * Ich hatte auf diesen Augenblick so lange gewartet, daß ich eigentlich fast erleichtert war, als es schließlich passierte. Erleichtert und zu Tode geängstigt. Die Streifenwagen umstellten den Drillers Club, Beamte blockierten Vorder- und Hintereingang. Dodd betrat den Club, seine Mannen hinter ihm drein und ich an seiner Seite, stieg auf das Podium des Diskjockeys und ließ die Nadel des Plattenspielers über die AC/DC-Platte ratschen, die eben lief. Er zeigte dem Diskjockey seine Marke und 251
schnappte sich das Mikrophon; sein Bierbauch hing ihm über die wie Texas geformte Gürtelschnalle, als er auf dem Podium hinund herstolzierte. »Kein Grund zur Aufregung«, nölte er ins Mikro. »Ich bin Sergeant Dodd von der Stadtpolizei Beaumont, und wir sind hier, um ein paar Haftbefehle gegen einige Verdächtige zu vollstrecken, die angeblich hier Stammkunden sind.« Die Leute begannen einander anzuschauen, argwöhnisch, das Summen aufgeregter Unterhaltung erfüllte plötzlich den Club. »Wenn Sie mich… wenn Sie mich… ENTSCHULDIGEN WÜRDEN, ICH BITTE EINEN AUGENBLICK UM IHRE AUFMERKSAMKEIT. WIR WOLLEN NICHT, DASS HIER JEMAND ZU SCHADEN KOMMT!« Es wurde wieder ruhig; nur das ein oder andere Flüstern war noch zu hören. Ich sah die beiden Barkeeper zur Hintertür hinüberspähen. Einige der Gäste brachen in Richtung der Toiletten auf, wurden aber von uniformierten Beamten aufgehalten. Die Barkeeper erspähten mich und starrten mich verständnislos an. »Wenn Sie sich nur irgendwie ausweisen können, gehen Sie geordnet in einer Reihe auf den Vorderausgang zu, die Beamten dort werden Ihre Ausweise mit unserer Liste vergleichen, und wenn kein Haftbefehl gegen Sie vorliegt, dürfen Sie das Lokal verlassen.« Er stieg vom Podium und machte sich daran, die Leute auf die Eingangstür zuzutreiben. Dann kam er zu mir herüber und sagte: »Sehen Sie jemanden?« »Die beiden Barkeeper«, sagte ich. »Der Knabe da drüben im roten T-Shirt, das ist Douglas. Die Kellnerin im schwarzen Trikot ist eine von Jims Fällen.« Dodd lief los, um sich die Angeklagten zu schnappen. Ich setzte mich an einen der Tische. Die Leute, die sich vor dem Eingang aufreihten, starrten mich an, starrten Sergeant Dodd an, 252
der ebenfalls in Zivil gekommen war, starrten die Uniformen an, die das Lokal durchkämmten und auf der Suche nach Versteckten unter die Tische und hinter die Theke schauten. Douglas und die beiden zotteligen Barkeeper wurden an mir vorbei abgeführt, die Hände auf dem Rücken in Handschellen. Als sie auf mich zukamen, wurde Douglas langsamer, stemmte sich kurz nach hinten gegen den Beamten, der ihn an den Handschellen hielt und seine Lippen formten das Wort Fotze. Ich wußte, ich sollte etwas unternehmen, aber ich saß stillschweigend auf meinem Stuhl, klopfte mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte und sah zu, wie man Douglas auf den Parkplatz hinaus und in einen der wartenden Streifenwagen schleppte. Er hatte mir vertraut. Sie alle hatten mir vertraut. Das traf mich in diesem Augenblick mit einer Wucht, wie mir das in Pasadena nicht passiert war. Dort war ich noch ein derart blutiger Anfänger gewesen, daß ich nur durch und durch fasziniert war. Diesmal war es anders. Ich hatte nicht damit gerechnet, einigen unserer Delinquenten so nahe zu kommen. Sie hatten mich für ihren Freund gehalten. Ich hatte so getan, als wäre ich ihr Freund. Ich kam mir vor wie eine Schnecke: Ich spritzte Schleim vor mich hin, um ein paar lausige Zentimeter vorwärts zu kommen, nur daß ich dabei nirgendwo hinkam; ich bewegte mich nur um der Vorwärtsbewegung willen. Ich saß da und überlegte, ob es irgendwo auf dieser Welt etwas gab, womit ich sämtliche einhundertundzwölf Verhaftungen rechtfertigen konnte, aber ich wußte, es würde mir nicht gelingen. * Etwa gegen zehn Uhr abends, als die Verhaftungswelle in Schwung gekommen war und wir nahezu sechzig Verdächtige 253
festgenommen hatten, fuhr Dodd zurück aufs Präsidium. Er ging vor mir her nach unten in den Keller, wo sich die Arrestzellen befanden. In dem allgemeinen Betrieb verlor ich ihn, und einer der Schließer versuchte mich in die Reihe derer zu schubsen, denen eben die Fingerabdrücke abgenommen wurden. »Ich bin einer von euch«, sagte ich, und die Verdächtigen in der Reihe drehten sich nach mir um. Ich erkannte viele von ihnen; ich war bei ihnen zu Hause gewesen, hatte sie in Lokalen oder auf Parties kennengelernt. »Du bist ein Bulle?« sagte einer. »Ich dachte, du wärst Jims Alte. Mann! So was von link.« »Was ist mit Jim?« sagte Cowboy. »Mann, ich hab doch gewußt, daß da was faul ist. Ich hab's verdammt noch mal gewußt! Ich hab's dir sogar noch gesagt, hab ich's dir nicht gesagt?« »Ja«, nickte ich, »aber so ist es nun mal. Du hast eben die Regeln durcheinandergebracht.« »Vielleicht«, sagte er, »aber dein Macker hat mich zehnmal öfter angetörnt, als daß ich ihm was vertickt hab.« Der Schließer starrte mich an. »Laß gut sein, Cowboy, sag's dem Staatsanwalt.« »Ja«, sagte er, »und wie das geht, wissen wir ja.« Der Bunker war gerammelt voll. In jeder der drei Viermannzellen drängelten sich zwanzig oder dreißig Delinquenten. Es waren nur noch Stehplätze zu haben. Die ersten, die hereingekommen waren, hatten sich die Plätze auf den an der Wand befestigten Doppeldeckermetallbetten geschnappt; jetzt saßen sie da und ließen die Beine über die Kante baumeln. In der mittleren Zelle war nur eine der Kojen mit weniger als sechs Leuten besetzt. Das war die, die Mr. Games belegt hatte; auf einen Ellenbogen aufgestützt, lag er da, mit dem Rücken gegen die Wand 254
gelehnt, und ließ ein Bein über die Kante hängen. »Da ist das Miststück!« schrie einer, als ich in den Flur trat, der an den Zellen vorbeiführte, und die übrigen fielen rasch mit ein; alle brüllten sie mit zornerfüllten Stimmen auf mich ein. Ein paar von ihnen kletterten die Gitterstäbe vorn an den Zellen hoch, hingen da wie Affen und schrien und spuckten. Gaines lag bei alledem einfach da, die Augen halb geschlossen – wie der Obergorilla in einem Zoo, den sein Publikum längst langweilte. In der ersten Zelle stand schweigend eine Gestalt ganz vorn, die Hände so fest um die Stäbe gelegt, daß seine Knöchel ganz weiß waren. Es war Monroe, der Doppelgänger von Charles Manson, der mich mit einer seiner Blue Ringers, die sich als Carbital und Coor entpuppt hatten, fast umgebracht hätte. Er stand schweigend da, starrte mich mit einem derartigen Haß an, daß ich den Eindruck hatte, die übrigen Angeklagten wünschten mir lediglich viel Glück zum Geburtstag. * Um drei Uhr nachts führte Dodd seine Gruppe zwei in ein mexikanisches Restaurant, das die ganze Nacht geöffnet hatte. Da saß ich dann mitten unter den Uniformen, die sich tellerweise Enchiladas, Reis und Bohnen reinschaufelten. Ich ging auf die Toilette und verpaßte mir eine Dröhnung, ging wieder zurück an den Tisch und stocherte auf meinem Teller herum. »Die Leutchen hier kümmern sich um die Polizei«, flüsterte Dodd. »Sie werden's schon merken, jetzt wo Sie sich sehen lassen können und so. Scheiße, ich bin wirklich verdammt stolz auf euch beide.« Ich sah ihn an, war aber viel zu müde, um was zu sagen. Noch nicht mal das Mehl hatte geholfen. »Wir haben wirklich kräftig was einkassiert«, fuhr er fort. 255
»Ich bin ziemlich fertig«, sagte ich schließlich. »Glauben Sie, Sie bringen die Geschichte ohne mich zu Ende?« »Teufel, ja doch. Der gute Jim hat sich schon vor ein paar Stunden aufs Ohr gehauen. Der Chef hat erzählt, er hätte irgendwie ziemlich komisch reagiert, ist in den Aufenthaltsraum, hat sich aufs Sofa gelegt und zu heulen angefangen. Aber er hat ja weiß Gott einiges durchgemacht.« »Wo ist er jetzt?« »Entweder im Präsidium oder daheim. Ich ruf mal durch und frag nach.« Dodd war ganz high vor lauter Adrenalin, völlig aufgekratzt davon, Türen einzutreten und Leute ins Gefängnis zu schleifen. Seine Augen verrieten ihn: Unter den dicken blonden Wimpern sah man jede Menge Weiß. Er schnappte sich eine Praline von der Theke, als er vom Telefonieren zurückkam. »Der Typ ist auf der Couch im Büro des Chefs weggepennt.« »Ich könnte selber ein bißchen Schlaf vertragen. Fahren Sie mich?« »Ins Präsidium?« »Nein, in meine Wohnung.« Ich wollte keine Bullen mehr um mich haben. * Er hielt direkt vor meiner Haustür. Für Geheimniskrämerei gab es keinen Grund mehr. »Sind Sie sicher, daß Sie in Ordnung sind?« fragte er. »Mir geht's prima«, sagte ich. »Rufen Sie mich an, wenn Sie was brauchen.« Ich zog meine Waffe und behielt die Büsche zu beiden Seiten des Wegs im Auge, als ich mich vorsichtig meiner Wohnung näherte. Drinnen verschloß ich die Tür und verkantete einen 256
Stuhl unter dem Türknopf; dann baute ich hinter dem Vorhang der Verandatür noch eine Pyramide aus Weinbrandschwenkern. Light the candle, geht the coke. Ich schob fünf neue Patronen mit groben Rehposten in eine der beiden heißen Flinten und lehnte sie gegen die Wand. Ich legte meinen Revolver in Reichweite neben mich auf die Couch und klopfte mir ein paar Riegel zurecht. Es kam mir ganz so vor, als hätte ich seit dem Tag, an dem Dodd mich vereidigt hatte, nichts anderes getan. Das und Papierkrieg. Ich ließ mich in die weichen Velourkissen sinken. Meine Knochen fühlten sich hohl an, als wäre irgendwas drin gewesen und hätte das Mark herausgefressen. Jetzt war das hier also keine Dealerbude mehr, sondern mein Zuhause. Obwohl die erfundene Debütantin ihren Einstand bei der Stadtpolizei Beaumont überlebt hatte, war sie zu Grabe getragen worden, und das alles an einem einzigen kurzen Abend. Flo, mein ehemaliges Ich, existierte nur noch auf dem Papier, nur noch auf den Anzeigenformularen. Ich war wieder mal Kristen. Die Polizeibeamtin Cates. Zumindest theoretisch. Wechsel deine Identität, spring in den Dreck und spiel ein bißchen Straßenfeger, dann kommst du wieder raus und machst genau dort weiter, wo du aufgehört hast, und das angeblich als anständiger Mensch. Nur daß ich mir gar nicht so anständig vorkam. Und wie ein Polizist kam ich mir schon gleich überhaupt nicht vor. Ich zog mir ein paar Spuren in die Nase und griff nach meinem Revolver. Eigentlich ist es ja fast schon praktisch, immer eine Waffe bei der Hand zu haben. Ich dachte in jener Nacht darüber nach, ziemlich lange, während ich bei Kerzenschein in meinem Wohnzimmer saß. Vielleicht war es der Koks. Vielleicht hatte ich aber auch Angst davor, was Gaines anstellen würde, wenn er gegen 257
Kaution auf freien Fuß kam. Nettle hatte seinen großen Fall. Gaines saß im Präsidium in einer Zelle. Er oder wir, hatte Jim gesagt. Ich nahm den Revolver wieder in die Hand und setzte mir den kühlen blauen Lauf gegen die Stirn. Ich legte den Daumen auf den Abzug. Ich würde langsam abdrücken, so langsam, daß ich die Spannung spürte, die den Hahn nach hinten zog, immer weiter, ich wollte es am Abzug spüren, ganz langsam. Ich ließ die Waffe über meine Nase gleiten, drückte sie gegen meine Lippen. Sachte rieb ich mit dem Daumen gegen den Abzug, ich befühlte die feinen Rippen. Ich nahm die Waffe vom Gesicht und schloß ein Auge. Ich starrte den Lauf entlang. Wenn Frauen soweit sind, sich selbst zu erschießen, dann schießen sich die meisten ins Herz. Die Fachleute, die, die so was studieren, meinen, das liege daran, daß Frauen schlicht und ergreifend zu eitel sind; sie können sich einfach nicht vorstellen, mit einem zurechtgedokterten Gesicht im Sarg zu liegen. Ich weiß nicht, wie lange ich so herumtändelte. Ich weiß nur noch, daß ich mir wünschte, das Ding würde einfach losgehen, während ich in den Lauf starrte, daß sich ein Schuß löste, ohne daß ich abzudrücken bräuchte. Ich weiß auch nicht, warum ich es nicht getan habe. Vielleicht deshalb, weil ich das Gefühl hatte, daß ich keinerlei Kontrolle mehr darüber hatte, was da passierte. Vielleicht wollte ich sehen, wer sich auf die Jagd nach uns machte. Oder vielleicht hatte ich ganz einfach nicht den Mumm dazu. Ich stopfte den Revolver zwischen die Kissen und lehnte mich zurück, um zu warten; ich starrte auf den schmalen, morgengrauen Spalt zwischen der Vorhangkante und dem Rahmen der Schiebetür.
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Kapitel Sechzehn Wir gingen an Polizisten und Sekretärinnen vorbei zum Büro des Rauschgiftdezernats. Man warf uns verstohlene Blicke zu; hier und da bot man uns ein förmliches »Hallo«. Dodd saß nach hinten gelehnt, die Füße auf dem Schreibtisch, auf seinem Stuhl und quasselte ins Telefon. »Jetzt hör mal, Schatz«, nölte er, »hast du überhaupt schon in die Zeitung geschaut? Ich konnte letzte Nacht hier nicht weg, es ging ziemlich rund hier.« Jim verdrehte die Augen und steckte sich eine Zigarette an. »Jaja«, sagte Dodd, »ich versprech's dir, heut abend. Um neun bin ich daheim.« Er legte auf und schwang die Füße vom Tisch. »Ist es schon vier? Wie zum Teufel geht's euch denn so?« sagte er mit seiner wuchtigen Stimme. Seine Augen waren rote Löcher. »Scheiße, Boß«, meinte Jim. »Meinen Sie nicht, Sie sollten mit ihren Partnern Kippe machen.« »Hä?« »Na hören Sie, die Stadt ist total trockengelegt, ich rauch schon Aktive, und Ihre Augen sehen aus wie halbgares Roastbeef.« »Ach was, Mann, so schlimm ist es auch wieder nicht«, grinste Dodd. »Bin bloß nicht ins Bett gekommen.« Er fuhr mit der Hand über den Papiersumpf auf seinem Schreibtisch. »Der ganze Kram hier muß noch in die Berichte. Da sitz ich noch Weihnachten drüber.« »Wie viele haben wir denn erwischt?« fragte Jim. »Neunundachtzig sind in Gewahrsam. Nicht schlecht für eine 259
Nacht Arbeit.« »Ist Gaines schon wieder draußen?« fragte ich. »Von wegen«, sagte Dodd. »Der Richter hat seine Kaution auf siebenhundertfünfzigtausend festgesetzt. Sein Anwalt legt heute nachmittag Einspruch ein. Aber im Augenblick sitzt er im Bezirksgefängnis. Und schauen Sie mal, was wir noch haben.« Er stand auf und tätschelte einen Stapel Videocassetten auf einem der Aktenschränke hinter seinem Schreibtisch. »Die haben sie im Kofferraum seines Wagens gefunden, nachdem ihr ihn kassiert hattet.« Er sah Jim an. »Sie hätten sich nicht so schnell davonmachen sollen.« »Ich hielt es für unnötig, die Situation noch zu verschärfen. Wir mußten ihn ja ohnehin schon fast aufmischen.« »Ja«, sagte Dodd, »ich hab schon gehört, daß er ziemlich stinkig war. Er behauptet, Sie hätten ihn geleimt.« »Ja«, sagte Jim, »klar doch. Das arme Vögelchen.« »Und was ist mit den Cassetten?« fragte ich. »Schauen wir in ein paar Minuten mal rein«, sagte Dodd. »Jetzt muß ich euch erst mal was zeigen.« Er grub einen Augenblick lang in einer Schublade, bis er zwei Ringe mit je drei glänzenden Messingschlüsseln zum Vorschein brachte. Er hielt sie uns einen Moment lang unter die Nase, dann gab er jedem von uns einen. Dann lehnte er sich zurück und warf ein Bein über die Schreibtischecke; schließlich rollte er seinen Kopf von einer Schulter auf die andere und streckte den Hals. »Der große da«, sagte er, »der ist für die Hintertür. Der mit dem komischen Haken ist für unten, für die Kellertür zum Bunker. Und der dritte…« Er stand auf. »Kommt mit, ich zeig's euch.« Direkt gegenüber vom Büro des RD befand sich eine mächtige, schwere Holztür. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich dahinter eine Besenkammer vermutet. 260
»Ihren Schlüssel?« sagte Dodd und hielt die Hand auf. Ich gab ihm meinen. Er sperrte auf und ließ uns hinein, drehte sich dann um und zog die Tür hinter uns zu. Der Raum war klein und hatte die Wände voller Regale, auf denen Bongs, Wasserpfeifen, Packungen mit Einwegspritzen, uralte Apothekerflaschen, Schachteln und Tüten voller Pillen und Pulver herumlagen, dazu noch gepreßtes Gras. Die Straßen mochten ja trockengelegt sein, aber das Präsidium hatte einen Mordsvorrat von dem Zeug. »Die Asservatenkammer«, sagte Dodd. Nirwana. Jim nahm eine Platte gepreßtes Gras und inspizierte die Zeichen auf dem Plastikumschlag. »Stammt aber nicht aus unseren Fällen«, sagte er. »Nein«, sagte Dodd. »Das Zeug haben wir fast alles direkt aus dem Labor. Stammt noch von Fällen, die erst gar nicht zur Verhandlung gekommen sind. Es wartete nur drauf, verbrannt zu werden.« Er stemmte die Hände in die Taschen und schaute gegen die Decke. »Tja«, seufzte er, »wir haben einfach so viel zu tun, daß wir noch nicht dazugekommen sind. Versteht ihr?« Jim sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Ich zuckte die Achseln. Ich konnte auch nicht wissen, ob das nicht eine Falle war. Aber dann, als wir wieder hinausgingen, stieß Dodd gegen einen Karton voll Pillen auf dem Boden und meinte: »Scheiße, Leute, fühlt euch ruhig wie zu Hause. Ist alles schon mal dagewesen.« * El Jefe, sagte Dodd, sei beim Mittagessen, und bei einem wichtigen obendrein. Nettles Schreibtisch war riesig, leicht zweivierzig mal einszwanzig, und nicht ein Blatt Papier lag schief. Exakt in 261
der Mitte stand ein Ding aus Walnußholz, in das man außer dem Namensschild auch gleich noch einige Füllfederhalter stecken konnte; auf einem Plastikeinschub mit brauner Holzmaserung las ich Donald Nettle. Auf der rechten Seite ein Stapel mit Eingang vorne dran. Auf der linken ein Foto, Format 20 x 25, von Mrs. Nettle mit Bienenkorbfrisur und vier strahlenden Kindern, drei Mädchen, ein Junge, allesamt mit den gleichmäßigen Zähnen und dem verkniffenen Lächeln des Vaters. Hinter dem Schreibtisch hing eine riesige Dienstmarke von der Beaumonter Polizei, flankiert vom Sternenbanner und von der rot-weißblauen Flagge des Staates mit dem einen Stern. Dodd rollte den Videorecorder, den er sich unten beim Erkennungsdienst ausgeborgt hatte, zu dem Fernseher an der vorderen Wand des Büros. Der sei dazu da, so klärte Dodd uns auf, daß Nettle sich die Nachrichten ansehen könne. »Die und ›Das Licht des Herrn‹«, sagte Jim. »Da Sie grad davon reden, langen Sie mal rüber, ja?« sagte Dodd. Jim machte das Licht aus und setzte sich auf die Ledercouch, die genau im rechten Winkel zu Nettles Schreibtisch stand. Ich setzte mich neben ihm auf die Lehne. Ein großes silbernes X drehte sich auf dem Bildschirm zum Klang synthetischer Trompeten, dehnte sich dann zu X-tra Special Video und schrumpfte schließlich zu einem kleinen weißen Punkt inmitten einer schwarzen Fläche. Marschmusik war zu hören, der Punkt wuchs zu einem goldenen Schriftzug: The Beat of a Different Drummer. Der Bildschirm wurde wieder schwarz, dann befanden wir uns plötzlich in einem leeren weißen Zimmer. Ein Mädchen kam herein, sie bewegte sich mechanisch, ihr Kopf drehte sich scharf nach links, dann nach rechts, links, rechts, während die Kleine zum Klang der Musik marschierte. Sie trug einen Helm mit goldenem Federbusch und einen kurzen schwarzen Rock, unter 262
dem goldene Höschen glänzten, dazu ein ärmelloses goldenes Hemd mit schwarzen Fransen. Ihre Füße steckten in goldenen Stiefeln, in den Händen hielt sie schwarz-goldene Pompons. »Wo ist denn der Chef?« fragte ich. »Trifft sich mit dem Staatsanwalt«, sagte Dodd, ohne seine blutunterlaufenen Augen auch nur einen Moment vom Bildschirm zu nehmen. Das Mädchen tanzte zackig; sie exerzierte eine Drillnummer durch, warf ihre Pompons in den Himmel, bückte sich, um sie nur wenige Zentimeter über dem Boden wieder aufzufangen, und ließ dabei ihre goldenen Höschen blitzen. Sie trug ziemlich viel Make-up, der Lippenstift rund um ihre gelben Zähne war tiefbraun, fast schon schwarz. »Mann oh, Mann, jetzt geht's los«, meinte Dodd. Drei Männer kamen hereinmarschiert, alle drei in schwarzgoldener Musikantenuniform; sie trommelten auf kleine Schnarrtrommeln ein. »Das ist Sousa«, sagte ich. »Einer der Angeklagten?« Dodd riß die Augen vom Bildschirm und drehte sich nach mir um. »Welcher ist es?« »Die Musik«, sagte ich. »John Philip Sousa.« »Wen zum Teufel interessiert das«, antwortete mir Dodd und wandte sich wieder dem Fernseher zu. Leise begannen sich uniformierte Polizisten ins Büro zu schleichen; sie drückten sich an den Wänden lang und blieben schweigend stehen. »Wir haben gehört, ihr schaut euch hier Beweismaterial an«, flüsterte einer, als Dodd sich umdrehte. »Der Fall Gaines«, sagte Dodd. »Solltet ihr nicht draußen auf der Straße sein?« »Schichtwechsel. Wir sind eben fertig geworden.« »Dann bleibt ruhig hier und schaut euch den Schweinkram an, 263
damit ihr lernt, was Bumsen heißt«, sagte Dodd. Einer der Streifenpolizisten schob sich herüber und stellte sich neben mich. Jim saß da und ignorierte den Fernseher; er hatte die Beine übergeschlagen; sein linker Fuß wippte nervös vor sich hin. Er brachte ein Taschenmesser zum Vorschein und begann, an seinen Fingernägeln herumzuschnitzen. »He«, flüsterte der Streifenpolizist, »ist das nicht die Uniform der Trojanettes, die das Mädel da anhat?« »Kannst du laut sagen«, sagte Dodd. »Baytown?« fragte Jim und hob den Kopf. »Er hat sie sich an der Uni in Baytown gekeilt?« »Vielleicht«, sagte Dodd. Mit offenem Mund starrte er auf den Bildschirm. Die Trojanette riß sich, noch immer mit der Präzision einer Drillnummer, das Hemd vom Leib und warf es außer Kamerareichweite. Die Uniformierten rund um mich pfiffen und klatschten, einer von ihnen nahm seine Handschellen heraus und begann sie um den Finger zu wirbeln. Die Tänzerin warf ihre Pompons in die Höhe und marschierte um die Trommler herum, hob dann einen Finger und forderte sie auf, ihr zu folgen, als sie durch die Tür in einen anderen Raum marschierte. »Ich werd verrückt«, sagte der Streifenpolizist leise. »Ach was«, meinte Dodd, »so scharf ist die Kleine nun auch wieder nicht.« »Nein«, sagte der Bulle, »aber ich kenne sie. Das ist die Tochter von Willard Freeman. Die ist voriges Jahr nach Baytown auf die Schule. Da wird doch der Hund in der Pfanne verrückt.« »Wer ist Willard Freeman?« fragte ich. »Dem gehören ungefähr zwei Drittel von unserer Stadt hier«, sagte der Streifenpolizist. »Nennt den Präsidenten der Vereinigten Staaten Jimmy, verdammt noch mal. Seine Kleine sollte lieber beten, daß er den Schweinkram hier nicht zu sehen kriegt. Er würde sie glatt umbringen und alle anderen, die damit zu tun 264
haben, obendrein.« Das Licht ging an. »Stellen Sie das Ding ab«, sagte Nettle von der Tür her. »Ich will mein Büro auf der Stelle leer sehen. Sofort. Sergeant, ich möchte Sie sprechen, wenn Sie das Gerät wieder dorthin zurückgebracht haben, wo es hingehört.« * In der Mitte des Sitzungsraums der Anklagejury stand ein riesiger Konferenztisch und in einer Ecke auf einem schmalen Metallständer eine Kaffeemaschine, die man eigens für die Marathonsitzung hereingeschafft hatte. Rund um den Tisch saßen zwölf aufrechte Bürger, die mit nicht gerade zaghafter Hilfestellung des Staatsanwaltes zu entscheiden hatten, ob gegen die von uns zusammengetriebenen Delinquenten ein Verfahren eröffnet werden sollte oder nicht. »Bitte nennen Sie uns der Ordnung halber Ihren Namen.« Vincent Carthage, der stellvertretende Staatsanwalt, sah aus, als wäre er nicht älter als ich, aber ausgesprochen gelehrt und beamtenhaft. Sein braunes Haar ringelte sich über den Kragen seines Anzugs; außerdem trug er eine Brille mit einem schweren schwarzen Rahmen. »Kristen Cates«, antwortete ich. Meine Stimme hörte sich ziemlich gefaßt an. »Und welcher Art ist Ihre Anstellung?« »Ich bin Polizeibeamtin der Stadt Beaumont.« Trotz des Vorbereitungslaufs mit einer ganzen Horde von Staatsanwälten machte ich mir doch Sorgen darüber, wie diese Leute meine Aussage aufnehmen würden. Ich hätte mir darüber nicht die geringsten Gedanken zu machen brauchen. Nettle hatte den Großaufputz so getimt, daß er mit der Einset265
zung einer brandneuen Anklagejury für Richter Hammit zusammenfiel, der für seine knochenharte Law-and-order-Mentalität bekannt war; ganz klar, daß er sich die Leute für den Juryausschuß sorgfältig aussuchte. Dieser Ausschuß hatte die Mitglieder der Anklagejury auszuwählen, und diejenigen unserer Missetäter, die diese Jury unter Anklage zu stellen beliebte, würden in Richter Hammits Gerichtssaal landen. Ein einziges, großes Ringelreihen von Ernennungen, von Richter Hammit über seinen Ausschuß und die Anklagejury zurück zu Richter Hammit. Diese zwölf braven Bürger, die hier in der Runde beisammen saßen, wollten womöglich das ein oder andere über Drogen oder Waffen wissen, aber sie hatten Teamgeist. Nie und nimmer würden sie es wagen, die Fakten der einzelnen Fälle in Zweifel zu ziehen. Die Anklagejury bestand aus neun weißen Männern, zwei Frauen und einem Alibischwarzen. Alle trugen sie ihren Sonntagsstaat; eine der beiden Frauen trug sogar einen Strohhut mit einem Bouquet Seidenblumen auf der breiten Krempe. Die Qualifikationen, die sie mitzubringen hatten, waren in der Strafprozeßordnung festgelegt. Man mußte ein wahlberechtigter Bürger sein, von »einwandfreiem moralischem Charakter«, mußte lesen und schreiben können und durfte weder wegen eines Verbrechens verurteilt worden sein, noch durfte eine Anklage »wegen Diebstahls oder eines anderen Verbrechens oder eine andere strafrechtliche Anschuldigung« anhängig sein. Im Grunde lief es darauf hinaus, daß man halbwegs ordentlich Englisch sprach und sich noch nie bei irgend etwas hatte erwischen lassen. Vince hielt seine Fragen einfach; zu jedem Fall stellte er die gleichen: Was haben Sie gekauft? Wo haben Sie es gekauft? Wieviel haben Sie bezahlt? Wie haben Sie den Beschuldigten identifiziert? 266
Jim hatte schon vier Stunden lang ausgesagt. Jetzt war ich an der Reihe, über die Fälle zu sprechen, die ich allein gemacht hatte, und in den Fällen, die ich zusammen mit ihm erledigt hatte, die Fakten zu bestätigen. In meiner Gerichtskleidung, einem konservativen Kostüm, den Rock bis unters Knie, Pumps mit Knöchelbändern und zum erstenmal seit Monaten wieder mit einem Schulterholster, saß ich da und antwortete ruhig mit ja oder nein, als Vince einen Fall nach dem anderen zur Sprache brachte. Vor mir lag ein Stapel Berichte, aber ich brauchte sie mir nur selten anzusehen. Es kam mir vor, als spreche ich mit einer Freundin, die ich lange nicht mehr gesehen hatte, über alles, was während ihrer Abwesenheit so passiert war. Als ich das Ganze jedoch so schwarz auf weiß vor mir sah, die Zeiten, die Tage, die Personenbeschreibungen, versuchte ich, so unvermittelt mit der nüchternen Wiedergabe der Ereignisse konfrontiert, mitten durch meine Emotionen einen Strich zu ziehen. Ich versuchte mir einzureden, daß keiner von diesen Leuten je ein Freund von mir gewesen sei. Ich war auf die Straße gegangen, um Drogendelikte zur Anzeige zu bringen, und genau das hatte ich getan, weiter nichts. Wenn einige der Beschuldigten dumm genug gewesen waren, sich einzubilden, ich könnte mich tatsächlich auch nur einen Dreck um einen Dealer scheren, dann hatten sie sich eben was vorgemacht – sie sich, nicht ich mir. Diese Haltung versuchte ich beizubehalten, während ich mit all den gottesfürchtigen Bürgern rund um den Tisch sprach. Ihre Gesichter, die verkniffenen Augen, die nach unten gezogenen Mundwinkel sagten mir, daß sie das, was sie da hörten, zu Tode erschreckte. In ihrer Stadt hatte eine Invasion stattgefunden, und sie waren hier, um mit Gottes Hilfe etwas dagegen zu unternehmen. Das Ganze machte mir angst. Und obwohl ich wußte, daß von mir Neutralität verlangt wurde, sah die Wahrheit nun einmal so aus, 267
daß ich einigen der Beschuldigten ziemlich nahegekommen war; deren Fälle spielte ich herab und versuchte, die Betreffenden als anständige Leute hinzustellen, die es eigentlich nicht verdienten, ins Gefängnis zu wandern. Ich hatte nicht den Eindruck, daß es half. Den großen Fisch sparte sich Vince bis zuletzt auf. Zu diesem Zeitpunkt sahen die Geschworenen, das heißt, alle außer der Dame mit dem Hut, schon ziemlich müde aus; es langweilte sie, in jedem Fall die gleichen Details durchzuhecheln. Sie jedoch war ganz bei der Sache, die Fäuste sauber auf dem Tisch geballt, saß sie da. Ich dagegen konnte mich nicht konzentrieren, weil mir die Füße wehtaten, sie waren es nicht gewohnt, von hohen Absätzen malträtiert zu werden. »Na schön«, sagte er schließlich, »Ihr Partner hat bereits zum Fall Will Gaines ausgesagt, ich würde ihn jedoch gern noch einmal mit Ihnen durchgehen.« Ich zog den Bericht aus dem Stapel vor mir. »Lassen Sie mich Ihre Aufmerksamkeit auf den 26. April 1978 lenken, das war vor etwa einem Monat. Erinnern Sie sich an das Datum?« »Ja, Sir, ich erinnere mich.« »Irgendwann nach sechs Uhr abends an diesem Tag, hatten Sie da Gelegenheit mit dem Beamten Raynor in Ihrer Wohnung zu sprechen?« »Ja, Sir, das hatte ich.« »Haben Sie beide sich dabei über Mr. Will Gaines unterhalten?« »Ja, Sir.« »Um was ging es bei dieser Unterhaltung?« »Wir diskutierten die Möglichkeit, an diesem Abend von Mr. Will Gaines Kokain zu kaufen.« Ja, das taten wir, Herr Hilfsankläger, meine Damen und Herren 268
von der Anklagejury, wir haben uns in der Tat über die Möglichkeit unterhalten, von Will Gaines Koks zu kaufen. Und wir kamen zu dem Schluß, daß es nicht zu machen sei. »Und wo sind Sie hingegangen, um den Kauf zu tätigen?« »In die Gasse hinter dem Drillers Club.« »Wann sind Sie dort eingetroffen?« »Kurz nach elf Uhr.« »Worin bestand Ihre Aufgabe?« »Ich sollte im Wagen warten, in der Nähe der Hintertür des Lokals, während Agent Raynor das Kokain kaufte.« »Als er das Kokain kaufte.« »Ja, Sir.« »Von Gaines.« »Ja, Sir, von Will Gaines.« »Und was sahen Sie, während Sie an jenem Abend in Ihrem Wagen saßen?« »Ich sah Will Gaines aus der Hintertür treten, und es schien eine kurze Unterhaltung stattzufinden, dann händigte Gaines dem Agenten Raynor einen braunen Umschlag aus.« Ich hatte hoch und heilig geschworen, daß meine Aussage die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit sei, also machte ich meine Worte dazu. Ich log mit Überzeugung, ich sorgte dafür, daß ich es selbst glaubte. Es blieb mir nichts anderes übrig. Ich stellte mir das Ganze vor, während ich die Geschworenen belog; ich sah, wie es passierte, sah Gaines bei der Übergabe, genauso wie es gewesen wäre, wenn es auf dieser Welt so was wie Gerechtigkeit gäbe. Er mußte einfach aus dem Verkehr gezogen werden, und um die Reste meines malträtierten katholischen Kleinmädchengewissens zu beschwichtigen, rückte ich das Ganze in die richtige Perspektive und gab der Jury die Worte, die sie brauchte, um Will Gaines für ein Verbrechen unter Anklage zu stellen, das er nicht begangen hatte. 269
Gesetz hin, Gesetz her, es spielte keine Rolle. Jim und ich wandten eines wie das andere gegen ihn und warfen sämtliche Regeln über Bord, an die Gaines sich ohnehin nicht hielt; und irgendwie war das richtig. Was wir taten, war gerechtfertigt. Was zu beweisen war – oder fast. Als Vince aufstand, dachte ich, ich hätte alles hinter mir, aber genau in diesem Augenblick hatte die Frau mit dem Hut vorsichtig die Hand gehoben. »Entschuldigen Sie«, sagte sie schüchtern, »aber ich bin mit alledem hier nicht vertraut, und es gibt da etwas, was mich verwirrt.« Vince warf mir einen raschen Blick zu und sagte ihr dann, sie solle ihre Frage ruhig stellen. »Heute, vor einigen Stunden«, sagte sie, »war hier ein Sergeant, Sergeant Dodd, glaube ich, und er sagte etwas von einem jungen Mann, ich glaube, er nannte ihn Walker, und ich bin mir da etwas im unklaren, welche Rolle er bei dieser ganzen Geschichte spielte. Könnten Sie das erklären?« Ich sah Vince an, aber offensichtlich hatte er nichts zu sagen. »Ich weiß nicht so recht, was Sie meinen«, sagte ich. »Was ich gerne wüßte«, sagte die Frau, »ist, ob dieser junge Mann zu denen gehört, die Rauschgift verkauften oder nicht. Der Sergeant drückte sich da nicht so ganz klar aus.« Ich hatte keine Ahnung, was Dodd gesagt hatte oder wieviel Vince über unseren Informanten wußte. Wenn ich etwas Falsches sagte, würde Vince wissen, daß ich einen Meineid geleistet hatte, und ich wußte nicht, wie er darauf reagieren würde. Ich formulierte meine Antwort sorgfältig. »Alles, was ich Ihnen dazu sagen kann«, sagte ich, »ist, daß ich persönlich nie von ihm Rauschmittel gekauft habe und auch nie Zeuge eines solchen Verkaufs war.« Die Frau befingerte die Blumen auf ihrem Hut und neigte ihren 270
Kopf. Vince sprang rasch dazwischen und entließ sie für diesen Tag. Ich überlegte, warum man die Videos nicht erwähnt hatte. Nachdem Vince mir für meinen mutigen Ausfall in die Welt des Verbrechens ein Lob ausgesprochen und die Geschworenen mir dankbar zugenickt hatten, stand ich dann vor dem Sitzungsraum, lehnte mich gegen die Wand und überlegte, wohin Jim sich verdrückt haben mochte. Dodd kam auf mich zu; den Geschworenen, die ihm auf dem breiten Flur mit der hohen Decke entgegenkamen, nickte er respektvoll zu. »Er ist auf dem Klo«, sagte er. »Er hat mich gebeten, auf Sie zu warten.« »Was soll diese Geschichte mit Walker?« fragte ich. »Welche Geschichte?« »Was haben Sie denen über ihn gesagt?« Dodd stand da und versuchte verwirrt dreinzuschauen, als Jim herankam. »Wie ist es gelaufen?« fragte er. »Es gibt Probleme«, sagte ich. »Sie haben nach Walker gefragt.« »Gehen wir raus«, sagte er. Es war schon fast dunkel, als wir auf dem Gehsteig vor dem Gerichtsgebäude standen, einem Art-deco-Turm aus rosa Granit mitten auf dem Stadtplatz. Auf den Parkplätzen vor dem Gebäude stand eine Reihe Streifenwagen, weiße Pontiacs mit schwarz-goldenen Emblemen auf den Türen. Die meisten von ihnen hatten schon die neuen länglichen rot-blauen Aufbauten mit integrierter Sirene, einige hatten aber auch noch die alten roten Warzen oben drauf. »Also«, sagte Dodd. Er setzte sich auf einen Kotflügel und steckte sich eine Zigarette an. »Was haben Sie ihnen gesagt«, fragte Jim. »Und warum«, wollte ich wissen. »Warum haben Sie ihn ver271
pfiffen?« »Ich hatte keine andere Wahl«, sagte Dodd. »Fragen Sie mich nicht, woher sie's gewußt haben, aber sie haben's gewußt. Trotzdem, ich hab mich schon drum gekümmert. Ich bin gleich nach meiner Aussage ins Büro. Ich habe seinen Vorgang hier im Stiefel.« »Macht es Ihnen was aus, wenn ich ihn behalte?« Jim nahm Dodds Zigarette, um sich seine eigene daran anzuzünden. »Kein Problem.« Dodd langte hinunter, um seine Jeans hochzuziehen, stoppte aber plötzlich ab und richtete sich wieder auf. »Oh, Mann«, sagte er, »hier kommt genau der Mann, mit dem ich im Augenblick nicht reden möchte. Hält sich verdammt noch mal für einen zweiten Melvin Belli oder was.« Ein kleiner Typ im dunklen Anzug kam auf uns zugewatschelt; von einem Ohr zum anderen, rund um die teils echte, teils rasierte Glatze, zierte seinen Kopf ein dichter schwarzer Haarkranz. Den Knoten seiner Krawatte hatte er vom Hals gezogen, und er trug eine große vollgestopfte Aktentasche, aus der Papiere quollen. Er nickte Dodd zu und streckte Jim die Hand entgegen. »Charles Sommier«, sagte er und schnappte sich Jims Hand, um sie kräftig zu schütteln. Dann trat er auf mich zu, baute sich nur wenige Zentimeter vor mich auf und bot mir einen labberigen Händedruck. »Meine Freunde nennen mich Chuck. Ich habe schon soviel über Sie beide gehört. Ich vertrete, jedenfalls im Augenblick, dreiundvierzig der von Ihnen Beschuldigten. Ich nehme an, die Zahl wird noch ansteigen, wenn es zu den Verhandlungen kommt.« Er trat zwei genau berechnete Schritte zurück und zog sich die Aktentasche vor die Brust. »Ich denke nicht, daß wir viele Verhandlungen kriegen«, sagte Jim. »Die meisten Beschuldigten werden bald kapieren und ihr Geständnis gegen Strafminderung tauschen.« 272
»Ich enthalte mich diesbezüglich eines Urteils«, sagte Sommier. Er kam wieder näher. »Aber auf Grund dessen, was sie mir erzählt haben, habe ich allen Grund zur Annahme, daß wir vor Gericht ein paar lebhafte Begegnungen erleben werden.« Wieder trat er zwei Schritte zurück. »He, Chuck«, sagte Dodd, »wie sind Sie denn zu den dreiundvierzig Angeklagten gekommen? Hat man Sie im voraus benachrichtigt oder was? Oder haben Sie vor dem Gefängnis gewartet, um sie gleich alle auf einmal zu kriegen?« »Sie kennen meinen Ruf in unserer Gemeinde, Sergeant, da bin ich mir sicher.« »Ist der gut oder schlecht, dieser Ruf?« fragte ich. Er lächelte und sagte: »Das ist ganz einfach. Ich bin sondergleichen. Und wie Ihr guter Sergeant hier sehr wohl weiß, habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, Beaumonts großartiger Polizeitruppe ein wenig auf die Finger zu sehen.« Als er wieder vortrat, trat ich ein paar Schritte zurück. Er grinste mich affektiert an. »Weiß Gott«, murmelte Dodd. »Tja, Chuck, wir haben noch zu tun«, sagte Jim. »Nett, daß Sie sich vorgestellt haben.« »Das Vergnügen war ganz meinerseits. Ich will es ganz offen sagen, dank dem Duo Raynor und Cates werde ich dieses Jahr ein ganz besonders herrliches Weihnachtsfest verbringen. Vielleicht gehe ich sogar mit meiner Frau auf eine Kreuzfahrt. Das Geschäft floriert, wie man so schön sagt.« Er machte auf der Stelle kehrt und ging davon, die Aktentasche noch immer gegen die Brust gedrückt. »So ein Arschloch«, sagte Dodd. »Der Hurensohn hält sich für superschlau, seit er gegen die Polizei eine Zivilklage gewonnen hat. Er hat für irgend so einen Rotzlöffel zwei Millionen Dollar herausgeschunden, nur weil der behauptete, ein paar Uniformierte hätten ihn eines Nachts aufgemischt.« 273
»Und haben sie?« fragte ich. »Ach was, Quatsch«, sagte Dodd. »Sie haben bloß an die Haustür geklopft, um einen Haftbefehl zu vollstrecken. Unglücklicherweise hockte sein alter Herr im Wohnzimmer und hat sich ›Samstagnacht im Kino‹ angeschaut, als es passierte.« »Wie konnte er die Klage dann gewinnen?« Dodd grinste bei dem Gedanken daran und schabte mit dem Stiefel über das Pflaster. »Sie haben mit 'nem Vorschlaghammer geklopft.« »Tja«, sagte ich. »Unser Chuckie hat jedenfalls ganz klare Prioritäten. Ein nettes Weihnachten, eine Kreuzfahrt. Ich frag mich, was seine Klienten währenddessen machen?« »Baumwolle zupfen«, sagte Dodd. Jim schaute noch immer hinter dem über den Parkplatz davontänzelnden Sommier her, als Dodd ihm die Akte hinhielt. »Ja«, sagte Dodd, »genauso wird's sein. Immer munter einen Ballen nach dem anderen.« »Ich bin mir da nicht so sicher«, meinte Jim. »Der Typ ist wahrscheinlich 'n verdammt guter Anwalt.« Er warf seine Zigarette weg. »Ein absolut eiskalter Dreckskerl.«
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Kapitel Siebzehn Eiskalt und gefaßt – so beschrieb man mich in den Zeitungen. Mit »Valium ruhiggestellt« wäre der Sache schon nähergekommen. Acht oder zehn der Angeklagten waren aus der Reihe getanzt und hatten auf ihren Prozeß bestanden. Ich schluckte ein paar hellblaue Pillen, trat in den Zeugenstand, sagte, was die Ankläger hören wollten, und versuchte auf eine Art und Weise zu antworten, die die Verteidiger zusammenzucken ließ. Nettle genoß jede einzelne Minute. Nicht eine Bürgerorganisation in der Stadt, bei der er uns nicht vorbeigeschleppt hätte; er präsentierte uns als seine besten Drogenfahnder. Bevor er uns dem Verein der Elche vorstellte, fütterte er uns mit Kartoffelbrei und Roastbeef; wir sollten einen Vortrag halten zum Thema »Drogen in Ihrer Stadt, Herr Bürger.« Jim stand hinter dem Rednerpult, im Dreiteiler, das Haar sauber gestutzt – »ein gutaussehender Musteramerikaner« hieß es anderntags in den Zeitungen –, und erzählte den Geschäftsleuten von Beaumont, sie sollten Gott danken, daß ihre Polizei alles nur menschenmögliche unternahm, um der Drogenepidemie Herr zu werden, die die Stadt ohne ihr Verschulden infiziert habe. Einen nach dem anderen sammelten wir jene Beschuldigten ein, die versucht hatten, sich aus dem Staub zu machen. Im Juli befanden sich nur noch sieben auf freiem Fuß, entweder unbekannte Personen oder Leute, die wir nur mit Vornamen kannten. In einigen Fällen reichte das aus. Wir konnten den Spitznamen einer Person in den Computer eingeben und bekamen sämtliche 275
Registrierten ausgedruckt, auf die er paßte; dann prüften wir deren Geburtsdaten und suchten uns die aus, die altersmäßig in etwa hinkamen. Schließlich forderten wir von der zuständigen Behörde ihre Führerscheinfotos und sahen nach, ob wir jemanden erkannten. Obwohl die meisten Fotos aus den Akten der Führerscheinkartei grauenhaft unscharf waren, gelang es uns für gewöhnlich doch, den Gesuchten zu finden. Nettle zeigte ein persönliches Interesse an jedem einzelnen Fall und bediente sich der Computer auch gleich für andere Zwecke. Er prüfte jeden der für die Hauptverhandlung in Frage kommenden Geschworenen, als bewerbe sich der Betreffende für einen Posten bei der CIA. Er hatte einfach alles: von ihren Wahlakten bis hin zu dem letzten Knöllchen für falsches Parken. Er wußte, wo sie zur Kirche gingen, welchen Organisationen sie angehörten, wie viele Kinder sie hatten und ob diese bei den Pfadfindern oder jugendliche Kriminelle waren. Ich hätte gute Lust gehabt, ihn zu fragen, welche Farbe die Zahnbürsten der Geschworenen hatten, fürchtete jedoch, er könnte es tatsächlich wissen. * Der dumme kleine Douglas führte den Zug der Opferlämmer an. Er war der erste Angeklagte, dem der Prozeß gemacht wurde, und preschte den anderen weit voraus. Er bekam lebenslänglich. Jammer kriegte dreißig Jahre; Cowboy verknackte man zu fünfundsiebzig. Lester, der Lästerer, stand als Gewohnheitsverbrecher für Vorbeugehaft zur Debatte: dreimal erwischt – so etwas kann lebenslänglich ohne die Chance einer Bewährung bedeuten. Und genau das kriegte er. Langsam, aber sicher meldeten sich Anwälte bei Vince und den anderen Sonderanklägern, die bei den Prozessen aushalfen. Hin276
ter seiner Bürotür wurde geflüstert, ob man nicht vielleicht mit einer milderen Strafe rechnen könne, wenn man sich eines mindergewichtigen Delikts für schuldig erklärte. Chuck war noch mit keinem seiner Fälle vor Gericht gegangen. Er wartete ab, vielleicht um zu sehen, was die anderen so kriegten; in der Zwischenzeit tauchten seine Klienten in seiner Kanzlei auf und behaupteten, bei seinen Gebühren bleibe ihnen gerade noch das Kleingeld in der Hosentasche. Einige von ihnen boten sich als Informanten an. Butch Cravin, ein zotteliger blonder Typ mit einer Narbe auf der linken Seite seines mächtigen Zinkens, sagte, er sei verzweifelt und würde alles tun. Er saß auf der anderen Seite von Jims Schreibtisch, schwitzte wie ein Schwein in der Sauna, und sein T-Shirt wurde unter den Achselhöhlen immer dunkler, während er sprach. »Ich kann mir diesen Mr. Sommier einfach nicht leisten«, sagte er. »Scheiße, er hat schon den Brief von meinem Wagen, er kassiert zwanzig Prozent von jeder Lohntüte, und ich schulde ihm immer noch Tausende. Ich brauch einfach ein bißchen Luft. Ich kann Ihnen unten in Port Lavaca einen Kilodealer liefern.« »Kilo was?« fragte Jim. »Pot.« »Interessiert uns nicht«, sagte Jim. »Wir wollen Kokain.« Cravin saß einen Augenblick lang da und starrte zu Boden, dann wischte er sich mit den Händen über die Schenkel. »Na gut«, sagte er. »Aber dann müssen Sie alles fallenlassen. Nix von wegen Bewährung oder was, weil ich nämlich den Staat verlassen muß, wenn ich das überleben will.« »Wir können dir nichts versprechen«, sagte Jim. »Aber wir tun, was wir können.« Ich bin Beamter, und ich bin hier, um dir zu helfen. Der Knabe hatte uns ein paar verschreibungspflichtige Diätpillen und ein paar Gramm Koks vertickt, kleine Deals. Aber trotzdem erwarte277
ten ihn für jeden Anklagepunkt lange Knaststrafen zwischen zwei und zehn Jahren. Wenn die Jurys weiter an ihrer gnadenlosen Law-and-order-Mentalität festhielten, standen Cravin gut und gerne dreißig Jahre ins Haus. Ich saß hinter meinem Schreibtisch und starrte über den Flur auf die Tür zur Asservatenkammer, während Jim mit ihm verhandelte. Ich hatte Valium in meiner Handtasche und Pot in meiner Wohnung; was Jim so versteckt hatte, konnte ich nicht sagen; und trotzdem saßen wir da und waren ein Teil des Systems, das Cravins Kopf im Schraubstock hatte und immer fester anzog. Er tätigte von unserem Büro aus seine Anrufe, gab sogar Jim den Hörer, damit er mit seiner Connection sprach. In zwei Wochen konnten wir ein Kilo kriegen. Als er auflegte, kritzelte Jim die Nummer des direkten Anschlusses auf einen Zettel und gab ihn unserem neuesten Informanten. »Ruf jeden Tag um Viertel nach vier an«, sagte er. »Ich laß dich dann wissen, wie wir mit dem Staatsanwalt zurechtkommen. Der Vorgang liegt in seinem Büro, das heißt, wir müssen uns jetzt an den Dienstweg halten.« »Danke, Mann«, sagte Cravin. »Echt, ich würde das wirklich nicht machen, aber ich hab Familie, ein paar Kinder, Sie wissen schon. Ich kann Sommier beim besten Willen nicht zahlen, was er haben will.« »Du könntest um einen Pflichtverteidiger eingeben«, sagte ich. »Krieg ich nicht. Ich müßte total blank sein, daß sie mir einen geben.« * »Und was ist damit?« fragte Nettle. Er nahm ein Schreiben aus 278
dem EINGANG-Körbchen und begann es zu lesen. In seinem Büro herrschte eine Kälte wie im Dezember, trotzdem brummte die Klimaanlage munter vor sich hin. Ich zog mir einen Stuhl an seinen Schreibtisch. »Es ist immerhin ein Kilo Koks«, sagte ich. »Ein prima Fang.« Zur Abwechslung, hätte ich gern hinzugefügt. »Ich sehe nicht, was Port Lavaca mit uns hier in Beaumont zu tun haben soll.« Er räusperte sich. »Es ist eine Sprosse die Leiter hinauf«, sagte ich. »Wir schnappen uns die Connection von einem, der hier wohnt, et cetera.« Er legte das Schreiben hin und nagelte es mit den Fingerspitzen auf die Schreibtischplatte. »Schauen Sie«, sagte ich, »Jim hat schon mit dem Knaben gesprochen. Nächste Woche kann der Kauf über die Bühne gehen.« »Es liegt außerhalb unserer Zuständigkeit.« »Und was ist mit der Staatspolizei?« »Interessiert mich nicht«, sagte er. »Die haben mir einen zu schlechten Ruf.« »Chef«, sagte ich, »unsere Delinquenten fangen an zu reden, sie geben ihre Quellen preis. Ich habe Jammer drei Stunden im Bezirksgefängnis besucht. Er meinte, er würde noch heute abend anfangen, mit uns zusammenzuarbeiten. Wenn Sie den Deal in Port Lavaca nicht haben wollen, wie wär's, wenn wir Jammer rausließen?« »Falls ich Sie nicht mißverstanden habe, ist das einzige, was er uns liefern kann, ein Speedlabor in Dallas. Auch das ist nicht unser Problem.« »Es ist unser Problem«, sagte ich. »Verdammt noch mal, es ist eine Amphetaminfabrik. Crystal Meth. Sie wissen doch, wieviel wir von dem Zeug gekauft haben. Die versorgen den ganzen Staat. Es ist eine Quelle.« 279
Er griff unter den Schreibtisch und brachte seinen Aktenkoffer zum Vorschein, den er sorgfältig in die Mitte der polierten Mahagoniplatte plazierte, bevor er aufstand. »Cates«, sagte er, »es ist schon spät, und ich bin müde. Gute Nacht.« * Es war schon fast Mitternacht, als ich nach Hause kam. In meiner Wohnung brannte Licht. Schon vor der Tür hörte ich Willie Nelsons Gitarre. Ich holte meine Waffe heraus und schloß mit der Linken auf. Jim und Walker fläzten sich auf der Couch. In der Mitte des Couchtisches stand eine Pyramide aus leeren Bierdosen, daneben ein Bong und ein Säckchen Gras. »He, Baby«, sagte Jim, »wie ist es gelaufen? Hast du den Scheißer umgedreht?« »Arbeitet er mit euch zusammen?« stammelte Walker. Ich ignorierte ihn und zog mir einen Stuhl aus dem Eßzimmer herein. »Er meinte, er kann uns ein Speedlabor in Dallas liefern.« »Na ist doch prima«, sagte Jim. »Ist es nicht. El Jefe denkt an nichts anderes als an seine Scheißbeförderung. Er sagt, es sei nicht drin. Er will nur Deals aus unserem Landkreis.« »Mann«, sagte Walker. »Was für 'n Scheißbulle ist 'n das.« »Halt's Maul, Walker, du bist ja besoffen«, sagte Jim. »Ihr seid beide granatenvoll«, sagte ich. »Sperrt zu, wenn ihr geht.« Ich machte die Anlage aus und ging ins Schlafzimmer. »Übrigens, Raynor«,sagte ich, »könnte mir vielleicht jemand erklären, wieso mein Partner zu Hause hockt und sich zumacht, während ich bis Mitternacht arbeite?« 280
»Verdammt«, sagte Walker, »ich glaub, ich mach mich mal lieber auf die Socken.« »Gute Idee.« Ich machte die Schlafzimmertür zu, nahm das Holster ab, steckte mir meine Waffe unters Kopfkissen und war auf der Stelle weg. Als ich am nächsten Tag gegen Mittag aufwachte, lag Jim neben mir, wie ich in voller Montur. Ich hatte schon geduscht und mir was Frisches angezogen und kramte eben in der Küche nach was Eßbarem, als er hereinspaziert kam. »Wie spät ist es?« fragte er. »Noch anderthalb Stunden bis zur Arbeit. Willst du was zu Mittag?« »Ein Sandwich wär nicht schlecht. Ich glaub, ich geh mich mal duschen.« Ich grub im Kühlschrank herum und klatschte ein paar Sandwiches zusammen. Als ich eine Schachtel Crackers aufmachte, fand ich eine Pumpe zwischen den in Wachspapier gewickelten Keksen. Benutzt. Ein dünner roter Film überzog die Innenwand des Zylinders. Ich hörte die Dusche und machte mich auf die Suche. Ich zerlegte die ganze Küche. Als ich fertig war, hatte ich drei weitere gefunden. Alle rot angelaufen, in einer befanden sich sogar noch ein paar Tropfen der blutigen Flüssigkeit. Ich legte sie in Reih und Glied auf Jims Sandwich und schlüpfte ins Schlafzimmer, um Dienstmarke und Waffe zu holen, bevor ich ins Präsidium fuhr. Ich hätte mich sofort auf die Autobahn knallen und einfach davonfahren können. Ich hätte es tun sollen. Das Verdeck meines 442 herunterklappen und einfach drauflosfahren: Genau das hätte ich tun sollen. Ich ging ins Büro und setzte mich an meinen Schreibtisch. Ein 281
uniformierter Beamter steckte seinen Kopf zur Tür herein und fragte, ob Dodd da wäre. »Noch nicht«, sagte ich. »Sagen Sie ihm, ich wäre im Aufenthaltsraum.« »Mach ich.« Dann saß ich da. Ich holte mir das Putzzeug aus Dodds Schreibtisch und reinigte meine Waffe. Ich reinigte sie und dachte an nichts; dann reinigte ich sie noch mal. Schließlich steckte ich sie ins Holster zurück und las die Zitate auf dem Schreibtischkalender. »Das höchste Glück im Leben ist die Überzeugung, geliebt zu werden.« Victor Hugo. »Bei der Wahl eines Pferdes und einer Frau muß der Mann nach eigenem Geschmack handeln und den Rat seiner Freunde ignorieren.« George John Whyte-Melville. »Nichts im Leben stimmt einen so heiter, als beschossen und nicht getroffen zu werden.« Winston Churchill. Ich zeichnete einen Pferdekopf auf die Schreibtischplatte. Dann wurde mir klar, daß ich in alle nur möglichen Richtungen gesehen hatte, nur nicht in die eine, und erst dann, in dem Augenblick, in dem ich mich zu der Erkenntnis durchrang, daß ich für Jims Leben schließlich nicht verantwortlich war, nicht dafür verantwortlich sein konnte, in dem Augenblick, in dem ich mich dazu durchrang, ihn aufzugeben, da erkannte ich, daß ich es tatsächlich schaffen würde. Die Asservatenkammer lag gleich auf der anderen Seite des Flurs, bis obenhin voll, und der Schlüssel dazu lag auf meinem Schreibtisch. Ich wollte kein Kokain. Ich mußte an eine bestimmte Nacht denken, unsere Ermittlungen waren etwa auf halbem Wege, in der um zwei Uhr morgens ein Dealer auf meiner Schwelle aufgekreuzt war. Er stand auf dem Treppenabsatz, zitterte, die Nase geschwollen und bluttriefend. Als ich ihn in die Wohnung zog, setzte er sich und streckte mir seinen mit Blutergüssen übersäten Arm entgegen und sagte: 282
»Meine Nase ist im Arsch, und ich kann keine Vene finden. Kannst du mir 'n Druck setzen? Bitte?« Ich hatte ihn gefragt, wie lange er denn schon schoß, und er sagte: »Ich weiß nicht. Drei Tage. Ich war da auf 'ner Party und kriegte die Nase nicht frei, da hab ich eben, verstehst schon…« Er reichte mir seinen Stoff; ich machte die Pumpe zurecht und setzte ihm einen Druck. Und dann setzte ich mir selbst einen und haßte mich dafür, auf den Rush zu stehen. Ich hatte Mitleid mit dem hilflosen sabbernden Trottel von einem Menschenkind, das mich eben angebettelt hatte, ihn mit Kokain vollzuschießen, und haßte ihn zugleich, wie er mir so gegenübersaß, abgedröhnt bis an die Kiemen, die Augen so groß, daß es den Anschein hatte, als würden sie ihm jeden Augenblick aus den Höhlen springen, wie in einem Comic, um dann um seinen Kopf zu kreisen. Mann, hatten wir Spaß. In jener Nacht kam ich mir vor wie ein Ungeheuer. Die Asservatenkammer war auf der anderen Seite des Flurs. Ich wollte weit, weit davon weg sein, irgendwo in einem Haus draußen auf dem Land, weit weg von dem Chaos, in das ich mein Leben mit soviel Geschick verwandelt hatte. Wenn Jim wieder auf den Hund kommen wollte, dann sollte er es allein tun. Ich war fertig damit. Das war mir klar. Ich spürte es. Als er schließlich zur Tür hereinkam, tat er ganz und gar geschäftsmäßig; forsch pfiff er vor sich hin, als er in meinem Aktenschrank herumzukramen begann. Ich beobachtete ihn; ich spürte seine Anwesenheit im selben Raum mit mir, dachte an den ersten Tag, an seine Hand über dem Schreibtisch, um die meine gelegt, an seine Kraft, seine Augen. »Hast du die Berichte über Jackson gesehen?« »Nein«, sagte ich. »Er ist dran. Wir treffen uns morgen früh mit dem Staatsanwalt. Zehn Uhr.« 283
Ich saß einfach da. Er riß einen Akt aus einer der vollgepackten Schubladen. »Wenn er sich schuldig erklärt, heißt das, daß Gaines dran ist.« »Schön«, sagte ich. »Du solltest die Berichte durchschauen.« »Vielleicht sollte ich mir auch bloß ein bißchen Speed drücken, um mich für die Verhandlung richtig zuzudröhnen.« »Ich komm fünf Tage die Woche ins Büro und tue meine Arbeit, Baby. Es lohnt sich wirklich nicht, deswegen die Nerven zu verlieren.« Das war es, er hatte alles im Griff. Nichts weswegen man die Nerven zu verlieren brauchte. Es würde weder mir noch ihm das geringste bringen. »Die Prozesse werden bald vorbei sein«, sagte ich. »Was meinst du, drei, vier Wochen noch?« »Wenn wir Glück haben.« Er knallte den Schub zu. »Wieso kommst du ausgerechnet jetzt damit an?« »Ich pack es eben nicht, in der Crackerpackung gebrauchte Pumpen zu finden.« »Ist doch kein Problem.« »Da hast du recht«, sagte ich. »Es ist absolut kein Problem. Wenn wir bei Gericht durch sind, gehe ich.« »Tu, was du tun mußt«, sagte er. Ich wußte, ich drängte ihn und daß früher oder später was kaputtgehen mußte. Ich wußte nicht, welche Richtung es nehmen würde, nur daß ich mich wie ein richtiges Miststück aufführte und Jim dazu zu bringen versuchte, mich zu hassen. Ich erledigte meinen Papierkram, befolgte Dodds Befehle und aß meine Mahlzeiten allein. Ich bat Jim weder um seinen Rat noch um seine Gesellschaft; ich beantwortete seine Fragen so knapp wie nur möglich. Ich blieb allein. So war es leichter, mich um nichts zu kümmern. 284
Ich kannte seinen Zorn, teilte ihn bis zu einem gewissen Grad, kannte die Frustration, wenn irgend so ein aalglatter Mistkerl von einem Verteidiger daherkam und einen Angeklagten herauspaukte. Was die Inkompetanz der Idealisten anbelangte, verspürte ich denselben Zorn wie er. Wie konnte man nur glauben, daß man gegen Leute, die keine Regeln hatten, auch nur das geringste ausrichten könnte, wenn man nach den Regeln spielte? Als Beamter der Vollzugsbehörden besteht meine erste Pflicht darin, der Menschheit zu dienen, Leben und Eigentum zu schützen, die Unschuldigen vor Betrug zu schützen, die Schwachen vor Unterdrückung oder Einschüchterung und die Friedfertigen vor Gewalt oder Unordnung sowie die Rechte aller Menschen auf Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit zu respektieren. Es hatte etwas ungeheuer Befriedigendes, den Abschaum bei seinem eigenen Spiel zu schlagen, diese Leute davon überzeugt zu haben, man sei einer der ihren, und sie dann vor Gericht wiederzusehen. Ich werde mein Privatleben als gutes Beispiel für alle sauberhalten; angesichts von Gefahr, Verachtung oder Spott mutig die Ruhe bewahren; Selbstbeherrschung entwickeln; und ständig auf das Wohl aller bedacht sein. Ehrlich in Gedanken und im Tun sowohl im privaten als auch im öffentlichen Leben, werde ich beispielhaft die Gesetze des Landes und die Verordnungen meiner Behörde befolgen. Was immer ich an Vertraulichem höre oder mir in meiner Eigenschaft als Staatsdiener anvertraut wird, wird immer geheim bleiben, es sei denn, die Aufdeckung ist im Rahmen meiner Pflichterfüllung vonnöten. Sie hatten mir alles erzählt, sie hatten mir etwas verkauft, sie hatten mit ihren kriminellen Aktivitäten geprahlt. Vom Zeugenstand aus zitierte ich ihre vernichtenden Worte und grinste sie an, wenn die Geschworenen gerade nicht herschauten. Niemals werde ich übertrieben vorgehen oder meine Entschei285
dungen von persönlichen Gefühlen, Vorurteilen, Feindseligkeiten oder Freundschaften beeinflussen lassen. Kompromißlos gegenüber dem Verbrechen und unnachgiebig in der Verfolgung von Straftätern werde ich dem Gesetz höflich und angemessen, ohne Angst oder jemanden zu begünstigen, ohne Groll und Gehässigkeit zu seinem Recht verhelfen, niemals unnötigen Zwang oder Gewalt anwenden und niemals Geschenke annehmen. Ich spielte beide Rollen, ich stand auf beiden Seiten. Ich verstand ihre Sehnsüchte, ich teilte ihre Bedürfnisse. Und ich verachtete uns alle miteinander. Der Unterschied zwischen ihnen und mir bestand darin, daß ich wußte, daß es keinen Unterschied gab. Ich erkenne in meiner Dienstmarke ein Symbol des Glaubens der Öffentlichkeit, und ich nehme es als Zeichen ihres Vertrauens, das mir so lange zusteht, wie ich den ethischen Grundsätzen des Polizeidienstes treu bleibe. Ich werde mich fortwährend bemühen, diesen Zielen und Idealen gerecht zu werden, und stelle mich vor Gott ganz in den Dienst des von mir gewählten Berufs eines Vollzugsbeamten. Ich wußte in jedem einzelnen Fall, in jedem Prozeß, und mochte ich zehnmal »so wahr mir Gott helfe« sagen, daß ich in den Zeugenstand trat und im Namen des Gesetzes log, daß sich die Balken bogen. Weil es nun einmal so funktionierte. Jim hatte ich aufgegeben; ich wollte aus der ganzen Geschichte nur so schnell wie möglich heraus. Jegliche Hoffnung auf mein eigenes Heil hatte ich aufgegeben. Und genau deshalb war ich auch so gut bei dem, was ich tat.
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Kapitel Achtzehn Ich nehme an, er war nicht weniger erleichtert als ich, daß das Gerangel vorbei war. Wir waren Partner, und wir würden Partner bleiben, jedenfalls noch für einige Wochen. Aber wir waren kein Paar mehr, unsere Liebe hatte keine Zukunft; beide schienen wir entschlossen, die uns noch verbleibende Zeit so schmerzlos wie nur möglich abzureißen. Als Walker mir erzählte, es gebe in dem Trailerpark, auf den er gezogen war, einen Wohnwagen zu verkaufen, war ich auch schon dort, um mir das Ding anzusehen; ich kaufte ihn vom Fleck weg. Er gefiel mir zwar nicht, aber ich sah darin etwas, das ich irgendwann mal auf ein paar Morgen eigenen Grund und Boden schleppen und vorübergehend als Unterschlupf benutzen konnte, während ich mir eine Hütte baute. Ich sehnte mich danach, in etwas Einfachem, Sauberem, Übersichtlichem zu leben, etwas, was ich mit meinen eigenen Händen hingestellt hatte. Ich könnte mir Wachhunde anschaffen, die ich selbst abrichten würde. Ich würde mir eine körperliche Arbeit suchen, mich vielleicht in einer Stallung um die Pferde kümmern. An den Abenden würde ich in meinem Garten arbeiten oder Musik hören, vielleicht auf die Prüfung zum Wildhüter büffeln. Tiere – sie verdienten es, geschützt zu werden. Tiere zu schützen, das war etwas Sinnvolles. Wo ich hingehen würde, das hatte ich noch nicht entschieden, wußte aber, es würde irgendwo westlich des Rio Grande sein, außerhalb von Texas und weit weg von Jim.
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* Der Mietlaster hatte einen großen grünen Elefanten auf jeder Seite. Am Mittwoch nachmittag luden Jim und Walker und ich meine Wohnzimmereinrichtung auf und fuhren sie zu meinem neuen Wohnort. Jim war still und hilfsbereit, keiner von uns beiden erwähnte Walker gegenüber, daß ich allein dort wohnen würde. Nachdem wir die große L-förmige Anbaucouch in eine Ecke des Wohnzimmers gerückt hatten, setzten wir uns schwitzend hin und versuchten uns zu entscheiden, ob wir noch eine Fuhre herüberschaffen sollten. Es dämmerte schon fast, und ich war dafür, weiterzumachen und den Umzug im Schutz der Dunkelheit hinter uns zu bringen. »Ich dachte, ich würde heute abend mal durch die Lokale ziehen«, sagte Walker. »Ich kapier das nicht«, sagte Jim. »Warum zum Geier willst du dich in einen finsteren, lauten Raum voller Besoffener hocken, noch dazu wo die Hälfte davon darauf aus ist, dich windelweich zu schlagen. Oder schlimmer.« »Bisher gab's keinen Ärger«, sagte Walker. Jim holte ein Päckchen aus der Tasche und fand den Deckel eines Schuhkartons. Er benutzte seine Visitenkarte – Stadtpolizei Beaumont, Jim Raynor, Rauschgiftdezernat –, um die Samen von den Blättern zu trennen, und verstaute den Deckel unter der Couch, während wir rauchten. »Ich hab den Laster bis morgen nachmittag, fünf Uhr«, sagte ich. »Ich würde sagen, wir brauchen nicht unbedingt heute fertig werden.« Als Walker gegangen war, machten Jim und ich uns daran, die neue Bude sauberzumachen. Der vorherige Besitzer hatte alle möglichen Möbel herumstehen lassen, und so, wie es aussah, 288
auch den größten Teil seines Geschirrs. Wir entdeckten einen Servierwagen und einen Power Hitter in der Küche und im Medizinschrank eine Flasche Mannit. »Sieht ganz so aus, als wär uns einer durch die Lappen gegangen«, meinte Jim. Der Wohnwagen stand ziemlich tief und schien so windig, daß ich mir sicher war, ich würde mit beiden Füßen zwischen den Stützen auf dem sandigen Boden landen, wenn ich mal kräftig sprang. Die Eingangstür führte direkt ins Wohnzimmer, die Küche lag rechts davon, abgetrennt durch eine offene Theke. Vom Wohnzimmer aus gab es einen langen schmalen Flur, an dem nach vorn hinaus ein kleines Schlafzimmer lag, eine Waschmaschine, ein Trockner in einer offenen Nische, das Bad und eine Tür, die auf den hinteren Rasen hinausführte; am Ende des Flurs befand sich das größere Schlafzimmer. Die Farbe des Teppichbodens war ein vergammeltes Orange, in einer Ecke des Wohnzimmers stand eine Bogenlampe mit einem goldenen Leuchtkörper. Die Wände waren mit auf Holz getrimmten Plastikpaneelen getäfelt. Aber ich hatte ein Dach über dem Kopf und Türen, die man absperren konnte. Als ich den Kühlschrank aufmachte, warf mich der Moschusgeruch des Schimmels glatt einen Schritt zurück. »Ist ja richtig eklig«, sagte Jim. Der ganze Innenraum war mit grünlich-braunen Flecken übersät; als hätte sich ein Parasit darin eingenistet, der sich von Plastik ernährte. »Ich mach dir 'nen Vorschlag«, sagte er. »Ich mache das Ding hier sauber, wenn du inzwischen was zu essen kaufst. Wir müssen die Bude ja schließlich bewohnbar machen.« Als hätte es noch so was wie ein wir gegeben. Wir, das glückliche Paar, eben dabei, unser hübsches neues Heim zu beziehen. Ich hätte es gern so gehabt, und die Illusion war billig, aber ich 289
wußte, daß mir Jim früher oder später eine Handvoll brutaler Realität zwischen die Beine werfen würde. Als ich aus dem Laden zurückkam, stand er auf der vorderen Veranda, spritzte mit einem Schlauch die Regale ab und pfiff dabei »Red River Valley«. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es wäre, wenn wir beide den Dienst quittieren würden, was für eine Art Heim wir uns wohl schaffen würden. Es wollte mir nicht gelingen. Der Wohnwagen hatte schon einige Monate leergestanden, und die spätsommerlichen Regengüsse hatten Erde auf die Veranda gespült. Als Jim die Regale abspritzte, vermischte sie sich mit dem Wasser und verwandelte sich in eine dicke rötliche Schlammschicht auf dem Verandaboden. Die Pfützen überspringend, ging ich in die Küche. Die glückliche Hausfrau bereitet ihrem liebenden Gatten das Essen zu, es ist wirklich wunderbar. Ich baute ein paar Roastbeefsandwiches und dachte daran, einen Kochkurs mitzumachen. Am Montag sollten wir uns mit dem Staatsanwalt treffen, um uns an die Vorbereitungen für den Prozeß gegen Gaines zu machen. An diesem Abend jedoch war Jim nicht zugedröhnt, und er tat es für mich; er gab sich die größte Mühe, mir zu zeigen, daß er damit fertigwerden würde. Wie jedesmal, wenn ich ihm sagte, ich würde es einfach nicht mehr bringen. Ich dachte daran, in meiner Blockhütte irgendwo in New Mexico oder Arizona aufzuwachen und mir den Sonnenaufgang anzuschauen, bevor ich mich an mein Tagwerk machte. Wir saßen auf der Couch und aßen von Papptellern. »Vielleicht sollte ich das Ding hier an die andere Wand rücken«, sagte ich. »Wenigstens hast du was zum Draufsetzen«, sagte er. »Ich muß mich erst aufraffen und Möbel kaufen. Egal, wenn du's rüberrückst, dann versperrt es dir den Flur.« 290
Nach dem Essen streckte sich Jim an der hinteren Wand auf dem längeren Teil der Eckcouch aus, und ich nahm meinen angestammten Platz auf dem kürzeren Teil ein, unter den drei großen Fenstern, die auf die Veranda hinausgingen. Die Fenster in Küche und Wohnzimmer hatten wir weit offen, und obwohl die Grillen mit ihrem Abendkonzert begannen und wir keine Fliegengitter hatten, kamen keine Insekten herein. Es war der erste kühle Abend im Jahr, und ich genoß das friedliche Rauschen der Brise in den Bäumen, die Ruhe des Abends, den sauberen Rostgeruch, den die Erde verströmte. Nur Walker und der Knabe, der mir die Bude verkauft hatte, wußten, wo wir waren. Noch nicht mal das Telefon war angeschlossen. Zum erstenmal seit Monaten hatte ich das Gefühl, mich entspannen zu können. Einfach auszuruhen. »Wir könnten heute nacht hier pennen«, sagte Jim und steckte einen Joint an. Und so blieb er. Er lag auf meiner Couch, nahe genug, um ihn berühren zu können; er blieb. »Wir könnten noch eine Fahrt machen«, sagte ich. »Das Bett und ein paar Handtücher und so holen.« »Ist schon recht so«, sagte er. Er stand auf und verschloß die Vordertür. »Mit einem Vorschlaghammer ist das Ding hier beim ersten Schlag offen.« Er holte die Flinte aus der Anrichte in der Küche und lehnte sie zwischen Wand und Couch, gerade in Reichweite von wo er lag. Der 25er Colt, den er mir während unserer ersten Ermittlung vor fast drei Jahren gegeben hatte, lag auf dem Couchtisch neben dem Servierwagen des Hinterwäldlers, der hier gewohnt hatte. Ich holte meinen 357er vom Küchentisch und legte ihn neben mich auf den Boden, genau in die Ecke, wo die beiden Teile der Eckcouch zusammenstießen. Wir waren an einem Ort, wo uns niemand vermutete, die Brise 291
tat gut, die Luft roch sauber, und als Jim eine Quaalude nahm und mir eine Percodan in die Hand drückte, schluckte ich sie. Seit der Massenverhaftung versorgte ihn der Bezirksarzt regelmäßig ganz legal mit Rezepten. Nachdem Jim das Licht auf der Veranda ausgeschaltet und die Türen noch einmal nachgesehen hatte, lagen wir da, jeder auf seinem Teil der Couch, und sahen uns in einem örtlichen Sender die Nachrichten an. Auf die ein oder andere Weise war in ihnen immer von uns beiden die Rede. El Jefe hatte durchsickern lassen, Gaines mache in Pornographie und habe Verbindungen zum organisierten Verbrechen; davon, daß ihm irgendwelche Anklagen ins Haus standen, war nicht die Rede. Es hörte sich ganz so an, als hätte ihn die Beaumonter Polizei wegen der Kokainlieferung am Wickel. Sogar der Staatsanwalt schien unseren Bericht zu glauben. Ich überlegte, wie er Gaines wohl angreifen würde. Das Hintergrundmaterial sprach durchweg für uns, und ich wußte, sie würden einen Weg finden, es ins Spiel zu bringen. Pornographie war in Texas etwa so beliebt wie Krebs. »Ich sollte die Fenster zumachen«, sagte ich. Ich bekam keine Antwort. Er lag zusammengerollt auf der Seite, längst hinüber. Ich starrte auf die offenen Fenster, fühlte mich aber warm und schläfrig wegen des Percodans. Es war eine so schöne, schöne Nacht. * Es ist eine Motte. Es muß eine Motte sein. Eine Motte, die sich in meinem Haar verfangen hat. Ich habe keine Lust, die Augen aufzumachen. Schlaf ist etwas Himmlisches. Percodanschlaf, voller Träume, weich, fest und warm. Die Lampe hat eine Motte angezogen, das Licht hat sie hereingelockt. Ich wische sie weg. 292
Sie kommt wieder, kitzelt mich an der Stirn, tanzt um das Licht. Das offene Fenster. Ich habe die Fenster nicht zugemacht. Es werden Grillen hereinkommen, Junikäfer, aber laß sie nur. Laß die Motten ruhig rein. Es ist alles in Ordnung. Irgendwas klopft, klopft hart gegen meine Stirn. Das ist keine Motte. Es ist hart wie Metall. Und es klopft. Klopf, klopf, klopf. Ganz absichtlich. Ich spüre, wie mir das Blut aus dem Gesicht weicht. Ich muß die Augen aufmachen. Ich kann die Augen nicht aufmachen. Ich muß. Ich schaue in die schwarzen Löcher einer doppelläufigen Flinte. Das passiert doch nicht wirklich. Es passiert wirklich. Es ist wirklicher als das Leben. Es ist das Ende meines Lebens. Tod durch eine Ladung Schrot. Er grinst mich an. Meilenweit weg auf der anderen Seite der Flinte steht er draußen vor dem Fenster, direkt davor, auf das Fensterbrett gestützt, beugt sich herein, zielt mit der Flinte auf mein Gesicht und grinst mich an. Hab ich dich, du Miststück, grinst er. Er hält mir den Lauf unter die Nase, zwingt mich, den metallischen Gestank zu atmen. Ich bin wach, und es passiert wirklich. Er klopft mir mit der Flinte gegen die Stirn. Ich bin geliefert. Ich bin hilflos. Gleich werde ich sterben. Ich stütze mich auf, sehe meinen Körper sich ganz langsam bewegen, dann sitze ich da, mein Blut ist mir aus den Venen geschossen, bewegt sich frei durch meinen Körper, wirbelt herum, rauscht, bricht sich wie Wellen an der Innenseite meiner Haut, versucht durchzubrechen, versucht mir aus den Poren zu schießen. Ich hebe die Arme auf Schulterhöhe. Er hat mich. Mach schnell. Aber gnädig zu sein ist seine Sache nicht; er will mich leiden sehen. Er will es langsam und sinnlich; er möchte es spüren, möchte jede Minute davon auskosten. Er neckt mich, spielt mit meinem Kopf, liebkost mir mit dem 293
harten Stahl der Flinte die Backen, berührt damit meine blutleeren Lippen. Wie lange habe ich noch? Jim schläft. Ausgestreckt liegt er neben einem Mord. Er träumt. Quaaludeträume. In diesem Augenblick heißt es Gaines und ich. Blondes Haar. Groß. Er füllt das ganze Fenster. Er grinst. Ich glaube, daß es Gaines ist, ich sehe nicht über die Flinte hinaus, über die beiden schwarzen Löcher, in die ich starre. Ich spüre, daß es Gaines ist, ich spüre seinen Haß, seine Freude dabei, den Finger am Abzug zu haben, zu wissen, daß er ihn bald nach hinten ziehen wird. Ich flehe ihn mit den Augen um eine einzige Minute Luft an, an Leben ist nicht mehr zu denken, ich bin so gut wie tot, ich weiß noch nicht mal, was auf der anderen Seite ist, wenn dort überhaupt was ist; bitte, laß dort was sein. Ich schließe die Augen. Laß mich nur noch ein paar Sekunden spüren. Gib mir eine Minute, meine Existenz über Bord zu werfen. Mich zu verabschieden. Alles zu verstehen. Ich schließe die Augen und warte auf die Explosion. Nur noch ein paar Sekunden, ich will nur noch weiteratmen. Nur Luft. Hinter meinen geschlossenen Augen sehe ich ein Grab. Seine Maße sind perfekt. Geradewegs in die bloße Erde geschnitten, gerade und fest wie polierter Marmor. Ein blanker Grabstein, kein Sarg, nur Knochen. Die Hälfte eines armseligen Skeletts. Ich könnte doch Tiere schützen. Atme ich noch? Meine Hände sind oben, ich habe keine Waffe. Bitte, laß mich nur noch ein paar Minuten leben. Bitte, Gott, spreche ich mit dir oder mit mir selbst? Ich spüre, wie Jim sich bewegt, sein Fuß drückt gegen meinen Schenkel, als er die Beine streckt. Eine Explosion, ein Donnern, das den ganzen Raum mit Hitze füllt und gegen meine Ohren knallt, und dann sind meine Ohren zu; bin ich noch hier? Der Schießpulvergeruch füllt den Raum. Ich höre Jim schreien. 294
Ich rieche, ich atme. Ich öffne die Augen, und die Flinte zielt an mir vorbei auf Jim. Jim greift nach dem Loch in seinem Bein. Die Läufe fühlen sich warm und heiß an in meiner Hand, ich packe zu, ich stemme sie nach oben, versuche die Flinte gegen die Decke zu richten. Ich liege auf dem Rücken; warum habe ich geschlafen. Jim rollt sich von der Couch, eine weitere Explosion, ich spüre sie aus dem linken Lauf in Richtung Jim schießen, alles passiert so langsam, ich kann es nicht verhindern, so schnell. Jim schreit wieder, rollt immer noch, fällt von der Couch auf den Boden, ich klammere mich an die beiden Läufe und stoße mit den Beinen zum offenen Fenster hinaus, versuche die Flinte zu kriegen, schreie: Du Drecksack, du Hurensohn, du Scheißkerl! Ich schreie ins Leere, stoße ins Leere, mit einem Ruck reißt er mir die Läufe aus der Hand. Ich sehe Jim rollen, sehe ihn von der Couch auf den Boden rollen, ich rolle mich hinter ihn, krieche jetzt, krieche auf dem Boden herum, die Laute, die von Jim kommen, sind die Laute eines Tieres, eines verwundeten Tieres, eines sterbenden Tieres, sie kommen von tief drinnen, aus dem Schmerz, aus der Angst, und ich kann sie nicht hören, ich will sie nicht hören, wir kriechen auf dem Boden herum, ich spüre, wie mir der Teppich auf den Händen brennt, ich höre diese Laute, und ich spüre den Schmerz in meinen Eingeweiden, in meinem Magen, in der Lunge, ein Zerren und Ziehen, aber die Laute kommen von mir, von mir und von Jim, beide stoßen wir die gleichen Laute aus, Laute, die sagen: Bitte, Gott, laß uns nicht sterben! Flehentliches Stöhnen, brüllendes Gehuste, Laute, die man beim Kriechen ausstößt, es tut weh, sie auszustoßen, es reißt etwas in einem los, dieses Stöhnen, diese Schreie um Gnade von diesem Drecksack, der die Ewigkeit durch das Fenster hereinschickt, Pulverdampf und Hilflosigkeit, wir kriechen auf dem Boden herum, so kann es doch nicht enden, irgendeinen Sinn muß das doch alles gehabt haben – doch sicher nicht, hier her295
umzukriechen und zu betteln, nicht auf diese Art und Weise. Bitte, Gott, nicht so. Die Laute wollen nicht verstummen. Ich will sie nicht haben, ich kann sie nicht aufhalten, Schlachthauslaute, ich sehe hinter Jim das Blut auf dem Boden, ich spüre etwas Warmes an meinem Arm, ich sehe Blut auf meinem Arm, Gott verdamme den Mann, der uns hier herumkriechen läßt, Gott verdamme ihn. Ich liege auf dem Boden, ich sehe meinen Revolver, greife danach und weiß, ich werde ihn umbringen, ich werde den Dreckskerl umbringen, der uns hier ermordet, ich strecke die Hand, greife danach, fühle den Griff in der Hand, den Finger am Abzug, ich suche nach einem Ziel, suche nach Gaines Brust, nach seinem Kopf, nach irgendwas, die Vorhänge trennen uns, ich schaue, und die Flinte kommt wieder zum Fenster herein, auf mich zu, wieder auf mein Gesicht zu, zwei Läufe, zwei Schuß, hat er nachgeladen? Ich kann es nicht wissen, ich ziehe mich zurück, halb kniend, hebe die Hände; Jim kriecht noch immer herum, ein goldenes Leuchten hängt im Raum, Jim ist hinter der Couch, ich spüre den fadenscheinigen Zottelteppich in meinerHand, ich packe ihn, reiße ihn vom Boden, Jim ist fast in Sicherheit, ich behalte die Flinte im Auge, die auf mein Gesicht gerichtet ist. Sie verschwindet wieder zum Fenster hinaus. Ich ducke mich, krieche über den Boden wie ein Bettler, wie ein Sünder, wie eine Seele in der Hölle, ich krieche. Ich krieche um mein Leben, warte auf die Explosion hinter mir. Ich höre noch immer die Laute aus mir herauskommen, ich hasse mich dafür zu betteln und bettle lauter. Ich komme um die Couchecke Jim ist völlig zerfetzt. Es fehlt ein Stück von seinem Arm. Von seinem Unterarm fehlt ein perfekter Halbmond, Fleisch, Muskeln, Knochen. Er hat die Flinte in der Hand und versucht eine Patrone ins Lager zu kriegen. Die Hintertür. Wir befinden uns am Ende des Flurs, hinter der 296
Couch. Die Hintertür. Freie Schußbahn. Wie viele sind draußen? Wo sind die Fenster, wir sind von Fenstern umgeben. Wie viele? Wo? Jims Hand macht hilflose Bewegungen, seine Augen sind glasig vor Schreck. Wo sind sie? Wie viele sind es? Ich griff nach der Flinte, kühl und solide lag sie mir in der Hand, und lud durch, während ich mich erhob, um mich hinter die Couch zu knien, das metallische Klacken hörte sich an wie eine Heilsbotschaft. Ich hielt auf das Fenster und feuerte, lud durch, feuerte, lud durch, feuerte, lud wieder durch. Ich spürte weder den Rückstoß, noch hörte ich nach dem ersten Krachen des ersten Schusses die Explosion. Dann war es still, es roch nach Pulverdampf. Wie viele waren draußen, würden sie wiederkommen? Jim lag auf dem Boden, überall war Blut. Ich riß einen Bezug vom Kissen und wickelte ihn um seinen Arm. Er schrie vor Schmerz. »Drück drauf«, sagte ich. »Drück fest drauf.« Er konnte nicht aufhören zu stöhnen. In seinem Bein hatte er ein faustgroßes Loch. Sehnen hingen weiß und lose aus dem dunkelroten Muskel, aus dem Gewebe; ich konnte den Knochen sehen. Mit einem Ruck zerrte ich die Couch weg von der Wand und riß den Stecker der Lampe aus der Wand. Dunkelheit. Kostbare Dunkelheit, das Klopfen, mit dem Jims zitternde Hand gegen das Telefon schlug, während ich mich geduckt über den Boden auf die Vordertür zubewegte. Wie viele waren da draußen, wo mochten sie wohl stecken; mit einem Schlag gegen den Knopf stellte ich den Fernseher ab, als ich dran vorbeikam, griff nach meinem Revolver, der auf dem Boden lag, trat gegen die Vordertür und sprang schießend hinaus, das Mündungsfeuer über meinem Kopf, ich schoß in den Himmel, schoß in die Luft, weil ich einfach auf etwas schießen mußte, irgendwas, ich wollte eine Kugel im Fleisch sehen, eine Kugel im Knochen. 297
Dann kamen Scheinwerfer die Zufahrt herauf, und ich kroch am Wohnwagen entlang und sprang in die Dunkelheit, zielte aus der Deckung heraus, hielt auf den Fahrer, schußbereit, aber es war zu spät, ich wollte schießen, zauderte jedoch; es war Walker mit seiner Frau, einem Mädchen mit heillosem Schrecken in den Augen, es war Walker, es war Hilfe. Ich rannte zu dem Wagen hinüber. »Jim ist verletzt, ruf einen Krankenwagen.« Die junge Frau nickte; Walker zog seine Flinte unter dem Rücksitz hervor. »Ich wußte es gleich, als ich die Schüsse hörte«, sagte er. Wir näherten uns der Vordertür, dreimal donnerte es uns entgegen, die Fenster splitterten auf die Veranda. »Jim«, rief ich, »wir kommen rein.« Er lag auf dem Boden in der Nähe der Vordertür, hielt mit seinem guten Arm die Flinte und sagte: »Bitte. Bitte.« Ich kniete mich über ihn. Walker ging in die Küche, starrte in den Ausguß, ging wieder zur Vordertür. »Paß auf«, sagte ich. »Womöglich kommen sie zurück.« »Ich dachte, in der Küche würde das Wasser laufen.« »Das ist sein Bein.« Ich kniete neben Jim, nahm ihm die Flinte aus der Hand. Ich hörte das Blut aus dem Loch in seinem Oberschenkel strömen, der Herzschlag pumpte es heraus. Ich fand den Druckpunkt an seinen Leisten, kniete über ihm, drückte, so fest ich konnte, mit der Hand, hörte das Blut langsamer fließen. Ich roch es noch durch den Pulverdampf. Blutgeruch. Der Geruch von Jims Muskel, der Geruch seiner Knochen, der Geruch seiner Wunden. Es roch nach Blut und Schmutz und Schweiß und Sex, den Gerüchen des Lebens, miteinander vermischt; sie stiegen zu mir auf, während ich über ihm kniete und den Teppich unter meinen Knien matschig werden spürte und das gottverdammte Blut aufzuhalten versuchte. »Ich muß gleich kotzen«, sagte er. 298
Ich legte ihm den Kopf zurecht. Zu wem soll ich beten? Bitte nicht. Es bedeutete, daß er einen Schock hatte, es bedeutete, daß der Tod in der Nähe war, nur noch Minuten entfernt. »Walker.« Meine Stimme ist ruhig. Ich höre mich sprechen, aber ich ersticke schier. Ich brauche Luft. »Geh nach nebenan, hol Hilfe.« Er lief geduckt über die Veranda, über den Rasen zum Wohnwagen der Nachbarn, er hämmerte gegen die Tür. Ich sah ihn gegen die dünne Aluwand kauern, die Dunkelheit absuchend, seine Faust fest gegen die verschlossene Tür meines anonymen Nachbarn gedrückt. Die bebende Stimme eines verängstigten Mannes drang von innen heraus: »Gehen Sie weg! Wir haben die Polizei gerufen. Wir haben Hilfe geholt. Machen Sie, daß Sie fortkommen. Ich habe eine Waffe hier. Gehen Sie weg.« Walker kam zurück, blieb auf einem Knie in der offenen Tür, hielt seine Flinte und wartete. »Wie geht's ihm?« »Nicht gut.« Er muß ins Krankenhaus. »Ich habe Angst, ihn zu bewegen.« »Sie haben gesagt, sie hätten angerufen.« Walker nickte in Richtung des benachbarten Wohnwagens. Es dauerte eine Ewigkeit, bevor ich die Sirenen hörte, viel zu weit weg. Ich drückte gegen Jims Bein, mein Arm zitterte. Ich drückte. Die Leute des Sheriffs brauchten über eine halbe Stunde, um zu kommen. Über Jim gebeugt, kniete ich da und wartete unter Schmerzen, halb tot vor Angst, der Attentäter könnte zurückkommen und seinen Job zu Ende bringen, bevor Hilfe kam. Überall um mich war Jims Blut, Fleischfetzen hingen an der Wand. Ich spürte meinen Arm heiß werden, so fest drückte ich gegen sein Bein. Ich hörte Motorengebrumm, kreischende Reifen, sah Scheinwerfer und blinkende rote Lichter. Walker stand 299
auf und hielt seine Flinte im Anschlag. »Polizei«, sagte eine Stimme, »wir kommen rein.« Die Lichter gingen an, die Sanitäter beugten sich über Jim. Weißes Verbandszeug blitzte auf, als sie seine Wunden versorgten. Ich steckte meinen Revolver in die Jeans und ging nach draußen. Immer im Kreis herum. Atmete den Geruch der Pinien. Ich ging im Kreis und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Als ich mich umdrehte, sah ich sechs oder acht Hilfssheriffs auf der Veranda herumtrampeln. Im Schlamm hätte man sicher Fußabdrücke gefunden. Soviel kapierte ich gerade noch. Man hätte Fußabdrücke gefunden. Einer von ihnen wandte sich zu mir und meinte: »Sieht ganz so aus, als hätten Sie hier bis zum Hals in der Scheiße gesteckt.« »Haben Sie schon mal was von einem Tatort gehört«, sagte ich. Sie starrten mich an. Ich ging weg. * Von irgendwoher tauchte Doak Jones auf und stand plötzlich vor mir, in Uniform, ich kannte ihn, ich hatte ihn bei Gericht gesehen, er gehörte zum RD. »Sie bringen ihn ins Krankenhaus«, sagte er. »Kommen Sie mit rüber, da können wir reden.« Er führte mich zum Wohnwagen nebenan. Jetzt, wo die Leute des Sheriffs da waren, hatte der Mann sein Heim geöffnet. Seine Frau bot mir Saft, Wasser, Kaffee, wollte mich nicht einen Augenblick in Ruhe lassen. »Kann ich Ihnen nicht was bringen?« fragte sie mich immer wieder. Ich wollte nichts. Ich wollte atmen, ich wollte mich spüren, ich wollte bei Jim sein. 300
»Wer war es?« fragte Jones. »Haben Sie gesehen, wer's war?« Wir befanden uns hier außerhalb der Stadtgrenzen und fielen somit unter die Zuständigkeit des Bezirks. Es war ein Fall für den Sheriff. »Es war Gaines«, sagte ich, sicher, daß er es gewesen war; ich hatte ja das blonde Haar gesehen, ich hatte das höhnische Grinsen und den Blick in seinen Augen gesehen. Ich hatte gespürt, daß er es war, der draußen vor dem Fenster stand. »Sind Sie sicher?« fragte Jones. »Absolut sicher, daß Sie ihn gesehen haben?« Ich war mir noch nicht mal sicher, ob ich überhaupt noch lebte. Ich war mir über nichts sicher. »Wenn es nicht Gaines war«, sagte ich, »dann war es sein Zwillingsbruder.« Es mußte Gaines gewesen sein. Er hatte ein Motiv. Er war gegen Kaution entlassen worden. Er war im Recht. »Kommen Sie«, sagte Jones, »ich fahre Sie ins Krankenhaus. Sie bluten ja.« Ich sah meinen Arm an. Ein Bluterguß hatte sich gebildet. Schießpulver war zu sehen, ein schwarzer Fleck, aus dem langsam Blut sickerte. Ich spürte nicht das geringste. * Ich lag auf dem Röntgentisch mit meiner Waffe in der Hand. Als der Röntgenspezialist hereinkam, sah er sie und sprang wieder hinaus. »Ist schon in Ordnung«, sagte ich. Die Maschine über mir begann zu brummen, und von irgendwoher im Raum hörte ich ein Herz klopfen. »Halten Sie still«, sagte er. Ich hörte ein Klicken, dann wurde das Brummen für einen Augenblick lauter. Ich hatte nur noch zwei Kugeln. Ich mußte nachladen. 301
Er bediente die Maschinen, während ich auf dem Tisch lag, die Luft um mich herum summte, bis er fertig war und sich meinen Arm ansah. Er stocherte mit einer Wundschere daran herum und verband sie mir dann, dann sagte er mir, ich könne gehen. Ich ging durch die hell erleuchteten Korridore, bis ich die Notaufnahme fand. Jim lag auf einem Stahltisch, er schrie derart vor Schmerz, daß allein schon das Zuhören weh tat. Über ihm hingen eine Blutkonserve und eine Flasche mit einer klaren Flüssigkeit; die Kanülen steckten in der Rückseite seiner linken Hand. »Es tut weh!« schrie er, dann schrie er: »GOTTVERDAMMT NOCH MAL, ES TUT WEH! Gebt mir was gegen die Schmerzen! Es tut weh!« Seine Augen sahen aus, als wäre darin etwas gefangen. Er sah mich und streckte den Arm, die Schläuche hingen ihm aus der Hand. »Sag ihnen, sie sollen mir was geben«, sagte er. »Sie wollen mir nichts geben, wegen der Quaalude.« Der Arzt kam herein und sagte mir, ich müsse gehen. Ich spürte, wie ich mich hinunterbeugte und Jim einen Kuß gab und ihm sagte, ich würde warten. Seine Lippen waren kalt. Sein Gesicht sah aus wie aus Plastik. Ich wollte hören, daß er es überleben würde. Der Doktor streif te sich Chirurgenhandschuhe über und warf mir einen ungeduldigen Blick zu. Ich beugte mich über Jim und hörte mich sagen: »Ich liebe dich.« Auf dem Flur fand ich Walker und die junge Frau, und wir hielten einander fest, und irgendwas in mir gab nach, und ich heulte; ich gab mir die größte Mühe, mich auf den Beinen zu halten, hielt mich an den beiden fest und heulte. Und dann heulten wir alle drei. Ich sah Bachman, Nettles Stellvertreter, Nettles rechte Hand; er stand weiter drüben an der Wand und starrte mich mißbilligend an. Ein knochenharter Bulle. Es war mir egal. Ich schluchzte. * 302
In eine Decke gewickelt saß ich in einem Wartezimmer vor dem Operationssaal. Sie versuchen Jim zu retten. Es ist alles in Ordnung. Ich glaube, er wird es überleben, sie haben Blut hier, Blut in Beuteln, sie können ihn am Leben erhalten. Über seinen Arm und sein Bein weiß ich nichts; ich weiß nicht, ob er sie noch haben wird, wenn er die Operation hinter sich hat, aber ich weiß, er wird es überleben. Ich glaube, er wird leben. Dodd kam herein, seine Frau im Schlepptau. Sie ließ sich mir gegenüber auf einen Stuhl fallen; ihre Worte kamen ihr aus dem Mund wie Kaugummiblasen. Ich beobachtete ihren Mund, wie er sie ausstieß, sie sagte irgendwas davon, gerade im Bett gewesen zu sein und sich großartig amüsiert zu haben, als der Anruf kam. Ich hätte ihr am liebsten gesagt, sie solle nach Hause gehen und sich zu Tode stoßen lassen, es wäre kein großer Verlust für die Welt. Rob traf ein. In weniger als drei Stunden war er von Austin herübergefahren, wo er ein Treffen gehabt hatte. Nettle wohnte nur zwanzig Minuten vom Krankenhaus, aber Rob war früher da als er. Rob wußte, was los war; er hatte so was schon durchgemacht. Er saß neben mir und hielt mich fest, versicherte mir, es könne mir nichts passieren. Ich konnte es ihm nicht glauben. Ich saß auf einem Stuhl, in eine Decke gewickelt, und wiegte mich. Schaukelte vor und zurück. »Er kommt wieder in Ordnung«, sagte Rob. »Ich dachte damals auch, daß Denny sterben würde. Er kommt wieder in Ordnung.« Ich hoffe, er behält seinen Arm. Er verdient es, seinen Arm zu behalten. Und sein Bein. Er verdient seine Arme und Beine. Meine Bluse klebte an mir, ich schaute an mir hinab. Ich war über und über voll Blut. Auf der Bluse mein eigenes, auf den Jeans das von Jim. Über und über. Nettle trat auf den Plan; sein Anzug saß perfekt, die Krawatte 303
war ordentlich gebunden, das Haar gekämmt. Er kam seelenruhig zu mir herüber und schaute auf mich herab. »Sind Sie sicher, daß es Gaines war?« sagte er. Jim war ihm scheißegal. Ihm ging es um Gaines. Die Anklage, das war es, was für ihn zählte. »Ziemlich sicher«, sagte ich. »Nein«, sagte er. »Der Sheriff braucht Ihre Aussage. Sie gehen besser mit ihm.« »Ich bleibe hier, bis die mit ihm fertig sind.« »Das geht nicht«, sagte er knapp. Ich spürte Robs Arm auf meiner Schulter. »Ich bin ja hier«, sagte er. »Ich werde warten.« Nettle ging auf wie eine Natter, als er Luft in seinen ordentlich verpackten Brustkorb sog. »Sie gehen mit dem Sheriff«, befahl er. »Wir wollen es schwarz auf weiß. Es war Gaines.«
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Kapitel Neunzehn Das erste, was ich sah, als er zur Tür hereinkam und sie leise hinter sich schloß, waren seine Stiefel. Daunenweiches Straußenleder, maßgefertigte Luccheses. Burton Cash, Texas Ranger mit zwölf Dienstjahren. Er stellte sich hinter den alten Holzschreibtisch in der Mitte des Raums und starrte mit unerbittlichen grauen Augen auf mich herab. Eine gottverdammte Schande, daß die gute alte Zeit beim Teufel ist; das Beste wäre verdammt noch mal, ein Seil über die alte Eiche vor dem Gericht zu werfen und den Hurensohn mitten auf dem Stadtplatz aufzuhängen. Die gute alte Zeit. Man muß sich überhaupt fragen, wie weit es mit uns gekommen ist, wenn sich jetzt schon die verdammten Weiber für Polizisten halten; als wär's nicht genug, daß sich die Polizei überhaupt mit diesen Scheißdrogen herumzuschlagen hat, ziehen sie auch noch irgend so 'n Weibsbild aus der Küche und stecken ihr eine Dienstmarke an die Titten. Was zum Teufel ist nur los? Die verdammten Einheimischen können nicht mal mehr ihren eigenen Grund und Boden sauberhalten, zu was sind die überhaupt noch gut? Und jetzt kommt diese Schlampe daher und hält sich für hartgesottener als meine Schuhsohlen. Was die braucht, sieht doch ein Blinder; das würde sie auf der Stelle von diesem verdammten Frauenbewegungskrampf kurieren. Er war groß, um die einsneunzig. Von seinem Bauch mal abgesehen war er hager. Aber von so einem erwartete man ja, daß er ordentlich schluckte; da konnte man ihm den Bauch schon nachsehen. So groß war er außerdem nun auch wieder nicht; er würde ihm sicher nicht in die Quere kommen, wenn er wie der Blitz nach dem echten Sechsschüssigen mit den Perlmuttgriff305
schalen und den erhabenen Initialen auf dem Knauf griff, den er tief um die Hüften geschnallt trug. Zu seinen Stiefeln trug er Khaki und einen Stetson, eine Lederweste und eine Schnürsenkelkrawatte. An seinem kleinen Finger hatte er einen diamantbesetzten Ring, vierzehn Steine in der Form eines Revolvers. Sogar die richtige Stimme hatte er, tief und nölig. Er sprach so langsam, wie es sich für einen nach dem Ebenbild von Lone Wolf Gonzaulles geformten Mann gehörte. Texas Rangers. Die persönliche Killertruppe des Gouverneurs. Der Vernehmungsraum war winzig, quadratisch, fensterlos, das Licht war zu grell. Ich saß bibbernd in einem Preßplastikstuhl und wartete auf was weiß ich. Ich war noch immer voller Blut. Es war eingetrocknet und bildete dunkelrote Flecken auf meinen Klamotten und unter meinen Fingernägeln. Nachdem er einen Augenblick so dagestanden hatte, legte Cash seinen Stetson auf den Tisch, fuhr sich mit einer seiner großen Hände durch das dichte weiße Haar und sagte: »Erzählen Sie mir, wie's passiert ist.« Ich gebe zu, ich habe ihm nichts von den Drogen erzählt, aber alles andere habe ich ihm gesagt; genauso, wie ich mich daran erinnerte, und das mit so vielen Einzelheiten, wie ich an diesem Alptraum von einem Morgen nur zusammenbrachte. Ich erzählte, was ich wußte; ich saß auf dem Stuhl, völlig durcheinander, und sprach mit dem Mann. Er hatte sich bereits das Band der Stadtpolizei angehört – eine sich überschlagende Stimme, die schrie: »Hier wird geschossen!« Dann im Hintergrund drei Schüsse. Es waren die, mit denen Jim die Fenster herausgeschossen hatte, als ich mich zum Wohnwagen zurückarbeitete, nachdem Walker gekommen war. Man schätzte, daß die ganze Geschichte noch nicht mal drei Minuten gedauert hatte. Drei verdammte Minuten. »Schreiben Sie's auf«, sagte Cash und gab mir ein paar Blatt 306
gelbes Kanzleipapier. »Bin gleich wieder da.« Als er zur Tür hinausging, hörte ich ihn noch murmeln: »Müssen diesen Monat ja ziemlich schlimm gewesen sein, Ihre Tage.« Er meinte Jims Blut auf meinen Jeans. Von irgendwo weit, weit weg beobachtete ich meine Hände beim Schreiben. Sie zitterten, sie zitterten ganz erbärmlich. Ich konnte mich einfach nicht beruhigen, ich bekam die glatte, gleichmäßige Schrift, mit der ich sonst schrieb, einfach nicht zusammen. Ich schrieb und sah zu, wie der Füller mit krakeligen, kaum leserlichen Buchstaben die Worte formte, die erzählten, was passiert war, und während ich mir die Worte ansah, kam der Haß; die Erkenntnis dessen, was man Jim angetan hatte, Jim und mir, nahm Gestalt an und wuchs, bis ich das Gefühl hatte, ich würde Gaines finden, und wenn es das letzte wäre, was ich im Leben tun würde; ich würde ihn zur Rechenschaft ziehen und ihn spüren lassen, was ich nur wenige Stunden zuvor durchgemacht hatte. * Doak Jones stand neben mir vor Richter Hammits Schreibtisch, während ich die Wahrheit meiner Aussage beeidete. Die Leute des Sheriffs wollten einen Haftbefehl für Gaines. Als ich ins Krankenhaus zurückkam, standen Nettle und Rob auf dem Flur der Intensivstation, direkt vor der Tür zu Jims Zimmer. »Er ist noch nicht aufgewacht«, sagte Rob. Ich wollte ihn etwas fragen. Ich wußte nur nicht genau was. »Man hat nicht amputiert«, sagte er. »Sie sind sich noch nicht ganz sicher, aber bis jetzt haben sie noch nicht amputiert.« »Haben Sie Ihre Aussage gemacht?« fragte Nettle. »Ich möchte mithelfen, ihn zu finden«, sagte ich. Ein paar 307
Regeln mußte Gaines doch kennen. »Kommt gar nicht in Frage«, sagte Nettle. »Sie bleiben gefälligst hier.« Er rieb sich die Wampe. Ich versuchte alles außer Betteln, um ihn dazu zu überreden, mich bei der Verhaftung mit von der Partie sein zu lassen. Als mir klar wurde, daß ich damit auf keinen grünen Zweig kam, hielt ich den Mund und fand mich mit seinem Befehl ab. »Ich meine es ernst«, sagte er. »Ich hab's gehört, Chef.« Er glaubte mir nicht, ging aber trotzdem. Als er um die Ecke war, zog Rob seine Pistole und checkte das Magazin. »Mir kann das feige Schwein nicht sagen, mich da rauszuhalten«, sagte er. »Ich ruf dich an, wenn wir ihn haben.« »Vorher«, sagte ich. »Ruf mich gleich an, wenn ihr ihn irgendwo in die Enge getrieben habt.« * Gegen drei Uhr erwachte Jim aus der Narkose. Ich saß an seinem Bett und sah seine Lider im Nachmittagslicht flattern, bis es ihm gelang, sie aufzuschlagen. Sein Arm war bis zum Ellenbogen in Gips und hing an einem glänzenden Chromgalgen über dem Bett. An der Vorderseite seines Oberschenkels hatte er eine dicke Metallklammer, wie Stacheldraht, darunter seine offene Beinwunde. Aus einem bauchigen durchsichtigen Plastikbeutel kam Tropfen für Tropfen mit Antibiotika versetzte Ringer-LaktatLösung und sickerte durch die Kanüle in seiner linken Hand in seine Vene. Sein Blick fiel auf seinen Arm und wanderte dann über den Körper nach unten zum rechten Fuß, der hilflos am anderen Ende des Bettes vor sich hinzappelte. »Ich spüre ihn nicht«, sagte er. 308
Ich begann zu reden oder versuchte es wenigstens, aber in meinem Kopf geriet alles durcheinander. Ich schob eine Hand unter die seine, gab acht, nicht an die Kanüle zu kommen. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte, und selbst wenn ich es gewußt hätte, ich glaube nicht, daß ich es gesagt hätte. Die Ärzte wußten nicht, ob er je wieder würde gehen können. Sie hatten keine Ahnung, ob es sich vermeiden ließ, ihm den Arm abzuhacken. Es war noch zu früh, um etwas Genaueres zu sagen. Und alles, was ich abgekriegt hatte, war ein tiefer rechteckiger Kratzer, ein Bluterguß und ein paar winzige Löcher dort, wo die Schrote auf ihrem Weg zu Jim über meinen Arm gehüpft waren. Er hatte sie abgekriegt, er hatte alles abgekriegt. Es kam mir einfach ungerecht vor, daß ich in seinem Krankenzimmer ein- und ausspazieren konnte, während er dalag und sich fragte, wie lange er wohl seinen Arm noch haben würde. Wir saßen einander gegenüber, sahen einander schweigend an und hätten nicht sagen können, warum wir beide noch lebten. Schließlich sagte er leise, fast flüsternd: »Du hast es richtig gemacht«, sagte er. »Du hast mir verdammt noch mal das Leben gerettet, Mädchen, und ich sag dir, du hast nie im Leben besser ausgesehen als in dem Augenblick, wo du dir die Flinte geschnappt und drauflosgeschossen hast.« Er schwieg einen Augenblick, schluckte, schnappte nach Luft und fuhr fort: »Deine Haltung war perfekt. Das Gewicht nach vorn, in den Schuß gebeugt, verdammt präzise. Es war wirklich schön. Du brauchst dir wirklich keine Vorwürfe zu machen, Kleines, du hast mir das Leben gerettet.« Aber er muß gewußt haben, was ich fühlte. Wie Gift arbeitete es in mir: das schreckliche, schmerzende Schuldgefühl des Partners, der davongekommen war. * 309
Es war finster, zum Trübsinnigwerden finster, und es roch nach salmiakgeschrubbtem Beton. Und kalt war es, ich erinnere mich noch daran, daß es immer kalt war in der Zelle, in der ich hauste; und daß Will Gaines darin herumspukte. Es war mir unmöglich, die Augen zu schließen, da ich jedesmal gleich Flinten sah. Offenhalten konnte ich sie jedoch ebensowenig, da sich ständig Gaines' Gesicht um die Ecken schob oder unter dem Bett hervorkam, um dann im Zwielicht schimmernd durch die Zellen zu schweben. Grinsend. Immer grinsend. Schutzhaft. Im Präsidium munkelte man, daß Melton Stack gern einen über den Durst trank und daß seine Versetzung in unser ruhiges kleines Büro, angeblich um Dodd zur Hand zu gehen, im Grunde nur einen einzigen Zweck hatte, nämlich ihn aus der Schußlinie zu bringen. Mit Hilfe von Pomade kämmte er sich das schwarz gefärbte Haar glatt nach hinten, und er trug weiße Slipper. Vier Jahre hatte er noch, bis er für den Ruhestand in Frage kam, und El Jefe schien damit zufrieden zu sein, daß er sie auf diesem Druckposten im Hinterzimmer verbrachte. Er war der Mann, den Nettle damit beauftragt hatte, Jim und mich am Leben zu erhalten. Jim ging es ganz gut; Stack stellte ihm rund um die Uhr eine Wache vor die Tür seines Zimmers im Krankenhaus. Am späten Nachmittag kam der gute alte Stack mit seiner Scotchf ahne dann auch auf eine Patentlösung für mich und überredete mich dazu, in eine der Gewahrsamszellen im Bunker des Präsidiums umzuziehen. Es gab eine kleine Küche da unten und eine Dusche. Wann immer ich das Präsidium verlassen sollte, müßte ich eine kugelsichere Weste tragen. In der Zelle legte er eine große, schwarze Tischlerplatte so auf die Kanten der an den beiden gegenüberliegenden Wänden befestigten Betten, daß sie über der Zellenmitte zu liegen kam; 310
darauf legte er dann eine Matratze. Gegen das metallene Fußende eines der Stockbetten lehnte er eine Sprungfedermatratze, um der Kamera in der anderen Ecke der Zelle den Blick auf die Edelstahltoilette zu verwehren. Um die Toilette zu erreichen, mußte ich mich um die Ecken der Sprungfedermatratze herumdrücken, aber dafür hatte ich wenigstens ein bißchen Privatsphäre. Nachdem Stack gegangen war, überklebte ich die Sprechanlage mit Klebestreifen und band die Zellentür weit geöffnet fest, indem ich die Schnur mehrmals um die Stäbe schlang und dreimal verknotete. Eine Kette wäre noch besser gewesen, aber diese Bitte hatte mir Stack abgeschlagen. Eine Kamera überwachte den Flur und schickte ihre Bilder auf einen der Monitore oben im Büro des diensthabenden Beamten, der damit rund um die Uhr einen Überblick darüber hatte, was im Zellentrakt so vor sich ging. Ich stapelte einige Kleidungsstücke auf die oberen Betten, schleppte meine Stereoanlage und den Fernseher in den Flur und machte mich ans Warten – auf was, das wußte ich freilich nicht. Ich atmete, und mein Herz schlug. Ich hörte ihm dabei zu und war erstaunt. Ich brachte Stunden damit zu, mitten auf meiner Matratze zu sitzen, durch die offene Zellentür auf den Fernseher zu starren und Seconal mit Scotch und 7-Up hinunterzuspülen, die ich mir in einer grünen Zweiliterflasche aus Plastik zusammenmischte. Ich war nicht eingesperrt. Ich konnte mich frei bewegen, vorausgesetzt, daß ich das Präsidium nicht verließ; letzteres durfte ich nur in Begleitung eines uniformierten Streifenpolizisten. Aber ich blieb in meiner Zelle, weiß Gott wie viele Tage, hockte auf meiner Matratze, starrte auf den schweigenden Fernseher und hörte dazu Steely Dan. Agents of tbe Law. Luckless Pedestrians. Stunde um Stunde. Ich holte mir einen winzigen Messingbehälter zum Abbrennen von Räucherstäbchen aus der Asservaten311
kammer und hängte ihn an eines der Stockbetten, um den Potgeruch zu kaschieren. Ich wußte, es war eine halbe Stunde nach Mitternacht, wenn der örtliche Radiosender dichtmachte, und ich wußte, es war fünf Uhr morgens, wenn es mitdem »Farmund-Ranch-Report« weiterging. Der Rest der Zeit war angefüllt mit Stimmen aus dem Fernseher oder nervösem grauen Licht und weißem Rauschen – alles, nur um mir Will Gaines vom Leib zu halten. Ich paßte auf, unablässig. Mein Geist war bei mir; er schwebte durch meine Zelle. * Einige Tage nach der Schießerei, ich weiß nicht mehr wie viele, kam Lieutenant Stack die Treppe heruntergestolpert und sagte, ich müsse mit ihm zum Wohnwagen hinausfahren. Er war so blau, daß er nach ein paar Kilometern an den Straßenrand fuhr und meinte, ich solle doch lieber selbst fahren. Als wir auf die gewundene Zufahrt zum Pleasant Oaks Trailerpark abbogen, verfärbte sich mein Gesichtskreis an den Rändern gelb. Einen Augenblick lang dachte ich, ich würde ohnmächtig werden. Irgendwas stimmte nicht, die Sonne schien, die Rasen waren gemäht, zwei Kinder auf Fahrrädern kamen vorbei. Alles war ruhig, und trotzdem hatte ich das Gefühl, mein Blut würde mit einemmal ganz dick. Während wir auf die offene Tür des Wohnwagens zugingen, sagte ich mir immer wieder: »Ist schon in Ordnung, hier bist du sicher, hier bist du sicher.« Ich weiß nicht, wie lange ich vor dem Wohnwagen stand und, mich erinnernd, auf die zerschmetterten Scheiben starrte. Ich spürte, daß mich eine Hand an der Schulter stupste und hörte Stacks undeutliche Stimme: »Gehn wir rein.« 312
»Warum sind wir hier?« fragte ich. »Gehn Sie einfach rein. Bringen wir's hinter uns und sehen zu, daß wir wieder wegkommen.« Im Wohnzimmer saß, mit einem Besenstiel auf ein paar Hilfssheriffs am anderen Ende der L-förmigen Anbaucouch zielend, Burton Cash, der Ranger. Er fuhr zusammen, als er mich sah, zog dann die Schultern zurück und brachte den Besenstiel erneut in Anschlag. »Das mußte der Winkel gewesen sein«, sagte er. Einer der Hilfssheriffs schrieb etwas auf einen Notizblock. »Sie irren sich«, sagte ich. »Wir saßen anders. Ich war auf dem Teil hier, Jim da drüben. Wir schliefen, das heißt, wir lagen.« »Nichts da«, sagte Cash. Er lehnte den Besenstiel gegen die Couch und sah mich aggressiv an. Er hätte eine Rasur nötig gehabt. Und ein Quentchen Verstand. »So wie ich es sehe, war noch ein zweiter Schütze dabei«, sagte er schleppend. »Die Beweismittel stimmen mit Ihrer Geschichte nicht ganz überein.« »Ich weiß doch, was ich gesehen habe.« »Sie glauben, Sie wissen, was Sie gesehen haben. Es gibt da eine Menge ungeklärter Fragen.« »Ich hätte da auch ein paar«, sagte ich. »Warum hat man den Tatort nicht abgesperrt?« »Wir haben ihn abgeriegelt«, sagte einer der Hilfssheriffs. »Nachdem Sie kreuz und quer drüber weggetrampelt sind.« »Schauen Sie«, sagte Cash, »hier oben an der Decke pappt Fleisch, und hier drüben ist etwas Blut, und da drüben an der Wand auch. Wenn es so passiert ist, wie Sie sagen, dann wäre das nicht möglich.« »Ich habe Ihnen in meiner Aussage die Wahrheit gesagt«, sagte ich. »Es gab noch einen zweiten Schützen, und der war hier drinnen.« 313
Ich ging auf die Couch zu. Ich wollte sie berühren, mich vergewissern, daß sie wirklich existierte. Ich brauchte irgendeine physische Bestätigung, daß ich tatsächlich in diesem Raum stand und das hier nicht alles nur träumte. Es war klar, daß Cash seine Theorien hatte und nicht die geringste Absicht, jemandem, der mit Rauschgift zu tun hatte, auch nur ein Wort zu glauben, schon gar nicht, wenn es aus dem Mund einer vierundzwanzigjährigen Frau kam. »Lassen Sie's gut sein«, murmelte Stack, »wollen Sie was mitnehmen, wenn Sie schon mal hier sind?« »Nein«, sagte ich, »nichts.« Stack wandte sich zum Gehen. Cash stand auf und trat gegen den Besen, der zu Boden fiel. »Warten Sie mal«, sagte er. »Ich habe da ein paar Fragen, und auf die krieg ich ein paar Antworten, ob Ihr Polizeichef nun mit uns zusammenarbeitet oder nicht. Was ist mit dem anderen Burschen, diesem Walker?« »Sie verschwenden Ihre Zeit«, sagte ich. »Er wohnt gleich um die Ecke.« »Wenn das man nicht bequem ist. Allesamt Nachbarn, was. Wie oft haben Sie's mit ihm getrieben? Hat der gute alte Jim gern dabei zugeschaut?« Ich sah mich im Raum um, sah das getrocknete Blut und das Fleisch auf der Täfelung und der Decke über dem Ende der Couch. Kleine Stückchen von Jim, und das an der Wand. Und dieser dämliche Hurensohn sitzt auf genau dem Beweismaterial, das er so gern gehabt hätte, dem Schuhschachteldeckel voll Marihuana mit Jims Visitenkarte daneben; das Zeug lag noch immer unter der Couch, vielleicht zehn Zentimeter von seinen Stiefeln entfernt, aber finden würde er es nicht. Er würde noch nicht mal nachsehen, nichts würde er anfassen. Er war viel zu sehr mit seinen Theorien beschäftigt. 314
»Wer braucht schon konkrete Beweise?« sagte ich. »Man spürt es doch im Bauch, wenn was faul ist.« »Darauf können Sie Gift nehmen«, sagte er. »Und ich sag Ihnen auch gleich, daß mir die Haltung der Stadtpolizei ganz und gar nicht schmeckt.« Es war schon fast komisch. El Jefe hielt sich standhaft gegen die Rangers und die Leute des Sheriffs und sah zu, daß alles wie geschmiert lief und unter Kontrolle war, sogar dort, wo er nicht mehr zuständig war. Um uns herum lagen die Couchkissen, sie waren voller Löcher und blutverkrustet. Cash sah meinen Blick und meinte, er würde sie mitnehmen. »Tun Sie, was Sie nicht lassen können«, sagte ich. »Wenn Sie verdammt noch mal meinen, Sie finden das Ende Ihres Regenbogens.« * Jeden Nachmittag ging ich ins Krankenhaus und blieb, um Jim beim Abendessen zuzusehen. Er ließ sich den geschmacklosen Krankenhausfraß auf Gästetabletts kommen und wurde jedesmal fuchsteufelswild, wenn ich ihm das Fleisch schneiden mußte. Die Uniformierten haßten uns. Es stieß ihnen mächtig auf, mich ins Krankenhaus eskortieren zu müssen, zu den diversen Arztpraxen oder zur Apotheke, wo ich meine großzügigen Rezepte einlöste. Besonders stank es ihnen, wenn ich sie nach einer Pizza schickte. Aber sie machten es. Nettle hatte es befohlen. Seht zu, daß sie alles hat, was sie will. Seht zu, daß sie Ruhe gibt. Tut, was sie verlangt. Nur langsam krochen die Stunden dahin, während ich in Jims Zimmer saß und mit ihm flüsterte, wann immer er aufwachte; meistens saß ich jedoch nur da. Er lag auf dem Bett, bis an die 315
Halskrause mit Schmerzmitteln vollgepumpt, hohläugig und blaß; er sah so zerbrechlich aus, daß ich schier Angst hatte, ihn zu berühren. Gegen Mitternacht kehrte ich jeden Tag in meine Zelle zurück, um wieder Wache zu halten. Sogar nachdem Gaines sich zwei Wochen nach der Schießerei freiwillig stellte, hielt ich meine Nachtwache aufrecht. Auf meiner Matratze sitzend, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, rauchte ich einen Joint, schluckte ein paar Seconal und richtete mich auf eine lange Nacht ein, in der ich in Richtung des statischen Rauschens auf meinem Bildschirm starrte und alle paar Minuten zu den Ecken der Zellen hinüberlugte. Sie war staubig, daran erinnere ich mich noch. Große graue Staubbällchen lagen in den Ecken. Und ich erinnere mich noch an Nettle selbst, der mich wenige Tage, nachdem Gaines sich gestellt hatte, zu einem Psychiater fuhr, und daß die beiden mit mir in dessen walnußgetäfeltem und mit einem Perser ausgelegten Büro saßen und mich zu überreden versuchten, doch Natriumamytal zu nehmen. »Das war nach dem Ersten Weltkrieg die Standardbehandlung bei Kriegsneurosen«, sagte der Seelenklempner. »Es könnte Ihnen dabei helfen, sich genauer an das zu erinnern, was passiert ist.« »Das ist vielleicht gar keine so schlechte Idee«, sagte Nettle. Selbstzufrieden saß er da, in Jackett und Krawatte, die Beine übereinandergeschlagen, die Hände im Schoß. »Die Ranger glauben, ich hätte Jim angeschossen.« »Wir wissen, daß es Unsinn ist«, sagte Nettle. »Aber es würde besser aussehen, wenn Sie sich behandeln ließen.« Was würde besser aussehen? Hätte er gern eine Bandaufzeichnung von mir unter dem Einfluß eines Wahrheitsserums im Safe seines Büros gehabt? Eine weitere seiner Vorsichtsmaßnahmen? 316
Ich hatte keine Ahnung, warum er sie wollte, aber die bloße Tatsache, daß dem so war, war für mich Grund genug, nein zu sagen. »Wenn er glaubt, ich habe meinen Partner erschossen, soll er doch. Lassen Sie ihn ermitteln, bis er tot umfällt. Gaines hat sich doch gestellt.« »Und sich für ›nicht schuldig‹ erklärt«, sagte Nettle. »Wie schlafen Sie denn?« fragte der Doktor. »Mit Seconal«, antwortete ich. »Bei hundert Milligramm schlafe ich ein paar Stunden. Zuviel Adrenalin.« »Dafür gebe ich Ihnen was«, sagte er. Hinter seinem SigmundFreud-Bart lugten seine gelben Zähne hervor. »Das Placidyl ist zum Schlafen. Die anderen beiden sind Azene und Inderal. Die sind gegen die Angst. Denken Sie über die Behandlung nach. Es könnte durchaus genau das Richtige sein.« »Ich würde jetzt gern gehen«, sagte ich. »Jim erwartet mich.« * Als ich ins Krankenhaus kam, war der Praktikant, der jeden Tag gegen drei Jims Beinwunde säuberte, schon bei der Arbeit. Ich saß dabei, schaute zu und dachte darüber nach, was ich eben getan hatte, überlegte, was ich hätte machen können. Ich hätte meine Waffe nicht auf den Boden legen sollen; ich hätte sie zwischen die Kissen stecken sollen, gleich neben mich, wo ich sie sonst auch immer verstaut hatte, wenn ich mich schlafen legte. Und dann hatte ich nicht schnell genug kapiert, daß Gaines' Flinte leer war; in dem Augenblick, in dem ich auf dem Boden kniete und nach meinem Revolver griff, hätte ich doch nur zu machen brauchen, ich hätte die Waffe aufheben und ihn stoppen können. Aber da war Jim bereits getroffen. Ich warf einen Blick auf das Loch in seinem Bein. Ich hatte das Gefühl, ihm das schul317
dig zu sein. Der Praktikant sagte etwas. »…das jeden Tag gemacht werden muß, auch nachdem er entlassen wird.« Ich nahm ein paar Chirurgenhandschuhe aus der Schachtel und zog sie mir über die Hände. * Ich schluckte alles, was der Seelenklempner mir gab, genau nach Plan und manchmal sogar schon vor der Zeit. Jede Nacht überkam mich die Angst, eine plötzliche Welle, die von irgendwo in meiner Magengegend ihren Ausgang nahm, sich explosionsartig ausbreitete und meinen Körper in ein Ding aus Stein und Gelee verwandelte; zusammengerollt lag ich auf der Matratze in meiner Zelle und konnte nicht mehr atmen, bis zur letzten Sekunde, bis ich dachte, jetzt, jetzt müßte ich ersticken. Erst dann konnte ich wieder nach Luft schnappen; und nach diesem ersten Atemzug konnte ich einfach nicht mehr genug davon kriegen. Ich setzte mich auf, schnappte nach Luft, die beiden Schwämme meiner Lunge füllten sich mit der Dunkelheit und der salmiakschwangeren Luft, die gegen die Betonwände rund um mich drückte. Jeden Nachmittag schüttete ich Superoxid in das Loch in Jims Bein, nahm ein Stück Mull in meine behandschuhten Hände und reinigte die Wunde. Sie war so tief, daß sie fast meinen ganzen Finger verschluckte. Jim lag da und starrte gegen die Decke, sein Gesicht eine starre Maske. Ich konnte ihm einfach nicht sagen, jedenfalls nicht gleich, daß der Ranger mich für eine Lügnerin hielt und dachte, ich hätte auf ihn geschossen. Als ich dann damit herausrückte, lachte er lauthals auf. 318
»Sieht ja auch wirklich ganz nach Frau aus«, sagte er. »Erst schießt sie ihrem Geliebten fast den Arm und ein Bein weg, kriegt es dabei auch noch hin, sich selber zu verwunden, und obwohl sie ihn eben noch umbringen wollte, hält sie den Knaben dann am Leben, bis die Ambulanz kommt. Unheimlich sinnig. Hast du's getan?« Er drückte seinen Kopf in den Stapel Kissen hinter ihm und verdrehte die Augen. »Komm schon, immer raus damit. Ich werde nicht sauer sein.« Ich reinigte die Wunde ganz zu Ende und zog die Handschuhe aus. Ich zitterte jedesmal, wenn ich meinen Finger in sein Bein steckte, der Magen wollte sich mir umdrehen, aber ich tat es. Es wurde zu einem Ritual. In gewissem Sinne bezahlte ich damit für meine Nachlässigkeit in jener Nacht. »Hilfst du mir, ein bißchen höher zu rutschen?« Ich beugte mich über ihn und schob ihm eine Hand unter den Arm, die andere um die Taille. »Auf drei«, sagte er. Sein Körper war weich an Stellen, wo er nie weich gewesen war, von Tag zu Tag wurde der Muskeltonus schwächer. »Neunundzwanzig Tage auf dem Rücken.« Er verzog das Gesicht. »Gott, wenn ich mich nur mal umdrehen könnte.« »Cash ist sich sicher, daß ich es war.« »Vielleicht sollten wir heiraten, damit sie uns nicht zwingen können, gegeneinander auszusagen.« »Toller Vorschlag«, lachte ich. »Na hör mal«, sagte er, »wenn ich in der Nacht nicht geblieben wäre, hätte es mich schließlich nicht erwischt, oder? Und wenn das keine wahre Liebe ist, dann weiß ich auch nicht.« Plötzlich wurde er ernst. »Du hast mir das Leben gerettet, Mädchen. Was wollen wir tun? Einfach alles vergessen, was wir zusammen durchgemacht haben, so tun, als wäre nichts davon passiert?« Er meinte es ernst. Er hielt um meine Hand an. 319
»Es ist jetzt alles anders«, sagte er. »Alles. Als Gaines abdrückte, hatte ich Gelegenheit, einen gründlichen Blick auf mein Leben zu werfen.« Er strich mir mit einem Finger über die Backe. »Schau mich an«, sagte er. »Ich bin total durchlöchert, mir fehlt fast der ganze Arm, ich weiß noch nicht mal, ob ich je wieder laufen kann. Nächste Woche ist meine fünfte Operation fällig. Du kannst mich haben. Ich will, daß du mich heiratest.« Ich beugte mich vor und schob ihm vorsichtig die Arme um den Nacken. Ich hatte ihn geliebt, und ich hatte ihn aufgegeben, und ausgerechnet in der Nacht, in der ich ihn hatte verlassen wollen, als ich zum erstenmal wirklich dachte, ich könnte es schaffen, mit ihm zu brechen, hatte man uns aneinander gebunden und kopfüber in eine Situation geworfen, in der wir einander brauchten, wenn wir überleben wollten. Ich spürte es in seiner Stimme und in der Art, in der er mir den Arm um die Schultern legte und mich an sich zog. Er war bereit, mich genauso zu lieben, wie ich ihn vom ersten Augenblick geliebt hatte. Ich hatte mich in seinen Augen bewährt. Ich küßte ihn und setzte mich auf, nahm seine Hand. Ich fragte mich, ob die Medikamente, die mir der Seelenklempner gegeben hatte, der Grund dafür waren, daß ich nichts spürte. »Wenn sie Gaines nicht vergittern«, sagte ich, »dann dauert es sowieso nur ein paar Monate, bis wir beide tot sind.« »Du kommst darüber hinweg«, sagte er. »Ich weiß, du glaubst das jetzt nicht, aber du wirst. Ich trete aus gesundheitlichen Gründen in den Ruhestand, und dann sehen wir beide zu, daß wir verdammt noch mal von hier verschwinden.« Aus irgendeinem Grund kam mir der Begriff Flintenhochzeit in den Sinn. * 320
Wir heirateten am selben Tag, an dem man Gaines wegen Mordversuchs in zwei Fällen unter Anklage stellte. Die Braut trug beige Seide und keine Schuhe, damit sie sich während der Zeremonie neben dem Bräutigam auf das Krankenhausbett legen konnte. Der Bräutigam trug blaue Turnhosen, dazu einen Smokingkragen mit passender blauer Krawatte. Durchgeführt wurde die Zeremonie von einem örtlichen Friedensrichter. Nach dem traditionellen Kuß hörte man die Braut sagen: »Ist das jetzt der Teil, in dem es heißt, ›und wenn sie nicht gestorben sind‹?« Ich verbrachte die Hochzeitsnacht im Krankenhaus und massierte Jims rechten Unterschenkel, um seinen Kreislauf in Schwung zu bringen. Es fühlte sich an, als hätte er nichts als Schlamm unter der Haut. »Die verknacken ihn schon ordentlich«, sagte ich irgendwann. »Zehn, zwanzig Jahre, vielleicht sogar fünfzig.« »Je weniger, desto besser«, sagte Jim, »jedenfalls was mich anbelangt. Ich will ihn draußen haben.«
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Kapitel Zwanzig Am Montag darauf fuhr man Jim im Krankenwagen zum Gericht. Vor der massiven Eichentür des 252. Bezirksgerichts musterte Nettle ihn mit einem langen Blick und rieb sich dann die Hände wie ein alter Geizkragen vor einem neuen Stapel Geld. »Das ist ja wirklich großartig«, sagte er, »einfach großartig. Sie sehen aus wie eine kranke Nutte in der Kirche, die Geschworenen werden Ihnen aus der Hand fressen.« Jim verdrehte seine morphiumgeladenen Augen in meine Richtung. Er saß in einem alten hölzernen Rollstuhl, sein genähtes Bein geradeaus nach vorn gestreckt, der Arm, noch immer von den Fingern bis zum Ellenbogen dick bandagiert, lag auf einigen Kissen auf einer breiten Armstütze aus Pinienholz. Er trug einen dunkelgrünen Bademantel, ein Geschenk zur Besserung von Rob und Denny. »Ich bring das nicht«, sagte er. »Sie müssen«, sagte Nettle. »Sie haben den Kauf getätigt.« Der Gerichtsdiener kam heraus und schob den Rollstuhl in den Gerichtssaal. Es war ein herrlicher Raum mit eichengetäfelten Wänden und je einer Reihe riesiger Fenster auf zwei Seiten. Von der unglaublich hohen Decke hingen Lampen aus Ätzglas. Über einen blitzenden Marmorfußboden gingen wir auf den Richtertisch zu, auch der in Eiche – und dann sah ich Gaines. Er saß neben seinem Anwalt am Tisch der Verteidigung, der große Stuhl mit Armlehnen, auf dem er saß, wirkte geradezu winzig unter ihm. Augenblicklich verhedderten sich unsere Bli322
cke, und es kam mir so vor, als entlade sich ein bösartiger, hochvoltiger Stromstoß zwischen uns, der uns gleichzeitig anzog und abstieß. Ich drückte meinen Arm gegen meine Seite, um die Waffe in meinem Schulterholster zu spüren, und dachte, wie einfach es wäre, sie jetzt herauszureißen und ihn über den Haufen zu schießen, daß es ihn über die Kirschholzbarriere in die Bankreihen der Galerie riß, und damit meiner Angst ein Ende zu machen und ihm seine perverse kleine Mitternachtsüberraschung heimzuzahlen. Rob hatte sein Bestes getan, den Mann abzuschießen, aber letzten Endes hatte es Gaines dann doch geschafft, lebendig in Gewahrsam genommen zu werden, indem er seinen Anwalt angerufen und eine freiwillige Aufgabe arrangiert hatte. Aber hier ging es nicht um die Schießerei. In dieser Verhandlung ging es um den Vorwurf, Drogen geliefert zu haben. Als der Gerichtsdiener Jim vor den Richtertisch schob, wandte ich mich von Gaines ab und stellte mich neben den Rollstuhl. In derselben Reihe wie wir standen noch Dodd, Nettle und ein Techniker aus dem Labor des Amtes für öffentliche Sicherheit, der auszusagen hatte, daß es sich bei dem Pulver, das in diesem Fall als Beweismittel eingereicht worden war, tatsächlich um Kokain handelte. Der kahlköpfige Gerichtsdiener mit seinem fünfzackigen Stern von der Größe Texas' an der Brusttasche trat zwischen Zeugen und Richtertisch und hob die rechte Hand. »Schwören Sie oder bestätigen Sie, daß die Aussage, die Sie hier machen werden, die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit sein wird, so wahr Ihnen Gott helfe? Antworten Sie mit: Ich schwöre.« Einstimmig antworteten wir. Ich sah Richter Hammit geradewegs in die Augen, während wir den Eid leisteten. Er beugte sich über seinen riesigen Tisch und sah uns alle miteinander an, seine Stirn legte sich dabei in Falten. 323
Jim sollte der erste Zeuge sein. Der Gerichtsdiener schob seinen Stuhl so, daß er mit dem Gesicht zur Galerie stand; dann führte er uns übrige aus dem Saal. Beide Seiten waren übereingekommen, nach den Regeln zu spielen; Zeugen war der Aufenthalt im Gerichtssaal nur während der Aussage erlaubt. Ich folgte dem Gerichtspolizisten in Richter Hammits Räumlichkeiten und setzte mich auf eine rote Ledercouch, um zu warten, bis ich an der Reihe war. Ein paar Minuten darauf ging ich in die persönliche Toilette des Richters, um eine weitere Valium einzuwerfen. »Ich muß Sie daran erinnern, daß Sie unter Eid stehen«, sagte Richter Hammit. Ich nahm im Zeugenstand Platz. Ich nickte und sah geradeaus nach vorn. Vince, der Hilfsankläger, der mich schon durch die Verhandlung vor der Anklagejury geführt hatte, zupfte an seinem Ohrläppchen herum, um mich daran zu erinnern, den Augenkontakt mit der Jury nicht abreißen zu lassen. Ich schaute nach links, versuchte ihre Blicke zu erhaschen. Nur einer von ihnen, ein junger Mann in meinem Alter, weigerte sich, mir in die Augen zu sehen. Gaines legte auf dem Tisch der Verteidigung die Hände übereinander und starrte mich an. Ich starrte zurück. Seine Lippen formten das Wort Lügnerin. Ich schaute wieder zur Geschworenenbank hinüber. Vince stand auf und sagte etwas, dann kam er auf mich zu. Als er sich dem Zeugenstand näherte, fragte ich mich unwillkürlich, ob er selbst an den Fall glaubte, in dem er hier die Anklage vertrat. Obwohl nichts an seinem Verhalten darauf hingedeutet hatte, daß er an unserem Bericht zweifelte, hatte ich meine Bedenken. Von ganz unten angefangen war hier jeder ein Richter: die sich als Richter gebärdenden Fahnder, die zu entscheiden hatten, ob sie einen nach einer Vernehmung verhaften oder wieder laufen lassen wollten, die Staatsanwaltschaft, die 324
sich zu entscheiden hatte, ob sie den Fall vor Gericht bringen wollte, die Anklagejury, die beurteilte, ob Anklage erhoben werden sollte, und schließlich, zu guter Letzt, landete die ganze Geschichte vor einer Gruppe Bürger, die nicht die geringste Ahnung von der ganzen Geschichte hatten. Sie zahlten ihre Steuern, von denen auch die Vollzugsbehörden ihren Teil abbekamen, die Bewahrer der öffentlichen Ordnung. Dazu waren Polizisten und Richter da: dafür zu sorgen, daß der Steuerzahler nicht gestört wurde. Ich hatte keine Ahnung, was Gaines angestellt hatte, daß sich die Stadtväter gleich zu derart krummen Touren gezwungen sahen, aber irgend etwas mußte er angestellt haben. Ich hatte keine Ahnung, wen er alles auf Zelluloid hatte. Man hätte nicht sagen können, welcher Art seine Rückversicherung war. Die Cassette von der Trojanette hätte ihren Papi sicher ausrasten lassen, und nach dem zu urteilen, was der Streifenpolizist gesagt hatte, war Willard Freeman ganz die Art von Papi, der den Polizeichef an die Strippe bekam, wann immer ihm danach war. Ich hatte keine Ahnung. Schlicht und ergreifend keine Ahnung. Aber jetzt hatten sie's geschafft. Das Ergebnis jenes stillen Treffens mit Nettle hinter dem Lebensmittelladen, als er gesagt hatte: »Wann bringen Sie mir endlich den großen Fall?« * Früh am Sonntagmorgen, Gospelmusik dröhnte aus Jims Krankenhauszimmer. Er hatte das Kopfende des Bettes aufgestellt, so daß er sitzen konnte, und schnippte mit den Fingern der linken Hand im Takt der Musik. Er grinste, als ich reinkam, dann sagte er: »Auf der ganzen Welt gibt's keine Weiße, die so singen kann. Hör dir die nur an.« »Sie sind gut.« 325
»Kannst du laut sagen. Herrlich.« »Wirst du hier noch katholisch oder was?« »Ich steh nur auf die Musik«, sagte er. »Religiöse Geschichten kannst du nicht vortäuschen.« Um die Mittagszeit schaltete er auf einen anderen Sender um wegen der Nachrichten. Man war noch immer nicht zu einer Entscheidung gekommen. Eine ganze Woche hatte die Verhandlung gedauert, und die Geschworenen berieten nun schon seit zwei Tagen. Sie waren noch nicht zu einem Urteil gekommen. Ich wusch Jim das Haar und rasierte ihn und tupfte ihn mit dem Schwamm ab. »Paß bloß auf«, sagte er, »so langsam reagiere ich wieder wie ein Mensch.« Jede volle Stunde, den ganzen Nachmittag über, hörten wir die Nachrichten. Gegen sechs gab man bekannt, daß die Geschworenen im Fall Will Gaines sich hoffnungslos festgefahren hatten. * Ich schob das Wägelchen mit dem restlichen Kram von Jims Krankenhausaufenthalt; einer der Pfleger schob Jims Rollstuhl. Fast zwei Monate nach dem Anschlag wurde er entlassen. Er trug eine Fußstütze, und über den Armlehnen seines Rollstuhls lag ein neuer Stock. Stack hatte einen sicheren Unterschlupf für uns aufgetan, ein Haus auf der Westseite der Stadt, direkt am Highway. Wir beluden den Kofferraum mit den Topfpflanzen, die Jim während seiner Wochen im Krankenhaus geschenkt bekommen hatte. Die Staatsanwaltschaft hatte ihm eine geschickt, ein paar waren von den hiesigen Kirchen gekommen, die ein oder andere von diversen Richtern; sogar Chuckie, der Anwalt, hatte einen Topf Ringelblumen geschickt. Er konnte es sich wohl leisten, ein paar 326
Eier für Blumen abzuzweigen, ohne gleich um seine weihnachtliche Kreuzfahrt fürchten zu müssen. Stack lehnte sich gegen die Wagentür, während der Pfleger und ich Jim auf den Vordersitz hoben. Als wir auf die Zufahrt fuhren, beugte ich mich zu ihm hinüber und flüsterte ihm zu: »Mach dir keine Sorgen. Ich erwarte ja nicht, daß du mich über die Schwelle trägst.« Er lächelte mich an, machte aber einen nervösen Eindruck, so plötzlich wieder draußen zu sein. * Abends, während der ersten Dämmerung in unserem neuen Heim, marschierten die Schaben auf. Hunderte. Riesige Apparate mit Flügeln. Südamerikanische cucarachas. Ich hatte die Matratzen aus den drei Betten im Haus in eine Ecke des Wohnzimmers gestapelt und Jim darauf gebettet. Vor die Haustür schob ich eine schwere alte Frisierkommode, warf eine Decke daneben auf den Boden und baute unser Waffenarsenal um mich auf. Ich saß in der Ecke, behielt die Schaben im Auge, für den Fall, daß sie sich Jims Bett näherten, und starrte auf das riesige Fenster in der Mitte der Wohnzimmerwand. Einen sicheren Unterschlupf hatte Stack das Haus genannt. Hinter dem Haus im Garten parkte ein Streifenwagen, komplett mit einem vor sich hindösenden Polizisten. Vor dem Haus führte der zweispurige Highway vorbei. Jeder konnte hier gemütlich vorbeifahren und etwas durchs Fenster werfen, von einer Schrotladung ganz zu schweigen. Die ersten anderthalb Tage brachten sie uns noch nicht mal was zu essen. Ich versuchte Stack mehrmals über die fünf oder sechs Nummern zu erreichen, die er mir gegeben hatte. Ich bekam zwar jedesmal jemanden an die Strippe, aber nein, Mel327
ton sei gerade nicht da. Hörte sich ganz so an, als könnte es sich um Freundinnen handeln; genau die Sorte Herzchen, die sich von einem Macker wie Stack angezogen fühlten. »Vergiß es«, sagte Jim schließlich. »Wo ist denn Jack Daniels hin?« Wir schluckten Placidyl und tranken Whiskey, aber selbst damit kriegte ich kaum ein Auge zu; kleine Nickerchen am Nachmittag waren das höchste aller Gefühle. Abends dann hockte ich in meiner Ecke, eine Ithaka Kaliber .12 an der Schulter, und beobachtete das Fenster und wartete. Jim lag auf den Matratzen. Ich weiß nicht, wie viele Tage verstrichen, bevor Nettle in unser Wohnzimmer gepinselt kam und sich wie eine alte Jungfer auf unserer Couch niederließ. Seine Nasenflügel bebten vor Ekel, als er sich umsah. Jim roch noch immer nach seinen offenen Wunden, aber ich hatte mich daran gewöhnt. »Sie sollten sich vielleicht etwas zurechtmachen«, sagte Nettle. »Sie bekommen heute nachmittag Besuch.« »Von wem?« fragte Jim. Er lag auf seinem Matratzenberg und starrte auf die verkrusteten braunen Ränder der Wasserflecken an der Decke. »Ein gewisser Mr. Berthe«, sagte Nettle. »Er wurde eben zum Vorsitzenden eines Antidrogenausschusses ernannt, den der Gouverneur neu gegründet hat. Er würde Sie beide gern kennenlernen.« »ADA?« fragte ich. »Was ist denn das für ein Verein?« Die pure Verachtung tropfte Nettle von den Lippen, als er auf mich heruntersah. Ich hockte auf meiner Decke neben der Vordertür, umgeben von unserem Arsenal – dem Ithaka-Vorderschaftrepetierer, meinem Colt .357 und meiner Pistole Kaliber .25, einer Browning 9 mm und einem 45er Colt. Dazu eine Reihe von großen Messern, für den Fall des Falles. 328
»Nehmen Sie eine Dusche«, sagte Nettle. »Er kommt in ein paar Stunden.« Stack hatte sich nicht die Mühe gemacht, unsere Flitterwochensuit mit irgend etwas auszustatten, seien es Laken oder Geschirr oder sonstige Annehmlichkeiten, die ein Minimum an Komfort ermöglicht hätten. Wir hatten je eine Packung Pappbecher und Pappteller. Jim lag auf der bloßen Matratze. Wir beschwerten uns nicht. Es war nicht wichtig. Wir schluckten unsere Medikamente und hielten einander den Rücken frei. Alles, wonach uns der Sinn stand, war zu überleben. Nachdem Nettle gegangen war, stand ich auf, um zu duschen. Die Fliesen im Bad waren rosa und kühl, eine Staubschicht hatte sich angesammelt. Ich vergewisserte mich, daß das Fenster verschlossen war. Weit und breit kein Handtuch zu sehen. Ich griff in die Duschkabine, um das Wasser anzudrehen. Ein gräßliches, schwappendes Geräusch kam auf mich zu, dann eine Explosion, und der Raum rund um mich wurde rosa; ich warf mich auf den Boden und krabbelte wie wild herum; es passierte wirklich, und ich hörte, noch einen Augenblick lang, in weiter Entfernung einen Wasserfall, ganz, ganz weit weg, unendlich weit weg, und dann wurde alles schwarz. * Etwas Kühles berührte meine Stirn, kühl und hart, wie Glas oder Fliesen, dann roch ich Staub, er drang mir in die Nase. Ich hörte das Wasser laufen, das mit voller Wucht gegen irgendwas donnerte. Ich rappelte mich hoch, hatte Angst, in Richtung des schmalen Milchglasfensters zu sehen, hatte fürchterliche Angst, dort Gaines' Gesicht zu sehen. Die Dusche lief, heißes Wasser schoß gegen die hintere Wand der Duschkabine. Dort, wo der Brausekopf der Dusche hingeknallt war, hatte die Plastikwand 329
einen Sprung. Ich blieb gegen die Wand gelehnt liegen, bis mein Rücken und mein Hintern die Fliesen angewärmt hatten. Einmal beugte ich mich über die Toilette und versuchte mich zu übergeben, aber es wollte nichts kommen. Ich zog mich wieder an und drehte das Wasser ab, bevor ich wieder ins Wohnzimmer ging. Jim lag auf seiner Matratze und schlief, das Placidyl hatte ihn völlig umgehauen. Ich ging in die Küche und schluckte eine Seconal. Der Streifenwagen stand noch immer hinter dem Haus, der Polizist, der drin saß, las die Zeitung. Ich fragte mich unwillkürlich, ob ihm an seinem Job wohl etwas lag. * An seine Ankunft erinnere ich mich nicht mehr. Ich weiß nur noch, daß ich auf der Decke auf dem Boden hockte und erstaunt war, einen Mann vor mir zu haben, der keine Angst davor hatte, sich vors Fenster zu setzen. Der Vorsitzende des Antidrogenausschusses unseres Gouverneurs hatte vor nichts und niemandem Angst. Ich wußte, es war nur eine Frage der Zeit, bis etwas Tödliches durchs Fenster kam, aber er saß seelenruhig da und unterhielt sich, ohne Nettle weiter zu beachten, mit Jim über unsere Ermittlungen. Er trug einen Nadelstreifenanzug, dazu ein hellblaues Hemd, eine dunkle Krawatte und Schuhe mit Flügelkappen. Sein helles silbernes Haar war so kurz geschoren, daß es fast fleischfarben erschien. Ich sagte nicht viel. Wegen des Seconals hatte ich meine liebe Mühe, der Unterhaltung zu folgen und gleichzeitig das Fenster im Auge zu behalten. Plötzlich stand er auf und ging davor auf und ab. Schließlich wandte er sich an Nettle und meinte: »Hören Sie, das ist doch 330
lachhaft. Lassen Sie mich Ihre beiden Leute hier mit nach Houston nehmen, wo sie anständig medizinisch versorgt werden können und sicher sind, bis sie ihre Aussage hinter sich haben. Ich garantiere Ihnen, sie werden im Gerichtssaal sein, wann immer Sie sie brauchen.« Nettle räusperte sich und schüttelte ablehnend den Kopf. In seiner zum Kotzen glatten und ruhigen Stimme sagte er: »Tut mir leid, Mr. Berthe, wir wissen Ihr Angebot wirklich zu schätzen, aber es ist unmöglich.« Berthes Augen wurden schmal. Ganz offensichtlich war er das Wörtchen »nein« nicht gewohnt. »Sie müssen für den Prozeß jederzeit verfügbar sein«, sagte Nettle. »Es läßt sich einfach nicht machen, sie zum gegenwärtigen Zeitpukt irgendwo anders hinzubringen.« »Das ist doch lächerlich«, sagte Berthe. »Glatter Unsinn. Ich kann sie Ihnen in weniger als zwei Stunden herbringen. Tag und Nacht.« Nettle verlagerte das Gewicht und zupfte sein Jackett zurecht. »Sie müssen im Bezirk bleiben.« Jim und ich sahen einander an, als Berthe schließlich abrupt aufstand, sich zu mir herunterbeugte und mir die Hand schüttelte, dann Jim. »Passen Sie gut auf sich auf«, sagte er und sah mich fest an. »Hier ist meine Karte, für den Fall, daß Sie mal zufällig in Houston sein sollten.« Die beiden waren kaum zur Tür hinaus, als Jim in die Küche hüpfte. Weder er noch ich konnten uns einen Grund denken, warum Nettle von uns verlangte, im Bezirk zu bleiben, es sei denn, er wollte unbedingt, daß wir in seinem Zuständigkeitsbereich starben, damit er die Kontrolle über die Ermittlungen hätte. Während ich unsere Waffen zusammensammelte und die paar 331
Klamotten, die wir mitgebracht hatten, telefonierte Jim. »Komm sofort hier raus«, hörte ich ihn sagen. »So schnell du kannst. Wir werden nicht hier sitzenbleiben und darauf warten, daß irgendeiner kommt und uns über den Haufen schießt.« Kurz nach zehn hielt Rob vor dem Haus. Wir warteten fast bis Mitternacht, dann ging ich in die Küche und peilte die Lage hinter dem Haus. Der Streifenpolizist schlief, den Kopf gegen die Kopfstütze gelegt, den Mund weit offen. Wir schoben den Frisiertisch von der Vordertür und schleppten unser Zeug hinaus zu Robs Wagoneer. Jim kroch auf den Rücksitz; ich kauerte mich neben den Fahrersitz. Rob wartete, bis wir ein Stück gefahren waren, erst dann machte er die Scheinwerfer an. * Rick Carrio stellte auch nicht eine einzige Frage, als Rob uns bei ihm in Houston ablieferte. Es war fast drei Uhr nachts, aber Rick führte uns ins Haus und sagte: »Sieht ganz so aus, als sollten wir Feuer machen.« Dann ging er hinaus auf den Balkon, um Holz zu holen. Während ich Jim oben im Schlafzimmer unterbrachte, machte er nebenan Feuer. Die Fahrt hatte Jim ziemlich mitgenommen. Rick legte eben den Schürhaken weg, als ich herauskam. »Fühlen Sie sich wie zu Hause«, sagte er. »Ich muß in ein paar Stunden zur Arbeit. Ich sag dann mal gute Nacht.« Er polterte die Treppe hinunter, und alles war still. Ich lehnte die Flinte gegen die Kante des Kaminsimses und setzte mich, die Beine über Kreuz, vor das Feuer, während mein Mann im Raum nebenan schlief. Am Morgen würde ich sofort Mr. Berthe anrufen. Als erstes besorgte er uns eine Wohnung. Und als nächstes, ein paar Wochen später, ließ er Jim wieder ins Krankenhaus brin332
gen. Eines schönen Nachmittags war Mr. Berthes Sicherheitschef vorbeigekommen, um sich nach uns zu erkundigen, und ehe ich mich versah, lag Jim auch schon unter falschem Namen in einem Privatzimmer auf der Entbindungsstation. Noch am selben Tag kam er auf den Operationstisch, wo man sein Bein öffnete, um eine Infektion zu entfernen. Fast eine Woche lang behielten sie ihn zur Beobachtung da. Ich schlief auf einer Pritsche neben seinem Bett, in einem Zimmer, in dem man riesige Störche an die Wand gemalt hatte; jeder davon hatte ein Neugeborenes in der Decke, die er im Schnabel hielt. * Die Wohnung, die Mr. Berthe uns zur Verfügung gestellt hatte, befand sich in einem Halbgeschoßhaus, hatte zwei Schlafzimmer und eine Alarmanlage und als Zugabe ein AR-15 mit Laserzielvorrichtung. Man instruierte uns, den Hörer vom Telefon zu schlagen, wenn es Ärger gäbe. In weniger als drei Minuten wären seine Männer da. Wir freilich wußten, was in drei Minuten alles passieren konnte – besser als irgend jemand sonst. Einmal pro Woche erfuhren wir, was sich in Beaumont tat. Mr. Berthe hatte so seine Quellen, und obwohl er nicht ins Detail ging, sagte er, falls wir zurückmußten, dann nur unter Bewachung. Wir sollten jedermann, sogar die Leute von der Staatsanwaltschaft als potentielle Angreifer ins Auge fassen. Er kümmerte sich um alles. Aus dem Wohnwagen, den beiden Wohnungen und meiner Gefängniszelle ließ er unsere Habseligkeiten zusammentragen und irgendwo zur Aufbewahrung geben. Unsere Autos standen in einem Parkhaus irgendwo in der Innenstadt. Wir hatten die Anweisung, in der Wohnung zu bleiben, wenn es nicht unbedingt nötig wäre, sie zu verlassen. Das hieß im Klartext, wir hatten zu bleiben, es sei denn wir stan333
den kurz vor dem Knastkoller. Jim schlief ziemlich ausgiebig. * Ich habe keine Ahnung, wie Nettle an die Nummer gekommen war. Eines Abends ging ich ans Telefon, weil ich eine Sicherheitsüberprüfung erwartete, und hörte seine pappsüße Stimme: »Wann kommen Sie beide wieder zurück?« Am liebsten hätte ich den Apparat an den Kamin geworfen. Ich hatte gute Lust, irgendwas zu zerschlagen. Wie Sabber quoll sein zuckriges Gift aus dem Hörer. Mir fehlten die Worte, ich saß da und war völlig außerstande, meinen rasenden Zorn in Worte zu fassen. Ich erinnere mich noch daran, wie mir damals Lester, der Speedfreak, seine Lebensphilosophie verraten hatte: »Meine Philosophie heißt, schneid deinem Nächsten den Hals ab und schick seine Kinder auf den Strich.« Ich hätte dem Kerl damals am liebsten in den Ranzen geschossen, um die menschliche Gemeinschaft vor einer derartigen Made zu befreien. »Das können Sie doch nicht im Ernst meinen«, sagte ich. »Sie wissen verdammt gut, daß ich nicht zurückkomme.« »Nun, da ergibt sich freilich ein kleines Problem.« Er räusperte sich. »Nicht für Jim, seine Pensionspapiere werden jeden Tag fertig sein.« Er räusperte sich noch mal mit dem für ihn so typischen ekelhaften kurzen, trockenen Hüsteln. »Aber Ihr Fall liegt da etwas anders«, sagte er. »Wie das?« »Sie haben auf der Stelle nach Beaumont zurückzukehren, oder Ihr Gehalt ist gestrichen. Wenn Sie nicht zurückkommen, brauche ich Ihre schriftliche Kündigung. Ein paar Zeilen genügen mir völlig.« »Hören Sie, Chef«, sagte ich, »ich schreib Ihnen ein ganzes Buch.« 334
* Ich erinnere mich nicht mehr daran, wie ich aufwachte. Das erste, was ich kapierte, war, daß ich oben auf dem Absatz stand und in die Dunkelheit zielte, während Jim in Unterwäsche die Treppe hinunterhüpfte, Stufe um Stufe, in der linken Hand eine Waffe, mit der er herumfuchtelte, seinen rechten Arm in einer Schlinge. »Kommt schon, ihr Arschgeigen!« brüllte er. »Na los, kommt schon!« Ich stolperte hinter ihm her, spürte die Geräusche in meiner Brust und versuchte sie einzudämmen. Ich hatte höllische Angst, war mir sicher, jetzt passierte es wieder, und wünschte sogar, daß es endlich passierte, nachdem ich so lange darauf gefaßt gewesen war. Die Wohnung war leer. Irgend etwas, vielleicht das Rumpeln des Verkehrs auf der Schnellstraße, hatte die Alarmanlage ausgelöst. Obszön kreischten die kleinen auf die Vorder- und die Schiebetür zur Veranda gerichteten Plastikkästchen durch den leeren Raum. Ich stolperte an Jim vorbei und riß die Stecker aus der Wand. Als ich mich umdrehte, saß er auf der Treppe, den Kopf in der freien Hand und wiegte sich langsam vor und zurück. »Gottverdammt noch mal«, sagte er. »Der Teufel soll sie holen.« Wir hielten einander fest, bis wir wieder denken konnten, und dann ging ich aus irgendeinem Grund hinaus auf die Veranda und holte Holz für den Kamin. Den Rest der Nacht und bis in den Vormittag hinein lagen wir vor dem Feuer, hielten einander umschlungen und versuchten zu schlafen. Nach dieser Nacht wurde der Kamin zu meinem Talisman. Ich 335
redete mir ein, vollkommen sicher zu sein, solange ich nur im Bannkreis seiner Wärme blieb. Tag für Tag, Nacht für Nacht saß ich da und starrte in die Flammen, konzentrierte mich lediglich auf die orangen, gelben oder blauen Teile oder die Formen, die kurz aufflackerten und sich so rasch veränderten, daß ich mir nicht sicher war, ob sie überhaupt dagewesen waren. Ich glaube, ich versuchte mich von ihnen hypnotisieren zu lassen. Wenn ich überhaupt zum Schlafen kam, dann nur dort vor dem Feuer, in die Decke gewickelt, hinter einer Brüstung aus braunen Cordsamtkissen, die ich jeden Abend von der Couch holte und vor mir aufbaute. Den ganzen Winter über saß ich vor diesem Kamin. Ich sah die Blicke, mit denen Jim mich bedachte. Ich sagte nicht viel. Ich stellte uns was zu essen hin und hörte ihn sagen, daß ich auch was essen müßte. Ich verbrachte die Nachmittage damit, sein Bein zu massieren, versuchte wieder etwas Gefühl hineinzukriegen und hoffte, die Krämpfe zu verhindern, die ihn mitten in der Nacht überkamen. Ich saß vor dem Kamin und ließ mir den Rücken rösten, bis die Hitze nicht mehr zu ertragen war; dann drehte ich mich um. Ich schluckte Pillen und kümmerte mich um Jim, wann immer ich dazu imstande war; ich wartete auf die Schrotgewehre. So ging das bis in den April hinein, und von einem Prozeß war noch immer nichts zu hören. Kein Konstabier stand vor der Tür und winkte mit Vorladungen. Schließlich war Jim wieder in der Lage, ohne Fußschiene zu gehen, mit einem gewaltigen Humpeln zwar, aber immerhin, er konnte gehen; seinen ramponierten Arm begann er auch wieder einzusetzen. Wir bedankten uns bei Mr. Berthe und tauschten unsere Autos gegen einen gebrauchten Blazer ein.
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Kapitel Einundzwanzig Ich öffnete den Gefrierschrank und verstaute Jims letzten Fang. Die eisige Luft strich mir um die Knöchel; wie schwerer weißer Rauch kringelte sie sich in die Hitze des Nachmittags. Auf allen vier Regalen stapelten sich drei tief und sechs hoch die Welsfilets. Jim kam herüber und hängte sein Kinn über meine Schultern. »Wir könnten was davon verschenken«, sagte er. »Ist mir egal, was du damit machst«, sagte ich. »Ich jedenfalls bin geschafft. Ich kann keinen Wels mehr sehen.« Jims Pension hielt uns über Wasser; wir bezahlten davon die Miete eines Holzhauses ein paar Kilometer vom Canyon Reservoir, das fast schon in der Mitte zwischen Austin und San Antonio liegt. Wir gingen angeln und richteten den Garten her. Wir aßen bei Kerzenschein auf der durch ein Fliegengitter geschützten hinteren Veranda. Jim regte sich nicht mehr gleich so über sich auf, wenn er mich bei etwas um Hilfe bitten mußte, was er allein nicht mehr zuwege brachte. Aber er kämpfte; bei jeder Gelegenheit stellte er seinen Körper auf die Probe. Er strich die Garage an. Er baute Bücherregale für das zweite, kleinere Schlafzimmer. Um die Zeit totzuschlagen, während wir auf unsere Vorladung warteten, gingen wir meistens fischen. Gaines war von dem Vorwurf, mit Kokain gehandelt zu haben, freigesprochen worden, aber der Staatsanwalt sagte, er würde um so mehr Nachdruck hinter die Anklage wegen versuchten Mordes legen. Er würde über Mr. Berthe mit uns in Verbindung bleiben.
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* »So ist es richtig«, sagte Jim, »wirf ihn sachte raus und bring ihn dort drüben, wo's tiefer ist, runter, da verstecken sich die Brocken.« Wir waren am späten Vormittag in Beaumont losgefahren, gleich nach den Schlußplädoyers. Mr. Berthes Leute hatten uns wohlbehalten auf dem Houstoner Flughafen abgeliefert, und wir hatten den Flug um halb zwei nach Austin erwischt. Während der Fahrt nach San Marcos hatten wir das Radio an, für den Fall, daß man etwas über das Urteil brachte. Als wir zu Hause ankamen, waren wir zu müde, irgendwas zu tun, also ließen wir uns in die Hollywoodschaukel auf der vorderen Veranda plumpsen. Ich überlegte eben, was sie mit Gaines machen würden, als Jim sagte: »Gehen wir angeln.« »Schon wieder?« fragte ich. In abgeschnittenen Jeans saßen wir am grasbewachsenen Ufer des Canyon Reservoirs, hielten uns an unseren Rohrstockangeln fest und warteten darauf, daß etwas anbiß. Die rotweißen Plastikschwimmer auf der trüben grünen Oberfläche des Sees zu beobachten hatte mich fast in den Schlaf gelullt. Es war einer jener dunstigen Maitage, an denen die Luft genau die gleiche Temperatur zu haben schien wie der Körper. Ich hatte das Gefühl, meine Augen schließen und in den Nachmittag hinein verdunsten zu können. Auf der anderen Seite des Sees, die an der FM 306, zog ein einsamer Wasserskifahrer hinter einem langen, tiefgehaltenen Rennboot seine Schau ab. »Diesmal kommt er nicht davon«, sagte Jim. Ich zog meine Angelrute hoch und ließ den Schwimmer aufs Wasser klatschen. »Ganz klare Sache«, sagte Jim. »Mordversuch. Da kommt er nicht raus.« »Möchte man meinen«, sagte ich. »Aber womöglich schafft er's 338
trotzdem.« »Nie und nimmer.« Er nahm seine Rute hoch und schickte die Schnur etwas weiter hinaus. »Selbst wenn sie ihn vergittern, irgendwann kommt er ja doch wieder raus.« Jim schwieg eine ganze Weile. Dann drehte er sich um und sah mich an und sagte: »Die Drecksau sollte beten, daß sie ihn schuldig sprechen und für lange, lange Zeit auf Eis legen.« * Als wir vom See zurückkamen, saß Rob im Schaukelstuhl auf unserer vorderen Veranda und rauchte in seiner Maiskolbenpfeife Gras. Er sog sich die Lunge voll Rauch und hielt ihn dort, während er mit einem weiteren Mundvoll Ringe an den hölzernen Himmel der Veranda blies. »Wo steckt ihr denn?« fragte er und kam auf uns zu. »Beim Fischen«, sagte Jim. Ich zog die Eistruhe von der Ladefläche des Blazers, und Rob nahm sie mir ab. »Das ist ja vielleicht ein häßlicher Kübel«, meinte er. »Was soll denn das für 'ne Farbe sein – braunrot?« »Er fährt«, sagte Jim. Wir gingen über den Rasen auf die vordere Veranda und setzten uns in die Hollywoodschaukel. Rob riß an der Stiefelsohle ein Streichholz an und paffte gegen die Wand gelehnt seelenruhig vor sich hin. »Sie haben ihm vierzig Jahre gegeben«, sagte er schließlich und biß dabei fest auf seine Pfeife. »In nur fünfundfünfzig Minuten hatten sie ihr Urteil unter Dach und Fach.« »Hätten ruhig ein paar mehr sein können«, sagte ich. »Das sagt sich so leicht dahin«, grinste Rob. »Das abzubrummen steht auf einem ganz anderen Blatt.« 339
»Ich hoffe, der Drecksack kniet gleich morgen früh auf den Baumwollfeldern«, sagte Jim. »Tja.« Rob verlagerte sein Gewicht nach vorn, weg von der Wand, und lehnte sich auf die Brüstung. »Was gefangen?« »Drei Stück«, sagte Jim. »Kris hat den Großen erwischt.« »Das bildet sie sich nur ein«, sagte Rob. »Wenn du bleiben willst«, sagte ich, »kann ich dir zeigen, was für eine lausige Köchin ich bin.« »Mach dich nicht so schlecht, Kleines«, sagte Rob. »Einen Wels kann man nun wirklich kaum ruinieren. Ich sollte vielleicht in die Stadt fahren und etwas Wein holen. Ich muß erst morgen nachmittag wieder in Houston sein. Was paßt denn zu Wels? Was Süßes? Piesporter vielleicht?« »Zu gewissen Anlässen sollte man schon zum Champagner greifen«, sagte Jim. »Besorg was von dem Zeug, das sie immer beim Amtsantritt des Präsidenten schlucken.« Rob stieg in seinen Dienstwagen und fuhr davon. Jim ging ums Haus auf die hintere Veranda, um den Fisch auszunehmen. Ich setzte mich neben ihn, während er das Messer wetzte. »Ich glaube fast, du hast einen Vierpfünder erwischt«, sagte er und starrte auf den einen Fisch, den ich an Land gezogen hatte. »Nicht schlecht.« »Ich glaube, ich bin immer noch nicht so richtig scharf aufs Angeln.« »Gib's auf«, sagte er. »Damit drohst du doch schon, seit ich dich das erste Mal mitgenommen habe.« »Ich hänge nun mal nicht gern Köder an Haken.« »Teufel, Kleines, es ist nun mal der Wurm, der den Fisch beißen läßt. Abgesehen davon, hast du nicht gehört, was Rob gesagt hat? Du bildest dir nur ein, den Großen erwischt zu haben. Also bleib lieber dabei.« »Der ist doch zur Abwechslung mal wieder total bekifft. 340
Glaubst du wirklich, er hat vier Pfund?« »Leicht.« Ich sah mir den Wels an, der auf Eis gepackt neben den beiden kleineren von Jim lag. Seine glatte blaugraue Haut war glitschig und glänzte. Irgendwo draußen im Wald brummte schroff eine Geländemaschine durch die Dämmerung. Abgesehen davon war nur das rhythmische Schaben zu hören, mit dem Jim das Messer gegen den Abziehstein rieb, und natürlich das Flirren der Heuschrecken zwischen den Bäumen. Ich nahm meinen Fisch und hielt ihn mit gestreckten Armen vor mich hin. »Könnte schon hinkommen«, sagte ich. »Vielleicht sind's tatsächlich vier Pfund.« »Ja«, sagte Jim und stand einen Augenblick schweigend da, das Messer in der Hand. Ich legte den Fisch wieder auf das Eis und setzte mich. »Vierzig Jahre«, sagte ich. »Einem kleinen Freak wie Douglas geben Sie lebenslänglich, weil er ein paar Gramm Speed verkauft hat, und Gaines kriegt vierzig Jahre dafür, daß er versucht hat, ein paar Polizisten umzubringen. Da werd mal einer schlau draus.« »So ist das Jurysystem nun mal, Baby. Die würfeln doch drum.« Ich holte eine Pfanne heraus, und Jim legte die Filets hinein; dann wischte er das Messer ab. »Vierzig Jahre«, sagte er. »Das heißt, er dürfte in sieben wieder draußen sein. Ich kann warten.« * Es war etwa einen Monat später, würde ich sagen, als Rob wieder bei uns vorbeischaute, diesmal mit seinem neuen Partner. 341
Jims Welslager im Gefrierschrank war schon fast am Überquellen. Rob schenkte es sich, uns einander vorzustellen; er zog einen Computerausdruck aus der Tasche und hielt ihn mir entgegen, kaum daß ich die Tür aufgemacht hatte. »Das ist kein Scherz«, sagte er. »Der Spitzel, der mir das gesteckt hat, hat mich noch nie aufs Kreuz gelegt. Er behauptet, der Typ hat irgend so 'ne Art Explosivgeschosse, die nicht mal die Ballistiker vom FBI untersuchen können.« »Was zum Geier erzählst du denn da?« fragte Jim. »Schaut es euch an«, sagte Rob. »Ist heute vormittag reingekommen.« Jim schaute mir über die Schulter, während ich las. PERSONENFAHNDUNG O I I I 16.17 08.17 27/06/80 625 TXLKA HOUSTON 27/06/80 FS – SOFORT AN ALLE DIENSTSTELLEN TEXAS ANLASS DER AUSSCHREIBUNG: KAUTIONSFLUCHT, WAHRSCHEINLICH BEWAFFNET UND EXTREM GEFÄHRLICH KAUTIONSFLÜCHTIG, FESTNAHMEERSUCHEN, STECKBRIEF, HAFTBEFEHLE 407296 UND 407297 AUSSCHREIBUNGSBEHÖRDE: SHERIFF TAYLOR COUNTY, ABILENE, TEXAS RICHARD BOYD FOXWELL A DICK, W/M PGD 4/12/40 PHW 188 CM 90 KG HF HL BRAUN AUGEN BRAUN. ZULETZT GESEHENES FAHRZEUG CADILLAC EL DORADO SCHWARZ VINYL TOP TXLIC/TLC 556. EINE VERURTEILUNG WEGEN MORD, VERNEH342
MUNG DURCH BUNDESANKLAGEJURY BETREFFS MORD AN BUNDESRICHTER IN SAN ANTONIO. DEM VERNEHMEN NACH BEWA 44 MAG REVOLVER, IST ALS EXTREM GEFÄHRLICH EINZUSTUFEN. VERANTWORTLICHER BEAMTER BOB KEAGON ABTEILUNG 830 TXLKA HOUSTON KBH 10-0817CDT
»Einer meiner V-Leute sagt, der Typ hat den Auftrag, Kristen umzulegen«, sagte Rob. »Ich kenne den Kerl«, sagte Jim. »Dick Foxwell, ja, ist mir vor Jahren mal über den Weg gelaufen, als ich als Fahnder im alten Rancho Milagro, dem Hotel an der 45er unten in Houston, gearbeitet habe. Gangster der alten Schule. Höllischer Spieler.« »Mann, das kannst du laut sagen«, sagte Rob. »Und ich wette fünf Cent mit dir, daß er den Richter abserviert hat.« Robs Partner starrte mich an, als wäre ich bereits tot. Ich stellte mich vor und streckte ihm eine Hand entgegen. »Bill Watson«, sagte er. Im Wohnzimmer setzte sich Bill auf das eine Element unserer Eckcouch aus Beaumont, das noch übrig war, den Teil, der links keine Armstütze hatte. Er schien um die dreißig zu sein, war groß und schlank und hatte rote Locken, die an den Schläfen grau zu werden begannen. Sein Bart war so gut wie durch und durch grau. »Ich sag's dir«, sagte Rob, »mein V-Mann sagt, der Typ wurde engagiert, den Schlitzbullen umzubringen.« »Und wer steckt dahinter?« fragte ich. 343
»Wer zum Geier weiß das schon«, antwortete Rob. »Ich könnte dir da schon einen nennen«, sagte Jim. Ich ging in die Küche und mixte einen Vorrat Margaritas; ich spielte mit dem Mixer, während ich mir diesen Dick vorstellte, wie er in seinem schwarzen Riesencaddy, den 44er unter dem Vordersitz und meiner Personenbeschreibung in der Brusttasche, von Houston aus nach Norden kutschierte. Sicher hatte er die Armstütze zwischen den beiden Vordersitzen des El Dorado heruntergeklappt, um es seinem Gangstergestell bequem zu machen. Vielleicht rauchte er eine Zigarillo. Unter Garantie hielt er sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung und trank nicht einen Schluck, während er unterwegs war, und wenn es zehnmal erlaubt war. Wer zum Geier konnte schon wissen, was passierte. Mich zu finden wäre nicht einfach. Das Haus, das Telefon, der Wagen, alles lief, dank Mr. Berthe, unter einem falschen Namen. Rob kam in die Küche, während ich die Drinks eingoß. »Bist du in Ordnung?« fragte er. »Ging mir nie besser.« »Hör mal, mein Neuer da draußen, ich kann dir sagen, noch so was von feucht hinter den Ohren. Ich meine, ich denke, er ist schon ein senkrechter Typ und so, aber, na ja, du weißt schon. Auf einen Deal habe ich ihn noch nicht mitgenommen.« »Du bist dir nicht sicher, ob er auch mitspielt?« »Ich hab absolut Spitze Nasenpulver dabei. Wäre wirklich gut rauszufinden, wo er steht.« »Du meinst, wir sollten uns was hochziehen.« »Geht das in Ordnung?« »Alles geht in Ordnung«, sagte ich. »Nichts, was nicht in Ordnung ginge.« »He. Wir finden ihn. Der kommt nicht mal in deine Nähe.« »Ich mach mir keine Sorgen.« Und das stimmte. Wenigstens 344
hatte ich jetzt einen Namen. Er grub in seiner Tasche. »Willst du 'n Riegel?« »Ist schon 'ne Weile her«, sagte ich. »Ich tausche ihn gegen einen Margarita.« Tags darauf um fünf Uhr früh lag Bill Watson, ganze sechs Tage beim Rauschgiftdezernat, im Garten hinter dem Haus und kotzte munter vor sich hin, viel zu zugedröhnt, um zu wissen, daß er besoffen war. Ich saß frierend neben ihm in der so kurz vor Sonnenaufgang noch immer kühlen Luft. Als er zu würgen aufgehört hatte, drehte ich den Hahn neben der rückwärtigen Veranda auf und brachte ihm den Gartenschlauch. »Trinken Sie«, sagte ich. Er richtete sich auf alle viere auf und nahm den Schlauch und schluckte zuckend. »Verdammt«, sagte er. »Das ist wirklich besser, als Leichen aus Autowracks zu ziehen.« Der Himmel begann sein morgendliches Grau mit rosa Streifen zu durchziehen; auf den flachen Halmen des St.-Augustin-Grases, aus dem der hintere Rasen bestand, begannen sich winzige Tautröpfchen zu bilden. »Rob hat schon einiges hinter sich«, sagte ich. »Er kann Ihnen zeigen, wo's langgeht.« »Einiges von dem Mist, den er mir erzählt, kann ich einfach nicht glauben.« »Glauben Sie's.« »Sind Sie für immer ausgestiegen?« »Für immer und ewig.« »Rob meinte, Sie beide hätten den einen oder anderen vergrätzt.« »Sie hatten's verdient.« »Na, jedenfalls werden Rob und ich nach ihm suchen.« 345
»Ich weiß es zu schätzen.« »Ja, Rob wird dem Knaben die ganze Mannschaft auf den Hals hetzen. Sie wissen ja, daß er jetzt der Chef ist. Er wird die ganze Abteilung losschicken. Die meisten davon sind noch neu.« »The beat goes on«, sagte ich. »Was meinen Sie damit?« »Nichts, was sich jetzt nicht ziemlich dumm und verdammt noch mal ziemlich naiv anhören würde.« »Sie haben da ein paar ganz üble Dealer von der Straße geholt.« »Ach was«, sagte ich, »einen Dreck haben wir. Wir haben der Staatsanwaltschaft Arbeit gegeben. Wir haben einem waschechten Edelbankert seine Zukunft als Polizeichef gesichert. Das ist aber auch alles.« »Sie haben Dealer ins Gefängnis gebracht. Man muß doch tun, was man kann.« »Keine Frage. Dann ziehen Sie man schön los und kassieren Ihre Dealer. Sehen Sie zu, daß Sie ein paar echt kaputte Typen aus dem Verkehr ziehen. Aber passen Sie dabei bloß auf sich auf. Sehen Sie zu, daß Sie nichts abkriegen.« »Kann ich mir nicht leisten«, sagte er. »Ich habe Familie.« »Tja, mein Bester«, sagte ich, »in diesem Fall sind Sie allerdings in der falschen Branche.« Er stand auf und stopfte sich die Hemdzipfel in die Jeans, bevor er sagte, wir sollten wieder reingehen. »He, Bill«, sagte ich, als wir über den Rasen gingen, »mögen Sie Wels?« * Wir schliefen in Schichten, Jim während der Nacht, ich am Tag. Ich saß auf dem Couchelement, das wir in eine Ecke des Zim346
mers gerückt hatten, hielt meine Waffe in der Hand und lauschte auf das Klicken eines Türschnäppers; ich stierte ins Zwielicht unseres Zuhauses und wartete auf jemanden – vielleicht Foxwell, vielleicht auch nur auf einen vergrätzten Speedfreak, der hinter uns her war. Den Rest des Sommers über bis weit in den Herbst blieb ich jede Nacht über wach und wartete. * Jim legte den Hörer auf und ging zum Kühlschrank. Er holte sich ein Bier heraus. »Dodd ist in der Stadt«, sagte er. »Er will uns einen Besuch abstatten.« Ich fragte ihn wozu. »Sagt, er sei auf Urlaub und würde uns gern guten Tag sagen.« »Könnte er doch auch am Telefon«, sagte ich. »Ich habe ihm gesagt, er soll vorbeikommen.« * Ich stand unter der Dusche und versuchte, das auf die Reihe zu kriegen. Ich konnte mir nicht erklären, warum Dodd sich mit einemmal entschlossen hatte, Sehnsucht nach uns zu haben. Es wollte mir einfach nicht in den Kopf. Als ich aus der Duschkabine trat, hörte ich schon seinen nöligen Bariton durchs Haus hallen. Ich schlich mich in den Flur. »Wie geht's ihr denn so?« fragte er. »Scheiße, Sie hat man ja übel zugerichtet.« »Ich hab 'n paar Narben. Manchmal tut's weh. Aber Kristen, die ist ganz schön fertig. Sie wollte sich schon Hunde anschaffen, Dobermänner. Scheiße, was wollen wir mit denen? Sie hört Sachen, die außer ihr kein Schwein hört.« 347
»Zum Beispiel?« »Zum Beispiel vorige Woche, als Rob und 'n Freund hier draußen waren. Sie sitzt die ganze Zeit nur im Sessel, sagt kein Wort, und auf einmal flüstert sie: ›Es ist jemand an der Tür‹ – und ein paar Minuten später war tatsächlich jemand an der Tür. Ein paar Mormonen. Teufel auch, wir hatten Musik laufen, und Rob quasselte ununterbrochen was von irgendeinem Typen, den sie gekascht hatten, und man konnte wirklich nichts von draußen hören. Aber sie schon.« »Kann nichts schaden, Augen und Ohren offenzuhalten«, sagte Dodd. »Sie hat schließlich allen Grund dazu.« »Ich mache sie ja nicht nieder«, sagte Jim. »Großer Gott, sie ist mißtrauisch, Gott sei's gedankt. Ich bin ja dankbar. Ich sag nur, daß es ein bißchen komisch ist.« »Finde ich nicht«, antwortete Dodd. »Hört sich für mich völlig normal an.« Auf Zehenspitzen schlich ich mich ins Schlafzimmer, um mich anzuziehen. Was hatte er hier zu suchen? Warum war er in unserem Zuhause. Ich machte etwas Lärm auf dem Flur, als ich wieder herauskam. Er hatte sich kaum verändert. Am Ranzen hatte er noch ein paar Pfunde zugelegt. Sein Haar war länger, aber immer noch lockig und hellblond, genau die Farbe, die Frauen sich einiges kosten ließen. Er stand vor dem Kamin, einen Stiefel auf der Kaminplatte. Ich begrüßte ihn und rollte mich auf einer Ecke der Couch zusammen. »Wie geht's Ihnen denn so, Mädel?« fragte er. Ich hätte gern gewußt, was er hier zu suchen hatte. »Geht so«, sagte ich. »Sie sehen gut aus.« »Kommt drauf an.« 348
»Nein, im Ernst«, sagte er. »Der Ruhestand tut Ihnen gut.« »Ich möchte nicht unhöflich sein«, sagte ich, »aber um diese Zeit schlafe ich normalerweise. Seien Sie also nicht beleidigt, wenn ich Ihnen wegnicke.« Ich streckte mich auf der Couch aus und schob meinen Revolver zwischen die Kissen. In einem davon war etwas Hartes. Ich drehte es um und griff hinein, tastete durch den fünf Zentimeter breiten Riß, den das Kissen seit der Schießerei hatte. Was auch immer da drin war, es war röhrenförmig, wie anderthalb Zentimeter einer Rolle von Fünfcentstücken. Ich zog den Reißverschluß auf und schöpfte ein paar Handvoll Schaumstoffschnipsel heraus. Jim und Dodd hörten zu sprechen auf und sahen mir zu. Ich holte ein Stück weißes Plastik aus den Innereien des Kissens und gab es Jim. »Ich werd verrückt«, sagte er. »Was ist das?« fragte Dodd. »Ein Pfropfen aus einer Schrotpatrone. Muß seit der Schießerei da dringewesen sein.« Das erklärte meine Wunde. Ein simples Stück Plastik zwischen Pulver und Schrotladung, das die Schrote aus der Patrone trieb. Das war es, was mich am Arm getroffen und ihn mir aufgerissen hatte, daher also die seltsame rechteckige Wunde. »Und der Ranger«, sagte ich, »dieser Cash, fährt die Kissen fast zwei Monate lang in seinem Kofferraum spazieren.« »Na, dann steht er doch da wie ein Trottel, oder nicht«, sagte Dodd eifrig. »Das beweist doch, daß Sie wegen der Schießerei die Wahrheit gesagt haben. Ich fahr's gern für euch beim Staatsanwalt vorbei.« »Ist schon in Ordnung«, sagte ich. »Wir behalten's erst mal hier.« Ich sah nicht ein, was das Ding hätte beweisen sollen. Daß es auf die Narbe auf meinem Arm paßte, war nur eine weitere 349
Bestätigung meiner Geschichte, aber nach der Art von Beweis suchte Cash nun mal nicht; und außerdem hatte ich irgendwie das Gefühl, es würde stillschweigend verschwinden, wenn ich es Dodd gab. Ich klopfte das Kissen zurecht und legte mich wieder hin und schloß die Augen. »He«, sagte Dodd, »dafür sitzt Gaines jetzt.« »Wissen Sie, daß man angeblich jemand beauftragt hat, Kristen aus dem Weg zu räumen?« fragte Jim. »Ich hab's gehört«, sagte Dodd. Einer der beiden riß ein Streichholz an. »Hol's der Teufel«, sagte Dodd plötzlich, »ihr beide seht wirklich verdammt gut aus. Richtig gesund. Das freut mich wirklich.« Ihre brummenden Stimmen füllten meinen Kopf. »Was macht denn Nettle dieser Tage so?« »Ach, hol's der Teufel, Jim, Sie wissen doch, immer dasselbe, aber er hat jetzt endlich seine Ernennung. Spielt jetzt den Polizeipräsidenten. Trinkt mit dem Stadtdirektor und dem Gemeindejustitiar, amüsiert sich großartig. Redet noch immer von nichts anderem als von unserem Großaufputz.« »Das wird noch in zwanzig Jahren Wasser auf seine Mühlen sein.« »Das können Sie glauben. Ich für meinen Teil, ich werde die Polizeiarbeit womöglich dieser Tage an den Nagel hängen und in die private Wirtschaft gehen. Ich habe da ein Angebot, auf den Ölfeldern für Sicherheit zu sorgen. Ist prima bezahlt, anständige Arbeitszeit, kaum ein Risiko. Reizt mich wirklich. Verdammt, ich bin wirklich froh, daß es euch Leuten gut geht.« »Nehmen Sie's nicht weiter tragisch, Boß«, sagte Jim. »Wenn Sie zum Essen bleiben wollen, ich mach uns einen Wels.« Ein Angebot, auf den Ölfeldern zu arbeiten. Genau das richtige für Dodd. Er bemühte sich wirklich redlich, dieser Dodd. Ein 350
typischer Südstaatenkerl. Immer schien er sich alle Mühe zu geben, die Pointe zu verstehen, und trotzdem stand er für gewöhnlich da und kratzte sich ratlos am Kopf, während die anderen um ihn herum längst über den Witz lachten. Er wußte noch nicht mal so recht, wo er eigentlich gern dazugehören würde, er wußte nur, daß er unbedingt dabeisein wollte. Er verehrte Jim, und Jim fuhr voll darauf ab. Eines Nachmittags kurz nach unserem großen Abgriff hatte Jim ihm erzählt, daß die schweren Jungs in den alten Zeiten immer jede Menge Diamanten getragen hätten, und als Dodd anderntags im Büro auftauchte, hatte er ein paar Ringe an den Fingern und eine Beule in der Kreditkarte. Irgendwo in meinem halb bewußtlosen Verstand bildete sich der Gedanke, ob es wohl Dodd war, den man losgeschickt hatte, um mich umzubringen, aber ich zweifelte schon daran, noch bevor ich den Gedanken zu Ende gedacht hatte. Dodd hatte keine Ahnung von den frisierten Beweisen. Er wußte, daß man ein bißchen über die Paragraphen gelatscht war, er wußte, daß man Jim aus dem Verkehr hätte ziehen sollen, er wußte, daß wir vor Gericht gelogen hatten. Aber ich hatte nie das Gefühl gehabt, er hätte verstanden, warum. Oder daß er irgend etwas in Frage gestellt hätte. Er war Jim ergeben und versuchte, sein Unbehagen darüber zu kaschieren. Nein, nicht Dodd. Er schützte sich, indem er sich weigerte, allzu genau hinzuschauen. Aber Gaines saß in Huntsville, und er wollte da raus. Er würde das Nötige tun. Er würde ein schwaches Glied finden und daran zerren, bis die Kette riß. Dodd könnte so ein schwaches Glied sein, jedenfalls war er derjenige, bei dem ich angefangen hätte, aber es paßte nicht zusammen. Ich hätte das Ausmaß meiner Aufregung zwar nicht genau bestimmen können, aber ich wußte, ich näherte mich einer Gefahrenzone. Ich stand am Abgrund, drauf und dran, den Verstand zu verlieren. Verfol351
gungswahn. Mußte es wohl sein. Dodd hatte es einfach nicht drauf, jemanden umzubringen. Ich konnte einfach nicht klar denken. Nicht doch. Wart mal. Hör zu: Jeder Mensch ist dazu fähig, einen anderen umzubringen. Verfolgungswahn. Aber Gaines brauchte mich doch lebend. Ich war doch bei dem Treff dabeigewesen. Ich wußte Bescheid. Er brauchte mich lebend. Wart mal. Paß bloß auf. Es ist alles nur eine Frage der Umstände. Ich umfaßte meinen Revolver und lag mit geschlossenen Augen da, wartete und überlegte, wie verdreht ich wohl schon war. Ich hörte Dodds schwere Schritte, als er Jim aus dem Wohnzimmer hinüber in die Küche folgte. Ich hörte ihre Stimmen, verstand aber nichts. Ein paar Minuten später hörte ich das knisternde Zischen, als sie den Fisch in das heiße Fett legten. Ich drückte meine Waffe und schlief ein. * Der Schmerz spielte eine große Rolle dabei. Auf der Suche nach einer Ausrede redete ich mir das ein. Jim lebte mit dem Schmerz, er hatte ihn in der Schulter, im Bein, er schlief mit ihm, und wenn er aufwachte, war er da; er war immer da. Wochenlang stand er es durch, dann brach er wieder zusammen und schluckte Pillen, wenn auch auf Rezept. Gegen die Schmerzen, wie er sagte. Nur um die Schmerzen loszuwerden, die in seinem Bein brannten wie Säure und wegfraßen, was an Muskeln noch übrig war. Ich saß in meiner Ecke und hoffte auf eine Nacht, in der ihn die Schmerzen einmal nicht aus dem Schlaf reißen würden. Er schlief etwa von Mitternacht bis kurz nach Sonnenaufgang, ich vom Frühstück bis Mitte Nachmittag. So spielte es sich ein. Die Abende verbrachten wir am Canyon Reservoir. Ich fragte mich, was Dodd wohl gerade machte. 352
Als der Winter kam und das Wetter schlecht wurde, blieben wir im Haus, starrten auf den Fernseher oder lasen. * Ich kriegte es zunächst nicht mit, weil ich nicht darauf geachtet hatte. Es konnte schon Monate so gehen, ohne daß ich davon gewußt hatte, bevor ich mir sicher war. Rob arbeitete an einem großen Fall in Austin, und Jim begann mit ihm herumzuziehen und ließ mich bis in den Vormittag hinein allein durchs Haus wandern, die Fenster nachsehen, die Türen, immer am Horchen. Ich kannte jedes einzelne Knarren des alten Holzhauses, das Zischen der Glasflamme, die sich im Boiler einschaltete, das blecherne Knacken des abkühlenden Herdes, nachdem ich Teewasser aufgebrüht hatte, den Pickup Track, der jeden Abend um halb elf die Straße langröhrte. Den Hund mit dem mächtigen Brustkasten einige hundert Meter weiter, der immer sechs Minuten lang heulte, wenn der Mond aufging. Ich hatte erwartet, was ich fand. Nicht daß ich etwas gesucht hätte. Es bot sich von selbst an; ich wartete nur ab. Ich wollte von nichts wissen. Das Telefon klingelt, man hebt ab, der Anrufer lauscht einen Augenblick und legt dann auf. Man denkt sich nichts dabei. Ein oder zwei Tage später passiert es wieder. Und dann wieder. Rob kommt gegen neun vorbei. Bietet uns einen Joint an. Ich lehne ab, und Jim fährt mit ihm weg. Gegen vier Uhr morgens kommt er zurück, hellwach, völlig aufgedreht. »Ruh dich aus«, sagt er. »Ich paß schon auf. Ich bin nicht müde.« Ich lege mich auf die Couch und höre ihn herumkramen, eine der Waffen reinigen, sein Messer wetzen, seine Schuhe putzen. 353
Immer öfter geht das so. Die Anrufe folgen immer auf eine Nacht, in der er nicht da war. Das Schema nimmt Formen an. »Ich bin deine Frau«, sagte ich ihm eines Morgens. »Du bist mein Mann. Du mußt dich entscheiden.« Auch an diesem Abend zog er mit Rob los. Das Telefon klingelte, der Anrufer legte auf. Ich schenkte mir einen Scotch ein. Ich setze mich auf die Couch und stecke mir eine seiner Zigaretten an. Ich lauschte. * Die ersten Sonnenstrahlen hatten sich eben durch die Lamellen der Jalousien gezwängt und füllten die Küche mit frühlingshaftem Morgenlicht, als Jim vom Tisch aufstand und eine Schale Cheerios gegen die Wand knallte. »Du spinnst doch wohl!« schrie er. Die Schale zersprang, die Scherben landeten auf dem Boden. Die Milch rann ungleichmäßig über die blaue Blümchentapete. »Aber schon total«, sagte er. Er setzte sich wieder und ließ die Hände auf den Tisch fallen. Ich goß mir eine Tasse Kaffee ein. »Willst du welchen?« »Nein. Ich mein ja. Was zum Teufel ist los mit dir?« Ich gab ihm eine Tasse und setzte mich ihm gegenüber. »Ich hoffe, Milch macht keine Flecken«, sagte ich. Ich nahm einen Schluck aus meiner Tasse. »Du kannst nicht einfach abhauen«, sagte er. »Das kannst du nicht. Einfach so abhauen.« »Was willst du hören, Jim? Ich verzeihe dir deine Freundinnen? Ich verzeihe dir den Stoff? Wieder mal? Alles vergessen und vergeben? Laß mich dich nur einfach lieben, ehren und dir gehorchen? Für was hältst du mich, für einen gottbeschissenen Springbrunnen, der vor Liebe und Sanftmut nur so 354
sprudelt? Ich kann nicht mehr.« »Wo gehst du hin?« »Keine Ahnung.« »Was willst du tun?« »Spielt doch keine Rolle«, sagte ich. »Irgendwas. Mit einemmal machst du dir Sorgen.« »Auf deinen Kopf ist eine Belohnung ausgesetzt.« »Ich könnte auch sterben, wenn ich über die Straße gehe. Was soll ich tun, mich dem Typ vorstellen, damit ich es hinter mir habe?« »Ich mach mir wirklich Sorgen. Ehrlich.« »Kannst du dir sparen.« Ich stand auf und öffnete einen der Schränke und warf eine braune Papiertüte auf den Tisch. »Machst du dir deswegen Sorgen?« Ich nahm das Ding und riß es auf. Die Pumpen sprangen durch die ganze Küche; ein käseschachtelgroßer Brocken Crystal Meth klapperte auf die Tischplatte. Das Zeug kam frisch aus dem Labor, vollkommen rund, weiß und wächsern wie Paraffin. »Das ist es, was mir Sorgen macht«, sagte ich. »Hast du's von Rob? Dann meinen Segen und die besten Wünsche für euch beide.« * Ich setzte mich in den Bus, auf einen der hinteren Plätze, und sah im Dunkeln San Antonio an mir vorbeiziehen. Es hätte mir weh tun müssen; ich hätte mir Gedanken machen müssen, ob ich auch die richtige Entscheidung getroffen hatte. Aber alles, was ich verspürte, war eine selige Einsamkeit, das Gefühl, daß es nach Jahren – Jahren – endlich irgendwo hinging; wohin, das war mir herzlich egal, alles, was zählte, war, daß ich nicht mehr auf der Stelle trat. 355
Ich war allein, weg von Jim, weg von allem. Der fast leere Bus rollte über den nächtlichen Highway und fuhr mich irgendwo hin.
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Kapitel Zweiundzwanzig In Corpus Christi stieg ich aus. Ich kaufte mir ein Dr. Pepper und setzte mich auf meinen Koffer in einen schmalen Streifen Schatten neben dem Vordereingang des Busbahnhofs. Außer den Füßen bekam ich alles aus der Sonne. Dann saß ich da; die hohe Luftfeuchtigkeit ließ mich schwitzen, und ich spürte die Hitze der letzten Apriltage auf meinen Zehen. Ich überlegte, wo Dick Foxwell wohl stecken mochte, was er wohl gerade machte. Ich stellte ihn mir in irgendeinem Hinterzimmer vor, beim Mittagessen mit Nettle. Vielleicht war auch der Stadtdirektor dabei, vielleicht auch der Justitiar. Womöglich kam auch Willard Freeman dazu, das Gesicht zu einem zuversichtlichen Lächeln verzogen, weil er an seine Tochter denken mußte, während Nettle ihm berichtete, wie es ihm schließlich gelungen war, Gaines aus dem Verkehr zu ziehen. Sicher betrachtete er seine Investition als letztendlich gut angelegt. Schließlich bezahlte Gaines jetzt dafür, und das nicht zu knapp, daß er Willards Tochter, die kleine Trojanette, zu Pornofilmen gezwungen hatte. Wahrscheinlich saßen sie alle beisammen und diskutierten über Aufbau und Planung, ließen sich andeutungsweise über Pornographie und Schadensminimierung aus und debattierten darüber, was man mit den losen Enden machen sollte. Losen Enden wie mich. Gerechtigkeit. Auf gut texanische Art. Texas über alles. Vetternwirtschaft. Typische Südstaatenkameraderie. Das hatte nicht erst mit Kennedy oder Johnson angefangen. Das hatte Tradition, das hatte es schon gegeben, lange bevor Lone Wolf Gonzaulles sich einen Revolver umschnallte 357
und loszog, um sich um die Geschäfte des Gouverneurs zu kümmern. Ein Aufstand, ein Ranger. Ich sagte mir, ich sei paranoid und daß das weiße Pulver genau den Teil meines Verstandes zersetzt habe, der für die Vernunft zuständig sei. Die Sonne brannte mir auf die Füße. Sie würde sie mir im Muster meiner Sandalen bräunen. Man würde Foxwell sagen, mir unbedingt die Schuhe auszuziehen, nachdem er sich vergewissert hatte, daß ich tot war, und nach dem Muster sehen. Verfolgungswahn. Er würde auch nach der Narbe auf meinem linken Bizeps sehen. Er würde meine Taschen durchgehen, meine Handtasche. Ich begann zu glauben, daß ich irgendwann durchgedreht war, daß ich womöglich noch immer in Beaumont in meiner Gefängniszelle saß und mir nur einbildete, geflohen zu sein. Ich zog die Sandalen aus und drückte meine nackten Fußsohlen gegen den heißen Beton unter mir. Ich spürte ihn; er war so heiß, daß er mich fast schon brannte. Ich leckte mir den Schweiß von der Lippe, er schmeckte salzig. Ich spürte, ich schmeckte. Dann bildete ich mir das alles also nicht nur ein. Sorgfältig beobachtete ich, wie der Sekundenzeiger meiner Uhr über die kleinen Striche tickte. Er bewegte sich ruckweise über eine Markierung nach der anderen, exakt, präzise; Echos, die je genau eine Sekunde dauerten. Ich sah ihm zu. Es dauerte ewig, es dauerte überhaupt nicht. Drei Minuten waren vorbei, einhundertachtzig Sekunden unwiederbringlich verloren. Irgendwie befriedigte mich das, es kam mir vor wie eine Art Sieg, die Zeit so verrinnen zu sehen und zu wissen, ich war noch da. Ich würde es schaffen. Ich wußte, wie man sich versteckte. Die Sonne verbrannte mir die Füße. Ich zog die Sandalen wieder an und ging, Mr. Berthes Geschäftskarte aus der Handtasche kramend, zur nächsten Telefonzelle. * 358
Ein Pickup Truck rollte an den Bordstein, einer seiner Vorderreifen erwischte mit der Kante einen Kiesel; ein lautes dumpfes Plopp und das Steinchen schoß davon und klapperte kaum einen Schritt neben meinem Koffer gegen die Wand. Der Fahrer ließ einen seiner großen Arme aus dem Fenster baumeln. Ein grüner Ford-Pickup-Truck hatte Mr. Berthe gesagt. Ich stand auf. »Kristen?« Ich nickte und ging hinüber und warf meine Tasche auf die Ladefläche, bevor ich einstieg. Er wandte sich nach mir um, lehnte sich gegen die Fahrertür und musterte mich. »Sind Sie in Ordnung?« »Ja«, sagte ich. »Mir geht's gut. Ich meine, ich bin okay.« »Roland hat mir gesagt, ich soll sofort herkommen.« »Arbeiten Sie für ihn?« »Kleine Sicherheitsjobs hie und da. Nichts besonders Aufregendes.« Er legte einen Gang ein und fuhr los. »Ich bin Ihnen wirklich dankbar«, sagte ich. »Ich brauche nur ein paar Tage, um mir über einiges klarzuwerden.« »Bleiben Sie, solange Sie wollen. Und machen Sie sich keine Sorgen wegen Foxwell. Der kommt hier nicht her.« »Da bin ich mir nicht so sicher.« »Wie ich schon sagte, ich arbeite für Roland Berthe. Ich heiße Marshall.« »Okay«, sagte ich. Ich stellte keine Fragen. Er war grobknochig und muskulös, seine schmale Taille ließ ihm die Levis tief an der Hüfte hängen. Seine Jeans bauschten sich auf dem Sitz, an der rechten Wade hatte er einen großen ovalen Fleck, und der Stoff war dort so dünn, daß er fast schon weiß war, als hätte er ein Bleichmittel daraufgeschüttet. Er hatte silbergraues Haar, das er hinten zu einem kurzen Pferde359
schwanz zusammengezogen hatte, der ihm wie eine große Locke auf den breiten Raum zwischen den Schulterblättern fiel. Wir fuhren an ganzen Straßenzügen mit weiß verputzten Häusern und Palmen in den Vorgärten vorbei. Die Luft roch nach Meer. Nach kurzer Zeit bogen wir auf eine Straße ab, die am Strand entlangführte. Noch während er auf eine kiesbestreute Zufahrt abbog, stellte er den rasselnden Motor ab, und wir rollten vor ein niedriges Holzhaus, an dessen Wänden gerade noch einige hellblaue Farbflecken klebten. »Ich will die Bude schon lange mal streichen«, sagte er und knallte den Wagenschlag zu, als er ausstieg. Über den Boden verstreut lagen Dutzende von kleinen mexikanischen Teppichen im ganzen Haus; bis zum Überquellen vollgestopfte Bücherregale säumten zwei Wände des Wohnzimmers. »Wir bringen Sie gleich hier unter«, sagte er und trug meinen Koffer in ein kleines Zimmer gegenüber der Küche am anderen Ende des Flurs, der zum vorderen Schlafzimmer führte. An der Wand, unter einem großen Fenster, stand ein Doppelbett, eine bunte mexikanische Decke lag darauf. Es gab keinen Schrank, aber eine Reihe von Kleiderhaken an einem Brett an der Wand. Die gegenüberliegende Wand war vor lauter Buntstiftzeichnungen fast nicht mehr zu sehen, einige davon auf schlichtem grauen Karton. Die meisten waren ungerahmt und mit Reißzwecken an den Ecken befestigt. »Während der Saison zeichne ich Leute«, sagte er. »Ich gehe an den Strand da drüben und stelle meine Staffelei auf, und die Leute kommen, um sich porträtieren zu lassen. Meistens nehme ich Buntstifte, ab und zu will auch einer unbedingt eins in Holzkohle. Da bin ich auch schon ziemlich flink, es geht fast schon mechanisch. Aber Farbe ist mir doch lieber.« Er stellte meinen Koffer auf das Bett, und sich nach mir umdre360
hend, sah er, daß ich die Wand anstarrte. »Hin und wieder ist einer enttäuscht von der Art, wie ich ihn sehe«, sagte er. »Die weigern sich dann, mich zu bezahlen. Aber es kommt nicht so oft vor. Die hier an der Wand sind in zwanzig Jahren zusammengekommen. Mein Monument der Ablehnung.« Er starrte die Zeichnungen selbst einen Augenblick an und schlug dann klatschend die großen Hände zusammen. »Was soll's«, sagte er. »Wir wollen was futtern.« * Am nächsten Tag wachte ich spät auf, schweißgebadet; im Haus roch es nach Salzwasser und Kaffee. Als ich das Fenster öffnete, war die Brise bereits heiß. Ich hörte Marshall in der Küche vor sich hinsummen; es hörte sich nach einer Oper an. Er stand am Herd und verrührte Eier, die er mit geriebenem Käse bestreute. »Das müssen Sie mal probieren«, sagte er. – »Migas. Mit Eiern, Tomaten, Zwiebeln, ein bißchen Käse, ein paar Stückchen Tortilla, jalapenos… Einfach unschlagbar.« Ich fand einen Krug Eistee im Kühlschrank und stürzte ein Glas davon hinunter, und bevor ich mich setzte, schenkte ich mir noch eines ein. Der Tisch war mit Geschirr gedeckt, dessen farblich verschiedene Teile beliebig kombinierbar waren, statt Servietten gab es Papierhandtücher. Marshall brachte die Pfanne an den Tisch und schaufelte Riesenportionen Rührei auf die Teller. »Machen Sie schon mal«, sagte er. »Essen Sie. Ich bin gleich bei Ihnen.« Er stellte die Pfanne in die Spüle und ließ sie voll Wasser laufen, wobei er über die Schulter hinweg nach mir sah. »Wie ist es?« »Köstlich«, sagte ich. »Wie nennen Sie das, migas?« 361
»Das Rezept habe ich von einem mexikanischen Herrn, den ich mal gezeichnet habe. Er hat mich zu einem Tauschgeschäft überredet, und ich würde sagen, ich habe dabei das bessere Geschäft gemacht. Sie sind ja total durchgeschwitzt.« Er kippte einen Schalter, als er sich setzte, und musterte mich. Der Deckenventilator begann laut zu summen, wurde dann aber leiser, als seine Blätter sich erst einmal drehten. »Was haben Sie denn gemacht, haben Sie sich die ganze Nacht über zugedeckt?« Verlegen schob ich mir das nasse Haar aus dem Gesicht. »Ich habe Angst vor Fenstern«, sagte ich. »Seit der Schießerei. Ich schwitze lieber.« »Kein Mensch kommt hierher und versucht sie zu erschießen«, sagte er leise. »Glauben Sie mir.« Er hatte ja keine Ahnung, wie gern ich ihm geglaubt hätte, oder vielleicht doch. Ich wünschte mir so sehr, jemandem vertrauen zu können. Ich wollte, daß mir jemand versprach, daß ich keine Todesangst mehr zu haben bräuchte, daß ich sicher sei, daß ich einschlafen könne, ohne zu überlegen, ob mich nicht ein doppelläufiger Wecker aus dem Schlaf reißen würde. Seine Augen nahmen einen milden Ausdruck an, und einen Moment lange schaute er drein, als wolle er mich an sich ziehen und genau das tun: mich trösten und beruhigen. Es wäre zu schön gewesen, an jenem Vormittag, mich ihm einfach an die Schulter zu werfen und loszuheulen. Ich wünschte, ich könnte es. Ich gab den Pillen die Schuld daran, dem Azene und dem Inderal. Was sonst sollte schuld daran sein, daß ich gefühlsmäßig derart verklemmt war. Es kam mir geradeso vor, als spielten meine Gefühle in mir Verstecken, als huschten sie hin und her, als versteckten sie sich, weil sie Angst davor hatten, gefunden zu werden. Ich nahm die Gabel in die Hand. 362
»Sie müssen mir zeigen, wie man das macht«, sagte ich. Er beugte sich über den Tisch und begann ordentlich zuzulangen, mit jedem Bissen wurden seine Augen größer und runder, ein Ausdruck kindlicher Glückseligkeit trat ihm aufs Gesicht, während er kaute. Wir hatten etwa die Hälfte aufgegessen, als der Tisch zu wackeln begann. Als ich einen Blick darunter warf, sah ich, daß Marshall einen Fuß um eines seiner Stuhlbeine gehakt hatte und sein Absatz rasch auf und ab wippte, wie ein arbeitender Kolben. Der weiße Fleck am Unterschenkel seiner Jeans scheuerte gegen das metallene Stuhlbein. Er sah, wie ich schaute, und zog eine Augenbraue hoch. »Ist was?« »Ich kann die Eier nicht richtig anvisieren«, sagte ich, »sie bewegen sich.« »Ach so«, sagte er und richtete sich auf. »Das ist so eine nervöse Angewohnheit.« Er schaufelte sich den Mund voll, und eine Weile aßen wir schweigend vor uns hin. Ich nahm an, er war wegen Foxwell nervös. Meine Zunge brannte noch von den jalapenos, während ich unser Geschirr spülte. Marshall stand vor sich hinsummend neben mir und trocknete sorgfältig jedes Stück ab, das ich ihm reichte. »Wissen Sie was«, sagte er schließlich. »Ich laufe jeden Morgen am Strand. Das könnte Ihnen auch unheimlich guttun.« * Ich hatte Angst ohne Waffe. Ich joggte, solange ich konnte, und versuchte nicht daran zu denken, daß mein Revolver in ein Handtuch gewickelt unter Marshalls Schirm lag und ich mich mit jedem Schritt davon entfernte. Und dann war da noch der Schmerz. Ich hatte vergessen, wie man es anstellte, über den 363
Punkt, an dem es weh zu tun begann, hinauszulaufen und das Laufen zu genießen. Tag für Tag gab ich auf und ging zu unserem Schirm zurück, noch lange bevor Marshall ein paar Kilometer weiter bei der Surfbrettvermietung wendete. Ich fürchtete mich davor, zankte mit mir selbst, schimpfte mich jedesmal einen Dünnbrettbohrer, wenn ich haltmachen mußte und seinen massiven Rücken davonziehen sah, während ich gebeugt und nach Luft japsend im Sand stand. Als er dann zurückkam und noch eine Runde schwamm, war ich gewöhnlich schon wieder trocken und saß auf einem Handtuch neben seiner Staffelei. »Nur nicht lockerlassen«, sagte er dann immer. »Sie machen sich schon besser. Sehen fast schon wieder gesund aus.« Es vergingen fast drei Wochen, bevor er eines Morgens in mein Zimmer geschlendert kam und die Tablettenfläschchen vom Nachtkästchen nahm. Ich stand gerade vornübergebeugt da und band mir die Tennisschuhe und konnte nicht anders, als hinter ihm herzustolpern, als er ins Bad ging und die Tabletten zur Toilette hinunterspülte. Ich stand in der Tür und konnte es einfach nicht glauben, daß er meine Medikamente wegwarf. Er warf die leeren Behälter in den Abfallkorb und lehnte sich gegen das Waschbecken. »Gib dir doch noch eine Chance«, sagte er. Er schob mich aus der Tür und holte seine Staffelei aus dem Wohnzimmer; an der Vordertür blieb er stehen und rief: »Also los, an den Strand. Und heute wird nicht mehr gekniffen.« Mir noch eine Chance geben. Ich band mir die Schuhe und griff nach meiner Tasche und spazierte hinter ihm drein. Ganz hinten auf der Zunge spürte ich meine panische Angst. Bei der Aussicht, ohne Medikamente zu funktionieren, wurde mir ganz mulmig.
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* An den Nachmittagen lag ich dann unter dem Schirm und sah Marshall zu, wie er vor sich hinpfeifend Touristen porträtierte. Einige von ihnen sahen uns komisch an; ich vermute, sie fragten sich, wie wir wohl zueinander stehen mochten. Ich saß da und beobachtete, wie seine Augen zwischen den Modellen und dem Blatt auf der Staffelei hin- und herschossen; seine Hände waren so groß, daß die Buntstifte darin winzig aussahen. Aber ganz gleich, wie sehr er sich auf seine Zeichnerei zu konzentrieren schien, hatte ich doch das Gefühl, daß ihm nicht das geringste um uns herum entging und daß er im Bruchteil einer Sekunde wüßte, wenn etwas nicht stimmte und irgendeine Art von Gefahr im Verzug war. Ich war noch immer nervös, wenn ich mich morgens an seiner Seite auf den Weg hinunter zum Strand machte, in Richtung der Surferbude, aber ich war ihm nicht von der Seite gewichen an jenem Morgen, als er mein Pillen weggeworfen hatte, und hatte gekämpft, bis mir schier die Lunge explodieren wollte; und dann, mit einemmal, hatte ich wieder mühelos geatmet und die vollen sechs Kilometer geschafft. Ich begann mich in seiner Obhut sicher zu fühlen. * Ich versuchte eben einzuschlafen, als er den Strand langgesprungen kam, eine Papiertüte in der einen Hand, eine Zeitung in der anderen. Ich schaffte es fast, nickte an manchen Nachmittagen sogar tatsächlich ein. Das Rauschen der kleinen Wellen des Golfs und der Lärm der Kinder, die über den Sand riefen, machten es mir fast einfach, die Augen zu schließen. Er setzte sich in seinen Leinwandstuhl und ließ die Zeitung 365
neben mein Handtuch fallen, deutete dabei auf einen kleinen Artikel fast am unteren Rand der Seite. Man hatte Dick Foxwell in Austin festgenommen. Sie hatten ihn wegen Kautionsflucht am Wickel; unter dem Vordersitz seines Caddys hatte man eine Walther PPK gefunden. Man hielt ihn fest und verweigerte ihm eine Kaution. Es sah ganz danach aus, als würde man ihn wegen des Mordes an dem Bundesrichter unter Anklage stellen. Ich setzte mich hin und grub meine Füße in den herrlichen warmen Sand. Rund um uns saßen verstreut junge Pärchen, Teenager, aßen Popcorn oder schmierten einander Öl auf den Rücken. Auf dem Wasser wimmelte es nur so von Möchtegernsurfern, die verzweifelt nach einem Halt suchten, wenn einmal etwas Größeres als eine der üblichen mickrigen Golfwellen hereinkam. Unbeholfen stelzten Möwen über den Sand und pickten auf Muschelschalen ein, bis sie feststellten, daß es nichts zu essen war; dann flogen sie wieder davon. »Ich hab dir doch gesagt«, sagte Marshall. »Mit Roland ist nicht gut Kirschen essen.« Irgendwann während der Monate, die ich bei Marshall verbrachte, ging mir langsam aber sicher auf, daß ich noch lebte. Zum Teil lag es daran, daß mein Körper wieder kräftiger war, aber mehr noch an einer gewissen Unruhe, einem Gefühl, daß mir das Ding, das in meiner Brust schlug, völlig fremd war. Ich hatte das Gefühl, auf Abruf bereitzustehen, wußte aber nicht, wie lange ich dieses Unbehagen ertragen würde. Aber ich hatte eine Todesangst vor den Alternativen. Es war einfacher, mir unter Marshalls Fürsorge einzureden, ich könnte mich eines Tages wieder wie ein ganzer Mensch fühlen. Letzteres barg kein Risiko. Lange verlangte er von mir nichts weiter, als daß ich jeden Morgen mit ihm lief und sein Publikum abgab, während er seine Portraits zeichnete.
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* Ich hatte Spaghetti gemacht, nach Marshalls Rezept mit jeder Menge Pfeffer. Das Geschirr stand unordentlich auf dem Tisch herum. Ich hatte ihm während des Essens gesagt, daß ich daran dachte, mein Studium wiederaufzunehmen. »Da kann ich nur zustimmen«, sagte er. »Aber das kostet.« »Ich habe das früher auch schon hingekriegt«, sagte ich. »Mit einem Studienkredit und den Trinkgeldern, die man als Kellnerin kriegt.« »Was ist mit deiner Familie?« »Ich sehe sie nicht allzuoft. Eigentlich fast überhaupt nie.« Ich begann den Tisch abzuräumen. »Laß das mal für 'nen Augenblick stehen«, sagte er. »Ich denke, wir sollten uns mal unterhalten.« »Ich will nicht, daß ihnen was passiert, das ist alles. Ich mache mir Sorgen, daß sich jemand durch sie an mir rächen könnte.« Ich prüfte mit der Fingerspitze das Spülwasser, fand es zu heiß und ließ noch etwas kaltes Wasser in den Schaum laufen. Sein Stuhl kratzte über den Boden, und dann spürte ich seine Hände auf meinem Rücken. Er drehte mich um, so daß ich ihm ins Gesicht schaute, und nahm meine nassen Hände in die seinen. »Du kannst doch nicht den Rest deiner Tage so denken«, sagte er. »Foxwell sitzt. Kein Mensch ist mehr hinter dir her.« Ich war drauf und dran, ihm zu glauben. »Ich könnte jetzt jederzeit weg«, sagte ich. »Du hast wirklich eine Menge für mich getan, ich bin dir wirklich dankbar.« »Ich sage nicht, daß du gehen sollst«, sagte er. »Roland hat gesagt, ich soll mich um dich kümmern, und genau das versuche ich. Um die Wahrheit zu sagen, ich würde es jetzt so oder so tun, ob er mich nun darum gebeten hat oder nicht.« 367
»Ich schau mir mal die Unis an.« »Großartig, aber du solltest dich nicht so abkapseln. Du bist vierundzwanzig, um Himmels willen. Du solltest ausgehen, solltest dich amüsieren.« »Marshall«, sagte ich, »ich bin noch immer verheiratet.« »Ich habe hier in letzter Zeit keine Ehemänner gesehen«, sagte er. »Glaubst du vielleicht, du schuldest ihm den Rest deines Lebens? Geh aus. Amüsier dich. Wenn du nicht allein weg willst, dann geh ich eben mit. Den Two-Step hast du hoffentlich drauf?« Ich entwand meine Hände den seinen und drehte mich wieder der Spüle zu. Ich konnte mir auch nicht erklären, warum ich mich nicht von ihm angezogen fühlte. Weder von ihm noch von sonst jemandem. Und ich konnte das nun nicht mehr auf die Rezepte schieben. Es war nun schon zwei Monate her, seit Marshall sie ins Klo geschüttet hatte. Vielleicht hatte es mit Jim zu tun. Aber ich glaube, letztlich lief alles auf Gaines hinaus. Ich hatte das Gefühl, er habe mir meine Emotionen geraubt, meine Fähigkeit zu fühlen; es war, als hätte er mich in jener Nacht tatsächlich ermordet. »Ich versuche nicht dich zu drängen«, sagte Marshall leise. »Ich meine nur, du solltest ein bißchen unter die Leute gehen. Du solltest wirklich deine Familie besuchen. Es ist Sommer. Vielleicht könntest du mit deinen Leuten in den Urlaub fahren oder was.« »Das letzte Mal, daß wir mit der Familie im Urlaub waren, war ich noch in der sechsten Klasse«, sagte ich. »Wir sind nach San Antonio gefahren.« »Ah ja«, sagte er. »Jeder junge Texaner muß sich das Alamo anschauen.« »Es war ganz spaßig. Wir fuhren auf den Parkplatz und blieben davor stehen. Michelle, meine Schwester, war nicht die 368
Bohne beeindruckt, sie meinte, das Ding würde jeden Augenblick in sich zusammenfallen. Mein Vater machte sich daran, die Geschichte des Krieges mit Mexiko abzuspulen, und Valerie, die damals erst so um die fünf war, hörte ihm total gebannt zu. Ihre Augen wurden immer größer und größer, während mein Vater vor sich hinredete. Davy Crockett, Jim Bowie, die Tausende von mexikanischen Soldaten. Und während sie so zuhörte, wurde sie auf dem Rücksitz immer kleiner. Zum Schluß erzählte er noch, wie die Texaner alle umgekommen sind und wie Santa Anna gewütet hat, und dann meint er: ›Okay, wollen wir's uns mal anschauen.‹ Zu diesem Zeitpunkt saß Valerie schon auf dem Boden vor dem Rücksitz. Ganz langsam kam sie wieder hoch und spähte über die Lehne, und dann sah sie zum Alamo hinüber, ganz mißtrauisch, und sagte: ›Wenn die da Krieg machen, warte ich lieber im Auto.‹« Marshall kollerte leise. »Ich wette, sie würden dich gern sehen.« »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ich glaube, meine Schwestern haben das Gefühl, ich hätte sie im Stich gelassen.« Ich warf ihm das Geschirrtuch zu. »Was ist, willst du mir helfen?« Er räumte eben den letzten Teller weg, als das Telefon läutete. Er sagte ja und hörte eine Minute lang zu. Sein Gesicht veränderte sich. Er versteifte sich und schlug sich immer wieder mit dem Geschirrtuch gegen den Schenkel. »Alles klar«, sagte er. »Ich sag's ihr.« Er blähte seinen mächtigen Brustkorb auf und hielt ihn einen Augenblick so; fast wären ihm die Knöpfe von seinem Jeanshemd gesprungen. Einen Augenblick starrte er auf den Hörer, dann legte er auf. »Es war Roland«, sagte er. »Dein Partner kommt morgen vormittag vorbei, um dich abzuholen.« Er stellte einen Fuß auf einen der Stühle und stützte sich aufs Knie. »Das FBI will mit dir reden.« 369
Auf der Stelle hatte ich das Gefühl, den Kopf voller Termiten zu haben. Sie summten. Nagten. Wimmelten. »Wegen was denn?« fragte ich. »Wozu?« »Wegen den Drogenverhaftungen«, sagte er und setzte sich. »Nur keine Panik«, fügte er hinzu, »die leisten sich dauernd solche Stückchen.« Ich saß auf der Ufermauer, meine Reisetasche zu meinen Füßen, und beobachtete die Möwen, die sich von den Böen treiben ließen. Ich wartete auf Jim. Pünktlich zum vereinbarten Zeitpunkt hielt er vor mir und beugte sich über den Sitz, um den Türknopf hochzuziehen. Ich hatte ganz vergessen oder wenigstens nicht daran gedacht, was für grimmige Augen er hatte, wie kalt dieses Blaugrau war. »Siehst gut aus«, sagte er. »Knusprig braun und so.« »Danke«, sagte ich. »Wie geht's deinem Bein?« »Ganz gut. Ich bin Rad gefahren, um es zu kräftigen. Tut aber immer noch ziemlich weh.« »Tut mir leid.« Er fuhr los, machte das Radio an und begann dann nervös mit den Fingern gegen das Lenkrad zu trommeln, ohne sich darum zu kümmern, ob er im Rhythmus war oder nicht. Schweigend fuhren wir dahin, bis wir die nördliche 37er erreichten. Eine Zeitlang versuchte ich, das Summen in meinem Kopf zu beruhigen, aber ich hätte mir die Mühe sparen können. »Wir brauchen einen Anwalt«, sagte er schließlich. »Ich habe mit Nettle darüber geredet.« »Warum um alles in der Welt?« »Er steckt genauso tief in dieser Geschichte drin wie wir, tiefer noch, da bin ich sicher. Er meinte, die Stadt würde uns einen stellen. Unentgeltlich.« »Vielleicht sollten wir Sommier anrufen.« »Als ob wir uns den leisten könnten. Außerdem würde uns der 370
nicht mit 'ner langen Stange anfassen. Der, den sie für uns aufgetrieben haben, ist angeblich der beste von ganz San Antonio.« »Warum San Antonio?« »Hol's der Teufel, die Bundespolizei hat die Finger im Spiel, Baby. Frag die mal, warum sie was tun.« »Ich meine es ernst.« »Man will alles fein säuberlich aus Beaumont raushalten, wenigstens für 'ne Weile.« »Ich verstehe immer nur Bahnhof. Was geht hier eigentlich vor?« »Dodd hat mich am Freitag angerufen und mir gesagt, daß sich das FBI melden würde. Er sagte, sie wüßten alles. Kaum hatte ich aufgelegt, klingelte es auch schon wieder. Das waren sie dann auch schon, sie wollten einen Termin vereinbaren. Dann rief Nettle an und gab mir den Namen des Anwalts.« »Was ist passiert? Hat er gesagt, was die wissen?« »Er sagte, Gaines' Anwälte hätten eine Klage auf Überprüfung seiner Haftstrafe durchgeboxt. Bei der Anhörung stellten sie Dodd in den Zeugenstand, und der quasselte sich geschlagene anderthalb Stunden das Maul fusselig. Er hat erzählt, wie du dahergekommen bist und die Ermittlungen stoppen wolltest und daß ich an der Nadel hing. Eben alles. Er hat denen alles erzählt. Jetzt weiß es jeder.« »Warum?« fragte ich. »Hat ihn auf einmal sein Gewissen als guter Christ überfallen? Ich meine, als ich das erste Mal zu ihm gegangen bin, habe ich von so einer Haltung jedenfalls nichts gemerkt.« »Er hatte es in seiner Gesäßtasche, Baby, gleich neben Lohntüte und Dienstmarke.« Ich glaubte es einfach nicht. Ich konnte es nicht glauben. Drei Jahre waren vergangen, und mit einemmal kamen die vom Bund daher. Ich versuchte eben, endlich wieder auf die Uni zu gehen. 371
Ich rauchte keinen Stoff mehr, kaum daß ich mal ein Bier trank. Das erste Mal in meinem Leben, daß ich die Dinge langsam, aber sicher in den Griff bekam, da rückten die Bundesknminaler an. Ermittelten in Sachen Ermittlungen. Aber Gaines war doch nicht einmal wegen Kokain verknackt worden, man hatte ihn eingelocht, weil er versucht hatte, uns umzubringen. Das war doch ganz einfach. Und das Übrige auch, wenn ich mir gestattet hätte, darüber nachzudenken. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich Jim den Kopf habe nach hinten legen und die schlacksige Haltung eines Cowboyphilosophen einnehmen sehen, den Blick in den Himmel gerichtet. Es war von Anfang an sein Lieblingsspruch gewesen: Was rundrumgeht, kommt wieder. »Wollen die damit sagen, daß am Prozeß wegen der Schießerei was faul war?« Ich nahm mir eine seiner Zigaretten und haute auf den Anzünder. »Behaupten sie das, ja?« Er ließ die Hände auf dem Lenkrad nach unten rutschen und bewegte den Kopf seitwärts nach hinten, bis er mir geradewegs in die Augen schaute, dann schüttelte er den Kopf. »Dodd hat zugegeben, daß du versucht hast, die Ermittlungen abzuwürgen und daß ich an der Nadel hing und daß Nettle dich dran gehindert hat. Das ist alles, was ich weiß.« »Und jetzt stellt uns Nettle einen Anwalt.« »Technisch gesehen die Stadt. Aber du kannst drauf wetten, daß er dahintersteckt. Scheiße, der hat doch bloß die Möglichkeit, die Wahrheit zu sagen oder auf Nummer Sicher zu gehen. Was glaubst du wohl, wird er da tun?« »Und wie sollen wir uns verhalten?« »Wie immer, Baby. Leugnen, leugnen und noch mal leugnen.« Ich sah über die große gelbe Motorhaube des Blazers nach vorne, während die Umgebung blau und grün an uns vorbeiwischte. 372
* Wir waren etwa eine Stunde von Corpus Christi weg, als Jim mich bat, an seiner Stelle weiterzufahren. »Tut mir leid«, sagte er. »Aber die Krämpfe sind wirklich schlimm.« »Du hättest nicht den ganzen Weg hier runter zu fahren brauchen«, sagte ich. »Ich hätte den Bus nehmen können.« »Ich wollte eben«, sagte er. Er fuhr an den Rand und ging um den Wagen herum in den Straßengraben. Alle paar Schritte blieb er stehen, bückte sich und massierte seinen Schenkel. Ich krabbelte über den Schalthebel und stellte mir den Sitz ein, während schwere Laster an uns vorbeibrummten; die Windstöße, die hinter ihnen dreinkamen, knallten gegen den Blazer und ließen ihn erzittern. Ich versuchte Jim nicht zu beachten, versuchte mich nicht für ihn verantwortlich zu fühlen. Kaum daß wir wieder unterwegs waren, war er auch schon eingeschlafen. * Als wir in San Antonio ankamen, sagte er, er wolle wieder selbst fahren. Überall schien gebaut zu werden, es gab eine Umleitung nach der anderen. Der dichte Verkehr ließ uns nur langsam vorwärtskommen, wir kamen an Dutzenden von leuchtend orangefarbenen Schildern vorbei, auf denen in schwarzen Lettern Anweisungen zu lesen waren. Als wir auf eine Unterführung zukamen, sah ich etwa in dreieinhalb Meter Höhe quer über der Straße ein schweres, straff gespanntes Seil, an dem sechs bis acht schwarz-weiße Dosen hingen. Auf einem Schild zwischen den 373
baumelnden Dosen war zu lesen: Niedere Durchfahrt: STOSSEN SIE HIER AN, STOSSEN SIE AN DIE BRÜCKE. Die betonierte Unterseite der Brücke war voller Risse und Schrammen. Offensichtlich hatten mehr als nur ein paar Lkw-Fahrer die Warnung ignoriert und sich das Dach von ihren Zügen gepellt. »Schau mal gleich hinter dem Hügel nach rechts«, sagte Jim. Mitten auf einigen Hektar Weideland stand ein großer, quadratischer Backsteinbau, an den sich, fast so groß wie das Gebäude selbst, ein riesiger Gitterkäfig anschloß. Der Käfig war voller Affen. Auf dem Schild vor dem Gebäude stand: SÜDWESTSTIFTUNG FÜR BIOMEDIZINISCHE FORSCHUNG. Mit eingezogenen Schultern hockten sie auf Bäumen, Metallgeländern, auf dem Boden, in kleinen Gruppen oder allein. Einige schaukelten an metallenen Ringen, die von der Decke des Käfigs hingen, und schwangen sich mühelos und anmutig durch die Luft. »Es ist irgend so 'ne Art Primatenforschungszentrum«, sagte Jim. »Wir sollten mal hingehen. Hast du davon gelesen, daß die Forscher eine Horde Affen in Käfige geschnallt und ihnen Kanülen in die Vene gesteckt haben?« »Wann ist das gewesen?« »Weiß ich auch nicht, vor einiger Zeit. Die Affen konnten zwei Knöpfe drücken, mit dem einen bekamen sie Bananenscheibchen, mit dem anderen einen Schuß Kokain, direkt in die Vene.« »Du brauchst es mir nicht zu erzählen.« »Nur einer hat überlebt. Die anderen drückten ihren Zauberknopf so lange, bis sie Herzanfälle kriegten oder verhungerten.« »Angeblich sind wir doch eine höhere Form von Leben.« »Wer sagt das?« »Und was tust du, drückst du immer noch fleißig auf deinen Knopf.« »Schon lange nicht mehr. Nicht einmal, seit du weg bist. Nicht 374
ein einziges Mal.« »Das funktioniert wohl immer. Ich brauche bloß zu gehen oder damit zu drohen, und mit einem Schlag bist du wieder in Ordnung. Scheint wohl das beste für uns beide zu sein.« »Nur, daß ich dich liebe.« Ich glaube, zu diesem Zeitpunkt stimmte das wohl tatsächlich. Jedenfalls möchte ich es glauben; daß er mich irgendwann wirklich geliebt hat. Ich versuche diesen Moment genau zu bestimmen, den Augenblick, in dem er erkannt haben könnte, daß das, was ich die ganze Zeit über von ihm verlangt hatte, so was von schlicht war, daß man es gar nicht sah, weil es unter allem möglichen Zierrat begraben war wie eine Fichte, die man zu Weihnachten aus der Erde reißt und mit glänzendem Plastikkram behängt in ein Fenster stellt. Jedesmal, wenn ich nach diesem Augenblick suche, komme ich auf den Anschlag. Ich glaube, das war wirklich das erste Mal in seinem Leben, daß er tatsächlich jemanden gebraucht hatte, und ich war zufällig diejenige, die zur Hand war. Ich hatte die Blutung gestoppt, als ihm das Leben aus dem Körper rann, und da hatte er schließlich und endlich kapiert, daß ich ihn liebte. Aber er hatte so lange dagegen angekämpft, sogar noch nachdem es passiert war, daß keiner von uns beiden eine Ahnung hatte, wie wir dagegen ankommen sollten. Ich konnte ihm nicht antworten, und er sagte nichts mehr, bis wir auf den Parkplatz eines großen Bürohochhauses aus Glas und Messing fuhren, die Adresse, die Nettle ihm gegeben hatte. Dort stellte er den Motor ab, saß da und starrte aus dem Fenster. »Ich habe mich jetzt im Griff«, sagte er schließlich. »Ein für allemal. Und wenn ich auf dieser Welt was weiß, dann, daß ich dich liebe.« Ich saß da und sah auf die glänzenden Türen des Hochhauses. Die Türklinke des Wagens lag kalt in meiner Hand. »Ein hübsches Gebäude«, sagte ich. »Ganz neu und so.« 375
»Dann wollen wir mal.« Ich spürte, wie eine unglaubliche Lethargie meinen Körper in den Sitz drückte, als hätte sich mit einemmal die Schwerkraft verdoppelt. Alles tat mir weh. Einfach alles. Ich dachte daran, Benzin zu trinken und ein brennendes Streichholz hinterherzuwerfen. Würde womöglich guttun. Ein kalter Luftzug traf mich, als Jim die Tür öffnete und seinen Fuß auf den Beton setzte. Halb draußen wandte er sich um und sah mich an. »Was ist?« »Ich glaub, wenn die da Krieg machen«, sagte ich, »dann warte ich lieber im Auto.«
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Kapitel Dreiundzwanzig San Antonios fähigster Anwalt war Manny Gonzales, ein hochgewachsener, kräftiger Amerikaner mexikanischer Abstammung mit auffallend aztekischen Zügen. Die hohen Backenknochen, die pfeilgerade Nase, in diesem Mann hatten sie die Jahrhunderte überdauert. Dazu das gewellte braune Haar, die dunkelbraunen, mandelförmigen Augen und die goldene, fast bartlose Haut – ein wirklich schöner Mann. Aber so schön er auch sein mochte, unser Fall interessierte ihn nicht die Bohne. Als er sich vorstellte, umschloß seine weiche, warme Hand die meine, die eiskalt war, und er sagte: »Sie brauchen nicht nervös zu sein. Gehen Sie einfach hinein und erzählen die Geschichte von Ihrer Warte aus.« »Weswegen genau ermittelt man eigentlich gegen uns?« wollte Jim wissen. »Sie denken an eine Anklage wegen Verstoßes gegen den Paragraphen 241.« »Können Sie uns das übersetzen?« »Bürgerrechte.« Jim sank in einen Ledersessel neben dem Schreibtisch. »Man meint, Sie hätten da womöglich jemanden unrechtmäßig ins Gefängnis gebracht.« »Wieviel steht darauf?« fragte ich. Ich konnte meine eigene Frage nicht glauben. »Bis zu zehn Jahren und eine Geldstrafe von zehntausend Dollar.« »Dasselbe wie dafür, mal ordentlich hinzulangen«, sagte Jim. 377
»Oder eine Wahlurne zu manipulieren«, sagte Gonzales. »Der Paragraph ist ziemlich breit angelegt.« »Alles, was die machen, ist breit angelegt«, sagte Jim kopfschüttelnd. »Also warum genau sind wir hier?« »Sie haben doch nichts Illegales getan, liege ich da richtig?« Gonzales faltete die Hände auf der Schreibtischplatte. Jim nickte ihm kurz zu. »Dann gehen Sie einfach rein und reden mit ihnen. Sie haben nichts zu verbergen.« »Mal angenommen«, sagte Jim, »rein hypothetisch natürlich, wir hätten uns hier und da eine kleine Taktlosigkeit zuschulden kommen lassen. Was dann?« »Die Ermittlungen befinden sich derzeit noch im Vorfeld«, sagte Gonzales. »Die Stadt Beaumont hat mich nur deshalb engagiert, Sie hier zu vertreten, weil das FBI nur im Beisein eines Rechtsbeistandes mit Ihnen sprechen will. Ich habe mich ausführlich mit Ihrem ehemaligen Boß unterhalten und bin der Meinung, Sie sollten das alles mit ihm besprechen. Es ist eine Sache eines Anwalts aus Beaumont, Ihre Verteidigungsstrategie zu erarbeiten.« Ich setzte mich neben Jim. »Ich glaube, sie würden gern getrennt mit Ihnen sprechen«, sagte er. Dann sah er mich an: »Sie wollen zuerst Sie sehen.« Ich warf Jim einen Blick zu, und er zuckte die Achseln. »Zeig ihnen, wo der Hammer hängt«, sagte er leise. Es war fast wie ein Flüstern. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, als ich durch die Tür ging, oder ob ich überhaupt geistesgegenwärtig genug war, um etwas zu erwarten. Ich drehte den verschnörkelten Türknopf und atmete tief durch, dann ging ich hinein. Das erste, was ich sah, war ein Tonbandgerät auf einem langen Mahagonitisch mitten im Raum. Es sprang mir ins Auge wie 378
eine plötzliche Nahaufnahme in einem Film, und ich mußte mich zwingen, mich davor niederzusetzen. Ich hatte ein hohles Rauschen in den Ohren, genauso wie damals, als ich zum erstenmal wirklich Kokain gesnieft hatte. Die Bundeskriminalpolizei. Das FBI. Mit drei Jahren Verspätung. Ein aufeinander eingespieltes Gespann Bundeskriminaler erwartete mich. Der eine groß, der andere klein. Der Kleine hatte angegrautes bräunliches Haar, das ihm in büscheligen, schrägen Fransen bis in die Mitte der Stirn reichte; zwischen ihnen und den buschigen graumelierten Augenbrauen lag ein Streifen wächserner Haut. Er trug einen grauen Anzug und eine rote Krawatte. Die Nase unter den kleinen braunen Augen war von der Sonne gerötet, und er rauchte einen langen, dünnen dunkelbraunen Zigarillo. Der Lange trug ein weißes Freizeithemd mit Schulterklappen; in der mit einem Plastikeinsatz ausgelegten Brusttasche hatte er ein Sortiment Filzstifte. Er hatte haufenweise dichtes schwarzes Haaar, und seine Frisur erinnerte stark an die fünfziger Jahre; über den großen, langsamen grünen Augen hatte er dicke schwarze Wimpern. Seine Lippen waren so dünn, daß er praktisch überhaupt keine hatte. Sobald ich mich setzte, sah der Kleine den Langen an und sagte: »Na was ist, Kinderschreck, fangen wir an?« Der Lange zückte ein Mäppchen mit seiner Dienstmarke und hielt es mir einen Augenblick unter die Nase, dann ließ er es wieder in sein Jackett gleiten. »Das hier ist Agent Maygrett«, sagte er. »Ich bin Agent McPhearson.« Maygrett verlagerte sein Gewicht nach vorn und schnippte den Zigarillo nachlässig in Richtung des Aschenbechers. McPhearson drückte einen Knopf auf dem Tonbandgerät und sah zu, wie sich die beiden Plastikspulen zu drehen begannen. Wie meine Eingeweide; auch sie wanden sich, taumelten, drehten sich im Kreis. 379
Übelkeit schwappte über mich hinweg wie eine schwindelerregende Woge. Ich nahm ein Glas vom Tisch und goß mir etwas Wasser ein. »4. September 1981,15 Uhr 40«, sagte er, mehr zum Tonbandgerät als zu mir. »Einvernahme der Zeugin Kristen Ann Cates, durchgeführt von den Sonderagenten Walter McPhearson und Thomas Maygrett im Büro von Berg, Lonner, Hoffman, Rosenthal, Wulf und Gonzales in San Antonio, Texas, betreffs ihrer Beteiligung an den verdeckten Ermittlungen der Stadtpolizei Beaumont in einem Rauschgiftfall im Jahre 1978.« Er sah mich an. »Trifft das zu?« »Ja, Sir«, sagte ich. »Nun, da Sie ja selbst einmal Polizeibeamtin waren, gehe ich davon aus, daß Sie sich über Ihre Rechte im klaren sind.« Wie oft wohl hatte ich sie selbst verlesen? Jetzt war ich an der Reihe: Ich hatte das Recht zu schweigen. Und das Recht, auf der Stelle als schuldig betrachtet zu werden, falls ich es tat. Nur Leute, die etwas zu verstecken haben, weigern sich zu kooperieren. Wir hatten es hier mit dem FBI zu tun, mit dem Erbe Hoovers: Geheimakten über Gott weiß wen alles, von Martin Luther King bis hin zum letzten Möchtegernradikalen der sechziger Jahre, der sich irgendwann mal ein Stirnband übergezogen und von der Parkbank »Scheiß auf das Establishment« gebrüllt hat. Ich hatte keine Ahnung, wieviel sie wußten. »Ja, Sir«, sagte ich. »Ich kenne meine Rechte.« »Und Sie sind freiwillig hier.« »Ja, Sir.« McPhearson lehnte sich zurück, und Maygrett beugte sich vor. »Haben Sie während Ihrer Arbeit im Untergrund für die Stadtpolizei Beaumont im Winter und Frühjahr 1978 selbst Drogen genommen?« Ich kam mir vor wie in den Startlöchern, tief über den weißen 380
Kreidestrich gebeugt, so aufgekratzt, so voll da, daß ich beim Schuß entweder einen neuen Rekord aufstellte oder einfach mit dem Gesicht in der Aschenbahn landete, weil ich ohnmächtig geworden war. »Nein, Sir«, sagte ich. »Ich habe, wie aus meinen Bewerbungsunterlagen bei der Stadtpolizei hervorgeht, an der High School drei- oder viermal Marihuana geraucht. Weiter geht mein Drogenkonsum nicht.« Von da an ging es bergab. * »Himmel, Arsch und Wolkenbruch!»brüllte Jim. Er stampfte an der Kreuzung auf die Bremse und schlug gegen das Armaturenbrett, daß es nur so klatschte. »Scheißding!« Der Zorn in seiner Stimme schien geradezu von der Windschutzscheibe zurückzuprallen. »Beruhig dich«, sagte ich. »Ist doch nur eine rote Ampel.« »Die rösten uns doch auf kleiner Flamme!« Er kochte vor Wut. »Und dahinter steckt nur Nettle. Diese Drecksau läßt uns fallen wie heiße Kartoffeln.« »Wie sollte er«, sagte ich. »Kann er doch gar nicht. Der Befehl stammt doch von ihm.« »Diese Scheißbundesbullen! Die haben einfach mit jedem geredet. Ist es dir nicht auch so vorgekommen, als wüßten die aber auch alles, was in jedem einzelnen gottverdammten Moment der ganzen Ermittlung passiert ist? Hast du nicht auch diesen Eindruck gehabt?« »Jedenfalls wußten sie, was sie fragen mußten«, sagte ich. »Die wußten ganz genau, was sie fragen mußten.« »In Beaumont reden sich derzeit so viele Leute das Maul fusselig, ich sag dir, du könntest deine Wäsche raushängen, und in 381
drei Minuten war sie knochentrocken, soviel heiße Luft produzieren die dort.« Es wurde grün, und Jim schob mit einem Knirschen den ersten Gang rein und ließ die Kupplung schnalzen, so daß hinter dem Blazer kleine schwarze Streifen auf dem Asphalt zurückblieben. »Das ist einfach nicht fair«, sagte er. »Es ist verdammt noch mal nicht fair. Ich laß mich doch für die Drecksau nicht aufhängen.« »Was willst du machen? Sollen wir denen vielleicht die Wahrheit sagen? Das wäre doch ein gefundenes Fressen für die.« »Sie wissen's ohnehin«, sagte Jim. »Sie wissen es schon seit Jahren. Sie können es sich bloß nicht leisten zuzuhören. Du kannst Gift darauf nehmen, daß die Bundesbullen am liebsten zusammen mit den Stadtpolypen auch gleich die vom Staat abschießen würden. Wenn die den Hiesigen ordentlich Feuer unterm Arsch machen, schaffen sie sich damit nämlich selber 'ne Menge Druck vom Hals.« »Und überlassen die ganze Geschichte der Bundesdrogenbehörde? Als ob die sauber wären?« »Über die kann ich dir so einiges erzählen«, sagte er. »Wer, glaubst du, hat mich ausgebildet?« Er stieß den Zigarettenanzünder ins Armaturenbrett und starrte funkelnd vor sich hin. »Das erste Mal, als ich in den Untergrund gegangen bin, das war für die Drogenbehörde. Die Drecksäcke haben mir doch alles beigebracht, was ich weiß. Und ich«, fügte er hinzu und sah mich dabei an, »hab's dir beigebracht.« »Ich hab mal einen von denen kennengelernt«, sagte ich. »Zu Hause bei Rob. Den ganzen Nachmittag über schob er einen nach dem anderen ins Bad. Es waren drei oder vier Jungs vom Staat dabei, und einem lief die Nase ärger als dem anderen, das kannst du mir glauben. Als ich Rob schließlich allein erwischte und ihn fragte, warum ich nichts abkriegte, weißt du, was er mir 382
da sagt? Der Bundesbulle würde uns einheimischen Bullen nicht über den Weg trauen. Ich hab geglaubt, mich tritt ein Pferd, so wie die Arschgeige durch die Gegend stolzierte, wie eine Kreuzung aus Waylon Jennings und einem teuren Gigolo. Riesiger schwarzer Stetson, leuchtend rotes Rodeohemd, dazu einen langen braunen Bart. Weißt du, was er für Schuhe anhatte? Indianermokassins mit Quasten! Ich weiß wirklich nicht, wie der Typ irgendwo Stoff hat kaufen können. Muß wohl jemand Mitleid mit ihm gehabt haben.« »Wo war ich da?« »Keine Ahnung«, sagte ich. »Es war während unserer Ermittlungen. Wir waren damals alle beide schon ziemlich am Arsch. Aber du hättest es nicht geglaubt: Kommt dieser Yankeedrecksack von der Drogenbehörde hier runter und versucht einen auf Stadtcowboy zu machen. Sogar den Dialekt hatte er sich zugelegt. Als ich ging, habe ich ihm noch ein paar Aussprachetips gegeben.« »Tja, bloß daß wir's hier nicht mit der Drogenbehörde zu tun haben, sondern mit dem FBI, mit irgendwelchen Buchhaltern, die unbedingt Räuber und Gendarm spielen wollen. Die Jungs erledigen so was mit Papierkrieg, verstehst du, und jetzt haben sie uns in ihren Akten. Du kannst Gift drauf nehmen, daß die jetzt schon auf dem Weg zurück nach Beaumont sind, um damit zur nächsten Anklagejury zu laufen, damit die uns zwei Hübschen vor Gericht stellt. Weißt du, was passiert, wenn die uns den Prozeß machen? Das Cleverste, was wir tun können, ist, uns auf einen Kuhhandel mit der Staatsanwaltschaft einzulassen und beten, daß wir den Richter an einem guten Tag erwischen.« Ich mußte an den Abend denken, als wir die ganze Bagage abgegriffen hatten. Als Jim vor dem Büro stand und Nixon imitierte: Fall mir jetzt bloß nicht um. Ich spürte, wie sich mir der Magen umdrehte und mir die Hitze zu beiden Seiten des Halses 383
in den Kopf schoß, um sich dann langsam wieder zu senken, als würde man mir etwas Heißes über die Haut gießen. Ich versuchte die Worte, die mir durch den Kopf klapperten, auf die Reihe zu kriegen. »Können wir flitzen.« »Flitzen?« sagte Jim. »Bist du bereit, einfach so zu verschwinden? Dich den Rest deiner Tage zu fragen, wann sie dich endlich kassieren? Mann, soviel Scheißnarben wie ich am Körper habe, die hätten mich doch in Null Komma nichts gefunden. Wir hätten irgendeinen gottverdammten Kopfgeldjäger auf den Fersen, der sich bloß nach einem Typ mit 'nem kaputten linken Arm umzusehen braucht. Eine Narbe wie die kriegst du nicht alle Tage zu sehen.« Er fuchtelte mit seinem Arm vor mir herum, wobei er seine Hand nach oben drehte, damit ich seinen Unterarm sehen konnte. Er war in den letzten Jahren ganz weiß geworden, weiß und aufgedunsen, aber die winzigen ovalen Flecken von den Dampfdüsen des Bügeleisens waren immer noch zu sehen. Und dann die anderen Narben unter seiner Kleidung. All die Stiche am Arm, wo man genäht hatte. Das Stück Metall, wo früher mal der Knochen war. Der faustgroße Krater auf der Vorderseite seines Oberschenkels. »Schau mal«, sagte er, »eine Bewährung hat doch wohl jeder gut. Wir können es schaffen. Und wenn hier jemand dran glauben muß, dann ich. Die stecken dich schon nicht ins Loch. Scheiße, du hast nur versucht, es richtig zu machen. Nettle hat dich gezwungen. Du hast nichts zu befürchten.« »Klar doch«, sagte ich. »Überhaupt nichts. Ich spring nur mal eben bei den Bundeskriminalern vorbei und sag ihnen, daß es mir leid tut, daß ich mich zugedröhnt habe und nicht mehr klar denken konnte. Viel Glück bei Ihrem Fall, Herr Ankläger, und noch 'n schönen Nachmittag auch.« 384
»Du solltest mit dem Quatsch lieber aufhören«, sagte er. »Konzentrier dich lieber darauf, deinen Hals aus der Schlinge zu ziehen.« »He, Raynor«, sagte ich. »Warum sagst du mir nicht, was du vorschlägst. Ich bin ja wirklich für alles offen, aber ich weiß auch noch ganz gut, daß die Wahrheit gar nicht so bombig ankam, als ich sie das letzte Mal erzählt habe.« Seine Hände verkrampften sich um das Steuer, während er sich in die Lehne drückte. »Erster Schritt«, sagte er, »häng dich an die Strippe und sag den Leuten vom Bund, daß wir gern eine Unterredung hätten.« * Das FBI hatte seine Agenten zusammen mit anderen Bundesbehörden im Jack-Brooks-Haus, einem neugotischen Kalksteinkasten gleich neben dem Sears-Gebäude und genau gegenüber dem roten Backsteinbau der alten Baptistenkirche untergebracht. Maygrett führte uns an seinen chaotischen Schreibtisch in einer fensterlosen Ecke eines Büros auf der Rückseite des Gebäudes. »Erstmal«, sagte er, »müssen wir einen Anwalt für Sie auftreiben. Noch bevor wir uns unterhalten, noch bevor wir überhaupt irgendwas tun.« »Zwei Drittel der Anwälte hier in der Stadt hatten damals mit den Fällen zu tun«, sagte Jim. Ein Bein aufs andere gelegt, saß er da, sein linker Fuß tappte nervös auf den Boden. »Wer bleibt da noch übrig.« »Ich würde Ihnen jemand empfehlen, der Erfahrung mit Bundesgerichten hat.« Maygretts Stuhl stöhnte, als er sich vorbeugte und die Gelben Seiten vom Boden fischte. *
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Der ehrenwerte Melvin Francis Hardwick, angesehenes Mitglied des verschworenen Zirkels der Beaumonter Anwälte, würde sein Bestes tun, damit Jim mit Bewährung davonkam. Der Ehrenwerte Mr. Soundso. Mr. Soundso, Esquire. Texanische Anwälte können es sich aussuchen, wie sie angesprochen werden wollen. Frank gefiel das Ehrenwert. Das Wort Esquire, so meinte er, rieche ihm zu sehr nach Feudalismus. Aber wie auch immer, Frank war unser Anwalt: dreifünf für mich – und er würde sich auf keinen Fall auf eine Schuldigerklärung einlassen, wenn auch nur im entferntesten die Gefahr bestünde, daß ich Knast schieben müßte. Siebenfünf für Jim. Wir würden unser Konto plündern, auf dem noch etwas von Jims Ruhestandsgeld lag, den Rest würde Frank uns stunden. Nachdem wir unterschrieben hatten, gab er die Papiere seiner Sekretärin und fuhr sich mit der Hand durch die paar Haarsträhnen, die auf seinem Schädel noch sprossen. Dann sah er an seiner langen, schmalen Nase entlang nach unten und trat einen Schritt von seinem riesigen Schreibtisch zurück. »Erzählen Sie den Leuten alles, was Sie wissen.« Jim sperrte den Mund auf. »Sollten wir darüber nicht erst reden?« fragte er. »Sie haben's doch getan, oder nicht?« »Wir wissen ja nicht mal, was genau Dodd überhaupt gesagt hat.« »Das spielt auch keine Rolle. Sie haben nur einen Versuch. Arbeiten Sie mit denen zusammen, so gut Sie nur können.« Draußen in Franks Wartezimmer hörte ich Maygretts Piepser. Ich wollte nicht plaudern. Aus Angst. Und weil ich mich schämte. Aber als ich an die Ermittlungen dachte, an das, was da abgelaufen war, an das, wobei ich da mitgeholfen hatte… Nichts, was da in Beaumont passiert ist, hatte irgendwas mit Gerechtigkeit zu tun gehabt. Vielleicht hatten wir jetzt eine 386
Chance, das wiedergutzumachen. Vielleicht war das die Chance, schließlich und endlich in den Zeugenstand zu treten und tatsächlich die Wahrheit zu sagen, ohne Rücksicht auf Verluste; einfach herzugehen und die ganze häßliche Schweinerei ans Tageslicht zu bringen. Sollte doch ein anderer entscheiden. Sollten die Nettle doch aus dem Verkehr ziehen. Soviel Selbstgerechtigkeit im Kopf zu haben tat mir richtig gut, als ich im Büro unseres Ehrenwerten Frank saß. Ehrenwerter Herr Anwalt. Mr. Anwalt, Esquire. Ich hätte unmöglich all die Male zählen können, in denen ich die Herren Anwälte auf den Korridoren vor den Gerichtssälen hatte flüstern hören, wenn sie ihren Kuhhandel um die Freiheit eines Menschen abschlossen. An der Wand hinter dem Schreibtisch des Ehrenwerten Frank, neben seinen Diplomen, hingen drei gerahmte Sprüche: OHNE GERECHTIGKEIT IST DER MUT NUR SCHWACH. SO ETWAS WIE EINEN KLEINEN FEIND GIBT ES NICHT. ENTWEDER WIR HALTEN ALLE ZUSAMMEN, ODER SIE HÄNGEN UNS ALLE GETRENNT. Dodd hatte geplaudert, und Gott allein wußte warum. Ich jedenfalls nicht. Um mit seinem Gewissen ins reine zu kommen? Weil ihn jemand dazu verleitet oder vielleicht gar darauf bestanden hatte? Die piepsige Stimme unseres Ehrenwerten Frank flatterte mir um die Ohren: »… das einzige, was Sie tun können«, sagte er. »Es ist nämlich so, meine zwei Hübschen: Der Zug der Straffreiheit verläßt den Bahnhof nur ein einziges Mal, und nur wer als erster aufspringt, darf mitfahren. Und Dodd steht auf der Lokomotive und darf die Pfeife bedienen.« Hätte ich einen anderen Ausweg gesehen, ich hätte ihn genommen. Aber dann hatte ich wieder Nettle im Visier, und ganz Amerika bettelte mich an abzudrücken. DIE VEREINIGTEN STAATEN VON AMERIKA GEGEN JAMES MICHAEL RAY387
NOR UND KRISTEN ANN CATES. Ein dreifaches Hoch auf das Sternenbanner. Angesichts deiner Banner erzittert die Tyrannei. * An einigen Tagen nahmen sie sich zuerst Jim vor, an anderen ging die Vormittagssitzung an mich. Das Holiday Inn in South Houston war nur einige Kilometer vom Haus meiner Eltern entfernt. Als ich während meiner High-School-Zeit und danach in Wild Bills Eisdiele in der Alameda Mall gearbeitet hatte, war ich tagtäglich daran vorbeigefahren. Jetzt stand ich sozusagen dort unter Hausarrest. Einsatzbesprechung nannten sie das Ganze. Wir sollten in Houston bleiben, bis sie mit allen ihren Fragen durch waren. Auf die Weise fielen weniger Sicherheitsrisiken an. Nicht einen Schritt durften wir ohne die FBI-Leute tun. Was darauf hinauslief, daß wir auch keinen Schritt taten, Punkt. Wenn ich nicht gerade in dem bauchigen braunen Sessel im Zimmer unserer FBI-Leute saß und Fragen beantwortete, saß ich in unserem Hotelzimmer am Tisch und starrte hinaus auf den Verkehr auf dem Gulf Freeway und fragte mich, ob man mich wohl tatsächlich wegschließen würde. Freiheitsstrafe. »Sie können mit Bewährung rechnen«, sagte Maygrett mindestens einmal pro Sitzung. »Ich kann Ihnen nichts versprechen, aber solange Sie uns die Wahrheit sagen, haben wir es hier definitiv mit einer Situation zu tun, für die Bewährung in Frage kommt.« Ich saß ihm an dem kleinen Tisch in seinem Zimmer gegenüber und hörte mir seine Beteuerungen an. Aber womöglich sagte er ja nichts dergleichen. Womöglich bildete ich mir das alles nur ein. McPhearson machte da einen weit weniger zuversichtlichen 388
Eindruck, aber ich stellte Maygretts Worte nicht in Frage. Das hätte ich nicht ertragen. Sie hatten Tabellen und Diagramme mit Namen, Orten und Daten. Sie zogen sich adrett an, nicht ein Tag, an dem sie nicht in Anzug und Krawatte erschienen wären. Maygrett rauchte seine braunen Zigarillos und schwelgte in Erinnerungen an frühere Fälle, bevor er sich an das Vormittagsverhör machte. »Ja«, sagte er zum Beispiel, »ich hatte da mal einen Bankräuber drüben in Fort Arthur. Wie eine Weintraube habe ich den Scheißer geknackt. Wie eine Weintraube. Zwei Stunden, und er hat mir alles erzählt.« Wir gingen jeden unserer Fälle einzeln durch. War alles legal abgelaufen? Haben Sie den Stoff abgeliefert oder verschnitten? Mußten Sie zu diesem Fall vor Gericht aussagen, oder hat der Mann schon vorher gestanden, um sich Strafmilderung zu sichern? Wann hat Jim zu drücken begonnen? Wieviel Stoff haben Sie selbst genommen? Wann haben Sie sich wegen Jims Problem an Dodd gewandt? Und an Nettle? Was ist mit diesem anderen Burschen, diesem Denny? Und Rob? Wann haben die sich mit Nettle getroffen? Was wurde dabei gesprochen? Was war in der Nacht, als der Anschlag passierte, wirklich los? Und so weiter und so fort und so fort. Als wir ihnen schließlich alles erzählt hatten, glaubten sie uns nicht. * Wir folgten ihnen zurück nach Beaumont, wo sie in einem leeren Unterrichtsraum des Jack-Brook-Hauses, einen Stock über ihrem Büro, einen Lügendetektor aufstellten. Ich saß auf einem blauen Stuhl aus Spritzgußplastik, mir gegenüber reihenweise Tische und leere Stühle. Der Tester gab sich streng geschäftsmäßig. Er 389
war klein und blaß und hatte stacheliges braunes Haar. Auf seiner Geschäftskarte stand: OPERATIONSHAUPTSTELLE, KRIMINALABTEILUNG, BUNDESJUSTIZMINISTERIUM. Er hatte fast schon etwas Kybernetisches, so hypereffizient, wie er sich bewegte, als er die verschiedenen Vorrichtungen an meinem Körper befestigte. Ich hatte das Gefühl, für eine Operation vorbereitet zu werden. Das Ganze lief genauso ab wie damals, als ich den Test in Houston gemacht hatte, nur daß dieser Mann hier ganz offensichtlich ein Profi war. Als er mich angeschlossen hatte, setzte er sich zu meiner Linken und etwas hinter mir an den Tisch. Dann hörte ich die vertrauten Geräusche, als er einige Kippschalter umlegte und die Nadeln über das Papier zu kratzen begannen. Mir wurde klar, daß, wenn der Tester in Houston etwas getaugt oder nicht auf Nettles Lohnliste gestanden hätte – was von beidem zutraf, wußte ich nicht –, ich den Test nie und nimmer bestanden hätte und jetzt nicht hier sitzen würde. Ich überlegte, ob das an dem Tester gelegen hatte oder an mir, ob ich einfach so viele Rollen gespielt hatte, daß ich die eine von der anderen nicht mehr hatte unterscheiden können. Was den Test selbst anbelangt, so erinnere ich mich kaum mehr daran, außer daß ich ehrlich war. Ich horchte auf seine Stimme, die, ganz im Gegenteil zu seinem Auftreten, sanft und beruhigend wirkte. Er sprach leise, mit einem ruhigen Rhythmus. »Entspannen Sie sich einfach«, sagte er, »und antworten Sie mir wahrheitsgemäß nur mit ja oder nein. Wenn Sie Probleme mit der Formulierung einer Frage haben, können wir das anschließend durchsprechen, und ich stelle Sie Ihnen später noch mal. Wir beginnen dann also mit dem Test. Halten Sie sich jetzt ganz ruhig, und entspannen Sie sich.« Ich starrte an die Wand, versuchte meinen Kopf leerzubekom390
men. Das Papier rollte. »Heißen Sie mit Vornamen Kristen?« Ich erinnere mich noch, daß er sich während der ersten Stunden auf die Treffen mit Nettle und unseren Drogenkonsum konzentrierte. Ich erinnere mich daran, daß es mir zu denken gab, daß er so nett zu mir war. »Haben Sie heute irgendwelche Drogen genommen?« fragte er fast zu Anfang. »Nein«, antwortete ich. Es schien mir eigentlich überhaupt keine Zeit vergangen zu sein, als er mir sagte, das wäre alles für diesen Tag und daß wir morgen weitermachen würden. Er entfernte ruhig die Metallplättchen von meinen Fingerspitzen, nahm die Blutdruckmanschette ab und öffnete den Schlauch um meine Brust. Ich stand auf, begierig, endlich da rauszukommen. »Habe ich bestanden?« »Sie können sich darüber mit den Agenten unterhalten«, sagte er. »Ich darf die Ergebnisse wirklich nicht mit Ihnen besprechen.« Aber dann rückte er ein Paar Stühle an einen Tisch im hinteren Teil des Raums und deutete mir an, mich zu setzen. Bis dahin hatte ich gar nicht bemerkt, daß die Sonne untergegangen war; mit der Dämmerung wurde es langsam dunkel im Raum. »Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt«, sagte ich. »Ich weiß, ich sollte das gar nicht sagen, es macht Sie nur mißtrauisch oder was weiß ich, aber es ist wichtig für mich. Ich sage Ihnen die Wahrheit. Ich habe auch den Agenten die Wahrheit gesagt.« »Nur nicht nervös werden«, sagte er. »Ich möchte, daß Sie sich entspannen. Ja, so ist's recht, einfach zurücklehnen. Entspannen Sie sich.« Geräuschlos setzte er sich mir gegenüber an den Tisch; eine tragbare Projektionswand in der Nähe des Fensters warf einen kaum wahrnehmbaren Schatten auf uns. 391
»Wer hat auf Sie geschossen?« fragte er. »Will Gaines.« »Sie sind sich aber dessen nicht sicher, oder?« »Es ist unmöglich, das mit hundertprozentiger Sicherheit zu sagen«, sagte ich. »Ausgesehen hat er jedenfalls wie Gaines. Und er hatte einen Grund, uns ans Leder zu wollen.« »Ich würde gern folgendes tun«, sagte er. »Ich werde Sie heute noch mal anschließen. Ich werde Sie fragen: ›Wissen Sie, wer auf Sie geschossen hat?‹, und ich möchte, daß Sie mit ja antworten. Dann stelle ich Ihnen die gleiche Frage noch mal, und Sie beantworten Sie mir mit nein.« Er hängte mich wieder an den Apparat, und ich machte es genauso, wie er es verlangt hatte. Ja, ich wußte es. Nein, ich wußte es nicht. Er machte mich wieder los und besah sich seine Tabellen. Einige Augenblicke starrte er auf das Papier. »Sie wissen es nicht«, sagte er schließlich. »Was soll das heißen?« fragte ich. »Sie sind sich nicht sicher. Die Meßwerte für beide Antworten sind identisch.« »Und?« »Haben Sie während der Mittagspause etwas genommen, ich meine irgendwelche Drogen?« »Alles, was ich heute hatte, ist ein Grillhähnchen und ein Dr. Pepper. Das ist alles.« Er sortierte eine Reihe von Tabellen um; das Papier raschelte laut in dem leeren Raum. »Irgendwann zwischen unserem ersten Test und dem, den wir eben gemacht haben, mit den Fragen zu dem Anschlag auf Sie, hat sich Ihre Polarität völlig umgekehrt.« Er schob die Ausdrucke über den Tisch. »Die Neigung Ihrer Antworten. Schauen Sie her. Während des ganzen ersten Tests neigten sich Ihre Antworten nach rechts.« 392
Die Kurven neigten sich, wie er sagte, nach rechts, zu einer Serie kleiner Wellen. »Und das hier«, sagte er, »ist der Test, den wir eben gemacht haben.« Dünne rote Linien hoben und senkten sich über das Papier, alle hingen nach links. »Ich habe so etwas noch nie gesehen.« Er sackte auf seinen Stuhl zurück und rieb sich die Augen. »Sie haben wirklich nichts genommen?« »Nichts.« Ich hatte nach bestem Wissen ehrlich geantwortet, und nicht mal dieser Apparat da konnte unterscheiden, welche Antwort die Lüge war. »Würden Sie sich einer Blutprobe unterziehen?« »Wenn es sein muß«, sagte ich. »Ich habe nichts genommen.« »Ich weiß.« »Dann sind wir also fertig?« »Ich denke, wir sollten hinuntergehen und Jim sagen, daß Sie nicht wissen, wer auf ihn geschossen hat.« Ich wußte nicht, warum er das vorschlug und was für ein Motiv sie haben könnten, Gaines eine blütenweiße Weste verschaffen zu wollen. Ich hätte nicht sagen können, warum ich damit einverstanden war. Zum einen war ich verwirrt, weil der Lügendetektor trotz zweier verschiedener Antworten keinerlei Anspannung gemessen hatte. Zum anderen stand da noch die unausgesprochene Drohung im Raum, ich könnte, wenn ich nicht hundertprozentig kooperierte, bei der Urteilsverkündung ganz schön alt aussehen. Aber es war da noch etwas: Ich war mir in jener Nacht nicht sicher gewesen, jedenfalls nicht hundertprozentig. Ich glaubte, Gaines gesehen zu haben. So was passiert ständig. Es wimmelt nur so von Polizisten, die Verläßlichkeit verlangen, die eine absolute, hundertprozentige Identifizierung verlangen, und der Zeuge will es ihnen recht machen, er will es 393
wissen. Und als man mich erst einmal ins Krankenhaus gebracht hatte und Nettle dazugekommen war, hatte ich einfach das Gefühl gehabt, keine andere Wahl mehr zu haben. Ich gebe zu, daß mir während der schier endlosen Fahrt mit dem Aufzug der Gedanke kam, einfach abzuhauen. Ich mußte an Pasadena denken, daran, wie sicher sich meine Zeuginnen, die Schulmädchen, gewesen waren, als sie auf das Foto von Ashbey deuteten und ihn bei der Gegenüberstellung herauspickten. Das war es, was mir fehlte. Gewißheit. Man würde mich zur Lügnerin abstempeln. Diese ganze Vernehmerei machte mich total kribbelig. Jim saß auf dem Schreibtisch im Vernehmungsraum, Maygrett neben ihm, die Ellenbogen aufgestützt, schnippte Asche in den grauen Metalleimer in der Ecke. McPhearson lehnte neben der Tür an der Wand und tippte mit dem Absatz des einen Schuhs auf die Spitze des anderen. Der Tester sagte: »Jim, Kristen möchte Ihnen etwas sagen.« Jim saß ruhig da, die Arme fest vor der Brust verschränkt, und als er mich ansah, waren seine Augen ein klein bißchen zusammengekniffen, genauso wie damals, als wir Walker umgedreht hatten. Sein Unterkiefer war wie gemeißelt, die Muskeln vor seinen Ohren zuckten leicht, kaum daß man es bemerkte. Mit einemmal fiel bei mir der Groschen; dieser ganze Wirbel um den Anschlag, ich erkannte zum erstenmal, wie verwundbar wir waren. Sie suchten nach irgend etwas, mit dem sie einen Keil zwischen Jim und mich treiben konnten, etwas, was uns dazu bringen würde, gegeneinander auszusagen, und ihnen ihre Aufgabe erleichterte. Wenn ihnen das gelang, dann würde das Ganze hier unerträglich häßlich werden. Wir würden anfangen, das ein oder andere aufeinander abzuwälzen, und letztendlich würden wir als ein Paar süchtige Drogenbullen dastehen. Die Bundesknminaler 394
bräuchten sich die Stadtväter nicht zu verärgern, indem sie Nettle unter Anklage stellten, und Nettle bräuchte nicht zu sagen, wer ihm direkt seine Befehle gegeben hatte. Ich sah Jim direkt in die Augen, verschränkte dann die Arme und lehnte mich nach hinten an die Wand. Ich sah die Veränderung in ihm; er nahm genau die Ruhe an, mit der er für gewöhnlich in den Zeugenstand trat: die Augen auf der Hut, die Lippen entspannt, die Hände ruhig in den Schoß gefaltet. Unerschütterlich. »Ich bin mir nicht sicher, wer auf uns geschossen hat.« Ich sprach die Worte aus. Ich wußte erst nicht einmal, ob ich log. Und dann kam es mir. Es war die absolute Wahrheit. Selbst wenn Gaines hundertmal der Mann mit dem Gewehr gewesen war, so hatte ich jedenfalls verdammt noch mal nicht die geringste Ahnung, wer dahintergesteckt hatte. Jim sah mich seelenruhig an, während die Agenten uns beide anstarrten und alle miteinander den Atem anhielten. »Das ist schon in Ordnung«, sagte er ruhig. »Das verstehe ich.« Ich wandte mich an den Tester. »Können wir jetzt gehen?« Er zuckte die Achseln und sah dabei Maygrett an. »Ja«, sagte Maygrett. »Lassen Sie uns hier verschwinden. Wir begleiten Sie zum Hotel zurück.« Als wir vor unserem Zimmer parkten, kurbelte Maygrett sein Fenster herunter. »Morgen um neun«, sagte er. »Wir werden heute ziemlich lange im Büro sein, falls Sie noch was brauchen sollten.« Wir gingen zum Abendessen in die Cafeteria des Motels. An der Theke reihten sich die Handlungsreisenden, dazwischen immer wieder mal ein Fernfahrer in Jeans und Stiefeln. In einigen der Nischen saßen Teenagerpärchen vom Ort, eng aneinander gedrückt, und teilten sich ihre Pommes. 395
»Könnte durchaus sein«, sagte Jim, »daß es die vom Bund sind, die Gaines loseisen wollen. Du hast ja seine Akte gesehen, nicht eine Verurteilung. Könnte durchaus sein, daß er ein V-Mann von denen ist.« »Was nimmst du?« fragte ich. »Womöglich trägt der Hurensohn der Drogenbehörde Fälle zu.« »Ich sehe keinen Wels auf der Speisekarte.« »Red mit mir, Mädchen«, sagte er. »Ist doch egal«, sagte ich. »Ist er ein Spitzel? Ist er kein Spitzel? Sind die Bundeskriminaler Dodd auf die Zehen gestiegen? Oder hat Dodd das Gewissen übermannt? Ist doch egal. Alles, was ich weiß, ist, daß wir nichts dagegen tun können. Wir haben es hier mit einer höheren Macht zu tun.« Die Kellnerin kam an den Tisch und versuchte mit Gewalt, uns das Chili schmackhaft zu machen, bis Jim sie anfunkelte; erst dann gab sie auf und nahm unsere Bestellung entgegen. »Ich will's nur wissen«, sagte er, als sie wieder weg war. »Ich will wissen, wer dahintersteckt.« »He«, sagte ich. »Im Fernsehen gibt's 'ne Wiederholung von Perry Mason.«
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Kapitel Vierundzwanzig Der Gerichtssaal war nüchtern, wie geleckt, der Teppich blau, und die Schalldämmplatten an der Decke schluckten nicht nur Geräusche, sie dämpften sogar Schreie. Der Richter, die Geschworenenbank, der Zeugenstand, die gesamte Einrichtung war in kühlem, dunklem Holz gehalten. An der Wand hinter dem Richtertisch, genau in der Mitte, hing ziemlich hoch oben das riesige Siegel des Bundesjustizministeriums. Verhandelt wurde die Vereinigten Staaten gegen Nettle – El Jefe gegen die Bundespolizei. Dodd sollte der erste Zeuge sein; gefolgt von Jim, dann mir und schließlich Rob und Denny sowie ein paar Beaumonter Streifenpolizisten. Die Verteidigung hatte auch Mr. Berthe vorladen lassen, der es jedoch vorzog, nicht zu erscheinen, und statt dessen Marshall schickte. Es war sowieso ein sinnloser Zug der Verteidigung, da Mr. Berthe nichts weiter getan hatte, als zwei Cops durchzubringen. Ich saß im Wartezimmer der Zeugen, tat so, als würde ich in einer Illustrierten lesen, als Marshall hereinkam, braungebrannt und fit wie eh und je. Bis zu dem Augenblick, in dem er herüberkam und sich vor mich hinstellte, gelang es mir, ruhig zu bleiben. Ich stand auf, um ihm die Hand zu drücken, und dann umarmte er mich und ich ihn, und schon kamen die Tränen. Wir bemühten uns beide, keine allzu große Szene zu machen, wischten uns die Augen und taten so, als wäre nichts. »Du mußt dir immer eine Chance geben«, flüsterte er. Dann war er wieder fort, und ich saß wieder in meinem Sessel und 397
fragte mich, ob er nicht verstanden hatte, was hier lief. Ich war jetzt auf Gedeih und Verderb der Gnade des Gerichts ausgeliefert. Die nächsten beiden Tage über verbrachte ich in meinem Sessel im Zeugenzimmer und blätterte Illustrierte durch. Als schließlich der Gerichtsdiener hereinkam und meinen Namen aufrief, hatte ich das Gefühl, der Boden meines Schädels sei durchgebrochen und mir rutsche das Gehirn in den Rachen. Ich prügelte mich hoch und folgte ihm in den Gerichtssaal. Sie saßen alle am Tisch der Anklage. Maygrett und McPhearson saßen neben D. Lang Howell, dem Sonderankläger aus Washington; auf der anderen Seite des Tisches zwei Hilfsankläger vom Ort. Als Maygrett mich sah, zuckte sein linkes Auge in einer Art halbherzigem Zwinkern, eine alberne Geste, wie ich fand. Knack mich wie eine Traube. Unser Ehrenwerter Frank war nirgendwo zu sehen. Er hatte Jim und mich zum Gerichtsgebäude begleitet, den Reportern draußen ein »Kein Kommentar!« hingeworfen und war verschwunden, nachdem er uns im Zeugenraum abgeliefert hatte. Wir wüßten ja, was wir machten. »Ich bin in der Kanzlei«, hatte er noch gesagt. Der Ehrenwerte Frank. Dieser Oberbettnässer vom Dienst. Nettles Verteidiger trug den Namen eines waschechten texanischen Helden: Sam Austin. Er war freundlich, alles in allem ein senkrechter Bursche, der sogar hier aus dem Jefferson County stammte. Er saß Nettle direkt gegenüber am Tisch der Verteidigung. Er war groß und birnenförmig, trug eine Schnürsenkelkrawatte und Cowboystiefel, das Haar auf seinem großen Kopf hatte er sich mit Pomade zu einer ordentlichen braunen Welle zurechtgekämmt. Nettle war wie immer wie aus dem Ei gepellt und trug wieder mal ein Paar neue Schuhe, diesmal welche aus kastanienbraunem Lackleder mit goldenen Schnallen. Ich erin398
nere mich noch daran, daß ich mir dachte, sie bissen sich mit seinem roten Haar. Neben ihm saß seine Frau. Es gelang mir beim besten Willen nicht, Mitleid für sie aufzubringen, obwohl sie mit der ganzen Geschichte nicht das gerinste zu tun hatte. Sie stand zu ihrem Mann, wie es sich für eine Frau gehörte, und versuchte allen zu zeigen, was für ein braver, von der Bundesregierung zu Unrecht verfolgter Familienvater er war. Vielleicht glaubte sie es sogar. Auch wenn sie es nur als »Vorbereitung« bezeichnet hatten, so waren die Ankläger im Grunde vor dem Prozeß einige Tage lang mit uns durchgegangen, wie unsere Aussagen auszusehen hätten. Ich wußte, was sie fragen würden, sie wußten, was ich antworten würde. Freilich, wenn der Verteidiger an der Reihe war, konnte alles mögliche passieren. Howell, der Sonderankläger, war ein zierlicher Bursche. Nicht unbedingt klein, aber gemessen an dem, wie in Texas ein richtiger Mann auszusehen hatte, ein halbes Hemd. Er trug eine Fliege und Hosenträger mit roten Knöpfen. Das Haar war bis zu den Fransen hin ganz auf John Denver getrimmt, obwohl es ihm bis über die Ohren reichte, war die Frisur ausgesprochen adrett. Er machte den Eindruck, als dürfe er noch nicht einmal im Traum daran denken, vor einer Geschworenenbank voll beschränkter texanischer Landeier einen Fall zu gewinnen. Er eröffnete mit den üblichen Fragen: wo ich wohnte und was ich tat, Corpus Christi, die Schule, etc., etc. Einer der Geschworenen, offensichtlich ein Bauer im Sonntagsstaat, legte die Stirn in Falten, kaum daß Howell den Mund aufmachte, schien dann aber nach einigen Sätzen doch auf dessen Worte zu hören und Howells ausgeprägten Nordstaatenakzent zu vergessen. »Mrs. Raynor«, sagte Howell, »Sie und Ihr Gatte sind doch mit der Staatsanwaltschaft übereingekommen, gegen Zusage einer 399
Strafmilderung mit dem FBI zusammenzuarbeiten und dabei die Wahrheit zu sagen, was Ihre Mitarbeit bei den verdeckten Ermittlungen gegen den Drogenhandel hier in Beaumont 1978 anbelangt?« »Ja, Sir.« Die Galerie des Gerichtssaals war bis auf den letzten Platz gefüllt. Hinter den Sitzreihen stand man sogar noch, gegen die Wand gelehnt; alles wartete darauf, die Beichte der beiden Bullen zu hören. Ich erkannte einige unserer Angeklagten in der Menge; ihr nervöses Grinsen schien ihnen ins Gesicht graviert. »Und Sie haben sich mit dem FBI zusammengesetzt und über alles, was während dieser Ermittlungen passierte, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit gesagt? Ist das korrekt?« »Ja, das ist es.« Im Geiste hörte ich einen Kinderchor zum Ringelreihen aufsingen. Schon am frühen Vormittag drehte sich alles wieder im Kreis. »Mrs. Raynor, haben Sie dem FBI auch gesagt, daß Sie und Ihr Partner gegen Will Gaines eine fingierte Anziege erstattet haben?« »Ja, Sir, das haben wir.« »Haben Sie außerdem zugegeben, daß Sie beide während der Ermittlungen selbst Drogen genommen haben?« Sam Austin stand auf und sagte mit einer halben Drehung in Richtung der Geschworenen: »Euer Ehren, ich erhebe Einspruch dagegen, die Zeugin ständig danach zu fragen, was sie gegenüber dem FBI ausgesagt hat. Ich kann dieses Zeugnis vom Hörensagen darüber, was sie dem Bundeskriminalamt gesagt hat, hier nicht dulden.« Der Richter zuckte noch nicht einmal mit der Wimper. »Die Zeugin steht für ein Kreuzverhör zur Verfügung. Einspruch abgelehnt.« Howell nickte zustimmend und stellte weiter seine belastenden 400
Fragen. Unaufhörlich. Ich saß auf meinem Stuhl und versuchte mich zu konzentrieren, es war ein Ringelreihen, aber ich antwortete meist routinemäßig. Wir waren das alles zigmal durchgegangen. Ich verspürte ein Brennen im Rachen und versuchte es hinunterzuschlucken; würgend saß ich da und beantwortete Howells Fragen. Konzentriere dich, konzentriere dich, fang hier nur nicht zu kotzen an. Du brauchst nur zu schlucken, und es ist wieder weg. Ich ersticke hier vor all diesen Leuten. Ja, Sir. Nein, Sir. Daran erinnere ich mich nicht mehr, Sir. Ich wollte Jim retten. Sir. Schluck endlich! Ich warf einen Blick zu Maygrett hinüber; die Augen fast geschlossen, saß er da, als wollte er eigentlich nicht sehen, was er sich da anschauen mußte. Ich haßte ihn dafür, so selbstgefällig und bequem dazusitzen, diesen Verteidiger der Gerechtigkeit. Knack mich wie eine Traube, knack mich wie eine Traube. Schluck doch einfach. Brauchst nur so lange zu drücken, bis ich aus der Haut fahre. Das hier ist Nettles Prozeß, und trotzdem bin ich diejenige, die umgefallen ist und singt, die hier oben die Wahrheit des FBI erzählt; mich starren sie an, mich prüfen sie auf Herz und Nieren; ich bete um etwas Milde, wenn es Zeit wird, das Urteil über mich zu fällen. Ich schluckte. Ich beantwortete Howells harte, aber höfliche Fragen. Plötzlich sagte er: »Die Zeugin gehört der Verteidigung, ich habe zu diesem Zeitpunkt keine weiteren Fragen.« Dann ging er zum Tisch der Anklage hinüber. Sam Austin griff sich eine Handvoll Papiere und marschierte damit auf das Podium in der Mitte des Gerichtssaals, als wäre er fest entschlossen, mich in Stücke zu reißen. Am liebsten wäre ich auf Händen und Füßen über den Teppich die vielen Kilometer bis zur Tür gekrabbelt. »Mrs. Raynor«, nölte er müde los, »Sie erwarten doch nicht im Ernst, daß diese Geschworenen hier Ihnen abnehmen, Sie und Ihr Partner hätten einen der größten Schläge gegen den Drogen401
handel in diesem Staat geführt, während Sie beide kokainabhängig waren, oder? Lassen Sie mich hier, nur für das Protokoll, einiges vorlesen.« Er hatte Zeitungsausschnitte mitgebracht, dazu Briefe von der Staatsanwaltschaft, von Richtern und Stadtdirektoren sowie Belobigungen vom Polizeiverband. Er lobte mich, lobte mich, nannte mich eine ausgezeichnete, rechtschaffene Polizeibeamtin, die sich im Kampf gegen den Drogenhandel weit über ihre Pflichten hinaus eingesetzt hatte. »Meinen Sie allen Ernstes, auch nur ein vernüftiger Mensch würde glauben, der Polizeipräsident dieser Stadt, ein rechtschaffener Bürger und ein guter Vater, ein Mitglied der Kirchengemeinde, ein Mann, der sein Leben dem Kampf gegen das Böse und dem Wohle der Allgemeinheit gewidmet hat, erwarten Sie tatsächlich, daß Ihnen jemand abnimmt, ein solcher Mann habe angeordnet, Beweismaterial zu fälschen? Erwarten Sie das wirklich?« Plötzlich fühlte ich mich müde, erschöpft von all diesen Gerichtsmanövern. Ich versuchte die Richtung auszumachen, in die er mit seiner Argumentation wollte, aber in diesem Augenblick verlor dieser ganze absonderliche Prozeß seine Bedeutung. Das war doch alles wieder nur Theater: »Korruption und Verbrechen – Ab sofort in Ihrem Gericht«. Ich hätte gute Lust gehabt, mir diesen Austin ordentlich zur Brust zu nehmen, und, ohne daß die Geschworenen es spitzkriegten, eine widerspenstige Zeugin zu sein. Die ganze Farce hatte mich derart ausgelaugt – ich war es einfach satt, mir von Anklägern die Worte in den Mund legen zu lassen; ich hatte es satt, mich vom FBI herumschubsen zu lassen, satt mit Donald J. Nettle auf ein und demselben Planeten zu leben. »Mrs. Raynor?« Ich hatte es satt, Mrs. Raynor zu sein. 402
»Beantworten Sie bitte die Frage.« Die Stimme des Richters stieß mich in den Gerichtssaal zurück. Könnte bitte jemand, irgend jemand, die Frage wiederholen. In der Hoffnung auf einen Einspruch sah ich zum Tisch der Anklage hinüber. Ich wußte noch nicht einmal gegen was, Hauptsache ein Einspruch, bitte. So erheb doch einer Einspruch. Wiederhol mir einer die Frage. Irgend jemand hier muß etwas tun. Howell saß da und malte Männchen auf seinen gelben Block. Austin redete und redete. »… und Sie waren empört über die Art und Weise, mit der die Stadtpolizei im Falle des Anschlags auf sie ermittelte, darüber, daß Sie in einer Gefängniszelle leben mußten, daß man sich nicht richtig um Jims Verletzungen kümmerte, sie waren empört – und das zu Recht –, daß dieser Bursche, dieser Gaines, mit nur vierzig Jahren davonkam. Immerhin hat er versucht, Sie zu töten. Würde er frei auf der Straße herumlaufen, so könnten Sie und Mr. Raynor die Rechnung begleichen. Und falls Gaines hier nach Beaumont käme, um einen Stützpunkt für das organisierte Verbrechen zu schaffen…« Howell hob den Kopf; er merkte plötzlich, was da passierte, und stand auf. »Einspruch, Euer Ehren, das alles sind nichts weiter als himmelschreiende Spekulationen der Verteidigung.« »Stattgegeben. Falls die Verteidigung noch Fragen an die Zeugin hat, bitte ich Sie darum, diese zu stellen. Andernfalls lassen Sie uns fortfahren.« Austin blätterte seine Papiere durch und warf den Kopf zurück. »Mrs. Raynor, hat Will Gaines oder eine Person, die mit ihm in Verbindung steht, Ihnen angeboten, Ihre Aussage darüber, wer den Anschlag auf Sie verübte, zu widerrufen?« Ich hätte am liebsten geschrien. Ich saß da, das Gesicht krib403
belte mir vor Hitze, während der Rest meines Körpers langsam gefror, bis ich schließlich das Gefühl hatte, meine Haut könne jeden Augenblick Risse bekommen und mir in einer Million kleiner Scherben vom Körper bröseln, um vor mir auf dem Boden einen kleinen Haufen Pulver zu bilden. Das Ganze hatte doch mit Geld überhaupt nichts zu tun, weder Jim noch ich waren bestochen worden. Dodd? Das wußte ich nicht. Der Anschlag? Ich hatte keine Ahnung. Ja, ich war damals ein Junkie, ja, ich habe mitgeholfen, Beweise gegen Gaines zu fälschen, und ja, irgend jemand hat auf uns geschossen. Ich hatte gedacht, es wäre Gaines gewesen, ich glaubte nach wie vor, daß Gaines es gewesen war; sicher war ich mir nicht, jedenfalls nicht absolut; hatte sich ja noch nicht mal der verdammte Lügendetektor entscheiden können. Ich wußte nichts. Ich wollte nur schreien. »Nein, Sir«, sagte ich. Ich antwortete ganz ruhig. »Hat Ihnen das FBI Geld dafür geboten, Ihre frühere Aussage zurückzunehmen?« »Einspruch!« Howell sprang auf und deutete, seinen Block in der Hand, mit einer großen Geste auf Austin. »Diese Frage ist ganz und gar irrelevant!« »Abgelehnt.« Der Richter spähte über die Kante seines Tisches zu mir herunter, seine Brille saß ihm auf der Nasenspitze. »Die Zeugin hat die Frage zu beantworten.« »Nein, Sir.« »Warum haben Sie Ihre Aussage dann zurückgenommen?« rief Austin. »Warum haben Sie mit einemmal eingesehen, daß Sie sich gar nicht sicher waren, wer nun auf Sie geschossen hat?« Er wandte sich den Geschworenen zu und hob ihnen die Handflächen entgegen – wie ein Prediger bei einer Wiedererweckungsfeier. Ich sah Howell an. Er schrieb gerade etwas auf seinen Block. Ich sah zum Richter hinauf. 404
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Frage beantworten kann.« Howells Kopf schoß in die Höhe. »Darf ich vortreten, Euer Ehren?« fragte er. »Sie dürfen.« Der Richter beugte sich vor, während Howell ihm etwas zuflüsterte. Ich hörte das Wort Polygraph. »Ich danke Ihnen, Mr. Howell. Die Jury möchte bitte den Saal für zehn Minuten verlassen.« Der Gerichtsdiener eskortierte die Geschworenen durch eine kleine Tür in der Seite des Saals. Austin ging zum Tisch der Verteidigung und legte Nettle eine Hand auf die Schulter. »Wo liegt das Problem, Euer Ehren?« fragte er. »Mr. Austin, würden Sie bitte vortreten.« Austin ging um das Podium herum und stellte sich vor dem Richter auf, der, wiederum fast flüsternd, auf ihn einredete. Wieder hörte ich etwas von einem Polygraphen, außerdem so etwas wie: »…deutete daraufhin, daß sie die Wahrheit gesagt hat.« Austin schüttelte verneinend den Kopf. Als die Geschworenen in Reih und Glied wieder auf ihre Bank marschierten, fuhr Austin mit seiner Befragung fort. »Mrs. Raynor, erwarten Sie, daß diese Geschworenen hier Ihnen glauben…« »Einspruch gegen die Formulierung der Frage.« Howell war schon wieder auf den Beinen. »Stattgegeben.« »Mrs. Raynor, darf ich davon ausgehen, daß Sie dieser Jury hier erzählen wollen, daß Sie innerhalb von sechs Monaten von einer anständigen, tüchtigen Vollzugsbeamtin zu einer Drogensüchtigen, einer Lügnerin und einer Diebin geworden sind? Daß Sie sich aus dem Beweismaterial bedienten und daß Sie vor Gericht gelogen, Drogen konsumiert und Will Gaines beschuldigt haben, Rauschgift an Sie verkauft zu haben, obwohl er dies 405
gar nicht getan hatte? Ist es das, was Sie der Jury sagen wollen?« »Ja, Sir«, sagte ich. »Die Zeugin steht der Anklage zur abermaligen Vernehmung zur Verfügung.« Austin setzte sich wieder hin. Howell kam mit seinem Anwaltsblock aufs Podium. »Mrs. Raynor«, sagte er, »Sie haben ein neues Leben begonnen, als Sie Beaumont verließen, stimmt das?« »Ich habe es versucht. Ich hatte vor, mich wieder am College einzuschreiben.« »Sie wußten, daß es damit – wenn ich das einmal so sagen darf – Essig wäre, wenn Sie sich stellen würden?« »Ja, Sir.« »Sie haben sich einer strafbaren Verabredung zur Verletzung von Will Gaines' Bürgerrechten für schuldig bekannt, einer Verabredung, an der außer Ihnen noch Jim Raynor, Larry Dodd und Donald Nettle beteiligt waren.« »Ja, Sir.« »Würden Sie für die Geschworenen den Mann identifizieren, zu dem Sie gegangen sind, als Ihr Partner an der Nadel hing, ich meine, süchtig war? Würden Sie ihnen den Mann zeigen, der Ihnen und Jim Raynor befahl, gegen Will Gaines eine Anklage wegen Kokainhandeis beizubringen, ob er nun damit handelte oder nicht? Würden Sie bitte auf ihn deuten.« Ich deutete auf Nettle. »Das ist er«, sagte ich. »Nun, bei diesem Treffen, ich meine, als Sie sich mit ihm trafen, um mit ihm über Jims Drogenabhängigkeit zu sprechen, hat er Sie da gebeten, ihm einige Kilometer hinterherzufahren, um alles zu besprechen?« »Ja, Sir, das hat er.« »Und Sie sind dieser Bitte nachgekommen?« »Ja, Sir.« 406
»Und was ist dann passiert?« »Er fuhr in der Nähe einer Kirche an den Straßenrand, und ich bin zu ihm in den Wagen gestiegen, wo wir uns dann unterhielten.« »Über was haben Sie sich unterhalten?« »Er sagte mir, er sei froh, sich darauf verlassen zu können, daß ich zu ihm komme, wenn es ein Problem gebe, und daß er hoffe, ich würde auch in Zukunft keinerlei Hemmungen haben zu ihm zu kommen.« »Sonst noch etwas?« »Er sagte, er würde meine Loyalität nicht vergessen, wenn es Zeit für eine Beförderung wäre.« »Und ist in jener Nacht sonst noch etwas passiert?« Howell wußte Bescheid. Ich hatte ihm alles erzählt, und deshalb stellte er mir diese Frage jetzt. Während der Vorbereitung hatte er gesagt, die Entscheidung, wie ich seine Frage beantworten würde, liege ganz allein bei mir. Nettles Verhalten sei nicht strafbar gewesen, die Geschichte habe keinerlei Einfluß auf den Fall. Sie sei etwas Persönliches zwischen mir und Nettle. Ich weiß auch nicht, warum mir Howells Verhalten das Gefühl gab, daß mich das Eingeständnis dessen, was damals passiert war, irgendwie zu einem Dünnbrettbohrer, zu einem Leichtgewicht machen würde. Nettle starrte mich an, und zum erstenmal, seit ich ihn kannte, sah ich, daß er sich ganz und gar nicht wohlfühlte in seiner Haut. Eine leuchtende Röte kroch ihm den Hals hinauf, kam unter der perfekt geknoteten Krawatte hervor und stieg ihm in die Backen. Fast unmerklich sackte er in sich zusammen, gerade um so viel, daß ich es bemerkte, und zog die Hände in den Schoß. Wie ein Wurm wand er sich. Ich wartete, ich wollte den Augenblick genießen, ärgerte mich aber auch gleichzeitig über dieses Gefühl. Ich dachte darüber 407
nach. Ich kostete es aus. Er wand sich, und ich genoß es. »Nein, Sir«, sagte ich. »Sonst nichts.« * Im Zeugenraum war es still; die Zentralheizung war an, und es herrschte eine Totenstille. Der Prozeß dauerte nach meiner Aussage noch weitere zwei Tage. Rob und Denny hatten es geschafft, sich nach ihrer Aussage für den Rest des Prozesses entschuldigen zu lassen, und blieben erst gar nicht bis zum Urteil. Dodd saß an der Wand, Jim und ich am Tisch. Es gab nicht viel zu sagen. Während ich dasaß und auf das Ende des Prozesses wartete, hatte ich immer wieder ein und denselben Tagtraum. Er spielte sich draußen auf dem Korridor ab: Nettle kam auf mich zu, und ich zog meine Waffe, richtete sie auf seinen Arm und drückte ab. Ich spürte es. Es riß ihm genau das gleiche Stück Knochen aus dem Arm, das Jim bei dem Anschlag auf uns verloren hatte. Nettle schrie auf und ging zu Boden und plapperte, auf den weißen Platten liegend, zusammenhangloses Zeug, während ihm phosphoreszierendes rotes Blut aus dem Arm schoß. Dann zielte ich auf sein Bein und schoß ihm eine Kugel genau in die Stelle, wo Jim seine Wunde hatte. Und obwohl ich einen Revolver benutzte, waren die Wunden die einer Schrotladung, genau wie damals in jener Nacht. Nettle krümmte sich auf einem glitschigen Boden, er lag in seinem eigenen Blut und schrie und bettelte mich an, ihn doch bitte nicht umzubringen. Ich steckte meine Waffe langsam weg und sagte: »Jefe. Jefe, Sie kleines Zuckerschnäuzchen, Sie.« Dann holte ich einen Vierteldoller heraus und warf ihn ihm auf den Boden. »Hier, Jefe«, sagte ich, »rufen Sie sich einen Krankenwagen.« Dann ging ich weg.
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* Sechzig Minuten lang waren die Geschworenen draußen. Maygrett und McPhearson und der Rest des Bundesteams waren schier in Ekstase. Sechzig Minuten. Das mußte ja schuldig bedeuten. Aber ich spürte es schon, als wir vor dem Aufzug standen und darauf warteten, wieder in den Gerichtssaal hinaufzufahren. Sie würden ihn laufenlassen. Er würde wieder in sein Büro zurückkehren, zurück in sein altes Leben als Polizeipräsident. Verbrechen muß man mit Verbrechen bekämpfen. Ich konnte die Erklärung der Jury geradezu spüren: »Wir sind hier in Texas, nicht in New York City. So was darf hier einfach nicht passieren. Laßt uns zufrieden. Wir haben Rechnungen zu bezahlen und Kinder großzuziehen; Sie haben die Aufgabe übernommen, jetzt tun Sie gefälligst, was getan werden muß, um uns Drogen vom Hals zu halten. Und tun Sie's gefälligst ohne Aufsehen. Wir wollen davon nichts hören. Bei uns zu Hause ist noch die Rasenkante zu schneiden.« Ich spürte es, und dann, ein paar Minuten später, stand ich hinten im Gerichtssaal und hörte zu, wie der Spruch der Geschworenen verlesen wurde, laut und deutlich, damit es auch jeder der braven Bürger hörte. Nicht schuldig. Alles, was mir dabei in den Sinn kommen wollte, waren die schlichten, müden Worte, die jeder Katholik gesagt hat, der sich je vor einen Priester gekniet hat: Segne mich, Vater, denn ich habe gesündigt. Das ist meine erste Beichte.
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Kapitel Fünfundzwanzig Jim nahm mich beim Arm, als wir vor den Richtertisch traten. Ich weiß nicht mehr, was wir während der Woche zwischen Nettles Freispruch und unserer eigenen Urteilsverkündung machten. Ich weiß noch, daß ich in den Zeitungen das ein oder andere Zitat las: Nettle, der wieder in Amt und Würden war, sprach den Reportern gegenüber davon, den Zwischenfall endlich zu vergessen und nach vorn zu schauen, und versprach, sein Amt nach besten Kräften zu versehen. Zu unserer Urteilsverkündung kam er nicht. Ein anderer Gerichtssaal, ein anderer Richter. Der Ehrenwerte Frank sagte, er hätte für uns alles in seinen Kräften Stehende getan. Das Ganze liege jetzt nicht mehr in seinen ehrenwerten Händen. Es war dies das einzige Mal, daß ich Maygrett hilflos dreinschauen sah. Er war dabei, saß an einem Tisch und zeichnete mit den Fingerspitzen die Maserung der Tischplatte nach. Wir standen vor dem Richtertisch, während der Richter oben mit irgendwelchen Papieren hantierte. Ihm lagen einige Schriftsätze aus dem Vorfeld des Prozesses vor. So zum Beispiel ein Brief von Will Gaines, in dem es hieß, er bestehe nicht auf unserer Inhaftierung und daß wir die Wahrheit gesagt hätten und der wirkliche Schuldige frei ausgegangen sei. Ich kam nicht darauf, warum er ihn geschrieben haben könnte, fand es aber irgendwie obszön, daß er es auf sich genommen hatte, für uns um Gnade zu bitten. Eine ganz neue Art von Pornographie. Oder vielleicht hatten die vom Bund einfach kein gutes Gefühl dabei, Bullen abzuschießen, vielleicht hatten sie ihm gut zugeredet. 410
Vielleicht hatte Gaines kapiert, daß auf die falschen Leute geschossen worden war. Unter seinem von einer Seite zur anderen gekämmten grauen Haar blitzte die Kopfhaut des Richters hervor. Als er schließlich den Blick hob, sah er an uns vorbei in den Gerichtssaal und darüber hinaus in den Raum, wo die Gedanken eines Richters wohl hin mußten, bevor sie einen Menschen dazu verurteilten, in einen Käfig gesperrt zu werden. Einige endlose Minuten lang starrte er so vor sich hin, vielleicht waren es aber auch Sekunden, dann wandte er seinen Blick zu unserem Ehrenwerten Frank. »Sie können beginnen«, sagte er. Ich dachte, meine Knie würden mir den Dienst versagen. Ich stützte mich auf Jim. Der zitterte nicht weniger als ich. Ich spürte das Beben der Nerven in seinem Arm, dieses Zittern der Kreatur, der Schauer auf der Haut eines kleinen Tieres, das sich gefangen sieht und den grauenhaften Griff menschlicher Hände auf sich spürt. Der Ehrenwerte Frank machte sich an die Leier von der Bitte um ein mildes Urteil, aber selbst ein Blinder hätte sehen können, daß der Richter davon nichts hören wollte. Er bat für mich, und noch nicht mal ich wollte es hören. Wir hätten natürlich auch auf unseren Prozeß bestehen können. Als Folge unserer »Ehrlichkeit« waren sämtliche Anklagen, die wir in Beaumont zusammengetragen hatten, fallengelassen worden. In jedem einzelnen Fall. Wir hätten weiterlügen können, die Geschworenen hätten uns ihren Segen gegeben. Nettle hätte uns die Stange gehalten, und wir hätten bei der ganzen Geschichte frei ausgehen können, und Dodd hätte mitsamt seiner Immunitätszusicherung dagestanden wie ein Trottel. Gaines wäre wieder ins Gefängnis gewandert, und der Rest der Dealer wäre dort geblieben. Jim wäre womöglich dazu imstande 411
gewesen, hätte darin womöglich sogar das Richtige gesehen. Mir ist es lieber, mir vorzustellen, er hätte es nicht gekonnt. Als Frank mit seinem Geseire schließlich durch war und seine Papiere zusammenpackte, sah der Richter Jim und mich zum erstenmal an und räusperte sich. Ich erinnere mich noch daran, daß ich mir dachte, wie unglaublich klein doch seine Ohren seien. Ich erinnere mich noch an die schwarze Robe und die grünen Augen unter dem blau-goldenen Siegel des Justizministeriums. »Es handelt sich hier«, begann er, »um ein äußerst schwieriges Urteil, vielleicht um das schwierigste, das auszusprechen mir während meiner vierzehn Jahre als Richter oblag.« Ich hatte nichts zu erhoffen. Aber ich hoffte. »Die verachtenswerte Handlungsweise, die Sie beide sich in Ihrer Vergangenheit haben zuschulden kommen lassen, hatte ihre Auswirkungen auf das Leben dieser Gemeinde. Hätten Sie beide nicht freiwillig gestanden, hätte diese Handlungsweise weiterhin ihre Schatten auf das Leben vieler hier geworfen. Trotz Ihrer Kehrtwendung jedoch dürfen diese Straftaten nicht ungesühnt bleiben.« Ich hörte seine Worte und dachte, ich würde zusammenbrechen, ich dachte, ich würde einfach zu Boden gehen. »James Michael Raynor, dieses Gericht verfügt, Sie für die Dauer von vier Jahren in einer Bundesjustizvollzugsanstalt zu verwahren. Der Beginn der Haftstrafe wird auf den 15. Februar 1982 festgesetzt.« Ich spürte, wie sich sein Arm unter meinen Fingern versteifte. Er machte keinen Muckser, nickte noch nicht einmal. Nichts. »Kristen Ann Cates, dieses Gericht verfügt weiterhin, Sie für die Dauer von zwei Jahren in einer Bundesjustizvollzugsanstalt zu verwahren.« Die Hälfte. Zwei Jahre. Es hätten auch zehn sein können. Aber 412
die machten das, um uns zu bestrafen! Zu bestrafen? Vor ihnen auf dem Boden zu kriechen und zu betteln, hatte das die Sache denn noch nicht wieder in Ordnung gebracht? Der Ehrenwerte Frank sah uns an und nickte, und Jim und ich sagten: »Wir danken Ihnen, Euer Ehren.« Es rutschte uns heraus wie einem Pärchen dressierter Hunde. Wir danken Ihnen, Euer Ehren. Wir verließen den Gerichtssaal. Bewährung hatte Maygrett gesagt. Er war überzeugt gewesen, daß ich mit Bewährung davonkommen würde. Natürlich hatte es sich dabei um seine inoffizielle Meinung gehandelt, nicht um ein Versprechen. Aber ich konnte mich einfach des Gefühls nicht erwehren, daß man mich wieder einmal belogen hatte. Oder war es nur so gewesen, daß ich einfach verzweifelt an eine Chance hatte glauben müssen? Draußen standen die Reporter und riefen uns ihre Fragen entgegen. Unser Ehrenwerter sagte ihnen, sie sollten um drei zu einer Pressekonferenz in seinem Büro vorbeischauen, dann fuhr er uns zum Essen. Auf seine Kappe. Darauf bestand er. Ich weiß nicht mehr, wo wir aßen und was wir aßen oder ob wir überhaupt was aßen. Ich saß am Tisch und sah Frank dabei zu, wie er sich den Mund vollstopfte. Irgendwann hob ich den Kopf und sah Maygrett und McPhearson an einem Tisch auf der anderen Seite des Raums. Maygrett kam zu uns herüber und stützte sich mit der Hand auf die Lehne meines Stuhls. »Damit habe ich nicht gerechnet«, sagte er. »Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.« »Was zum Teufel können Sie auch schon sagen«, flüsterte Jim. »Man bestraft uns. Ich nehme an, Blut langt denen einfach nicht.« »Wir finden denjenigen, der auf Sie geschossen hat«, sagte Maygrett. »Das verspreche ich Ihnen auf jeden Fall.« 413
»Sagen Sie mir nur eins«, sagte Jim. »Ist Gaines ein Informant von euch, Jungs?« »Wie ich schon sagte«, sagte Maygrett, »wir finden den Mann, der auf Sie geschossen hat.« Damit ging er zu seinem Tisch zurück. * Wir standen an einem Flugsteig des Houstoner Flughafens. Jims Maschine ging in einer Stunde. Ich wartete auf meinen letzten Aufruf. »He, Mädel.« Er nahm mein Gesicht in die Hände. »Denk einfach dran, daß du Nettles Zeit absitzt.« Ich entzog mich ihm und sah ihn an, dann senkte ich den Blick auf den Teppich. »Das macht es mir wirklich verdammt viel leichter, Jim.« »He«, sagte er leise. Ich setzte mich auf seinen Koffer. »Ich hätte in Corpus Christi nicht anhalten sollen. Weißt du? Ich hätte einfach weiterfahren sollen. Aber irgendwie konnte ich mich einfach nicht ganz aufgeben. Jeden Nachmittag habe ich mich dabei ertappt, wie ich den Strand absuchte in der Hoffnung, dich auf mich zukommen zu sehen. Ich konnte einfach nicht aufgeben.« Er schwieg eine ganze Weile, und dann sagte er: »Du tust ja gerade so, als hätte ich dich mit sechzehn verführt, gekeilt und auf die Straße geschickt.« Plötzlich blinzelte er, und seine Augen wurden größer. Einen Augenblick lang dachte ich, er hätte in der Masse, die von Flugsteig zu Flugsteig eilte, jemanden erkannt. Er sah weg, hinüber zur Abflugsanzeige, dann sah er wieder mich an. »Ich muß wissen, daß du auf mich wartest«, sagte er. Seine 414
Augen waren klar; sein Blick verschränkte sich mit dem meinen. Er brauchte mich. Er brauchte mich. Der Teppich des Flughafens war rot, fast schon braun. »Wie das so geht«, sagte ich. »Ich komme mir im Augenblick ziemlich dünn vor. Ich glaube nicht, daß von mir noch genug für uns beide da ist. Verstehst du?« Er atmete rasch ein und trat einen Schritt zurück. »Die haben uns beiden einen ziemlichen Brocken von uns selbst gestohlen. Aber ist das ein Grund aufzuhören, so einfach zu sagen, ›war mir 'n Fest, vielleicht sehen wir uns mal wieder‹? Du bist meine Frau.« »Ich habe dich auch weiß Gott geliebt, ehrlich. Aber ich –« »Du hast ja Zeit, darüber nachzudenken.« »Die habe ich nun weiß Gott«, sagte ich. »Im Augenblick könnte ich noch nicht mal sagen, wo ich anfangen soll. Frag mich, was du willst. Die Antwort ist, ich weiß es nicht.« Er stand da und schaute auf den Flugsteig, bis eine Stimme so glatt wie die eines Stewards seinen Flug aufrief. »Das bin ich«, sagte ich. »Alles klar.« Ich stand auf und wandte mich zum Gehen. »He«, sagte er. Ich sah zurück, sah ihn an und versuchte nichts weiter zu sehen als einen Mann neben seinem Gepäck auf dem Flughafen. »Du bringst das schon.« Ich ging den Flugsteig lang. Der Teppich wurde marineblau. * An Bord kaufte ich mir Kopfhörer und starrte auf die Leinwand und schluckte eine Valium und trank einen Wodka Tonic. Und noch einen.
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* Am Haupteingang des Flughafens gab es einen Transportschalter. Der Cowboy hinter der Theke hatte sein schwarzes Haar mit Öl nach hinten frisiert und eine Supermanntolle auf der Stirn. Er heftete eben was zusammen und fragte mich, wo ich hinwolle. »Zum Gefängnis.« Die Worte schienen von jemandem hinter mir zu kommen, schienen mir über die Schulter zu gleiten und in die abgestandene Luft zu fallen, die mich umgab. »Wir haben hier 'n staatliches und eins vom Bund, welches wollen Sie denn?« »Das vom Bund.« »Die Limousine geht in zehn Minuten. Gleich da draußen.« Er deutete zum Fenster hinaus auf einen schlichten weißen Kleinbus, auf den man in leuchtend orangefarbenen Buchstaben AIRPORT LIMO gemalt hatte. Ich bezahlte vier Dollar. Es gab noch fünf andere Passagiere. Ich setzte mich nach hinten und schwitzte still vor mich hin. Wir kurvten durch die Hügel, Kilometer um Kilometer an einem in der Nachmittagssonne gleißenden weißen Zaun vorbei. Pferde weideten vor sich hin. Eine ruhige Gegend. Der Fahrer bog auf eine schmale Kiesstraße ab, und wir kamen an einer kleinen Tafel vorbei. BUNDESJUSTIZVOLLZUGSANSTALT, VEREINIGTE STAATEN, LEXINGTON, KENTUCKY hieß es in Metallbuchstaben auf einem großen, flachen Ziegel. Er fuhr um eine kreisrunde Auffahrt und hielt vor einem mächtigen Gebäude aus rotem Backstein, das mit Hunderten von winzigen Fenstern gesprenkelt war. Der Mann mittleren Alters im Geschäftsanzug, der neben mir gesessen hatte, stieg hinter mir aus dem Bus und folgte mir zur Pforte. 416
»Müssen Sie da rein?« fragte ich ihn. »Nur zu Besuch«, sagte er. »Ich bin Anwalt.« Ich stand vor der verschlossenen Glastür und schaute in die Halle. Einige uniformierte Männer saßen hinter einer Kontrollkonsole auf einer Plattform in der Ecke des Raumes. Einer von ihnen hob den Kopf, dann hörte ich den Summer. Ich drückte gegen die Tür.
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Epilog
Der Beta-Trakt
Ich weiß, daß ich weine, aber ich spüre es nicht, und auch warum es mir passiert, weiß ich nicht. Es rinnt mir eben Wasser über die Backen, und mein Gesicht zittert, zuckt und hüpft, als knallte mir Popcorn durch den Kopf und von innen gegen die Haut. Ich wische mir die Augen und lege meine Hände naß wieder in den Schoß. Ich sitze auf einer Untersuchungsliege, und jedesmal, wenn ich mich bewege, knüllt sich unter mir laut das Papier. Der Arzt kommt herein und stellt sich vor mich hin. Ich sehe ihn verschwommen als etwas Blasses in einem ausgebeulten Anzug. Er legt mir eine Hand aufs Knie, und ich spüre seine kühle Handfläche durch meine Jeans. »Sie kommen wieder in Ordnung«, sagt er. Meine Lippen verziehen sich so sehr, daß ich sie mir unmöglich noch vorstellen kann. Ich spüre, wie sie zucken, und ich habe dieses Zucken nicht unter Kontrolle. »Versuchen Sie sich zu entspannen«, sagt er. Er wendet sich an den Schließer und sagt: »Ich nehme sie mit. Schicken Sie mir die Papiere ins Büro.« Der Schließer zuckt mit den Achseln und geht. Ich folge dem Arzt aus der Krankenstation, vorbei an den gaffenden Leuten einen langen Korridor hinunter, eine Sackgasse, die an einer stumpfen gelben Stahltür endet. Er drückt auf den Knopf der Sprechanlage, und die Stimme eines Mannes sagt: »Ja?« »Dr. Mossman«, antwortete er. 418
In seinem Büro bereitet er eine Injektion vor. »Das wird Ihnen helfen, das Schlimmste zu überstehen«, sagte er. »Wie lange sind Sie jetzt schon hier, zwei Tage?« Ich weiß es nicht. »Drei, glaube ich.« Ich sehe die Spritze, und auf der Stelle habe ich den Geschmack von Kokain im Rachen. »Und Sie wurden medikamentös behandelt? Wie lange?« »Seit den Schüssen auf mich«, sagte ich. »Aber nicht durchgehend.« Er hebt den Blick und sieht mich an. »Wie lange ist das her?« Ich brauche eine Minute. »Fast vier Jahre.« Bis jetzt habe ich die Zeit in Blöcken gemessen, alles fiel entweder in die Zeit vor dem Anschlag oder danach. Jetzt wird sich das Zentrum nach vorn verlagern, auf den Tag meiner Entlassung. Ich kann nicht daran denken. Es ist jetzt alles ruhig in mir. Verachtenswerte Handlungsweise. Ich sollte schlafen. Hier gibt es keine Waffen. Hier kommt keiner rein. Ich spüre den Stich der Nadel in meinem Arm und warte darauf, daß das Medikament in meinen Kreislauf gespült wird. Was er mir da gibt, ist nicht wichtig. Man wird mich hier in einen Raum stecken, und ich werde ohne Waffe unter meinem Kopfkissen schlafen. Verachtenswerte Handlungsweise. Nichts, worüber ich mir sicher wäre. Ich werde schlafen. Mich ausruhen. Ich weiß nicht, wie lange. Ich weiß es einfach nicht. Gib dir doch eine Chance. Ich weiß nicht wann, ja noch nicht einmal ob überhaupt. Ich weiß auch noch nicht wie. Nichts, worüber ich mir sicher wäre. Vielleicht. 419
Ich werde die Bettdecke zurückschlagen. Und dann stehe ich auf und gehe.
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Danksagung Ich bedanke mich von ganzem Herzen bei Jennifer Ash, Raymond Kennedy, Betsy Lerner, Gordon Lish, Pat Mulcahy, David Rosenthal, Elliott Hoffman, Dr. Robert Towers, Amanda Urban, Terry Wozencraft sowie Deirdre und Mel Wulf.
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