R. L. Stine
Mörderische Gier Bei Geld hört Freundschaft auf
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Johanna Ellsworth
Lo...
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R. L. Stine
Mörderische Gier Bei Geld hört Freundschaft auf
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Johanna Ellsworth
Loewe
Stine, Robert L.: Fear Street / R. L. Stine. – Bindlach : Loewe Mörderische Gier : Bei Geld hört Freundschaft auf/ aus dem Amerikan. übers, von Johanna Ellsworth. – 1. Aufl. – 2000
ISBN 3-7855-3689-5
ISBN 3-7855-3689-5 – 1. Auflage 2000 Titel der Originalausgabe: : The Rich Girl Englische Originalausgabe Copyright © 1997 Parachute Press, Inc. Alle Rechte vorbehalten inklusive des Rechts zur vollständigen oder teilweise!! Wiedergabe in jedweder Form. Veröffentlicht mit Genehmigung des Originalverlags, Pocket Books, New York. Fear Street ist ein Warenzeichen von Parachute Press. © für die deutsche Ausgabe 2000 Loewe Verlag GmbH, Bindlach Aus dem Amerikanischen übersetzt von Johanna Ellsworth Umschlagillustration: Arifé Aksoy Umschlaggestaltung: Pro Design, Klaus Kögler Gesamtherstellung: Graphischer Großbetrieb Pößneck GmbH
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Kapitel 1 Sydney Shue warf die Blechkelle zurück in die Popcornmaschine und eilte ans andere Ende der Theke. „Hast du gesehen, mit wem Cathy Harper ins Kino gegangen ist?", flüsterte sie ihrer besten Freundin Emma Naylor aufgeregt zu. „Mit Marty Griffin!" „Soll das ein Witz sein?" Emma, die gerade die Glasoberfläche der Theke putzte, hielt inne und sah sie erstaunt an. „Ich hab gedacht, die hätten Schluss gemacht!" „Haben sie auch", erwiderte Sydney. „Aber ich hab sie eben lachend und Händchen haltend reingehen sehen. Anscheinend sind sie wieder zusammen." „Das ist das vierte Mal in diesem Jahr, dass sie Schluss gemacht haben und doch wieder zusammengekommen sind", bemerkte Emma und grinste. Sie war wieder dabei, die Theke sauber zu wischen. „Warte mal – jetzt haben wir April, stimmt's? Vor Ende des Schuljahrs trennen sie sich wahrscheinlich mindestens noch zweimal und versöhnen sich wieder. Die stellen garantiert irgendwann einen Rekord auf." Sydney kicherte und fing an, einen Serviettenbehälter aufzufüllen. Das Beste an ihrem Job im Cineplex-Kino in dem Einkaufszentrum auf der Division Street war, dass Emma auch dort arbeitete. Die beiden waren seit der sechsten Klasse eng befreundet, aber in letzter Zeit hatten sie nicht mehr viel miteinander unternommen. „Wahrscheinlich, weil ich so oft mit Jason zusammen bin", dachte Sydney. Ihr neuer Freund Jason Phillips war nicht gerade einer von Emmas besten Kumpels. Emma hatte das zwar nicht direkt gesagt, doch Sydney spürte es trotzdem. Wann immer Jason auftauchte, bekamen die blauen Augen ihrer Freundin einen eisigen Blick. „Emma muss ihn bloß besser kennen lernen", dachte Sydney. Sie strich sich eine dunkle Locke aus der Stirn. „Jason kommt nachher zu mir, um für den Geschichtstest am Mittwoch zu lernen. Warum schaust du nicht auch vorbei?", schlug sie vor. „Wir könnten uns 'ne Pizza holen." 9
Emma schüttelte den Kopf. „Lieber nicht. Ich will noch mit dem Manager reden, wenn er nachher kommt. Fragen, ob ich hier eine Extraschicht arbeiten kann." Sydney sah sie groß an. „Noch mehr Arbeit? Emma, du bist doch schon drei Abende in der Woche hier, und dazu am Wochenende!" „Glaub mir, ich weiß selber, wie viel ich schufte", sagte Emma und verdrehte die Augen. Sie seufzte. „Aber ich muss irgendwie noch mehr Geld verdienen. Es wird immer schlimmer." „Was wird immer schlimmer?" „Das mit meiner Mom", erklärte Emma und strich sich das lange, blonde Haar hinter die Ohren. „Sie hat sich vor vielen Jahren das Knie verletzt, und es ist nie richtig verheilt. Der Arzt sagt, sie muss dringend operiert werden." Sydney runzelte mitfühlend die Stirn. Emmas Mutter arbeitete als Kellnerin im Shadyside Diner, wo sie sechs Tage in der Woche von vier Uhr nachmittags bis Mitternacht auf den Beinen war. „Willst du damit sagen, dass das Restaurant ihr keinen Lohn zahlt, während sie im Krankenhaus liegt?", fragte sie. „Brauchst du deswegen die Extrakohle?" Emma grunzte verächtlich. „Klar zahlt das Restaurant ihr nichts, wenn sie krank ist. Und außerdem werden die sie bestimmt feuern, wenn ihr Knie nicht bald operiert wird. Sie behaupten schon, die Gäste würden sich beschweren, weil sie so langsam bedient." „Das ist echt unfair!", meinte Sydney. „Das brauchst du mir nicht zu sagen." Emma stieß noch einen Seufzer aus. „Außerdem haben wir keine Krankenversicherung; daher müssen wir die Operation selber zahlen. Und das schaffen wir nicht, solange ich keine Möglichkeit finde, mehr Geld zu verdienen." Bevor Sydney antworten konnte, tauchte ein Mann mit vier kleinen Kindern an der Theke auf. Während Emma und sie Popcorn in Pappbehälter schaufelten und Becher mit Limonade füllten, sah Sydney die Freundin immer wieder von der Seite an. „Wie besorgt Emma wirkt", dachte sie. „Wie verzweifelt. Kein Wunder! Wenn ich mir vorstelle, meine eigene Mutter brauchte eine Operation und könnte sie nicht bezahlen ..." Sydney schüttelte den Kopf. Sie konnte es sich nicht vorstellen. Nicht richtig. 10
Auch wenn Emma und sie beste Freundinnen waren, waren sie doch sehr verschieden. Emma war klein und blond. Sydney war groß und hatte dunkelbraunes Haar und dunkle Augen. Sydney war von Natur aus ziemlich nervös, während Emma gewöhnlich ganz cool und die Ruhe in Person war. Auch kamen sie aus ganz verschiedenen Welten. Sydneys Eltern waren seit zwanzig Jahren glücklich verheiratet. Emmas Eltern waren geschieden und hatten kaum noch Kontakt zueinander. Emma lebte in einem winzigen, heruntergekommenen Häuschen im alten Stadtkern. Sydneys Elternhaus war eine großzügige Villa auf einem riesigen Grundstück oben in Norm Hills, wo nur wohlhabende Menschen lebten. „Emma arbeitet, weil sie Geld verdienen muss", dachte Sydney. „Ich arbeite, weil Mom und Dad mich nicht zu sehr verwöhnen wollen. Sie möchten, dass ich lerne, Verantwortung für mein eigenes Leben zu übernehmen." Nicht, dass es Sydney was ausmachte. Sie hielt es für eine gute Idee. Und sie mochte ihren Job. Aber sie wusste auch, dass sie jederzeit kündigen konnte, ohne sich wegen des Essens oder wegen Klamotten Sorgen machen zu müssen. Oder gar wegen irgendwelcher Operationen. Ein lauter Schrei unterbrach Sydneys Gedankenfluss. Eins der Kinder, die sie gerade bedient hatten, war gestolpert und hatte seinen Riesenbecher Popcorn fallen lassen. Jetzt stand der kleine Junge vor dem Mann, der die Kinokarten abriss, heulte und jammerte und war allen anderen im Weg. Sydney ergriff Handbesen und Kehrschaufel und stürmte hin, während Emma die Kunden bediente, die Schlange standen. Als Sydney schließlich den Berg Popcorn aufgekehrt hatte, warteten die Käufer bereits in drei Reihen vor der Theke. Für den Rest der Schicht kamen Emma und sie kaum zum Luftholen. Um fünf Uhr hatten sie endlich Feierabend. Na ja, fast Feierabend. Zuerst mussten sie noch den Müll rausbringen. Mit drei voll gestopften Plastiktüten beladen, ging Sydney hinter Emma durch eine Seitentür auf einen Hof, der hinter dem Einkaufszentrum lag. „Dieser Hinterhof ist mir unheimlich", meinte Sydney und schauderte. Sie gingen auf die großen Müllbehälter zu. „Es ist hier 11
immer so dunkel." „Ja, und die Container stinken", klagte Emma. Sie hob ihre Müllbeutel hoch und ließ sie in einen der Behälter fallen. Mit einer gezielten Bewegung warf Sydney ihre Tüten auf den Container. Zwei fielen hinein; die dritte blieb am Rand hängen. Als sie sich reckte, um die Tüte in den Müllbehälter zu drücken, blieb ihr silbernes Armband mit den zierlichen Anhängern an der scharfen Ecke des Containers hängen. Behutsam zog sie an dem Kettchen. Doch nicht behutsam genug. Der Verschluss brach. Das Armband glitt langsam von ihrem Handgelenk. Verzweifelt versuchte sie, es mit der Hand zu erwischen. Vergeblich. Das Kettchen rutschte über die Kante des Müllbehälters und fiel hinein. Mit angehaltenem Atem griff Sydney in den Behälter und tastete herum. Doch sie fühlte bloß das glatte Plastik der Mülltüten. „Was machst du da?", wollte Emma wissen. „Mein Armband ist reingefallen!", jammerte Sydney. „Oh nein! Doch nicht etwa das silberne?", fragte Emma. Sydney nickte. „Das ist ein altes Familienerbstück. Meine Großmutter hat es mir geschenkt." Sie sah sich im dunklen Hinterhof um und entdeckte einen Stapel Holzblöcke, der an der Hauswand aufgehäuft war. „Hilf mir, ein paar von denen rüberzutragen, okay?" Emma rümpfte die Nase. „Du willst doch nicht etwa im Müll rumwühlen, oder?" „Ich muss", sagte Sydney. „Ich muss das Armband unbedingt finden! Es ist mein absolutes Lieblingsstück!" Mit Emmas Hilfe stapelte sie zwei grobe Holzblöcke neben dem verrosteten Müllbehälter auf. Dann stieg sie darauf, um hineinzublicken. „Siehst du es?", fragte Emma. Sydney schüttelte den Kopf. „Wahrscheinlich ist es zwischen die Mülltüten gerutscht, die wir gerade reingeworfen haben." Sie packte eine davon und schob sie vorsichtig beiseite. Darunter kam ein weiterer Beutel zum Vorschein, der aufgerissen war und aus dem ein Berg überreifen, stinkenden Abfalls quoll. 12
„Igitt." Sydney hielt den Atem an und ergriff einen Zipfel der zweiten Mülltüte. Die Tüte raschelte und bewegte sich. Und dann flog sie plötzlich in die Höhe, als hätte sie von unten einen Stoß erhalten. „Hier ist irgendwas!", schrie Sydney. „Irgendwas Lebendiges!"
Kapitel 2 Sydney zog die Hand zurück und stieß noch einen spitzen Schrei aus. Hinter einem Haufen zerknüllter Papierservietten funkelten zwei Augen sie an. Zwei zornige Augen in einem braun behaarten Gesicht mit langen Schnurrbarthaaren und spitzen, glitzernden Zähnen. „Eine Ratte!", schrie sie. „Hilfe, Emma, wie ekelhaft! Hier sitzt eine Ratte!" „Hau ab – schnell!", rief Emma. Bevor Sydney sich rühren konnte, sprang die Ratte hoch; mit scharrendem Geräusch umklammerten ihre Klauen die Metallkante des Containers. Der Nager fauchte wie eine Katze und schnappte nach Sydney. Atemlos vor Angst sprang sie von den Holzblöcken herunter. Die Ratte fauchte noch einmal und stieß sich vom Müllbehälter ab. Sie landete zu Füßen der beiden Mädchen. Emma fuhr zusammen, machte einen Schritt nach hinten und stieß gegen Sydney. Einen Augenblick blieb die Ratte bewegungslos stehen und starrte die Mädchen an, als überlegte sie, ob sie die beiden angreifen sollte. Dann wandte sie sich ab und huschte mit ihrem langen, unbehaarten Schwanz auf und davon. Emma atmete erleichtert auf. „Oh Gott. Mir ist ganz schlecht, ehrlich. Das Biest war riesengroß!" „Ja. Hoffentlich sitzt keiner ihrer Kumpels in der Mülltonne", erwiderte Sydney. Schaudernd stieg sie wieder auf die Holzblöcke. Emma riss vor Schreck die Augen weit auf. „Sydney! Du wirst doch nicht etwa weiter darin herumwühlen, oder?" 13
„Doch!", sagte Sydney. „Ich muss das Armband wiederhaben, Emma." Sie sah ihre Freundin flehend an. „Wenn du mir hilfst, finde ich es viel schneller." Emma stöhnte. Aber dann schleppten Sydney und sie noch ein paar Holzblöcke an den Müllbehälter heran, kletterten hinauf und schauten hinein. Sydney hielt sich mit einer Hand Nase und Mund zu und schob mit der anderen ein paar Mülltüten beiseite. Darunter kam weiterer Abfall zum Vorschein – Orangenschalen, verfaulte Hot-Dog-Brötchen und fettiges Papier. „Ich wünschte, wir hätten Handschuhe", murmelte sie. Sie hob mit spitzen Fingern ein paar Papierservietten auf und warf sie in die Ecke. „Wenn ich nach Hause komme, wasche ich mir mindestens eine Stunde lang die Hände!" „Ich wünschte, wir hätten Sauerstoffmasken", murrte Emma. Sie seufzte und schleuderte eine Mülltüte von einer Seite des Behälters auf die andere. „Der Manager ist jetzt sicher da, Syd. Du weißt doch, dass ich mit ihm reden muss." „Ich weiß. Aber er wird bestimmt noch eine Weile bleiben", beruhigte Sydney sie. „Das hier wird nicht lange dauern. Schließlich muss das Armband ja irgendwo sein. Ich hab es doch reinfallen sehen." Emma hob einen Popcornbehälter auf, schaute hinein und warf ihn weg. „Hoffentlich ist es nicht bis ganz auf den Boden gefallen. Ich will dir ja helfen, Syd. Aber ... ich klettere auf keinen Fall in diesen Müllbehälter hinein." Mit einem Stock, den sie im Container gefunden hatte, wühlte Sydney in einem Haufen Abfall herum. „Emma!", schrie sie plötzlich und zeigte darauf. „Ich sehe es!" „Hol es schnell raus - damit wir endlich von hier verschwinden können", stöhnte Emma. Das wertvolle alte Schmuckstück lag auf einem beigefarbenen Seesack und schimmerte im schwachen Dämmerlicht. Sydney beugte sich über den Rand des Müllcontainers und streckte ihre Hand danach aus. Sie erwischte ein Ende des Armbands und zog daran. Das Kettchen gab zuerst nach, verfing sich dann aber irgendwo.
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„Es ist hängen geblieben", meldete Sydney. „An einer Tasche oder so was." Sie packte eine Schlaufe des Seesacks und schleuderte ihn über den Rand des Containers. Mit einem Seufzer der Erleichterung hüpfte Sydney herunter und setzte sich auf die Holzblöcke. Sie legte sich den Sack auf die Knie und löste behutsam das Armband. Dabei fiel der Seesack auf den Boden. Sydney warf einen Blick darauf und wandte sich wieder ihrem Armband zu. Doch etwas hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Aus dem halb offenen Reißverschluss des Seesacks ragte die Ecke eines Geldscheins heraus. „Irre ich mich, oder ist das tatsächlich ein Fünfzig-Dollar-Schein?", fragte Sydney. „Was?" Emma griff nach dem Sack und machte den Reißverschluss ganz auf. „Und – ist es ein Geldschein?", wiederholte Sydney, noch immer mit dem Verschluss ihres Armbands beschäftigt. Emma antwortete nicht. Sydney legte sich das Armband vorsichtig um und sah die Freundin an. „Was ist? Sind es fünfzig Eier?" Emma schaute auf. „Du wirst es nicht glauben", flüsterte sie. Dann hielt sie der Freundin den offenen Sack hin. „Sieh mal!" Sydney schaute hinein. „Wow!" Eine Unmenge Geldscheine, abgepackt in Stapeln, die mit Gummibändern umwickelt waren. Lauter Fünfzig-Dollar-Scheine. „Ich glaub's einfach nicht!", rief Emma fassungslos aus. Sie holte einen Geldstapel heraus und blätterte ihn durch wie einen Satz Spielkarten. „Das sind alles Fünfziger!" Sie nahm einen zweiten Stapel in die Hand und schaute ihn durch. Sydney tat dasselbe. In wenigen Minuten häuften sich die Fünfzig-Dollar-Scheine zu ihren Füßen. „Wow! Absoluter Wahnsinn! Das sind ja mindestens hunderttausend Dollar!", flüsterte Emma. „Das gibt's doch nicht." Sydney starrte das Geld und dann ihre Freundin an. „Was glaubst du, wem es wohl gehört? Und was macht es im Müllcontainer?" 15
Emma schüttelte langsam den Kopf. „Hunderttausend Dollar", murmelte sie noch einmal, ohne den Blick von dem vielen Geld abzuwenden. „Hunderttausend Dollar!"
Kapitel 3 Mit gerunzelter Stirn starrte Sydney auf den Geldhaufen. „Das ist echt komisch – milde ausgedrückt. Was macht es wohl im Müllcontainer?", fragte sie noch einmal. „Wen interessiert das schon?" Emma sah sich verstohlen im Hinterhof um. Dann fing sie hastig an, die Geldstapel wieder in den Sack zu stopfen. „Wir sollten es lieber verstecken, bevor uns irgendeiner damit erwischt." „Du hast Recht", stimmte Sydney ihr zu. „Glaubst du, das Geld stammt aus einem Banküberfall oder so was?" Emma zuckte die Achseln. „Vielleicht weiß die Polizei ja mehr darüber." Sydney machte den Reißverschluss zu und lachte. „Ich kann's kaum erwarten, den Gesichtsausdruck der Beamten zu sehen, wenn wir ihnen das Geld aushändigen." „Meinst du das im Ernst?", fragte Emma. „Willst du wirklich das ganze Geld der Polizei geben?" „Klar. Was sollen wir sonst tun?" Emma beugte sich zu ihr. Ihre blauen Augen blitzten vor Aufregung. „Es behalten!", flüsterte sie. Überrascht sah Sydney ihre Freundin an. „Das ist doch wohl ein Witz, oder?" Sie wartete darauf, dass Emma zu lachen anfing, dass Emma sagte: „Klar sollte das ein Witz sein." Doch Emma lachte nicht. Sie lächelte noch nicht einmal. „Das war kein Witz", wurde Sydney plötzlich klar. „Es ist ihr voller Ernst." „Denk doch mal nach, Syd!", sagte Emma drängend. „Wir können es uns teilen – jede kriegt fünfzigtausend Dollar! Damit wäre ich in 16
der Lage, Moms Operation zu bezahlen! Wir könnten endlich das Dach reparieren lassen und ein paar ..." „Moment mal!", unterbrach Sydney sie. „Wie willst du deiner Mutter erklären, woher du plötzlich fünfzigtausend Dollar hast?" „Ich sag ihr einfach die Wahrheit", meinte Emma. „Mom würde das nichts ausmachen. Weshalb auch?" „Weil ..." Sydney hielt inne und schüttelte den Kopf. Sie konnte einfach nicht glauben, dass Emma so etwas wirklich tun wollte. „Hör mal, Emma, ich will nicht wie ein Moralapostel klingen, aber das Geld gehört uns doch nicht!" „Klar gehört es uns!", rief Emma aus. „Es war in einem Müllcontainer unter einem Haufen Abfall vergraben - und wir haben es gefunden. Wer es findet, dem gehört es, stimmt's?" „Aber ..." „Komm schon, Sydney! Jeder andere würde es behalten. Warum sollen wir das nicht tun?", fragte Emma. „Weißt du, was ich mit dem Geld sonst noch alles machen könnte? Ich könnte aufs College gehen. Ich müsste mir keine Sorgen mehr darum machen, ob ich ein Stipendium kriege oder nicht. Und ich könnte mir endlich ein paar schicke Klamotten leisten!" Sydney riss vor Erstaunen die Augen auf. „Was ist denn das Problem mit deinen Klamotten?" „Ich trage jeden Tag dasselbe", sagte Emma seufzend. „Ich schäme mich deswegen. Aber von so was hast du ja keine Ahnung", fügte sie verbittert hinzu. „Du weißt nicht, wie es ist, wenn man wirklich arm ist. Wie es ist, wenn man sich etwas wünscht, was man nicht kriegen kann. Aber ich weiß, wie das ist. Und ich sag dir: Wir müssen das Geld behalten!" Sydney sah sie geschockt an. „Hat Emma es mir etwa schon immer übel genommen, dass ich reiche Eltern habe?", fragte sie sich. „Hab ich das vielleicht einfach nicht gemerkt? Ich habe es doch nie an die große Glocke gehängt, dass wir Geld haben. Ich hab schließlich nicht damit angegeben oder sie spüren lassen, dass sie arm ist. So was würde ich nie machen – schon gar nicht mit meiner besten Freundin!" Verwirrt und verletzt starrte Sydney auf den fleckigen Seesack. „Du irrst dich", murmelte sie. „Ich weiß sehr wohl, wie es ist, wenn man
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sich etwas wünscht, was man nicht kriegen kann. Meine Eltern schenken mir auch nicht alles, was ich will." „Ach wirklich! Hast du dir etwa zum Geburtstag kein Auto gewünscht?", fragte Emma. „Und haben sie dir etwa keins geschenkt?" „Schon. Aber ich muss die Versicherung selber zahlen", erklärte Sydney. „Mom und Dad wollen mich auf keinen Fall zu sehr verwöhnen und geben mir nur sehr wenig Taschengeld. Es gibt genug Sachen, die ich mir gern mit dem Geld hier kaufen würde!" „Dann lass es uns behalten!", rief Emma aus und blickte ihre Freundin flehend an. „Was hält uns davon ab?" Sydney biss sich auf die Lippe. Sie musste zugeben, es war sehr verlockend. Aber auch beängstigend. „Wir wissen nicht, woher es stammt", sagte sie. „Vielleicht sucht die Polizei danach. Oder wer immer es hier gelassen hat. Wenn wir plötzlich mit viel Geld um uns schmeißen und sie uns dabei erwischen, könnten wir in große Schwierigkeiten geraten." Emma dachte einen Augenblick lang nach. „Okay, wir machen Folgendes: Eine Weile geben wir es nicht aus. Wir verstecken es irgendwo und warten ab, ob sie etwas darüber in den Nachrichten bringen." „Und wenn ja, übergeben wir es der Polizei, okay?", fragte Sydney. „Ja. Aber wenn in den Nachrichten nichts davon erwähnt wird ...", sagte Emma und grinste, „dann gehört es uns." Sydney lachte nervös. Sie konnte kaum glauben, dass sie sich ernsthaft auf so etwas einließ! „Wo sollen wir es verstecken?", fragte Emma. „Vielleicht bei euch? Ihr habt einen riesigen Dachboden." „Nein! Ich will es auf keinen Fall in unserem Haus haben", protestierte Sydney. „Dann hätte ich ständig Angst." „Also, ich will es auch nicht nach Hause mitnehmen", sagte Emma. „Okay, hilf mir mal, damit uns ein gutes Versteck einfällt. Irgendeines, das außer uns keiner kennt." „Wie wär's mit der alten Weide?", schlug Sydney vor. „Die im Fear-Street-Wald, wo wir uns früher immer zum Picknick und so getroffen haben."
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„Ein perfektes Versteck!", stimmte Emma zu. „Wir können das Geld unter dem Baum vergraben. Da findet es keiner. Dann warten wir einfach ein paar Wochen ab, um sicherzugehen, dass wir es wieder holen können." Sydney schaute sich um. Die Dämmerung setzte rasch ein. Der düstere Hinterhof war noch dunkler geworden. Sie schauderte und rieb sich die Arme. „Lass uns gehen." „Einverstanden." Emma stand auf und hob den Sack hoch. „Kannst du uns in den Wald fahren?" „Klar. Tun wir es gleich, okay?" Als sie den Hinterhof verließen, wandte Sydney sich um und schaute zurück. „Es ist noch nicht zu spät", dachte sie. „Nimm den Sack, und wirf ihn zurück in den Müllcontainer. Soll jemand anders ihn finden." „Komm schon, Syd", drängte Emma und kicherte vor Aufregung. „Beeil dich!" Sydney blieb noch einen Augenblick stehen. Dann holte sie tief Luft und folgte ihrer Freundin. „Da vorne ist es!", rief Emma und deutete auf den Baum. Sydney blickte den Weg entlang, der sich durch den Fear-Street-Wald schlängelte. Einige Meter weiter stand eine riesengroße Weide. Ihre untersten Äste hingen bis auf den Boden und bildeten einen hellgrünen Vorhang. „Früher sind wir unter dem Baum gesessen und haben uns gegenseitig unsere Geheimnisse erzählt", erinnerte sich Sydney. „Es war das perfekte Versteck. Jetzt wird es das perfekte Versteck für unser allergrößtes Geheimnis sein." Sydney holte ihre zusammenklappbare Schneeschaufel aus dem Kofferraum und ging hinter Emma den schlammigen Waldweg entlang, bis sie den Baum erreichten. „Der Boden ist aufgeweicht", stellte Emma fest, während sie ein paar Äste beiseite schob und darunter kroch. „Es wird leicht sein, ein Loch zu graben. Ich fang an." Sie setzte den Sack ab und nahm Sydney die Schaufel aus der Hand. „Sie ist so aufgeregt", dachte Sydney. „Die ganze Fahrt über hat sie bloß von den vielen Sachen geredet, die sie mit dem Geld bezahlen 19
kann. Die Operation ihrer Mutter. Einen CD-Spieler. Einen Haufen Klamotten. Sie ist viel zu aufgedreht, um Angst zu haben." Sydney warf einen Blick durch den grünen Vorhang aus Zweigen. Der Fear-Street-See war nicht weit weg. Sie konnte das Wasser hören, das ans Ufer klatschte, doch sie konnte es nicht sehen. Der Fear-Street-Wald wuchs wild und dicht. Und er war dunkel. Sydney lief ein kalter Schauer über den Rücken. Jetzt wünschte sie, das Geld nie hergebracht zu haben. Sie griff nach der Schaufel. „Ich bin dran." Kräftig stieß sie die Schaufel in die Vertiefung, die Emma ausgehoben hatte, und fing an zu graben. Nach kurzer Zeit war das Loch ungefähr sechzig Zentimeter tief. Emma ließ den Sack hineinfallen, und Sydney schaufelte rasch Erde darüber. Emma legte als Markierung einen sandfarbenen Stein auf die Stelle, dann wischte sie sich den Dreck von den Händen. „Zwei Wochen", sagte sie mit einem zufriedenen Lächeln. „Wenn in der Zwischenzeit nichts passiert, kommen wir in zwei Wochen zurück und holen es uns." „Okay. Aber lass uns jetzt gehen", drängte Sydney und klappte die Schaufel wieder zusammen. „Der Wald ist mir unheimlich." Sie hatten sich gerade auf den Rückweg zum Auto gemacht, als Sydney plötzlich stehen blieb und Emma am Arm packte. „Warte!", flüsterte sie. „Hast du das gehört?" „Was denn?" „Ich weiß nicht genau." Lauschend hielt Sydney den Atem an. Ein Ast knackte. Blätter raschelten. Die Geräusche kamen von hinten. Emmas Augen weiteten sich vor Angst, als ein zweiter Ast knackte. Diesmal war es näher. Sydneys Herz klopfte so laut, dass sie es hören konnte. „Hat jemand gesehen, wie wir den Sack vergraben haben? Vielleicht ist uns einer aus dem Hinterhof gefolgt." Wieder raschelten Blätter. Immer lauter. Immer näher. Vor Angst keuchend, drehte Sydney sich um. Und schrie auf, als ein dunkler Schatten auf den Waldweg sprang.
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Kapitel 4 Sydney stolperte und stieß gegen Emma. Dann schrie sie wieder. „Hör auf, Sydney!", rief Emma; sie packte ihre Freundin am Arm, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. „Es ist bloß ein Waschbär!" Sydney hielt sich die Hand vor den Mund und starrte auf das pelzige, dunkle Wesen. Der Waschbär glotzte ein paar Sekunden lang zurück; seine schwarz umringten Augen blitzten erschrocken auf. Dann huschte er vom Weg herunter und verschwand im wuchernden Gebüsch. Sydney atmete erleichtert auf. „Ich hab gedacht – ich hab gedacht, dass uns jemand beim Vergraben des Geldes beobachtet hat!" „Ich auch", gab Emma zu. Sie strich sich das lange, blonde Haar aus dem Gesicht und lachte. „Komm, lass uns von hier verschwinden, bevor wir noch beide die totale Panik kriegen." Sydney warf einen letzten Blick zurück auf die Weide. Die herunterhängenden Äste bewegten sich wie ein Vorhang im Wind. Schaudernd wandte sie sich ab und lief rasch weiter. Sydney brachte Emma heim und fuhr dann, so schnell sie konnte, nach Hause. Ihre Hände waren vom Wühlen im Müll ganz verdreckt. Ihre Fingernägel waren schwarz vor Schmutz. Eine dicke Schlammschicht verkrustete ihre Turnschuhe. „Eine lange, heiße Dusche", dachte sie. „Genau das ist es, was ich jetzt brauche." Doch Sydney war klar, dass auch eine Dusche ihre Zweifel nicht beseitigen konnte. Warum hatte sie sich bloß von Emma überreden lassen, das Geld mitzunehmen? Emma konnte es wirklich brauchen, das wusste sie. Und schließlich hatten sie es ja nicht gestohlen. Oder doch? Nervös und immer noch beunruhigt fuhr Sydney mit ihrem roten Auto durch das hohe Eisentor und die lange, kurvige Auffahrt zu dem großzügigen Backsteinhaus ihrer Eltern hinauf. Sie lenkte den Wagen hinter das Haus in einen mit Pflastersteinen belegten Hof, der 21
von einer Reihe von Pferdeställen umgeben war. Da sie nur zwei Pferde besaßen, waren die drei anderen Ställe in Garagen umgebaut worden. Sydneys Vater parkte seinen BMW immer in der ersten. Als sie langsam daran vorbeifuhr, um ihren Wagen in der Garage daneben abzustellen, bremste sie abrupt. Das Tor zur Garage ihres Vaters stand offen. Eine Gestalt beugte sich über den Motor des väterlichen BMWs. Gelbes Licht schien auf dichtes, hellblondes Haar. Es war Sydneys Freund Jason Phillips. „Das hab ich ja total vergessen", dachte sie. „Wir wollten doch zusammen büffeln. Nach dem, was ich gerade getan habe, kann ich mich jetzt unmöglich darauf konzentrieren." Sie lächelte, als Jason ihr zuwinkte. Wenigstens hatte ihm das Warten nichts ausgemacht. Solange man ihm ein Auto zum Reparieren hinstellte, war Jason glücklich. Sydney winkte zurück und fuhr ihren Wagen in die Garage. Sie klappte den Schminkspiegel herunter und überprüfte ihr Gesicht und die Frisur. Auf Wangen und Kinn waren Schmutzstreifen. Ein paar Blätter hatten sich in ihren Haaren verfangen. Sie wischte sich das Gesicht mit einem Taschentuch ab, entfernte das Grünzeug aus ihren Locken und lief zu Jason. „Tut mir Leid, dass ich so spät komme. Was ist denn mit Dads Auto los?" „Die Zündkerzen mussten ausgewechselt werden. Ich hab mir gedacht, ich mach's jetzt, während ich warte." Jason sah sie über die Motorhaube hinweg an. Er war groß und gut aussehend und hatte blaue Augen. Wenn er lächelte, bildeten sich kleine Lachfältchen in seinen Augenwinkeln. Aber jetzt lächelte er nicht. „Was hat dich denn aufgehalten?", fragte er. „Ich hab mir schon Sorgen gemacht." „Ach, ich ..." Sydney suchte nach einer Ausrede. „Ich musste länger arbeiten. Eine der anderen ist nicht gekommen." Sie spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg und wusste, dass sie rot wurde. Sie wurde immer rot, wenn sie log. „Komm schon, Sydney, so bescheuert bin ich nicht, dass ich dir das abkaufe", sagte er. „Wenn du länger gearbeitet hättest, dann hättest du mich angerufen. Aber das hast du nicht." 22
Sydney wickelte sich eine Haarsträhne um den Finger und überlegte krampfhaft, was sie sagen sollte. Jason kniff die Augen zusammen. „Du verheimlichst mir was", meinte er. „Ich seh's dir am Gesicht an." „Tu ich nicht." „Tust du doch!" Mit einem lauten Knall ließ Jason die Motorhaube zuschnappen. Sydney zuckte zusammen. Seine blitzenden Augen machten ihr Angst. „Was hast du denn für ein Geheimnis, Sydney?", fragte Jason herausfordernd. „Hast du einen anderen? Hast du dich mit einem anderen Typen getroffen, während ich hier wie ein Idiot auf dich gewartet habe?" „Nein!" „Dann sag mir die Wahrheit." Jason lief um den Wagen herum und kam auf sie zu. „Wo warst du? Was hast du getrieben?" Ängstlich und verwirrt starrte sie Jason an. Sollte sie versuchen, sich noch eine Lüge einfallen zu lassen? Oder sollte sie ihm von dem Geld erzählen?
Kapitel 5 „Wenn du dich nicht mit einem anderen getroffen hast, dann erzähl mir, wo du warst", sagte Jason eindringlich. Sydney schwieg; sie überlegte immer noch hin und her. Jason ließ die Schultern sinken. „Ich glaube, ich hab meine Antwort", murmelte er. Er machte Anstalten zu gehen. „Nein!" Sydney streckte den Arm aus und hielt ihn an der Hand fest. „Es ist nicht so, wie du denkst, Jason. Wirklich nicht! Ich sag's dir, okay? Aber du musst mir versprechen, dass du es niemandem weitererzählst." „Warum nicht?" „Versprich es!", beharrte sie. 23
„Okay, okay, ich verspreche es." Jason schob seine Finger zwischen ihre und führte sie zur Werkzeugbank, die hinten in der Garage stand. Er holte eine Dose Limonade aus einem kleinen Kühlschrank, öffnete sie und reichte sie ihr. „Danke." Sydney nahm einen langen Schluck. Jason streckte die Hand aus und berührte ihr Haar; dann zog er ein Blatt aus einer ihrer dunklen Locken. „Du siehst aus, als wärst du auf einem Ausflug gewesen", bemerkte er. Er küsste sie sanft und lehnte sich dann nach hinten gegen die Bank. „Okay", sagte er. „Erzähl's mir." „In gewisser Weise war ich auf einem Ausflug." Sydney nahm noch einen Schluck Limonade. Dann berührte sie das silberne Armband, das sie am Handgelenk trug. „Mit dem hier hat alles angefangen", fügte sie hinzu. Sie holte tief Luft und erzählte Jason die ganze Geschichte – wie ihr Armband in den Müllcontainer gefallen war, der ekelhafte Abfall, die Ratte. Und der verdreckte Seesack voller Fünfzig-Dollar-Scheine. Jason starrte sie mit überraschter Miene an. „Hunderttausend Dollar?", fragte er langsam. „Wahnsinn! Bist du sicher?" Sydney nickte. „Vielleicht sogar mehr. Wir waren zu aufgeregt, um das ganze Geld zu zählen." Jason stieß einen leisen Pfiff aus. „Das Ganze war so unwirklich!", fuhr sie fort. „Wie in einem Film!" „Was habt ihr dann gemacht?" „Emma ist total ausgeflippt." Jason lachte. „Ehrlich?" „Na ja, du weißt ja, dass sie kaum Geld hat, Jason", erinnerte Sydney ihn. „Da ist sie nicht die Einzige." „Ach, komm", widersprach Sydney ihm. „Deine Eltern schwimmen vielleicht nicht gerade im Geld. Aber ihr habt genug davon, und das weißt du genau." „Okay. Vergiss es." Jason machte noch eine Dose auf und nahm einen Schluck. „Was ist dann passiert?" „Ich wollte den Sack der Polizei übergeben", erzählte Sydney. „Aber da hat Emma angefangen, die ganzen Sachen aufzuzählen, die sie damit kaufen könnte. Und dann hat sie mich mit ihrer Aufregung 24
angesteckt. Wir haben uns kurz gestritten. Aber am Ende haben wir entschieden, das Geld zu behalten. Es irgendwo zu verstecken." Sydney erzählte Jason, wie sie den Sack mit dem Geld unter der Weide im Fear-Street-Wald vergraben hatten. Als sie fertig war, lachte sie fast vor Erleichterung. Es fühlte sich so gut an, jemandem beichten zu können, was sie getan hatten. Jason pfiff wieder leise durch die Zähne. Dann beugte er sich mit ernstem Blick vor. „Okay, hör zu", sagte er. „Bist du sicher, dass außer euch niemand im Hinterhof war?" „Bloß Emma und ich. Und die Ratte." Sydney schauderte. „Du hättest diese widerliche, ekelhafte Ratte mal sehen sollen, Jason! Sie war so groß wie ein ..." „Auf dem Weg nach draußen habt ihr auch niemanden bemerkt?", unterbrach er sie. „Keiner ist euch in den Wald gefolgt?" „Ich bin ganz sicher, dass uns niemand gefolgt ist." Jason nickte nachdenklich. „Erzähl mir noch mal von dem Geld", bat er. „Wer hat es gefunden? Du oder Emma?" „Na ja, ich habe den Sack gefunden", sagte Sydney. „Und mir war, als würde ein Fünfzig-Dollar-Schein herausragen. Dann hat Emma ihn aufgemacht und das ganze Geld entdeckt." Sie runzelte die Stirn. „Warum fragst du?" „Zu schade, dass Emma den Sack aufgemacht hat." Jason machte eine Pause; ein seltsames Lächeln lag auf seinem Gesicht. „Jetzt können du und ich uns erst dann das Geld teilen, wenn wir Emma umgebracht haben."
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Kapitel 6 „Wie bitte?", fragte Sydney geschockt. Hatte sie ihn richtig verstanden? Sicher nicht! „Was hast du gerade gesagt?" „Ich hab gesagt, wenn du und ich uns das Geld teilen wollen, müssen wir Emma umbringen", wiederholte Jason. „Was?" Sydney sah ihn schockiert an. „Hast du den Film nicht gesehen?", fragte Jason. „Vier Typen finden eine Tasche voller Kohle. Sie entschließen sich, sie zu behalten. Und dann fangen sie an, sich gegenseitig umzubringen, damit keiner ihr Geheimnis verraten kann." „Den hab ich nie gesehen", sagte Sydney. „Ein echt toller Film." Jason grinste. Ein Gefühl der Erleichterung durchflutete Sydney. „Einen Augenblick hab ich schon gedacht, du meinst das im Ernst", sagte sie. „Dass du Emma umbringen willst." Jason riss erstaunt seine blaue Augen auf. „Wofür hältst du mich eigentlich?" Sydney wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Sie lachte beschämt. „Dass wir das Geld gefunden haben, macht mich noch ganz verrückt", dachte sie schuldbewusst. Jason schüttelte den Kopf. „Ich hab über einen Film geredet, Sydney. Reine Fantasie, okay?" Er zog sie an sich und küsste sie noch mal. „Natürlich hab ich das nicht im Ernst gemeint!" Am Montagnachmittag hallten die langen, gefliesten Korridore der Shadyside Highschool von den lauten Schritten der Schüler wider, die zur letzten Unterrichtsstunde in die Klassenzimmer eilten. Während Sydney von der Masse den Flur entlanggeschoben wurde, blätterte sie in ihren Heften. Wo war bloß die Chemie-Hausaufgabe? Sie hatte sie doch in die Schule mitgebracht, oder? Sie trat einen Schritt aus der wogenden Menge der Schüler heraus, lehnte sich an eine Wand und durchsuchte ihre Hefte noch einmal. Die Hausaufgabe war nicht zu finden. Anscheinend hatte sie sie im Schließfach liegen lassen. Jetzt 26
musste sie noch einmal ganz nach unten zurückgehen, um die Aufgabe zu holen. Sydney stieß einen frustrierten Seufzer aus. Heute ging aber auch alles schief. Erst hatte sie die ganze Nacht nicht schlafen können. Außerdem hatte sie vergessen, den Wecker zu stellen, und hatte deswegen zur Schule hetzen müssen. Vor dem Ende der ersten Doppelstunde hatte sie keine Gelegenheit gehabt, sich auch nur die Haare zu kämmen. Beim Lunch hatte sie dann aus Versehen ihr ganzes Tablett mitsamt dem Besteck in den Mülleimer geworfen. Den Englischtest hatte sie total verschwitzt und musste improvisieren. „Das liegt an dem Geld", sagte sich Sydney, als sie sich wieder auf den überfüllten Flur zurückkämpfte. „Es macht mich total fertig!" „Sydney, warte doch!", rief eine Stimme hinter ihr. Sydney warf einen Blick über die Schulter und sah, wie Emma sich den Weg zu ihr bahnte. Sie hatten montags keinen gemeinsamen Unterricht, nicht mal gleichzeitig Mittagspause, daher war es das erste Mal heute, dass sie Emma zu Gesicht bekam. „Emma wirkt überhaupt nicht, als stünde sie kurz vor einem Nervenzusammenbruch", dachte Sydney. „Sie wirkt glücklich. Aufgeregt. Wahrscheinlich hat sie ganz wunderbar geschlafen. Und davon geträumt, wie sie erst ihrer Mutter das Geld für die Operation gibt und danach auf eine große Einkaufstour geht." „Hi!", rief Emma außer Atem, als sie Sydney endlich erreicht hatte. „Rate mal!" „Was denn?" „Ich hab heute Morgen doch tatsächlich die Zeitung gelesen!" Emmas blaue Augen glitzerten vor Aufregung. „Nichts Neues", gab sie dann mit bedeutungsvoller Stimme bekannt. Sydney sah sich verstohlen um. „Ich finde nicht, dass wir ausgerechnet hier darüber reden sollten, okay?" Emma lachte. „Reg dich ab, Sydney. Ich hab bloß gesagt, dass ich die Zeitung gelesen habe. Das interessiert sowieso keinen." „Du hast Recht. Ich bin einfach nervös", erwiderte Sydney. „Also, sei ganz locker." Emma stieß sie in die Seite. „Und drück uns die Daumen. Wenn nichts geschieht, sind wir in dreizehn Tagen 27
aus dem Schneider!" Sydney nickte und lächelte gezwungen, als die Menschenmasse sie in Richtung Treppe schob. Sie hoffte, dass Emma die Geschichte nun erst mal nicht mehr erwähnen würde. Emma und sie gingen die Treppe hinunter. Eine große Menge anderer Schüler kam hinter ihnen her. Eine lärmende Gruppe, die sich laut und aufgeregt über das kommende Basketballspiel unterhielt. Einer von ihnen schubste Sydney von hinten, und sie rutschte aus. „Hey!", rief sie, während sie sich am Geländer festhielt, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Die Gruppe brach in johlendes Gelächter aus. Dann ertönte ein spitzer Schrei. Sydney drehte sich nach links und sah gerade noch, wie Emma mit den Armen zu rudern begann. Ihre Hände fassten ins Leere. „Sie fällt die Treppe hinunter!", dachte Sydney erschrocken. Sie hielt sich mit einer Hand am Geländer fest und streckte den anderen Arm aus, um die Freundin festzuhalten. Zu spät. Mit einem schrecklichen Aufschrei schoss Emma wie ein Taucher nach vorne und fiel kopfüber die steilen Steinstufen hinunter. „Emma!", brüllte Sydney. Emma schlug mitten auf der Treppe auf; es klang beängstigend dumpf. Dann rollte sie den Rest der Stufen hinunter. Die Schüler, die gerade die Treppe hinaufgehen wollten, sprangen zur Seite und schrien geschockt auf. Emma blieb zusammengekrümmt zu ihren Füßen liegen. „Emma!", schrie Sydney wieder. In Panik hastete sie die Stufen hinunter, doch irgendein Schüler blockierte den Weg. Ein anderer streifte ihre Hüfte, woraufhin sie das Gleichgewicht verlor und hart gegen das Geländer stieß. Erschrocken warf sie einen Blick auf den oberen Treppenabsatz. Dort stand Jason und starrte hinunter. Aber nicht auf Sydney. Auf Emma. Sydney sah seine weißen Zähne aufblitzen. Und sie sah seine Augen, die sich an den äußeren Winkeln in kleine Fältchen legten. War das, was sie in Jasons Gesicht erkennen konnte, etwa ein Lächeln? 28
„Nein, natürlich nicht", sagte sie sich. „Jason würde in so einer Situation nicht lächeln. Es liegt am Licht. An den Schatten. An irgendwas anderem!" Um so schnell wie möglich zu ihrer Freundin zu gelangen, wandte Sydney sich von Jason ab und hastete die Stufen hinunter. Um den unteren Treppenabsatz hatte sich eine Gruppe von Schülern versammelt; sie standen in einem engen Kreis und starrten geschockt auf den Boden. „Die sagen ja gar nichts", schoss es Sydney durch den Kopf. „Warum helfen sie Emma nicht aufzustehen? Warum holen sie keine Hilfe?" Sie drängte sich durch die Menschen und erblickte ihre Freundin. Emma lag mit ausgestreckten Armen flach auf dem Bauch. Ihr langes, blondes Haar lag wie ein Fächer ausgebreitet auf dem Boden. „Sie rührt sich nicht", dachte Sydney. Sie kniete sich hin und strich Emma sanft die Haare aus dem Gesicht. „Emma?", flüsterte sie. Emma bewegte sich noch immer nicht. „Emma!" Sydney legte der Freundin die Hand auf den Rücken. „Emma." Nichts. Keine Regung. „Sie atmet nicht mehr!", schrie Sydney auf. „Sie ist tot!"
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Kapitel 7 „Nicht zu fassen, dass sie sich noch nicht mal was gebrochen hat!", wiederholte Sydney mindestens zum zehnten Mal. „Sind Sie sicher, dass ihr nichts fehlt?" Dr. Lasher nickte munter, faltete sein Stethoskop zusammen und steckte es in die Tasche. „Ein paar Tage lang werden ihr sämtliche Knochen wehtun wegen der vielen blauen Flecken", sagte er. „Und wahrscheinlich wird sie Kopfschmerzen haben. Aber sie hat keine Gehirnerschütterung. Nichts Ernstes." Er lächelte sie an. „Mach dir keine Sorgen, Sydney. Deiner Freundin geht es gut." Mit zitternden Knien ließ Sydney sich auf einen zerschlissenen alten Sessel in Emmas Wohnzimmer fallen. Sie wusste, dass sie den Anblick ihrer Freundin, wie sie so völlig regungslos am unteren Treppenende gelegen hatte, nie vergessen würde. Sydney war klar, dass es sich bloß um ein paar Sekunden gehandelt hatte, bevor Emma endlich wieder Luft holte, doch es war ihr wie Stunden vorgekommen. Und dann hatte Emma die Augen aufgeschlagen, sich aufgerichtet und versucht aufzustehen. Die Schulschwester hatte sie gründlich untersucht. Emma war zwar ganz durcheinander, doch ihr schien nichts zu fehlen. Daher hatte Sydney Emma nach Hause gefahren und dann ihren eigenen Hausarzt geholt, der die Freundin nochmals untersucht hatte. Jetzt schlief Emma in ihrem Zimmer, und ihre Mutter war zur Arbeit gegangen. „Hier." Dr. Lasher hielt ihr ein paar Eispackungen hin. „Leg die in den Gefrierschrank. Sie kann sich damit später die linke Schulter kühlen. Die wird noch eine Weile wehtun." Sydney dankte dem Arzt noch einmal und brachte ihn zur Tür. Dann sah sie sich im Wohnzimmer um. Das Zimmer war zwar sauber, doch dunkel und abgewohnt. Es war mit einer Bettcouch, auf der Emmas Mutter nachts schlief, zwei verschlissenen Sesseln und einem sperrigen, alten Fernseher 30
möbliert. In einer Ecke stand ein Plastikeimer, in dem das Wasser ein paar Zentimeter hoch stand. „Ach ja, das Dach ist undicht", erinnerte sich Sydney seufzend. „Sydney?", rief Emma aus ihrem Zimmer. „Du bist wach? Einen Augenblick!" Sydney ging in die Küche und legte die Eispackungen in das Gefrierfach des Kühlschranks. Dann lief sie durch den kleinen Flur in das einzige Schlafzimmer des kleinen Hauses. Emma hatte sich bemüht, ihr Zimmer mit Filmpostern an den Wänden und einem gelben Teppich auf dem Boden aufzupeppen. Doch nur mit einem einzigen kleinen Fenster ausgestattet, blieb der Raum trotzdem dunkel und trist. „Wie fühlst du dich?", fragte Sydney. „Willst du eine Aspirin? Oder vielleicht was zu essen oder zu trinken?" Emma schüttelte den Kopf. „Danke, im Augenblick nicht", murmelte sie. Sydney durchquerte den Raum und setzte sich auf die Bettkante. „Ganz sicher?" „Mir fehlt nichts." Emma strich sich das Haar zurück und schloss mit gerunzelter Stirn die Augen. „Genau dasselbe hat Dr. Lasher auch gesagt – dass dir nichts fehlt", informierte Sydney sie und bemühte sich, fröhlich zu klingen. „Schlecht siehst du auch nicht gerade aus", fügte sie hinzu. „Höchstens ein bisschen blass. Aber gewiss nicht so wie jemand, der gerade eine Treppe heruntergefallen ist." Emma öffnete die Augen sofort wieder. Sie stopfte sich das Kopfkissen hinter den Rücken, setzte sich vorsichtig auf und sah Sydney ernst an. „Ich bin nicht runtergefallen, Sydney", erklärte sie. „Was? Was willst du damit sagen?" „Jemand hat mich hinuntergestoßen." „Gestoßen? Bist du sicher?", fragte Sydney. „Ja. Und willst du auch wissen, wer?", erwiderte Emma. „Es war Jason."
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Kapitel 8 „Wie bitte?" Sydney starrte sie an. „Nie im Leben! Das ist ausgeschlossen. Er ..." „Ich habe ihn hinter mir gesehen", erzählte Emma ihr. „Und dann hab ich seine Hände auf meinen Schultern gespürt. Zuerst hab ich gedacht, er albert bloß rum, aber dann wurde mir klar, dass ich mich täuschte." Ihr Mund verzog sich zu einem verbitterten Lächeln. „Schließlich sind Jason und ich nicht gerade gute Kumpels. Wir albern nicht miteinander herum." Sydney schüttelte den Kopf. Sie glaubte es einfach nicht! „Ich habe seine Hände gespürt", fuhr Emma mit zitternder Stimme fort. „Und dann hat er - dann hat er mich die Treppe runtergestoßen!" „Nein!" Sydney erhob sich von der Bettkante. „Das ist doch verrückt\" „Tatsächlich?" Emma setzte sich noch gerader hin. „Dann sag mir eines, Sydney: Hast du Jason von dem Geld erzählt, das wir gefunden haben?" „Emma – was hat das damit zu tun?", fragte Sydney heftig. „Sag's mir einfach", bohrte Emma weiter. „Hast du ihm von dem Sack voller Geld erzählt?" „Also gut! Ja, ich hab ihm davon erzählt", gab Sydney zu. Ihr Gesicht wurde vor Schuldbewusstsein rot. „Ich wollte ihm zuerst kein Wort sagen. Aber als ich gestern aus dem Wald zurückgekommen bin, hat er gemerkt, dass was faul war. Er hat mich gefragt, wo ich gewesen sei. Und ich hab mir eine doofe Ausrede einfallen lassen – von wegen, dass ich länger arbeiten musste. Tja, das hat er mir natürlich nicht abgekauft." „Klar. Du bist eine ganz schlechte Lügnerin", stimmte Emma zu. „Dann wurde er sauer. Richtig wütend", fuhr Sydney fort. „Er hat gedacht, ich hätte mich mit einem anderen Typen getroffen. Ich wollte nicht, dass er das glaubte. Und außerdem kam mir das, was wir getan hatten, immer noch ganz komisch vor." „Also hast du ihm die Wahrheit erzählt?", fragte Emma und sah 32
Sydney prüfend an. Sydney nickte. „Hast du ihm auch gesagt, wo wir das Geld versteckt haben?" Wieder nickte Sydney. „Ich hab ihm alles gesagt. Es tut mir Leid; schließlich hatte ich dir versprochen dichtzuhalten. Aber wenn du glaubst, er hätte dich runtergestoßen, Emma, dann irrst du dich. So was würde er nie tun! Warum auch?" „Machst du Witze?", fragte Emma fassungslos. „Wegen des Geldes natürlich!" „Nie im Leben!", widersprach Sydney ihr. „Jason ist nicht arm. Seine Eltern haben genug Geld!" „Ihm reicht es nicht", betonte Emma. „Kannst du dich noch an die Turnschuhe erinnern, die er sich gewünscht hat? Die für hundertfünfzig Dollar? Dabei hatte er längst ein Paar gute, aber er hat die anderen immer wieder erwähnt, bis du losgegangen bist und sie ihm gekauft hast." „Na und?" „Na ja, er ist gierig!", gab Emma zurück. „Das weißt du selber, Syd. Er quatscht dich ständig voll, ihm Sachen zu kaufen. Wie das Handy. Und den CD-Spieler für sein Auto. Er ist nicht arm – aber er ist geldgierig!" „Nein." Sydney verschränkte die Arme und schüttelte heftig den Kopf. „Nein!" „Doch", beharrte Emma. „Und deshalb hat er mich geschubst. Er hat versucht, mich umzubringen. Ich wette, er würde mich umbringen, um meinen Anteil des Geldes zu kriegen!" „Emma redet wirres Zeug", dachte Sydney verzweifelt. „Was sie sagt, macht überhaupt keinen Sinn!" „Emma, hör zu. Du bist gerade eine steile Treppe runtergefallen. Eine Betontreppe. Wahrscheinlich hast du dir den Kopf doch stärker angeschlagen, als der Arzt meint, weil du nicht mehr klar denken kannst! Was du über Jason sagst, ist total verrückt!" Emmas Augen blitzten, doch sie erwiderte nichts. Sydney drehte sich um und schaute aus dem Fenster. Auf dem schmalen Kiesweg neben dem Haus stand der verbeulte alte VW, den Emmas Onkel ihr geschenkt hatte. Während Sydney darauf starrte, tauchte vor ihren Augen ein Bild von Jason auf. 33
Jason, wie er vor wenigen Stunden am oberen Absatz der Treppe gestanden hatte. Seine Augen mit den Lachfältchen, als er auf Emma hinuntergeblickt hatte. Seine Zähne, als er gegrinst hatte. Dasselbe seltsame Grinsen hatte Sydney am Abend zuvor bei ihm gesehen, während er davon geredet hatte, Emma umzubringen. „Aber er hat doch von einem Film erzählt! Er hat doch gesagt, dass er nur Spaß macht!", dachte Sydney. „Hat er wirklich bloß Spaß gemacht?", fragte sie sich mit einem Schaudern. „Oder hat Jason wirklich versucht, Emma umzubringen?"
Kapitel 9 Am nächsten Morgen lief Sydney mit gerunzelter Stirn durch den Flur des Schulgebäudes. Sie war in Eile. In einer Minute würde die Pausenklingel läuten. Sie musste unbedingt mit ihm reden. Musste herausfinden, warum er mit einem Grinsen im Gesicht dagestanden hatte, als Emma die Treppe hinunterstürzte und auf dem Betonboden aufschlug. „Emma ist sich ganz sicher, dass er sie runtergestoßen hat", dachte Sydney. „Irrt sie sich? Oder hat Jason echt versucht, sie wegen ihres Anteils umzubringen?" Sydney lief es eiskalt den Rücken hinunter. Sie wünschte, das verdammte Geld nie gefunden zu haben. In den letzten beiden Nächten hatte sie vor lauter Sorgen kaum geschlafen. Und jetzt musste sie ihren eigenen Freund fragen, ob er versucht hatte, jemanden wegen des Geldes zu töten! Als Sydney um die Ecke bog, ertönte die Klingel. Sie stellte sich gegenüber vom Eingang zum Computerraum auf und beobachtete die Schüler, die aus der Tür strömten. Als Dritter tauchte Jason auf. Mit gesenktem Kopf steckte er ein paar Zettel in seinen Rucksack; dann gesellte er sich zu den anderen 34
Kids. „Jason!", rief Sydney. Er hob abrupt den Kopf. Suchend sah er sich auf dem Flur um. Als er sie entdeckte, lächelte er. Sydney schluckte schwer. „Das kann doch nicht das Lächeln eines Killers sein", dachte sie. „Nie im Leben!" „Hey, Sydney." Jason machte den Reißverschluss seines Rucksacks zu, bahnte sich einen Weg durch die Menge und stellte sich zu ihr. „Was gibt's?" „Ich muss mit dir sprechen", sagte sie. „Ich hab versucht, dich gestern Abend anzurufen, aber es war keiner da." „Ja, wir waren zum Abendessen bei meiner Schwester." Jason nahm sie an der Hand und zog sie neben sich her. „Wir können auf dem Weg zum Englischunterricht reden. Was ist denn los?" Zitternd holte Sydney tief Luft. „Es ist wegen Emma." Jasons Augen blitzten auf. „Was ist mit ihr? Ihr geht's doch gut, oder? Schließlich ist sie gestern nach dem Sturz selber wieder aufgestanden und weggegangen, deswegen habe ich ..." „Sie ist okay", unterbrach Sydney ihn. „Aber -interessiert dich das überhaupt?" „Wie bitte? Was soll das heißen?" Sydney zog ihn aus dem Gedränge auf die Seite. „Sie sagt, du hättest sie die Treppe runtergestoßen!", platzte sie heraus. „Sie sagt, sie hätte gesehen, dass du hinter ihr gestanden hast, Jason! Dass sie deine Hände auf ihren Schultern gespürt hat. Und wie du sie geschubst hast!" „Die spinnt doch total!" Wütend schlug Jason mit der Hand gegen ein Schließfach. „Emma hat Verfolgungswahn!" „Aber du warst wirklich auf der Treppe", erinnerte Sydney ihn. „Ich hab dich auch bemerkt. Das hat sie sich nicht eingebildet." „Nein!" Während Jason sich mit der Hand durchs hellblonde Haar fuhr, stieg eine leichte Röte in sein Gesicht. „Klar war ich da. Tatsache ist, ich kann mir sogar vorstellen, wie Emma darauf kommt, ich hätte sie geschubst. Ich bin nämlich plötzlich gestolpert. Deswegen habe ich die Arme ausgestreckt, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und bin ... bin versehentlich gegen sie gestoßen. Ich fühle mich deswegen seither ganz beschissen!" 35
„Warum hast du dann gelächelt?", wollte Sydney wissen. „Gleich nachdem sie gestürzt ist, hat mich irgendeiner gegen das Geländer geschubst, und da hab ich mich umgedreht. Du hast dagestanden und zugesehen, wie sie runtergefallen ist, und dabei hast du gegrinst, Jason!" Er schüttelte den Kopf; seine großen, blauen Augen blickten unschuldig. „Ich stand unter Schock, Sydney! Ich meine, ich war total daneben! Ich hab versucht zu schreien, aber ich hab kein Wort rausbekommen. Mein ganzes Gesicht war wie erstarrt. Vielleicht habe ich so gewirkt, als würde ich lächeln, aber das habe ich nicht!" Sydney sah ihn einen Augenblick nachdenklich an, dann lehnte sie sich mit dem Rücken gegen die Schließfächer. Die ganze Geschichte war ein Unfall gewesen, wie ihr voller Erleichterung klar wurde. „Jason, es tut mir Leid", murmelte sie. „Ich war einfach so beunruhigt und nervös. Ich wollte dich nicht verdächtigen." „Mach dir nichts draus." Er lächelte und küsste sie auf die Stirn. „Kein Problem, Sydney. Ehrlich. Wie ich schon gesagt habe, ich kann mir vorstellen, warum Emma denkt, ich hätte sie geschubst." „Du solltest es ihr erklären und dich entschuldigen. Schließlich ist sie deinetwegen gestürzt, auch wenn du es nicht absichtlich getan hast", meinte Sydney. „Glaubst du im Ernst, sie nimmt mir das ab?", erwiderte er. „Die kann mich doch nicht leiden!" „Aber wenn du ihr genau erzählst, was passiert ist, wird sie es verstehen", beharrte Sydney. „Hör mal, ich weiß, dass ihr nicht gerade die besten Kumpels seid. Aber du solltest es ihr wirklich erklären. Wer weiß? Vielleicht werdet ihr dann ja doch noch Freunde." „Verlass dich lieber nicht drauf." Jason seufzte. Einen Augenblick spielte er mit dem Reißverschluss seines Rucksacks. Dann zuckte er die Achseln. „Du hast Recht. Ich sollte ihr sagen, was passiert ist." „Genau." Er grinste. „Ich werde versuchen, es wieder wettzumachen. Sie jammert immer über ihre Schrottkarre. Ich will sehen, was ich tun kann, damit der Wagen besser läuft. Und ich mach's umsonst – na, wie findest du das?" „Echt super!" Sydney legte zärtlich die Arme um seinen Nacken und gab ihm einen Kuss. „Danke, Jason!" 36
Jason beeilte sich, rechtzeitig zur Englischstunde zu kommen. Sydney atmete erleichtert auf. „Emma hat sich geirrt, das ist alles", sagte sie sich. „Jason würde niemals versuchen, aus Geldgier jemanden umzubringen!" Am späten Nachmittag saß Sydney auf ihrem Bett; sie lernte für den Geschichtstest und aß dabei Taco-Chips. Als sie die Hand gerade wieder in die Tüte steckte, klingelte das Telefon auf ihrem Nachttisch. „Hallo?" „Rat mal, was passiert ist - das errätst du nie!", sagte Emma. Sydney leckte sich das Salz von den Fingern. „Sag's mir." „Jason war gerade bei mir, und jetzt läuft mein Auto wie geschmiert!" „Echt? Das ist ja toll!" Sydney lächelte im Stillen. Jason hatte sein Versprechen gehalten. „Ja, und weißt du was?", fragte Emma. „Er hat mir nichts dafür berechnet. Außerdem hat er mir erklärt, wie er auf der Treppe gestolpert ist und mich deswegen aus Versehen geschubst hat; deswegen bin ich gestürzt." Sie lachte. „Ich glaub's ja nicht – der Typ hat ein richtig schlechtes Gewissen gehabt!" „Klar hat er das", erklärte Sydney. „Er hat's mir heute in der Schule erzählt. Er fühlt sich ziemlich mies." „Das glaub ich aufs Wort. Und jetzt, wo er mein Auto repariert hat, ohne einen Cent dafür zu kriegen, fühlt er sich sicher noch viel schlechter." „Emma!" „Entschuldige. Hör zu – es tut mir Leid, dass ich ihn verdächtigt habe, Sydney", sagte Emma. „Ich war wirklich gestresst. Bin ich immer noch. Der blaue Fleck auf meiner Schulter leuchtet wie eine Aubergine. Und ich hab ständig Kopfweh." „Dr. Lasher hat gesagt, dass du vielleicht Kopfschmerzen kriegst", erwiderte Sydney. „Es ist gut, dass du heute nicht in die Schule gegangen bist. Vielleicht geht's dir morgen wieder besser." „Hoffentlich", sagte Emma mit einem Seufzer. „Jedenfalls finde ich die Sache mit dem Geld immer noch ganz toll. Ich kann's gar nicht glauben, dass es uns gehört! Stell dir vor, Syd: Bald können wir es richtig verprassen!" 37
„Mhm." Sydney wollte am liebsten nicht darüber reden. „Hey, warum gehen wir nicht ins Einkaufszentrum?", schlug Emma vor. „Wir können uns dort schon mal aussuchen, was wir alles kaufen werden!" „Na ja ...", zögerte Sydney. „Was ist mit deinem Kopfweh? Ich habe gedacht, du fühlst dich nicht wohl." „Tu ich auch nicht. Aber wenn wir ins Zentrum fahren, geht's mir gleich wieder besser", antwortete Emma. „Ach, bitte, Sydney! Das wird sicher lustig." Sydney warf einen Blick auf ihr Geschichtsbuch. Sie hatte noch nicht alles gelernt, aber Geschichte war sowieso ihr bestes Fach. Außerdem würden sie das Geld ja nicht wirklich ausgeben. „Okay. Machen wir. Ich hol dich ab." „Nee. Diesmal fahre ich", sagte Emma lachend. „Ich will doch sehen, welche Wunder Jason an meinem Auto vollbracht hat. Ach, warte mal", fügte sie hinzu. „Ich muss noch ein bisschen hier bleiben. Ich hab meiner Nachbarin versprochen aufzupassen, bis ihre Kinder von der Bushaltestelle heimkommen. Es dauert nicht lange. Warum kommst du nicht zu mir? Dann können wir mit meinem Auto weiterfahren." „Okay, also bis gleich." Sydney legte auf und erhob sich vom Bett. Da läutete das Telefon wieder. „Nervt dich dein Geschichtsbuch nicht schon langsam?", fragte Jason. „Lust auf eine Pause?" „Eigentlich bin ich gerade dabei, eine zu machen", erzählte Sydney ihm. „Emma und ich gehen ins Einkaufszentrum. Und diesmal fährt sie. Das haben wir dir zu verdanken." Sie lachte. „Sie ist richtig glücklich über ihr Auto, Jason. Danke, dass du ..." „Warte mal", unterbrach Jason sie. „Emma will fahren?" „Sag ich doch." „Wieso?", wollte er wissen. „Ihr nehmt doch sonst immer dein Auto." „Klar. Aber weil ihres jetzt so gut läuft, will sie ..." Sydney unterbrach sich und runzelte die Stirn. „Was für einen Unterschied macht es schon?" „Äh ... na ja ..." Jason hielt inne. „Hör mal, warum kann ich dich
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nicht einfach abholen, und wir fahren irgendwohin? Mit Emma kannst du ein anderes Mal was unternehmen." „Jason, wirklich!", meinte Sydney lachend. „Ich bin schon auf dem Sprung zu ihr. Emma wartet auf mich." „Dann ruf sie an und sag ab", sagte er. „Was ist bloß los mit ihm?", wunderte Sydney sich. „Wir bleiben nicht lange weg. Ich ruf dich an, wenn ich zurück bin." Während Jason wieder ansetzte, sie umzustimmen, hörte Sydney die Stimme ihrer Mutter unten im Flur. „Hör zu, ich muss jetzt los", erklärte sie. „Mom ist gerade nach Hause gekommen, und ich hab ihr noch ein paar Telefonanrufe auszurichten. Ich ruf dich später an!" Unten angekommen, berichtete Sydney ihrer Mutter, wer für sie angerufen hatte, und sagte ihr, wohin sie fuhr. Dann sprang sie in ihr Auto und machte sich auf den Weg zu Emma. Die Freundin saß auf den abgebröckelten Stufen vor dem Haus und wartete auf sie. Als Sydney aus dem Wagen stieg, sprang Emma auf und ließ ihren Schlüsselbund vom Finger baumeln. „Bereit für eine Testfahrt?" „Klar doch." Grinsend folgte Sydney ihr zu dem verkratzten braunen VW. „Er sieht zwar genauso schlimm aus wie vorher", sagte Emma, als sie sich auf die Vordersitze setzten, „aber jetzt klingt er super. Hör mal!" Sie drehte den Schlüssel um, und sofort sprang der Motor zufrieden surrend an. Mit einem glücklichen Lachen legte sie den Gang ein und fuhr aus der Einfahrt auf die Straße. Dann holperten sie über die Schlaglöcher und durch die engen Gassen des alten Stadtkerns, bis sie auf die Division Street abbogen. „Jetzt können wir testen, ob Jason seinen Job wirklich gut gemacht hat!", rief Emma aus. Sie lenkte das Auto gekonnt durch eine weite Kurve, gab Gas und raste einen steilen Hügel hinauf. „Hey, die Karre packt sogar den Berg! Ich glaub's ja nicht!" Sydney lachte und stellte das Radio an. Über die Lautsprecher ertönte nur ein Knacken. „Lass Jason das nächste Mal das Radio reparieren", schlug sie vor und stellte es wieder ab.
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„Ha! Vielleicht gibt's gar kein nächstes Mal", sagte Emma, während das Auto die Höhe des Hügels erklomm. „Vielleicht kauf ich mir mit meinem Anteil des Geldes ein cooles nagelneues Auto!" Als der VW den Hügel hinunterfuhr, wurde er immer schneller. Die Bäume und Büsche am Straßenrand verschwammen zu einer grünen Mauer. Die Reifen surrten über den Asphalt, während das Auto bergab jagte. Unten war eine Kreuzung. Emma seufzte und berührte mit dem Fuß das Bremspedal. Die Geschwindigkeit verringerte sich nicht. „Emma!" Sydney schaute auf das Stoppschild, das immer näher kam. „Mach mal langsam." „Das versuch ich ja." Emma trat wieder auf die Bremse, diesmal stärker. Nichts. „Emma, fahr langsamer!", schrie Sydney. „Es geht nicht!" In Todesangst trat Emma immer wieder auf das Pedal. „Ich kann das Auto nicht mehr anhalten! Die Bremsen funktionieren nicht!"
Kapitel 10 Das Auto raste immer schneller den Berg hinunter. Sydney klammerte sich erschrocken an den Seiten ihres Sitzes fest und starrte in Panik auf den Fuß des Hügels. Ein silberfarbener Minivan hielt gerade an der Kreuzung. In wenigen Sekunden würde er wieder losfahren – und ihnen genau in die Quere kommen. „Der Van da vorne – gleich stoßen wir mit ihm zusammen!", schrie Sydney. Mit weit aufgerissenen Augen pumpte Emma das nutzlose Bremspedal. „Ich kann nicht bremsen! Ich kann nicht bremsen!" Der Minivan bog jetzt langsam in die Kreuzung ein. 40
Emma legte die Hand auf die Hupe und hielt sie gedrückt. Der Van hielt abrupt. Doch er hatte die Mitte der Kreuzung schon erreicht. Sydney sah das Gesicht des Fahrers, das vor Schreck wie erstarrt war. „Versuch's mit der Handbremse!", brüllte sie. Emma antwortete nicht. Eine Hand auf der Hupe, die andere am Lenkrad, starrte sie geradeaus; ihre Augen waren vor Angst weit aufgerissen. Sydney beugte sich rüber, packte die Handbremse und zog sie an. Das Metall kreischte. Der Schotter unter den Reifen spritzte hoch. Das Auto bockte und fing an zu schlittern. Der silberfarbene Van fuhr rückwärts. In allerletzter Sekunde riss Emma das Lenkrad nach links - und wich dem anderen Fahrzeug aus. Zwischen ihnen waren nicht mehr als ein paar Zentimeter Abstand. Laut hupend schleuderte der VW über die Kreuzung, drehte sich einmal um die eigene Achse und blieb auf der weichen Böschung der anderen Straßenseite stehen. Sydney zitterte am ganzen Körper. Sie machte die Augen zu und lehnte sich gegen die Beifahrertür. Während sie nach Luft rang, hörte sie neben sich Emma keuchen. Sydney öffnete die Augen wieder. Emma lehnte mit der Stirn am Lenkrad. Ihre Arme hingen leblos herunter. „Bist du okay?", fragte Sydney. „Hast du dich verletzt?" Emma schüttelte langsam den Kopf. „Es ist bloß der Schreck", murmelte sie mit zittriger Stimme. „Erschrocken bin ich auch." Sydney schauderte. „Mann, haben wir Glück gehabt, Emma! Wir hätten tot sein können!" „Ich weiß. Das war sein Plan." Sydney starrte sie an. „Was meinst du damit?" „Ich habe Recht gehabt." Emma hob den Kopf und sah Sydney voller Panik an. „Jason versucht doch, mich umzubringen. Verstehst du's denn gar nicht? Er hat die Bremsen manipuliert. Das war der Grund, warum er angeboten hat, mein Auto zu reparieren!" „Nein!", schrie Sydney. „Zuerst hast du gedacht, er hätte dich absichtlich die Treppe runtergestoßen. Und jetzt beschuldigst du ihn, die Bremsen manipuliert zu haben! Das ist nicht fair, Emma!" 41
„Ach, wirklich?" Emma kniff die Augen zusammen. „Bevor er an meinem Auto rumgebastelt hat, waren die Bremsen jedenfalls in Ordnung", sagte sie grimmig. „Sie haben voll funktioniert. Ich hab Probleme mit dem Vergaser gehabt – und nur damit!" „Das ist doch eine uralte, kaputte Karre", widersprach Sydney. „Wahrscheinlich waren die Bremsen längst in schlechtem Zustand, und du hast es bloß nicht gemerkt!" „Glaubst du echt?", fragte Emma zweifelnd. „Na klar!", beharrte Sydney. Noch ganz zittrig, atmete Emma tief durch, legte den Sitzgurt ab und drückte die Fahrertür auf. „Ich schau mal nach, ob ich sehen kann, woran es lag. Dann können wir in die Stadt trampen und einen Abschleppwagen holen." Völlig durcheinander wickelte Sydney sich eine Haarsträhne um den Finger und schaute zu, wie Emma nach vorne ging, um die Motorhaube aufzumachen. Sie öffnete sich mit blechernem Geklapper. Emma beugte sich vor und schaute hinein. Dann kniete sie sich auf den Boden und verschwand für einen Augenblick aus Sydneys Blickfeld. „Was macht sie da bloß?", wunderte Sydney sich. Während sie sich neugierig den Hals verrenkte, tauchte Emma plötzlich wieder auf. „Sydney!", rief sie in scharfem Ton. „Was ist denn?" Sydneys Herz schlug schneller. „Was ist los?" „Komm her!" Emmas Stimme bebte wieder vor Angst. „Das musst du dir ansehen!" Sydney kletterte aus dem Wagen, lief vor zu Emma und starrte auf den Motor. „Und?", fragte sie mit rasendem Herzklopfen. „Ich sehe nichts. Was willst du mir zeigen?"
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Kapitel 11 „Nicht da!", sagte Emma. Sie packte Sydney mit ihren kalten Fingern am Handgelenk und zog sie zu sich herunter auf den Schotter. Dann zeigte Emma auf eine Stelle nahe am linken Vorderrad. „Schau mal dort drüben!" Sydney kroch unters Auto und starrte angestrengt auf die Stelle im Unterboden. Eine langer, dünner Schlauch aus Metall, im Durchmesser nicht dicker als ein Strohhalm, verlief unterhalb der Radeinfassung. Sydney konnte erkennen, dass er sauber durchtrennt war. „Was ist das?", fragte sie. „Ein Bremskabel", erklärte Emma. „Wie? Willst du etwa sagen ...?" „Das auf der anderen Seite hab ich auch überprüft. Es ist ebenfalls durchgeschnitten", fügte Emma hinzu. Sydney erhob sich langsam. „Das war kein Unfall, Sydney", sagte Emma grimmig. „Irgendjemand hat die Bremskabel durchtrennt." Sydney sah sie voller Horror an. „Sie meint natürlich Jason", dachte sie. „Nicht einfach irgendjemanden, sondern Jason!" Geschockt und verängstigt drehte Sydney sich um und stieg schnell wieder in den Wagen. Emma setzte sich neben sie und knallte die Fahrertür zu. „Jetzt hast du's kapiert, oder?", fragte sie. „Glaubst du mir endlich? Jason versucht wirklich, mich umzubringen." Sydney klopfte das Herz bis zum Hals. Sie wickelte eine Haarsträhne um ihren Finger und presste die Augen zu. „Das ist nicht wahr!", schrie sie. „Das kann nicht wahr sein!" „Denk mal nach", beharrte Emma. „Erst finden wir einen Haufen Kohle. Du erzählst Jason davon. Da schubst er mich rein zufällig und stößt mich die Treppe runter. Also repariert er angeblich mein Auto, um es wieder gutzumachen." Sie lachte voller Bitterkeit. „Er hat's tatsächlich repariert. Jason hat 43
es so gut repariert, dass wir dadurch fast gestorben wären!" Sydney wollte Emma anbrüllen. Emma anbrüllen, dass sie sich irrte. Dass das der reine Wahnsinn war. Aber sie brachte die Worte nicht heraus. Weil Emma möglicherweise – nur möglicherweise – ja doch Recht hatte. „Bevor ich zu dir gefahren bin, hat Jason mich angerufen", sagte sie langsam. Emmas Augen blitzten auf. „Und?" „Als ich ihm gesagt habe, dass wir mit deinem Auto fahren wollten, da hat er ... na ja, komisch geklungen." „Wie meinst du das?" „Zuerst wollte er wissen, warum wir dein Auto statt meinem nehmen. Und dann wollte er mir unbedingt ausreden, mit dir mitzufahren." Emma versetzte dem Lenkrad einen Stoß. „Ich hab's gewusst! Ich hab's doch gleich gewusst!" „Wenn es wirklich wahr ist, dass er deine Bremsen manipuliert hat, dann hat er versucht, mich von deinem Auto fern zu halten", fuhr Sydney fort. „Um mich zu beschützen." Emma lachte gehässig. „Mach dir doch nichts vor, Sydney. Ein Typ, der so geldgierig ist wie er, teilt das Geld mit keinem, noch nicht mal mit seiner Freundin. Wenn er mich erst mal umgebracht hätte, würde er beschließen, dass er die ganze Kohle behalten will." „Glaubst du echt, er würde versuchen ... mich als Nächste zu töten?", fragte Sydney leise. Emma nickte. „Darauf kannst du Gift nehmen." Sydney blickte starr nach vorne und sah ein Auto die Kreuzung überqueren. „Wir hätten da drüben sterben können", dachte sie schaudernd. „Hat Jason Emmas Auto wirklich präpariert?" Sie konnte es immer noch nicht glauben. Nicht wirklich. Aber sie musste es herausfinden. Sie konnte nicht so tun, als sei nichts passiert! „Syd?", unterbrach Emmas Stimme ihre Gedanken. „Was sollen wir deiner Meinung nach jetzt tun?" „Ich rede mit Jason", antwortete Sydney langsam. „Ich werde ihn ganz direkt fragen, ob er es getan hat."
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Emma schnaubte verächtlich. „Na klar! Und du glaubst wirklich, er wird es zugeben? Er wird das Ganze einfach abstreiten. Dich mit unschuldigen Augen ansehen und lügen, dass sich die Balken biegen!" „Was können wir denn sonst tun?", fragte Sydney. „Ganz einfach", erwiderte Emma ruhig. „Ihm zuvorkommen – ihn umbringen!"
Kapitel 12 „Emma!", stieß Sydney entsetzt aus. „Wovon redest du? Ich glaub einfach nicht, dass du so was sagen kannst!" „Tut mir Leid." Emma errötete plötzlich. „Ich hab's nicht ernst gemeint, Syd. Es war nur ein Scherz." „Das ist nicht witzig!", schnappte Sydney. „Das ist überhaupt nicht witzig." „Es tut mir Leid", wiederholte Emma. „Es ist wirklich nicht lustig, darüber zu reden, wer hier wen umbringen könnte", meinte Sydney. „Das muss aufhören - und zwar sofort. Okay, Emma?" „Okay", sagte Emma. „Aber was sollen wir machen, um Jason zu stoppen?" „Das weiß ich doch auch nicht!", rief Sydney nervös. „Hör mal, ich halte es in diesem Auto nicht mehr länger aus. Komm, wir holen jetzt einen Abschleppwagen. Auf dem Weg dorthin können wir ja darüber reden und uns was einfallen lassen." Die beiden Mädchen ließen das Auto am Straßenrand zurück. Eilig liefen sie die Division Street entlang und suchten eine Telefonzelle. Der kühle Frühlingswind zerzauste Sydneys Haar und brachte den Duft früh blühender Bäume mit sich. Der Himmel verfärbte sich vom Sonnenuntergang rosa. Sydney bemerkte es kaum. Sie konnte nur an Jason denken. „Was können wir bloß tun?", überlegte sie fieberhaft. Sie warf einen Blick auf Emma. Die Miene der Freundin war vor Schreck verhärtet. 45
„Kein Wunder, dass sie Angst hat", dachte Sydney. „Sie wäre fast gestorben. Zweimal." Endlich fanden sie eine Telefonzelle. Sydney wartete draußen, bis Emma einen Abschleppdienst angerufen hatte. Dann sagte sie: „Ich glaube, wir sollten zur Polizei gehen." „Und was willst du denen erzählen?", fragte Emma skeptisch. „Dass dein Freund versucht, uns umzubringen, damit er das Geld kriegt, das wir gestohlen haben?" „Na ja, ganz so brauchten wir es nicht auszudrücken", entgegnete Sydney. „Wie sollen wir es sonst ausdrücken?", wollte Emma wissen. „Wir können das auf keinen Fall der Polizei melden, ohne das Geld zu erwähnen. Wenn wir ihnen nicht davon erzählen, tut's Jason. Das weißt du genau. Sobald sie ihn zur Sache befragen." „Wahrscheinlich hast du Recht." „Klar hab ich Recht." Emma hängte sich ihre Handtasche über die Schulter. „Komm jetzt. Wir müssen zum Auto zurückgehen und auf den Abschleppwagen warten." „Warte einen Augenblick, Emma!", rief Sydney aus und packte sie am Arm. „Ich halte das Ganze einfach nicht länger aus! Seit wir das Geld gefunden haben, geht's mir wirklich schlecht. Bitte, lass es uns ausgraben und der Polizei aushändigen und ihnen alles erzählen!" „Nein, Sydney!", protestierte Emma. „Meine Mutter und ich brauchen das Geld wirklich dringend!" „So dringend, dass du bereit wärst, dafür zu sterben?", fragte Sydney. „Das natürlich nicht", antwortete Emma. „Aber seit wir es gefunden haben, kann ich nur noch daran denken, wie ich es Mom für ihre Operation gebe." Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß, ich hab über das ganze Zeug geredet, das ich mir selber damit kaufen will. Bestimmt findest du, dass ich richtig geldgierig geklungen habe. Aber in Wahrheit, Syd, brauch ich das Geld bloß für eines: Moms Operation." „Das weiß ich doch", versicherte Sydney ihr leise. Frustriert biss sie sich auf die Lippe. Sie wollte das Geld so unbedingt loswerden, dass sie darüber Emmas Mutter fast vergessen hatte. „Es ist wie ein Albtraum", dachte Sydney. „Ich hab das Gefühl, in einem Albtraum gefangen zu sein, ohne aufwachen zu können." 46
„Sag bitte der Polizei nichts davon", bettelte Emma. „Bitte nicht. Es muss eine andere Lösung geben!" „Was für eine Lösung?", fragte Sydney, als die beiden zum Auto zurückgingen. „Was können wir tun, wenn Jason wirklich versucht, das Geld selber einzustecken?" Plötzlich blieb Emma stehen. Sie packte Sydney am Arm. „Hey, ich hab 'ne super Idee!", verkündete sie. „Ich glaube, sie könnte all unsere Probleme lösen."
Kapitel 13 „Wehe, das ist wieder ein Scherz darüber, welche Leute man umbringen könnte", warnte Sydney sie. Emma schüttelte den Kopf. „Dieses Mal nicht. Ich verspreche es. Wir tun einfach Folgendes: Wir machen Jason zu unserem Partner!" „Du meinst, wir sollen ihm einen Teil des Geldes anbieten?" „Nicht bloß einen Teil - ein ganzes Drittel", sagte Emma. „Er wird unser vollwertiger Partner, verstehst du? Dann sind wir alle auf derselben Seite." Sie starrte Sydney in die Augen. „Ist das etwa keine tolle Idee?" „Doch", stimmte Sydney zu. „Sie ist fantastisch!" „Jetzt kriegt Emmas Mutter doch noch ihre Operation", dachte sie. „Wir werden alle Geld haben. Und keiner wird dafür sterben ..." Sie gingen zu Emmas Haus zurück. Emma bestand darauf, dass Sydney Jason sofort anrufen und herbestellen sollte, damit sie ihm ihr Angebot machen konnten. „Ich will, dass er es gleich weiß, bevor noch mal was passiert", erklärte sie. „Dann kann ich heute Nacht in Ruhe schlafen." In kürzester Zeit war Jason da. Mit neugieriger Miene stieg er aus seinem Auto. „Was ist los?", fragte er und blickte abwechselnd zu Sydney und zu Emma.
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Sydney betrachtete ihn einen Augenblick nachdenklich. „Wenn ich bloß seine Gedanken lesen könnte", dachte sie. „Hat er versucht, Emma umzubringen? Hat er das wirklich versucht?" „Was ist los?", fragte Jason noch einmal. „Warum starrt ihr beiden mich so an?" „Emmas Bremskabel – jemand hat sie durchgeschnitten", stieß Sydney hervor. Sie sah Jason mit zusammengekniffenen Augen an. „Du hast ihr Auto repariert. Und jetzt sind ihre Bremskabel durchtrennt. Wir – wir wären fast ..." Die Worte blieben ihr im Hals stecken. Mit offenem Mund starrte Jason sie an. „Ich hab die Bremsen selber getestet!", erklärte er. „Die waren voll in Ordnung. Ehrlich!" „Aber, Jason ...", begann Emma. „Du hast ..." „Als ich mit deinem Auto fertig war, bin ich damit um ein paar Häuserblocks gefahren", sagte Jason. „Da haben die Bremsen noch voll funktioniert. Das schwöre ich!" Sydney betrachtete Jasons Miene. „Er sagt die Wahrheit", entschied sie im Stillen. „Er ist total fertig. Ganz sicher sagt er die Wahrheit." „Seid ihr beiden okay?", erkundigte er sich. „Haben die Bremsen echt völlig versagt? Das ist ja richtig unheimlich!" „Wir hatten wahnsinniges Glück", erwiderte Emma leise. Sie redeten noch eine Weile über die Bremskabel. Jason sagte, dass bei alten Autos die Bremskabel manchmal brüchig würden und rissen. Emma zog Sydney zur Seite. „Ich weiß nicht, ob ich ihm glauben soll oder nicht", flüsterte sie. „Jetzt bin ich total durcheinander. Kann es sein, dass jemand anderes die Kabel durchgeschnitten hat? Oder sind sie einfach gerissen?" „Ich glaub ihm", meinte Sydney. „Hast du bemerkt, wie er sich aufgeregt hat?" „Ich finde, wir sollten ihm das mit dem Aufteilen des Geldes vorschlagen", sagte Emma leise. Sydney nickte. „Was habt ihr denn für ein Geheimnis?", fragte Jason ungeduldig. „Warum flüstert ihr?" „Mach schon, Sydney", drängte Emma. „Sag's ihm." „Es war deine Idee", meinte Sydney. „Sag du's ihm." Jason stöhnte. „Also, sagt es endlich - egal, wer!"
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„Okay." Emma warf das Haar zurück. „Es geht um das Geld, das Sydney und ich gefunden haben. Wir haben uns gedacht, dass du vielleicht auch gerne einen Teil davon hättest. Na ja, vielleicht um die dreiunddreißigtausend Dollar." Jason riss seine blauen Augen weit auf. Dann kniff er sie skeptisch zusammen. „Soll das ein Witz sein?" Sydney schüttelte den Kopf. „Das ist kein Witz. Wir wollen das Geld mit dir teilen." Jason starrte die Mädchen eine Weile an. Dann grinste er über das ganze Gesicht. „Mann, das glaub ich einfach nicht!", jubelte er. „Absoluter Wahnsinn!" Jauchzend hob er Sydney in die Höhe und schwenkte sie in der Luft herum. Dann setzte er sie wieder ab, gab ihr einen Kuss und umarmte Emma. „Einfach unglaublich!", wiederholte er und veranstaltete in der Auffahrt einen kleinen Freudentanz. „Ich bin viel zu aufgeregt, um stillzustehen!", rief er aus. „Genauso ist es uns auch ergangen, als wir das Geld gefunden haben", lächelte Emma. „Du glaubst gar nicht, wie sich der Anblick von hunderttausend Dollar anfühlt." „Hey!", sagte Jason grinsend. „Super Idee! Das machen wir! Wir gehen hin und schauen es uns an!" „Jetzt gleich?", fragte Sydney. Sie hatte überhaupt keine Lust, das Geld auszugraben. Sie suchte nach einer Ausrede und schaute sich um. Graue Wolken verdichteten sich am Himmel. „Es fängt gleich an zu regnen", bemerkte sie. „Genau. Außerdem können wir das Geld für eine Weile sowieso nicht anrühren", fügte Emma hinzu. „Wir müssen warten und sichergehen, dass keiner es sucht." „Ich hab ja auch nicht gemeint, dass wir es rausholen und ausgeben sollen", sagte Jason. „Ach, kommt schon. Lasst mich doch wenigstens einen Blick darauf werfen! Bitte!" Emma verdrehte die Augen. „Na ja, es tut ja keinem weh, wenn wir es uns nur anschauen." Sie wandte sich an Sydney. „Was meinst du?"
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Sydney zögerte und zuckte die Achseln. „Also gut. Lasst uns hinfahren." „Solange uns keiner dabei beobachtet, kann schließlich nichts passieren", dachte sie. „Oder?"
Kapitel 14 Als Sydney ihr Auto am Waldrand hinter der Fear Street parkte, standen die Wolken schon sehr dicht am Himmel. „Wir müssen uns beeilen", drängte sie. Zu dritt stiegen sie aus. „Ich will hier draußen nicht in ein Gewitter geraten." „Mach dir keine Sorgen", beruhigte Jason sie. „Wir werfen nur einen kurzen Blick auf das Geld. Ich hab auch keine Lust, total durchnässt zu werden." Er holte Sydneys Schaufel aus dem Kofferraum und legte sie sich wie ein Gewehr über die Schulter. „Zeigt mir den Weg zu dem verborgenen Schatz!", sagte er feierlich. Emma betrat den Waldpfad, der zur Weide führte. Sydney folgte ihr, und Jason ging den beiden hinterher. Die Sonne war schon untergegangen. Der Mond versteckte sich hinter den Wolken. Während sie durch den dunklen Wald gingen, zuckte Sydney jedesmal zusammen, wenn ein Zweig unter ihr knackte oder die Blätter im Wind raschelten. „Ich wünschte, wir wären nicht hergekommen", dachte sie und sah sich nervös um. „Warum hab ich mich bloß von Jason dazu überreden lassen?" „Da drüben ist es", rief Emma und zeigte auf die Trauerweide. „Mach dich schon mal bereit fürs Ausgraben, Jason!" Als sie auf den Baum zuliefen, setzten die ersten kalten, schweren Regentropfen ein. Sie prallten von den Blättern ab, zerbarsten in tausend Tröpfchen und verwandelten den weichen Erdboden in Schlamm. Emma kickte mit dem Fuß den Markierungsstein weg, den sie
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unter den Baum gelegt hatten. Jason setzte die Schaufel an. „Wisst ihr, was ich mir kaufen werde?", fragte er, hob eine Ladung Erde aus und ließ sie auf die Seite gleiten. „Ein neues Auto." Während Jason grub, beobachtete Sydney ihn. Seine muskulösen Arme arbeiteten mühelos; an seiner Hand blitzte sein goldener Schulring. „Und was ist mit dir, Emma?", fragte er. „Was kaufst du mit deinem Anteil?" „Meine Mutter muss operiert werden", erzählte Emma ihm. „Was ich mit dem Rest mache, weiß ich noch nicht. Wir brauchen einen ganzen Haufen Sachen." Sydney schauderte, als ein eiskalter Regentropfen ihr in den Kragen fiel und ihr den Rücken herunterlief. „Wir hätten drei Schaufeln mitnehmen sollen", dachte sie und rieb sich die nackten Arme. „Dann würde mir bei dieser Aktion wenigstens warm werden." Der Wind wurde stärker, und wieder bekam Sydney eine Gänsehaut. „Ich gehe zum Auto und hol mir meinen Pullover", kündigte sie an. Emma blickte auf. „Wir haben den Sack doch gleich freigelegt", sagte sie. „Willst du das Geld denn nicht sehen?" „Ich seh es mir an, wenn ich zurückkomme." Sydney lief den Pfad entlang und rubbelte sich dabei die Arme warm. Vielleicht sollte sie einfach die Heizung einschalten und im Auto auf die anderen warten. Es war ihr unheimlich, sich bei Dunkelheit im Wald aufzuhalten. Und außerdem wollte sie das Geld gar nicht unbedingt sehen. „Fast wünschte ich, ich hätte es nie gesehen", dachte sie. Auf halber Strecke hörte Sydney auf einmal ein Rascheln im Gebüsch. Mit laut klopfendem Herzen blieb sie stehen. „Es ist nichts", sagte sie sich. „Bloß irgendein Tier, das durch die Büsche huscht." Sie gab sich einen Ruck und lief weiter. Plötzlich stoppte sie – erstarrt vor Schreck – als ein schriller Schrei durch den Wald hallte.
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Kapitel 15 „Neeeiiin!" Wieder durchbrach ein Kreischen die Stille. Sydney hielt den Atem an. „Das ist Emma!", durchzuckte es sie. Mit einem Aufschrei drehte Sydney sich auf den Absätzen um. Sie ignorierte ihr klopfendes Herz und die weichen Knie und rannte den Waldweg zurück. Mit den Armen drückte sie die tropfenden Äste weg, die ihr ins Gesicht schlugen, und raste auf die Trauerweide zu. Als der Baum endlich auftauchte, hielt sie stolpernd an und und zog scharf die Luft ein. Unter dem grünen Dach der Weidenäste kämpften Emma und Jason erbittert miteinander. Sie hatten beide ein Ende der Schaufel gepackt und zerrten daran. Ihre Gesichter waren dunkelrot vor Zorn. Sie stritten sich lauthals und schubsten einander herum. „Ich hätte es wissen sollen!", schrie Emma. „Dumm gelaufen!", stieß Jason bissig aus und versuchte, ihr gewaltsam die Schaufel aus der Hand zu reißen. „Für dich dumm gelaufen!", brüllte Emma zurück. Sie versetzte der Schneeschaufel einen harten Stoß. Jason schwankte, doch er fiel nicht hin. „Gib's auf, Emma!" Jasons Schulring glitzerte in der Dämmerung, als er wieder an dem Holzgriff zerrte. Emma machte ein paar unsichere Schritte auf ihn zu. Plötzlich ließ sie die Schneeschaufel los. Jason stolperte rückwärts. Dabei fiel ihm die Schaufel aus der Hand. Emma stürzte sich darauf. Beide stießen Schreie aus. Wortlose Schreie. Hasserfüllte Schreie. Endlich fand Sydney ihre Stimme wieder. „Hört auf!", brüllte sie schrill. „Hört sofort auf!" Mühsam richtete Emma sich auf und umklammerte die Schneeschaufel. Als sich Jason in die Richtung drehte, aus der er Sydneys Stimme gehört hatte, packte Emma sie wie einen Baseball-Schläger ... und schwang sie mit aller Kraft. 52
Mit einem leisen Singen durchschnitt das Schaufelblatt die Luft. Sydney stieß wieder einen gellenden Schrei aus, als es Jason am Hinterkopf traf. Der schreckliche, metallische Klang beim Aufprall hallte von den Bäumen wider. Danach war außer den Regentropfen alles totenstill. Ein paar Sekunden lang stand Jason wie erstarrt da. Aus seinem Haar löste sich ein Regentropfen, der ihm den Nasenrücken hinunter in den offenen Mund rann. Seine Lippen bewegten sich. Er stöhnte leise. Dann knickten seine Beine ein. Seine Augen verdrehten sich. Voller Horror schaute Sydney zu, wie Jason in die Knie ging. Wieder stöhnte. Und dann kopfüber in den Schlamm stürzte.
Kapitel 16 Vom Wegesrand aus starrte Sydney auf Jason. „Steh auf!", brüllte sie ihn in Gedanken an. „Um Gottes Willen, steh auf!" Jason rührte sich nicht. Wimmernd schleuderte Emma die Schaufel beiseite. Sie kniete sich neben Jason in den Schlamm. „Geh hin!", befahl Sydney sich im Stillen. „Vielleicht blutet Jason. Er braucht Hilfe!" Aber sie bewegte sich nicht. Ihre Füße waren wie angewachsen. „Emma!", stieß sie in einem heiseren Flüsterton aus. Emma hob langsam den Kopf. Ihr blondes Haar hing ihr nass und wirr ins Gesicht. Durch die Strähnen hindurch sah sie Sydney mit verängstigten Augen an. „Er ist... er ist tot!", stöhnte sie. Der Wald schien ins Schwanken zu geraten und wurde noch dunkler. Sydney drehte sich der Magen um.
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Sie presste sich die Hände auf den Mund und taumelte, als hätte ihr jemand mit der Faust in die Magengrube geschlagen. „Nein! Er darf nicht tot sein!", dachte sie voller Panik. „Bitte nicht! Nein, bitte nicht! Er darf nicht tot sein!" Sie machte die Augen zu. Zitternd atmete sie tief ein. Und holte dann noch einmal Luft. Als sie die Augen wieder öffnete, lag Jason immer noch mit dem Gesicht nach unten im Schlamm. Und Emma starrte sie immer noch an. Ihre Miene war vor Panik wie versteinert. „Es ist wahr", dachte Sydney. „Jason ist wirklich tot." „Worüber habt ihr euch gestritten?", brachte sie mühsam heraus, ohne sich von der Stelle zu rühren. „Was ist passiert?" „Er wollte das ganze Geld", antwortete Emma. „Sobald wir den Sack freigeschaufelt hatten, grapschte er danach. Er wollte damit weglaufen, Syd! Einfach den Sack nehmen und mit unserem ganzen Geld davonrennen!" Sydney holte noch mal tief Atem. „Der geldgierige Jason", dachte sie. „Emma hat doch Recht behalten." Sie schluckte. „Emma hat die ganze Zeit Recht gehabt. " „Ich habe versucht, es ihm auszureden", fuhr Emma fort. „Ich habe ihm gesagt, er könnte auch mehr als ein Drittel kriegen. Ich hab gesagt, er könnte die Hälfte haben. Du und ich, wir würden uns die andere Hälfte teilen." „Und er hat Nein gesagt?", murmelte Sydney. „Er hat mich ausgelacht!", erklärte Emma. Sie strich sich das Haar aus den Augen und hinterließ dabei einen Schmutzstreifen auf ihrer Stirn. „Er wollte die gesamte Kohle! Er war total scharf darauf." „Und was ist dann passiert?", fragte Sydney. Sie musste es fragen. Sie musste es wissen. „Ich hab mir den Sack gegriffen. Und dann ... dann hat er die Schaufel nach mir geschwungen!", sagte Emma schluchzend. „Fast hätte er mich erwischt, Sydney! Er hätte mich umgebracht!" Emma stockte und schnappte nach Luft. „Und dann?"
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Emma schluckte schwer. „Ich hab ihm die Schaufel entrissen und... na ja, ich glaube, den Rest hast du mitgekriegt." Sydney nickte. Wieder wurde ihr flau im Magen, und sie musste schlucken, bevor sie sprechen konnte. „Jetzt haben wir keine Wahl mehr", flüsterte sie schließlich. „Was meinst du damit?" „Wir müssen die Polizei holen", sagte Sydney bestimmt. „Nein!" Emma sprang auf und rannte auf Sydney zu. „Das können wir nicht machen! Wir können es nicht zulassen, dass Jason unser Leben ruiniert!" „Aber Emma, wir haben jetzt nicht mehr bloß einen Sack voll Geld mitgenommen", widersprach Sydney. „Jetzt... jetzt sind wir Mörder!" Mörder. Das grausame Wort hallte in ihren Ohren. Mörder. Mörder. „Nein. Die Einzige, die eine Mörderin ist, bin ich", sagte Emma. „Ich bin die Mörderin. Ich hab mit ihm gekämpft, Sydney. Ich hab ihn geschlagen. Ich habe ihn umgebracht – nicht du." „Emma, hör mir zu", beharrte Sydney. „Wir müssen die Polizei ..." Emma packte die Freundin am Arm. „Ich erledige das allein, Syd. Du brauchst nichts zu tun. Ehrlich." „Ich versteh dich nicht!", rief Sydney aus. „Was kannst du schon machen? Wir können ihn doch nicht einfach hier liegen lassen!" „Das weiß ich." Emma biss sich auf die Lippe und sah sich suchend um. „Der See!", sagte sie. „Ich versenke seine Leiche im Fear-Street-See. Da werden sie ihn monatelang nicht finden." Das Bild von Jasons Körper auf dem tiefen Grund des kalten, dunklen Fear-Street-Sees jagte Sydney eine Gänsehaut über den Rücken. Mörderin ... Mörderin ... Sie rieb sich die Oberarme und schauderte erbärmlich. „Syd, ich erledige das", wiederholte Emma und drückte Sydneys Arm. „Du stehst unter Schock. Rühr dich nicht vom Fleck, okay?" Sydney nickte; ihre Zähne klapperten. Emma lief eilig zur Weide zurück. Sie warf den Sack wieder in die Grube. So schnell sie konnte, füllte sie das Loch mit Erde und schmiss dann die Schaufel auf den Waldweg. 55
Sydney konnte nicht aufhören zu zittern. Frierend stolperte sie auf den nächsten Baum zu und umklammerte den kalten Stamm Voller Horror beobachtete sie, wie Emma Jason auf den Rücken drehte und unter den Achseln packte. Stöhnend zerrte Emma an der Leiche. Sie schleppte Jasons leblosen Körper ein paar Meter weiter. Seine Arme hingen schlaff im Schlamm, und sein Kopf rollte nach hinten. Wieder zog Emma ihn ein Stückchen vorwärts. Dumpf holperten Jasons Schuhsohlen über Baumwurzeln. Sydney presste die Augen zu. „Könnte ich das schreckliche Geräusch bloß abstellen", dachte sie, während sie Emmas keuchenden Atem und das Poltern von Jasons Füßen hörte. „Könnte ich doch bloß den ganzen Abend ungeschehen machen!" Blätter raschelten, und Zweige knackten. Sydney öffnete die Augen einen Spalt weit und sah, wie Emma Jasons Leiche in den Wald zerrte. Wenige Sekunden später entschwand sie aus Sydneys Blickfeld. Mörderin ... Mörderin ... Es hatte aufgehört zu regnen. Sydney hörte, wie das Regenwasser stetig von den Blättern tropfte. Und wie die Wellen leise ans Ufer schwappten, wenn der Wind über den Fear-Street-See blies. Dann vernahm sie noch ein Geräusch. Ein lautes, grauenvolles Platschen. „Emma hat Jason in den See geworfen", dachte sie, und ein Schauder erfasste ihren ganzen Körper. Sydneys Magen zog sich zusammen; sie lehnte sich gegen den Baum und bemühte sich, die grauenhafte Vorstellung auszulöschen. „Es ist vorbei", sagte sie sich immer wieder. „Es ist vorbei. Keiner wird rausfinden, was wir getan haben." Vor Angst bebend und verkrampft wartete sie auf Emmas Rückkehr. „Gleich sagt Emma, dass es vorbei ist", dachte Sydney. „Gleich sagt sie, dass alles in Ordnung kommt." „Sydney!", rief Emmas Stimme. Und plötzlich wusste Sydney, dass irgendwas nicht stimmte. Irgendetwas Schreckliches war passiert.
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Denn Emmas Stimme war voller Panik. „Hilfe!", schrie sie. „Sydney – hilf mir!"
Kapitel 17 „Sydney!", brüllte Emma wieder. Jetzt klang ihre Stimme näher, und Sydney konnte ihren keuchenden Atem hören. „Hilfe, Sydney!" Sydney drückte sich vom Baumstamm weg und versuchte, sich zu bewegen. Doch vor ihren Augen drehte sich alles, und ihre Knie zitterten immer noch. Sie stolperte wieder zurück an den Baum. Emma tauchte aus dem Wald auf. „Was ist los?", rief Sydney. „Was ist passiert?" Emma beugte sich vor und umklammerte ihre Knie. „Er ...", keuchte sie, „er sinkt nicht!" Sie richtete sich auf und warf das wirre Haar nach hinten. „Ich brauche etwas, was ich an ihm festbinden kann, damit er sinkt." Wieder wurde Sydney von einer Welle der Übelkeit überschwemmt. Sie bekämpfte den Brechreiz und lehnte sich mit der Stirn an die raue Rinde des Baumstamms. „Ich kann nichts machen", flüsterte sie heiser. „Mir ist ganz schlecht, Emma!" „Ich weiß. Ich hab dir doch gesagt, dass ich das allein erledige, und das tue ich auch", beruhigte Emma sie. „Ich muss mir bloß was einfallen lassen, um ihn im See zu versenken." „Hör auf, das dauernd zu sagen", flehte Sydney im Stillen, als sich ihr Magen wieder zusammenkrampfte und sich vor ihren Augen alles drehte. „Hör auf, davon zu reden, dass du ihn versenken willst!" „Ich könnte einen großen Stein an ihm festbinden", sagte Emma. „Aber ich hab kein Seil oder so was. Kann ich das hier nehmen?" Sydney blinzelte und hob langsam den Kopf. „Was?" „Kann ich deinen Gürtel haben?", fragte Emma und zeigte darauf. Sydney blickte an sich herab auf den schmalen roten Gürtel an ihren Jeans. Durch die Kopfbewegung wurde ihr noch schlechter als vorher. „Kann ich ihn nehmen?", fragte Emma wieder.
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„Klar", murmelte Sydney. Sie fummelte an der Gürtelschnalle herum. „Du kannst alles haben", dachte sie. „Alles, solange das hier endlich ein Ende nimmt!" Ihre Hände zitterten wie Espenlaub, doch schließlich schaffte sie es, die Schnalle zu öffnen und den Gürtel durch die Schlaufen zu ziehen. „Hier, nimm ihn", murmelte sie und hielt ihn Emma hin. „Tut mir Leid, Emma. Tut mir Leid, dass ich dir nicht mehr helfe. Mir ist so schwindlig, dass ich nicht mal klar denken kann!" „Das ist schon okay", sagte Emma und nahm den Gürtel. „Bleib hier, Syd. Ich bin gleich wieder da, und dann fahren wir nach Hause." Emma rannte wieder quer durch den Wald. Sydney lehnte sich zurück an den Baumstamm. Sobald sie die Augen schloss, drehte sich die Welt im Kreis, und ihr Magen wallte heftig auf. Sie kniete sich hin, beugte sich über den schlammigen Pfad und erbrach sich, bis ihre Bauchmuskeln weh taten. Tränen strömten ihr aus den Augen. Als es endlich vorbei war, richtete sie sich zitternd auf und tastete nach dem Baumstamm. Sie lehnte sich mit der Stirn dagegen; er fühlte sich feucht an. Feucht und kühl. Sie presste ihre brennenden Wangen gegen die Rinde - und hörte ein Geräusch. Stimmen. Die Stimmen von mindestens zwei Menschen. Sydneys Herz begann zu rasen. „Da ist jemand im Wald!", fuhr es ihr durch den Kopf. „Emma und ich – wir sind nicht allein hier!"
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Kapitel 18 Die Stimmen waren zu weit weg; daher konnte Sydney nicht verstehen, was sie sagten. Doch sie waren laut genug, dass sie hören konnte, wie sie immer näher kamen. „Verschwinde von hier!", befahl sie sich mit klopfendem Herzen. „Verschwinde, bevor sie dich erwischen." Sie machte zwei Schritte und erstarrte wieder. Emma! Sie konnte doch Emma nicht einfach zurücklassen! Als Sydney voller Panik still dastand, merkte sie plötzlich, dass die Stimmen verschwunden waren. „Wo sind die Leute hingegangen?", fragte sie sich. „Sie waren doch auf dem Weg hierher! Sie können sich doch nicht einfach so in Luft aufgelöst haben!" Ein unerwartetes Rascheln im Gebüsch ließ sie zusammenzucken. Sie drehte sich hastig um - und erblickte Emma, die sich müde durch das Dickicht kämpfte. „Emma! Gott sei Dank bist du da!", rief Sydney aus. „Hast du jemanden reden hören?" „Nein." Emma stolperte erschöpft auf die Lichtung zu. Ihre Jeans waren schmutzverkrustet. Schlammklumpen hingen ihr an den Händen und im Haar; sie hatte Dreckspuren im Gesicht. „Nein, ich habe nichts gehört." Sydney sah sich suchend um. Außer den Ästen, die sich im Wind wiegten, rührte sich nichts. „Ich hab furchtbare Angst gehabt. Wahrscheinlich habe ich es mir nur eingebildet." „Kann sein." Nervös blickte Emma sich um. „Lass uns jetzt trotzdem verschwinden." „Ja ... aber ..." Sydney zögerte. „Hast du ...? Ist Jason ...?" Emma nickte mit grimmiger Miene. „Er ist weg." Zwanzig Minuten später hielt Sydney vor Emmas Haus. Die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigte zehn Uhr abends an. Sydney konnte es kaum glauben. Erst vor wenigen Stunden war sie 59
hergekommen, um mit Emma zum Einkaufszentrum zu fahren. „Ich glaube ..." Sydneys Kehle fühlte sich rau an; sie musste schlucken. Seit sie den Wald verlassen hatten, hatten weder Emma noch sie etwas gesagt. „Ich glaube, ich fahr jetzt lieber nach Hause." Emma schwieg noch immer. Sydney sah sie von der Seite an. Im schwachen Licht der Armaturen bemerkte sie, dass der Freundin Tränen die Wangen hinunterliefen. „Emma?", fragte sie. „Bist du okay?" Emma schüttelte den Kopf. „Es ist bloß ..." Schluchzend hielt sie inne. „Ich hab es tatsächlich getan. Ich hab ihn umgebracht!" Während Emma weinte, beugte Sydney sich zu ihr und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Es wird mir erst jetzt langsam bewusst", weinte Emma. „Vorhin war ich wie betäubt. Deswegen konnte ich wahrscheinlich das tun, was ich getan habe. Aber jetzt wird mir allmählich klar, was passiert ist." Sydney nickte. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Emma, die auf dem Beifahrersitz saß, drehte ihr das Gesicht zu. Ihre Augen waren vor Schreck weit aufgerissen. „Ich habe jemanden getötet! Und morgen müssen wir in die Schule! Wie können wir einfach in die Schule gehen, als ob nichts passiert wäre?" Sydney drückte ihre Schulter. „Keiner in der Schule wird uns verdächtigen, Emma", murmelte sie. „Außerdem haben wir gar keine andere Wahl. Das Einzige, was wir tun können, ist, uns normal zu verhalten, bis sie seine Leiche gefunden haben." „Oh Gott, was habe ich da gerade gesagt", dachte Sydney. „Ich habe über Jasons Leiche gesprochen, als sei sie ein alter Schuh oder so was!" „Ich glaube, du hast Recht." Emma wischte sich wieder das Gesicht ab und warf einen Blick auf ihr Haus. „Ich gehe jetzt lieber rein und wasch mich, bevor Mom nach Hause kommt." „Okay." Sydney seufzte. „Versuch, dir nicht den Kopf zu zerbrechen, Emma. Es wird schon wieder alles gut werden." „Aber wie kann es wieder gut werden?", fragte sich Sydney, während sie von dem Häuschen wegfuhr. „Wir haben das Geld mitgenommen und versteckt. Und jetzt ist Jason tot. Ermordet. 60
Wie um alles in der Welt kann es je wieder gut werden?" Sydney machte leise die Haustür auf. Sie schlich auf Zehenspitzen über den Marmorboden der Eingangshalle und dann durch einen weiten Flur in den westlichen Flügel der Villa. Aus der halb offenen Tür des Wohnzimmers ertönten die Stimmen ihrer Eltern, die sich leise unterhielten. „So dürfen sie mich nicht sehen", dachte Sydney. „Sogar, wenn ich ganz sauber wäre, würden sie einen Blick in mein Gesicht werfen und mir eine Million Fragen stellen." Trotzdem musste sie ihre Eltern wissen lassen, dass sie wieder da war. Rasch schlich sie zur Treppe, die hinauf zu den Schlafzimmern führte. Auf halber Höhe blieb sie stehen. „Ich bin wieder da!", verkündete sie, bemüht, heiter zu klingen. „Hi, Schatz", rief ihr Vater zurück. „Ein bisschen spät dran, nicht wahr?" „Kann sein." Sydney suchte nach einer Ausrede, doch ihr Gehirn funktionierte einfach nicht. „Tut mir Leid." „War im Einkaufszentrum viel los?", fragte ihre Mutter. „Nee, eigentlich nicht. Ich nehme jetzt ein Bad und lerne noch ein bisschen. Also, bis morgen früh." Bevor ihre Eltern rauskommen und sie sehen konnten, hastete Sydney hinauf in ihr Zimmer. Sobald sie die Tür hinter sich zugemacht hatte, fing sie wieder an zu zittern. In ihrem Kopf tauchten Bilder und Geräusche auf - das Tropfen des Regens, das Rascheln der Blätter. Das entsetzliche Klonk!, als die Schaufel Jason am Hinterkopf traf. Wie seine Augen sich verdreht hatten und wie er gleich darauf kopfüber in den Schlamm gestürzt war. Noch immer bebend, eilte Sydney in ihr eigenes Badezimmer und streifte sich die verdreckten Klamotten ab. Sie ließ die Wanne mit heißem Wasser voll laufen, gab etwas Badeöl mit Rosenduft dazu und stieg hinein. Das Bad beruhigte ihre Nerven. Sie blieb lange im warmen Wasser liegen. „Denk an was anderes", befahl sie sich, als sie ihr Nachthemd angezogen hatte. Sie räumte die Schulsachen vom Bett und schlüpfte unter die Decke. „Denk an den Geschichtstest. Vielleicht kannst du 61
dann schlafen." Sydney machte die Augen zu und versuchte, sich alles in Erinnerung zu rufen, was sie über den Bürgerkrieg und die Eingliederung der Südstaaten gelernt hatte. Als sie aufwachte, fiel ihr Blick auf den Wecker neben ihrem Bett. Halb vier Uhr morgens. Mit einem Seufzer drehte sie sich auf den Rücken. Am Fußende ihres Bettes stand eine Gestalt. „Mom?", fragte Sydney mit schlaftrunkener Stimme. „Bist du das?" Keine Antwort. Die Gestalt bewegte sich leicht. Dabei fiel ein Mondstrahl auf ihr Gesicht. Jason! „Das kann nicht sein!", dachte sie. „Das ist unmöglich!" Aber es war Jason. Er stand vor ihrem Bett und schaute sie an. Sein Hemd war mit einer Schicht von Schlamm und Dreck überzogen. Schleimige Algen hingen ihm wie Strähnen im Haar und wanden sich um seinen Hals. Sein Hinterkopf und die Schultern waren mit getrocknetem Blut verkrustet. „Du – du bist doch tot!", stieß Sydney keuchend aus. Doch Jason stand da und starrte auf sie herunter. Seine Augen waren lebendig.
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Kapitel 19 „Nein!", schrie Sydney noch einmal. „Du bist tot! Du musst doch tot sein!" Mit einem panischen Schluchzen streckte sie den Arm aus, um ihre Nachttischlampe anzuknipsen. Ihre Hand schlug gegen den Lampenschirm. Die Lampe wackelte und kippte. „Nein!" Sydney sprang aus dem Bett. Griff nach der Lampe, bevor sie auf den Boden fallen konnte. Keuchend schaltete Sydney das Licht an. Sie hielt die Lampe hoch und wich zurück gegen die Wand. „Jason –?" Niemand war da. Niemand. „Sydney?", rief ihr Vater auf dem Flur. Er klopfte sanft an ihre Zimmertür. „Ich hab dich schreien hören. Ist irgendwas?" „Ich ... ich bin okay", antwortete Sydney mit zitternder Stimme. „Ich hab bloß schlecht geträumt." „Es hat so echt gewirkt", sagte sie sich. „Aber es war nur ein Albtraum." „Sydney, bist du sicher, dass mit dir alles in Ordnung ist?", vergewisserte sich ihr Vater. „Nein", dachte Sydney. „Noch nicht. Vielleicht nie wieder." „Natürlich", antwortete sie laut. „Tut mir Leid, dass ich dich geweckt habe, Dad. Gute Nacht." „Gute Nacht, Schatz." Mit klopfendem Herzen wandte Sydney sich um. Ihre Hände zitterten, als sie die Lampe wieder auf den Nachttisch stellte. Ihr fiel Emma ein. „Wenn ich sie doch bloß jetzt anrufen könnte – um ihr zu erzählen, was ich gerade gesehen habe." Sydney warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass es viel zu früh war, um Emma anzurufen. Außerdem war es bloß ein Albtraum gewesen. Es konnte gar keine andere Erklärung geben. 63
Jason war tot. Er lag auf dem Grund des Fear-Street-Sees. Während Sydney sich wieder ins Bett legte, ohne das Licht auszuschalten, fragte sie sich, ob Emma auch Albträume hatte. Ein Summton bohrte sich in Sydneys Ohr. Ein konstantes, entnervendes Summen. Ohne die Augen aufzumachen, streckte sie die Hand aus und drückte den Intervall-Knopf auf ihrem Wecker. „Ich bin so müde", dachte sie und vergrub den Kopf tief im Kissen. „Todmüde." Dann richtete sie sich kerzengerade auf. Ganz plötzlich fiel ihr ein, was gestern alles passiert war. Jason! Emma hatte gestern Abend Jason getötet. Er war unter der Trauerweide gestorben. Dann hatte sie seine Leiche mit einem Steinbrocken beschwert und im Fear-Street-See versenkt. Und sie selbst hatte heute Nacht diesen schrecklichen Albtraum gehabt. Langsam richtete Sydney den Blick auf das Fußende ihres Bettes. „Dort hat Jason gestanden", dachte sie. „Blutend und voller Schlamm. Hat mich angestarrt. Hat mich vorwurfsvoll angestarrt." In seinen Augen hatte der blanke Hass gestanden. Die Sonne schien durch das Fenster und heizte das Zimmer auf. Doch Sydney zitterte vor Kälte. Sie zog sich die dicke Bettdecke über die Schultern und schlang die Arme um ihre Knie. „Jason ist tot", sagte sie sich. „Er ist wirklich tot." Noch immer schaudernd, stützte sie den Kopf auf die Knie und holte stoßweise Luft. Würde er ihr von nun an jede Nacht im Traum erscheinen? Wieder ertönte der Summton. Sydney zuckte zusammen und stellte den Wecker ab. Wenn sie sich nicht beeilte, würde sie zu spät zum Unterricht kommen. Die Schule war der letzte Ort, zu dem es sie jetzt hinzog, doch sie wusste, dass sie sich ganz normal verhalten musste. So tun, als sei alles in Ordnung. So tun, als hätte sie nicht gesehen, wie Jason gestorben war. Nicht gesehen, wie er mit dem Gesicht nach unten im Schlamm unter der Trauerweide lag. „Hör auf damit!", schalt Sydney sich. „Denk nicht mehr daran!"
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Sie schüttelte die Bettdecke ab und lief ins Bad, um sich für die Schule fertig zu machen. Die Sachen, die sie gestern getragen hatte, lagen in einem schmutzigen Haufen auf dem Fliesenboden. Schaudernd stopfte sie alles in den Wäschekorb. Sydney duschte sich rasch und zog sich einen dicken, weißen Bademantel an. Sie stellte sich vor den Spiegel. Unter ihren Augen zeichneten sich dunkle Schatten ab. Ihre Hände zitterten, als sie sich das nasse Haar kämmte. Das Badezimmer war warm vom Wasserdampf, doch sie fröstelte immer noch. „Du bist zwar ein totales Nervenwrack, aber du musst trotzdem in die Schule", sagte sie sich immer wieder. „Du musst so tun, als sei alles wie immer." Der Kamm verfing sich in ihrem Haar. Sie schleuderte ihn auf die Ablage und rannte aus dem Bad. In ihrem begehbaren Kleiderschrank begutachtete Sydney die vielen Klamotten, die an langen Stangen hingen, und überlegte, was sie anziehen sollte. Jeans? Oder einen Rock? Etwas Buntes? Oder lieber Schwarz? Was trägt man bloß am Tag, nachdem man mitgeholfen hat, seinen eigenen Freund beiseite zu schaffen? „Hör endlich auf damit!", schalt sie sich wieder. „Zieh irgendwas an, und mach dich auf zur Schule." Sydney ergriff ein Paar Jeans und eine rostfarbene Bluse. Als sie zu ihrem Bett ging, blieb sie plötzlich stehen. „Nein!", dachte sie. „Nein!" In ihren Ohren rauschte es, und ihr Puls raste. Sie schüttelte den Kopf und trat noch zwei Schritte vor. Sie starrte auf den Boden am Fußende ihres Bettes. Zwei Schuhabdrücke hatten sich tief in den flauschigen, wollweißen Teppich eingegraben. Zwei schlammige Schuhabdrücke. Jasons Abdrücke.
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Kapitel 20 „Das musst du geträumt haben, Sydney." Emma schlug die Tür ihres Schließfachs zu und verriegelte das Schloss. Nervös wickelte Sydney sich eine Haarsträhne um den Zeigefinger. „Aber was ist mit den Schuhabdrücken, Emma?", fragte sie. „Die sind nicht so wie Jason verschwunden. Heute Morgen waren sie auf meinem Teppich und haben tiefe Schlammspuren hinterlassen!" Ihre Stimme war immer lauter geworden. „Pssst!", zischte Emma und packte Sydney am Arm. „Willst du, dass jemand dich hört?" Sydney sah sich verstohlen auf dem Flur um. Ihre Mitschüler eilten zur ersten Unterrichtsstunde. „Natürlich nicht", flüsterte sie. „Aber die Abdrücke haben mich total geschockt, Emma. Die hab ich nicht geträumt. Die waren definitiv echt!" „Okay. Sie waren echt", gab Emma ihr Recht. „Und mir ist gerade klar geworden, wie sie dahin gekommen sind." „Wie denn?" „Das ist ganz einfach: Wir sind doch beide im Wald auf dem schlammigen Boden rumgelaufen, stimmt's?", erklärte Emma. „Deswegen ... sind die Schuhabdrücke deine eigenen gewesen!" Sydney starrte sie an. „Glaubst du?" „Natürlich!", sagte Emma mit Bestimmtheit. „Als ich gestern Abend nach Hause kam, war ich total verdreckt. Meine Klamotten waren voller Schlamm – und meine Schuhe erst! Deine etwa nicht?" Sydney nickte nachdenklich. „Außerdem warst du total verwirrt", erinnerte Emma sie sanft. „Du hast sicher nicht aufgepasst, wo du stehst oder hintrittst. Du wolltest bloß noch deine nassen, schmutzigen Klamotten loswerden, stimmt's?" „Stimmt. Ich bin fast hysterisch geworden", gab Sydney zu. „Ich kann mich nicht mehr an viel erinnern außer daran, dass ich ein Bad genommen habe." Sie holte tief Luft. „Wahrscheinlich hast du Recht. Es könnten meine eigenen Schuhabdrücke gewesen sein." 66
„Es waren deine eigenen", korrigierte Emma sie. „Ich weiß, du hattest einen schrecklichen Traum, Syd. Aber im Ernst — wir wissen doch beide, dass Träume keine Fußspuren hinterlassen." „Emma muss Recht haben", dachte Sydney, als sie zusah, wie ihre Freundin zum Unterricht eilte. „Sie muss einfach Recht haben." „Hey, Sydney", sagte Tori Johnson lächelnd, als sie nach der Englischstunde zusammen das Klassenzimmer verließen. „Wo hast du Jason gelassen?" „Er ..." Sydneys Herz begann wild zu pochen. Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. „Ich weiß nicht." Tori hob ungläubig die Augenbrauen. „Ihr beiden seid doch sonst immer zusammen. Wie kannst du da nicht wissen, wo er ist?" Sie sah Sydney forschend an, als ob sie die Antwort in ihren Augen suchte. Dann fragte sie erschrocken: „Sag bloß nicht, du hast mit Jason Schluss gemacht?" „Nein. Ich hab bloß geholfen, ihn umzubringen", dachte Sydney. Das Bild, wie Jason an ihrem Bett stand, tauchte wieder vor ihrem inneren Auge auf. Sie verwarf es und zwang sich zu lächeln. „Nein, wir haben nicht Schluss gemacht", sagte sie. „Ich hab ihn heute bloß noch nicht gesehen, das ist alles. Er muss wohl krank sein." Tori nickte und wandte sich ab, um den Flur entlangzulaufen. Sydney stieß einen tiefen Seufzer aus und ging in die entgegengesetzte Richtung zu ihrem Schließfach. Tori war nicht die Einzige, die sich heute nach Jason erkundigt hatte. Es schien, als wollte die ganze Schule wissen, wo er steckte und warum sie nicht zusammen waren. Und jedes Mal, wenn jemand nach ihm fragte, beschleunigte sich Sydneys Puls, und ihr stieg die Röte ins Gesicht. Sie war eine ganz schlechte Lügnerin. Es war ein wahres Wunder, dass die anderen ihr überhaupt ein Wort glaubten. Jemand klopfte ihr auf die Schulter. Erschrocken drehte Sydney sich um. Kurt Walters, ein Typ aus ihrem Geschichtskurs, stand grinsend vor ihr. „Tut mir Leid. Hab ich dich erschreckt?" „Ein bisschen." Sydney lachte nervös und ging weiter.
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Kurt lief neben ihr her. „Der Geschichtstest war echt schwer, was? Wie ist's bei dir gelaufen?" „Total verpatzt, glaube ich", murmelte Sydney. Wenigstens war das keine Lüge. Alles, was sie über den Bürgerkrieg gewusst hatte, war wie weggeblasen gewesen. „Na ja, da bist du nicht die Einzige", sagte Kurt. „Hey, wo ist eigentlich Jason?" „Nicht schon wieder!", dachte Sydney. „Warum bin ich heute bloß hergekommen? Ich hätte wissen müssen, dass alle sich fragen, weshalb Jason und ich nicht zusammen rumhängen." Kurt sah sie an. „Ist er überhaupt da?" „Nein." Sydney biss sich auf die Lippe und wandte den Blick ab; sie fragte sich, ob Kurt das Herz in ihrer Brust hämmern hörte. „Ich hab ihn noch nicht gesehen. Und du?" „Wenn ich ihn gesehen hätte, würde ich dich ja wohl nicht nach ihm fragen." „Stimmt." Sydney lachte gezwungen. „Wahrscheinlich ist er krank." „Ja, wahrscheinlich." Kurt schaute sie noch einmal neugierig an und zuckte dann die Achseln. „Also, bis später." „Bis dann." „Er hat gemerkt, dass ich gelogen habe", dachte Sydney, als Kurt weiterging. „Er hat es mir angesehen!" Sydney seufzte. Sie war diejenige gewesen, die Emma gesagt hatte, dass sie sich heute ganz normal verhalten müssten. Und trotzdem war sie fast aus der Haut gefahren, als jemand sie das erste Mal nach Jason gefragt hatte. „Wenigstens ist der Schultag überstanden", dachte sie, als sie sich ihrem Schließfach näherte. Sie konnte endlich nach Hause gehen. Noch ein langes Bad nehmen. Und versuchen, die Sache mit Jason zu vergessen. Als Sydney ihr Schließfach aufmachte, rutschte etwas heraus und fiel auf den Boden. Sie warf einen Blick darauf. Zu ihren Füßen lag ein kleiner Umschlag, der einmal zusammengefaltet war. Was war das? Sie hatte keinen Umschlag ins Schließfach gelegt. Vielleicht war es ein Werbezettel für einen Ausverkauf oder so was. 68
Neugierig bückte Sydney sich und hob ihn auf. Schlamm. Eine feuchte Schlammspur zog sich über die Vorderseite des Umschlags. Sydney lief ein Schauder über den Rücken. Ihr fielen die schlammigen Schuhabdrücke auf ihrem Teppichboden wieder ein. „Reiß dich zusammen", sagte sie sich. „Es hat heute Morgen wieder geregnet. Es ist überall schlammig." Sie drehte den Umschlag um. Etwas Schweres rutschte in eine Ecke. Sie fuhr mit den Fingern über die Ausbeulung. Sicher war das kein Werbebrief. Schnell riss sie den Umschlag auf und schaute hinein. Etwas Goldenes blitzte. Mit zitternden Händen ließ sie den Gegenstand in die hohle Hand gleiten und starrte ihn an. Es war ein Ring. Ein Schulring der Shadyside Highschool. Die Initialen des Eigentümers waren eingraviert: JP! Es war Jasons Ring. Gestern Abend hatte sie den Ring noch an seinem Finger gesehen.
Kapitel 21 Ein Rauschen durchflutete Sydneys Ohren. Alles um sie herum verschwamm. Der Flur fing an, sich zu drehen. Ihre Hand zitterte so heftig, dass sie den Ring mit den Fingern umklammern musste, damit er ihr nicht entglitt. „Jason hat diesen Ring gestern Abend noch getragen!", hallte es in ihrem Kopf. „Ich hab ihn an seiner Hand bemerkt. Ich habe ihn aufblitzen sehen, als Jason unter dem Baum nach dem Geld gegraben hat!" Wie kam der Ring hierher? Ganz langsam lockerte Sydney ihre verkrampften Finger. Glitzernd lag Jasons Ring auf ihrer Handfläche. „Nein", flüsterte sie und schüttelte wild den Kopf. „Nein!" „Sydney, was ist los?" 69
Erschrocken drehte Sydney sich rasch um und stieß dabei mit der Schulter an die scharfe Kante der Tür ihres Schließfachs. Emma stand hinter ihr und starrte sie mit besorgter Miene an. „Emma", flüsterte Sydney mit heiser Stimme. „Du wirst es nicht glauben." „Was denn?", fragte Emma und runzelte die Stirn. „Was ist los mit dir, Sydney? Ich hab gesehen, wie du den Kopf geschüttelt und irgendwas gemurmelt hast." „Sieh mal!" Sydney streckte ihr die offene Handfläche hin. „Jasons Schulring." Emma quollen fast die Augen über. „Den hab ich in meinem Schließfach gefunden. Er steckte in diesem Umschlag." Sydney zeigte auf den Umschlag mit den Dreckspuren, der wieder auf den Boden gefallen war. „Siehst du den Schlamm? Ich glaube, er ist sogar noch feucht." „Syd ..." „Wie ist Jasons Ring in mein Schließfach gekommen?", fragte Sydney in schrillem Ton. „Er hat ihn getragen, als er ... gestern Abend. Ich habe den Ring selber gesehen, Emma! Ich hab ihn an seiner Hand gesehen, das weiß ich ganz genau. Also, wie ist er hierher gelangt?" „Sydney, beruhige dich, und lass mich überlegen!", erwiderte Emma ungeduldig. „Ich kann mich nicht daran erinnern, den Ring gestern bemerkt zu haben. Bist du ganz sicher, dass er ihn getragen hat?" „Ja, ich bin ganz sicher. Na ja ... zumindest ziemlich." „Vielleicht glaubst du bloß, du hättest ihn gesehen", meinte Emma. „Es könnte doch immerhin auch sein, dass Jason ihn gestern hier gelassen hat. Er hat dein Schließfach manchmal mitbenutzt, oder nicht?" „Stimmt, aber ..." „Und die Turnhalle ist gleich am Ende des Flurs", fuhr Emma fort. „Vielleicht hat er ihn ja vor dem Sportunterricht in den Spind gelegt. Damit er ihn nicht verliert." „Aber Emma, ich hab heute schon zweimal mein Schließfach aufgemacht", widersprach Sydney. „Und da war der Umschlag noch nicht drin!" „Bist du ganz sicher?" 70
Sydney schloss die Augen und versuchte, sich zu erinnern. Am Morgen war sie zu ihrem Schließfach gegangen, hatte ihre Jacke hineingehängt und ein paar Hefte herausgeholt. Dann, nach dem Mittagessen, hatte sie die Hefte vom Vormittag reingelegt und die für den Nachmittagsunterricht herausgenommen. „Nun?", fragte Emma. „Ich glaube bestimmt, dass er noch nicht drin war", sagte Sydney. Sie stieß einen Seufzer aus. „Aber ... aber inzwischen bin ich mir bei gar nichts mehr sicher!" „Dann wette ich, dass der Ring schon die ganze Zeit über in deinem Schließfach war", erklärte Emma. „Wahrscheinlich hat der Umschlag in einem Buch oder so was gesteckt." „Glaubst du wirklich?" „Komm schon! So muss es gewesen sein", beharrte Emma. „Es gibt einfach keine andere Erklärung dafür." Noch immer erschüttert, starrte Sydney sie an. „Erst die schlammigen Abdrücke vor meinem Bett", murmelte sie, „und jetzt das hier. Ich habe gedacht ..." „Hör auf, darüber nachzudenken." Emma drückte ihren Arm. „Du drehst sonst noch durch, Sydney. Du musst cool bleiben!" „Das versuch ich ja!", sagte Sydney heftig. „Aber alle fragen mich ständig nach ..." Sie sah sich verstohlen um und senkte die Stimme: „... nach Jason. Wo er steckt. Warum er nicht mit mir zusammen ist. Das macht mich ganz verrückt! Und nun finde ich auch noch seinen Schulring in meinem Schließfach!" „Ich weiß. Aber der muss schon früher dort gewesen sein, und du hast ihn bisher bloß übersehen." Emma packte Sydney wieder am Arm. „So muss es gewesen sein, Syd. Schnapp jetzt bitte nicht über!" Sydney zwang sich, tief durchzuatmen. „Emma liegt mit dem Ring bestimmt richtig", dachte sie. Und bezüglich des Überschnappens hatte sie auch ganz sicher Recht. „Du musst dich zusammenreißen", befahl Sydney sich. „Du musst einfach!" Sie stopfte Jasons Ring in ihre Jeanstasche. Dann fuhr sie sich mit der Hand durch ihr dunkelbraunes Haar und schaffte es zu lächeln. „Jetzt geht's mir wieder besser", murmelte sie. „Ich packe das schon."
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„Gut." Emma lächelte zurück. „Komm jetzt. Gehen wir. Heute war der schlimmste Tag. Ab morgen wird es leichter." „Hoffentlich", dachte Sydney. „Solche Tage wie heute kann ich nicht mehr oft ertragen." Sie nahm ihre Jacke. „Soll ich dich vor dem Cineplex rauslassen?", fragte sie, als sie den Flur entlanggingen. „Nein. Aber du könntest mich nach Hause fahren", antwortete Emma. „Arbeitest du heute nicht?" „Ich hab angerufen und gesagt, dass mir der Kopf immer noch wehtut." Emma befühlte ihre Stirn und zuckte zusammen. „Das war noch nicht mal gelogen. Ich hab gerade furchtbare Kopfschmerzen. Sobald ich nach Hause komme, leg ich mich hin." „Ich mich auch", dachte Sydney. Sie drückte die Tür auf, die zum Schülerparkplatz führte. „Erst nehme ich ein heißes Bad, und dann mache ich einen Mittagsschlaf." Sie seufzte. „Hoffentlich träume ich nicht wieder von Jason." Der Himmel war immer noch grau, doch der Regen hatte nachgelassen. Sydney und Emma eilten über den Parkplatz zum Auto und versuchten dabei, den Pfützen auszuweichen. Sydney sperrte auf. Emma öffnete die Tür und wollte ihren Rucksack abladen. „Oh, nein!", keuchte sie plötzlich erschrocken. „Was denn? Was ist denn?", rief Sydney nervös. Emma war ganz blass geworden. Mit zitterndem Finger zeigte sie auf den Sitz. „Sieh mal!" Sydney starrte mit großen Augen in den Innenraum ihres Wagens. Und spürte, wie es ihr eiskalt den Rücken herunterlief. Quer über den Vordersitz lag eine Schaufel, die mit Schlamm verkrustet war. Aber es war nicht bloß Schlamm, wie Sydney feststellte. Die Schaufel war auch voller Blutspritzer. Noch feuchtes, dunkelrotes Blut glänzte auf dem verschmierten Schaufelblatt und tropfte auf die eierschalenfarbenen Sitze ihres Autos.
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Kapitel 22 Ungläubig starrte Sydney Emma an. „Aber - aber – wie kommt die bloß hier rein?", stotterte sie. „Was macht das Ding in meinem Auto?" „Weiß ich doch nicht!", stieß Emma entsetzt aus. „Ich – ich hab sie jedenfalls bestimmt nicht da hingelegt!" „Wie meinst du das?", wollte Sydney wissen. „Was hast du denn gestern Abend sonst damit gemacht? Hast du sie nicht versteckt?" „Lass mich nachdenken!" Emma presste die Augen zu. „Nachdem ich Jason den Schlag verpasst habe, hab ich die Schaufel weggeworfen", sagte sie langsam. „Ich – ich hab sie ganz vergessen. Auf keinen Fall hab ich sie mit zurück genommen." „Wie kommt sie dann in mein Auto?", fragte Sydney. „Ich sag dir doch, ich weiß es nicht!", jammerte Emma. Sie warf noch einen Blick auf die Schaufel und rang nach Luft. „Sydney, jemand muss uns gesehen haben!" Ein Angstschauder kroch Sydney den Rücken hinauf. „Du hast doch Stimmen gehört, oder?", fragte Emma. „Als ich Jason im See versenkt hatte und zurückkam, hast du mir erzählt, du hättest irgendwelche Leute miteinander reden hören. Weißt du noch?" „Ja, das weiß ich noch." Sydney presste die Kiefer zusammen, damit ihre Zähne nicht so laut klapperten. „Ich hab gedacht, du hättest es dir eingebildet, weil du unter Schock standest", fuhr Emma fort. „Aber ich hab mich geirrt. Du hast Recht gehabt, Syd. Außer uns muss noch jemand im Wald gewesen sein." „Leute, die uns beobachtet haben", dachte Sydney schaudernd. „Die sich versteckt und zugesehen haben." „Wer immer es war, hat auch die Schaufel gefunden, Syd!", sagte Emma bestürzt. „Und hat sie in dein Auto gelegt – als Drohung für uns!" „Als Drohung? Wieso?", flüsterte Sydney heiser. „Glaubst du wirklich, sie haben mitgekriegt, was mit Jason passiert ist? Oder haben sie vielleicht bloß die Schaufel gefunden, nachdem sie uns haben wegrennen sehen? Aber warum haben sie sie in mein Auto gelegt? 73
Was wollen sie von uns?" Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme vor Panik immer höher und schriller wurde. „Wir müssen abwarten, nehme ich an", erwiderte Emma schaudernd. „Syd, ich hab Angst." „Ich auch", dachte Sydney. „Nein, ich habe nicht bloß Angst. Ich habe Todesangst." Wieder warf sie einen Blick ins Wageninnere. Die Schaufel lag immer noch da und verschmierte die Vordersitze mit Schlamm und Blut. Mit einem Aufschrei packte Sydney sie, zog sie heraus und warf sie in den Kofferraum. „Was sollen wir jetzt machen?", fragte sie atemlos und setzte sich auf den Fahrersitz. „Ich weiß nicht so recht", meinte Emma. Sie wischte den Dreck vom Beifahrersitz und stieg ein. „Aber wir sind jetzt beide zu geschockt, um klar denken zu können. Wir könnten einen Fehler machen. Lass uns zu dir nach Hause fahren und uns wieder beruhigen. Dann können wir uns überlegen, was wir am besten tun." „Okay." Während Sydney versuchte, den Schlüssel im Zündschloss zu drehen, zitterte ihre Hand wie verrückt. Erst beim dritten Versuch klappte es, und der Motor sprang an. Als sie mit Vollgas vom Parkplatz brauste, polterte sie so schnell über einen Bordstein, dass sie sich den Kopf am Autodach stieß. „Fahr langsamer!", sagte Emma warnend. „Das Letzte, was wir jetzt brauchen können, ist ein Strafzettel wegen überhöhter Geschwindigkeit!" „Sie hat Recht", dachte Sydney. „Wenn ich jetzt angehalten werde, drehe ich total durch." Sie nahm den Fuß vom Gas und warf Emma einen Blick zu. „Sollen wir die Schaufel irgendwo verstecken?", schlug sie vor. „Vielleicht vergraben oder so? Oder das Blut abwaschen und sie dann bei uns im Keller abstellen?" Emma schüttelte den Kopf. „Vielleicht werden wir ja beschattet, vergiss das nicht!" Sydney wurde ganz flau im Magen. Mit klopfendem Herzen warf sie einen Blick in den Rückspiegel. Der blaue Wagen dahinten - fuhr der etwa schon die ganze Zeit hinter ihnen her? 74
Ohne dabei den Spiegel aus den Augen zu lassen, nahm Sydney den Park Drive in nördlicher Richtung. Der blaue Wagen blieb hinter ihr. Auf ihrer Stirn sammelten sich Schweißtropfen. Sie hielt das Lenkrad umklammert und zwang sich, der Versuchung nicht nachzugeben und Vollgas zu fahren. Ein Wohnblock. Zwei Wohnblöcke. Der blaue Wagen folgte ihnen. Sydney bog in das Wohngebiet Norm Hills ab. Der blaue Wagen blieb weiter hinter ihnen. „Wer ist das?", fragte sie sich. „Jemand, der uns im Wald beobachtet hat?" „Emma", bat sie schließlich leise, „sieh dir mal das blaue Auto hinter uns an." Emma drehte sich rasch um. „Was für ein blaues Auto?", fragte sie. Sydney warf einen Blick in den Rückspiegel. Hinter ihnen erstreckte sich leerer Asphalt. „Gerade war es noch da!", sagte Sydney beharrlich. „Ich glaub dir ja", erwiderte Emma. „Ist es dir nachgefahren, oder was?" „Nein. Ich hab bloß gedacht, es würde uns folgen. Ich - ich glaube, ich habe schon Verfolgungswahn." Mit einem Seufzer der Erleichterung fuhr Sydney langsam durch North Hills. Zehn Minuten später parkte sie ihr Auto in der Garage. Dann gingen Emma und sie ins Haus. Gott sei Dank waren Sydneys Eltern noch nicht daheim. Die Post vom Vormittag lag auf dem Tisch in der Eingangshalle. Sie war in drei Stapel eingeteilt: Sydneys Post, die für ihre Mutter und die, die an ihren Vater adressiert war. Sydney nahm ihren Poststapel an sich, ging mit Emma in die Küche und holte zwei Dosen Limonade aus dem Kühlschrank. „Komm, wir gehen in mein Zimmer, bevor meine Eltern nach Hause kommen. Was ich jetzt am allerwenigsten brauchen kann, sind Fragen, wie mein Tag war und wie der Geschichtstest gelaufen ist!" In ihrem Zimmer angekommen, warf Sydney den Rucksack und die Briefe achtlos auf den Boden. Die Post verteilte sich auf dem Teppich. 75
Eine Zeitschrift. Ein Schreiben ihrer Autoversicherung. Und ein schlichter, weißer Umschlag ohne Absender. Neugierig hob sie den Umschlag auf. Sie stellte die Dose auf dem Nachttisch ab, setzte sich auf die Bettkante und öffnete den Brief. Innen steckte ein Blatt Papier, das einmal zusammengefaltet war. Als Sydney es auseinander faltete und die mit Schreibmaschine geschriebenen Worte las, wurde ihr flau im Magen. „Was ist los mit dir?", fragte Emma. „Du bist ganz bleich geworden." Noch immer benommen, befeuchtete Sydney sich die Lippen und hielt den Brief krampfhaft fest. „Syd, was ist denn los?", wiederholte Emma. „Was steht drin?" Sydney räusperte sich. „Ich habe dich im Wald gesehen", las sie mit zitternder Stimme vor. „Ich kenne deinen Namen. Er lautet MÖRDERIN."
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Kapitel 23 In Sydneys Ohren rauschte es, als befände sie sich im Herzen eines Sturms. Sie ließ den Brief aus ihren Händen gleiten und sah Emma quer durch den Raum an. Emma starrte mit weit aufgerissenen, ängstlichen Augen zurück. Einen Moment lang schwiegen beide. Schließlich flüsterte Sydney: „Das ist kein Albtraum. Und ich leide auch nicht unter Verfolgungswahn. Das hier geschieht wirklich!" Hastig hob Emma den Brief auf und las ihn durch. Sydney zog ihre Beine aufs Bett und schlang ihre Arme um die Knie. „Was machen wir jetzt?", stieß sie heiser aus. „Irgendjemand weiß, was passiert ist, Emma! Irgendjemand weiß, dass wir Jason umgebracht haben!" Emma fuhr sich mit gespreizten Fingern durch ihr langes, blondes Haar. „Niemand kann beweisen, dass wir ihn getötet haben", meinte sie. „Schließlich ist Jason noch nicht mal gefunden worden. Und wenn er gefunden wird, können wir uns gegenseitig ein Alibi geben." „Aber Emma!", rief Sydney. „Wenn uns wirklich jemand beobachtet hat, dann muss er doch wissen, wo du Jasons Leiche versenkt hast!" Emma antwortete nicht, doch ihr Gesicht wurde blass. Sie zerknüllte den Brief und warf ihn in den Papierkorb. Sydney konnte nicht länger stillsitzen. Sie stand auf und fing an, im Zimmer auf und ab zu gehen. Dabei zwirbelte sie eine Haarsträhne um ihren Finger. „Sydney, bitte setz dich hin!", bat Emma sie. „Du machst mich sonst noch nervöser!" „Ich kann nicht anders." Sydney lief noch eine Weile hin und her, dann blieb sie plötzlich stehen. „Mein Gürtel!", stieß sie erschrocken aus und drehte sich zu Emma um. „Ja? Was soll damit sein?" „Du hast damit den Felsbrocken an Jason befestigt. Emma, wir
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müssen noch mal hin und meinen Gürtel holen, bevor jemand andres ihn findet!" „Nie im Leben!", rief Emma aus. „Wir gehen nicht an den See zurück. Ich sage dir, Syd, wer immer diesen Brief geschickt hat, weiß nicht, was genau passiert ist. Die bluffen doch bloß!" „Wie kannst du dir da so sicher sein?", fragte Sydney. „Ich ... na ja ..." Nach einer Weile schüttelte Emma den Kopf. „Sicher sein kann ich natürlich nicht." „Also müssen wir doch hinfahren!", beharrte Sydney. „Wir müssen meinen Gürtel holen. Und wir müssen die Leiche woanders verstecken!" Eine halbe Stunde später folgte Sydney Emma durch das dichte Unterholz an den Fear-Street-See. „So viel Angst hab ich noch nie in meinem ganzen Leben gehabt", dachte sie. „Angst, Jason woandershin zu bringen. Angst, seine Leiche zu berühren. Angst, dabei erwischt zu werden." Ihr wurde übel. Etwas streifte Sydney im Gesicht. Mit einem Aufschrei sprang sie zurück. Emma warf ihr über die Schulter einen Blick zu. „Das war bloß ein Ast, Syd. Komm jetzt. Wir sind fast da." Sydney zwang sich zum Weitergehen. „Ich glaube einfach nicht, dass ich das hier tue", dachte sie. „Ich glaube einfach nicht, dass ich mich wegen ein bisschen blöder Kohle in solche Schwierigkeiten gebracht habe!" Weiter vorne kletterte Emma über einen umgestürzten Baumstamm und verschwand im dichten Gebüsch. Sydney beeilte sich, ihr zu folgen. Sie sprang über den Stamm und kämpfte sich durch die Büsche, bis sie wieder neben Emma war. Ein paar Meter vor ihnen lag der Fear-Street-See. Eine Brise strich über das Wasser; kleine Wellen schwappten sanft ans Ufer. Es war spät am Nachmittag. Der Himmel war bewölkt, und der Fear-Street-See breitete sich düster und kalt vor ihnen aus. Mit laut klopfendem Herzen betrachtete Sydney die Wasseroberfläche. „Bist du sicher, dass das hier die richtige Stelle ist?", flüsterte sie. 78
Emma nickte. „Ich kann mich noch an den Baumstumpf da drüben erinnern. Ich musste Jasons Leiche daran vorbeischleppen. Ist dir nicht aufgefallen, wie platt das Unkraut an der Stelle ist?" „Nein." Sydney schauderte und rieb sich die Arme. „Ich hab nicht so genau aufgepasst." „Okay. Los, bringen wir's hinter uns." Emma holte tief Luft und trat vor ans Seeufer. Mit weichen Knien folgte Sydney ihr. „Wie weit raus hast du ihn gebracht?" „Nicht weit", erwiderte Emma. „Ein bisschen weiter vorne wird's plötzlich ganz tief. Man hat das Gefühl, als würde man von einer Klippe fallen. Aber es geht bloß einen Meter oder so runter auf eine Art Felsplatte unter Wasser. Dort habe ich ihn abgeladen. Komm schon." Sie zogen sich am Ufer Schuhe und Strümpfe aus, krempelten ihre Jeans hoch und wateten ins eiskalte Wasser. Wieder fuhr Sydney ein Schauer über den Rücken, als sich Algenstränge um ihre Knöchel schlangen. „Ist Jason voller Algen?", fragte sie sich. „Haben die Fische ihn schon entdeckt und angeknabbert?" Sie fröstelte. „Denk nicht dran", sagte sie sich. „Wenn du daran denkst, drehst du noch durch." Sie wischte sich die schleimigen Algen ab und marschierte weiter. Als das Wasser ihr fast bis zu den Knien reichte, blieb Emma stehen. „Hier ist es", sagte sie zu Sydney. Sie zeigte auf eine alte Holzhütte in der Nähe. „Ich kann mich noch daran erinnern, die Bootsanlegestelle da drüben gesehen zu haben, als ich hier draußen stand. Wir sind jetzt an genau derselben Stelle." „Okay, bringen wir's hinter uns." Sydney schob sich die Ärmel zurück und tauchte die Hände ins Wasser. Ihre Finger berührten weichen, schleimigen Seeschlamm. Sie tastete weiter. Steine. Sand. Noch mehr Schlamm. Kein Jason. Sydney hob den Blick und sah Emma an. „Hast du ihn gefunden?" „Noch nicht." Emmas langes Haar lag wie ein Fächer auf der Wasseroberfläche,
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als sie sich vorbeugte und mit den Armen tiefer eintauchte. Einen Augenblick später richtete sie sich wieder auf. Ihr Haar tropfte, und in den Händen hatte sie nichts außer Algen. „Er muss hier sein!", rief sie aus. „Genau hier hab ich ihn abgeladen." Sydney tastete weiter. „Wir müssen meinen Gürtel rausholen, bevor sie seine Leiche finden!", dachte sie. „Er kann nicht abgetrieben sein", meinte Emma keuchend. „Schließlich gibt's hier keine Ebbe und Flut." „Ich weiß. Wir finden ihn", sagte Sydney mit klappernden Zähnen. „Wir müssen ihn einfach finden!" Der Himmel verdunkelte sich immer mehr. Sydneys Füße fühlten sich wie Eisklumpen an. Ihre Hände und Arme wurden vor Kälte gefühllos. „Ich begreif das nicht", seufzte Emma. „Ich versteh einfach nicht, warum wir ihn nicht finden!" Sydney zitterte am ganzen Körper vor Kälte. Sie starrte auf das trübe Wasser. „Es ist sinnlos weiterzusuchen", dämmerte es ihr. Jason war nicht hier. Seine Leiche war verschwunden.
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Kapitel 24 „Irgendjemand hat ihn fortgeschafft", meinte Emma, als sie mit Sydney vom Fear-Street-See wegfuhr. „Das ist die einzige Erklärung, die es gibt." Sydney schaltete die Heizung ein und umklammerte krampfhaft das Lenkrad. „Sicher hat Emma Recht", dachte sie. „Irgendjemand hat Jasons Leiche gefunden und aus dem See geborgen." Doch wer? Und warum? „Die Polizei kann es nicht gewesen sein", sagte Emma, als hätte sie Sydneys Gedanken gelesen. „Warum nicht?" „Weil die gleich seine Eltern informiert hätte. Und dann wüssten alle längst, dass Jason tot ist. Außerdem würden die Beamten anfangen, überall herumzuschnüffeln und Fragen zu stellen", erwiderte Emma. „Du weißt schon: Wer hat ihn zuletzt gesehen? Wer war mit ihm zusammen? Sie wären längst hinter uns her." Sydney drehte die Heizung noch weiter auf. Aus dem Gebläse strömte heiße Luft, doch sie konnte immer noch nicht aufhören zu zittern. „Dann müssen es die gewesen sein, die uns an dem Abend beobachtet haben", murmelte sie durch ihre zusammengebissenen Zähne. „Ja." Emma kauerte auf dem Beifahrersitz und hielt die Hände vor das Heizungsgebläse. „Glaubst du, dass sie hinter der Kohle her sind?", fragte sie. „Keiner außer uns weiß von dem Geld", erinnerte Sydney sie. „Wer immer sich im Wald aufgehalten hat, hat den Inhalt des Seesacks nicht gesehen." „Vielleicht hat Jason jemandem davon erzählt", warf Emma ein. „Du hast es ihm doch gleich gesagt, weißt du noch? Und er könnte es weitererzählt haben. Ich wette, das hat er getan", fügte sie hinzu und lachte bitter. „Ich wette, er hat seine große Klappe nicht halten können und damit angegeben! Was meinst du, Syd?" 81
„Ich weiß es nicht", antwortete Sydney leise. „Ich habe keine Ahnung, was hier läuft!" „Das Einzige, was ich ganz sicher weiß", dachte sie, „ist, dass alles schief gelaufen ist. Ganz schrecklich schief gelaufen." Nachdem sie Emma vor deren Haus abgesetzt hatte, fuhr Sydney wie betäubt nach Hause. Als sie vor den Garagen ankam, sank ihr Mut noch weiter. Die beiden Autos ihrer Eltern waren da. „So kann ich Mom und Dad nicht gegenübertreten", dachte sie. „Das kann ich nicht bringen. Ich finde nie im Leben eine glaubhafte Ausrede dafür, dass ich total durchnässt und voller Seeschlamm bin!" Sydney ließ den Wagen langsam in die Garage rollen, stellte den Motor ab und stieg aus. Sie schloss das Garagentor nicht, damit ihre Eltern durch das Geräusch nicht auf sie aufmerksam wurden. Dann schlich sie hinter der Garage am Pool vorbei zum Westflügel des Hauses. Sie stand im feuchten Gras und blickte auf die Holzterrasse vor ihrem Zimmer. Stufen führten auf die Terrasse, die durch eine Glastür mit ihrem Zimmer verbunden war. „Lieber Gott, bitte mach, dass die Tür nicht verschlossen ist", betete sie im Stillen. Sydney zog die Schuhe aus und lief auf Zehenspitzen die Stufen hinauf auf die Terrasse. Im Haus läutete das Telefon. Sydneys Herz schlug schneller, als sie Schritte hörte. Durch ein offenes Fenster drang die Stimme ihrer Mutter zu ihr hinaus. „Sie redet bestimmt mit Großmutter", dachte Sydney. „Sicher telefonieren sie mindestens eine halbe Stunde miteinander. Und Dad spielt wahrscheinlich Schach gegen den Computer, wie er es vor dem Abendessen immer macht." Sydney schlich über die Terrasse und zog vorsichtig an der Gleittür. Sie ging lautlos auf. Mit einem Seufzer der Erleichterung betrat Sydney ihr Zimmer und schob die Tür hinter sich ins Schloss. Ohne das Licht anzumachen, ging sie rasch in ihr Bad und duschte so heiß, wie sie es gerade noch aushielt. 82
Als ihr endlich warm war, trocknete sie sich ab und schlüpfte in ihren dicken, weißen Bademantel. Sie verließ das Bad und hörte ein leises Klopfen an ihrer Zimmertür. „Sydney?", rief ihre Mutter. „Bist du da?" „Ja. Ich hab gerade geduscht." Sydney ging auf die Tür zu und blieb dann stehen. Sie war zwar nicht mehr schmutzig. Aber ihr wurde plötzlich klar, dass ihre Miene sie sicher sofort verraten würde. „Ich bin über die Terrasse hereingekommen, weil meine Schuhe ganz verdreckt waren." „Gut. Dein Vater und ich gehen in ungefähr einer Stunde zu einem Wohltätigkeitsdinner", sagte ihre Mutter. „Du musst dir also selbst was zu essen machen." „Okay." Bei dem Gedanken an Essen wurde Sydney schlecht. „Wie war dein Test?" Sydneys Kopf fühlte sich völlig leer an. Welcher Test? „Sicher hast du ihn sehr gut gemacht", rief ihre Mutter von draußen. „Geschichte ist doch dein bestes Fach." Ach ja, Geschichte. „Er war ziemlich schwer", sagte Sydney. „Auf alle Fälle bin ich müde, Mom. Ich glaub, ich bleibe nicht mehr lange auf." „Okay. Ich sag dir dann noch Bescheid, wenn wir gehen." Zu ihrem großen Glück war es nicht die Art ihrer Mutter, einfach hereinzuplatzen. Doch Sydney war klar, dass sie sich nicht ewig in ihrem Zimmer verbarrikadieren konnte. „Mach dir darüber jetzt keinen Kopf, sagte sie sich. „Du hast genügend andere Sorgen." Hastig lief Sydney an ihr Bett und knipste die Nachttischlampe an. Ein weicher Lichtschimmer ergoss sich über die flauschige, grüne Bettdecke und die vielen Stofftiere, die auf den Kissen saßen. Es war ein tröstlicher Anblick. Sydney streckte den Arm aus und griff nach Goldy, ihrem dicken, braunen Teddybären, den sie mit drei Jahren bekommen hatte. Als sie den Teddy vom Bett nahm, hob sie gleichzeitig noch etwas anderes auf. Etwas Langes, Rotes hing an Goldys Bein. Sydney schnappte nach Luft. „Mein Gürtel!", durchfuhr es sie. 83
„Mein roter Gürtel!" Der Gürtel, mit dem Emma den Stein an Jason befestigt hatte. „Wer hat ihn hierher gelegt? Wer hat ihn in mein Zimmer gebracht und um Goldys Bein gebunden?" Mit einem Aufschrei riss Sydney den Gürtel los. Dabei flatterte etwas Weißes herunter und landete auf dem Bett. Noch ein gefaltetes Stück Papier. Sydneys Kehle wurde trocken. Ihr Herz hämmerte wild. Sie hob den Zettel auf und faltete ihn auseinander. Auf dem Papier stand eine Nachricht, die aus einem einzigen Wort bestand: Mörderin. Doch diesmal war die Nachricht mit der Hand geschrieben. In ihren Ohren dröhnte es, als sie fassungslos auf den Zettel starrte. Sie kannte die Handschrift. Sie wusste genau, wer diese Nachricht geschrieben hatte. Jason.
Kapitel 25 Ein Angstschrei stieg in Sydneys Kehle hoch. Sie schwankte. Das Blatt Papier fiel ihr aus der Hand und flatterte aufs Bett. Es blieb neben dem roten Gürtel liegen. Elend und verängstigt sank Sydney auf die Matratze. Als sie sich kraftlos in die Kissen fallen ließ, schlug ihre Hand gegen das Telefon. „Emma!", dachte sie und richtete sich sofort wieder auf. „Ich muss es ihr sagen!" Sie ergriff das Telefon und nahm es vom Nachttisch. Die Zahlen verschwammen vor ihren Augen. Endlich schaffte sie es, Emmas Nummer zu wählen. „Hallo?" Emma klang misstrauisch. „Emma, ich bin's!", rief Sydney mit zitternder Stimme. „Syd, bin ich froh, dass du ..."
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„Emma, ich weiß jetzt, was hier los ist!", unterbrach Sydney sie. „Ich weiß, wer mir die Nachricht geschickt hat und wer den Ring in mein Schließfach gelegt hat! Ich ..." „Langsam, Syd!", bremste Emma sie. „Du redest zu schnell. Ich versteh dich nicht." Sydney unterdrückte ein Schluchzen. Sie zwang sich, tief Luft zu holen. Schließlich konnte sie weitersprechen. „Du erinnerst dich doch an meinen roten Gürtel?", fragte sie. „Mit dem du den Felsbrocken an Jason befestigt hast?" „Ja, klar." „Der ist hier, in meinem Zimmer!", stieß Sydney erregt aus. „Ich hab ihn gerade gefunden. Irgendjemand hat ihn an Goldys Bein gebunden." „An wessen Bein?" „An das von Goldy, meinem alten ... Ach, ist doch auch egal! Jedenfalls ist der Gürtel hier!", rief Sydney. „Und ein Zettel war auch dabei. Darauf steht: Mörderin." Emma keuchte. „Jemand hat den Gürtel und die Nachricht in mein Zimmer gelegt und ich weiß auch, wer es war!", verkündete Sydney. „Wer?", fragte Emma aufgeregt. „Jason." Wieder stieß Emma geschockt die Luft aus. „Was? Sydney ..." „Hör mir zu!" Sydney sprang auf und fing an, neben dem Bett auf und ab zu laufen. „Die Nachricht ist in Jasons Handschrift geschrieben. Emma! Ich kenne seine Handschrift genau!" Emma schwieg. „Verstehst du denn nicht?", fuhr Sydney fort. „Das war keiner, der uns im Wald beobachtet hat. Das war Jason selber." Sie wurde lauter. „Er war doch tot, oder? Emma? Du warst doch sicher, dass er tot war?" „Ja, er war tot", antwortete Emma leise. Sydney schwieg einen Augenblick. „Glaubst du an Gespenster?", flüsterte sie mit ängstlicher Stimme. „Ich weiß nicht..." „Syd, ich wollte dich auch gerade anrufen", unterbrach Emma sie. „Ich hab ebenfalls einen Zettel gefunden. Darauf steht dasselbe: Mörderin." 85
„Siehst du?", meinte Sydney erregt. „Er war es. Es war Jason! Wer könnte es sonst gewesen sein?" „Irgendeiner aus der Schule", erwiderte Emma. „Jemand, dem Jason von dem Geld erzählt hat. Das war mein erster Gedanke, als ich den Zettel gefunden habe." „Und die Handschrift?" „Irgendwer hat sie gefälscht", sagte Emma bestimmt. „Jetzt hör mal zu, Syd. Wir müssen rauskriegen, was da läuft. Jemand will uns Angst machen - brutal Angst machen. Wir dürfen jetzt nicht hysterisch werden. Wir müssen klar denken." „Das kann ich nicht!", schrie Sydney; ihre Stimme wurde immer aufgeregter. „Ich krieg kaum noch Luft! Als ich den Zettel gesehen habe, bin ich fast ohnmächtig geworden, Emma! Ich hab solche Angst, ich weiß nicht mehr, was ich machen soll!" „Ich komme gleich zu dir rüber", sagte Emma. „Ich frag den Nachbarn, ob er mir sein Auto leiht. Halte durch!" Nachdem Emma aufgelegt hatte, hielt Sydney den Telefonhörer in der Hand, bis das Besetztzeichen ertönte. Sie schreckte zusammen. Dann legte sie den Hörer auf und fing an, wieder im Raum auf und ab zu gehen. Jedes Mal, wenn sie sich umdrehte, erblickte sie den roten Gürtel und den kleinen weißen Zettel neben Goldy auf dem Bett. „Ich muss hier raus!", dachte sie. „Ich halte es in diesem Zimmer nicht länger aus." Noch immer im Morgenmantel zog Sydney die Gleittür auf, rannte die Stufen hinunter und ums Haus zu den Garagen, um dort auf Emma zu warten. „Beeil dich doch, Emma!", dachte sie und lief barfuß auf den rauen Pflastersteinen hin und her. „Ich kann mich nicht mehr lange zusammenreißen. Ich fang gleich an loszuschreien!" Endlich tauchte das Licht von Scheinwerfern in der Auffahrt auf. Ein dunkelbrauner Kombi hielt vor den Garagen. Emma stieg aus. Sydney rannte zu ihr und umarmte die Freundin. „Gott sei Dank bist du hier!", rief sie aus und drückte Emma an sich. „Ich hab solche Angst!"
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„Pssst", murmelte Emma. Sie schob Sydney von sich und hielt sie an den Armen fest. „Syd, was machst du in diesem Aufzug hier draußen? Barfuß und mit nassem Haar!" „Ich hab auf dich gewartet. Ich hab's drinnen nicht länger ausgehalten", sagte Sydney. „Ich hab vorhin geduscht. Deshalb sind meine Haare nass. Und dann, als ich aus der Dusche kam, hab ich ... den Gürtel gefunden und ..." Sie brach ab. Emma drückte ihre Arme. „Bitte, Syd. Versuch, dich zusammenzureißen." „Das will ich ja", meinte Sydney verzweifelt. „Aber ich habe so wahnsinnige Angst. Du nicht? Erst Jasons Schulring. Und jetzt auch noch der Gürtel - wie ist der Gürtel bloß hierher gekommen?" Sie schauderte. „Glaubst du an Gespenster, Emma? Das hab ich früher nie. Aber jetzt ..." Emma packte Sydney wieder an beiden Armen. „Du musst dich zusammenreißen, Sydney", sagte sie fest. Ihre blauen Augen blickten besorgt. „Du bist dabei auszurasten. Du siehst schrecklich aus. Und du faselst unsinniges Zeug." „Ich kann's nicht ändern!" „Das musst du aber!" Emma schüttelte Sydney sanft und legte den Arm um sie. „Gehen wir in dein Zimmer, okay? Zeig mir den Gürtel und den Zettel." Sydney atmete tief durch und nickte. „Okay. Aber wir müssen über die Terrasse reingehen. Ich will nicht von meinen Eltern gesehen werden." „Mit Sicherheit nicht", stimmte Emma ihr zu. Sie nahm Sydney am Arm und führte sie die Stufen hinauf zur Terrasse. Emma schob die Tür bis zum Anschlag auf. Dann zog sie Sydney sanft am Ärmel. „Komm schon, Syd. Zeig mir den Gürtel." Zögernd betrat Sydney ihr Zimmer. Sie richtete sofort ihren Blick aufs Bett. „Oh nein! Das gibt's doch nicht!", schrie sie.
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Kapitel 26 „Die Sachen sind weg!" Sydney rannte ans Bett. „Der Gürtel. Das Stück Papier. Es ist alles verschwunden, Emma!" „Hast du – hast du beides auf dem Bett liegen lassen?", stammelte Emma. Sydney nickte. Sie schaute sich auf dem Fußboden um. Nichts. Hastig lief sie zur anderen Seite des Bettes, kniete sich auf den Boden und suchte darunter. Kein Zettel. Kein Gürtel. „Beides war vorhin noch hier!", beharrte Sydney und trommelte mit den Fäusten nervös auf der Matratze herum. „Ich bin ganz sicher, Emma! Die Sachen lagen vor zehn Minuten genau an dieser Stelle!" Emma ging ans Bett und hob den Teddybären auf. „Das ist Goldy", erklärte Sydney ihr. „Der Gürtel war an seinem Bein befestigt. Siehst du den Schlamm? Etwas davon ist an seinem Fell hängen geblieben!" Emma betrachtete die Arme und Beine des Teddys genau. Dann drehte sie sich langsam zu Sydney um. „Ich kann keinen Schlamm an ihm entdecken." Sydney riss ihr den Stoffbären aus den Händen und untersuchte sorgfältig beide Beine. Keine Schlammspuren. Sie schleuderte den Teddy quer durch den Raum. Mit einem leisen Plopp! landete er neben der Tür. „Das gibt's doch gar nicht!", meinte sie atemlos. „Ich weiß genau, was ich gesehen habe. Die Sachen können doch nicht einfach verschwunden sein!" In ihrem verzweifelten Verlangen, die Nachricht und den Gürtel zu finden, hob Sydney auch die restlichen Stofftiere auf und warf sie auf den Boden. Dann schleuderte sie die Kissen weg und zog die Bettdecke hoch. „Sydney, hör auf damit", sagte Emma. „Unter der Bettdecke sind sie sicher nicht." 88
„Sie müssen da sein." Sydney raffte die Decke zu einem großen Knäuel zusammen und warf sie auf die Seite. „Irgendwo müssen sie doch sein." Sie riss als Letztes das Laken weg und starrte auf die nackte Matratze; vor Angst und Frust keuchte sie. „Sydney, da ist nichts!", schrie Emma. „Okay, dann sind sie halt nicht auf dem Bett." Sydney watete durch den Berg Stofftiere und ging quer durchs Zimmer zu ihrem großen begehbaren Kleiderschrank. Sie öffnete die Schranktür und trat ein. „Sydney, komm da raus!", rief Emma. „Im Schrank sind sie sicher auch nicht!" „Okay!" Sydney kam rückwärts wieder heraus. Ihr Kopf fühlte sich an, als würde er gleich explodieren. „Die Sachen können schließlich nicht einfach vom Bett gehüpft sein und sich selber weggeräumt haben, oder?" Sie sah sich suchend im Zimmer um und verzog das Gesicht. „Aber vorhin waren sie noch hier. Also müssen sie jetzt auch noch da sein." Als Sydney zurück ans Bett ging, packte Emma ihren Arm. „Sydney, vergiss es einfach!" „Was meinst du damit?" „Der Gürtel und der Zettel sind nicht hier", stellte Emma fest. „Hör auf, danach zu suchen." „Aber sie waren da", sagte Sydney beharrlich. „Glaubst du, ich habe mir das bloß eingebildet?" „Nein, aber ..." Emma hielt inne. „Aber was?" Sydney zog ihren Arm weg. „Hältst du mich für verrückt?" „Natürlich nicht! Aber, Syd, du denkst nicht mehr klar", erwiderte Emma. „Du schläfst nicht, du isst nichts, und du hast Albträume. Und schau dich um. Sieh dir an, was du mit deinem Zimmer angestellt hast." Sydney sah sich im Raum um. Überall waren Stofftiere verstreut. Die Bettlaken lagen zerknüllt auf dem Boden. Die Decke hing von einem Stuhl herunter. „Das absolute Chaos", sagte Emma sanft. „Und wenn ich dich nicht gestoppt hätte, hättest du bei der Suche nach dem Gürtel und dem Zettel das ganze Haus auf den Kopf gestellt." 89
„Sie waren aber hier", flüsterte Sydney verzweifelt. „Echt." „Du musst dich wieder abregen, Syd. Bitte." Emma drückte ihren Arm. „Ich brauche dich. Ich brauche deine Hilfe. Ich finde, du solltest jetzt schlafen gehen. Morgen früh sieht alles schon wieder besser aus. Ganz sicher." „Ich wünsche, ich könnte schlafen", sagte Sydney seufzend. „Aber ich hab Angst vor einem Albtraum." „Ich glaub nicht, dass du wieder einen Albtraum hast", meinte Emma. „Du bist total fertig. Wahrscheinlich schläfst du zwölf Stunden durch, ohne zu träumen." „Traumloser Schlaf, dachte Sydney. „Wäre das schön." Emma hob die zerknüllten Laken auf. „Ich helf dir, das Bett zu machen, okay?" Sydney nickte und zuckte zusammen, als es an der Tür klopfte. „Sydney, telefonierst du gerade?", rief ihre Mutter. „Ich hab jemanden reden hören." „Ich will nicht, dass sie mich sieht", flüsterte Sydney. „Dann weiß sie gleich, dass etwas nicht stimmt." „Ich bin's, Mrs Shue", rief Emma rasch zurück. „Emma. Ich bin vorbeigekommen und habe Sydney ein paar Notizen für Englisch gebracht. Sie ist gerade im Bad." „Okay. Bye, Emma. Sag Sydney, dass wir jetzt gehen." Als die Schritte ihrer Mutter leiser wurden, atmete Sydney erleichtert auf. Sie stand mitten im Zimmer, während Emma das Bett wieder herrichtete. „So." Emma ließ ein paar Stofftiere auf die Kissen fallen und lächelte. „Kannst du jetzt schlafen gehen?" Sydney blickte aufs Bett und dachte dabei an den roten Gürtel. „Syd?", forschte Emma. „Ich bring dich runter", sagte Sydney. „Ich hol mir eine Cola oder so was." „Aber dann kommst du wieder rauf und gehst ins Bett, okay? Versprichst du mir das?", beharrte Emma. „Sicher." Unten in der Eingangshalle umarmte Emma Sydney. „Ich mach mir solche Sorgen um dich, Syd." Sydney lächelte gezwungen. „Mir geht's bald wieder gut. Ehrlich." 90
„Trink statt der Cola lieber 'ne heiße Schokolade", schlug Emma vor. „Dann kannst du besser einschlafen." „Stimmt." Sydney öffnete Emma die Haustür und sah ihr nach, als sie ging. Ein paar Sekunden später bogen die Scheinwerfer des Kombis um die Ecke. Der Wagen fuhr die lange Auffahrt hinunter und verschwand aus Sydneys Blickfeld. Sie blieb noch einen Augenblick stehen, machte dann die Tür zu und ging wieder nach oben. Sie hatte keine Lust auf heiße Schokolade. Sie wollte auch nicht schlafen. Sie wollte den Gürtel und das Stück Papier finden. „Vorhin waren sie noch da", sagte sie sich. „Ich hab sie gesehen. Ich werde sie schon wieder auftreiben." Oder doch nicht? Oben angekommen, riss sie die Tür zu ihrem Zimmer auf und schaltete das Deckenlicht ein. Und schrie auf. Vor der Terrassentür kauerte Jason und starrte sie aus toten, dunklen Augen an.
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Kapitel 27 Die Hand immer noch auf dem Lichtschalter, blieb Sydney wie erstarrt stehen. Ihr Herz setzte aus. Sie presste die Augen fest zu, als könnte sie dadurch die grauenvolle Gestalt verschwinden lassen. Doch als sie die Augen wieder aufmachte, stand Jason immer noch auf der Terrasse. Seine Kleidung war voller Schlamm und Seetang. Dunkelrotes Blut klebte in seinem Haar und war auch über seine Schultern verschmiert. Seine Gesichtshaut und seine Finger waren grünlich schwarz verfärbt. „Das sieht aus wie Schimmel", fuhr es Sydney durch den Kopf. „Er ist am Verwesen! Ich kann ihn von hier aus riechen. Er ist tot und verwest!" Jasons Mund zitterte. Seine Zähne waren voller Risse und mit grünem Schleim überzogen. „Sydney", krächzte er. Seine Stimme klang hohl, als käme sie von weit her. „Er ist wirklich tot!", dachte Sydney voller Entsetzen. „Ich träume das nicht. Ich bilde mir das nicht ein. Jason ist von den Toten wiedergekommen!" „Sydney", wiederholte Jason mit blecherner Stimme. Sydney verspürte Brechreiz von dem Gestank, den er verströmte. Am liebsten hätte sie sich die Nase zugehalten. Doch ihre Hand glitt vom Lichtschalter und hing kraftlos herunter. Jason starrte sie an; seine Augen lagen tief in ihren Höhlen. Dann machte er einen unsicheren Schritt auf sie zu. An seinem Bein hing etwas. Ein langes, schlammiges Etwas. Es war rot. „Mein Gürtel", wurde Sydney klar. Das Ende des Gürtels schwang hin und her, als Jason nach vorne taumelte. Sydney wollte wegrennen. Doch ihre Beine versagten. Sie 92
musste sich gegen die Wand lehnen, um nicht zu stürzen. Jason machte noch einen Schritt auf sie zu. „Du bist schuld an meinem Tod", brachte er mühsam heraus. „Nein!", wollte Sydney schreien. Aber sie konnte es nicht. Sie konnte noch nicht mal den Kopf schütteln. „Emma hat mich getötet, und du hast zugesehen ", beschuldigte Jason sie mit hohler Stimme. „Emma hat mich ermordet. Und du hast ihr geholfen. " Vor Entsetzen wimmernd, rutschte Sydney die Wand entlang, bis sie auf den Boden sackte. Ihre Hand berührte etwas Weiches, Pelziges. Goldy. Leise schluchzend zog sie den Teddybären auf ihren Schoß. Jason kam immer näher. Der Gestank war unerträglich. Die Luft wurde eiskalt. „Emma hat mich umgebracht", flüsterte Jason. „Du hast mich umgebracht." Sydney fiel auf die Seite. Mit hochgezogenen Knien duckte sie sich auf dem Boden. „Du hast mich umgebracht ... du hast mich umgebracht..." Sie umklammerte den Teddy mit beiden Armen und krümmte sich zusammen. Jason kam näher. Sydney wimmerte. Sie roch den Seeschlamm. Sie hörte seine tote, leere Stimme. „Du hast mich umgebracht... ", wiederholte er. „Du hast mich umgebracht. " Dann war Jasons Schatten über ihr. Und sie spürte die Kälte. Die Kälte des Todes.
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Kapitel 28 Emma wippte mit dem Fuß und sah sich nervös im Wartezimmer des Krankenhauses um. Trotz der bunten Bilder an den Wänden und der sonnengelben Stühle war ihr der Ort unheimlich. Sie hasste Krankenhäuser. „Bleib cool", sagte sie sich. „Du musst hier sein. Du musst rausfinden, ob alles okay ist." Auf jedem Tisch lag ein Stoß Zeitschriften ausgebreitet. Emma nahm sich eine und blätterte darin; dann ließ sie sie wieder auf den Tisch fallen. Sie war viel zu aufgeregt, um lesen zu können. Sie warf einen Blick auf die große Wanduhr. Erst zwei Minuten waren vergangen, seit sie das letzte Mal hingeschaut hatte. Mit einem nervösen Seufzer stand sie auf und ging in dem kleinen Wartezimmer auf und ab. Sie zwang sich, nicht nach der Zeit zu sehen. Irgendwo am anderen Ende des Flurs ertönte die Glocke eines Aufzugs. Zwei Krankenschwestern liefen vorbei und unterhielten sich leise. „Warum dauert das so lange?", wunderte Emma sich. „Warum kommt keiner und sagt, was los ist?" Sie hielt es schon fast nicht mehr aus. „Hol dir noch eine Limonade", sagte sie sich. „Damit bringst du mindestens fünf Minuten rum." Als Emma in ihrer Tasche nach Kleingeld suchte, öffnete sich die Tür auf der anderen Seite des Korridors. Sie sprang auf und rannte mit klopfendem Herzen auf den Gang hinaus. Ein Arzt im weißen Kittel stand im Türrahmen; er blickte über die Schulter zurück und sprach mit jemandem, der hinter ihm stand. „Ich dachte, sie sei so weit, dass sie dich sehen kann", sagte der Arzt. „Aber sie wird die Vorstellung einfach nicht los, dass du tot bist. Tut mir Leid." Der Arzt trat aus dem Zimmer. Jason folgte ihm. 94
Die Tür schloß sich automatisch. Der Arzt legte die Hand auf Jasons Schulter. „Es tut mir Leid", wiederholte er mit ernster Miene. „Ich verstehe", murmelte Jason. „Ich kann es nur einfach nicht ertragen, sie so zu sehen. Wir waren uns einmal so nah." Er atmete tief durch und senkte den Blick. „Und jetzt hält sie mich für eine Art Monster." Voller Mitgefühl drückte der Arzt Jasons Schulter, nickte Emma zu und ging weg. Jason starrte noch einen Augenblick auf den Boden, dann hob er den Blick und sah Emma mit seinen blauen Augen an. „Komm, lass uns von hier verschwinden." Schweigend verließen die beiden das Krankenhaus und gingen zusammen zum Parkplatz. Jason schloss sein Auto auf, und sie stiegen ein. Emma warf ihr langes Haar zurück und wandte sich an Jason. „Und?", fragte sie. Jason grinste sie an. In seinen Augen lag plötzlich keine Spur von Trauer. „Du hattest Recht. Sydney ist total durchgeknallt!" Emma stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. „Ich hab doch gewusst, dass es funktioniert. Ich habe gewusst, dass sie überschnappt, wenn sie glaubt, du seist von den Toten zurückgekommen, um bei ihr herumzuspuken." „Allerdings. Sie klammert sich bloß noch an ihrem Teddy fest und wickelt sich ihre Haare um den Finger – wie ein Baby", sagte Jason. „Das hat sie schon immer gemacht, wenn sie nervös war", erklärte Emma. „Sie hält keinen Stress aus." „Und jetzt ist sie fertig, echt. Total ausgeflippt", stellte Jason fest. „Die kommt nie mehr aus dem Krankenhaus raus." Emma lächelte zufrieden. „Ich hab dir doch gesagt, dass wir sie auf diese Weise loswerden können." Jason ließ den Motor an und gab Vollgas. Während sie den Parkplatz verließen, warf Emma einen Blick zurück auf das rote Backsteingebäude des Krankenhauses. Sie wusste, Sydneys Eltern würden sie bald dort herausholen. Sie würden sie in eine sündhaft teure Privatklinik stecken, mit Gärten und
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Teichen und Zimmern, so groß wie die in ihrem Elternhaus. Und später würden sie Sydney mit nach Hause nehmen. Doch Sydneys Eltern würden ihr ihre Geschichte nie abkaufen. „Es wird sie ein Vermögen kosten", dachte Emma. „Na, und wenn schon – schließlich können sie es sich ja leisten." Deswegen war Emma, gleich nachdem sie und Sydney das Geld gefunden hatten, zu Jason gegangen. Sydney hatte die Kohle nicht gebraucht. Sie war reich genug. Von Anfang an hatte Emma Angst gehabt, dass Sydney das Geheimnis nicht würde für sich behalten können. Früher oder später hätte ihr Gewissen sich gemeldet. Dann hätte Sydney sich von Tag zu Tag schuldiger gefühlt. Sie hätte ihren Eltern von dem Geld erzählt. Oder der Polizei. Emma hatte das nicht zulassen können. Sie brauchte das Geld wirklich. Und sie wusste, dass Jason es auch brauchen konnte. Jason und sie waren schon wochenlang heimlich miteinander ausgegangen. Vor anderen hatten sie so getan, als könnten sie einander nicht ausstehen. Sie hatten nicht gewollt, dass Sydney Verdacht schöpfte. Jetzt hatten sie das Geld – und sie hatten einander. Emma sah Jason von der Seite an. Sie kicherte leise vor sich hin. Als sie Jason von ihrem Plan, Sydney in den Wahnsinn zu treiben, erzählt hatte, hatte er begeistert angeboten, ihr zu helfen. „Was ist so witzig?", fragte Jason. „Mir ist gerade eingefallen, wie leicht es war, deinen Tod vorzutäuschen", sagte Emma. „An dem Abend am See hat Sydney sich total bescheuert benommen. Sie hat nicht mal überprüft, ob du noch atmest oder nicht. Sie hat mir blind geglaubt." „Mann, haben wir Glück gehabt", murmelte Jason. „Ja, das war der schwierigste Moment", stimmte Emma zu. „Danach wusste ich, dass alles andere wie geschmiert laufen würde." Sie schüttelte den Kopf. „Und später, als ich dich angeblich im Wasser versenkt habe, hat sie uns miteinander reden hören. Sie hat geglaubt, dass noch andere Leute im Wald seien. Die hatte wirklich keine Ahnung." Wieder lachte Emma. „Es war so einfach ... so verdammt einfach." 96
„Quatschen wir nicht mehr darüber", meinte Jason. „Jetzt ist es vorbei, stimmt's? Wir sind in Sicherheit und haben den Ärger hinter uns. Lass uns das Geld ausgraben." „Eine Superidee!", rief Emma aus. „Und dann -gleich ins Einkaufszentrum damit. Mann, das feiere ich! Zum ersten Mal in meinem Leben kann ich shoppen gehen, bis ich umfalle!" Emma stand vor dem dreiteiligen Spiegel im Hidebound, einem teuren Lederwarengeschäft. Sie betrachtete ihr Spiegelbild. Die Lederjacke fühlte sich butterweich an und saß perfekt. Außerdem wirkte sie reich darin. „Du bist reich", erinnerte sie sich und grinste. Jason und sie waren mit Höchstgeschwindigkeit in den Wald gerast und hatten den Geldsack ausgegraben. Wow – was für ein wahnsinniges Gefühl! Sie hatte die Erde vom Sack abgewischt und ihn aufgerissen. Dann hatte sie zwei Stapel Fünfziger rausgeholt. Ein Päckchen Banknoten hatte sie sich in die Jeanstasche gestopft. Das andere hatte sie Jason zugeworfen. Dann hatten sie den Sack im Kofferraum seines Autos verstaut - und sich auf ihre Shopping-Tour begeben. Jetzt grinste Emma in der Lederjacke ihr Spiegelbild an. Sie warf einen Blick auf das Preisschild, das am Ärmel hing. Sechshundert Dollar. Ein Taschengeld. „Bist du bald fertig?", fragte Jason ungeduldig. Emma drehte sich zu ihm um. „Ich überlege, ob ich die in Schwarz oder in Braun nehmen soll." Sie wirbelte im Kreis herum, damit er die Jacke von allen Seiten begutachten konnte. „Was meinst du?" Jason zuckte die Achseln. „Diese hier sieht doch toll aus. Beeil dich, okay? Ich will mir nebenan die Fernseher mit Großbildschirm ansehen." „Okay, okay." Emma ging zur Kasse. Sie schlüpfte aus der Jacke und legte sie auf die Theke. „Die nehme ich", sagte sie. Der Verkäufer, ein junger, rothaariger Mann in einem sportlichen Ledermantel, warf einen Blick auf das Preisschild. „Eine wirklich gute 97
Wahl", lobte er. „Das ist italienisches Leder. Eine unserer edelsten Jacken." Er hob den Blick und sah Emma an. „Wie möchten Sie zahlen?", fragte er. „Ich zahle bar", antwortete Emma. Sie war so aufgeregt, dass ihr ganzer Körper prickelte. So fühlte es sich also an, wenn man reich war! Emma zog den Stapel Fünfzig-Dollar-Scheine aus der Tasche und zählte sechshundert Dollar ab. Dann gab sie dem Verkäufer das Geld. Er nahm die Banknoten und fing an, sie durchzuzählen. Dann hielt er inne - und lachte. „Wa-warum lachen Sie?", fragte Emma verunsichert. „Die sind echt gut!", sagte er und gluckste immer noch. „Wie bitte? Gut?", stieß Emma hervor. Der Verkäufer gab ihr mit einem breiten Grinsen das Geld zurück. Sie und Jason sahen sich die Banknoten näher an. Es dauerte ein paar Sekunden, bis Emma verstand, was der Verkäufer gemeint hatte. Sie war zuerst total verwirrt, als sie die Worte oben auf dem Geldschein las: Die verschwipsten Staaten von Amerika. Dann fiel ihr Blick auf das Porträt von Benjamin Franklin. Seine Augen schielten, und über der Perücke trug er eine umgedrehte Baseballkappe. Emmas Knie gaben nach, und sie klammerte sich an die Theke. Langsam hob sie den Blick und sah den rothaarigen Verkäufer an. „Haben Sie auch echtes Geld dabei?", fragte er lächelnd.
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